Mami, geh nie wieder fort
Susan Mallery
Bianca 984 04 - 2/96
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von claudiaL.
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Mami, geh nie wieder fort
Susan Mallery
Bianca 984 04 - 2/96
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von claudiaL.
1. KAPITEL
„Ihr Zwei- Uhr-Termin ist Klasse!" Anne Baker schaute ihre Sekretärin verwundert an. „Klasse?" „Ja." Heather lehnte sich gegen den Türrahmen. „Hochgewachsen, dunkle Haare, braune Augen, in denen man versinkt, ehe man sich's versieht ..." sagte sie träumerisch. Doch dann richtete sie sich auf. „Sie scheinen nicht besonders begeistert zu sein." „Es ist unwichtig für mich, wie er aussieht. Wichtig ist, dass er hier ist. Was soll ich nur mit ihm machen?" fügte Anne müde hinzu. „Was halten Sie von einem Gespräch?" Heather grinste. „Sie ha ben Angst vor ihm, nicht wahr?" Anne seufzte. „Schreckliche Angst." „Soll ich ihn wieder fortschicken?" Anne wünschte, es wäre möglich. Nein, das stimmte nicht. Sie wollte ihn nicht fortschicken. Im Gegenteil, sie musste unbedingt mit Jake Masters sprechen. Dieser Mann hatte mit einem Telefonanruf und ein paar sorgfältig gewählten Worten ihr Leben auf den Kopf gestellt. Die letzten zwei Tage hatte sie nur über diesen Anruf nachgedacht. Und nun war Jake Masters hier und wartete darauf, sie zu sehen. Obwohl sie seit langem gehofft hatte, dass sie zu den Masters einmal Kontakt würde aufnehmen können, um in irgendeiner Weise die Vergangenheit ungeschehen zu machen, ging es ihr nun viel zu schnell. Sie warf einen Blick auf ihre goldene Armbanduhr. Sie hatte sie sich letzten Monat zum Geschenk gemacht. Zum einen, weil sie den wichtigen Vertrag mit dem Elektronikkonzern unter Dach und Fach gebracht, und zum anderen, weil sie Geburtstag gehabt hatte. Ihren einunddreißigsten. An jenem Tag hatte sie an vieles denken müssen, vor allem jedoch an ihren achtzehnten Geburtstag. Komisch, dass Jake Masters sich jetzt gemeldet hatte. Hatte sie eine Art Vorahnung gehabt? Sicher nicht. Sie dachte bei jedem Geburtstag daran. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ist er wirklich so beeindruckend?" „Mehr als das. Groß, schlank und zum Anbeißen!" . „Sie sind eine lasterhafte Frau, Heather!" „Das ist eine meiner besten Eigenschaften ..." Heather zwinkerte ihr zu. „Er marschiert auf und ab wie ein Löwe im Käfig. Soll ich ihn hereinschicken?" Anne verspürte eine leichte Übelkeit. „Warten macht alles nur noch schlimmer." Sie holte tief Luft. „Also, dann! Bitten Sie Mr. Masters herein." Heather nickte und verließ den Raum. Anne setzte sich aufrecht hin und legte die Hände auf den Schreibtisch, um sich kurz zu sammeln. Als es an der Tür klopfte, erhob sie sich aus ihrem Sessel und zog sich die Kostümjacke zurecht. „Kommen Sie herein, bitte." Heather stieß die Tür auf. „Mr. Masters, Miss Baker." Das Herz schlug Anne bereits heftig in der Brust, aber beim Anblick des breitschultrigen dunkelhaarigen Mannes, der nun ihr Büro betrat, machte es förmlich einen Satz. Die Aufregung, die in ihr aufschoss, hatte weniger mit dem Anlass seines Besuches zu tun als vielmehr mit seiner Aufmachung: Lederstiefel, Jeans, ein weißes Hemd mit hochgerollten Ärmeln, schwarzer Stetson - den er allerdings abgenommen hatte, als er den Raum betrat. Jake Masters war ein Cowboy. Anne mied Cowboys unter allen Umständen - keine leichte Sache in Houston, Texas. Eigentlich sollte es keine Rolle spielen, was er trägt oder womit er sein Geld verdient, ermahnte sie sich dann. Aber musste er ausgerechnet ein Cowboy sein ...? „Darf ich Ihnen vielleicht einen Kaffee bringen, Mr. Masters?" fragte Heather. „Nicht für mich, danke." Seine Stimme klang dunkel und beherrscht und verriet nur durch einen leichten Akzent die texanische Herkunft ihres Besitzers.
Als Heather sie fragend ansah, schüttelte Anne den Kopf, und gleich darauf schloss sich die schwere Eichentür hinter der Sekretärin, die ihrer Chefin noch kurz zugezwinkert hatte. Anne wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Besucher zu. Er betrachtete sie. Seine braunen Augen verrieten nichts. Kein Lächeln um den festen Mund. Breite Schultern, schmale Hüften. Jünger, als sie erwartet hatte. Mitte Dreißig. Gutaussehend? Es spielte keine Rolle. Ihr Blick schweifte zu seinem Gesicht zurück, und sie sah, dass er sie ebenfalls musterte. Was sah er? Sie widerstand dem Bedürfnis, sich die Haare glattzustreichen. „Mr. Masters?" fragte sie. Er nickte. „Es freut mich, dass Sie Zeit für mich erübrigen konnten, Miss Baker." Erneut dieser kühle Blick. „Ich habe immer noch das Foto, das Sie uns gaben. Sie sehen jetzt anders aus." Anne errötete und wusste, ihre Wangen würden ihre Verlegenheit verraten. So senkte sie rasch den Kopf und deutete auf den Ledersessel vor ihrem Schreibtisch. „Es ist schon lange her." „Dreizehn Jahre." Er setzte sich und legte seinen Hut auf die Schreibtischkante. Sein Haar war kurzgeschnitten, berührte kaum den Kragen seines Hemdes. Anne setzte sich ebenfalls wieder. „Ich weiß, wieviel Zeit vergangen ist", sagte sie dann. „Es handelt sich nicht um eine Angelegenheit, die ich vergessen könnte." Er kniff die Augen halb zusammen, und sein Mund wurde noch schmaler. „Ihr Wort muss mir genügen." Sie beugte sich vor. „Sie wissen nichts über mich oder die damaligen Umstände, Mr. Masters. Sie haben kein Recht, mich zu verurteilen. Wenn Sie deswegen gekommen sind ..." „Nein." Er fuhr mit Daumen und Zeigefinger über seinen Nasenrücken. „Wissen Sie, es war ein höllischer Sommer. Zuerst der Umzug und dann die ganze Sache mit Laurel." „Laurel?" Ihre Stimme bebte, als sie den Namen aussprach. „Ja, meine Tochter." Er ließ seine Hände auf die Armlehnen sinken. Laurel. Anne hatte sich oft gefragt, wie sie ihr Kind wohl nennen würden. Nun wusste sie es. Laurel. Sie sah ein flachsblondes Baby in einem pinkfarbenen Strampler vor sich. Nein, das Bild stimmte nicht mehr. Dreizehn Jahre waren vergangen. „Es ist ein wunder schöner Name." „Meine Frau hat ihn ausgewählt." „Ist sie mit Ihnen gekommen?" „Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben." „Das tut mir leid. Aber ich meinte eigentlich ... Ihre Tochter." Er bemerkte ihr kurzes Zögern. „Ich dachte, wir sollten zuerst einmal allein miteinander sprechen." Anne hatte bis zu diesem Augenblick nicht gewusst, wie sehr sie gehofft hatte, ihr Kind kennenzulernen. Die Chance war ihr nun ge nommen, und sie hätte vor Enttäuschung am liebsten geweint. Sie erhob sich, stellte sich ans Fenster und schaute hinaus. Houston breitete sich vor ihr aus. Die Doppelfenster hielten die Augusthitze fern, die über den Straßen waberte. „Sie haben in dieser Sache den Vorteil auf Ihrer Seite, Mr. Mästers." „Weshalb?"; „Ich weiß nicht, warum Sie hier sind oder was Sie von mir wollen. Als Sie anriefen, erklärte ich mich einverstanden, weil ..." Sie machte eine Pause. Das schmerzliche Gefühl verstärkte sieh, und sie holte tief Luft. Sie musste diese Sache durchstehen. „Weil ich nicht nein sagen konnte. Ich habe mich dreizehn Jahre lang gefragt, was wohl aus ihr geworden ist. Sie hätten jederzeit Kontakt mit mir aufnehmen können. Warum ausgerechnet jetzt?" „Sie wollte, dass ich mich mit Ihnen treffe."
Der Schmerz schlug in Freude um. Ein Glücksgefühl überkam Anne, verjagte die Dunkelheit und die Furcht. Bis jetzt zurückge haltene Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie stieß einen unterdrückten Laut aus und bedeckte den Mund mit der Hand. Vor ihren Augen verschwamm die Stadt, als sie sich an jenen Tag vor dreizehn Jahren erinnerte. Es war auch Sommer gewesen, aber Juli statt August. Paradise war zu klein für ein eigenes Krankenhaus, also hatte ihre Mutter sie in das nächste, sechzig Kilometer entfernte Krankenhaus gefahren. An ihrem achtzehnten Geburtstag, umgeben von wildfremden Menschen, während die Mutter ihre Hand hielt, hatte sie ihre Tochter zur Welt gebracht. Sie erinnerte sich nur noch schwach an den Schmerz, obgleich der Geruch des Krankenhauses ihr für immer ge genwärtig sein würde - ebenso wie die kalten Blicke der Krankenschwester, die dem Arzt das Baby abnahm und nach draußen trug. Als sie dann später wiederkam, waren ihre Arme leer. Anne hatte weinend darum gebeten, ihre Tochter noch einmal zu sehen. Aber man hatte es ihr verweigert. „Wenn Sie es fortgeben, dürfen Sie es nicht sehen. Es ist gegen die Vorschriften." Sie hatte stundenlang gebettelt. Vergebens. Von der mitleidigeren Nachtschwester hatte sie dann erfahren, dass ihr Kind, ihre Tochter, bereits abgeholt worden war. Von den Adoptiveltern. Anne wischte sich die Tränen ab. „Sie will mich sehen ..." flüsterte sie und vermochte ihr Glück kaum zu fassen. „Ich halte das für einen Fehler." Sie fuhr herum. Während sie mit ihren Gedanken in der Vergangenheit gewesen war, musste er sich erhoben haben und zu ihr herübergekommen sein. Nun stand er dicht vor ihr. Kälte ging von ihm aus. Und Ärger. „Warum?" fragte sie und zwang sich, nicht zurückzuweichen. „Laurel hat im Moment ein paar Probleme und ..." „Was ist es? Ist sie krank? Sagen Sie mir, was ich tun kann." „Es geht Sie nichts an." „Aber natürlich tut es das. Ich bin ihre ..." Er packte sie bei den Schultern. „Wagen Sie nicht, es auszusprechen. Sie sind nicht ihre Mutter!" Sie wollte widersprechen, wusste aber, er hatte recht. Sie hatte den Anspruch auf diese Bezeichnung verwirkt, als sie ihr Kind fortgege ben hatte. Eine weitere Träne lief ihr übers Gesicht. Sein Griff wurde kurz noch fester, dann gab er sie frei und fluchte leise. „Miss Baker ..." Sie wandte sich ab und tastete nach der Schachtel mit den Papiertüchern in der Schreibtischschublade. Dann sah sie ihn an. Jake Masters sah ebenso verwirrt und durcheinander aus, wie sie sich fühlte. „Ich brauche einen Drink." Anne wischte sich die Tränen ab. „Ich auch." Sie deutete auf den kleinen, im Bücherregal eingebauten Schrank. „Schenken Sie mir bitte auch ein Glas ein. Ich bin gleich zurück." Sie floh in das angrenzende Bad. Dort stützte sie sich am Waschbecken auf und atmete mehrmals tief durch. Ihr Körper schmerzte, als hätte man sie windelweich geprügelt. Ihre Augen brannten, und ihre Hände zitterten. Und sie hatte geglaubt, auf dieses Treffen vor bereitet zu sein. „Wie gut, dass er Laurel nicht mitgebracht hat", murmelte sie, als sie die geröteten Augen, die verwischte Wimperntusche und die Spuren des Lippenstifts auf ihren Lippen sah. „Wenn sie mich so ge sehen hätte, wäre sie vor Schrecken sehr wahrscheinlich wieder zurück nach ..." Sie brach mitten im Satz ab. Wohin? Sie wusste nicht, wo ihre Tochter wohnte. Wusste nicht, wo sie aufgewachsen war, wie sie aus sah. Sie schloss die Augen. Sie zu sehen, sie zu halten, nur ein einziges Mal. Ihr ins
Gesicht zu sehen. Zu wissen, dass alles in Ordnung war... Anne schluckte und drängte die erneut aufsteigenden Tränen zurück. Mit bebenden Händen machte sie sich daran, ihr Make- up auszubessern. Jake starrte auf seinen Brandy, fluchte leise und stürzte ihn dann in einem Schluck hinunter. Er brannte in der Kehle. Dann füllte er sich noch einmal ein, stellte das Glas aber auf den Couchtisch neben das, das er für Anne Baker gefüllt hatte. Er sah sich im Raum um. Die Einrichtung sprach deutlich von einer erfolgreichen Karriere. Sie hatte einen langen Weg von dem winzigen Nest bis hierher zurückgelegt. Sehr wahrscheinlich hatte sie längst ihr kleines Missgeschick auf der High School vergessen. Sein Anruf musste sie durcheinandergebracht haben, deswegen eben diese tränenreiche Szene. Er schüttelte den Kopf. Wenn es nach ihm ginge, würde er auf der Stelle verschwinden und niemals wiederkommen. Sie verdiente es nicht, seine Tochter kennenzulernen. Aber Laurel ließ ihm keine Wahl. Warum nur beharrt sie so eisern darauf, ihre leibliche Mutter kennenzulernen? fragte er sich zum hundertstenmal. Sie ließ einfach nicht mit sich darüber reden. Natürlich war sie noch nicht erwachsen, aber immerhin war sie auch kein kleines Mädchen mehr. Beging er einen Fehler? Rastlos wanderte er auf und ab. Sie war seine Tochter. Und Ellens. Aber Ellen war tot. Nun musste er allein entscheiden, was richtig war, und Laurel beschützen. Besonders vor Anne Baker. Die Tür öffnete sich, und sie kam zurück. Abgesehen von der leichten Röte um ihre Augen, war ihr nichts mehr anzusehen. „Wir müssen uns erst besser kennenlernen", sagte sie und trat auf ihn zu. „Dass Laurel mich sehen möchte, muss auch für Sie ein Schock gewesen sein. Ich weiß, ich gehöre nicht in ihr Leben, aber Sie müssen mir glauben, ich will nur das Beste für sie. Lassen Sie uns einen neuen Anfang machen." Sie streckte ihm die Hand entge gen. Jake starrte auf die schmalgliedrigen, schlanken Finger. Anne Ba ker reichte ihm kaum bis ans Kinn. Er wollte selbst diese kleine freundliche Geste nicht, sondern nur so rasch wie möglich von hier verschwinden. Er zögerte lange genug, dass sie sich unwohl fühlen musste. Aber sie zog die Hand nicht zurück. Ihre hellblauen Augen wichen seinem Blick nicht aus. Es war nicht Höflichkeit, die ihn schließlich doch ihre Hand ergreifen ließ. Es war die Erinnerung an Laurel, wie sie ihn anstarrte, verwirrt, verängstigt und verzweifelt auf der Suche nach etwas und nach jemandem, zu dem sie gehörte. Als sich ihre Hände berührten, lief ihm ein Schauer über die Haut. Dieses Gefühl traf ihn so unerwartet, dass er ihr augenblicklich die Hand entzog und einen Schritt zurücktrat. Anne Baker setzte sich auf die Ledercouch, und Jake ließ sich in einen der Sessel sinken und griff nach dem Brandy. Er starrte auf die hellbraune Flüssigkeit. Deutlich hatte er die Anziehung gespürt. Schon als er den Raum betreten hatte. Und er kannte dieses heiß aufschießende Gefühl, das sich vom Bauch her in ihm ausbreitete. Ellen war nun zwei Jahre tot. In diesen beiden Jahren hatte er nicht ein einziges Mal sexuelles Verlangen empfunden, hatte niemals mit einer Frau ... Er blickte Anne Baker an. Sie saß an einem Ende des Sofas. Der helle Pfirsichton des Leders unterstrich ihre rötlichen Haare und ihren frischen Teint. „Wieviel muss ich Ihnen zahlen, damit Laurel Sie sehen kann?" fragte er abrupt. Fassungslos sah sie ihn an. „Wie bitte?" Ihr Blick verfinsterte sich. „Mr. Masters, Sie scheinen nicht zu wissen, was Sie sagen! Ich habe zugestimmt, mich mit Ihnen zu treffen, weil mir meine ... Ihre Tochter am Herzen liegt, und ich verstehe absolut nicht, was Geld damit zu tun haben soll!" Ihr voller Mund zitterte leicht. „Ich wollte sie nur sehen und mit ihr sprechen." „Erwarten Sie, dass ich das glaube?" „Warum sollte ich lügen?"
„Das letzte Mal haben Sie das Geld nur zu gern genommen." Anne errötete. „Es war notwendig. Ich musste meinen Krankenhausaufenthalt bezahlen. Meine Mutter konnte sich keine Krankenversicherung leisten." Das arme Mädchen mit einer um die Existenz ringende Mutter. Diese Lüge wollte er ihr nicht abkaufen. Tatsache war, sie hatte eine große Geldsumme angenommen. Er versuchte sich an den damaligen Bericht über Anne Baker zu erinnern. Darin hatte gestanden, dass der Vater des Kindes sie sitzengelassen hatte. Wahrscheinlicher erschien ihm, dass sie sich von jemandem für eine Nacht hatte aufga beln lassen und nicht nein gesagt hatte. Er beugte sich vor. „Damit wir uns richtig verstehen: Ich habe mit meinem Rechtsanwalt gesprochen. Sie können keinerlei Rechte weder mir noch meinem Kind gegenüber geltend machen." Sie griff nach ihrem Glas. Ihre Hand zitterte so sehr, als sie es hochnahm, dass der Brandy darin schwappte. Sie stellte es zurück und sah ihn mit einem schmerzerfüllten Ausdruck an. „Ich weiß." „Und?" „Und was, Mr. Masters? Sie haben zu mir Kontakt aufgenommen, nicht umgekehrt." Anne strich sich ihren marineblauen Rock glatt und stellte dann ihre Finger gegeneinander, damit sie nicht mehr so zitterten. „Bislang aber waren Sie nur reichlich grob zu mir und ha ben mir unterstellt, ich wolle Geld von Ihnen. Gibt es sonst noch et was, was Sie loswerden müssen, ehe Sie mir von Ihren Problemen mit Laurel erzählen, damit ich Ihnen vielleicht helfen kann?" Er erhob sich wortlos und ging hinüber ans Fenster. „Ich sagte bereits, dass meine Frau vor zwei Jahren gestorben ist", begann er dann. Anne wartete darauf, dass er weitersprach. „Laurel hat unter ihrem Tod sehr gelitten.. Sie hatte immer ein besonders inniges Verhältnis zu ihrer Mutter. Laurel geriet in Kreise, die ich für schlechten Umgang hielt." Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir sind vor kurzem umgezogen. Es schien mir für uns beide die beste Lösung zu sein. Noch ist Laurel in unserem neuen Zuhause nicht heimisch geworden. Sie vermisst ihre Freunde. Ich bin sicher, dass sie deswegen in den letzten Monaten angefangen hat, von ihrer leiblichen Mutter zu sprechen. Sie möchte Sie kennenlernen." „So einfach ist das?" Anne erhob sich und ging zu ihm. „Warum kann ich Ihnen das nicht abnehmen? Es sind dreizehn Jahre vergangen. Mit mir in Verbindung zu treten ist offensichtlich das letzte, was Sie wollen. Warum haben Sie ihrem Wunsch trotzdem zugestimmt?" Er sah deutlich den Schmerz in ihren Augen, und er schien ihm echt zu sein. Da entschloss er sich, die Wahrheit zu sagen. „Ich bin mit Ellens Tod nicht besser fertig geworden als Laurel", sagte er rau. „Wir vermissen sie sehr. Ich dachte, ein Umzug würde es ein wenig leichter machen, ihren Tod zu ertragen, Laurel von diesen jungen Leuten fortbringen und uns beide einander wieder näher." „Aber das war nicht der Fall?" „Nein. Es wurde sogar noch schlechter, falls das überhaupt möglich war: Sie wollte nicht fortziehen, und nun hasst sie ihr neues Zuhause. Vor ungefähr zwei Monaten gab es im Fernsehen eine Serie über adoptierte Kinder, die ihre leiblichen Mütter suchen und finden. " Er schob beide Hände in die Hosentaschen und ging hinüber zum Bücherbord. „Sie wusste also damals bereits davon?" „Ja. Wir haben schon sehr früh damit begonnen, darüber zu sprechen. Auf jeden Fall begann sie nach dieser Serie davon zu reden, Sie finden zu wollen." Er studierte die Büchertitel, sah die Buchstaben, verstand aber nichts. Die Angst, Laurel zu verlieren, be herrschte sein ganzes Fühlen und Denken. Aber sie entglitt ihm immer mehr. Tag um Tag zog sie sich mehr von ihm zurück. Er ertrug kaum den Gedanken, sie irgendwann gar nicht mehr erreichen zu können.
„Sie scheint ein junger Mensch zu sein, der unbeirrbar seine Entscheidungen trifft", erklang Annes Stimme hinter ihm. Er drehte sich nicht herum. „Sie lief davon." Schweigen. „Sie war eine Nacht verschwunden. Versteckte sich im Heuschober eines Nachbarn. Als wir sie fanden, begriff ich, sie meinte es ernst. Da setzte ich mich mit meinem Rechtsanwalt in Verbindung." Er strich über einen der Buchrücken. „Treffen Sie sich mit ihr. Einmal. Das ist alles, was sie will. Dann verschwinden wir wieder aus Ihrem Leben." „Ich werde alles tun, um zu helfen." „Wie wäre es mit einem Essen morgen abend?" „Wo ..." Sie räusperte sich. „Wo möchten Sie, dass wir uns treffen?" Nicht in meinem Hotel, dachte Jake spontan. „Wie wäre es bei mir zu Hause?" schlug Anne vor. Warum nicht? überlegte er. Zumindest würde ich dann sehen, wie sie lebt. Vielleicht gibt es ein paar Hinweise auf ihre Persönlichkeit. Obwo hl Laurel behauptete, sie nur einmal sehen zu wollen, sah er die Sache realistischer. Er konnte nur hoffen, dass die beiden sich nicht gleich auf Anhieb mochten. „Einverstanden." Sie schrieb ihm ihre Adresse auf ein Blatt Papier und gab es ihm. Sorgsam achtete er darauf, sie nicht zu berühren, als er es nahm. Aber sie ließ ihn nicht so leicht davonkommen, sondern legte ihm die Hand auf den nackten Unterarm. Er versuchte die Gefühle zu igno rieren, die diese zarte Berührung in ihm auslöste, trat einen Schritt zurück. Er wollte dies nicht, nicht von einer Frau wie dieser. Ihre Blicke trafen sich, und auf einmal durchdrang nur noch ihr Atmen das Schweigen. Ihr Duft stieg ihm in die Nase. Er riss den Blick von ihr los und richtete ihn auf ihre rötlichen Haare. Er konnte die Sommersprossen auf Nase und Wangen sehen. Er mochte keine Sommersprossen. Hatte sie nie gemocht. Aber er konnte nicht den Gedanken unterdrücken, ob diese Sommersprossen nun an ihrem Kinn aufhörten oder sich tiefer hinabzogen ... Hastig zog er den Arm zurück. Hör auf! befahl er sich. Es liegt nicht an Anne Baker, sondern daran, dass sie eine Frau ist. Nach zwei Jahren Enthaltsamkeit war es kein Wunder, dass er so reagierte. „Sieben Uhr?" „Sieben Uhr." Er wandte sich zum Gehen. „Mr. Masters?" Jake blieb stehen, die Hand auf der Türklinke. „Haben Sie ein Bild von ihr?" Eine einfache Frage. Zu verstehen. Aber irrationalerweise kehrte sein Ärger zurück. Er wollte nicht, dass sie wusste, wie Laurel aussah. Er wollte diesen Augenblick so lange wie möglich hinauszögern. Doch dann dachte er an seine Tochter und holte ein Foto von ihr aus der Brieftasche. „Hier." Er wandte sich ihr halb zu und hielt es ihr hin. Anne trat einen Schritt vor und nahm es. Nun kann ich gehen, solange sie es sich ansieht, dachte Jake. Ich sollte sie nicht in diesem intimen Augenblick beobachten. Aber er tat es trotzdem. Er starrte auf ihre schmale Hand. Sie bebte leicht. Jake hob den Blick. Sie starrte auf das Foto; Ihr Mund zitterte kaum merklich, und sie biss sich auf die Unt erlippe. Eine Träne fiel auf das Foto. Vorsichtig wischte sie sie fort. „Sie ist sehr schön." „Ja." „Sie hat die Augen meiner Mutter." Diese simple Feststellung traf ihn wie ein Fausthieb. Er griff ha stig nach seinem Stetson, stieß blind die Tür auf und stürzte hinaus. Er hörte Anne noch seinen Namen rufen, aber er blieb nicht stehen. Rannte vorbei an der Sekretärin, in den Eingangsbereich,
zum Fahrstuhl. Als die Türen sich nicht sogleich öffneten, lief er die Treppe hinunter auf die Straße hinaus.
2. KAPITEL
„Wie sieht sie aus, Daddy?" Laurel stolperte vor Aufregung fast über ihre eigenen Füße, als sie die Straße entlanggingen. Jake schob ihr die Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Du musst zum Friseur." „Dad!" Laurel schüttelte den Kopf. „Du weichst mir aus. Ist sie hübsch? Sieht sie aus wie ich?" Jake schaute seiner Tochter ins Gesicht. Sie ging ihm inzwischen fast bis zur Schulter. Sie hat die Augen meiner Mutter. Er dachte an Anne Bakers Worte. Seit er das Büro verlassen hatte, waren sie ihm immer und immer wieder durch den Kopf gegangen. Er blieb stehen, hielt Laurel am Arm fest und hinderte sie am Weitergehen. Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und betrachtete es. Studierte ihren vollen Mund und die Sommersprossen auf der Nase, ihr langes dunkles Haar. Am liebsten hätte er gelogen, aber es ging nicht. „Ob du aussiehst wie sie? Ein klein wenig, denke ich", sagte er. „Sie sagte, du hättest die Augen ihrer Mutter." „Du hast ihr ein Foto von mir gezeigt?" Er nickte und hätte seine Worte gern wieder zurückgenommen. Laurels Lächeln verblasste. „Habe ich ihr gefallen?" „Das weiß ich nicht. Ich ging gleich nachdem ich ihr das Bild ge geben hatte." Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und drückte sie an sich. „Sie wird gar nicht anders können, als dich zu mögen, Laurel." „Ehrlich?" Mit ihren wundervollen Augen sah sie ihn an, und er musste daran denken, dass sie diese Augen von einer anderen Frau, einer anderen Familie hatte. Rasch verdrängte er diesen Gedanken. „Ehrlich, Laurel." Noch einmal drückte er sie kurz, dann gab er sie frei. Als sie das Hochhaus erreichten, reckte Laurel den Hals und sah nach oben. „In welchem Stockwerk sie wohl wohnt? Meinst du, sie kann uns sehen?" Er zuckte mit den Schultern und drückte auf den Knopf neben der Glastür. „Hallo?" fragte eine sanfte Stimme. Laurel neben ihm erstarrte. „Jake Masters. Ich habe ..." Er musste sich räuspern. „Meine Tochter ist bei mir." „Kommen Sie herauf." Der Summer erklang, und sie betraten das Foyer. Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, zögerte Laurel. „Was ist los, Laurel?" Sie trat von einem Fuß auf den anderen. „Ich habe Angst", ge stand sie mit bleichem Gesicht. „Wir können wieder gehen, wenn du möchtest." Hatte er zu eifrig geklungen? „Nein. Ich möchte sie kennenlernen. Es ist nur ..." Sie zuckte mit den Schultern und folgte ihm hinein. Wenig später öffneten sich die Fahrstuhltüren wieder. Annes Wohnungstür lag am Ende des langen Ganges. Deutlich drang der Klingelton durch die Tür, als Jake auf den Knopf drückte. Laurel hielt seine Hand fest, als wollte sie sie niemals wieder loslassen. „Ich liebe dich, Daddy." „Ich dich auch, Laurel." Die Wohnungstür öffnete sich. Anne starrte auf den hochgewachsenen Mann und das junge Mädchen. Seit Mittag hatte sie vor Aufregung keinen einzigen zusammenhängenden Gedanken mehr fassen können. Sie holte tief Luft und blickte das junge Mädchen an. „Hallo, Laurel." Sie ist sogar noch hübscher als auf dem Foto, dachte sie dabei. Sie konnte auch die Verwirrung und Verängstigung in den Augen des Mädchens sehen. Die Augen ihrer
Mutter. Laurel lächelte schwach. „Hallo." Anne unterdrückte den Wunsch, sie in die Arme zu ziehen. Laurel war offensichtlich nervös. Wie ihr Vater - und ich auch, dachte sie. Aber es machte ihr nichts aus. Ihr Kind, ihr wunderschönes Kind. Nach all diesen vielen Jahren konnte sie es nun sehen und mit ihm sprechen. Es war mehr, als sie je zu hoffen gewagt hatte. „Kommt bitte herein." Anne trat einen Schritt beiseite und suchte nach einem unverfänglichen Thema. „Habt ihr das Haus sofort ge funden?" „Ja", entgegnete Jake knapp. Einen Moment lang standen sie verlegen im Flur, dann bat Anne sie ins Wohnzimmer. Dort erst ließ Laurel die Hand ihres Vaters los und setzte sich auf das bequeme weiße Sofa. Allerdings auf die Kante. Jake ging ans Fester und wandte ihnen den Rücken zu. So war sein Gesicht nicht zu sehen. Anne stand unsicher da und wusste nicht, was sie sagen sollte. „Möchte vielleicht jemand..." „Also..." Anne und Laurel hatten gleichzeitig gesprochen und schwiegen nun Verlegen. „Möchtest du vie lleicht etwas trinken?" fragte Anne dann das Mädchen. „Eine Limonade, bitte." Anne blickte Jake an. Er schüttelte den Kopf .Sie ging zu der kleinen Hausbar, füllte ein Glas mit Eis und fragte Laurel: „Welche Sorte denn?" Laurel warf einen Blick auf ihren Vater. Als er nichts sagte oder tat, erhob sie sich langsam und kam zu Anne herüber. Sie lächelte sie scheu an und deutete auf eine rotweiße Dose. „Diese, bitte." „Gern." Anne schenkte ihr ein und reichte ihr das Glas. „Du bist sehr höflich." „Danke. Meine Mom ..." Sie brach ab und trank einen Schluck. Anne fühlte einen schmerzhaften Stich, sagte sich aber, dass sie nicht so empfinden durfte. Laurel hatte recht. Ellen Masters war ihre Mutter, auch wenn sie sie nicht zur Welt gebracht hatte. „Ja, was hat deine Mutter?" ermunterte sie sie. Laurel zuckte mit dem Schultern. „Sie wollte immer, dass ich .bitte' und .danke' sage." Sie blickte sich um. „Nett haben Sie es hier. Ich mag Weiß. Gefällt es dir auch, Dad?" „Es ist sehr hübsch." Er klingt schrecklich begeistert, dachte Anne sarkastisch. „Ich habe mir die Räume von einem Innenarchitekten einrichten lassen. Ich hatte beruflich zuviel zu tun, als dass ich mich nach meinem Umzug hierher selbst darum hätte kümmern können. Obwohl ich gern Wohnungen einrichte, muss ich sagen." „Wir sind auch gerade umgezogen", erklärte Laurel und trank einen Schluck. „Ich habe auch noch nicht alles ausgepackt. Wir haben noch nicht viele Möbel dort." Sie wirkte ausgesprochen nervös. Mitgefühl überkam Anne. Sie wünschte, dass Laurel sich wohler fühlen würde. „So ein Umzug macht nicht gerade viel Spaß, oder?" „Nein." Laurels Gesicht erhellte sich plötzlich, und sie lächelte unerwartet. „Ich habe ein Pferd. Ich reite oder lese lieber, als Sachen auszupacken ..." Ihr Lächeln verschwand. „Aber mehr gibt es dort sowieso nicht zu tun. Ich telefoniere viel mit meinen Freunden, aber die sind jetzt so weit weg." „Wo lebst du denn?" „In Colorado. Es ist ganz hübsch, aber ..." „Nicht deine Heimat, nicht wahr?" sagte Anne. Überrascht blickte Laurel sie an. „Woher wissen Sie das?" „Ich habe auch einmal einen vertrauten Ort verlassen." Die haselnussfarbenen Augen hielten ihren Blick fest. „Sind Sie jemals wieder
zurückgegangen?" Anne schüttelte den Kopf. „Nein, nur zu Besuch. Nun lebe ich hier." „Ich werde zurückgehen." Laurel warf einen Blick auf ihren Vater. Sie wirkte unglaublich jung und einsam in diesem Augenblick. „Sicher wirst du neue Freundinnen finden", sagte Anne. „Vielleicht. Aber es wird anders mit ihnen sein." „Anders muss nicht bedeuten, dass ihr nicht den gleichen Spaß mit einander haben könnt." Laurel wirkte nicht überzeugt. Jake stieß sich vom Fenster ab und ging hinüber zur Hausbar. Anne blickte ihn an, schaute aber schnell wieder fort. Offener Zorn stand in seinen Augen. Er blieb hinter seiner Tochter stehen und legte ihr besitzergreifend die Hand auf die Schulter. Die Geste war eindeutig. Er wollte oder brauchte ihre Ein mischung nicht. Anne aber wollte sich nicht einschüchtern lassen. „Möchten Sie ein Glas Wein?" fragte sie ihn. Er nickte. Trotz der spannungsgeladenen Situation musste Anne sich eingestehen, dass er wirklich attraktiv war. Gestern hatte sie es gar nicht so richtig wahrgenommen. Wirklich sehr beeindruckend. Aber er war nur ein Cowboy. Welch ein Glück für sie. Als sie ihm das Glas reichte, hatte sie den Eindruck, er vermied es, sie zu berühren. Die Spannung zwischen ihnen war offensichtlich. Anne schaute auf Laurel. Das Mädchen starrte sie an. „Na, habe ich die Inspektion überstanden?" Sie zwang sich zu einem lockeren, humorvollen Ton. Laurel lächelte schwach und nickte. „Ich hatte mich gefragt, wie Sie wohl aussehen. Manchmal habe ich in den Spiegel geschaut und überlegt, ob wir wohl die gleiche Haarfarbe oder etwas anderes ge meinsam haben. Daddy sagt, ich hätte Augen wie Ihre Mutter." „Das stimmt. Wir beide haben die Sommersprossen gemeinsam." Laurel rümpfte die Nase. „Hassen Sie sie auch?" „Mein Leben lang." Anne nahm das Foto zur Hand, das Jake ihr gestern gegeben hatte. „Und ich glaube, unser Lächeln ist ähnlich." Laurel stellte sich neben sie und betrachtete das Bild. „Wirklich?" „Ja." Laurels Arm berührte sie zufällig, und am liebsten hätte sie Laurel an sich gezogen und fest an sich gedrückt. Sie zwang sich aber, ruhig zu bleiben, während sie mit den neuen und wundervollen mütterlichen Gefühlen kämpfte. Laurel sah sie an. „Sie müssen einmal lächeln, damit ich sehen kann, ob es so ist." Anne lachte. „Stimmt, Sie haben recht." Freude leuchtete im Gesicht des jungen Mädchens auf. „Ich kann es gar nicht erwarten, meinen Freundinnen von Ihnen zu erzählen." Sie blickte ihren Vater an. „Was meinst du, Dad? Haben wir das gleiche Lächeln?" „Ich sehe die Ähnlichkeit." Seine Worte klangen steif. Anne blickte zu Jake hinüber. Er stand neben der Hausbar und umklammerte sein Weinglas so fest, dass sie fürchtete, der Stiel könne abbrechen. Ihre Blicke begegneten sich, und die Kälte in seinen Augen jagte ihr einen Schauder über den Rücken. War es denn zuviel von ihm verlangt, Laurel für eine Stunde mit ihr zu teilen? „Ich sehe wohl besser einmal nach dem Essen", sagte sie und eilte hinaus. Als sie draußen war, presste sie die Hände gegen die brennenden Wangen und versuchte, Verständnis für seine Sicht der Dinge aufzubringen, auch wenn es ihr schwerfiel. Das Essen war fast fertig, und als sie wenig später wieder das Esszimmer betrat und den Salat auf den Tisch stellte, stand er am Fenster und starrte hinaus. Was er wohl gerade denkt? fragte sie sich. Laurel sprang vom Sofa auf. „Brauchen Sie vielleicht Hilfe in der Küche?" sagte sie. „Es dauert nur noch ein paar Minuten", antwortete Anne. „Ich habe alles im Griff.
