Eric Ambler
Der Levantiner
Roman
Aus dem Englischen
von Tom Knoth
Diogenes
Titel der englischen Originalausga...
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Eric Ambler
Der Levantiner
Roman
Aus dem Englischen
von Tom Knoth
Diogenes
Titel der englischen Originalausgabe
>The Levanter<
Copyright © 1972 by Eric Ambler
Die deutsche Erstausgabe erschien
1973 im Diogenes Verlag
Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, 1975
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 1973 by
Diogenes Verlag AG Zürich
60/82/9/6
ISBN 3 257 20223 7
p0t0si
Levanter1 s 1. Levantiner(in). – 2. mar. selten Levan tefahrer m. – 3. meist 1~ starker Südostwind {im Mit
telmeer). levanter2 s Br. flüchtiger Schuldner (j-d der durch
brennt, ohne seine Schulden, bes. Wettschulden, zu bezahlen). Aus >Langenscheidts Enzyklopädisches Wörterbuch< begründet von E. Muret und D. Sanders
1. Lewis Prescott 14. Mai Dies ist Michael Howells Geschichte, und er erzählt sie größtenteils selber. Ich finde, er hätte sie von Anfang bis Ende selber erzählen sollen. Mag sein, daß er nicht den überzeugendsten Anwalt in eigener Sache abgibt; und als Hauptfigur jener Affäre, die als >Der Cercle-Vert-Zwischenfall< bekanntge worden ist, verhält er sich eher wie ein Angeklagter. Aber die Anschuldigungen entkräften und die notwen digen Aufschlüsse geben kann nur er selber. Von sei nen eigenen Worten hängt es ab, wie das Urteil über ihn ausfallen wird. In der mißlichen Lage, in der er steckt, wirken Sympathiekundgebungen und Ver ständnis von Außenstehenden wie Bitten um Gewäh rung mildernder Umstände. Statt seine Position zu stärken, könnte meine Parteinahme sie womöglich schwächen. Ich sagte ihm das. Er stimmte mir jedoch nicht zu. »Bestätigende Aussagen, Mr. Prescott«, erklärte er eindringlich, »das ist es, was ich von Ihnen brauche. Sagen Sie ihnen, was Sie von Ghaled wissen. Machen Sie ihnen nachträglich die Hölle heiß. Ich kann ihnen erzählen, wie es mir ergangen ist, aber sie müssen begreifen, mit wem ich es zu tun gehabt habe. Ihnen werden sie glauben.« »Meine Meinung über einen Mann wie Ghaled, die ich mir im Verlauf eines einzigen Interviews gebildet ha be, ist nicht beweiskräftig.« »Sie wird das Gewicht eines Beweises haben. Ich er warte nicht, daß Sie offen für mich Partei ergreifen, Mr. Prescott – das wäre zuviel verlangt –, aber ich bitte Sie, meinen Gegnern nicht in die Hände zu spie len.« Herzerweichend und unzutreffend; hier sprach der
Levantiner aus ihm. Ungerührt blickte ich ihn an. »Ich spiele niemandem in die Hände, Mr. Howell, und Ihren Gegnern schon gar nicht. Ich hatte angenom men, das hinreichend deutlich gemacht zu haben.« »Für mich schon.« Er hob den Zeigefinger. »Aber wie steht es mit der Öffentlichkeit und den Nachrichten medien? Wie soll ich mich und die Agence Howell ver teidigen, wenn es wichtige unabhängige Zeugen – die jenigen, denen die Wahrheit bekannt ist – vorziehen, Schweigen zu bewahren?« »Ich habe immerhin ein Feature von dreitausend Wör tern zu diesem Thema geschrieben, Mr. Howell«, rief ich ihm ins Gedächtnis. »Ich nenne das nicht >Schweigen bewahrenGedanken Salah Ghaleds< in die Hand gedrückt bekommen.« »Das hätte sie mir auch in Paris überreichen können.« »Da schrieben Sie aber nicht über den Mittleren Osten.« In einem Punkt jedoch sollte sich Edwards getäuscht haben. Melanie hatte mehr zu bieten als nur Pamphle te. »Man sagt Ihnen nach«, eröffnete sie mir, »daß Sie wahrhaft objektiv und unabhängig berichten und vor gefaßte Meinungen auch dann nicht unkritisch über nehmen, wenn es angezeigt erscheint, genau das zu tun.« »Das ist sehr schmeichelhaft für mich, Miss Hammad. Aber ich hoffe, Sie wollen damit nicht andeuten, daß ich so etwas wie eine rühmliche Ausnahme darstelle.« »So töricht bin ich nicht. Natürlich gibt es noch mehr Amerikaner von Ihrer Sorte. Aber sie kommen nur selten hierher, und wenn, dann nehmen sie sich nicht die Zeit zuzuhören. Ich weiß, was über das Palästinen sische Aktionskommando behauptet wird. Es wird be hauptet, daß es aus Verbrechern bestehe, die die pa lästinensische Sache für ihre eigenen Zwecke miß brauchen, daß Ghaled aus der Al Fatah desertierte, als der Feind angriff, daß er kein Freiheitskämpfer sei, sondern ein Gangster. Möglicherweise sind Sie ge neigt, diesen Dingen Glauben zu schenken. Zumindest werden Sie sie zur Kenntnis genommen haben. Aber vielleicht fragen Sie sich auch, ob dieser empfangene Eindruck, dieser Konsens, der Wahrheit entspricht. Ich
glaube, Sie würden es vorziehen, sich eine eigene Meinung zu bilden, sofern sich Ihnen dazu Gelegenheit bietet.« »Da mich aber niemand gebeten hat, mir über Mr. Ghaled und sein Palästinensisches Aktionskommando eine eigene Meinung zu bilden – « Ich sprach den Satz nicht zu Ende. »Ich bitte Sie.« »Leider Gottes sind Sie nicht mein New Yorker Redak teur.« »Sie haben sehr weitgehende Befugnisse. Ihre Frau hat es mir erzählt. Ich denke an ein wichtiges persön liches Interview, das einem Lewis Prescott gewährt werden würde. Exklusiv, versteht sich.« Ich überlegte rasch. »Wo fände dieses exklusive Interview statt?« »Hier im Libanon. An einem geheimgehaltenen Ort selbstverständlich. Absolute Diskretion müßte gewähr leistet sein.« »Wann fände es statt?« »Wenn Sie zusagen, glaube ich, es innerhalb von vier undzwanzig Stunden arrangieren zu können.« »Spricht Mr. Ghaled englisch oder französisch?« »Nicht gut. Ich würde dolmetschen. Sie brauchen nur Bescheid zu geben, wann es Ihnen paßt, Mr. Pres cott.« »Ich verstehe. Nun gut, dann lasse ich noch im Lauf des heutigen Tages von mir hören.« Edwards pfiff leise durch die Zähne, als ich ihm von dem Angebot berichtete. »Ghaled will also tatsächlich aus seiner Höhle hervorkriechen!« »Ist er schon oft interviewt worden? Miss Hammad erwähnte, daß sie verschiedentlich über ihn berichtet hat.« »Das war, als er noch der Al Fatah angehörte. Seit er diesen PAK-Unfug treibt, lebt er zumeist im Unter grund. Die Jordanier haben einen Kopfpreis auf ihn ausgesetzt, und die Leute von der Palästinensischen
Befreiungsorganisation in Kairo haben die Syrer zu überreden versucht, ihn unschädlich zu machen. In diesem Punkt gehen die Syrer mit ihnen zwar nicht ganz einig, aber er darf sich hier nichts zuschulden kommen lassen und muß vorsichtig sein. Obwohl er seine Basis in Syrien hat, setzt er seine Kommando gruppen nie zu bewaffneten Aktionen auf syrischem Territorium ein. Er ist hier natürlich überall unten durch. Sein Image hätte es dringend nötig, ein wenig aufpoliert zu werden. Etwas mehr Respektabilität könnte er schon brauchen.« »Frank, Sie glauben doch wohl hoffentlich nicht, daß ich der hübschen Miss Melanie Hammad zuliebe bereit wäre, ihn auch nur im geringsten aufzuwerten?« Edwards hob abwehrend die Hände. »Nein, Lew. Aber ich darf Sie darauf hinweisen, daß persönliche Inter views von der Art, wie Sie sie handhaben, dazu ten dieren, den Institutionen, mit denen die jeweiligen Interviewpartner identifiziert werden, Seriosität zu verleihen. Wenn Sie es auch in diesem Fall so halten wollen, geben Sie Ghaled Auftrieb und verhelfen ihm zu der internationalen Identität, an der es ihm gegen wärtig fehlt.« »Wenn es mir darum ginge, einen Bericht über die palästinensische Untergrundbewegung zu schreiben – was, wie Sie wissen, nicht meine Absicht ist –, würde ich Ghaled als ihren typischen Repräsentanten aussu chen?« »Als ihren typischen Repräsentanten?« Er blickte einen Moment lang unschlüssig drein und zuckte dann die Achseln. »Es gibt zehn verschiedene palästinensische Untergrundbewegungen, und noch weit mehr, wenn Sie Splittergruppen wie das PAK dazuzählen. Sie könn ten durchaus auch eine schlechtere Wahl treffen. Schließlich hat Ghaled der einen oder anderen dieser Bewegungen angehört, seit er ein Junge war.« »Ist er denn kein Desperado, kein verbohrter Fanati ker?«
»Verbohrte Fanatiker sind sie alle. Sie nähren ihren Haß mit Illusionen, jedenfalls tun das die meisten von ihnen. Das müssen sie. Sonst hätten sie gar nicht überleben können.« »Gibt es überhaupt keine Gemäßigten? Was halten Sie von Jassir Arafat?« »Arafat ist kein Partisan, er ist ein Politiker. Er ist da gegen, daß Palästinenser Palästinenser umbringen statt Israelis. Wenn er jemals auch nur andeuten soll te, daß eine friedliche Regelung mit Israel eines fernen Tages in den Bereich der Möglichkeiten rücken könnte, würde ihm innerhalb einer Stunde die Kehle durchge schnitten werden. Und es wäre jemand wie Ghaled, auf dessen Betreiben es geschähe. Möglicherweise würde Ghaled das sogar selber besorgen.« »Nun, ich sehe, daß Sie ihn für interessant halten.« »Ja, Lew, das tue ich allerdings.« Er kniff die Augen leicht zusammen. »Wissen Sie, seit dem Zweiten Ver rat – « »Wie bitte?« »So nennt Ghaled den vernichtenden Schlag, den die jordanische Regierung den Palästinensern 1971 ver setzt hat. Der erste Schlag, als Husseins Armee die Partisanen im Jahr 1970 aus Amman vertrieb, war Der Große Verrat. Der Zweite Verrat war die Säuberungs aktion, die im Jahr darauf erfolgte. Seither hat die Guerillabewegung erheblich an Schlagkraft verloren, zumindest soweit es Al Fatah und die PFLP, die Volks front für die Befreiung Palästinas, betrifft. Man könnte sagen, daß die Ereignisse Ghaleds ursprüngliche These bestätigt haben. Das allein macht ihn schon interes sant. Ich persönlich bin zudem der Meinung, daß er noch mehr zu bieten hat.« »Haben Sie das nur so im Gefühl, oder gibt es dafür konkrete Anhaltspunkte?« »Eigentlich nur so im Gefühl. Aber wenn Melanie mich gefragt hätte, würde ich die Chance, ihn zu intervie wen, auf der Stelle wahrgenommen haben.«
»Also gut. Ich nehme sie wahr. Am besten, wir drah ten New York. Können wir Ghaleds Namen in einem Telegramm erwähnen?« »Nicht, wenn Sie keinen Wert darauf legen, von der Polizei beschattet zu werden.« »Ist es wirklich so arg?« »Sie würde vermutlich auch das hiesige Al-Fatah-Büro informieren. Ich sagte Ihnen doch, er ist bei allen un tendurch.« Nachdem ich das einschlägige Pressematerial des Bü ros etwa zwei Stunden lang studiert hatte, wußte ich auch, warum. Salah Ghaled wurde 1930, als Palästina noch briti sches Mandat war, in Haifa als ältester Sohn eines angesehenen arabischen Arztes geboren. Seine Mutter stammte aus Nazareth. Er besuchte diverse Privat schulen und soll ein ungewöhnlich begabter Schüler gewesen sein. 1948 wurde er zum Studium an der AlAschar-Universität in Kairo zugelassen. Er hatte vor, Medizin zu studieren wie sein Vater; aber der erste Arabisch-Israelische Krieg durchkreuzte seine Pläne. Die Arabisch-Jordanische Legion sowie eine irreguläre arabische Befreiungsarmee waren die Angreifer. An fänglich in die Defensive gedrängt, dann aber zum Gegenangriff übergehend, kämpfte die Haganah, die jüdische Armee, um den Bestand des soeben prokla mierten Staates Israel. Beide Seiten beschuldigten einander wiederholt, Grausamkeiten an der Zivilbevöl kerung verübt zu haben. Ein arabischer Exodus be gann. Mehr als hunderttausend Araber setzten sich ab; eini ge in panischer Flucht, andere, weil sie einer ver meintlich anrückenden arabischen Befreiungsarmee freie Hand lassen wollten. Alle glaubten, bald wieder in ihr Land und zu ihren Wohnsitzen zurückkehren zu können. Nur wenigen sollte dies je beschieden sein. Das palästinensische Flüchtlingsproblem war entstan den. Unter den ersten Flüchtlingen befand sich die
Familie Ghaled aus Haifa. Sie traf es besser als die Mehrzahl ihrer geflüchteten Landsleute; Ghaled senior war Arzt und hatte Geld. Nach ein paar Wochen, die sie in einem Durchgangsla ger verbrachte, zog die Familie nach Jericho. Zu jenem Zeitpunkt hätte Salah nach Kairo gehen und wie vor gesehen an der Universität studieren können. Statt dessen trat er – offenbar mit Zustimmung seines Va ters – den irregulären arabischen Befreiungsstreitkräf ten bei. Das war die Armee, die lauthals angekündigt hatte, sie werde »die Juden ins Meer jagen«. Als der Krieg im Jahr darauf mit dem Ergebnis zu Ende ging, daß die Israelis fester als je zuvor auf dem aus gedörrten Boden Fuß gefaßt hatten und die arabischen Streitkräfte sich in voller Auflösung befanden, war Sa lah Ghaled gerade achtzehn geworden. Er hatte in einer Armee gekämpft, die nicht nur besiegt, sondern auch gedemütigt worden war. Beides, Niederlage wie Demütigung, verlangte, gerächt zu werden. In Kairo, wohin er jetzt ging, um endlich sein Medizinstudium zu beginnen, wurde er rasch in politisch aktive Studen tenkreise gezogen. Seinem – einige Jahre später ge äußerten – eigenen Bekunden zufolge ist er dort zum Marxisten geworden. Zum Arzt hat er es nie gebracht. 1952 ging er nach Jordanien, um dort in einem UNW RA-Lager für palästinensische Flüchtlinge als Arztgehil fe zu arbeiten. Die Guerillabewegung steckte damals noch in den Kin derschuhen; aber er scheint ein geborener Anführer gewesen zu sein: sehr bald befehligte er seine eigene Gruppe von >InfiltratorenKlappmessers< Konto gehenden Kommandounternehmen, bei dem ein israe lischer Bus zusammengeschossen wurde, die Israelis zu einem massiven Vergeltungsschlag provoziert hat te. Die palästinensischen Militärs pflegten Erfolge vor wiegend nach Ausmaß und Härte der gegnerischen Reaktion zu bemessen. Klappmessers Renommee als örtlicher Anführer war jetzt gefestigt. Als ägyptische Abwehroffiziere angereist kamen, um nach Palästinen sern Ausschau zu halten, die sich im Grenzgebiet aus kannten und bereit waren, sich den Fedaijin anzu schließen, befand sich Ghaled unter den wenigen Aus erwählten, an die man herantrat. Die ägyptischen Fedaijin waren schwerbewaffnete Kommandogruppen. Von ihren Stützpunkten auf ägyp tischem und jordanischem Territorium aus drangen sie tief in israelisches Gebiet ein, ermordeten Zivilisten, verminten Straßen und sprengten technische Einrich tungen und Anlagen aller Art. Der Sinai-Feldzug von 1956 setzte ihrer Tätigkeit ein Ende, aber die Idee der Fedaijin blieb unter den Ägyptern lebendig. Die Gueril lagruppen, die sich jetzt zu bilden begannen, wurden von Männern wie Ghaled, die den ägyptischen Fedaijin angehört hatten, organisiert und ausgebildet. Eine der größeren Gruppen machte unter dem Namen Al Fatah von sich reden, und Ghaled zählte zu ihren ersten An führern. 1963 erlitt er bei einem israelischen Vergeltungsangriff eine Verwundung am Bein. Die Verwundung war sehr schwer und ihre ärztliche Versorgung nur unzurei chend gewesen. Gegen Ende des Jahres riet ihm sein Vater, zwecks chirurgischer Nachbehandlung nach Kairo zu gehen. Sein dortiger Aufenthalt zu ebenjenem Zeitpunkt sollte sich auf seine Zukunft bestimmend auswirken. Die Palästinensische Befreiungsorganisation war damals gerade im Entstehen begriffen, und Ghaled, der von einer Nachoperation seiner Beinverletzung genas,
wurde in die Diskussion verwickelt. Als bewährten AlFatah-Führer zog man ihn beim Aufbau der Palästi nensischen Befreiungsarmee, die die offizielle Streit macht der PLO bilden und mit sowjetischen Waffen ausgerüstet werden sollte, wiederholt zu Rate. Obwohl er es ausschlug, ein ihm angetragenes Bataillons kommando zu übernehmen, wurde er zum Mitglied des soeben gegründeten >ErweckungsErweckungsGroßen Verrat< brand marken sollte. Bestürzt über das blutige Drama, das einem arabischen Bürgerkrieg gleichkam, schaltete sich das Zentralkomitee der PLO schleunigst ein. In direkten Verhandlungen mit dem König und seiner Regierung erreichte es zunächst, daß ein Waffenstill stand geschlossen, und später, daß er verlängert wur de, und stimmte schließlich einer Vereinbarung zu,
derzufolge alle palästinensischen Kampfgruppen abge zogen werden sollten; zuerst aus Amman und in der Folge aus allen anderen städtischen Gebieten Jordani ens. Dieser tragische Konflikt, so wurde offiziell er klärt, sei das Ergebnis israelischer Provokationen, die einzig das Ziel verfolgten, die Araber zu einem selbst mörderischen Bruderkrieg aufzuwiegeln, damit sie von ihrem gemeinsamen zionistischen Todfeind abließen. Ghaled war nicht der einzige Guerillaführer, der sich dem Beschluß des Zentralkomitees widersetzte und weder an die Waffenstillstandsbedingungen noch an die Abmachungen über den Truppenabzug hielt; noch nach Wochen flackerten in und um Amman immer wieder Kämpfe auf. Da das Gros der Al-FatahStreitkräfte sich jedoch dem Waffenstillstandsabkom men fügte, konnte sich die jordanische Armee mit nunmehr frei gewordenen Kräften auf die Verfolgung und Isolierung der verbliebenen Splittergruppen kon zentrieren. Als ihre Lage unhaltbar wurde, traten Gha led und die restlichen Unentwegten einer nach dem anderen mitsamt ihren Leuten unter Mitnahme von Waffen und Geräten den Rückzug an. Ghaled und seine Fedaijin setzten sich nach Norden ab, um bei Ramtha nahe der syrischen Grenze einen Stützpunkt zu beziehen. Als dann aber die jordanische Armee nachrückte und Anstalten traf, auch dieses Ge biet zu säubern, wichen sie nach Syrien aus. Die Mehrzahl der dissidenten Partisanenführer, die sich in das jordanische Hochland zurückgezogen hatte, um dort die weitere Entwicklung abzuwarten, hielt es jetzt für angezeigt, ihre Differenzen mit dem Zentralkomi tee beizulegen. Nicht so Ghaled; er blieb ostentativ unbotmäßig. Von einem Behelfslager im Libanon aus verkündete er seine Unabhängigkeit von den »feigen PLO-Hunden« in der Al Fatah und erklärte sich solidarisch mit der ma oistisch-marxistischen Volksfront für die Befreiung Palästinas. Bei dieser Gelegenheit gab er außerdem
die Gründung des supermilitanten Palästinensischen Aktionskommandos bekannt. Ich fand ein Originalexemplar des PAK-Manifests im Archiv vor. Es war mit der Frage überschrieben: Wer sind unsere Feinde? Wenn man von allem ideologi schen Beiwerk absah, ließ sich die Antwort darauf in einem einzigen Satz zusammenfassen. Er lautete: »Diejenigen, die jetzt fälschlich behaupten, unsere Freunde zu sein.« Wie unterschied man zwischen trügerischen und auf richtigen Treuebekundungen? Ganz einfach. Alle hat ten so lange als suspekt zu gelten, bis ihre Unbedenk lichkeit in einem geheimen Uberprüfungsverfahren zweifelsfrei erwiesen worden war. Wie wurde über prüft? Das PAK hatte seinen eigenen Geheimdienst und eigene Informationsquellen. Es würde geheime Ge richtsverfahren anberaumen und Listen mit den Na men verurteilter Verräter veröffentlichen; die Voll streckung der Urteile blieb den eigens hierzu gebilde ten PAK-Säuberungskommandos vorbehalten. Nur so konnte die palästinensische Befreiungsbewegung von dem Gift des Großen Verrats gesäubert und geläutert werden. Was Ghaled unter >gesäubert< und >geläutert< verstand, war sehr rasch deutlich geworden. Dazu hatte es nur einer weitverbreiteten Veröffentlichung der ersten fünf oder sechs von dem >Kriegsgericht< gefällten und den Säuberungskommandos vollstreck ten Todesurteile bedurft. Nach diesem Anschauungs unterricht gab es unter dem Zeichen des Halbmonds nur wenige Männer von Verstand und Vermögen, die nicht begriffen hatten, daß es klüger war, die Kriegs kasse des PAK aufzubessern, als das Risiko zu laufen, auf Ghaleds schwarze Liste gesetzt zu werden. Die PLO brandmarkte ihn als verbrecherischen Erpres ser. Die Volksfront für die Befreiung Palästinas distan zierte sich von dem PAK und seinem »revisionisti schen« Führer Salah Ghaled, den sie als »politischen
Abenteurer« abqualifizierte. Die jordanische Regierung ächtete ihn. Im Libanon wurde er diverser krimineller Delikte beschuldigt und steckbrieflich gesucht. Wie Frank Edwards gesagt hatte, war er überall unten durch. »Soviel ich sehe«, sagte ich, »ist dieser Typ in keiner Weise repräsentativ für die palästinensische Partisa nenbewegung. Ich rede nicht von dem, was er war, solange er noch der Al Fatah angehörte, Jim. Ich rede von dem, was in jüngster Zeit aus ihm geworden ist.« Er nickte. »Ich vermute, es ist die Erpressertour, die Ihnen nicht zusagt. Würden Sie ihn für repräsentativ halten, wenn er Bomben in ausländische Flugzeuge oder israelische Supermärkte schmuggelte?« »Ja, das würde ich.« »Eines kann ich Ihnen sagen. Auf diese erpresseri schen Praktiken ist er bestimmt nicht verfallen, um seine eigenen Taschen zu füllen. Die PLO hat ihm den Nachschub und jedwede finanzielle Unterstützung ge sperrt. Irgend etwas mußte er sich einfallen lassen. Möglich, daß die Russen ihm helfen oder die Chinesen, aber einiges Bargeld wird er dennoch benötigen, um überhaupt etwas in Gang zu setzen.« »Was in Gang setzen? Glaubt er im Ernst, der palästi nensischen Sache mit dieser einträglichen Säube rungsmasche einen Dienst zu erweisen?« »Nein, die ist nur Mittel zum Zweck.« »Zu welchem Zweck?« »Warum fragen Sie ihn das nicht selber? Sie reden, als sei es für Sie bereits erwiesen, wozu er sich in letzter Zeit entwickelt hat – zu einem gemeinen Erpresser. Das ist der PLO-Tenor, und dem traue ich nicht. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Genau das ist es, was mich interessiert und worauf ich neugierig bin. Ich möchte wissen, was er vorhat.« »Okay«, sagte ich. »Ich will versuchen, es herauszu bekommen.« Ich rief also Melanie Hammad an und bat sie, die Ver
einbarungen für das Interview zu treffen. »Umgehend«, sagte sie. »Ich freue mich, Ihnen behilf lich sein zu können, Mr. Prescott. Natürlich sind ein paar Bedingungen daran geknüpft.« Es hätte mich überrascht, wenn keine gestellt worden wären. »Und wie lauten die, Miss Hammad?« »Das Interview darf frühestens zwei Tage, nachdem es stattgefunden hat, veröffentlicht werden. Und es dür fen keine Fotos aufgenommen werden.« »Okay. Einverstanden. Sonst noch etwas?« »Das Interview muß auf Band gesprochen werden.« »Ich benutze nie Tonbänder für Interviews. Ich mache mir Notizen.« »Salah wird darauf bestehen. Dafür brauchen Sie ihm den Text dann auch nicht mehr zur Genehmigung vor zulegen, bevor Sie ihn veröffentlichen. Aber er wird verlangen, daß alles, was er gesagt hat, im vollen Wortlaut wiedergegeben wird.« »Gut, gut.« »Ich werde für die beiden Tonbandgeräte sorgen.« »Die beiden?« »Sie müssen eine gleichlautende Aufnahme besitzen.« »Die brauche ich nicht.« »Salah wird es aber wünschen.« »Okay. Ist das alles?« »Ich rufe Sie morgen an und gebe Ihnen für übermor gen alle Einzelheiten durch.« Wir trafen uns am frühen Nachmittag im Museum von Beirut – »Im St. Georges kennen mich zu viele Leute, Mr. Prescott« –, und zwei Tonbandgeräte, die auf dem Beifahrersitz des Wagens lagen, wurden meiner Obhut anvertraut. Miss Hammad fuhr, als werde sie verfolgt. Die Berg straße, die wir bald hinaufjagten, war schmal und in schlechtem Zustand, der Buick weich gefedert. Haltsu chend packte ich die Armlehne, wenn sie eine Haarna delkurve nahm, und zum erstenmal in meinem Leben fragte ich mich, ob ich womöglich autokrank werden
würde. Ich war im Begriff zu protestieren und sie dar auf hinzuweisen, daß wir seit Beirut eine hervorragen de Zeit herausgeholt hatten und daher keinerlei Not wendigkeit bestehe, dieses Tempo beizubehalten, als sie ganz unvermittelt scharf bremste. Ich mußte rasch die beiden Tonbandgeräte festhalten, weil sie sonst vom Sitz gerutscht wären. Wir hatten soeben eine sehr enge Kurve durchfahren, an die sich eine kurze Gerade anschloß, die horizontal verlief. Ich sah jetzt, daß vor uns eine Straßensperre errichtet war. Sie bestand aus einem gestreiften Schlagbaum, der sich heben und senken ließ, sowie einer Anzahl beiderseits des Schlagbaums gestaffelt in den Boden gerammter Betonpfosten, die jeden Ver such, die Sperre zu durchbrechen, aussichtslos er scheinen ließ. Neben der Barriere befand sich ein be toniertes Wachhaus mit Schießscharten, vor dem drei libanesische Soldaten mit Maschinenpistolen standen. Als der Wagen ausrollte und schließlich hielt, kam ei ner der drei herbeigeschlendert. Noch ehe er ganz an das Fenster herangetreten war, hatte Miss Hammad die Scheibe heruntergekurbelt und sehr schnell auf ihn einzureden begonnen. Der Soldat erwiderte etwas und sah mich dabei an. Ich war deswegen nicht über Gebühr beunruhigt. Ich sprach kein Arabisch und verstand es auch nicht, aber ich hatte es oft genug gehört, um zu wissen, daß es sich bei Miss Hammads Unterhaltung mit dem Solda ten, wenngleich sie eher wie ein Austausch von Dro hungen oder Beleidigungen klang, sehr wohl um einen solchen von Höflichkeiten handeln konnte. Daß diese Vermutung zutraf, erwies sich, als sie über irgend et was, was er gesagt hatte, fröhlich lachte, die Scheibe hochkurbelte und mit einem Wink zur Weiterfahrt auf gefordert wurde. »Was sollte dieser ganze Zirkus eigentlich bezwek ken?« »Wir sind jetzt in der Militärzone«, sagte sie. »Weil die
syrisch-israelische Grenze nicht weit von hier ist, wird diese Gegend von der Armee überwacht. Sehen Sie jetzt, was gespielt wird? Diese Feiglinge in Beirut be nutzen die Armee, um die Fedaijin zu unterdrücken.« »Diese Burschen kamen mir aber nicht wie richtige Unterdrücker vor. Sie haben nicht einmal nach unse ren Papieren gefragt.« »Oh, die kennen mich, und sie kennen den Wagen. Er gehört meinem Vater. Er hat hier in der Nähe ein Sommerhaus in den Bergen. Ich habe gesagt, Sie sei en ein Freund von ihm.« »Fahren wir dorthin – zum Sommerhaus Ihres Va ters?« »Ja. Aber wir bleiben dort nur, bis es Zeit ist, zu unse rem Treffen aufzubrechen. Das findet woanders statt.« Wir hatten gerade ein arabisches Dorf durchfahren, als die Straße erneut steil anstieg. Droben in den Berg schluchten war der Schnee auch jetzt – es war Mai – noch nicht geschmolzen. Bald nachdem wir die Stra ßensperre hinter uns gebracht hatten, schaltete sie die Heizung ein. »Sie haben mir nicht gesagt, daß ich einen Mantel brauchen könnte«, sagte ich. »Womöglich hätte es irgend jemand vom Hotelperso nal in Beirut sonderbar finden können, wenn Sie im Mantel weggegangen wären, um das Museum zu be suchen. Aber das ist kein Problem. Im Sommerhaus hängen genug Mäntel zur Auswahl, die wir anziehen können.« Dieses Sommerhaus erwies sich als stattliche Villa mit Dienstboten, die uns bewillkommneten und bereits Sandwiches hergerichtet hatten. Es gab einen großen Kamin, in dem ein Feuer flackerte, und eine wohlas sortierte Hausbar. »Es ist zwar noch reichlich früh für das Dinner«, sagte sie, »aber dort, wo wir hinfahren, bekommen wir nichts zu essen.« »Und wo wird das sein?«
»Zwei Kilometer von hier entfernt ist ein arabisches Dorf, und weiter oberhalb davon steht ein altes Fort. Das ist der Treffpunkt. Was trinken Sie?« »Kann ich schreiben, daß das Interview in einem alten Fort nahe der syrisch-israelischen Grenze stattfand?« »Natürlich. Es gibt Dutzende solcher Forts hier in den Bergen.« Sie lächelte. »Sie können es eine verfallene Kreuzritterburg nennen, wenn Sie wollen.« »Warum?« »Das klingt romantischer.« »Ist es denn eine verfallene Kreuzritterburg?« »Nein. Es ist von Moslems erbaut worden.« »Dann ist es ein altes Fort. Danke, ich hätte gern ei nen Scotch.« Während wir unsere Drinks nahmen, versuchte sie mich darüber auszuhorchen, welche Fragen ich stellen würde. Ich antwortete so vage, als hätte ich daran noch nicht sonderlich viele Gedanken verschwendet. Sie wurde nervös, gab sich jedoch Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen. Die Unterhaltung stockte. Ich aß fast alle Sandwiches auf. Als die Sonne zu sinken begann, erklärte sie, es sei Zeit zum Aufbruch. Sie zog sich ein ponchoähnliches bauschiges Kleidungsstück an, das aussah, als sei es aus einer alten Pferdedecke gefertigt, und trug dazu schwarze kurze Filzstiefel. Mir wurde ein pelzgefütter ter Anorak zugewiesen, der ihrem Vater gehörte und mir um die Schultern herum reichlich eng war. Der Buick war irgendwo außer Sichtweite abgestellt wor den, und wir setzten die Fahrt in einem Volkswagen fort, der mit Winterreifen ausgerüstet war. Sie führte einen Rucksack mit sich. Ich hatte die beiden Ton bandgeräte auf den Knien. Die zwei Kilometer lange Fahrt auf unwegsamen Pfaden dauerte zwanzig Minu ten. Wir hielten unmittelbar vor dem Dorfausgang neben einem verfallenen steinernen Stallgebäude, das inten siv nach Vieh roch.
»Von hier aus müssen wir zu Fuß gehen«, sagte sie und holte eine Taschenlampe aus dem Rucksack. Es war noch immer ziemlich hell, und man konnte die Umrisse des Forts erkennen, das sich, eine häßliche, gedrungene Ruine, auf einem Felsen befand, der über uns aus einem Hang herausragte. Es war nicht weit bis dorthin, aber der Aufstieg beschwerlich, und wir brauchten die Taschenlampe. An einigen Stellen waren steinerne Stufen vorhanden, die man am besten um ging, da sie sich zumeist als geborsten oder gelockert erwiesen. Miss Hammad jedoch, die keine Tonbandge räte zu tragen hatte, eilte behende voraus und war offenkundig ungehalten, daß ich ihr nicht auf den Fer sen blieb. Als der Pfad dann schließlich ebener wurde und wir uns dem von Unterholz überwucherten Plateau des Forts näherten, bedeutete sie mir, stehenzublei ben, und ging allein weiter. Am Fuß des Glacis ange kommen, gab sie mit der Taschenlampe irgendwelche Signale. Sobald sie von oben her erwidert wurden, rief sie mir zu, daß alles in Ordnung sei. Ich kraxelte wei ter. Mir war es inzwischen schon ziemlich gleichgültig geworden, ob alles in Ordnung war oder nicht. Meine Hauptsorge galt dem Bemühen, mir eine Knöchel verstauchung zu ersparen. Der steinerne Rundbogen, der einst den Eingang des Forts gebildet hatte, war vor langer Zeit eingestürzt, und aus den Trümmern wuchs verkümmertes Buschwerk. Es gab jedoch eine Art Pfad, der zwischen den Steinbrocken und Büschen hindurchführte, und dorthin geleitete sie mich mit dem Strahl ihrer Taschenlampe. Ein Araber in einem schwarzen Umhang erwartete uns. Mit einer Schwen kung der Laterne, die er trug, forderte er mich auf, ihm zu folgen. Drinnen lagen weitere Trümmer umher, die eine Lich tung umschlossen. Eines der alten Gemäuer war erhal ten geblieben und daran – vermutlich von einem Schafhirten aus der Gegend, der die Steine dazu aus den Trümmern geklaubt hatte – eine Hütte angebaut
worden. Sie hatte ein Dach, das aus verrosteten und mit Teerpappe abgedichteten Eisenblechen bestand, und eine Tür, durch deren Ritzen ein Lichtschein nach außen drang. Auf dem freigeräumten Platz neben der Hütte standen drei angepflockte Esel. »Ich gehe zuerst hinein«, erklärte Miss Hammad. »Bit te geben Sie mir die Tonbandgeräte und warten Sie hier.« Sie sagte irgend etwas auf Arabisch zu dem Mann im Umhang, der mit einem grunzenden Laut sein Einver ständnis bekundete und sich dicht neben mich stellte, als sie in der Hütte verschwand. In dem Lichtschein, der durch die geöffnete Tür fiel, beäugte er mich neu gierig und leckte sich die Lippen. Er hatte graue Bart stoppeln auf Kinn und Wangen und sehr schlechte Zähne. Zudem roch er auch sehr schlecht. In stockendem gutturalem Französisch fragte er mich, ob ich arabisch spräche. Ich verneinte, und er stellte keine weiteren Fragen. Zwei Minuten vergingen, dann er schien Miss Hammad und winkte mir. Das Licht in der Hütte stammte von einer Kerosinlam pe, die auf eine verbeulte Öltonne gestellt war. Das sonstige Mobiliar bestand einzig aus einem primitiven Holztisch, der eher wie eine Bank aussah, und zwei Stühlen; aber zu Ehren des Besuchs waren Teppiche ausgelegt worden, um den nackten Erdboden zuzu decken, und der Geruch von Zigarrenrauch hatte den von Kerosin und Ziegenbock nahezu überlagert. Als ich eintrat, erhob sich der Zigarrenraucher, der einen Schaffellmantel und eine gestrickte Wollmütze trug, von seinem Stuhl und neigte den Kopf. »Mr. Prescott«, verkündete Miss Hammad feierlich, »ich habe die Ehre, Sie mit dem Befehlshaber des Pa lästinensischen Aktionskommandos, dem GenossenFührer Salah Ghaled, bekannt zu machen.« Hübsch war er nicht gerade; er hatte einen Zinken von einer Nase, der viel zu groß war für seinen Kopf, und auf der Oberlippe ein schmales Bärtchen, das dieses
Mißverhältnis noch betonte; aber auf seine Weise war sein Raubvogelgesicht eindrucksvoll. Von schweren Lidern halb verhängt, war sein Blick scharf und wach sam. Obschon ich wußte, daß er unlängst Vierzig ge worden war, wirkte er auf mich wie ein weit älterer Mann. Ein durchtrainierter allerdings; jede Bewegung, die er machte, war sicher und zweckentsprechend und die seiner Hände von ganz eigenartiger Grazie. Er neigte kaum merklich den Kopf und richtete sich dann straff auf. »Guten Abend, Mr. Prescott«, sagte er in stockendem Englisch mit starkem Akzent. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie diese Reise unternommen haben. Bitte, setzen Sie sich.« Seine Hand, in der er die Zi garre hielt, wies auf den zweiten Stuhl. »Danke, Mr. Ghaled«, entgegnete ich. »Ich bin erfreut über diese Gelegenheit, Sie kennenzulernen.« Wir setzten uns. »Ich bedaure«, sagte er, »Ihnen hier keinen Kaffee anbieten zu können. Aber vielleicht nehmen Sie mit einem Arrak und einer Zigarette vorlieb.« Er brachte den Satz nur mit Mühe heraus, und es blieb der letzte, den er auf englisch sagte. Miss Hammad übernahm jetzt ihren Part als Dolmetscherin. Außer den beiden Tonbandgeräten standen eine Fla sche Arrak und zwei Gläser auf dem Tisch, und eine Packung der Zigaretten, die ich für gewöhnlich rauche, lag ebenfalls dort. Miss Hammad hatte den Arrak, die Gläser und die Zigaretten offensichtlich in ihrem Ruck sack mitgebracht. »Normalerweise trinkt Mr. Ghaled natürlich keinen Alkohol«, sagte sie. »Aber er ist nicht orthodox in die sen Dingen, und da es sich hier um eine private Be gegnung handelt, wird er mit Ihnen ein Gläschen Ar rak trinken, der in Syrien hergestellt ist.« Ich verabscheue Arrak, wo immer er auch hergestellt sein mag; aber es schien mir nicht der rechte Augen blick zu sein, das zu sagen.
