KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
OTTO KROSCHE
Das seltsame Leben e...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
OTTO KROSCHE
Das seltsame Leben eines verstädterten Vogels
VERLAG S E B A S T I A N LUX MURNAU • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K • ÖLTEN
„Die Schwalben sind d a . . . " J_j s ist, als habe die Natur jedem der Gefiederten das ihm einzig gemäße Revier zugewiesen. Der hoch im Blau des Himmels kreisende Adler krönt die erhabene Majestät des Hochgebirges, das vielstrophige Lied der Drossel hallt feierlich durch den Dom des Waldes, der Rohrsänger Geschwätz unterstreicht die wogende Ruhelosigkeit des Schilfes am See, die Möwen mit ihren harten Schreien und harten Augen verkörpern das wilde freie Meer. Der Vogel der Großstadt aber, der naturentferntesten Landschaft, ist der Mauersegler, der in den letzten Jahren den Proletarier Sperling als Stadtbewohner weit hinter sich gelassen hat. In seiner ganzen Erscheinung, seiner eisenschwarzen Farbe, den scharfen Flügelsicheln, dem rasenden unermüdlichen Fliegen, der gellenden Maschinenstimme, scheint die Technik, Geschäftigkeit und Rastlosigkeit der Großstadt Gestalt gewonnen zu haben. So kennt auch der eingefleischteste Städter, der sonst außer den Spatzen die mancherlei anderen Gefiederten um sich herum gar nicht mehr wahrnimmt, diesen Vogel, „der am liebsten dort brütet, wo die Natur aus Zement, Backstein, Asphalt, Straßenbahnschienen, Kneipen und Leitungsdrähten besteht". Die Schwalben sind wieder da, sagt der Städter, wenn ihm an einem Abend zu Beginn des Maimonats ein Schreien aus der Höhe in den Ohren gellt 2
und er beim Aufblicken die schwarzen Pfeile um den Kirchturm oder über den Dächern der hohen Häuser dahinjagen sieht. Doch da i r r t er sich. Denn die Mauersegler, die viele auch als ,,Turmschwalben" kennen, sind keine Schwalben. Sie sind größer, wilder, hastiger. Sie sind nicht mit den stahlblauen langschwänzigen Rauchschwalben und den weißbürzeUgen Mehlschwalben der Dörfer verwandt, sondern bilden eine von den Singvögeln völlig getrennte Familie. Ihre Angehörigen bevölkern fast die ganze Erde; was in unserer Heimat die Mauersegler sind, das sind in Südeuropa der Alpensegler und der Fahlsegler. Die meisten Seglerarten aber leben in den Tropen. Die Ähnlichkeit mit den Schwalben ist nur äußerlich, hervorgerufen durch die Schwalbenfigur und die in manchen Eigenheiten gleichartige Lebensweise der Schwalben und Segler; beide sind Jagdflieger und Insektenfänger, für die ein schnittiger Körper mit langen schmalen Flügeln eben die zweckmäßigste Ausrüstung darstellt. Solch äußere Ähnlichkeit zwischen einander sehr fremden Lebewesen findet sich öfter in der Natur; der Wissenschaftler nennt diese Erscheinung Konvergenz (Annäherung). Ein besonders schönes Beispiel für Konvergenz bieten die drei Hochseebewohner Delphin, Haifisch und die Fischechse Ichthyosaurus, die vor hundert Millionen Jahren gelebt hat; alle drei besitzen sie die für ein J ä gerleben im Meere zweckmäßige Torpedoform, obwohl sie als Säugetier — das ist deir dem Wal verwandte Delphin — als Fisch und als urzeitliche Echse doch völlig verschiedene Tierarten sind. Der Irrtum des Großstädters, der den Mauersegler für eine Schwalbe hält, ist verzeihlich; auch die Gelehrten haben sich geirrt, als sie dem Vogel den Namen Segler verliehen. Denn der Mauersegler ist in Wirklichkeit gar kein Segler, wie etwa der Bussard, der mit ruhig ausgebreiteten Flügeln auf den Luftströmen dahinsegelt, sondern ein Flatterflieger, der mit schnellen Flügelschlägen durch die Luft rudert und dann mit reißender Geschwindigkeit eine Strecke weit mit ruhigen Flügeln gleitet, aber doch niemals segelt. Viel treffender nennen die Engländer den Mauersegler „Swift", den raschen und hurtigen Vogel; Hermann Löns gab ihm einen ähnlichen Namen', als er ihn „Vogel W u p p " 3
nannte. Die Schweizer wiederum heißen den Mauersegler lautmalend „ S p y r e " , und die Holländer „Gierzwaluw", woraus der Volksmund frischfröhlich eine „Bierschwalbe" gemacht hat.
Belauscht und beobachtet Die Vogelkunde ist eine rechte „scientia amabilis", eine liebenswerte Wissenschaft. Und so befassen sich mit ihr nicht nur die Fachgelehrten sondern auch eine große Zahl von Liebhabern. Diesen Vogelfreunden und Vogelforschern aus Liebhaberei ist es insbesondere zu verdanken, daß unser Wissen von den Gefiederten allmählich auch die geheimeren Regungen in der Vogelwelt umfaßt: ihre Gesellschaftsbräuche, ihre Stimmäußerungen, Merkwürdigkeiten ihres Hochzeitens und ihrer Brutpflege und schließlich auch immer mehr Einzelheiten der so seltsamen und interessanten Erscheinung des Vogelzuges. Am gründlichsten, so sollte man meinen, ist man heute mit jenen Arten vertraut, die der Mensch täglich um sich hat, weil sie mit ihm sozusagen unter einem Dache wohnen. Aber das ist in Wirklichkeit nicht allgemein der Fall. Wohl sind uns die Lebensgewohnheiten etwa der Rauchschwalbe oder des Storches gut bekannt — wenigstens aus jener Hälfte ihres Lebens, da sie bei uns weilen; bei anderen Vögeln aus unserer nächsten Umgebung aber ist unsere Kenntnis noch beschämend lückenhaft. Heute gibt es trotz zahlreicher Einzelbeobachtungen noch keine eingehende und umfassende Lebensdarstellung des Haussperlings, obwohl dieser kecke kleine Kerl doch täglich und überall um uns herum ist und obwohl die Lebensweise dieses im sozialen Verband lebenden Vogels viel reizvoller erscheint, als die eines einsamen Adlerpaares. Hier möchte man das Wort Schillers anführen: „ W a s ist das Schwerste von allem? Zu sehen, was vor den Augen dir liegt." Auch das Leben unseres Mauerseglers ist uns noch in vielem fremd; manche überraschenden Züge aus seinem Alltagsleben, von denen wir heute wissen, sind erst in den letzten Jahren bekanntgeworden.
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Das ist zu verstehen; denn dieser Hausgenosse ist ungleich schwieriger zu beobachten als die Schwalbe oder der Storch und der Sperling, da er sein Wesen mieist hoch droben in der LufS treibt und seine Nistplätze gewöhnlich in unzugänglichen Spalten und Löchern hoher Gebäude, auf Kirchtürmen oder unter den Dachsparren und in ähnlichen Verstecken anlegt. Nur selten kann sich ein Naturfreund eine so günstige Beobachtungsmöglichkeit schaffen wie jener Schweizer Lehrer Weitnauer, dem die Vogelkunde eine Reihe aufschlußreichster Beobachtungen aus dem Brutleben des Mauerseglers verdankt. Wie jeder Vogelfreund bestimmte Lieblingsgestalten unter den Gefiederten hat, von denen er sich besonders angezogen fühlt, so hatte sich Weitnauer die Mauersegler ausgewählt. Leider aber waren ihre Nistplätze auf dem Kirchturm seines Heimatdorfes nur sehr schwer zugänglich und für eine gründliche Beobachtung nicht geeignet. So kam er auf den Einfall, ihnen eine Nistgelegenheit aufzubauen, die für seine Absichten geeigneter war. Er brach die Mauer unter dem Schulhausdach teilweise heraus und brachte dort vier Nistkästen an — später noch weitere vier. Als Kastendecke verwandte er eine tuchverhangene Glasscheibe. Wollte er beobachten, so lüftete er ein wenig den Vorhang und betrachtete nun durch das Glas geruhsam seine kleinen Freunde. Im nächsten Jahre nahmen die Mauersegler diese Nestgehäuse tatsächlich in Besitz. Weitnauer hatte nun viele Jahre lang vom Bodenraum des Schulhauses aus die Tiere ganz nahe im Nest vor sich und konnte sie photographieren. Als sie sich an seine Nähe und seinen Anblick gewöhnt hatten, durfte er auch die Jungen und sogar die Alten herausnehmen, um sie zu wiegen und zu beringen. Aus seinen mühsamen Beobachtungen sowie aus denen anderer Forscher ergab sich das Bild eines ganz eigenartigen Vogels, dessen Lebensweise die Wissenschaft bisher nur halbwegs richtig durchschaut hatte.