Aber danke für dein Angebot." „Es riecht so gut. Zu Hause, ich meine in Dallas, hatten wir eine Haushälterin, die für uns kochte. Sie war nicht schlecht, aber richtig gute Sachen brachte sie nicht zustande. Wie Kuchen und Torten zum Beispiel. Meine Mom ..." Laurel brach ab und starrte auf ihr leeres Glas. Unbehagliches Schweigen erfüllte den Raum. Laurel trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Anne warf einen Blick auf Jake, aber der hatte ihnen den Rücken zugedreht. So nahm Anne Laurels Glas und ging hinüber zur Hausbar. Das Mädchen trottete hinter ihr her. „Ellen Masters war in jeder Bedeutung des Wortes deine Mutter", sagte Anne ruhig, als sie eine Flasche Mineralwasser öffnete. „Es macht mir nichts aus, wenn du über sie sprichst." Sie reichte Laurel das Glas. Die beiden sahen sich an. „Ich weiß, dass du deine Mutter sehr geliebt hast", fügte sie hinzu. Laurel sah sie überrascht an. Anne holte tief Luft und berührte leicht Laurels Arm. „Ich möchte gern, dass wir Freundinnen werden", sagte sie. „Wir kennen uns nicht sonderlich gut Und werden daher manchmal Dinge sagen, die vielleicht beim anderen seltsame Empfindungen auslösen. Ich denke, wir sollten uns Ze it lassen, einander richtig zu verstehen. Was meinst du?" „Okay." Laurel lächelte sie kurz an, trank dann einen Schluck. „Ich bin froh, dass Sie nicht sauer sind. Ich spreche nicht viel von ihr, aber manchmal rutscht es mir einfach so heraus." Sie warf einen Blick auf ihren Vater und senkte die Stimme. „Daddy mag es nicht, wenn ich über sie rede." Anne bemerkte, dass Jakes Rücken steif wurde, er hatte also die Worte seiner Tochter gehört. Aber er drehte sich nicht um oder zeigte auf andere Weise, dass er ihre Unterhaltung verfolgte. Anne entschloss sich, ein unverfänglicheres Thema zu wählen. „Ich bin keine besonders gute Köchin. Vor sieben komme ich nie von der Arbeit nach Haus, und dann habe ich keine große Lust mehr zu kochen." „Mom kochte ..." Laurel warf einen besorgten Blick auf ihren Vater und biss sich auf die Lippe. Dann holte sie Luft und sprach sehr schnell weiter. „Mom hat viel gekocht, auch aufwendige Gerichte. Mir haben sie zumeist nicht geschmeckt, aber es hat Spaß gemacht. Es gab oft Partys mit vielen Leuten, und ich habe ihr manchmal bei den Vorbereitungen geholfen. Einmal, an meinem Geburtstag, da hat Mom einen Kuchen mit..." „Laurel, ich bin sicher, Miss Baker interessiert das nicht", sagte Jake Masters, ohne sich umzudrehen. „Aber ich..." „Laurel." Der Ton war unmissverständlich. Das Mädchen zuckte mit den Schultern und schwieg. Anne suchte verzweifelt nach einem anderen Thema. Da klingelte der Wecker in der Küche. Erleichtert sprang sie auf. „Das Essen ist fertig! Ich bin gleich zurück." Diesmal folgte Laurel ihr in die Küche und lehnte sich gegen den Tresen. Voller Interesse sah sie Anne zu, wie diese das dampfende Gemüse in eine Schüssel tat. Anne warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Laurel wirkte so lebendig, so aufgeweckt und an allem interessiert. Und hübsch war sie. Stolz wallte in ihr auf. Einen Moment lang genoss sie dieses Gefühl, dann setzte ihr Verstand wieder ein. Sie hatte keinerlei Anrecht auf dieses Gefühl. Laurel war zwar ihre leibliche Tochter, aber das war auch schon alles. Sie hatte nichts getan, womit sie diesen Stolz verdient hätte. Und doch ... Sie steckte einen Löffel in die Schüssel und hielt sie Laurel hin. „Stell dies doch bitte auf den Tisch im Esszimmer." Laurel nahm die Schüssel, drehte sich aber noch einmal um. „Dad nennt Sie ,Miss Baker'. Soll ich Sie auch so nennen?" „Mein Name ist Ahne. Und sag doch bitte ,du' zu mir", sagte Anne, die es schon die
ganze Zeit kaum ertragen hatte, von ihrer Tochter gesiezt zu werden. „Anne", wiederholte Laurel. „Okay." Sie sagte den Namen nochmals. „Nennt dich jemand auch Annie?" Anne lächelte. „Ja, wenn auch nicht sehr viele. Meine Mutter tat es. Und meine Kusinen noch immer." Laurel sah sie mit einem schüchternen Lächeln an. „Darf ich dich ,Annie' nennen?" Da erst sah Anne, dass Jake unbemerkt hereingekommen war. Er lehnte schweigend am Türrahmen. Anne hoffte, sie würde nicht erröten. Sie verstand, dass er nicht wollte, dass sie mit Laurel allein war. Aber musste er seinen Unwillen so offensichtlich zeigen? „Das würde mir gefallen, Laurel. Hier, die Kartoffeln sind auch fertig. Und wenn du dir die Hände waschen willst, das Bad befindet sich am Ende des Flurs." „Bin gleich zurück." Als Laurel hinausgegangen war, richtete Jake sich auf. „Sie ma chen das alles sehr gut." Anne öffnete die Herdklappe. „Bei jedem anderen hätte ich dies als Kompliment aufgefasst." „Ist es das nicht?" „Ich weiß, dass es keins ist. Sie haben sich vor dreizehn Jahren Ihr Urteil über mich gebildet. Nichts kann es mehr ändern." Sie blickte ihn an. Die Deckenlichter spiegelten sich in seinen Augen. Ärger las sie darin und noch etwas, das sie allerdings nicht deuten konnte. „Mir geht es allein um Laurel." „Das ist nur offensichtlich. Sie machen es einem nicht besonders schwer, Sie nicht zu mögen, Mr. Masters." Anne warf ihre Topflappen auf den Tresen. „Das einzige, was für Sie spricht, ist Ihre ebenso offensichtliche Liebe zu Laurel." Sie trat einen Schritt zurück. „Vorsicht, der Backofen ist noch offen!" Er sprang vorwärts und packte sie an den Armen, riss sie an sich. Ihre rechte Hand geriet zwischen ihre Körper, und Anne fühlte das kühle Metall seiner Gürtelschnalle. Ihre Brüste wurden gegen seine Brust gedrückt. Seine Schenkel gegen ihre. „Was soll denn..." Ihre Blicke verfingen sich. Ein anderer Ausdruck stand nun in seinen Augen. Völlig unerwartet und überwältigend durchfuhr Anne ein heißes Verlangen. Wie es wohl ist, wenn er mich küsst? schoss es ihr durch den Kopf. „Oh..." Sie riss sich zusammen, machte sich von ihm frei und lehnte sich gegen den Tresen. Beide atmeten schwer. Als wenn sie sich geküsst hätten. Unwillkürlich befeuchtete sie sich mit der Zunge die trockenen Lippen. Sein Mund wurde schmal. Nein, dachte sie. Nicht ihn. Nicht so etwas. Nicht jetzt. Sie schluckte und zwang sich, die Augen zu schließen. „Sie wären fast an die Herdtür gestoßen", sagte er. Sie öffnete die Augen. „Sie hätten sich verbrannt." : Anne schüttelte den Kopf, um wieder klare Gedanken zu fassen. „Vielen Dank ..." Ihre Stimme versagte, als sie ihn anblickte. Abscheu stand nun in seinen Augen, das Feuer darin war erloschen. Er denkt, ich hätte es darauf angelegt, in seinen Armen zu landen! dachte sie entsetzt. „Es duftet alles köstlich!" Laurel betrat den Raum. „Wann essen wir?" . Ihre Gegenwart vertrieb den letzten Best der Spannung zwischen ihnen. Anne wandte sich an Jake. Es spielt keine Rolle, was er von dir denkt, sagte sie sich. Dieser Abend gehört Laurel, nicht diesem gutaussehenden Fremden, der sie adoptiert hat. „Das Haus ist wirklich groß, mit vielen Fenstern und liegt direkt am Meer. Mein Dad und mein Großonkel gehen oft fischen, und, meine Großtante nimmt mich manchmal zu einem Einkaufsbummel mit." Laurel schob eine Kartoffel in den Mund. „Das hört sich nett an", sagte Anne. Jake schwieg weiterhin. So wie die meiste Zeit, seit sie sich vor einer Stunde zum
Essen an den Tisch gesetzt hatten. Das Reden hatte Laurel übernommen, die lebhaft von der Schule und ihren Freundinnen berichtete, während Anne nur kurz über ihre Arbeit gesprochen hatte. „Wir fahren für eine Woche dorthin", fuhr Laurel fort. Ihr Lä cheln verblasste. „Dann müssen wir wieder nach Colorado zurück." „Es klingt fast so, als müsstest du zurück ins Gefängnis", neckte sie Anne. „Oh, es ist noch schlimmer. Im Gefängnis bekommt man wenigstens Ausgang bei guter Führung." Laurel starrte auf ihren Teller. Anne spielte mit ihrem Weinglas. „Du wirst staunen, wie sich die Dinge manchmal entwickeln. Irgendwann wirst du auch dein neues Zuhause mögen", sagte sie dann. „Und außerdem hast du noch diese Woche am Meer vor dir." „Magst du das Meer?" „Sicher. Ich liebe den Geruch nach Salzwasser und die vielen Leute am Strand. Und Hot dogs schmecken am Strand immer noch am besten, oder?" Laurel lachte. Dann aber wurden ihre Augen groß, und sie wandte sich an ihren Vater. „Daddy, kann Annie nicht für ein paar Tage zu uns kommen? Du hast doch gesagt, ich könnte eine Freundin mitbringen!" Anne war froh, dass sie in diesem Augenblick nicht trank. Sie hätte sich sicher schrecklich verschluckt. Jake presste die Lippen zusammen. Anne hatte nicht gewusst, dass ein Mann gleichzeitig fürchterlich wütend und umwerfend gut aus sehen konnte. Sie wartete auf die Explosion. Laurel sah ihn hoffnungsvoll an und schien nicht bemerkt zu haben, welche Bombe sie mit ihrer Bitte gezündet hatte. „Ich halte das für keine gute Idee", sagte er ruhig. „Aber warum denn nicht? Es gibt doch genügend Zimmer. Und du hast gesagt, ich könnte jemanden mitbringen." „Nein." Laurel sprang auf. „So bist du immer! Ich darf niemals das tun, was ic h möchte! Du entscheidest immer allein. Ich wollte nicht fortziehen. Du hast gesagt, es sei meinetwegen, aber es geschieht immer das, was für dich am einfachsten ist!" Sie schleuderte ihre Serviette auf den Tisch und stürmte aus dem Raum. Gleich darauf fiel geräuschvoll die Badezimmertür ins Schloss. „Es tut mir leid, ich wollte keinen Unfrieden stiften", sagte Anne weich. „Ja, darauf wette ich." Jake erhob sich. „Nach etwa fünf Minuten wird sie sich beruhigt haben. Ich würde es begrüßen, wenn Sie sie nicht ermuntern würden. Wir verbringen die Woche mit Ellens Onkel und Tante. Ich glaube nicht, dass sie es gern sehen würden, wenn Sie mitkämen." Damit drehte er sich um und verließ den Raum. Wenig später kam Laurel mit geröteten Augen in die Küche. „Es tut mir leid", sagte sie leise. Anne stellte den letzten Teller in den Geschirrspüler. „Schon gut, aber ich bin nicht diejenige, det" du weh getan hast." „Ich weiß. Es ist nur, er ist so ... Er macht mich manchmal ganz verrückt, weißt du? Er versteht mich nicht." „Vielleicht verstehst du auch nicht alles." Laurel sah sie an. „Meinst du?" „Er ist dein Vater. Er liebt dich." Laurel verzog leicht den Mund. „Aber warum sagt er mir dann immer, was ich tun soll?" „Dafür sind Väter da. Er tut, was er für dich am besten hält." Sie blickte Laurel an. „Und soweit ich es beurteilen kann, macht er seine Sache gut." „Danke." Laurel errötete. „Vielleicht sollte ich mich bei ihm entschuldigen." „Vielleicht solltest du das." Anne schob sie sanft zur Tür. „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt dafür."
„Ich kann es nicht." „Du kannst es. Ich weiß es." Anne öffnete die Tür. Jake war zurückgekehrt und stand nun wieder am Fenster. Er drehte sich um und sah die beiden an. Laurel verharrte an der Tür. Anne wusste, in ihrer hellhörigen Wohnung musste er ihre Unterhaltung mitbekommen haben. Anne gab Laurel einen leichten Stoß. Sie machte einen Schritt vorwärts. „Es tut mir leid, Daddy." Im nächsten Moment fiel sie in seine Arme. Jake zog sie an sich. „Ich weiß, Kleines." Er wusste, er sollte Anne dankbar sein, aber er brachte es nicht über sich, es zu sagen. Sie starrte sie beide an, mit einem Ausdruck in den Augen, wie ihn ein Verhungernder beim Anblick eines Kanten Brot haben musste. Und tiefe Einsamkeit las er darin. Als er sich von Laurel löste, wandte Anne sich um und verschwand wieder in der Küche. Verdammt. Er wollte sie nicht mögen. Und kein Mitgefühl empfinden. Und ganz sicher nicht daran erinnert werden, was er gespürt hatte, als er sie vorhin in den Armen hielt. „Es ist spät", sagte er. „Wir sollten langsam aufbrechen." Laurel sah aus, als wollte sie protestieren, tat es dann aber doch nicht. „Okay. Wann kann ich Annie wiedersehen?" „Wir fahren morgen früh ans Meer." Jake presste die Lippen zusammen. Laurel nickte. „Ich weiß, Annie kann nicht mit uns ans Meer kommen, aber ich will sie wiedersehen, Daddy. Sie ist meine leibliche Mutter." Sie blickte ihn flehend an. „Können wir nicht auf dem Rückweg nach Colorado hier vorbeikommen? Nur für ein paar Tage?" „Einen Tag. Wir bleiben über Nacht, dann fahren wir weiter nach Haus." „Danke, Daddy." Laurel stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Dann rannte sie hinüber in die Küche. „Annie, Annie! Wir kommen nach der Woche am Meer hier vorbei, und wir können uns dann wiedersehen!" rief sie strahlend. Dann verblasste ihr Lächeln. „Wenn du magst..." Anne lächelte sie an. „Natürlich will ich das, Laurel. Und zwar sehr gern." „Toll." „Wir müssen jetzt gehen", sagte Jake. „Es ist spät, und wir müssen morgen früh aufstehen." „Okay." Laurel zögerte, drehte sich zu Anne um und schloss sie in die Arme. Jake sah die Emotionen, die sich in Annes Gesicht widerspiegelten. Das zärtliche Lächeln, den kurzen Kuss auf die Wange, sah, wie sie etwas auf einen Zettel kritzelte, Laurel diesen nahm und in ihre Hosentasche steckte. Er sah auch das freudestrahlende Gesicht seiner Tochter, als sie auf ihn zukam, und er wusste, er stand dicht davor, alles an eine Frau zu verlieren, die er nicht mochte, der er nicht traute. „Warte am Fahrstuhl auf mich", sagte er zu Laurel. Laurel winkte noch einmal, dann verschwand sie durch die Wohnungstür nach draußen. Anne starrte ihr hinterher. „Sie können beschäftigt sein", sagte Jake. Anne blickte ihn verständnislos an. „Ich verstehe nicht." „Wenn sie Sie anruft, brauchen Sie sich nicht mit ihr zu treffen, wenn Sie kein Interesse daran haben." Rote Flecken erschienen auf ihren Wangen. „Ich will Laurel wie dersehen." Er schob die Hände tief in die Hosentaschen. Sie schien nicht die Absicht zu haben nachzugeben. Das sanfte Licht der Lampen betonte ihre Sommersprossen. Er starrte sie an und versuchte sich einzureden, dass er Sommersprossen noch nie gemocht hatte. „Warum tun Sie das?" fragte er. „Wenn Laurel so verdammt wichtig für Sie ist, warum haben Sie sie dann damals fortgegeben?" Er hätte sie ebensogut schlagen können. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Das geht
Sie nichts an!" „Wenn es meine Tochter betrifft, geht es mich sehr wohl etwas an!" „Hinaus!" Sie wies auf die Tür. „Wenn ich jetzt ge he, komme ich niemals wieder." - Anne atmete tief durch und sah ihn lange an. „Was wollen Sie wissen?" fragte sie dann resigniert. „Warum haben Sie sie fortgegeben, und warum wollen Sie jetzt etwas mit ihr zu tun haben?" Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, und sie machte sogar einen Schritt auf ihn zu. Schaute ihm direkt in die Augen. „Sie sind wirklich ein übler Kerl, Jake Masters", sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie haben alle Trümpfe in der Hand. Ich kann Sie nicht zwingen, mich Laurel sehen zu lassen. Was ich Ihnen auch immer antworten würde, es wird nichts an Ihrer Meinung über mich ändern. Wenn ich den Namen ihrer Adoptiveltern gewusst hätte, hätte ich mich mit ihnen in Verbindung gesetzt. Aber das war nicht der Fall. Nicht ein Tag verging, an dem ich nicht ge betet und gehofft habe, mein Kind würde mich irgendwann ausfindig machen." Sie ging zur Haustür und packte den Türknauf. „Glauben Sie nur weiterhin, was Sie wollen. Aber seien Sie nicht zu überrascht, wenn sie irgendwann herausfinden, dass Sie sich geirrt haben!" Sie riß die Tür auf. Laurel stand auf der Schwelle. „Dad, der Fahr stuhl ist da. Ich dachte, du hättest es eilig." Jake starrte Anne an. Er konnte ihr ansehen, dass sie immer noch wütend war. Als er an ihr vorbeiging, streifte er sie unabsichtlich. Wieder schössen diese unerwünschten Gefühle in ihm auf, und er presste die Lippen zusammen. Hinter sich hörte er Laurel «ich noch einmal von Anne verabschieden und versprechen, sie anzurufen. Als die Fahrstuhltüren sich schlössen, schwor er sich, Laurel würde diese Frau niemals wiedersehen.
3. KAPITEL
„Ich glaube, Denim ist dieses Jahr hochmodern", meinte Laurel und befühlte die Jacke. Anne warf einen Blick auf das Preisschild und zuckte zusammen. „Diese ist nicht sehr praktisch, Honey. In Colorado schneit es, und sie hat nicht einmal ein Futter." Laurel lachte. „Nun klingst du wie mein Dad." „Vielleicht hat er in manchem recht." Jake beteiligte sich nicht an der Diskussion. Er hasste Einkaufs bummel und wäre lieber an der Hotelbar geblieben und hätte dem Footballspiel im Fernsehen zugesehen. Aber Laurel hatte mit Anne einkaufen gehen wollen, und er war entschlossen, die beiden keinen Augenblick allein zu lassen. Nach dem Abschied vor einer Woche hatte er erwartet, sie würde ihm gegenüber unhöflich sein oder ihn zumindest ignorieren. Aber sie tat weder das eine noch das andere, sondern behandelte ihn fast wie einen alten Bekannten. Sie bezog ihn in Unterhaltungen mit ein, sprach lobend über seine Tochter und bat ständig um seinen Rat bei der Auswahl der Kleidung. Es war zum Verrücktwerden. Und Laurel hatte Anne so leicht angenommen. Entweder war Anne eine unglaublich gute Schauspielerin, oder aber sie war nicht die Frau, für die er sie hielt. Nach dem Einkauf aßen sie in dem kleinen, offenen Eisstadion, das zum Einkaufszentrum gehörte, einen großen Eisbecher mit Sahne und Schokoladensirup. Anne schob schließlich die leere Glasschale von sich und griff nach ihrer Handtasche. „Ich muss im Büro anrufen", sagte sie. „Ich bin gleich zurück." Jake sah ihr nach, während Laurel von Kleidern und Modeschmuck erzählte. Er war fasziniert von Annes Gang, dem Schwung ihrer Hüften. Der weichfließende Seidenstoff ihrer Bluse lag wie eine zweite Haut auf ihren vollen Brüsten. Sie war so ganz anders als Ellen, die Größe und Figur eines Models gehabt hatte. Ich bevorzuge hochgewachsene, zierliche Frauen, versuchte er sich einzureden. Und die Funken, die zwischen ihnen geflogen waren, waren nur auf seinen angegriffenen Seelenzustand zurückzuführen. Heute war nichts dergleichen geschehen. „Daddy, kann ich hinuntergehen und den Eisläufern zusehen?" bat Laurel. Jake nickte. „Aber bleib nicht zu lange." Als Anne zurückkehrte, saß Laurel schon unten in der ersten Reihe der Bänke zwischen den jungen Leuten. „Wo ist Laurel denn?" „Dort unten." „Ich habe immer Schlittschuhlaufen lernen wollen, aber bei uns gab es leider keine Eisbahn, und im Winter wurde es nicht kalt ge nug, dass Flüsse oder Teiche zufroren", meinte Anne, während Jake beiseite rückte, um für sie Platz zu machen. Er bemerkte ihren schnellen Seitenblick und fühlte die Anspannung wiederkehren, wo sie nun allein waren. Er drehte sich zu ihr herum. „Ist im Büro alles in Ordnung?" Sie nickte. Er warf einen Blick auf ihren Mund, die volle Unterlippe. Die Mundwinkel zitterten ein wenig, dann lächelte sie leicht. Er ertappte sich dabei, dass er ihr Lächeln erwiderte. Jake legte den Arm auf die Rückenlehne der Bank. „Was machen Sie genau beruflich?" „Ich hätte gedacht, dass Sie Erkundigunge n eingezogen haben." Jake zuckte mit den Schultern. „Ein wenig habe ich es auch getan. Am meisten interessierte mich, ob Sie vorbestraft waren." Ihr Lächeln wurde breiter. „Nur wegen des Bankraubs im letzten Jahr." „Also, was machen Sie?" „Ich arbeite für eine Firma, die anderen Firmen hilft, ihren Sitz nach Houston zu
verlegen. Angefangen bei den erforderlichen Genehmigungen bis hin zur Wohnungsbeschaffung für die Angestellten. Da muss vieles beachtet werden." „Das kann ich mir vorstellen. Und können Sie die Leute überzeugen, dass es von Vorteil für sie ist, nach Texas zu ziehen?" „Ich tue mein Bestes." Sie hob die Augenbrauen. „Will nicht jeder in Texas leben?" Jake schaute hinunter zu seiner Tochter. „Laurel ganz bestimmt." „Ich weiß, es war für Sie beide schwer umzuziehen, aber sicher wird es besser werden." „Da bin ich mir nicht so sicher." „Wenn erst einmal die Schule beginnt, wird sie neue Freundinnen finden, und alles wird sich ändern." „Ich hoffe es. Noch einen solchen Sommer könnte ich nicht ertragen. " Er spürte, dass sie gleich Fragen stellen würde, die er nicht beantworten wollte. So kam er ihr zuvor. „Wie lange arbeiten Sie schon für diese Firma?" „Seit ich mein Studium abgeschlossen habe. Es gab allerhand Aufstiegschancen dort. Und nun stehe ich kurz davor, Vizepräsidentin zu werden." Er musterte sie verstohlen. Mit ihren lockigen rötlichen Haaren, der Seidenbluse, fast ohne Make-up und dem zögernden Lächeln wirkte sie absolut nicht wie eine Karrierefrau auf dem Weg an die Spitze. Aber er erinnerte sich an ihre kühle Selbstsicherheit bei ihrer ersten Begegnung in ihrem Büro und die Art, wie sie sich gegen ihn wehrte. Kein Zweifel, Anne Baker verstand es, ein hartes Spiel zu spielen. Und zu gewinnen. „Viel Erfolg", sagte er aufrichtig. Eine hart erarbeitete Position würde sie hier in Dallas halten und fern von seiner Ranch in Colorado. „Danke." Sie nahm ihre Handtasche und legte sie auf die Bank. „Meinen Sie, Laurel wird noch mehr Kleidung brauchen?" Jake schaute auf die Einkaufstüten. „Das kann ich mir nicht vorstellen, aber sicher fällt ihr noch etwas ein. Ich werde ihr eine anständige Jacke und Stiefel kaufen, aber das hat auch noch Zeit, bis wir wieder zu Haus sind." Anne nickte. „Ich ... ich hatte heute einen schönen Tag. Danke, dass Sie ihr erlaubten, mich anzurufen." „Sehen Sie ..." Jake räusperte sich. „Was die letzte Woche betrifft ..." Er räusperte sich nochmals. „Ich war da etwas aus dem Gleichgewicht geraten. Sie sind großartig mit Laurel umgegangen. Sie hatten einiges ausnutzen können von dem, was ich gesagt habe, und haben es doch nicht getan. Dafür möchte ich Ihnen danken." Anstatt erfreut auszusehen oder sogar triumphierend, errötete Anne überraschenderweise. „Danken Sie mir nicht. Ich möchte sie wiedersehen." Jake versteifte sich. „Wir fliegen morgen früh." „Ich weiß." Es war nur ein Flüstern. „Ich kann sie nicht einfach so wieder aus meinem Leben gehen lassen. All die vielen Jahre habe ich mich gefragt, was wohl aus ihr geworden ist, und nun, wo ich etwas Zeit mit ihr verbracht habe ..." Sie atmete tief durch. „Sie ist ein wundervolles Kind." „Ja, das ist sie." Anne beugte sich vor, und ihre Haare beschatteten ihr Gesicht. „Ich meine keine großen Besuche. Keine wechselnden Wochenenden oder dergleichen. Ich weiß, ich habe keinerlei Anrecht darauf, aber ein paar Tage in den Weihnachtsferien oder im Sommer vielleicht würden mir genügen. Ein Telefonanruf ab und an. Nur, um in Verbindung zu bleiben." Mit jedem ihrer Worte vertiefte sich seine Furcht. Am liebsten hätte er Laurel gepackt und wäre mit ihr in der Menge verschwunden, wollte, Laurel hätte nie etwas von der Adoption erfahren, dieses Treffen nie stattgefunden. Aber das ging nicht. Auch nicht, weil er wusste, Laurel wollte das gleiche, was Anne sich wünschte. Laurel würde auch noch mehr wollen. Und er durfte es ihr nicht verweigern, nur weil er Angst hatte, sie zu verlieren. Und
Anne zu hassen fiel ihm immer schwerer. „Ich lasse Sie Laurel anrufen, aber ich wäre dankbar, wenn Sie sie nicht noch ermuntern würden oder sogar einen Besuch vorschlagen. Ich denke, es sollte allein Laurels Entscheidung sein", sagte er langsam und sah sie dabei nicht an. „Ja, natürlich." Sie lächelte strahlend, und in ihren blauen Augen stand deutlich ihr Glück zu lesen. „Warum sind Sie so entgegenkommend?" „Habe ich eine andere Wahl?" „Ich denke schon." Sie blickte ihn nachdenklich an. „Ach, ich hab's! Sie hoffen, dass Laurel der ganzen Sache irgendwann müde wird, wenn Sie ihr geben, was sie haben will. Indem Sie es ihr erlauben, nehmen sie der Angelegenheit ihren Reiz." „Vielleicht." Ihr Lächeln verschwand und auch das Licht in den Augen. „Sie könnten recht behalten." „Hören Sie, Anne, nehmen Sie es nicht persönlich." „Schwer, es anders zu sehen." Sie schüttelte den Kopf. „Jake, ich weiß, Sie mögen mich nicht besonders. Ich verstehe sogar, warum Sie so handeln. Wenn Laurel meine Tochter wäre ..." Sie brach ab und starrte ihn für einen Moment an. „Wenn ich Laurel großgezogen hätte, würde ich wohl genauso handeln. Das heißt aber nicht, dass es mir gefällt." Er hatte einen gewissen Sieg errungen und konnte daher großmütig sein. „Das kann ich mir bei Ihnen nicht vorstellen, Anne." „Aber wenn es nach Ihnen ginge, würde ich Sie nicht mehr wie dersehen?" „Möchten Sie, dass ich lüge?" „Das war Antwort genug." „So ist es wohl. Wenn es Ihnen hilft, sich besser zu fühlen: Ich habe meine Meinung über Sie ein klein wenig geändert." „Zum Besseren hin, hoffe ich. Schlechter als bei unserem ersten Treffen konnten Sie ja gar nicht von mir denken." Nun begann er sich unbehaglich zu fühlen. „Vielleicht, wenn sie tatsächlich eine Bank ausgeraubt hätten." „Richtig." Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Waffenstillstand?" „Waffenstillstand." Er nahm ihre Hand und umschloss sie. Wieder dieses Prickeln, gefolgt von einem heftigen Verlangen. Er wollte seine Hand zurückreißen, hätte sich damit aber verraten. Ihr Lächeln verblasste. Sie starrten einander an, erkannten entsetzt ihre aufgewühlten Gefühle im Gesicht des anderen wieder. Jake gab ihre Hand frei. Sie zog Ihren Arm fest an die Brust und massierte sich die Finger, als hätte sie sich verbrannt. Das ist alles nicht wahr, versuchte er sich einzureden. Es konnte nicht sein. Nicht mit Anne Baker. In den vergangenen zwei Jahren war ihm so etwas nie passiert - nicht einmal in der ganzen Zeit mit Ellen, wenn er ehrlich war. Niemals. Nicht einmal mit Ellen. „Jake, ich..." „Sagen Sie nichts!" befahl er ihr. Er wandte sich ab und stützte den Kopf in den Händen auf. „Es tut mir leid", sagte sie sanft. „Es gibt nichts, was Ihnen leid tun müsste." „Leugnen Sie etwa ..." „Ja." Es konnte hier nicht mit rechten Dingen zugehen. Ihn interessierten keine sehr weiblichen Frauen, er hasste Sommersprossen und hatte sich noch nie von einer Rothaarigen angezogen gefühlt. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie Sie meinen." „Können Sie es erklären?" „Nein, aber zumindest bin ich bereit zuzugeben, dass da etwas ist." Bevor er antworten konnte, kam Laurel die Treppe herauf zu ihnen.
„Wie war es?" fragte er, dankbar für die Unterbrechung. „Toll." Sie wirbelte im Kreis herum. „Ich wollte, ich könnte es." Dann blieb sie stehen und starrte ihn an. „Ich habe nachgedacht." Er verspürte eine dumpfe Vorahnung, hatte sie schon die ganze Zeit verspürt. „Worüber denn?" „Ich will noch nicht gehen." Jake warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Es ist noch nicht einmal sechs. Ich dachte, wir könnten etwas essen, ehe wir ..." Sie schüttelte langsam den Kopf. „Ich will noch nicht aus Houston fort." Er warf Anne einen kurzen Blick zu, aber der Ausdruck der Verwirrung auf ihrem Gesicht zeigte ihm, sie war ebenso überrascht wie er. „Die Schule beginnt in einigen Tagen", sagte er. „Wir müssen zurück." „Ich will nicht zurück. Ich liebe dich, Daddy, aber ich möchte hierbleiben. Bei Annie." Anne wagte es nicht, sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Laurel wollte bei ihr bleiben? „Bitte, sei nicht böse mit mir", sagte Laurel zu ihrem Vater, während sie nervös die Hände ineinander verschränkte. „Das bin ich nicht." Der Ärger verschwand aus seinem Gesicht, tiefer Schmerz zeigte sich stattdessen, und dann wurden seine Züge ausdruckslos. „Wie kommst du auf diese Idee?" „Ich habe Annie gerade erst kennengelernt, und nun fahren wir schon wieder fort", erklärte das Mädchen mit einem bittenden Lä cheln. „Ich weiß, du musst zurück wegen der Ranch, aber ich könnte bleiben. Ich könnte hier zur Schule gehen, neue Freunde finden. Nur für eine kleine Weile, Daddy. So dass ich ein wenig Zeit mit Annie verbringen kann." Sie sprach sehr schnell, als könnte sie ihren Vater dadurch überreden. Anne starrte auf die Einkäufe, und schließlich blickte sie Jake an. Entgegen ihrer Erwartung sprang er nicht auf und beschuldigte sie, ihre Hände im Spiel zu haben. Sie war dankbar dafür. Und es fiel ihr schwer, nicht glücklich zu lächeln. Ein Traum war Wirklichkeit ge worden. Ihre Tochter wollte bei ihr bleiben. Jake saß nun zurückgelehnt da, so als wäre alles ganz in Ordnung. Aber ein Blick auf seine geballten Hände zeigte ihr, wie es in ihm aussah. Plötzlich begann ihre tiefe Freude zu schwinden. Welche Auswirkungen würde es auf ihn haben, wenn Laurel bei ihr blieb? „Anne hat einen Job, der sie voll beansprucht." Die Arbeit! schoss es Anne durch den Kopf. Daran hatte sie nicht gedacht. „Den hast du auch", sagte Laurel. Sie stemmte störrisch die Hände in die Hüften. „Dad", sagte sie gedehnt. „Ich bin alt genug, um allein zu bleiben, bis Annie nach Haus kommt. Das habe ich schon vorher getan." „Es geht nicht nur ums Aufpassen", sagte Jake. „Sie geht wahr scheinlich früh los und kommt spät zurück. Wer bringt dich zur Schule? Kocht dir Essen? Hilft dir bei den Hausarbeiten? Was ist mit deinem Pferd?" Was ist mit mir? Diese Frage hatte er nicht gestellt, aber Anne hörte sie die ganze Zeit heraus. Und ich? Wie wird es sein, wenn ich eine Dreizehnjährige zu mir nehme, die ich überhaupt nicht kenne? Ihr wurde die Verantwortung bewusst, die sie übernehmen müsste. Und trotz all dieser rationalen Argumente sehnte sich in ihr etwas danach, diese Chance zu bekommen, ihre Tochter kennenzulernen ... „Dein Vater hat recht", mischte sie sich ein. „Es gibt eine Menge praktischer Gründe, die dagegen sprechen." „Du hast ein Gästezimmer", sagte Laurel. Sie blickte sie bittend an. „Willst du mich nicht bei dir haben?" „Ich..." Jake ließ sie nicht weiterreden. „Laurel, ic h habe dir versucht zu erklären, warum du nicht bei Anne Baker bleiben kannst. Morgen früh fliegen wir nach Colorado. Schluß der Diskussion. Und nun bring deine Einkäufe zu Ende oder geh aufs Zimmer. Ich will von
der Sache nichts mehr hören", sagte er kalt. Aber Laurel ließ sich davon nicht beeindrucken. „Du kannst mich nicht zwingen, mit dir zu kommen", sagte sie mit erhobener Stimme. Einige der Passanten blieben stehen und sahen neugierig zu ihnen hm, dann gingen sie rasch weiter. ; „Verdammt, Laurel, hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen!" Jake sprang auf. „Du hast gerade gesagt, dass ich ein Kind bin. Dass sich jemand um mich kümmern muss, wenn ich aus der Schule komme." Sie war den Tränen nahe. „Annie, du willst doch, dass ich bei dir bleibe, oder?" Vater und Tochter blickten Anne an. Sie erhob sich langsam. Sie sagte sich, dass sie die Fremde hier war und ruhig bleiben musste. Ein Teil von ihr wollte Laurel in die Arme schließen und ihr sagen, wie sehr sie sich wünschte, dass sie bei ihr bliebe. Der andere, praktischere Teil aber fragte sich, was sie mit einem dreizehnjährigen Mädchen anfangen sollte. Und ein noch kleinerer Teil, ein winziger Teil ihres Herzens, sehnte sich nach Jake. „Laurel, dies ist etwas, was wir nicht hier und jetzt diskutieren sollten. Lasst uns auf euer Zimmer gehen und ..." Laurel wandte sich an ihren Vater. „Du bringst sie dazu, so etwas zu sagen. Sie möchte, dass ich bei ihr bleibe. Ich weiß es." Tränen rannen ihr übers Gesicht, sie wischte sie ungeduldig fort. Passanten begannen stehenzubleiben. „Laurel, er bringt mich nicht dazu, so zu reden." „Ich brauche Ihre Hilfe nicht." Jake funkelte sie zornig an. „Sie haben bereits genug angerichtet." Er legte Laurel den Arm um die Schultern. Sie schüttelte sie ab. „Du tust dies absichtlich, Dad, das weiß ich." Sie schniefte. „Ich kenne die Wahrheit. Du glaubst, ich würde es nicht bemerken, aber du irrst dich. Annie liebt mich. Sie hat mich immer geliebt. Du hast mich ihr gestohlen. Sie wollte mich nicht fortgeben, aber ihr habt sie dazu gebracht. Du und Mom." Steif stand sie da, die Arme hingen an ihrer Seite. Erneut flössen Tränen. Sie tat Anne unendlich leid. Soviel Schmerz in einem Mädchen ihres Alters, i. Jake fuhr zu Anne herum. „Haben Sie ihr das erzählt? Welch eine üble Lügnerin sind..." „Sprich nicht so zu ihr", sagte Laurel und stellte sich schützend vor Anne. „Sie musste es mir erst gar nicht erzählen. Ich bin ganz von allein darauf gekommen. Du hast mich meiner leiblichen Mutter ge stohlen." Die Menge der Neugierigen wuchs. Anne brannten die Wangen. Sie nahm ein paar Einkaufstüten auf und drückte sie Laurel in die Hände. „Hier." Dann nahm sie den Rest und hängte sich ihre Hand tasche über die Schulter. „Können wir diese Unterhaltung bitte oben in eurem Zimmer fortsetzen?" Jake warf einen Blick auf die schweigende Menge, dann ergriff er Laurels Arm. Anne folgte den beiden. Laurel ließ die Einkäufe einfach auf den Boden des Hotelzimmers fallen und brach in Tränen aus. „Annie ..." schluchzte sie. Ohne zu überlegen, nahm Anne sie in die Arme. „Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen", sprach sie sanft auf sie ein und hoffte es inständig. „Nein, das wird es nicht", schluchzte Laurel mit unterdrückter Stimme. Sie hob den Kopf und sah Anne an. „Lass es nicht zu, dass er mich wieder fortnimmt. Bitte." „Oh, Baby." Anne streichelte die Wange ihrer Tochter. Zum erstenmal fühlte sie die warme Haut und die Feuchtigkeit von Laurels Tränen. Sie drückte sie an sich. Laurel hob den Kopf. „Du willst mich dazu bringen, dass ich mit ihm zurückgehe, nicht wahr?" Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. „Ich werde mit deinem Vater reden." Laurel warf ihr einen kurzen Blick zu, sammelte die Tüten auf und rannte dann durch eine Tür in das angrenzende Zimmer.