»Man hat mir erzählt, der syrische Arrak sei der be ste.« Sie übersetzte dies, während sie einschenkte. Ghaled nickte und wies auf die gefüllten Gläser. Wir ergriffen jeder eines und nahmen einen zeremoniellen Schluck. »Ich werde jetzt die Tonbandgeräte richten«, sagte Miss Hammad. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden und fuhr fort, abwechselnd arabisch und englisch zu sprechen, während sie die Mikrophone aufstellte und die Kassetten einlegte. »Jedes Band läuft bei niedriger Geschwindigkeit drei ßig Minuten lang, und ich kündige vorher an, wenn ich es auswechseln muß. Vielleicht sollte ich die Bedin gungen, unter denen das Interview gewährt wird, kurz wiederholen.« Das tat sie. Ghaled sagte etwas. »Mr. Ghaled erhebt keine Einwände, wenn Mr. Prescott zur Ergänzung der Tonbandaufzeichnung schriftliche Notizen zu machen wünscht.« »Danke.« Ich stellte das Glas ab und zog den Notiz block hervor, auf dem ich die einleitenden Fragen, die ich stellen wollte – die leichten also –, schon vermerkt hatte. Ich spürte, wie Ghaled mich beobachtete, wäh rend ich in den Seiten blätterte; er versuchte mich einzuschätzen. Ich ließ mir Zeit bei der Durchsicht meiner Notizen und steckte mir eine Zigarette an, um das Schweigen zu verlängern. Es sollte mir nur recht sein, wenn er ungeduldig wurde. Es war Miss Hammad, die die Geduld verlor. »Wenn Sie vielleicht probeweise irgend etwas ins Mi krophon sprechen wollen, damit wir anfangen können, Mr. Prescott?« »Es ist eine Ehre, von Mr. Ghaled empfangen zu wer den.« Sie übersetzte seine Antwort. »Es ist liebenswürdig von Mr. Prescott, das zu sagen.« Sie schaltete die Geräte auf Playback. Sie funktionier
ten beide einwandfrei. Sie drückte wieder auf die »Aufnahme «-Taste und sagte auf englisch und ara bisch: »Interview mit dem Befehlshaber und Führer des Palä stinensischen Aktionskommandos, Salah Ghaled, von Lewis Prescott, Korrespondent der syndikalisierten amerikanischen Post-Tribune-Nachrichtendienste, auf genommen in der Republik Libanon am – « Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, um das Datum zu überprüfen, bevor sie es hinzusetzte. Es war der vierzehnte Mai.
2. Michael Howell 15. und 16. Mai Am vierzehnten Mai war ich in Italien, und ich wünsch te nur, ich wäre dortgeblieben. Schon ein Streik des Flughafenpersonals – wenn ich dadurch nur etwa vierundzwanzig Stunden lang auf gehalten worden wäre – hätte sich für mich segens reich auswirken können. Zumindest wäre mir meine Ahnungslosigkeit ein wenig länger erhalten geblieben. Mit einigem Glück hätte ich möglicherweise sogar um die direkte Verstrickung herumkommen können. Aber nein. Ich kehrte am Fünfzehnten zurück und lief schnurstracks in mein Unglück. Die Tatsache, daß sich das Gift zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als fünfzehn Monaten – genauer ge sagt seit jenem Tag, an dem der Mann, der sich Yassin nannte, bei mir um Arbeit nachgesucht hatte – im Körper befand, war etwas, was ich nicht wußte. Ich bin angeschuldigt worden, mich blindgestellt zu haben, bis die Umstände dies nicht länger zuließen. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Bedauerlicherweise fiel es denen, die mich am besten kennen – Geschäftsfreunden zum Beispiel –, beson ders schwer, der Tatsache, daß ich sowohl unwissend als auch unschuldig war, Glauben zu schenken. Mein Eingeständnis, daß ich in jenen Monaten hinsichtlich dessen, was gespielt wurde, zu keinem Zeitpunkt auch nur den leisesten Verdacht schöpfte, hielten sie ledig lich für eine unter den gegebenen Umständen zwar gebotene, aber doch höchst unglaubwürdige Schutz behauptung. Nun, ich kann ihnen das schwerlich übel nehmen, aber es tut mir leid: dieses Eingeständnis, das mir gewiß nicht leichtfiel und auf das ich alles an dere als stolz bin, entspricht nun einmal der Wahrheit. Eines möchte ich klargestellt wissen. Ich habe nicht
die Absicht, mich selbst oder mein Verhalten zu recht fertigen; ich bemühe mich lediglich, den Schaden, der angerichtet worden ist, wenigstens teilweise zu behe ben. Es geht mir dabei nicht um meinen persönlichen Ruf, sondern um den unserer Firma. Die Woche vor dem Fünfzehnten hatte ich in Mailand in geschäftlichen Angelegenheiten unserer Firma ver bracht. Nachdem diese Angelegenheiten geregelt wa ren, flog ich nach Rom, um dort bei meinem Schneider zwei neue Anzüge abzuholen. Am darauffolgenden Tag, am Fünfzehnten also, nahm ich eine Maschine der Middle East Airlines nach Damaskus. Wie gewöhnlich hatte ich Flugnummer, fahrplanmäßi ge Ankunftszeit etcetera telegraphisch avisiert, und wie gewöhnlich wurde ich als VIP behandelt. In Damas kus bedeutete dies, daß mich ein Korporal der syri schen Armee im Fallschirmjäger-Sprunganzug und bewaffnet mit einem entsicherten, an langem Riemen quer über dem Bauch getragenen tschechischen Schnellfeuergewehr, am Fuß der Treppe, über die ich das Flugzeug verließ, in Empfang nahm. Von ihm es kortiert, begab ich mich ungehindert durch Zoll- und Paßkontrollen zum vollklimatisierten Wagen des Mini steriums, der vor dem Flughafengebäude auf mich wartete. Wie immer waren meine Gefühle, soweit sie diese Art des Empfangs betrafen, gemischt. Natürlich empfand ich es als angenehm, daß mir die Verhöre und Durch suchungen erspart blieben, denen sich die Mehrzahl der anderen Fluggäste in der Regel unterziehen muß te. Zudem war es beruhigend, gleich nach der Lan dung die Gewißheit zu haben, daß man von Staats wegen nach wie vor als wichtig und wertvoll erachtet wurde und daß während der eigenen Abwesenheit kei ne langen Messer gezückt worden waren: muß doch das moderne Syrien noch immer zu den Ländern mit hoher »Kopf ab«-Rate gezählt werden.
Andererseits wurde ich nie ganz das Gefühl los, daß ich, sollte eine der potentiellen Gefahren – eine Bom bendrohung zum Beispiel oder eine Schießerei mit Terroristen – plötzlich akut werden, als Ausländer, Zivilist und Ungläubiger unter den ersten sein würde, die im Kreuzfeuer zusammengeschossen wurden. Der Korporal, den ich von früheren Gelegenheiten her kannte, war ein gutmütiger und freundlicher Tölpel, der nach Schweiß und Waffenöl roch und ungemein stolz darauf war, daß sein Erstgeborener inzwischen eine dörfliche Elementarschule besuchte; mir jedoch wollten sein martialischer Aufzug und sein durchgela denes Schnellfeuergewehr ebensosehr als Drohung wie als Schutz vor einer solchen erscheinen. Da meine Audienz beim Minister erst für sechzehn Uhr dreißig vorgesehen war, ließ ich mich zunächst zu der Villa fahren, die unserer Firma in der Stadt gehörte – und zu Teresa. Die Villa, noch ganz im alten Stil mit Innenhof, war teils Büro, teils pied-á-terre. Teresa stand beiden Bereichen vor. Assistiert von einem syri schen Kontorgehilfen, leitete sie das Büro für mich; und unterstützt von zwei Bediensteten, versah sie un seren privaten Haushalt. Teresas Vater war italienischer Konsul in Aleppo und außerdem ein begeisterter Amateur-Archäologe gewe sen. Gemeinsam mit Teresas Mutter und Mitarbeitern des Museums von Aleppo hatte er sich auf einer ar chäologischen Expedition in den Norden des Landes befunden, als die Reisegesellschaft von Banditen – Kurden vermutlich – überfallen wurde. Möglicherweise glaubten die Kurden, es mit einer syrischen Grenzpa trouille zu tun zu haben. Unter denen, die von ihnen umgebracht wurden, waren auch Teresas Eltern gewe sen. Ihre damals neunzehnjährige Tochter war in einem libanesischen Konvent erzogen worden und verfügte über ausgezeichnete Sprachkenntnisse. Eine Zeitlang hatte sie als Sekretärin und Dolmetscherin in der örtli
chen Niederlassung einer amerikanischen Ölgesell schaft gearbeitet. Dann war sie zu mir gekommen. Da sie ihr Leben größtenteils im Mittleren Osten verbracht hat, kennt sie sich dort in allem aus. Sie war und ist für mich in jeder Hinsicht unersetzlich. Ich habe für unsere Firma immer viel herumreisen müssen, und jedesmal, wenn ich nach Damaskus zu rückkehrte, spielte sich im Büro das gleiche Ritual ab. Teresa legte mir einen kurzen Bericht über den Zu stand unserer örtlichen Unternehmungen vor, den sie in meiner Abwesenheit verfaßt hatte. Für gewöhnlich bestand dieser Bericht in der Hauptsache aus Zahlen. Sie pflegte ihn jeweils mündlich zu kommentieren und mit zusätzlichen Informationen zu ergänzen, die ihr wichtig oder interessant genug erschienen, um mir zur Kenntnis gebracht zu werden. Diesmal berichtete sie mir von den Machenschaften eines Konkurrenten, der unseren Kostenvoranschlag für einen Auftrag in Teheran zu unterbieten versuchte. Diese Geschichte amüsierte mich. Daß dies auch beim nächsten Punkt der Fall gewesen wäre, kann ich nicht behaupten. »Mir ist aufgefallen, daß die Laborkosten laufend stei gen«, sagte sie. »Während du weg warst, habe ich sie mir daraufhin einmal näher angesehen. Die Rechnun gen werden uns zur Begleichung zugeschickt, aber die Warenbegleitscheine, auf denen die Posten einzeln aufgeführt sind, gehen mit der bestellten Lieferung direkt an die Fabrik. Dort scheinen sie dann meistens zu verschwinden. Deswegen habe ich dem Lieferanten in Beirut geschrieben und ihn um eine Kopie der Wa renbegleitscheine gebeten.« »Und?« »Ich fand einen Posten darunter, der in der Tat sehr kostspielig war. Zudem mußten wir eine Menge Zoll dafür zahlen. Es handelte sich um eine Bestellung über zehn rottols reinen Alkohol.« Ein rottol, das sollte ich hier nicht unerwähnt lassen,
ist eines jener vorsintflutlichen Gewichts- und Men genmaße, die in bestimmten Gegenden des Mittleren Ostens noch immer gebräuchlich sind. Ein rottol ent spricht zwei okes, ein oke ist etwas mehr als einein viertel Kilo. Zehn rottols sind also etwa fünfundzwan zig Kilo. »Hat Issa die aufgegeben?« »Offenbar. Ich wußte nicht, daß wir im Laboratorium dermaßen viel Alkohol verbrauchen.« »Wir dürften überhaupt keinen Alkohol verbrauchen. Hast du ihn deswegen zur Rede gestellt?« Sie lächelte. »Ich dachte mir, das sollte ich lieber dir überlassen, Michael.« »Ganz recht. Es wird mir ein Vergnügen sein. Dieser kleine Gauner.« Ich warf einen Blick auf meine Arm banduhr; der Minister hielt auf Pünktlichkeit. »Wir re den noch darüber«, sagte ich. »Hast du in Mailand erreicht, was du wolltest?« »Ich denke schon.« Ich nahm meinen Aktenkoffer zur Hand. »Hoffen wir, daß der hohe Herr ebenfalls der Meinung ist.« »Viel Glück«, sagte sie. Ich ging hinunter und stieg in den Wagen des Ministe riums. Das erste Alarmzeichen, das mein inneres Warnsystem mir signalisiert hatte, begann bereits ab zuklingen. Ich bildete mir – nicht ganz zu Unrecht – ein, mich an diesem Nachmittag um wichtigere Dinge kümmern zu müssen. Angesichts der verleumderischen und in hohem Maße geschäftsschädigenden Behauptungen, die insbeson dere von gewissen französischen und westdeutschen >Nachrichtendie Levante< be zeichnet wurde, auf ausgedehnten Ländereien, unter dem Ferman des türkischen Sultans Abdul, Süßholz und Tabak angebaut. Als Lohn für politische Dienste, die er dem osmani schen Hof erwiesen hatte, wurden ihm die im lataki schen vilayet gelegenen Ländereien übereignet. Wel cherart besagte Dienste im einzelnen gewesen sind, habe ich nie genau erfahren können. Mein Vater äu ßerte mir gegenüber einmal nur ganz vage, daß sie »irgend etwas mit der Ausstellung einer Schuldver schreibung der Regierung zu tun gehabt« hatten, aber er konnte oder wollte diese Auskunft nicht näher er
läutern. Die Landschenkungsurkunde beschreibt die Tätigkeit meines Großvaters als die eines >entrepre neur-negotiatorostmediterran< eingestuft werden. Ich persönlich ziehe dem die simplere, wenngleich meist im abfälli gen Sinn benutzte Bezeichnung >levantinischer Mi schung< vor. Mischlinge sind nicht selten intelligenter als ihre achtbaren Vettern; es fällt ihnen leichter, sich fremdartigen Umweltsverhältnissen anzupassen; und unter extrem harten und widrigen Lebensbedingungen zählen sie zu denen, die mit größter Wahrscheinlich keit überleben. Die Jahre des Zweiten Weltkriegs waren für unsere syrischen Interessen außerordentlich schwierige. Un sere Leute auf Zypern bereiteten uns wenig Kopf schmerzen. Die – vor dem Krieg vorsorglich in Fama gusta registrierten – Küstenfahrer waren ausnahmslos alle an die Engländer verchartert. Drei davon büßten sie vor der kretischen Küste ein, aber die von ihrer Regierung übernommene Kriegsrisiko-Versicherung entschädigte uns reichlich für diese Verluste; ich glau be, wir machten einen guten Schnitt bei dem Handel. In Syrien dagegen sah die Sache entschieden anders aus. Die Kämpfe zwischen den Alliierten und den Vi chy-Franzosen brachten die Geschäfte nahezu vollends zum Erliegen. Zu jener Zeit war die Nachfrage nach Süßholzwurzeln und Latakiatabak, gelinde gesagt, schwach. Als die Alliierten 1942 darangingen, die Deutschen aus Afrika hinauszutreiben, verlegte Vater unsere Hauptgeschäftsstelle nach Alexandria und
gründete dort eine neue Holdinggesellschaft, die Ho well General Trading Ltd. Die syrischen und zyprioti schen Unternehmen waren damit zu Tochtergesell schaften geworden. Im gleichen Jahr wurde ich um das Kap der Guten Hoffnung herum ins Fegefeuer nach England geschickt. Wäre ich gefragt worden, hät te ich mich dafür entschieden, in der englischen Schu le in Alexandria zu bleiben oder, falls das abgelehnt worden wäre, zu Freunden unserer Familie nach Istanbul zu gehen, um dort irgendeine Schule zu be suchen. Aber meine Mutter war gegen Istanbul – im Gegensatz zu Großvater Howell ist sie ausgesprochen antitürkisch eingestellt –, und der Beschluß meines Vaters stand ohnedies bereits fest. Krieg hin, Krieg her, ich mußte in die gleiche Tretmühle von Grundund höherer Schule gesteckt werden, die auch ihm und Großvater nicht erspart geblieben war. Derart starr fixiert waren jedoch keineswegs alle Ideen meines Vaters. Bald nach unserer Übersiedlung nach Alexandria begannen sich Art und Richtung unserer Geschäfte zu ändern. Das ging auf Vaters Intentionen zurück, die er zielstrebig verfolgte. Er hatte die zu künftige Entwicklung vorausgespürt. Manches würde bleiben – die Küstenfahrer und die größeren Schiffe, die sie später ablösten, hatten nahezu immer Profite abgeworfen –, aber ab 1945, als in Europa der Krieg zu Ende ging, verlagerte sich das Schwergewicht un serer Handelsgeschäfte mehr und mehr von Schüttgut auf Fertigwaren. In jenen ersten Nachkriegsjahren übernahmen wir die Generalvertretung einer Anzahl europäischer und später auch amerikanischer Fertig warenproduzenten im Mittleren Osten (seit 1948 mit Ausnahme Israels). Die geschäftliche Veränderung wirkte sich auf mein Leben ganz unmittelbar aus. Als erste dieser Generalvertretungen hatten wir die einer Firma in Glasgow übernommen, die Kreiselpumpen in verschiedenen Ausführungen herstellte. Mein Vater erkannte rasch, wie schwer es ist, technische Geräte
zu verkaufen, wenn der Käufer von diesen Dingen mehr versteht als man selber. Diese Einsicht war es, die ihn bestimmte, mich Technik studieren zu lassen. So fand ich mich denn, statt wie erhofft nach Abschluß der Schule in England nach Kairo gehen und an der dortigen Universität studieren zu können, in dem Zie gelsteinbau einer Ingenieurschule in einer der trostlo sesten Gegenden Londons wieder. Ich muß gestehen, daß ich mich seinerzeit eher wi derwillig als pflichtbewußt mit dieser Programmände rung abfand. Auf Zypern zu einer Zeit geboren, als die Insel noch zum britischen Kolonialreich gehörte, besaß ich einen britischen Kolonialpaß. Um seinem Willen Nachdruck zu verleihen, führte mir mein Vater die – wie ich später herausfand, ganz unbegründete – Aus sicht, zum britischen Militärdienst eingezogen zu wer den, falls ich nicht in London studierte, eindringlich vor Augen. Gewiß nicht sonderlich fein von einem lieben den Vater, dem eigenen Sohn gegenüber solche Tricks anzuwenden, ich weiß; aber ich muß heute einräumen, daß ich als Geschäftsmann nie Anlaß hatte, zu bedau ern, daß ich damals auf ihn hereingefallen bin. Auf jeden Fall habe ich eine Menge von meinem Vater gelernt. Er starb 1962 an einem Herzleiden, achtzehn Monate nachdem wir unsere Hauptgeschäftsstelle von Alexandria nach Beirut im Libanon verlegt hatten und unsere zweite Holdinggesellschaft in Vaduz registriert worden war. Die Bewährungsprobe für mich als neuen Leiter unse rer Firma kam im darauffolgenden Jahr, als ich meine erste größere unternehmerische Entscheidung zu tref fen hatte. Diese Entscheidung – sie liegt heute fast neun Jahre zurück – war es, die mich auf einen Weg führte, der sich schließlich als so ungemein gefährlich erwiesen hat. Unsere Schwierigkeiten in Syrien hatten in den frühen fünfziger Jahren begonnen, als die sowjetische Ein
flußnahme im Mittleren Osten immer deutlichere Aus wirkungen zeitigte. In Syrien war sie besonders erfolg reich. Die freundschaftlichen Beziehungen zur Sowjet union intensivierten sich seit der Machtergreifung der sozialistischen syrisch-arabischen >WiedergeburtsVergesellschaftung< der syrischen Wirtschaft. 1958 setzte die Ba’ath-Partei beides durch, sowohl die Union mit Ägypten als auch die erste ihrer Vergesell schaftungsmaßnahmen, die >Agrarreformentschädigtselbstsüchti gen< Zivilisten überdrüssig, erneut. 1963 brach dann eine Revolution aus. Ich habe die Bezeichnung >Revolution< mit Bedacht gebraucht, weil der Ba’ath-Staatsstreich jenes Jahres, wiederum vorwiegend das Werk von Armeeoffizieren, mehr war als ein bloßer Machtwechsel verschiedener nationalistischer Gruppen; er hatte grundlegende Ver änderungen zur Folge. Syrien wurde zu einem Ein heitsstaat und trat – diesmal freilich unter Wahrung seiner souveränen Unabhängigkeit – der VAR wieder bei. Das Vergesellschaftungsprogramm wurde wieder aufgenommen. Im Mai 1963 erfolgte die Verstaatli
chung aller Privatbanken. Das war der Zeitpunkt, zu dem ich meinen Entschluß faßte. Ich wußte recht gut über die Ba’ath-Anhänger Be scheid. Vielfach handelte es sich bei ihnen um naive Reformer, die früher oder später ihre Illusionen verlie ren mußten; andere waren großmäulige Hohlköpfe, die sich lediglich darauf verstanden, bei jeder sich bieten den Gelegenheit lautstark die rituelle Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zu erheben; aber unter den Par teiführern gab es fähige und entschlossene Männer. Als sie erklärten, daß sie die gesamte Industrie ver staatlichen wollten, glaubte ich ihnen. Später würden sich zweifellos pragmatische Kompromißlösungen und >graue< Zwischenbereiche abzeichnen, in denen plan- und privatwirtschaftliche Interessen zusammen gehen konnten; daß sie es im großen ganzen jedoch ernst meinten mit dem, was sie sagten, bezweifelte ich nicht. Mehr noch, ich war mir sicher, daß sie an der Macht blieben. Wie also ließen sich die Interessen der Agence Howell unter diesem Gesichtspunkt am wirksamsten wahren? Alles in allem, so rechnete ich mir aus, blieben mir drei Möglichkeiten. Ich konnte mich den Gegnern des Regimes anschließen. Ich konnte durch hinhaltendes Taktieren Zeit zu gewinnen versuchen. Oder ich konn te die grauen Zwischenbereiche zukünftiger Kompro misse erkunden und herausfinden, welche Absprachen sich treffen ließen. Sich den Gegnern des Regimes anzuschließen, hieß praktisch in den politischen Untergrund gehen und mit denen konspirieren, die auf den Sturz der neuen Re gierung hinarbeiteten. Einem Ausländer, der sich mit Selbstmordgedanken trug, mochte diese Möglichkeit reizvoll erscheinen; für mich kam sie nicht in Frage. Diejenigen, die auf Zeitgewinn taktierten – und zu ihnen zählten nicht wenige meiner Geschäftsfreunde – , schienen mir die neue Situation falsch einzuschätzen. Nachdem sie dem politischen Jahrmarktstreiben des
letzten Jahrzehnts mit wachsendem Unmut zugeschaut hatten, waren sie geneigt, die angedrohte Enteignung der Industrie achselzuckend als bloße Rhetorik eta blierter Putschisten abzutun. Die Banken? Nun, waren nicht sowohl die englischen als auch die französischen Banken schon seit Jahren sequestriert? Die Verstaatli chung der restlichen privatwirtschaftlichen Geldinstitu te war dann nur noch eine bloße Formsache gewesen. Nein, Michael, jetzt gibt es nur eines: die Nerven be wahren und den nächsten Gegenputsch abwarten. Inzwischen gilt es selbstverständlich, die Augen offen zuhalten. Sobald dieser ganze Wind, der hier gemacht wird, erst einmal etwas abgeflaut ist, werden einige deiner >neuen Männer< von sich aus an uns herantre ten und mehr oder weniger unauffällig die Hand auf halten. Das sind diejenigen, mit denen man über die Verstaatlichung der Industrie zu reden haben wird. Wie sollten wir wohl zahlen können, wenn die uns ver staatlichen, was? Warte es nur ab, mein Junge, warte es nur ab. Das ist der einzige Weg. Die Taktierer, dachte ich, konnten sich auf einige Überraschungen gefaßt machen. Ich zog es vor, eige ne Wege zu gehen, zu erkunden und zu sondieren. Daß auch ein nochmaliger Antrag auf Freigabe unserer blockierten Gelder von der Zentralbank abgelehnt werden würde, wenn ich nicht irgendwelche Hebel in Bewegung setzen konnte, lag auf der Hand. Und daß der einzige Hebel, der bei der Zentralbank Wirkungen zeitigte, derjenige war, an dem ihre Herren und Mei ster in der Regierung saßen, lag ebenfalls auf der Hand. Was ich daher benötigte, war eine Befürwortung meines Antrags durch eine Regierungsstelle. Es mußte zudem eine auf möglichst hoher – vorzugsweise mini sterieller – Ebene erfolgte Befürwortung sein. Was hatte ich als Gegenleistung für ein derartiges Ansinnen zu offerieren? Hier kam mir ein altes Sprichwort in den Sinn: »Wer seine Feinde nicht bezwingen kann, schließt besser
ihnen als ein Freund sich an.« Nachdem ich mich ein mal mit der Tatsache abgefunden hatte, daß ich bes ser fuhr, wenn ich mit den Leuten von der Regierung zusammenarbeitete, anstatt sie listenreich überspielen zu wollen, kam ich voran. Das Problem war nunmehr auf die Frage reduziert: Auf welche Weise kann ich mit ihnen so kooperieren, daß beide Seiten ihren Vorteil daraus ziehen? Ich dachte viel und gründlich nach, betrieb intensiv Marktforschung und entwarf meinen Plan. Dreiundsechzig war ich es noch nicht so gewohnt wie heute, mit Regierungsbeauftragten zu verhandeln. Wäre ich es gewesen, hätte ich dem Vorschlag, den ich ihnen mundgerecht zu machen versuchte, nicht einmal eine Erfolgschance von fünfzig zu fünfzig ein geräumt. Vielleicht kam mir der Umstand zugute, daß ich damals erst zweiunddreißig war und ganz verses sen darauf, meine Tüchtigkeit unter Beweis zu stellen. Außerdem war ich sehr aggressiv und schon beim lei sesten Widerstand geneigt, mit mahnend fuchtelndem Zeigefinger ernste Verwarnungen zu erteilen. Mein erster Kontakt mit dem Exekutivapparat in Da maskus war ein Zusammentreffen mit zwei Bürokraten – einem aus dem Finanzministerium, wo die Begeg nung stattfand, und einem aus dem Ministerium für Handel und Soziales. Sie hörten mir schweigend zu, nahmen Kopien des aide-memoire entgegen, das mei ne Vorschläge in verschleierten, aber – wie ich glaubte – beredten Wendungen zusammenfaßte, und gaben mir höflich zu verstehen, daß sie auch noch andere Termine hatten. Ein Monat verging, bevor ich brieflich zu einer Unter redung in das Ministerium für Handel und Soziales gebeten wurde. Diese Besprechung fand im Büro eines leitenden Ministerialbeamten statt, mit dem ich vor Jahren einmal bei Gelegenheit eines von der griechi schen Botschaft veranstalteten Picknicks bekannt ge macht worden war. Gleichfalls anwesend waren die
beiden Bürokraten, die mich acht Tage zuvor empfan gen hatten, sowie ein jüngerer Mann, der als Beauf tragter des kürzlich eingerichteten Referats für indus trielle Entwicklung vorgestellt wurde. Nachdem die üblichen einleitenden Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht waren, forderten die dienstälteren Beamten diesen jüngeren Mann auf, mir zu meinen Vorschlägen Fragen zu stellen. Sein Name war Hawa – Dr. Hawa. Meine in der Folge sich entwickelnde Zusammenarbeit mit Dr. Hawa ist vielfach Gegenstand falscher Darstel lungen gewesen. Er selbst hat es in jüngster Zeit für angezeigt gehalten, sich in der Rolle des unschuldigen Betrogenen zu gefallen und mich öffentlich – von un sittlichen Verfehlungen bis zum Mord auf hoher See – jedes nur denkbaren Verbrechens zu bezichtigen. Un ter diesen Umständen mag vielleicht angenommen werden, ein Bericht, der das Verhältnis zwischen uns aus meiner Sicht schildert, könne unmöglich ganz ob jektiv sein. Ich bin da anderer Meinung. Ich habe mir vorgenom men, unter allen Umständen objektiv zu bleiben. Was mich betrifft, so haben seine Ausfälle einzig die Wir kung gehabt, mich von jedweder etwa noch bestehen den Neigung, ihm eins auszuwischen, zu kurieren. Dr. Hawa ist ein hagerer Mann mit harten Gesichtszü gen, verkniffenem Mund und zornigen dunklen Augen; ganz offenkundig ein hartgesottener Bursche und be sonders beeindruckend, wenn man ihm zum erstenmal begegnet. Ich erinnere mich, irgendwie erleichtert gewesen zu sein, als ich feststellte, daß er Kettenrau cher war; da wußte ich, daß er nicht so gänzlich ohne Fehl sein konnte, wie es zunächst den Anschein hatte. Obschon wir uns später näher kennenlernten, habe ich nie herausgefunden, in welcher Disziplin er seinen Doktor gemacht hat. Ich weiß nur, daß er an der Uni versität Damaskus einen akademischen Grad der Rechtswissenschaften erwarb und später aufgrund
irgendwelcher Studentenaustausch-Regelungen für Graduierte ein oder zwei Jahre in den Vereinigten Staaten verbrachte. Dort, nehme ich an, wird er sich an irgendeiner verschlafenen akademischen Institution im Mittleren Westen den Doktortitel verschafft haben. Sein Englisch ist fließend; er spricht es mit amerikani schem Akzent. Jene erste Unterhaltung wurde jedoch zur Hauptsache auf arabisch und nur unter gelegentli cher Zuhilfenahme von Englisch und Französisch ge führt. »Dr. Howell, erzählen Sie mir von Ihrer Firma«, be gann er. Sein Tonfall war gönnerhaft. Ich hatte be merkt, daß eine Kopie meines aide-memoire vor ihm auf dem Tisch lag, und deutete mit einem Kopfnicken darauf. »Es steht alles darin, Dr. Hawa.« »Nein, Mr. Howell, es steht nicht alles darin.« Er tippte mit einer geringschätzigen Handbewegung auf die Pa piere. »Was Sie hier beschreiben, ist ein Gambit, ein Eröffnungszug, bei dem eine unwichtige Spielfigur zu gunsten eines späteren Vorteils geopfert wird. Wir wüßten gern, was für ein Spiel das ist, zu dem Sie uns da auffordern.« Ich wußte jetzt, daß ich mich vor ihm in acht nehmen mußte. Er mochte Kettenraucher sein, aber ein Narr war er gewiß nicht. Wäre er Engländer gewesen, hätte er mein aide-memoire sicher als Sprotte charakteri siert, mit der die Makrele gefangen werden soll; aber auch >Gambit< war als Vergleich treffend – allzu tref fend für meinen Geschmack. Ich sah den leitenden Beamten an. »Was ich mir von dieser Unterhaltung erhofft hatte, Sir«, sagte ich mit unbewegter Miene, »war eine ernsthafte Diskussion über ernsthafte Vorschläge. Ich habe nicht die Absicht, hier irgendeine Art von Spiel anzuregen.« »Dr. Hawa hat selbstverständlich bildlich gesprochen.« Hawa lächelte verkniffen. »Da Mr. Howell so empfind
lich zu sein scheint, werde ich versuchen, mich weni ger mißverständlich auszudrücken.« Er sah mich wie der an. »Sie bitten um ministerielle Befürwortung ei nes Antrags auf Freigabe blockierter Gelder, damit sie hier im Lande reinvestiert werden können. Sie erklä ren sich bereit, dem Staat als Gegenleistung dafür eine Reihe wirtschaftlicher Wohltaten zu erweisen, deren Natur Sie andeuten, deren Wert Sie jedoch der Phantasie überlassen. Sie wollen genauer gesagt die Kontrolle über die Ihnen hier noch verbliebenen Un ternehmen, zu denen auch eine Gerberei und eine Getreidemühle gehören, abtreten, damit sie zu Koope rativen umgewandelt werden können, die unter staat licher Aufsicht arbeiten. Natürlich sind wir neugierig auf Geist und Temperament dieses seltsamen ge schenkten Gauls und auf die generöse Geschäftsphilo sophie des Spenders, des Mannes, der Kapital auftrei ben will, um es zu reinvestieren. Ich darf Sie daher bitten, unsere Neugier zu stillen.« Ich zuckte die Achseln. »Wie Ihnen vermutlich be kannt sein wird, war unsere hiesige Firma bislang ein Familienunternehmen. Vor mir haben schon mein Va ter und mein Großvater in diesem Land viele Jahre hindurch Geschäfte getätigt. Nützliche Geschäfte, so darf man, glaube ich, wohl ohne Übertreibung sagen.« »Nützliche? Meinen Sie nicht einträgliche?« »Ich sehe da keinen Unterschied, Dr. Hawa. Nützliche und einträgliche Geschäfte, selbstverständlich. Gibt es denn Geschäfte irgendeiner anderen Art, die diesen Namen verdienen?« Ich glaubte jetzt, ziemlich genau über ihn im Bilde zu sein. Gleich würde er anfangen, von Produktionsmitteln und Eigentumsverhältnissen zu reden. Ich sollte mich getäuscht haben. »Aber nützlich für wen, einträglich für wen?« »Nützlich für alle diejenigen Ihrer Landsleute, denen unsere Firma gute Löhne und Gehälter zahlt – viel leicht darf ich Sie daran erinnern, daß wir hier nur sy rische Staatsbürger beschäftigen. Einträglich gewiß für
die Anteilseigner unserer Gesellschaft, aber einträglich auch für alle bisherigen Regierungen, von der türki schen bis zur heutigen syrischen, an die wir Steuern abgeführt haben. Die Ausschüttung von Dividenden ist nicht immer gewährleistet gewesen, aber Gehälter und Steuern sind immer pünktlich gezahlt worden.« Und, so hätte ich hinzufügen können, Bestechungsgelder – unbeträchtliche und nicht so unbeträchtliche –, die in der Levante zu den laufenden allgemeinen Unkosten rechnen, ebenfalls; aber ich war noch immer bestrebt, ihn taktvoll zu behandeln. »Aber, Mr. Howell, warum ist Ihnen dann soviel daran gelegen, auf die Kontrolle über diese nützlichen und einträglichen Unternehmen zu verzichten?« »Daran gelegen?« Ich starrte ihn verständnislos an. »Ich kann Ihnen versichern, Dr. Hawa, daß mir nicht im mindesten daran gelegen ist. Ich habe lediglich den Eindruck, daß mir in dieser Sache letztlich keine Wahl bleibt.« »Letztlich vielleicht, aber warum diese voreilige Groß zügigkeit? Uns ist das – wie ich meine, begreiflicher weise – einigermaßen rätselhaft und, ehrlich gesagt, auch ein wenig suspekt.« »Nur, weil Sie meine Vorschläge nicht als ein Ganzes betrachten. Ich glaube, ich sehe das ganz realistisch.« »Realistisch? Wie das?« Ich hätte entgegnen können, daß wir, hätte ich sie nicht mit dem Angebot in Verlegenheit gebracht, ihnen die syrischen Vermögenswerte der Agence Howell zu überschreiben, wohl schwerlich hier beisammensitzen und darüber diskutieren würden, was mit den blockier ten Geldern geschehen sollte. Statt dessen gab ich ihm eine Antwort, die ich mir zurechtgelegt hatte. »Gegenwärtig verfügt die Regierung noch nicht über den erforderlichen Verwaltungsapparat, um die vorge sehene Verstaatlichung der Industrie zu verwirklichen. Aber nur gegenwärtig nicht. Ich sehe in die Zukunft. Ein Jahr lang oder auch etwas länger mag mir die Kon
trolle über unsere hiesigen Unternehmen noch über lassen bleiben, aber früher oder später wird sie mir mit Sicherheit genommen werden. Ich ziehe es vor, sie früher abzutreten und meine Zeit und meine Ener gie darauf zu verwenden, die Situation zu retten. Er scheint Ihnen das töricht oder gar großzügig, Dr. Ha wa?« »Wenn wir etwas genauer wüßten, was Sie unter >die Situation retten< verstehen, könnten wir uns vielleicht ein Urteil darüber bilden.« »Ausgezeichnet. Dann lassen Sie uns von zwei An nahmen ausgehen. Erstens, daß die Regierung die Geschäfte der uns in Syrien verbliebenen Unterneh men in eigene Regie nimmt. Zweitens, daß die Regie rung uns in der üblichen Weise entschädigt – mit Pa pier.« Er zündete sich die nächste Zigarette an. »Mit einer rein hypothetischen Erörterung dieser Dinge richten wir keinerlei Schaden an. Akzeptieren wir also im In teresse Ihrer Darlegung sowohl Erwerbung als auch Entschädigung als Prämissen. Was weiter?« »Die hier zu geschäftlicher Untätigkeit verurteilte Agence Howell verfügt über beträchtliche Aktiva. Eini ge dieser Aktiva – Erfahrung im Management, Kennt nis der Weltmärkte und des Zugangs zu ihnen, kauf männisches Geschick – schlagen nicht als Zahlen zu Buch, sind aber ungeachtet dessen real genug. Ohne das Kapital, um sie auszubeuten, bleiben sie jedoch ungenutzt. Das Kapital ist vorhanden, aber blockiert. Da das Kapital nicht arbeiten darf, kann auch sonst nichts und niemand arbeiten. Der Verlust geht nur zum Teil zu unseren Lasten. Ihre Wirtschaft erleidet ebenfalls Einbußen. Die Lösung, die ich vorschlage, würde sich zu unserem beiderseitigen Vorteil auswir ken und zugleich den von der Regierung angekündig ten Richtlinien für die Industrie entsprechen.« »Könnten Sie sich nicht vielleicht etwas konkreter ausdrücken?«
»Gewiß. Ich schlage Ihnen eine Reihe kooperativer Unternehmungen auf dem Sektor der Leichtindustrie unter der Schirmherrschaft und Kontrolle der Regie rung vor. Ihr Hauptzweck wäre die Erzeugung von Produkten, die für die Exportmärkte geeignet sind.« »Produkte welcher Art, Mr. Howell?« Er hatte jetzt den gespannten Ausdruck eines Katers, der soeben eine fette und offenbar ziemlich schläfrige Feldmaus ge sichtet hat. »Keramikartikel, für den Anfang«, sagte ich. »Dann würde ich zu Möbel- und Metall waren übergehen.« Der Kater zuckte mit dem Schweif. »Falls Sie es nicht wissen sollten, Mr. Howell, darf ich Sie auf die Tatsa che hinweisen, daß wir bereits eine hochentwickelte Keramikindustrie besitzen.« »Das ist mir durchaus bekannt, Dr. Hawa, aber wenn Sie mich fragen – sie produziert nicht die richtigen Artikel.« »Und wenn Sie mich fragen, Mr. Howell, so befürchte ich fast, daß Sie mit Ihren Vorschlägen leider gänzlich falsch liegen.« Ich begann mich über ihn zu ärgern. »Aber ich bitte Sie, Dr. Hawa – wenn es Ihnen unzumutbar erscheint, sich neue Ideen zu den altbekannten Themen vortra gen zu lassen, erübrigt sich jedes weitere Wort.« Er entschied, daß der Augenblick, den großen Satz zu machen, jetzt gekommen war. »Neue Ideen, Mr. Ho well? Dekorierte Ramschware in Massenproduktion – Töpfe, Teller und Vasen – für den Export in die Touri stenläden der westlichen Welt? Ist das der Trick, mit dem Sie Ihr Geld außer Landes schmuggeln wollen?« Er lachte kurz auf und sah die anderen, die ihrerseits pflichtschuldig lächelten, der Reihe nach triumphierend an. Es fehlte nicht viel, und ich hätte die Beherrschung verloren; aber ich bezwang mich. »Ich sehe ein, daß Sie ein vielbeschäftigter Mann sein müssen, Dr. Hawa, und ich begreife durchaus, daß Sie schwerlich die Zeit gefunden haben werden, Ihren Re
ferenten vor dieser Zusammenkunft mit der üblichen Einholung von Auskünften über meine Person, meine Tätigkeit und meinen Ruf zu beauftragen.« Er zuckte gleichmütig die Achseln. »Sie haben eine Ingenieursausbildung genossen. Das kann alles mögli che bedeuten.« »Es wird Ihnen daher wohl auch unbekannt geblieben sein, daß es nicht zu meinen Geschäftspraktiken ge hört, Nonsens daherzureden. Bei dem Stichwort >Ke ramik< denken Sie an Töpfe und Teller und Vasen. Und warum auch nicht? Das ist schließlich alles, was Ihnen in diesem Zusammenhang einfällt. Wenn ich von >Keramik< spreche, meine ich nicht die von Ih nen genannten Artikel, weil ich ein wenig Marktfor schung betrieben habe. Ich denke zum Beispiel an eine Massenproduktion von Kacheln.« Er runzelte die Stirn. »Kacheln? Sie meinen die Ka cheln, die wir für unsere Fußböden verwenden?« »Nicht die, an die Sie denken. Ich meine Keramikka cheln, die nach Quadratmeter verkauft werden und aus zwei Quadratzentimeter großen, auf der Oberseite einfarbig glasierten Mosaiksteinen bestehen und nicht in irgendwelchen Ramschläden oder Luxusgeschäften für Touristen zu haben sind. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Gegenwärtig wird in Benghasi gerade ein Zweihundert-Betten-Hotel gebaut. Zu jedem der zwei hundert Zimmer gehört ein Badezimmer, das mit die sem Material ausgekachelt ist – Boden und Wände, einfarbig rosa, blau, grün, schwarz und weiß. Fast fünfzig Quadratmeter gekachelter Fläche für jeden Raum. Küchen und Veranden werden ebenfalls geka chelt. Bei dem Auftrag ging es um insgesamt rund zwölftausend Quadratmeter. Er wurde einem italieni schen Fabrikanten zugeschlagen. Wert fünfundvierzig tausend.« »Dollar?« »Dollar. Nach diesem Material herrscht starke Nach frage. Hotels und große Apartmenthäuser werden an
allen Mittelmeerküsten gebaut – und nicht nur dort, sondern in ganz Europa. Marmor ist teuer, Kachelung vergleichsweise billig. Kacheln sind jetzt das bevorzug te Material. Hätte Syrien diesen Auftrag in Benghasi bekommen können? Wenn es in der Lage gewesen wäre, den gewünschten Artikel in der benötigten Men ge und zum vorgeschriebenen Termin herzustellen, kann die Frage nur mit Ja beantwortet werden. Zuge geben, Libyen hat noch immer kommerzielle Bindun gen an Italien, aber wie steht es mit seinen religiösen, ethnischen und politischen Bindungen an die VAR? Zu dem hätte Syrien zu einem wesentlich niedrigeren Preis liefern können.« »Wo wird diese besondere Art von Kacheln sonst noch hergestellt?« »Sie meinen, ob es sich um ein italienisches Monopol handelt? Keineswegs. Die Franzosen und die Schwei zer sind ebenfalls bereits im Geschäft. In der Nähe von Zürich gibt es ein Keramikwerk, das mehr als zwei hundert Mitarbeiter beschäftigt.« Er zog ein Gesicht. »Also ein Keramikwerk, und wenn das Baugeschäft zurückgeht – « »- werden wir gewiß nicht mehr die Jüngsten sein. Im übrigen sind Kacheln nur ein Beispiel für das, was mir vorschwebt. Ägypten baut jetzt sein Stromversor gungsnetz aus. Es wird zwei Jahre dauern, bis es fer tiggestellt ist, und für die Hochspannungsleitungen werden glasierte keramische Isolatoren benötigt, mas sive Dinger, sechs bis acht Stück davon pro Mast. Zehntausende wird man brauchen. Selbstverständlich könnten sie alle aus der Sowjetunion oder aus Polen kommen, aber ich glaube kaum, daß es den Russen etwas ausmachen würde, wenn diese Isolatoren in Syrien hergestellt werden könnten. Möglicherweise wären sie sogar ganz froh darüber, den Auftrag einem befreundeten Staat weitergeben zu können. Es wäre interessant, das herauszufinden. Ich bin überzeugt, daß ein über ihren Handelsattache eingereichter An
trag auf Einsichtnahme in Blaupausen und Spezifika tionen wohlwollend geprüft werden würde.« »Ja, ja, selbstverständlich.« Auf diesen Köder sprach er, wie ich gehofft hatte, schon ganz prächtig an. Der dienstältere Beamte beugte sich vor. »Darf man vermuten, daß Ihre Vorstellungen hinsichtlich der Mö belfabrikation ebenso unkonventionell sind, Mr. Ho well?« »Ich möchte es glauben, Sir. Keine KamelsattelHocker, keine ornamentierten Kaffeetischchen, son dern moderne Büro- und Hotelmöbel nach westlichem Design und ebenfalls in Massenproduktion. Einige rela tiv billige Maschinenwerkzeuge würden importiert werden müssen, desgleichen das Kunststoffmaterial, das wir für die Außenflächen benötigen, aber die Me tallteile könnten hier gefertigt werden.« Dr. Hawa ging erneut zum Angriff über. »Was den me tallverarbeitenden Sektor betrifft, denken Sie doch gewiß an die Herstellung von Eßbestecken im westli chen Stil und dergleichen?« »Nein, Dr. Hawa.« Ein schlaues Lächeln. »Weil Ihre libanesischen und ägyptischen Unternehmen bereits teure Bestecke ver kaufen, die sie aus Großbritannien kommen lassen?« Er war offenbar doch besser präpariert, als es zu nächst den Anschein gehabt hatte. »Nein«, entgegnete ich. »Weil die Japaner den Markt für massenproduzierte Eßbestecke schon beherrschen. Mit denen könnten wir niemals konkurrieren. Ich den ke vielmehr an Türklinken, Türriegel, Türangeln – Ei senwaren für den Baubedarf, die mit Hilfe von Schraubstöcken und Schablonen und einigen wenigen billigen Maschinenwerkzeugen wie Bohr- und Lochma schinen in Massenproduktion gefertigt werden können. Ohne moderne Feinausführungsverfahren ist das frei lich nicht denkbar. Maßstäbe, wie sie für handgefertig te Arbeiten gelten, sind unzureichend.« Der dienstältere Beamte schaltete sich erneut ein.
