A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins William Shakespeare
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A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins William Shakespeare
Zu diesem Buch Gerührt bis bestürzt nimmt der Privatdetektiv Pepe Carvalho die Urne mit der Asche entgegen, die, einem Testament entsprechend, ihm überantwortet wurde. Es sind die sterblichen Überreste Lauras, einer Frau, die er vor zehn Jahren gekannt und geliebt hat. Sie wurde ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden. Damals hatte er sie in einer anonymen Neubausiedlung kennen und lieben gelernt. Carvalho weckte in Laura den Wunsch auszubrechen, aus ihrem Leben als unselbständige Hausfrau und Mutter – Wissensdurst und Tatendrang, Lust auf ein selbstverantwortliches Leben führten zu umwälzenden Veränderungen in ihrem Leben. Aber jetzt ist sie tot und Carvalho fühlt so etwas wie Verantwortung, er ist zutiefst bestürzt und beunruhigt. Denn der Privatdetektiv muß erkennen, daß sich die Liebe jenen klaren moralischen oder logischen Wertvorstellungen entzieht, an die er sich bisher so oberflächlich cool gehalten hat. «Lauras Asche» bildet den Auftakt zu vier weiteren Erzählungsbänden um den Privat Eye aus Barcelona, der in den vorliegenden drei grundverschiedenen Fällen mit dem ewig wiederkehrenden Thema der Liebe konfrontiert wird. Der Schnüffler muß erkennen, daß Liebe und Tod unzertrennlich sind. Alle drei Liebesgeschichten haben ihre Eigenarten, aber alle auch eine ähnliche Grundstimmung: ironisch bis leise melancholisch, unvoreingenommen, atmosphärisch genau. Der Lyriker, Romancier, Essayist und Journalist Vázquez Montalbán, Jahrgang 1939, gehört schon seit langer Zeit zu den profiliertesten spanischen Gegenwartsautoren. In der Reihe rororo thriller liegen vor: Carvalho und der tote Manager (Nr. 2680), Tahiti liegt bei Barcelona (Nr. 1698), Carvalho und der Mord im Zentralkomitee (Nr. 2717), Carvalho und die tätowierte Leiche (Nr. 2732), Die Vögel von Bangkok (Nr. 2772), Die Rose von Alexandria (Nr. 2816) und Manche gehen baden (Nr. 2834).
Manuel Vázquez Montalbán
Lauras Asche Drei Carvalho-Stories Deutsch von Bernhard Straub
Rowohlt
rororo thriller Herausgegeben von Bernd Jost
Deutsche Erstausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, November 1988 Die Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel «Tres Historias de amor» bei Editorial Planeta, Barcelona Redaktion Peter M. Hetzel Umschlagfoto Thomas Henning / Bettina Scheff ler Umschlagtypographie Peter Wippermann / Sebastian Raulf Copyright © 1988 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Copyright © Manuel Vázquez Montalbán, 1987 Satz Bembo (Linotronic 202) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 680-ISBN 3 499 42882 2
Inhalt
Vorwort Tres Historias de amor 7 Lauras Asche Las cenizas de Laura 9 Was wäre gewesen, wenn … De lo que pudo haber sido y no fue 46 Das Mädchen, das nicht Nein sagen konnte La muchacha que no sabía decir no 95
Vorwort Die Liebe ist ein fester Bestandteil von Carvalhos Innen- und Außenwelt. Vielleicht wird der Roman ‹Die Vögel von Bangkok› der Carvalho-Serie am stärksten von der Liebe und ihrem Gegenteil, der Lieblosigkeit, beherrscht – oder besser gesagt, von den Lieben und Lieblosigkeiten, denn jede Gestalt des Romans erlebt eine vollkommen eigene, charakteristische Liebe. Bei Carvalho als Person beschränkt sich die Liebe auf die Beziehung zu Charo, geprägt von gefühlsmäßiger Verbundenheit und der gleichzeitigen Unfähigkeit, dieses Gefühl zur Vollendung zu bringen. In ‹Die Rose von Alexandria› geht Carvalho so weit, Charo eine festere Beziehung vorzuschlagen, miteinander zu leben, aber das Mädchen lehnt ab, denn sie weiß intuitiv, daß Carvalho sie nicht liebt. Er hat Mitleid mit ihr. Vielleicht ist er als Mensch überhaupt zu wenig begabt für die Liebe und zu sehr für das Mitleid. In der ersten der drei Erzählungen, die man meiner Meinung nach unter dem Thema ‹Liebe› zusammenfassen kann, muß Carvalho in ‹Lauras Asche› eine alte Liebesgeschichte mittels der Erinnerung verarbeiten. Es ist die Offenlegung der affektiven Vergangenheit des Detektivs, die bisher beschränkt war auf Karikaturen seines Gefühlslebens in ‹Ich tötete Kennedy›. Carvalho wird auf problematische Weise mit der Leiche einer Frau konfrontiert, der er zur Flucht aus einem monotonen, erstarrten Leben verholfen hat. Er fragt sich, ob er die Verantwortung für einen Prozeß trägt, der ebenso zur Freiheit wie zum Tod geführt hat. In ‹Was wäre gewesen, wenn …› wird die Theorie, daß Liebe tödlich sein kann, novellistisch verarbeitet. Der Tod eines alten Rocksängers bringt verschiedene Liebesbeziehungen ans Licht, die das Opfer als despotischer Henker fremder Gefühle geführt hat.
8 Vorwort
In ‹Das Mädchen, das nicht Nein sagen konnte› geht es um eine seltsame, wurzellose Frau, die sich selbst in verantwortungsloser Amoralität liebt und dadurch Opfer ihrer eigenen Begierden wird. Dieser Typus weiblicher Persönlichkeit spricht Carvalho gefühlsmäßig stark an, er erliegt beinahe ihrem Zauber. Personen, die eine höhere Stufe des Zynismus erreichen, eines Zynismus, der sich seiner selbst nicht bewußt ist, sind am besten geeignet, die tiefe Moralität aufzudecken, die Carvalho mit einer alten Ordnung der Gefühle verbindet. Drei kurze Geschichten, drei Plots, drei Höhepunkte innerhalb einer kurzen Erzählzeit – deshalb spielen die ‹toten Zeiten› und die Nebenhandlungen eine geringere Rolle als in den Carvalho-Romanen. Gelegentlich ist das Geschriebene nur eine optische Skizze, die der Leser mit der Muskulatur der Tatsachen und Gestalten versehen muß.
Lauras Asche Langsam verschwindet der Sarg im Verbrennungsofen. Es ist ein traurig-feierliches Vorübergleiten, als wolle der geheimnisvolle Steuermechanismus der Verbrennung eines menschlichen Wesens eine gewisse Würde verleihen. Die Gesichter der Anwesenden drücken unterschiedliche Gefühle aus. Ein altes Ehepaar scheint von der Endgültigkeit des Todes ebenso betroffen wie von der eigenen Unfähigkeit, ihn abzuwenden. Ein Mittvierziger mit vom Weinen geröteten Augen stützt einen Jugendlichen, der hemmungslos weint. Betroffenheit steht auch auf den Gesichtern der vier oder fünf anderen Verwandten, die das Unwiderruf liche aus mehr oder minder großer Distanz miterleben. Carvalhos Gesicht zeigt tiefe Trauer und ein gewisses Gefühl von Zerbrechlichkeit und Zweifel. Schon ist der Sarg verschwunden. Aus dem Schlot des Krematoriums beginnt Qualm von verbranntem menschlichem Fleisch aufzusteigen. Die Angehörigen ziehen sich in einen Raum zurück, wo sie auf irgend etwas warten. Plötzlich bricht der Mittvierziger in lautes Geheul aus, weist wohlgemeinte Hilfe zurück, stürzt sich besinnungslos auf Carvalho und schlägt blind mit beiden Fäusten auf ihn ein. Carvalho weicht zurück und zeigt deutlich, daß er die Schläge nicht erwidern will, aber schließlich reagiert er doch mit einem Faustschlag, der den Angreifer stoppt. Als Carvalho seiner Attacke mit einem zweiten Faustschlag Nachdruck verleihen will, treffen sich seine Blicke mit denen des Jungen. Traurig und erschrocken, halten sie seine Faust zurück und lassen seinen Arm langsam sinken, nicht aber seinen Kopf, der erstarrt ist, wie hypnotisiert vom Blick des Jungen. Die Gruppe löst sich auf, nachdem sie ins Tageslicht hinausgetreten ist, Carvalho bleibt und wartet, von dem grollenden Blick des Angreifers aus der Ferne verfolgt, der bei
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seinem Jungen und dem alten Ehepaar steht. Aus dem Krematorium tritt ernst und steif ein weißhaariger Herr, verbeugt sich vor den Alten und übergibt ihnen die Urne mit der Asche. Der alte Mann nimmt mit zitternden Händen die Reste des geliebten Wesens entgegen, und seine Haltung drückt Angst und auch Mißtrauen aus. Schließlich schaut er zu Carvalho herüber, setzt sich in Bewegung und geht auf ihn zu. Als er ihn erreicht hat, gibt er ihm die Urne. «Nehmen Sie! Laura verfügte in ihrem Testament, daß ihre Asche Ihnen übergeben werden soll. Ich verstehe es nicht, aber ich akzeptiere es. Es ist der letzte Wille meiner Tochter. In Wirklichkeit war sie in letzter Zeit für mich eine Fremde. Meine eigene Tochter, eine Fremde …» Carvalho nimmt ihm in dem Moment die Urne ab, als er in Tränen ausbricht. Er betrachtet sie, schaut auf und begegnet wieder dem Blick des Jungen. Unter den Gesichtszügen versucht er das Gesicht des Kindes wiederzuentdecken, das er in Erinnerung hat, und der Junge versucht seinerseits den Schatten einer Erinnerung mit der Wirklichkeit dieses Mannes in Einklang zu bringen, der ihn immer noch verlegen anschaut. Die andern gehen und lassen die beiden allein, die sich scharf mustern, obwohl sie sich vielleicht nicht so sehen, wie sie hier und jetzt sind. Es ist schließlich Carvalho, der sich umdreht und der Versuchung der Erinnerung den Rücken kehrt. Seine Augen sind genauso voller Asche wie seine Hände. Diese Asche in den Augen versucht er mit den Fingern zu entfernen, als er sich ins Auto setzt, und hat dabei das Gefühl, als würde es mit Lauras letzten Resten zum Leichenwagen. Das Gefäß umschließt eine dichte menschliche Gegenwart, eine Gegenwart, die unmöglich ist. Der Regen prasselt gegen die Krematoriumsmauer, auf der Erde davor bilden sich schmutzige Pfützen zwischen Abfällen und namenlosem Gestrüpp. Jede Pfütze wirkt wie aus Blei gegossen und fesselt Carvalhos Blick. Es ist, als verhindere das Blei mit seinem Gewicht den notwendigen Lauf der Tränen. Diese unmöglichen Tränen erzeugen eine schmerzhafte Hitze in seinem Gehirn, die ihn zwingt, die Augen zu schließen. Unzusammenhängende Bilder von Laura tauchen auf, von ihm selbst, von dem
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Jungen, einzelne Sätze, ein Lächeln, Gewissensbisse. Plötzlich eine klare Erinnerung, wie Laura einmal nicht zu einem Rendezvous erschien und er sich erleichtert fühlte, da ihre Abwesenheit, wenn auch nur für diesen Abend, ihn von dem obszönen Laster der Liebe befreite. Er lehnt es ab, sich selbst darüber Rechenschaft abzulegen, ob er Laura wirklich geliebt hat, teils, weil er noch nie gerne seinen eigenen Gefühlen auf den Grund gegangen ist, aber auch, weil Laura, wenn auch nur in Form von Asche, anwesend ist, und Carvalho sich neben anderen anerzogenen Werten den nötigen Respekt vor den Toten bewahrt hat.
Im Garten seines Hauses in Vallvidrera hebt Carvalho eine kleine Grube aus. Als sie fertig ist, betrachtet er keuchend sein Werk. Eine feuchte Wunde in der schlafenden Erde. Dann nimmt er das Begräbnisgef äß, das auf dem Rasen steht und stellt es in die Grube. Seine Augen sehen verwundert seinen eigenen Händen zu, wie sie die Reste von Laura mit Erde bedecken. Ein Blitz der Rebellion stellt alles in Frage, und die Hände wühlen wieder auf, was sie bedeckt haben. Sie scharren die Erde beiseite, bringen das Gef äß wieder zum Vorschein, nehmen es heraus und folgen dem Körper auf dem Weg zum Haus. Kaum eingetreten, stellt er die sterblichen Überreste auf ein Regal seiner von Lücken durchbrochenen Bibliothek, streicht sich mit den Händen übers Gesicht und schwärzt es mit Erde. Dann geht er ins Badezimmer, wäscht sich Arme und Gesicht, kommt zurück und kann die Augen nicht von der Urne lösen. Schließlich geht er hin, aber anstatt das Gefäß herauszunehmen, greift er nach einem Buch, das danebensteht. ‹Geschichte des reaktionären spanischen Denkens›. Er zerreißt es und beginnt mit Seiten und Einband das hölzerne Gebäude, das später das Kaminfeuer sein wird. Hypnotisiert von den Flammen bleibt er sitzen, erst die Türglocke reißt ihn aus seiner Versunkenheit. Er will sich erheben, unterläßt es aber, denn Charo steht schon im Türrahmen. «Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, dann kommt der Prophet zum Berg. Bist du gekidnappt worden oder was?»
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Carvalho verneint mit einer Kopf bewegung. Charo ist zornig. Sie zeigt es mit abrupten Bewegungen und der demonstrativen Haltung eines Menschen, der nach dem geschehenen Verbrechen den Tatort begutachtet. «Warum hast du geklingelt? Hast du den Schlüssel verloren?» «Nein, aber ich wollte dich warnen, falls ‹jemand› bei dir ist. Ich will ja nicht, daß du gleich einen Herzinfarkt bekommst!» Carvalho grinst und entspannt sich. Er überläßt sich den Tiefen des Sofas und dem Spiel der Flammen. Charo hat ihre Jacke ausgezogen und mustert das Wohnzimmer mit kritischem Blick. «Alles ist noch wie früher.» «Wie und wann früher?» «Wie vor deinem Verschwinden.» «Ich bin seit vier Tagen verschwunden. Eine Ewigkeit!» «Keine Ewigkeit, aber Biscuter macht sich auch Sorgen. Er rief mich an und fragte, was mit dir los ist und wieso du dich im Büro nicht mehr sehen läßt. Sieht aus, als könntest du von deinen Zinsen leben. Wie heißt sie?» «Wer?» «Sie! Wenn ein Mann plötzlich wie ein griesgrämiger Stockfisch herumhängt, dann ist eine Frau im Spiel. Also, wie heißt sie?» «Laura!» «Immerhin zeigst du guten Willen. Ist sie verheiratet?» «Getrennt.» «Hat sie Kinder?» «Eins.» «Wie lange treibt ihr es schon miteinander?» «Zehn Jahre.» «Zehn Jahre! Gratuliere, wie toll du andere hinters Licht führen kannst! Du bist wirklich ein Kerl! Dein Magen verdaut wohl alles, dir könnte man sogar E 605 geben, und es würde ihm nichts ausmachen. Wo wohnt denn die Señora, wenn man fragen darf?» Carvalho deutet mit vager Geste auf das Bücherregal. «Dort.» Verwirrt sieht Charo die Bücher an, kann aber nicht verstehen, was Carvalho meint.
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Schließlich fällt ihr Blick auf das mit Asche gefüllte Gefäß. Sie geht hin und nimmt es in die Hand. «Was ist das?» Carvalho springt erschrocken vom Sofa auf und streckt einen Arm aus. «Bitte, laß das stehen!» Charo stellt es zurück, mißtrauisch, verwirrt. Dann hört sie Carvalhos Stimme hinter ihrem Rücken. «Da drin ist Laura. Das was von ihr noch übrig ist.»
Charo sitzt am Boden vor dem brennenden Kaminfeuer, nur mit einem alten Morgenmantel von Carvalho bekleidet. Er sitzt hinter ihr, streicht ihr übers Haar, während er spricht, und die Geschichte scheint in den Flammen Gestalt anzunehmen, die er ihr erzählt. «Vor etwa zehn Jahren, kurz nachdem ich aus den USA zurückgekommen war, wohnte ich in einem dieser neuen Stadtteile, die in allen Städten für junge Ehepaare existieren. Ein Viertel ohne jeden Charakter, oder vielleicht war genau das sein Charakter: Ein Brutkasten für neue Generationen. Junge Paare, Kinder, Schwangere; neue Häuser, schon alt geboren; Straßen, die eigentlich nur Parkplätze waren, mit halbfertigen Neubauten, praktisch an der Stadtgrenze und gerade dabei, darüber hinauszuwachsen. Ich erzähle dir das alles, weil du die Ereignisse nur verstehen kannst, wenn du diesen Faktor der Unpersönlichkeit begriffen hast. Entweder hatten die Leute untereinander gar keine Kontakte, oder sie waren neu, nicht gewachsen. Ich hatte mich noch nicht entschieden, berufstätig zu werden. Ich wußte nicht recht, ob ich meine Universitätslaufbahn wieder aufnehmen oder meine Kenntnisse aus der CIA-Zeit nutzen sollte, um mich als Privatdetektiv niederzulassen. Ich hatte Zeit und ging oft in diesem Viertel umher, vor allem in den Gebieten, die noch alt waren und nicht vergessen hatten, daß sie früher einmal Stadtgrenze gewesen waren. Bei einem dieser Spaziergänge lernte ich Laura kennen.» Carvalho wartet, bis die Ampel umschaltet, und entdeckt auf dem Gehweg gegenüber eine blonde junge Mutter, die ein Kind an
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der Hand eher mit sich zieht als führt. Das Kind fügt sich mit philosophischer Gelassenheit ihren Entscheidungen. Sie ist eine junge, appetitliche Frau, mit einem etwas vernachlässigten Äußeren, als hätte sie schon beschlossen, bald etwas anderes zu sein als eine junge Mutter, die in Arbeit und Routine des häuslichen Lebens aufgeht. Carvalho mustert sie von oben bis unten, als sie an ihm vorübergeht. Er schaut sie noch einmal an, als sie die Straße überquert hat und faßt einen Entschluß. Er macht kehrt und folgt Mutter und Kind. Sie sind an einem Zeitungsstand stehengeblieben, sie hat La Vanguardia gekauft und blättert in den Erzeugnissen der Regenbogenpresse, die in der ersten Reihe liegen. «Haben sich Richard Burton und Liz Taylor wieder getrennt?» Es dauert eine Weile, bis sie begriffen hat, daß die Frage an sie gerichtet ist und auch weshalb. Verwirrung, Überraschung, schließlich ein echtes und angenehmes Lächeln. «Es ist immer dasselbe, nicht wahr?» Das Kind mustert den Fremden, der da gerade seine Mutter angesprochen hat, mit feindseliger Aufmerksamkeit. Carvalho drückt ihm ein Kinderbuch in die Hand. Die Mutter versucht, es zurückzuweisen, aber das Kind greift mit beiden Händen zu. Der liebenswürdige Wortwechsel geht nach dem Kiosk weiter, und fast unbemerkt finden sich die beiden ins Gespräch vertieft am Fuß einer Rutschbahn wieder, wo das Kind ein ums andere Mal hinaufklettert und hinunterrutscht. «Ich weiß schon, daß diese Zeitschriften schwachsinnig sind, aber was habe ich sonst zur Unterhaltung?» «Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich lese sie auch immer, wenn ich kann. Beim Friseur zum Beispiel. Wissen Sie schon das Neueste? Claudia Cardinale soll irgendwo ein Kind haben!» «Ich weiß ganz genau Bescheid.» «Wissen Sie auch, daß der geheimgehaltene Vater von Sofia Loren gestorben ist?» «Gibt es auch Väter, die verschwiegen werden?» «Mehr als Mütter.» Carvalho und die Frau scheinen sich wohl zu fühlen, aber plötzlich verschanzt sie sich hinter der Existenz des Kindes und muß
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dringend weg. Wieder dieses Bild einer Frau, die ihr Kind hinter sich herzerrt und hinter den Hecken des Parks verschwindet. Charo rührt sich nicht. Mit einer Hand drückt sie Carvalhos Hand, die auf ihrer Schulter liegt. «Ich nahm diese Geschichte nicht allzu ernst, so glaubte ich wenigstens. Tatsache ist aber, daß ich mich jedesmal, wenn ich auf der Straße war, überall nach ihr umsah. Schließlich, eines Nachmittags, entdeckte ich sie. Sie war wie immer mit dem Kind unterwegs. Es war wie ein Anhängsel, das neben seiner Mutter herhüpfte, um mit ihr Schritt zu halten. Unsere zufällige Begegnung endete im Park, das Kind ging zur Rutschbahn und wir zu der Bank.» «Ich hörte vor dem Abitur mit der Schule auf. Ich hatte keine große Lust mehr, zu Hause haben sie mich auch nicht weiter unter Druck gesetzt. Ich war eben ein Mädchen und …» «Sehr hübsch, bestimmt.» «Vielen Dank! Oder hätte ich das jetzt nicht sagen sollen?» «Das überlasse ich ganz Ihnen.» «Na ja, damals zu Hause dachten sie, ich würde heiraten, und das wäre dann meine beruf liche Lauf bahn. Und jetzt …» «Was ist jetzt?» «Jetzt wäre ich oft gerne, ich weiß nicht, viel mehr mein eigener Herr. Der Haushalt, das Kind … mein Mann, und was sonst? Ich habe ein Dienstmädchen, der Junge ist jetzt fast den ganzen Tag in der Schule, ich habe zwar Arbeit, das schon, aber so eintönig, so sehr für andere!» «Sie können wieder zur Schule gehen. Es gibt Kurse für Erwachsene über fünfundzwanzig, und obwohl sie gerade an der Grenze sein müßten …» Das Lachen der Frau überrascht Carvalho. «Nein? Wenigstens spreche ich mit Ihnen wie mit einem Mädchen, das sich eine Zukunft auf baut. Wie ein Vater.» «Sie, wie ein Vater?» «Wie ein Vater.» Carvalho streichelt die Wange der Frau mit dem Handrücken. Ihr Gesicht ist zunächst ausgewichen, hat dann aber die Zärtlichkeit angenommen und entfernt sich wieder, abrupt, um auf einen Punkt
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irgendwo im Park zu starren, einen Punkt, der sich dann als das Kind entpuppt und es dringend notwendig macht, sich hastig von Carvalho zu verabschieden und mit dem Kind wegzugehen, als sei es eine große Puppe, die laufen kann. «Es dauerte mehrere Tage, bis sie wieder auftauchte, aber dann kam sie und erzählte mir unter anderem, daß sie sich für einen Kurs für Erwachsene über fünfundzwanzig eingeschrieben hatte. Sie hatte sich für Literatur entschieden. Ich sagte ihr, sie könne meine Bücher benutzen. Damals verbrannte ich sie noch nicht, unter anderem, weil ich keinen Kamin hatte. Aber als ich ihr meine Bibliothek anbot, spielte der Wunsch mit, sie zu mir nach Hause zu lokken, in mein Spinnennetz. Und sie kam. Mit Kind natürlich. Ich schaltete ihm den Fernseher ein, es blieb brav davor sitzen und lutschte feierlich eine Schokopastille, die ich ihm gegeben hatte. Sie und ich sahen uns die Bücher an. Vor dem Regal mit den ‹Clásicos Castellanos Ebro› küßten wir uns zum erstenmal. Dann nahm ich sie mit in mein Zimmer, und wir liebten uns bei geschlossener Tür. Als wir herauskamen, verstanden wir, warum das Kind sich so ruhig verhalten hatte: es war vor dem Fernseher eingeschlafen. Diese Situation wiederholte sich immer wieder. Zehn-, zwanzig-, dreißigmal? Sie kam, um Bücher zu holen, manchmal lernte sie sogar, und wir schliefen miteinander. Allerdings wurde mir mit der Zeit klar, daß ihr Interesse mehr der Bibliothek als der Liebe galt. ‹Ich habe den Eindruck, daß du dich mehr für meine Bücher interessierst als für meine Person.›» Laura küßt ihn auf den Mund. «Alles ist so wichtig für mich, was du mir gegeben hast! Lust, etwas zu unternehmen, Selbstbewußtsein! Du bist mein Pygmalion.» «Eines Tages saßen wir beisammen, das Kind schnitt Papierfiguren aus, sie lernte, und ich spielte Fußball mit Knöpfen.» «Womit?» «Ja, Charo, mit Knöpfen. Ich habe immer noch mehrere komplette Mannschaften davon. Also gut, damit waren wir also beschäftigt, als es klingelte. Ich ging zur Tür, öffnete, und da standen dieser Mensch mit dem Ehemanngesicht und noch ein anderer. Sie
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stießen mich zur Seite und drangen in die Wohnung ein. Der Ehemann nahm meine Wohnung in Besitz, als wollte er sie kaufen. Als er ins Wohnzimmer kam, rief der Junge ‹Papa!› und lief ihm entgegen. Sie blieb stumm, und ich sagte bloß: ‹Wir sind einander noch nicht vorgestellt worden.› ‹Was, Sie finden noch Worte? Daß Sie überhaupt noch den Mund auf kriegen, nach allem, was Sie unserer Familie angetan haben!› ‹Ich bin Profi, ich registriere nur, was ich hier sehe.› ‹Und Sie sind der Ehemann, na klar. Ich habe es Ihnen sofort angesehen. Sie sehen aus wie ein richtiges Haustier, wie alle Ehemänner.› Er versuchte, mich anzugreifen, aber ich stoppte ihn mit einem Schlag auf den Arm. Kaum eine Warnung. Dann richtete sich seine Gewalttätigkeit gegen sie, und das Kind wimmerte. Laura reagierte mit großer Würde. Sie nahm ihr Kind und ging, ohne jemanden anzusehen. Wir drei Männer blieben zurück, jeder einzelne mit seiner Maske. Ich grinste, der Ehemann sah mich mit dem ganzen Haß an, dessen er fähig war, und der Detektiv machte Notizen in ein kleines Buch. Ein paar Tage später trafen wir uns, Laura und ich, und nach einem klärenden Gespräch verabschiedeten wir uns voneinander. Sie sagte, ich hätte ihr geholfen, sich darüber klar zu werden, daß ihr Leben kein Leben war. Sie wollte mit dem Kind ausziehen, arbeiten und studieren. Ich machte irgendwelche Einwände, aber ohne große Energie. Das Abenteuer war tatsächlich zu Ende. Das Wild war erlegt, und eine eheähnliche Beziehung war keine Versuchung für mich. Laura verstand. Ich sah sie vier Jahre später wieder, als sie ihr Studium schon fast beendet hatte und in einem Verlag arbeitete. Wir trafen uns beim Einsteigen ins Auto. Ein paar Informationen, ein paar Fragen. Der Junge lebte bei ihr. Wo sonst? Dann wieder jahrelang nichts, bis ich in der Zeitung las, daß man sie ermordet in ihrer Wohnung gefunden hatte. Ein paar Tage vor ihrem Tod hatte sie mir ihre Asche vermacht und diesen Zettel dazugelegt.» Charo nahm das Blatt und las. «Danke für das Feuer. Danke für alles!»
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Ohne Zweifel hatte Carvalho selbst sie zu diesem Satz angeregt. In jenen Jahren war er noch von einem alten Rest Bildung abhängig gewesen, und in der Zeit der intellektuellen Verführung Lauras hatte er wohl den Mythos von Prometheus erwähnt. Es war nicht das erste Mal gewesen, daß er ihn für einen kulturellen Verführungsversuch benutzt hatte, und auch nicht das letzte Mal. «Prometheus raubte den Göttern das Feuer, um es den Menschen zu geben. Oder die Sprache. Oder das Wissen. Auf jeden Fall raubte er ihnen etwas, womit sie ihre Vormachtstellung aufrechterhielten, und ihre Überlegenheit. Seit jener Zeit stehen die Menschen auf gleichem Fuß mit den Göttern.» «Du hast mir Selbstvertrauen gegeben. Wenn du wüßtest, wie nutzlos ich mich fühlte, so versklavt wie ich war, weil immer andere über mein Leben verfügt haben. Mein Mann, mein Vater, meine Mutter. Jeder andere schien besser als ich selbst zu wissen, was für mich gut war.» Manchmal ertappte er sich selbst in der Rolle des kundigen Bib liothekars, der mit einer wißbegierigen, nackten Leserin Bücher austauscht. «Lies nicht so viel! Das ist nicht gut.» «Es ist wunderbar! Jedes Buch ist wie ein offenes Fenster auf eine neue Landschaft, auf eine neue Welt.» Durch das viele Lesen hatte Laura eine gekünstelte Sprache angenommen, die Carvalho manchmal auf die Nerven ging. Trotzdem war er darauf bedacht, es nicht zu zeigen, um das Vertrauensverhältnis nicht zu gefährden, das sie brauchte, um mit ihm ins Bett zu steigen und diese Bücherbeziehung zu sexualisieren. Aber Carvalho bekam immer mehr das Gefühl, daß Laura ihm im Bett den wichtigen Dienst spiritueller Erlösung bezahlte und versuchte, ihre Beziehung zu vergeistigen, indem sie die Momente der Sexualität verkürzte und immer mehr Zeit damit verbrachte, ihm ihre Fortschritte in der Aneignung von Kenntnissen vorzuführen. Wann hatte er begonnen, das Interesse an ihr zu verlieren? Vielleicht an jenem Nachmittag, als sie ihm, während er ihr die Bluse aufknöpfte, einen Absatz aus der ‹Einführung in die politische Ökonomie› von Karl Marx zitiert hatte.
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Carvalho auf einem Erinnerungsspaziergang durch das Viertel, wo er Laura begegnet ist. Fast nichts hat sich verändert. Neue junge Mütter mit Kindern. Eine junge Mutter mit Kind, die an einen Kiosk tritt, in den Zeitschriften blättert, aufschaut und Carvalhos Blick begegnet. Parkspaziergang eines einsamen Carvalho, der bei der Rutschbahn seinen Erinnerungen nachhängt, während er auf der Bank von damals sitzt. Danach wiederkäuende Aktivität im Büro mit einem Biscuter, der glaubt, mit Carvalho zu reden und in Wirklichkeit Selbstgespräche führt. «Mögen Sie Schweinsfüße mit Rüben? Es sind schwarze Rüben aus der Cerdanya, das Beste, was es zu Schweinsfüßen gibt. In der Boquería gab es welche, aber fragen Sie nicht, was die kosten! Wenn Sie mich das fragen, weiß ich gar nicht, was ich antworten soll, Chef. Wenn man bedenkt, daß wir in meinem Dorf die Rüben selbst im Garten hatten!» Carvalho überfliegt noch einmal die Zeitungsmeldungen zu dem Mord an Laura Buscató. Mord an der Lehrerin: Verhaftung eines Verdächtigen, dessen Name nicht bekannt gegeben wurde. «Chef! Chef!» Die alarmierenden Rufe Biscuters reißen Carvalho aus seinem Nachdenken. Ein Mädchen hat das Büro betreten, das aussieht, als komme es geradewegs von einem Popfestival: Schlapphut, Weste, weite, aber kurze Hosen, Sandalen trotz des Herbstes, weiße Phantasiebluse, gerade richtig für Fiestas und mexikanische Nächte, und der unvermeidliche Matchsack, der ewig über derselben Schulter hängt. «Störe ich?» «Das weiß ich noch nicht. Bis jetzt haben Sie nichts getan, was mich gestört hätte.» «Sehr nett von Ihnen.» Carvalho mustert sie von oben bis unten. «Kommen Sie von einem Wettbewerb für Miss Pop?» «Der Schein trügt. Ich bin Latein- und Griechischlehrerin an einer höheren Schule.»
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«Sagen Sie mir etwas auf Lateinisch, damit ich es glauben kann.» «Gallia est omnis divisa in partes tres. Reicht das?» «Woher stammt das?» «Aus einem ‹Guide Michelin›.» «Wenn Sie es sagen …» «Darf ich mich setzen?» Carvalho deutet auf einen Stuhl, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Das Mädchen mustert aufmerksam jedes Detail des Raumes. «Mein Gott, es stimmt also!» «Was stimmt?» «Daß Privatdetektivbüros so aussehen.» «Ich schätze es gar nicht, wenn man auf Grund meines Büros verallgemeinernde Schlüsse zieht.» «Na gut. Aber das Rätsel ist weiterhin ungelöst: ist die Kunst ein Abbild der Wirklichkeit oder die Wirklichkeit ein Abbild der Kunst?» «Seit es das Kino gibt, besteht nicht mehr der geringste Zweifel daran, daß die Wirklichkeit die Kunst nachahmt.» «Ein scharfsinniger Gedankengang für einen Privatdetektiv!» «Schauen Sie sich mal um unter meinen Berufskollegen! Sie werden sogar Philosophen finden, die über Hegel promoviert haben. Worüber haben Sie promoviert?» «Über Euripides’ Verhältnis zu den Frauen.» «War es gut?» «Miserabel. Der Sage nach wurde er von Frauen umgebracht, weil er so misogyn war.» Sie bezweifelt, daß Carvalho sie verstanden hat. «Misogyn heißt, daß er die Frauen haßte.» «Das wußte ich schon, bevor Sie zur Welt kamen! Als ich zur Universität ging, war Ihre Mutter noch Jungfrau.» «Riskieren Sie keine Behauptungen über die Tugendhaftigkeit meiner Mutter. Ich kenne sie besser.» «Und?» «Prima, nach diesem gegenseitigen Beschnuppern kommen wir zur Stunde der Wahrheit: ich bin wegen Laura hier. Wir waren Kol-
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leginnen, und ich bin sehr in Sorge über die Wendung, die die Dinge genommen haben. Vor allem seit Jacinto verhaftet worden ist. Das ist der, den die Presse den ‹mutmaßlichen Verdächtigen› nennt. Er war ihr Schüler und in gewisser Weise auch meiner. Der Junge hat an unserem Institut Abitur gemacht, obwohl er schon etwas älter war, der typische Sitzenbleiber. Daß er es geschafft hat, hat er Laura zu verdanken, denn sie hat es zu ihrem persönlichen Anliegen gemacht. Sie hatten auch eine gewisse persönliche Beziehung.» «Waren sie ein Liebespaar?» «Ja.» Das Mädchen examiniert Carvalho. «Sind Sie jetzt schockiert?» «Wenn Sie meinen, ich sollte schockiert sein, dann bin ich es.» «Laura hatte eine große Zuneigung zu Jacinto gefaßt, er war der klassische Fall des Jungen ohne Nestwärme. Sie lieh ihm Bücher aus und gab ihm Privatstunden. Dann war Schluß, aber die Polizei hat ein paar Gedichte von Jacinto gefunden, die Laura gewidmet waren. Sehr sadomasochistisch, Haßliebe, Besitz bis in den Tod – sehr literarisch, aber in den Händen eines Polizisten können selbst die Gedichte von Rabindranath Tagore zu verdächtigen Aussagen werden.» «Wir unterhalten uns sehr gebildet miteinander, aber ich glaube nicht, daß Sie hierher gekommen sind, um mit mir über Poesie zu plaudern.» «Ich will, daß Sie den Fall übernehmen. Wohlbemerkt, ich verlange nicht, daß Sie den Mörder finden, obwohl mir das nichts ausmachen würde. Ich gebe Ihnen den Auftrag, die Beweise für Jacintos Unschuld zu finden.» «Wieso wenden Sie sich ausgerechnet an mich?» «Weil Laura mir von Ihnen erzählt hat. Sie sagte, Sie seien ihr Pygmalion gewesen, und erzählte mir ihre Geschichte. Ich sagte zu ihr: Nein, Señor Carvalho war noch mehr als ein Pygmalion, er war ein Prometheus. Er hat den Göttern das Feuer geraubt und es dir gegeben. Das Feuer der Kultur, den Anstoß zur Emanzipation!» Carvalho senkt den Blick und lächelt traurig. «Ich habe sie aus ihrem Haustierkäfig herausgeholt und sie dann mit der Brutalität und dem Tod alleingelassen.»