Landvögel ziehen in die Städte Wieder einmal zieht der junge Lenz durch das Land, überall, wo er vorüberkommt, sprießen Blumen aus dem kahlen Boden, 5
und aus jedem Busch erklingen die Fanfaren der Meisen und Finken. Zunächst hält er im Westen und Südwesten, in den Tälern und Niederungen Einkehr, dann wandert er weiter nach Norden und Osten; erst einige Zeit später steigt er auch in die Gebirge und vertreibt dort den Winter aus seinen letzten Rückzugsgebieten. Ungefähr in der gleichen Zeit wie der Frühling nehmen auch die vielerlei Angehörigen seines Gefolges diesen Weg; als einer der letzten unter ihnen der Mauersegler. Im letzten Drittel des April oder auch erst in den frühen Maitagen trifft er bei uns ein — je nachdem, ob der Frühling zeitig oder spät ist und je nachdem, an welchen Ort der Vogel zurückkehrt. Man kennt seinen Kalender: über eine Reihe von Jahren gesehen, ist sein durchschnittlicher Ankunftstag in der Pfalz der 22. April, in Schleswig-Holstein dagegen erst der 2. Mai. Aber auch die höher gelegenen Orte des Südens bezieht er recht spät; Weitnauers Mauersegler kamen durchschnittlich erst am 3. Mai in Oltingen im Schweizer J u r a an, zum gleichen Zeitpunkt, da ihre Artgenossen 800 km nördlicher bereits um die Kirchtürme! und Häuser Holsteins flogen und mit ihren lauten, schrillen Schreien verkündeten, daß der Frühling nun endgültig auch in den Städten und Dörfern der Wasserkante 'angelangt war. Wir sagen mit Absicht: in den Städten und Dörfern der Wasserkante; denn nur selten trifft man den Mauersegler heute noch außerhalb der Ortschaften nistend im freien Gelände. Er brütet zwar zuweilen in alten Bäumen großer Wälder und an Felswänden, aber das sind Ausnahmen geworden. Früher allerdings, als es noch keine Dörfer und Städte gab, waren Waldgebiete und Geklufte seine eigentlichen Wohngebiete. Was mag ihn bewogen haben, zu den künstlichen Felsen der Menschenbauten überzusiedeln? Diese Frage des Naturfreunds gilt nicht allein dem Mauersegler. Auch Rauchschwalbe, Mehlschwalbe, Storch, Hausrotschwanz, Schleiereule haben sich so eng an die Menschenbehausungen angeschlossen, daß man ihnen draußen an ihren ehemaligen Brutstätten in der offenen Landschaft immer seltener begegnet. Gewiß bieten die Menschenbauten und Menschensiedlungen manchen Vogelarten vereinzelt bequemere Wohnungs- und Ernährungsmöglichkeiten, aber es erfordert doch immer einen kühnen „Entschluß" für ein frei-
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lebendes Tier, sich so dicht an den Menschen heranzuwagen. Warum hat zum Beispiel der Storch einst seinen einsamen Bruchwald verlassen, um auf die Dächer der Dörfer überzusiedeln, /da ein tatsächlicher Vorteil für ihn dabei nicht ersichtlich ist? Da sich diese seltsame Änderung der Lebensweise des Storches bereits vor langer Zeit, vor Hunderten, ja Tausenden von Jahren vollzogen hat, bliebe sie ein nicht mehr zu lösendes Rätsel, wenn sich der Vorgang der Verstädterung von Vögeln nicht auch heute "immer wieder ereignen würde.
Mutation, Selektion, Isolation Einer der gewöhnlichsten Vögel in den Gärten und den Parkanlagen der Städte ist die Amsel. Unbekümmert um die Spaziergänger, sucht sie auf den Rasenflächen ihre Nahrung. Ihr Nest baut sie bisweilen sogar auf den Blumenkästen der Balkone der Mietskasernen. Nicht ganz so vertraut, aber ebenfalls der Nähe des Menschen angepaßt, ist ihre Verwandte, die Singdrossel. Ebenso gehören zu den vertrauten Bewohnern der großen Grünflächen der Städte die Ringeltaube und die Stockente. Auch sie sind völlig an den Menschen gewöhnt, kommen dicht an ihn heran, lassen sich füttern und bauen ihre Nester dicht neben vielbegangenen Wegen. Sie alle sind echte Stadtvögel, keck und erfahren im Umgang mit den Menschen und seinen seltsamen Maschine^; doch waren sie das nicht immer, erst vor kurzer Zeit, vor einigen Jahrzehnten, begann bei ihnen der Einzug in die Stadt. ' Zu ihnen gesellt sich in jüngster Zeit ein weiterer Umsiedler: die Misteldrossel. Die ersten Beobachtungen von dem Einzug dieser bisher sehr scheuen Waldvogelart in die Menschensiedlungen wurden im ersten Weltkrieg in Nordfrankreich und Flandern gejmacht. Von hier aus hat sich die Kulturland-Misteldrossel von Jahr zu Jahr weiter nach Nordosten ausgebreitet und ist heute in Nordwestdeutschland bis zur Unterelbe vorgedrungen. In diesem Raum hat sie zahlreiche Dörfer und Städte als ihren Wohnsitz erwählt, selbst in Gebieten wie der Münsterischen Bucht und dem Teutoburger Wald, in denen zuvor überhaupt keine Misteldrosseln lebten.
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Der Vorgang des Wohnraumwechsels bei einzelnen Vögeln wird von den Biologen mit Aufmerksamkeit beobachtet, ist er doch ein interessantes Beispiel für die anpassungsfähige Weiterentwicklung des Lebendigen. Wohl bildet sich hier keine neue Vogelart heraus, aber doch eine neue F o r m , die sich äußerlich nicht von der ursprünglichen Waldform unterscheiden läßt, die aber in ihrer Lebensweise deutlich als Kulturlandform ausgeprägt ist. Auf die Frage, wie und warum auf einmal solch eine neue Form entsteht, antwortet der Vogelforscher mit drei Begriffen, die nicht ohne weiteres verständlich sind; es sind die Begriffe Mutation, Selektion und Isolation. Der bekannte Vogelforscher Heinroth, der Hunderte von Vögeln aus dem Ei aufziehen konnte, hat die Beobachtung gemacht, daß manche Tiere einer Brut überraschend zutraulicher und weniger schreckhaft erschienen als ihre Geschwister, und daß solche Tiere auch in der Freiheit dichter an die menschlichen Behausungen herangingen als die anderen. Auch die Nachkommen dieser menschenfreundlicheren Formen besaßen die gleiche gesteigerte Zutraulichkeit. Das war eine sehr bemerkenswerte, ja sensationelle Wendung im Leben dieser Vogelart. In der Welt des Lebendigen nennt man eine solche sprunghafte Änderung der Lebensgewohnheiten, die an den Nachwuchs weitergegeben wird, eine Mutation. So ist wahrscheinlich bei der Misteldrossel das Merkmal „Zutraulichkeit" als Mutation aufgetreten und hat sich auf die Nachkommen weitervererbt. Die Auslesewirksamkeit (Selektion) der Umwelt war dieser neuen Eigenschaft förderlich; denn Nordfrankreich wurde ein waldarmes Land, in dem der Mensch mehr und mehr die Landschaft zu Eigen nahm und das zutraulich gewordene Vogelvolk an sich band. Durch das allmähliche Vordringen der Misteldrossel in bisher von ihr nicht bewohnte Gebiete wurde durch „Isolation", durch völlige Absonderung, ein Vermischen der neuen Form mit der alten Waldform und damit ein mögliches Wiederverschwinden der neuen Eigenschaft vermieden und so die Kulturlandform endgültig gefestigt. Zur Verstädterung also, zum Anschluß einer Vogelart an die Siedlungen der Menschen bedarf es dieseir Bedingungen: der äußeren, daß der neue Lebensraum dem Vogel Wohn- und Ernährungsmöglichkeiten bie-
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tet, und der inneren, im Vogel selbst entstehenden, die ihn seine Scheu vor der Menschennähe verlieren läßt. Dieses Gesetz darf man auch in die Vergangenheit übertragen. Es gilt für die Verstädterung des Storches vor Jahrtausenden ebenso, wie es für die Landflucht des Mauerseglers in unserer Zeit gilt.
