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Von HARALD EVERS erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Höhlenwelt-Saga 1. Die Bru...
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Von HARALD EVERS erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Höhlenwelt-Saga 1. Die Bruderschaft von Yoor ■ 06/9127 2. Leandras Schwur • 06/9128 3. Der dunkle Pakt ■ 06/9129 (in Vorb.)
HARALD EVERS
Leandras Schwur Zweiter Roman HÖHLENWELT-Saga Originalausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/9128 Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt 3. Auflage Originalausgabe 4/2001 Redaktion: Angela Kuepper Copyright © 2001 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München http: //www.heyne.de Printed in Germany 2002 Umschlagbild: Hans-Werner Sahm/Galeria Andreas S.L., Spanien www.sahm-gallery.de Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm ISBN 3-453-17902-1 INHALT 1 ♦ Hellami ................................. 7 2 ♦ Der Brief ................................ 28 3 ♦ Fremde ................................. 40 4 ♦ Flucht .................................. 55 5 ♦ Ulfa .................................... 69 6 ♦ Morgengrauen .......................... 89 7 ♦ Der Pakt ................................ 107 8 ♦ Die Schmiede ........................... 120 9 ♦ Abgründe ............................... 134 10 ♦ Neue Wege .............................. 155 11 ♦ Erkenntnisse ............................ 180 12 ♦ Valerian................................ 193 13 ♦ Sturm.................................. 209 14 ♦ Der Orden .............................. 229 15 ♦ Stygische Magie ......................... 242 16 ♦ Roya ................................... 253 17 ♦ Bruderschaft ............................ 262 18 ♦ Verschwörung ........................... 277 19 ♦ Heimkehr ............................... 292 20 ♦ Die Basilika ............................. 302 21 ♦ Entdeckungen ........................... 316 22 ♦ Wagnis ................................. 337 23 ♦ Quantar ................................ 356 24 ♦ Tirao ...................................369
25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45
♦ Die Falle ................................386 ♦ Dunkel über der Stadt ....................395 ♦ Jacaire ..................................411 ♦ Drachenliebe ............................423 ♦ Schlachtpläne ...........................434 ♦ Der Rote Ochs ............................446 ♦ Jagd ....................................465 ♦ Besuch..................................477 ♦ Schwertmagie ...........................497 ♦ Untertauchen ...........................509 ♦ Legende ................................528 ♦ Freundschaften ..........................544 ♦ Ramakorum .............................567 ♦ Verbündete .............................590 ♦ Rohe Magie ............................. 620 ♦ Ghouls ................................. 638 ♦ Höllenwurm ............................ 656 ♦ Erwachen ............................... 675 ♦ Flucht..................................687 ♦ Marie ................................... 702 ♦ Der Palast ............................... 732
1 ♦ Hellami Mühsam unterdrückte Hellami ein Ächzen, kauerte hinter einem Strauch und starrte angespannt in die Dunkelheit. Da hörte sie es wieder: das Geräusch durchs Gras eilender Füße und dazwischen manchmal, etwas weiter entfernt, das Klappern von Pferdehufen auf hartem Grund. Verdammt! Die Kerle würden sie bald erwischt haben, und dann war es aus mit ihr. Wie sollte sie ihnen jetzt noch entkommen? Sie atmete so ruhig sie konnte, versuchte herauszuhören, in welche Richtung sich die Verfolger bewegten. Vielleicht hatte sie ja Glück und sie eilten an ihr vorbei. Dann aber hörte sie ein Flüstern ganz in ihrer Nähe. Sie packte ihren kleinen Dolch fester, wild entschlossen, ihn jedem in den Bauch zu rammen, der es wagen sollte, sie anzufassen. Schon vor Tagen hatte sie gehofft, es möge ihr gelingen, sich irgendwie zu verstecken, die Verfolger abzuschütteln und sich wieder unbehelligt nach Norden durch den Wald zu schlagen. Aber ständig tauchten diese Kerle auf. Es waren die Gleichen wie zuvor, das wusste sie inzwischen. Anfangs hatte sie gedacht, sie wäre aus purem Zufall unterschiedlichen Suchtrupps über den Weg gelaufen. Aber dann wurde ihr klar, dass man sie verfolgte, sie immer wieder aufspürte - und dass es den Männern möglicherweise gar nicht darum ging, sie nur einzufangen. Sie schienen es ernst zu meinen. Vielleicht wollten sie sie gar töten! Leise zog sie sich rückwärts ins