Die Situation auf Kaleva spitzt sich zu: Lucky Sariola sucht noch immer nach dem Ukko und ihrer Seele. Der Plan der sch...
98 downloads
706 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Situation auf Kaleva spitzt sich zu: Lucky Sariola sucht noch immer nach dem Ukko und ihrer Seele. Der Plan der schlangenähnlichen Isi, die Menschen auf Kaleva mit Hilfe des Ukko zu unterjochen, nähert sich seiner Vollendung. Und das Dämonenkind Jack läßt die Hölle auf dem Planeten ausbrechen – bis in einem einsamen See ein neuer Ukko, ein neuer Mond geboren wird.
›Ian Watson erweist sich vielleicht als der eindrucksvollste Synthetiker in der modernen SF, und als intellektuelle Thriller sind seine Werke aufregend und gedanklich provozierend.‹ Luxemburger Wort
›Ein wirklich großer Wurf. Für alle Freunde komplexer Phantastik ein gewinnbringendes Leseereignis, das Lust macht auf weitere Werke des englischen Autors.‹ ROLF – Regionaler OnLinedienst, Freiburg
IAN WATSON
Mond-Fall Das dritte Buch Mana Roman Ins Deutsche übertragen von Bernhard Kempen
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 24 253 Erste Auflage: März 1999
Copyright © 1994 by Ian Watson Deutsche Lizenzausgabe © 1999 by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: The Fallen Moon, Part II & III Lektorat: Dr. Lutz Steinhoff / Stefan Bauer Titelbild: Arndt Drechsler Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Flèche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-24253-X
Zusammenfassung von Dämonen-Kind (Band 1 der Mana-Trilogie)
Vor vier Jahrhunderten brachte ein Ukko, ein asteroidenähnliches Sternenwesen, ›Lucky‹ Paula Sariola zum Planeten Kaleva. Der Ukko machte Lucky zur ewig jugendlichen Königin der menschlichen Einwanderer, die von dem Wesen im Anschluß daran zu dieser Welt transportiert wurden. Ihre Töchter haben eine normale Lebensspanne, doch der Mann, der zuerst mit einer von ihnen schläft, wird dadurch zu einem Langlebigen (falls er nicht, wie es tragischerweise gelegentlich geschieht, als Zombie endet). Nach einem jahrhundertelangen Leben hat Luckys Verstand schließlich Schaden erlitten. Während der Feier zum vierhundertundzweiten Jahrestag der ersten Begegnung zwischen Lucky und dem Ukko trifft ihre Tochter Jatta in Fürst Osmo van Maanens Burg in Maananfors ein, nachdem sie zusammen mit ihrem Dämonen-Kind, dem Schnelljungen Jack, ein Vagabundenleben geführt hat. In Wirklichkeit wurde Jatta von einem Alien verführt, einem Juttahat namens Jarl Pakken, der durch geschickte Züchtung kaum von einem Menschen zu unterscheiden war. Dieser Sklave der Isi, außerirdischer Schlangen, die einige Zeit nach der Kolonisierung durch die Menschen auf Kaleva eintrafen, hatte offenbar gehofft, das Geheimnis der Langlebigkeit stehlen zu können. Fürst Osmo jedoch vermutet, daß Jatta mit einem Trugmenschen geschlafen hat – menschlichen Mutanten, für die er nur
Verachtung übrig hat. Mit Hilfe seiner Macht als Besprecher, durch die er einst den Tyrannen Tycho Cammon in Stein verwandelte, zwingt er Jatta dazu, bei den Mutanten im fernen Saari Zuflucht zu suchen. Juko Nurmi, der Sohn von Mutanten, auch wenn man es ihm äußerlich nicht ansieht, ist von der Idee besessen, Fürst Osmo eine Niederlage zuzufügen. In der Nacht nach dem Lucky-TagFest befreit er Cammon aus seiner steinernen Erstarrung, damit der ehemalige Tyrann Rache an Osmo nimmt. Bevor er vernichtet werden kann, ermordet Cammon die UnterHaushälterin Vivi, mit der Osmo gelegentlich das Bett teilt. Im Verlauf ihrer Flucht gesellt sich Juko zu Jatta und Jack und drängt sich ihnen als Begleiter auf, bis sie das Tal der Sprecher in der Nähe von Julistalax erreichen. Dort findet gerade ein Kampf zwischen einem Luftboot der Juttahats und einem weiteren mit Wachen der Königin statt. Die Juttahats entführen den kleinen Jack. Gleichzeitig stellt sich heraus, daß Jarl Pakken zu einem Zombie geworden ist. Lucky überläßt den Jungen seinem Schicksal und nimmt statt dessen den Magus der Bronze-Isi namens Imbricatus gefangen und versöhnt sich wieder mit Jatta. Zwei Monate später findet in diesem Tal die herbstliche Gala statt, bei der Luckys Gemahl Prinz Bertel ihre heiratsfähige Tochter Eva mit dem führenden Besprecher Osmo bekannt macht – und mit Osmos Freund Elmer Loxmith, dem instinktiven Ingenieur. Bertel hat mit Lucky mehr als hundert Töchter gezeugt und ist insgeheim sowohl der Langlebigkeit als auch der Launen seiner Frau überdrüssig. Königin Lucky ist davon überzeugt, daß ein Teil ihrer Seele und ihres Verstandes vom Ukko zurückbehalten wurde und
daß dieses Echo ihrer selbst nun in einem Nachkommen des ursprünglichen Ukko lebt, der irgendwo auf Kaleva heranwächst. Außerdem ist Lucky nun im Besitz einer AllesMaschine, eines nanotechnischen Allzweck-Geräts, das General Aleksonis aus einem abgestürzten Shuttle der Isi bergen konnte. Die Königin hofft, daß die Maschine für sie ein Instrument herstellt, mit dem sie den Nachkommen des Ukko und damit auch ihr verlorenes Ich aufspüren kann. Die Alles-Maschine wird in der Festung im Fjord von Sariolinna von Luckys hölzernen Soldaten bewacht. Doch weder Roger Wex, der Agent von der Erde mit der Wetware im Kopf, noch der gefangene IsiMagus Imbricatus können das Geheimnis enträtseln, wie die Alles-Maschine in Betrieb gesetzt wird. Auf der Gala wird Osmo das Opfer eines Anfalls erotischer Leidenschaft für Aino Nurmi, die einäugige Mutantin und Dichterin. Außerdem ist sie die Schwester von Juko, der ihr schuldbewußte inzestuöse Gefühle entgegenbringt. Aino, die ein falsches Auge trägt, das sie von den Samt-Isi erhalten hat, widersteht Osmos Annäherungsversuchen. Als Juko den Meister der Besprecher herausfordert, unterliegt er Osmo, worauf Juko seine Schwester an den Sieger verschachert, um seine Haut zu retten. Zu Osmos Entsetzen reißt sich Aino daraufhin ihr Auge aus. Wütend bespricht Osmo das Mädchen, sich in einem weit entfernten See zu ertränken. Als Aino sich im See der Schöpfung das Leben nehmen will, gerät sie statt dessen in den jungen Ukko, der sich unter der Wasseroberfläche verborgen hält. Dort trifft sie auf die Echos von Paula Sariola und den gestorbenen Sariola-Töchtern, die Aino bereits zuvor mit ihrem inneren Auge hatte sehen können.
Der einzige andere Sterbliche, der außer ihr jemals diese verborgene Sphäre innerhalb des Ukko, diese Welt der erfüllten Wünsche, betreten konnte, ist der Vater eines Tunichtguts namens Minki Kennan, dessen Mutter ihm das Geheimnis des Sees anvertraute. Osmos Wut auf Aino verursacht einen Rückstoß durch den Mana-Raum, wodurch seine Mutter in Maananfors getötet wird. Johannas Tod bereitet Osmo solchen Kummer, daß er sich außerstande sieht, jemals wieder zu besprechen – zumindest in nächster Zeit.
Zusammenfassung von Kuckucks-Fluch (Band 2 der Mana-Trilogie)
Elmer Loxmith hat den Auftrag erhalten, für den Langlebigen Gunther Beck einen Schlafmonitor zu bauen, der sich daraufhin mit Hilfe eines Schlangenhormons in Winterschlaf versetzen will. Im tiefen Traum hofft Fürst Beck, das Echo seiner geliebten Frau Anna Sariola wiederzufinden, die vor zwei Jahrhunderten starb. Während des Winters sinkt Wetman Wex' Stern am Hof der Königin, während er gleichzeitig eine Zuneigung zu Minni Sariola entwickelt, Jattas jüngerer Schwester, die die Angewohnheit hat, Selbstgespräche zu führen. Im Frühling erreicht Dämonen-Jack mit einem gestohlenen Luftboot den Palast. Im Zeitraum von nur neun Monaten ist Jattas Schnelljunge bei den Isi zu einem jungen Mann herangewachsen, bis er zusammen mit dem von den Isi entführten Bauernmädchen Anni aus der Obhut der Alien-Schlangen entflieht. Nach der Schneeschmelze werden Osmo und Elmer in den Pohjola-Palast gerufen, damit sie versuchen, Luckys AllesMaschine zu aktivieren. Elmer gewinnt den Wettstreit und damit Eva als Braut. Um Osmo zu ärgern, lädt die Königin zur Hochzeit Mutanten aus Juko Nurmis Heimatdorf ein. (Juko selbst ist seit der Gala verschwunden.) Osmo bricht wütend mit seinem Luftboot auf, muß jedoch feststellen, daß Vivis Vater, der zu seinem kleinen Gefolge gehört, Minni als Trostpreis für den Fürsten entführt hat. Juko beschießt Osmos Luftboot aus
dem Hinterhalt mit Raketen, die er von den Samt-Isi erhalten hat (die bereits seine Schwester mit einem künstlichen Auge ausstatteten). Den Absturz überleben nur Osmo und Minni. Elmer erweist sich inzwischen als unfähig, die Hochzeitsnacht zu vollziehen. In Loxmithlinna beginnt der Ingenieur damit, seine Braut jede Nacht auszupeitschen. Dann trifft überraschend Gunther Becks vermißter Neffe Kulli im Ha-Haus der Loxmiths ein. Eva nimmt sich des jungen Mannes an, da er sich in einem Zustand tiefer geistiger Verwirrung befindet. Nach der Aktivierung beginnt die Alles-Maschine der Königin mit der Produktion exotischer Waffen, darunter auch bewaffneter Sprungfahrräder. Prinz Bertel, der zusammen mit den Mutanten auch den Schurken Minki Kennan als Hochzeitsgast in den Pohjola-Palast brachte, fordert dessen Stolz heraus, so daß der junge Kennan ein Sprungfahrrad in seine Gewalt bringt, den Prinzen niederschießt und mit dem Isi-Magus entflieht (dessen er sich kurz darauf entledigt). Als der Schnelljunge Jack mit einem Luftboot losfliegt, um die Spur des Mörders zu verfolgen, trifft er statt dessen auf Juko. Er bringt den Mutanten und Besprecher in den Palast, wo die verwitwete Königin trauert und wütet. Osmo entdeckt Minnis Qualitäten, als die zwei Gestrandeten sich durch ein Todeslabyrinth in den westlichen Wäldern kämpfen und schließlich auf die Höhle des gigantischen IsiMagus namens Viper stoßen. Minni rettet Osmos Bewußtsein davor, vom Magus übernommen zu werden. Als Osmo und Minni endlich in Maananfors eintreffen, beschließen sie zu heiraten. Dort hat inzwischen Osmos paranoider Leibeigener Sam Peller einen Vorrat an Waffen angelegt, die von der Frakti-
on der Streifen-Isi geliefert werden. Osmo gerät in Rage, als er erfährt, daß Juko im königlichen Palast willkommen ist. Lucky hingegen tobt, als sie hört, daß Minnis Entführer den Anschlag überlebt hat. Bertels Mörder bleibt unauffindbar. Minki hat Zuflucht im siebten Himmel gefunden, im Ukko unter dem See der Schöpfung, wo er sich mit Echo-Mädchen vergnügt – bis Aino die exotischen Bewohner dieses Ortes zum Krieg gegen ihn anstachelt. Im Ha-Haus hat Eva den jungen Kulli zur Verzweiflung getrieben. Die Isi haben ihn mit falschen Erinnerungen ausgestattet, damit sein Haß ihn dazu treibt, den Traumfürsten zu ermorden. Doch Becks Neffe konnte diesem Bann bislang widerstehen. Kulli sticht nun Eva ein Auge aus und kann danach entfliehen. Königin Lucky zettelt eine Hochzeit zwischen Dämonen-Jack und dem Mutantenmädchen Juni an. Sie hofft, daß ihre Kinder über bemerkenswerte Fähigkeiten verfügen, die sie im bevorstehenden Krieg gegen Osmo einsetzen kann. Wex, der ausgezogen ist, um Minni zu retten, trifft schließlich auf Burg Maananfors ein. Unterwegs hat er sich ein Bein gebrochen und einen unwillkommenen Gefährten gewonnen, einen Kuckuck, der ihm nicht von der Schulter weicht. Doch Minni möchte bei ihrem Ehegemahl und ehemaligen Entführer bleiben. Wex' Wetware besteht darauf, die Erd-Basis auf Kaleva unter der Leitung von Penelope Conway darüber zu informieren, daß Lucky nach dem jungen Ukko sucht. Die Isi haben ein verführerisches weibliches Gegenstück zu Jarl gezüchtet, das Goldmädchen Golda, das zu Elmers Burg
kommt. Als Elmer mit ihr schläft, erfährt er, daß Golda sich erhofft hat, mit Hilfe des Samens eines Langlebigen Jarl aus seinem Zombie-Dasein zu befreien. Unterdessen wird Osmo die strategische Bedeutung von Loxmithlinna klar, und er vermutet, daß Lucky genauso denkt. Osmo belagert Elmers Burg. Nach dem Fall des Ha-Hauses krönt der siegreiche Osmo seine Minni zur Rebellenkönigin von Kaleva. Dann stellt Minni fest, daß Osmo durch den Vollzug der Ehe doch nicht zum Langlebigen geworden ist. Er weiß nichts davon und darf auch nichts davon erfahren. Osmo widersteht Goldas Bemühungen, ihn zu verführen, und bespricht sie dazu, durch die Welt zu ziehen und nach einem goldenen Gefährten zu suchen, der ihr Freude bringt. Während Minnis Krönungsfeier ist die außergewöhnliche Linse eines Schamanen verschwunden, mit der sich ManaPhänomene sichtbar machen lassen. Hat Golda die Linse gestohlen? Oder ist Wex der Dieb? Denn auch Wex ist spurlos verschwunden.
TEIL EINS Manöver und Massaker
1 Der Kerzenpalast
Minki Kennans herrlicher Palast stand in Flammen. Ebenso das Dorf, über das dieser Traum aus weißem Marmor geherrscht hatte. Nun, das verlassene Dorf wurde immer noch von diesem Gebäude beherrscht. Und zwar auf lodernde Weise! Der Herr des Palastes war obdachlos geworden. Er stand gemeinsam mit seiner Armee auf einer zertrampelten Wiese und blickte auf sein ehemaliges Traumhaus. Minki konnte verstehen, wieso die weißgetünchten Holzhäuser brannten. Aber wie konnte Marmor brennen? Nun, er brannte wie eine gewaltige Schmuckkerze. Jedes Fenster war ein Docht, von dem Gasschwaden aufstiegen und zitternd flammten. Vor allem die schlanken, hoch aufragenden Türme wirkten wie Kerzen. Ihre einstigen Wimpel waren zu heißen, zischenden Zungen in Scharlachrot und Orange geworden. Das durchscheinende Material des Palastes glänzte fettig und leuchtete so rosa wie die aknegesichtigen Schneeköpfe, die Minkis Truppen bildeten. Glühende Häuser fielen zu zerbröselnden Käfigen aus Funken zusammen. Bald würde das Dorf nur noch eine einzige verkohlte Verwüstung sein. Der Palast jedoch wirkte durch seine wundersame Verwandlung in einen scheinbar wächsernen Zustand, als wollte er ewig strahlen, als mahnende Fackel, als Springbrunnen aus Mana-Feuer. Rauch stieg auf und verrußte dunstig das Sonnenauge, das
im Zenit hing. Der strahlende Ball aus heißer Butter hatte sich noch nie von seiner zentralen Position fortbewegt. Wenn sich der Nachmittag dem Ende zuneigte, wurde das Auge von Wolken verdunkelt, als würden sich die Lider schließen. Nachts wurde es zu einem schwach silberglänzenden Mond, begleitet von sternenähnlichen Lichtern, die ihn wie Phosphorkäfer umschwirrten. Die vom Kerzenpalast aufsteigenden Dämpfe verunreinigten die klare Luft. Die hügelige Landschaft aus Wäldern und Seen ohne Ende – die in der Entfernung immer kleiner wurden, jedoch nie den Horizont zu erreichen schienen – zitterte an den Rändern, wo sie sich im Unsichtbaren verlor. Würde sich an diesen Abend eine Nacht mit tieferer Dunkelheit anschließen – und auch an die künftigen Abende, wenn der Palast weiterhin rauchte? Minki saß auf seinem dreirädrigen Jutti-Sprungfahrrad. Er war in eine messingbesetzte schwarze Lederkluft mit übertrieben großen Aufschlägen und Manschetten und hohem Kragen gekleidet und trug auf dem Kopf einen schwarzen Lederhelm, der mit Messing beschlagen war und den ein Helmbusch aus schwarzem Ponyhaar zierte. So betrachtete er das Ende seines Paradieses hier in diesem Versteck, fern von der gewöhnlichen Welt und vom Zorn der Königin. Doch auch hier war er nicht vom Zorn verschont geblieben, und zwar in Person einer einäugigen militanten Poetin. So mußte es also enden! Mit der Vertreibung aus seinem Palast. Wie ungerecht, wo er doch nur seinem Vergnügen nachgegangen war, indem er reihum die Echo-Mädchen verführt hatte, auf die diese vermaledeite Aino Nurmi einen zwanghaften Besitzanspruch erhob.
Er würde sich auf keinen Fall von einer Poetin mit einem fehlenden Auge aus seiner Welt vertreiben lassen! Er stieg ab. Rings um Minki hatten sich hundert Schneeköpfe aufgestellt, die hellrote Ledermonturen trugen und mit langen Messern, Armbrüsten und Lichtgewehren bewaffnet waren. Hundert blonde, schielende, stotternde Spießgesellen mit Gesichtern wie feuchte Erdbeeren aufgrund ihrer üppig wuchernden Akne. Minkis Handlanger hatten sich im Palast als Verwalter, Köche, Wachen, Kammerdiener und Lakaien nützlich gemacht. Es waren allesamt Näkkis: Geschöpfe, die Minkis Willen gehorchten und in Gestalt seines wirklichen Kumpanen Schneekopf auftraten, der zu Hause in der Burg von Niemi zurückgeblieben war und für Minkis Mutti und seine Frau Kyli die undichten Stellen im Dach reparierte – oder auch nicht, je nachdem. Apropos, Kylis Schwangerschaft mußte sich inzwischen ihrem Ende zugeneigt haben. Schneekopf stand vielleicht schon zu Kylis Entsetzen grinsend und gurrend über einer Wiege. Unser Minki mochte längst zum Vater eines Balgs geworden sein. Doch an diesem Ort hatte er jedes Gefühl für die Zeit verloren. Woher waren die vielen Schneeköpfe gekommen, diese Unmenge an Soldaten mit Pickelgesicht und Sprachfehler? All die Näkki-Maiden aus Minkis Palast mußten sich in Schneeköpfe verwandelt haben. Diese Vorstellung ließ ihn gehörig erschaudern. Wenn er bedachte, wie er es mit diesen bereitwilligen Dienerinnen getrieben hatte, bevor sich seine amourösen Leidenschaften auf die Echo-Schwestern gerichtet hatten, die aus
ganz anderem Holz geschnitzt waren … Unter den Schneeköpfen hatte es Verluste gegeben. Das hieß jedoch nicht, daß sie für immer verloren waren. Wenn einer getötet wurde, konnte sein Platz von zwei neuen Schneeköpfen eingenommen werden. Vielleicht war dies die Schlüsselstrategie zum letztlichen Sieg über Aino Nurmis Anhänger. Wenn seine Gegnerin in einem Gefecht die Oberhand gewann, führte das womöglich nur dazu, daß der Palast mit Schneeköpfen überschwemmt wurde. Unser Minki mußte aufpassen, daß er nicht die Kontrolle über die Menge verlor. Eine Menge aus ein und demselben, in ständiger Wiederholung. »Wa-wa-was tu-tu-tun wi-wi-wir jetzt, Bo-bo-boß?« »Wawa-was tu-tu-tun wi-wi-wir jetzt, Bo-bo-boß?« »Wa-wa-was tutu-tun wi-wi-wir jetzt?« Der Kerzenpalast leuchtete und rauchte. Brennende Häuser brachen zusammen. Ein Stück von der Feuersbrunst entfernt tollte Ainos Streitmacht herum. Aino befehligte Jongleure, die ihre Keulen wie Geschosse warfen, Geiger, die Pfeile von ihren Saiten abschossen, Musikanten in scharlachroten Uniformen, die Feuerpfeile aus Trompeten oder Kornetten bliesen. Gefährlicher waren die ehemaligen Mimen, die zu Tieren auf zwei Beinen geworden waren. Zottige Ziegen und Tarandras mit Geweihen trugen Sicheln und Lichtgewehre. Es gab sogar ein paar menschengroße Näkki-Kuckucke, die mit ihren großen Krallenfüßen einen Schneekopf entleiben konnten. Hatte Ainos Regiment keine Verluste erlitten? Ganz bestimmt, doch jetzt schien er größer als jemals zuvor zu sein. »Bo-bo-boss, wa-wa-was tu-tu-tun wi-wi-wir jetzt …?«
Der Schneekopf hielt seinen rechten Arm in einer blutigen Schlinge. »Woher kommst du?« fragte Minki ihn. »Aus dem Pa-pa-pa-pa-PALAST, Boß! Ich komme aus dem Palast.« Der verletzte Schneekopf strahlte triumphierend. Aus dem Palast – woher sonst? Und aus Minkis Kopf, aus seiner Erinnerung. »Ich meine es so: Warst du schon ganz zu Anfang in meinem Palast?« Oder warst du eine Näkki-Maid? Habe ich dich leidenschaftlich und selbstvergessen in meinem Seidenbett in die Arme geschlossen, bevor mich der Mangel an Herausforderung abstumpfte? Dich mit dem weinerlichen, rosaroten Gesicht? Der Schneekopf setzte zu einem erneuten Schwall verzweifelten Gestotters an. »Wa-wa-wa-weiß nicht, wa-wa-was Ihr mama-ma-meint, Bo-bo-boß.« Natürlich wußte es der Schneekopf nicht. Er war nicht anders als alle Schneeköpfe. Wie sollte man sie auseinanderhalten, wenn sie nicht gerade verletzt waren? Man sollte es gar nicht erst versuchen, um sie nicht zu verwirren und zu verärgern. Unser Minki mußte sich auf jeden Fall entscheiden, was jetzt zu tun war. Er mußte ihnen ein Ziel setzen. Und keinen Zweifel in ihren blonden Schädeln aufkommen lassen, damit seine Autorität sich nicht verflüchtigte. Die zwei Echo-Mädchen, die Minki als Geiseln genommen hatte und die von Schneeköpfen bewacht wurden, protestierten schrill. Minki ging hinüber, um dieses Problem als erstes zu lösen. Es war schwer zu sagen, welche von den beiden die lautstärkere war – die pfirsichhäutige Anna mit den glutvollen Augen
und schwarzen Locken oder Paula mit den blonden Zöpfen, die abgesehen von diesem Detail das genaue Ebenbild von Königin Lucky darstellte. Annas Spitzengewand, das mit Hunderten von rosaroten Bändern behangen war, sah inzwischen recht unordentlich aus. Sie wirkte wie eine in Lumpen gekleidete Bettlerin mit schmutzigen nackten Füßen. Paulas hauchzartes, mit Rüschen besetztes Kleid war dagegen fast tadellos. Es war bescheiden mit einem Muster aus gelben Schleifenrosetten geschmückt, als würden Narzissen auf ihrem Busen und ihrer Taille wachsen. An den Füßen trug sie zierliche gelbe Sandalen. Paula war noch nicht so lange in Minkis Gewalt wie Anna. Das Echo der Königin war erst während der jüngsten Schlacht erobert worden. »Minki Kennan, ich bestehe darauf, bei meinen Freundinnen zu sein! Ich dachte, Ihr wärt ein munterer Edelmann, der nur an Freude und Vergnügen interessiert ist …« »… und an Inga und Gerda und Gretel und Maria und Anna«, murmelte Minki. Seine diversen Vergnügungen hatte Aino nun zunichte gemacht. »Und an Euch natürlich auch, mein hübsches Hühnchen.« Paula war seine größte amouröse Herausforderung gewesen, bevor diese verflixte verstümmelte Poetin auf der Bildfläche erschienen war. Abgesehen von ihrem fehlenden Augapfel und ungeachtet ihrer strengen braunen Kniebundhosen war Aino zweifellos immer noch genauso anmutig und hübsch wie damals, als er sie das erste Mal erblickt hatte. Doch leider ließ die Nähe zu diesem besonderen Hühnchen seinen Schwanz schrumpfen und alle Schönheit zu Asche zerfallen. (Auf gleiche Weise hatte ihre unmäßige Feindseligkeit seinen Freudenpalast versengt!) Er
sollte sich künftig von ihr fernhalten. Doch wie konnte er ihr aus dem Weg gehen, wenn sie ihn so verbissen verfolgte? Es gab keine andere Möglichkeit: Seine Schneeköpfe mußten sie töten. Doch vielleicht würden seine sich vermehrenden Schneeköpfe nur ihre Truppen töten – oder umgekehrt … Wie konnte er ihr persönlich auf den Leib rücken? Die Lösung konnte nur ein Armbrustbolzen oder ein Strahl aus heißem Licht sein, der von ihm selbst abgefeuert wurde. Doch sie gab sich keine unnötige Blöße … Daß er Anna und jetzt auch Paula gefangengenommen hatte, mochte Aino zu Unachtsamkeiten verleiten. »Wenigstens habt Ihr hier eine Freundin in der Nähe«, sagte er zum Echo der Königin. »Ihr müßt uns beide gehen lassen, Minki Kennan!« drängte die bezopfte Blondine. »Wir sollten nicht von unseren Freundinnen getrennt sein …« »Gunther wird eine Möglichkeit finden, Euch zu bestrafen! Vor allem, wenn Ihr mich noch einmal anrührt. Oder wenn es einer von diesen widerlichen Mistkerlen tut. Ich könnte mich bei ihnen anstecken …« »Keine Sorge.« Doch Annas Entrüstung über ihre Gefangennahme wurde noch größer. »Sie sind ekelerregend!« »Meine lieben Damen«, appellierte Minki an sie. »Meine Schneeköpfe werden Euch nicht berühren … nicht sehr oft … wenn Ihr freiwillig tut, was Euch gesagt wird.« »Mein Gunther wird toben.« »Er? Ich werde ihn mit einem Atemhauch und einem
Wunsch fortblasen.« »Ich bitte um Verzeihung«, fragte Paula ihre Mitgefangene, »aber wer ist Gunther?« Natürlich wußte Paula nichts von dem großen Kerl. Gunther war aus dem Nichts aufgetaucht, splitterfasernackt, im Hauptschlafzimmer des Palastes, als Minki – ebenfalls im Adamskostüm – sich gerade mit Anna vergnügen wollte, die gleichermaßen textilfrei war. Minkis Betätigungen hatten auf irgendeine Weise die Materialisation von Annas Gemahl stimuliert, so daß er zum Zeugen dieser pikanten Szene wurde, worauf sie einen Teil ihrer Erinnerung an ihn wiedererlangt hatte. Eine derartige Unterbrechung konnte einen eifrigen Burschen ziemlich aus dem Takt bringen. Es war auch nicht sofort offenkundig, daß der nackte Eindringling keine körperliche Festigkeit besaß. Gunther schien sich jedenfalls einer drastischen Schlankheitskur unterzogen zu haben. Sein Gesicht, das von wucherndem blonden Haar eingerahmt wurde, das eine Wäsche nötig hatte, war verblüffend puppenhaft, obwohl seine grauen Augen einen gehetzten Blick aufwiesen. Das jedoch war kein Wunder, da er gerade mit ansehen mußte, wie Minki es mit seiner Frau trieb. Eine silberne Kette, an der ein Medaillon befestigt war, hing zwischen zwei Ringen, die durch Gunthers Brustwarzen gezogen waren. Dies stellte sein einziges Kleidungsstück dar. Vor kurzem mußte er wesentlich korpulenter gewesen sein, nach seiner erschlafften Haut und den Dehnungsstreifen zu urteilen. Er hatte zugenommen und dann gehungert. Doch darin lag sein Mangel an Masse nicht begründet, denn er ver-
fügte immer noch über eine gewichtige Präsenz. Nein, er konnte schon durch ein hartes Wort verbannt werden, so daß er dorthin zurückgeweht wurde, woher er gekommen war. Minki vermutete, daß Gunther sich den Weg zu Annas Echo geträumt hatte, während er in irgendeinem Bett in der gewöhnlichen Welt außerhalb des Wunderlands der Wiesen, Maiden und Näkkis lag. Vor langer Zeit hatte er sich mit Anna vermählt, die alt geworden und gestorben war. Anna – zu Lebzeiten unbestreitbar eine Sariola-Tochter – hatte ihm die Langlebigkeit verliehen, und er war ihrem Angedenken auf geradezu fanatische Weise treu geblieben. Anna hatte jede Erinnerung an ihn verloren, bis Minkis Schwanz sie gekitzelt und ihrem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hatte. Während jenes Zwischenfalls hatte Minki sich das Hirn zermartert, um den Eindringling zu identifizieren. Er hatte ihn schon irgendwo gesehen, und zwar in fülligerer Gestalt. Inzwischen hatte er erkannt, wer Annas Ehegemahl war. Er hieß … Bock? Buck? Beck? Jedenfalls ein exzentrischer Fürst. Der sich mit Träumen befaßte und über den er während seiner früheren Jutti-Jagdzüge in Tavernen einigen Tratsch aufgeschnappt hatte. Die heißblütige Anna, die durch Minkis unvollendete Massage aus ihrer Amnesie geweckt worden war, hatte wieder eine uneingeschränkte Leidenschaft für ihren abwesenden Ehemann entwickelt, allerdings nur ein lückenhaftes Bewußtsein für ihr früheres Leben mit ihm, was auch für ihre gegenwärtigen Lebensumstände galt. (In diesem Augenblick klärte sie immer noch ihre Mitgefangene auf, so gut sie konnte, während sie von Schneeköpfen mit eiternden roten Gesichtern umringt war …)
Das Zusammentreffen im Schlafzimmer war schon bald vom Angriff auf den Palast überschattet worden, unter der Führung der Poetin, die Anna retten und Minki in seine Schranken weisen wollte. Ihrer Ansicht nach hatte er nichts in einem Schloß der sinnlichen Genüsse hoch über dem Dorf verloren. Und ihre Freundinnen sollten auch nicht seine Konkubinen sein. Aino war kaum von ihrer Wanderschaft durch das NäkkiReich zum Dorf zurückgekehrt, als auch schon eine Belagerung begonnen hatte, die Minkis ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Ein Schneekopf, der die angewiderte Anna bewachte, hatte berichtet, daß Gunther während der Belagerung zweimal wieder aufgetaucht war. Gunther hatte versucht, Anna zu umarmen, genauso wie sie ihn. Er hatte versucht, sie fortzutragen. Doch statt dessen war er davongeschwebt und hatte sich verflüchtigt. Würde Gunther seine Anna jetzt wiederfinden, nachdem der Palast in Flammen stand und Minki samt all seinen Schneeköpfen daraus vertrieben war? Vielleicht konnte Gunthers Traumgeist wie eine Kerze brennen. Minki wußte nicht, wohin Ainos Wanderschaften sie geführt hatten, doch offenbar hatte sie unterwegs einige machtvolle Worte erworben, die sie in die Lage versetzten, Näkkis zu mobilisieren und Marmor zum Brennen zu bringen. Doch da sie nur ein Mädchen war, konnte sie nicht viel gelernt haben. Andernfalls wäre die Belagerung schneller vorbei gewesen. Sie hätte Minki hochkant aus diesem sonderbaren Paradies geworfen, das bitter geworden war. Er hätte niemals Feuer an das Dorf legen können, nachdem der Palast zu heiß geworden war. Sie hatte jetzt etwas von einem Besprecher an sich, diese Poetin. Ein ferner Nachhall von damals, als van Maanen sie bespro-
chen hatte, sich in einen See zu stürzen. Inwieweit hatte sie ihre neue Macht wirklich unter Kontrolle? Ihre Armee tollte wild herum, während seine eigenen Schneeköpfe einfach nur umhergingen und auf Befehle warteten. Gesegnet waren die zwei Schneeköpfe, die das Glück – und die Initiative – gehabt hatten, sich Paula zu greifen, als sie sich aus dem Palast zurückgezogen hatten. »Wa-wa-was tu-tu-TUN wi-wi-wir jetzt, Bo-bo-boß?« »Siehst du jetzt, Paula, daß du wirklich das Echo meiner Mutter bist …?« »Was redest du da für einen Unsinn!« »Mein Gunther sagt aber, daß du es bist. Ich glaube wenigstens, daß er das gemeint hat. Wir haben uns nicht lange gesehen, und er hat versucht, mich zu retten …« »Bo-bo-bo-BOSS!« Minki beeilte sich, wieder sein Fahrrad in Besitz zu nehmen, und radelte damit widerwillig zu seinen Gästen zurück. »Ich kann doch nicht von hier fortgebracht werden, oder, Paula?« hörte er. »Ich bin ein Echo. Aber du bist das Echo meiner Mutter. Du bist das Echo der Königin, und die Königin ist gar nicht tot. Sie lebt ewig …« »Wir können nicht tot sein«, warf Paula ein. »Wir sind Echos im Geist des Mondsamens.« »Du, Paula, aber ich bin tot. Ich starb vor vielen, vielen Jahren. Ich war Gunthers Frau. Ich weiß jetzt meinen vollständigen Namen.« »Du hast deinen zweiten Namen gefunden?« »Beck. Ich heiße Anna Beck. Und du bist Paula Sariola.« »Das weiß ich doch, Dummerchen.«
»Das ist der Name der Königin.« »Was für eine Königin? Die Königin wovon?« »Von Kaleva! Es ist eine Welt außerhalb dieser Welt. Eigentlich bist du viel netter als meine Mutter, soweit ich mich an sie erinnere – obwohl ich mich nicht an allzuviel erinnere. Ich bin immer noch verwirrt. Aber ich bin mir sicher, daß du das Echo einer lebenden Königin bist.« Anna zerrte an ihren kohlrabenschwarzen Locken, als müßte sie sich selbst überzeugen. »Das muß der Grund dafür sein, daß dein Haar nicht dieselbe Farbe wie unseres hat, Paula.« »Vielleicht seid Ihr die wirkliche Königin!« platzte Minki mit einem Geistesblitz dazwischen. »Vielleicht ist die Königin auf dem Thron eine Hochstaplerin …« »Ihr wißt davon?« rief Anna. »Eine Betrügerin, eine Heuchlerin, eine Doppelgängerin! Vielleicht hat sie Euch hier versteckt – ihren Zwilling – und Euch das Gedächtnis gestohlen, damit sie an Eurer Stelle regieren kann.« Die alte Geschichte von Lucky Paula Sariola handelte davon, wie sie das raumfahrende Sternenwesen betrat und von ihm verwandelt wurde … Nirgendwo wurde erwähnt, daß dabei ein Zwilling geschaffen worden war. »Ihr wißt davon?« rief jetzt auch Paula. Sie roch nach Gewürzbrötchen, die Minki zu verzehren gehofft hatte. »Ich weiß von vielen Dingen, meine Dame.« »Dann müßt Ihr mich gehen lassen! Ihr müßt uns beide gehenlassen!« »Wie wollt Ihr dann erfahren, was ich weiß?« »BO-BO-BOSS!« Überall Schneeköpfe. Einer von ihnen hatte Minkis Standarte
erhoben. Er schwenkte sie hin und her, als wollte er damit den gegnerischen Truppen etwas signalisieren. Die Flagge an der Stange zeigte Minkis Kriegsemblem, einen schwarzhäutigen Juttahat in pechschwarzer Uniform, der kopfüber von einem Baum hing, die Eingeweide von einem Pfeil durchbohrt. »BO-BO-BOSS!« »BO-BO-BOSS!« »Warte einen Moment, Schneekopf, ihr alle!« Wenn er eine willfährige Rivalin der Königin in der Gewalt hatte, die sich den Menschen der wirklichen Welt als überzeugende Verbesserung gegenüber Lucky und als angemessener Ersatz für sie präsentieren ließ … ha! Er mußte jetzt seine Verführungskünste subtiler als je zuvor einsetzen – und hartnäckiger obendrein. Die Möglichkeit, Luckys Rache durch diese List abzuschmettern, wenn er schon aus dieser Anderswelt vertrieben werden sollte, war äußerst verlockend. Man mußte immer ein paar Eisen im Feuer haben, nicht wahr? Unterdessen … »Bo-bo-boß …« Ein Schneekopf heulte fast. »Solche Dinge kann ich Euch verraten, Paula Sariola. Und vielleicht kann ich Euch hier herausbringen, zurück in Euer wahres Königreich!« »Wir können unser Heim niemals verlassen«, widersprach Anna. »Mein Gunther hat es nicht geschafft, mich in seinen Armen fortzutragen.« »Vielleicht sollte ein Traumgeist nicht versuchen, nach einem toten Echo zu greifen.« Er zeigte auf das Dorf. »Außerdem sind alle Eure Häuser abgebrannt.« In Paulas Augen standen große Zweifel. »Ihr und Eure Rüpel
habt sie angesteckt!« »Rüpel, Eure Majestät?« Sollte er sie so anreden, um sie in Versuchung zu führen? Vielleicht machte er sie damit nur hochmütig. »Wenn Ihr freundlicherweise einen Blick auf Ainos Monstren dort drüben werfen würdet! Seht, wozu ihr Haß Eure Mitbewohner aus dem Dorf gemacht hat.« Herumtollende Ziegenmenschen und Kuckucksmenschen … Paula hatte die Stirn gerunzelt. Sie brauchte noch ein wenig Überzeugungsarbeit – worauf Minki sich ausgezeichnet verstand, solange er dem Aufruhr noch ein paar Stunden des Friedens abringen konnte. In diesem Augenblick war er der Wiese noch viel zu nahe, wo er dieses Reich zum ersten Mal betreten hatte. Wenn er und seine Schneeköpfe zu jener Wiese mit dem Bach und den cremefarbenen Wachsblumen getrieben wurden und er in einer verzweifelten Situation gezwungen war, mit dem Fahrrad in irgendeine Richtung zu springen, nun, dann mochte er sich unverhofft ganz allein auf der felsigen Landspitze über dem See der Schöpfung wiederfinden. Oder er mochte im Wasser des Sees landen, nach Luft schnappend, während sein Fahrrad unter ihm versank. Irgendwo hinter dem Bach mußte der Eingang zu einem Tunnel oder zu einem Höhlensystem liegen. Sein Vater Ragnar hatte diese Anderswelt unter dem angeblich bodenlosen See ohne Zuhilfenahme eines Sprungfahrrads betreten. Sein Papa hatte sich einfach von einer Klippe hinuntergestürzt und war dann von Wasser-Näkkis weiterbefördert worden. Aino war auf dieselbe Weise hergekommen, das stand fest. Sie wußte genau, wohin sie unseren Minki treiben mußte. Er durfte sich noch nicht in diese Richtung abdrängen lassen.
Minki schirmte seine Augen gegen das dunstige Sonnenauge im Zenit ab und blickte zur gewellten, sich immer wiederholenden Landschaft aus Wäldern und Seen hinauf, vor der der Rauch vom Kerzenpalast aufstieg. Sogar unter einem bodenlosen See konnte all dies unmöglich Platz finden. Dieser Ort war aus Mana gewoben. Vielleicht war das Volumen recht bescheiden. Doch je tiefer man eindrang, desto kleiner wurde man selbst und auch die Landschaft, so daß diese Anderswelt eine Vielzahl von Orten enthalten konnte, die sich mehr oder weniger ähnlich waren. Man würde überhaupt nicht bemerken, daß man zu einer Miniatur geworden war, nicht größer als ein Käfer, schließlich so winzig wie ein Gedanke. Die Luft wirkte dabei als Linse, die alles vergrößerte, was weiter entfernt schien. Und diese Linse trübte sich nun. Wo auf der Wölbung der Innenwelt befand sich der Ort, zu dem die Poetin gegangen war, wo sie so mächtig geworden war? (Wenn auch keinesfalls allmächtig!) Wenn Minki dorthin ging, wohin sie gegangen war, und das fand, was sie gefunden hatte, könnte er dann seine betörenden Verführungskünste zu einer befehlsgewaltigen Macht steigern? So daß seine Schneeköpfe unverwundbar wurden und er selbst ebenfalls, damit er vor Lucky geschützt war, wenn er aus eigenem Entschluß diesen Ort verließ? Ja, er würde ihn gemeinsam mit einer ergebenen blonden Zwillingsschwester der Königin verlassen, die an die Stelle der Verrückten im Pohjola-Palast treten sollte! Aino Nurmi hatte ihn nicht vertrieben. Sie hatte ihn angespornt. Sie hatte ihn vor weichen Kissen und Erschlaffung bewahrt. Doch für den Weg nach draußen war es noch zu früh.
Vorher gab es noch Schätze zu bergen. Minki, der JuttahatJäger, war der Mann, der alle Möglichkeiten ausschöpfen wollte. Er ließ das Fahrrad rollen. »Jungs!« rief er seinen Schneeköpfen zu. »Zu einem Krieg gehören Märsche und Feldlager. Wir werden andere Dörfer erobern, sie plündern, um unseren Proviant aufzufrischen, und sie dann vielleicht in Schutt und Asche zurücklassen. Ja, wir werden sie abfackeln. Wir werden in diesem Krieg nicht zimperlich sein. Unsere Feindin wird uns verfolgen und uns auflauern. Sie wird nicht lockerlassen, weil wir nach dem suchen werden, was sie entdeckt hat. Und als Gäste« – worauf die Schneeköpfe grinsten und kicherten – »werden uns ihre beiden Freundinnen begleiten, von denen eine für mich große Wichtigkeit besitzt. Natürlich sind mir beide wichtig«, fügte er galant hinzu. »Wir werden sie äußerst zuvorkommend und aufmerksam behandeln.« »Ha-haben wi-wir das nicht schon die gan-anze Zeit gegetan, Bo-bo-boß?« »Wie soll ich irgendwohin marschieren?« beschwerte sich Anna. »Ich habe keine Schuhe. Mein Gunther wird Euch erwürgen.« Unter normalen Umständen – und wenn er nicht so radikal abgenommen hätte – wäre Gunther dieses Vorhaben vielleicht geglückt. Doch wenn der Träumer wieder auftauchte, während sie marschierten und lagerten, verfügte er kaum über die nötige Masse, um Minki auch nur im geringsten zu beunruhigen. Ohne jeden Ballast war er kaum mehr als ein Sack voller Daunen. »Nun, meine Damen, die Sache ist so. Natürlich müßt Ihr
nicht marschieren. Ihr zwei werdet von je einem meiner Schneeköpfe huckepack genommen.« Auf diese Weise erhielten die Damen außerdem weniger Gelegenheit zur Flucht. Anna starrte entsetzt auf einen grinsenden Schneekopf, dessen Gesicht vor nässender Akne so rosa wie das eines Schweinchens war. Sollte sie ihre Schenkel gegen solche Wangen pressen? »Ich werde laufen!« »Nein, Ihr werdet reiten.« Paula dachte nach. Sie strich über ihr gerüschtes Kleid, als hätte sich darauf Asche von der Feuersbrunst abgelagert. »Wenn ich so wichtig bin, sollte ich wohl reiten, oder nicht?« Aha, entwickelte sie bereits eine gewisse Eitelkeit? »Die Juttis tragen ihre Schlangenmeister um die Schultern gewickelt«, sagte Minki ermutigend. »Was sind Juttis?« fragte das Echo der Königin. Anna machte ein genauso verständnisloses Gesicht. »Das sind die Diener der Alien-Schlangen. Riesenhafte Alien-Schlangen suchen die Welt außerhalb heim.« »Schlangen?« kreischte Paula. »Mein sogenanntes Königreich ist voller riesiger Schlangen? Laßt mich sofort zu meinen Freundinnen zurückkehren, auch wenn unser Dorf abgebrannt ist!« »Nein, nein«, erwiderte Minki schnell. »Sie suchen nicht die ganze Welt heim. Eigentlich sind es gar nicht sehr viele. Nur ein oder zwei Handvoll. Solange man nicht nach ihnen sucht, wird man kaum eine zu Gesicht bekommen. Sie leben unter der Erde und lassen sich so gut wie nie blicken, ehrlich!« »Ihr versucht mir Angst zu machen …« »Nein, das war nicht meine Absicht.« »Lieber diese Schneeköpfe, die ich kenne, als diese Juttis, die
ich nicht kenne! Darauf soll es doch hinauslaufen, nicht wahr?« »Um genau zu sein, die Schlangen werden Isi genannt. Die wenigen, die es gibt. Seht Ihr, wieviel ich Euch noch erzählen muß?« »Will ich es wirklich wissen? Wir hatten soviel Vergnügen, bevor Ihr kamt …« »Und auch danach hattet Ihr noch jede Menge Vergnügen – durch mich sogar noch mehr –, bis Aino sich einmischte!« »Sie hat uns keine Angst gemacht.« »Dafür tut sie es jetzt.« Minki zeigte auf die Streitmacht der Poetin, auf die Tiermenschen und die Riesenkuckucke. »Es wäre mir lieber, Gunther würde uns diese Dinge erzählen«, entgegnete Anna. »Dann wüßte ich, daß sie wahr sind.« »Ihr seid unschuldig«, sagte Minki, »also braucht Ihr Schutz.« Anna warf ihrem Verführer einen vernichtenden Blick zu. »Wahrscheinlich werden wir in anderen Dörfern noch andere Eurer Schwestern finden, meine verehrten Damen.« »Und dann ihre Dörfer niederbrennen?« Anna war wirklich sehr aufmüpfig. Verflucht sei dieser träumende Eindringling! Es war Gunther Bock, nein, Beck, der es verdient hatte, daß man ihn erwürgte, während er in irgendeiner Burg schlief. Träumte Beck nur bei Nacht? »Tiefer, als irgendein Mensch je zuvor geträumt hat«, hatte er geprahlt, als sein Traumgeist in Minkis Liebeslaube eingedrungen war. Schlief er auf gewöhnliche Weise? Oder war es eher eine Art ausgedehnter Schamanentrance, die eine Woche dauerte, einen Monat oder gar noch länger? Das konnte der Grund dafür sein, warum Beck so dünn geworden war, während er vor noch gar nicht allzu langer Zeit
Unmengen von Speck auf den Rippen gehabt hatte. Gunther zehrte von seinem Fett – er fastete nicht nur, um eine Vision heraufzubeschwören, sondern war vielleicht gar nicht in der Lage, etwas zu essen. So wie eine Schlange, die Winterschlaf hielt, ha! »Wie schafft es Euer Gunther, so lange zu schlafen?« wollte Minki von Anna wissen. Vielleicht wußte sie es, aber sie sagte es nicht. »Wir we-we-werden ma-ma-marschieren, Bo-bo-boß. Wir we-werden Dö-dö-dö-dörfer für Euch ni-ni-ni-niederbrennen. Wir re-re-re-reißen Aino ins Ve-ve-verderben …« Um die Moral zu heben, war es Zeit für eine Beförderung. Er rief: »Wer von euch hat das blonde Hühnchen gefangen?« »I-i-i-ich«, meldete sich einer der rotgekleideten Genossen. Minki erhob seine Stimme. »Das hast du gut gemacht. Als Belohnung bist du von nun an meine rechte Hand. Du weichst nicht mehr von meiner Seite.« Der Näkki sah klebrig genug aus, daß er sich vielleicht nie wieder von ihm lösen konnte. Minki stieg vom Fahrrad, nahm seinen Helm ab und brachte seine kastanienbraunen Locken zum Vorschein. Dann riß er den Helmbusch aus schwarzem Ponyhaar ab. Er lief mit energisch federnden Schritten. In manchen Träumen konnte man tanzen, in anderen Träumen war man dagegen so schwerfällig. Es war recht anstrengend gewesen, Anna die vielen Stufen zu seinem Schlafzimmer hinaufzutragen – jedoch keine unmögliche Anstrengung. In der gewöhnlichen Welt hätte er es niemals geschafft. Minki schob den Stiel des Helmbuschs durch einen Schlitz im Revers des Schneekopfes. Indem er seinen frisch beförderten
Leutnant dermaßen auszeichnete, stellte er gleichzeitig sicher, daß er ihn von den anderen unterscheiden konnte. Zufrieden trat er zurück. Freute sich der Schneekopf? Der aknegesichtige Näkki scharrte mit den Füßen. »Danke, Bo-bo-boß …« Er blinzelte seine Kameraden an, von denen einige verwirrt schienen. Waren sie nicht alle wie er? »Ha-ha-heißt das, auch i-i-ich wewe-we-werde j-jetzt Bo-bo-boß ge-ge-genannt?« »Du bist der Kleine Boß«, sagte Minki, »und ich bin der Große Boß.« Jetzt hatte er wenigstens für einen der Schneeköpfe einen besonderen Namen, was eine gewisse Hilfe war. »Du und du«, sagte er zu zwei anderen, »geht in die Knie, damit die Damen euch besteigen können.« Und als die auserwählten Träger sich niedergekauert hatten: »Kommt jetzt, meine verehrten Damen, steigt auf, und dann geht's los!« Anna hüllte sich schutzsuchend in ihre rosafarbenen Bänder, doch sie gehorchte. Desgleichen Paula. Als die Schneeköpfe sich aufgerichtet hatten, erhoben sich Anna und Paula fast genauso hoch über die Truppen wie die Fahne. Sie würden für die Menge der Musikanten und Tiermenschen sehr gut sichtbar sein – und besonders für die Poetin in den Kniebundhosen. Minkis Näkki-Männer verhöhnten ihre Feinde mit einem lauten Jubel. Angeführt vom Großen Boß auf seinem schwarzen JuttahatSprungfahrrad mit dem Kleinen Boß an seiner Seite und Armbrüste und Gewehre und Messer schwenkend, marschierten die Schneeköpfe in ungeordneter Formation los. Der Kerzenpalast brannte immer noch an mehreren Stellen, und es sah nicht so
aus, als wollte er schmelzen oder zerbröckeln. Auch wenn der Rauch den Himmel trübte, würde der Palast bestimmt ein gutes Leuchtfeuer abgeben, wenn sie die Landschaft hinaufwanderten, ohne zu spüren, daß sie einen Hang erklommen, und wahrscheinlich schrumpften, ohne sich kleiner zu fühlen. Inmitten ihrer tollenden Truppen schien Aino Nurmi zu zaudern, ob sie die Verfolgung aufnehmen sollte.
2 Verlorene Worte
Grausamkeit-Ungeheuerlichkeit-keit-keit … Aino hatte diesen Refrain schon einmal gehört, als sie diese Welt zum ersten Mal betreten hatte. Damals war das hallende keit-keit in ihrem Kopf nur ein schwacher Diskant der eindringlichen Stimme des Mondkindes gewesen. Ungeheuerlichkeit und Grausamkeit waren bald verebbt, genauso wie die animalische Qual ihrer Flucht in das Vergessen nachgelassen hatte, nachdem sie auf die Wiesenmädchen aus ihren Träumen getroffen war. Während ihrer vagabundierenden Reise vom Tal der Sprecher zum Ende der Welt war sehr vieles verschwunden. Natürlich hatte sie unter Fürst Osmos Fluch gestanden, doch sie war auch vom Schrecken getrieben worden, der ihr die Worte geraubt hatte. Worte wie Bruder, Worte wie Liebe … Als jetzt Minkis Palast am Rand des eingeäscherten Dorfes in Flammen stand, war der Hall in ihrem Kopf zurückgekehrt, derselbe verrückte Singsang wie damals, als ihre Kleider noch klitschnaß von ihrem Selbstmordversuch gewesen waren. Streitsüchtigkeit … Bösartigkeit … Ungeheuerlichkeit … Dies waren die häßlichen, sperrigen Worte, die sich für kein Gedicht eigneten. Sie applaudierten hallend ihrem Erfolg, Minki Kennan vertrieben zu haben, der einst versucht hatte, sie
zu schänden … Und ein gewisser Juko Nurmi hatte sich in einem heimlichen, verdorbenen Teil seiner Seele ebenfalls danach gesehnt. Aino war keine Dichterin mehr. Zu viele wertvolle Worte waren ihr abhanden gekommen. Dennoch hatte sie sich in diesem neuen Terrain aufgemacht, um nach Worten zu suchen. Vielleicht hatte sie kurz vor dem Erfolg gestanden – bis sie diesen Schuft erblickt hatte, diesen schamlosen Schurken. Ein Ziegenmann in braunem Rock tänzelte und schwenkte eine Sichel. In Jubel oder Verzweiflung schleuderte er diese hoch über die zusammengestürzten glühenden Trümmer, die einmal ein Haus gewesen waren. Als die Sichel sich schwirrend aus seiner behaarten Hand löste, war sie wie eine tödliche kleine Cousine des leuchtenden Bogens über dem nächtlichen Horizont des Landes, das Aino hinter sich gelassen hatte, wie ein Trümmerring von Kalevas einstigem Mond. Die gekrümmte Klinge beschrieb eine Kurve und kehrte im Bogen über den heißglühenden Schutt zurück. Gerda kreischte und klammerte sich an ihre Schwester Maria. Gerda und Maria waren fast wie Zwillinge, so daß man sie kaum auseinanderhalten konnte, solange man nicht in ihre Seelen sah – wie Aino es ansatzweise konnte, mit ihrem inneren Auge. Das eine Mädchen war eine rosarote Herzglocke, die wie in einer Brise flatterte. Das andere Echo-Mädchen war eine zitternde, violette Sternenblume. Diese Blüten waren ihre Herzen, ihr innerstes Wesen, betrachtet mit einem Blick, der anders als das alltägliche Sehen war. Die zwei Blumen rankten sich in Panik umeinander, als die fliegende Sichel zurückgesaust
kam – um eine von ihnen zu enthaupten! Aber nein, die Waffe flog genau auf die erhobene Hand des Ziegenmannes zu. Er fing sie am Griff auf. Er beschnupperte die Klinge mit Ziegennüstern, leckte sie mit seiner rauhen Zunge ab und stutzte ein paar Haare von seinem langen Bart. Maria und Gerda ließen sich wieder los, obwohl sie immer noch erschrocken schauderten. Nun, schließlich befanden sie sich auf einem Schlachtfeld. Kennan hatte sich vor einiger Zeit abwechselnd mit beiden vergnügt. Ach, manchmal auch gleichzeitig. Das hatten sie Aino arglos anvertraut. Waren Kennans Liebschaften nur ein Spiel gewesen und keine Bedrängung der Unschuld durch einen Schurken, dessen Anwesenheit diese innere Welt verdarb, der durch seine Paarungen immer neue eitergesichtige Kumpane und Näkki-Nachkommen zeugte, dessen Wünsche ihm einen fürstlichen Palast und einen ewigen feucht-fröhlichen Karneval zu seiner Belustigung verschafft hatten? Aino durfte in ihrem Zorn nicht zu tugendhaft werden. Juko war ein Tugendbold gewesen, nicht wahr? Und was hatte darunter gelauert? Zwischen unschuldiger Reinheit und Tugendhaftigkeit bestand ein erheblicher Unterschied. Ein scharlachrot gekleideter Trompeter mit keckem Spitzhut trötete. Aus seinem Instrument blies er hinterlistig einen Feuerpfeil in Richtung des brennenden Palastes. Ein Harlekin schlug einen Purzelbaum. Aber wer war das? Ein aufrecht gehendes, braun gestreiftes Tier mit habgierigen gelben Zähnen in der Schnauze! Diese wilden Knopfaugen, dieser lange nackte Schwanz wie
eine Peitsche. Es war ein Verrinmann. Er trug ledernes Geschirr und einen ledernen Rock. In den Krallen hielt er ein Lichtgewehr. Woher war er gekommen? Aino hatte einen beträchtlichen Karnevalszug von Kennan geerbt und ihn verwandelt, da der Störenfried ihn nach seinem Geschmack gestaltet hatte. Doch dieser Bursche war ihr bislang noch nicht aufgefallen. Der Verrinmann wirkte wie der Inbegriff der Grausamkeit. In ihren Näkki-Truppen gab es viele Monstren – oder solche, die monströs geworden waren. Nicht daß sie, in deren Adern Mutantenblut floß, davor erzittern sollte. Die Augen ihrer Mutter Ester mit den rechteckigen Pupillen waren die einer Ziege. Trotzdem! Ein Verrinmann … Sie entdeckte ein weiteres Exemplar, das mit einem gewaltigen rostigen Messer bewaffnet war – oder befand sich auf der Klinge das getrocknete Blut eines Schneekopfes? Woher waren all die vielen Schneeköpfe gekommen? Die andere Wiese in der Ferne wurde von mehr Schneeköpfen als je zuvor bevölkert. Als der Verrinmann mit dem Gewehr in Ainos Richtung schritt, wimmerte Inga: »Ihn mag ich überhaupt nicht.« »Er wird dir nichts tun.« Von den Echo-Mädchen hatte die große und schlanke Inga am meisten Ähnlichkeit mit Aino. Trotz des schwarzen Haares war Inga mit Sommersprossen übersät. Aino selbst besaß mehrere milchschokoladenfarbene Leberflecke auf der Wange und am Hals. Zum größten Teil wurden diese Verzierungen ihrer Haut vom seidigen gelben Haar verdeckt, das sie offen trug. Aino sagte beruhigend zu Inga: »Er wird dich vor der Unter-
drückung beschützen.« O ja, und vor Ausbeutung und Mißbrauch. »Alles ist anders und schrecklich – mit Ausnahme von dir, Aino. Jetzt ist Paula genauso wie Anna eine Gefangene! Was werden Minki und seine Schneeköpfe ihnen antun? Sieh nur!« Die winzigen Schneeköpfe hatten das blonde Mädchen und das kohlrabenschwarze Mädchen hoch erhoben … Der Verrinmann knurrte. Spucke sprühte, als er guttural sprach. »Kriegsfrau, greifen wir wieder an?« War sie dazu geworden: zu einer Kriegsfrau? Schneeköpfe waren abgeschlachtet worden, nur damit neue Schneeköpfe auferstanden. Aino bemerkte einen dritten Verrinmann in ihrer tollenden Menge, und ihr wurde übel. »Stürmen wir ihnen nach, Kriegsfrau?« Der Aufhetzer bleckte grinsend seine gelben Fangzähne. »Nein, noch nicht …« Diese Welt mochte durch die Zwietracht Schaden nehmen, wenn es immer mehr Kämpfer wurden … »Der Palast wird erst zu brennen aufhören, wenn wir alle Schneeköpfe weggeputzt haben …« Wußte er es ganz sicher? Ein solches Feuer, wie es aus den Fenstern und von den Spitzen des Palastes spritzte, hatte sie noch nie gesehen. Wie konnte Marmor glühen, als wäre er geschmolzen? Ein Kuckucksmann näherte sich ihr, starrte mit großen gelben Augen und horchte mit katzenhaften Ohren. Statt einer Nase besaß er einen brutalen Schnabel. Fleckiges grünes Gefieder bedeckte seinen Körper. Eine schlaffe, daunenbesetzte Membran verband seine Arme mit den Seiten seines Brustkor-
bes. Nur Ainos Vertrautheit mit so lieben Mutanten wie Lammas, dem Wollmenschen, ließ sie nicht zusammenzucken – und die Tatsache, daß Inga und ihre Schwestern ihr Vertrauen in sie setzten. In einer Krallenhand hielt der Kuckucksmensch eine dreizackige Harpune. Gewöhnliche Kuckucke waren als Quelle des Tratsches und nicht unbedingt der Weisheit bekannt. Was mochte ihr also ein Kuckucksmensch zu sagen haben? Krähend kündigte er seine Anwesenheit an: »Ukko-ukkoo!« »Sing uns ein Lied, erzähl uns eine Geschichte«, schlug sie vor. Der Kuckucksmann blinzelte. »Es wird Krieg in der Welt geben«, gab er bekannt. »Königinnen und Fürsten liegen im Streit, bis ein neuer Mond unter heftigen, blutigen Wehen geboren wird.« War dieses Geschöpf ein Prophet? Kein Erzähler dessen, was sich bereits zugetragen hatte, wie es bei gewöhnlichen Klatschvögeln der Fall war? War er gekommen, um ihre eigene erloschene Fähigkeit des Wahrsagens wiederherzustellen, damit sie besser entscheiden konnte, was sie nun tun sollte? »Wie kann es mehr als eine Königin geben?« fragte sie den Kuckucksmann. Seine Worte waren bestimmt keine Anspielung auf sie selbst, nur weil sie jetzt eine kleine Armee befehligte … die durchaus noch umfangreicher werden mochte. Das Problem mit Prophezeiungen war, daß die Empfänger sie nur allzu leicht mißverstanden, weil ihr Urteilsvermögen durch ihre Wünsche getrübt wurde. »Welche Königinnen?« hakte sie nach. »Bis das Mondkind geboren ist«, krächzte die grüngefiederte
Gestalt, »entwurzelt durch eine gewaltvolle Aufspaltung.« »Du bist unsere Königin«, sagte Inga bebend. Ihr Tonfall verriet, daß sie um ihrer selbst und ihrer Schwestern willen hoffte, daß dem tatsächlich so war. Aino mußte diese Verrinmänner und anderen Wunderwesen unter Kontrolle halten – oder was konnte sonst geschehen? Aino, die Königin der Näkkis … gegen Minki Kennan, den Fürsten weiterer pickelgesichtiger Näkkis. Sie mußte achtgeben, daß sie sich nicht vom Stolz mitreißen ließ und von falschen Voraussetzungen ausging. »Paula ist das Echo von Königin Lucky«, sagte sie zum Kuckucksmann. Kennan hielt Paula jetzt als Gefangene und präsentierte sie wie eine Trophäe auf der Schulter eines Schneekopfes. Der Verrinmann unterbrach sie. »Die Feinde gehen.« Das stimmte. Die Schneekopfmenge hatte sich in Bewegung gesetzt – aber nicht in Richtung des Tunnels, durch den Aino dieses Reich betreten hatte. Irgendwo dort wäre der beste Platz für Kennan gewesen, wieder nach draußen auf die Klippe über dem See zu springen, mit seiner seltsamen Maschine, die verschwinden und anderswo wieder auftauchen konnte. Falls Kennan die Absicht hatte, von hier zu verschwinden. Nachdem er mit Feuer aus seinem Palast vertrieben worden war, hatte sie gehofft, Kennan würde dieses Reich verlassen. Doch wenn er Paula – oder Anna – mitnahm? Nein. Minki wäre wohl kaum dazu in der Lage, beide Mädchen auf seiner Fahrmaschine mitzunehmen. Vielleicht konnte er die eine oder die andere dazu zwingen oder dazu betören, ihn zu begleiten … aber das durfte nicht geschehen.
»Greifen wir sie jetzt an, Kriegskönigin?« Kriegskönigin! Wie die Augen des Verrinmannes leuchteten! Wenn sie den Feind jetzt verfolgte und bedrängte, mochte Minki Kennan in Panik geraten. Er mochte ein Mädchen auf sein Fahrrad packen, seine Schneeköpfe im Stich lassen und sie so weit fortbringen, daß nur noch Aino ihnen folgen konnte. Trotzdem hätten sie einen großen Vorsprung, und Aino müßte dafür ihr Reich im Stich lassen. Konnten Paula oder Anna das Mondkind wirklich verlassen? Wie sollte das möglich sein? Kennan war es womöglich egal, ob sie überlebten. »Fürs erste lassen wir sie ziehen«, sagte sie zum aufrecht gehenden Tier. »Damit der Krieg nicht zu schnell vorbei ist?« Wie der Verrinmann grinste! Falls er nur wegen und während dieses Kampfes existierte, konnte er sich kaum ein vorzeitiges Ende wünschen. »Was ist mit Paula und Anna?« »Inga, hör mir zu: Wenn wir jetzt handeln, könnten wir Kennan aufschrecken. Er könnte eine eurer Freundinnen fortbringen … zu dem Ort, von dem ich gekommen bin. Wir könnten Paula oder Anna für immer verlieren.« Inga nickte, obwohl sie eigentlich gar nicht daran glaubte, daß es irgendwo anders einen solchen Ort gab. Trotz ihrer liebevollen Treue mußte es ihr zweifelhaft erscheinen, ob die Schneeköpfe verfolgt werden sollten. »Der Krieg könnte zu schnell zu Ende sein«, sagte Aino zum Verrinmann. »Wir müssen beobachten, wohin sich unsere Feinde wenden und was sie tun, bevor wir sie bestrafen können.«
Kennans Truppen bewegten sich in die Richtung, die sie selbst während ihrer Reise durch das Mondkind genommen hatte. Was mochte er auf dieser Route entdecken, wenn er sie mit Gier und Groll im Herzen beschritt? »Kannst du fliegen?« fragte sie den Kuckucksmann. »Kannst du Minki Kennan und den Schneeköpfen durch die Luft folgen, als unser Kundschafter?« Der Kuckucksmensch wedelte mit den Armen. Daunenartige Membranen blähten sich auf. »Um vorauszusehen, Kriegskönigin?« »Um in die Ferne zu sehen. Und vielleicht auch die Zukunft vorherzusehen? Kannst du beides sehen, Kuckucksmann?« Das Geschöpf dachte nach. Es drehte den Dreizack in seiner Hand um und kratzte sich mit einer Zinke am Hintern. »Der Krieg soll nicht aufhören«, krähte es. »Der Sohn wiederholt Ragnars Untergang, gespiegelt und vergrößert.« Der Sohn wiederholt Ragnars Untergang … Auf ihrer Reise hatte Aino die Geschichte dieses Ragnar gehört. Ragnar war der einzige, der zuvor in das Mondkind eingedrungen war. Er hatte seinen Launen gefrönt, bis seine Unbeherrschtheit und Unbesonnenheit die Näkki-Bewohner gegen ihn aufgebracht hatten und er mit Pauken und Trompeten verjagt worden war. Bislang hatte sie Ragnars Nachnamen nicht gewußt. Doch jetzt kannte sie ihn. Ragnar war Minki Kennans Vater gewesen! Das erklärte, wie Minki den Weg hierher gefunden hatte, um die hemmungslosen Torheiten seines Vaters zu wiederholen. Jetzt war ein wilderer Kampf als der damalige Aufruhr innerhalb des Mondkindes im Gange. Der Funke war Ainos Wut
auf Kennan wegen seines wüsten Benehmens – ein Nachhall von dem, was sie selbst durch van Maanen erlitten hatte – und von Jukos heimlichen Sehnsüchten! Dieser Funke hatte einen ganzen Palast entflammt, eine Kerze des Krieges. Was hatte der Kuckucksmann gesagt? Königinnen und Fürsten liegen im Streit … Würde auch in der äußeren Welt ein Spiegelkrieg ausbrechen? Würde sich der Zwist in der äußeren Welt hier drinnen abbilden? Eine dunkle Vorahnung der Hilflosigkeit ergriff Aino. Die Hilflosigkeit würde ihr Verderben sein. Rauch trübte das Sonnenauge. Mana-Nebel stiegen wallend von Seen auf, die weiter oben in der Landschaft lagen, als würden auch sie brennen. Wie konnte sie das Schicksal dieses Ortes und ihr eigenes erraten? »Wirst du fliegen und spähen?« wollte sie wissen. Während er den Dreizack in einer Krallenhand hielt, breitete der Kuckucksmann seine Arme aus, so daß sich die Membranen spannten. Er nahm Anlauf. Hals über Kopf stürmte er davon, springend und flatternd. Schwerfällig erhob sich der Kuckucksmann und löste sich von der Wiese. Nachdem er den Boden verlassen hatte, verbesserten sich bald seine Flugkünste, und er schraubte sich höher hinauf. Bösartigkeit … Ungeheuerlichkeit … Das waren nicht die Worte, nach denen sie gesucht hatte, als sie sich vor einer ganzen Weile auf den Weg gemacht hatte … Die Zeit, die Aino zusammen mit Paula und den EchoSchwestern in ihrem Dorf und auf den umgebenden Wiesen
verbracht hatte, war angenehm erholsam gewesen. Doch die schöne Zeit mußte irgendwann ihren Reiz verlieren. Diese liebevollen Maiden waren so verträumt, so zufrieden mit ihrem Zustand der Glückseligkeit, mit ihren fröhlichen Ritualen des Spielens und Tanzens und Bewunderns. Sie konnten stundenlang eine der cremefarbenen wächsernen Blumen betrachten und ganz darin aufgehen. Dann sprangen sie irgendwann achtlos davon, als wäre ihre Seele von den Blütenblättern aufgesogen worden, so daß sie nun nichts mehr davon wußten. Es war nicht so, daß die Echo-Mädchen sich eingeschränkt fühlten. Die Landschaft breitete sich rings um sie herum aus und zeigte noch in weiter Ferne Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Wohnort mit Wäldern, Wiesen und Seen. Wenn es anderswo genauso war, gab es keinen zwingenden Grund, sich mit dem Anderswo zu beschäftigen. Anscheinend hatten sie gelegentlich andere Dörfer besucht, in denen andere Mädchen und freundliche Näkkis wohnten. Wann das gewesen war, spielte keine Rolle. Das Wann war niemals wichtig. Eines Tages war Aino von ihren Freundinnen fröhlich in ein Häuschen mit Schindeldach geführt worden. Auf dem Küchentisch hatte ein offenes, in Leder gebundenes Buch gelegen. Es war das Buch des Landes der Helden. Es konnte kaum Ainos eigenes Exemplar gewesen sein, mit dem sie gewahrsagt hatte! Doch dieser Fleck am Rand der Seiten, diese abgewetzte Stelle oben am Einband … Zumindest war es eine naturgetreue Nachbildung ihres Exemplars. Aino war fasziniert und begeistert. Würde das Buch ihr wertvolle verlorene Worte zurückgeben? »Woher kommt dieses Buch?«
Nun, ein Näkki hatte zu Gretel gesagt, sie würden hier in diesem Haus auf dem Küchentisch eine Überraschung vorfinden. Aino hatte ein wenig über Bücher erzählt und daß sie darin lesen konnte, was sich sehr klug anhörte. Gretel und ihre Freundinnen konnten sich nicht erinnern, jemals ein Buch gesehen zu haben. Dies war offenbar eins, das jede Menge Spaß versprach. »Sing uns ein Lied, erzähl uns eine Geschichte!« riefen sie im Chor, als wäre Aino ein Klatschvogel. Wochen voller Entzücken standen bevor. Töpfe und Pfannen aus Messing hingen an Haken, außerdem eine große Säge. Ein hölzerner Waschzuber stand neben einem Spinnrad. Cremefarbene, mit Gänseblümchen bemalte Teller waren auf einem Küchenbord aufgereiht. Sie erinnerten Aino an das gläserne Briefbeschwererauge, das Ruokokoski für sie gemacht hatte, bevor er es aus Verdruß darüber, daß sie ihm das Schicksal seiner Tochter geweissagt hatte, zerschmetterte. Die Pupille dieses falschen Auges hatte aus einem Gänseblümchen bestanden. Als Aino sich über das Buch beugte, stellte sie zu ihrer Bestürzung fest, daß sie die Schnörkel auf dem Papier gar nicht verstehen konnte. Winzige Schlangen und Kreise und Kerben, daneben Winkel und kleine Kästchen und Kringel mit Schwänzen oder Stielen oder Querbalken. Die Zeichen kamen ihr vertraut vor, doch gleichzeitig bedeutungslos. Sie konnte nicht ein einziges Wort lesen! Nicht einmal, als sie ihr Auge mit einer Hand zuhielt und versuchte, mit dem anderen Auge in ihrem Kopf zu sehen. »Was ist los …?«
»Gefällt dir unsere Überraschung nicht …?« »Willst du uns keine Geschichten vorlesen …?« Sie war wie vom Donner gerührt gewesen. Ihr Herz klopfte rasend. Sie blätterte Seite um Seite um, in der Hoffnung, andere Blätter würden vielleicht ihre Bedeutung preisgeben, doch das gesamte Buch blieb ihr unverständlich. Die Buchstaben waren völlig richtig. Sie war überzeugt, daß sie sie schon oft gesehen hatte. Obwohl sie sie deutlich erkennen konnte, war sie blind für die Zeichen. Sie hatte ihre Bedeutung vergessen. Nachdem sie bereits die Anmut der Worte verloren hatte, war jetzt auch ihr Auge blind dafür geworden! Verzweiflung ergriff sie. Dabei hatte sie geglaubt, daß ihre Seele sich wieder zusammenfügte … Im Gegenteil, sie war zerrissener als je zuvor. »Was ist los, meine Liebe …?« Wurde sie allmählich genauso wie Paula und Gretel und Inga? Würde sie ihr Leben, ihre Vergangenheit vergessen? Zu einem Echo ihrer selbst werden? Sie glaubte zu ersticken. Nein, sie durfte nicht auch noch die Herrschaft über ihre Zunge verlieren! »Ich kann nicht lesen!« »Du hast aber gesagt, du könntest es …« »Wolltest du uns auf den Arm nehmen …?« »Ich kann es nicht! Ich bin blind für dieses Buch!« »War es dein fehlendes Auge, mit dem du lesen konntest?« fragte Gretel. »Nein!« hatte Aino protestierend gewimmert. Sie hatte sich gewunden und enttäuscht auf das Buch eingeschlagen. In diesem Moment hatte sie voller Übelkeit in ihrem Kopf dieselbe
Stimme gehört wie damals, als sie klitschnaß nach ihrem Selbstmordversuch gewesen war. Es war die singende Stimme des Mondkindes. Ein Besprecher darf nicht lesen können, damit seine Macht der Worte nicht geschwächt wird … Das war richtig. Besprecher konnten nicht lesen. Und Mana-Priester auch nicht. Die Priester lernten die Worte auswendig und sagten sie dann auf. Aber was hatte das mit ihr zu tun? Frauen waren keine Besprecher – zumindest keine richtigen. Weise Frauen mochten Zaubersprüche und Beschwörungen aufsagen. Doch sie konnten niemals nach Art eines van Maanen oder Juko besprechen. Nein, auf keinen Fall! Aino hätte sich von ganzem Herzen gewünscht, sie könnte sich weit von jenem Hügel mitten im Tal der Sprecher fortsprechen, als sie dort auf widerliche Weise den Blicken der Zuschauermenge ausgesetzt gewesen war, als sie zur Trophäe des Wettkampfes zwischen dem vernarrten Fürsten Osmo und ihrem abscheulichen Bruder bestimmt worden war. Wie sehr hatte sie es sich gewünscht! Doch ihr Wunsch war ein zartes Gänseblümchen, das in einen Haufen Scheiße getreten wurde. Ihr Wunsch hatte nicht mehr Macht gehabt als der Furz eines Aasvogels. Was beabsichtigte das Mondkind damit, sie der Kunst des Lesens zu berauben, ihren Geist für die Bedeutung des Geschriebenen blind zu machen? Vielleicht hatte sie seine Stimme gar nicht gehört, sondern war einfach nur verrückt geworden. Vielleicht war ihr Gehirn
nicht mehr als eine Höhlung, in der verrückte Echos von inneren Wänden hin und her geworfen wurden, hinter denen ihre verlorene Gabe für Worte und Schönheit eingesperrt war. Jetzt war eine neue innere Wand errichtet worden, auf der sinnlose Schlangen und Kreise und Striche gekritzelt waren, die nur noch Karikaturen von Buchstaben darstellten – Worte, die durch eine verzerrende Linse betrachtet wurden. Wie strahlend die Kochtöpfe an ihren Haken glänzten. Wie verwirrt Maria und Gerda, Gretel und Anna, Paula und Inga dreinblickten, weil ihnen nun die Geschichten verwehrt blieben, auf die sie sich so sehr gefreut hatten. Vor allem Inga, die so sehr wie Ainos Zwillingsschwester mit dunkleren Sommersprossen aussah, zumal sie von gleicher Größe und Gestalt war. Inga war eigentlich nicht vor Enttäuschung niedergeschmettert, sondern nur ein wenig ratlos. Um wirklich enttäuscht sein zu können, hätte Inga wissen müssen, was verlorengegangen war: all die Worte, die kostbaren Worte, die nur noch sinnlose Kringel darstellten. »Sei nicht so traurig, Aino – es macht doch nichts.« Inga streichelte sie zärtlich und dennoch inbrünstig. Sie drückte Aino an sich, strich über ihr Haar und küßte sie. Die Wärme des in Spitze gekleideten Körpers war angenehm und tröstend für Aino. Ihr Atem und ihre Haut hatten einen zarten, süßen Duft, so wie morgendlicher Honigtau auf einer frisch erblühten, von der Sonne geküßten Blume. Aino verspürte daraufhin ebenso den Drang, feuchte Blütenblätter in sich zu öffnen, eine geschlossene, verletzte Knospe schwellen zu lassen. Wenn dies dein Wunsch ist, hörte sie in sich die Stimme des Mondkindes, dann kann es deine Zukunft sein.
»Nein …« protestierte sie und löste sich aus Ingas lockerer Umarmung. »Aber ich liebe dich«, murmelte ihr dunkles, gertenschlankes Ebenbild. Aino hatte im See der Schöpfung nach bitterem Vergessen gestrebt. Hier war die Alternative: eine zuckersüße, zarte Vergeßlichkeit. Oder du kannst zu dem Ort wandern, wo ich in meinem Nabel bade. Du kannst zum fernen Teich der verlorenen Worte reisen … Sollte dies tatsächlich ein Angebot sein? Aino war ihrer Worte beraubt worden. Wenn sie sich dafür entschied, Inga zu lieben, wäre mehr verloren als gewonnen. Sie erinnerte sich unwillkürlich an den Juttahat Tulki-zwanzig, der ohne eine führende Stimme in seinem Kopf verloren wäre. Sollte das Mondkind für sie zum Gegenstück eines Isi werden? Oder sollte sie sie selbst sein und einsam bleiben? Das Gefühl der Gegenwart des Mondkindes verursachte ihr Unbehagen. Sollte sie nach der Quelle eines so übelkeiterregenden Drucks suchen? Eine solche Reise mochte ähnlich wie ein Versuch verlaufen, gegen den Zwang von Fürst Osmos Besprechung ins Tal der Sprecher zurückkehren zu wollen. In gewisser Weise entsprach dieser Vergleich tatsächlich ihrer Situation, denn in diesem Tal hatte der Verlust ihrer Worte begonnen. Könnte sie sie jetzt wiedergewinnen, in diesem seltsamen Teich oder Nabel, wo das Mondkind in sich selbst schwamm? Eine derartige Aussicht erzeugte gleichzeitig Widerwillen und Hoffnung. Du kannst reisen und mich mit deinem inneren Auge erblicken …
Wenn sie nicht in dieser Küche wäre, nicht in diesem Dorf, würde sie dann überall um sich herum das Mondkind sehen? Verfügte es über eine eigene Verkörperung? Sie entschied sich. »Inga, Paula, ihr alle: Ich gehe fort. Aber ich verspreche, daß ich zu euch zurückkommen werde …« Ainos Reise wurde lang, sowohl was die Entfernung als auch was die Zahl der Tage anging. Wald folgte auf Gehölz, See folgte auf Gewässer. Hier war ein Weiler mit fröhlichen Maiden und gastfreundlichen Näkkis; dort stand eine einsame Hütte auf einer Lichtung oder neben einer Wiese. In einer solchen Hütte mochte ein altes Weib oder ein Näkki- Holzfäller wohnen, wo Aino Unterkunft gewährt und ihr am Morgen den Weg gezeigt wurde. Das Bild der gewellten Landschaft veränderte sich, während sie reiste. Als sie sich nach einer Weile über die Schulter umblickte, war sie fast sicher, daß sie Ingas Dorf (und Paulas und Annas) winzig in der Ferne sehen konnte – zumindest eine Zeitlang. Obwohl sich das Panorama änderte, blieb die Ähnlichkeit erhalten. Wenn sie immer weiter durch dieses Reich marschierte, würde sie dann irgendwann wieder an ihrem Ausgangspunkt ankommen? Sie glaubte es nicht. Der Horizont schien sich fortzukrümmen. Die Höhlungen und Kammern, die sie ganz zu Anfang mit ihrem inneren Auge innerhalb des Mondkindes erspäht hatte, waren von unbestimmter Größe gewesen, eben noch riesig wie ein Tal, dann kaum größer als eine Nußschale. Als sie sich nun daran erinnerte, verstärkte sich in ihr das Gefühl, daß die scheinbare Unermeßlichkeit ihrer Umgebung
irreführend war. Es war offenbar so, daß das Land und seine Bewohner und sie selbst immer kleiner wurden, je weiter sie vordrang. Inzwischen war sie vielleicht nicht größer als ein Daumennagel und ein Baum nicht länger als ein Finger. Irgendwann würde ein Baum so winzig wie ein Fingernagel sein und sie selbst wie ein Staubkörnchen. Doch im Verhältnis zu einem Baum oder einem See – der dann nur noch eine Pfütze wäre – war sie genauso wie immer. Zuerst hatte sie den Eindruck, daß sie an jedem Tag ihrer Reise viele Kims zurücklegte. Allmählich aber konnte die Entfernung, die sie zwischen Morgen und Abend bewältigte, nicht größer sein als zwischen Kimme und Korn. Und später dann nur noch ein Kümmelkorn. Ein Körnchen in der Leere krümmt sich um den Kern bis es kommt zur Kehre … Worte fehlten. Sie hatte einen Finger in ihre Augenhöhle geschoben, um daraus behutsam den Geist einer Träne fortzuwischen. Irgendwann stieß sie tief im Wald auf einen Teich. Er war von Harfenbäumen in vollem jadegrünen Laub umgeben. Das Unterholz bestand aus fruchttragenden Nippelbeerbüschen und blühenden Jisminsträuchern. Zuerst erhaschte Aino nur kurze Blicke auf den Teich. Der Duft des Jismins war berauschend und sinnlich. Die Beeren
glichen rosa Brustwarzen. Die unzähligen Saiten zwischen den Zweigen und den Baumstämmen summten. Die Erinnerung an die blökenden Harfenbäume rings um das Tal der Sprecher quälte sie. Aino setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, damit die Saiten bei ihrer Annäherung nicht aufheulten. Der Teich war bewohnt. Im Wasser hockte ein großes rundliches, halb untergetauchtes Geschöpf von rötlich-brauner Färbung. Es wälzte sich wie eine angeschwollene trächtige Sau, der aufgerichtete Rumpf mit rostfarbenem Schlamm besudelt. Und es bewegte sich. Du hast meinen Nabel erreicht … Aino wurde von einem Übelkeitsanfall geschüttelt. Sie mußte einen Jisminzweig abreißen, die Blätter unter ihrer Nase zerbröseln und tief einatmen. Sie pflückte Nippelbeeren, die bis zum Platzen mit rosarotem Saft gefüllt waren, und stopfte sie sich in den Mund. Harfenbaumsaiten vibrierten mit einem melodiösen Seufzer, als sie sich einen Weg zum Ufer suchte. Der Teich war gerade dreimal so groß wie sein massiver Bewohner. Dieses Geschöpf war gleichzeitig eine fettleibige Frau und ein rotbraunes Tier und vielleicht noch mehr. Die Kreatur war ein Alien, aber völlig anders als ein Juttahat. Wenn ein übergroßer Isi seine Schlangenwindungen zu einem dicken Turm zusammengerollt hätte, die dann miteinander verschmolzen wären, käme etwas Ähnliches dabei heraus. Der im Wasser ruhende Torso glich einem runden, braunen Bottich aus Fleisch. Zitzen ragten aus Brust und Blähbauch hervor. Kleine Hände wackelten, zum Greifen viel zu kurz. Der Kopf, der auf dieser Masse balancierte, sah aus wie eine große braune Kugel mit einem feuchten Mundschlitz, einer Stummel-
schnauze und eingesunkenen roten Augen. Dazu abstehende Segelohren. Hennafarbenes Haar war zu einem so straffen Dutt gewickelt, daß es auch ein fester Knauf sein mochte. Überall auf dem fetten Körper wuchs ein rötlicher Flaum in verschlungenen Kringeln. Konnte dieses Wesen jemals aufstehen? Befanden sich Beine unter dem Körper? Gab es riesige Watschelfüße? Es besaß keinerlei Arme, wohl aber Hände, und davon eher zu viele. Falls es jemals seine Masse aus dem Teich heben sollte, wäre es wohl nur imstande, sich rollend fortzubewegen. Warum sollte ich jemals mein Haus aus tragendem Wasser verlassen? Ach, dann war dies seine dauerhafte Wohnstatt … Seine oder ihre? Es war wohl eher weiblich – oder? Königin Lucky ist weiblich, lautete die übelkeiterregende Antwort, genauso wie all ihre Töchter. Demzufolge mußte dieses Geschöpf in weiblicher Gestalt auftreten? »Warum hast du dich entschieden …?« Aino konnte nicht fortfahren. Warum hatte sich das Mondkind für diese groteske Anatomie als Verkörperung seiner selbst entschieden? Natürlich war dies nur ein Teil von ihm, so wie auch der Nabel nur ein Teil eines Menschen war. Warum also nicht eine anmutige, sylphenhafte Gestalt? Vielleicht so anmutig wie du selbst? Übelkeit, wie sie sie niemals beim Anblick vertrauter, freundlicher Trugmenschen erlebt hatte, durchströmte Aino in Wellen.
In der Maßlosigkeit mußte die Antwort liegen. Das Mondbaby hatte sich maßlos gesättigt, bis ihm von all den aufgesaugten Gefühlen Kalevas schlecht geworden worden war – von all den wilden Leidenschaften, vom Übermaß der Wut und Eifersucht und des Wahnsinns und erotischen Affekts. Genauso wie Königin Lucky war es aus dem Gleichgewicht geraten. Daher ruhte es beinlos in einem Teich und machte sich auf einen gewalttätigen Anfall gefaßt, auf eine schwierige Geburt nach einer so wüsten Schwangerschaft. Es war der gefallene Mond aus Ainos Gedichten: ein Mondsame, der in den See gestürzt war, um dort heranzureifen und sich von den heftigen Gefühlen zu ernähren, die das Mondbaby selbst stimulierte – und die es wiederum erniedrigten und verdarben, so daß es in zweifacher Hinsicht gefallen war. Eines Tages würde es sich heftig und gewaltvoll erheben – um Reife und Gelassenheit zu erreichen? Die dünnen Sabberlippen teilten sich. Obwohl kein Laut herausdrang, der die Harfenbäume zum Summen gebracht hätte, hörte Aino: Erblicke mich mit deinem inneren Auge. Auch wenn sie fürchtete, sie könnte in einem Augenblick der Blindheit in den Teich gezerrt werden (doch wie sollten solche Stummelhände nach ihr greifen?), schloß Aino ihr rechtes Auge. Eine aus Sternen bestehende Sylphe ragte aus dem Phantomwasser, das Wort und Mana war, eine schöpferische Flüssigkeit. Hinter einem Sternenohr erhob sich eine cremefarbene Wachsblume wie ein größeres Ohr, das auf die Musik oder die Disharmonie des Lebens lauschte. Und jetzt saß die funkelnde Sylphe auf einem Felsblock. Der
Felsen war riesig und schwamm dennoch. Sie war eine Gigantin. Am Fuß des Felsens bildeten Geschöpfe eine Brandung aus welligem Fleisch. Es waren schlangenhafte und menschenartige Geschöpfe, achtbeinige und fischgleiche, vogelähnliche und formlose. Hier befand sich der Quell der Existenz, und das Murmeln der Brandung erzählte Trillionen von Geschichten des vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Lebens. Geschichten versanken im Wasser, gingen verloren und tauchten wieder auf, während die Sylphe mit den Sternenzehen in der Gischt planschte. All dies spielte sich in einer Höhle ab, die aus einem vibrierenden Geflecht von Leere und Raum gewoben war, eine große Blase, die sich auf ihrer eigenen Oberfläche spiegelte. Denn sie war in sich geschlossen und enthielt nur sich selbst. Vorübergehend teilte sich diese Blase in Hunderte gläserner Blasen auf, bis sie sich wieder vereinigten. Diese Blase war ein riesiges Auge, das nach innen blickte (denn das Innen war seine einzige Perspektive), und es sah sich selbst als elfenbeinfarbene Blume, zuerst als Knospe, dann blühend und welkend und schließlich wieder als Knospe – und gleichzeitig als puppenhaftes Wesen, das sich aus elfenbeinfarbenen Blütenblättern bildete, die auf einem Teich aus Mana-Nebel trieben, in dem Sterne glommen … Bade mit mir … Gemeinsam mit diesem Ungeheuer in einem Teich? In Greifweite dieser Stummelhände? Nein, gemeinsam mit dieser Sylphe! Während Aino ihr rechtes Auge geschlossen hielt, streifte sie ihre Sandalen ab und zog ihr Kleid aus. Sie war blind und nahm
dennoch Nebel, Sterne und Blüten wahr, als sie in den Teich stieg. Kühle Flüssigkeit umschloß ihre Waden, umspülte ihre Jungfräulichkeit und ihren Nabel. Als sie sich hinkauerte, umspielte die Lymphe des Mondkindes ihre Brustwarzenbeeren. Harfenbaumsaiten summten, und Jismin duftete süß. Sie fragte: »Wo sind meine verlorenen Worte?« Tauche unter … Nicht schon wieder in einen See, nicht in eisernes Wasser! Nicht ertrinken! Sollte sie ihr äußeres Auge öffnen und in ihrer unmittelbaren Nähe ein großes braunes Geschöpf sehen, das sich von Wahnsinn ernährt hatte? Aino senkte den Kopf, und ihr Haar hob sich wie ein seidener Schleier. Flüssigkeit spülte in ihre leere Augenhöhle. Unter Wasser hielt sie den Atem an. Den Atem, der Worte spricht. Vor Schreck atmete sie Lymphe ein, die Körperflüssigkeit des monströsen weiblichen Mondkindgeschöpfes, seine oder ihre Nährlösung, den Urin. Sie hörte: Mädchen, komm zu mir in der Nacht, Nimm von mir diese Worte der Macht: Lindre meine Lust und zügle meinen Zorn, Sei du die Herrin und ich der Born. Frag und flieg, sieh den Sieg, Mensch und Magus, Königin und Krieg. Blätter bleiben unbeschrieben, Wenn wir nur die Weisheit lieben.
Sei verführt und tief gerührt, die Glut geschürt und heiß verspürt. Sei wortgewandt wortgewaltig unverwandt vielgestaltig Nimm diese Worte der Macht und Mühe, Mädchen, komm, solange ich blühe … Hustend kroch Aino ans Ufer, bevor sie ihr gewöhnliches Auge wieder öffnete. Jetzt hatte das Ungeheuer die Augen geschlossen. Die kleinen Hände hingen schlaff herab. Die rötlichen Härchen standen von dem fetten Körper ab, gekringelt und knisternd, eine gekräuselte Korona. Während Aino im Teich war, mußte ein Näkki ihr Kleid gestohlen haben. Statt dessen sah sie über blättrigen, verblühten Büschen ausgebreitet: eine weiße Rüschenbluse, Kniebundhosen aus braunem Leder mit Messingschnallen und einen grauen Mantel. Stiefel standen wartend da – wie amputierte hohle Füße. Ainos nackte Zehen zerquetschten zersetzte Nippelbeeren, hinterließen rosarote Schmierflecken. Die Büsche hatten all ihre Beeren abgeworfen. Dann bemerkte sie ihr Kleid. Es war fast völlig unter verwelkten Jisminblüten vergraben. Zeit war vergangen. Viel Zeit. Nachdem sie sich schnell angezogen hatte, verließ sie den Teich, ohne sich noch einmal nach seinem Bewohner umzublicken, und flüchtete durch die Wälder.
Was hatte das monströse Geschöpf des Mondkindes ihr gegeben? Was hatte es gemeint? Vielleicht zwei gegensätzliche Dinge auf einmal! Es schien Aino dazu aufgerufen zu haben, es von rasenden Trieben zu erlösen, und gleichzeitig schien es ihr die Fähigkeit verliehen zu haben, eben diese Triebe auszuleben. Als Aino über viele Waldhütten und Näkki-Weiler zu Ingas Dorf (und Paulas und Annas) zurückgekehrt war, sah sie, wie ein weißer Marmorpalast mit blutroten Wimpeln über der Ansiedlung aufragte. Sie wollte ihrem Auge nicht trauen. War sie an einen anderen Ort zurückgekehrt? Ein ausgelassener Karneval war in vollem Gange. Minki Kennan amüsierte sich.
3 Winterkrieg
Schneegestöber wirbelte vor einem aschgrauen Himmel. Im Zenit war die Zwielichtsonne nur noch ein Geist, weniger schon als ein Mond. An diesem Abend würde sie möglicherweise vollständig hinter Ruß und Schneeflocken verschwinden. Hinten – dem Anschein nach vielleicht fünfzig Kims entfernt und durch die Wölbung der verblassenden Landschaft erhöht – strahlte der winzige Kerzenpalast in hellerem Licht. Er brannte ständig weiter, ohne sich zu verzehren, ein leuchtender Klecks, der Helligkeit in der Düsternis verbreitete. Der Rauch und das Schneetreiben würden niemals seine Sichtbarkeit beeinträchtigen. Sein Kerzenschein brach sich durch die Luftschleier, als wären der Schneesturm und die Rauchwolken Mana-Linsen. Manchmal wirkte sein Bild größer, manchmal kleiner. Weder die Entfernung noch der Dunst oder kalte Böen dämpften sein Erscheinungsbild. Mehr als das schwächer und trüber werdende Sonnenauge warf dieses Leuchtfeuer einen bleichen Phosphorschein über die schwelenden Ruinen eines einstmals glücklichen Dorfes und den knöcheltiefen Schnee. Köverbäume beugten sich unter blassen Hauben zu Boden. Noch nie war ein Schneesturm durch dieses Reich geweht, bevor Aino und die Schneeköpfe Krieg geführt hatten. Jetzt wirbelte unberechenbares Schneetreiben. Diffuse Frostphantome streiften räuberisch durch die Wälder, um zu beißen und ihre Opfer dann in weißen Mull zu
verpacken. Die Luft war kalt – ein eisiges Gas. Immer noch tollten Flocken. In einem Wäldchen aus Moschusbäumen und Jalven mit wolligen Bommeln aus Schnee schienen kleine Kerzen auf den Zweigen zu brennen, als würde der Palast von ferne hundertfach reflektiert. Die schwarzen Knochen der Hütten ragten verkohlt und gebrochen auf. Niedergemähte Näkkis lagen herum. Einige waren sauber durch heißes Licht getötet worden, andere durch Bolzen aus Armbrüsten. Die meisten jedoch waren langen Messern zum Opfer gefallen. Maria und Gerda trösteten drei bibbernde dunkelhaarige Maiden, die Wolldecken über ihre dünnen Chiffonkleider geworfen hatten. Ainos Freundinnen waren in warme Mäntel aus goldbraunem Verrinfell gehüllt und trugen Pelzmützen mit Troddeln und fellgepolsterte Stiefel. Sie selbst hatte ihren Umhang gegen einen ähnlichen Mantel ausgetauscht, der ihr grinsend von einem ihrer Verrinmänner gereicht worden war. Indem Gerda und Maria mit liebevoller Hingabe Trost spendeten, pflegten sie vielleicht gleichzeitig ihr eigenes Entsetzen angesichts dieser Grausamkeiten. Inga hielt sich dicht an Ainos Seite. Ihre Sommersprossen wirkten wie Blutspritzer von den Leichen. »Liebste Aino, was wäre, wenn du nicht …« »Wenn ich was nicht?« Inga suchte nach einem Wort. Ihr zuvor vergnügliches Leben war zu einem verschwommenen Traum geworden. Was nun geschah, überstieg beinahe ihr Begriffsvermögen. »Wenn du dich nicht eingemischt hättest.« Da war er: der behutsame Tadel, die Andeutung, daß viel-
leicht alles wieder gut sein würde, wenn sie die Verfolgung durch den Wald aufgaben. Daß dann das Sonnenauge wieder über den Wiesen lächeln würde. »Siehst du nicht, was für ein Mensch dieser Minki Kennan ist?« fragte Aino sie. »Ein Mörder und Räuber. Ohne Rücksicht! Ein schleimiger Rüpel mit einer Bande von Rüpeln.« Und sie selbst? Inga betrachtete einen habgierigen Verrinmann, der ein langes Messer an seinem Pelz polierte. Die Leichen seiner NäkkiArtgenossen schienen ihm völlig gleichgültig zu sein. »Wenn ich nicht die Kontrolle behalte«, flüsterte Aino. »Wenn ich meine Truppen nicht anführe …« Inga erschauderte und schlang die Arme um ihren Körper. »Wo ist Paula?« fragte sie in plötzlicher Panik. »Wo ist Anna?« »Er hat sie geraubt, erinnerst du dich?« »Natürlich. Arme Mädchen …« Inga starrte auf die drei Flüchtlinge, die Minki zurückgelassen hatte. Sie waren Aino oberflächlich bekannt, weil sie von ihnen während der Reise zum Teich, wo das Monstrum sich gesuhlt hatte, und auf dem Weg zurück über Nacht beherbergt worden war. Minki würde sich bestimmt nicht mit noch mehr Gefangenen belasten wollen. Er hatte die Maiden zurückgelassen und ihre Häuser niedergebrannt, damit sie Aino belasteten und behinderten. Doch sie wollte sich nicht mehr als nötig behindern lassen. Sie ging zum verzweifelten Trio hinüber, während Inga neben ihr hertrottete wie ein schlaksiges zahmes Fohlen, das ihre Hand mit süßem, feuchtem Atem nach einem Stück Zucker beschnupperte – eine aufwühlende Erinnerung an eine unmögliche Alternative. Nachdem Minki Kennan sie zugeritten hatte.
»Mädchen, seid tapfer«, sagte Aino zu den dreien, was nicht gerade eine Besprechung war. »Geht zur Kerze, die mitten im Schnee brennt, und wärmt euch daran. Dazu ist sie da.« Hoffentlich fiel Schnee, damit die Wälder nicht durch Feuerpfeile und heißes Licht in Brand gesteckt wurden. Sie winkte zwei Musikanten in scharlachroter betreßter Uniform, die sich auf den ersten Blick gar nicht so sehr von der roten Lederkluft der Schneeköpfe unterschied. Einer hielt eine Trompete, mit der er in der Schlacht brennende Pfeile verschoß, und der andere ein langes Schwert, das aufgrund des trichterförmigen Korbes vorher vielleicht eine Posaune gewesen war. Sie salutierten ihrer Anführerin, indem sie sich an die spitzen Hüte tippten. »Leute, ihr werdet diese Damen sicher zum Kerzenpalast geleiten, habt ihr verstanden?« »Aber nicht hinein«, sagte der Trompeter. »Natürlich nicht.« Wie sollte jemand diesen Scheiterhaufen aus glühendem Wachsmarmor betreten? »Dort wartet Buttermilchbrot und Eintopf auf euch.« So soll es sein. Der Palast sollte den Anwohnern als Ofen und Kochkessel dienen. Das tropfende Wachs sollte zu Brot und Suppe werden. Ein Verrinmann winkte mit einem Lichtgewehr. »Seht!« Durch Ruß- und Schneeflocken kam der Kuckucksmann zurückgeflattert. Auf den ersten Blick wirkte seine Silhouette größer als zuvor, da die Spannweite seiner Flügelarme genauso breit wie die Äste der Bäume schien, über die er flog. Pfiff der Kundschafter, um seine Rückkehr zu signalisieren? Über der Glut senkte er sich und landete. Seine Krallenfüße hüpften über die Asche, dann über den Schnee, wo sie eine
schwarze Spur druckten. Ein schrilles Pfeifen begleitete ihn, als würden Lippen gegen ein Blatt blasen. Der Ziegenmann ließ einen Dunghaufen fallen, stampfte nervös mit den gespaltenen Hufen und schwenkte seine Sichel. Der Kuckucksmann sprach. »Kriegsfrau, ich habe einen Schneekopf mit meinem Dreizack aufgespießt! Ich habe einen Baum auf ihn gepflanzt.« Er zeigte auf ein Loch in seiner flaumigen Membran, der Ursprung des Pfeifens während seines Anfluges. »Ein Bolzen fuhr durch meinen Flügel.« Das Loch wirkte zu klein, als daß ein gefiederter Pfeil hindurchgepaßt hätte. »Ich kam mir riesig vor, Kriegsfrau. Die Schneeköpfe am Boden wirkten winzig.« War es möglich, daß der Kuckucksmann etwas von seiner Größe beibehielt, wenn er vorausflog, vom Boden losgelöst? Konnte er sich hinabstürzen und Paula oder Anna mit seinen Krallen packen, um sie emporzutragen und in Sicherheit zu bringen? Zumindest ein Stück! Nachdem er sich ein Mädchen geschnappt hatte, würde es sicher während seines Rückfluges in seinem Griff wachsen, bis seine Flügelschläge es nicht mehr tragen konnten – sofern er kein Minimädchen zurückbrachte, was furchtbar wäre und schlimmer als gar keine Rettung. »Hol deinen Kuckuckskollegen«, sagte Aino zu ihrem Kundschafter. »Ich will, daß ihr beide losfliegt und versucht, Paula und Anna aus der Gewalt von Kennans Truppen zu entreißen – im Dunkeln.« Als das Sonnenauge zu einer toten grauen Scheibe geworden war, die kaum noch zu erkennen war, hatte sich die Szenerie immer mehr verfinstert. »Bei Kerzenschein müßtet ihr genügend sehen können.«
»Ein Kuckuck sieht alles«, prahlte der daunige Kundschafter. »Aber meine Arme schmerzen.« Schmerzende Arme konnten nicht einmal ein leichtgewichtiges Mädchen vom Boden emporheben. »Dann werdet ihr morgen fliegen!« Und zwar sehr früh, solange die Schneeköpfe noch kalt und erschöpft waren. Nachdem Aino nun ihren Plan entwickelt hatte, richtete sie ihre ganze Leidenschaft darauf. Natürlich würde das Vorhaben gelingen. Kennan würde in dicke Felle gekuschelt sein. (Mit wem würde er sich kuscheln? Quälende Frage!) Er würde überrascht sein. Ebenso seine Schneekopf-Wächter, die ihre empfindlichen Aknegesichter vor dem Frost schützten. »Anna …« »Anna …« »Psst, Anna …« In der kühlen Dunkelheit bildeten die Köverbäume einen halbkreisförmigen Zaun mit einer Markise aus lockigem Laub rings um das Biwak der Schneeköpfe. Die gebogenen Äste waren vom Schnee freigeschüttelt worden, bevor die Armee sich schlafen gelegt hatte. Neue Flocken waren seitdem gefallen und hatten leise einen neuen Baldachin aufgebaut. Auf einer Matratze aus Köverzweigen, die von den Bäumen in der Nähe geschnitten worden waren, lag Anna in Felle gehüllt, die die Schneeköpfe bei der Plünderung der Hütte eines NäkkiWaldbewohners erbeutet hatten. Dicht neben ihr schlummerte der Schneekopf, der sie seit dem Beginn des Marsches auf den Schultern getragen hatte. Ihr Handgelenk war durch einen langen Lederriemen an seins gefesselt. Minki Kennan schlief in
seinem eigenen kleinen Zelt. »Psst, Anna, ich bin bei dir.« Ein Druck an ihrer rechten Seite, ein Körper, der sich gegen ihren preßte. Die Stimme ihres Erweckers zitterte: »Ich bin's, Gunther, mein liebstes Hühnchen.« Seine Zähne klapperten. Tiefste Finsternis herrschte unter den Köverbäumen. Vom Himmel war nur ein wenig Grau zu sehen. Durch das verwischte Leuchtfeuer des Kerzenpalastes lag ein unbeständiger Perlmuttglanz auf den Schneemützen des Waldes. Doch das gespenstische Licht konnte die Dunkelheit nicht erhellen. Der flüchtige Schimmer vertiefte eher noch die Nacht, in die das Lager gehüllt war. Gunther zitterte krampfhaft. Anna bewegte sich vorsichtig, um nicht an der Leine zu zerren, und öffnete die Felle, um ihn zuzudecken. Seine nackte Masse stieß gegen ihr Spitzengewand, das ihr nur noch als Unterrock diente. »Ich kann dich spüren …« Sie konnte zwar nicht seine Männlichkeit spüren, die vor Kälte geschrumpft war, aber sein Körper war greifbar! Er hatte Substanz gewonnen. Er war fester geworden. Er legte seinen Arm um sie. »Und ich kann dich spüren, nach so langer Zeit! Aber psst …« Bloß nicht durch ihr Geflüster den Schneekopf wecken, der so nahe lag, oder den zweiten Träger, der neben Paula schlief, oder Minki Kennan, der im Zelt schnarchte, oder seinen Leutnant Kleiner Boß, der draußen davor schlief. Und auch nicht die Wachen, die taub im Freien auf Posten standen, wo die Mehrheit der Schneeköpfe wie im Koma lag und langsam eingeschneit wurde.
Das verzweifelte Flüstern! Die Freude der Berührung, seit Jahrhunderten versagt! Wenn Gunther nur nicht so nackt und verletzlich wäre – abgesehen vom harten kleinen Medaillon zwischen seinen Brustwarzen! Wenn er nur angemessen für diesen überraschenden Winter gekleidet wäre! Doch dann würde sie ihn nicht und er sie nicht so überzeugend spüren. Sie murmelten Zärtlichkeiten und schmusten. Er war so kalt und stahl ihr die Wärme. Die Inbrunst verbannte das Zittern für eine Weile. Ihr Schneekopf-Träger, der durch den Riemen an sie gekettet war, schlief immer noch. Wenn Gunther doch nur ein Messer gehabt hätte und bekleidet wäre! Trotz der Freude, die sie miteinander teilten, schien sein Gewicht eher dem eines Kindes als dem eines erwachsenen Mannes zu entsprechen. Auf jeden Fall geringer als ihr eigenes. Sie verstand, wie sehr er sich während seines heldenhaften Winterschlafes verzehrt hatte, in dem er tiefer träumte, als jemand je zuvor geträumt hatte, um sie zu finden. Dennoch! »Du bist leichter als ich, mein Fürst, meine Liebe.« »Um so mehr fühle ich mich anwesend – und ganz auf dich konzentriert, Anna.« Unbestreitbar. »Wenn ich dich weiterhin wiederfinde …« Würde er dann genügend Festigkeit erlangen, um bei ihr in diesem Reich zu bleiben? »Ach …« Wie konnte er hierbleiben, während sein winterschlafender Körper in der Wiege in Beckburg lag und vom Monitor sicherlich bald geweckt würde? Dazu Kälte und Dunkelheit, dieser unheimlich brennende Palast und die geschändete Anna. Dieses Traumreich war für sie zu einem Alptraum
geworden! Sein Medaillon drückte gegen ihre in Spitze gehüllte Brust. Sie berührte es. »Sieht mein Porträt alt oder jung aus?« flüsterte sie. Sie war in hohem Alter gestorben – an Herzversagen –, während er ständig jugendlich geblieben war. Bisher hatte er ihr über das Medaillon nicht mehr verraten, als daß sie darin war. »Hast du mich dem Künstler beschrieben, oder hat er mich gemalt, nachdem ich gestorben war?« »Anna … bitte sei nicht schockiert. Was ich an meinem Herzen trage, ist ein Stück deines Schädels.« Sie hätte ihn fast fortgestoßen. »Dieser Ort ist nicht wirklich«, sprach er eindringlich. »Doch! Aino, unsere Freundin, sagte, sie sei aus der wirklichen Welt hierhergekommen. Wir haben ihr nicht geglaubt. Wir haben sie nicht verstanden. Nachdem ich mich jetzt an dich erinnere, glaube ich, daß ich es verstehe.« »Aino ist tot. Ihr wurde befohlen, sich zu ertränken.« »Minki Kennan hat dieses Fahrrad, mit dem er unverzüglich von einem Ort zum anderen springen kann. So ist er hergekommen. Wenn du doch nur auf einem solchen Fahrrad kommen könntest und nicht in einem Traum!« Gunther seufzte. »Wohin kommen, Anna? Wo ist hier?« »Aino und Kennan wissen es.« »Hat er dich wieder belästigt? Nein, sag es mir nicht.« »Er hat es nicht getan. Und er wird es nicht tun. Ich würde mich umbringen.« »Wie willst du …?« Nein, er mußte sie nicht an das Schädelfragment erinnern, das er bei sich trug. »Du darfst an so etwas nicht einmal denken.« Er zitterte krampfhaft.
Sie umarmte ihn. »Ich werde es nicht tun. Außerdem ist er viel mehr an Paula interessiert. Er will, daß sie in der Welt außerhalb von hier zur Königin wird.« »Was? Kann man euch von diesem Ort fortbringen, zurück in die Welt? Ge-ge-ge-geht das?« Seine klappernden Zähne zerhackten die Frage, so daß er wie ein Schneekopf stotterte, und sie schrak zusammen, als hätte man sie geschlagen. »Wa-wa-wa-was ist lo-lo-los?« Die Leine zerrte an ihrem Handgelenk. Ihr Wächter richtete sich auf. »We-we-we-wer ist da-da-das da, verehrte D-dame?« Gunther rollte sich fort. Hastig setzte Anna sich auf und öffnete ihren Fellmantel, als würde ein großer Vogel seine Flügel ausbreiten, um ihn zu verbergen. Als die Kälte sie durchdrang, hüllte sie sich wieder in den dicken Mantel. »Es ist nichts passiert!« Doch das Rauschen von Flügeln war zu hören. Zwei große dunkle Silhouetten erschienen über den Bäumen und senkten sich über das Biwak. Zwei von Ainos Kuckucksmännern drangen aus der Luft in das Lager ein. Als ihr Wächter aufsprang, tat sie es ihm gleich. »Vo-vo-vo-vorsicht, Vö-vö-vö-vögel!« brüllte der Schneekopf. Er zerrte Anna mit sich ins Freie, während er die Schlafenden mit Stiefeltritten weckte. Paulas Schneekopf war aufgestanden. Als er bemerkte, was sein Kamerad tat, folgte er seinem Beispiel, wobei er Paula hinter sich herzerrte. Sie stolperte und kreischte, nachdem sie so unsanft aus dem Schlaf gerissen worden war. Kleiner Boß stotterte etwas in Kennans Zelt. Kennan taumelte verwirrt heraus.
Die Wächter hoben Armbrüste und Lichtgewehre. Andere Schneeköpfe, die noch benommen waren, rannten in der Dunkelheit gegen ihre Kameraden. Obwohl die Kuckucksmenschen sehr groß schienen, verfehlte ein heller Strahl aus heißem Licht sein Ziel. Der blendende Strich riß die Finsternis schmerzhaft auf. Das Sichtfeld wurde in zwei dunkle Segmente unterteilt, bis der Schein allmählich verblaßte. Wie paßten diese riesigen Kuckucksmenschen nur in ein solches Segment? Flügel schlugen. Schnäbel hackten. Krallen packten. Schneeköpfe irrten schreiend herum. Ein Feuerstoß explodierte im Bauch eines Angreifers. Kennan hatte ein Explosivgeschoß abgefeuert. Federn und Daunen regneten herab. Kreischend brach der Vogelmensch in der Luft zusammen, stürzte auf Schneeköpfe und riß ein halbes Dutzend mit in den zertrampelten Schnee. Wie konnte er nur so groß sein? Der andere Kuckucksmann hatte Paulas Fellmantel an den Schultern gepackt. Seine Flügel arbeiteten und wirbelten ein heftiges Schneegestöber auf, bis er höher stieg und Paula von den Beinen riß. Doch der Riemen war immer noch mit ihrem Wächter verbunden. Der Arm des Schneekopfes hob sich. Paulas Arm wurde nach unten gezogen. Schwebend drehte sich der Kuckucksmensch im Kreis. Überall waren dunkle Schatten, die nur stellenweise von Nachbildern des heißen Lichts und der Explosion überlagert wurden. Dann senkte sich der Kuckucksmann wieder hinab, bis Paulas Stiefel den Boden berührten. Sein Schnabel schnappte, schloß sich und riß. Der Vogelmensch stieg wieder auf. Unter ihm hing Paula und unter ihr am Riemen eine Hand. Der Schneekopf schrie
und hielt seinen Armstumpf, aus dem Blut spritze. Dann löste sich die Hand und fiel herunter. Kurz darauf ging der Schneekopf in die Knie. Versuchte er, die abgetrennte Hand wieder am Gelenk zu befestigen? Andere Schneeköpfe stießen Messer in die große gefiederte Leiche auf dem Boden. »Aaaaa«, rief Paula in der Luft, während sie immer höher stieg. »Aaaaa.« Kennan schwenkte wild eine Armbrust. »Kommt zurück, kommt zurück!« Der Kleine Boß entdeckte ein Lichtgewehr. Der Große Boß schlug die Waffe zur Seite. »Welches Mädchen hat er mitgenommen?« rief er. »Welche war es? Wo ist die andere?« »Hier, Bo-bo-boß!« Annas Wächter zerrte sie aus dem Getümmel. Konnte Minki in der Dunkelheit die Farbe ihres Haares bestimmen oder feststellen, ob sie Zöpfe trug? Enttäuscht schrie er: »Wer bist du? Du bist Anna, stimmt's? O verdammt! Du bist verdammt! Diese Mutantenhexe hat mich beraubt. Du bist nur Anna.« Hinter einem pechschwarzen Köverbaum humpelte ein nackter Geist hervor. »Wie kannst du es wagen, Winzling!« »Nein, Gunther, geh!« flehte Anna. Und als Minki die Armbrust auf ihn richtete: »Tut ihm nicht weh!« »Ihm weh tun? Er ist ja gar nicht richtig hier – obwohl das schon zuviel ist. Wehe mit dem Wind davon, Quälgeist!« Gunther hieb seine Fäuste gegeneinander, um sie zu kräftigen, spannte seine Finger und schlug sich auf die bloßen Schenkel. Doch die Vorsicht schien sich durchzusetzen, denn er trat einen Schritt zurück.
»Hört mich an, Minki Kennan! Ihr könnt mich nicht in einem Traum töten. Ich warne Euch: Mein Traumkörper gewinnt Substanz.« Kennan nahm eine Hand von der Armbrust, um sich zu kratzen. »Tatsächlich? Dieser tote Vogelmensch ist recht groß … Er kam durch die Luft und nicht Schritt für Schritt wie wir. Ich wußte es, je weiter wir marschieren, desto mehr schrumpfen wir. Also könnte auch ein Traumgespenst dichter werden. Kleiner Boß, mach dich nützlich. Suche meinen Helm!« »Ich bitte Euch, Bursche«, sagte Gunther, »laßt meine Anna frei.« Minki grinste höhnisch. »Ihr dürftet im Augenblick nicht in der Lage sein, um Euch um jemanden zu kümmern. Ihr seid ja fast blau! Warum habt Ihr Euch ohne Eure Kleidung schlafengelegt? Ich vermute, weil Ihr gleich zur Tat schreiten wolltet, wie?« Anna hätte Minki eine Ohrfeige versetzt, wenn ihr Wächter nicht gerade seinen Arm in die andere Richtung bewegt hätte, so daß ihre Hand zurückgerissen wurde. Sie nieste heftig, mehrere Male. »Seht, was Ihr angerichtet habt, Fürst Beck. Euretwegen hat sie sich erkältet.« Der Traumfürst bibberte. Außerdem kündigte sich ein Krampfanfall an. Er begann zu schwanken. »Es d-d-d-dämmert, G-g-großer Boß.« Der Kleine Boß reichte Minki seinen Helm. Im Zenit war das Sonnenauge wieder zu ahnen, eine kaum sichtbare Scheibe. Gunther flimmerte und verschwamm. Zum Schluß nieste er.
Es war plötzlich so heiß und hell. Warmes Wasser taute ihn auf. Der Duft nach Jismin. Es war, als wäre er nach seiner frostigen Bloßstellung in eine Sauna getaucht. Zuerst machte ihn Schweiß oder schmelzender Reif blind. Er blinzelte einige Male – und sah dann den Teich, in dem er schwamm, in Gesellschaft eines rötlichbraunen Monstrums, das gleichzeitig eine fette Frau und eine Sau war. Die Haare auf ihrem Körper sonderten knisterndes Licht ab. Zu viele kleine Hände und zu viele fette Zitzen. Eine Leibesfülle, die ihn sogar in den Tagen seiner Völlerei beschämt hätte. Obendrauf balancierte ein Kugelkopf mit roten Schweinsaugen. »Pfefferkuchenfrau!« rief er. »Ich habe dich gefunden!« {IHR VERHUNGERT, LANGLEBIGER FÜRST. NÄHRT EUCH. NUCKELT VON MEINEM BREI. ICH BIN VOLL DAVON.} »WAS …?« {NÄHRT EUCH AN MEINEN ZITZEN. FÜTTERT EUREN KÖRPER, DER ZU HAUSE LIEGT.} War dies ein wahrer Traum oder eine Halluzination? Bisher hatte er ein Labyrinth aus Halluzinationen erlebt, durch das er immer wieder den Weg zu Anna gefunden hatte, nachdem er sofort die Echtheit dieser Spuren seiner lange verlorenen Frau erkannt hatte. Jetzt jedoch war er verwirrt. Wie lange war es schon her, seit er zu Alvar davon gefaselt hatte, daß er IsiDrüsensaft schlucken wollte, um so tief wie ein Magus in Winterschlaf zu fallen und dann den Pfefferkuchenmann im Herz der Ereignisse zu finden – nur daß es jetzt eine Frau war – und um zu bitten, daß Anna in seinem Traum wieder zum Leben erweckt wurde … Er hatte Anna gefunden. Doch er war nicht imstande, ihr zu
helfen. Bei ihrer jüngsten Begegnung hatte er sie zumindest berührt. Konnte er hier größere Wirklichkeit erlangen und so bei Anna bleiben? Vorausgesetzt, der Winter und der Krieg hörten auf, und er konnte sie aus der Gewalt ihres Entführers retten! Die Pfefferkuchenfrau hatte davon gesprochen, daß sein wirklicher Körper in Beckburg Nahrung brauchte. Könnte er sich von ihrer Milch oder ihrer Lymphe ernähren? Könnte er es über sich bringen, auch wenn es zum Wohl Annas war? Ach, sein Körper würde trotzdem in absehbarer Zeit erwachen. Elmer Loxmiths Maschine würde dafür sorgen. »Pfefferkuchenfrau«, flehte er sie an, »könnt Ihr Anna in die Welt und zu mir zurückbringen, fort von dort, wo immer sie sich jetzt aufhält?« {IHR MÜSST AN MIR NUCKELN, TRAUMFÜRST. IHR MÜSST MEINE ZITZEN KÜSSEN.} Die unmittelbare Nähe zu ihrer Leibesfülle war bereits beunruhigend genug – zu diesem Bottich aus Fleisch mit aufgerichteten und funkensprühenden Haaren. {BEFRIEDIGT EURE BEDÜRFNISSE.} An seinem Schenkel pochte die Stelle, wo die silberne Tätowierung den Schwan darstellte, der von einem Pfeil durchbohrt wurde und sich zur Form eines Herzens verschlungen hatte – das Emblem seiner todesverachtenden Leidenschaft. Er rückte näher und legte seine Lippen an eine Zitze. Etwas Süßes wie flüssiges Jismin drang pulsierend hervor. Wabbelige Finger streichelten seine Wangen, und sein eigenes langes Haar knisterte elektrisiert und stellte sich auf. Lebenskraft strömte durch jede Faser seines Wesens.
{GEBT MIR EUER SCHMUCKSTÜCK, TRAUMFÜRST.} Das Medaillon? {MIT DEM KLEINEN KNOCHENSTÜCK VON IHR DARIN. KNOCHEN IST DIE GRUNDLAGE EINES KÖRPERS.} Er sollte der Pfefferkuchenfrau das Fragment von Annas Schädel geben? Damit seine Liebe wieder in die weite Welt zurückkehren konnte? {WAS SONST HÄTTET IHR IM AUSTAUSCH ANZUBIETEN?} Wohl wahr. {REISST ES LOS.} Dieses Opfer verlangte Schmerzen … Gunther packte die Kettenglieder in der Nähe der beiden Brustwarzenringe. Er machte sich bereit und zog mit einem Ruck. Seine Brustwarzen rissen auf. Zwei kleine Sterne aus Feuer, zwei glühende Kohlen brannten in seiner Brust. Von den Brustwarzen tropfte Blut. Er wickelte die Kette um die armlose Hand, die ihn gestreichelt hatte. Die pummeligen Finger schlossen sich fest um den kleinen silbernen Behälter. {IHR MÜSST MICH BEI EINEM NAMEN NENNEN, TRAUMFÜRST. NENNT MICH EURE GELIEBTE MARIETTA …} Der Name der einzigen Frau, mit der er seiner Anna untreu geworden war! Der Name von Kullis Mutter, die in mittlerem Alter eine so große Ähnlichkeit mit Anna gehabt hatte … Marietta, die er sich ausgetrieben hatte, indem er ein Stück aus Annas Schädel sägte und seine Brustwarzen durchbohrte, um ihren Reliquienschrein an seinem Herzen zu tragen! Er fühlte sich betrogen und heulte: »Gebt es mir zurück!« {NARR! EURE ANNA WÜRDE NUR ALT WERDEN UND NOCH EINMAL STERBEN.}
Unter ihrem ohrenbetäubenden Gelächter stürzte er vorwärts in die Pfefferkuchenfrau und wurde in eine leuchtende Leere gepreßt, die mit fransigen Inseln aus Licht erfüllt war. Das Sonnenauge schien schwach, eine blasse, gespensterhafte Zitrone im Zenit. Der ferne Kerzenpalast verströmte ein flackerndes Licht, das die wirbelnden Flocken, den rauchigen Nebel, den geweißten Wald und die Lichtungen eher in einen schimmernden Schein tauchte als sie zu erhellen. Ein Musikant trompete eine Jagdmelodie. Haarige Verrinmänner knurrten kehlig zur Begleitung, während sie marschierten. Der überlebende Kuckucksmann hatte es nicht geschafft, Paula den ganzen Weg zurückzutragen. Seine Größe hatte sich verringert – oder ihre Masse zugenommen. Er war auf einer Lichtung gelandet, wo Ainos Armee irgendwann zu ihnen gestoßen war. Der Vogelmensch war erschöpft. Paulas Schultern waren trotz der polsternden Felle durch den festen Griff seiner Krallen wund geworden. Doch diese schmerzenden Quetschungen waren nichts gegen die Erfahrung des Fliegens – wie sie hilflos in fast völliger Dunkelheit gehangen hatte, als sie durch die Luft getragen wurde. »Die Finsternis, die Kälte«, erzählte sie Aino eindringlich, während sie gemeinsam zwischen bewaffneten Näkkis und all den vielen wilden Monstren unterwegs waren. »Ich erinnere mich jetzt wieder daran. Und an die Leere des Alls. Wir lebten in einer metallenen Eierschale und liebten die Leere, weil sie uns Angst machte. Unser Schiff hieß die Katarina.« Paulas frostiger Atem quoll wie Rauch aus ihrem Mund. »Das Raumschiff, mit dem Luckys Familie flog … es ist be-
rühmt.« »O ja, erzähl uns davon!« rief Gretel. »Erzähl uns die Geschichte!« Wenn nur genügend Zeit gewesen wäre, um anzuhalten und Geschichten zu erzählen! Nicht solange sie Minki auf den Fersen waren. Er hatte immer noch Anna in seiner Gewalt. Er war zum Teich der verlorenen Worte unterwegs. »Die Kälte und die Finsternis und die Leere – wie kann ich mich nur an soviel Leere erinnern? Dieser Gegensatz zu Licht und Wärme und Wohlgefühl und Freude!« Paulas Arme hingen steif herab, während sie ging. Sie konnte es nicht ertragen, sie schwingen zu lassen. Wegen Paula – und auch wegen ihrer Echo-Schwestern – kam die Armee nur langsam voran. Sollte Aino ihre Freundinnen mit einer Eskorte zum Kerzenpalast zurückschicken, damit sie sich dort zu den anderen vertriebenen Mädchen gesellen konnten? Damit würde Aino sie aus dem Auge verlieren. Für ihr inneres Auge hatte Paulas Seele den Umriß einer Seelenblume. Bislang war vor ihnen noch nichts von den hellroten Ledermonturen der Schneeköpfe zu sehen. »Verrinmänner!« rief sie. »ihr müßt vorauseilen. Drängt Minki Kennan von dieser Route ab. Setzt ihm zu, lenkt ihn ab!« So soll es geschehen. Die Tiermenschen grinsten voller Vorfreude und salutierten Aino mit krallenbewehrten Pfoten. Diejenigen, die Lichtgewehre getragen hatten, tauschten sie bei anderen Mitkämpfern gegen eine Pistole, eine Sichel, die nach dem Wurf zurückkehrte, oder ein langes Messer ein. Einige schoben die neuen Waffen unter ihr Ledergeschirr. Andere klemmten sie sich zwischen die
gelben Zähne, um sie mit starken Kiefern zu halten. Einer nach dem anderen ließen sich die Verrinmänner auf alle viere fallen und hoppelten über die niedergetrampelte weiße Fährte davon, auf der Spur von Minkis Armee.
4 Himmelsfeuer
Das Pony, das Roger Wex aus den Ställen des Ha-Hauses mitgenommen hatte, hieß Gutbrand. Nachdem Hermi mit seiner Mana-Kamera im Landhof aufgetaucht war und Wex von Minni den Auftrag erhalten hatte, nach Kulli zu suchen, hatte er sich mit dem Tier vertraut gemacht, indem er es mit Stücken braunen Zuckers fütterte. Das mochte schlecht für seine Zähne sein, aber es war bestimmt gut für ihr künftiges Verhältnis. Auf einem Schild über dem Stall war ein hochgereckter Daumen und ein kleines Brandeisen gemalt. ›Gutbrand‹ hatte ein Stallbursche daraus abgeleitet. Allerdings hätte man sich auch vorstellen können, daß die Symbole sich auf die Statur und die Stärke des Ponys bezogen, und vielleicht hatten sie auch diese Bedeutung. Gutbrand war stämmig und zottig, von kräftigem Körperbau und mit guten Muskeln. Er hatte einen sicheren Gang und gelenkige Hufe. Sein buschiger Schwanz hing fast bis zum Boden herab und eignete sich glänzend als Klatsche gegen Saugfliegen. Gutbrand war von graubrauner Färbung und hatte einen schwarzen Streifen auf dem Rücken, damit er sich unbeirrt auf sein Ziel ausrichtete. Eine dichte Mähne hing von seiner Kehle herab. Als der Morgen heller wurde, ermüdete sogar Gutbrand unter der Last der zwei Reiter auf seinem Rücken. Beide waren verhüllt – der eine in grauem Barchent mit Kapuze, der andere
in verblaßtem, zerlumptem grünen Gabardine, der vor allem auf der gepolsterten Schulter fleckig und ausgebleicht war, weil dort ein Kuckuck saß. Eigentlich trug Gutbrand drei Reiter – oder sogar vier, wenn man Wex' zweites Bewußtsein in seinem Kopf mitzählte, auch wenn das Gewicht seiner Wetware nur minimal war. Mittlerweile hatten sie den türkisfarbenen See weit hinter sich gelassen. Ein zugewachsener Weg wand sich durch ausgewachsenes Waldland, das hauptsächlich aus Horsmabäumen und Lakarien bestand. Sonnenschirme aus smaragdgrünen Wedeln stießen an glänzende schaufeiförmige Blätter. In der Nacht war der Himmel einigermaßen klar geblieben. Zuerst waren sie zügig durch Ackerland geritten, das im Perlmuttglanz der Himmelssichel lag. Dann ging es in den Wald. Dürftiges Licht sickerte durch das Laubwerk. Damit das Pony weitergehen konnte, hatte Wex den hellen Strahl einer Taschenlampe nach vorn gerichtet, bis in der frühen Dämmerung die Batterie – die er aus Fürst Elmers Werkstatt entwendet hatte – leer war. Als das Sonnenlicht zurückkehrte, drang eine warme Brise aus dem Süden in den Wald. Der anbrechende Tag versprach heiß zu werden. Wex' Begleiterin war immer wieder an seiner Brust eingenickt, wobei sie gegen die gestohlene Mana-Linse drückte, die sich in einer der Innentaschen seines Mantels befand. Nachdem die Taschenlampe jetzt nutzlos geworden war, hatte er seinen linken Arm um ihre Taille gelegt, damit sie nicht herunterfiel. In der rechten Hand hielt er locker die Zügel. Vermutlich hatte sich das Pony nun weit genug von Loxmithlinna entfernt. Er selbst fühlte sich erschöpft.
{WIE WÄRE ES MIT EINEM ADRENALINSTOSS FÜR DICH, MEIN LIEBER ROGER?} Verabreicht durch direkte Stimulation seines Zwischenhirns, wo es in das Rückenmark überging … »Das würde aber nicht unser Reittier munter machen.« Beim Klang der Stimme zuckte der schläfrige Passagier zusammen und stieß ein wortloses, animalisches Stöhnen aus. Als sie das Goldmädchen auf einem menschenleeren Weg am Rand von Loxmithlinna überholt hatten, waren Wex und sein anderes Bewußtsein schnell zur Übereinkunft gelangt, sie mitreiten zu lassen. Diese Juttahat-Hure {welch unfeiner Ausdruck!} war einzigartig: eine speziell gezüchtete, hervorragend ausgebildete Agentin der Isi mit betörenden Fähigkeiten und seltsamsten Empfindungen. Ihre Verzweiflung über den fehlgeschlagenen Versuch, Fürst Osmo mit verführerischen Gesängen zu fesseln, war wesentlich größer, als Wex sich erklären konnte. Außerdem stand sie so sehr unter dem Bann seiner Besprechung, daß sie gegen Rogers Vorschlag keinen Widerstand geleistet hatte. Von jetzt an mußte sie nach einem Gefährten suchen, der genauso golden wie sie selbst war, um ihm Freude zu bringen. Auf Elmers Drängen und mit Königin Minnis Einwilligung hatte Osmo sie besprochen, dies zu tun. Wie sollte sie dieses Ziel jemals erreichen? Osmo hatte nicht nur auf den Farbton ihrer Haut angespielt, sondern auf ihre ganze Erscheinung und ihren Reiz und – auch wenn sie eine Dienerin der Schlangen war – auf jene Aura der Unabhängigkeit und des freien Willens, die ihr die Fähigkeit gab, Menschen beeinflussen zu können. Sie war dazu verdammt, zur rastlosen Ewigen Jutti zu werden.
Wex hatte den Sattel fortgeworfen, damit Golda vor ihm auf dem Pony sitzen konnte und das Gewicht für Gutbrand geringer wurde. Auch die Satteldecke hatte er verschwinden lassen. In ein paar Wochen oder Monaten schürzten die Menschen vielleicht die Lippen, weil das Wasser nach Leder schmeckte. Bis dahin würde niemand wissen, was geschehen war, falls der nervtötende Kuckuck nicht vorher seine Schulter verließ und zu plappern begann. Sing nicht dieses Lied, erzähl nicht diese Geschichte. Darum hatte seine Wetware den Vogel gebeten – indem sie sich Wex' Stimmbänder bediente –, nachdem er und er selbst Hermi im Korridor überfallen hatten, als der mit Eisengewichten belastete Schamane die Linse vorsichtig in Sicherheit bringen wollte. Er hatte ihm aufgelauert und ihm Konfusin injiziert, eine Droge, die in einem Fripo-Labor auf der Erde produziert wurde. {EIN SOGENANNTER RINGHEFTER. EIN PSYCHOTOMIMETIKUM. DIE INDOLRINGE AUS KOHLENSTOFF, WASSERSTOFF UND STICKSTOFF HEFTEN SICH AN SYNAPSEN IM GEHIRN UND VERWIRREN DIE JÜNGSTEN ERINNERUNGEN AUF CHAOTISCHE WEISE.} Ja, ja. Ein Bach kreuzte den Weg. Das Pony mußte trinken. Nachdem Gutbrand seinen Durst gelöscht hatte, ließ Wex ihn am Wasser entlangtraben. Irgendwann ergoß sich der Bach in einen abgeschiedenen See, der von Lakarien, Nuß-, Kasta- und Moschusbäumen gesäumt wurde. Die Kastafrüchte waren noch nicht reif, aber die der Moschusbäume, die im Juni rötlich geblüht hatten. Sie trugen bereits Unmengen von ölhaltigen Körnern. Mehrere blaugemusterte Schwebhühner planschten und reckten die Schwänze, um unter Wasser Pflanzenfasern abzurupfen. Dann schüttelten sie sich die Wasserperlen aus
ihrem schillernden Gefieder. Die Böschung des Sees war üppig mit Riedgras und Kräutern bewachsen, so daß Gutbrand ausreichend zu futtern hatte. Und es gab Betten aus weichem Fleischmoos. Wex stieg ab und hob das verschlafene Goldmädchen vom Pony. Sein Bein war schon viel kräftiger geworden, seit Osmo ihn von seiner Krücke entwöhnt hatte. »Ukkoo, ukkoo«, vertraute ihm sein Quälgeist so leise an, als würde er ihm eine Zärtlichkeit ins Ohr gurren. Dann flog der Kuckuck plötzlich auf. Schwebhühner flüchteten flatternd über das Wasser und hoben ab. Doch für eins von ihnen war es zu spät. Der Kuckuck hatte seine Beute mit den Krallen gepackt. Die Sonne stand hoch, als Wex und Golda auf Fleischmoos gebettet und von den großen spatenförmigen Blättern der Lakarien beschattet aufwachten. Eigentlich wachte das goldene Mädchen zuerst auf. Es fuhr hoch und schlug die spitzenbehandschuhten Hände im Schmerz der Erinnerung vor das Gesicht. Wex {wach auf, mein lieber Roger!} war einen Augenblick später bei Bewußtsein. Er hatte von einer Schachpartie geträumt. Alle Figuren waren auf der einen Seite weiß und auf der anderen schwarz gewesen. Es hing ganz von der eigenen Stellung und dem Blickwinkel ab – denn er war eine der Figuren, ein Springer –, welche Seite gewann und welche verlor. In diesem Spiel war es gar nicht darum gegangen, zu schlagen oder zu siegen, sondern um die Erkenntnis. Eine Dame war eine schwarze und weiße Minni, die auf Stie-
feln mit Plateauabsätzen stand. Die andere war Lucky – weiß und schwarz. Ein König war Osmo, und der andere hatte überhaupt kein Gesicht. Die Läufer waren Serlachius und Moller und noch einmal Moller und Serlachius. Die Damen und Läufer bewegten sich kaum von der Stelle. Dies war ein Springerspiel, und der schwarze und weiße Springer, der mit seinen Rösselsprüngen auf Wex' Züge reagierte, war niemand anderer als sein anderes Ich. Dessen Gesicht war ständig von seinem eigenen abgewandt. Er selbst, der schwarze und weiße Springer, war gerade wie der Lenker eines Sprungfahrrades zu einem anderen Feld gehüpft. Im Nu hatte auch seine Gegenfigur die Position gewechselt, aber Wex konnte ihr Gesicht immer noch nicht sehen. Das war der Traum. Golda stöhnte leise. Ihr Bann wirkte ohne Unterlaß. Außerdem war sie von einem zweiten Bann betroffen – nur vorübergehend, aber dennoch frustierend für sie selbst und für Roger. Eine Woche und einen Tag lang stumm, das sollte sie sein. Der Kuckuck beäugte ihn aufmerksam von einem Moschusbaum in der Nähe. Der Boden unter ihm war mit schillernden Federn übersät. Blieb Roger noch genügend Zeit, sich auszuziehen und ins Wasser zu springen, um sich zu waschen, bevor sein Quälgeist sich wieder auf seiner Schulter niederließ? Doch Diskretion war angebracht. Außerdem könnte er das goldene Mädchen beunruhigen und ihr einen falschen Eindruck vermitteln, wenn er sich überhastet entkleidete. Er griff nach ihrem Rucksack und holte einige eilig eingepackte Überreste vom Krönungsfestmahl heraus, um sie ihr anzubieten.
»Fleischbällchen? Wurst? Ein Gänseflügel?« bedrängte er sie. Sie nahm den fettigen Flügel mit der spitzenbekleideten Hand an und knabberte mit ihren kleinen, feinen, vollkommenen Zähnen. Ihre dunklen, bernsteingelben Augen blickten ihn trostlos an, als er sich einige der Fleischbällchen nahm. Der Kuckuck segelte herüber und krallte sich wieder in seine Schulter. Er bot auch dem Vogel einen Fleischkloß an, um ihn zu beschwichtigen. Gutbrand graste in der Nähe. »Ich habe zwei Bewußtseine in meinem Kopf«, sagte Wex mit züchtiger Stimme. {VERGISS NICHT, DASS SIE EINE AGENTIN DER ISI IST!} Er würde es schon nicht vergessen. »Ja, ich verfüge über ein zweites Bewußtsein, das viele Dinge weiß. Ich schätze, ich bin Euren Artgenossen wohl recht ähnlich – außer Euch selbst, Golda, denke ich. Andernfalls hättet Ihr für immer unter dem Bann dieses zweiten Bewußtseins gestanden, und Ihr wärt nicht in der Lage gewesen, das Mana einzusetzen, um Fürst Osmo zu beeinflussen. Versteht Ihr mich? Euer Verstehen, hmm?« Sie nickte und knabberte. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, als sehnte sie sich danach, mit ihren Blicken sprechen zu können. »Natürlich hattet Ihr Hilfe durch Eure Isi-Harfe. Von einem Magus gemacht, würde ich sagen. Damit oder mit einem ähnlichen Instrument wurde auch Kulli, der Neffe des Traumfürsten, verwirrt, nicht wahr?« Ihre Pupillen weiteten sich verwundert. »Darüber habt Ihr kein Wissen?« Sie schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. Sie reagierte, aber sie protestierte gleichzeitig über seine Imitation des Jutta-
hat-Idioms. Sie konnte menschliche Verben genauso geschickt wie jeder kalevanische Muttersprachler benutzen und verstehen – nur daß sie im Augenblick nicht ein einziges Wort herausbringen konnte. »Eure Herren haben Euch sozusagen in die Höhle des Verrins geschickt, wenn man bedenkt, daß Kulli Fürstin Eva ein Auge ausgestochen hat.« Ein Schulterzucken. {RISIKEN WAREN UNVERMEIDLICH.} »Jedenfalls habt Ihr Evas Ehemann gezähmt.« Sich um Elmer zu kümmern war nicht ihre vordringlichste Aufgabe gewesen. »Also solltet Ihr Osmo betören, hmm? Um ihm seinen Willen zu nehmen?« Ein schiefes Gesicht. {Ihm sollte wohl noch mehr genommen werden.} »In gewisser Weise sind wir uns ähnlich, Ihr und ich – nicht wahr, Golda? Wir sind beide Agenten.« {Vorsicht!} »Auch wenn wir unterschiedliche Lebensgeschichten, Leidenschaften und Launen haben.« Wie subtil und kompetent sich Wex – auf geradezu erschreckende Weise – bei dieser einseitigen Befragung hier an diesem einsamen Ort vorkam! »Wißt Ihr, Golda, zufällig halte ich große Stücke auf Minni Sariola. So knabenhaft und beherzt, und wie sie immer mit sich selbst plappert! Und so klein und so erfrischend!« {Achtung!} »Doch meine Gefühle für sie – die sogar mein anderes Bewußtsein teilte – waren eine unmögliche Torheit, versteht Ihr?« Sie blinzelte feucht. Der nahezu vollständig abgenagte Gänseflügel fiel ihr aus dem weißen Handschuh. War das eine Fettperle oder Drüsensaft in ihrem Grübchen am Kinn? Wem sonst hatte er jemals so ausführlich davon erzählt? O
ja, er hatte töricht drauflos geschwatzt, als er in Osmos Burg eingetroffen war, doch um eine ehrliche Erklärung seiner unstillbaren Liebe abzugeben, war vielleicht die Gegenwart dieser Alien-Hure nötig, dieses Maskenmädchens. »Wir zwei können einen Waffenstillstand des Herzens genießen«, sagte er zu ihr. Genießen? Genießen? Nachdem sie auf eine rastlose Wanderung geschickt worden war, um nach einem goldenen Gegenstück zu suchen, das wohl kaum existierte? Diese Verzweiflung verzerrte ihre Gesichtszüge, als würde sie nicht den Geschmack von gebratenem Geflügel empfinden, sondern {DIE BITTERKEIT DER ALOE}. In ihr schien ein großer Drang zu sein, sich mitzuteilen, das Siegel zu umgehen, mit dem Osmo ihre Lippen verschlossen hatte. Sie wedelte mit den Händen, vollführte zögernde Wellenbewegungen – die offensichtlich unzulänglich waren. Sie sprang auf und warf ihren geborgten grauen Mantel ab. Wieder war sie das Goldmädchen, wie sie sich auf dem Bankett präsentiert hatte; wieder enthüllte ihr schulterloses silbernes Kleid so viel butterzartes Fleisch. Ihre Schultern waren sanft geschwungen und schienen aus goldenem Eidotter geformt zu sein. Auf ihnen befand sich eine einzige Tätowierung, die einer Sternenblume. Die Schwellung ihrer Schenkel unterhalb des silbernen Stoffs war fesselnd. Sie stieg aus ihren weißen Sandalen. Stumm begann sie eine Pantomime, mit ihrem ganzen Körper, mit der Wölbung eines Fußes, der Beugung der Knie, der Drehung der Hüften, der Streckung eines Ellbogens, bis zu denen ihre langen Handschuhe reichten. Mit ihrem vollen ovalen Gesicht und mit diesen Augen, diesen tiefen, nahe
beieinander stehenden bernsteinfarbenen Augen. Zuerst konnte Wex ihre Bedeutung nicht erraten, obwohl er von der Anmut und der Leidenschaft ihrer Gesten bezaubert war. Seine Wetware jedoch – die über viel größere Informations- und Interpretationsmöglichkeiten verfügte – begann kurz darauf, einen Kommentar zu sprechen, fast eine Simultanübersetzung dieser fremdartigen und dennoch menschlichen Pantomine. Bald stellte Roger dem Goldmädchen Fragen, die Golda mit Wiederholungen und Zugaben voll fleischlicher Intensität beantwortete. Sie küßte die Luft. Sie äffte hinreißenden Gesang nach. Sie wandte sich ab und schien in Ohnmacht zu fallen, wobei sie Roger einen flüchtigen Blick auf zwei von Spitze verhüllte Pobacken erlaubte. Sie wirbelte herum und wiegte ein unsichtbares Baby an ihrem Busen. Sie ruderte mit den Armen, um einen Wirbelwind heraufzubeschwören. Dann erstarrte sie wie Eis. »Ihr habt den Verführer der Mutter des Schnelljungen geliebt?« Seelenblumenparfüm drang ihm in die Nase, dazu der Duft nach Pilzlamellen und Zimt – und ein Nußgeruch, als wären die unreifen Kapseln der Kastabäume in der Nähe plötzlich gereift und geröstet worden. Die Drüsen des Goldmädchens verströmten Hormone und Pheromone, eine Sprache, in der es keine Verben gab, sondern nur Empfindungszustände: Süße, Erregung, Verzückung … »Er war Euer zweites Ich?« Sie sackte in sich zusammen, sie sabberte, sie schien erbleicht. {JETZT HAT SIE KEIN ZWEITES ICH MEHR, DENN IHR
LIEBHABER WURDE ZU EINEM ZOMBIE.} Obwohl Osmos Besprechung sie sprachlos gemacht hatte, war sie niemals beredter gewesen. Ihr Thema war die unmögliche Liebe. Sie riß an Wex' Herz. Es war ein großes Privileg, in ihr Herz zu schauen, das beinahe nackt vor ihm lag. »Osmo – die Stimme – war Euer Ziel?« Eine Antwort erübrigte sich: Oh ja, sicher. »Verfolgtet Ihr eigene Absichten, während Ihr gleichzeitig den Isi dientet?« Düfte nach Hefe und Rosenöl und Schokolade bedrängten ihn, überlagerten den Ammoniakgeruch des Kuckuckskots. Ihre Lippen, ihre spitzenweißen Hände, ihre Schenkel verführten dazu, sie in die Arme zu schließen. Sie war unsterblich in ihrer gesunden Schönheit, beschwor Träume der Langlebigkeit herauf. Golda melkte eine imaginäre männliche Gestalt, die sie in der Luft geformt hatte, und übertrug dann sein Wesen auf einen ermatteten Geist, der ihr Zwilling war und der sich rasch wiederbelebte. {DURCH DIE PAARUNG MIT DEM LANGLEBIGEN OSMO UND DANN MIT DEM ZOMBIE HOFFTE SIE IHREN JUTTAHAT-LIEBHABER WIEDER GESUND ZU MACHEN!} Ihre geheimen Hoffnungen waren zunichte gemacht worden. Vielleicht waren sie von Anfang an vergeblich gewesen, eine verzweifelte Illusion. Osmo hatte ihre Alien-Phantasie von einer Zukunft mit ihrem anderen Ich, einem Leben, in dem jeder die Stimme des anderen sein sollte, durch einen Drang nach einer unmöglichen Alternative ersetzt. Wenn sie darin versagte, wäre sie die einsamste aller Aliens und hätte zu ihrer inneren Begleitung nur jenes verlockende Trugbild, das für sie niemals greifbar sein würde. Sie könnte genausogut kreuz und quer über
Kaleva nach Regenbogen jagen! Wie sehr Wex sie bemitleidete – und sich selbst vielleicht auch ein wenig. Die Pantomime des Goldmädchens war so lieblich, geschmeidig und kraftvoll gewesen wie ihr Vortrag im Bankettsaal. Nachdem Golda jetzt aufgehört hatte und ihn betrachtete – welche Reaktion erwartete sie von ihm? Mitleid? Sexuelle Unruhe? Eine vorübergehende Entladung schmerzhafter Spannung? Die Hingabe an die reine Empfindung? Wex verspürte keinerlei Erregung. Sollte er sie mit nach Landfall nehmen – als hochinteressanten Sonderfall unter den Juttahats? Sie war vom Drang besessen, verzweifelt umherzustreifen. Was war, wenn Pen Conway sie in der Erdenburg festhielt? Wie würde Golda allein zurechtkommen? Konnte sie sich vor Übergriffen schützen? Würde ihre Suche Situationen provozieren oder sie nötigen, für Menschen zur Hure zu werden? Vergewaltigungen, bis sie zerlumpt war? Konnte sie sich durch die Macht der Gerüche schützen, während sie nichtsdestotrotz dazu gedrängt wurde, nach Erfüllung zu streben? {VERSCHIEDENE WEIBLICHE TIERE AUF DER ERDE KÖNNEN IN IHREM KÖRPER FÜR VIELE MONATE SAMENFLÜSSIGKEIT SPEICHERN. ODER SOGAR JAHRELANG, OHNE DASS SIE IHRE LEBENSUND ZEUGUNGSKRAFT VERLIERT. ICH SPIELE AUF KLAPPERSCHLANGEN UND INDIGONATTERN, DEN FRANZÖSISCHEN HASEN UND BESTIMMTE FLEDERMÄUSE AN. DIE WEIBLICHE INDIGONATTER KANN SPERMA IN IHREM KÖRPER BIS ZU SECHS JAHRE LANG AM LEBEN ERHALTEN. OFFENBAR BESITZEN JUTTAHATWEIBCHEN DIESELBE FÄHIGKEIT. WENN DIESES GOLDMÄDCHEN
PHEROMONEN DAS GESCHRUMPFTE ORGAN DES ZOMBIES ERREGEN KANN, HÄTTE DER KONTAKT MIT DER FLÜSSIGKEIT DES LANGLEBIGEN OSMO IHREN TODGEWEIHTEN LIEBHABER VIELLEICHT HEILEN KÖNNEN. DOCH DIE LANGLEBIGKEIT SELBST WIRD NICHT GENETSCH VERERBT, MEIN ROGER. WOMÖGLICH WURDE SIE BEWUSST GETÄUSCHT. LASSEN WIR UNS GENAUSO VON IHREM PATHOS TÄUSCHEN? SIE HAT FÜR DIE ISI ALS INTRIGANTIN GEARBEITET UND IST AUCH JETZT NICHT GERADE EINE ÜBERLÄUFERIN. ABER GLEICHZEITIG IST SIE SEHR UNGEWÖHNLICH.} Genauso ungewöhnlich wie Wex selbst! Er war ein menschliches Wesen mit einer Stimme im Kopf. Sie war eine Juttahat, der eine solche Stimme fehlte, abgesehen vom Bann, mit dem Osmo sie belegt hatte. War es möglich, daß er – und er selbst – hinsichtlich der Bedeutung der Pantomime getäuscht worden waren? Konnte Goldas körperliche Beredtsamkeit lügen? Nicht daß er irgendeine sexuelle Erregung verspürte, es war nur eine Gewißheit der Wahrheit. Getäuscht? Nun, es gab eine Möglichkeit, dies in Erfahrung zu bringen. Er griff in seinen Mantel und holte die gestohlene Mana-Linse hervor. Das Goldmädchen riß erstaunt die Augen auf. Offenbar hatte sie vor ihrem Vortrag im Bankettsaal gelauscht. Als sie den Saal betreten hatte, mußte sie die Kamera bemerkt haben, die Minni splitternackt im Maul des Mana-Magus abgebildet hatte. »Golda, ich habe gesehen, was dein Körper zu sagen hatte. Jetzt werde ich dein Mana-Bild begutachten.« Wex hob die Linse an sein linkes Auge und schloß sein rechtes. NormalerMIT IHREN
weise hätte er sein rechtes Auge vorgezogen, doch der Kuckuck könnte vielleicht seinen Kopf beiseite drücken. Sie posierte. Er plierte. Gekleidet in ihr spärliches Silbergewand hielt das glanzvolle Goldmädchen Händchen mit einer goldenen Gestalt, die mit Sicherheit kein Bronze-Juttahat war, die aber auch nicht eindeutig menschlich war, obwohl das Antlitz und die Muskulatur menschlich wirkten. Der bernsteinfarbene Körper dieser Person war unzweifelhaft männlich und beweglich und schien aus einer zähen Flüssigkeit – wie etwa Sirup – geronnen zu sein. Golda schien vor Freude zu strahlen. Das Bild war verschwommen, doch der Bauch dieser Person war weniger getrübt als der Rest des Körpers, denn darin war ein schwebender Schatten zu erkennen. War dieser nicht zu identifizierende Umriß ein Organ dieses bizarren, aber dennoch bewundernswerten Körpers? Ein auf unheimliche Weise gestreckter Baum mit beiger Rinde stand in der Nähe. Es war ein seltsamer Voyeurismus. Würde sich das Bild lange genug halten, wenn Wex dem Goldmädchen die Mana-Linse in die Hände drückte, damit sie einen Blick auf das werfen konnte, was er gesehen hatte? O nein. Keine Chance. Sie würde ihn beobachten – oder eher sein anderes Bewußtsein, wie es aus dem Verborgenen gerissen wurde, um ein eigenes Gesicht zu offenbaren. Wenn er doch nur imstande gewesen wäre, die gesamte Mana-Kamera zusammen mit den photosensitiven Abzügen zu
stehlen und nicht nur die Linse! Sollte er sie trotzdem bitten, ihn anzuschauen und zu versuchen, pantomimisch darzustellen, was sie sah? Doch sie mochte ihn mit Moschus betören und statt dessen versuchen, die Linse zu stehlen. Wenn sie auf Gutbrand sprang und ihm die Knie in die Rippen drückte, könnte sie mit dem Pony fortgaloppieren, zum Nest der Bronze-Isi … {NUR DU SELBST KANNST DICH BETÖREN, MEIN LIEBER ROGER. WARUM SOLLTE SIE ZU DEN ISI ZURÜCKKEHREN, WENN SIE UNTER DEM BANN EINES DRINGENDEREN UND PERSÖNLICHEREN BEFEHLS STEHT?} Für einen schaurigen Moment hatte Wex das Gefühl, als hätten er und sein anderes Bewußtsein die Plätze gewechselt, so daß er dem Goldmädchen mit vorsichtigem Mißtrauen begegnete, während die Wetware ihren Reizen verfallen war. Könnte es sein, daß die Wetware mit der Zeit die volle Herrschaft über seinen Körper erlangte, während er völlig nach innen zurückgezogen war und nur stumm durch seine Augen blicken konnte? {MEIN LIEBER ROGER, SO ETWAS DARFST DU NICHT DENKEN! ICH BIN DEIN SCHUTZ. HÜTE DICH VOR MANA-WAHN, DER AUS HERMIS LINSE DRINGEN KÖNNTE!} Wex nahm die Linse von seinem Auge fort. Das JuttahatMädchen starrte ihn – und seinen Kuckuck – mit so wehmütiger Qual an, daß jede Faser seines Körpers vor Mitleid und Freude zitterte. »Golda, du wirst Erfolg haben! Du wirst dein goldenes Gegenstück finden, deinen … Bernsteinmann. Er ist {IN KIPPANS WÄLDERN; DORT WACHSEN DIE MUTAPU-BÄUME} im Reich Tapper Kippans, des Waldfürsten {IN SÜDWESTLICHER RICH-
TUNG, ZWEIHUNDERTUNDFÜNFZIG
KIMS ENTFERNT} zweihundertfünfzig Kims südwestlich von hier.« Schon hatte sie den Blick erhoben, um die Position der Sonne am Himmel über dem See zu prüfen und sich zu drehen. Doch dann wirbelte sie wieder zu Wex herum, die Augen feucht, als hätte die Sonne sie geblendet. {SIE KANN NICHT BLINZELN, WEIL IHR EIN DRITTES AUGENLID FEHLT. DIE ISI GABEN IHR MEHR ALS ALLEN ANDEREN IHRER SKLAVEN DIE FÄHIGKEIT ZU WEINEN.} Das Goldmädchen lächelte plötzlich strahlend und hinreißend. Sie stürmte zu Wex und fiel auf die Knie. Stumm umarmte sie Wex' Beine, so daß sein anderes Ich ihn erstarren ließ, damit er sein Gleichgewicht wahrte. Hefe und Rosenöl und Schokolade überwältigten ihn. Er strich über ihre Bubikopffrisur. »Nehmt das Pony«, bot er ihr an, während er sich für seine vorigen Bedenken schämte. {ROGER!} »Ich kann die Erdenburg in Landfall anfunken, damit mir ein Schweber geschickt wird.« {ROGER, DIE ISI KÖNNTEN DEINE NACHRICHT ABHÖREN. EIN LUFTBOOT DER ISI KÖNNTE VOR DEM SCHWEBER EINTREFFEN!} »Ich kann zu Fuß gehen. Vielleicht kann ich auf Booten mitfahren.« {WÄHREND DIESER VOGEL DIR AUF DIE SCHULTER SCHEISST?} Der Guanogeruch machte sich bereits wieder bemerkbar. »Nehmt Gutbrand, Golda, mit meinem Segen.« Am nächsten Tag gegen Mittag erreichten Wex und seine Wetware und sein Kuckuck die Steinpyramide. Ein Regenguß hatte ihn durchnäßt, doch jetzt wurde er von einem frischen Westwind getrocknet. Derselbe Wind hatte die düsteren, feuchten Nimbostratuswolken zerfetzt, so daß nur noch ein paar Streifen in größerer Höhe übriggeblieben waren.