„Ich wusstenichts davon", wandte sich Anne an Jake, als sie begriff, dass er nichts sagen würde. v Jake, der am Fenster stand, drehte sich zu ihr herum, antwortete aber nicht. Er ging hinüber zur Hausbar, holte zwei Flaschen Mine ralwasser und Gläser heraus, öffnete sie, schenkte ein und reichte eines Anne. Dann setzte er sich auf das geblümte Sofa. Er streckte seine langen Beine aus und legte die Füße mit den Stiefeln auf den niedrigen Tisch. Bei ihrem Einkaufsbummel hatte er seinen Stetson nicht getragen, sah aber immer noch aus wie ein Cowboy, den es in die Stadt verschlagen hatte. Anne trank und fragte sich, ob der Tag noch schlimmer werden konnte. „Sie ist erst dreizehn", sagte er schließlich. Er lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. „Ich kann sie nicht freigeben." „Das will ich auch gar nicht. Ich schwöre, ich habe nicht gewusst, was in ihr vorging." Er hob den Kopf und sah sie an. „Sie müssen es mir verzeihen, aber ich kann Ihnen nicht glauben." Anne wandte sich ab und begann im Raum auf und ab zu gehen. Ein paar Teenagerzeitschriften waren auf dem Tisch verteilt. An der Tür zu Laurels Zimmer lagen Turnschuhe herum. Ein mit einer bekannten Comicfigur bedrucktes übergroßes T-Shirt hing über einem der Sessel. Sie strich leicht mit den Fingern darüber. „Ich kenne sie nicht", sagte sie. „Wir haben höchstens viermal miteinander telefoniert. Ich weiß nicht, wie sie auf die Idee kommt, Sie und Ihre Frau hätten sie mir gestohlen." Sie sah ihn an. „Ich habe niemals so etwas gesagt. Wir haben nie über die Adoption ge sprochen. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf." „Ich kenne Sie nicht gut genug, um zu wissen, wieviel Ihr Wort wert ist." Er machte es ihr nicht einfacher. Anne versuchte ruhig zu bleiben. „Ich hatte mich schon gewundert, warum Laurel keine grundlegenden Fragen stellte. Nun weiß ich den Grund." „Grundlegende Fragen?" „Sie wissen schon. Warum ich sie zur Adoption freigegeben habe... Warum ich nicht versucht hätte, sie zu finden ... Solche Dinge. Ich war angenehm überrascht, dass sie die Dinge so nahm, wie sie waren." „Dann hat wenigstens einer von uns eine angenehme Überraschung erlebt", bemerkte er sarkastisch. „Es sieht so aus, als würde alles in Ihrem Sinn laufen. Aber glauben Sie nicht, dass es von Dauer sein wird. Ich weiß nicht, woher Laurel diese Ideen hat, aber Sie und ich wissen, sie wurde ihrer Mutter nicht aus den liebenden Armen gestohlen. Sie hatten sich entschieden, sie fortzugeben." Er sprach die Wahrheit, aber das linderte ihren Schmerz nicht. Dennoch, jetzt war Laurel wichtiger. „Laurel muss etwas im Fernsehen gesehen oder irgendwo gelesen haben", sagte sie möglichst ruhig. „Ich weiß, dass Sie mich weder mögen noch mir trauen. Sie wollten auch eigentlich nicht, dass ich Sie kennenlerne. Damit komme ich zurecht. Aber ich werde niemals etwas tun, das Laurel verle tzt." Sie blickte ihm ins Gesicht. „Es tut mir leid, dass Sie all dies durchmachen müssen." Er verzog das Gesucht. „Sicher verstehen Sie, wenn ich Ihnen dies auch nicht abnehme." Sie widerstand der Versuchung, ihm irgend etwas an den Kopf zu werfen. „Ich bin kein Feind. Wir müssen zusammenarbeiten und entscheiden, was für Laurel das beste ist." „Wir müssen überhaupt nicht zusammenarbeiten. Sie haben keinerlei Rechte auf sie. Sie wird mit mir nach Haus kommen." „Sie werden es also einfach von ihr verlangen?" „Ja." Anne stellte ihr Glas ab. „Dann werden Sie sie verlieren. Sie sollten es nicht zulassen, dass Ihr Zorn auf mich und Ihre Angst Ihr Urteilsvermögen trüben." Sie streckte die Hand aus. „Bitte, Jake ..."
Ohne Vorwarnung packte er ihr Handgelenk. „Sagen Sie mir nicht, wie ich mit meiner Tochter umgehen soll. Dieses Recht haben Sie an dem Tag verwirkt, an dem Sie sie fortgegeben haben!" Er gab ihre Hand wieder frei. Bevor Anne etwas entgegnen konnte, öffnete sich die Tür und Laurel kam herein. Sie hatte sich das Gesicht gewaschen und die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. „Daddy, bitte sei nicht böse auf mich." „Das bin ich nicht." Es klang müde. „Aber du willst nicht, dass ich bei Annie bleibe." „Nein, das will ich nicht." Laurel hob trotzig das Kinn. „Du verstehst nicht. Und du willst ihr keine Chance geben." Hilflos blickte sie Anne an. „Kannst du es ihm nicht erklären?" „Komm her, Honey." Laurel kam heran und setzte sich auf den Rand des Couchtisches, den Rücken halb zu ihrem Vater gewandt. Anne nahm ihre Hand und betrachtete sie. „Du hast Bobbys Hände", sagte sie, ohne aufzublicken. „Er war ein Junge auf der High School den ich gern hatte." „Mein ..." Laurel schaute auf Jake. Sie konnte das Wort nicht sagen, aber Anne wusste, was sie dachte. „Ich ging fast zwei Jahre mit ihm. Ich dachte, wir liebten einander." Sie lächelte Laurel kurz an, wagte es aber nicht, Jake anzusehen. „Er war drei Jahre älter als ich. Er ritt auf Rodeos." „Wirklich?" Laurel schien erfreut. „Ein professioneller Cowboy. Cool. Was tat er genau?" „Er hat Bullen geritten." „Das ist gefährlich." „Ich weiß." Erinnerungen, die sie so sorgsam verschlossen hatte, schossen in ihr auf. Bobby, so gutaussehend, hochgewachsen und la chend. Sein lebendiger, fordernder junger Körper. Ihre Unerfahrenheit, ihr Wunsch, ihn zufriedenzustellen. Der schreckliche, unerträgliche Schmerz, als er sie verließ. „Er begann bei örtlichen Veranstaltungen, war gut. So ging er fort, um an den nationalen Wettbewerben teilzunehmen", fuhr sie fort. „Als ich herausfand ..." Sie räusperte sieh. Laurel drückte ihr die Hand. „Es ist schon gut." Anne riskierte einen Blick auf Jake. Er beugte sich gerade vor, nahm ihr Glas und reichte es ihr. Seine Augen verrieten nichts, aber den Mund hatte er fest zusammengepresst. Dunkle Bartstoppeln zeigten sich auf seine m kantigen Kinn. „Danke" sagte sie und nahm das Glas: Sie berührten einander nicht, und dafür war sie dankbar. Sie trank einen Schluck. „Als Bobby Paradise verließ, verließ er auch mich. Uns. Ich sah ihn nicht wieder. Wenige Monate vor deiner Geburt verunglückte er bei einem Rodeo tödlich." Sie berührte La urels Bein. „Ich hatte ein Stipendium bekommen, hatte meiner Mutter immer versprochen, ich würde es zu etwas bringen, die Gelegenheiten des Lebens nutzen, die ihr nie gegeben wurden. Niemand hat dich mir gestohlen, Laurel. Ich habe dich fortgegeben." Das Mädchen Sank förmlich in sich zusammen. Ihre Schultern sackten herab, und sie ließ die Unterarme auf die Knie sinken. Jake sprang unerwartet vom Sofa auf und zog sie zu sich auf den Schoß. Laurel schmiegte sich an ihn, weinte aber nicht; Nun kämpfte Anne mit den Tränen. Aber Laurel hatte ein Recht auf die volle Wahrheit. „Meine Mutter hatte einen Freund, der Rechtsanwalt und Notar war. Er sagte mir, ich könnte eine private Adoption wählen; Auf diese Weise würde ich die Chance haben zu erfahren, wer mein Kind bekommen hatte. Zugleich könnte ich leichter auffindbar für dich sein, falls du dich mit achtzehn Jahren entscheiden solltest, mit mir Kontakt aufzunehmen."
Laurel hob den Kopf und lächelte hoffnungsvoll. „Wirklich? Du wolltest, dass. ich dich finde?" „Natürlich." Jake küsste zärtlich Laurels Scheitel. „Wenn du nicht gerade ein Teufelsbraten bist, dann bist du ein nettes Kind. Warum sollte sie dich also nicht kennenlernen wollen?" „Dad!" Laurel boxte ihn in die Seite und löste sich dann aus seinen Armen. „Ich verstehe nun, Annie. Vielen Dank, dass du es mir erzählt hast." Sie wirkt überraschend gefasst, dachte Anne. „Was verstehst du jetzt, La urel?" Laurel lächelte sie an. „Ich weiß nun, Mom und Dad haben mich dir nicht weggenommen. Du musstest mich fortgeben, auch wenn du es nicht wolltest." Sie blickte ihren Vater an. „Siehst du, Daddy, Annie braucht es, dass ich bei ihr bleibe. Sie hat die ganze Zeit auf mich gewartet." Hilflos starrte Anne Jake an. „Ich habe es nur noch schlimmer ge macht. Es tut mir leid. Sie sind Ihr Vater, sagen Sie es ihr." „Was soll er mir sagen?" Jake erhob sich, ging zur Bar und holte sich diesmal ein Bier heraus. „Laurel, du bist noch zu jung, um das verstehen zu können." Mit in die Hüften gestemmten Händen stellte sie sich breitbeinig vor ihn hin. „Das bin ich nicht! Du willst nur nicht, dass ich bei Annie bleibe." Jake nahm einen tiefen Schluck, eher er das Glas wieder abstellte. Er wollte Laurel nicht fortlassen, wusste aber, das Leben entschied anders. Er konnte versuchen, sie zu beschützen, aber nicht verhindern, dass sie erwachsen wurde. Angst machte es ihm, sie könnte sich innerlich von ihm entfernen. „Ich weiß, es ist dir schwer gefallen umzuziehen", begann er schließlich. „Für mich ist es ebenfalls hart gewesen. Aber bei Anne Baker zu bleiben löst diese Probleme nicht." „Warum nennst du sie immer so?" wollte Laurel wissen. „Warum sagst du nicht Annie, wie ich?" Weil sie mir angst macht, dachte er im stillen. Sie kann mir mein Kind stehlen. Sein Gewissen sagte ihm, Laurels Verhalten sei eine Strafe dafür, dass er nicht für sie dagewesen war, als sie ihn brauchte. Aber nach Ellens Tod war alles so schwer gewesen. Hinzu kam noch der immer vorhandene Wunsch nach etwas, was er niemals würde haben können: ein eigenes Kind. „Dein Dad versucht dich zu beschützen, Laurel." Anne erhob sich und legte ihrer Tochter die Hand auf die Schulter. „Du solltest froh sein, dass ihm dein Wohl so am Herzen liegt." Laurel machte sich frei. „Das kann nicht sein, denn sonst würde er mich nicht von all meinen Freundinnen getrennt haben. Er hätte mich nicht zu diesem schrecklichen Haus gebracht. Er würde mich bei dir bleiben lassen. Ich verlasse dich nicht, Annie." „Das wirst du doch, und damit basta!" Jake schlug mit der Faust auf die Bar. Vater und Tochter starrten sich an. Ihm brach es fast das Herz, aber sie sollte es nicht bemerken. „Du kannst mich nicht zwingen, mit dir zu kommen", schrie sie. „Ich laufe fort, so weit, dass du mich niemals findest." Laurel stürmte in ihr Zimmer und schlug die Tür geräuschvoll hinter sich zu. Jake schloss die Augen. Ich habe es verdient, dachte er zutiefst nie dergeschlagen. Nach Ellens Tod hätte ich mich mehr um ihren Schmerz als um meinen kümmern müssen. Nun war sie ihm fremd ge worden, das einzig Gute in seinem Leben. Er hatte sie verloren. „Ich kann das in Ordnung bringen", sagte da Anne. „Ich werde ihr sagen, ich will nicht, dass sie bei mir bleibt." „Ist das die Wahrheit?" „Nein." Anne lächelte schwach. „Aber wie Sie bereits betonten, ist es eine Menge Arbeit, ein Kind großzuziehen, selbst ein beinahe erwachsenes. Ich würde mein Leben
grundlegend umstellen müssen. Nur zu gern würde ich glauben, ich könnte das mit links schaffen, aber ich würde mir etwas vormachen." „Vielen Dank für Ihr Angebot, aber es wird nicht funktionieren." „Warum nicht? Sie wird nicht bei mir bleiben wollen, wenn ich ihr sage, dass ich es nicht möchte." „Laurel würde das Gefühl, unerwünscht zu sein, nicht ertragen. Gerade eine Zurückweisung von Ihnen kann sie nicht gebrauchen." Er verzog das Gesicht. „Als leibliche Mutter sind Sie mit geradezu magischen Kräften ausgestattet. Wenn dieses Bild zerstört wird, weiß ich nicht, was mit ihr geschieht. Wie auch immer meine Gefühle sind, Laurel geht vor." „Das Problem ist die Zeit", erwiderte Anne. „Wenn es statt des Endes der Sommerferien doch erst der Beginn wäre ... Ich bin sicher, wenn Laurel erst ein paar Wochen bei mir gewesen ist, wird sie erkennen, dass ich nicht die Antwort auf all ihre Probleme bin." „Die Glückseligkeit scheint nach dem Honeymoon etwas nachzulassen, Miss Baker, oder?" Sie verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Bar. „Nicht in jeder Beziehung, Mr. Masters", antwortete sie und lächelte. „Aber ich denke, ich könnte meine magischen Kräfte verlieren." Er entspannte sich ein wenig. Sie hatte recht. Laurel würde nicht lange brauchen, um ernüchtert zu werden. Er war bereit, einen Kompromiss zu schließen und sie Anne besuchen zu lassen. Sie sollte nur nicht ständig bei ihr leben. „Warum wären Sie bereit, Ihr Image ankratzen zu lassen?" fragte er. „Weil ich eine ehrliche Beziehung zu ihr haben möchte, aber das ist nur möglich, wenn das Wunschbild korrigiert ist, das sie sich von mir aufgebaut hat. Dazu muss ich sie erst einmal einfach enttäuschen." Sie zuckte mit den Schultern. „Sobald das geschehen ist und wir es hinter uns haben, können wir damit beginnen, Freundinnen zu werden." Er wollte ihr glauben, konnte es aber nicht. Es stand zuviel auf dem Spiel. „Das ist alles, was Sie wollen?" „Das ist der einzige Platz, der in ihrem Leben noch frei ist. Ellen war Laurels Mutter. Das weiß ich." „Sie ignorieren die Tatsache, dass Sie all das sind, was Laurel sein möchte. Attraktiv, erfolgreich und unabhängig." Die Worte waren ihm einfach herausgerutscht, und nun hätte er sich ohrfeigen können. Anne errötete, anstatt ihren Vorteil zu nutzen. „Vielleicht können wir gemeinsam eine Lösung finden." Jake war sauer auf sich, weil er ihr ein Kompliment gemacht hatte. „Dazu ist keine Zeit. Laurels Schule beginnt in einer Woche. Ich habe Pferde und eine Ranch zu versorgen. Ich kann nicht darauf warten, bis eine Dreizehnjährige wieder zur Vernunft kommt!" „In Ordnung." Blaue Auge n blitzten ihn herausfordernd an. „Haben Sie denn eine Idee, wie Sie unser kleines Problem lösen?" „Ganz einfach: Sie kommen mit uns."
4. KAPITEL
Es müssen die Nerven sein, dachte Anne, als der Druck im Magen sich noch verstärkte, während sie den Reißverschluss ihres Koffers schloss. Das war völlig normal und würde gleich verschwinden. Ein Summen ließ sie auffahren. Sie eilte zur Wechselsprechanlage und drückte einen Knopf. „Ja?" „Annie, wir sind hier", erklang Laurels frische und klare Stimme. „Bist du fertig?" „Sicher. Komm herauf." Sie drückte auf den Türöffner. Nachdem" Anne sich noch einmal im Schlafzimmer umgesehen hatte, rollte sie ihren Koffer in den Wohnraum. Sie rieb sich die feuchten Hände an ihren Shorts trocken und versuchte, ruhiger zu werden. Es funktionierte nicht. Nach einer kleinen Ewigkeit klopfte es an der Wohnungstür. Sie öffnete. Laurel tanzte förmlich herein. „Du kommst wirklich mit uns!" rief sie strahlend. Sie trug weiße Shorts und ein tomatenrotes Top. Anne deutete auf den Koffer. „Es sieht so aus, oder?" Laurel schloss sie in die Arme und drückte sie. Jake folgte seiner Tochter in den Raum, aber seine Begrüßung fiel etwas kontrollierter aus. Anne wusste, er war nicht gerade glücklich darüber, dass sie die nächsten Wochen unter einem Dach verbringen würden. Sie mussten einen Weg finden, miteinander auszukommen. „Wo ist Ihr Gepäck?" erkundigte er sich. Sie deutete auf den Koffer. „Ich habe dies und eine Reisetasche." „Mehr nicht?" fragte er überrascht. „Haben Sie Ihre Meinung ge ändert, zwei Monate zu bleiben?" „Nein. Aber ich habe keine Winterkleidung, so werde ich mir dort ein paar Pullover kaufen. Es ist doch eine Pferderanch, nicht wahr? Sicherlich gibt es keine großartigen Partys in der Stadt, deswegen habe ich nichts Besonderes eingepackt." Jake nickte nur kurz und nahm ihren Koffer. „Ich warte unten auf Sie." „Mein Gott, du hast ja fast kein Gepäck!" rief Laurel. „Wann immer wir irgendwohin reisten, hatte Mom Tonnen von Kleidung dabei. Einmal, als wir für eine Woche nach New York flogen, nahm sie zwölf Paar Schuhe mit. Dad und ich haben sie gezählt." Auf einmal lächelte sie nicht mehr. „Mom war wunderschön. Daddy und Großvater sagten ihr immer, sie könnte gut ein Fotomodell sein." Anne warf einen Blick auf Laurels weiblich gerundete Figur. Sie würde bestimmt nie Fotomodell werden können. Sie nahm ihre Reisetasche, die Hausschlüssel und schob Laurel aus der Wohnung. „Es hört sich an, als wäre sie schön gewesen", sagte sie. „Oh, das war sie auch." Laurel drückte den Knopf für den Fahrstuhl. „Sie hatte dunkles Haar, so wie Daddy. Es war lang und glänzend. Oft hatte sie es hochgesteckt, um ihre Diamantohrringe tragen zu können." Laurel sah Anne an. „Daddy sagt, ich bekomme sie, wenn ich alt genug bin. Ich möchte mich auch schminken, aber er mag es nicht." Sie schnitt eine Grimasse. „Mom war immer ge schminkt. Sie wollte immer gepflegt aussehen." Sie betonte die letzten beiden Worte und kicherte dann. Anne lächelte Sie an. Die Fahr stuhltüren öffneten sich, und sie fuhren hinunter. Jake hatte Annes Koffer bereits hinten in seinem blauen Kombiwagen verstaut. Er nahm ihr die Reisetasche ab und stellte sie auf den Rücksitz. Nun öffnete er Anne die Beifahrertür, und sie stieg ein. Gleich darauf schlüpfte er auf den Sitz neben ihr. Wie immer, trug er auch heute Jeans, dazu ein Polohemd. Das kräftige Rot unterstützte seine Bräune. Der Stetson beschattete seine Augen, aber das machte ihr nichts aus. Er hatte sie eingeladen, weil es keine andere Lösung gab. So hatte sie sich zwei Monate unbezahlten Urlaub geben lassen. Unauffällig sah sie an sich hinunter. Sie hatte cremefarbene Shorts und ein pfirsichfarbenes T-Shirt angezogen. Und sogar eine Jeans hatte sie sich für den
Aufenthalt auf der Ranch gekauft. Aus praktischen Gründen. Schließlich würde sie im Haus eines Cowboys leben. Sie warf Jake verstohlen einen Blick zu. Verspiegelte Gläser verbargen seine Augen. Er fuhr konzentriert und entspannt, hatte aber beide Hände fest am Steuer. „Ich kann nicht mehr." Laurel schob ihren Teller von sich. Sie hatten früh an einer Raststätte angehalten, um zu Mittag zu essen. „Dad, ich brauche neue Batterien für meinen Walkman. Kannst du mir Geld geben?" Jake griff in seine Hemdtasche und zog ein paar Scheine heraus. „Hol dir genügend davon", meinte er und zwinkerte ihr zu. Laurel verdrehte die Augen. „Dad hasst meine Musik", erklärte sie Anne. „Wenn ich sie hören will, muss ich Kopfhörer tragen." „Das kann ich gut verstehen", meinte Anne lächelnd. „Ich denke, ich habe auch eher den Geschmack deines Vaters, was Musik betrifft." „Das liegt daran, dass ihr alt seid." Laurel nahm das Geld und verschwand Richtung Kiosk. Anne blickte ihr nach. „Sie ist ein gutes Kind." „Ich weiß." Ohne seine Sonnenbrille und den Stetson wirkte er weniger unnahbar. Er hatte sogar mit Laurel gespaßt. Aber wenn er sie, Anne, anblickte, war er sogleich wieder kühl. „Sie brauchen sich nicht zu verstellen!" entfuhr es ihr. Er runzelte die Augenbräuen. „Was meinen Sie?" „So zu tun, als würden Sie mich nicht hassen." Jake lehnte sich zurück. „Ich hasse Sie nicht." „Sie trauen mir aber nicht." „Was würden Sie tun, wenn Sie in meiner Lage wären?" „Gut, wahrscheinlich nichts anderes", gab sie zu. „Aber wir müs sen lernen, miteinander auszukommen. Sonst werden die kommenden zwei Monate unerträglich." „Da stimme ich Ihnen zu." Dies war der Zeitpunkt, etwas Versöhnliches zu sagen. Stattdessen würde sie Öl ins Feuer gießen. Er wirkte so entspannt und locker. Eine Haarsträhne war ihm ins Gesicht gefallen. Die Grübchen in seinen Wangen unterstrichen noch sein attraktives Äußeres. Wenn er jemals seinen Charme bei ihr versuchen würde, wäre sie verloren, das wusste sie. Nicht nur, weil sie ihn anziehend fand und bei jeder zufälligen Berührung Funken zwischen ihnen überzuspringen schienen, sondern weil er ein Cowboy war. Jeder Mensch hatte seine Schwächen, und sie wünschte, ihre würden sich auf Eis oder Schokolade beschränken. Statt dessen mussten es Cowboys sein ... „Ich würde gern einen kleinen Umweg machen", sagte sie. Sie hatte vor, ihre Kus ine Becky Sue mit ihrer Familie zu besuchen. 1 „Handelt es sich um irgendeine Sehenswürdigkeit?" Er klang leicht amüsiert. „Nein, ich möchte nach Paradise. Es ist ein winziges Nest in der Nähe von El Paso. Meine Kusine wohnt dort." "Er schlug mit beiden Händen auf den Tisch. Anne fuhr zusammen. „Was zum Teufel haben Sie vor?" Wut stand in seinen Augen. „Ich dachte..." „Ich werde es nicht zulassen, dass Sie meine Tochter für Ihre Zwecke manipulieren. Wenn Sie denken, es bringt Sie weiter, wenn Sie sie mit einem Haufen Verwandten von Ihnen bekannt machen, dann haben Sie sich schwer geirrt. Der einzige Grund, warum Sie heute hier sind, ist meine Tochter. Aber treiben Sie es nicht zu weit, Lady. Ich habe das Recht auf meiner Seite!" Anne zwang sich, ihm direkt in die Augen zu sehen. „Waren Sie jemals im Westen von Texas?" Er sah sie mit gerunzelter Stirn an. „Was hat das damit zu tun?" „Paradise ist kilometerweit von allem entfernt. Es gibt ungefähr tausend Einwohner dort. Es ist heiß, staubig, und die Armut schaut aus allen Löchern. Die meisten der
Bewohner leben in Wohnwagen. " Sie hielt inne und zerriss unbewusst ihre Serviette in kleine Fetzen. Dann bemerkte sie es und schob die Reste von sich. „Laurel ist immer noch verwirrt über die Umstände ihrer Geburt. Ich dachte, wenn sie sehen würde, wie ich aufgewachsen bin, würde sie vielleicht für ihr jetziges Leben dankbarer sein." Anne faltete die Hände im Schoß und schaute Jake an. „Das hört sich gut an, aber ich glaube Ihnen nicht. Es muss ein anderer Grund dahinterstecken." Anne verlor die Beherrschung. „Wer hat Sie eigentlich so betrogen, dass Sie eine anständige Handlung nicht einmal mehr erkennen können?" fuhr sie ihn hitzig an. „Was sollte ich wohl dabei gewinnen? Selbst wenn Laurel Becky Sue und ihre Kinder auf den ersteh Blick liebgewinnen sollte ich für meinen Teil werde nicht wieder nach Paradise zurückkehren. Um nichts in der Welt! "Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin es leid, mich ständig bei Ihnen verteidigen zu müssen. Ob Sie es glauben oder nicht, mir geht es in erster Linie um Laurel! Sie hatten Monate Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Laurel mich kennenlernen würde. Ich weniger als zwei Wochen. Mein ganzes Leben steht seitdem Kopf. Ich riskiere eine Beförderung, auf die ich lange und hart hingearbeitet habe. Ich habe ver-< sucht, fair zu sein und das zu tun, was für alle das beste ist. Ich habe Ihre Unterstellungen geschluckt und Ihre schlechte Laune. Ja, ich habe Laurel zur Adoption freigegeben. Ja, ich habe ihr gegenüber eine bestimmte Verantwortung. Ich tue mein möglichstes, um Laurel nicht zu verletzen und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Sie sie großgezogen haben. Wenn Sie das nicht begreifen können, dann sind Sie ein größerer Dummkopf, als ich bislang dachte, und Sie verdienen es, Dir Kind zu verlieren!" Damit erhob sie sich. Aber bevor sie stand, packte er ihren Arm und drückte sie wieder auf den Sitz. „Warten Sie", sagte er. „Bitte." Erst als sie saß, gab er ihren Arm wieder frei. Wie immer, wenn er sie berührte, flammte Begehren in ihm auf. Er hasste seinen Körper dafür. Aber sie hatte recht. Er musste seine Probleme mit ihr lösen, oder aber es würden zwei unerträglich lange Monate werden. „Ich hatte nicht vor, mich wie ein vollkommener Idiot zu benehmen", sagte er. „Nur wie ein halber?" Sie fragte es mit einem zögernden Lächeln. Sie war immer bereit, ihm entgegenzukommen, das musste er ihr zugute halten. „Nur wie ein halber." Er entspannte sich. „Ich weiß, Sie haben Angst." „Es ist nicht leicht, keine zu haben." „Sie werden sie nicht verlieren." Er rieb sich den Nasenrücken. „Vielleicht habe ich es schon." „Nein." Anne schüttelte den Kopf. „Laurel liebt sie. Sie sind ein guter Väter." Wenn dem nur so wäre, dachte er. Aber sie wusste nichts über die letzten zwei Jahre. Wie er sich in seinem Schmerz nach Ellens Tod von Laurel zurückgezogen hatte. Wie sehr er sich noch immer nach einem Sohn sehnte, der den Namen Masters weiterführte. „Offenbar nicht gut genug, sonst hätte sie sich nicht auf die Suche nach Ihnen gemacht", erklärte er rau. „Vielleicht ist es doch keine so schlechte Sache ..." Er studierte ihr Gesicht. „Vielleicht nicht." Sie ist wirklich nicht unattraktiv, dachte er impulsiv. Sie ist nur ein völlig anderer Typ als Ellen. Auch ihre Beine waren nicht schlecht. Anne Baker war weiblicher als seine Frau es gewesen war. Er schaute auf ihre vollen Brüste. Sehr viel weiblicher. Das Ziehen in seinem Unterleib verstärkte sich. Er seufzte unhörbar. Er hasste Anne Baker zwar nicht, aber er traute ihr nicht. Ihre Beziehung zueinander würde nicht gerade einfacher werden, wenn er mit ihr schlief. „Meinen Sie wirklich, es wäre gut, wenn Laurel Ihre Kusine und deren Kinder kennenlernt?" fragte er.
Anne zuckte mit den Schultern. „Ich sehe nicht, warum eine Übernachtung in Paradise alles noch verschlimmern sollte. Wie gesagt, ich hoffe, sie erkennt dann, dass ich damals die beste Entscheidung getroffen habe." „Das klingt fast so, als würden Sie die Entscheidung jetzt bedauern." Sie erhob sich, und er stand ebenfalls auf. Sie sah ihn an. „Ich habe es immer bedauert. Das bedeutet aber nicht, dass ich inzwischen weiß, ob ich das Richtige oder das Falsche getan habe." „Sie haben den Job, den Sie haben wollten, und schon bald werden Sie aufsteigen." „Ich weiß." Als sie losging, stieg ihm ihr verführerisches Parfüm in die Nase. Er versuchte den Schwung ihrer Hüften und die Art, wie ihr Haar hin und her schwang, zu ignorieren. Auf einmal verspürte er ein drängendes Bedürfnis herauszufinden, wie ihre Haut schmeckte. Als sie draußen standen, setzte Anne ihre Sonnenbrille auf. „Ich würde gern noch ein paar Flaschen Mineralwasser mitnehmen." „Gern." Er trat dichter an sie heran. „Wir haben eine Kühltasche dabei. Dort in dem Laden können wir uns auch ein paar Beutel mit Eis besorgen, um sie kühl zu halten." Bevor sie den Laden betraten, blieb Anne stehen. „Was ist mit Becky Sue? Fahren wir zu ihr?" Jake war hin- und hergerissen, ob es helfen oder alles nur noch verschlimmern würde. „Wenn die zwei Monate vorüber sind, gehen Sie wieder nach Houston." Es war keine Frage. „Das weiß ich." „Sie ist meine Tochter, Anne, und nichts wird daran etwas ändern." „Das weiß ich auch." „Dann fahren wir kurz vorbei." „Will wirklich keiner mehr ein Stück Kuchen?" fragte Becky Sue und erhob sich vom Tisch. „Ich nicht mehr, ich bin satt", sagte Anne und wandte sich an Jake. „Sie vielleicht noch?" Er schüttelte den Kopf. Während des ganzen Essens war er ziemlich schweigsam gewesen. Das konnte sie ihm nicht verargen. Es war heiß und stickig, selbst das Reden bedeutete eine Anstrengung. Die Klimaanlage des Wohnwagens hatte schon vor langer Zeit ihren Geist aufgegeben. Obwohl Anne vor dem Essen geduscht und sich umgezogen hatte, lief ihr der Schweiß den Rücken hinunter, Ihr normalerweise lockiges Haar klebte ihr am Kopf, so wie Jake das weiße Hemd am Leib klebte. Nur Becky Sue in geblümtem Rock und Bluse wirkte frisch und munter. Die drei Erwachsenen saßen um den alten Tisch in der Küche. Die sechs Kinder spielten mit zwei Hunden und einer stattlichen Anzahl Katzen. Anne warf einen Blick auf den Kirschkuchen auf dem Tisch. Becky Sue war bestimmt früh aufgestanden, um ihn zu backen. Die ge bratenen Hähnchen und das Gebäck waren nach einem alten Familienrezept zubereitet, der Mais am Morgen gepflückt worden. Dies war das Zuhause, an das sie sich erinnerte. Es war alles noch genauso wie früher, sie war es, die sich geändert hatte. „Tut mir leid, dass J.T. nicht zum Essen gekommen ist", sagte Becky Sue, als sie den Tisch abräumte. „Aber er konnte Überstunden machen." Sie blickte sich um. „Das zusätzliche Geld können wir gut gebrauchen, um dies hier ein wenig auf Vordermann zu bringen." Sie zwinkerte Jake zu. „Anne und ihre Mutter waren nur zu zweit. Wenn man viele Kinder hat, bleibt nichts heil oder neu." Anne rutschte unbehaglich auf ihrem Platz hin und her. Sie schämte sich nicht, wo und wie sie aufgewachsen war. Es hatte nicht viel Luxus gegeben, aber dafür viel Liebe und Verständnis. Dennoch, wie mochte Jake über all dies denken? „Sie müssen sehr stolz auf Anne sein", bemerkte Jake und nahm den Kaffee entgegen, den Becky Sue ihm anbot. „Oh, das sind wir auch. Sie hat einen tollen Job. Und Ihre Wohnung erst... haben Sie sie gesehen?"