Gebüsch zurück. Sie 7 glaubte, in der Nähe irgendwo das schwache Rauschen von Wasser vernommen zu haben. Wenn das die Morne war, dann gab es vielleicht noch einen letzten Ausweg. Sie eilte durch ein niedriges Wäldchen und setzte ihre Füße auf Inseln von weichem Gras, das hier und da zwischen den Bäumen wuchs. Raschelndes Laub würde sie verraten. Zum Glück konnte sie genug sehen; Mondlicht fiel durch ein Sonnenfenster in die Welt herab. Wäre sie nicht in einer so verflucht ernsten Lage gewesen, dann hätte sie diese warme, stille Nacht geradezu als romantisch bezeichnen können. Sie duckte sich unter Zweigen hinweg, sprang leise über Wurzeln und Steine und nutzte den tiefen Schatten der Bäume und Büsche. Stellen, an denen das Mondlicht bis zum Boden durchbrach, mied sie. Für einige Minuten verbot sie sich, auf die Verfolger zu lauschen; nein, dazu hätte sie stehen bleiben müssen, und im Augenblick wollte sie so schnell, wie es nur ging, fort von den Männern. Sie wusste nicht, ob ein Waldläufer oder ein Krieger es ebenso wie sie gemacht hätte - woher auch? Sie war nur ein einfaches Mädchen aus einer schlechten Gegend von Savalgor. In den Gassen der Stadt, ja, da hätte sie sich sicherer bewegt, dort kannte sie sich aus und wusste, wie man sich unauffällig verhielt. Dann aber erinnerte sie sich, was geschehen war, als sie zum letzten Mal durch die Gassen von Savalgor gelaufen war - auf welche Weise man sie von dort verschleppt hatte. Nein, dachte sie, selbst in den vertrauten Gassen lauerten inzwischen Gefahren auf einen, die man nicht mehr ermessen konnte. Sie hielt im Schatten eines großen Waldfarns an und kauerte sich nieder. Ihr Atem ging schwer, und sie blickte sich angstvoll um, ob etwas von ihren Verfolgern auszumachen war. Beinahe hätte sie es übersehen. Dreißig oder vierzig Schritte hinter ihr waren die Um11
risse einer Gestalt durch einen verirrten Strahl Mondlicht gehuscht. Hellami stieg ein Kloß heißer Angst in die Kehle. Kein Zweifel mehr, sie wurde regelrecht gejagt, mit klarer Absicht. Diese Männer wollten sie um jeden Preis erwischen und sie setzten erfahrene Leute dafür ein; solche, die sich in der Nacht lautlos zu bewegen und einem Opfer gnadenlos auf den Fersen zu bleiben vermochten. Sie kroch voller Angst tiefer unter den großen Farn und lauschte angestrengt. Das Rauschen des Wassers war deutlicher geworden. Aber selbst wenn sie versuchen wollte, durchs Wasser zu entkommen, standen ihre Aussichten nicht gut. Sie war zwar eine recht gute Schwimmerin, aber in dem mondbeschienenen Fluss wäre sie so leicht zu erkennen gewesen wie ein Apfel in einem Badezuber. Was war nur geschehen, dass man sie so hartnäckig verfolgte? War es der Brief gewesen, den sie erhalten hatte? Möglicherweise hatte ihn jemand gelesen - der Weg von Savalgor bis nach Minoor war lang und Briefe waren in Zeiten wie diesen wahrscheinlich eine Seltenheit. Es mochte gut sein, dass jetzt alle Briefe gelesen wurden - es war schlichtweg alles möglich. Sie wusste einen Mann, der noch eine Rechnung mit ihr offen hatte. In dem Brief stand genug, um sie als eines der sechs Mädchen bestimmen zu können, die damals bei diesem Guldor in Gefangenschaft gesessen hatten. Das würde so manches erklären. Sie tastete nach dem Brief, den sie der Tasche ihrer Jacke trug. Ja, er war noch da. In der Nähe war plötzlich ein leises Rascheln zu hören. Sie fuhr hoch, blickte sich um und schalt sich im selben Augenblick, dass sie so viel Zeit damit verplempert hatte, irgendwelche Überlegungen anzustellen, die ihr jetzt auch nicht weiterhalfen. Immerhin - hier, wo sie saß, war es stockfinster, und 12 der Kerl, wenn da einer war, hätte zu ihr unter den Farn kriechen müssen, um sie zu entdecken. Und genau das tat er jetzt. Hellami hätte beinahe aufgeschrien - und das wäre das Aus gewesen. In ihrem Schreck tat sie das Einzige, was wirklich half - und dass es half, war auch nur ein Zufall. Sie warf sich mit vorschnellendem Dolch nach vorn und stach blindlings zu. Sie traf den Kerl. Sie wusste nicht, wo, aber er stieß ein Gurgeln aus, und da war sie schon unter dem Farn hervorgestürzt, taumelte zu Boden, rappelte sich wieder hoch und rannte los. Irgendwo stieß jemand einen Fluch aus, verhaltene Rufe waren zu hören, und dann sirrte irgendwas durch die Luft und klatschte, nicht weit von ihr, gegen einen Baumstamm. Hellami quietschte auf und rannte, so schnell ihre Füße sie nur tragen konnten. Ein weiteres Sirren erklang, und irgendetwas, möglicherweise ein Armbrustbolzen, pfiff erschreckend nah an ihrem rechten Oberschenkel vorbei. Sie meinte fast den