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Überraschung zeigt sich auf dem Gesicht des Mädchens. Endlich. «Als Sie sie kennenlernten, war Laura wie eine Pflanze. Sie haben sie zu einer Frau gemacht, die auf eigenen Füßen stehen konnte. Ist das etwas Schlechtes?» «Nicht unbedingt schlecht, aber es kann manchmal umsonst sein.» «Laura hatte aus Ihnen einen Mythos gemacht. Hinter dem bleiben Sie weit zurück.» «Ich habe es nicht ungern, wenn ich ab und zu ausgepeitscht werde, aber nur gegen Bezahlung. Wenn ich die Sache übernehme, mit der Sie mich beauftragen, dann nur gegen Rechnung.» Das heftige Blinzeln der Frau gibt Carvalho Zeit, sein Selbstbewußtsein wiederzufinden. «Sie haben wohl gedacht, ich würde es umsonst machen?» «Natürlich nicht.» «Natürlich doch! Sie gehören zu denen, die zu einem Psychiater gehen, mit dem sie befreundet sind, nur um Rabatt zu kriegen.» «Wie kommen Sie darauf, daß ich zum Psychiater gehe?» «Sie waren kaum zur Tür hereingekommen, da sagte ich mir schon: Pepe, dieses Mädchen ist ein gefundenes Fressen für den Psychiater.» Sie steht auf, dreht sich um und geht zur Tür. «Leck mich am Arsch, Alter.» Carvalho wartet, bis ihre Finger die Türklinke berühren. «Ich übernehme den Fall und gebe Ihnen einen Rabatt.» Das Gesicht, das sie ihm zuwendet, zeigt Befriedigung und eine auf keimende gefühlsmäßige Komplizenschaft. Diese wehrt Carvalho mit genau berechneten verbalen Fußtritten ab. «Sie sehen nämlich nicht danach aus, als seien Sie allzu gut bei Kasse. Ich verdiene lieber wenig als gar nichts.» «Meine Kollegen bürgen für die Rechnung.»
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Das falsche Hippiemädchen hat die Tür zu Lauras Wohnung geöffnet, als führe sie zu einer geweihten Krypta. Sie bemüht sich, leise aufzutreten, wie in einer stillen Kathedrale. Carvalho versucht, sich an Hand der Gegenstände, auf die sein Blick fällt, ein Bild von der ehemaligen Bewohnerin zu machen. Eine collageartige, ideologisch geprägte Einrichtung, oder vielleicht eine Einrichtung, die eine collageartige Ideologie verrät. Die unvermeidlichen Posters von aufgeschobenen Revolutionen und Bewegungen, die gerade im Entstehen begriffen sind, Che Guevara und ein Mädchen, das in ein öffentliches Männerpissoir pißt. Sie steht zwischen zwei alten Männern, die sie wie eine Mutation anstarren. Folkloristische Keramik, Überreste vorkapitalistischer Kulturen, die Laura als optischen Kontrapunkt zu ihrer Geschirrspülmaschine aufgestellt hat. Diese füllt fast die gesamte kleine Küche, deren Dimensionen gerade noch Spiegeleiern gerecht wurden. Dann Bücher, Bücher, Bücher. Aus jedem Buchrücken sprießt eine Losung oder ein vernichtendes Urteil über die veraltete Modernität der Progressiven. Kein Buch über die siebziger Jahre, das nicht auf Lauras Regalbrettern steht. Das fast völlige Fehlen von Möbeln spricht für Lauras Wunsch, der möblierten Spießigkeit des Bürgertums zu entfliehen, Matratzen ersetzen Sofas und Sessel, ein einziger Einbauschrank und ein Dutzend Kleiderbügel an einer Metallstange demonstrieren die Integrität der ausreichenden, aber nüchternen Garderobe. Im Badezimmer schließt Carvalho die Augen vor der Überfülle von Cremes und Seifen, um sich das Bild einer asketischen und konsequenten Laura nicht zerstören zu lassen, das sie selbst bemüht war, der Nachwelt zu hinterlassen. Ich schaue, wie du angeschaut werden wolltest, murmelt Carvalho vor sich hin und ignoriert die Stille seiner Begleiterin, die gespannt seinen Kommentar erwartet, nicht so sehr eine ermittelnde Frage, eher ein abschließendes Urteil über das Heiligtum. Aber Carvalho setzt seine optische Bestandsaufnahme unbeirrt fort. Er faßt zusammen: überall Bücher, große Matratzen in der Art von Sofas, eine winzige Küche, ein Badezimmer mit Posters und Pflanzen, ein einziges, riesiges Bett, praktisch auf dem Fußboden. «Und das Zimmer des Jungen?»
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«Welches Jungen?» «Lauras Sohn.» «Der Mann hat ihn ihr vor einigen Jahren weggenommen. Jetzt ist er erwachsen, er hat seine Mutter oft besucht.» «In der Zeitung stand, daß Laura mit einem schweren Gegenstand mehrmals auf den Kopf geschlagen wurde.» «Mit einem Marmormörser, der dort auf dem Bücherregal stand. Die Polizei hat ihn als Beweisstück mitgenommen.» «Sie starb in den frühen Morgenstunden.» «Nach Meinung des Gerichtsmediziners um vier oder halb fünf Uhr.» «Am Türschloß befanden sich keine Spuren von Gewaltanwendung, das heißt also, sie wurde von jemandem umgebracht, der um vier Uhr morgens mit ihr zusammen war. Hatte sie eine feste Beziehung?» «Kennen Sie eine Beziehung, die wirklich fest ist?» «Kommen Sie mir nicht mit Spitzfindigkeiten! Sie wissen schon, was ich meine. Hatte sie einen festen Freund?» «Seien Sie nicht so chauvinistisch! Wieso einen Freund, wieso keine Freundin?» Sie fixieren einander. «Wollen Sie damit andeuten, daß Laura den Rubikon überschritten hat und lesbisch geworden ist?» «Laura hatte sexuell keinerlei Vorurteile.» «Das finde ich sehr gut. War das öffentlich bekannt?» «Nein.» «Warum nicht?» «Weil Laura ihr Intimleben nicht in alle Himmelsrichtungen ausposaunte.» «Ich will eine vollständige Liste ihrer Bekannten, der Orte, die sie gewöhnlich besuchte, ihrer Lebensgewohnheiten, Sie wissen schon. Ich will ihre Spuren verfolgen. Wie verbrachte sie ihren Alltag, die Sonn- und Feiertage? Wer betrat diese Wohnung?» «Nach den Besuchern der Wohnung fragen Sie besser Doña Atareada.» «Wer ist das?»
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«Die Nachbarin von gegenüber. Es ist die typische unterdrückte Hausfrau, die die Laster der anderen ausspioniert. Jedesmal, wenn sie Laura auf der Treppe begegnete, führte sie das Gespräch auf eine Art und Weise, die ihr deutlich machte, daß sie genau im Bilde war, daß sie über alles Bescheid wußte.» Carvalho nimmt einen karierten Block zur Hand, der neben dem Telefon liegt. Er reißt ein Blatt ab und reicht es ihr. «Schreiben Sie mir hier Ihren Namen und Ihre Adresse auf, und dann lassen Sie mich machen!» «Sie wollen, daß ich Sie allein lasse? Hier?» «Genau das meinte ich.» Sie zuckt die Achseln und schreibt auf, was Carvalho wissen will. Vielleicht schreibt sie es auch erst auf und zuckt dann die Achseln. Es ist eine laut zugeschlagene Tür, die der unterdrückten Empörung von Luisa Gálvez Ausdruck verleiht. Dieser Name steht jedenfalls auf dem Blatt Papier, das Carvalho zwischen den Fingern hin und her bewegt und dabei dem inneren Rhythmus seines Blikkes gehorcht, der die Inventur von Lauras Gegenständen vollendet, als erhoffe er sich von ihrem Studium die endgültige Lösung des Rätsels. Oder versuche ich vielleicht einfach, wenn ich mir ihre Dinge optisch aneigne, die vielen Jahre zu überbrücken, die wir uns nicht gesehen haben? Lauras Geist zu fassen zu kriegen, der nicht mehr mir gehört hat? Welches Recht habe ich dazu, mich an ihren Alibis zu vergehen? Verdrossen nimmt er ein Buch aus dem lückenlosen Gebiß eines Regals und blättert darin. Eine Art Zärtlichkeit breitet sich auf seinem Gesicht aus, als er gepreßte Rosenblätter zwischen den Seiten des ‹Wegwerf kapitalismus› von Adolf Koszlik findet, und Heiligenbilder von der Erstkommunion ihres Sohnes, die als Lesezeichen in dem Buch ‹Das globale Dorf› von Marshall McLuhan liegen. Er unterbricht seine Tätigkeit, als er bemerkt, daß ihn ein archaisches Schuldgefühl bedrückt. Er ist angewidert von dem desinteressierten Voyeur, den er in sich fühlt, und zwar in diesem Fall eher von der Desinteressiertheit als von dem Voyeurtum.
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An der Tür der gegenüberliegenden Wohnung befindet sich ein Schild: ‹Llorenç Vila, Pedicuro›. Carvalho drückt auf die Klingel, und fast im gleichen Moment erscheint eine lächelnde, wasserstoff blonde Frau, geschminkt und ausgestopft. Ihr Mund ist von dem allzu breiten Lächeln entstellt. «Entschuldigen Sie, ich bin ein Verwandter von Laura, Ihrer verstorbenen Nachbarin, und ich möchte mich bei Ihnen im Namen der Familie für alles bedanken. Sie müssen in diesen Tagen einigen Ärger gehabt haben.» «Oh, es war mir ein Vergnügen … Nein, kein Vergnügen, natürlich, die arme Laura … Sie wissen schon, was ich meine, wir waren sehr gute Freundinnen, ganz eng.» «Ich weiß, und deshalb dachte ich, es sei angebracht …» «Bitte, kommen Sie doch herein!» «Nein, ich möchte nicht stören, vielleicht hat Ihr Mann gerade Sprechstunde.» «O nein, mein Mann behandelt seine Klienten nicht hier. Das Schild haben wir nur aufgehängt, falls mal ein Nachbar …» Die Tür führt zu einer Wohnung, die nach dem Vorbild holländischer Märchen eingerichtet ist. «Sie haben ein sehr komfortables Zuhause.» «Gefällt sie Ihnen? Ich habe sie selbst eingerichtet, nach Zeitschriften natürlich. Die Wohnung ist wirklich hübsch, aber winzig. Wir haben keine Kinder.» «Sie sind beide noch jung. Frisch verheiratet?» «Frisch verheiratet? O nein. Wie liebenswürdig von Ihnen! Wir sind schon fünfzehn Jahre verheiratet.» «Haben Sie ein Glück! Ihre Ehe hat gehalten. Aber wenn ich an meine arme Cousine Laura denke …» «Ach ja, die Ärmste. Schon so oft, wenn mein Mann irgendeine Bemerkung gemacht hat – er meinte es ja nicht böse, natürlich, aber eben eine Bemerkung, Sie wissen ja, wie die Männer sind, sie behaupten immer, wir Frauen seien Klatschmäuler, und dabei sind sie selbst die allergrößten, die Klatschmäuler seid ihr, hihihi – also, mein Mann sagte dies und das, und ich antwortete ihm immer: Laß sie doch! Sie ist so allein, außerdem ist sie noch jung. Laß sie leben,
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wie sie will. Das ist das mit dem … wie war das noch mit dem Leben lassen?» «Leben und leben lassen.» «Es gab fast nie Krach, nur damals mit dem Grünschnabel da, dem Jungen, den sie verhaftet haben. Eines Nachts hatte ihn Laura rausgeworfen, und dann saß er da auf der Treppe und fing an zu heulen und nannte sie alles mögliche, und das stundenlang. Als mein Mann schließlich rausging und etwas zu ihm sagen wollte, hat er ihm mit einer Beleidigung geantwortet. Mein Mann ist wie ein Lämmchen, aber wenn er wütend wird, na ja! Er gab ihm jedenfalls, was er verdient hatte. Da kam Laura heraus, regte sich fürchterlich über meinen Mann auf und nahm den Bengel wieder mit in ihre Wohnung. Na ja, viel zu gutmütig, das merkte man gleich.» «Bekam sie oft Besuch?» «Männer?» «Männer oder Frauen.» «Von den Männern habe ich Ihnen schon erzählt, es waren vier oder fünf, aber glauben Sie jetzt ja nicht, daß ich hier den ganzen Tag auf der Lauer liege. Diese Wohnungen sind ja so klein! Man hört einfach alles. Der eine mit der Flötenstimme hieß Josep, glaube ich, und der, der sich andauernd räusperte, Mario. Einer sprach mit ausländischem Akzent, ich weiß nicht mehr, wie der hieß. Und dann war da noch einer, den ich Pilatus nannte … hihihi … weil er sich jedesmal, wenn ich ihn sah, die Hände rieb.» «Und Frauen?» «Kolleginnen von der Schule, nehme ich an.» Die Blonde hat keinerlei Interesse an Frauen. «Vielleicht hatte sie noch eine engere Freundin, ich würde sie gerne besuchen. Ich wohne nicht in Barcelona, und ich möchte die Reise nutzen.» «Ja, die ‹Langhaarige›, die heute mit Ihnen hier war. Ich sah Sie die Treppe herauf kommen.» «Die Langhaarige, gut … und wer noch?» «Ich weiß nicht. Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, auf die Frauen habe ich gar nicht geachtet … Ach Gott, was habe ich da bloß gesagt … Was werden Sie jetzt von mir denken?»
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«Nur das Allerbeste. Ich hätte auch nicht auf die Männer geachtet.» «Nicht wahr! Aber hören Sie, die Polizei stellte dauernd Fragen zum Thema Frauen. Ich denke, so etwas Brutales kann nur ein Mann machen. Sie soll ja über und über mit Blut und Gehirn bespritzt gewesen sein … Brrr … ich kriege eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.» «Erinnern Sie sich nicht an irgendeine Frau, die öfter hierher kam? Nicht die ‹Langhaarige› natürlich.» «Die Kurze.» «Sie haben wirklich Talent im Erfinden von Spitznamen. Warum kurz?» «Weil sie kurz war. Klein und quadratisch, nicht dick, aber so breit wie hoch, wissen Sie? Sie kam oft hierher, vor allem in der letzten Zeit. Aber ihren Namen weiß ich nicht.» «Schade, daß ich nur vorübergehend hier bin. Meine Füße machen mir zu schaffen, Ihr Mann hätte sie sich mal ansehen können.» «Ich verstehe auch etwas davon. Etwas bleibt immer hängen. Soll ich sie mir mal ansehen?» In den schwarz nachgezogenen Augen der Blondine steht ein laszives Versprechen, das Carvalho mit einem schüchternen Lächeln beantwortet. Dann zieht er sich die Schuhe aus.
Den nächsten Vormittag verbringt Carvalho damit, das Gymnasium zu besuchen, an dem Laura unterrichtet hatte, und sich mit Schülern und Lehrern zu unterhalten. Die ‹Langhaarige› öffnet ihm die Türen und die Köpfe der Leute, und Carvalho saugt sich voll wie ein Schwamm mit Gesprächsfetzen, einzelnen Teilen des Puzzles, um daraus das Bild einer ihm unbekannten Laura zusammensetzen zu können, einer Laura, der er geholfen hat, sich zu entwikkeln. Mit der ‹Langhaarigen› ißt er in dem Schnellimbiß in der Nähe der Schule, wo Laura immer gegessen hat. «Ist das Menü jeden Tag so?» «Gut oder schlecht?» «Nicht gut und nicht schlecht, ganz das Gegenteil.»
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«Es ist billig.» «Man kann zweitausenddreihundert billige Menüs zubereiten, ohne daß man damit gleich gegen die Menschenrechte verstoßen muß.» Eine füllige, gestresste Bedienung knallt ihnen die Teller mit gedünsteten Linsen auf den Tisch, dreht sich um und geht laut stöhnend wieder weg. «Kennen Sie die ‹Kurze›?» «Wer soll das denn sein?» «Eine, die oft zu Laura kam. Klein, stark gebaut, so breit wie hoch. So hat man sie mir beschrieben.» «Nein.» Das Gesicht der ‹Langhaarigen› drückt ehrliches Erstaunen und gleichzeitig eine gewisse Verärgerung darüber aus, daß sie nicht so auf dem laufenden war, wie sie es gern sein wollte. Dann verändert sich ihr Gesichtsausdruck, weil etwas hinter Carvalho ihre Aufmerksamkeit erregt. Carvalho dreht sich um und sieht am Eingang eine Frau stehen, die ihnen zuwinkt. Die ‹Langhaarige› steht auf und geht zu ihr. Sie tuscheln, die ‹Langhaarige› kann ihre Aufregung nicht unterdrücken, kommt zu dem Tisch gelaufen, an dem Carvalho immer noch sitzt, und ruft: «Jacinto ist frei! Ohne Auf lagen! Kommen Sie mit!» Eine Ralleyfahrt zurück in das Lehrerzimmer. Man kneift sich gegenseitig vor Freude. Jemand hat die glückliche Idee gehabt, den Freigelassenen in Carvalhos Büro zu bringen. Groß, schlank, fast dürr, Ringe unter den Augen. Seine Kleidung riecht nach Gefängnis, auf den Wangen sprießt ein spärlicher Dreitagebart. Jacinto hat es sich in dem Sessel bequem gemacht. Carvalho sitzt ihm gegenüber. Von einem anderen Sessel aus wird er von der ‹Langhaarigen› betrachtet, als sei seine Erscheinung etwas ganz Kostbares. «Ich wette, Sie haben seit drei Tagen nichts gegessen.» «Die Wette könnten Sie gewinnen.» «Das kann ich nicht zulassen. Biscuter!» Biscuter taucht in der Verbindungstür zur Küche auf. «Ja, Chef?»
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«Mach mal einen Menüvorschlag für einen großen, schlanken Jungen, der gerade aus dem Knast kommt!» «Als Vorspeise etwas Heißes mit Fleischbrühe, Chef. Wenn man aus dem Bau kommt, hat man einen Magen wie eine Kaktusfeige. Was halten Sie von Reissuppe mit gebratenem Knoblauch und einem Eigelb und danach ein leichtes Frikandeau, das ich von gestern noch übrig habe?» «Haben Sie darauf Appetit?» Der Junge verzieht angewidert das Gesicht und starrt Biscuter mißtrauisch an. «Haben Sie nichts Einfacheres? Einen Hamburger?» «Sie haben den größten Koch dieses Mietshauses vor sich! Ich selbst esse, was er mir kocht, und mein Gaumen ist sehr verwöhnt.» «Na gut, aber von allem nur ein wenig!» «Wären Sie nicht lieber zuerst nach Hause gegangen?» «Ich habe kein Zuhause. Mein Vater hat mir auf der Comisaría eine Szene gemacht. Er hat versucht, mich zu ohrfeigen, und es auch geschafft. Er wird überrascht sein, wenn er erfährt, daß ich Laura nicht umgebracht habe.» «Erzählen Sie mir alles, was auf der Comisaría passiert ist!» Der Junge beginnt seine Geschichte. Bald löffelt er nebenher sein Essen und betrachtet Biscuter mit bewundernden Blicken. Dieser tut so, als bemerke er es nicht, läßt aber kein Auge von der zunehmenden Gefräßigkeit des Jungen. «Das heißt also, du hast ihnen dein Alibi genannt, sie prüften es nach, und trotz allem hielten sie dich fest.» «Sie verfolgten noch andere Spuren. Wenn ich das richtig mitgekriegt habe. Zuerst waren sie knallhart mit mir, weil sie dachten, ich würde etwas ausspucken. Aber dann müssen sie gemerkt haben, daß ich es nicht war. Schlagartig wurde alles anders, und als ich die Bemerkung hörte ‹Das Ganze ist eine Geschichte zwischen Lesbierinnen›, machte ich Randale. Das wäre beinahe ins Auge gegangen. Laura war keine Lesbe!» «Was ist denn so schlimm daran, wenn man lesbisch ist?» Die mißtrauische Frage kommt von der ‹Langhaarigen›.
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«Gar nichts, aber Laura war keine.» «Kennst du alle Freunde von Laura?» «Nein, in letzter Zeit haben wir uns kaum gesehen. Auf ihren Befehl. Sie sagte zu mir: ich habe dir geholfen, daß du an dich selbst glaubst und dir selbst beweisen kannst, daß du eine Person mit vielen Möglichkeiten bist. Aber jetzt will ich dich nicht mehr an meinem Rockzipfel hängen haben. Die Polizei sagte auch noch, es könnte mit Politik zu tun haben.» «Mit Politik? Laura, mit Politik?» Jetzt ist die ‹Langhaarige› vollends perplex. «Laura war in irgendeiner Partei. Ich weiß nicht genau, wie sie heißt, aber es ist eine von den ganz abgefahrenen, noch weiter links als alle anderen.» «Hast du das gewußt?» «Nein. Aber es wundert mich nicht; Laura fuhr meist auf Sachen ab, auf die kein anderer abfuhr.» Der Junge lächelt traurig. «Ich bin doch selbst der beste Beweis dafür, oder?»
«Señor Buscató ist für niemand zu sprechen», antwortet ihm die Sekretärin von ‹Industrias Buscató Hermanos› schließlich, bedrängt von Carvalhos telefonischer Hartnäckigkeit. «Ich muß in vierundzwanzig Stunden meinem Klienten den Bericht über den Mord an Laura Buscató aushändigen. Vorher würde ich mich gerne mit Señor Buscató unterhalten, denn es wäre mir gar nicht angenehm, wenn er meine Ergebnisse aus der Zeitung erfahren würde.» «Geben Sie mir Ihre Telefonnummer!» «Seit vierundzwanzig Stunden will ich nichts anderes!» Es dauert allerdings kaum zwei, bis Señor Buscató Carvalho ausfindig gemacht hat, und zwar genau in dem Moment, als er dabei ist, in einem Kupferpfännchen eine Sauce Hollandaise anzurühren. Im Konflikt zwischen der Sauce und dem Telefon, das ihm den Termin bringen kann, entscheidet sich Carvalho für das Telefon. Die Sekretärin spricht mit ihm wie mit einem Minister, der beim Regie-
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rungschef zur Audienz gebeten wird. Carvalho übernimmt diesen Tonfall von Kontakten auf höchster Ebene, bis er den Hörer aufgelegt und Zeit hat, Selbstkritik zu üben. Nicht für lange. Er rennt zum Herd, aber die Sauce Hollandaise hat sich bereits in klebriges Mehl verwandelt. Die Sauce Hollandaise ist die verwöhnteste und anspruchsvollste der Saucen. Jede andere hätte er ohne Gewissensbisse verzehrt, aber er wagt es nicht, diese verstümmelte Sauce in ihrer Ehre zu kränken und beerdigt sie lieber respektvoll im Mülleimer. Er zieht die Schürze aus und macht sich fertig, um zu dem Termin zu eilen. Das Haus der Buscatós liegt am Fuß des Tibidabo im Stadtteil Pedralbes, einem enormen Abfallprodukt der Neugotik, das mit der Zeit durch das Altern der Steine und das Wachsen eines prachtvollen Efeus architektonische Würde erlangt hat. Eine Hausangestellte in schwarzem Satin führt ihn zu einem Salon, wie aus einer Zeitschrift für Wohnkultur der dreißiger Jahre. Ihm bleibt keine Zeit, um sich distanziert ein Bild von der Einrichtung zu machen, denn Lauras Vater betritt mit schleppenden, leisen Schritten den halbdunklen, mit gepflegten Möbeln ausgestatteten Salon. Er geht auf Carvalho zu, der beim Eintreten des alten Mannes aufgestanden ist. In seinen Augen ist keine Wärme, als er sagt: «Ich weiß selbst nicht genau, warum ich mich auf dieses Treffen eingelassen habe, aber eine innere Stimme sagt mir, daß meine Tochter dort, wo sie jetzt ist, mir dafür dankbar wäre. Wie ich hörte, wollen Sie meinen Enkel sprechen. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie ihn mit Respekt und Anstand behandeln.» «Junge Leute darf man nicht anders behandeln …» Der Alte macht kehrt und geht. Eine drückende Stille, so schwer wie die Möbel und die Vorhänge, verlängert die Wartezeit. Schließlich geht die Tür auf, und Lauras Sohn betritt den Raum. Auf seinen Zügen liegt ein unnatürlicher Ernst, auch Carvalho gibt sich ernst und von einem gewissen tiefen Gefühl bewegt. «Mein Name ist Pepe Carvalho. Ich bin Privatdetektiv. Ich habe dich kennengelernt, als du noch ein Kind warst, und …» «Das weiß ich noch sehr gut.» «Du erinnerst dich an mich? Erstaunlich. Du warst damals sechs oder sieben Jahre alt.»
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«Ihr sagt doch immer, daß Kinder alles mitbekommen. Ich habe ein gutes Gedächtnis.» «Prima. Ich versuche, den Tod deiner Mutter aufzuklären. Mit deinem Vater zu sprechen ist zwecklos, außerdem hatte er mit deiner Mutter nichts mehr zu tun.» «Er rief sie ab und zu an, natürlich nur, um sie zu beschimpfen.» «Aber du hattest Kontakt zu ihr und kannst mir helfen. Der Mörder muß jemand aus ihrem Freundeskreis sein. Das ist nicht schwer zu erraten. Das Verbrechen geschah um vier Uhr morgens. Niemand macht um diese Zeit einem Fremden die Tür auf. Bis jetzt habe ich mir ihre Kolleginnen und Kollegen angesehen, aber du bringst mich vielleicht auf eine andere Spur. Verstehst du?» «Ja.» Die Haltung des Jungen drückt weder Feindseligkeit noch Zustimmung aus. «Warum haben Sie den Fall übernommen? Etwa Schuldgefühle?» «Schuldgefühle?» «Sie waren schuld an der Veränderung im Leben meiner Mutter.» «Über diese Frage will ich nicht diskutieren. Wenn es einen Schuldigen gibt, dann ist es dein Vater. Deine Mutter war in ihrem Haustierkäfig nicht zufrieden. Mit den Jahren wirst du das verstehen.» «Das kann ich schon jetzt.» «Wenn du es verstehst, um so besser für alle. Ich übernehme den Fall, weil ich gefühlsmäßig in Lauras Schuld stehe, und weil mir eine Gruppe von Gymnasiallehrern meine Rechnungen bezahlt, mit einem gewissen Rabatt, den wir noch festlegen müssen.» So etwas wie ein Lächeln hat die Lippen des Jungen leicht geöffnet. «Fragen Sie!» «Die Polizei hat bei deiner Mutter ein Parteibuch gefunden. Das ist alles, was ich weiß, den Namen der Partei und alles weitere wissen sie auch, aber ich nicht.» «Das ist meine Partei, ‹Unión del Proletariado Revolucionario›. Ich selbst habe meine Mutter als Mitglied geworben.» «Du mußt sehr überzeugend gewesen sein.»
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«Laura hatte immer einen sehr direkten Draht zu mir, und sie trat in die Partei ein, weil sie dachte, wenn ich dabei bin, dann muß es einen Grund dafür geben.» «Kann ich den erfahren?» «Wenn ich schon meine Zeit mit Politik vergeuden soll, dann wenigstens mit einer Partei, die sich die Finger noch nicht schmutzig gemacht hat und die noch nichts und niemand verraten hat.» «War Laura aktives Mitglied?» «Nein, sie kam nur ab und zu. Es fing damit an, daß wir sie darum baten, uns einen Kurs über die Geschichte der Arbeiterbewegung zu geben. Sie kam, und es wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, und sie versorgte uns mit Bibliographien und Hinweisen.» «Hat sie sich mit jemandem aus der Gruppe angefreundet?» «Wir waren alle ihre Freunde.» «War es mit jemandem enger als mit den übrigen?» «Meinen Sie Bettgeschichten?» In der Stimme des Jungen liegt eine Herausforderung, die Carvalho ganz hinten in die Rumpelkammer seines Vergessens packt. «Ich meine eine enge Freundschaft, die über das Parteilokal oder was auch immer hinausging.» «Laura widmete sich wie immer demjenigen, der sie am meisten brauchte. Ihr Laster war die Helfer- und Retterrolle, mit einem wahnsinnigen Glauben an die Bildung. Sie sagte immer, Wissen macht frei. Vielleicht kam diese Begeisterung von dem, was sie diesem Wissen zuliebe alles aufgegeben hat …» Wieder eine gewisse Aggressivität gegen Carvalho. «Wer war denn der Hilfsbedürftigste aus der Gruppe?» «Die Hilfsbedürftigste. In diesem Fall muß ich Sie leider enttäuschen, es war eine Frau. Eine verschrobene, unausstehliche Frau, deren gute Seiten nur Laura sehen konnte. Für jeden von uns anderen war sie nur dumm und lästig. Die klassische Autodidaktin, die bis obenhin voller Ressentiments steckt.» «Klein, stämmig, so breit wie hoch.» «Die Beschreibung ist ausgezeichnet. Kennen Sie sie?» «Nein, aber ich werde sie kennenlernen, wenn du mir verrätst, wo ich sie finde.»
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«Du lädst mich nie zum Essen ein, Pepe, oder ins Kino. Du unterhältst dich nicht mal mit mir, Pepe. Da lief die ganze Zeit ein Film mit diesem Mädchen, die so aussieht, als hätte sie die Schwindsucht, aber sie spielt so gut, es ist die aus ‹Holocaust›. Jetzt soll er abgesetzt werden, und ich habe ihn immer noch nicht gesehen …» Charo verschlingt den Film mit den Augen, während Carvalho sie beobachtet und unwillkürlich mit Laura vergleicht, die damals in einer ähnlichen Situation nach Worten gesucht hatte, um ihm ihre Version des Films zu erklären. Zunächst hatte sie in Carvalhos Augen die Bestätigung dafür gesucht, daß sie kein dummes Zeug sagte. Dann war sie dazu übergegangen, sich mit ihm auseinanderzusetzen, seine Behauptungen oder Einwände in Zweifel zu ziehen und ihre Argumente durchzusetzen. Dann waren jene Kinoclubsitzungen allmählich zu einem dialektischen Pelotaspiel geworden, in dem Laura die Urteile sprach und Carvalho die schweigende Wand war, von der der Ball abprallte. Vielleicht hatte es Carvalho damals etwas anders empfunden, aber in der Erinnerung war diese Sequenz in verständnis- und liebevollen Tönen gehalten. Jetzt ist es Charo, die ihre Meinung äußert, und Carvalho ist es egal, aber er drückt ihren Arm, während er sie durch das hinausdrängende Publikum führt, und teilt ihr so eine Solidarität mit, die beide überrascht. Er läßt sie nicht los, bis sie ins Auto einsteigt, und ohne vorher etwas zu sagen, nimmt er sie mit in seinen Fuchsbau nach Vallvidrera. Charo erläutert ihm den Film, den sie gerade gesehen haben; sie versteht die Beziehung zwischen Sofia und ihrem Liebhaber nicht, in der Wirklichkeit hat sie noch nie ein derartiges Paar erlebt. Die Amerikaner übertreiben alles, nicht wahr, Pepe? Ja, stimmt. Die Leute sind viel normaler. Ich will nicht behaupten, daß sie normal sind, Pepe, aber sie sind jedenfalls normaler. Ja, stimmt, Charo. «Hast du sie sehr geliebt?» «Stell nicht so kitschige Fragen, Charo!» «Irgendwann mußt du doch jemanden geliebt haben.» Hatte er irgendwann irgendwen geliebt? Vielleicht hatte er sich darauf beschränkt, Mitleid zu empfinden, und mehr Interesse daran gehabt als jetzt, jemandem entgegenzukommen, der ihn brauchte.
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Was heißt lieben, wenn man schon mehr als drei- oder viermal seine Haut gewechselt hat? Laura war ein Stück Wild gewesen, das sich Schritt für Schritt in ein vertrautes und notwendiges Tier verwandelt und eines Tages verlangt hatte, aufrecht zu gehen und mit seinem Bändiger auf gleicher Stufe zu stehen. Von da an wird die Erinnerung immer spärlicher, bis sie mit den besten, aber unbestimmtesten Zügen verschwimmt. «War sie hübsch?» «Sie war eine morbide Schönheit.» «Das verstehe ich nicht.» «Vergiß es!» Charo weiß, welche Übungen beim Betreten von Carvalhos Höhle von ihr erwartet, wenn auch nicht verlangt werden: in der Küche herumschnüffeln, Kühlschrank öffnen, ironische Bemerkungen über Carvalhos ausschweifendes Leben machen und sich schweigend vor dem Kaminfeuer entkleiden, das an diesem Abend mit der ‹Reise in die Alcarria› von Camilo José Cela angezündet wird, und zwar in der Ausgabe von Austral. Sie verzehrt mit den Lippen Carvalhos Körper, während sie ihn nach und nach auszieht, und arbeitet sich zu dem waffenstarrenden Zentrum vor, mit einer sexualisierten Zärtlichkeit, die dem Begehren der Liebe gleicht. Danach die melancholische Rückkehr in das sichere Refugium des eigenen Körpers und die Gewißheit, daß der Film auch heute nicht endet, weder glücklich noch tragisch. Er geht ganz einfach nicht zu Ende. Carvalho liegt auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer. Das Holz knackt, die halbnackte Charo räumt das Tablett mit Tassen und Gläsern weg und kommt dann wieder, um ihre Hände auf Carvalhos Augen zu legen. Er scheint nun einer Aufforderung ihrer Hände nachzukommen und eine Erzählung weiterzuspinnen, die von weither kommt. Er spricht leise, intim, als führe er Selbstgespräche. «Der Junge ist schon erstaunlich reif.» «Jacinto?» «Nein, der Sohn von Laura. Er heißt … Carles … ja, so heißt er, plötzlich fällt es mir wieder ein. Stell dir vor, er war ein Winzling,
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eine kleine Puppe, die immer an der Hand der Mutter baumelte, und jetzt ist er ein intelligenter, trauriger junger Mann.» «Der Ärmste!» Charo fühlt wirklich Schmerz, einen Schmerz, der sich in tränenreichem Weinen ausdrückt, bis Carvalho die Augen öffnet und sich aufrichtet, um ihren Anfall zu begutachten. Er beginnt zu lachen. «Na hör mal, meinst du denn, das sei eine Fernsehserie? Es ist hoffentlich das letzte Mal, daß du wegen einem Fall anfängst zu heulen, mit dem du absolut nichts zu tun hast!»
Das Lokal einer armen und extrarevolutionären Partei, Posters von Lenin, Che, Malcolm X, Ho Tschi Minh, Arafat, Comandante Ortega und Fidel. Eine Tafel für Mitteilungen, ein improvisierter, ärmlicher, aber ungeheuer großer Versammlungstisch, ein Regal mit Büchern, überall stapelweise Propaganda. Carvalho registriert dies alles, während er entschlossen auf die kleine, dicke Frau zugeht, die verbissen an der Anzeigentafel schreibt. «Encarna?» Ein hartes Gesicht wendet sich ihm zu. Die zusammengezogenen Brauen sind zur festen Muskulatur erstarrt. «Ich komme von Carles, dem Sohn von Laura.» Die Frau schnüffelt heftig, als versuche sie einem flüchtigen Geruch auf die Spur zu kommen. «Ich rieche nach Bulle, ich rieche nach Bulle!» «Dann stinken Sie!» «Ich rieche nach Bulle, ich rieche nach Bulle!» Sie geht weg, Carvalho muß hinter ihr hergehen. Sie geht mit der Sturheit und Strategie eines Krebses. «Lassen Sie mich nicht einfach so stehen! Hören Sie mir wenigstens erst einmal zu!» Der Rücken antwortet ihm, nicht das Gesicht: «Ich kann Bullen nicht ausstehen.» «Würde Carles einen Bullen hierher schicken?» «Er ist ein Bürgersöhnchen.» «War seine Mutter auch so bürgerlich?» Er hat sich umgedreht, der Krebs, gereizt.
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«Wissen Sie überhaupt, wo ich geboren bin?» «Ich hatte noch nicht das Vergnügen.» «In Tembleque del Santo. Wissen Sie, wo das ist?» «Leider nein.» «Am Arsch der Welt. Ein paar Häuser und fünf hundert Schweine. Ich habe die Schweine gehütet, bis ich achtzehn war. Das erste Buch bekam ich in die Hände, weil es aus einem Flugzeug fiel. Das sage ich deshalb, weil ich es auf einer Wiese fand. Wissen Sie, wie es hieß? ‹Mechanismen der Macht in Lateinamerika› von Luis Mercier, herausgegeben von Edima, Edición de Materiales, Barcelona 1968, Vergós 56. Wie finden Sie das? Ich weiß sogar noch die Adresse des Verlags. Ich lernte lesen und lernte, was Imperialismus heißt, beides gleichzeitig. Wie finden Sie das? Dann war ich Dienstmädchen in Madrid und in Barcelona, bei einem progressiven Ehepaar, wo ich in der Küche essen mußte und nur die kleinsten Fleischstücke bekam. Dafür wurde ich aber den progressiven Freunden vorgestellt und mußte die Geschichte von dem Buch auf der Wiese erzählen. Na, wie finden Sie das? Eine tolle Karriere, nicht? Ich hab alle sogenannten linken Parteien durchgemacht, jede einzelne davon stinkt nach Bourgeosie, und überall haben die geborenen oder aufgestiegenen Bürgerkinder das Sagen. Die absolute Scheiße! Schließlich habe ich das hier gefunden.» Sie keucht. Eine innere Wut schnürt ihr die Kehle zu. «Und Laura? Was hat Laura mit dieser erbaulichen Geschichte zu tun?» «Sie sah mich und sagte: ‹Wir wollen ein gutes Werk tun an dieser Armen, die aus ihrem Schweinestall hierher gekommen ist.› Sie warf mir Bücher zum Fressen hin, wie ich den Schweinen Eicheln hingeworfen habe.» «Und sie erlaubte Ihnen, zu ihr nach Hause zu kommen.» «Ja, das gebe ich zu. Sie hatte ein gutes Herz, und ich mußte nicht in der Küche essen. Werden Sie mich jetzt dasselbe fragen wie die Polizei?» «War die Polizei schon hier?» «Ja.» «Was haben sie Sie gefragt?»