»Sie haben wiederum die Verwendung billiger Maschi nen mit Nachdruck hervorgehoben, Mr. Howell. Aber sind es nicht gerade die kostspieligen Maschinen, die billige und zu wettbewerbsgerechten Preisen absetzba re Artikel produzieren?« Ich antwortete mit Bedacht. »In Ländern, in denen hohe Löhne gezahlt werden, trifft das zweifellos zu. Wir sollten versuchen, einen Mittelweg einzuschlagen. Arbeitsintensive Projekte, da stimme ich Ihnen zu, sind für Syrien wertlos. Aber in den Flüchtlingslagern steht uns ein noch weitgehend ungenutztes Potential an ungelernten und nicht voll ausgebildeten Arbeits kräften zur Verfügung. Unter Anleitung durch syrische Vorarbeiter könnte es geschult und nutzbringend ein gesetzt werden. Ich bezweifle nicht, daß wir in dem gleichen Maß, in dem wir Fortschritte erzielen, zuneh mend Maschinenwerkzeuge benötigen und auch zu handhaben verstehen werden, die komplizierter und kostspieliger sind. Ob und in welchem Ausmaß wir in der Lage sein werden, sie anzuschaffen, wird fraglos weitgehend vom Erfolg unseres Unternehmens abhän gen. Daß wir außerstande sind, dies gleich zu Beginn zu tun, sollte uns jedoch nicht entmutigen oder gar zum Scheitern verurteilen. In den richtigen Händen kann selbst primitives Werkzeug eine Menge ausrich ten.« »Ich bin doch sehr erleichtert, zu hören«, sagte Dr. Hawa anzüglich, »daß Mr. Howell die Möglichkeit des Scheiterns immerhin nicht gänzlich außer Betracht gelassen hat.« »Ich war bemüht, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, Dr. Hawa. Ich habe der Regierung vorgeschla gen, sich unserer Firma und ihrer Aktiva zu bedienen, um das öffentliche Wohl zu fördern. Ob Sie uns benut zen wollen oder nicht, und wenn, wie Sie uns benut zen wollen – das sind Fragen, die schwerlich schon hier und heute beantwortet werden dürften. Für den Fall jedoch, daß wir benutzt werden sollen, und mit
Erfolg benutzt werden sollen, möchte ich zu bedenken geben, daß wir Ihnen am besten in der Weise werden dienen können, die ich vorgeschlagen habe, das heißt, wenn wir unter Nutzung unserer begrenzten Ressour cen begrenzte, aber realistische Ziele ansteuern, die in absehbarer Zeit zu realisieren sind.« Der dienstältere Beamte nickte ermutigend, und so fuhr ich rasch fort, bevor Dr. Hawa mich unterbrechen konnte. »Die von mir bevorzugten Projekte, die ich hier zur Diskussion gestellt habe, sind zugleich dieje nigen, die am einfachsten und besten vermittels pro duktionstechnisch und regional begrenzter Pilotopera tionen getestet werden können. Ich halte ein solches Vorgehen für unerläßlich. Wenn uns Fehler unterlau fen, was zweifellos der Fall sein wird, werden sie auf diese Weise überschaubar bleiben und in jedem Fall leichter zu korrigieren sein. Andererseits müssen alle derartigen Pilotoperationen, wenn sie wirklich Sinn haben sollen, groß genug angelegt sein, um uns exak te Voraussagen, Projektionen unseres bei voller Aus nutzung der Produktionskapazität anfallenden Bedarfs – beispielsweise an Rohmaterial – zu ermöglichen. Simple Arithmetik kann da zuweilen irreführend sein.« »Das kann sie allerdings.« Dr. Hawa blies Zigaretten rauch quer über den Tisch hinweg; mit Entschieden heit machte er seine Rechte als Diskussionsleiter jetzt wieder geltend. »Nachdem wir das Vergnügen hatten, uns Ihre ebenso unterhaltsamen wie phantasievollen Ausführungen anzuhören, können wir nun vielleicht auf prosaischere Aspekte zu sprechen kommen. Mr. Howell, schlagen Sie tatsächlich vor, die blockierten Gelder der Agence Howell restlos in die Finanzierung dieser Ihrer so hochfliegenden Pläne zu stecken?« »Nein«, sagte ich unumwunden. »Das schlage ich kei neswegs vor.« »Dann sehe ich nicht – « »Erlauben Sie mir bitte, meine Darlegung zu Ende zu führen. Erstens wäre das verfügbare Kapital der Fir
ma, sofern es verfügbar gemacht werden könnte, zur Finanzierung der Projekte, über die wir hier gespro chen haben, gänzlich unzureichend. Was ich vorschla ge, ist vielmehr, die Pilotoperationen mit Firmengel dern zu finanzieren. Hat ein Pilotprojekt sich bewährt, dann – und nur dann! – kommt es in die Massenferti gung. Das ist der Zeitpunkt, zu dem die weitere Finan zierung von der Regierung übernommen und die Firma ihrerseits Eigner eines Minoritätsanteils an einer regie rungseigenen Kooperativen wird.« Dr. Hawa rollte die Augen in theatralischem Staunen. »Erwarten Sie im Ernst, daß ich Ihnen glaube, Sie und Ihre Firma seien bereit, unentgeltlich zu arbeiten?« »Nein, keineswegs. Wir würden so etwas wie Mana gementgebühren für die mit dem jeweiligen Projekt verbundene Planungs- und Entwicklungsarbeit erhe ben. Diese Gebühren brauchten nur nominell zu sein, ausreichend zur Deckung der üblichen laufenden Unkosten. Selbstverständlich müßten alle derartigen Absprachen in den offiziellen Vereinbarungen zwischen der zuständigen Regierungsstelle und der Firma ver bindlich festgelegt werden.« Ich zögerte einen Augen blick lang, bevor ich hinzufügte: »Eine der Bedingun gen, von denen wir die Beteiligung unserer Firma an diesen Vereinbarungen abhängig machen müßten, wäre selbstredend das Exklusivrecht, Generalvertre tungen für den Verkauf der Produkte dieser vereinten Unternehmen im Ausland einzurichten. Ich hielte es für fair und durchaus angemessen, wenn uns dieses Exklusivrecht auf Alleinvertretung für einen Zeitraum von, sagen wir, fünfundzwanzig Jahren eingeräumt werden würde.« Es herrschte allgemeines Schweigen; und dann ließ der dienstältere Beamte einen kehligen Räusperton hören, der nach wenigen Augenblicken in artikuliertere Protestbekundungen überging. »Aber… aber…« Er schien außerstande weiterzureden. Schließlich streckte er die Hände in die Höhe. »Sie könnten ja ein Vermö
gen machen!« rief er aus. Ich schüttelte den Kopf. »Mit Verlaub, Sir, ich glaube, wir – die Firma und ich – könnten es eher verlieren. Da wir derzeit jedoch ohnedies Gefahr laufen, unser hiesiges Vermögen zu verlieren, möchte ich das Risi ko, sofern ich das kann, verringern.« »Die Regierung wird dem niemals zustimmen.« »Aber warum denn nicht, Sir? Sie läuft doch keinerlei Risiko. Bis die Finanzierung eines Projekts für die Re gierung akut wird, sind ihr alle Risiken längst abge nommen worden. Der Wirtschaft und dem Volk kann es dann nur noch zum Vorteil gereichen. Warum also sollte die Regierung dem nicht zustimmen?« Dr. Hawa sagte nichts. Er steckte sich eine weitere Zigarette an; aber er schien amüsiert zu sein. Einen Monat später wurde der erste Entwurf unserer Vereinbarungen abgezeichnet; von mir namens der Firma und von Dr. Hawa im Namen der soeben ge gründeten Volkseigenen Kooperative für Industrielle Entwicklung. In Beirut fand diese Neuigkeit gemischte Aufnahme, und ich mußte einer ungewöhnlich erweiterten Gesell schafterversammlung Vorsitzen. Meine Schwestern Euridice und Amalia hatten beide Ehemänner, die an diesen Zusammenkünften kraft eines einzigen Anteil scheins als stimmberechtigt teilnahmen. Diese beklagenswerte Regelung war von meinem Va ter keine vier Wochen vor seinem Tod eingeführt wor den; hauptsächlich, möchte ich glauben, weil es ihm Unbehagen bereitete, mehr Frauen als Männer um einen Vorstandstisch versammelt zu sehen – selbst wenn es sich bei den betreffenden Damen um seine Frau und seine Töchter handelte. Nachdem er Jahr zehnte hindurch soviel mit Moslems zu tun gehabt hatte, begann er selber in mancher Hinsicht ganz ähn lich wie sie zu denken. Als er sah, welchen Fehler er mit dem getroffenen Arrangement begangen hatte, war er jedoch bereits zu krank und geschwächt, um es
noch rückgängig zu machen oder auch nur abzuän dern. Diese Aufgabe hatte er mir hinterlassen; und da ich wenig Neigung verspürte, gleich im ersten Jahr meiner Alleinherrschaft einen größeren Familienzwist heraufzubeschwören, hatte ich es vorerst aufgescho ben, die nötigen Schritte in dieser Richtung zu unter nehmen. Ich habe nichts gegen meine Schwäger; beide sind sie ehrenwerte Männer; aber der eine ist Zahnarzt und der andere außerordentlicher Professor der Physik. Keiner von beiden hat vom Geschäft auch nur die blasseste Ahnung. Aber obgleich beide begreiflicher weise empört gewesen wären, wenn ich ihnen auf ih rem ureigensten Fachgebiet meinen Rat aufzudrängen versucht hätte, zögerten sie niemals auch nur einen Augenblick lang, die Führung unserer Firma eingehend zu kritisieren und zu beraten. Sie betrachteten das Geschäft nicht ohne Nachsicht als eine Art Spiel, an dem jeder, der auch nur über eine Spur von gesun dem Menschenverstand verfügt, jederzeit teilnehmen und dessen Spielregeln man nicht erlernen, sondern recht eigentlich nur intuitiv erfassen kann. Mit der gräßlichen Beharrlichkeit derer, die es gewohnt sind, vom Standpunkt totaler Ignoranz aus im Brustton der Überzeugung zu argumentieren, verkündeten sie ihre abwegigen Meinungen und gaben die unsinnigsten Sprüche von sich, während meine Schwestern in eheli cher Zustimmung bekräftigend mit ihren idiotischen Köpfen nickten. Sich diese unbefangenen Plumpheiten anhören zu müssen, kostete kaum weniger Nerven als der Aufwand, der jedesmal erforderlich war, um als bald über sie hinweg zur Tagesordnung überzugehen, ohne allzu verletzend zu sein. Nein, ich habe nichts gegen meine Schwäger; aber es hat Augenblicke ge geben, in denen ich ihnen sehnlichst den Tod wünsch te. Ihre ebenso spontane wie enthusiastische Billigung meiner Vereinbarungen mit der syrischen Regierung
war daher sowohl verwirrend als auch beunruhigend. Guilio, der Zahnarzt – er ist Italiener –, wurde vor Be geisterung geradezu eloquent. »Es ist meine feste Überzeugung«, erklärte er, »daß Michael staatsmännischen Weitblick bewiesen hat. Mit Idealisten zu verhandeln – in diesem Fall vielleicht eher Ideologen –, ist nicht leicht. In ihren Augen gel ten Kompromisse allemal als Zeichen von Schwäche und Verhandlungen als Schleichwege zum Verrat. Der radikale Extremist, gleich welcher politischen Rich tung, ist eindeutig paranoid. Aber selbst der schwarze Panzer ihres Mißtrauens weist Ritzen auf, und Michael hat die gefährlichsten entdeckt – Eigeninteresse und Habgier. Wir brauchen keine Kanonenboote, um unse re Geschäfte betreiben zu können. Diese Vereinba rung, das ist die moderne Art, die Dinge zu regeln.« »Unsinn!« sagte meine Mutter laut. »Es ist die schwächliche und kurzsichtige Art.« Sie brachte Guilio mit einem gestrengen Blick zum Schweigen, bevor sie sich mir zuwandte. »Warum«, fuhr sie dann schmerz lich bewegt fort, »war diese Zusammenkunft nötig? Warum, um des Himmels willen, haben wir sie selber angeregt? Und warum sind wir, nachdem wir über eine derartige Vereinbarung lediglich diskutiert haben, in die Falle gegangen und haben unterschrieben? Oh, wenn doch dein Vater noch lebte!« »Die Vereinbarung ist nicht unterschrieben, Mama. Ich habe lediglich einen Entwurf abgezeichnet.« »Entwurf? Ha!« Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn – ihre eindrucksvolle Methode, hoch gradige Erregung zu demonstrieren, ohne die sorgfäl tig gepflegte Frisur zu gefährden. »Und kannst du dein Zeichen unter dem Entwurf widerrufen?« fragte sie herausfordernd. »Kannst du unseren Namen zu einem auf öffentlichen Märkten benutzten Schmähwort wer den lassen, das gleichbedeutend ist mit Wankelmut und Unzuverlässigkeit?« »Ja, Mama, und nein.«
»Was sagst du da?« »Ja, soweit es die erste Frage betrifft, nein hinsichtlich der zweiten. Der abgezeichnete Entwurf zu einer Ver einbarung ist eine Absichtserklärung. Er ist nicht abso lut bindend. Es gibt Möglichkeiten und Wege, davon abzurücken, wenn wir das wollen. Ich bin nicht der Meinung, daß wir das tun sollten, aber aus anderen Gründen als denen, die du angeführt hast. Von Unzu verlässigkeit wäre gewiß keine Rede, aber es könnte durchaus sein, daß man glauben würde, wir hätten bluffen wollen. In diesem Fall könnten wir nicht mehr damit rechnen, von ihnen in Zukunft noch großzügig behandelt zu werden.« »Aber du warst es doch, Michael, der die Initiative ergriffen hat. Warum? Warum hast du nicht gewartet, bis die Zeit reif ist, um die Taktiken anzuwenden, auf die sich dein Vater so hervorragend verstand?« Sie hatte sich über den Tisch vorgeneigt und rieb Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aneinander. Ihr Diamantring glitzerte anklagend. »Das habe ich doch schon erklärt, Mama. Wir haben es mit einer neuen Situation und mit Männern von einem ganz anderen Schlag zu tun.« »Anders? Das sind Syrer, oder etwa nicht? Was sollte an denen denn neu sein?« »Ein Mißtrauen gegenüber der Vergangenheit, ein ech tes Bestreben nach Reformen und die Entschlossen heit, Veränderungen herbeizuführen. Ich räume ein, daß ihre Ideen vielfach unausgegoren sind. Aber sie werden hinzulernen, und der Wille dazu ist vorhanden. Ich sollte vielleicht erwähnen, daß ich innerhalb einer Stunde ins Gefängnis gesperrt worden wäre, hätte ich Dr. Hawa zu bestechen versucht oder eine derartige Absicht auch nur durchblicken lassen. Das zumindest ist neu.« »Sie bleiben trotzdem Syrer, und neue Männer pflegen rasch zu altern. Woher willst du übrigens wissen, ob die Partner deines Abkommens in einem halben Jahr
noch im Amt sein werden? Du siehst eine veränderte Situation, ja. Aber vergiß nicht, daß sich solche Situa tionen mehr als einmal ändern können, und das in mehr als einer Hinsicht.« Ich nahm meine Brille ab und putzte die Gläser mit meinem Taschentuch. Meine Frau Anastasia hat mir gesagt, diese Angewohnheit von mir, meine Brille zu putzen, wenn ich nachdenken will, sei ausgesprochen schlecht. Anastasia zufolge erzeugt sie den Eindruck von Schwäche und Verwirrung. Sie mag recht haben; ich kann immer auf Anastasia zählen, wenn es darum geht, mir meine Fehler und Mängel vorzuhalten und die Liste meiner Schwächen auf den neuesten Stand zu bringen. »Über diesen Punkt sollten wir keine Unklarheiten be stehen lassen, Mama.« Ich setzte meine Brille wieder auf und steckte das Taschentuch weg. »Es gibt in Da maskus eine Menge Leute von Erfahrung, die deine Ansicht teilen. Ich glaube, wenn Vater noch lebte, würde er zu ihnen gehören. Ich glaube aber auch, daß er sich täuschen würde. Ich will die Vorzüge der Ge duld keineswegs bestreiten. Aber nur abzuwarten und zuzusehen, wie der Hase läuft, und vielleicht gerade noch Überlegungen darüber anzustellen, welche Hände gegebenenfalls geschmiert werden müßten, kann un ter Umständen auch bloß als Entschuldigung dafür dienen, gar nichts zu tun, weil man sich nicht auf das eigene Urteil verlassen mag. Indem wir auf diese Leu te zugehen, statt darauf zu warten, daß sie hinter ver schlossenen Türen über unser Schicksal entscheiden, sichern wir uns konkrete Vorteile. Mit einigem Glück werden wir unser hiesiges Kapital weiterhin für uns arbeiten lassen können.« Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Du hast soviel englisches Blut in dir, Michael. Mehr, denke ich manchmal, als dein Vater, obschon ich nicht zu sagen wüßte, wie das möglich sein sollte.« Aus dem Mund meiner Mutter waren das in der Tat harte Worte. Ich
erwartete den Rest des Urteilsspruchs. »Ich erinnere mich noch sehr gut an etwas, was dein Vater 1929 gesagt hat. Das war, bevor du geboren wurdest, als ich« – sie klopfte sich auf den Bauch – »dich hier trug. Ein britischer Armeeoffizier war bei uns Hausgast ge wesen. Er war ein Amateursegler, und die Werft hatte irgendwelche Reparaturen an seinem Boot ausgeführt. Als er absegelte, vergaß er ein kleines rotes Buch mit zunehmen, in dem er gelesen hatte. Es war ein Hand buch für die infanteristische Ausbildung oder irgend etwas dergleichen, herausgegeben vom britischen Kriegsministerium. Dein Vater las das Buch, und über einen Satz, auf den er darin gestoßen war, amüsierte er sich so sehr, daß er ihn mir laut vorlas. >Gar nichts tunheißt sicher das Falsche tun.< Wie dein Vater darüber lachen mußte! >Kein Wunderdaß die britische Armee sich so schwer tut, ihre Kriege zu gewinnen.« Nur meine Schwäger, die diese Geschichte nicht gar so oft gehört hatten, lachten darüber; aber meine Mutter hatte noch nicht geendet. »Du, Michael«, sagte sie, »hast Dinge ins Rollen gebracht, von denen du be hauptest, sie brächten ein, was du >konkrete Vortei le< nennst. Erster Vorteil, eine Entschädigung für un sere Verluste in Syrien, die wir nie bekommen werden und die man uns daher gestohlen hat. Zweiter Vorteil, eine Lizenz, mit dem uns gestohlenen Geld und viel zuviel von deiner kostbaren Zeit irgendeine nichtexi stierende Industrie zu subventionieren, die nichtexi stierende Güter produziert. Ja, wir haben die Alleinver tretung für diese Güter, wenn diese Bauern und Flüchtlinge jemals dazu gebracht werden können, sie zu produzieren. Aber wann wird das der Fall sein? Wie ich diese Leute kenne, zu meinen Lebzeiten nicht mehr.« Sie hatte natürlich den schwachen Punkt des ganzen Arrangements erkannt und den Finger unbeirrbar in die Wunde gelegt. Nur allzuoft sollte ich in den folgen
den Monaten noch an ihren Ausspruch von der >nicht existierenden Industrie, die nichtexistierende Güter produziert denken müssen. Im Augenblick jedoch blieb mir nichts anderes übrig, als scheinbar gelassen dazu sitzen und eine unerschütterliche Ruhe vorzutäuschen. »Gibt es noch irgendwelche Fragen?« »Ja.« Meine Schwester Euridice meldete sich. »Was wäre die Alternative zu dieser Abmachung?« »Die Alternative, die Mama vorschlägt. Wir tun nichts. Meiner Meinung nach würde das bedeuten, daß wir uns eines Tages mit unseren Verlusten in Syrien ab finden, daß wir sie abschreiben müssen. Bestenfalls könnten wir auf eine Konterrevolution hoffen, die den Status quo wiederherstellt. Ich sehe zwar nicht, wie das geschehen sollte, aber – « Ich zuckte die Achseln. »Aber du könntest dich irren?« Guilio, der Zahnarzt, trat wieder in Aktion, mit hervorquellenden Augen und einem Zeigefinger, mit dem er sich an die Schläfe tippte – vermutlich, um mich darauf aufmerksam zu machen, daß die Frage seinem Gehirn entstammte und nicht seinem Bauch. »Ja, ich könnte mich irren, Guilio. Was ich meinte, ist, daß die Art von Konterrevolution, bei der die radikale Rechte die radikale Linke stürzt, den Status quo nur in den seltensten Fällen wiederherstellt.« »Aber actio und reactio sind doch wohl stets gleich wertig und konträr.« Das war Rene, der Physiker. Er hatte die entnervende Angewohnheit, wissenschaftli che Gesetze fortwährend in nichtwissenschaftlichen Zusammenhängen zu zitieren. In eine Diskussion über eine seiner falschen Analogien verwickelt zu werden, war etwas, was um jeden Preis vermieden werden mußte. »Im Laboratorium, ja.« »Und auch im Leben, Michael, auch im Leben.« »Ich bin sicher, daß du recht hast, Rene. Aber die poli tische Zukunft Syriens gehört schwerlich zu den Din gen, die sich von uns hier in diesem Konferenzzimmer
exakt voraussagen lassen. Ich finde, daß wir lange genug diskutiert haben und jetzt zur Abstimmung kommen sollten. Du zuerst, Guilio.« Ich glaube, in jenem Augenblick war ich selber schon so gut wie entschlossen, die Abmachung zu sabotie ren. Guilios und Renes spontane Begeisterung hatte Zweifel in mir wachgerufen, die durch den ätzenden Kommentar meiner Mutter noch beträchtlich verstärkt worden waren. Unter Berufung auf die Tatsache, daß ich als Urheber des Abkommens parti pris sei, hätte ich durch Stimmenthaltung ohne allzu großen Ge sichtsverlust von der Sache abrücken können. Und genau das würde ich wohl getan haben, wenn es Guilio gefallen hätte, nochmals seine idiotische Lobeshymne auf meine weitblickende Kühnheit anzustimmen. Be dauerlicherweise entschied er sich für das Gegenteil. »Meine wohlerwogene Meinung«, erklärte er gewich tig, »geht dahin, daß die Zeit für uns arbeitet. Kein Abkommen, wie geschickt ausgehandelt es auch im mer sein mag, kann unseren Interessen letztendlich dienlich sein, wenn das Regime, mit dem es getroffen werden soll, seinem ganzen Wesen nach unstabil ist. Falls die Zeit für uns arbeitet, und wir dürfen hoffen, daß sie das tut, dann sage ich, laßt die Zeit für uns arbeiten.« »Du bist gegen den Antrag, Guilio?« »So leid es mir auch tut, Michael – ja.« Rene drängte es, über die Mathematik der Spieltheorie und die Möglichkeit, sie zur Lösung metapolitischer Probleme anzuwenden, ein paar Worte zu sagen. An schließend stimmte auch er gegen die Vereinbarung. Ich sah meine Mutter an. Von ihr hing jetzt die Ent scheidung ab. Was immer ich meinerseits auch wün schen mochte: meine Schwestern würden ihrem Bei spiel folgen. Ich sagte: »Mama, ich bin der Überzeugung, daß auch für die absurdeste Verallgemeinerung, selbst für eine, die sich in einem kleinen roten Buch findet, das vom
britischen Kriegsministerium herausgegeben worden ist, immer wieder einmal ein Augenblick der Wahrheit eintritt. Ich glaube, daß ein solcher Augenblick jetzt gekommen ist und daß das, was du tun willst und was Guilio und was Rene tun wollen – nämlich nichts –, daß das definitiv das Falsche tun heißt.« Einen Moment lang zuckte es um ihren Mund, und es hatte den Anschein, als werde sie gleich lächeln; aber der Anschein trog. Statt dessen warf sie die Hände hoch. »Nun gut«, sagte sie. »Triff du deine Vereinba rung. Aber ich warne dich. Du schaffst dir viel Ärger – Ärger jeglicher Art.« Damit sollte sie natürlich ganz und gar recht behalten. Der Ärger war von jeder nur denkbaren Art; und ich hatte ihn niemand anderem zuzuschreiben als mir sel ber. Nahezu zwei Jahre lang war Dr. Hawa der einzige Partner des syrischen Abkommens, der in irgendeiner nennenswerten Weise davon profitierte. Unsere Firma verlor; und was sie zusetzte, beschränkte sich nicht auf unsere blockierten Gelder. Wie meine Mutter vor ausgesagt hatte, kosteten mich die syrischen Koopera tiv-Projekte viel zuviel Zeit. Es war unausbleiblich, daß ein Teil der verantwortungsvollen Managementaufga ben in den profitableren Unternehmensbereichen un serer Firma an leitende Angestellte delegiert werden mußte. Selbstverständlich nahmen sie die Gelegenheit wahr und forderten Gehaltserhöhungen. Zunächst, das muß ich zugeben, ließ sich die Arbeit recht zufriedenstellend an. Kaninchen aus dem Zylin der hervorzuziehen, kann lustig sein, wenn der Zauber funktioniert. Das Keramik-Pilotunternehmen zum Bei spiel, das ich in einer stillgelegten Seifenfabrik aufzog, lief von Anfang an sehr gut. Das war zum Teil reines Glück. Ich fand einen Mann, den ich als Vorarbeiter und später als Manager einsetzen konnte. Er hatte drei Jahre lang in einer französischen Töpferei gearbeitet und verstand etwas von farbigen Glasuren. Er wußte
auch, wo die nicht voll ausgebildeten Arbeitskräfte, die wir brauchten, angeworben werden konnten und wie sie zu behandeln waren. Innerhalb von vier Monaten hatten wir eine Anzahl von Mustern, realistische Ko stenvoranschläge und einen auf die volle Auslastung der Produktionskapazität zugeschnittenen und bis ins einzelne ausgearbeiteten Plan vorzuweisen, den ich Dr. Hawa zu den Bedingungen unserer Übereinkunft unterbreiten konnte. Innerhalb von wenigen Wochen und nach einer ungewöhnlich kurzen Phase des Feil schens war die staatliche Finanzierung bewilligt wor den und das Projekt angelaufen. Bei Jahresende hat ten wir unsere ersten Exportaufträge unter Dach und Fach gebracht. Bei den Möbel- und Metallwarenprojekten liefen die Dinge nicht so glatt. Im Fall der Möbel ergaben sich einige Schwierigkeiten aus der Tatsache, daß eine Menge Arbeiten, die unter den Testbedingungen ma schinell hätten ausgeführt werden sollen, mit der Hand verrichtet werden mußten. Das verlieh unserer Ko stenrechnung einen Nutzwert, der den einer >über den Daumen gepeilten< Schätzung nur unwesentlich überstieg. Die meisten Kopfschmerzen verursachte uns diese Pilotproduktion jedoch wegen ihrer Abhän gigkeit von der Schlosserei. Das Problem war hier der chronische Mangel an gelernten Arbeitskräften. Das war durchaus nicht verwunderlich. Warum sollte ein Schlosser, der seit Jahren auf eigenen Füßen stand und genügend verdiente, um so leben zu können, wie es vor ihm schon sein Vater und sein Großvater als annehmbar empfunden hatten, in einer regierungsei genen Fabrik arbeiten wollen? Wie sollte dieser Hand werker dazu überredet werden, Werkzeuge zu benut zen, die ihm nicht gehörten, um damit ungewohnte Gegenstände von – für ihn – fraglichem Wert herzu stellen? Man konnte damit argumentieren, und das tat ich, bis mir vor Heiserkeit die Stimme versagte, daß er in der regierungseigenen Fabrik wöchentlich nur fünf
zig Stunden zu arbeiten brauche statt der sechzig Stunden, die er als selbständiger Handwerker arbeiten mußte, und dabei dennoch mehr Geld verdiene. Man konnte von der Sicherheit des Arbeitsplatzes sprechen. Man konnte ihm Überstunden und Sonderprämien für die Anlernung von Lehrlingen versprechen. Man konn te bitten, mit Engelszungen alle Überredungskünste spielen lassen. In den meisten Fällen war die Antwort ein nachdenklich versonnenes Kopfschütteln, das ei nen verrückt machen konnte. Am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit diesem Problem hilfesuchend an Dr. Hawa zu wenden. Er löste es, indem er eine Bestimmung erließ, die den Verkauf von Buntmetallen und -legierungen wie Kupfer und Messing kontingentierte. Jeder Käufer erhielt eine Quote zugeteilt, der die im Vorjahr getätigten Käufe zugrunde lagen. Hatte er jedoch keine schriftlichen Unterlagen aufbewahrt – Empfangsbestätigungen zum Beispiel oder quittierte Rechnungen –, mit denen er seinen Bedarf nachweisen konnte, sah er sich in Schwierigkeiten. Natürlich stand es ihm frei, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Aber selbst wenn er kein Analphabet war, würde es ihm schwerfallen, den betreffenden Passus der einschlägigen Vorschriften auch nur zu begreifen. Er würde sich einen Anwalt nehmen müssen. Als die Risiken, Ungewißheiten und Hindernisse selbständiger Arbeit auf diese Weise im mer offenkundiger wurden, beschloß mancher von denen, die früher den Kopf geschüttelt hatten, sich die Sache nochmals zu überlegen. Daß Dr. Hawa sich in einer Position befand, die es ihm erlaubte, diese byzantinische Methode der Rekrutie rung von Arbeitskräften durch Druck zu legalisieren, ist nicht so bemerkenswert, wie es scheinen mag. Ich habe bereits gesagt, daß unsere Abmachung für ihn von Anfang an einträglich war. Vielleicht wäre >vor teilhaft< das richtigere Wort gewesen. Seit dem Tag, an dem wir die endgültige Fassung der vertraglichen
Vereinbarungen unterschrieben, verging kaum eine Woche ohne irgendeine Manifestation dessen, was er >unser Public-Relations- und Informationsprogramm< nannte. Praktisch hieß das Publicity für Dr. Hawa per sönlich. Ich weiß heute noch nicht, wie er seine imagefördernden Tricks anzuwenden lernte; ohne Fra ge hatte er sie in den besagten Jahren gesammelt, die er als graduierter Student in Amerika verbrachte; aber er beherrschte sie allesamt mit bemerkenswerter Ge schicklichkeit. Teresa glaubt, daß er ein angeborenes Talent zur Eigenwerbung besitzt, dessen er sich nur undeutlich bewußt ist, und daß er sich nahezu aus schließlich vom Instinkt leiten läßt. Sie mag recht ha ben. Es war durchaus fesselnd, ihn in voller Aktion zu erle ben. An dem Tag, an dem wir die stillgelegte Seifenfa brik – einen verfallenen, von Ratten verseuchten Bau damals – in Besitz nahmen, kreuzte, eine große, auf gerollte Blaupause – wovon, habe ich nie herausge funden – schwingend und von Fotografen und Archi tekten begleitet, überraschend Dr. Hawa auf, um die Örtlichkeit zu inspizieren. Die Fotos von Dr. Hawa, die später in den Zeitungen erschienen und ihn zeigten, wie er mit expressiver Gebärde auf die Blaupause deu tete, aber auch die Bildunterschriften, die die dynami sche und doch bescheidene Persönlichkeit des Leiters des Referats für industrielle Entwicklung rühmten, wa ren ungemein beeindruckend. Er verstand es, aus dem trivialsten Vorgang ein Ereignis zu machen. Das Ein treffen eines neuen Maschinenteils, das Verlegen einer neuen Hochspannungsleitung, das Gießen der Beton masse für den neuen Faßboden einer Werkstatt – wo immer irgend etwas vonstatten ging, was sich fotogra fieren ließ, war Dr. Hawa zur Stelle; und er wußte es stets so einzurichten, daß er bei Ankunft der Fotogra fen nicht nur im Vordergrund stand, sondern dabei auch rein optisch deutlich zum Ausdruck kam, daß er derjenige war, bei dem die Gesamtleitung des betref
fenden Geschehens lag. Er hatte eine Art, auf irgend etwas zu zeigen, wenn er eine Frage stellte, und dabei den Kopf genau so weit in den Nacken zu werfen, daß es aussehen mußte, als erteile er Anweisungen. Und natürlich sollten wir schon bald nicht mehr die einzi gen sein, die ihm zu solcher Selbstdarstellung Gele genheit gaben. Die exzessive Publicity, die unseren Pilotprojekten zuteil geworden war, hatte einige der vormaligen Stillhalte-Taktiker zu dem Trugschluß ver leitet, ich müsse, während sie schliefen, das Geld nur so gescheffelt haben, und sie bewogen, eiligst auf den abfahrenden Kooperations-Bus aufzuspringen. Eine Reihe dieser Unternehmen, insbesondere eine Glas hütte, eine Fabrik, die verzinkte Eisendrähte herstell te, und eine Getränkefabrik, die eine örtliche PepsiCola-Imitation von etwas befremdlich anmutendem Geschmack auf Flaschen zog, waren erfolgreich; und natürlich heimste Dr. Hawa den Ruhm ein. Als 1966 die gesamte Industrie Syriens verstaatlicht wurde, mehrten sich für ihn die Gelegenheiten zu wir kungsvoller Eigenwerbung in noch weit größerem Ausmaß. Seine offizielle Position als Entwicklungsex perte erlaubte es ihm, seine Nase in nahezu alles und jedes hineinzustecken und sich dabei fotografieren zu lassen. Der einzige Widerstand, auf den seine Metho den stießen, kam von den Russen, die hinsichtlich der Art und Weise, wie die Publicity für die sowjetische Entwicklungshilfe gehandhabt werden sollte, ihre eige nen Vorstellungen hatten. Was sie von Dr. Hawa er warteten, war geschmeidige Unterordnung, nicht foto gene Solodarbietung. Sie schwenkten ihre eigenen Blaupausen. Er nahm diese Niederlagen mit Anstand hin; er war ebenso anpassungsfähig wie einfallsreich. Im Rundfunk und später auch im Fernsehen kam er hervorragend an; er gab sich sehr einfach, sehr direkt, war ganz der apolitische Staatsbeamte, durchdrungen vom Neuen und doch nicht ohne Achtung vor dem Alten, bedacht einzig auf das Wohl des Volkes.