Schmerz und den Schock spüren zu können - gerade so als hätte der Bolzen sie getroffen. Eine schreckliche Sekunde lang sah sie sich röchelnd zu Boden sinken tödlich verletzt und ihre letzten, verzweifelten Atemzüge in die Stille des Waldes hinaushechelnd. Alles umsonst. Ihr kurzes Leben verspielt - außer einigen wenigen Höhepunkten. Die Vorstellung raubte ihr fast den Verstand. Während sie weiterhastete, fing sie verzweifelt an zu schluchzen. In wenigen Augenblicken konnte sie verloren sein. Dann würden sie sie töten. Die Angst verlieh ihr Flügel, und sie schaffte es, in eine Gruppe von jungen Bäumen hineinzuhasten, ohne von etwas getroffen zu werden, und damit erst einmal außer Sichtweite zu gelangen. Doch im nächsten Augenblick zischte ein halbes Dutzend Pfeile in die Bäume hinein. Sie ließ sich mit einem Aufschrei zu Boden fallen 13 und kugelte sich wie ein Igel zusammen, den Kopf unter den Armen versteckt. Gleich darauf hörte sie einen trockenen Schlag und spürte einen Schmerz in der Fußsohle. Für den Augenblick jedoch wagte sie nicht, sich zu rühren. Weitere Pfeile pfiffen in die Bäume, aber wie durch ein Wunder traf sie keiner. »Habt ihr das Miststück?«, rief es von irgendwoher. »Ich glaube schon!« Die Stimme hatte erleichtert geklungen, so als wäre der Rufer sicher, sie nun endlich erledigt zu haben. Das brachte sie in Wut, in rasende Wut. Was für ein Dreckskerl war das, der ein wehrloses Mädchen nachts durch den Wald jagte und sich dann auch noch brüstete, sie getötet oder verwundet zu haben - ohne ihr auch nur einmal im Leben ins Gesicht geblickt zu haben? Sie bekam Lust, hier auf ihn zu warten und in dem Moment, da er sich über sie beugte, aufzuspringen und ihm die Augen auszukratzen. Aber die Vorstellung war dumm - immerhin erkannte sie das noch. Es ging um ihr Leben. Das Rauschen des Wassers war jetzt ganz deutlich zu vernehmen, und plötzlich sah sie durch einige Zweige direkt vor ihr das Wasser des Flusses heraufschimmern. Sie war nur noch ein paar Schritte entfernt - ja, dort ging es über eine felsige Kante direkt in die Morne hinab, nur wenige Armlängen von ihr entfernt. Sie sah ihren Ausweg. Einer Eingebung folgend, fing sie an zu stöhnen und zu wimmern und kroch vorwärts. »Hier!«, rief jemand. »Hier muss sie sein! Ich hab sie gehört! Los, her mit euch!« Hellami erreichte schon im nächsten Moment das felsige Ufer des Flusses und sah ins Wasser hinab, zehn oder zwölf Schritte unter ihr. Sie hatte einen Pfeil in der rechten Stiefelsohle stecken, aber Zeit, den herauszuzie14 hen, war jetzt keine mehr. Es war auch keine Zeit, überhaupt über irgendetwas nachzudenken. Das Wasser dort
unten mochte flach sein oder es konnten sich Felsen oder Äste unter der Wasseroberfläche befinden. Ein Sturz aus dieser Höhe würde leicht reichen, ihr den Schädel oder das Rückgrat zu brechen. Aber es war ihre einzige Möglichkeit. Sie ließ sich einfach fallen und hoffte, dass sie Glück hatte. Es wurde auch langsam Zeit, dass ihr das Glück endlich einmal weiterhalf. Cathryn weinte wieder. Die verfluchten Soldaten wurden in letzter Zeit immer brutaler. Wenn ein Kind eine Minute, nachdem die Glocke erklungen war, noch draußen spielte oder auch nur seine Spielsachen zusammensuchte, trieben sie es mit Tritten von der Straße weg und scheuchten es fluchend nach Hause. Leandra nahm ihre kleine Schwester tröstend in die Arme und warf den beiden Kerlen einen hasserfüllten Blick zu. Sie hatten Cathryn diesmal zwar nicht geschlagen, aber das Gebrüll allein genügte, um das siebenjährige Mädchen zu Tode zu erschrecken. »Wenn auch nur einer von euch sie jemals wieder anrührt«, rief sie voller Zorn, »dann bringe ich ihn um!« Höhnisches Gelächter schallte ihr entgegen. »Womit denn, blöde Ziege? Mit 'nem Kochlöffel vielleicht?« Der dumme Witz verstärkte das Gelächter noch und unter Flüchen und hässlichen Gesten zogen die Soldaten weiter. »Ist schon gut, Trinchen, weine nicht«, sagte Leandra sanft und schloss ihre kleine Schwester noch fester in die Arme. Sie knieten im Garten des kleinen Steinhauses, das ihre Eltern vorletztes Jahr fertig gebaut hatten, und versuchte die Kleine zu trösten. Cathryn vergoss bittere Tränen, aber es waren vornehmlich Tränen der 15 hilflosen Wut. In ihr schlummerte eine ebenso große Rebellin wie in Leandra. Andererseits war Cathryn ein so liebes und hübsches Kind, dass Leandra einfach nicht verstehen konnte, wie jemand es übers Herz brachte, die Kleine roh und gemein zu behandeln. Aber es hatte sich alles geändert. Vor einem Jahr noch war die Welt eine andere gewesen. Leandra seufzte