Bis zu 200 Stundenkilometer Nun sind sie also wieder da, die Mauersegler, und jagen unermüdlich, hastig flatternd und schwirrend, und dann wieder ein Stück gleitend, durch die Luft. Bald erhehen sie sich hoch in die Bläue des Himmels, so daß sie nur noch als feine dünne Sicheln zu erkennen sind; dann wieder rasen sie in toller Jagd hintereinander dicht über den Dächern dahin und stoßen in der übermütigen Lust des ungehemmten Fliegens ihre jauchzendschrillen Schreie aus. Wie ein Wirbelwind hasten sie einher. ! Mit einiger Geduld und einer Stoppuhr kann man ihre Geschwindigkeit recht gut festlegen, wenn sie einen Straßenzug oder eine von zwei Schornsteinen bezeichnete Meßstrecke durchfliegen. Es ergibt sich, daß die Geschwindigkeit etwa 60 Stundenkilometer im Durchschnitt beträgt; sie steigert sich jedoch bei dem spielerischen Einanderjagen der Vögel auf 100 km, sie kann auf kurze Strecken sogar den Wert von 200 Stundenkilometer erreichen. Mit einem solchen Spitzentempo zählen die Mauersegler zu den schnellsten Tieren überhaupt. Sie sind auch als richtige Flugmaschinen gebaut. Ihre Flügel sind mit 17 bis 18 Zentimeter Länge so lang wie der ganze Körper. Die Handschwingen, für einen schnellen Flug am wichtigsten, sind auf Kosten der Armschwingen besonders lang ausgebildet, und schließlich ist auch die Brustmuskulatur besonders kräftig entwickelt. Jedoch ist diese Anpassung der Flugorgane auf Kosten der hinteren Gliedmaßen vor sich gegangen; denn die Mauersegler können mit ihren kleinen Füßen — nach denen sie auch ihren lateinischen Gattungsnamen Micropus „Kleinfuß" erhielten — nicht laufen, sich aufrichten oder nach Art anderer Vögel auf Zweigen sitzen und sich daran festhalten. Die Vögel liegen auf dem Boden und bewegen sich auf ihm kriechend vorwärts, doch sind sie sehr
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wohl in der Lage, sich auch vom flachen Erdboden aufzuschwingen und abzufliegen. An rauhen, senkrechten Flächen jedoch, an Felsen und Mauerwerk, an das sie sich gern anhängen, können sie mit ihren vier nach vorn stehenden spitzkralligen Zehen recht gut in die Höhe klettern. So ist der Mauersegler ein rechtes Geschöpf des freien Luftraumes und verbringt dort den größten Teil seines Lebens. Ja, der Schweizer Forscher hält es auf Grund seiner Beobachtungen nicht für ausgeschlossen, daß der Mauersegler sogar in der Luft übernachten könne; allerdings gewiß nicht in der Weise, wie es nach altem Seefahrerlatein der Albatros tun soll. Dieser gewaltige Flieger, so erzählen die Teerjacken, stecke des Nachts in der Luft seinen Kopf unter einen Flügel und schlafe, während er mit dem anderen Flügel schlagend weiterfliege. Weitnauer stellte an der Mauerseglerbevölkerung seines Ortes fest, daß die noch nicht brütenden einjährigen Vögel regelmäßig in der Abenddämmerung verschwanden und am frühen Morgen wieder erschienen, während alle brütenden Paare in ihren Nistkästen ruhend anzutreffen waren. Am Morgen aber, noch bevor die Brutvögel ausflogen, kamen die Ledigen aus großer Höhe herab und jagten über das Dorf, bis die Brutvögel sich zu ihnen gesellten. Der Schweizer Vogelforscher hat es sich nicht leicht gemacht, das Dbernachtungsproblem der Mauersegler gründlich zu erkunden. Um der Vermutung, daß diese Vögel in der Luft übernachten können, weiter nachzugehen, mietete er sich ein Flugzeug und stieg mit ihm auf. Es gelang ihm, noch 27 Minuten, nachdem alle brütenden Vögel in ihren Nistkästen verschwunden waren, ledige Mauersegler in Stärke von drei bis fünfzig Stück in einer Höhe bis zu 1550 Meter anzutreffen. Ebenso konnte er bei Morgenflügen 20 Minuten vor dem Erscheinen der ersten Brutvögel Segler feststellen, die aus mindestens 2000 Meter Höhe herunterkamen. Zum endgültigen Beweis des Dbernachtens in der Luft bedürfte es aber noch der Beobachtungen in der Nacht selber, die sehr schwierig sind und wohl einem glücklichen Zufall überlassen bleiben müssen. So einzigartig jedoch der Vogel Wupp mit solchem luftigen Schlafplatz wäre, kommt er doch längst nicht an den sagenhaften Vogel Rock heran, von dem es heißt, daß er auch sein Ei in der 10
Luft ausbrüte. Solch ein Märchenstück bringt der Mauersegler gewiß nicht fertig. Er muß sich schon in der Brutzeit dazu bequemen, sein Herumschweifen am hohen Himmel ein paar Wochen lang aufzugeben oder einzuschränken, um in einer finsteren Höhle seine Jungen aufzuziehen. Allein für dieses Brutgeschäft kommt er nämlich im Frühling aus seinen Auslandsquartieren nach dem Norden. Bei den meisten anderen Brutvögeln unserer Heimat hat man das Gefühl, daß sie hierzulande zu Hause sind und im Herbst nur fortziehen, weil die Verhältnisse sie dazu zwingen. Der Mauersegler aber erscheint nur als ein Brutgast bei uns, der bald nach der Aufzucht seiner J u n gen wieder verschwindet, als wäre er froh, von dem Ort der lästiWIMiHMniBWMiMririiifirgiiiMMiii,,.,
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am
Rauchschwalbenpärchen nachts beim Nest. Mit den Schwalben werden die Mauersegler leicht verwechselt
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gen Verpflichtung wieder fortzukommen. Indessen muß man sich vor solch gefühlsmäßiger Beurteilung eines Lebewesens hüten, da sie leicht zu vorschnellen Schlüssen führt, die einer näheren Prüfung nicht standhalten. Beim Mauersegler steht diesem anscheinend jeder heimatlichen Bindung abholden Verhalten die Tatsache gegenüber, daß er ein bemerkenswert festes und dauerhaftes Eheleben führt.