So war denn niemand überrascht, als, zugleich mit der Bekanntmachung, daß das Referat für industrielle Entwicklung aufgewertet und zum Ministerium ausge baut werden sollte, die Nachricht kam, daß das neuge schaffene Portefeuille Dr. Hawa angetragen und von diesem bereits angenommen worden sei. Daß er es fertigbrachte, so lange im Amt zu bleiben und selbst die Stürme der späten sechziger Jahre zu überdauern, war auf das Zusammentreffen verschiedener Umstän de zurückzuführen. Als Anhängsel der mächtigeren Ministerien für Finan zen und für Handel und Soziales selber politisch und finanziell minderbemittelt, kam Dr. Hawas Ministerium als Operationsbasis von der Art, wie sie ergrauten Dis sidenten und Möchtegern-Umstürzlern vorschwebt, nicht in Frage. Es kontrollierte keine – bewaffneten oder unbewaffneten – Kräfte, die zu mobilisieren wa ren, und verfügte über keinerlei Zugang zum inneren Kreis der Macht. Die Funktion seines Ministeriums hat te Dr. Hawa selber als die eines Katalysators bezeich net – eine Definition, für die er im Lauf der Zeit eine immer ausgeprägtere Vorliebe entwickelte –, und das Image, das er sich selbst gab, war das des supertüch tigen Spezialisten, der seine Arbeit, auf die nur er sich versteht, unauffällig und gewissenhaft verrichtet und für die Arbeit anderer keinen Blick übrig hat. Nicht ein einziges Mal unterfing er sich, als potentieller Führer gelten zu wollen. Dabei muß er sich zeitweilig dazu versucht gefühlt haben; eitle, ehrgeizige und fähige Männer wie er bringen es in den seltensten Fällen über sich, ihren Aspirationen Grenzen zu setzen; aber er zählte zu den Ausnahmen. Da er für keinen, der ihn hätte vernichten können, eine Gefahr darstellte, hat er überlebt. Obwohl ich es lieber mit jemandem zu tun gehabt hät te, der bequemer und weniger alert war, hätte ich durchaus auch schlimmeren Zuchtmeistern als Dr. Hawa begegnen können. Vom ersten Augenblick sei
ner Beförderung an war offenkundig, daß ihm das Mi nisteramt gut bekam. Er schien weniger zu rauchen und zeigte sich jetzt häufig gelöst und umgänglich. Wenn wir Backgammon spielten und er ein, zwei Glä ser von meinem besten Brandy intus hatte, machte er gelegentlich schon einmal einen Scherz, der nicht ge hässig war. Natürlich konnte er noch immer sehr un angenehm werden. Als erstmals offenbar wurde, daß die Howell-Firmen in Übersee aus den uns vertraglich zugebilligten Alleinvertretungen nennenswerte Profite zu ziehen begannen, bekam ich sarkastische Bemer kungen und kaum verschleierte Drohungen zu hören. Selbstverständlich konnte ich anhand eindeutiger Zah len mühelos nachweisen, daß wir per saldo noch im mer tief im Minus steckten; aber sobald es um Zahlen ging, pflegte er schwierig zu werden. Seine waren stets unanfechtbar, akkurat und vollständig; die Zah len, mit denen andere ihm kamen, entweder irrelevant oder manipuliert. Er hatte noch weitere Eigenheiten, die den Umgang mit ihm erschwerten. So mußte man beispielsweise mit der gesprächsweisen Erwähnung von Ideen für neue Projekte vorsichtig sein. Es war sehr gefährlich, mit ihm über ein mögliches Entwicklungsprojekt zu diskutieren, wenn man selber noch keine endgültige Klarheit darüber gewonnen hatte, ob man sich auf das betreffende Vorhaben einlassen sollte oder nicht. Wenn ihm eine neue Idee zusagte, griff er sie auf, und dann gab es kein Entrinnen mehr. Noch bevor man in das eigene Büro zurückgekehrt war, hatte das Ministe rium schon eine Presseverlautbarung herausgegeben, die das neue Wunder ankündigte. Von da ab war man in die Pflicht genommen, ob es einem nun paßte oder nicht. Genauso hatte übrigens die ganze elende Geschichte mit den Trockenbatterien angefangen. Sie ist mir von Dr. Hawa aufgezwungen worden. Mit dem elektronischen Projekt war es das gleiche ge
wesen. Aufgrund einer Vereinbarung zwischen Dr. Hawas Ministerium und einer Handelsmission der DDR hatten wir eine Fabrik einzurichten, in der in Ost deutschland gefertigte elektronische Schaltungen zu sammengesetzt werden sollten. Wir produzierten ver schiedenartige Telekommunikations-Ausrüstungen, darunter hochspezialisierte Geräte für die Armee sowie kleine Transistorradio- und Fernsehapparate. Zu mei ner Entlastung wurde ein irakischer Manager verpflich tet, der eine Spezialausbildung in der DDR erhalten hatte und die Fabrik leiten sollte; aber von unserem Standpunkt aus stimmte die Gesamtkonzeption nicht. Arbeitsintensiv, wie es war, konnte das Projekt ohne hin nicht rentabel sein; und die Heeresaufträge, von denen ich angenommen hatte, daß sie uns möglicher weise etwas einbringen könnten, wurden auf einer Kostenbasis erteilt, die ruinös für uns war. Mit der Elektronik konnten wir bestenfalls auf plus minus Null kommen. Aber das Trockenbatterien-Projekt war viel schlimmer. Das kostete mich mehr als nur mein Geld; das wuchs sich zu einem Alptraum aus. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich behaupte nicht, an allem, was geschehen ist, sei Dr. Hawa schuld; ich hätte rascher und entschiedener reagieren sollen. Ich sage lediglich, daß ich, weit entfernt, das Batterienprojekt schlau eingefädelt zu haben, wie das einige dieser Straßenkehrer, die sich Journalisten nen nen, durchblicken ließen, im Gegenteil alles versucht habe, um seinen Fortgang zu hintertreiben, und das nicht nur, bevor es anlief, sondern auch später noch. In Gang gesetzt wurde die Sache durch einen puren Zufall. Es war das Jahr nach dem Sechstagekrieg mit Israel. In allen Ländern müssen Regierungsstellen aller Ressorts Berge von bedrucktem Papier versenden, das liegt nun einmal in ihrem Wesen. Eine der Verlautba rungen, die das Ministerium für industrielle Entwick lung regelmäßig verschickte, war eine Liste von diver
sem Schüttgut, das in regierungseigenen Speichern verwahrt und zum Verkauf freigegeben wurde. Für mich waren diese Listen normalerweise von geringem geschäftlichem Interesse, aber in Erinnerung an die alten Zeiten warf ich zuweilen einen Blick darauf, um zu sehen, was sie für Latakiatabak verlangten. So kam es, daß ich auf diesen ziemlich ausgefallenen Waren posten stieß. In einem latakischen Speicher lagerten sechzig Tonnen Mangandioxyd. Das brachte mich auf eine Idee. Obwohl das Keramik werk ausgezeichnet ging und beachtliche Produktionsund Absatzsteigerungen erzielte, füllten sich unsere Lagerbestände, insbesondere die an Kacheln, um eine Spur rascher, als wir sie abzubauen vermochten. Ich hatte mich nach Möglichkeiten umgesehen, weitere Fertigungszweige auszubauen, um unsere Produktion ein wenig zu diversifizieren. Dieses beschlagnahmte Zeug im Lagerschuppen schien eine solche Möglichkeit zu eröffnen. Ich holte Auskünfte über seine Herkunft und Beschaffenheit ein. Ursprünglich, so war zu erfahren, hatte es zur ge mischten Ladung eines panamesischen Frachters ge hört, von dem es im türkischen Hafen Iskenderun übernommen worden war. Südlich von Banyas war Maschinenschaden aufgetreten, und ein Südweststurm hatte das Schiff unweit der Arabel-Meulk-Leuchtboje auf eine Sandbank gesetzt. Schlepper aus Latakia hat ten es schließlich flottgemacht, aber das erst, nach dem zwecks Gewichtsverminderung ein Teil der Fracht, darunter auch das Mangandioxyd, umgeladen worden war. Später hatte es wegen der Bergungsan sprüche der Schlepperkapitäne einen Disput gegeben, und der Frachter war unter Zurücklassung der be schlagnahmten umgeladenen Fracht abgedampft. Das Mangandioxyd war ohnedies nicht derart kostbar, es sei denn vielleicht für uns. Ich forderte Proben an. Hawas Spione waren überall. Wenige Stunden nach dem ich diesen Antrag gestellt hatte, rief mich sein
Kanzleichef an und wollte wissen, warum ich mich für dieses Material interessiere. Ich sagte, daß ich ihm das am Telefon schwerlich erklären könne und es ohnehin keinen Sinn habe, auch nur den Versuch dazu zu ma chen, bevor ich nicht die Materialproben und die Er gebnisse der Run-Tests erhalten hatte. Er sagte, daß er die Resultate dieser Tests abwarten werde. Eine Woche darauf wurde ich zum Minister gerufen. Das überraschte mich nicht. Ich hatte längst herausgefun den, daß Dr. Hawa, war seine Neugier erst einmal ge weckt, es nicht über sich brachte, ihre Stillung einem Untergebenen zu überlassen. Die Aufforderung kam jedoch, als ich gerade in Alexandria war, um dort eini ge unserer ägyptischen Schwierigkeiten auszubügeln. Teresa sagte dem Kanzleichef natürlich, wo ich mich zur Zeit aufhielt, und sie vereinbarten einen neuen Termin für meine Zusammenkunft mit Dr. Hawa, die noch am Tag meiner Rückkehr stattfinden sollte. Auf die von Dr. Hawa verfügte Sonderbehandlung jedoch, die mir auf dem Flugplatz zuteil wurde, war ich in kei ner Weise gefaßt gewesen. Es geschah zum ersten mal, daß ich in den Genuß dieser Ehre gelangte, und es jagte mir einen gehörigen Schrecken ein. Niemand konnte oder wollte mir sagen, was das Ganze zu be deuten hatte, und so nahm ich schließlich an, daß ich unter Arrest stand. Erst als ich in der vollklimatisierten Limousine saß, die mich ins Ministerium brachte, be gann ich ärgerlich zu werden. Ich glaubte, daß dies Dr. Hawas spezielle Art sei, sich dafür, daß ich nicht sofort greifbar gewesen war, zu revanchieren und mir für den Fall, daß ich es vergessen haben sollte, ins Ge dächtnis zu rufen, daß er mein Kommen und Gehen überwachen lassen konnte, wann immer es ihm paßte. Er war ungemein liebenswürdig, als ich sein Arbeits zimmer betrat. »Ah, Michael, da sind Sie ja. Und wohlbehalten, ge sund und munter, wie ich sehe.« Er bedeutete mir, in einem Sessel Platz zu nehmen.
»Danke, Herr Minister.« Ich setzte mich. »Ich bin Ih nen für den Empfang am Flughafen sehr dankbar. Er war unerwartet, aber willkommen.« »Wir bemühen uns, unsere Freunde zu beschützen.« Er steckte sich eine Zigarette an. »Sicher werden Sie in Alexandria schon von unseren neuesten Schwierig keiten gehört haben. Nein? Nun ja, es ist erst gestern nacht passiert. Eine Verkehrsmaschine, eine europäi sche, wurde auf dem Flughafen durch Bomben zer stört. Von israelischen Saboteuren natürlich.« »Natürlich.« Das war die rituelle Formel, mit der Bombenanschläge und andere terroristische Akte, die damals von örtli chen palästinensischen Guerillas verübt wurden, kommentiert zu werden pflegten. Zumeist handelte es sich um Splittergruppen mit marxistischem und maoi stischem Einschlag, die sich, sofern sie nicht gerade die jordanischen und libanesischen Behörden jenseits der Grenze, deren Kooperationsbereitschaft zu wün schen übrig ließ, durch entsprechende Aktionen unter Druck zu setzen versuchten, auf Provokationen spezia lisierten, die den Israelis in die Schuhe geschoben werden konnten. Darüber hinaus dienten Aktionen dieser Art dazu, diejenigen ihrer syrischen »Brüder«, die es insgeheim nach Frieden gelüstete, nicht im un klaren darüber zu lassen, daß sie sich einen so schmählichen Gedanken besser aus dem Kopf schlu gen. »Hat man sie gefaßt?« fragte ich. »Leider nicht. Es wurden Zeitbomben verwendet. Un sere Sicherheitsbehörden scheinen aus diesen Vorfäl len noch immer nicht die richtigen Lehren gezogen zu haben.« Und natürlich würden sie das niemals tun. Mao zufolge soll sich der Einzelkämpfer im freundlichen Meer des Volkes wie ein Fisch im Wasser bewegen. Und wenn sich dieses Meer in Syrien auch als nicht gar so freundlich erwies, so waren ausgesprochen feindliche
Strömungen doch selten. Soweit die Sicherheitsbehörden die Guerillas nicht aktiv unterstützten, praktizier ten sie eine Taktik des Nicht-zur-Kenntnis-Nehmens. Die magischen Aufkleber >Palästina< und >Palästi nenser< konnten aus dem brutalsten Killer einen he roischen jungen Freiheitskämpfer machen, und solan ge er nicht allzu offensichtlich über die Stränge schlug, hatte er nichts zu befürchten. Das wußte Dr. Hawa so gut wie ich selber. Im übrigen dachte kein Guerilla daran, eine Maschine der Middle East Airlines – auch nicht zum Zweck der Provokation – in die Luft zu sprengen. Ich glaubte noch immer, er operiere mit der Angst vor Bombenanschlägen, um mir eins auszuwi schen. Der Kaffee wurde gebracht. »Aber wenn man nicht die Verantwortung hat, ist es leicht, kritisch zu sein. Wir müssen Geduld haben. Inzwischen, das sagte ich Ih nen bereits, treffen wir Sicherheitsvorkehrungen, um unsere Freunde zu schützen – besonders diejenigen Freunde, die uns dabei helfen, Syrien eine Zukunft aufzubauen.« Er lächelte mir spöttisch zu. »Hätten Sie Lust, die Leitung eines Reifenerneuerungswerks zu übernehmen, Michael?« »Danke, nein, Herr Minister.« Ich lächelte gleichfalls. Er hatte versucht, mir eins auszuwischen. Diese Reifengeschichte war ein ziemlich mieser Stan dardwitz. Die ReifenerneuerungsProduktionskooperative war die Idee eines Armeniers gewesen, der sein Geld mit kandierten Früchten ge macht hatte, und ein völliges Desaster geworden. Mindestens fünfzig Prozent der erneuerten Reifen hat ten sich als defekt erwiesen, und das in einigen Fällen in fataler Weise. Ein Unfall, bei dem drei Fahrgäste eines Überlandbusses ums Leben kamen, war durch das Platzen eines dieser erneuerten Reifen verursacht worden. Hawa hatte Schwierigkeiten gehabt, die Ge schichte zu vertuschen, und suchte noch immer nach einem rettenden Ausweg aus dem Chaos. Obwohl er
längst genau wußte, daß ich nicht die Absicht hatte, ihm einen solchen Ausweg zu eröffnen, richtete er in regelmäßigen Abständen immer wieder diese Frage an mich. Das war seine Art, zu erkennen zu geben, daß er mir meine Weigerung, ihm diesen Gefallen zu er weisen, zwar nicht notwendigerweise nachtragen, sie andererseits aber auch keineswegs gänzlich vergessen würde. »Dann lassen Sie uns jetzt von diesem Mangandioxyd reden.« Er schmunzelte. »Ich muß gestehen, daß mich Ihr Interesse für dieses Zeug einigermaßen verblüfft hat. Ich weiß, daß Sie die absonderlichsten Chemikali en bestellen, um Ihre farbigen Glasuren zu erzeugen, aber dies war offenkundig ganz ungewöhnlich. Sechzig
Tonnen?« »Ich brauche es nicht für eine Glasur, Herr Minister. Ich hatte vor, es zur Herstellung von Salmiakelemen ten zu verwenden.« »Ich glaube, ich habe Sie nicht richtig verstanden.« »Das Salmiakelement, auch Leclanche-Element ge nannt, ist ein Primärelement, eine ziemlich primitive Quelle elektrischer Energie. Es ist weitgehend von der Trockenbatterie verdrängt worden, obschon beide nach demselben Prinzip funktionieren. Das Salmiak element ist keine Trockenbatterie und daher etwas unhandlich, aber durchaus brauchbar.« »Wofür beispielsweise?« »Für vieles, was die Trockenbatterie leistet – es kann Hausglocken und Klingelleitungen, mittels Knopfdruck funktionierende Türöffner und Haustelephonanlagen etc. mit Strom versorgen. Es hat den Vorzug langer Lebensdauer und geringer Anschaffungskosten.« Er nickte nachdenklich; in seinem Blick lag etwas Ent rücktes. »Eine primäre Quelle elektrischer Energie«, sagte er genießerisch. Aus seinem Mund klang das, als handele es sich um den Assuan-Staudamm. Seine Ga be, eine nüchterne Erklärung auf der Stelle zu einem irreführenden Public-Relations-Brei zu verrühren, war
bemerkenswert. »Ausschlaggebend daran ist«, sagte ich, »daß es dabei um eine ganz einfache Sache geht. Die Kathoden be stehen aus einem porösen Keramiktopf, den wir leicht herstellen können. Er wird um eine Kohleelektrode herum mit Mangandioxyd gefüllt. Die Anode ist ein Zinkstab. Beides wird in einem Behälter unterge bracht, der gewöhnlich aus Glas besteht, aber wir könnten ihn auch aus glasiertem Steingut herstellen. Das Elektrolyt ist eine Lösung aus Ammoniakchlorid, das ganz wenig kostet, und einfachem Leitungswas ser. Das Zink müßten wir von auswärts beziehen, aber alles andere könnten wir selber beschaffen – voraus gesetzt, dieses Mangandioxyd ist einwandfrei.« »Was sollte daran nicht in Ordnung sein?« »Es könnte zum Beispiel mit Salzwasser kontaminiert sein. Deswegen habe ich Proben angefordert.« Er öffnete eine Schublade seines Arbeitstisches und holte ein kleines Gefäß heraus. »In Ihrer Abwesen heit«, sagte er, »habe ich ebenfalls Proben verlangt und Tests machen lassen. Man hat mir gesagt, daß es sich um das gebräuchliche pulverisierte Braunsteinerz – vermutlich aus dem Kaukasus – handelt und nur die üblichen minimalen Verunreinigungen aufweist. Wie viele Batterien könnten Sie aus sechzig Tonnen von diesem Braunstein herstellen?« »Wahrscheinlich weit mehr, als wir jemals davon ab setzen werden. Zehntausende.« »Aber hier im Land könnten wir die Nachfrage wek ken?« »Wenn wir die Einfuhr von Trockenbatterien bestimm ter Größen drosseln, ja.« »Sie sagten, das Prinzip dieser Batterie sei das gleiche wie bei der Trockenbatterie. Warum können wir nicht selber Trockenbatterien herstellen?« »Diese Frage läßt sich nicht aus dem Stegreif beant worten, Herr Minister«, entgegnete ich. »Trockenbat terien werden heute zu Millionen in Japan, Amerika
und Europa hergestellt. Ich kann mich selbstverständ lich über die Marktlage informieren. Aber die Batterie, von der ich rede, läßt sich im Keramikwerk herstellen. Wir würden einen zusätzlichen Schuppen oder auch zwei und ein paar Männer brauchen, die unter ent sprechender Anleitung die anfallenden Arbeiten ver richten können, aber das ist auch alles. Kein nen nenswerter Kapitalaufwand, und wir produzieren einen nützlichen Artikel mit Hilfe unserer eigenen Ressour cen.« »Trockenbatterien sind etikettiert. Könnten wir diese Batterien mit Aufklebern versehen?« »Ja, das könnten wir.« Daß Etiketts, die auf glasierte Töpfe geklebt werden, sich rasch lösen, erwähnte ich nicht, weil ich wußte, daß ihm das die Laune verder ben würde. Von den Produkten, die wir herstellten, trugen nur die wenigsten Werbung irgendwelcher Art. Für einen Mann mit einer so ausgeprägten Vorliebe für Publicity mußte das ungemein frustrierend gewesen sein. »Den Aufkleber stelle ich mir in leuchtenden Far ben vor«, sagte er. »Und wir sollten uns einen Markennamen einfallen lassen. Ich werde darüber nachdenken.« Der Markenname, für den er sich schließlich entschied, lautete: >Cercle VertCercle VertInangriffnahme< des Projekts, und am Nachmittag des gleichen Tages übertrug er es mir. Er fragte mich nicht, ob ich es übernehmen wolle; die Zeiten waren vorbei. Ich wurde auf das Projekt ange setzt, und wenn es mir nicht paßte – nun, eine private Firma, die bei der Regierung unter Kontrakt stand, war immer verwundbar, es sei denn, sie genoß den Schutz einflußreicher Freunde. So hatte zum Beispiel das Fi nanzministerium wiederholt auf Widerruf jener Exklu sivrechte gedrungen, die unserer Firma vor so langer Zeit eingeräumt worden waren. Bislang hatte Dr. Ha wa diesem Druck widerstanden und die Interessen der Firma geschützt; aber ein solcher Schutz will verdient sein. Ich konnte mich nicht einmal darauf berufen, daß die Informationen, auf denen seine Entscheidung basierte, falsch seien. Die Fertigung von Trockenbatterien kann eine ganz einfache Angelegenheit sein; aber nur, wenn man bereit ist, sich mit Herstellungsverfahren, wie sie vor einem halben Jahrhundert verwendet wurden, zu
friedenzugeben – und natürlich auch mit der Art Batte rie, die auf diese Weise produziert wird, sowie den Kosten, die damit verbunden sind. Ich versuchte, ihm das klarzumachen, aber er wollte davon nichts hören. »Mit den Schwierigkeiten fertig zu werden«, erklärte er gänzlich idiotisch, »ist Ihre Aufgabe. Ich kenne Sie gut genug, Michael, um sicher zu sein, daß Sie sie meistern werden.« Es ist leicht, jetzt im nachhinein zu sagen, ich hätte besser daran getan, mich auf der Stelle zu weigern und die finanziellen Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Wie meine Mutter betonte, belief sich unser Reinge winn aus dem syrischen Exportgeschäft inzwischen auf mehr als siebzig Prozent der ursprünglich blockierten Gelder. Das war ihrer Meinung nach ein besseres Er gebnis, als es irgend jemand für möglich gehalten hat te. Keiner der Anteilseigner hätte es mir verargen können, wenn ich zu diesem Zeitpunkt zu dem Ent schluß gekommen wäre, unsere verbleibenden Verlu ste abzuschreiben und auszusteigen; sie waren nur allzu dankbar für das, was bis dahin hatte erreicht werden können. Natürlich gab es auch weniger erfreuliche Dinge, die sie mir sagen zu müssen glaubte. Sie ging sogar so weit, anzudeuten, der wahre Grund, weshalb ich mich auf das Trockenbatterien-Projekt eingelassen habe, sei nicht in meinem Zögern zu suchen, ein paar einträgli che Nebenzweige aufzugeben, sondern in meiner Wei gerung, das zu beenden, was sie »diese cinq-á-septAffäre mit Teresa« nannte. Das war schlechthin absurd, und nur die scharfzüngige Mutter meiner Kinder konnte meiner Mutter eine so unsinnige Idee eingeredet haben. Die Wahrheit ist – und Teresa kann das bezeugen, denn ich habe das ganze Problem an ebenjenem Abend mit ihr durchge sprochen (übrigens nicht zwischen cinq und sept, da das bei mir Bürostunden sind) –, die Wahrheit ist, daß ich zu jenem Zeitpunkt ernsthaft erwog, auszusteigen.
Ich habe es nicht getan, einmal, weil es das Nahelie gendste und Leichteste gewesen wäre, und zum ande ren, weil ich einen Weg zu sehen glaubte, auf dem ich die kritische Situation umgehen konnte. Dieser Weg – der einzig mögliche, wie mir schien – bestand darin, alle Anstalten zum Aufziehen einer TrockenbatterienPilotoperation zu treffen, die dann Dr. Hawa das Un sinnige des von ihm forcierten Projekts eindringlich vor Augen führen würde. Bis für ihn dann der Augen blick käme, sich geschlagen zu geben, wäre bereits ein Alternativprojekt von mir vorbereitet worden, das ihn in den Stand versetzte, das Gesicht zu wahren. Ich bin nach wie vor überzeugt, die richtige Entscheidung ge troffen zu haben. Woher hätte ich von der Existenz Issas und seiner Freunde wissen sollen? Wenn ich sagte, daß wir alle Anstalten zum Aufziehen des Pilotprojekts getroffen hätten, so meinte ich damit keineswegs, es habe etwa nicht die Absicht bestanden, unser Bestes zu tun. Schließlich war das Geld, das für Pilotprojekte aufgewendet wurde, allemal Firmengeld. Ich erwartete einen Fehlschlag, das allerdings; aber einen Fehlschlag kommerzieller Natur, wie er norma lerweise nicht ausbleiben kann, wenn man ein tech nisch längst überholtes Produkt auf einem wettbe werbsintensiven Markt zu einem alles andere als wett bewerbsgerechten Preis anbietet. Worauf ich nicht gefaßt war und womit ich mich nicht abzufinden ver mochte, das war die Demütigung, für die Herstellung eines Produkts verantwortlich zu zeichnen, das nicht nur veraltet war, sondern auch von hoffnungslos min derwertiger Qualität, und das nach jedem Maßstab, den man anlegen mochte, sei es der heutige oder der von vorgestern. Selbst auf dem absoluten Tiefstand ihrer Leistungen hatten die Reifenerneuerungspfuscher es immerhin noch geschafft, fünfzig Prozent ihrer Pro duktion fehlerfrei zu fertigen. Bei der ersten Partie Batterien, die wir produzierten, lag die Erfolgsquote bei zwanzig Prozent. Wenn wir mit unserem Erzeugnis
auch niemanden umbrachten, wie es die Reifener neuerungsleute mit ihrem Fabrikat geschafft hatten, so richteten wir doch beträchtlichen Schaden an. Das Vertrackte an Trockenbatterien ist der Umstand, daß sie, mit Ausnahme ihrer Außenseite, eigentlich gar nicht trocken sind. Innen sind sie feucht, und diese Feuchtigkeit, das Elektrolyt, ist stark ätzend. Aus einer Vielzahl von Gründen, zu denen vor allem meine Sorg losigkeit und mangelnde Erfahrung gehörten, neigten unsere Batterien dazu, undicht zu werden, sobald sie benutzt wurden, und waren sehr rasch verbraucht. Das Leck war das gravierendste Übel. Schon eine ein zige undichte Batterie kann ein Transistor-Radiogerät ruinieren. Von den einheimischen Radiohändlern wur de das Etikett mit dem grünen Kreis und das Produkt, auf das es geklebt war, bald mit einem Bannfluch be legt. Es war häufig Gegenstand erbosten Hohngeläch ters und lautstark vorgebrachter Beschwerden. Es mußte etwas unternommen werden, und zwar schnell. Der Ruf des Namens Howell stand auf dem Spiel, und mein Selbstvertrauen hatte gelitten. Nach einer überaus unerfreulichen Unterredung mit Dr. Ha wa erhielt ich seine Zustimmung zur Rücknahme aller unverkauften Lagerbestände der Händler. Ich stoppte auch die Fertigung und holte die Materialgütekontrol len nach, die ich vor dem Anlaufen der Produktion vernachlässigt hatte. Diese Überprüfung betraf vor allem die Zinkbehälter. Sie wurden auf Schablonen geformt und waren nahtgeschweißt. Selbstverständlich verursachte fehlerhaftes Schweißen Lecks, aber das eigentliche Problem bildeten chemische Verunreini gungen. So waren beispielsweise Zinküberzüge, deren Qualität zu Dachdeckereizwecken ausreichen mochte, deswegen noch nicht ohne weiteres zur Verwendung in der Batterieherstellung geeignet. Schon in sehr kleinen Mengen erzeugten bestimmte Verunreinigungen che mische Reaktionen, sobald sie mit dem Elektrolyt in Berührung kamen. Die Folge war, daß das Zink durch
lässig wurde. Ebenso verhielt es sich mit dem Lötme tall, das auf den Nähten verwendet wurde. In Zukunft würden alle Materialien chemisch überprüft werden müssen, bevor wir sie dem Lieferanten abnahmen. Ich arbeitete eine Reihe von Standardtestverfahren für jedes Material aus. Als nächstes mußte ich jemanden finden, der die Tests durchführte. Wie nicht anders zu erwarten, waren gelernte Fachkräfte kaum aufzutrei ben. Ich wußte, daß ich keinen qualifizierten Chemiker bekommen würde; tatsächlich brauchte ich auch gar keinen. Die für die Vorarbeiten erforderlichen chemi schen Elementarkenntnisse hatte ich mir bereits ange eignet, und das Testen selbst war reine Routinearbeit; aber ich brauchte jemanden, der über eine ausrei chende Laborpraxis verfügte, um die Routineverfahren unter strikter Befolgung meiner Vorschriften gewis senhaft ausführen zu können. So kam ich dazu, Issa einzustellen. Er war Jordanier, Flüchtling aus dem Gebiet westlich des Jordans, und nach dem Krieg mit seiner Familie nach dem Norden gegangen, zunächst in das UNWRALager in Der’a und später zu Verwandten in Qatana. Er war Mitte Zwanzig und hatte das moslemitische Col lege in Amman, wo ihm eine gewisse Schulung auf dem Gebiet der anorganischen Chemie zuteil gewor den war, vorzeitig verlassen. Ausschlaggebend war für mich, daß er in seinem zweiten College-Jahr halbtags als Laborassistent gearbeitet hatte. Ich fand ihn durch die Vermittlung einer Unterabtei lung des Ministeriums, die ein technisches Ausbil dungsprogramm aufstellte oder aufzustellen versuch te. Issa hatte sich dort als graduierten Chemiker aus gegeben und um eine Anstellung als Instrukteur be worben. Da er keinerlei Unterlagen beibringen konnte, um seine angebliche wissenschaftliche Qualifikation nachzuweisen – er behauptete, sie seien verlorenge gangen, als er mit seiner Familie vor den Israelis floh –, setzte sich das Ministerium zwecks Rückfrage vor
sichtshalber mit Amman in Verbindung. Als die Wahr heit herauskam, verwies es ihn an mich. Der erste Eindruck, den man von ihm erhielt, war der eines ziemlich leidenschaftlichen jungen Mannes, der sich selber überaus ernst nahm und viel persönliche Würde hatte. Später stellte ich fest, daß er über eine rasche Auffassungsgabe verfügte, intelligent war und hart arbeitete. Die Tatsache, daß er, was seine angeb lichen Wissenschaftlichen Qualifikationen betraf, gelo gen hatte, hätte mich eigentlich gegen ihn einnehmen oder doch zumindest skeptisch machen sollen. Aber sie bewirkte weder das eine noch das andere. Er war schließlich ein Flüchtling; das mußte man in Rechnung stellen. Wenn er in seinem Eifer, voranzukommen und seine Intelligenz möglichst teuer zu verkaufen, zu weit gegangen war, nun, so konnte man ihm das nachse hen. Die Lüge hatte niemandem irgendeinen Schaden zugefügt. Als wir die Produktion wieder anlaufen ließen, gab ich ihm eine kleine Gehaltserhöhung und machte ihn ver antwortlich sowohl für die Bestellungen als auch für die laufende Überprüfung der für das Batterienprojekt bestimmten Rohmateriallieferungen. Damals schien mir das eine vernünftige Entscheidung zu sein. Bis zu jenem Nachmittag war mir die Möglichkeit, daß der gewissenhafte, fleißige Issa noch andere, weniger erfreuliche Charaktereigenschaften besitzen könnte, nie in den Sinn gekommen. Und wie schon erwähnt, hatte ich selbst besagtes erstes Warnzeichen – Tere sas Bericht über die Alkohollieferungen – nicht wirklich registriert. Natürlich war mir der Schluß, den ich sogleich daraus zog – daß nämlich Issa auf meine Kosten privatim eine offenbar umsatzstarke illegale Schnapsbrennerei be trieb –, alles andere als willkommen; aber bevor ich ihn nicht zur Rede gestellt hatte, konnte ich nichts unternehmen. Möglicherweise hatte er für alles eine durchaus glaubwürdige und harmlose Erklärung vor
zubringen. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wie sie lauten sollte, aber so lange konnte und würde die Sache Aufschub dulden müssen. Als ich an jenem Nachmittag ins Ministerium fuhr, hat te ich über erfreulichere Dinge nachzudenken; denn dies war ein Augenblick, auf den ich seit Monaten ge wartet hatte. Es war der Augenblick, wo Dr. Hawa sei ne Karten würde auf den Tisch legen müssen. Und wenn ich meine richtig ausspielte, würde das Batte rienprojekt bald nur noch eine unerfreuliche Erinne rung sein. Bevor ich nach Italien gereist war, hatte ich mit einer Darlegung der Finanzlage des Trockenbatte rien-Projekts vorsorglich den Boden bereitet. Diesem zutiefst deprimierenden Dokument hatte ich jedoch ein aufmunterndes kurzes Begleitschreiben des Inhalts beigefügt, daß ich hoffte, ihm bei meiner Rückkehr konkrete Vorschläge unterbreiten zu können, wie die verfahrene Situation gerettet werden könne. Da die Lage offensichtlich katastrophal war, glaubte ich, daß ihn diese Ankündigung guter Neuigkeiten et was milder stimmen würde. Dem Ertrinkenden ist es ziemlich gleichgültig, ob es sich bei der Rettungsleine, die man ihm zuwirft, um das erwartete Tau aus Hanf handelt oder um eines aus Nylon. Wenn es auch eine krasse Übertreibung wäre, Dr. Hawas seinerzeitige politische Schwierigkeiten mit denen eines Ertrinken den zu vergleichen, so war ihm der Atem doch zweifel los kürzer geworden, und zusätzliche Tragkraft mußte ihm hochwillkommen sein. Die ersten Worte, die er an mich richtete, nachdem der Kaffee gebracht worden war, ließen nur den Schluß zu, daß ich den Aufweichungsprozeß überzogen hatte. »Michael, Sie haben mich im Stich gelassen«, sagte er mit Trauermiene. So ging es nicht. In dieser mitleidheischenden Stim mung, die ich von einer oder zwei früheren Gelegen heiten her kannte, würde er IBM-Aktien nicht einmal
zum Nennwert gekauft haben. Ich hätte ihn mir in der kampferprobten Haltung des gestandenen PR-Kriegers gewünscht, blitzenden Auges nach Blößen des Ge gners ausspähend. Ich unternahm die erforderlichen Schritte. »Herr Minister, wir haben ein paar Fehler gemacht, die wir berichtigen können, das ist alles.« »Aber diese Zahlen, die Sie mir da zugeschickt ha ben!« Er hatte sie, von Zigarettenasche bestäubt, vor sich auf dem Tisch liegen. »Die Todesanzeige eines gescheiterten Experiments, das jetzt begraben und vergessen werden kann.« »Vergessen?« Das hatte seine Wirkung nicht verfehlt. »Vergessen von wem, wenn ich fragen darf? Von der Öffentlichkeit? Von der Presse?« »Nur von Ihnen und mir, Herr Minister. Für die Öffent lichkeit und die Presse gibt es da gar nichts zu verges sen. Das Batterienprojekt läuft weiter.« »Auf der Basis dieser Zahlen? Glauben Sie im Ernst, das Finanzministerium bewilligt Gelder für das Projekt, wenn diese miserable Bilanz alles ist, was wir vorwei sen können?« »Natürlich nicht. Aber wenn Sie sich noch an unsere allererste Unterhaltung über das Thema Trockenbatte rien erinnern können, werden Sie mir zugeben, Herr Minister, daß die Durchführbarkeit des Projekts immer zweifelhaft war. Was ich vorhabe, ist nichts weiter als die Berichtigung eines anfänglichen Fehlers.« »Welches Fehlers? Es sind so viele gemacht worden.« »Des Fehlers, Primärelemente fertigen zu wollen. Wir hätten Sekundärelemente fertigen sollen.« »Wovon reden Sie? Kommen Sie bitte zur Sache, Mi chael. Batterien sind Batterien.« »Mit Verlaub, Herr Minister, aber genau das ist es ja, worum es sich bei der ganzen Sache dreht. Sekundär elemente sind wiederaufladbare Sammelbatterien von der Art, wie sie in Autos und Bussen Verwendung fin den.«
»Aber – « »Bitte erlauben Sie mir, es Ihnen zu erklären, Herr Minister. Ich schlage vor, daß wir das Batterienprojekt weiterhin vorantreiben, aber die Produktion von Trok kenbatterien auslaufen lassen und zur Fertigung von Sammelbatterien übergehen.« »Aber das sind doch zwei gänzlich verschiedene Din ge!« »Das sind sie allerdings, aber Batterien werden beide genannt. Das ist der springende Punkt, auf den es ankommt. Wir sollten das angekündigte BatterienProjekt keinesfalls aufgeben, sondern es lediglich in eine Richtung lenken, die einträglicher zu sein ver spricht. Was nun diese Umstellung betrifft, so habe ich in Mailand Vorverhandlungen mit einer dortigen Firma geführt, die Automobilzubehör herstellt. Die Italiener sind bereit, uns erfahrene Techniker zu schicken, die unsere eigenen Leute ausbilden und uns dabei helfen wollen, eine effiziente Fabrik hier in unserem Land einzurichten, in der Sammelbatterien gefertigt werden können.« »Aber das erfordert ein neues Pilotprojekt.« »Nein, Herr Minister, diesmal nicht. Man kann diese Artikel nicht auf Basis einer limitierten Pilotproduktion fertigen. Das ist einer der Gründe für unseren derzei tigen Mißerfolg. Hier würde es sich von Anfang an um eine Produktion in vollem Umfang handeln. Das setzt eine Vereinbarung auf der Grundlage des geteilten Risikos zwischen der italienischen Firma und Ihrer Dienststelle voraus.« »Aber warum sollten die Italiener sich darauf einlas sen? Warum sollten sie uns helfen wollen? Was springt denn für sie dabei heraus?« Ich wußte, jetzt hatte ich ihn. »Sie haben gegenwärtig im Mittleren Osten keine Ab satzmöglichkeiten für ihre Produkte. Die Westdeut schen und die Engländer beherrschen den Markt weit gehend. Die Italiener suchten nach einem Ausweg und
kamen zu mir.« Das stimmte nicht ganz; ich meiner seits hatte mich an sie gewandt; aber andersherum klang es besser. »Ich riet ihnen, hier zu produzieren und den Vorteil der niedrigeren Arbeitslöhne und gün stigen VAR-Tarife wahrzunehmen.« »Aber dann wäre es ihr eigenes Produkt, das sie selber herstellen und verkaufen würden.« »Sie sind bereit, es hier unter unserem Cercle VertWarenzeichen herauszubringen.« Das gab den Ausschlag; aber natürlich strich er nicht sogleich die Flagge. Es galt erst noch, Zweifel am Wert der Fabrik für die syrische Wirtschaft auszuräumen. Die übliche Klage wurde angestimmt, daß alle Rohma terialien würden eingeführt werden müssen und daß Geld und die Bereitstellung billiger Arbeitskräfte wie eh und je alles sei, was dem armen Syrien abverlangt werde. Ich antwortete mit einer Gegenfrage. »Herr Minister, wann wird die neue Kunststoffabrik, die uns versprochen wurde, ihre Produktion aufneh men?« Die geplante Fabrik sollte ein Geschenk Rußlands an Syrien darstellen und von der DDR errichtet werden; von Rechts wegen durfte ich gar nichts davon wissen. Meine Indiskretion brachte ihn vorübergehend aus dem Konzept. »Warum fragen Sie?« »Die Batteriegehäuse könnten dort hergestellt wer den.« »Haben Sie für dieses Projekt schon einen Plan zu Pa pier gebracht? Zahlen, Kostenvoranschläge?« Ich öffnete meinen Aktenkoffer und überreichte ihm die gebundene Präsentation, die ich mit den Leuten in Mailand ausgearbeitet hatte. Es war ein ganz beachtli cher Wälzer, und ich konnte Dr. Hawa ansehen, daß ihn dessen Umfang und Gewicht nicht unbeeindruckt ließen. Er blätterte flüchtig darin herum, bevor er zu mir aufsah. »Was das Auslaufen unserer gegenwärtigen Produkti