schwer. Damals, als sie in dieses unglaubliche Abenteuer mit Munuel, Victor und den anderen hineingeraten war und es schließlich durchgestanden hatte, war sie in der Gewissheit in ihr Heimatdorf Angadoor zurückgekehrt, dass von nun an die Sonne wieder in einem helleren Licht in die Welt herabscheinen würde; dass sich die Menschen wieder offener begegnen konnten und all die dunkle Bedrohung aus Akrania und den Westreichen gewichen war. Und für eine kurze Zeit hatte es tatsächlich auch so ausgesehen. Dann aber waren die Soldaten gekommen. Reisebeschränkungen und nächtliche Ausgangssperren waren verhängt worden und nicht zuletzt mussten alle Kinder um Schlag sechs am Abend wieder in den Häusern sein. Schlag sechs - unvorstellbar! Jetzt, im späten Frühling, würde es noch mindestens für drei Stunden hell draußen sein. Den ganzen kalten Winter über hatten die Angadoorer Kinder gejammert und geklagt - und nun, da es wieder die Zeit war, draußen herumzutoben, durften sie es nicht. Es war schier unmöglich, den Kindern diese Freiheit zu nehmen. Im Jahr zuvor hatten sie um die gleiche Tageszeit noch ausgelassen am Fluss gespielt. Man hatte sie nur mit Hilfe von Drohungen zum Abendessen bewegen können, und das auch nur, damit sie gleich hernach wieder hinauseilen und noch für Stunden herumtollen konnten. Der abendliche Hausarrest hingegen hatte unter den Angadoorer Kindern inzwischen eine regelrechte Verbitterung ausgelöst. Sie waren mürrisch, unzufrieden 16 und launisch geworden. Selbst Cathryn, Leandras kleiner Sonnenschein, den sie über alles liebte, hatte oft Tage, an denen sie biestig und schlecht gelaunt war. Sollte das über Jahre so weitergehen, dann würde die Generation dieser Kinder zu einem Haufen verbitterter, missliebiger Personen heranwachsen. Leandra erhob sich und führte Cathryn zur Haustür. »Komm, kleine Prinzessin«, sagte sie freundlich. »Wir spielen noch miteinander, ja?« »Nein!«, schrie Cathryn weinend und riss sich los. »Ich will nicht!« Sie stürmte die zwei Treppenstufen hinauf, stieß mit ihren Kinderkräften die Tür auf, war gleich darauf im Haus und bemühte sich, die Tür möglichst lautstark wieder zuzuknallen. Leandra seufzte auf und eilte ihr hinterher. Als sie drinnen war, hörte sie nur noch die Tür von Cathryns Zimmer zudonnern. Sie ließ abermals einen Seufzer hören und wusste nicht, wie viele davon sie inzwischen Tag für Tag ausstieß. Aber es hatte keinen Zweck, ihre Schwester jetzt zu etwas zwingen zu wollen. Sie musste erst ihre Wut abkühlen - dann würde sie schon von selbst wieder kommen. Leandra änderte die Richtung und ging in die Küche. Mutter saß am Tisch und stickte an einem Kleidchen für Cathryn. »Ist sie wütend?«, fragte sie leise und blickte kurz auf. Leandra ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Diese Mistsoldaten haben sie schon wieder davongejagt.« Mutter nickte nur trübsinnig. Sie hatte sich in den letzten Monaten ein dickes Fell zugelegt. Zulegen müssen. Niemand in Angadoor war mehr richtig froh und jeder Einzelne hatte unter seinen Mitmenschen zu leiden. »So kann das nicht weitergehen!«, stellte Leandra fest. 17 »Ich weiß, mein Herz«, sagte Mutter. »Das wissen wir alle. Nur - was können wir schon tun?«
Leandra fuhr herum und rief: »Wenn Munuel jetzt hier wäre, dann ...« Sie verstummte und sackte wieder auf ihrem Stuhl zusammen. Munuel. Ja, Munuel, wenn der jetzt hier wäre! Sie hatte sich in all den Monaten noch immer nicht an den Gedanken gewöhnen können, dass er tot war. Munuel, der Dorfmagier von Angadoor - er war ein Fels in der Brandung gewesen, ein Mann von unerhörter Ausstrahlung und auch von einer Macht, von der hier nie jemand auch nur etwas geahnt hatte. Er hätte diese Kerle da draußen binnen kürzester Zeit davongejagt. Nein - korrigierte sich Leandra. Inzwischen war ja die freie Ausübung von Magie in Akrania verboten. Das durften nur Männer, die dieser erschreckenden Duuma angehörten! Selbst wenn Munuel noch lebte, so wäre er nicht in der Lage, Eiwar, dem Korporal der Angadoorer Garnison, Respekt beizubringen. Nicht, wenn er nicht willens wäre, einen Krieg zu beginnen. »Wann kommt Vater?«, fragte Leandra. »Hatte der Gemeinderat heute Nachmittag nicht ein Treffen - mit dem Kommandanten der Garnison?« Mutter sah auf. »Vater war schon hier.« Sie sprach in mutlosem Tonfall, der darauf schließen ließ, dass wieder nichts erreicht worden war. Leandras Miene verfinstere sich. »Und?«, fragte sie. Mutter schüttelte den Kopf. »Nichts. Eiwar lässt sich auf nichts ein. Er sagt, er wäre dem Kommandanten des Nordbezirkes unterstellt und der würde sich auf keine Lockerung der Vorschriften einlassen.