Er nickte. „Ist sie nicht traumhaft? Alles in Weiß." Becky Sue lächelte Anne an: „Sie wo llte uns einen neuen Wohnwagen kaufen, aber das haben wir nicht angenommen. Dies hier mag zwar nicht mehr ganz neu sein, aber es reicht uns noch." „Ich bin sicher, dies interessiert Jake nicht sonderlich", sagte Anne, die sich immer unwohler zu fühlen bega nn. Jake ignorierte ihre Worte. „Das war sehr großzügig." „So ist sie. Sie gibt mir auch Geld für die Kinder. Fürs College, sagt sie, falls sie hingehen wollen." Becky Sue warf einen Blick hinüber zu ihren Sprösslingen. „Ich denke, die kleine Dolly wird wohl die Chance nutzen, aber die anderen wollen einen Beruf erlernen." Sie setzte sich und klopfte Jake auf die Schulter. „Dir kleines Mädchen kommt aus einer guten Familie. Wir mögen zwar keine feinen Leute sein, sind aber ehrliche Menschen." Anne fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Sie schaute nach unten und strich sich ihren Rock glatt. Wenn Jake sich nur halb so unwohl fühlte wie sie, war er sicher froh, möglichst schnell aus der stickigen Küche herauszukommen. Sie blickte ihre Kusine an und lächelte. „Es ist ein so schöner Abend. Macht es dir etwas aus, wenn wir einen kleinen Spaziergang unternehmen?" „Nein, geht nur." „Jake?" Er sah sie leicht verwundert an. Dann nickte er. „Sicher. Ich sage nur schnell Laurel Bescheid." Er ging hinüber in den großen Wohnraum. „Er ist nett", sagte Becky Sue, als er außer Hörweite war. „Er ist Laurels Vater. Komm bloß nicht auf irgendwelche anderen Ideen." „Aber du bist nicht mehr mit einem Mann ausgegangen, seit unsere Jüngste geboren wurde." Anne konnte ihrer Kusine nicht böse sein. „Fang ja nicht an, mich verkuppeln zu wollen", sagte sie lächelnd. „Das tue ich nicht. Aber du musst zugeben, er sieht blendend aus." „Das gebe ich zu, aber sonst nichts." Becky Sue wollte etwas sagen, aber da kam Jake schon zurück, und Anne versetzte ihr rasch einen leichten Stoß mit dem Ellbogen. „Ich hatte fast vergessen, dass es Sterne gibt." Anne schaute hinauf zum dunklen Himmel, der mit Myriaden funkelnder Lichter übersät war. „Bei uns auf der Ranch sieht der Himmel genauso aus", meinte Jake, als sie nebeneinander hergingen. „Aber sicher ist es dort nicht so heiß." Sie fächelte sich mit der Hand Luft zu. „Da haben Sie recht." In schweigendem Einvernehmen strebten sie vom Heim ihrer Kusine fort. Rasch verklangen die Stimmen der Kinder, das Klappern der Töpfe und die Geräusche aus dem Fernseher. Schon bald waren nur noch der Ruf der Eulen zu hören und das Knirschen der Kiesel unter Jakes Stiefeln. Zufällig streifte Jake ihren Arm, als sie einem Felsen ausweichen wollten. Eine he iße Welle durchfuhr ihren Körper, ein plötzliches Verlangen nach Jake, das sie sofort zu verdrängen suchte. Sie räus perte sich. „Sagen Sie, ist Paradise in etwa so, wie Sie es erwartet haben?" „Nicht genau. Ich hatte es mir doch ein wenig lebendiger vorge stellt, auch wenn Sie sagten, es wäre nur ein kleiner Ort." Seine Stimme klang freundlich. Anne hätte gern gewusst, ob er lächelte, wagte aber nicht, ihn anzusehen. „Es ist kein schlechter Ort", fuhr er fort und blieb neben einem großen, flachen Felsen stehen. Als sie herankommen wollte, hielt er sie mit einer Handbewegung zurück. „Warten Sie einen Moment." Er ging um den Felsen herum und stocherte mit der
Schuhspitze in einem Loch. „Okay, jetzt können Sie näher kommen." „Was haben Sie gemacht?" „Nach Klapperschlangen geschaut. Ich habe Stiefel an, Sie nicht." Anne war überrascht, dass er daran gedacht hatte. „Ich mag zwar in Dallas aufgewachsen sein, bin aber im Grunde meines Herzens immer ein Junge vom Land gewesen", sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen, Sie für einen Jungen zu halten", erwiderte sie spontan und hätte sich im selben Moment am liebsten die Zunge abgebissen. Wie konnte sie nur so etwas sagen? Rasch setzte sie sich auf den Felsen und starrte hinauf zu den Sternen. Glücklicherweise war es dunkel, so konnte Jake nicht sehen, dass sie rot geworden war. „Mir gefällt Ihre Kusine", sagte er, als er sich neben sie setzte. Sie berührten einander nicht, aber sie konnte deutlich seine Wärme spüren, und ihre Gefühle gerieten in Aufruhr. Ihre Brüste spannten plötzlich, und eine erregende Hitze breitete sich zwischen ihren Beinen aus. Er hatte sie noch nicht einmal angefasst! „Becky Sue ist wirklich liebenswert", sagte sie und hoffte, ihr Konversationston würde sie ablenken. „Alles, was sie wollte, war, zu heiraten und Kinder zu bekommen." „Dann hat sie ja alles bekommen, was sie wollte." , ,Ich wollte mich nicht für sie entschuldigen", erwiderte sie scharf. „Das hat auch keiner verlangt. Ich habe gemeint, was ich sagte. Ich mag sie. Sie ist auf erfrischende Weise direkt." „Entschuldigung." Sie seufzte und faltete die Hände im Schoß. „Ich bin wohl ein wenig angespannt, weil ich nach so langer Zeit wieder einmal hier bin. Es gibt so viele Erinnerungen." Sie sah zum Sternenhimmel hinauf, den sie so gut kannte. „Meine Mutter und ich saßen abends oft auf der Veranda und schauten uns den Himmel an. Wir warteten darauf, dass der Mond aufging, und sprachen über die Zukunft. Sie hatte so viele Träume, was mich betraf. Ich sollte Paradise verlassen und mir einen besseren Ort zum leben suchen." „Und das haben Sie." „Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich hier nie gelebt." Er lehnte sich zurück und stützte sich auf den Ellbogen auf. „Ich muss zugeben, es fällt mir schwer, in Ihnen das Mädchen zu erkennen, das hier aufwuchs." „Aber ich bin hier aufgewachsen." Anne zog das eine Bein unter den Körper und zog ihren Rock darüber. „Ich schloss die Schule als Klassenbeste ab und war im siebten Monat schwanger. Stellen Sie sich vor, was alle von mir dachten." , ,Erzählen Sie mir von Bobby." Sie lachte. „Er war der begehrteste junge Mann am Platz. Er war auf dem besten Weg, ein Champion unter den Rodeoreitern zu werden." Ihr Lächeln verblasste. „Ich hielt ihn für perfekt. Mir machte es nicht einmal etwas aus, auf der Ladefläche seines Kleinlasters mit ihm zu schlafen. Meine Mutter mochte ihn nicht, aber sie war nicht sauer, als sie von der Schwangerschaft erfuhr. Sie machte mir nur sehr deutlich klar, sie würde es nicht zulassen, dass Bobby bei ihren Plänen für meine Zukunft dazwischenfunkte." „Wollten Sie ihn heiraten?" „Ich weiß es nicht." Sie zuckte mit den Schultern. „In gewisser Weise wohl schon. Aber ich wollte auch aufs College, und als ich mir meiner Schwangerschaft sicher war, hatte er mich bereits wegen einer anderen verlassen. Raten Sie einmal, mit wem?" „Das kann ich nicht." „Mit einer Rodeoreiterin. Er hatte sie bei einer dieser Veranstaltungen kennengelernt." Jake lachte leise auf, und dieses Lachen erfüllte Annes Herz mit einer wunderbaren Wärme. Schnell wandte sie sich ab und schaute hinüber zum Horizont. „Wusste er von dem Baby?" „Ja, aber es interessierte ihn nicht. Ein Freund meiner Mutter, ein Notar, vermittelte die Adoption. Den Namen des Paares habe ich nie erfahren." Sie machte eine Pause. „Ich
kannte Ihren Namen nicht, Jake, aber man versicherte mir, dass Sie und Ihre Frau nette Menschen seien und gut für das Kind sorgen würden. So gab ich es her. Es war nicht besonders schlimm." Sie hoffte, er würde diese Lüge nicht bemerken, als sich ihr die Kehle zuschnürte. „Ich hatte ein Stipendium bekommen, und das Baby sollte Mitte August da sein. Man sah es mir aber kaum an. Zwar wussten alle es, aber niemand machte eine Bemerkung. Nachher Geburt ging ich fort, besuc hte das College und benahm mich, als wäre nichts geschehen." Aber sie hatte sich etwas vorgemacht. Sie hatte den Schmerz in ihrem Herzen dreizehn Jahre mit sich herumgetragen. „Sie haben es inzwischen weit gebracht", meinte Jake. „Ihre Mut ter muss stolz auf Sie sein." . „Sie war es. Sie starb während meines letzten Semesters. Das Examen hat sie nicht mehr miterlebt, wusste aber, ich würde es schauen." Sie holte tief Luft und zwang sich, ihrer Stimme einen fröhlichen Klang zu geben. „So, und Sie sagten, Sie seien in Dallas aufgewachsen?" Er bewegte sich unruhig, ehe er antwortete. „Mein Vater war im Baugeschäft tätig", antwortete er dann. „Lassen Sie mich raten. Ein großes weißes Haus mit einem Swimmingpool." „Und Pferde." Sie blickte sich um. Der Mond war inzwischen aufgegangen. Aus einiger Entfernung schimmerten die Lichter der Wohnwagen zu ihnen herüber. Auf einer Leine hing schlaff Wäsche. Ein Hund bellte. „Zwischen dem und diesem hier liegen Welten", sagte sie. „So viele wie jetzt zwischen Ihnen und Paradise. Sie sind weit ge kommen." „Das bin ich." Aber was war der Preis dafür gewesen ... „Sie sind auch aus Ihrem Heimatort fortgezogen. Warum ausgerechnet nach Colorado?" „Mein Großvater hatte mir seine Ranch vermacht. Gern hätte ich mich schon früher dort niedergelassen, aber es war von jeher ge plant gewesen, dass ich in die Firma meines Vaters eintreten sollte. Ich wagte nicht daran zu denken, einmal von der Pferdezucht leben zu können. Ich sagte mir immer, das ist ein Traum." „Und nun tun Sie es." „Ja, und es ist ein ganzes Stück harter Arbeit mehr, als ich mir vorgestellt hatte." Er lächelte. Seine weißen Zähne schimmerten im Mondlicht. Vielleicht gibt es doch eine Chance, dass wir Freunde werden, fuhr es ihr durch den Kopf. „Sie lieben Ihre Arbeit", erwiderte sie. „Das tue ich. Ich hätte schon vor Jahren die Ranch übernehmen sollen." „Warum taten Sie es nicht?" Sie spürte seine plötzliche Angespanntheit. Am liebsten hätte sie seinen Arm genommen und ihn an sich gezogen, tat es aber nicht. Er sollte die Entscheidung für sich treffen. Jake starrte in die Dunkelheit. Schließlich atmete er tief durch und begann zu erzählen. „Ellen und ich waren schon in der Schule miteinander befreundet, und beide Familien wollten, dass wir heiraten. Dann hatte ich eine Frau und ein Kind. Irgendwelchen Träumen nachzujagen war unmöglich geworden. Ich hatte Verantwortung übernommen." „Handeln Sie immer so?" „Sie nicht?" fragte Jake. „Ich versuche das zu tun, was ich für das richtige halte." „Schicken Sie deswegen auch Geld an Becky Sue?" Sie zuckte mit den Schultern, und dabei berührte sie Jake versehentlich. Dieser kurze Kontakt genügte, ein heftiges Verlangen aufflammen zu lassen. Beinahe hätte er sie an sich gerissen. Er nahm den wundervollen, aufregenden Duft ihres Parfüms wahr und wollte nur noch eines: sie besitzen, ihren weichen Körper an seinem spüren. Dieses Bewusstsein machte ihn halb verrückt.
„Sie ist meine Familie. Ich tue, was ich kann." „Das sieht man." Sie wandte sich ihm zu. „Das ist das erste nette Wort, das Sie über mich sagen." „Was habe ich denn gesagt, was nicht nett ist?" Anne lachte. „Wieviel Zeit haben wir?" „Okay, vielleicht bin ich ein wenig schwierig." „Ein wenig? Sie haben mich praktisch aller sieben Todsünden für schuldig befunden." Sie sche rzte, und doch fühlte er sich bei ihrer Bemerkung unbehaglich. Er starrte hinaus in die Wüste. „Ich beschütze nur das, was mir gehört." „Hören Sie niemals damit auf." Überrascht sah er sie an. „Ich hätte gedacht, Sie würden mich einen Chauvinisten schimpfen oder zumindest einen Barbaren." „Nein. Es hat oft Zeiten gegeben, wo ich mir wünschte, jemand würde mich beschützen. Meine Mutter hat es versucht, aber sie war oft fort. Sie musste zwei Stellen annehmen, um uns zu ernähren." Das Mondlicht ließ das Blau ihrer Augen wie Saphire schimmern. Wie würde sich ihr Haar zwischen seinen Fingern anfühlen? Jake ballte die Hände, um sich davon abzuhalten; es herauszufinden. Er zwang sich, an andere Dinge zu denken. An ein Mädchen, das in einem Wohnwagen darauf wartete, dass seine Mutter von der Arbeit endlich nach Haus kam. An den Fleiß, den sie hatte aufbringen müssen, um ein Stipendium bewilligt zu bekommen. „Sie passen nicht hierher, nicht wahr?" fragte er. "Nein." „Und wie war es auf dem College?" Sie lachte, aber es klang ein wenig traurig. „Dort war ich zuerst die Landpomeranze mit den selbstgenähten und -gestrickten Kleidern. Ich redete damals auch noch so wie Becky Sue. Sie können sich vorstellen, wie das ankam." Sie sprach nicht weiter und schluckte. „Das Krankenhaus, in dem ich mein uneheliches Kind zur Welt brachte, war der von Paradise am weitesten entfernte Ort, den ich bis dahin gekannt hatte. Ich war genau fünfmal im Kino ge wesen, hatte noch nie in einem Restaurant mit Tischdecken auf den Tischen gegessen. Und ich besaß kein einziges gebundenes Buch." Zum zweitenmal innerhalb weniger Minuten wollte Jake sie berühren. Aber diesmal eher, um sie zu trösten. Dennoch behielt er seine Hände ruhig bei sich. „Wie viele besitzen Sie jetzt?" „Eine Menge." Sie lächelte. „Ich habe ein großes Regal voll in meinem Schlafzimmer." „Dann haben Sie es also geschafft?" „Das habe ich. Und beruflich ebenfalls. Ich bin erfolgreich und weiß, was ich in dieser Hinsicht will." Sie zog die Knie an, und ihr Rock bedeckte nun ihre Beine bis hinunter zu den Knöcheln. Dennoch lag etwas Provozierendes darin. Und wirkte doch zugleich so jung, so verletzlich. Sie mochte es in ihrem Beruf weit gebracht haben, aber im Herzen war sie immer noch das Mädchen aus Paradise. „Es wird nicht einfach für Sie gewesen sein, hierher zurückzukommen", sagte er. Anne blickte Jake an. „Ich wollte, dass Laurel sieht, wo und wie ich aufgewachsen bin. Ich wollte nicht, dass sie sich irgendwelchen Traumbildern hingibt, was mich betrifft. Ich möchte, dass sie mich mag. Ich möchte Teil ihres Lebens sein, aber sie ist noch zu jung, als dass sie schon Dinge bedauern sollte." „Wie steht es da mit Ihnen? Gibt es Dinge, die Sie bedauern?" „Interessiert Sie das wirklich? Sie hassen mich." „Das stimmt nicht." Sie seufzte. „Aber Sie mögen mich nicht. Das mag vielleicht als Verbesserung anzusehen sein, aber richtige Freude bereitet es mir dennoch nicht."
„Ich traue Ihnen nicht. Das ist ein Unterschied." „Kein sehr großer." Sie stützte den Kopf auf die Knie. „Die Sache ist die, man weiß nie, wie es hätte sein können", sagte sie dann. „Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich nicht studiert hätte? Wenn ich statt dessen das Baby behalten hätte?" Er wollte nicht darüber nachdenken, aber sie zwang ihn dazu. „Ich wäre nicht Laurels Vater." Oder nicht mit Ellen verheiratet ge blieben, fügte er im stillen hinzu. Ohne die Verantwortung für das Kind und Ellens tränenreiche Vorwürfe, sie wäre bei ihm geblieben, obwohl sie hätte gehen und ein eigenes Kind haben können, wäre ihre Ehe nach ein paar Jahren beendet gewesen. Aber er hätte Laurel niemals aufgeben können. „Es ist schwierig, sich vorzustellen, was hätte sein können, nicht wahr?" meinte Anne. „Ich wäre vielleicht auf eine Fachschule ge gangen und hätte irgendwo gearbeitet. Und Sie ..." Sie blickte ihn an. „Was hätten Sie getan, Jake?" Er konnte ihr die Wahrheit nicht erzählen. Sie würde es nicht verstehen. Und das war nur die halbe Sache. Die andere war, er wünschte sich immer noch ein eigenes Kind. Einen Sohn. Aber dieser Traum würde immer ein Traum bleiben. Er war unfruchtbar, und nichts auf der Welt konnte daran etwas ändern. „Ich hätte Wohl früher die Farm übernommen", sagte er schließlich. „Wollte Ellen auch dorthin ziehen?" „Nein. Sie liebte das Leben in der Stadt. Nachdem sie gestorben war, blieb ich Laurels wegen und aufgrund der Verpflichtungen meinem Schwiegervater gegenüber." „Was hat Ihre Meinung geändert? Laurels neue Freunde?" Er war erstaunt, dass sie sich an ihre Unterhaltung erinnerte. „Sie war auf dem besten Weg, sich in ernste Schwierigkeiten zu bringen. Aber es war mehr als das. Mein Schwiegervater, er wollte nichts mehr ..." Er zögerte. „Nachdem Ellen tot war, wollte er mit Laurel nichts mehr zu tun haben. Er enterbte sie, weil sie nicht von seinem Fleisch und Blut war." Anne sah ihn fassungslos an. „Seine eigene Enkelin?" Jake nickte. Das war nicht alles gewesen. Der alte Mann hatte Laürel einen Bastard genannt, und Jake hatte all seine Selbstbeherrschung gebraucht, um nicht zuzuschlagen. Nur der Respekt vor Ellen hatte ihn davon abgehalten. „Weiß Laurel es?" „Nein, ich glaube nicht. Ich hatte bereits mit den Vorbereitungen für den Umzug nach Colorado begonnen. Sein Verhalten überzeugte mich, dass es das beste für uns beide war. Selbst wenn Laurel da anderer Meinung ist." „Sie wird es irgendwann verstehen." Anne lächelte ihn an. „Irgendeines Tages wird Sie verstehen, was für einen wundervollen Vater sie hat und wie sehr er sie liebt." „Solch ein guter Vater bin ich überhaupt nicht gewesen." Er wandte sich ab. „Ich hatte erhebliche Schwierigkeiten, mit Ellens Tod fertigzuwerden. Ich zog mich von allem zurück. Laurel eingeschlossen." „Ich bin sicher, sie hat Verständnis dafür gehabt." „Verdammt, sie war damals elf. Wie sollte sie es da verstehen können?" Er sprang vom Felsen herab. „Und jetzt verstehe ich sie nicht mehr, Anne. Sie ist mir so fremd geworden. Ich habe eine dreizehnjährige Tochter und weiß im Grunde nicht, was sie denkt und fühlt. Hinzu kommt, dass sie mich hasst, weil ich sie von ihren Freunden ge trennt habe. Ein schöner Vater bin ich!" Er schob die Hände in die Taschen und ging davon. Aber er hatte kaum zwei Schritte gemacht, da fühlte er ihre Hand auf seinem Arm. „Warten Sie, Jake." Er blieb stocksteif stehen. Ihre Hand brannte auf seiner Haut. Der sanfte Duft, der von ihr ausging, berauschte seine Sinne. „Sie sind ein guter Mann, Jake", sagte sie. „Das bin ich bei weitem nicht." „Doch, Jake." Sie kam noch näher. „Laurel ist ein wundervolles Kind, und sie wäre es
nicht, wenn Sie kein anständiger Mann wären." Er fuhr so schnell herum, dass sie keine Zeit hatte zurückzuweichen. Im Mondlicht sah er nur den Umriss ihres Körpers, die Schatten ihrer Gesichtszüge. Den Ausdruck in ihren Augen konnte er nicht erkennen. Du Narr, sagte er sich. Dies ist nicht mehr als sexuelles Verlangen, und schon morgen früh wirst du es bedauern, so spontan gehandelt zu haben. Aber er konnte sich nicht mehr beherrschen. „Wenn ich so anständig bin, warum kann ich nicht aufhören, an dies zu denken?" sagte er und packte sie am Arm. Dann küsste er sie.
5. KAPITEL
Sein Kuss war heiß und süß wie der texanische Sommer. Sein Mund wurde sinnlich weich, als er Annes Lippen berührte. Einen kurzen Augenblick lang liebkoste er sie, dann spürte sie, wie sein Griff sich lockerte. Anne wusste, wenn sie sich jetzt von ihm löste, würde er sie sofort freigeben. Und sie sagte sich, dass sie dies tun müsste oder zumindest auf ihn böse sein sollte. Aber sie konnte es nicht. Nicht, wenn jede Faser ihres Körper sich nach seinen Zärtlichkeiten sehnte. Nicht, wenn sie in seiner Umarmung erbebte. Sie hatte dies gewollt, seit sie sich kennengelernt hatten. Verdammter Cowboyfluch! Aber selbst als sie sich an seine breite Brust drängte, wusste sie, es war mehr als nur ihre Schwäche für Cowboys. Es war ihre wachsende Schwäche für genau diesen Mann. Mit der einen Hand umfasste er ihren Nacken, die andere ließ er ihren Rücken hinuntergleiten. Sie legte die Arme auf seine Schultern und fuhr mit den Fingern durch sein Haar. Es fühlte sich kühl wie Seide an, ein Gegensatz zu der Wärme der Nacht und der Hitze ihrer Körper. Jake presste wieder die Lippen auf ihren Mund. Sie versuchte sich zurückzuhalten, aber es gelang ihr einfach nicht. Ihr Körper sprach eine andere Sprache. Sie öffnete die Lippen, und Jake drang mit seiner Zunge tief ein. Ein Schauer überlief sie, und sie stöhnte unwillkürlich auf. Sanft drückte er ihre Hüften an sich, und instinktiv drängte sie sich an ihn. Nur zu deutlich fühlte sie, wie erregt er bereits war, und das verstärkte das Feuer in ihr noch. Sie versuchte sich zu sagen, dass es falsch sei, was sie tat, vollkommen verrückt. Sie kannte diesen Mann kaum. Sex würde die ohnehin schwierige Situation zwischen ihnen nur noch komplizierter machen. Aber als er mit seiner Zunge ihre Erregung schürte, wichen diese Gedanken, und sie gab sich ihren aufgewühlten Gefühlen hin. Sie klammerte sich an seine Schultern, als er mit beiden Händen ihre Hüften packte. Instinktiv begannen sie sich rhythmisch zu bewegen. Sie brauchte mehr, so viel mehr. Er küsste ihr Kinn, ihren Nacken, dann glitt sein Mund tiefer. Sie bog den Kopf weit zurück, flehte schweigend um mehr. Sein heißer Atem streifte ihre Haut. Sie brauchte dies. So lange schon war es her. Und noch kein Mann hatte sie empfinden lassen wie Jake. „Annie", murmelte er. Er sprach ihren Namen wie eine einzige Liebkosung aus. Vielleicht hasste er sie doch nicht... Gütiger Himmel, er war Laurels Vater! Sie mussten aufhören. Be vor es zu spät war. Er berührte ihre Brüste. Anne biss sich auf die Lippe, um nicht laut aufzustöhnen. Mit den Daumen begann er ihre harten Brustspitzen zu streicheln, die sich durch die Bluse abzeichneten. Anne konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Jake öffnete mit geschickten Bewegungen einen Knopf nach dem anderen und zog ihr dann die Bluse aus. Ohne ein Wort zu sagen, schob er sie zum Felsen und drückte sie sanft auf den warmen Stein. Sie öffnete ihre Schenkel, und er stellte sich zwischen sie. Das darf doch alles nicht wahr sein, schoss es ihr durch den Kopf, und doch wusste sie, es war Wirklichkeit. Eilig öffnete sie sein Hemd, aber noch bevor sie seine nackte Brust berühren konnte, griff er nach dem Verschluss ihres BHs. Voller Erwartung hielt sie den Atem an. Wieder senkte er den Kopf und küsste sie. Er stieß seine Zunge tief in ihren Mund, spielte mit ihrer Zungenspitze. Sie begann daran zu saugen und fühlte wie seine Muskeln sich anspannten. Dann stöhnte er auf, öffnete ihren BH und streifte ihr die Träger von den Schultern. Er starrte sie an, und unwillkürlich blickte Anne an sich hinunter. Ihre aufgerichteten dunklen Knospen wirkten im Mondlicht wie dunkle Flecken auf milchigweißem Alabaster. Anne hörte ihn scharf einatmen, bevor er sie wieder küsste. Dann zog er mit der Zunge eine feuchte Spur bis zu ihren Brüsten hinab. Anne bog sich ihm entgegen, voller Ungeduld und Sehnsucht nach seiner Berührung. Sie suchte einen Halt am Felsen, fand aber keinen. So presste sie ihre Hände an seine
Brust, fühlte die weichen Haare darauf. Sie begann seine Brustwarzen zu massieren, und er antwortete mit einem zarten Biss in ihre Knospen. Jake zerrte an ihrem Rock. Sie hob das Becken, und er schob den dünnen Stoff ihre Schenkel hinauf. Seine Hände waren heiß auf ihrer Haut. Sie versuchte sich mit den Ellbogen aufzustützen, tat sich dabei am Felsen weh und stieß einen leisen Schmerzenslaut aus. „Ist alles in Ordnung?" fragte er sofort, die Stimme heiser vor Erregung. „Ich habe mich nur am Felsen gestoßen. So etwas Wildes habe ich nicht mehr getan, seit ..." Seit sie siebzehn gewesen war. Seit sie schwanger geworden war. Die Erinnerung daran wirkte wie eine eiskalte Dusche auf sie. Was um Himmels willen tat sie hier nur? Hatte sie den Verstand Verloren? Jakes Hände glitten höher. Mit den Daumen massierte er sanft die empfindliche Haut an der Innenseite ihrer Schenkel, und sie wehrte sich gegen die Welle der Wollust, die sie überrollte. „Jake, hör auf." „Warum?" Seine Hand glitt höher. „Du bist mehr als bereit für mich." Er lächelte zufrieden. O ja, das stimmte. Nur zu bereit und zu bereitwillig. „Wir haben keinen Schutz." „Ist das alles?" Er beugte sich herab und küsste ihre Kniekehle. „Ich bin seit mehr als zwei Jahren nicht mehr mit einer Frau zusammengewesen. Vor sechs Monaten habe ich Blut gespendet und wurde vorher getestet. Es ist alles in Ordnung." „In der Hinsicht bin ich auch okay", sagte sie. „Ich meinte Verhütung. Ich bin gerade mitten im Zyklus und sehr wahrscheinlich fruchtbar wie ein Kaninchen." Er reagierte, als hätte sie ihn geschlagen. Er richtete sich auf und funkelte sie an. Unwillkürlich verschränkte sie die Arme vor den Brüsten. „Jake, was ist los?" „Du brauchst dir keine Sorgen zumachen", sagte er grimmig. „Ich bin der Grund, warum wir ein Kind adoptiert haben, anstatt ein eigenes zu bekommen. Ich bin unfruchtbar." Nun war sie schockiert. Unfruchtbar? Sie starrte ihn an. Sie hatte sich nie groß Gedanken darüber gemacht, warum Ellen und er Laurel adoptiert hatten, sondern war davon ausgegangen, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Eige ntlich dumm von mir, dachte sie. Schwer atmend stand er vor ihr, seine Brust hob und senkte sich. Ihr erster Gedanke war, auf der Stelle davonzulaufen, zurück in die Sicherheit von Becky Sues Wohnwagen. Es war alles ein großer Fehler gewesen. Aber sie konnte Jake nicht einfach hier so stehenlassen. Sie fühlte seinen Schmerz zu deutlich. Er drückte sich in der Haltung seiner Schultern aus. Er wartete darauf, dass sie ihm ihre Verachtung zeigte. Sie musste ihm sagen, dass es ihr nicht das geringste ausmachte, auch wenn sie tiefes Mitleid mit ihm empfand. Er war ein stolzer Mann. Herauszufinden, dass er nicht Vater werden konnte, musste ihn tief getroffen haben. Jake machte Anstalten, sich abzuwenden. Ohne nachzudenken, griff sie nach ihm, erwischte zufällig seine Gürtelschnalle und zog fest daran. Zögernd kam er näher. Sie wollte ihm sagen, wie leid es ihr tat, aber Worte würden nicht helfen. So schlang sie ihm die Arme um die Taille und presste die Lippen auf seine Brust. Der Geruch seiner Haut weckte erneut heiße Leidenschaft in ihr. Was als Trost begonnen hatte, verwandelte sich rasch in etwas anderes. Sie nahm seine Brustwarzen in den Mund, sog daran. Sein Atem beschleunigte sich. Er griff nach ihren Brüsten, massierte und rieb sie, bis Anne vor Verlangen zitterte. Dann fühlte sie seine Hände an ihren Slip, er riss ihn herunter. Hastig löste sie seinen Gürtel, tastete nach den Knöpfen seiner Jeans. Um die Lust noch zu steigern, öffnete sie einen nach dem anderen langsam und voller Bedacht, presste dabei ihren Handrücken zwischen seine Schenkel.
Schließlich hatte sie es geschafft. Er war heiß und bereit. Rasch streifte er sich die Jeans und den Slip ab, kam zwischen ihre Schenkel, reizte Anne mehr und mehr. Als sie dann kurz davor war, den Höhepunkt zu erreichen, und leise stöhnte, drang er in sie ein. Sie richtete sich auf den Ellbogen auf und sah zu, wie er sich bewegte, sanft und einfühlsam. Sie schaute ihm ins Gesicht. Er sah sie an. Ihre Blicke verschmolzen. Sie sprachen nicht, aber das war auch nicht nötig. Sie verstanden sich auch so, als hätten beide ihr Leben lang auf diesem Moment ge wartet. Jake streichelte ihre empfindlichste Stelle im Rhythmus seiner Bewegungen, und Anne spürte die Wellen der Lust kommen. Er keuchte ihren Namen, und sie sank nach hinten, ließ sich überrollen von der Explosion in ihr, Sie hörte ihn aufstöhnen, spürte das hämmernde Pochen ihres Herzens. Oder war es seins? Die Wirklichkeit meldete sich zurück, und Anne nahm wieder die Geräusche der Nacht wahr, den harten Felsen. Sie küsste Jakes Brust, spürte aber nun den bitteren Geschmack der Reue. Sie seufzte. „Das klang aber ernst", sagte er und drückte ihr sanft das Kinn hoch, damit sie ihn ansah. Anne errötete. „Du bist Laurels Vater." „Ich weiß/' „Es war ein Fehler. Ich kenne dich nicht einmal. Und du hasst mich." „Ich hasse dich nicht." Seine Hände sanken herab. „Ich traue dir nicht." „Wir haben gerade miteinander geschlafen, und du traust mir nicht?" Er stand auf. Sie schob ihren Rock hinunter und griff nach ihrem BH. „Wie konnte das geschehen?" fragte sie. „Ich weiß es nicht." Er klang auch nicht glücklicher als sie. „Es waren wohl die Hormone oder die Umstände." Er zog sich Slip und Jeans an. „Wir beide hatten es eine lange Zeit nicht." Anne nahm ihre Bluse. „Es war also, als ob man Wasser trinkt, weil man es vor Durst nicht mehr aushält?" „Ja." Der warme Liebhaber, der ihren Leib und ihre Seele berührt hatte, war verschwunden. Jake Masters war zurück. Der Mann, der sie nicht mochte, egal, was er auch sagte. Und sie hatte eben mit ihm geschlafen. In der Wüste. Nur ein paar Meter von Becky Sues Wohnwagen entfernt. Auf einem Felsen. Sie wäre am liebsten auf der Stelle gestorben vor Scham. „Mir ist es unbegreiflich, was wir getan haben", sagte sie hektisch. Sie versuchte ihre Bluse zu schließen, aber ihre Fingern zitterten zu sehr. „Wir sind niemals miteinander ausgegangen. Ich kenne dich nicht einmal zwei Wochen." „Für mich ist es auch nicht einfacher", grummelte er. „Verdammt, ich war vierzehn Jahre verheiratet und habe Ellen nicht ein einziges Mal betrogen." „Dafür verdienst du eine Medaille!" fuhr sie bissig auf. „Gib am besten nur mir alle Schuld, um mit deinen Problemen fertig zu wer- den! Mir scheint, das ist sowieso deine beliebteste Methode. Alles, was Laurel betrifft, ist meine Schuld, dann lass dies doch auch meine Schuld sein!" Anne war nahe daran zu weinen und presste die Lippen zusammen. Stumm knöpfte sie ihre Bluse zu und stopfte sie sich in den Rock. Sie wollte sich abwenden und gehen, da hielt er sie am Arm fest. „Was ist noch?" führ sie ihn an. Schweigend hielt er ihr ihren Slip entgegen. Hell zeichnete sich der weiße Stoff gegen die Bräune seiner Hand ab. Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Ich wäre am liebsten tot", flüsterte sie. Jake zog sie an sich. „Es wird schon wieder in Ordnung kommen", sagte er in tröstendem Ton. „Wir beide haben einfach nur reagiert. So etwas habe ich auch noch nie erlebt. Ich mache dir keine Vorwürfe. Niemand ist schuld, Anne. Vielleicht war es am
besten so. Wir beide wollten es wissen. Jetzt, wo es geschehen ist, werden die kom menden Monate einfacher sein. Wir brauchen nur zu vermeiden, dass es noch einmal vorkommt." Anne trat einen Schritt zurück und nahm ihren Slip. Sie drehte Jake den Rücken zu und zog ihn sich an. Er hatte recht. Sie hatten beide wissen wollen, wie es wohl sein würde, und nun wussten sie es. Aber er irrte sich. Es würde nicht einfacher werden. Das wusste sie ganz sicher. Das Haus stand im Schatten hoher Fichten. Dahinter lagen ein großer Stall und mehrere Korrale. In etwas weiterer Entfernung erblickte Anne andere Gebäude und einen jungen Mann, der Pferde an einer langen Leine herumführte. „Da sind wir", sagte Jake und stellte den Motor ab. Er sah sie erwartungsvoll an. „Es ist wundervoll", sagte sie und schaute hinauf zu dem spitzen Dach und den großen Fenstern. Eine breite Veranda zog sich die ge samte Breite der Vorderfront entlang. Der Rasen davor wirkte neu angelegt und war üppig grün. Sie stieg mit steifen Gliedern aus und streckte sich ausgiebig. Jake hatte es nicht eilig gehabt, also hatten sie für die Fahrt drei Tage ge braucht. Laurel riss sich die Kopfhörer vom Kopf und warf sie auf den Sitz. „Gib mir die Schlüssel", bat sie, sprang aus dem Wagen und tanzte um ihren Vater herum. „Ich will Annie alles zeigen." Jake gab ihr die Hausschlüssel, sie ergriff Annes Hand und zog sie mit sich Richtung Haus. „Komm, du musst dir ansehen, wie es drinnen aussieht", sagte sie. „Es ist irre groß. Aber leer." Sie stiegen die Verandastufen hinauf, und sie steckte den Schlüssel ins Schloss. „Ich habe mir einige Mühe mit der Einrichtung gegeben, kenne mich aber mit so etwas nicht sonderlich aus. Zudem bringt es allein nicht soviel Spaß. Du kannst mir ja jetzt helfen." Sie öffnete die Tür und zerrte Anne über die Schwelle. Laurel hatte recht. Das Haus war riesig. Ein steinerner Kamin beherrschte den Wohnraum. An blanken Wänden standen ein paar Sofas, aber ansonsten gab es keine Möbel. Auch das Esszimmer war bis auf einen Tisch und vier Stühle leer. Keine Teppiche, keine Gardinen. Die Küche dagegen war modern eingerichtet, der Traum jeder Hausfrau. In halber Höhe waren die Wände mit blauen und cremefarbenen Kacheln gefliest und darüber mit einer farblich passenden Tapete in hellen Pastelltönen bedeckt. Grünpflanzen hingen in Ampeln von der Decke und am Fenster. Davor stand ein Tisch mit schwarzweißem Muster und passenden Stühlen. „Ich habe sie aus einem Katalog ausgesucht", erklärte Laurel stolz. Anne starrte die Möbel an. Sie waren aus Holz. Aber alle waren mit diesen schwarzweißen Mustern bemalt. Wie bei einer Kuh. „Gütiger Himmel, was hat denn dein Vater zu dem Muster gesagt?" „Er war nicht gerade begeistert", sagte Jake, der gerade in die Küche kam. Er trug Annes Gepäck in der einen Hand, Laurels in der anderen. „Wo möchtest du, dass Anne schläft?" wandte er sich an seine Tochter. „In meinem Zimmer steht noch ein zweites Bett", antwortete Laurel voller Hoffnung. „Das halte ich für keine gute Idee", erwiderte Jake, ehe Anne ant worten konnte. Anne war mit ihm einer Meinung. So sehr sie ihre Tochter liebte, sie wollte ihr eigenes Zimmer. „Wie sieht es mit dem Schlafzimmer aus, das nach vorn hinaus geht?" meinte Laurel. „Es ist groß und liegt neben meinem." Er blickte Anne fragend an. „Ich bin einverstanden." „Gut, dann bringe ich jetzt das Gepäck hinauf." Damit wandte er sich zur Treppe. Laurel nahm Anne bei der Hand und zog sie durch die Halle hinüber in die Bibliothek.