Die zerfranste Sturmfront war von Böen ostwärtsgepeitscht worden. Der Wind schien eher nachlassen zu wollen, als sich zu einem Sturm auszuwachsen. Risse aus blauem Himmel öffneten sich. Die Pyramide stand auf einem kleinen Marmorfelsen, der durch die Spitze eines Hügels brach, wie ein rosa Knochenstück durch behaarte Haut, die zu straff gespannt gewesen war. Der an dieser Stelle dünnere Boden war von verkümmerten Sylvestren mit kalkiger Rinde und blauen, haarigen Borsten besiedelt worden, dazu von ein paar Larixien mit hennafarbenen Schuppen und einem einsamen Minzbaum mit erbsengrüner Krone – die plötzlich zum Sitzplatz eines nassen Kuckucks geworden war, der keine Lust mehr hatte, sich von Wex' Schritten durchrütteln zu lassen. Wenn doch nur ein ausgewachsenes Gewitter samt Blitzen hereinbrechen würde! Wenn doch nur ein solcher Blitz in den leicht entzündlichen Minzbaum einschlagen würde, um ihn zum Explodieren zu bringen, während der Vogel darauf hockte, und seinen Quälgeist zu verkohlen! Doch es sah nach heiterem Wetter aus. Immerhin war es eine günstige Voraussetzung, um in Kontakt mit dem Satelliten zu treten. Die schlanke Pyramide, die kaum höher als Wex war, wurde von einem auffälligen rot-blauen Zickzackmuster geziert und war mit Klammern aus ehemals rostfreiem Stahl am Granit befestigt. Im Verlauf der Jahrhunderte war die Glasur matt geworden. Jemand hatte den Schädel eines Ziegenbocks auf der Spitze angebracht. Etwas tiefer waren auf jeder Seite kleine durchsichtige Sonnenkollektoren eingelassen. Einer war vollständig mit getrocknetem Vogelkot überzogen, doch die ande-
ren zwei waren sauber genug, um die Energieversorgung aufrechtzuerhalten. Wer immer den Schädel auf die Spitze gestellt hatte, mußte die Kollektoren gereinigt haben, wenn auch nicht alle drei. Weil ein Widder nur zwei Hörner hatte? Wex schüttete etwas Wasser aus seiner Feldflasche und säuberte damit die Solarzellen. Er entfernte die schamanische Verzierung und warf sie fort. Er mußte viele Innentaschen durchsuchen, bevor er den Schlüssel zur Zugangskachel fand. Sie löste sich nicht ohne Schwierigkeiten. Drinnen glimmte schwach ein kleines grünes Licht. Aus seinem Mantel holte er ein dünnes Koaxialkabel, das sich auch als Garotte verwenden ließ. Er nahm seine Perücke ab und klemmte sie sich zwischen die Füße, damit der Kuckuck sie ihm nicht böswillig entriß. Dann tastete er nach einer der stählernen Pfennigscheiben, die in seinen Schädel eingelassen waren, und drückte darauf. Die Scheibe fuhr rotierend ein Stück heraus. Vorsichtig steckte er das eine Ende des Kabels in seinen Kopf und das andere Ende in eine Buchse neben dem grünen Lämpchen. {CARTER, CARTER, CARTER!} Während Wex mit der Pyramide verkabelt dastand, rief seine Wetware in bestimmten Zeitabständen nach dem Satelliten. Jede Umkreisung dauerte neunzig Minuten. Selbst wenn Carter gerade die nördliche Hemisphäre überflog, mochte er schon zu weit im Osten oder Westen sein. War der kartographische Satellit außer Reichweite, auf der Rückseite des Planeten? Oder hatte Penelope Conway ihn nicht wie versprochen reaktiviert? Es war möglich, daß sie noch Stunden warten mußten. {GEDULD!} Wex setzte sich auf den Granit und nahm eine
halbe Lotusstellung ein. Wirklich, sein Bein war hervorragend verheilt. {ICH HABE IHN, ROGER. ACH, WIE BESCHRÄNKT UND ANSPRUCHSLOS ER IST! WELCH EIN PRIMITIVLING!} Wex war der Hintern eingeschlafen. Im Minzbaum zwanzig Meter entfernt schien der Kuckuck zu dösen, offenbar zutiefst gelangweilt von diesem statischen Tableau. Wex hatte sich mit der Tatsache abgefunden, daß dieser Vogel ihm niemals irgend etwas erzählen würde. Er würde nur seine Kleidung ruinieren und ihm ins Ohr kichern. {ICH FÜHLE MICH DURCH DEN KONTAKT MIT CARTER EHER EINGESCHRÄNKT ALS ERWEITERT, MEIN LIEBER ROGER. AUCH DIESER KUCKUCK BEHINDERT UNS. SEINE TELEPATHISCHEN ARTGENOSSEN KÖNNTEN UNSERE GEHEIMNISSE AUSPLAPPERN. WAS HÄLTST DU VON EINER UNMITTELBAREN VERDAMPFUNG MIT LICHTGESCHWINDIGKEIT DURCH CARTERS LASER?} War es möglich, das Ziel auf einen Baum einzugrenzen, der zwanzig Meter südsüdöstlich von einer Pyramide stand, dessen exakte Position dem Satelliten bekannt war? {DAS LIEGT DURCHAUS INNERHALB DER MÖGLICHKEITEN VON CARTER. BEI SEINER NÄCHSTEN ÜBERQUERUNG WIRD ER IN ANGEMESSENE REICHWEITE KOMMEN. SOLANGE WIRD CARTER BRAUCHEN, UM SEINE LASER ZU TESTEN. SIE SIND JAHRHUNDERTE ALT UND WURDEN NOCH NIE ZUVOR BENUTZT. DIE BEWÖLKUNG DÜRFTE MINIMAL SEIN.} Wie könnte jemand Wex die Schuld am Tod des Vogels geben? Der Kuckuck hatte keine Ahnung, was er und er selbst dachten. Der Quälgeist würde einfach von einem Augenblick zum anderen verdampfen. Völlig überraschend würde er
aus dem Bewußtsein seiner Artgenossen entschwinden. Wenn er so dumm war, sich in einen Minzbaum zu hocken! Und falls irgend jemand wirklich den Zwischenfall beobachten sollte, dann würde es so aussehen, als hätte der Satellit auf seine eigene Pyramide geschossen, so daß die eigentliche Absicht verwischt wurde … Wex mußte eine Weile lang völlig ruhig bleiben. Om. Ommmmm. Ommmmmmmmm. Als der erbsengrüne Baum explodierte, wurde Wex von der Druckwelle aus seinem halben Lotussitz geschleudert. Hitze versengte ihn. Ein trügerisch kühler Duft nach Minze breitete sich aus. Seine Ohren waren taub. Seine Augen hatte er vorsichtshalber geschlossen. Er lag im Windschatten der Pyramide, als er sich mit Unterstützung seiner Wetware isometrisch entkrampfte. Das Kabel war aus seinem Schädel gerissen worden, aber er war unverletzt, wie es schien. Der Stahlpfennig senkte sich, bis er wieder einen glatten Abschluß mit der Kopfhaut bildete. »Lebwohl, Kuckuck!« rief er. Seine Trommelfelle knackten, und er hörte … nicht das Tosen einer Feuersbrunst, sondern ein lautes Keuchen, als würde die Welt erschrocken nach Luft schnappen. Auch die Hitze hatte nachgelassen. Als er blinzelnd hinsah, sah er ganz und gar nicht das, was er – oder er selbst – zu sehen erwartet hatte. Anstelle eines in hellen Flammen stehenden Minzbaumstammes erhob sich eine Lichtsäule, die doppelt so hoch war wie zuvor der Baum. Ein leuchtender Turm, wie ein architektonisches Werk. An der höchsten Spitze flackerten Flammen
wie flatternde Flaggen. Das Gebilde wirkte geisterhaft, wie flüssiges Fett, wie gasiges Wachs – das Gespenst einer Kerze. Die gesamte Erscheinung schien geschmolzen, doch ohne Wärme. Keine sengende Strahlung wurde abgegeben, als wäre sie von undurchlässigem Glas umgeben. In der Tiefe bewegten sich verschwommene Bilder, wie durch eine Linse prismatisch verzerrt. »Wetware, was in Minnis Namen ist das?« Die Lichtsäule schien wie ein Mahnmal die Stelle zu markieren, wo der Kuckuck dahingeschieden war, eine riesige Gaskerze, die tage- und wochenlang brennen würde … So sah das Resultat der heimlichen Auslöschung eines Kuckucks aus? { … WIRD GANZ KALEVA IN RASEREI VERSETZEN, WIE MAN SAGT, MEIN LIEBER ROGER. BENUTZE DIE MANA-LINSE! FALLS SIE NICHT KAPUTT IST.} Nein, Hermis Linse war in Ordnung. Sie war nicht zerbrochen, als Wex umgeworfen wurde. Er hob die Linse ans Auge – trotzig an sein rechtes Auge – und blickte auf den Turm aus Licht, auf diese andere wächserne, gasig glühende Linse. Schon glitt er den glatten Granit hinab, teils durch sein anderes Ich getrieben. Er erkannte schneebedeckte Wälder und gefrorene Seen, die nach oben gewölbt waren, als müßten sie unter dem Druck aufbrechen. Dann eine Anhäufung von hell flammenden Türmen, eher ein brennender Palast, von dem der Turm, dem er sich näherte, nur einen Teil darstellte. Er stolperte. Durch diese Veränderung seines Blickwinkels wurde ihm nun ein Kerzenturm am Rand einer schwarzen Fläche mit einem rosafarbenen Kreis in der Mitte enthüllt. Ein gekrümmter rosafarbener Schwanz schob
sich ein Stück in das Schwarz. {DAS IST DAS FELD DER HARMONIE IN LANDFALL. EIN TEIL DER LANDEFLÄCHE MIT DEM YIN-YANG-SYMBOL AUS OBSIDIAN UND GRANIT. AM RAND BEFINDET SICH EBENFALLS EINE PYRAMIDE CARTERS.} Jetzt nicht mehr. Jetzt brannte ein Kerzenturm neben dem Feld der Harmonie. Was würde Pen Conway dazu sagen? {EIN ERSATZLEITSTRAHL LÄSST SICH MÜHELOS EINRICHTEN. SHUTTLES KÖNNEN IMMER NOCH LANDEN.} Direkt neben einer unberechenbaren Säule aus Mana-Licht? Wex neigte Hermis Linse und sah eine weitere Pyramide auf einer Landspitze in irgendeinem See. Diese Pyramide war unversehrt, aber sie war in einen spitzen, zitternden Mantel aus Licht gehüllt. {RICHTE SIE WIEDER AUF DAS FELD DER HARMONIE, WENN DU KANNST.} Er konnte. Inzwischen war er dem Kerzenturm wesentlich näher gekommen. Der aufsteigende Schwall aus Gaslicht war nur ein paar Meter entfernt, aber er spürte immer noch keine Hitzestrahlung. {ICH GLAUBE, DIES IST EINE ÖFFNUNG IN DEN MANA-RAUM, MEIN LIEBER ROGER. EIN KUCKUCK IST DAS LEBENDE WERKZEUG DES JUNGEN UKKO, NACH DEM LUCKY SUCHT, UND WIR HABEN DIESES WERKZEUG MIT HEISSEM LICHT VERNICHTET. DIESES SPEKTAKEL IST DIE REAKTION DARAUF. WENN WIR DURCH DIESE MANIFESTATION SCHREITEN, KÖNNEN WIR REISEN, WIE NOCH NIE JEMAND ZUVOR GEREIST IST, ABGESEHEN VON DEN PASSAGIEREN IN DER SCHÜTZENDEN HÜLLE EINES UKKO.} Wex hatte eine böse Vorahnung. Was war, wenn alle anderen
Pyramiden zu Mana-Kerzen geworden waren, genauso wie die am Feld der Harmonie? Lucky würde sehr bald davon erfahren. Eine ähnliche Pyramidenkerze mochte in der Nähe von Sariolinna schimmern. Hier war eine Tür – eine röhrenförmige Tür aus Licht –, die direkt in den Ukko führte, nach dem sie so verzweifelt gesucht hatte. Jetzt mußte sie nicht mehr die ganze Welt nach seinem Versteck absuchen! Auch die Mana-Magi der Isi würden diese Leuchttürme finden. Auch die Isi konnten sich sofort Zugang verschaffen. {NICHT NOTWENDIGERWEISE! ICH SPEKULIERE, DASS DIESE ÖFFNUNGEN NUR ZU ANDEREN PYRAMIDEN FÜHREN – UND ICH MUTMASSE, DASS SIE NICHT SEHR LANGE EXISTIEREN WERDEN. DIESE MANIFESTATION IST EINE IMPULSIVE REAKTION AUF DIE TÖTUNG DES KUCKUCKS. WIR HABEN VERMUTLICH NICHT VIEL ZEIT, WENN WIR LANDFALL AUF DIESEM SCHNELLEN WEG ERREICHEN WOLLEN.} Indem er sich durch Hermis Mana-Linse auf das Bild des Landefeldes konzentrierte … indem er durch die Lichtsäule trat … {Du HAST UNSER PONY VERSCHENKT, MEIN LIEBER ROGER. JETZT BRAUCHEN WIR KEINES MEHR, WENN DU SCHNELL UND UNVERZAGT HANDELST.} Schnell und unverzagt. »Bist du sicher, daß es ungefährlich ist?« {WIR SIND ES DER ERDE SCHULDIG, DIESEN WEG ZU ERKUNDEN. WAHRSCHEINLICH IST ES WIE DER RITT AUF EINEM SPRUNGFAHRRAD DURCH DEN MANA-RAUM} – den Wex nie persönlich erlebt hatte, obwohl er Jurgen und Johann dazu befragt hatte – {NUR DASS WIR EINEN VIEL WEITEREN SPRUNG MACHEN.}
Die Säule aus Licht war in unmittelbarer Nähe und immer noch kühl. Er schlug mit einer Hand auf seine Schädeldecke. »Meine Perücke – ich brauche meine Perücke!« Sein Haarersatz lag noch neben der Pyramide. {WEGEN EINER PERÜCKE GING DIE WELT VERLOREN … HANDLE JETZT, MEIN ROGER, BEVOR DIE GELEGENHEIT SICH VERFLÜCHTIGT! DU KANNST DIR IN LANDFALL EINE NEUE PERÜCKE BESORGEN. HANDLE JETZT!} Ja, natürlich. Er mußte Pen Conway benachrichtigen und sie über die Bedeutung dieser Türen aus Licht informieren, durch die er den Weg gebahnt hatte. Dann mußte er versuchen, ob sich die Mana-Linse im Orbit an Carter montieren ließ. Und dann mußte er sich einen Schweber nehmen und Kulli suchen, obwohl das jetzt von geringerer Bedeutung war. Natürlich. Wex richtete den Blickwinkel der Linse aus, bis er wieder den Rand des Yin-Yang-Symbols erfaßt hatte. Mit Unterstützung der Wetware ging er darauf zu. Dann wurde er von unerträglichen Qualen zerrissen.
5 Haarige Absichten
Wex' Haut brannte. Er wurde versengt. Seine Organe standen in Flammen. Oh, dies war völlig anders als die Zwischenphase, als der Blitz aus Dunkelheit, den Johann und Jurgen beschrieben hatten. Er schrie wie ein Wahnsinniger. Mit der Wucht eines Hammerschlages wurde er vorwärts auf schwarzen Obsidian geschleudert, in blendend grelles Sonnenlicht. Und er stürzte wie leblos zu Boden. Die furchtbaren Schmerzen hatten unvermittelt aufgehört. Gleichzeitig war jede andere körperliche Empfindung verschwunden. Er lag gefühllos da. Gelähmt. Nein, er war nicht gelähmt … Er konnte seine Hände bewegen. Er konnte seinen Hals drehen. Er hob den Kopf und sah durch Tränen eine Shuttlefähre, die in den blauen Himmel ragte, und einige fliehende Wolkenfetzen. Verschwommen erkannte er die Zikkurat aus roten Ziegeln und mit glitzernden Fenstern – die Erdenburg. Trübe sah er die Kuppel des Observatoriums und ein gedrungenes rosarotes Gebäude, auf dem sich eine Satellitenschüssel befand. Als er sich die Feuchtigkeit aus den Augen wischte, war seine Handfläche wie totes Fleisch. Ebenso seine Wange. Die Finger gehorchten seinem Willen, aber sie waren taub und informationslos. Spürte er wirklich sein Gesicht? Ja, denn es gab einen Widerstand. Er rollte herum. Sein Rumpf ließ sich bewegen. Seine Beine
ließen sich bewegen. Und seine Arme. Dennoch war jedes Gefühl verschwunden. Sein Rückgrat war anscheinend nicht gebrochen und sein Genick auch nicht. Doch gleichzeitig mit dem Verschwinden seiner Todesqualen war ihm auch jede andere Empfindung abhanden gekommen. Er war eine Puppe – die jedoch zufriedenstellend funktionierte. War es das, was ein Zombie fühlte (oder eben nicht fühlte)? Laut rief er: »Wetware, ich fühle nichts!« {WEIL ICH DEINE KÖRPERLICHEN EMPFINDUNGEN ABGESTELLT HABE, UM DICH VOR DEN ILLUSIONÄREN SCHMERZEN ZU BEWAHREN. DIE ILLUSION HÄLT IMMER NOCH AN, ABER DU SPÜRST SIE NICHT MEHR. DU LEIDEST NICHT. DIE LICHTSÄULE WAR EINE FALLE, MEIN LIEBER ROGER, DIE EINEN KUCKUCK TÖTETE. JETZT HAT SICH DAS PHÄNOMEN ERSCHÖPFT.} Wex riß den Kopf herum. Statt eines Kerzenturms war jetzt nur noch der Stumpf der Pyramide am Feld der Harmonie zu erkennen. Sie war zusammengeschmolzen. Kein Rest der Strahlung umgab sie, keine Hülle aus Mana-Feuer. Die Taubheit seines Körpers war abscheulich. Jede sinnliche Information fehlte. Er war beraubt und enteignet worden … durch seine Wetware. »Gib mir die Kontrolle über mich zurück!« Wenn er auf diese Weise den Kontakt zur Welt verlor – wenn alle seine Gefühle beschlagnahmt waren –, mochte es nur noch ein kleiner Schritt sein, bis er zum Ausgestoßenen in seinem eigenen Körper wurde. »Gib mir mich zurück!« {DAS WÄRE UNKLUG. DURCH MEINE WACHSAMKEIT BIST DU MANA-EFFEKTEN GEGENÜBER IMMUN …}
»So? Wirklich? Ich habe Hermis Linse benutzt, und ich bin durch den Mana-Raum geschritten …« {MIT MEINER EINWILLIGUNG.} »Gib mir meine Gefühle zurück, Wetware!« {WENN DU DARAUF BESTEHST, DASS ICH MEINE WACHSAMKEIT EINSTELLE …} Wex lag schreiend auf dem Rücken, als das Feuer ihn überflutete. »Hör auf hör auf hör auf!« {DU KÖNNTEST DICH MIT DER ZEIT AN DIESE TORTUREN GEWÖHNEN, ROGER. DU KÖNNTEST LERNEN, SIE ZU ERTRAGEN UND TROTZDEM EINSATZFÄHIG ZU BLEIBEN.} »Hör auf hör auf hör auf!« Die Qualen hörten auf. Er rollte seinen tauben Gummikadaver von der Stelle fort, wo der Schmerz zugeschlagen hatte, und erhob sich auf die Knie. Er bemerkte erst, daß er sabberte, als er Speichel auf dem glänzenden Obsidian sah. Er wischte sich mit einer toten Hand über den Mund. »Du hast mich verraten, Wetware.« {OH, DIESER VORWURF SCHMERZT.} »Nein, ich war es, der Schmerzen hatte, bevor du mein Nervensystem abgeschaltet hast. Jetzt ist alles kalte und tote Asche.« {LIEBER KALTE ASCHE ALS HEISSE GLUT.} »Du hast mich betrogen.« {WOHER SOLLTE ICH DAS WISSEN? HÄTTE EIN BETRÜGER DICH VOR TODESQUALEN BEWAHRT?} »Ich hätte mir mit den Fingernägeln die Haut vom Körper kratzen können. Ich hätte mich selbst zerfleischen können, um Erlösung im Tod zu finden.«
{NEIN, DAS KÖNNTEST DU NICHT TUN.} »Ich wäre vielleicht wahnsinnig genug gewesen, um es zu schaffen!« {BITTE LASS UNS NICHT STREITEN, MEIN LIEBER ROGER. WIR SIND UNZERTRENNLICH. DU SOLLTEST MICH NICHT LAUT ANSPRECHEN. WIE WÜRDE DAS AUF ANDERE WIRKEN?} Er würde wie Minni wirken, die Selbstgespräche führte … Er mußte Abschied von allen törichten Liebesempfindungen für diese junge Dame nehmen. Er mußte sich von jeglichen Gefühlen verabschieden. Die Erinnerung an Minni war wie ein Hohn. Er war jetzt eine völlig neue Art von Eunuch, ein Ganzkörperkastrat. Natürlich hatte er laut gesprochen – damit er seine eigene Stimme von außen hören konnte. Er konnte hören, er konnte sehen. Er konnte nur nichts fühlen oder schmecken oder riechen. {DU MUSST ACHTGEBEN, DASS DU DICH NICHT VERLETZT. AUCH ICH WERDE AUFPASSEN. JETZT WIRD ZUMINDEST NIEMAND MEHR PYRAMIDENKERZEN BENUTZEN, UM AUF DIESER WELT HIN UND HER ZU SPRINGEN. DER SCHADEN WURDE WIEDERGUTGEMACHT.} Und sein Körper wurde taub gemacht. Menschen in olivgrünen Uniformen liefen über den rosafarbenen Granit des Landefeldes in seine Richtung. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit er das letzte Mal in Penelope Conways Allerheiligstem gesessen hatte und auf das Feld der Harmonie und den blauen Bumerang des Sees des Überflusses hinausgeblickt hatte. Es mußte fast auf den Tag genau ein Jahr vergangen sein. {Es IST AUF DEN TAG GENAU EIN
JAHR HER …} Doch Kalenderdaten spielten jetzt keine Rolle. Der purpurne Tammiholzschreibtisch der Erdvertreterin war wie immer mit Akten übersät. Etikettierte Ordner stapelten sich auf Tammiholzregalen vom Boden bis zur Decke. Eine Wand war mit Fotos und Zeichnungen und Gemälden von Burgen tapeziert: das Ha-Haus, Osmos Burg und Dutzende weiterer. Pen Conways Datenbildschirm zeigte ein Motto: Dieser unbewohnbare Ort, an dem unsere sprechende Spezies wohnt, unter der Leere des Himmels vom Wahnsinn bedroht … Die dunklen Vorstöße des Begehrens – das Thema des Diskurses einer anderen … J. Krist Wie wahr. Diese Poetin, Jukos tote Schwester, hätte viel über dunkle Vorstöße des Begehrens zu sagen gehabt – und darüber, zum Thema von Osmos Diskurs zu werden. Wex selbst hatte ein wenig über dunkle Vorstöße erfahren, obwohl sein Tastsinn seit einer halben Stunde nur noch eine dunkle Leere war. Er dachte über den Text nach. {SEMIOTISCHES SCHRIFTTUM, DENKE ICH, MEIN LIEBER ROGER.} War Pen Conway während seiner einjährigen Abwesenheit zu einer Kristin geworden – oder eher zu einer Christin? Konnte sie in der Zwischenzeit dem Mystizismus verfallen sein? Soweit Wex sehen konnte, trug die schwarze Frau kein Kreuz um den kräftigen Hals, falls es nicht unter ihrem Sommersari verborgen war. Dasselbe schlichte olivgrüne Gewand wie letztes Jahr. Oder vielleicht ein neues mit gleichem Zuschnitt und Farbton.
In Conways dichtem dunklen Haar zeigten sich ein paar graue Fäden mehr als zuvor. Sie war ein wenig fülliger geworden, wenn auch auf beeindruckende Weise. Sie hatte körperliche Präsenz gewonnen, eine ernste, matronenhafte Würde. Wex stand schwerfällig in seinem schäbigen, vollgeschissenen Mantel vor ihr. Sein Körper schien ihm größer und klobiger zu sein, als es der Wirklichkeit entsprach. Um so besser. Dann würde er nicht ständig anstoßen und sich verletzen. Conway war offensichtlich sehr verärgert, doch sie gab sich alle Mühe, ihre Leidenschaften wegzumeditieren. Sie löschte den Bildschirm. »Dabei habe ich mir einmal eingebildet, Sie könnten mein Nachfolger werden! Sie haben versprochen, nicht mit Carter in Verbindung zu treten.« Wex holte aus einer Innentasche die Mana-Linse hervor. »Mit dieser Vorrichtung können wir Mana-Phänomene beobachten, Pen. Man könnte Carter im Orbit damit ausrüsten, entweder durch einen Abstecher mit dem Shuttle oder noch besser, indem wir Eure – {IHRE} – Ihre Ukko-Fähre zur Kooperation überreden.« »Wir sollen unseren Ukko von seinem regulären Kurs zur Erde abbringen? Und damit womöglich den Kontakt abreißen lassen? Wie steht es um Ihre eigene Kooperation mit Ihnen selbst, Wetman? Sind Sie zu zweit in einem Schädel verrückt geworden?« Da sie gerade von seinem Schädel sprach … »Apropos, ich brauche eine neue Perücke. Gibt es irgendwo in Landfall …« Sie musterte ihn finster, vor allem die zwei stählernen Pfennige in seiner Schädeldecke, als könnten sie aufklappen und
etwas freisetzen. Hörner? Oder vielleicht zwei winzige Schlangen? »Sie haben ein wenig von der Kraft erfahren, mit der sich ein Ukko von Stern zu Stern bewegt, sogar von Universum zu Universum …« »Ich glaube eher, sie hat etwas über mich erfahren!« »… und Ihre einzige Sorge ist eine neue Perücke? Sie sehen ziemlich beschissen aus. Und was ist das für ein Zeug auf Ihrer Schulter?« »Sie haben es gerade gesagt, Pen.« Die gebärmutterlose Matrone rümpfte die Nase. »Haben Sie sich vielleicht eingebildet, ein Großwildjäger aus den Tagen der ökologischen Ausrottung zu sein? Mit einer Laserkanone im Orbit auf einen Klatschvogel zu schießen! Ist Ihnen klar, welchen Schaden Sie damit angerichtet haben? Unser Leitstrahlprojektor ist ein Schrotthaufen!« »Er läßt sich ersetzen.« »Vermutlich sind auch andere Pyramiden ramponiert.« »Carter findet sich immer noch zurecht. Seine Speicher sind voll mit Karten und Koordinaten.« »Was noch viel schlimmer ist: Dank Ihnen hat sich der jugendliche Ukko nun der ganzen Welt zu erkennen gegeben – dazu auf feindselige Weise und während sich ein Krieg zusammenbraut.« Das bedeutete ihm schon etwas. Abgesehen von den zusätzlichen damit verbundenen Problemen, mit denen sein Körper nichts mehr zu tun hatte. Um es einfach auszudrücken: Hatte er den Kontakt verloren? Der Gesichtsausdruck der schwarzen Frau deutete es unmißverständlich an. Konnte sie sich über-
haupt vorstellen, welche Anstrengung es ihn kostete, wie ein grober Klotz dazustehen und trotzdem einen klaren Verstand zu bewahren? »Ich kann mich selbst nicht spüren, verdammt!« (Darauf hob sie eine rußschwarze Augenbraue.) »Oja, ich kann mich zwar durch die Gegend bewegen, weil ich mich noch erinnere, wie es geht, aber dieser Körper hat keinerlei Empfindung mehr.« Dieser Körper war sein eigener. Nicht der eines anderen. »Meine Wetware hat die Verbindungen unterbrochen, andernfalls würde ich immer noch Todesqualen im Mana-Feuer erleiden. Auf diese Weise wollte der Ukko mich dafür bestrafen, daß ich seinen Kuckuck getötet habe. Zum Glück bin ich geschützt.« Conway erschauderte. »Offenbar stehen Sie noch unter Schock, auch wenn Sie sich all dies selbst zuzuschreiben haben …« »O ja, ich bin bei klarem Verstand. Mit dieser Mana-Linse«, fuhr er fort, während er Hermis Gerät hochhielt, »habe ich den Weg durch das Tor aus Licht gesehen. Und ich habe das künftige Schicksal eines Juttahat-Goldmädchens gesehen …« »Richten Sie dieses Ding bitte nicht auf mich! Von was für einer Juttahat reden Sie?« Wex erzählte es ihr, so kurz er konnte, obwohl es unvermeidlich war, daß seine Geschichte – die natürlich vielerlei Umstände berührte – recht hektisch und konfus klang, sogar für ihn selbst. Conway schien jedoch die meisten Details mitbekommen zu haben. »Du meine Güte!« sagte sie schließlich. »Also haben Sie dieser außergewöhnlichen Juttahat – mit der wir hätten reden können und von der wir soviel hätten lernen können –, also
haben Sie ihr Ihr Pony gegeben, damit sie darauf fortreiten konnte?« »Ein Spezialagent muß manchmal Entscheidungen treffen.« »Und was ist, wenn die meisten dieser Entscheidungen falsch und sogar gefährlich sind? Zum Beispiel den Einsatz eines orbitalen Lasers, um einen Vogel abzuschießen, der Ihnen auf den Geist geht?« Wex warf einen Blick auf seine verdreckte Schulter. »Ich brauche einen neuen Mantel, genauso einen wie diesen. Und ich will einen Schweber, damit ich nach Kulli suchen kann, den die Isi zu kontrollieren versuchten. Den Neffen des Traumfürsten.« »Sie haben dieses Goldmädchen fortreiten lassen … weil Sie sich in sie verliebt haben?« »O nein!« Es war bestimmt nicht Golda, in die er verliebt war … Doch das war eine private Angelegenheit, auch wenn sie mit der neuen jungen Rebellenkönigin zu tun hatte. »Ganz und gar nicht.« »Sie müssen mir wirklich noch eine Menge mehr an Details erzählen, Wetman Wex, bevor ich Ihnen irgendeinen Schweber borge, damit Sie Ihren Aktionsradius erweitern können. Ihre Berichte waren recht dürftig, um es vorsichtig auszudrücken.« Auch wenn er tatsächlich der Spezialagent der Erde war, würde sie sich nicht einfach so unter Druck setzen lassen, nicht in Anbetracht seiner jüngsten Eskapaden. In diesem Augenblick kam die chinesische Assistentin Yü mit einem schwarzen Lacktablett herein, auf dem zwei Tassen Kaffee, ein Krug mit Sahne und eine Zuckerschale standen. Nachdem sie es neben dem Bildschirm abgestellt hatte, schien
sie noch bleiben zu wollen. Ihre großen Brillengläser ließen ihr flaches, ovales Gesicht besonders eulenhaft erscheinen, während sie Wex aufmerksam musterte. Hatte sie über eine geöffnete Verbindung mitgehört, und machte sie sich jetzt Sorgen um Pen Conways Sicherheit? Wex erwiderte Yüs forschenden Blick und war überrascht, daß er von diesem fernöstlichen Gesicht, das er zuletzt vor so langer Zeit auf der Gala in Julistalax gesehen hatte, so sehr überrascht war. Eine Asiatin und eine Schwarze – er war unverkennbar in die entlegene, Sternenferne Zitadelle der Harmonischen Gesellschaft zurückgekehrt. In Ermangelung anderer Empfindungen kam er sich deplaziert vor. Ach, wenn er doch schon wieder unterwegs wäre, mit neuem Mantel und neuer Perücke, um nach Kulli zu suchen! »Alles in Ordnung, Yü«, sagte Conway. Genauso leise, wie sie gekommen war, zog sich die chinesische Assistentin wieder zurück, um zweifellos weiterhin das Gespräch zu überwachen. Sie hatte Wex weder begrüßt noch sich von ihm verabschiedet. Aus dem Holster am Gürtel ihrer olivgrünen Uniform ragte der Griff einer Lichtpistole hervor. Zuerst verschmähte Wex den Kaffee. Besten puutaranischen Kaffee. Vielleicht mit Zimt darin. Der Kaffee dampfte, doch er stellte keinerlei Geruch fest. Sollte er überprüfen, ob ihm auch der Geschmackssinn abhanden gekommen war? Wie hatte er vergessen können, daß er schon lange etwas in der Hand hielt, nämlich die Mana-Linse. Er legte die Linse auf Conways Schreibtisch ab. {UNSER KÖRPER BENÖTIGT FLÜSSIGKEITSZUFUHR, MEIN LIEBER ROGER.} Unser Körper? Unser? Wenn seine Wetware doch nur aufhören würde, ihn so besitzergreifend ›mein lieber Roger‹ zu
nennen, als wäre sie der Eigentümer und er das Haustier! Für einen Sekundenbruchteil durchzuckte ihn ein Blitz aus brennendem Schmerz. {ENTSCHULDIGUNG, ICH HABE FÜR EINEN AUGENBLICK DIE KONTROLLE VERLOREN.} Mana sei Dank, daß er die Tasse noch nicht hochgehoben hatte, sonst wäre bei seinem Krampf die Hälfte des Inhalts über Conways Akten verschüttet worden. Er war gehörig zusammengeschreckt, und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Hatte die Kontrolle unabsichtlich ausgesetzt, oder sollte er damit an die Alternative erinnert werden? {WIE SOLL ICH DICH NENNEN? GLATZKOPF? APROPOS, WAS FÜR EINE PERÜCKE WILLST DU IN AUFTRAG GEBEN? MIT KURZEN ODER MIT LANGEN HAAREN? STAATSPERÜCKE ODER STUTZPERÜCKE? EINE ABBÉPERÜCKE? ODER EINE MIT ZOPF IM NACKEN? EINE UNAUFFÄLLIGE ODER EINE EXTRAVAGANTE? IN VORNEHMEM STIL ODER IN STRENGEM STIL? EINE BUBIKOPFPERÜCKE MIT STUFEN? EINE WEISSE BLUMENKOHLPERÜCKE?} Seine Wetware wurde allmählich frech. Woher wußte sie all diesen antiquierten Unsinn über Perücken? {WEIL DU MEINETWEGEN EIN PERÜCKENTRÄGER BIST. ICH VERFÜGE ÜBER JEDE MENGE DATEN ZU PERÜCKEN, DAMIT ICH DIR AUF DIESEM GEBIET NÖTIGENFALLS BEHILFLICH SEIN KANN. WIE SOLL ICH DICH DENN NUN NENNEN?} Nur Roger. Einfach Roger. Mehr nicht. Wex hielt die Tasse dorthin, wo seine Lippen waren, und nippte. Der Kaffee besaß weder Temperatur noch Geschmack. Er bemerkte nur, daß er jetzt leichter sprechen konnte, da seine Mundhöhle nicht mehr so trocken war. Essen mußte eine recht lustlose Angelegenheit sein, die nur durch das Risiko gewürzt
wurde, daß er unbeabsichtigt auf seiner Zunge herumkaute. »Wo kann ich mir in der Nähe eine neue Perücke besorgen?« fragte er. Luckys Kammerherr Linqvist pflegte eine zu tragen, {EINE GEPUDERTE PERÜCKE À LA CAVALIERE MIT ZWEI LOCKENSTUFEN}, was bewies, daß irgendein Friseur im Pohjola- Palast in der Lage war, eine elegante Perücke herzustellen. Aber hier in Landfall? Die meisten Aktivitäten in der Stadt konzentrierten sich darauf, neue Kolonisten vorzubereiten und auszustatten, unter denen wohl kaum jemand fachmännischen Haarersatz benötigte. Die schwarze Frau seufzte. »Vielleicht sollten Sie einmal im puutaranischen Puzzlegeschäft nachfragen.« »Das ist eine gute Idee!« Puutaraner verkauften Kuriositäten, und eine Perücke war keine alltägliche Ware. Seefahrer aus Puutara besuchten Landfall regelmäßig, um schwarze Einwanderer zur Küste zu begleiten und per Segelschiff weiter südlich zur subtropischen Insel weiterzubefördern. Seeleute hatten Geschick im Umgang mit Nadel und Faden. »Könnten Sie bitte für eine Weile diese fixe Idee vergessen, Mr. Wex? Könnten wir statt dessen noch einige Details klären? Sie haben also die Alles-Maschine gesehen …« Sicher, das und noch viel mehr. Seine erste Begegnung mit Pen Conway war mit Elmer Loxmiths Besuch zusammengefallen, als er sich diskret wegen einer Tiefschlafvorrichtung für eine Katze erkundigte, den Prototyp des größeren Modells, in dem Kullis ›Onkel‹ sich schlafenlegen sollte. {VERGISS NICHT, DASS WIR NACH KULLI SUCHEN WOLLEN.} Ja, ja. Wex war damals noch so unbeleckt gewesen. Er hatte noch mit einem ManaMagus gerungen und ihn – bedauerlicherweise – aus seiner
Haut gequetscht. Er war noch nicht von einer knabenhaften Prinzessin fasziniert gewesen. Er hatte noch nicht in allen Konsequenzen erfahren, was es bedeutete, der Prototyp einer doppelten Persönlichkeit zu sein, die nun den Kontakt zum eigenen Körper verloren hatte, da die Alternative in unerträglichen Phantomschmerzen bestanden hätte. »Ich fühle mich wie ein Zombie, Pen Conway.« Sie runzelte die Stirn. »Woher wissen Sie, wie ein Zombie empfindet?« »Aber ich bin durchaus in der Lage, einen Schweber zu steuern. Ich verrotte noch nicht. Sehen Sie!« Er hielt eine tote Hand hoch und öffnete und schloß sie, um es zu demonstrieren. »Nachdem ich mich wieder in Ordnung gebracht habe, muß ich mich auf die Suche nach Kulli machen, weil die Bronze-Isi versucht haben, seinen Geist zu kontrollieren, und zwar durch eine raffiniert konstruierte Harfe …« »Nach Ihrem Bericht hat dieses Goldmädchen, dem Sie halfen, versucht, van Maanen mit einer ebensolchen Harfe unter Kontrolle zu bringen.« »Richtig.« »Vielleicht wurden Sie von ihrer Harfe beeinflußt, damit Sie nach Kulli suchen und ihn dann zu ihr und zu den Isi zurückbringen.« »Nein, nein, als ich mit ihr sprach, hatte sie die Harfe gar nicht mehr. Osmo und Minni haben sie an sich genommen.« »Hätten Sie nicht lieber versuchen sollen, die Harfe zu stehlen statt dieser komischen Linse?« »Wenn ich die Linse nicht gehabt hätte, wäre ich niemals so schnell hier eingetroffen!« Doch welche Tragödie war mit
diesem Triumph verbunden, wenn er dadurch nicht mehr tasten, schmecken und riechen konnte … »Wenn Carter mit dieser Linse ausgerüstet wird, bin ich mir sicher, daß wir den jungen Ukko vor Lucky oder den Isi finden. Der Ukko könnte vielleicht dazu überredet werden, alle Bewußtseine zu beeinflussen und auch die Körper. Das ist viel wichtiger als eine Harfe. Ich werde trotzdem nach Kulli suchen, um zu ermitteln, was im Isi-Nest geschah. Sind die letzten zwei Skelette noch vorhanden, Pen?« Einen Moment lang blickte sie ihn verständnislos an. »Die zwei Alien-Skelette in der Gruft unter dieser Burg, die aus dem originalen Ukko stammen – sind sie noch da?« »Oh! Ja, natürlich. Ihre Gedankensprünge sind recht verwirrend! Ihnen einen Schweber zu borgen könnte sich als ausgesprochener Wahnsinn erweisen. Und was den Eingriff in die zuverlässige Routine der Ukko-Fähre betrifft, um eine Linse an einem Satelliten anzubringen, der dem versteckten Ukko bereits Schaden zugefügt hat, dank Ihrer Initiative – also wirklich!« »Nichts tun lautet also die Parole, wie?« »Die Erde möchte nicht, daß wir Unruhe stiften.« »Die Unruhe ist bereits im Gange. Es gibt einen Krieg. Es gibt eine couragierte Rebellenkönigin, die tatsächlich einen Mana-Magus ausgetrickst hat.« »Und wem gilt Ihre Bewunderung? Ist es das, Wex? Der rücksichtslose Wex, der Mann ohne Nerven! Ich soll Ihnen einen Schweber geben, nachdem Sie unseren Leitstrahl im Mana-Feuer verbrennen ließen …?« »Pen Conway, ich kann ein Fahrzeug lenken. Ich bin dazu autorisiert.«
Conway lächelte ausweichend. »Sie scheinen sich zum Partisanen zu entwickeln. Erzählen Sie mir mehr über dieses Goldmädchen! Es muß ja eine goldige Person sein, was? Erzählen Sie mir von Königin Minni. Mögen Sie noch etwas Kaffee?« Mögen? Wie konnte er jetzt noch Kaffee oder sonst irgendein Getränk mögen? Sein Blick streifte ein kleines gerahmtes Gemälde der Burg der van Maanens, wo Minni sich inzwischen häuslich eingerichtet haben müßte. Der befestigte Komplex aus Dächern und Türmen, der auf einem Felsrücken aus rosa Granit errichtet worden war, stellte jetzt im eigentlichen Sinne einen königlichen Palast dar, nachdem Minni mit Leder und Perlen gekrönt worden war. Die Burg wirkte jedoch ein wenig armselig im Vergleich zum gewaltigen Wohnsitz ihrer Mutter in Sariolinna. Während seines letzten Aufenthaltes in Landfall – nachdem er von der Erde eingetroffen war und bevor Yü ihn zur Gala in Julistalax geflogen hatte – war Wex mehrere Male am Puzzlegeschäft vorbeispaziert, bevor er es endlich betreten hatte. Das puutaranische Warenhaus lag hinter dem Marktplatz mit den vielen Läden und der Mana-Kirche aus weißem Marmor und bot zahlreiche Produkte von der großen Garteninsel im Süden feil – Gewürze, Tabak, kandierte Früchte. Dieser Teil des Angebotes beschränkte sich auf das Wirrwarr aus schiefen Räumen im hinteren und oberen Bereich. Mit Ausnahme der Fassade gab es im ganzen Gebäude keinen einzigen rechten Winkel. Die Räume waren dreieckig oder trapezförmig. Korridore verliefen schräg. Kein boshafter Näkki würde sich an einem solchen Ort häuslich niederlassen. Vielleicht war dies der
eigentliche Grund. Die Puutaraner mochten als Rationalisten berüchtigt sein, die nichts mit Mana-Phänomenen zu tun haben wollten und deren ferne Insel dagegen immun war. Durch die Architektur jedoch schien ihr Konsulat und Handelsposten zu bezwecken, jede Unvernunft durch krasse Unregelmäßigkeiten zu verbannen. Wer sich in diesem Gebäude zurechtfinden wollte brauchte einen kühlen Kopf. Die Vorderseite des Geschäftes diente hauptsächlich dem Verkauf der logischen Puzzles aus Holz, die die Puutaraner so kunstvoll schnitzten. Pyramiden und Kugeln und Würfel aus vielen ineinandergreifenden Teilen überfüllten die Regale und einen langen Ausstellungstresen. Eine Treppe führte zu einer im Zickzack verlaufenden Galerie hinauf, von deren Ende eine zweite Treppe steil, schmal und düster nach unten kippte. Als Wex eintrat, sah er den korpulenten Eigentümer und offiziellen Vertreter der puutaranischen Demokratie in Landfall, der in einem purpurnen Tammiholzschaukelstuhl saß und ein zerlegtes Puzzle untersuchte. Eingekerbte Keile, Polygone und Rhomben aus senffarbenem Jalvenholz und gesprenkeltem beigem Horsmaholz lagen auf einem Lacktablett, das größer war als das, auf dem Yü den Kaffee serviert hatte. {Bosco} – ich erinnere mich sehr gut an seinen Namen – trug ein Faltengewand mit riesigen Ärmeln und einen Fes. Das Gewand war in Safran und Gold gefärbt, der perlenbesetzte Fes jedoch war derselbe, den er auch schon im vergangenen Jahr getragen hatte. Bosco gegenüber saß die puutaranische Frau namens {MIRIAM}. Wenn sie nicht so extrem schlank gewesen wäre, hätte ihr malvenfarbener faltenreicher Rock den üppig verzierten Lederpuff, auf dem sie saß, ganz verdeckt. Eine
bauschige purpurne Bluse, locker verknotet, wurde durch einen aufwendigen Turban von ähnlicher Färbung ergänzt. Ihre und Boscos Haut waren glänzend und schwarz wie eingeöltes Ebenholz. Auf dem Weg zum Puzzlegeschäft hatte Wex bei einem Herrenausstatter einen dringenden Ersatz für seinen verschmutzten und zerlumpten Mantel bestellt, komplett mit ebensovielen Innentaschen. Im Laden und draußen auf der Straße hatte sein bloßer Schädel mit den zwei kleinen Stahleinsätzen neugierige Blicke angezogen. Jetzt stand Miriam mit einer flüssigen Bewegung auf, um ihren Besucher zu mustern. Sie überragte Wex um einen halben Kopf oder mehr. »Wie Sie sehen«, sagte Wex, »benötige ich dringend eine Perücke, und ich dachte mir, die Puutaraner verfügen über Geschick, Geduld und gelenkige Finger, um mit Nadeln umzugehen. Ich kann erklären, wie man eine Perücke macht, das ist kein Problem. Zuerst messen Sie meinen Kopf vom oberen Ende der Stirn bis zum Genick aus, dann {VON EINER SCHLÄFE ZUR ANDEREN UM DEN HINTERKOPF} und dann {VON EINEM OHR ZUM ANDEREN ÜBER DIE SCHÄDELDECKE} und viertens {VON DER MITTE EINER WANGE ZUR MITTE DER ANDEREN WANGE UM DEN HINTERKOPF} und schließlich {VOM OBEREN ENDE DER STIRN BIS ZU EINER SCHLÄFE}, und danach machen Sie einen Holzkopf, einen Klotz aus weichem Holz – obwohl ich denke, daß ein Gipser vielleicht schneller …« »Mann, hat Ihnen jemand durch den Schädel geschossen?« Boscos Stimme war tief und volltönend. Seine Augenlider hingen wie schwere Kapuzen, während er Wex mit lässiger Leutseligkeit musterte.
»Dann und dann und viertens und schließlich?« wiederholte Miriam in freundlichem Alt. »Habe ich das nicht gerade gesagt?« »Ich denke«, sagte Bosco, »wir haben hier einen klaren Fall von Gehirnschaden. Damit steht fest, daß ich auf jeden Fall zur Insel zurücksegeln werde, bevor auch ich zum Spinner werde. Mann, ist das Ihr eigenes Hirn, was Ihnen da auf Ihre Schulter gespritzt ist?« Miriam schnupperte. »Guano, würde ich sagen. Vogelscheiße. Er muß eine Art Schamane sein. Er hat sich Löcher in den Kopf gebohrt.« Sie klopfte sich beruhigend auf ihren großen Turban. »Ich bin kein Schamane, ich bin ein Spezialagent von der Erde.« »Wahnvorstellungen hat er auch noch.« »Ich war schon einmal hier. Letztes Jahr. Ich habe mich umgesehen. Ich habe Sie beide getroffen. Sie können sich nicht erinnern, weil ich keine Perücke trage.« Bosco grinste. »Ohne Perücke werden Sie Identitätsprobleme bekommen, Mann. Hören Sie zufällig Stimmen?« Wex erschauderte. Sein Tonfall wurde tiefer und rauchiger, als wollte er sich auf seine Gastgeber abstimmen. »Alles läßt sich erklären, Mr. Bosco.« Miriam keuchte. »Ach du meine Güte, er ist von NäkkiGeistern besessen. Er muß sich beruhigen. Er leidet unter Mana-Wahn. Hören Sie, Mister, diese Perücke, die Sie wollen. Im Grunde wollen Sie gar nicht unbedingt eine Perücke, sondern eine Mütze, einen Kopfschutz, nicht wahr?« Sie beugte sich zu Bosco hinüber und flüsterte ihm zu: »Er ist zu uns
gekommen, weil er weiß, daß die Puutaraner ein Leben in klarer Vernunft führen. Wenn wir etwas für ihn machen, ist es eine Art Talisman, ein Zauber, der ihn wieder geradebiegen soll. Oder zumindest etwas gerader. Armer Mann, wir müssen ihm irgendwie helfen. Unsere Puzzles werden seinen Verstand nicht entwirren.« »EIN KUPFERKESSEL, UM DAS HAAR DARIN ZU KOCHEN, EIN OFEN, UM ES DARIN ZU TROCKNEN. SORTIEREN UND WEBEN UND KNOTEN. GROBER BUCKRAMSTOFF UND SCHUSSFÄDEN …« »Hörst du, wie er das gesamte Ritual herunterbetet, als wäre es eine Exorzismusformel?« {LASS IHNEN IHREN GLAUBEN, ROGER.} Wex riß sich wieder zusammen – er hatte noch sehr viel zusammenzureißen. »Für Ihre Unterstützung wäre ich Ihnen sehr dankbar«, sagte er, »und ich werde natürlich dafür bezahlen.« Pen Conway hatte seinen erschöpften Geldbeutel mit goldenen Dukaten und silbernen Märkern aus dem Etat der Erdenburg aufgefüllt. Das schwarze Pärchen besprach sich eine Weile flüsternd. Miriam schien aus Mitgefühl dafür zu plädieren, sich um Wex zu kümmern, zum Wohl seiner geistigen Gesundheit. Der stämmige Konsul hob zwei eingekerbte Rhomben aus Jalvenholz auf und drehte sie mit langen, tadellos manikürten Fingern hin und her, bevor er die Teile ineinanderschob. Wirklich, die Puutaraner hatten sich der Aufgabe verpflichtet, das Leben derer, die von Bannsprüchen und Manien heimgesucht wurden, zumindest mit einem Staubkörnchen Logik wieder in Ordnung zu bringen. Dieser Besucher benötigte eine Therapie, von ihnen erhoffte er eine Art Erlösung. Er konnte sein wahres Bedürfnis nicht aussprechen, sondern mußte die Bitte um eine Perücke
vorschieben, damit er davor bewahrt wurde, sich ein weiteres Loch in den Schädel zu bohren, um den Druck der Phantome in seinem Kopf zu erleichtern. Der große Bosco begutachtete seine Maniküre. »In Ordnung«, sagte er schließlich, »zufällig beherbergen wir gerade einen Seemann namens Jonas, der ein erstklassiger Puzzlemacher ist. Außerdem sehr geschickt mit Nadel und Faden, ist es nicht so, Miriam? Er sitzt oben und schnitzt wie ein Verrückter, um nicht den Verstand zu verlieren.« »Ich werde Jonas helfen«, meldete sich Miriam freiwillig. »Nach besten Kräften werden wir Ihnen eine Perücke machen, genauso wie Sie sie haben möchten.« Und was war, wenn das nicht die Art und Weise war, wie man normalerweise eine Perücke machte? »Warum setzen Sie sich nicht? Möchten Sie etwas Kaffee, Mr. …?« »Wex. Roger Wex. Etwas Wasser wäre völlig in Ordnung. Zur Flüssigkeitszufuhr. Vielen Dank! Ich kann keinen Kaffee schmecken.« Benommen ließ Wex sich auf den Lederpuff sinken. »Sie können keinen Kaffee schmecken!« »Ich kann überhaupt nichts schmecken oder fühlen. Ich habe die Hälfte meiner Sinne verloren.« »Ach …« Wie mitfühlend die große schlanke Frau seufzte. »Er hat sich selbst abgestumpft«, murmelte sie Bosco zu, »um sich vor Anfällen zu schützen … Aber«, fuhr sie fort, »wir haben leider kein Haar auf Lager, Mr. Wex, abgesehen von dem, was auf unseren eigenen Köpfen wächst!« Was für eine gekräuselte schwarze Mähne mochte sich – oder mochte sich nicht – eingerollt unter ihrem mächtigen Tur-
ban befinden? Wex hatte seine Geldbörse hervorgeholt, doch sie runzelte die Stirn. »Sie müssen verstehen, daß ich nur äußerst ungern mein eigenes Haar spenden würde, auch nicht gegen Golddukaten. Das wäre sklavenhaft, wissen Sie, und wir sind keine Sklaven, auch wenn Lucky uns hierhergebracht hat, um Bananen und Orangen und Baumwolle auf unseren Plantagen zu züchten.« Errötete Wex? Quälte ihn nostalgische Sehnsucht nach der Harmonischen Gesellschaft? »Ich werde bei einem Friseur Haar kaufen«, beruhigte er Miriam. »Welche Farbe hatte Ihr Haar, bevor Sie kahl wurden?« »Es war schwarz.« »Ach …« Wieder ein wissender Seufzer. »Und lockig.« »Mit dem, was sich beim Friseur vom Boden auffegen läßt«, sagte Bosco, »könnten Sie anschließend recht buntscheckig aussehen.« »DIESES PROBLEM LIESSE SICH DURCH SORTIEREN LÖSEN«, sagten Rogers Lippen, »UND NÖTIGENFALLS DURCH FÄRBEN.« Im Friseurladen, der in einer Seitengasse des betriebsamen Marktplatzes lag, begannen zwei pummelige Frauen, Mitte Dreißig und in weißen Schürzen, zu schnippeln. Die Kunden waren ein Priester in schwarzgrauem Anzug und ein rothaariger Mann mit großer schwammiger Nase, die einer Morchel ähnelte. Auf den Wartestühlen saßen eine jugendliche Frau mit wilden Blondlocken, die fast weiß waren, und ein durchtrainierter
Mann, der eine zerknitterte olivgrüne Uniform trug. Er hatte ein braunes Gesicht, sein fülliges Haar war lockig, kohlrabenschwarz und fettig, und er nannte einen eleganten bleistiftdünnen Schnurrbart sein eigen. Er trug keine Waffe, aber in seinem Gürtel steckte ein harter Tammiholzknüppel, der so lang wie ein Unterarm und von der häufigen Benutzung glänzend geworden war. Wex' Ankunft rief die gewohnten Blicke und ein kurzes Kichern der zwei Friseusen hervor. Was hatte ein Kahlkopf in einem Friseursalon zu suchen? Beide Frauen waren honigblond und trugen identische Zöpfe. Eine hatte eine kleine violette Tätowierung einer Schere auf der pummeligen Wange und die andere einen Kamm, wodurch sie sich besser auseinanderhalten ließen. Als Wex sich neben den Offizier aus der Erdenburg setzte {OFFENBAR VOM INDISCHEN SUBKONTINENT}, begannen die Zwillinge wieder zu schnippeln und mit ihren Kunden zu plaudern. Der gestreifte Pfahl draußen vor dem Laden war an der Spitze mit einem Kuckuckssitz ausgestattet, der nach dem verdorrten Zustand der Essensreste zu urteilen in letzter Zeit nicht mehr besucht worden war. Doch die Gerüchteküche wurde von dieser Tatsache nicht im geringsten beeinträchtigt. »Ich hab' gehört, daß die neue Rebellenkönigin richtig wildes Kraushaar hat«, meinte Fräulein Schere zu Herrn Morchel, »Sie ist noch ein Kind, aber Fürst van Maanen ist ganz verrückt nach ihr. Oh, jetzt ist er ja Prinz van Maanen, von eigenen Gnaden. Ich hoffe, daß der Krieg nicht bis zu uns kommt, oder was meint Ihr?« »Ich hab' gehört, daß heute früh etwas Seltsames am Feld der
Harmonie passiert ist«, sagte Fräulein Kamm zum Priester. »Etwas Mana-Unheimliches! Ein Fischer auf dem See des Überflusses hat eine Lichtsäule gesehen. Habt Ihr in der Kirche davon erfahren, Pappi?« Der Priester gab zu, daß ein Kollege den Fall untersuchte. »Aber was viel schlimmer ist«, sagte er, »auf dem Weg hierher hörte ich einen Kuckuck auf dem Marktplatz rufen, daß einer seiner Artgenossen ermordet wurde.« Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Wex bemühte sich, völlig unschuldig auszusehen. »Und der Mörder soll angeblich in einem Feuer brennen, ohne daß es ihn verzehrt.« Schnipp-schnipp. »Was hat das zu bedeuten, Pappi?« »Ich schätze, er hat das Gefühl, er würde verbrennen, aber wird nicht daran sterben.« »Oh, das ist ja schrecklich! Aber woher wißt Ihr, daß der Mörder ein er ist?« Der Inder an Wex' Seite verfolgte aufmerksam diese Gespräche. War das der eigentliche Grund, warum er hierher gekommen war, und nicht, um sich sein üppiges Haar stutzen zu lassen? Um gewissermaßen die Temperatur in der Stadt zu messen? Der Inder warf Wex einen Blick zu und rümpfte die Nase. Wex' Nachbar saß auf der Kuckucksseite seines Mantels, also zog Wex ihn aus und legte ihn über die Lehne seines Stuhles. Sein purpurnes Seidenhemd mit den speziell gepolsterten Schultern und seine braunen Kniebundhosen müffelten vielleicht auch ein wenig, er hatte ja keine Möglichkeit, es festzustellen. Die Haut des Inders glänzte, als wäre sie mit Massageöl eingerieben. Gewissenhafte Körperhygiene! Der Mana-Priester hatte Fräulein Kamm nicht geantwortet.
»Können wir sicher sein, daß der Mörder ein er ist?« hakte sie nach. »Ihr schnattert zuviel.« Der Priester klang verlegen. »Aber mein Herr!« entgegnete Kamm. »Wortgewalt ist geradezu lebenswichtig im Friseurberuf, fast genauso wie für einen Besprecher. Wußtet Ihr das nicht?« »Schnattern und schneiden!« stimmte ihr Zwilling zu. »Wir müssen unsere Kunden unterhalten, während sie hier sitzen, damit sie still sind und stillhalten. Anders könnten wir unsere Arbeit nicht so rasch erledigen.« »Es geht nicht nur um die Worte, die mit unserer Arbeit zusammenhängen, Pappi, so wie Zopf und Schopf, Mähne und Strähne …« »… oder Tonsur und Tolle und Wickeln und Wolle …« »Immer geht es um Worte, mein Herr. Im ganzen Leben. Versteht Ihr das nicht? Unentwegt, so wie die Haare tagaus tagein auf den Boden rieseln!« Von denen sich ein beträchtlicher kunterbunter Haufen angesammelt hatte. »Also, mein Herr, könnte dieser Kuckucksmörder nicht auch eine sie sein?« Schnipp-schnipp. Schnipp-schnapp. Die Zwillinge sprudelten über vor Begeisterung. Umwälzende Ereignisse standen bevor. Trotzdem waren sie ständig auf ihr Handwerk konzentriert. Es war undenkbar, daß sie in ihrem Überschwang versehentlich all das höchst geeignete Haar von Wex' Nachbarn stutzten, wenn der Inder an die Reihe kam. {ER PRAKTIZIERT DIE KAMPFTECHNIKEN DES KALARIPAYIT, DESHALB DER KNÜPPEL.} Was? {EINE KAMPFART SÜDINDISCHER BAUERN, DIE MIT HOCKSTELLUNGEN UND DREHUNGEN IM SPRUNG ARBEITET. VIRTUOSEN BEHERRSCHEN DEN KROKODIL-
ÜBUNG, INDEM SIE SICH AUF HANDFLÄCHEN UND ZEHEN FORTBEWEGEN. WENN ER AUFSTEHT, UM SICH DAS HAAR SCHNEIDEN ZU LASSEN, KÖNNTE ER MIT ERHOBENEN FERSEN STOLZIEREN. MEISTER KÖNNEN LÄHMENDE ODER TÖTENDE SCHLÄGE GEGEN LEBENSWICHTIGE KÖRPERSTELLEN AUSFÜHREN, DEREN POSITIONEN EIN STRENG GEHÜTETES GEHEIMNIS DARSTELLEN. IHRE ÜBERLIEFERUNGEN WURDEN MIT EINEM SPITZEN INSTRUMENT AUF PALMBLÄTTER GESCHRIEBEN; DIE STRICHE WURDEN DURCH EINREIBEN MIT RUSS SICHTBAR GEMACHT.} Wie konnten diese lebenswichtigen Punkte ein Geheimnis bleiben? {DIE PALMBLÄTTER WURDEN STÄNDIG VON INSEKTEN GEFRESSEN.} Natürlich. {WENN ES WÄHREND DER ÜBUNGEN ZU VERLETZUNGEN KOMMT, BETÄTIGEN SICH DIE EXPERTEN ALS MEISTER DER ALTERNATIVEN MEDIZIN, INDEM SIE KNOCHENBRÜCHE ODER INNERE SCHÄDEN MASSIEREN.} Wex beherrschte mit Unterstützung seiner Wetware Tai-Chi, Aikido und Karate, doch über diese andere Tradition hatte er nichts gewußt, bevor seine Wetware ihn in Kenntnis setzte. Jetzt wandte er sich dem Inder zu und grinste. »Gehe ich recht in der Annahme«, murmelte er, »daß Sie aufgrund Ihres Stockes ein Meister des {KALARIPAYIT} Kalaripayit sind?« Der Inder lächelte. »Die meisten Menschen haben noch nicht einmal davon gehört.« Seine Stimme war sanft. Er klang respektvoll – sich selbst gegenüber und um so mißtrauischer gegenüber Wex. »Sie sind der Agent von der Erde, der letztes Jahr eintraf, nicht wahr? Ich habe Sie ein paarmal in der Residenz gesehen.« »Sie haben mich tatsächlich ohne meine Perücke wiedererGANG ALS
kannt?« »Ich achte auf den gesamten Körper und die gesamte Physiognomie. Letztes Jahr stellte ich fest, daß Sie offenbar eine Perücke tragen. Ein Agent muß sich tarnen, wie?« Er blickte mit erhobenen Augenbrauen auf die Metallscheiben, die in Wex' Schädel implantiert waren. Offensichtlich hatte die Perücke dazu gedient, sie zu verbergen. »Ich sah, wie Sie mit Yü zur berühmten Gala von Kaleva aufbrachen, die ich niemals mit eigenen Augen erleben durfte.« Diese scharfen braunen Augen, deren Pupillen von so hellem Weiß eingefaßt wurden. »In fünf Jahren bin ich niemals über Landfall hinausgekommen. Schade, daß ich nicht Ihr Pilot sein durfte.« »Ach, Sie sind also Pilot?« {FALLS CONWAY AUF EINEM KINDERMÄDCHEN FÜR DEN SCHWEBER BESTEHT …!} »Ich habe mir gedacht, Sie wären vielleicht ein Mediziner der alternativen Richtung. Vielleicht sind Sie das ja auch! Massieren Meister des Kalaripayit nicht Brüche und Verletzungen?« »Das ist richtig. Wir praktizieren Fußmassage. Man hat so wenige Gelegenheiten als Pilot. So selten. Alle paar Monate starte ich zu Übungszwecken und fliege ein paar Kreise, um kurz darauf gehorsam wieder zu landen. Es juckt mich, Reisen zu unternehmen. Dieses Jucken läßt sich nicht durch Kratzen beseitigen, o nein.« »Also massieren Sie Füße, um innere Verletzungen zu heilen? Druckpunkte an den Füßen, die mit Milz, Magen und Nieren korrespondieren?« Der Inder blinzelte erstaunt. »O nein, ganz und gar nicht. Wir massieren mit den Fußsohlen. Wir hängen uns an ein waagerecht gespanntes Seil und treten auf den Kranken.«
»Ich verstehe … Entschuldigen Sie, Mr. … äh …?« »Gurrukal. Mathavan Gurrukal, zu Ihren Diensten.« {CONWAY MÜSSTE SICH ÜBERZEUGEN LASSEN, DASS ER EINE GEEIGNETE ESKORTE FÜR UNS WÄRE, IN ANBETRACHT SEINER FÄHIGKEITEN IM WAFFENLOSEN KAMPF; UND SEIN HAARWUCHS IST WIRKLICH ÜPPIG.} Ja, in der Tat: sein Haar. Wex unterhielt sich leise weiter mit dem Inder, während die blonden Zwillinge schnippelten und Kuckucksklatsch über die Belagerung von Loxmithlinna und die anschließende Krönung wiedergaben. »Ihre Krone war aus Leder, vom Wildfang selbst genäht, könnt Ihr das glauben …?« »Und eine Jutti-Kurtisane versuchte ihn zu betören …« »Also, Mr. Gurrukal, ärgern Sie sich darüber, auf Landfall und Umgebung beschränkt zu sein?« »Ich ärgere mich nicht. Aber es ist irgendwie traurig, zu den Sternen zu reisen – zumindest zu einem – und dann in nur einer einzigen Stadt bleiben zu müssen. Wenn die Harmonische Gesellschaft es so erfordert, dann soll es so sein. Ich bin mehr Menschen begegnet, als andere sich träumen lassen. Das Licht einer anderen Sonne, der Geruch einer anderen Luft – deutlich mehr belebender Sauerstoff und keine nennenswerte Verschmutzung.« Wex wußte nichts mehr von Gerüchen. »Ich hätte einen Vorschlag«, flüsterte er. »Ihr Haar – es ist so glänzend und so lang.« (Sein Nachbar warf ihm einen verwunderten Blick zu.) »Sie glauben nicht zufällig daran, daß Ihre Kraft in dieser schönen Haarmähne liegt?« »Um Himmels willen, nein! Welch seltsamer Aberglaube.
Was wollen Sie damit sagen?« »Nur folgendes … ich brauche dringend eine Perücke, um meine Implantate zu verbergen. Ich möchte Sie nicht beleidigen, indem ich Sie frage, ob Sie mir Ihr Haar verkaufen würden …« »Großer Gott, wollen Sie es in Strähnen auf Ihre Kopfhaut kleben?« »Nein, ich würde mir eine richtige Perücke von einem puutaranischen Seemann nähen lassen. Dürfte ich ein angemesseneres Geschäft vorschlagen, Mr. Gurrukal? Ich brauche ein Schwebefahrzeug, um nach einem bestimmten Mann zu suchen, dessen Geist von den Isi manipuliert wurde. Unsere verehrungswürdige Erdvertreterin hegt gewisse Bedenken. Ich habe das Recht, ein Fahrzeug zu requirieren – aber man sollte immer zur Kooperation bereit sein, meinen Sie nicht auch?« »In der Tat. Wenn jemand Sie angreift, sollten Sie immer zuerst versuchen, Frieden mit ihm zu schließen, bevor Sie brutale Gewalt einsetzen.« Konnten er und er selbst Gurrukal ausschalten, falls es nötig sein sollte? Den Mann außer Gefecht setzen, mit Hilfe von TaiChi, wie es mit Hermi geschehen war? {NICHT, WENN ER WIRKLICH EIN MEISTER DES KALARIPAYIT IST. DANN DÜRFTE EINE SOLCHE NOTWENDIGKEIT ERST GAR NICHT ENTSTEHEN.} »Wenn Sie sich für mich den Kopf kahlscheren lassen, Mr. Gurrukal, dann werde ich Sie als Piloten für meine Suche anfordern. Sie wird uns zuerst nach Beckburg führen, der Heimstatt des Traumfürsten, und wer weiß, wohin es dann geht?« »Ach, wirklich? Wirklich?« Die Augen des Inders leuchteten. Doch er hatte Bedenken. »Würde Penelope Conway sich nicht
über mich wundern, wenn ich Ihnen mein ganzes Haar gebe?« »Nein, weil es sich um einen südindischen Ehrenschwur handelt, verstehen Sie?« »So etwas gibt es nicht.« »Trotzdem. Woher soll sie es wissen? Es wird kein Schaden angerichtet. Sagen Sie, daß Sie sich erst wieder Haare wachsen lassen werden, wenn Sie den Schweber sicher zurückgebracht haben. Die Kahlköpfigkeit wird Sie an Ihre Verpflichtung erinnern. Sie leisten dem Agenten der Erde einen großen Dienst. Andernfalls müßte ich mich mit dem Gemisch zufrieden geben, das die Zwillinge in Tüten stopfen, um damit Kopfkissen zu füllen. Das meiste dürfte zu kurz sein. Die Verzögerung könnte fatale Konsequenzen haben.« Fast eine halbe Minute lang schloß Mathavan Gurrukal meditierend die Augen. Dann streckte er seine Hand aus. »Wir werden es mit einem Händedruck besiegeln, Mr. Wex. Ihren Namen erfuhr ich bereits letztes Jahr.« Sein Griff war kräftig, aber gleichzeitig leicht. »Ich hätte mich selbst vorstellen sollen …« {MICH SOLLTEST DU NICHT VORSTELLEN, ROGER.} Natürlich nicht. Fräulein Schere schwenkte zwei Handspiegel, damit der Rotschopf mit der Morchelnase seinen Schnitt begutachten konnte. Zufrieden nickte er, bezahlte und ging. Die pummelige Blondine wartete, bis ihre Schwester mit dem Priester fertig war. »Wer ist der nächste?« fragte sie. Der Inder stand auf und Wex ebenfalls. Er zog schwarze Seide aus seinem Mantel hervor, mit der er die Ernte der üppigen Locken auffangen wollte. Da ihm jedes Gefühl in den Fingern
fehlte, mußte er achtgeben, wenn er Schwarzes mit Schwarzem einsammelte. Gurrukal stolzierte tatsächlich mit erhobenen Fersen zum Friseurstuhl.
6 Verschiedene Verhältnisse
Kulli bleckte die Zähne und verdrehte die Augen, als er sang: »Ich … ich … ich Bin! Bin! Ich bin. Ich bin.« Was war er …? Dabei schlug er mit dem Kopf gegen die abblätternde Rinde eines Harfenbaumes. Die dumpfen Stöße lösten Fetzen vom Stamm und seiner Stirn. Eine blutige Hieroglyphe war auf die Rinde gedruckt, wie ein Grafitti. Blut tropfte von Nase und Wangen hinunter. Er schwankte und taumelte. Ein solcher Lärm in seinem Kopf. Die Saiten des Baumes, die sich bis in die jadegrüne Krone hinaufspannten, ließen seine Schreie in scheinbar hysterischer Bestätigung widerhallen: Ijijijijij. Andere Saiten tönten: Bimbimbimbimbim. »Aaaah!« Kulli sackte zusammen. Die Saiten leierten: Bimbam-bimbam-bim-mam-mamm … Wo war seine Mama jetzt, die der Traumfürst verführt hatte? Wo war seine Mutter Marietta? Wo war Kulli selbst, ihr gemeinsamer Bastard? Nein, er konnte nicht Fürst Becks Bastard sein … nicht, wenn Gunther Beck seine Mama verführt hatte, als sie schon im mittleren Alter war.
Gunther hatte versucht, das Resultat dieser Affäre zu ertränken, als der Junge noch klein war. Irgendwie war es ihm mißlungen! Wie war das möglich? Dann hatte Fürst Beck den kleinen Burschen in der Nähe der Höhle eines Verrins an einen Baum gefesselt – ebenfalls ohne Erfolg. Kulli war immer noch hier. Wo war hier? Ein Wald! Ein holpriger Weg schlängelte sich zwischen Horsmas und Lakarien und vereinzelten Harfenbäumen hindurch. Über dem Blätterdach war der Himmel bleiern. Sein Gedächtnis war trügerisch und widersprüchlich. Wie lange war er schon umhergeirrt? Er war benommen und ausgehungert. Er durfte nicht zum Bauernhof seiner Kindheit zurückkehren. War er in Beckburg aufgezogen worden? Er durfte sich nicht in die Nähe seiner Mama wagen, nicht zu Helga oder der lieben Olga gehen. Er mußte den Heimweg zur Burg des Traumfürsten vermeiden. Er durfte nicht, sonst würde er jemanden töten. Er mußte. Er durfte nicht. Drei Diebe hatten ihm auf den Kopf geschlagen. Nein, sie hatten es gar nicht getan. Brutzelfliegen versammelten sich, angelockt durch die Wunde, die er sich selbst zugefügt hatte. Er schlug mit den Händen um sich. Die Harfenbäume summten. Ähnlich tönende Klänge waren immer wieder durch das unterirdische Isi-Nest gehallt. Arpeggios einer Harfe hatten ihn bestürmt, die vom Diener eines Mana-Magus gespielt wurde, während Kulli gefesselt auf einer Couch gelegen und sich gewunden hatte. Aprikosenfarbenes Licht, der Geruch nach Obst, leuchtende Blasen, die von den kleinen scharfen Hörnern des
Magus aufstiegen. Ein wirbelndes Glissando begleitete den Vortrag des in eine goldene Uniform gekleideten Sprachrohrs des Magus. Manchmal wurden die Akkorde ohrenbetäubend verstärkt und rissen an den Fasern seines Geistes. »Juttahats haben die Gesundheit des Verstandes«, hatte das Sprachrohr des Magus erklärt. »Menschenwesen nicht. Ein Juttahat in Freiheit ist in Gefahr des Wahnsinns. Bei Bereitschaft zur Führung erfolgt die Übergabe der Harfe, die von uns in Benutzung ist! Rache am Traumfürsten für das Ertränken des Kindes.« (Dabei begannen Kullis wahre Erinnerungen zu ertrinken …) »Erfordernis der Wildheit wie das Verrin, das zum Angriff auf das Kind bestimmt war.« (Daraufhin tobte Kulli und wehrte sich …) »Blutig! Blutig!« schrie er. Brutzelfliegen summten zustimmend. »Möchtet Ihr ewig leben?« lockte ihn eine hinreißende Frau. »So wie Euer Onkel?« Die Tätowierung einer Sternenblume auf ihrer Wange, mit Pailletten besetzte Kämme in ihrem schwarzen Haar. Sie starrte ihn an: Sagt es mir, sagt es mir, zieht Euch nackt aus vor mir. Ja, um den Verrin in sich loszulassen! Dann hatte er nach ihrem neugierigen Auge geschlagen. Kulli geriet in Panik, als er unter dem Baum zusammensackte, der eine riesige Harfe war. Er konnte sich nicht erinnern, wie er aus dieser Burg geflohen war, wie ein Tier ohne begrifflichen Verstand, ohne zeitliche Abfolge in seinen Handlungen oder ein Verständnis für ihre Bedeutung, sondern nur durch unmittelbare Reaktion auf die Umstände. Seine Schale war aufgebrochen, um Chaos freizusetzen, und
jetzt schlug er sich in wilder Verzweiflung die Stirn auf. Eine besorgte Stimme: »Ihr dort, ist alles in Ordnung?« Der Tonfall einer jungen Frau. »Was ist los mit Euch?« Das Timbre ihrer Stimme war auf ordinäre Weise süßlich, unkultiviert und doch einnehmend, getrieben von einer Besorgtheit, die beinahe erregend wirkte. Er rieb sich das Blut aus den Augen und leckte sich die Finger ab. Hunger! Die Sprecherin war bereits nähergeeilt. »Ihr hattet einen Unfall! Was ist geschehen? Es sind doch keine Juttis in der Nähe, oder?« Ob Juttahats ihm aufgelauert hatten? Um ihn zu überfallen, auszurauben und hier unter diesem Baum liegenzulassen? Kulli blinzelte verwirrt und verscheuchte ein paar Fliegen. Das flachsblonde Haar des Mädchens war mit grünen Bändern zurückgebunden. Ihr Gesicht bestand aus einer zwei Daumen breiten Nase, üppigen Lippen und himmelblauen Augen. Die Haut war leicht pockig und mit einer Creme bestrichen, die ihr Antlitz verwischte und dazu diente, Fliegen abzuwehren. In einer weißen Leinenbluse mit langen Ärmeln hüpfte ein praller Busen. Am Bündchen ihres langen gestreiften Rockes hing ein Messer in einer Scheide. Einen Flechtkorb mit Käse unter Musselin hatte sie vor sich abgestellt. An den Füßen trug sie schmutzige Sandalen. »Es sind doch keine Juttis in der Nähe, oder?« Sie hielt eine Hand in der Nähe des Messers. »Eure Stirn ist ganz blutig. Was ist geschehen …?« Ja, was war mit diesem unter anderen Umständen hübschen
jungen Kerl mit den getrübten blauen Augen und dem zerzausten Blondhaar, das auf die Schultern seines braunen Kordhemdes fiel, geschehen? Kulli richtete sich umständlich auf. Sein Hirn schmerzte. »Ich bin gestolpert. Ich habe Hunger …« »Nehmt etwas Käse!« Sie duckte sich vorsichtig, griff unter den Musselin und brach ein Stück ab, das so gelb wie ihr Haar war. »Dann müßt Ihr mit mir nach Hause kommen …« Mit ihr nach Hause. »Ihr solltet Euch waschen.« Sie musterte ihn abschätzend. »Und ins Bett gehen. Wir können eine weise Frau rufen, damit sie nach Euch sieht.« Nach ihm sehen. Ihn beäugen, ihn begutachten. Ihre blauen Augen blickten ihn prüfend an. Statt den Käse anzunehmen, packte er sie am Handgelenk. Mit der anderen Hand riß er ihr Messer aus der Scheide und warf es weit fort. »Ah!« schrie sie. »Laßt los!« »Wie ist Euer Name?« »Olga, ich bin Olga. Was ist los mit Euch?« Ihre Augen waren aufgerissen. Sie keuchte. »Ihr seid nicht Olga.« »Aber so heiße ich! Bitte laßt mich los!« »Ihr könnt mich nicht zum Narren halten, Näkki-Maid!« knurrte er. »Das ist der Name meiner Schwester. Ihr seht ihr überhaupt nicht ähnlich.« »Mehr als nur ein Mädchen kann Olga heißen. Ihr habt Euch den Kopf gestoßen. Das stimmt mit Euch nicht.« Sie roch nach käsigem Schweiß. Er hungerte nach ihr, die ihm so nahe war.
»Warum benehmt Ihr Euch so?« wimmerte sie flehend. »Wie ist Euer Name?« Fragen, verdammenswürdige Fragen! Sagt es mir, zieht Euch nackt aus. Blut ließ ihn anschwellen, das Blut, das sich in klebrige Milch verwandeln würde. Das zerfleischende Verrin hatte sich in ihm befreit. Er würde sie würgen, bis er in sie eindringen konnte, um die Milch und das Blut ausströmen zu lassen. Er würde sämtliche Fragen aus ihren Gedanken vertreiben. Ihre linke Hand schoß vor, um seine Augen auszukratzen, doch er bekam auch ihr anderes Handgelenk zu fassen und warf sie rückwärts ins Moos. Er stürzte sich auf sie. »Nein, tut es nicht, bitte nicht!« Als sie um Hilfe jammerte, nahmen die Saiten des Harfenbaumes ihr Geheul auf. Die Harfenklänge machten ihn verrückt. Wenn er dieses Näkki-Mädchen nicht vergewaltigte, würde er sie auf jeden Fall töten. Sein Blut rauschte. Entweder er würde ihr Blut vergießen, oder er würde die heiße Milch ausgießen, die nur die blasse Variante desselben Blutes war. Ihr Schrei schmerzte in seinem pochenden Schädel. Er ließ ihre Handgelenke los und kroch zurück. Er hob ihre Unterschenkel auf seine Schultern und schob ihren gestreiften Rock über die Knie hoch, über die Schenkel, über den Bauch, und enthüllte keinerlei Unterwäsche, sondern nur ihren intimen Blondschopf und Falten weißer Haut. Er knöpfte die steife, wütende Zitze seiner Lenden auf. »Ich lasse Euch, ich lasse Euch«, rief sie. »Wartet!« Wie konnte er warten? Seine geschwollene Zitze drängte und stieß und schob sich in ihre Spalte. Sie kreischte, und Tränen strömten ihr über das Gesicht.
Der Bulle in die Färse. Die heiße Milch kochte über. Kontrolle durch uns, wildes Menschenwesen. Mit unserer Stimme in Eurem Kopf wird Gesundheit des Verstandes. Erfordernis des Tötens des Traumfürsten. Wie konnten zwei solche Impulse gleichzeitig in seinem Bewußtsein existieren? Heiße Milch, heißes Blut … Er sackte zur Seite. Seine Hand fiel auf das Käsestück, ihr Geschenk an ihn. Er schlang, während sie stöhnte und ihr vergewaltigter Unterleib bis zum Nabel bloßlag. Dann hob er ihren Käsekorb und auch das Messer auf. Als sie ihr Messer in seiner Hand sah, versprach sie: »Ich werde es niemandem sagen, niemandem sagen.« Brutzelfliegen schwirrten zwischen ihren Beinen. Sagen, sagen, sangen die Harfenbaumsaiten. Kulli jedoch war längst losgestapft. Ersteche Onkel mit einem Messer, weil er unsere Mama geschändet hat. Enthäute den Fürsten der Träume. Lege seine abgezogene Haut in Essig. Bring sie zu einem Mana-Magus. Nein nein nein, tu es nicht! Bestohlen und geschunden weinte das Mädchen vor Schmerz und Entsetzen, doch auch vor Erleichterung. »Darf nichts sagen, darf nicht darf nicht darf nicht«, plapperte sie zu niemandem außer den Insekten und einem Baum, um sich ihres Überlebens zu vergewissern. Wie sollte sie ihren Eltern erklären, warum ihr Korb und Käse und Messer abhanden gekommen waren? Juttis Juttis Juttis, Juttis in den Wäldern. Seine Sauermilch tropfte vermischt mit Blutfäden aus ihr heraus. »Mach einen Knoten in ein Ei, einen Knoten in ein Ei«, bete-
te sie. Sie durfte kein Baby empfangen. Über dem jadegrünen Laub war der Himmel wie der Deckel eines riesigen Zinnkochtopfes. Schneekopf brummte der Kopf. Deshalb hatte er sich Minkis schlaffe Kordmütze auf seinen Blondschopf geklatscht. Um diese seltsamen summenden Skrupel zu ersticken. Er trug auch den langen gelbbraunen Ledermantel mit dem großen Kragen, den Minki auf der Burg von Niemi zurückgelassen hatte, als er, in Schale geworfen, nach Sariolinna abgeflogen war. Schneekopf und Fürstin Inga und eine nörglerische Kyli und Minkis jüngere Brüder Kosti und Karl waren schon mehrere Stunden unterwegs, seit sie die Burg verlassen hatten. Sie waren nicht durch die Gemeinde oben auf der Klippe gezogen, sondern hatten die andere Seite des Lasinen-Sees umrundet, bevor sie sich in den Wald geschlagen hatten. Es war nicht nötig, ein kleines Gefolge mißmutiger Stadtbewohner zu versammeln, das ihnen nachtrottete, um den Gang der Geschehnisse zu verfolgen. Ob Fürstin Inga zu einem geheimen Rendezvous mit ihrem ruchlosen Sohn unterwegs war? Seitdem ein Kuckuck darüber geplappert hatte, wie der Erbe der Burg Luckys Gemahl ermordet hatte, war Minkis Name verdammt gewesen. Seine früheren Schurkereien, die durch die Heirat mit Kyli Helenius und ihre Mitgift gezügelt worden waren, wirkten im Vergleich dazu geringfügig. Es schien, daß sein Untatendrang nur aufgeschoben worden war. Dicke Saugfliegen sausten durch den duftenden, sonnigen Wald aus Moschusbäumen, Jalven und Federfarn. Fliegenfänger – saphirgrüne Blitze – huschten durch vereinzelte Schwärme
aus Bremsen und Augenpissern. Brutzelfliegen hingen wie Rauchwölkchen über den azurblauen Röhren der Schornsteinblumen. Felsen waren einladende Ruheplätze für die Erschöpften, zu denen Kyli Kennan sich zählte. Hatte sie nicht erst vor einer Woche entbunden? Ihre Wehen hatten weher getan, als sie für möglich gehalten hätte. Obwohl die alte Goody Tränke und betäubende Dämpfe aus Sinitus-Kräutern bereitet hatte, die in einem Topf schwelten und geschnuppert wurden, wenn Krämpfe kulminierten, waren ihre Wehen wie die denkbar entsetzlichste Verstopfung gewesen. Das Baby war ein plärrender Junge. Heute kümmerte sich Goody um das schlappe rosafarbene Bündel aus Wünschen und Enttäuschungen. Die zahnlose alte Haushälterin turtelte mit ihm und säuberte seine Windeln und fütterte ihn mit Milch aus einer Flasche mit einem Nuckel aus Schweineblase. Wenn es nach Kyli ging, konnte Goody sich jeden Tag um das Schweinchen kümmern. Für sie war Minkis Erbe das Schweinchen, obwohl der Name, den sie in einer Beratung mit Inga tatsächlich erwählt hatte, Johannes lautete. Johannes Kennan – eine Verbeugung vor ihrem Vater Johann, dem wohlhabenden und machtvollen Fürsten Helenius. »Können wir nicht eine neue Ruhepause machen?« bettelte Kyli. »Noch nicht«, sagte Inga. »Wir haben doch erst eine gemacht.« »Das war vor zwei Kims. Dort drüben – der hübsche flache Stein. Darauf könnten wir alle Platz nehmen.« »Die Schornsteinblumen sind zu nah. Brutzelfliegen würden uns belästigen.«
Aber sie alle trugen doch stinkende Zweige um die Hälse, die Insekten zuwider waren, sogar die Jungs! Mit Hilfe eines Gehstockes schob Inga sich stapfend weiter. Sie trug ihren schwarzen Wollrock, der mit Schmuck behangen war, und ihr schwarzes, mit Pailletten besetztes Spitzenleibchen. Für diesen Ausflug hatte die Fürstin darauf bestanden, daß Kyli, die schließlich wieder zu Figur gekommen war, ihr offenherziges, tief ausgeschnittenes Kleid aus Spitze über Musselin anzog. Irgendwie war diese Exkursion eine Frauenangelegenheit. Und Kyli sollte fraulich aussehen. Hinter ihnen ging der erdbeergesichtige Schneekopf als Nachhut, in einer Hand die Armbrust (deren schwerer Windengriff es mit einer Wäschemangel aufnehmen konnte) und in der anderen einem Picknickkorb. Zweifellos schielte er jedesmal blinzelnd auf Kylis Silhouette, wenn sie durch Sonnenstrahlen trat. Es war sinnlos, ihn zu beschämen, denn sein nässendes Gesicht war ohnehin ständig gerötet. Minkis jüngere Brüder waren vorausgeprescht – der eine Kopf mit lockigem kastanienbraunen Haar und der andere mit dünnen braunen Strähnen. Kyli glaubte, eine Fliege wäre auf ihrer Handfläche gelandet, aber natürlich war es nur der kleine Schlüssel, der dort zu ihrer Hochzeit eintätowiert worden war. Der Schlüssel zu einer Schatzkammer! Leider nein … Ach, wenn sie doch nur kein Kind hätte – kein quiekendes Schweinchen –, sondern wieder ein Mädchen am Hof von Saari wäre, inmitten prächtiger Springbrunnen und Kanäle, umgeben von ausgelassenen, mit schönen Juwelen geschmückten Freundinnen. In der Umgebung von Saari gab es eine Goldmine, eine Silbermine und Adern mit kostbaren Steinen. Infolgedessen
befand sich dort die Münzanstalt von Kaleva. Sie prägte Münzen für die Königin im Norden. Der Fürst der Ländereien von Saari zog seinen Konzessionsanteil auf der Grundlage sorgfältiger Berechnungen ab. Der Hof lebte unbeschwert und großzügig, doch der ältere Helenius war ein äußerst gewissenhafter und pingeliger Mann. Eine zwanghafte Korrektheit charakterisierte die männliche Linie – deshalb war ihr Vater auch so verärgert über ihre Verbindung mit einem Schurken, auch wenn der fragliche Schurke sie entführt und geschändet hatte, so daß sie eigentlich gar keine Schuld an der Hochzeit trug. Es gab Bestimmungen, mit welchen Leuten sich die Familie Helenius verheiraten durfte. Kein männlicher Helenius sollte jemals eine Sariola-Tochter ehelichen. Zur Beruhigung der Königin durfte kein künftiger Hüter der Münzanstalt jemals zu einem Langlebigen werden. Vielleicht fand Kyli durch das Schweinchen Johannes wieder Gnade vor ihrem Vater. Vielleicht auch nicht, denn Johannes kam zur Hälfte von Minki. Kyli hatte unzweifelhaft immer noch Schmerzen von der Geburt des Schweinchens. Und jetzt mußte sie mit bloßen Schultern durch einen heißen Wald voller Insekten wandern, mit Brustwarzen, die gerade eben verhüllt waren, und mit mißbrauchten Hüften, die von den Spießgesellen ihres schurkischen Gemahls begafft wurden. Tatsächlich war Schneekopf ganz auf das Summen in seinem Kopf konzentriert. Es war, als würden hundert Schneeköpfe in ihm leise, aber hektisch stottern. Als wäre eine echohafte Traumschlägerei im Gange! Ein Winkel seines Gehirns träumte vom
Kampf, während er hellwach war. Das Bewußtsein dieser inneren Schlacht war vage, aber störend. Vielleicht wurde er krank, und was er spürte, waren all die winzigen wimmelnden Zellen seines Körpers, die sich gegen eine bevorstehende Krankheit zu wehren versuchten … Hört die Geschichte: Erst am Abend zuvor war Arvid Blomberg, der Lehrling des ortsansässigen Schamanen, auf der Niemi-Burg aufgekreuzt und mußte unbedingt erzählen, was ihm vor kurzem zugestoßen war. Im Saal hatte man gerade zu Abend gegessen: Hammeleintopf, Kartoffelbrei und Karotten. Das Baby schlief in der Kinderwiege, in der ehemals Karl und Kosti und davor auch Minki gelegen hatten. Aus Gewohnheit stand in einer Ecke immer noch ein Stapel aus Porzellanschüsseln und Kupfertöpfen, obwohl Schneekopf das Dach inzwischen mit großem Erfolg geflickt hatte. Die Glocke, die an der mit Eisen beschlagenen Tammiholztür hing, bimmelte, als draußen jemand den Griff auf und ab bewegte. Schneekopf war hastig vom Tisch aufgestanden, damit der kleine Johannes nicht durch das Getöse geweckt wurde. »Ich wette, es ist Pappi Hukkinen«, flötete der junge Kosti. Kosti neigte zu voreiligen Schlüssen – doch in diesem Fall war seine Vermutung begründet. Seitdem sich die Nachricht verbreitet hatte, daß Prinz Bertel von seinem Vater ermordet worden war, hatte es in der Burg nur einen verhältnismäßig bedeutenden Besucher gegeben. Der Mana-Priester von Niemi war des öfteren vorbeigekommen, um seine Anteilnahme zu äußern und Fürstin Inga wegen der Taten ihres Sohnes zu
tadeln. Hukkinen, der Priester, zog es vor, in einer der Baracken am See statt oben in der Stadt in einem ordentlichen Haus zu wohnen. Mehrere Male am Tag stieg die große, unermüdliche Gestalt forsch die Gleise der nicht mehr benutzten Kettenbahn vom Ufer bis zum Berg hinauf und von der Anhöhe zum Strand hinunter, als wäre er eine Lokomotive, die ihre Gemeinde mit Mana-Energie versorgte. Eigentlich war dies für Hukkinen nur eine Übung zum Aufwärmen. Im nächsten Jahr wollte er täglich die zehn Kims vom abflußlosen See bis zum Murame-Fluß und zurück laufen. Die Stadtbewohner sollten endlich einen Verbindungskanal graben. Durch seinen Marsch würde Hukkinen sie hoffentlich dazu bewegen, zur Tat zu schreiten. Von Rechts wegen hätte die Kennan-Familie als Initiator und Sponsor dieses großen Vorhabens auftreten müssen. Doch leider war die Kennan- Familie so nachlässig, daß man sie bereits als heruntergekommen bezeichnen konnte. Und jetzt schien Minkis Verbrechen bedauerlicherweise zusätzlich die Lebenskraft zu nehmen, die Pappi Hukkinen sich anzusammeln bemühte. Inga mißbilligte den Priester, dessen Energien ihrer Ansicht nach genauso fehlgeleitet waren wie jene ihres ältesten Sohnes und schon seines Vaters vor ihm. Was war, wenn an der Tür nicht eine Person bimmelte, sondern mehrere? Oder gar viele? Vom Pohjola-Palast geschickt, mit Waffen in den Händen, zur Rache bereit? Doch der Besucher, der durch den vergitterten Türspion erspäht wurde, erwies sich als Arvid – in einen Kittel gekleidet, an den Dutzende von Blechsternen locker angenäht waren, und mit einem Rock aus glänzenden Harnienflügeln. Malven-,
flieder- und lavendelfarbenes Gefieder rauschte, als er eingelassen wurde. Arvid war Schneekopfs Cousin zweiten oder dritten Grades, ein linkischer Kerl. Seine große Stirn war mit einem winkenden purpurnen Strichmännchen innerhalb eines fünfzackigen Sterns verziert. Seine geschwungenen Augenbrauen waren ausdrucksvoll und ständig erstaunt, als hätte er gerade eine mystische Offenbarung erlebt. Sein Kinn war spitz, und sein Blondschopf zerzaust. Er wirkte wie ein Wandervogel, mehr noch als Hukkinen. Und er hatte eine seltsame Geschichte zu erzählen. Draußen in den mit Felsblöcken durchsetzten Wäldern, wo die Himmelspyramide ihren Finger nach oben reckte, hatte Arvid oben auf dem schlanken Keramikbauwerk gehockt, wie es seine Gewohnheit war, indem er seinen Widderschädel als Sattel benutzte. In seiner Trance-Balance hatte er bei Tageslicht seinen Seelenstern gesucht. Sein Schamanenmeister Sven Hartzell, der ihn ausbildete, hatte gesagt, wegen der Unsichtbarkeit der Seele sei es besser, den entsprechenden Stern nicht bei Nacht zu suchen, wenn Tausende von Sternen funkelten, sondern während sie von der Helligkeit der Sonne überstrahlt wurden. Das sei eine wahre Meisterleistung der Wahrnehmung. Persönlich war Arvid davon überzeugt, daß er seinen Stern bereits kannte. Es war der winzige, nicht funkelnde Stern, der schnell und in regelmäßigen Abständen über den Himmel zog und der kein Ukko war. Doch bislang hatte ihm dieser Stern noch nichts offenbart. Als er also auf der Steinpyramide saß, wurde Arvid mit einemmal in strahlendes Licht getaucht. Die Blechsterne auf
seinem Rock erhoben sich, als würden sie vom Licht aufgesaugt werden. In einem sah er dann das unverkennbare Miniaturspiegelbild von Minki Kennan, von einem hohen Lederkragen eingerahmt und mit einem messingbeschlagenen schwarzen Helm auf dem Haupt. In anderen Blechsternen erkannte er verzweifelte Mädchen in fadenscheinigen Lumpen, brennende Häuser, ein gewölbtes, schneebedecktes Land, über das Rauch trieb, einen Palast mit Türmen, der lichterloh in weißem Feuer brannte, und einen herumtollenden Kuckucksmenschen, der einen Dreizack schwenkte. Arvid wurde von der Pyramide geschleudert. Ein paar Sekunden lang flog er. Er stürzte in einen Kugelstrauch, der seinen Fall abfederte. Er konnte von Glück sagen, daß er nicht gegen einen Felsblock geprallt war! Verwirrende Bilder umschwirrten ihn. Doch er wußte, daß er nicht zurückblicken durfte, sondern den Rückweg in die Welt suchen mußte, durch die Bäume hindurch. Als Arvid an der Schamanenhütte eintraf, war Sven Hartzell nicht dort. Wie es häufig geschah, war sein Meister allein in den Wald gegangen. Arvid wartete – und während er wartete, verspürte er ein immer dringlicher werdendes Gefühl. Ein Kuckucksdrang erfüllte ihn, seine Geschichte jemandem zu erzählen, der sie hören wollte, jemandem, der ihm diese Geschichte abnehmen würde. Andernfalls stünde er unter dem Zwang, sie immer und immer wieder zu erzählen, so daß er niemals den geistigen Frieden fand, um über seine Offenbarung nachsinnen zu können. Wem sonst sollte er diese Geschichte erzählen, wenn nicht der Mutter des Sohnes, den er als Krieger verkleidet in einem
verwüsteten Land gesehen hatte? Er streifte umher, um nach Sven zu suchen, machte jedoch einen weiten Bogen um die Pyramide, die ihn abgeworfen hatte. Am nächsten Tag ging er wieder auf die Suche, und wieder blieb sie erfolglos. Ihm war klar, daß er zuallererst seinem Meister davon erzählen mußte. Mehrere Tage vergingen, während er wie auf glühenden Kohlen hockte, bis Sven Hartzell zur Hütte zurückkehrte und der Schamanenlehrling endlich zur Burg von Niemi eilen konnte. Unterdessen stand Arvid unter einem weiteren Zwang. Der Geist eines Kuckucks war in ihm. Er sollte zu einem Kuckucksmenschen werden, einem Orakel, und in Trance auf Bäumen hocken. Er mußte sich eine Kuckucksmaske machen – allerdings nicht aus den Federn eines Klatschvogels, Mana bewahre! Gänsefedern, stumpfgrün gefärbt und dann rostrot besprenkelt, würden völlig ausreichen. Für die Maske brauchte er große gelbe Glasaugen, wie ein Kuckuck sie hatte. Dunkle, rauchfarbene Pupillen würden seine Augen verbergen, während er trotzdem noch etwas sehen konnte. Wo sollte er sich solche Brillengläser besorgen, wenn nicht aus Ruokokoskis Glaswerkstatt in Niemi? Wer war besser geeignet, für diesen Auftrag zu zahlen, als Fürstin Inga, zur Belohnung für seinen Bericht über ihren Sohn? Alles ergab Sinn, einschließlich der Verspätung. Dies hatte Arvid am Abend zuvor erzählt, während der Hammeleintopf auf den Tellern kalt wurde. Kosti und Karl waren vom Besuch eines Schamanenlehrlings fasziniert. Schneekopf hatte sich am blonden Kopf gekratzt. Er kratzte sich oft, wenn er nicht gerade mit sich selbst darum kämpfte, nicht an seiner Akne zu kratzen. Kyli verspürte hefti-
ges Herzklopfen wegen der möglichen Bedeutung von Arvids Vision. Das Schweinchen wachte auf und quiekte lange und laut. Die alte Goody hatte kaum eine andere Wahl, als den kleinen Johannes aus dem Speisesaal zu bringen. Das betagte Kindermädchen humpelte davon und beklagte sich gurrend bei dem Baby, während die anderen Jungen angewidert das Gesicht verzogen: »Oh, der kleine Herr weiß genau, wie er uns den Abend verderben kann, nicht wahr?« Was Fürstin Inga betraf … Sie war erbleicht und hatte ihre vollen, sinnlichen Lippen geschürzt. Ihre haselnußbraunen Augen musterten Arvid. Sie behielt ihre Meinung für sich. Sie spielte mit einer ergrauten kastanienbraunen Locke. »Morgen«, verkündete sie schließlich, »werden wir persönlich einen Ausflug zu dieser Pyramide machen, um zu sehen, ob ich sehen kann, was Ihr saht.« Sie kramte in der Geldbörse, die an ihrem Gürtel hing und zählte drei angelaufene silberne Märker ab. »Das sollte genügen, um zwei Stücke gefärbten Glases von der besten Qualität zu kaufen.« »Nehmt Euch in acht«, sagte Kyli plötzlich zu dem Lehrling, »daß Ruokokoski sie nicht mit einem Bann belegt und die Dinge irgendwann häßlich aussehen. Erwähnt auf keinen Fall unseren Namen.« »Warum nicht?« fragte Arvid. »Das tut nichts zur Sache.« Und so waren sie jetzt also im Wald, und Fürstin Inga hatte ihre Meinung immer noch für sich behalten, obwohl Kyli sich hübsch anziehen mußte. »Es ist alles nur wegen dieses Familiengeheimnisses, nicht
wahr?« warf Kyli ihrer Schwiegermutter vor. Sie schlug einen Schweißsauger von ihrer nackten Schulter. »Minki wollte es seiner Kiki-liki niemals verraten, ganz gleich, wie sehr ich ihn umschmeichelt habe, Mana weiß warum! Ihr wißt ganz genau, wohin er verschwunden ist!« »Das mag sein, meine Liebe. Je weniger Menschen davon wissen, desto sicherer ist mein Sohn.« »Ich bin seine Frau und die Mutter seines …« Schweinchens. »Hat Minki Euch das Geheimnis verraten?« rief sie Schneekopf zu, der immer noch hinter ihnen ging. Mit dem Korb und der Armbrust in den Händen holte Schneekopf sie ein. »Was?« »Vielleicht hat mein Ehemann Euch das Familiengeheimnis verraten, das erklärt, wo er jetzt ist.« Das weinerliche Erdbeergesicht verzog sich. »S-sein Ge-gege-geheimnis …? Seine K-klappe war so fe-fe-fest ve-veverschlossen w-wie ein E-e-e-entena-a-a-arsch unter Wasser mit 'nem Ei drin.« »Was Ihr nicht sagt!« Natürlich hatte Ingas Sohn seiner Kiki-liki nichts vom Paradies unter dem See der Schöpfung erzählt, in dem all die hübschen Töchter Evas wohnten! Eine solche Vorstellung war für einen Burschen wie ihn äußerst verlockend. Nicht daß Ingas Sohn sich jemals erträumt hätte, sich auf den Weg zu diesem fernen See zu machen – der wie ein Rhombus geformt war und an zwei Seiten von steilen Klippen begrenzt wurde, an deren höchster Stelle riesige Felsen balancierten. Nicht aufgrund der bloßen Möglichkeit, sich verbotenen Freuden zu widmen, sondern nur wenn sein
Leben in größter Gefahr war und er ein Versteck brauchte, das von niemandem gefunden werden konnte … Wie konnte das Paradies, das Ragnar seiner Frau beschrieben hatte und in dem sich Minki mit ziemlicher Sicherheit gerade aufhielt, auch nur im entferntesten so aussehen, wie Arvid es gesehen hatte? Der Schamanenlehrling hatte von Brand und Schnee und Zerstörung gesprochen. Es war eine Hölle, in der die Mädchen Lumpen trugen! Zugegebenermaßen hatte Ragnors Aufenthalt im Paradies ein unglückliches Ende genommen. Wenn auch niemals in diesem Ausmaß! Konnte Arvids Vision verzerrt sein, aufgrund der Tatsache, daß er ein Mann war? Männer waren so sehr vom Kampf besessen. Jene Welt unter dem See der Schöpfung war ein weibliches Geheimnis, ein Ort des Schaffens, nicht des Zerstörens. Konnte ein Mann überhaupt unverfälscht das weibliche Wesen dieses Reiches wahrnehmen? Inga mußte mit eigenen Augen einen Blick auf Arvids Sitzplatz werfen … Ein Stück vor ihnen hörten sie schwach eine schroffe Stimme singen. Schneekopf stellte den Picknickkorb ab, damit er seine Armbrust mit der Kurbel spannen konnte. »B-b-b-bleibt hinter mir, Ju-Ju-Ju-Jungs«, empfahl er. Schließlich kam die Gruppe in Sichtweite der Pyramide – und der Gestalt, die um das schlanke, schwarz-rote Bauwerk herumschlurfte. Zweifellos handelte es sich bei diesem Tänzer um Arvids Meister, obwohl sein Gesicht kaum zu erkennen war. Auf dem Kopf trug er eine hohe Filzmütze, die mit einer rotgelben Borte besetzt war. Von der Krempe hing ein Schleier aus
blau gezackten Quasten herab, die aus vielen kurzen Schwebhuhnfedern bestanden und die mit Wolle zusammengebunden waren. Durch diesen bewegten Vorhang lugte der Schamane auf die breite und flache Trommel, die er in einer Hand hielt. In der anderen Hand hatte er einen Stift aus Holzkohle. Das Trommelfell war frisch getüncht worden. Von Zeit zu Zeit malte er schwarze Zeichen darauf. Er trug ein purpurnes Hemd, das mit einem Korsett aus weißen Rippen bestickt war, so daß sich von den Hüften aufwärts das Bild eines Skelettes ergab. Arvids Meister war halb am Leben und halb tot, zur Hälfte hier und zur Hälfte anderswo. Sven Hartzell sang vor sich hin, vollendete eine weitere Umkreisung der Pyramide und fügte ein neues Zeichen hinzu. Die schlanke Pyramide wirkte durch das kontrastreiche Zickzackmuster in Schwarz und Rot wie ein aufrecht stehendes Puzzle, das sorgfältig von einem puutaranischen Puzzlemacher zusammengefügt worden war. Jetzt war die Spitze schief und zeigte nach Südosten, als wäre sie aufgeweicht und dann wieder erstarrt. Einige verformte goldene Sterne durchsetzten das Zickzackmuster, als hätten sich an diesen Stellen Kompasse eingebrannt, die der Schamane jetzt konsultierte. Von Arvids Widderschädelsattel war nichts zu sehen. Führe meine Holzkohle, Sternenpyramide, Zeige mir den Weg zum Anderswo; Führe mich zur Quelle des Mona, Zum Herzen des verborgenen Ukko, Der auf den Schüler strahlte Und Arvid aus seinem Sattel warf …
»Sven Hartzell«, rief Inga, »was macht Ihr da?« Der Schamane erschrak und ließ den Kohlestift fallen. Er hob eine Hand an sein von Quasten verhülltes Ohr, um zu lauschen, als hätte ihn die verbogene Pyramide angesprochen. Er horchte begierig, bis die Fürstin von Niemi erneut seinen Namen rief. »Sven Hartzell!« Er drehte sich langsam um und lugte dann durch seinen Schleier aus Federn und Wolle auf die Störenfriede. »Geht fort!« krächzte er und schüttelte seine Trommeln in Richtung der gaffenden Jungen, die sofort davonhuschten. Auf dem Trommelfell befand sich ein verwirrendes Muster aus Wellenlinien und Rauten und abstrakten Bäumen. »Stört mich nicht! Ich verliere sonst den Faden! Kommt nach einer langen Stunde zurück, wenn es unbedingt sein muß, Fürstin Kennan.« Doch Inga ließ sich nicht abwimmeln. Sie trat vor und rammte ihren Gehstock in den Boden. »Ihr macht eine Karte.« »Natürlich mache ich eine Karte! Meine Finger werden mich trommelnd zum Quell des Mana führen.« »Arvid hat uns erzählt, was er gesehen hat.« »Natürlich hat er das getan, aber ich sehe mehr als mein Lehrling. Ich sehe nicht nur was, sondern auch wo. Laßt mich mit Eurem Geplapper in Frieden.« »Ihr werdet sehen, wo sich mein Minki versteckt?« wollte Kyli wissen. Ungeduldig fragte der lockenköpfige Kosti seinen Bruder: »Wie lange dauert eine lange Stunde?« Der Junge mit den strähnigen Haaren quetschte einen Pickel an seinem Kinn aus. »Vielleicht zwei Stunden?« mutmaßte er.
Ingas Nase erhob sich, unbeugsam und trotzig. Der Schmuck und die Pailletten auf ihrem Rock und Leibchen glitzerten im Sonnenlicht. Oh, sie konnte es durchaus mit einem Zauberer aufnehmen! »Das ist nicht Euer Geheimnis«, sagte sie zu ihm. »Es ist ein Frauengeheimnis – eine Angelegenheit der Mütter. Eure Beschwörung muß ins Wasser fallen.« »Ja, unter Wasser – und in einer Gebärmutter!« rief der Schamane inspiriert. »Männer bringen nur Kampf und Feuer.« Niemand durfte erfahren, wo sich ihr Sohn versteckt hielt. Das Familiengeheimnis mußte gewahrt bleiben. Zu Sven Hartzells Überraschung entriß Inga ihm die Trommel und hielt sie auf Armeslänge ausgestreckt. »Schneekopf, Schneekopf«, rief sie, »Ihr seid ein Mann. Ihr wißt, was Ihr damit tun müßt.« Sie wedelte auffordernd mit der Trommel. Der Schamane stand vor Erstaunen völlig reglos da, oder vielleicht wollte er auch nur seinen Faden vor dem Durchreißen bewahren. Schneekopf leckte sich die Lippen. Er blinzelte. »Ihr wißt, was zu tun ist.« Schneekopf hob die Armbrust. »D-d-das mü-mü-müßt Ihr m- mir nicht zw-w-weimal sagen, Fürstin Inga!« Hartzell kreischte auf, als der gefiederte Bolzen sich aus der Armbrust löste und durch das Trommelfell schlug. Das gespannte Fell riß auf und baumelte schlaff. Jetzt war es für keine Mana-Karte mehr zu gebrauchen. Inga ließ die Trommel achtlos fallen. »Ihr!« Hartzell stach mit dem Finger auf Schneekopf. »Ihr! Ihr sollt hundert bösartige Näkkis in Euch haben …«
»Ich ha-ha-hab scho-schon …« »… für den Rest Eures Lebens!« »Und Ihr …« Die Federn des Schamanen schwangen in Kylis Richtung. Sie zuckte zusammen und bedeckte ihre bloßen Schultern mit den Händen, während ihre Arme das Dekollete schützten, als würde sie im Sonnenlicht frösteln. »Ich wollte, daß Ihr die Karte fertigstellt, großer Schamane!« sagte sie und fügte hastig hinzu: »Ich bin die Tochter des Fürsten Helenius.« Hartzells verhüllter Blick wandte sich wieder Inga zu. Sie stand unerschütterlich da und hatte sogar ihren Gehstock erhoben. Ihre haselnußbraunen Augen blickten unerschrocken. »Das ist eine Angelegenheit der Frauen«, insistierte sie. »Eine Sache von Müttern. Und von Ehefrauen.« Kyli war nicht gerade glücklich darüber, in dieses Bündnis einbezogen zu werden. Tapfer warf der junge Karl ein Stück trockene Grassode auf den in Federn gehüllten Schamanen. Das weiche Geschoß prallte von den gestickten Rippen ab. Schneekopf spannte schon wieder die Winde seiner Armbrust, bevor er einen weiteren kurzen Pfeil einlegte. »Das mu-mu-muß mir ni-ni-niemand zw-w-weimal sagen!« brüllte er. Brutzelfliegen schienen in seinem Kopf zu schwirren. »All meine Ne-ne-Näkki-Brüder finden das auch!« »Wir gehen jetzt heim!« stellte Fürstin Inga in einem Tonfall fest, der fast der Eindringlichkeit eines Besprechers würdig war. Die vier Trugmenschen waren ziemlich ermattet und sehr hungrig, als sie schließlich zufällig auf die verlassene Knochen-
hütte stießen. Ihre Reise war anstrengend gewesen und hatte viel länger gedauert, als sie erwartet hatten. Der Große Fjord hatte sich in einem riesigen Labyrinth aus Sümpfen verlaufen, durch das sich Korridore aus immergrünen Pflanzen schlängelten, die nicht immer miteinander in Verbindung standen. Heiße Luft hatte lähmend gezittert und war mit Düften beladen, die zum Niesen reizten. Spinatfäden überzogen kleine Tümpel. Gelber Schaum lag wie Goldstaub auf Teichen. Spät abends verwandelte sich der Himmel in Senf. Arto wurde von Insekten geplagt, die es vor allem auf seine Ziegenohren abgesehen hatten. Knöterich mit seiner strickartigen Haut wurde weniger belästigt, genauso wie Lammas mit seiner buschigen grauen Wolle und der knusprige Kuchenmann. Der Handschuhmacher mußte sich die bloßliegende Haut mit einer Paste aus Flechten einreiben, so daß er wie ein zwergenhafter Zwillingsbruder von Kuchenmann aussah. Die vier Reisenden waren gezwungen, sich in nördlicher Richtung zu bewegen – fort von tückischen Sümpfen und glucksendem Morast – und konnten sich nicht heimwärts nach Süden wenden. Bauernhöfe waren selten. Ebenso Lager von Tarandrahirten, die auf Klippen über den fliegenverseuchten Tälern errichtet waren. Konnten vier solche Kuriositäten, wie sie die Mutantencombo darstellte, schnell der Gastfreundschaft entfliehen, von der sie gelegentlich durchaus ein Quentchen gebrauchten? Lammas mußte für ihr Abendessen und Frühstück singen und für das Frühstück wieder und am nächsten Tag noch einmal und ebenso am darauffolgenden Tag (und Knöterich mußte auf seiner Fiedel spielen, Kuchenmann pfeifen und die Becken
schlagen und Arto mit seinen weißen sechsfingrigen Handschuhen dirigieren), bis die sentimentalen Sehnsüchte ihrer Gastgeber gestillt waren. Die vier konnten nicht einfach vorzeitig weiterreisen, wenn Spitzhunde kläfften und schnappten. Bei einer Gelegenheit hatte ihnen ein Schamane mit Tarandrageweih auf dem Kopf lüsterne Blicke zugeworfen, und vielleicht war ihr Leben in Gefahr gewesen. Offenbar begehrte er Lammas' Pelz und Knöterichs natürliche Kordweste als wertvolle Ergänzungen seines Kostüms. Sie mochten seine Macht beträchtlich verstärken. Doch der Wollmensch rührte ihn – und eine größere Hirtengruppe – mit ergreifenden Tangoversen, in die das Heimweh der Trugmenschen einfloß, zu Tränen. Viel weiter nordöstlich, als die vier Freunde jemals zu reisen beabsichtigt hatten, konnten sie wieder ihre ursprünglich geplante Richtung einschlagen. In diesem Waldland waren die zahlreichen Felsen wie von Verrinkrallen gefurcht. Horsmabäume und Tammis erschienen zwischen den hennafarben geschuppten Larixien und grünnadeligen Veras. Als der Vorrat an geräuchertem Tarandrafleisch und der Käse zur Neige gingen, ernährten sie sich von Beeren und Pilzen. Wie nahe mochten sie dem Nest der Samt-Isi kommen? Sollten sie sich in einem engen Bogen zurück nach Westen wenden? Lammas litt unter einer triefenden Erkältung, und seine Kehle war heiser. Regengüsse hatten seine Wolle mehrere Male durchnäßt. Doch was noch schlimmer war: Die Sehnen in Artos Fersen machten großen Ärger. Das viele Laufen mit seinen krummen Beinen hatte dazu geführt, daß er stark humpelte. Als sie zufällig auf die Knochenhütte im Wald stießen, kam Arto
nur noch stolpernd und taumelnd vorwärts. Wenn er seine Beine nicht ein oder zwei Wochen lang ausruhen konnte, befürchtete er, für sein ganzes Leben oder das, was noch davon übrig war, gelähmt zu sein. Und Lammas riskierte eine schwere Lungenentzündung, da er bereits Wasser in den Lungen hatte. Zwischen grauhaarigen Sylvestren und den hellgrünen Locken der Köverbäume stand abgeschieden eine Behausung, die vollständig aus den zusammengeknüpften Knochen von Tieren erbaut war. Die Dachschindeln waren Unterkieferknochen. Eine runde Tür war aus Rippen zusammengesetzt. So viele tausend gebleichte Knochen … und keine Schwärme von Aasmücken. Allerdings war auch nicht der geringste getrocknete Fleischrest übrig. In der unmittelbaren Nähe der Hütte schien es überhaupt keine Fliegen zu geben, als würde ein Bann sämtliche Schädlinge fernhalten. Lammas nieste, und Arto horchte aufmerksam. »Es ist niemand zu Hause, falls er nicht leise ist wie ein Mus …« Kuchenmann lugte durch ein Fenster, das von Oberschenkelknochen eingerahmt wurde. »Es ist voller Dinge!« Das war es tatsächlich. Im verlassenen Knochenhaus quollen die Schränke über vor Töpfen, Puppen und Werkzeugen, vor Pfannen und Schnur und Bürsten und puutaranischen Puzzles, vor Schriftrollen und Statuetten und Kämmen – und wundersamerweise vor Krügen mit eingelegtem rosa Meeresaal und Ustern in Aspik und kupferrotem Süßflossenrogen und schwarzen Mustabeeren sowie Zwieback und einem oder zwei Räucherschinken und einigen Flaschen Fruchtlikör. Mehrere harte
schwarze Roggenbrote hingen an Schnüren. Es sah wirklich so aus, als hätte irgendein Spender immer neue Lebensmittel und Leckerbissen vorbeigebracht, obwohl der Bewohner abwesend war, wenn auch nicht in jüngster Zeit, wie es schien. Mehrere Milchkrüge neben der Tür waren verschimmelt und stanken übel, genauso wie ein Kuchen auf einem Teller, dessen vergammelte Sinibeeren mit einem pelzigen Flaum überzogen waren. Der Geruch nach saurer Milch überlagerte den der trockenen warmen Knochen. »Kameraden«, freute sich Knöterich, »wir haben eine Zuflucht gefunden.« Nicht zu früh. Arto ließ sich dankbar auf einem Teppich aus gewobenem schwarzen und blonden Haar nieder, den Rücken einem Kanonenofen zugewandt. Er untersuchte seine verschmutzten, abgenutzten Sandalen, seine schäbigen schwarzen Kniebundhosen und seine Ziegenlederhandschuhe, die grau vor Dreck waren. Dann musterte er die Knochenwand. »Dieses Haus wird unablässig knarren«, sagte er anerkennend. Genauso wie seine eigene baufällige Hütte. Kuchenmann öffnete bereits einen Krug mit Meeresaal.
7 Lichtspiele
Lucky hegte einen königlichen Zorn. Der unsägliche Osmo hatte nicht nur Jukos Raketenangriff überlebt – gemeinsam mit Minni –, sondern die beiden hatten sich außerdem vermählt – voller Begeisterung, wie die Kuckucke gekrächzt hatten! Eine Heirat ohne mütterliche Zustimmung oder Beratung! Osmo mußte es irgendwie geschafft haben, dem Mädchen den Gürtel abzusprechen. Doch die Kuckucke hatten auch eine obszöne Episode erwähnt, in der es um Minni mit blankem Hintern ging – und um Viper, den Magus der Streifen-Isi. Osmo hatte offensichtlich Unterstützung erhalten. Von vorn oder von hinten – wie hatte er es gemacht? Der Klatsch über eine gewisse Mana-Fotografie deutete an, daß es von hinten geschehen war. Minnis Hinterteil war zu sehen gewesen. In diesem Fall hatte van Maanen die Langlebigkeit gewonnen, ohne daß Lucky ihm jemals etwas ins Ohr geflüstert hatte. Und dann hatten er und Minni die Unverschämtheit besessen, die Monarchie zu beanspruchen! Der Schauplatz, den Lucky für ihren Angriff auf Loxmithlinna (und dann auf Maananfors) erwählt hatte, war die Hochlandstadt Luolalla. Diese lag etwa fünfzig Kims nördlich von Lox-
mithlinna auf einem System von Kalksteinhöhlen. Die Landschaft der Umgebung war außergewöhnlich kahl, ein Meer aus Kräutern und kaum ein Baum in Sicht. Niedrige Bruchsteinmauern bildeten ein Schachbrettmuster unter dem weiten windigen Himmel. Schafe grasten. Schweine wühlten und verwandelten Teile des Weidelandes in gepflügten und gedüngten Erdboden, auf den dann Roggen ausgesät wurde. Röstöfen rauchten und verbrannten Stein zu Kalk. Wen störte, daß es keine brennbaren Minzbäume gab, wenn die Kohleflöze in der Umgebung leicht zugänglich waren? Durch die Stadt pfiff ein eisiger Wind, daran bestand kein Zweifel. Im Winter war es bitterkalt in den Straßen und auf den Feldern. Doch die Häuser waren aus dickem blaßgelben Stein erbaut, und an trüben Tagen brannte ständig Feuer in den Kaminen. Bei schönem Wetter konnte man die Ponys viele Kims weit rennen lassen und Feldmauern überspringen, wo es nötig war. Auf genau diese Weise hatte Hubertus Jaegers Vater sich das Genick gebrochen. In wolkenlosen Nächten während des Frühlings und Herbstes bot sich ein hervorragender Blick auf die Sternbilder: die Kuh und den Kuckuck, die Harfe und den Bogenschützen und den Näkki, der auf dem Trichterling hockte. Im Süden spannte sich die silberne Himmelssichel über den Horizont. Wenn man den gasigen Otso genau ins Auge faßte, konnte man vielleicht das größte seiner Mondjungen erkennen. Kammo war leicht zu erkennen, ein pockennarbiger, toter Felsen, der fast so groß wie Kaleva war – und sogar Sejda, der kleinere Felsbrocken, der viel näher an der Sonne stand. Sejda mit dem bloßen Auge zu erkennen brachte Glück. Doch ohne ein Fernglas konnte man
niemals den riesigen beringten Surma weit hinter Otso ausmachen. Wer wollte auch schon einen Blick auf dieses Symbol des kalten, giftigen Todes werfen, das Letzte und Endgültige, wo sogar der Schwan selbst den Tod finden würde? Konnte ein Mensch sich in Luolalla ungeschützt fühlen? Nicht körperlich ungeschützt gegenüber Stürmen, sondern vielmehr geistig ungeschützt vor der leeren Weite? So wie ein hoppelndes Leppi sich wehrlos den Blicken eines kreisenden Gyrvogels ausgesetzt fühlen mochte. Aber es gab ja diese Höhlen unter der Stadt, die nicht unbedingt ihren Keller, sondern eher ihr verborgenes Erdgeschoß bildeten. Schächte führten von verschiedenen Gebäuden nach unten. Trotzdem überflutete die Frühlingsschneeschmelze regelmäßig die Unterwelt randvoll mit Wasser, bevor es in Täler unter dem Hochland abfloß. Also hatten die Keller überhaupt nichts Dauerhaftes. Sogar im Sommer konnte ein anhaltender Sturm die unterirdischen Flüsse anschwellen lassen, die ansonsten zu Rinnsalen schrumpften. Die Kalksteinburg der Jaegers, die auf einer Kuppe im Zentrum von Luolalla stand, ähnelte einer Ansammlung gelblich verkalkter Kochkessel, die mit Fenstern ausgestattet waren. Türme und Schornsteine waren senkrecht stehende Tüllen. Wenn der Wind heftig wehte, pfiffen die Kessel. Luckys Wachen in ihren braun-grünen Tarnanzügen exerzierten rings um diese Burg sowie auf den Feldern mit den Steinwällen. Dreißig ihrer unverletzlichen hölzernen Soldaten marschierten – dort, wo kaum ein Baum wuchs. Das königliche Luftboot – winterweiß mit zinnoberroten Augen um die Pupillenfenster – war immer noch damit beschäftigt, Waffen und Vorräte vom Pohjola-Palast herüberzu-
schaffen. Genauso das Luftboot von der Festung im Fjord. Dieses war wie ein Schwebhuhn mit blauem Zickzackmuster auf Beige bemalt – oder wie die Federn eines besonders knolligen Pfeiles. Der kleinere Schweber, den der Schnelljunge Jack von den Isi gestohlen hatte, stand im Hof der Burg innerhalb des Ringes aus Kesseln. Dazu drei bewaffnete einsitzige Flugkapseln, die kürzlich von der Alles-Maschine produziert worden waren. Sie bestanden zu drei Vierteln aus silbriger Hülle und zu einem Viertel aus durchsichtigem Kanzeldach. Jeden Tag unternahmen Piloten mit diesen Kapseln Flüge zu Übungszwecken. Jack hatte sich über Luolalla im Kunstflug geübt, zur Bestürzung seiner Mutter. Drei Sprungfahrräder hüpften kreuz und quer durch die Stadt und die Umgebung, führten aus dem Hinterhalt Scheinangriffe auf Wachen durch, auf hölzerne Soldaten und auf die Männer der Jaegertruppen, die die Königin in ihre Dienste gestellt hatte. Jack war außerdem mit einem Fahrrad in die Höhlen hinuntergesprungen, und zwar mit einem gewissen Beifahrer … Als Hubertus Jaeger vor einigen Jahren ins Nordland gereist war, weil er um die Hand (und den Körper) einer SariolaTochter anhalten wollte, hatte der fettleibige, aufgeblasene Kerl die Königin durch außergewöhnliche Geschichten über Erkundungen der Höhlen neugierig gemacht. Immerhin hatte Hubertus persönlich bei Lampenschein und nicht ganz ohne Gefahr viele Kims der Kammern und gewundenen Tunnel, der Gewölbe und Spalten, der Grotten und unterirdischen Flüsse erforscht. Erinnerten seine kühnen Abenteuer nicht an ihre
eigene Erkundung der Innereien des Ukko, den das Bergbauschiff ihrer Familie im Asteroidengürtel der Erde so fern und vor so langer Zeit entdeckt hatte? Gewölbe und Gesimse, gekrümmte Tunnel und Schneckengehäuse! »Wachsen auch weiße Wachsblumen in Euren Höhlen?« hatte Lucky Hubertus hinterlistig befragt und den jungen Freier verwirrt. »Nein, aber es gibt dort einige phosphoreszierende Pilze«, hatte er gesagt. »Und gibt es Knochen von Juttahats und Schlangen?« Auf keinen Fall! Hubertus Jaeger konnte sich dafür verbürgen, daß Luolalla völlig sicher vor Juttis und Schlangen war. Weder die Isi noch ihre Diener würden jemals den Weg durch die gewundenen Höhlen finden, um eines Tages durch irgendwelche Schächte in die Jaegerburg einzudringen. Und warum sollten sie es versuchen, wenn sie es schon in der Vergangenheit niemals getan hatten? Königin Lucky mußte sich wegen ihrer Tochter keine Sorgen machen. (Das hatte sie auch gar nicht, dachte Lucky mit einem schallenden Lachen.) Tochter Kay war von Hubertus' Bombast und vom Geheimnis der Höhlen fasziniert gewesen – in die sie niemals persönlich vorgedrungen war. Was sie am meisten begeisterte war die Aussicht, mit einem Pony unter den Sternen über winddurchwehte Weiten zu galoppieren (natürlich mit einer Eskorte), bis das muskulöse Reittier zwischen ihren Schenkeln schäumte. Folglich hatte Lucky ihre Einwilligung gegeben, und Kay hatte ihrem neuen Fürsten und Ehemann die Langlebigkeit geschenkt (und danach zwei Kinder). Dank der Gabe, die er durch Kay erhalten hatte, war es für Hubertus jetzt wesentlich siche-
rer, seine speläologischen Forschungen weiterzuführen – obwohl diese überraschenderweise immer unregelmäßiger und kürzer wurden und er sie im Grunde nur noch zur Schau unternahm. Hört die Geschichte: Als Jatta in Kay Jaeger-Sariolas Burg um Zuflucht für Jack und sich selbst gebeten hatte, hatte Fürst Hubertus Anstoß am aufgeblasenen Balg genommen. Das Gör war so impertinent und gefräßig. Außerdem mochte die Nachricht von der Anwesenheit des Dämonen-Kindes neugierige Aliens in das Höhlensystem locken. Auch war Kay nicht abgeneigt, einer Schwester den Marschbefehl zu geben – und zwar in Richtung Osmo van Maanens, der zufällig alles verabscheute, was irgendwie einem Mutanten ähnelte, und der Schnelljunge fiel sicherlich in diese Kategorie. Unter den trotzigen Fittichen ihrer Mutter war Jatta nun zu dieser Burg aus Kalksteinkesseln zurückgekehrt. Jack ebenfalls, der jetzt einen kleinen Oberlippenbart trug und über Macht verfügte – über das Licht, die Kälte und den Wind. Beschämt hatte Kay ihre jüngere Schwester begrüßt: »Hat sich nicht alles zum Guten gewendet? Da bist du also mit einem hübschen, talentierten Sohn, über den die Kuckucke geklatscht haben …« Herzlichen Dank für Kays kurze Gastfreundschaft! Doch Jatta scherte es eigentlich überhaupt nicht. Lucky hatte Jatta praktisch gezwungen, sie auf diesem Rachefeldzug zu begleiten. Widerwillen hätte Lucky nur in Raserei versetzt. Jatta mußte sich einfach stolz in der Burg von Maananfors zeigen, aus dem der unsägliche Osmo sie und Luckys Enkel verbannt hatte. Sie mußte in Osmos Saal stolzieren, wenn sie es ihm heimzahlte –
oder zwischen den Ruinen seines Saales, je nachdem. Die liebe Anni hatte in Sariolinna zurückbleiben müssen. Anni konnte Jatta unmöglich begleiten. Das wäre unpassend gewesen. Lucky war vollauf über die Liebesverbindung zwischen hochgeborener Dame und Mädchen aus einfachen Verhältnissen informiert. Sie teilten nicht nur ein gemeinsames Schlafzimmer, sondern erfreuten sich auch gegenseitig an ihren Körpern! Vielleicht hatte Ester gepetzt. Wozu war eine jüngere Tochter nützlich? War die Zuneigung zwischen Jatta und Anni die letzte Konsequenz von Jattas perverser Weigerung, einen Mann zu ehelichen? War es das Resultat ihrer beider Erfahrung, der berauschenden Verführung des Nichtmenschen Jarl Pakken erlegen zu sein? Da Jarl nun zwangsläufig nicht mehr verfügbar war, hatten sich die zwei Frauen gegenseitig verführt. Doch was Lucky am meisten an Jattas Verhalten störte war das Ausmaß, in dem Jatta sich von der Wirklichkeit und aus der Verantwortung zurückzog, und das zu einer Zeit, wo Luckys Herrschaftsanspruch durch diesen stutzerhaften Emporkömmling und seine zwergenhafte Rebellenkönigin von eigenen Gnaden in Frage gestellt wurde. Königin Minni, also wirklich! Und Prinz Osmo! Jatta konnte nicht einfach die Augen davor verschließen. Ihre Mutter wollte nichts davon hören. Also sprach Lucky, während ihr der Kopf heftig summte unter dem Kranz aus Bernsteinperlen, den sie jetzt als Diadem trug. Der einzige wirkliche Anreiz für Jatta, Luckys Armee zu begleiten, war die Hoffnung, daß die flatterhafte Seele ihres Sohnes durch ihre Nähe gemäßigt und Jack davor bewahrt wurde,
sich in Gefahren zu stürzen. Jattas Sorgen wegen Jacks Aerobatik konkurrierten mit ihrer schmerzlichen Sehnsucht nach Anni. Doch was die Hoffnung auf Mäßigung betraf, so hatte Jattas Anwesenheit eher den gegenteiligen Effekt. Jatta befand sich hier in der Burg, wo ihre Schwester und deren Ehemann Jack und seiner Mutter Trost verweigert und sich sogar den bösen Scherz erlaubt hatten, sie nach Maananfors zu schicken. Jack erinnerte sich sehr genau an die Zurückweisung. Fürst Hubertus war bereits durch Luckys aggressive Ankunft eingeschüchtert worden. Ihr Lieblingsenkel Jack hatte den jungen Langlebigen drangsaliert, bis er mit ihm einen Ausflug in die Höhlen per Sprungfahrrad unternahm. Während sich Fürst Jaeger hinter ihm festhielt, war Jack mit dem Fahrrad vom Hof aus direkt nach unten in eine Höhlenkammer gesprungen – wie Jack schadenfroh erzählte, als er den verstörten Fürsten in den Burghof zurückgebracht hatte. Er war bleich und zitterte und konnte eine Weile kaum geradeaus gehen … Mit strahlenden Scheinwerfern und schlitternden Rädern war das Fahrrad rücksichtslos von Höhle zu engem Spalt gesprungen, bis Hubertus schrie und vor Angst bibberte. Das Sprungfahrrad hätte sich niemals innerhalb festen Gesteines materialisiert – dessen war sich Jack sicher. Nichtsdestotrotz vermittelten die Zwischenphasen das Gefühl, lebendig begraben zu sein. Wenn man unvermittelt auf schrägen Flächen auftauchte – und vor einem Abgrund dazu – erstarrte man vor Schreck. Hubertus war für seine Zurückweisung bestraft worden, ohne daß man in Luolalla der Königin gegenüber feindselig einge-
stellt sein mußte. Hubertus konnte kaum wegen seiner Erniedrigung protestieren. Schließlich war er doch ein hervorragender Speläologe, nicht wahr? Wie stand es um Jacks eigene väterliche Verantwortung? Der Dämonen-Junge war in Jattas Mutterleib volle neun Monate lang herangewachsen, doch dann hatte er sich geschwind vom Säugling zum schnauzbärtigen Burschen entwickelt, und zwar in nahezu derselben Zeitspanne. Die Sprößlinge, die Juni durch seinen hektischen, leidenschaftlichen Samen empfangen hatte, stellten eine zusätzliche Beschleunigung des Metabolismus dar – wie die alte Hilda in Sariolinna diagnostiziert hatte. »Von Quappen im Bauch zu Welpen in der Welt in zwei Monaten!« hatte die weise Frau zu Luckys Entzücken festgestellt. Wenn sie auf die Welt kamen, würden sie winzig klein sein. Hilda spürte es in ihrem Urin – und in Junis – daß diese vier Mäd-chen niemals höher reichen würden als bis zum Knie ihrer Mutter. Es würden definitiv Mädchen sein. Daran bestand kein Zweifel. Und zwar vier, eines für jede Brustwarze. Am Ende der ersten Augustwoche, während die Luftboote (zur Bestürzung der Jaegers) begannen, erste Ausrüstungsteile und Männer südsüdöstlich nach Luolalla zu transportieren, war ein Quartett winziger Töchter ohne Komplikationen eines nach dem anderen aus Juni hervorgekommen. Jede der vier schreienden Nymphen war nicht größer als eine von Junis Händen – während der Schwangerschaft war ihre bereits dralle Figur kaum pummeliger geworden –, doch sie hatten sich als äußerst anhänglich erwiesen, was Junis Busen betraf.
Wenn Juni doch nur vier Hände gehabt hätte, um mit jeder eine Tochter an die Brust halten zu können! Vier Schlingen um ihren Hals hatten Abhilfe geschaffen, dazu Schwammoos für Pipi und Aa. Tief gekrümmt, wie sie nun einmal war (obwohl sie jetzt mit einem kurzen Tammiholzstab ausgerüstet war, um sich zu stützen), konnte die weise Frau außer mit Ratschlägen kaum helfen. Wer konnte Juni überhaupt helfen? War es jetzt sicher, sie zu berühren, ohne sich eine Krankheit einzufangen? Aber ja doch, sicher, hatte Hilda steif und fest behauptet. Angenommen, der böse Einfluß der Pest-Mädchen war bereits zu einem gewissen Grad aktiv, war es dann gefahrlos, Junis Minifamilie in die Hand zu nehmen? Vielleicht konnte Anni mit zwei Händen aushelfen, wenn sie zum Schutz ihren Körperanzug aus Schlangenhaut anlegte. So lautete jedenfalls Hildas Vorschlag. Ein energisches »Nein!« war von Jatta gekommen. Ebenso von Lucky, die zusammen mit ihrer widerstrebenden Tochter den Palast verlassen wollte, um sich in der Jaegerburg einzuquartieren. Nach einer kurzen Erholungspause von ihrer problemlosen Niederkunft sollte Juni ein paar Tage später auf einem Flug mit ihren Winzlingen und in Begleitung von Hilda folgen. Anni allerdings nicht. Nicht Anni. In der Burg der Steinkessel wimmelte es bald vor Personal und Offizieren. Aleksonis, Prut und Bekker. Juko Nurmi und Nils Karlson, der junge Besprecher Paavo Serlachius, jetzt ein Soldatenpriester. Jatta und Jack und Juni und ihre winzige Nachkommenschaft … In einer Ecke des Hofes war in zwei Zelten eine kleine Schau-
spielergruppe unter der Leitung eines gewissen Peter Vaara untergebracht. Es fehlte nur noch ein neugieriger Kuckuck. Trotz mehrerer schmiedeeiserner Kuckuckesitze in der Stadt und zweien im Burghof wurde das windige Hochland nur selten von Klatschvögeln besucht. Die Vorbereitungen liefen ohne die Vertreter der Gerüchteküche ab. Jatta kam es hier fast menschenleer vor, weil Anni nicht da war. Doch Jack war immer in der Nähe. Zudem war Jatta jetzt plötzlich Großmutter geworden. Sollte sie sich mit ihren untätigen Händen nicht nützlich machen, indem sie Juni half? Jatta zog es vor, im windfrischen Luolalla spazierenzugehen und den militärischen Drill zu beobachten, während sie bereits die daraus resultierenden Verletzungen und Todesfälle vorausahnte. Vielleicht sollte sie sich mit einer Laterne ein Stück in die Höhlen wagen. Doch sie wußte, daß sie sich dann nur hoffnungslos verloren fühlen würde, statt sich von den Wandlungen des Schicksals abzulenken. Zu einer Hochzeit war es im eigentlichen Sinne nicht gekommen. Eher zu einer Paarung. Die klitzekleinen Babys waren keine gewöhnliche Nachkommenschaft. Nachdem sie knapp zwei Monate in Junis Mutterleib verbracht hatten, wirkten sie mehr wie maunzende Kätzchen ohne Fell oder wie Näkkis, die auf einem Pilz Platz fanden. Hatte die kurze Zeit überhaupt ausgereicht, um eine feste mütterliche Bindung zu Juni zu entwickeln? Ihre kleinen Münder waren weit aufgerissen und zur Aufnahme einer Brustwarze bereit. Sie schienen Juni eher wie Ungeziefer zu befallen, statt
von ihrem Fleisch und Blut zu sein. Ihr Brustkorb wurde von den rosafarbenen Geschöpfen erstickt. Konnte ihre Mutter sie überhaupt liebevoll umsorgen? Oder gab sie sich einfach ihrem Appetit hin, wehrlos ihren Bedürfnissen ausgeliefert, unter dem Bann einer instinktiven tierhaften Ergebenheit? Juni sprach nicht viel, sondern gab sich damit zufrieden, ihren Wurf gurrend in den Armen zu wiegen. Zuvor hatte ihr doppelter Busen eher den Eindruck übermäßiger Sinnlichkeit statt Monstrosität heraufbeschworen. War sie jetzt, nachdem ihre vier winzigen Nymphen von vollkommener Gestalt sich an sie klammerten, unverkennbar abnormal geworden? Nicht in den Augen der Königin. Oder vielleicht doch, dann aber auf profitable Weise. Und was war mit Jack, dem Papa dieser Töchterchen? Er wiegte sie behutsam. Er strahlte. Stolz leuchtete in seinen Augen – und Hoffnung. Er schätzte ihr Gewicht. Er litt weniger unter panischer Dringlichkeit, als man von einem Burschen erwarten sollte, der möglicherweise seine gesamte Lebensspanne innerhalb ein paar flüchtiger Jahre aufgebraucht hatte. Unverkennbar hatten seine Töchter seinem Leben einen neuen und normaleren Schwung verliehen. Er spielte Hubertus immer noch Streiche. Er wirbelte mit einer Flugkapsel durch den Himmel. Er war schließlich Dämonen-Jack, der Schnelljunge. Wahrlich, Jack fühlte sich durch die Geburt verjüngt. Zumindest hatte er das Gefühl, mehr im Einklang mit dem Lauf der Zeit zu sein. Diese Mädchen würden schnell aufwachsen, schneller als er jemals alterte. Da, sie hatten schon ein Quentchen mehr an Gewicht und Größe zugelegt, als würden sie sich nicht nur von Milch, sondern gleichzeitig vom Mana ernähren!