« Leandra wandte den Kopf und starrte an die Wand. »Verdammter Feigling!«, sagte sie - nicht eben leise. Mutter sah zu den Fenstern, als habe sie Angst, jemand habe sie von draußen belauschen können. »Leandra!«, zischte sie. »Du solltest vorsichtiger sein!« 18 Leandra warf eine Hand in die Luft. »Es ist mir egal!«, rief sie wütend. »Sollen die Kerle doch kommen!« Mutter ließ ihr Stickwerk auf den Tisch sinken, stieß den Stuhl zurück und kniete sich vor Leandras Stuhl hin. Sie fasste ihre älteste Tochter an beiden Händen und blickte zu ihr auf. Tränen standen in ihren Augen. »Leandra!«, sagte sie verzweifelt. »Ich habe Angst um dich! Es war schlimm genug ... als du damals wiederkamst! Wir dachten alle, du würdest sterben! Bitte - so etwas darf nie wieder geschehen!« Leandra blickte in das angsterfüllte Gesicht ihrer Mutter. Sie war immer stolz darauf gewesen, eine Mutter zu haben, die trotz ihrer fünfundvierzig Jahre noch immer so hübsch und anziehend aussah wie um zehn Jahre jüngere Frauen. Aber auch Mutters Aussehen hatte sich geändert. Ihre Züge waren verhärmt vor Sorge um ihre Familie, und der Schock, den sie damals erlitten hatte, als ihre eigene Tochter auf einem Karren liegend und fast völlig bewegungsunfähig nach Angadoor zurückgebracht worden war, hatte sie beinahe ihre Gesundheit gekostet. Leandra beugte sich herab und umarmte sie. Mutter brach in bittere Tränen aus. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, schluchzte sie. »Vater wird von Tag zu Tag wütender, und ich fürchte, sie werden bald einen Aufstand machen. Sie werden die Soldaten angreifen - und nur die Kräfte wissen, was dann mit unserer Familie und unserem Dorf geschehen wird!« Leandra schloss die Augen. Etwas, das Munuel einmal gesagt hatte, kam ihr wieder in den Sinn. Er hatte mit leidenschaftlicher Anteilnahme das Recht angezweifelt, gegen jede Unterdrückung bedenkenlos ankämpfen zu dürfen - wenn das unausweichliche Ergebnis nur aus noch größerem Elend und aus Tod bestand. Er hatte gesagt, dass dann nur noch das Nichts übrig 19 bleibe. Ein Leben in Unterdrückung jedoch beinhalte wenigstens immer noch die Hoffnung. Und die sei allemal besser als der Tod. Leandra war sich inzwischen nicht mehr sicher, ob er wirklich Recht gehabt hatte. Welche Hoffnung hatte Munuel gemeint? Die Hoffnung, dass sich alles von selbst wieder bessern würde? Das Leben in Großakrania, wie das Land jetzt wieder hieß, war fast unerträglich geworden. Der Hass der Bevölkerung auf die Unterdrückung durch den Hierokratischen Rat schwoll immer weiter an, und vielleicht war es dennoch eine edle Tat, diese Tyrannei zu bekämpfen, auch wenn es viele Leben kosten sollte. Was von einem Volk übrig blieb, das sich der Unterdrückung ergab, das konnte man an den Kindern ermessen. Kaum vorstellbar, dass ihre kleine Cathryn eines Tages zu einer verbitterten und freudlosen Person aufwachsen sollte. Nein, das durfte nicht sein. Leandra sehnte sich danach, Cathryn wieder einmal so lachen zu sehen wie früher. Ausgelassen, voller Wärme und Herzlichkeit. Aber sie verzichtete darauf, ihrer Mutter eine entsprechende Antwort zu geben. Jetzt, da sie wieder so gut wie völlig genesen war, wurde es Zeit, sich etwas einfallen zu lassen. Es war nicht ihre Art, sich bei drohenden Gefahren angstvoll zu Hause zu verkriechen - in dem Fall wäre sie damals nicht mit Munuel nach Unifar gegangen. Nein, sie spürte, dass sie über kurz oder lang einfach etwas unternehmen musste. »Mach dir keine Sorgen, Mutter«, sagte sie. »Es wird alles schon wieder besser werden.« Mutter blickte auf und musterte Leandras Gesicht. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne dich, mein Kind«, sagte sie. »Du bist eine Kämpferin. Irgendwann wirst du wieder fortgehen und dann ...« Ja. Leandra nickte sich innerlich zu. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, sagte ein altes Sprichwort. Aber es schreckte sie nicht. Das, was ihr an Ge20 fahren schon begegnet war, konnte nur schwerlich übertroffen werden. Und dass alte Sprichwörter nicht immer