on betrifft« sagte er nachdenklich, »falls das definitiv beschlossen werden sollte, muß die Kontinuität unter allen Umständen gewahrt bleiben, Michael. Wenn wir diesen revidierten Cercle-Vert-Plan befolgen, darf es keine abrupten Änderungen und keine Entlassungen geben. Die beiden Projekte müßten sich zeitlich über lagern.« »Ich verstehe, Herr Minister.« Er wollte damit sagen, daß der Presse oder dem Rundfunk keine Gelegenheit gegeben werden dürfe, die Story aufzugreifen, bevor wir die Risse nicht vergipst hatten. »Dann will ich mir diese Vorschläge zunächst einmal näher ansehen, und danach werden wir beide uns noch einmal ausführlich darüber zu unterhalten haben. Inzwischen muß die ganze Angelegenheit vertraulich behandelt werden. Es darf keine vorzeitigen Verlaut barungen geben.« »Nein, selbstverständlich nicht.« Es war zwar völlig in Ordnung, die Agence Howell durch Druckmittel dazu zu zwingen, ihr Geld auf ein unausgegorenes Projekt zu verschwenden, mit dem man sich bereits vor der Presse gebrüstet hatte; aber den Abschluß eines be achtenswerten Abkommens auf der Basis geteilter Risiken zwischen einer italienischen Firma und seiner Dienststelle bekanntzugeben, ohne es zuvor mit dem Handels- und dem Finanzministerium im einzelnen abzuklären, hieße Ärger und Unannehmlichkeiten aller Art vorsätzlich heraufbeschwören. Ich war mir jedoch ziemlich sicher, daß er grünes Licht für das Projekt erhalten würde, und konnte nur noch hoffen, daß er es möglichst bald erhielt. Je eher ich das Trockenbatteri en-Fiasko beenden konnte, desto besser. Dennoch war ich mit dem Verlauf, den die Dinge ge nommen hatte, vollauf zufrieden. In die Villa zurück gekehrt, berichtete ich Teresa eingehend über das Meeting, und zur Feier des Tages tranken wir eine Fla sche Champagner. Erst nach dem Abendessen, als wir schon im Bett la
gen, fiel mir Issa wieder ein. Wir hatten uns eine Fla sche Brandy ins Schlafzimmer mitgenommen, und als ich Teresa ein Glas einschenkte, brachte mir die Tat sache, daß es Alkohol war, Issas Order in Erinnerung. »Ich habe es schon einmal auszurechnen versucht«, sagte ich. »Zehn rottols Alkohol ergeben wieviel Li ter?« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was Alkohol wiegt. Über fünfzig Liter, nehme ich an. Kann man das Zeug trinken?« »Reinen Alkohol? Um Himmels willen, nein, das wür dest du nicht überleben. Was sich jedoch machen lie ße, wenn man fünfzig Liter davon hat, das wäre, ihn mit hundertfünfundzwanzig Liter Wasser zu verdünnen und mit etwas gebranntem Zucker zu versetzen, um dem Zeug Aroma zu geben. Dann hätte man mehr als zweihundert Flaschen vierzigprozentigen Whisky. Oder doch so etwas wie eine Art Whisky.« Ich brauchte ihr nicht erst zu erzählen, welcher Preis damit im Schwarzhandel zu erzielen wäre; ebendort deckten wir selber unseren Eigenbedarf an Alkoholika. Sie überlegte einen Augenblick lang. »Weißt du, Mi chael«, sagte sie dann, »Alkohol ist nicht das einzige teure Zeug, das Issa bestellt hat. Ich habe es dir nur gesagt, weil wir Zoll dafür zahlen mußten.« »Was sonst noch? Goldstaub?« »Quecksilber. Er hat mehrfach Quecksilber bestellt.« »Quecksilber?« »Vier Bestellungen, jede auf ein oke. Ich habe ihn ge fragt, was es damit auf sich hat, weil zwei davon als dringend bezeichnet waren und wir höhere Zustellge bühren zu zahlen hatten.« »Was hat er gesagt?« »Daß er mit galvanischen Quecksilberelementen expe rimentiert. Er sagte, die Amerikaner stellten davon schon eine Menge solcher Batterien her. Sie haben eine extra lange Lebensdauer.« Sie sah mich von der Seite her an. »Ich dachte, du wüßtest davon.«
»Hat er gesagt, daß ich davon wüßte?« »Nicht wörtlich. Aber er erweckte bei mir den Ein druck, als tätest du es.« »Nun, ich wußte es nicht.« Die Idiotie der ganzen Ge schichte empörte mich. »Quecksilberelemente, mein Gott! Wir können froh sein, wenn wir es fertigbekom men, die gebräuchliche Sorte herzustellen. Welche Art von Quecksilber hat er geordert, Quecksilberoxyd oder das Chlorid?« »Nur einfach Quecksilber, von der Sorte, wie es in Thermometern verwendet wird. Er sagte, daß es ein sehr schweres Metall und ein oke daher nicht viel sei.« Ich trank meinen Brandy aus und setzte mir die Brille auf. »Teresa, hast du diese Warenbegleitscheine noch hier?« »Ja, sie liegen im Büro.« Ich stieg aus dem Bett. Sie ging mit mir in das Büro hinüber und suchte aus der Ablage die Begleitscheine heraus. Ich brauchte etwa zwanzig Minuten, um sie alle durchzugehen und die Posten anzukreuzen, die nicht dort hätten stehen dürfen. Gegen Ende dieser zwanzig Minuten war ich nicht länger wegen des ver muteten Alkoholschmuggels besorgt. Aber ich war wütend und auch beunruhigt. Ich sah zu Teresa hinüber. Selbst nackt verstand sie es, als sie dort vor den Schiffsmodellen in den Glasvi trinen an ihrem Schreibtisch saß, businesslike auszu sehen. »Haben wir einen zweiten Schlüssel zum Lagerraum der Batteriefabrik?« »Ja, Michael.« »Würdest du ihn mir bitte holen?« »Jetzt?«
»Ja.« »Ist es etwas sehr Schlimmes?« »Ja. Ich glaube schon, daß es etwas wirklich sehr Schlimmes sein könnte«, sagte ich. »Aber ich denke nicht daran, eine schlaflose Nacht zu verbringen und
bis morgen abzuwarten, um es herauszufinden. Ich fahre jetzt in die Batteriefabrik und werde dort ein bißchen Inventur machen.« »Ich komme mit.« »Das ist nicht nötig.« »Ich fahre dich, wenn du willst.« Sie weiß, daß ich ungern nachts fahre. »Also gut.« Wir zogen uns schweigend an. Es war nach zehn, und das Hauspersonal dienstfrei und in seinen Unterkünf ten. Ich öffnete das Tor im Hof und schloß es wieder, nachdem Teresa den Wagen hinausgefahren hatte. Dann setzte ich mich neben sie, und wir fuhren los. Teresa hat die Angewohnheit, sich nach Art der Katho liken zu bekreuzigen, bevor sie den Wagen startet. Die Geste wird sehr rasch, fast beiläufig, ausgeführt – sie läßt einen spirituellen Sicherheitsgurt einrasten – und scheint ausgezeichnet zu funktionieren. Teresa hat nie einen Unfall gehabt oder auch nur einen Kratzer auf dem Kotflügel davongetragen. Auf syrischen Straßen und mit syrischen Fahrern überall um einen herum ist das eine bemerkenswerte Leistung. An diesem Abend jedoch – vielleicht, weil ich, und nicht der Hausdiener, das Tor öffnete und schloß – muß sie es wohl versäumt haben, ihre übliche Sicher heitsvorkehrung zu treffen. Ich weiß nicht, um wel chen Heiligen es sich handelt, dessen Beistand ihr die ses Sicherheitsabkommen garantiert, aber ich bin ge wiß, daß er – oder sie – nicht angerufen wurde. Wir legten die Strecke nicht nur unfallfrei, sondern auch in Rekordzeit zurück. Eine göttliche Instanz, der an unserem ferneren Wohl ergehen auch nur das geringste gelegen gewesen wä re, hätte uns sanft, aber unbeirrbar zu einer weichen Landung im nächsten Straßengraben verholfen. Die Batteriefabrik lag an der Straße nach Der’a, etwa zehn Kilometer südlich der Stadtgrenze. Während der französischen Mandatsherrschaft war in dem Bau eine
Distriktsgendarmerie stationiert gewesen. Als ich ihn übernahm, hatte er jahrelang leergestanden, und in nen und außen war alles, was abgeschraubt, losgeris sen und herausgebrochen werden konnte, entfernt und davongeschleppt worden. Übriggeblieben waren nur die betonierten Teile des Mauerwerks – die Latri ne, die Außenwände des alten Wachgebäudes und die hohe Mauer, die den gesamten Komplex umgab. In einem Land, wo Stehlen eine traditionelle Form des Broterwerbs darstellt, sind Mauern, über die man nicht so leicht hinwegklettern kann, ungemein nützlich. Ich entschied mich für das Objekt, teils weil die Regierung bereit war, es mir billig zu vermieten, teils aber auch wegen der Mauer. Auf dem von ihr umschlossenen Gelände hatte ich drei Werkstattschuppen errichten lassen. Das wiederhergerichtete alte Hauptgebäude beherbergte die Büroräume und das Laboratorium. Zwei Räume waren abgetrennt worden, die zur Lage rung der wertvolleren Rohmaterialien wie zum Beispiel der Zinkbleche dienten. Die Einfahrt zum Fabrikgelände versperrte eine große, mit Eisenstäben vergitterte Pforte; links davon befand sich ein mit einer Kette versehener Nebeneingang. Beide waren durch Vorhängeschlösser gesichert. Gleich hinter der Tür stand eine Bude, in der sich tagsüber der Aufseher und nachts ein Wachmann auf hielt. Jenseits der Bude erstreckte sich die Laderampe des Werkstattschuppens Nummer drei, auf der die fertiggestellten Batterien zum Abtransport gestapelt wurden. In jener Nacht schien der Mond, und daher konnte ich alles das in Umrissen schon von der Einfahrt aus er kennen. Was ich nicht zu entdecken vermochte, war dagegen irgendeine Spur von dem Wachmann, und in der Bude brannte kein Licht. Ich nahm an, daß er sei ne Runde machte. Da er angewiesen war, einen schweren Knüppel zu tragen, und ich keinerlei Wunsch verspürte, irrtümlich für einen Eindringling gehalten zu
werden, knipste ich meine Taschenlampe nicht aus, nachdem ich die Nebenpforte aufgeschlossen hatte. »Was ist mit dem Wagen?« fragte Teresa. »Laß ihn stehen. Wir bleiben nicht lange.« Ein weiterer Beweis göttlicher Indifferenz! Das Motor geräusch des Wagens hätte unsere Anwesenheit auf dem Fabrikgelände frühzeitiger angekündigt und es denen, die sich bereits dort aufhielten, ermöglicht, eine folgenreiche Konfrontation zu vermeiden. Es war mein Fehler. Das Haupttor war sehr schwer und so eingehängt, daß es selbsttätig zufiel, sobald man es geöffnet hatte und losließ. Ich hätte es in weitem Halbkreis aufstemmen und dann offenhalten müssen, während Teresa hindurchfuhr. Dabei würde ich mir die Hände beschmutzt und mein Schuhwerk womöglich Kratzer davongetragen haben. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Wir betraten das Fabrikgelände. Ich schloß die Neben pforte wieder ab, und wir gingen an der Laderampe vorbei auf den Weg zu, der zum Verwaltungsgebäude führte. Die Batteriefabrik war nicht gerade ein Hort peinlich ster Ordnung; und in diesem Teil des Geländes stellten herumliegende leere Behälter und Schlingen von ab gestreiften Ballendrähten Gefahren dar, auf die man achtgeben mußte. Ich hielt meinen Blick und den Strahl meiner Taschenlampe daher vor mich auf den Boden gerichtet. Es war Teresa, die mich darauf auf merksam machte, daß irgend etwas nicht stimmte. »Michael!« Ich sah mich um. Sie war stehengeblieben und blickte zum Verwaltungsgebäude hinüber. Ich schaute in die selbe Richtung. Im Laboratorium brannte Licht. Im ersten Augenblick glaubte ich, es müsse sich um die Taschenlampe des Wachmannes handeln, obgleich er den Verwaltungsbau nicht betreten sollte, es sei denn im Notfall, wie zum Beispiel bei Ausbruch eines Feuers. Als ich meinen Weg fortsetzte und meine Sicht
unbehinderter wurde, sah ich dann, daß im Laborato rium alle Lichter eingeschaltet waren. Und ich konnte Stimmen hören. Ich war stehengeblieben und starrte auf die erleuchte ten Fenster. Als ich weitergehen wollte, legte mir Te resa die Hand auf den Arm. »Michael«, sagte sie leise, »meinst du nicht, wir soll ten jetzt lieber umkehren und morgen wiederkom men?« »Und die Gelegenheit ungenutzt lassen, ihn auf fri scher Tat zu ertappen?« Ich war zu erzürnt, um mir klarzumachen, daß Teresa, da ich ihr nicht gesagt hatte, was ich inzwischen arg wöhnte, nicht wissen konnte, wovon ich redete. Sie dachte noch immer an illegale Schnapsbrenner, vier zigprozentigen Whisky und Schwarzhandel. Sie mußte glauben, wir seien zufällig Zeugen eines Saufgelages oder einer heimlichen Flaschenabfüllungs-Aktion ge worden – beides Veranstaltungen, die zu stören in keinem Falle ratsam war. »Michael, es ist doch sinnlos – «, begann sie; aber ich ging schon weiter, und sie folgte mir, ohne ihren Ein spruch geltend machen zu können. Das Gebäude war auf hohen Betonsockeln errichtet, die zwischen Fußboden und nackter Erde Raum ließen. Betonierte Stufen führten zu der überdachten Veranda hinauf, die sich über die ganze Länge des Gebäudes erstreckte. Die Geschäftsräume befanden sich rechter Hand des Eingangs, das Labor und die Lagerräume links davon. Die Fenster waren weder mit Glasscheiben noch mit Läden, sondern lediglich mit Drahtnetzen von der Art versehen, wie Fleischschränke älterer Bauart sie auf zuweisen pflegten, um größere Insekten fernzuhalten. Man konnte recht gut durch die Fenster hindurchsehen und weitgehend auch mitbekommen, was drinnen ge sprochen wurde. Issas Stimme war deutlich zu hören, als wir leise die Stufen hinaufstiegen.
»Zum Nitrieren«, sagte er, »muß die Salpetersäure rein sein und ein spezifisches Gewicht von eins komma-vier-zwei aufweisen. Ich habe euch gezeigt, wie wir das Hydrometer benutzen. Benutzt es stets gewissenhaft. Es darf nicht nachlässig gearbeitet wer den. Alles muß ganz genau stimmen. Für den reakti ven Prozeß, den ihr hier ablaufen seht, kommt nur fünfundneunzigprozentiger reiner Alkohol in Frage. Wieder benutzen wir das Hydrometer. Wie lautet das spezifische Gewicht von fünfundneunzigprozentigem Äthylalkohol?« Die Stimme eines jungen Mannes antwortete ihm. Ich war inzwischen auf der Veranda ein paar Schritte vor getreten und konnte in den Raum hineinsehen. Issa stand in seinem Laborkittel aus Drillich hinter ei nem der Labortische, jeder Zoll der junge Professor der Chemie. Seine Klasse, die mit gekreuzten Beinen vor ihm auf dem Boden saß oder hockte, bestand aus fünf jungen Burschen, Arabern mit gezückten Kugel schreibern und abgegriffenen Kladden mit Eselsohren. Ungemein gepflegt und adrett in Khaki-Buschhemd und frisch gebügelter Hose, räkelte sich auf Issas Schreibtischstuhl der Wachmann. Er hatte ein aufge schlagenes Buch auf dem Schoß, aber sein Blick war auf die Klasse gerichtet. »Sehr gut«, sagte Issa. Er sprach das jordanische Arabisch, benutzte aber technische Ausdrücke aus dem Englischen. »Paßt jetzt gut auf.« Er deutete auf einen Steinguttopf vor ihm auf dem Tisch, aus dem Dämpfe aufstiegen. »Die Reaktion ist nahezu abgeschlossen, und die Fäl lung hat eingesetzt.« Von dort, wo ich stand, konnte ich die Dämpfe rie chen. Es war nicht schwer zu erraten, was dort gleich ausgefällt sein würde. »Welcher Vorgang kommt als nächstes?« fragte Issa. Einer der jungen Männer sagte: »Die Filtration, Sir?« »Ganz recht, die Filtration.« Issa war ein geborener
Pädagoge, und er genoß seine Lehrerrolle ganz offen sichtlich. Während er weitertönte, mußte ich daran denken, daß er sich beim Ministerium um eine Stelle als Instrukteur beworben hatte, und wünschte mir, die Bürokraten hätten es mit der Überprüfung seines Qua lifikationsnachweises nicht gar so genau genommen. Warum mußte ausgerechnet ich derjenige sein, dem es zufiel, mit diesem kleinen Monster fertig zu wer den? Ich überlegte mir gerade, wie ich vorgehen sollte – ob es besser sei, wenn ich mich räusperte, bevor ich ein trat, oder ob ich die Tür ganz aufstoßen und die >Klasse< vor Schreck hochfahren lassen sollte –, als mir die beiden Männer dazwischenkamen. Ich roch sie, bevor ich sie hörte, und Teresa ging es genauso. Wir fuhren beide im gleichen Augenblick herum, und sie umklammerte meinen Arm. Dann sa hen wir die Karabiner in ihren Händen und erstarrten. Die Karabiner waren überaus sorgfältig gereinigt; aber die Männer, die sie in ihren Händen hielten, sahen in ihren verblichenen blauen kaffijebs aus wie Arbeiter einer Straßenbaukolonne. Sie waren mittleren Alters, lederhäutig, und grobschlächtig; nervös waren sie auch und überdies offenbar schießwütig. Die Karabiner in Bauchhöhe auf uns gerichtet, blieben sie in einigem Abstand vor uns stehen. Der ältere der beiden Männer deutete mit dem Karabinerlauf auf die Taschenlampe in meiner Hand. »Fallen lassen«, sagte er. »Wird’s bald.« Er hatte eine laute, rauhe Stimme und schadhafte Zähne. Ich gehorchte. Das Glas der Taschenlampe zersplitter te auf dem betonierten Boden. »Zurück! Zurück!« Wir wichen an die Wand zurück. Inzwischen war Issa, gefolgt von seiner Klasse, he rausgekommen, um zu sehen, was es gab. Sein Gesicht verriet beträchtliche Verwirrung, als er mich erkannte; aber bevor er noch irgend etwas sagen
konnte, begann der Mann mit den schadhaften Zähnen seinen Bericht zu erstatten. »Wir haben gesehen, wie sie sich heimlich anschlichen. Wir haben sie genau beobachtet. Sie haben gelauscht, spioniert. Der Mann hatte eine Taschenlampe. Sehen Sie, da ist sie.« Aus seinem Mund klang das Wort >Taschenlampe< im höchsten Grad bedenklich. Ich sagte: »Guten Abend, Issa.« Er versuchte zu lächeln. »Guten Abend, Sir. Guten Abend, Miss Malandra.« »Sie haben gelauscht, spioniert«, wiederholte Schwarzzahn beharrlich. »Stimmt. Das haben wir«, sagte ich. »Und jetzt gehen wir hinein.« Ich hatte mich bereits in Richtung Eingang gewandt, als der Mann mir mit dem Gewehrkolben einen wuch tigen Schlag in die Nierengegend versetzte. Ich verlor für Augenblicke das Bewußtsein und sackte in die Knie. Als ich aufstand, protestierte Teresa wütend, und Issa redete flüsternd auf die beiden Männer ein. Ich lehnte mich gegen die Wand und wartete darauf, daß der Schmerz nachließ. Schließlich befahl Issa der Klasse, auf der Veranda zurückzubleiben, und wir übrigen gin gen in das Laboratorium. Issa führte uns an, Teresa und ich folgten, und die bewaffneten Männer bildeten die Nachhut. Der Wachmann hatte sich nicht von Issas Schreib tischstuhl gerührt. Als wir eintraten, nickte er mir flüchtig zu, als habe er mich erwartet, wisse aber nicht mehr genau, wozu und weshalb. Es fiel mir auf, daß er sich sehr merkwürdig benahm; ich fragte mich, ob er vielleicht betrunken sei. Dann beschloß ich, den Wachmann vorerst zu ignorieren; mit ihm würde ich mich später befassen. »Alsdann, Issa«, sagte ich forsch, »lassen Sie mich Ihre Erklärung hören. Ich nehme doch an, Sie haben eine?«
Aber er hatte genügend Zeit gehabt, sich so weit zu fangen, daß er jetzt den Versuch machen konnte, sich durch dreistes Bluffen aus der Affäre zu ziehen. »Eine Erklärung wofür, Sir?« Er war ganz beleidigte Un schuld. »Wenn Sie, wie Sie selber sagen, gelauscht haben, werden Sie wissen, daß ich eine Klasse von Studenten in der Lehre der Chemie unterweise. Ich habe das Glück, den Vorteil einer höheren Schulbil dung zu genießen, und bin der Auffassung, daß es meine Pflicht ist, meine Kenntnisse, wann immer sich mir dazu Gelegenheit bietet, denen weiterzugeben, die nicht soviel Glück hatten. Daß ich das nur in meiner Freizeit tue, versteht sich. Wenn Sie meinen, ich hätte Sie um Erlaubnis bitten sollen, bevor ich das Labor nach Arbeitsschluß als Klassenzimmer benutze, dann bitte ich um Entschuldigung. Ich bin nicht auf die Idee gekommen, daß ein Mann wie Sie etwas dagegen ein zuwenden haben könnte.« Das klang wirklich ganz überzeugend. Hätte ich nicht jene Warenbegleitscheine überprüft und von dem Stoß mit dem Karabinerkolben nicht solche Schmerzen im Rücken gehabt, ich würde ihm womöglich geglaubt haben. »Und diese beiden Männer hinter mir?« fragte ich. »Haben Sie die ebenfalls in der Lehre der Chemie un terwiesen?« Er versuchte es zur Abwechslung mit einem beschwö renden Lächeln. »Es sind ungebildete Männer, Sir, ältere Männer aus dem Dorf, in dem meine Studenten wohnen. Sie sind mitgekommen, um dafür zu sorgen, daß die jungen Männer sich anständig aufführen.« »Und dazu brauchen sie Gewehre? Nein, Issa, erzäh len Sie mir keine Märchen. Sie haben Ihre Erklärung vorgebracht. Ich nehme sie Ihnen nicht ab.« Jähe Wut brach aus ihm hervor. »Nur weil ich lehren möchte – « Ich schnitt ihm das Wort ab. »Nein. Sondern weil Sie lügen. Sie unterweisen niemanden in der Lehre der
Chemie, wie Sie es so gewählt auszudrücken belieben. Was Sie hier veranstalten, das ist ein Bastelkurs zur Herstellung von Sprengstoffen. Mehr noch, Sie veran stalten ihn auf meine Kosten.« »Sie können versichert sein, Sir – « Er mochte sich noch immer nicht geschlagen geben. »Sparen Sie sich Ihre Beteuerungen, Issa. Ich weiß, wovon ich rede.« Ich deutete auf den Steinguttopf, der auf dem Tisch stand. »Diese Fällung, die Sie so liebevoll ankündigten, ist Knallquecksilber. Für wie viele Sprengkapseln hätte das gereicht? Hundert? Hundertfünfzig? Nein, Issa, es kann keine Rede davon sein, daß Sie anderen irgendwelche Vorteile zukom men lassen, die mit einer höheren Schulbildung ver bunden sind. Was Sie ihnen weitergeben, das sind Amateurrezepte zur Herstellung von Sprengkörpern.« »Meine Arbeit ist fachmännisch«, protestierte er wü tend. »Ich bin kein Amateur!« Ich hatte plötzlich das Gefühl, die Situation nicht son derlich gut zu meistern, jetzt, wo die Wahrheit heraus war, hätte er sich in der Defensive fühlen und versu chen müssen, Entschuldigungen vorzubringen, statt zu argumentieren. Ich schloß daraus, daß es die Anwe senheit der bewaffneten Männer war, die ihm Selbst vertrauen gab. »Die Qualität Ihrer Arbeit interessiert mich nicht«, bemerkte ich schneidend. »Entscheidend ist, daß Sie sie hier nicht mehr verrichten – überhaupt keine Ar beit, welcher Art auch immer. Sie sind mit sofortiger Wirkung entlassen. Sie und Ihre Bomben produzieren den Freunde können von Glück sagen, wenn ich die Polizei nicht verständige.« Zum erstenmal meldete sich der Wachmann zu Wort. »Aber warum wollen Sie die Polizei denn nicht ver ständigen, Mr. Howell? Wenn dieser Mann Sie bestoh len hat und zudem illegal Explosivkörper herstellt, ist es dann nicht Ihre Pflicht, sie zu verständigen?« Er hatte eine hohe, ziemlich dünne Stimme, aber es
war die Stimme eines gebildeten Mannes. Mir wurde plötzlich klar, wie wenig ich von ihm wußte, und daß ich, von einer einzigen Unterhaltung abgesehen, bei der ich ihm seine Anweisungen für den Wachdienst gegeben hatte, nie mit ihm gesprochen hatte. Es hatte sich keine Gelegenheit dazu ergeben. Ich sah ihn kalt an. »Ich habe >wenn ich die Polizei nicht verständige< gesagt. Falls ich beschließen sollte, das zu tun, werden Sie in der Anzeige selbstverständlich als Komplice na mentlich mit aufgeführt werden. Bringen Sie mich da zu also nicht in Versuchung, indem Sie mir erzählen, was meine Pflicht ist.« Er stand ganz langsam auf. Er war ein schlanker Mann etwa meines Alters, hatte eine ziemlich lange Nase, ein Bärtchen und faltige Wangen. »Dann sollte ich mich vielleicht doch vorstellen«, sagte er. Seine Selbstsicherheit irritierte mich. »Sie heißen Sa lah Yassin«, sagte ich, »und ich habe Sie vor einem halben Jahr als Nachtwächter eingestellt. Man sagte mir, Sie seien als Soldat infolge einer Kriegsverletzung dienstuntauglich geworden und hätten einen einwand freien Leumund. Offenkundig bin ich falsch informiert worden. Sie sind ebenfalls entlassen. Ich wünsche, daß Sie allesamt innerhalb von fünf Minuten das Fa briksgelände verlassen. Wer danach hier noch ange troffen wird, hält sich unbefugt auf regierungseigenem Gelände auf, und ich werde dann umgehend die Polizei rufen. Und jetzt legen Sie die Schlüssel auf den Tisch dort und machen Sie, daß Sie hinauskommen!« Der Wachmann blickte gequält drein. »Es ist ungehö rig, Mr. Howell, sich zu weigern, einen Mann anzuhö ren, der höflich angeboten hat, sich vorzustellen. Un gehörig und töricht.« Sein Blick wurde stechend, als er mir in die Augen starrte. »Mein Name ist Salah, das stimmt, aber Ghaled, nicht Yassin. Salah Ghaled. Ich bin sicher, Sie haben ihn schon gehört.« Teresa zuckte zusammen.
In mir lieferten sich Schock und Unglauben einen kur zen Kampf. Der Schock siegte. Ich muß ihn stumpfsinnig angeglotzt haben. Auf alle Fälle war un sere Konsternation offenkundig genug, um ihn mit Behagen zu erfüllen. Er nickte uns befriedigt zu.
3. Lewis Prescott 14. Mai Michael Howell hat uns über seine Abneigung gegen Journalisten nicht im Zweifel gelassen. Ich kann es ihm eigentlich nicht verdenken. Einige meiner europäi schen Kollegen haben ihm hart zugesetzt. Da er es jedoch für angezeigt hielt, Frank Edwards und mich von seinem kollektiven Verdammungsurteil auszu nehmen, wird er es mir hoffentlich nicht allzusehr ver argen, wenn ich darauf hinweise, daß er die Feindse ligkeit, mit der die Presse und das Fernsehen seine Rolle in der Ghaled-Affäre kommentiert haben, weit gehend selber heraufbeschworen hat. In seinem ängstlichen Bestreben, den Ruf seiner Firma – ganz zu schweigen von dem seines Vaters, seiner Mutter, seines Großvaters, seiner Schwestern, Miss Malandras und seiner Schwäger – zu wahren, hat er seinen eigenen Ruf geschädigt. Sich selber ließ er in den Interviews nicht genügend Gerechtigkeit widerfah ren. Er sagte entweder zu wenig oder, und das weit häufiger, viel zuviel; und immer klang es, als mache er Ausflüchte. Wenn ihm ein Reporter eine direkte Frage stellte – »Mr. Howell, wußten Sie, wozu diese Waffen eingesetzt werden sollten?« – und als Antwort darauf einen längeren Vortrag über, sagen wir, die Schwierigkeiten bei der Fertigung von Trockenbatteri en, die Gründe, weshalb die Agence Howell einen pa lästinensischen Flüchtling als Chemiker eingestellt hat te, oder die Probleme zu hören bekam, die sich aus der Tatsache ergaben, daß die Gelder der Agence Ho well blockiert waren, so lag für ihn der Schluß nahe, daß Mr. Howell etwas zu verbergen suche. Auch Mr. Howells allzu häufige Beteuerungen, er bemühe sich lediglich, ein möglichst vollständiges Bild zu vermit teln, das nicht nur die vordergründigen Zusammen
hänge, sondern auch die Hintergründe aufzeige, halfen da nicht viel. Journalisten neigen nun einmal zu der Überzeugung, sie seien, sofern ihnen nur die wesentli chen Fakten einer Story offen und unverblümt genannt werden, selber imstande, sich ein Bild zu machen. >Wortreiche Nebelwand< mag eine gemixte Metapher sein, aber was in dem Mann vorging, der sie zusam menmixt, kann ich gut verstehen. Ungeachtet dessen aber bin ich bereit, hier zu Proto koll zu geben, daß ich der Schilderung, die Michael Howell von seiner Rolle in der Ghaled-Affäre gibt, weitgehend Glauben schenke. Die Situation, in der er sich befand, war entsetzlich. Es ist leicht zu sagen – wie das einige seiner Kritiker getan haben –, in seiner Reaktion auf sie hätte er sich weniger von der Sorge um die eigene Sicherheit und die Wahrung seiner ge schäftlichen Interessen und stärker von den Geboten höherer moralischer Verpflichtungen leiten lassen sol len; aber das zu behaupten, heißt das Wesentliche außer acht lassen. In noch geringerer Kenntnis von Ghaleds Plänen und Absichten, als ich sie zu jenem Zeitpunkt hatte, tat er, was er tun zu müssen glaubte. Ihm Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen, ist unfair; er ahnte damals noch nichts von seiner Verantwor tung. Als sie ihm schließlich klar wurde, handelte er entsprechend. Töricht verhielt er sich in keinem Au genblick, und am Ende bewies er persönlichen Mut. Diejenigen, die über Mr. Howell den Stab brechen und seine Integrität bezweifeln, haben nie in seiner Haut gesteckt und können nicht beurteilen, mit wem er es zu tun gehabt hat. Sie sind Salah Ghaled nie begeg net. Ich bin ihm begegnet, und es war keine angenehme Erfahrung. Normalerweise empfinde ich den von mir interviewten Personen gegenüber keine sonderliche Zu- oder Abneigung. Es ist nicht meine Sache, zu ver teidigen oder zu richten; meine Aufgabe besteht darin, Informationen und – das hoffe ich wenigstens – auch
Einblicke zu erhalten, die ich anderen vermitteln kann. Aber Ghaled war mir in der Tat ausgesprochen un sympathisch. Ich will hier nicht das ganze Interview mit ihm im Wortlaut wiedergeben; vieles von dem, was gesagt wurde, war die übliche Partisanensender-Haßleier; aber die geraffte Fassung, die ich hier folgen lasse, enthält das Wesentliche. Ich gebe außerdem anhand der Notizen, die ich mir seinerzeit machte, die Unter haltungen wieder, die ich anschließend mit Miss Ham mad und Frank Edwards führte. Sie werfen ein be zeichnendes Licht sowohl auf Ghaleds Denkweise als auch auf meine Beurteilung seiner Absichten. Das Interview begann harmlos genug mit ein paar Fragen, die sich auf Ghaleds Jugendjahre und seine erste Zeit als Guerillaführer bezogen. Sie waren un wichtig, und ich kannte die Antworten bereits; aber ich habe es nicht gern, wenn Mikrophone eingeschaltet sind und Tonbänder laufen, während ich jemanden interviewe; das übt häufig eine hemmende Wirkung auf die interviewte Person aus. Bin ich jedoch ver pflichtet, diese Hilfsmittel zu benutzen, dann ist eine Reihe leicht beantwortbarer Fragen, die gleich zu Be ginn des Interviews gestellt wird, meiner Erfahrung nach am ehesten geeignet, den Gesprächspartner Mi krophon und Tonband vergessen zu lassen. Nach die ser vorbereitenden Arbeit fuhr ich fort: »Mr. Ghaled, Sie haben offenbar Ihr ganzes bisheriges Leben, seit Sie erwachsen sind, dem Kampf auf der palästinensischen Seite des arabisch-israelischen Kon flikts gewidmet.« »Des arabisch-zionistischen Konflikts, ja.« »Was Sie betrifft, wurde dieser Kampf größtenteils mit Guerillamethoden geführt.« »Nicht ausschließlich, aber größtenteils, ja.« »Und Sie haben auch dann noch weitergekämpft, als die Armeen Ägyptens, Jordaniens und Syriens die Feindseligkeiten einstellten?«
»Ja.« »Auch nachdem Frieden geschlossen war?« »Zwischen den arabischen Staaten und den Zionisten hat es niemals Frieden gegeben.« »Ohne Zweifel aber doch Perioden anhaltender Waf fenruhe, die friedlich waren – so friedlich immerhin, daß beispielsweise die jordanischen Bauern die Grenze überschreiten und ihre Produkte in Israel verkaufen konnten?« Meine Ahnungslosigkeit nötigte ihm ein schwaches Lächeln ab. »Gewiß hat es solche Perioden gegeben. Sie sprechen von den jordanischen Bauern, die ihre Erzeugnisse im sogenannten Israel verkaufen. Lassen Sie mich Ihnen sagen, daß es eine Zeit gegeben hat, in der auch ich diese Grenze häufig überschritten ha be. Aber in jeder fünften von den Grapefruits, die meine Esel zum Markt trugen, war eine Bombe ver steckt. Für uns Palästinenser, Mr. Prescott, ist ein Friede um jeden Preis niemals annehmbar gewesen. Mit oder ohne Unterstützung unserer Bundesgenossen in den arabischen Staaten haben wir, die FedaijinBewegung, immer weitergekämpft.« »Und was glauben Sie damit erreicht zu haben, Mr. Ghaled? Oder, anders gefragt: Was halten Sie für die wesentlichste Errungenschaft der FedaijinBewegung?« »Sie hat dafür gesorgt, daß die palästinensische Sache weder verloren noch aus Bequemlichkeit vergessen wurde.« »Sie sprechen von der palästinensischen Sache. Ich möchte da jedes Mißverständnis vermeiden. Was ge nau ist die palästinensische Sache aus Ihrer speziellen Sicht?« »Ich habe keine spezielle Sicht, Mr. Prescott. Meine Sicht deckt sich, was das betrifft, mit der Sicht Jassir Arafats oder Dr. George Habashs oder Kemal Adwans – und Kemal, ein Al-Fatah-Mann, ist Mitglied des Zen tralkomitees der PLO. Wir mögen hinsichtlich der Mittel
unterschiedlicher Auffassung sein, aber über den Zweck, über unser Endziel, herrscht Einigkeit.« Er erwähnte die Namen weiterer vormaliger Kampfge nossen aus den Reihen von Al Fatah und der Volks front für die Befreiung Palästinas, mit denen er sich über das Endziel einig wußte. Hätte ich nicht gerade kürzlich das Archivmaterial unseres Büros durchgese hen, wäre ich nie auf die Idee gekommen, daß dies die gleichen Männer waren, die er als »feige Hunde« be zeichnet hatte. »Wir fordern nur unser Recht«, schloß er stolz. »Könnten Sie sich etwas genauer ausdrücken, Mr. Ghaled? Was für ein Recht?« »Erstens die Beseitigung des zionistischen Staates. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich nicht die Be seitigung der Juden fordere, sondern nur die Beseiti gung oder Zerstückelung des künstlich geschaffenen zionistischen Staates. Zweitens die Rückkehr aller un serer palästinensischen Flüchtlinge in ihre Heimatge biete, auf ihre verlorenen Ländereien und Besitzungen. Drittens die Gründung eines palästinensisch arabischen Staates. Nicht mehr als das, aber auch nicht weniger.« »Alles oder nichts, Mr. Ghaled?« »Weniger würde auf nichts hinauslaufen.« »Aber hat nicht die Geschichte der letzten dreiund zwanzig Jahre bewiesen, daß diese kompromißlose Alles-oder-nichts-Haltung sich selbst aufhebt?« Die Übersetzung der Wendung »sich selbst aufhebt« war offenbar mit Schwierigkeiten verbunden. Ich wur de gebeten, die Frage anders zu stellen. »Hat die Alles-oder-nichts-Politik«, sagte ich, »soweit sie die palästinensische Sache betrifft, nicht versagt? Das >allesVerrat< in diesem Zusammenhang nicht nur ein anderes Wort für Uneinigkeit?« »Wozu mit Wörtern spielen, Mr. Prescott? Soeben noch forderten Sie mich auf, von Realitäten zu reden. Ich bin bereit, das zu tun.« »Ausgezeichnet. Hat das Palästinensische Aktions kommando bisher eine einigende oder eine spalteri sche Wirkung erzielt?« »Wie ich schon sagte, haben wir militanten palästinen sischen Freiheitskämpfer ein gemeinsames Ziel. Unse re Methoden, es zu erreichen, mögen verschieden sein. Das ist alles.« »Sie stimmen hinsichtlich des Zwecks überein, sind aber in bezug auf die Mittel nicht einig. Ich verstehe. Dann sollten wir uns vielleicht über die Vorzüge dieser Mittel unterhalten?« »Wir können über alles diskutieren.« »In europäischen Verkehrsmaschinen sind Bomben versteckt und zahlreiche Menschen getötet worden, die in ihrem Leben nie in Israel gewesen waren. Es haben Überfälle auf Flugzeuge und Entführungen stattgefunden, die ebenfalls Todesopfer forderten.«
»Aktionen der Volksfront für die Befreiung Palästinas.«
»Das ist mir bekannt. Aber billigen Sie diese Mittel?«
»Ich würde sie nicht benutzen. Aber ich mißbillige sie
nicht.«
»Sie billigen diese Morde an Fluggästen, an ahnungs
losen Unbeteiligten?«
»Solange wir in Palästina für unser Recht kämpfen,
gibt es keine Unbeteiligten.«
An dem Gusto, mit dem Miss Hammad das übersetzte,
merkte ich, daß dieser Ausspruch ihre uneinge
schränkte Zustimmung fand und von ihr für eine be
deutsame Feststellung gehalten wurde. »Wie würden
Sie Ihre bevorzugten Mittel beschreiben, Mr. Ghaled?«
»Meine Politik ist es, den Feind möglichst nahe an sei
ner eigenen Wohnstatt zu schlagen.«
»Bezieht sich das auf die PAK-Säuberungskampagne?«
»Das war eine Übergangsphase, eine Art Großreine
machen im Interesse aller, die der Befreiungsbewe
gung angehören.«
»Man hat Sie einen Exorzisten genannt, Mr. Ghaled.