Treue Pärchen Bei den meisten Vögeln erfordert die hoch entwickelte Brutpflege für den Nestbau, das Bebrüten der Eier, die mühsame Futtersuche und das Aufziehen der Jungen schon rein arbeitsmäßig ein Zusammenwirken beider Elterntiere. Es gibt zwar eine Reihe von Vogelarten, bei denen nur ein Elterntier, Männchen oder Weibchen, die Brutpflege übernimmt; im allgemeinen jedoch sind beide Eltern daran beteiligt. Bei den Vögeln ist dieses familiäre Zusammenwirken meist nur ein kurzfristiger Zweckverband, eingegangen eben zur gemeinsamen Bewältigung der Brutpflege. Nach dem Selbständigwerden der Jungen löst er sich wieder auf. Eine solche Ehe hält manchmal nicht einmal während der ganzen Brutmonate eines Jahres an; die Beringung von Schwalben zum Beispiel hat erwiesen, daß sie die zweite Brut des Jahres öfter mit einem anderen Partner vornehmen. Demgegenüber gibt es Vogelarten, die eine über das eigentliche Brutgeschäft hinaus währende Dauerehe führen, die sogar so weit gehen kann, daß sich nach dem Tode eines Partners der andere nicht wieder verheiratet, wie das z. B. an Gänsen beobachtet worden ist. Wenn solche Treue über den Tod hinaus auch der Arterhaltung widerspricht, so zeigt sie doch, daß die Tiere nicht nur reine Triebwesen sind, sondern auch von Gefühlen durchdrungen werden, die der Mensch nur sich allein vorbehalten glaubt. Auch der so unstet erscheinende Mauersegler führt eine Dauerehe, wie die Beringungen ergeben haben. Mehr als ein Dutzend der beringten Brutpaare setzten sich bis zu sechs Jahre lang immer wieder aus denselben Partnern zusammen, wenigstens zur Brutzeit. Verbindungen mit neuen Partnern erfolgten nur, wenn das bis12
herige Männchen oder Weibchen nicht mehr erschien, also sicher zugrunde gegangen war. Daß es nicht nur die Treue zum Nistort ist, die dieselben Paare immer wieder zusammenführt, geht aus dem Verhalten eines von Mißgeschick betroffenen Paares hervor. Dieses Paar fand bei der Rückkehr seinen alten Nistkasten nicht mehr vor, da er von seinem Platz an einem morschen Baum fortgenommen worden war. Das Paar suchte sich einen neuen Nistplatz, aber hier verunglückte seine Brut. Trotz dieser Fehlschläge und des Standortwechsels hielt das Paar weiterhin zusammen und konnte im nächsten Jahr an dem neuen Platz endlich wieder eine Brut aufziehen. Noch unbekannt ist es, ob die Mauerseglerpaare eine tatsächliche Lebensehe nach Art etwa der Kolkraben führen, bei denen die Paare auch außerhalb der Brutzeit zusammenhalten. Das wird sich wohl schwer nachweisen lassen. Ein Anhaltspunkt für diese Annahme ist vielleicht das Verhalten der einjährigen, noch nicht brutfähigen Segler. Aus seinen Beobachtungen und Beringuj ,gen glaubt Weitnauer den Schluß ziehen zu dürfen, daß sich die jungen Mauersegler nach ihrer ersten Rückkehr in die Heimat schon zu Paaren zusammenfinden können, einen zukünftigen Nistplatz aussuchen und dann im Jahr darauf dort brüten. Sie verloben sich also gewissermaßen im ersten Jahr und heiraten dann im nächsten; der Gedanke, daß die Vögel auch außerhalb der Brutzeit zusammenbleiben, liegt deshalb nahe. Außer den Brutpaaren gibt es in einer Mauerseglerkolonie ledige erwachsene Männchen, die noch kein Weibchen gefunden oder das ihre vielleicht durch einen Unglücksfall verloren haben. Diese Männchen nun versuchen, eine Frau zu gewinnen, und so kommt es dann zu wilden Hetzjagden und Raufereien sowohl in der Luft wie auch in den Nistkästen. Die Kämpfe dauern oft tagelang. Dabei gebrauchen die Streitenden vor allem ihre spitzen, kräftigen Krallen. Zum Schutz gegen die scharfen Waffen besitzen die Mauersegler eine besonders starke und widerstandsfähige Haut; doch schreibt Alfred Brehm, daß seinem Vater, dem berühmten Vogelkundler und Pfarrer Christian Ludwig Brehm, mehrmals zu Boden gefallene Mauersegler mit zerfleischter Brust gebracht worden sind, Opfer blutiger Familienstreitigkeiten. Bei solchen Flug13
Jagden kommt es öfter vor, daß der Verfolger sich im Fluge auf den Rücken des Gejagten setzt und beide Tiere dann ineinander verkrallt abwärts stürzen, bis sie sich über dem Boden wieder voneinander lösen. Nicht nur mit den Nebenbuhlern unter den eigenen Artgenossen haben sich Herr und Frau Mauersegler auseinanderzusetzen, sondern auch mit fremden Vögeln. Oft genug geschieht es, daß die Segler bei der Wiederkehr ihr Haus von Spatzen oder Staren besetzt vorfinden. Da gibt es dann einen kurzen, heftigen Kampf mit Flügeln und Krallen, und immer bleiben die Mauersegler Sieger. Die Eindringlinge müssen wohl oder übel die Wohnung räumen. Ihre Eier oder Jungen werden vernichtet: die Mauersegler speicheln Genist und Nachwuchs zu und mauern einfach ihr Nest darüber. In ihrer Nestbauweise sind alle Angehörigen der Seglerfamilie Techniker ganz besonderer Art. Sie erzeugen ihren Baustoff selbst in Form einer klebrigen Absonderung des Speicheldrüsen, die schon nach ein bis zwei Minuten fest und hart wird. Doch sind die Mauersegler unserer Heimat neben ihren Verwandten noch verhältnismäßig primitive Baumeister; denn was sie auf einer Unterlage formen, ist eine einfache, schlichte Nestmulde aus Hälmchen, Moosen, Federn, Flugfrüchten, die sie meist im F'lug aufgeschnappt haben, dann mit ihrem Speichel durchtränken und überziehen und so zum Nest zusammenfügen, das sie mehrere Jahre hindurch benutzen, i Von ganz anderer Art sind die Nester einer Reihe von Verwandten des Mauerseglers. Da lebt z. B. in Nordamerika der Kaminsegler. Der Vogel nistete früher in hohlen Bäumen; als aber der weiße Mann das Land besiedelte, bat er in dessen Nähe und in die Nähe seiner Behausungen hinübergewechselt und legt sein Nest jetzt im Innern von Schornsteinen oder auoh in Brunnenschächten an. Das Speichelnest heftet er in Form einer kleinen Schüssel an die senkrechten Wände. Ebensoich ein Schüsselchen klebt auch der Klecho in Hinterindien zusammen, er heftet es an einen Baumast. Dieses Nest ist so klein, daß nur das einzige Ei in ihm Platz findet. Zum Brüten setzt der Altvogel sich nicht auf das Nest eelbst, sondern auf den Ast und bedeckt so mit seinem Leib das 14
Ei; auch der ausschlüpfende Jungvogel klettert von dem viel zu kleinen Nest auf den Ast hinüber und verbleibt dort bis zu seinem Flüggewerden. Segler der Gattung Tachornis in Afrika (wiederum kleben ihre Nester an die Blattfiedern von .Palmwedeln; damit der Wind, der die Palmwedel hin und her .bewegt, die beiden Eier nicht herausschleudern kann, pappt sie der Vogel im Nest fest. Die berühmtesten der Klebkünstler sind jedoch d'ie Salangane in Indien und Polynesien, die Verfertiger der eßbaren Vogelnester, einer besonders ii China beliebten Leckerei. Während die anderen Segler ihre Speichelnester mehr oder weniger noch mit Pflanzenteilen und Federchen vermischt bauen, stellen die Salangane ihre Nester ausschließlich aus ihrem Speichel he^. Sie haften sie im Innern von Höhlen an die Wände, oft Hunderte von Metern tief im Bergesinnern, so daß es ein Rätsel ist, wie die Vögel sich dort in der Dunkelheit zurechtfinden.