zutreffen mussten, dafür war sie selbst ein lebender Beweis. Leandra erhob sich. »Ich werde noch ein wenig lesen und dann gehe ich ins Bett«, sagte sie. »Ich bin müde. Ich hab heute, glaube ich, mindestens tausend Betttücher gewaschen.« Mutter nickte, ließ sie los und stand auf. Ihr Tränenfluss war versiegt und sie sah ihre Tochter hoffnungsvoll an. Für einen Augenblick blitzte ihr schönes, offenes Gesicht wieder durch, und Leandra dachte, dass es alles auf der Welt wert wäre, dieses Gesicht endlich wieder einmal richtig lächeln zu sehen. Einige Zeit, nachdem das Licht der Sonnenfenster über der Welt erloschen war, blies Leandra ihre Kerze aus. Sie hatte noch lange gelesen, sich in Sachen Magie weiterzubilden versucht. Irgendwann war Cathryn hereingekommen, hatte sich entschuldigt und sie hatten für ein Weilchen miteinander geschmust. Dann war Cathryn wieder gegangen. Später dachte sie an Victor und dass er jetzt schon so lange fort war. Sie fragte sich, wie es ihm wohl ergehen mochte. Oft wünschte sie sich, sie hätte ihn damals doch ein wenig näher an sich heran gelassen. Seit ihrer Begegnung in Bor Akramoria hatte Leandra keine intime Beziehung mehr gehabt und allein schon das fehlte ihr mehr und mehr. Jetzt, da sie nicht aus Angadoor heraus konnte, wäre seine Nähe schön und tröstlich gewesen. Außerdem - und bei diesem Gedanken lächelte sie grimmig - hätten sie beide mit Sicherheit etwas angezettelt. Sabotage vielleicht, um diesem brutalen Soldatenpack das Leben schwer zu machen. Wo mochte Victor wohl sein? Im Lande herumzuzie21 hen war inzwischen schlechterdings unmöglich - es sei denn, er hielt sich sehr weit im Norden auf, im Grenzland zum Ramakorum vielleicht, wo die Hierokratie keine besondere Macht besaß. Sie hatte schon mehrmals überlegt, ob sie sich nicht auf die Suche nach ihm begeben sollte. Hätte sie nur den Hauch einer Vorstellung gehabt, wo sie beginnen könnte, dann wäre sie vielleicht schon fortgegangen. Aber ganz abgesehen von den Ausgangs- und Reisesperren war es heutzutage ja nicht einmal mehr möglich, irgendeine beliebige Person nach dem Weg zu fragen. Man musste fürchten, sofort gemeldet zu werden. Mit einer seltsamen Gefühlsmischung aus Wut und Sehnsucht schlummerte sie ein. Sie träumte wirre Dinge, aber die meisten hatten damit zu tun, dass sie gegen irgendetwas ankämpfte. Sie erblickte die Gesichter vergangener Feinde wie auch die alter Freunde, und ständig hatte sie das Gefühl, dass diese ganze Sache immer noch nicht vorbei war. Dann schälte sich immer mehr ein bekanntes Gesicht aus dem Hintergrund, ein Gesicht, das zu einer Person gehörte, für die sie eine überwältigende Liebe empfand. Aber das Gesicht war so unerreichbar fern, dass sie im Traum weinte. Aus irgendeinem Grund kam plötzlich ein seltsamer Hoffnungsschimmer auf, ein Gefühl, als wäre die Trennung doch nicht so schrecklich unaufhebbar. Dann verblasste das Gesicht langsam wieder und verschwand in der dunklen Ferne ihres Traums. Leandra erwachte. Sie schlug die Augen auf und starrte gegen die dunkle Decke. Dafür, dass sie eben noch so tief geträumt hatte, war sie seltsam wach. Sie konnte sich sogar noch an Einzelheiten des Traumes erinnern - was ihr nur selten gelang. Sie setzte sich im Bett auf. Als plötzlich ein leises Klopfen erklang, erschrak sie. Es war nicht an der Tür gewesen - nein, am Fenster. Sie sprang mit pochendem Herzen aus dem Bett und 22 eilte in die Mitte des Raumes. Vor dem Fenster waren die Umrisse einer Person zu erkennen. Leandra trug bloß ihr Nachthemd, und plötzlich wünschte sie sich, sie wäre bewaffnet, trüge ihr Kettenhemd und ihre Lederrüstung. Dann sah sie, dass es nur Janina war. Janina war eines der Mädchen aus der Nachbarschaft und Leandra seufzte erleichtert. Aus irgendeinem Grund, vielleicht wegen des Traumes, hatte sie gedacht, dort draußen könne plötzlich einer ihrer alten Gegner wieder aufgetaucht sein. Vielleicht der schreckliche Chast - aber nein, der war tot - oder am Ende noch Lorin von Jacklor oder dieser grässliche Guldor, der womöglich noch immer nach ihr suchte. Sie trat ans Fenster und öffnete es leise. »Janina!«, flüsterte sie. »Was ist denn los? Weißt du nicht, wie gefährlich es ist, um diese Zeit draußen herumzuschleichen? Wenn dich die Soldaten ...« »Pssst!«, machte Janina eindringlich und legte den Finger vor den Mund. »Zieh dir was an und komm mit!« Leandra musterte das Mädchen. Sie war eine hübsche Blondine mit einer total schiefen Nase, aber einem Lächeln, dem die wenigsten Jungen im Dorf widerstehen konnten. Janina genoss einen etwas zwiespältigen Ruf und eigentlich verband sie und Leandra keine besondere Freundschaft. Dass sie nun hier stand, musste etwas zu bedeuten haben. »Was ist denn?«, flüsterte Leandra. »Nun komm schon! Die Wache ist gerade vorüber. Wenn du dich beeilst...« Leandra lief zu ihrem Bett und zog sich rasch an. Sie hatte irgendwann einmal gelernt, schnell und ohne weitere Fragen zu handeln, wenn Leute einen bestimmten Gesichtsausdruck zeigten. Janina hatte einen solchen getragen. Eine Minute später war Leandra schon durch das 23 Fenster geschlüpft und stand hinter dem Haus im Garten. Janina war vollständig angekleidet, was auf irgendeine nächtliche Maßnahme hindeutete. Die kleine Blonde winkte ihr eifrig und eilte über die Wiese hinter dem Haus