Wie reagieren Sie auf eine derartige Beschuldigung?«
»Mit Schweigen und Verachtung. Die Leute, die solche
Anschuldigungen erheben, wissen nichts von meinen
Plänen.«
»Pläne, den Feind möglichst nahe an seiner Wohnstatt
zu schlagen?«
»Das sagte ich bereits.«
»Aber welchen Feind, Mr. Ghaled? Die jordanische
Regierung, das PLO-Zentralkomitee?«
»Das PAK hat nur einen Feind, den zionistischen Staat.
Das habe ich wiederholt erklärt.«
»Und Sie werden ihn vernichten?«
»Schlagen. Vernichtend schlagen.«
»Man hat einen Ausspruch von Ihnen zitiert, der be
sagte, daß die Briten sich auf ein Wunder verlassen
hätten, als sie darangingen, den Grundsätzen der Bal
four-Deklaration in Palästina Geltung zu verschaffen.
Meinen Sie nicht, daß Ihnen heute ein ganz ähnlicher
Vorwurf gemacht werden könnte?« »Ich verlasse mich auf Männer und auf die Wirkung von Sprengstoff, nicht auf Wunder.« »Aber es ist Israel, gegen das das PAK vorzugehen be absichtigt.« »Allerdings. Ich darf Sie daran erinnern, daß wir das Palästinensische Aktionskommando sind. Aktion, das ist es, was wir wollen, Mr. Prescott.« »Wann werden wir damit zu rechnen haben?« »Sie erwarten doch gewiß nicht von mir, daß ich Sie in unsere Pläne einweihe, damit sie dann veröffentlicht werden.« »Natürlich nicht. Aber wenn Sie auch erklärten, daß die von der Volksfront praktizierten Methoden nicht Ihre seien, so werden Sie doch nicht bestreiten, daß es sich dabei um Unternehmen spektakulärer Art han delt. Von Ihrem Standpunkt aus gesehen, müssen sie insofern als wichtig und zweckdienlich gelten, als sie die Welt an die palästinensische Sache gemahnen. Darf man vermuten, daß Ihre Aktionspläne geeignet sein werden, in ähnlicher Weise als Mahnung zu die nen?« »Ich sagte, daß wir die Zionisten schlagen werden, Mr. Prescott. Ist Ihre Frage damit nicht beantwortet?« In diesem Augenblick kündigte Miss Hammad an, daß sie das Band auswechseln müsse. Ich hätte ihr fast gesagt, sie könne sich die Mühe sparen, ich hätte oh nehin genug. Ich unterließ es, weil ich mir ziemlich sicher war, daß wir noch keine halbe Stunde lang gesprochen hatten und sie das Band nur auswechselte, um mich von ei ner bestimmten Richtung, in die meine Fragen zielten, abzubringen. Als das Band ausgewechselt war, fuhr ich fort: »Mr. Ghaled, als Sie sagten, das PAK beabsichtige, den zionistischen Staat zu besiegen, nahm ich – wie ich glaubte, mit gutem Grund – an, das sei bildlich ge meint gewesen. War diese Annahme irrig?«
»Gänzlich irrig.« »Sie hätten nichts dagegen, wenn ich das zitierte?« »Nicht das geringste.« »Ich will Sie selbstverständlich nicht ersuchen, mir genaue Zahlen zu nennen, aber darf man ein paar Angaben über die annähernde Stärke des PAK erwar ten?« »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht.« »Nicht einmal eine ungefähre Zahl, Mr. Ghaled? Mehr als tausend Mann? Weniger als tausend?« Frank Ed wards zufolge waren es weniger als dreihundert. »Nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt.« »Wie steht es mit den Aussichten, Bundesgenossen zu gewinnen?« »Die stellen sich mit den Erfolgen ein.« »Sobald die Niederlage Israels sich deutlich abzeich net?« »Sobald die Art und Weise, wie es vernichtet werden kann, erkannt und begriffen wird.« »Ich verstehe.« »Zeigen Sie mir einen festen Punkt, und ich bewege Ihnen die Welt. Haben Sie diesen Ausdruck nie gehört, Mr. Prescott?« Er starrte mich durchdringend an. »Ich glaube, dazu ist auch ein Hebel erforderlich, nicht nur ein fester Punkt.« »Seien Sie versichert, wir haben unseren Hebel.« Er schwieg einen Augenblick lang. »Haben Sie jemals erlebt, wie das Haus eines Mannes mitsamt allem Hab und Gut darin vor seinen eigenen Augen in die Luft gesprengt wurde?« »Ich bin in Kriegsgebieten unzählige Male Zeuge von üblen Ausschreitungen gegen das Hab und Gut von Menschen geworden, und von noch weit schlimmeren gegen die Menschen selber.« »Ich spreche nicht von Kriegsgebieten, Mr. Prescott, sondern von Gebieten, in denen sogenannter Friede herrscht. Eines Nachts, das ist jetzt etwa zwei Monate her, wurde in einem arabischen Dorf unweit von Haifa
ein Mann aus dem Schlaf geweckt. Es hatte an seiner Tür geklopft. Er ging und machte auf. Draußen stand sein Bruder, den er seit drei Jahren nicht mehr gese hen hatte. Der Bruder war einer meiner Leute und heimlich über die Grenze gekommen. Er bat um Un terkunft für eine Nacht. Das ist alles, worum er bat – um einen Platz zum Schlafen, sonst nichts. Die Bitte wurde ihm abgeschlagen. Der Bruder, dem das Haus gehörte, lebte in ständiger Furcht vor der zionistischen Polizei. Zitternd vor Angst bat er seinen Bruder fortzu gehen, und der Bruder, der seine Angst verstand, ging, ohne die Türschwelle überschritten zu haben. Traurig ist das, nicht wahr?« »Sehr.« »Aber was geschieht daraufhin? Der Bruder, dem das Haus gehört, hat nach dem zionistischen Gesetz die Pflicht, zur Polizei zu gehen und den Vorfall zu melden, zu melden, daß sein Bruder, der Fedaijin ist, da war und sich vermutlich noch in dem betreffenden Gebiet aufhält, damit nach ihm gefahndet und er ergriffen werden kann. Das tun, seinem Bruder antun, das kann er nicht, und so begeht er das Verbrechen, den Vorfall zu verschweigen. Aber ein Nachbar hat gehört und gesehen, was geschehen ist, und geht zur Polizei. Der Bruder, der geschwiegen hat, wird verhaftet und der Beherbergung und Unterstützung eines derer, die für die Freiheit kämpfen, für schuldig erklärt. Der Urteils spruch lautet, daß sein Haus dem Erdboden gleichge macht werden soll, und er wird mit seiner Frau und seinen Kindern hinausgeführt, um der Vollstreckung des Urteils zwangsweise beizuwohnen. Dann erschei nen die zionistischen Soldaten und bringen die Sprengladungen an. Und dann wird vor seinen Augen und vor denen seiner Familie alles, was er besitzt, in die Luft gejagt. Was halten Sie von diesem Vorgehen, Mr. Prescott?« »In einigen Ländern, die ich kenne, wäre der Mann erschossen worden, Mr. Ghaled.«
»Besser, ihn zu erschießen, als zu vernichten, was sein Leben ausmacht.« »Ich könnte mir vorstellen, daß seine Frau und seine Kinder da möglicherweise anderer Meinung sind. Im übrigen herrscht zwischen Israel und seinen Nachbarn, worauf Sie vorhin selber hingewiesen haben, Kriegszu stand. Ich nehme an, der Mann ist nicht über die Grenze gegangen, bloß um seiner Familie einen klei nen Besuch abzustatten.« »Er war Kurier, das ist alles.« »Wann ist dieses Urteil vollstreckt worden?« »Vor drei Wochen.« »Wie heißt das Dorf?« »Majd el-Krum. Aber ich erwähne dieses Vorkommnis nicht, weil es etwa ein Einzel- oder Sonderfall wäre, Mr. Prescott, sondern um Ihnen klarzumachen, wie Araber unter der zionistischen Polizeidiktatur leben müssen.« Er griff in die Innentasche seines Schaffell mantels. »Ich werde Ihnen etwas zeigen.« Er zog eine dicke Lederbrieftasche hervor, der er ein Bündel Pho tos entnahm. Am Format der Abzüge und an der Art, wie ihre Rän der beschnitten waren, konnte ich sehen, daß sie mit einer alten Schwarz-weiß-Polaroidkamera gemacht worden waren. Es handelte sich um zehn bis zwölf Abzüge, die in Plastikhüllen steckten. Ghaled sah sie durch und drückte mir dann das ganze Bündel in die Hand. »Nehmen Sie sie, Mr. Prescott. Sehen Sie sich die ge nau an!« Im ersten Augenblick ließ mich sein Eifer unsinnigerweise an den einsamen Mann auf dem lan gen Flug denken, der sein Heimweh mit einem teilen will. »Sehen Sie, und das hier ist ein Schnappschuß aus dem letzten Sommer, als wir alle zusammen an den See hinaufgefahren waren.« Nur daß dies keine Familienphotos waren. Auf dem obersten war eine junge Frau zu sehen. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten; sie war tot.
Sie lag auf einem blutgetränkten Streifen Erde am Fuß einer Betonmauer. Der Schnitt am Hals war tief und klaffend; man konnte die durchtrennten Enden der Venen und Arterien sehen. Ihr Rock war über die Hüf ten hinaufgestreift, und ihre Schenkel und ihr Bauch waren voller Stichwunden. Ghaled sagte etwas, und Miss Hammad übersetzte es. »Sehen Sie genau hin, Mr. Prescott, sehen Sie genau hin.« Ich schob das oberste Bild zur Seite und betrachtete das nächste. Es war das Photo eines toten Mannes. Er war bis auf ein zerrissenes Hemd unbekleidet, man hatte ihm die Genitalien abgeschnitten. Das nächste Bild zeigte ein Kind von etwa zehn Jahren. Ich sah mir die restlichen Bilder an. Die bei einem Tod durch Gewalt eingenommenen Hal tungen variieren nur wenig. Wenn die Ursache plötz lich war, ist der Eindruck in der Regel der von einer zerrissenen Puppe, wenngleich die spastischen Mus kelzuckungen die Beine in zuweilen befremdlicher Weise erstarren lassen können; tritt der Tod weniger plötzlich ein, sind die Knie häufig zu embryonaler Stel lung angezogen und die Arme verschränkt; ein von Napalm verbrannter Mensch wird zu einem in Ton ge brannten Bildnis eines zwergenhaften Boxers mit kampfbereit erhobenen Fäusten. Unter den abgebilde ten Leichen befanden sich jedoch keine Fälle, die durch Verbrennungen zu Tode gekommen waren; alle Opfer waren erstochen, aufgeschlitzt oder zerstückelt worden. Zwei oder drei Leichen – solche von Kindern – waren offensichtlich – sei es für den Photographen, sei es von ihm – umarrangiert und zu Stellungen verrenkt worden, die geeignet waren, die Dramatik des Todes kampfes noch eindringlicher zu illustrieren. Im Krieg ist es nicht nur möglich, sondern auch nötig und ratsam, sich an Greuel zu gewöhnen. Woran ich mich nie wirklich habe gewöhnen können, das ist der Mann, der Abbildungen davon sammelt und aufbe
wahrt. Ghaleds Sammlung diente natürlich propagan distischen Zwecken, aber die Abzüge waren schon vielfach befingert gewesen, bevor sie in PlastikSchutzhüllen gesteckt worden waren. Zuletzt hatte ich eine Kollektion dieser Art bei einem Leutnant der Spe cial Forces in Vietnam gesehen. Er führte sie ständig mit sich herum, weil sie ihn, wie er behauptete, an alles das gemahnte, wogegen er kämpfte. Ich glaubte es ihm nicht. Er behielt die Sammlung, weil er seine Freude daran hatte. Der britische Polizeibeamte in Malaya, der so besonders stolz auf ein Photo von sich war, das ihn, die Flinte in der Hand und einen Fuß weidmännisch auf den aufgeschlitzten und ausgewei deten Leichnam eines chinesischen Freiheitskämpfers gestellt, im Dschungel zeigte, mutete demgegenüber ehrlicher an. Auf dem Bild grinste er stolz, und er hat te stolz gegrinst, als er es mir zeigte. Ich reichte Gha led die Photos zurück. »Nun, Mr. Prescott?« »Nun was, Mr. Ghaled? Es ist nicht das erstemal, daß ich solche Photos zu sehen bekomme. Was sollen die se Leichen beweisen?« »Das waren arabische Dorfbewohner, die von zionisti schen Soldaten ermordet und verstümmelt worden sind.« »Das sagen Sie, Mr. Ghaled. Ich sage, daß es ebenso gut arabische Dorfbewohner sein können, die von an deren Arabern oder auch israelische Dorfbewohner, die von den Fedaijin umgebracht worden sind. Wo wurden die Bilder aufgenommen? Von wem wurden sie aufgenommen? Wurden sie alle am gleichen Ort zum gleichen Zeitpunkt aufgenommen oder an verschiede nen Orten und zu verschiedenen Zeiten? Wer war der Photograph, oder waren es mehrere Photographen? Welchen Wert haben diese Bilder als Beweismaterial?« »Diese Bilder wurden aufgenommen auf meinen Befehl und unter meiner persönlichen Aufsicht nach einem Überfall, einem typischen Überfall drusischer Kom
mandoverräter der zionistischen Armee auf ein Flücht lingsdorf in Jordanien.« »Bei diesem typischen Kommandoüberfall wurden kei ne Schußwaffen verwendet?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Keine der Verwundungen, die auf diesen Photos ge zeigt werden, rührt von einer Kugel her. Das erscheint mir merkwürdig bei einem Kommandoüberfall.« »Die verschwenden keine Kugeln an wehrlose Frauen und Kinder, Krüppel und Greise.« »Ich muß Ihnen selbstverständlich abnehmen, was Sie sagen.« Tatsächlich war das einzige, was ich ihm danach ab nahm, seine Behauptung, die Aufnahmen persönlich überwacht zu haben; aber es erschien mir sinnlos, die Diskussion darüber fortzusetzen. Ich hatte genug von ihm, und es schien der richtige Augenblick zu sein, das Interview zu beenden. »Eine oder zwei abschließende Fragen noch, Mr. Gha led. Nehmen Sie die Tatsache, daß so viele Ihrer palä stinensischen Genossen, Ihrer Mitstreiter in der Parti sanenbewegung, Ihren Auffassungen und Ihrem Vor gehen ganz entschieden ablehnend gegenüberstehen, jemals zum Anlaß, sie Ihrerseits in Frage zu stellen und zu überprüfen?« »Natürlich. Selbsterforschung und Selbstkritik sind immer unerläßlich. Was den Dissens betrifft, darf ich daran erinnern, daß viele der engsten Mitarbeiter Le nins entschieden anderer Meinung waren als er. Aber wer hat am Ende recht behalten?« »Sehen Sie sich selber als den Lenin der revolutionä ren palästinensischen Guerillabewegung?« »Ich sehe mich selbst als den Ghaled des Palästinensi schen Aktionskommandos.« »Und zweifellos wird Ihnen die Zeit schließlich recht geben. Ich verstehe. Danke, Mr. Ghaled. Sie waren sehr geduldig und sehr entgegenkommend.« Als Miss Hammad das übersetzt hatte, sah sie mich
fragend an. »Das wäre alles«, sagte ich. »Interview zwischen Salah Ghaled und Lewis Prescott beendet«, sagte sie und schaltete die Tonbandgeräte aus. Während sie sie wieder abbaute, nahm Ghaled die Arrakflasche und füllte nochmals die Gläser. Er schien von dem Verlauf des Interviews sehr ange tan zu sein, und steckte sich mit dem Air eines Man nes, der soeben einen günstigen Handel abgeschlos sen hat, eine neue Zigarre an. Hätte er besser Eng lisch gesprochen, würde er vermutlich versucht haben, mir meinerseits eine Äußerung der Befriedigung zu entlocken. Er nahm ein Tonbandgerät und die beiden Kassetten an sich, die Miss Hammad ihm aushändigte. Während sie ihm zeigte, wie das Gerät funktionierte, schlürfte ich den Arrak und fragte mich, wie ich wieder nach Beirut zurückkäme. Die Aussicht, von Miss Hammad in der Dunkelheit über diese Bergstraße hinuntergefah ren zu werden, war alles andere als angenehm. Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Nach der förmlichen Verabschiedung und dem stolpernden Abstieg zum Volkswagen unterrichtete sie mich über die Situation. Eine sofortige Rückfahrt nach Beirut kam nicht in Frage. Während der Dunkelheit war es nie mandem gestattet, die militärische Zone zu passieren. Wir mußten im Chalet abwarten, bis es hell wurde. Dort trank ich einen Scotch, um den Arrakgeschmack wegzuspülen, und Miss Hammad begann mich nach den >Eindrücken< zu befragen, die ich von Ghaled bekommen hatte. Ich hatte das erwartet und war darauf vorbereitet. »Ehrlich gesagt«, erklärte ich, »ich bin enttäuscht.« »Enttäuscht!« »Sie sind Journalistin, Melanie, Sie sollten wissen, daß aus dem, was er von sich gegeben hat, unmöglich eine Story zu machen ist.« »Keine Story!« Sie war fassungslos.
»Melanie, lassen Sie Ihr persönliches Interesse an dem Mann und Ihre Sympathie für die Sache doch einmal beiseite. Sehen Sie es vom professionellen Standpunkt aus. Ghaled ist aus der Generallinie der Palästinensischen Befreiungsbewegung ausgeschert, als er das PAK gründete und die PLO und Al Fatah öf fentlich brandmarkte. Die Leute von der Volksfront haben ihn abgeschrieben. Er ist jetzt bloß noch ein besserer Gangster und immerhin noch so weit bei Verstand, daß er das weiß. Deswegen versucht er sich mit seinem unsinnigen Gefasel, Israel im Alleingang vernichten zu wollen, den Rückweg in den Kreis seiner ehemaligen Mitstreiter freizureden.« »Das hat er nicht gesagt.« Sie war jetzt ehrlich entrü stet. »Er hat von >vernichtend schlagen< gesprochen, nicht von >vernichtenvernichten< gesagt. Das Wort, das Ghaled benutzt hat, war >vernichtend schlagenfesten Punkt< fände, könnte er die Welt bewegen. Lassen wir das, Melanie.« Ich gähnte. Ich wollte nicht, daß ihr bewußt wurde, wie weit sie die Katze bereits aus dem Sack gelassen hatte, und sorgte deswegen dafür, daß die Unterhaltung nicht an diesem Punkt endete. »Eines habe ich nicht behalten«, fuhr ich, ein Gähnen unterdrückend, fort. »Wie buchstabiert man den Na men des Dorfs, das Ghaled erwähnte, dasjenige, das in der Nähe von Haifa liegt? Majd el – irgendwas oder so ähnlich?« »Majd el-Krum.« Sie buchstabierte es mir vor. »Aber ich dachte, Sie meinten, das gäbe keine Story her?« »Das glaube ich auch nicht, jedenfalls keine für mich. Aber die Bänder werden ohnedies abgeschrieben. Da können wir den Namen ebensogut gleich richtig buch stabieren.« Ich nahm noch einen Drink und legte mich für ein paar Stunden in einem Gästezimmer schlafen. Miss Ham mad fuhr mich rechtzeitig zu einem späten Frühstück nach Beirut zurück. Nachdem ich geduscht und mich umgekleidet hatte, ging ich in das Nachrichtenbüro. Frank Edwards war da und sah mich erwartungsvoll an.
»Wie ist es gelaufen, Lew?« Ich schilderte ihm, wie sich die Zusammenkunft abge spielt hatte, und übergab ihm meine beiden Kassetten. »Das meiste ist drauf«, sagte ich. »Ich hätte da eine Sache, die ich nachprüfen möchte, wenn das von hier aus möglich ist. Vor etwa drei Wochen hat es in Israel in einem Dorf namens Majd el-Krum in der Nähe von Haifa einen Zwischenfall gegeben. Ein Araber wurde verurteilt, weil er die Polizei nicht über einen Besuch seines Bruders informiert hatte, der Mitglied des PAK ist. Wird in der israelischen Presse über dergleichen berichtet?« »Zuweilen schon. Wir bekommen die israelischen Blät ter per Luftpost über Zypern. Vor drei Wochen, sagten Sie?« »So ungefähr.« Er fand eine Meldung in der englischsprachigen Jeru
salem Post. »Da ist es ja. Der Fall wurde vor dem Distriktsgericht in Haifa verhandelt. Der Angeklagte Ali gab seinem Bruder ein Glas Wasser und schickte ihn dann fort.« »Und dafür sprengten die Israelis sein Haus in die Luft?« »Wie kommen Sie denn auf so etwas? Er wurde zu drei Monaten Gefängnis verurteilt und die Strafe an schließend vom Richter ausgesetzt. Ali verließ das Ge richtsgebäude unter den Hochrufen der Leute aus sei nem Dorf als freier Mann.« »Und was ist mit dem PAK-Kämpfer passiert?« »Man hat ihn gefaßt. Er war es übrigens gewesen, der die Polizei von seinem Besuch bei seinem Bruder Ali verständigt hatte. Reizendes Bürschchen, das. Er wird dem Gericht in Kürze vorgeführt. Seine Strafe dürfte der Richter schwerlich suspendieren.« »Was wird er bekommen?« »Acht bis zehn Jahre. Er war bewaffnet, als er gefaßt wurde, deshalb.« Er nahm die Kassetten zur Hand. »Ich werde veranlassen, daß die Bänder gleich abge
schrieben werden.« »Damit hat es keine Eile, Frank«, sagte ich. »Ich schreibe jetzt ohnehin noch keine Story über Ghaled.« »Keine Story?« »Noch nicht. Sie wollten doch wissen, was er vorhat. In dieser Aufzeichnung werden Sie einiges darüber zu hören bekommen, aber ich kann es Ihnen in drei Wor ten sagen. Er hat sich in den Kopf gesetzt, den Staat Israel zu schlagen. Nichts Geringeres als das.« »Das wollen sie alle.« »Er meint das ganz konkret. Ich zitiere: >Zeigen Sie mir einen festen Punkt, und ich bewege Ihnen die Welt.< Nun, er behauptet, den festen Punkt entdeckt zu haben. Übrigens war er es, der mir erzählte, daß die Polizei das Haus von diesem Ali gesprengt habe. Wahrscheinlich dachte er, ich würde mir die Mühe spa ren, das nachzuprüfen, oder keine Möglichkeit dazu haben. Dumm von ihm, und auch ein bißchen merk würdig, denn wie ein Dummkopf kam er mir nicht vor, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht dumm. Sehr ver schwiegen. Eine Menge vieldeutiges Gerede über seine Pläne, aber nichts Konkretes. Aus La Hammad habe ich dann anschließend schon etwas mehr herausbe kommen.« »Und was war das?« Ich sagte es ihm. »Was schließen Sie daraus?« »Ich habe das Gefühl, sie weiß weniger, als sie zu wis sen glaubt«, sagte ich. »All das Zeugs über den inne ren Druck, unter dem der Staat Israel steht, über zer platzte Luftballons und die Aushöhlung des Zusam menhalts durch von gegenseitigem Haß erfüllte Min derheiten ist nichts weiter als ihr privates Phantasie produkt. Ich möchte annehmen, daß Ghaled tatsäch lich einen Aktionsplan hat, der einen Überfall auf ir gendein Touristenzentrum auf israelischem Territorium vorsieht. Mit >Israel schlagen< meint er, glaube ich, lediglich, daß Art und Ort des angegriffenen Ziels so
fortige israelische Vergeltungsmaßnahmen erschweren oder unmöglich machen würden. Ich vermute, daß der feste Punkt, von dem er faselt, nichts anderes als die Wehrlosigkeit ahnungsloser Passanten – Besucher und Touristen – ist, denen gegenüber er eine totale Gleichgültigkeit an den Tag legt. >Solange wir in Palä stina für unser Recht kämpfen, gibt es keine Unbetei ligten.< Er genoß es richtiggehend, das anbringen zu können. Worauf es ihm ankommt, das ist, scheint mir, eine politische Aufwertung. Wenn – ein sehr großes Wenn – ihm der Beweis gelingt, daß das PAK auf israe lischem Boden ungestraft zuschlagen kann, muß Kairo ihn doch wieder ernst nehmen, nicht wahr?« Er nickte. »Irgend etwas Effektvolles, und das mög lichst weit innerhalb Israels, ja. Das würde ihm sicher lich Auftrieb geben. Wenn er heil davonkommt – was, wie Sie schon sagten, außerordentlich fraglich ist – und nicht wie eine Wanze zerquetscht wird.« Er grin ste. »Mir ist gerade klargeworden, warum er Ihnen diese Lügengeschichte über den Majdel-Krum-Fall auf getischt hat.« »Warum?« »Weil er Ihnen damit imponieren wollte, daß PAKMänner in der Gegend von Haifa operieren.« »Aber warum diese Lügengeschichte?« »Wenn er Ihnen über den israelischen Richter, der die Strafe ausgesetzt hat, die Wahrheit erzählt hätte – würden Sie sich dann die Mühe genommen und die Story überprüft haben? Hätten Sie die Geschichte nicht einfach vergessen?« »Wahrscheinlich. Aber warum will er meine Aufmerk samkeit auf die Gegend um Haifa lenken?« »Ich vermute, weil das Unternehmen, das er plant, dort nicht stattfindet. Er wollte Sie von der Fährte ab lenken.« »Für mein Gefühl ist das aber sehr weit hergeholt.« »Mag sein, aber so arbeiten die Gehirne dieser Bur schen nun einmal. Lew, ich glaube, Sie gehen an die
Sache falsch heran. Ich meine, Sie sollten doch schon so etwas wie einen Bericht darüber schreiben. PAKFührer Salah Ghaled kündigt in persönlichem Inter view neue Aktionen gegen Israel an. Irgend etwas in der Art. Porträt eines Terroristen. Was ist es, was sol che Männer antreibt?« »Das liefe praktisch auf genau das hinaus, was Ham mad will: dem Helden Auftrieb verschaffen.« »Ich glaube kaum, daß sie Ihren Bericht als Auftrieb ansehen würde.« »Ich habe ihn ihr gegenüber mit einem herunterge kommenen Preisboxer verglichen, der sich noch immer einbildet, es gäbe ein Comeback für ihn. Ich glaube, daß ich das richtig sehe. Wenn er – wiederum das große – Wenn – wahr macht, was er ankündigt, wird das eine Story geben. Bis dahin wäre es, jedenfalls was mich betrifft, reine Zeitverschwendung, auch nur eine Zeile über ihn zu Papier zu bringen. Bloßes Maul heldentum, weiter nichts.« Darin sollte ich mich natürlich getäuscht haben; und das in ganz unentschuldbarer Weise, denn ich hatte mich in meinem Urteil von meiner persönlichen Abnei gung gegen Ghaled leiten lassen.