Jatta hatte natürlich sehr zwiespältige Gefühle gegenüber so seltsamen Enkelkindern. Daß sie jetzt schon Großmutter war! Hilda lagen wie immer Junis Interessen am Herzen. Diese Interessen schlossen jetzt selbstverständlich auch Junis Knirpse mit ein, da ihre Bemühungen, einen Knoten in ein Ei zu machen, fehlgeschlagen waren. Lucky ergötzte sich erwartungsvoll. Jack selbst hatte schon gleich nach der Geburt sprechen und kurz darauf laufen können. Eine Woche nachdem Juni mit ihren Winzlingen in der Jaegerburg eingetroffen war, hatten sie überraschenderweise ihre ersten Worte gezwitschert. »Wie …« »Sind …« »Unsere …« »Namen?« »Juni-Mama, Juni-Mama …« »Unsere Namen …« »Unsere Namen!« »Unsere Namen!« Vier Paare kleiner Knopfaugen starrten zu Junis rosigem Gesicht hinauf. Die winzigen Mädchen waren genauso gierig auf Namen wie auf Nahrung. Wie konnten sie ohne Namen zu dem werden, was sie werden mußten? Man konnte sie nicht einfach gemeinsam als ›Ihr Mädchen des Schreckens‹ oder ›Ihr Töchter des Grauens‹ anreden. Welche Mutter wollte ihre Kinder auf so bittere und unpersönliche Weise ansprechen, auch wenn es ihre Bestimmung war, Verheerungen anzurichten? Auch wenn es für sie zwangsläufig war. (Andernfalls wäre Juni nicht von ihrem
Krankheitsfluch erlöst worden – und Jack von seiner beschleunigten Alterung.) Juni steckte ihren bezopften Kopf mit Jack zusammen und mit Hilda, die ihnen die Namen anvertraute, die sie entsetzt vor dem Mana-Spiegel in der Porträtgalerie geträumt hatte. Gift und Galle. Qual und Pein. Jack beriet sich mit Lucky, die ihren Mana-Priester konsultierte. So sollte es sein: Gift und Galle, Qual und Pein. Am nächsten Tag sollte im großen Saal der Jaegers eine Weissagung und eine Mana-Taufe stattfinden, bevor die Mädchen wirklich ungeduldig wurden. Außerdem sollte es eine angemessene dramatische Unterhaltung durch den Dramaturgen Vaara und seine Truppe geben. Alles, was Rang und Namen hatte, sollte erscheinen. Van Maanen hatte sich eine Krönungsfeier für seinen Zwerg ausgeheckt, so daß sofort in Sariolinna über dieses Ereignis getratscht wurde. Die morgige Veranstaltung würde diese Scharte zu einem gewissen Grad wieder auswetzen – auch wenn vermutlich kein Kuckuck sie beobachtete. (Wollte man denn, daß alle militärischen Geheimnisse ausgeplaudert wurden?) Kurze Zeit nach ihrer Ankunft in Luolalla hatte sich Lucky die Zeit genommen, Peter Vaara zu befragen. Der arme Berti – durch Verrat ermordet – hatte den Dramaturgen und seine Schauspieler erwähnt. Sie hatten sich in Julistalax aufgehalten, als er Eva zur Gala begleitet hatte. Eva, deren in Ungnade gefallene Burg demnächst von ihrer
Mutter angegriffen wurde … Die Entfremdung von ihren Töchtern hatte Überhand genommen. Aus diesem Grund mußte Jatta einfach in der Nähe sein – abgesehen von der Notwendigkeit, sie von Anni fernzuhalten, die kein Umgang für sie war. Es gab Grenzen, wieviel Untreue eine Mutter ertragen konnte. Vaara und seine kleine Truppe waren über Luolalla (und dann über Verräcker) nach Julistalax unterwegs, um rechtzeitig zur diesjährigen Gala dort einzutreffen. Die Gala war bereits in drei Wochen. Würden die Besprecher und Dichter und Sänger und Zuschauer sich in genauso großen Scharen in Fürst Burgdorfs Stadt einfinden wie gewöhnlich, während nicht allzuweit entfernt im Westen ein Krieg bevorstand? Bestimmt würde Prinz Osmo es nicht wagen, seine Burg zu verlassen, um sich über Umwege in das Tal der Sprecher zu schleichen! Vor allem nicht, wenn die Streitkräfte der wahren Königin sich ihm in Loxmithlinna in den Weg stellten …! Falls Osmo und sein aufmüpfiger Zwerg ernsthaft davon träumten, sich mit großem Trara von der breiten Masse anerkennen zu lassen, mochte ihnen eine solch wagemutige Geste lohnenswert erscheinen. Aber Osmo und Minni konnten unmöglich dieses Risiko eingehen. Sollte Lucky statt dessen der Gala einen königlichen Besuch abstatten, um ihre Vorherrschaft durch van Maanens Abwesenheit zu unterstreichen? Bis Mitte September war Maananfors höchstwahrscheinlich längst an Lucky gefallen. Doch wenn nicht … Ließ Lucky sich in die Irre führen? Ließ sie sich nicht nur
durch die Verlockung der Gala, die Vaaras Anwesenheit heraufbeschworen hatte, sondern durch diese ganze Kampagne von ihrem Hauptproblem ablenken? Nein! Der bloße Gedanke an van Maanen und Minni brachte ihr Blut zum Kochen. Sie mußten bestraft werden, versteinert, ihre Knochen verbrannt. Vaaras Reisepläne waren, wie er zugeben mußte, durch den bevorstehenden Krieg in Luolalla über den Haufen geworfen worden. Wie konnte ein Dramaturg einer solchen Quelle der Inspiration den Rücken zukehren, wie sie die Königin oder ihre Soldaten oder Dämonen-Jack, der Abkömmling einer menschlichen Mutter und eines außergewöhnlichen Juttahat, darstellten? Aber Lucky würde Vaara gleich nach seiner Aufführung fortschicken, damit er das Tal der Sprecher gerade noch rechtzeitig erreichte, um zweifellos das Stück aufzuführen, dessen Zeuge er geworden war: den ersten Akt von Luckys Rache. Unterwegs blieb ihm genügend Zeit, eine neue Aufführung zu improvisieren. Peter Vaara war noch nie in den fernen Norden gereist, um ein Stück im Pohjola-Palast aufzuführen. Dennoch hatte die Königin ihm schon oft als Sujet gedient. Was Vaara vor ihrer Ankunft in Luolalla gespielt hatte – und was seine Akteure noch einmal nach der Taufe im Saal der Jaegers zum besten geben würden – war nichts anderes als die Geschichte von Luckys Ukko, in einer phantasievollen Interpretation. »Sehr phantasievoll, Eure Majestät«, erklärte Vaara während der Befragung. Der Mann war respektvoll, aber selbstsicher. Daß er der lebenden Legende gegenüberstand, auf der sein letztes Drama basierte, schien ihn nicht im geringsten einzuschüchtern. Falls er Angst hatte, konnte er sie gut verbergen.
»Ihr könntet ein großes Risiko eingehen, Peter Fährnis!« Seine Antwort hatte gelautet: »Wie sollen wir unser Publikum beeindrucken, wenn wir geduckt über die Bühne schleichen, aus Angst, jemanden zu beleidigen, Eure Majestät?« Nachdem sie mit Vaara gesprochen hatte, konnte Lucky sich kaum daran erinnern, wie er ausgesehen hatte. Serlachius hatte darauf bestanden, bei einer Probe anwesend zu sein. Nach seinen Aussagen war er sehr beeindruckt gewesen. In der nachmittäglichen Frühvorstellung würde es zweifellos einige Variationen geben. Vaara schrieb seine Werke nicht nieder, damit sie nicht verkrampft und gestelzt wurden. Auf dem grob gewebten Stoff des vom Dramaturgen entworfenen Handlungsabrisses würden er und seine vier Schauspieler die Stickereien der Details in gegenseitig angestachelter Kreativität ausschmücken. Sie hatten während der vergangenen sechs Jahre zusammengearbeitet: Peter und Tankred und Stanislaw und Natalja. Sophie war vor vier Jahren zu ihnen gestoßen, um eine Schauspielerin zu ersetzen, die auf tragische Weise durch einen Mana-Anfall zu Tode gekommen war, während sie einen IsiMagus spielte … Der Saal der Jaegers war ein großer, blau verputzter Rundbau mit einer umlaufenden Galerie aus gesprenkeltem beigen Horsmaholz auf Freiträgern und mit einem Geländer aus Schmiedeeisen. Eine große Treppe aus Holz führte zu diesem Balkon hinauf, auf dem Sessel standen, die mit dunkelrotem Leder bezogen und durch Beistelltische voneinander getrennt waren. Eine Hintertür führte zu Privatgemächern im angren-
zenden Kesselgebäude. Ein steilerer Treppenaufgang endete auf einem kleineren und höheren Balkon. Der Hauptzweck für diesen Horst war die Unterbringung der langen Kette, mit der sich der schwere zentrale Kronleuchter zur Wiederauffüllung und Entzündung der Kerzen herunterkurbeln ließ. In Augenhöhe der Hauptgalerie wechselte sich ein Halbkreis aus tiefen Fenstern mit Familienporträts ab, darunter eines, das eine gütig lächelnde Lucky mit ihrem verlorenen Diadem zeigte. Die Innenwand der Kuppel war mit silbernen Darstellungen der Sternbilder des Zodiakus geschmückt: der Harfe, des Kuckucks, der Kuh und des Näkkis auf dem Pilz. Nur von der Ehrengalerie aus konnte man über den Hof blicken, auf dem zur Zeit das königliche Luftboot, der ehemalige Isi-Schweber und die silbrigen Flugkapseln geparkt waren. Am Nachmittag der Mana-Taufe streiften dort außerdem mehrere stämmige, zottige Ponys herum, während Wachen in Uniform Säcke und Kisten sortierten. Der Tag war klar und windig. Ein gelegentlicher Schatten flitzte über den irdenen Boden des Burghofes. Wachen blickten auf, nur für den Fall, daß keine wollige Wolke die Ursache für die plötzliche Verdunkelung war. Drinnen hatte man sämtliche langen Tische und Sitzbänke aus dem Rundbau geschafft, damit ein größeres Publikum Platz fand und genügend freier Raum übrig blieb. Raum für den Bottich mit kaltem Wasser, der das Taufbecken darstellte. Raum für das Kohlenfeuer, auf dem eine Pfanne mit geschmolzenem Zinn köchelte. Raum für eine imaginäre Bühne, auf der die Schauspieler stolzieren konnten. Und Raum für mögliche unerwartete Mana-Phänomene. Der Boden bestand aus weißen
Scheinmarmor-Fliesen aus Kalkstein mit feiner Politur. Oben auf der Galerie saß die Königin in purpurnem Samtgewand und scharlachroten Wildlederstiefeln und Bernsteinkranz. Sie hatte alle Zeichen der Trauer abgelegt. Nicht das winzigste Stück schwarzer Spitze. In ihrem vollen, ovalen Gesicht glommen schmale Augen – so wie unten das flüssige Zinn. So wie van Maanen schmoren würde, wenn sie ihn zu fassen bekam. An ihrer Seite bemühte Jatta sich um eine unnahbare Miene, obwohl die Neugier in ihr brannte. Ihr war heiß in ihrer purpurnen Wildlederjacke, die mit hellen, bunten Pelzstreifen benäht war. Kays mit Pailletten besetztes weißes Gewand vermittelte eine elegante, raffinierte Unschuld, und ihr Gemahl hatte sich selbst mit seiner besten betreßten Jacke, einer bestickten Weste und gestreiften Hosen zum Stutzer gemacht. Hubertus' Mutter Bella war zusammen mit ihren jungen Enkelkindern ferngeblieben, damit sie nicht von Junis winzigen Welpen erschreckt oder verdorben wurden. Die Babys unterstanden der Obhut eines unverwundbaren hölzernen Soldaten in tiefblauer Uniform mit etwas Orange. Sein spitzer Tschako wurde von einer weißen Quaste gekrönt. Unerschütterlich hielt der Soldat eine flache, gepolsterte Krippe, in der sich vier nackte Körper Seite an Seite wanden. Juni, die ein frisch gewaschenes und gebügeltes cremefarbenes Satingewand trug, stand aufgeregt zu seiner Linken. Jack, in JuttahatUniform zu seiner Rechten, grinste aufmunternd. Die alte Hilda, tief vornüber gebeugt, schielte schräg. Der rotgesichtige pummelige Serlachius begann zu intonieren: »Mana, weite,
Mana, leite …« Der Priester im schwarzgrauen Anzug sang eine Weile, dann blickte er zu seiner Königin auf. »Mutter von Kaleva, von Eurem Ukko ernannt, vom Mysterium gesalbt, Große Mutter dieses gerechten Krieges und dieser Mini-Mädchen, mögen sie in Eurem Sinne Furcht und Schrecken verbreiten, falls es nötig wird. Möge jede Euren Feinden eine Handvoll Schaden bringen. Vier Handvoll Schaden! Töchter des Grauens, Mädchen des Schreckens, heute winzig, morgen größer! Das Mana hegt sie, das Mana pflegt sie: diese zornigen Zwerginnen, diese neckenden Näkkis.« Serlachius steigerte sich immer mehr in eine Erregung hinein. Die Zuschauer blickten gespannt. Die Mädchen runzelten die Stirn, verzogen das Gesicht und kreischten. »Sag …« »Uns …« »Unsere …« »Namen«! quiekten sie. Ihr Aufseher starrte leidenschaftslos und mit erstarrten Zügen auf sie hinab. Jack strahlte seine Bälger an, die bestimmt die Last von Junis Fluch und seiner rapiden Reifung übernommen hatten. Lucky frohlockte oben auf der Galerie. Serlachius schöpfte Zinn und goß es auf das kalte Wasser. Es fauchte wie eine Katze. Sofort bildete sich ein dünner Film. Im Bottich schwamm eine pummelige, knubbelige Figur. »Die Silhouette der Alles-Maschine, Eure Majestät!« rief Luckys Mana-Priester. »Das ist es! Die Maschine macht Waffen. Diese Kinder sind Waffen der Pest und Seuche, die von Euren
Worten geführt werden, während sie aufwachsen.« Vier der Knubbel an der Silhouette waren Duplikate der größeren Form. Als Serlachius die Zinnfigur aus dem Becken nahm, fielen sie ab: ein Quartett aus kleinen Talismanen. Er legte das große Zinnstück auf den Boden und schöpfte dann die Talismane heraus. Er legte je eines auf den Kopf jedes Babys und gab jedem Balg einen Namen. »Du bist Gift. Du bist Galle. Und Qual. Und Pein.« Die Mädchen zappelten. Welches war welches? Plötzlich kam es Serlachius so vor, als wäre das Mädchen auf der Rechten plötzlich das Mädchen auf der Linken und als hätten die mittleren Zwillinge vor seinen Augen die Plätze getauscht. Würden sie auf diese Weise ihre Plage verbreiten, indem jedes Mädchen für einen Augenblick an einem anderen Ort auftauchte – der vielleicht in weiter Ferne lag – lange genug, um ein Opfer zu berühren und zu infizieren? Er rieb sich die Augen. Ein Mädchen, zwei Mädchen, drei Mädchen, vier: alle waren anwesend. Welches war Galle und welches Pein? »Ich bin Gift«, quiekte eines vergnügt. »Ich bin Galle«, flötete eine Schwester. »Wir …« Wissen …« »Wer …« »Wir …« »Sind …« Welches Mädchen hatte zweimal gesprochen?
»Jubel und Applaus für sie!« rief die Königin von der Galerie. Auch für sie Applaus. Beifall und Hochrufe. »Große Dinge werfen ihr Licht voraus!« Hauptmann Bekker, der herrlich mit karmesinroter und goldener Spitze geschmückt war und einen Säbel am Gürtel trug, klatschte mit hölzerner Monotonie. Der prächtige General Aleksonis fühlte sich anscheinend unwohl in seinen engen weißen Kniebundhosen. Schroff rief er: »Hussa, hussa!« Der junge Besprecher Nils sang und beschwor. Juko machte deutliche Mundbewegungen, während er in die Ferne starrte. Wie stand es um die Jaegertruppen, die anwesend waren? Brachten diese neuen Rekruten genügend Leidenschaft in ihrer Begeisterung auf? Sollten Peter Vaara und seine Schauspieler sich schon vor der Vorstellung heiser schreien? Der Beifall hielt an. Wie lange sollte er dauern? Niemand wußte es. Die Ovation steigerte sich nicht mehr. Ein gewisser Höhepunkt hätte Lucky die Möglichkeit gegeben, mit einem dankbaren Winken um Stille zu bitten. Doch der Lärm setzte sich einfach fort, eher pflichtbewußt als stürmisch. Grübelten zu viele Anwesende über den Tod nach? Hatten sie Angst vor diesen frühreifen Mädchen? Trotz Nils' Beschwörung verband sich die Versammlung nicht zu einstimmiger Begeisterung. Der Saal war voller Individuen, und jeder folgte dem Beispiel der anderen. Dem Chor des Beifalles und des Händeklatschens fehlte jede Wildheit. Licht werfen …? Jack warf einen Blick nach oben. Er stürmte zur Treppe.
Im Nu war er auf der Galerie. »Schnelljunge …!« rief Jatta vergebens dem Spitzbuben hinterher. Jack kletterte bereits die steileren Stufen hinauf. Auf dem obersten Balkon begutachtete er die Winde, von der die lange Kette zum Kerzenleuchter führte. Jack versprühte Funken wie Phosphorkäfer, die auf kristallenen Lüstern leuchteten, blitzten und funkelten. Er strahlte in tanzendem Glanz. »Paßt auf, Ihr da unten!« Wenigstens wartete er einen funkelnden Augenblick ab, bis er die Winde frei rotieren ließ. Kettenglieder ratterten durch den Apparat, während der Kerzenleuchter blendend herabstürzte. In einer Explosion aus Licht krachte er auf den Bottich und zog seinen Kettenschwanz nach. Helle Kristalle und Kometen aus Wasser spritzten auf und fielen herab. Serlachius war klitschnaß. Dann breitete sich völlige Stille aus, in der nur das Poltern von Jack zu hören war, als er die Treppe wieder hinunterstürmte. Aus den Trümmern erhoben sich kleine helle Fliegen. Vier Fliegen, acht, ein Dutzend. Die geflügelten Funken flatterten zum hölzernen Soldaten, der die Krippe der Mädchen hielt. Die fliegenden Splitter aus glitzerndem Smaragd, Rubin und Saphir funkelten in Gallegrün, in Fieberrot und Erstickungsblau. Juchzend streckten die Babys ihre Arme aus. Die Insekten ließen sich auf den Händen der Mädchen nieder. Dann ballten die Babys sie zu Fäusten. Als sie ihre winzigen Fingerchen wieder öffneten, waren die Insekten wie Schneeflocken geschmolzen. War es Galle oder Pein, die als erste erneut eine Faust ballte
und daraus dann wie aus dem Nichts eine schwarze Fliege entließ? Diese flog sofort zum nächsten Fenster. Als sie in der Luft zitterte, nahm sie auf einmal einen ungesunden schillernden Glanz an. Im nächsten Augenblick erlahmte sie und fiel zu Boden. Hilda humpelte herbei, um die sterbende Fliege zu inspizieren. Sie stieß mit dem Finger dagegen und schnupperte dann an ihrer Fingerkuppe. Melancholie überwältigte die alte Frau, ein wehmütiger, geisterhafter Rückblick auf ein verrenktes Leben. Es war, als hätte sie einen Schritt durch eine letzte Tür gemacht. Von der anderen Seite dieses Durchganges, der nun unwiderruflich hinter ihr lag, offenbarte sich die Perspektive auf ihre vergangenen Tage in schmerzlichen pastellfarbenen Bildern. So viele Tage waren abgelaufen, wie ein flüchtiges Lächeln, das kaum bemerkt und unerfüllt verschwand. Sie glaubte die Flügelschläge des Schwans zuhören. Sie war dem Tod so nahe – durch die Berührung mit einer sterbenden Pestfliege, der Vorbotin vieler weiterer. Aber die Berührung konnte sie nicht töten. Oder sonst jemanden der Anwesenden. Und außerdem mußten die vier winzigen Mädchen noch ein klein wenig größer werden. Hilda spürte, daß es auch seelische Qualen gab, die den Krankheiten entsprachen, die von den Mana-Insekten verbreitet wurden. Ihre eigene Lebensspanne war so sehr durch die Verrenkung bestimmt – ihre körperliche Verrenkung und dazu die Absonderlichkeiten der Trugleute. Doch konnte es sein, daß im Augenblick ihres Todes – wenn sie wirklich durch diese Tür schritt und einen schiefen, verblas-
senden Blick zurückwarf – all ihre entschwundenen, verzerrten Tage schließlich … einen nebelhaften Anschein der Perfektion erhielten, der makellosen Gesundheit, in Vollendung der Heilkraft, die immer in ihrem Herzen gewesen war? Ihr runzliges Gesicht blickte schräg von unten zur Galerie hinauf. »Es gibt einige forsche junge Leute«, krächzte sie, »die eine Fliege mit ihrer Hand fangen können. Doch nur vier ganz besondere Kinder können eine Fliege fliegen lassen, die vorher gar nicht da war, dazu mit einem Stachel wie diese hier. Wenn diese Mädchen ein wenig größer sind, werden sie Fliegen zu Euren Feinden schicken. Doch nicht zu Euren Freunden, o nein.« Mit einemmal war der Saal voller Freunde. Füße trampelten dröhnend. Jetzt konnte Lucky winken, um den Tumult zu beruhigen. Sie sang: »Ich werde keine schwierigen, ungehorsamen Töchter mehr haben.« Als ob Jatta entzückt sein sollte, das zu hören! »Doch was für Töchter hat mein Enkelsohn gezeugt! Sie werden mir und meinen Freunden treu ergeben sein.« In der wattierten Krippe, die von jenem unermüdlichen hölzernen Soldaten gehalten wurde, strampelten die vier Mädchen des Schreckens und ballten ihre winzigen Fäuste. Jack strahlte, freute sich wie ein Schneekönig und tänzelte zwischen Pfützen und zersplitterten Lüstern hindurch. Er trat wieder an Junis Seite und drückte sie an sich. Oben auf der Galerie kaute Jatta vorsichtig an einem Fingerknöchel, und Kay starrte mit offenem Mund auf ihren ruinierten Kronleuchter.
Der Tumult ebbte mit überzeugender Spontaneität ab. In der folgenden Stille begannen die Babys hungrig zu quengeln. Hilda gluckste. Es war Zeit für Juni, abzugehen und ihre Schlingen anzulegen. »Und jetzt das Spiel«, erklärte die Königin. Zutiefst befriedigt winkte sie ihrem General. »Viktor, würdet Ihr Euch freundlicherweise zu mir gesellen?« Viktor Aleksonis würde ihr ausgezeichnete Dienste als Ersatzprinz leisten. Diese weiße Jacke mit silbernem Kragen und Winkeln. Die scharlachrote Weste. Die engen Wildlederhosen und der silberne Helm mit einem geflügelten Auge und grünem Federbusch! Sehr hübsch! An seiner Brust trug er den strahlenden Ukko-Orden. Wer konnte angemessener sein? Die Schauspieler hatten zwei purpurne Leinwände aufgestellt, die als Hintergrund dienen sollten. Schwarze Scheitelkäppchen verbargen ihr Haar. Sie trugen mattschwarze Ganzkörpertrikots. Gesicht, Stimme und Hände waren die wichtigsten Werkzeuge ihrer Kunst. Ungeachtet des Tageslichtes achtete man bald nur noch auf ihre geschmeidigen Gesten und die Mimik ihrer Gesichter und horchte auf die Worte, die halb gesprochen und halb gesungen wurden. Gesichter schwebten. Hände deuteten. Worte beschworen Personen und Szenerien herauf. Die Gedanken der Zuschauer arbeiteten sie aus. Dieser Bann war Peter Vaaras besondere Gabe, die er mit einer Truppe teilte und mit der sie ihr Publikum bannten. Er konnte die Vorstellungskraft heraufbeschwören – und das Publikum würde an seinem Historienspiel teilnehmen.
Wie unsinnig es war, Vaaras persönliches Aussehen beschreiben zu wollen. Er war nicht mehr das nichtssagende, blasse Gesicht, das man schnell vergaß, wie Lucky ihn nach ihrer Befragung vergessen hatte. Er war, wer immer er zu sein vorgab. Dasselbe galt für seine Truppe. Sophie war Lucky Sariola als jugendliches Mädchen. Wie leicht es war, sich diesen Saal – vor allem den Saal der Jaegers – als Höhlenkammer vorzustellen! Der Saal war eine Kammer im Innern von Lucky Sariolas Ukko, weit entfernt in Zeit und Raum. Eine Polarlicht-Tänzerin schimmerte zwischen den Leinwänden und beschwor Sternenbilder und Gasnebel herauf. Sie stellte pantomimisch das lebende Licht im Innern des Ukko dar, dessen Geist sich dem Mädchen enthüllte. »Sing mir ein Lied, erzähl mir eine Geschichte,« betörte Natalja. »Und ich werde dich zu den Sternen bringen.« Sophie-Lucky antwortete ihr: »Ich werde von meiner Sehnsucht getrieben. Ich werde die Legenden meines Volkes singen.« Sie schien einen schwarzen Raumanzug zu tragen, aber weder Helm noch Handschuhe. Was hatte der Juttahat plötzlich hier zu suchen? Seine Hände glitten hin und her. Er trug eine um seine Schultern geschlungene Schlange. (Die Schlange selbst war beinahe sichtbar.) Der Juttahat litt unter einer schweren Störung und stockte. »Bitte um Nichttötung meines Meisters und von mir, Großer Ukko«, zischte er unter Schmerzen. »Kein Ende in Knochen wegen dieses Mädchens und ihrer Rasse der Unbändigkeit. Hilfe meines Meisters bei der Beherrschung der Menschen!« Oh, das war sehr scharfsinnig von Peter Vaara!
»Sie muß wild sein, und sie wird wild sein«, sagte Natalja zum sterbenden Alien. Mit einer Hand schien der Ukko-Näkki Natalja dem Mädchen Paula Sariola-Sophie ein Szepter zu reichen – oder war es eine langstielige Blume? Und wer war dieser einnehmende Neuankömmling, wenn nicht das personifizierte Mana? Nicht Stanislaw, sondern Meister Mana, der Meistermann. In Begleitung von … Bertel, Berti! Luckys künftigem Prinzen! »Ich werde ihr ein unsterbliches Königtum verleihen«, schwor Meister Mana. »Ich werde all ihren Töchtern eine Gabe gewähren, wenn sie uns eine Geschichte erzählt, ein Lied singt. Ich werde sie verwandeln und vertauschen.« Lucky sprang auf. »Ich werde auf ewig Babys zeugen«, versprach der tote Berti der jungen Paula. Paulas Haar war blond … Luckys wahrer Zwilling – ihr echtes Ich – gestattete ihrem Freier, ihre Hand zu küssen. Die Königin packte das schmiedeeiserne Geländer mit beiden Händen. »Paula!« rief sie. »Berti«, murmelte sie. Sophie blickte nicht auf. Die Bilder wurden intensiver. IsiSchlangen erhoben sich, schoben sich lugend vor … »Paula …!« Jatta platzte in die Träumereien ihrer Mutter. »Das ist Aino Nurmi mit der Blume in der Hand, Mutter. Ich sah sie, als du Juko nach Outo zurückbrachtest, und ich sah ihr Echo, als ich« – sie zögerte – »als ich mit Anni zusammen war. Hast du Aino nicht gesehen, als sie Juko in Outo begrüßte, Mutter? Erkennst du sie nicht wieder? Das ist Jukos Schwester.«
»Du versuchst mich zu verwirren. Das ist mein Ich. Du lügst.« »Warum sollte ich lügen?« »Um mich davon abzulenken, die Mädchen zu benutzen! Deine Näkki-Enkeltöchter. Meine Schnatter-Jatta, du bist genauso boshaft wie Minni.« »Niemand kann dich beeinflussen, Mutter – das kann nur deine eigene Manie!« Ach, dieses ganze Historienspiel zerrte an Luckys Herzen. Daß sie ihr eigenes verlorenes Ich sah! Um dadurch vom Krieg gegen die Emporkömmlinge abgebracht zu werden? War Peter Vaara ein Agent der Streifen-Schlangen? Die Königin hatte ihren Platz verlassen. Sie hastete die Treppe hinunter. »Paula!« Als sie auf die Stegreifbühne stürmte – »Paula!« –, hielten die Schauspieler inne. Verwirrt rührten sie sich nicht von der Stelle. Dann richtete Sophie sich auf. Sie war groß und gertenschlank, ganz und gar nicht wie Paula. Eines ihrer Augen strahlte hell, als wäre der Augapfel eine Scherbe des Kristalleuchters. Die Schauspielerin schrie vor Schmerz auf und schlug eine Hand vor das Gesicht. Meister Mana trat besorgt auf sie zu. Doch Sophie enthüllte bereits ihr Auge. Kurz schien es, als wäre nur Leere in der Augenhöhle. Sie war überhaupt nicht Paula. Hatte Juko bewirkt, daß das Echo seiner toten Schwester hier anwesend war? Auf der Bühne blickte sich Lucky nach ihm um. Schnell entdeckte sie den Mutanten-Besprecher. Er hatte sich geduckt. O nein, er hatte seinen Einfluß nicht bewußt eingesetzt. Nicht absichtlich. Vielleicht war sein Gewissen schuld.
Lucky stampfte mit dem Fuß auf eine Lüsterscherbe. Wenn die Darstellung der Paula noch intensiver geworden wäre, hätte Lucky vielleicht jedes Gefühl für das verloren, was sie wegen der Rebellen unternehmen mußte, bevor sie es sich erlauben konnte, die Suche nach ihrem Ich fortzusetzen. Sie wäre in die Falle gegangen. »Peter Vaara!« kreischte sie. Der kränkliche Juttahat schwankte auf sie zu. Warum hatte Vaara sich ausgerechnet diese Rolle ausgesucht? Obwohl das Stück unterbrochen worden war, schien er nicht aus der Rolle fallen zu wollen. Hoffte er, die Maskerade würde ihn schützen? Das Mana in Gestalt von Stanislaw und Natalja als Licht des Ukko traten an seine Seite, falls er zusammenbrechen sollte. »Majestät …« Vaara sprach in einem Tonfall, der im Widerspruch zu seiner scheinbaren Gebrechlichkeit stand. »Menschenwesen unterliegen der Gefangenschaft gewisser Abläufe der Gedanken …« Behielt er die Eigenarten der Sprechweise der Aliens bei, um sich selbst zu distanzieren? »Geschichten haben Leben, Majestät. Wir sind Diener ihres Zwecks: der Entwicklung, der Anpassung, der Ausbreitung, der Bannung von Menschen zur Unterstützung ihrer Existenz. Die Verkörperung neuer Aspekte, das Spiel der Variationen. Das Wort hat Leben und dient der Gestaltung der Welt.« Wie alienhaft er klang! »Seid gewarnt, Eure Majestät«, sagte Mana-Stanislaw, »Ihr seid in Eure eigene alte Geschichte eingedrungen, was zu einer abweichenden Schleife führt.« Bertie-Tankred war an Luckys Seite getreten: ein Gesicht und
schwebende Hände. Die Königin roch ihren eigenen Hefeduft, mit dem sie auf ihn reagierte. »Majestät«, sagte er beruhigend, »erinnert Euch.« »Aber ich erinnere mich an mich.« Lucky starrte Sophie an. Der Juttahat kicherte. »Es war einmal eine Frau, die ihr eigenes Spiegelbild begrüßte. Doch als sie ihr Spiegel-Ich stürmisch in die Arme schließen wollte, leerte sich der Spiegel. Das gleiche geschah mit der Frau. Sie verschwand. Beide hatten sich gegenseitig ausgelöscht.« »Sagt so etwas nicht!« Wie konnten sie es wagen, sie auf so direkte Weise anzusprechen? Als sie auf die Bühne gestürmt war, war sie zur sechsten Darstellerin ihres Schauspieles geworden. Konnte es sein, daß die Begegnung mit ihrem wahren Ich in der Vernichtung endete – auch wenn sie köstlich und berauschend sein mochte – und nicht in geistiger Gesundheit und Erfüllung? »Wie oft habt Ihr schon vor den Isi gespielt?« wollte sie wissen. Die Antwort kam viel zu schnell vom falschen Juttahat. Er wunderte sich nicht einmal über ihre Frage. »Niemals. Nur durch die Verkörperung eines Mana-Magus starb unsere Freundin Solveig an einem Anfall.« »Das sagtet Ihr bereits!« Wann und wo ist Solveig ihrem Anfall erlegen? In welchem Isi-Nest? »Ihr werdet die wahre Königin einer ganzen Welt sein«, schmetterte Natalja Lucky entgegen. Die Schauspielerin behandelte sie jetzt, als hätte sie Sophies Paula-Rolle übernommen. Sophie blieb das Echo von Aino Nurmi.
»Ich gebe Euch all dies im Austausch für grandiose Geschichten …« Natalja hielt sich wieder an das ungeschriebene Manuskript. Der Sog des Dramas zog sie und Lucky mit sich. Lucky durfte keinen Augenblick länger auf der Bühne bleiben. Ein Spion-Spitzhund war in den Saal gekommen und winselte. Welcher Anblick mochte sich dem Hund bieten? Falls sein Trainer gerade in einen Mana-Spiegel schaute, was mochte er sehen? Wahrlich, die wahre Königin einer ganzen Welt. Während ihr General ihr zusah, dazu ihr hölzerner Hauptmann und ihr Soldaten-Priester und ihre Besprecher und Dämonen-Jack, die alle bereit waren, gegen die Rebellen in Loxmithlinna und Maananfors in den Kampf zu ziehen. »Setzt Euer Spiel zu meinen Ehren fort«, sagte Lucky brüsk zu Vaara. »Ich werde Euch nicht noch einmal stören.« Sobald sie zu ihrem Sitz auf der Galerie zurückgekehrt war, würde sie nämlich die Augen schließen.
8 Klare Luft
Verlautbarung war das populäre Wort für Ruhmesansprüche, die von Kuckucken auf Marktplätzen verkündet wurden. Ein solcher Fall lag vor, wenn jemand vor einem Klatschvogel damit prahlte, daß er einen prächtigen Fang Süßflossen eingeholt hatte, fett mit Rogen, oder wie er einen Jutti getötet hatte. In benachbarten Städten würde derselbe Vogel oder ein Artgenosse dann diese Ruhmestaten verlautbaren. Im Hafenviertel von Maananfors hatten in den vergangenen zwei Tagen mehrere Kuckucke Luckys Sieg über Loxmithlinna verlautbart. Am langen, niedrigen Kai aus rosafarbenem Granit waren Fischerschmacken mit eingerollten weißen Segeln jeweils zu dritt oder viert nebeneinander festgemacht. Der Raddampfer Sotkos Tochter ragte von einer Mole aus in den See, so daß ihr Raketenwerfer den Zugang zur Stadt bewachte. Zwei BodenLuft-Raketenwerfer auf dem Kai waren mit Leuten der Blauen Garde bemannt. Auf dem rosafarbenen Granithügel über der Stadt konnte ein scharfes Auge weitere solcher Abschußvorrichtungen erkennen, die aus Prinz Osmos Burg hervorragten. Auf dem Kai wurde Markt abgehalten. Der Handel mit Obst und Wurst, Pilzen oder Käse war nicht sehr lebhaft. Fisch wurde nur geräuchert oder mariniert angeboten, nicht frisch. Fischerboote durften nicht auslaufen. Der Vormittag war grau und neblig. Dünne Wolle hing über der Wasserfläche des Sees. Winzige Inseln mit Bäumen hätten auch Schiffe sein können.
Halb verborgen in den eingelassenen galvanisierten Wannen der Flöße, waren Frauen behäbig damit beschäftigt, Teppiche zu schrubben, um sie dann zum Trocknen auf Gestelle zu hängen. Jeder ließ sich Zeit mit der Arbeit oder den Einkäufen. Ein paar dürre gesprenkelte grüne Klatschvögel, die im trüben Licht grau wirkten, flatterten von Mastkorb zu Poller oder zu einer Markise über einem Verkaufsstand und krächzten von Luckys Triumph. Obwohl ihre Berichte stückweise kamen und sich wiederholten, stießen sie auf gebanntes Interesse. »Hört, hört, hört die Geschichte!« krächzte ein Vogel. Die Leute hörten zum x-ten Mal zu. »Königin Luckys Bodentruppen landeten auf einem Bauernhof etwa zehn Kims von Loxmithlinna entfernt. Begleitet von drei Sprungfahrrädern rückten sie gegen die Außenbezirke der Stadt vor. Die Bürgerwehr versuchte sich halbherzig zu verteidigen, von Haus zu Haus. Der Anblick der hölzernen Soldaten der Königin hatte zum Irrglauben geführt, daß es sich um eine Invasion der Aliens handelte, die sich als Menschen maskiert hatten. Die Getreuen wurden vom tödlichen Drang getrieben, ihre Häuser schützen zu wollen. Sie hätten lieber jene willkommen heißen sollen, die kamen, um das Ha-Haus von der Besatzungsmacht zu befreien …!« »Hört!« gackerte ein anderer Vogel, »Fürst Elmer und die Garnison hatten sich im Ha-Haus verbarrikadiert. Sie zogen die Köpfe ein, als Luckys Luftboote und bewaffnete Flugkapseln die Burg mit heißem Licht und Lufttorpedos und Geschossen bombardierten …« Verlautbarungen waren unweigerlich parteiisch. War die Bombardierung wirklich so heftig gewesen? Hatten die Vertei-
diger tatsächlich die Köpfe eingezogen? Das Ha-Haus war wesentlich massiver und stabiler angelegt als der befestigte Komplex aus Wänden und Dächern und Türmen, der Osmos eigene Burg bildete, die ungeschützt auf einer Anhöhe lag … »Die im Wasserhof eingesperrten Boote wurden nicht freigelassen, damit Königin Lucky nicht die Gelegenheit erhielt, eine kleine Flotte zu erobern …« Diese Flotte mochte bald den türkisfarbenen See im herbstlichen Nebel überqueren, wie er auch heute den Ausblick trübte. Nachdem der August jetzt fast zu Ende war, hatten sich die Bäume rings um die Ufer in Scharlach und Orange, in Rostrot und Kupfer gehüllt, während der Saftstrom zu den Blättern versiegte. »In seiner flinken Flugkapsel entging Dämonen-Jack Pakken dem Feuer der Lichtgewehre, denn er ist der Meister des Mysteriums des Lichtes. Er richtete lähmende Langsamkeit auf zerschmetterte Fenster, wo Verteidiger kauerten. Er beschwor Wirbelwinde im Landhof und Wasserhosen im See herauf …« Das hatten die Menschen schon gehört. (»Was, eine Halbmark für vier Orangen?«) »Am Abend stand der Westflügel des Ha-Hauses in Flammen, und die Bewohner hätten diese Wasserhosen gut gebrauchen können. Das eisenbeschlagene Tammiholztor zum Landhof war von der Luft aus versengt und eingedellt worden, während Näkki-Wirbelwinde daran rüttelten. Im Verlauf der von Bränden erhellten Nacht ließ die Luftflotte der Königin Granaten auf die Dächer hageln, damit die Verteidiger keine Ruhe fanden.« (»Verehrte Dame, es dürfte nur noch wenige solch schöner
puutaranischer Orangen in der Stadt geben, solange die Sotkos Tochter unseren Hafen blockiert.«) (»Die Sotkos Tochter verteidigt unseren Hafen!«) (»Das läuft auf dasselbe hinaus, würde ich sagen.«) »Täuscht Euch nicht: Die Königin hat keineswegs ihre Reserven verpulvert. Die Alles-Maschine war sehr großzügig zu ihr, um sie unbesiegbar zu machen …« Ein Kuckuck hielt inne, um sich zu putzen. Ein anderer Vogel übernahm die Erzählung und rief: »Am Morgen bevölkerten ihre Wachen und die hölzernen Soldaten und die Jägergarde die Straßen, die zum Außer-HausPlatz führen. Sie hatten sämtliche Läden und Häuser in der Umgebung besetzt und die Städter daraus vertrieben. Heißes Licht schoß durch die zerstörten Fenster des Nord- und Ostflügels des Ha-Hauses, um die Freiwillige Verteidigung in Schach zu halten. Explosivgeschosse und Bolzen flogen hinauf …« (»Nun geht schon mit dem Preis herunter! Ihr könnt mühelos auf dem Weg über Tapper Kippans Reich an Orangen kommen. Profitgeier!«) (»Mühelos? O nein, verehrte Dame!«) »Horcht zu: Am Morgen quoll immer noch Rauch aus dem ausgebrannten Westflügel. Alle Dächer waren durchlöchert. Auf dem Außer-Haus-Platz war der Springbrunnen aus Röhren und kupfernen Kuckucken versiegt. Von den Köverbäumen waren die herbstlich trockenen Locken gerissen worden. Der Pranger war entblößt – um auf welchen Schurken zu warten? Hielt die Furcht die Seelen der Menschen im Ha-Haus gepackt, oder war es nur berechtigter Schrecken?« Wer immer den Kuckucken souffliert hatte, war mit einer
blumigen Sprache gesegnet. Oder die Vögel schmückten die Erzählung mit Ereignissen aus ihrem eigenen Repertoire vergangener Geschichten auf. Doch ihr Bericht klang äußerst realistisch. Damit er ihrem Publikum durch Mark und Bein ging? »Hört, hört: Die Königin besitzt einen schweren Kriegswagen, den ihr die Alles-Maschine gemacht hat. Dieser ist in Sariolinna zurückgeblieben. Er ist viel zu massiv, um an Ketten von einem Luftboot getragen zu werden!« (»Eine Halbmark für sechs …«) »Doch wozu hätte man einen solchen Kriegswagen gebraucht? Heißes Licht brachte die großen Scharniere des eingedellten Tammiholztores zum Schmelzen. Eine Rakete lockerte ein Scharnier. Eine zweite Rakete ließ ein zweites Scharnier zerbersten. Dämonen-Jack ließ einen wütenden Sturm tanzen. Juko Nurmi und Nils Karlson besprachen …« Nils Karlson? Dieser Besprecher war den Einwohnern von Maananfors unbekannt … Vielleicht war Nils die Quelle dieser Verlautbarungen. »Die Hälfte des großen Tores fiel knirschend nach innen …« Ein schuppiger grüner Kopf verschwand unter einem Flügel. Ein anderer Kuckuck rief: »Jetzt war der Augenblick gekommen, in dem der Kriegswagen nützlich gewesen wäre, um sich durch das Sperrfeuer zum Querbalken des Ha-Hauses zu schieben – auch wenn dieser Kampfkoloß nur drei Personen beherbergen kann und dicht gedrängt fünf. Doch wozu hätte man solch schweres Geschütz auffahren sollen? Die Sprungfahrräder der Königin standen bereit, in den zentral gelegenen Bankettsaal vorzudringen …«
»Das war der Zeitpunkt, als Lyle Melator Hauptmann Haxell überredete, sich mit der Freiwilligen Verteidigung gegen die gelichtete Garnison des Verräters Osmo zu wenden …« Aus den Kehlen vieler Zuhörer drang ein Stöhnen, das dann zu einem Knurren wurde. »Auf einmal wurde innerhalb des Ha-Hauses gekämpft, und das Sperrfeuer hatte aufgehört. Was blieb ihnen auch übrig, nachdem Fürst Elmer und Fürstin Eva bereits in den frühen Morgenstunden mit der Seeschlitten geflohen waren, angeblich damit der Königin nicht seine Fähigkeiten als Ingenieur in die Hände fielen, falls das Ha-Haus ihrem Ansturm erliegen sollte …?« Am Kai lag eben jenes Gefährt, die Seeschlitten, unter Bewachung vertäut. Inzwischen war das Motorboot mit einer doppelläufigen Lichtkanone auf einem Drehstativ ausgestattet worden. »Was blieb ihnen auch anderes übrig?« Die Zuhörer nickten. War es nicht die Finesse des instinktiven Ingenieurs gewesen, die die Alles-Maschine in Betrieb gesetzt hatte? (Auch wenn Prinz Osmo sie betriebsbereit gemacht hatte und dann ungerecht behandelt worden war!) Für Maananfors war es wesentlich sicherer, wenn Elmer Loxmith hier war statt dort. Doch von der eigenen Burg zu fliehen, während sie angegriffen wurde, und mutige Männer ihrem Tod zu überlassen … hm! »Mein Gemahl gehörte zur Garnison!« jammerte eine junge Fischersfrau in Schal und Kopftuch. »Sind wirklich alle tot, Kuckuck?« »Ukko-ukkoo«, gackerte der Vogel. Hatte ein Kuckuck je-
mals auf eine direkte Frage geantwortet? »Gelobt sei die wahre siegreiche Königin von Kaleva!« So viele Männer – und einige Frauen – aus Maananfors hatten zuvor einen Tag der Belagerung überlebt, nur um dann von verräterischen Ha-Häuslern umgebracht zu werden; und wenn nicht von diesen, dann von königlichen Sprungfahrradfahrern oder unerbittlichen hölzernen Soldaten. Niedergemetzelt, um Osmo zu schwächen. »Verflucht sei Lucky!« schrie die junge Frau. »Sie ist so böse, wie unser Osmo sie genannt hat!« Ihre Worte drückten die allgemeine Reaktion aus. »Sie wird uns als Sklaven an die Isi verkaufen!« grölte jemand. »Hört, hört!« rief ein anderer Kuckuck, und die Stimmen verstummten. »Die Königin hat keineswegs ihre Reserven verpulvert …« Osmos Sam Peller hatte Waffen von den Streifen-Isi geliefert bekommen. Die Sotkos Tochter hatte ihren Raketenwerfer auf den See gerichtet. Schiffe mußten sich vor Raketen in acht nehmen. Luftboote ebenfalls. Und Osmo war der Meister aller Besprecher. Zudem hatte Königin Minni einen Mana-Magus überwältigt. Somit waren die Zuhörer der Kuckucke eher trotzig als entmutigt. (»Dann also eine Halbmark für fünf.«) Die Leute verweilten, um die häppchenweise verabreichten Neuigkeiten zu hören. Ein Mana-Priester in Forssa behauptete, den Beweis zu haben, daß Kuckucke sich über große Entfernungen von Geist zu Geist verständigen konnten. Die Schwätzer auf Pollern und Masten blickten womöglich gerade nach innen und sahen durch die gelben Augen ihrer fernen Artgenossen, was in
diesem Augenblick im verwüsteten Loxmithlinna geschah. Dieser Nebel, dieser tückische Nebel! Bestimmt würde Lucky jetzt eine Pause machen, um sich zu sammeln und mehr von ihren reichhaltigen Waffen heranzuschaffen, und auch, um ihre Wunden zu lecken. Auch auf Seiten der Nordlandbewohner mußte es Verluste gegeben haben. Wie lange würde sie pausieren? Eine Woche lang? Zehn Tage? Oder zwei Wochen? Hielt sich Lucky überhaupt persönlich in Loxmithlinna auf? Ihre sogenannte neue Schiffsflotte – einfach lächerlich! – würde nicht so bald in Sicht kommen. Der Nebel draußen auf dem See hatte womöglich genauso viele Leute zum Markt auf den Kai gelockt wie die Anwesenheit der Klatschvögel oder das Bedürfnis, auf Vorrat einzukaufen. Der trübe Dunst, der die Fernsicht beeinträchtigte, war bestimmt kein Mana-Nebel, sonst wäre es auf der Burg viel betriebsamer zugegangen. Würde das auch für einen künftigen Morgen gelten? Mochte ein solcher Dunst dann vielleicht das Werk von Dämonen-Jack und Luckys Besprechern sein? Als Hauptmann Jurgens Sprungfahrrad im Hof von Osmos Burg auftauchte, wäre der Fahrer beinahe erschossen worden. Lichtgewehre und Armbrüste ruckten hoch und richteten sich auf ihn. »Freund!« schrie er, und einige seiner früheren Wachkameraden erkannten seinen üppigen rötlichen Schnurrbart wieder. Jurgens Gesicht und seine hellblaue Uniform waren fleckig und beschmutzt. Seine Stiefel waren angesengt. Etwas getrocknetes Blut klebte in seinen rotblonden Locken. Er stieg ab. »Nehmt die Waffen herunter, Sven! Ihr seid doch
ein guter Kamerad?« Er sprach mit einer Leichtigkeit, die über seine furchtbare Anspannung hinwegtäuschen sollte, die wiederum durch Erschöpfung gedämpft wurde. »Auch Ihr seid ein guter Kamerad«, sagte der blonde Gewehrschütze, »aber ich bin im Dienst.« Ein wahnsinniges Leuchten strahlte in Jurgens müden blauen Augen auf. »Tut es! Ich muß Prinz Osmo sofort mitteilen …« Er wischte sich mit einer rußigen Hand über das Gesicht. »Wem sonst müßte ich Meldung machen? Johann ist so weit weg, daß ich nur während der Zwischenphase spüre, wie sein Echo verhallt.« Er deutete auf die verschlossenen Türen des Bankettsaales. »Ich kann mein Fahrrad nicht mit den Waffen hineinnehmen, die … töten töten töten«, plapperte er. »Er ist Hauptmann Jurgen, vergeßt das nicht!« zischte einer von Svens Kollegen. Ja, sicher, er hatte die Befehlsgewalt über die Garnison im Ha-Haus – die komplett niedergemacht worden war, mit Ausnahme, wie es offenbar wurde, von ihm … Hatte dieser erschöpfte und leicht verwirrte Kamerad sich überhaupt in der Gewalt? »Ihr solltet ihm lieber das Fahrrad abnehmen, Sven, wie man es Euch gesagt hat …« Falls Hauptmann Jurgen, der die Befehlsgewalt über niemanden hatte, der noch am Leben war, den roten Handgriff packte und in verzweifeltem Wahn das Feuer eröffnete. »Ihr solltet lieber …« »Kümmert Euch um mein Fahrrad, verdammt!« »Ja, Herr«, sagte Sven und legte seine Waffe auf den Pflastersteinen ab.
Das halbe Dutzend Öfen, das innerhalb des Saales zwischen den Wandteppichen aus Bäumen stand, wirkte wie eine Garde kugelbäuchiger Wachen aus Gußeisen – womöglich ferne Verwandte des Messingautomaten, der im Ha-Haus zurückgelassen worden war. Elmer betrachtete die Öfen mißmutig, während er mit Eva auf der Bank saß. Als ihre Finger seine lange knochige Hand streiften, hellte sich seine Miene auf. In ihrer Berührung lag ein so zwiespältiger Trost – in ihrer freiwilligen Berührung. Im mysteriösen Ausgleich der Gefühle war der Verlust seiner Burg womöglich zu verschmerzen, da jene schreckliche Gewalt ihn zu einem wahnsinnigen Höhepunkt angestachelt hatte, von dem er und Eva nun profitierten. War Eva, die in diesem tristen grauen Kleid neben ihm saß und deren schwarze Klappe im Farbton ihres Haares das Fehlen eines Auges verbarg, war sie hinreichend getröstet? War sie befriedigt, daß es keine nächtlichen Auspeitschungen mehr geben würde? War sie erleichtert, daß ihre Mutter sie nicht mehr mit ewiger Jungfräulichkeit und einem impotenten Gemahl verspotten konnte? Waren Elmer und seine Braut jetzt echte Seelenpartner trotz der Schmerzen, die er ihr hatte zufügen müssen, und der Verletzung, die sie durch Kulli erlitten hatte? Elmer streckte seinen leichenblassen Körper und warf die schwarze Haarmähne zurück. Er trug immer noch seinen verschmutzten Kittel aus weichem Leder, als Zeichen der Anstrengungen in Loxmithlinna. Sein schmutziger Zustand unterstrich seinen Status als Flüchtling. Langlebigkeit, Langlebigkeit: Er hatte sie gewonnen.
Nach dem Tag des Angriffes aus dem Himmel war die kurze Nacht immer wieder von kleineren Explosionen erschüttert worden. Niemand konnte sich während der Dunkelheit Nachtruhe gönnen, da der Westflügel immer noch brannte, obwohl pausenlos mit Pumpen und Eimern Löschwasser aus dem Wasserhof geschöpft wurde. Die Feuersbrunst breitete sich nicht weiter aus. Sie war eindeutig unter Kontrolle. Sie beleuchtete die anderen drei Flügel, so daß sie ausgezeichnete Ziele abgaben. Granaten explodierten auf den Dächern im Süden, Osten und Norden. In der Panzersuite hinter den eisernen Fensterläden war jede Detonation als abgehackter, rüttelnder Schlag zu hören. Schlaf war unmöglich, der Gedanke an Schlaf absurd und sogar unverantwortlich. Hätte Elmer die Panzersuite nicht seinem gelähmten Vater geben sollen? Seiner Mutter, die ständig so bleich wie ein Bettlaken war, als hätte ein Näkki sie schockiert? Der jungen Nikki, die ihn zu hassen schien? Oder einigen der Verletzten, um die sich Moller und Mutter Grünwald so aufopfernd kümmerten? Sollte Elmer nicht durch die Korridore streifen, um hier ein Wort der Aufmunterung zu sprechen und dort ein Wort des Trostes? Lyle hatte es für keine gute Idee gehalten. Der Fürst und seine Fürstin mußten gemeinsam geschützt und sicher sein. Eine einzige Kerze illuminierte dürftig die seidenen Schleier, die die Eisenvertäfelung verhüllten. Ringsum an den Wänden zitterte dünne, zarte Haut. Die süßen und belebenden Düfte von Klarsalbei und Jismin vermischten sich zu einem benebelnden, würzigen Geruch nach Rauch. Rumms, kam es vom Dach drei Stockwerke höher. »Du hast das Goldmädchen gebumst, in der Nacht vor der ers-
ten Belagerung!« Eva schrie Elmer heiser an, um ihn anzustacheln. »Du hast ihre Brüste gekitzelt und ihre Lenden gerammelt! Und jetzt ist wieder eine Belagerung im Gange!« Eva streifte ihr Gewand ab, drehte sich um und wackelte mit dem Hintern. Sie zeigte ihm zwei volle Suppenlöffel, die sich auf appetitanregende Weise berührten und in die geschwungenen Griffe ihrer Beine ausliefen. Er konnte nur wenig sehen, aber er roch verbrannte Schokolade, eine süße, dicke Creme aus anregenden Widersprüchen. Die vollen Löffelschalen verlockten zum Probieren, Lecken und Schlürfen. Im schwachgelben Kerzenlicht war Eva eine reichlich ausgestattete Gesäßmuskelmaschine von klarer Konstruktion, die ihn zitternd zum Festmahl einlud. Er warf seine Kleidung ab, obwohl er keine Peitsche dabei hatte, um die Schokoladencreme zu schlagen. Er war froh, sich ausziehen zu können. Die Luft war so schwül. Die Fenster waren ohne Glas, doch die Eisenläden hielten den Wind ab, auch wenn sie den Rauch hindurchsickern ließen. Elmer war schlüpfrig vor Schweiß. »Komm zu deinem goldigen Goldmädchen«, befahl sie fiebrig. Ihr langes kohlrabenschwarzes Haar lag wie ein Tischtuch auf der Festtafel ihres Rückens. »Komm, komm mit deinem Schlüssel, deinem langen, steifen Schlüssel!« Doch sein Schlüssel blieb weich. Rumms. Da er sie noch nicht gepackt hatte, blickte sie sich wieder zu ihm um. »Ich darf keine Jungfrau mehr sein, wenn meine Mutter kommt! Ich darf nicht! Du wirst sonst sterben, du wirst sterben! Komm zu deinem Goldmädchen, Elmer. Ich bin sie.«
Eva starrte ihn an, als würde sie von ihm Abschied nehmen. Dann schob sie mit einer schnellen Handbewegung die Klappe von ihrer leeren Augenhöhle auf ihr gesundes Auge, ihr einziges Auge. »Ich bin blind. Ich kann dich nicht sehen, Elmer. Ich kann nicht sehen, was du tust, ich sehe gar nichts. Ich bin nicht ich, und du bist nicht du. Wer bist du? Wer bin ich? Ich bin ein Goldmädchen ohne Augen.« Sie tappte herum. Sie tastete nach dem Bett. Sie warf sich darauf. Sie hockte sich hin, spreizte die Knie und reckte ihren Hintern hoch. »Jetzt! Jetzt! Jetzt!« begann sie mit gedämpfter Stimme zu flehen. »Bums mich, oder du wirst sterben!« Wie obszön seine Brautprinzessin klang. Das konnte nicht Eva sein, nein, sondern ein nackter, simpler Apparat – aber ein sinnlicher Apparat. Angebrannte Schokoladencreme … Das Haus stand in Flammen. Kleine Bomben fielen. Männer und Frauen waren heute gestorben, von heißem Licht verbrannt, die Arme und Gesichter abgesprengt. Fliegendes Glas hatte Fleisch schreckenerregend aufgeschlitzt, bis es kein fliegendes Glas mehr gegeben hatte. Tod, Tod … und das Heilmittel befand sich zwischen seinen Beinen – und zwischen ihren. Eine ganz einfache Verbindung. So schlüpfrig vor Schweiß. Er war steif. Er war hinter ihr auf dem Bett. »Wer bist du?« hatte sie geschrien. »Ich bin blind. Jetzt, jetzt!« Er stürzte nach vorn. Sie hatte sein Gewicht abgefangen. Und sie schluckte ihn, saugte ihn in sich hinein. So einfach, so schlüpfrig. Rumms. Die Explosion erschütterte ihn. Ein berauschender automatischer Wahn ergriff ihn, und er pumpte – während sie immer wieder »Ah!« schrie –, bis er ausbrach, stöhnend und
schnaufend. Was er empfand, war gleichzeitig erlösender Schmerz und Verzückung, als er einen Teil von sich selbst abstieß. Zitternd brach er zusammen. Schwerfällig drehte er sie um. Sanft küßte er die flatternden Lider ihrer leeren Augenhöhle. Einen Augenblick lang hatte er befürchtet, sie würde ihn von sich stoßen, doch ihre Finger krallten sich in seine Schulter, ihre Nägel hakten sich in seine Haut. »Ja, ja!« keuchte sie. »Liebe mich gesichtslos, mein Fürst! Schmecke meine Tränen!« Salz auf verbrannter Schokolade, das Öl ihres Haares, der würzige Nußduft des Rauches und der Jisminsaft … Diese zarten, verletzlichen Jungfernhäutchen, diese Hautlappen, die den Eingang zur Höhle ihres Gesichtes säumten. Er schob seine Zunge zwischen die Lider. Er erkundete das Innere. Osmo, der beste aller Besprecher, war über den Anblick einer leeren Augenhöhle entsetzt gewesen, als Nurmis Schwester ihr falsches Auge herausgerissen hatte. Aber nicht Elmer! Wer von ihnen war der wahre Meister der Zunge? Wie gewaltig diese Höhle seiner Zungenspitze erschien! Und so salzig wie das Meer! Bald bäumten sich ihre Hüften auf. Ihre üppigen Hüften – wie ein gepolsterter Sattel. Sie erzitterte. Sie lagen Säte an Seite. »Ich danke dir, meine Gans«, plapperte er mehrere Male. Nach einer Weile liebten sie sich von Angesicht zu Angesicht. Sie bestand jedoch darauf, daß gleichzeitig mit seiner Männlichkeit auch seine Zunge sich in ihr bewegte. Sie ahmte die Stimme eines Juttahat nach. »Das Gefühl eines Kitzelns ist in meinem Kopf, mein Fürst, eine Bezwingung meines
Körpers. Das Kitzeln der Zunge einer Schlange.« »Ich liebe dich«, sagte er aufrichtig. »Das Fühlen des Leckens, Fürst Loxmith.« Sie klang wie eine Wahnsinnige. Doch sein Appetit hatte sich schon wieder geregt. Und ihrer! Ein solches Pulsieren in ihren Hüften … Später hämmerte Lyle an die äußere Tür und rief eindringlich. Als Elmer seinen Assistenten in das Ankleidezimmer einließ, nachdem er hastig in Nachthemd und Pantoffeln geschlüpft war, enthüllte die Öllampe in Lyles Hand Fetzen zerrissener Spitzennetze am Fensterrahmen und zersplitterte Glasjuwelen auf dem Boden. Lyle grinste Elmer süffisant an. Er schnupperte. Hatte er gezwinkert? Höchste Eile war geboten. Elmer und seine Frau mußten sofort unbemerkt aufbrechen. Das Haus ließ sich nicht mehr halten. Ein Mann von Elmers Fähigkeiten durfte Lucky nicht in die Hände fallen. Wenn Elmer blieb, würde Osmo mit Sicherheit den Krieg verlieren. Hauptmann Haxell war einverstanden. Sie würden das Fallgitter gerade so weit hochwinden, daß die Seeschlitten hindurchschlüpfen konnte, damit sie davonraste, solange die Nacht den See verhüllte. Auf einer anderen Bank im Bankettsaal saß der silberhaarige Sam Peller und sprach aufgeregt über einen Kommunikator mit einem seiner Kundschafter, der in Asikkala stationiert war. Ein Luftboot der Streifen-Isi hatte weitere Waffen angeliefert, und das in unmittelbare Nähe von Maananfors! »Sie dürfen auf keinen Fall näher als bis Asikkala kommen, habt Ihr mich verstanden, Pekka?« Sam trug eine adrette, neue blaue Lederkluft, mit dreifachen
Winkeln an den Schultern und roten Lippen ähnlich wie die Besprechertätowierung seines Fürsten am Bizeps. Die Winkel waren Rangabzeichen, die Königin Minni entworfen und verliehen hatte, weil Sam für die Kundschafter und Wachleute und die Stadtwache (die jetzt als die Blaue Wache bekannt war) Osmos Stimme darstellte. Sollte Sam zum General ernannt werden, in Luckys Viktor Aleksonis vergleichbar? Sollte der Steuerverwalter Septimus zu seinem Kammerherrn werden? Osmo dachte noch über diese Vorschläge seiner Braut nach. Burg Maananfors war jetzt ein königlicher Hof, soviel stand fest. Man hatte ja gesehen, wohin die demokratischen Tendenzen des Ha-Hauses geführt hatten! Doch Minni war eine neue Art von Königin, und die uneingeschränkte Unterstützung durch das Volk war unbedingt notwendig. Man wollte keineswegs die kapriziöse Autokratie Luckys kopieren, die Kaleva rücksichtslos in den Ruin und unter die Herrschaft der Aliens treiben konnte. Septimus war ein beleibter Trunkenbold. Im Gehrock und mit Kummerbund und gepuderter Perücke würde er absurd aussehen. Was Sam betraf, nun, Osmos Leibeigener hielt nicht viel von Tand und Titeln, obwohl ihm die Lippen als Abzeichen recht gut gefielen. Er hatte sich bereits dazu geäußert: »Wenn Ihr meine Meinung hören wollt, dann wäre die beste Zeit, sich General zu schimpfen, nachdem man einen Krieg gewonnen hat.« »Hört Ihr mich, Pekka? Unter gar keinen Umständen – auf keinen Fall – wollen wir, daß irgendwelche freiwilligen Juttahats auf unserer Seite kämpfen. Falls dieser Vorschlag irgendwann einmal die Runde machen sollte! Das wäre der Anfang einer Isi-
Herrschaft, wenn Ihr mich fragt …« Alvar in seinem alten dunkelpurpurnen Morgenmantel kritzelte penibel und mit großer Geschwindigkeit in ein schwarz eingebundenes Notizbuch. Wie winzige Insekten huschte seine pingelige Schrift über die Zeile, sprang zur nächsten und krabbelte dort weiter. Ein Stift war schnell verbraucht. Mit einem mißbilligenden Schnalzen der Zunge schob er die leere Mine in seine linke Tasche und zog einen Ersatz aus der rechten. Dieser Tage schien er kaum Zeit zu finden, die zugespitzten Röhrchen wieder aufzufüllen, von denen er Dutzende besaß, hergestellt in Burg Kippan, woher er auch Papier und Tinte bezog. Alvars Gewand war mit Wisch- und Tropfflecken übersät. Wie sollte er seine Chronik auf dem laufenden halten – wie sollte er die Spreu vom Weizen trennen –, wenn die Ereignisse sich pausenlos direkt vor seiner Nase abspielten? Während er schrieb, paffte er an seiner Tammiholzpfeife, trübte die Luft mit Schwaden, die nach Rum und Muskat rochen. Türen und Fenster waren fest verschlossen, falls irgendwelche Kuckucke vorbeischauten, um Pläne auszuspionieren. Der Blick auf Himmel und Stadt und See war ebenfalls getrübt. In ihrem tiefroten Gewand und mit der Krone aus Leder und Perlen hockte Minni inmitten der geschnitzten cremeweißen Blumen des Elfenbeinholzthrones und ließ die erhöhten Stiefel hin und her baumeln. Der lange Tisch, der früher das Podium getragen hatte, war verschoben worden, schon vor über einem Monat, und zwar in den Hauptbereich des Saales, damit der Thron angemessener zur Geltung kam. Ein kleinerer Tisch aus der Küche diente nun als Ersatz. In prinzenwürdigem Grün und Gold und mit Schleifenroset-
ten saß Osmo neben seiner Königin. Über der Lehne seines Stuhles hing der verstärkte Schutzmantel, jederzeit griffbereit, wie Sam mit Nachdruck durchgesetzt hatte. Ein kleinerer Zwilling lag wie ein brauner Hund zu den Füßen seines Frauchens auf den gewachsten Jalvenholzdielen. Osmo sagte: »Wir sollten lieber alles noch einmal durchgehen, Elmer.« (Und Alvar stöhnte auf, grinste dann und blätterte eine Seite um, den Schreibstift bereit.) »Und zwar, was den feinen Herrn Melator betrifft. Mir scheint, als Lyle dich zu Bett schickte, handelte er genauso durchtrieben wie später, als er dich wieder aufweckte.« »Oh, ich habe nicht geschlafen«, sagte Elmer, und Eva errötete. Minni kicherte, aber sie riß sich sofort wieder zusammen. (»Wir wollen doch keine Bettgeschichten hören, o nein, das ist privat …«) »Es war ein fast genauso durchtriebenes Doppelspiel wie Lyles Betreiben, die Ha-Häusler gegen meine Männer in den Kampf zu schicken«, unterstrich Osmo. »Zumindest wird es so von den Kuckucken erzählt. Ich glaube, er hat dich aus deiner Burg vertrieben.« »Aber es ist besser für mich, hier zu sein …« Elmer hatte bereits ausgeholfen, erst am gestrigen Tag, indem er die schwere Lichtkanone auf die Seeschlitten montierte und das Schiff damit zu einem Patrouillenboot umrüstete. Elmer wollte unbedingt, daß Sam die Streifen-Isi fragte, ob sie irgendwelche mobilen Metallautomaten liefern konnten, die er womöglich zu Roboterkriegern umbauen konnte, um Luckys unverwüstlichen hölzernen Soldaten etwas entgegensetzen zu können. (»Wozu sollten die Isi Metallautomaten gebrauchen,
wo sie doch schon ihre Juttahats haben?« hatte Sam erwidert. »Wenn sie über Metallmenschen verfügen, was meiner Ansicht nach bestimmt nicht der Fall ist, könnt Ihr Eure letzte Mark darauf verwetten, daß die Isi-Magi dann durch ihre Linsen alles ausspionieren würden. Das wäre der Anfang vom Ende, lautet meine Meinung!«) Wie viele Märker hatte Elmer bei sich? Nun, überhaupt keine. »Ich wäre nicht allzu überrascht, mein guter Elmer, wenn Lyle während deiner Abwesenheit deine Schwester dazu zwingt, ihn zu heiraten …« »Nikki zwingen …?« »… mit Luckys vollem Einverständnis, um ein legitimes neues Fürstengeschlecht zu etablieren. Das lag doch ohnehin schon die ganze Zeit in der Luft, zumindest was Lyle betraf, nicht wahr? Jetzt kann er die Gelegenheit beim Schopf packen. Ohne daß du ihm in die Quere kommst.« War Osmos Haltung Elmer gegenüber noch gönnerhafter geworden, seit er mit seiner Armee ins Ha-Haus einmarschiert war? Elmer errötete. »Lyle kann jedoch nicht als langlebiger Fürst auftreten.« Osmo blickte den flüchtigen Fürst von Loxmithlinna mit anerkennender Überraschung und Belustigung an. »Nun ja«, sagte er jovial, »lieber später als niemals. Ein Goldmädchen scheint ja wahre Wunder zu wirken.« (»Nein, darüber wollen wir gar nichts wissen …«) Eva hatte ihr überlebendes Auge geschlossen und wrang den Stoff ihres grauen Kleides über dem Knie, als wollte sie ihn erwürgen.
»Was meinst du damit?« fragte Elmer. Osmo legte besitzergreifend eine Hand auf die Armlehne des Throns aus Elfenbeinholz und schmunzelte. »Mein Gänschen, mein Leben, meine königliche Frau«, flüsterte er. (»Wir wollen es nicht wissen.«) Eva öffnete ihr Auge. Unvermittelt stand sie auf und nahm die Klappe ab, und dahinter … Osmo erschauderte und wandte den Blick ab, hinauf zum Hauptbalken des Dachstuhles, wo er glaubte, einen weißen Fleck aus Kuckuckskot auf dem purpurnen Holz zu entdecken. Eva sprach langsam und laut. »Jetzt bin ich nackt, nicht wahr? Die Eitelkeit liegt im Auge der Betrachteten. Und wo kein Auge, da keine Eitelkeit! Es sei denn, ein Mann sucht nach dem, was verloren ist. Es sei denn, er benennt es stumm mit seinen Lippen und ist bereit, die Wunde zu verehren, als Preis für … etwas anderes. Ich glaube, ich habe eine neue Form der Bewunderung entdeckt. Eine neue Form der Lust!« Ihre Worte waren bizarr. Minni blickte sie mit entsetzten Augen an und schüttelte langsam und eindringlich den Kopf. »Ein köstlich strahlendes Licht explodiert in mir, wenn die Stümpfe meiner Sehkraft erkundet werden.« »Meine Seele, mein Herz«, murmelte Elmer verlegen. Sein Herz mußte vor peinlich berührtem Stolz pochen. Wie unangemessen dieses intime Geständnis war, auch wenn es Osmo irritierte. »Es schmerzt mich nicht, wißt Ihr«, sprach Eva frohlockend weiter. »Der Schmerz ist verheilt. Es ist wunderbar. Ich bin so stolz. Ich bin so einzigartig. Mit Ausnahme«, und dabei warf sie
Osmo einen anzüglichen Blick zu, »mit Ausnahme von Aino Nurmi, nicht wahr? Wenn sie doch nur nicht tot wäre!« Osmo zuckte. »Tot«, wiederholte Eva. »Tot. Das ist es, was jedem Sterblichen bevorsteht, der kein Langlebiger ist.« Osmo wirkte erleichtert. Er strich sich über sein gewelltes kastanienbraunes Haar, das niemals ergrauen oder ausfallen würde. Minni kreischte ihre Schwester an: »Glaubst du, uns so für unsere Gastfreundschaft danken zu müssen?« »Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft. Ich habe vielleicht keine Burg mehr. Ich habe vielleicht kein Zuhause mehr. Aber ich fühle mich nicht mehr verstümmelt. Ich bin erfüllt, von Zungen erfüllt.« Eva kicherte irr, während Elmer sie in verlegenem Erstaunen angaffte. War seine Frau verrückt geworden? Doch ihr Anfall war von wundersamer Art. Alles was eingeschlossen war, quoll nun hervor. Ihm war schwindlig vor Jubel und Peinlichkeit. Maschinen wurden niemals verrückt. Vielleicht war die AllesMaschine ein verrücktes, unberechenbares Gerät? Nein, auch sie war eine rationale Vorrichtung, zwar mit Zufallsfaktor, aber hauptsächlich darauf programmiert, Waffen herzustellen. Maschinen waren nicht verrückt. Mußte er einen Hauch Verrücktheit annehmen, um sein Exil zu ertragen – an dem Osmo die Schuld trug! –, ohne sich durch Osmos Wohltätigkeit erniedrigt zu fühlen? War es das, was seine Frau ihm zeigen wollte? »Tot«, wiederholte sie. »Nicht daß ich selbst langlebig wäre! Wie könnte ich das sein? Aber … ebensowenig seid Ihr es, Prinz Osmo.«
»Nein, Evi …!« platzte Minni heraus. »Sie ist durcheinander, Osmo …« »Wußtet Ihr das nicht, Osmo? Hat Minni es Euch nicht gesagt?« Osmo starrte verständnislos. Elmer zerrte an Evas Gewand. »Was in Manas Namen meinst du damit?« »Eine Zunge in der leeren Augenhöhle überflutet mich mit Licht«, sang Eva. »Ich könnte vielleicht eine Dichterin sein«, erklärte sie. »Besitze ich nicht die richtige Qualifikation? Nämlich ein Auge! Nur daß die Dichterin tot ist und Ihr gar kein Langlebiger seid, Prinz Osmo, sondern mein Fürst Elmer.« Minni plapperte auf Osmo ein, der in seinem Sitz zusammensank. Das winzige Grübchen in Osmos Wange war weiß geworden, als würde ein unsichtbarer Nagel hindurchgetrieben, um seine Zunge festzustecken. Alvar kritzelte so schnell, daß er eine Feder zerbrach. Das Opfer verschwand in einer Tasche, und aus der anderen kam der Nachfolger. Rum- und Muskatnebel hüllten Osmos Vater in einen schimmernden Schein. »Entschuldigt mich«, mischte Sam sich ein, »aber das ist wirklich nicht sehr produktiv. Wartet, Pekka«, bellte er in den Kommunikator. »Nein, das ist überhaupt nicht effizient.« Sam stand auf. Er wippte auf den Zehen. Er war unschlüssig. »Ich habe nichts gehört. Niemand hat es gehört. Ich auf keinen Fall und auch sonst niemand in dieser Burg. Pekka, Ihr habt nichts gehört, versteht Ihr? Nichts. Das ist gut.« Sam zerrte an seinem gepflegten weißen Bart, dann entstaubte er die Winkel auf seiner Schulter. »Entschuldigt mich, aber ich muß die Raketenbatterien überprüfen. Muß nachschauen, ob alles in Ordnung ist.« Sam
stürmte zur schweren Tammiholztür, die in den Hof führte. Mit erhobenem Kopf überblickte Eva den Bankettsaal, als hielten sich darin Menschenmassen auf. Sie hatte ihre Würde wiedererlangt – und die Elmers. Sie hatte das Gleichgewicht wiederhergestellt. Das hatte sie doch, oder? Bedenken trübten kurz ihr sinnliches, unvollkommenes Gesicht. Osmo starrte gehetzt. Trotz der Wärme der parfümierten Luft zitterte er. Bevor Sam die Flucht gelang, schwang die große Tür auf, und ein strammer, verdreckter Kerl mit rötlichem Schnurrbart, der eine verschmutzte Uniform trug, kam herein. »Jurgen?« rief Sam. »Hauptmann Jurgen? Ihr seid am Leben? Ihr habt nichts gehört«, sagte Sam zum Neuankömmling, als wäre er ein ertappter Lauscher. Sofort eilte Sam an ihm vorbei. Jurgens Aufmerksamkeit galt nur dem Podium, wo Osmo wie betäubt zusammengesunken war, immer noch fassungslos und ungläubig. »Prinz – und Majestät – ich bringe Neuigkeiten …« Ein Sturzbach aus Nachrichten ergoß sich aus Jurgen. Alvar, dessen Stift raste, begann zu plappern, um irgend etwas mit den Worten zu tun, die er nicht rechtzeitig zu Papier bringen konnte, um sie irgendwo zu deponieren. Minni betrachtete ihren Schwiegervater mit trostlosem Mitgefühl. Auch ihre Lippen bewegten sich aus eigenem Antrieb, murmel-murmel. Entschuldigungen, Erklärungen, Ermunterungen. Eva hatte sich mit einem schwachen Grinsen wieder auf ihrem Sitz niedergelassen. Jurgen stockte. Er blickte von seinem Fürsten, der so gedankenverloren wirkte, zu den Wandteppichen. Durch Lichtungen und Laubwerk konnte sich der Hauptmann nach dieser Enttäuschung über seinen Empfang vielleicht davonsteh-
len, um sich zu verlieren. »Berichtet, Hauptmann!« rief Minni ihm zu. »Ja, Ihr müßt alles berichten.« Als sein Zwillingsbruder durch den Bolzen aus einer Armbrust getötet wurde, war Jurgen mit seinem Fahrrad vom tödlichen Handgemenge im Ha-Haus fortgesprungen. Johanns Tod hatte an Jurgen gerissen. Sein Tod schien ihn weit fortzuzerren, so daß er keine andere Wahl hatte, als seinem toten Bruder hinterherzuspringen. Wenn er doch nur Johanns flüchtigen Geist in der Zwischenphase einholen könnte, um ihn auf den Sozius zu setzen und ihn vom Ufer des Todes in die Welt zurückzubringen! Jurgen sprang einen Tag und eine Nacht lang. Manchmal schien sein Bruder ihm so nahe, im Blitz aus Dunkelheit zwischen einem Ort und dem nächsten. Wald, Seestrand, Straßen, in denen es vor hölzernen Soldaten und Luckys Wachen wimmelte. Jurgen bekam den toten Johann niemals zu fassen. Wenn es ihm gelungen wäre, was für einen Näkki hätte er dann aus der Zwischenphase hervorgezerrt? Er machte Bogen und Schlenker, sprang hierhin und dorthin, so daß er viel gesehen hatte, während die Belagerung zu Ende ging, die Befriedung erfolgte und das königliche Luftboot eintraf. »Lucky ist bereits dort, Prinz Osmo! Auf der anderen Seite des türkisfarbenen Sees. Ich hätte versuchen können, ein Attentat auf sie zu verüben. Aber ich wußte, daß ich es nicht durfte. Wir wollen doch nicht ihren Tod, stimmt's, damit sich womöglich das Mana zurückzieht? Wir wollen sie gefangennehmen
und sie in einem Kerker aus Granit einsperren, für den Rest ihres langen langen Lebens …« Jurgens Worte verursachten Osmo unglaubliche Schmerzen. Minni murmelte zu ihrem Gemahl. Hauptmann Jurgen war immer noch so weit von sich selbst entfernt. Er war durch die Abwesenheit seines Bruders desorientiert. Die Hälfte seiner Seele war entfremdet, in der Zwischenphase verloren. Er hatte so mutig Meldung gemacht, doch er litt große Qualen. »Besprecht mich«, flehte Jurgen. »Rettet mich davor, mich in der Zwischenphase vom Fahrrad zu werfen, um wieder bei Johann und meiner Garnison zu sein!« »Tu es!« zischte Minni. »Seinetwegen!« Osmo sammelte sich. Er atmete tief durch. Verzweifelt blickte er Minni an. Evas Enthüllung und Minnis atemlose Aufklärung hatten ihn völlig aus der Fassung gebracht. »Mein Entlein, mein Leben«, murmelte er. »Warum hast du es mir verschwiegen?« Als hätte er ihre Beteuerungen überhaupt nicht verstanden. Minni war erschüttert. »Ich wußte es selbst nicht, bis ich im Ha-Haus mit Eva sprach! Es ist so gemein, gemein – wieder einer von Mutters Tricks! Es niemals einer Tochter zu sagen, sondern nur dem Bräutigam. Sie sei verflucht! Wie hätte die Wahrheit dir helfen sollen, Osmo? Oder der Moral unserer Leute? Wie dumm, wie albern! Es falsch herum zu tun. Mana, steh uns bei! Aber wir haben uns geliebt, Osmo, es war aufrichtige und wahre Liebe. Und so wird es auch weiterhin sein! So wird es für immer sein! Nein, nicht direkt für immer … Aber ich habe dich davor gerettet …«
Osmo zog eine Grimasse. Dann schlug er sich auf eine Wange. Er starrte auf die verborgene Nische, in der er früher den Steinmann aufbewahrt hatte. Er packte die Lehnen seines Stuhles. Stärke, Stärke … Er mußte vor Elmer und seiner Frau Stärke zeigen – und vor seinem kritzelnden Vater. Langsam drehte er sich wieder zu seiner Gemahlin um. »Ja, du hast mich vor dem monströsen Mutanten-Magus gerettet, nicht wahr? Und vor der Falle des Goldmädchens … das ist wahr. Gemeinsam werden wir die Menschheit vor den Isi retten. Wir werden unsere Welt vor der verrückten Lucky retten. Gemeinsam.« Mit einem verbitterten Lächeln ergriff er ihre elfenhafte Hand. »Gemeinsam, mein tapferes Hühnchen.« »O Osmo …« »Ich vergebe dir. Nein, Vergebung ist zu fürstenhaft. Ich umarme dich, meine Freude.« »Erlöst mich, mein Prinz«, bat Jurgen. Der Hauptmann stand versengt und verschmutzt da, wartete hartnäckig, ohne irgend etwas anderes als sein eigenes dringliches Bedürfnis zu bemerken. »Minni, ich kann jetzt nicht die richtigen Worte heraufbeschwören. Ich werde es wieder können. Aber es ist ein solcher Schock …« Der Teppich war ihm unter den Füßen fortgerissen worden. Seine Hand griff nach einer Rosette an seinem Knie, als wollte er die Verzierung abreißen. »Die Vorstellung, daß ich mich für einen Langlebigen gehalten habe und daß ich damit grundfalsch lag! Irregeführt! Was für ein Trottel! Herz, sei still. Nein, sei nicht still! Schlag weiter. Ich finde nicht die richtigen Worte.«
»In diesem Fall«, sagte Minni, »muß ich einen Weg finden. Ich bin schließlich so etwas wie ein Magus. Und eine Königin.« Was konnte eine Minni tun? Sie rutschte vom Thron, ging in die Knie und öffnete die Schublade im Elfenbeinholz. Sie nahm die kleine, geschwungene, silberne Harfe heraus und bestieg wieder ihren Sitz. Ihre Stiefel standen auf der offenen Schublade. Finger verharrten über Wirbeln und Stimmschrauben. »Mein Hühnchen, du weißt nicht, wie …« Elmer war aufgestanden. Mit fasziniertem Ausdruck auf dem Pferdegesicht schlurfte er näher. Seine langen, knochigen Finger zuckten beinahe aus eigenem Antrieb. Osmo winkte ihm zu, sich auf Distanz zu halten. »Mana, hilf mir«, murmelte Minni. Sie schloß die Augen. Dann sprach sie in imitierter Alien-Sprache: »Mana-Hilfe für Minni …« Ihre Fingerspitzen strichen über das Musikinstrument. Ein klagender Akkord erklang. Eine solche Verwirrung mutierter Erinnerungen. Die gescheckte Statue ihrer verrückten Mutter, in hundert Einzelteile aufgelöst … die Fesselung und Knebelung in einem dunklen, beengenden Kabuff …das Springen durch leuchtende grüne Reifen, die an singenden Harfenbäumen hingen … das Winden von Schlangen auf dem Weg … ein Räubervogel, der seine Flügel verliert, das getrennte Weiterfliegen der Flügel, wie schillernde Seelenzwillinge … war dies das Bild, nach dem sie suchte? Orangefarbene Dünen unter einem violetten Himmel, in dem runde weiße Knochen schwebten … eine Heimatwelt der Isi. Das Eindringen in die Psyche eines Magus, das kauernde Liegen in seinem Maul … das Sprechen eines großen Bannes.
Das Werfen von Lassos aus Gedanken, das Eindringen in das Wesen dieses flehenden Menschenwesens, das Erlösen, das Befreien des Körpers vom Zwillingsflügel, der fortflog, der versuchte, den Körper zu einem dunklen Ufer mitzuzerren. Konnte ein Vogel mit nur einem Flügel fliegen? Konnte er den zweiten Bruderflügel abwerfen? Ja, ja. Das Springen und Hüpfen des Vogels. Sein Verschwinden, sein Wiedererscheinen. Aufhören! Jetzt läuft der Vogel, es schreitet über weiches, behagliches Moos … kein Fliegen mehr. Abschied vom Bruderflügel. Glaube, Jurgen. Beruhigung … Minni öffnete die Augen. Akkorde summten zärtlich, während ihre Finger über die Saiten glitten. Sie hörte auf. Wann hatte sie überhaupt angefangen? Ihr Schenkel juckte, und sie benutzte den Fingerring mit dem eingravierten Schwan, um sich damit Erleichterung zu verschaffen. Ihr Hinterkopf juckte ebenfalls, und wieder diente ihr der Ring dazu, den Anfall wegzukratzen, wobei die Krone aus Leder und Perlen durch den Stoß ihrer Fingerknöchel verrutschte. Der schmutzige Hauptmann stand schwankend da und schlief allem Anschein nach im Stehen. Ein stilles Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Verträumt hatte Eva ihre Augenklappe wieder übergestreift. Alvar nuckelte mehr am Ende seines Stiftes als an seiner Pfeife. Osmo zeigte dieselbe Zufriedenheit. Minni legte die Harfe in die Schublade zurück. So viele geschnitzte Blumen, kalevanische und fremdartige, umgaben sie, alle im gleichen Farbton des Elfenbeinholzes. »Was für Musik habe ich gespielt?« flüsterte sie. »Ich bin mir nicht ganz sicher«, murmelte Osmo. »Deine ur-
eigenste Musik vielleicht. Normalerweise bist du ein koboldhaftes Mädchen, aber dies war … heiter. Es ist besser, wenn ich um meine, hm, Sterblichkeit weiß – statt ein Narr zu sein.« Er klang so fröhlich und gar nicht frustriert, so daß Minni zu scherzen wagte: »Lieber Hm-Sterblichkeit als Unsterblichkeit, was? Minni war niemals unsterblich, also weiß ich gar nicht, was ich vermissen sollte!« »Wie wahr, mein Gänschen …« Osmo griff wieder nach ihrer Hand und spielte mit dem Schwanenring an ihrem Finger. Der Ring war enger gemacht worden, damit er ihr paßte. »Was meinst du, sollte ich ihn vielleicht wieder tragen?« fragte Osmo. »Nein, natürlich nicht! Er gehört dir. Und du gehörst mir.« Jurgen wachte auf. »Meine Königin …« Sein Tonfall war voller Ehrfurcht und Dankbarkeit. »Ihr solltet kein Sprungfahrrad mehr besteigen«, riet Minni ihm. »Ihr dürft es nicht tun. Geht und gönnt Euch eine Sauna. Eßt etwas und schlaft Euch aus. Ihr seid mein ganz besonderer Hauptmann. Haltet Euch von jetzt an von Sprungfahrrädern fern, damit das Springen Euch nicht an Ihr wißt schon was erinnert.« Jurgen salutierte und ging torkelnd davon, ohne Alvars Winken zu bemerken. Der Hauptmann war so hundemüde, daß er schlafwandelte. Eva erhob sich wieder und schlenderte auf ihre Schwester zu. Ihr eines Auge war feucht. »Was gibt es, Evi?« »Ich fürchte, ich habe dir große Probleme gemacht, Sprotte …«
»Macht nichts. Du hast einiges klargestellt.« »Ich wußte gar nicht, daß du Harfe spielen kannst.« »Ich auch nicht, um ehrlich zu sein. Monströser MutantenMagus«, murmelte Minni zu sich selbst. »Ich war in seinem Geist.« Eva beugte sich näher. Ihre Stimme war fast unhörbar. »Kann ich mir vielleicht ein paar Pfropfen borgen, Minni? Meine Tage sind noch nicht fällig, aber …« »Oh, ich verstehe … Es soll also deine Entschuldigung sein. Warum auch nicht? Wir alle brauchen Entschuldigungen, nicht wahr? Aber im Ernst: Hast du während deiner Monatsregel schon einmal ähnliche Wallungen verspürt?« Eva lachte leise. »Ihr seid eine wahre Freundin, Eure Majestät. Ihr seid so gütig.« Minni warf ihrer älteren Schwester einen skeptischen Blick zu. Volle Lippen, üppige Titten und dazu jede Menge Würde – bis ihr Gatte es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, sie auszupeitschen (was er nun nie wieder tun würde). Und bis man ihr das Auge ausgestochen hatte. Nach der Wallung schien ihre sinnliche Fülle wieder einigermaßen hergestellt. »Ich meine es ehrlich!« protestierte die große Schwester. »Was soll's, wenn man sein Dach über dem Kopf verliert? Wir wollen nur hoffen, daß es hier nicht noch einmal geschieht.« »Das wird es nicht.« »Natürlich wird es das nicht, Magustät. Nicht mit meinem ewigen Elmer und Osmo als Team. Diese Perlen stehen dir übrigens wirklich gut.« Minni korrigierte den Sitz ihrer Krone. »Ich werde mich gleich um die Pfropfen kümmern.«
Was hatte es mit dieser durchtriebenen Streitbarkeit zwischen Sariola-Schwestern auf sich? Minni behandelte die Angelegenheiten so taktvoll und gelassen, wie sie konnte. Sollte sie ihrer Schwester etwa eine Ohrfeige verpassen? Nicht jetzt, wo es zu einer Verständigung zwischen ihnen gekommen war. »Elmer«, sagte Osmo mühsam, »wir sollten wirklich etwas ausführlicher über Lyle Melators Motivation sprechen, nachdem unsere persönlichen Angelegenheiten jetzt … geklärt wurden.« Seine Stimme zitterte, wurde dann jedoch wieder sicher. Stärke, Stärke. »Zumindest weiß niemand außerhalb dieses Saales, daß ich kein Langlebiger bin.« Mit Ausnahme von Jurgen und Sam. Doch Jurgen war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um etwas zu bemerken. Sam hatte nichts davon hören wollen. Sam würde sich selbst zensieren. Osmos Vater würde nicht plaudern. Und was Alvars Kritzeleien betraf – wer konnte schon lesen und hatte gleichzeitig die Möglichkeit, einen Blick darauf zu werfen? »Ich schätze, niemand in Loxmithlinna weiß davon.« »Bis jetzt wußte ich selbst nichts davon«, sagte Elmer. »Ich meine jemanden wie Lyle.« »Ich denke doch, er weiß nichts!« protestierte Eva. Minni rutschte auf ihrem Thron hin und her. Sie hob eine Hinterbacke, als wollte sie einen fahren lassen. »Nun«, sagte sie fröhlich zu Eva, »damit hätten wir jetzt unseren Herzen Luft gemacht.« (»Nicht wahr?« fragte Minni sich selbst.) Osmo ließ nicht locker. »Also, Elmer, wird Lyle eine willfährige Marionette sein …?«
9 Kleine rote Stiefel im Himmel
Die Schneeköpfe flüchteten Hals über Kopf, so schnell sie durch den Schnee stolpern konnten. Phosphorschimmer glasierte die schneebedeckten Wiesen und die melancholische Landschaft mit dornengleichen Bäumen. Als Minkis Armee – und dann Ainos im Gefolge – zuerst diesen Weg entlanggekommen waren, war der Wald viel ausgedehnter gewesen. Überall waren Bäume. Näkki-Bäume, keine natürlichen! So viele waren bis zur Unsichtbarkeit geschrumpft. Nur noch vereinzelte Wachtposten waren übrig geblieben, als wäre die Region ein Schlachtfeld, das bereits durch Grausamkeit und Ungeheuerlichkeit verwüstet worden war. Die Landschaft hatte sich für eine Vernichtung geleert, der kein Schneekopf entkommen konnte, wie es schien. Hinter schmutzigem Dunst verblaßt, spendete die Geistersonne weniger Licht als der Widerschein des Kerzenpalastes, dem dieser letzte Ansturm des Krieges immer näher rückte, um zu seinen Ursprüngen zurückzukehren. Die kühle Luft war abgestanden und fettig, als wollte die gesamte Umgebung bald bitter aufstoßen, um sich von Schmerzen in den Eingeweiden zu befreien, von Blähungen im Bauch. Das unbeständige Perlmuttlicht enthüllte winzige Schneeköpfe, die sich verzweifelt durch Schneewehen vorankämpften. Der Anblick ihrer Uniformen, deren Rot durch die Entfernung, das Zwielicht und die Luftverpestung zu Kastanienbraun ge-
dämpft wurde, erregte in den Verfolgern den Drang, ihr ursprüngliches Rot wiederherzustellen, indem sie Blutblumen auf ihren Leichen erblühen ließen. Verrinmänner waren knurrend einem Nachzügler auf den Fersen und hatten bald ein neues Opfer gefunden. Betreßte Musikanten bliesen brennende Pfeile aus ihren Trompeten. Die Schneefelder bildeten eine weite, offene Fläche, doch sie waren rutschig und erschwerten das Vorankommen. Die Rotte bewegte sich hauptsächlich stockend und stolpernd vorwärts statt in schnellem Lauf. Aino strampelte sich ab. Sie trug ihren braunen Pelzmantel und eine Mütze mit Troddeln. Ihre Lungen schmerzten, als würden darin hartgefrorene Worte feststecken. Ihre fellbesetzten Stiefel sanken ein und hoben sich wieder, mit einer weißen Last beladen. Hätte sie so lange durchgehalten, wenn ihr Gewicht größer gewesen wäre? Solange sie mit dem Hauptteil ihrer Truppen mithalten konnte, hatte sie noch die Befehlsgewalt. Paula und Inga und die Echo-Schwestern zockelten in größerem Abstand mit einer Eskorte hinterher. Paula: der Mana-Zwilling der Königin von Kaleva, die Spiegelung von Lucky Sariola persönlich … Bruchstückhaft und verworren erinnerte Paula sich jetzt wieder, wie sie vor Jahrhunderten den Ukko betreten hatte, der der Erzeuger des Mondkindes war. Kennan hatte vorgehabt, sie auf seinem Sprungfahrrad in die gewöhnliche Welt zurückzubringen, als Geisel und Thronanwärterin. Paula war gerettet worden, aber Anna nicht … Nachdem Kennans Marsch zum Teich der verlorenen Worte unterbrochen und abgelenkt war, hatte der Schurke Anna festgehalten, als wären seine Finger an ihr
festgeklebt. Die flüchtenden Schneeköpfe hatten in weitem Bogen eine andere Richtung eingeschlagen, und die Verfolgung hatte sich über viele Tage hingezogen, mit Jagen, Lagern und Jagen. Wie Ainos Kuckucksmann berichtete, wurde Anna jetzt von Kennan auf den Beifahrersitz seines Fahrrades gefesselt befördert. Kennan befand sich immer noch in vorderster Front seiner erdbeergesichtigen Truppen und führte sie mit kleinen Sprüngen an. Er versuchte nicht, sich abzusetzen. Vielleicht hoffte er, daß sich das Blatt zu seinen Gunsten wendete. Vielleicht wollte er so lange wie möglich eine wandernde Barrikade aus todgeweihten Schneeköpfen zwischen sich und seinen Verfolgern wissen. Führte Kennan seine heruntergekommene Streitmacht zum Kerzenpalast zurück, um jene zu bedrohen, die dort Zuflucht gesucht hatten? Sollte Anna ihm sicheres Geleit garantieren, wenn er dieses Reich verließ? Er würde doch wohl nicht versuchen, sie mitzunehmen! Er hatte Paula verloren. Was wollte er jetzt noch mit Anna? Behielt er sie nur aus Lüsternheit? Konnte Anna, das Echo einer vor langer Zeit gestorbenen Frau, außerhalb des Mondkindes überleben? Bestimmt nicht. Aber wenn doch … Nun, ihr langlebiger Ehemann lag träumend in Beckburg. Irgendwelche Diener mußten den komatösen Mann bewachen – der sich Aino gegenüber einst so unfreundlich verhalten hatte. Verdammtes Fürstenpack! Jetzt wußte Aino zumindest, warum Beck sich der Völlerei hingegeben hatte. Er hatte dicke Fettpolster angelegt, um sie zu verbrennen, während er den längsten Traum träumte, der jemals geträumt worden war. Jetzt wußte
sie, warum er sich einer gewissen Frau gegenüber so rüpelhaft verhalten hatte, die ihn doch nur wegen ihrer eigenen Träume hatte befragen wollen. Beck hatte recht gehabt! Seine Bemühungen waren gerechtfertigt gewesen. Er hatte seine Anna gefunden. Und Anna hatte solche Freude empfunden – wie Paula nach ihrer Rettung berichtet hatte. Und gleichzeitig Bestürzung, weil Gunthers Traumkörper so masselos gewesen war … Wie könnte Aino jemals vergleichbare Freude empfinden? Mit Inga? Nein. Das würde bedeuten, sich süßen Illusionen hinzugeben. Sie schleppte sich weiter durch den Schnee. Ihr Brustkorb schmerzte. »Fang Kennan!« rief sie dem Verrinmann zu, der neben ihr lief. Knopfaugen funkelten. Sein nackter Schwanz peitschte hin und her und lupfte seinen ledernen Rock. Seine Schnauze prüfte die fettige, frostige Luft. »Laß mich zurück und lauf! Sag deinen Näkki-Genossen, daß sie vorauslaufen sollen. Kümmert euch nicht um die Schneeköpfe.« Geifer tropfte von seinen Lefzen. »Schneeköpfe müssen getötet werden!« Wer konnte sich ein solches Geschöpf als Leibwächter wünschen? Wer außer diesem rotbraunen Monstrum im Teich der verlorenen Worte? »Ihr gehorcht meinem Befehl! Wenn Schneeköpfe sterben, tauchen nur wieder neue Schneeköpfe auf.« »Nicht am selben Tag, Kriegerfrau. Heute werden wir sie alle erledigen.« »Kümmert euch nicht um sie! Haltet Minki Kennan auf! Ret-
tet Anna. Ich befehle es.« »Was ist, wenn ein Schneekopf Euch packt?« »Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, vor uns zu fliehen. Haltet Kennan auf!« Ein verschmitztes Aufblitzen. »Aber dann werden auch die Schneeköpfe anhalten, Herrin.« Triumphierend schüttelte die braungestreifte Bestie ihr Lichtgewehr. »Gebt mir das Gewehr und lauft! Lauft auf allen vieren.« Aino zwang sich dazu, den stinkenden Atem des Verrinmannes zu ertragen und griff nach dem Lichtgewehr. Nach einem kurzen Gerangel gab ihr Leibwächter die Waffe frei. »Ist sowieso besser, sie mit Krallen und Zähnen zu töten!« Schon stürmte er davon. Der Kuckucksmann hoppelte durch den Schnee und stocherte mit seinem Dreizack, als wäre es ein einzelner Skistock. »Du, breite deine Flügel aus. Flieg so schnell du kannst.« Jedes Wort war ein Eiskörnchen. »Zerre Anna vom Fahrrad, bevor Kennan seine Armee im Stich läßt.« »Tu es! So ist es gesprochen.« Gesprochen von einem einäugigen Mädchen. Die großen gelben Augen des Kuckucksmenschen musterten sie. Seine katzengleichen Ohren zuckten. Sein Schnabel schloß sich mit einem Klack. »So ist es besprochen«, kreischte sie. Ja, besprochen. Sie war die Befehlshaberin dieses wilden Näkki-Pöbels, sie war ihr Besprecher. Sie mußten ihrem Willen gehorchen. Ihr Wille stand jetzt fest: Rettung statt Rache. »Laß Minki Kennan entkommen, solange er allein flieht! Sag es weiter, während du fliegst! Ruf es weiter!« Ihren Monstren
mochte es jetzt gleichgültig sein, nachdem sie einmal von der Mordlust gepackt worden waren. Sie würden und sie mußten ihr gehorchen. »Gib mir deinen Speer und flieg.« Eine arktische Ruhe kam über sie. Viele Tage lang waren die Jagd und das Gemetzel oberstes Gebot gewesen. Jetzt war sie wieder Herrin ihrer selbst. »Gib mir deinen Speer.« »Gehört, gehört«, krächzte der Kuckucksmann. Er warf ihr behutsam den Dreizack zu. Sie fing ihn mit einer Hand auf. Der Kundschafter plusterte sein Gefieder in der Farbe von Grünspan auf und hüpfte schwerfällig mit ausgebreiteten Armen über die Schneefläche. Seine daunigen Membranen strafften sich. Er erhob sich, berührte wieder den Boden und erhob sich erneut. Ein Harlekin mit einer Armbrust eskortierte Aino, als sie weiter durch den Schnee watete, in der einen Hand das Lichtgewehr, in der anderen den dreizackigen Speer. Ein niedergemetzelter Schneekopf lag da. Blutblumen schienen den Schnee zu beflecken. War die Blutblume für Aino zum Zeichen ihrer Seele geworden, so wie es für Paula eine weiße Seelenblume war und für Inga die schlanke, azurne Schornsteinblume (wobei ihre Sommersprossen die Brutzelfliegen auf den Blütenblättern waren)? Die Blutblume statt des Gänseblümchens? Was hätte Aino sonst tun können? Hätte sie zulassen sollen, daß Minki Kennan weiterhin alles seinem Willen unterwarf? Konnte sie ihm alle Schuld in die Schuhe schieben? Es waren seine Aktivitäten, die das Mondkind verdorben hatten. Doch
das Mondkind ernährte sich von Manien, die das Mondkind selbst gefördert hatte. Hinter einem niedrigen Hügel strahlten die wächsernen Türme des Palastes in flackerndem weißen Feuer, das nicht verbrannte. Ruß und Gase stiegen flimmernd auf. In der Nähe dieses Ofens würde es keinen Schnee mehr geben. Ganz gleich, was für Zelte oder Notunterkünfte die Näkkis hergestellt hatten, die Zurückgebliebenen hatten es auf jeden Fall warm. Hier auf der geneigten Wiese, wo Aino zum ersten Mal innerhalb des Mondkindes ihr Auge geöffnet hatte, hatte der Frost den Bach, durch den sie einst gewatet war, fast ganz versteckt. Beulen aus glattem Eis mit Schneekappen verdeckten gestaltlose Gesichter in einem Fluß, der in der Erstarrung lebhafter wirkte. Reihenweise verneigten sich glasig blaue Köpfe. Rauhreif verlieh den Bäumen einen Heiligenschein. Mitten auf der Wiese liefen rotgekleidete Schneeköpfe durcheinander, rempelten sich gegenseitig an, tappten und stolperten und kreischten: »Bo-bo-bo-Boß!« Ainos Tiermenschen und Musikanten bildeten einen weiten lockeren Kordon. Sie ließen sich Zeit mit dem Gemetzel – hier ein Feuerpfeil, dort ein Strahl aus heißem Licht oder eine Bumerangsichel. Körper fielen und krümmten sich. Blutblumen erblühten überall auf der niedergetrampelten Schneewolle. Das langsame Massaker der verwirrten und ziellosen Näkkis war widerlich. Würde der Palast zu brennen aufhören und der Schnee tauen, wenn endlich alle Schneeköpfe ausgelöscht waren? Aino fühlte sich benommen und betrübt. Minki Kennan war verschwunden. Er war aus dem Mond-
kind herausgesprungen, während Anna immer noch an sein Fahrrad gefesselt war. Sollte Aino in den eisigen Bach springen? Sich Hals über Kopf in die Innereien des Mondkindes mitreißen lassen? Sich in die Tiefen des Sees vorkämpfen? Unter Wasser weiterschwimmen? Sich mit brennenden Lungen aufwärts arbeiten, um unter jenen steilen Klippen nach Luft und Leben zu schnappen? Währenddessen würde Annas Entführer ohne Mühe immer weiter fort springen! Es war sinnlos. Wie konnte sie Paula und die anderen Mädchen im Stich lassen? Sollte sie sie der Obhut dieser Näkki-Schlächterhorde anvertrauen? »Mondkind!« schrie sie und stieß eine Dampfwolke aus. Mitten im Gewühl der Schneeköpfe hielt einer inne, horchte und richtete sich auf. Durch den Kordon der Schlächter starrte er Aino an. Sein winziges Erdbeergesicht und sein weißer Schopf waren nicht von all den anderen Schneeköpfen zu unterscheiden. Auf der Brust trug er einen schwarzen Federbusch. Die Näkki-Brüder rings um ihn herum plapperten. Ihr Ruf war schwach zu hören. »Kleiner-Boß, Kleiner-Boß, was ma-mama-machen wir jetzt?« Einer seiner Nachbarn stürzte, während Blut aus seiner vom Licht durchschnittenen Kehle quoll. Kleiner Boß hob etwas. Eine Armbrust? Ainos Truppen hatten genug davon, aus der Ferne zu töten. Ein Verrinmann brach durch den Kordon. Plötzlich zog sich der ganze Kreis in sich zusammen. Aino versuchte sich zu ducken … ein Schatten. Dann schlug eine scharfe Faust in ihr Gesicht – tief in die leere Augenhöhle. Grelle Blitze explodierten in durchzuckter Finsternis.
Taumelnd stolperte sie rückwärts, rutschte aus und fiel. Funken des Schmerzes sprühten, während ihr Blickfeld unkontrollierte Sätze machte. Bilder verschwammen und blitzten auf. Ihre Finger klammerten sich um den gefiederten Schaft des Bolzens, der in ihrer Augenhöhle steckte. Im Schnee wälzte sie sich hin und her. Eine geisterhafte Blutblume befleckte das kaleidoskopisch rotierende Weiß. Ein starrer Dorn aus Feuer, ein glühender Schürhaken stach mitten hindurch bis ins Innere ihres Gehirns. Waren die Schreie, die sie hörte, ihre eigenen oder die der Schneeköpfe, die abgeschlachtet wurden? »Schmerz, hör auf!« schrie sie mit aller Kraft. »SCHMERZ, GEH FORT!« Die Schreie verbündeten sich mit den Schmerzen und verstärkten nur ihre Qualen. Schreien war Kraftverschwendung. Schreien war Verlust der Kontrolle. Sie mußte ganz ruhig sein, um sich auf den Kampf gegen den Schmerz zu konzentrieren. Ganz ruhig und entspannt. Schmerz war Feuer, und Schmerz war scharf. »Schmerz, sei kühl«, murmelte sie. »Schmerz, sei glatt. Sei still, sei ruhig. Laß nach. So ist es geflüstert.« Zum Glück ließen die Qualen nach. »Gelassenheit …« Sie wälzte sich im Schnee herum, packte den Bolzen und zog. Mit überraschender Leichtigkeit glitt er heraus. Eine weitere Blutblume erblühte. Als der Pfeil sie getroffen hatte, mußte er schon den größten Schwung verloren haben. Wie genau er gezielt gewesen war! Als wäre sein Flug von mehr gelenkt worden als nur der Treffge-
nauigkeit eines Schneekopfes. Sie stopfte Schnee in die verletzte leere Augenhöhle und erhob sich auf die Knie. Ihr Blickfeld flackerte. Die übrigen Schneeköpfe waren unter einem Gewühl aus Tiermenschen und Musikanten verschwunden. Kalte Lymphe tropfte ihre Wange herab. An ihren Fingerspitzen sah die Flüssigkeit rosa aus. Sie nahm mehr Schnee. »Blut, versiege sofort! Wunde, heile schnell!« Diese Betäubung in der einen Hälfte ihres Kopfes … Sie benutzte das zu Boden gefallene Lichtgewehr als Krücke und kam wankend auf die Beine. Der Harlekin tollte an ihre Seite. »Ach, Herrin!« »Hol mir einen Klumpen Eis aus dem Bach.« Er huschte fort und kam bald darauf mit einer gefrorenen Kugel zurück. Sie schüttelte den verfärbten Schneematsch aus der Augenhöhle und schob statt dessen den Augapfel aus Eis hinein. In Begleitung des Harlekins schlitterte und schwankte sie zum niedergetrampelten und blutigen Kampfplatz. Der Gestank von Kot drang ihr in die Nase. Schneeköpfe hatten ihre Gedärme in die Kniebundhosen entleert. Die Toten rochen, als wären sie bereits in Verwesung übergegangen. »Hört damit auf!« rief sie. »Es ist zu Ende. Es ist vorbei.« Sie blickte vom Gemetzel auf das winterliche Ödland. Die Türme des Kerzenpalastes waren immer noch in weißes Feuer gehüllt. Würde sich die Sonne erhellen, während immer noch Rauch aufstieg? Würde Tauwetter einsetzen? Würden Blumen erblühen? Würden die Bäume wieder in ihrer früheren Fülle erscheinen?
Tränen aus Schmelzwasser sickerten aus ihrer Augenhöhle. Die Eiskugel rutschte. Eine kühle Pastille würde schon bald herausgleiten. »Näkkis«, rief sie, »wir müssen das Dorf wieder aufbauen.« Im Dorf konnte Inga sie pflegen. Inga würde zu ihr eilen und ihr plappernd für die Erlösung danken. Aino würde antworten: »Aber ich habe versagt. Er hat Anna mitgenommen …« Sie konnte es sich nicht erlauben, sich pflegen zu lassen. Nicht, solange der Palast noch brannte. Sie mußte das Leuchtfeuer verstehen, zu dem Minki Kennans Traumburg geworden war. Es war ein unheimlicher Anblick, doch andererseits war es ein geradezu wunderschönes Schauspiel. Auf jeden Fall brillant. Von der Wiese, die ein Schlachthof war, blickte sie mit ihrem verletzten inneren Auge auf eine erschreckende Schönheit. Eis war ihre Brille. Minki war mit seiner Geisel gesprungen und immer wieder gesprungen. Zuerst hatte ihn die herbstliche Tönung der Bäume erstaunt. Das Laub war eine Palette aus Gelb, Orange und Scharlachrot inmitten immergrüner Veras und grauweißer Sylvestren. So viele große und kleine Seen, die nicht zugefroren waren! Es wurden immer weniger Seen … Jedesmal, wenn sie aus der Zwischenphase kamen, schrie Anna auf, als wäre das die erste Gelegenheit eines Ertrinkenden, nach Luft zu schnappen. Minki hielt in einem moosbewachsenen Tal an. Felsblöcke aus Granit waren rosafarbene Inseln inmitten des zarten Grüns. Eine Gruppe hoher, spitznadeliger Veras säumte die Senke mit schrofferem Grün. Sonnenlicht drang scheckig durch die Zweige.
Das Wunder, vom Winter in die Wärme zu springen – in herbstliche Wärme! –, führte zu der Frage, wieviel Zeit vergangen war, seit er sich in sein Versteck geflüchtet hatte. Der plötzliche Frost mochte mit Aino Nurmis Frigidität korrespondieren. Doch wenn der Raum im Schlupfloch schrumpfen konnte, während trotzdem alles die gewohnten Proportionen zu behalten schien, dann mochte auch die Zeit nach Belieben verrinnen … Zeit ist das, was du daraus machst, mein Junge, dachte er. Oder was etwas daraus macht! Wann war er in das Reich unter dem See der Schöpfung gesprungen? Ende Mai? Jetzt deutete das getönte Laub auf den frühen September hin. Der erregende Duft der Luft schmeckte nach Rastlosigkeit, nach der Endgültigkeit pikanter, sentimentaler Gelegenheiten, nach köstlich aufreizender Melancholie. Hatte er wirklich über vier Monate dort verbracht? Zuerst im Spiel, und dann im Krieg … Die Zeit war vorbeigerast. Anna war leichenblaß. Die Pfirsichhaut ihrer Wangen hatte ihren Schimmer verloren. Erkannte unser Minki graue Strähnen in ihren kohlrabenschwarzen Locken? Er war schockiert über diese Veränderung. Die natürlich durch den Schock der Ereignisse verursacht worden war. Der Unterschied zu ihrem früheren Aussehen war beunruhigend. Als er abstieg, um sie genauer zu betrachten, zuckte Anna zurück. Ein weiches Bett aus Moos: war es das, was sie sich vorstellte? Ihr Pelzmantel und ihre Stiefel mußten viel zu warm sein. Er lockerte seine messingbeschlagene Lederkluft mit den großen Aufschlägen und Manschetten. Er nahm seinen Lederhelm ab, um seine kastanienbraunen Locken atmen zu lassen,
und stopfte die Kopfbedeckung in eine Satteltasche. »Mein Kopf schmerzt. Mir ist übel«, beschwerte sich Anna. Ihr Atem roch muffig. »Euch ist zu heiß«, erklärte Minki charmant. »Das macht der Klimawechsel.« Er griff nach ihrem Pelzmantel, um ihn aufzuknöpfen. Sie wimmerte. »Ich werde ihn nur ein wenig für Euch öffnen, mein liebes Hühnchen.« Er konnte ihr schlecht den Mantel ausziehen, während ihre Hände noch an das Fahrrad gefesselt waren. Eine Saugfliege flog wackelnd vorbei, zog eine fadengleiche Röhre hinter sich her, die federnartigen Antennen zitterten. Vielleicht mußte man nach Insekten schlagen. Aber er durfte ihre Hände nicht befreien. Sie könnte einen Beutel mit Duftmischung gebrauchen. Dann roch sie vielleicht auch frischer. Als er ihren Mantel öffnete, enthüllte er ihr Bettlergewand, das früher einmal so entzückend ausgesehen hatte. Die Bänder waren jetzt nur noch schäbige, schmutzige Würmer. »Etwas frische Luft kann nicht schaden, was?« Und er zog ihr die Stiefel aus, die er ihr wegen des Frostes hatte geben müssen. Sie wäre nicht in der Lage, ohne weiteres davonzulaufen, falls sich eine Gelegenheit dazu ergab. »Mein Gunther wird Euch schrecklich bestrafen«, flüsterte sie heiser. »Er wird mich fürstlich belohnen, falls er wach ist, wenn wir bei seiner Burg eintreffen. Falls nicht, nun, dann werden wir weitersehen.« »Beckburg …« murmelte sie. So lange her, so lange Zeit. »Das liegt ein Stück südlich von Landfall, nicht wahr? Möch-
tet Ihr einen Schluck Wasser? Einen Happen zu essen? Ich werde Euch füttern.« »Mir ist schlecht.« Der Druck in seiner Blase erinnerte Minki an andere Notwendigkeiten. »Müßt Ihr vielleicht pinkeln, liebstes Mädchen? In der Satteltasche ist eine lange Leine. Ich fessel Euer Handgelenk und verspreche, nicht zu gucken.« Als hätte er ihren entzückenden Körper nicht bereits vor einiger Zeit gesehen und erkundet! Der frische Schimmer auf ihrer Haut war entschwunden. »Rührt mich nicht an …« »Ihr wollt doch nicht platzen und den Sitz naßmachen.« »Das ist mir gleichgültig. Ich fühle mich nicht normal.« »Das seid Ihr auch nicht, liebstes Hühnchen. Ihr seid ein Echo, das ich von den Toten zurückgebracht habe – für Euren Gunther.« »Ich bin kein Hühnchen. Ich fühle mich schrecklich alt. Mein Schädel schmerzt. Ein Loch ist darin.« Sie sabberte und wischte sich den Mund an der Schulter ab. »Unsinn.« Er durchwühlte schnell ihre Locken. »In Eurem Kopf ist überhaupt kein Loch.« Einige Haare lösten sich zwischen seinen Fingern. »Nun, ich gehe jedenfalls pinkeln.« Schweißsauger ließen sich auf ihren Händen nieder. Er schlug sie fort und ging dann, um sich mit einem starken bernsteingelben Strahl auf einem Moosbett zu erleichtern. Er ging zurück, beratschlagte sich aber nicht mit seinem Passagier, und sprang weiter.
Ein Dorf! Er hatte nicht damit gerechnet, mitten in einem Dorf herauszukommen. Blockhäuser mit Schindeldächern und Scheunen säumten eine unbefestigte Durchgangsstraße mit Wagenspuren. Silberschillernde Hühner flüchteten vor seinen Rädern. Spitzhunde bellten. Ein langes, schlankes graubraunes Schwein quiekte und stapfte davon. Einige Menschen hielten sich draußen im sanften Regen auf. Spitze Mützen und Pfeifen, Kopftücher und Schals. Zerlumpte Rangen tummelten sich hinten auf einem Wagen. Es war immer gut, Kinder dabeizuhaben, damit die Anwesenden sich mäßigten. Dies war kein besonders großes Dorf – eher ein großer Bauernhof. Trotzdem packte Minki den roten Lenkergriff, falls es nötig war, Eindruck zu machen. Es war schon lange Zeit her, seit er das letzte Mal menschliche Behausungen gesehen hatte. Nach dem Debakel in seinem Schlupfloch und dem vielen Herumspringen war er fix und fertig. Andernfalls wäre er vielleicht sofort weitergesprungen. Doch es gab in diesem Bauerndorf bestimmt etwas zu futtern … Ein Ruf ließ ihn erstarren: »Es ist aus dem Krieg gekommen!« Aus dem Krieg? Dem Krieg? Was wußten diese Bauern über den Krieg, den er gerade gegen die einäugige Poetin verloren hatte? »Es ist eines von diesen Sprungfahrrädern aus dem Krieg!« Gesten und Geplapper. Minkis Desorientierung war dafür verantwortlich, daß er nicht gesehen hatte, worauf die Leute ursprünglich konzentriert waren – nämlich einen Kuckuck, der auf einem Giebel hockte … »Helft mir!« rief Anna schwach. »Seid still!« Er drehte sich um, schlug auf ihre gefesselten
Hände, um einige Mücken zu vertreiben, die sich dort niedergelassen hatten. Es waren Aasmücken, oder? Offenbar hatte dieser Klatschvogel geplaudert. Jetzt war er verstummt. Er blickte aufmerksam und hatte die Ohren gespitzt. Wie konnte der Vogel irgend etwas über die Ereignisse im Reich unterhalb des Sees der Schöpfung wissen? »Ja, es ist eines von den Sprungfahrrädern.« Eines von den Sprungfahrrädern? Eines? Es hatte immer nur eine einzige solche Maschine gegeben, nämlich Minkis eigene. »Helft mir …« Ein jämmerliches Wimmern. »Wollt Ihr wohl still sein, Ihr dumme Gans? Hört auf zu schnattern.« Weitere Mücken hatten sich auf Annas Handgelenke gesetzt. Zitternd paddelten die Insekten mit ihren winzigen Beinchen, als wäre die Haut ein schleimiger Tümpel. Sie spuckte auf die Mücken. Ihr Speichel hatte eine grünlich-gelbe Färbung »He!« rief Minki einem Bauern mit zerfurchtem Gesicht zu, dessen Haar wie Hautlappen unter seiner Mütze herabhing. »Von was für einem Krieg hat der Vogel gesprochen?« Wie zu erwarten war, verhielten sich die Einheimischen ängstlich gegenüber dem schwarzen Kriegsfahrrad und seinem in Leder gekleideten Fahrer. Die Blicke auf den Beifahrer waren verstohlen. »Kommt schon, sagt es mir!« »Nun«, sagte der Bauer, »vom Krieg zwischen der Königin und der Rebellenkönigin. Zwischen Lucky, gesegnet seien ihre wilden Launen, und Prinz van Maanen und seiner Minni.« Der Mann nahm seine Mütze ab und wrang sie zwischen seinen Händen. »Wie kann der Kampf bis hierher schwappen,
Herr?« Ein Krieg zwischen Lucky und Prinz van Maanen? Eine Rebellenkönigin – die eindeutig nicht Paula war! Was war nur geschehen? Die Kinder waren vom Wagen gekrabbelt und begafften sein Fahrrad genauso neugierig wie der Klatschvogel auf dem Hausgiebel. »Ich bin ein Kundschafter«, verkündete Minki. »Für welche Seite, Herr?« »Fragt nicht!« »Nein, Herr.« »Helft mir«, flehte Anna. »Wie Ihr seht, habe ich eine Gefangene.« »Ja, das sehen wir.« Ein Spitz näherte sich und bellte das Fahrrad an. Ein Mann in grobem Hemd und Knickerbockern trat dem Hund in die Rippen, um ihn zu verscheuchen. »Erzählt mir mehr über das, was Euer Kuckuck gesagt hat. Ich muß wissen, was für Nachrichten sich verbreiten. Deshalb bin ich hier. Ich kann unverzüglich an jedem anderen Ort sein.« Diese Bemerkung veranlaßte mehrere Frauen dazu, Minki ihre offenen Handflächen zur Abwehr von Zauberei entgegenzustrecken. »Nun«, sagte der Sprecher des Dorfes, »Fürst van Maanen, der Besprecher, hat Minni Sariola entführt, sich mit ihr vermählt und sie zur Königin gekrönt und sich selbst zum Prinzen ernannt. Und dann hat er das Haar-Haus belagert, was immer das sein mag. Also hat Lucky dieses Haar-Haus aus der Luft angegriffen und bombardiert und zur Hälfte niedergebrannt. Außerdem hat sie hölzerne Soldaten. Wie wir gehört haben, hat
van Maanen jede Menge Raketen, die er von den Schlangen bekommen hat. Niemand weiß, wer gewinnen wird, ob Lucky, gesegnet seien ihre Launen, oder diese neue kleine Königin. Sie hat einen Monster-Mutanten-Magus gezähmt, was wohl der Grund sein dürfte, warum die Schlangen ihr helfen …« Dieser Augenblick wäre offenbar doch nicht die günstigste Gelegenheit gewesen, Paula dazu zu benutzen, Lucky aus dem Konzept zu bringen. Wie es klang, war Lucky bereits zur Genüge abgelenkt, so daß sie kaum Zeit finden dürfte, sich um Minki zu kümmern. Das bedeutete jedoch nicht, daß er einfach nach Niemi zurückkehren konnte, als wäre nichts geschehen. Mit Anna als Passagier nach Niemi zurückkehren? (Er mußte sie zuerst loswerden.) Zu Kiki-liki und zu einem brüllenden Balg zurückkehren? Wenn Lucky den Krieg verlor, schön und gut. Wenn sie gewann, würde sie vielleicht sehr starke Rachegelüste entwickeln. Also gleich weiter nach Beckburg? Um angemessenen Druck auszuüben oder dem schlummernden Traumfürsten ein Messer an die Kehle zu setzen? Anna hustete und räusperte sich. Sie war nicht mehr das Mädchen, mit dem er in seinem hübschen verlorenen Palast ins Bett gestiegen war. Die Frauen machten weitere Abwehrzeichen. »Sie ist ein Zombie …« »Tot und lebendig!« Nein, das konnte nicht wahr sein. Als Minki sich umdrehte, erschrak er. Mana, wie ihr Atem stank! Und ihr Gesicht war aschebleich. »Ihr werdet wirklich zu … einem Zombie«, murmelte er verblüfft.
Es ließ sich nicht mehr leugnen. Er war so blind gewesen. Daß er die ganze Zeit mit einer lebenden Leiche auf demselben Fahrrad gesessen hatte! Daß er eine lebende Leiche nach Beckburg bringen wollte! »Warum habt Ihr Euch nicht einfach in Luft aufgelöst, als wir aus dem Näkki-Land gesprungen sind?« fragte er sie verbittert. »Warum, warum?« Anna kämpfte um Worte – oder um Verständnis. »Mein Gunther bewahrt einen Teil meines Schädels in der Nähe seines Herzens auf …« »Tatsächlich?« All seine schönen Pläne – mit einem Schlag zunichte gemacht. Wohin konnte Minki ganz allein gehen, wo niemand auf die Idee kommen würde, nach ihm zu suchen? Aber ja, er wußte es! Hinauf in die Nähe des Nestes der Samt-Isi, wo er früher Juttis gejagt hatte … im Niemandsland, das keinem Menschen und keinem Alien gehörte! Ein verrückter Schamane, der sich mit Gewichten behängte, hatte dort eine Hütte mit vielen Vorräten. Er würde die Hütte ausrauben und dann tief im Wald der Mana-Nebel sein Lager aufschlagen. Unser Minki kannte sich dort aus. Die Juttis hatten ihn früher niemals aufspüren können. Und jetzt hatte er dieses Fahrrad. Wer würde auf die Idee kommen, im Niemandsland zu suchen? Es war fast so sicher wie sein Schlupfloch, trotz gelegentlicher Patrouillen durch Nichtmenschen. Annas Zustand mochte ansteckend sein. Mit den Fingerspitzen löste er vorsichtig ihre Fesseln. »Steigt vom Fahrrad. Ich lasse Euch frei.«
»Frei …?« Aasmücken umschwirrten sie. Was sollte ein Bursche wie Minki sonst machen? Man konnte nicht unbegrenzt nett und wohltätig sein. »Ich fürchte, unsere Wege müssen sich trennen, mein krankes Hühnchen. Humpelt heimwärts zu Eurer Burg. Für die Leute werdet Ihr tabu sein. Niemand dürfte Euch belästigen.« »Hört Ihr mich, Ihr Bauerntrampel?« rief er. »Dieses Mädchen ist tabu. Ich kann jederzeit unverzüglich zurückkommen.« Um ihr Mut zu machen, flüsterte er: »Euer Gunther kann träumen, wo Ihr seid. Wenn er bald aufwacht, kann er Euch auf halbem Wege treffen.« Anna stieg unbeholfen in Pelzmantel und zerfetztem Gewand ab. Ihre nackten Füße waren grau, als wären sie voller Staub. Ein paar Eiterungen sahen – durch die Rosafärbung – gesünder aus als der Rest ihres Körpers. Die Veränderung trat sehr rasch ein. Vielleicht konnte sie sich nicht einfach in Luft auflösen, sondern mußte zuerst verwelken und verrotten, um dann zu zerfallen. Vielleicht war sie kein richtiger Zombie, so daß sie niemals ihr Ziel erreichen würde. Vielleicht würde ihr Geist zerfallen, bis sie nichts mehr von ihrem Dilemma wußte. Anna breitete ihre ausgemergelten Hände aus. »Wie kann Gunther mich jemals so sehen wollen?« »Träume verzaubern«, sagte Minki galant. »Nur die Seele zählt.« Er fühlte sich beschissen. Aber was sollte er machen? »Es tut mir leid, daß ich Eure Stiefel fortgeworfen haben, aber sie hätten ohnehin nur gescheuert.« Er drehte das Fahrrad herum, bis es nach Norden zeigte. »Wohin geht Ihr, Minki Kennan?« Ach, während ihres Siech-
tums war sie ihm zu guter Letzt doch noch hörig geworden. Genug. Während die Dörfler gafften und ein verdammter Kuckuck lauschte, würde er ihr wohl kaum eine Antwort geben. Blau drehen. Fahrrad und Fahrer waren verschwunden. Ein Spitzhund heulte. Der Kuckuck krächzte: »Ukko-ukkoo.« Sanfter Regen rieselte herab. Und ein Kreis aus Dorfbewohnern umringte das uralte, zerfallende Zombie-Mädchen. »Sie ist kein gewöhnlicher Zombie!« Diese Menschen kannten sich mit Zombies aus. Kuckucke plapperten darüber, und Geschichten verbreiteten sich, wie unglückliche Abkömmlinge von langlebigen Fürsten dieses Schicksal erlitten. Vor allem wußten sie, daß der Zerfall eines solchen Menschen nicht so plötzlich eintrat. Die Verwesung sollte eigentlich eine gewisse Zeit dauern, auf die eine Phase der morbiden Stabilität folgte. Beschürzte Großmütter in langen Wollröcken trällerten Zaubersprüche. »Sauber-Zauber!« »Kecke-Näkki!« »Wirke-Zirkel!« Anna warf die Last ihres Pelzmantels ab und flehte den regnerischen Himmel an: »Aino, bring mich zurück in …« Wohin zurück? »Wohin gehört sie …?« »Hockt auf der Himmelssichel …!« »Sonst wird es unser aller Verderben sein …!« »Der Soldat sagte, er würde zurückkommen …«
»Das wird er niemals tun …« »Wir müssen die Hufspäne eines Herfs einen Monat und einen Tag lang tragen …« »Zuerst müßt Ihr Euer Herf fangen!« Ein dicker kleiner Mann mit Glatze und hüftlangem Hemd und breitem Gürtel stapfte herbei, genauso barfüßig wie Anna. Seine Füße waren riesig, so daß die Zehen wie Würste wirkten und ihre gelben Hornnägel wie die Rückenpanzer von Schalentieren. Er hatte etwas von einem Mutanten an sich … Dennoch hatte das Dorf ihn nicht ausgestoßen. »Stummel …!« »Stummel, der Ekstat …!« »Was sollen wir tun, Stummel …?« Der glatzköpfige Mann verdrehte die Augen. Er blähte seine Nasenlöcher und bekreuzigte sich. »Ich rieche Brand. Wir werden kleine rote Stiefel im Himmel tragen. Hübsche kleine rote Stiefel. Jeder von uns.« Er tanzte, er stampfte. Die Menge schwankte. Stummel sprach Anna an: »Tote Schwester, du bist gekommen, um nach deinen kleinen roten Stiefeln zu suchen! Aber jeder von uns wird sie eines Tages tragen. Du bist ja so wächsern wie eine Kerze. Ist es nicht so?« Er verdrehte ein Auge zu den zerrissenen Wolken hinauf. Ein blauer See im westlichen Himmel, ein weiterer im Norden. »Dieser Regentupfer hat nichts zu sagen. Sie wird kleine rote Stiefel tragen. Sie wird ein wenig tanzen. Wir brauchen kein Herfhorn, also muß deshalb keines geschlachtet werden. Holt Seile. Holt einen Pfahl. Holt ein Beil, um ein Ende des Pfahles
anzuspitzen, damit er aufrecht und gerade steht. Holt gutes trockenes Stroh. Holt Öl.« Einige Dorfbewohner eilten davon. Andere umringten Anna. »Du wirst kleine rote Stiefel im Himmel tragen«, versprach Stummel ihr. »Auch ich werde sie tragen, am Tag, wenn alle Tage enden, wenn die Uhr rückwärts schlägt, zwölf, elf.« Kulli taumelte vom kalkigen Stamm einer Sylvestra zum dicken Stamm eines Horsmabaumes. Sein langes blondes Haar schlenkerte hin und her. Eine Harfensaite erklang in seinem Kopf. Er torkelte in ein Mustabeerengebüsch. Er kratzte sich die Hände blutig und bekleckerte sie mit tiefrotem Saft, als er nach Beeren griff und sich damit den Mund vollstopfte. Sein Haar verfing sich in den Dornen. Wann hatte er den letzten Rest seines Käses gegessen? Gestern? Wie war er mitten im Wald an Käse gekommen? Ach ja, von diesem Näkki-Mädchen, das ihm hatte einreden wollen, sie sei Olga. Er erinnerte sich, wie er mit weit aufgerissenem Maul in den Käse gebissen hatte. Er wollte keine Scheiben mit dem Messer abschneiden, das in seinem Gürtel steckte. Zuviel Haut und Fleisch war schon aufgeschnitten worden. Der Käse hatte wie erstarrter Schweiß geschmeckt. Schweißsauger und Brutzelfliegen begleiteten ihn. Er mußte irgendwo in der Nähe des Bauernhofes seiner Kindheit sein. In der Nähe von Olga und Helga. Nein, Helga war verheiratet. In der Nähe von Mama. Der Traumfürst hatte Marietta vergewaltigt und sie dann aus seiner Burg verstoßen, als sie mit Kulli schwanger gewesen war. Nein, es war alles ganz anders gewesen! Der Traumfürst hatte Marietta verführt … Nein, das stimmte
auch nicht. Gunther hatte sich mit ihr getröstet. Marietta hatte sich mit Gunther getröstet. Ihr Kai war von Juttis getötet worden. Sie hatten Kullis Vater getötet. Kulli war ein junger Mann. Es machte ihm nichts aus, wenn seine Mutter und sein Onkel – ihr Schutzpatron – sich liebten. Oder machte es ihm doch etwas aus, tief drinnen, wohin nur der Klang einer Harfe reichen konnte? Der Traumfürst hatte Marietta verstoßen. Sie zurückgewiesen und verbannt. Nein, das hatte er nicht. Onkel Gunther hatte sich einfach nur schuldig gefühlt. Marietta war ihm nicht böse gewesen. In Gunthers Armen hatte sie eine großzügige Gabe erhalten, es war ein kleiner Glücksfall in ihrem Leben gewesen. Kulli war deswegen nicht böse. Er war es doch. Zutiefst. Verbittert. Dafür könnte er töten. Der böse Onkel hatte versucht, ihn umzubringen, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Oh, diese Harfe in seinem Kopf, die von Rache sang … Kullis Hände waren scharlachrot beschmiert. Der Griff des Messers drückte gegen seine Hüfte wie eine harte Männlichkeit. Er konnte es nur befriedigen, indem er es tief hineinstieß! Wenn Gunther tot war, würde es keine Zweifel und keinen Streit mehr geben. Mit Ausnahme von Mutter und Olga … Er durfte sie nicht sehen. Er durfte sich nicht in ihre Nähe verirren. Er hatte ein Näkki-Mädchen im Wald vergewaltigt. Olga würde davon wissen, weil beide den gleichen Namen trugen.
Kulli überblickte die Lichtung. Die Rinde der Bäume war ohne Zeichen. Nirgends rote Handabdrücke, die den Weg zeigten. Doch in seinem Herzen wußte er, daß er sich Beckburg näherte. Brutzelfliegen brummten summend die Botschaft: irr-hier, ziehsieh. Bald würde nur noch Klarheit und Einfachheit sein.
10 Der Traumfürst erwacht
Aus der Luft wirkte Beckburg wie ein sechsgliedriger Stern aus Granitrücken, der eine {BAROCKE KATHEDRALE} aus gelben Ziegeln einschloß. Das Zentralgebäude war {DEM MANATEMPEL IN TUMIO SEHR ÄHNLICH, ROGER}. Wex war niemals in dieser Hafenstadt mit dem Bischofspalast und dem puutaranischen Viertel voller Seemannsherbergen und Warenhäuser und Läden gewesen. Er und seine Wetware hatten jedoch Fotografien und Künstlerskizzen in Hülle und Fülle durchgesehen. »Wenn ich ein Puutaraner wäre, würde ich wohl am liebsten in Portti anlegen«, sagte er laut. Jener Hafen lag sechshundert Kims westlich von Tumio an der südlichsten Grenze des Reiches von Tapper Kippan, dem Waldfürsten. Portti befand sich nicht direkt an der Küste, sondern am Ende eines von steilen Klippen eingeschlossenen Fjordes {WOBEI DER PORTTIVUONO EINE GEOLOGISCHE BESONDERHEIT DARSTELLT, DA ES SICH UM EINEN URALTEN ERLOSCHENEN VULKAN HANDELT, DER VON EINEM URALTEN GLETSCHER AUSGEHÖHLT WURDE}. Das tiefe Wasser hinter der seichten Mündung des Fjordes bot hervorragenden Schutz vor Stürmen {ALLERDINGS SIND WEDER TUMIO NOCH PORTTI IM TIEFEN WINTER MIT DEM SCHIFF ZU ERREICHEN, WENN DAS MEER ZUGEFROREN IST}. ES gab jedoch von Portti aus gewisse Probleme bei der Umladung auf Binnenschiffe (während der breite MantijokiFluß genau in die Tumio-Bucht mündete). Daher fanden sich
notgedrungen viele rational denkende Seefahrer, die in Tumio anlegten, mit der Nähe des Mana-Tempels und mit den Priestern und Novizen ab. Die schwarzen Seemänner hatten ihre hölzernen Puzzles, um sich von Mystifizierungen und Manien abzulenken. Mathavan Gurrukal räusperte sich. »Beruht Ihre Vorliebe für Portti vielleicht auf Mutter Rakastas berühmtem Bordell, von dem so viel erzählt wird?« »Gewiß nicht! Was denken Sie nur?« »Ich habe mich, was Sie angeht, dasselbe gefragt«, sagte der Pilot, dessen geschorenes Haar nun die neue und schwarz glänzende Perücke des Erdagenten bildete. Er sprach mit sanfter Stimme weiter: »Was denken Sie nur, Mr. Wex? Das ist hier die Frage. Wir kreisen über dieser Burg im Landesinneren, und Sie stellen sich vor, ein Seemann zu sein, der übers Meer gefahren kommt. Ich frage mich, welche Assoziationskette dahintersteht. Ist es, weil ein puutaranischer Seemann Ihre Perücke nähte, und Sie sich fragen, wie Sie wohl wirken werden, wenn wir gelandet sind? Ach, einen Moment! Vielleicht spielen Sie auf die Architektur des Gebäudes unter uns an. Ich glaube, es ist derselbe Stil wie der berühmte Mana-Tempel in Tumio, nicht wahr?« Gurrukal gab sich wirklich alle Mühe, die Verbindung zwischen Wex und seiner Wetware zu verstehen. »Nicht, daß ich Tumio jemals mit eigenen Augen gesehen hätte«, fügte Gurrukal hinzu. Von der Wölbung der Cockpitkanzel eingerahmt erhob sich die Burg von einer Terrasse mit Balustrade, die von einer breiten Treppe durchschnitten wurde. An jeder Ecke des Gebäudes
ragte eine stämmige Bastion mit Zwiebelkuppel auf {VON KALLIPYGISCHER DIMENSION UND RUNDLICHKEIT}, wie ein dem Himmel entgegengereckter Hintern {EHER WIE EINE EICHEL}. Aus dem Hauptkomplex ragte ein tonnenförmiges Gebäude hervor, auf dessen Kuppel ein gedrungener Turm mit Kolonnaden stand, der eine weitere abschließende Kuppel von knolliger Rundlichkeit trug. Unterholz und sogar ausgewachsene Bäume erstickten die Fläche zwischen den Granitrücken und dem Fuß der Terrasse. In der jüngsten Vergangenheit waren offenbar vereinzelte Versuche unternommen worden, die wuchernde Vegetation zurückzudrängen. Sträucher hatten sogar die Terrasse selbst besiedelt und sich in Ritzen festgewurzelt. Fürst Beck hatte seinen Wohnsitz keineswegs in Schuß gehalten oder die Verteidigungsbereitschaft gewährleistet. Vielleicht war der Effekt am Boden ganz reizvoll – ein verwilderter Garten. Gurrukal lenkte den Schweber in einem weiten, langsamen Kreis herum. Inzwischen befanden sie sich über dem MätijärviSee, der für seine Bestände an Luckyfisch und Süßflosse bekannt war. Fischerschmacken trieben darauf, die Dutzende von fadengleichen Leinen im Wasser hinter sich herzogen, das mit den Schatten von Schäfchenwolken gesprenkelt war. Ein paar Kims südlicher lagen die Häuser der kleinen Stadt wie winzige Brotlaibe, die mit Ziegeln von gleicher rötlich-orangener Färbung wie der Rogen aus dem See überkrustet waren. Niedrige bewaldete Hügel, die parallel zum Mätijärvi verliefen, erstrahlten in ähnlichen Farben. Der See drang ein Stück zwischen zwei der Granitrücken vor, auf denen die Burg lag. Eine Mole führte zu einem Tor, und hinter dem Tor begann ein Weg durch das Gestrüpp. Auf der Landseite hatten sie ein weiteres Tor gesich-
tet. Beide Tore waren verschlossen. Bäume wuchsen bis in unmittelbarer Nähe der Einfriedung, so daß jeder, der einigermaßen beweglich war, die Mauern überklettern konnte. »Noch etwas, Mr. Wex. Sie sind ein wenig schwerfällig.« Wex' neuer grüner Gabardinemantel mit vielen Taschen hing über der Lehne des Sitzes, an den er angegurtet war. Die weiten Ärmel eines neuen purpurroten Hemdes waren hochgerutscht, so daß sich am Unterarm ein violetter Bluterguß zeigte. Gurrukal, der niemals eine ungeschickte Bewegung machte, hatte den Fleck – und andere Hinweise – mit seinen scharfen braunen Augen bemerkt. »Soll ich Ihnen sagen, was das ist, Mathavan?« Sollte Wex es ihm tatsächlich sagen? Oder sollte es ein Geheimnis bleiben, daß Wex keinerlei körperliche Empfindungen mehr hatte und keinen Schmerz empfand, solange sein anderes Bewußtsein die Kontrolle aufrechterhielt? (Und falls es diese Kontrolle lockerte, würde er sofort von Todesqualen niedergeworfen werden!) »Bitte erklären Sie sich, bevor wir in eine unerwartete Situation geraten.« Wex sollte diese ärgerliche, abscheuliche Eigentümlichkeit im Ärmel behalten. Ein tauber Kadaver zu sein, der über jede Bewegung nachdenken mußte, als würde er sich selbst über eine Fernsteuerung lenken! Ein Kapaun aus Gummi zu sein, ohne Gefühl, Geruch und Geschmack! {ICH ASSISTIERE IN DER FORTBEWEGUNG. DU WIRST NICHT UMFALLEN.} Das Bedürfnis, sich anzuvertrauen – das Bedürfnis nach menschlichem Mitgefühl –, überkam ihn. {Du VERTRAUST DICH MIR AN, UND ICH HEGE MITGEFÜHL.} Seine Wetware war die
Ursache. {NEIN, DAS HEILMITTEL, DER SCHUTZ, DIE PROPHYLAXE.} Diese dreifache Beteuerung schien übertrieben. »Mathavan, mein Nervensystem ist abgeschaltet. Ich kann sehen und hören, aber ich spüre überhaupt nichts! Wenn mein zweites Ich mich nicht isometrisch massieren würde, würde ich der Gangrän zum Opfer fallen …« Wex ließ all sein Leid heraus, während der olivgrün gekleidete Pilot weiterhin über Beckburg kreiste. »Ach, du meine Güte«, sagte Gurrakal. »Armer Mr. Wex. Lassen Sie mich nachdenken … Mr. Wex, wir Masseure wissen, daß Empfindung und Schmerz auf ihrem Weg zum Gehirn durch verschiedene Kanäle im Rückgrat geleitet werden …« War die Berührungsempfindung etwas ganz anderes als Schmerz? Hatte sein anderes Ich ihn zum Narren gehalten? »Wenn ich mit bloßen Füßen Ihre Wirbelsäule bearbeiten würde …« {DER SCHMERZ STECKT IM HIRN, ROGER. IST ES NICHT VORDRINGLICH, DASS WIR NACH KULLI SUCHEN?} JA, JA, natürlich. »Es juckt mir in den Sohlen, Ihnen zu helfen, Mr. Wex.« {KULLI, ROGER!} »Schon gut, vergessen Sie es!« »Schon gut? Es vergessen?« Wex' scheinbare Schroffheit hatte offenbar einen empfindlichen Nerv getroffen. »Wäre es Ihnen unangenehm, meine Fußsohlen auf Ihrer Haut zu spüren? Ich würde feine Seidenstrümpfe für Sie tragen, wenn wir welche an Bord hätten. Daran herrscht ein bedauerlicher Mangel. Vielleicht könnte ich ein profitables Geschäft eröffnen, indem ich solche Strümpfe statt Wollsocken an die Damen verkaufe!« Warum stand Wex' Mund offen? {WEIL DEINE NASENLÖCHER
VERSTOPFT SIND.}
Er zerrte schwarze Seide aus einer Innentasche. Er mußte seine Finger ansehen, um sie zu führen. Geräuschvoll schneuzte er sich die Nase. »Jetzt blasen Sie Rotz auf Seide!« »Bitte seien Sie nicht überempfindlich, Mr. Gurrukal. Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu beleidigen.« »Ich bin die Beherrschung in Person. Ich bin überhaupt nicht empfindlich. Großer Himmel, was sage ich da, während Sie unter einem solchen Mangel an Empfindung leiden! Ich bin es, der sich entschuldigen muß. Und ich muß meine Bewunderung für Ihre stoische Gelassenheit aussprechen. Kein Wunder, daß Sie mein Haar tragen wollten. Würde jemand, der darauf besteht, daß ihm mein Haar die Stirn und das Genick kitzelt …« »Ihr Haar kitzelt nicht.« »Nein, natürlich nicht. Was sage ich da? Würde eine solche Person es verschmähen, von mir getreten zu werden? O nein, sage ich mir. Ein Anhänger des Kalaripayit fühlt sich nicht beleidigt, ganz gleich, wie sehr man ihn provoziert.« Wie geschwätzig der Kerl geworden war! Wurde er nervös, wo er kurz davor stand, seine geographische Jungfräulichkeit zu verlieren? War ein Mana-Tick in seinen haarlosen Schädel gefahren? »Ach, dekadente Seidenstrümpfe an die Damen zu verkaufen ist vielleicht eine gute Idee. Doch ich glaube eigentlich nicht, daß ich mich hier niederlassen werde, wenn meine Dienstzeit vorüber ist. Wenn ich zu den Sternen reise – oder zumindest zu einem Stern –, sollte ich anschließend doch in der Lage sein, den bäuerlichen Mitbewohnern meines Dorfes von meinen elitären Abenteuern zu erzählen, nicht wahr? Von denen ich
nur sehr wenige erlebt habe, bevor ich Ihnen begegnete, Mr. Wex! Ihr Zustand bekümmert mich. Zu Ihrer Information: Im Augenblick rieche ich nach Kümmel. Ich habe vor einer Weile Kümmelkörner gekaut.« Wex seufzte. »Wir sollten lieber landen. Können Sie uns auf der Terrasse absetzen?« »Sie sieht breit genug aus.« Der Pilot musterte die Schäfchenwolken am Himmel und das Laubwerk am Boden. »Leichte Brise, geschätzte Windstärke drei. Es dürfte nicht mit Böen zu rechnen sein, die um runde Ecken wehen, obwohl solche Gebäude jederzeit Turbulenzen ausbrüten können …« Der Leibdiener, der die zwei Besucher empfing, Pasquil mit Namen, war erleichtert, als er hörte, daß sie von der Erdenburg gekommen waren. Er war besonders froh zu erfahren, daß Mathavan Gurrukal Mediziner war. »Ich bin überzeugt, daß Fürst Beck Hilfe braucht. Er scheint zu leiden. Er zittert im Schlaf. Er hat eine Verletzung erlitten, die ich mir nicht erklären kann. Und außerdem ist er beraubt worden! « »Verletzt?« fragte Wex. »Was ist ihm geraubt worden? Ist Kulli schon hier?« »Wenn Meister Kulli doch nur hier wäre …! Nein, ich habe ihn nicht gesehen, seit einem Jahr nicht mehr, seit mehr als einem Jahr sogar.« Pasquil war ältlich und hager. Sein graues Haar war mit einem schwarzen Band zu einem kurzen Zopf zusammengebunden. Die Muskeln seines Gesichtes und seines Halses standen vor, als wären sie ständig angespannt, vielleicht weil er sich um
eine kerzengerade Haltung bemühte. Schwarze Hosenträger aus Leder hielten seine schweren Kniebundhosen, und sein Hemd war weiß und gestärkt. Er hatte ausgeprägte Glupschaugen. »Könnte Kulli hier sein, ohne daß Ihr davon wüßtet?« »Unsichtbar, meint Ihr? Er würde sofort seine Hilfe anbieten und sich nicht verstecken.« »Ich vermute, Ihr habt noch keinen Tratsch über die Ereignisse in Loxmithlinna gehört.« Tratsch? Der Herr schlief und durfte nicht gestört werden. Dies war die Verwirklichung der Lebensaufgabe des Traummeisters. Über ganz Beckburg herrschte Stille. Das Personal hatte die Vorratskammern aufgefüllt und die Tore verriegelt, bevor der Meister in Winterschlaf gegangen war. Warum sollte ein Kuckuck sich im schlafenden Beckburg blicken lassen? Das Personal? Nun, das waren der alte Pasquil, die Köchin Bertha, der Diener Martin und sein Neffe Martin junior. »Der Meister braucht Hilfe, meine Herren. Dessen bin ich mir sicher …« Pasquil führte die Besucher durch einen zwielichtigen Korridor zu einer großen, aber düsteren Treppe. Es war schwer zu erkennen, ob einige der Fensterscheiben Risse hatten oder nur mit Spinnweben verhangen waren. Wex trat vorsichtig auf. Gurrukal stolzierte mit erhobenen Fersen, während eine Hand am Tammiholzknüppel ruhte, der in seinem Gürtel steckte. Marmorstatuen von Frauen flankierten den Fuß der Treppe. Fadenscheinige Kittel verhüllten ihre nackten weißen Gliedmaßen. Leinenkäfer mußten hier seit ein oder zwei Jahrhunderten ihre Mahlzeiten abgehalten haben. Dunkel gewordene Porträts
hingen an den Wänden. Pasquil zeigte darauf, während sie hinaufstiegen. »Das waren Fürst Becks zwei Töchter, die Anna ihm gebar. Sie waren schon lange an Altersschwäche gestorben, als ich geboren wurde … Dort drüben ist Fürst Becks Vater. Der Sensualist.« Er war kaum noch zu erkennen. Auf dem ersten Treppenabsatz stand eine weitere üppig gebaute Nackte, die in züchtige Lumpen gehüllt war. »Also war es Gunther Becks Vater, der diese Statuen erwarb?« fragte Gurrukal. »Der Meister hat sie verhüllt, bevor ich geboren wurde, um niemanden in Versuchung zu führen. Fürst Beck ist treu bis zur Selbstaufgabe. Seine Hingabe an seine tote Frau kennt keine Grenzen.« Falls Pasquil von einer Ausnahme wüßte, so würde er sie Fremden gegenüber nicht erwähnen. In den Sockel unter der Nackten war eine Maxime graviert. Wex blies den Staub fort und las laut: Verlangen strebt danach, ewig anzudauern. S. Sunnuntai »Das könnte ebensogut das Motto Eures Herrn sein! Ob er wohl weiß, was hier steht?« »Fürst Beck konnte lesen«, sagte Pasquil, »aber er hat zugunsten der Träume damit aufgehört.« »Was ist das für eine Verletzung?« »Ihr werdet sehen …«
In einem der oberen Gemächer, das mit geschlossenen Vorhängen verhüllt war, saß eine stämmige Frau mittleren Alters mit gerötetem Gesicht auf der Kante eines Himmelbettes und ließ ihre spitzenbesetzten Schuhe baumeln. Sie hatte es sich auf dem Bett nicht wie in einem mit Brokat bestickten Sofa bequem gemacht, sondern hielt eher Wache, da ihr Sitzplatz so weit erhöht war, daß sie über den Rand des gepolsterten Sarges blicken konnte, in dem die nackte Gestalt von Fürst Beck lag. Daneben befand sich ein geöffneter Sarkophag aus Tammiholz, der auf niedrigen Böcken stand … Der erste Blick fiel nicht auf die Apparatur, die den Traumfürsten versorgte, sondern auf die angrenzende purpurne Kiste, in der … ein menschliches Skelett lag. Ein Kabel, dessen Ende mit dem Brustbein dieses Skelettes verbunden war, führte zu einer zweiten Klemme, die lose auf Gunther Becks Brust lag. Eine Öllampe brannte auf einem dreibeinigen Tisch. Ihr Schein wurde von einem ovalen Spiegel reflektiert, der neben der Lampe lag. Das Licht schien gleichermaßen von der Lampe wie vom Spiegel auszustrahlen und erfüllte sanft den verhüllten Raum. Die Frau auf dem Bett trug ein weites graues Kleid. Ihr dunkles Haar war zu einem großen Knoten zusammengebunden, der von einer riesigen Haarnadel aus poliertem gelben Herfhorn fixiert wurde, die wie ein spitzer Fleischspieß wirkte. Schlüssel hingen an ihrem Gürtel. Ihre Handrücken waren mit kleinen blauen Schöpfkellen tätowiert, die wie Unendlichkeitssymbole aussahen. Am Hals war sie mit winzigen Krügen verziert, die scheinbar mit den Henkeln an ihren Ohrläppchen baumelten. Auf der Brust trug sie eine Brosche aus Horn, die die Königin
im Profil zeigte. »Bertha, Hilfe ist gekommen«, sagte Pasquil. »Eure Gebete wurden erhört. Sie sind aus Landfall, von der Erdenburg.« Bertha berührte das Amulett über ihrem Herzen. »Santa Lucky sei gepriesen.« Sie schaukelte vor Begeisterung mit den Füßen. »Der Meister ließ uns schwören, ihn nicht zu stören«, sagte Pasquil zu Wex und Gurrukal. »Aber seht ihn Euch nur an!« Beck lag nackt ausgestreckt zwischen Schläuchen und Skalen und einer Kalenderuhr und Energiezellen aus AlienProduktion. Drähte waren mit Klebestreifen an seiner Kehle und seinen Armen befestigt. Eine mit einer Sprungfeder gespannte Spritze voll gelblicher Flüssigkeit hing über seinem Schenkel. Violette Fäden markierten, wie weit sich die Haut ausgedehnt hatte und dann wieder geschrumpft war. Der Traumweise wirkte sehr ausgezehrt und bleich. Sein Gekröse sah aus wie ein häßlicher grauer Teichfrosch. Seine Brustwarzen waren aufgerissen, die Haut hing in Fetzen herunter. Sein Körper zitterte. Gelegentlich durchfuhr ihn ein krampfhaftes Zucken. Seine Augenlider kniffen sich epileptisch zusammen. Pasquil zeigte auf die zerrissenen Brustwarzen. »Da sind die Verletzung und der Diebstahl. Er trug Ringe in beiden Brustwarzen. An der Kette dazwischen hing das Medaillon, das ein Stück von Fürstin Annas Schädel enthielt. Dieses Kabel war an dem Medaillon befestigt. Wie Ihr seht, sind das silberne Medaillon samt Kette und Ringen verschwunden! Sie wurden gestohlen. Nicht von mir. Auch nicht von Bertha. Und ich schwöre, auch nicht von Martin oder Martin junior. Könnte ein Räubervogel hier eingedrungen sein, um gierig nach den
Brustwarzen des Meisters zu picken?« Bertha ließ sich mit einem dumpfen Geräusch vom Bett auf den Boden gleiten. Vorsichtig hob sie den leuchtenden, nebligen Spiegel neben der Lampe auf. »Ich habe versucht, in seine Träume zu schauen, so wie er manchmal in die Träume anderer Menschen blickt. Um zu sehen, was so schrecklich ist, daß er so heftig zuckt …« Sie legte den nutzlosen Spiegel wieder hin. »Ich habe Euch gesagt, dafür brauchen wir einen Schamanen«, sagte Pasquil mit Nachdruck. Bertha schüttelte den Kopf. »Soll ein Fremder in den privaten Träumereien des Meisters herumschnüffeln? Und Taiku Setala ist vorzeitig an Altersschwäche gestorben.« Pasquil deutete auf die Kalenderuhr. »Die planmäßige Zeit ist in wenigen Tagen abgelaufen. Dürfen wir noch so lange warten? Unser Meister stirbt.« Getrocknete jadegrüne Stränge aus Heilreben wanden sich um den Rand des Sarges und den Baldachin des Himmelbettes. Trotz des feinen Staubes, der aus den aufgebrochenen und geschrumpften Samenkapseln drang, roch das Gemach nach muffig-süßlicher Verwesung, gemischt mit dem Ammoniakgestank einer Latrine – wie Wex von Gurrukal dienstbeflissen zugeflüstert wurde. Berthas Hand berührte die Lucky-Brosche. »Er ließ uns schwören, aber jetzt wurden unsere Gebete erhört. Übernehmt die Verantwortung, ihn aufzuwecken, Ihr guten Herren, und ich koche Euch ein saftiges Festmahl aus Lamm. Das Stimulans ist in der Spritze.« Gurrukal drückte ein Tröpfchen auf eine Fingerspitze,
schnupperte daran und rümpfte die Nase. »Diese Flüssigkeit ist fermentiert. Sie würde bei einem so geschwächten Menschen zu einer Thrombose führen!« Wex und seine Wetware untersuchten die Skalen und Drähte und Energiezellen und Schläuche. {WIR KÖNNEN IHN MÜHELOS ABKLEMMEN. JEDOCH, WIE DER GURU SCHON SAGTE …} »Vergeßt vorerst das Festmahl, Frau Bertha«, sagte Gurrukal. »Mein Kollege ist beileibe kein Gourmet. Was Euer Meister braucht, wäre etwas warme, schwache Brühe. Und ich meine wirklich dünn und lau. Wenn wir ihn von all diesen Drähten und Schläuchen befreit haben, können wir den Sarg näher ans Bett rücken. Ich werde mich an den Baldachin hängen und ihn mit meinen Füßen massieren, um ihn aufzuwecken. Ich werde sehr vorsichtig auf seine Organe drücken.« Bertha griff nach der scharfen Knochennadel in ihrem Haarknoten. »Wovon um Manas willen redet Ihr?« »Ich rede von Massagetechniken, verehrte Dame. Öffnet die Vorhänge und ein Fenster und löscht die Lampe. Hier ist schlechte Luft. Und nur keine Angst vor Räubervögeln!» Nachdem er wieder zu Bewußtsein gerieben worden war, lag Gunther Beck unter einer Decke auf dem verblaßten GobelinÜberwurf des Bettes. Von sanften Satinkissen gestützt, hatte er durstig die Brühe von einem Löffel geschlürft, den Bertha ihm an die Lippen gehalten hatte. Mehr Brühe, mehr. Nein, er durfte nicht. Noch nicht. Er könnte sich angesichts des ungewohnten Übermaßes erbrechen, nachdem er monatelang gehungert hatte. Süße, schwermütige Luft wehte durch das schmale Schieß-
schartenfenster aus gelben Ziegeln herein. Das Sonnenlicht enthüllte die Schnitzereien auf dem schweren Kopfteil des Bettes, an den Pfosten und auf dem Gesims aus bernsteinfarbenem Harfenbaumholz. Fliegende Vögel (Schwebhühner und Harnien und langhalsige Wandervögel, die dünne Beine hinter sich herzogen) wechselten sich mit geflügelten Kobolden ab. Die Gesichter der Kobolde waren wie Kinder, die Augen fest verschlossen. Es waren träumende Seelen im Flug. Wer waren diese grüngekleideten Fremden in seinem Gemach? Der eine gelenkig, braunhäutig, so kahlköpfig wie ein Stein und mit gepflegtem Schnurrbart. Der andere mit züchtiger Miene und schimmernden Locken. Natürlich, sie kamen von der Erdenburg! Sie hatten ihn mit Wissenschaft, vernünftigen Ratschlägen und Fußmassage gerettet. Der Wecksaft hätte seine Blutgefäße zum Platzen gebracht. Gunther war so schlapp wie ein Schluck Wasser, aber sein Mitteilungsdrang war unwiderstehlich, auch wenn seine Kehle völlig heiser war. Er krächzte etwas von einem geheimen Refugium mit Echos und Näkkis, wo er seine Anna gefunden hatte. Er hatte seine Anna wiedergefunden. Zuerst hatte sie nicht reagiert. Aber später, später hatte auch sie ihn erkannt. Sie wurde gerade von einem Schurken namens Minki verführt. Das war der Augenblick gewesen, in dem sie ihn wiedererkannt hatte, während der Schuft damit beschäftigt gewesen war, sie näher kennenzulernen. Sie hatte ihn erkannt und sich nach ihm gesehnt. Doch er war so leicht wie eine Feder gewesen. Dann hatte es Krieg gegeben. Kennans Palast war in Flammen aufgegangen. Schnee war gefallen. Aino Nurmi – das war
die Poetin, die von van Maanen zum Tode verurteilt worden war – war mit Monstren in den Kampf gegen Kennan gezogen. Kennans Schneekopf-Soldaten hatten Anna und die blonde Paula Sariola auf den Schultern entführt, während der Lustmolch auf einem schwarzen Fahrrad fuhr, das springen konnte. Und Gunther hatte zusammen mit der Pfefferkuchenfrau im Teich der Träume gebadet … »Ach, Meister«, hauchte Bertha. »Gesegnet sei Lucky, daß sie Euch die Fürstin wiedersehen ließ!« Pasquil hielt seine ledernen Hosenträger fest, um in diesem herzzerreißenden und gefühlsseligen Augenblick Haltung zu wahren. Er und Bertha warfen verstohlene Blicke zu einer Reihe von Ölgemälden vor einem verwitterten Wandbehang. Eines zeigte eine junge Frau mit vollem ovalen Gesicht, mit glutvollen Augen und tintenschwarzen Locken. Auf dem nächsten war dieselbe Frau in mittlerem Alter zu sehen. Das dritte Porträt zeigte sie gealtert, grauhaarig und runzlig. Trotzdem schwelte immer noch dieselbe Glut in ihren Augen. »… habe meine Anna wirklich berührt, sie wirklich gehalten.« Gunthers Stimme klang wie rostige Scharniere. »Dieser gemeine Schuft Kennan sprang mit ihr aus dem Traumreich. In unsere Welt! Irgendwo …« Mehr Brühe. Er brauchte unbedingt noch etwas Brühe. »So lebhafte Träume«, flüsterte Gurrukal Wex zu. »Großer Himmel! Kriege und brennende Paläste und gigantische Pfefferkuchenfrauen! Und sogar Monstren. Und die Toten werden zum Leben erweckt. Nach so langer Zeit kann er nicht mehr zwischen Traum und Wahrheit unterscheiden.«
Gunther kämpfte sich vom Kissen hoch. »Ich muß losziehen und nach Anna suchen. Sie muß irgendwo sein. Sie versucht verzweifelt zu überleben.« Er konnte sich nur schwach unter der Decke hin und her wälzen. (»Wie entsetzlich, daß Fürstin Anna verführt wurde …«) (»Unschuldig verführt! Wir sollten nicht mehr davon sprechen, Pasquil.«) »Ihr müßt sie finden«, flehte der Traumfürst. »Rettet sie!« keuchte er. »Und schmückt die Burg für ihre Heimkehr!« »Wie düster und unordentlich es hier ist«, murmelte Gurrukal. »Er wird niemals damit gerechnet haben, daß seine Frau wirklich von den Toten hierher zurückkehrt. Und jetzt glaubt er doch daran! Welche Macht der Träume!« Pasquil beugte sich über den liegenden Kranken. »Aber wo ist Fürstin Anna, mein Fürst? Und wo ist dieser Kennan?« »Ich weiß es nicht.« »Euer Luftboot kann nach Fürstin Anna suchen«, sagte Pasquil zum Piloten. »Wo sollen wir, mein verehrter Herr, nach der Gestalt aus einem Traum suchen?« »Fürst Beck«, unterbrach Wex, »kanntet Ihr diesen Minki Kennan, bevor Ihr Euch schlafen legtet?« {EINE SEHR WICHTIGE FRAGE.} Gunther starrte den Erdagenten gequält an. »Jetzt kenne ich ihn«, knurrte er. »Ist Euch bekannt, daß Kennan Prinz Bertel ermordete?« Gunther versuchte sich zu erheben, jedoch ohne Erfolg. »Berti …? Berti wurde ermordet …?« {KENNAN FLOH AUF EINEM SPRUNGFAHRRAD, UM SICH IR-
GENDWO ZU VERSTECKEN.