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«Passen Sie mal auf! Schauen Sie mich genau an! Sehe ich etwa aus wie eine verzauberte Prinzessin? Oder habe ich Ähnlichkeit mit einem Kinopüppchen? Ich sehe aus wie eine Lesbe, stimmt’s? Also, sie haben mich gefragt, ob ich Frauen gern mag, und ich habe ihnen gesagt, jawohl, meine Herrn, Gott und Ihnen zu Diensten. ‹Hast du sexuelle Beziehungen zu dem Opfer gehabt?› Haben Sie den feinen Unterschied bemerkt? Rot und lesbisch, also kann man sie duzen. Aber ich habe sie auch geduzt. ‹Nein, Alter, diese Laura hat sich immer so geziert.› Und jetzt halten Sie sich fest, denn es ist zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre. Er fragte mich recht scharfsinnig: ‹Haben Sie sie deshalb umgebracht?› – ‹Du hast zu viele Pornos gelesen, Junge›, sagte ich zu ihm, und der Typ wollte mir gleich die Zähne einschlagen. Zum Glück hat ihn der andere zurückgehalten, der feinere, der es gut mit mir meinte. Haben Sie genau zugehört und alles aufgeschrieben? Mehr sage ich nämlich nicht. Das war die perfekte Zusammenfassung.» Sie legt den Finger auf die Lippen. «Kein Wort mehr.» Carvalho dreht sich um und geht. Bevor er die Tür erreicht hat, kreischt die laute Stimme der Frau wie eine verstimmte Geige hinter ihm her: «Wenn Sie Carles sehen, sagen Sie ihm, daß er von mir noch vier oder fünf Bücher kriegt, die mir seine Mutter geliehen hat.»
«Wem hat Laura damals in der Nacht die Tür geöffnet?» Carvalho spricht praktisch mit sich allein, obwohl er mitten in seinem Büro steht und Jacinto und die ‹Langhaarige› seinem Monolog etwas verdrossen zuhören. «Dieses Monster aus dem Schweinestall, nein, das glaube ich nicht. Im Innersten weiß sie genau, daß sie niemals die Hand nach einer Señorita ausstrecken darf. Ihr sagt, ein verärgerter Liebhaber kommt nicht in Frage, egal, ob Mann oder Frau. Laura hat nie jemanden vor den Kopf gestoßen. Sie war die Retterin der hoffnungslosen Fälle. Der Ehemann? Zwar ein gewalttätiger Typ, aber eine Rache mit zehnjähriger Verspätung, das ergibt keinen Sinn. Es könnte ein unvorhergesehener Faktor aufgetaucht sein. Jemand,
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den sie erst an diesem Tag kennengelernt hat und von dem ihr nichts wißt. Jemand, der in dieser Nacht bei ihr war.» Jacinto räuspert sich. «Ich wollte es nicht sagen, um die Dinge für mich nicht noch komplizierter zu machen, aber ich war in dieser Nacht bei ihr.» Carvalho und die ‹Langhaarige› horchen gespannt auf. «Ein paar Wochen vorher hatten wir fürchterlich Krach gehabt. Sie hatte mein Gejammer und meine Unselbständigkeit satt und warf mich aus der Wohnung. Ich machte einen Riesenaufstand auf der Treppe, es kam sogar ein Nachbar heraus, ein ganz gemeiner Kerl. Wir stritten uns. Er schlug mich. Laura kam mir zu Hilfe und holte mich wieder in die Wohnung, aber bald danach zog ich aus. Kurz und gut, in der Tatnacht kam ich zurück. Ich wollte ihr zeigen, daß ich mich gefangen hatte.» Laura öffnet die Tür und begrüßt den Jungen mit Lächeln und Kuß auf die Wange. Er lächelt auch und verhält sich ganz natürlich, etwas zu natürlich vielleicht, um seinen wirklichen Seelenzustand im Griff zu behalten. «Ich habe mich für einen Fotokurs eingeschrieben.» «Willst du Fotograf werden?» «Irgendwas muß ich ja machen. Ich möchte gerne Reportagen schreiben und reisen.» «Das ist sehr gut. Denk an den lateinischen Spruch: Das Leben ist nicht notwendig, aber die Seefahrt.» Der Junge tritt von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht erwartet er eine Einladung, aber Laura frustriert ihn ohne Umschweife. «Ich habe eine Menge zu tun, ich muß Prüfungsarbeiten korrigieren.» «Ich gehe schon. Ich wollte nur mal hereinschauen und guten Tag sagen.» Laura nimmt ihn am Arm und schiebt ihn sanft zur Tür. «In ein paar Monaten unterhalten wir uns wieder stundenlang, so oft du willst, und das hier ist wieder dein Zuhause, ich bin ja deine Freundin, aber jetzt mußt du dich erst mal abnabeln! Das verstehst du doch, oder?» «Ja, ja.»
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Zur Belohnung bekommt er einen Kuß auf die Wange und findet sich auf dem Treppenabsatz vor verschlossener Tür wieder. Sein Gesichtsausdruck ist zwiespältig, zwischen Freude und Schluchzen. Aber er muß sich zusammennehmen, denn aus dem Aufzug steigt ein rothaariger Mann mit finsterer Miene. Er bleibt stehen und betrachtet den Jungen mit übellaunigem Grinsen. «Sieh mal an, wen haben wir denn da? Der Tausendsassa! Hat dich deine kleine Freundin wieder mal rausgeschmissen?» Jacinto beginnt, die Treppe hinabzusteigen, und weicht so dem Körper des Mannes aus, der die Tür zum Aufzug versperrt. Der Rothaarige beugt sich über das Geländer und verfolgt den abziehenden Jungen mit Worten. «Euch würde ich zum Steineklopfen schicken, euch Gesindel! Ihr habt viel zu viel Zeit, um euch den Nabel zu begaffen!» Jacinto ist schon beinahe im Erdgeschoß, der Rothaarige blickt aufgebracht auf Lauras Wohnungstür, zieht einen kleinen Schlüssel aus der Jackentasche, macht eine halbe Drehung und geht in seine Fußpflegerwohnung.
Die Tür zur Pediküre geht auf, und wieder steht die Wasserstoff blonde im Türrahmen. «Nein, das ist aber eine Überraschung! Erst neulich habe ich an Sie gedacht. Er wird bestimmt schon wieder in seiner Heimatstadt sein, wieder zu Hause, und jetzt sind Sie immer noch hier! Gibt es Probleme?» «Die Polizei. Der verdächtige Junge ist freigelassen worden und es sieht so aus, als hätten sie eine andere Spur. Sie halten mich fest, weil sie ein paar Dinge herausbekommen oder irgend etwas nachprüfen wollen. Kurz und gut, reine Schikane. Ich gehe jetzt rüber in die Wohnung und suche ein paar Dinge zusammen, um die mich die Polizei gebeten hat. Wie es aussieht, gehen sie jetzt auf Nummer Sicher.» «Ah ja?» Die Blonde lächelt immer noch, aber auf Carvalho wirken ihre Augen eiskalt.
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«Und Ihr Mann? Hüpft er immer noch von einem Fuß zum anderen?» «Was Sie wieder für Witze machen! Sie gefallen mir, immer guter Dinge!» «Wollen Sie sich nicht noch einmal meine Füße ansehen?» Die Frau lacht, so unbeschwert sie kann. «Nein, das geht nicht. Mein Mann muß gleich kommen, und was soll er denn von mir denken, wenn er mich dabei erwischt, wie ich einem fremden Mann die Füße ansehe?» «Ist Ihr Mann gefährlich?» «Nein, er kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Obwohl, wenn er jähzornig wird … dann ist er fürchterlich!» «Ich will mich nicht mit einem eifersüchtigen Ehemann herumstreiten. Sie haben mir doch neulich erzählt, daß man alles hört, was in der Wohnung nebenan passiert. Ich denke, Sie müßten in der Nacht damals auch irgend etwas gehört haben. Sie erinnern sich ja sogar noch an die Stimmen der Besucher meiner Cousine!» «Aber ich habe einen sehr festen Schlaf.» «Na ja, ich will Sie nicht länger auf halten. Die Polizei muß sowieso jeden Moment hier sein.» «Die Polizei, hier? Warum?» «Das frage ich mich auch. Sie sagten zu mir: Gehen Sie zur Wohnung Ihrer Cousine und warten Sie dort auf uns! Wir müssen ein paar Formalitäten erledigen, weil wir einen Haftbefehl haben.» Die Frau zuckt die Achseln, sagt aber nichts. Sie bringt Carvalho zur Tür und wartet, bis der Detektiv die Wohnung der Toten betreten hat. Dann gehorcht ihr ganzer Körper schlagartig einer anderen Logik. Panik breitet sich auf ihrem Gesicht aus, und sie schlüpft mit hastigen Bewegungen in einen leichten Mantel. Ganz vorsichtig schaut sie zur Tür hinaus, geht dann ins Treppenhaus, schließt die Tür und wartet nicht auf den Aufzug, sondern rennt die Treppe hinunter, so schnell es ihre kurzen Beine zulassen. Carvalho ist wieder auf dem Treppenabsatz aufgetaucht, beobachtet von oben den schwindelerregenden Abstieg der Frau, ruft den Aufzug, steigt ein und fährt hinunter. Draußen auf der Straße folgt er dem hastigen Gang der Frau, bis
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sie am Eingang eines Parkhauses stehenbleibt. Sie wartet auf jemanden und geht ruhelos auf und ab. Endlich kommt das erwartete Auto. Am Steuer sitzt der rothaarige Fußpfleger. Seine Frau beugt sich zum Seitenfenster und sagt etwas zu ihm. Der Rothaarige legt den Rückwärtsgang ein, wendet, läßt seine Frau auf dem Gehweg stehen und fährt zurück, woher er gekommen ist. Carvalho hat sich die Nummer notiert und geht zu der Frau hin, die ihm den Rücken zukehrt und anscheinend über den Weg ihres Mannes nachdenkt. «Es wird nicht lange dauern, bis er erwischt wird.» Tödlich erschrocken zuckt sie zusammen. Ihre Augen sind trotz des verwischten Lidstrichs und der Tränen unmöglich weit aufgerissen. «Er klingelte in aller Frühe an der Tür Ihrer Nachbarin, und sie machte ihm auf. Sie war zwar überrascht, aber sie ließ ihn eintreten. Er hatte gesehen, wie leicht es war, in diese Wohnung zu gelangen warum also nicht auch er. Wenn dieser Junge eingelassen wurde, dieser Habenichts, warum nicht auch er? Es waren doch Leute mit einem freien Lebensstil, ohne Moral, ohne Gewissen. Hatte er nicht selbst durch die Zwischenwand gehört, wie Laura mit verschiedenen Freunden das Bett geteilt hatte?» Die Frau lehnt sich an die Hauswand und hört Carvalho mit starrem Blick zu, wortlos, die Hände in den Taschen. Mit erstickter Stimme stammelt sie: «Sie hat dauernd provoziert.» «Nein. Sie wollte den Leuten helfen, ihre eigene Geschichte in den anderen wiederholen. Sie wollte sich selbst beweisen, daß ihr großes Opfer nicht umsonst gewesen war.» «Wer sind Sie?» «Sie können mich Pygmalion nennen. Und jetzt gehen Sie wieder nach Hause! Sehen Sie zu, daß Sie Ihren Mann finden, und sagen Sie ihm, er soll sich stellen. Die Polizei wird nicht lange brauchen, um ihn zu finden, und die Polizei will, daß Geschichten immer einen Anfang und ein Ende haben.»
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Plötzlich wird ihm bewußt, daß er schon seit einer Stunde die Urne mit der Asche betrachtet und sich mit Laura unterhält, mit ihr eine Entscheidung erörtert, die sie für immer zu einem Teil seines Lebens machen wird. Es geht um einen letzten Dienst, teils lustig, teils bohrend schmerzhaft, eine literarische und egoistische Entscheidung, zu der ihn eine Mischung aus Nostalgie und Schuldgefühl treibt. «Was von beiden ist abstoßender, Laura, die Nostalgie oder die Reue? Den Kelch der Nostalgien habe ich bis zur Neige geleert, genug für den Rest meines Lebens. Und Schuldgefühle habe ich mehr, als ich ertragen kann. Ich kann nicht auch noch deinetwegen welche haben.» Während er so mit der Urne spricht, nimmt er das Telefon und wählt die Nummer der Familie Buscató. Er spricht mit Carles und verabredet sich mit ihm in dem Park ihrer ersten Begegnung. Dann nimmt er das Aschengefäß und steckt es in eine alte Tasche, mit der er früher zum Sport gegangen ist, zu welcher Art hat er vergessen, ja, vielleicht hat er diesen Sport auch nie ausgeübt. Er hält in seiner Tätigkeit inne, sein Herz schmerzt, wie er die letzten Reste von Laura im Inneren einer Segeltuchtasche verschwinden sieht, die nach Feuchtigkeit und Vergessen riecht. Er holt sie wieder heraus und steckt sie in eine Plastiktüte mit der Werbung eines bekannten Feinkostgeschäftes. Lachsrogen, ein Brie, eine Empanada mit Spinat und ein Pfund Kiwis. Das war der ganze Einkauf. Die Urne schreit empört und verständnislos auf. Schließlich schlägt er sie in das schönste Papier ein, das im ganzen Haus aufzutreiben ist. Ein schönes Geschenk von Charo war einmal darin verpackt gewesen. Er weiß nicht mehr, zu welchem Anlaß. Herausgeputzt und getarnt thront das Tongefäß auf dem Beifahrersitz und begleitet Carvalho auf seiner mechanischen, langsamen Fahrt hinunter zur Stadt, durch die Kurven der Straße von Vallvidrera. Als er sie dann wieder in die Hände nimmt, wirkt Lauras Asche wie ein schlecht verpacktes Geburtstagsgeschenk. Er geht damit über die Wege des einsam im Nieselregen daliegenden Parks. Carles hat ihn unter einer alten Akazie erwartet und schließt sich ihm an, ohne Fragen zu stellen.
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«Das ist Lauras Asche.» «Und?» «Die Ehre ist zu viel für mich.» «Sie ist Ihnen im Weg.» «Willst du sie haben?» «Warum haben Sie mich hierher bestellt?» «Ich will dir einen symbolischen Akt vorschlagen, um eine Geschichte zu Ende zu bringen, die nicht ich wieder aufgewühlt habe.» Es wird Nacht, als Carvalho es geschafft hat, mit den Händen eine kleine Grube zu graben und einen grünen Zweig von einem Busch abzureißen. Untätig sieht ihm Carles zu, und als die Grube ihnen die Unschuld ihrer Leere entgegenhält, beobachtet er mit zusammengekniffenen Augen, wie Carvalho Lauras Asche hineinschüttet und mit loser Erde bedeckt. Knieend schaut Carvalho zu Carles auf. «Du und ich werden immer wissen, daß sie hier ist. Am Ort unserer ersten Begegnung.» Keine Antwort von Carles, nicht einmal, als sich Carvalho verabschiedet und durch den Regen zum Ausgang des Parks geht. Dort dreht er sich noch einmal um und sieht den Jungen dastehen, die Augen starr auf das endgültige Grab seiner Mutter gerichtet, als gehe es darum, sich definitiv damit abzufinden, daß sie ihn nie mehr beim Gehen hinter sich herzerren würde.
Was wäre gewesen, wenn … «Paß auf, daß du nichts abkriegst!» «Ich sehe mich nur kurz um, dann komme ich wieder zurück.» Bevor er geht, wirft er einen Blick auf die nahe, beruhigende Gegenwart des Streifenwagens mit dem eingeschalteten Standlicht. Ein routinemäßiger Rundgang, damit wir gesehen werden. Obwohl ich nicht weiß, ob uns überhaupt jemand sehen wird. Irgendwo verrät ein Fenster, hinter dem Licht brennt, daß dort einer nicht schlafen kann, aber die übrigen Häuserfronten sind Attrappen aus altem, hart gewordenem Pappmaché. Ein ruhiges Viertel an der Plaza de Sarriá. Weiter unten ist es etwas lauter, an der Calle Mayor de Sarriá, vor allem, seit dort Bars für Jugendliche aufgemacht haben und die Straße ein nächtlicher Fluß mit lauten Rufen und rücksichtslosen Auspuffrohren geworden ist. Die Plaza Mayor lädt zum Stehenbleiben ein, beruhigend auch in dieser frühen Morgenstunde im Licht der Laternen. Bänke und Bäume ruhen aus, der Zeitungsstand und der Brunnen warten auf die ersten Frühaufsteher, die zur Eisenbahn oder zu den Toren der Markthalle eilen. «Alles in Ordnung.» «Dann fahren wir mal diese Straße hinauf, damit es nicht heißt, wir seien nur spazierengegangen und hätten frische Luft geschnappt.» «Tolles Vergnügen, frische Luft zu schnappen.» «Ich würde fast lieber zu Fuß gehen als weiter mit diesem Schnösel im Auto hocken.» «Ich weiß auch nicht, was die heutzutage auf der Schule lernen, aber die Inspektoren werden jedes Jahr blöder. Er da hat den ganzen Tag nur den Kopfhörer auf und hört Rock. Hast du gesehen, was er dabei für ein Gesicht macht? Er singt jedes Lied mit.»
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«Dabei kann er überhaupt kein Englisch.» «Das Schlagerenglisch kann er schon. Hast du nicht gesehen, wie er den Mund verzieht?» «Also, meine fünfzehnjährige Tochter ist genauso. Wenn du mit der sprechen willst, mußt du ihr entweder den Kopf hörer wegnehmen oder den Radiorekorder ausschalten.» «Eines Tages sind die alle taub. Jetzt haben wir aber lange genug den Affen markiert. Gehen wir noch bis zu dem Container dort an der Ecke und dann ab ins Auto! Unser Soll haben wir erfüllt.» «Eigentlich müßten das die Nachtwächter machen, wie früher, dann brauchten wir nur zu kommen, wenn es wirklich nötig ist. Nicht wie heute. Da muß wieder irgend so eine Verrückte angerufen haben, eine von denen, die sich das ganze Nachtprogramm anhören. Wenn dann im Radio nichts mehr kommt, wissen sie nicht, was sie tun sollen. Und wir reißen uns den Arsch auf, Straße rauf und Straße runter, man muß ja ein demokratischer Polizist sein. Später, wenn es mal brenzlig wird und du versuchst, dir Respekt zu verschaffen, sagen dir die Bürger, du sollst die Schnauze halten.» «Mir ist das ganz egal. Wenn wir spazierengehen und die Uniform zeigen sollen, dann grinse ich nur. Und wenn der Schlagstock dran ist, dann hau ich drauf.» «Schau mal, was ist das denn?» «Eine Schaufensterpuppe.» «Das ist keine Puppe, das ist ein Mensch. Da schläft einer seinen Rausch aus.» «Dafür hat er sich aber einen schönen Platz ausgesucht.» «Wie kann man bloß in einem Müllcontainer seinen Rausch ausschlafen! He, Junge! Los, runter da!» Der Mann scheint auf dem Müll zu schlafen, seine Beine baumeln über den rostigen Rand des Containers. Der Polizist zieht daran, der Körper folgt nach und plumpst schwer herunter. Der Polizist versucht, die Lawine aufzuhalten, die ihn überrollen will, und schafft es mit knapper Not, indem er sich mit seinem ganzen Körper dagegenstemmt, Gesicht an Gesicht, fast Mund an Mund. Der schwache Schein einer weit entfernten Neonstraßenlaterne fällt auf das Gesicht des Schläfers. Der unerwartete Anblick des Todes führt
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zu einem Übelkeitsanfall, aber der Polizist schluckt und schaut weg. Er ruft seine Kollegen. Sie stehen um den Toten herum, dann helfen sie ihm den Körper in die ursprüngliche Lage zu bringen. «Nicht berühren, bis der Tatbestand aufgenommen ist! Und macht nicht soviel Lärm, sonst sind die ganzen Fenster voller Gaffer!» Die beiden Polizisten bleiben bei dem Container, und eine Stunde später lassen quietschende Bremsen, zugeschlagene Türen und Stimmengewirr die Fenster in Festbeleuchtung erstrahlen und eine Menge kleiner, unbekannter Köpfe auftauchen, die sehen wollen, was auf der Straße los ist. Endlich können sie die Leiche herabnehmen und auf dem Gehweg die Beine in den alten Jeans nebeneinanderlegen, die Hände über dem Hosenschlitz falten und die Augen schließen. «Der war auch nicht mehr der Jüngste.» «Nein, aber er zog sich an wie einer.»
«In der gleichen Straße wie die Kirche Santa Madrona, in Pueblo Seco. Druckerei Gratacós. Keine Bange, Sie können es nicht verfehlen.» Trotz der unmittelbaren Nähe des Stadtteils ist es Jahre her, seit Carvalho zum letztenmal nach Pueblo Seco gefahren ist. Jede Stadtlandschaft zu ihrer Zeit. Pueblo Seco ist in seiner Erinnerung verbunden mit Wochenendausflügen in die grünen Zonen des Montjuic, wo die mitgebrachte häusliche Kartoffeltortilla verzehrt wurde. Bevor man das Gelände betrat, mußte man unbedingt bei den Ställen in der Calle de Radas haltmachen und durch die Bretter die ruhenden Kühe aufscheuchen, bis sie muhten. Heute ist Pueblo Seco genau wie der Rest der Stadt ein großer Parkplatz. Das ist alles, obwohl der Stadtteil einen gewissen Stil bewahrt hat und noch Lebewesen aus der Zeit beherbergt, bevor Coca-Cola mit den ersten Marines der VI. Flotte nach Spanien gekommen ist. Die Druckerei Gratacós hat zwar inzwischen andere Maschinen, aber in ihrem Innern ist noch die Atmosphäre des kleinen Familienbetriebes lebendig, zwischen den Ablagerungen von
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zwei oder drei Generationen. Carvalho lauscht, den Ellbogen auf ein paar Ries Papier gestützt, dem gedanklichen Hin und Her von Señor Gratacós. Er ist ein Mann Mitte Vierzig, mit schütterem Haar, das noch um jede Locke kämpft, im blauen Overall, mit dem Mützenschirm der Drucker und einer gewissen Traurigkeit, die von den dicken Brillengläsern zurückgehalten wird. Das Hin und Her ist nicht nur gedanklich, Señor Gratacós geht in seinem Büro auf und ab, beantwortet hier eine Frage, zeichnet dort ein Schreiben ab, prüft mit kritischem Blick das Werk, das gerade fertig geworden ist, aber trotz allem reißt der Faden seines Vortrags nicht ab, und er hört auch nicht auf, mit einem gewissen Argwohn den aufnahmebereiten, ernsten Carvalho zu betrachten, der sich darauf beschränkt, ihm zuzunicken, als wolle er ihn zum Weiterreden ermutigen. Er ist kein blendender Redner, aber er scheint Worten freien Lauf zu lassen, die er seit vielen Jahren wie eine Zyste mit sich herumträgt. «Vor zwanzig Jahren haben Sie bestimmt von uns gehört. Erinnern Sie sich nicht an die ‹Gatos con Botas›? Wir hatten eine Band hier in Pueblo Seco, in den sechziger Jahren. Wir waren alle aus diesem Viertel hier, verstehen Sie. Die ‹Gestiefelten Kater›. José Maria war der Sänger, er war der Star. Wir haben es nicht zu einer Schallplatte gebracht, aber wir sind auf Jahrmärkten aufgetreten, in Gemeindezentren und im Radio, in verschiedenen Sendungen von Salvador Escamilla. Ein Lied von uns war ziemlich erfolgreich: ‹Catalina es cosa fina›. Später ist es von bekannten Gruppen gesungen worden. Catalina es cosa fina Catalina sedalina Oh – oh – oh Catalina Catalina ist ein feines Ding seidige Catalina oh – oh – oh, Catalina
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Dann gingen wir auseinander, und jeder arbeitete in seinem eigenen Metier. Ich bin Drucker, ich führe die Druckerei meines Vaters weiter. José Maria versuchte es bei anderen Gruppen, ich glaube, einmal trat er mit ‹Los Bravos› auf. Er war ein hübscher Junge, sah gut aus und hatte eine tolle Stimme, allerdings sang er zu sehr wie José Gardiola, Rockmusik lag ihm nicht. Verstehen Sie? Er versuchte alles mögliche und landete schließlich als Diskjockey in einem Nachtlokal in Tarrasa. Das letzte, was ich von ihm gehört habe, war, daß er in Barcelona in einem Tanzlokal als Diskjockey arbeitete. Er ging schon auf die Vierzig zu oder war es schon. Natürlich war er es schon, klar, genau wie ich, zweiundvierzig. Können Sie sich mich mit der E-Gitarre vorstellen? Catalina es cosa fina Catalina sedalina Oh – oh – oh Catalina So zu sterben ist beschissen, hören Sie mal, es gibt keine Gerechtigkeit! Sie haben ihm mit irgendwas den halben Schädel zertrümmert. Als erstes fragte mich die Polizei, ob er schwul war. Vielleicht ist er das später geworden, aber damals war er ganz normal. Man rief mich an, weil keiner die Leiche haben wollte. Niemand fühlte sich für die Beerdigung verantwortlich, und in seinem Notizbuch standen noch ein paar Adressen aus den alten Zeiten. Tatsächlich haben sie auch andere Mitglieder der Band angerufen, und keiner wollte sich dazu äußern. Dafür bin eben ich da, ich war sowieso immer derjenige, an dem alles hängenblieb. Es macht mich ganz krank, daß José Maria so ein Ende genommen hat. Er war ein guter Junge. Allerdings ein bißchen arrogant, zu sehr von sich selbst eingenommen. So war er schon als Junge. Wir waren damals in der Nachkriegszeit auf derselben Schule. Er war immer wie aus dem Ei gepellt und erzählte, es gebe bei ihm zu Hause jeden Tag Fleisch. Mit der Zeit hörte er dann auf damit, weil er bemerkt hatte, daß das ganze Viertel schon Bescheid wußte: seine Mutter war ledig und verstand sich gut mit dem Milchhändler, dem Vater von Miqueló. Die Polizei sagt, es sei ein Racheakt oder ein Streit gewesen. Seine
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Leber war total kaputt, galoppierende Zirrhose. Der Gerichtsmediziner sagte zu mir, er hätte sowieso nicht mehr lange gelebt. Mir stinkt es, daß er wie ein Hund gestorben ist, und ich will, daß Sie alles herausfinden, was Sie können. Ich weiß nicht, warum ich das tue. Im Grunde hat er mir immer leid getan.» «Lassen Sie mal die Polizei aus dem Spiel und denken Sie selbständig nach! Welche Erklärung haben Sie für dieses Verbrechen? «Ich sagte es Ihnen doch schon, es war Rache.» «Hatte er keine Familie?» «Er war verheiratet, hatte einen Sohn, aber lebte getrennt von seiner Familie. Zu seiner Frau habe ich keinen Kontakt mehr.» «Haben die anderen aus der Band noch Kontakt untereinander?» «Nein. Vielleicht José Maria und Luis, Luis Armenteras. Er hat eine Diskothek oder so etwas Ähnliches. Dort tritt er immer noch unter seinem Künstlernamen Luigi Piamonte als Sänger auf.» «Namen, Adressen!» «Hier, ich habe Ihnen eine Liste gemacht.» «Warum übernehmen Sie die ganzen Ausgaben und machen sich soviel Mühe?» «Aus Sentimentalität. Manchmal denke ich, daß die Zeit mit den ‹Gatos con Botas› das einzige war, was in meinem Leben zählt, und José Maria war das Aushängeschild der Gruppe. Die Leute erinnern sich immer an das Gesicht des Sängers. Können Sie sich noch an ‹Los Bravos› erinnern?» «Nur vage.» «Wetten, daß Sie sich nur an den Sänger erinnern, den Blonden?»
Rock ist ein Lebensstil, hatte einmal jemand zu ihm gesagt. Er wußte nicht wann, aber wahrscheinlich war’s in den sechziger Jahren gewesen. Dann hatte er noch hinzugefügt: «Die Rockmusik hat mehr zum Zerfall des Kapitalismus und der utilitaristischen Philosophie des Westens beigetragen als hundert Jahre Marxismus. Er begeistert die Leute. Die Jungs der Rock-Generation sind herangewachsen und Waffenhändler geworden. Über Dreißig teilt
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sich die Menschheit tendenziell in Kastrierer und Kastraten; die einen tanzen Rock, die anderen Walzer.» «Findest du nicht auch?» Diesmal ist Fuster sein Amphitryon, er hat aus edlen Rohstoffen ein Abendessen zubereitet: ein Kistchen Austern, die er von einer gastronomischen Exkursion in den Midi mitgebracht hat, ein denkwürdiger Sauternes, zwei Terrinen mit Confit d’oie nach einem Rezept aus dem Périgord und zum Nachtisch ein paar flaons aus Castellón mit bernsteinfarbener gegorener Milch, die gerade den richtigen Reifepunkt erreicht hatte. «Meine Musik war es nie. Ich gehörte altersmäßig beinahe zur Rock-Generation, aber es war nicht meine Musik. Gregorianik gefällt mir besser. Ich habe mir eine Schallplatte mit dem Gesang der Benediktiner der Abtei von Saint-Maurice und Saint-Maur mitgebracht.» Dann singt er mit Opernbariton: Veni Creator Spiritus Mentes tuorum visita: Imple superna gratia Quae tu creasti pectora Qui diceris Paraclitus Altissimi donum Dei Fons vivus, ignis, caritas et spiritualis unctio Komm, Schöpfer Geist, besuche den Geist der Deinen Erfülle mit höchster Gnade Die Brust deiner Geschöpfe Der du Tröster heißt, ein Geschenk des höchsten Gottes lebender Quell, Feuer, Liebe und eine geistliche Salbung.
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Nach der dritten Strophe hört Carvalho nicht mehr zu, obwohl er mit dem Kopf nickt, als wolle er die Anstrengungen von Fuster unterstützen, sein Haus in Vallvidrera in eine Krypta der Urchristenheit zu verwandeln. Gloria Patri Domino et Filio, qui a mortuis Surrexit, ac Paraclito, in saeculorum saecula Amen. Ruhm dem Vater und Herrn und dem Sohn, der von den Toten auferstand, und dem Tröster, in alle Ewigkeit Amen.
«Amen.» «Jahrhundertelang war das die einzige kultivierte Musik, beständig, unwiderruf lich, sich selbst treu – ein zuverlässiger Orientierungspunkt. Je älter ich werde, um so mehr schätze ich Dinge, die die Unbilden der Jahrhunderte überdauert haben.» «Der Rock hält sich schon länger als die Polka.» «Das kann man nicht bestreiten.» «Und wie es aussieht, ist er eine Philosophie. Ich ermittele im Fall eines alten Rocksängers, das heißt, eines Mannes von über vierzig Jahren, der wie ein Rocker lebte, als sei er immer noch ein Junge, der in der Stadtteilband mitspielt.» «Jede Epoche baut sich ihre eigenen Ruinen, das hast du selbst schon oft gesagt. Es kann sein, daß in ein paar Jahren die ganzen Atomkraftwerke stillgelegt sind. Es werden zeitgenössische Ruinen sein. Könnte ihre Besichtigung dieselben Gefühle wecken, wie ein Gang durch Ephesos oder über die Stufen des Amphitheaters von Epidaurus?» «Ruinen beeindrucken mich nur dann, wenn sie es wirklich sind, wenn sie schon im Begriff sind, wieder tote Natur zu werden. Das
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habe ich vor einigen Jahren begriffen, als ich zufallig in Agnus Dei, einem Konvent des Priorats, haltmachte. Er besteht gerade noch aus vier Wänden, ein paar Architraven, aufeinander getürmten Steinen, die dazu tendieren, wieder das zu werden, was sie waren, bevor die Steinmetzen sie umwandelten und in den Rahmen einer prachtvollen Architektur zum Lob Gottes einfügen wollten. Diese Ruinen, die im Todeskampf liegen, ziehen mich an, sie faszinieren mich beinahe, mal angenommen, es würde etwas geben, das mich fasziniert.» «Und dieser alte Rocker, fasziniert er dich?» «Nein. In seiner Aufmachung seh ich mehr Elend als Poesie. Ich werde mich ein paar Tage lang unter alten Rockern bewegen.» «Alte Rocker sterben nie. Das ist ein Schlagertitel.» «Alte Rocker haben niemanden, der sie begräbt. Dieser Titel wäre besser.» «Rocker mögen kein Confit d’oie, Carvalho. Sie essen Hamburger und trinken Coca-Cola.» «Das steht auf einem anderen Blatt.»
Das Rock de Chocolate wirkt so früh am Morgen wie ein großer Karton, voller hochgestellter Stühle und Kehrichthaufen, die eine Frau mit dem Besen zusammenfegt. Sie weiß von nichts. Fragen Sie Don Luis! Don Luis trägt weiße Kiowa-Mokassins, um seine Gehbehinderung auszugleichen, und verbirgt seine Glatze unter einer Flut von Haaren, die er von ihrem Ursprung auf der westlichen Kopfseite gewaltsam nach Osten gezwungen hat. «Schon wieder? Ich habe bereits alles gesagt, was ich zu sagen hatte. Außerdem hat er hier nicht mehr gearbeitet. In letzter Zeit war er immer besoffen oder er machte blau, und jeder kann ja mit seinem Leben machen, was er will, aber die Arbeit muß getan werden. Die Arbeit ist etwas Heiliges», sagt der alte, fette Rockmusiker Luis Armenteras, ‹Luigi Piamonte›. Vor zwanzig Jahren hat er Twist im italienischen Stil gesungen und ist jetzt Eigentümer des Rock de Chocolate, Sänger und fliegender Schallplattenhändler. Mit einem Lieferwagen klappert er die Jahrmärkte ab und greift ab und zu noch manchmal zum
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Mikrofon, um zwischen den Werbedurchsagen für seine Schallplattenverlosungen ‹Tequila› zu singen, im Stil von Torrebruno. «Einen eigenen Stil hatte ich noch nie. Imitationen lagen mir schon immer mehr. José Maria, der hatte seinen Stil. Wenn er nicht so ein Strichjunge gewesen wäre, hätte er es bis ganz oben geschafft.» Carvalho läßt ihn seine Geschichten erzählen. Währenddessen versucht der Hinkende, ihn aus dem Lokal zu bugsieren, indem er sich bemüht, Carvalho zum Ausgang zu geleiten, der allerdings darauf nicht eingeht. «Warum quetschen Sie nicht mal die Mutter seines Sohnes aus? Er hatte einen zehnjährigen Jungen mit dieser Nutte, die ObenOhne-Kellnerin spielt und dabei mit ihrem Busen wackelt. Silvana heißt sie, glaube ich. Sie brauchen nur den übelsten Schuppen im Barrio Chino zu suchen, dort singt sie wahrscheinlich. José Maria hatte wirklich Pech. Der Junge ist zwar auch Künstler, aber seine Mutter hat ihn total auf Flamenco festgelegt. Eduardo, El Niño Cantor, der Junge mit der goldenen Stimme. Neulich kam er im Fernsehen. Er sang dieses fürchterliche Uraltlied: Zwölf Glöcklein trägt mein Pferdchen … Der Vater war ein Avantgardesänger, und der Sohn will wie Miguel de Molina sein, wenn er groß ist. Übrigens, wieso interessieren Sie sich eigentlich so sehr für José Maria und seine Familie?» «Er war mir noch Geld schuldig, und so etwas lasse ich mir nicht einmal von einem Toten bieten. Hatte er nicht von Ihnen noch Lohn zu bekommen? Ich hole mir mein Geld, egal wo und von wem.» Luigi Piamonte mißt Carvalhos herausfordernde Aggressivität abschätzend und versucht dann nicht mehr ganz so penetrant, ihn loszuwerden. «Ich habe ihm alles bis auf den letzten Céntimo bezahlt. Letzten Endes war es nicht viel, weil er immer auf Vorschuß lebte. Wie er das machte, weiß ich nicht genau. Ich habe ihn in den letzten drei Jahren, die er sich hier herumtrieb, kein einziges Mal essen sehen. Alles für die Flasche und den Joint.» «Sie haben für den Toten anscheinend nicht viel Sympathie übrig.» «Ein Gauner weniger.»