Erstaunliche Voraussicht über zwei Wochen ihres kurzen Aufenthaltes in der Heimat sind bereits vergangen, und unsere Mauersegler müssen nun ernsthaft an das Vorhaben gehen, um dessentwillen sie von Afrika nach dem Norden gezogen sind. In der dritten Maiwoche legt das Weibchen das erste der reinweißen, langgestreckten Eier, nach 2 bis 6 Tagen das zweite und nach einem ähnlichen, unbestimmten Zeitabstand vielleicht ein drittes; ganz selten kommt auch ein Vierergelege vor. Im Gegensatz zu den pünktlichen Legegewohnheiten bei den meisten anderen Vögeln ist also der Zeitabstand beim Legen der einzelnen Eier bei den Mauerseglern sehr verschieden. In dieser eigenartigen Unregelmäßigkeit tritt uns eine Erscheinung entgegen, die für das ganze Brutgeschäft unseres Vogels kennzeichnend ist und die dem Naturfreund immer wieder Anlaß zu neuen prüfenden Beobachtungen gibt. Ursache für das ungleichmäßige Eierlegen ist die Ernährungseinstellung des Mauerseglers auf eine ganz bestimmte Kost: auf fliegende Insekten. Von deren Vorhandensein oder Fehlen hängt das Wohl und Wehe des Vogels ab. Und da Insekten wiederum in ihrer Lebensart stark von Tem15
• peraturen und vom Wetter abhängig sind, so ist es der Mauersegler auch. Andere Insektenjäger, wie die Schwalben und Fliegenschnäpper, verstehen es wenigstens, bei kaltem, regnerischem Wetter die verklammten Insekten von den Wänden und Bäumen abzulesen, nicht aber der Mauersegler, deshalb muß er bei ungünstiger Witterung hungern. Hungern aber ist für die Vögel viel schwieriger und verhängnisvoller als für viele andere Geschöpfe. Ihre hohe Körpertemperatur von 42 Grad und ihr lebhaftes Wesen erfordern einen gesteigerten Stoffwechsel und zwingen die Tiere zu ständiger Nahrungsaufnahme. Auf diesen unaufhörlichen Nahrungsnachschub sind insbesondere die Früchte- und Insektenfresser angewiesen, deren Nahrung nicht so gehaltvoll und kalorienreich ist wie die der Körnerund Fleischfresser. Eine Grasmücke etwa muß täglich beinahe so viel Nahrung zu sich nehmen, wie sie selber wiegt — auf den Menschen übertragen würde das bedeuten, daß wir gezwungen wären, zur Erhaltung unseres Daseins täglich ta send belegte Brötchen zu verzehren. Wenn die Grasmücke einen l a g lang hungern müßte, ginge sie zugrunde. Wäre er so hungeranfällig wie eine Grasmücke, so müßte der Mauersegler eigentlich längst ausgestorben sein; denn es treten im Frühling und Frühsommer immer wieder Schlechtwettertage ein, in denen überhaupt keine Insekten fliegen. Schon gleich nach der Ankunft aus den südlichen Winterquartieren ist das oft genug der Fall. Die Vögel verharren dann den ganzen Tag in ihrer Nisthöhle und zehren von den Fettvorräten, die sie sich im Süden angefuttert haben. Tritt wieder besseres Wetter ein, so haben sie den Verlust rasch aufgeholt. Dann schöpfen sie aus der Fülle des „Insektenplanktons", mit dem die uns so leer und rein erscheinende Luft angereichert ist. Um welche Mengen von Käfern, Fliegen, Hautflüglern, Blattläusen und anderen Insekten es sich dabei handelt, geht daraus harvor, daß man in den Futterballen Jiür die jungen Mauersegler bis zu 800 Insekten finden kann, ferner aus der Tatsache, daß ein hungriger Segler — normal wiegt er etwa 42 Gramm — sein Gewicht von einem Tag auf den andern um bis zu sieben Gramm zu erhöhen vermag, lediglich aus dem Ertrag und der Verwertung des Insektenfangs. 16
Vorwitziger Ausblick aus einem Mauerloch
Von einem Tag auf den andern, innerhalb von 24 Stunden, kann der Mauersegler an Gewicht aber auch ebensoviel verlieren, wenn ihm einmal die nötige Nahrung fehlt. Diese ungewöhnlich schnell erfolgende Rückwirkung und Auswirkung der Nahrungsminderung auf den Körper ist es, was die geschilderte Unregelmäßigkeit des Eierlegens verursacht; es richtet sich zeitlich nach der Menge der aufgenommenen Nahrung, verschiebt sich um ein, zwei Tage, wenn die Ernährung nicht genügte, beschleunigt sich, wenn der Tisch reichlicher gedeckt war; das alles hängt vom Wetter 17
ab. Dieser Zusammenhang leuchtet ein. Indessen hat es den Anschein, als werde der Mauersegler, der zur Brut ansetzt, noch auf andere Weise durch das Wetter beeinflußt. Ein englischer Vogelkundler, David Lack, kam auf den Gedanken, einmal die durchschnittliche Gelegegröße von englischen und Schweizer Mauerseglern zu vergleichen. Dabei ergab sich, daß bei den Schweizer Vögeln Dreiergelege häufiger waren als bei den englischen. Den Grund für diesen Unterschied vermutet Lack in der schwierigeren Futterbeschaffung in England. Zur Stütze dieser Annahme dienten ihm die Untersuchungen eines anderen Zoologen über den Insektenbestand der Luft über dem Nordseegebiet. Dieser Naturforscher konnte nach zahlreichen Beobachtungen ermitteln, daß die Insektendichte bedeutend größer ist, wenn der Wind vom Kontinent her kommt und nicht aus entgegengesetzter Richtung. Insektenfutter wird also sehr ungleichmäßig auf die englische Insel hinübergeweht. Hinzu kommt, daß es in England öfter regnet als in der Schweiz. So ist also die Nahrungsfrage für den Mauersegler in England mit seinen weniger günstigen Wetterverhältnissen schwieriger als auf dem Festland. Die Vögel „wissen" das und „ p l a n e n " ihre Familie entsprechend kleiner. Diese Untersuchung ist übrigens ein schönes Beispiel dafür, wie solche scheinbar nutzlosen, „weltfremden" Forschungen zur Aufdeckung geheimer feiner Züge im Lebensgeschehen führen können. Weiter kam David Lack, nachdem er ein reiches, langjähriges Beobachtungsmaterial über Schweizer Alpensegler durchgearbeitet hatte, zu der Vermutung, „ d a ß das Alpenseglerweibchen beim Eierlegen von Gegebenheiten beeinflußt wird, die erst später, während der Aufzucht, wirksam werden"; der Vogel scheine sich also so zu verhalten, als könnte er voraussehen, ob die späteren Fütterungsbedingungen für die Jungen gut oder schlecht sein würden, und er bemesse dementsprechend die Zahl der zu legenden Eier größer oder kleiner. Auf welche Weise dieses sinnvolle in die Zukunft weisende Verhalten zustande kommt, sagt Lack in seinem Bericht, wisse er nicht. Es ist denkbar, daß die zur Legezeit vorhandene Futtermenge in Beziehung zu derjenigen steht, die voraussichtlich drei Wochen später, wenn die Jungen geschlüpft sind, verfügbar ist. Ähnliches ist von Raubvögeln und Eulen bekannt,
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die in starken Mäusejahren ein doppelt großes Gelege hervorbringen oder sogar zweimal brüten, so, als könnten auch sie verstandesgemäß den vorausschauenden Schluß ziehen, daß später genügend Futter für die doppelte Zahl von Jungen vorhanden sein werde. Nach Ablage des zweiten Eies beginnen die Mauersegler zu brüten; beide Gatten teilen sich in diese Aufgabe; dabei ist meistens einer unterwegs und bringt dem Zurückgebliebenen auch schon einmal etwas Futter zur Stärkung mit. Ist das Wetter warm, so fliegen zuweilen beide für eine Weile aus und lassen die Eier unbedeckt; bei schlechtem Wetter halten sich beide Elterntiere zu Hause auf. Doch verläuft das Brutgeschäft nicht immer ungestört. Manchmal werfen die Vögel nach einigen Tagen ein Ei, das unbefruchtet ist, aus dem Nest, manchmal entfernen sie sogar ein oder zwei befruchtete Eier, wenn kurz nach der Eiablage schlechtes Wetter eintritt. Das verbleibende Ei wird weiter bebrütet. Manchmal kommt es auch vor, daß die Mauersegler alle Eier aus dem Nest werfen. In einem solchen Falle machen sie nach etwa zwei Wochen ein Nachgelege, doch haben Junge aus diesem zweiten Gelege wenig Aussicht, flügge zu werden, da die Alten meist vorher fortziehen und ihren Nachgeborenen dem Hungertod überlassen. Aus welchem Grunde dieses Hinauswerfen der Eier geschieht, ist nicht bekannt. Nach rund 20 Tagen Brutdauer schlüpfen die Jungen aus den Eiern, nackt, blind, unbeholfen — und hungrig. Von nun an müssen die alten Mauersegler doppelt und dreifach so viel jagen wie bisher. Mit voller Kehle kommen sie dann nach Hause, Hunderte von Insekten zu einem Futterballen gehäuft, den sie den Jungen in den immer hungrigen Schlund stopfen. Wohl jeder hat schon an einem Starenkobel, einem Meisenkasten oder Schwalbennest den Vögeln beim Füttern ihrer Jungen zugeschaut, aber selten nur macht sich jemand klar, welch gewaltige Leistung so ein Vogelpaar mit der Aufzucht seiner Brut vollbringt. Ein Pärchen Zaunkönige z. B. hat durchschnittlich sechs Junge. Ein jedes wiegt beim Ausschlüpfen aus dem Ei ein Gramm — nach acht Tagen jedoch hat es bereits sein Endgewicht von acht Gramm erreicht, so daß also die ganze Brut ihr Gewicht in dieser 19
kurzen Zeit um siebenhundert Prozent erhöht hat. Unermüdlich haben die fleißigen Eltern von früh bis spät Futter herbeigetragen; beim Zaunkönig ist es aber immer noch eine Streitfrage der Gelehrten und Beobachter, ob nicht vielleicht allein das Weibchen diese ganze Arbeit geleistet hat und ob überhaupt das Männchen sich an der Fütterung der Jungen beteiligt. So beachtenswert, ja erstaunlich diese Leistung der Zaunkönige ist, so sollte man sie doch nicht auf Menschenverhältnisse übertragen. Ein solcher Vergleich würde hinken wie die meisten Vergleiche überhaupt und wie es auch bei unserem Vergleichsbeispiel mit den tausend belegten Brötchen bei der Grasmücke der Fall ist, ein Beispiel, das nur als Maßangabe gewählt worden ist. Die Natur hat eben ihre Geschöpfe zu staunenswerten Leistungen befähigt, und es ist nicht eigentlich das Vogelpaar zu bewundern, sondern vielmehr die sich in ihren Geschöpfen offenbarende Natur selbst. Bewundernswert ist vor allem die natürliche Ausgewogenheit zwischen Leistung und Leistungskraft; der schon genannte Engländer David Lack hat in einer umfassenden Arbeit auf diese Erscheinung hingewiesen. Danach hat die Natur die durchschnittliche Gelegegröße einer Vogelart danach bestimmt, wieviel Futter die Eltern herbeischaffen können, oder auch, wieviel Futter zur Verfügung steht. Nur auf diese Eierzahl ist die Futterbeschaffung abgestimmt; legt ein Vogel Weibchen über den Durchschnitt hinaus Eier, so bekommen die Jungen insgesamt doch nicht mehr Futter, als wenn es weniger Eier wären, nicht alle Jungen können deshalb ins Leben wachsen. Freilich ist diese Regel nicht starr, im Grunde aber ist sie richtig. Besonders klar kommt das zum Ausdruck bei den Brutschmarotzern unter den Vögeln.