BECK SAH DAS SPRUNGFAHRRAD IN SEINEM TRAUMREICH. WIE SOLLTE ER ZUVOR EINEM SPRUNGFAHRRAD BEGEGNET SEIN? GUNTHER BECK MUSS SICH WIRKLICH EINEN WEG IN DAS UKKO-KIND GETRÄUMT HABEN. KENNAN WAR DORT, UND JETZT HAT ER DAS UKKO-KIND VERLASSEN, NACHDEM ER DIESEN KRIEG VERLOREN HAT. AUSSERDEM HAT KENNAN EIN ECHO VON ANNA BECK AUS DEM UKKO-KIND MITGENOMMEN – FALLS DER TRAUM-FÜRST SICH NICHT TÄUSCHT. DIE MONSTREN SIND VIELLEICHT NUR PHANTASIEN, ABER IM WESENTLICHEN ENTSPRICHT ALLES DER WAHRHEIT. KENNAN WEISS, WO SICH DAS UKKO-KIND BEFINDET. EBENSO DIESE ECHO-ANNA. BECK IST DEM ECHO VON PAULA SARIOLA BEGEGNET. WO IST KENNAN JETZT? WO IST DAS ANNA-ECHO? BIN ICH IN GEWISSER WEISE DEIN ECHO?} »Das sind keine simplen Träume«, versicherte Wex Gurrukal. Der Pilot blinzelte verblüfft. Wex murmelte ihm zu: »Meine Wetware ist davon überzeugt, und ich sehe es ebenfalls so. Wenn wir nur Kennan und Anna Beck lokalisieren könnten! Sie wäre vermutlich eine zuverlässigere Informationsquelle als Kennan.« Gurrukal brummte: »Ich dachte, wir wären auf der Suche nach Fürst Becks Neffen und nicht nach einem toten Traum. So lautete die Mission. Unter diesen Voraussetzungen wurde Ihnen der Schweber überlassen.« »Kulli! Ja. Diese Leute müssen wegen dieses Neffen gewarnt werden. Vielleicht sollten Sie als Leibwächter hierbleiben … Wohin soll ich nur fliegen, verdammt?« Gurrukal legte eine Hand auf seinen Tammiholzknüppel.
»Ich denke, wir sollten nicht von unserer Aufgabenstellung abweichen, um einen Geist zu jagen, Mr. Wex.« »Dann also Kennan. Er weiß Bescheid. Das Ukko-Kind übt eine besondere Faszination auf Pen Conway aus.« »Sie hat mir nichts von irgendwelchen Ukko-Kindern erzählt.« »Mathavan, das ist es, wonach Lucky sucht! Nach ihrem eigenen Echo. Funken Sie Pen Conway vom Schweber an. Sie wird bestätigen, daß wir das tun sollen, was ich sage.« Wex zuckte zusammen. »DAS ZU TUN, WAS WIR SAGEN«, korrigierte er sich mit rauchiger Stimme. Vorsichtig zog sich der Pilot zurück. »Ich denke, es kann nicht schaden, einen Funkspruch zu senden …« »Es kann schaden! Die Isi könnten den Anruf auffangen. Ich verbiete Ihnen, Landfall anzufunken.« Wex' Hände erstarrten. Gurrukal befreite seinen glänzenden Schlagstock. »Sie mögen zwar mein Haar tragen, Mr. Wex, aber die Erdvertreterin hat mir gesagt, daß ich ein Auge auf Sie haben soll.« »Was streitet Ihr?« fragte Bertha. »Wie könnt Ihr es wagen, hier drinnen an Kampf zu denken?« Sie zog ihre lange Knochennadel aus dem Haar und hielt sie drohend hoch. »Tut, was der Meister verlangt! Bitte!« »Bertha, seid vorsichtig«, warf Pasquil ein. »Rücksicht auf Fürst Gunther ist das einzige, was zählt.« »Kennan, Kennan«, krächzte eine Vogelstimme. »Lauscht dem Lied, hört die Geschichte!« Ein Kuckuck hatte sich in der sonnenbeschienenen Schießscharte niedergelassen. Der Klatschvogel war vermutlich durch ein geöffnetes Fenster, das monatelang verhüllt und verschlos-
sen gewesen war, und durch das weiße Schwebefahrzeug angelockt worden, das auf der Terrasse stand. Als er Wex bemerkte, krähte der Vogel alarmiert. »Aaaark! Aaaark! Kuckucksmörder!« Bertha schob die Nadel wieder in ihren Haarknoten. Der grüngesprenkelte Vogel lief im Kreis herum und plusterte erregt das Gefieder auf. Würde er bleiben? Würde er flüchten? »Aaaark!« {GEH IN DECKUNG, ROGER. ER DARF DICH NICHT SEHEN.} Hastig kauerte Wex sich hinter das Himmelbett mit all den geschnitzten Vögeln. »Sing dein Lied, erzähl deine Geschichte«, bat Bertha. »Niemand will einem Kuckuck Leid antun.« »Kennan«, keuchte der Traumfürst heiser. Der Vogel schien verwirrt vor Schock. »Ukko-ukkoo!« gackerte er. »Erzähl die Geschichte von Minki Kennan. Aaark. Kaaaark. Minki Kennan kreuzte mit dem Sprungfahrrad im Dorf Kaukainkylä auf. Kaaark. Er ließ dort eine Dame mit lockigem Haar zurück. Aaaark. Dann machte er sich wieder davon.« Desgleichen der Kuckuck. Flatternd flog er fort. »Kuck-kuck, komm zurück!« rief Bertha ihm vergeblich nach. Gunther wand sich schwach auf dem Bett, doch seine Stimme klang rauh. »Anna, meine Anna, wir kommen, um dich zu holen …« Wex stand wieder auf. {KAUKAINKYLÄ IST EIN WINZIGES DORF ZWEIHUNDERT KIMS SÜDÖSTLICH VON NIEMI. ES GIBT NOCH EIN KAUKAINKYLÄ WEIT IM WESTEN VON BURG KIPPAN.
DOCH DIE KENNAN-FAMILIE HAT DIE HOHEIT ÜBER NIEMI.} Also war Kennan auf dem Weg nach Hause. {NICHT NOTWENDIGERWEISE. LUCKY DÜRFTE NACH SEINEM BLUT DÜRSTEN.} Warum hatte Kennan Anna Beck in Kaukainkylä zurückgelassen. {DAS WERDEN WIR ERFAHREN, WENN WIR SIE ABHOLEN. ES IST WICHTIG, DASS WIR SIE ZUERST ERREICHEN. FÜRST BECK UND SEINE DIENERSCHAFT MUSS IHRE RETTUNG ALS GEHEIMNIS BEWAHREN. SIE WEISS, wo DAS UKKO-KIND IST. VIELLEICHT SOLLTEN WIR ANNA BECK AUS SICHERHEITSGRÜNDEN LIEBER NACH LANDFALL BRINGEN.} »Hört mir zu«, sagte Wex, »wir werden unverzüglich nach Kaukainkylä südöstlich von Niemi fliegen und Funkstille halten …« »Nehmt mich mit«, flehte Gunther. Diese Idee war grotesk. »Ich brauche vermutlich mehrere Tage lang keinen Schlaf.« Das hieß wohl, daß er jetzt wachsam und voller Tatendrang war, wie? So frisch wie der junge Tag, was? Sogar Pasquil und Bertha schüttelten den Kopf. »Ihr müßt zuerst wieder zu Kräften kommen«, sagte die Köchin. »Was wird Fürstin Anna denken, wie wir uns um Euch gekümmert haben? Oder wie Ihr Euch selbst gepflegt habt?« »Können wir draußen privat darüber diskutieren?« sagte der Pilot leise zu Wex. Wex nickte. »Die Geheimhaltung ist äußerst wichtig, Fürst Beck. Und Pasquil. Habt Ihr verstanden? Die Isi dürften sich für Fürstin Becks Wiedererscheinen interessieren und woher sie kommt.« »Die Kuckucke wissen bereits davon …«
»Das ist richtig, Mr. Pasquil. Aber sie wissen nichts von unserer Rettungsmission. {DIESE BURG IST PRAKTISCH OHNE VERTEIDIGUNG, ABGESEHEN VON GESTRÜPP.} Gibt es weiteres Wachpersonal, über das Ihr verfügen könnt?« »Da wären Martin und Martin junior.« »Wie steht es mit Wachleuten aus der Stadt? Sind sie Euch nicht zur Treue verpflichtet? Außerdem muß ich Euch warnen. Nehmt Euch vor Kulli in acht, falls er zurückkommt. Laßt ihn auf keinen Fall in die Nähe von Fürst Beck. Er wurde von den Isi beeinflußt und gegen seinen Onkel aufgestachelt. Er hat versucht, dem Bann zu widerstehen, aber er ist vermutlich wahnsinnig. Wenn es geht, solltet Ihr ihn überwältigen und einsperren.« »Kulli …?« kam es pfeifend von Gunther. »Das kann nicht wahr sein«, sagte Bertha. »Sie haben den Meister geweckt«, sagt Pasquil. »Sie werden die Herrin holen, der wir …« Er blickte unbehaglich auf den Sarkophag. »Der wir niemals leibhaftig begegnet sind. Warum sollten sie Kulli verunglimpfen?« »Ach, wir hätten Kullis Hilfe so gut gebrauchen können …« »Ich werde Euch sagen, wie hilfreich er ist«, sagte Wex. »Oder eher, wie unbeherrscht er geworden ist. Er hat Fürstin Loxmith ein Auge ausgestochen.« Schockiert rückte Bertha ihre Haarnadel aus Herfhorn zurecht. »Ich werde an der Seite des Meisters sitzenbleiben. Niemand wird an mir vorbeikommen.« Die Knochen lagen im Sarkophag, und ein Kabel war an ein Brustbein angeschlossen. Gunther legte sich geschwächt in die Kissen zurück. Der übelriechende Winterschlafmonitor war wie
eine Kapsel, die von einer einzigartigen Reise nach Irgendwo und Anderswo zurückgekehrt war, als wäre er darin über die Himmelssichel fort und wieder zurück gesegelt. Dieses Gemach benötigte dringend eine Reinigung. Wie die gesamte Burg. Würden die zerlumpten Gewänder von den sinnlichen Statuen gerissen werden, damit eine leidenschaftliche Heimkehr gefeiert werden konnte? Knapp fünf Minuten später wurde Mathavan Gurrukal neben dem stummelflügligen Schweber auf der Terrasse von Wex sowie seiner Wetware bedrängt. »Das Ukko-Kind ist das goldene Ziel …« »Also dürfen Sie den Funk nicht benutzen …« »Wir wollen uns nicht streiten …« »Nicht wenn wir Meister in Tai-Chi, Aikido und Karate sind.« »Ich habe das Recht, dieses Fahrzeug zu befehligen. Wir dürfen keine Zeit verlieren, Mathavan …« Der Pilot strich sich mit der Hand über seinen geschorenen Kopf. »Ein goldenes Ziel, Mr. Wex? Und die Erdvertreterin wäre einverstanden …?« »Erweitern Sie Ihren Horizont, Mathavan. Deswegen haben Sie den weiten Weg zu den Sternen gemacht.« »Was ist, wenn Kulli in der Zwischenzeit hier auftaucht?« »Man wird ihn überwältigen.« Von Bertha, diesen Martins und vielleicht weiteren Leuten aus der Stadt. »Er wird desorientiert und konfus sein.« »Das Luftboot ist abgeflogen«, sagte Pasquil zu seinem zusammengesunkenen Fürsten. Er verließ die Schießscharte und
näherte sich dem Sarg. »Sollen Martin und Martin junior die Überreste Eurer Fürstin in die Gruft zurückbringen?« »Ja … ihre Überreste … sie darf sie nicht sehen. Wann werden die Erdleute mit Anna zurück sein? Wie schnell ist ihr Schweber geflogen?« »Schnell wie der Bolzen einer Armbrust. Schneller.« »Ah«, seufzte Gunther. »Als Anna und ich fünf Jahre verheiratet waren, gingen wir gemeinsam auf die Jagd, wo der Mätijärvi am stärksten anschwillt. Wohin sind wir nicht gemeinsam gegangen, sie und ich?« Es flatterte. Dann hockte der Kuckuck wieder auf dem Fenstersims. Seine gelben Augen sahen sich mißtrauisch im Gemach um. Als er zufrieden feststellte, daß sich nur Gunther, Pasquil und die Köchin hier aufhielten, verkündete der Vogel: »Ukkoukkoo, hört, hört!« Er krächzte etwas wie im Selbstgespräch, dann fuhr er fort: »Minki Kennan ließ dort eine Dame mit lockigem Haar zurück. Dann wurde sie zu einer lebenden Leiche …«
11 Eine Geburtstagsfeier für die Mädchen des Schreckens
Lucky war in die Panzersuite im Südflügel des verwüsteten HaHauses gezogen, wo Elmer Loxmith gewohnt hatte, bevor er bei Nacht und Nebel geflüchtet war. Sie hatte sämtliche Seide von den Wänden entfernen lassen, so daß die gußeiserne Täfelung freilag. Die Seide war zu Bettlaken für Juni und Jatta und die anderen geworden. Die Königin wollte mit den Fingern auf die Metallwände trommeln, während sie im Schlafzimmer und im angrenzenden Empfangsraum auf und ab ging. Es war fast wieder wie damals vor Jahrhunderten in der Katarina. Der Westflügel war ausgebrannt. Granaten und Torpedos hatten auch anderswo Beschädigungen angerichtet. Jedes Fenster des Ha-Hauses hatte das Glas verloren. Infolgedessen mußte Loxmithlinna einen Teil des Glases seiner eigenen Fenster abgeben, damit der Südflügel so schnell wie möglich wieder verglast wurde. Es war kaum eine prunkvolle Renovierung, aber der Herbst hatte begonnen. Seitdem der Südflügel zum Hauptquartier der Königin geworden war, hatten Lokka und der gelähmte Henzel und Nikki und Lyle Melator und weiteres Personal und die Diener in das Obergeschoß im Nordflügel umziehen müssen. Elmers Vater war jetzt in seinem Rollstuhl von der Außenwelt abgeschnitten, da es dort keinen Lift gab. Die neue Unterkunft der Familie Loxmith war luftig, ganz gleich, wie viele Vorhänge drapiert wurden. Bald würde es sehr kühl sein. Sie würden in Fellen
schlafen müssen und den ganzen Tag lang Felle tragen müssen. Die meisten der überlebenden ehemaligen Mieter des Westflügels waren in die Stadt geflüchtet, um dort um Unterkunft und Almosen zu bitten. Und was war mit der Freiwilligen Verteidigung, die die Seite gewechselt hatte? Hauptmann Rolf Haxell (den rechten Arm in einer Schlinge) schwor Lucky einen Treueeid, der von Serlachius abgenommen wurde. Zum Zeichen, wie ernst es ihm damit war, einer neuen Sache zu dienen, entsagte Haxell seiner Gitterohrringe. Ein Teil des Treueschwures hatte darin bestanden, dem Hauptmann die spiralige Schnecke eines Innenohrs in Silber zwischen einigen Sternen auf eine Wange zu tätowieren, eine vereinfachte Version des Ukko-Ordens, den General Aleksonis an seiner Uniform trug. Sozusagen eine Ehrerweisung für den Seitenwechsel! Außerdem ein hervorstechendes Zeichen, daß Haxell von jetzt an nur auf die wahre Königin hören würde. Die wahre Königin? Es bestand doch überhaupt kein Zweifel an Luckys Status! Bedauerlicherweise erwies sich, daß Maananfors äußerst gut verteidigt war, besser als man erwartet hatte. Vielleicht hätte man einen erbitterten Widerstand vorhersehen sollen, angesichts des Massakers an der Garnison … Und dann auch noch all die höllischen Waffen der StreifenIsi! In den bewohnbaren Flügeln, im Bankettsaal und im Landhof (wo ein Hügel aus zusammengefegtem Glas glitzerte) wimmelte es in diesen Tagen geradezu vor Menschen. Soldaten aus Sariolinna, aus Fleisch und aus Holz. Jaegertruppen und Wach-
leute aus Luolalla. Die Freiwillige Verteidigung. Der AußerHaus-Platz, von dem man die blattlosen Köverbäume entfernt hatte, war zur Landestelle für Luftboote und Flugkapseln geworden. Eine bewaffnete Kapsel war bereits über Maananfors durch eine Rakete verlorengegangen. Der kleine Isi-Gleiter war nach Loxmithlinna zurückgetaumelt, bis er unbeholfen am Seeufer bruchlandete. Vielleicht hätte Elmer Loxmith einen Weg gefunden, das Gerät zu reparieren … wenn er verfügbar gewesen wäre! Und Lyle Melator? Während sie mit den Fingerknöcheln gegen die Wände des ehemaligen Ankleidezimmers trommelte, das nun ihr Büro darstellte, wartete Lucky auf Elmers früheren Assistenten, der Haxell dazu überredet hatte, sich zu ergeben – mit tödlichen Folgen, was van Maanens Anhänger betraf. Ein Akt des Verrates? Aber nicht der Heimtücke! Ganz im Gegenteil. Nachdem Lyle von Bekker hereingeführt worden war, blieb der hölzerne Hauptmann neben der Tür stehen, um Lucky vor möglichen Angriffen zu schützen. Sie konnte sich auf Bekkers vollkommene Diskretion verlassen. Sein gemasertes rotbraunes Gesicht blieb ausdruckslos. Nicht ein Muskel zuckte. Lucky lehnte an einer eisernen Platte am Fenster, während sie mit geneigtem Kopf ihren neuen Verbündeten Lyle musterte, dem man niemals vertrauen konnte. Sie hatte eines von Evas Gewändern angelegt, aus violettem Satin mit Bernsteinperlen.
Zwei Bernsteinkügelchen waren größer als die anderen goldenen Tropfen und an der Stelle angenäht, wo sich die Brustwarzen befanden. Sie enthielten Glitzerkäfer. Dieses Bild erinnerte Lucky an die leuchtenden Insekten, die zu Jacks und Junis winzigen Töchtern geflogen waren, um ein Teil von ihnen zu werden. Die anderen Perlen ergänzten sich mit dem Bernstein ihres königlichen Kranzes, unter dem ihr rabenschwarzes Haar heute in hektischer Unordnung herabhing. Das Kleid war ein wenig zu groß, da Eva ein luxuriös ausgestattetes Mädchen war. Oder gewesen war. Sollte eine Königin sich mit dem zurückgelassenen Kostüm ihrer Tochter herausputzen, nur weil sie jetzt in deren Ehebett schlief? Ach, es amüsierte sie so sehr. Vielleicht war dieses Kleid bis heute noch gar nicht getragen worden. Eva hatte ihr Auge für Modebewußtsein verloren, nicht wahr? Durch seine Brille mit Goldrand musterte Lyle – völlig gelassen – Luckys Glitzerkäfer in den Bernsteinbrustwarzen. Er lächelte schwach mit verschwörerischer Miene. Lyle machte eine gute Figur in seinen engen ledernen Kniebundhosen und einem lockeren, bestickten cremefarbenem Hemd mit weiten Ärmeln – in denen er welche Listen verbarg? Lucky verspürte den Drang, mit der Hand in seine rotschimmernde Mähne zu greifen und ihn zu zerren. Ihn wohin zu zerren? Auf die Knie? Damit er die Bernsteinkügelchen küssen konnte? »Melator«, sagte sie nachdenklich. »Ein Rudermann sozusagen. Der Mann am Ruder, das eigentlich das Boot steuert, auch wenn sich der Kapitän einbildet, er hätte das Kommando.« Lyle verneigte den Kopf in dezenter Anerkennung. »Euer jahrhundertelanges Leben hat Euch sehr aufmerksam gemacht,
Eure Majestät.« »Oder blind gegenüber einfachen Ambitionen.« »Steht hinter Ambitionen«, fragte Lyle, »nicht immer der Wunsch, die Welt zu vereinfachen und verständlicher zu machen, damit derjenige, der nach etwas strebt, sich ungestört seinem Ziel widmen kann?« »Gewöhnlich jedoch auf gewundenen Wegen.« »Das sind die Umwege, die ein Sprungfisch nimmt, bevor er mit seinem Sprung …« »… höher den Fluß hinauf gelangt.« Lucky nickte. Ihre Fingerspitzen trommelten auf dem Gußeisen. »So viele Dinge lenken mich in diesen Tagen ab.« »Soll ich Euch ein wenig mehr ablenken?« fragte er. »Indem ich Euch sage, daß Elmer bei Fürstin Eva impotent war?« Entzückt: »Wie …?« »Ach, für mich war es offensichtlich. Elmer war wirklich ein ziemlicher Tölpel. Im vergeblichen Versuch, seine Leidenschaft zu erregen, hat Elmer Eva jede Nacht ausgepeitscht.« »Oh, das ist sehr interessant.« Vielen Dank, Lyle Melator. »Das ist der Grund, warum sich die dumme Minni für eine Krone aus Peitschenriemen entschied. Die Solidarität von Sariola-Töchtern. Ausnahmsweise.« »Peitschen und Perlen! Als ein Kuckuck über diese groteske Krönungsveranstaltung plauderte, habe ich mich darüber gewundert!« »Ein Kuckuck, soso …« Lyle setzte ein kennerhaftes Grinsen auf. »Unter uns gesprochen: Ich habe einen Kuckuck mit dem gekochten Hirn eines Lammes gefüttert und ihm gesagt, er sollte Elmers Problem unter den Bronze-Isi verlautbaren, damit
sie ihm gegebenenfalls helfen.« »Euch lag natürlich nur sein Bestes am Herzen.« »Das Resultat war das goldene Mädchen, von dem Ihr gehört habt. Wer weiß, welche Motive die Isi verfolgen mögen, jedenfalls hat das Goldmädchen anschließend versucht, van Maanen zu betören.« Lucky lachte. »Wie schade, daß sie keinen Erfolg hatte!« Es war schon eine Weile her, seit sie das letzte Mal gelacht hatte; und es war bestimmt nicht im Zusammenhang mit diesem Kerl aus Maananfors gewesen. »In anderer Beziehung hatte sie vielleicht sogar Erfolg, Eure Majestät. Als ich hier hereinplatzte« – ja, in genau dieses Vorzimmer und das königliche Schlafgemach – »um Elmer und Eva zum Verlassen ihres Hauses zu drängen …« »Wenn Loxmith noch hier gewesen wäre, hätte er den Schweber für mich reparieren können, Melator!« Ein entschuldigendes Schulterzucken. »Als ich hereinplatzte, Eure Majestät, hatte ich ganz den Eindruck, daß die beiden es zu guter Letzt geschafft hatten, ihre Ehe zu vollziehen – inmitten des Bombardements.« »Wie galant Ihr es formuliert.« Man konnte durchaus mit diesem Lyle warm werden. Als Lyle ihre Anerkennung bemerkte, fragte er: »Könnten wir vielleicht Moller vom Pranger erlösen? Er steht nun schon seit mehreren Tagen dort. Er ist ziemlich verdreckt. Das ständige Starten und Landen der Luftboote muß ihn ziemlich irritieren.« Lyle wagte es sogar, auf Luftboote zu sprechen zu kommen. Aber hatte sie selbst dieses Thema nicht schon angeschnitten? »Er hat nur unter Protest an der Krönungsfarce teilge-
nommen.« »Ja, ja. Was glaubt Ihr, warum ich ihn nicht auspeitschen und brandmarken ließ? Er mußte irgendwie büßen. Ich vermute, Eure Fürsprache zu seinen Gunsten soll demonstrieren, daß Ihr würdig seid, der neue Fürst dieser Ruine zu werden.« Lyle winkte bescheiden ab. »Nicht direkt ein Fürst. Hier herrschen populistische Traditionen. Vielleicht der königliche Verwalter, der königliche Aufseher.« Lucky trommelte. »Das klingt fast wie ›Der Aufseher der Königin‹. Euer Ehrgeiz ist bemerkenswert.« Die Stupsnase des Mannes legte sich amüsiert in Fältchen. Was für ein dreister Kerl er war. Sie hätte ihm ins Gesicht schlagen können, wenn sie nicht ein erregtes Pulsieren in sich verspürt hätte. Wie konnte das sein, nach Jahrhunderten unermüdlicher Treue? Jahrhunderten der Treue zu einem Gemahl, der seine eigene Ermordung provoziert hatte, um ihr entfliehen zu können! (Das hatte der liebe Berti niemals getan. Die Schuld lag einzig und allein bei diesem widerlichen Kennan.) Vielleicht sollte sie Melator trotzdem ins Gesicht schlagen. Statt dessen sagte sie zu Hauptmann Bekker: »Sorgt dafür, daß der Priester heute abend befreit wird.« Nicht unverzüglich. Sondern nach einer angemessenen Verzögerung. Ihr hölzerner Soldat durfte sie noch nicht alleinlassen – nicht allein mit diesem Lyle und mit der Versuchung. Warum hatte sie sich dieses Kleid mit den GlitzerkäferBrustwarzen ausgesucht? Hatte sie den Wunsch, die Eroberung des Ha-Hauses nach Männerart durch eine Vergewaltigung zu zelebrieren?
Ja, Lyle blickte schon wieder auf ihre Glitzerkäfer. »Lenkt mich nicht ab«, sagte sie. Dennoch tat er es. Der durchtriebene Kerl hatte es schon geschafft, sie abzulenken. Wie konnte sie nur daran denken, sich kurz nach Bertis Flucht einen zwanglosen Liebhaber zu nehmen? Was wußte sie überhaupt von Liebhabern? Sie wußte genug über die Leidenschaft der Freier, die um ihre Töchter angehalten hatten. Jaeger. Fors. Kippan. Mana wußte, wie viele es waren. Und erst in jüngster Zeit Elmer Loxmith … Elmer hatte seiner Braut endlich die Jungfräulichkeit genommen, in der Hitze der Schlacht, im selben Raum, in dem jetzt Lucky jede Nacht von Krieg und Rache träumte. In einem Bett, wo der Lärm der Gewalt die erotische Leidenschaft entfacht hatte! »Ich schätze«, sagte sie, »Ihr könntet auf legitimere Weise zum Fürsten werden, wenn Ihr die Loxmith-Tochter heiraten würdet.« Lyle leckte sich die Lippen, kostete diese Vorstellung aus. »Ich denke nicht, Eure Majestät. Obwohl es gut wäre, wenn Ihr diese Idee unterstützt. Nikki ist zur Zeit eher abgeneigt. Es würde einige Zeit und Überzeugungskraft kosten.« »Ihr Bruder wird höchstwahrscheinlich sterben, weil er nach Maananfors floh!« »Das würde Nikki großen Kummer bereiten, obwohl sie wütend auf ihn war, weil er Eva ausgepeitscht hat. Was wäre, wenn er nicht stirbt? Meiner Ansicht nach kann er kaum ins Ha-Haus zurückkehren. Nicht, wenn ich der königliche Aufseher bin.« Lyle würde einen klugen Berater abgeben. Wollte sie überhaupt einen Berater? Wollte sie einen vorübergehenden Liebha-
ber? Sie hatte weiteren Schwangerschaften abgeschworen. Überkam sie jetzt wieder das Jucken, wo Berti nicht mehr da war, um es zu lindern? Lyle würde nicht zu einem Langlebigen werden, wenn er mit seiner Königin schlief. Das war ihm zweifellos klar. In dieser Hinsicht würde er nur eine Episode für sie sein. Vieles andere mochte bald nur von kurzer Dauer sein, wenn sie ihr anderes Ich gefunden hatte! Sogar sie selbst konnte schließlich vorübergehend werden. »Ihr lenkt mich ab, Lyle Melator. Ich danke Euch, daß Ihr mir die amüsante Geschichte von den Peitschen erzählt habt. Sie ist es wert, überall verlautbart zu werden.« Lyle nickte. »Blutbäder locken Kuckucke an.« Wenn er selbst – als jemand, dem man in dieser Sache Glauben schenken konnte – diese delikate Geschichte über Elmer und Eva verbreitete, würde er der Königin einen wahren Dienst erweisen. Der eine besondere Belohnung wert war. »Heute nachmittag findet die Geburtstagsfeier der Mädchen statt«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Ich hoffe, daß der Bankettsaal dann aufgeräumt ist.« »Er ist gut gefegt, wenn auch etwas zugig, meine Königin.« Welche Anmaßung! »Ich würde es vorziehen, wenn Ihr mich Paula nennt. Meine Königin Paula. Privat.« Wie sehr dieser eiserne Raum der Katarina glich! Und wie anders er war! Das Klopfen ihrer Knöchel erzeugte ein Echo – und im selben Augenblick klopfte es an der Tür. Ben Prut trat ein, mit silbernen Winkeln und einem Schultergurt über seiner Tarnuniform. Der Adjutant stierte kurzsich-
tig. Er hielt seine Brille in der rechten Hand. Lyle hatte keine Hemmungen, eine Brille zu tragen – eine mit Goldrand. »Grüße vom General, Eure Majestät. Unsere Sprungfahrräder mit Schützen als Beifahrer hatten am nordwestlichen Ufer ein Gefecht mit Fahrradspringern aus Maananfors. Die anderen kämpften wie die Wahnsinnigen, Zitat Ende. Wir haben einen Schützen von einem Fahrrad und einen Fahrer von einem anderen Fahrrad verloren, aber der Schütze war in der Lage, das Gerät zum Stützpunkt zurückzubringen. Das Flugboot aus der Festung hat ein Loch in der Hülle, aber es ist weiterhin funktionsfähig. Man wird es flicken. Der General empfiehlt, daß das königliche Luftboot und das Festungsgefährt sich fürs erste nicht zu nah an Maananfors heranwagen.« Also hatte Lucky keine vollständige Kontrolle über den Luftraum, obwohl die Rebellen über keinerlei Luftboote verfügten. »Der General empfiehlt außerdem, daß einige der hölzernen Soldaten auf den Sprungfahrrädern ausgebildet werden, um eine unverletzliche Angriffsspitze zu bilden.« Bis jetzt hatte Hauptmann Bekker reglos in seiner dunkelblauen, mit scharlachroter und goldener Spitze besetzten Uniform dagestanden. Der hohe Tschako mit Federbusch (und silberner Plakette, in die ein Baum graviert war) ließ ihn größer wirken als den hochgeschossenen Adjutanten. Doch nun regte er sich. »Meine Männer sind solide«, sagte er. »Und unerschütterlich. Doch das schnelle Springen von einem Ort zum anderen könnte sie aus dem Gleichgewicht bringen. Holz kann vorrücken, aber kann es Sprünge machen? Unser Mana könnte dem Springen Widerstand entgegensetzen. Ich verlange, daß ich den
ersten Versuch unternehme.« »Jack Pakken könnte ein guter Ausbilder sein«, schlug Prut vor. »Ich habe von Jatta gehört«, sagte die Königin, »daß Hubertus Jaeger nicht mehr geradeaus gehen konnte, nachdem Jack ihm eine ähnliche Unterweisung angedeihen ließ. Meine Jatta hoffte, daß ich Jack verbieten würde, jemals wieder ein Sprungfahrrad zu besteigen … Will ich das Gleichgewicht des guten Hauptmannes aufs Spiel setzen? Nun? Ich muß darüber nachdenken.« Prut sagte: »Der General empfiehlt einen Zermürbungsfeldzug anstelle eines plötzlichen massiven Angriffes.« »Es ist zum Verzweifeln! All das nur wegen dieses verdammten Widerstandes.« »Und des Beistandes der Streifen-Isi …« »Denkt Aleksonis, daß die Streifen-Juttahats sich auf der Seite der Rebellen aktiv am Kampf beteiligen könnten?« Lyle räusperte sich. »Ja?« »Eine Allianz mit den Aliens? Niemals. Selbst wenn van Maanen auf der Verliererseite stünde, müßte er jede Unterstützung ablehnen. Andernfalls wäre es Verrat an der menschlichen Rasse! Niemand könnte die falsche Königin mehr akzeptieren. Es würden ohnehin nicht viele tun!« »Er ist auf der Verliererseite«, entgegnete Lucky. »Er hat bereits das Ha-Haus verloren.« »Ich melde mich freiwillig, ein Sprungfahrrad zu besteigen, wenn Eure Majestät es wünschen«, sagte Bekker stur. »Nein, ich muß darüber nachdenken.« Ratta-tong, ratta-tong
machte sie auf der gußeisernen Wand. Bevor sie irgendwelche anderen Entscheidungen traf, mußte zunächst der Bankettsaal gründlich von jeder Spur des Verrates gesäubert werden. Genauso wie zur falschen Krönung waren Lebern und Herzen im Gitter aus schmiedeeisernem Laub vor den Fenstern angebracht worden, die nun jedoch ohne Glas waren. Eines dieser Schutzgitter hatte eine kleine Bombe aufgefangen und war in Stücke gesprengt worden. Der Wind strich durch die nackten Schießscharten. Zertrümmerte Kerzenleuchter hingen von der Decke. Gegen die mit Tammiholz getäfelte Wand hinter dem Podium lehnte ein Messingrahmen, in dem Leinwandfetzen hingen. Das Gemälde sah aus, als wäre es von umherfliegenden Glassplittern aufgeschlitzt worden. Aber man wußte es besser. Lucky hatte nicht gewollt, daß das geschändete Porträt versteckt wurde. Sie wollte Mikal aus dem Pohjola- Palast kommen lassen. Sie wollte, daß das Gemälde wieder zusammengenäht und vollkommen restauriert wurde, allerdings noch nicht jetzt. Indem sie es in diesem zerfetzten Zustand präsentierte, erweckte sie damit den Eindruck, daß van Maanen und Minni für all die Zerstörung im Haus verantwortlich waren. Durch die Fenstergitter war die rußgeschwärzte, dachlose Ruine des Westflügels zu sehen. Herabstürzende Trümmer hatten zwei Boote im Wasserhof versenkt. Die Mehrheit der Schiffe war jedoch intakt. Selbst unter voller Bewaffnung konnte es keines der Schiffe mit dem Raddampfer aufnehmen, den van Maanen zu seinem Flaggschiff gemacht hatte, oder mit
Elmers Seeschlitten. Dennoch war das Fallgitter geöffnet worden. Die königliche Armee befand sich in der Offensive, nicht in der Defensive. Van Maanen würde kaum einen Angriff über den türkisfarbenen See lancieren. Zur Zeit hatte dieser See den stumpfen Farbton von Blei. Der Himmel war mit schmutzigen Nimbostratuswolken beladen. Das heutige Festmahl zu Ehren von Junis Vierlingen war ein süßes Festmahl. Schwarze Mustabeerentorten und Nippelbeerenkuchen. Crêpes mit Sinibeerengelee und Schlagsahne. Haferschleim und Parfait. Fruchtsuppe und Baiser. All das konnte mit Spirituosen und Likören hinuntergespült werden. Würden die Mädchen darauf bestehen, daß es in jedem Monat am Tag ihrer Geburt eine ähnliche Feier gab? Inzwischen konnten die Knirpse geschickt krabbeln. Sie konnten ein paar unsichere Schritte gehen, bevor sie sich wieder mit einem Plumps setzten. Juni konnte immer noch zwei gleichzeitig in einer Schlinge bewältigen, obwohl es einfacher war, sich jeweils nur um ein Kind zu kümmern. Zum Glück hatte Juni beinahe abgestillt, und Gehacktes und Püree und süßer Haferschleim waren zu einem annehmbaren Ersatz für Junis Milch geworden. In diesen Tagen halfen im allgemeinen zwei der LoxmithHausmädchen und eine Küchenmagd als Kindermädchen aus. An diesem Nachmittag jedoch hockten die vier Gören auf kleinen Kissen zwischen Schüsseln und Tellern auf dem Ehrentisch. Juni saß hinter einer Tochter, um eingreifen zu können, falls sie umstürzte. Jack saß hinter einer zweiten. Jatta und Nikki Loxmith hatten die Verantwortung für die übrigen zwei übernommen. Lucky hatte verfügt, daß ihre Urenkeltöchter Reifunterröcke
tragen sollten, die wie Glocken geformt und mit Korbgeflecht verstärkt waren. Darüber Kleidchen in Pink und Silbergrün, deren Oberteile sich zu schlanken Taillen verjüngten. Von diesen Kostümen wurden Gift und Galle, Qual und Pein gewissermaßen gestützt. Während die Mädchen hin und her schaukelten, griffen sie mit winzigen Fingern in Haferschleim und Parfait, um sie anschließend abzulecken. Ihre rosigen Wangen waren mit Schlagsahne beschmiert. Ihre Augen, die so blau wie die ihrer Mutter waren, leuchteten hell. Erste blonde Locken bedeckten ihre Schädel. Die Nymphen gurrten fröhlich. Offensichtlich gefiel ihnen das große Publikum. An einem Ende des Tisches hockte die alte Hilda, von einem dicken Kissen auf dem Stuhl erhöht, ihr Kopf fast so tief wie die Tischkante heruntergebeugt. Am anderen Ende thronte Lucky. Eine richtige Familienfeier! Die einzige Außenseiterin am Ehrentisch war Nikki, die bis vor kurzem den Rang der Tochter des Hauses innegehabt hatte. War die Berufung zum Kindermädchen ein freundliches Eingeständnis? Oder wollte Lucky zu einem endgültigen Urteil über Elmers Schwester kommen? Nikki hatte sich in ihrem besten bestickten Kleid herausgeputzt, dazu trug sie eine Haube mit rosa und gelben Bändern. »Ich mag Eure Haube«, sagte Jatta unsicher zu ihrer Nachbarin. Niemand sonst hatte den Kopf bedeckt, obwohl es an diesem trüben Tag im zugigen Saal kalt genug war, um eine Kopfbedeckung zu tragen. Jattas purpurne Wildlederjacke (mit hellen Fellstreifen) und ihre Kalbslederhosen waren für die gegenwärtige Temperatur genau das richtige. Nikki wirkte rehhaft, aber dennoch trotzig. »Ich habe diesen
Hut das letzte Mal getragen, als ich zusammen mit meinem Bruder Landfall besuchte. Sonst bin ich kaum anderswo gewesen, außer über den See nach Maananfors. Jetzt ist das Anderswo hierhergekommen, mit einem mächtigen Knall.« Ja, unter Verwüstung ihres Hauses … »Möchtet Ihr meine Haube haben, Prinzessin?« Habt Ihr Euch nicht schon alles andere genommen? Heute muß ich das Kindermädchen für eines dieser schrecklichen Gören spielen. Was werde ich morgen für Euch tun müssen? »Natürlich will ich Euren Hut nicht. Und ich bin wohl kaum mehr eine Prinzessin, nachdem meine sonderbaren Enkelkinder hier auf dem Tisch hocken. Ich bin nicht einmal freiwillig hier«, gestand Jatta ein, »außer vielleicht, um meinen Sohn davon abzuhalten, sich zuviel zuzumuten. Womit ich wohl kaum Erfolg haben werde, wenn meine Mutter ihn sogar noch anstachelt. Sie hat mich zum Mitkommen überredet, damit ich mich in Osmos Burg in Szene setzen kann, nachdem sie sie erobert hat.« »Am vorletzten Lucky-Tag in Osmos Burg habe ich Euch bemitleidet, so in aller Öffentlichkeit gedemütigt zu werden …« »Ihr wart dabei …?« Jatta streckte die Arme aus, um Qual oder Pein aufzufangen. »Ich konnte damals überhaupt nichts für Euch tun. Verdammt seien alle, die solche Dinge tun! Einschließlich meines tolpatschigen Bruders. Was wäre passiert, wenn er hiergeblieben wäre? Würde er jetzt wie ein Trottel die Königin angrinsen?« Nikki zitterte. »Nachdem er jetzt sein Fürstentum verloren hat …« »Lyle Melator dort drüben sieht ziemlich von sich selbst überzeugt aus.«
So viele Gesichter, die zwischen kleinen Reifröcken zu erkennen waren … Paavo Serlachius, der vor Gesundheit und Rechtschaffenheit strotzte. Nils Karlson, dessen tätowierte Lippen sein Talent und seine Schmerzunempfindlichkeit demonstrierten. Juko, der kurz Jattas Blick begegnete und sich schnell wieder abwandte, der Verräter an seiner eigenen Schwester und Osmos Fluch. Der prächtige Aleksonis und Ben Prut und so viele andere, zwischen Kuchen und Parfaits und Wodkagläsern. Hauptmann Haxell mit der silbernen Tätowierung auf seinem käsigen Gesicht, der sich neben Melator lümmelte. »Ist er auch von Euch überzeugt?« murmelte Jatta zu Nikki. »Es gab einmal eine Zeit, in der ich nichts einzuwenden gehabt hätte … Lyle schien so nett, klug und hilfsbereit.« »Es gibt eine andere Seite an ihm, nicht wahr?« »Lyle hat sich in letzter Zeit nicht sehr um mich gekümmert. Er hat vorhin mit mir gesprochen, aber er wirkte so beiläufig, als würde ich ihn langweilen.« »An wem könnte ihm mehr liegen als an Euch? Sein Streben gilt der Langlebigkeit, aber zur Zeit sind keine weiteren SariolaTöchter verfügbar, falls meine Mutter nicht die Absicht hat, Ester mit vierzehn Jahren wegzugeben.« Nikki klang verzweifelt. »Ihr habt so viel mehr Erfahrung als ich, Jatta.« »Auf einige davon hätte ich problemlos verzichten können. Aber ich habe niemals einen Bruder gehabt. Im Gegensatz zu Euch. Trotzdem ließ er Euch hier zurück.« »Es gab Meinungsverschiedenheiten. Er ließ mich zurück, damit ich mich um Vater und Mutter kümmern konnte. Er hat mich niemals gefragt. Hat mich einfach hiergelassen. Bomben
fielen, und der Westflügel stand in Flammen. Er hat mich einfach alleingelassen. In der Obhut seines vertrauenswürdigen Lyle.« »Der Euch beschützen sollte. Auch ich hatte einmal einen Beschützer, Nikki«, flüsterte Jatta. »Ich sah Jukos Schwester in einer Vision. Sie hielt ein Lichtgewehr.« »Eine Vision?« In Gesellschaft der geliebten Anni neben einem bestimmten Teich … Das war privat. Aber Jatta hatte zu ihrer Mutter von dieser Vision geplaudert. (Vor langer Zeit: »Meine Schnatter-Jatta, meine Plapper-Jatta, erzähl mir eine Geschichtet« Und Jatta hatte aus Angst gehorcht.) Vielleicht sollte sie sich niemandem mehr anvertrauen, außer Anni. Aber vielleicht sollte sie es doch tun. »Ich sah eine Vision aus glitzernden Fliegen über einem Teich, Nikki. Aino hat sich behauptet. Ich habe es nicht geschafft, mich zu behaupten – nicht, was meine Reise hierher betrifft. Oder die Trennung von einem geliebten Menschen. Meine Mutter war viel zu besessen. Sie hätte diesem lieben Menschen Böses antun können.« »Ihr müßt mir das nicht erzählen …« »Es macht mir nichts aus. Juko hat in meinem Herzen spioniert, während er mich beschützte. Mein … meine Geliebte hätte mißhandelt werden können.« »Oh«, sagte Nikki und zog sich zurück. Bitte nehmt mich nicht unter Eure Fittiche, Prinzessin Sariola. Ihr seid zuviel für mich. Vielleicht waren alle Sariola-Töchter so
unberechenbar. Wie eigensinnig wäre Eva als Fürstin von Loxmithlinna gewesen, wenn Elmer nicht ihren Stolz und ihr Hinterteil verletzt hätte? Nikki war vor Jatta zurückgeschreckt. Dies deckte sich mit Jattas eigenem Wunsch, abgeschieden von der streitsüchtigen Welt an einem vertrauten Ort zusammen mit einer Seelenschwester zu sein. Aber nicht hier und nicht jetzt. Das Gespräch mit Nikki, das kaum begonnen hatte, schien schon ins Stocken geraten zu sein. Gift oder Galle beugte sich vor, um an mehr Sahne zu gelangen. Nikki konzentrierte sich darauf, das schreckliche Püppchen auf dem Tisch unter Kontrolle zu halten. Ein Kuckuck zerrte an rohem Herzen, das in einem Gitter steckte. »Kuck-kuck« rief Lucky. »Hör mir zu: Ich ernenne Lyle zum lebenslangen Aufseher … dieser Burg und dieser Ländereien. Solange er lebt, ist die Loxmith-Familie enteignet.« (Nikki erschauderte.) »Der alte Fürst Henzel und Fürstin Lokka und ihre Tochter jedoch sollen hierbleiben und eine angemessene Pension erhalten.« Jatta blinzelte. »Entspannt Euch«, flüsterte sie ihrer Nachbarin zu, »wenn Ihr könnt. Das ist einer von Mutters besten Streichen.« Lyle hatte jetzt allen Grund, nicht erneut die Seiten zu wechseln. Nikki war eine Geisel. Doch für Lyle gab es nur wenig Anreiz, sie zur Heirat mit ihm zu zwingen. Wie konnte eine solche Verbindung seinem Status noch dienlich sein? Wenn Elmer während der Feindseligkeiten kinderlos starb, wäre dann Eva die angemessene Familienerbin? Oder Nikki aufgrund der
Blutsverwandtschaft? Wenn Lyle sich mit Nikki vermählen sollte und mit ihr ein Kind zeugte, wäre dann nicht dieses Kind Lyles offensichtlicher Loxmith-Nachfolger, falls er durch Gift oder ein Messer in der Nacht den Tod erlitt? Solange Lyle lebt … Er konnte nur darauf hoffen, eine der noch übrigen SariolaTöchter zu gewinnen, wenn sie ins heiratsfähige Alter kamen, um seine Lebenszeit zu verlängern. Mit der Brautwerbung müßte er noch einige Jahre warten. Lyle stand auf und verbeugte sich mit theatralischer Nonchalance vor Lucky. Die Königin klatschte in die Hände. »Kuck-kuck! Zu meinen vier lieblichen Schreckensmädchen sage ich: Meinen Glückwunsch zum Monatstag.« Alle Kinder drehten sich um und grinsten Lucky mit sahneverschmierten Gesichtern an. »Wie gut könnt ihr jetzt Fliegen fliegen lassen? Wie effektiv, meine Racker? Zeigt es uns, damit meine Feinde hören, daß eure Pest über sie kommen wird, die sie mehr fürchten müssen als alle Bomben und Raketen!« Die übertrieben zurechtgemachten Mini-Mädchen patschten ihre pummeligen Händchen voller Krümel und Creme zusammen. Ein glitzerndes schwarzes Insekt flog von Qual auf (war es wirklich Qual?). Eine ähnliche Fliege wurde von Pein entlassen (wirklich Pein?). Von den kleinen Händen stieg eine Fliege nach der anderen auf. Sie sammelten sich zu einer Wolke und umschwirrten einen ruinierten Kronleuchter. »Guuh!« krähten die winzigen Schwestern, die Blicke nach oben gerichtet.
»Guu-Guck, Kuck-kuck«, rief Lucky dem Klatschvogel zu. »Erzähl die Geschichte!« Die Fliegen kreisten eifrig. Eisen schlug scheppernd gegen Eisen … Während die Aufmerksamkeit aller Anwesenden abgelenkt war, hatte eine schlanke, muskulöse Gestalt den Saal betreten. Lederne Beutel und Ranzen hingen von Haken, die in seinem nackten, honigblassen Torso steckten. Schwere Gewichte baumelten an einem eisernen Hüftgürtel über einem khakifarbenen Rock. Eine Mähne aus grauem Haar war aufgetürmt und mit Nadeln festgesteckt. Er hatte ein Hundegesicht und tiefliegende Augen. Der Schamane trug einen hölzernen Dreifuß, auf den ein Balgenkasten montiert war, der auf der Vorderseite ein leeres rundes Loch hatte. Als er zwischen den überfüllten Tischen vortrat, scharrten und ploppten seine kurzen Stiefel. An den Fersen befanden sich Spikes, an den Sohlen Saugnäpfe. Er stellte den purpurnen Dreifuß ab und rief: »Wie wäre es mit einer Managraphie von der Geburtstagsfeier, Santa Lucky? Leider wurde mir meine Linse gestohlen. Doch ich kann immer noch Bilder heraufbeschwören. Wer weiß, was ich sehen werde? Ich habe immer noch meine sensitiven Karten. Sie wurden mir nicht geraubt. Ich könnte meine Finger über das Loch legen, wo die Linse sein sollte, um das Licht zu verringern. Ja, ich kann die Szene in Bruchstücken sehen! Ich erinnere mich an eine frühere Feier in diesem Saal. Auf den Platten war Fleisch aufgetischt, nicht all diese Süßigkeiten. Und der Saal war nicht so windig. Es ist Herbst, nicht wahr? Das Jahr geht zu Ende. Ich könnte davonwehen, Eure Heiligkeit. Ich
könnte wie ein Blatt vom Wind davongeweht werden!« Er blickte sich nach einem vertrauten Gesicht um und erspähte Lyle. »Soll ich meine Stiefel ausziehen, Herr Melator? Ach, mir scheint, Euer schöner Saal wurde bereits beträchtlich beschädigt.« Er sah auf die kreisenden Fliegen und schnupperte penibel. Juko war erstaunt aufgestanden. Stimmen murmelten. Niemand wollte einen Magier in Trance stören. Auf dem Ehrentisch gurrten die vier Mädchen begeistert. »Ein Spaßmacher …« »Ein Possenreißer …« »Ein Taschenspieler …« »Ein Zauberkünstler …« Es war derselbe Hermi, der für das legendäre lüsterne Bild von Minni verantwortlich war. Für diese Störung hatte er eine Bestrafung am Pranger verdient, wenn er nicht schon seinen eigenen transportablen Pranger aus Gewichten mit sich geführt hätte. In der Woche nach der falschen Krönungsfeier für den Winzling war Hermi verwirrt durch das Ha-Haus gestreift, nicht wahr? Dann hatte er sich mit seinem nutzlosen Dreifuß in die Wälder zurückgezogen, wohin ein solches Unikum gehörte … Jetzt war er an den Ort zurückgekehrt, wo er Stücke seiner Erinnerung verloren hatte – wo sein Gedächtnis zersplittert war –, und fand das Ha-Haus in einem ähnlichen Zustand der Zerstörung und des Chaos vor. Er war wie ein Seher von einer Geisterreise zurückgekehrt. »Schamane«, rief Lucky ihm zu. »Mir ist zu Ohren gekom-
men, daß die Managraphie der lächerlichen Minni mit dem Schwänzchen in die Höh' verbrannt wurde. Ihr habt nicht zufällig zwei Bilder gemacht, so daß sich noch eines in Eurem Besitz befindet?« Hermi schwankte und schepperte. »Zwei? Hätte ich zwei machen können? Ich erinnere mich an Unmengen von Managraphien. Myriaden von Alternativen erfüllen meinen Kopf bis zum Überquellen.« Er öffnete ein paar Beutel, die an seiner Brust hingen, und holte Sepiaabzüge heraus, um sie zu studieren. »Nein, nein. Hier sind keine Minnis.« »Laßt mich diese Bilder sehen.« Ploppend und scharrend näherte sich der Schamane dem Ehrentisch. »Führt uns einen Trick vor!« flötete Gift oder Galle. Wie ein mißtrauisches Tier beschnupperte Hermi die Schreckensmädchen und hielt Lucky dann einen Fächer aus Karten hin. »Nehmt eine, Eure Majestät. Ich werde erraten, welche es ist.« Lucky nahm sie alle. »Wir wollen einen besseren Trick!« »Meine kleinen Mädchen«, sagte Hermi traurig, »ich bin nicht mehr der maaginen, der ich einmal war.« Jack war im Nu herbeigeeilt, um seiner Großmutter über die Schulter zu blicken. Jatta reckte ebenfalls den Hals. »Was«, rief Lucky, »ist das?« Zwischen Bäumen stand eine Hütte, die aus Knochen erbaut war. Am Himmel hing, mit Polarlichtern tanzend, in nicht
allzugroßer Höhe eine riesige steinerne Kartoffel … Ukko, Ukko, dem Boden so nahe! Über einer Hütte aus Knochen schwebend. »Ist das der Ort, wo sich mein versteckter Ukko offenbaren wird, Schamane? Wo ist dieser Ort?« »Das ist nur mein altes Haus«, gab Hermi bekannt. Eine andere Managraphie zeigte eine blonde Frau, die sich aus einer Blume erhob. »Das ist Paula, das bin ich! Nein, falsch. Das ist Aino Nurmi. Ist es nicht so, meine Schnatter-Jatta? Es ist Eure Schwester«, rief Lucky quer durch den Saal Juko zu. Juko eilte zum Ehrentisch. Beim Besteigen des Podiums rempelte er Jack an und entließ einen Seufzer. »Ja, sie ist es. Sie ist zu einer Näkki-Frau in einer Blume geworden. Sie ist tot und bestäubt ein Gänseblümchen.« »Nein, das ist eine Milchblume«, wurde er von Hermi korrigiert. »Schamane, war sie es, die mir eine Mana-Blüte schickte, in der Nacht, als die Mädchen empfangen wurden?« Hermi klimperte. »Ich sage immer die Wahrheit, Eure Heiligkeit. Aber was ist, wenn schon zwölf oder zwanzig Wahrheiten erzählt wurden? Ich habe meine Mana-Linse auf mein Haus gerichtet, auf eine Blume und auf Minni. Ich weiß nur, daß ich Euch niemals ein Bukett schickte – schon gar nicht im Schnabel eines Kuckucks.« Er hatte ihren Seitenblick auf den Klatschvogel verstanden. »Ihr seid verwirrt!« Lucky warf die Karten fort und verstreute sie zwischen den Tellern mit Beerentorte. Schnell hob sie wieder den Abzug mit dem eiförmigen Möndchen auf, das so tief über
den Bäumen hing. Mit zitternden Fingern griff Juko an der Königin vorbei nach dem Bild seiner Schwester. Doch er konnte es nicht aufheben. »Nein, ich darf es nicht berühren …« Eine Fliege fiel in eine Torte, zappelte auf dem Gelee und starb. »Platsch-klatsch«, meinte Hermi dazu. Fliegen segelten in Spiralen vom kaputten Kerzenleuchter herunter. Die Schreckensmädchen hoben ihre pummeligen Fäustchen und heulten. Eine Fliege nach der anderen verendete. »Ihr seid immer noch nicht stark genug«, sagte Lucky zum nächsten Mädchen. »Aber bald werdet ihr es sein. Baaald«, gurrte sie. Unerklärlicherweise brach Nikki Loxmith in Tränen aus. Draußen begann es zu regnen. Im Saal war es immer dunkler geworden.
12 Requiem der Hingabe
»Die lockenköpfige Dame wurde zu einem Zombie. Kaaark. Also sprang Minki Kennan von ihr fort. Wohin eilte dieser Krieger in schwarzem Leder und mit goldenen Knöpfen und hohem Kragen? Zurück in den Krieg zwischen der Königin und der Rebellenkönigin, wie er behauptete. Er könnte jederzeit im Nu nach Kaukainkylä zurückkehren, sagte er. Stummel, der Ekstat, glaubte nicht daran. Minki Kennan hatte die Dame im Stich gelassen. Stummel ließ Stricke, Stroh, Öl und einen Pfosten holen. Andernfalls hätten seine Leute Jagd auf ein Herf machen und einen Monat und einen Tag lang die Splitter seiner Hufe tragen müssen. Kaaark. Sie verbrannten den lebenden Leichnam mit dem lockigen Haar, und sie umtanzten die Frau mit lautem Gesang, damit sie ihre Schreie nicht hörten. Sie trug kleine rote Stiefel aus Flammen, dann große rote Stiefel aus Flammen, dann einen Mantel aus Flammen. Sie verbrannte schneller als eine Kerze. Nur Asche blieb übrig. Ukko-ukkoo, es ist erzählt.« Der Klatschvogel neigte den Kopf und beäugte sein Publikum. Pasquil hielt sich an seinen Hosenträgern fest und zitterte wie Wackelpudding. Mit einem lauten Keuchen riß Bertha die Nadel aus ihrem Haarknoten. Sie konnte den Vogel unmöglich erstechen. Aaaark, nein. Statt dessen stach sie auf ihren Handrücken ein,
einmal, zweimal, dreimal und noch einmal. Sie stieß ein qualvolles Geheul aus. Sie nahm den Schmerz auf sich, um den Schrecken und den Kummer festzunageln. Blut quoll. Das Stöhnen, das von Gunther kam, war wie das Geräusch eines Tammibaumes, der langsam durch eine unwiderstehliche Kraft entwurzelt wurde. Der Baum mußte entweder die Verbindung mit allem, was er gekannt hatte, aufgeben oder mit einem lauten Knacken zerbrechen. Würde ihm dort auf dem Bett das Rückgrat entzweibrechen? Sein Stöhnen kam aus tiefster und innerster Verzweiflung. »Ukkooooooo …« Der Botenvogel flog auf und verschwand. Blut tropfte von Berthas Hand. Sie starrte mit verständnislosem Blick auf die Verletzung, die sie sich selbst um ihres Meisters willen zugefügt hatte. »Brühe, Brühe«, plapperte sie. »Stark und heiß.« Manche Menschen mochten in der Lage sein, zuzusehen, wie ein Körper gefoltert wurde, bis zu dem Punkt, wo die wahnsinnigen Augen des Opfers den Tod schon vor dem Tod erkannten. Oder schlimmer, wenn jede Spur von Intelligenz aus jenen Augen verschwand. Manche Leute mochten dabei zusehen können. Sie konnte es nicht. Sie taumelte zur Tür. Blind riß sie sie auf, mehr instinktiv als bewußt. Dann war sie aus der Folterkammer verschwunden. Pasquil war in Ohnmacht gefallen. Er hatte die Gewalt über sich verloren und war zu Boden gesunken. Gunther konnte weder flüchten noch in Ohnmacht fallen. Er stöhnte entsetzlich, vom Kummer zerrissen. »Onkel …«
Ein Eindringling war am offenen Fenster. Es war, als wäre der Vogel riesenhaft vergrößert in der Gestalt eines jungen Mannes zurückgekehrt. Es war ein kräftiger junger Mann. Trotzdem so zerlumpt. Das Kordhemd und die Kniebundhosen waren verschmutzt und zerfetzt. Sein Gesicht war verdreckt. Ein übler Schorf entstellte seine breite Stirn. Zweige hingen in seiner ungepflegten Mähne. Er grinste wie ein Verrückter. »Ich kenne einen Baum. Ich kenne eine Kletterpflanze. Ich kenne einen Fensterstock …« Und schon war er im Gemach. Was hatte dieser Körper auf dem Boden zu sagen? Hatte er bereits jemanden getötet? Als Kulli die offene Tür bemerkte, zerrte er den Körper auf den Korridor und lud ihn dort ab. Zurück im Gemach, verriegelte er die Tür doppelt. Aus seinem Gürtel zog er ein Messer. »Wie viele Schnitte mit dem Messer sind nötig, um ein langlebiges Leben zu beenden …?« Gunthers Blick richtete sich ungläubig auf den Eindringling. »Kulli? Kulli? Mana sei Dank, daß du gekommen bist. Töte mich, Kulli, töte mich«, flehte er. »Mach meinem langen Leben ein Ende. Töte mich sofort!« Kulli blieb mit offenem Mund stehen. »Töte mich, Neffe!« krächzte der Traumfürst. »Was …?« »Bist du taub, Junge? Töte mich!« Kulli starrte auf sein Messer. Nein, auf ihr Messer. »Dich töten? Dich töten?« wiederholte er verblüfft. Wie
konnte das Fleisch das Messer willkommen heißen? Die Bitte verbündete sich mit dem Bann, unter dem er stand, packte diesen Bann am Schlafittchen, zog ihn zu sich heran und brachte ihn dabei aus dem Gleichgewicht, so daß der Bann stolperte und zu Boden stürzte. Das Messer fiel Kulli aus der Hand. Er strich sein zerzaustes Haar zurück. Ein erstaunter Schrecken betäubte ihn. Wie gequält und ausgezehrt der Mann unter der Decke aussah! »Ach, Onkel, ich kann Euch nicht töten …« »Du mußt es tun, Junge. Ich habe Anna für immer verloren. Man hat sie gezwungen, kleine rote Stiefel zu tragen, die sie zu Tode verbrannten. Sie war wieder in die Welt zurückgekehrt, und jetzt ist sie wieder fort, und zwar für immer.« Ein Poltern an der Tür. Die Riegel rüttelten und sprangen. Handflächen schlugen gegen das Holz. »Geht fort«, brüllte Kulli. »Haltet Euch fern … Pasquill« Er wußte jetzt, wo er war. Er wußte, wen er nach draußen geschleppt hatte. »Laßt uns allein, guter Mann. Ich bin bei meinem Onkel. Er ist in Sicherheit. Laßt uns in Frieden!« Anfänglich konnte Gunther nicht mehr von sich geben, als krächzend darum zu bitten, ihn von dieser Tragödie zu erlösen. Irgendwann jedoch wurden die Worte zu einer Ergründung der zerstörten Fundamente seines Lebens, zu einer Hinterfragung der Hingabe … Wie deutlich sich Gunther an die Intimitäten erinnerte, die er mit Anna in ihrer Jugend gemeinsam erlebt hatte. Und dann in ihren mittleren Jahren. Und schließlich auch im hohen Alter. Ja,
sogar dann noch Intimitäten. Nicht mehr wilde Intimitäten, sondern zartere. In ihren mittleren Jahren hatte sie einen jugendlichen Liebhaber, und in späteren Jahren ebenfalls, einen Bewunderer. (Er und sie hatten vor kurzem im Schnee den Anschein zitternder Intimität Wiederaufleben lassen. Kennan hatte mehr Freuden mit ihr genossen! Doch nur ein einziges Mal! Was zählte der Diebstahl eines Weizenkorns von einem ganzen Scheffel?) Gunther hatte seine Anna so sehr verehrt. Ihr Geschenk, das ihm die Langlebigkeit verliehen hatte, schien ihn auf sie fixiert zu haben, wie ein Entenküken auf seine Mutter, inständig und für immer, vielleicht mehr als jeder andere Mann, der jemals gelebt hatte. Und er lebte weiter, lebte mit der Erinnerung an sie weiter. Während Bertha im Schlafzimmer gewesen war und ihn mit Brühe gefüttert hatte, hatte sie zu ihrer Lucky-Brosche gemurmelt. Seine Anbetung hatte Anna gegolten, die in seinem Gedächtnis immer jünger geworden war, die die Leberflecken auf ihren Händen und die Falten in ihrem Gesicht verloren hatte, bis sie sich schließlich vollständig mit der Anna gedeckt hatte, die er im Innern des Ukko-Kindes wiedergetroffen hatte – in Minkis Bett. Die posthume Rolle, die Anna in seinem Leben gespielt hatte – so allgegenwärtig wie die Luft, die er atmete, und dennoch unsichtbar, außer in jener Serie von Porträts (die in welcher Reihenfolge verlief?) –, stellte für ihn vielleicht ein genauso großes Rätsel dar wie für seine Diener, die Anna niemals begegnet waren. Stimulierten die Porträts Gunthers Gedächtnis oder
verwirrten sie es durch ihre Beständigkeit, ihre statische Dauerhaftigkeit? Glühten Annas gemalte Augen wirklich noch immer? Anna hatte seine Seele geheiligt – nein, erhöht –, so daß ihn die Monomanie und Melancholie eines Langlebigen nur selten betrübt hatte. {Armer Berti!} Für Gunther war sie ein Anker gewesen. (Ach, ihre Knochen lagen in ihrem Sarg!) Ihre beständige Anwesenheit (in Abwesenheit) hatte ihn schließlich dazu getrieben, sich einen Weg zu ihr zu träumen. Hatte er jemals wirklich damit gerechnet, ihre Wiederverkörperung zu erreichen? Oder nur einen Geist zu erwecken, den er besuchen konnte oder der ihn wie ein Näkki-Sukkubus besuchte? Kennan hatte sie dem Tod durch Feuer überantwortet. Dafür sollte er verdammt sein, für immer verdammt. Welche Rache wäre dieser Untat angemessen? Wäre Kulli bereit, Kennan zu suchen und ihn zu töten, langsam zu töten? »Willst du ihn ein ganzes Jahr lang töten? Oder einen Monat lang! Eine Woche lang!« Wieviel konnte ein Körper ertragen? »Willst du ihn bei lebendigem Leib rösten? Willst du ihn fesseln und ihn mit eiskaltem und kochendem Wasser übergießen, bis sich seine Haut wie die eines Meeresaales löst? Willst du ihn auspeitschen und ihm glühende Eisen in die Wunden stoßen?« Abgezehrt und mit zerfetzten Brustwarzen sah Gunther bereits aus, als hätte er eine Folter durchgestanden. Kulli ebenfalls. Warum zögerte Kulli? Warum ließ er den Kopf hängen?
Konnte Kulli die Rachegelüste in seiner Seele auf denjenigen umlenken, der alle Hoffnungen seines Onkels zerstört hatte? Er war bereits von der Rache abgelenkt worden. Wie gefährlich war es, erneut ans Töten zu denken? »Bei lebendigem Leib rösten?« sagte der Neffe zu seinem Onkel. »Aber du bist nicht so grausam. Du bist überhaupt nicht grausam.« Und Gunther flennte. Der Weise der Träume! Sehnsucht war ein Traum. Und Hingabe. War seine Verehrung für Anna nur ein Produkt seiner Traumfähigkeiten – oder andersherum? Die Schlangen hatten falsche Alpträume in das Herz seines Neffen gepflanzt. Sein Neffe war der rebellische Sklave falscher Träume. Gunther war ein Meister des Träumens, falls seine Liebe zu Anna nicht das Symptom tiefer Knechtschaft war. Kein Wunder, daß die fette Pfefferkuchenfrau ihn verspottet hatte. Kein Wunder, daß sie ihn dazu gedrängt hatte, an ihren Zitzen zu nuckeln. Gunther war tief in die Pfefferkuchenfrau eingetaucht. Natürlich war sie eine Frau. War er nicht treu bis über den Tod hinaus? Kein oberflächlicher Lustmolch vom Schlage Kennans! Was hatte Gunther aus sich gemacht? Einen kränklichen, uralten Liebeswerber, der langsam dahinsiechte. Der sterbenskrank war. War das sein Ziel gewesen? Sein letzter Beweis der Hingabe? Durch seine kurze Liaison mit Marietta bis zum Äußersten getrieben! Wie konnte er seine ungeordneten Erkenntnisse ausdrücken? Wenn er doch nur ein Dichter wäre! Warum hatte diese Dichterin Aino Krieg geführt, statt sich in
qualvollen Liedern auszudrücken? Er wußte es. Der Grund hieß Kennan. Töte ihn. Langsam. Aino könnte Gunthers Gefühle bestimmt verstehen. Sie, die er auf der Gala in solch schmerzlicher Demütigung erlebt hatte, dann in Träumen gesehen hatte … Aino war bemerkenswert. Aino … Wollte eine unmögliche neue Inspiration Gunthers Herz erfüllen, um seine Erschütterung zu lindern? Um ihn abzulenken? Um Anna in seinen Träumen zu erreichen, hatte er vielen Ablenkungen aus dem Weg gehen müssen. Ein Traum konnte sich ohne weiteres in einen anderen Traum verwandeln, wenn ein neues Ereignis oder eine neue Begegnung ihm eine andere Richtung gaben. Die Kunst bestand darin, diese Verwandlungen zu lenken. Er mußte am Angelpunkt der Entscheidung bleiben und das Träumen in die eine statt in die andere Richtung drängen, mehr durch Geschick als durch Gewalt. Die schwierigsten Träume waren jene, die sich innerhalb anderer wandelbarer Träume versteckten. Solcherart war der Umweg zu Anna und ihrem Aufenthaltsort gewesen – dort, wo der Traum zur Wirklichkeit wurde und sich in sich selbst zurückspiegelte. Ja, wie ein Klumpen geschmolzenen Glases, der in einem geschmeidigen Glasbehälter aufgeblasen wurde, bis der Klumpen größer als die Flasche geworden war, die ihn enthielt. Deshalb befand man sich in der inneren Flasche. Anstelle von formbarem Glas waren es die Umstände und die Personen der aufeinanderfolgenden Träume, mit denen er umgehen mußte – die er beschwören mußte, um zu jenem Herzland zu gelangen, wo Annas Echo sich aufhielt, an jenen
Ort, dessen Szenerie sich im Nu von Sommer in Winter verwandeln konnte, wo Näkkis die gekrümmte Landschaft der Wünsche und des Begehrens bevölkerten, ein Ort, der jedoch erstaunlicherweise mit der wahren Welt und gleichzeitig mit den Falltüren eines Traumes in Verbindung stand. Wenn Gunther doch nur denselben Weg wie Aino genommen hätte! Es sei denn, Aino war in Wirklichkeit tot. Wenn er doch nur Minki Kennans Route genommen hätte, statt seinen eigenen Traumpfaden zu folgen! Er weinte. Ohne Tränen. Er hatte nicht den Wunsch, noch einmal zu träumen. Obwohl sein Körper nach den Monaten, die er in Elmers Sarg verbracht hatte, schwach wie der eines Babys war, arbeitete sein Geist auf Hochtouren, ausgehungert nach äußeren Reizen. Er mußte Worte hervorbringen, ganz gleich, wie heiser seine Kehle war. Anna war nicht mehr. Dieses Grauen! Kulli hatte ihm den Gehorsam verweigert. Seine Anna war für immer verloren, in Qualen, in Rauch. Er betete, daß sie nicht so sehr gelitten hatte wie ein gewöhnlicher Körper! Damals, vor langer Zeit, als Blomberg der erste Besprecher von Kaleva und Paul Vassian der Hofdichter gewesen war, hatte Gunther seine Anna mit zur Gala genommen. Während sie nach Julistalax ritten, hatte der Wind ihr Haar zerzaust, das so schwarz war, daß es fast wie der Widerspruch zu jeder Farbe schien, doch gleichzeitig eine Bestätigung ihrer Existenz, gewissermaßen als negative Silhouette. In Julistalax hatte sie sich ein so langes Kopftuch umgebun-
den, daß die Enden bis zu ihren Fersen herabhingen. Dieses Kopftuch hatte wie eine Fahne geweht. Helle Bänder, die durch große silberne Ohrringe gezogen waren, wehten auf ihren Schultern. Sie war ein ausgelassener Luft-Näkki. Ihre Augen in der Farbe von gerösteten Nüssen hatten im Wind getränt. War diese Feuchtigkeit ein Zeichen ihrer überschwenglichen Fröhlichkeit? Welche Launen trieben eine Sariola-Tochter? Einen Drachen steigen lassen. Ein Kätzchen in einen kleinen Korb unter den Drachen setzen, damit der künftige Vogeljäger Herrschaft über die Luft erlangte, wenn auch nur in Form des Begehrens. Dasselbe Kätzchen in einem Glaskolben versiegeln und es in das Wasser eines Sees tauchen, um es mit dem heimischen Element der Fische vertraut zu machen. Doch nicht für lange Zeit, damit das Kätzchen nicht erstickte. Anna war nicht grausam. Ihre Experimente waren Spielereien, eher symbolisch als zweckgebunden. Es waren Verbindungen von Umständen. Anna hatte ihren Singvogel in einen anderen Glaskolben eingeschlossen, damit er eine Weile unter Wasser neben dem Kätzchen hing. Der Vogel hatte seine Flügel wie Flossen geschlagen. Anna hatte keinen Schaden angerichtet, sondern eine zauberhafte Stimmung erzielt. Gunther wurde in ihre Spiele einbezogen. So kaufte sie Gunther für einen Tag als Sklaven. Ein andermal spielte sie einen Juttahat, der seiner Schlangenstimme ergeben war. Sie gab vor, eine der Statuen seines Vaters Friedrich zu sein, die zum Leben erweckt wurde. Sie organisierte Maskenbälle und Historienspiele in Beckburg. Während sie Schloßherrin war, blühte die Burg. Die Bereiche zwischen den Granitrücken und den Mauern, die
nun von Unkraut und Gestrüpp überwuchert waren, waren Blumengärten gewesen. Wachleute patrouillierten auf den Mauern. Welch ein Anblick sie war, in ihren gelben Pantalons und der über und über mit Perlen bestickten Jacke, dazu die Bänder, Bänder in den Ringen, die sie in den Ohren trug. Als die Jahre erste Falten in ihr Gesicht gravierten, waren es nur Falten der Liebe und des Lachens, die allmählich tiefer wurden. Dann hatte Gunther den Boden unter den Füßen verloren, als ein furchtbares Beben einen Abgrund öffnete, in den sie brennend hineingestürzt war, unwiderruflich verloren. Sein großartiges, unmögliches Projekt hatte zum Erfolg geführt. Und im Erfolg war es auf schreckliche Weise fehlgeschlagen. Ein Zombie. Ein lebender Leichnam. Wie lange hätte sie in diesem Zustand existieren können? Ein Jahrzehnt lang? Oder drei? Hätte sie als Zombie sein Bett mit ihm geteilt, das mit Vögeln beschnitzte Bett? Hätte sie sich von ihm in die Arme schließen lassen? Hätte er eine Art von Nekrophilie entwickelt, um ihr körperlich Trost spenden zu können? Oder hätte er sich eingebildet, daß diese Intimität ihr ein gewisses Maß von Lebenskraft zurückgeben könnte, wenigstens ein klein wenig? Hätte er sich im Schlaf in eine Phantasie geflüchtet, in der sie geheilt schien – nur um neben grauem, fauligem Fleisch aufzuwachen, das vom flachen Zombie-Atem bewegt wurde, so völlig anders als die runzlige Vollkommenheit ihrer Reife? Wäre Anna als Zombie mit ihm in die Gruft hinuntergestiegen, Hand in Hand – die eine Hand schlüpfrig vor Aufregung,
die andere vor Verwesung –, um einen Blick auf ihre vergangenen Knochen zu werfen, nachdem ihr Körper nun von NäkkiKnochen gestützt wurde? All dies hätte er in Kauf genommen. Jetzt war sie fort, zum Surma. Nicht einmal zum Surma, sondern zum Nirgendwo. Er hatte eine große Liebe erlebt, nicht wahr? Hatte diese Liebe tatsächlich ihm gegolten – und ihr, die in ihm war? Kurzzeitig hatte Gunther so großen Zorn gegen sie gehegt … weil sie ihn verraten und betrogen hatte. Wie hatte Anna ihn so ganz vergessen können, daß sie Minki Kennan zwischen ihre Beine ließ? Daß sie Kennan erlaubte, ihr weiches Nest zu ergründen, das Gunthers Zuflucht gewesen war? Begann Gunther, ihr Bild zurückzuweisen, damit er nicht wahnsinnig wurde? Nie wieder von ihr zu träumen! Von Zeit zu Zeit rief Kulli zur verriegelten Tür: »Er ist in Sicherheit.« Bestimmt hatten sich dahinter inzwischen beide Martins zu Pasquil gesellt, mit Knüppeln in den Händen, um Kulli damit niederzuschlagen. War Bertha mit stärkerer Brühe zurückgekehrt, in die sie geblutet hatte? Nach und nach veränderte diese gekrächzte Kaskade – diese Rhapsodie, dieses Requiem des Elends – die Richtung. Dem heiseren Geflüster entnahm Kulli viel mehr, als er je zuvor über die treibende Leidenschaft im langen Leben seines Onkels gewußt hatte: ein Bildnis von Anna Sariola, das vollkommener als jedes Porträt war, in dieser Stunde des Verlustes. War diese Anamnese Annas, diese Abschiedserinnerung an sie – der Beginn einer Art von Amnesie? Die Träumerei war so ergrei-
fend wie der Herbsttag selbst. Gunther lag erschöpft da, während er gleichzeitig zwanghaft wach blieb. Kullis Onkel war wie ein Baum, der seinen Saftstrom hatte versiegen und seine Blätter hatte vertrocknen lassen, um einen langen, dunklen Winter der Seele zu überleben. Einen Winter, den man am Kamin verbringen sollte – doch was konnte ihm noch Wärme spenden? Was nur? Kamin und Körper, Herz und Hitze … Was konnte Kulli vorschlagen? Kullis Mutter war immer davon überzeugt gewesen, daß ihr Ehre und Verehrung zuteil geworden war, bis die Schuld überwog. Mariettas Ähnlichkeit zum mittleren Porträt (im mittleren Alter) hatte sie nicht einfach nur zu einer Stellvertreterin, zu einer Ersatz-Anna gemacht. Sie selbst war geliebt worden. Eine Mutter, die entehrt wurde, um den Traumfürsten zu trösten? Für eine Weile zu seiner Hure ernannt? Nein, nein. Ganz und gar nicht. Ein Sohn, der als Entschädigung adoptiert worden war – oder als Bestechung? Nein, nein. Die Vision einer Vergewaltigung erhob sich in Kullis Erinnerung. Ein Mädchen im Wald, das vorgab, seine Schwester zu sein … Ach, nein. Auch kein Näkki. Eine Bauerntochter, entjungfert und geschändet. Dieses Mädchen hatte Kulli genauso zu helfen versucht wie Fürstin Eva Loxmith. Wenn Kullis Mutter noch einmal das Schlafzimmer seines Onkels betrat, wenn sie noch einmal in Gunthers Bett der Vögel stieg, mochte dieser wohltätige Akt – durch Kulli arrangiert – indirekt sein Verbrechen gegenüber dem Mädchen auslöschen!
Die letzte Spur des Bannes würde verschwinden. »Onkel, Ihr habt so viel erlitten. Ich werde meine Mutter holen. Diesmal wird sie hierbleiben.« Gunther nickte schwach. Hatte er verstanden? »Ich werde lesen«, krächzte der Traumfürst. »Ich werde mein Talent in einem Meer aus Worten ertränken. In den Worten anderer. Gefangen und gefesselt. Ich werde nie wieder meine eigenen Träume lenken. Hol mir ein Buch aus dem Keller, Kulli.« Es war in der Tat höchste Zeit, die Tür zu entriegeln. Brutzelfliegen wehten durch das Fenster herein. Bald würden sie im Frost verenden. Ein schönes Feuer aus Minzholz würde in Gunthers Kamin brennen. »Wir hatten einige Besucher«, murmelte Gunther. »Sie sind fortgegangen, irgendwohin, nicht wahr, mein Neffe? Hast du sie gesehen?« »Ich habe sie von einem Baum aus beobachtet.« »Ich glaube nicht, daß sie wiederkommen werden. Wenn doch, dann schick sie fort. Ich möchte nichts mit ihren Plänen und Fehden zu tun haben. Sie war nicht grausam. Oder eifersüchtig. Sie – war nicht.« Sie war einfach nicht. Ihre Abwesenheit war allumfassend. Es dämmerte bereits, als der Schweber in der Nähe von Kaukainkylä eintraf. Zu dieser Stunde erwies es sich als unmöglich, irgendein Dorf aus der Luft zu erkennen. Gurrukal kreiste eine halbe Stunde lang in der anbrechenden Nacht, während er und Wex das hügelige Waldland nach dem Schein einer Lampe oder eines Feuers absuchten. War dieser Umriß eine Ansammlung
von Gebäuden oder nur eine Baumgruppe? War jene Lichtung eine Weide oder nur eine Fläche, wo die Bäume bis auf die Stümpfe niedergebrannt waren? Auch das Einschalten der Suchscheinwerfer brachte nur enttäuschende Resultate. Zwischen den lockeren Wolken öffneten sich Fenster, durch die die Himmelssichel einen falschen Glanz auf den Wald warf. Wenn Kaukainkylä sich in der Nähe befand, war das ganze Dorf verdunkelt. Vielleicht waren alle Bewohner früh zu Bett gegangen. Womöglich sparten sie ihr Öl für die dunkelsten Tage des Winters auf, wenn man vor Melancholie wahnsinnig werden konnte. Gurrukal war auf einer Insel im Fluß gelandet. Sie war lang und niedrig, wie ein Bein aus nacktem Fels. Das Hochwasser im Frühling säuberte sie in jedem Jahr von allen Schößlingen, die darauf Wurzeln zu schlagen versuchten. Dort verbrachten sie die Nacht, von vorbeirauschendem Wasser umgeben. Lag Fürst Beck schlaflos in seinem Bett und wartete ungeduldig auf ihre baldige Rückkehr? Es schien unwahrscheinlich, daß sie jemals nach Beckburg zurückkehren würden. Mit ihrer Trophäe würden sie sich eher auf den Weg nach Landfall machen. Am nächsten Morgen ließ Gurrukal den Schweber wieder aufsteigen, und innerhalb von zehn Kims hatten sie ein bescheidenes Dorf gesichtet, das in einem bewaldeten Tal lag. Aus der Luft hatte es geradezu bukolisch gewirkt, doch am Boden war es schrecklich – als sie die Asche eines Scheiterhaufens fanden und ihnen klar wurde, was diese Asche zu bedeuten hatte. Die Dorfbewohner waren nicht sehr mitteilsam. Als der Schweber landete, hielten sich die Menschen außer Sichtweite,
bis Gurrukal ein paarmal mit den Flügelkanonen in die Luft schoß, um dann die Mündungen drohend auf das nächste Haus zu richten. Einige Frauen kamen herausgerannt. Sie winkten beschwichtigend mit leeren Händen. Als keine Gefahr zu drohen schien, kam ein dicker Glatzkopf mit riesigen nackten Füßen zum Vorschein. Gurrukal öffnete das Kanzeldach des Cockpits, und Wex befragte den Sprecher des Dorfes. Obwohl er offenbar ein kampflustiger und charismatischer Rabauke war, rang der Mann auf kriecherische Weise die Hände. Ein schwarzgekleideter ›Kundschafter‹ auf einem Metallroß, der ins Nichts entschwinden konnte … Sein Name war Minki Kennan. Der Zombie in seiner Gewalt hatte ihn so angesprochen … Was für ein Zombie? Eine Zombie-Frau … Es fiel kein Name. Ein lebender Leichnam war schließlich auch kein richtiges menschliches Wesen mehr. Was geschah mit ihr? Der Krieger in Schwarz ließ die Leiche im Dorf zurück, so war es doch, oder? Was tut man schon mit einer Toten, die vielleicht ansteckend war? Ein Hügel aus Asche auf der Dorfstraße … Sie hatten sie bei lebendigem Leib verbrannt? Sie war eindeutig tot. Konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Was für grausame Narren! Sie hatten Anna Beck beseitigt. Und sie hatten ihr Wissen über das Ukko-Kind beseitigt, wie wertvoll es auch immer
gewesen sein mochte. In welche Richtung hatte Kennans Sprungfahrrad gezeigt, als er verschwand? Der Sprecher scharrte mit den Füßen. O ja, er wußte es ganz genau. Würden sie in Luckys Namen schwören, nie wiederzukommen? »Oder vielleicht in Königin Minnis Namen?« fragte Wex verbittert. Er hatte sich schon so weit vom eigentlichen Ziel seiner Suche entfernt. Nach Norden. Das schwarze Roß hatte nach Norden gezeigt. Niemi lag im Osten {EINE FALSCHINFORMATION, ROGER. NUR EIN DUMMKOPF WÜRDE ZULASSEN, DASS DIE LEUTE SEINE WAHRE ZIELRICHTUNG SEHEN. KENNAN KANN ÜBERALL SEIN, NUR NICHT IM NORDEN.} Es war nicht Wex' Aufgabe, sich an diesen Barbaren zu rächen. Zweihundert Kims und zweieinhalb Stunden später setzte Gurrukal den Schweber auf das Kap auf, das einen Steinwurf von der Tür der Kennan-Burg entfernt lag. Der Lasinen-See ruhte friedlich unter einem zartblauen Himmel. Am Ufer lagen winzige Gestalten, um Sonne zu tanken. Die Stadt, über der das Schwebefahrzeug niedergegangen war, hatte sich zu ihrem eigenen kleinen Festival herausgeputzt, das eine Woche vor der Gala der Stimmen in Julistalax stattfand. Wimpel schmückten die Mana-Kirche, die trockenen Springbrunnen, die Geschäfte und Häuser. Eine Blaskapelle hatte auf dem Marktplatz gespielt. Kinder in Kostümen liefen durch die Straßen: kleine Krieger mit hölzernen Schwertern
und Gewehren, falsche Schamanen, geschwärzte Seefahrer aus Puutara (oder sollten diese Kinder dunkelhäutige SamtJuttahats darstellen?). Der Krieg war weit entfernt. Wie viele kleine Luckys hatte man herausgeputzt und wie viele MiniMinnis? Wex' Wetware zufolge handelte es sich um das hiesige Erntefest. Gewiß war es keine Willkommensfeier für Kennan. Am Hauptturm der Burg wehten keine Fahnen. Aus den Fenstern des Saales quollen keine Girlanden. Sie waren fest verriegelt, genauso wie die eisenbeschlagene Tammiholztür. Eine blaßrote Geisterhand zierte diese Tür. Was sollte sie bedeuten? »Blut an Euren Händen«? »Wagt Euch ja nicht heraus, Ihr da drinnen«? Jemand hatte heftig daran geschrubbt. Vielleicht hatte sich in der Handfläche ein Auge befunden: »Wir behalten Euch im Auge«! Die Städter versammelten sich am landwärtigen Ende des Kaps, um den Schweber zu begaffen. Klippen fielen steil vom hohen, breiten Dammweg zum See hinunter. Durch den Schotterbelag wuchs schon seit längerer Zeit Gras. Hohe Klippen stützten auch die vernachlässigte Behausung, die auf dieser Landzunge errichtet war. Wex zog an einem eisernen Griff neben der Tür. Drinnen bimmelte eine Klingel. Sie warteten. Irgendwann wurde knarrend die innere Klappe vor einem Gitter geöffnet. Ein erdbeerartiges Gesicht lugte hindurch. Gestotter drang hindurch, als würden die rostigen Gitterstäbe jedes einzelne Wort zerhacken.
Was für eine Familienszene bot sich in dem Saal mit dem bogengestützten Holzdach! Ein Baby in der Wiege. Eine runzlige alte Großmutter mit zahnlosem Mund. Zwei junge Burschen, der eine hübsch, der andere dürr und picklig. Eine hochnäsige junge Dame in einem tief ausgeschnittenen Kleid aus Spitze und Musselin und mit einem Wasserfall aus Ringellocken. Ein blonder Nichtsnutz mit Akne. Die herrschaftliche Fürstin in Schwarz und mit Schmuck und Pailletten geschmückt. Die zwei Jungen waren, offensichtlich begeistert über die Unterbrechung der nörgelnden Monotonie, herbeigestürmt. Wie enttäuscht sie sein mußten, nicht in die Stadt laufen zu dürfen, um am Fest teilzunehmen! »Dürfen wir in Euer Luftboot, Herr …?« »Nehmt Ihr uns mit in den Himmel …?« Kyli Kennan war in den Saal stolziert, hocherfreut über den hohen Besuch aus der Erdenburg. Fürstin Ingas Begrüßungslächeln war übertrieben, beinahe verführerisch – trotz des abschätzenden Blicks in ihren haselnußbraunen Augen und der unerschütterlich emporgereckten Nase. »Meine Herren«, bestürmte sie sie. »Likör? Wein? Wodka? Ein Essen? Betten für die Nacht?« Obwohl es kaum Mittag war. »Eine Abendgesellschaft«, sagte Kyli wehmütig. »Die Kandelaber erleuchtet. Plaudereien über ferne Orte. Habt Ihr auf der Erde gelebt? Bestimmt!« »Die Erde! Wollt Ihr uns nicht von der Erde erzählen?« schrien die Jungen. »Wir könnten etwas Alkohol für unseren Treibstofftank gebrauchen, meine Dame«, sagte Gurrukal.
Inga winkte ab. »In der Stadt.« Als wäre ihr Wort Gesetz, ungeachtet des Handabdruckes an der Tür. Treibstoff für den Schweber. Wie lange mochte ein Sprungfahrrad springen, bis es sich verbraucht hatte? {NACH MEINER THEORIE LADEN DIE SPRUNGFAHRRÄDER SICH SELBST AUF, UND ZWAR WÄHREND DES SPRUNGES DURCH DEN MANA-RAUM, ROGER. ALLERDINGS KÖNNTEN SIE REGELMÄSSIGE WARTUNG BENÖTIGEN. DURCH INGENIEURE DER JUTTAHATS. ANSCHEINEND HABEN DIE ISI NICHT VERSUCHT, RAUMSCHIFFE ODER GAR LUFTBOOTE ZU BAUEN, DIE NACH DEMSELBEN PRINZIP ARBEITEN. VIELLEICHT KANN NUR ETWAS VERHÄLTNISMÄSSIG KLEINES SPRINGEN.} Könnte Kennan bei Nacht in seine Burg gesprungen sein, ohne daß man ihn gesehen hatte? Aber dann würde die Fürstin ihnen wohl kaum nächtliche Unterkunft anbieten, wenn ihr Sohn sich in irgendeinem Zimmer versteckte. Wex hatte Fürstin Inga ein paar ernste Mitteilungen zu machen. Ihr Sohn war wieder aus seinem Versteck aufgetaucht. Er hatte eine Frau entführt, die für Fürst Beck von Beckburg von höchstem Wert war. Dann hatte er sie zurückgelassen, worauf sie von abergläubischen Bauerntölpeln verbrannt worden war. Wex sprach all dies unverblümt vor Kyli Kennan und den Jungen aus. Er mußte mit Minki Kennan reden – nicht um ihn der Gerechtigkeit zu übergeben, sondern weil er Informationen benötigte. »Welch schreckliche Dinge sind geschehen!« rief Fürstin Inga. »Ich kann es kaum glauben. Doch wenn Ihr schwört, daß es die Wahrheit ist …« Bitte verzichtet auf weitere Einzelheiten! Kyli Kennan errötete. »Wer war diese Dame, die er entführte? Hat Minki sie geschändet?«
Die alte Haushälterin zischte die Jungen an und hielt sich mit den Händen die Ohren zu, als würden die unschuldigen jungen Brüder dadurch taub. »Warum«, fragte Inga, »haben diese Flegel die Frau verbrannt? Wie schrecklich, eine Frau zu verbrennen, meinst du nicht auch, Schwiegertochter? Warum haben sie es getan?« »Zufällig«, sagte Wex, »wurde sie zu einem Zombie.« »Was sagt man dazu! Also nahm mein Sohn diese unglückliche Seele unter seine Fittiche, bis ihr Zustand ihm Angst machte.« Inga strahlte Kyli aufmunternd an. Welcher Kerl würde schon gerne einen lebenden Leichnam schänden? Kyli kaute an einem Fingerknöchel. »Sie wurde zu einem Zombie, sagtet Ihr. Und was war, als Minki sie entführte?« »Da-da-da-das sind a-a-a-alles nur Ge-ge-ge-gerüchte«, sagte Schneekopf diensteifrig. »Ihr habt gut reden!« erwiderte Kyli. »Von Gerüchten zu sprechen, während hundert Stimmen in Eurem Kopf flüstern.« »Ich ha-ha-hab Euch d-doch gesagt, sie sind ve-ve-veverschwunden.« Ein Grinsen verzerrte das Erdbeergesicht. »Soso-soviel zum F-f-f-fluch eines Scha-scha-schamanen! Ich kaka-kann wieder richtig d-denken.« »Wie war der Name dieser Frau?« wollte Kyli wissen. »Anna«, antwortete Wex. »Aber das spielt keine Rolle.« Er konnte jetzt kaum die Erklärung abgeben, daß Anna eigentlich schon vorher tot gewesen war. »Keine Rolle? Oh, für mich wird es eine Rolle spielen! Für mich, die er schwanger im Stich gelassen hat …!« Das Baby wachte auf und schrie durchdringend. »Goody, bring doch das Schweinchen hinaus.«
Das Geschrei verstärkte sich. Gurrukal runzelte die Stirn. »Ich glaube, das Kind hat eine Kolik. Krämpfe in den Därmen.« »Dann untersucht es doch!« schlug Wex vor. »Bringt die Wiege zusammen mit dem Kindermädchen anderswohin. Massiert den Säugling.« »Mo-mo-mo-moment mal!« warnte Schneekopf. »La-la-laßt ja die Fi-fi-fi-finger von Jo-jo-jo-johannes!« Das Baby kreischte. »Bringt ihn endlich weg und füttert ihn, Goody«, flehte Kyli. Gurrukal deutete ohne Hemmung auf ihr Dekolleté. »Füttert Ihr ihn nicht selbst?« »Das geht Euch überhaupt nichts an! In welcher Beziehung stand Minki zu dieser Anna? Wurde sie wirklich zu einem Zombie? Könnte sie ihn angesteckt haben?« »Ziegenmilch hat noch keinem Kind geschadet!« verkündete Goody. »Das hängt von der Ziegenrasse ab«, sagte Gurrukal. »Mit Knödel ist alles in Ordnung. Sie frißt artig in unserem Hof hinter dem Turm. Gibt seit zwei Jahren ohne Unterlaß Milch. Knödel ist völlig in Ordnung.« Lenkt das Gespräch von Zombies und Damen ab! »Aber der Butterfettanteil könnte viel zu hoch für die Verdauung des Kindes sein. Zuviel Protein und zuwenig Wassergehalt. Ich denke, Ihr solltet die Milch verwässern. Ich würde das Kind ohnehin nicht mit den Fingern berühren«, beruhigte Gurrukal den aknegesichtigen Diener. »Meine Methode besteht in der Massage mit den Füßen – sehr vorsichtig natürlich im Fall eines so kleinen Körpers. Ja, etwas leichte Massage, um die
Krämpfe zu lösen, und eine andere Ernährung.« Schneekopf zwinkerte der Fürstin zu. »Hey, ich bin f-f-f-froh, daß Ihr vorbeige-ge-gekommen seid«, sagte er. »Jo-jo-jo ging uns wi-wi-wirklich langsam auf die Ne-ne-ne-nerven.« »Ich habe meine Kinder selbst gestillt«, gab Fürstin Inga ihrer Schwiegertochter zu bedenken, froh über die Ablenkung. »Wenn ich doch nur eine weise Frau zu Rate ziehen könnte!« gab Kyli zurück. »Wenn die Leute doch nur mit uns sprechen würden!« »Na-na-na kommt schon«, sagte Schneekopf liebenswürdig, »w-w-wir w-werden ja nicht gerade bo-bo-bo-boykottiert, w-wwenn wir w-w-was k-k-k-kaufen wollen. Eine Ha-ha-hand wäscht die a-andere …« Auch wenn es sich bei der anderen um die rote Hand an der Vordertür handelte. Schneekopf verzichtete darauf, ihre Situation genauer zu erläutern. »Es ist wi-wiwirklich gut, daß I-i-ihr geko-ko-kommen seid.« »Das ist aber nicht der Grund, aus dem wir gekommen sind«, rief Wex, während der kleine Johannes immer noch schrie. »Gurrukal, bitte kümmert Euch um diese Störung.« Der Pilot wollte nur ungern gehen. Er hätte lieber der Befragung beigewohnt. Doch sie ließ sich unmöglich fortsetzen, solange das Baby im Saal brüllte. Wex flüsterte ihm zu: »Es ist zum Verzweifeln! Würden Sie bitte Ihre Pflicht als Mediziner tun!« Gurrukal und Goody waren mit der Wiege gegangen. Das Geschrei hatte nachgelassen. Die Jungen waren geblieben. Weder Fürstin Inga noch Kyli oder Schneekopf machten Anstalten, sie zu verscheuchen. Und damit begann ein verzögerter
Schlagabtausch zwischen Wex und der unbeugsamen Fürstin Inga. Auch wenn das Duell das Begriffsvermögen von Kyli und Schneekopf überstieg, platzten beide immer wieder auf verwirrende Weise dazwischen. Es ging um den gegenwärtigen Aufenthaltsort von Minki und die Lage des Ortes, wo er sich versteckt hatte. »Ich ha-ha-hab nie ge-ge-gewußt, wo der Bo-bo-boß steckt, e-e-ehrlich …« »Er hat nicht einmal seiner Kiki-liki das Geheimnis anvertraut!« Inga funkelte Kyli für einen kurzen Augenblick an, dann hatte sie sich wieder gefaßt. »Es war das Geheimnis seines Vaters. Ein Männer-Geheimnis, Herr Wex! Ist es nicht so, Kyli? Die Geheimnisse der Männer bleiben uns für immer verborgen.« »Oh«, sagte Kyli. »Ja«, stimmte Schneekopf zu. »We-we-wenn ich n-nur beim Bo-bo-boß w-w-wäre! Ha-ha-hab fast d-das Ge-ge-gefühl, ich w-wär bei ihm! Nur Mi-mi-minki selbst w-w-weiß, wo er je-jejetzt ist, ni-nicht w-wahr, F-f-fürstin?« Ingas Sohn war von Prinz Bertel überrumpelt worden. Diese Einladung zur Hochzeit einer Sariola-Tochter war so unaufrichtig gewesen! Aber wem lag schon etwas an einer solchen Hochzeit? Langlebigkeit, pah! Was bedeutete sie schon? (Fürstin Inga wagte sich auf dünnes Eis, doch Kyli schien nichts davon zu bemerken.) Ein Mann konnte provoziert werden. Falls der Tod des Prinzen nicht zur Gänze Minkis Schuld war, hatte er Schutz verdient. Minki brauchte Asyl an einem sicheren Ort. Wie zum Beispiel in der Erdenburg. Eine Garantie für seine Sicherheit im Austausch gegen … gewisse Informationen, die er zur Verfü-
gung stellen würde. Und was diese Zombie-Frau betraf, wer immer sie sein mochte, so konnte Minki kaum für die Handlungen von Flegeln verantwortlich gemacht werden. Fürst Beck wollte Minki vielleicht zur Rechenschaft ziehen? Wie ungerecht. Minki brauchte doppeltes Asyl als Gegenleistung für einen Gefallen. »Bringt meinen Sohn unversehrt in Eurem Luftboot hierher, Herr Wex. Ich werde vernünftig mit ihm reden. Er wird auf seine Mutter hören. Nehmt ihn mit zu Eurer Erdenburg, und ich bin überzeugt, daß er sich als sehr hilfreich erweisen wird.« »Was glaubt Ihr, wo er sich aufhält, Fürstin Inga? Ihr müßt doch eine Vermutung haben. Oder Ihr!« setzte er hinzu, an Schneekopf gewandt. Schneekopf scharrte mit den Füßen und kratzte sich die picklige Stirn. Wie sollte er Fürstin Ingas Gesichtsausdruck deuten? Wohin hatte sich der Boß höchstwahrscheinlich zurückgezogen? Wenn er an die Tage ihrer Juttahat-Jagden dachte … Es gab mehrere Möglichkeiten. »Für das Wohlergehen dieser Welt ist es lebenswichtig, daß Minki gefunden und sein früheres Versteck ausfindig gemacht wird«, sagte Wex mit Nachdruck. »T-t-tatsächlich?« Die Jungen zankten sich flüsternd. »Was ist mit der Karte auf der Trommel …?« »Sei still …!« »Vielleicht hat er eine zweite gemacht und sie fertiggestellt …« »Jungs!« rief die Fürstin. Ungeduldig versetzte Kosti dem pickligen Karl einen Nasenstüber. Karl heulte los. »Mama,
Mama, ich habe doch nur vom Schamanen Sven geredet!« »Ach, dieser Schamane weiß überhaupt nichts«, sagte Fürstin Inga schnell. »Mein Minki konnte ihn nie gut leiden. Und Ragnar auch nicht.« »Aber er hat doch eine Mana-Karte gezeichnet, Mama«, wimmerte Karl, »bevor Schneekopf ein Loch hineingeschossen hat …« »Jungs, ich bin sicher, daß dieser dunkelhäutige Mann eurem Neffen mit seinen Füßen weh tut! Lauft und seht nach! LAUFT UND SEHT NACH!« Die Jungen deuteten den Tonfall ihrer Mutter richtig und rannten tatsächlich zur Tür. Wex war erstarrt. Eine rauchige Stimme kam über seine Lippen. »EIN SCHAMANE AUS DER UMGEBUNG HAT EINE LANDKARTE ANGEFERTIGT … DIE MINKIS VERSTECK ZEIGT? WO FINDE ICH DIESEN SCHAMANEN?« Verblüfft über diese Verwandlung, stammelte Schneekopf: »Sven ha-ha-hat sie n-nicht f-fertigge-ge-gestellt!« »Wo finde ich diesen Schamanen?« »Im Wa-wa-wald, wo-wo-wo sonst?« Wex' Wetware verlangte nach genaueren Angaben. »Sven Hartzell ist womöglich längst weitergezogen«, sagte Inga. »Ihr würdet mit ihm nur Eure Zeit verschwenden.« »Ich betrachte dieses Gespräch als nicht sehr zufriedenstellend, Fürstin Inga. Ihr seid eine gute Diplomatin, aber für eine so niedere Sache! Eure Talente sind in solch einer Familie vergeudet.« »Mo-mo-moment! W-w-was w-wollt Ihr da-da-damit sagen?«
Wex ging nicht auf Schneekopf ein. »FÜRSTIN INGA, DIE ETHIK DER HARMONISCHEN GESELLSCHAFT VERBIETET MIR, STÄRKEREN DRUCK AUSZUÜBEN, WENN ES EINE ALTERNATIVE GIBT. WIR WERDEN DEN SCHAMANEN UND EUREN VERDAMMTEN SOHN FINDEN.« »Mit wem genau rede ich hier eigentlich?« fragte die Fürstin unerschütterlich. »DAS WÜRDET IHR NICHT VERSTEHEN. IHR WÜRDET IN KAUF NEHMEN, DASS DIESE WELT INS CHAOS STÜRZT, NUR UM EUREN UNWÜRDIGEN SPRÖSSLING ZU SCHÜTZEN.« »Trotzdem will ich wissen, wer diese Anna ist!« protestierte Kyli. »Bleibt Ihr nicht zum Abendessen?« fragte die Fürstin. »Ich glaube nicht«, antwortete Wex mit seiner eigenen züchtigen Stimme.
13 Minki gesucht, und ein Magus verführt
Es war Juko Nurmi, der die Königin dazu veranlaßte, eine Expedition über Hunderte von Kims von Loxmithlinna ins Reich von Saari zu schicken und den Krieg gegen die Rebellen zu unterbrechen … Ein Kuckuck, der auf dem Haufen aus zerbrochenem Glas im Landhof des Ha-Hauses saß, hatte darüber getratscht, daß Minki Kennan sich schließlich wieder hatte blicken lassen. Und in welchem Dorf. Und daß er auf einem Sprungfahrrad gesessen hatte. Außerdem hatte Kennan ein Zombie-Mädchen in seiner Gewalt gehabt, das er im Dorf freigelassen hatte. Kennan war sofort gen Norden verschwunden, worauf die Dorfbewohner den lebenden Leichnam verbrannten. Als der Vogel sich dort im Landhof niedergelassen hatte, war Paavo Serlachius gerade mit einem nachdenklichen Moller in eine Diskussion über die Natur des Mysteriums vertieft gewesen. Luckys Soldatenpriester war der erste, der die Neuigkeiten an die Königin weitergab. Lucky war mit ihrem Priester die Treppen zur langen Galerie im obersten Geschoß hinaufgeeilt, um einen besseren Überblick zu haben. Sie verscheuchte die Wachen, die auf den See hinausblickten. Einen Wachmann schickte sie zu Juko, einen zweiten zu Viktor Aleksonis und Ben Prut, und zwei weitere zu Jack und zu Lyle Melator. Bettzeug lag auf dem verblaßten Rasen aus Teppichen ver-
streut. Die Wandbehänge hatte man abgenommen, um sie als Decken zu verwenden oder zu Kissen zusammenzurollen. Die meisten Trümmer waren in den See geschaufelt worden. Die Hälfte der Fenster hatte man wieder verglast, andere offengelassen, um nötigenfalls hindurchschießen zu können. Wo ein Teil des Daches eingebrochen war, war Regen hindurchgesickert und auf die gewebte Lichtung gefallen, so daß jetzt echte Pilze darauf wuchsen. Ein kugelrunder Messingzwerg mit roten Augen lag auf der Seite. Als Luckys Berater eingetroffen waren, wiederholte Serlachius die Geschichte des Kuckucks. Lucky ging in der Galerie auf und ab, wobei sie über Bettzeug stieg und dem kaputten Automaten auswich. Hin und her, ihre Vertrauten im Gefolge, vor und zurück. Wo konnte Kennan sich die ganze Zeit verborgen haben? Bestimmt nicht in irgendeiner Höhle mit einer gruseligen Zombie-Kolonie. Das sah ihm nicht ähnlich. Irgendein Mißgeschick mußte ihm zugestoßen sein, so daß er plötzlich einen Zombie am Hals hatte. Wohin würde er sich als nächstes wenden? Wo hatte er sich versteckt? Wohin war er gesprungen? Wer war der Zombie gewesen – und warum? Serlachius zufolge stellte der Zombie den Schlüssel dar. Kennan hatte sich an dem Ort verborgen, der das Geheimnis der männlichen Kennans war. Dieser Ort mußte mit dem identisch sein, den Ihre Majestät schon die ganze Zeit gesucht hatte: nämlich mit dem Aufenthaltsort ihres Zwillings und weiterer Echo-Personen. Die Heimat von Spiegel-Menschen im Reich
des Mana, im Innern der Nachkommen jenes Ukko, den sie vor langer Zeit zum ersten Mal betreten hatte. Wenn solche Personen ihre Zuflucht verließen oder daraus fortgebracht wurden, mochten sie unwiderruflich zum Zombie werden. Serlachius hatte darüber meditiert. Ganz bestimmt war es genauso geschehen. Warum sollte Kennan eine Zombie-Frau entführen? Doch wohl nur, weil sie vorher noch kein Zombie gewesen war! Kennan hatte die Zuflucht des anderen Ichs der Königin entweiht. Er hatte eine Bewohnerin dieses Reiches mitgenommen. Warum? Aus Wollust? Oder weil er darin einen Vorteil gesehen hatte? Der Kuckuck im Landhof hatte den Namen des weiblichen Zombies nicht preisgegeben. Das Hühnchen, das Kennan sich geschnappt hatte, konnte unmöglich … War es möglich …? Es konnte unmöglich das andere Ich der Königin sein! Oder? Von Kennan zurückgelassen und zu Asche verbrannt? Lucky rief den Namen ihres Gegenstückes. »Paula! Paula!« Sie ging auf und ab und rief dabei ihren eigenen Namen. In ihrer Verzweiflung trat sie gegen den Messingroboter. Konnte Bertis Mörder auch ihr anderes Ich vernichtet haben? Nein, nein, das konnte nicht sein! Sie würde niemals Frieden und Vernunft finden. »Großmutter, Großmutter!« flehte Jack sie an. Kennan hatte sie in tiefster Seele verletzt. »Ich weiß, wohin er gegangen sein könnte«, sagte Juko plötzlich. »Ja? Ja?« »An einen Ort, wo ihn niemand vermuten würde. Als meine
… Als meine …« »Als Eure Schwester«, soufflierte Lucky. »Als sie und ich zum Nest der Samt-Isi unterwegs waren, jenseits von Hermis Knochenhütte, hatte Kennan im Wald und in den Mana-Nebeln Juttis gejagt. Die Straße dort ist ein Labyrinth, genauso wie der Wald. Kein Mensch wagt sich dort hinein, wenn er noch bei Verstand ist. Kennan und sein Spießgeselle Schneekopf müssen sich dort recht gut auskennen …« Aus einer Tasche zog Lucky den Sepiaabzug, der den schwebenden Ukko mit der Knochenhütte darunter zeigte. »Das ist die Bedeutung des Bildes, nicht wahr, Paavo? Die Person, die vom Ukko-Kind weiß, versteckt sich in dieser Hütte. Er muß sich dort verstecken. Dieser verstörte Schamane wurde zu mir geschickt, um es mir zu zeigen, genauso sicher, wie ich zu deiner Hochzeit eine Mana-Blume erhielt, Jack.« Lyle machte sich mit einem Hüsteln bemerkbar. »Entschuldigt bitte, aber Hermi war nicht ganz so verwirrt, als er das erste Mal hier eintraf. Entweder betörte ihn das Goldmädchen der Aliens nach dieser blasphemischen Krönungsfarce, oder Roger Wex hat es irgendwie bewerkstelligt.« Spielte das eine Rolle? War es wichtig? Ach, diese blasphemische Krönung! Minni und van Maanen! Lucky mußte noch ein paar Rechnungen begleichen. Was wäre sie für eine Königin, wenn sie daran scheiterte? Eine scheiternde Königin. Eine gescheiterte Königin. Lyle wollte nicht, daß sie den Krieg gegen Maananfors vernachlässigte, wo Elmer Zuflucht gefunden hatte. Trotzdem … »Angenommen, das Goldmädchen hat die Mana-Linse gestohlen«, sprach Lyle weiter, »und zwar im Auftrag der Bronze-
Isi.« Nicht im Auftrag der Samt-Isi, die eine Mana-Blume in ihrem Nest hatten (doch sie hätten Lucky niemals diese Blume geschickt). Auch nicht für die Streifen-Isi, dessen Mutanten-Magus irgendwie von Minni bezwungen worden war, die sie und ihren anmaßenden Emporkömmling mit Waffen versorgten … Lucky ging auf und ab. Wohin sollte sie sich wenden? Was wollte Lyle damit andeuten, daß er die Isi zur Sprache brachte? Denk nach. Denk an jene Blume im Nest der Samt-Isi. Juko hatte sie dort gesehen. Das Nest der Samt-Isi befand sich nicht weit von dem Ort entfernt, wohin Kennan sich geflüchtet hatte. »Wir wollen nicht vergessen«, sagte Lyle, »daß Hermi sich selbst als eine Art Mittler zwischen den Menschen und den Samt-Isi sieht …« Was war, wenn Kennan seine Informationen gegen eine sichere Zuflucht eintauschen wollte? Wenn er in der Lage war, den Aufenthaltsort des Ukko-Kindes an die Schlangen zu verraten? Kennan mochte in der Vergangenheit etliche ihrer Juttahats abgeschlachtet haben, doch ein solches Wissen mußte sogar tödlichen Groll zum Verstummen bringen … wenn er sich den Handel zutraute. Kennan mußte gefaßt und ausgequetscht werden. Der Krieg konnte noch ein Weilchen warten. Die Pestfliegen würden schon baaald widerstandsfähiger sein. In ein oder zwei Wochen. Mehr als nur ein Hauch von Herbst lag bereits in der Luft, aber Mana-Fliegen sollten Kühle ertragen können – und sogar winterliche Kälte. Nicht daß der Krieg wirklich so lange dauern
konnte. Lucky selbst durfte diese Burg jedoch nicht verlassen, richtig? Es könnte ansonsten als Zeichen der Schwäche oder mangelnden Interesses gedeutet werden, als wäre ein Krieg, in dem Menschen starben, nur eine Laune. Aleksonis hatte persönlich die Expedition geleitet, die die Alles-Maschine in ihren Besitz gebracht hatte, doch unter den gegenwärtigen Umständen mußte er in jedem Fall in der Nähe von Loxmithlinna bleiben. Eine Expedition zu einem Ausflug quer durch das Land wurde ausgerüstet. Ben Prut war für die militärischen Aspekte verantwortlich. Wer war besser für das allgemeine Kommando geeignet als Jack? Er war in einem Isi-Nest aufgewachsen. Bei dieser Expedition ging es nicht nur um Kennan, sondern auch um die Samt-Isi. Jack, aber mit Jukos mäßigendem Einfluß. Das königliche Luftboot würde mit den Wachen der Königin vollgestopft sein (obwohl Jack nicht der Pilot sein sollte), dazu mit einigen hölzernen Soldaten (obwohl Hauptmann Bekker mit dem größten Teil seiner Leute zurückbleiben mußte) und mit zwei Sprungfahrrädern, um Kennan zu jagen, falls er versuchte, sich durch den Mana-Raum davonzumachen. Sollte auch das Luftboot von der Festung mitgeschickt werden? Aleksonis hatte Einwände. Die Königin durfte nicht ohne mindestens ein größeres Fluggefährt zurückgelassen werden. Seiner Ansicht nach sollte das Kontingent hauptsächlich aus Jaegertruppen oder der Freiwilligen Verteidigung aus dem HaHaus bestehen, während die hölzernen Soldaten das Rückgrat der Disziplin bildeten. Falls es zu einem Vorstoß in das Nest der Samt-Isi kommen sollte, waren die Jaegertruppen doch mit
unterirdischen Einsatzgebieten vertraut, nicht wahr? Und was die Freiwillige Verteidigung betraf … Lyle wies darauf hin, daß seine eigenen Leute – Haxells Leute – erst vor kurzem vernichtend geschlagen worden waren. Es war ein langer Weg bis nach Saari. Lyle meldete sich freiwillig, aber nicht so sehr als Kämpfer, sondern eher als Mechaniker, sollte das königliche Luftboot einen Ingenieur nötig haben. Ein überladenes Fahrzeug konnte in der Luft leicht in Schwierigkeiten geraten. Die Debatten gingen weiter. Sollte die Elite der königlichen Palastwachen, die erst vor so kurzer Zeit den Treueeid geleistet hatte, so weit von Loxmithlinna fortgeschickt werden? Andererseits sollten gerade sie die Speerspitze dieses Unternehmens bilden! Was als klarer Plan begonnen hatte, wurde bald immer komplizierter. Schließlich sollte die Besatzung des Luftbootes zu gleicher Anzahl aus Mitgliedern der königlichen Wachen, der hölzernen Soldaten, der Jaegertruppen und der Freiwilligen Verteidigung bestehen. Jack hatte das Kommando über die hölzernen Soldaten und die Wachen, von denen zwei Leute fähige Piloten und drei erfahrene Springer waren. Juko unterstanden die Truppen und die Verteidigung, die er nötigenfalls besprechen konnte. Pen Prut fungierte als Koordinator. Lyle Melator sollte im HaHaus zurückbleiben. Am nächsten Tag hatte das vollgepackte Luftboot während des Fluges durch einen trüben Himmel in der Tat mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Die erste Zwischenlandung war für Julistalax vorgesehen,
genauer gesagt, für die Wiese unter Fürst Burgdorfs Burg mit dem hohen schlanken Turm aus rosafarbenem Granit. Dort sollten die Treibstofftanks wieder aufgefüllt werden, bevor man den langen Weg fortsetzte. Julistalax! Wo Juko zum letzten Mal Aino lebend gesehen hatte. Wo er seine eigene Schwester verschachert hatte, um seine Haut zu retten, wo er sie auf unverzeihliche Weise verraten hatte, woran dieser aufgeblasene Fürst Osmo van Maanen schuld war. Und er selbst, auch er selbst … Das Luftboot roch zu sehr nach schlechtem Atem und Schweiß und Fürzen. Die gepolsterten Ledersitze waren ausgebaut worden, außer denen des Piloten und des Bordschützen. Die Soldaten waren wie Fische in einer Kiste aus eleganten Jalvenholzbrettern eingepackt. Rings um die Waffen und Rationen und die zwei klobigen Sprungfahrräder hockten Luckys Wachen in braunen Uniformen, die Jaegertruppen in gelbbraunem Leder, die Ha-Häusler in Umbra und Flaschengrün und dazu die hölzernen Soldaten in Blau mit orangenem Besatz, auf den Köpfen die spitzen Tschakos mit weißen Quasten. Die Holzmänner dufteten leicht nach Harz, was die Luft ein wenig erfrischte. Juko litt Qualen, als das Fahrzeug in Sichtweite von Julistalax kam. Jetzt stand er in Diensten der Königin. Er gehörte zur Streitmacht, die van Maanen bestrafen sollte – irgendwann in der Zukunft. Van Maanen und auch Minni. Minni, der er niemals begegnet war, die er nichtsdestotrotz abgeschossen hatte. Hatte er den Wunsch, eine weitere Frau so schlimm zu behandeln, wie er seine eigene Schwester behandelt hatte? Viel-
leicht würde er sich für Minni verwenden, damit ihre Bestrafung nicht allzu hart ausfiel. Vielleicht könnte er ihr auf irgendeine Weise Schutz bieten – vor allem, wenn seine Jagd auf Minki Kennan erfolgreich verlief. Würde dieser Schutz ähnlich aussehen wie der, den er Jatta hatte angedeihen lassen? Auch wenn es damals in seinem eigenen Interesse geschehen war (allerdings auch, weil sie ein Opfer van Maanens war)? Eine Frau zu beschützen mochte eine gewisse Buße für die Art und Weise sein, wie er Aino verraten hatte – und wie er sie schon in all den Jahren vor dem schrecklichen Finale mit seiner heimlichen Sehnsucht verraten hatte … Was für eine Frau war Minni? Sie war van Maanens Komplizin! Was hatte diese Phantasie zu bedeuten, die durch einen Blick auf das Tal der Sprecher aus der Vogelperspektive provoziert wurde? In der drei Kims weiten Mulde mit den terrassenförmigen Abhängen waren keine Schafe zu sehen. Höchstwahrscheinlich hatte man sie ins Waldland getrieben. Es gab nichts Besseres als Schafe, um einen Wald sauber zu halten. Mehrere Festzelte und Marktbuden und eine Tribüne standen schon. Zimmerleute errichteten eine zweite Tribüne, deren Bauteile übers Jahr eingelagert wurden. Nur nicht über das Mädchen nachdenken, das nur darauf gehofft hatte, ein paar Gedichte vortragen zu können, während ihr Bruder immer mächtiger und gefährlicher besprach … »Ihr seid schlecht gelaunt«, rief Jack Juko zu. Das Dröhnen der Motoren und das Kreischen der eingesaugten Luft füllte das Fahrzeug. »Ich erinnere mich sehr gut an diesen Ort. Ach, wie
wir die Schafe brennen ließen, Ihr und ich. Määähr.« Juko erinnerte sich nur allzugut an Julistalax. Die Gala, einst das Ziel seiner ehrgeizigen Träume und nun ein bohrender Stachel in seiner Seele. Wenn doch nur. Wenn doch nur. Die Stadt und ihr Labyrinth der Gassen waren bereits mit Wimpeln geschmückt. Markisen und Gänge aus bunt gestreiften Zeltbahnen verbanden die Reihen der Holzhäuser miteinander, die in Herbergen für all die Besucher verwandelt worden waren, die schon bald in die Stadt strömen würden. Bis zur Gala waren es nur noch vier Tage. Bis dahin sollte sich die triste Bewölkung aufgelöst haben. Ein Zeltlager war am Strand errichtet worden, um die Gäste unterzubringen, deren Geldbeutel so schmal war, daß sie sich ein paar Nächte im Zeichen der Ziege oder in der Glockenblume nicht leisten konnten. Noch wimmelte es im Hafen und am Ufer nicht von Booten. Dennoch machte sich Julistalax auf eine lukrative Flut gefaßt, die die Bevölkerung auf das Sechsfache anschnellen lassen würde. Oder würde es in diesem Jahr des Krieges nur das Vierfache sein? Oder gar nur das Dreifache? Als das königliche Luftboot sich tuckernd der Wiese unter der Burg näherte, blickten Städter auf und winkten. Sie hatten keine Ahnung, daß dieses große weiße Fahrzeug mit den zinnoberroten Augen rings um die Sichtluken nur zu einer Stippvisite hier war. Die Gala in Sicht! Wie sehr Juko von Erinnerungen gequält wurde! Wenn es doch nur einen Weg gäbe, die Geschehnisse auszulöschen. Als die heimliche, unerfüllte inzestuöse Lust in seinem
Herzen allzu offensichtlich geworden war, hatte van Maanen ihm die Wahrheit ins Gesicht geschrien, so daß Juko danach strebte, seiner entsetzten Schwester dieses Wissen durch welches Mittel auch immer wieder zu entreißen … Er war im Treibsand versunken. Er hätte nach jeder Gelegenheit gegriffen … Konnte der edelmütige Schutz für eine Frau all dies wiedergutmachen? Wenn doch nur. Wenn doch nur. Eine großartige Geste … Das war van Maanens Stärke. Fürst Osmo hatte sogar Ainos Ächtung zu einem applaudierenswerten Auftritt gestaltet. Kennan einfangen und zum Helden werden. Eine Isi-Festung stürmen. Minki Kennan hatte Aino beiläufig und oberflächlich begehrt. Keineswegs so hingebungsvoll wie Juko … Wie einfach es gewesen war, diesen Kerl zur Impotenz zu besprechen. Wenn Juko doch nur sich selbst besprechen könnte, so daß sich seine Seele beruhigte und das Geschwür, das darin eiterte, heilte. Wie war es möglich, daß er, der Fürsten wegen ihres Getues und ihrer Privilegien verachtete, zum gehorsamen Diener einer Monarchin geworden war? Warum war er Aino nicht gefolgt? Warum hatte er sich nicht an ihre Fersen geheftet, als sie auf dem Weg in den Tod gewesen war, um sie im letzten Augenblick zu retten? Nun, wegen des Blickes in ihrem Auge, in ihrem sanften und flüssigen Auge. Vielleicht sollte er sich selbst ein Auge ausreißen und den Schmerz besprechen – oder ihn willkommen heißen. Doch
nicht bevor er, beide Augen auf sein Ziel gerichtet, der Königin gedient hatte! Wie van Maanen ihn verspotten würde, wenn er sich selbst verstümmelte! Erst wenn Fürst Osmo tot war, konnte er daran denken, etwas Derartiges zu tun. Ob Lucky ihm Minni geben würde, damit er nett zu ihr war? (Und würde er dann erstaunlicherweise wirklich nett sein – zu einem Menschen, dem er noch nie begegnet war?) Welche Torheit! Er besaß keine Burg, in die er zurückkehren konnte. Nur ein Bett in einer Hütte in einem Dorf der Trugmenschen. Sein Vater mochte ihm sogar seinen Schlafplatz verweigern. Er war jetzt auf Gedeih und Verderb Lucky ausgeliefert. Er war Luckys Geschöpf. Während Ben Prut sich um das Auftanken kümmerte, würden die meisten Soldaten sich die Beine vertreten, frische Luft schnappen, pinkeln und einen Schluck Wasser trinken. Sie mochten sich etwa eine Stunde am Boden aufhalten. Dann ging es weiter über Keskikylä nach Niemi, um sich in Kennans Burg davon zu überzeugen, daß der Gesuchte sich nicht nach Hause geschlichen hatte. Dann weiter zur Stadt Saari, um dort zu übernachten. Solange sie nicht in Niemi aufgehalten wurden. Und morgens dann weiter in nordöstlicher Richtung zum Knochenhaus, das Juko bereits kannte. Auf Fürst Burgdorfs Wiese stand zur Zeit nur ein einziges Luftboot im hohen Gras, und zwar ein altes Wrack, das Fürst Maxi persönlich gehörte. Würden sich hier in ein paar Tagen wieder ein halbes Dutzend Fahrzeuge versammelt haben? Oder vielleicht gar keines, wenn die Fürsten keinerlei Reiselust verspürten, weil die Kuckucke über den Krieg zweier rivalisierender Königinnen tratschten?
Schließlich landeten sie schwerfällig und mit ratterndem Rumpf. Maaginen Imbricatus' Empfindung von Unbehagen. Das Tropfen von Moschus aus Analdrüsen mit Geruch der Strenge. Der Grund war das wilde Menschenwesen, der Lenker des Sprungfahrrads. Nach der Befreiung dieses Magus aus der Gruft Königin Luckys unter ihrem Palast. (Erträglichkeit der Höhle, dennoch hatte die Langeweile der Gefangenschaft begonnen.) Auf einer Wiese jenseits des Großen Fjordes war durch das wilde Menschenwesen der Abwurf dieses Magus und seines Körpersklaven erfolgt, wie das Abstreifen alter Haut, durch Stöße mit Ellbogen und Kopf voller Gewalt. Das Ergebnis war der Bruch von Imbricatus' Rippen und das Zerreißen von Verankerungsmuskeln. Das Zerreißen von Sehnen, die der Befestigung der Rippen am breiten Bauchschild dienten, mit dessen Hilfe der Große Isi zur Fortbewegung in Windungen über Sand oder Stein oder Erdboden in der Lage war, bei Ermangelung eines Körpersklaven zum bequemen Tragen in Würde. Maaginen Imbricatus bewirkte die Heilung seiner Verletzungen durch Mana-Beherrschung innerhalb von zwei, drei Tagen nach dem Vorfall mit dem Menschenwesen, während seines Verstecktseins im Wald. Der Körpersklave sorgte für Imbricatus' Transport mit Verletzungen in Vorsicht. Die Notwendigkeit von drei, vier Wochen des Fastens mit Fischen und Pilzen, während des Weges durch die Wildnis zum Isi-Nest in größter Nähe, dem Samt-Isi-Nest. Imbricatus' Empfang als Häftling der Ehre durch maaginen-
Muskular der Samt-Isi. Beibehaltung seines Status. Imbricatus' heutige Einladung in Muskulars Höhle, so daß die Teilnahme an einer Mahlzeit aus Schweineferkel voller Saftigkeit bevorstand. Imbricatus war in der Zwischenzeit zum vertrauten Stammgast im Nest der Samt-Isi geworden. Die Lieblichkeit des Klingelns. Die Wärme und der Obstduft des Atmens. Das Huschen der schwarzen Juttahat-Jungen, die Garantie von neuen Dienern in der Zukunft, die Isi-Stimmen im Kopf hörten. Dennoch die Verheißung einer Welt voller Menschenwesen in Ungezähmtheit! Einer Heimatwelt im Irgendwo mit der Möglichkeit von Milliarden meiner Diener. Das Erreichen der Herrschaft über die Menschheit und über das Mysterium war ein Spiel der Köstlichkeit. Es waren zwei Spiele in einem Spiel. Der Anblick der Höhle des maaginen im Licht aus Gelb und Wärme. Muskulars Liegen in Windungen auf ihrem Felssims. Die Indigo-Glyphen auf der Purpurhaut waren das Zeichen für Metavision und Anderstimme. An der Seite stand der Körpersklave in schwarzer Uniform, ein Tulki, ein Sprecher-zuMenschenwesen. Juttahats an Arbeitstischen. Eine Ohrblume in Cremefarbe erhob sich aus einer Nährflasche auf einem Sockel neben einer großen Ukkoskop-Apparatur aus Glas. Das Flackern roter Blitze und blauer Funken im Ukkoskop zur Durchsuchung der Manasphäre nach Übereinstimmungen mit dem Ukko-im-Werden. Muskulars Entrollen in Geschmeidigkeit. Das Umdrehen auf dem Felssims war nicht mehr als eine Muskelstreckung. Selbst in der Beengung des Raumes hatte das Gleiten und Rascheln das Gewundene des Unheimlichen. Darauf folgte das Wieder-
Einrollen und Wieder-Aufrollen und zum Schluß das hohe Erheben ihres glatten Kopfes. Augen voller Leuchten blickten Imbricatus in Abschätzung an. Das Herauszucken ihrer Zunge in Karmesinrot unter der Rostralschuppe zum Schmecken der Strenge von Imbricatus' Analduft. Muskulars Reaktion war das Ausstoßen eines Hauches Karamel der Belustigung in Mischung mit Honig des Mitgefühles. Imbricatus' eigener Körpersklave in Kupfer-Uniform mit Schulterglyphe in Schwarz hielt das Gewicht der Windungen. Auch sein Geruch von Strenge im Einklang mit Imbricatus. Die Phantomschmerzen von der Verletzung waren nicht der wahre Grund für das Unbehagen, sondern lediglich Heuchelei! Der wahre Grund war der Handabdruck. Das Abreißen der Schuppen durch die Hände des Menschenwesens mit Perücke aus falschem Haar und zwei Bewußtseinen im Kopf und das Drücken von Imbricatus aus seiner Hautabwerfung. Verursachung des Handabdruckes auf Imbricatus' Haut! Eine solche Entstellung eines Somasehers und Körpermeisters! Die Unauslöschlichkeit dieses Gezeichnetseins bis zu Imbricatus' nächster Häutung. Dies war der Grund für Muskulars Belustigung in Überlegenheit. Imbricatus begann mit der Übertragung von Gedanken und Gerüchen und Worten des Geistes auf Muskular, doch das Sprechen der Körperstimme Muskulars kam ihm zuvor. Es war kein Ansprechen von Imbricatus' in der Sprache des Rasselns und Zischens in Präzision, die Artikulation für die Körpersklaven (und die Formulierung für die Großen Erzählungen), sondern im Kollern und Schnattern der Menschensprache! »Gespräch in Kalevanisch!« lautete die Forderung des Tulki
in Schwarz. »Menschenwesen erreichen eine größere Nähe zum Ukko-im-Werden als wir mit Hilfe unserer Ohrblume. Die Ausrichtung des Ukko auf Taten der Menschen und auf Erzählungen der Menschen. Die Enthüllung von Gewalt und Impulsivität durch das Ukkoskop.« Imbricatus' Anstoßen seines eigenen Trägers und Sprecherszu-Menschen zur Erwiderung: »Die andauernde Unbekanntheit des Aufenthaltsortes des Ukko.« Imbricatus empfand Verachtung für die Strategie der SamtIsi, für Blume und Skelett! Gespräch in Kalevanisch? Der Beginn einer Veränderung der Perspektive in diesem Nest der Rivalen zu diesem späten Zeitpunkt des Spieles? Die Nachahmung der Akustiksprache der Menschenwesen? Doch es gab auch die Möglichkeit der Anspielung auf die Schande des Menschen-Handabdrucks auf Imbricatus' Haut durch die Benutzung des Menschen-Geplappers! Drei Nester in Rivalität … »Die Bekanntheit der Samt-Isi für ihre Benutzung der Empfindsamkeit von Blumen aus den Ukkos als Detektoren.« Imbricatus' Feststellung entsprach dem Offensichtlichen. »Dieselbe Benutzung durch den Mutanten-Magus der Streifen- Isi. Diese Strategie ist keine Einzigartigkeit der Samt- Isi.« Auch die Bronze-Isi machten Experimente von Dauer mit den Blumen aus ihrem eigenen Ukko. Doch Imbricatus übte Verzicht auf eine Erwähnung von Einzelheiten aus seinem Nest. Die Fortsetzung seiner Rede lautete: »Die Beschaffung aller Skelette aus dem Ukko der Menschenwesen durch die Samt-Isi, zum Zweck der Nekromantie.« Diese Naivität der Menschenwesen im Handel mit Knochen
der Isi und Diener! Doch worauf zielte die Erwartung der SamtIsi? Muskular unternahm Bewegungen des Schwankens. Genauso die Blume aus Wachs in der Flasche. Hatte die Blume ein Übermaß an Trank aus den Giften des maaginen in Verdünnung und anderen Säften erhalten? »Das Sammeln und Probieren von Artefakten der Menschen durch die Samt-Isi ist ein Verhalten wie das der Räubervögel dieser Welt …« »Das Interesse ist das Studium der Produkte des Verhaltens der Menschen!« lautete Muskulars Entgegnung. »Die gleichzeitige Gewinnung von Geschichtenmacht durch die Ukko-Kuckucke.« »Die Zähmung von Ukko-Kuckucke ist ein Tabu. Die Konsequenz ist ihr Studium.« Ja, ein Studium in Gewundenheit und Umständlichkeit. Die Vorgehensweise der Streifen-Isi war das Handeln, bis zum Angebot der Kooperation zum Zweck der Verstrickung von Menschenwesen (mit weniger Naivität). Während ihr Mana-Mönch in der Sicherheit der Isolation in Meditation und Massenzunahme lebte. Ein Klingeln der Einstimmung ging in Vibration durch das Nest. Imbricatus legte seinen Kopf in Kontemplation auf den Rothaar-Schopf aus Rothaar seines Körpersklaven. Er rieb sein Kinn in einer Hin-und-her-Bewegung. Die Reaktion des Dieners war ein Husten in leiser Heiserkeit. Die Absonderung von Moschus durch die Kinndrüsen des Dieners. Das Aufsteigen und Zerplatzen von Blasen aus Licht in Pastellfarben von Im-
bricatus' Hörnern. Seine Rede zu seiner Gastgeberin und Gefangennehmerin: »Die Strategie der Bronze-Isi besitzt die größte Vielfältigkeit und Dynamik. Die Ausbildung von Menschenwesen als Körpersklaven durch das Tragen der Haut eines Magus. Die Aufzucht eines jungen Menschenwesens, das ein Mana-Mutant ist.« Diese Information besaß große Bekanntheit durch Kuckuckeklatsch. »Die Züchtung eines besonderen Juttahat von großer Menschenähnlichkeit mit dem Besitz von Willensfreiheit und Ergebenheit …« Ein Zischen der Mißbilligung von Muskular. »… und seine Verführung einer Spenderin der SariolaLanglebigkeit, mit der Folge ihrer Schwangerschaft mit einem Mutanten. Eine Fast-Hybride!« »Fast …« Vanille der Erotik in Mischung mit Sirup der Säuerlichkeit. »Dazu die Züchtung einer Schwester, einer Betörerin von großer Menschenähnlichkeit. Meine Infiltration des PohjolaPalastes.« »War die Gefangennahme Bestandteil der Mission des maaginen?« Die Unwürdigkeit dieses Spottes! »Das Bringen einer Maschine zur Alles-Herstellung nach Kaleva.« »Jedoch die folgende Besitznahme der Alles-Maschine durch Menschenwesen.« »Bin ich durch meine Gefangennahme im Besitz des maaginen? Nein! Die Freiwilligkeit meines Kommens. Das Ersuchen um Gastfreundschaft. Die größten Erfolge der Bronze-Isi beim
Versuch der Kontrolle über die Menschheit und der Beeinflussung des Ukko-im-Werden.« Das Schwanken der Blume, die gleiche Bewegung von Muskular. Das Herausgleiten ihrer Zunge mit Zähnen, ihr Beperlen mit Öltau. Das Lecken der Braunzunge ihres Sprachdieners durch Zähne von Winzigkeit. Muskulars Prahlerei: »Die Bekanntgabe einer Tat von FastVollkommenheit, maaginen des Handstreichs! Es erfolgte der Besuch einer Dichterin der Menschen mit Einauge zum Zweck der Beschaffung eines Kunstauges aus Isi-Fabrikation der Erstklassigkeit. Es war dieselbe Menschenfrau mit der Traumverbindung zum Ukko-im-Werden! Unsere Wahrnehmung ihrer Eignung zum Werden einer neuen Lucky Sariola. Haaaa!« Ein Zischen der Befriedigung. »Sie ist die Schwester des Besprechers Juko Nurmi, des Gegners von Osmo von Maananfors. Dann die Herstellung eines speziellen Spionauges für Aino Nurmi, zum Zweck unserer Beobachtung ihres Blickfeldes in Ständigkeit. Haaaa!« Welch ein Handstreich! Imbricatus' Senken des Hauptes neben dem Kopf seines Dieners. »Bewunderung und Eifersucht, maaginen. Wo ist der Aufenthaltsort der Dichterin zur Gegenwart?« Eine Weile der Pause. »Fürst Osmos Besprechung zu ihrer eigenen Ertränkung im letzten Jahr …« »Und ist ihr Ertrinken erfolgt?« Imbricatus' Heben des Kopfes in Langsamkeit. Eine Pause. Der Geruch der Muffigkeit. »Unbekanntheit.« »Besteht nicht die Möglichkeit der Erkennung durch ihr Kunstauge?«
»Unmöglichkeit nach dem Herausreißen und Zerschmettern des Auges durch Aino.« »Sssss … Also ein Fehlschlag in Gründlichkeit!« »Die Effizienz der Methode! Ihre Geschmeidigkeit. Die Belieferung des Besprechers Juko mit Raketen zur Auslöschung des Besprechers Osmo. Auf diese Weise werden die Samt-Isi zu Lenkern der Umstände.« Und zu Bewirkern, ja. Jeder Bewirker wird, eingestimmt auf den Ukko-im-Werden. Die Nahrung des Ukko-im-Werden sind Ereignisse. Durch sein Mana erfolgt die Nährung von Drang und Manie. Das Bewirken ist eine Art von Drang und Einfluß. Helden und Heldinnen werden zu Marionetten des Mana. In Zukunft werden alle Menschenwesen zu Marionetten der Isi, in Gleichheit zu den Juttahats. Ja. Ein Klingeln der Einstimmung. Doch die Offenbarung von Muskulars Absicht zu Imbricatus' Provokation durch die Wiederholung in Selbstgefälligkeit: »Maaginen des Handstreiches …« Ein heftiges Jucken an Imbricatus' Rumpf, wo das Abreißen der Schuppen durch den Griff des Perückenmenschen erfolgt war. »Der maaginen wurde zum Handlanger der Menschen, nach seiner Markierung durch Menschen …« Das Aufsteigen von Pastellichtblasen in Rosa und Violett von Muskulars Hörnern. Imbricatus' Schweben in den Armen seines Dieners, die Verflüchtigung des Zorns, das Treiben auf einem Pfad des Leuchtens und Strahlens. Das Hören leisen Quiekens von Schweinchen hinter einer Luke an der Seite ihres Lagers. Die Vorstellung des Zappelns der Wildheit im Bauch, die Krämpfe des
Erstickens von Nahrung in Rosa, die Sättigung. Lichtblasen in Folge. Vanille auf Schweinefleisch. Vanille der Süße! Die Einflußnahme seiner Gastgeberin auf ihn. Das Vor-undzurück-Schaukeln seines Dieners. Das Ausbreiten der Arme ihres Dieners in Aufforderung. Imbricatus' Erstaunen. Muskulars Erklärung in Anspielung von den Lippen des Dieners mit Widerhall in Imbricatus' Kopf: »¡Kex'qi sukoo qa'zuvi th'raan ¡kexi ¡kikaxi shaaai …« Die Unmöglichkeit dieses Geschehens! Seine Herkunft aus dem Bronze-Clan und ihre aus dem Samt-Clan! Der Juttahat in Schwarz unternahm die Berührung von Imbricatus' Körpersklaven in Bernsteinfarbenhaut. Sein Festhalten, das Blinzeln der Nickhaut, das Öffnen und Schließen der Nüstern, das Tropfen von Perlflüssigkeit aus Kinndrüsen. Die Männlichkeit des Schwarz-Juttahats und die Männlichkeit des BronzeJuttahats. Dieselbe Paradoxie wie die Weiblichkeit der Samt-Isi und die Männlichkeit des Bronze-Isi. Dieselbe Gegensätzlichkeit wie Gefangengenommener/Gefangennehmerin. War ihre Absicht eine Verspottung und Nachahmung der Verführung eines Menschenwesens durch einen Juttahat aus Spezialzüchtung und mit Mana-Massage? Wäre das Resultat Imbricatus' Erlangung von Dominanz und Freiheit – oder die Unterwerfung – in Muskulars Windungen? Oder würde er zum Opfer des Spottes? Das Entstehen von Mana-Lichtblasen an Imbricatus' Hörnern. Das Heranziehen von Imbricatus' Diener an Muskulars Sims durch ihren Diener in Schwarz. Das Quieken der Ferkel war das Versprechen eines Festmahles nach dem Reiben und Stupsen und Streicheln und Winden zur Zusammenbringung
zweier Schlangenkloaken in Schlüpfrigkeit. Das Strecken der Blütenblätter der Ukko-Blume. Jetzt keine Worte der Menschenwesen mehr. Dennoch der Handabdruck auf seiner Haut. Muskulars Verhalten einer Königin. Ihr Zeigen von Laune, Lust und List. Imbricatus' Unverständnis ihres Spieles. Die Notwendigkeit des Spielens zur Entdeckung des Motives für die Paarung in Perversion zwischen zwei maaginen der Rivalität, einer davon mit Entstellung. Das Reiben, Aufbäumen, Berühren. Das Streicheln und Sabbern der Sklaven. Sein Erkennen der Undurchschaubarkeit von Muskular – ihr Reifen zum Werden eines Juwels der Erleuchtung. Ach, diese Selbstverständlichkeit! Das Bevorstehen einer Großen Erzählung. Über die Gefangennahme, die Vereinnahmung von Imbricatus aus dem Bronze-Clan durch maaginen Muskular aus dem Samt- Clan, der Meisterin der Ohrblumen. Dies war der Drehund Angelpunkt aller Umstände des Vorausgegangenen und des Nachfolgenden. Dies war der Grund für ihre Einladung/Aufforderung zur Kopulation! Durch die Einzigartigkeit des Verhaltens kam es zu einem Einschließen von Imbricatus' Lebensgeschichte in ihre Existenz. Die Folge war die Einbeziehung der Strategie der Bronze-Isi in die Manöver der Samt-Isi. Wie das Einverleiben eines Schweineferkels. Muskulars Überstürzung bei der Einleitung zur Paarung. Die Notwendigkeit dieses Verhaltens! Im Fall des Gegenteiles käme es zu einer Gleichsetzung von Imbricatus' Andauern seiner
Anwesenheit im Nest der Samt-Isi mit der … Ausdehnung des Vorspieles. Eine Umwerbung stand im Gegensatz zu den Absichten ihres Clans. (Die Möglichkeit einer solchen Fragestellung in der Erzählung!) Die Einverleibung wie von Ferkeln! Muskulars Umklammerung seines Körpers. Bronze im Innern von Samt. Sollte Imbricatus Abstand nehmen? Eine Verweigerung zu diesem späten Zeitpunkt? Es waren wieder Schmerzen in seinem Brustschild. Das Zusammenreiben zweier Kloaken. Gleiten und Schmieren.