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«Und für seine Familie auch nicht.» «Die Milchkuh soll mir auch noch sympathisch sein? Am Anfang war sie ein Fan unserer Gruppe und hängte sich an uns wie eine Klette. José Maria konnte nicht E-Gitarre spielen, aber er bewegte sie wie seinen Schwanz, genau wie Elvis, und sie saß dauernd in der ersten Reihe, dieses häßliche Miststück, der Speichel tropfte ihr von den Lippen, sie fraß ihn mit den Augen auf und gab keine Ruhe, bis er sie heiratete. Das war eine Ehe wie aus dem Horrorfilm. Er war Bette Davis und sie Joan Crawford oder umgekehrt. Sie trennten sich laufend und versöhnten sich genauso oft wieder. Bei der letzten Versöhnung hat sie es geschafft, daß er ihr diesen häßlichen kleinen Bastard gemacht hat. Sie wollte auch Künstlerin werden, behauptete, sie lerne modernes Ballett, dabei hätte sie nicht mal einen Cha-cha-cha zustande gebracht …» «Junge, Junge, was für harte Worte.» «Schauen Sie sich doch mal den Schlitz in ihrem Gesicht an! Entweder kaut sie damit dem ersten besten einen ab, den sie zu fassen kriegt, oder sie bewirft damit die Leute mit Dreck. Also mir hat sie schon alles mögliche an den Kopf geworfen. Sie wußte genau, daß ich sie nicht ausstehen konnte, weil sie ein Flittchen war, das José Maria noch das Rückenmark auslutschen würde. Er versuchte, sie in die Band reinzubringen. Es war die Zeit mit den Miniröcken, und sie zogen ihr einen an, ein ganz knappes Fähnchen, damit man ihr nicht direkt in den Bauch sehen konnte. Sie hatte keine Beine, das waren richtige Schinken, wie bei einer fetten Kuh, und wenn sie sich zur Musik bewegte, dann baumelte jede Titte in ihrem eigenen Rhythmus.» «Ich glaube, sie halten nicht viel von Frauen.» «Doch, es gibt schon welche, die mir gefallen. Ich bin nicht so ein einseitiger Rockfanatiker. Zum Beispiel gefällt mir Sara Montiel, sie ist eine wunderbare, bunte alte Dame und sieht aus wie eine russische Puppe, mit anderen Püppchen im Innern, die immer kleiner werden. Und die ‹Jurado› finde ich hinreißend. Es wäre für mich das Größte, wenn sie mich stillen würde.» «Würden Sie auch Doktorspiele mit ihr spielen?» «Was soll diese Anspielung? Ich unterhalte mich ganz normal mit
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Ihnen, und Sie sind unter meinem Dach. Aber Sie sind ein Rassist und denken: Ich will den Schwulen da ein bißchen auf die Schippe nehmen, stimmt’s?» «Sind Sie schwul? Das war mir gar nicht aufgefallen.» «Hauen Sie bloß ab, bevor ich über Sie herfalle, Sie Veterinär! Sie stinken nach Tierficker.»
Es war offensichtlich, daß Carvalho für diese Gestalt keine Sympathien übrig hatte, eher das Gegenteil; er mußte sich gegen die Versuchung wehren, ihm die wundervolle Tarnung seiner Glatze etwas durcheinanderzubringen. Dagegen wußte er die Trauer tragende Würde von Silvanas Hängebrüsten zu schätzen, lauwarmen Brüsten, die der verräterische blaue Frottémorgenmantel halb entblößte. Silvana hatte alle Hände voll damit zu tun, den Morgenmantel zusammenzuraffen, Kakaopulver in eine Tasse zu schütten, das hochhüpfende Toastbrot und die Milch auf dem Herd zu überwachen und zu gleicher Zeit eine gewisse Ordnung in die unaufgeräumte Küche zu bringen, diese Wohn-Eß- und Schlafküche, die sie mit ihrem Sohn Eduardo bewohnte, dem ‹Jungen mit der goldenen Stimme›. «Ein Kind braucht sehr viel Zuwendung. Vor allem mit dieser Stimme! Die Geschichte von Antoñito de Chiclana geht mir nicht aus dem Sinn. Erinnern Sie sich noch daran?» Eduardo El Niño Cantor erscheint in der Klotür wie ein blonder Engel im Skianzug. Er tänzelt wie ein kleiner Torero vor seinem ersten Auftritt auf den Mann zu, der ihm als Freund seines Vaters vorgestellt worden ist. Er hat eine Beileidsbekundung erwartet, aber Carvalho stellt ihm Fragen nach dem Tun und Treiben seines Vaters und nach dessen Freunden, die er vielleicht kennengelernt hat. Onkel Luis, Onkel Carlos, Onkel Leo, Cousine Encarnación, Cousine Conchi. Alle Bekannten des alten Rockstars sind Onkel oder Cousinen. Silvana zwinkert ihm hinter dem Rücken des Jungen zu und wartet ab, bis er seinen Kakao getrunken, seinen Toast geknabbert, sich wie der Sohn eines Sparkassendirektors angezogen, seine Schulmappe genommen, ihr einen Kuß gegeben und sich
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auf den Weg gemacht hat, bevor sie Carvalho von seinen Zweifeln erlöst. «Er nannte sie alle Onkel oder Cousine. Eine schöne Art, dem Kind zu verheimlichen, was für ein Leben sein Vater führte.» Der Junge steht plötzlich wieder in der Tür, so daß seine Mutter zusammenzuckt. «Du hast gar nicht gesagt, daß ich dem Señor etwas vorsingen soll!» «Mein armes Kind! Wo ich ihn doch immer vorsingen lasse, damit alle sehen, was er kann! Los, sing uns etwas und dann lauf zur Schule!» Der Junge wandte sich Carvalho zu, schloß die Äuglein, öffnete das Schnäuzchen und sang: La Parrala disen qu’era de Mogué y otros disen qu’era de la Parma Die Winzerin, sagen sie, war aus Mogué und andre sagen, sie war aus Parma
«Das reicht für heute, Eduardito, so früh am Morgen darf man die Stimme nicht überanstrengen. Lauf jetzt, sonst kommst du zu spät zur Schule!» Von den hingebungsvollen, feuchten Blicken seiner Mutter aufgefordert, ging das Kind mit tänzelnden Toreroschritten zur Tür. «Er ist ein Schatz, und mit dieser Begabung … Heilige Jungfrau, hoffentlich wird es ihm nicht genau so gehen wie Antoñito de Chiclana!» «Was war mit dem?» «Er war auf dem besten Weg, ein großer Star zu werden, größer als Joselito und Marisol zusammen. Und eines Tages, zack! verlor er in Buenos Aires seine Stimme und konnte nicht mal mehr in seinem Dorf im Kirchenchor mitsingen.» «Ich war bei Luigi Piamonte.» «Bei dem Fettsack? Der ist schwul bis ins Mark, außerdem eine echte Giftschlange. Wenn ein Schwuler giftig wird, dann gibt es
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nichts Gefährlicheres. Er hat mir alles angetan, was er nur konnte. Mehr als einmal hat er José Maria und mich auseinandergebracht und gegeneinander aufgehetzt. Und José Maria hörte in allem wie ein Sklave auf ihn. Er sah mit seinen Augen, und ich glaube, er sprach sogar wie er.» Silvana verdient sich ihren Lebensunterhalt damit, daß sie in einem Nachtlokal am Stadtrand gepanschten Whisky ausschenkt und nur selten einen Abend freinimmt, um es nicht mit dem Besitzer zu verderben und entlassen zu werden. Sie macht auch die Buchführung für ihn, um ihn abzulenken. «Sonst würde er von mir verlangen, daß ich mich den ganzen Tag von jedem Pickelgesicht begrapschen lasse … Sie glauben gar nicht, wie es in dieser Art von Bars zugeht. Es ist nicht dasselbe wie in den Bars in der City, wo man es mit anständigen Leuten zu tun hat, die gerne mal über die Stränge schlagen, ab und zu auch mal zudringlich werden, und man hat noch Spaß dabei. Man tut ihnen einen Gefallen und kassiert ein bißchen Geld dafür, es schadet nicht. Aber dort, das ist ein Haufen geiler Böcke, die nach billiger Pension stinken und nur einmal die Woche die Unterhose wechseln. Es gibt nichts Ekelhafteres als Männer, die sich nicht sauberhalten. Manche stinken sogar nach Pipi!» Carvalhos Magen revoltiert, und er bittet um ein Glas kaltes Wasser mit Karmelitergeist. «Sie gefallen mir! Ich nehme auch ab und zu ein Gläschen davon. Es ist gut für den Magen und macht munter. Und wenn meine Eierstöcke schmerzen, dann trinke ich einen guten Pfefferminzlikör mit Eis. Möchten Sie einen?» Schon der Gedanke daran genügt, ihn in Schweiß ausbrechen zu lassen. Er bittet sie, die Odyssee von Cousins und Cousinen, Onkeln und Tanten nachzuzeichnen, die den Lebensunterhalt des alten Rockstars bestritten haben. Sie kennt nur ein paar davon. «Sie sehen ja selbst, er war in diesen Dingen ein richtiger Draufgänger, und ich bin damit so zimperlich. Dabei war es ihm egal, ob er es mit Mann oder Frau zu tun hatte. Er war ein ‹kalter Schwanz›, Señor Carvalho. Es war, als gehöre sein Schwanz gar nicht zu ihm. Dabei war es ein Genuß, mit ihm zu schlafen, denn er konnte eine
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Ewigkeit. Nur durfte man ihm dabei nicht in die Augen schauen. Wenn man das tat, sah man, daß er sich langweilte und daß es ihm ganz egal war, ob man Silvana oder Marcelino hieß.»
Zunächst besucht er eine ehemalige Zarzuelasängerin, die Witwe eines Olivenölgroßhändlers aus dem ‹Priorato›. Sie war Sopranistin, und wenn es sie gepackt hatte, war sie auf und davon gegangen und mit der Band über die Dörfer gezogen. Den größten Erfolg hatte sie mit der Romanze ‹Der Gesang der Elsässerin› gehabt, zumindest hatte sie José Maria am besten gefallen. «Er verdiente nicht viel an mir. Im Grunde tat er mir immer leid, denn ich hatte ein Zuhause, wohin ich zurückkehren konnte. Jedesmal, wenn mein Drang vorüber war, kam ich nach Hause zurück, und mein Mann war mir nicht böse. Ach, unsere Chorsängerin ist wieder zurück, sagte er immer und ging ins Café Domino spielen. Das letzte Mal sah ich José Maria vor sechs Monaten. Er kam und wollte von mir eine Bürgschaft für einen Kredit. Ich gab sie ihm. Es war nicht die erste, und nie hat irgendeine Bank auch nur einen Céntimo reklamiert. Mein Mann starb am Tag nach dem Staatsstreich vom 23. Februar. Er hatte im Café beim Dominospiel ferngesehen, und als die Politiker die Cortes verließen, meinte er: ‹Da, jetzt kommen die schon heraus!› und war auf der Stelle tot, wie ein Vögelchen. Also, um es ganz genau zu sagen, er sagte ‹Ja surten aquests sòmines›. Wer José Maria umgebracht hat? Na, irgend jemand eben. Er war ein heruntergekommener Mensch, der kein Zuhause hatte. Ich habe auch immer wie eine Verrückte gelebt, aber ich hatte immer, immer einen Platz, wohin ich gehörte.» Don Marcial Borrull empfängt Besucher von 11 bis 14 Uhr in einem privaten Sportverein in Pedralbes. Nachmittags widmet er sich seinem Briefmarkengeschäft und vormittags seinen Unterwassermassagen; manchmal geht er auch in die Sauna, spielt eine Partie Squash mit dem Clubtrainer oder einem Clubmitglied, das keinen Partner hatte, und läßt sich Schnurrbart und Glatze von einem Friseur pflegen, der leicht ist wie eine Feder. Ja, José Maria sei sein Neffe gewesen.
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«Ihr leiblicher Neffe, nehme ich an. Ist es Ihnen lieber, wenn wir uns privat unterhalten?» «Paquito ist nicht so leicht schockiert. Er ist einer von der gleichgültigen Sorte. Demnächst werde ich ihn auch zum Neffen befördern.» «Aber, aber, Don Marcial!» «Für mich gibt es zwei Arten von Neffen, leibliche und adoptierte. Die leiblichen halten länger.» «War José Maria ein leiblicher oder ein angenommener?» «Die besten sind meistens die adoptierten. José Maria gehörte auch dazu.» «Verlangte er viel?» «Geld spielt für mich keine Rolle. Stimmt’s, Paquito? Erzähl mal dem Herrn, wie dick meine Trinkgelder sind!» «Es sind die großzügigsten im ganzen Club. Das stimmt. Das weiß jeder. Die größten Trinkgelder gibt Señor Borrull. Er ist nicht wie die andern.» «Haben Sie es gehört?» Carvalho und der Alte fixieren einander. Der Alte wendet schließlich den Blick ab, sieht den Friseur an und sagt zu ihm: «Paquito, bring mir meinen Tabak, ich habe ihn im Massageraum vergessen.» Der Friseur geht. Der Alte wendet sich Carvalho zu, und sein Gesicht wird alt, hart und gemein. «Ich hab ihm gegeben, wozu ich Lust hatte, aber seien Sie vorsichtig! Wenn Sie in dieser Sache Staub aufwirbeln, sind Sie schneller weg vom Fenster als ein Vietnamese!» Die übrigen Onkel sind weniger forsch, eher feige, und es ist ihnen peinlich. Die Cousinen gehören vor allem zur Kategorie der ausgehungerten, frustrierten Ehefrau, die Gerechtigkeit verlangt, wie jene hübsche Angestellte, deren Kollegen und Kolleginnen boshafte Bemerkungen darüber machen, daß sie sich von ihnen trennt und zu Carvalho geht, der sie erwartet hat. «Ich hatte Sie doch gebeten, weiter weg auf mich zu warten! Es geht keinen Menschen etwas an, was ich tue, wenn ich dieses Gebäude hier verlasse.»
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Das Mädchen geht schnell, als wolle sie Carvalho loswerden. «Wir können die Sache schnell hinter uns bringen. Ich möchte nur wissen, welche Art von Beziehung Sie zu José Maria hatten.» «Und was geht Sie das an?» «Die Polizei könnte sich dafür interessieren.» In ihren runden, aber hübschen Augen stehen Tränen und Panik, als sie ihn um Diskretion bittet. Sie ist mit einem anständigen Jungen verheiratet, obwohl es sexuell etwas trist aussieht. José Maria dagegen war ab und zu notwendig, eine Art Erholung. «Für Geld? Sie haben es doch nicht nötig, für die Liebe zu bezahlen!» «Ich fühlte mich wohler so, sauberer, wenn ich ihm Geld gab. Ich bezahlte ihm auch keine feste Summe, sondern er schlug mir Geschenke vor.» «Verdienen Sie als Angestellte denn so viel?» «Mein Mann verdient sehr gut.» «Was waren das denn für Geschenke?» «Es war eigenartig. Er hatte in seinem Notizbuch eine Liste von Dingen, und wenn ich ihn fragte, was er haben wollte, zog er das Notizbuch heraus und suchte ein Geschenk heraus, das meinen Möglichkeiten entsprach.» «Lohnten sich die Ausgaben?» «Das geht Sie nichts an.» Quasi kommerzielle Beziehungen. Du gibst mir dies, und ich gebe dir das. Nichts, was irgendwie nach Notstand aussieht. Im Gegenteil, ein kalkulierter, kalter Einsatz von Liebhabern entsprechend ihrem Budget. Das Mädchen duftet nach Veilchen, ihr Körper ist voller wohlgeformter Ein- und Ausbuchtungen, vielleicht etwas zu plump in den Fesseln. «Wußten Sie, daß er bisexuell war?» «Bisexuell?» Nein, das hat sie nicht gewußt, ihr abruptes Stehenbleiben beweist es. Wieder reißt sie die runden Augen weit auf. «Hätten Sie die Beziehung zu ihm weitergeführt, wenn Sie das gewußt hätten?»
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«Selbstverständlich nicht!» Diese Meinungsäußerung kommt spontan, wenn auch überstürzt, wie sie selbst im nachhinein zugibt. «Ich hätte gerne, daß Sie mir erzählen oder mir Ihre merkwürdige Theorie erklären, warum Sie sich sauberer fühlen, wenn Sie Ihren Liebhaber bezahlen, als wenn es kostenlos geschieht!» «Auf diese Weise habe ich das Gefühl, daß ich meinen Mann nicht betrüge. Ich brauche etwas, das er mir nicht geben kann, und deshalb suche ich einen guten Spezialisten auf. Das ist alles. Kein Risiko, mich zu verlieben, verstehen Sie?»
«Verstehst du das, Charo?» «Klar, das habe ich mehr als einmal selbst erlebt. Die Männer erklären es natürlich anders. Sie sind, wie soll ich sagen, platter. Das geht nicht gegen dich, Pepiño, aber es ist so. Sie sagen, sie gehen lieber zu einer Nutte, weil sie auf diese Art nicht riskieren, daß sie ertappt werden und in ihrer Ehe oder Familie Schwierigkeiten kriegen. Ich finde das gar nicht schlecht. Außerdem lebe ich davon. Meine Kunden erzählen mir viel und fragen mich um Rat, sogar bei Problemen mit ihrer Frau oder ihren Kindern. Hier in Barcelona ist ein Junge, der es mir zu verdanken hat, daß er am ‹Instituto del Teatro› studiert.» «Bezahlst du ihm ein Stipendium?» «Nein, natürlich nicht. Aber als wir uns hinterher einmal unterhielten, sagte sein Vater zu mir, daß er viel Ärger mit seinem Jungen hätte, weil er nicht Ingenieur werden wollte, sondern Schauspieler. Da sagte ich zu ihm: ‹Wenn du ihn zwingst, daß er etwas studiert, was er nicht mag, machst du ihn für sein ganzes Leben unglücklich!› ‹Aber wenn er Schauspieler wird, was hat er denn dann für eine Zukunft?› – ‹Hör mal›, habe ich ihm geantwortet, ‹in diesem Bett war schon mancher unglückliche Ingenieur, aber auch Leute, die das machen, was ihnen gefällt, und die bringen es immer zu etwas!› Junge, Junge, ich war ganz schön überzeugend. Einen Monat später war der Junge am ‹Instituto del Teatro›.» Charo berichtet weiter von ihren guten Ratschlägen, von ihrer
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Rolle als Mätresse des Vertrauens, die zum Haus, fast zur Familie gehört, am Telefon von Freunden um Termine gebeten wird und mit dem Straßenstrich nichts zu tun hat. «Stell dir vor, Charo, jemand von José Marias Partnern oder Partnerinnen entdeckt plötzlich, daß er bisexuell ist, fühlt sich hintergangen und bringt ihn im Affekt um.» «Eine Frau würde das eher machen als ein Mann. Ich kenne die Schwulen in- und auswendig, nicht diejenigen, die sich verlieben, sondern die auf den Strich gehen. Die sind kalt wie ’ne Hundeschnauze, mein Lieber. Sie denken nur an ihren eigenen Vorteil, und es ist ihnen ganz egal, ob sie es mit Männchen oder Weibchen zu tun haben. Es könnte schon sein, daß sich ein Mädchen in ihn verliebt hat, und vielleicht hat sie das mit seiner Bisexualität angeekelt. Außerdem ist es immer normaler, daß ein Typ auf Frauen steht, auch wenn er zu den aktiven Schwulen gehört.» «Aber eine Frau kann ihn nicht getötet, zum Container geschleppt, hochgestemmt und hineingeworfen haben. Entweder wir liegen ganz falsch, oder er wurde wegen einer viel geringfügigeren Sache umgebracht, nicht weil er Rocksänger oder Sexathlet war.» Die Aussage eines der ‹Onkel›, eines Grossisten aus Pueblo Nuevo, bringt neue Fakten hinzu, die die Situation noch komplizierter machen. «Eines Tages sagte José Maria zu mir: Du hast jetzt lange genug alles bezahlt. Ich lade dich zu einem Wochenende auf Ibiza ein. So was Verrücktes! Aber ich sagte mir, ich will ihn nicht enttäuschen, und fuhr mit nach Ibiza, um zu sehen, was Sache war. Ungelogen, es war wie im Kino! Er nahm mich mit in eine Wohnung wie aus einem Film, lud mich in superteure Restaurants ein, und alle kannten ihn und behandelten ihn wie einen geschätzten Stammgast.» «Wem gehörte die Wohnung?» «Ich weiß es nicht, aber er bewegte sich darin, als sei er zu Hause, und im Badezimmer standen seine Parfüms und Deodorants. Es war kein Appartement, das ihm jemand zur Verfügung gestellt hatte. Vielleicht hatte er festere Pläne. Mir war’s egal, ich würde nicht eifersüchtig sein. Er war sehr männlich, sehr auf seinen Vorteil bedacht, und ich auch.»
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Man hätte Gabriel Betriu für einen adretten, wohlhabenden Junggesellen halten können, der seinen Hobbies nachgeht – er sammelt alte Wanduhren und Schallplatten mit 78 Umdrehungen – und eher aus der Ferne ein Geschäft überwacht, das von selbst läuft. Zu Beginn des Gesprächs entsprechen sogar seine Stimme und Gestik der Information, um die Carvalho ihn gebeten hat, dem, was man von einer Begegnung zum Austausch von Eindrücken erwarten kann. Erst als das Gespräch auf seine Homosexualität kommt, legt Señor Betriu seine Arroganz und seine geistige Perücke ab und bewegt sich schließlich in einer Art und Weise, wie sich angeblich die Bajaderen des Sultans bewegt haben. Er wird obszön mit seinen Augen und seiner feuchten Zunge, die einer Klatschtante aus dem Friseursalon zu gehören scheinen. «Er hat mich in Ibiza wie eine Königin ausgeführt!» Irgendwann in der Vergangenheit hat Carvalho beschlossen, gegenüber der Homosexualität eine rationalistische Haltung einzunehmen, und davon geht er immer noch aus, wenn ihn seine Arbeit mit Homosexuellen in Kontakt bringt. Die verrückten Schwuchteln stören ihn, wenn sie sich wie Backfische aufführen, die zum erstenmal ihre Brüste herzeigen, und schließlich widert es ihn an, wie Gabriel Betriu ins Klischee des missionarischen, hemmungslosen Schwulen abgleitet. «Sie sind wohl aus Stein, Detektiv?» «Ich habe meiner Mutter auf dem Totenbett geschworen, nie mit einem Mann ins Bett zu gehen.» «Ihre Mutter war ja reichlich seltsam!» «Also, mein Vater war da noch viel seltsamer!»
Noch ein Tag unter den ‹Cousinen› und ‹Onkeln› des alten Rocksängers. Er wurde von einem zum anderen gereicht, wie sie seinerzeit jenen kompetenten Experten untereinander weitergereicht hatten. Carvalho hatte das Gefühl, eher einer krankhaften Neugier als seinem Wahrheitsinstinkt zu folgen. Zu Hause in Vallvidrera – es war schon Nacht und er hatte noch das Parfüm der Onkels und Cousinen in der Nase – hielt er Zwie-
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sprache mit dem Toten, jenem ebenso fleißigen wie schlecht bezahlten Strichjungen, wenn man danach urteilte, in welcher Kleidung er gestorben war. Irgend etwas paßte nicht in dieses Bild, und zwar die professionelle Gier von José Maria. Wozu? Für wen? Silvana mußte selbst für sich und ihren Jungen sorgen. Was wurde aus dem ganzen Geld, das er verdiente? Am nächsten Tag suchte er den Druckereibesitzer in Pueblo Seco auf. «Ich möchte mir die persönlichen Dinge von José Maria und seine Wohnung in Barcelona ansehen. Muß ich mich dazu an seine Frau wenden?» «Seine Frau hat mir die Sachen übergeben; ich bewahre sie in ein paar Kartons auf, oben im Zwischengeschoß. Die Wohnung haben wir aufgelöst, es war eine baufällige und kalte Dachwohnung im ‹Ensanche›. Soll ich die Sachen aus den Kartons holen?» «Nein, ich möchte sie lieber mitnehmen und mit den Gegenständen allein sein. Manchmal können Dinge sprechen.» Señor Gratacós half ihm dabei, die beiden Kartons aus einem kleinen Lagerraum mit sehr ordentlich gestapelten Dingen, die nicht mehr gebraucht wurden, zu holen und dann in seinem Auto zu verstauen. Er trennte sich nicht gerne von den Trümmern des Schiff bruchs, den der Sänger der ‹Gatos con Botas› erlitten hatte. «Bitte, verlieren Sie nichts!» «Wenn Sie wollen, mache ich Ihnen eine Liste von den Dingen, die ich mitnehme.» «Das habe ich bereits getan, nicht Ihretwegen, sondern im Gedenken an seine Frau oder seinen Sohn, falls sie mich eines Tages danach fragen sollten. Haben Sie sie kennengelernt?» «Ja.» «Was haben Sie für einen Eindruck von den beiden?» «Eine Gluckhenne, die ein singendes Küken füttert.» «Ich verstehe nicht, wie sich José Maria mit ihr einlassen konnte, und auch nicht, wie er es zulassen konnte, daß sie dem Kind solche Rosinen in den Kopf setzt. Haben Sie gehört, was er singt?» «So ist es im Leben. Viele Kinder von linken Vätern werden Rechte und umgekehrt. Es war nicht unwahrscheinlich, daß der Sohn eines Rocksängers Folklore singen würde.»
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Als er wieder in Vallvidrera war, schob Carvalho die Begegnung mit den Gegenständen immer wieder auf, obwohl die Kartons ihn gezwungen hatten, sie auf das Tischchen mitten im Wohnzimmer zu stellen, und jedesmal, wenn er bei seinen offensichtlich unmotivierten Gängen durch das Haus dort vorbeikam, seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Schließlich fühlte er sich reif genug, um in den Trümmern zu wühlen und einen gewissen Leichenfleddererkomplex zu überwinden, der in dem Risiko begründet war, schmutzige Peinlichkeiten zu finden. Du wirst alt. Skrupel sind ein Symptom von Schwäche. Daß er sich selbst alt genannt hatte, war eine zu große Provokation, und er stürzte sich mit der wilden Entschlossenheit eines gnadenlosen Killers auf die Kartons. Er besah sich den Inhalt auf dem Teppich vor dem Kaminfeuer, das er mit Hilfe des zweiten Bandes von ‹Cuba› von Hugh Thomas angezündet hatte. Vorher hatte er sich einen schnellen Imbiß aus Rührei mit Tomate und zwei Stücken Schweinelende aus Villores zubereitet, womit ihn sein Nachbar versorgt hatte. Die Lende war in getrüffeltem Schweineschmalz eingelegt. Die archäologische Landschaft der Besitztümer des alten Rocksängers hätte nicht desolater sein können: fünf alte Singles (Dalida, Ennio Sangiusto, Paul Anka, The Platters und Edith Piaf ), ein halbes Dutzend Bücher aus der Reihe ‹Troubadoure unserer Zeit›, ein Kalender eines Reisebüros mit Kreuzfahrtschiffen, eine russische Puppe, eine Mundharmonika Marke ‹Comet›, ein flacher Strohhut, ein Autogramm von Rafael und ein Foto mit Widmung von Eduardo, dem singenden Kind, der wie für ein ländliches Fest gekleidet war; die ‹Gatos con Botas› vor zwanzig Jahren, ein mexikanischer Reiterhut und ein Plastikfrosch, der quakte und hüpfte. Er hatte nur noch das besessen, was er nicht versetzen konnte. Das war der Kommentar eines Druckereibesitzers aus Pueblo Seco gewesen, eines Vorstadtdruckers. Auf dem Foto war José Maria noch jung, man hätte ihn für einen Ausländer halten können. Er war größer als die Durchschnittsspanier der sechziger Jahre, blond und arrogant, eher Bariton als Rocksänger, eher angeberisch als ironisch. Wenig, viel zu wenig, sagte sich Carvalho angesichts dieser spärlichen Ausbeute. Neben ihm stand Luigi Armenteras mit einer E-Gitarre in
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der Hand und dem Gesicht eines sensiblen Jünglings, der gerade aus einem wichtigen Anlaß geweint hatte. Tito Fontana, ein athletischer Riese, hielt eine Gitarre, die in seinen Händen wie ein Spielzeug wirkte. Im Hintergrund der Drucker Gratacós wie ein Kellner, der auf die Bestellung wartet, um mit seinem Schlagzeug Musik zu servieren. Gratacós wirkte eher wie eine Gestalt aus dem Melodrama oder der Ballade, dem Bolero, genau, wie eine Gestalt aus einem Bolero von Machín. Wenn er die goldenen Zeiten der Band herauf beschwor, ertönten die Klänge eines Boleros: ‹… ich will später nicht darum trauern, was gewesen wäre, wenn› … oder vielleicht: ‹… man lebt nur einmal, und man muß lernen, zu leben und zu lieben …› «Wir übten damals in einer alten Lagerhalle in der Calle de Blasco de Garay. Ein Lagerhaus voller Säcke, das einem Onkel von mir gehörte. Die Nachbarn machten drei verschiedene Phasen durch: Anfangs duldeten sie uns, weil wir aus guten Familien des Stadtteils stammten. Dann konnten sie unsere Musik nicht mehr ausstehen. Aber als wir dann anfingen, Erfolg zu haben und die Zeitungen von den Jungs aus Pueblo Seco berichteten, waren sie stolz auf uns und ließen den Höllenlärm unserer Proben über sich ergehen.» «Tito Fontana fehlt mir noch in meiner Sammlung.» «Tito Fontana ist nicht gerade glücklich.» Er dachte noch einmal darüber nach, was er gerade gesagt hatte, und wurde traurig. «Was rede ich da für einen Quatsch! Wer von uns allen ist schon glücklich geworden?» Jetzt waren jene unter dem Hochglanz der Fotografien konservierten Gestalten Carvalho ausgeliefert. Er beschloß, sich auf Tito Fontana zu konzentrieren und beurlaubte sich auf Lebenszeit von den Onkeln und Cousinen. Tito Fontana, das klang wie der Name eines italienischen Sängers der sechziger Jahre. ‹Il Mondo …›
Es sah aus, als sei er geschrumpft. Nervös, dünn, gezeichnet von fünf Kindern und sieben glücklosen Berufen, die ihm nichts eingebracht hatten.
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«Es war eine großartige Sache damals.» «Haben Sie noch Kontakt zu den anderen?» «Gratacós sehe ich manchmal, weil er hier im Viertel geblieben ist. Luigi und José Maria schon lange nicht mehr. Vor Jahren bestellte Luigi einmal Künstlerfotos bei mir, als er sich entschlossen hatte, über die Dörfer zu fahren und zu singen. Aber seither hat er sich nicht mehr bei mir gemeldet.» «Warum haben Sie die Band aufgelöst?» «Wir wurden älter, und es war eine unsichere Sache. Ich wollte etwas Solides. Außerdem dachte José Maria nur an seinen eigenen Vorteil. Er tat sich mit Silvana zusammen. Wir anderen hatten alle Krach mit ihr.» Wie er die einzelnen Mitglieder der ‹Gatos con Botas› aufsuchte, glaubte Carvalho eine literarische Peripetie zu erleben, eine hartnäckige und desillusionierende Bestätigung der Einwirkung der Zeit auf die Fotografien. Fast nichts war von jenen wilden Jungs übriggeblieben, die jede Nacht in der großen Lagerhalle in der Calle de Blasco de Garay geprobt hatten. Sie standen vor dem Ruin ihrer Ambitionen und dem Zerfall ihres Körpers, waren nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, genau in jenem Alter um die Vierzig, in dem jeder schon für sein Gesicht und seine Vergangenheit verantwortlich ist. Tito Fontana war Radio- und Fernsehtechniker, Flickschuster der Apparate in der Nachbarschaft und Hochzeitsfotograf sonntags vor dem Portal der Kirche Santa Madrona. «Wenn es das ist, was Sie eigentlich wissen wollen, also José Maria wirkte schon wie ein Schwuler. Er war ein ganz typischer Fall, einer von denen, die so eingebildet sind und sich schließlich selbst so sehr bewundern, daß sie glauben, sie seien viel zu gut für die Frauen. Beim Theater ist das so, dort wimmelt es von solchen Typen. Wer ihn am besten kannte, war Paquito, der Drucker. Sie waren ein Herz und eine Seele. José Maria war ein Machtmensch und wollte die anderen immer beherrschen. Er hat sich mehr als einmal mit mir angelegt. Meiner Meinung nach war sein schlechter Charakter schuld daran, daß die Band kaputtging, ansonsten hätten wir Erfolg gehabt und wären immer noch zusammen. Schauen Sie bloß mal die Gruppe ‹Sirex› an! Jeder glaubte, bei denen sei die Luft raus,
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aber sie sind wieder hochgekommen und jetzt sind sie ganz oben. Damals, als wir den Erfolg mit ‹Catalina› hatten, hätten wir einen Manager haben müssen, dann wäre alles anders gelaufen. Vor zwei oder drei Jahren ging ich zu Luigi und José Maria. Ich schlug ihnen vor, uns wieder zusammenzutun. Wenn wir nur im Sommer in den Dörfern gespielt hätten, hätten wir genug verdient. Aber sie hörten nicht mal richtig zu. Bei Luigi hat es mich nicht gewundert, weil er sich selbständig gemacht hat, aber bei José Maria schon. Ich habe keine Ahnung, von was der Kerl gelebt hat.» «Ich kann mir nicht vorstellen, daß Gratacós sich wieder ans Schlagzeug setzt.» «Dafür hatte ich auch schon einen meiner Neffen, der das sehr gut macht und arbeitslos ist. Ich hatte keine Lust, den andern hinterherzulaufen, und ich hatte Krach mit José Maria, er war derart eingebildet, daß ich ihm alles an den Kopf warf, was mir gerade einfiel, und dann ließ ich alles los, was ich seit zwanzig Jahren mit mir herumschleppe. Er war nicht das Schwarze unter dem Fingernagel wert, aber führte sich auf wie Graf Koks.» ¿Dónde se mete, la chica del diecisiete? ¿De dónde saca pa tanto como destaco? Wo treibt sie sich rum, das Mädchen aus der 17? Woher hat sie das Geld, um so anzugeben?
Dieses alte Couplet schien José Maria auf den Leib geschrieben. «Er wollte einfach nicht alt werden, nicht erwachsen werden. Es gibt die normalen Leute und solche, die ihr Glück machen. Ihr Leben lang bleiben sie verantwortungslose Traumtänzer, während wir anderen unter der Verantwortung beinahe zusammenbrechen, und sie haben immer Erfolg, während unsereins mit der Nase im Dreck bleibt.» «José Maria hat nicht gerade sein Glück gemacht.» «Nein, er hat das Ende genommen, das er verdient hat.» «Hatte er den Tod verdient?» «Das habe ich nicht gesagt. Ich meinte, daß er seine Strafe be-
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kommen hat. Es tut mir leid, daß er tot ist, aber eines Tages mußte ihm jemand ein Loch in den Balg stechen. Er war gemein. Das ist der richtige Ausdruck, gemein. Es heißt, keiner sei hundert Prozent gut oder schlecht. Aber José Maria war schlecht. Wo er seinen Fuß hinsetzte, da wuchs kein Gras mehr. Mit ihm konnte man nur auf zwei Arten auskommen: Entweder man ließ sich tyrannisieren und endete als sein Sklave, oder man ließ es ständig auf eine Schlägerei ankommen. Und ich hätte mich mit ihm jederzeit geprügelt. Sie hätten mich sehen sollen, damals! Ich ging oft zum Training in die Calle de Joaquín Costa, ins ‹Centro Gimnástico Barcelonés›. Sie hätten mich mal sehen sollen!» «Ich habe Fotos von Ihnen gesehen. Sie waren wirklich ein Athlet.» «Alles Muskeln, nicht wie heute. Der Ärger, die Familie, die Arbeit. Ich esse nicht, wenn ich Appetit habe, ich denke dabei immer an meinen Körper. Wenn sie bloß auf mich gehört hätten! Galavorstellungen in ganz Katalonien! Vierhunderttausend pro Abend, locker, ohne gleich größenwahnsinnig zu werden. Mal hier, mal da, neunzig Tage im Sommer. Rechnen Sie, kalkulieren Sie mal! Das sind 36 Millionen. Unkosten, Steuern, ziehen Sie ruhig 50% ab, bleiben fast fünf Millionen pro Kopf; saubere 18 Millionen für vier Leute. Ich war der Meinung, das würde sich lohnen, aber als dieser Hungerleider mir ins Gesicht lachte, war ich sprachlos.» Eine ganze Mannschaft mutmaßlicher Mörder geisterte durch Carvalhos Phantasie, als er durch die Straßen von Pueblo Seco schlenderte. Seine Beine gehorchten einer Anweisung des Gedächtnisses, und er ging die Calle de Radas hinauf, zum Eingang des Parks am MontjuÏc, beim Griechischen Theater; ein labyrinthartig angelegter Park mit leerstehenden kleinen Palästen, die jetzt Museen ohne Publikum waren oder neue Theater, in denen die Demokratie ihre eigene Komödie aufführen konnte. Nester von Vipern und in ihrer Mitte ein Dompteur: José Maria Lacasa Torres, der alte Rocksänger, Silvana und der Sängerknabe Eduardito. Vielleicht hatte er diese appetitliche Dicke mit dem runden Arsch zu früh vom Verdacht ausgeschlossen, die sich bemühte, einen Star aus der Retorte zu züchten.