4. Michael Howell 16. und 17. Mai Ich begreife nicht recht, warum Lewis Prescott eine derart spontane Abneigung gegen Ghaled gefaßt ha ben sollte. Mir scheint, der Mann hat sich bei dem In terview von seiner besten Seite gezeigt. Prescott zu folge hat er sogar gelächelt. Gänzlich anders spielte sich die Geschichte vierund zwanzig Stunden später mit Teresa und mir ab. Kein wärmender Arrak für uns; keine Aufforderung, Platz zu nehmen, keine Höflichkeit. Statt dessen saß er in mei nem Bürosessel, eine Flasche von meinem besten Brandy vor sich auf dem Schreibtisch, und stierte uns, die wir vor ihm standen, finster an. Er wußte, daß wir Angst vor ihm hatten. Die Bürotür stand offen, und die beiden bewaffneten Männer hielten Wache davor. Aus dem Labor drang Issas Stimme herüber, als er seine unterbrochene Vor lesung fortsetzte. Er war jetzt bei der Filtrierung ange langt und erklärte seiner Klasse, wie man das Knall quecksilber auf einer Glasplatte austrocknen läßt. Fortbildungskurse für die Jugend dürften nicht abge brochen werden, hatte Ghaled gesagt. Er nahm einen Schluck von meinem Brandy, schmet terte die Flasche auf meinen Tisch und deutete mit dem Finger auf mich. »Sie werden jetzt Fragen beant worten. Erstens, warum sind Sie heute abend hier? Wer oder was hat Sie hergeschickt?« »Ich bin hergekommen, um mir hinsichtlich eines Ver dachts Gewißheit zu verschaffen.« »Was für ein Verdacht war das?« »Daß Issa tun könnte, was er in der Tat tut – Spreng stoff herstellen.« »Wer hat Ihnen das gesagt?« »Das hat mir niemand gesagt. Ich habe es vermutet.«
Er beugte sich über meinen Tisch hinweg vor. »Ich kann mir denken, daß Sie im Augenblick ein bißchen durcheinander sind. Der dumme Nachtwächter erweist sich als nicht gar so dumm, als jemand, der Anwei sungen gibt, statt sie entgegenzunehmen. Ich bin durchaus bereit, dem Rechnung zu tragen, aber stel len Sie meine Geduld nicht auf eine allzu harte Probe. Sie werden mir wahrheitsgemäß antworten, und das umgehend, wenn ich bitten darf. Keine Tricks, keine Ausflüchte, Mr. Howell. Ich frage nochmals. Wer hat es Ihnen gesagt?« »Ich habe Ihnen bereits geantwortet. Ich bin selber daraufgekommen.« »Sie erwarten von mir, daß ich das glaube?« »Ich kenne mich in meinem Geschäft aus, Mr. Ghaled. Ich weiß, welche Chemikalien im Labor benötigt wer den, und ich weiß, welche nicht benötigt werden. Au ßerdem bin ich noch imstande, einen Warenbegleit schein zu lesen.« »Die Warenbegleitscheine für die Chemikalien sind jedesmal vernichtet worden.« Teresa meldete sich zu Wort. »Ich habe Beirut um Kopien gebeten«, sagte sie. »Warum?« fuhr er sie an. »Wer hat Sie angewiesen, das zu tun?« Sie war jetzt ganz ruhig, viel ruhiger als ich. »Waren begleitscheine kann man vernichten, aber Rechnungen müssen beglichen werden. Diese Rechnungen waren zu hoch. Ich wollte wissen, warum. Dann habe ich die Duplikate der Warenbegleitscheine Mr. Howell ge zeigt.« Ghaled trug einen rosa gemusterten baumwollenen Kaffijeh. Er strich ihn sich aus dem Gesicht und lehnte sich im Sessel zurück. Sein Blick wanderte von ihr zu mir. »Ist das wahr?« »Das ist es«, sagte ich. »Wann haben Sie das mit den Chemikalien entdeckt?«
»Heute abend.« »Haben Sie sonst noch jemandem davon erzählt?« »Es war niemand da, dem ich es hätte erzählen kön nen.« »Und jetzt?« Er zündete sich mit einem gravierten silbernen Feuerzeug eine Zigarre an. »Was – und jetzt?« »Wen gibt es, dem Sie es jetzt erzählen könnten?« Ich zuckte die Achseln. »Nach wie vor niemanden, nehme ich an.« Er nickte. »Ich bin ja froh, daß Sie meine Intelligenz nicht erneut mit dem törichten Gerede beleidigen, Sie wollten die Polizei verständigen. Weshalb es töricht war, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen, oder?« »Vermutlich wissen Sie, daß die Polizei nichts unter nehmen würde.« »Gegen mich wenig oder gar nichts, das stimmt. Aber das war es nicht, mein Freund, woran Sie dachten, als Sie davon redeten, daß Sie die Polizei benachrichtigen wollten.« Er kniff die Augen leicht zusammen. »Sie dachten an die Auswirkung, welche die von der Polizei zur eigenen Absicherung höheren Orts erstattete Meldung, daß eine seiner fortschrittlichen industriellen Kooperativen eifrigst mit der Herstellung von Sprengstoff für das PAK befaßt ist, auf Dr. Hawa haben mußte. Habe ich recht?« Bis zu einem gewissen Grad hatte er das. Ich zuckte hilflos die Achseln, und er lehnte sich befriedigt zu rück. »Es müßte doch amüsant sein zu hören, wie Dr. Hawa sich gegenüber seinen Vorgesetzten in der Re gierung zu diesem Sachverhalt äußern würde. Was meinen Sie, würde er es auf seine Kappe nehmen? Würde er vielleicht die Gegenfrage stellen, was gegen einen überzeugten Ba’athisten einzuwenden sei, der den Kommandokämpfern der Palästinensischen Be freiungsbewegung ein klein wenig diskrete kamerad
schaftliche Unterstützung zuteil werden läßt? Oder würde er in widerwärtig feiger Manier beteuern, mit dieser schrecklichen Affäre nichts zu tun zu haben, und alle Schuld auf Sie schieben? Sie kennen ihn bes ser als ich, Mr. Howell. Was glauben Sie, wie er sich verhalten würde?« Ich ging auf sein Spiel ein und seufzte kleinlaut. »Wahrscheinlich würde er es der Presse als neue Pilot operation zur Herstellung von Munition ankündigen.« Er verzog den Mund. »Wenn er glaubt, der Verteidi gungsminister würde ihm das durchgehen lassen, könnte er das versuchen, da mögen Sie recht haben. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß er die Schuld auf Sie schieben würde, dürfte doch wohl größer sein. Da die Polizei jedoch nichts davon erfahren wird, wird er auch nichts erfahren. Sie haben also wirklich keinen Anlaß, besorgt zu sein, nicht wahr?« »Vermutlich wohl nicht.« Von einem Atheisten, der mit der Schlinge um den Hals unter dem Galgen steht und gefragt wird, ob er irgendeinen Anlaß habe, besorgt zu sein, würde man die gleiche Antwort erhalten haben. »Dann sollten wir zur Sache kommen.« Mit einer un geduldigen Handbewegung, als stelle die Tatsache, daß wir noch immer standen, eine mutwillige Verzöge rung unsererseits dar, bedeutete er uns, Platz zu nehmen. »Ich habe mich schon seit einigen Wochen mit dem Gedanken getragen, die Zusammenarbeit mit der Agence Howell auszuweiten. Daß Sie heute abend hier eingedrungen sind, zwingt mich jedoch, meine Pläne leicht abzuändern. Zweifellos wird Ihnen bewußt ge worden sein, daß Sie jetzt mehr wissen, als Sie nor malerweise hätten erfahren sollen.« »Ja.« »Nun, dem können wir abhelfen. Aber damit es keine Mißverständnisse gibt, will ich in aller Deutlichkeit aus sprechen, was Ihnen, wie ich hoffe, ohnedies klar sein dürfte. Es wird hier keinerlei personelle oder sonstige
Änderungen geben, es sei denn, ich ordne sie an. Vor allem wird Issa nicht entlassen. Niemand wird entlas sen. Ich werde diesen Bau auch weiterhin als eines meiner Hauptquartiere benutzen. Ist das klar?« Ich nickte. »Ich habe eine Frage an Sie gerichtet. Ich verlange eine Antwort darauf.« »Ja, Mr. Ghaled.« »Miss Malandra?« »Ja, Mr. Ghaled.« »Gut. Dann werde ich Sie jetzt in gewissem Umfang ins Vertrauen ziehen. Sie, Mr. Howell, bezeichneten Issas Arbeit als Bastelkurs zur Herstellung von Bom ben. Es ist mir klar, daß Sie das im Zorn gesagt haben und ihn beleidigen wollten. Sie hatten damit jedoch zugleich recht und auch unrecht. Recht insofern, als die Herstellungsverfahren, auf die wir zur Zeit zurück greifen müssen, primitiv sind. Unrecht insofern, als Sie glaubten, wir seien hier mit der Fertigung von Bomben befaßt. Tatsächlich geht es uns gegenwärtig darum, Sprengkapseln von bestimmter Art herzustellen, und das in großer Anzahl. In Ermangelung der dazu erfor derlichen technischen Anlagen wie zum Beispiel der Geräte zur Temperaturkontrolle und der zur Kontrolle der Fertigung benötigten Produktionstabellen müssen wir unter Beachtung ausreichender Sicherheitsvorkeh rungen zusehen, wie wir ohne sie zurechtkommen. Können Sie mir folgen?« »Soweit ja.« »Aber wozu, werden Sie sich fragen müssen, brauchen wir so dringend Sprengkapseln? Was nützen ihnen Sprengkapseln ohne den Sprengstoff, den sie zünden sollen? Die Antwort darauf lautet, daß wir den Spreng stoff haben, daß uns der Nachschub an den zu seiner Anwendung benötigten Mitteln jedoch von unseren Gegnern in Kairo und andernorts abgeschnitten wurde. Selbst einige unserer sogenannten Freunde haben unter der Hand versucht, unsere Operationen auf die
se Weise zu behindern und zu kontrollieren. Waffen wurden geliefert, aber die nötigen Zünder gehen, ob wohl zugesagt, unterwegs verloren oder werden zu rückgehalten. Und wenn sie, was selten genug der Fall ist, endlich irgendwann eintreffen, sind es die falschen oder sie sind nicht gefüllt oder aus irgendeinem ande ren Grund unbrauchbar. Es ist ganz eindeutig vorsätz liche Sabotage.« Eine inspirierte und höchst bewundernswerte Form von Sabotage, wie mir schien; aber ich nickte mitfüh lend. »Daher«, fuhr er fort, »müssen wir uns eigene Nach schubquellen erschließen. Und das, Mr. Howell, ist der Punkt, an dem ich Sie ins Spiel bringe.« »Mich, Mr. Ghaled?« »Sie verfügen über Kenntnisse, Fähigkeiten und Mittel, die für uns von großem Wert sein können. Würden Sie mir, was das betrifft, nicht recht geben?« Mein Lächeln muß ziemlich gequält gewirkt haben. »Ich habe den Eindruck, Mr. Ghaled, daß Sie sich mei ne Mittel – und Issas Kenntnisse – bereits zunutze machen, und zwar mit ausgezeichneten Ergebnissen. Sie haben sich eine Nachschubquelle für das Material eröffnet, das Ihnen fehlte. Mein Wissen und meine Fähigkeiten, wie immer es um sie bestellt sein mag, scheinen gar nicht benötigt zu werden.« »Da sind Sie ganz entschieden im Irrtum«, sagte er sehr bestimmt. »Aber das werde ich Ihnen jetzt nicht erklären. Natürlich war ich auf dieses Zusammentref fen mit Ihnen heute abend hier nicht vorbereitet. Wie die Dinge nun einmal liegen, müssen wir die Diskussi on über Ihren Beitrag auf morgen verschieben. Ich werde Ihnen dann im einzelnen genau sagen, was von Ihnen erwartet wird.« Er stand auf, und wir erhoben uns ebenfalls. »Sagen wir um neun Uhr abends. Miss Malandra kommt am besten mit. Sie werden sich mög licherweise Notizen machen wollen.« »Ausgezeichnet.«
»Da wäre noch eine Kleinigkeit.« Er schnippte laut mit zwei Fingern, und die bewaffneten Männer auf dem Gang stürzten herein. »Dieser Mann und diese Frau werden morgen abend wiederkommen«, sagte er ih nen. »Sie sind als Genossen zu behandeln.« Er blickte mich an. »Haben Sie das gehört, Mr. Howell?« »Ja.« »Aber haben Sie es auch begriffen? Ich habe den Aus druck >Genossen< gebraucht.« »Ich habe es verstanden. Ich hoffe nur, sie erinnern sich daran.« »Ich sehe, Sie begreifen noch immer nicht. Sie werden doch gewiß nicht annehmen, daß ich Sie nach der Ent deckung, die Sie hier heute abend gemacht haben, und nach unserer freimütigen Unterhaltung gehen las se, ohne Sie, nun, sagen wir, verpflichtet zu haben?« Ich zuckte die Achseln. »Sie haben mir bereits unmiß verständlich klargemacht, daß ich verschwiegen sein muß und warum ich es zu sein habe.« »Ich spreche jetzt nicht von Verschwiegenheit, son dern von Loyalität und Treu und Glauben.« »Ich fürchte, ich begreife noch immer nicht.« »Das liegt doch auf der Hand. Sie sind Ausländer hier, genießen aber besondere Vorrechte. Sie können ausund einreisen, wann immer es Ihnen paßt. Das ist eine Situation, deren Vorteile bei gegebener Gelegenheit auszunutzen ich mir vorbehalte, die es Ihnen jedoch in der Zwischenzeit erlaubt, sich die Sache womöglich anders zu überlegen. Falls Sie zum Beispiel beschlie ßen sollten, lieber nach Beirut oder Alexandria oder Kairo zu fliegen und mir Ihre Kooperation zu verwei gern, statt mich morgen hier zu treffen, würde ich mich zu Schritten gezwungen sehen, die ich bedauern müßte.« Er schwieg einen Augenblick lang, um ganz sicherzu gehen, daß ich die Drohung auch begriff. »Wie ich eben sagte«, fuhr er dann fort, »würde ich die Not wendigkeit, derartige Schritte zu unternehmen, außer
ordentlich bedauern. Es wäre zudem kostspielig für uns, weil wir möglicherweise weite Wege zurücklegen müßten, um Sie zu finden. Ganz abgesehen davon, daß wir es vorzögen, wenn Sie am Leben und uns so mit als Mitarbeiter erhalten blieben. Sie müssen einse hen, daß es für dieses Problem nur eine einzige Lö sung gibt. Sie und diese Frau hier müssen loyale und einsatzfreudige Mitglieder des Palästinensischen Akti onskommandos werden und sich seiner Disziplin un terwerfen.« »Aber wir sind doch Ausländer«, protestierte ich idioti scherweise. »Wir können nicht… Wir – « Ich geriet ins Stammeln. Er brachte mich mit einer ungehaltenen Geste zum Schweigen. »Es gibt bereits andere Aus länder, Ausländer beiderlei Geschlechts, denen die Mitgliedschaft zuerkannt wurde.« Er machte eine Pau se und fügte dann schneidend hinzu: »Sie betrachte ten es als Ehre, dienen zu dürfen – als Ehre.« Ich murmelte irgendeinen Unsinn wie: das alles käme so überraschend, aber er überhörte es. »Sie sind kein Jude. Und ich nehme an, auch Miss Ma landra ist keine Jüdin. Es gibt daher keinen Hinde rungsgrund. Sie werden den Treueid selbstverständlich nach christlicher Art schwören. Haben Sie Ihre Pässe da?« Mein Paß steckte in meiner Jackentasche. Teresa hatte nur ihre Identitätskarte bei sich. Er nahm sowohl den Paß als auch die Identitätskarte an sich. »Diese Ausweise werden für unser Archiv photokopiert und Ihnen morgen wieder ausgehändigt«, sagte er. »Bei der Gelegenheit werden Sie noch ein paar schrift liche Formalitäten erledigen. Den Treueid können Sie aber jetzt gleich ablegen. Eine Bibel haben Sie wohl nicht hier in Ihrem Büro?« »Nein.« »Nun, die ist dazu auch nicht unbedingt erforderlich. Ich schlage vor, Sie legen den Eid zuerst ab. Heben Sie die rechte Hand und sprechen Sie mir nach: Ich,
Michael Howell, schwöre als Christ bei der Heiligen Dreifaltigkeit und beim Heiligen Buch des Antiochus, daß ich aus freiem Willen, mit ganzem Herzen und ohne inneren Vorbehalt mein Leben und alles, was ich besitze, dem Palästinensischen Aktionskommando verpfände, und verspreche…« Er sprach arabisch, und in dieser Sprache klangen die Wörter seltsam. Die Berufung auf Antioch machte den Schwur zu einem maronitischen Eid, und da ich nomi nell griechisch-orthodox bin, nehme ich an, daß er mich nicht wirklich band; aber meine Mutter, die prak tizierende Christin ist, würde Zustände bekommen haben. Auf den genauen Wortlaut des restlichen Ser mons kann ich mich nicht mehr besinnen; er besagte im wesentlichen, daß ich lebenslangen bedingungslo sen Gehorsam gelobte und mich damit einverstanden erklärte, daß schon der geringfügigste Verstoß gegen das Gelübde mit dem Tod geahndet werden würde. Der Vollzug der Strafe, die auf Verrat an der Sache stand, war komplizierter; er wurde mit ekelerregender Freude am Detail beschrieben, lief aber auf das Glei che heraus. »Sind Sie bereit«, wollte Ghaled wissen, »das in Ge genwart dieser brüderlichen Zeugen zu beschwören?« Die beiden brüderlichen Flintenhelden sahen mich er wartungsvoll an. »Ich schwöre es.« »Sie sind aufgenommen.« Er wiederholte das ganze Ritual von A bis 2 mit Tere sa. Ich dachte, als Katholikin würde sie sich gegen einige Wendungen sperren, aber sie brachte es so zü gig und unpersönlich hinter sich, als läse sie aus ihrem Stenoblock einen Brieftext vor, den ich ihr diktiert hat te. »Ich schwöre es.« Das klang bereits etwas gelang weilt. »Sie sind aufgenommen.« Ghaled schickte die beiden bewaffneten Männer mit einem Fingerschnippen wie
der vor die Tür und sah uns lange an. »Meinen Glückwunsch, Genossen«, sagte er schließ lich. »Es gehört sich, daß Sie mich von jetzt ab – bei allem schuldigen Respekt – mit Genosse Salah anre den. Wollen Sie sich das merken?« »Ja, Genosse Salah.« Er nickte gnädig. »Dann also bis morgen abend.« Wir waren entlassen. Erst als wir wieder im Wagen saßen, merkte ich, wie müde ich war. Mein Rücken schmerzte noch immer. Es war ein langer Tag gewesen. Ich konnte den hoff nungslosen Versuch machen, mir Möglichkeiten aus zudenken, wie wir aus der Klemme, in der wir steck ten, herauskamen, aber ich hatte keine Lust, darüber zu reden. Unglückseligerweise hatte Teresa Lust dazu. »Was tun wir jetzt?« fragte sie. Ihre Stimme verriet mehr Erregung als Angst. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Nach Hause fah ren und schlafen, das ist alles, was ich im Augenblick will.« Sie fuhr eine halbe Minute lang schweigend weiter. »Willst du mit Oberst Shikla sprechen?« »Nein.« Ich begründete das nicht näher. Oberst Shikla war Leiter des Inneren Sicherheitsdienstes und ein höchst unangenehmer Mann von abschreckendem Ruf. Ich war ihm auf Gesellschaften begegnet und in dem Be mühen, meine Furcht vor ihm zu kaschieren, allzu leutselig gewesen. Er mußte an Reaktionen dieser Art gewöhnt sein, denn mein Verhalten hatte ihn offen kundig amüsiert. Ihn in seiner offiziellen Funktion auf zusuchen war das letzte, was für mich in Frage kam, selbst wenn es Sinn gehabt hätte. Aber Teresa ließ nicht locker. »Du könntest privat mit ihm sprechen, ganz inoffiziell.« »Inoffiziell über Ghaled? Sei nicht albern. Derartige Dinge fallen in seinen Geschäftsbereich.«
»Dann eben offiziell. Falls irgend jemand dahinter kommen sollte, wären wir gedeckt, wenn du Oberst Shikla unterrichtet hättest.« »Mit weit größerer Wahrscheinlichkeit würden wir in einer seiner Vernehmungszellen landen.« »Aber warum denn, wenn wir ihm die Wahrheit gesagt und alles erzählt hätten?« Sie war enervierend. »Weil Männer seines Schlags niemals glauben, daß man ihnen alles erzählt hat, selbst wenn das der Fall ist«, sagte ich gereizt. »Aber nehmen wir einmal an, er hätte es ausnahmsweise geglaubt. Was dann? Der Innere Sicherheitsdienst müßte etwas gegen Ghaled unternehmen. Möglicher weise will er das aber gar nicht. Möglicherweise habe ich denen etwas zur Kenntnis gebracht, wovon sie offi ziell lieber nichts gewußt hätten. Aber gehen wir ruhig einmal davon aus, sie kommen, widerstrebend oder nicht, zu dem Schluß, daß sie auf unsere Information hin handeln müssen. In welche Lage hätten wir uns damit gebracht?« »Wir hätten uns abgesichert.« »Womit? Mit Klarsichtfolie? Du glaubst doch nicht im Ernst, daß sie gegen Ghaled vorgehen würden, ohne ihn rechtzeitig zu warnen, oder? Ihm würde genügend Zeit und Gelegenheit bleiben, unsere Namen ganz obenan auf die nächste Säuberungsliste zu setzen. Das nennst du absichern? Rede keinen Unsinn, Genos sin.« Sie kicherte doch tatsächlich. »Es ist ein komisches Gefühl, Mitglied des PAK zu sein, findest du nicht?« »Komisch?« »Also meinetwegen auch gruselig. Ich frage mich, wer wohl diese anderen ausländischen Mitglieder sein mö gen. Er sagte, sie seien beiderlei Geschlechts.« »Eine der Frauen ist sicherlich Melanie Hammad.« »Sie hat in einem der französischen Modemagazine dieses Monats einen Artikel veröffentlicht – über Kaf tane. Ihr scheint aber nichts Schreckliches zugestoßen
zu sein.« »Sie ist nicht in Syrien und fabriziert keinen Spreng stoff.« »Es ist Issa, der ihn fabriziert, nicht wir.« »Aber in unserem Werk.« Ich verlor plötzlich die Ge duld. »Mein Gott, Mädchen! Begreifst du denn gar nicht, wie ernst diese Geschichte ist, wie gefährlich?« »Natürlich tue ich das, Michael. Aber es hat keinen Sinn, sich aufzuregen. Du bist jetzt müde, aber mor gen wird dir schon noch einfallen, wie du mit der Si tuation fertig werden kannst. Das ist bisher immer der Fall gewesen.« Ich empfand ihre Zuversicht nicht als schmeichelhaft; ich wußte, sie war fehl am Platz. Weil ich im allgemei nen in der Lage bin, geschäftliche Schwierigkeiten zu meistern, Konkurrenten zu überlisten und erfolgreich mit Leuten wie Dr. Hawa zu verhandeln, glaubte sie, ich sei Ghaled und der Lage, in die er uns gebracht hatte, ebenfalls gewachsen. Was sie nicht begriff, war die Tatsache, daß geschäftliche Befähigung nicht im mer anwendbar ist, daß sie versagen muß, wenn die Ware Gewalt und der Partner, mit dem man es zu tun hat, eine Bestie ist. Ich habe nicht sehr oft in meinem Leben Angst ge habt. Als Kind hatte ich nachts Alpträume und wachte schreiend auf; aber mit Alpträumen, denen man nicht dadurch entfliehen kann, daß man erwacht, habe ich wenig Erfahrung. Gewiß, während der Zypernkrise in den fünfziger Jahren hatte es ein paar unangenehme Augenblicke gegeben; aber man hatte sie zumeist gemeinsam mit seinen Nachbarn durchgestanden, und, obschon durchaus realer Natur, war die akute Gefahr noch jedesmal ebenso plötzlich und unvorher gesehen, wie sie einzutreten pflegte, auch wieder ge wichen. Ghaled jedoch würde nicht weichen. Seit mehr als zwanzig Jahren gehörten Gewalttätigkeit und Tod zu seinem Metier, und daran würde sich vermutlich
nichts ändern, bis er selber eines gewaltsamen Todes starb. Inzwischen machte er mir Angst. Ich gebe das zu. Er würde mir immer Angst machen. Ich wußte schon da mals, daß die einzige Möglichkeit, mit ihm fertig zu werden, für mich darin bestand, ihn umzubringen. Ich rechnete jedoch nicht damit, jemals die Chance zu bekommen, das zu tun; und für ebenso ausgeschlos sen hielt ich es, daß der Geschäftsmann Howell ernst haft erwägen könnte, eine solche Chance, gesetzt, sie böte sich ihm, auch zu nutzen. Ich bin nun einmal kein Freund von Gewalttätigkeit. Ein paar Stunden Schlaf halfen. Als ich aufwachte, war mein Rücken noch wund, aber er tat mir nicht mehr weh. Ich konnte die Lage mehr oder weniger ruhig überdenken. Ghaled hatte gesagt, daß er, was mich betreffe, bestimmte Pläne habe, und davon gespro chen, daß er beabsichtige, sich meine Freiheit, ausund einreisen zu können, wann es mir beliebe, zunut ze zu machen – was darauf hindeutete, daß er mich als Kurier oder Unterhändler zu verwenden gedachte. Aber er hatte auch davon gesprochen, sich meiner »Kenntnisse, Fähigkeiten und Mittel« bedienen zu wol len. Bevor ich nicht wußte, was er damit gemeint hat te, war es zwecklos, sich irgendwelche eigene Pläne zurechtlegen zu wollen. Ich konnte jedoch meine Verteidigungsmöglichkeiten, soweit von solchen überhaupt die Rede sein konnte, inspizieren und ein paar naheliegende Sicherheitsvor kehrungen treffen. Ich mußte mir darüber im klaren sein, daß der Zeit punkt kommen mochte, wo ich mir, wie es Ghaled euphemistisch ausgedrückt hatte, »die Sache anders überlegte«. Mit anderen Worten, eines Tages konnte eine Situation eintreten, die es mir, Mordkommando hin, Mordkommando her, ratsam erscheinen ließ, mich aus dem Staube zu machen. Dazu würde ich einen Paß, reichlich Bargeld, einen gepackten Koffer und
eine Anlaufstelle zum Untertauchen benötigen. Das Bargeld stellte kein Problem dar, und die Anlauf stelle ebensowenig, wenngleich ich in der Tat verzwei felt sein mußte, um auf sie zurückzugreifen. Die unbe kannte Größe war der Paß. Wenn Ghaled ihn mir ein mal hatte abnehmen können, um sich, was mich be traf, rückzuversichern, war er durchaus fähig, dies erneut zu tun. Ohne Zweifel mußten sowohl Teresa als auch ich uns Zweitpässe besorgen, die wir in unsere fertiggepackten Koffer legen konnten. Im Mittleren Osten sind die Konsulatsbeamten westlicher Staaten, was die Ausstellung von Zweitpässen für Geschäftsleu te betrifft, die einen solchen benötigen, im allgemei nen sehr entgegenkommend; so beispielsweise ge genüber denen, die nach Israel reisen. Pässe, die ei nen israelischen Visumstempel tragen, gelten in arabi schen Ländern als ungültig; und wenngleich die Israe lis in Anbetracht dieser Tatsache bereit sind, auf Wunsch von der Vornahme ihres Sichtvermerks abzu sehen, vergessen Reisende doch zuweilen, eine ent sprechende Bitte zu äußern, ehe es zu spät ist. Ich sagte Teresa, sie solle beim italienischen Konsulat einen zweiten Paß für sich beantragen. Einen Zweitpaß für mich zu beschaffen, würde schwieriger sein. Ob wohl Zypern diplomatische Beziehungen mit Syrien unterhält, gab es zu jener Zeit keinen zypriotischen Konsul in Damaskus; ich rief daher unser Büro in Fa magusta an und gab Order, die nötigen Schritte zu unternehmen. Nachdem das getan war, ging ich systematisch die Liste aller überprüfbaren Sicherheitsrisiken durch. Was Ghaled in der Batteriefabrik trieb, konnte er auch im Keramikwerk, in der Eisenwaren- und der Möbelfabrik oder im Elektronik-Montagewerk treiben. Möglicher weise spielte ich unwissentlich den Wirt für weitere PAK-Zellen. Sollte das der Fall sein, wollte ich über das Schlimmste Bescheid wissen. Ich gab Teresa Auftrag, die Einkaufsunterlagen auf ungewöhnliche Artikel zu
überprüfen. Die Personalakten nahm ich mir selber vor. Als erstes suchte ich Ghaleds Einstellungsunterla gen heraus, um zu sehen, wer ihn uns unter dem Na men Yassin empfohlen hatte. Die Empfehlung, stellte ich fest, war an den üblichen Aktenvermerk vom Mini sterium für Arbeit und Soziales geheftet und von ei nem Hauptmann im Büro des Inneren Sicherheitsdien stes unterzeichnet. Soviel zu Teresas brillanter Idee, Oberst Shikla ins Vertrauen zu ziehen, damit wir »gedeckt« seien. Der Innere Sicherheitsdienst wußte nicht nur von Ghaleds Aktivitäten, er unterstützte ihn sogar und gewährte ihm Schutz. Als nächstes sah ich mir die Personalunterlagen von ein paar anderen bei uns beschäftigten Männern an, um herauszubekommen, ob derselbe ISD-Hauptmann sonst noch jemanden empfohlen hatte. Ich verzichtete darauf, mich mit den Akten der unmittelbar im Pro duktionsprozeß Beschäftigten wie zum Beispiel denen von Drehern und Handwerkern zu befassen; es waren zu viele, als daß eine gründliche Überprüfung durch führbar gewesen wäre. Statt dessen beschränkte ich mich auf das Nachtschicht-Personal und die Angestell ten, denen Schlüssel anvertraut waren. Ich fand zwei; der eine war Gerätewart, der andere ein Lagerverwalter. Beide waren von dem ISDHauptmann empfohlen worden. Beide arbeiteten in der Eisenwarenfabrik. Sie waren etwa um die gleiche Zeit eingestellt worden wie Ghaled. Mein erster Impuls war, den Fabrikmanager zu mir zu bestellen und ihm Anweisung zu geben, sie zu entlas sen, aber Teresa machte berechtigte Einwände gel tend. Sie mußte besser geschlafen haben als ich. »Welchen Grund willst du angeben?« »Ich finde schon einen Grund.« »Wenn es tatsächlich Ghaleds Leute sind, wird er dich zwingen, sie wieder einzustellen, und dann bist du der Dumme.«
»Und so fühle ich mich nur als der Dumme. Na gut. Aber ich will wissen, was sie im Schilde führen. Hat es irgendwelche Materialdiebstähle gegeben?« »Nein, aber es ist ein ganz ungebräuchlicher Artikel bestellt worden. An Eisenwaren wurde eine Order auf einen Satz Gewindebohrer und Prägestöcke eines Typs aufgegeben, den es gar nicht gibt.« »Woher weißt du das?« »Der Werkzeuglieferant hat mit Kopie an uns einen Brief des Inhalts geschrieben, daß er die gewünschten Gewindebohrer und Prägestöcke nicht auf Lager habe und sie, soviel er wisse, auch gar nicht hergestellt würden. Er deutete höflich an, daß es sich möglicher weise um einen Schreibfehler in der Bestellung han deln könne.« »Zeig mir doch mal die Order.« Sie legte sie mir vor. Ich sah sofort, warum der Liefe rant geglaubt haben mußte, es sei ein Fehler unterlau fen. Ein Mechanikerlehrling im ersten Jahr würde ge wußt haben, was an dieser Bestellung nicht stimmte. Ich überschlug im Kopf alle Eisenwarenartikel, die wir herstellten, und überlegte, ob es irgendein Fertigungs verfahren gab, mit dem der versuchte Einkauf von Gewindebohrern und Prägestöcken in Verbindung ge bracht werden konnte. Mir fiel keines ein. Da die Order von dem Kontoristen des Werkstattbüros unterzeichnet worden war, rief ich ihn an. Er konnte sich an die betreffende Bestellung nicht auf Anhieb erinnern, versprach aber, seine Bücher zu konsultieren und mich dann zurückzurufen. Es wurde später Nach mittag, ehe er sich wieder meldete, und er wußte mir nichts zu sagen, was mir weiterhelfen konnte. Die Or der für die Werkzeuge war ihm zusammen mit einem Konvolut anderer Bestellungen von seinem Gehilfen zur Unterschrift vorgelegt worden. Nein, der Gehilfe erinnerte sich nicht daran, wer die Anforderung einge reicht hatte; er sah in seinen Unterlagen nach. Inzwi schen wußte mir der Kontorist in feierlich ernstem
Tonfall mitzuteilen, auf der Bestellung befinde sich ein Vermerk, der besage, daß die betreffenden Artikel vorübergehend nicht lieferbar seien. Ich klärte ihn darüber auf, daß sie noch nie lieferbar gewesen seien und es auch in Zukunft nicht sein würden, und hängte ein. Es war hoffnungslos. Ich mußte mich mit dem Gedanken trösten, daß der Versuch, irgendwelche krummen Dinge zu drehen, falls er auf dem Eisenwa rensektor unternommen worden war, wenig Aussicht auf Erfolg versprach. Issa hatte sich wenigstens genü gend ausgekannt, um die Materialien, die er brauchte, korrekt ordern zu können. Sein Pendant in der Eisen warenfabrik war offenkundig unfähig. Die zweite Defensivmaßnahme leitete ich mit einem Anruf bei Dr. Hawas Kanzleichef ein. Nach ein paar einleitenden Höflichkeitsfloskeln kam ich auf den Bericht über das italienische Autobatterienpro jekt zu sprechen, den ich Hawa am Vortag übermittelt hatte, und fragte, ob der Minister schon Zeit gefunden habe, ihn zu lesen. »Er liegt auf seinem Arbeitstisch, Mr. Howell. Aber ich glaube, er hat ihn noch nicht ganz durchgelesen. Er ist abgelenkt worden, weil der Finanzausschuß tagte.« »Ich habe auch keineswegs erwartet, daß der Minister bereits darüber entschieden haben könnte«, sagte ich. »Ich frage nur deshalb nach, weil ich soeben bemerke, daß ich ein ergänzendes Memorandum, das die mögli che Lokalisierung der neuen Fabrik betrifft, dem Be richt versehentlich nicht beigefügt habe. Es würde die Schlüsse, die aus dem Bericht zu ziehen sind, in keiner Weise verändern, enthält aber zusätzliche Informatio nen und Vorschläge, die der Minister möglicherweise für brauchbar und nützlich halten könnte. Wenn ich Ihnen noch heute Exemplare des Memorandums zuge hen ließe, könnten sie dem Bericht, den der Minister liest, noch beigefügt werden?« Er machte zunächst Einwendungen, um seinem widerstrebend gewährten Einverständnis den Anschein großen Entgegenkom
mens zu geben; aber das war ganz normal. Ich ver sprach, daß ihm das Memorandum innerhalb einer Stunde vorliegen würde. Ich diktierte es Teresa in zehn Minuten. Sie sah mich besorgt an, als sie es aufgenommen hatte. »Ist das klug, Michael?« »Es verschafft uns eine Karte, die wir ausspielen kön nen.« »Ghaled wird es nicht passen.« »Wohl kaum – wenn ich es ihm zeige. Vielleicht tue ich es nicht, aber ich will es in der Hinterhand haben, für den Fall, daß es uns nützlich sein könnte. Datiere es drei Tage zurück und laß es so aussehen, als sei es in Mailand geschrieben. Und vergiß auch nicht, eine zu sätzliche Ausfertigung mit der arabischen Übersetzung beizugeben.« Als das Memorandum abgegangen war, hatte ich Zeit, mich auf meine eigentliche Arbeit zu konzentrieren. Unser Vertreter in Athen stand vor dem Abschluß ei nes wichtigen Kontrakts über beträchtliche Kachelliefe rungen und bat uns dringend um feste Zusicherungen hinsichtlich des Lieferungstermins, da der Partner auf einer Klausel bestand, die für den Fall einer Verzöge rung empfindliche Strafen vorsah. Ich konnte es mir nicht leisten, meine Antwort nachlässig oder gleichgül tig ausfallen zu lassen; und doch mußte ich mir einge stehen, daß ich beides war. Es war Teresa, die schließ lich zu meiner Erleichterung vorschlug, die Antwort um vierundzwanzig Stunden aufzuschieben, sie dann aber telegrafisch statt brieflich aufzugeben, um den ent standenen Zeitverlust wettzumachen. Daß ich mich zu jenem Zeitpunkt intensiver mit mei ner Verstrickung in die PAK-Geschichte befaßte als mit meinen Verpflichtungen gegenüber der Agence Howell, ihren Anteilseignern und treuen Mitarbeitern, ist zwei fellos höchst bedauerlich. Ein verantwortungsbewußter gestandener Geschäftsmann sollte in der Lage sein, die vorrangigen Dinge stets zuerst zu erledigen und
unter allen Umständen einen kühlen Kopf zu bewah ren. Offenkundig muß ich demnach also verantwor tungslos und innerlich unzureichend gefestigt sein. Sei’s drum. Der Teufel, den ich kenne, interessiert mich wenig; aber der, den ich nicht kenne, läßt mir keine Ruhe. Meine Verpflichtungen dem Geschäft ge genüber kannte ich; was das PAK von mir wollte, muß te ich erst noch herausfinden. Wir nahmen unsere gewohnten Martinis, aber keinen Wein oder Kognak zu uns. Zum einen wollte ich nicht, daß wir etwaigen Vermutungen, wir hätten uns, bevor wir zu dem Treffen aufbrachen, Mut antrinken müssen, mit unserem eigenen Atem Vorschub leisteten; und zum anderen wollte ich mir keine Entschuldigung dafür liefern, während ich mich dort aufhielt, die Toilette aufzusuchen. Ich weiß nicht, warum ich so viele Um stände bedachte. Wahrscheinlich war ich in meinem Denken als Geschäftsmann in jener Phase des Spiels noch immer auf langwierige Verhandlungen fixiert, bei denen geringfügige psychologische Bodengewinne und -Verluste zählten. An die Vorstellung, daß ich als Mit glied des PAK verpflichtet war, zu tun, was mir aufge tragen wurde, mußte ich mich erst noch gewöhnen. Es war ein wunderschöner Abend, warm und friedlich. Im Hof war die Luft schwer vom Duft blühender Pflan zen, und Fledermäuse schwirrten umher. Suliman, der Gärtner, öffnete uns das Tor. Ich sagte ihm, daß er nicht aufzubleiben brauche, da wir möglicherweise erst spät heimkämen. Er dachte, wir führen zu einer Party, und wünschte uns einen vergnügten Abend. Kurz vor neun hielten wir vor dem Eingang zur Batte riefabrik und ließen den Wagen stehen, wie wir es schon am vorangegangenen Abend getan hatten. Diesmal war der Nebeneingang unverschlossen, aber wir hatten das Gelände kaum betreten, als die beiden Flintenhelden noch vor der Laderampe aus der Dun kelheit auftauchten und uns mit einer Taschenlampe anleuchteten.
»Seid gegrüßt, Genossen.« Es war der Mann mit den
Zahnstummeln, derjenige, der mir den Gewehrkolben
in den Rücken gestoßen hatte.
»Seid gegrüßt«, sagte ich.
Er trat langsam näher und ließ dann unvermittelt seine
Rechte, in der er die Taschenlampe hielt, vorschnellen.
Ich dachte, er versuche sie mir ins Gesicht zu stoßen,
und wich zurück. Er klärte mich vorwurfsvoll auf.
»Diese Lampe gehört Ihnen, Genosse. Sie haben Sie
gestern hier zurückgelassen. Das Glas ist zerbrochen,
aber sie funktioniert noch.«
»Danke, aber ich habe noch eine zweite.« Ich knipste
die Taschenlampe in meiner Hand an. »Sehen Sie?«
»Sie wollen diese hier nicht wiederhaben?« fragte er
hoffnungsvoll.
»Nicht, wenn Sie sie brauchen können, Genosse.« Ich
fand es an der Zeit, Freunde zu gewinnen. »Aber wie
Sie sagen, ist das Glas zerbrochen. Warum nehmen
Sie nicht einfach diese Lampe, die heil ist, und geben
mir die andere? Ich kann mir morgen ein neues Glas
besorgen.«
»Danke, Genosse. Vielen Dank.« Wir tauschten unsere
Taschenlampen.
»Ich heiße Ahmad«, sagte er. Sein Atem stank.
»Und ich Michael.«
»Das hier ist Genosse Musa.« Er deutete auf seinen
Gefährten. »Er kann nicht reden, denn er hat keinen
Kehlkopf.«
Genosse Musa grinste und zeigte auf eine große Narbe
an seinem Hals.
»Eine Kriegsverletzung?«
»Ja«, sagte Ahmad. »Aber er hört das leiseste Ge
räusch. Er hat Sie gestern nacht lange vor mir gehört.