„Dad und ich lesen viel. Mom hat Bücher ge liebt und Erstausgaben gesammelt. Wir haben Berge davon." Überall erhoben sich Stapel von Bücherkartons. Einige von ihnen waren geöffnet. Die Wände der Bibliothek waren vom Fußboden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt. In einer Ecke stand ein lederbezogener Ohrensessel und daneben eine Leselampe. Auf einem Tischchen lagen gerahmte Fotografien. Anne trat näher heran, um sie sich anzusehen. Die erste, die sie zur Hand nahm, zeigte einen viel jüngeren Jake und eine wunderschöne, elegant gekleidete Frau mit dunklen Haaren, die ein Baby im Arm hielt. Ein Neugeborenes. Anne rang nach Atem. „Das bin ich, als Mom mich aus dem Krankenhaus geholt hatte", erläuterte ihr Laurel, ohne anscheinend zu ahnen, wie schmerzhaft ihre Worte für Anne waren. Anne starrte das Baby an. Ihr Kind. Das Kind, das sie an jenem schrecklichen Tag vor dreizehn Jahren nicht hatte in den Armen halten dürfen. Sie strich mit den Fingern über das kühle Glas, konnte aber das Gesicht des Neugeborenen nicht berühren, seine Wärme nicht fühlen und seinen Duft nicht einatmen. Am liebsten hätte sie geweint und geschrien, weil das Schicksal so unbarmherzig gegen sie gewesen war. Aber es war nicht das Schicksal gewesen. Sie selbst war es gewesen. Sie hatte die Entscheidung getroffen, Laurel fortzugeben, und nun musste sie mit den Folgen leben. Sie schluckte, legte das Foto fort und nahm das nächste zur Hand. Es war ein Hochzeitsbild. In ihrem weißen Spitzenkleid sah Ellen atemberaubend schön aus. Neben ihr stand Jake, hochgewachsen und breitschultrig. Er blickte seine Braut so voller Liebe an, dass es Anne das Herz zusammenzog. Die restlichen Bilder zeigten das glückliche Paar. Einige mit Laurel, andere, wo nur die beiden zu sehen waren. Anne schaute auf ihre zerknitterte Shorts und das T-Shirt. Auf ihre sommersprossenbedeckten Arme und den üppigen Busen. Ellen Masters und sie hätten nicht verschiedener sein können. Selbst in ihren besten Zeiten hätte sie nie mit der schlanken Schönheit konkurrieren können. Dann aber sagte sie sich, dass es gar nicht um Konkurrenz ging. Jake interessierte es nicht, wie sie aus sah. Und in der Nacht, als sie miteinander schliefen, hatten ihre üppigen Kurven ihn nicht gestört. Aber da war es auch dunkel, flüsterte ihr eine feine Stimme in ihrem Kopf zu. Auf einmal konnte sie sich des demütigenden Gefühls nicht erwehren, dass er nicht eigentlich mit ihr geschlafen hatte. Jede andere Frau wäre ihm auch recht gewesen. Sie nahm sich zusammen, damit Laurel ihr ihre Gefühle nicht anmerkte, und wandte sich von den Bildern ab. „Ich sehe gar keine Fotos aus deiner Schulzeit." „Oh, die hat Dad alle in seinem Schlafzimmer." Laurel zog die Nase kraus. „Einige von ihnen hasse ich. In einem dieser Kartons ist ein Fotoalbum von mir. Vielleicht können wir es später finden." „O ja, sehr gern." Anne holte tief Luft, um sich wieder zu fangen. „Was zeigst du mir als nächstes?" „Hier drinnen sind all die Kataloge und solches Zeug." Laurel führte sie in einen kleinen Raum. Ein großer Tisch stand an einer der Wände. Einrichtungszeitschriften, Färb- und Teppichmuster und Kataloge lagen darauf. „Ich habe Versucht, mich da durchzuarbeiten, aber ich weiß nicht, wo ich beginnen soll." Sie strich sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht und seufzte. „Dad sagt, ich kann das Haus einrichten, wie ich will, aber alles ist so teuer, und ich bin erst dreizehn." „Tatsächlich?" Anne lächelte Laurel zu. „Noch vor ein paar Tagen hast du uns alle zu überzeugen versucht, dass du schon erwachsen bist." „Vielleicht bin ich doch noch klein ... ich meine ... jung", sagte Laurel und grinste. „Kannst du mir nicht ein wenig helfen? " „Sehr gern. Als Teenager habe ich mich viel mit Handarbeiten beschäftigt. Ich habe sogar selbst genäht."
„Wirklich?" Laurel starrte sie erstaunt an. „Mit einer Nähmaschine?" „Ja, damit geht es doch viel schneller als mit der Hand. Warum bist du so überrascht?" „Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der nähen kann." Anne dachte an die Bilder von Ellen. Sie trug auf allen teure Designerkleidung. „Ich habe es schon einige Zeit nicht mehr gemacht, aber bestimmt kann ich es noch." „Kannst du es mir beibringen? Auch das Handarbeiten?" „Klar. Wenn wir das nächste Mal in die Stadt fahren, kaufen wir alles ein, und du beginnst mit dem Kreuzstich. Er ist einfach und sieht zudem schön aus." „Cool." Laurel deutete auf den Stapel Kataloge. „Können wir zuerst mein Zimmer einrichten? Ich habe in einem der Kataloge so tolle Sachen gesehen." „Wenn dein Vater nichts dagegen hat." Anne nahm einen Stapel Farbproben auf. „Lass ihn uns heute abend fragen und wenn er einverstanden ist, beginnen wir morgen früh." „Ach, du bist die Beste!" Laurel kam zu ihr herüber und umarmte sie. „Ich bin froh, dass du hier bist. Wir gehören zusammen." Anne legte die Muster zurück und schloss die Augen. Sie konzentrierte sich darauf, diesen Moment in der Erinnerung zu halten. Als sie sie wieder öffnete, sah sie Jake in der Tür stehen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, musste er Laurels letzte Worte ge hört haben. Da wusste sie, ihr zerbrechlicher Waffenstillstand hatte nicht lange gehalten. Anne suchte im Küchenschrank nach Reis, fand aber keinen. „Ich finde keinen Reis, Laurel", wandte sie sich zu ihrer Tochter um. „Wir haben keinen. Mom mochte ihn nicht." Anne erhob sich, stieß sich dabei aber den Kopf. Der scharfe Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie stöhnte leise auf. „Ich habe das dumpfe Geräusch gehört." Jake stand plötzlich ne ben ihr. „Hast du dir weh getan?" „Es geht schon", antwortete sie knapp, wandte sich ab und rieb sich den Kopf. So benahm er sich, seit sie angekommen waren. Tauchte unerwartet auf, wo immer sie sich befand, mitten in einer Unterhaltung mit Laurel. Und sie wusste, warum er das tat. Er wollte sie überprüfen, wollte, wissen, was sie in Gegenwart seiner Tochter sagte oder tat. Es machte Anne wütend. Offensichtlicher konnte er ihr nicht zeigen, dass er ihr traute. Trotzdem hatte er mit ihr geschlafen. Noch wütender aber machte es sie, dass er es so leicht vergessen zu haben schien. Es war schrecklich für sie, dass er sich in ganz normalem Ton mit ihr unterhalten konnte, als wäre nie etwas Intimes zwischen ihnen geschehen. Es kostete sie all ihren Willen und ihre Selbstkontrolle, nicht irgend etwas Dummes zu sagen oder ihn anzufassen. Sie hatte seine Leidenschaft nicht vergessen und wollte sie wieder spüren. „Soll ich dir Eis für deinen Kopf geben?" bot ihr Laurel an. „Danke, es geht schon." Wenn kein Reis da war, würde sie eben etwas anderes kochen. Anne erinnerte sich, tiefgefrorene Kartoffeln im Eisfach gesehen zu haben. Nach kurzem Suchen fand sie sie und legte den Beutel auf den Tresen. Laurel warf einen Blick auf die Packung. „Essen wir das zum Huhn?" Anne holte tief Luft. „Ja. Ist das ein Problem?" „Nun, Mom hat Kartoffeln immer zu Schweinefleisch serviert, nicht wahr, Dad?" „Ich denke, wir könne n sie dieses eine Mal auch mit Huhn essen", meinte Jake. Anne wagte nicht, sich umzudrehen und ihn anzusehen. Sie wollte nicht das Mitleid in seinen Augen sehen müssen. „Ich nehme nicht an, dass du die Stelle der Haushälterin einnehmen willst?" sagte er und lehnte sich gegen den Küchentresen. Anne ging um ihn herum und nahm die Hähnchen auf. Sie legte sie in eine Schmorpfanne und begann sie zu würzen. „Mir macht es nichts aus zu kochen", sagte sie: „Zu Haus komme ich kaum einmal dazu." „Bist du dir sicher?" Nein, sie war sich in nichts mehr sicher. „Bestimmt."
„Ich habe bereits eine Stellenvermittlung angerufen. Aber da wir so abgelegen wohnen, kann es durchaus eine Weile dauern, bis wir jemanden bekommen. Deswegen bin ich dir dankbar für deine Hilfe." Ahne schob die Hähnchen in den Herd, stellte die Temperatur ein, zwang sich zu einem Lächeln und drehte sich zu Jake um. Er stand da und hatte lässig ein Bein über das andere gelegt. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Das blaue Polohemd betonte seine breiten Schultern, und Anne dachte an die feste, sonnengebräunte Haut darunter, die sie vor zwei Tagen noch unter ihren Fingern gespürt und geschmeckt hatte. Seine braunen Augen sahen sie prüfend an, und sie fragte sich, wonach er suchte. Würde sie vor seinen Augen bestehen oder wieder durchfallen? Sie dachte an die Bilder in der Bibliothek und wurde sich ihrer zerknitterten Kleidung bewusst. Sie war darin den halben Tag zum Einkaufen unterwegs gewesen und sah sicher dementsprechend aus. Anne strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Laurel deckte den Tisch und ging auf ihr Zimmer. Als sie den Raum verlassen hatte, war die Spannung fast körperlich spürbar. Anne spürte die Hitze des Herdes, aber sie war nichts im Vergleich zu der, die von dem Mann vor ihr ausging. Und was für ein Mann. Ihr Körper sehnte sich nach ihm. Jake Masters mochte keinen Gedanken mehr an das verschwenden, was zwischen ihnen gewesen war, aber sie würde sich noch lange daran erinnern. „Wann essen wir?" fragte er da. „Gegen sieben Uhr." Er nickte. „Ich muss vorher unbedingt noch mit meinem Verwalter sprechen und auch mal nach den Pferden sehen." Mit diesen Worten verließ er eilig den Raum. Offenbar hatte er die Spannung in der Küche nicht wahrgenommen. Dass sie miteinander geschlafen hatten, musste er längst vergessen haben. Anne entschloss sich, ausgiebig zu duschen. Als sie unter den heißen Wasserstrahl trat, schalt sie sich eine komplette Närrin. Natürlich hatte sie mit einigen Problemen gerechnet. Aber nicht mit solchen. Während ihr das Wasser das Gesicht herunterlief und sich mit ihren Tränen vermischte, fragte sie sich, ob es schon zu spät war, nach Haus zurückzufahren. Jake studierte die Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Einige seiner Stuten waren bald soweit, dass er sie decken lassen konnte. Aber er hatte sich immer noch nicht entschieden, ob es besser war, eigene Hengste dazu zu benutzen oder fremde zu nehmen, um frisches Blut in die Zucht zu bringen. Was allerdings nicht billig werden würde. Er lehnte sich in seinem hölzernen Bürostuhl zurück und schaute sich im Raum um. Er sah noch immer so aus wie damals, als sein Großvater hier gesessen hatte. Trophäen und Ehrenbänder bedeckten die Wände. Der alte, abgenutzte Schreibtisch war bereits an die hundert Jahre alt. Nur der Computer war neu hier. Jake fühlte sich weit entfernt von seinem Penthousebüro in der Direktionsetage der schwiegerelterlichen Firma. Sehr weit fort von Dallas und dem Le ben, das er dort geführt hatte. Es klopfte an der Tür. „Herein." Anne betrat den Raum, ein Tablett in der Hand. Sie stellte es auf den Schreibtisch. „Du sitzt schon den ganzen Morgen über hier, da dachte ich, du könntest vielleicht Hunger haben." Er warf einen Blick auf den Teller mit Sandwiches, klein geschnittenen Früchten und der Kanne Kaffee. Daneben stand noch ein Be cher. In den letzten zwei Wochen waren sie einander aus dem Weg gegangen, so gut es ging. Er wusste, sie war allein, wenn Laurel in der Schule war. Vielleicht sollte er sie doch ermuntern, mit Laurel zusammen das Haus einzurichten. Ihn befiel jedesmal ein Schuldgefühl, wenn er am Morgen das Haus verließ, um zu den Ställen oder ins Büro zu gehen. Auf diese Weise vergaß er jedoch leichter, was jedesmal passierte, wenn sie in einem Raum zusammen waren. Nun hatte sie den
ersten zögernden Schritt getan, wieder eine normale Beziehung zwischen ihnen herzustellen, und er konnte diese Geste nicht einfach grob zurückweisen. Er nahm seinen Becher. „Schön, dass du noch einen Becher mitgebracht hast. Setz dich doch und leiste mir ein wenig Gesellschaft." Er deutete auf den Ledersessel vor seinem Schreibtisch. „Ich will dich nicht stören", sagte sie und wischte sich nervös die Hände an der Jeans ab. „Ich hätte es nicht gesagt, wenn ich deine Gesellschaft nicht ge wollt hätte." „Danke." Sie lächelte und setzte sich. Sie trug praktisch kein Make- up. Nur ein wenig um die Augen und etwas Lippenstift. Es gefiel ihm. Er hatte sogar begonnen, ihre Sommersprossen zu mögen. Er zählte sie insgeheim, wenn sie es nicht merkte. Selbst im südlichen Colorado begann Ende September der Herbst. So hatte sie den Rock gegen eine Jeans getauscht. Sie schmiegte sich aufregend um ihre weiblichen Formen. Er versuchte sich Ellen in Jeans vorzustellen, konnte sich aber nicht erinnern, sie je in einer gesehen zu haben. Zudem verflüchtigte sich ihr Bild immer wieder, Annes Sinnlichkeit lenkte ihn zu sehr ab, die Rundungen ihrer Hüften, ihre vollen Brüste unter der Bluse. „Dies ist wirklich ..." „Wie kommst..." Sie hatten beide zur selben Zeit gesprochen. „Sprich weiter", sagte sie scheu. „Wie kommst du ohne deine Arbeit zurecht?" beendete er seinen angefangen Satz. „Vermisst du sie nicht?" Sie zuckte mit den Schultern. „Manchmal. Der Lebensrhythmus ist hier schon ein anderer. In Houston arbeite ich normalerweise ungefähr sechzig Stunden die Woche. Und da hier zweimal die Woche eine Putzfrau kommt, bleibt für mich nicht viel zu tun übrig." Sie lächelte. „Ich ..." Er holte tief Luft. Sie hatte es verdient, dass er ihr etwas Nettes sagte. „Also, ich würde mich freuen, wenn du Laurel helfen würdest, das Haus einzurichten." „Sie hatte davon gesprochen, es gern mit mir zusammen zu tun. Aber ich wollte niemandem ins Gehege kommen ..." Damit war er gemeint. Jake wusste es. „Keine Bange." Er hob die Hände. „Von Innenarchitektur habe ich nicht die blasseste Ahnung. Abgesehen davon, dass ich in meinem Schlafzimmer nicht ge rade geblümte Tapeten haben möchte, bin ich leicht zufriedenzustellen." Anne rutschte im Sessel hin und her und biss sich auf die Lippe. „Bist du dir sicher?" „Wirklich. Du tust mir damit einen Gefallen." „Okay." Ihre blauen Augen leuchteten. „Keine Blumen an den Schlafzimmerwänden. Versprochen." „Gut, und ehe ich's vergesse: Ich würde es vorziehen, auch keine weiteren Kuhmustermöbel in diesem Haus zu sehen." Sie lachte auf. „Ich war ein wenig schockiert, als ich die Küche sah, aber inzwischen habe ich mich schon daran gewöhnt. Und außerdem liegt so etwas voll im Trend." „Trends sind mir nie wichtig gewesen." „Nun, deiner Tochter aber. Heute morgen hatten wir eine Diskus sion wegen einer Bluse, die sie nicht anziehen wollte. Sie sei vollkommen aus der Mode, behauptete sie." „Ich bin dir dankbar, dass du dich mit all dem befasst und Laurel auch bei den Schularbeiten hilfst", sagte er, legte sein Sandwich auf den Teller und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. „Eigentlich brauchtest du es nicht." „Aber ich möchte es." Sie holte tief Luft. „Ich weiß, dies war für uns beide nicht einfach. Ich wusste nicht, was mich erwartete, als du mich für zwei Monate einludst." „Ich kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben." Er grinste.
„In Ordnung: Als du es mir befohlen hast. Ist das besser?" „Sehr viel besser." Ihr sanftes Lachen ging ihm unter die Haut. Was für ein Dummkopf war er doch nur gewesen. Er hatte sie bestrafen wollen und hatte doch sich selbst am meisten bestraft. Sie war nicht halb so schlecht, wie er vermutet hatte. Im Gegenteil, sie war sogar schwer in Ordnung. Aber das wollte er ihr natürlich nicht sagen. Zumindest jetzt noch nicht. Anne blickte ihn einen Moment lang forschend und zugleich ein wenig scheu an. „Glaubst du, wir könnten Freunde werden?" fragte sie dann leise. Jake lächelte. „Das wäre schön." *• Sie erwiderte sein Lächeln. „Selbst wenn ich dein Badezimmer mit Kuhmustern dekoriere?" „Das allerdings würde unsere Beziehung ein wenig belasten." Wieder lächelte sie. „Okay. Ich wollte nur wissen, wo die Grenze liegt." Jake lachte leise auf. Anne liebte dieses Lachen. Es ließ ihr die Knie weich werden. Wie immer, wenn sie in seiner Nähe war, hätte sie sich am liebsten wie eine Katze an ihn geschmiegt. Aber sie nahm sich zusammen. Anscheinend hatte ihm das eine Mal auf dem Felsen mit ihr gereicht. Er ging mit ihr auf eine Weise neutral freundschaft lich um, wie er es wohl auch bei seiner Schwester getan hätte. Sie erhob sich, behielt aber den neckenden Ton bei. „So, nun sollte ich aber sehen, dass ich zurück ins Haus komme. Das Essen muss vorbereitet werden. Danach werde ich mir die Kataloge vornehmen und mir Gedanken über die Möbel machen. Hast du eine bestimmte Summe dafür vo rgesehen?" Er griff wieder nach seinem Sandwich. „Versuch weniger dafür auszugeben, als das Haus gekostet hat." „Meinst du das ernst?" Sie hob die Augenbrauen. „Du scheinst überrascht." „Lass mich nur sagen, es ist reichlich weit von dem entfernt, was ich aus Paradise kenne." Der humorvolle Ausdruck verschwand aus seinen Augen, und sie wurden dunkel. „Das ist es, Anne. Aber nicht sehr weit von Houston." „Das stimmt. Und ich bin auch nicht mehr die kleine Annie Jo Ba ker." Er lächelte fast bedauernd. „Ich denke, ich hätte sie ebenso ge mocht wie ich Anne Baker mag." Vielleicht sogar noch mehr, dachte Anne, als sie ihm zuwinkte und sich auf den Rückweg zum Haus machte. Annie Jo wäre zu Haus geblieben, hätte ihre Tochter behalten und versucht, es allein zu schaffen. Anne seufzte. Wer konnte schon sagen, was das richtige war? Ständig darüber nachzugrübeln würde sie nur verrückt machen. In der Küche machte sie sich sogleich daran, das Essen vorzubereiten. Bald schon brannten ihr vom Zwiebelschneiden die Augen. Plötzlich wurde ihr seltsam übel. Sie legte das Messer beiseite und trank ein Glas Wasser. Aber dadurch wurde es nur noch schlimmer. Lag es an den Zwiebeln? Ihr war noch nie von Zwiebeln schlecht ge worden. Sie trank noch einen Schluck, aber im nächsten Augenblick kam ihr das Essen hoch, und sie rannte zur Toilette. Erschöpft setzte sie sich, nachdem ihr Magen sich entleert hatte. War es vielleicht eine Grippe? So schlecht hatte sie sich seit Jahren nicht mehr gefühlt. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Seit dreizehn Jahren. Nein, es war unmöglich. Es konnte nicht sein. Jake hatte gesagt, er sei unfruchtbar. Aber es war mitten in ihrem Zyklus gewesen, zur fruchtbarsten Zeit. Mein Gott! Sie rannte durch die Küche in die Halle. Die Schlüssel von Jakes Wagen hingen am Schlüsselbord. Jake hatte ihr angeboten, sie könnte den Wagen jederzeit nehmen. Der nächste Drugstore war ungefähr sieben Kilometer entfernt. Bis Laurel aus der Schule kam, blieben ihr noch ein paar Stunden. Sie konnte den Schwangerschaftstest holen und würde rechtzeitig zurück sein. Dann brauchte sie nur noch bis morgen zu warten.
6. KAPITEL
Jake rückte sich das Handtuch zurecht, das er sich um die Hüften geschlungen hatte, und wischte sich den Rasierschaum aus dem Gesicht. Er war kaum damit fertig, sich das Gesicht abzutrocknen, da flog die Tür des Badezimmers auf. „Du Schuft!" Anne stürmte herein. „Du verdammter Schuft." „Was ist denn los?" fragte er besorgt und verwirrt zugleich. Es war erst kurz nach sechs am frühen Morgen. „Wie wäre es übrigens mit Anklopfen?" In der einen Hand hielt Anne ein schmales Plastikröhrchen, mit der anderen deutete sie anklagend auf Jake. „Wie kannst du es wagen? War es vielleicht ein Spaß, den du dir erlaubt hast, eine Art Spiel? Meintest du, du dürftest es darauf ankommen lassen, und ich würde das Risiko schon tragen?" Jake verschränkte die Arme vor der Brust. „Sagst du mir jetzt endlich, wovon du sprichst, oder willst du mir erst noch ein paar deftigere Schimpfwörter an den Kopf werfen?" Ihr Gesicht war blass, aber ihre Augen blitzten böse. Unter dem weißen Nachthemd hoben und senkten sich ihre Brüste heftig, und er konnte deutlich die dunklen Knospen durch den dünnen Stoff sehen. „Warum Cowboys?" fragte sie bitter, als hätte er nichts gesagt. Sie ließ die Hand sinken und begann in dem geräumigen Bad auf und ab zu wandern. „Ist es die Jeans? Der Stetson? Warum kann ich einem langbeinigen Kerl in einer engen Jeans nicht widerstehen? Liegt ein Fluch auf mir, oder bin ich einfach nur dumm?" „Wenn du von mir darauf eine Antwort erwartest, muss ich dich enttäuschen. Ich habe keine. Ich weiß auch nicht, wovon du sprichst. Und sei nicht so laut, Du weckst Laurel." „Sie aufwecken? Hast du etwa gedacht, du könntest es geheimhalten?" Sie blieb vor ihm stehen. Ihr Duft stieg ihm in die Nase. Ihre Haare waren vom Schlaf zerzaust. Am liebsten hätte er Anne an sich gezo gen und ihren Zorn fortgeküsst. Und er wünschte, sie, würde endlich mit dem Grund für ihre Wut herausrücken, denn in einer halben Stunde würde Laurels Wecker klingeln. „Fein", sagte sie und stach mit dem Zeigefinger gegen seine Brust. „Spiel nur den Dummen. Aber beantworte mir eins: Warum? Warum hast du das getan?" „Was getan?" Langsam wurde er ungeduldig. „Wovon redest du denn eigentlich?" „Davon!" Sie warf das Plastikröhrchen auf die Ablage. Es rollte gegen einen Papiertuchkarton und blieb dort liegen. Das eine Ende des Röhrchens war nicht weiß, sondern bläulich verfärbt. Er blickte aufs Röhrchen, dann sah er Anne an. „Hat das irgend etwas zu bedeuten?" Sie starrte ihn an, als wäre er der größte Idiot auf Erden. Als sie sprach, betonte sie jedes Wort einzeln. „Ich bin schwanger!" Seine erste Reaktion war, sich fürchterlich betrogen zu fühlen, auch wenn sie keine wirkliche Beziehung miteinander hatten. Sie hatte ihm versichert, seit Jahren mit keinem Mann geschlafen zu ha ben, und er war dumm genug gewesen, ihr zu glauben. „Du verdammte Lügnerin", sagte er gefährlich sanft. „Was kommt als nächstes? Hast du vielleicht auch noch eine Krankheit, von der du mir zu erzählen vergessen hast?" „Krankheit?" Sie runzelte die Stirn. „Lügnerin? Du bist derjenige, der gelogen hat. Du hast behauptet, du seist unfruchtbar. Macht es dir besonderen Spaß, Gott zu spielen? Ich hatte dir sogar erzählt, ich sei in der Mitte meines Zyklus'. Was" wolltest du versuchen zu beweisen?" Wieder stieß ihr Zeigefinger zu. „Fandest du es zu unmännlich, ein Kondom zu benutzen? Wir leben in den Neunzigern, mein Junge. Nur Dummköpfe benutzen keinen Schütz. Okay, ich war ein Dummkopf. Das gebe ich zu. Aber ich bin schwanger!" Wilder Zorn durchfuhr Jake, und er ballte die Hände. Ein Kind. Sie machte sich einen Spaß mit ihm - mit einem Kind. Die Worte seines Schwiegervaters tauchten in seinem Kopf auf. Es tut mir leid, mein Sohn. Das Problem liegt bei dir. Bei dir... bei dir ... Die Worte
wurden zum Echo. „Nein ... Nein!" brüllte er. „Verdammt noch mal, nein!" Anne wich vor ihm zurück. Er kam auf sie zu. Sie griff nach der Türklinke, stieß aus Versehen mit dem Fuß gegen die Tür und schloss sie damit. Furcht packte sie. , „Hör auf!" befahl sie. Jake blieb stehen und kämpfte um seine Selbstbeherrschung. Mit Mühe drehte er sich herum und lehnte sich gegen den Waschtisch. Langsam kehrte sein Verstand zurück, schwächte sich sein Zorn ab. Und dann kam das Gefühl der Erniedrigung. Sie hatte ihn benutzt. Er wandte ihr den Rücken zu. „Du wirst nicht noch ein weiteres deiner unehelichen Kinder an mich loswerden können", sagte er ruhig. Sie starrte ihn fassungslos an. „Ich weiß nicht, ob du es mit Bobby ebenso gemacht hast", fuhr er fort. „War er Laurels Vater, oder hast du ihn auch nur hereingelegt?" „Was ist los mit dir?" Sie hatte sich gefangen und stellte sich vor ihn hin. „Warum solche Lügen? Warum sollte ich das Kind eines anderen Mannes als deins ausgeben wollen?" „Damit du hier bei Laurel bleiben kannst." Er fuhr herum und packte ihre Handgelenke. „Es wird nicht funktionieren." Er schüttelte den Kopf. „Bei Gott, es wird nicht funktionieren." „Hör auf!" schrie sie. „Hör endlich damit auf." Jake ließ sie los und starrte auf seine Hände. Was war nur in ihn gefahren? In all den Jahren mit Ellen war er niemals so wütend ge worden. „Ich lüge nicht", sagte Anne. Er sah Tränen in ihren Augen. „Ich schwöre es, ich lüge nicht. Meine letzte Beziehung war vor vier Jahren zu Ende. Warum tust du das? Warum glaubst du mir nicht? Du warst doch dabei. Du weißt, was geschehen ist." „Weil ich unfruchtbar bin", sagte er. „Ich kann kein Kind zeugen. “ Tränen begannen ihr übers Gesicht zu laufen. Sie straffte die Schultern und hob stolz das Kinn. „Ich bin von Anfang an aufrichtig zu dir gewesen, habe versucht, auf deine Wünsche einzugehen. Ich habe versucht, Laurel gegenüber fair zu handeln und dir gegenüber ebenso. Nicht einmal habe ich gelogen oder meine Position zu deinem Nachteil ausgenutzt." Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht. „Vor drei Wochen haben wir miteinander geschlafen. Es war verantwortungslos von uns, nicht zu verhüten. Jetzt bin ich schwanger. Das Kind ist von dir, Jake, ob du mir glaubst oder nicht. Es gibt nichts, was ich sonst noch sagen könnte, um dich zu überzeugen." Sie öffnete die Tür und sah ihn noch einmal an. „Ist dir niemals der Gedanke gekommen, dein Arzt könnte sich geirrt haben?" Damit schloss sie die Tür hinter sich. Jake sah sich nach etwas um, das er an die Wand werfen könnte. Wie konnte sie es wagen, ihm das Kind eines anderen Mannes unterschieben zu wollen? Für wie dumm hielt sie ihn eigentlich? Nun hatte sich also der Arzt geirrt! Welchen Bären wollte sie ihm noch aufbinden? Er schloss die Augen und atmete tief durch. Die Worte seines Schwiegervaters ertönten wieder in seinem Kopf: „Es liegt an dir. Deine Schuld. Deine." Es musste ein Alptraum sein, den er jetzt durchlitt. Er konnte der Vergangenheit nicht entkommen. Dieses Lügen, Betrügen ... warum hatte ausgerechnet Michael, sein Schwiegervater, ihm das Untersuchungsergebnis mitgeteilt? Michael hatte gelogen, wann immer es für ihn von Nutzen war. Das war einer der Gründe gewesen, warum er nicht mehr mit ihm hatte zusammenarbeiten wollen. Michael hatte skrupellos gelogen und betrogen. Der einzige Mensch, der ihm wirklich etwas bedeutete, war Ellen gewesen. Er hätte alles getan, um sie zu beschützen. Alles. Plötzlich richtete sich Jake auf. Es konnte doch nicht so einfach sein, oder? Nur eine weitere Lüge in einer langen Reihe von Lügen? Er verließ das Badezimmer und machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer, wo das Telefon am Fußboden stand.
Anne wusch den roten Apfel ab, dann wischte sie ihn trocken. Sie tat ihn in die Papiertüte und verschloss diese sorgfältig. „Laurel, beeil dich, du kommst sonst zu spät", rief sie. Langsam betrat Laurel die Küche. Anne blickte auf. „Du kommst zu spät", wiederholte sie und bemerkte dann, dass Laurels Augen ge rötet waren. „Was ist los?" „Ich habe gehört, wie ihr euch gestritten habt." Anne blieb fast das Herz stehen. „Was hast du denn gehört, Honey?" fragte sie dann. „Verstanden habe ich nichts." Laurel zuckte mit den Schultern. Doch dann liefen ihr Tränen über die Wangen. „Streit e dich nicht mit Dad. Geh nicht fort." „Kindchen." Anne schloss das Mädchen in die Arme. „Ich gehe nicht fort, das verspreche ich dir." Zumindest jetzt noch nicht, fügte sie im stillen hinzu und fragte sich, was sie tun sollte. „Wir haben uns nur ein wenig gestritten. Das passiert oft bei Erwachsenen. Auch wenn es dabei manchmal laut wird, heißt es nicht, dass wir uns hassen." Anne lächelte sie beruhigend an, auch wenn sie wusste, sie log. Jake hielt sie für eine Lügnerin und Schlampe, und sie ihn für einen gemeinen Schuft. Keine besonders gute Basis für eine Beziehung. Aber all dies hatte mit Laurel nichts zu tun. Laurel löste sich aus ihren Armen und bereitete sich ein Müsli zu. Anne verspürte nicht den geringsten Appetit. Nicht so früh am Morgen. Nicht einmal einen Kaffee mochte sie trinken. Im Grunde war das auch gut so, denn Koffein würde dem Baby schaden. Baby ... Dir wurden die Knie weich, und sie musste sich am Tresen festhalten. Sie würde ein Baby bekommen. Noch ein Baby. Sie presste die Hand auf den Bauch, als könnte sie bereits das keimende Le ben darin fühlen. „Ist alles in Ordnung?" erkundigte sich Laurel besorgt. „Wie bitte?" Anne starrte sie verständnislos an. „Oh, sicher." Sie würde ein Baby bekommen. Eine zweite Chance, das Richtige zu tun. Aber wie sollte sie es Laurel sagen? Was sollte sie mit dem Neugeborenen tun? Was war mit ihrer Karriere? Mit Jake? Warum log er sie weiterhin an? Warum glaubte er ihr nicht, dass das Kind von ihm war? Hatte er die Wahrheit gesagt, als er erzählte, er sei unfruchtbar? Aber er konnte es nicht getan haben, denn sie war schwanger, und nur mit ihm war sie zusammen gewesen. Wenn er ihr nun niemals glaubte? Wenn... „Annie, du hörst mir ja gar nicht zu", beschwerte sich Laurel. „Entschuldige." Anne zwang sich, sich an den Tisch zu ihr zu setzen. Tausend Fragen wirbelten ihr durch den Kopf. Sie versuchte sie zu ignorieren und sich auf Laurel zu konzentrieren. „Was hast du gesagt?" „Nächste Woche werden in der Schule Aufnahmen von uns ge macht. Du musst mir helfen, etwas zum Anziehen auszusuchen." Plötzlich entschloss sich Anne, Laurel nichts von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. Noch nicht. Nicht, bevor sie nicht wusste, wie es mit Jake weitergehen würde. „Was hältst du denn von der roten Bluse, die du neulich in Houston gekauft hast? Du könntest sie zu deiner schwarzen Hose tragen." Laurel schüttelte den Kopf. „Der Kragen gefällt mir nicht." „Dann nimm den cremefarbenen Sweater mit den pinkfarbenen Tupfen. Das macht sich gut auf dem Foto." „Aber was soll ich dazu tragen? Er sieht nur zu Jeans gut aus." Anne bemühte sich, ihre steigende Ungeduld zu unterdrücken. „Ja, und? Warum ziehst du dann keine an?" Laurel verdrehte die. Augen. „Wir sollen uns schick machen für das Foto. Mom hat mir immer gesagt, zu einem solchen Anlass müsse ich ein Kleid tragen." Mom dies, Mom das. Anne holte einmal tief Luft. Sie versuchte, Verständnis zu haben. Gab sich wirklich Mühe. Aber sie brauchte sich nur umzudrehen, und schon bekam sie einen weiteren weisen Spruch aus dem geheiligten Mund von Ellen Masters zu hören, aus gesprochen von ihrer Tochter. Die eigentlich meine ist, dachte Anne unwillig.