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Charo im Bett in einem Morgenmantel, der mehr zeigt, als er verhüllt. Im schummrigen Licht sitzt sie am Bettrand, in einer Hand den Notizblock, in der anderen einen Kugelschreiber. Auf dem gegenüberliegenden Bettrand sitzt mit dem Rücken zu ihr ein dürres Männchen, das stockend erzählt und sich dabei die Hände reibt. «Und dann sagte mein Vater zu mir: Heute abend bekommst du kein Abendessen, und wenn du die Oma nicht um Verzeihung bittest, kriegst du morgen kein Frühstück. In dieser Nacht habe ich versucht, mich umzubringen.» Charo schüttelt den Kopf, zwischen Ärger und geheucheltem Verständnis. «Das sind jetzt schon vier Versuche, Süßer. Wie alt warst du denn damals, als dein Vater dir kein Abendbrot gab?» «Fünfzehn!» Der Mann schluchzt und stammelt dabei ekstatisch: «Pap, Pap …» «Ich weiß schon, das ist lächerlich, was ich da rede, aber nur dir kann ich das alles erzählen.» «Darüber mach dir keine Gedanken, dafür ist Charo ja da und schreibt alles auf.» «Wenn du willst, dann … schlafen wir miteinander.» «Nein, nein, keine Bange! Erzähl weiter! Was geschah am nächsten Tag? Bekamst du dein Frühstück?» «Nein.» «Das Mittagessen?» «Auch nicht, versteh doch! Ich hatte auch meinen Stolz, und ich wäre verhungert, wenn mir meine Mutter nicht heimlich ein paar Bocadillos zugesteckt hätte. Mein Vater nahm es furchtbar übel, er hat seitdem kein Wort mit uns geredet, weder mit meiner Mutter noch mit mir.» Der Mann schluchzt und stammelt: «Mama, Mama …» Das Telefon klingelt, Charos nackte Beine gleiten vom Bettrand, sie legt den Block aufs Bett und ihre Brüste schwingen hin und her, während sie zum Apparat geht. «Pepe! Um diese Zeit! Nein, ich muß nicht aufpassen. Warte!» Sie stellt den Apparat zurück und verschwindet mit einer kurzen Entschuldigung. «Warte auf mich, Süßer! Ich bin gleich wieder da.»
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Charo geht hinaus. Das Männchen lädt sich mit Ärger und Bosheit auf und kriecht dann über das Bett zu dem Telefon, dessen Hörer Charo nicht aufgelegt hat. Er hört ihre Stimme. «Heute bin ich Psychiater, mach dir keine Gedanken, Pepe. Ich schreibe die Geschichte eines Unglücklichen auf, den sein Vater nicht geliebt hat. Er bezahlt dafür, natürlich bezahlt er mich dafür. Der einzige, der meine Zeit umsonst bekommt, bist du, Pepe.» Charo spricht im anderen Zimmer. «Silvana, ‹Oben-Ohne›! Nein, die ist nicht im Geschäft. Sie zeigt nur ihre Titten und singt. Nichts Schmutziges. Anständig. Eduardito, der Junge mit der goldenen Stimme, ein kleiner Fuchs, dieser Kerl! Er ist noch keine zehn Jahre alt und verteilt schon Autogramme in den Läden im Viertel. Nein nein, Silvana ist nicht in Schwierigkeiten, wenigstens ist nichts davon bekannt. Bitteschön! Für dich alles gratis, aber ab und zu könntest du mal zu mir sagen, du gehst dort vor die Hunde, denn ich habe diese Verrückten satt, zum Beispiel den, den ich heute erwischt habe …» Der Verrückte lauscht am Telefon. Ein gewisser Genuß umspielt seine Lippen, als er hört, wie er beschimpft wird, und seine Äuglein grinsen schlau, als das Gespräch zwischen Charo und Carvalho zu Ende ist und sie den Hörer auf legt. Charo kommt mit höf lichem Lächeln zurück, das sofort verschwindet angesichts der wahnsinnigen Wut, mit der das Männchen sie anschreit. «Du Dreckschwein! Du hast alles deinem Zuhälter erzählt! Du Verräterin!» Die ausgestreckten Hände zu Klauen gekrümmt, stürzt sich das Männchen auf Charo. Starr wie eine Statue läßt sie ihn auf sich zukommen und empfängt ihn mit zwei Ohrfeigen, die den kleinen Kopf hin und her schleudern. Die Wut des Männchens fällt in sich zusammen, er schluchzt, geht zum Bettrand, Charo nimmt Block und Kugelschreiber wieder zur Hand und fragt: «Wir waren bis zu dem Moment gekommen, als dein Vater nicht mehr mit dir und deiner Mutter sprechen wollte. Was geschah dann?» «Ich weiß es nicht mehr hundertprozentig, aber ich glaube, ich habe mich in meinen Vater verliebt.»
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Charo blies sich eine Locke aus der Stirn. «Hat dein Vater deine Liebe erwidert?» «Ich habe es ihm nie gesagt. Aber ich weiß, daß er es bemerkt hat, und von diesem Moment an war er distanzierter zu mir. Nie hatte er für mich eine zärtliche Geste, ein Streicheln, als fürchte er, die Bestie aufzuwecken, die ich in mir trug oder die er in sich selbst fühlte.» «Aber du hattest doch noch die Liebe deiner Mutter.» «Meine Mutter habe ich verabscheut.» «Aber du weinst doch die ganze Zeit und rufst nach ihr.» «Das kann ich nicht unterdrücken. Aber wenn ich an sie denke, dann immer voller Abscheu, wie man an ein lästiges, schmutziges Tier denkt.» «Und was war mit deiner Großmutter?» «Sie saß immer auf dem Klo und sagte, dort hätte sie wenigstens ihre Ruhe, und sie hätte uns alle satt.»
Das Telefon klingelt genau in dem Moment, als Carvalho beginnt, Selbstgespräche zu führen. «Eingelegte Lende aus Villores mit weißen Bohnen.» «Wer lädt mich denn ein?» «Deine Fähigkeiten lassen nach! Wer kann das schon sein, um diese Zeit?» «Ich komme.» Carvalho tritt aus dem Haus in das nächtliche Vallvidrera hinaus. Er geht Wege hinauf und Wege hinunter zu Fusters kleiner Villa, der ihn in seiner Lieblingsschürze empfängt, mit einer griechischen Seemannsmütze auf dem Kopf. An dem schon gedeckten Tisch sitzt eine dunkelhäutige Frau, die Carvalho bekannt scheint. «Maria del Mar Bonet, Philip Marlowe.» «Freut mich», sagt das Mädchen mit schläfriger Stimme. «Ich hatte eine Terrine mit eingelegter Lende und einen Gast zum Abendessen, und weil die Terrine für zwei Leute zu viel ist, dachte ich mir: wer könnte das mehr zu schätzen wissen als mein Nachbar und Klient Carvalho?» «Però, Enric, això engreixa molt.»
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»No engreixa, no engreixa!» Fuster schreit eher als er spricht, mit trotziger Stimme. «Außerdem muß man dieses Schönheitsideal bekämpfen, das da wieder in Mode kommt und die Frauen so dünn wie Fischgräten haben will.» «Sie sind Privatdetektiv?» fragt das Mädchen nach einem halben Lendenmedaillon. «Ganz privat!» «Intim, würde ich sagen!» posaunt Fuster mit dem Mund voller Schweinefleisch aus seiner kleinen Heimat. «Habt ihr auf den Geschmack geachtet? Diese Lende wird zuerst luftig aufgehängt. Wenn sie gut abgehangen ist, wird sie zerteilt, in Schweineschmalz gebraten und darin auch eingelegt. Ergebnis? Los, sagt mir das Urteil! Ihr seid zwar beide meine Klienten, aber einem Steuerberater kann man alles sagen!» «In diesem Jahr werde ich die Hälfte meines Schmucks opfern müssen, um die Steuern bezahlen zu können», beklagt sich das Mädchen. «Und ich brauche fünf Morde pro Jahr, um sie bezahlen zu können.» «Ihr klagt, weil ihr verdorben seid. Ihr wart einfach verwöhnt, aber welcher Steuerberater würde euch schon zu so einem Abendessen einladen?» «Bearbeiten Sie zur Zeit viele Fälle?» hakt das Mädchen nach, und es scheint Carvalho, als seien in ihrer Stimme Höf lichkeit und Sarkasmus gleichmäßig verteilt. «Im Moment untersuche ich den Fall eines alten Rocksängers.» «Einer von denen, die niemals sterben?» «Dieser ist jedenfalls gestorben, mit allen Konsequenzen … Sie sind doch Sängerin. Vielleicht haben Sie schon mal von den ‹Gatos con Botas› gehört?» «Nein.» «‹Catalina es cosa fina› … Ist Ihnen das bekannt? Oder Eduardito, der Junge mit der goldenen Stimme›?» «Der schon. Neulich wurde er im Radio vorgestellt. Ich wartete, bis ich bei ‹Protagonistas› an der Reihe war, und da trat Eduardito auf.»
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«Sang er?» «Ja.» «Und wie?» «Mit viel Stimme, er wird noch beim Film landen.» «Und wie wäre es, wenn Sie etwas für uns singen würden, Königin von Vallvidrera?» Fuster hat sich vor Maria del Mar Bonet auf die Knie geworfen. Fast gleichzeitig läßt sich Carvalho von einem Sofa verschlingen, und das dunkelhäutige Mädchen greift zur Gitarre und beginnt mit dem Chanson ‹Mercè›, weit entfernt von dem konkreten Ort und der konkreten Situation nach einem Essen mit zwei Nachbarn. Es ist unmöglich, alle drei im Gespräch zu vereinen. Carvalho, der Steuerberater, die Sängerin. Aber der Detektiv läßt sich von der sinnlichen, vibrierenden Stimme verführen. Er zieht sich auf diese Insel zurück, um seine Wunden zu lecken oder die Spritzer von den schmutzigen Pfützen abzuwischen, in die er den ganzen Tag den Fuß gesetzt oder die Nase gesteckt hat. «Ich wußte gar nicht, daß dieses Mädchen unsere Nachbarin ist.» «Du kriegst ja auch nichts mit.» Die Sängerin ist gegangen, hat aber Echos von der Brandung des Mittelmeeres und den Duft von Fenchel hinterlassen. «Sie hat versprochen, uns zu einem tumbet mallorquín einzuladen.» «Es duftet nach Fenchel.» «Das tumbet?» «Nein, das Mädchen.» «Mach dir keine Hoffnungen! Sie ist mehr oder weniger mit einem Politiker liiert.» «Ich mache mir nie irgendwelche Hoffnungen. Aber manchmal betrachte ich gerne schöne Frauen, die im Zug oder im Bus sitzen. Vor allem, wenn sie schon losgefahren sind.»
Heinz Sánchez Ruttmann war der Sohn eines Flamencotänzers und einer Düsseldorfer Krankenschwester, die in den fünfziger Jahren nach Spanien gekommen war, um den Spaniern zu zeigen, was ein
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Bikini ist. Frucht dieser Verbindung war ein Mischling mit dem Körper eines Flamencotänzers und dem Hirn eines zähen Privatdetektivs. Als tüchtiger Halbdeutscher ließ er bald die Risiken freiberuf licher Tätigkeit hinter sich und nahm eine Stellung als Sicherheitsexperte bei der spanischen Tochter eines deutschen Multis an. Fünfzehn Jahre Zwangsarbeit machten ihn zu einem leitenden Angestellten, der sich selbst zum Hals heraushing und beschloß, zehn Jahre Urlaub zu nehmen, in denen er um die Welt reiste. Jetzt lebte er im Ruhestand auf Ibiza, verzehrte die Zinsen seiner gut angelegten Investitionen und übernahm ab und zu kleinere Jobs, bei denen er als alter Privatdetektiv seine Muskeln trainierte. Carvalho kehrte mit dem Vorsatz nach Hause zurück, Heinz anzurufen und ihn das andere Leben des Rocksängers auf Ibiza auskundschaften zu lassen. Er wachte nachts mehrmals auf, um sich Befehle zu geben, die am nächsten Tag noch in seinem Gehirn waren und darauf warteten, ausgeführt zu werden. Sein erster Telefonanruf galt seinem Kollegen Heinz Sánchez Ruttmann. Er mußte alles wissen, was er über José Maria de Lacasa Torres in Erfahrung bringen konnte, einen alten Rocksänger, einen merkwürdigen Gelegenheitsbewohner der Insel. «Ist die Tatsache wichtig, daß es sich um einen ‹alten Rocksänger› handelt?» «Es ist eine Art Beschreibung.» Carvalho legte sich hin, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zur Zimmerdecke, die entweder bald völlig ruiniert sein würde oder ein paar Pinselstriche brauchte. Jeder weitere Schritt hing von der Antwort aus Ibiza ab. Die einzigen Helden unserer Zeit sind die Rockstars, hatte jemand gesagt, aber er wußte nicht mehr wer, auch nicht wann und wo. Helden aus Papier oder aus Tönen. In den fünfziger Jahren hatten sie wild ausgesehen, zu Anfang der siebziger wie Schönlinge. Sie traten hart oder soft auf, Henker oder Opfer im gemeinsamen Nichts. Jede Generation macht sich ein Wunschbild von sich selbst und tendiert dazu, an ihre Einmaligkeit zu glauben. Die von Carvalho hatte den Kampf gegen den Franquismus zu ihrer ethischen und ästhetischen Daseinsberechtigung erhoben. Dann kamen die Rockmusiker und trieben die
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alten Dämonen mit Gitarrenschlägen aus. Sie glaubten, die Musik würde den Kapitalisten und Militärs Angst einjagen und sie aus ihrem reichen Imperium der Brutalität und Ausbeutung vertreiben. An dem Tag, an dem die Kadetten der Militärakademien und die Erben der Bourgeoisie begannen, Rock ’n’ Roll zu lernen, war Schluß mit der Rockrevolution. Und damit war auch die Hoffnung gescheitert, daß die Revolution niemals im Fernsehen übertragen werden würde. Die Revolution kommt nicht im Fernsehn, Du kannst nicht zu Hause bleiben, Bruder! Du kannst sie nicht einschalten, Knöpfe drücken, ausschalten … Die Revolution geht nicht besser mit Coca Cola – Die Revolution wird nicht im Fernsehn übertragen – Die Revolution wird live gemacht! Das demokratische, liberale Fair Play erforderte genau das, daß Revolutionen im Fernsehen übertragen werden, erstens, um sie zu relativieren, und zweitens, um jede Reportage zugunsten der Konterrevolution zu rechtfertigen. Die Dummköpfe, die vor zwanzig Jahren an die Rock-Revolution geglaubt hatten, hatten ihre Rolle als Bauernfänger perfekt gespielt. Jetzt waren sie als Rocker in Rente gegangen, hatten die verbrauchten Teile des alten Systems ersetzt und gaben gleichzeitig die alten Mythen an neue Generationen weiter, damit auch diese sich mit einem geistigen Spielzeug unterhielten, das keinen Schaden anrichten konnte. Idioten. Maschinengewehren setzten sie ihre Gitarren entgegen, und schließlich landeten sie auf Platz Eins der Hitparaden in den Kasernen, in geringem Abstand gefolgt von den Militärmärschen. «Warst du in deiner Jugend auch mal Rockfan, Biscuter?» «Seit dem Mambo habe ich nichts anderes mehr getanzt, und in Andorra war ich Rockchampion. Ich packte eine wuchtige Französin, die abgezogen und ausgeweidet zweihundert Kilo netto wog, und warf sie über mich drüber und zog sie zwischen meinen Beinen durch.» «Ich bin da mit einem idiotischen Fall beschäftigt, Biscuter. Ein alter Rockstar, der sich immer noch wie Elvis Presley anzog, wurde
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tot in einem Müllcontainer in Sarriá gefunden. Verrückt. Er war ein bisexueller Stricher und hat einen Sohn mit einer ehemaligen Sängerin, die in einer billigen Vorstadtdiskothek an der Bar die Gäste animiert. Und der Junge ist Folkloresänger geworden.» «Klingt wie aus einer brasilianischen Fernsehserie, Chef.» Er hatte schlecht geschlafen und nickte in seinem Bürosessel ein, ohne Biscuters Bohnen mit Sepia nach Art des Ampurdán die schuldige Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Gegend Abend weckte ihn ein Geräusch auf, und es dauerte eine Weile, bis er es von dem Lärm und der unsichtbaren Kühle des Regens unterscheiden konnte. Es war das Telefon. Heinz war am anderen Ende. «So schnell!» «Es war nicht sehr schwierig. In einigen Kreisen hier ist er sehr bekannt.» «In Außenseiterkreisen?» «Außenseiter? Warum? Nein, nichts davon. Er ist ein Mann mit gutem Ruf und ziemlich gut betucht.» «Gut betucht? Ich nehme doch an, daß wir von derselben Person sprechen? José Maria Lacasa Torres!» «Ganz genau, dreiundvierzig Jahre alt, geboren in Barcelona. Der ist es.» «Und du behauptest, er sei ein Onassis.» «Nicht gerade Onassis, aber er hat ein ganz gutes Polster.» «Bist du ganz sicher?» «Mindestens, was seine Immobilien angeht. Etwa zwölf Appartements an verschiedenen Punkten der Insel: Cala de San Antonio und Playa del Figueral. Merkwürdig ist, daß nur vier davon ihm allein gehören, den Rest besitzt er zusammen mit einem anderen.» «Mit wem?» «Mit einem gewissen Luis Armenteras.» Mit einem gewissen Luigi Piamonte.
Jahrmarkt in einem katalanischen Dorf. Karussells, Churro-Bäkker, ‹Eroberung des Weltraums›, Achterbahnen, und in einer Ecke, gleich neben dem Zuckerwatteverkäufer, steht der Lieferwagen des
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dicken Rockmusikers Luigi Piamonte, Luis Armenteras. Es ist ein ausgebauter Lieferwagen; er dient als Bühne für Auftritte und Schaufenster für Singles, die ‹Erfolge aller Zeiten›. Fett, hinkend, agil, flattert Luigi Piamonte zwischen den Platten hin und her und ruft mit dem Mikrofon in der Hand die Bauernburschen herbei, die ins Dorf heruntergekommen sind, um die Kirmes ordentlich zu feiern. Manchmal spricht er nur. «Eine Single hundert Peseten! So billig ist nur Luigi Piamonte, denn Luigi Piamonte ist der König der Singles. Alle in erstklassigem Zustand. Sie kennen mich aus früheren Jahren. Auf Luigi Piamonte ist Verlaß!» Die Einheimischen beschnüffeln die Platten. Ein Mädchen fragt: «Haben Sie was von Ian Dury?» «Nächstes Jahr darfst du mich wieder danach fragen, Kleine. Glaubst du, ich könnte dir für hundert Peseten einen frischgebackenen Ian Dury verkaufen?» Der Luigi Piamonte, der so antwortet, ist ein harter, aggressiver Mann, der nichts mit dem zu tun hat, der hinterher auf den Transporter steigt und verkündet: «Verehrtes Publikum, auf vielfachen Wunsch werde ich für Sie einen meiner alten Erfolge singen, ohne Musik, ohne alles, echte Handarbeit, wie alle großen Sänger.» Und er singt tatsächlich. Estrellas en el cielo. Estelas en el mar. Y ese rostro tan sereno con tu blanca palidez. Sterne am Himmel. Schaumkronen im Meer. Und dieses fröhliche Gesicht mit deiner weißen Blässe
Den einzigen musikalischen Hintergrund bildet der Jahrmarktslärm, das Kreischen der dummen Maschinen, die sich blöde drehen oder um sich selbst kreisend Geschwindigkeit vortäuschen. Plötzlich hat er Carvalho in der Menge entdeckt. Ihre Blicke treffen sich,
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keiner weicht dem anderen aus, Luigi Piamonte singt weiter, und in Carvalhos Augen tritt ein gewisser Respekt, der verschwindet, als das Lied zu Ende ist und der Detektiv zum Transporter geht. Er kommt gerade rechtzeitig, um noch zu hören, wie eine Gruppe Jugendlicher Luigi auf schmierige Art anmacht. «Du bist dicker als letztes Jahr.» «Ein bißchen mehr Kurven!» Mit gespielter Entrüstung verscheucht Luigi die Jungen aus der Unterschicht, die ihm Komplimente machen. Er konzentriert sich auf Carvalho. «Sind Sie zur Jagd oder zum Fischen hier?» «Purer Zufall. Jetzt ist die richtige Zeit für Reizker.» «Es hat wenig geregnet.» «Es ist eine Plage mit den Reizkern. Entweder es hat zuwenig oder zuviel geregnet. Apropos, da wir schon beim Thema Pilze sind, ich habe erfahren, daß unser Freund José Maria gar nicht so ein Habenichts war, wie Sie gesagt haben. Da sind einige Peseten zusammengekommen, eine runde Summe, kein Witz, nein, nein!» «Der alte Halunke! Davon hat er mir kein Wort erzählt.» «Mit dem Reden ist es genau wie mit den Reizkern: man redet manchmal zuviel und manchmal zuwenig.» Keiner weicht dem Blick des anderen aus. Sie fixieren einander eine Weile. Luigi Piamonte schaut als erster weg, grinst und sagt: «Ich werde es beherzigen.» «Lassen wir den Quatsch, Luigi. Soviel ich weiß, waren Sie und José Maria Partner. Ein Teil der Immobilien auf Ibiza läuft auf die Namen von Ihnen beiden.» «Geschäftspartner zu sein ist nicht verboten.» «Aber es kann gefährlich werden, mit einem Mann gemeinsame Geschäfte zu machen, der wie ein Bettler stirbt.» «Er war gekleidet wie ein Rockfan, nicht wie ein Bettler. Ich trage auch die Klamotten von vor zwanzig Jahren und bin kein Bettler. Jeder so verrückt er kann, und er hatte eben Lust, wie Elvis Presley rumzulaufen, aber er war ein Geschäftsmann, das können Sie mir glauben!» «Wußten Sie, wie er sein Geld verdiente?»
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«Ja.» «Und es war Ihnen egal?» «Wäre es etwa besser gewesen, wenn er als Kurier Heroin geschmuggelt hätte? Er hat sich selbst ausgebeutet, genau wie Künstler und Schriftsteller.» «Es wird eine Untersuchung geben, sobald die Polizei das mit Ibiza herausgefunden hat.» «Damit rechne ich, und es juckt mich nicht.» «Warum spielen Sie immer noch den Clown auf den Dörfern, wo Sie doch so reich sind?» «Man muß für seine alten Tage vorsorgen, das wird es wohl sein.» «Sie gefallen mir!»
«Sicher hat er mir von seinem Besitz auf Ibiza erzählt. Aber ich hielt es für eine seiner typischen Spinnereien.» Der Drucker prüfte einige druckfrische Visitenkarten. ‹José Ilario Font, Herausgeber multinationaler Ausgaben.› «Natürlich werden seine Frau und sein Sohn alles bekommen, wenn er kein anderslautendes Testament gemacht hat.» «Logisch.» «Glauben Sie, er hatte Probleme mit diesem Luigi Piamonte, dem Besitzer des Rock de Chocolate? Er war sein Geschäftspartner, wenigstens was die Appartements betraf. Waren sie vielleicht mehr als nur Geschäftspartner?» «Also, von seinem Privatleben habe ich keine Ahnung. Ich habe ihn ja gerade ein- oder zweimal gesehen.» «Ich war bei Tito Fontana und habe mich mit ihm unterhalten. Er ist sehr sauer auf Sie alle, weil Sie die Gruppe nicht wieder ins Leben rufen wollten.» «Sie haben mir davon erzählt, aber nicht mit mir gerechnet. Können Sie sich vorstellen, daß ich mir die Haare wieder lang wachsen lasse und mich noch mal hinter ein Schlagzeug hocke?» «Ich wiederhole meine Frage nach der Beziehung zwischen Luigi und José Maria.»
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Gratacós schaut sich nach links und rechts um und senkt die Stimme, bis er sich selbst kaum hören kann in einem Moment, in dem er Carvalho etwas enthüllt, das er niemals, «noch nie, verstehen Sie mich richtig?» irgendeinem Menschen erzählt hat. Mehr noch, wenn ihn irgend jemand danach fragen würde, würde er alles abstreiten. «Schießen Sie los, Sie brauchen keine Angst zu haben!» «Luigi war offensichtlich verliebt in José Maria. Als Jugendlicher hat er viel durchgemacht, hatte viele Probleme zu Hause, und José Mariá war eine sichere Gestalt für ihn, ein Bezugspunkt. Es war eine eigenartige Beziehung zwischen den beiden, wie bei diesen Ehepaaren, die einander verabscheuen, aber sich auch gegenseitig brauchen. Einmal fuhren wir zu einem Auftritt nach La Bisbal. Über die Dörfer fahren, die langen Haare zeigen und unsere Musik spielen, das war ein Abenteuer, vor allem auf Jahrmärkten, weil dort das Publikum bunt zusammengewürfelt ist und keine Fans kommen. Unser Auftritt war sehr turbulent, weil sie sich mit José Maria angelegt hatten. Eigentlich gefiel es ihm ja, das Publikum zu provozieren, wenn er sah, daß es nicht richtig mitging, aber an jenem Abend hat er übertrieben, er hat mit dem Unterleib gezuckt wie Elvis und die Gitarre so gehalten … Sie wissen schon, was ich meine. Es kam zu einer richtigen Schlägerei zwischen zwei Gruppen aus dem Publikum, und alles mögliche regnete auf uns herab. Luigi war am meisten betroffen. Er ging in den Transporter und weinte und war nicht zu trösten. José Maria sagte, wir sollten ihn machen lassen, setzte sich neben ihn und schickte uns hinaus. Wir stritten mit den Festorganisatoren herum, weil sie uns nur die Hälfte der vereinbarten Summe auszahlen wollten. In solchen Fällen war es immer am besten, losé Maria vorzuschicken, damit er den anderen ordentlich die Meinung sagte. Er konnte richtig gemein werden. Ich ging zum Transporter, um ihn zu holen … und …» «Und was?» «Er und Luigi waren wie eins von diesen Liebespaaren im Kino.» «Und Sie?» «Ich ging noch einmal weg und machte Lärm beim Zurückkommen, damit sie wieder normal werden konnten. Von dem Moment
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an ließ ich sie nicht mehr aus den Augen, nicht aus Mißtrauen, nein, es war stärker als ich, ich mußte einfach herausfinden, ob das eine einmalige Sache gewesen war oder ob es weiterging.» «Und was haben Sie herausgefunden?» «Es ging weiter. Deshalb war Luigi zwei Jahre später auch so verletzt, als José Maria sich mit Silvana zusammentat.» «Tito Fontana behauptet, es habe Ihnen genausowenig gefallen.» «Stimmt, mir gefiel es auch überhaupt nicht. Verstehen Sie doch! Für die Band war es der Anfang vom Ende. Ich hatte eine Menge Probleme. Meine Eltern setzten mich unter Druck, ich sollte mich zwischen der Musik und dem Geschäft entscheiden, und als dann diese Frau erschien, wirkte es wie das Auftauchen des Trojanischen Pferdes mitten in Troja. Genauso kam es dann auch.» Señor Gratacós sucht in der großen Halle vergeblich nach einem Punkt, auf dem er seinen Blick ruhen lassen kann. Ab und zu blickt er Carvalho scharf in die Augen, wie um zu sehen, ob dort die Nachricht auftaucht, die er erwartet. Aber Carvalho wartet ab, bis die Ungeduld die zurückgehaltenen Worte hervorsprudeln läßt. «Es war Luigi, stimmt’s?» «Warum sind Sie sich da so sicher?» «Ich bin mir nicht sicher. Ich will nichts behaupten, aber es liegt nahe. Die Beziehung der beiden ging weiter, und, wie Sie erzählen, hatte sie bis zum heutigen Tag Bestand. Sie waren sogar immer noch Geschäftspartner!» «Das ist es ja gerade! Weshalb hätte Luigi ihn umbringen sollen?» «Luigi war schon immer sehr temperamentvoll, und José Maria hat ihn gedemütigt.» «Sie hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr zu den beiden. Sie wissen nichts darüber, wie sie in der letzten Zeit zueinander standen. Ich gehe, Gratacós. Ich muß Silvana und ihrem Sohn erzählen, daß sie das große Los gezogen haben.»
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Eduardito, der kleine Sänger, macht sich gerade das Abendessen warm. «Wenn Sie gestatten, wäre es mir ein Vergnügen, Sie zum Abendessen einzuladen!» Carvalho brauchte eine Weile, bis er realisiert hatte, daß dieser ganze Satz aus dem Mündchen des altklugen Kindes stammte und nicht aus dem Heiligenkalender, der an der Wand der Eßecke hing. «Ich will mit deiner Mutter sprechen.» «Sie ist bei der Arbeit und kommt nicht vor morgen früh zurück.» «Was hast du da in dem Glas?» «Geschlagenes Eiweiß. Das nehme ich jeden Tag zu mir, es ist für die Stimme. Ich lerne gerade das Lied ‹Ich bin ein Bergmann›. Soll ich es Ihnen vorsingen?» «Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Aber eines Tages komme ich mit einer Freundin zu dir, die singende Jungen sehr gern mag.» «Meine Mama spart dafür, einen Festsaal zu mieten, damit ich dort auftreten kann.» «Jetzt erklär mir mal, wie ich dorthin komme, wo deine Mutter arbeitet.» «Ich habe eine Telefonnummer, falls mir etwas passiert. Rufen Sie sie an, sie wird es Ihnen erklären.» Vor dem Hintergrund der lauten Stimmen und klirrenden Gläser kann Silvana kaum verstehen, was Carvalho will. Immer wieder vom Lärm übertönt beschreibt sie ihm den Ort, und das Auto fährt los, fast bis an die Grenzen Barcelonas, und erreicht erschöpft die Nachtbar Posada de Jamaica. Die Luft ist so dick von Qualm und Alkoholdunst, daß man sie fast mit Fingern greifen kann. Die riesige Halle ist mit infernalischen Farben ausgemalt, weiße Spotscheinwerfer beleuchten die flüchtigen Umrisse geballter Menschheit, deren Gehör von Preßlufthammergetöse elektrifiziert wird. Silvana ist eine der acht Frauen, die hinter dem Tresen Gesicht und Brüste zeigen, zwei aufgedunsene, durch einen Abgrund getrennte Brüste, sozusagen kurz vor der Explosion, wenn man nach den blauen Venen urteilte, die das rötliche Zwielicht nicht verbergen konnte.
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«Sie müssen etwas bestellen, sonst bekomme ich Ärger.» «Können wir uns nicht irgendwo ohne diesen Lärm unterhalten?» «Mieten Sie ein Séparée eine Treppe höher. Was für eins wollen Sie, nur zur Entspannung oder komplett?» «Worin besteht der Unterschied?» «Im Preis und im Komfort. Das zur Entspannung, na ja, dort kann man sich eben nur entspannen, und komplett ist es mit Bett.» «Dann gehen wir uns ein wenig entspannen.» In dem vier Quadratmeter großen Zimmer stellt Carvalho sofort fest, daß der Fußboden über dem Hexenkessel der Musik und der zusammengeballten Menschheit kocht. Carvalho setzt sich aufs Sofa und wartet lächelnd darauf, daß sie sich neben ihn setzt. «Ich war bei Ihnen zu Hause und habe den Jungen gesehen. Er machte sich gerade sein Abendessen warm.» «Hat er den Eischnee gegessen?» «Er war gerade dabei.» «Er darf es keinen Tag auslassen. Er lernt jetzt das Repertoire von Antonio Molina, und dafür braucht er eine ganz feine Stimme.» Carvalho ließ den Blick auf den nackten Brüsten Silvanas ruhen und erzählte ihr von seinen Entdeckungen auf Ibiza. Es war verblüffend, die freigebige, ruhige Sanftheit ihrer Brüste mit ihrer Erregung zu vergleichen, die in dem Maße stieg, wie sie erfuhr, daß sie eine reiche Frau war. Carvalho schob sie sanft weg, als sie sich auf ihn stürzte und sich sein Gesicht auf der Talsohle zwischen zwei heißen Brüsten befand, deren Warzen Phantasiebuttons glichen. «Aber das kann sich alles in Luft auf lösen oder sich über Jahre hinziehen, wenn José Marias Tod nicht aufgeklärt wird.» Ein Guß eiskaltes Wasser hätte sie nicht schneller erstarren lassen. «Je schneller wir den Mörder finden, desto besser. Es ist notwendig, daß Sie mir alles erzählen, was nach dem Zeitpunkt geschah, als José Maria Sie der Band vorstellte. Wie sie reagierten. Jeder einzelne.»
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«Das ist eine sehr lange Geschichte, und Sie haben nur Entspannungstarif bezahlt.» «Regen Sie sich nicht auf! Wir haben noch die ganze Nacht für uns.»
Sein Leben lang hatte er nun in der Landschaft der Gemeinheiten herumgestöbert und geschnüffelt, um schließlich zu entdecken, daß selbst seine Anpassungsfähigkeit Grenzen hatte. José Maria hatte Silvana in einer Anwandlung von Sadismus gegen die Gruppe und gegen das Mädchen selbst geheiratet. Eine Herausforderung oder eine Wette. Silvana wußte es selbst nicht genau. Dafür wußte sie genau Bescheid über die vielen Nächte, in denen sie sich erniedrigt gefühlt hatte, während José Maria und Luigi nach einer Prügelei oder einer Auseinandersetzung auf der Bühne zu einer Versöhnungstour verschwunden waren. Von Luigi wurde sie beleidigt, von José Maria verachtet und von Gratacós’ Wühlarbeit zermürbt, damit sie das Handtuch warf. «Diese Filzlaus machte mich wahnsinnig. Sie können sich nicht vorstellen, wie hinterfotzig er ist. Als ich mit Eduardo schwanger war, bemerkte ich, daß er mich überall verfolgte, und ich bekam wochenlang anonyme Briefe. Ganz sicher hat er sie geschrieben. Er sagte zu mir, José Maria würde mich zu einer Abtreibung zwingen. Tito hielt sich aus allem raus, er war geistig dauernd irgendwoanders. So riesenhaft wie er war, so einfach war er auch. Er träumte nur davon, zu heiraten und, daß seine Frau nicht arbeiten müßte und er seinen Eltern eine Wohnung geben könnte. Er war der einzige, mit dem man reden konnte, der Gefühl hatte.» In den frühen Morgenstunden verläßt Carvalho die Posada de Jamaica. Das Schild dieser Lasterhöhle erinnert ihn an einen Film mit Charles Laughton: Der alte Schwerenöter tauchte zwischen den Segeln einer Brigg auf, hielt eine Abschiedsrede und stürzte sich hinunter auf das Deck. Als er zur Tür des Rock de Chocolate kommt, sieht er, daß sie halb offen steht und der Gastraum leer ist. Er ignoriert die Anwesenheit eines merkwürdigen Individuums, das bestrebt ist, die Lichter zu
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löschen, und ruft zu dem Zimmer im Zwischengeschoß hinauf: «Luigi! Ziehen Sie Ihre Hosen an und kommen Sie herunter!» Es dauert eine Weile, bis Luigi Piamonte aus seinem Büro im Zwischengeschoß herabkommt. Einen Moment lang steht er dort oben auf der Schwelle, im Türrahmen, von hinten beleuchtet, wie eine Amphore mit Skarabäenhaaren. Das Beinpaar, das seine Hosen ausbeult, muß dick, weiß und wollig sein. Er kommt herab wie eine heruntergekommene Froufrou-Königin in knisternder Seide und sieht Carvalho argwöhnisch an. «Sind Sie immer noch mit dieser lästigen Sache beschäftigt? Wer hat Sie überhaupt engagiert? Wozu verschwenden Sie Ihre Zeit?» «Die ganze Welt vergeudet ihre Zeit. Zwingen Sie mich nicht, philosophisch zu werden. Ich kann eine schreckliche Nervensäge sein. Was ist denn das, was dort an den Lichtern hantiert?» In einer Ecke der Tanzfläche prüft ein Jüngling mit lila Haaren, einem gelb umrahmten Auge und einem herzförmig geschminkten Mund die Funktion der Scheinwerfer. «Woher haben Sie diesen Bajazzo?» «Er ist der neue Diskjockey. Sagen Sie ja nichts gegen ihn, er ist für mich wie ein Sohn!» «Ist er auch Ihr Geschäftspartner?» «Der und Partner!» «Haben Sie mit ihm zusammen auch Häuser auf Ibiza?» Luigi Piamontes Hand schnellt vor, wie die klauenbewehrte Tatze einer Großkatze. Carvalho läßt diese amorphe Kugel mit den langen Krallen bis kurz vor seine Augen kommen und dann ins Leere laufen. Der Arm dahinter ist zu schlaff. Er kneift Luigi in die Wange und gibt ihm einen leichten Kniestüber zwischen die Beine, eher Erkennungszeichen und Warnsignal als ein Schlag. «Laß deine Pfoten von mir weg, du Tier! Er war also ein Habenichts, der nicht einmal das Geld für sein eigenes Grab hatte?» «Seinen ganzen Besitz hatte er nur mir zu verdanken. Er hat ihn sich zusammengevögelt. Der Hurensohn verteilte mir nur Fußtritte und trieb sich mit allen möglichen Männern und Weibern herum. Und immer kam er mit dem rührenden Satz zurück: Was wäre ich ohne dich, Luigi?»