Einer zuviel im Nest Unser einheimischer Kuckuck schmarotzt bei verschiedenen kleinen Singvögeln. Ihre Jungenzahl von fünf bis sechs hat beim Ausfliegen ein Endgewicht von zusammen etwa 90—100 Gramm, das gleiche Gewicht, das der junge ausfliegende Kuckuck allein auf20
weist. Darum also muß der junge Kuckuck gleich nach seinem Ausschlüpfen aus dem Ei die rechtmäßigen Jungen seiner Pflegeeltern aus dem Nest werfen. Er allein nimmt die ganze Leistungsfähigkeit der Eltern für seine Ernährung in Anspruch. Anders der Straußkuckuck (Clamator glandarius) in Afrika, der bei Krähen und Elstern schmarotzt. Er ist von ähnlicher Größe wie seine Wirte und entspricht damit nur einem einzigen ihrer eigenen Jungen, so daß die Wirte außer dem jungen Kuckuck auch ihre eigenen Jungen (weniger einem) aufziehen können. Dementsprechend braucht der junge Straußkuckuck seine Pflegegeschwister nicht aus dem Nest zu werfen. Aber da ja der junge Straußkuckuck in einem normalen Krähengelege als zusätzlicher Fresser erscheint und damit das wohlausgewogene Gleichgewicht stört, nimmt das Kuckucksweibchen beim Hineinlegen ihres Eies in das Krähennest dafür ein Krähenei heraus. Während also bei diesen und den meisten andern Vögeln die Zahl der ausfliegenden Jungen bestimmt wird von der Leistungsfähigkeit der Eltern im Heranschaffen des an sich genügend vorhandenen Futters, ist es beim Mauersegler — und einigen anderen Vögeln — das Futter selbst, das diese Zahl bestimmt. Herr und Frau Mauersegler mögen noch so leistungskräftig sein und noch so eifrig jagen, sie erbeuten doch zu wenig, wenn bei schlechtem Wetter wenig oder überhaupt keine Insekten fliegen. Die alten Mauersegler können solche schlechten Zeiten überhungern, und zwar etwa viereinhalb Tage lang. Nun hungert sich natürlich draußen in der freien Natur kein Geschöpf freiwillig zu Tode; es wird immer versuchen, dieser Gefahr in irgendeiner Weise zu entgehen. Bei einem so gewandten Flieger wie dem Mauersegler liegt es nahe, daß er in ein nahrungsreicheres Gebiet ausweicht, wenn er in seinem Wohngebiet nicht mehr genügend Nahrung erbeutet. Das tut er auch tatsächlich. Es gibt eine Reihe von Beobachtungen über Massenauswanderungen von Mauerseglern in den Monaten Juni und Juli, noch mitten in der Brutzeit und lange vor Beginn des Wegzuges. Es hat sich nun gezeigt, daß es sich dabei um ausgesprochene Wetterausweichflüge handelt, auf denen die Tiere Gebiete mit günstigeren Wetter- und Ernährungsbedingungen aufsuchen. Bei 21
dem Vergleich der Richtungen dieser Wanderungen mit den Wetterkarten stellte sich heraus, d a ß die Bewegungen der ausweichenden Mauersegler regelmäßig gegen den Wind gerichtet waren, daß sie auf der Vorderseite eines linksdrehenden Tiefs in Richtung nach Süden oder Südwesten verliefen, auf der Rückseite und nördlich des Tiefs mit Kurs nordwärts. Die Vögel entkamen und entkommen beim Nahen des schlechten Wetters durch den Gegenwindflug dem Tief und gelangen über die Warmzone aus ihm heraus. Wie weit sich diese Ausweichflüge ausdehnen, ist nicht bekannt, doch wird mit einem Tagesflug von tausend Kilometer als möglicher Entfernung gerechnet. Die Hauptmasse dieser Ausweichflieger bilden sicher die nichtbrütenden einjährigen Mauersegler, doch werden auch manche Brutvögel darunter sein. Weitnauer berichtet: An solchen kalten Tagen kommt es vor, daß am Abend nicht beide Altvögel ins Nest zurückkehren. Doch wenn am nächsten Tag wieder wärmeres Wetter eintritt, sind wieder beide da und füttern. Vielleicht hat der eine Partner einen Tag lang einen solchen Ausweichflug in die Ferne mitgemacht. Wie aber ergeht es den Jungen im Nest in solchen Notzeiten? Müssen sie nicht ärger leiden als die Erwachsenen, fällt nicht einem im Wachstum begriffenen Geschöpf der Nahrungsentzug weit schwerer als einem Ausgewachsenen? Nun, hier an diesem Punkte offenbart sich uns der wundersamste Zug im Leben dieser so vielfältig merkwürdigen und eigenartigen Vögel.
Wetter, Wachsen, Wiegen Nach den ersten Jahren des allgemeinen sorgsamen Beobachtens ging Weitnauer daran, mit seinen Lieblingen das zu tun, was eine Mutter mit ihrem Säugling macht: er begann sie täglich zu wiegen, um zu sehen, wie sie gedeihen. Dabei ergab sich nun etwas ganz Überraschendes, was selbst die berühmten Pflegeeltern zahlreicher Vögel, Oskar und Magdalena Heinroth, nicht bemerkt hatten, weil sie es nicht bemerken konnten. Die Heinroths fütterten ihre jungen Mauersegler täglich regelmäßig, wie sich das für gute 22
Eltern gehört, und ihre Pflegekinder wuchsen entsprechend stetig und gleichmäßig heran. Die Wirklichkeit aber ist anders: Die Mauersegler draußen in der freien Natur können nicht für gleichmäßige Portionen zu gleichen Zeiten garantieren; sie sind bei allem guten Willen davon abhängig, wieviel Futter sie für ihre Jungen finden können. Wenn an Schlechtwettertagen wenig oder gar keine Insekten fliegen, ist Not am Mann. Da die Vogeleltern dann nichts oder nur wenig herbeischaffen, um ihre Jungen zu füttern, müssen die jungen Mauersegler den Riemen enger schnallen — und das können sie, bildlich gesprochen. Bei dem täglichen Wiegen der jungen Mauersegler durch Weitnauer zeigte sich nämlich, daß ihre Gewichte gar nicht so stetig und gleichmäßig anwachsen wie die der sorgsam ernährten Heinrothschen Vogelkinder, sondern daß die Gewichtszunahmen von Tag zu Tag stark schwanken können. Es ergibt sich eine oft schroff auf- und niedersteigende Gewichtskurve. Die Ursache für dieses Schwanken liegt in der wechselnd häufigen Fütterung der jungen Mauersegler durch ihre Eltern, und diese Zahlen wieder hängen von der Wetterlage und dem damit verbundenen mehr oder minder großen Vorhandensein von fliegenden Insekten ab. Wie verblüffend eng Wetter und Wachstum zusammenhängen, zeigt das Beispiel einer Kurvenzeichnung, die der Schweizer Forscher nach seinen Fütterungsversuchen angefertigt hat. Oben stellt eine Kurve die mittlere Tagestemperatur in der Beobachtungszeit dar, die drei Kurven darunter die Gewichte von drei Nestgeschwistern, und verschieden hohe Balken endlich die Anzahl der Fütterungen in den einzelnen Tagen. Die Zählung der Fütterungen machte sich Weitnauer einfach; er hatte an-seinen Nistkästen eine Apparatur angebaut, die jeden Einflug der alten Mauersegler in den Nistkasten mit Hilfe eines elektrischen Kontaktes automatisch aufzeichnete; jeder Einflug bedeutete dabei ohne Zweifel in dieser Zeit eine Fütterung der Jungen. Zusätzlich notierte der Forscher noch den Wetterverlauf jedes Tages. Aus diesen gründlichen Wiegungen und Beobachtungen, die sich über Jahre erstreckten, ergab sich, wie sehr die jungen Mauersegler in ihrer Entwicklung vom Wetter abhängig waren. An schlechten Tagen, wenn es ständig regnete, die Temperatur nicht 23