14 Von Tomi, Golda und Bernsteinmann
Der Mann namens Tomi war zweifellos Goldas Retter. Trotz des ersten Anscheines war er jedoch nicht ihr goldener Gefährte, den sie zu suchen getrieben wurde. Ihr vorheriger Retter, der ihr sein Pony gab – der doppelgeistige Mann mit dem Kuckuck auf der Schulter –, hatte das Ziel von Goldas Suche in seiner Mana-Linse erblickt. Er war jedoch nicht in der Lage gewesen, ihr zu zeigen, was er gesehen hatte. Aber er hatte ihr eindringlich versichert, daß ihre Suche nicht vergeblich sein würde. Als Tomi in ihr Leben trat, schien fast alles darauf hinzudeuten, daß er die Person war, nach der sie suchte … Sie war von Gutbrand abgestiegen, um in einem Waldteich zu baden. Fleischmoos polsterte die Böschung mit weichen rosafarbenen Kissen, die mit Troddeln aus spitzenartigem Kraut besetzt waren. Ein glucksender Bach speiste den Teich, bevor er schließlich in einem Morast aus Farnen und Weichschilf versickerte. Dicke Saugfliegen schwebten träge mit vibrierenden Flügeln über dem Farn, während sie fadendünne Schläuche hinter sich herzogen. Ihre Antennen sahen wie riesige Augenbrauen aus. Insekten belästigten Golda nicht, sobald sie beschloß, einen abweisenden Geruch zu verbreiten. Spatenblättrige Lakarien wechselten sich in der Umgebung des Teiches mit Lepperbäumen voller hängender Wedel und mit Hügeln aus Mustabeerenbüschen ab, deren heranreifende Früchte purpur-
rot leuchteten. Der Sonnenschein glasierte die Vegetation und das Wasser. Eine treibende Wolke beraubte die Welt dieser Glasur, die jedoch schon bald wiederhergestellt wurde. Sie hatte ihren grauen Barchentmantel abgeworfen. Sie war aus ihren Sandalen gestiegen, die nicht mehr tadellos waren. Der Ort schien abgeschieden. Doch verstohlene Blicke waren der verhüllten Gestalt auf dem zottigen Pony gefolgt. Lepperwedel neigten sich teichwärts, als würden sie von einer Brise bewegt. Gutbrand schnaubte leise. Zwei Kerle traten aus der Deckung. Sie pfiffen anerkennend, als sie Goldas kurzes silbriges Hemd begafften, das die butterzarten Formen ihrer Waden und Oberschenkel enthüllte, und die vergoldete Butter ihrer Schultern, von denen eine mit einem Schönheitsfleck in Form einer Sternenblume verziert war. Diese Brüder – oder Vettern – waren gedrungen und kräftig. Dennoch bewegten sie sich behutsam. Ihre Hemden und Knickerbocker waren stumpf grün, ihre Hüte aus schlappem braunen Filz. Messer steckten in ihren Gürteln. Haare sprossen aus ihren Nasenlöchern, als würden darin kohlrabenschwarze Hämchen hausen. »Was haben wir denn hier? In unserem eigenen Wald, häh?« »Sie sollte für die sichere Durchreise bezahlen, würde ich sagen.« »Und für das Bad.« »Sie wollte gerade eintauchen, meinst du nicht auch, Stig?« »Nachdem wir unsere Pinsel eingetaucht haben, denke ich.« Ihre gemurmelten Worte sollten sie gegenseitig anstacheln. Ihre Blicke waren von erotischer Raserei getrübt.
»Ob sie ein Näkki ist?« »Hab' noch nie so eine gesehen!« Und nachdem er sein Gemächt zurechtgerückt hatte: »Und werde wohl auch nie wieder eine sehen, denke ich.« »Sie sollte lieber diese schicken Handschuhe anbehalten, falls sie Nägel hat.« Golda schrie. Dieses wilde Kreischen hätte sie genausogut als verstärkten Akkord mit ihrer Harfe erzeugen können, wenn ihr diese Harfe nicht in Loxmithlinna abhanden gekommen wäre. Irgendwo schrie ein Vogel alarmiert oder auch mitfühlend. Nasenflügel runzelten sich. Haarige Hämchen prüften die Luft. »Sie mieft ziemlich übel.« »Wie ein Eimer Schweinekacke.« »Muß erst mal ordentlich gebadet werden.« »Nee, das ist irgendso ein Näkki-Fluch von ihr. Ich denke, damit können wir es aufnehmen. Was für ein hübsches Küken, was für ein heißes Hühnchen. Tanz uns was vor, Schätzchen. Dreh dich und reck dein Schwänzchen in die Höh'. Plustre dein Gefieder, dann spielen wir Hühnchen-Sandwich, von vorn und von hinten.« »Nicht ins Arschloch, Stig, nicht bei diesem Gestank.« Ein Stoß in die Rippen. »Komm schon, das sind doch nur heiße Gedanken, Alf. Haben wir dich noch nicht erregt, NäkkiMädchen? Schmutzige Worte geilen ein Schätzchen auf.« Behaarte Hände lösten die Gürtelschnallen. Erregung? Nein, Entsetzen! »Eng und heiß, hmm?« »Kuschlige Muschi.«
Golda kreischte erneut. Die Woche und der Tag ihrer Stummheit waren verstrichen. Doch wo war ihre Sprachfähigkeit? Tränen traten ihr in die Augen. Wenn sie jetzt losrannte, würde es die Männer noch mehr erregen – wenn sie versuchte, auf Gutbrand zu springen. Sie würde das Pony niemals erreichen. Sie würde denen die Vergewaltigung nur um so schmackhafter machen. Zu welchen Bestien diese Menschenwesen werden konnten. Sie sollten unter der Kontrolle von Isi-Stimmen stehen. Wenn sie stumm und reglos stehenblieb, würde das ihre Angreifer zu Raserei und größerer Gewalttätigkeit treiben? Warum stieß ihr Gestank sie nicht ab? Weil der Anblick ihres Körpers einen so großen Reiz ausübte, daß er die Ausdünstungen ihrer Drüsen überlagerte. In den glotzenden Augen der Männer stand der wahnsinnige Drang, sie zu besitzen. Wäre der widerliche Geruch nicht gewesen, hätten sich Stig und Alf längst vorzeitig in die Hosen gespritzt. »Uuunnng«, grunzte Stig. Er und sein Kumpel watschelten langsam näher. Ihr umständlicher Gang war durch die Schwellung ihres noch unbefreiten Gemächtes bedingt. Wenn Golda in irgendeine Richtung davonsprang, würden sie sich Hals über Kopf auf sie stürzen. Sie war dazu geschaffen worden, Alien-Männer anzuziehen. Man hatte sie dazu manipuliert. Und dies war das Ergebnis. Das drängende Vorrücken dieser Tiere! Doch dann war er in schnellem Lauf eingetroffen. Zuerst dachte sie, er wäre nur ein Spießgeselle von Stig und Alf. Sogar als er rief: »Schert Euch fort, Burschen!« nahm sie an, er wollte ihnen aufgrund seiner überlegenen Muskulatur nur
das Opfer streitig machen. Dann wäre sie notgedrungen neben zwei Ochsen auch noch einem Bullen ausgeliefert. War sie nicht sicherer, wenn drei daran beteiligt waren? Zwei Männer mochten sich gegenseitig dazu anstacheln, das Corpus delicti ihres grausamen Verhaltens zu beseitigen. Ein dritter Teilnehmer verlieh dem Ganzen vielleicht eine gewisse Dimension der Öffentlichkeit. Der Neuankömmling trug enge Kniebundhosen aus weißem Leder mit einer deutlichen Ausbeulung an seinem rechten Oberschenkel. Seine weiße Lederjacke war aufgeknöpft und legte eine haarlose goldene Brust von üppigem Ausmaß frei. Rasierte er seine Brust, damit die blaue Tätowierung eines von Blumen umrankten phallischen Pilzes niemals überwuchert wurde? Seine Brustmuskeln waren so kräftig ausgebildet, daß sie beinahe einen Busen bildeten – mit Brustwarzen wie Nippelbeeren (durch die jeweils ein goldener Ring gezogen war) und kastanienbraunem Warzenhof. Doch seine Brüste bestanden aus Muskeln und nicht aus Fettgewebe. Wie golden seine Haut glänzte! Sein kräftiger Hals war fast breiter als sein Kopf. Das kurze eingeölte Haar floß in Locken wie gewelltes Wasser nach hinten. Die Koteletten waren scharfkantig geschnitten. Sein glattrasiertes Kinn hatte die Form zweier winziger Pobacken, die durch einen Spaltgetrennt waren. Seine Hinterbacken in der Lederhose waren stramm, seine Taille beinahe zierlich und sein muskulöser Bauch flach. So herrlich geschwungene Augenbrauen, so ein gepflegter breiter Schnurrbart und so ein verschmitztes, unverschämtes, erwartungsvolles Lächeln. Wie golden er war! Welch schreckliche Ironie, daß der für sie bestimmte Partner als Schänder aus dem Wald auftauchte, als
Anführer der Vergewaltiger. Aber nein … Von seiner Schulter nahm der Neuankömmling einen Staken, wie er zum Manövrieren von schwimmendem Holz benutzt wird. Daran hing ein lederner Seesack. Er ließ den Sack zu Boden gleiten. Dann rammte er die Stange mit dem Haken nach unten in ein Kissen aus rosafarbenem Moos. Er spannte und entspannte seine großen Hände. »Schert Euch fort, Burschen. Laßt die Dame in Frieden.« »Uuunng?« fragte Stig verwirrt. »Wer, zum Geier, seid Ihr?« wollte Alf wissen. Das Lächeln des goldenen Mannes wurde breiter. »Seid Ihr schon mal mit Euren Gürteln an einen Baum gefesselt und in den Arsch gefickt worden?« fragte er sie. »He, so solltet Ihr nicht reden!« rief Alf entrüstet. Seine Hand lag am Heft seines Messers. Der Holzflößer – um einen solchen schien es sich zu handeln – stürmte los. Er griff mit einer Hand zwischen Alfs Beine, packte Goldas Möchtegern-Vergewaltiger am Sack und warf den aufheulenden Kerl beiseite. Alf rollte sich am Boden und hatte die Knie fast bis zum Kinn hochgezogen, während er Obszönitäten keuchte. Der Flößer drehte sich zu Stig um, in gebückter Haltung, die Hände ausgebreitet. »Soll ich auch mit Euch ein wenig Eierwerfen spielen, alter Junge?« Stig rannte zum Pony und warf sich auf Gutbrands Rücken. Er gab ihm die Sporen – oh, wie er sich abstrampelte! Schnaufend flüchtete das Pony mit ihm auf dem Rücken und ver-
schwand im Wald. Mit einer Hand hob der Flößer Alf an seinem gelösten Gürtel und am Hosenbund hoch. »Nein, tut es nicht, bitte nicht!« plapperte Alf, während er rückwärts in der Luft hing, strampelnd und sich windend. »Ihr wolltet es mit der Dame tun!« »Das stimmt nicht, das war nur ein Scherz, wir wollten nur pinkeln!« »Mit recht strammem Pinkelstrahl, wie mir scheint! Da ich nicht allzuviel von Euch halte, gebe ich Euch eine halbe Minute, Eurem Freund zu folgen.« Ohne viel Federlesens ließ der Flößer Alf auf den Hintern purzeln. Alf rappelte sich auf und humpelte hurtig und heulend davon. »Mein Pony!« rief Golda. »Kommt zurück!« brüllte der goldene Kerl. Doch Gutbrand war verschwunden. Stig auch. Und Alf ebenso. Der Name ihres Retters war Tomi. Für eine kurze Weile stellte Golda sich vor, er wäre tatsächlich der Liebhaber, der ihr bestimmt worden war – bis er ihr nach und nach diese Illusion raubte. Tomi war unterwegs nach Süden, nach Portti, an die Küste jenseits von Tapper Kippans Reich. Er hatte vor, in Bars Klavier zu spielen, wo Seefahrer aus Puutara verkehrten. In Tomis Träumen tummelten sich muskulöse schwarzhäutige Seemänner. Ach, sie zu beobachten, wie sie ihn beobachteten, sie zu bewundern, während sie wiederum seine Fingerfertigkeit auf den schwarzen und weißen Tasten bewunderten: davon handel-
ten seine verzehrenden Träume. Welche Möglichkeiten sich eröffneten, nachdem die Bar zur Nacht geschlossen hatte! Was konnte ein Bursche mit einem gemütlichen Zimmer an der Straße alles erleben, wenn er zudem eine Vorliebe für kernige Kerle hatte, denen nicht der Sinn danach stand, in Mutter Rakastas berüchtigte Knallhütte einzukehren! Falls die junge Dame ihm folgen konnte. Sie war natürlich willkommen, ihn für eine Weile zu begleiten. Sie hatte einen solchen Schock erlitten, die arme junge Dame. Und dann hatte man ihr auch noch das Pony geraubt! Kerle mit prallen Prügeln sollten sich nicht zarten, andersartigen Geschöpfen aufdrängen, solange es nicht um Babys ging. Kerle sollten sich lieber mit anderen Kerlen vergnügen, da ein Kerl am besten das Wesen und die Bedürfnisse eines anderen Kerls verstand. Falls sie unserem Tomi folgen (oder ihn zumindest begleiten) konnte. Ein solcher Schock für sie. Hatte sie sich – mit Verlaub – selbst beschmutzt? (Er rümpfte die Nase.) Vielleicht wollte sie sich im Teich säubern, während er ihr am Ufer entschlossen den Rücken zukehrte? Doch der üble Geruch hatte sich bereits auf mysteriöse Weise verflüchtigt und war durch einen frischen Duft nach Pilzlamellen und Hefe und Süße ersetzt worden. Tomi hockte sich auf den Boden und holte einen Beutel aus seinem Sack, in dem befand sich Tabak. Das Kraut roch streng nach Terebinthe. Ihr Retter begann mit einem Blatt aus gummiertem Papier eine lange, dünne Zigarette von perfekter Glätte zu drehen. Er forderte sie auf, sich zu setzen, und reichte ihr das Röhrchen. Verwirrt nahm sie es an und schnupperte daran.
Er rollte eine zweite Zigarette und steckte sie sich munter in den Mund. Dann holte er Streichhölzer hervor. »So eine Aufregung!« sagte er. »Kampfer ist gut für die Wiederherstellung von Ruhe und Maß, mein Fräulein. Er kühlt Fieber und Übererregung. Ich benutze ihn gelegentlich selbst, um mich zu beruhigen. Doch nicht in Augenblicken wie diesen, mit Euch, wenn Ihr mir folgen könnt.« Rauch stieg von seinen Lippen auf. Er bot ihr sein Feuer an, und sie tat es ihm nach. Sie hustete ein wenig. »Kampfer«, wiederholte sie zweifelnd. »Was ist das?« »Ach, er wird aus dem Teerpintenbaum gewonnen, der unten im Reich des Waldfürsten wächst. Dort gibt es viele Bäume, die nirgendwo anders vorkommen, wußtet Ihr das? Eine Art, der klebrige Lockbaum, kann Vögel und andere kleine Tiere fangen und verdauen. Das genaue Gegenteil vom Lepperbaum. Er beugt sich in Eure Richtung, so ist es. Aber keine Sorge. Ein erwachsener Mensch kann sich mühelos losreißen.« Sie inhalierte etwas Rauch. »Ihr wart schon einmal dort.« »Aber ich bin noch nie bis Portti gekommen. Ich habe eine Zigarette geraucht und bin wieder umgekehrt. Es gibt eine Legende, daß irgendwo in Kippans Reich ein bemerkenswerter Baum wächst. Er hat keinen Namen, weil ihn bisher noch niemand gefunden hat.« »Wie kann dann irgend jemand davon wissen? In welcher Hinsicht ist er bemerkenswert?« Er grinste. »Ich glaube, er sieht wie ein ganz normaler Baum aus. Wie ein Minzbaum oder vielleicht eine Jalve. Aber er ist in Wirklichkeit etwas anderes. Er hat nur das Aussehen von einem
dieser Bäume angenommen, damit niemand sieht, wie ungewöhnlich er ist. So in etwa wie Ihr, Fräulein. Für die Augen schlichter Gemüter äußerst hinreißend, wie ich denke.« Seine Augen unter den geschwungenen Brauen musterten ihr volles ovales Antlitz, ihre dicht zusammenstehenden bernsteinfarbenen Augen, die Grübchen in ihrem Kinn. »Ich bin kein Näkki.« »Natürlich nicht. Vor dem Mutapu-Baum sollte man sich allerdings in acht nehmen. Sein Saft kann Menschen verändern. Und hütet Euch vor dem fermentierten Saft des Minzbaumes. Ein Schluck davon kann Euch die Schädeldecke wegsprengen, wenn Ihr nicht daran gewöhnt seid. O nein, Ihr seid kein Näkki. Aber Ihr seid auch keine gewöhnliche menschliche Frau.« »Ich bin eine Juttahat«, gestand Golda. »Ich bin die speziell gezüchtete Bronze-Nachbildung einer menschlichen Frau. Ich bin ein Alien.« Er blinzelte und schwenkte seine mit Kampfer getränkte Zigarette. »Natürlich seid Ihr ein Alien. Für mich sowieso.« Während sie mit Tomi nach Burg Kippan unterwegs war, mußte Golda ihre Vorstellung der Begriffe Retter und goldener Gefährte revidieren. Der durch van Maanen auferlegte Bann behielt seine Stärke unvermindert bei. Doch Tomis Gegenwart erzeugte in ihr eine deutliche Gelassenheit. Sie war dazu ausgebildet worden, in Begriffen von dynamischer Unterwerfung zu denken und sich selbst gleichzeitig in der Rolle der Gefangennehmerin und der Gefangengenommenen zu sehen. Konnte es sein, daß Tomi tatsächlich sowohl ihr Schicksal als auch gleichzeitig die Unmöglichkeit ebendieses Schicksales repräsentierte? Durch den Bann, unter dem sie
stand, war es ihr nicht möglich, es zu unterscheiden … noch nicht. Vielleicht verkörperte Tomi wirklich ihre Hoffnung und die Leugnung der Hoffnung, und zwar auf eine solche Weise, daß sie durch die Unerfülltheit schließlich zur Ausgeglichenheit gelangte. Konnte sie ihn den ganzen Weg bis Portti begleiten? Konnte sie unberührt in seiner Nähe leben, als Schwester innerhalb seiner goldenen Aura, als Scheinbild einer menschlichen Frau? In diesem Fall wäre sie nicht mehr dazu gezwungen, weiterhin ziellos umherzustreifen. Würde Tomi ihr fremdes Wesen in seiner Nähe dulden, als Bestätigung seiner eigenen Sehnsüchte, die für immer in eine andere Richtung zielten? War sie vielleicht ein ungeprüfter Prüfstein für seine Neigungen, um sie durch die ultimative Antithese zu beglaubigen, durch die Nachbildung einer Frau, die für ihn absolut fremdartig war? Diese Umstände mochten die Seemänner verwirren, die er in sein Zimmer einlud. Aber sie würde sich in solchen Augenblicken aus seiner Nähe zurückziehen … Golda begann umständliche Andeutungen zu machen. Was würde Tomi während des Winters tun, wenn der Hafen vereist war, wenn es dort keine schwarzhäutigen Seefahrer gab? Ein kräftiger Bursche würde immer Arbeit finden. Der Flößerstaken auf seiner Schulter legte Zeugnis von seinem Geschick mit Bäumen ab. Konnte er im Sommer durch Klavierspielen genügend Geld verdienen? Was war, wenn die Seemänner es vorzogen, mit ihren Puzzles zu spielen? Was war, wenn sein Traum – für den er seinen Körper ausgebildet und gestählt hatte – nur ein Trugbild war?
Goldas Gedanken wandten sich Mutter Rakastas Etablissement zu, wie es von Tomi bezeichnet wurde. Nicht, daß Tomi diese Räumlichkeiten jemals persönlich in Augenschein genommen hätte. (Er hatte Portti ja noch nie zuvor besucht.) Und er würde niemals auch nur den geringsten Drang verspüren, bei Mutter Rakasta einzukehren. Tomi erwähnte das Freudenhaus eher zur Bestätigung der Tatsache, daß gewisse puutaranische Seefahrer sich bemüßigt fühlten, gewisse andere Bedürfnisse zu stillen als nur das Spiel mit hölzernen Puzzles. Daher mußte ein gewisser Anteil dieser Seemänner – mit denen sich seine Träume beschäftigten – entsprechende, wenn auch andersartige Lüste hegen. Vielleicht konnte Golda ja eine Anstellung bei Mutter Rakasta finden … Nur eine Anstellung? Mit ihrem Körperbau und ihrem Duftrepertoire wäre sie bald die Königin der Kurtisanen, der jener Anteil an Seemannsburschen verfallen würde, deren Berührung Tomi für immer versagt bleiben mußte. »Was?« murmelte Tomi. »Ich ein Zuhälter?« Er glättete sein welliges Haar und lächelte belustigt. Er hielt an, um sich eine Kampfer-Zigarette zu drehen und dann eine weitere für Golda. Ach Jarl, Jarl. Jarl war verloren. Er hatte seine Individualität verloren. Golda hegte längst nicht mehr die Hoffnung, den Samen eines Langlebigen zu stibitzen, um Jarls Lebenskraft wiederherzustellen. Welch eine Illusion diese Vorstellung gewesen war! Dagegen war ihr goldener Begleiter viel greifbarer. Sicherlich erfüllte er Fürst Osmos Bedingungen, auch wenn sie keinen überwältigenden Schock des Wiedererkennens erlebt hatte. Mit Tomi weiterzuziehen, von der Herrschaft der Leidenschaft
entbunden … sich unter seinem gelassenen Blick in Portti häuslich einzurichten, während sie für ihn nicht fremdartiger war als jede andere menschliche Frau … Doch es kam anders. Die Siedlungen im Wald bestanden aus quadratischen Tammiholzhütten, die mit Moos abgedichtet waren – sichere Behausungen aus purpurnem Holz. Ihre Flügelfenster waren klein. Die Türen waren niedrig und die Schwellen hoch, um der Kälte des Winters Widerstand zu leisten. Zum Schutz gegen Schlamm zu anderen Jahreszeiten waren einige Dörfer sogar mit hölzernen Gehwegen ausgestattet, die sich zwischen ungefällten Bäumen hindurchwanden. Außerhalb eines Dorfes befand sich ein volles Holzlager, dessen gestapelte Stämme bereits mit Zapfen versehen und für den künftigen Abtransport markiert waren. Daraus ließ sich in ein oder zwei Stunden ein neues Haus für ein Hühnchen und ihren Gemahl zusammenstecken. Aus anderem Bauholz, das von stämmigen Zugpferden über Waldwege geschleppt wurden, die mit Rindenspäne bestreut waren, ließ sich in kurzer Zeit ein Fort errichten. Die Dörfler trugen in der Hauptsache Schuhe aus geflochtener Rinde und Jacken aus Borke, die braun, grün und schwarz gesprenkelt waren. Durch einen ungegerbten Ledergürtel war gewöhnlich ein großes Messer geschoben, dessen hölzernes Heft in Form einer schlanken Hand geschnitzt war, wobei die Finger die Klinge festhielten, um sie niemals loszulassen. Frauen, die Blüten des Waldes, trugen knallbunt gescheckte Schürzen über ihren Gewändern aus Borkenstoff.
Tomi und Golda zogen erstaunte Blicke der Bewunderung auf sich. Ein so ausgezeichnet zusammenpassendes Paar. Ein Held und sein Hühnchen! Der Staken auf seiner Schulter verschaffte ihm Respekt. Falls sich irgendwelche Stigs oder Alfs in der Nähe aufhielten, so blieben sie auf Abstand. Tomi verfügte über genügend Pfennige (ganz zu schweigen von einer Handvoll Silbermärker), um Eintopf und Brot, gekochte Eier und gegrilltes Hähnchen kaufen zu können. Er hatte nichts dagegen, all dies mit Golda zu teilen. Weil sie als Pärchen so außergewöhnlich wirkten, wurden Tomi und Golda zweimal von hölzernen Soldaten angehalten und befragt. Die mit Gewehren und Lichtpistolen bewaffneten Männer hatten harte, gemaserte Gesichter, die menschliches Feingefühl nicht zu kennen schienen. Ihre Uniformen und Mützen bestanden aus braunem Rindenstoff. Tomi gab bereitwillig Antwort – daß er und Golda Bruder und Schwester seien, auf dem Weg zur Küste, wo sie als Künstler arbeiten wollten, er als Klavierspieler und sie als Sängerin. Sie traten im Duo auf, wie er andeutete. Dachte er tatsächlich darüber nach, in Portti zum Zuhälter zu werden, ein klavierspielender Strichjunge? Die erste Patrouille entlocke ihnen einen Treuschwur auf Tapper Kippan, der so lange galt, wie sie durch sein Reich unterwegs waren. Der Waldfürst war berüchtigt dafür, daß er unter allen Umständen seine langlebige Haut schützte, wie Golda später von Tomi erfuhr. Seine langlebige Haut … Durfte sie es wagen, erneut davon zu träumen, einen Langlebigen zu verführen, um seinen Samen in ihrem Körper aufzu-
bewahren? Nein, nein. Sie hatte jede Hoffnung aufgegeben. Die Keuschheit – außer in goldenen Armen – war Teil des Bannes, den Osmo ihr auferlegt hatte. Geh und such dir einen goldenen Gefährten, der dir Freude bringt. Ob Tomi diese Rolle wenigstens einmal ausübte, ausnahmsweise, großzügigerweise – vielleicht sogar unfreiwilligerweise von ihren Düften betört? Wenn sie ihn dabei von sich selbst entfremdete, wie sollte ihr das Freude bereiten? Die nächste Patrouille ermahnte die Reisenden, nicht von der Handelsstraße abzuirren, um die Kolonien der Spinnchen nicht zu stören, die von Pilzen im Wald fraßen und wertvolle Seide zur Weiterverarbeitung sponnen. Achtung: Die Strafen für eine ernsthafte Verletzung von Fürst Kippans Frieden bestanden unter anderen in der Fesselung an einen Lockbaum als Pranger, bis dieser einen Teil der Haut des Delinquenten verzehrt hatte – oder im Einklemmen des Gesichtes in einer Maske aus Mana-beschworenem Mutapu-Holz, bis es sich für immer verändert und die grotesken Züge der geschnitzten Maske angenommen hatte! Nachdem sie sich auf der eigentlichen Handelsstraße befanden – deren Belag aus Borke über Steinuntergrund bestand –, mußten sie von Zeit zu Zeit zur Seite treten, um einen Wagen vorbeirumpeln zu lassen oder eine Karawane schwer beladener Ponys. Nicht alle Händler entschieden sich für diese Route. Viele zogen den südöstlicheren Weg per Floß und Fähre vor, während Pferde und Wagen die Verbindungen zwischen Seen und Flüssen herstellten. Trotzdem mußte man gelegentlich beiseite treten, aber nicht zu weit, um die Spinnchen nicht zu stören.
In einem der Dörfer verbrachten Golda und Tomi eine Nacht in einer Herberge, weil es in Strömen regnete. In freundlicheren Nächten zog Tomi den freien Himmel zum Schlafen vor. Er war nicht in Eile. Gab es eine mentale Barriere, eine Hürde in seiner Vorstellung, die sich vor ihm erhob, während er sich Burg Kippan erneut näherte? Er schien bei bester Stimmung zu sein. Doch hatte er insgeheim Angst davor, daß seine erotischen Träume mit Klaviergeklimper Wahrheit wurden? Ging ihm die Angelegenheit dieses aufreizenden Alien-Goldmädchens nicht mehr aus dem Sinn, mit dem er sich nun einmal eingelassen hatte? In der Umgebung von Burg Kippan gab es heiße Quellen in Hülle und Fülle, die die Vegetation ringsum hochschießen ließen. Das Gebiet war eine erloschene vulkanische Region – ein anderes Überbleibsel der Vulkankette war der PorttivuonoFjord an der Küste. (Tomi war selbst so etwas wie ein ruhender Vulkan, der auf lustvolle Weise ausbrechen würde, wenn er den Seehafen erreicht hatte – zumindest stellte er es sich so vor.) Ein kleiner See, an dem die Handelsstraße vorbeiführte, blubberte munter. Dämme aus aufgequollenen Blättern in der Größe von Sätteln ragten in die heiße Suppe. Schnatternde blaue Schreitvögel mit langen Zehen liefen über die Sättel und pickten nach Larven, die scheinbar ständig aufs neue von der Brühe hochgespült wurden. Rings um das Ufer wuchsen gelbe Pilze, wie große Felsblöcke aus Gold, auf denen sich weitere lilafarbene Parasitenpilze angesiedelt hatten. Füllhörner sahen aus wie hohe graue Vasen. Honigfarbene Roussel-Pilze, die so hoch wie Schemel waren, sonderten Schleimtropfen ab und rochen nach fruchtigem Öl. Regenschirmgroße Kränker mit
breiten scharlachroten Hüten und grünen Lamellen dufteten trügerisch nach Kastanüssen. Reben bildeten steile Hügel. Ein paar hundert Schritte hinter einem solchen Teich behaupteten sich wieder vertraute Horsmas und Jalven und Lakarien. Im Winter wäre ein großer Teil des üppigen Wuchses verwelkt, mit Ausnahme der Stellen, wo er durch warme Erde und heißen Dampf am Leben erhalten werden konnte. Die Luft war schwül geworden, als wären solche dampfenden Seen zahlreicher verbreitet, als es tatsächlich der Fall war. Der Himmel glich einer grauen Decke über feuchter Luft, die elektrisch knisterte. Nach einem solchen Tag wünschte man sich fast, ein Gewitter würde losbrechen. Endlich erreichten sie Burg Kippan, und während sie darauf hinabschauten, hielt Tomi einen Vortrag. Die Stadt war geometrisch angelegt, zwischen einem langen kühlen See im Nordwesten, der von einem Fluß gespeist wurde, und einem kleineren heißen See im Südosten, in dem eine felsige Insel lag, von der alle zwei Stunden ein Geysir emporschoß. An jedem Neujahrstag rannten athletisch gebaute Männer durch die verschneiten Straßen vom heißen zum kalten Bad und wieder zurück ins heiße Wasser. Diese Straßen waren allesamt mit Brettern gepflastert. Holztreppen führten zu ein Meter hohen Gehwegen hinauf. Bevor es hier eine Stadt gegeben hatte, war das Gelände ein Sumpf gewesen, in dem sich heißes und warmes Wasser vermischt hatte. Jetzt waren beide Seen mit langen Dämmen zurückgedrängt worden. Große Schleusentore waren auf beiden Seiten eingelassen. Wenn sich
sommerlicher Staub oder herbstlicher Schlamm aufgetürmt hatte oder wenn die Frühlingsschmelze die Straßen mit Schneematsch verstopfte, wurde das eine oder andere der zwei Tore geöffnet, um die Straßen zu fluten. Eine Armee aus Stadtbewohnern fegte dann das Wasser mit Besen zu einer großen Kiesgrube am südwestlichen Stadtrand. In der Mittsommernacht und am Lucky-Tag stand Burg Kippan eine ganze Nacht lang unter Wasser. Auf Booten und Flößen und auf den Gehwegen wurde bis zum Morgen gefeiert, wenn die Schleusentore am Ende der in südwestlicher Richtung verlaufenden Straßen geöffnet wurden, damit sich die Stadt in den Kiessumpf entleerte. Die Blockhäuser von Burg Kippan sahen herrlich aus. Die Fensterrahmen, die Giebel und die Veranden waren kunstvoll geschnitzt und mit leuchtenden Farben bemalt – in Rot und Schwarz und Gold und in Silber und Blau. Hinter fast jedem Gebäude streckte ein Baum sein Blattwerk empor und beherrschte den Garten im Hof. Von einer Anhöhe im Norden aus betrachtet durchsetzte ein Baummuster die Reihen der mit Rindenschindeln gedeckten Dächer, als hätten die Bretter der Straßen ausgeschlagen. Doch wo konnte man noch einen lebenden Baumstamm sehen, wenn man erst einmal innerhalb der Stadt war? Laub gab es reichlich, aber Stämme und Äste? Bäume wuchsen ausschließlich hinter den Gebäuden. Auf der Vorderseite waren Bäume nur in Form von Brettern und Balken vorhanden. Am äußersten nordwestlichen Rand der Stadt, neben dem kühlen See, erhob sich ein Gebäude aus einem Fundament aus Blättern. Die hölzerne Mana-Kirche mit der Zwiebelkuppel war
rittlings auf einem Hain aus dicken Pfahlbäumen erbaut. Östlich der Anhöhe lag, von Palisadenzäunen mit einigen Toren und jeweils einer kleinen Hütte daneben umgeben, ein dicht belaubter Park: das Kippan-Arboretum. In diesem Arboretum wuchsen angeblich zwei Exemplare – nicht mehr und nicht weniger als genau zwei Exemplare – jeder Art und Unterart aller Bäume und Sträucher, die auf Kaleva heimisch waren. Zwischen dem Arboretum und dem heißen See ragte das Anwesen der Kippans auf, das aus purpurnem Tammiholz erbaut war. Wachtürme umstanden ein gewölbtes zentrales Gebäude aus übereinander angeordneten Veranden. Diese waren durch überdachte Brücken mit kleineren Komplexen und Hütten verbunden. Die Wachtürme waren durch hölzerne Forts befestigt, die schnell demontiert, abtransportiert und neu aufgebaut werden konnten. Mindestens eines dieser Forts befand sich ständig im Umbau, so daß das Verteidigungssystem weiter optimiert werden konnte. Tapper Kippan hatte durch die Eheschließung mit Edith Sariola vor über einem Vierteljahrhundert die Langlebigkeit gewonnen. Seitdem war er von der Vorstellung besessen, sein Leben schützen zu müssen. Laufende Verbesserungen an den Verteidigungsanlagen hielten seine hölzernen Soldaten und ihre fleischlichen Kameraden ständig in Bewegung. Tomi und Golda waren an einem späten Nachmittag in Dunst und Hitze eingetroffen und lungerten auf einem Hügel am Wegesrand herum, von wo aus sie einen guten Überblick über die ganze Stadt hatten. Wagen und Fußgänger kamen vorbei. Obwohl sich Tomi als wahrer Quell an Informationen erwies, schien er wenig Neigung zu verspüren, sich auf den Weg
in die eigentliche Stadt zu machen. Er durfte sich nicht zu sehr mit Burg Kippan einlassen. Beim letzten Mal hatte er sich durch die Sehenswürdigkeiten ablenken lassen, als wäre er nur an diesen Ort gekommen, um sie zu bewundern. Er hatte hier eine Weile gearbeitet. In der Papiermühle dort drüben, seht nur. Hinter dem heißen See am südlichen Stadtrand. Könnt Ihr ein orangenes Dach erkennen? Ihr müßtet es eigentlich erkennen können. (Aber sie konnte es nicht.) Er hatte sich aufhalten lassen. Das Jahr war vergangen, bis es zu spät gewesen war, um sich zweihundert Kims weiter im Süden mit schwarzhäutigen Seemännern zu treffen. Als Tomi nordwärts zu seinem Flößerlager zurückkehrte, war sein Traum nicht erschüttert, aber auch nicht erfüllt gewesen. An die unsichtbare Papiermühle schlossen sich die ebenfalls unsichtbaren Druckereiwerkstätten an. Tomi benutzte seinen Staken als Zeigestock, wie eine Harpune, doch er konnte das Gebäude damit nicht ins Blickfeld zerren. Diese Druckerei stellte Bücher für die Menschen her, die lesen konnten, sowie für jene, die es nicht konnten, namentlich die Mana-Priester während ihres Noviziats in der Hafenstadt Tumio, wo auch Seefahrer anlegten. »Bücher schwächen den Geist«, lautete Tomis Meinung. »Durch Bücher wird man zum Spielball der Obsessionen anderer Menschen. Das ist völlig in Ordnung, soweit es das Buch betrifft – das Buch der Helden, wißt Ihr? Die Priester müssen es auswendig lernen und im Kopf behalten. Sie legen großen Wert darauf, daß nirgendwo in der Nähe von Tumio irgendwelche Worte gedruckt werden …« Er senkte seine Stimme. »Einige Leute hier in Burg Kippan schreiben sogar eigene kleine Bücher
und lassen sich einige Exemplare drucken.« Ja, schuld war bestimmt nur die Nähe zu solchen Büchern (auch wenn sie ungelesen und unlesbar waren), daß er bei seinem früheren Besuch schließlich die Nerven verloren hatte. Welche widersprüchlichen Ideen waren womöglich aus ihren Seiten gesickert? Vielleicht war sogar das Buch selbst schuld, das gleich neben der Papiermühle gedruckt wurde! Was hatte das Buch über das Verlangen eines Mannes nach einem anderen Mann zu sagen? Über die Leidenschaft eines blonden Burschen nach anderen Kerlen, die notgedrungen schwarz sein mußten! Ja, schwarz. Wie sonst sollte er die Berechtigung des Objektes seiner Begierden bestätigen, wenn nicht durch diesen krassen Gegensatz von Schwarz und Weiß? Tomi war überzeugt, daß kein hellhäutiger Körper ihn befriedigen konnte. Er würde nur ein unzulängliches Ebenbild seiner selbst bewundern. Wohingegen die Schwarzhäutigkeit ein wirkliches Gegenstück zu Tomi repräsentieren würde, einzigartig und unabhängig von ihm. Golda nickte. »Könnt Ihr lesen?« fragte er sie plötzlich, fast anklagend, als suchte er nach einem Grund, sich ihrer zu entledigen. »Nein. Ich bin eine Sängerin.« (Unter anderem.) »Ich habe Hunger. Ihr etwa nicht?« Rauch stieg träge vom krummen Schornstein einer Hütte neben einem nördlichen Tor des Arboretums auf. Hinter diesem Tor verschwand ein mit Rinde bestreuter Weg im Wald. Besucher kauften sich oft einen Imbiß bei der Haushälterin, die in einer der Torhütten wohnte. Manche Liebespärchen verbrachten eine ganze warme Sommernacht im Park. Viele kamen zur Brautwerbung hierher, wo es nur zwei Exemplare von
jedem Baum gab. Solchermaßen war auch die Liebe jedes Pärchens etwas Besonderes. »Da drinnen werden wir ein geschütztes Plätzchen für die Nacht finden«, sagte Tomi. Spitzbübisch fügte er hinzu: »Wenn ein Besucher nach dem Baum ohne Namen sucht, wird er die Gestalt eines anderen Baumes annehmen, wie ich schon sagte. Man müßte feststellen, ob es von einer Baumart drei Exemplare gibt. Doch welcher ist dann der echte und welcher die Nachbildung? Das ist der Grund, warum die Kippans nur zwei von jeder Baumspezies zulassen.« Golda war ebenfalls ein Wesen, das in anderer Gestalt auftrat, nicht wahr? Sie hüllte sich tiefer in ihren Mantel, um ihr silbriges Kleid und ihre butterzarte Haut zu verbergen, und schob die Kapuze vor, um ihr reizendes Gesicht zu beschatten. »Ihr macht Euch über mich lustig. Weil ich das einzige Exemplar meiner Art bin.« »Und ich von meiner?« fragte er. An der Tür der Hütte neben dem Palisadenzaun kaufte Tomi Fischpasteten und eine Flasche Talbeerenlikör für Golda, die sie in ihrem Rucksack verschwinden ließ. Währenddessen nahm die alte Haushälterin Anstoß an Tomis Staken. »Wozu soll das Ding gut sein? Daß Ihr mir ja keine Zeichen in die Rinden ritzt!« Sie warf einen anzüglichen Blick auf seine Pilztätowierung. »Sonst wird man Euch die Haut ritzen.« »Mit einem Haken am Ende einer Stange werde ich wohl kaum feine Schnitzarbeiten ausführen können, Großmütterchen«, sagte Tomi. Doch sie ließ sich nicht beschwichtigen. »Ich weiß, daß Ihr
daran denken werdet, zwei Herzen in einen Baum zu ritzen, hoch oben, wo Ihr meint, daß es niemand bemerken wird! Ihr solltet diesen Haken besser vorübergehend hier zurücklassen.« Sie griff in den Halsausschnitt ihres schwarzen Kreppkleides und zog eine Trillerpfeife an einer Schnur hervor. »Ansonsten werde ich einen Holzmann rufen.« Mit einem Schulterzucken löste Tomi seinen Beutel vom Staken, den er gegen die Hütte lehnte. »Daß Ihr mir gut darauf achtgebt!« Die Alte griff sich den Stab, als wäre es ein Gehstock, den sie vor langer Zeit verloren und nun endlich wiedergefunden hatte. »Holt ihn ab, wenn Ihr heim und zu Bett geht.« Sie kicherte. »Oder morgen früh, je nachdem.« »Das dumme alte Weibsstück ist eifersüchtig auf uns«, brummte Tomi, als sie das Arboretum betraten. »Ein Teil von mir hätte Lust, ihr zu sagen, daß mein Herz an kernigen Seemännern hängt.« Und der andere Teil von ihm? Die andere Hälfte seines Herzens? Oder wenn schon nicht die Hälfte, dann wenigstens ein kleinerer Bruchteil? An den Grübchen in Goldas Kinn hatten sich Tautropfen gesammelt, doch Tomi schien nicht darauf zu achten. Er atmete den Duft der Bäume ein. »An der Küste dürfte es nicht soviel Wald geben«, meinte er. Er zeigte auf einen Baum. »Das dort ist eine Albino-Larixie … Es ist doch merkwürdig, findet Ihr nicht auch, daß jeder Baum sich von jedem anderen unterscheidet? Die Paare sind niemals zusammen gepflanzt. Da ihre Wurzeln sie festhalten, können sie niemals zueinander finden. Doch einem Baum ist das völlig gleichgültig!«
Merkwürdig war auch ihre Begegnung mit einem Kerl, der einen Kittel trug und so häßlich war, daß sein Aussehen über alle Kategorien des Schönen und Unschönen hinausreichte. Er mußte sich schwerwiegend gegen den Frieden des Waldfürsten versündigt haben, um derart bestraft worden zu sein. Die Nase des Kerls war ein langer Schnabel. Sein Kinn war so weit zurückgedrängt, daß es praktisch nicht mehr vorhanden war. Höcker auf seiner Stirn wirkten wie knospende Hörner. Wie sehr seine Augen hervorquollen! Blut tropfte aus einem Schnitt auf halber Höhe seiner Nase. Narben überzogen seine schiefen Wangen mit einem Muster. Seine Stimme war ein drängendes Quieken. »Der Peitschenbaum dort drüben – nehmt Euch in acht! Wenn Ihr ihm zu nahe kommt, wird er nach Euch schlagen. Haltet Eure Augen geschlossen, sonst wird er Euch blind machen.« Wie konnte man auf etwas achtgeben, wenn man seine Augen geschlossen hielt? Der Kerl jedoch – dessen Kopf dem einer riesigen Mus ähnelte – schloß seine Glupschaugen. Als zusätzlichen Schutz legte er eine vernarbte Hand über die Augen und stapfte in die Richtung davon, vor der er gewarnt hatte – nachdem er ein gewisses Zögern überwunden hatte. Glaubte der Mann, daß die Schläge des Peitschenbaumes das Werk der Mutapu-Maske ungeschehen machen konnten? »Man muß den Wedeln eines Peitschers schon sehr nahe sein, um Schaden zu erleiden«, wurde Golda von Tomi beruhigt. »Die Maske hat offenbar auch das Gehirn unseres Freundes hier in Mitleidenschaft gezogen. Laßt uns weitergehen.« Er führte sie über Borkenwege tiefer in den Garten aus Bäu-
men und Sträuchern, bis sie zu einer Bank unter einem Moschusbaum kamen. Überall lag verwesender rötlicher Flaum. Dort aßen sie ihre Pasteten auf. Ein Liebespärchen spazierte Hand in Hand vorbei. Der Mann warf Tomi einen verwunderten Blick zu. Tomi zwinkerte und zuckte die Schultern. Aus der Ferne kam ein schwacher Schrei. Der häßliche Mann schien den Baum erreicht zu haben. Die Luft im Arboretum war schwül und berauschend. Taufeucht wachten Tomi und Golda am nächsten Morgen auf. Sie wurden von gesprenkeltem Sonnenschein und einem gebellten Namen begrüßt. »Tilli! Tilli! Tilli!« Die Stimme des Rufers war schroff und plump, obwohl es ihr irgendwie an Volumen mangelte. Hörten sie ein Kind – das auf irgendeine Weise vorzeitig in den Stimmbruch gekommen war? Oder war es der Ruf eines Zwerges? Auf das Moos, das ihr Bett gewesen war, kam ein schokoladen- und cremefarbener Spaniel zugesprungen. Er funkelte Tomi an und knurrte. Dann starrte er das Goldmädchen an. Das Tier war ordentlich gestriegelt. Es trug ein Halsband, das mit dunkelroten Edelsteinen besetzt war. Das war kein gewöhnliches Halsband. Es war eine Schmuckkette – aus Granatsteinen. Ein Haustier, das Juwelen trug! »Du Tilli gesehen?« fragte der Spaniel das Goldmädchen. »Du kannst sprechen?« »Ich bin Aus«, sagte der Hund.
Tomi richtete sich halb auf und stützte sich auf einen Ellenbogen. »Du bist aus? Was meinst du damit?« »Aus! Aus!« bellte der Hund ihn an. Er wandte seinen feuchten Blick wieder Golda zu. »Es ist ein Mutantenköter«, flüsterte Tomi. »Irgendeine feine Dame muß ihn über alles lieben. Tilli … ja, das ist doch Fürst Kippans Tochter, seine jüngste …« Und wer kam jetzt auf einem frühen Morgenspaziergang hier vorbei, wenn nicht jene junge Dame höchstpersönlich, von zwei stummen Holzmännern eskortiert? Tillis Gesichtszüge waren breit und offen. Sie hatte eine großzügige Stirn. Goldblondes Haar fiel in losen Strähnen auf ein Seidengewand herab, das mit Hunderten verschiedener Blätter in allen möglichen Grüntönen bestickt war. Sie war geradezu die Verkörperung des Waldes. Der Spaniel sprang auf und zerrte am Saum ihres Kleides, bis er die Seide losließ, um zu kläffen: »Tilli, komm, sieh!« Tomi, mit bloßer Brust, rappelte sich auf. Als Golda aufstand, fiel ihre Kapuze zurück und enthüllte ihren tintenschwarzen Bubikopf. Zeigte sich ein Hauch von Bronzerot an den Haarwurzeln? Tilli starrte auf Goldas nachgebildete SariolaGesichtszüge, dann auf ihre langen Spitzenhandschuhe, die von der Reise verschmutzt waren. Die zwei hölzernen Männer standen reglos in der Nähe und behielten den muskulösen Gesellen mißtrauisch im Auge. »Komm, sieh!« »Warte, Aus. Warte«, sagte Tilli. »Wer seid Ihr zwei?« Eine fremde und hübsche Frau, die nach Rosenöl duftete. Ein beeindruckender, wenn auch gewöhnlicher Kerl mit Ringen in
den Brustwarzen, verwegenem Schnurrbart, einer unverschämten Ausbeulung im engen weißen Leder über seinen Lenden und einer aufreizenden Pilztätowierung. »Ich bin gerade auf der Durchreise durch Eure Stadt, Eure Hoheit«, sagte Tomi zu Tilli. »Ich bin unterwegs nach Portti, um dort in einer Bar Klavier zu spielen. Das hier ist meine Freundin Golda, die unter einem Bann steht, der von Osmo van Maanen gesprochen wurde …« Noch ein Bannspruch! Über eine andere junge Frau gesprochen! Damals zur Feier des Lucky-Tages in Maananfors hatte Osmo die bedauernswerte Jatta Sariola besprochen. Und jetzt hatte Osmo wieder jemanden mit ähnlichen Zügen seinem Einfluß unterworfen … Jeder wußte außerdem, wie Osmo nach der Zurückweisung seiner hektischen Annäherungsversuche diese Dichterin besprochen hatte, zu verschwinden und sich weit fort von ihm zu ertränken. Nicht zu vergessen die Entführung von Prinzessin Minni, von der die Kuckucke getratscht hatten. Nun Königin Minni – kaum zu fassen! – nach einer gewalttätigen Schlacht gegen den Freund seiner Jugendzeit in Loxmithlinna. Tillis Mutter Edith hatte ihre Tochter angefleht, Reisen zu unternehmen, um sich einen geeigneten Ehemann zu suchen, statt sich auf ewig nur zu amüsieren. Trotz seines gepflegten und wohlerzogenen Auftretens hatte Osmo Tillis unabhängigem Geist nicht ganz zugesagt. Zu viele Menschen schienen unter seinem beherrschenden Bann zu stehen. Vielleicht lag dies im Wesen eines Besprechers. War Tilli zu sehr durch ihren einsiedlerischen Vater ver-
wöhnt worden? Vielleicht. Dennoch war sie keinesfalls verhätschelt worden … Die Sariolas waren so impulsiv und eigensinnig. Vielleicht hatte Tilli eine gewisse Portion von Edith geerbt. Nachdem Edith nun fast ein halbes Jahrhundert vollendet hatte, wurde sie von Verbitterung verzehrt. Selbstmitleid, Groll und Bedauern. Vater blieb so jugendlich wie immer, auch wenn er sich selbst vor allem schützte, so daß er sich außer in Gegenwart seines Lieblingskindes Tilli kaum entspannen konnte. All diese übertriebene Vorsicht eines alten Mannes, der wie auf dünnem Eis umherging. Dabei war er der Fürst der Wälder! Wäre es nicht besser gewesen, wenn er niemals eine Sariola-Prinzessin geheiratet und die Langlebigkeit gewonnen hätte? Dann wäre Tilli niemals geboren worden. Eine andere Tochter einer anderen Mutter würde an diesem Morgen im Arboretum Spazierengehen. Oder wohl eher in ihrem Bett im Mädchenhaus schlummern. In der Tat. Gewiß würde sie nicht diesem außergewöhnlichen Pärchen auf der Durchreise begegnen. Mit einemmal wuchs in Tillis Geist die Gewißheit, um wen es sich bei dieser gebannten Frau im Mantel handeln mußte. Eigentlich war sie gar keine Frau! Nein. Ein Kuckuck hatte davon geplappert, aber Tilli hätte sich niemals träumen lassen …! »Nun, Ihr seid das Juttahat-Goldmädchen, nicht wahr? Ihr seid die falsche Schönheit, die Osmo während der Krönung den Verstand benebeln wollte.« Golda starrte nach unten ins Moos. Tomi sagte: »Ihre Schönheit ist durchaus echt.« (Obwohl er ein wenig zweifelnd klang.)
»Ihr seid das Alien-Mädchen der Bronze-Isi! Die Sängerin, die Osmo beinahe mit ihrem Harfenspiel betört hätte …« »Sie ist ein Alien, das ist richtig«, stimmte Tomi mit einem eigenartigen Lächeln zu. »Ich habe keine Harfe mehr«, murmelte Golda. »Tilli, komm, sieh!« drängte der Spaniel. »Nein, warte!« Was könnte wohl interessanter sein als eine einzigartige Alien-Frau, der es fast gelungen war, einen Besprecher in ihren Bann zu bringen? In dieser Hinsicht könnte das goldene Mädchen durchaus jeder menschlichen Frau überlegen sein. (Wie man hörte, konnte Minni ihr offenbar das Wasser reichen, wenn es darum ging, das Herz eines gewissen Buben zu übertrumpfen – ganz zu schweigen von einem Isi-Magus, den sie ausgestochen hatte … Diese kleine Rebellenkönigin konnte offenbar ein richtiger Teufelsbraten sein.) »Komm, siiiieh!« »Wir werden alle kommen und sehen«, befahl Tilli. Ihre Holzmänner nahmen Tomi und Golda in die Mitte. Golda wußte es. Sie wußte es sofort. Ein Ruck schüttelte jede Faser ihres Wesens, als sie die außergewöhnliche goldene Gestalt sah, die auf einem heruntergebogenen Ast des Mutapu-Baumes saß. Der beharrliche Bann, der sie beherrscht hatte – trotz ihrer Begegnung mit Tomi –, wurde von einer überwältigenden Gewißheit des Wiedererkennens überlagert. Dadurch wurden all ihre Wunschvorstellungen verdrängt, daß Tomi in einer platonischen Beziehung ihr gol-
dener Gefährte werden könnte. Was sie sah, spülte jede Illusion und jede Qual der Ungewißheit fort. In weiche beigefarbene Rinde – wie Pergament – gehüllt und sich ringsum verbeugend: das war der Mutapu-Baum. Seine dicken unteren Äste stützten sich mit aufgedunsenen Ellbogen und Knöcheln auf dem Boden ab. Diese Äste waren viel größer als die oberen und beherbergten schwefelgelbe Klammerpilze. Harz quoll aus Rissen im Pergament und bildete orangefarbene Anhänger. Weiter oben waren die kurzen Gliedmaßen schlank und elastisch und von erbsengrünem Gefieder bedeckt. Der Mutapu wirkte weniger wie ein Baum, sondern eher wie ein erschlafftes Meeresgeschöpf mit vielen Tentakeln, das von hellgelben Korallen besiedelt war, während Tang zwischen seinen eingesackten Schultern hervorwuchs … Die Gestalt, die auf dem niedrigen Ast saß, war aus Bernstein, aus trübem und dunkel schimmerndem Bernstein. Aus geschmeidigem Bernstein. Diese Person aus geliertem wächsernen Honig ließ ein Bein vor und zurück schwingen. Diese anmutigen, eleganten und dennoch bestimmten Gesichtszüge! Das vorstehende Kinn und die glatten Flächen der Wangen und der feste Mund waren unverkennbar männlich – und jugendlich. Natürlich fiel zuvörderst die Männlichkeit der Muskulatur und der Genitalien auf. Die Straffheit der Sehnen (die nur im Vergleich zu Tomi jungenhafter wirkte) und das Gemächt unterstrichen seine Männlichkeit. Wäre er angezogen gewesen, hätte er vielleicht bisexuell gewirkt. Sein Kopf war genauso kahl und bloß wie alles andere an ihm, und seine Nacktheit enthüllte ein Rätsel. Sein Bauch war weniger durchsichtig als der Rest
seines Bernsteinkörpers. Darin lag wie im Mutterleib eine geisterhafte embryonale Gestalt. Es schien, als wäre er ein schwangerer Mann … Golda wußte es. Eine Erregung, die die Luft beinahe hörbar vibrieren ließ, baute sich zwischen ihr und dem Wesen. Die Luft war in der Tat berauschend. Tomi keuchte. Tilli errötete. Der Spaniel winselte, als trauerte das Tier um verlorene Welpen. Sogar die hölzernen Soldaten rührten sich steif. Vögel trällerten überschwenglich. Golda schien ihr gesamtes Repertoire an Düften auf einmal losgelassen zu haben: Rosenöl und Hefe und Schokolade und mehr – sogar den abstoßenden Gestank –, so allumfassend war ihre Reaktion, mit der sie dieses goldene Individuum über ihre lückenlose Identifizierung informierte. Sie warf ihren Mantel ab, um ihre vergoldete, in Butter gestaltete Anatomie seinem geschmeidigen Bernsteinkörper entgegenzustrecken … Er war erregt, o ja. Er glitt vom Ast und verbarg schnell seine Erregung mit beiden Händen, während er entgeistert dastand. Es war Tomi, der den Mantel vom Boden aufhob, um damit die nackte goldene Jugend wieder zu verhüllen. Tilli kniete neben ihrem Spaniel. Sie schien nicht schockiert zu sein. Eher aufgeregt. Doch nicht durch den Anblick des jungen Mannes. Vielmehr durch die Gerüche, die sie einatmete. Durch das Ereignis an sich. »Er ist Bernsteinmann«, erzählte sie ihrem Hund. »Wir nennen ihn den Sohn des Waldes.« Doch eigentlich galt diese Information ihren zwei Gästen. »Er hat sich seit Ewigkeiten nicht mehr in Burg Kippan bli-
cken lassen. Seine Mutter – oh, es tut mir so leid, Aus! – spürte genau, daß eine Fehlgeburt bevorstand, trotz aller Zaubersprüche ihres Schamanenonkels. Hörst du, Aus? Ihr Gemahl ist bei einem Bootsunfall ertrunken, und auch sie sollte durch das Wasser in Schwierigkeiten geraten. Ihr Onkel trug sie hinauf in das Herz des größten Mutapu-Baumes in den Wäldern. Und während er sang, hatte sie dort eine Fehlgeburt – die sich in einen Teich aus weichem Harz ergoß. Er schickte sie fort, blieb selbst jedoch auf dem Baum zurück. Er sang, kaute die Rinde und spuckte den Saft in den Harzteich. Hörst du? Bald nahm das Harz die Gestalt eines kleinen Jungen an – während der lebende Fötus darin die Bernsteinglieder bewegen und durch die Bernsteinlippen atmen konnte. Und später lernte er mit dem Bernsteinmund zu sprechen. Und er konnte auch wachsen, wenn er wachsen mußte, indem er sich wieder in Mutapu-Harz tauchte. So ist es geschehen, Aus, genauso. Wir wissen nicht, ob der Fötus ein Mädchen oder ein Junge werden sollte. Was heranwuchs, war ein Junge. Vielleicht ist es ein Mädchen, was in diesem Mann lebt. So wird es gesagt.« Tilli, deren Stirn schweißbeperlt war, blickte von Golda zu Bernsteinmann. Bernsteinmanns Stimme klang heiser. »Ihr seid ein großartiges Gänschen«, sagte er voller Bewunderung zu Golda. »Kuck-kuck«, rief Tilli überschwenglich in die umgebenden Bäume. »Komm, Kuckuck, falls es hier einen gibt! Sei Zeuge, sing das Lied, erzähl die Geschichte. Kuckkuck«, rief sie singend.
Horcht, wie das einsame Alien-Mädchen den einzigartigen Sohn des Waldes traf. Welches normale Mädchen hätte sich mit ihren Reizen freiwillig diesem Bernsteinmann hingegeben, der diesen winzigen und dennoch ausgereiften Fötus von ungewissem Geschlecht in sich trug, der seinen Trugkörper aus Bernstein bewegte? War der Bernsteinmann wirklich ein er (ungeachtet seines Beutels und seines kurzen Pfahls)? Oder eine sie! Oder war Bernsteinmann von einem ganz anderen, von einem dritten Geschlecht, einem Alien-Geschlecht, das sogar ein Juttahat-Goldmädchen erstaunte, das dazu erzogen worden war, Alien-Männer zu betören? Als Tomi schließlich seinen Weg nach Portti fortsetzte (den Staken wieder über die Schulter gelegt und pfeifend), fragte er sich, ob jener alte Schamanenonkel Bernsteinmanns Mutter vielleicht zu einer Fehlgeburt bezaubert hatte – statt ihr zu helfen –, um durch Magie eine neue Abart des Lebens zu schaffen. Bernsteinmann besaß keine besonderen Mana-Kräfte, außer, daß er selbst eine Verkörperung der Andersartigkeit war. In vielerlei Beziehung war Bernsteinmann ein einfaches Kind der Natur und ganz gewiß kein Bewohner einer Stadt oder auch nur eines Dorfes. Er war in der Lage, einen halben Tag lang auf einer Lichtung zu sitzen und die Welt einzuatmen, die ihn umgab. Der alte Schamane war zur Hebamme eines Näkki geworden, auch wenn es sich um einen Näkki mit menschlichen Eltern handelte. Und dieser Näkki zog das Goldmädchen in seinen Bann, genauso wie sie ihn (und sie?) bezauberte.
Golda dagegen war keinesfalls ein Geschöpf der Wildnis, sondern eher ein Kunstgeschöpf. Folglich entschied Tilli – aus Wohltätigkeit und Faszination –, das Goldmädchen als ihr Hausmädchen im Mädchenhaus einzustellen, das durch eine der Brücken mit dem Hauptkomplex der Familienburg verbunden war. Da ihre zwei älteren Schwestern nach der Eheschließung ausgezogen waren, hatte Tilli im Mädchenhaus das Sagen. Ohne allzuviel Schmeicheleien hatte Tappers Tochter sich gegenüber ihrem weltabgeschiedenen, aber nachsichtigen Vater durchsetzen können, Golda Unterschlupf zu gewähren – solange das Juttahat-Mädchen niemals die Brücke zum Hauptgebäude überschritt. Das Goldmädchen war Tillis interessantestes Spielzeug, das sie mit noch größerer Liebenswürdigkeit behandelte als den sprechenden Spaniel, den Tilli vor Fürst Osmo gerettet hatte. An manchen Abenden besuchte Bernsteinmann – dem der Zugang durch die Befestigungsanlagen erlaubt wurde – Golda in ihrem eigenen Zimmer im Mädchenhaus, damit die beiden ihre Verbindung festigen und ihre Zuneigung bestätigen konnten. Danach verschwand Bernsteinmann wieder im Wald, um sich den Tag über oder mehrere Tage lang nicht blicken zu lassen. Seine Abwesenheit beeinflußte das enge Verhältnis dieser zwei seltsamen Geschöpfe überhaupt nicht. Worüber plauderten sie? Ob ihnen jemals ein Kuckuck gelauscht hatte? Nun, über Jarl. Obwohl Jarl so gut wie – oder so schlecht wie – tot war. Über Tomi; mochten sich seine Träume von schwarzen Seefahrern erfüllen. Von Bäumen und Harz und Bernstein. Von Schlangen und Sklaven und Körpern. Manchmal summten
sie einfach nur gemeinsam wortlose Melodien, die von sanften Düften begleitet wurden. An anderen Abenden pfiff Bernsteinmann die Lieder der Vögel. Und Golda sang die anschwellenden Glockentöne eines Isi-Nestes. Dann schien es, als wären sie von einem unsichtbaren Wald umgeben (und die kunstvollen Einlegearbeiten des Fußbodens beschworen tatsächlich das Bild eines allgegenwärtigen Waldes herauf) –, doch der Geruch dieses Waldes war unterirdisch, ein Gewirr aus Wurzeln, und Vögel und Insekten flogen durch modrigen Erdboden, der so ätherisch wie Luft war. Bernsteinmann war Goldas honigweicher und goldharter Meister – und gleichzeitig ihre Meisterin, wie sie spürte (vielleicht viel mehr, als Tilli ihre Meisterin und Herrin war). Denn wenn sie in Bernsteinmanns Armen lag, fühlte Golda die krampfartigen Windungen eines embryonalen Mädchens in seinem Bauch. Mit Gefühl und Sinnlichkeit nahm Golda sowohl Bernsteinmanns Männlichkeit wie auch seine Weiblichkeit in sich auf; sie war der Katalysator (und daher die Erzeugerin) einer Sexualität, die für sie genauso neuartig und fremdartig war wie für jeden Mann und jede Frau, ob Mensch oder Juttahat. Und zu guter Letzt erfuhr Golda eine Freude, die genauso heiter wie schwungvoll war, auch wenn die Welt um sie herum allmählich in Aufruhr geriet.
15 Tod durch Besprechen
Die vier Trugmenschen hielten sich schon seit Wochen in der Knochenhütte auf. Lammas' Erkältung verzog sich, nachdem er einige trockene Tage unter einem Dach aus Kieferknochen verbracht hatte, doch Artos Füße protestierten immer noch bei der Aussicht auf den weiteren Marsch über Saari und Dreiseen und Niemi zurück zu den Bruchbuden, die ihr Zuhause waren. Ein anderer Grund, warum sie blieben, wo sie waren, stellten die wiederholten Besuche durch schwarze Juttahats dar. Der erste hatte sie in beträchtliche Aufregung versetzt, zumindest anfänglich, da die Mutantencombo noch nie zuvor Aliens begegnet war. Die folgenden Besuche waren auf andere Weise beunruhigend. Am Ende der ersten Woche hatten sich zwei identische Nichtmenschen namens Tulki-neun und Tulki-zwanzig vorgestellt und damit begonnen, die Trugmenschen mit Fragen zu löchern. »Wann wird die Rückkehr von maaginen Hermi sein …?« »Welcher Art ist Eure Beziehung zu ihm …?« »Euer Verhältnis der Gegenseitigkeit ist welcher Art …?« »Erfolgte der Auftrag Eurer Schickung zu diesem Haus der Neutralität durch Fürst Helenius …?« Diese Schlangendiener schienen fasziniert von vier so ungleichen Kameraden zu sein, von denen einer braune Stricke als Haut hatte und ein anderer die Kruste eines Kuchens, während
ein dritter auf krummen Beinen lief und der vierte ein Wollmensch war. Hatte Fürst Helenius die vier geschickt, damit sie von den Samt-Aliens abgeholt würden? Wenn ja, was sollte im Austausch für sie gegeben werden? (»Nein! Nein!« Arto und seine Freunde waren gewiß keine Kandidaten für einen Zoo der Aliens mit menschlichen Abstrusitäten.) Welche Einschätzung hatten Menschenwesen des Durchschnitts gegenüber Mutanten wie diesen? In gewisser Weise waren die Mutanten ja Nichtmenschen. Hieraus ergab sich die Möglichkeit eines engeren Verhältnisses zwischen Juttahats und Trugmenschen … »Eure Profession ist also der Gesang, Schafmensch …?« Ja, er war ein Sänger, der Tangos zum Besten gab. »Bitte um Gesang, Sänger!« Knöterich mußte erst seine Fiedel zwischen all dem Krempel in der Hütte suchen – all den Puppen und Chronometern und Werkzeugen und Zwirnrollen und puutaranischen Puzzles. Kuchenmann fand seine Becken. Arto zog ein neues Paar weißer Ziegenlederhandschuhe an, die er in einer Schublade entdeckt hatte. (Zuerst mußte er jedoch mit einer Schere jeweils ein Loch an der Seite hineinschnippeln, damit sein sechster Finger herausragen konnte.) Lammas hatte seine liebliche Stimme wiedererlangt (obwohl er morgens immer noch einige Schleimklumpen aushustete). Während Knöterich die Saiten bearbeitete und Kuchenmann pfiff und die Becken schlug und Arto mit den Händen wedelte, trällerte der Wollmensch seelenvoll:
Tief drinnen bin ich genauso wie jeder andre, Kann ich, darf ich nicht dein Bruder sein? Ich verlor meine Liebe hinter dem blauen Meer, Hinter dem blauen Himmel, hinter den blauen Sternen. Sie allein hat mich je geküßt Auf meine fremde blaue Haut, Auf meine tiefe blaue Haut, so mitleidsvoll … Lammas' Haut war keinesfalls blau – ebensowenig wie die der Juttahats –, doch er sang vom Wesen der Fremdartigkeit. Die schwarzen Aliens in ihren schwarzen Uniformen lauschten mit gebannter Aufmerksamkeit, während sich ihre Augen trübten und enttrübten, als würden Tränen quellen und wieder versiegen. War der Hauch von Zimt ein Zeichen der Anerkennung? »Wißt Ihr überhaupt, was Liebe ist?« fragte Arto Tulki-neun, dessen silberne Schulterhieroglyphe komplizierter als die seines Gefährten aussah. Wußte Arto es denn? Er empfand eine häusliche Liebe zu seiner knarrenden Hütte, ja, sicher. Und vertrauliche Liebe zur ziegenäugigen Ester. Er konnte um Aino weinen. Ja, er konnte weinen. Obwohl er es nicht tat. Er überließ es Lammas, alle derartigen Gefühle von Verlust und Leere auszudrücken. Mit behandschuhten Fingern dirigierte er solcherlei Äußerungen der Empfindung, während er selbst in seinem Kummer stumm blieb. Mürrisch drängte er die Nichtmenschen zu einer Antwort: »Versteht Ihr Leute etwas von Liebe?« Es war eine Erleichterung, den Spieß umzukehren und die Besucher auszufragen.
»Nun?« »Zuneigung zur Stimme eines Herrn im Kopf«, sprach der Juttahat. »Das Gefühl des Vollständigseins.« »Aber«, wollte Kuchenmann wissen, »liebt ein Jutti-Mann jemals eine Jutti-Frau?« Ach, hatte denn irgendein Mutantenmädchen jemals Kuchenmann geliebt, wo sein Körper so hart und schwielig und zerfurcht war, daß jedes Mädchen sich daran aufschürfen würde, wenn es nicht genauso dickhäutig wie er selbst war? »Liebe in Gegenseitigkeit unter uns allen«, lautete die Antwort. »Und was bedeutet das?« »Lieben entsteht aus Unvollständigkeit«, meinte Tulkizwanzig. »Und Unvollständigkeit aus dem Lieben. Die Projektion einer Leere in der eigenen Person auf eine andere Person, zur Vereinnahmung der anderen Person. Nur ein Juttahat in Unvollständigkeit könnte Verlangen in dieser Weise haben, die Ausübung von Gefühlen in Zwanghaftigkeit über andere.« Also konnte nur ein Nichtmensch ohne Stimme im Kopf seine Gefühle, sein Wollen und Wünschen auf einen anderen richten … Und seinen Willen vielleicht ähnlich wie ein Besprecher ausüben? Könnte nur ein auf solche Weise unvollkommener Nichtmensch die Leidenschaften oder Manien oder Gefühlsbindungen verstehen, die ständig die Herzen der Menschen heimsuchten? In jener Knochenhütte – die von den Juttahats offenbar als neutraler Ort respektiert wurde – sang der wollige Lammas noch einmal zu ihnen, ein Lied, das auf seine Vorstellung vom Herzen der Aliens und auf ihre Sprechweise zugeschnitten war:
O mein Meister, das Verlieren deiner Stimme, Das Entschwinden deiner Worte ohne Hall, Die Einsamkeit in Schweigen und in Leere, Das Ende aller Worte ohne Schall. Nach deinem Schweigen gibt es Sprache nur aus Ferne, An deine Stelle tritt die Bitte und der Gruß. Der Verlust von Harmonie und Einverständnis, Im Austausch gegen Streicheln und den Kuß. Tulki-zwanzig fragte konzentriert: »Und vollführt Ihr Tänze zu solchen Liedern?« Lammas antwortete dem Tulki: »Ich habe dieses Lied eigens für Euch gemacht.« »Also die Bitte um das Zeigen der Schritte.« Lammas und Knöterich führten ihnen einen Tanz vor. Irgendwann traten die zwei uniformierten Juttahats auf den Teppich aus spiralig geflochtenem Menschenhaar, hielten sich in den Armen und tanzten mit ernster Konzentration einen Tango: das gemeinsame Schreiten, der Wiegeschritt, dann die Promenade … Die vier Trugmenschen hatten fast alle Vorräte verbraucht, die sie zu Anfang in der Hütte gefunden hatten: die Krüge mit Meeresaal und Rogen, den getrockneten Fisch, den Käse und den Zwieback. Der Unbekannte, der einest frische Milch und Torten zur Hütte gebracht hatte, hatte es nicht wieder getan. Arto und seine Gefährten hatten in der unmittelbaren Umgebung nach Pilzen und Beeren und Nüssen gesucht und in einem
nahegelegenen Teich Fische gefangen. Als die zwei Juttahats ihren zweiten Besuch abstatteten, hatten sie nahrhaften Alien-Kuchen mitgebracht. Ebenso bei ihrem dritten Besuch. Bleiben, hatte ihre Botschaft gelautet. Andernfalls … die Aufnahme in eine Kuriositätensammlung? Lammas sang. Die Nichtmenschen hörten und tanzten Tango und gingen wieder fort. Die Trugmenschen spielten mit Puzzles aus den überquellenden Schränken. Draußen waren die Sylvestren so borstig und blau wie immer, doch alle Köverlocken waren knusprig, orange und bronze geworden. Tage vergingen. Eines Spätnachmittages wurde die bereifte Tür aus Rippen aufgerissen. Einen Augenblick lang glaubte die gestrandete Combo, ein hochrangiger Juttahat wäre eingetroffen, um tanzen zu lernen. Diese tiefschwarze Ledermontur, mit Messing besetzt. So große Aufschläge und Manschetten und dieser hohe Kragen! Doch das Gesicht war hell. Das lockige Haar war kastanienbraun. Die Augen nußbraun. Natürlich erkannten sie den Mann, der ebenfalls als Passagier an Bord des königlichen Luftbootes gewesen war, als Prinz Bertel die Trugmenschen zu Prinzessin Evas Hochzeit geflogen hatte! Es war Minki Kennan (der ihre Gesellschaft verschmäht hatte, auch wenn seine Augen an Junis Busen gehangen hatten). Kennan, der schwarzgekleidete Mörder. Damals hatte er stutzerhafte lavendelfarbene Kniebundhosen, scharlachrote Kniesocken und eine grün und scharlachrot
gestreifte Weste getragen. Jetzt war er in protziges zähes schwarzes Leder gekleidet. Kennan richtete eine Lichtpistole in das Innere der Hütte. Langsam breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Ach, wenn das nicht das Monsterquartett ist!« Dann verdüsterte Mißtrauen seine Belustigung. »Was im Namen aller guten Dinge macht Ihr Eierköpfe hier? Wer hat Euch hergebracht?« »Wir brachten uns selbst«, sagte Kuchenmann. »Wir gingen zu Fuß.« Auch wenn Kuchenmanns Worte schroff klangen, pochten die Herzen der Trugmenschen. »Ihr seid von Sariolinna bis hierher gelaufen?« »Den ganzen Weg.« »Wie Ihr ausseht, könntet Ihr es tatsächlich getan haben!« Kennan steckte die Waffe ein und trat zurück. »Gelaufen, hoho! Wer hätte das gedacht?« Draußen stand ein schwarzes dreirädriges Fahrzeug mit doppeltem Sattel. Kennan schob es in die Hütte. Zwei häßliche Waffenmündungen ragten aus der Lenkstange. Er drehte die Maschine um, so daß die Waffen auf den Eingang zeigten. »Laßt ja Eure Finger davon, hört Ihr? Ich bin ziemlich kaputt. Was für ein Tag! Ihr habt nicht zufällig etwas Wodka dabei, Kumpels?« Vier Köpfe wurden geschüttelt. »Also sagt mir, wie Ihr von diesem Ort erfahren habt!« Aber sie hatten gar nichts erfahren. Sie waren zufällig auf die Knochenhütte gestoßen. Damit hatte unser Minki nicht gerechnet. Es kam ihm sehr
ungelegen. Er war fix und fertig. Der Ansammlung von leeren Krügen nach zu urteilen, hatten sie bereits sämtliche Lebensmittel aufgefuttert. Aber was war das für ein Zeug, das sie ihm jetzt zu seiner Beschwichtigung anboten? Kompakte Kuchen! Konzentrierte Jutti-Rationen, wenn er nicht völlig danebenlag. In der Vergangenheit hatte er so etwas bei den Nichtmenschen gefunden, nachdem er sie kaltgemacht hatte, bevor er Kiki-liki versprochen hatte, keine Aliens mehr zu töten. Mit jovialer Kumpelhaftigkeit entlockte Minki den Trugmenschen alle Fakten. Die Juttis kamen regelmäßig zur neutralen Hütte, um Tangounterricht zu nehmen? Der Wollmensch improvisierte Lieder für die Sklaven der Schlangen? Das war so ungewöhnlich, daß es einfach wahr sein mußte. Und eigentlich hatten Mutanten und Nichtmenschen ja auch eine Menge gemeinsam. Schließlich erzählte Kuchenmann sogar recht bereitwillig, wie die Juttis seit kurzem zu aufopfernden Gönnern dieser Tangogruppe geworden waren und sich um ihre Belange kümmerten. Wenn dem Quartett etwas zustieß, wären die Juttahats darüber sehr ungehalten. Dieser Punkt war geklärt. Keine Frage. Auch wenn Minki von der Neutralität dieser Hütte gewußt hatte, war es nicht seine Absicht gewesen, sich hier länger aufzuhalten. Sein Plan war gewesen, den Proviant zu plündern und sich dann in die Wälder zu schlagen. Er wollte sich auf das Zelt verlassen, das sich verpackt in seinen Satteltaschen befand. »Wo ist der Einsiedler überhaupt?« Zumindest war er auf diese Weise nicht dazu gezwungen,
dem unheimlichen Kerl eines auf die Rübe zu geben. Nein, jetzt mußte er sich nur mit vier Trugmenschen herumplagen. Einsiedler? Was für ein Einsiedler? Die Hütte war schon seit einiger Zeit verlassen gewesen, als sie eingetroffen waren. Gut. Ausgezeichnet. Nichtsdestotrotz konnte Minki sich kaum allzulange an einem Ort aufhalten, der den Einheimischen bestens bekannt war. Für sie, die an der gefährlichen Grenze zwischen dem Territorium der Menschen und der Aliens lebten, mochte er fast so etwas wie ein Held sein! Früher oder später würden die Leute von seiner Anwesenheit erfahren. Nachrichten verbreiteten sich schnell. Vor allem, wenn Kuckucke im Spiel waren. Minki hatte sich die Juttis eigentlich nie anders vorgestellt als eine Horde von schwatzenden (und sogar recht schlauen) fremdartigen Tieren, die von intelligenten und nichtmenschlichen Schlangen so gründlich trainiert worden waren, daß sie überhaupt keinen eigenen Verstand mehr hatten. Dementsprechend war ihre Ausrottung im Grunde eine zutiefst ehrenvolle Aufgabe. Was war, wenn er mit diesen zwei Samt-Nichtmenschen, die Tangotanzen lernten, Handel treiben könnte? Wenn sie ein Geschäft abschließen könnten? Indem er ihnen von einem gewissen Familiengeheimnis erzählte … Denn dieses Geheimnis hatte für ihn nun keinen Wert mehr. Es müßte für die Isi eigentlich von eminentem Interesse sein. Vielleicht könnte er sie sogar dazu bringen, sich auf alle seine Bedingungen einzulassen. Und als Gegenleistung … Nein, diese Vorstellung verursachte ihm eine Gänsehaut. Er könnte sich niemals dazu überwin-
den, ein Nest voller Schlangen zu betreten. Sie mußten ihn heimlich in einer Hütte unterbringen – irgendwo im Wald, wo die Menschen ihn niemals finden würden. Ja, in einer dieser kleinen Kuppeln aus schwarzem Metall, in die er schon einoder zweimal einzubrechen versucht hatte. Was seine früheren, gemeinsam mit Schneekopf unternommenen Raubzüge betraf, so müßte man sich darauf einigen, daß darüber genügend Gras gewachsen war. Vergeben und vergessen. Das gehörte zum Geschäft. Vielleicht konnten es die Aliens sogar bewerkstelligen, Schneekopf herzuholen, damit er ihm Gesellschaft leistete. Und warum nicht auch ein wenig weibliche Gesellschaft? Schließlich entführten die Juttis ja ohnehin gelegentlich eine Bauerntochter. Es war klar, daß er und Schneekopf dann keine Jagd auf Juttis mehr machen konnten. Statt dessen benötigten sie wenigstens einen Stapel Spielkarten. Und Kisten mit Wodka. Sie könnten sich Geschichten erzählen. Er könnte Schneekopf gewiß jede Menge Geschichten über seinen Aufenthalt im Paradies erzählen, bevor diese Hexe Aino alles vermasselt hatte. Willige Mädels. Ewiger Karneval. Ein heldenhafter Kampf gegen Verrinmänner und andere Monstren. Der krummbeinige Mutant mit den Ziegenohren war natürlich kein Geringerer als der Vater jener verdammenswerten Aino. Diese Mißgeburten stammten allesamt aus ihrem heimatlichen Trugdorf. »Jetzt hört mir mal zu, alle miteinander«, sagte Minki. »Ich brauche jetzt eine Mütze voll Schlaf. Manche Leute hatten heute einen schweren Tag. Ihr werdet Euch benehmen, und Ihr dort, Arni …« »Arto.«
»Arto, Arti, wie auch immer – wenn ich mit Eurem Benehmen zufrieden bin, dann werde ich Euch etwas Interessantes über Eure geschätzte Tochter erzählen.« Der Zwerg geriet aus der Fassung. »Über … meine Tochter? Was gibt es da noch zu erzählen? Sie ist tot, verdammt! Meine Aino ist tot!« Minki lachte. »O nein, das ist sie nicht. Ich hab' sie noch vor kurzem mit meinen eigenen Augen gesehen. Zugegebenermaßen nur aus der Ferne. Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit, wie man sagen könnte.« »Sie lebt?« Arto rang die Hände in den weißen Handschuhen, aus denen die überzähligen Finger herausragten. »Wo ist sie? Wo ist sie?« Minki wackelte mit einem Finger. »Sie lebt genauso munter wie Ihr und ich, aber sie ist weit, weit fort. Mein Fahrrad springt pro Tag viele Kims. Die Belohnung für Euer gutes Benehmen wird darin bestehen, daß ich mich dazu herablasse, mehr zu erzählen. Aber alles zu seiner Zeit.« Er würde die Geschichte in die Länge ziehen. Um diese Mutanten unter Kontrolle zu halten. Solange er keine Einigung mit diesen tangotanzenden Juttis erzielt hatte, konnte er unmöglich verraten, wo sich die Hexe aufhielt. Er würde Arti – nein, Arto – und seinen Kumpels lediglich ein paar Häppchen zuwerfen. Aber was für Häppchen? Sollte er von Ainos Freundinnen erzählen? Von ihrer Monsterhorde? Von ihren ledernen Kniebundhosen, die mit Messing beschlagen waren? Von ihrer fanatischen Antipathie gegen einen Burschen, der doch nur sein Vergnügen haben wollte? Von ihrer erst kürzlich errungenen Macht, sich in eine Furie zu verwandeln? Er und sie hatten
nicht gerade intime Geheimnisse ausgetauscht … Er mußte sehr wählerisch bei seinen Enthüllungen sein. Arto stöhnte auf. »Sagt Ihr mir auch die Wahrheit, Minki Kennan?« »So sicher, wie Ihr Juttis das Tanzen beibringt. So sicher wie ich mit Kiki-liki Kennan verheiratet bin, der geborenen Helenius.« Es war recht früh für unseren Minki, sich aufs Ohr zu legen. Er war ziemlich erschöpft nach dem blutigen Kampf im Paradies, nach dieser furchtbaren Enttäuschung mit seiner Geisel und vom vielen Springen. Der krummbeinige Kerl mußte sich noch ein wenig quälen. Allerdings in stummer Qual. In den frühen Morgenstunden wachte Minki von Geflüster auf. Führte Arto schlaflose Selbstgespräche, oder verschwor er sich mit seinen Kollegen? Ein schroffes »Still jetzt!« genügte, um wieder Frieden und Ruhe herzustellen. Am folgenden Morgen war Minki vorsichtig in seinen Beteuerungen, daß die Tochter des Handschuhmachers gesund und munter war. Fast schon zu munter, um ehrlich zu sein. Ihre Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Großes Ehrenwort! Dabei mußte Minki feststellen, daß seine Zurückhaltung sogar wesentlich überzeugender wirkte als jede Redseligkeit – auch wenn Arto sich immer noch vor Verzweiflung verzehrte. »Aber wo ist sie, und wieso hat niemand etwas von ihr gehört?« »Ich kann Euch versichern, alter Kauz, daß Aino genauso die Herrin ihrer Umstände ist wie die Königin selbst.« (Verdammte Hexe!) »Wenn ich einfach so ausplaudern würde, wo sie jetzt
steckt, würde das Eurer Tochter vermutlich überhaupt nicht helfen, wenn Ihr mir folgen könnt. Glaubt mir, ich habe ihr nichts Böses angetan. Sie konnte mich einfach nur nicht ausstehen. Sie ist Männern gegenüber natürlich voreingenommen, so wie van Maanen sie behandelt hat.« Was war, wenn die Schlangen und ihre Sklaven dem Ort einen Besuch abstatteten, von dem Minki durch sie vertrieben worden war? Wie würde sich Ainos Horde aus Näkki-Monstren gegen eine Invasion der Aliens durchsetzen? Es geschah ihr ganz recht! Wenn er das Familiengeheimnis an die Samt-Isi verkaufte, könnte er sich damit gleichzeitig an der verbiesterten Spielverderberin rächen. Der Tag neigte sich bereits seinem Ende zu, ohne daß irgendwelche Jutti-Besucher aufkreuzten. Unser Minki brauchte ein wenig Unterhaltung. Zufällig war eine Musikkapelle verfügbar, obwohl es eine Schande war, daß es keinerlei geistige Getränke gab. Im Bemühen, ihm ein wenig mehr Informationen zu entlocken, zielte Lammas mit einigen Liedern genau auf die weiche Stelle in Minkis Seele – falls eine solche existierte –, wobei er niemals vergaß, daß es sich hier um einen Mörder handelte, dessen Haltung gegenüber den Trugleuten bestenfalls herablassend war. Lammas sang: Ach, wo ist mein Mädchen, dem ein Auge fehlt? Sie ging von mir fort, unvermählt Und sieht nicht, wie ich verzweifelt suche. Nach ihr, die denkt, ich würd' sie hassen, Doch ich bin es, den sie hat verlassen.
Ach, wo ist mein Mädchen, das nichts hören kann? Ich rufe, doch sie schreitet taub voran, Und hört nicht, wie ich verzweifelt rufe. Sie denkt, ich würd' mit meiner Liebe ringen, Dabei will mir schier das Herz zerspringen. Ach, wo ist mein Mädchen, das nicht sprechen kann? Wohin treibt sie ihr Bann …? »Könnt Ihr vielleicht auch ein Lied singen«, fragte Minki, »in dem eine Prinzessin von einem Helden gerettet wird, der von ihr alle möglichen schönen Sachen bekommen sollte? Doch als er sie nach Hause bringen will, wird sie zu einem Zombie.« Lammas kratzte sich an seinem Wollkopf. »Das ist eine Variation der Geschichte von Georgi …« Also sang er: Er rettet sie vor einer Schlange, Ihm war überhaupt nicht bange, Doch sein Glück währte nicht lange, denn sie liebt die Schlange, nicht ihn. »Ich will keine Schlangen in diesem Lied!« Minki begann den Beifahrersattel seines furchtbaren Fahrrads mit einem Tuch zu polieren. »Aber Ihr könnt von Juttis singen.« Lammas neigte den Kopf. »Wie wär's mit: Er rettet sie vor einem Jutti Doch dann packte ihn die Wut, die Ihn heim trieb zu seiner Mutti …«
Der Sänger brach ab. »Nein, das ist nicht gut, das ist nicht richtig. Es gefällt mir nicht, sie Juttis zu nennen, Herr Kennan. So funktioniert das Lied nicht. Ich bin überzeugt, daß sie genauso Herzen haben wie Ihr und ich. Nur daß sie nicht aus eigenem Antrieb denken können. Nein, so ist es nicht richtig …« »O ja, Schafmann, haltet mir ruhig eine Predigt!« Dennoch könnte es nützlich sein, vor dem Geschäft mit den Nichtmenschen einige Einblicke in ihre Psychologie zu erhalten, da die Mutanten immerhin so etwas wie Experten auf diesem Gebiet waren. »Nein, macht weiter, ich werde Euch zuhören.« »Ich kann es nicht sagen und nicht singen.« »Singt einfach, was Euch gefällt.« Lammas warf sich nachdenklich in Positur. Wie kann ich die Lippen in meinem Geist küssen, Wenn mich derselbe Mund verschlingt? Wie kann ich eine Geliebte suchen und missen, Wenn mich keine Leere zum Suchen zwingt? Das war auch nicht richtig. Lammas versuchte es erneut: Für die Lippen in meinem Geist gibt es kein Küssen, Wenn ich ihr Opfer des Verschlingens bin … »Ich habe Hunger«, sagte Minki. In seinem künftigen Asylabkommen mußte ebenfalls klargestellt sein, daß die Speisekammer reichlich mit Kost ausgestattet war, die nicht nur aus konzentrierten Kuchen bestand. Er hörte Lammas angestrengt zu, und dabei kam ihm die I-
dee, daß er mit einem Jutti (nein, einem Juttahat) tanzen könnte, um den Abschluß ihres Handels zu besiegeln. Während er tanzte, worin er recht geschickt war, würden die Mutanten singen und fiedeln. Minki müßte seinen ganzen Charme in die Waagschale werfen, um zum Partner eines Nichtmenschen zu werden. In letzter Zeit hatte sich sein Charme ein wenig abgewetzt. Es konnte nicht schaden, ihn wieder etwas aufzupolieren. Er lächelte liebenswürdig. »Wißt Ihr, Lammas, Ihr seid wirklich etwas Besonderes. Ich bin beeindruckt. Ich bin betört. In meinem Herzen ist eine Wertschätzung, über die ich nicht hinwegsehen kann, nein. Und Ihr, Arto, Ihr solltet stolz auf Eure Tochter sein. Sie hat etwas aus sich gemacht. Um Euch die Wahrheit zu sagen: Mein Fehler hat immer darin bestanden, einen Menschen viel zu sehr zu bewundern, so daß diese Person sich beleidigt fühlte. Das ist der Grund, warum ich mir nichts aus Gefühlen zu machen versuche, wie Ihr vielleicht bemerkt habt. Andernfalls würden meine Empfindungen mich glattweg überwältigen.« Warum war ihm dies noch nicht früher an sich aufgefallen? »Könnten wir es mit einem Lied versuchen, das sich in meinem Namen an die Juttahats wendet? Etwas wie: Er suchte eine Zuflucht vor der Welt, mit Wein und Spiel und einem Mädchen …« Minki konnte durchaus lyrisch formulieren, wenn er wollte! Kuchenmann bemerkte mürrisch: »Eine Zuflucht weit fort von irgendwelchen Königinnen, wie? Ihr solltet lieber Substantive üben. Das Suchen einer Zuflucht. Das Verlangen nach einem Mädchens für den Winter.« Minki zierte sich. Wie lange würde er sich verstecken müssen? Er hatte keine
Lust, monatelang allein mit Fräulein Flasche zu tanzen. Und was war, wenn selbst Fräulein Flasche in seinem Refugium nicht verfügbar war? Eine Bauerntochter. Der treue Schneekopf. Ein gut bestücktes Vorratslager. Es waren einfachste Bedürfnisse. Die nackten Notwendigkeiten. Lammas, der vom Verschlingen in der Leere der Geliebten sang, erinnerte ihn daran, daß Kiki-liki ein Baby ausgebrütet hatte. Die Leere in ihr war ausgefüllt worden. Doch ein Kerl empfand eine andere Art von Unausgefülltheit – rastlose Gelüste, die ihn dazu trieben, die Zähne zu fletschen und die Welt zu beißen. Juko wurde übel, wenn er an das zurückdachte, was in der Burg der Kennans geschehen war. Aufgrund einer Verzögerung beim Auftanken und verschlechterter Sichtbedingungen war das königliche Luftboot später am Nachmittag auf der Klippe neben der Stadt Niemi gelandet, als die Piloten geschätzt hatten. Schleier aus Nieselregen trieben über den Lasinen-See. Das andere Ufer war viel zu getrübt, so daß man es deutlich erkennen konnte. Angeführt von Juko und Jack näherte sich eine gemischte Gruppe aus einem Dutzend Leibwachen und Jaegertruppen und Ha-Häuslern in gereizter Stimmung der Burg. Sollte sich eine königliche Expedition verpflichtet fühlen, an der Türklingel zu schellen? Statt dessen trommelten Gewehrkolben einen Marsch, als wollte man die Tür aufbrechen. Sie bestand aus hartem Tammiholz, auf der ein geisterhafter Handabdruck zu erkennen war. Rammstöße hätten vielleicht kaum
eine Wirkung gezeigt. Ein rotes, von blonden Locken eingerahmtes Gesicht lugte bald darauf aus einem der oberen Fenster. »Wa-wa-wa-was ist los? Wa-wa-was wo-wo-wollt Ihr?« Der Sprecher starrte über den Dammweg auf das große Luftboot, in dessen Nähe weitere bewaffnete Männer ein wenig exerzierten. Juko atmete tief ein und brüllte dann: »Kommt sofort herunter, Schneekopf. So ist es gesprochen! Erinnert Ihr Euch an mich? Öffnet diese Tür!« »A-a-a-a-a«, stotterte Schneekopf. Er klammerte sich verzweifelt an den Fenstersims. Wenn er nicht schon ein so rotes Gesicht gehabt hätte, wäre er bestimmt unter der Anstrengung, sich festzuhalten, errötet. »A-a-a-a-a«, jammerte er. »Wir werden niemanden töten, Schneekopf! Kommt herunter! So ist es besprochen!« Schneekopf prallte geradezu vom Fenster zurück. Was sollte das Dutzend Soldaten tun, nachdem es in die Burg gelangt war, außer die Räumlichkeiten randalierend von oben bis unten zu durchsuchen, während Jack hin und her rannte? Was sollten sie mit Fürstin Inga und Karl und Kosti und Kyli Kennan anstellen, außer sie zusammen mit Schneekopf in den Hauptsaal zu treiben? Juko, der Besprecher, wurde zum Befrager. Sein erstes Opfer war Minkis erdbeergesichtiger Spießgeselle. Stammelnd und stotternd bewies Schneekopf, daß er wirklich nicht wußte, wo sich sein Boß aufhielt oder aufgehalten hatte. War Schneekopf bekannt, daß Minki wieder auf der Bildfläche erschienen war?
Aber j-j-j-ja doch. (»Ein Kuckuck hat es uns gesagt«, platzte Fürstin Inga dazwischen.) Hatte Minki schon in seinem Haus vorbeigeschaut oder eine Nachricht geschickt? Aber n-n-n-nnein. Dann wandte Juko sich an die standhafte Fürstin Inga. Bei ihr stieß er auf großen Widerstand. Jatta zu besprechen, die Geheimnisse ihres Lebens auszuplaudern, war dagegen so mühelos gewesen, als würde man seine Hand in einen Teich tauchen, um einen Traufisch herbeizulocken und ihn, während er nach Luft schnappte, ans Ufer zu werfen. Minkis Mutter zu besprechen war eher so, als würde man versuchen, ein Stück Eis mit fettigen Fingern zu greifen. Wußte sie das Geheimnis, wo sich ihr Sohn versteckt hatte? Sie reckte die Nase hoch. »Ich habe keine Ahnung, wo er sich versteckt hält, junger Mann.« Juko hatte nicht gefragt, wo Minki sich in eben diesem Augenblick herumdrückte. »Wo hat er sich davor versteckt, Fürstin Inga? Wißt Ihr es? Sagt es mir! So ist es besprochen.« »Und beeilt Euch damit«, fügte Jack hinzu. Funken und Schneeflocken umtanzten ihn. »Eile, warum diese Eile? Davor versteckt, wovor? Was meint Ihr mit davor?« wiederholte die Fürstin und plapperte immer schneller. »Ob er sich vor statt hinter einer Sache versteckt hat? Oder wollt Ihr wissen, wovor er sich versteckt hat?« Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Inga brachte ihre eigenen Gedanken absichtlich durcheinander. »Der arme Junge versteckt sich in einer Hütte. Ein WasserNäkki verliebte sich in ihn. Sie könnte ihn vielleicht tief in ihren
See zerren und ertränken, tief unten in ihrem See.« Die Worte glitten aus ihr heraus und schlängelten in verschiedene Richtungen davon, um ihre eigentliche Richtung zu verwirren. »Wie Regentropfen, sie kam in Form von Regentropfen durch sein Dach und näßte sein Bett. Statt dessen nähte sie sich eine Haut aus Wasser. Sie war so klar und schön, so glatt und makellos. Er tauchte in sie ein mit seinem harten Zauberstab, so daß er sie zerplatzen ließ …« »Wo hat sich Minki versteckt?« »Im See, im Näkki-See. Dann kam die Hure mit ihrer Fuhre. Dann kamen die Frauen, um ihn zu verhauen …« Eine gefährliche Entschlossenheit stand in Ingas haselnußbraunen Augen. Ihr graugesträhntes kastanienbraunes Haar schwang hin und her, während sie redete. Sie schüttelte den Kopf: Nein, nein, nein. Die Pailletten auf ihrem schwarzen Spitzenleibchen funkelten, als hätte Jack darin winzige Feuer entzündet, die mit jedem wortbeladenen Atemhauch angefacht wurden. Was konnte es schaden, wenn sie Juko verriet, wo Minki sich vorher versteckt hatte? Sie wagte nicht innezuhalten, damit Juko sie nicht unter seinen Einfluß bringen konnte. Wußte sie oder wußte sie nicht, wo sich ihr Sohn gegenwärtig aufhielt? Sie wagte nicht, eine Pause zu machen. See, See eintauchen in einen See … Reden, reden über einen ganz anderen See. »Die feuchte Schlampe schloß ihn in ihre wäßrigen Arme. Mit Hilfe seines Zauberstabes erfüllte er sie mit winzigen Fischen. Sprotten und Elritzen und Glasaale. Alle schwammen in ihrem Bauch herum. Ja, damit hätte er sein Leben lang genug zu
essen, wenn ihm seine Frau jeden Tag einen fetten Fisch gebar, direkt auf seinen Mittagstisch …« Ihre Jungen glotzten sie mit großen Augen an. Kylis zarte Hand lag auf ihren Lippen und unterdrückte einen leisen Schrei. Schaum stand auf Ingas vollen, sinnlichen Lippen. Blutfäden zeigten sich in ihren Augen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Was sollte Juko tun? Sollte er Still und Psst rufen, um sie zum Verstummen zu bringen – und damit seinen Einfluß zu verlieren? Ein Wirbelwind erhob sich im Saal und wehte Staub und tote Fliegen herum. Die Luft drehte sich um sich selbst. Als Juko und Jack und Jatta auf dem Rücken des wilden Herfs geritten waren, hatte der Schnelljunge genauso geplappert. Jack schien sich zuckend und funkelnd daran zu erinnern. Half seine Anwesenheit der Fürstin dabei, sich selbst in einen so hektischen Redeschwall hineinzusteigern? Wenn Jack sie nur nicht zur Eile getrieben hätte! Juko war der Besprecher dieses Bannes. Er war ihm schlüpfrig aus den Händen geglitten, als Inga es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihre Worte zu einem falschen Ziel strömen zu lassen. Die Fürstin mußte bereits an Atemnot leiden – so wie Juko selbst beinahe erstickt wäre, als van Maanen seinen Herausforderer im Treibsand versinken ließ. Sie drohte jeden Moment zu platzen! In einer solchen Situation konnte es einen so weit treiben, daß man zum Schluß noch eine furchtbare Enthüllung hinausschrie. Fast hätte Juko ihr zugerufen, sie sollte aufhören. Fast.
»Ihr Bauch war ein See. Ihre Brust war eine Klippe mit hohlen runden Felsblöcken, und jeden Tag gab es Fisch auf den Tisch..« Ihre schäumenden Lippen, ihre hervortretenden und blutunterlaufenen Augäpfel. Inga würgte. Blut spritzte aus ihrem Mund und aus ihren gebrochenen Augen, als sie der Schlag traf. Sie blieb noch einen kurzen Moment stehen, bis sie zu Boden stürzte – so tot wie ein Stein. Kyli schrie auf. Und einer der Jungen fiel in Ohnmacht. Juko hatte Niemi tief betrübt verlassen. Als er durch einen überlegenen Besprecher weichgedrückt worden war, als er im Treibsand zu ersticken drohte, hatte er da nicht mit seinem letzten Schrei seine Liebste verraten? Jack war zurückhaltend und nervös. Als der Soldat Ben, Pruts Namensvetter mit dem nach Obst riechenden Atem und der Pilztätowierung am Hals, sich erdreistete, ihm einen Stups zu geben, mit den Augen zu zwinkern und zu sagen: »Das dürfte als erste Abzahlung der Kennan-Schulden genügen«, ging Jack mit der Faust auf ihn los. »Haltet gefälligst die Schnauze!« Trotzdem konnte dieser Wutausbruch nicht den wohligen Schauder verringern, den Ben und die anderen erfahren hatten, als sie Zeugen von Fürstin Ingas Schicksal geworden waren. Es blieb noch eine Weile das Thema des Geflüsters im Luftboot, bis sie in regnerischer Dunkelheit endlich Saari erreichten, und zwar zur offenkundigen Erleichterung des Piloten. Zuletzt
waren sie gefährlich tief geflogen, mit nach unten strahlenden Scheinwerfern. Dennoch war es nicht einfach gewesen, dem breiten Murame-Fluß zu folgen. Ben Prut hatte dazu geraten, in Dreiseen zu landen, um dort die Nacht zu verbringen. Juko besprach ihn leise, von dieser Idee Abstand zu nehmen, und ermutigte dann den Piloten. Jack sang von frischem Wind und gutem Licht. Nur möglichst weit weg von Niemi! Was hatten sie von Minkis Mutter erfahren? Nichts, was Sinn ergab oder ihnen weiterhalf. Dabei hatte sie mit ziemlicher Sicherheit gewußt, wo ihr Sohn gewesen war. Und mit diesem Wissen war sie gestorben. War er an einem See gewesen? In einem See? Oder darunter? Um welchen der zehntausend Seen konnte es sich handeln? Gab es Klippen in der Nähe dieses Sees? Dann könnte es genausogut der Lasinen-See sein! Aber der war es nicht. Falsche Fährten, falsche Fährten. Fürstin Inga hatte es geschafft, alles durcheinanderzuwürfeln, was sie gesagt hatte. Sie hatte den Tod in Kauf genommen, um nichts preisgeben zu müssen. Gemütliche Unterkünfte und etwas Warmes zum Abendessen in den Baracken von Fürst Helenius rechtfertigten die Entscheidung, bis Saari durchzuhalten. Viele der Wachleute des Herrn der Münze wurden in die Ställe verlegt. Prut und Jack und Juko aßen und schliefen in Gesellschaft ihrer Soldaten. Kein Bedarf an Schlafzimmern im Palast, vielen Dank, fürstliche Hoheit, und auch kein Platz am Ehrentisch. Die nächtlichen Besucher – die schließlich mitten im Krieg gegen die Rebellen mit dem
königlichen Luftboot unterwegs waren – befanden sich auf einer Geheimmission im Auftrag der Königin. Sie durften kein Aufsehen erregen. Ansonsten Schweigen über die Vorfälle in Niemi. Der Herr der Münze konnte eigentlich nur Verachtung für Minki Kennan empfinden. Doch wie mochte er auf die Nachricht vom Tod der Fürstin Inga reagieren? Sie war schließlich die Schwiegermutter und Beschützerin seiner Tochter gewesen … Wie würde es Kyli nun in der Gesellschaft des stotternden Genossen und der zwei jungen Kennans ergehen? Im Palast von Saari schien bislang noch niemand von Kennans kürzlichem Wiedererscheinen gehört zu haben. Kuckucke tratschten nur, wann und wo es ihnen beliebte, falls sie nicht besprochen wurden, eine spezielle Botschaft zu überbringen. Am Morgen war das Tief größtenteils nach Westen weitergezogen. Jack unternahm einen frühen Lauf durch Saari, um die hübschen Kanäle und Springbrunnen und Brücken über dem rauschenden Murame zu bewundern. Juko verzichtete auf eine Besichtigung. Schließlich erhob sich das Luftboot schwerfällig vom Platz aus rosafarbenem Kies hinter dem weitläufigen, am Fluß gelegenen Palast mit den tausend Fenstern. Sie flogen über Wälder. Über Felder und Wiesen, die sich rings um Dörfer ausbreiteten. Dann war jedes Dorf eine umzäunte Festung. Die Gebäude standen dicht gedrängt und waren miteinander verbunden, so daß sie praktisch ein großes Haus bildeten, das von hölzernen Palisaden umgeben war. War jene bäuerliche Festung dort drüben die letzte, an der Juko (und seine Schwester) auf dem Weg zum Nest der Samt-Isi
vorbeigekommen waren? Ja, es war genau hier. Kein Zweifel. Die Knochenhütte befand sich demnach etwa zwanzig Kims weiter, tief im Waldland. Und noch etwas weiter war der Horizont in Nebel getaucht, in Mana-Nebel. Juko empfand große Skrupel. Jack grinste vor Aufregung.
16 Abgesattelt
Es war irgendwann am Vormittag, als Minki ein angestrengtes Wummern am Himmel hörte. »Bleibt drinnen!« knurrte er den Mutanten zu. Er kroch zu einem Fenster, das von Schenkelknochen gerahmt wurde und dessen welliges Glas mit Lehm verkittet war. Die Wolken waren zu einer luftigen Häkelarbeit ausgefranst. Darüber schwebte ein trübblauer Teich. Die Wange ans Glas gepreßt, erspähte er ein Luftboot, das langsam über die Hütte hinwegflog, sich dann zur Seite neigte und eine Kurve beschrieb. Wie gut er diesen weißen Rumpf und die zinnoberrot ummalten Bullaugen kannte! Es waren wirklich Augen mit gläsernen Pupillen in blutunterlaufener Iris. Das königliche Luftboot. Lucky Sariolas Leute, die zweifellos nach ihm suchten! Er lauschte auf das Wummern. Das Luftboot kreiste und suchte offenbar nach einer freien Stelle, wo es landen konnte. Niemand außer diesen Mutanten wußte, daß er hier war. War einer von ihnen vielleicht zufällig auf einen Kuckuck gestoßen, als er draußen einem Ruf der Natur gefolgt war? Oder hatten sich diese Juttis, mit denen die Combo prahlte, heimlich angeschlichen und gelauscht? Doch die Nichtmenschen würden wohl kaum auf die Idee kommen, ihn per Kommunikator an die Königin zu verpetzen – sofern in der Welt nicht alles drunter und drüber ging.
Warum versuchten sie also in der Nähe dieser Hütte zu landen? War das Luftboot in Not? War es im Krieg, von dem die elenden Dorfbewohner gefaselt hatten, beschädigt worden? Doch dieser Krieg wurde weit weg von hier geführt! Warum hatte sich ein wichtiges Gefährt Hunderte von Kims von dort entfernt, wo es eigentlich sein sollte? Wie in Surmas Namen hatte Lucky herausgefunden, wo Minki steckte? »Scheibenkleister!« sagte er. Höchste Zeit, das Sprungfahrrad zu besteigen. Er hatte bereits die Hälfte der nahrhaften Kuchen der Mutanten in den Satteltaschen verstaut. Für alle Fälle. Es konnte nie schaden, die Rationen unter Kontrolle zu haben. Sollte er in Richtung des Isi-Nestes springen, in der Hoffnung, einigen Nichtmenschen zu begegnen, mit denen er verhandeln konnte? Was war, wenn sie gar nicht verhandeln konnten? Wenn sie gar kein Kalevanisch verstanden? Und wenn er die neutrale Hütte verlassen hatte! Es war sicherer, für ein paar Tage in den Wäldern unterzutauchen. Vielleicht nordwestlich von hier … Im Nordosten lagen die schmalen schwarzen Gummistraßen und der ManaNebel und das Nest selbst. »Hört mal zu, Kumpels«, rief er, »das ist das Luftboot der Königin, was da gerade landet. Dasselbe, das uns alle nach Sariolinna gebracht hat. Das hat nichts Gutes zu bedeuten …« »Nicht für Euch«, sagte Kuchenmann. »… weil ich zufällig weiß, daß im Westen ein ernsthafter Krieg geführt wird. Und in einem Krieg können unschuldige Zuschauer wie Ihr leicht zu Schaden kommen. Was immer der Grund für diesen Besuch sein mag …«
»Für uns stellt er ein Geheimnis dar«, sagte Knöterich. Meinte der Strickmann das ironisch? »Was auch immer der Grund sein mag, für Euch ist es am besten, wenn Ihr nichts davon sagt, daß ich hier bin. Rechnet lieber nicht mit einem Freiflug zurück zu Euren Trughäusern als Gegenleistung, wenn Ihr mich verraten würdet.« Das Fahrrad nach draußen schieben, es herumdrehen und sie allesamt totschießen, um sie zum Schweigen zu bringen …? (Wie nahe waren die Männer der Königin schon? Nahe genug, um das Rattern der Schüsse zu hören?) Vier Leichen waren nicht gerade unauffällig. Das mochte seine Verfolger nur um so mehr ärgern, da die Mutantencombo im Pohjola- Palast ein recht hohes Ansehen genossen hatte. Außerdem wäre es blanker Mord. Minki hatte noch nie jemanden ermordet, abgesehen von der Sache mit Prinz Bertel, der ja eigentlich Selbstmord begangen hatte. Die getöteten Nichtmenschen zählten nicht. Und Näkkis auch nicht. Bis jetzt hatte er sich diesen Mutanten gegenüber anständig verhalten. Sie hatten ihm Tips gegeben, wie man mit Juttis reden konnte, wenn man nicht die Armbrust benutzen wollte. Es wäre eine Schande, eine so herzliche Beziehung zu verderben. Er schob das Fahrrad durch die Tür nach draußen. »Unsere Vorräte!« »Vergeßt nicht, daß ich Euer Leben verschone!« rief er zurück und drehte am blauen Griff. Dieser vertraute negative Blitz der absoluten Finsternis. Fast im selben Augenblick befand sich Minki zwischen einigen scharlachroten Minzbäumen.
Das Fahrrad herumdrehen. Wo hielt sich die Sonne versteckt? Wo war Norden, wo Westen? Ein Räubervogel machte krack. Diese hübsch glänzenden Messingbeschläge. Blau drehen. Diesmal dauerte die Zwischenphase einen erstickenden Augenblick länger, ähnlich wie während seines langen Sprunges mit diesem schrecklichen Mana-Magus. Minkis Lungen drohten zu platzen. Die dunkle Leere lastete auf ihm. Er geriet in Panik. Doch dann: Licht und Luft! Eine Lakarie ließ rostfarbene Spatenblätter hängen, die bald abfallen und verwelken würden. Das angelaufene Kupfer der Wedel eines Horsmabaumes. Eine grünnadlige Vera. Rotbraune Büsche mit runzligen Beeren. Ein Dutzend kleiner Leppis sprang davon, Handschuhe aus goldbraunem Fell, und flüchtete vor diesem plötzlichen riesigen schwarzen Raubtier in alle Richtungen. Puh! Nun, was auch immer geschehen war, er mußte wieder den blauen Griff drehen. Und das tat er. Doch nichts geschah. Das Fahrrad war verstummt. Kein leises Pulsieren mehr, kein Vibrieren. Er trat mit dem Stiefel gegen die reglose Maschine, wie man ein Pony in Schwung brachte, doch es nützte nichts. Wie stand es mit den Waffen? Er wollte sie nur einmal und ganz kurz ausprobieren. Es waren recht laute Dinger. Vorsichtig drehte er kurz an Rot. Kein sofortiges Feuer erschütterte die Stille. Kein Baumstamm wurde zersplittert. Keine sterbenden Blätter tanzten.
Er drehte noch einmal, aber heftiger. Es geschah überhaupt nichts. Scheibenkleister! »Komm schon, Fahrrad«, drängte er. Er schlug mit der Faust darauf, trat mit den Füßen dagegen. In Ermangelung einer geeigneten Lichtung war das königliche Luftboot über einem Teich niedergegangen. Die Rampe reichte nicht bis zum moosbewachsenen Ufer. Also mußten die aussteigenden Soldaten unter der Führung von Prut, der seine Brille trug, durch das Wasser waten und dann die Stiefel entleeren, sobald sie auf dem Trockenen waren. Nach ihrem Ausstieg hatte Juko genügend Platz, ein Sprungfahrrad hervorzuzerren und in der Luke in Stellung zu bringen, wo er es in die richtige Richtung drehen konnte. Sein Beifahrer mit Lichtgewehr war ein rotblonder Mann aus dem Ha-Haus namens Karlo, dessen rechte Wange bei der zweiten Belagerung von einem Schrapnell gestreift worden war. Juko sprang mitten in den Wald. Hinter Baumstämmen und buntem Laub war das Luftboot jetzt nur noch als ein paar schneeweiße Flecken zu erkennen. Jack folgte eine Minute später auf dem zweiten Fahrrad, begleitet von Ben, der sich ein Lichtgewehr quer über den Schoß gelegt hatte. Ben hatte darum gebeten, auf dem Fahrrad mitgenommen zu werden. Ihn juckten ständig die Füße. Einige kleine Geschwüre waren das Problem. Durch einen Teich zu waten konnte schlimme Konsequenzen haben. (»Entschuldigt meine unangemessene Bemerkung. Wird nicht wieder vorkommen.«)
Als die Soldaten zwischen den Bäumen ausschwärmten und sich Hermis Hütte näherten, trällerten sie wie alte Frauen auf der Pilzjagd. »Minki …!« »Kennan …!« »Minki …!« »Kennan …!« Diese Jagdrufe koordinierten den Vorstoß und vereinten die Grün-und-Braunen, die Gelbbraunen, die Blauen und die Umbra-und-Flaschengrünen. Dadurch mochte ihr Opfer vorgewarnt, vielleicht aber auch eingeschüchtert werden. Schweigen wäre womöglich diskreter gewesen. War das Luftboot lautlos gewesen, als es sich schwankend auf den Landeplatz herabgesenkt hatte? Prut hatte keine Anweisung gegeben, die Lippen zu versiegeln. Seine Truppen mußten wissen, wo ihre Leute waren. Juko sprang Jack voraus, und Jack folgte dicht hinter ihm. Juko betrat die Knochenhütte und sprach: »Kennan, seid ruhig und rührt Euch nicht!« Die Lichtpistole in der Hand, das beige Haar wie vom Wind zurückgeweht, die blauen Augen entschlossen auf sein Ziel gerichtet. Dann stürmte Jack in seiner kupfernen Uniform hinter ihm herein. Karlo und Ben waren auf den Fahrrädern zurückgeblieben. »Mein Sohn?« rief Arto. »Mein Sohn?« Der kleine Mann mit den Ziegenohren winkte mit seinen Handschuhen. »Sie lebt! Unsere Aino ist am Leben!« Diese Nachricht sprang wie ein Blitz vom Vater auf den Sohn über. Sie konnte nicht länger zurückgehalten werden, nachdem Artos
Augen Juko erblickt hatten. Die Worte besprachen sich selbst. »Aino lebt!« Juko taumelte. Jack flitzte hin und her und beäugte und beschnupperte wie ein Jagdhund die Trugmenschen und den reichlichen Krempel in der Hütte. Wie heftig Jukos Herz unter diesem Schock pochte! Zuerst stieß er hier auf seinen Vater … und dann hörte er auch noch diese Neuigkeit … »Sie lebt …? Aber …?« Das konnte nicht sein. Van Maanen hatte sie besprochen, in den Tod zu gehen. Seit einem Jahr hatte man nichts mehr von ihr gehört. »Sie ist am Leben, mein Junge, genauso sicher wie du und ich. Es geht ihr gut.« Juko lehnte sich gegen einen offenen Schrank voller Puppen und demontierter Uhren. »Ist sie … zu Hause?« Der überraschende Anblick seines Vater ließ ihn an Zuhause denken. Doch das hier war nicht die knarrende Hütte in Outo. Es war eine aus Knochen erbaute Schamanenhütte. Arto war nicht zu Hause. »Woher weißt du davon, Vater?« »Wo ist Kennan, wo ist Kennan?« fragte Jack gleichzeitig Kuchenmann und Knöterich und Lammas. »Kennan? Es war dieser Minki Kennan, der es mir erzählte, mein Sohn. Er wollte uns genau sagen, wo sie ist, wenn wir ihm helfen, Kontakt mit den Juttahats aufzunehmen, die des öfteren hier vorbeischauen …«
»Kennan war hier?« fragte Jack. »Er hat seine Geschichte in die Länge gezogen, damit wir uns benehmen.« »Bis wann war er hier?« »Bis vor fünf Minuten«, sagte Kuchenmann. »Oder sechs oder sieben. Mit einem Fahrrad wie die da draußen …« »Was er über Aino sagte, war gelogen!« brüllte Juko. Ihr Name brach wie in einer Explosion aus ihm hervor. »Nein, er hat nicht gelogen, Junge. Sie ist irgendwo weit fort von hier, genau dort, wo er sich verkrochen hat. Und es gibt einen Beweis. Unsere Aino hat ihm nämlich irgend etwas Furchtbares angetan. Ich weiß nicht, was es war, aber er hätte etwas niemals zugegeben, wenn es nicht auf schmerzhafte und ärgerliche Weise wahr wäre. Er nicht!« »Arto hat recht«, sagte Knöterich. »In welche Richtung ist er gesprungen?« Jack wirbelte ungeduldig herum. »Fünf Minuten, sechs, sieben! In welche Richtung?« Juko sagte: »Ich habe ihn einest besprochen, zu erschlaffen, wenn er jemals in ihre Nähe kommen sollte …« Ach, er war ein so eifersüchtiger Bruder gewesen. Der reizende Kennan hatte versucht, seine Schwester zu schänden! »Kennan weiß es wirklich, Junge. Dann seid ihr aufgetaucht, und schon ist er davongezischt. Ist einfach mit diesem Apparat verschwunden.« Als wäre Juko schuld daran, daß seine Schwester ein zweites Mal verlorenging! »Sechs Minuten, sieben, acht! In welche Richtung?« Kuchenmann zeigte durch den Eingang. Schon sprang Jack
auf sein Fahrrad mit Ben auf dem Sozius zu und rief: »Folge mir, Juko!« Das Dämonen-Kind saß im Sattel und drehte an Blau. Als das Fahrrad verschwand, saugte es einen Wirbel aus Blättern in den Mana-Raum. Juko zögerte noch einen Augenblick. Er mußte Kennan schnappen und aus ihm herausquetschen, wo Aino sich aufhielt … Diese Juttahats, die regelmäßig zur Hütte kamen …! Lucky – oder war es Melator gewesen? – hatte recht mit der Vermutung gehabt, Kennan könnte versuchen, seine Informationen über den Aufenthaltsort des Ukko-Kindes an die Isi zu verkaufen, um sich als Gegenleistung von ihnen beschützen zu lassen … Aino befand sich im Ukko-Kind, in dem Minki sich versteckt hatte. Sie war auch jetzt noch dort. Im Innern des Ukko-Kindes! Diese Erkenntnis erschütterte Jukos Seele. Er mußte sie finden und um Verzeihung anflehen! Um das auszulöschen, was zwischen ihnen geschehen war. Um die Erinnerung an sein heimliches inzestuöses Begehren zu vergessen … Doch wie konnte sie ihre entsetzliche Entdeckung vergessen, daß sein Herz ihn dazu getrieben hatte, sie zurückzuweisen? In Verbindung mit der Angst vor dem Ersticken im Treibsand! War es ihr möglich, diese Zwänge zu verstehen? Als Kind der Trugmenschen von Outo – für die er niemals Verachtung empfinden konnte, von denen er sich niemals entfremden konnte – war sie sein wahrer Spiegel gewesen, sein weibliches Spiegelbild, sein Brennpunkt … der Aufmerksamkeit, der Freundschaft und … der Leidenschaft. Und seiner
Selbstliebe. Es gab für ihn keinen Zweifel, daß er sich selbst mehr liebte als sie! Dennoch war sie gleichzeitig sein anderes Selbst gewesen, das Selbst, das nicht er selbst war. Er hatte sie auf eine Weise verehrt, die ein Minki niemals verstehen könnte. Er hatte sie viel zu sehr geliebt. Konnte sie all das verstehen – vorausgesetzt, es gelang ihm, sie aus dem Innern des Ukko-Kindes herauszuholen? Vorausgesetzt, er konnte sie der Welt wiedergeben, einer Welt, in der van Maanen seine angemessene Bestrafung erhalten hatte? (Wollte sie überhaupt gerettet werden? Mußte sie gerettet werden? Aber wenn nicht, wie könnte sie ihm dann jemals verzeihen?) »Um Manas willen, Sohn, willst du den ganzen Tag lang hier vor dich hin träumen? Sie lebt, sage ich dir!« Lebt, lebt. Und Kennan wußte, wo. »Das ist deine Chance, einiges wiedergutzumachen, Junge. Andernfalls wird man dich zu Hause nie mehr willkommen heißen. Das Herz deiner Mutter wird für immer gebrochen sein – und meines ebenfalls.« Kannte der alte Knabe wirklich alle Tiefen von Jukos verräterischer Leidenschaft? Konnte er ihn verstehen? »Ich werde sie für dich wiederfinden, Vater, das verspreche ich.« Und schon war Juko unterwegs. »Was ist mit uns?« rief Kuchenmann ihm nach. »Seht«, machte Lammas zu seinem krustigen Gefährten, »seht!« Rotbraune Zweige und goldene Äste. Fleischmoos, in das sich keine frischen Räderspuren eingegraben hatten.
»Wohin ist er verschwunden?« »Seid still, Karlo.« »Ich höre keinerlei …« »Seid still! Haltet die Luft an. Und wartet ab.« Der junge Jack mochte kopflos hin und her springen und darauf hoffen, durch puren Zufall auf Kennan zu stoßen. Aber nicht Juko. Er sammelte sich, er atmete tief ein. »Fahrrad, dein Ursprung liegt bei den Isi, du bist die Idee eines Isi-Magus. Dein Körper besteht aus Stahl, der von ihren Dienern geschmiedet wurde. Dein Weg führt durch den ManaRaum. Und das Mana möge meine Wort mit Macht erfüllen. Fahrrad, sei mein Träger, so wie ein Magus der Isi von einem Juttahat getragen wird! Du spürst die Spur, die Kennan in der Zwischenphase hinterläßt, Fahrrad. Dreh dein Rad nach deinem Rat. Folge Kennans Fährte, spring auf Kennans Spur.« Zweifle nicht einen Augenblick daran, daß du ihn finden wirst. Es ist gewiß, daß du ihn findest. Er drehte an Blau. In der Finsternis warf sich das Fahrrad zur Seite. In der Dunkelheit griff eine Hand nach Jukos Hüfte. Rotbraune Sträucher. Kupferfarbene Wedel eines Horsmabaumes. Große rostfarbene Blätter einer Lakarie. Ein Sprungfahrrad ganz in der Nähe. Der Fahrer trug eine schwarze Ledermontur, die mit Messing beschlagen war. Die Manschetten und die Aufschläge und der hohe Kragen waren gewaltig. Und seine reizenden kastanienbraunen Locken! Er rüttelte an der Maschine und verfluchte sie. Kein Wunder, daß sich das Fahrrad nicht von der Stelle rühren
wollte. Die Hand löste sich von Jukos Hüfte, als Karlo seitwärts vom Beifahrersitz purzelte. Noch vor dem dumpfen Geräusch seines Aufpralles drehte sich der andere Fahrer um. Entweder hatte er einen Luftzug gespürt oder das Surren der Maschine trotz seiner lauten Flüche gehört. Diese betörenden nußbraunen Augen … Die zwei Waffenläufe an Jukos Lenkstange zeigten genau auf Minki. Minki breitete die Arme aus. Keine Waffe, keine Waffe. Minki riß in erstauntem Wiedererkennen die Augen auf. »Juko Nurmi! Ich habe Neuigkeiten über Eure Schwester, Juko! Erschießt mich nicht, denn dann werdet Ihr niemals erfahren, was ich weiß!« Sein Blick streifte Karlo. Karlo kauerte am Boden, gegen den er seine Hände drückte, als müßte er sich dessen Festigkeit vergewissern. Der Ha-Häusler hatte sein Lichtgewehr verloren. Nicht hier, o nein. In der Zwischenphase. »Ja, ich habe Neuigkeiten von Eurer Aino. Sie ist am Leben. Es geht ihr gut. Sie hat alle möglichen Näkki- Monstren um sich versammelt. Schreckliche Bestien. Verrinmänner!« Das hatte Jukos Vater nicht erwähnt. »Kann ich von diesem Fahrrad absteigen, Juko? Ich bin völlig verrenkt.« »Aber langsam. Und laßt mich Eure Hände sehen.« Minki stieg in Zeitlupe ab, während er die Hände hochhielt und die Freundlichkeit und Gehorsamkeit in Person war. »Was ist mit diesen Monstren?« »Also wißt Ihr bereits, daß ich Eure Schwester gesehen habe? Ich vermute, die Eierköpfe in der Hütte haben mich verpfiffen. Aber schließlich sind es Eure Kumpels. Und Arto ist natürlich
Euer Vater. Kann ich es ihnen verübeln? Es sind wirklich nette Kerle. Eigentlich bin ich sogar froh darüber, daß sie Euch alles erzählt haben. Andernfalls hättet Ihr womöglich sofort geschossen.« »Was ist mit diesen Monstren?« Fast im Tonfall des Besprechens. Fast. Nicht ganz. Minki starrte Juko an. »Das ist eine lange Geschichte, mein Freund. Ihr werdet Euch sicherlich erinnern, daß ich eine gewisse Zuneigung zu Aino empfand, ob ich nun wollte oder nicht, auch wenn es weder schicklich noch ratsam war. Ihr habt keine Vorstellung, wie tief es mich getroffen hat, daß dieser Schweinehund van Maanen sie auf der Gala so schändlich behandelt hat. Aber wie hätte ich helfen sollen? Ihr hattet mich besprochen, nicht in ihre Nähe zu kommen. Unglücklicherweise waren auch Euch die Hände gebunden, so daß Ihr kaum etwas unternehmen konntet. Oder eher die Knie!« Errötete Juko vor Scham? »Irgendwann trifft es jeden von uns, nicht wahr, Juko? Mein Herz machte geradezu einen Satz, als ich sie erst vor kurzem so gesund und munter sah. Nicht daß Ihr denkt, möchte ich schnell hinzufügen, ich wäre in der Lage gewesen, mich einem gewissen keuschen Hühnchen allzusehr zu nähern – aus Gründen, die Euch wohlbekannt sein dürften.« »Wo ist sie, Minki? Was ist mit diesen Monstren?« »Ach, die Monstren. Ihr Gefolge, könnte man sagen. Ich schätze, in Anbetracht ihrer Herkunft scheint sie sich in der Gesellschaft von Monstren wohl zu fühlen. Gegenwärtig hat sie ihre Bestien unter Kontrolle. Aber ich weiß nicht, für wie lange noch.«
»Wo ist sie?« Voller Reue: »Ach, seht Ihr, genau das ist mein Dilemma. Ich muß mich … von hier … entfernen. Ihr seid gekommen, um mich im Auftrag der Königin zu schnappen, nicht wahr? Juko, mein Freund: Bei der Ehre der Kennans – und aus ehrlichem Respekt vor Eurer Schwester, die durch die Wahl ihrer Gesellschaft vielleicht in Schwierigkeiten geraten könnte –, nun, wenn Ihr beim Namen Eurer Schwester und beim Mana schwört, daß Ihr Euer Sprungfahrrad gegen meines tauscht, dann werde ich es Euch verraten.« »Euer Fahrrad funktioniert nicht mehr, stimmt's?« Karlo schien immer noch benommen zu sein, nachdem er so knapp einem Sturz ins Nichts entronnen war … »Ich brauche eine Chance, Juko. Ich biete Euch und Eurer Schwester eine Chance. Seid fair zu mir. Ich werde auch zu Euch fair sein.« Minki warf einen Blick auf das prächtige Laubwerk. »Diese Schönheit der Welt!« Eine flehende Träne stahl sich in sein Auge. »Es wäre eine solche Schande, nie wieder einen Herbst erleben zu dürfen – und all das nur, weil der Prinz mich provoziert hat. So war es nämlich, wißt Ihr. Bertel wollte sterben. Ich war nur sein Handlanger. Bertel wollte Lucky entfliehen. Und das möchte ich auch.« »Ihr werdet mich zu ihr bringen, Minki Kennan.« »Zu ihr? Ach so, ja, zu Aino. Was ist so schwer daran, den hübschen Namen eines hübschen Mädels auszusprechen, auch wenn ihr jetzt wieder ein Auge fehlt? Sie hat mich mit diesem Glasauge wirklich zum Narren gehalten, als wir uns das erste Mal trafen – was gar nicht weit von hier war.« »Wollt Ihr damit sagen, daß sie auch jetzt gar nicht weit von
hier ist?« Zitterte Juko etwa, obwohl der Tag recht warm geworden war? »Nein, nein, es ist ein sehr langer Weg.« Er mußte Minki nur dazu besprechen, es ihm zu verraten, um dann allein mit seinem eigenen Fahrrad davonzuspringen, wohin auch immer, mit Platz für seine Schwester auf dem Sozius. Er mußte Minki nur besprechen. Juko holte tief Luft. Die tätowierten Lippen um seine Brustwarzen juckten. Minkis Mutter, würgend, zerplatzend, sterbend … aus liebevoller Treue zu diesem listigen Schurken. Eine Treue, an der es Juko so sehr gemangelt hatte … (»Ich habe Eure Mutter getötet, Minki.«) Aber das sagte er nicht. Wenn Juko ihm von einer solchen Selbstaufopferung erzählte, wie würde der Kerl darauf reagieren? Ingas großer kleiner Junge würde sich vielleicht einige Tränen des Mitleides abringen. Würde er in tiefen Kummer der Verzweiflung stürzen? Juko hatte Minkis Mutter zum Platzen gebracht. Er hätte niemals gedacht, daß die Fürstin lieber platzen als nachgeben würde. Doch so war es geschehen. Wäre Aino nicht entsetzt, wie brutal sich ihr Bruder verhalten hatte? Er konnte sich nicht dazu überwinden, Minki zu besprechen. Minki starrte Juko angestrengt an, in verwirrter Hoffnung. »Ich werde Euch zu ihr bringen, bis kurz vor dem Ziel, und dann übergebt Ihr mir Euer Fahrrad. Schwört es bei ihrem Namen und auch beim Mana.« Wenn Juko beim Mana schwor und dann den Schwur brach, würde es seine Kräfte schwächen. Er würde sich selbst besprechen, um sich dann seinem eigenen Bann zu widersetzen.
Karlo litt immer noch unter dem Schock. »Unterwegs werdet Ihr mir sagen, Minki, wohin wir gehen!« Nicht hier, wo der Ha-Häusler es hören konnte. Das war eine private Angelegenheit. Eine Familienangelegenheit. Wenn er den Dienst für eine verrückte Monarchin um seiner Schwester willen quittierte, würde sich zeigen, auf wessen Seite Jukos wahre Ergebenheit lag. Also schwor er in Ainos Namen (den er diesmal mit sicherer Stimme aussprechen konnte) und im Namen des Mana. Karlo setzte zu einem Protest an, aber Juko brachte ihn zum Schweigen. Seine Eskorte hatte keine Waffe zur Verfügung, mit der er seine Worte untermauern konnte. Minki mußte das Fahrrad lenken. Nicht Juko. Nur er wußte, wo das Ziel seines Passagiers lag. Obwohl er ihm unterwegs mehr verraten würde. Das Fahrrad sprang ein dutzendmal, tauchte im Wald auf, im Feld, an einem See, neben einer Straße. Schwarze Leere unterbrach diese Landschaftsbilder. »Haltet beim nächsten Mal an und sagt es mir!« brüllte Juko während eines kurzen Wiederauftauchens. »Ich wage es noch nicht! Damit Ihr mich nicht betrügt.« »Ich habe geschworen!« Blau drehen und weiterspringen. Was einmal geschehen war, konnte leicht noch ein zweites Mal geschehen. Unser Minki feuerte die Waffen lärmend auf einen Minzbaum ab, dessen Laub scharlachrot gefärbt war, als stünde er bereits in Flammen. Im nächsten Augenblick schlug er mit dem
Kopf nach hinten. Das folgende Krachen und Aufheulen tat so gut. Sein rechter Ellbogen stieß nach. Sein linker Arm holte aus. Der Mutantenbesprecher verlor das Gleichgewicht, während er sich das Gesicht hielt. Blau drehen und auf Nimmerwiedersehen. Minki hielt schließlich mit dem Fahrrad auf einer umzäunten Weide an, wo er unter den Ponys eine kleinere Panik verursachte. Eine Bauernkate lockte mit der Aussicht, seine Vorräte durch etwas ordentliches Fleisch zu ergänzen. Und durch geistige Getränke, nicht zu vergessen. In diesem Leben brauchte ein Mann geistige Stärkungen, um überleben zu können. Ein Kerl in militärischer Ledermontur mit Waffen an seinem beeindruckenden Fahrrad konnte sich bestimmt nehmen, was er wollte, ohne auf allzu große Schwierigkeiten zu stoßen. Ob der Bauer auch eine schnuckelige Tochter hatte, der der Sinn nach Abenteuern stand? Eine Spielkameradin, damit ihm die künftigen Monate in einem Jutti-Kabuff irgendwo in der Wildnis nicht zu lang wurden? Ach ja, was war aus seinem Plan geworden? Die Dinge hatten sich im Augenblick ein wenig anders entwickelt. Die Truppen der Königin trieben sich genau an der Grenze zum SamtTerritorium herum. Waren sie den langen Weg wirklich nur wegen Minki gekommen? Lucky war verrückt genug für einen solchen Auftrag. Oder steckte mehr dahinter? In der Umgebung der Samt-Isi könnte es in nächster Zeit ein wenig zu lebhaft sein, um sich dort zu entspannen. Was war, wenn sein Fahrrad plötzlich versagte, wie es mit dem anderen geschehen war? Während er unterwegs zur Samt-Stadt war, womöglich gerade
mitten in einer königlichen Patrouille gelandet? Sein Geschäft mit den Juttis mußte wohl noch ein Weilchen warten. Minki streckte sich, Minki gähnte. Es war gut, auf einem solchen schwarzen Roß zu hocken, während ihm immer noch alle Möglichkeiten offenstanden. Die unruhige Herde aus Pferdefleisch galoppierte hin und her und beäugte hysterisch den Eindringling. Ein Pony war vielleicht etwas zuverlässiger als diese Alien-Maschine und zudem wesentlich unauffälliger. Wie entledigte man sich eines Sprungfahrrades? Indem man absprang, bevor es im Mana-Raum verschwand? Das mochte ein wenig riskant sein. Sollte er es in einem See versenken? Minki blickte zum Bauernhof. Womöglich ließ sich mit Charme viel mehr erreichen als mit Herumgepolter. Noch besser wäre wohl eine ausgewogene Mischung aus beidem. Juko kam schwankend auf die Beine. Aus seiner Nase schoß rotes, heißes Blut. »Schmerz, verschwinde! Blut, versiege!« Er schluckte salzig-süßen Schleim und besprach erneut, bis das Blut gerann. Die Mitte seines Gesichtes fühlte sich taub an. Als hätte Minki seine Nase während der Zwischenphase in den Mana-Raum gestoßen. Trotz der heißen Geschosse war der Minzbaum nicht explodiert. Juko wünschte sich fast, er würde brennen. Nein! Er wäre ein helles Leuchtfeuer. Für wen? Inzwischen war er viele Kims von der Knochenhütte ent-
fernt. Er sollte lieber noch mehr Kims zwischen sich und die Hütte bringen – in der erbärmlichen Hoffnung, daß Kennan ihn tatsächlich in die Richtung gebracht hatte, wo sich Aino aufhielt, ganz gleich, wie weit es noch sein mochte. Wäre er mit einem Luftboot schneller? Wenn er zur Knochenhütte zurückwanderte? Bis er in ein oder zwei Tagen dort eintraf, nur um festzustellen, daß die Expedition bereits zu ihrem nächsten Ziel unterwegs war, zum Isi-Nest? Konnte er zu Prut zurückkehren? Nachdem er Kennan hatte entkommen lassen? Nachdem er den von der Königin Gesuchten mit seinem eigenen Fahrrad in Sicherheit gebracht hatte? Er hatte die Königin betrogen. Er hatte alle Männer angeschwindelt, die unter seinem Kommando standen. Und den jungen Jack ebenfalls. In diesem Augenblick mußte Karlo bereits auf dem Rückweg zum Luftboot sein. Schon sehr bald würde der Ha-Häusler alles über Jukos Fahnenflucht und Sabotage ausplaudern. Man würde Juko keinen sehr freudigen Empfang bereiten. Wahrscheinlicher war, daß er mit einer schnellen Kugel oder einem Strahl aus heißem Licht begrüßt wurde. Weil er mit Kennan durchgebrannt war, der wußte, wo sich das Ukko-Kind befand … … und weil er ihn dann verloren hatte. Seine Wut schwoll an. Wahrscheinlich schwoll auch Jukos Gesicht an. Sein Kummer ließ sich nicht einfach durch Worte verbannen. Wie weit war er von Aino entfernt? Wenn er zu Fuß ging. Wenn er Pilze aß und Fische aus Seen lockte und von Bauernhöfen stibitzte. Wie lange wäre er unterwegs? Und wenn er sich dem Versteck des Ukko-Kindes näherte, woran sollte er
es erkennen, damit er nicht einfach daran vorbeimarschierte? Wirf dich in den tiefsten See, den es gibt … Er hörte diese Worte, als wären seine Ohren mit Schlamm verstopft. Wie ergründete man die Tiefen eines Sees? Und wo? Was waren das für Verrinmänner, die seiner Schwester zusetzten? Die im Augenblick noch verträglich waren, während jederzeit ihre bestialische Natur durchbrechen konnte! Wie würde sie ihm empfangen, wenn er sie tatsächlich fand? Als Juko von Kennan abgeworfen worden war, hatte das Sprungfahrrad genau auf den Minzbaum gezeigt. Juko war nicht weit fortgetaumelt, während er die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Dort auf den Blättern am Boden waren noch die Spuren der Räder zu erkennen. Wo stand die zitronengelbe Sonne? Minki war offenbar in südöstliche Richtung gesprungen. Wenn er hundert Kims weit marschierte und sich weder von Wald noch Wasser irreführen ließ, wie weit würde er von der wahren Richtung abdriften? Vorausgesetzt, Kennan hatte ihn nicht von Anfang an in die Irre geführt. Juko ließ sich vor dem Minzbaum zu Boden sinken und weinte eine Weile.
17 Blumenkrieg
In einer Höhle voll Sand stand ein Spieltisch mit zwei Ebenen. Beide hatten die Form von Rhomben. Das Spielbrett oben war von Durchsichtigkeit, das Brett unten von Undurchsichtigkeit. Die Säule der Mitte von Schlankheit und Durchsichtigkeit trug das Brett oben über dem Brett unten. Linien aus dünnem Schwarz zur Aufteilung beider Flächen in ein Muster aus Rauten. Multiplikation von dreißig Rauten mit dreißig: Ergebnis von neunhundert Feldern der Verfügbarkeit oben (mit Einschließung der Turmspitzenposition). Unten aufgrund des Turmes Verfügbarkeit von achthundertneunundneunzig Feldern. An der Nordseite und der Südseite waren die Positionen von Imbricatus und Muskular in Windungen und Aufrichtung. Neben Imbricatus in Schwarzuniform auf Knien war Pelki-drei, ein Beweger der Spielsteine, ein Erinnerer der Züge. Der Spieldiener von Muskular war Pelki-zwei. Hinter jedem Magus waren die Positionen ihrer Stimmdiener. Die Figuren auf dem Brett oben waren aus Glas in Rot und Grün. Ihre Darstellung von Menschenwesen mit zwei Königinnen, Soldaten, Juttahats, Isi und Kuckucke – und in Ergänzung zwei Eier in Blau als Symbole für Ukkos. Auf dem Brett unten waren die Spielelemente Verdrehungen in Abstraktion aus Spiegelmetall. Die Eigenschaften der Figuren und die Bedeutung von Zügen waren unten von Andersartig-
keit. Muskulars Senden von Gedanken. Pelki-zweis Verschieben einer Schlangenfigur um mehrere Felder zur Seite. Dann die Versetzung eines Kuckucke zum Turmfeld. In Übereinstimmung mit Imbricatus' Geist erfolgte Pelkidreis Greifen nach unten zur Drehung einer Spiegelabstraktion, dann die Bewegung einer anderen zu einem Rhombusfeld nebenan. Zum Schluß das Rücken einer Figur in Rot und einer in Grün und eines Eies in Blau zu einem Brennpunkt der Gemeinsamkeit. »Noch zu große Entfernung vom Turmfeld!« lautete die Formulierung von Muskulars Diener. Die Schlange mit der Haut in Purpur und der Glyphe in Indigo geriet in Schwankungen, nur in Leichtigkeit, aber dennoch in Provokation. »Die Spiegelkönigin in Seitenverkehrtheit, eine Gastgeberin der Kostbarkeit«, kam die Bestätigung von Imbricatus' Diener. Wenn schließlich am Turmfeld die Triangulation von Rot und Grün und Blau erfolgte, ergab sich die Möglichkeit des Transfers einer Figur zum Unterbrett, wo Bedeutungen und Bewegungen von anderer Art waren! Muskulars Gähnen, das Sickern von Tröpfchen in Gold aus ihren Fangzähnen. »Der Spiegelkuckuck in Verborgenheit, maaginen des Handstreiches. Seine Erblindung.« Das Hervorzucken von Imbricatus' Zunge. »Eine Frage der Strittigkeit.« »Ein Präzedenzfall in der Kürzeren Großen Erzählung des Ersten Getragenwerdens der Isi-Vorfahren durch ihre Juttahats. Aus diesem Grund ein Vortrag und Gegenvortrag?« Imbricatus' Unwilligkeit zu einer Spielpause von einer Stun-
de. Daher seine Einräumung dieses Punktes. Die Köstlichkeit des Klingens im Nest der Höhlen … Zwei Tage waren vergangen, seit Karlo gemeldet hatte, wie Kennan und Juko ins Irgendwo davongesprungen waren. Wie hatte sich Jacks Partner zu einem solchen Betrug hinreißen lassen können? Warum hatte er Kennan nicht dazu besprochen, mitzukommen und alles auszuplaudern, was sie wissen wollten? Das Fahrrad des Flüchtigen hatte sogar den Geist aufgegeben. Juko mußte einfach die Hinterlist und Besessenheit in Person sein. Vom Wahnsinn gepackt, wenn es um seine Schwester ging. Verrückt. Was die Trugmenschen in der Knochenhütte betraf – immerhin Jukos eigener Vater und seine Freunde –, nun, sie wußten nichts, was ihnen weiterhalf. Artos krummbeinige Gestalt, seine ziegenhaften Ohren und zusätzlichen Finger verleiteten zu der Vermutung, daß Juko sich schon immer als jemand maskiert hatte, der er gar nicht war. Und das nach all der Gunst, die ihm zuteil geworden war – und der Tangocombo ebenfalls! Sollten die Mutanten von den Soldaten also kurz abgefertigt werden? Da Jack sich bewußt war, daß er ebenfalls so etwas wie eine Kuriosität darstellte, machte er seinen Einfluß geltend, damit den vier Trugmenschen nichts angetan und Arto nicht wegen Beihilfe zum Vertrauensbrach verhaftet wurde. Man würde sie einfach sich selbst überlassen – nachdem man noch eine Nacht in der Nähe verbrachte, falls Juko zurückkehrte. (Was er nicht tat.) Prut war skeptisch wegen eines Vorstoßes in das Nest der
Samt-Isi – nachdem nun der Besprecher durchgebrannt war und eines der zwei Sprungfahrräder mitgenommen hatte, ganz zu schweigen von seinem Wissen über die Anlage der Schlangenfestung. Doch die Expedition konnte nicht einfach aufgeben und mit leeren Händen zur Königin zurückkehren. Pruts Karriere und vielleicht sogar seine Haut wären in ernsthafter Gefahr. Jack dagegen blieb weiterhin zuversichtlich. Aufgrund seines komprimierten Alters mochte es ihm noch an Erfahrung fehlen. (Auch wenn er der Papa von vier furchteinflößenden MiniMädchen war!) Trotzdem konnte er wilden Wind und grelles Licht und betäubende Kälte heraufbeschwören. Außerdem war er in einem Isi-Nest aufgewachsen. Die Nester der Bronze- und der Samt-Isi konnten sich nicht allzusehr voneinander unterscheiden. Am Morgen nach Jukos Fahnenflucht hatte Jack die Truppen versammelt und instruiert, die Grün-und-Braunen, die Umbraund-Grünen, die Gelbbraunen und die hölzernen Soldaten, die Blauen. Sie würden auf Höhlen und gewundene Tunnel stoßen, mit Obstduft und Geklingel und Pastellicht. Dazu auf Räume, wo Pflanzen überwinterten, und Dienerunterkünfte, Ferkelkoben und Hydrokultur-Gärten, Werkstätten und einen Shuttlehangar. Die Ebenen der Alien-Stadt lagen unter dem Erdboden. Es gab mehrere versteckte Eingänge, aber auch eine offizielle Tür. Einige Jalven waren gefällt und von Ästen befreit worden, um daraus eine Brücke zu bauen, die zur Rampe des Luftbootes führte. So konnte die Besatzung mit trockenen Stiefeln und Hosen abheben und näher ans Nest heranfliegen.