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«Und bei einer dieser Szenen hast du die Beherrschung verloren und ihm eine verpaßt.» «Ich habe ihn nicht umgebracht. Das wäre genauso gewesen, als würde ich mich selbst umbringen.» «Der Satz könnte direkt aus einem Bolero stammen. In Wirklichkeit seid ihr alle Bolero-Helden. Dieses Land war noch nie etwas für Rocksänger. Wir brauchen den Bolero! Ich hab die Schnauze voll, diese Geschichte steht mir bis hier.» «Dann lassen Sie die Finger davon! Von mir sehen Sie keinen Céntimo von dem Geld, das er Ihnen noch schuldete. Gehen Sie zu seiner Witwe!» «Gratacós sagte mir, Sie seien der Mörder.» «Gratacós ist eine verklemmte Jungfer mit mehr Angst als Moral. José Maria hat mich schlecht behandelt, aber mit ihm hat er sich den Arsch gewischt.» «Ich nehme an, daß ihr am Anfang alle noch unschuldig wart. Ihr wolltet mit der Rockmusik groß, reich und begehrt werden. Wann habt ihr bemerkt, daß ihr verrückt seid, daß ihr die Seele von Mördern habt?» «Alles Böse ging von José Maria aus.» Er hat den Kopf in den Nacken geworfen und bietet Carvalho die nackte Wahrheit seiner frisch gezupften Brauen und weinerlichen Augen mit der Miene eines Strichjungen in der Stunde der Wahrheit. «Aber ich liebte ihn. Ich liebte ihn, bis er zu einem alten Spieler geworden war, der immer ein und dasselbe Spiel spielt. In letzter Zeit war unsere Beziehung wie bei diesen alten Ehepaaren, die nicht den Mut haben, ihre ersparten Gefühle zu verschleudern, weil sie Angst vor der Freiheit haben. Er war nur noch eine Karikatur seiner selbst. Aber umgebracht habe ich ihn nicht, er war mir beinahe gleichgültig.» Der lila Junge hat sich ihnen genähert, und unter der Schminke ist die Haut der Angst zum Vorschein gekommen, die Erkenntnis, wie schutzlos er ist, wenn Luigi bedroht wird. «Keine Angst, Herzchen, es wird nichts geschehen. Den da habe ich auf dem Strich gefunden und mit hierher genommen. Es wird
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ihm an nichts fehlen, und er wird die Schule besuchen. Für mich war das wie ein Neuanfang. Er hat Talent, er will Schauspieler werden.» «Ich bin schon Schauspieler!» schreit der lila Junge trotzig. «Natürlich, mein Herzchen.» Nach der zweiten Zärtlichkeit sah Carvalho beiseite. Er hätte dasselbe getan, wenn es ein Mann und eine Frau gewesen wären. Man darf anderen ihre Zärtlichkeit nicht stehlen, um so weniger, wenn sie geprügelte Hunde sind.
Es wäre zwecklos, das Finale aufzuschieben und sich zu einem schlaf losen Schlaf hinzulegen. Beherrschte Erregung erfüllt ihn vor dem Ende des Dramas. Er verläßt sich darauf, daß ein guter Handwerker seine Arbeit im Morgengrauen beginnt, vor allem, wenn er als Erbe in einer familiären Tradition steht und von klein auf sich selbst und den andern beweisen mußte, daß er nicht schlechter ist als seine Väter und Großväter. Um halb acht Uhr morgens kann man sich vornehmen, einen schmutzigen Fall zu lösen und kurz darauf den Umstand zu nutzen, daß das Pa i Trago ganz in der Nähe ist, um eine ausgezeichnete cap i pota con samfaina zu essen und so den Tag mit etwas zu beginnen, das den Magen erfreut, das eigentliche Herz des Menschen. Um halb acht Uhr morgens hat Señor Gratacós mit kundigem Griff das Metallrollo hochgeschoben. Sein Vater benutzte dafür noch einen Stock, der in eine Klaue auslief. Señor Gratacós thront in der Einsamkeit seiner Kathedrale der Arbeit. Er hat sie genossen, wie man nur Paradiese genießen kann, deren Besitzer man ist. Nun nimmt er die Brille ab und legt sie auf den Tisch neben einem Stapel Quartbögen. Er streicht sich mit der Hand übers Gesicht, wie um seine Züge zu massieren und sich die Augen aufzuknöpfen. Er lehnt sich im Stuhl zurück, steht wieder auf, zieht den blauen Kittel aus und steht in Hemdsärmeln da. Diese krempelt er hoch und reibt sich die Arme, als genieße er den Kontakt mit seiner eigenen Haut, geht an der rechten Wand entlang und schaltet die Lampen über den Maschinen aus. Nur die in der Mitte der Halle läßt er brennen, dort,
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wo sich die Wege zu den verschiedenen Maschinen treffen. Er bleibt unter dem Licht stehen, als laste es schwer auf seinen Schultern und hindere ihn am Weitergehen. Abrupt setzt er ein Bein im rechten Winkel vor, biegt wieder in die Hauptachse ein, setzt das andere Bein vor, kehrt in die Querachse zurück und beginnt einen stummen Tanz, als spiele eine Rockband in seinem Innern. Catalina es cosa fina Catalina sedalina oh, oh, oh, Catalina Catalina me fascina Catalina me rechina oh, oh, oh, Catalina Mit einem Sprung steht er auf einer Maschine. Mit dem nächsten verläßt er sie, um auf einer anderen wieder aufzutauchen, während er das Lied vor sich hinsummt und sich mit der muskulären Ekstase eines Stars bewegt, für den die ganze Welt eine Bühne ist. «Señor Gratacós!» sagt Carvalho, und der Tänzer erstarrt zur Marmorstatue, eine Hand auf dem Mund und die andere in das Halbdunkel ausgestreckt, aus dem die Stimme gekommen ist. Carvalho tritt aus dem Schatten, und der Drucker weicht zurück in die beleuchtete Zone, während er die Einsamkeit und den Ernst des kleinen Vorstadtunternehmers wiederfindet, der keine Arbeitszeitbegrenzung kennt, keine Feiertage, drei Kinder hat, und dessen Frau bei der Fundación Puigvert die Krampfadern operiert werden mußten. «Señor Gratacós!» «Ach, Sie sind’s!» Der Drucker kehrt ihm den Rücken zu. Er sucht den blauen Kittel, als suche er seine zweite Haut. Er beruhigt seine Atmung und sagt dann, ohne sein Gesicht zu zeigen: «Manchmal packt es mich. Dann geht es mit mir durch. Jeder hat mal so einen Anfall.» «Ich möchte das Geld für meine Nachforschungen haben. Ich weiß inzwischen, wer der Mörder ist.» «Selbstverständlich. Ich gebe Ihnen einen Scheck.»
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Carvalho folgt ihm zum Büro. Er nennt im Befehlston eine Summe. Der andere schreibt, unterzeichnet. Carvalho nimmt den Scheck und steckt ihn ein. Der Drucker blickt nicht von dem Löschpapier auf, das einen Teil des Tisches bedeckt. «Es war Luigi Piamonte, stimmt’s?» «Nein.» «Nein», sagt er zustimmend. «Wir hatten uns jahrelang nicht gesehen und begegneten einander zufällig in einer riesigen Menschenmenge, als ‹Supertramp› spielte. Es war schon ein Zufall. Wir sahen uns öfter. Ich wollte, daß alles wie früher, war, aber er war ein Zyniker geworden, eine Bestie, die keinen liebte und die ganze Welt ausbeutete. Er war diesem Ekel hörig, diesem Luigi.» «Sie brachten ihn um und beauftragten mich mit Nachforschungen, weil schon abzusehen war, daß die Polizei der Sache keine Bedeutung beimessen und Luigi nicht an den Kragen gehen würde.» «Er mußte logischerweise der Mörder sein.» «Luigi war damit zufrieden, daß er immer wieder zurückkam, mehr verlangte er nicht. In der Tat haßte er ihn, als hoffte er immer noch, daß er eines Tages für immer zurückkommen würde. Eigentlich war es ein alter Streit zwischen Ihnen und Luigi: Er hatte den Mut, etwas zu tun, das Sie nicht wagten, um den Preis, kein geachteter Bürger mehr zu sein.» «Die Liebe macht uns verletzbar. Es gibt eine Grenze für die Fähigkeit, Demütigungen zu ertragen.» «Ich werde Sie nicht anzeigen. Ich zeige meine Klienten niemals an. Das würde meinem Berufsethos widersprechen. Aber eines Tages wird die Polizei an diese Tür klopfen.» «Ich habe einen Grabstein für ihn bestellt. Wie finden Sie den Entwurf?» Er gab ihm eine Zeichnung. Akanthusranken als Zierrahmen, in den Ecken Gitarren, und die Inschrift: Für José Maria und den Rock. Es klang in Carvalhos Ohren antiquiert. Dagegen hatte das Lied ‹La Parrala› aus dem Mündchen von Eduardito, dem singenden Knaben, auf eine bescheidene Art modern geklungen.
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Charo ist glücklich, wenn Carvalho sie ausführt, und wenn sie dann ins Kino oder ins Theater gehen, erlebt sie die Apotheose eines Stars, der sich auf das ungeheure Abenteuer vorbereitet, von Pagen umgeben die Stufen hinabzuschreiten. «Ich ziehe diesen seidenen Kimono an, er ist so hübsch.» «Du wirst schon das Richtige aussuchen.» «Ich freue mich ja so, daß wir beide zusammen dorthin gehen, Pepe! Wir sollten öfter ausgehen. Manchmal denke ich darüber nach, wie ich lebe, und dann könnte ich mich ohrfeigen. Wozu soviel Arbeit? Was habe ich eigentlich davon? Ich unterstütze ein wenig meine verheiratete Schwester in Montada, lebe in den Tag hinein, ein paar Sachen zum Anziehen … Jetzt habe ich mir ‹Follow me› gekauft, um Englisch zu lernen.» «Wozu soll es dir nützen, daß du Englisch kannst?» «Mit Englisch geht alles leichter.» Ein enigmatischer Satz, vor allem, wenn er aus einem Badezimmer kommt, wo Charo die Aufgabe in Angriff genommen hat, sich zu restaurieren. Hier und dort blitzt ihre Brust auf, während sie sich mit der ganzen Schnelligkeit anzieht, die ihre Arme und Beine zulassen. «Er soll ja süß sein. Zum Anbeißen!» «Wer?» fragt Carvalho vom anderen Zimmer aus, wo er sich mit der Lektüre von ‹Hola› die Zeit vertreibt. «Eduardito! Wir gehen doch zu Eduardito, dem Jungen mit der goldenen Stimme, oder?» «Wenn du dich nicht beeilst, gehen wir überhaupt nirgends hin.» «Ich bin gleich so weit! Bin schon fertig!» Es ist soweit. Eine nächtliche frische Charo steht vor ihm, bereit, an seiner Seite in vollen Zügen das Abenteuer ‹ihres› Abends zu genießen, ohne Kunden am Telefon. «Kann man sich mit mir sehen lassen?» Sie dreht sich einmal um sich selbst, damit Carvalho sie begutachten kann. «Vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Wir gehen nicht zu einer Taufe, wir gehen zu einem Waisenkind, das singen kann.»
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Charo schwankt zwischen Empörung und Resignation, schließlich seufzt sie auf, zählt bis zwanzig und geht dann mit Carvalho aus der Wohnung. Sie fahren im Auto zu dem Nachtlokal, wo Eduardito, der Junge mit der goldenen Stimme, zugunsten von UNICEF sein erstes Konzert gibt. Ein gesellschaftliches Ereignis. Wohl ausgestattete Señoras und Caballeros mit der Glückskurve, die die Weste ausbeult, gewürgt von seidenen Krawatten aus Italien oder Thailand. Einer zeigt dem anderen seine Krawatte und zwinkert ihm zu. «Die hat mir meine Frau in Bangkok gekauft, während ich bei der Massage war.» Carvalho und Charo suchen einen Platz. Hier und dort sieht er Gesichter, die er bei seinen Nachforschungen kennengelernt hat. Alte Rockfans, Onkel, Tanten, Cousins oder Cousinen des alten Rockstars. Plötzlich kündigt das Orchester an, daß etwas geschehen wird, und auf der Bühne erscheint Fernando Esteso. Man hat den Eindruck, daß es sein persönlicher Abend werden soll, denn er erzählt zunächst zwei oder drei Witze, aber schließlich verkündet er, daß nicht er der Star des Abends sei, sondern ein anderer. Er stellt Eduardito vor, den singenden Knaben, der mit seiner Mutter auf die Bühne kommt. «Sie sind stolz darauf, so einen Jungen zu haben, nicht wahr?» Die ‹Oben-Ohne› bejaht. Sie ist mondän gekleidet, wie eine Dame, zum abendlichen Empfang. «Hast du gute Zeugnisse?» «Mein Hauptfach ist die Kunst.» Damit schneidet ihm das kleine Monster das Wort ab. «Er ist begabt», versichert die Mutter. Der Moderator läßt nun den Nachwuchsstar allein, und dieser leiert die Klänge von ‹La Parrala› herunter. Während der Junge singt, studiert Carvalho die Gesichter von Tito Fontana und Luigi Piamonte. Sie scheinen beide in den letzten Minuten um Jahre gealtert zu sein. Schließlich betrachtet Carvalho den Jungen. Er singt wie ein kleines Tier, das überleben will, dem klar ist, daß es um alles oder nichts geht. Carvalho betrachtet ihn mit Sympathie. Er lächelt ihm zu und klatscht begeistert Beifall, als das Lied zu Ende ist.
Das Mädchen, das nicht Nein sagen konnte Carvalho hatte sich vorgenommen, keine Statistik über die Art seiner Aufträge zu führen, aber auf den ersten Blick stellte er fest, daß sie zu drei Vierteln daraus bestanden, das Privatleben eines Mannes im Auftrag seiner Gattin oder das einer Frau im Auftrag ihres Gatten auszuspionieren. Die Polizei nannte die Privatdetektive «Unterhosenschnüff ler», denn das schien ihr Beruf zu sein, auf Kosten anderer an Unterhosen zu schnüffeln. Aber die Zeiten waren nicht danach, Ekel vor den normalsten Aufträgen zu entwickeln, und nach einem kurzen Selbstgespräch reduzierte sich alles auf den Befehl: Pepe, du mußt es tun, und zwar je früher, desto besser! Carvalho ging gegenüber dem Appartement in Stellung, wo eine Frau im Begriff war, ihrem Mann untreu zu werden. Möglicherweise würde es nicht das letzte Mal sein, und es stand für ihn fest, daß es nicht das erste Mal war. Seit Tagen hatte er alles vorbereitet, und seine Hand hielt einen Koffer mit allen notwendigen Utensilien. Er hatte sich selbst zu der Sache überredet, nun mußte er nur noch in dem drittklassigen Hotel ein Zimmer mieten, das dem Ort des Stelldicheins und der Schande gegenüberlag. «Ich brauche ein Zimmer im vierten Stock mit Fenster zur Straße.» «Alles belegt.» «Alle Zimmer des Hotels belegt?» «Nein, aber die im vierten Stock mit Blick zur Straße.» Carvalho legte zweitausend Peseten auf den Rezeptionstisch. «Ich bin sicher, daß Sie irgendwo ein leeres Zimmer finden, wenn Sie noch mal nachsehen.» Tatsächlich, ein Zimmer im vierten Stock, zur Straße hinaus, war noch frei. Er brauchte sich nicht einmal die Mühe zu machen, den
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Meldeschein auszufüllen, die Schreiberdienste des Portiers waren im Trinkgeld inbegriffen. «Pepe Carvalho …» «Mit L und H. Eine Laune meines Vaters. Es würde zu lange dauern, die Geschichte zu erzählen.» Der Portier zeigte ein verbindliches Grinsen. «Jeder Familienname ist eine Geschichte für sich», insistierte Carvalho, der an diesem Vormittag außerordentlich redefreudig war. «Zimmer 412.» Carvalho stieg in sein Zimmer hinauf, begleitet von einem schläfrigen Hoteldiener in Trauerkleidung. «Seien Sie vorsichtig mit diesem Koffer, er enthält hochempfindliche Muster.» Sobald er allein war, befreite Carvalho das große Fenster von den ockerfarbenen Vorhängen, öffnete den Koffer und holte ein kleines Teleskop hervor, das er am Fenster aufstellte. Er stellte es ein und suchte sein Ziel mit der Bedächtigkeit eines umsichtigen Jägers. Wenn sie den Rhythmus der anderen Treffen einhielten, würden sie bald kommen. Er stellte die Kamera mit dem Teleobjektiv auf, prüfte die möglichen Bildausschnitte in den beiden Zimmern des Appartements, die zur Straße gingen, schoß zwei Probebilder, um den Auslöser vorzuwärmen, und bereitete sich auf das Warten vor, indem er sich eine Cerdán anzündete, fasziniert von diesen kleinen, flüchtigen Wundern, die er jenem verrückten Katalanen verdankte, der in der Dominikanischen Republik Zigarren herzustellen begann, weil ihm die nicht schmeckten, die auf dem Markt waren. Eins der beobachteten Fenster wurde nun hell, als würde es aus der Tiefe des Zimmers angestrahlt, und auf dem beleuchteten Schauplatz tauchten ein Mann und eine Frau auf. Sie legten die Zurückhaltung ab, zu der sie bis jetzt gezwungen gewesen waren, und küßten sich am Fenster; noch war es nur ein flüchtiger Kuß, und noch einer … Sie ist es, die sich von ihm trennt, sich zurückzieht. «Aha, du bist eine von denen, die gerne ein Vorspiel einlegen.» Sie ziehen sich vom Fenster zurück, und nebenan geht das Licht an. Sie hat sich in einen hohen Sessel gesetzt und nimmt eine Zeitschrift aus der Tasche. Sie liest, wenigstens tut sie so. Er betrachtet
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seine Hände, dann geht er zu ihr, nimmt sie bei den Schultern und entzieht sie Carvalhos Blicken. «Los, Kinder, etwas mehr Leidenschaft! Der Auslöser friert mir ein.» Der Mann tut, was er kann, und je nach dem, wie er sich um den begehrten Körper tummelt, werden Teile der Frau sichtbar, die, scheinbar widerstrebend, ihr Recht verteidigt, weiterhin Zeitung zu lesen. Carvalhos Kamera zerstückelt die Totale einer Szene, deren Höhepunkt kurz bevorsteht. Der Mann zwingt sie aufzustehen, nimmt ihr die Zeitschrift aus den Händen, sie protestiert lächelnd, er stellt sich hinter sie, umarmt sie, und seine Hände umklammern ein Paar Brüste, die aus dieser Entfernung klein wirken, als hielten sie sich unter dem Stoff scheu verborgen. «Anständige Leute. Das nennt man einem Privatdetektiv das Leben erleichtern. Noch ein paar Fotos, und ich habe es geschafft.» Er macht sie. Besonders nützlich sind für ihn jene, die den Moment zeigen, in dem die männlichen Hände, des Herumspielens müde, ihren Pullover nach oben ziehen und beginnen, ihr die Haut ihrer schlecht verteidigten Ehre abzuziehen. «Für das, was bezahlt wird, reicht es.» Aber eine gewisse Neugier und eine Ahnung der Qualitäten dieser Frau verbietet es ihm, seine Geräte einzupacken und wegzugehen. Wie ein genießerischer Voyeur läßt er seinen Blick auf der Szene ruhen, um nachzuprüfen, ob sich seine feinschmeckerische Vorahnung bestätigt. Aber etwas geschieht in jenem Zimmer, das ihn zwingt, sein Auge beinahe in den Sucher hineinzuquetschen. Der Körper des Mannes neigt sich über die Frau und bricht schließlich über ihr zusammen. Sie bemüht sich angestrengt, sich von dem Körper zu befreien, und taucht im Blickfeld auf, wie von einem elektrischen Schlag getroffen. Der Körper des Mannes verharrt einen Augenblick auf der Sessellehne und fällt dann zur offensichtlichen Bestürzung seiner Begleiterin zu Boden. Es ist nicht der erste Liebhaber, der in Ohnmacht fällt oder einen
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Kollaps erleidet, wenn das erregte Blut durch die Venen rast und versucht, die Grenzen des Körpers zu sprengen. Er hat die Fotos im Keller seines Hauses in Vallvidrera entwickelt und vergnügt sich damit, die Frau zu taxieren, die etwas unscharf ist, kaum zu bestimmen, entweder aus Gründen der Fotografie oder einer tiefergehenden Unschärfe, die in ihrem Charakter begründet liegt. Er steckt die Fotos in einen Umschlag und tippt einen genauen Bericht. ‹Beschattung von Señora Marta Sirvent de Martí im Auftrag von Marcel Martí›. Sieben Tage. Seit dem Zeitpunkt, als er begonnen hat, sie zu überwachen, als sie die Kinder zur Schule brachte, bis zu der Schlußszene im Appartement. Innerhalb von sieben Tagen drei heimliche Rendezvous. Leidenschaftliche Liebhaber mit rhetorischer Begabung, allerdings etwas ältlich. Das Detail mit der Illustrierten kann bei einer ersten Verabredung hingenommen werden, nicht aber bei der dritten innerhalb von sieben Tagen. So oder so, der Klient bezahlt ihn nicht für seine persönlichen Eindrücke, sondern für eine glaubhafte Sammlung von Tatsachen, und die Tatsachen sind eindeutig. Er beendet den Bericht und steckt ihn zusammen mit den Fotos in einen Umschlag. Die beendete Arbeit wird dort die ganze Nacht über liegenbleiben, ein heißes Paket voller Beweise, das Carvalho bei seinem Hin und Her im Hause etwas unsicher ansehen würde, auf dem Weg von der Küche zum Kamin oder vom Kamin in sein Zimmer. Ein abgeschlossener Fall schließt die Möglichkeit aus, daß alles hätte anders sein können. Jeder Fall ist so. Die Kunden kommen nicht wieder. Im allgemeinen begegnen sie sich nicht wieder, weder die Spione noch die Ausspionierten. Auftrag erledigt. Hunderttausend Peseten. Dieses Paketchen mit Beweisen ist hunderttausend Peseten wert. Mit diesem Gedanken schläft er ein und wacht wieder auf, holt den Umschlag, steckt ihn ein und fährt hinunter nach Barcelona zu seinem Büro. Er liebt es nicht, Beruf und Privatleben zu vermischen, deshalb ruft er vom Büro aus Señor Martí an, um einen Termin zu vereinbaren. Je früher er es erfährt, desto früher kann ich kassieren. Der Rest ist seine Sache. Er parkt das Auto auf der Plaza de Gardunya und geht durch die seitlichen Gänge der Boquería-Markthalle, weit entfernt von den Frauenmassen, die die zentrale Kreuzung bei den Fischständen
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blockieren. Er tritt auf die Ramblas hinaus und kauft El Periódico, um die Schlagzeilen zu überfliegen, während er die Ramblas hinunter zu seinem Büro geht. Eine der Schlagzeilen zwingt ihn, sich in den Text darunter zu vertiefen. Leiche in einem Appartement in der Calle Aribau gefunden. Eine Raumpflegerin, die für die Appartements Calitax in der Calle Aribau Nummer 146 zuständig ist, fand den leblosen Körper eines Mieters, Santiago Álvarez, fünfzig Jahre alt, verheiratet, drei Kinder, Geflügelzüchter. Es wird die Möglichkeit erwogen, daß Señor Álvarez die Wohnung als Treffpunkt für Rendezvous benutzte, was durch die Aussagen einiger Nachbarn bestätigt wird. Unser Redakteur konnte in Erfahrung bringen, daß Señor Álvarez in letzter Zeit das Appartement immer mit ein und derselben Partnerin betrat, einer großen, schlanken Blondine, braungebrannt, in dieser Jahreszeit wahrscheinlich vom Skilaufen. Der Name Marta Sirvent taucht nicht auf, und Carvalho beginnt, aufgeregt nachzudenken. Vielleicht wäre es besser, Zeit zu gewinnen und abzuwarten, was passiert, als sich einzumischen und bei den Untersuchungen der Polizei ins Fettnäpfchen zu treten. Es wäre auch vorteilhaft, herauszufinden, ob sein Klient Bescheid wußte oder ebensowenig wie er selbst über den unglücklichen Ausgang jener Verabredung im Bilde war. Carvalho hatte lediglich einen Körper gesehen, der zu Boden fiel. Scheinwerfer aus. Eine Viertelstunde später war die Frau auf die Straße getreten, offensichtlich nicht beunruhigt. «Hat jemand angerufen und nach mir gefragt?» «Nein, Chef.» Er war es, der Marcel Martí anrief, den gewohnten Filter der Sekretärin abwartete und den Tonfall des ‹Ja, bitte?› analysierte, das wie immer singend klang. «Señor Martí? Hier Carvalho.» «Wie geht’s, Señor Carvalho? Wie kommen Sie voran?» «Wie erwartet.» «Wann teilen Sie mir Ihre Ergebnisse mit?» «Morgen früh, hoffe ich, werde ich alles fertig haben.» «Morgen habe ich einen schrecklichen Tag. Es wäre mir recht,
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wenn wir uns etwa um zwölf Uhr treffen könnten, hier, in meinem Büro.» «In Ordnung.» Der Ehemann war über den Mord nicht informiert, was bedeutete, daß er entweder an diesem Morgen noch keine Zeitung aufgeschlagen hatte oder nicht wußte, daß der Liebhaber seiner Frau und der Tote identisch waren. Er schaute seine Schuhe an, sie waren schmutzig. Sie waren immer schmutzig, seit er in Vallvidrera wohnte. Ein Grund mehr also, Bromuro aufzusuchen und die Schuhe auf seinen Schuhputzkasten zu stellen. «Was weißt du über dieses Verbrechen in der Calle Aribau?» «Die Rache eines gehörnten Ehemanns. Er war gerade dabei, die Alte zu bumsen, und aus war es mit dem Keuchen und was sonst dazugehört.» «Finde heraus, in welche Richtung die Polizei ermittelt.» «Hör mal, meinst du, die seien dort noch so offenherzig zu mir wie früher? Heute haben wir eine demokratische Polizei, und man merkt, daß faschistische Informanten wie ich nicht gefragt sind.» «Hier, nimm und erkundige dich!» «Tausend Steine? Die hast du nicht umsonst ausgegeben.»
Bromuro ruft ihn am späten Nachmittag an. Er hat dem, was in der Zeitung stand, nichts hinzuzufügen. Die Polizei sucht die große, blonde, braungebrannte Frau. Aber es ist schwierig, denn das Sexualleben von Señor Álvarez war ebenso intensiv wie weitverzweigt. «Er war einer von der Sorte, die nicht zu Bett gehen, ohne ihren Schwanz in etwas Warmes zu stecken. So sind die, Pepe! Nicht wie ich, der ihn als Heiligtum betrachtet.» «Bleib dran an der Sache, Bromuro!» «Habe ich dich je schon einmal enttäuscht, Pepe?» Das Treffen mit Señor Martí verspricht eine erstklassige Komödie zu werden. «Verbrechen machen mir Appetit.» Er geht zur Boquería auf der Suche nach Brot, Liebe und Phanta-
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sie. Mit Expertenaugen prüft er die wenigen Verkaufsstände, wo es frischen Fisch aus Rosas gibt. Er kauft hier und dort etwas. Schließlich hat er alle Hände voll mit Tüten und beeilt sich, die schweren Sachen im Auto zu verstauen. Während er die Tibidabo-Auffahrt zu seinem Refugium in Vallvidrera hinauffährt, beäugt er den Umschlag mißtrauisch, der den Bericht enthält. Vielleicht würde er mehr wert sein als hunderttausend Peseten. Er erinnert sich an Fragmente dessen, was er durch das Fenster gesehen hat. Bilder, die ihn auch später in der Küche nicht loslassen, während er den Fisch säubert und Charo anruft, um sie für die frühen Morgenstunden zum Essen einzuladen. «Dort oben? Du weißt doch, wie lange ich arbeite!» «Hast du heute viele Klienten?» «Den jetzigen und noch zwei.» Der ‹Jetzige› ist ein älterer Herr. Seinen nackten Körper bedecken die Laken, die Brille seine Augen. «Gut, gut, ich komme hoch. Aber warte nicht auf mich! Wenn ich komme, bin ich da.» Charo legt auf. Sie denkt nach, seufzt zwischen Verdruß und Schicksalsergebenheit und wendet sich ihrem Kunden zu, der sie schüchtern anlächelt. «Na los, mein Lieber, erzähl mir, wie schlimm deine Frau mit dir umgeht!» «Schlimm ist gar kein Ausdruck für diese Bestie!» Er ist ein kleiner, kräftiger Mann mit lebhaftem Blick und geschwätzigen Lippen, einer von denen, die mit der Form des Perfektionisten und dem Inhalt eines löchrigen Kruges Liebe machen. «Neulich kamen die Kinder zum Essen, meine Tochter und ihr Mann, und ich hatte ein exquisites Abendessen zubereitet. Ich stelle mich gern an den Herd und mache leckere Sachen. An jenem Abend gab es Avocadosalat mit Kaviar und Spinat mit Pfahlmuscheln und Kichererbsen. Zwei Gerichte, die ich mir selbst ausgedacht habe, ganz allein, obwohl mich zu dem zweiten das Rezept eines Restaurants in Santander angeregt hat. Also gut, das Essen beginnt, alle sind zufrieden, die Kinder erzählen ihre Geschichten, mein Schwiegersohn, ein herzensguter Mensch, sagt mir, mein Essen sei köst-
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lich, und da kommt meine Frau und meint: ‹Ich finde es unmöglich, diese Kombination von Kichererbsen mit Meeresfrüchten ist zum Kotzen, und wenn du Avocados mit Kaviar füllst, kannst du den Kaviar gleich wegwerfen … › Ich versuche, ihr vernünftig zu erklären, daß sie sich irrt und sich Geschmack und Konsistenz aufs Beste ergänzen. Mein Schwiegersohn stimmt mir zu. Meine Tochter hält vorsichtig den Mund, was bleibt der Ärmsten auch sonst übrig. Und jetzt, anstatt wie ein zivilisierter Mensch mit mir zu reden, beginnt mich die alte Bestie anzuschreien. Sie nennt mich einen Hungerleider, eine verkrachte Existenz, genau wie meine Eltern, und behauptet, ich würde nie auf einen grünen Zweig kommen, auch wenn meine Geschäfte jetzt besser gingen … Das kann ich nicht mehr auf mir sitzen lassen, ich stehe vom Tisch auf und gehe hinaus, bevor ich mich vergesse. Aber glaubst du, sie würde auf hören? Nein, nein, sie hackt weiter auf meinen Eltern herum – mögen sie in Frieden ruhen –, und ihre Stimme verfolgt mich über den Flur bis zur Klotür, wo ich mich einschließe, aber selbst dort beschimpft sie mich immer weiter … Ich lasse eine halbe Stunde vergehen, und wie ich herauskomme, sind die Kinder schon weg. Sie sitzt vor dem Fernseher, frisch und munter, als sei nichts geschehen, und als sie mich kommen sieht, total fertig und zu jeder Grundsatzdiskussion bereit, ist alles, was ihr einfällt, die Frage, ob wir dieses Wochenende nach Andorra fahren oder nicht, sie wolle sich einige Sachen von Cacharel kaufen, es sei dort billiger.» Mittlerweile hat Carvalho das Gericht zum Kochen gebracht. Er gießt sich ein Glas ein, geht ins Wohnzimmer und nimmt sich ein Buch aus einem großen Bücherregal mit Lücken, in die die Bücher hineingefallen sind wie Dominosteine. Er nimmt das ‹Lexikon der Lebensmittel› heraus, ‹Vitamine, Kalorien, Zubereitung, Konservierung›. Er schlägt es auf und liest mit lauter Stimme: «Schalentiere. Diätetische Qualifikation: nicht empfehlenswert. Wer soll sie nicht essen? Kinder unter zehn bis zwölf Jahren, alte Menschen, Menschen mit Übergewicht, Arthritis, Nierenentzündung, Rheuma, Gicht, Arteriosklerose, Allergien, gastro-intestinalen Störungen aller Art und Leber-Gallen-Beschwerden (vor allem Hepatitis, Gallen- und Nierensteinen), wegen des großen Gehaltes an
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Proteinen und Cholesterol, was dazu führt, daß sie von diesen Patienten schlecht vertragen werden. Hinzu kommt, daß sie den Organismus übersäuern.» «Du hast es verdient.» Er zerreißt das Buch und legt es auf den Kaminrost, schichtet Holz darüber und zündet alles an. Mit dem Glas in der Hand legt er sich aufs Sofa. Es sieht aus, als zeichne der Feuerschein auf seinem Gesicht Licht und Schatten seiner Gedanken nach. Er schläft ein. Charo weckt ihn mit einem Kuß auf die Lippen. «Was machst du hier?» «Du hast mich doch zum Essen eingeladen, oder nicht?» Carvalho reibt sich mit beiden Händen das Gesicht. Er sieht Charo an. Ihre Blicke begegnen sich. «Wünscht der Herr etwas als Aperitif?» «Er wünscht.» Charo zieht ihren Angorapulli aus. Als sie diese zweite Haut hochzieht, kommen ihre prachtvollen Brüste zum Vorschein, wie zwei junge Tiere, die man aus einer allzu langen Gefangenschaft befreit. «Willst du nicht zuerst etwas essen?» «Erzähl mir jetzt nichts von Essen! Ich bin voll, voll bis obenhin.» «Hast du denn schon gegessen?» «Nein, aber heute hatte ich einen, der unaufhörlich vom Kochen geredet hat. Er redete über alles mögliche, aber meistens darüber, was er gerade kocht. Hör mal, was hältst du von einem Menü mit …? Hier habe ich es aufgeschrieben: Avocado mit Kaviar und Pfahlmuscheln mit Kichererbsen und Spinat.» «Vielversprechend.» «Das findest du vielversprechend? Also ich finde es zum Kotzen!»
Die Verbindlichkeit, die Señor Marcel Martí an den Tag legte, hatte Carvalho seit seiner CIA-Zeit in den USA nicht mehr erlebt. Er kultivierte die Leutseligkeit eines Mannes, der für den Sitz des Bür-
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germeisters von New York kandidiert, ohne Zweifel die komplizierteste und hartnäckigste Leutseligkeit, die der hartgesottensten und zähesten Politiker des Universums. Er lächelte und schüttelte einem die Hand, als sei man ein Landsmann, dem der Sieg über die Japaner in der Schlacht von Guadalcanal zu verdanken war, und man könnte meinen, er besitze ein Geheimspray, mit dem er seine Augen, sein Gebiß und seine Worte zum Strahlen brachte. Er erzielte damit das strahlende Gesicht eines Tieres von ansteckender Begeisterung. Jegliche Übertreibung störte Carvalho, und es war übertrieben, daß dieser Ehemann in diesem Moment diese Miene aufsetzte, als er erfahren sollte, daß seine Frau ihn betrog und ihn selbst damit zu einer Gestalt machte, die in Witzen und frivolen Komödien die undankbarste Rolle spielt. Die lächelnden Lippen von Señor Martí öffneten sich, um ihm eine Lawine von Vorschlägen zu machen. Aperitifs, Longdrinks, schnelle Drinks, Frühstück … «Vielleicht haben Sie noch nicht gefrühstückt?» «Ich habe schon ein Stückchen gepökelten Thunfisch mit einem Tomatenweißbrot zu mir genommen.» Señor Martí bezweifelt offensichtlich, daß etwas Derartiges eßbar sei, aber sein bezauberndes Lächeln vermindert sich dadurch keineswegs. «Ich kann Ihnen versichern, daß Ihre Frau sich mit ihrem Freund in einer Wohnung trifft, die auf den Namen einer Cousine von ihm gemietet wurde.» «Gut. Ich nehme an, eine Enthüllung dieser Art gehört zu den Risiken des ehelichen Lebens.» «Wenn doch alle Klienten so wären wie Sie! Das nennt man die Dinge so zu nehmen, wie sie sind.» «Das konnte ich schon immer. Nennen Sie mir Ihr Honorar, und ich werde Ihren Wünschen nachkommen.» «Der Name des Liebhabers interessiert Sie nicht?» «Nein.» «Sehr zivilisiert. Ich erinnere mich nur an einen einzigen derartigen Fall. Normalerweise herrscht große Neugier, den Namen zu erfahren und ihn sogar kennenzulernen, natürlich, um Vergleiche zu ziehen.»