„Ich kann mich im Augenblick nicht so genau damit befassen." Anne stand auf. „Aber die Fotos werden nächste Woche gemacht." „Fein. Dann haben wir noch das ganze Wochenende Zeit, oder?" Sie deutete auf die Papiertüte. „Dein Schulbrot ist da drin. Der Bus wird in zehn Minuten hier sein. Bitte, verspäte dich nicht." Sie ging hinüber zur Treppe. „Wohin gehst du?" fragte Laurel und kam ihr nach. „In mein Zimmer."v „Warum?" Anne antwortete nicht. Warum ging sie in ihr Zimmer? Weil sie müde war, schwanger von einem Mann, der nicht einmal die Möglichkeit erwägen wollte, er könnte der Vater sein, und weil sie sich in einem fremdem Haus befand, möglicherweise ihre Stellung ris kierte, ihre Beförderung, und es bis oben hin satt hatte, ständig zu hören, was „Mom" womöglich in dieser oder jener Situation getan oder gesagt hätte. Das Zuschlagen einer Wagentür riss Anne aus ihren Grübeleien. Seit Stunden hatte sie auf dem Bett gelegen und sich Gedanken über das Kind in ihr und die Folgen gemacht. Jake war zurück. Sie hatte ihn nicht wegfahren sehen, aber Laurel hatte irgend etwas in der Richtung gerufen, als sie das Haus verlassen hatte. Anne erhob sich vom Bett und ging hinaus auf den Flur. Sie war schon fast an der Treppe, als sie ihn ihren Namen rufen hörte. Langsam trat sie an das Geländer. Jake stand unten, den Stetson in der Hand. „Würdest du vielleicht herunterkommen und mir Gesellschaft leisten?" fragte er und deutete auf den Wohnraum. Seine Stimme war ausdruckslos. Anne zögerte einen Moment, dann legte sie die Hand auf das kühle Holz des Treppengeländers und schritt die Stufen hinunter. Als sie unten angekommen war, bedeutete Jake ihr, ihm zu folgen. Sie tat es und setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch. Er warf seinen Hut auf einen Sessel und stellte sich dann vor sie hin, die Beine gespreizt und die Hände in die Hüften gestemmt. Das Schweigen zwischen ihnen zog sich in die Länge, wurde immer drückender. Anne sah sich im Raum um, aber da gab es nichts zu sehen, so kehrte ihr Blick wieder zu Jake zurück. Er starrte sie immer noch an. Fast hätte sie ihn gefragt, was er dachte, aber dann war sie doch zu feige, um es wirklich wissen zu wollen. Wenn es nun etwas Demütigendes wäre? Wenn er immer noch glaubte, dass sie ihn angelogen hatte? Schließlich aber hielt sie die Spannung doch nicht mehr aus und räusperte sich. „Du bist weggefahren, ohne mir irgendwelche Instruktionen für die Arbeiter zu hinterlassen", sagte sie. „Als sie nach dir fragten und wissen wollten, was sie heute tun sollten, sagte ich ihnen, sie sollten die normalen Aufgaben erledigen und dann da weitermachen, wo sie gestern aufgehört hatten." „Danke." Er ließ sie nicht aus den Augen. „Es ist fast Mittag", fuhr sie hastig fort. „Ich wusste nicht, wie lange du fortbleiben würdest. Ich wusste nicht, was ich Laurel sagen sollte. Sie hat heute morgen unseren Streit mitbekommen." Besorgnis zeigte sich sofort auf seinem Gesicht. „Sie hätte aber nichts verstanden, sagte sie", fügte sie rasch hinzu. „Ich erklärte ihr, es wäre nur ein unbedeutender, normaler Streit gewesen." Jake schob die Hände in die Hosentaschen und ging hinüber ans Fenster. Dort wandte er sich um und kehrte zu ihr zurück. Er nahm ihre Hand und zog Anne zu sich hoch. Sie erhob sich nur zögernd, darauf vorbereitet, einen Schritt zurückzuweichen, wenn er sie anschreien sollte. Aber er sagte kein einziges Wort. Er berührte sanft ihre Wange, streichelte sie. Diese zärtliche Geste löste in Anne das Bedürfnis aus, sich an ihn zu leh nen, sich in seine Arme zu schmiegen. Aber sie blieb aufrecht stehen und wartete ab. Jake legte ihr die Hand auf die Schultern und sah sie an. „Du bist schwanger", sagte er ruhig. „Vielen Dank für die Neuigkeit, aber ich glaube, das habe ich dir bereits gesagt."
Er lächelte und ließ seine Hand sinken, bis sie in Höhe ihres Bauches war. Sie wollte zuerst zurückweichen, blieb dann aber stehen. Langsam, zögernd, legte er seine Hand auf ihren Bauch und begann sie zu streicheln. Wärme breitete sich in ihr aus. Sie warf einen Blick in sein Gesicht. Es lag ein Ausdruck darauf, als hätte er gerade etwas Wunderbares entdeckt. Ihre Blicke trafen sich, und er lächelte. „Du bist schwanger", wiederholte er. „Und ich bin der Vater." Anne verschränkte die Arme vor der Brust. „Du scheinst überrascht zu sein." Sie klang zornig. Jake nahm es ihr nicht übel. Schließlich hatte er ihr heute morgen Dinge an den Kopf geworfen, die ihr jedes Recht dazu gaben, es zu sein. Dennoch beließ er seine Hand auf ihrem Bauch, nahm die Wärme ihres Körpers in sich auf. Dort unter der weichen Haut wuchs ein winziges, neues Leben. Ein Kind. Sein Kind. Er lächelte. „Überrascht ist nur ein schwaches Wort dafür", gab er zu. „Und sehr glücklich." Sie fuhr herum. „Möchtest du mir das nicht erklären? Denn ich verstehe es nicht. Es existiert keine Beziehung, und die Art, wie wir miteinander streiten, setzt dich bei mir auf den letzten Platz der Kandidatenliste. Und das allerletzte, was ich mir gewüns cht hätte, wäre ein Baby gewesen. Nachdem ich Laurel fortgegeben hatte, war ich nicht sicher, ob ich jemals wieder ein Kind haben wollte. Und dieses zu bekommen, habe ich ganz bestimmt nicht geplant."' Sie trat einen Schritt zurück. „Ich wünschte wirklich, du würdest aufhören, mich so anzusehen. Wir haben kein Wunder entdeckt. Jedes Tier ist in der Lage, sich fortzupflanzen." „Ich wusste nicht, dass ich es kann." Jake griff nach ihrer Hand. Sie riss ihren Arm zurück, aber geduldig hielt er die flache Hand weiterhin ausgestreckt, bis sie seufzte und ihre hineinlegte. Er führte sie zum Sofa und drückte sie sanft auf die Polster. Anne warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. „Wenn du weiterhin so seltsam bist, dann werden wir nicht einmal in der Lage sein, miteinander zu sprechen", sagte sie. Er setzte sich so dicht neben sie, dass seine Knie ihre berührten. „Was meinst du mit ,seltsam'?" „Du hast diesen abwesenden Ausdruck im Gesicht." Jake war sicher, er musste wie ein Idiot aussehen. Aber das machte ihm nichts aus. In diesem Augenblick konnte ihm gar nichts etwas ausmachen. Nach vierzehn Jahren, in denen er mit dem Schicksal gehadert und sich nur als halber Mann gefühlt hatte, würde er Vater eines Kindes werden. Spontan hob er die Hand, um Annes Wange zu streicheln. Sie aber fuhr heftig zurück. „Das meine ich. Du grinst wie ein Honigkuchenpferd", sagte sie ungeduldig. „Dies ist aber kein freudiger Anlass." „Warum denn nicht? Bist du nicht glücklich?" „Ich ..." Er nahm ihre Hände und blickte ihr in die blauen Augen. „Willst du dieses Kind nicht? Möchtest du nicht wissen, wie es aussieht? Wird es meine Haare haben, deine Sommersprossen? Es ist ein Wunder, eins, das ich nie gesehen habe. Sicherlich bestehen Probleme, aber wir werden sie bewältigen.'' Der Zorn in ihrem Gesicht milderte sich ein wenig. „Es ist nicht so, dass ich das Kind nicht haben will, aber es kommt so überraschend", sagte sie mit einem schwachen Lächeln. „Es ist wundervoll", sagte er und beugte sich noch weiter vor, so dass seine Lippen endlich ihre berührten. Sie schmeckten süß und weich und schienen ihm Leidenschaft und Erfüllung zu versprechen. Sein Körper reagierte sofort. Aber als er Anne dichter an sich ziehen wollte, wich sie zurück. „Nicht so schnell", sagte sie, und der ernste Ausdruck kehrte in ihr Gesicht zurück. „Du hast mir allerhand zu erklären. Du kannst gern so glücklich über das Baby sein, wie
du willst, aber mein Leben steht dadurch auf nicht gerade angenehme Weise völlig köpf." Er ließ sie los und lehnte sich zurück. Sie hatte recht. Er schuldete ihr eine Erklärung. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, um nicht als kompletter Idiot dazustehen." „Riskier es, Jake", sagte sie. „Verdammt, ich bin einunddreißig Jahre alt, habe ein Leben geführt, das mir Spaß brachte. Ich habe kaum damit begonnen, die Verbindung zu meiner Tochter aufzubauen, die ich vor dreizehn Jahren fortgegeben habe. Und nun stehe ich mit einer Schwangerschaft da, die ich nicht gewollt habe!" Sie schlug die Hände vors Gesicht. „O Annie." Er berührte ihr Haar. Es war so weich, so seiden. „Fass mich nicht an." Sie blickte nicht auf. „Warum nicht?" „Weil es so schön ist, und ich kann nicht noch mehr Ärger gebrauchen." Das Herz ging ihm auf. Er wusste, sie war nicht so glücklich wie er. Dennoch hätte er sie am liebsten genommen und im Raum herumge wirbelt. Er drückte ihr sanft das Kinn hoch, bis sie ihn anblickte. „Es tut mir leid. Ich meine nicht das Baby. Aber den Rest. Ich habe dich nicht hereingelegt, dich nicht angelogen." Er lächelte. „Genauer ge sagt, es war wohl eine Lüge, aber ich habe es zu dem Zeitpunkt nicht gewusst." „Hör endlich auf, so verdammt glücklich zu gucken!" „Okay." Aber er lächelte immer noch. Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm. „Du bist unmöglich. Gut, wenn du nicht aufhören kannst, wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum dreinzuschauen, mir soll's recht sein. Aber erzähl mir, was ge schehen ist." Jake versuchte, seine durcheina nderwirbelnden Gedanken zu ordnen. Sein Glücksgefühl mischte sich mit der Wut auf seinen Schwiegervater. Als Jake ihm am Telefon gesagt hatte, dass alles nur eine Lüge gewesen war, hatte er es ungerührt eingestanden. Am liebsten hätte er dem alten Mann auf der Stelle den Hals umgedreht. Stockend begann er Anne nun die Geschichte seiner Ehe zu erzählen. „Wir waren jung und verliebt. Alle waren glücklich. Ellen wollte so schrecklich gern gleich ein Kind haben", berichtete er. „Wir versuchten es monatelang, aber es klappte nicht." Nun kam der härteste Teil. „Wir gingen beide zum Spezialisten, einem Freund ihres Vaters. Ellen war zu der Zeit schon vollkommen hysterisch, weil sie nicht schwanger wurde. Sie fürchtete, es würde an ihr liegen. Ich nahm die Sache gelassener, dachte, wir sollten uns noch ein wenig Zeit lassen mit einem Kind. Aber weder Michael noch sie schienen an meiner Meinung interessiert." „Michael ist ihr Vater?" Er nickte. „Einige Tage später rief er mich in sein Büro. Unge schminkt erklärte er mir, das Problem läge bei mir." Er stand auf bei der Erinnerung daran, es erregte ihn zu sehr. Jake fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ellen sagte nie ein Wort, aber ich konnte es in ihren Augen sehen. Ich würde ihr ihren sehnlichsten Wunsch nie erfüllen können. Den Wunsch nach einem Kind. Es waren schreckliche Tage für mich. Dann rief Michael mich an und erklärte mir, er hätte ein Kind für uns gefunden. Von einem Teenager aus Texas, der sich in Schwierigkeiten gebracht hatte. Wir fuhren nach El Paso und warteten dort, bis du Laurel geboren hattest." Er holte tief Atem. „Obwohl Ellen erklärte, nun sei sie glücklich, als sie das Kind in den Armen hielt, war das nur die halbe Wahrheit. Die Traurigkeit in ihren Augen verschwand nie. Sie wollte ein eige nes Kind." Er lachte rau. „Ich auch. Ich wollte einen eigenen Sohn." Er drehte sich zu ihr herum und las das Mitgefühl in ihren blauen Augen, vermischt mit Verwirrung. „Du hast nie daran gezweifelt?" „Wie konnte ich. Ich habe Michael geglaubt. Ich war ein treuer Ehemann. Ich konnte die Wahrheit nicht erfahren. Erst als ich dich kennenlernte, wurde es möglich. Ich rief den Spezialisten an, er sah in seinen Unterlagen nach und versicherte mir, mit mir wäre
alles in Ordnung. Ellen wäre diejenige gewesen, die keine Kinder bekommen konnte." Er kehrte vom Fenster zurück und setzte sich neben Anne aufs Sofa. Dann blickte er sie an. „Es tut mir leid, dass es auf diese Weise passiert ist, und ich hoffe, du verzeihst mir all das, was ich heute morgen zu dir gesagt habe. Aber eines ist sicher: Es tut mir nicht leid, dass ich ein Baby haben werde." Ihr eben noch weicher Ausdruck verschwand, und sie sah ihn wütend an, „Du wirst kein Baby haben." Ihm war, als hätte er einen Faustschlag in den Magen versetzt bekommen. Er packte ihre Arme. „Verdammt, ich lasse es nicht zu, dass du dich dieses Kindes entledigst!" „Lass mich los;" Sie befreite sich aus seinem Griff. „Was ist nur mit dir los? Ich habe kein Wort davon gesagt, ich wollte mich dieses Kindes entledigen. So etwas würde ich niemals tun. Ich wollte nur betonen, dass deine Rolle in dieser Sache vorüber ist. Du magst der Vater sein, aber ic h bin letztendlich diejenige, die das Kind bekommt." Erleichterung überflutete ihn. „Ich weiß, es wird dein Leben durcheinanderbringen." „Das ist nur milde ausgedrückt. Ich habe eine Arbeit, die ich liebe, einen bestimmten Lebensstil, eine Wohnung in Houston. Alles, was ich mir wünsche, habe ich dort, Laurel ausgenommen. Wir beide können nicht einmal miteinander reden, ohne uns anzubrüllen oder ..." Sie brach ab und presste die Lippen aufeinander. Oder gleich miteinander zu schlafen, dachte er. Er musste lächeln bei der Erinnerung an den Abend auf dem Felsen. Er hatte es noch nie vorher draußen getan. Sie hatten beide völlig die Beherrschung über sich und ihre Gefühle verloren, berauscht von ihrem Verlangen nacheinander. „Einige Gespräche hatten wir, die gut verliefen", sagte er. „Drei vielleicht", erwiderte sie düster. „Und nun ist da das Baby, an das gedacht werden muss." Sie erhob sich. „Im Moment bin ich allerdings völlig überfordert." Anne streckte die Hände aus, als wollte sie ihn von sich fernhalten. „Komm mir jetzt nicht mit den schweren Geschützen. Ich rede nicht davon, irgend etwas mit dem Baby zu machen. Ich werde es bekommen. Aber weitergehend will und kann ich jetzt nicht darüber nachdenken. Noch vor einem Monat wusste ich nicht, wer du bist. Nun lebe ich hier in deinem Haus, versuche eine Beziehung zu einem dreizehnjährigen Mädchen herzustellen, das ich bei seiner Geburt zur Adoption freigegeben habe. Ich habe keine Freunde hier, niemanden, der mich unterstützen könnte. Ich bin schwanger." Sie rieb sich die Schläfen. „Schwanger. Wie soll ich das nur Becky Sue erklären?" Sie stöhnte. Jake lachte. Sie sah ihn zornerfüllt an. „Sehr nett von dir. Du kannst es dir leisten, darüber zu lachen. Es ist ja nicht dein Leben." „Es ist auch mein Leben. Und auch mein Kind." Er stand auf. „Ich bin für dich da, Anne. Ich bin derjenige, der dich unterstützen wird. Und ich denke, dass ich mich auch inzwischen als dein Freund betrachten darf." Sie lächelte mit bebenden Lippen. „Meinst du? Nach dem, was wir uns an diesem Morgen gegenseitig an den Kopf geworfen haben? Ich bin nicht überzeugt davon." „Wir können es schaffen." Jake wusste nicht, was er versprach, aber er würde alles tun, um sein Baby zu behalten. Seinen Sohn. „Meinst du?" fragte Anne zweifelnd. „Noch vor wenigen Minuten hast du mich Annie genannt. Nun sind wir wieder bei Anne. Solange es diesen Unterschied in deinem Kopf gibt, werden wir es nicht schaffen." Sie drehte sich um und verließ den Raum. Jake starrte ihr nach und wusste nicht, sollte er sie gehen lassen oder hinterherlaufen und sie dazu bringen, ihn zu verstehen. Welche Rolle spielte es denn, wie er sie nannte? Sie würde sein Kind bekommen. Seinen Sohn. Irgendwie wusste er, es würde ein Sohn sein. Er würde .einen Sohn haben, der seinen Namen trug und dem er die Ranch hinterlassen konnte. Er würde ihm das Reiten beibringen und mit ihm Baseball spielen. Er würde ihm vom Leben erzählen, von jungen Mädchen und Frauen und ... Mädchen. Er starrte auf den grellfarbenen Pullover, der über dem Treppengeländer
hing. Laurels Pullover. Die Tochter seines Herzens. Wie sollte er ihr all dies erklären?
7. KAPITEL
Jake hörte das Fluchen, noch bevor er die Küche betrat. Er grinste. Anne fluchte nochmals, dann fiel etwas auf den Boden. Er ging hinein und lehnte sich gegen den Türrahmen. Schüsseln und anderes schmutziges Geschirr waren auf dem Tresen neben der Spüle verteilt, die ebenfalls überquoll. Auf dem Herd standen mehrere Töpfe. Anne stand mit dem Rücken zu ihm. Sie trug ein zu weites Hemd und eine Jeans. Ein Haarband hielt ihr die Haare aus dem Gesicht. Sie drehte sich halb um, um etwas zu nehmen, und er sah einen Streifen roter Soße in ihrem Gesicht. „Hast du irgendwelche Probleme?" fragte er. Sie fuhr zusammen und ließ den Löffel fallen, den sie in der Hand gehabt hatte. „Wie kannst du mich so zu Tode erschrecken!" fauchte sie. „Ich habe dich nicht kommen hören." „Das kommt daher, weil du so laut geflucht hast." Sie errötete und starrte auf den Tresen. „Ich habe ein paar kleine Probleme mit diesem Rezept", sagte sie und deutete auf das offene Kochbuch. „Das sieht man." „Ach, hör auf." Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. „Ich weiß, was du denkst, aber du liegst falsch." Er nahm sich einen der Stühle und setzte sich rittlings darauf. „Was denke ich denn?" „Dass ich versuche, mich mit einem Ausbund an Tugend und Tüchtigkeit zu messen. Der Heiligen Ellen." Wieder fiel der Löffel zu Bo den. Sie wirbelte herum und schlug sich die Hand vor den Mund. „O Jake, entschuldige. Ich wollte es nicht sagen." Er wartete darauf, dass er zornig werden würde. Er wurde es aber nicht. Auch Schmerz empfand er nicht. Er wusste, er würde immer um Ellen trauern, aber die Frau, die vor zwei Jahren gestorben war, hatte wenig mit der gemein, deren Andenken er in Erinnerung behalten würde. „Es ist schon in Ordnung", sagte er. „Ellen schüchterte uns alle manchmal mit ihrem Perfektionsanspruch ein." Anne schaute sich in der Küche um. „Sehr wahrscheinlich hielt sie alles ordentlich sauber. Ich habe aber einfach nie gelernt, richtig zu kochen. Ich weiß, man soll immer gleich alles abwaschen und wegräumen. Aber dann fängt etwas an zu kochen, oder ich muss gerade im Kochbuch nachsehen, und schon ist der gute Vorsatz gescheitert." Sie runzelte die Stirn. „Du hältst mich sehr wahrscheinlich für unfähig, aber in meinem Job bin ich wirklich gut." „Das glaube ich dir." Ellen hatte das Haus makellos sauber gehalten. Einen Raum nach dem anderen eingerichtet und erst geöffnet, wenn er perfekt war. Kaum einmal kam sie ohne Make- up aus dem Schlafzimmer. Er hingegen liebte das Chaos, es erinnerte ihn immer daran, dass er lebte. „Was kochst du?" fragte er. „Lasagne." Sie blickte ihn an. „Lass mich raten ... Du hasst Lasagne." „Es ist eins meiner Lieblingsgerichte." „Hatte Ellen ein geheimes Familienrezept?" Er schüttelte den Kopf. „Soweit ich mich erinnern kann, hat sie sie nie gemacht." „Gott sei Dank." Sie deutete auf den Herd. „Ich habe statt der Do sentomaten frische Tomaten nehmen wollen, und da ... da geriet alles durcheinander." „Dies ist kein Wettbewerb", sagte er sanft. „Ich weiß. Das sage ich mir auch ständig. Und die meiste Zeit glaube ich auch fast daran." „Mir ging es ähnlich, als ich auf die Ranch meines Großvaters zog. Ich dachte, ich würde ihm nicht das Wasser reichen können." „Wirklich?" Sie lächelte. „Du verbirgst es gut. Ich kann mir dich immer nur als Bester
vorstellen." „Michael bezeichnete mich als Dummkopf, als ich die Firma verließ. Er sagte, dass ich es nie zu etwas bringen würde." Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe versucht, es mir nicht zu Herzen zu nehmen. Geld genug hatte ich. Die Ranch musste also nicht sofort so viel abwerfen, dass ich meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Aber ich wollte mir etwas Eigenes aufbauen. Mein Großvater hatte mir von seinen Träumen erzählt. Danach wurden sie auch zu meinen Träumen." Er sprach plötzlich nicht mehr weiter, als hätte er zuviel von sich erzählt. „Das hört sich dumm an, nicht wahr?" „Nein, nicht im geringsten." Sie holte die Nudeln aus einem Topf und legte sie in eine Glasform. „Ich finde es wundervoll. Ich hoffe, deine Träume erfüllen sich. Ich verstehe nur nicht, warum dein Schwiegervater sich so gemein benahm." „Ich weiß es auch nicht. Ich sage mir immer, es spielt keine Rolle mehr, ausgenommen, es betrifft Laurel." „Meinst du ...?" Sie streute geriebenen Käse auf die Nudeln. „Was?" „Nun ... Sei mir nicht böse, aber könnte Ellen davon gewusst haben? Ich meine, von dieser Sache mit der Unfruchtbarkeit?" „Nein", erwiderte er rasch. Sie blickte ihn an. „Ich weiß es nicht. Ich möchte eigentlich glauben, dass sie von nichts wusste. Die Frau, die ich liebte, hätte sich niemals zu so etwas hergegeben." „Ich bin sicher, du hast recht." Als er sie forschend anschaute, fügte sie hinzu: „Ich meine es ernst. Ihr seid zusammen aufgewachsen. Ihr kanntet euch sehr gut. Zudem wäre sie verzweifelt gewesen, wenn es an ihr gelegen hätte, und dies hätte sie nicht vor dir verbergen können. Und so sehr, wie du und Laurel sie geliebt haben, kann sie nicht so grausam gewesen sein." „Danke, Anne." Jake erhob sich und kam zu ihr herüber. „Ich weiß, das war nicht leicht für dich." „Wenn du mir sagst, dass du mir dankbar bist, dann werde ich mit diesem Kochlöffel auf dich losgehen!" Sie schwang ihn drohend ge gen ihn. „Ich bin dir dankbar." „Ich habe dich gewarnt." Sie steckte den Löffel geschwind in einen kleinen Topf und füllte ihn mit dicker roten Sauce. Er wich vor ihr zurück und streckte abwehrend die Hände aus. „Ich nehme es zurück", sagte er und lächelte. „Ich bin dir in keinster Weise dankbar." Sie ließ den Löffel sinken. „So ist es besser. Zumindest sind wir der Wahrheit jetzt ein wenig näher." „Was soll das heißen?" „Du bist wegen des Babys nett zu mir." „Ich ..." Er brach ab. Stimmte das, was sie sagte? „Ich bin wegen des Babys ziemlich aufgeregt, Anne. Das gebe ich zu. Ich habe noch nie ein eigenes Kind gehabt." Er warf einen Blick auf Annes Bauch. „Hattest du einen dicken Bauch, als du mit Laurel schwanger warst?" Er versuchte sie sich mit rundem Leib vorzustellen. Sie zuckte mit den Schultern. „Nein, eigentlich, aber dennoch war es ziemlich unbequem. Besonders in Paradise im Sommer. Wir hatten keine Klimaanlage. Ich lebte mehr oder weniger nur vor dem Ventilator. Meine Füße schwollen an wie Ballons." Sie verzog das Gesicht, als sie daran dachte. „Ich war damals jünger. Diesmal wird es sehr wahrscheinlich noch weniger einfach sein." Jake betrachtete ihre Taille. „Wie lange dauerte es, bis du das Baby fühltest?" „Ich kann mich nicht genau erinnern. Vielleicht vier, fünf Monate, glaube ich. Ich werde den Arzt fragen." Er stellte sich hinter sie. „Hast du schon einen Termin?" „Noch nicht. Ich dachte, ich warte, bis ... He, was machst du da?" fragte sie, als er sie an sich zog und ihr die Arme um die Hüfte legte.
„Nichts. Sprich nur weiter." „Das kann ich nicht." Sie versuchte sich aus seinen Armen zu befreien, aber er hielt sie fest. Sie fühlte sich warm an und roch nach Blumen und italienischen Gewürzen. „Jake, was machst du ...?" Seine rechte Hand glitt unter ihr Hemd. „Pst. Ich will nur mein Baby fühlen." „Da gibt es nichts zu fühlen", sagte sie, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Stimme seltsam weich klang. Er legte seine Wange an ihr Ohr und murmelte sanfte Worte, als wollte er eine scheuende Stute beruhigen. Ihr Körper versteifte sich, dann entspannte sie sich wieder. Seine Finger suchten den Verschluss ihrer Jeans, öffneten ihn. Dann glitt seine Hand hinein, streichelte die Haut unter dem dünnen Slip. Langsam atmete sie schneller. Es erregte Jake. Seine andere Hand ließ er zu ihrem Bauch wandern. Ihn störte ihr Slip, und er schob ihn beiseite. „Du wirst mein Baby bekommen", murmelte er. „Ich wünschte, ich könnte es fühlen", sagte er und massierte sanft ihre Haut. ' „Das wird schon noch früh genug geschehen. Dann sehe ich aus, als hätte ich einen Basketball verschluckt. Meine Haut wird sich dehnen, mein Rücken schmerzen. Ich werde nicht mehr richtig schlafen können." „Wird es wirklich so schlimm?" Sie holte so tief Luft, dass sie seine Erregung fühlen musste, als ihr Po sich ge gen seine Lenden presste. Aber er sagte sich noch einmal, es ginge hier nicht um Sex, sondern um sein Baby. „Nein ..." Sie packte sein Handgelenk und zog seine Hand aus der Jeans. „Lass uns damit warten, das Baby fühlen zu wollen, bis ein wenig mehr da ist, ja?" sagte sie dann mit kontrollierter Stimme. Aber er hörte dennoch das kaum merkliche Beben darin. Was war nur an Ahne Baker, das ihn so erregte? Er musste es herausfinden. Wenn er wieder klar denken konnte. Anne schloss den Knopf ihrer Hose und zog den Reißverschluss hoch. „Anne, ich hatte nicht vor ..." „Es ist schon okay", sagte sie kurz und widmete sich wieder der Lasagne. „Aber ich möchte nicht, dass du denkst ..." „Es ist okay. Ich verstehe." Ihr Gesicht war gerötet. „Was sollen wir tun?" fragte Jake nach kurzem Schweigen. „Was meinst du?" „Mit dem Baby? Was sonst?" „Oh." Sie schluckte. „Ich weiß es nicht. Zuerst müssen wir an Laurel denken. Ich weiß nicht, wie ich es ihr erzählen soll. Sie wird mich hassen, wenn sie es erfährt. Vor dreizehn Jahren habe ich sie zur Adoption fortgegeben, und nun bekomme ich ein Kind und will es behalten. Was meinst du, wie das auf sie wirkt!" „Unser Kind." „Was?" „Das Baby ist auch mein Kind." Sie ließ den Löffel sinken. „Es ist noch nicht einmal richtig da. Das Baby, unser Baby, wenn es dir besser gefällt, wird die nächsten acht Monate hier in mir sein. Laurel wird gleich kommen. Ich möchte sie nicht wieder verlieren, nur weil du schließlich herausgefunden ' hast, dass du zeugungsfähig bist." „Was machen wir also?" „Ich weiß es nicht." Sie schob die Lasagne in den Herd. „Aber ich werde sie nicht wieder verlieren. Nicht, nachdem mir das Schicksal eine zweite Chance gegeben hat. Du magst es vielleicht nicht zuge ben wollen, Jake, aber Laurel ist ebensosehr meine Tochter wie das Baby dein Kind ist." „Ich weiß..."