in Richtung des Waldrandes. Leandra blickte sich um - die Wache war nicht zu sehen. Sie folgte Janina. Es ging durch den Buchenhain hinter Floriaans Haus und am Siebenbach entlang. Nach wenigen Minuten erreichten sie die kleine Lichtung am Rande des Siebenwäldchens, und Leandra sah schon, dass dort mehrere Personen warteten. Ein mulmiges Gefühl überkam sie und sie blickte sich unruhig um. Wenn sie von den Soldaten überrascht wurden, würde es ernstliche Schwierigkeiten geben. Niemand durfte ohne Genehmigung des Garnisonskorporals nach Sonnenuntergang das Haus verlassen - und das hier waren mindestens sechs oder sieben Leute. Als sie näher kam, erkannte sie, dass es junge Leute waren, allesamt aus ihrem Nachbars- und Freundeskreis. Sie hatten sich um eine weitere Person versammelt, die, in eine Decke gehüllt, auf dem Boden kauerte. Leandra hätte später nicht mehr sagen können, woher sie augenblicklich wusste, wer es war. Sie rannte auf sie zu, streifte die Decke beiseite und starrte ungläubig in das Gesicht ihrer besten, ihrer allerbesten Freundin. »Hellami!«, rief sie. Erst als sie im Schutz der Nacht zurückgeeilt und in Leandras Zimmer waren, gestattete sie sich, ihre Freude hervorsprudeln zu lassen. Sie umarmte Hellami so heftig, dass ihrer Freundin beinahe die Luft wegblieb, und überdeckte ihr Gesicht mit Küssen. Dann bemerkte sie, dass Hellamis Kleider feucht waren. Es war dunkel im Zimmer, trotzdem konnte sie in dem Gesicht ihrer Freundin den Ausdruck 24 von Erschöpfung und Abgekämpftheit erkennen. »Beim Felsenhimmel!«, stieß sie leise hervor. »Ich kann es fast nicht glauben! Wo kommst du nur her?« Hellami ächzte, aber sie schenkte Leandra trotz ihrer Erschöpfung ein schwaches Lächeln. Sie antwortete nicht, schmiegte sich nur wieder an Leandra und umarmte sie, als gäbe es im Augenblick nichts Dringenderes für sie, als sich an einem Menschen, der ihr nahe stand, festhalten zu können. »Weißt du, dass ich von dir geträumt habe? Vor nicht mal einer halben Stunde?« Hellami sah müde auf. »Wirklich?« »Ja!«, sagte Leandra. »Bei den Kräften, was bin ich froh, dich wieder zu sehen. Seit Wochen schon denke ich darüber nach, wie ich hier wegkommen könnte. Aber, es ist ja ...« Leandra studierte Hellamis Augen, die von einer gefährlichen und aufreibenden Reise zeugten. »Du hast dich in Lebensgefahr begeben, um hierher zu kommen«, stellte Leandra fest. Hellami seufzte, löste sich von Leandra und setzte sich auf die Bettkante. »Das kann man wohl sagen«, erwiderte sie. »Sie hätten mich fast erwischt und umgebracht.« Leandra schluckte. »Umgebracht?« Hellami nickte matt. Sie wandte den Kopf und blickte sehnsüchtig zu dem einladenden Bett. »Können wir das alles nicht auf morgen verschieben?«, fragte sie und deutete auf die Kissen und Decken. »Ich bin völlig erledigt. Ich würde gern schlafen.« »Ja, natürlich!«, erwiderte Leandra. Sie erhob sich und half Hellami beim Ausziehen. Hellami verkroch sich dankbar seufzend tief zwischen Decken und Kissen. Leandra deckte sie zu und schlich anschließend aus dem Zimmer, um nachzusehen, ob jemand von der Familie etwas bemerkt hatte. Sie warf einen Blick in 25 Cathryns Zimmer, aber ihre kleine Schwester schlief schon längst. Aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern war ebenfalls kein Laut zu vernehmen. Es mochte morgen früh schwierig werden, denn es war ein ziemliches Wagnis, eine unangemeldete Fremde in seinem Haus zu verstecken. Sie würde sich eine gute Erklärung ausdenken müssen, um ihre Eltern zu beruhigen. Sie ging noch in die Küche, um etwas zu trinken. Dann schlich sie leise zurück und setzte sich für einige Minuten neben ihrem Bett auf den Schemel. Sie studierte das Gesicht ihrer bereits schlafenden Freundin, die sie damals, vor sieben oder acht Monaten, in Savalgor unter so seltsamen Umständen kennen gelernt hatte. Ihr fiel ein, wie sehr sie am Abend noch von dem Wunsch beseelt gewesen war, etwas zu unternehmen, etwas gegen die unerträglichen Umstände zu tun. Beinahe noch stärker als die Freude über Hellamis Kommen ergriff sie nun das deutliche Gefühl, dass jetzt tatsächlich etwas passieren würde. Es würde eine Veränderung geben, dessen war sie sich gewiss; Hellamis Ankunft bedeutete, dass sich etwas Wichtiges ereignet haben musste und dass es nun an der Zeit war ... ja, dachte sie, wieder die Messer zu wetzen! Dieser