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«Ich bin nicht im mindesten neugierig.» «Trotzdem wird es Ihnen nicht erspart bleiben, es zu erfahren …» Carvalho gibt ihm eine Zeitung, die auf der Seite ‹Die Dinge des Lebens› aufgeschlagen ist. «Ich verstehe nicht.» «Lesen Sie dort, wo vom Fund einer Leiche berichtet wird. Er war allein in einer Wohnung im ‹Ensanche› – von hinten erschossen, genau ins Herz. Es gibt eine bedauerliche Übereinstimmung zwischen dem Toten und dem Liebhaber Ihrer Frau.» «Gott im Himmel!» Es ist Jahre her, seit er diesen Ausdruck zum letztenmal gehört hat, wahrscheinlich in einer Komödie von Pemán, die als Hörspiel übertragen wurde. Marcel Martí, Chemie-Ingenieur, Tweed-Jackett aus London, Haarschnitt von Eranzo, italienische Mokassins. Er achtet peinlich darauf, spanisch zu sprechen, als sei er kein Katalane. «Jetzt verstehe ich. Ich fand meine Frau sehr nervös, reizbar. Ich dachte, sie hätte herausgefunden, daß sie überwacht wurde. Wie ich sehe, war es ein sehr interessanter Liebhaber.» Mit einem Lächeln suchte er bei Carvalho Zustimmung für seine feine Ironie. «Eine Hühnerfarm ist nichts Unanständiges.» «Viel schlimmer wäre eine mit Schweinen.» Der Ingenieur lacht verhalten, als huste er vor Freude. «Die Polizei sucht nach der ständigen Begleiterin des Züchters. Die Nachbarn haben geredet. Eine große, schlanke Frau, stets braungebrannt, als würde sie Ski laufen.» «Sie fährt oft Ski, außerdem waren wir in den Weihnachtsferien in Sans-Souci, einem paradiesischen Ort bei Eight Rivers, an der Nordküste von Jamaika.» «Es wird nicht lange dauern, bis sie sie finden. Was wollen Sie unternehmen?» «Ich werde sie beschützen. Sie ist die Mutter meiner Kinder.» Er sprach, als riefe er ‹Vorteil!› vom Hochsitz eines Tennisschiedsrichters herab. «Ich will keine Kosten scheuen, Marta muß gerettet werden!» Aber vor ihrem Mann, nicht vor der Polizei. Nur für hundert
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Pesetas Trauer in den Augen dieser Gestalt hätten genügt, daß Carvalho wieder einmal den Anteil an menschlicher Komödie abgeschätzt hätte, der in dem widersprüchlichen Verhalten von Männern und Frauen vorzukommen pflegt. Aber Señor Martí hatte den Vorschlag gemacht, seine Frau zu retten, als gehe es um die Erhaltung eines verfallenen Monuments oder die Rettung eines sumpfigen Küstenstriches vor städtebaulicher Verschandelung. «Sie schlagen wohl vor, den Fall weiter zu bearbeiten?» «Ich verlängere meinen Auftrag und bitte Sie darum.» «Bis jetzt schulden Sie mir hunderttausend Pesetas.» Der Scheck schien aus dem Ärmel des verständnisvollen Ehemannes hervorzukommen. «Ich bitte Sie, machen Sie weiter und beschützen Sie Marta! Vor allem soll sie nicht bemerken, daß ich dahinterstecke.» «Ich bin Künstler! Keine Sorge.»
Ich werde sie beschatten, bis sie festgenommen wird. Dann wird mich Señor Martí darum bitten, ihr das Alibi zu verschaffen. Unmöglich. Diese Señora kann nicht die Mörderin sein, weil ich die Szene miterlebt habe und sie ihn nicht umbringen konnte. Warum habe ich der Polizei nicht davon erzählt, was ich sah? Ich hielt das Ganze für einen Ohnmachtsanfall, und normalerweise lese ich keine Zeitungen. Er stellt sich das Gesicht von Kommissar Contreras vor, wenn er ihn wie einen Privatdetektiv sprechen hören würde, der Lust hat, seine Zulassung beim Innenministerium zu verlieren. Man bewegt sich nie, man wird immer bewegt. Ein philosophisches Prinzip, das ihm zumindest geholfen hat, sich selbst zu verstehen, und zu dem er Zuflucht nimmt, als er am nächsten Tag zwanzig Meter vom Haus der Martís entfernt auf Posten steht und darauf wartet, daß die treulose Glucke auftaucht und ihre Küken zu einer Schule bringt, wo man sie erzieht, damit sie es später einmal schaffen, wie ihr Vater und ihre Mutter zu werden. Frauen, die ihre Kinder zur Schule bringen, sind auf dem Hinweg nicht dieselben wie auf dem Rückweg. Warten wir mal die Rückkehr ab!
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Carvalho folgt dem Wagen der Frau, der als Schulbus dient. Die beiden älteren Söhne bringt sie zu einer Schule für dicke Geldbeutel an einer der ersten pinienbestandenen Bergstraßen, im Rücken der Stadt, und die beiden kleineren zu einer noch teureren Kindertagesstätte zwischen Villen mit high standard, wie es die Werbeplakate ausdrücken. Dann geht Marta, verheiratete Martí, Blumen kaufen und wartet im Auto, bis ein Supermarkt aufmacht. Carvalho setzt die Verfolgung mit einem quietschenden Einkaufswagen fort, die Regale als Deckung benutzend. Mechanisch, lustlos packt die Frau ihre Sachen ein, ohne die entfernteste Ähnlichkeit mit den fröhlich-interessierten Heldinnen der Werbespots, obwohl sie ihnen sehr ähnlich sieht, groß, das Blond gut eingefärbt, sonnenvergoldete Haut, Formen mit etwas welkem Appeal, da ihre vier Geburten nicht ganz kompensiert werden können durch zwei Massagen pro Woche, dazu zwei Unterwassermassagen, Gymnastik und jeden Mittwoch auf dem Platz des Barcino-Clubs eine Stunde Tennis. Carvalho sieht ihr unverwandt in die Augen, er steht auf der anderen Seite einer Palisade von Hundehackfleisch in Dosen. «Verträgt Ihr Hund dieses Futter gut?» «Ja, aber zwischendurch füttere ich ihm frisches Hack oder Leber.» Ihre Stimme ist so, wie sie wahrscheinlich auch schreibt, wie eine fleißige Schülerin, unsicher bei Antworten, wo sie etwas definieren oder entscheiden mußte. «Mein Hund frißt alles, was man ihm vorwirft. Es ist ein Wolfshund.» «Meiner ist ein Bretone, das ist etwas anderes.» Beim Obststand begegnen sie sich wieder. «Sind die Grapefruits für den Bretonen?» Sie bricht in gutgelauntes Gelächter aus. «Nein, für meinen Mann. Er achtet sehr auf seine Linie und will jeden Morgen einen Pampelmusensaft haben.» «Pampelmusen braucht man unbedingt zu Obstsalaten.» Sie schließt den Mund, um den Speichel zurückzuhalten, den dieses gastronomische Angebot zum Fließen gebracht hat. Sie nickt zustimmend. «Ich war tatsächlich vor kurzem in einem tropischen Land. Sie
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machen dort tolle Sachen aus Früchten, die wir hier kaum verwenden. Die rosa Pampelmuse zum Beispiel, mit Langostinos, sehr lekker!» «Erzählen Sie mir bloß nicht, daß Sie gerne kochen!» «Ich liebe die einfache Küche.» Carvalho ist stark versucht, ihr eine ehrliche Antwort zu geben, statt dessen nickt er nur und ist bereit, sich für die Verteidigung der ‹einfachen Küche› umbringen zu lassen. «Es geht nichts über ein paar harte Eier.» Das ist zuviel. Carvalho steckt den Kommentar ein, wie er einen Schlag in den Magen eingesteckt hätte. Sie interpretiert den Ernst im Gesicht des Mannes als Aufforderung, fortzufahren, und stürzt sich in eine wortreiche Dissertation über ihre einfachen kulinarischen Künste: die Sauce Béchamel gelingt ihr immer sehr gut … Eine halbe Stunde später setzt sie das Gespräch vor einem asketischen Frühstück fort, das der gegenwärtigen Etappe der ökonomischen Krise und der weltweiten Energieknappheit entspricht. Vor seiner Neugier breitet sie ihre Küche und ihr Familienleben aus. Allein? Ja, manchmal fühlt sie sich wohl etwas allein, aber sie hat nicht allzuviel Zeit dazu – die Kinder, der Haushalt, die gesellschaftlichen Verpflichtungen … «Denken Sie viel darüber nach, was Sie tun, Señor?» «Carvalho, Pepe Carvalho. Ich komme nicht umhin. Meine Arbeit ist in gewisser Weise intellektuell. Ich muß laufend darüber nachdenken, was ich getan habe, überlegen, meditieren, mir Dinge klarmachen.» «Ein Intellektueller? Wie interessant!» «Nein, verstehen Sie mich nicht falsch! Ich bin keiner von diesen Eierköpfen, die sich hinsetzen und eine Idee in Buchstaben oder Musik ausdrücken. Ich bin ein Mann der Tat. Ich tue Dinge. Aber immer muß ich darüber nachdenken, was ich tue.» «Sehr interessant! Ich tue nichts. Oder doch, ich tue Dinge einfach so. Ich bringe die Kinder zur Schule, zum Beispiel. Aber ich denke nie darüber nach. Worüber sollte ich denn dabei nachdenken?» Das ist eine Frage, auf die Carvalho keine Antwort einfällt.
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«Ich sage dir, Enric, sie ist eine der merkwürdigsten Frauen, die mir je begegnet ist. Wahrscheinlich würde sie bei einem Intelligenztest nur sehr niedrige Werte erzielen. Aber sie ist nicht dumm, sie ist eine Autistin, die spricht, eine dieser Personen, die völlig in ihrer eigenen Welt leben, aber sie kommt ab und zu heraus, sagt Dinge und spürt die Neugier, zu erfahren, was die anderen denken, und warum sie selbst nicht denkt. Ich hab die klassischen Heuchlerinnen erlebt, diese Damen, die so tun, als seien sie der Realität entrückt. Sie versuchen, sich interessant zu machen oder zu kaschieren, daß sie keine Ahnung haben, indem sie zu verstehen geben, daß alles an ihnen abgleitet. Aber das ist diesmal nicht der Fall. Sie geht in der Realität ein und aus. Das ist es, Enric. Sie geht aus und ein in der Realität, und die eine Seite des Spiegels ist genauso normal wie die andere Seite. Sie tut, was man normalerweise von einer jungen Frau erwartet, die verheiratet ist, Kinder hat, keinem Beruf nachgeht und kein eigenes Einkommen hat, aber in wohlhabenden Verhältnissen lebt. Aber sie tut es nicht auf normale Weise. Es genügt, sie am Steuer ihres Wagens zu sehen. Sie macht den Eindruck, als interessierten sie weder die Kinder, noch wohin sie sie bringt, noch das Auto … Eine üble Sache, daß man mich engagiert hat, um aufzupassen, damit dieses Mädchen sich nicht im Dschungel verirrt. Ich interessiere mich allmählich viel zu sehr für sie.» Fuster lauscht dem Monolog und reibt dabei Trüffel aus Villores in der Absicht, einer Sauce de Foie das richtige Aroma zu verleihen, mit der er einige Ochsenfilets überziehen will. «Nein, das stimmt nicht, der Mann ist auch kein normaler Ehemann. Zuerst dachte ich, er sei ein Liberaler. Aber jetzt denke ich das nicht mehr. Ich glaube, die Pflichten eines Ehemannes interessieren ihn gar nicht, aber er muß sie aus Rücksicht darauf erfüllen, was die anderen sagen würden, ich, seine Frau, er selbst. Es ist eine Ehe von leidenschaftlichen Blasés, oder vielleicht sind sie auch nur fabelhafte Heuchler.» Fuster erklärt, man müsse die Filets in der Pfanne in Butter schwenken, ganz kurz, sie dann ruhen lassen, damit sie das Wasser verlieren, und dieses Wasser nutzen, um den Fond in der Pfanne zu aktivieren und zu beginnen, die Sauce anzurühren. Man müsse sie
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unbedingt gut bedeckt halten, mit dem Stückchen Leber obenauf und in der heißen Sauce, damit sie warm bleiben. «Ich habe das Gefühl, daß ich diese Geschichte immer noch aus der Entfernung beobachte, von jenem Hotelfenster aus, dazwischen liegt eine Straße und andere, weniger materielle Distanzen, als würde ich nur das zu sehen kriegen, was die Gestalten mich sehen lassen. Normalerweise ist es egal, aber ich habe einen konkreten Auftrag, und in diesem Fall spiele ich wieder Leibwächter; es ist, als sei ich wieder der Leibwächter einer unreifen Frau …» «Diesen Posten ‹Rioja› von der Winzergenossenschaft muß man ruhen lassen, er ist unterwegs zu sehr geschüttelt worden, der Geschmack des Weines tanzt auf dem Gaumen, er hat noch keine Struktur, außerdem ist er zu kalt. Ein Stündchen länger hier im Zimmer, dann hat er sich herrlich gesetzt. Na schön, jetzt nach dem Essen – ich gratuliere dir zu deinem Beitrag, dieser Flan von Schokolade und Orange mit dem bitteren Orangensirup und dem Cointreau – jetzt kann ich dir sagen, was ich denke.» «Ich weiß gar nicht, ob es mich interessiert.» «Also, weshalb hast du mich dann die ganze Zeit genervt, als ich das Abendessen kochte?» «Ich habe laut nachgedacht.» «Ich habe den Eindruck, daß du nicht Herr der Lage bist und dich etwas besser informieren solltest. Zunächst, wer ist dein Klient, wer ist seine Frau, wie hat sie diesen Typ kennengelernt mit dem Hühnerfutter oder den Hähnchen, ist ja egal. Um die Charakterzüge brauchst du dir nicht so viele Gedanken zu machen. Es gibt Leute, deren Äußeres überhaupt nicht mit ihrem Wesen und der Situation übereinstimmt, und das gilt vor allem für die etwas halbseidenen Neureichen. Sie haben irgendwann einmal gelernt, daß sie ihre Gefühle nicht zeigen dürfen, und wenn du ihnen einen Fußtritt in den Magen gibst, fragen sie dich mit größter Liebenswürdigkeit, wie lange es bis zur Ankunft in Brüssel noch dauert.» «Wie nennt sich dieses Filet?» «Filet mit Paté.» «Der Kuchen mit den Pilzen als Vorspeise hat keine Überraschung geboten, weder im Geschmack noch in der Konsistenz.»
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«Das war abzusehen, denn ich mußte ihn mit Kardenpilzen von einer Farm zubereiten, aber wenn ich ihn mit einer Mischung aus Waldpilzen gemacht hätte, hättest du mit den Ohren gewackelt!» «Ja, ja, was wäre gewesen, wenn …» «Habe ich irgend etwas gesagt, was dich beleidigt hat, daß du mein Essen so niedermachst?» «Absolut nicht. Ich lausche dir mit größter Aufmerksamkeit. Du bist der Meinung, ich müßte herausfinden, worauf es ankommt. Falls es mich interessiert.» «Wieso sollte es dich denn nicht interessieren? Du hast doch den ganzen Abend nichts anderes getan, als zu monologisieren!» «Vielleicht weil es um eine Blondine geht. Blondinen sind immer anders.»
Der ‹Forschungsdienst› der Banco Continental hatte vor einigen Jahren seine Forschungen eingestellt, als seine prominenten Mitglieder, Fachleute für Ökonomie und Politik, beschlossen hatten, die Demokratie sei das geeignete Territorium für ihr Streben, Geschichte zu machen. «Jetzt machen sie selbst Geschichte, statt sie zu erforschen, und bezahlen nicht einmal etwas dafür, damit wir sie erforschen.» Der Lizentiat Parra, früher wegen seines Hanges zum Guerillakrieg bekannt als Capitán Parra, zu der Zeit, als die Che GuevaraPosters auf jedem ‹fortschrittlichen› Klo in Barcelona hingen, empfing Carvalho in seiner Sprechstunde mit gespieltem Ärger. Danach lauschte er fasziniert der Erzählung des Freundes, dessen Beruf der Guerilla näherstand als der ‹Servicio de Estudios› der Banco Continental. «Und was willst du heute?» «Daten. Martí Ferrusola, Marcel, und Sirvent Coderch, Marta.» «Ich habe ein Archiv im Kopf, und unter den zwanzig ersten Verwaltungsräten des Landes tauchen diese Namen nicht auf.» «Mal sehen, ob sie bei den nächsten fünfzig dabei sind.» «Glaubst du denn, die Dokumentationsabteilung dieser Bank stehe dem Privatdetektiv Pepe Carvalho zur Verfügung?»
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«Ich lade dich zum Abendessen ein.» «Kochst du selbst?» Parra streicht sich über den Bauch, eine drohende Wunde ankündigend. «Ich werde etwas Gesundes für dich kochen, mit Thunfisch gefüllte Auberginen.» «Thunfisch ist nicht vegetarisch.» «Thunfisch ist beinahe vegetarisch.» «Außerdem ist es blauer Fisch.» «Blauer Fisch ist in Ordnung, was das Cholesterol angeht, aber ich fülle sie für dich mit weißfleischigem Fisch.» «Es kann sein, daß es eine Zeitlang dauert. Ich sag es noch einmal, diese Leute sind nicht mal ihrem eigenen Vater bekannt. Was ist damals bei dem Fall mit dem Manager rausgekommen?» «Ein Freund hatte ihn umgebracht.» «Scheiße! Und dann kommst du zu mir und willst was im Namen der Freundschaft!» «Ein schlechter Freund natürlich.» «Und das ist alles?» «Es war eine delikate Sache. Wenn ich rede, kann es mich das Leben kosten, und ebenso dem, der mir zuhört.» «Dann laß es!» Pedro Parra betrachtet Carvalho wie eine Zeitbombe mit verzögerter Explosion. «Ich kann es dir nicht abschlagen.» Pedro Parra scheint selbst überrascht und spricht, als denke er laut nach. «Das Seltsame dabei ist, daß ich ein hartgesottener Typ bin, außer bei dir. Warum? Ich bin dir nichts schuldig. Ab und zu wollen die Ex-Genossen etwas von mir: Geld für eine Kampagne, eine Bürgschaft, einen Kontakt, und wenn ich kann, helfe ich ihnen, vielleicht aus schlechtem Gewissen, aber dir gegenüber brauche ich kein schlechtes Gewissen zu haben. Deine Art, deinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist, sagen wir mal, nicht gerade ethisch.» «Was findest du daran unethisch, über das Wohlverhalten der anderen zu wachen, dazu beizutragen, daß die Leute anständig sind und nicht vom rechten Weg abkommen? Ich glaube, ich versorge
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dich mit einer Portion Abenteuer. Wenn man das ganze Leben lang über Büchern sitzt wie du, muß man sich fürchterlich langweilen.» «Ich finde unsere Ex-Genossen interessanter, die Sozialdemokraten geworden sind oder noch weiter rechts davon stehen und eine politische Karriere vor sich haben. Es fasziniert mich zu sehen, daß sie aus Plastilin waren, aus dieser Knetmasse, aus der die Kinder Figürchen formen.» «Ich bin der einzige von uns allen, der die Rückseite des Mondes wirklich gesehen hat. Für euch alle ist die Gesellschaft ein abstraktes Konzept oder eine Hypothese. Ich schnüff le jeden Tag am Hosenschlitz der Gesellschaft. Ich kenne jeden Geruch von allen gesellschaftlichen Hosenschlitzen.» «Bilde dir bloß nicht so viel ein! Felix Aldorain, der Typ, der alles über Literatur wußte und immer so schüchtern war, ist aktiver Homosexueller geworden und gehört mit seinen fünfzig Jahren zum sexuellen Lumpenproletariat. Er ist wirklich durch den Spiegel gegangen. Du packst die Scheiße mit Gummihandschuhen an.» Pedro ärgert sich über seine Nachgiebigkeit und bleibt so lange aggressiv, wie seine Lust dauert, sich für seine Schwäche selbst zu bestrafen. Das Gespräch endet mit einem Kompromiß. «Aber dann mußt du mir die Geschichte ganz genau erzählen, ohne ein Detail auszulassen!» «Nach meinem Klienten bist du der zweite oder der dritte, der alles erfahren wird.»
Genau so, wie sie an einem gewissen Punkt des Gesprächs begonnen hatten, sich zu duzen, ohne daß sich einer der beiden darüber gewundert hätte, begannen sie auch, sich zu Stadtrundgängen zu treffen, bei denen Carvalho die Rolle des Führers spielte, der Barcelona einer Fremden zeigte, und sie ihm dafür von ihrem Leben auf dem Mars berichtete und schilderte, wie das hier auf sie wirkte. Sie hörte mit einem erfreuten Lächeln zu wie ein offenes, unbeschriebenes Buch. Aber Carvalho bezweifelte, daß irgend etwas auf den Seiten stehenbleiben würde. «Ja, ich erlebe viele tote Stunden. Ich hasse Bücher, das Fernsehen
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langweilt mich. Leute? Vielleicht. Die Kinder? Ein paar Fremde. Ja, ich weiß schon, man kann mich als Rabenmutter bezeichnen, aber sie sind wie Fremde.» Carvalho zeigte ihr den Fleck, den angeblich das blutende Herz eines mittelalterlichen Ritters auf der Plaza del Rey hinterlassen hat, die Stockfischstückchen in Biertunke, die man auf den Rondas verzehren kann, das Billard von Monforte, das Mysterium einer romanischen Kapelle, die zwischen den Häusern der Plaza del Padró beinahe erstickt, und den Brunnen gegenüber, mit der Wanderstatue der Heiligen Eulalia, die die Roten abmontiert und die Franquisten wieder aufgestellt haben. Marta spielte die Rolle des jungen Buddha, der die kontaminierte Stadt entdeckte, manchmal nahm sie Carvalhos Arm oder suchte seinen Blick, aus einem Bedürfnis nach Sicherheit oder Kommunikation. «Glaub bloß nicht, daß ich eins von diesen Dummchen bin, die nur für Haushalt, Mann und Kinder leben!» «Du führst ein Doppelleben.» «Manchmal. Das ist mein Ernst. Es ist wie ein Zwang. Eines Abends waren wir bei Freunden zum Abendessen eingeladen. Drei oder vier Ehepaare, Arbeitskollegen von Marcel. Plötzlich verstand ich nichts mehr von dem, was sie sprachen. Bla bla bla. Dann wurden mir sogar die Gesichter fremd. Ich verließ die Runde und ging durch unbekannte Straßen. Stell dir vor, eine Frau allein, zu Fuß, in der Nacht! Ich stieg in ein Auto ein, aus dem mich ein Mann angesprochen hatte. Den Rest kannst du dir denken.» «Ging es dir noch öfter so?» «Verschiedentlich. Mein Mann schickte mich zum Psychiater, zu einem mit Pillen und zu einem mit Sofa.» «Was sagten sie dir?» «Sie brachten mich dazu, zuzugeben, daß ich eine unreife Persönlichkeit bin.» «Das ist bei manchem anderen und bei vielen Dummköpfen so.» «Du machst dich über alles lustig. Ich wäre gerne so wie du, so selbstsicher.» Gerade, als Carvalho dachte, du sollst die Frau deines Klienten nicht mißbrauchen, sagte sie, während sie die durch ein leichtes
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Beige angedeuteten, ausgezupften Brauen hob: «Willst du, daß wir miteinander schlafen?» «Hier?» Als befürchte er das Schlimmste, brachte der Kellner ihnen das Wechselgeld, und Carvalho nahm Marta mit zu der Nacktheit und dem hartnäckigen Eifer der Geschlechter, die einander erkunden, während der Abschied unmittelbar bevorsteht. Er stellte sie sich nackt vor, als sie neben ihm auf dem Beifahrersitz saß und sie zu seinem Haus in Vallvidrera fuhren, das so zu einem Zufluchtsort für sexuelle Notfälle am späten Vormittag wurde. Sie hatte sich geweigert, in ein Stundenhotel zu gehen, aber ohne Entrüstung, eher gelangweilt, als Carvalho, um sie zu erregen, ihr ein Zimmer mit Spiegel über dem Bett, eine runde Doppelbadewanne und Champagner versprochen hatte. «Es ist so theatralisch, findest du nicht?» Sie war, wie er sie sich vorgestellt hatte. Ihr Körper war voller unfertiger Vorsprünge, sie hätte lange Muskeln, Brüste, die in einer kleinen Hand Platz fanden, hohe Hüften und Oberschenkel, die sich teilten, um ein kleines Fleckchen rötlich-blondes Fell zu zeigen, das bei der leisesten Berührung wie elektrisiert feucht wurde. Sie liebte mit offenem Mund und geschlossenen Augen, wie Kinder schlafen, wenn sie Würmer haben.
‹Hühner Gebr. Álvarez› hatte auf dem Markt den Ruf des Überflusses. Eins von fünf Hähnchen, die in Katalonien verzehrt wurden, wurde bei ‹Hühner Álvarez› hingerichtet, gerupft und verpackt. Annähernd ein Drittel der Proteine, die die Bevölkerung Kataloniens zu einer der produktivsten der Welt machten – obwohl sie immer noch beträchtlich hinter Japan und Westdeutschland herhinkten –, stammten aus dieser Tote-Hühner-Fabrik, die die Gebrüder Álvarez aus dem Nichts geschaffen hatten. Ihre Geschäftsphilosophie wurde in Faltblättern erläutert, die auf dem Mitteltisch im Empfangszimmer auslagen, in das Carvalho von einer Dame mit Hühnergesicht geführt wurde. ‹Essen Sie gesunde Hähnchen, dann bleiben Sie gesund› lautete ein Kernsatz, der an zwei oder drei
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strategischen Punkten des Weges zwischen der pharaonisch wirkenden Tür und dem ‹Star Wars›-Büro angebracht war. Vielleicht war es ein Vorurteil, genährt von dem Widerwillen gegen Proteine vom Fließband, jedenfalls fand Carvalho, daß das alles nach Hühnerleiter stank. Das Leben ist wie eine Hühnerleiter, kurz und beschissen, hatte ihm seine Großmutter mütterlicherseits immer wieder erklärt. Er mußte eine halbe Stunde warten, bis der Geschäftsführer da war und er eintreten durfte. Die Vorsehung hatte ihn mit dem Namen Álvarez ausgestattet, genau wie seinen Bruder. Dieses kolossale genetische Vermächtnis hatte er im Rücken, dazu ein Francobild mit Widmung an der Wand, das aussah, als hätte sich der Caudillo während einer Ruhepause zwischen zwei Bürgerkriegen fotografieren lassen. Pepe Álvarez, Bruder eines Toten, Bruder des Mordopfers, hörte mit einem Ohr den telefonischen Beileidserklärungen zu, mit dem andern dem Getriebe des Büros, das nach Hühnerfutter stank, ließ aber den mißmutigen Carvalho nicht aus den Augen, der seine Hände und Fingernägel im Gegenlicht betrachtete, als gehe es darum, herauszufinden, wie zum Teufel sie hier gelandet waren. «So geht das den ganzen Tag. Mein Bruder war überall beliebt.» Er war ein starker, gedrungener Mann mit zusammengewachsenen Brauen und Händen wie Grabschaufeln. «Wir haben mit fünfzig Hähnchen angefangen, und jetzt wird alle fünf Minuten ein Hähnchenschenkel von uns verzehrt. Ich habe mir von einem Jungen aus dem Büro eine Statistik aufstellen lassen, er ist Psychologe oder Soziologe, jedenfalls einer von denen, die den ganzen Tag Statistiken machen.» «Sehr gut, diese Werbekampagne im Radio, die Sie da gestartet haben. Wie war das doch noch?» «Kikeriki Álvarez! Das Hähnchen des Nationalen Wiederaufbaus!» «Sehr gut. War es Ihre Idee oder die Ihres Bruders?» «Es tut mir leid, daß ich das sagen muß, denn der arme Santi ist nicht mehr, aber seit einiger Zeit kam er mit diesen Dingen überhaupt nicht mehr klar.» «Eine Frau?»
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«Das wird gemunkelt, aber bei mir geht das zu einem Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus. Ich will meiner Mutter und meiner Schwägerin nicht noch mehr Kummer bereiten. Sie haben genug durchgemacht.» «Sie beide waren Geschäftspartner?» «Fifty-fifty.» «Seltsam, daß Sie nichts von dem Auftrag wissen, den mir Ihr Bruder gab.» «Er hatte sich in letzter Zeit sehr verändert. Die Weiber oder was auch immer. Wenn Sie wüßten!» «Bitte sprechen Sie ganz offen mit mir, betrachten Sie mich als einen Freund!» «Das ist nicht meine Sache. Ich gebe Ihnen die Adresse des Rechtsanwalts meines Bruders, der soll Ihnen sagen, was zu sagen ist.» «Steht die Sache so ernst?» «Noch viel ernster. Ernster geht’s gar nicht.» «Was glauben Sie, weshalb er umgebracht worden ist?» «Weil sie alles aus ihm herausgeholt hatten, was herauszuholen war. Und jetzt sage ich kein Wort mehr. Mein Bruder hatte nicht gelebt, er war wie ich. Zwei Arbeitstiere, Seite an Seite. Dann hatte er plötzlich Geld in der Tasche und ein Liebchen hier und eins dort, da hat er den Kopf verloren.» «Die Handzettel am Eingang, war das Ihre Idee oder die Ihres Bruders?» «Die meines Bruders. Wenn es ums Lesen und Schreiben ging, davon hatte er viel Ahnung.» «Sehen Sie, deshalb bin ich hierhergekommen. Ihr Bruder gab mir den Auftrag, ein Buch über die Álvarez’ zu schreiben, eine Familienchronik mit allen Schicksalsschlägen und Kämpfen, die zur Errichtung dieses Imperiums geführt haben.» Die Augen des zweiten Álvarez füllten sich mit Tränen. Er versuchte etwas zu sagen, aber der Kloß in seiner Kehle machte auch einfache Äußerungen zu nassen Papierschwalben, die nicht abheben konnten. Schließlich nahm er sich zusammen und flüsterte: «Im Grunde ist er immer ein Álvarez geblieben.»
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«Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Ich hatte zwei- oder dreimal Gelegenheit, ihn zu besuchen, und er erzählte mir begeistert von Ihnen beiden und wieviel Sie Seiner Exzellenz zu verdanken haben.» Dabei deutete er auf das Francobild. «Er hat uns eine Medaille verliehen, für Verdienste um die Arbeit. Das war wirklich ein großer Mann, egal, wie sehr er mit Dreck beworfen wird! Zu seiner Zeit herrschte Ruhe und Sicherheit. Anders als heute. Zu Francos Lebzeiten hätten sie mir meinen Bruder nicht umgebracht.» «Wahrscheinlich. Ich weiß nicht, was tun, Señor Álvarez. Soll ich an dem Buch weiterarbeiten?» Álvarez II. kniff die Augen zusammen. «Wieviel hat Ihnen mein Bruder versprochen?» «Einen Vorschuß und einen bestimmten Prozentsatz vom Erlös. Aber wir waren noch nicht zu konkreten Zahlen gekommen. Ich müßte mit Ihnen allen reden, um mir von den bestehenden Schwierigkeiten ein Bild machen zu können. Dann kann ich eine Kalkulation erstellen und Ihnen einen Kostenvoranschlag machen.» «Vorwärts! Ich sage nur: Vorwärts! Sprechen Sie, mit wem Sie wollen, und dann machen Sie mir einen Kostenvoranschlag in dreifacher Ausfertigung! Bei uns geht immer alles dreifach.»
Geschlagen, aber nicht besiegt, gab ihm Rechtsanwalt Puig Serratosa einen Überblick über die Situation, die Vorschüsse kaum gestattete. «Wir wußten ja nicht mal die Hälfte von dem, was da auf uns zukam. Ein Geschäft, das so blühend aussah, dabei stand ihm das Wasser bis zum Hals.» Im Büro des Anwalts stank es wieder nach Hühnerleiter, und der Jurist hatte seine Vergangenheit und Gegenwart abgesichert mit zwei historisch aufeinanderfolgenden Bildern mit Widmung von Franco und von König Juan Carlos. «Hinzu kam eine Reihe negativer, nicht vorherzusehender Faktoren: erstens verfaulte eine bedeutende Hähnchenlieferung in der
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Dritten Welt in einem afrikanischen Hafen. Zweitens wurde eine Menge Geld investiert in einer Zeit, als der Verstorbene größenwahnsinnige Expansionsprojekte begann. Und drittens wurde in den letzten Monaten vermehrt und beschleunigt Kapital abgezogen. Millionen von Peseten flossen in nicht ganz geklärte Investitionen, die aber in Verbindung stehen mit Überseeprojekten, deren Gesamtvolumen Señor Álvarez mit ins Grab genommen hat. Seine ganz persönliche Art, die Dinge zu handhaben, hat zu dieser Situation geführt.» «Und sein Bruder?» «Unter uns gesagt, ein ausgezeichneter Lagerverwalter, aber mehr nicht.» Der Gestank nach Hühnerleiter erfüllte seine Nase, es stank nach dummer, weicher Scheiße, und der Gaumen schickte verzweifelte Botschaften an das Gehirn, um es an die seltenen Male zu erinnern, wo Carvalho sich dem Verzehr eines Industriehähnchens unterzogen hatte. Es mußte etwas geschehen, um das zu vergessen. «Schade um das Buch, ich hatte mich schon darauf gefreut, es zu schreiben.» «Ich wundere mich über diesen Auftrag. Ich würde sagen, der Verstorbene war nicht gerade ein gebildeter Mensch.» «Sein Bruder hat gerade das Gegenteil behauptet.» «Ich räume Señor Álvarez viele Qualitäten ein, aber wenn er seinen Bruder als Mann der Feder darstellt, so sollte er sich auf die Federn beschränken, die er bei geplatzten Wechseln gelassen hat …» Die verhaltene Erbitterung des Anwalts war vielleicht der Aussicht zuzuschreiben, daß er seine ausstehenden Rechnungen nicht würde eintreiben können. «Die Witwe?» «Sie weint.» Auch die Witwe fand keine Gnade vor den Augen Puig Serratosas. Die Gründe für das Verbrechen gehörten offensichtlich nicht zu seinem Ressort, es war kein Thema, das zu seinem Kompetenzbereich gehörte. Die Gebrüder Álvarez hatten sich während ihres unternehmerischen Aufstiegs keine großen Feinde geschaffen, bis auf
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die Millionen von Hähnchen, die sie gefüttert und im besten aller möglichen Leben mitleidslos liquidiert hatten. Nach diesem Gespräch schlenderte Carvalho durch die Stadt und bemerkte dann, daß er entweder das Meer betrachten oder auf den Montjuic fahren mußte, Gerüche und Umrisse zu suchen, die ihn nicht an Geruch und Form der Leiter zum Schafott erinnerten, der Hühnerleiter. Er entschied sich für den Wellenbrecher, wo er versuchte, sich die Ladung der großen Frachtschiffe vorzustellen, die draußen vor dem Hafen vor Anker lagen. Ladungen aus den Romanen von Joseph Conrad, den einzigen Büchern, die er noch nicht verbrennen konnte. Um den Schatten eines Industriehähnchens mit durchschnittener Kehle loszuwerden, der ihn verfolgte, aß er Entenschinken und Rotbarben in Zitronenblättern in einem Restaurant, das den Namen einer Automarke führte, MG. Er dachte an Marta und stellte sich ihren Körper vor, der alle runden Formen vermied, einen Körper voller Relativierungen. Dann ging er von Reisebüro zu Reisebüro und erkundigte sich, wie man nach SansSouci gelangte, einer paradiesischen Residenz, wenige Kilometer von Eight Rivers entfernt, im Norden von Jamaika. «Freunde von mir waren vor kurzem dort, ich glaube, sie haben hier bei Ihnen die Reise gebucht.» «Das Ehepaar Martí?» Endlich eine Antwort. Ja, das Ehepaar Martí. «Wie war denn die Reiseroute? Ich möchte ebenfalls dorthin.» «Ich glaube nicht, daß sie das Richtige für Sie wäre. Señor Martí reist viel und legt immer Zwischenaufenthalte ein, einen langen Zwischenaufenthalt in Brasilien, wenn er nach New York fliegt, oder wie in diesem Fall nach Jamaika. Tatsächlich war er nur die letzten drei Tage dort.»