über zehn Grad anstieg und die Alten nicht ein einziges Mal Futter herbeischaffen konnten, verloren die Jungen bis zu sieben Gramm ihres Gewichtes. An besonders guten, warmen und heiteren Tagen dagegen, wenn die Höchstzahl von 35 Fütterungen erreicht wurde, konnte das Gewicht bis zu sieben Gramm steigen. So wurden die Rückschläge aus den schlechten Tagen wieder ausgeglichen, und die jungen Vögel legten sich außerdem eine Fettreserve für kommende schlechte Tage zu. Die erwachsenen Mauersegler haben ein Normalgewicht von rund 42 Gramm. Junge Mauersegler wiegen in einem bestimmten Zeitabschnitt ihres Lebens erstaunlich mehr als ihre Eltern; sie erlangen im Verlauf ihrer vierten Lebenswoche ein Gewicht, das bis zu 66 Gramm hinaufgehen kann, also erheblich über dem Normalgewicht der Elterntiere liegt. Im Verlauf der weiteren zwei bis drei Wochen der Entwicklung der Jungen bis zu ihrem Ausfliegen sinkt dieses Höchstgewicht mit einigen Schwankungen wieder ab und führt schließlich bei normaler Entwicklung zu einem Ausfliegegewicht, das im Durchschnitt immer noch um zehn Gramm über dem Normalgewicht der alten Mauersegler liegt. Dieses erhöhte Endgewicht stellt die Natur bereit als eine Reserve für die Jungen während der ersten Tage ihres Flüggeseins. In diesen Tagen müssen sie das selbständige Beutemachen erst erlernen, denn nach dem Ausfliegen werden sie von ihren Eltern nicht mehr gefüttert. Fällt die Endentwicklung der Jungen in eine Schlechtwetterperiode, dann können sie das erhöhte Endgewicht nicht halten, ja es sinkt zuweilen unter das Normalgewicht ab. Solche Jungen fliegen zwar schließlich doch aus, ermatten aber bald, fallen zu Boden und gehen zugrunde. Aus den Kurven und Zeichnungen geht auch die unterschiedliche Entwicklung der drei Nestgeschwister hervor. Eines m u ß besonders gierig gewesen sein, drängte sich vor und nahm den Löwenanteil des Futters für sich in Anspruch. Es erreichte weit höhere Gewichte als die beiden anderen. In den letzten drei Tagen vor seinem Ausfliegen war es genügend herausgefüttert, um großmütig das zweite Kücken seinen Gewichtsrückstand ziemlich aufholen zu lassen. Diese beiden Jungsegler flogen gemeinsam aus. Das dritte konnte nun die in den folgenden fünf kühleren Tagen 24
geringer werdenden Futtermengen allein verbrauchen und ebenfalls noch ein einigermaßen zuträgliches Endgewicht erreichen. Entsprechend der stark von den Wetterverhältnissen abhängigen Futterzufuhr ist also auch die Entwicklungszeit der Jungen bis zum Ausfliegen verschieden lang. Die Höchstzeit schwankt zwischen 38 bis 46 Tagen. Doch sah der Ornithologe v. Boxberger einen jungen Mauersegler aus einem Ein-Ei-Gelege bereits mit 35 Tagen ausfliegen, während ein anderer aus einem Dreier-Nest erst im Alter von 56 Tagen flügge wurde, weil offenbar die laufende Fütterung mangelhaft war.
Kleine Hungerkünstler Junge Mauersegler sind nach alledem also manchen Zufällen ausgesetzt, denen gegenüber die Natur einen Ausgleich schaffen mußte. Sie gewährte ihnen die Möglichkeit, ohne größeren Schaden längere Zeit zu hungern. Bis zu 21 Tagen halten es einige ohne Futter und Wasser aus, während die Alten schon nach viereinhalb Tagen Hungerns zugrunde gehen müßten. Nach einigen Hungertagen verlieren die jungen Vögel zudem ihre Fähigkeit der Temperaturregulierung. Sie brauchen im Schlaf ihre Temperatur nicht mehr auf der normalen Höhe zu halten. Sie sinkt auf einen Stand von nur 2—3 Grad über der Temperatur der Umgebung ab. Hungernde Mauerseglerrjungen verhalten sich also während ihres Nachtschlafes ähnlich wie Winterschläfer, und wie bei Winterschläfern verläuft dann auch ihr Stoffwechsel. Die Atemzüge fallen von 40 auf 10 in der Minute, und entsprechend verringern sich Kohlendioxydabgabe, Sauerstoffverbrauch, Wasserverlust und Körpergewichtsverlust. Der Gewichtsverlust macht im tiefsten Starrezustand nur ein Zehntel der normalen Gewichtsminderung aus. Auf diese Weise vermögen die jungen Mauersegler in Hunigerzeiten zunächst mit ihrem Überschuß an Reserven und dann mit ihrem Körperkapital selbst so überraschend lange Zeit auszuhalten. Aber auch die Alten, die diese Fähigkeit in weit geringerem Maße haben, hat die Natur nicht ohne Hilfsquellen in Hunger25
zeiten gelassen. Die Möglichkeit, sich durch Ausweichflüge der Hungergefahr zu entziehen, ist ihnen nicht immer gegeben. Zuweilen nämlich erstreckt sich eine Schlechtwetterlage über ein so weites Gebiet, daß die Vögel nicht aus ihm herausgelangen können. In einem solchen Falle entschließen sich die Vögel zu einer anderen Schutzmaßnahme. Die Mauersegler, die nichts mehr zu fressen finden, schließen sich über Nacht zu dichten Schlafgemeinschaften zusammen. Zu Hunderten in einer enggedrängten Traube zusammengeballt, hängen sie sich, ähnlich wie überwinternde Bienen oder Fledermäuse, an eine Hauswand, wahrscheinlich, um sich gegenseitig einen gewissen Wärmeschutz zu bieten. Auch bei Schwalben, die auf dem Zuge von Wetterstürzen überrascht wurden, sind solche Schlafgemeinschaften beobachtet worden. Die Vögel schliefen viel tiefer als unter normalen Verhältnissen; man konnte sie behutsam abnehmen und in der Hand halten, ohne daß sie erwachten. Dieses Verhalten ist jedoch nur eine kurzfristige Notmaßnahme und hat nichts mit einem echten Winterschlaf zu tun. Vielleicht waren es solche Schlafgemeinschaften, die der Vater der Tierkunde, Aristoteles, beobachtete und zu seiner Behauptung von einem Winterschlaf der Schwalben führte. Diese Äußerung des großen Meisters hat sich Jahrhunderte hindurch bis in die Neuzeit hinein erhalten. Erst die moderne Forschung wies nach, daß V6Vgel ihrer ganzen Naturveranlagung nach keinen Winterschlaf halten könnten. Indessen ist in jüngster Zeit diese felsenfeste Überzeugung wieder erschüttert worden. Vor einigen Jahren berichtete ein namhafter amerikanischer Vogelkundler von einer nordamerikanischen Nachtschwalbe, die einen drei Monate währenden Winterschlaf hielt, währenddessen die Körpertemperatur des Vogels nur 18 Grad betrug. Die Nachtschwalbe erwachte erst wieder Anfang Februar, als auch ihre Beutetiere, die Nachtfalter, wieder erschienen. In einem der letzten Jahre fand man am 5. Januar in Arizona in etwa 900 Meter Meereshöhe am Boden unter einem Agavenblatt wieder eine winterschlafende Nachtschwalbe. Der Finder nahm den Vogel mit nach Hause, wo er nachts und morgens starr war, mit der Tageswärme aber erwachte. Sein Gewicht betrug am 25. Januar 34,1 26
Gramm — weniger als die Hälfte seines Normalgewichtes —, seine Körpertemperatur am 29. Januar 13,2 Grad bei einer Außentemperatur von 15 Grad. Am 31. Januar verstarb der Vogel. — Von dem australischen Riesenschwalm, ebenfalls einer Nachtschwalbenart, wird schon in Brehms Tierleb,en berichtet, daß er bei Kälte über acht Tage lang auf demselben Aste unbeweglich anzutreffen sei, so, als ob er im Winterschlaf läge, und daß er sich manchmal für längere Zeit in Baumhöhlen zurückziehe, ohne Futter zu sich zu nehmen. Die Fähigkeit der Segler, längere Zeit ohne Nahrung zu sein, ist nichts Einzigartiges innerhalb der Vogel weit. Noch einige andere Gefiederte, die unter gewissen äußeren Umständen in dieselbe Notlage geraten können, haben diese Kunst entwickelt. Bei den Kolibris, die mit den Seglern nahe verwandt sind, werden die Jungen mit Insekten gefüttert, die bei Regenperioden knapp werden, so daß die Jungen in Regenzeiten Hieist hungern müssen. Deshalb legen sie sich in guten Tagen eine Fettreserve zu, die sie in schlechten Zeiten wieder abbauen. Der Kolibrinachwuchs hat dementsprechend ebenfalls eine lange Nesthockzeit. Ebenso ist es bei einer ganz anderen Vogelfamilie, den Sturmvögeln, der Fall. Diese möwenähnlichen Hochseeflieger leben von Fischen und Meerestieren, die sie jedoch nur erbeuten können, wenn das Meer verhältnismäßig ruhig ist. Zudem bevorzugen sie bestimmte Beutetiere, die nicht überall zu finden sind. So folgt z. B. der Schwarzschnabel-Sturmtaucher, der an der Küste von Wales brütet, den W a n derzügen der atlantischen Sardine bis in die Irische See oder bis in die Biskayabucht; er entfernt sich dann 600 bis 1200 Meilen weit von seinem Nistplatz und kehrt erst nach mehreren Tagen zu seinem Nest zurück. So muß oft das einzige Junge eines Paares längere Zeit in der Bruthöhle warten und hungern. Es lebt in dieser Zeit von dem Übergewicht seiner Fettreserve aus guten Tagen und wächst bei dieser Lebensweise auch nur langsam und unregelmäßig heran. Erst nach über 70 Tagen wird es flügge; andere Sturmvogelarten brauchen dazu sogar mehr als 200 Tage.