Auf wieviel Uhr sind Sie bestellt, Genosse?«
»Neun Uhr.«
»Genosse Salah mag es nicht, wenn man ihn warten
läßt.«
»Das kann ich mir denken.«
»Nun, dann gehen Sie jetzt besser«, sagte er leutse lig. »Sie kennen ja den Weg.« Im ersten Augenblick glaubte ich, wir könnten unseren Weg allein und unbeaufsichtigt fortsetzen; aber als ich mich umdrehen wollte, kicherte Ahmad und stieß mich mit dem Gewehrkolben voran. »Marsch, Genossen«, sagte er. Er hatte nicht sehr hart zugestoßen, aber doch fest genug, um mich wissen zu lassen, daß seine Nachsicht nicht mit einer Taschen lampe zu erkaufen und er nach wie vor derjenige war, der hier zu bestimmen hatte. Als wir die Stufen zum Bürogebäude erreichten, befahl er uns zu warten, und ging hinein, um unsere Ankunft zu melden. Musa grin ste uns an, während wir warteten, behielt jedoch den Finger am Abzug. Im Laboratorium brannte Licht, aber ich konnte keine Stimmen hören. Mein Büro lag im Dunkel. Ahmad war zum Hintereingang des Baus ge gangen. Nach etwa einer halben Minute trat er wieder auf die Terrasse hinaus und bedeutete uns, hinaufzukommen. Als wir vor ihm standen, befahl er mir, die Arme über den Kopf zu heben, und tastete mich ab. Dann nahm er Teresas Handtasche an sich und warf einen Blick hinein. Als er sich Gewißheit verschafft hatte, daß wir beide unbewaffnet waren, gab er Teresa die Tasche zurück. »Folgen Sie mir, Genossen.« Wir gingen die überdachte Veranda entlang, die um das Gebäude herumlief, und betraten den Teil des Baus, der die Lagerräume beherbergte. Ohne mein Wissen waren hier Veränderungen vorgenommen wor den, von denen ich nichts geahnt hatte. Der größere der beiden Räume diente Ghaled jetzt als Befehls stand. Die aufgerollten Zinkbleche – meine Zinkbleche –, die ihrer unterschiedlichen Dicke wegen sorgsam in Reihen geordnet hätten gelagert werden sollen, waren alle gegen eine Wand gelehnt worden, um für einen aus einer Holzplatte und zwei Bockgestellen bestehen
den Tisch, ein paar Stühle sowie ein Feldbett Platz zu schaffen. Der Raum machte den Eindruck, als sei er bewohnt, was unter den gegebenen Umständen nicht weiter verwunderlich war. Ich hatte seit Monaten keine Zeit gefunden, mich um die Lagerräume der Batteriefabrik zu kümmern, und sie Issas Obhut überlassen. Vielleicht war es sein An blick, wie er jetzt dort an dem Tisch saß und bei mei nem Eintritt ein überlegenes kleines Lächeln aufsetzte, was mich so wütend machte. Für mich war diese Wut gefährlich. Da eine unmittel bare Möglichkeit, ihr Ausdruck zu geben, nicht be stand, mußte ich sie hinunterschlucken. Das Ergebnis war, daß ich eine Zeitlang vor Ghaled weniger Angst verspürte und mich mit dem, was ich sagte, auch prompt weniger in acht nahm. Ich machte Fehler. Zunächst spielte sich alles ungemein förmlich ab, etwa wie der erste Zusammentritt des Vorstandes eines soeben gegründeten Unternehmens. Ghaled sagte: »Guten Abend, Genossen.« Teresa und ich sagten: »Guten Abend, Genosse Salah« und wur den aufgefordert, Platz zu nehmen. Außer Ghaled und Issa saßen noch zwei weitere Män ner an dem Tisch. Ghaled stellte sie vor. »Dies ist Genosse Tewfiq. Und das Genosse Wasfi. Sie sind Mitglieder des Zentralkomitees.« Tewfiq war ein bleicher, pockennarbiger Mann mit bu schigem Schnurrbart und Wanst, Wasfi ein drahtiger junger Mann mit kurzer Oberlippe und einem gequält wirkenden schiefen Lächeln, das habituell zu sein schien. Ich wußte, daß ich beide Männer schon gese hen hatte, und konnte jetzt erraten, wo ich sie gese hen hatte. Tewfiq und Wasfi sind in jenen Breiten ziemlich gebräuchliche Namen, aber es waren zufällig auch die Namen des Gerätewarts und des Lagerver walters der Eisenwarenfabrik, die ich mir an diesem Tag notiert hatte, weil sie meinen Verdacht erregten. Es lag nahe anzunehmen, daß dies die zwei besagten
Männer waren. Sie nickten mir beide kurz zu. Ich brauchte ihnen nicht erst vorgestellt zu werden. »Vor uns«, begann Ghaled lebhaft, »liegt viel Arbeit. Gestern abend habe ich den neuen Genossen unsere Nachschubprobleme und Engpässe in großen Zügen geschildert. Heute abend werden wir unseren Bedarf im einzelnen zur Sprache bringen und Pläne zu seiner Deckung aufstellen. Ich muß euch auf die Notwendig keit, die erteilten Aufträge mit äußerster Entschlos senheit zu erfüllen, dringlichst hinweisen. Jeder Auf trag, ich wiederhole, jeder Auftrag, muß innerhalb der nächsten dreißig Tage ausgeführt werden. Ist das all seits verstanden worden, Genossen?« Ein mehrstimmig gemurmeltes »Ja, Genosse Salah« antwortete ihm, in das ich nicht einstimmte. Ghaled sah mich scharf an. »Ich habe Ihre Antwort nicht ge hört, Genosse.« »Weil ich nicht verstanden habe. Ich habe keine Kenntnis von den Aufgaben, die Sie da erwähnen.« »Die bekommen Sie schon noch. Aber ich habe von der Dringlichkeit gesprochen. Das können Sie verste hen und werden Sie akzeptieren.« »Sehr gut.« Er starrte mich einen Augenblick lang an. Ich ließ es an der gebotenen Ehrerbietung fehlen, aber er wußte nicht recht, ob ich mir darüber im klaren war. Ich er widerte seinen Blick mit einem meiner eigenen Blicke von der unschuldigen, aber erwartungsvollen Sorte. Er gestand mir den Vorteil des Grundsatzes >in dubio pro reo< zu und vertiefte sich in ein Papier, das vor ihm lag. »Erster Punkt«, sagte er, »die Sache mit den Zünd kapseln, denjenigen für die elektrische Auslösung. Zunächst will ich eure Berichte hören. Genosse Issa?« »Wir haben das Pulver für fünfhundert, Genosse Sa lah. Die im Laboratorium getesteten Proben sind zu friedenstellend ausgefallen.«
»Genosse Tewfiq?« »Die Kupferröhren sind bestellt, Genosse Salah, aber noch nicht geliefert worden.« »Warum nicht?« Tewfiq streckte die Hände aus. »Sie waren mir schon für letzte Woche versprochen worden und für die vor letzte Woche auch schon. Ich bin vom Lieferanten ab hängig, Genosse Salah.« Ghaled sah mich an. »Vielleicht kann Genosse Michael uns helfen. Wir brauchen fünfzig Meter Kupferröhren von ein Zentimeter Durchmesser. Es muß gehärtetes Kupfer sein.« »Wer ist der Lieferant?« Ich genoß es, diese Frage zu stellen, denn ich war mir sicher, daß die wahrheitsge mäße Antwort darauf hätte heißen müssen, die Eisen waren-Kooperative und ich seien die Lieferanten. Schließlich waren wir es, die für das Zeug würden zah len dürfen. Natürlich nannte er mir den Namen eines Metallhänd lers. Es war derjenige, mit dem wir seit eh und je zu sammenarbeiteten. »Die Beschaffung von Buntmetal len unterliegt einer besonderen staatlichen Kontrolle«, sagte ich. »Ist der Order eine Quota-Nummer beige geben worden?« Tewfiq schwitzte jetzt. »Das weiß ich nicht, Genosse Salah.« »Warum nicht?« fuhr Ghaled ihn an. »Weil, Genosse Salah – «, er stockte einen Augenblick lang. »Du weißt doch, Genosse, daß ich die Bestellun gen nicht selber aufgebe«, fuhr er dann, mit flehentli chem Blick um Verständnis bittend, fort. »Ich bin nur der – « »Ja, ja.« Ghaled schnitt ihm das Wort ab und verfiel in stummes Brüten. Ich wußte, was ihm durch den Kopf ging. Wenn Tewfiq erklärte, daß die Bestellungen nicht von ihm, der ja nur Lagerverwalter war, sondern vom Kontoristen des Werkstattbüros aufgegeben wurden, konnte ich mir den Rest zusammenreimen, und Tew
fiqs Tarnung war, was mich betraf, hinfällig geworden. Ghaled versuchte sich darüber schlüssig zu werden, ob er mich ins Vertrauen ziehen sollte. Er beschloß, es nicht zu tun. »Du mußt auf rasche Lieferung drängen«, ermahnte er ihn streng. »Ja, Genosse Salah.« »Fahr jetzt in deinem Bericht fort.« »Wir haben die isolierten Verbindungskabel, die Zinn kappen und das Verpackungsmaterial. Aber – «, er zögerte und fuhr dann überstürzt fort, »es tut mir leid, Genosse Salah, wirklich sehr leid, daß wir noch immer Schwierigkeiten mit der Beschaffung des Chromnickel drahts haben. Das ist kein Material, das ich anfordern kann. Ich habe es versucht. Genosse Wasfi kann das bezeugen.« »Das stimmt, Genosse Salah.« Wasfis gequältes Lä cheln dehnte sich, daß er wie ein Clown aussah. »Wir haben gesagt, daß es Leitungsdraht für elektrische Reparaturen sei, aber sie bestellten Draht für Siche rungen. Ich glaube, das ist nicht dasselbe.« Ghaled sah Issa an. »Ist es dasselbe?« Issa suchte Zuflucht bei den Papieren, die vor ihm lagen. »Die Vorschriften lauten auf Chromnickeldraht von Stärke dreißig«, sagte er. »Das ist keine Antwort auf meine Frage. Ist es dassel be?« »Ich weiß es nicht, Genosse Salah.« Ghaled sah mich an. »Nein«, sagte ich. »Das ist nicht dasselbe. Aus Chromnickellegierungen oder Nichrom, so nennt sich das, wird ein resistenter Draht gezogen. Er kann für elektrische Heizöfen benutzt werden, weil er nicht schmilzt oder oxydiert, wenn er heiß wird. Der für Si cherungen verwendete Draht schmilzt, wenn er heiß wird. Wozu wird der Chromnickeldraht gebraucht?« »Zeig es ihm«, sagte Ghaled. Issa schob ein Blatt Papier über den Tisch zu mir her
über. Ich konnte ihm ansehen, wie sehr es ihm wider strebte, das zu tun. In dieser Runde war er die techni sche Autorität, nicht ich. Eine Zeichnung auf dem Pa pier zeigte, wie die Sprengkapseln anzufertigen waren. In eine sechs Zentimeter lange und ein Zentimeter dicke Kupferröhre sollten fünf Gramm Knallquecksil ber, eingebettet in Wattebäuschen, eingeführt werden. Ein Ende der Kupferröhre wurde mit einer Zinnkappe versehen, das andere mit einem Wachssiegel ver schlossen, das die beiden isolierten Zünddrähte hielt. Die Enden dieser beiden Leitungen befanden sich in der Mitte des Zündsatzes, wo sie durch eine kleine Schlinge aus feinem Chromnickeldraht verbunden wa ren. Das war der Zündstromkreis. Jetzt brauchte man nur noch eine Sechs-Volt-Batterie und einen Schalter. Sobald der Stromkreis geschlossen war, würde der Chromnickeldraht, der nicht dicker als ein Haar war, nahezu augenblicklich weißglühend werden, das Knall quecksilber würde explodieren, die Zinnkappe abrei ßen und jeden Sprengstoff, mit dem es in Verbindung kam, seinerseits zur Explosion bringen. Es war ein primitiver, aber praktischer Mechanismus. Wenn man die Vorschriften befolgte, funktionierte er todsicher. Um Zeit zum Überlegen zu gewinnen, studierte ich weiterhin die Zeichnung. Ich war versucht, das ganze Zünderprojekt zu sabotieren und ihnen die Verwen dung des Sicherungsdrahts zu empfehlen, sagte mir dann aber, daß es zu riskant war; Issa hatte erklärt, Proben des Pulvers seien getestet worden. Bestimmt würden sie die fertiggestellten Zünder erproben. Wenn das Testmuster nicht funktionierte, würde das auf jedwede Abänderung, die ich vorgeschlagen hatte, zurückgeführt werden. Ich blickte auf. »Nun?« fragte Ghaled. »Ein sehr dünner Sicherungsdraht könnte, bevor er schmilzt, heiß genug werden, um die Pulverladung zu
zünden. Aber ich glaube nicht, daß man sich darauf verlassen sollte. Ich glaube, Sie müssen diesen feinen Chromnickeldraht nehmen.« »Wir müssen ihn nehmen, Genosse«, korrigierte er mich. »Die Frage ist nur, wie bekommen wir ihn?« Issa sah eine Chance, seinen Prestigeverlust wettzu machen. »Wenn er in elektrischen Heizöfen verwendet wird«, sagte er, »können wir ihn leicht beschaffen. Benötigt werden nur vier oder fünf Meter davon. Wir besorgen uns ein paar von diesen Heizöfen und schlachten sie aus.« Ghaled sah mich wieder an. »Wir könnten es versuchen«, sagte ich, »aber ich glaube kaum, daß Heizöfen mit so dünnem Draht her gestellt werden. Ich bin mir eigentlich sogar ganz si cher, daß das nicht der Fall ist. Er muß von einem Ra diohändler kommen, der auch Reparaturen ausführt und Widerstandsspulen vorrätig hat.« »Genosse Salah!« platzte Wasfi aufgeregt heraus. »Ich kenne einen solchen Mann. Er hat einen Laden im
souk.« Aber Ghaled gebot ihm Schweigen. Seine Augen blie ben auf mich gerichtet. »Verwenden Sie diese Widerstände nicht in Ihrem ei genen Elektronik-Montagewerk, Genosse Michael?« fragte er. »Keiner der Widerstände, die wir verwenden, besteht aus Drahtwicklungen, Genosse Salah.« »Auch nicht die im Magisch-Kommunikations-SenderEmpfänger, den Sie für die Armee zusammenbauen?« Das ließ mich unwillkürlich zusammenzucken. Der Ma gisch-Sender-Empfänger galt als Geheimsache. »Besonders in den Magisch-Sender-Empfängern nicht«, entgegnete ich. »Sie verwenden winzige Schaltkreiseinheiten, die wir aus Ostdeutschland be kommen. Wir setzen bloß die Einheiten zusammen. Einzelteile im herkömmlichen Sinn gibt es nicht.« Er applaudierte mir mit einem lautlosen Händeklat
schen. »Gut. Sehr gut.« In seinen Augen blitzte Spott. »Ein kleiner Test, Genosse Michael, nichts weiter. Zum Glück haben Sie ihn mit Auszeichnung bestanden. Mein eigener Elektronikexperte gab mir den gleichen Rat.« Ich machte eine große Schau daraus, verwirrt zu sein, was ihm augenscheinlich gefiel. Den >Elektronikexper ten< zu identifizieren, würde nicht schwer sein. Die Erwähnung des Magisch-Sender-Empfängers hatte mich auf die richtige Fährte gebracht. Ich hatte bereits eine kurze Liste mit den Namen zweier Verdächtiger im Kopf, und ein nochmaliger Blick in die Personalak ten würde mir Gewißheit darüber verschaffen, wer von diesen beiden der Schuldige war. »Ausgezeichnet. Genosse Wasfi wird die Spulen kau fen. Inzwischen haben wir ein weiteres dringendes Problem zu lösen, bei dem Sie uns vielleicht behilflich sein könnten, Genosse Michael.« »Selbstverständlich bin ich gern bereit, alles zu tun, was in meinen Kräften steht, Genosse Salah.« Er schien mich nicht zu hören. Er war aufgestanden und zum Feldbett hinübergegangen, auf dem zwei große Gegenstände aus Metall lagen. Er kehrte mit ihnen zurück und legte sie auf den Tisch. »Verstehen Sie etwas von Munition, Genosse Michael? Ich meine von schwerer Munition wie Mörsergranaten und Artilleriegeschossen?« »Nein, gar nichts.« »Dann erkläre ich es Ihnen. Schwere Geschosse be stehen aus drei Teilen. Über die eigentliche Sprengla dung und die Zündung brauche ich Ihnen nichts zu sagen, das wird Ihnen, wenigstens im Prinzip, alles bekannt sein.« »Ja.« »Zwischen diesen beiden Teilen befindet sich der drit te. Wir nennen ihn Treibsatz oder Anheizer. Hochex plosive Sprengstoffe von der Sorte, wie sie in schwe ren Geschossen verwendet werden, sind ziemlich un
empfindlich, und eine kleine Geschoßzündung reicht nicht aus. Deswegen bringen wir diesen großen Zün der, den Treibsatz, zwischen den beiden anderen Tei len unter und lassen ihn seinerseits von der Geschoß zündung zur Explosion bringen. Das hier« – er nahm den größeren der beiden Metallgegenstände zur Hand – »ist der Treibsatz.« Es war ein etwa dreißig Zentimeter langer und fünf Zentimeter breiter bronzefarbiger Zylinder, dessen eines Ende in einen schweren Metallkragen auslief. Der Metallkragen war an seiner Außenseite – zum Ein setzen in das >GeschoßTerroristen-Geständnisse< erlangt. Wir haben sie weder geschrieben noch diktiert, und an den Selbstbe zichtigungen, die sie enthalten, ist kein wahres Wort. Ich bin wiederholt gefragt worden, ob wir denn nicht gewußt hätten, was wir taten, als wir unterschrieben, und ich erkläre nochmals: Natürlich wußten wir das, verdammt noch mal! Was wir dagegen nicht wußten, das war, wie wir drumherumkommen sollten, das Ge ständnis zu unterschreiben. Wir haben unter Druck unterschrieben; wir hatten keine andere Wahl. In An betracht dieser Umstände kann ich es Teresa nicht verdenken, daß sie mein Verhalten zu jenem Zeitpunkt mißverstand. Ihr schien, als versuche ich lediglich, in der einzigen Weise, die mir in dieser Situation zu Ge bote stand, auf unvernünftige, ja kindische Weise ge gen Ghaled zurückzuschlagen. Tatsächlich war mein Vorgehen nichts weniger als im pulsiv. Ich versuchte nicht, gegen Ghaled zurückzu schlagen, sondern ihn seinerseits zu einem Schlag gegen mich zu provozieren. Ein Mann, der Geheimnis se von der Art derjenigen Ghaleds hat, steht immer unter Druck. Versetzen Sie ihn unvermittelt mit einer schlechten Nachricht in Wut, und in neun von zehn Fällen wird er unverhältnismäßig heftig reagieren. In seinem Verlangen, Sie zu vernichten und damit die schlechte Nachricht auszulöschen, neigt er dazu, seine Besonnenheit zu verlieren und sich selbst preis zugeben. Selbstverständlich war es gefährlich, mit einem gewalttätigen Menschen wie Ghaled dieses Spiel spielen zu wollen; aber ich brauchte um jeden Preis Informationen, und dafür lohnte es sich, das Risiko in Kauf zu nehmen. Als ich meinen Paß in die Jackentasche steckte, sagte ich beiläufig: »Übrigens, Genosse Salah, es gibt da noch etwas, was Sie wissen sollten.« »Was?«
»Sie sagten gestern abend, daß es hier keine perso nellen und sonstigen Veränderungen geben dürfe, daß keine Entlassungen vorgenommen werden sollten und daß Sie diese Örtlichkeit weiterhin als Hauptquartier benutzen wollen.« »Ja und?« »Ich fürchte, mir wird die Sache in Kürze aus den Händen genommen werden.« »Warum? Von wem? Was wollen Sie damit sagen?« Ich erzählte ihm von dem beabsichtigten Wechsel zur Produktion von Autobatterien und fuhr fort: »Diese Fabrik arbeitet seit Monaten mit Verlust. Ursprünglich war geplant gewesen, sie ganz abzureißen und in Homs eine neue Fabrik für das italienische Projekt zu errichten. Später kam man überein, daß ein solches Vorgehen unwirtschaftlich wäre, und beschloß statt dessen, daß dieses Werk umgestaltet und ausgebaut werden soll. Dieses Gebäude zum Beispiel wird zu einem Verwal tungszentrum umgebaut werden und nur noch Büros beherbergen. Das Laboratorium und die Lagerräume sollen in den neuen Fabriktrakten untergebracht wer den, die geplant sind.« »Er lügt!« rief Issa aufgeregt. »Ich arbeite hier und weiß nichts von diesen Dingen.« »Genosse Issa weiß von sehr vielen Dingen nichts«, entgegnete ich. »Ich gebe nur die Fakten wieder.« »Warum haben Sie mir gestern abend nichts davon berichtet?« fragte Ghaled ganz ruhig. »Weil es mir gar nicht in den Sinn gekommen ist, das zu tun. Ich habe mich Ihren Anordnungen gefügt, wi derspruchslos und ohne irgendwelche Fragen zu stel len. Begreiflicherweise, finde ich. Erst heute abend ist mir klargeworden, daß ich Sie hätte darauf aufmerk sam machen sollen, daß meine Möglichkeiten, diese Anweisungen zu befolgen, zeitlich begrenzt sind.« »Wie zeitlich begrenzt? Auf wie viele Wochen?« »Ich fürchte, darüber hat Dr. Hawa, der Minister, zu
befinden.« »Aber seine Entscheidung wird auf Ihren Empfehlun gen basieren.« »Bedauerlicherweise habe ich ihm meine Empfehlun gen bereits unterbreitet.« Ich zog die Kopie des Me morandums, das ich diktiert hatte, aus der Tasche und überreichte sie ihm. Als er sie las, preßte er wütend die Lippen zusammen. Das überraschte mich nicht. In dem Augenblick, wo das, was ich in dem. Memoran dum vorschlug, beschlossen wurde, würde sein ge mütliches kleines Hauptquartier, das taktisch so über aus günstig sowohl in unmittelbarer Nähe des Der’aFlüchtlingslagers, wo seine Blödmann-Pelotons sich versteckten, als auch unweit der jordanisch libanesischen Grenze gelegen war, zum Mittelpunkt eines Baugeländes werden, das von Außenstehenden nur so wimmelte und von ihm aus gesehen ungefähr so sicher war wie ein flutlichtausgeleuchteter vorge schobener Gefechtsstand. Er starrte mich so lange unverwandt finster an, daß ich zu glauben begann, er habe meinen Trick durchschaut. »Ich dachte, Sie soll ten sich dieser Situation bewußt sein«, sagte ich schließlich, um das Schweigen zu brechen. »Ganz recht, Genosse Michael. Und Sie werden sich jetzt überlegen, wie sie zu ändern ist.« »Unglückseligerweise – « Er hob die Hand. »Keine Ausflüchte. Sie werden tun, was immer erforderlich ist. Merken Sie sich, daß die ses Hauptquartier innerhalb der nächsten sechs Wo chen unter gar keinen Umständen in irgendeiner Wei se gefährdet oder auch nur gestört werden darf.« »Ich werde mein Bestes tun.« »Selbstverständlich werden Sie das. Und sehen Sie ja zu, daß Ihr Bestes auch ausreicht.« Er schwieg einen Augenblick lang und sagte dann: »Haben Sie noch weitere Überraschungen für mich, Genosse Michael?« »Überraschungen?« Er runzelte die Brauen. »Kommen Sie. Ich habe Sie
schon einmal davor gewarnt, Ihre aalglatten Geschäf temachertricks gegen mich auszuspielen. Was haben Sie sonst noch auf Lager?« »Nichts, Genosse Salah. Ich versuche lediglich, Ihnen gegenüber offen zu sein – und ganz und gar nicht, irgendwelche Tricks zu spielen.« »Das hoffe ich, und zwar in Ihrem ureigenen Interes se. Aber um ganz sicherzugehen, will ich Ihnen jetzt schon sagen, was im Rahmen unserer bevorstehenden Aktion von Ihnen verlangt werden wird. Auf diese Wei se haben Sie reichlich Zeit, etwaige Schwierigkeiten, die Sie in bezug auf die Ausführbarkeit Ihres Auftrags vorauszusehen vorgeben, zu beseitigen. Wenn Sie versagen, gibt es keinen Pardon.« »Ich habe bereits erklärt, daß ich mein Bestes für Sie tun will, Genosse Salah.« »Und ich habe gehört, daß Sie das erklärt haben. Ich hoffe, man kann es Ihnen glauben. Wir werden ja se hen.« Er machte eine Pause. »Ihre Firma besitzt ein Motorschiff, die Euridice Howell«, sagte er dann. Es war eine Feststellung, keine Frage, aber ich nickte. »Ja, Genosse Salah.« »Es befördert regelmäßig gemischte Fracht von und nach fünf Anlaufhäfen – Famagusta, Iskenderun, Lata kia, Beirut und Alexandria. Habe ich recht?« »Das sind die häufigsten Anlaufhäfen, aber es fährt überall dorthin, wohin es im Interesse des Geschäfts dirigiert wird – Izmir, Brindisi, Tripolis –, und manch mal auch nach Genua und Neapel.« »Dennoch handelt der Kapitän auf Ihre Weisungen.« »Er handelt auf Weisungen unserer Agenten. Ich gebe die Weisungen nicht persönlich.« »Aber Sie könnten es.« »Ich könnte unsere Agenten instruieren, das zu tun, aber es wäre ein unüblicher Eingriff von meiner Seite. Es müßte schon irgendwelche einleuchtenden ge schäftlichen Gründe dafür geben. Wenn Sie mir sagen würden, an welcherart Anweisungen Sie denken, Ge
nosse Salah, könnte ich die Möglichkeiten besser beur teilen.« »Die geschäftlichen Gründe, von denen Sie reden, sind Ihre Angelegenheit. Ich will, daß das Schiff am oder um den zweiten Juli herum von Latakia zu einer Reise nach Alexandria ausläuft und sich am Abend des drit ten vor Mitternacht in der Nähe des zweiunddreißig sten Breitengrades befindet. Das ist alles.« »Mit was für einer Fracht?« »Mit ganz normaler Fracht. Von welcher Art, spielt keine Rolle. In Latakia allerdings müssen vier Passa giere an Bord genommen werden. In der Nacht vom dritten auf den vierten Juli werden Kurs und Ge schwindigkeit des Schiffs vorübergehend von diesen Passagieren bestimmt werden.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie müssen wissen, Genosse Salah, daß kein Kapitän sich Kurs und Fahrt seines Schiffs von Passagieren vorschreiben läßt.« »Auch dann nicht, wenn ihm diese Weisungen vor dem Auslaufen vom Schiffseigner persönlich übermittelt werden?« Ich zögerte. »Das hängt von den Weisungen ab. Kein Kapitän würde sein Schiff oder die Sicherheit seiner Besatzung aufs Spiel setzen, und auf dieser Route ent lang der Küste läßt sich kein Kapitän der Agence Ho well auch nur auf das geringste Risiko ein. Ganz be sonders sorgfältig wird er darauf achten«, fügte ich bedeutungsvoll hinzu, »daß er nicht in die Sechsmei lenzone gerät.« »Er würde nicht gezwungen werden, Hoheitsgewässer zu befahren oder sein Schiff in irgendeiner Weise zu gefährden. Der Kurs würde ihn geringfügig von der üblichen Route abkommen lassen, und das auch nur für die Dauer von zwei Stunden und bei verminderter Fahrt. Das ist alles.« Einen Augenblick lang dachte ich an den Kapitän der Euridice Howell. Er war ein Grieche mittleren Alters, ein würdevoller, ungemein geachteter Mann, der eine
mollige Frau und sieben Kinder hatte. An Land nicht minder als auf See hielt er strikt auf Ordnung und Dis ziplin. Die Aussicht, diesem hochverdienten Angestell ten klarmachen zu müssen, daß er Ghaleds Anordnun gen hinsichtlich Kurs und Fahrt, wie unbedenklich sie auch erscheinen mochten, unbedingt Folge zu leisten habe, reizte mich nicht, sie mir näher auszumalen. »Haben Sie bestimmte Gründe, die Euridice zu benut zen?« fragte ich. »Nur den, daß es für sie eine ganz normale Reise wä re, von der allgemein bekannt ist, daß sie sie regel mäßig macht.« »Wir haben andere Schiffe, die ständig diese Route befahren. Genosse Salah, Sie sagten, daß es meine Sache sei, für diese Fahrt zu diesem Zeitpunkt und mit Passagieren eine glaubwürdige kommerzielle Rechtfer tigung zu erfinden. Ich muß Ihnen sagen, daß es im Falle der Euridice schwierig sein wird, überzeugende kommerzielle Gründe vorzuschützen. Es hängt vor allem davon ab, wie geheim wir zu verfahren haben. Wenn Geheimhaltung keine Rolle spielt – « »Selbstverständlich spielt sie eine Rolle. Absolute Ge heimhaltung muß gewährleistet sein.« »Dann sollten wir nicht die Euridice nehmen.« »Welches Schiff sonst?« »Lassen Sie mir etwas Zeit, darüber nachzudenken, Genosse Salah.« Tatsächlich hatte ich bereits darüber nachgedacht, allerdings weniger im Hinblick auf geeignete Schiffe als auf willfährige Kapitäne. Der Kapitän, an den ich dachte, war ein prahlerischer Tunesier, der als Ha schisch-Schmuggler erfolgreich gewesen war, bis ihn rivalisierende Kollegen aus der eigenen Branche un weit der Spitze des italienischen Stiefels auf seinem schnellen Motorboot zusammenschossen. Nachdem er eine Zeitlang arbeitslos gewesen war, hatte er bei uns angeheuert. Touzani war ein tüchtiger Kapitän, aber obwohl er sich nichts hatte zuschulden kommen las
sen, seit er für uns fuhr, argwöhnte ich, daß er nach wie vor mit seinen ehemaligen Geschäftspartnern in Verbindung stand. Er würde befremdliche Anweisun gen nicht in Frage stellen, dachte ich, was immer er von ihnen auch halten mochte; und er würde schwei gen. »Nun gut«, sagte Ghaled, »aber kommen Sie mir nicht damit, man hätte Ihnen nicht genug Zeit gelassen, um die erforderlichen Vorbereitungen zu treffen. Geben Sie mir sofort Bescheid, sobald Sie den Namen des Schiffs wissen.« »Sofort.« »Es muß ein Schiff aus Eisen sein, verstehen Sie, und es darf nicht kleiner sein als die Euridice Howell.« »Es wird etwa die gleiche Tonnage haben.« »Zwischenberichte über Stand und Fortgang der Ihnen erteilten Aufträge erstatten Sie jeweils dem Genossen Issa, der Ihnen seinerseits weitere Befehle übermitteln wird.« »Ja, Genosse Salah.« »Dann können Sie jetzt gehen.« Wir gingen. Teresa, die offenkundig Mühe hatte, diver se unterdrückte Regungen noch länger zu zügeln, war schweigsam. Ich nahm an, daß die vorherrschenden unter ihnen gegen Ghaled gerichtete Gefühle der Wut und Empörung seien. Erst nachdem Ahmad und Musa uns am Fabriktor verlassen hatten, stellte ich fest, daß ich mich im Irrtum befand. Ihr Zorn galt mir. »Du hältst ihn für geisteskrank, nicht wahr?« sagte sie unvermittelt. Ihre Stimme hatte einen anklägerischen Tonfall. Die Frage bestürzte mich. Bisher hatte ich in Ghaled eine unberechenbare reißende Bestie gesehen. Mich zu fragen, ob sein Geist krank sei oder gesund, war mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Ich bin kein Psychiater. Ich sagte ihr das. »Aber du hast ihn behandelt, als sei er geisteskrank, meinst du nicht? Geisteskrank oder dumm?«
»Ich halte ihn ganz und gar nicht für dumm.«
»Aber jeder, der dir heute abend zugehört hätte, wür
de das vermutet haben.«
»Du meinst, ich hätte ihn allzu offenkundig bei Laune
zu halten versucht?«
»Ich meine, daß du ihm in einem Augenblick ge
schmeichelt und ihn im nächsten provoziert hast.
Schlimmer noch, du hast so getan, als hättest du
Angst vor ihm, und dann gezeigt, daß du keine hast.«
»Aber ich habe Angst vor ihm, verdammt noch mal.«
»Diesen Umstand hast du nur allzu gut verborgen.
Jetzt weiß er nicht, woran er mit dir ist. Bist du ver
trauenswürdig oder bist du es nicht? Das fragt er sich
natürlich. Deine Haltung war voller Widersprüche.«
Ich seufzte. »Ich bin nicht darauf trainiert, mit Leuten
wie Ghaled zu tun zu haben. Wie hättest du dich an
meiner Stelle verhalten?«
»Ich hätte ihm in allen Punkten nachgegeben. Keine
Einwände erhoben, sondern allem zugestimmt.«
»Und dann?«
»Hätte ich Reißaus genommen. Das zumindest können
wir noch tun. Das Land verlassen, so schnell es geht.«
»Und uns vor seinen Killer-Rotten verstecken?«
»Er hat nur geblufft. Was kann er uns in Rom denn
tun?«
»Unsere Niederlassungen befinden sich ausnahmslos
in arabischen Ländern, und das weiß er. Zudem sind
wir Ausländer, und das macht uns angreifbar. In die
sem Punkt hat er nicht geblufft.«
»Dann liquidiere die Geschäftsunternehmen, Michael.
Veräußere die Schiffe. Deine Familie würde keine
Schwierigkeiten machen. Reich wäret ihr alle deswe
gen immer noch.«
Ich starrte sie ungläubig an. Sie hantierte angelegent
lich mit dem Zündschlüssel, ehe sie ihn ins Schloß
steckte, vermied es aber, mich anzusehen.
»Liquidieren – wegen Ghaled?« fragte ich. »Ist das
dein Ernst?«
Sie antwortete nicht gleich. »Du hast selber schon daran gedacht«, sagte sie schließlich. »Du weißt, daß du es getan hast. Und das nicht nur wegen Ghaled und wegen des PAK. Du glaubst selber nicht, daß die Agen ce Howell im Mittleren Osten noch eine Zukunft hat. Du glaubst, daß ihre Zeit abgelaufen ist. Das weiß ich, Michael. Das weiß ich ganz genau.« »Großartig! Darf man erfahren, woher?« »Rede nicht in diesem Ton mit mir, Michael. Du müß test eigentlich wissen, daß ich zumindest nicht dumm bin. Was ist deine ganze hiesige Geschäftstätigkeit denn anderes als ein einziger Liquidierungsprozeß? Du gibst es nicht zu, aber aussteigen aus allem, das ist es doch, was du wirklich willst. Zu deinen eigenen Bedin gungen natürlich, aber bald. Die Howells haben es immer verstanden, ihr Schäfchen ins trockene zu brin gen, aber jetzt sind die Besitzverhältnisse in diesem Teil der Welt für sie nicht mehr sicher. Deine Mutter weiß das, da habe ich gar keinen Zweifel.« »Mama?« Ich lachte. »Gewiß. Bevor ich persona ingrata wurde, hat sie mir das sinngemäß selber einmal gesagt. Sie muß dir ge genüber auch davon gesprochen haben. Die besten Suiten in französischen Fünf-Sterne-Hotels, viel Bridge mit gut spielenden Partnern und ferngelenkte Kontrol le über die Erziehung ihrer Enkelkinder – so stellt sie sich ihre Zukunft vor. Im Winter Monaco, im Sommer Evian, ein Rolls-Royce und ihre libanesische Kammer zofe. Du weißt, daß das stimmt, Michael.« »Und du glaubst, ich teile die Vorlieben meiner Mut ter?« »Nein«, sagte sie. »Du wirst immer arbeiten. Aber nicht hier. Du läßt dir nicht oft in die Karten gucken, aber heute morgen hast du es getan.« »Habe ich das?« »Diese Anlaufstelle – der einzige Ort, wo wir rasch untertauchen könnten und vor dem PAK absolut sicher wären.«
»Was ist damit?«
»Es war Israel, an das du gedacht hast, nicht wahr?«
»Ja. Aber das wäre natürlich nur der allerletzte Aus
weg.«
»Natürlich. Die Tatsache, daß Michael Howell sich in
Israel aufhält, würde, sobald sie bekannt geworden
wäre, die Verhandlungsposition der Agence Howell
außerordentlich belasten. Ihre Liquidation wäre nicht
länger eine Sache deines Ermessens. Sie würde
zwangsweise erfolgen.«
»Dessen bin ich mir vollauf bewußt. Wie ich schon
sagte, es ist der letzte Ausweg.«
»Aber du hast ihn erwogen. Schlecht fürs Geschäft,
das allerdings, aber deswegen doch nicht ganz und gar
auszuschließen. Siehst du, Michael?«
Viel länger konnte und wollte ich mir das nicht mehr
anhören.
»Willst du weg?« fragte ich.
»Meinst du allein?«
Ich sagte nichts.
Sie ließ nicht locker. »Ich soll allein gehen und es dir
überlassen, Ghaled meinen Treubruch plausibel zu
machen?«
»Wenn du willst, kannst du.«
»Was du da redest, Michael, ist entweder herzlos oder
töricht.«
»Ich bin müde. Laß uns heimfahren.«
»Wie du willst.«
Sie sprach erst wieder, als wir die Stadtgrenze erreicht
hatten.
»Was meinte Ghaled mit dem zweiunddreißigsten Brei
tengrad?« fragte sie.
Ich war mit meinen Gedanken bei metrischen Tabellen
für Gewindegänge und antwortete nicht gleich.
»Michael.« Sie war im Begriff, die Frage zu wiederho
len, als ich ihr antwortete. »Zweiunddreißig Grad
nördlicher Breite, das ist annähernd der Breitengrad,
auf dem Tel Aviv liegt«, sagte ich.
5. Teresa Malandra 18. Mai bis 10. Juni Wenn es – besonders Journalisten – schwerfällt, Mi chael zu begreifen, so liegt das daran, daß er keine Einzelperson, sondern ein ganzes Komitee, eine Ver sammlung verschiedenartigster Personen ist. Da gibt es zum Beispiel den griechischen Geldwechsler, des sen flinke magere Finger die Kugeln des Abakus, mit dem er seine Blitzkalkulationen anstellt, unablässig hin- und herschieben; des weiteren den dumpf vor sich hin brütenden armenischen Basarhändler mit dem todtraurigen Blick, der immer so tut, als sei er schwer von Begriff, in Wirklichkeit aber unaufrichtig und abge feimt bis dorthinaus ist; es gibt den nüchternen, lang weiligen Engländer, einen gelernten Ingenieur; ferner den umgänglichen jungen Geschäftsmann, der rohsei dene Anzüge trägt und um die treublickenden, großen hellen Betrügeraugen herum Lachfältchen hat, den Generaldirektor der Agence Howell mit seiner Mutter bindung, seiner fixierten Abwehrhaltung, seiner Nei gung zu Sentenz und wortreicher Rede; und es gibt den Michael, den ich besonders gern habe, der – aber wozu die Aufzählung fortsetzen? Das Michael-HowellKomitee tagt in Permanenz, und wenngleich die Auf gabe, seine Beschlüsse in die Tat umzusetzen, für ge wöhnlich jeweils nur einem einzigen Mitglied übertra gen wird, so kann man doch die Stimmen der anderen zumeist weiterhin im Hintergrund flüstern hören. Gha led hat das Wispern dieser soufflierenden Stimmen mit Sicherheit vernommen, aber zweifelsfrei zu identifizie ren vermochte er nur den Ingenieur. Immerhin war sein Urteil über dieses Komiteemitglied zutreffend; der fachliche Ehrgeiz des Engländers grenzt an Besessen heit. In den ersten Tagen nach jener zweiten Zusammen
kunft mit Ghaled schien es keinen eifrigeren und erge beneren Anhänger der Sache des Palästinensischen Aktionskommandos zu geben als den Genossen Micha el. Innerhalb von achtundvierzig Stunden waren die Zeichnungen und Anleitungen für die Fertigung des Zünder-Verbindungsrings fertiggestellt und an die Ma schinenwerkstatt nach Beirut abgeschickt. Am näch sten Tag schon hatte man sich telefonisch über den Preis geeinigt, und mit der Arbeit an dem Musterstück konnte begonnen werden. Unterdessen waren die für die Monate Juni und Juli vorgesehenen Schiffahrtsbe wegungen der Reederei Howell analysiert und diverse Vorausberechnungen aufgestellt worden. Alsdann wurden mögliche Umdispositionen und Manipulationen erkundet. Es war wie eine vertrackte Schachaufgabe. Am 2. Juli muß das Motorschiff Amalia Howell (Ver drängung: 4000 Bruttoregistertonnen, Kapitän: Tou zani), möglicher-, aber nicht notwendigerweise mit Frachtladung an Bord, aus Latakia auslaufen und Kurs auf Alexandria nehmen. Aufgabe: Erreiche dieses Ziel in nicht mehr als drei Zügen, von denen keiner deinem Gegner (in diesem Fall deinem eigenen Schiffahrts agenten) zur Kenntnis gelangen oder, falls dies ge schehen sollte, von ihm als Schachzug erkannt werden darf. Tagelang dachte Michael immer wieder darüber nach. Schließlich kam er auf eine Lösung, die nur zwei Züge erforderte. Erstens den vorgetäuschten zeitweili gen Entzug der (nach Artikel 17 der Internationalen Gesundheitsbestimmungen vorgeschriebenen) Unbe denklichkeitsbescheinigung für die Amalia, demzufolge das Schiff drei Tage lang – gegebenenfalls auch länger – im Hafen festgehalten werden würde; und zweitens eine daraus sich notwendigerweise ergebende Umdis position in der Planung von Howell-Frachterfahrten, aufgrund deren die Amalia nach Ancona umdirigiert wurde, um dort Fracht für Latakia zu laden. Seine Au gen leuchteten vor Vergnügen, als er die technischen
Einzelheiten mit mir durchging. »Sag Issa, er soll die Nachricht weitergeben«, sagte er schließlich. »Keine Einzelheiten, gib ihm nur den Na men des Schiffs an. Du kannst ihm außerdem sagen, daß uns der Musterring am kommenden Montag gelie fert wird. Ghaled wird ihn sich ansehen wollen. Bitte um weitere Anweisungen. Es muß so aussehen, als ob wir bereit seien, hundertprozentig mitzumachen.« »Warum sagst du, >so aussehen als ob