Gedanke peitschte sie regelrecht auf. Der Seufzer, den Leandra jetzt ausstieß, war zum ersten Mal seit langer Zeit kein resignierter mehr; nein, es war ein Seufzer der Erleichterung. Sie wusste, dass die Zeit des dumpfen Herumhockens und der Schicksalsergebenheit nun beendet war. Hellami lag in sich zusammengerollt im Bett und schlief. Leandra hob die Hand und fuhr Hellami liebevoll übers Haar. Hellami war eine zierliche, gleichermaßen aber auch zäh und kräftig gebaute junge Frau mit einer traumhaft schönen, wenngleich auch sehr mädchenhaften Figur. Leandra wusste gar nicht genau, 26 wie alt sie war. Vielleicht zweiundzwanzig - ein Jahr älter als sie selbst. Sie hatte glatte dunkelblonde Haare, die aus einem geheimnisvollen Grund immer wie frisch gekämmt aussahen, selbst morgens nach dem Aufstehen. Wenn sie einen mit ihren hübschen Lachfältchen um Mund und Augen anstrahlte, konnte man sich kaum eines Mitlächelns erwehren - doch ebenso verhielt es sich, wenn Hellami traurig war. Ihre großen braunen Augen
trugen dann einen Ausdruck, der einen beinahe zum Losheulen brachte. Es war ihre unerhörte Lebenskraft, die Leandra so faszinierte. Hellami lebte, sie war ein wahres Bündel von Energien und Gefühlen. Nie kam es vor, dass ihre Gegenwart nicht wahrnehmbar oder auch nur unauffällig gewesen wäre. Sie stammte nicht gerade aus der besten Gegend von Savalgor; ihre Sprache war manchmal sehr unverblümt und direkt. Sie vermochte in einem Augenblick frech und provozierend zu sein und im nächsten niedergeschlagen und trübsinnig - nur um gleich darauf der Welt wieder ein Lächeln zu zeigen, das auch dem finstersten Kerl ein Grinsen abgerungen hätte. Nein, sagte sich Leandra, das stimmte nicht ganz. Sie hatten gemeinsam ein paar Leute kennen gelernt, die selbst auf so ein Lächeln niemals reagiert hätten. Leandra erhob sich. Sie zog ihre Kleider aus und kroch zu Hellami unter die Decke. Sie kuschelte sich an sie, umarmte sie, und als sie dann endlich, nach dieser langen Zeit, wieder ihre warme, seidige Haut spürte, kam ihr ein wohliger Seufzer über die Lippen. Anstelle einer Antwort schmiegte sich Hellami noch ein Stück enger an sie. Leandra war noch immer aufgewühlt. Für einige Zeit konnte sie noch nicht einschlafen, denn zahllose Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Nur langsam vermochte sie ihre Aufregung darüber zu zügeln, dass sich die Dinge jetzt wieder ändern würden. 27 2 ♦ Der Brief Leandra stand schon sehr früh auf. Die schrägen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster hereinfielen, verhießen einen weiteren schönen Tag. Sie schwang wohlgelaunt die Beine aus dem Bett und ließ Hellami, die noch immer friedlich schlief, allein zurück. Sie zog sich an, begab sich in die Küche und nahm sich vor, für die ganze Familie ein großzügiges Frühstück zu bereiten. Sie würde Hellami vorstellen und erklären müssen, woher sie kam und was es mit ihr auf sich hatte. Solche schwierigen Dinge verdauten die Leute ihrer Erfahrung nach besser, wenn sie einen erfreulichen Morgen und einen wohlgefüllten Magen hatten. In Leandras Familie war früher eigentlich ständig jemand zu Besuch gewesen. Bekannte und Familienangehörige aus Nachbardörfern, Freunde von Leandra oder Cathryn - ja, manchmal war sogar irgendwer untergebracht worden, der auf der Durchreise im Dorf nach einem Quartier gefragt hatte. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Sie waren wesentlich schwieriger geworden. Im Grunde konnte heute niemand mehr Besuch empfangen. Für den kleinsten Abstecher in ein Nachbardorf musste man sich eine Erlaubnis bei der örtlichen Kommandantur einholen, und da es in Nordakrania keine größere Stadt gab, befand sich Angadoor im Zuständigkeitsbereich von Savalgor, das dreihundert Meilen entfernt lag. Für die Reise dorthin hätte es wiederum einer Reisegenehmigung bedurft und allein die war nur 28 unter größten Schwierigkeiten zu bekommen. Besuche waren genau genommen deshalb unmöglich. Sie mussten Hellami verstecken, denn Leandra bezweifelte sehr, dass sie eine Reiseerlaubnis besaß. Leandra hoffte, dass Mutter nicht allzu unruhig werden würde. Zu viele schlimme Dinge waren geschehen, und es mochte sein, dass sie Angst bekam, erwischt zu werden. Nachdenklich bereitete sie das Frühstück zu, kochte Eier und machte Tee, wärmte die Milch für Cathryn auf und stellte Brot, Schinken, Käse und Schmalz auf den Tisch. Als sie fast fertig war, öffnete sich die Tür und Cathryn sah herein. Es war nur ihr Gesicht zu sehen, aber Leandra erkannte sofort den ihr nur allzu vertrauten >Ratemal-was-ich-hier-habe