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Grausame Eltern? Wohlbefinden und Zukunft der jungen Mauersegler hängen aber nicht nur mit der Nahrungszufuhr zusammen, sondern auch mit der Zeit. In manchen Jahren geraten sie in einen regelrechten Wettlauf mit ihr. Werden wegen kalten Wetters im Mai die Eier erst Ende Mai oder Anfang Juni gelegt, so erstreckt sich die Aufzuchtzeit bis Ende Juli oder Anfang August. Das ist aber der Zeitpunkt, da die ersten Mauersegler schon wieder fortziehen, dem Äquator zu und über ihn hinweg bis zur Südspitze Afrikas, und mit ihnen oft auch die Männchen der Brutpaare, so daß das Weibchen zum Schluß die Jungen allein füttern muß. Haben die Paare gar ihre ersten Eier herausgeworfen und ein Nachgelege gemacht, so werden die späten Jungen aus dieser zweiten Brut nur selten noch flügge, da ihre Eltern dem Wandertrieb gehorchen müssen und ihre spätgeborenen Kinder ihrem Schicksal überlassen. Sind die verlassenen Jungvögel schon fast flügge, so halten sie oft 6 bis 8 Tage im Nest aus, hungern und werden jeden Tag leichter. Schließlich versuchen sie auszufliegen. Aber es fehlt ihnen dann an Kraft, sie fallen nach kurzem Flug zu Boden und gehen zugrunde. Doch liegen auch Beobachtungen vor, daß Mauersegler ihre Jungen bis Ende August und selbst bis Anfang September betreut und hochgebracht haben, weit über die normale Abzugszeit hinaus. Man darf das grausam scheinende Verhalten der alten Mauersegler nicht mit menschlich-moralischen Maßstäben bewerten. Nicht Leichtfertigkeit, mangelnde Elternliebe und ähnliche moralische Begriffe gelten hier; die Vögel folgen einem Befehl der Natur. Der nüchterne Wissenschaftler sagt, daß in diesem Falle der erwachende Zugtrieb den Bruttrieb auslöscht, und er erklärt auch, daß es bestimmte innersekretorische Drüsen sind, die mit ihren Hormonausschüttungen die Triebe regulieren. Auch mit einer solchen Erklärung verschiebt sich die Frage nur. Denn sogleich erhebt sich die weitere Frage, was denn diese Drüsen in Tätigkeit setzt, und gerade beim Mauersegler ist sie besonders schwer zu beantworten; denn die Begründung des Süd1fluges der Vögel als ein Ausweichen der Tiere vor dem Winter, vor dem Versiegen der Fütterquellen und der Verkürzung der
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Flugbild dei Mauerseglers Tageslänge trifft auf den Vogelzug der Mauersegler nicht zu. die Ende Juli fast schlagartig abziehen. Warum, so fragt man sich, können sie nicht wie die Schwalben ebenfalls noch einige Wochen ihr Auskommen bei uns finden? Daß ein längeres Verweilen auch bei diesem Vogel möglich ist, beweisen die Fälle, in denen einzelne Eltern bis in den September bei uns geblieben sind. Vielleicht ist der Mauersegler gar kein Zugvogel im üblichen Sinne eines Winterflüchters. Vielleicht ist dieser rastlose kleine Flieger eher zu vergleichen mit jenem wahrhaften Segler, dem rie29
eigen Albatros, der während der meisten Zeit seines Lebens die' weiten Meere durchstreift und nur zum Brüten den festen Boden einer kleinen Insel aufsucht und gleich danach wieder hinauszieht in die grenzenlose Weite zwischen Meer und Himmel.
* So bleibt der Mauersegler trotz seiner Menschennähe immer noch voller Rätsel. Er ist es auch, der uns mehr als jede andere der vielen Tiergestalten im Reigen des Jahres vor Augen führt, wie schnell unser Dasein dahingeht. Immer wieder in jedem Jahr geschieht es uns, daß in das goldene Leuchten eines jungen Sommermorgens jener feine dunkle, entweichende Schatten fällt. Die Luft ist so warm wie gestern, die Sonne klar, der Himmel immer noch blau überspannt. Die Blumen blühen und die Vögel singen — aber irgend etwas ist bereits anders geworden. Irgend etwas Vertrautes ist aus unserer Umgebung gewichen. Wir lauschen und schauen um uns, was dieses Fehlende sein mögö. — Doch lassen wir Hermann Löns sprechen, der dieses Gefühl der Leere dichterisch tief empfunden und poetisch verklärt geschildert hat: „Es war am Vormittag des ersten August, als mir so war, als wenn mir so wäre. Mir war so z n m u ( | wie dem Müller, der des Hochwassers wegen seine Mühle liegen lassen muß und der nup, nicht einschlafen kann, weil er das gewohnte Rauschen und Klappern nicht mehr hört. Ich fühlte, daß irgendein Ton, irgendein Geräusch, ein Lärm in meiner Umgebung nicht mehr vorhanden war, konnte aber nicht dahinter kommen, um was es sich handelte. Die Wanduhr auf dem Vorplatz stand nicht still; die Straßenbahn polterte wie immer, die Autos hatten sich nicht vermindert; auf dem Neubau nebenan wurde weiter gezimmert; im gegenüberliegenden Hause quietschte auf der Veranda des Erdgeschosses der Säugling nach wie vor; in der zweiten Etage rief der Papagei unermüdlich sein „Mämä, Mämä, Päpä, Päpä", und auf dem Dache knarrte die Wetterfahne unverdrossen fort. Ich wollte weiterarbeiten, konnte es aber nicht. Ich las, aber bloß mit den Augen. Immer und immer mußte ich denken: Wae ist das bloß für ein Geräusch, das ich nicht höre? Verdrießlich steckte ich mir eine Zigarre an und sah dem Rauche nach, der sich aus der Luftklappe
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herausschlängelte, bis er da verschwand, wo die achtzehn Telephondrähte den blauen Himmel überschnitten. Und dann mußte ich lachen, denn da oben am blauen Himmel war das nicht da, was ich dort gewöhnt war: Der Vogel Wupp war fort!" — die Mauersegler waren fortgezogen.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Fotos: Ullstein, Schulz, Stephainsky, Spengler
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