Sie hob die Augenbrauen. „Das ist wirklich ein Eingeständnis. Ich hatte Widerspruch erwartet." „Warum? Es stimmt doch." Er ging zur Tür. „Du willst Laurel nicht verlieren, ich nicht meinen Sohn verlieren." Anne schaute ihm hinterher. Was würde nun werden? Würden sie für ihre Kinder wechselnde Besuchszeiten vereinbaren? Nein, das konnte nicht funktionieren. Würde er seine geliebten Pferde aufgeben und nach Houston ziehen? Nein, bestimmt nicht. Ebensowenig, wie sie hierherziehen wollte. Schon bald würde sie den wichtigsten Schritt in ihrer Karriere tun. Und so sehr ihr das Einrichten, Backen, Kochen und sogar das Nähen Spaß gemacht hatte, konnte sie nicht nach Colorado ziehen. Was sollte sie hier tun? Als Haushälterin arbeiten? Und es gab noch einen anderen Grund, warum es nicht gehen wür de. Leidenschaft. Es war unglaublich, dass eine einzige Berührung von Jake sie schon so sehr erregte. Als sie eben seine Hand auf ihrem Bauch gefühlt hatte, hätte sie gleich hier auf dem Küchenfußboden mit ihm schlafen können. Wenn er auch nur einmal seine Hand zwi schen ihre Schenkel geschoben und sie berührt hätte ... Allein schon der Gedanke daran... „Hör auf, daran zu denken", befahl sie sich streng und machte sich daran, die Küche in Ordnung zu bringen. Anne blätterte eine Seite weiter, erkannte dann aber, sie hatte in der letzten halben Stunde nicht ein Wort von dem verstanden, was sie gelesen hatte. Normalerweise konnte sie sich in ein Buch vertiefen und ihre Probleme vergessen, aber heute abend gelang es nicht. Es hatte eine Auseinandersetzung mit Laurel gegeben. Laurel hatte mit einem jungen Mann zu einer Party fahren wollen. Jake fand, , dass sie dafür noch zu jung sei, und wollte sie selbst hinbringen. Laurel hatte sich Beistand bei Anne erhofft, war aber von ihr enttäuscht worden, weil diese der gleichen Meinung wie ihr Vater war. Aber am meisten stand es Anne bevor, dass sie mit Jake reden musste. Sie wusste nun, sie würde und könnte nicht hierbleiben. Draußen fuhr ein Wagen vor. Dann wurde eine Wagentür zuge schlagen. Schritte erklangen auf der Veranda. Jake betrat das Haus. „Ist Laurel gut zur Party gekommen?" fragte Anne, als er in den Wohnraum hineinkam. „Ja." Er setzte sich neben sie aufs Sofa, schüttelte den Kopf und lächelte. „Es stellte sich heraus, dass keins der Mädchen von einem Jungen hingebracht wurde. Der junge Brad meinte wohl, er könnte Laurel überreden, mit ihm zu gehen, weil sie noch neu in der Stadt ist. Nicht sein Vater fuhr, sondern sein größerer Bruder." „Machst du Späße? Ich hätte nicht gedacht, dass er so frech lügen würde." „Laurel ging es ebenso." „Was hat sie getan?" Es War Jake anzusehen, wie stolz er auf seine Tochter war. „Sie hat ihm ordentlich den Marsch geblasen und seinem älteren Bruder ebenfalls. Sie hat ihn einen gemeinen Lügner genannt und ihm ge sagt, dass sie nie wieder etwas mit ihm zu tun haben wollte. Von einigen der Mädchen bekam sie dafür Beifall. Brad durfte erst an der Party teilnehmen, nachdem er sich entschuldigt hatte. Ich habe ihn und seinen Bruder beiseite genommen und mit den beiden ein paar ernste Worte gesprochen." „Du hast ihnen doch nicht gedroht, oder?" „Aber natürlich! Ich habe Ihnen gesagt, wenn sie Laurel jemals belästigen würden, dann würde ich sie mir vorknöpfen und sie windelweich ..." Er grinste. „Also, sie haben mich verstanden, denke ich." „Die Macholösung." „Na und? Sie wirkte doch, oder?" Anne zuckte mit den Schultern und lächelte ihn an. „Die Zeit wird es zeigen." Jake trug ein weißes Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte. Wie immer, hatte
er dazu Jeans und Stiefel an. Anne wünschte, sie könnte ihn ansehen, ohne Verlangen nach ihm zu verspüren. Sie wünschte, er wäre nicht solch ein guter Vater. Es wäre alles viel einfacher, wenn sie ihn nicht mögen würde, und ganz bestimmt sehr viel einfacher, ihn zu verlassen. Langsam änderte sich die Atmosphäre im Raum, schien nun von unterschwelliger Spannung erfüllt. Laurel würde bei ihrer Freundin übernachten, so dass Jake und sie bis morgen allein im Haus waren. :Sie räusperte sich, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Dann schaute sie sich im Raum um, zu dem Buch, das sie hingelegt hatte, ihren Turnschuhen, auf Jakes Stiefel. Das war gefährlich, denn den Blick die langen Beine hinaufwandern zu lassen, über die breite Brust und dann in sein Gesicht, das wäre ein Fehler. Sie konnte es, fühlen. „Wir müssen miteinander reden", sagte da Jake. „Wir müssen eine Lösung für unser Problem finden." „Unser Problem?" „Laurel und das Baby." Oh. Natürlich. „Ich sehe da keine Lösung", erwiderte sie. „Du und Laurel, ihr werdet hier auf der Ranch leben. Ich werde in ein paar Wochen wieder nach Houston zurückgehen. Was schlägst du vor? Ich möchte mit Laurel in Kontakt bleiben. Ich dachte, sie könnte in den Sommerferien für eine Zeitlang bei mir bleiben, vielleicht auch in den anderen Schulferien." „Das wird ihr zuwenig sein." „Ich weiß. Mir geht es ebenso. Aber sie jedes Wochenende abwechselnd bei dir und dann bei mir wohnen zu lassen ist kaum zu verwirklichen. Es würde ihr Leben durcheinanderbringen. Aber das ist es nicht, was dir Sorgen macht, nicht wahr?" Obwohl er die Augen geschlossen hatte, verrieten die zusammengepressten Lippen und das vorgeschobene Kinn, wie es in ihm aus sah. Eine dunkle Strähne war ihm in die Stirn gefallen. Die Schultern wirkten steif, und er hatte die Hände geballt. „Nein", bekannte er. „Ich weiß, dass du und Laurel in Kontakt bleiben werdet. Ich denke, das ist eine gute Idee. Wie du schon einmal betontest, wird sie eine Frau in ihrem Leben brauchen. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass ich in absehbarer Zukunft heiraten werde. Und ich vertraue dir, dass du in Bezug auf sie das Richtige tust." „Danke, Jake. Dann ist also die entscheidende Frage, was wir mit dem Baby machen, oder?" Sein Blick fiel auf ihren Bauch. Von ihrer Schwangerschaft war noch nicht das geringste zu sehen. „Ich nehme das Baby mit mir", sagte sie langsam. „Es tut mir leid, Jake. Ich weiß, du möchtest ihn haben. “ Sie schüttelte den Kopf. „Nun hast du mich dazu gebracht, von ihm zu sprechen, als wäre es ein Junge. Ich habe schon ein Kind fortgegeben. Ein zweites Mal könnte ich das nicht tun. Ich weiß, es tut dir weh, aber ich habe keine andere Wahl. Du weißt nicht, wie es ist, sich immer wieder zu fragen, was aus deinem Kind geworden ist. Sich zu wünschen, dein Kind nur sehen, nur einmal berühren zu können. Von Laurel habe ich nichts mitbekommen. Ich habe nicht erlebt, wie sie krabbeln, gehen und sprechen lernte. Ich war nicht bei ihrem ersten Geburtstag dabei, ihrem ersten Schultag." „Nun werde ich all dies nicht erleben." Ihr blieb fast das Herz stehen. Daran hatte sie überhaupt nicht ge dacht. O Gott, was sollten sie nur tun? Er las diese Frage in ihren Augen. „Du könntest hierbleiben." „Nein." Sie stand auf und stellte sich ans Fenster. „Das kann ich nicht. Es ist nicht fair, mich darum zu bitten. Ich habe mein ganzes Leben dafür gearbeitet, das zu erreichen, was ich erreicht habe und noch erreichen werde. Ich habe den Job, den ich haben wollte, ich habe meine Freunde, ein Leben, das mich erfüllt. Ich werde all dies nicht aufgeben, um hier zu leben." „Ich kann in Houston keine Pferde züchten", sagte Jake. „Dies ist das Land meines
Großvaters. Und es gehörte schon seinem Vater." „Dann sind wir also wieder da, wo wir angefangen haben. Dir ist doch auch klar, wir wissen immer noch nicht, wie wir es Laurel erzählen sollen." „Ich mag nicht darüber nachdenken." „Wir müssen es aber. Wir müssen die richtigen Worte finden, damit sie nicht verletzt sein wird." Sie drehte sich herum. „Jake, du darfst es nicht zulassen, dass sie mich hassen wird." „Sie wird es nicht." Er runzelte die Stirn. „Jake, wenn diese ganze Sache mit dem Baby herauskommt, wird sie sich betrogen fühlen. Sie habe ich zur Adoption freigegeben. Und dieses Kind will ich behalten. Sie wird es nicht verstehen. Sei auf meiner Seite." „Es gibt hier keine Seiten. Wir sitzen alle in einem Boot." „Ich wünschte, dem wäre so." Sie ging hinüber zum Couchtisch und nahm das Fotoalbum in die Hand, das darauf lag. „Ich habe mir all diese Fotos angesehen, weiß jetzt, wie sie sich im Lauf der Jahre veränderte. Aber es ist nicht das gleiche, als wenn man es mit eige nen Augen erlebt. Mir ist so vieles entgangen." Sie blickte Jake an. Er saß auf der Sofakante, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände ineinander verschränkt. „Ich möchte es dir nicht vorenthalten, Jake, das schwöre ich dir. Ich möchte nur das tun, was für uns beide das beste ist." „Ich wünschte, ich wüsste, was das ist." „Ich auch." Sie versuchte zu lächeln. Er stand auf und hielt ihr die Hand entgegen. „Komm mit mir." „Wohin?" „Vertrau dich mir an." Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Derselbe Aus druck, den er gehabt hatte, als er zum erstenmal begriff, dass er ein Kind gezeugt hatte. Sie legte das Album zurück auf den Tisch und legte ihre Hand in seine. Seine Haut war warm, und sie fühlte sich plötzlich geborgen und sicher, was natürlich verrückt war ange sichts des Problems, das sie noch zu lösen hatten. Aber dieses Gefühl war so stark, dass sie sich nicht dagegen wehrte, sondern sich ihm überließ. Als er sie anlächelte, konnte sie sogar sein Lächeln erwidern. Er führte sie in die Bibliothek und drückte sie dort sanft auf das Ledersofa. Dann ging er zum Bücherregal neben dem Videorecorder. Er suchte in einem Stapel Kassetten, dann zog er eine heraus und legte sie in den Apparat. Anschließend kehrte er zu Anne zurück und setzte sich neben sie. „Bereit?" fragte er. Sie nickte. Er lehnte sich zurück, rutschte ein wenig hin und her und legte ihr dann den Arm um die Schulter. Zuerst dachte sie daran, es nicht zuzulassen, dann aber wurde ihr bewusst, sie war bereits schwanger. Größere Schwierigkeiten konnte es eigentlich nicht mehr geben. Der Geruch seines Körpers stieg ihr in die Nase. Sie musste an den Fremd en denken, der vor so kurzer Zeit in ihr Büro gekommen war. Ob ihre Beziehung wohl einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn sie nicht schwanger geworden wäre? Würde Jake sie immer noch hassen? Oder wären sie Freunde im Laufe der Zeit geworden? Waren sie dem Schicksal in die Quere gekommen, oder hatten sie es selbst in die Hand genommen? Ein sanftes Gurren lenkte sie von ihren Gedanken ab. Sie schaute auf den Fernseher und stieß unwillkürlich einen leisen Laut aus. Ein Kind, vielleicht drei Jahre alt, rannte durch einen Streichelzoo. Die Ziegen, Lämmer und Ponys machten dem kleinen Mädchen anscheinend keine Angst. Sein braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei jedem Schritt fröhlich wippte. Seine pinkfarbenen Shorts und das gerüschte Hemd waren voller Staub. Das Mädchen streckte die Hand nach einer Ente aus, aber diese watschelte schnell davon. Das Mädchen blickte auf und lachte laut.
„Fast hätte ich die Ente gefangen, Mom", sagte sie in die Kamera hinein. „Ist alles in Ordnung?" erkundigte sich Jake und legte Anne die Hand aufs Knie. „Du sagtest, du hättest nicht sehen können, wie sie aufwuchs. Da fielen mir diese Videoaufnahmen ein. Wenn es für dich zu schmerzlich ist, sie zu sehen ..." „Nein!" Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. „Es schmerzt, aber es ist kein schlimmer Schmerz." Sie schaute wieder zum Bildschirm und lächelte. „Wie wunderschön sie ist. Und so zart." Das Video zeigte nun, wie Laurel die zutraulichen Tiere tätschelte, die Enten jagte, die laut quakend davonflatterten. Anne musste lachen und bemerkte kaum, dass Jake sie dichter an sich zog. Sie emp fand zwar einen Schmerz beim Anblick ihrer kleinen Tochter, aber es war ein bittersüßer Schmerz. Sie konnte nichts ungeschehen machen, aber diese Filme erlaubten ihr einen Teil von Laurels Leben zu sehen, den sie sich bislang nur in ihrer Phantasie hatte ausmalen können. Das Szene wechselte zu einem Picknick in einem Park. Laurel war immer noch sehr jung, aber ihre Kleidung war nun anders. Die Kamera zeigte sie, wie sie auf dem grünen Basen Ball spielte. Plötzlich trat eine Frau ins Bild. Anne hielt den Atem an. Die Frau war hochgewachsen und schlank, mit modisch kurzgeschnittenem dunklem Haar. Sie ging barfuß über das Gras und schwang beim Gehen die schlanken Hüften aufreizend hin und her. Als sie Laurel erreichte, hockte sie sich neben sie hin und lächelte sie an. „Das war Ellen", sagte Jake. „Das hatte ich mir gedacht." Anne hätte gern Jake angesehen, um seine Gefühle zu erkennen, aber sie wagte es nicht. Sie wollte nicht wissen, wie sehr er seine verstorbene Frau noch liebte. So starrte sie auf die Gestalt auf dem Bildschirm. Die Fotos wurden Ellen Masters nicht gerecht. Darauf . war sie ohne Zweifel eine Schönheit, aber wenn sie sich bewegte, war sie reine Eleganz. Geschmackvoller Schmuck schimmerte an ihren Ohren und um ihren schlanken Hals. Ihr Sommerkleid zeigte ihre wohlgeformten gebräunten Arme und Beine. Einige andere Leute kamen nun ins Bild, aber sie interessierten Anne nicht. Sie sah, dass Ellen Laurel niemals aus den Augen ließ, auch wenn sie sich mit anderen Frauen unterhielt. Als Laurel einmal aus dem Blickfeld verschwand, holte sie sie sofort zurück. Wieder wechselte die Szene. Nun war die Familie am Strand. Diesmal spielte Jake mit seiner Tochter. Ein jüngerer Jake in einer knappen schwarzen Badehose, so überwältigend gutaussehend, dass Anne schlucken musste. Das kleine Mädchen rannte in die Wellen und kreischte auf, als das Wasser gegen seine Zehen schwappte. Dann tauchte Ellen auf, in einem Bikini, der ihre makellose Figur nur noch mehr zur Geltung brachte. Sie nahm Laurel bei der Hand und führte sie ins Wasser hinein. Geduldig ermunterte sie das Kind, bis es zu lachen begann und in der flachen Brandung spielte. „Meine Mutter hat es ähnlich getan", sagte Anne. „Sie hat mir immer gesagt, es wäre besser, sich seiner Furcht zu stellen, als sich ihr zu ergeben." Das Band war nun zu Ende. Jake erhob sich, ging zum Apparat und legte ein neues ein. Als er dann zurückkam, starrte er Anne an. „Du weinst ja nicht." Sie lächelte. „Du klingst überrascht. Ich sehe es wirklich gern. Du hast mir etwas gegeben, von dem ich dachte, ich würde nie die Möglichkeit haben, es zu sehen. Und was die Tränen betrifft ..." Sie zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, im Moment sind mir keine mehr geblieben." Er griff nach der Fernbedienung, benutzte sie aber nicht. „Da sind noch mehr Bänder. Sieh sie dir an, wann immer du magst." „Danke, das werde ich." Sie lehnte sich zu ihm hinüber. „Ihr drei wart eine richtige Familie. Laurel wurde ge liebt, war glücklich und hatte ein schönes Zuhause. Ich bin froh, dass sie Ellen hatte." Es war schon seltsam, dass die Wahrheit zu sehen nicht so schmerzte, wie sie gedacht hätte. Jake hob die Hand und strich ihr sanft über die Wange. Es löste ein Prickeln auf ihrer
Haut aus. Er ließ die Hand wieder sinken, und das Prickeln verging. Sie wünschte sich, er würde sie nochmals berühren. „Ich bewundere deine innere Großzügigkeit", sagte er. „Ich würde gern genauso sein, bezweifle aber, dass ich es sein könnte." „Was meinst du?" „Bobby, ihren leiblichen Vater, wenn man es so ausdrücken will. Ich bedaure nicht, dass er tot ist. Ich könnte keine Konkurrenz um Laurel ertragen." „Warum zweifelst du an dir selbst? Du bist ein wundervoller Vater, Jake." „Nach Ellens Tod habe ich mich mehr um meinen Schmerz als um Laurel gekümmert. Das vergesse ich mir nicht." „Du hast es längst wiedergutgemacht, Jake. Sie ist ein besonders liebenswertes Mädchen geworden." Anne schloss kurz die Augen und fragte sich, wie es wohl sein musste, so sehr zu lieben und geliebt zu werden. Teil einer Familie zu sein und so wichtig für diese, dass der Tod eine Leere hinterlassen würde, die niemals wieder gefüllt werden könnte. Was hatte Ellen Masters besessen, dass es Jake unmöglich machte, eine andere zu lieben, obwohl Ellen schon vor zwei Jahren verstorben war? Würde er jemals für eine andere soviel empfinden, für sie zum Beispiel? Dieser Gedanke schockierte sie. Sie brauchte Jake nicht in romantischer Hinsicht. Sie hatten zwar Probleme miteinander zu lösen, aber mehr als Freundschaft war dazu nicht nötig. Aber wäre es nicht perfekt, wenn sie beide ... Was? fragte sie sich selbst. Sich ineinander verliebten? Dann würde sie andere Entscheidungen treffen müssen. Außerdem liebte er sie nicht. Er liebte Ellen. Zudem stand viel zuviel zwischen ihnen. „Woran denkst du?" fragte er. „Ich habe mich nur gefragt, ob du mich mehr mögen würdest, wenn wir nur Fremde wären. Wenn Laurel nicht zwischen uns stehen würde." Oder Ellen, aber das sagte sie nicht laut. Ihre Blicke trafen sich. „Ja", antwortete er mit heiserer Stimme. „Dann würde ich dich viel zu gern mögen." Anne lächelte. „Wie kann man jemanden zu gern mögen?" „Ganz einfach." Er beugte sich zu ihr. „Du zeigst deine Gefühle, und man verwendet sie gegen dich. Man manipuliert dich oder bringt dich dazu, dich für etwas schuldig zu fühlen, was du nicht einmal getan hast." Anne wusste, sie sollte gut zuhören, was er ihr erzählte. Es war wichtig. Aber sie konnte sich nicht darauf konzentrieren, sondern starrte nur wie hypnotisiert auf seinen Mund, der immer näher kam. Er würde sie küssen. Wenn er es tat, war klar, wohin das führen würde. Jake aber liebte noch immer Ellen. Ihn zu lieben, mit ihm zu schlafen würde Anne das Fortgehen nur noch erschweren. Sie musste fortgehen. Sie schuldete es sich, ihre Träume zu verwirklichen. Als wenn er ihr Zögern spürte, verharrte Jake dicht über ihren Lippen. Er packte sie an den Schultern, aber sie hätte sich leicht freimachen können, Sie spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht. Eine leise Stimme in ihrem Kopf befahl ihr zurückzuweichen. „Verschwinde", sagte sie laut zu dieser Stimme. Jake zuckte zusammen. „Nein, nicht du." Sie schlang ihm die Arme um den Nacken. Aber er küsste sie nicht. Er richtete sich auf und erhob sich. In seinen Augen brannte unverhülltes Verlangen. Er streckte eine Hand aus. „Ich möchte mit dir schlafen, Anne", sagte er. „In meinem Bett, bei eingeschaltetem Licht. Ich möchte dich berühren, schmecken und jeden Zentimeter von dir sehen." Eine Welle der Erregung überlief sie augenblicklich. Das Herz hämmerte ihr in der Brust, und sie begann schneller zu atmen. Sie sah ihn an. Die Entscheidung lag bei ihr,
das wusste sie ... Anne legte ihre Hand in seine. Er zog sie langsam hoch. Sie dachte, sie würden nun die Treppe hinaufgehen und sich dann wie zivilisierte Menschen ausziehen. Aber sie hatte sich geirrt. Jake riss sie an sich, presste wild den Mund auf ihre Lippen. Während seine Zungenspitze in ihren Mund eindrang, öffnete er ihr ha stig die Bluse. Er zog sie ihr erst gar nicht aus, sondern löste ge schickt ihren BH. Als ihre Brüste dann freilagen, nahm er sie in beide Hände und massierte sanft die Spitzen. Anne hatte das Gefühl, ihre Beine würden unter ihr nachgeben. Er hob den Kopf und musterte sie. „Sag mir, dass du mich vorhin in der Küche haben wolltest... als ich deinen Bauch berührte." „Ich wollte dich." „Und jetzt?" „Jetzt noch mehr." . Jake stöhnte dumpf auf, dann bückte er sich und umfasste ihre Hüften. Er hob sie hoch, so dass er an ihren empfindlichen Knospen saugen konnte. Sie schlang ihm die Beine um die Hüften und fühlte deutlich, wie erregt er war. Er trug sie aus dem Raum und stieg die Treppe mit ihr hinauf. Auf der dritten Stufe setzte er sie vorsichtig ab. Sie standen nun fast in Augenhö he zueinander. Er küsste sie, sog an ihrer Unterlippe. Sie klammerte sich an seinen Schultern fest. Ihre Bluse stand offen, die Brüste waren entblößt. Sie sehnte sich danach, ihre nackte Haut auf seine zu pressen, so griff sie nach seinen Hemdknöpfen. Jake tastete nach ihrer Jeans. Er konnte ihr die Hose nicht über die Schuhe streifen, deswegen setzte er sich auf die Treppe und zog sie ihr aus. Die Socken folgten, dann ihre Strumpfhose. Er kniete nun zwischen ihren Schenkeln und ließ die Fingerspitzen über die Innenseiten gleiten. Schauer überliefen sie. Sie sah ihm ins Gesicht. Er lächelte. „Was ist denn daraus geworden, sich im Bett zu lieben?" fragte sie rau. „Wir sind auf dem besten Weg." Er berührte das seidene Bünd chen ihres Slips und schob die Hand darunter. „Du bist bereit, ich fühle es..." Ehe sie verlegen werden konnte, beugte er sich vor und küsste ihren Bauch gleich oberhalb ihres Slips. Im nächsten Moment hatte er ihn ihr heruntergestreift und blickte auf das dunkle Dreieck. „Rotbraun", sagte er, als hätte er gerade eine wundervolle Entdeckung gemacht. „Ich habe rote Haare, Jake, was hast du denn erwartet?" Er blickte zu ihr auf und zwinkerte ihr zu. „Ich wollte mich nur überzeugen. Du hast auch hier Sommersprossen." Er berührte ihren Bauch, ihre Beine. „Und Kurven." Er berührte ihre Brüste.. „Jake, wir befinden uns hier auf der Treppe." „Ich weiß." „Und wenn uns jemand überrascht?" Er berührte das lockige Dreieck. „Die Türen sind alle verschlossen." „Aber ich..." „Du sprichst zuviel. Ich muss irgend etwas falsch machen." Damit beugte er sich vor und küsste die empfindliche Haut zwischen ihren Schenkeln. Er verstand es, ihre Erregung zu steigern, die Wollust zu schüren, bis ihr Körper erbebte. Anne stöhnte tief auf, als die Wellen der Erfüllung über ihr zusammenschlugen. Erst als sie wieder normal atmete, hob er sie hoch und trug sie in seih Schlafzimmer. Dort ließ er Anne vorsichtig aufs Bett gleiten und zog sich dann rasch aus. Dann schlüpfte er neben sie. Ihre kleine Hand glitt tiefer und fand, was sie suchte. Er zuckte zusammen und stöhnte leise. „Irgend etwas sagt mir, wenn ich jetzt erklärte, ich hätte irgend welche Näharbeiten zu erledigen, würdest du ausgesprochen unglücklich sein." Anne lächelte. „Wirklich sehr." Er küsste sie. Ihre Zungen trafen sich, spielten miteinander, und seine
Erregung wurde noch stärker. Aber noch wollte er sich nicht gehen lassen. Jake rollte sich auf den Rücken und zog Anne auf sich. Ihre vollen Brüste lagen schwer auf seiner Brust. Er packte ihre Hüften. Er liebte diese Kurven und den Geschmack ihrer Haut. Jake keuchte auf, als sie an seinen Brustwarzen zu saugen begann. Ihre Finger wanderten tiefer, über den Bauch hinab zwischen seine Beine. Obwohl er es kaum noch aushielt, nahm er sich zusammen und genoss ihre Berührungen. Anne hob den Kopf und lächelte ihn an. Mit einer raschen Bewegung rollte er sie herum und legte sich auf sie. „So, dann willst du also die Führung übernehmen?" neckte sie ihn. „Ich kann nicht mehr warten ..." „Dann tu es auch nicht." Ihre Hüften bewegten sich unter ihm. „O Annie, was machst du mit mir ..." Es war wie in jener Nacht in der Wüste. Es war nicht nötig, einen gemeinsamen Rhythmus zu suchen oder sich irgendwelche Gedanken zu machen. Es war nur das unbeschreibliche Gefühl, sie zu spüren, ihre Hitze und ihr Verlangen. Ihre Beine umklammerten seine Hüften, ihre Hände zogen ihn dichter an ihren Körper. Als ihre Augen sich schlössen und ihre Lippen sich öffneten, zwang er sich dazu, so lange zu warten, bis sie beide gemeinsam kamen. Und als sie seinen Namen schrie und ihn fest an sich zog, wusste er, niemals würde es für ihn etwas Wundervolleres geben, als ihren Körper in einem solchen Augenblick zu erleben. Da wusste er die Lösung. Sie war so klar wie die Gefühle, die in diesem Moment bis in jede Faser seines Körpers drangen. Sie war so einfach, dass er beinahe Schallend gelacht hätte. Als sie beide wieder ruhiger atmeten und Anne neben ihm lag, den Kopf an seine Schulter geschmiegt, nahm er ihre Hand und sprach fünf Worte. „Annie, willst du mich heiraten?"
8. KAPITEL
Anne rutschte augenblicklich von Jake fort und griff nach der Bett- decke. Sie zog sie bis ans Kinn hoch, strich sich die Haare aus dem Gesicht und setzte sich langsam aufrecht hin. „Das meinst du doch nicht ernst, oder?" „Annie, es ist die perfekte Lösung." Jake richtete sich auf dem Ellbogen auf. „Du kannst hierbleiben, bei Laurel und dem Baby. Wir brauchen uns keine Gedanken wegen der Besuche oder wegen des Sorgerechts zu machen. Und was das Finanzielle betrifft, kannst du beruhigt sein. Ich kann eine große Familie ernährend" „Es geht mir nicht ums Geld." Sie starrte ihn an und schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war nun blass. Die Sommersprossen zeichneten sich überdeutlich darauf ab. „Es hatte niemals etwas mit Geld zu tun. Es geht um verschiedene Lebensweisen und Ziele. Du liebst mich nicht." Er zupfte an der Bettdecke. „Gibt es einen anderen? Willst du mich deswegen nicht heiraten?" „Nein", entgegnete sie rasch. Überrascht bemerkte er, wie ihn diese Antwort erleichterte, und er nahm wieder ihre Hand. „Aber siehst du es denn nicht? Es wird funktionieren. Wir kommen miteinander zurecht. Wir beide lieben Laurel. Und im Bett sind wir wirklich das ideale Paar." Er hob die Augenbrauen. „Ehen werden auf viel dünnerem Boden ge gründet." Sie seufzte ungeduldig. „Du kannst mich nicht heiraten, nur weil es praktisch ist und wir uns im Bett verstehen." Er gab ihr einen Kuss auf die nackte Schulter. „Sicher kann ich das. Warum denn nicht?" Sie schloss die Augen, und die Bettdecke rut schte herunter, als er sie weiter liebkoste. Ihre Brüste lagen frei. Er hauchte einen Kuss darauf. „Es ist traumhaft mit dir, Annie. So habe ich es noch nie erlebt." „Ich auch nicht", sagte sie sanft. „Jake ..." Sie fing an zu stöhnen, als er zart in ihre Knospen biss. Dann aber stieß sie ihn von sich fort und zog die Decke wieder hoch. „Hör auf damit", sagte sie. „Ich meine es ernst. Du hast recht, was den Sex betrifft. Aber das heißt gar nichts. Ich bin nicht daran interessiert zu heiraten, nur damit ich es schön im Bett habe." „Wann wärest du denn interessiert zu heiraten?" „O Jake, hör bitte auf damit." Sie zog die Knie dicht an den Körper. „Du meinst, durch eine Ehe würden alle Probleme gelöst werden. Du bekommst eine Haushälterin, eine Geliebte und eine Mutter für deine beiden Kinder. Du tust so, als wäre nichts einfacher als das." „Warum muss es denn unbedingt schwierig sein?" Er stand auf. „Verdammt, Annie, kannst du denn nicht sehen, dass dies die beste Lösung für uns beide wäre?" „Nein." Sie schüttelte heftig den Kopf. „Es ist für dich die beste Lösung. Ich habe immer noch mein eigenes Leben in Houston. Was wird daraus? Und aus meiner Karriere, die ich mir so hart erarbeitet habe?" Sie funkelte ihn wütend an. „Du hast kein Recht, mir all dies zunehmen." „Willst du damit sagen, es gefällt dir hier nicht? Ich weiß, du hast einen fordernden, interessanten Job, aber die Pferderanch voranzubringen ist nicht weniger herausfordernd. Es ist anders und in mancher Hinsicht besser." „Das ist dein Traum. Meine Träume sehen anders aus." „Aber es würde alles ..." „Nein, das würde es nicht", unterbrach sie ihn. „Du hörst nicht zu. Es würde nicht der einfachste Weg sein. Ich habe so etwas schon einmal getan. Meine Mutter und Becky Sue waren der Meinung, das Baby fortzugeben wäre das beste. Ich habe ihnen geglaubt, weil ich es wollte. Damals war ich siebzehn und halbtot vor Schrecken bei der Vorstellung, allein mit einem Baby dazusitzen. Ich wollte mir meine Zukunft nicht verderben lassen."
Sie holte tief Luft. „Diese Entscheidung werde ich bereuen, bis ich sterbe." Das ließ ihn zu sich kommen. Er starrte sie an. „Das hast du mir nie gesagt." „Ich wollte es mir nie eingestehen. Ich tat, was am besten und einfachsten für alle war. Zumindest glaubte ich es. Ich werde so etwas niemals wieder tun. Ich bin glücklich, weil ich ein Kind bekomme, aber nicht gerade über die Umstände. Es war ein Zufall, und wir werden einen Weg finden, damit fertig zu werden. Doch das heißt nicht, dass wir heiraten müssen." Er stemmte die Hände in die Hüften. „Ich habe das dumme Gefühl, dass es doch keine Zufälle gibt. Du wirst mich nicht heiraten, oder?" „Nicht unter diesen Bedingungen." Jake setzte sich aufs Bett und zog sich an. Es wäre die perfekte Lösung gewesen. All seine Erleichterung, sein Hochgefühl schwanden dahin, und er fühlte sich auf einmal alt und müde. „Verdammt, du wirst mir nicht mein Kind wegnehmen. Dazu hast du kein Recht!" stieß er hervor. Sie streckte die Beine aus, hob den Kopf und sah ihn an. Statt Ärger oder Trotz, den er erwartet hatte, sah er nur unendliche Traurigkeit in ihren Augen. „Mach dir keine Sorgen, Jake. Ich sorge dafür, dass du alles bekommst, was du möchtest." Und wenn sie hundert Jahre alt werden sollte, Anne würde nicht das atemberaubende Glücksgefühl vergessen, das sie bei Jakes Heiratsantrag erfasst hatte. In dieser Sekunde hatte sie gewagt, Hoffnung zu haben und sich endlich eingestanden, dass sie ihn liebte. Nur der Gedanke, dass er sie vielleicht doch mochte, war einfach zu märchenhaft gewesen, als dass sie auch dieses hätte glauben können. So hatte sie sich nicht in seine Arme geworfen. Sie hatte sich auf die Zunge gebissen, bis andere Worte als „Ja, ja, tausendmal ja!" herauskamen. Sie hatte ihn gefragt, ob er sich auch wirklich sicher sei. Er war es. Er wollte sie heiraten, weil es bequem war, die einfachste Lösung für ihre Probleme. Nicht, weil sie ihm etwas bedeutete, nicht, weil er sie liebte, sondern weil es praktisch war. Er würde alles haben, was er wollte, und sie nichts. Nein, das stimmt nicht ganz, gestand sie sich ein. Sie würde mit Laurel Zusammensein können. Sie würde Teil einer Familie sein, etwas, nach dem sie sich schon als kleines Mädchen gesehnt hatte. Aber was war mit ihrer Karriere, für die sie so hart gearbeitet hatte? Noch nie war sie voll und ganz Hausfrau und Mutter gewesen. Es könnte mehr Herausforderung und Befriedigung bedeuten als jeder erfolgreiche Geschäftsabschluss. Aber natürlich waren das alles nur Wunschträume ... Anne warf einen Blick auf die Wanduhr. Laurel hatte mit ihrem Vater einen Ausritt unternommen. Sie würden bald zurück sein. Sie legte ihre Näharbeit beiseite, ging in die Küche und sah nach dem Hähnchen im Ofen. Es war eine Woche vergangen, seit sie und Jake miteinander ge schlafen hatten. Eine Woche, seit er ihr den Heiratsantrag gemacht und sie ihn abgelehnt hatte. Seitdem war jede Unterhaltung zwischen ihnen vollkommen unpersönlich. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, würde sie annehmen, sie hätte ihn durch die Zurückweisung verletzt. In einer weiteren Woche werde ich fort sein, dachte sie, als sie die Kartoffeln zu schälen begann. Zurück in ihrem wirklichen Leben. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und ließ die Hand sinken. Sie wollte nicht fort. Anne stützte sich mit den Ellenbogen auf der Arbeitsplatte auf und schloss die Augen. Sie musste sich die Wahrheit eingestehen, auch wenn sie es niemandem sonst gegenüber tat. Sie wollte hierbleiben und Laurel und dem Baby eine Mutter sein. Sie wollte einen Gemüsegarten anlegen und die Pflanzen wachsen sehen. Sie wollte Teil einer Familie sein. Sie wollte Jake für immer lieben. Und am sehnsüchtigsten wünschte sie sich, dass er sie ebenfalls liebte. Die Haustür wurde geöffnet, dann fiel sie ins Schloss. Hastig richtete Anne sich auf.
„Mit der Post ist ein Päckchen gekommen", sagte Jake, als er in die Küche kam. Er legte es auf den Tresen. Anne warf einen Blick auf den Absender. „Das ist sehr wahr scheinlich das Handarbeitsbuch, das Laurel sich bestellt hatte." „Da wird sie sich ja freuen", sagte er in unp ersönlichem Ton. Fast wünschte sie, er würde böse mit ihr sein. Dann könnte sie wenigstens auf etwas reagieren. Aber dieser ruhige, kühle Fremde hatte nichts mit dem Jake Masters gemeinsam, den sie kannte. Er war distanziert und uninteressiert. „Wann gibt es Essen?" fragte er und nahm das Päckchen. „Ungefähr gegen halb sechs." „Und was?" „Gebratenes Hähnchen, Brokkoli und gebackene Kartoffeln." „Ich möchte lieber Kartoffelbrei", sagte er und ging zur Tür. Beinahe hätte sie gesagt: „Gut." Doch dann überkam es sie: Sie war es leid, übersehen und behandelt zu werden wie eine Küchenhilfe. „Nein", sagte sie und legte den Kartoffelschäler beiseite. Sie wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Jake blieb auf der Stelle stehen. Ihre Blicke begegneten sich. Zum erstenmal seit einer Woche waren Gefühle in seinen Augen zu lesen. Anne machte es nichts aus, dass es nur Ärger war. „Wie bitte?" fragte er langsam. „Nein." Sie lächelte ihn an. „Ich werde keinen Kartoffelbrei machen." Er holte tief Luft und sprach dann jedes Wort betont aus, als unterhielte er sich mit einem widerspenstigen Kind. „Wir essen zu ge bratenem Hähnchen immer Kartoffelbrei. Sowohl Laurel als auch ich mögen es lieber dazu." „Das hatte ich mir gedacht. Deswegen werde ich es diesmal anders machen." Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an. Er stellte das Päckchen ab und kam auf sie zu. Als er nur noch einen Schritt vor ihr war, blieb er stehen und stemmte die Hände in die Hüften. „Fang nicht etwas an, das du nicht zu Ende führen willst." „Ich bin aber entschlossen, es zu Ende zu führen, Jake! Ich bin es müde, dass du mich ignorierst. Du willst Kartoffelbrei?" Sie warf ihm eine der ungeschälten Kartoffeln zu. Er fing sie auf. „Dann mach ihn dir selbst. Aber wenn du möchtest, dass ich koche, dann überlass mir die Gestaltung des Speiseplans. Ich habe es satt, an einer Heiligen gemessen zu werden." „Lass Ellen aus dem Spiel." „Wie kann ich das? Sie ist überall in diesem Haus, obwohl sie meines Wissens nach nie hier gelebt hat. Wenn du dein Leben den Toten widmen willst, dann tu es, aber verlang von mir nicht, dass ich da mitmache. Ich bin es leid, ständig verglichen und als nicht ausreichend befunden zu werden." „Dann solltest du vielleicht deine Arbeit besser mache n." Sie wusste, er wollte sie verletzen, meinte seine Worte eigentlich nicht ernst, aber dennoch trafen sie sie schmerzhaft. Sie straffte die Schultern. „Sie ist gut genug! Ich bin zu dir und Laurel anständiger gewesen, als du es verdient hast. Ich habe me in Bestes getan, um mich einzufügen. Aber dieses Spiel mache ich nicht mehr mit. Wenn du eine zweite Ellen haben möchtest, dann such dir eine. Eine dunkelhaarige Schönheit mit den richtigen Manieren und der richtigen Herkunft. Ich bin nur Annie Jo Baker, aus einer Ansammlung von Wohnwagen irgendwo östlich von Nirgendwo." Sie beugte sich vor und schaute ihm direkt in die Augen. „Ich bin auch Laurels Mutter, und nichts wird daran etwas ändern können." Sie war endlich zu ihm durchgedrungen. An seinem Hals pochte deutlich eine Ader. „Es sollte dir nichts ausmachen, mit Ellen verglichen zu werden", sagte er langsam. „Schließlich hast du versucht, ihren Platz in Laurels Herz und in meinem Bett einzunehmen."