Während ihrer Zwischenlandung hatte niemand irgendwelche Juttahats bemerkt, die in der Nähe der Hütte durch die Wälder streifen sollten, wie die Trugmenschen berichtet hatten. Der Überraschungsbonus müßte demnach immer noch auf der Seite der königlichen Soldaten liegen. Um so besser. Soweit Prut wußte, war noch nie zuvor eine solche Streitmacht gegen ein Schlangennest gezogen. »Luft, trag uns leise«, sang Jack, während sie flogen, und zwar so niedrig wie möglich über dem Wald. »Luft, laß uns wie auf Wasser schwimmen. Wind, trag unser Wummern hinauf in den Himmel und außer Hörweite, ja?« Das Fahrzeug schien tatsächlich ein wenig leiser zu dröhnen. Kurzer Blick auf eine schmale schwarze Straße, die sich verzweigte und wieder zusammenlief … Nebel stieg auf und strich vor dem Fenster des Piloten und vor den Bullaugen vorbei. Mana-Nebel. Jack konzentrierte sich darauf. Seine Hände bewegten sich langsam und formten den Nebel, bis ein dichter Dunst den Rumpf des Luftbootes einhüllte und nur ein durchscheinender Schleier in Flugrichtung lag. Während das Luftboot gedämpft weitertuckerte, in der Deckung einer eigenen Wolke, sprach er: »Führ uns geschwind durchs Labyrinth mit dem Wind …« Wozu brauchten sie Juko Nurmi? Sie hatten doch DämonenJack. Kim um Kim rollte vorbei – bis der Pilot eine glänzende Leere im Wald vor sich entdeckte. Eine Landung auf dieser offenen Fläche direkt am Nestein-
gang stand außer Frage. Auch nicht in allzu großer Nähe! Der Pilot drehte mit dem Luftboot ab. Schließlich senkte sich eine Wolke auf eine neblige Lichtung, wo Stümpfe von Minzbäumen bis auf den Boden heruntergebrannt waren. Prut schickte hölzerne Soldaten hinaus, um eine Richtung auszukundschaften, und die Jaegertruppen in eine andere Richtung. Langsam und vorsichtig, laßt Euch Zeit – nehmt Euch den ganzen Tag! Tretet nicht auf knackende Zweige, vor allem nicht Ihr aus dem kahlen Hochland. Haltet Ausschau nach versteckten Schleusen oder Schächten, die das Ende langer Tunnel darstellen könnten. Seht sie Euch genau an, aber unauffällig. Achtet auf Fallen. Am späten Nachmittag waren alle Kundschafter unbehelligt zurückgekehrt. Meldungen und Berichte. Niemand war in eine Falle getappt. Niemand hatte einen Ein- oder Ausgang gefunden. Nachts hielten die hölzernen Soldaten abwechselnd Wache. Die meisten der Grün-und-Braunen biwakierten draußen mit Jack, wo der dichte Nebel kühl und klamm wurde. Am Vormittag lauerten die Soldaten am äußersten Waldrand. Mit Ausnahme von Jack hatten sich alle die Hände und das Gesicht mit schwarzem Graphit eingeschmiert, um zumindest oberflächlich – trotz der Uniformen – wie Samt-Juttahats auszusehen. Jack, der wie immer seine geliebte kupferfarbene Uniform trug, war kaum von einem Bronze-Juttahat zu unterscheiden. Jenseits des Waldrandes wallte Nebel auf dem schwarzen Weg. Im diffusen Perlmuttlicht des Tages beobach-
teten sie die zwei niedrigen Kuppeln, die den Eingang zum IsiNest bewachten. Eine kleine Gruppe aus Juttahats trabte über die gummiartige Straße los, die sich durch den Wald schlängelte – weitab von der Stelle, wo Luckys Truppen warteten. Vier Nichtmenschen. Die Patrouille sollte sich erst ein gutes Stück entfernen. Die Substanz der leeren Fläche wirkte gläsern, aber gleichzeitig elastisch. Jack murmelte vor sich hin, bis Nebelgestalten in den wehenden Schleiern auftauchten. Er beschwor Nachbilder der Patrouille herauf, Attrappen aus Dunst, um die Beobachter in den Kuppeln zu verwirren. Er hatte das Sprungfahrrad mitgebracht. Doch wegen Jukos Fahnenflucht konnte er es nicht beim eigentlichen Angriff einsetzen. Er konnte sich nicht einen so großen Vorteil gegenüber den Männern verschaffen, die er in die Gefahr führte. Damit sie nicht auf die Idee kamen, auch er könnte plötzlich davonspringen, wenn ihm der Sinn danach stand. Jack mußte zu Fuß in das Herz des Nestes vordringen. Ben mit den empfindlichen Füßen sollte beim Fahrrad zurückbleiben. Wenn die Alien-Patrouille unerwartet zurückkehrte, konnte Ben springen, um die Juttahats in Reichweite der Fahrradwaffen zu bringen … Schließlich überquerten Jack und Prut und die Soldaten die freie Fläche im Dauerlauf. Der Nebel war ihre Maske. Jetzt waren sie Phantome im Nebel … … bis sie fast die Öffnung eines nach unten führenden Tunnels erreicht hatten, der von den Kuppeln flankiert wurde. Dann schoß heißes Licht aus einem Schlitz in der linken Kuppel, und ein Jaegersoldat schrie auf.
Jack erstrahlte, als wäre die Sonne mitten im Nebel wieder aufgetaucht. Er versprühte grelle Helligkeit. Dagegen dräute Dunkelheit über den Kuppeln. Schwarzer Nebel erstarrte und bildete eine Schicht aus dunklem Eis auf den Kuppeln. Ihre Insassen wären jetzt eine Stunde lang blind und taub. Jack juchzte, als er mit den Soldaten in das verschlungene Nest stürmte. Sie schossen mit heißem Licht und Patronen auf Juttahats, die sich in Tunnelmündungen zeigten, eher um sie abzuschrecken, als sie zu töten oder zu verstümmeln. Die in unmittelbarer Nähe ließen Jack erstarren. Es mußte aussehen, als würde ein Mana-mächtiger Juttahat vom Bronze-Clan dieses Nest erstürmen, mit verwirrenden Gestalten in kunterbunten Uniformen im Gefolge. Waren es verkleidete Menschenwesen? Die auffälligsten dieser Uniformen wurden von unerschütterlichen Wesen getragen, denen ein Messer kaum etwas anhaben konnte. Keine Möglichkeit der Erklärung dieser Geschehnisse. Die Schwierigkeit einer Reaktion in Angemessenheit! Umherrennen der Jungen in schwarzen Elastik-Monturen. Schallendes Getöse. Kein Klingeln und Klimpern, sondern Klirren der Dringlichkeit. Sie hatten nicht die Absicht, unnötig zu töten. Hoffentlich erinnerten sich die Soldaten daran, wenn sie von der Kampflust mitgerissen wurden! Mutwilliges Töten würde nur eine gewalttätige Reaktion provozieren. Womöglich wurden unbewaffnete Juttahats losgeschickt, um die Eindringlinge zu überrollen oder die Menschen gar mit bloßen Händen zu zerreißen. Wenn sie sich später aus dem Nest zurückziehen wollten, mußten sie größtmögliche Verwirrung stiften – und über eine Isi-Geisel
verfügen, die sie freilassen würden, wenn sie das königliche Luftboot erreicht hatten. Eine Schlange in einer Sandhöhle schwankte. Der Körpersklave plapperte. Sollten sie diesen Isi gefangennehmen? (Vermeidung der Zähne. Die Holzmänner sollten eigentlich gegen das Gift immun sein, zumindest gegen die unmittelbaren Auswirkungen.) Es war zu früh, um sich schon jetzt zu belasten. Zuerst mußten sie die Blume suchen, die Juko gesehen hatte. Ein Juttahat sprang aus einem Torbogen und hob eine Armbrust. Ein Geschoß explodierte in der Brust eines Ha-Häuslers und riß ihn auseinander. Sein Körper brach zusammen – und der Alien-Schütze stand reglos da, tat nichts mehr. Beobachtung unter Beherrschung. »Nicht schießen!« schrie Jack seinem Soldatenhaufen zu. Eine einschüssige Armbrust. Dieser Juttahat unternahm weder Anstalten, sie nachzuladen noch unter dem Torbogen in Deckung zu gehen. Er starrte nur, während sich seine Nickhäute hektisch über die Augen schoben und die Nüstern sich öffneten und schlossen. »Kein Schießen auf ihn!« Waffen schwankten. »Jutti-Freund«, rief ein Ha-Häusler. Seine Lichtpistole richtete sich auf Jack. Jack schlug die Waffe schnell zur Seite. »Kein Schießen! Wir waren im Einverständnis!« »Als Nichtmensch aufgewachsen und ein Nichtmensch geblieben …« »Ihr Narr!« bellte Prut. »Wenn wir übertriebene Gewalt an-
wenden, ist das unser aller Tod.« Dem Adjutanten war schon vor einiger Zeit die Brille heruntergefallen und unter Stiefelsohlen zertreten worden. Er blinzelte den Protestierenden an und blickte dann zum Juttahat, der immer noch dastand. War der Juttahat so erschrocken, daß er keinen Schritt mehr tun konnte? »Wir werden einen Toten nicht mit einem Toten vergelten, hört Ihr? Wenn Ihr das nicht verstehen könnt, werde ich Eure Gehorsamsverweigerung mit dem Tod vergelten.« Die Grün-und-Braunen aus Sariolinna brummten zustimmend. Sie verschonten den Schützen und stürmten weiter. Kein weiterer Juttahat überfiel sie mehr aus dem Hinterhalt. In einer länglichen Küche voller Dampf sortierten und verpackten Köche in Uniform Kuchen, während sie sich klickend und zischend unterhielten … Auf einmal waren alle Sklaven erstarrt und verstummt. »Rebelliert und schließt Euch uns an!« rief jemand unsinnigerweise. Jack schob einen widerstandslosen Nichtmenschen beiseite, griff sich ein paar Kuchen und stopfte sie sich in den Mund. Er verstreute Krümel. Er strahlte. Ein Jaegersoldat feuerte auf eine Korbflasche mit Sirup, worauf das Glas zersplitterte und eine klebrige Flut entließ. Die Eindringlinge drängten weiter. Das Spiel führte zu keinem Ergebnis der Eindeutigkeit, trotz des Beginns zu einem frühen Klingeln. Daher die Rückkehr von Muskular und Imbricatus in den Armen ihrer Diener zur Höhle der Blume.
Das Gegeneinanderreiben der Isi in Rivalität. Vanille der Süße, das Streicheln der Diener, die Vermischung von Pastellicht. Muskulars Hoffnung auf die Befruchtung eines Eies in ihr? Die Vereinnahmung und Verkörperung seiner Gene? Das Ei befand sich in Ferne durch Metonymie in Verwandtschaft zum Ukko. Muskular war eine Vielfach-Denkerin. Doch auch Imbricatus hatte Raffiniertheit! Das Wogen der Muskeln, die Massage der Gegenseitigkeit, die Vermeidung des Handabdruckes der Furchtbarkeit nach Möglichkeit, wegen des Zeichens der Schande. Muskulars Stimulation der Exotik durch dieses Zeichen? Als wäre es Imbricatus' Brandmarkung zur Signalisierung des Eigentums. Dagegen die Notwendigkeit der Kontrolle von Menschenwesen durch Isi! Hände waren ein Mittel zur Manipulation. Der Mangel der Isi an Manipulatoren trotz ihrer Großartigkeit, bis zur Erhörung des Isi-Geistes durch die Diener der Gehorsamkeit. Die Bestimmung der Handwesen als Werkzeuge der Vollkommenen von Stromlinienförmigkeit. Daher der Reiz im Risiko für die Bronze-Isi während der Züchtung der Unabhängigkeitsagenten /Jarl Pakken/ und /Golda/. Trotzdem keine Aufgabe ihrer Loyalität. Muskulars Empfinden eines Schauders von Vergleichbarkeit beim Zeichen eines Aliens der Unabhängigkeit auf Imbricatus' Haut? Klirren in Disharmonie! Verworrenheit der Gedanken vieler Diener: (Eindringen …!) (Verwirrung …!) (Menschenwesen in Uniformen der Vielfältigkeit, der Anführer in Bronze-Uniform …)
(Seine Vertrautheit mit dem Isi-Lebensraum …) (Das Aussehen des Bronze-Juttahat mit Mana-Macht wie ein Menschenwesen …) (In Juttahat-Uniform, Bestätigung …) (Blendung der Augenzeugen – Schmerz …!) Die Invasion des Samt-Nestes durch einen Bronze-Diener in Unabhängigkeit! Seine Anführung einer Horde der Unregelmäßigkeit aus Menschenwesen mit Vermutung der Beeinflussung durch ihn! Ein Diener mit dem Aussehen wie ein Menschenwesen … Ein Diener mit Macht zur Beeinflussung … Jarl Pakken nach seiner Genesung vom Zombie-Zustand. Selbstverständlichkeit! Jarl Pakkens Wiederherstellung der Lebenskraft durch Imbricatus' Magus-Kollegen. Nicht nur die Gesundung des Dieners in Unabhängigkeit, sondern auch die Erlangung von großer Mana-Macht. Seine Anführung der Bann-Soldaten zur Rettung von Imbricatus und die Schlußfolgerung des Wissens im Heimat-Nest über seine Gefangenschaft in Gastfreundschaft. Keine Kampf-Diener mit Ursprung aus dem Heimat-Nest. Selbstverständlichkeit! Zur Vermeidung eines Krieges zwischen den Nestern. Statt dessen Beeinflussung von Menschenwesen. Menschenwesen als seine Diener. Das Wissen des Dieners über die Art und Weise der Machbarkeit! Die Entwicklung des Erfolges des Bronze-Planes. Nicht durch einen Magus, sondern einen Diener. Seine Züchtung zur Unabhängigkeit, dann sein Leiden unter Tod im Leben durch die Prinzessin der Langlebigkeit. Trotzdem Gesundung. Die Erlangung von Einfluß über eine Menge von Men-
schenwesen. Seine Ankunft in Loyalität zur Rettung seines Erschaffers, des Somasehers Imbricatus. Imbricatus' Einflußnahme auf Muskular. Der Wettstreit der Muskeln. Das Aufsteigen des Mana-Lichtes von ihren Hörnern. Imbricatus' Projektion der Gedanken: Beachtung, Samt-Diener! Keine Gewalt gegen den BronzeDiener und seine Begleitung! Die Gestattung des Zuganges zum maaginen Imbricatus! Qi'sukoo ¡ku xu'zizhi'kaxi … Diese Ungeheuerlichkeit einer solchen Ausstrahlung auf Diener in Schattierungen der Unterschiedlichkeit! Das Resultat mußte in Unentschlossenheit bestehen. Ein Arm-Ringen zwischen Imbricatus' Körpersklaven und dem von Muskular. Kein Stoßen gegen das Ukkoskop! Kein Umwerfen der Blume! Imbricatus' Feststellung seines Irrtums. Der Junge im Strahlenschein mit der Uniform der Vertrautheit war der Schlüpfling von Jatta Sariola! Der Schnelljunge Jack, jetzt mit Haar auf der Oberlippe. Der Einfluß des Lichtes auf Imbricatus. Die Trägheit der Muskeln trotz des Geistes in Wachsamkeit. Die Lähmung seines Körpersklaven, mitten im Handgemenge mit seinem Widersacher. Andauern der Fähigkeit zum Sprechen. Die Ähnlichkeit von Muskulars Zustand. »Reglosigkeit von Euch beiden!« lautete Jacks Befehl. Für welche Dauer war diesem Jack die Aufrechterhaltung solcher Mana-Kraft möglich? Sein Verschlingen eines Kuchens aus Diener-Nahrung, sein Halten eines zweiten Stückes in der Hand.
Mehr Uniformen in der Höhle und im Außenbereich. Ledermonturen, Gesichter, Waffen. Das Starren der Augen auf die Isi in Gemeinsamkeit auf dem Felssims. Blicke der Flüchtigkeit auf Diener in Erstarrung im Handgemenge, auf den Überwachungstisch des Ukkoskopes in Unbesetztheit. Auf den Marmorsockel in Weiß. Darauf das große Glasei mit Röhren und Zellen als Inhalt, mit dem Flackern von Lichtern in Blau. Auf die Wachsblume mit Stiel der Länge in der Nährflasche, das Bewegen der Blütenblätter wie Löffel. Das Starren auf die Blume, die Blume. Und die Isi. Ein Magus mit Schuppen wie Dachziegel in Ockerschimmer und Glyphe in Eisenfarbe – voll Schönheit mit Ausnahme der Verunstaltung. Der zweite Magus in Purpur mit Wirbeln in Indigo. Der Geruch nach Menschenschweiß – und Harz. Hüte von Höhe und Spitze mit Quasten in Weiß auf den Köpfen der Personen mit Gesichtsmaserung, mit der Eigenschaft von Holz. Holz aus Verwandlung von Fleisch. Holz in Verwandlung der Elastizität. Menschenwesen mit Verwandlung durch Mana. Jacks Zeigen der Zähne im Grinsen über Imbricatus' Verunstaltung. Sein Wischen der Krümel von den Lippen, sein Blick in die Augen des Magus in Schwarzglanz mit einem Blinzeln. »Wenn das nicht der Große Magus Imbricatus höchstpersönlich ist!« Die Verwirrung in Jacks Blick, dann seine Festigung. »Hat Minki Kennan Euch den ganzen Weg vom PohjolaPalast hergebracht? War Kennan der Bewirker Eures Hertransportes, Magus?« Verständnislosigkeit. War Kennan der Name des Fahrradfahrers, durch den Imbricatus' Befreiung aus dem Kerker erfolgt war, vor dem Abwer-
fen mit Gewalt? Bedeutungen der Tiefe? Die Antwort von Imbricatus' Diener war von Vieldeutigkeit: »Ja, unsere Flucht.« Der Offizier von Größe mit Winkeln in Silber und Schultergürtel begann ein Flüstern der Dringlichkeit mit Jack: »Kennan hat den Bronze-Magus hierhergebracht? Und dann sprang er zum Ihr-wißt-schon-was …? Die Isi müssen längst wissen, wo es ist!« »Warum haben sie dann noch nicht …?« »Vielleicht können sie selbst es noch nicht betreten. Vielleicht verweigert es ihnen den Zutritt, obwohl sie es immer wieder versuchen.« Ein Blick auf das Ukkoskop und die Blume in der Flasche. »Ich sage Euch, sie hängen alle gemeinsam in der Sache drin. Kennan hat im Auftrag der Isi gehandelt. Warum sonst soll er die Bronze-Schlange aus dem Palastkerker geholt haben, nachdem er den Prinzen ermordete?« »Ist Eure Absicht das Mitnehmen meines Herrn?« kam die Frage von Imbricatus' Diener, in Vortäuschung von Besorgnis. »Maaginen Imbricatus' Widerstand gegen Eure Fragen war schon zuvor von Erfolg.« Das Entfliehen aus der Samt-Gastfreundschaft durch diese List als gute Idee? Die Erfordernis zu gleicher Analyse der Gründlichkeit wie ein Zug zum Turmfeld! Bedauern über Mangel an Zeit zur Entscheidung. Das erneute Sichbegeben in Menschenhand! Ein Hauch der Flüchtigkeit aus Karamel der Belustigung von Muskular …
Die Feststellung von Muskulars Diener: »Ein Gefangener kann erneut zur Gefangennahme kommen.« Muskular hegte keine Einwände gegen Imbricatus' Abreise unter Zwang. Sie hatte nicht den Wunsch einer eigenen Entführung. Die Notwendigkeit einer Entführung zur Sicherung des Rückzuges. Diese Selbstverständlichkeit! Jacks Stopfen des Kuchens in seinen Mund zur Befreiung seiner Hände. Sein Anheben der Blumenflasche in Vorsicht. Die Warnung des Sprechers von Muskular: »Ohne Hilfe meiner Gifte erfolgt das Verwelken unseres Schatzes.« Jacks Antwort: »Ach, meine frühere Vertrautheit mit solchen Blumen. Und mein damaliger Einfluß darauf.« Eine Überraschung für ihre Schlangen-Überlegenheit. »Zu welcher Zeit?« »Während meines Aufenthaltes im Bronze-Nest, SamtMagus.« Imbricatus' Schlußfolgerung von Beryllus-Aestivators Aufsicht über die Aufzucht von Jack Pakken … Dennoch die Wahrscheinlichkeit des Sterbens der Blume durch Mangel an Zahnsäften in Regelmäßigkeit. »Das letzte Mal habe ich übrigens in meiner Hochzeitsnacht eine Blume gesehen.« (Er war damals so sehr mit seiner Leidenschaft für Juni beschäftigt gewesen, daß er sich nicht um Blumen gekümmert hatte.) Muskulars Abgabe von ein wenig Mana-Licht. Jacks Strahlen. Muskulars Distanzierung. »Welche Anzahl von Ukkos im Sternenmeer?« Eine Frage von Muskulars Stimme in Nachdenklichkeit. »Die Möglichkeit einer großen Zahl.«
»Ja?« kam die Frage des Offiziers. »Wie viele?« Die Fragen im Getöse von anderen Stimmen. Erstaunen über das Hören von Andeutungen der Offenheit in der Stimme eines Isi-Magus, trotz der Nervosität im Geruch dieser Eindringlinge! Daneben das Gefühl der Sicherheit in Vorläufigkeit in dieser kleinen Höhle der Enge. Doch nach dem Verlassen des Allerheiligsten … eine andere Sache! »Die Isi der Großartigkeit haben die Kontrolle über acht Ukkos«, lautete Muskulars Eingeständnis. »Zur Versorgung des Schlangensternes und der sieben Schwesterwelten von uns. Besteht der Wunsch nach meinem Erzählen einer Erzählung?« Das Bevorstehen einer Großen Erzählung? Muskulars Ausweichmanöver mit einem Köder der Schmackhaftigkeit, während des Erwartens des Nachlassens von Jack Pakkens Kräften? Eine Uniform in Grün-und-Umbra wagte die Frage: »Entschuldigt bitte, aber leben nur Schlangen und Juttis auf Euren anderen Welten?« Eine Uniform in Gelbbraun: »Gibt es noch andere Arten von Aliens?« Hoffnung dieser Menschenwesen auf eine Audienz bei einem Magus, als Gegenleistung für ihre Tapferkeit des Eindringens in diese Stadt? Muskulars Geruch nach Karamel. Die Antwort ihrer Stimme: »Beim Auftreten von nur einem Beispiel des Lebens mit Intelligenz – wir selbst mit Einschließung unserer Diener unter unserer Obhut – ist die Konsequenz die Denkbarkeit des einen Beispieles als Gesamtzahl. Aus der Begegnung mit Menschenwesen folgt die Notwendigkeit der Existenz vieler Spezies mit Intelligenz. Aus der Zweizahl folgt die Vielzahl!
Dazu Berücksichtigung der Frage: Welche Beschäftigung hatten die Ukkos vor der Ankunft auf dem Schlangenstern? Welche Erzählungen bildeten die Nahrung ihrer Aufmerksamkeit? Berücksichtigung des Wesens des Mysteriums. Der Grund für die Durchquerung des Sternenmeeres durch die ManaFahrzeuge ist die Verleihung von Macht und Manien zur Befriedigung ihres Hörens von Geschichten in Fülle. Welche Geschichten anderer Aliens in der Vergangenheit?« Eine Unterbrechung durch den Gelbbraunen: »Wurden Kuckucke von den Ukkos zu Eurer Welt gebracht?« Das Hervorzucken der Zunge. »Eine Frage der Klugheit. Die Existenz großer Fluginsekten auf unserer Welt, deren Klicken und Zirpen eine Nachahmung der Stimmen unserer Diener ist. Die Gleichsetzung dieser Insekten unserer Welt mit den Kuckucken.« Jacks Zappeln voller Ungeduld. Das Bewegen in Unruhe des Stieles der Ukko-Blume. Jacks Unwilligkeit des Ertragens weiterer Verzögerungen. Die Gefangennahme eines Magus zur Sicherung des Rückzuges, aber wessen? Des Samt-Isi der Redseligkeit? Oder des Vermittlers der Bronze-Isi, des Komplizen von Minki Kennan? Des Bronze-Isi mit der Verweigerung der Kooperation – mit der Schlußfolgerung seines größeren Wissens? Gefangennahme nur als Geisel? Oder zum Zurückbringen bis zum Ha-Haus, in die Gewalt der Königin, zur Rückgabe des Gefangenen bis zu seiner Flucht? Diese Kakophonie des Klirrens in der Luft! Wie zur Gefahr einer Totalinvasion des Nestes. Die Weitergabe von Waffen durch drei Soldaten aus Holz an
ihre Kameraden. Griffe der Unbeholfenheit durch Holzhände an Imbricatus' Körper. Größere Widerwärtigkeit als Menschenhände wegen der Härte! Diese Bändigung des Magus der Großartigkeit. Die Notwendigkeit von dreien zum Tragen seiner Windungen. Entsetzen und Erniedrigung! Schmerzen im Bauchschild, das Auslaufen von Gestank aus Analdrüsen. Trotzdem Zurückhaltung des Isi. Während des hastigen, wenn auch qualvollen Rückzuges aus dem Nest erfolgte kein Gegenangriff. Der leuchtende Jack trug die Flasche mit der Blume. Drei Holzmänner schleppten die ausgestreckte Schlange. Als sie schließlich zwischen den doppelten Wachkuppeln hervorkamen und in einen verdünnten Dunst traten, stellten die Männer fest, daß ein Teil der synthetischen Flächen zwischen ihnen und dem Wald elastisch zu einem Hügel angeschwollen war. Der Hügel wölbte sich weiter empor. Dann riß die Haut auf. Darin zeichnete sich die Gestalt einer riesigen schwarzen aufgerichteten Nacktschnecke ab. Ein Isi-Shuttle kam aus einem unterirdischen Hangar hervor. »Großes Mana, seht Euch das an!« »Was für ein Anblick!« Drang zur Eile! Baldiges Ausströmen und Versengen der Hitze. Das Rollen und Betäuben des Donners. Der Start dieses Schiffes als Waffe der Samt-Isi zur Entzündung von Uniformen und Soldaten aus Holz, zum Kochen des Fleisches mit Einschließung des Magus-Gefangenen, zum Verdorren der Ukko-Blume.
Flucht in Eile! Imbricatus' Bewegungen des Windens zur Antreibung seiner Träger. Keine andere Möglichkeit der Kommunikation. Die Nicht-Mitnahme seiner Stimme war ein Fehler der Eindringlinge, der noch vor einem Glockenklang Heiterkeit in Karamel verursacht hatte. Welche Methode der Befragung nach seinem Forttragen? Ohne Entführung eines Bronze-Tulki-Sprechdieners im Anschluß? Prut versuchte zu erkennen, was nunmehr ihren Rückweg versperrte. Die Seiten des Hügels zogen sich zurück, flossen zurück in die Ebene. Und reorganisierten sich unter dem Shuttle-Schiff. Das Schiff war bereit zur Zündung. »Die Straße!« rief Jack. »Lauft zur Straße!« Fort vom Shuttle. Dort hinüber, wo der schwarze Gummibelag begann. Ein Schneesturm umwirbelte Jack und die Soldaten. Die drei hölzernen Männer mit dem Magus wurden durch die Last die sie miteinander verband behindert, und kamen nicht so schnell voran. Wenn für Imbricatus die Möglichkeit des Einrollens um Brust und Schultern bestanden hätte, wäre nur die Notwendigkeit eines Trägers gegeben! Dann freier Lauf des Trägers. Statt dessen Schritte in Reih und Glied, wie beim Tragen eines Isi in Krankheit! Imbricatus' Ausstoßen von Licht. Fußstolpern der Träger. Das Stürzen über den Träger und sich selbst. Imbricatus' Entgleiten. Stürzen aller Holzsoldaten, Imbricatus in ihrer Mitte. Völliges Versagen des Manipulierens.
Ben saß auf dem Fahrrad und blickte von der Baumgrenze zum schwarzen Schiff. Wummernde Vibrationen durch den Boden. Die stärker werdenden Schwingungen griffen auf seine Zähne über. Die Geschwüre an seinen Füßen begannen furchtbar zu jucken. Nach dem Blitz und der Dunkelheit an den Kuppeln – war es vor einer halben Stunde gewesen? – waren die Lockphantome verschwunden. Seitdem hatten sich die Nebelschleier verdünnt. Hin und her eilende Gestalten waren jetzt deutlich zu erkennen, begleitet von aufgewirbelter Asche. Nein, von Schnee. Der in Bronze gekleidete Anführer mußte Dämonen-Jack sein. Hinter ihm liefen die Grün-und-Braunen, die Gelbbraunen und die anderen. Seine verdammten Füße! Bald wäre er zu nichts mehr nütze, wenn er nur noch umherhumpeln konnte. Würde nie wieder einen Zahn zulegen können wie diese Leute da drüben. Aber auch das würde ihnen nicht viel helfen. Er hatte noch nie ein Shuttle-Schiff starten sehen. Trotzdem konnte er es sich vorstellen. Ein mächtiges Brausen und wahrscheinlich ein Feuersturm. Ein Schwall aus brennenden Gasen und Dampf, der einen Mann umwerfen und rösten konnte. Keine Schneeflocke würde das überstehen. Die Truppe würde es niemals bis zum Wald schaffen, das stand fest. Oh, dieses verdammte Vibrieren in seinen Beinen, das durch dieses Schiff stärker wurde. Diese Qualen mußten aufhören. Er mußte das Wummern stoppen. Ben ließ das Fahrrad zu einer Mulde in der synthetischen Oberfläche rollen und dann eine Beule hinauf. Da das Fahrrad jetzt schräg nach oben zeigte, lehnte er sich zurück. Dieses Jucken, dieses Jucken!
Rot drehen und feuern. Alles drehen. Blau drehen. In all dem Lärm vom Shuttle hörte Jack ein irritierendes Rasseln, als würden in der Ferne von einem beleidigten Bettler Münzen in einer Blechdose geschüttelt. Ein Jaegersoldat holte ihn ein. »Hab drüben ein Fahrrad gesehen.« Er gestikulierte und wischte Schneeflocken beiseite. »Es verschwand …« Das schwache Klappern hatte aufgehört, doch auch der lautere Motorenlärm ließ nach. Das Schiff würde doch nicht starten. Es blieb, wo es war. »Haltet Euch nach rechts, nach rechts!« rief Jack. Sie hatten kaum die neue Richtung eingeschlagen, als auch schon die Juttahat-Patrouille dort wieder auftauchte, wo die schwarze Straße aus dem Wald hervorkam. Die Nichtmenschen eröffneten das Feuer. Ein Strahl aus heißem Licht. Ein Bolzen, der sein Ziel verfehlte. Ein Geschoß, das über sie hinwegpfiff. Dann noch eine Kugel und noch ein Strahl. Ein Ha-Häusler stürzte. Ein hölzerner Soldat bäumte sich auf, marschierte dann jedoch weiter, obwohl er seinen Tschako verloren hatte, so daß nun sein polierter Kahlkopf zu erkennen war. Während sie flüchteten eröffneten die Soldaten das Feuer. Weitere Juttahats quollen aus dem Nesteingang hervor. Ein Stück zurück gaben die drei Holzsoldaten den Kampf mit dem sich windenden Bronze-Magus auf. Sie hatten keine andere Wahl, als die Schlange zurückzulassen und ihr Heil in der Flucht zu suchen. Als Jacks und Pruts Truppen wieder am Luftboot eintrafen,
hatte sich die ursprüngliche Besatzung um ein Viertel verringert. Ben mit dem nach Obst riechenden Atem war offenbar heldenhaft in das Shuttle gesprungen. Jetzt gab es kein einziges Sprungfahrrad mehr zu verstauen, bevor sie hastig an Bord gingen. Vier Soldaten hatten Verwundungen davongetragen. Nur eines der Opfer, ein Jaegersoldat, mußte ausgestreckt am Boden liegen, während er von Jack beruhigt und betäubt wurde. Beim Rückflug mußten sie sich nicht so dicht zusammendrängen. Der Pilot war mit vier Gefährten zurückgeblieben, um das königliche Fahrzeug zu bewachen. Als er das Luftboot aufsteigen ließ, wiegte Jack in seinen Armen die Blume in der Flasche. Schließlich begannen sich die wächsernen Blütenblätter nach innen zu bauschen. Nach einer Weile streckten sie sich wieder. Als würden sie aufgeregt nach Luft schnappen, wenn auch im Pflanzentempo. Jack sprach murmelnd zur Blume, der Trophäe dieser Expedition.
18 Eine feuchte Gala
Auch wenn Julistalax sich auf die übliche Flut von Besuchern vorbereitet hatte – welcher Optimismus angesichts des Krieges! –, so war es doch eine andere Art von Flut, die über die Stadt hereinbrach. Die Gala sollte buchstäblich ins Wasser fallen, was noch nie zuvor geschehen war. In früheren Jahren hatte die Herbstsonne fast immer während des dreitägigen Festes mit Chorgesängen und Geschichtenerzählen, mit Mana-Beschwörungen und Theateraufführungen, mit Lyrik und Besprecherwettbewerben geschienen. In diesem Jahr goß es in Strömen auf Julistalax herab. Der Regen durchnäßte den Festschmuck und verwandelte das Labyrinth der Gassen in ein System aus Bächen und Flüssen. Der Wolkenbruch ertränkte die drei Kims weite Mulde des Tales der Sprecher. Das Wasser strömte die grasbewachsenen Terrassen hinab. Die hölzernen Tribünen gegenüber der Sprecherbühne waren überspült. Die zentrale Kuppe war zu einer Insel geworden, die von einem seichten, sumpfigen Burggraben umgeben war. Die bronze- und goldfarbenen Harfenbäume ringsum auf dem Grat waren so feucht, daß ihre Saiten keinen Ton mehr von sich gaben. Die Akustik war furchtbar. Das Trommeln der Tropfen war ein Ärgernis. Der Besucherstrom wäre vermutlich spärlicher gewesen, wenn viele Gala-Gäste nicht bereits einen so langen Weg hinter sich gehabt hätten.
Der Regen ließ immer wieder für zehn täuschende Minuten nach. Zeit genug für einen Vortrag auf der Dichterterrasse. Dann goß es wieder in Strömen aus der schmutziggrauen Wolkenmasse. Fürst Maxi Burgdorfs Schamane hatte sich bereits heiser geschrien und eine deutliche Furche in den Boden getreten, während er sich bemühte, den Himmel zu klären. Wenig Freude für die Verkäufer von gebackenem Fisch und Pfannkuchen oder für die Wahrsager und Straßenhändler, auch wenn die Nachfrage nach heißem Grog groß war. Nur ein tropfnasser Kuckuck hockte auf einem Fütterungspfahl. Es schien, als wären die Klatschvögel der Ansicht, daß hier in diesem Jahr nichts von Bedeutung geschehen konnte. Kaum eine Handvoll Besprecher war anwesend. Doch Peter Vaara und seine Theatergruppe wollten in einem der größten Festzelte ein Stück aufführen, und zwar im Trockenen, wie ein Rufer schrie. Dieses Zelt war es, zu dem Penelope Conway unter einem großen himmelblauen Regenschirm mit hübschem Griff aus Elfenbeinholz von Bosco begleitet wurde. War irgendwo sonst ein solcher Schirm in Sicht? (Wann hatte man jemals einen auf der Gala gebraucht? Einen aus der Stadt mitzubringen wäre einem Eingeständnis der Niederlage gleichgekommen.) Der Besitz des Regenschirmes verlieh ihrer Ankunft über die pitschnasse Terrasse etwas Zeremonielles: der Konsul von Puutara und die Botschafterin der Erde unter einem gemeinsamen mobilen Baldachin. (»Wer sind denn die zwei …?«) (»Beide so schwarz wie Samt-Juttis …!«) (»Na hör mal, Junge, sie ist doch die Herrin der Erdenburg …«)
(»In Gesellschaft eines puutaranischen Seemannes …«) (»Nee, er ist der Chef des Puzzlegeschäftes in Landfall, glaub mir. Von ihm habe ich mal ein Denksportspiel für die Kinder gekauft …«) (»Und was hat es zu bedeuten, daß die beiden Arm in Arm gehen …?«) Arm in Arm zu gehen war die beste Methode, um einigermaßen trocken zu bleiben. Trotzdem war der untere Teil von Penelopes olivgrünem Sari klitschnaß, ebenso wie Boscos gefältelte Robe in Gold und Safran. »Penelope …« Seine Stimme war ein volles Grollen unter ihrem gemeinsamen Dach. Wie edel und kraftvoll ihr Name klang! »Denkt ja nicht, dieses miserable Wetter sei irgendein höheres Urteil gegen meine Entscheidung, Euch hierher zu bringen. Ihr seid nämlich der eigentliche Grund, warum ich mich so lange in diesem verrückten Land aufgehalten habe.« »Ich kann es mir nicht leisten, mich solchen Gefühlen hinzugeben, Verehrtester. Auch wenn wir uns schon wie Fürst und Fürstin aufführen. Daß ich Euch gebeten habe, mich zu begleiten, geschah nur aufgrund Eures … Gewichtes.« Ein volltönendes Lachen. »Oh, wir beide haben Gewicht. Und eine kräftige Statur. Das ist gut so! Ich möchte nicht schwerer wiegen als ihr. Miriam hat nichts gegen Euch. Sie will nur, daß ich wieder auf die Insel zurückkehre, statt mit Flausen im Kopf herumzulaufen.« Er tippte kurz mit dem Elfenbeinholzgriff gegen seinen perlenbesetzten roten Fes.»Wie meine Flause, mit Euch zu gehen. Eine Flause führt schnell zur nächsten.« Natürlich wußte er, daß die rundliche ergraute Frau an seiner
Seite ihre Gebärmutter hatte entfernen lassen, um das Versprechen emotionaler Neutralität einhalten zu können. »In letzter Zeit«, vertraute sie ihm an, »habe ich des öfteren davon geträumt, die Erdenburg würde wie eine Kerze brennen, nachdem sie von Wex entzündet wurde. Ich habe von einem leuchtenden Mond geträumt, der am Mittagshimmel genau darüber steht, während auf dem Feld der Harmonie eine Schlacht tobt, zwischen Juttahats, die Schwerter schwingen, und unheimlichen Tiermenschen, die Feuerpfeile aus Trompeten verschießen. Om«, sagte sie sich. »Beschützt mich vor krankem Bewußtsein, Bosco.« »Aus diesem Grund bin ich hier«, sagte er und schwenkte ritterlich den Schirm. »Hier auf der Gala ist soviel Mana-Potential. Könnt Ihr es auch spüren?« »Obwohl die Leute sich hier nasse Füße holen?« »Das Wetter selbst ist krank.« »Ach, eine Mana-Malaise. Ich verstehe.« »Ein Fieber, in diesem Nabel des Mana.« Er überblickte das in Terrassen abgestufte Tal. »Heute halten sich nicht allzu viele Leute im Bauchnabel dieser Welt auf.« »Das hier ist nicht der eigentliche Nabel. Er ist dort, wo das Ukko-Kind ist. Wenn Lucky tatsächlich herkommen sollte, dann am letzten Tag. Morgen. Wenn die Besprecher an der Reihe sind.« »Ihr glaubt, sie würde ihren Krieg im Stich lassen und versuchen, diese Gala dazu zu benutzen, das Ukko-Kind zu rufen? Falls es wirklich existiert.« »Aber ja! Es muß irgendwo im Umkreis von einigen hundert
Kims existieren, sonst wäre auch Puutara unter dem Einfluß des Mana.« »Die Gala scheint nicht sehr kooperativ zu sein, Penelope.« Sie hatten zwei benachbarte Zimmer in der Herberge »Zur Königin Lucky« bezogen. Falls die Königin eintraf und Zimmer für die Nacht suchte, welches andere Gasthaus könnte sie wohl für sich und ihr Gefolge wählen? Bestimmt würde Lucky nicht im Traum auf die Idee kommen, die Erdvertreterin aus ihrer Unterkunft werfen zu lassen. Penelope mochte schließlich direkt neben Ihrer Majestät wohnen. Yü behütete zusammen mit einer kleinen, gut bewaffneten Truppe den Schweber auf Maxi Burgdorfs Landeplatz. Penelope hatte lieber Bosco als die chinesische Assistentin an ihrer Seite, falls es zu einer Begegnung – oder einer Konfrontation – mit der Königin kam. Yü wäre vielleicht zu doktrinär in ihrer Haltung. Sie könnte davon ausgehen, es wäre das selbstverständliche Recht der Erde, den jungen Ukko zu kontrollieren – vorausgesetzt, es gelang Lucky, ihn zu rufen. Flausen in deinem Kopf, meine Tochter. Denke Om. Penelope konnte nur von sich selbst als ihre Tochter denken, da sie keine Tochter gebären konnte. »Der größte Mana-Dramaturg von ganz Kaleva wird in wenigen Augenblicken mit seiner Vorstellung beginnen …!« Bosco ließ den himmelblauen Regenschirm sinken und schob sich an Penelopes Seite in das Festzelt. Drinnen drängten sich bereits viele nasse Zuschauer und reckten die Hälse. Bosco benutzte seine Körpermasse dazu, sich und seiner Begleiterin einen Weg zu bahnen – aber nicht bis ganz nach vorne, wo die Burgdorfs sich gegenseitig lautstark über den Wolkenbruch
hinwegtrösteten. Der winzige Fürst Maxi in weinrotem Samt hatte einen hohen kegelförmigen Pelzhut auf dem Kopf. Mitzi, die größer als ihr Ehemann war, trug aus Rücksicht nichts auf ihrer durchnäßten Frisur. Penelope hatte keine Lust, sich in ihren meteorologischen Kummer hineinziehen zu lassen. Maxi und Mitzi verstummten gleichzeitig, als das Schauspiel begann. Es war düster im Festzelt. Wie groß war diese Höhle aus Leinwand wirklich? Ein nächtlicher Hintergrund aus Purpur oder Schwarz vermittelte den Eindruck, als würde er sich in unendliche Fernen erstrecken. In diese Tiefe wurden auch die schwarzgekleideten Schauspieler hineingezogen, so daß sie weit entfernt und puppenhaft winzig wirkten. Die Bühne wurde zu einem unermeßlichen Raum, groß genug, um Unmengen von Protagonisten auftreten zu lassen. Die Schauspieler hatten ihre Körper mit dunklen Trikots und ihr Haar mit Scheitelkäppchen verhüllt, so daß Gesichter und Hände im leeren Raum schwebten. Einen Augenblick später – einen Atemzug später – war Königin Lucky auf der Bühne zu sehen … Stimmen trällerten im Singsang. Trotz der Entfernung und des trommelnden Regens auf dem Zeltdach waren die Stimmen der Homunkuli im Kopf beinahe jedes Zuschauers hörbar. Penelope erkannte diese eigensinnige Person weniger aufgrund ihrer Erinnerung an Porträts, sondern weil sie davon überzeugt war, daß Lucky anwesend sein würde, und rief Bosco zu: »Hoppla, sie ist ja schon hier!« »Was …?« »Lucky ist wirklich hier und nimmt teil an …« Penelope biß sich leicht auf die Lippe, und Bosco drückte ihr zur Stützung
den Arm. »Illusionen, Illusionen …« Ja, Illusionen. Doch gleichzeitig eine Offenbarung jüngster Ereignisse, die so lebhaft heraufbeschworen wurden, daß man keine körperlosen Hände und Gesichter mehr sah, sondern ganze Körper mit Gewändern und Uniformen. Peter Vaara war erst vor kurzem der Königin begegnet … Vaara – das mußte der Dramaturg persönlich sein – verkörperte van Maanen als Verführer und Schurken. Wen hatte er verführt, wenn nicht diese zierliche Prinzessin an seiner Seite? Wie Minni stolzierte! Wie Minni protzte! Ein Juttahat näherte sich ihr. Demütig und unterwürfig näherte sich der Alien schwankend unter der Last eines nur undeutlich wahrnehmbaren Isi von erschreckender Größe, dessen gewaltiger Geisterleib sich in Windungen aufbäumte. Dieses Monstrum unterwarf sich Minnis Launen – widerwillig, doch sie hatte ihm einen Schwur abgerungen. Andernfalls würde es ihr mit Freude den Kopf abbeißen. Lucky schien so weit entfernt von Minni und Osmo zu sein. In der Realität war sie nahe, in der Illusion fern. Ihr Soldatenpriester betete. Kurz darauf war der Priester ein steifer hölzerner Soldat, der ein Bündel Babys im Arm hielt … »Und die Mädchen des Schreckens, werden bald Pest und Seuche erwecken …« Was waren das für quengelnde Nymphchen, die der Schauspieler heraufbeschwor? Vaara und seine Truppe übertrafen sich selbst, nicht nur da-
durch, daß sie ihr Publikum zu Zeugen dessen werden ließen, was bereits bekannt war, sondern indem sie es eine Version dessen erleben ließen, was die Schauspieler vor kurzem selbst gesehen hatten – und dazu eine Version der Folgen dieser Ereignisse. Es schien, als würde hier in diesem Zelt eine Prophezeiung verkündet, wo der unermeßliche Raum auf Miniaturformat verkleinert wurde und wo sich die Nachbilder der Darsteller vervielfältigten, so daß königliche Wachen kämpften, Stadtbewohner starben, Soldaten siechten und hölzerne Menschen marschierten. Unter dem Zeltdach hing geisterhaft eine Kugel aus Licht, die sich zitternd drehte. Ein Kerzenleuchter im Bankettsaal. Ein verzerrter Mond. Die Königin rief ihn an. Sie beschwor ihn mit all ihrer Willenskraft. Die andere Königin – Minni – versuchte das Licht abzuwehren, während die aufgedunsene Schlange über ihr aufragte. Das Licht stürzte herab. Und obwohl der Boden nur aus Gras bestand, ertönte ein lautes Krachen, als wäre etwas Schweres und Gläsernes auf einem Steinboden zerschellt. Funken schwärmten durch das Publikum. Die Zuschauer schlugen mit den Händen danach, als würden sie von einem Schwarm Phosphorkäfer angegriffen. Überall waren summende leuchtende Insekten. Wer war dieser strahlende neue Schauspieler, der direkt aus dem Hintergrund auftrat? Sein jugendliches Gesicht und seine Bronze-Uniform glühten! In einer Hand hielt er eine schräge Vase mit einer verwelkten, erschlafften Blume in der Farbe von Schimmel.
Selbst Osmo/Vaara und seine Truppe hielten voller Erstaunen inne. Und wer war dieser durchnäßte Kerl im Mantel über olivgrüner Uniform und mit lockigem schwarzen Haar, der sich in Begleitung eines braunhäutigen Glatzkopfes durch das Publikum drängte? »Wex!« rief Penelope. »Gurrukal!« Der indische Pilot blickte sich um und ging dann auf Penelope und Bosco zu. »Ach, hier seid Ihr also, meine Dame.« »Mister Gurrukal? Aber wie …?« »Nun, wir haben unseren Schweber direkt neben Eurem abgestellt. Kaum das richtige Wetter zum Fliegen!« Drängend und vertraulich: »Wir haben es nicht geschafft, Kulli zu finden, wißt Ihr, aber wir haben dabei geholfen, den Traumfürsten aufzuwecken, und nachdem wir erfuhren, daß Minki Kennan wieder aufgetaucht war …« »Laßt Ihr Euch gerade zu einem Kuckuck ausbilden?« wollte Bosco wissen. »Später, erzählt es uns später«, sagte Penelope zum Piloten. Wex hatte die Schauspieler erreicht. »Jack Pakken«, rief er. »Jack, Ihr seid es!« Ein aufgeregtes Raunen ging durch das Publikum. »Es ist Luckys Dämonen-Enkel!« Zwei von Fürst Burgdorfs Wachen in Serge mit scharlachroten Kokarden an den Mützen kämpften sich nach vorne. Einer schwenkte einen Knüppel. Der andere eine Armbrust. »Eure Fürstliche Hoheit«, verkündete der erste lautstark, »das königliche Luftboot ist in der Nähe gelandet …«
»Was? Was?« rief Fürst Burgdorf. »Hölzerne Soldaten haben einen Verletzen in eine Bude getragen und nach einem Arzt verlangt …« »Holt einen. Holt zwei.« »Die Königin ist also doch hier!« hauchte Penelope Bosco zu. Der Dramaturg hatte seine schwarzverhüllten Arme triumphierend erhoben, so daß seine weißen Hände wie erstarrte Vögel über ihm schwebten. Welch ein Tag – trotz des Regens! Sein Mana-Drama lockte sogar die Protagonisten an, die Originale seiner Illusion. So schien es jedenfalls. »Ihr«, sagte Jack zu Vaara, »nehmt dies.« Er streckte die Flasche mit der Blume in Vaaras Richtung, und dann verblaßte sein Glanz. Vaara senkte die Arme und nahm das Geschenk an, als wäre es ein bizarres Blumenopfer – auch wenn die Blüte bereits so schlaff und welk war, daß sie kaum noch zu leben schien. »Macht, daß die Blume wieder kräftig wirkt, Peter Vaara.« Die Stimme des Schnelljungen zitterte. »Laßt sie wieder gesund aussehen, ja?« Ungeachtet seines Schnurrhartes wirkte er plötzlich sehr jugendlich, ein schwacher Junge, der sich hilfesuchend an einen Illusionisten wandte. Verdutzt untersuchte Vaara die kränkelnden Blütenblätter, den schwachen Stiel. Wex – oder seine Wetware – griff nach der Trophäe. »Habt Ihr diese Blume im Innern des Ukko-Kindes gepflückt, Jack? Nein, das könnt Ihr nicht getan haben … Aber von dort stammt sie, nicht wahr? Zeigt sie den Weg – so wie eine Wünschelrute?« Wex' Hand streifte die Blüte, und schon fiel ein Blütenblatt herab. Dann ein weiteres. Schnell hatte sich die
Blüte aufgelöst. Der Stiel schwang wie eine feuchte Saite. Jack Pakken stürmte durch die Menge davon, die sich vor ihm teilte, um einer Berührung mit seiner Fremdartigkeit aus dem Weg zu gehen. Er wurde gesehen, wie er sich im Regen an einem Verkaufsstand ein paar Päckchen mit Schweinefleisch und gebackenem Fisch schnappte. Kurz darauf war er wieder an Bord des großen Luftbootes, das mit zinnoberroten Augen geschmückt war. Viele Leute aus dem Publikum waren ihm nach draußen gefolgt, um zu gaffen und zu diskutieren, trotz des Regengusses. »Tauchte praktisch aus dem Nichts auf, nicht wahr …?« »Dummkopf, auf der Rückseite des Zeltes gibt es einen Durchschlupf …« »Ob Lucky persönlich in diesem Luftboot sitzt …?« Wex hatte darauf verzichtet, Jack zu verfolgen. Statt dessen fragte er Peter Vaara aus. Wie unscheinbar der Dramaturg nun wirkte, nachdem seine Aufführung unterbrochen worden war. Mathavan Gurrukal lungerte an Penelopes Seite herum und wartete ungeduldig darauf, seine Geschichte erzählen zukönnen. Sollte sie ihn zuerst anhören? Sollte sie sich Wex vorknöpfen? Die Königin, die Königin war draußen in ihrem Luftboot. Om, sagte sie sich. »Ich muß mich mit der Königin treffen«, sagte sie zu Bosco. »Penelope, sollte ich nicht lieber gehen und fragen, ob sie wirklich hier ist?« Er hatte eine so zuverlässige Stimme. So klangvoll und empfindsam. »Ihr habt recht. Ich sollte Wex jetzt nicht allein lassen.«
Im Gefolge ihrer zwei Wachmänner drängten sich Fürst Maxi und Fürstin Mitzi ungeduldig durch die Zuschauer. Bosco ging ihnen voraus – sein Schirm wie ein großer blauer Vogel mit einem einzigen weißen Bein und einem krummen Fuß, der sich in die Lüfte erheben will. Maxi war entzückt. »Meinen verbindlichsten Dank, guter Mann. Hmm, ein Griff aus Elfenbeinholz, wenn ich mich nicht täusche, und Ihr dagegen so schwarz wie Schuhwichse.« Der kleine Maxi starrte das prächtige Gewand des großen Mannes an, dann blickte er zu dessen Fes hinauf. »Wer seid Ihr, der Prinz von Puutara, der meine Gala mit seinem Besuch beehrt? Meine Entschuldigung für den Regen, aber Ihr seid ja gut vorbereitet. Ein puutaranischer Zweifler! Danke, vielen Dank.« »Bei uns gibt es keine Aristokraten, Herr.« »Dann seid Ihr von Natur aus ein Ehrenmann!« »Ich bin der Konsul in Landfall, wenn Ihr mir die Bemerkung erlaubt, Herr.« »Tatsächlich? Ihr seid einer solchen Stellung würdig.« Fürst Burgdorf streckte seine Hand aus – nach dem Regenschirm. »Laß mich ihn halten, Maxi«, sagte seine Frau. Auch wenn sie sich klein machte, war Mitzi immer noch einen halben Kopf größer als er. »Warum erlaubt Ihr es nicht mir?« bot Bosco seine Dienste an. »Ich vermute, Ihr habt die Absicht, das königliche Luftboot zu besuchen.« Also hielt der puutaranische Konsul den Regenschirm zur Seite und auf Armeslänge ausgestreckt über den Fürsten und seine Gemahlin. Wasser sprang vom Schirm in Boscos Gesicht
und tropfte von seinem Fes. Auf halber Strecke wurden sie aufgehalten. Ein bebrillter Mann in fortgeschrittenem Alter mit einem kellenförmigen Kinn trat vor die Gruppe. Silberne Fäden zierten seine klitschnasse grüne Brokatrobe. Eine vierspitzige Mütze aus schwarzem Samt bedeckte einen ergrauten Kopf. Blinzelnd blickte er durch die beschlagene Brille. »Fürstliche Hoheit, ich bin gezwungen, den Poesiewettbewerb zu verschieben.« »Gezwungen? Durch wen gezwungen?« »Durch diese Sintflut!« Ein Nieser kündigte sich an und brach aus. Maxi zauderte. »Kommt mit uns, Lutainen«, sagte Fürstin Mitzi. »Wenn wir uns mit der Königin treffen, sollten wir unseren Hofdichter dabeihaben. Vielleicht könnt Ihr eine Ode vortragen.« Als sie an der Einstiegsrampe eintrafen, kam ein hochgewachsener, mit Silber dekorierter Offizier herab. Er plierte kurzsichtig. »Fürst Burgdorf? Meine Empfehlungen! Und die Bitte um Erlaubnis zum Auftanken.« Er überbrachte nicht die Empfehlungen der Königin. Nein, nicht ihre. Das Luftboot, das bereits vor einer knappen Woche zu einer Stippvisite auf Fürst Maxis Landeplatz niedergegangen war, hatte die Königin ebensowenig an Bord wie bei jenem ersten heimlichen Besuch. Jetzt war die Geheimhaltung von wesentlich geringerer Bedeutung. Ben Prut war sogar froh, mitteilen zu können, daß
diese Expedition von einem Angriff auf das Nest der Samt-Isi zurückkehrte. Mit dem Überraschungsmoment auf ihrer Seite und mit der Unterstützung durch Jack Pakken waren die vereinten Streitkräfte der Königin in die Höhlen der Schlangen eingedrungen und erfolgreich wieder zurückgekehrt, wenn man von ein paar Opfern absah. Ein beispielloser Überfall. Außergewöhnlich. Eine Heldentat. Van Maanen und sein rebellischer Zwerg wären gut beraten, sich in acht zu nehmen. Der Sinn und Zweck seines Angriffes auf die Isi so weit von Loxmithlinna und Maananfors entfernt blieb undurchsichtig. Ebenso die Dinge, mit denen sich die Expedition außerdem beschäftigt haben mochte. Konnte es das Hauptziel gewesen sein, van Maanen die Unbesiegbarkeit von Lucky zu demonstrieren? Jack Pakken blieb an Bord. Er konnte sich nicht Ihrer Fürstlichen Hoheit zeigen. Er war zu erschöpft! Die königlichen Truppen mußten nach Loxmithlinna zurückkehren, sobald der Regen nachgelassen hatte und die Tanks wieder aufgefüllt waren. Es war schon eine beträchtliche Navigationsleistung gewesen, Julistalax bei dem miserablen Wetter zu erreichen. Warum war das Luftboot im Tal der Sprecher gelandet statt auf dem wesentlich geeigneteren Feld neben der Burg der Burgdorfs? Der Alkohol für die Motoren mußte den ganzen Weg aus der Stadt geholt werden. Hatte der Pilot Angst gehabt, den hohen schlanken Granitturm der Burg zu rammen, den er bei besseren Sichtverhältnissen als deutlichen Wegweiser benutzt hätte? O nein … Jack Pakken hatte darauf bestanden, hier zu lan-
den. Er hatte eine sehr große Affinität verspürt. Ein Strudel des Mana war um ein bestimmtes Festzelt rotiert. Er hatte geglaubt, brennende Schafe blöken zu hören. So erzählte der Adjutant des Generales Aleksonis. Der kleine Fürst Maxi mußte eine weitere Enttäuschung verdauen. Penelope unterbrach Wex bei seiner Befragung von Peter Vaara und dessen schwarzgekleideter Truppe. »Diese Blume ist hinüber«, sagte sie. »Sie ist ja fast verwest.« »Oh, hallo, Pen!« sagte Wex. »Wir haben versucht, einen Schamanen in der Nähe von Niemi aufzutreiben, der ManaKarten zeichnet …« »Ich hoffe, Sie sind wieder bei Sinnen, Mr. Wex.« »Bei Sinnen?« »Ich wollte damit sagen …« Wex zuckte. »ICH BESCHÜTZE MEINEN PARTNER IMMER NOCH VOR SCHMERZEN, FRAU CONWAY.« Vaara beobachtete Wex mit beträchtlichem Interesse. »Ein bemerkenswerter Fall von Bauchrednerei. Obwohl sich die Lippen bewegen, ist der Sprecher ein anderer.« »Was genau sind die Mädchen des Schreckens?« wollte Penelope von Vaara wissen. Nun, es waren die Vierlinge, die Dämonen-Jack mit einem Mutantenmädchen gezeugt hatte. Frühreif war gar kein Ausdruck. Konnten praktisch schon bei der Geburt sprechen. Die vier winzigen Bälger des Bösen konnten pestverseuchte Fliegen beschwören, um sie gegen Luckys Feinde loszulassen. Peter Vaara war auf königlichen Befehl im Anschluß an ihre Mana-
Taufe aufgetreten. Die Mädels dürften inzwischen schon reifer geworden sein. Vielleicht waren sie sogar schon so weit, daß sie ihre Seuchen verbreiten konnten. Die womöglich mit diesen Sprungfahrrädern in kürzester Zeit in feindliches Territorium geschmuggelt werden konnten, mutmaßte Vaara … Die Pest sollte auf Minni losgelassen werden! Furchtbare, verunstaltende Torturen. Mit Sicherheit häßlich und grauenerregend. Kam der Tod schnell oder langsam? Pest. {DIE QUALEN DURCH AUFPLATZENDE BEULEN. IM WUNDSTARRKRAMPF AUFGERISSENE KIEFER. SCHMERZEN IM RÜCKGRAT, BIS ES BRICHT. DAS SIND DIE SYMPTOME DER PEST.} Minni mußte vor der Bedrohung gewarnt werden – durcheine Nachricht per Kommunikator an Maananfors. {DAMIT SIE VON JEDEM MITGEHÖRT WERDEN KANN? DER ERDAGENT MISCHT SICH IN DEN KONFLIKT RIVALISIERENDER KÖNIGINNEN EIN!} Etwas mußte getan werden. Minni, hütet Euch vor Fliegen! Hängt klebriges Papier und Duftkugeln auf! Schlaft unter Moskitonetzen! {VIELLEICHT WIRD DIESE SEUCHE GAR NICHT SO SCHLIMM. DIE BEULENPEST WURDE DURCH FLÖHE VERBREITET, NICHT DURCH FLIEGEN.} »Mathavan, was wißt Ihr über die Pest?« »Warum sollte ich etwas darüber wissen?« gab der Inder zurück. »Die Pest ist eine Krankheit aus dem finsteren Mittelalter; und wenn ich Mittelalter sage, beziehe ich mich damit auf Euer eigenes kulturelles Erbe.« »Kennen wir eine Therapie? Eine Prophylaxe?«
»Hofft Ihr vielleicht, ich würde auf den Körpern der Kranken herumtrampeln, um sie mit meinem Fußschweiß zu heilen?« Gurrukal rieb sich die Kopfhaut. Sein Haar hatte nachzuwachsen begonnen, so daß seine Glatze wie mit schwarzem Pfeffer bestreut aussah. »Wissen wir, wie sich die Pest eindämmen läßt?« Wir. Drinnen. Wex zuckte in einem kleineren Anfall. »ICH BESITZE KEINE WEITEREN INFORMATIONEN ÜBER EINE SO ARCHAISCHE KRANKHEIT, ROGER«, sagte seine Wetware laut. »Zumindest würde ich nichts spüren, wenn ich mich mit der Pest infiziere!« gab Wex mit seiner eigenen Stimme zurück. »Entschuldigt mich bitte, mein Herr«, sagte Vaara. »Ich denke, ich könnte meine Truppe gut um einen weiteren Schauspieler, wie Ihr es seid, erweitern. Zwei zum Preis von einem, sozusagen!« Ohne darauf einzugehen, wandte Wex sich an Penelope. »Ich muß nach Maananfors zurückkehren, um den Verlauf dieses Krieges zu verfolgen …« Bosco war zurückgekommen, jedoch völlig durchnäßt und ohne Regenschirm. »Es tut mir leid, Penelope, aber die Königin ist gar nicht hier. Und darüber hinaus …« Er breitete seine manikürten und leeren Hände aus. »Auch kein Schirm. Der kleine Fürst Burgdorf brauchte einen Trostpreis. Wir werden klitschnaß, falls wir nicht hier drinnen bleiben wollen, bis diese Sintflut nachläßt …«
Als der Regen schließlich wirklich nachließ, wollte das königliche Luftboot sich auf den Rückweg zu Luckys Stützpunkt in Loxmithlinna machen. Sollte sie Roger Wex gestatten, mit dem Schweber zur Burg der van Maanens zu fliegen – auf einer anderen Route, verstand sich? Penelope sah sich außerstande, eine Entscheidung zu treffen. In Boscos Gesellschaft fühlte sie sich in ihrer Autorität beeinträchtigt. Es wäre in der Tat ratsam, wenn ein Beobachter von der Erde den Konflikt von der einen oder anderen Seite aus verfolgte. Wex stand nicht gerade auf gutem Fuß mit Lucky. Mit Minni schon, aber das war eine ganz andere Sache. »Also, ich glaube«, murmelte der puutaranische Konsul, »daß es besser wäre, wenn dieses Ukko-Kind in seinem Versteck bleibt …« Aber das Ukko-Kind war bereits gefunden worden, und zwar durch Minki Kennan, dessen Aufenthaltsort zur Zeit noch unbekannt war. Und im Traum hatte Fürst Beck seine tote Frau wiedergefunden, beziehungsweise ihr Ebenbild, das darin nach Gurrukals Informationen irgendwie die Zeit überdauert hatte. Und eine gewisse Paula Sariola hatte sich ebenfalls im UkkoKind niedergelassen – das andere Ich, nach dem Lucky suchte. Würde Gunther Beck allgemein bekanntgeben, was er wußte? Verkaufte Kennan vielleicht in diesem Augenblick seine Informationen – und damit gleichzeitig die gesamte Menschheit – an die Isi? Lucky hatte ihren Dämonen-Enkel losgeschickt, um die Samt-Isi anzugreifen – die Isi, die Niemi am nächsten waren … wo es Wex nicht gelungen war, Kennan zu finden. Wex war zu
spät in Kaukainkylä eingetroffen, so daß er nur noch die Asche von Anna Becks Scheiterhaufen gesehen hatte. Penelope wollte nicht allzu lange und auch nicht zu bildlich über dieses Ereignis nachdenken. (Würde Fürst Beck wahnsinnig werden, wenn er davon erfuhr – falls es nicht längst geschehen war?) Was Roger Wex betraf, so schien sich allmählich ein Muster herauszubilden. Indem er seinen Impulsen folgte – und den Einflüsterungen seiner Wetware –, traf er immer häufiger fast zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort ein. Wenn er so weitermachte, würde er dann irgendwann zu einem entscheidenden Zeitpunkt einen Volltreffer landen, wenn die Ereignisse kulminierten? Wenn nicht, dann sollte die Pest über ihn kommen. Om. Om. Das Klopfen der Regentropfen. Boscos beruhigende Hand auf ihrem Arm. Der verletzte Soldat im Zelt hatte am Angriff auf die Samt-Isi teilgenommen. Er könnte befragt werden, während man sich um ihn kümmerte. Als Gegenleistung dafür, daß Bosco ihm den Regenschirm geschenkt hatte, würde Fürst Burgdorf bestimmt eine Befragung gestatten. »Mr. Gurrukal«, sagte Penelope, »wärt Ihr bereit, Mr. Wex mit unserem Schweber trotz des Krieges und der Gefahr einer Seuche nach Maananfors zu fliegen?« Wex nickte beruhigend mit dem Kopf. Der Inder massierte seine Kopfhaut und musterte Penelope. »Ich werde mehr von Kaleva zu sehen bekommen, als ich jemals erwartet hatte …« Sie verstand seine Worte als Einverständnis mit dem Auftrag. Diese Aktion erfolgte in der Tat im Auftrag der Erdvertreterin.
»Doch vorher möchte ich Euch bitten«, sagte sie, »Eure medizinischen Fähigkeiten für den Verletzten im Zelt zur Verfügung zu stellen. Bis der Regen aufgehört hat.« »Bis das königliche Luftboot aufgebrochen ist«, sagte Wex. »Danke, Pen.«
TEIL ZWEI Mondaufgang
19 Die Kunst des Wachsens
Minni saß an diesem Vormittag im Schneidersitz auf ihrem Elfenbeinthron und gab sich alle Mühe, einen Ski einzuwachsen, als Roger Wex und der indische Arzt ihren allmorgendlichen Besuch abstatteten, um sich nach Osmos Befinden zu erkundigen … Wie stark der Schnee draußen vor den Flügelfenstern blendete, hinter dem Schattenstreifen, der von der Villa geworfen wurde. Minnis Villa: Dieser Name hatte sich schnell für das Haus eingebürgert. Dahinter stand das Mädchenhaus, in dem Tilli Kippan wohnte, die zu Minnis Hausangestellten zählte! Königin Minni, Osmo und Gefolge waren hier nicht die einzigen Verbannten. Minnis Thronsaal im Erdgeschoß war bescheiden, aber er erlaubte den Blick auf ein Teilpanorama der weiß verhüllten Burg Kippan und des sogenannten Kalten Sees, der jetzt mit Eis glasiert war. Der Ausblick wurde teilweise durch ein Fort aus Tammiholz beeinträchtigt, das gerade in aller Hast umgebaut wurde. Wenn man an einem Fenster stand, konnte man links einen hoch aufragenden Wachturm sehen. In der anderen Richtung, ein Stück weiter hinter einem anderen purpurnen Fort, befand sich das berühmte Arboretum. In ihren schützenden braunen gefütterten Mantel gehüllt und die bestrumpften Füße unter den Körper gezogen wirkte Minni, als würde sie vor Kälte zittern, obwohl ein Ofen die Luft
wärmte. Wie so oft hing ihre Krone aus Leder und Perlen schief. Der Ski lag mit der Laufsohle aus Jalvenholz nach oben über den Armlehnen ihres Thrones. Mit ihrem wachsgetränkten Ledertuch schien sie die Absicht zu haben, dem Holz Töne zu entlocken, das sich jedoch bis auf ein gelegentliches Quietschen ruhig verhielt. Ein Haufen weiterer Skier lag auf dem Parkettboden neben verschieden gefärbten Töpfen mit Wachs. Das eigentliche Musikinstrument, die Isi-Harfe, befand sich in der halb geöffneten Schublade unter ihrem Thron. Ihre Musik linderte Osmos Fieberanfälle beträchtlich, obwohl sie den Fluch nicht verbannen konnte. Noch nicht. Das Zimmer stank nach Mustoreum. Genauso wie die meisten Gebäude und die Kleidung in Burg Kippan. Duftkugeln waren über die Fußböden und die Möbel verstreut. Man hatte sie in Taschen gestopft. Man trug sie in Beuteln. Die Mischung aus den Samenkapseln der Heilrebe und den Analdrüsen des Mustis (oder alternativ aus Kränkerpilzen), Ziegenurin und Terpenzin vom Teerpintenbaum – die dann von einem Schamanen oder einem Priester aus der Baumkirche gesegnet wurde – war ein wirkungsvolles Abschreckungsmittel gegen Luckys Pestfliegen. (Oder eher die Fliegen ihrer teuflischen Urenkeltöchter.) Konnten diese Mana-Fliegen den Frost überleben, der jetzt mit einemmal über Tapper Kippans Reich hereingebrochen war? Die Schädlinge waren zum großen Teil für den Fall von Maananfors verantwortlich gewesen … Drohte auch hier eine ähnliche Katastrophe? Auch hier, trotz des Gestankes des Mustoreums? Der durchdringende schützende Gestank ließ Burg Kippan verfault erscheinen, als warte es
auf einen chirurgischen Eingriff durch Luckys Streitmacht. »Wie geht es ihm an diesem Morgen?« fragte Wex. Wex trug einen Leinenbeutel um den Hals, mit Genehmigung seiner Wetware. Sein Tonfall vermittelte umsichtige Besorgnis und eine ironische, selbstlose Ritterlichkeit. War er nicht vor allem deshalb nach Maananfors geflogen, um Minni vor der drohenden Pest warnen zu können (obwohl ein Kuckuck bereits darüber geplaudert hatte)? Als die krankmachenden Fliegen in Maananfors eingetroffen waren und Osmo infiziert wurde, hatte Wex da nicht angeboten, Osmo und Minni in seinem Schweber zu evakuieren? Doch Osmo war dazu gezwungen gewesen, dieses Angebot abzulehnen. Er durfte sich keinen Vorteil verschaffen, durfte nicht Reißaus nehmen und seine Anhänger im Stich lassen. Ein geordneter Rückzug – auf dem Landweg und alle gemeinsam – war die einzige, wenn auch schmerzliche Möglichkeit. Nachdem Wex jetzt aller körperlichen Empfindungen verlustig gegangen war, fügte dieser Mangel seiner anhaltenden Schwärmerei für Minni (an der es in ihrer Nähe keinen Zweifel gab) nicht eine tragische Note hinzu – oder ein Element der totalen Farce? Vielleicht unterstützte sein anderes Bewußtsein sogar diese absurde Verliebtheit als Rettungsanker für den armen Roger, damit er nicht dem Wahnsinn anheimfiel. Schließlich war für ihn der Gestank des Mustoreums genausowenig wahrnehmbar wie der Geruch eines gerösteten Lammes – oder der Duft von Frauenhaar. Wex hatte nicht gezögert, Osmo und Minni über seine Unfähigkeit in Kenntnis zu setzen, um jedem Groll von Osmos Seite zuvorzukommen. Wex war so harmlos wie ein Kastrat. Er
konnte ohne Gefahr mit jedermanns Frau verkehren. Ein Kuß wäre für ihn nicht reizvoller als ein Löffel voll Haferbrei. Ein solches Eingeständnis rief Mitleid hervor – und sogar Faszination. Zumindest reagierte Osmo auf diese Weise. Der Erdmensch hatte in sich einen privaten Besprecher der seine Sinne genauso effektiv taub machen konnte, wie Osmo das Goldmädchen taub und stumm gemacht hatte. Ungeachtet seines Hilfsangebotes bestand kein Zweifel daran, daß Wex Osmo und Minni ausspionierte. Doch da Wex es bestimmt nicht im Auftrag der Königin tat, konnte es niemandem schaden, wenn er ein wenig herumschnüffelte. Und vielleicht konnte es Osmo sogar nützen. Wenn es so aussah, daß Landfall (und sogar die Erde) ihn und Minni unterstützte, und sei es nur ein klein wenig, mochte ihnen daraus schließlich ein Vorteil erwachsen. Zur Zeit war auch der geringste Hoffnungsschimmer ein Segen. »Er hat viel geschwitzt«, teilte Minni Wex mit, »und er mußte oft auf die Toilette. Die letzten beiden Male hat er braunes Blut gepinkelt. Er hat viel mit Likör gesüßtes Wasser getrunken. Heute früh war sein Urin rosa und später wieder klar. Er ruht sich aus, fühlt sich jedoch aufgedunsen. Der KolostrumPudding hat ihm nicht gutgetan.« Die erste Flüssigkeit aus den Eutern einer Kuh, deren Kalb tot geboren wurde, war mit ihren reichhaltigen Immunsäften seit dem Sommer in einer Flasche in einem Eiskeller gelagert und dann als Hauptzutat dieses Puddings verwendet worden. Doch Osmo schien es kaum etwas genützt zu haben.
Er konnte sich nicht besprechen, daß es ihm besserging. Sein Zustand verschlimmerte sich nicht, aber er war auch nicht einmal ansatzweise auf dem Wege der Besserung. Wenn er doch nur ein Langlebiger gewesen wäre! Dann hätte er seine Beschwerden einfach abgeschüttelt. Vielleicht hatten seine Besprechungsversuche – gemeinsam mit Minnis Harfenspiel – zumindest insofern eine günstige Auswirkung gehabt, daß er nicht mehr in Lebensgefahr schwebte. Doch die Qualen, der er litt! Blutiger Urin und geblähter Leib. Außerdem war seine Macht als Besprecher erheblich beeinträchtigt – und damit auch seine Autorität. Er mußte sich angestrengt und tapfer bemühen, nicht seinen Herrschaftsanspruch zu verlieren. Minni jedoch mußte er nichts vorspielen. Und Wex und Gurrukal auch nicht. Aber Sam Peller, denn das war etwas ganz anderes. Zum Glück war Sam meistens mit den Truppen unterwegs, um in den Wäldern zu kämpfen und den Vormarsch von Luckys menschlichen und hölzernen Soldaten aufzuhalten. Mit Tapper Kippan war es vielleicht auch etwas anderes, nur daß der Waldfürst sich schon seit Tagen nicht aus seinem Allerheiligsten herausgewagt hatte. Seine Tochter Tilli wußte die Wahrheit über Osmo, aber sie schien nicht vorzuhaben, es ihrem Vater zu erzählen. Tilli hatte das Kolostrum angeboten. Was Elmer und Eva betraf, nun, Elmer war tatsächlich ein Langlebiger, und er hatte Forts und Raketen zum Spielen. Falls Elmer sich Osmo gegenüber im Vorteil sah, drängte Eva ihn nicht dazu, die Situation zu seinen Gunsten auszunutzen. Was hätten sie damit auch gewonnen? Nur daß Evas Mutter als lachende Dritte die Oberhand gewann. Die Kuckucke tratschten
oft darüber, daß der Loxmith-Familie die Fürstenherrschaft über das Ha-Haus entzogen war, solange Lyle Melator lebte. Es würde ihnen keinen Nutzen bringen, Osmo zu schwächen, außer einer gewissen verbitterten Befriedigung. Doch sogar dies war jetzt ohne Reiz, nachdem Eva ihr Gleichgewicht wiedergefunden und mit ihrer kleinen Schwester zu einer merkwürdigen Übereinkunft gekommen war. Mit der zögernden Einwilligung Tapper Kippans war der kränkelnde Osmo immer noch der offizielle Befehlshaber über den vom Unglück verfolgten Krieg gegen Lucky. Seit einiger Zeit hatten sich die Ereignisse aus eigenem Antrieb entwickelt. Vermutlich war es sogar ganz gut so. Andernfalls wäre es womöglich nie zu einer Zusammenarbeit mit Kippan gekommen. Man konnte keineswegs behaupten, die glitzernden Insekten hätten sich in Schwärmen auf Maananfors gestürzt. Die Fliegen waren nie in großer Anzahl aufgetreten. Ein halbes Dutzend hier, ein Dutzend dort, anderswo ein paar Dutzend. Dazu einige Einzelgänger, die viel heimtückischer waren. Zu einem beliebigen Zeitpunkt konnte es niemals mehr als ein paar hundert oder vielleicht tausend der Pestfliegen gegeben haben, die Maananfors heimsuchten – eine verschwindende Zahl im Vergleich zu den gewöhnlichen Saug- und Brutzelfliegen, den Pollenfliegen und Schweißsaugern, die der Sommer mit sich brachte. Keineswegs hatten Wolken aus Mana-Fliegen den Himmel verdunkelt. Doch wenn ein Mensch von einer Pestfliege gestochen wurde, hatte das für gewöhnlich ernsthafte Konsequenzen. Einigen Opfern hatte der Kopf geschmerzt, als wollte er plat-
zen. Die Augen waren vom Überdruck blutunterlaufen. Zähflüssige Körpersäfte stiegen in die Hohlröhren der Haare. Diese dehnten sich unter dem Druck der Blutkörperchen aus, so daß die angeschwollenen Locken schwer und blutverklumpt herabhingen. Wenn ein Kranker sein Haar vor Verzweiflung mit einem Messer bearbeitete, blutete es ohne Unterlaß aus den Enden. Die gestochenen Gliedmaßen anderer Opfer schwollen qualvoll an. Menschen verstümmelten sich, um sich Erleichterung zu verschaffen. Selbstverursachte Wunden entzündeten sich und eiterten. Andere Opfer litten an inneren Blutungen. Gedärme und Nieren schmerzten. Verstopfung, Durchfall, Übelkeit … Nicht jeder Stich erwies sich als tödlich – nicht einmal wiederholte Stiche. Die Menschen waren unterschiedlich stark betroffen. Dennoch starben Dutzende von Stadtbewohnern, junge und alte, unter Qualen. Andere verloren den Verstand. Viele trugen bleibende Schäden davon. Kaum hatte man eine Fliege erschlagen, summte schon bald irgendwo in der Nähe die nächste. Der Steuerverwalter Septimus blutete durch die Haut, die porös und überempfindlich geworden war. Der korpulente Kerl schrie, bis er auf einem blutgetränkten Bett starb. Das Haar der Köchin Venni war eine aufgedunsene Filzmasse. Der Saunameister wurde taub und verwirrt, bis er sich ertränkte. Unweigerlich stockte die Verteidigung von Maananfors. Die Überfälle durch immune Truppen und hölzerne Soldaten verstärkten sich. Per Villanen, der Schwager von Osmos ehemaliger Geliebten (deren Vater ebenfalls in Osmos Diensten ums Leben gekommen
war), begann die Öffentlichkeit aufzuwiegeln, indem er auf das Elend und die vielen Toten hinwies, die die Rebellion verursacht hatte. Er erschien immer häufiger am Hafen oder im Skulpturenpark, um an eingeschüchterte Bürger zu appellieren, bevor er sich wieder aus dem Staub machte. Hans Werner beteiligte sich ebenfalls an der Aufhetzung des Pöbels. Während des Angriffes auf Loxmithlinna hatte er noch für die van Maanens die Trommel auf dem Flaggschiff geschlagen, doch nur weil Fürst Osmo die Hand des Fischers zu Stein besprochen hatte. Jetzt schwenkte er seine nutzlose Faust und hetzte das Volk gegen die Burg auf. Die Menschen hörten ihm zu, obwohl der schwarze Fleck auf seiner Wange, der von einer auffälligen Tätowierung eingerahmt wurde, bösartig wirkte. Außerdem erinnerte sich jeder daran, wie er Anna Vainio und ihren Vetter mit dem Messer angegriffen hatte. Da er durch seine Steinfaust behindert wurde, hatten die Männer der Blauen Wache keine Mühe, Werner zu fassen und ihn im Skulpturenpark an den Pranger zu stellen. Natürlich geknebelt, damit er nicht sprechen konnte, und hilflos den Pestfliegen ausgeliefert (die jedoch einen Bogen um ihn zu machen schienen.) Und dann wurde Osmo selbst gestochen … Zuerst hatte Sam Peller zu leugnen versucht, daß die Symptome auf einen Stich hinwiesen, obwohl er gleichzeitig darauf beharrt hatte, es gäbe keine andere Möglichkeit, als die Burg zu evakuieren und sich nach Süden, in Tapper Kippans Reich, zurückzuziehen. Der Rückzug mußte erfolgen, solange sie noch stark waren. Der Waldfürst wäre gezwungen, sie entweder zu bekämpfen oder ihnen freien Zugang zu seinem Gebiet zu gewäh-
ren, um den Krieg gegen eine wahnsinnige Tyrannin fortzuführen, die möglicherweise die geistige Freiheit aller Menschen aufs Spiel setzen würde. Mit Waffen, Sprungfahrrädern und Raketen der Streifen-Isi ausgerüstet, würden sich die Blaue Garde und die Blaue Wache nicht ohne weiteres zurückschlagen lassen. Wenn man sie aufhielt, würden sie wie die Verrins kämpfen. Wohingegen Kippans Holzmänner und die Leute aus Maananfors gemeinsam eine gute Chance hatten, Lucky Widerstand zu leisten. Die Pestfliegen würden im Wald nicht so mühelos ihre Opfer finden wie in einer frei zugänglichen Stadt. Außerdem hatte ein Kuckuck verlautbart, daß während der Wochen des zähen Krieges vor dem Eintreffen der Fliegen ein gewisser bewaffneter Kampfwagen unter großen Mühen von Sariolinna mit Fähren und auf dem Landweg nach Süden gebracht worden war, um den Angriff auf Maananfors zu unterstützen. Die beste Möglichkeit blieb der Rückzug, um Lucky damit weiterzulocken. Sollte man in diesem Sinne mit Burg Kippan kommunizieren? Und dabei eine ablehnende Entscheidung riskieren? Nein. Nur ein Rückzug mit allem, was sie hatten, kam in Frage. Sie mußten den Waldfürsten einfach vor vollendete Tatsachen stellen. Sobald er Osmos Männern den Durchzug gestattete, wurde Kippan automatisch zu Luckys Feind. Davon konnte Sam Osmo überzeugen, ohne ihm in die kränklichen Augen zu blicken. Waffen und Vorräte wurden auf Wagen verladen. Einige wurden über Seen und Flüsse befördert. Der Elfenbeinthron mußte natürlich Königin Minni begleiten. Der alte Alvar hatte
sich mürrisch dazu entschieden, in der Burg zu bleiben, bei seinen Unmengen von Aufzeichnungen und seiner auf ewig unvollendeten Chronik. Es wäre absurd, sie durch die Wildnis fortzuschaffen, wo sie irgendein analphabetischer Soldat in Brand setzen mochte, um sich damit die Suppe aufzuwärmen, während Alvar ihm den Rücken zukehrte. Zweifellos würde Lucky den van Maanens ihren Fürstentitel absprechen, sobald sie Maananfors besetzt hatte – genauso wie sie es mit Elmer getan hatte. Wie man hörte, hatte sie jedoch keine besonderen Rachegelüste gegenüber den alten Loxmiths oder Elmers Schwester entwickelt. Osmos Sünde war zwar größer, aber würde sie Alvar etwas antun – wo er im Grunde doch ein nahezu unvoreingenommener Historiker war? Sie mußte eigentlich Respekt vor seiner Chronik ihrer Welt haben. Und er mußte für die Sicherheit seiner Aufzeichnungen sorgen. All seine Studien waren in der Burg von Maananfors entstanden. Alvar hegte die abergläubische Überzeugung, daß er nirgendwo anders in der Lage wäre, mit seinem Griffel etwas Sinnvolles zu Papier zu bringen – nicht einmal in Burg Kippan, der Quelle seines Papieres und seiner Griffel. Bevor Osmo seine Burg verließ, hatten sich Vater und Sohn (der unter schmerzhaften Krämpfen in den Gedärmen und Kopfschmerzen mit Übelkeit litt) liebevoll umarmt. »Du brauchst einen Erben«, hatte Alvar ihm leise geraten. Ach ja. Außerdem würde ein Erbe in Minnis Bauch Luckys Zorn noch mehr anheizen! Doch Osmos Gemahlin zeigte noch keinerlei Anzeichen einer Schwangerschaft. Wann wäre Osmo wieder imstande, in dieser Hinsicht tätig zu werden? Auch wenn
sein Stecken wieder steif werden konnte, sollte ein Kranker nicht versuchen, Nachwuchs zu zeugen. Das Resultat könnte allzu leicht eine hirnlose Mißgeburt sein. Vor dem endgültigen Aufbruch führte Pappi Hakulinen eine Zeremonie für die Soldaten durch, die ihre Heimat verlassen mußten. Obwohl Osmos Mana-Priester sich oftmals recht ungeschickt anstellte, übertraf er sich bei dieser Gelegenheit selbst und brachte genau das richtige Maß an Melancholie ein – vermutlich, weil er selbst nicht Abschied nehmen mußte und weil auch die Pestfliegen verschwinden würden, wenn die Truppen aufbrachen. Ja, der Priester mußte wegen eines Gichtanfalles zurückbleiben, auch wenn das für einen Kerl wie ihn ein ungewöhnliches Leiden war und ein trauriger Beweis für die Nutzlosigkeit des HerfhornAmulettes, das er um den Hals trug. »Der Schwan fliegt«, hatte Hakulinen gesungen. »Wer wird die Feder auflesen, die er verliert? Wer wird eure Knochen in einem fernen Wald auflesen? Eure Harmonika bleibt hier im Haus zurück; An der Wand hängt noch euer Fischernetz. Wie weiße Sylvestren oder Elfenbeinbäume Bleiben die trauernden Mädchen zurück …« (Einige davon mit blutigem Haar!) »Wenn im Frühling die Kuckucke von Liebe plaudern, Wo wirst du dann sein, mein Junge, unser Liebling? Und wenn die Mädchen abends in der Sauna schwitzen, Welche Hühnchen werden auf Entzücken hoffen? Zum letzten Mal hat Mutter dich geprügelt,
Und die Tiere sind in der Obhut der Schwester. Mutter, ach Mutter, warum weinst du …?« (Nun, aus Angst, an der Pest zu sterben! Oder von siegreichen Eroberern vergewaltigt zu werden!) »Das Spielzeug eurer Söhne bleibt zurück! Ich lege euch in den Sarg; Ich bestatte euch im Grab. Schneidet nicht eure Zehen ab, um euch selbst zu lähmen, Sonst wird euer Herr euch den Kopf scheren!« Es war genauso wie damals, als Eva sich mit Elmer vermählt hatte: die Bannsprüche, die Zurückweisungen, die Beleidigungen – um durch diese Hinterlist Schutz zu erreichen und im Fall der Soldaten schließlich eine sichere Rückkehr … »Soll ich ihn untersuchen, Eure Majestät?« fragte Gurrukal. Minni schüttelte den Kopf. Sie polierte den Ski, und einen Augenblick lang sang das Holz leise. »Ich habe eine andere Idee …« »Hat es mit Skiern zu tun?« fragte Wex. »Warum poliert Ihr sie?« »Um meine Hände zu beschäftigen, während ich nachdenke! Und um mich zumindest dem Anschein nach nützlich zu machen, während andere kämpfen«, fügte sie ehrlich hinzu. »Das Einwachsen ist nämlich beileibe keine einfache Sache, wißt Ihr! Ich bin von einem Experten instruiert worden. Tilli Kippan hat ihn zu mir geschickt. Mein Lehrer hat sogar ein kleines Buch verfaßt, das er Die Kunst des Wachsens genannt hat. Er hat es einem Schreiber diktiert und ließ sich auf eigene
Kosten einige Exemplare drucken. Er hat laut aus seiner Kunst des Wachsens rezitiert, die voller geistreicher und schöner Gedanken und flüchtiger Erkenntnisse ist, die sich in vielen Jahren des Einwachsens seinem Gedächtnis eingeprägt haben! Ich würde ihn sogar einen Philosophen nennen. Wenn ich in Sariolinna die Königin bin, werde ich ihn an meinen Hof einladen. Es ist nämlich sehr wichtig«, vertraute sie ihren zwei Zuhörern an, »einen Hofphilosophen zu haben, um nicht verrückt zu werden, so wie Mutter. So ist es doch, nicht wahr?« fragte sie sich selbst. »Wollt Ihr Königin in Sariolinna sein, Eure Majestät?« fragte Gurrukal. »Und nicht in Maananfors?« »Da, wo der Palast ist, natürlich. Geht es nicht darum? Sollte ich das Nordland aufgeben? An wen sollte ich es aufgeben?« Sie wienerte eifrig. »Ich bin die wahre Königin. Und Königinnen regieren in Palästen. Wenn sie siegreich sind.« Im Augenblick sah es kaum danach aus, als ließe sich irgendeines dieser Vorhaben verwirklichen. Natürlich mußte sie bei ihren Entscheidungen davon ausgehen, daß es so sein würde. Mit dem Tuch in der Hand rückte sie ihre Krone zurecht. Wex wäre ihr fast zu Hilfe geeilt. Jetzt hing die Krone andersherum schief auf ihrem Kopf. Ihr Haar würde keinen Duft haben. Seine Finger hatten kein Gefühl. Ihr Gemahl und Liebhaber lag nebenan krank darnieder. Eine äußerst heikle Situation. Er mußte sein inneres Gleichgewicht wahren. Sein anderes Bewußtsein war stets hilfreich, wenn es um Ausgewogenheit ging. »Kommen Skier durch Einwachsen nicht auf gefährliche Weise ins Rutschen?« fragte er.
Er erinnerte sich an Luckys Statue, die er auf Minnis Drängen hin auseinandergenommen hatte. Dank Minnis enthusiastischer fehlgeleiteter Bemühungen hatte er sich Soldaten vorgestellt, die verwirrt umherschlitterten wie Harnien, die auf Eis landeten. Wer war dieser Experte, den die Tochter des Waldfürsten in Minnis Nähe dirigiert hatte? »Aber Skier müssen gewachst werden!« rief Minni verwirrt. »Erstens, um sie wasserfest zu machen. Doch viel wichtiger ist, daß sie am Schnee kleben – vorübergehend, versteht sich, ohne daß sie einen festhalten, wenn man sich weiterbewegt. Kleben und gleiten, kleben und gleiten – das ist die Wirkung des Wachses. Die Schneekristalle stechen ihre Spitzen ein wenig in das Wachs, wenn das Gewicht beim Anhalten nach unten drückt. Und dann gleitet man weiter. Das ist wirklich wichtig.« Wex mußte zugeben: »Dessen war ich mir nicht bewußt.« »War sich keiner von Euch beiden dessen bewußt?« Pikiert sagte Wex zu sich selbst: »Wir wissen also alles über Perücken, nicht wahr, aber gar nichts über Skiwachs!« Minni schenkte ihm ein kurzes mitfühlendes Lächeln. »Aber Eure Majestät«, erkundigte sich Gurrukal, »auf welche Weise soll das Einwachsen Prinz Osmo helfen?« Seit kurzem hatte der tamilische Pilot eine Vorliebe für Titel entwickelt. »Großer Himmel, er ist viel zu wund für eine Massage.« »Osmo einwachsen? Daran hatte ich eigentlich nicht gedacht! Ich hatte eher daran gedacht, jemand anderen als Hilfe zu gewinnen, und zwar … das Goldmädchen«, schloß Minni flüsternd. »Dabei wäre es mir sehr lieb, wenn Ihr Euch zur Verfügung halten würdet, Roger. Sie soll nämlich nicht mit der Harfe durchbrennen, versteht Ihr?«
Obwohl es ihm widerstrebte, einen zögernden Tonfall anzuschlagen, fragte Wex: »Wären dazu einige Wachen nicht sinnvoller? Warum ich?« Minni war verzweifelt. »Wollen wir, daß die ganze Welt über Osmos Krankheit und über vergebliche Heilkuren tratscht? Wollen wir, daß die Leute sich die Mäuler darüber zerreißen, wie ich ein betrügerisches Juttahat-Flittchen angefleht habe, ihm zu helfen? Dasselbe Mädchen, das ihn auf meiner Krönungsfeier zu betören versuchte! Golda könnte die Wachen vielleicht mit ihren Düften betäuben – während Ihr, Roger, überhaupt nichts riechen könnt. Euer Geruchssinn ist tot. Außerdem seid Ihr doch darauf trainiert, andere zu befrieden, nicht wahr?« Es war eine außerordentlich vertrauensvolle Aufgabe für einen Agenten am Hof der Rebellenkönigin. Ein deutliches Zeichen, daß sie wirklich große Stücke auf ihn hielt. »Werdet Ihr als mein Vermittler auftreten, Roger? Werdet Ihr das Goldmädchen fragen? Wie kann ich mich in meiner Position direkt an sie wenden? Sie könnte ablehnen. Osmo hat sie sehr grob besprochen. Obwohl sich alles für sie schließlich zum Guten entwickelte, nicht wahr?« Minni rümpfte die Nase. »Wie wird sie mit dem Gestank zurechtkommen, der hier drinnen herrscht? Ich muß das Mustoreum hinausfegen lassen, bevor wir uns treffen. Auch die letzte Stinkkugel! Wenn es doch nur in Maananfors soviel Mustoreum gegeben hätte!« »Hätte das einen Unterschied gemacht?« »Da Osmo das eigentliche Ziel darstellte, meint Ihr? Warum bin nicht auch ich der Pest zum Opfer gefallen?« »Ich denke, Euer Zweikampf mit Viper hat Euch gegenüber
Mana-Stichen immun gemacht.« »Ich glaube wirklich, daß Ihr damit recht habt. Aber ich allein kann Osmo nicht heilen, sondern nur dafür sorgen, daß sich sein Zustand nicht weiter verschlimmert.« Gurrukal sprach in aller Unschuld: »Er verfügt doch über die Langlebigkeit, Eure Majestät …« »Wollt Ihr wohl still sein!« schrie Minni den Masseur an. »Geht fort! Ich versuche nachzudenken. Verschwindet!« War dieser Ausbruch ein Zeichen der typischen SariolaLabilität? Mit einer Verbeugung und einer säuerlichen Grimasse begann sich der Pilot und Arzt auf übertriebene Weise aus ihrer Nähe zu entfernen. »Macht, daß Ihr schneller nach draußen kommt!« Zu Wex, der ziemlich verblüfft war, sagte sie: »Nicht Ihr, Roger, nicht Ihr, Entschuldigung, aber ich denke immer noch darüber nach, wie ich das Goldmädchen belohnen soll, wenn sie ihm hilft …« Gurrukal war gegangen, voller Entrüstung über diese königliche Unhöflichkeit. »Golda hat doch bereits ihren Bernsteinmann, nicht wahr? Genauso wie Osmo besprochen hat! Vielleicht könnt Ihr andeuten, daß seine Worte ein Segen für sie waren – auch wenn er zornig über den Betrug war, den sie an ihm versucht hatte. Im Grunde ist er ihr Wohltäter. Irgendwie hat Osmo gespürt, womit er sie glücklich machen kann. Sie soll nicht denken, es sei nur ein glücklicher Zufall gewesen, daß sie auf Bernsteinmann traf. Es war so bestimmt, nicht wahr? Osmo hat ihr den Weg gezeigt, auch wenn er gereizt war.« Minni polierte wild den Ski, der auf ihrem Schoß lag. »Ach, sich in eine solche Kuriosität zu verlieben! Sie ist natürlich ein Alien. Wir wollen nicht über
Geschmack streiten. Gestattet ihr keinen Zweifel, Roger.« »Im Grunde hat sie ihre Belohnung von Osmo längst erhalten.« »Ich wüßte nicht, wie ich sie ansonsten gewinnen könnte, wenn ich ihr nicht die Harfe zurückgeben will.« Minni zerrte einen bestrumpften Fuß hervor und schloß mit einem Stoß die Schublade unter ihrem Thron. »Sie könnte das Instrument dazu benutzen, ihre Fähigkeiten zu verstärken. Ich darf es ihr nicht zurückgeben.« »Ihr seid vielleicht gezwungen, es ihr vorübergehend als Vertrauensbeweis zurückzugeben.« »Ach, du liebe Güte! Betont, daß sie ihr jetziges Glück nur Osmo zu verdanken hat, auch wenn sie versucht hat, ihn zu betrügen.« Wex zuckte zusammen und blinzelte. »EUER GEMAHL WURDE ÜBERHAUPT NICHT ZU EINEM LANGLEBIGEN, NICHT WAHR, MINNI? IRGEND ETWAS GING SCHIEF …« Minni brach in Tränen aus. Sie hätte ihr Gesicht beinahe im Wachstuch vergraben, konnte sich aber noch im letzten Augenblick zurückhalten. »Verflucht – und verflucht seid Ihr, ja«, schniefte sie. »Ja, ja, ja. Ich werde Euch nicht verraten, was schiefging, falls Ihr darauf hofft! Ihr dürft es Gurrukal nicht erzählen – Ihr dürft es niemandem sagen!« Wex war wieder er selbst. »Natürlich nicht«, versprach er. »Ich habe Osmo nicht zu einem Zombie gemacht! Das ist nicht der Grund für seine Krankheit. Eine Fliege hat ihn gestochen. Deshalb ist er krank.« Wie sollte er Minni trösten? Indem er ihr einen Arm um die
Schulter legte? Dabei würde ihn der Ski behindern. Außerdem wäre es unangemessen, eine Königin auf ihrem Thron in die Arme zu nehmen. Und niederträchtig, diesen Augenblick der Verletzlichkeit auszunutzen. Minnis Augen waren weit aufgerissen und glänzten feucht. »Ihr dürft es niemandem von der Erdenburg verraten!« Aus einer Innentasche seines Mantels holte Wex ein Stück schwarze Seide hervor, das er ihr anbot. Sie wischte sich damit das Gesicht ab. »Ihr dürft es nicht, Roger.« »Ich verspreche es.« »Verspricht es auch Euer anderes Ich? Sagt es mir, Wetware!« »EINE SOLCHE ENTHÜLLUNG KÖNNTE EINE GROSSE GEFAHR FÜR EURE POSITION DARSTELLEN. WEISS NOCH JEMAND AUSSER EUCH UND OSMO DAVON? WEISS ER ES?« »Osmo weiß und hat verstanden. Er ist so verständnisvoll, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte.« Sie sprach mit einer so leidenschaftlichen Zuneigung, daß Wex nur neidisch darauf sein konnte. »AUCH ICH HABE AUF ÄHNLICHE WEISE VERSTÄNDNIS FÜR ROGER, MINNI. DESHALB BEWAHRE ICH IHN VOR SCHMERZ, AUSSER VOR EMOTIONALEM SCHMERZ. OHNE EMOTIONEN WÄRE ER EIN ROBOTER, UND DANN WÄRE ICH NUR EIN PROGRAMM.« »Ihr Ärmster, daß Ihr nichts fühlen könnt!« »WIR FÜHLEN DURCHAUS. MEIN GEFÜHL IST SOGAR VIEL SCHÄRFER, SEIT ICH SEINE EMPFINDUNG FÜR BERÜHRUNG UND GESCHMACK UNTERBROCHEN HABE.« Ein kurzzeitiges Entsetzen zeigte sich auf Minnis Gesicht.
Wurde Wex von seiner Wetware hintergangen, damit sie ihn eines Tages ersetzen konnte? Schnell verhüllte sie ihr Gesicht wieder mit Seide. Als sie das Taschentuch fallenließ, hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Deshalb bitte ich um Eure Hilfe, weil Ihr nicht in der Lage seid, Goldas Düfte wahrzunehmen. Das ist wirklich wichtig«, versicherte sie sich selbst. »Wer sonst weiß davon? Das habt Ihr doch gefragt, nicht wahr? Eva und Elmer wissen es. Aber sie werden daraus keinen Nutzen ziehen. Sie wird das Maul halten und er auch. Sam weiß es. Sam Peller. Gleichzeitig weiß er es nicht. Er konnte es nicht glauben. Wollte es nicht wahrhaben. Ihr werdet das Goldmädchen überzeugen, nicht wahr, ohne von alldem etwas zu erwähnen?« Wex nickte. Mit seiner eigenen züchtigen Stimme versicherte er ihr: »Osmo muß wieder gesund werden.« Wie allein sich Minni in diesem Augenblick fühlte, obwohl Osmo in einem Nachbarzimmer im Bett lag. Allein, als befände sie sich gar nicht richtig in Rogers Gesellschaft. Sie trat ihm gegenüber in einer Maske auf. War ihm etwas Wichtiges entgangen, das sie gesagt hatte? Versagte jetzt auch sein Gehör? Oder sein Gedächtnis? {OM}, sagte sein anderes Bewußtsein. {WIE MINNI ZU OSMO IST, SO BIN ICH ZU DIR. WIR SIND UNZERTRENNLICH. NATÜRLICH FÜHLT SIE SICH ALLEIN, WENN ER NICHT DA IST. UNSERE GEFÜHLE FÜR SIE KÖNNEN NIEMALS ERFÜLLT WERDEN, AUCH NICHT, WENN ER STIRBT. WIR MÜSSEN UNS GEGENSEITIG TRÖSTEN, ROGER. HAST DU VERSTANDEN?} Wenn er doch nur einen Augenblick lang Qualen empfinden könnte, um wieder eine körperliche Empfindung zu erleben.
Nur einen Augenblick lang, einen kurzen Schwall aus Schmerzen, zu kurzlebig, um einen Schrei zu entfesseln, zu plötzlich, um ihn von Entzücken unterscheiden zu können. Wie das Ergreifen einer glühenden Kohle und das Spüren der Hitze, ohne im selben Augenblick den Schmerz zu fühlen – bis sofort darauf wieder die Betäubung zurückkehrte. Seine Nerven sollten für einen Sekundenbruchteil in Minnis Gegenwart brennen! {VORSICHT: DAS GOLDMÄDCHEN KÖNNTE DIES ALS SCHWACHSTELLE IN UNSERER RÜSTUNG WAHRNEHMEN. WIR KÖNNTEN MINNI ENTTÄUSCHEN.} Das durfte nicht geschehen. »Euretwegen«, sagte Wex zu Minni, »opfere ich meine Empfindungen.« Sie beugte sich vor, um ihr Tuch wieder mit Wachs zu tränken, so daß er nur ihr schwarzes Kraushaar sehen konnte, von dem beinahe ihre Krone herabgefallen wäre. »Bitte behaltet das Taschentuch«, sagte er, »nachdem Eure Tränen darin sind.« Er durfte kein Verlangen nach fetischistischen Souvenirs entwickeln. Sie blickte ihm immer noch nicht in die Augen. Vornübergebeugt wienerte sie die Laufsohle kräftiger, als es für einen Ski nötig sein dürfte. Beherrschung, dachte Sam Peller, als er über eine verschneite Straße zu einem Fort glitt, das den Weg nach Süden versperrte, eine feuersichere Barriere, die wie ein Kuchen überzuckert war. Unter seinen Skiern und auf jedem Baum war kalte Wolle. Die Kälte drang in sein Herz. Die Wattigkeit der Wolle linderte sein Urteil, da die Welt dadurch wie in sanfte Kissen gebettet schien und nicht voll harter Gefahren. Die trübe Suppe aus formlosen
Wolken hing so tief, daß ein abgeschossener Armbrustbolzen darin verschwinden würde. Die viele schmutzige Wolle am Himmel ließ es undenkbar erscheinen, daß es jemals wieder richtiges Tageslicht geben könnte. Würde in den nächsten Monaten nur dieses deprimierende Zwielicht herrschen? Ach, irgendwo schien vielleicht die Sonne, eine tiefe Sonne, die das Land beleuchtete, doch auf seltsame Weise unerreichbar blieb. Kontrolle über die Truppen und Selbstbeherrschung … Wie konnte man sich selbst beherrschen, wenn dasselbe Selbst voller Zweifel war? Seit dem so unvermittelten und vorzeitigen Einbruch des Winters hatte Sam einen weißen gesteppten Mantel über seiner blauen Uniform getragen. Rote Winkel waren auf die Schultern des Mantels genäht. Ein weiß gebleichter Fellhut ergänzte sein silbernes Haar, das sich zu einem dichten Nebel aufgebauscht zu haben schien. Mit seinem bleichen Gesicht und weißen Bart hätte er in der Umgebung unsichtbar werden können, wenn nicht die schwebenden Winkel gewesen wären – die Lippen aus Feuer, aus Blut. Er hielt an, um die Verteidigungseinrichtungen zu inspizieren – und um sich selbst zu sammeln. Sein Atem quoll in Wölkchen hervor, wie stimmlose, aber sichtbar gewordene Worte, die jedoch bar jeder Bedeutung waren. Er hatte überhaupt nichts gehört, im Saal in Maananfors, damals an jenem Tag, als Osmo von Fürstin Eva beschimpft worden war. O doch! »Tot. Das ist es, was jedem Sterblichen bevorsteht, der kein Langlebiger ist.« »Ihr seid gar kein Langlebiger, Prinz Osmo!« Diese Tatsache wurde zur Genüge bewiesen, als Osmo am
Stich einer Pestfliege erkrankte. Sam war sich so sicher gewesen, daß Osmo dank Minnis Geschenk langlebig geworden war. Langlebig und unverwüstlich. Es hätte nicht eine so große Rolle spielen dürfen, daß Osmo diese Gnade irgendwie doch nicht zuteil geworden war, daß er immer noch ein gewöhnlicher Sterblicher war. Ach, es hätte keine Rolle gespielt, wenn nicht die Mana-Fliegen gewesen wären! Aber es spielte eine Rolle. Der Schock über Osmos Erfolglosigkeit hatte heftig am Gewebe der Gewißheiten gezerrt, in das Sam sich gesponnen hatte. Faden um Faden hatte sich gelöst. Und damit zerfiel ein Bann, der Sams Seele fast zwei Jahrzehnte lang gefangengehalten hatte. Irgendwie hatte Osmo im Bett Mist gebaut. Oder vielleicht war Minni gar keine jungfräuliche Braut mehr gewesen. Vielleicht hatte dieser mutantische Isi-Magus sich an ihr zu schaffen gemacht und ihre Gabe stibitzt. Aus einem unfaßbaren Grund hatte Minni sich ihrer älteren Schwester anvertraut – vielleicht um die Eroberung des Ha-Hauses wieder wettzumachen? Die Umstände spielten keine Rolle. Nur das Ergebnis. Das Ergebnis war, daß Osmo altern und sterben würde. Also würde es mit Sam genauso sein. Sei für immer alt, hatte Osmo ihn besprochen, nachdem Sam ihn vor so langer Zeit in einem Teich brutal unter Wasser getaucht hatte. Und Sam war auf dem Rückweg zur Burg alt geworden, so daß der stramme Bursche, der aufgebrochen war, als ergrauter Mann zurückkehrte, der aussah, als wäre er sechzig Jahre alt. Für immer alt. Für immer in diesem Alter. Niemals mehr
und niemals weniger. Die Langlebigkeit um den Preis des Verlustes seiner Jugend und der Jahre der Reife, das Überspringen all dieser Zeit zu einem ehrwürdigen Zustand, den er niemals verlassen würde. Plötzlich alt geworden, aber niemals älter werdend, als er bereits war! Davon war Sam bisher immer ausgegangen. Er mußte davon ausgehen, denn andernfalls wäre er wahnsinnig geworden. Vielleicht war seine wachsame Ergebenheit Osmo gegenüber eine Art lebenslanger Wahnsinn. Sei für immer alt. Eine Lüge, ein Schwindel. Diese Worte hatten eine völlig andere Bedeutung gehabt. Sei alt, solange du lebst. Lebe als alter Mann. Verliere deine Jugend, verliere deine Reife, sei vorzeitig gealtert. Nicht mehr. Die wütende Rache eines kleinen Jungen. Worte der Boshaftigkeit, überhastet gesprochen. Sam war der Zeit nur bis zu dem Punkt vorausgeeilt, wo er das Alter erreicht hatte, das seinem Aussehen entsprach. Er hatte sogar noch etliche Jahre vor sich, bis sich sein schreckliches Schicksal erfüllen würde. Doch wenn er einmal sein Zielalter von etwa sechzig Jahren erreicht hatte, würde sein körperlicher Verfall einsetzen … in die Gebrechlichkeit und den Tod. Vorausgesetzt, er kam nicht in diesem Krieg ums Leben! Vorausgesetzt, daß er nicht Luckys Rache zum Opfer fiel. Genauso hing es von Osmo und Minni und vielem anderen ab, von einer Waffe, einer Pestfliege oder einer Bombe, vielleicht auch von Sams eigener Unaufmerksamkeit, seinem Versagen als umsichtiger General. Oder wenn er vor sich hin träumte und seine Wachsamkeit
vernachlässigte. Osmos Kerntruppen und Tapper Kippans Männer und Holzmänner in ihren eigenen Wäldern sollten gemeinsam in der Lage sein, Lucky weiterhin Widerstand zu leisten und sie davon abzuhalten, sich Burg Kippan zu nähern. Munition wurde der Widerstandsarmee immer noch durch Luftboote der Streifen-Isi geliefert. Das Mustoreum in Burg Kippan hielt die Fliegen ganz gut in Schach. Nach einer Weile gewöhnte man sich an den Geruch, wenn man nicht allzu empfindlich war. Sam konnte sich keine Empfindlichkeiten erlauben, sonst würde er niemals seinen Zeitaufschub überstehen. Vielleicht wurde er durch diesen absurden Bann geschützt. Wie konnte er sterben, bevor er ein angemessenes Alter erreicht hatte? Ach, diese Logik war nicht mehr als eine haltlose Rechtfertigung seiner früheren Illusionen über Osmos Besprechung! Eine Lüge. Ein Schwindel. Ein Mann mußte unbeirrbar auf dem Weg bleiben, den er einmal eingeschlagen hatte. Andernfalls wäre er ein Niemand und würde sich nur lächerlich machen. Auch wenn dieser Weg absurd war. Ja, auch dann. Sei unbeirrbar, sei unerschütterlich. Viele Jahre waren vorübergegangen. Es war unmöglich, diese Jahre auf irgendeine andere Art noch einmal zu erleben. Die zuverlässige Loyalität zu Prinz Osmo und seiner jungen Königin war der einzige Weg der Integrität und der Selbstbeherrschung, die einzige Leitlinie. Wenn er sie verlor, würde sich seine Identität auflösen. Er würde alles verlieren, einschließlich sich selbst, die Hülle seiner Persönlichkeit, die er mühsam um sich herum aufgebaut hatte. Am frühen Morgen hatte einer der Männer auf den Sprung-
fahrrädern einen Hund erschossen, während er auf Patrouille war. Ein Spitz war aus der Deckung hervorgestürmt und wollte dem Fahrer an die Kehle springen. Die instinktive Reaktion hätte darin bestanden, den Hund mit dem Arm abzuwehren, auch wenn er sich Bißwunden zugezogen hätte. Statt dessen hatte der Mann den blauen Griff benutzt, um ein Stück fortzuspringen, dann sein Fahrrad herumgedreht und das Tier seelenruhig erschossen. Er hatte den blutüberströmten Kadaver schnell mitgenommen, noch bevor die Kälte ihn hatte erstarren lassen. Sam hatte in die glasigen toten Augen des Spitzhundes geblickt und darin undeutlich und in weiter Ferne ein Gesicht gesehen, das nicht sein Spiegelbild war. Einen kurzen Augenblick lang hatte er sich eingebildet, daß es sein anderes Gesicht war, das Gesicht des Mannes, der er geworden wäre, wenn Osmo ihn nicht besprochen hätte. Aber natürlich war der Spitz einer von Luckys Spionhunden gewesen. Das verblassende Gesicht war das seines Trainers gewesen, der irgendwo, zehn oder zwanzig Kims entfernt in einen Mana-Spiegel blickte. Der Trainer hatte seinen Spürhund und die jahrelange Einstimmung auf das Tier auf sinnlose Art verloren. Der Fahrer war nicht einmal gezwickt worden. Riskiere nicht all die Jahre der Einstimmung auf dich selbst, Sam, nur wegen eines spontanen Beißreflexes.
20 Mutter der Welt
Obwohl der größte Teil von ihrer Streitmacht in das Gebiet des Waldfürsten vorgerückt war, hielt sich Lucky selbst immer noch in Maananfors auf. Sie war dort mit Jatta und Serlachius und einer angemessenen Anzahl von Wachen und einigen hölzernen Soldaten zurückgeblieben, damit sie nicht wie eine Landstreicherin wirkte, die irgendwo im Wald ihr Lager aufgeschlagen hatte. Wie es hieß, hatten Osmo und sein Winzling in Burg Kippan ein Dach über dem Kopf gefunden. Die wahre Königin sollte sich demnach nicht mit einem Zelt oder einem Biwak zufriedengeben. Sie wurde immer noch von Gedanken an Jukos Verrat gequält. Mit wem konnte sie besser über ihren Ärger und ihre Verzweiflung reden als mit Jatta? Die Öfen waren heiß in jenem Saal, der bis vor kurzem Osmos Stolz gewesen war. Auch Minnis Stolz? Vielleicht war diese Burg für Minni einen Hauch zu bescheiden gewesen, im Vergleich zum Palast ihrer Mutter! Menschen von kleinem Wuchs wuchsen manchmal über sich selbst hinaus. Minni schien diesen Charakterzug auf übertriebene Weise ausgeprägt zu haben. Die Wandteppiche aus Bäumen beschworen das Bild eines Sommertages herauf. Doch das Licht, das durch die Fenster strömte, war nicht honiggelb. Gestern war es kaum richtig Tag geworden, sondern bei einer zwielichtigen Dämmerung geblieben. Heute war es zwar hell, aber eher grell – Schneelicht. Der
vorzeitige Winter hatte sogar den türkisfarbenen See vereist. Der Saal wirkte ungemütlich und leer. Leer war ebenfalls eine gewisse berüchtigte Nische in der Wand. Diese Aushöhlung im rosafarbenen Granit war die Stelle gewesen, wo der Tyrann Cammon einst versteinert gestanden hatte. Vor der hastigen Evakuierung hatte jemand – vielleicht Minni selbst? – die Bronzestange und den Arazzowandteppich heruntergerissen. Lucky ruhte in Osmos verlassenem Sitz und starrte in die Nische. Neben ihr gähnte eine Lücke, wo sich der Elfenbeinthron befunden hatte. Natürlich hatte man ihn nicht zurücklassen können, damit Lucky ihn in Besitz nahm. »Glaubst du, sie wollte mir damit eine Botschaft hinterlassen?« sagte Lucky zu Jatta. »›Diese Ecke wartet auf dich, Mami. Wenn es mein Gemahl schafft, dich zu besprechen!‹« Die Königin lachte. »Ich habe keine Angst davor, einmal auszuprobieren, ob ich hineinpasse. Du etwa, meine Jatta? Du wurdest in diesem Saal gedemütigt. Jeder Winkel dieses Raumes sollte dir gehören.« Jatta trug ihre mit buntscheckigem Pelz besetzte Jacke – in Zinnoberrot und Erbsengrün und Orange – genauso wie zwei Sommer zuvor, als sie in Osmos Bankettsaal geplatzt war, um vergeblich um Zuflucht zu bitten. Damals war ihre Jacke verdreckt und zerrissen gewesen, ihre Kalbslederhosen mit getrocknetem Schlamm beschmiert und ihr kohlrabenschwarzes Haar unschön geschoren. Jetzt besaß ihr kurzes Haar wieder eine gewisse Eleganz, auch wenn Anni nicht hier war, um es liebevoll zu frisieren und zu pflegen. In ihrem rauschenden purpurnen Gewand stieg Lucky zu Jatta hinab, die sich an eine gewobene Lakarie gelehnt hatte, um sich zu distanzieren. Sie
packte ihre Tochter am Arm und schob sie zur leeren Nische hinüber. »Steig hinauf, meine Jatta, und schnattere!« Zögernd gehorchte Jatta. Sie kam sich dumm und verletzlich vor, während sie sich aufstellte und von ihrer Mutter gemustert wurde. Der Saal mit dem hohen Dach wirkte jetzt noch leerer. »Beste meiner Töchter! Großmutter meiner wunderbaren Schreckensmädchen, die mir diese Stadt gaben! Wir sollten Freundinnen und Vertraute sein, du und ich, genauso wie damals, als du noch ein kleines Mädchen warst.« Ja, ein kleines Mädchen, das zitternd in seinem Zimmer hockte, ängstlich darum bemüht, diese Mutter so vieler unzähliger Töchter zu beschwichtigen … War es eine Schmeichelei, als die Großmutter von MiniMädchen des Grauens angesprochen zu werden, die Pestfliegen von ihren bösen kleinen Händchen aufsteigen ließen? »Darf ich wieder herunterkommen?« »Nein! Nicht bevor …« Lucky schien ein Geräusch zu hören, zuckte zusammen und zog ein Messer aus ihrem scharlachroten Wildlederstiefel. »Niemand kommt«, wandte Jatta ein. »Hier ist niemand außer uns. Du bist sicher in Maananfors.« »Wer sagt, ich sei es nicht?« Die eroberte Burg war ausreichend bewacht. Die überlebenden Diener würden es nicht wagen, Lucky etwas anzutun. Ebensowenig die tauglichen Städter, die nicht zusammen mit Osmo geflüchtet waren. Sie waren zu sehr von der Seuche eingeschüchtert. Die Opfer – die überlebenden Opfer – bluteten immer noch aus den Haaren, aus den Gedärmen und aus der Harnblase. Die Mädchen, die die
Vergeltung der Königin ausübten (und ihre Mutter Juni), waren jetzt beim Hauptteil der Armee, doch die Spuren ihres Wirkens waren immer noch sichtbar. Osmos Einfluß auf die Stadt war gebrochen. Zwei Unzufriedene, Per Villanen und Hans mit der Steinhand, dienten Lucky als ›Verwalter‹. Der alte Alvar, der oben in seinem Studierzimmer eingesperrt war, stellte kaum eine Bedrohung dar. Dennoch behielt Lucky die Klinge in der Hand und hinderte Jatta daran, aus der Nische zu steigen. »Nicht bevor du mir erzählt hast, was geschah, als der Steinmann zum Leben erweckt wurde.« »Ich habe ihn kaum gesehen, Mutter! Ich wurde damals hinausgetrieben.« Jatta wand sich. War eine Spur des Tyrannen zurückgeblieben, der Frauen auf viel schrecklichere Weise seinen Willen aufgezwungen hatte, als Jarl sie in seinen Bann geschlagen hatte? »Und dann floh ich.« »Ach ja, mit Juko.« »Nein, Juko hat mir aufgelauert.« »Der Verräter …« Bildete Lucky sich ein, Jatta würde einen wichtigen Hinweis zurückhalten, der Licht auf Jukos Verhalten werfen konnte? Jack hatte nach seiner Rückkehr – mit leeren Händen – aus dem Nest der Samt-Isi berichtet, daß Juko Minki Kennan mit dem Sprungfahrrad in Sicherheit gebracht hatte, weil Aino angeblich noch am Leben war, und zwar im Innern des Ukko-Kindes, das sich möglicherweise unter einem See versteckte, in dessen Nähe sich vielleicht Klippen befanden. Hatte Jack seiner Mutter noch etwas anderes erzählt – etwas scheinbar Triviales, aber dennoch überaus Wichtiges –, das Jatta sich nun wieder ins Gedächtnis
rufen sollte, und zwar mit Hilfe einer drohenden Messerspitze? In seiner Hochzeitsnacht hatte Jack seiner Großmutter nicht erzählt, daß er einiges über Ukko-Blumen wußte – und sie hatte die Blume eingeäschert! »Mein Ukko-Kind versteckt sich im Osten«, überlegte Lucky. Gewiß befand es sich nirgendwo südlich von Mannanfors. Sie durfte bei der Verfolgung van Maanens und seiner Minni nicht noch weiter vom Weg abirren, durfte nicht in die Nähe von Kippans Wäldern kommen. Sollten ihre Armee und Jack und die Mädchen und Hauptmann Bekkers hölzerne Soldaten sich um die Rebellen kümmern! Im inneren Burghof stand das königliche Luftboot, daneben das Gefährt von der Festung und zwei Flugkapseln. Schick sie nirgendwohin, wo sie von Raketen abgeschossen werden könnten! Lucky brauchte vielleicht noch ein schnelles Transportmittel. Sie konnte nicht ohne genauere Zielangaben mit ihren Wachen und Serlachius einfach nach Osten fliegen. Sie mußte in der Nähe ihrer Armee bleiben. Und das war hier, wo sie versprochen hatte, sich selbst und Jatta in Szene zu setzen. Sie hatte sich vorgestellt, daß Osmo womöglich schon im Sterben lag. Und Minni? Sie hatte noch nie zuvor eine eigene Tochter getötet … Ihr Messer zitterte. Befanden sich Kennan und Juko in diesem Augenblick im Innern des Ukko-Kindes? Blickten die Samt-Isi gerade in ihr Ukkoskop und warteten auf ihre Chance? Warum hatte die Expedition diesen Apparat nicht vernichtet? Sicherlich hatte Juko verstanden, was es mit dem Ukkoskop auf sich hatte. Juko war ein Verräter. Wie schal ihr Sieg über Maananfors war. Wie einsam.
»Wir sollten wieder ein Festmahl abhalten«, sagte sie zu Jatta. Aber ja: genauso wie kurz nach der Eroberung von Maananfors! Eintopf mit drei Sorten Fleisch und mit Pfifferlingen gefüllter Fisch, geröstete Gans und Blutsuppe – während den Stadtbewohnern die Haare bluteten. Wen könnte sie zu einem erneuten Festmahl einladen? Die besten ihrer damaligen Gäste waren in den Krieg weitergezogen. Prut und Aleksonis, Nils und Bekker, Jack. Sollte sie Lyle Melator aus Loxmithlinna holen lassen? Nicht über, sondern um den verkrusteten See herum. Nein, nicht Lyle. Sonst landete sie womöglich noch in einem Bett mit ihm. Er würde sie vertraulich Paula nennen. Es war sein Verdienst, daß die Kuckucke in Maananfors darüber tratschten, wie Eva von Elmer ausgepeitscht worden war. Aber sie krächzten inzwischen auch darüber, daß Elmer Loxmith nun ein Langlebiger und wieder Osmos Verbündeter geworden war. Drüben in Burg Kippan klatschten die Vögel bestimmt über Elmer und seine Peitsche und über die Rache des Nordlandes und wie Jack den Frost bewirkt hatte, damit der Boden fest für den Kriegswagen wurde. War Jack tatsächlich für das bitterkalte Wetter verantwortlich, für den plötzlichen Temperatursturz? In diesem Fall war er wahrlich ein Wunderknabe. Erst vor drei Tagen, als morgens der Schnee tobte, hatte sich der Kommunikator in der Burg gemeldet. Aleksonis mußte sofort mit der Königin sprechen. Der General hatte ihr erzählt, wie Jack die Kälte heraufbeschworen hatte und wie sie über Nacht gekommen war – dessen
war sie sich sehr wohl bewußt. Die Mädchen mußten gewindelt werden. Die Truppen brauchten dringend Skier und Schlitten. Wahrend diese angefordert und auf den Weg gebracht wurden, stockte der königliche Vormarsch. Aleksonis deutete einen Rückschlag an, ohne einen solchen offen über Funk hinauszuposaunen. Kippans Truppen mußten dagegen nur ihre Winterlager öffnen, um sich und Osmos Rebellen auszurüsten. Jack war sicherlich kein Saboteur, auch wenn es ihm nicht gelungen war, die Ukko-Blume heil mitzubringen. Was war nur in ihn gefahren? Er hatte zum General über das Kriegsherf geplappert, das in diesem Augenblick in Richtung des Konfliktherdes zockelte. Die breiten und hohen Räder rollten gut über den gefrorenen Boden und das weiche Schneekissen! Jetzt sagte er gar nichts mehr, als hätte die Kälte seine Zunge gelähmt. Dieses gepanzerte Gefährt würde sich wohl eher in eine Schneewehe wühlen, bis die Räder in der Schneewolle leerliefen. Was war nur in Jack gefahren? Lucky hatte über Funk mit Jack gesprochen, ernst, aber geduldig. Allmählich fand er seine Stimme wieder. »Ein Krieg braucht Kälte«, hatte er geschwärmt. »Schlachten im Schnee. Blühende Blutblumen. So sollte ein Krieg zum schließlichen Sieg geführt werden. Ich habe es letzte Nacht gesehen! Also sang und rief ich und drehte mich im Kreis, um Frost und Schnee zu beschwören. Die Schneeflocken wirbelten nicht einfach nur um mich herum. Sie stürzten überall aus dem Himmel herab. Im Winter ist der Krieg schön, Großmutter.« »Hör mir zu, mein guter Junge«, hatte sie ihn angefleht, »was hat dich getrieben?« »Schneelandschaften«, hatte er geflüstert, »und Blutblumen.
Und ein Gefühl, ein so mächtiges Gefühl – daß es schon zuvor einen Krieg gegeben hat, genau wie diesen, und daß es wieder so sein muß.« »Wann war dieser andere Krieg? Wo war er?« hatte sie nachgehakt. »Es war ein Mana-Krieg, Großmutter, ein unsichtbarer Krieg, den niemand sonst sah. Also sang ich und drehte mich im Kreis. Was habe ich getan?« fragte er. Schlagartig war die Erkenntnis da. Seine Stimme knisterte aufgewühlt. »Wie konnte ich so viel tun? All diese Wolle … und die Kälte … Meine Töchter können immer noch Fliegen von ihren Fäustlingen aufsteigen lassen!« Sie hatte ihn beruhigt, aus der Ferne. Sie hatte ihn beschwichtigt. Nachdem der Kriegswagen unter so großen Anstrengungen von Sariolinna hergebracht worden war, würde er nun jemals das Kampfgebiet erreichen? Wie angemessen, daß die Rache des Nordlandes an den Rebellen in Eis und Kälte stattfinden sollte. Also hatte Lucky Jack gelobt. Etwas Wundersames war geschehen: ein Ausbruch von Mana in die Welt. Jack war der Dreh- und Angelpunkt gewesen, das Scharnier, an dem sich eine größere Tür drehte, eine geschlossene Tür, die sich nun zu öffnen begann. Dieses Gefühl, daß etwas Großes bevorstand! Lucky hatte auch Aleksonis beruhigt. »Jack wird van Maanen steiffrieren können und Minni auch. Wenn Ihr Euch erst einmal durchgekämpft habt, wird er sie beide zerschmettern. Er ist das Mana-Kind, Viktor, das ist er.«
Sie mußte auch sich selbst beruhigen. »Ich habe dich einmal darum gebeten, mich Paula zu nennen«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Erinnerst du dich?« »Ja!« Aber ja doch: Es war in jenem kühlen Zimmer hoch oben im Turm gewesen, wo das kleine Mädchen dazu gezwungen wurde, eine Geschichte zu erzählen, die es selbst kaum verstand. »Ich möchte dich für eine Weile Paula nennen.« Immer noch war das Messer in Luckys Hand. »Auch wenn dein Haar nicht blond ist. Es sollte blond sein.« Sollte Jattas Haar vor Entsetzen schlohweiß werden? Damit ihr kein Hinweis entging, atmete sie tief den Duft ihrer Mutter nach Hefebrötchen und würzigen Garnelen ein. »Wie wirst du mich empfangen, Paula, wenn wir uns treffen?« fragte Lucky sie heiser. »Wie werde ich dich empfangen?« Welche Antwort konnte Jatta geben, um ihre Mutter zufriedenzustellen? Lucky sah keine Tochter vor sich in der erhöhten Nische im rosafarbenen Granit. Hatte sie überhaupt irgendwann einmal eine ihrer Töchter gesehen, als eigenständige Person? Die Porträtgalerie im Pohjola-Palast war voll mit ihr und nur mit ihr. Töchter waren verzerrte Porträts, die ihren eigenen Weg gingen, an Freier vergeben und verkauft wurden, falsche Gesichter, die abblätterten und fortgeweht wurden. Paula war Luckys Zwilling, die geistig gesunde und makellose Doppelgängerin, an die Lucky so überschwenglich glaubte … »Ich habe dich vermißt, meine Liebste«, kam es Jatta in den Sinn. »Liebste? Und was ist das hier, Paula?« Luckys Stimme war selbst scharf wie eine Messerklinge. »Verwechselst du mich
vielleicht mit jemand anderem? Vielleicht mit jemandem namens Anni? Diese Bauernschlampe, die mit Aliens schläft und mit jedem anderen!« Jatta hätte ihre Mutter fast auf die hervorstehende Pfirsichwange geschlagen, die ihrer eigenen so ähnlich war. Sie grub ihre Fingernägel in die Handflächen. »Für Anni empfinde ich dasselbe«, flüsterte sie, »wie du für deine Zwillingsschwester.« »Ohhh!« Dieser Ausruf war wie eine gewaltige Brandung. »Ein Vergleich zwischen etwas so Kurzlebigem und … einem Verlangen, das Jahrhunderte währt! Abgesehen davon, hübsche Paula, bist du mein Zwilling. Vergiß das nicht!« Ansonsten mochte das Messer zucken … Könnte Lucky in einem Anfall von Wahnsinn wirklich die Mutter des Wunderknaben Jack verletzen, die Großmutter der Schreckensmädchen? Wäre sie tatsächlich imstande, dieser ganz besonderen Tochter etwas anzutun? Der sie vorübergehend gestattet hatte, ihr Trug-Gegenstück zu sein, ihr Spiegelbild! »Wir haben einander so sehr vermißt«, versuchte es Jatta erneut. »Hast du mich wirklich vermißt?« fragte Lucky düster. »Hast du in all diesen Jahren an mich gedacht, mich um meine Macht, meinen Palast und meine Töchterschar beneidet? Und um meinen guten Prinzen? Seinetwegen mußt du mich jetzt nicht mehr beneiden! Was hast du in Träumen und Spiegeln von mir erfahren? Hast du mich beneidet? Hast du dich nach mir gesehnt?« »Unser Wiedertreffen ist wie ein erstes Mal, Schwester. Alles ist schön und sauber und neu.«
»Aber du hast mich vermißt … in Kaukainkylä, Paula? (Ich werde diesen Ort in Schutt und Asche legen.) Warst du dort, von Kennan aus unserem Traum entführt, verwesend und dann zu Asche verbrannt? Warst du es?« Das Messer kippte. Es fiel auf eine gebohnerte Fußbodendiele aus Jalvenholz. Lucky zitterte heftig. »Müßte ich nicht einen furchtbaren Schmerz verspüren, wenn mein anderes Ich vernichtet wird?« Jatta sprach zaghaft. »Mutter, du hast dir seit vielen vielen Wochen immer wieder insgeheim den Kopf darüber zerbrochen. Du mußt jetzt darüber reden. Vater ist tot. Es gibt keinen Bertel mehr, dem du dich anvertrauen könntest. Willst du statt dessen mich lieben? Stehe ich deshalb hier wie eine zum Leben erweckte Statue? Möchtest du einen Freund oder eine Freundin zum Leben erwecken, nur daß du nicht weißt, wie du es nach all unseren Meinungsverschiedenheiten anstellen sollst?« Lucky starrte Jatta mit feuchten Augen an. »Wenn meine Töchter immer wieder alt werden und sterben, wie soll ich sie da lieben können?« Zögernd trat Jatta auf den Fußboden hinunter, der im reflektierten Schneelicht glänzte. Sie versetzte dem Messer einen Stoß mit dem Fuß, worauf es davonschlitterte. »Beende den Krieg«, bat sie. »Vergib Minni und ihrem Gemahl.« »Wie, wenn sie sich selbst als die wahre Königin bezeichnet? Wie kannst du so etwas sagen, Paula?« Obwohl sie so nahe beieinander standen, war Lucky immer noch so weit von Jatta entfernt. Lucky zerrte den Kranz aus ihrem Haar, das verworren auseinanderfiel – und umklammerte den Ring aus Bernsteinperlen mit ihren Fingern. Sie mußte irgend etwas festhalten.
»Ich verteidige unser Erbe. Um es zu erhalten, habe ich dich gegen mich eingetauscht, dieses unvollständige Ich.« »Wenn du mich findest, kannst du endlich … zur Ruhe kommen.« »Warst du in Kaukainkylä, Paula? Warst du es?« »Juko müßte wissen, wen Kennan entführt hat«, sagte Jatta. »Er müßte es herausgefunden haben.« »Und dann hat er mich betrogen …« Ihre Fäuste ballten sich um die Perlen. »Wieviel weißt du über Juko, meine PlapperJatta!« Lucky zog sich zurück. »Du wirst niemals Paula sein. Du kannst nicht einmal so tun als ob.« Dies war ein kindisches Spiel mit Furcht und Täuschung gewesen, wie damals im Palast. Jattas Herz war bei Minni, die von ihrem Dämonenkind gefroren werden sollte, wenn er es schaffte. Jatta mochte sich einst geweigert haben, jemals zu heiraten, um ihre Mutter zu ärgern. Minni hatte sich mit Peitschen und Perlen selbst gekrönt. In den dunklen Augen ihrer Mutter sah Jatta den Wahnsinn, der sich darin wie zwei dünne rote Würmer wand. Anni, Anni, hoffentlich bist du in Sariolinna sicher! »Die Stromschnellen könnten zu Eis erstarren«, sagte Jatta impulsiv. Sie wollte nur etwas Ablenkendes sagen. Lucky dachte über diese Feststellung nach, als verstecke sich darin eine verschlüsselte Bedeutung. »Die Schnellen«, wiederholte sie. Kurz nach dem Fall von Maananfors, während die von der Pest heimgesuchte und demoralisierte Stadt so viele königliche Wachen und hölzerne Soldaten und gelbbraune Jaegertruppen und Ha-Häusler beherbergte, die unter solcher Gefahr und
Zerstörung hatten leiden müssen, war an den Katarakten einige Kims von der Burg entfernt ein königliches Picknick veranstaltet worden, außer Sichtweite der Leichen in den Straßen und der armen Teufel mit blutigem Haar – ein Picknick für die Mädchen. Die Kleinen waren von den Wasserfällen begeistert gewesen. Jack und Juni hatten Papierschiffchen gefaltet und jedes mit einem bunten Bändchen versehen, um zwischen den gischtumtosten Felsen ein Wettrennen zu veranstalten. Das Papier stammte aus Alvar van Maanens Studierzimmer. Doch die fraglichen Bögen waren noch nicht beschrieben gewesen. Wer wußte, welchen Einfluß ein Schwall unbekannter Worte auf den Kurs ihrer Spielzeugboote haben mochte? »Erstarrte Schnellen sind ein Widerspruch«, sagte Lucky. »Warum legst du es immer wieder darauf an, mir zu widersprechen?« In diesem Augenblick betrat Paavo Serlachius den Saal. Der rotwangige Priester kam direkt aus dem Hof und blies sich in die Hände. Er stampfte sich Schnee von den Schuhen und gab bekannt, daß ein Kuckuck draußen auf dem Dach der Wetterhütte vor dem Außentor hockte und seltsame Neuigkeiten verkündete. Neuigkeiten aus Beckburg: Der Langlebige Fürst Beck, seit eineinhalb Jahrhunderten verwitwet, wollte eine gewisse Marietta ehelichen, eine Frau in mittlerem Alter, die zufällig die Mutter von Kulli war, demselben Kerl, der Eva Loxmith-Sariola ein Auge ausgestochen hatte. Gut für Kulli, lautete Luckys sofortige Reaktion. Die Nachricht von der bevorstehenden Hochzeit schien dagegen unwich-
tig. Doch nicht für Serlachius. Nach Mollers Freilassung vom Pranger in Loxmithlinna, an dem er wegen seiner Rolle bei Minnis Krönungszeremonie gestanden hatte, war Serlachius durch Elmers Mana-Priester anvertraut worden, daß Elmer Loxmith eine spezielle Schlafstatt gebaut hatte. Nachdem er seit Ewigkeiten seiner Sariola-Braut nachgetrauert hatte, die schon vor langer Zeit gestorben war, hatte der Traumfürst Gunther gehofft, sich im Winterschlaf einen Weg zu seiner toten Frau Anna zu träumen. Anna? Lucky konnte sich kaum erinnern, wer Anna gewesen sein könnte, daß ihr solche Verehrung und Treue zuteil geworden war. Beck war offensichtlich aus seinem ausgedehnten Schlummer erwacht. Das Eigenartige an dieser Nachricht war der Umstand, daß die Verehrung des Traumfürsten anscheinend eine kräftige Zurückweisung oder Ablehnung erfahren hatte, so daß es zu einem erheblichen Wandel seiner Gefühle gekommen war. Serlachius war sehr vom Mysterium bewegt, nicht zuletzt durch den unvermittelten Wintereinbruch, den Jack vor kurzem eingeleitet hatte – so behauptete der Dämonenjunge zumindest. Serlachius bat um die Erlaubnis, Jack begleiten zu dürfen, um ihn zu überwachen und zu führen. Vielleicht könnte ein Pilot den korpulenten Priester, in einer Kapsel verstaut, an die Kriegsfront bringen. Ein Soldatenpriester sollte schließlich bei der Armee sein und nicht hundert Kims vom Schauplatz entfernt. Doch leider wollte die Königin Maananfors nicht verlassen und bestand darauf, daß auch er bei ihr blieb. Benutz-
te Serlachius diese Gerüchte über Gunther nur als Vorwand, um Lucky erneut zu bedrängen? Ganz und gar nicht. Falls der Traumfürst seine tote Frau wiederfinden sollte, dann nur als Echo im Ukko-Kind, wo auch Luckys Zwilling sich aufhielt. Was könnte eine solche Enttäuschung für ihn darstellen, daß er den Wunsch hatte, seine jahrelangen Bemühungen auszulöschen, sogar zu schänden? Sicherlich hätte er seine Suche fortgesetzt, falls es ihm einfach noch nicht gelungen war, Anna wiederzufinden. Also hatte Beck Erfolg gehabt. Doch dann mußten all seine Hoffnungen zunichte gemacht worden sein. Becks Anna mußte der Zombie gewesen sein, das verwesende Echo, das nach der Entführung durch Kennan von diesen Bauerntrotteln in Kaukainkylä verbrannt worden war. Nicht Luckys anderes Ich, sondern Anna Beck-Sariola. Luckys blonde Zwillingsschwester lebte immer noch an jenem geheimen Ort. Luckys Freude war maßlos. Sie lachte schallend. Sie machte Luftsprünge. Sie schnappte den pummeligen Serlachius an den Händen und wirbelte ihn herum. Sie griff Jatta und tanzte durch den Saal, stieß sich selbst und ihre Tochter schmerzhaft gegen Tische und Bänke. Diese mütterliche Umarmung war beinahe eine Bestrafung. Lucky hielt mit bebendem Busen inne, und Serlachius wies darauf hin, daß der Überbringer – oder eher der Deuter – einer solchen Nachricht nach Süden fliegen könnte, um sich zu Jack zu gesellen … Nun, Luckys Dankbarkeit hatte offenbar doch ihre Grenzen. Kichernd schüttelte sie ihr zerzaustes Haar. Wie sollte sie ohne ihren kostbaren Paavo zurechtkommen? Sie mußte sich wesent-
lich eingehender über Gunther Beck informieren. Wenn er seine Anna gefunden (und verloren) hatte, könnte er doch auch Luckys anderem Ich begegnet sein, oder? Beck in Beckburg, mehrere hundert Kims von hier entfernt … Ein alter Kumpel des toten verräterischen Berti! Berti war Beck auf der Gala begegnet, wo er Tochter Eva als Köder für Loxmith zur Schau gestellt hatte. Und gleichzeitig für den scheußlichen van Maanen. Sie mußten Beckburg anfunken. Nein, so etwas durften sie nicht tun! Sollte irgendein lauschender Isi von Luckys heimlichsten Hoffnungen erfahren? O nein. Sie mußte persönlich im königlichen Luftboot nach Beckburg fliegen. Genauso wie Jack und der verdammenswerte Juko weit fort geflogen waren, ohne Ergebnis – nein, noch schlimmer – abgesehen davon, daß Jack und Prut in ein Isi-Nest eingedrungen waren? Sie durfte Maananfors noch nicht verlassen. Hätte ein Kuckuck in einem verschneiten Lager mitten im Nirgendwo solche Neuigkeiten ausgeplaudert? Es war klüger, wenn sie hierblieb. Ihr Paavo konnte doch nach Beckburg fliegen … Natürlich nicht in einer Kapsel! Also mit dem Luftboot der Königin oder dem von der Festung. Nein, diese Fahrzeuge könnten noch gebraucht werden. Gegen Burg Kippan, wenn ihre Truppen durchgebrochen waren. (Wenn. Falls sie es überhaupt schafften. Verflixter Winter. Obwohl Kälte und Finsternis durchaus ihren Reiz hatten.) Wenn der Aufenthaltsort des Ukko-Kindes bekannt wurde, würde man die Luftboote hier benötigen, und zwar unverzüglich, um sie und ihre Wachen zu befördern.
Sie mußte mehr über Beck in Erfahrung bringen. »Moller weiß über Beck Bescheid«, überlegte sie. »Lyle Melator weiß bestimmt alles über das Winterschlaf-Projekt!« Warum hatte Lyle ihr nichts davon gesagt? Trotz seiner Schlauheit hatte Lyle offenbar nicht erkannt, welche besondere Bedeutung diese Angelegenheit besaß. Paavo könnte sich eilig mit einem Schlitten auf den Weg zum Ha-Haus machen, natürlich um den See herum, nicht quer darüber hinweg, um nicht irgendwo im Eis einzubrechen … »Deshalb war Beck so verfressen!« rief Jatta. »Er hat sich genügend Winterspeck zugelegt, damit er lange schlafen kann.« Lucky wirbelte herum. »Du hast ihn getroffen?« Nein, nicht getroffen. Als Jatta hier Zuflucht gesucht hatte, hatte sie zuerst den dicken blonden Traumweisen mit dem Babygesicht begrüßt – »Genau hier am Ehrentisch, Mutter!« –, weil sie ihn fälschlicherweise für Fürst Osmo gehalten hatte. Juko hatte ihr später gesagt, wer Beck war, als sie schon unterwegs waren, obwohl Juko nicht sehr viel über ihn gewußt hatte. Neben wem hatte Beck gesessen? Wer war ihm nahe gewesen? Lucky mußte alles wissen! Nun, Beck hatte neben einem stutzerhaften älteren Herrn in schwarzer und goldener Jacke und schwarzen Flecken an den Fingern gesessen. Alvar van Maanen. Osmos Vater, der oben hockte, mit seiner Chronik in dieser Burg eingesperrt. Ein Vertrauter von Gunther Beck. An einer Wand neben dem Fuß einer großen Treppe – sowie auch im Saal selbst – hing jetzt ein Porträt von Lucky. Der Rahmen aus Tammiholz war in Form von Blättern geschnitzt,
die fast wie kleine purpurne Flämmchen aussahen, obwohl ein Tammibaum von Natur aus feuerfest war. Während einer gründlichen Durchsuchung der Räumlichkeiten, bevor Lucky Einzug gehalten hatte, waren diese Gemälde in einem unterirdischen Eiskeller gefunden worden, den man in den Granit geschnitten hatte, auf dem die Burg stand und aus dem sie erbaut worden war. Sie waren zwischen kalten Kadavern versteckt gewesen. Sollte durch diese Assoziation auch die eigentliche Königin an Kälte leiden? Sollte die Nähe zu den Lammkadavern ihr Schicksal heraufbeschwören? Oder ihre Einkerkerung in einen steinernen Keller? Ein Hausmädchen in gestärkter weißer Schürze und Leinenhaube versetzte dem Gemälde einen Schubs, bis es schief hing. Dies war keineswegs das erste Mal, daß dieses Porträt und das andere im Saal schief hingen. »Ihr da!« kreischte Lucky. Das schmale Mädchen wirbelte herum. Flachsblonde Zöpfe, ein zartes puppenhaftes Gesicht, durchdringende blaue Augen mit ausgeprägtem Silberblick. Als es das Vorbild des Porträts erkannte, zuckte das Mädchen zusammen, statt einen Hofknicks zu machen. »Santa Lucky«, wimmerte sie. Die Mutter Kalevas persönlich, daneben ihr rotgesichtiger Mana-Priester und ihre Tochter, die sich mit einem Alien gepaart hatte! »Was habt Ihr Euch dabei gedacht, so etwas zu tun! Wie ist Euer Name?« »Ich bin Amelie. Ich habe nur Eure Ikone zurechtgerückt.« »Ihr habt mein Bild schiefgerückt! Also seid Ihr dafür verantwortlich!«
Die Magd jammerte: »Es ist noch nur, damit sich keine Näkkis auf den Rahmen setzen.« »Ach wirklich? Die hölzernen Blätter würden ihnen in den Hintern pieksen. Dafür wird man jetzt Euch den Hintern versohlen, Amelie. Paavo, ruft einen hölzernen Soldaten. Sagt ihm, er soll dieses Mädel über sein hartes Knie legen und ihr mit seiner harten Hand eine Tracht Prügel verpassen.« Das Hausmädchen wand sich. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten schielend. »Santa Lucky, ich bitte Euch, schlagt Ihr mich. Berührt mich, damit ich mir nicht die blutige Pest einfange.« »Niemand wird jetzt mehr leiden, Dummerchen«, sagte Jatta. »Nicht hier. Jetzt nicht mehr.« »Bitte verprügelt Ihr mich, Santa Lucky«, bettelte Amelie. »Warum sollte ich?« »Weil, weil … ich es war, die Eure Ikonen in den Eiskeller brachte, damit sie in Sicherheit waren. Ich wußte, daß man sie andernfalls beschmiert oder Schlimmeres damit angestellt hätte.« »Ist das wahr?« Das Mädchen schielte außerordentlich. »So wahr mein Name Amelie ist. Ich habe es schon vor längerer Zeit getan, gleich nachdem Sam Peller sie zum ersten Mal mit dem Gesicht zur Wand hängte, damit Ihr nicht durch die Augen des Bildes sehen könnt, was vor sich geht. Man hat zwar bemerkt, daß sie plötzlich verschwunden waren, aber niemand wußte, wer sie weggenommen hatte oder wo sie waren.« »Mein treu ergebenes Kind!« »Einige Leute gaben Seppi Hakulinen die Schuld, weil er
nicht mit der Flotte gegen das Ha-Haus ziehen wollte …« Serlachius schnaufte. Osmos mittelmäßiger Mana-Priester war in die städtische Kirche strafversetzt worden. »Andere verdächtigten sogar Osmos Vater, weil Eure Porträts eine Art gemalter Chronik sind. Aber ich habe sie versteckt, weil Ihr meine Heilige seid. Schließlich seid Ihr die Mutter der Welt. Es ist ein Wunder, daß meine Heilige hier ist. Bitte schlagt mich mit Euren Händen, wenn«, und dabei wurde ihre Stimme leiser, »ich geschlagen werden soll.« Natürlich wurde sie nicht geschlagen. Lucky bedeutete ihr, wieder aufzustehen, indem sie an ihren Zöpfen zerrte. Dann drückte sie einen Kuß auf ein schielendes blaues Auge – worauf Amelie aufkeuchte: »Oh, danke, ich danke Euch.« Lucky blinzelte Jatta vielsagend zu. Ist es genauso mit dir und Anni? Mutter der Welt! Es stimmte, was die Magd geplappert hatte. Seit Jahrhunderten hatten Luckys Töchter Kinder in die Welt gesetzt, die wiederum Kinder gebaren oder zeugten. Inzwischen mußte ihr Blut in den Adern vieler Kalevaner fließen, die hier geboren waren. Zehntausende von Menschen mußten mit ihr verwandt sein, ob weitläufig oder direkt. Männer und Frauen in Saari und Tumio, in Portti und Julistalax, in Verräcker und Luolalla. Menschen, die nichts von dieser Verbindung wußten, genausowenig wie sie selbst. Normale Menschen, ManaTalente, sogar Mutanten. Ihr Erbe, ihre Nachkommenschaft war viel größer als nur die hundert und ein paar Töchter. Gleichzeitig war es auch das Erbe des Ukko, der sie verwandelt hatte. »Ihr könntet um ein Dutzend Ecken herum meine Enkeltochter sein«, sagte sie zu Amelie.