„Das ist eine Lüge, und du weißt es. Du bist derjenige, der wollte, dass ich ein Ersatz bin. Du wolltest mich heiraten, weil es für dich so verdammt bequem ist. Du willst, dass ich bleibe. Ist dir das eigentlich klar, Jake? Hast du dich jemals gefragt, warum du soviel Angst vor mir hast? Ich will dir sagen, warum!" Sie machte einen Schritt auf ihn zu und stand nur noch eine Hand breit von ihm entfernt. „Du kannst nicht glauben, dass dich jemand genügend liebt, um bei dir zu bleiben", herrschte sie ihn an. „Du versuchst, Laurel so fest an dich zu binden, dass es mich wundert, dass sie nicht fortläuft. Du hast Angst, sie zu verlieren. Du hast nicht den Mumm zuzuge ben, dass du mich vielleicht brauchst. Deswegen sprichst du von der ,perfekten Lösung', anstatt zu versuchen, mich zum Bleiben zu veranlassen, indem du zuwendend und offen zu mir bist. Und am meisten fürchtest du, dein Baby zu verlieren." Sie berührte ihren Bauch. „Es ist auch mein Kind, Jake. Ich trage es in mir, und das ist für das Gesetz entscheidend." Das Schweigen, das folgte, erdrückte sie fast. Der Blick, mit dem er sie ansah, ließ sie zusammenzucken. „Du solltest mir nicht drohen", sagte er dann mit rauer Stimme. „Ich werde es niemals zulassen, dass du mir meinen Sohn nimmst." Ein unterdrückter Laut hinter ihnen ließ die beiden herumfahren. Anne sah Laurel in der Tür stehen. Keiner von ihnen hatte sie hereinkommen hören. „Daddy?" sagte Laurel bebend. Dann blickte sie Anne an. „Annie? Wirst du ein Kind bekommen? Ein Kind, das du diesmal behalten wirst? Wie kannst du das tun?" Es war wie ein Aufschrei. „Wie kannst du es nur tun?" Dann wirbelte sie herum und floh aus dem Raum. Jake rannte hinter Laurel her, aber er schaffte es nicht, sie einzuho len. Ihm wurde die Tür vor der Nase zugeknallt, dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss. „Lass mich herein!" rief Jake und schlug mit der Faust gegen die Tür. „Verdammt, Laurel, das ist kein Spaß." „Geh weg!" schrie Laurel schluchzend. „Geh endlich weg!" „Laurel, bitte, Kleines. Wir müssen miteinander reden", bemühte er sich um einen sanfteren Ton. „Ich will mit dir nicht reden. Geh weg, Daddy. Lass mich allein." Er erkannte, sie brauchte Zeit, um wieder zur Besinnung zu kommen. Als er sich umdrehte, sah er Anne oben am Treppenabsatz stehen. „Ich hoffe, du bist jetzt glücklich", sagte er und drängte sich an ihr vorbei. „Zum zweitenmal hast du das Leben deiner Tochter zerstört." „Wag es nicht, mir die Schuld zuzuschieben", erwiderte sie. „Ich wollte mit dir von Anfang an darüber reden, wie wir es Laurel am besten sagen. Du bist dem ausgewichen. Du bist derjenige ..." Aber er wollte nichts von seinem Anteil an der jetzigen Situation hören, sondern eilte die Stufen hinunter, aus dem Haus und hinüber zum Stall. Erst an der Tür zu seinem Büro wurde ihm klar, dass er es nicht ertragen würde, jetzt in diesem kle inen Raum eingesperrt zu sein. Dafür war er viel zu aufgewühlt. So rannte er wieder aus dem Stall. An dessen Seite war Holz für den Winter aufgestapelt, das nur noch gehackt zu werden brauchte. Bald würde der erste Schnee fallen. Es war Ende Oktober. Er zog sich das Hemd aus und bekam im kalten Wind sofort eine Gänsehaut. Aber das machte nichts, gleich würde ihm warm werden. Er griff nach der Axt und nahm einen Scheit zur Hand. Die anstrengende körperliche Arbeit kühlte seine aufgewühlten Sinne ab und wärmte seinen Körper. Warum zum Teufel hat Anne nicht kooperativer sein können? ging es ihm durch den Kopf. Wenn sie seinen Antrag angenommen hätte, wäre alles in Ordnung gewesen. Sie hätten damit warten können, Laurel von dem Baby zu erzählen, bis die richtige Zeit gekommen wäre. Er musste etwas falsch gemacht, nicht die richtigen Worte benutzt haben. Er arbeitete
schneller und schneller. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Ihre Worte gingen ihm durch den Kopf. Sie hatte ihn der Feigheit beschuldigt. Und es stimmte, er hatte Angst, alles zu verlieren. So wie er damals bei Ellen geblieben war, weil er auf Laurel hätte verzichten müssen. Und wenn Anne nun zurück nach Houston ging, würde er seinen Sohn verlieren. Auch Anne würde er verlieren, und dieser Gedanke erschien ihm genauso unerträglich. Jake ließ die Axt sinken, schaute hinauf zum Himmel und fand doch nicht die Antwort, die er suchte. Er hatte sich seinen Weg aus gesucht und musste nun mit den Konsequenzen leben. So wie, Anne es tun musste. Auch sie hatte sich ihren Weg ausgesucht. Er schüttelte den Kopf. Nein, das war nicht fair. Er war derjenige gewesen, der Kontakt mit ihr auf genommen hatte. Er hatte sie hierher nach Colorado gebracht, weil er Laurel nicht allein mit sich nehmen wollte, aus Furcht, sie könnte es ihm nicht verzeihen. Er war auch derjenige gewesen, der nicht darüber hatte sprechen wollen, wie sie Laurel von dem Kind erzählen könnten, weil er Angst vor den Folgen hatte. Nein, Anne war nicht der schuldige Teil. Dennoch änderte ihre Unschuld nichts daran, dass sie beide Laurel verletzt hatten. Er hatte seine beste Freundin verloren, Jahre vorher, nachdem Ellen sich plötzlich so geändert hatte. Dann hatte er seine Frau verlo ren. Anne würde seinen ungeborenen Sohn mit nach Houston nehmen. Und es konnte gut sein, dass ihn auch Laurel verließ, weil er ihr die Wahrheit vorenthalten hatte. Ihm würde nichts bleiben, und das wäre allein seine Schuld. Nichts von all dem wäre geschehen, wenn er sich nach Ellens Tod nicht von allem zurückgezogen hätte. Wenn er statt an sich an seine Tochter gedacht hätte. Aber diese Erkenntnis kam zwei Jahre zu spät. Er wusste nicht, wie er die Dinge nun wieder in Ordnung bringen sollte. Anne saß im Flur auf dem Fußboden und lehnte den Kopf gegen den Rahmen von Laurels Zimmertür. Seit fast zehn Minuten hatte sie keinen Laut mehr gehört. Sie wusste, sie musste Laurel dazu bringen, alles zu verstehen. „Es tut mir leid, dass du es auf diese Art erfahren musstest", sagte sie schließlich so laut, dass Laurel es hören konnte. „Gehweg." „Ich kann nicht gehen, ehe wir nicht miteinander gesprochen ha ben." • Laurel drehte zur Antwort ihre Stereoanlage auf volle Lautstärke, so dass die Musik durch die Tür dröhnte. Anne wartete. Sie hätte es Laurel früher sagen sollen. Dann hätte sie sich wenigstens ihre Worte vorher überlegen und dadurch vielleicht den Schlag für ihre Tochter mildern können. Die Wahrheit auf diese Art zu erfahren ... Sie zuckte zusammen. Sie wusste nicht einmal mehr genau, was Jake und sie sich in ihrem Zorn gegenseitig an den Kopf geworfen hatten." Aber sie wusste, es war zu gemein und hässlich gewesen, als dass eine Dreizehnjährige es hätte hören dürfen. Nach einigen Minuten verstummte die Musik. Anne holte tief Atem. „Du wirst immer meine Tochter bleiben, Laurel", rief sie und hoffte, das Mädchen würde jetzt zuhören. „Ich liebe dich und möchte, dass du Teil meines Lebens bist." Die Tür flog auf. Laurel erschien, aufgeregt und wütend. „Nein, das tust du nicht. Du willst dein B-baby." Ihre Stimme brach. Mit ihren Zöpfen, dem karierten Hemd und ihrer weiten Jeans wirkte sie rührend jung und verletzlich. Anne rappelte sich auf. „Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musstest, Laurel." „Du bedauerst es nicht, dass du schwanger bist, nicht wahr?" fragte Laurel unversöhnlich. „Nein." „Ich wusste es." Neue Tränen schimmerten in ihren Augen. „Ich war dir immer egal. Deswegen hast du mich auch fortgegeben. Mich hast du nie gewollt. Du bist nur hergekommen, weil du schwanger werden wolltest. Du wolltest das Baby, damit du es behalten kannst. Du wirst es behalten."
Laurel ballte die Hände und wollte zuschlagen. Anne hielt ihre. Arme fest. Das Mädchen versuchte sich kurz zu befreien, gab es dann aber auf. „Mich hast du nicht behalten. Mich hast du weggegeben." Die Anklage war nur zu deutlich in den haselnussfarbenen Augen zu lesen, die so sehr denen von Annes Mutter ähnelten. „Du müsstest meine Mutter sein. Und nun wirst du die Mutter eines anderen Kindes. Ich kann dich nicht einmal mehr hassen. Du hast mich dazu gebracht, dass ich mir wünschte, du würdest für immer bei mir bleiben. Aber es waren alles nur Lügen. Du hast mich betrogen!" Anne zog Laurel an sich. Zuerst wehrte diese sich dagegen, doch dann sank sie schwach gegen sie. Anne legte die Arme um das schluchzende Mädchen und sprach beruhigend auf es ein. „Mein kleiner Liebling, wein nicht mehr ..." Dann führte sie Laurel zu ihrem Bett und setzte sich neben sie. „Es tut mir so leid" „Nein, das tut es nicht." „Doch, ich schwöre es." Anne strich ihr über die Wange. Laurel zuckte zusammen, wich aber nicht zurück. „Ich wollte, ich könnte es erklären, aber es ist alles so fürchterlich kompliziert." „Das sagen Erwachsene immer." Laurel schniefte. „Mir scheint es nicht so kompliziert zu sein. Du willst dieses Baby haben und wirst es behalten." Anne schüttelte den Kopf. „Ich weiß, es tut dir weh. Mir tut es auch weh." Als ihre Tochter etwas sagen wollte, hob sie die Hand. „Bitte, hör mir zu, Liebes. Ich war siebzehn, als ich das erste Mal mit einem Mann schlief. Es war dumm, und eigentlich wusste ich es besser, aber ich tat es dennoch. Ich habe dich zur Adoption freigegeben, weil ich es damals für das richtige hielt. Wenn ich noch einmal siebzehn wäre ..." Sie schluckte. „Ich würde dich behalten. Das würde ich, mit dem Wissen, das ich jetzt besitze. Wenn ich klüger gewesen wäre, wäre ich auch nicht schwanger geworden. Aber unter den gleichen Umständen wie damals und mit der Gewissheit, da wäre ein Ehepaar, das das Baby lieben würde, weil es selbst keins bekommen kann, würde ich dich noch einmal fortgeben." Laurel starrte sie an. Anne konnte den Schmerz in ihren Augen sehen und den tiefen Wunsch, ihr glauben zu können, aber sie fürchtete, ihr Vertrauen bereits zu sehr erschüttert zu haben. So nahm sie Laurels Hände und hielt sie fest. „Es gibt nichts, das du mir sagen könntest, was ich mir nicht schon selbst gesagt habe. Ich wollte dir niemals weh tun. Auch wenn ich all diese Jahre nicht bei dir war, habe ich doch immer an dich gedacht, nie aufgehört, mich zu fragen, wo du seist und wie es dir wohl ginge. Dein Dad hat mir ein paar Videos von dir gezeigt." Überrascht blickte Laurel auf. „Das hat er?" Sie nickte. „Von denen, wo du noch klein warst." Laurel verzog das Gesicht. „Darauf sehe ich so doof aus." „Für mich nicht. Ich finde sie wundervoll. Ich habe dich darauf lachen und spielen sehen. Ich sah dich mit deiner Mom. Ich sah, wie sie dich hielt und dir beibrachte, keine Angst vor den Wellen zu haben. Was würdest du tun, Laurel? Wenn du die Wahl hättest, die Zeit zurückzudrehen, würdest du wollen, ich hätte dich bei mir behalten? > Würdest du deine Mom und deinen Dad aufgeben wollen, um mit mir in einem Wohnwagen zu leben, wie Becky Sue und ihre Kinder es tun?" Sie räusperte sich. „Ich war nie verheiratet. Vielleicht hättest du nie einen Stiefvater bekommen. Nur wir beide wären dagewesen. Meine Mutter ist tot, und Bobby, dein leiblicher Vater, hat auch keine große Familie. Könntest du all die Menschen aufgeben, die du kennst und die dich lieben, nur damit du und ich Zusammensein können?" Ihre Blicke trafen sich. Langsam schüttelte Laurel den Kopf. „Nein. Ich liebe meinen Dad. Ich vermisse meine Mom. Manchmal weine ich, weil ich sie mir so sehr zurückwünsche." „Ich weiß, Liebes." Anne legte die Hand auf den Kopf ihrer Tochter und zog sie an
sich. Sie wiegte sie sanft. „Ich bitte dich auch nicht, dich zu entscheiden. Ich will dir nur zeigen, dass wir alle schwierige Entschlüsse fassen müssen. Wir versuchen unser Bestes und müssen dann mit den Folgen leben. Es tut mir leid, wenn es dich verletzt, dass ich ein Baby bekomme. Aber du wirst immer meine Erstgeborene sein. Wir haben uns nun gefunden. Es liegt an uns, ob diese Beziehung zu etwas Besonderem wird oder ob sie wieder stirbt. Die Vergangenheit können wir nicht ändern, aber dafür die Zukunft gestalten. Ich liebe dich und möchte für immer ein Teil deines Lebens sein. Du entscheidest, wie es weitergeht." Sie hielt den Atem an. Laurel atmete tief durch und seufzte. Dann schlang sie Anne die Arme um die Hüften. Anne drückte sie an sich. „Ich liebe dich, Annie", flüsterte Laurel. „Ich dich auch Laurel." „Und ich will versuchen, das mit dem Baby nicht zu schwer zu nehmen." Sanft drückte Anne Laurels Kinn hoch, bis sie ihr in die Augen sah. „Für mich ist es ebenfalls alles andere als leicht. Es ändert alles. Aber wir schaffen es schon, dass alles in Ordnung kommt. Ich verspreche es." „Ich habe mir immer einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester gewünscht." „Dein Dad ist davon überzeugt, es wird ein Junge." Laurel runzelte die Stirn. „Wenn Dad der Vater deines Babys ist, dann heißt das doch, dass ihr beide ..." Sie sprach nicht weiter, sondern strahlte plötzlich übers ganze Gesicht. „Wahnsinnig!" Anne unterdrückte ein Lächeln. „Vielleicht ist es das beste, wenn du über diesen Teil nicht nachdenkst." „Na, gut." Laurel krauste die Nase. „Bedeutet das, dass ihr heiraten werdet? Muss man nicht verheiratet sein, wenn man ein Baby ha ben will?" „Offensichtlich nicht. Ich habe dich bekommen." „Das war etwas anderes. Wenn du Dad heiratest, bedeutet es, dass du bei mir bleiben wirst. Willst du das nicht?" „So einfach ist das nicht." Wieder seufzte Laurel. „Das heißt wohl nein." „Ich kann deinen Vater nicht heiraten. Er liebt noch immer deine Mom. Ich gehöre nicht hierher. Ich habe einen Job, werde bald einen weiteren Schritt in meiner Karriere machen, einen bedeutenden. All meine Freunde leben in Houston. Alles ist dort, bis auf dich." Und Jake, aber das brauchte Laurel nicht zu wissen. „Aber du hast doch hier auch Freunde. Dad mag dich sehr, glaube ich. Muss man nicht jemanden richtig gern haben, wenn man ..." Sie deutete auf Annes Bauch, errötete und schaute zur Seite. „Also, ich hätte nichts dagegen, wenn du ihn heiraten würdest. Dad sagt, ich kann dich und Mom zugleich lieben." „Kannst du mich auch lieben, wenn ich nicht bei euch lebe?" Laurel dachte eine Minute lang nach, dann nickte sie langsam. „Ich glaube, ja." „Gut. Uns beide verbindet etwas Besonderes. Entfernungen oder ähnliches spielen da keine Rolle. Ich werde immer für dich da sein, Laurel. Nur einen Anruf weit entfernt. Wir werden uns etwas ausdenken, wie wir Zusammensein können. Oft, das verspreche ich dir." Laurel starrte sie an. „Du gehst fort", sagte sie dann plötzlich. „Das hast du immer gewusst." „Aber du gehst jetzt fort. Du wirst nicht die ganzen zwei Monate bleiben wie geplant, stimmt's?" Laurel warf sich ihr an die Arme, und Anne hielt sie fest an sich gedrückt. In den letzten zwei Minuten hatte sie erkannt, es würde für alle am leichtesten sein, wenn sie fort wäre. Laurel und Jake könnten ihr altes Leben wiederaufnehmen, und sie könnte Pläne machen, wie es nach der Geburt des Kindes weitergehen würde. Sanft strich sie Laurel über den Kopf.
„Nein, Liebes, ich reise morgen früh ab." Jake stand oben auf der Treppe und hörte ihre Worte. Aber er wollte nicht glauben, dass sie sie ernst meinte. Sie würde ihn verlassen. Der scharfe Schmerz in seiner Brust überraschte ihn. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass ihm so viel an ihr lag. Laurel blickte auf und sah ihn. „Daddy." Sie rannte auf ihn zu und klammerte sich verzweifelt an ihn. „Annie will fort. Lass es nicht zu. Du musst sie dazu bringen, dass sie bleibt. Bitte!" „Laurel, ich..." Da riss Laurel sich los und raste die Stufen hinunter. Die Haustür wurde aufgerissen und knallte gleich darauf hinter ihr zu. Jake lehnte sich gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. Anne saß auf dem Bett seiner Tochter und sah ihn mit traurigem Blick an. „Wieviel hast du mitangehört?" „Genug, um zu wissen, dass du eine großartige Mutter wärst." Sie lächelte schwach. „Danke. Im Augenblick fühle ich mich aber gar nicht so großartig." „Laurel weiß, dass du sie liebst. Das ist das Wichtigste. Der Rest kann wieder in Ordnung gebracht werden." Anne faltete die Hände im Schoß. Ihre rötlichen Haare waren ein wenig gewachsen, seit sie hier war. Das übergroße Sweatshirt verbarg ihre weiblichen Formen, Aber er erinnerte sich daran, wie sie sich anfühlte. Er erinnerte sich auch an das Feuer, das sie beide zu verzehren drohte, wenn sie sich auch nur auf zwei Schritte nahe kamen. Und er wusste in seinem Herzen, so würde es immer sein. Er wusste auch, er würde ein Dummkopf sein, wenn er sie gehen ließe. „Ich erinnere mich nicht mehr daran, wann ich Ellen das erste Mal begegnet bin", begann er ruhig. Sie blickte auf, schaute ihn mit großen Augen an. „Jake, ich will nicht..." „Bitte. Hör mir einfach zu." Sie senkte den Kopf und nickte. „Es muss wohl gewesen sein, als wir noch Babys waren. Die ganze Schulzeit hindurch waren wir beste Freunde. Dann ging ich aufs College. Sie hatte noch ein Jahr auf der High School. In den Weihnachtsferien kam ich nach Haus, und irgend etwas hatte sich geändert. Wir glaubten, ineinander verliebt zu sein." Anne holte tief Luft. „Das hört sich wundervoll an. Sicher waren eure Eltern froh darüber." Er hätte gern gewusst, was sie jetzt dachte. „Das waren sie. Im nachhinein glaube ich aber, wir haben uns nicht geliebt. Wir verlob-, ten uns, heirateten. Ich brauchte mehrere Jahre, um zu erkennen, dass etwas nicht stimmte." Überrascht blickte sie auf. „Was meinst du damit?" „Ich liebte Ellen nicht auf die Art, wie ich sie zu lieben geglaubt hatte. Die Frau, um die ich trauere, war schon vor mehr als zwei Jahren gestorben. Ich vermisse meine Freundin, das Mädchen, mit dem ich aufgewachsen bin. Nicht die Frau, die starb. Ich blieb bei ihr, weil ich mich dazu verpflichtet fühlte und wohl auch aus Schuldgefühlen heraus. Und natürlich Laurels wegen. Nicht, weil sie mir viel bedeutete. Ich ..." Jake schaute zu Boden, blickte dann aber wieder Anne an. „Ich habe die Erinnerung an sie benutzt, um mich dahinter zu verstecken." Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin nicht stolz darauf und entschuldige mich dafür." Sie sagte nichts. Jake räusperte sich und fuhr fort. „An dir liegt mir etwas, Anne. Ich brauche dich. Laurel braucht dich. Ich kann mir dieses Haus ohne dich nicht mehr vorstellen. Wir liegen jetzt nicht nackt zusammen im Bett, ich bin nicht betrunken und auch nicht wütend. Bitte, bleib bei mir und werde meine Frau." Anne strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Weil du mich liebst?" fragte sie. Er nickte vorsichtig.
„Leidenschaftlich?" Er lächelte. „Die Leidenschaft kannst du nicht leugnen." „Nein, das kann ich wirklich nicht." Sie stand auf und kam näher. Dann stand sie dicht genug, dass ihm ihr Duft in die Nase stieg. Sie legte ihm ihre schmalen Hände auf die verschränkten Arme. Ihre blauen Augen sahen ihn fest an. „Ich liebe dich, Jake. Ich glaube, es begann, als ich sah, wie du Laurel beschütztest." Eine ungeheure Freude schoss in ihm auf. Der Druck in seinem Magen verschwand. Es würde alles gut werden. Sie würde bleiben. „Annie, ich..." „Nein." Sie berührte zart seinen Mund. „Ich werde dich nicht heiraten." . „Aber wenn du mich liebst, warum nicht?" , „Weil du mich nicht liebst." „Ich liebe dich." Sie schüttelte den Kopf. „Ich will nicht behaupten, ich glaubte deine Geschichte mit Ellen nicht. Sicherlich stimmt sie. Aber die zeitlichen Zusammenhänge geben mir zu denken. Sie wirken ein wenig zu günstig für meinen Geschmack. Ich fahre morgen früh ab, Und urplötzlich wird dir klar, du liebst Ellen schon seit Jahren nicht mehr, sondern nun mich! Ich glaube das nicht." Er fühlte, wie seine Panik zunahm. Er würde sie verlieren. Das wusste er. „Verdammt, was soll ich dir noch sagen? Ich habe dir ge sagt, ich liebe dich. Ich habe dich gebeten zu bleiben. Ist es der Gedanke an eine Ehe? Wir können auch so zusammenleben, wenn du es vorziehst. Mir gefällt es nicht, aber ich bin da flexibel. Solange wir eine Familie sein können." „Solange du deinen Sohn haben kannst." Die Traurigkeit in ihren Augen schnitt ihm wie ein Messer ins Herz. „Allein darum geht es, ob du es eingestehen willst oder nicht. Da du mich nicht durch Drohungen dazu bringen konntest zu bleiben, versuchst du es auf diese Art." „Das ist nicht wahr", sagte er, fragte sich aber zugleich, ob sie nicht vielleicht recht hatte. War er wirklich so oberflächlich und ge fühllos? In einer Sache hatte sie recht. Dass er ihr ausgerechnet jetzt seine Liebeserklärung gemacht hatte, musste für sie seltsam aussehen. „Ich werde mir etwas überlegen", sagte sie und trat einen Schritt zurück. „Vielleicht sehe ich mich nach einem Job in der Nähe um. Du wirst Gelegenheit haben, deinen Sohn zu sehen, Jake. Das verspreche ich dir." Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Er schmeckte ihre Leidenschaft und ihre Trauer. „Egal, was du denkst, Annie Jo Baker, ich liebe dich." Tränen schimmerten in ihren Augen, aber sie zwinkerte sie fort. „Dann lass uns Freunde bleiben. Unserer beiden Kinder wegen." Jake zog sie in die Arme und hielt sie fest an sich gedrückt. „Es tut mir leid", flüsterte er in ihr Haar. „Mir nicht. Ich habe Laurel gefunden. Ich habe eine zweite Chance geschenkt bekommen und ein zweites Kind. Und ich bin dir begegnet, Jake. Du wirst nie begreifen, was es mir bedeutet hat, dich zu lieben." Warum verlässt du mich dann? wollte er fragen. Aber er tat es nicht. Es gab keine Worte mehr, die sie zum Bleiben veranlassen würden. Regen fiel vom wolkenverhange nen Himmel. Anne stand am Fenster und schaute auf die Skyline von Houston, blickte hinaus auf den Sturm. Es war Anfang Dezember, feucht und kalt. In Colorado lag bereits Schnee. Sie wusste es, weil sie sich immer den nationalen Wetterbericht im Fernsehen ansah. So hatte sie das Gefühl, immer noch auf der Pferderanch mit Jake und Laurel zu leben. Und ihre Tochter hielt sie auf dem laufenden. Die beiden Telefongespräche pro Woche dauerten mindestens eine Stunde, und sie unterhielten sich über ihre Freundinnen und Freunde und darüber, was sie am Wochenende machen würden. Selten einmal nahm Jake ab, aber wenn er es tat, erkundigte er sich höflich, wie es ihr ginge, und gab den Hörer dann an Laurel weiter.
Anne wandte sich vom Fenster ab und ging hinüber in ihr Arbeitszimmer. Ihr neuer Posten bedeutete eine Menge Verantwortung und Arbeit mehr. So hatte sie sich Unterlagen mit nach Haus genommen, um sie am Abend zu erledigen. „Sie sollten sich nicht umbringen, um Erfolg zu haben", hatte Heather sie ermahnt, als sie zusammen zum Mittagessen gingen. „Ich mag zwar nicht so schnell den Aufstieg schaffen wie Sie, aber ich muss an meine Familie denken." Das tat Anne auch, aber sie hatte bislang niemanden von ihrer Schwangerschaft erzählt. Sie berührte ihren Bauch. Noch passten ihr die meisten Röcke. Aber schon bald würde sie Umstandskleider benötigen. Und sie hatte schon überlegt, ob sie sich irgendwo ein kleines Haus mit einem Garten kaufen sollte. Zudem musste sie sich nach jemandem umsehen, der auf das Baby achtgab, während sie bei der Arbeit war. Sie setzte sich an den Schreibtisch. Anstatt jedoch die Akten zur Hand zu nehmen, griff sie nach der Fotografie, die Laurel ihr ge schickt hatte. Es war das Klassenfoto. Ein Teenager lächelte ihr fröhlich entgegen. Anne erinnerte sich daran, welche Auseinander setzung es wegen der Kleidung gegeben hatte. Und an die Geschehnisse danach. Sie schloss die Augen und versuchte, die Gedanken daran zu vertreiben. Es gelang ihr nicht. Als sie am Flughafen voneinander Ab schied nahmen, hatte Jake ausgesehen, als würde es ihm das Herz zerreißen. Aber das konnte nicht sein. Er liebte sie nicht richtig, er wollte sein Kind. Sie liebte ihn immer noch. Nicht ein Tag verging, an dem sie sich nicht nach ihm sehnte. Ihr Körper verlangte nach ihm, nach Seinen leidenschaftlichen Liebkosungen. Ihr Geist und ihre Seele sehnten sich nach seiner Nähe, danach, seine Stimme zu hören, ihn aufrichtig zu lieben, so wie eine Frau einen Mann liebt. Immer wenn sie es vor Sehnsucht kaum noch aushielt, sagte sie sich, dass es an ihrer Empfindlichkeit aufgrund der Schwangerschaft liege und nicht an ihrem Verlangen nach Jake. Sie öffnete die Augen und lehnte sich im Sessel zurück. Wie sollte sie nur den Besuch durchstehen? Laurel und Jake würden über die Weihna chtstage zu ihr kommen. Jake würde danach wieder zur Ranch zurückkehren, während Laurel noch den Rest der Ferien in der Stadt verbringen sollte. Aber schließlich würde auch sie wieder abfliegen, und Anne wäre wieder allein. Aber das machte ihr keine Angst. Damit konnte sie umgehen. Es war der Gedanke, wieder mit Jake zusammen zu sein. Drei Tage mit ihm in denselben Räumen zu verbringen. Da sie nur ein zusätzliches Schlafzimmer hatte, würde er in einem nahegelegenen Hotel übernachten. Fast hätte sie ihm angeboten, auf der Couch zu schlafen, aber es war zu gefährlich. Wie leicht könnten sie in ihrem Bett landen, und dann wären sie wieder dort, wo sie aufgehört hatten. Und sie wusste nun eins: Sie würde ihn nicht noch einmal wieder verlassen können. Laurel öffnete die Schachtel und holte einen zartpinkfarbenen Wollpullover heraus, der zu der gleichfarbigen Cordhose passte, die Anne ihr geschenkt hatte. Nach der Bescherung sah es in Annes Wohnzimmer aus, als wäre ein Wirbelwind hindurchgefegt. „Cool", rief sie begeistert aus. „Mensch, ist das ein Weihnachten!" Sie umarmte Anne und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich glaube, Annie und ich haben es ein wenig übertrieben", meinte Jake vom Sofa her. „Wir müssen höllisch aufpassen, dass du kein verwöhntes Gör wir st." Laurel verdrehte die Augen. „Also, Dad, du kannst dich doch wohl nicht über mich beklagen, oder? Ich bin das perfekte Kind." Anne lachte und begann das überall herumliegende Geschenkpapier einzusammeln. „Und ihr beide liebt mich", stellte Laurel mit Überzeugung in der Stimme fest. Sie ging hinüber zu ihrem Vater und gab auch ihm einen Kuss; „Danke, Dad. Es gefällt mir alles wunderbar." Sie wandte sich an Anne. „Kann ich meine Freundin Terry anrufen und ihr erzählen, was ich alles bekommen habe?" „Sicher. Du kannst das neue Telefon in deinem Zimmer benutzen, wenn du willst." „Danke." Laurel raffte ihre Geschenke zusammen. „Nur, damit ich nichts vergesse",
erläuterte sie mit einem Grinsen. Dann war sie verschwunden. Anne, die neben ihr am Fußboden gesessen hatte, kniete sich hin und stellte ein paar Schüsseln ineinander, die auf dem niedrigen Couchtisch standen. „Warte, ich helfe dir." Jake beugte sich vor, und ihre Finger berührten sich aus Versehen. Sie riss ihre Hand zurück. „Entschuldige." „Es war meine Schuld." Unsicher und verlegen starrten sie sich an. Es war zehn Uhr morgens. Jake war früh von seinem Hotelzimmer herübergekommen, während Laurel bis nach neun geschlafen hatte. Er hatte mit Anne in der Küche gesessen, und sie hatten sich über die Ranch und ihre Arbeit unterhalten. Aber nicht über das, worüber er eigentlich gern geredet hätte. Und nun waren sie allein in dem großen Wohnzimmer, und er fand noch immer nicht die richtigen Worte. „Er sieht bezaubernd aus", sagte er und deutete auf den festlich geschmückten Tannenbaum in der Ecke. „Er war bestimmt schwer in den Fahrstuhl zu bekommen." „Es gibt noch einen Lastenaufzug an der Rückseite des Hauses." „Oh, wie praktisch." „Hmm. Ja, das ist es." Er wollte sie fragen, wie es ihr ginge, fürchtete aber, sie könnte die Frage falsch verstehen. „Es ist hart ohne dich, Annie", sagte er, plötzlich müde, ihr etwas vorzuspielen. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich vermisse euch beide auch." „Ich habe eine Haushälterin eingestellt, aber das ist nicht das gleiche." „Ja, von ihr bekommt ihr sicherlich das, was ihr haben wollt." Sie sammelte gerade zerknülltes Papier ein. Er beugte sich vor. „Ja, es wird allmählich langweilig." Sie blickte auf, die feinen Augenbrauen voller Verwunderung zusammengezoge n. „Es ist niemand da, mit dem ich streiten kann", sagte er. „Die ganze Zeit ist das Haus sauber. Nichts liegt herum. Kein Nähen oder Backen mehr." „Sie backt nicht?" „Ich habe ihr gesagt, sie soll es nicht." „Warum?"' „Laurel und ich kamen überein, es wäre besser so. Wir haben bereits zu viele Erinnerungen an dich." „Oh." „Wie geht es dir?" erkundigte er sich und schalt sich insgeheim einen Feigling. „Fein." Jake schluckte seinen Stolz hinunter. „Mir geht es nicht gut. Ich liebe dich noch immer, Annie. Und ich vermisse dich. Das Haus ist so groß und kalt ohne dich." „Jake, bitte nicht." Sie nahm ein Stück Papier auf und zerknüllte es. „Ich kann das alles nicht noch einmal durchmachen." „Ich habe endlich einen Weg gefunden, wie ich dich überzeugen kann, dass ich dich liebe und dass es nicht wegen des Babys ist." Skeptisch sah sie ihn an. „Ja?" Er nahm all seinen Mut zusammen. Alles oder nichts, sagte er sich. „Ich werde mit einer anderen Frau schlafen, damit sie ein Kind von mir bekommt." „Du tust was?" Er drängte ein Grinsen zurück, lehnte sich zurück und legte ge spielt lässig den Arm auf die Rückenlehne. „Es ist der einzige Weg. Dann werde ich noch ein Kind haben." „Das ist ... das ... das ..." Sie brach ab und sah ihn wütend an. „Untersteh dich, auch nur daran zu denken, du Schuft!" „Aber verstehst du denn nicht? Wenn ich von einer anderen Frau ein Kind bekomme und dich trotzdem heiraten will, musst du mir glauben, dass ich es nicht nur wegen
unseres Kindes tue." Jake konnte ein Lächeln nicht mehr unterdrücken. „Du hattest recht. Ich habe versucht, alles für mich zu haben, ohne an dich zu denken. In den letzten Wochen hatte ich viel Zeit zum Nachdenken, Annie. Ein Kind kann ich mit jeder Frau haben. Wenn ich wollte, könnte ich mir eine Frau suchen, die einen reichen Rancher heiraten will, und mit ihr ein Kind zeugen. Ich gestehe, anfangs war ich auf das Baby fixiert." Sein Blick ruhte kurz auf ihrer Taille. „Unser Baby. Aber dann wurde mir klar, es ist mehr als das. Ich möchte ein Kind, aber dich brauche ich. Ich liebe dich, Annie. Bitte heirate mich." „Verdammt, Jake Masters!" Sie warf mit dem Papierball nach ihm. „Soll das ja heißen?" fragte er hoffnungsvoll. „Glaubst du mir jetzt?" „Habe ich denn eine andere Wahl?" Er breitete die Arme aus. Anne erhob sich und kam zu ihm herüber. Sie beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund. Jake zog sie auf seinen Schoß. „War das ein ,Ja'?" Anne nickte. „Ja, Jake, ich heirate dich." Sie nahm seine Hand und führte sie unter ihr weites T-Shirt. Er konnte die Rundung ihres Bauches fühlen. Und er spürte auch noch etwas anderes. Die Funken der Leidenschaft, die zwischen ihnen übersprangen. „Ich liebe dich", flüsterte sie, und ihre Lippen berührten seinen Mund. „Und ich liebe dich." „Mann!" Die beiden fuhren auseinander. Jake stöhnte auf und drehte sich zu Laurel um, die in der Tür stand und von einem Fuß auf den anderen hüpfte. „Ihr küsst euch ja!" rief sie aus und strahlte übers ganze Gesicht. „Du hast uns unterbrochen", entgegnete Jake vorwurfsvoll. „Heißt das, ihr seid wieder zusammen?" fragte Laurel unbeeindruckt. Anne lächelte ihre Tochter an. „Wir werden heiraten." „Riesig! Das ist total cool!" Laurel blickte beide an, und es lag ein spöttischer Ausdruck auf ihrem Gesicht, der nichts Kindliches mehr hatte. „Dann werde ich euch beide wohl am besten allein lassen und „noch einmal telefonieren!" „Lass dir ruhig viel Zeit!" rief Jake ihr hinterher, ehe er Anne ansah. „Wo waren wir stehengeblieben?" „Genau hier." Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn innig.
-ENDE