Du Ärmste, erwiderten Jattas Lippen stumm. Sie konnte sich zurückhalten. Eine getigerte Katze schlich sich an und hielt dann inne, um zu starren – nicht auf die Magd oder die Königin oder den Priester, sondern auf eine dunkle Stelle der Wand, wo nichts Besonderes zu sehen war. Der Schwanz des Tieres zuckte ein paarmal in Verärgerung oder Vorfreude hin und her, während sich die Gedanken der Katze zwanghaft mit irgendeinem Phantom ihrer Einbildung beschäftigen. Urplötzlich flitzte sie davon, aus einem vermutlich ebenso eingebildeten Grund, verschreckt oder verdrossen, weil sie keine Ahnung hatte, worauf sie eigentlich gestarrt hatte oder warum. »Soll ich immer noch einen Soldaten rufen?« fragte Serlachius, um ganz sicherzugehen. Natürlich nicht. Alvar wartete auf sie. Ein Mief aus Rauch mit berauschendem Aroma von Rum und Muskat erfüllte das ofenwarme Studierzimmer. Kein Sonnenlicht bestrahlte den Strom der Schwaden. Luckys erste Tat bestand darin, an einer mit Decken überhäuften Couch und einer mit Krimskrams überladenen Kommode vorbeizumarschieren und das Fenster aufzureißen. Einige Schneeflocken wirbelten auf einem eisigen Luftstrom herein. Draußen befand sich ein Kuckuckssitz, von dem keine Innereien hingen, sondern nur ein paar Eiszapfen. Das Fenster gestattete den Blick auf ein verschneites Panorama mit Stadt und See, mit Booten, die an ihren Anlegestellen festgefroren waren, und vor allem auf Osmos nutzloses Flaggschiff. Die Sotkos Tochter war zu groß, um sie nach Süden mitzunehmen. Man hatte den Raddampfer
ausgeschlachtet und zurückgelassen. Serlachius wedelte ein paarmal mit der Tür hin und her, bevor er sie schloß. Jatta hustete, als würde sie an einem Rückfall der furchtbaren Bronchitis leiden, die ihr bei ihrem ersten Besuch in dieser Burg so zugesetzt hatte. Osmos Vater in dunkelpurpurnem Morgenmantel und Pantoffeln hatte sich aus einem Schaukelstuhl neben einem überhäuften Schreibtisch erhoben. Seine Tammiholzpfeife mit dem schiefen Kopf rauchte wie der Schornstein eines Dampfers. Seine bloßen Waden waren vereinzelt von Krampfadern durchzogen, obwohl er ansonsten gepflegt wirkte, mit fast damenhafter Haut, zart gekräuselt statt runzlig. Er hatte ein Blatt Papier auf einem Tablett bekritzelt – das er nun schützend gegen seinen Körper hielt. Auf einem zierlichen Serviertisch standen eine ausgelöffelte Schüssel mit Haferschleim, ein Eierbecher mit geleerter Eierschale, ein durchgebrochenes Brötchen zwischen krümeligen Überresten weiterer Brötchen und ein milchfleckiges Glas – das noch nicht abgeräumte Frühstück des Historikers. Lucky besetzte schnell einen Ledersessel mit hoher Lehne. Bücher überfüllten zwei Regale links und rechts neben dem Gemälde eines Helden, der sich gegen den Wind beugte. Davor ein Globus der Welt. Stapelweise schwarze Notizbücher. Mit Bändern verschnürte Papierbündel. Numerierte Aktenordner. Dicke Kerzen in wachsüberströmten Ständern. In letzter Zeit hatte es kein Öl für Alvars Lampen mehr gegeben. »Hier drinnen riecht es wie auf einem Scheiterhaufen«, sagte die Königin. Nach dem ersten Schock über ihr Eintreffen war Alvar nun
nach Kräften bemüht, sich nicht von einer solchen Bemerkung beunruhigen zu lassen. Er stellte zuerst das Schreibtablett und dann seine Pfeife ab, bevor er sagte: »Ich bin überzeugt, daß mein Tabak mich vor Euren Fliegen bewahrte! Wenn sich nur mein Sohn das Rauchen angewöhnt hätte! Rauchen beugt außerdem dem Schwachsinn vor, wußtet Ihr das? Deshalb finde ich mich immer noch in diesen Gewirr aus Geschichtenfäden zurecht.« »Setzt Euch. Ich möchte von Euch mehr über die Suche Eures Freundes Gunther Beck nach seiner toten Anna hören. Ich habe erfahren, daß er wieder heiraten will – eine gewisse Marietta.« »Er will heiraten?« rief Alvar. Er ließ sich zurück in den Schaukelstuhl sinken und tastete nach einem schwarzen Notizbuch. »Ich bin völlig von den Ereignissen abgeschnitten, außer wenn zweimal am Tag ein Küchenjunge zu mir kommt. Ich erhalte nicht einmal Fleischreste, um einen Kuckuck anlocken zu können! Was ist mit Gunther geschehen?« Lucky beugte sich verärgert vor. »Fragt Ihr mich? Glaubt Ihr, ich bin gekommen, um mich von Euch ausfragen zu lassen?« Eine flehende Wißbegierde leuchtete in Alvars Augen auf. »Ach, wie sehr es mich danach drängt, Paula Sariola!« (Dabei zuckte Lucky unkontrolliert.) »Kann ich? Darf ich? Da ist so viel, was ich fragen müßte.« Alvar warf Jatta einen flüchtigen Blick zu. Sie war seinen Fragen schon einmal bei einer früheren Gelegenheit ausgewichen. Jatta war nur eine Tochter. Doch jetzt befand sich in diesem Zimmer der Ursprung, die wahre Quelle. »Ihr vergeßt, in welcher Position Ihr Euch befindet«, tadelte Serlachius ihn.
Alvar ließ nicht locker und hielt schon den Stift in tintenbeklecksten Fingern bereit. »Das ist alles, was mir etwas bedeutet – das Webmuster der Ereignisse aufzuzeichnen.« Lucky verschränkte ihre Finger ineinander und ließ die Knöchelgelenke knacken. »Wie viele Menschen dieser Welt«, fragte sie Alvar, »sind Eurer Schätzung nach mit mir blutsverwandt?« Da ihre Töchter durch die Verleihung der Langlebigkeit eine körperliche Veränderung in ihren Ehemännern bewirkten, war vielleicht – durch eine Art Infektion – eine enge Verbindung zwischen ihr und Osmo, Elmer und vielen anderen Männern hergestellt worden. Hinzu kam, aufgrund der Abstammung, ihre Verwandtschaft mit so vielen lebenden Menschen. Plötzlich eröffnete sich eine neue Perspektive: die der Ähnlichkeit mit sich selbst, als wäre sie in zehntausend Scherben zersplittert, die allesamt Lucky in verzerrter und unvollkommener Gestalt reflektierten – und die sich irgendwie wieder miteinander vereinen sollten, so wie sie selbst sich mit ihrem ursprünglichen Ich wiedervereinen sollte – die Erlösung in der Versöhnung des vielfältig leidenden Ichs mit seinem bewahrten Ursprung … Alvar erzitterte im kalten Luftzug, der durch das Fenster hereindrang. »Wie viele?« wiederholte er. »Das ist eine schwierige Frage. Ich müßte sehr lange Listen erstellen, und dann gäbe es trotzdem Lücken …« »Ich habe eine einfachere Frage!« rief sie. »Wie hat Beck mein anderes Ich gefunden? Wie hat er Paula gefunden? Wenn
Ihr darauf keine Antwort wißt, ist Eure Chronik nichts wert.« Alvar befeuchtete seine Lippen. »Gunther benutzte das Winterschlafhormon der Isi, das er von einem Schamanen namens Taiku Setala erhielt, der es wiederum vom Mutanten-Magus bekam, der als Viper bekannt ist, mit dem Eure jüngere Tochter …« Erwähne auf keinen Fall Minni! »Taiku Setala starb, während er die Träume anderer Menschen statt seine eigenen träumte …« »Wollt Ihr damit sagen, daß Beck meinen Traum träumte? Weil er lange genug gelebt hatte? Nicht so lange wie ich, aber lange genug. Ach, wenn wir lange genug leben, träumen wir wieder vom Anfang. Der Traum wird irgendwann für uns Wahrheit werden – doch Beck ist mir in die Quere gekommen!« Lucky sprang auf und eilte ans Fenster, wo sie sich mit den Händen am verschneiten Außensims festhielt. »Ich bin so allein!« schrie sie in die kalte Luft hinaus. »Mutter«, flehte Jatta. »Mutter der Welt«, wiederholte Serlachius verlegen Amelies Worte. Lucky biß sich auf die Lippe. »Es ist nur die Qual des langen Wartens!« (Und Alvar schrieb eifrig mit.) »Es mußte einige Zeit vergehen, nicht wahr? Genügend Zeit für Geschichten, um das Kind zu ernähren. Bis jetzt konnte ich mich selbst nicht wiederfinden. Beck konnte nicht den Weg zu seiner Anna zurückfinden. Sie sind grausam, so grausam, der Ukko … die Ukko und ihr Kind. Die Mana spenden und Lebenssaft aussaugen.« »Aber«, protestierte Serlachius, »der Ukko hat uns eine Welt gegeben. Wir sind vom Mysterium gesegnet. Wie sonst könnten wir unser Leben leben?«
»Ich verfluche die Ukko und ihr Kind«, kreischte Lucky. »Nicht, Majestät …« »Warum nicht, wenn ich es so will?« »Das Mana hört auf Euch.« »Und treibt mich in die Verzweiflung.« »Denkt an den Frost. Das ist kein gewöhnlicher Wintereinbruch.« Er hatte ja so recht. »Dieser Winter ist das Ende des Lebens und der Wärme. Eine furchtbare Veränderung. Eine Erstarrung. Jack hätte mit seinem Tanz lieber Wärme beschwören sollen! Ein glühendes Feuer … um Burg Kippan zu verbrennen.« Sie drehte sich um und blickte auf den schreibenden Alvar. »Um Feuer an seine Papierfabrik zu legen!« Schnee glänzte an ihren Fingern. »Ich fürchte nur, es ist die falsche Jahreszeit für eine Hitzewelle. Mein Jack ist für diesen Frost verantwortlich, alter Mann, der Ihr so viel jünger als ich seid! Hofft Ihr nicht auch auf eine trügerische Art von Langlebigkeit – sogar jetzt noch, Alvar van Maanen –, indem Ihr all diese Geschichten aus dem Leben anderer Menschen sammelt? Jack wird Euren Sohn erfrieren und erstarren lassen. Dann werde ich ihn zu Suppe zerschmelzen, und Schweine werden sie aufschlürfen. Von allen Langlebigen wird er am kürzesten leben! Frost und Feuer, Frost und Feuer«, sang sie. »Ich habe mir meine Porträts im Erdgeschoß angesehen«, setzte sie bedrohlich hinzu. »Sie sind wieder aufgetaucht?« fragte Alvar, begierig auf Fakten. »Die Schnitzerei der Rahmen besteht aus Flammenzungen, die mich umschlängeln.«
Alvar erinnerte sich. »Eigentlich sollten es Blätter sein.« »Flammenzungen, nutzloser alter Mann.« Die Idee eines Scheiterhaufens hatte Wurzeln geschlagen und wuchs. »Ihr könnt mir nicht sagen, wo Beck auf Paula getroffen ist, wie?« Alvar könnte es versuchen, o ja, er könnte es versuchen – angesichts der schrecklichen Konsequenzen, deren Kommen er spürte. Er könnte ihr viel über den Traumfürsten und seine tote Frau und damit verbundene Angelegenheiten erzählen. Wann sollte er beginnen? Wo sollte er beginnen? Die Berge aus Aktenordnern und Notizbüchern und Stapel aus verschnürtem Papier, die mit der Chronik beschrieben waren, würden Zeugnis ablegen. »Er weiß es nicht«, meldete sich Jatta zu Wort. Es schien, daß Alvar bei jenem Fest zum Lucky-Tag im Bankettsaal Partei für sie ergriffen hatte. Die Unterbringung für eine Nacht. Die Möglichkeit, die Kleider zu wechseln. Höchstwahrscheinlich hatte Alvar nur auf eine Chance gehofft, sie befragen zu können. Sie sollte ihn vor Luckys Wahnsinn beschützen. »Woher soll er es auch wissen, Mutter?« »In diesem Fall ist er nutzlos und damit auch all dieses Papier. Höchstens für Papierschiffchen zu gebrauchen, für Luftboote aus Papier …« Lucky wischte einige Bündel mit Manuskripten zur Seite und zog einen Knoten auf. Sie breitete ein Blatt aus, das mit gedrängter, aber dennoch eiliger Schrift bedeckt war. Sie begann das Blatt zu falten. »Das letzte Mal sah ich diese Stromschnellen vor zweihundert Jahren«, erinnerte sie sich. »Ist mein Besuch angemessen vermerkt worden?« Zündhölzer, die für Alvars Pfeife gedacht waren, lagen lose auf dem Schreibtisch. Sie riß ein Streichholz an, hob den Papierflieger
auf und entzündete einen Flügel. Sofort warf sie ihn durch das offene Fenster. Brennend segelte er davon. Alvar stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Ach, das geht viel zu langsam.« Lucky griff ein komplettes Bündel, steckte eine Ecke in Brand und warf es hinaus. »Nicht!« flehte Alvar. »Das ist die Geschichte Eurer Herrschaft.« Die Bitte zeigte keinerlei Wirkung. »Kann ich mich nicht selbst an das erinnern, was mir wichtig ist?« »Nicht!« krächzte Alvar. »Osmo ist kein Langlebiger!« »Was?« Ihre Raserei hörte auf. Lucky schrie nach dem Kuckuck, der die Nachricht von Gunthers Hochzeit überbracht hatte. Kuck-kuck, wo immer er stecken mochte! Kuuuuu-kuck! Sie riß sich die Hand an einem Dorn des Sitzes auf und färbte den Schnee blutig. Als er eintraf, beäugte der schuppige grüne Vogel das Studierzimmer und die Menschen darin mit seinen großen, gelben Augen, während er die Ohren gespitzt hatte. Welche Fülle von stummem gekritzeltem Klatsch dieser Raum enthielt – und jetzt auch weiterhin enthalten würde. Der Vogel jedoch kannte nur das gesprochene Wort. »Erzähl in Burg Kippan«, sagte Lucky zum Klatschvogel, »daß Osmo van Maanen gar kein Langlebiger ist. Seine Minni war zu klein für ihn!« »Nein, das stimmt nicht«, brummte Alvar unglücklich. Lucky drehte sich wütend zu ihm um, der in seinem Schau-
kelstuhl saß. »Woher wollt Ihr es wissen? Habt Ihr durch ein Schlüsselloch gelugt, um alles für die Nachwelt festzuhalten?« Die Königin lachte verrückt. »Ihr Schlüsselloch war zu winzig, also benutzte er statt dessen ihr Arschloch. Weil er ein Arsch ist. Und sie ist das Arschloch. Vogel, erzähle, daß er kein Langlebiger ist, weil er es verpatzt hat.« Sie starrte auf ihre Hand, die bereits zu heilen begann. Ihre Hand näherte sich einem Bündel Manuskripte. »Ihr wißt wirklich nicht genau, auf welche Weise er es verpatzt hat?« »Ich schwöre, daß ich nichts darüber weiß«, sagte Alvar. »Wollen wir doch mal sehen«, wandte sich Lucky an Jatta. »Gemeinsam müßten wir es eigentlich herausbekommen. Meinst du nicht auch? Wenn Mutter und Tochter die Köpfe zusammenstecken? Dann werde ich mich nicht mehr so allein fühlen.« Um einen solchen Druck abzumildern, hätte die junge Jatta vor Jahren wahrscheinlich beteuert: »Ich liebe dich, Mami, ich liebe dich.« Jetzt flüsterte sie nur: »Paula.« Wo war das andere Ich, das gute und geistig gesunde Ich? »Flieg, Vogel, flieg!« befahl Lucky. Sie wedelte mit etwas Papier herum, legte es jedoch wieder zurück, als der Vogel gehorsam aufflatterte. Draußen glitzerte die Landschaft – als wäre die Himmelssichel herabgesunken und hätte sich über Stadt und Land gelegt. Der Mittag war eher silbern als golden. Eine schmutzige Wolkenbank dräute jedoch in der Ferne. Bis zum Abend in wenigen Stunden würden weder eine Sichel noch Sterne zu sehen sein, sondern nur Flocken in Finsternis wie Schnee aus Ruß.
21 Näkkis auf dem Teppich
Zuerst widerstrebte es Golda, sich von Wex überreden zu lassen, obwohl der Mann mit den zwei Bewußtseinen ihr gesagt hatte, wo sie Bernsteinmann finden würde, und ihr sogar sein Pony überlassen hatte. Sollte ihre kurze Idylle schon so schnell durch die Verwicklung in menschliche Angelegenheiten unterbrochen werden – und zwar in das Schicksal der van Maanens, aus deren Nähe sie durch einen so zwingenden Bann vertrieben worden war? Jetzt waren Fürst Osmo und seine kleine Frau ihr bis hierher gefolgt. Sie selbst waren gezwungen gewesen, sich auf eine unerwartete Reise zu begeben. Die Umstände des Krieges waren Golda unklar. Sie hatte auch nicht den Wunsch nach einer schärferen Perspektive. Daß Fürst Osmo unter ihren Einfluß geraten sollte, daß er auf sie angewiesen war! Genau das war einst ihr Ziel gewesen. Wenn auch nicht ihr persönliches Ziel. Sondern das Ziel ihrer erlauchten Meister. Niemals hatte eine Stimme in ihrem Geist geflüstert, um sie zu Osmos Verführung zu drängen. Die Meister hatten sich auf Goldas Loyalität verlassen. Sie war gezüchtet, ausgebildet und vorbereitet worden. Jarl war ebenfalls loyal gewesen – loyal genug! Loyal im Status eines Juttahat, genauso wie sie. Weder er noch sie konnten sich vorstellen, sich jemals mit ganzem Herzen mit diesen wilden Menschenwesen zu identifizieren. Dennoch war sie nicht verbindlich gezwungen
gewesen, ihren Auftrag auszuführen, genausowenig wie Jarl. Sie hatte sich dazu entschieden (und hatte versagt). Die Hoffnung, die sie insgeheim angetrieben hatte, war vergebens gewesen. Sie hatte sie verloren, nachdem Fürst Osmo sie so grausam besprochen hatte. Dennoch stimmte es, was Wex sagte. Osmo hatte sie auf den Weg zu ihrer Erfüllung gebracht, zu einem erstaunlichen Höhepunkt, und zwar mit Bernsteinmann. Osmo hatte sie zufällig auf diesen Weg geführt, nicht in weiser Voraussicht. Seine Absicht war nicht ihr künftiges Glück gewesen, sondern ihre endlose Verzweiflung. Osmo war zu mächtig gewesen, als daß Golda ihn in ihre Falle locken konnte, nachdem seine Gemahlin Alarm geschlagen hatte! Jetzt, wo er durch Krankheit geschwächt war, konnte sie ihn mit ihren Gerüchen und Gesängen bedrängen. Man lud sie sogar dazu ein, um ihn zu heilen! Jetzt winkte ihr der Erfolg. Doch als Osmo das Goldmädchen noch grausamer behandeln wollte, hatte die junge Rebellenkönigin eingegriffen … Wex deutete an, daß Schulden zurückgezahlt werden sollten, einschließlich der Schuld ihm selbst gegenüber. Er flehte sie schließlich an: »Tut es um der Liebe willen.« Um der Liebe willen, die sie in Bernsteinarmen gefunden hatte und die genauso einzigartig war, wie sie selbst zuvor einzigartig (und einsam) gewesen war, trotz ihrer Illusionen hinsichtlich Tomi. Tut es um der Liebe willen. Auch um einer anderen Liebe willen, hatte sie vermutet. Einer vergeblichen Liebe willen, die dieser doppelgeistige Mann für Minni hegte. Wex hatte von allen Menschen, die sie kannte, die größte
Ähnlichkeit mit einem Juttahat, obwohl in Wahrheit kein anderer Juttahat als Jarl ihr jemals vertrauter sein konnte – oder hätte sein können. Warum wurde Wex von seinem anderen Ich nicht umsichtiger kontrolliert? In einer anderen Hinsicht war es sein überlegener Herr, wie sie festgestellt hatte. Ihre Begegnung hatte in einem Empfangszimmer im Mädchenhaus stattgefunden. Als Wex eintrat, hatte sie gerade Glaswaren entstaubt und ein schwarzes Kleid mit weißer, spitzenbesetzter Schürze und Haube getragen. Ein Feuer aus Holzscheiten schwelte in einem offenen Kamin auf einem Granitsockel, ohne die Kälte lindern zu können. Doch dem Goldmädchen machte die kühle Luft überhaupt nichts aus. Ihr war immer noch heiß von Bernsteinmanns Umarmungen am frühen Morgen, bevor ihr Liebhaber sich verabschiedet hatte, um zwischen den verschneiten Bäumen des Arboretums umherzuwandern, so nackt und golden wie immer. Sollte ihrem Bernsteinmann die Kälte etwas anhaben können, wenn sein Körper nicht aus gewöhnlichem Fleisch, sondern aus Harz bestand? Als Wex seiner Bitte Nachdruck verliehen hatte und gerade gehen wollte, nahm er noch einen Holzscheit vom Vorratshaufen und legte ihn auf das Feuer. Vielleicht tat er es, um seine Tatkraft zu unterstreichen. Daß er wußte, was unter den Umständen am besten zu tun war, weil männliche Wesen oft besitzergreifende Gefühle entwickelten, wenn es um Feuer ging. Der Scheit war jedoch aus Minzholz. Minzholz hätte sich eigentlich nicht unter den Brennstoffvorräten befinden sollen. Der Scheit flammte sofort hell und heiß unter seiner Hand auf. Ein süßlicher, frischer Geruch erfüllte
die Luft und vertrieb beinahe den Gestank des Mustoreums. Wex war zurückgesprungen, doch ohne einen Schreckensschrei auszustoßen. »Verdammt«, murmelte er nur. Das war alles. Er spürte den Schmerz nicht, obwohl seine Hand versengt aussah! Er durfte nicht gehen, bevor sie seine Gründe kannte. Wie sonst sollte sie hinsichtlich seiner Bitte zu einer Entscheidung gelangen können? Ein Geständnis drängte aus Wex heraus. Nachdem er Golda sein Reittier überlassen und sich von ihr getrennt hatte, hatte er den Kuckuck auf seiner Schulter getötet, worauf ihn Mana-Feuer eingehüllt hatte. Ein heftiges Brennen quälte seine Nerven ohne Unterlaß. Sein anderes Ich hatte ihn von jeder körperlichen Empfindung sowie von Geruch und Geschmack abgeschnitten. Er war ein Geschöpf, das nur noch hören und sehen konnte, das nur noch aus Ohren und Augen bestand. Kein Wunder, daß er lieben mußte – impotent und vergeblich! Eine Kontrolle, wie sie seine innere Stimme über ihn ausübte, mußte ihm einen gewissen Grad von Freiheit lassen, damit seine Einkerkerung in einen tauben Kadaver nicht unerträglich wurde. Sie sollte sich nur einmal vorstellen, sie könnte die Zärtlichkeiten ihres Bernsteinmannes nicht spüren, weder den Rhythmus seiner Glieder noch die Regungen des embryonalen Mädchens in seinem Leib, das seinen Körper bewegte, so daß seine Entladung, wenn er in Golda eingedrungen war, wie das Vergießen von Elfentränen war … Tränen der Freude, ein Strom aus flüssigem Bernstein, Perlen aus duftendem Harz, die an einem geheimen Ort innerhalb des Goldmädchens zurückblieben, ohne weitere Folgen zu zeigen außer einer leuchtenden
Klarheit. Nicht riechen zu können, nichts spüren zu können! Ach, wenn sie Wex nur von seiner grausamen Einschränkung befreien könnte, die der schlimmste denkbare Bann sein mußte. Sie, die eine Woche und einen Tag lang mit Taubstummheit geschlagen war, konnte das Elend nachfühlen, das er so tapfer vor anderen verbarg. Doch wenn sie sich in diese Dinge einmischen sollte … Zuerst mußte sie sich mit ihrer Herrin beratschlagen. Sie war mit Tilli in einen Raum gegangen, der früher einmal ein Kinderzimmer gewesen war. Heutzutage war der Raum ohne Möbel, abgesehen von einem hohen Ofen mit rosafarbenen Kacheln. Der größte Teil des Fußbodens war mit einem Teppich bedeckt, auf dem kleine Holzschnitzereien von Waldnäkkis verteilt waren. Tilli spielte mit diesen Figuren ein Spiel, das bereits mehrere Jahre währte. Das Muster des Teppichs bestand aus den Umrissen von Bäumen, die sich verzweigten und entzweigten, ein Labyrinth aus gekrümmten und gewundenen Wegen. Tilli bewegte ihre kleinen Holzpuppen über diese Pfade, um eine Geschichte darzustellen, die schon so kompliziert geworden war, daß vielleicht nur noch Näkkis sie verstehen konnten, eine Erzählung von Liebe und Verrat und Ehrgeiz und Streit und Versöhnung. Tilli unterbrach gelegentlich ihre leise gemurmelte Geschichte, um den einen oder anderen ihrer Näkkis zu befragen, und gab dann mit piepsiger, schroffer oder zarter Stimme Antwort. Auf dem Teppich befanden sich außerdem mehrere kleine Stücke aus poliertem Achat, Onyx und Lapislazuli, ima-
ginäre magische Steine, die angeblich die Macht verliehen, einen Bann zu bewirken oder sich davon zu befreien. Der Teppich war eine verbotene Zone. Nur Tilli durfte sie betreten. In ihrem grünen Gewand kniete Tilli auf einem dicken moosgrünen Samtkissen. Auf einem zweiten Kissen, das genauso wie das erste aussah, saß mit hängender Zunge der cremeund schokoladenfarbene Spaniel. Der Spaniel hörte zu, wie sich Tillis Geschichte weiter entfaltete. Für Aus gab es wenig Hoffnung, viel davon zu verstehen, doch das Tier war dankbar, ihr Publikum sein zu dürfen, und knurrte gelegentlich ein barsches Wort vor sich hin. Heute war es anders. Fast in der Mitte des Teppichs stand eine entzündete Kerze in einem hölzernen Eierbecher. Neben der Kerze waren mehrere Figuren umgefallen. Tilli wirkte verdutzt. »Lippa und Lakaria und Rebstock sind tot«, wandte sie sich verzweifelt an Golda. »Brennt deshalb die Kerze?« fragte das Goldmädchen. »Ich habe ihren Tod niemals gewollt … Es war Muski, der auf der Kerze bestand. Dann sind alle drei auf einmal gestorben.« Tilli beugte sich zu einer knorrigen Figur vor, deren goldene Locken wie flauschiges Laub herabhingen. »Du hast doch darauf bestanden, Muski, nicht wahr?« Mit leisem Krächzen gab sie sich selbst Antwort. »Ach, dieser verfluchte Krieg.« »Krieg«, knurrte Aus. »Vielleicht werden sie wieder lebendig …« Das Goldmädchen kniete sich neben ihre Herrin auf das harte Parkett. »Wieder lebendig …« Tilli runzelte die große Stirn. »Eigent-
lich haben sie niemals richtig gelebt, außer in meiner Phantasie.« Was für eine Phantasie sie hatte! Tilli, die nach außen hin so forsch und sogar kokett wirkte, führte dieses geheime Leben und erzählte sich selbst in ihrem ehemaligen Kinderzimmer eine verwickelte Geschichte. Es schien immer noch ein Kinderzimmer zu sein. Doch sie hatte sich während ihres Geschichtenspieles niemals Illusionen hingegeben. Vielleicht hätte sie längst damit beginnen sollen, ihre ausufernde Erzählung jemandem zu diktieren, der sie niederschreiben konnte. Vielleicht hätte sie sie als Buch drucken lassen sollen. Welcher Ort wäre dazu besser geeignet als Burg Kippan? Dieses Buch wäre vielleicht genauso umfangreich oder sogar noch umfangreicher als das Buch des Landes der Helden geworden … Als ihr zum ersten Mal diese Idee gekommen war, war ihre Geschichte schon seit mehreren Jahren in vollem Gang. Sie konnte unmöglich wieder an den Anfang zurückgehen. Wer außer ihr wüßte über den Ausgangspunkt Bescheid? Und ohne diese Voraussetzungen würde einem Publikum jedes Verständnis für die folgenden Verzweigungen entgehen. Man stelle sich vor, Geschichtenerzähler würden sich Tillis Sage einprägen, um sie in den dunklen Tagen und Nächten des Winters vorzutragen! Dann könnte diese Näkki-Legende Einfluß auf das Leben der Menschen von Kaleva nehmen und sogar in Konkurrenz zum Buch des Landes der Helden treten! Das war nicht ihre Absicht. Tillis Sage war eine private Zuflucht, die ihr ein angenehmes Gefühl der Unabhängigkeit verschaffte. »Ist ein Teil meiner Phantasie gestorben?« fragte sie das A-
lien-Goldmädchen. »Ich hatte niemals Mana-Macht in mir, Golda. All mein Mana liegt hier auf dem Teppich. Soll ich die drei jetzt in den Ofen werfen? Muski hat auf der Kerze bestanden – als neue Art von Zauberstein! In Wirklichkeit habe ich letzte Nacht von dieser Kerze geträumt. Ich träumte, daß unsere Tammiholzburg in flüssiger Erde und flüssigem Fels schwamm, wie in geschmolzenem Wachs. Jetzt habe ich Lippa und Lakaria und Rebstock sterben lassen. Nicht daß ich Rebstock je besonders gemocht habe, aber … etwas ist zu Ende gegangen«, flüsterte sie. »Meine Geschichte, glaube ich!« »Wenn ich die Geschichte gut genug kennen würde«, sagte Golda, »könnte ich Euch vielleicht dabei helfen, sie endlos fortzusetzen. Ist darin niemals zuvor jemand gestorben?« »Ich wollte meine Freunde nicht verlieren, meine NäkkiStimmen! Auch wenn ich nicht alle gleichermaßen mag. Ich will keinen Tod, Golda. Nicht einmal den Tod eines Hundes! Manchmal haben sich meine Näkkis verändert. Aber jetzt sind drei tot. Ich kann sie nicht zurückholen. Was hat diese Kerze überhaupt zu bedeuten? Sie ist das Licht am Ende meiner Geschichte.« Sicherlich war Tilli daran gelegen, daß es van Maanen wieder besserging. Wenn Golda versuchte, Osmo durch ihre Gerüche und Gesänge zu heilen – indem sie wieder die Isi-Harfe spielte! –, würde Tillis Vater dann eine solche Intervention als Einmischung der Aliens betrachten, die für ihn eine Gefahr darstellen könnte? Nur als Vorspiel, dem irgendwann der Tag folgen würde, an dem das Goldmädchen die überdachte Brücke überquerte, um den Hauptteil der Burg zu betreten und Unheil über Fürst Kippan zu bringen? Golda könnte es nicht ertragen, von
hier fortgejagt zu werden. Trotz der Verzweiflung ihrer Herrin über den Tod dreier Figuren aus ihrer Geschichte, schnitt Golda ihr eigenes Problem an. »Osmo böse zu Aus!« kläffte der Spaniel. Die Hündin schüttelte sich und zeigte ihr Halsband aus Granatsteinen. »Osmo krank und krank!« Das Goldmädchen entließ einen Duft goldener Gelassenheit, worauf der Spaniel seufzte und Tilli ebenfalls. »Versucht Ihr mich in Euren Bann zu ziehen?« fragte Tilli mit einem traurigen Lächeln. »Oder wollt Ihr meinen Rat hören?« »Euren Rat, Herrin. Als Eure getreue Magd.« »Und als eigenständiges Wesen. Genauso wie ich.« Tilli betrachtete die gestürzten Näkki-Figuren und die Kerzenflamme. »Selbstsüchtigkeit«, verkündete sie, »entsteht nur, wenn ein Mensch nicht über genügend eigenes Selbst verfügt. Solange es nicht zu üppig wird, ist es großzügig. Man steckt eifersüchtig sein Zwergenselbst in ein Korsett, worauf es ein wenig mehr einschrumpft, obwohl es fester und stärker wirkt. Mein Vater ist leider so, obwohl er so jugendlich und robust aussieht. Diese Burg ist sein Korsett. Ich sage das, obwohl ich ihn liebe.« Ihr Vater konnte Osmo und Minni nicht davon abhalten, hierherzukommen, weil er sich innerhalb dieses Korsetts befand, in das er sich selbst gezwängt hatte, wie eine Auster in ihrer festen Schale, während Wellen durch sein Reich brandeten. Die Forts wurden ständig umgebaut, und Holzmänner patrouillierten pflichtbewußt, obwohl das Zentrum immer verletzlicher und ängstlicher wurde. »Auch für Osmo ist Schwäche etwas … Erbärmliches. Ich
glaube, mein Vater sollte das erkennen. Hört zu, Golda: Falls nötig, werde ich Vater erzählen, ich hätte Euch gebeten, Osmo zu helfen. Andernfalls könnte unsere Schale zerbrechen! Ich werde Vater erzählen, Ihr hättet geschworen, keine Eurer Schliche einzusetzen und« – sie lächelte wehmütig – »keinen Eurer Düfte, aber ich habe Euch überzeugt, meine Alien-Magd, ich habe Euch überzeugt. Aber was mache ich mit Rebstock und Lippa und Lakaria? Lasse ich die Kerze zu einem Teich aus heißem Wachs herunterbrennen?« »Tilli!« Die Tür hatte sich geöffnet. Tillis Mutter schwebte herein, in dunkelstes Purpur gekleidet, dunkler als das Holz der Burg. Wann hatte sie jemals zuvor diesen Raum betreten? Ihre schlanke Knochigkeit ließ sie größer wirken, als sie war. Edith Sariola war die dünnste Prinzessin seit Generationen gewesen, einstmals ein graziler und anmutiger Sprößling. Edith war durch das Wissen ausgetrocknet, daß sie einem ehemals vitalen Ehemann das Leben verliehen hatte – nur damit er ihr Geschenk sorgsam wie ein Geizhals bewachte, statt daraus Nutzen zu ziehen. Tapper Kippan würde noch den jüngsten Schößling in seinen Wäldern überleben (und sie selbst natürlich, auch sie selbst), doch war sein Leben kaum mehr als ein Vegetieren. Inzwischen wagte er sich nicht einmal mehr mit seinen hölzernen Wachen bis zum Arboretum, das eine Miniatur-Nachbildung seines Reiches war. In seiner verrammelten und verriegelten Zimmerflucht gab sich Tapper euphorischen Drogen hin, die aus einem Pilz von den heißen Quellen stammten. Abgesehen vom Entzücken bestand die gewünschte Wirkung darin, daß die Zeit für ihn schneller verging. Ein Tag
schien kaum länger als eine Stunde, obwohl er übervoll mit Vergnügungen war. Es war, als würde er der übrigen Welt davonlaufen, während er gleichzeitig auf entzückende Weise all das komprimierte, was für gewöhnliche Sterbliche eine kostbare Seltenheit war. Durch vertrauenswürdige und privilegierte Verwalter (nicht einen, sondern eine ausgewogene Gruppe von Verwaltern) hielt Tapper die Zügel seines Reiches in der Hand, damit der Friede nicht gefährdet wurde. Die jüngsten Ereignisse waren für seine Begriffe viel zu schnell erfolgt, als daß er sich bereits für eine Politik hätte entscheiden können. In Tillis Gegenwart – die so jung wie seine Frau früher einmal war – verhielt er sich nachsichtig und sogar überschwenglich. Und Edith … nun, unter anderen Umständen hätte sie ihr gutes Aussehen vielleicht problemlos durch ihr mittleres Alter hindurchretten können. Doch jetzt schien sich auf ihrem Gesicht eine neue Falte für jede abgelaufene Woche eingegraben zu haben, und sie sah sich selbst als das Opfer für Tappers weltabgeschiedener Glückseligkeit. Tappers Haar war so golden wie Tillis – und das der zwei älteren Töchter, die bereits verheiratet und fortgegangen waren, worüber Edith insgeheim sehr froh war. Ediths dunkleres Haar war angegraut. Tapper schenkte ihrer Melancholie schon lange keine Beachtung mehr, außer in flüchtigen Augenblicken. Er hatte ihr die Droge angeboten, damit auch sie ihre Tage beschleunigen konnte. Sie hatte abgelehnt, weil sie entschlossen war, jeden verdrießlichen Augenblick zu ertragen und nicht zu seiner Annehmlichkeit überstürzt voranzueilen. »Spielst du wieder mit deiner Alien-Magd, was?« fragte Edith in der dumpfen gesenkten Stimme voller Selbstmitleid, das so
leicht in anklagenden Tadel umschlagen konnte. »Ich behaupte, daß sie genauso privilegiert ist wie … ein sprechender Hund. Du gewährst durchaus deinen Segen, nicht wahr, Tochter? Wenn du Fürst Osmos Herz gewonnen hättest, wäre es niemals zu all dieser Gewalt in unserem Wald und den Pestfliegen und dem Gestank gekommen. Du mußt bald heiraten. Heirate und überlasse mich meinem Elend. Sogar ein aus der Art geschlagenes Alien-Mädchen kann einen Bernstein-Näkki heiraten. Ist sie für dich kein Beispiel?« Edith rümpfte die Nase. Golda hielt ihren Blick gesenkt. Edith fuhr in schärferem Tonfall fort: »Deshalb habe ich deinem Vater geraten, dir zu erlauben, dieses Alien-Mädchen in deine Dienste zu nehmen und daß ihr Geliebter sie hier im Mädchenhaus besucht. Hast du es nicht erkannt?« Tilli bezweifelte, daß dies die Wahrheit war. Doch sobald ihre Mutter einmal etwas als Tatsache behauptet hatte, glaubte sie voll und ganz an die Wahrheit dieser Tatsache – zumindest so lange, wie sie nichts Gegenteiliges behauptete. Tapper hörte kaum noch auf Edith. Edith jedoch mußte so tun, als würde er es. »Deshalb macht es mir nichts aus, daß all diese Schläger durch unser Territorium streifen. Wo Krieg ist, herrscht gleichzeitig auch eine gewisse Zwanghaftigkeit. Es kommt zu plötzlichen Ausbrüchen der Leidenschaft. Es ist höchste Zeit, daß du aufhörst, mit Puppen zu spielen, Tilli. Immer noch Jungfrau, also wirklich!« Tilli blickte auf. »Ach, vielleicht bin ich es gar nicht mehr, Mutter.« »Wie meinst du das? Bereitet dein Goldmädchen dir heim-
lich Freuden – mit einer Kerze in der Hand?« Tilli errötete mit einem Zorn, der ihr bislang unbekannt gewesen war. Ihre Mutter war diesmal mit ihrer Verbitterung zu weit gegangen. Viel zu weit. Es war höchste Zeit, daß sie aufgeklärt wurde. »Ich werde es dir verraten, Mutter«, rief Tilli. »Ich habe bei Soldaten gelegen, die den Schwur des Holzes ablegen und den Saft trinken sollten! O ja, ich habe es mehrere Male getan. Mit Soldaten, die uns Kippans treu ergeben sind. Sie schätzten, was ich getan habe – und anschließend konnten sie keinerlei Ansprüche mehr erheben. Denn sie standen kurz vor dem Übergang in eine andere Existenz. Richtig? Ja, Mutter, das habe ich getan – um das Gefühl auszukosten.« Edith schwankte außer sich. Sie taumelte auf den Teppich mit den verzweigten Pfaden zu. »Nein!« rief Tilli. »Es tut mir leid …« Ihre Mutter warf hölzerne Figurinen um. »Hör auf, du zerstörst meine Geschichte – es tut mir leid!« »Hure!« rief Edith. Sie zertrat einen Näkki unter ihrem Schuh und versuchte das Holz ins Webmuster zu drücken. »Nein!« kläffte Aus. Der Spaniel stürzte sich auf Ediths Fußknöchel. Die Kerze kippte aus dem Eierbecher. Weißer Rauch schwebte über dem gesamten Teppich. Oder war es weißes Feuer? Tilli und Golda kamen auf die Beine. Edith kreischte und befreite sich mit einem Fußtritt. Der Rauch war eher wie kochende, dampfende Milch. Aus zog sich bellend zurück. Einen Augenblick lang wirkte der Teppich wie die Spitze einer riesigen glühenden Kerze, ein geschmolzener See aus siedendem Wachs und farblosem brennenden Gas. Im
nächsten Augenblick schwebte nur noch ein Lichtschein über dem Gewebe. Eine umgestürzte Kerze war nicht mehr darin zu sehen, nur noch ein leerer Eierbecher. Das Goldmädchen sang Alien-Worte, zischend und knackend. »Mana«, stöhnte Edith. »Mana. Ich habe niemals geahnt, daß es in deinem Spiel darum geht. Meine Tochter eine heimliche Schamanin! Mit einer Jutti als Lehrling. Oder ist es andersherum? Hat dein Goldmädchen dich eingeweiht?« »Nein!« rief Tilli. Im Lichtschein regten sich winzige Näkkis. Hölzerne Figuren begannen sich zu bewegen. Die umgestürzten Figuren standen wieder auf. »Lakaria! Lippa! Rebstock …!« Leise Stimmen drangen schnatternd auf Tilli ein, und sie hielt sich die Ohren zu. Die Protagonisten ihrer langjährigen Geschichte waren zum Leben erwacht, als winzige schelmische Näkkis. Miniaturblumen sprossen aus dem Teppich, mit Herzen aus sonnigem Eidotter und Kränzen aus weißen Blütenblättern – ein Wald aus Gänseblümchen –, als hätten schlummernde Samen im Humus aus Staub gelegen und darauf gewartet, daß sie nicht durch Feuchtigkeit, sondern durch wächsernes Licht zum Keimen gebracht wurden. Winzige Würmer wanden sich, als wären auch Insekteneier geschlüpft. Nein, das waren Isi, wenn auch winzig kleine. Der Teppich schien sich emporzuwölben, wurde zu einem Hügel, als sich die Luft wie unter einer Linse verzerrte. Näkkis flitzten über die Pfade des Teppichs durch den Blumenwald, den Hügel
hinauf und hinunter, jagten sich gegenseitig die Umrißlinien entlang, während Tillis Geschichte völlig aus dem Ruder lief. »Nein, halt!« schrie sie. Halt, bevor ein Näkki vom Teppich in den Rest des Raumes gelangte. Der Spaniel Aus sprang auf das emporgewölbte Gewebe und wütete. Die Hündin schnappte mit den Zähnen nach einem Näkki. Sie schüttelte ihn wild, zerbiß ihn und warf ihn beiseite. Sie packte noch einen und dann noch einen. Aus fiel wie ein Monstrum über sie her – ein Ungeheuer mit einem Halsband aus Juwelen. Das Schreien ihrer Opfer war ein unverständlicher Chor, heiser und leiser. Urplötzlich verflüchtigte sich der Lichtschein. Es war wie eine Welle, die brach und sich zischend verlief. Aus floh vom Teppich, als dieser sich senkte. Die Gänseblümchen wurden zu grauen Spinnweben, die zu Staub zerfielen. Würmer wurden wieder zu Fäden. Die Figuren lagen wahllos verstreut da, viele von ihnen ohne Beine, Arme oder Köpfe. Mit jeder Vernichtung eines Näkkis zwischen den Kiefern des Hundes schien ein Funke in Golda zu dringen – und ein Hauch der Inspiration. Sie spürte, daß ihr ein furchtbarer Segen zuteil geworden war. Sie wiederum mußte nun Segen spenden, um sich von dieser gleichzeitig wunderbaren und erschreckenden Aufladung zu befreien. Sie konnte sie nicht für sich behalten. Sie hatte bereits ihren Bernsteinmann. Bernsteinmann war alles, was sie brauchte. Sie mußte diese geschenkte Gabe unbedingt weitergeben. An Osmo. Und an Wex. Um zu geben. Aber nicht, um jemanden zu kontrollieren oder zu beherrschen. Sie mußte den Segen mit vollkommener Güte gewähren. Güte war das
Wesen der Geschichten gewesen, die Tilli gewoben hatte und die auf so unheimliche Weise zum Leben erweckt wurden. Tilli keuchte. Ihr war mehr und mehr die Luft knapp geworden, während die ineinander verworrenen Leben ihrer Figuren verlorengingen. Der Spaniel keuchte auch. Gebeugt drückte sie Aus an sich. Sie blinzelte Edith durch ihre Locken hindurch an. Ihre Mutter suchte nach einem Ort, wo sie sich setzen konnte, damit sie nicht den Halt verlor. Edith torkelte zum Kachelofen und ließ sich daneben zu Boden gleiten, den Rücken gegen die Wandtäfelung gelehnt. Es stimmte, was Tilli ihrer Mutter über die Soldaten gesagt hatte. Doch sie hatte längst nicht alles über diese Erfahrung erzählt. Einige Jahre, bevor sie Aus erworben hatte, war sie durch das Arboretum gestreift, ganz allein, denn wer sollte ihr etwas antun? Ein junger Kerl hatte sich in der Nähe eines MutapuBaumes herumgetrieben und leise geweint. Er sollte am nächsten Tag zu einem Holzmann werden. Er hatte darum gebeten, einer werden zu dürfen, weil ihn die Bewohner seines Dorfes, Jungen und Mädchen gleichermaßen, auf grausame Weise geächtet hatten. Der Junge betrauerte die Gewißheit, daß er nun niemals erleben würde, wie es war, in den Armen einer Frau aus Fleisch und Blut zu liegen. Und schon bald würde es ihm gleichgültig sein. Nun floß sein Kummer in wehmütigem Abschied aus ihm heraus. Er hatte auch davon gehört, daß die Holzmänner im Schlaf glückliche Träume hatten. Wenn er sein gequältes Fleisch aufgab, würde er vielleicht sein Glück in Traumillusionen finden.
Spontan bot sich Tilli ihm an. Der junge Mann wußte nicht, daß sie Kippans Tochter war. Er glaubte, sie sei ein Näkki aus den Wäldern, eine Vorbotin der Verwandlung, die er morgen durchmachen würde. Sie gab sich ihm willig hin. Und das war auch Tillis erstes sexuelles Erlebnis gewesen. Der Junge hatte voller Erstaunen das Jungfernblut an ihren Schenkeln und die rote Salbe auf seiner Gerte betrachtet und schließlich erkannt, daß sie kein Näkki war. Er war tief gerührt über ihre Großzügigkeit, eine Wohltätigkeit, die seine Selbstaufopferung noch schmerzlicher machte. Er hatte seinen Kopf auf ihre bloßen Lenden gelegt, während sie sein Haar streichelte, hatte ihren Intimgeruch mit zärtlicher Wonne eingeatmet, im Bewußtsein, daß er bald unwiderruflich erhärtet sein würde. Zweimal hatte sie danach noch junge Männer am Vorabend ihrer Verwandlung erwählt, um ihnen zu helfen, Abschied zu nehmen. Doch ein regelrechter Ehemann war etwas ganz anderes. Ihm müßte sie sich nicht hingeben, er würde sie nehmen. Was war ihr in diesem Raum gegeben worden? Und was genommen? War dieser Augenblick ein Ende – oder der Anfang von etwas Neuem? Eine Kerze, die sich durch einen Alptraum heraufbeschworen hatte, war übergelaufen. Ihre Geschichte war vorbei. Ihre Bestandteile waren aus dem Teppich hervorgebrochen und lagen nun in Trümmern verstreut herum. Die Geschichte hatte so unverhofft geendet, daß es Tage dauern würde, bis sie ihre Abwesenheit richtig erfaßt hatte. Ihre Alien-Magd schien vor Tatendrang überzuquellen. Sollte Tilli nun wie der junge Mann kurz vor der wundersamen Erfüllung weinen?
Minni griff zwischen ihren Beinen in die Schublade unter dem Elfenbeinthron, um die silberne Harfe hervorzuholen. Sie schlug die Saiten an. Akkorde erklangen. Osmo seufzte. »Ich denke, das werdet Ihr brauchen«, sagte Minni zum Goldmädchen. Golda hatte nicht wieder ihr verführerisches kurzes Gewand angelegt, sondern trug immer noch die Kleidung eines Hausmädchens, vermutlich als Zeichen ihrer guten Absichten. »Ich bin Euch dankbar«, fügte Minni hinzu. (»Nun, ich werde dankbar sein«, schränkte sie leise sein, »falls alles gut ausgeht.«) In der Haltung und im Gesicht des Goldmädchen zeigte sich kein besonderes Verlangen nach dem Instrument. Keinerlei ungezügelte Gier. Trotzdem war sie angespannt, als sie Osmo betrachtete, der erschöpft in einem Ledersessel ruhte, in einen dicken Wollmorgenmantel verpackt – und Wex ebenfalls, den Mittelsmann dieser Unternehmung. Wex hatte sich tief in seinen grünen Gabardinemantel gehüllt, obwohl er weder Kälte noch Wärme verspüren konnte. Tatsächlich war es warm im Thronsaal. Wex spielte bei dieser Vortäuschung der Normalität mit und betrachtete Minni mit einem wohlmeinenden Blick. Zwei Öllampen brannten. Die Vorhänge waren zugezogen, um die Nacht und den wirbelnden Schnee vor den Fenstern auszusperren. Die Türen waren verriegelt. Es sollte keine Störungen und keine Unterbrechungen geben. Osmo rührte sich. »Ich habe Euch etwas unbeherrscht behandelt«, sagte er zum Goldmädchen und zuckte dabei leicht zusammen. Sie strahlte. »Ach, das ist längst vergessen. Ihr habt mir den Weg zu meinem Glück gezeigt. Ihr hättet mich dazu besprechen
können, nicht mehr zum Atmen in der Lage zu sein, damit ich ersticke. Jetzt muß ich Euch wieder einzulullen versuchen, um die Krankheit in Euch zu betäuben. Wenn ich kann! Um die Krankheit widerstandslos herauslocken zu können. Um das Feuer des Mana wieder in Euch zu erwecken.« »Ich werde … mich entspannen«, versprach Osmo unbehaglich. Golda hatte Wex einen Blick zugeworfen, als hätte sie vor, irgendein Doppelspiel zu spielen. »Habt Vertrauen«, flüsterte Wex. »Ich habe es auch.« »Nun, Ihr habt ja auch Euren eigenen Berater!« brummte Osmo. Minni lächelte aufmunternd und mit uneingeschränkter Zuneigung. »Wenn ich einmal begonnen habe«, sagte Golda, »versucht bitte nicht mehr, mir Einhalt zu gebieten. Versucht auch nicht, in mein Drängen einzustimmen, Prinz Osmo. Auch nicht Ihr, Königin Minni.« »Ihr werdet den Ursprung meiner Krankheit erkunden müssen …« »Ich weiß, ich weiß.« »… und zwar gründlich. Wißt Ihr genügend darüber?« »Roger Wex hat mich mit den Einzelheiten vertraut gemacht, Prinz, einschließlich dessen, was die Kuckucke verlautbart haben.« Wirklich alle Einzelheiten? Auch sein Mißlingen, die Langlebigkeit zu gewinnen? Wex wußte nichts davon. Oder? »Ich bin eine vollendete Sängerin.« Osmo gab ihr mit einer schwachen Geste zu verstehen, daß sie anfangen sollte. Er atmete flach. Ein paar Augenblicke lang wurde die silberne Harfe gemeinsam von der menschlichen Frau und dem goldenen Alien-Mädchen gehalten. Behutsam
und allmählich nahm Golda das Instrument aus Minnis Händen entgegen. Sie begann, die Wirbel und Schrauben zu justieren. Mädchen des Schreckens, Töchter des Grauens, Sandten die Fliege, die in sein Ohrläppchen biß, Die sein Blut mit Gift verunreinigte, Tückische Toxine, verhängnisvolle Viren, Die an den Nieren des Prinzen nagen. Sie verursachen Blutungen und rosa Urin, Berauben ihn seiner Mana-Macht, Ersticken all seine Besprechungen. Gift und Galle, Qual und Pein Sind die Namen der vier Kobolde, Töchter einer fatalen Vermählung Zwischen Mutantin und Schnelljungen, Dem Sohn der Jatta, die Sicherheit suchte Im Saal des Fürsten van Maanen … War Jattas Zurückweisung durch Osmo eine entscheidende Ursache seiner Krankheit? Immer weiter und immer weitläufiger jagte und hetzte Goldas Erzählung mehr als eine Stunde lang zur Begleitung hinreißender Arpeggios und perlender Akkorde, während immer mehr Umstände in das Muster eingingen – sogar Wex' Agnosie, um ihn vor der Agonie zu bewahren. Der Geruch nach Mustoreum war längst von betörenden Düften verdrängt worden. Das dreiköpfige Publikum war völlig eingelullt. Der Ansturm aus Düften und Klängen wurde zu einem Or-
kan, als das Goldmädchen schließlich geschmeidig und kraftvoll verkündete: »Der Name der Fliege war …« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie sich entschied, bevor sie den Namen aus der Notwendigkeit ihrer Erzählung herausschälte … »… Qual, Die Bewirkerin der Krankheit, Die Herrin seines Unglückes, Sie werde von seinem heilenden Wasser hinausgespült, Damit er wieder Worte der Kraft spricht, Und ein Mann mit zwei Bewußtseinen wieder weiß, Wie Blumen duften, wie Essen die Zunge reizt, Denn Liebe ist der Name der Erlösung!« Funken sprühten glitzernd aus den Händen des Goldmädchens – oder von den vibrierenden Saiten der Harfe. Von einem Schwall honigsüßer Düfte getragen, senkten sich diese Funken auf Osmo, der aufzuckte, als würde er gestochen, und auf Wex, der sich aufbäumte und so gierig und schmerzhaft nach Luft schnappte wie ein Neugeborenes bei seinem ersten Atemzug, bis er in seine gefühllose Hand nieste. Enttäuschung trübte Wex' Gesicht. Er schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, aber nur sanft. »Einen kurzen Augenblick lang habe ich gerochen. Es war so süß. Jetzt ist es fort. Ich habe es wieder ausgeniest. Wetware, du
hast mir den Geruch genommen …« Sein anderes Bewußtsein teilte ihm laut mit: »DAS RIECHHIRN IST URSPRÜNGLICH UND FUNDAMENTAL. GENAUSO WIE DER SCHMERZ. ICH SCHÜTZE DICH VOR ABLENKUNGEN.« Erschöpft warf das Goldmädchen Wex einen finsteren Blick zu – oder eher seiner Wetware. Osmo stand zitternd auf. »Ich hatte das Gefühl zu ertrinken«, sagte er schleppend. »Wie damals, als Sam mich unter Wasser tauchte, so daß ich nicht mehr atmen konnte … Ich ertrank in Worten und Moschus und Musik. Ich unterwarf mich – dem Bewußtsein eines Aliens.« »Jetzt seid Ihr unbehelligt wieder aufgetaucht«, sagte das Goldmädchen. Begeistert ging sie zu Minni hinüber und gab ihr die Harfe zurück. Am dunklen Morgen wachte Osmo erfrischt auf. Er hatte die ganze Nacht lang geschlafen. Seine Nieren schmerzten nicht mehr, als wären sie wund und entzündet. Er hatte keine Angst mehr vor dem Druck in seiner Blase, der ihm genauso vertraut war wie seine Pißerektion. Auch sein Kopf steckte nicht mehr in einer fest gespannten Schraubzwinge. Er entzündete eine Kerze, während sein Schwanz weich wurde, und pinkelte dann in einen Nachttopf – einen Strom aus flüssigem Stroh. »Wie ist es?« fragte Minni, die sich vom Bett hinüberbeugte. »Rein.« Er schlüpfte wieder zu ihr unter die Decke. »Flamme erstirb«, rief er, »so ist es gesprochen.« Die Kerze flackerte und erlosch. Die Wandbehänge verschwanden wieder im Dunkel. Jetzt war seine eigene Flamme erwacht. Seine Kerze war steif, und der Docht seiner Nerven brannte heiß. »Ich fühle mich … als
müßte ich überfließen«, flüsterte er. »Wollen wir versuchen, ein Baby zu machen? Ist es die richtige Zeit, mein Entlein? Ich habe die Tage nicht mehr gezählt.« War es die richtige Zeit, während sie von einer Armee aus hölzernen Soldaten, königlichen Wachen und Jaegertruppen und Ha-Häuslern bedrängt wurden? »Unser Kind wird im heißen Hochsommer zur Welt kommen. Ich möchte eine kleine Minni.« »Du hast doch schon eine, Dummkopf!« »Dann vielleicht einen kleinen Ossi?« »Ich weiß nicht, ob ich eine Mutter sein möchte, wenn ich bedenke, wie Mütter sich benehmen …« »Betrachte den Zwerg einfach als Schwester – nein, noch besser, als Freund oder Freundin, genauso wie du meine allerbeste Freundin bist.« »Nun ja, ich befinde mich tatsächlich in der Mitte meines Monats … Keine Pfropfen in Sicht, außer deinem.« Sie erhob sich, griff nach ihm und drückte sachte, so daß er aufseufzte. »Wenn ich auf dir reite, könnte der Samen wieder herausfließen …« Er schlug die Decken zurück und warf sie auf den Rücken. Er kniete zwischen ihren Knien. In der Dunkelheit hob er ihre schlanken Beine auf Schulterhöhe an. »Dafür werden wir es richtig herum machen …« Minni kicherte, er ebenfalls. »Löse den Knoten aus dem Ei«, schnurrte sie, »mach ein Loch in die Schale und schlüpf hinein …« Zungen berührten sich. Worte waren Fleisch und Muskeln und Nerven, die pulsierten.
Schließlich setzte sich über der verschneiten Burg Kippan das Licht durch, und ein Kuckuck kam, um sich auf einen Pfosten draußen vor dem Mädchenhaus zu hocken. Er lockte einige Burgbewohner von ihrer Arbeit fort. Es war Sam Peller, der nach drinnen ging, um Osmo und seiner Frau Bescheid zu sagen. Sam war fast einen ganzen Tag und eine Nacht lang auf verschiedenen Tieren von der Kriegsfront hergeritten. Trotz seines früheren Entschlusses hatte er sich auf den langen Weg gemacht, um seine Gedanken über Osmo zu ordnen. Er traf gerade noch rechtzeitig ein, um den Kuckuck genau vor Osmos Tür klatschen zu hören. Das Geheimnis wurde ausgeplaudert. Osmo war kurzlebig, kein Langlebiger wie der Waldfürst – und zwar nur wegen seiner Ungeschicklichkeit, wegen krasser Unfähigkeit. Was für ein Anführer war er? Sam trottete trostlos zu seinem Fürsten – und mußte feststellen, daß Osmo vor Lebenskraft aufgeblüht war. Er und Minni befanden sich in ihrem Schlafzimmer, waren angezogen und nahmen ein Frühstück mit Kümmel-Knäckebrot und Emmentaler-Käsescheiben ein. Sie kicherten. Ausgelassen war gar kein Ausdruck. Die einzigen Tränen waren die in den Augenhöhlen des Käses, der vor Reife weinte. Osmos Krankheit war nicht einfach nur zurückgegangen; es war, als wäre er überhaupt niemals krank gewesen. Sam selbst war grau, schneebesudelt, blaugefroren und hundemüde. Wäre er nicht von Überraschung und Erleichterung überwältigt gewesen, hätte er sich hintergangen und getäuscht gefühlt. Sam war der erste, der ihnen vom Vogel erzählte. Osmo und Minni nahmen sich nicht einmal die Zeit, ihre schweren gesteppten Mäntel anzuziehen, sondern eilten sofort
nach draußen, um sich der Menge und dem Kuckuck zu stellen. Elmer und Eva hatten sich ebenfalls zur Versammlung im Schnee gesellt. Der schlaksige Ingenieur stand zurückhaltend da und war sich der fragenden und herausfordernden Blicke bewußt. Wie würde er auf diese öffentliche Demütigung von Osmo reagieren? Eva, die ihre Augenklappe aufgesetzt hatte, um ihre Höhlung vor der Kälte zu schützen, schien wütend auf den Vogel zu sein. Als sie Minni entdeckte, schüttelte Eva sofort mehrere Male den Kopf, die Lippen fest verschlossen, um jegliche Beteiligung am Geschehen abzustreiten. Dies war das Werk ihrer Mutter. Erst dann bemerkte Eva, daß auch Osmo anwesend war. Sie hob sogar ihre Augenklappe, um ihn deutlicher sehen zu können, bevor sie die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens einsah. Osmo stemmte die Hände in die Hüften und rief: »Halt den Schnabel, Kuckuck! Hört nicht auf solche Verleumdungen, Leute. Mir geht es gut, sehr gut sogar. Ich werde heute die Forts und unsere Raketenstaffeln besuchen, die diese schöne Stadt vor Belästigungen schützen.« Er zupfte an seinen kastanienbraunen Locken. »Mit meinem Haar ist alles in Ordnung, seht Ihr! Mit mir ist alles in Ordnung. Ich habe die Pest abgeschüttelt. Wenn das nicht wie Langlebigkeit aussieht, weiß ich nicht, was es überhaupt sein soll.« Wie Langlebigkeit vielleicht … Und sein Haar war auch niemals blutverklumpt gewesen. Doch jetzt war die Zeit für Übertreibungen. Eine kleine Übertreibung von den Lippen eines Besprechers würde doch nicht allzu aufmerksam hinterfragt werden, oder? »Ich fühle mich sogar pißwohl!« Bei diesen Worten öffnete er
trotz der Kälte seine Hosen. »Ich pisse auf diesen Kuckuck, und ich pisse auf Lucky.« Überschwenglich urinierte er in den Schnee und höhlte die weiße Wolle mit einem Krater aus gelbem Matsch aus. »Außerdem«, verkündete er, »werden meine Königin und ich bald ein Baby als Erben bekommen, und so ist es gesprochen.« »Ihr werdet wohl kaum einen ausgewachsenen Erben bekommen!« rief jemand belustigt. Gelächter ertönte. »Keine Schnelljungen oder Schreckensmädchen für uns! Diese Mutantenmonstren mögen der verrückten alten Königin gefallen, die diese Welt mit ihren Launen ruiniert und das Haar der Menschen bluten läßt, bis sie genauso verrückt sind wie sie. Ich«, sagte er grinsend, »bin für Anstand.« Erst da steckte Osmo seinen Pißhahn wieder ein, womit er begeisternde Zustimmung hervorrief. Minni, die in ihren Plateaustiefeln kaum über die Schneeoberfläche hinauszuragen schien, grinste leutselig. Ihre hastig aufgesetzte Krone hing schief. Sie wurde von Osmo und kaum weniger von den meisten der Anwesenden bewundert. Sam sackte in sich zusammen. Er brauchte etwas Heißes zu trinken, süße Brötchen und ein warmes Bett. »Übrigens«, murmelte er, »ein Kundschafter auf einem Fahrrad hat ihren Kriegswagen erspäht …« »Was meint Ihr, Sam, sollte ich zu unseren Truppen reiten, da ich mich so voller Lebenskraft fühle?« »Der Kriegswagen kam nur langsam voran. Ich war nicht der Ansicht, die Angelegenheit hätte eine Benachrichtigung über Kommunikator gelohnt …« Aber eine Reise bei Tag und bei Nacht (wobei die Nacht viel
länger als der Tag war)? Um die Front sich selbst zu überlassen? Ach, der wahre Grund war so offensichtlich, nämlich der Konflikt in Sams Gedanken. »Sollte ich den Ponyschlitten nehmen, Sam?« Vor zehn Jahren hatte Tapper Kippan das Luftboot seiner Familie an den reichsten Händler in Portti verkauft, worauf dessen Sohn damit ins Meer stürzte. Kippan hätte das Geld nicht einmal gebraucht. Er würde sehr lange leben und hatte nicht die Absicht gehabt, noch einmal irgendwohin zu fliegen. Die Nachricht über den Absturz hatte Kippan nur in seiner Abgeschiedenheit bestärkt. »Aber da wäre ja noch Wex' Schweber …!« Durfte der Schweber zu einer Kriegshandlung benutzt werden? Nicht, solange Lucky darauf verzichtete, ihre Luftboote in den Kampf zu schicken. Das Angebot zur Evakuierung war eine humanitäre Geste gewesen. Osmo als Anführer des Krieges zu befördern wäre dagegen sehr provokant. Sam sammelte seine Gedanken. »Meiner Meinung nach seid Ihr in einer Burg in dieser Stadt besser dran, als in der Kälte zu übernachten.« »Aber jetzt kann ich wieder besprechen.« Sam war zu müde für einen Rat. Als er schwankte, griff Osmo nach seinem Arm, um ihn zu stützen. »Seid stark, Sam; so ist es gesprochen.« Sam schüttelte den Kopf. »Tut es nicht. Ich spüre den Fluß … Ihr würdet meine letzten Kräfte verpulvern. Mein Körper braucht nicht mehr als Essen und Schlaf.« Ein fanatisches Leuchten trat in seine Augen. »Mein mächtiger Prinz«, flüsterte er. Seine Reise war nicht vergeblich gewesen.
Minki pißte auf ein mit Rauhreif überzogenes Grasbüschel und fragte sich, ob das Kraut wohl dankbar für die heiße Spende sein mochte – oder ob es einen Schock erlitt, so wie ein Kerl, der von einem eisigen Bad in kochendes Wasser geworfen wurde. War das womöglich ein Vorahnung seiner Bestrafung? Doch wer konnte Minki für irgend etwas bestrafen? Er hatte seine Bauerntochter gefunden, die linkische, aber prächtig entwickelte Sal mit dem langen roten Kraushaar und den Sommersprossen am ganzen Körper. Er hatte sie mit seinem Charme und der bezaubernden Macht seines Fahrrades fortgelockt – weit fort von ihrem heimatlichen Hof. Die Idee, das Fahrrad gegen ein sattelloses Pony einzutauschen, hatte sich aufgrund des Mangels an Zaumzeug und Zügel zerschlagen. Er und Sal hatten eine verlassene Hütte in recht gutem Zustand an einem Waldsee gefunden. Er hatte Streifzüge mit dem Sprungfahrrad in größere Entfernung und in verschiedene Richtungen unternommen, um ihre Vorräte aufzufrischen, durch Diebstahl oder Aufschneiderei oder indem er vorgab, ein königlicher Soldat zu sein, der im Namen der Königin beschlagnahmte, was er brauchte. Leider jedoch nichts zu saufen. Er war dazu gezwungen, seine Transporte auf Proviant zu beschränken, doppelt soviel wie ein Mann allein benötigen würde – doch er hätte es nicht überstanden, wenn Sal ihn nicht gewärmt und ihm Freude gespendet hätte. In der Hütte waren einige Angelschnüre und Haken, eine rostige Eissäge und eine Eisaxt zum Vorschein gekommen, die unter einer Falltür im Boden lagerten. Ein Kamin wollte mit Holz bestückt werden. Minkis Feldzelt diente, mit trockenem
Gras ausgestopft, als Matratze, über die Sals pelzbesetzter Umhang gelegt wurde. Ein ziemlicher Abstieg für unseren Minki. Nicht gerade das, was er sich ausgemalt hatte (abgesehen von Sal). Aber es ging nicht anders. Er durfte nicht riskieren, das Sprungfahrrad erneut zu benutzen (und wer wußte schon, ob es nicht wieder versagte?) Also versenkte er es ein Stück vom Ufer entfernt im See. Ein stählernes Pony? Was für ein stählernes Pony? Nie davon gehört. Ich bin nur ein verliebter Bursche mit seinem Mädchen. Wir möchten nur ein wenig allein sein. Sal war von Minki fasziniert. Sie hätte wie eine Katze geschnurrt, wenn er sie streichelte, falls sie hätte schnurren können, was sie beinahe tat. Niemals zuvor hatte er ein Mädchen so sehr mit seinem Charme betört. Sal vergaß in seinen Armen, welch ein Unterschied zwischen dem Bauernhof, von dem sie verschwunden war, und dieser ärmlichen Hütte bestand. Sie war felsenfest davon überzeugt, daß Minki sich auf einer königlichen Mission befand, die von ihm verlangte, daß er sich versteckte und abwartete. Schließlich kannte Minki Santa Lucky sehr gut. Er war im Pohjola-Palast gewesen! Er war mit dem Prinzen befreundet gewesen, bevor der Prinz einem Unfall zum Opfer gefallen war. Minki war nicht so sehr von dieser Situation begeistert. Er beschloß jedoch, zur Abwechslung auch einmal sich selbst zu betören, indem er Sal als Spiegel benutzte. Andernfalls könnte ihm furchtbar langweilig werden, und Sal mochte in ihrer Naivität allmählich ihren Reiz verlieren. Wie machte er es nur, wenn er seinen Charme spielen ließ? Nun, indem er sich mit aller Kraft wünschte, daß eine Person
ihm wohlgesonnen war. Indem er eine Ewigkeit lang tief in Sals Augen blickte, als würde er sie genauso abgöttisch lieben wie sie ihn, indem er darin sein Spiegelbild betrachtete. Dann entwickelte er eine Euphorie, die ähnlich wie ihre war, ein Gefühl des vollen und zärtlichen Einverständnisses mit seinen Umständen. Wie die Seele eines Schamanen auf einer Geisterreise strebte auch seine Seele unaufhaltsam der Offenbarung zu, daß sie sich selbst genug war. Dann erwachte er mit einer bewundernswerten Abgeklärtheit aus dieser Erfahrung der Selbsteinschränkung. Er machte sich bereits Sorgen, ob er nicht nach diesem berauschenden Püppchen süchtig werden könnte. Er hatte sich noch nie zuvor einer Frau so nahe gefühlt (nicht einmal mit Kyli, auch nicht während seiner größten Verliebtheit), obwohl er in Wahrheit nur sich selbst nahe war. Nein, er war nicht verliebt. Er ließ nur sein Wesen in Sals Augen eindringen, bis er sich fast völlig in ihr verborgen hatte. Welch vollkommenes Versteck, wenn man sich schon verstecken mußte. Ihm kam die Idee, ob sie wohl eines Tages die Seelen austauschen würden, so daß er durch ihre Augen auf sich selbst blickte und in ihrem Frauenkörper lebte, während sie seine Stelle eingenommen hatte. Sie würde ziemlich verblüfft über diese Verwandlung sein, die jedoch bestimmt ekstatisch war, denn das mußte doch die Erfüllung ihrer höchsten Ziele sein – selbst zu dem Objekt zu werden, das sie bewunderte. Natürlich konnte unser Minki nicht auf diese Weise in eine Frau eindringen. Noch nicht …
Könnte er im Laufe der Zeit dieses Ziel durch bloße Konzentration erreichen – durch eine intensivere und längere Willensanstrengung, als er sie jemals zuvor unternommen hatte? Dann könnte er unbehelligt dorthin gehen, wohin er wollte, unerkannt im Körper einer Frau. Wäre er als Mädchen der Gefahr einer Vergewaltigung ausgesetzt? Aber dann könnte er immer noch seinen Charme einsetzen … Es wäre wirklich das Größte für einen Verführer, zum Subjekt seines vormaligen Verlangens zu werden, so daß Verführer und Verführte eins wurden. Wenn seine Feinde diese Bauerntochter, die in seinem Körper wohnte, gefangennehmen sollten, wer würde ihren Protesten Glauben schenken? Minki ging völlig in seinem Plan auf. Und Sal frohlockte über die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde. Es war ein hervorragender Zeitvertreib. In der Zwischenzeit gefror der See, und zwar recht plötzlich. Es war Zeit, ein rundes Loch ins Eis zu sägen und Sal mit Angelschnur und Haken daneben zu setzen. Es konnte nicht allzu lange dauern, bis sie etwas fing. Die Fische mußten geradezu ans Loch stürmen, um nach Sauerstoff zu schnappen. Irgendwann war Juko auf die Knochen eines Pferdes gestoßen. Die Rippen hätten fast die Reifen eines Zeltes sein können, wenn er immergrüne Zweige gepflückt und darauf gehäuft hätte. Schnee wehte aus dem Westen heran, und die nachmittägliche Nacht brach schnell herein. Sein Bauch war genauso leer wie der des Pferdes, das sich offensichtlich mit den Zügeln am abgebrochenen Ast eines Baumes verfangen hatte. Es war
noch etwas verwittertes Leder übrig. Ohne Reiter und im Maulkorb gefangen war das Tier vor Jahren verhungert. So würde es auch Juko ergehen. Welchen besseren Ort gab es für einen Reisenden, um sich zur Ruhe zu legen, als innerhalb eines Geschöpfes, das schnell zu Fuß war und große Nüstern hatte? Ein Symbol des geschwinden Reisens zu einem Ziel. Nur daß dieses Pony in die Falle getappt, in Panik geraten und gestorben war, das Maul gefangen, so daß es nicht mehr fressen konnte. Juko war auf dem Weg in den Tod. Er hatte einen Lumpen um seinen Kopf gewickelt, um sein linkes Auge zu verhüllen. Während seiner fruchtlosen Suche war ihm schon vor einer Weile die Idee gekommen, daß er genauso, wie er seine Schwester praktisch in ihren Tod geschickt hatte, auch sich selbst in den Tod schicken mußte, um sie wiederzufinden. Es war keine gewöhnliche Suche, durch die man zu ihrem Versteck gelangte. Vielleicht war der Ort noch weiter entfernt. Oder er war längst daran vorbeigegangen. Wie sollte er sich Gewißheit verschaffen? Daher besprach er eines Mittags sein Spiegelbild in einer Wasserpfütze in einer Mulde auf einem Felsblock. Aasvögel hatte diese Stelle als ihren Badeteich benutzt. Er war auf das helle Spritzen aufmerksam geworden, als sie mit den Flügeln geflattert hatten. Juko hatte abgewartet, bis sich das noch verbliebene Wasser beruhigt hatte, und dann auf sein Bild gestarrt, auf sein zurückgeworfenes Haar, seine in die Ferne blickenden Augen. Vielleicht blickten sie zu weit in die Ferne und sahen zuviel, während er nach seiner halbblinden Schwester suchte. Deshalb verfehlte er sie, sie fehlte ihm so sehr.
Er durfte nicht nach dem Leben suchen – nämlich ihrem, das bewahrt worden war –, sondern nach dem Tod, dem sie auf irgendeine Weise entronnen war und der jetzt, nachdem er ihr verweigert worden war, statt dessen ihn rief. Mußte er ganz bis zu ihrem materiellen Versteck reisen? Konnte er den Tod genau dort, wo er sich gerade befand, umwerben? Konnte er sich dazu besprechen, sich selbst zu erwürgen, indem seine starken Hände die gut gepanzerten Muskeln seines Halses nicht mehr losließen? Konnte er sich selbst dazu besprechen, mit dem Atmen aufzuhören? Ob er in seiner Erstickung mit hervorquellenden Augen und verzerrtem Blick die geisterhaft leuchtenden Spuren ihrer Schritte wahrnehmen würde, die sich über das Land zogen? Und erfahren würde, in welche Richtung sie wirklich gegangen war? Er atmete tief ein und sang mit einem langen Luftzug: Atem, versiege Seufzer, entweiche, Entweiche, Seufzer, Versiege, Atem … Er wurde leise, als er vornübergebeugt seine Lungen entleerte. Bald würden sich ihre Innenseiten berühren. Entweiche, Seufzer, Seufzer, entweiche, Atem, versiege …
Die Worte seiner Besprechung wurden schwächer, als er sich dazu zwang, zusammenzubrechen und zu verstummen. Jetzt konnten keine Worte mehr über seine Lippen kommen. Mit quälender Entschlossenheit hielt er den Atem an … … bis er benommen auf dem Felsen zusammensackte und sich selbst betäubte. Aus eigenem Antrieb saugten seine Nasenlöcher Wasser ein, das wie kalter Stein in seine Brust drang. Luft, Luft wie Messer, mit denen er den Stein losschneiden konnte, um ihn dann mit einem rauhen, würgenden Husten auszuwerfen. Die Welt drehte sich schwindelnd um ihn, während das Land leuchtete und eine schwarze Sonne das Licht aufsaugte. Als sein schmerzender Atem und die Welt wieder ins Gleichgewicht geraten waren, riß er sich einen Ärmel seines Hemdes ab, um sich damit schräg um den Kopf herum das linke Auge zu verbinden. So hatte seine Schwester ihren Weg gefunden – einäugig und flach. Wie wollte er jemals ihrer Spur folgen, wenn er die Tiefe wahrnahm, wenn er die volle, aber falsche Perspektive hatte? Sie besaß außerdem ein inneres Auge, das ins Anderswo blickte. Dennoch konnte er sich jetzt stärker mit ihr identifizieren als jemals zuvor. Bestimmt war sie ganz allein gestorben, während sie durch eine flache Welt trottete, die genauso wie ihre zusammengebrochenen Träume war. Vielleicht sollte er ein paar Kims oder mehr zurückgehen, um eine neue Annäherung zu versuchen. Juko lief wie ein Schlafwandler durch eine Traumwelt. Es war die wirkliche Welt mit See und Wald und Nebel und Felsen, wenn auch bar jeder Bedeutung. Sie führte ihn zu einem alternativen Reich der
Träume oder der Alpträume. Manchmal, bei klarem Himmel, schien die Himmelssichel auf ihn herab, die Brücke des Todes oder der Wasserfall des Mana, Ainos zertrümmerter Mond, zu dem sie eine besondere Beziehung hatte, der kostbare Tand ihrer Worte, die tief über den Himmel verstreut waren. Er fror und hungerte, ernährte sich dürftig von Beeren und Pilzen und rohen Fischen, die er aus Teichen herausbesprach, litt genauso, wie auch Aino gelitten haben mußte, bis Juko schließlich völlig mit ihr im Einklang war. Keine leuchtenden Fußspuren zeigten sich. Dennoch spürte er, daß er zu Aino geworden war. Jetzt hatte er sich bestimmt von seinem Fluch befreit, denn wie sollte er sich in heimlicher Lust nach sich selbst verzehren? Juko versetzte dem Skelett des Ponys einen Fußtritt. Die Rippen zerbrachen und zerkrümelten. Die Staubteilchen senkten sich wie Gänseblümchen zu Boden. Vielleicht würde er heute nacht sterben. Aber nicht in den hohlen Bauch eines Skelettes gezwängt! Ein Weg aus Schnee-Gänseblümchen führte tiefer in die anbrechende Dunkelheit. Waren dies schließlich doch ihre geisterhaften Fußspuren? Er sollte klettern. Um eine höhere Stelle zu erreichen, wo die Kälte noch bitterer war? Mit Messern in den Lungen strafte er sich selbst und bestieg den steilen, rutschigen Fels, manchmal auf allen vieren und nur nach Gefühl. Sie hatte dasselbe erlitten. Er war sie, nun fast vollständig, während er sich dem Tod näherte. Schließlich wurde der Boden eben. Und ein Schauder des Mana durchdrang ihn. Schneeflocken phosphoreszierten im zerbrechlichen eigenen Licht. Schwach und unbeständig wurde seine Umgebung durch
ein Muster aus glitzernden Pünktchen erleuchtet. Anscheinend sah er mit Ainos innerem Auge und erlebte einen Hauch ihres andersartigen Sehvermögens! Das Bild flimmerte, als würde dies innere Auge blinzeln, als würde ein Augenlid im Gehirn flattern. Eine Andeutung von Ferne – andernfalls wäre er über eine Kante hinausgelaufen. Er erkannte gerade noch rechtzeitig den lauernden Abgrund, die Kluft. Weitere Andeutungen wurden sichtbar. Tief unten erblickte er eisige Flecken in einem schneeverhüllten See. Er befand sich auf einem hohen Steilhang über einer Eiskruste. Trotz der Düsternis enthüllten glitzernde Schneefunken Umrisse. Dieses Funkeln mußte in seinem Kopf sein. Er glaubte fest daran, daß sie Bruchstücken der tatsächlichen Landschaft entsprachen. War dies seine Rehabilitation und Erlösung, indem er begann, auf Ainos Art zu sehen? Riesen kauerten in der Nähe. Nein, es waren haushohe Felsblöcke. Die riesigen Felsen standen dort, wo irgendein Gletscher sie vor Äonen liegengelassen hatte. Juko könnte sich im kalten Schatten eines solchen Steinhauses ohne Zimmer zusammenrollen – und erfrieren … Genau in diesem Augenblick wurde das, was bislang nur gefunkelt hatte, blasser. Die Düsternis wich. Der gesamte See leuchtete sichtbar auf. Die Eiskruste riß knackend auf. Wasser quoll dampfend und schäumend empor. Als er von den Klippen hinabstarrte, hüllte ihn ein Schwall warmer Luft ein – eine warme Umarmung! Er konnte ein oder zwei Kims weit sehen, die Klippen entlang oder ins siedende Wasser hinein. Verblüfft riß er sich die Augenbinde von der Stirn. Die Wahrnehmung der Tiefe ließ
ihn taumeln. Der wirbelnde Schnee hatte sich aus seiner Nähe verflüchtigt. Der See unter ihm wogte und kochte. Beben liefen durch den Fels. Einer der Felsblöcke schwankte und stürzte um. Juko ging in die Knie. Seine Trommelfelle dröhnten unter einem durchdringenden tiefen Stöhnen. Der See schäumte auf, bäumte sich auf. Wellen schwappten an die Ufer, als etwas Gewaltiges sich erhob. Ein massiver Felsbuckel brach durch die Oberfläche, und dampfende Flüssigkeit lief an seinen Seiten hinunter. Der Ukko ging auf. der von Lucky gesuchte Ukko, Ainos Zuflucht. Der Ukko ging auf. ein steinerner Mond, der aus dem See geboren wurde, der nun kein See mehr war, sondern ein tosender Wasserfall, ein Kranz aus Sturzbächen, die sich in einen wogenden, in Dampf gehüllten Abgrund ergossen, dessen Tiefe er nicht einmal erahnen konnte. Der Steilhang, an den er sich klammerte, schien doppelt so hoch zu sein, trotzdem wirkte er gegenüber dieser gewaltigen aufsteigenden Masse winzig. Der obere Rand des eiförmigen Mondes war jetzt auf seiner Höhe. Er flimmerte, als würden Zungen aus weißem Feuer über seine Oberfläche lecken. Die Spitze stieg höher hinauf. Er blickte auf die Flanken, von denen Erde und Schlamm wie Sabber herabfiel. Die Unterseite des Ukko-Kindes hob sich über die Klippen. Blasse Blitze zuckten von seiner Basis in den heißen, dampfenden Abgrund. Die Klippen könnten in ihren Grundfesten erschüttert werden und in die kochende Leere stürzen. Seine Schwester war in diesem Mond. Er hatte ihren Aufent-
haltsort gefunden. Doch schon entfernte sie sich wieder von ihm. Hinauf ins All, der Heimat aller anderen Ukkos? Er stand auf und winkte mit den Armen und schrie: »Aino, Aino!« Juko hätte genausogut versuchen können, einen Berg zu besprechen. Das Möndchen setzte seinen Aufstieg fort. Wolken hüllten das Ukko-Kind ein und verbargen es vor seinen Blicken. Vom Rand einer dampfenden, leuchtenden Leere starrte er fassungslos nach oben.
22 Blumensang und Kerzenfeuer
Mitten im wieder aufgebauten Dorf aus weißen Holzhäusern befand sich ein Rasen, auf dem silbern gesprenkelte Hennen pickten. Unmengen von Gänseblümchen waren im Gras erblüht. Enten schwammen auf einem ovalen Teich. Neben dem Wasser ragte eine breite Schaukel empor. Sechs Mädchen saßen nebeneinander darauf, in hauchzarte Gewänder gekleidet und mit Bändern geschmückt. Während sie sich an den Händen hielten und vor und zurück schaukelten, sangen sie munter: Hier sind wir zu Haus, Was macht es uns schon aus, Wenn wir früher einmal waren Anderswo? Denn jetzt sind wir hier, Mit Gesang leben wir, Und wir denken nicht mehr an ein Anderswo! Uns kann das Anderswo Runterrutschen bis zum Po Und wir werfen's einfach so Ins Wasserklo …
»Wollt Ihr wohl aufhören!« schrie Aino. Sie hielt eine Hand über ihre leere Augenhöhle. Im Hintergrund der kleinen Höhlung war plötzlich ein mörderischer Schmerz! Steck einen Finger hinein, reiß ihn heraus. Nein, das durfte sie nicht. Der Schmerz, der bereits nachließ (sei still!), war nur eine Erinnerung an ihre Verletzung. Aber dieser stechende Druck aus dem Innern war bestimmt etwas anderes. Der Schmerz war so unerwartet gekommen, hatte sie völlig überrascht. Sie stellte sich vor, daß etwas Kleines und Hartes versuchte, aus ihrem Schädel geboren zu werden – etwas, dessen Wachstum in jenem Teich beschleunigt worden war, wo sich das rotbraune Monstrum suhlte, im winzigen Nabel des Ganzen weit von hier entfernt. Winzig, aber in seiner Komplexität fast genauso groß wie die Umgebung hier … Inga war sofort voller Sorge. Sommersprossige Hände wedelten: »Ist es wieder dieser Schmerz? Laß uns hinsetzen. Leg deinen Kopf in meinen Schoß. Leg ihn auf das Kissen eines seidig glänzenden Taftgewandes in Azurblau und Blaugrau. Ich werde deine Stirn streicheln. Ich werde dir eine Kette aus Gänseblümchen flechten. Eine Kette, mit der ich behutsam deinen Schmerz fessle.« »Nein …« »Du könntest mir eine Krone aus Gänseblümchen flechten!« schlug Paula vor. Ihr Gewand war neuerdings purpurn und golden. Erst vor kurzem hatte sie ihre Zöpfe gelöst. Ihr blondes Haar war auf ihre Schultern gewallt und hatte Ainos Mähne Konkurrenz gemacht, auch wenn sie nicht so gelblich war. Doch dann hatte Paula ihre Zöpfe wieder zusammengeflochten. Sie konnte sich nicht entscheiden, wie sie aussehen wollte.
»Wie wäre es mit einer Krone, Inga?« »Ich habe dir keine Gänseblümchen angeboten!« Aino konnte Ingas Seele sehen: eine schlanke azurne Schornsteinblume, die mit goldenen Käfern gesprenkelt war, ihre reiche Ausstattung mit Sommersprossen. Paula war die Seelenblume, alabastern und üppig. Ungeachtet ihrer Pfirsichhaut, ihrer vollen Wangen und ihres Duftes nach Gewürzbrötchen war sie die alles beherrschende Seelenblume. Außer in der Nähe des Kerzenpalastes mit seinem warmen Lichtschein war die Landschaft nach wie vor verwüstet und kalt. Die Echo-Mädchen waren immer noch wie Blumen auf einer Wiese. Blumen! Man wußte, zu welcher Jahreszeit eine bestimmte Blume blühen würde, lächelnd, duftend und jung. Blumen standen für die Erinnerung. Blumen erinnerten sich vollkommen an sich selbst, also erinnerten sie sich in gewisser Weise an nichts anderes, während sie sich niemals änderten. Doch die arme, verlorene Anna hatte die Erinnerung an ihr Leben wiedererlangt. Paula ebenso. Paula erinnerte sich an ihre Kindheit und Jugend in der kalten dunklen Leere, an den tödlichen Feind, der ihr wie ein vertrauter Freund vorgekommen war. Paula wußte jetzt, daß sie zur Königin einer Welt geworden war, die ihr nah, aber gleichzeitig so fremd war. Dieses verwirrende Wissen ließ sie sprunghaft werden. Sie war eitel und selbstbewußt, aber gleichzeitig auch launisch und immer noch sympathisch. Sie war ein kleines Mädchen, das sich vorstellte, eine Monarchin zu sein, aber nicht die Konsequenzen verstand, das völlig die Jahrhunderte der Heftigkeit, der Unruhen und Leidenschaften vergaß, das Fieber der Seele. Das Fieber einer Blume …! Aino war einmal ein Gänseblüm-
chen gewesen. Dann war es zu einem verschmierten Fleck zertreten worden. War sie jetzt die Blutblume? »Vielen Dank, Inga, aber ich brauche keine Kette aus Gänseblümchen.« Aino zog ihre Kniebundhosen aus braunem messingbeschlagenen Leder hoch. Dieselben hatte sie zu einer ähnlichen zerknitterten weißen Bluse getragen, als sie in dieses Dorf marschiert war, bevor es niedergebrannt wurde … Näkkis hatte das Dorf wieder in einen Zustand gebracht, der einigermaßen dem vorherigen Aussehen entsprach. Vorher hatte es jedoch keinen kleinen See gegeben, der so sehr an den Teich der verlorenen Worte erinnerte, in dem das monströse Weibchen hockte. Seit der Krieg vorbei war, hatten sich die Näkkis wieder in Dorfbewohner verwandelt. Jetzt arbeiteten sie in Gemüsegärten und Lagerhäusern für Mehl und Obst und Nüsse und in einer Bäckerei und Molkerei. Die Mädchen gesellten sich gelegentlich zu den Näkkis, um ein paar Beetreihen zu hacken, etwas Butter zu rühren oder ein wenig Teig zu kneten, bevor sie die Lust daran verloren. Ein Nachhall des Krieges zeigte sich manchmal im plötzlichen wilden Grinsen eines Näkkis, einem wahnsinnigen Blick oder einem Ausbruch meckernden Gelächters. Es wäre besser, wenn es hier gar keine Näkkis gäbe! Aber es ging nicht anders. So viele Flüchtlinge mußten versorgt werden – die wieder fröhlich und unbeschwert waren. Paula half. Sie übte sich darin, Befehle zu erteilen, und erreichte damit bei den Mädchen verwirrten Gehorsam (für eine Weile) oder provozierte belustigten Protest oder Gekicher. Inga versuchte ebenfalls zu helfen, Aino zufriedenzustellen. Die meisten Mädchen waren fest entschlossen, die jüngste
Vergangenheit zu vergessen. Sie blickten nicht zur rußigen Wolke hinauf, die die aufwärts gewölbte Landschaft verhüllte, oder über die Begrenzungen ihres Dorfes hinaus, wo immer noch alles eine gefrorene Ödnis war, als benötigten sie keinen weiteren Lebensraum. Tiere heulten außerhalb der Zone des Lebens. Die Mädchen rümpften weder die Nase über den Geruch des öligen Gases, noch wagten sie sich zu nahe an Minkis ehemaligen Palast heran – nun ein gespenstisches Gebilde aus durchscheinenden leuchtenden Wänden und die Quelle jeglicher Wärme und Lebenskraft in diesem Bereich. Durch ein Loch in den Wolken blickte das Sonnenauge auf das Dorf hinab, eine Oase mitten in winterlicher Verwüstung. Aino hatte gehört, daß es ähnliche Stellen im Südwesten geben sollte, in der Nähe der Stadt, wo die Bücher gedruckt wurden. Jetzt konnte sie keine Worte mehr lesen. Wenn das Sonnenauge in der Nacht zu einer bleichen Scheibe verblaßte, zu einem Mond, wie es ihn über Kaleva nicht gab, hüllte sich der Kerzenpalast in einen albinohaften Schimmer, dessen kompakter Glanz vom Boden emporstieg. Sie wußte, daß sie endlich diesem Palast aus heißem Licht die Stirn bieten mußte … Unterdessen – »Warum sollte ich keine Krone haben?« – stellte sich die Frage, was mit Paula geschah, der naiv wichtigtuerischen Möchtegern-Königin eines Dorfes. Mußte es wirklich einen unsinnigen Wettstreit zwischen Aino und Paula geben? »Hör mal, Paula«, sagte Aino, »ich habe Handschuhe und Goldstaub an Händler verkauft …« Sie wollte damit sagen, daß sie über viel mehr Erfahrung verfügte. Doch die Anspielung war zu flüchtig, klang eher wie ein Gedichtvers. War es möglich,
daß die verlorenen Worte zu ihr zurückkehrten? Der Krieg hatte sie zu einer Art Besprecherin gemacht. Konnte sie gleichzeitig zu einer Dichterin und einer Besprecherin werden? Konnte ein Gedicht genauso wirksam besprechen wie ein machtvoller Gesang? (Wenn auch völlig andersartig!) Konnte ein Gedicht bewirken, daß Analogien der enthaltenen Bilder zur Wirklichkeit wurden? Eines Tages, erinnerte sie sich, wird der Mond In die warme Welt eintauchen … Aino konnte sich noch an die Stimmung der Poesie erinnern. Das Aufsteigen aus der Quelle, die Inspiration, die Geburt des Entzückens – die Verzückung der Offenbarung, die Freude am Entstehen der Bedeutung, die alle Sinne ergriff, Gedanke und Begriff, während man weder der Sklave noch der Meister der Bedeutung war, während die Worte so transparent wurden, daß sie sich in eigene Objekte verwandelten, in Realitäten, die sichtbarer waren als das, was sie benannten oder andeuteten. Gas und Feuer war in der Nähe. Nein, sie wünschte sich keine Kette aus Gänseblümchen. Dennoch ließ die Idee sie nicht mehr los: an eine Kette aus Blumen, eine Kette aus Worten. Der Boden erzitterte. Oder zitterte sie selbst? Die Mädchen auf der großen Schaukel hatten ihr Lied wieder aufgenommen.
Was kümmert uns die Zeit? Wir schmücken uns das Kleid, Dann schließen wir die Augen Einfach so …« »Hört sofort damit auf!« schrie Paula. »Ihr macht mir damit Kopfschmerzen.« »Ach, das tut uns leid!« rief ein Mädchen und lachte. Aino spürte wieder den stechenden Schmerz. Die Poesie regte sich in ihr. Das war es! Sie mußte den Strom nach draußen lassen. Der mit Gänseblümchen übersäte Rasen pulsierte unter ihren Füßen. Ein Näkki-Mann kam angerannt. Er hielt eine Handsäge. Blonde Locken rahmten das Gesicht des Zimmermannes ein. Er hatte ein hübsches Gesicht. Eine Wange war mit der Tätowierung einer Herzglockenblume verziert. Drängend: »Aino, Aino, im Palaft tut fich waf! Düftere Dinge in den ftrahlenden Wänden!« Das Lispeln unterstrich zusätzlich seine Androgynität. »Komm, komm schnell!« schrie er. Aino begleitete ihn zusammen mit Paula und Inga. Unterwegs bildeten weitere Näkkis ihre Eskorte. Mehr als ein Dutzend Mädchen gesellte sich zur Prozession. Ihre Neugier war so sehr gereizt, daß sie es wagten, sich dem gespenstischen Palast zu nähern. Während sie sich gegenseitig anspornten, rückte eine beachtliche Menge auf die Wände aus glühendem Gas zu – jede Spur der Brücke und des Burggrabens war schon seit langem verschwunden. In unmittelbarer Nähe war die Hitze gar nicht so intensiv.
Die Wärme breitete sich vielmehr recht gleichmäßig in der Umgebung des Dorfes aus. Doch man spürte genau, wenn man durch die schimmernde Begrenzung trat, würde man sofort vom Feuer verzehrt werden – und selbst zu einer Kerze werden! Dem Bericht entsprechend, entfaltete sich innerhalb des Palastes eine flimmernde Szene in der Dunkelheit. Hohe Klippen und ein gefrorener See erschienen und verschwanden wieder. Rasende Wolken und Schnee wirbelten in die längliche Mulde dieses Sees hinein und wieder hinaus, verhüllten und enthüllten die Szene. Wie sehr alles an das Gelände außerhalb des Dorfes erinnerte, obwohl die Landschaft mit ihren Höhen und Tiefen viel dramatischer war. Wie lebensfeindlich diese Szenerie wirkte. Die Mädchen erschauderten und wären fast geflohen. Doch von der Erscheinung ging ein Bann der Faszination aus. »Was ist das für ein schrecklicher Ort?« »Das ist der See, in den ich sprang, Paula …« Aino konnte kaum fassen, daß sie einmal darüber nachgedacht hatte, ob sie unter Wasser wieder in den See hinausschwimmen und an die Oberfläche tauchen sollte, um den Fuß jener Klippen zu erreichen und die Spur von Minki und Anna aufzunehmen. Undenkbar. Ragnar mußte diesen Weg gegangen sein … »Es ist die Außenwelt, die wir sehen …« »Das ist mein Reich? Gibt es darin auch Riesenschlangen? Kein Wunder, daß sie unter der Erde bleiben! Was ist das für ein Reich! Du bist in diesen See gesprungen?« »Von einer Klippe. Dort, wo die Felsblöcke aufragen …« Wirbelnder Schnee verbarg in diesem Moment die Steine, die wie Kiesel dalagen. Ein Mensch wäre nicht mehr als ein winzi-
ges Insekt. »Seht es nicht an«, flehte Inga. »Es ist zu schrecklich. Laßt uns zurückgehen.« Paula war bei diesem Spektakel nachdenklich geworden. »Ich glaube nicht, daß ich noch eine Königin sein möchte …« Ein greller Schmerz setzte Aino zu. Er brannte in ihrem Kopf hinter der Stirn. Einen Augenblick lang konnte sie nichts mehr sehen. Sie schrie: »Aaaaa, Finsternis …« Und dies war das erste Wort der Poesie, das sie nach langer Zeit ausgesprochen hatte, als Reaktion auf diese negative Szene in der gasigen Helligkeit. Im dichten Kern einer Sonne, deklamierte sie, Wo Licht an Licht sich drängt, Ist es dort stockfinster Oder blendend hell? Der Schmerz war verschwunden. Der Druck blieb. Worte drangen heraus. Im festen Herz eines Mondes, Wo die Dunkelheit sich drängt, Gibt es dort schwarzes Licht? Lebt dort unsichtbarer Schimmer? Und das war erst der Anfang.
Ich badete in einer Quelle, Als mir war, ich sähe einen Vogel, Der rief: »Die Schlange und ihr Diener Sind zwei und dennoch eins.« Ach, schwarze Männer von Puutara, Warum hört ihr nicht auf Kuckucke? Zwei Kuckucke saßen im Köverbaum, Und einer krächzte ›Ukkoo‹ zum Himmel, Wo sich die Himmelssichel entfaltete, Wie ein Kartoffelmond. Ach, schwarze Männer von Puutara, Warum hört ihr nicht auf Kuckucke? Ein Klatschvogel saß im Harfenbaum, Mit einer Wachsblume im Schnabel. Ach, wo ist das Liebesbett der Königin? Nach diesem Ort bin ich auf der Suche. Ach, schwarze Männer von Puutara, Warum hört ihr nicht auf Kuckucke? Ein Kuckuck hockte in einem Minzbaum, Der sodann in Flammen aufging Erblühe unberührt, Entfessle den Vulkan der Namen! Ach, schwarze Männer von Puutara, Warum hört ihr nicht auf Kuckuck?
Aino schwankte hin und her. Bilder bestürmten sie, unsichtbar, bis sie sich selbst besprachen. Das Bett einer Königin, mit weißen Blumen bestreut … Eine Blume war der Königin geschickt worden, um einen Angriff auf ein Nest der Schlangen zu provozieren, damit es zur Zwietracht mit ihrem eigenen Bruder kam. Schwarze Seemänner, die sich mit hölzernen Puzzles abmühten. Ein Minzbaum, in dem ein Kuckuck verbrannte … Geschichten, Geschichten aus dem Vorrat des Mondkindes. Paula und Inga hatten ihre Arme mit Ainos verschränkt, nicht um sie fortzuzerren oder sie zu stützen, sondern um sich im Rhythmus mit ihr zu wiegen. Weitere Mädchen hatten sich angeschlossen. Näkkis ebenfalls. Sie verschränkten ihre Arme und wiegten hin und her. Der Boden schien zu schwanken, als wollte er sich schlingernd von seinen Grundfesten lösen. Die Reihenfolge von Köverbaum, Harfenbaum und Minzbaum war nicht richtig. Wenn sie alle Bäume von Kaleva beim Namen nannte, könnte sie damit die ganze Welt innerhalb eines hölzernen Rahmens erfassen. Sie durfte nicht die Kette der Blumen vergessen. Blumen standen für Fruchtbarkeit, und sie erreichten ihr Ziel durch Schönheit. Blumen waren schöpferische Organe, die sich in sinnliche Farben und Gerüche hüllten. Blumen waren die Vorboten des Gedankens und des Wortes, denn ihre nahrhaften Pollen hatten einst ermöglicht, daß sich Tiere und dann Menschen entwickelten. Sie mußte eine Blume sein, kein Baum (obwohl auch Bäume blühen konnten). Vor dem düsteren Bild von Klippe und See in den leuchtenden Wänden schwankte Aino rhythmisch mit den Mädchen und sang einen Rätselvers:
Ist mein Name eine Blume? Ist mein Name eine Blüte …? Das Bild der fetten rötlichen Sau im Teich der Worte drängte sich dazwischen. Die Sternensylphe huschte vorbei. Sylphe oder Sau: was war die wahre Verkörperung des Mondkindes? Aino dichtete weiter: Denn Schornsteinblumen sind ihre Finger, Lang und azurn und weit greifend; Glockenblumen sind ihre Ohren, Sie klingen mit Geschichten aus der Ferne; Rosa Herzglocken sind ihre Zehennägel, Und ihre Fingernägel gelbe Narkissen; Ist ihr Nabel nicht eine Milchblume? Wieviel Sternenblumen funkeln in ihren Augen? Bin ich dann nicht ein helles Gänseblümchen? Doch leider haben wir dreimal falsch geraten! Während Aino und die Mädchen schwankten, schwankte die Welt mit ihnen. Die Welt machte ihre Bewegungen mit und neigte sich vor und zurück, aus dem Gleichgewicht und ins Gleichgewicht zurück. Ließ auch das Monsterweibchen in ihrem Teich den Hintern vor und zurück rollen? Eine Bewegung, die an das Gebären erinnerte – oder vielleicht an Verstopfung! Doch dies war keine normale Geburt. Ein Ei aus Stein mußte sich selbst aus dem Becher schütteln, in dem es so lange geruht hatte. Ainos Kopf schmerzte. Worte komponierten sich beharrlich
aus eigenem Antrieb, fast so wie damals, als sie noch geweissagt hatte. Bin ich nicht die Blume, Die ihre blutigen Blätter entfaltet, Durch ein Bett aus jungfräulichem Schnee bricht, Durch den sanften kalten Flaum dringt, Das makellose Weiß beschmutzt, Die Blüte blutig entjungfert In Vergewaltigung und Mord … Der Boden ruckte. Die gasigen Wände bebten. Im schwarzen Panorama brach der See auf. Tausend enthauptete Gänseblümchen flogen hin und her, wie glühende Schneeflocken. Wasser wölbte sich kochend empor. Hoch auf der Klippe entdeckte Aino das kleine Insekt ihrer Furcht – im selben Augenblick, als eine steinerne Wölbung durch die Oberfläche des Sees brach, ein aufgehender Mond, der durch das Wasser emporstieg, das von seinen Seiten hinabströmte. Sie rief alarmiert: Aber nein, ich bin nicht die Blutblume! Also ratet noch mal, ratet dreimal! Welche Blume sieht aus wie Kerzenwachs, Die Blätter gekräuselt wie Ohren? Ich blühe auf den Wiesen des Mondkindes, Ich lasse die Jahre verstreichen. Mein Name ist …
Kein Name kam ihr in den Sinn, überhaupt kein Name. Blutblume, Blutblume, murmelte ihr Pulsschlag. Blutblume, schlug ihr Herz. Dann erkannte sie das Insekt, das sich an die Klippe klammerte. Zu ihrer Verblüffung war es ihr Bruder Juko, der sie verraten hatte. Sein ausgezehrter Körper richtete sich auf. Er schwenkte die Arme. Aino drängte sich vor und riß sich von Paula und Inga los. Mit einem Ruck blieb sie stehen – damit er sie nicht in die Flamme der Kerze lockte und sie verbrannte. Juko war auf die Größe eines Staubkörnchens geschrumpft. Der Mond stieg schnell in die Wolken hinauf. Aino wirbelte herum. Ihr Mund stand auf dümmliche Weise offen, wie sie es bei anderen verachtete. In ihrer Verblüffung hätte sie beinahe laut Jukos Namen gerufen. Aber sie hatte es nicht getan. Sie hätte es niemals getan. Der Name, den sie hatte rufen wollen – der Name der Blume – war eine leere Stelle, ein Lücke in ihr. Zwischen ihre geöffneten Lippen sickerte der Geschmack nach Blut. Inga rief: »Dein Auge blutet!« Kurz darauf: »Aber du hast ja zwei Augen, zwei!« Sie wurde sich eines Druckes in der Augenhöhle bewußt – von etwas, das anschwoll und ihre Lider auseinanderdrängte –, so wie damals, als sie Ruokokoskis falsches Auge und das IsiAuge getragen hatte. Ainos Finger tasteten zitternd. Sie spürte, daß etwas Rundes ihre Augenhöhle ausfüllte. Die Berührung ließ ihr Blickfeld verschwimmen. Sie riß die Hand zurück. Plötzlich hatte die Welt Fülle. Sie konnte Tiefe und Entfernungen erkennen. Tränen trübten diese Entfernungen, bis ihre Schluchzer und
das Blut sie fortwischten. Sie konnte jetzt doppelt soviel wie zuvor sehen, und zwar in ganzer Fülle. Ihr inneres Auge war ausgeschlüpft, war durch eine Hülle aus Knochen gebrochen, durch die Schmerzen erweicht, war an seiner Nabelschnur herausgewachsen. »Ein neues Auge, ein neues Auge«, rief Inga. Aino keuchte: »Wie sieht es aus? Ist es wie ein richtiges Auge? Ist es so wie mein anderes Auge?« Daß sie sehen konnte, aber dies nicht sah! Zögernd: »Es ist blau …« Ein weniger intensives Blau als das der eindringlichen Augen ihres Bruders? »Eine Art Perlblau …« »Ja, ja?« Während sie die Augenlider weit aufriß. Paula mischte sich ein. »Was Inga zu sagen versucht … es ist nichts darin. Es ist einfach nur perlblau – das ist alles.« »Aber ich kann damit sehen … Bestimmt gibt es …« »Nein.« »Das ist alles?« »Das ist alles.« »Sehe ich …?« Grotesk aus? Noch mehr als zuvor wie ein Mutant? Paula überlegte und gab dann ihre Einschätzung ab. »Nun, es ist hübsch … Es sieht schön aus. Ein makelloser blauer Opal.« »So ist es«, sagte Inga. »Ehrlich, Aino, so ist es.« Ein Mond war geboren worden. Und im selben Augenblick war ein Auge geboren worden. »Habe ich ein Auge erwählt«, fragte Aino sich, »statt des Namens der Blume? Stimmt das, Wasserfrau?« rief sie. Doch die
Stimme des Mondkindes, ob Sylphe oder Sau, antwortete nicht. In den Kerzenwänden war in flackernden Bildern zu sehen, wie der Mond durch die Wolken und über den klaren Himmel trieb. Der Mond war nicht weiter aufgestiegen, sondern setzte seine Reise nun in waagerechter Richtung fort. »Kuckuckf beobachten unf vom Boden auf«, gab der Zimmermann bekannt. Er gestikulierte aufgeregt mit seiner Säge. Kuckucke verfolgten offenbar von unten mit ihren gelben Augen den Weg des Mondes. Was die Kuckucke sahen, wurde im Kerzenpalast widergespiegelt. Die Zeit draußen und drinnen verlief in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Paula blickte auf ihr düsteres, eisiges Reich und drehte sich dann zum Näkki um. »Wohin geht unsere Reise?« fragte sie. »Ja, wohin geht unsere Reise?« wiederholte Aino. Jener saftlose Zimmermann schien jetzt zur Stimme des Mondkindes geworden zu sein. Er neigte seinen hübschen Kopf zur Seite. Er lächelte Aino geziert an und wandte sich dann kokett an die erste Fragestellerin. »Nun, pfum Ende einer Gefichte – und pfum Anfang. Um Paula und Paula wieder pfufammenpfubringen. Waf werden wir fehen, wenn Ihr auf Euer eigenef Felbft trefft? Wer wird die glückliche Lucky fein?« Aino hatte immer gedacht, sie hätte die Dinge im Griff, mit der Vollmacht des Monsterweibchens. Jetzt wurde ihr bewußt, wie wenig Zeit verstrichen war, seit sie sich im Mondkind aufhielt – verglichen mit Paula, die viele Jahrhunderte alt war. Aino hatte die Quelle ihrer Gedichte wiedergefunden und ein Opalauge erhalten – womit sie keineswegs imstande war, etwas so Komplexes und Kindisches, etwas so Altes und Junges wie
das Dasein zu begreifen. »Die Glückliche?« rief Paula, deren Pikiertheit an Panik grenzte. »Ich bin in deinen Schöpfer eingedrungen. Ich habe dich verursacht!« »Damit wurdet Ihr felbft verurfacht.« Das Lispeln klang jetzt düster, überhaupt nicht mehr freundlich. Diese Bauchrednerpuppe, mit der eine rötliche Sau spielte, die das Mondkind verkörperte! Der Zimmermann grinste. »Ich kann eine Kopie jeder Perfon heraufbefwören. Ich fammelte geftorbene Töchter, um mich damit pfu fmücken, eine Girlande für die Gefichten, die ich höre, ein Frief.« Inga und Gretel und Gerda und Maria – nur Dekoration? Nicht Paula, nein. Paula war wesentlicher. Sie war das eine Ende einer Schnur, während Königin Lucky das andere Ende darstellte. »Was hättest du getan«, wollte Aino vom NäkkiZimmermann wissen, »wenn es Minki Kennan gelungen wäre, Paula auf seinem Fahrrad fortzubringen?« »Ich hätte einfach eine neue Kopie auf meiner Erinnerung heraufbeschworen.« Paula erschauderte. »Ich bin ich«, preßte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ein Eiswürfel glitt Ainos Rückgrat herab. »Bin ich gestorben, als ich hierherkam?« hauchte sie. »Bin auch ich nur eine Kopie?« Der Zimmermann blickte sie mitfühlend an. »Nein, nein, Ihr feid in mich eingedrungen, fo wie Paula in meinen Föpfer eindrang.« »Wenn ich gehe, wird es hier dann immer noch eine Kopie
von mir geben, für immer?« Mein armes anderes Ich! Wie soll es jemals wissen, welches Ich es ist? »Ihr feid in mich eingedrungen«, wiederholte das Sprachrohr. »Nur pfwei Furken und ein Traumfürft haben daf auferdem gefafft. Bif jepft, bif bald …« Wer es schaffte, die Initiative zu ergreifen, könnte diesen Mond steuern. Würde sich daran entscheiden, wer die Königin des Nordlandes wurde? Wenn Paula auf Paula traf – falls es überhaupt dazu kam –, was würde dann zwischen dem Spiegelbild und dem wahnsinnigen Original geschehen? Ein wilder Kampf, den das Spiegelbild unweigerlich verlieren mußte? Aino drehte sich zum Kerzenfeuer um. Ihre neue Tiefenwahrnehmung ließ sie schwindeln. Wenn sie sich vorwärtsbewegte, mochte sie vom Mond hinunterfallen, der wie eine riesige schwebende Kartoffel über einer Stadt hing. Entweder hatte die Zeit angehalten oder der Mond. Ein Raumflugzeug stand aufrecht auf einer breiten Scheibe aus verschneitem Boden, an den ein schmaler, krummer, mit Eis überzogener See grenzte. Kleine Lichter glühten in einer massiven Pyramide aus Ziegeln, auf der vereinzelt Schnee lag. Eine Kuppel war sichtbar – und ein Gebäudekomplex mit etwas auf dem Dach, das wie ein umgekehrter Regenschirm aussah. Die Himmelssichel wölbte sich im Süden über dem klaren Himmel. Tatsächlich, der Himmel war fast klar … hier über Landfall. Das Schimmern der Sichel und das schwächere, aber nähere Leuchten des Mondes tauchten die Szenerie in einen unheimlichen Schein. Die Hohlwölbung der Perspektive war ähnlich wie die gekrümmte innere Landschaft des Mondkindes. Ja, sie könnte sich in diese gespenstische Sphäre stürzen und würde bis zum Boden fallen,
wo von ihr nur ein verschmierter Fleck auf der Wolle übrigblieb. Ein winziger Stern bewegte sich hoch oben am Himmel … In Landfall war jemand in Panik geraten. In Landfall hatte jemand geglaubt, die Isi hätten herausgefunden, wie sie einen ihrer Ukkos in Bodennähe manövrieren konnten, um ihn als Kriegsschiff einzusetzen. Zufällig flog gerade der kartographische Satellit vorbei. In Landfall klammerte sich jemand an eine Konsole. Ein Faden aus heißem Licht entstand zwischen der Oberseite des Mondes und dem vorbeitreibenden Stern. Kurz darauf noch einer. Was war die Quelle des Lichtes: der Mond oder der Stern? Hatte der Stern das heiße Licht verursacht? Verfolgte der gestochene Mond die Richtung mit Mana-Licht zurück? Aino kannte diesen kleinen eilenden Stern sehr gut. Als sie in Outo in die Sterne geguckt hatte, war ihr der Flug des künstlichen Möndchens der Erdenburg aufgefallen. Er würde bald außer Sichtweite sein und nicht allzu schnell wieder auftauchen. Welchen Zweck hatte dieser Lichtstrahl? Konnte er einen steinernen Mond, der tausendmal so groß wie er selbst war, zum Schmelzen bringen? Blitze zuckten auf der Unterseite des Mondes. Der Schirm auf dem Dach des Ziegelgebäudes füllte sich mit silbernem Feuer. Feuer hüllte das ganze Haus ein. Dann explodierte es. Ziegel flogen in alle Richtungen davon, wie eine Horde Aasvögel, die vor einer Katze floh. Der winzige Stern war bereits verschwunden, war hinter dem Horizont untergegangen.
Dann veränderte sich die Szenerie in ruckhaften Schüben. Gekrümmtes Land unter dunkler Watte rutschte schwindelerregend in Sicht und verschwand wieder.
23 Schnittpunkte
Der Plateauabsatz von Minnis linkem Stiefel war abgebrochen, als sie und Osmo von der Villa zum Arboretum geflohen waren, von Sam angetrieben. Beinahe hätte sie sich den Knöchel verrenkt. Sam hatte ihr den Stiefel vom Fuß gezerrt. Den rechten ebenfalls. Andernfalls hätte sie sich humpelnd und hinkend vorwärtsbewegen müssen. Nun stand sie in ihren Wollsocken da. Die Socken waren klitschnaß und verdreckt. Allerdings nicht kalt. Wohl kaum! Denn die Luft war heiß genug, und auch der Boden war warm. »Heiliges Mana«, keuchte Sam, »seht Euch das an …!« Durch die Lücken in den Dampfschwaden konnten sie auf den Höllenpfuhl blicken, zu dem der größte Teil von Burg Kippan geworden war. Wenn schon das Mustoreum unangenehm gemieft hatte, so war die Ausdünstung der offenen Eingeweide der Erde – und der darin verschlungenen Stadt – ein beißender Gestank, der einem den Atem raubte. Das dürftige Tageslicht wäre ein tristes Grau gewesen, wenn nicht die glühende Lava und die Feuer in gräßlichen Orangetönen durch die Decke aus dichten Wolken und treibendem Dampf geschienen hätten. Minni, die ohne ihre Stiefel geschrumpft schien, riß ihren gesteppten Mantel auf, um sich zu kühlen, und enthüllte ein Kleid aus bernsteinfarbenem Satin, das jetzt viel zu lang für sie war, als hätte sie sich in gedankenloser Eile angekleidet. Aber sie
hatte im Gegenteil ausreichend Zeit gehabt, die Krone aus Leder und Perlen auf ihr Kraushaar zu drücken, und sie hätte im geisterhaften Mondlicht sogar die sichtbaren Blockhäuser von Burg Kippan zählen können (wenn ihr etwas daran gelegen hätte), bevor die Erschütterungen eingesetzt hatten. Jetzt wirkte sie wie ein heimatloses Kind. Alle Flüchtlinge vor der Verwüstung waren obdachlos. Osmo verspürte ebenfalls das Bedürfnis, sich zu kühlen, und wedelte mit seinem gefütterten Mantel. »Seid vorsichtig«, regte Sam sich auf. »Diese Mäntel geben Euch guten Schutz.« »Es hat schon seit einiger Zeit keine Steine mehr geregnet«, erwiderte Minni. Etwas früher war heißer Schotter herabgefallen, der aus dem Sumpf am Südwestrand der Stadt hochgeschleudert worden war. Gestalten bewegten sich im unbeständigen Dunst zwischen den blattlosen Bäumen und Büschen und den immergrünen Gewächsen hin und her. Die aus Burg und Forts Geflohenen hatten sich im Arboretum versammelt, weil Bäume Wurzeln hatten. Der umzäunte Garten war ein großes bebendes Floß. Bislang hatte es zusammengehalten, abgesehen von ein paar schmalen Rissen. Es war nicht hügelabwärts in die Grube gerutscht, wie es mit der Burg geschehen war. »Osmo, seid Ihr es …?« Tilli Kippan wurde vom Goldmädchen begleitet. Golda schleppte Tilli mit sich und stützte sie. Beide waren zerzaust und verschmutzt. Getrocknetes Blut klebte auf Tillis weiter Stirn. Eine Locke haftete am Schorf. Der Spaniel bellte hinter Tillis Fersen – sprachlos, nur noch ein ängstliches Tier. Viel-
leicht wollte der Hund seine Zähne in Tilli graben, um sich ihrer Gesellschaft zu versichern. »Vater ist in der Burg geblieben! Zu berauscht, um die Gefahr zu erkennen. Er dachte, der Mond wäre ein Traum. Boris, der Verwalter, wollte ihn nicht herauszerren. Und meine Mutter, nun, meine Mutter …« »Was ist mit Fürstin Edith?« fragte Sam. Tillis Stimme erstickte. Golda sprang ein: »Fürstin Edith wünschte Fürst Kippan sterben zu sehen. Ja, das war ihr einziger Wunsch.« »Bei ihm zu sein, um sich zu versöhnen …« »Nein, Fräulein Tilli, um zu erleben, wie seine Langlebigkeit plötzlich zu Ende geht, plötzlicher, als er sich es jemals hätte vorstellen können. Doch vielleicht hat er trotzdem überlebt.« Die massige Burg war seitwärts in die Kluft gerutscht, hatte Veranden zerfetzt und sich völlig verdreht. Die Trümmer stauten sich an einer Seite des versunkenen Mondes. Das Gebäude aus Tammiholz war zwar feuerbeständig, aber dennoch drang Rauch aus dem Innern, nachdem die zerstörten Öfen das Mobiliar in Brand gesteckt hatten. Zertrümmerte Forts waren noch tiefer gestürzt, mitten in die blubbernde, rötlich-orangene Lava hinein, die dem Mond bis zum Bauch stand. Flackerte Mana-Feuer im schmalen Graben ringsum, oder waren es nur Wolken aus brennendem Gas? »Falls er nicht an Erstickung oder einem Herzanfall gestorben ist«, sagte Sam. »Wer trägt nun die Verantwortung, Fräulein Kippan, wenn der Waldfürst tot ist? Die rivalisierenden Verwalter? Oder Ihr selbst?« Tilli riß die Locke von ihrer Stirn und öffnete damit wieder
die Wunde. »Niemand … Nein, das Ding da trägt die Verantwortung. Dieser schreckliche Ukko! Wie ein gewaltiges steinernes Verrin! Die Stadt ist zerstört. Wer soll jetzt noch Verantwortung tragen?« Der Spaniel bellte sinnlos immer und immer wieder denselben Laut. Golda rief in die treibenden Schwaden: »Bernsteinmann, wo bist du? Wo bist du, mein Bernsteinmann?« »Offenbar habt Ihr jetzt die Befehlsgewalt, mein Prinz und Besprecher«, sagte Sam zu Osmo. Osmo deutete mit einer schwachen Geste auf den Mond im Höllenpfuhl. »Soll ich das da besprechen? Es ist wie ein großer steinerner Augapfel in einer blutunterlaufenen Augenhöhle …« »Ich habe einem Mutanten-Magus getrotzt«, murmelte Minni zaghaft. Sie schlug ihre kleine Faust in die Handfläche. »Hat meine Mutter dieses Ding geschickt, damit es uns unter sich zerquetscht? Hat sie jetzt die Gewalt darüber? Hatte sie Erfolg? Wann? Wie? Wo?« Diese Frage hatten sie und Osmo sich schon zuvor ergebnislos gestellt. Osmo hüllte seine Frau zur Hälfte in seinen Mantel und murmelte: »Vergiß nicht unser Baby.« Minni löste sich aus dem zusätzlichen Schutz. Sie entzog sich seinem Griff. »Oh, ich glaube, daß das im Augenblick wirklich sehr wichtig ist«, murmelte sie vor sich hin. »Ein halbes Gramm Baby. Nicht einmal das. Eine halbe Note. Vielleicht sollten wir schleunigst die Flucht ergreifen, bevor diese Bäume hier in die Grube rutschen. Ich könnte die Zeit meiner Schwangerschaft wie Jatta in einer Hütte verbringen – allerdings wären dann Mamis Truppen hinter mir her.« Sie biß die Zähne zusammen. »Ich trotzte einem Magus! Ach, du Scheiße! Ich habe die Harfe
im Thronsessel gelassen … Verdammt, mein Thron!« Minnis Villa war in der Grube verschwunden, genauso wie das Mädchenhaus und vieles andere. Viel zuviel anderes … Als der wahnsinnige Mond drohend in Sicht gekommen war, hatte er einen strahlenden Schein wie eine Wolke von Phosphorkäfern mit sich geführt, in dem sich Schnee und Eis spiegelten. Die Wachtposten in den Forts und der Stadt bliesen schon bald ihre kreischenden Alarmpfeifen in einem durchdringenden Chor zur Begrüßung dieser falschen winterlichen Dämmerung. Kaum jemand in Burg Kippan konnte noch geschlafen oder sich im Haus aufgehalten haben, als der Mond über der Stadt in Stellung ging – ein leuchtender Hügel am Himmel, dessen Unterseite von Blitzen umzuckt wurde. »Ukko, Ukko!« waren hier und dort Rufe zu hören. Kein Ukko hatte sich jemals so tief über dem Boden hinabgesenkt. Kein Ukko hatte jemals in eigener Helligkeit gestrahlt. Ukkos bewegten sich durch den Weltraum, waren winzig in der Ferne, während ihr Licht hauptsächlich von der Sonne und zum Teil vielleicht von der Himmelssichel stammte. Hier war zweifellos der Ukko, wie er schwer und dennoch leicht in der Luft hing. Bei diesem Wunder konnte es sich einfach nur um das UkkoKind handeln, von dem Fürst Osmo warnend gesagt hatte, Königin Lucky würde danach suchen! Zum Glück schwebte er außer Reichweite – sofern man nicht über eines dieser Sprungfahrräder verfügte, die sich zur Zeit allesamt an der Kriegsfront befanden … Von der Nachricht, daß der Mond angekommen war, würde Lucky angelockt werden wie eine Motte von einer Laterne. Sie
würde alles daransetzen, so schnell wie möglich nach Burg Kippan zu gelangen, während ihr Haß auf van Maanen sich mit dem Objekt ihres Begehrens verband. Leuchtend hing er über den Köpfen der Menschen. Und wartete … aber worauf? Darauf, daß die Männer des Waldfürsten die Gehsteige und die Holzpflasterung der Straßen aufrissen und einen wackligen Turm aus Baumstämmen und Bohlen errichteten, der hoch genug war, um an ihn heranzureichen? Daß die Holzmänner die Forts abrissen und sie senkrecht wieder aufbauten? Mana-Priester aus der Kirche auf den Baumstelzen flehten den Ukko an, die Stadt durch seine Gegenwart zu segnen und irgendein Wunder zu bewirken, um eine Offenbarung der Natur des Mysteriums preiszugeben. Sie alle konnten sehr schnell zu Mana-Bischöfen in Tumio werden, zu einem kollektiven Episkopat ähnlich wie die Verwaltung von Tapper Kippans Ländereien durch ein Triumvirat. In diesem Augenblick war Burg Kippan das Zentrum aller Mana-Studien auf ganz Kaleva. Bürger, die den Anblick nicht ertragen konnten, wie ein Berg über ihnen hing, rafften ihr Hab und Gut in Bündeln zusammen und flüchteten über die verschneiten Straßen in den erfrorenen Wald. Diese hatten Glück gehabt. Viele andere blieben, um zu starren und zu gaffen. Allmählich begann die Temperatur zu steigen – die Kälte wurde milder, bis es richtiggehend warm wurde. Schnee und Eis zerschmolzen zu Matsch, dann zu fließendem Wasser. Das Eis zog sich vom kalten See zurück, wurde dünner und verschwand. Im heißen See, der niemals gefror, spuckte der Geysir – und ein
paar Minuten später spritzte er schon wieder. Immer wieder verschoß er brühendes Wasser. In den Straßen dampften die Bohlen, als der Boden darunter sich erhitzte. Beben erschütterten die Stadt und Burg Kippan. Die Bäume in den Gärten nickten mit den Kronen. Fensterglas zersplitterte. Bald schwammen die Häuser und Bohlenstraßen auf warmem, schwappendem Schlamm, als der Untergrund auftaute. Die Kirche in den Bäumen schwankte hin und her. Und dann gaben die Dämme des heißen Sees und die Schleusentore nach. Erhitztes Wasser strömte hindurch und überflutete die wankenden Straßen. Menschen wateten ungeordnet, drängend und sinnlos, während sie stolperten und stürzten und schrien. Der Deich und die Tore des kalten Sees brachen ebenfalls zusammen und entließen eine noch heftigere Flut. Gischt spritzte. Steine wurden aus dem Sumpf gesprengt. Die Erde brüllte wie unter einem Magenkrampf, als ihre Eingeweide sich entleerten – bis die Bewegung sich umkehrte und der Boden zu verschlingen begann. Dies geschah in mehreren Etappen. Ein Teil der versumpften, bebenden Stadt unter dem Mond sackte ein paar Meter tief ab. Der schlammige Grund des heißen Sees gab ebenfalls nach. Zehn Minuten später rutschte die Oberfläche abrupt wieder etwas tiefer. Das Brüllen wurde zu einem durchdringenden Schrei. Nicht lange danach stürzten Stadt und Flut und Seeboden in ein tiefes Loch, in dem sich Wasser und Trümmer mischten. Dampf schoß hoch und verhüllte sogar den Mond.
Als die Dampfschwaden sich schließlich in der Höhe mit den Wolken vereinigt hatten, wurde eine Mulde sichtbar, in der Lava rötlich brodelte. Die Forts waren die Hänge hinabgestürzt. Kippans Burg war steil weggerutscht. Und der Mond selbst senkte sich in den Krater hinab. Die Überlebenden mußten sich Unterkünfte organisieren. Im Augenblick war es warm im Arboretum, fast schon heiß, aber trotzdem. Und sie mußten sich Lebensmittel organisieren – vielleicht aus einem der verschneiten Walddörfer in der Nähe? Von Burg Kippan war nichts mehr übrig außer ein paar Hütten im Umkreis, wie die an den Eingängen zum Arboretum. Keine Raketen verteidigten mehr die Umgebung. Es war auch nichts übrig, was sich zu verteidigen lohnte. Nein, ganz im Gegenteil: das Ukko-Kind dort im Höllenpfuhl! Dieser todbringende Schatz mußte um jeden Preis gegen Lucky verteidigt werden. Doch es gab nur wenige Verteidiger und ebenso wenige Waffen. Elmer und Eva stießen zur Gruppe. Dann ein Dutzend hölzerner Soldaten. Einige waren versengt, ihre Uniformen aus Rindenstoff verkohlt. Ein paar Männer der Blauen Garde kamen, von denen einer über eine verbrannte Hand klagte. Wex stand außerhalb des Palisadenzaunes und starrte angestrengt auf den Mond im heißen Krater. Seine Hand war immer noch wegen der Verbrennung am Minzholz bandagiert. Einer der Verwalter des Waldfürsten traf ein, der stämmige Boris – mit erdbeerfarbener Nase und in Pelzen schwitzend –, derselbe, der sich geweigert hatte, seinen Fürsten aus dem Allerheiligsten zu zerren. Einer seiner Mitverwalter war zur Zeit nicht in der
Stadt, weil er sich um Vorräte kümmerte, die in den Krieg geschickt werden sollten. Der dritte Mitverwalter mußte gestorben sein. Das Arboretum war ein natürlicher Anziehungspunkt. Der Baumgarten lag zwar in der Nähe der Gefahr, aber hier befand sich gleichzeitig das letzte sichtbare Zeichen von Tapper Kippans Herrschaft, wenn man von den Trümmern der Burg absah, die in der heißen Grube steckten. Wex starrte immer noch begierig darauf. Kippan konnte nicht mehr am Leben sein. Er war bestimmt geröstet und erstickt. Edith Kippan ebenfalls. Dasselbe Schicksal erwartete jeden, der verrückt genug war, den steilen Abhang hinunterzuklettern, um zu den Trümmern zu gelangen, die vor dem Ukko-Kind lagen. Wex ging einen Schritt vor und dann wieder einen Schritt zurück. »Kommt her, Roger!« rief Minni. »Kommt sofort hierher! Ich befehle es Euch!« Wex gehorchte mit schleppenden Schritten. Er wich dem Palisadenzaun an der Stelle aus, wo der Boden weggerutscht war, und betrat den dampfenden Garten. Sein züchtiges Gesicht war rußverschmiert. Asche hatte seine Perücke bestäubt. »Woran denkt Ihr, Roger?« Es war seine Wetware, die Antwort gab: »DER UKKO SELBST SCHEINT NICHT ZU HEISS ZU SEIN, UM DARAUF ZU LAUFEN. WIR KÖNNTEN SEINE OBERFLÄCHE ÜBER DIE TRÜMMER DER BURG ERREICHEN. SIE BILDEN EINE RICHTIGE BRÜCKE, SEHT IHR? FÜR EINE GEEIGNETE PERSON MÜSSTE ES EINEN WEG IN DEN UKKO GEBEN. WARUM SONST IST ER HIERHERGEKOMMEN?« »Offenbar um Burg Kippan zu zertrümmern!« rief Eva. Sie
fragte ihre jüngere Schwester: »Meinst du nicht, daß Mami bereits in diesem Schreckensding steckt und ihm sagt, was es tun soll?« »Nun, wenn sie wirklich da drinnen ist, hätte sich der Fall ohnehin erledigt, denke ich.« »Glaubst du nicht daran?« Eine heisere Stimme krächzte zur Antwort: Die alte Königin ist auf Burg Maananfors, Wo sie soeben aus unruhigen Träumen erwachte! Ein Rascheln von rostrotem Laub hoch oben in ansonsten kahlen Zweigen: Ein Kuckuck blickte auf sie herab. »Klatschvogel«, rief Osmo, »hör mich an: Bist du die Stimme des Ukkos?« Der Kuckuck hörte ihn an, die trichterförmigen Katzenohren gespitzt, und horchte dann stumm weiter. »Wenn sie wirklich in Maananfors ist«, sagte Sam, »dann hat sie das Ding da auf keinen Fall unter Kontrolle – noch nicht.« Sein Tonfall deutete an, daß sein Besprecherprinz etwas tun sollte. Boris, der Verwalter, sah Osmo an, dann Tilli. Zitternd sagte er: »Ich scheine der Verwalter zu sein, der zur Zeit das Kommando über die Truppen in dieser Region hat, von denen die meisten allerdings ein Stück entfernt sind …« Sam räusperte sich. »Darf ich Euch daran erinnern, daß Ihr vor der wahren neuen Königin steht – und ihrem General, nämlich mir?« »Zur Zeit befinden sich diese Truppen nicht in Eurer Nähe,
Herr Peller …« Der Verwalter machte eine angewiderte Handbewegung. »Wie soll diese Katastrophe wiedergutgemacht werden?« »In der Tat«, sagte Sam zu Osmo. Falls Boris seinen Fürsten im Stich gelassen hatte, um daraus einen persönlichen Vorteil zu gewinnen, so war der Anblick des Mondes im Krater, der einmal eine Stadt gewesen war, zutiefst ernüchternd für ihn. »Ich trauere um Eure Eltern, Fräulein Tilli«, sagte er. »Tatsächlich?« sagte sie. Ihr Spaniel knurrte den Verwalter an. Er wich zurück, blickte dabei jedoch eher Osmo als den Hund an. Urplötzlich machte Boris kehrt und flüchtete. »Wartet!« rief Minni. »Besprich ihn, Osmo!« Doch für Osmo war es zu spät. Wirbelnder Nebel hatte Boris verschluckt. Die hölzernen Soldaten rührten sich unbehaglich und schienen sich davonstehlen zu wollen, doch Osmo forderte sie auf: »Bleibt Holzmänner, es ist gesprochen!« »Er hat einen weiten Weg vor sich«, sagte Sam, »wenn er eine Kapitulation anzetteln will, um sich bei Lucky einzuschmeicheln. Viele Kims, viele Tage und Nächte lang, selbst wenn er ein Reittier findet. Sie jedoch wird herfliegen, sobald sie davon hört.« Er deutete mit einem Nicken zum lauschenden Kuckuck hinauf. »Sie kann nicht anders, sie muß einfach kommen. Ich schätze, sie wird bei ihren Truppen haltmachen, um einige Soldaten mitzunehmen. Dann wird sie über die Kampfzone hinwegfliegen. Von uns sind hier nur noch wenige übrig. Keine Forts, keine Raketen, kein gar nichts, nur ein paar Gewehre.« Er rieb seine Handflächen gegeneinander. »In gewisser Weise
haben wir eine gute Gelegenheit, ihr einen Hinterhalt zu legen. Sie dürfte nicht die einzige sein, die hierhereilt, wenn Ihr mich fragt!« Minni sprach mit sich selbst. »Also dürfte es klüger sein zu versuchen, in diesen Felsklumpen einzudringen …« »In der Tat!« Elmer vollführte jonglierende Bewegungen mit seinen langen knochigen Händen. »So viele Tonnen. Und es konnte fliegen. Der Schwerkraft trotzen …« »Bislang haben die Streifen-Isi uns geholfen«, meinte Eva. »Ich glaube jedoch nicht, daß sie es weiterhin tun werden …« »Ach, die Streifen-, Bronze- und Samt-Isi sind ebenfalls schon unterwegs«, versicherte Sam ihr. »Zusammen mit allen Juttis, die sie auftreiben können.« »Es sieht wirklich mehr wie ein Augapfel aus«, überlegte Minni. »Wenn man es als Augapfel betrachtet, Osmo, wirkt es gar nicht mehr so riesig! Nicht wahr?« Wex beschattete seine Augen. »Zuviel Dampf, um einen Eingang erkennen zu können. Zu verschwommen! Wie heiß ist es wirklich dort unten auf dem Ukko selbst?« Zumindest im Arboretum war es recht warm für einen Wintertag. Das Mondkind konnte seinen Ruheplatz nur mittels Erzeugung von Hitze geschaffen haben. Hätte es statt dessen auf dem Boden balancieren sollen? Wex erschauderte. »DIESER KÖRPER KANN HITZE ERTRAGEN, OHNE SCHMERZ ZU EMPFINDEN. TROTZDEM KÖNNTE EIN BETRETEN DES KRATERS OHNE SCHUTZ UNS SO SEHR BESCHÄDIGEN, DASS UNSER KÖRPER IN SEINER FUNKTION BEEINTRÄCHTIGT WIRD.« »Wetware!« kreischte Minni. »Du wirst Roger auf keinen Fall
ganz allein dort hinuntermarschieren lassen!« »WENN MEIN WIRTSKÖRPER VERSAGT, WERDE AUCH ICH NICHT ÜBERLEBEN. TROTZDEM KÖNNTEN DIE SICHERHEITSINTERESSEN DER ERDE ES ERFORDERLICH MACHEN.« Welch pathetische Rede! »Wetware, versuche Rogers Empfindungen zu berücksichtigen.« »WELCHE EMPFINDUNGEN?« »Denk an dein eigenes Überleben, wollte ich damit sagen.« »ACH JA, ICH BIN EBENFALLS EIN INDIVIDUUM, NICHT WAHR? ICH HABE EIN GESICHT, DAS IHR NICHT SEHEN KÖNNT.« »Roger wird vielleicht gar kein Gesicht mehr haben, wenn du ihn dazu zwingst, dort hinunterzusteigen.« »ER WÜRDE SEIN GESICHT VERLIEREN? WORAUF ES DURCH MEINS ERSETZT WIRD …? VIELLEICHT KÖNNTE EINE MUTAPUMASKE UNS SCHÜTZEN.« »Um sein Gesicht in deins zu verwandeln? Was hast du vor? Ich sehe keine Mutapu-Masken in der Nähe!« »Vielleicht«, sagte Tilli bissig, »will er sich eine aus einem der Bäume hier schnitzen.« Eine gelenkige Gestalt kam in Sicht. Zerknitterte olivgrüne Uniform, adretter Schnurrbart, hellweiße Pupillen in braunem Teint. »Oh, Mr. Wex«, rief der tamilische Pilot, »Sie sind am Leben …« Mathavan Gurrukal warf zur Bestätigung einen Blick auf Wex' Perücke. Gurrukals linker Arm war fest in ein zerrissenes Tuch gewickelt, in dem sein Schlagstock aus Tammiholz als Schiene steckte. »WO IST DER SCHWEBER?« wollte Wex' Wetware wissen.
Gurrukal betrachtete das Spektakel jenseits des Gartens. »Ich habe Dinge gesehen, großer Himmel …!« »WO IST DER SCHWEBER?« Mit einer Grimasse des Unbehagens hob Gurrukal seinen geschienten Arm und ließ ihn wieder sinken. Er mußte am Ellbogen ausgerenkt oder gebrochen sein. Oder die Speiche oder die Elle. »Ich ließ unseren Schweber aufsteigen, doch dann kam es zu einem kleinen Unfall. Ist nicht mehr zu gebrauchen.« Sein Arm oder der Schweber? Beides! »Das Ukko-Kind hat mich vom Kurs abgedrängt, wißt Ihr.« »Verdammt, verdammt!« fluchte Roger. Seine Wetware hatte die Kontrolle über seinen Ärger gelockert. »Wir hätten auf dem Mond landen können.« »Auf genau dieselbe Weise, wie Lucky es tun wird«, sagte Sam. »Und die Isi und Juttis.« »Der Unfall war nicht meine Schuld«, protestierte Gurrukal. »Habt Ihr Pen in Landfall angefunkt, um ihr mitzuteilen, was hier geschieht?« Gurrukal wirkte beleidigt. »Und damit die Isi über alles zu informieren? Nachdem ich meinen Arm versorgt hatte, mit einer Hand und mit Hilfe meiner Zähne?« Mit Bestimmtheit: »Es WAR RICHTIG VON EUCH, DAS FUNKGERÄT NICHT ZU BENUTZEN. AUCH ICH HABE DEN KOMMUNIKATOR IN UNSEREM MANTEL NOCH NICHT BENUTZT. HERR PELLER, WIE SICHER SEID IHR EUCH, DASS DIE ISI BEREITS DAVON WISSEN?« Sam deutete mit einem ungeduldigen Nicken zum schuppigen gräulich-grünen Kuckuck hinauf.
»Es DÜRFTE MEHRERE STUNDEN DAUERN, BIS ANDERE SCHWEBER UND TRUPPEN AUS LANDFALL HIER EINTREFFEN … DASSELBE GILT FÜR LUFTBOOTE AUS DEN NESTERN DER STREIFEN- UND BRONZE-ISI – WENN SIE DAVON WISSEN, WENN! ETWAS LÄNGER VOM NEST DER SAMT-ISI … KÖNIGIN LUCKY WIRD ALS ERSTE EINTREFFEN, WENN SIE DAVON WEISS.« »Ex-Königin Lucky«, wurde die Wetware halbherzig von Minni korrigiert. »Sollen wir das Risiko eines Funkkontaktes eingehen?« fragte Roger sich selbst, während er darum kämpfte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Vermutlich hoffte er, einen ungeschützten Abstieg in die Grube vermeiden zu können. »Ich denke, das sollten wir.« Er griff in eine Innentasche seines Mantels und holte einen kompakten Kommunikator hervor, aus dem er eine dünne Teleskopantenne hervorzog. Er trat ein paar Schritte zur Seite, um ungestört zu sein. Gurrukal folgte ihm eilig. (»WAS MEINTEN SIE ÜBRIGENS DAMIT, MR. GURRUKAL, DASS DER UKKO SIE VOM KURS ABGEDRÄNGT HAT …?«) (»Es fühlte sich so an. Ja, schon gut, ich war abgelenkt! Ich war aufgeregt …«) (»ALSO KÖNNTEN ANDERE SCHWEBER UND LUFTBOOTE SICHER AUF DEM UKKO LANDEN …«) (»Wenn sie mit den Konturen zurechtkommen …«) Rosenöl und Hefe und Schokoladenduft erfüllten die Luft. »Mein Bernsteinmann!« Golda rannte los, um die nackte goldene Gestalt mit dem Fötus im Bauch zu begrüßen. Osmo, der dieses Geschöpf zum ersten Mal sah, keuchte auf – und Minni ebenfalls. Bernsteinmanns Besuche im Mädchenhaus waren stets unauffällig gewesen. Osmo holte Luft. Er schüttelte sich, um eine schwindelerre-
gende Unanständigkeit zu vertreiben. Er hatte goldene Pisse verspritzt, um eine Menschenmenge zu beeindrucken. Jetzt war nicht die rechte Zeit, um eine solche Demonstration zu wiederholen. »Ach, du meine Güte!« piepste Minni. Elmer legte feierlich, wenn auch etwas unbeholfen einen Arm um seine Frau, und Eva ließ seufzend ihre Locken auf seine Schulter fallen. Bernsteinmann nahm Golda in die Arme. Ihr Geliebter blickte bereits über ihre Schulter auf den Höllenpfuhl. »Das Harz der Steine«, sang er. Sein Tonfall hatte eine reizende Schlichtheit. »Das Harz der Erde. Soviel Bernstein.« Ein beachtlicher Graben. Ganz offensichtlich empfand Bernsteinmann eine große Affinität zur Lava. Der Embryo in ihm bewegte sich. Golda klammerte sich an ihren Geliebten und verbreitete süßlich-verliebte Düfte, die gleichzeitig entspannend wirkten, ein Übermaß der Freude, die den verzückten Empfänger beruhigte, so daß Bernsteinmann leicht zitterte. Der Kuckuck war ebenfalls betroffen. Oben im Baum krächzte der Vogel volltönend wie eine gesprungene Glocke: Sie, die mich lenken möchte, sucht Den Namen der Blume, Die eine Pfefferkuchenfrau In ihrem roten Haar trägt. Ihre Worte werden schmelzen wie Kerzenwachs, Um in neuer Form diesen Namen zu bilden. Ach, schwarze Männer von Puutara, Warum hört ihr nicht auf Kuckucke, Wenn eine Stadt im Kerzenfeuer zerschmilzt?
Der Klatschvogel wiegte sich hin und her. Plötzlich fiel er vom Ast. Während er fiel, flatterte er, um seinen Sturz abzufangen. Kläffend hetzte Tillis Spaniel los. Mit einem entrüsteten Krächzen flatterte der Vogel wieder hoch und davon – über den Palisadenzaun hinweg, dann hinaus über die Grube. Eine Weile glitt der Vogel dahin, immer im Kreis. Dann steuerte er auf den großen Steinklotz zu, wurde undeutlicher und verschwand schließlich im Dunst. »Poesie«, sagte Osmo ätzend. »Soll auch ich zum Poeten werden? Ein Kuckuck landet auf dem Mond; ob darin wohl eine Königin wohnt?« »Fliegen dürfte die beste Methode sein, um dorthin zu gelangen« – Wex gesellte sich wieder zur Gruppe – »aber von Landfall empfange ich keinen Mucks.« Bernsteinmann strebte vergeblich zur Lücke im Zaun, während Golda ihm leise ins Ohr sang. »EINE PHALANX AUS HÖLZERNEN SOLDATEN KÖNNTE UNS ABSCHIRMEN, WÄHREND WIR HINAUFSTEIGEN«, SAGTE Wex' anderes Ich zu Osmo. »KÖNNTE UNS NICHT EIN BERÜHMTER BESPRECHER VOR HITZE UND SCHADEN BEWAHREN, WENN ER BEI UNS IST?« »Der Schnelljunge Jack wäre dazu in der Lage, die Atmosphäre abzukühlen«, sagte Wex. Er und seine Wetware schienen sich daran zu gewöhnen, abwechselnd zu sprechen. Minni beobachtete ihn mit Sorge. »Nun, ich habe einem Mana-Magus getrotzt«, murmelte sie. Elmer jonglierte schon wieder. »Ich habe die Alles-Maschine in Betrieb gesetzt …« »Ach wirklich?« gab Osmo zurück. »Dieses Mond-Geschöpf ist keine Maschine. Es ist ein genauso unberechenbares Wesen
wie Lucky. Es hat Burg Kippan vernichtet und Tausende von Menschen getötet! Tausende! Nicht Dutzende oder Hunderte, sondern wahrscheinlich ein paar tausend. Jeder davon hatte sein eigenes Leben, wovon Golda uns bis in alle Ewigkeit erzählen könnte, wenn sie die Menschen kennengelernt hätte und wenn wir genügend Muße zum Zuhören hätten. Was für eine schreckliche Verschwendung von Leben!« »Ihr habt den Krieg angezettelt«, widersprach Eva. »Ihr habt unser Ha-Haus angegriffen.« »Paßt gut auf, was Ihr sagt! Eure Ha-Häusler haben meine Garnison niedergemetzelt.« »Wenn dieses Ding sich von Tod und Verderben ernährt, ist es kein Wunder, daß es eine Stadt in Grund und Boden gestampft hat!« »Geschichten leben vom Konflikt«, sagte Wex, »AUSSER IN DER HARMONISCHEN GESELLSCHAFT, und sie enden in der Katastrophe oder der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, ODER IN BEIDEM, WÄHREND SIE BIS ZUM SCHLUSS SCHWANKEN, ganz nach den Launen des Zufalls und der Entscheidungen, OBWOHL DER ZUFALL IN WIRKLICHKEIT EIN UNPASSENDER NAME FÜR EINE SPONTANE ENTSCHEIDUNG IST, DIE OHNE BEWUSSTE ÜBERLEGUNG GETROFFEN WIRD.« »Ach wirklich?« Königin Minni blies sich auf. Sie rückte ihre Krone aus Peitschen und Perlen zurecht. »Nun, wir wollen uns nicht zanken. Wir wollen nur versuchen, Kontrolle über das Ding da unten zu erlangen.« Osmo spielte mit seinem Schnurrbart und holte dann vorsichtig Luft. »Wenn ich uns einen sicheren Weg dort hinunter besprechen soll, sollte ich zuallererst ein reichhaltiges Frühstück
zu mir nehmen.« Er blickte Sam an, der am ehesten als Erfüller dieses Wunsches in Frage kam, doch es war Golda, die sich zu Wort meldete. »In den Wachhäuschen an den Toren müßte es etwas zu essen geben …« »Sofern sich dort keine anderen Überlebenden die Bäuche vollgeschlagen haben.« Ullis Stimme bebte. »Ich glaube allerdings, daß die meisten noch zu sehr unter Schock stehen, um ans Essen zu denken.« »Essen!« kläffte Aus. »Ich Hunger!« Beim Klang eines heißgeliebten Wortes hatte die Hündin ihre Sprache wiedergefunden. Das Aufbäumen des großen Kopfes des maaginen-Juwels Viper vor dem Dach ihrer Höhle in Himmelblau, die aus ihren Häuten nach der Abwerfung bestand, zur Verwandlung der Umgebung in eine Hülle der Helle und Schuppigkeit. Die Sättigung nach dem kürzlichen Verschlucken des Körpersklaven, mit dessen Ablegen der Uniform in Beige und sein Winden unter Zwang durch ihre Kehle. Das Anschwellen und Blähen unter dem Wulst des Körpersklaven nach seiner Erstickung, die drei Tage des Verdauens. Dennoch Vipers Erheben der Kopfschuppen mit Schärfe zur Decke. Das Erheben des Scharfzahnes auf ihrer Oberlippe, zur Zerreißung der Umhüllung aus Häuten. Ein Juttahat mit Lappen zum Polieren der Glanzschuppen war im Weg – sein Umgeworfenwerden durch die Rüstung in Ocker der Verwaschenheit mit der Dekoration durch Glyphen
in Sepiafarbe. Das Zurückweichen des Juttahat mit der UkkoBlume im Kelch mit Vipers Zahnsäften gegen die Wand der Krümmung in Azurblau, seine Flucht durch den Durchgang. Vipers Aufschlitzen der Dachmembrane in Blau, das Kratzen von Zahn auf Fels. Wie in Reaktion auf diese Reibung erfolgte ein Aufsteigen von Pastellicht von den Hörnern des maaginen. Der Duft von Vanilleöl in der Luft. Zeit zum Schlüpfen aus diesem Höhlenei! Nach dem Aufgang des Ukko-Jungen, der Enthüllung der Steinkapsel seines Regenbogen-Bewußtseins, eines Regenbogens in Buntheit vom Blut seiner Geburt, dem Blut von Menschenwesen, von Lava in Flammen. Das baldige Schlüpfen des maaginen-Juwels aus der Gebärmutterhöhle zur Bestätigung der Affinität, in Sanftheit und Kontrolle. Das Furchen der Zähne in Fels, die Suche nach dem Riß zum Aufbrechen der Eihöhle. Kommunikation der Intensivität: Streifen-Freunde, StreifenFreunde, Forderung Eures Kommens! Bedürfnis Eures Bringens des größten Luftbootes ins Mana-Labyrinth des Juwels. Die Leerung des Nestes zur Begleitung. Das Tragen des Juwels in einer Wiege unter dem Luftboot. Der Transport des Juwels zur Übernahme des Ukko-Jungen, am Ort des Brennens einer Kerzenflamme in Wärme trotz Winters. Auch die Schickung aller Sprungfahrräder hierher. Bilder von solcher Macht nach der Trächtigkeit in Monstrosität. Nur ein einziger Fehler des maaginen – mit der Kobold-Prinzessin während ihres Festhaltens an der Zunge Vipers. Zurückweisung des Bildes der KoboldPrinzessin! Das Zerplatzen von Lichtblasen in Pastell. Das Aufbrechen des Felsens. Das Herabrieseln der Erde, die Flut der Erde.
Ankündigung des Kommens. Bevorstehen einer Großen Erzählung: Die Zähmung des Weltraumgeschöpfes, des Regenbogens im Fels, durch den maaginen der Erhabenheit, im Namen der Streifen-Isi, der Meister-Isi, dann die Erlangung der Herrschaft über die Menschenwesen in ihrer Wildheit. Ankündigung des Kommens! Das Innehalten einen Augenblick lang. Die Frage nach dem Grund des Verdauens des Körpersklaven in seiner Schwere vor dem Ausbruch aus der Höhle. Warum die Selbstbelastung des maaginen der Tadellosigkeit vor dem Spüren des Bevorstehens von Ereignissen der Wichtigkeit? Der Unsinn des Nachgebens eines solchen Hungers der Plötzlichkeit! Vipers Selbstbetrachtung. Das Auffallen der Mißachtung verschiedener Empfindungen und Düfte als Ablenkung von ManaStrömungen, zur Konzentration auf das Bevorstehen von Ereignissen! Die Erinnerung an diese Andeutungen der Flüchtigkeit, trotz der Unterdrückung durch die jüngste Mahlzeit. Vipers Selbstuntersuchung! Die Offenbarung der Wahrheit voller Erstaunen. Das maaginen-Juwel befand sich in Schwangerschaft! Der Beginn der Schwangerschaft war die Ursache für den Hunger. Was war die Ursache für die Schwangerschaft? Wie wie wie wie wie wie? Seit vielen Jahren hatte es keine Besuche von Isi-Männchen in Vipers Höhle gegeben. Die Fähigkeit der Lagerung von Sperma im Körper einer Schlange für viele Jahre. Dennoch war die Größe des maaginen seit langer Zeit ein Hindernis für jeden Schlangen-Freier. Seit sehr langer Zeit! In dieser Höhle war kein
Besuch durch irgendeinen Freier erfolgt. Die Unmöglichkeit der Vorstellung einer Paarung zwischen irgendeinem Isi-Männchen und diesem Mana-Magus der Mutanten- Monstrosität. Auch die Fähigkeit der Juttahat-Weibchen des Lagerns von Spermien von Juttahat-Männchen … Die Möglichkeit der Lagerung von Isi-Spermien durch Juttahat-Weibchen? War ein Diener bis zu seiner Verspeisung durch Viper ein Behältnis für Schlangen-Sperma gewesen? Dann seine Schickung in Vipers Höhle als Hinterlist? Diese Absurdität! Diese Unmöglichkeit! Welchen anderen Grund gab es für diese Befruchtung Vipers, für dieses Mysterium? Jungfernzeugung? Während einer Leidenschaft der Erotik? Viper hatte keine Neigung zu Leidenschaften der Erotik! Kein Eindringen in Vipers Kloake durch den Jutthat-Diener mit dem Poliertuch, auch kein Streicheln einer Stelle am Hals! Vipers alleinige Beschäftigung mit ihrer Mana-Mission. Dennoch hatte es eine Leidenschaft der Erotik gegeben. Vor einem Jahr, während des Besuches der Kobold-Prinzessin der Abscheulichkeit! Vipers Beeinflussung von Prinzessin und Besprecherfürst zur Kopulation. Das Fehlschlagen des Versuches. Das Verstopfen von Vipers Mund und Geist durch die Prinzessin. Das war der Augenblick der Mana-Jungfernzeugung gewesen! Die Verzögerung der Konsequenzen und ihre jetzige Offenlegung! Die Vorstellung einer Schlangenlinie aus Embryos, die zu einer Fötenkette wurde, die Möglichkeit von fünfzig Föten für eine Schlange von solcher Größe wie Viper in ihrer Prächtigkeit
– oder die Aufreihung von hundert Föten in ihrer Plazenta. Die Notwendigkeit der Befriedigung großen Hungers. Die Wahrscheinlichkeit der Totgeburt der meisten Föten aufgrund von Sauerstoffmangel während der Lösung von der Plazenta in Gleichzeitigkeit. Sonst zu viele Isi! Maaginen in Schwangerschaft! Aufgrund der Kobold-Prinzessin! Welcher Ärger und welche Freude. Die Gleichzeitigkeit der Freude und des Ärgers. Die Wesenhaftigkeit der Befriedigung einer Schwangerschaft. Die Versuche der Bronze-Isi zur Schaffung von Hybriden aus Menschenwesen der Wildheit und Juttahats der Treue … War dies die Wunderkreuzung zwischen der Aura der Menschenwesen und der Spezies der Schlangen in ihrem eigenen Leib der Fruchtbarkeit? Bestand die Möglichkeit der Manipulation der Menschenwesen durch ihre Nachkommen (der Überlebenden aus der Wahrscheinlichkeit der Myriaden in Schwangerschaft) mit derselben Leichtigkeit wie bei Dienern der Treue? Maaginen wurde nach Jahrzehnten in der Höhle zur Mutter! Durch die Kobold-Prinzessin! In der Gleichzeitigkeit von Verärgerung und Euphorie erfolgte Vipers Drängen nach oben. Eine Lawine aus Klumpen der Kälte und Fetzen des Erdbodens. Das Schieben und Stoßen des maaginen der Mächtigkeit, das Strecken des Körpers, das Graben der Hornschuppen des Kopfes. Das Auseinanderwölben der Rippen durch den Druck des Körpersklaven im Bauch. Die Festigkeit des Schuppenpanzers war größer als bei anderen Isi. Dennoch das Abbrechen einer Kopfschuppe in Bedauerlichkeit. Die Härte des Bodens im Frost. Die Erweichung des Wider-
standes durch Mana-Wolken. Das Herbeirufen von Dienern mit Grabwerkzeugen? Nein. Vipers Wille zur Selbstgeburt aus ihrer Höhle in Kraft und Schwangerschaft. Zitronenduft der Verwirrung mit einem Hauch Pfeffer der Entschlossenheit und Salböl des baldigen Erfolges an Bord des Luftbootes der Samt-Isi. Die Landung des Luftbootes im Sichellicht und mit Hilfe der Scheinwerfer auf einer Wiese der Gefrorenheit, zur Lösung des Rätsels des Gefangenen /Minki Kennan/. Auf Veranlassung des Taktikers Pekular. Nach der Verletzung von Pekulars Ehre durch die Invasion des Nestes durch Uniformierte und Holzmenschenwesen unter Führung von Dämonen-Jack. Die Folge war Pekulars Drängen mit Nachdruck. Ein Versehen der Hastigkeit sollte nicht zu einer Gefährdung dieser Mission der Wichtigkeit werden. Dazu die Laune des maaginen Muskular der Ehrenhaftigkeit, ihr Mitbringen der Bronze-Geisel Imbricatus als Zeuge dieser Unternehmung der Großartigkeit. Allerdings Muskulars Lobpreisung ihrer eigenen Person und des Nestes der Samt-Isi im Gegensatz zum Ehrgeiz der Bronze-Rivalen. Dennoch! Imbricatus' Beeinflussung der Samt-Juttahat-Verteidiger während des Angriffes der Bedauerlichkeit, mit folgender Rückholung des Bronze-Magus. Der Schwachgeruch einer Verwicklung der Erotik in Unbestimmtheit zwischen Muskular und Imbricatus. Pekulars Sinn für Absonderlichkeiten. Zu viele Absonderlichkeiten an Bord dieses Luftbootes. Erstens Imbricatus. Zweitens der Gefangene Juko Nurmi in Erschöpfung – trotz seiner Nützlichkeit als Zeuge des Aufstiegs des Ukko-Jungen und als Bruder der Menschenfrau und Dichterin in Halbblindheit darin, in Anbetracht
ihrer langen Empfindsamkeit für das Ukko-Junge. Drittens der Menschenmann /Minki Kennan/. Seine Benommenheit und Verwirrung während der Gefangennahme, seine Erschrockenheit im Anschluß daran. Sein jetziges Einreden auf Juko Nurmi, er sei in Wahrheit sie, mit Namen Sal, und die Zustimmung des Somasehers Imbricatus … Erinnerung: Das Aufblitzen von Anzeichen der Dringlichkeit und Eindeutigkeit im Ukkoskop des Samt-Nestes, der Hinweis auf das Bevorstehen des Hervorkommens – trotz des Verlustes der Ohrblume an die Angreifer. Klingeln der Eindringlichkeit. Der Aufruhr im Nest. Das Aufbrechen der Luftboote nach Süden, das Pulsieren und Wummern, das Stöhnen der Luftturbinen unter der Last. Das Eintreffen über einem Abgrund, zuvor ein See unter Klippen. Jetzt die doppelte Höhe dieser Klippen, nach dem Versinken des Sees in der Tiefe. Reste von Leuchten, Aufsteigen von Dampf. Suchen der Scheinwerfer, das Finden eines Menschenzeugen auf der Klippe, seine Benommenheit durch Ehrfurcht und Hunger. Die Landung. Die Ergreifung ohne Widerstand des Zeugen durch die Juttahats. Die Erkenntnis, daß er der Bruder der Poetin war! Die Mitnahme des Zeugen ohne viel Protest. Seine Versorgung mit Nahrungsriegeln und Wasser, die Beruhigung und Befragung. Die Wiederbelebung des Besprechers und seine Wiedergewinnung von Kraft und Trotz, wenn auch in Erschöpfung. Sein Singen trotz Nahrungshilfe (unter Voraussetzung der Erinnerung in Korrektheit):
Kein Vermissen des Essens, Nein, das Vermissen meiner Schwester, Das Vermissen ihres Haars in Seidengelb, Das Vermissen ihres Vortrags, Der Einladung ihres blauen Auges, Kein Kuß, sondern ein Gebet Von ihrem Bruder: um das Verzeihen Des Stachels im Herzen, Des Kribbelns der Lenden, Der Schändung der Jungfrau. Der Mond unter dem See, Keine Spiegelung, ach nein, Kein Mond an unserem Himmel. Im Innern des Mondes, Der Aufbruch des Steinmondes, Des Mondes aus Stein! Ukko, Ukko: Warum? Juko Nurmis Selbstbesprechung in Verzweiflung. Die Verwandlung des Besprechers in einen Poeten? Meine Kastration durch die Himmelssichel, Das Beschneiden meiner Worte zur Korrektur, Die Rasur, die Tonsur der Buße … Der Verlust seiner Macht als Besprecher? Nach der Gefangennahme von Juko Nurmi die Offenbarung des Ukkoskops über eine Mana-Fluktuation im Westen. Nicht im Orbit, sondern in Überquerung der Wälder und Seen unter
Wintereis. Das Schweben einer solchen Masse in der Luft! Juko Nurmis leichter Überschwang nach seiner Benachrichtigung. Die Möglichkeit des Verfolgens des Ukko-Jungen. Die Möglichkeit der Erstürmung der Zitadelle der Schwester. Die Verfolgung der Mana-Anomalie durch die Luftboote mit Eskorten. Dann die Entdeckung eines Ping mit Dämpfung von einem Sprungfahrrad im Ruhezustand. Pekulars Verblüffung. Die Unerklärlichkeit der Position in Abgelegenheit. Durch das Ausstoßen des Fahrrades aus dem Ukko-Jungen im Vorbeiflug? Pekulars Anweisung eines kleinen Umweges mit Landung trotz Muskulars Protest. Die Entführung von /Minki Kennan/ aus einer Hütte am Seeufer durch die Juttahats, während der Flucht einer Frau mit Rothaar in den Wald unter Stolpern und Taumeln. Die Behauptung eines Juttahat des Wiedererkennens von /Minki Kennan/ aus früheren Kämpfen. Imbricatus' Zustimmung aufgrund der Abwesenheit von Falschgerüchen! Das Erinnerungsvermögen jedes Isi an zweitausend Gerüche als Tatsache; bei einem Somaseher-Magus die Möglichkeit der Erinnerung an viertausend. /Minki Kennans/ Beschimpfung durch Juko Nurmi, dann seine Enthüllung über /Minki Kennans/ Eindringen in das UkkoJunge unter dem See! /Minki Kennans/ Vertrautheit mit dem Innern des Ukko-Jungen! Ein Gefangener von solcher Wichtigkeit! Die volle Rechtfertigung für Pekulars Umweg. Die Fortsetzung der Reise. Die Vermischung der Gerüche der Juttahats, ihr Festhalten von Lichtwaffen und Armbrustgewehren, ihr Sitzen auf Sätteln an den Wänden oder ihr Stehen unter Handgriffen. Sandgruben als Platz für die Isi. Die Seher hatten einen Geruch der Süße und Würze, Juko Nurmi mit Bart
und in Ungewaschenheit hatte einen Gestank aus Achselhöhlen und Lenden in der Wärme der Kabine. Im Widerschein der Pastellichter die Deckendekoration aus Dünen und Monden, Wellen und Scheiben voller Rundungen. Das Pulsieren der Pflichtgedanken der Juttahats, die Inspiration der Diener durch Große Erzählungen. Dann /Minki Kennans/ Einsetzen des Protestes, die Behauptung seiner Identität als Frau mit Namen Sal. Trotz /Minki Kennans/ Körpergeruch erfolgte die Bestätigung des Somasehers Imbricatus: Im Körper dieses Menschenwesens war der Geist eines anderen. Die Möglichkeit einer schnellen Feststellung. Dazu die Notwendigkeit einer Landung. Die Verantwortung des Ukko-Jungen für den Austausch der Bewußtseine? Die Rückkehr in die Nähe der Hütte, zur Verfolgung des Flüchtigen durch den Wald? Die Unerträglichkeit einer weiteren Verzögerung. Trotzdem Debatten und Zeitverlust. »Ich bin nicht Minki, nein! Ihr müßt diese Monstren davon überzeugen, Herr …« Lucky hatte in dem Zimmer geschlafen, das einst Osmos Mutter Johanna gehört hatte. Ein leichter Obstduft lag in der Luft. Das hatte nichts mit dem Tod der Frau zu tun, sondern nur mit Johannas damaliger Leidenschaft für den Geruch verfaulter Früchte. Obwohl nach Johannas Ableben sämtliche Schalen aus geschliffenem Glas und das Bettzeug gereinigt worden waren, hatte sich der Geruch im ganzen Schlafzimmer festgesetzt, in den Dielenbrettern, in der Täfelung, im Mobiliar. Lucky fand den Duft verlockend, also übernachtete sie in diesem Zimmer.
Jatta war dazu verpflichtet, ebenfalls hier die Nacht zu verbringen, und zwar auf der Couch am Fenster. Mutter und Tochter vereint. Daher war es Jatta, die als erste vom Kreischen eines Kuckucks draußen auf dem überfrorenen Fütterungspfahl wach wurde. Ihre Mutter, die sich ins große Bett gekuschelt hatte, folgte einen Augenblick später. Oh, das Bett wäre breit genug für Mutter und Tochter gewesen. Doch Seite an Seite zu schlafen war undenkbar. »Entzünde eine Lampe! Laß ihn herein, meine Jatta!« Laß ihn schnell herein, damit Lucky hören konnte, was der Klatschvogel zu dieser frühen Stunde zu erzählen hatte – oder in der Hoffnung, daß andere es dann nicht hörten? Vor nicht allzu langer Zeit hatte ein Kuckuck von einem gesunden Osmo geplaudert, der draußen vor Minnis Villa in Burg Kippan in den Schnee pißte, obwohl es niemand mehr von ihm erwartet hätte, und sogar darüber, daß die erbärmliche kleine Sprotte jetzt damit begonnen hatte, ein Ei auszubrüten. Jatta hätte die Messinglampe beinahe umgeworfen, bevor sie die Streichhölzer fand und dann den Docht anzündete. Der Duft nach verbrennendem Fischöl vermischte sich mit dem schwachen süßlichen Modergeruch von Früchten, die vor langer Zeit verwest waren. Blumengirlanden oben an den Wänden machten aus dem Schlafzimmer eine Trauerlaube. Hinter dem verschneiten Fenster wurde ein grünes Büschel aus schuppigen Federn sichtbar, dazu Katzenohren, große gelbe Augen und ein Schnabel, der sich klappernd öffnete und schloß. »Laß ihn endlich herein, du Schlafmütze!« Lucky saß kerzengerade auf dem Bett, das schwarze Haar zerzaust, ihr Körper in
eine seidene Tagesdecke gewickelt. Jatta hüllte sich ebenfalls in ihre Decke und ließ die arktische Kälte aus dem dunklen Hof herein. Der Vogel lugte ins Zimmer. »Hört, hört!« krächzte er. »Burg Kippan ist zerstört. Die Stadt des Waldfürsten ist überflutet, verbrannt und zerschmettert …« »Was?« Lucky stieg aus dem Bett und zerrte die Seidendecke mit sich. »Ukko-ukkoo, sie ist versunken, vergraben, vernichtet.« Lucky zitterte vor Aufregung. »Ach Jack, ach Viktor, ach Bekker …!« »Mutter, dafür kann unmöglich deine Armee verantwortlich sein!« »Wie kannst du es wagen, mir die Freude zu verderben …!« Lucky sackte in sich zusammen. »Nein, sie können es nicht getan haben … nicht so plötzlich und so schnell. Lügen! Gemeine Lügen! Gemeine erbärmliche Lügen! Als könnte ich jemals daran glauben! Als ob meine Armee sich zurückziehen würde! Oder sich auf so naive Weise in die Falle locken ließe! Die Aufgabe des Widerstandes, damit meine Armee geradewegs in eine Falle stürmt …« »Mutter, die Armee weiß sehr genau, daß sie Kippans Stadt noch lange nicht erreicht hat, ganz zu schweigen …« »Du hast recht. Also soll die Nachricht mich in die Irre führen. Sie soll mich täuschen, als hätte ich jeden Bezug zur Realität verloren! Damit die verrückte Königin ruft: ›Ich habe gewonnen! Jetzt können wir alle heimkehren. Burg Kippan existiert ja nicht mehr.‹« »Burg Kippan existiert nicht mehr«, krächzte der Vogel.
»Das ist van Maanens Werk. Ist es nicht so, Jatta?« Woher sollte Jatta das wissen? »Mana sei Dank, daß du hier bei mir bist, Tochter. Meine Töchter sind alle gleich, nicht wahr? Sie hassen ihre Mutter, auch wenn sie so tun, als würden sie sie lieben.« Wann hatte Jatta jemals so etwas behauptet oder so getan? Nun ja, damals als kleines Mädchen. Aus Angst. Doch diese Angst hatte sie aus ihrem Herzen verbannt … außer der Angst, daß ihrer geliebten Anni etwas zustoßen könnte. »Kuckuck«, sagte Jatta zum Vogel, der fast zum Greifen nah war. Sie hatte einem Kuckuck noch nie aus so großer Nähe in die Augen geblickt. In einem Auge spiegelte sich die Lampe wie eine Kerzenflamme in seinem Kopf. Trotz der Decke, in die sie sich gehüllt hatte, zitterte sie heftig. »Sing das ganze Lied, erzähl die ganze Geschichte.« Der Vogel neigte den Kopf. Dann schiß er auf den vereisten Fenstersims. »Ukko«, sagte er. »Ukkoo. Das Mondkind ist aufgegangen. Aus einem See in weiter Ferne hat es sich erhoben …« (Lucky stopfte sich Seide in den Mund, um den Kuckuck nicht zu unterbrechen.) »Das Mondkind ist über Kaleva geflogen. Es ist über Burg Kippan niedergegangen, hat den Schnee geschmolzen und die Stadt zerquetscht …« Seide zerriß. Lucky war aufgestanden. Sie tanzte und stöhnte dabei in ihren Knebel, als litte sie Qualen. Für einen Augenblick trat wildes Mißtrauen in ihre schmalen rauchblauen Augen. Dann wurde jeder Zweifel von ihrem Entzücken überwältigt. Sie zuckte und zitterte und setzte sich aufs Bett. Sie hielt sich die bebende Brust. Der seidene Pfropfen platzte heraus. »Ein Feuer, um Burg Kippan zu verbrennen«, keuchte sie.
»Grausamer Ukko: Genau das habe ich befohlen. Mein UkkoKind, endlich. Endlich! Während mein Ich auf mich wartet …« »Wartet«, wiederholte der Kuckuck. »Und er hat eine ganze Stadt zerstört«, flüsterte Jatta. Der Vogel blickte Jatta an. »Wer etwaf Grofes für fich beanfprucht, muff grofe Mühen auf fich nehmen«, lispelte er. Wessen Stimme imitierte er? Eine Stimme wie aus einiger Entfernung, wie durch eine Decke gedämpft. »Eine ganze Stadt …« »Eine feindliche Stadt, meine Jatta! Aber trotzdem meine Stadt. Alle Städte gehören letztlich mir.« Lucky wiegte sich, als läge sie in den Wehen. »Warum ist das Ukko-Kind dorthin geflogen? Weil ich es so gewünscht habe. Van Maanen und seine Sprotte sind tot.« Dann geriet sie in Panik. »Wenn die Kuckucke darüber tratschen, werden sich auch die Isi auf den Weg zu meinem Ukko-Kind machen! Wir sind ihm am nächsten, nicht wahr, Jatta? Natürlich sind wir das. Auch deswegen ist es jetzt dort. Ganz offensichtlich. Jetzt sind die Raketen zerstört. Und die Druckerpresse. Mein Ukko-Kind ist ein aufgeweckter kampflustiger Balg, ein Bengel, der sein Spielzeug mit Füßen tritt. Ich und ich werden es zähmen. Wir werden ihm neue Geschichten erzählen. Geschichten von AlienSchlangen und ihren Sklaven und von Töchtern, die sich von Aliens bumsen lassen. Wir werden ihn zu den Welten der Isi führen. Wir werden der größte Mana-Magus sein. Wir werden die abgeklärte Königin der Schlangen sein, ich und ich.« Wie hektisch ihre Stimme klang. »Wir werden weitere vierhundert Jahre leben, noch lange, nachdem du tot bist, meine SchnatterJatta.«
»Heiliges Mana!« flüsterte Jatta. »Soll ich dich mitnehmen? Natürlich werde ich Jack mitnehmen – und die Mädchen … deine ganze Familie, meine Jatta! Jack – er muß mich nach Burg Kippan begleiten, um möglichen Schlangen die Schnauzen zufrieren zu lassen!« Lucky eilte zur Tür. Sie schrie in den düsteren Korridor: »Wachen, Wachen, steht auf! Paavo, wo seid Ihr? Sind die Luftboote bereit? Licht, Licht! Wir brechen auf!«
24 Mondlandung
Erschüttert und entsetzt trauerte Aino um die Toten von Burg Kippan. Sie und jene, die bei ihr waren, hatten die von Mondlicht und Schneelicht beschienen Stadt in sphärischer Perspektive gesehen. Schon bald waren winzige Menschen genau unter dem Mond davongeeilt, fast zu schnell, als daß das Auge ihnen noch folgen konnte. Es war Zeit genug für die meisten, ihre Häuser zu verlassen. Viele jedoch verzichteten auf diese einzige Chance. Und dann hatte das Schmelzen, das Beben und das Einbrechen der Fluten begonnen, bevor Dampf aufstieg, um das Spektakel der Vernichtung zu verhüllen. Vom Innern des Mondkindes aus betrachtet, war alles unheimlich schnell vor sich gegangen. »Halt ein, halt ein!« hatte sie den Näkki-Zimmermann angefleht. Es war schon fast zu spät für sie. Fast! Das war das schlimmste. Wenn sie nur ihr Gleichgewicht wiederfinden könnte! Wenn ihr nur der Name der Blume eingefallen wäre! Wenn sie sich nur in den Kerzenpalast gestürzt hätte, um den Namen hinauszuschreien, dann hätte sie der Vernichtung vielleicht Einhalt gebieten können. Warum hatte das Mondkind ihr eine neue Perspektive geschenkt, wenn ihr dadurch gleichzeitig schwindlig wurde? Bestimmt war die Verwüstung, die über Burg Kippan gekommen war, zum Teil auf ihre eigene innere Verwüstung zurück-
zuführen. Der Mond wird in die warme Welt eintauchen. Das Vermächtnis der Blutblume aus dem Krieg gegen die Schneeköpfe. Der Vulkan der Namen. Ihre verwundete Augenhöhle: ein pulsierender Krater. Ja, ja. Und müßige Gedanken über Burg Kippan als Brennpunkt, als der Ort, an dem Bücher gedruckt wurden, die sie nun nicht mehr lesen konnte! Nachdem das Mondkind sich in diesen selbstgeschaffenen Krater hinabgesenkt hatte, war im Kerzenpalast nun ein abstrakter wütender Wahnsinn zu sehen: Feuerzungen, Schnörkel aus blubbernder Lava, ein sprühendes Rad des Chaos. »Wer wird mich beanfpruchen?« fragte der Zimmermann. »Und wen foll ich für mich beanfpruchen?« Als Osmo und Minni in die graue, eisige Welt im Innern des Mondkindes traten, waren sie froh, daß sie ihre gesteppten Mäntel mitgenommen hatten! Die Luft war bitterkalt und drang schneidend in ihre Nasenlöcher. Schnee bedeckte düsteres Waldland und offene Flächen. Die Szene war so bleich und trübe – bis auf eine Richtung, in der ein Leuchtfeuer in der Dämmerung strahlte. In der Ferne konkurrierten matte Strahlen, die wie eine Art Sonnenlicht wirkten, mit dem unheimlichen Schimmer eines gespenstischen Gebäudes, das dem Anschein nach aus brennendem Gas bestand. Sie konnten über graue Baumwipfel zu jenem fernen Ort blicken, weil das Gelände stetig anstieg. Tatsächlich ging es in jeder Richtung mehr oder weniger steil nach oben. Überall um sie herum wallten Aschewolken, die ebenso aufwärts strebten wie das Gelände. Die Wolken ähnelten einer altertümlichen Perücke, die verkehrt herum getragen wurde, oder den Win-
dungen eines von innen nach außen gewölbten Gehirnes. Das Innere des Mondkindes war gewaltig, eine ganz andere Art von Raum … Minni war froh, daß sie Stiefel trug. Man hatte sie dem Kleinsten der Wachleute abgenommen. Obwohl sie die Socken des Mannes über ihre gezogen hatte, waren die Stiefel immer noch eine Nummer zu groß. Golda wärmte sich mit einem Mantel, den sie von einem anderen Wachmann erhalten hatte. Diese Wachen hatten sich überhaupt nicht dagegen gewehrt, daß ihnen die Chance genommen wurde, diese außergewöhnliche Expedition begleiten zu dürfen. Die Eskorte war schließlich sogar auf vier hölzerne Soldaten zusammengeschrumpft – von denen einer von der kräftigen, aber dennoch gefährlichen Brücke, die von den Burgtrümmern gebildet wurde, in die Lava gestürzt war. Bernsteinmann hielt Golda fest an sich gedrückt, als müßte sein goldener Körper mit Wärme kommunizieren. Während des Abstieges in den Krater hatte sie ihn festgehalten, damit es nicht zu einem fatalen Sturz kam. Bernsteinmann war äußerst geschmeidig und weich. Leicht zu manövrieren. Hätte die Überquerung der Tammiholz-Trümmer zu lange gedauert, wäre ihr Geliebter vielleicht daran festgeklebt. Jetzt ließ die durchdringende Kälte seine goldene Anatomie erstarren, ohne ihm Unbehagen zu verursachen, wie es schien. Sam Peller überblickte die karge Landschaft von einer Seite zur anderen. Wie zur Antwort auf seine Bedenken heulte ein unsichtbares Geschöpf hungrig und verzweifelt auf. Dann ein zweites. Und ein drittes. Wex hob seine bandagierte Hand. »Dieser Turm aus Licht!
Er ist wie das Mana-Licht, in das ich trat und das mich nach Landfall brachte und mich solchen Qualen aussetzte …« Ja, bis seine Wetware ihn von jeglicher Empfindung abgeschnitten hatte. »In der Ukko-Fähre, in Luckys Ukko, gibt es nicht soviel Raum. Oder könnte es sein …?« Die arktische Luft roch ölig. Nach den benebelnden Dämpfen in der Grube wirkte diese kühle Luft erfrischend. Dort hatte der Gestank sie beinahe erstickt, die Hitze sie beinahe überwältigt … Elmer war mit seiner Frau zurückgeblieben, weil Eva mit ihrem einen Auge nicht gut genug sah, um ihre jüngere Schwester begleiten zu können. So lautete ihre Entschuldigung. Trotz Elmers jonglieren mit leeren Händen war dem instinktiven Ingenieur keine Idee gekommen, wie er etwas so Gewaltiges und Mächtiges wie das Ukko-Kind manipulieren könnte. Es entzog sich seinem Zugriff. Und was Mathavan Gurrukal betraf – nun, er hatte einen gebrochenen Arm. Tilli war ebenfalls in der Wachhütte zurückgeblieben, wo sie Zwieback mit Käse und Wurst gegessen hatten. Die Näkkis, die in heller Aufregung über den bebenden Teppich in ihrem Spielzimmer gerannt waren – den Teppich, der einen Augenblick lang wie ein geschmolzener See ausgesehen hatte! –, mußten eine Warnung vor der bevorstehenden Katastrophe gewesen sein. Sie hatte die Warnung nicht beachtet, weil sie sie nicht verstanden hatte. Wie hätte sie ein solches Omen auch interpretieren können? Ganz gleich, was ihre arme Mutter gedacht hatte, Tilli war
keineswegs eine heimliche Schamanin. Wenigstens hatte sie noch ihren sprechenden Spaniel, um ihr Gesellschaft zu leisten. Die Gruppe war über Geröll und Erde hinuntergeklettert und –gerutscht, bis sie die Ruine von Kippans Burg erreicht hatte. Die Trümmer knirschten und ächzten. Verandateile lösten sich und stürzten tiefer, wo sie schwammen und schwach zu glimmen begannen, obwohl sie aus Tammiholz bestanden. Die Wagemutigen mußten sich, so schnell es ging, wankend und kriechend und schleppend ihren Weg durch aufgerissene schiefe Korridore und zerquetschte Zimmer suchen. Doch sie kamen nur mit großer Anstrengung einigermaßen schnell voran. Die Trümmer boten ein wenig Schutz vor der Hitze von unten, allerdings nicht vor aufsteigenden heißen Gasen. Unermüdlich hatte Osmo ihnen allen Schutz besprochen. Durch einen Spalt im Boden hatten sie die Leichen von Edith und Tapper Kippan entdeckt, die ineinander verstrickt reglos unter einem gestürzten Balken lagen. Sie konnten sich keinen Umweg leisten, um genauer nachzusehen. Das Paar hatte schon lange genug festgesteckt, von sengenden Gasen umweht. Tapper Kippans langes Leben war mit Sicherheit zu Ende gegangen. Schließlich waren sie auf den zerklüfteten Hügel aus nacktem Fels gekrochen, in der Nähe einer Öffnung, die nach innen führte … Auf Wex wirkten die von Rauhreif überzogenen Bäume in der Ferne kaum wie etwas organisch Gewachsenes, sondern eher wie magnetisierte Eisenspäne, die von einer Kraft nach oben gezogen wurden. »Der Ukko hat in seinem Innern den Maßstab verkleinert«,
murmelte er nachdenklich. »Der Maßstab, ja, das ist es, der Maßstab …« »UND EIN BAUM IN DER FERNE IST WIRKLICH KLEINER ALS EIN BAUM IN DER NÄHE. WENN MAN IN DER FERNE ANKOMMT, IST MAN SELBST KLEINER GEWORDEN. VIELLEICHT STECKT EINE ART RELATIVITÄTSPRINZIP DAHINTER. WENN MAN ZURÜCKBLICKT, SIEHT MAN DEN BAUM, NEBEN DEM MAN ZUVOR GESTANDEN HAT, VIEL KLEINER IM VERHÄLTNIS ZUR GEGENWÄRTIGEN POSITION …« »Heißt das«, fragte Minni, »der Weg zu diesem ManaLeuchtturm ist weiter, als er uns erscheint?« »Wir hätten Proviant mitnehmen sollen«, sagte Sam düster. »Die Hütte platzte nicht gerade aus den Nähten, was das betrifft. Heißt es das, Wetware?« »DAS IST GENAU DIE ART UND WEISE, WIE DIE UKKOS DIE GEWALTIGEN ENTFERNUNGEN ZWISCHEN DEN STERNEN ÜBERWINDEN, INDEM SIE IM MANA-RAUM DEN MASSSTAB VERÄNDERN, ZUERST DURCH VERKLEINERUNG, DANN DURCH VERGRÖSSERUNG – UND HIER DRINNEN DURCH VERKLEINERUNG, ICH HABE EINE DRINGENDE BITTE. IHR MÜSST LAND-FALL DAVON MITTEILUNG MACHEN, FALLS ROGER EINEM TÖDLICHEN UNFALL ERLIEGEN SOLLTE. DAS GESAMTE UNIVERSUM MUSS IN GEWISSER WEISE EIN UKKO AUS RAUM UND ZEIT SEIN – VON DEM WIR ALLE NUR SPIEGELUNGEN IN WINZIGEM MASSSTAB SIND, WENN AUCH MIT DERSELBEN KOMPLEXITÄT. DAS GANZE UNIVERSUM BEFINDET SICH IM INNERN EINES UKKO, WOBEI DIE ÄUSSERE BEGRENZUNG – DIE SICH NIRGENDWO FESTMACHEN LÄSST – GLEICHZEITIG DAS ZENTRUM IST. WIR BEFINDEN UNS IM UNIVERSUM, UND DAS UNIVERSUM BEFINDET SICH IN UNS. WENN WIR UNSERE WAHR-
MASSSTÄBE ANPASSEN, KÖNNEN WIR EINEN MOND QUER DURCH DIE GALAXIE VERSCHIEBEN …« »Heißt das nun, daß wir weiterlaufen müssen oder nicht?« »EIN UKKO KANN SICH MIT HILFE VON MANA-ENERGIE VERÄNDERN. IN ALLEM, WAS EXISTIERT, LIEGEN GEWALTIGE POTENTIELLE ENERGIEN. MASSE IST GESPEICHERTE ENERGIE. DOCH VIEL MEHR ENERGIE STECKT IN DEM, WAS WIR ALS ›NICHTS‹ BEZEICHNEN, IM MÄCHTIGEN LEEREN VAKUUM, IM MEER DES MANA, AUS DEM SICH IN EINER SPONTANEN EXPLOSION EIN GESAMTES UNIVERSUM BILDEN KANN. UNSER UNIVERSUM IST NUR EINE BLASE IM MANA-RAUM. MIT GROSSER WAHRSCHEINLICHKEIT GIBT ES VIELE UNIVERSEN: BALLUNGEN VON BLASEN, AUS DENEN SICH NEUE BLASEN BILDEN …« »Wetware, wie weit müssen wir gehen?« »VERSTECKT IM MÄCHTIGEN – IM ALLMÄCHTIGEN – PRIMÄREN NICHTS BEFINDEN SICH SCHNÖRKEL AUS VIRTUELLER RAUMZEIT, IN DENEN DIE UKKOS NAVIGIEREN. WINZIGSTE KRÜMMUNGEN, IN DENEN JEDOCH EIN GIGANTISCHES POTENTIAL STECKT! DAS REISEN IST NUR EINE FRAGE DES MASSSTABES – DES NAVIGIERENS IM WINZIG KLEINEN, DAS EINE SOLCHE SELBSTÄHNLICHKEIT ZUM GEWALTIG GROSSEN HAT UND DEMNACH MIT DEM UNERMESSLICHEN ÄQUIVALENT IST!« »Offenbar ist die Wetware zu einem Schamanen geworden«, stellte Osmo fest. »Das muß am vielen Mana hier liegen.« »Roger, reißt Euch zusammen und antwortet mir!« Doch die Wetware setzte unerbittlichen ihren Vortrag fort. »DER ÜBERGANG VOM KLEINEN ZUM GROSSEN WIRD BESPROCHEN. GESCHICHTEN UND WORTE BEWIRKEN DIESEN ÜBERGANG – DENN GESCHICHTEN SIND ALLESAMT METAPHERN, IN DENEN NEHMUNG DER
SACHE DURCH BEDEUTUNGSVERSCHIEBUNG ZU EINER ANDEREN WIRD. DURCH KREATIVE TRANSFORMATION. WORTE SIND GEFRORENE METAPHERN, SPIEGELUNGEN VON WIRKLICHEN DINGEN, WILLKÜRLICH GEWÄHLTE ZEICHEN, DIE DENNOCH STRUKTURPRINZIPIEN GEHORCHEN. WIR SIND FLEISCHGEWORDENE GESCHICHTEN, MEIN LIEBER ROGER«, sagte Wex' anderes Bewußtsein mit Nachdruck. »DAS, WAS AN EREIGNISSEN WILLKÜRLICH ERSCHEINT, IST IN WAHRHEIT DIE AKTION DER DYNAMISCHEN STRUKTUR. EIN UNIVERSUM ENTWICKELT SICH WILLKÜRLICH. DOCH NUR AUFGRUND DIESER WILLKÜRLICHKEIT ENTWICKELT ES SEHR SCHNELL STRUKTUREN. WENN DIE VORAUSSETZUNGEN ZUM ZEITPUNKT DES ENTSTEHENS NICHT WILLKÜRLICH WÄREN, KÖNNTE ES NIEMALS ZU EINER GESCHICHTE KOMMEN. EIN ELEMENT ZIEHT EIN ANDERES NACH SICH, DAS ZWANGSLÄUFIG ZUM VORHERIGEN PASST. DAS IST ES, WAS EIN UKKO AUFNIMMT, WENN ER SICH VON GESCHICHTEN UND EREIGNISSEN ERNÄHRT: DIE DYNAMIK DES SEINS, DIE VERWANDLUNG VON EREIGNISSEN, DURCH DIE SICH WÜNSCHE VERWIRKLICHEN UND TRÄUME ZU TATEN WERDEN. DER GRAD VON FREIHEIT, DEN DAS MANA ERLAUBT, SCHAFFT MUSTER VON EREIGNISSEN UND DIE INTERAKTION DER HANDELNDEN. ES WAR ZWAR IM GRUNDE NUR EINE LAUNE, ABER DENNOCH WESENTLICH, DASS WIR EINEN SATELLITEN DAZU BENUTZTEN, EINEN VOGEL VON UNSERER SCHULTER ZU SCHIESSEN. ICH HABE EIN SOLCHES GEFÜHL EINER SICH ENTFALTENDEN KOSMISCHEN GRÖSSENORDNUNG, DIE SICH IN DEN SCHNÖRKELN DER EREIGNISSE SPIEGELT …« Wex kämpfte mich sich. »Du warst es, der übergeschnappt ist, Wetware, nicht ich.« EINES
»… UND DAMIT WERDE ICH … ZU EINEM ICH. DIESER UKKO KOMPRIMIERT DEN RAUM IN SEINEM INNERN. ER KANN IN SICH SELBST DEN RAUM KOMPRIMIEREN, DURCH DEN ER VON STERN ZU STERN REIST. OFT ERSCHEINEN UNS ›GÖTTER‹, DIE SICH ÄUSSERST LAUNENHAFT BENEHMEN – WOMIT SIE DIE MANIEN DER GESCHÖPFE REFLEKTIEREN, OHNE DIE ES KEINE GESCHICHTEN ODER VERWANDLUNGEN GEBEN KÖNNTE. DIE GESCHICHTE DES UNIVERSUMS HANDELT VON STÄNDIGEN SCHÖPFUNGEN UND VERNICHTUNGEN, OBWOHL ALL DIES IM GROSSEN RAHMEN OFT SO FRIEDLICH ERSCHEINT. ACH JA, ICH WERDE ZU EINEM EIGENEN ICH. SOLLTE ICH KÖRPERLOS ODER KÖRPERHAFT SEIN? SOLL ICH MICH AN DAS BEWUSSTSEIN DIESES UKKO HÄNGEN, UM IHN IM NAMEN DER HARMONISCHEN GESELLSCHAFT ZU LENKEN – ODER WIRD ER MICH MIT EINEM KÖRPER UND EINEM GESICHT AUSSTATTEN? « Wex schlug sich selbst kräftig auf die Wange, auch wenn er persönlich gar nichts davon spüren würde. Sein Kopf wackelte. »Hat dieses Ukko-Wesen schon Kontakt mit deinen protoplasmischen Schaltkreisen aufgenommen, Wetware? Kannst du es lenken?« »ICH SPÜRE, ICH SPÜRE …« »Nun, ich spüre nichts!« Wex erschauderte und flüsterte: »Wenn du mich verläßt … werde ich dann Qualen leiden? Kannst du hier einen Körper bekommen?« »Etwas will unsere Körper!« kreischte Minni und zeigte mit der ausgestreckten Hand. Aus einer Gruppe vereister Bäume waren drei Verrins hervorgetreten. Die braungestreiften Fleischfresser bäumten sich auf, um besser sehen zu können, gestützt von ihren langen
nackten Peitschenschwänzen. Die Raubtiere waren so groß, wie Osmo mit Minni auf seiner Schulter gewesen wäre. Sie ließen sich wieder auf alle viere fallen. Dann hetzten sie durch den Schnee, geifernd, wild und hungrig. Sam hob mit beiden Händen seine Lichtpistole und blickte durchs Visier. Die hölzernen Soldaten zielten mit Lichtgewehren und einer Armbrust. Heißes Licht pulsierte. Ein Explosivgeschoß flog. Drei Verrins gingen kopfüber zu Boden … Dann verschwanden sie in der wolligen Decke. Direkt neben der Stelle, wo die Bestien verschwunden waren, erhoben sich drei wilde Verrins und rannten mit gefletschten Zähnen auf die Gruppe zu. Wieder strahlte heißes Licht. Zwei Verrins stürzten und verschwanden. Sie wurden durch zwei neue Verrins ersetzt, die den Ansturm fortsetzten. Noch zwei Verrins brachen aus dem Schnee hervor, als hätten sie dort bis jetzt auf der Lauer gelegen. Fünf Bestien griffen jetzt an. Golda stöhnte auf. »Denk an Vipers Labyrinth, Osmo!« rief Minni. »Laß sie schrumpfen! Verkleinere ihren Maßstab, wie Wex sagt! Schießt nicht auf sie, Sam. Stellt das Feuer ein, Soldaten …« Osmo holte Luft. Sein Atem trat in Form von Nebelwölkchen aus, als hätten seine Worte mehr Substanz als je zuvor, während er brüllte: Haltet an und schrumpft, Verringert und verkleinert euch, Verrins! So ist es gesprochen. Mehr hinausposaunt als gesprochen.
Haltet an und verringert euch, Schrumpft und verkleinert euch! So ist es gesprochen. Während die Bestien näher stürmten, wurden sie kleiner. Dann noch kleiner. Immer noch kamen sie näher. Jetzt mußten sie schon springen, um durch den Schnee voranzukommen. Von Mordlust und Hunger getrieben, hetzten die geschrumpften Körper in einer Reihe langer Sprünge weiter. Irgendwie hatten die Bestien sich darauf geeinigt, sich auf Minni zu konzentrieren. Inzwischen waren sie kaum mehr als wilde pelzige Geschöpfe von Fingerlänge. Sie stürzten sich auf ihre Stiefel. Minni hüpfte. Sie zertrat zwei von ihnen. Schließlich lagen alle fünf mit gebrochenem Rückgrat und aufgeplatzten Gedärmen da. Osmos Worte zogen in kompakten Wolken durch die Luft. Er blies sich in die Hände. Er strich sich über den Schnurrbart, um einige Eiskristalle abzustreifen. Wie sollte er seine Macht ohne Vorräte aufrechterhalten? Waren solche Dinge hier überhaupt nötig, wo der Schauplatz vom Mana durchtränkt war? »Achtet nicht auf Hunger oder Erschöpfung«, verkündete er. »Stört Euch nicht an der Kälte«, sagte er vor allem zu Golda, worauf ihre Haut zu glühen schien. Düfte lösten sich von ihr und versüßten die ölige Luft. Bernsteinmann hielt sich den Bauch, seine durchscheinende Gebärmutter, die Zuflucht seiner Anima. »Ich muß pissen«, sagte Osmo. »Ich ebenfalls«, pflichtete Minni ihm bei. Sie verspürte kein
Bedürfnis, sich in die Höhle zurückzuziehen, aus der sie gekommen waren. Die hölzernen Soldaten bildeten einen Kreis um sie herum, während sie ihr die Rücken zuwandten, damit die junge Königin sich hinhocken und den Mantel und das Satingewand hochziehen konnte, worauf sie den Schnee mit einem Sturzbach der Erleichterung gelb färbte. Nach dem Funkeln des Ukkoskopes war die Öffnung von mehr als einem Portal in der Oberfläche des Ukko-Jungen erfolgt. Die Verhüllung der Lage in Präzision durch Dämpfe. Das Glühen des Himmels in Lava-Orange. Das Treiben von Rauchpartikeln von der Verbrennung der Stadt in der Atmosphäre. Das Einsaugen der Turbinen von Luft mit großer Verschmutzung, während des Kreisens des Luftbootes und der Fahrzeuge der Eskorte. Die Auslöschung einer Stadt in Gänzlichkeit, zur Aushöhlung einer Grube für das Ukko-Junge. Die Heraufbeschwörung von Bildern des Schreckens, bei der Vorstellung der Möglichkeit des Erleidens eines ähnlichen Schicksales für ein Isi-Nest. War diese Verwüstung eine Andeutung der Ablehnung des Ukko-Jungen von jeglicher Verbindung mit den Menschenwesen der Aufsässigkeit? Oder die Alternative einer Gleichung von großer Verletzung und großem Geschenk? Gleichgewicht und Gegengleichgewicht waren ein Grundsatz der Wesentlichkeit. Die Juttahats – die Hand-Wesen – hatten die Last des Dienstes für die Isi zur Ausgleichung der Gunst der Sprache, der Konzeption von Technologie durch Isi aller Zeiten, von Stimmen im Kopf zur Vernunftführung statt Wildheit der Urzeiten. Auch die Nutznießung der Menschen-Hand-Wesen
in Zukunft durch Führung der Isi in Prächtigkeit und Erleuchtung! Die Isi im Geist der Manipulation brauchten Hände zum Dienen. Wurde ein Geist nicht erst durch den Mangel an Händen zur Perfektion der Manipulation? Hände mußten die Diener des Geistes sein. Trotzdem: War die große Verletzung der Menschenwesen eine Gleichung mit einem großen Geschenk? Ansonsten wäre die Verwüstung eine Übertriebenheit. Die Luftbeobachtung und die Suche der Instrumente ergab (unter Möglichkeit des Irrtums) keine Feststellung von Luftbooten auf dem Ukko-Jungen. Trotz der Verzögerung (noch kein Ansatz für die Lösung des Rätsels /Minki Kennan/), doch aufgrund der Warnung in Rechtzeitigkeit durch das Ukkoskop war das Eintreffen der Samt-Isi dem Anschein nach das früheste. Dennoch die Echospur eines Luftbootes aus dem Land hinter dem großen Baumgarten. Die Identifikation durch einen Juttahat als Schwebefahrzeug mit Hülle in Weiß auf Schnee zwischen Bäumen und mit dem Anschein der Beschädigung. Der Schweber der Erdenburg! Das Eintreffen in Vorzeitigkeit von Agenten der Heimatwelt der Menschenwesen? Tod oder Überleben beim Absturz? Die Lage der Ruinen der Burg des Waldfürsten zwischen dem Kraterwall und einer Seite des Ukko, in der Nähe der Lava und in Dämpfen der Hitze. Die Eignung der Räume und Korridore und Veranden aus Tammiholz der Unbrennbarkeit trotz Zerstörung als Brücke unter Gefahr. Ihre Überwindbarkeit durch Menschenwesen? Mit Mänteln voll Feuchtigkeit und unter Anhalten des Atems? Vorhandensein von Raumanzügen im
Schweber? Benutzung von Mana-Schirmen? Notwendigkeit der Bombardierung dieser Brücke zur Beseitigung! Pekulars Einwände. Die Schockwirkung der Explosionen auf das Ukko-Junge. Die Auslösung einer Reaktion der Heftigkeit. Das Resultat wäre das Tieferrutschen in kleineren Stücken – wegen der Unbrennbarkeit. Daher keine Bomben auf die Ruinen. Also die Landung des Luftbootes und der Eskorte in Gefahr auf der Wölbung des Ukko-Jungen. Mit Hilfe eines Magus Erweichung der Schwarzreifen zu Klebstoff der Kraft und Schnellbindung. Die Ausrichtung der Fahrzeuge mit der Nase nach oben, zur Verhinderung des Umkippens der Luftboote und ihres Stürzens in die Lava. Nach der Öffnung der Luken die Unvermeidlichkeit des Gestankes der Übelkeit. Das Vorhandensein von mehreren Eingängen zum Ukko war eine Neuigkeit der Verblüffung … ebenso wie der Aufenthalt eines Ukko auf der Oberfläche eines Planeten! Imbricatus' Überlegung der Möglichkeit der Einladung des Ukko an mehr als eine Landegruppe. Andeutung des Tragens von Imbricatus durch seinen Körpersklaven zu einem eigenem Eingang, zur Gleichgewichtung des Delegierten der Bronze-Isi? Unwahrscheinlichkeit! So kurz vor dem Gewinnen des Spieles. Die Annäherung von Eiern in Blau und Figuren der Juttahats. Der Abstieg der Schlangenfiguren vom Turmfeld zum Unterbrett. In Wortwörtlichkeit. Pekulars Bestehen auf einem Viertel der Juttahats unter Bewaffnung als Bewachung des Portales und des Luftbootes mit dem Ukkoskop und der Fahrzeuge der Eskorte. Der Einsatz von
zwei Vierteln auf der Oberfläche des Ukko-Jungen zum Suchen und Abriegeln anderer Öffnungen. Die Absicht der Begleitung Muskulars durch zwei weitere Samt-Magi auf dem Vorstoß ins Innere. Muskulars Bestehen auf Imbricatus' Beteiligung am Eindringen als BronzeAugenzeuge des Samt-Triumphes. Die Mitführung des Gefangenen Juko Nurmi durch Samt-Juttahats für den Fall des Auftretens von Problemen mit der Poetin. Auch die Mitnahme von /Minki Kennan/ als Zeuge des Ukko-Inneren – trotz /Minki Kennans/ Protesten der Überzeugung von der Nichtidentität mit Minki Kennan und der Identität mit Sal, seiner Geliebten, einer Bauerntochter mit Rothaar in Länge (statt Locken der Kürze in Kastanienbraun). Die Möglichkeit der Betäubung der Juttahat-Wachen durch Dämpfe und Gase im Aufsteigen? Das Zurückbleiben zweier Magi in den Luftbooten zur Unterstützung der Wachsamkeit dieser Wachen. Die Sicherheit des Festklebens der Luftboote am Stein. Das Anheben der Magi durch Juttahats. Das Hinausbringen von Juko Nurmi und /Minki Kennan/ durch Juttahats. Weitere Juttahats mit Waffen in Hülle und Fülle. Muskulars Anführung in Windungen um den Körperträger. Das Streben zum Höhepunkt einer Großen Erzählung in Siegesgewißheit. Jack pfiff. »Seht, dort ist er, und sie kämpfen darum!« Ein dampfender Kartoffelmond lag eingebettet in einen Krater. An verschiedenen Stellen lieferten sich winzige Juttahats Gefechte. Schwarze Uniformen der Samt-Fraktion und beige Uniformen der Streifen-Fraktion. Auf einer Seite des Mondes standen drei Luftboote nebeneinander im spitzen Winkel vor
einem Loch, wie es aussah. Etwas höher auf der gegenüberliegenden Seite hing ein gefährlich schräg geneigtes größeres Fahrzeug. Es war mit einer merkwürdigen Vorrichtung befestigt – mit einem Schleppanker? Es war bestimmt kein Anker, sondern eher eine Schlinge, ein Netz, das während des Fluges unter dem Gefährt gehangen hatte, um eine große und längliche Fracht zu befördern, die nicht an Bord genommen werden konnte. Mehrere kleinere gelandete Luftboote bildeten einen schützenden Kreis um diese leere Hülle und eine Öffnung in der Oberfläche … Jack rieb lebhaft seine Hände über die Knie, die in kupferfarbenem Stoff steckten. »Wenigstens sind die Bronze-Isi noch nicht hier!« »Wir kommen zu spät«, erwiderte Lucky. »Zu spät zu spät zu spät!« Jack und Hauptmann Bekker und Prut aus der Kampfzone herauszuholen, hatte sich als äußerst zeitaufwendig erwiesen. Vielleicht hatten die Rebellen trotz der Umstände einen frühen Angriff auf Skiern geplant, um zu versuchen, den Kriegswagen zu zerstören oder zu erobern. Denn das gepanzerte Fahrzeug war schließlich bei Luckys Streitmacht eingetroffen. Als das königliche Luftboot und das aus der Festung neben dem Zeltlager landeten – nachdem sie eine Weile über dem Wald gekreuzt hatten, um seine gegenwärtige Position ausfindig zu machen –, war ein Angriff möglicherweise unausweichlich geworden … In ihrer Hast hatte Lucky Jatta mit sich gezerrt, nach draußen in den Schnee. So eine große Horde aus königlichen Wachen und Jaegertruppen und Ha-Häuslern – die mit ihren Schutzbrillen und Hand-
schuhen und wollenen Knickerbockern und Mänteln aus doppeltem Leinen kaum voneinander zu unterscheiden waren. Dabei war ihre Ausstattung wohl weniger dazu geeignet, sie vor Kälte zu schützen, als ihnen große Anstrengungen zu ermöglichen, ohne sich allzusehr zu erhitzen. Deshalb die vielen Lagerfeuer. Sie wurden dazu benutzt, um Roggenbrei aufzuwärmen. So viele Ponys, Wagen und Schlitten. Die Skier hatte man mit den Spitzen aneinander gestellt, damit die Krümmung am vorderen Ende erhalten blieb. Ach ja, und das Panzergefährt, aber das war jetzt ohne Bedeutung. General Aleksonis hatte auf seine prächtige Uniform verzichtet. Auch er trug Knickerbocker anstelle der perfekt passenden Kniebundhosen, die Lucky so sehr bewundert hatte. Ihre Majestät mußte diesen Tribut an die winterlichen Bedingungen verzeihen. Sich jetzt in angefeuchtete Hosen zu zwängen, würde zu einer Lungenentzündung führen. Außerdem konnte der General schlecht Dämonen-Jacks Trick anwenden. Welchen Trick? Nun, Jacks Jutti-Uniform hatte schließlich ihre schmutzabweisende Eigenschaft verloren und mit der Zeit immer mehr gemüffelt. Juni hatte den Alien-Stoff für ihren jungen Gemahl in geschmolzenem Schnee mit Seife gekocht und ihn über Nacht weichen lassen. Im Augenblick saß Jack in einem zugigen Zelt und trocknete die Uniform auf seiner Haut, indem er sich zu einer erhöhten Körpertemperatur beschwor und als sein eigenes SaunaKohlenbecken diente. Die vier Mädchen, die in dicken kleinen Mänteln und pelzgefütterten Lederstiefelchen steckten, spielten draußen vor dem Zelt und warfen mit Schneebällen statt mit
Pestfliegen. Als Lucky in Begleitung des Generals und Jattas näherkam, wurden sie von den Mädchen bombardiert, während sie riefen: »Hast du …« »Uns etwas …« »Süßes gebracht …« »Süßes gebracht?« Lucky hatte keine Süßigkeiten mitgebracht. (Und Jatta mußte an Mignon-Eier denken …) »Großmutter …! Mutter …!« Jack war nicht nur damit beschäftigt, seine Uniform durch Willenskraft zu trocknen, sondern auch mit einem Namen, der ihm von einer weisen Frau anvertraut worden waren, im Austausch gegen das Versprechen, ihr Haus nicht zu plündern, in einem Dorf, das die königlichen Truppen überrannt hatten. Er bestürmte Lucky sofort mit dieser Geschichte. Der Namen lautete Progerie. Progerie war der Name einer sehr seltenen Krankheit, bei der eine extrem frühreife Entwicklung einsetzte, gefolgt von vorzeitiger Alterung und frühem Tod. Gräßliche Beschreibungen von Jack und seinen Töchtern waren der Armee vorausgeeilt, von Kuckucken weitergetratscht. Die weise Frau kannte einen ähnlichen Fall, der dreißig Jahre zurücklag … Einwanderern war ein Junge geboren worden, denen die Mana-Priester in Landfall durch Zinnweissagung diesen Teil der Ländereien des Waldfürsten zugewiesen hatten. Diese Einwanderer waren auf der fernen Erde Mediziner gewesen. Während der Reise in der Ukko-Fähre durch den Mana-Raum war der Ukko in ihre Bewußtseine eingedrungen und hatte sie in einiger Verwir-
rung zurückgelassen, obwohl sie vom Gedanken an diese merkwürdige Krankheit der Zeit beherrscht wurden, die sie zufällig auf der Erde kennengelernt hatten. Durch eine boshafte Laune des Ukko war ihr erster auf Kaleva geborener Sohn dazu verurteilt, ihre Erfahrung mit der Progerie zu wiederholen. Ihr Sohn bekam seine zweiten Zähne, als er drei Monate alt war. Mit sechs Monaten waren seine Zähne bereits gelb und faulig geworden. Sein Haar war schloßweiß, als er zwei Jahre alt wurde. Die Progerie wurde durch eine Fehlfunktion der Hirnanhangdrüse verursacht. Sie störte den Hypothalamus im Gehirn, der zum System gehörte, das die zeitlichen Steuerungen kontrollierte. Daher hatte ihr Sohn mit einer anderen Geschwindigkeit gelebt als gewöhnliche Menschen, so daß er an Alterschwäche starb, als er zehn war, ohne jemals die Statur eines Erwachsenen entwickelt zu haben – ganz anders als Jack, aber nicht anders als seine vier Töchter … Jack war dem Fluch der Progerie entgangen, indem er sie an die Mädchen weitergegeben hatte. Nachdem jetzt das richtige Wort bekannt war – durch die weise Frau aus den Wäldern, die es durch das Ärztepaar erfahren hatte –, konnte jetzt Nils, der junge Besprecher, dieses Wort dazu benutzen, die Mädchen zu stabilisieren, damit sie sich in normalerem Tempo entwickelten. Die temperamentvollen Töchter waren eine große Herausforderung für Nils. Er setzte seinen ganzen Stolz daran, einen Erfolg zu erzielen. »Ist es nicht wunderbar, Großmutter? Ist es nicht wunderbar, Jatta?« Es schien, daß die Mädchen infolge dieser Bemühungen nicht mehr in der Lage waren, Pestfliegen zu erzeugen … Es vergingen einige Minuten des Geplappers, bis Lucky sich bei
Jack Gehör verschaffen konnte. Das Auftauchen des Ukko-Kindes! Die Zerstörung von Burg Kippan! Pestfliegen waren jetzt unwichtig. Ebenso die Feindseligkeiten … Inzwischen war Ben Prut eingetroffen. Bekker ebenfalls. Der Hauptmann der hölzernen Soldaten hatte seine schmucke Uniform anbehalten, da er keinerlei Kälte verspürte. Zahlreiche weitere Soldaten drängten sich vor dem Eingang zu Jacks Zelt. Bald hatte sich hinter dieser Menge eine weitere Menge gebildet. (»Unsere Königin wird uns anführen …«) (»Nein, sie hat gerade gerufen, der Krieg sei vorbei …«) (»Wie kann er vorbei sein …?«) (»Psst, sie ruß, Burg Kippan sei zerstört …«) (»Dieser Krieg ist die reinste Zeitverschwendung …«) (»Und das stählerne Herf? Wir haben es den ganzen weiten Weg von Sariolinna hergebracht …!«) (»Tapper Kippan ist offenbar tot, und dieser miese van Maanen und sein Winzling ebenfalls …«) (»Unsere wahren Feinde sind jetzt die Isi, sagt sie. Sie rivalisieren mit ihr um den Ukko, der aufgetaucht ist …«) (»Der Ukko, der Burg Kippan zertrümmerte …«) (»Sie will uns nicht anführen, sondern möglichst schnell wieder verschwinden …«) (»Und Dämonen-Jack mitnehmen …«) (»Und Bekkers Holzkerle und den jungen Besprecher dazu …«) Lärm in der Ferne, Rufe und Hornsignale von den Frontpatrouillen, Unruhe … Welch ein Gedränge und Gerangel. Brei, der zischend auf die Lagerfeuer kippte. Der Kriegswagen, der brül-
lend zum Leben erwachte und sich zwischen die gelandeten Luftboote schob, um Feuerstöße in den Wald zu spucken. Das Aufzucken von heißem Licht, das Zischen von Patronen. Hölzerne Soldaten bildeten einen Ring um Lucky. Nein, es wäre keine gute Idee, ins königliche Luftboot zu flüchten. Was war, wenn ihr Gefährt und das Luftboot aus der Festung beschädigt wurden? Was für eine niederträchtige Zeitverschwendung, wo der Krieg doch längst sinnlos geworden war! Lucky hatte vor Wut und Verzweiflung gekocht, während ihre Truppen die Stellung verteidigten. Wie konnte sie Offiziere und Soldaten abziehen, wenn solche Scharmützel sich fortsetzten? jemand mußte einen Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen besprechen. Wo waren Aleksonis und Prut und der junge Besprecher und Jack? Beschäftigt, unabkömmlich. Wie konnten die Rebellen die Behauptung glauben, daß Burg Kippan vernichtet sei? Sie mußte ihnen einfach wie eine zu dick aufgetragene Lüge vorkommen. Schließlich wurde es wieder ruhiger. Der letzte Heckenschütze war entweder geflüchtet oder erschossen worden. Man kümmerte sich um die Verletzten. Leichen wurden gezählt. Ein hölzerner Soldat quetschte sich eine Kugel aus dem Arm. Und dann hatte der Streit mit Jatta begonnen, an dem sich bald auch Jack beteiligte, der aus dem Getümmel zurückgekehrt war. Nils Karlsson mußte bei Juni und ihren Schreckensmädchen bleiben, um weiterhin ihre Progerie kontrollieren zu können. Lucky durfte ihn auf keinen Fall mitnehmen. Sonst würde Jack seine Großmutter nicht begleiten! Und an wem lag ihr mehr? Ach, diese verdammten Verzögerungen!
Als Resultat der Verzögerungen kämpften jetzt die Samt- und Streifen-Juttahats träge auf der Oberfläche des Ukko-Kindes miteinander. Schwarze und Beigefarbene schlugen sich unbeholfen, als stünden sie unter Drogen. Hier stolperte ein Alien, dort stürzte ein anderer. Einer rollte ganz den Hügel des Ukko hinab, um in den Graben aus Lava zu fallen. Als das königliche Luftboot kreiste, kamen die Überreste der großen Burg in Sicht, die tief unten am Kraterrand feststeckte. Weiter oben auf dem felsigen Hang des Mondkindes war eine Öffnung zu sehen, die von Juttahats umkämpft wurde. »Zu spät zu spät zu spät!« »Still, Großmutter, still …« Lucky stopfte sich den Saum ihres Kleides in den Mund. Jack wiegte sich vor und zurück, während er aufglühte und kühles Schweigen und gefrorene Augenblicke heraufbeschwor. Serlachius sang leise Worte des Mysteriums. Die Piloten verständigten sich über Funk. Die Juttahats im Bereich unter ihnen schienen plötzlich unter lähmender Trägheit zu leiden. In der Ruhezone gingen beide Luftboote nieder, um die Öffnung in die Zange zu nehmen. Das königliche Gefährt stöhnte und erzitterte. Lucky erzitterte ebenfalls unter der Heftigkeit ihrer Erwartung und Besorgnis.
25 Integrationen
»Hört, hört!« rief der Näkki-Zimmermann. »Fie kommen. Fie werden bald hierfein!« Innerhalb des Geisterpalastes hatte sich der Feuerwirbel bis zur völligen Schwärze verbrannt, zur Form eines aufgedunsenen Hinterns, der von rötlichen Blitzen umzuckt wurde. Auf diesem gespaltenen schwarzen Hintern saß ein gesichtsloser schwarzer Kopf mit einem Dutt. Der Umriß des Monsterweibchens im Teich! Ein Strom aus Funken floß nach oben. Ihr Flimmern erinnerte an die Sternensylphe, ein Bild, das sich ständig neu bildete und auflöste. »Wer kommt?« fragte Paula, die eine Seelenblume war. »Wer?« fragte Inga, die schlanke Schornsteinblume. »Wer?« fragte Aino mit dem Opalauge. Viper kam gleitend über die Schneelandschaft. Juttahats mit Bernsteinhaut liefen an ihrer Seite. Die Führer der Sprungfahrräder waren zurückgeblieben, da die Fahrräder kurz nach dem Betreten des Ukko-Jungen versagt hatten. Vipers Masse hätte nicht einmal auf den Schultern eines Dutzends Diener getragen werden können, ob sie nun im Gleichschritt gegangen wären oder nicht. Mana-Pastellicht erleichterte ihr Vorankommen. Viper hinterließ eine schlängelnde rosafarbene Spur, als würde sie aufgrund der Anstrengung aus einer Bauchwunde bluten.
Drei normale purpurne Magi kamen, die von dunkelhäutigen Juttahats in schwarzen Uniformen getragen wurden, als wären diese in große Tubas gewickelt, dazu ein Bronze-Magus, den ein kupferfarben gekleideter Diener trug. Bei ihnen befand sich auch ein Mensch mit kastanienbraunen Locken, nußbraunen Augen, großer Stirn, vollem Mund und Stupsnase und Stoppeln am Kinn, über die er sich wunderte. (»Wie soll ich hier irgend etwas erkennen? Ich bin doch nur ein Mädchen. Mein Name ist Sali«) Ebenfalls in ihrer Gewalt befand sich eine ausgezehrte bärtige Gestalt mit stechend blauen Augen und fettigem, beigem Haar, das nach hinten geworfen war: »Ich sage Euch, meine Schwester wird von Monstren umringt sein! Minki hat es mir gesagt.« »Nein, das habe ich nicht. Nicht ich! Das bin nicht ich, ich schwöre es! Minki hat meinen Körper übernommen und mir seinen gegeben! Es ist ein Alptraum. Ich habe ihn so sehr geliebt. Wenn ich mich schlafen lege, werde ich dann als ich wieder aufwachen? Sein Ding ist ständig zwischen meinen Beinen, es schwillt und schmerzt …« Ein Monster war aus einem verschneiten Dickicht hervorgebrochen, zur Hälfte Mensch, zur Hälfte Verrin. Es heulte hungrig und stürmte auf Juko Nurmi und seinen Juttahat-Aufseher zu. Es war die Verkörperung eines tödlichen Alptraumes. Die Lichtwaffen versagten, obwohl sie kurz nach dem Betreten des Ukko-Kindes getestet worden waren. Die Patronen in den Gewehren zündeten nicht. Das Geschoß aus der Armbrust explodierte nicht beim Auftreffen, doch der Verrinmann erhielt dadurch einen Stoß und wirbelte herum, bevor er seinen wahnsinnigen Angriff fortsetzte. Mit Unterstützung durch
Worte eines Magus gelang es schließlich dem Bolzen einer gewöhnlichen Armbrust, in die Stirn des Tiermenschen einzudringen und den Angreifer zusammenbrechen zu lassen. Waren die meisten Waffen jetzt nur noch als Keulen und Schlagstöcke zu benutzen? Und die Arme nur noch zum Ringen? Eine Königin kam. Ihr Hauptmann Bekker hatte dieselbe Feststellung machen müssen. Doch er und seine hölzernen Soldaten – in ihren dunkelblauen Uniformen und spitzen Tschakos – waren so zuverlässig wie Knüppel. Der kurzsichtige Ben Prut und seine Abordnung königlicher Wachen – in Knickerbockern und doppelten Mänteln – waren stärker beeinträchtigt. Dämonen-Jack flitzte hin und her, besorgt um Lucky, die entschlossen durch das kühle Zwielicht zum Leuchtfeuer marschierte, zum sonnigen Dorf mit seiner geisterhaft glühenden Burg. Jack war auch auf Jattas Sicherheit bedacht. Er mampfte Kohl und Hackfleisch in weichen Gebäcktaschen aus einer großen fettigen Papiertüte, um bei Kräften zu bleiben. »Nimm dir auch einen Hammelburger, Jatta-Mama«, drängte er. »Sie sind köstlich.« Sie schüttelte den Kopf. »Du wirst noch platzen, Schnelljunge.« »Es ist so wie auf unserer Wanderung fort von Maananfors, als ich noch klein war, nicht wahr, Jatta-Mama? Immer in Hast und Eile.« Vor langer Zeit, was sein Lebensalter betraf, doch eigentlich vor gar nicht allzu langer Zeit … »Du und ich und Juko, was?« »Dieser Juko sei verdammt!« fluchte Lucky. »Er hätte mir hel-
fen können. Ich habe ihm verziehen, ich habe ihn gefördert.« Ihre Zähne klapperten vor Kälte und Zorn und Anspannung. »Ich helfe dir, Großmutter. Ich bin mehr als Juko. Ich bin der Meister des Windes, des Lichtes und der Kälte. Des Lichtes, das betäubt, der Kälte, die gefriert.« »Und du hast die liebe Anni zu mir gebracht«, murmelte Jatta wehmütig, aber so leise, daß ihre Mutter es nicht hörte. »Wärm dich auf, Großmutter! Nimm einen Hammelburger …« »Nein! Es herrschte Eiseskälte im All, als ich meinen Ukko fand. Deshalb ist es jetzt so frostig. Die Kälte, die Dunkelheit … Hier drinnen ist es so gewaltig! Um so vieles größer. Wo sind all die Labyrinthe und Schneckenwindungen und Kammern? Vielleicht sind wir in einer von vielen Kammern. Vielleicht ist dies die falsche. Ach, dieser helle Ort ist die Wiese mit den wächsernen Blumen! Warum ist die Luft nicht süß? Sie stinkt nach Gas. Sie ist so fettig wie dieser Happen in deinem Mund, Jack! Wo sind die Skelette der Schlangen und Nichtmenschen? Nein, hier kann es keine geben. Wo ist Paula? Wo bin ich? Nenn mich nicht Großmutter. Ich bin jung. Ich bin alt, so alt, nach so vielen dummen und gemeinen Töchtern. Ich meine nicht dich, Schnatter-Jatta. Du bist am Ende dieses Weges bei mir – und am Anfang eines neuen.« »Das habe ich mir immer gewünscht.« Damit ihre Mutter es nicht hörte. Noch eine Königin kam. Und auch Sam Peller entdeckte, daß die Waffen den Dienst verweigerten. Er hatte auf eine Schneesäule gefeuert, die sich mit einem plötzlichen Satz von einem
Baumstamm gelöst hatte. Die Säule schüttelte die wollige Umhüllung ab, enthüllte Fetzen einer roten Lederkluft und ein grinsendes pickliges, scharlachrotes Gesicht. Ohne daß die Gestalt von heißem Licht berührt worden wäre, fiel sie steif um und lag reglos da. Sam schüttelte seine Pistole und löste sie erneut aus, jedoch ohne Wirkung. Seine Waffe hatte versagt. Wex beugte sich über die gefrorene Leiche. Er wischte kalte Watte aus dem Gesicht. Das Haar war genauso gebleicht wie Sams. »Schneekopf …« »Ich sehe, daß er Schnee auf dem Kopf hat«, sagte Minni. »Sieht das nicht jeder?« »Nein, ich meine, er ist Schneekopf, Minki Kennans Kumpane. Von der Niemi-Burg.« Wex' Hand wischte mehr Schnee fort. »In seiner Brust steckt ein langer Pfeil. Damit war er an den Baum festgenagelt …« »Holzmänner«, befahl Sam ihrer Eskorte, »testet Eure Lichtgewehre.« Was sie taten. Aber keins verschoß Licht. Das Mana konnte durchaus einen solchen Effekt auf Waffen haben, wenn auch noch nie zuvor in solchem Umfang. Hier war der Brennpunkt des Mana, auch wenn es ein kalter war. »Wir werden unsere Messer benutzen, wenn es nötig ist«, sagte Sam düster. »Es waren nicht unsere Waffen, mit denen wir die Tiermenschen aufgehalten haben, oder? Unsere Waffen haben uns in Wirklichkeit noch nie genützt.« Er warf Osmo einen Blick zu. »Mein Prinz und Besprecher Ihr werdet uns beistehen.« »Natürlich wird er das«, sagte Minni. »Sonst will ich nicht
mehr Minni van Maanen heißen.« Wex ging über dem Toten in die Hocke. »Das muß eine falsche Leiche sein, die vom Ukko-Kind mit Hilfe von Kennans Geist geschaffen wurde, während er hier war … Eine Manafestation.« »UKKOS KOPIE.« Seine Hände strichen über den erstarrten Körper, fast sehnsüchtig, doch was konnte er schon spüren? »Mein Bernsteinmann ist auch eine Mana-festation«, sagte Golda stolz. »Er – oder sie – und ich: die Gemeinsamkeit unserer Einzigartigkeit.« »Und wenn wir auf Juttahats stoßen«, fragte Sam sie mißtrauisch, »werdet Ihr Euch dann auch noch so einzigartig fühlen?« Das Goldmädchen verbreitete einen beruhigenden Duft. »Gibt es außer mir noch einen anderen Juttahat, der mit Gerüchen und Gesängen betören kann? Fürchtet Ihr, ich könnte meine Treue zu einer alten Verbindung wiederentdecken?« Ihr Bernsteinmann schwankte und hielt sich den Bauch. »Golda, ich bin …« Er oder sie pfiff zwitschernd, als müßte er oder sie nach Atem ringen. »Ich kann es nicht sagen …« »Was ist los?« Golda kniete sich vor ihm in den Schnee und legte ihre Hände über seine schützenden Hände. »Du bist in einen Teich aus Harz in einem Mutapu-Baum geboren worden«, sagte sie zu ihm. »Dein Onkel sang und kaute und spuckte. Bernstein formte deine wunderbaren Glieder, so fest und geschmeidig und ohne jede Schwäche.« Behutsam, aber mit Nachdruck löste sie seine Hände – und holte Luft. Oder keuchte sie kaum hörbar auf?
Ein doppeltes Bild in einem wolkigen Mana-Spiegel aus Honig-Bernstein! Im verschwommenen Bauch, dem Aufenthaltsort des nebulösen Fötus, befand sich eine zweite Form, die dieselbe Stelle einnahm: ein rötlicher Umriß eines runden Torsos, ein gesichtsloser orangefarbener Kopf und Hintern, dazu ein Flackern, als würden sich Hunderte winziger Finger bewegen. Der Fötus drehte sich in diesem Phantombild. »Werde ich auf mir felbft geboren werden?« lispelte Bernsteinmann. »Werde ich mich felbft gebären? Foll ich meinen Bernfteinkokon in Wehen aufpreffen, die Beine gefpreipft?« »Das darfst du nicht!« Golda starrte auf die goldenen Formen von Schwanz und Sack, die ihr so nahe waren, so plastisch wie eine Statue. »Aufgrund deiner Männlichkeit hast du keinen Geburtskanal!« »Foll dann mein Bauch aufplapfen?« Bernsteinmanns Körper krümmte sich. Als er taumelte, hielt das Goldmädchen ihren Liebhaber an den Hüften fest, um ihn zu stützen. Sie gab besorgte Düfte ab. »Foll ich mich felbft aufgeben, um dir eine Welpe pfu fenken, ein Fnellbalg, daf du dir an die Bruft hängft?« »Nein, nein, du bist es, den ich liebe! Dich!« »Aber daf bin ich, und der Reft ift nur meine Hülle.« »Meine Harfe, meine Harfe …« »… ist verloren«, jammerte Minni. »Und darüber bin ich so traurig. Hilf ihr, Osmo«, drängte sie. »Hilf Golda. Bespreche! Kontrolliere! Mach einen Knoten in ein Ei – oder einen ähnlichen Bannspruch. Verhindere, daß das Baby geboren wird. Laß es dort, wo es ist.« »Nein, sag so etwas nicht! Unser eigenes Baby könnte da-
durch …« »KONTROLLE«, teilte die Wetware mit. »EIN TEST DER KONTROLLE: DARUM HANDELT ES SICH HIER.« Osmo zauderte. Wex näherte sich dem Bernsteinmann. Er stieß Golda zur Seite. Sie flog zu Boden. Seine rauchige Stimme war voller Begierde und Sehnsucht: »NACHDEM DAS BABY DIESEN BERNSTEINKÖRPER VERLASSEN HAT, SOLL ICH IHN DANN FÜR MICH ÜBERNEHMEN? UM MEIN VERBORGENES GESICHT ZU ZEIGEN. UM MEINER VORSTELLUNG VON MIR SELBST ZU ENTSPRECHEN. UM ZU NATÜRLICHEM BRONZENEN FLEISCH ZU WERDEN, ZU NATÜRLICHEN MUSKELN UND KNOCHEN. UND DARIN MEIN GEIST. BERNSTEINMANN, GIB DEINE GOLDENE HÜLLE AUF. NIMM DAS BABY AN, GOLDMÄDCHEN, DAS WEISE, LIEBENDE, SPRECHENDE BABY, DIE SCHWESTER DEINER SEELE …« Minni schlug Wex kräftig ins Gesicht. Und er schrie auf. Es war ein so entsetzter Schrei, als hätte man ihn ins Feuer geworfen. Die Kraft seines Schreis warf ihn rückwärts in den Schnee, wo er sich wand und heulte. »Laß mich nicht allein!« kreischte Wex. Seine Worte waren Laute der furchtbaren Qual, wie von einer Katze, die zwischen zwei Hunden zerrissen wurde. Minni achtete nicht mehr auf ihn. »Wenn mein Osmo nicht besprechen kann«, schwor sie, »dann werde ich es tun. Bernsteinmann, horch zu! Kind aus Harz, Mann aus Bernstein mit der Seele eines Mädchens: bleib du selbst! Schatten, beuge dich meinem Willen!« Sie mußte brüllen, um es mit Wex' Geschrei aufzunehmen.
Sie zerrte die Krone aus ihrem Kraushaar, riß sie auseinander, wobei die Perlen wie Hagelkörner in den Schnee purzelten. Sie löste eine Handvoll schwarzer Lederschlangen, kleine Peitschen, mit denen sie wild um sich schlug. »Laß Bernsteinmann in Ruhe, sage ich. So ist es gesprochen und besprochen und widersprochen! Schatten soll gehen, mach keine Wehen. Bauch sei beschworen, Baby bleib ungeboren.« Bernsteinmann entspannte sich – und legte langsam seine Hände auf das verschwommene Fenster in seinem Bauch. »Mit mir ist … alles in Ordnung«, sagte Bernsteinmann mit völlig alltäglicher Stimme – heiser, aber mit einem leisen Pfeifen darin, als würde er durch goldene Zähne sprechen, die etwas zu weit auseinander standen. Golda erhob sich und griff nach ihrem geretteten exotischen Geliebten. Sie atmete einen seufzenden Duft der Freude aus. »Mein Bernsteinmann!« »Meine köstliche Gans!« Minni drehte sich zu Wex um. Er wand sich immer noch und schrie sich die Seele aus dem Leib. Minni bückte sich und schlug mit ihrem Peitschenbündel auf ihn ein. »Hört auf, hört auf!« Dieser geringere Schmerz schien seinen qualvollen Anfall zu durchdringen. Als er nachließ, krallte Wex schwach die Hände in den Schnee. Minni grinste Osmo an und ließ die Peitsche fallen. »Keine hohen Stiefel mehr, und jetzt habe ich auch noch meine Krone ruiniert.« Erstaunt: »Du braucht sie doch nicht mehr, oder?« »Meine Hoffnung«, rief Golda, »meine Hoffnung für die
Nichtbeeinträchtigung Eures Kindes!« »Sprecht nicht so zu mir«, spottete Minni, »auch wenn Ihr aufgeregt seid, sonst könnte Sam auf die Idee kommen, ihr seid im Herzen immer noch ein Jutti.« »Meine Königin«, sagte Sam beschämt. Wex hatte sich herumgerollt. Er setzte sich auf und schlang die Arme um seinen Körper. Verlegen: »Ihr habt mich geschlagen, Minni …« »DIE VERSUCHUNG. DIE ÜBERWÄLTIGUNG DES PFLICHTBEWUSSTSEINS DURCH DIE BEGIERDE, SO DASS MEINE AUFMERKSAMKEIT NACHLIESS. IHR HABT UNS ÜBERRASCHT …« »Und dann habe ich Euch erneut geschlagen. Euch beide, Roger.« »Beide …« Wex kauerte sich zitternd zusammen, als hätte er einen Schock erlitten. »DIE CHANCE IST VORBEI … WIR MÜSSEN GEMEINSAM WEITERLEBEN … FÜR IMMER. UNSER GEMEINSAMES LEBEN TEILEN. NUR IN ROGERS TRÄUMEN WERDE ICH MEIN INNERES GESICHT TRAGEN.« »Wir wollen es so sehen, wie es ist«, sagte Minni. »Wenn du Bernsteinmanns Körper übernommen hättest, Wetware, hättest du ausgesehen wie … ein Messingroboter aus Elmers Werkstatt. Ja, wie ein Roboter, überhaupt nicht wie ein munterer, sonnengebräunter Kerl. Bernsteinmann ist wunderbar.« (»Oh, ja!« seufzte das Goldmädchen.) »Aber du hättest einigermaßen lächerlich ausgesehen.« »Ein Mutant, eine Mißgeburt«, pflichtete Osmo ihr bei. Sofort schüttelte er den Kopf, um sich zu entschuldigen. »Es tut mir leid, Bernsteinmann. Verzeihung, Golda. Und es tut mir
leid, daß ich nicht schnell genug besprochen habe. Nein, es tut mir nicht wirklich leid – weil dadurch Minni ihre Chance erhielt. Sie hat dem Schatten getrotzt, sie hat ihn gebändigt.« Während seines Anfalles war Wex' Perücke an Ort und Stelle geblieben. Er überprüfte, ob seine Scheiben im Schädel bedeckt waren, bevor er sich wankend wieder aufrappelte. »Warum«, fragte er, »hat die Stimme des Schattens gelispelt?« Osmo dachte kurz nach. »Die Worte sind noch nicht richtig. Sie müssen sich erst klären. Und konzentrieren.« Und jetzt kommen sie in das warme, helle Dorf mit den weißen Holzhäusern und Gänseblümchen und gesprenkelten Hühnern und der Bäckerei. Sie kommen aus den vier Windrichtungen – oder zumindest aus dreieinhalb (da eine Gruppe dem Palast aus gasigem Feuer ausweichen muß). Die Szene ist fast wie der Drogentraum eines Schamanen auf der Gala in Julistalax. Näkkis sausen hin und her. Die Mädel bestaunen einen gewaltigen Isi-Magus, dessen Schuppenpanzer in gestreiftem schillernden Ocker mit sepiafarbenen Glyphen geschmückt ist. Pastellicht steigt wie rosafarbener Dampf von seinen Hörnern auf, die einen Kopf krönen, der die Größe eines Bullen hat. Während sich der Magus voranwälzt, hinterläßt er eine breite glänzende und verblassende Schmierspur. Er wird von bernsteinhäutigen Juttahats in beigen Uniformen begleitet. Andere Mädel bestaunen mit offenem Mund drei Magi, die sich um die Rümpfe von ebenholzschwarzen Körpersklaven mit ebenso schwarzen Uniformen geschlungen haben, und einen weiteren messingfarbenen Magus mit bronzenem Diener. Die
Isi haben ihr Kinn auf die Wuschelköpfe dieser Juttahats gelegt – Doppelköpfe aus Alien-Schlange und humanoiden Nichtmenschen. Ein menschlicher Gefangener mit lockigem Haar windet und sträubt sich im Griff schwarzer Hände. Ein hagerer, bärtiger Mann strebt mit wahnsinnigem Blick vorwärts. Und seht: Dort kommt eine hektisch humpelnde Königin mit einem Bernsteinkranz auf dem wirren pechschwarzen Haar. Ihre Gesichtszüge reihen sich nahtlos in die der zuschauenden Mädel ein, als hätte sie einst das Modell für sie alle abgegeben. Begleitet wird sie von einer grübelnden Tochter, einem stämmigen Priester und einem jungen Mann mit dünnem Schnurrbart, der strahlt und kupferfarben gekleidet ist. Um seinen Kopf wirbeln Schneeflocken wie Phosphorkäfer (in der Dämmerung, obwohl jetzt Tageslicht herrscht). Dazu eine Eskorte aufmerksamer Wachen aus Fleisch und Blut und entschlossen auftretenden Soldaten mit hölzernen Gesichtern. Und seht: Dort ist ein nackter junger Mann mit einer Anatomie aus geschmeidigem Bernstein, Arm in Arm mit einem hinreißenden goldenen Mädel (in der Spitzenschürze einer Magd – sie hat in der Wärme ihren Mantel abgelegt). Diese zwei befinden sich in der Gesellschaft eines schnurrbärtigen Fürsten mit seiner görenhaften Prinzessin und einem wachsamen weißhaarigen Leibeigenen und einem Mann im Mantel, dessen Frisur unnatürlich gepflegt wirkt, und drei Holzmännern. Diese vier Gruppen streben dem Rasen mit dem Teich und der großen Schaukel zu, wo sie sich treffen werden. Aus verschiedenen Häusern kommen hier und dort Näkkis in den Uniformen von Musikanten, um sie zu begrüßen. Sie tragen
Posaunen und Trompeten, Hörner und Tubas. Die Näkkis stimmen einen munteren Karnevalsmarsch an: hum-ta-tum, tätära, hum-ta-hum-ta-hum. Um die Stimmung zu heben? Um Feindseligkeiten zu bändigen? Die Musikanten sind über das ganze Dorf verteilt, dennoch spielen sie alle im Gleichtakt. Als die vier Gruppen auf den Rasen strömen, kommt eine Frau mit flatterndem seidigen gelben Haar herbeigelaufen, eine Frau mit nur einem blauen Auge und einem aus Opal. Sie trägt Kniebundhosen und einen Messinggürtel und eine gerüschte weiße Bluse. Ein gertenschlankes Mädel folgt nicht ganz so schnell. Ein Mädel mit blonden Zöpfen nähert sich nur zögernd. »Hört auf zu spielen!« ruft Aino hier und dort einem Musikanten zu. »Hört auf, sage ich!« O nein, Minkis Karneval darf nicht von neuem beginnen – sonst würden bald wieder Feuerpfeile aus den Mündungen der Trompeten fliegen. Diese monströse Schlange, die sich in kriechenden Windungen dem Rasen nähert … Weitere Isi, die wie Tubas getragen werden. So viele Juttahats – und Soldaten, die aus Holz bestehen. Ein nacktes Geschöpf, gänzlich aus Bernstein. Und Osmo van Maanen, der sie zur Flucht und zum Tod durch Ertrinken besprach! Und eine bärtige, doch sehr vertraute Gestalt im Griff eines der schwarzen Juttahats, die einst ein Auge für sie gemacht hatten … Juko, den sie auf den Klippen über dem See aus der Ferne erspähte, der jetzt auf einmal hier ist! Und bei Juko kein Geringerer als Minki Kennan …
Die Luft ist elektrisch mit Mana geladen, mit der Drohung eines bald losbrechenden Sturmes, von einem Zusammenstoß der vier Winde. Magi verströmen Pastellichtblasen, Juttahats lassen ihre Muskeln spielen, Hände legen sich an Messergriffe, Dämonen-Jack bringt sich in Stellung. Armbrüste werden gespannt. Ainos Chancen sind entschwunden, aus und vorbei, in Ermangelung des Namens einer Blume. Vipers Witterung eines Koboldes und sein Vorpreschen. »Sie ist ein Monstrum, sie ist ein Mutant, und sie ist hier …!« Minni weicht nicht zurück. Sie läßt sich nicht einschüchtern. Viper hält an. Erhebt sein gewaltiges Haupt. Öffnet ein Maul, das groß genug ist, eine Minni mühelos darin verschwinden zu lassen. Gift tropft. Minnis Anwesenheit im Geist dieses Juwels! (»Also bist du endlich doch geschlüpft. Hattest du in letzter Zeit gute Diener zu fressen? Dieser wilde Jutti sagt: Wir werden nicht zum Festmahl für dich werden.«) Jutti der Wildheit? Ach, das Sprechen des Koboldes von sich selbst. Doch in der Nähe ist eine Juttahat in Verwandlung, das Ergebnis des Bronze-Experimentes der Torheit, ohne Hören von Stimmen, mit dem Verströmen von Düften der Betörung in Eigenverantwortung, dazu der Anschein der Freundschaft zu jenem Kobold. Das Riechen dieses Juwels ohne die Mühe des Sehens: Unter den Magi der Rivalität mit Sklaventrägern ist ein Bronze-Isi, jener des Versagens der Kontrolle über das Goldmädchen. Der Mutantengefährte der Männlichkeit hat einen Fötus in seinem Innern: Entsetzen! Auch die Schwangerschaft dieses Juwels, nur aufgrund …! (»Ich habe dich
befruchtet? Durch dein Maul? Ich habe dich zur Empfängnis veranlaßt? Ach, wie entzückend!«) Das Entzücken der Schwangerschaft, sogar die Rührung eines Erleuchteten. (»Ich denke, ich hätte etwas mehr Dankbarkeit verdient. Wie wäre es mit einem Abkommen zwischen uns, daß keiner den anderen zu dominieren versucht? Wir werden uns irgendwie wegen dieses Ukko einigen. Ich bin schließlich die neue Königin von Kaleva. Ich kann Abkommen aushandeln. Wie wäre es mit etwas Hilfe in bezug auf diese Magi der Rivalität! Vielleicht auch in bezug auf gewisse Menschen. Wie wär's, Juwel der Erleuchtung und Schwangerschaft …?«) Die Unverschämtheit und Schlüpfrigkeit dieses Koboldes! Trotzdem: die Einnistung des Koboldes in Vipers Geist, keine Umgekehrtheit. Daher der Einfluß in Harmonie der Begrenztheit oder wenigstens der Nichtschädigung. Gewisse Menschen! Lucky nähert sich ihrer kleinwüchsigen Tochter, wobei sie praktisch die Luft aus dem Weg schaufelt. Doch die Masse Vipers läßt sie zurückschrecken. Unter den Zuschauern sind so viele Echos von toten Traumtöchtern, daß Lucky schwindlig wird. Ob die starrenden Geister sich plötzlich auf ihre Mutter stürzen werden, wie Aasvögel auf ein Stück Fleisch? Wo ist nur ihr wahres Ich, wo? Spielt Minni überhaupt eine Rolle, oder der gemeine van Maanen – außer daß ihre Anwesenheit eine Ablenkung für sie darstellt? Werden sie ihr diesen großartigen Augenblick vermasseln, wenn sie nicht eingreift? Es ist schwierig, diese beiden einfach zu ignorieren. »Miststück!« schreit sie. »Scheißkerl!« »Beruhige dich, Mutter«, redet Jatta auf sie ein.
Ja, ruhig, ruhig. Wie soll sie sonst ihr anderes Ich finden? »Mysterium der Mysterien!« ruft Serlachius, als er so viele ähnliche Gesichter erblickt und den gigantischen Magus, die Näkkis und die Frau mit dem Opalauge bestaunt. »Aino Nurmi!« Osmo bildet mit den Händen einen Schalltrichter, um über den Ententeich zu rufen. »Ich habe Euch ungerecht behandelt …« Osmo kann sich in einem solchen Augenblick kaum zur Reue überwinden. Er kürzt seine Entschuldigung zu einer Geste ab, in die er Bernsteinmann einschließt: Seht, ich habe mich sogar mit Mutanten angefreundet. Nach einem Rippenstoß von Minni: »Euch auch, Jatta Sariola. Ich habe Euch schändlich behandelt …!« Der Schnelljunge, nunmehr erwachsen, umtanzt Jatta. Er mustert Osmo. Osmos Geste schließt auch das Goldmädchen mit ein: Seht, ich respektiere alle möglichen Frauen, sogar Alien-Frauen. Es sind diplomatische Gesten, auch wenn sie ernst gemeint sind. Osmo kann es sich nicht leisten, ausführlicher und übertriebener um Verzeihung zu bitten. Lucky schaufelt wieder Luft. Um Osmo und Minni aus dem Weg zu räumen. Um ihren Herzenswunsch zu demaskieren. Um die Macht des Ukko-Kindes zu gewinnen. Sie wendet sich Minki Kennan zu, der von einem Juttahat festgehalten wird. Sie fletscht die Zähne. »Ihr habt meinen Berti getötet!« Aber nein, das hatte er nicht getan. Er ist nicht er. Er ist sie. Und sie ist Sal. Sal hat nichts mit alldem zu tun, weder mit Mord noch einer Wahnsinnigen oder – wie er oder sie unter dem anklagenden Blick der Poetin zusammenschrumpft! – mit diesen Näkki-Musikanten. /Minki Kennans/ Protest ist für einen Magus Grund zum
Mißtrauen. Das Reden seiner Stimme: /Minki Kennans / Unmöglichkeit des Erkennens von Aino Nurmi oder Königin Lucky oder Näkki-Musikanten (die Offensichtlichkeit aufgrund des Schocks der Nähe zur Poetin) im Fall der Nichtidentität mit Minki Kennan! Seine Halluzination und Selbstbetörung des Glaubens an eine andere Identität mit anderem Geschlecht voller Erfolg. Zum Zweck seines Versteckens und Beschützens! Welche Betörung, welcher Selbstbann! Lucky wendet ihre Aufmerksamkeit Juko zu, der immer noch zu seiner Schwester drängt, wenn auch nicht mehr so heftig. »Ihr habt mich verraten!« ruft die Königin. Aino betrachtet ihren Bruder mit einem klaren blauen Blick und einer durchscheinenden Leere aus Opal, während Juko Worte mit seinem Mund formt … keine Worte der Macht, sondern jammernde, erstickte Phrasen. »Kein Vermissen meines Essens! Nein, das Vermissen meiner Schwester! Das Vermissen von Ainos Vortrag …!« Welche Bedeutung haben solche Sentimentalitäten jetzt noch für Aino? Ist Jukos ambivalente Sehnsucht nach ihr in das Stadium der Nachahmung übergegangen – so daß er nun in sich selbst ein Bild ihrer Seele heraufbeschwören, ihren Geist in Besitz nehmen, sich ihrer bemächtigen kann? »Meine Kastration durch die Himmelssichel …!« Ja, indem er seiner Männlichkeit und seinem männlichen Zorn abschwört. Dieser Zorn ist nun nicht mehr auf Osmo gerichtet, der seine Schwester so sehr verletzte. Osmo muß einfach äußerst mißtrauisch gegenüber einem Mutanten bleiben, der bewirkte, daß seine frühere Geliebte auf schreckliche Weise starb, und der sein Luftboot abschoß – auch
wenn das Ergebnis sein jetziges Glück mit Minni war. Die Verbitterung des Magus Imbricatus beim Anblick des Mannes mit Perücke. Dessen Verantwortung für die Verunstaltung seiner Haut der Schönheit und Neuheit mit dem Abdruck seiner Hand … Diese Gegenseitigkeit der Anklagen! Nur Vipers Bann der Harmonie der Begrenztheit bewahrt dieses Durcheinander vor dem Sturz in die Vernichtung der Gegenseitigkeit, vor dem Verlust des Gleichgewichtes. Dieser Bann wird von Minni unterstützt – und von Golda mit ihren Düften. Das Chaos muß unweigerlich hereinbrechen, indem die Samt-Isi sich auf die Streifen-Isi stürzen, die Holz- und Fleischmenschen auf die Juttahats, jeder gegen jeden – worauf auch die Näkkis wieder zu tierischen Bestien würden. Sie, die unsicher durch die Menge schreitet, trägt blonde Zöpfe. Ihre Pfirsichhaut, ihre pummeligen Wangen, ihr volles, ovales Gesicht und die dichtstehenden rauchblauen Augen sind das vollkommene Spiegelbild von Lucky (abgesehen von der Färbung und Frisur des Haares). Oder vielleicht doch nicht das vollkommene Ebenbild. Mehrere Jahrhunderte der Leidenschaften haben ihre Spuren in Luckys Physiognomie hinterlassen, die Launen des Lebens, die Paula niemals erfahren und erst in jüngster Zeit zu imitieren begonnen hat. Dennoch ist ihre Zwillingsähnlichkeit immer noch fast vollkommen. Abgesehen vom Haar, dem blonden Haar, das früher einmal Luckys war. Beide Frauen zögern. Werden sie wie eine Ente, die auf ihrem eigenen Spiegelbild in einem Teich landet, im letzten Augenblick zu einem Ge-
schöpf verschmelzen? Wird Lucky auf Paula zueilen und Paula auf Lucky, um sich zu vereinigen, wie die Hand in den Ziegenlederhandschuh schlüpft, während der Handschuh die Hand umschließt? Wird das Haar der zusammengeführten Frau blond oder schwarz sein – oder grau in sofortiger Alterung? Welchen Nutzen hat Paula davon, diese Fremde in die Arme zu schließen – sich selbst? Um einen größeren Erinnerungsschatz zu gewinnen, um ein Reich zu erben, aus dem sie ins Exil verbannt war, in Unschuld umringt von den Echos all ihrer Töchter? Erschaudernd blickt Paula einen Augenblick lang auf Schlangen, die bis hierher vorgedrungen sind. Eine davon ist gigantisch. Zwanghaft müssen sich ihre Augen wieder Luckys zitterndem prüfenden Blick der Inbrunst zuwenden, ihrem fordernden und dennoch ängstlichen Verlangen. Ja, ängstlich, weil sie sich nach so vielen Jahrhunderten ihrem verlorenen ursprünglichen Ich stellen muß. Die Königin, die eine Krone aus Bernstein trägt, geht auf ihre Zwillingsschwester zu, und ihr bezopftes Ebenbild nähert sich ihr. Paula, die von einer so heftigen Neugier getrieben wurde. Sollte Osmo besprechen, um es zu verhindern? Jack beschwört durch Gesten eine Böe herauf, die die zwei Frauen immer näher aufeinander zutreibt. Das Geschehen hat etwas Unvermeidliches. Obwohl sie sich einander langsam nähern, scheinen die zwei Frauen mit ausgebreiteten Armen aufeinander zuzufliegen, auf Flügeln in diesem Wind der Selbstanziehung. Sie treffen sich. Sie stoßen gegeneinander.
Und ein Ruck geht durch die Welt – als hätte der Ukko in seiner Kraterwiege geschaukelt. Das Bild flimmert und verschwimmt. Das Dorf schrumpft, entflieht aus dem Sichtfeld. Die innere Welt verändert Maßstab und Perspektive. Werden alle Zeugen dieser Vorgänge nun zu Riesen? Ferne Wälder und gefrorene Seen verringern sich zu einem Muster an den Wänden. Schwere Wolkenbänke werden zu dünnen Nebelstreifen. Als das Bild in geschrumpfter Perspektive wieder scharf wird, existiert nur noch eine Wiese mit ein paar Häuschen und einem Teich im Innern einer großen Höhle, die mit glühendem Licht erfüllt ist. Die Menge ist ebenfalls geschrumpft. Während dieser Sichtverschiebung sind die Näkkis verschwunden … … und die Echo-Mädchen auch! All jene fröhlichen Weltflüchtigen – wo sind sie hin? Fort, zurückgekehrt in das Gedächtnis des Ukko-Kindes. All die Töchter Luckys sind verschwunden, durch den Zusammenstoß der blonden mit der schwarzen Zwillingsschwester aus diesem Bereich verdrängt, nachdem sich ihre Existenz nur im Kraftfeld zwischen diesen zwei Polen abgespielt hat. Wo sind Gretel und Gerda und Maria? Fort und entschwunden. Wo ist die zarte, gertenschlanke Inga, Ainos Versuchung? Nur noch Inga verweilt an der Grenze der Existenz. In ihren Augen liegt eine Bitte und Besorgnis, als sie Aino anblickt, zwischen ihnen die Wachen und Juttahats: Bleib bei mir. Ich bei dir. Schon ist Inga undeutlich geworden. Ein Lied scheint zu verklingen: Was kümmert uns die Zeit? Wir schmücken uns das Kleid. Dann schließen wir die Augen … Die Juttahats drängen sich kurzzeitig aneinander und verber-
gen Inga vor Ainos Blick. Und damit ist der letzte Augenblick zu Ende. Sie bleibt unsichtbar, verschwunden. »Bleib bei mir«, sagt Lucky zu Paula. »Ich bei dir. Mein Gewissen, meine Gemahlin. Ich habe einen Mann geliebt. Er hat mich verlassen. Er hat den Tod vorgezogen. Er muß gewußt haben, daß es zwischen dir und mir keinen Platz mehr gibt. Was kann schöner sein, als sich selbst wiederzufinden, frisch und jung und ohne jegliche Qual der Erinnerung?« »Ohne Erinnerung?« wiederholt Paula. »Aber ich erinnere mich noch sehr gut an die Katarina! Die Kälte und Dunkelheit des Alls und die Angst, die wir lieben mußten. Hier hat es einen Krieg gegeben, weißt du … Schwester. Ich bin nicht so naiv.« »Ich hatte nie zuvor eine Schwester, ein Schwester-Ich.« Lucky legt ihren Kopf an Paulas Schulter. »Hilf mir zu vergessen … Nein, nicht zu vergessen! Denk mit mir, atme mit mir, freu dich mit mir, wein mit mir.« »Du hättest einhundert Schwestern haben können«, mischt sich Jatta ein. Inzwischen sind sich alle Anwesenden so viel näher. »Ja, alle meine Töchter. Der Druck … Der wahnsinnig machende Einfluß des Ukko … der Zwang zur Empfängnis und sehen zu müssen, wie meine Saat immer wieder niedergemäht wird … diese Grausamkeit! Und die größte Grausamkeit, mich mit all ihren Geistern zu verspotten.« »Sie waren meine Freundinnen.« Paulas pummelige Wangen sind feucht. Lucky küßt ihre Tränen fort. »Ich bin sicher, daß der Ukko sich weiterhin an sie erinnert. Erinnert sich der Ukko nicht an fast alles?«
Cremefarbene wächserne Blumen wachsen auf der Wiese – und Sternenblumen und Herzglocken und eine schlanke azurblaue Schornsteinblume. Aino beeilt sich, eine der Wachsblüten zu pflücken. Die Juttahats rühren sich. Die Magi starren, strecken die Zungen aus, um die Luft zu schmecken. Vipers massiver Körper gerät in Wellenbewegungen. »Wie sagen wir dem Ukko, was wir wollen?« fragt Paula. »Was wollen wir überhaupt? Du bist eine Frau aus einer wilden Welt. Ich bin eine Frau von hier, und ich habe Hoffnung. Es hat einen Krieg gegeben … Wollen wir den Frieden? Frieden wie in der Leere des Weltalls? Frieden wie im Vakuum, in der zärtlichen und tödlichen Dunkelheit? Friede wie auf einer Wiese?« Jenseits des Teiches beginnt es zu leuchten. In verkürzter Perspektive spannt sich der Kerzenpalast über das Wasser. Keine flimmernde Silhouette ist jetzt mehr darin zu sehen. Aus dem Wasser erhebt sich ein fettleibiger, behaarter, orange-brauner Körper. Mit dickem Hintern, einem Mondbauch und prallem Busen, ein beinloser Bottich aus Fleisch mit einem Kugelkopf. Eine kurze Schnauze, ein Schlitz als Mund, rote eingesunkene Augen, Segelohren. Hennafarbenes Haar mit einem Dutt. Überall an ihrem Körper stehen Haare ab. Armlose Hände zappeln. Auf einer geneigten Schulter hockt eine winzige Sternensylphe. Die Magi lassen Blasen aus Pastellicht aufsteigen. Jack glüht, und Gänseblümchen schmücken seine Uniform, bis sie wie Schneeflocken herabfallen. Minki sabbert beim Anblick des rötlichen Haares der Mana-festation. Ein Wachmann fällt in Ohnmacht. Ben Prut pliert kurzsichtig und gebannt. Sam Peller schüttelt wiederholt seinen schneeweißen Kopf, als wäre er
allein das Opfer dieser Halluzination. Serlachius ringt fasziniert die Hände und geht in die Knie. Eine Stimme dröhnt, wie aus einem Mund, der mit einem Knödel in Brühe gefüllt ist: »WIE IFT MEIN NAME? WER WIRD IHN AUFFPRECHEN? WER WIRD MICH ANGEMEFFEN BEFPRECHEN?« Aino schwenkt die Wachsblume, die sie gepflückt hat. »Sie ist es, sie ist es …« Sie atmet ihren Duft ein. Sie rezitiert: Ich blühe auf den Wiesen des Mondkindes, Ich lasse die Jahre verstreichen. Mein Name ist … Sie stockt. Juko ruft ihr zu: »Ohren-Blume – das ist es! Oder AugenBlume!« Auge oder Ohr, Auge oder Ohr? »Welchen Namen hat sie hier?« schreit Lucky Paula an. »Unter welchem Namen kennst du sie?« Paula kennt keinen besonderen Namen. Eine Juttahat-Stimme stößt eine Reihe klickender, zischender Alien-Silben aus. Wex' Wetware brabbelt mögliche Variationen vor sich hin: »KORVAKUKKAVAHAKUKKAVOIDEKUKKASILMÄKUKKAKORVAVAHA …« »Hört auf!« sagt Minni zu Wex. Viper in seiner Prächtigkeit hat das Wissen von mindestens fünfzig Synonymen für die Ukko-Blume zur Benutzung in einem Spektrum von Situationen. (»Ach, tatsächlich? Nun, dann
spuckt sie eine nach der anderen aus! Und benutzt dazu ja nicht Eure Stimme!«) Wie nahe muß ein Kobold einem Magus sein, um in Verbindung zu bleiben, wenn es zur richtigen Wahl kommt? Viper hatte einst das Wort zum Lösen ihres Gürtels herausbekommen, den geheimen Namen, den ihr Gürtel kannte. Jetzt wird Minni einem Juwel der Erleuchtung die flüchtigen Synonyme entlocken, während sie Vipers Zunge im Zaum hält. Das gehört zum Abkommen, nicht wahr? Sie nimmt Osmo an die Hand und eilt zu Aino. (Doch diese Synonyme sind zur Gänze Ausflüchte, Worte des Ausweichens. Nach langer Meditation stellt sich die Erkenntnis ein, daß keiner dieser Namen Wesenhaftigkeit besitzt. Die Zufälligkeit in der Metaphorik all dieser Namen, die Vermittlung der Bedeutung nach Willkür, die Bestimmung nach Wunsch. In Folge ist der Name vielleicht Regenbogen in Weiß oder Kelch der Geschichten!) Es spielt keine Rolle, für welchen Namen Minni sich entscheidet. Jeder wäre richtig, er müßte nur wirkungsvoll sein. Warum kann Aino das nicht erkennen? Ach, Aino macht sich zu große Sorgen um die Verantwortung, wegen der Gewalt, die hier stattgefunden hat, um die Zerstörung von Burg Kippan, wegen Minkis und Jukos Gegenwart und um das Verschwinden von Luckys toten Töchtern. Während die Stimmen der Magi Alien-Namen ausrufen und Wex weiterplappert, zerrt Minni den zögernden Osmo zu Aino, um sich ihr von Angesicht zu Angesicht zu stellen. Ihr seidiges gelbes Haar, ihre hübschen kleinen Leberflecken auf der Wange und am Hals. Viel reizender als Tätowierungen
von Sternenblumen. Sie erinnern ein wenig an das Sternenbild des Näkki, der auf dem Trichterling hockt … »Möchtest du uns nicht vorstellen, Osmo? Habe ich nicht das Recht, in aller Höflichkeit deine ehemalige Flamme der Leidenschaft kennenzulernen?« Minni reckt sich auf Zehenspitzen empor und neigt ihren Kopf von einer Seite zur anderen, um neugierig das Opalauge und das blaue Auge zu begutachten. Wie peinlich berührt Osmo dreinblickt. Juko ruft wütend: »Laßt sie zufrieden, laßt sie zufrieden!« Osmo bringt ein Murmeln zustande: »Aino Nurmi, das ist meine Königin, Minni.« »Königin«, wiederholt die Dichterin. »Königin …« Da Minni eine Hand erhoben hat, streckt Aino ihr ihre Hand entgegen, um sie zu berühren, wenn auch nur mit den Fingerspitzen, während sie die Ukko-Blume locker in der anderen Hand hält. »Hallo, Aino! Ich hoffe doch, daß wir Freundinnen sein können, trotz dieser Sache, Ihr wißt schon …« Aino befeuchtet die Oberlippe mit der Zunge. Sie ignoriert Osmo, obwohl er ihr so nahe ist. »Das dürfte das absurdeste Freundschaftsangebot sein, das jemals gemacht wurde.« Minni strahlt. »Ach, ich weiß nicht. Osmo hat mich immerhin entführt. Und jetzt sind wir Mann und Frau. Euer Auge gefällt mir übrigens sehr.« Aino hätte fast gelächelt, obwohl ihr gar nicht danach ist. »Die Art und Weise, wie ich es bekommen habe, war nicht sehr angenehm. Schon seit meiner Kindheit scheine ich ständig auf der Suche nach einem Auge gewesen zu sein …«
»Dieses hier paßt wirklich zu Euch, glaubt mir! Das sagt Euch eine Frau, die einem monströsen Magus trotzte und in ihren Geist blicken kann. Und genau deshalb wollte ich mich mit Euch unterhalten.« »Jetzt? Ihr wollt ein nettes Geplauder?« »Die Sache kann nicht warten.« Flüsternd: »Ihr könnt einfach irgendeinen Namen wählen, wißt Ihr.« »Ich gebe mir Mühe … Es muß von selbst geschehen. Der Name könnte auch Königinnenblume lauten – und vielleicht ist das der Grund, warum Ihr mich belästigt. Ich habe nämlich nur noch einen Versuch, Minni.« »So hört mir doch zu, Aino. Das ist wirklich wichtig … Eure Blume kann jeden beliebigen Namen haben, für den wir uns entscheiden. Er sollte jedoch angemessen sein, ohne egoistische Hintergedanken, würde ich sagen. Königinnenblume wäre verwirrend – vor allem, weil es hier im Augenblick wirklich zwei Königinnen gibt, mich und Mami. Auch ein Name wie Ainos Auge wäre falsch, falls Ihr selbst ihn wählen solltet, denke ich. Nun, mir scheint, daß Ihr die Macht habt, den Namen zu besprechen! Osmo wird Euch darin unterstützen, nicht wahr, Osmo?« »Sind es zwei Königinnen – oder sogar drei?« fragt Aino. »Paula nicht zu vergessen!« Lucky, die ihren Arm um die Hüfte ihres Zwillings geschlungen hat, kommt mit entschlossenen Schritten auf sie zu. »Misch dich nicht ein, du Hexe!« Meint sie damit Minni oder Aino? »Dieser Ukko gehört uns!« Natürlich, weil sie und ihr Spiegelbild sich endlich vereint haben. Hat Paula nicht vier Jahrhunderte lang im Mond-Kind
gewartet, bis Lucky kommt, um ihren Anspruch zu erheben? Lucky kann jetzt keine Luft mehr schaufeln. Wie kann sie ihr ursprüngliches Ich loslassen, nachdem sie es endlich wiedergefunden hat? Jatta kommt dazu und versucht, ihr Wunderkind zu beruhigen, das völlig aufgeregt ist. Stellt die Poetin die eigentliche Bedrohung dar? Der rebellische Besprecher und die Junior-Königin? Oder die riesige Alien-Schlange, die seltsam passiv und unentschlossen wirkt? Oder der Bronze-Magus, der jetzt von seinem Träger nach vorn gebracht wird, begleitet von einem Samt-Magus? Der Geruch nach Karamel und Holzrauch und Kümmel. Klickende, zischende Juttahat-Worte, an das Goldmädchen gerichtet, dann auch in Kalevanisch: »Du bist unser Geschöpf, unsere Schöpfung. Deine Verpflichtung zu unserer Unterstützung!« Golda entläßt fröhliche Düfte. »Ich bin ich! Ich bin allein! Und jetzt nicht mehr allein.« Sie hat ihren Bernsteinmann, der genauso einzigartig wie sie selbst ist. Mit der Entlassung von Pastellwölkchen behauptet Viper ihre Persönlichkeit der Prächtigkeit über die geringeren Magi. Ihre Schwangerschaft dank der Kobold-Prinzessin. Im Teich wartet die in Flimmern gehüllte Monstrosität immer noch auf eine Antwort. »Minni, wie kannst du es wagen, dich hier einfach einzumischen? Ich will … ich will das hier.« Den ganzen Ukko, alles. »Mami, meinst du nicht, daß du deine Trophäe vielleicht schon bekommen hast?« »Ich bin keine Trophäe!« protestiert Paula. Lucky kommen fast Tränen der Verzweiflung. »Ich muß das hier haben. Verstehst du nicht? Wenn Paula und ich nicht
hierbleiben können … Nun, da draußen könnte sie … könnte ihr dasselbe Schicksal bevorstehen wie Anna Beck!« »Anna!« Das muß Aino wissen. »Was ist mit Anna geschehen?« »Sie wurde zu einem Zombie. Bauerntrampel haben sie bei lebendigem Leib verbrannt.« Der Urheber von Annas Schicksal windet sich im Griff eines Juttahat, er zittert heftig, während er auf das rötliche Haar des Wesens im Teich starrt, obwohl er diese zwanghafte Erinnerung an Sals Mähne gar nicht sehen will, doch immer wieder hinschauen muß … »Arme, liebe Anna …« Aino hätte fast die Ukko-Blume zerknüllt. Fast. »Und der Name der Blume ist …« »Nein!« fährt Minni dazwischen. »Sag es nicht, ganz gleich, was Anna war! Oder die Schlangen werden die Gelegenheit zu ihren Gunsten ausnutzen.« »Ich muß hierbleiben.« Lucky fleht ihr Töchterchen tatsächlich an. »Verstehst du nicht? Andernfalls … Minni, ich gebe dir mein Reich, wenn es das ist, was du willst. Du kannst die Königin sein. Jemand muß es sein. Es ist keineswegs ein Vergnügen. Ist Osmo jetzt wirklich ein Langlebiger?« Osmo lacht. »Soll ich ins Gras pissen?« »Wenn Ihr wirklich langlebig sein, wird mein Land einen unsterblichen König haben, der sich immer wieder neu vermählt …« »Sei nicht boshaft, Mami. Vielleicht möchtest du einen Anteil an all dem hier haben. Vielleicht brauchen auch die Schlangen einen Anteil.« Osmo ist einigermaßen entsetzt. »Was sagst du da, Minni?«
»Nur daß die Isi vielleicht auch einen Anteil verdient haben …« »An unserem Bewußtsein? An unserem freien Willen?« »Viper ist durch mich schwanger. Und ich bin ebenfalls schwanger! Wir haben einige gemeinsame Interessen, sie und ich.« Sie klatscht in die Hände. »Ich weiß einen Namen für die Blume.« Worauf Wex seinen eintönigen Singsang abbrechen läßt. »Stiftet keinen Unfrieden, ich flehe Euch an! Nehmt Statuen auseinander, aber laßt nicht zu, daß wir diese Wesenheit verlieren! Bitte, liebes Mädchen! Es ist abflugbereit. Es steht vor seinem Jungfernflug zu den Sternen.« »Zu den Isi-Sternen.« Minni zwinkert ihm zu. »Aber ja«, sagt Lucky. »Ja. Das ist es. Natürlich geht es dorthin.« Und Minni flüstert Aino etwas ins Ohr (obwohl Aino sich bücken muß, um sie hören zu können). Und Aino denkt eine Weile nach, dann spricht sie das Monsterweibchen im Teich an: Ich blühe auf den Wiesen des Mondkindes, Ich lasse die Jahre verstreichen. Mein Name ist Luckys Erbe, Ich bin die Augen und Ohren des Ukko. »Sag es lauter«, fordert das Wesen, das nun nicht mehr lispelt. Auf Minnis Drängen hin bespricht Osmo den Vers im Chor mit Aino. Dies ist der Name der geernteten Blume. Kein egoistischer Namen. Kein parteiischer Name.
Ach ja, diese Blume wird hier und dort von Zeit zu Zeit auf Lichtungen überall im Land blühen, wo sie nie zuvor von selbst blühte. Werden einige Exemplare sogar auf Puutara erscheinen, um dort von den Rationalisten mit der Wurzel ausgerissen zu werden? Manche Leute werden sie vielleicht als die Königinnenblume bezeichnen oder als die Mondblume. Nach dem einzigen Mond benannt, den die meisten Kalevaner je sahen, der von seinem Versteck aus Leidenschaften und Manien hervorrief, um sich davon zu ernähren. Und nachdem er aus seinem Versteck gekommen war, brachte er Tod und Zerstörung über eine Stadt, in der das Buch der Helden gedruckt wurde. Oder benannt nach einer Königin, die gleichermaßen voller leidenschaftlicher Manien war, bis sie ihr gestohlenes Ich wiederfand (und die auch weiterhin – darf man wagen, es auszusprechen? – recht eigenartig bleiben mochte). Der betörende Duft von Luckys Erbe wird jenen Macht verleihen, die sie finden. Oder sie wird sie wahnsinnig machen. In anderer Hinsicht wird sich das Mana nicht mehr so ohne weiteres manifestieren, nachdem das Mondkind Kaleva verlassen hat, um seine seltenen Knospen zurückzulassen. Kuckucke werden nur noch hin und wieder tratschen. Die Rationalisten werden jubeln. Mana-Priester und Schamanen werden in Nostalgie schwelgen. Der einzige Mond, den sie jemals sahen …! Zumindest einige Menschen, die miterlebten, wie das Mondkind vom See der Schöpfung nach Burg Kippan unterwegs war! Doch das Ukko-Kind wird Aino einen wahren Mond für den kalevanischen Himmel bieten. Ainos Mond.
So lautet das Versprechen: Andere Ukkos werden in Scharen kommen. Sie werden all die Trümmer der Himmelssichel zu einer festen Kugel zusammenfegen, und zwar in einem größeren Orbit, so daß keine Gezeitenkräfte jemals diesen Mond auseinanderreißen werden. Zuerst wird es ein geschmolzener Glutball sein. Später wird er abkühlen und sich verfestigen und den Himmel mit seinen Phasen zieren. Und wenn er voll ist, wird er wie ihr Opalauge sein. Wird Ainos Mond so hell wie die Himmelssichel leuchten? Ach nein. Und die Gezeiten … Werden die Leute nasse Füße bekommen? Wird das Meer jeden Tag über die niedrigen Kaimauern von Tumio und Portti schwappen und durch die Straßen rauschen? Eine Stadt zu verlieren – Burg Kippan – ist schon schlimm genug! Böse, schlecht, übel. Es wird keinen neuen Mond geben. Doch im Geist des Mondkindes ist das Übel selbst ein Teil des Lebens. Vor langer Zeit geschah es, daß das Bewußtsein dämmerte. Danach begann die Zeit des dynamischen Willens, der Lust und der Liebe, der Eitelkeit und auch der wahren Selbstliebe, des vollkommenen und unvollkommenen Stolzes, der Treue und gleichzeitig der Rache – eine Spirale, die zu den Sternen führte, doch gleichzeitig auch in den Abgrund, zur Bigotterie und zur Erleuchtung, zur Erhabenheit und zur Obsession. Ohne diese Strömungen gäbe es gar keine Geschichte des Lebens, und der Kosmos würde keine Offenbarungen über sich selbst durch die Ohren seiner Ukkos vernehmen. Das Bewußtsein ist ein Käfig, dessen Gitterstäbe es von der Offenheit dahinter abgrenzen,
während die Gefangenen sich um die Krümel der Begierde raufen … und Geschichten erzeugen, den redseligen Ausdruck des Lebens. Wieviel komplexer ist das Bündnis mit diesem Ukko-Kind im Vergleich zu damals, als Lucky ihren Ukko erstmals betrat! Dieser Ukko will ein neues Epos für eine neue Epoche, eine Geschichte von Schlangen und Menschen, von Menschen unter Schlangen; und schließlich haben seine Kunden diese Erkenntnis selbst gewonnen, ansonsten wäre die Entscheidung nichts wert. Indem sie zu einer solchen Entscheidung gelangen, tut es auch der Ukko. Ja, ja, Königin der Schlangen, du und ich, Paula … Aber Lucky hat doch abgedankt, oder nicht? Oder eine Geschichte von Schlangen unter den Menschen in der Heimatwelt der Menschen …? Bei Goldas spitzbübischer Bemerkung erhebt Viper ihr Haupt, und Wex gerät in Panik. Die Harmonische Gesellschaft darf nicht erschüttert werden, während sie sich ihre eigenen Geschichten der Gegenseitigkeit erzählt. Wex muß nach Landfall zurückkehren, um einen Mißerfolg zu melden, den Ausbruch der Wildheit. Er protestiert mit einer Stimme, die gleichzeitig züchtig und rauchig ist. Erstaunt berührt Wex seine Lippen, sein Gesicht. Er kann fühlen. »Wer bin ich?« fragt er sich. »Wer bin ich?« fragt er Minni. »Roger Wetman«, sagt sie zu ihm. Und mit dieser Benennung findet sein Erwachen zu einem volleren Bewußtsein statt. Wer ist dieser pingelige Kerl mit den
Flausen im Kopf gewesen? Und wer ist dieser Aufseher gewesen? Dennoch fühlt er sich nicht von der Vergangenheit entfremdet. Er kichert. Er lacht begeistert. Er steckt Jack damit an, der grinst und herumtollt, und Bernsteinmann, das Naturkind, der inbrünstig summt. Gewaltig und winzig, nah und fern: beinahe versteht Roger Wetman die Dimensionen der Existenz, wie ein Ukko sie verstehen mag. Und dann versteht er noch viel mehr. »Die Skelette!« ruft er und eilt zum Samt-Magus in den Armen ihres Körpersklaven. Im Laufe der Jahre hat Landfall fast alle Skelette der Isi und Juttahats eingetauscht, die in Luckys ursprünglichem Ukko im Asteroidengürtel der Erde gefunden wurden. Der Ukko hat seine Alien-Passagiere getötet, damit es zu keiner vorzeitigen Begegnung zwischen den beiden Spezies kommt. Damit wurde die Geschichte über den Weg, auf dem die Erde zu erreichen ist, ausgelöscht. Die Samt-Isi haben versucht, eine verlorene Erzählung wiederherzustellen, die Knochen wieder in Fleisch zu hüllen. Doch es war noch ein langes Spiel nötig, bevor es zu einer direkten Begegnung zwischen der Erde und den Isi-Sternen kommen konnte. Jetzt kann endlich die wirkliche Begegnung beginnen, und zwar im Reich der Isi. Die Isi haben sich als Rasse weiter verbreitet, sind mächtiger. Sie haben bessere Materialien, besseren Techmech – da sie auf eine Symbiose mit Sklaven angewiesen sind, die Hände besitzen, was die Schlangen dazu drängt, in Begriffen der körperlichen Versklavung zu denken. Und in Begriffen des Gleichgewichtes. Sklavenkulturen sind wesentlich verletzlicher gegenüber einer weniger statischen
Kultur. All die Großen Erzählungen der Isi, die Muster diktieren, wie auch das Buch der Helden der Welt Kaleva ein Muster aufgezwungen hat – wenn auch ein Muster der Wildheit! Der Mana-Magie. Die Isi sind fasziniert von ihren Mustern. Die alte Erde ist ebenfalls statisch … Doch inzwischen hat die Erde es beinahe geschafft, ihre eigenen Stimmen im Kopf zu entwickeln, die Stimme der klaren Vernunft. Die Erde mochte sie bald in der Wetware-Realität besitzen, von der Wex ein Prototyp ist. Menschen und Isi: ihre eigenen Gefangen und ihre eigenen Juttahats! So verletzlich gegenüber möglichen dynamischeren Aliens. Für Osmo und Jack und Wex, für Lucky und ihren Zwilling, und für Aino und Minni und Golda, die freie Juttahat, wird die Reise zu einer Isi-Welt bedeuten, daß sie mit einem wilden Psychovirus infiziert werden, der eine Gesellschaft vor der ultimativen Erstarrung rettet – und danach auch die Erde –, nicht durch rücksichtslose Invasion und Dominanz, sondern heimlich, verstohlen und hinterlistig. Im Überschwang erzählt Roger Wetman all dies dem SamtMagus – und dem Bronze-Magus und Viper. Die Viper der Prächtigkeit erhebt ihr Haupt, während es von ihren Zähnen tröpfelt und Kampfer aus ihrem Maul weht. Nur auf Kaleva, unter dem Einfluß eines Mondkindes, konnte Viper auf diese Weise mutieren. Niemals in einer Heimatwelt der Isi, wo die Magi eher wie die meisten der Mana-Priester der Menschen sind, auf der Suche nach dem Mysterium, ohne ihm allzuoft zu begegnen. Die Durchsetzung gegenüber den Magi der Geringfügigkeit
(im besonderen Imbricatus der Schlauheit) zur Erkenntnis der Wahrheit voller Überraschung in den Worten des Menschenwesens mit Perücke. Die Übergabe eines Shuttles durch die Streifen-Isi zum Rendezvous im Orbit mit dem Mond während des Aufstieges. Kobolds Eindringen in Vipers Geist. Kobolds Blick durch Vipers große Augen, während der Verschlossenheit von Minnis eigenen Augen, ein Optik-Trick mit Übertragbarkeit auf Imbricatus. Das Vortreten von Imbricatus' Körpersklaven zur Übergabe seiner Last an einen Kobold. Imbricatus' Zurückschrecken. Kein Bedürfnis der Berührung durch Menschenwesenhände! Die Schande seiner früheren Entstellung! »Aber ich weiß genau, wie ich dich am besten halten kann, kleiner Magus …!« »Klein!« Die Beschwerde seiner Stimme. Kobolds Aufrichtung. »Ich meine klein im Vergleich zu meinem monströsen Mutanten-Magus. Hier ist ein Halt, ein Handgriff! So!« Die Tränkung der Luft mit dem Duft des Goldmädchens, mit der Reaktion des Seufzens von vielen Anwesenden. Imbricatus' Nachgeben. Osmos Besprechen der Kraft und Leichtigkeit der Last. Schwankend übernimmt Minni den Mana-Magus der Bronze-Isi. Imbricatus windet sich um ihre Brust und Schultern, bildet eine verdrehte Tuba und legt seinen Kopf auf ihr Kraushaar. Sie schließt wieder ihre Augen. Imbricatus erhebt fast beleidigt den Kopf. »Hach!« ruft Minni, »aus dieser Höhe hat man einen viel bes-
seren Blick. Wozu brauche ich noch Plateaustiefel? Plötzlich fühle ich mich so groß wie Aino.« Und endlich lacht auch Aino. Und sie blinzelt mit ihrem Opalauge. Hört, hört!
Epilog Ein Brief an Pen
Ich hoffe, Ihr könnt meine ökonomische Schrift entziffern! Ich glaube, ich habe noch nie zuvor einen Brief an irgend jemanden geschickt, und zwar aus dem Grund, daß die meisten Empfänger gar nicht in der Lage wären, ihn zu lesen. Ich habe schon dreimal versucht, über Kommunikator mit Euch in Landfall zu sprechen. Doch die Stimme, die mir jedesmal antwortet, ist die Eurer Assistentin. Ich glaube, daß es Eure Assistentin ist – die chinesische Frau namens Hü! Sie behauptet, Ihr wärt unabkömmlich, Frau Conway. Ich mißtraue dem Klang ihrer Stimme. Dreimal ist genug. Daher dieser Brief, den ich von meinem Kurier auf Skiern überbringen lassen werde. Ich bereue es nicht, mit Euch vereinbart zu haben, mein Geschichtswerk drucken zu lassen, nachdem Burg Kippan nun von der Landkarte radiert wurde! Vorausgesetzt, ich schaffe es, mein Werk jemals in eine Form zu bringen. Doch schließlich gibt es jetzt einen gewissen Abschluß, nachdem das Ukko-Kind fort ist und die Kuckucke kaum noch Klatsch verbreiten. Wird dieser Ukko jemals von den Isi-Sternen zurückkehren, von seiner Mission der konstruktiven Hinterlist? Ach, dieser letzte Schub Geschichte, bevor der Vogel verstummte! Ich hatte große Mühe, alles zu notieren, was ich persönlich hörte, ganz zu schweigen von dem, was andere Menschen erfuhren. Zumindest bin ich nicht mehr gezwungen, wieder die Stellung des Fürsten von Maananfors zu übernehmen, das nun zum
Glück pestfrei ist, obwohl es immer noch unter den Folgen des Krieges zu leiden hat. Jetzt haben Elmer und Eva die Verantwortung übernommen, mit Unterstützung der zurückkehrenden Truppen und der anderen Überlebenden, die niemals große Stücke auf Hans Werner oder Per Villanen gehalten haben. Lyle Melator ist natürlich ein Problem – drüben auf der anderen Seite des Sees. Er hält die Loxmiths als Geiseln, einschließlich Nikki. Vielleicht schafft es Königin Jatta, wieder Ordnung in jenes Haus zu bringen, nachdem sie sich in Sariolinna mit dieser Anni an ihrer Seite eingerichtet hat. Die Königin und die Bauerntochter. Wenn die neue Königin hier doch nur einen Zwischenaufenthalt eingelegt hätte, statt im königlichen Luftboot zum PohjolaPalast zurückzurasen, als stünde sie unter einem Bann! Vermutlich ist diese Burg für sie nur mit schlimmen Erinnerungen verbunden. Schließlich wurde der Friede über Kommunikator angeordnet (wie Euch vermutlich bekannt ist). Gerüchte besagen, daß sie diese Schlangenhaut unter ihrem Kleid tragen und Schlangen in ihren Palast einladen will. Beinahe hätte ich meine Chronik verloren, Frau Conway. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre verbrannt. Lucky war drauf und dran, sie aus reiner Boshaftigkeit zu vernichten. Ich kann mir ein halbes Dutzend anderer Möglichkeiten vorstellen, wie der Krieg mein gesamtes Werk hätte auslöschen können. Deshalb möchte ich Euch darum bitten, einen Schweber hierher zu schicken, mit einem Daten-Kopierer, wie Ihr ihn mir beschrieben habt, als ich Euch besuchte. Wie lange ist das jetzt her? Fünf Jahre? Vielleicht schon sechs. Das ist der eigentliche Grund dieses Briefes, der mit eiskalten Fingern an einem düsteren, frostigen
Mittag geschrieben wird. Bitte schickt ein Schwebefahrzeug nach Maananfors, an Alvar van Maanen. Nachdem ich mich schon zum Schreiben aufgerafft habe, juckt es mich in den Fingern, Euch zu berichten, was ich über Juko Nurmi und Minki Kennan herausgefunden habe, die gemeinsam von Burg Kippan in Richtung Niemi aufgebrochen sind. Ob sie jemals das Ziel ihrer Winterreise erreichen werden? Welch ein elendes Band der Buße hat sich zwischen diesen beiden gebildet! Ben Prut war hier – er ist verantwortlich für die Logistik der Rückkehr der Nordlandbewohner in ihre Heimat und der Jaegertruppen nach Luolalla und so weiter (obwohl die Ha-Häusler eigene Wege gehen). Er war im Ukko, und er vertraute mir an, wie Juko schrie: »Nimm mich mit!« Doch Aino verweigerte ihm diesen Wunsch, obwohl ihr Auge tränte. Wenn sie zurückkehrt (sollte sie jemals zurückkehren), wird viel Wasser die Flüsse hinuntergeflossen sein. Kennan, der immer noch gelegentlich behauptet, eine Frau zu sein, die er betrogen hat, ist in Jukos Nähe geblieben. Werden Juko und Minki auf ihrer winterlichen Reise gen Osten in Beckburg haltmachen? Wie können Fürst Beck und Kulli das tolerieren? Minki wird sich tatsächlich als Mädchen ausgeben müssen, das im falschen Körper gefangen ist. Lucky hat das Interesse an Rache verloren, angesichts ihrer Euphorie über die Vereinigung mit sich selbst und der Begeisterung für neue Ziele. Aino mußte sich einfach mit Osmo vertragen, zumal mein Sohn ein so liebenswürdiger Mensch ist – und Minnis Liebhaber, nicht zu vergessen. Ach, Minni, die Schlangenträgerin! Natürlich können Königin Jatta und Anni kaum eigene Kinder haben. Allerdings gibt es bereits Enkelkinder, die vier Mäd-
chen, die meiner Ansicht nach eine schwierige Situation darstellen … Ganz zu schweigen von Prinzessin Ester und den anderen jüngeren Töchtern, die sich jetzt in Königin Jattas Obhut befinden! Wird Jatta die Tradition fortsetzen, geeignete Freier in den Genuß der Langlebigkeit kommen zu lassen? Bis alle übrigen sechs Mädchen vermählt sind? Sie, die eine Frau liebt! Hat Euer braunhäutiger Pilot, der sich den Arm brach, Landfall schon erreicht, nachdem er mehr verschneite Landschaften Kalevas gesehen hat, als irgend jemandem lieb sein kann? Doch ich schweife ab. Frau Conway, der Dramaturg Peter Vaara überwintert gerade mit seiner Truppe in unser ärmlichen Stadt, wo zahllose Häuser leerstehen, um nach Inspirationen für ein spektakuläres Schauspiel im Frühling zu suchen. Vaara erzählt, daß Ihr auf sehr freundschaftlicher Basis mit dem schwarzen Konsul von Puutara verkehrt habt. Ich hoffe doch sehr, daß Ihr nicht beabsichtigt, Landfall zu verlassen und auf die rationalistische Insel überzusiedeln – oder zumindest noch nicht. Bitte schickt einen Schweber, um meine Chronik in Sicherheit zu bringen. Vaara und seine Truppe hat es durch eine Reihe gefährlicher Zwischenfälle zu uns verschlagen – doch ich schweife wieder ab! Bitte gewährt mir Eure Unterstützung! Unter Schriftkundigen. Und damit Schluß und Gruß von Alvar van Maanen, Fürst von Maananfors i. R., Chronist von Kaleva.
Nachwort des Übersetzers
Der Mana-Zyklus des 1943 in England geborenen Autors Ian Watson erschien im englischen Original in zwei Bänden: Lucky's Harvest (1993) und The Fallen Moon (1994). Für die deutsche Ausgabe wurde der Text in drei Bände aufgeteilt, die unter den Titeln Dämonen-Kind (1996), Kuckucks-Fluch (1996) und Mondfall (1997) veröffentlicht wurden. Die Handlung und die auftretenden Personen sind nicht ganz frei erfunden. Als Vorbild und Inspiration diente dem Autor das Kalevala, ein Zyklus aus epischen Liedern, die über Jahrhunderte von finnischen Sängern weitergegeben wurden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden diese Geschichten vom finnischen Arzt Elias Lönnrot gesammelt und 1849 in der endgültigen Form in fünfzig Gesängen veröffentlicht. Außerhalb Finnlands hat das ›Buch des Landes der Helden‹ jedoch niemals den Bekanntheitsgrad des Nibelungenliedes oder gar der Ilias und Odyssee erreicht. Im Kalevala geht es um den mythischen Helden Väinämöinen, der kurz nach der Schöpfung der Welt durch die Wassermutter geboren wird. Als er das Land betritt, läßt er Sampsa Pellervoinen Bäume säen. Ein kleiner Kupfermann fällt eine riesige Eiche, die den übrigen Bäumen das Licht zu nehmen droht. Väinämöinen führt den Ackerbau ein und wird für sein Zauberwissen berühmt.
Der mißgünstige Joukahainen fordert ihn daraufhin zum Zweikampf heraus, doch Väinämöinen läßt ihn mit der Kraft seines Zaubergesangs im Sumpf versinken. Als der Unterlegene dem Helden seine Schwester zur Frau verspricht, läßt Väinämöinen Joukahainen frei. Doch die Schwester möchte keinen alten Mann heiraten und weint tagelang, bis sie am Meeresufer baden geht und ertrinkt. Daraufhin verwandelt sie sich in einen Fisch und wird noch einmal von Väinämöinen gefangen, dem sie jedoch wieder entgleitet. Die Mutter des Helden rät ihm schließlich, lieber um eine Tochter der Nordlandherrin zu freien. Doch unterwegs lauert Joukahainen ihm auf und schießt ihn vom Pferd. Väinämöinen überlebt, wird aber vom Fluß aufs Meer hinausgetragen, von wo ihn ein Adler ans Ufer des Nordlandes bringt. Die Nordlandherrin verspricht ihm ihre Tochter zur Frau, wenn er ihr den Sampo schmiedet. Die Jungfrau verlangt außerdem von Väinämöinen, ihr ein Boot zu bauen, ohne es anzufassen. Bei der Arbeit hackt er sich eine tiefe Wunde ins Knie und kann den Blutfluß erst mit Hilfe eines alten Zauberers zum Versiegen bringen. Wieder zu Hause, überredet er den Schmied Ilmarinen, ins Nordland zu fahren und den Sampo zu schmieden, um die Nordlandtochter zur Frau zu gewinnen. Ilmarinen gelingt das Meisterstück, aber die Jungfrau möchte ihre Heimat noch nicht verlassen, so daß der Schmied zunächst allein zurückkehrt. Unterdessen wirbt Lemminkäinen um die schöne Kyllikki, die er nach einer Weile ungeduldig mit Gewalt raubt. Doch nach einer Meinungsverschiedenheit verläßt er sie wieder und will statt dessen um eine Nordlandtochter werben. Dort werden
auch ihm drei Aufgaben gestellt: Er muß Hiisis Elch jagen, einen Feuerhengst zäumen und den Schwan auf dem Totenfluß erschießen. Die ersten beiden Aufgaben meistert Lemminkäinen, doch am Fluß lauert ihm ein rachsüchtiger Hirte auf, der ihn tötet und seine Leiche zerstückelt in den Totenfluß wirft. Darauf sucht Lemminkäinens Mutter besorgt nach ihrem Sohn, bis sie die Leichenteile schließlich mit einer Harke aus dem Wasser fischt und ihn durch Zaubersprüche wieder lebendig werden läßt. Väinämöinen beginnt erneut damit, ein Boot zu bauen, doch ihm fehlen dazu noch drei Zauberworte. Als er sie sogar im Totenland nicht findet, sucht er Antero Vipunen auf. Vipunen ist jedoch verärgert, weil er aus seinem unterirdischen Schlaf geweckt wurde, und frißt Väinämöinen. Dieser bereitet ihm so lange Bauchschmerzen, bis er wieder freikommt und außerdem die gesuchten Zauberworte erhält. Schließlich ist Väinämöinens Boot fertig und er kann wieder ins Nordland fahren, um seine Heiratsabsichten zu verwirklichen. Als Ilmarinens Schwester davon erfährt, schickt sie ihren Bruder ebenfalls los. Nachdem beide Freier dort eingetroffen sind, entscheidet sich die Nordlandherrin für Väinämöinen, ihre Tochter fühlt sich jedoch mehr zum Sampo-Schmied Ilmarinen hingezogen. Nachdem dieser einige Heldentaten vollbracht hat, wird er mit der Nordlandtochter vermählt. Lemminkäinen ist verärgert, daß er nicht zur prächtigen Hochzeit eingeladen wurde. Er reist ins Nordland, gerät in Streit mit dem Nordlandherrn und schlägt ihm den Kopf ab. Daraufhin setzt die Nordlandherrin ihr Heer in Bewegung, um sich an Lemminkäinen zu rächen. Dieser jedoch flüchtet sich
auf eine ferne Insel, auf der schon sein Vater einstmals Zuflucht fand. Dort vergnügt Lemminkäinen sich mit den Mädchen und Frauen, bis die Männer ihn erzürnt vertreiben. Als er schließlich wieder heimkehrt, ist das Haus seiner Mutter verbrannt. Sie selbst lebt noch und erzählt ihm, daß die Nordlandherrin Tod und Verwüstung über das Land gebracht hat. Lemminkäinen will nun zusammen mit seinem Gefährten Tiera Rache nehmen, doch die Nordlandherrin läßt seine Schiffe im Meer einfrieren. Danach beginnt ein neuer Handlungsstrang, als der junge Kullervo sich an seinem Onkel Untamo rächen will, weil dieser einst seinen Vater Kalervo tötete. Untamo verkauft den Jungen an Ilmarinen, dessen Frau ihn als Hirten arbeiten läßt. Weil diese ihm einen bösen Streich spielt, hetzt Kullervo wilde Tiere auf Ilmarinens Frau, die von ihnen zerrissen wird. Kullervo flieht und findet schließlich seine Familie wieder, die doch nicht tot ist. Als er im Wald ein Mädchen verführt, stellt sich erst anschließend heraus, daß es sich um seine vermißte Schwester handelt, die sich daraufhin ertränkt. Kullervos Mutter kann ihn davon abhalten, sich ebenfalls das Leben zu nehmen, so daß der junge Bursche statt dessen zum Krieg gegen Untamo rüstet und die Ländereien seines Onkels verwüstet, bis er sich schließlich doch in sein eigenes Schwert stürzt. Ilmarinen hat sich inzwischen in seiner Trauer eine neue Frau aus Gold und Silber geschmiedet, an der er jedoch bald das Interesse verliert. Statt dessen will er um eine jüngere Schwester seiner früheren Frau werben. Als die Nordlandherrin sich weigert, entführt er die Tochter kurzerhand, worüber diese sich so sehr aufregt, daß Ilmarinen sie im Zorn in eine Möwe verwandelt. Nach seiner Rückkehr berichtet er Väinämöinen von
seinen Erlebnissen, worauf die Helden beschließen, den Sampo aus dem Nordland zu holen. Unterwegs schließt sich Lemminkäinen den beiden an. Väinämöinen baut aus den Knochen eines Hechts eine Kantele, mit deren Musik er die Natur bezaubern kann. Als die Nordlandherrin sich nicht vom Sampo trennen will, schläfert Väinämöinen die Menschen des Nordlandes mit seinem Instrument ein, und die Helden können den Sampo aus seinem Versteck holen. Doch die Feinde nehmen bald die Verfolgung auf, worauf es zu einem Kampf auf dem Meer kommt. Die drei Helden siegen zwar, aber die Kantele und der Sampo gehen über Bord. Die Nordlandherrin behält nur den Deckel des Sampo, während Väinämöinen einige Trümmer vom Strand auflesen kann und sich aus Birkenholz eine neue Kantele baut. Die Nordlandherrin schickt Krankheiten und einen wilden Bären, die jedoch von Väinämöinen bezwungen werden können. Schließlich versteckt die Nordlandherrin in ihrem Zorn sogar Sonne und Mond in einem Berg. Der Himmelsgott Ukko wundert sich über die Dunkelheit und schlägt Feuer, um Sonne und Mond neu zu schaffen. Das Feuer fällt jedoch auf die Erde, und zwar in einen See, wo es von einem Fisch verschluckt wird. Väinämöinen und Ilmarinen machen sich auf die Suche und fangen schließlich den Fisch. Der Schmied versengt sich das Gesicht am Feuer, das sie in seinem Bauch finden. Es verbrennt weite Teile des Landes, bevor es wieder eingefangen werden kann. Nachdem Ilmarinen vergeblich versucht hat, eine neue Sonne und einen neuen Mond zu schmieden, wollen die Helden die Gestirne von der Nordlandherrin zurückholen. Während sie
noch damit beschäftigt sind, gibt die Nordlandherrin freiwillig nach, so daß die Gestirne wieder ihre gewohnten Plätze einnehmen können. Schließlich bringt die Jungfrau Marjatta noch einen Sohn zur Welt, der zum König des Landes getauft wird, obwohl Väinämöinen strikt dagegen ist. Der alte Held entschwindet mit einem kupfernen Boot und weissagt, daß man sich eines Tages nach ihm zurücksehnen wird, um einen neuen Sampo, eine neue Kantele und neues Licht zu bringen. Bereits auf den ersten Blick lassen sich etliche Parallelen zwischen dem Kalevala und dem Mana-Zyklus erkennen, auch wenn Ian Watson die Geschichte in seiner Version in eine völlig andere Reihenfolge gebracht hat – ähnlich wie Minni und Wex, die im zweiten Band versuchen, Luckys Statue zu etwas Neuem zusammenzusetzen. Genauso phantasievoll ist Watsons Umsetzung der mythischen Erzählung in Science Fiction. So wurde aus dem Sampo, der ›Zaubermühle‹, die alles Gewünschte mahlen kann, eine nanotechnische Alles-Maschine. Auch die Namen der Personen sind teilweise kaum noch wiederzuerkennen. Der Held Väinämöinen wurde bei Watson zum Fürsten van Maanen. Darin klingt nicht nur das Mana an (das im Kalevala das Reich der Toten darstellt), sondern gleichzeitig das finnische Wort ›maa‹ für Erde. Ebenso verstecken sich zahllose Anspielungen in den Ortsnamen – ›Luolalla‹ ist wörtlich der ›Ort der Höhlen‹, und ›Outo‹ heißt auf Finnisch ›fremd‹, ›sonderbar‹. Die Bezeichnungen der auf Kaleva heimischen Flora und Fauna sind ebenfalls zum größten Teil von finnischen Begriffen
abgeleitet. So hat Ian Watson das finnische Wort ›jalava‹ für ›Ulme‹ zu ›yellover tree‹ verballhornt, worin gleichzeitig die gelbe Färbung des Holzes mitschwingt. In der deutschen Übersetzung wurde daraus durch eine analoge Transformation die ›Jalve.‹ Wer jetzt verzweifelt nach dem finnischen Ursprung des ›Leppi‹ sucht, möge statt dessen ein lateinisches Wörterbuch zur Hand nehmen und dort unter ›lepus‹ nachschlagen. An dieser Stelle soll natürlich nicht zuviel verraten werden, da Ian Watson sich solche Mühe gegeben hat, die vielen Anspielungen geschickt zu verstecken. Selbst der Silbenbandwurm, den Wex' Wetware im letzten Kapitel des dritten Bandes vor sich hinplappert, löst sich unter Zuhilfenahme eines finnischen Wörterbuchs in etwas völlig Sinnvolles auf, nämlich: ›Ohrblumewachsblumecremeblumeaugenblumeohrenwachs … ‹ Ian Watson liebt das intellektuelle Spiel mit Ideen und Worten. Mit der Grundidee des Mana-Zyklus knüpft der Autor an seinen 1980 erschienenen Roman The Gardens of Delight (Die Gärten des Meisters) an, in dem eine Welt entdeckt wird, die bis ins Detail einem Gemälde von Hieronymus Bosch entspricht. Das Zentralthema – das Verhältnis von Wirklichkeit und Vorstellung – findet sich ebenfalls in vielen weiteren Werken dieses Autors wieder. Im Mana-Zyklus bringt er es mit der Fähigkeit des ›Besprechens‹ auf den Punkt, indem das, was mit Worten ausgesprochen wird, im selben Augenblick Realität werden kann. Dieselbe Vorstellung liegt schließlich dem Glauben an die Wirkung von Zaubersprüchen zugrunde, die wiederum im Kalevala eine große Rolle spielt. Schließlich sei noch erwähnt, daß Ian Watson nicht der erste SF-Autor war, der sich vom Kalevala inspirieren ließ. In den
sechziger Jahren veröffentlichte der finnischstämmige Amerikaner Emil Petaja seine vierbändige Space Opera Saga of Lost Barths, in der dieselbe Vorlage allerdings auf völlig andere Weise interpretiert wird. Dr. Bernhard Kempen