«Ich traue mich nicht, es dir zu erzählen.» Sie hatte sich im Bett aufgesetzt, ihre Brüste suchten Zuflucht unter der Decke, ihr Rücken war frei. «Was zu erzählen?» «Ich traue mich nicht.»
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Carvalho drehte seinen Kopf auf dem Kissen zur Seite, um ihr im Halbdunkel des Zimmers verborgenes Gesicht zu sehen. «Wieder so eine Geschichte mit Nacht und Autos?» «Ja.» «Erzähl sie mir!» «Warum?» «Dann erzähl sie mir nicht.» «Wenn ich wüßte, daß es dich interessiert, würde ich es dir erzählen.» «Es interessiert mich.» «Aus welchem Grund?» «Dann interessiert es mich eben nicht.» «Du machst dich lustig über mich. Du hältst mich für eine idiotische Frau, ein Mädchen, das vor allem Angst hat.» «Du kennst mich nicht und doch hast du mich schon von vornherein verurteilt. Mit welchem Recht?» Carvalho äußerte sich ärgerlich und aggressiv, wobei er mit Mühe die Frage unterdrückte: «Hast du deinen Blutdruck messen lassen? Sind nicht vielleicht all Ihre Ängstlichkeiten, meine Schöne, eine Frage des niedrigen Blutdrucks?» Aber er ließ sie weiterhin ihrem Selbstmitleid frönen und über das allgemeine Problem der Kommunikationslosigkeit lamentieren. «Glaubst du, daß der Liebesakt die Menschen einander näherbringt?» Verfluchte Scheiße, dachte Carvalho, sprach es nicht aus. Er zuckte die Achseln und begegnete der Sache mit einem Pokerface. «Ich will nicht, daß du dir meinetwegen Gedanken machst. Erzähl mir die Geschichte!» «Es geschah vor ein paar Wochen. Ich war mit einem Mann zusammen, und plötzlich wurde er von hinten umgebracht, mit einem Schuß.» «Bist du sicher?» «Wieso denn nicht? Ich war doch selbst dabei.» «Hat die Polizei den Mörder gefunden?» «Die Polizei weiß nichts davon, daß ich dabei war. Ich bin weg-
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gelaufen. Aber ich fürchte, eines Tages werden sie mich schnappen. Ich weiß nicht, was tun. Ich kann es keinem Menschen erzählen. Jeder wird sagen, ich sei es gewesen. Verstehst du?» Carvalho schloß nicht nur verständnisvoll die Augen, sondern er nahm auch noch ihre Hand und versuchte ihr so den Trost menschlicher Solidarität mitzuteilen. Sie nutzte seine Absicht, um sich auf ihn zu wälzen, seine Nacktheit mit blütenzarten Küssen der Verehrung zu bedecken und den Sohn zum Erwachen zu bringen, den jeder Mann bei sich trägt. Der Phallus stand auf dieser, Carvalhos Gehirn auf der Gegenseite. «Und du hast den Mörder nicht gesehen?» «Nein. Nein», sagte sie, bevor sie sich den Mund mit Menschenfleisch füllte. «Warst du in Brasilien?» Sie unterbrach überrascht ihre Beschäftigung. «Nein, ich nicht. Wie kommst du jetzt auf Brasilien?» «Würdest du gerne hinfahren?» «Willst du nicht mit mir schlafen? Ich weiß nicht. Marcel reist viel, und manchmal wäre ich beinahe mitgefahren. Aber ich kann mich nicht entscheiden. Ich weiß nicht, ob es mir gefallen würde. Reisen ist sehr teuer, und manchmal sind wir knapp bei Kasse.» Die Antworten von Coronel Parra waren deutlicher. Martí Ferrusola, gute Familie, verarmt, stammt aus La Plana de Vic, vier unbedeutende landwirtschaftliche Betriebe. Was kann ein Ingenieur verdienen? Drei bis fünf Millionen im Jahr. Zuliefererbetrieb in der Automobilindustrie. Nein, keine Beziehungen zu Brasilien, weder zu Import- noch zu Exportzwecken. Beziehungen ja, nach den USA, New York, Detroit, Brasilien nicht. «War dein Mann in Brasilien?» «Was weiß ich. Wieso?» Die Familie der Frau, Marta Sirvent Coderch, hatte auch nicht allzuviel Geld. Schwarzmarktgeschäfte in den vierziger Jahren, Bankrott Ende der fünfziger. Also, woher hat sie das Geld, um so anzugeben? Sehr hübsch. Ein Witz? Nein, ein Couplet. ‹Wo treibt sie sich rum, das Mädchen aus der Siebzehn? Woher hat sie das Geld, um so anzugeben?›
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Er wußte es nicht. Und warum interessierte er sich so sehr für die private Ökonomie der Martí-Sirvents? Ein Geschäft. Carvalhos Informant gab zu, daß das Ehepaar aus dem vollen lebte. Marta gab ihm immer noch hypotonisch schmachtende Küßchen. Sie beichtete ihm immer weitere Rendezvous auf der Straße, mit Fahrern aller Automarken. «Einmal wurde ich aus einem Ford Lotus heraus angesprochen.» «Du hast ein Glück! Reden wir lieber von dem Toten.» «Er war ein plumper Typ, ein neureicher Bauunternehmer, der immer nach Zement roch. Er gab mir fünftausend Peseten ‹… für deine Auslagen›. Ich zerriß sie und warf sie ihm ins Gesicht. Darauf gab er mir fünfundzwanzigtausend. Ein widerlicher Typ.» Dieser Bauunternehmer war nicht verpflichtet gewesen, ihrer autistischen Logik zu gehorchen, und die fünfundzwanzigtausend waren ein Beweis seiner Ergebenheit und Phantasie gewesen, den Marta nicht schätzen konnte oder wollte. Carvalhos zärtliche Gefühle schlugen in Empörung um. Aber er wußte, er war ein Verlierer, was reiche, verarmte Frauen betraf. Als Frauen fand er sie anziehend, als verarmte Reiche fand er sie abstoßend.
Marta wurde an einem Freitag im Februar verhaftet. Ihr Name wurde geschützt, lediglich die Initialen erschienen in der Presse. «Der Gatte der Geliebten des Hühnerfarmbesitzers liefert ein hiebund stichfestes Alibi: ein Privatdetektiv war Zeuge der Szene von einem Hotelfenster aus, er schaute durch ein Teleskop.» Carvalho hatte es seinem Klienten und der Polizei erzählt, sobald er von Martas Verhaftung erfahren hatte. Er hatte sich an den kleinen, geöffneten Mund und die geschlossenen Augen gewöhnt, die wirkten, als seien sie zugeknöpft, um ein kleines, krankes Gewissen zu verbergen. Wieder einmal ging Carvalho durch die Flure der ‹Jefatura General de Policía›. «Ich sah, wie der Mann zusammenbrach, dachte aber nicht daran, daß er tot sein könnte. Man kennt das ja, manche Frauen saugen einen aus und lassen einen total schwach zurück.» Er erntete dafür keine Zustimmung, sondern Argwohn. «Lesen Sie keine Zeitung?» – «Seit dem Abitur lese ich überhaupt nichts mehr. Aber allmäh-
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lich zählte ich eins und eins zusammen, und als diese Frau festgenommen wurde, wurde mir schlagartig alles klar.» – «Also, Sie sind ja eine lahme Ente.» – «Das bedaure ich.» Kommissar Contreras war kein übler Bursche, aber er demonstrierte gerne, daß er Macht hatte und Carvalho weit überlegen war. «Sie könnten es eines Tages wirklich bedauern.» «Das bezweif le ich nicht.» «Mit der Polizei ist nicht zu spaßen.» «Das war auch nicht meine Absicht.» «Je bescheidener Sie tun, desto hinterhältiger kommen Sie mir vor.» «Geben Sie mir einen Tip, mit welcher Haltung ich Ihre Zustimmung bekomme.» «Stecken Sie Ihre Nase nicht in Dinge, die Sie nichts angehen.» Contreras wurde in seinem Vortrag unterbrochen. Die mit Schnörkeln verzierte Glastür öffnete sich, in ihrem Rahmen tauchte ein junger Inspektor auf, und hinter ihm stand Marta, unreifer denn je, ungekämmt, mit tiefen Ringen um die Augen. Ihr Blick war verloren auf irgendeinen Punkt im Raum gerichtet, den weder Carvalho noch Contreras oder der junge Inspektor bestimmen konnten. «Ich bin fertig. Sie sagten mir, ich sollte Sie hierherbringen …» «Kommen Sie herein!» Contreras ist aufgestanden, um Marta einen Platz anzubieten und genau zu verfolgen, wie sich Martas und Carvalhos Blicke begegnen. Carvalho sieht sie von oben bis unten an, als kenne er sie nicht. «Sie sollten mich vorstellen, Kommissar.» «Halten Sie den Mund!» Marta hebt den Kopf, von Carvalhos Stimme angelockt. «Kennen wir uns nicht von irgendwoher?» «Sie mich nicht.» «Verdammt noch mal, Carvalho, halten Sie die Klappe! Entschuldigen Sie, Señora, aber ich brauche Sie hier nicht mehr.» «Wer hat meine Kinder zur Schule gebracht?» Der Kommissar und der Inspektor sehen einander irritiert an. «Ich nehme an, Ihr Mann. Kommen Sie mit in das Büro nebenan. Wir wollen die Formalitäten so schnell wie möglich erledigen.»
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Marta ist aufgestanden und geht mit den zarten Füßen eines schlanken Mädchens. An der Tür dreht sie sich mit einem halben Lächeln um. «Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben.» «Ganz meinerseits!» Contreras explodiert, als er Carvalho wieder alleine vor sich hat. «Sie tun hier, als hätten Sie die Weisheit mit Löffeln gefressen! Alles, was Sie gesagt haben, damit sie nicht zeigen sollte, daß Sie einander kennen, ist ein Beweis für mich dafür, daß Sie sich kannten.» «Ich habe nicht bestritten, daß ich sie kenne.» «Das könnten Sie auch gar nicht, wo Sie gerade erklärt haben, daß Sie Zeuge des Verbrechens und ihrer Unschuld waren.» «Ich wußte gar nicht, daß es sich um ein Verbrechen handelte.» «Sie haben auch dem Ehemann kein Wort davon erzählt, was Sie alles gesehen haben.» «Ich habe keine Zeitung gelesen. Von einem Verbrechen hatte ich keine Ahnung.» «Für wie blöd halten Sie mich eigentlich? Sie machen eine Fotoreportage, um zu beweisen, daß die Señora eine Ehebrecherin ist. Sie werden Zeuge davon, wie ihr Liebhaber zusammenbricht. Sie hätten mindestens annehmen können, daß er krank war. Es ist beschissen, wenn man ohnmächtig wird, gerade in dem Moment … Sie wissen schon. Ich an Ihrer Stelle hätte einem Klienten gegenüber irgendeine Andeutung gemacht. Was weiß ich … stellen Sie sich doch vor, dieser Typ wäre ohnmächtig oder krank gewesen, was weiß ich!» «Das hätte seine Ehre verletzt, Kommissar. Versetzen Sie sich in die Lage des betroffenen Ehemannes! Was hätte er von mir gedacht, wenn ich über etwas Witze mache, das ihn verletzt, das ihn schmerzt?» «Ich wußte gar nicht, daß Sie so ein weiches Herz haben, Carvalho. Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie Ihrem Klienten verschwiegen haben, daß Sie diese merkwürdige Situation mit ansahen? Sie können sich diese Frage während der Gerichtsverhand-
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lung stellen, wo Sie als Zeuge auftreten werden. Ich würde gerne hören, was Sie antworten!» «Dasselbe, was ich Ihnen geantwortet habe.» «Raus mit Ihnen, und zwar schnell! Aber die Sache ist damit nicht vom Tisch. Ich habe ein Gedächtnis wie ein Elefant und halte mich an den Satz von Pemán: Ich sitze vor der Tür meines Hauses und warte, bis ich sehe, wie die Leiche meines Feindes vorbeigetragen wird.» Aber er blieb nicht wartend vor der Haustür sitzen. Er folgte Carvalho und beobachtete die Reaktion von Marta Sirvent de Martí genau, die der schlechten Laune eines alten, harten Stuhls ausgeliefert war. Sie schaute auf und musterte Carvalho, als gehe es darum, herauszufinden, woher sie ihn kannte. Als Carvalho die ‹Jefatura de Policia› verließ, war er sich nicht darüber klar, ob Marta schwachsinnig oder eine der besten Schauspielerinnen des ‹Actor’s Studio› war, die er je kennengelernt hatte.
Hatte Señor Martí schon seine Euphorie gegenüber widrigen Umständen nicht richtig dosieren können, so schaffte er es genausowenig, den richtigen Grad zu treffen, bis zu dem eine Empörung angemessen erscheinen kann. «Warum haben Sie mir nicht erzählt, daß Sie das Verbrechen mit angesehen haben?» Marcel MartÍ Ferrusola verhörte ihn mit Augen, in die er die härteste Strenge legte, deren er fähig war. «Ich habe mich darauf beschränkt, Ihnen das zu berichten, woran Sie damals interessiert waren. Außerdem war Ihre Frau unschuldig.» «Dieses Detail hat mir überhaupt nicht gefallen.» «Es ist nicht nur ein Detail. Es ist der Angelpunkt der Frage. Ein Privatdetektiv ist ein bescheidener Vermittler zwischen seinem Klienten und der Wirklichkeit, aber auch er stellt seine Ansprüche. Ich bin engagiert worden, um einen Ehebruch aufzudecken, hatte aber das Gefühl, daß die Untreue Ihrer Frau Ihnen nicht allzuviel bedeutete.»
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«Das war ein falscher Eindruck Ihrerseits.» «Vielleicht können Sie sich schlecht mitteilen, oder Sie haben Kommunikationsschwierigkeiten, wie man heute sagen würde. Die Grundlage meines Berufs ist systematisches Mißtrauen, und als ich den seltsamen Zufall bemerkte, daß ich der einzige Zeuge des Verbrechens und der Unschuld Ihrer Frau geworden war, wuchs in mir der Verdacht, daß es vielleicht gar kein Zufall war.» «Sie selbst haben Tag und Stunde bestimmt, wann Sie die beiden observieren und Fotos machen wollten. Haben Sie irgend jemandem davon erzählt?» «Nein.» «Das Ganze war also purer Zufall, und Ihr Mißtrauen ist übertrieben. Sie handelten in meinem Auftrag und waren verpflichtet, mir alle Ergebnisse Ihrer Nachforschungen mitzuteilen, absolut alle. Ich kann es nicht gutheißen, daß Sie mir von dem Verbrechen nichts gesagt haben. Tagelang haben Sie meine Frau beobachtet, aber damit ist es jetzt vorbei. Ich traue Ihnen nicht mehr über den Weg, Señor Carvalho!» «Gut, Sie können mir ruhig mißtrauen, aber bezahlen Sie mir meine Rechnungen! Ich beobachte unglücklich verheiratete Frauen nicht gratis.» «Natürlich.» War Marcel Martí, als er ihn empfangen hatte, ein aufgebrachter Dummkopf gewesen, so war er nun, da er ihn verabschiedete, ein englischer Botschafter, der sich mit der Vergewaltigung seiner Queen durch Carvalho abgefunden hatte. Carvalho badete in den Szenen mit den emotionsgeladenen Worten, die Biscuter und Charo für ihn vorbereitet hatten. «Wenn man Sie nicht freigelassen hätte, Chef, dann hätte ich ein Attentat auf die ‹Jefatura› gemacht!» «Pepiño! Pepiño! Ich dachte schon, ich würde dich nie wiedersehen!» Charo bedeckt ihn mit Küssen, als hätte er eine Strafe auf der Teufelsinsel verbüßt, und Biscuter hat den Schreibtisch mit kulinarischen Vorschlägen bedeckt und den Kopf voller Menüs für die nächsten vierzehn Tage.
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Eine Viertelstunde der Liebesbeweise ist mehr als genug, dann haben die Anbietenden ihre höchsten Instinkte gesättigt, und der, dem die ganze Liebe bewiesen wird, ist der vielen Komplimente überdrüssig. Carvalho respektierte die emotionale Ekstase fünfzehn Minuten lang und begann dann, Anweisungen zu geben, die Charos Tränen zum Versiegen brachten und Biscuter auf seine normale Größe reduzierten. «Schon gut, schon gut. Hört endlich auf damit, abgefahrenen Schiffen mit vollgeweinten Taschentüchern nachzuwinken, und zeigt mal, daß ihr auch zu etwas nütze seid! Biscuter, du mußt einem Typen auf den Fersen bleiben und mich auf dem laufenden halten, was er treibt. Wenn er zum Beispiel in einer Toilette verschwindet und nach fünf Minuten immer noch nicht wieder auftaucht, dann rufst du mich an!» «Ist er schwul, Chef?» «Nein, das war nur ein Beispiel.» «Und wenn er in ein Kauf haus geht, zum Beispiel in den ‹Corte Inglés›, und nach fünf Minuten noch nicht wieder zurück ist?» «In den ‹Corte Inglés› gehst du mit rein und läßt ihn dort keine Minute aus den Augen!» «Die werden denken, ich will etwas klauen, Chef. Ich werde mir auch etwas kaufen müssen.» «Eine Krawatte.» «Danke, Chef.» Während Carvalho Biscuter instruiert und ihn auf Marcel Martí angesetzt hatte, war Charo vom emotionalen Ausbruch zu kritischer Ironie und leidenschaftlicher Empörung übergegangen, die zum Ausbruch kamen, nachdem Biscuter mit seinem zweifarbigen Anzug und der gepunkteten Krawatte für Sonn- und gesetzliche Feiertage das Haus verlassen hatte. «Du hast ja überhaupt keine Gefühle mehr! Wir haben die ganze Nacht kein Auge zugetan und auf dich gewartet, und du kippst uns einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf!» «Ich war richtig gerührt über euch beide, das schwör ich dir!» «Das kannst du von mir aus deiner Mutter schwören!» Charo knallte die Bürotür hinter sich zu, so daß die Glasscheiben
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beinahe zu Bruch gegangen wären. In den nächsten Tagen würde er die Tür auswechseln lassen. Er wußte nicht, in welchem Kriminalfilm er das Vorbild für die mit Schnörkeln verzierte Glastür gesehen hatte. Wahrscheinlich in einem Film mit Bogart. Er liebte die kompakten, undurchsichtigen Silhouetten der Leute, die im Begriff waren einzutreten. Aber zwei oder drei solcher Temperamentsausbrüche wie den von Charo soeben würde die Tür nicht überleben.
Marta Sirvent wurde an jenem Nachmittag auf Kaution freigelassen. Carvalho schlief schlecht in dieser Nacht, und als er sich nach dem Grund fragte, wurde ihm klar, daß es sein uneingestandenes Bedürfnis war, sie anzurufen und sich mit ihr zu verabreden. Wozu? Vielleicht fühlte er sich angezogen von diesem Körper, der sich der Realität entzog, oder diesem Blick, der auf die eine oder die andere Seite des Spiegels schaute, vielleicht hoffte er auch von den Lippen dieser Frau die Bestätigung dessen zu hören, woran sein Gehirn arbeitete wie an einem Korb aus hypothetischem Peddigrohr. Am nächsten Morgen begann er die telefonische Belagerung, aber der automatische Anruf beantworter wollte seinen Namen und seine Telefonnummer wissen, und er legte keinen Wert darauf, die selektiven Filter Marcel Martís zu passieren. «Chef, er ist weder aufs Klo noch in den ‹Corte Inglés› gegangen.» «Irgendwohin muß er doch gegangen sein!» «Von zu Hause ins Büro und vom Büro in den Ideal-Club. Ein Lokal, wo man Whisky trinkt. Ich mußte abwechseln, Chef. Ich bestellte mir einen von diesen Cocktails, von denen Sie erzählt haben, Chef, einen ‹Singapur Sling›. Eigentlich schmeckt mir der ‹Manhattan› besser.» «Dann bestellst du dir das nächste Mal einen Manhattan!» Um Marta zu treffen, würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als ihr wieder im Supermarkt aufzulauern. Carvalho ließ ein paar Tage verstreichen. An einem Märzmorgen hängte er sich an den Ford Fiesta von Marta, der von Kindern und Frühlingsdüften überquoll. Die Kinder wurden wie Küken in den Wissensfarmen abgeliefert,
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und wieder wartete Marta im Wagen, bis der Supermarkt öffnete. Diesmal waren Dosen mit geschälten Tomaten zwischen ihnen aufgetürmt, als sie miteinander sprachen. «Ist es für Ihren Bretonen?» Sie zwinkerte ihm sanft zu. «Für meinen Mann.» Sie gingen nebeneinander her, jeder in seinem Gang, und schauten ab und zu über die Lebensmittelbarrieren. «Wir müssen uns unterhalten», sagte Carvalho. «Ja?» Diese fragende Antwort hatte das langsame Aufnehmen einer Büchse Sardinen begleitet, das wirkte, als möge sie Sardinen nicht. «Nein?» Carvalhos Frage brachte die Frau aus dem Konzept. Sie dachte mit der Dose in der Hand nach, die andere Hand schob den Wagen. «Ja, vielleicht doch.» Sie schaute sich nach rechts und links um, als befürchte sie, beobachtet zu werden. Sie trat an die Lebensmittelschranke heran. Ihr Blick ruhte auf einem Deich von Büchsen mit Ölsardinen. «Morgen um diese Zeit, an demselben Ort wie immer.» In ihren Augen war nichts zu lesen. Das heißt, das Nichts war darin zu lesen. Vielleicht kam sie deshalb am nächsten Tag nicht zu dem Ort, wo sie sich immer getroffen hatten, auch nicht am Tag darauf, und genausowenig einen Tag später. Der Ärger über diese offensichtliche Zurückweisung komplizierte das dringende Bedürfnis, sie zu sehen. Carvalho lauerte auf dem Weg zwischen dem Haus der Martís und der Schule und lungerte um den Supermarkt herum wie ein Schüler um das Gymnasium mit den hübschen Mädchen. Er wollte sich nicht auf der Route zeigen, die er Martí und Biscuter zugeteilt hatte. Die abstrakte Fiebrigkeit gegenüber Marta hatte ihn nicht gänzlich vernebelt, und der Ehemann war ein ganz anderer Faktor, der zu einem bestimmten Zeitpunkt mit den anderen zusammentreffen würde. «Chef, heute kam Leben in die Sache. Er machte Einkäufe, eine Menge Dinge, Kosmetiksachen, Parfums, Deodorants. Danach fuhr er aber nicht nach Hause zurück, sondern ins Büro. Die Tasche
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mit den Kosmetikartikeln lag auf dem Rücksitz, aber als er aus dem Büro kam und nach Hause fuhr, war sie weg.» «Vielleicht hat er sie in den Kofferraum gepackt?» «Vielleicht. Soll ich weitererzählen? Die Sache wird allmählich stinklangweilig. Ich bewundere Sie wirklich! Die Geduld möchte ich haben, mit der Sie Tag für Tag hinter Leuten her sind.» «Ist er nie mit seiner Frau ausgegangen?» «Nein.» «Und wer bringt die Kinder zur Schule?» «Eine Hausangestellte, mit dem Taxi.» Entweder Marta oder ihr Mann hielten Carvalho auf Distanz, und vielleicht genügte diese Distanz noch nicht. Deshalb benötigte Señor Martí zusätzliche Parfums und Deodorants. Er hatte kaum den Hörer aufgelegt, als das Telefon schon wieder klingelte. «Chef, die Sache wird interessant! Er kam aus dem Büro und hatte das Auto voller Pakete und Koffer.» Mit großen Sätzen sprang Carvalho die Stufen hinab und aus dem Haus, wie ein Kind, das in Eile ist und nicht verpassen will, ‹Captain Wonder› zu werden. Eine merkwürdige Geschicklichkeit half ihm, heil die Straße zu erreichen, ohne sich den Schädel einzuschlagen, und mit Ellbogeneinsatz zwei schlecht rasierten Transvestiten ein Taxi abzujagen, das sie ihm streitig machen wollten. «Macker! Es genügt nicht, ein Mann zu sein, man muß ein Gentleman sein!» Das ‹Check-In› für den Flug nach Paris war genau für fünf Uhr angesagt. Carvalho hatte sich an der Information als Marcel Martí Ferrusola ausgegeben. «Um wieviel Uhr habe ich Anschluß in Paris?» «Wie ist Ihr Name, bitte?» «Marcel Martí.» «Barcelona-Paris-Dakar, um zwanzig Uhr dreißig. Aber Ihr Flugticket ist schon abgeholt worden.» «Ja, ja, ich bin hier im Flughafengebäude mit jemandem verabredet und werde ihn schon finden.» Er fand ihn bei einer Tortilla à la francesa und einem Tomatenweißbrot. Er war nicht allein. An seiner Seite feilte eine kurven-
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und farbenreiche Negerin ihre Fingernägel. Marcel Martí stellte sein rednerisches Talent unter Beweis. Zwischen den Bissen erläuterte er ihr seine Weltanschauung, wollte man nach dem weiten Raum urteilen, den seine Arme umfaßten. Sie stand ihm in nichts nach und konfrontierte ihn mit ihrer eigenen Weltanschauung. Ein glückliches Paar, das eine weite Reise vor sich hatte. Vielleicht war sie aber auch seine Cousine, eine jener Cousinen, die einen zum Flughafen bringen, damit man den Familiengeruch an Bord mitnimmt. Die Passagiere für den Flug Barcelona-Paris wurden dringend aufgefordert, sich zur Paßkontrolle zu begeben. Marcel Martí hörte auf zu kauen und schaute nach oben, woher der göttliche Ruf ertönt war. Er kaute schneller und forderte seine Partnerin mit Gesten auf, es ihm nachzutun. Sie wurde sich abrupt wieder ihrer selbst bewußt und schaute sich an, als verfolge sie mit ihrer Anwesenheit hier ein bestimmtes Ziel. Das Gepäck zur Hand nehmen, Tisch und Stühle hinter sich lassen, vorwärts zum Nullpunkt eines neuen Lebens. Barcelona, Paris, Dakar. Marcel Martí hielt den Paß und ein umfangreiches Ticketheft in der Hand. Mit dem Scharf blick des Neugierigen versuchte Carvalho, die komplette Reiseroute herauszufinden. Das einzige, was er sah, war, daß Dakar nicht der Endpunkt der Reise war. «Ziemlich weit bis Tasmanien!» raunte er plötzlich Martí ins Ohr, als das Paar hektisch auf die Paßkontrolle zusteuerte. Señor Martí trat automatisch einen Schritt zur Seite, um einen gewissen, nicht übertriebenen Abstand zu Carvalho zu wahren. «Ich fahre nicht nach Tasmanien.» «Eine Weltreise?» «Vielleicht.» Mit einer Kopf bewegung forderte er seine Begleiterin auf, weiterzugehen, ohne ihre stumme Forderung nach einer Erklärung zu beachten, nach einer Erklärung für das aufdringliche Verhalten dieses Fremden. «Ich schlage Ihnen einen Tausch vor.» «Haben Sie etwas zu tauschen? Meine Frau vielleicht?» In den Augen von Marcel Martí stand Sarkasmus, ein tiefer Sar-
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kasmus, eine Meinungsäußerung, die Carvalho als Idioten kennzeichnete. «Ich biete die Tatsache, daß ich nicht laut schreie: Haltet den Mörder! als Gegenleistung dafür, daß Sie mir Ihre Reiseroute zeigen.» «Es gibt keine Beweise dafür, daß ich ein Mörder bin. Niemand würde Ihnen Beachtung schenken.» «Sie würden Schwierigkeiten bekommen, eine Untersuchung wäre unvermeidlich. Möglicherweise würden Sie Ihr Flugzeug verpassen.» Martí gab ihm das Heft mit den Tickets, ohne weniger zu grinsen. «Es sind Länder, die mich nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten ausliefern würden.» «Das hatte ich mir gedacht.» Barcelona, Paris, Dakar, Rio, Mexiko, San Francisco, Australien … «Australien? Wollen Sie eine Känguruhfarm aufmachen? Ist Marta noch nicht da?» «Marta kommt nicht.» «Lösen Sie Ihre Tickets immer doppelt? Sie sind ein Mäzen von ‹Iberia›, wie ich sehe. Besser gesagt, Señora Martí wird in Paris zusteigen.» «Sie wird weder in Paris noch sonst irgendwo zusteigen.» Mit einem Ruck entreißt ihm Martí Ferrusola das Ticketheft, dreht ihm den Rücken zu und geht zur Paßkontrolle. «Vielen Dank für Ihre Dienste, Señor Carvalho.» «Es wird Marta sehr unangenehm sein. Sie ist ganz wahnsinnig verliebt in Sie.» «Marta ist immer wahnsinnig verliebt oder sonst irgend etwas. Das ist es. Sie ist immer … wahnsinnig.» Er ist im Begriff, durch die Tür zu gehen. Noch einmal lächelt er Carvalho zu, mit diesem deplazierten Lächeln, das er bei ihrer ersten Begegnung hatte. «Die Señora ist bestimmt Ihre Cousine?» «Genau. Wie haben Sie das erraten?»
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Jetzt zeigt das Paar seine Pässe der Polizei. Die Polizei, Freund und Helfer des Bürgers, erhebt keine Einwände.
Sie liegen nebeneinander auf der Matratze wie zwei parallele Linien. Marta verfolgt mit den Augen eine Ritze, die zwischen zwei Balken hartnäckig hin und her mäandert. «Wessen Idee war es, den Hühnerzüchter auszunehmen? Wer kam auf die Idee, ihm seine Groschen abzuknöpfen?» Marta drückt ihre Brüste vorsichtig mit der Hand, als befolge sie Anweisungen zur Früherkennung von Brustkrebs, und antwortet nüchtern: «Von mir.» «Ich nehme an, er hat es bemerkt und euch unter Druck gesetzt. Wessen Idee war es, ihn umzubringen?» «Meine.» Jetzt studiert sie Carvalhos Ausdruck und schätzt ab, wie weit er fähig ist, die Frage rational zu betrachten. «Er war ein Schwein. Er besaß nicht die geringste Sensibilität.» «Ihr habt ein blühendes Geschäft betrieben.» «Mit manchen war es besser, mit manchen schlechter, aber mit keinem war es so schlimm wie mit diesem Schwein.» Sie schweigen und ziehen fast gleichzeitig die Decke über sich, als sie bemerken, wie eisig ihre Muskeln in der Kälte und der Stille geworden sind. «In jener Nacht, als ich von dem Abendessen mit den Ehepaaren wegging, fing alles an. Weißt du noch? Ich erzählte es dir am Anfang, als wir uns kennenlernten. Ich kam in den frühen Morgenstunden nach Hause zurück. Marcel hatte auf mich gewartet, und als er anfangen wollte, mich auszuschimpfen, gab ich ihm, was ich in der Hand hatte.» «Was war das?» «Ein Scheck.» «Was sagte er dazu?» «Es dürfe nicht wieder vorkommen. Aber den Scheck steckte er ein, und ich bemerkte, daß er sich freute. Wir schliefen dann sogar miteinander, wie nie zuvor, dort wo wir waren, im Salon.»
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«Wußtet ihr, daß ich in dem gegenüberliegenden Zimmer war und euer Alibi werden würde?» «Ja. Mein Mann hat einen anderen Detektiv auf dich angesetzt.» Carvalho betrachtet sein erschlafftes Geschlechtsteil. «Er hat alles in Steinen angelegt, in Aquamarinen, glaube ich. Die gibt es in Brasilien spottbillig.» Marta hat den Mund ein wenig geöffnet, die Augen geschlossen, Streifen von Sonne und Schatten auf der Haut. Die Märzsonne blüht im Garten vor Carvalhos Haus, und der Detektiv hat plötzlich das Bedürfnis, sein eigenes Haus zu verlassen. «Dein Mann ist weggefahren.» «Ich weiß, auf eine Geschäftsreise nach Paris.» «Nein, er ist für immer abgereist. Paris, Dakar, Rio … das Unendliche. Du wirst ihn nicht wiedersehen. Wahrscheinlich hat er euer ganzes Geld mitgenommen.» Es folgt eine kurze Sekunde eher des Ärgers als der Besorgnis. «Er hätte mir wenigstens Bescheid sagen können. Zu Hause ist der Kühlschrank voll, und er muß eine Erklärung unterschreiben, daß die Kinder in Ferienlager gehen dürfen. Glaubst du, die Unterschrift der Mutter reicht aus?» «Bestimmt.» Marta denkt nach. Schließlich blickt sie auf, strahlend, wie von einer blendenden Idee erleuchtet. «Dann können wir uns öfter sehen! Hast du Geld? Es muß nicht viel sein. Ich bin mit wenig zufrieden. Ich bin sehr anpassungsfähig. Ich passe mich jeder Lage an.» Carvalho zieht sich schweigend an, aber in seiner Haltung macht sich das Bestreben bemerkbar, ihr nicht den Rücken zuzukehren. «Mein Geld reicht nicht einmal, um deine Hausangestellten zu bezahlen.» «Ich nehme zwei Philippininnen, die sind billig.» «Es reicht auch nicht für Philippininnen.» «Oh, wie langweilig.» Carvalho ist schon angezogen, aber sie liegt immer noch im Bett, die Brüste auf die zusammengeraffte Decke gebettet. Sie denkt wahrscheinlich über ihre Zukunft nach.
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«Meine Eltern und Schwiegereltern müssen mir helfen. Du kannst mich nicht anzeigen, weil du nichts gesehen hast. Du hast nichts gesehen, gar nichts. Du hast nicht einmal gesehen, wie Marcel ihn getötet hat.» «Das stimmt.» «Wenn dieser Idiot nicht abgereist wäre, wäre alles in Ordnung. Ich hatte viele Verehrer, bevor ich ihn geheiratet habe. Fast alle sind inzwischen auch verheiratet und gutsituiert, aber einer ist immer noch Junggeselle. Ein Architekt.» «Dann nichts wie ran.» «Aber ich weiß nicht, wie gut er verdient.» «Du kannst eine geschäftliche Auskunft einholen.» «Das ist eine glänzende Idee. Du hast einen wunderbaren Sinn für praktische Dinge, Pepe.» Er setzt sie gesund und munter vor der Tür ihres Hauses ab. «Jetzt kann ich dich ohne Angst küssen.» Sie küßt ihn. «Sehen wir uns morgen?» «Nein.» «Ich ruf dich an. Es wird wunderbar werden! Marcel war sehr besitzergreifend. Er war immer ein verwöhntes Kind. Sein Stiefvater war sehr hart, manchmal brach er in Tränen aus, wenn er an seine Kindheit dachte. Wer wird ihn jetzt trösten?» «Ihr habt einen Menschen getötet», sagt Carvalho ohne große Hoffnung, gehört zu werden. Denn Marta betritt die Eingangshalle ihres luxuriösen Wohnblocks, ignoriert die knappe Verbeugung des Portiers und geht, um irgendeine kleine fixe Idee auszuführen.
Biscuter wischt den Staub, der sich auf Carvalhos Schreibtisch angesammelt hat. Der Detektiv grunzt ein Buenos DÍas, das wie eine geballte Ladung schlechter Laune klingt. Er schaut durchs Fenster auf die Ramblas hinab. «Chef, ich habe Kaldaunen, Kuhfuß und Schweineschnauze aufgesetzt. Ich will Ihnen Kaldaunen à la francesa zubereiten, comme il faut.»
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«Hat jemand angerufen?» Biscuter hat den Kampf gegen den Staub aufgegeben. Jetzt hört man, wie er in der winzigen Kochnische zwischen Carvalhos Büro und der Toilette mit den Töpfen kämpft. «Wie immer, Marta de Martí … Richten Sie es Señor Carvalho aus! … Marta de Martí … die hat es ganz schön erwischt, Chef.» Carvalho konzentriert seine Aufmerksamkeit auf etwas, das auf der anderen Seite der Ramblas vor sich geht. Er rennt, wühlt in einer Schublade und holt ein Fernglas heraus. Dort sind sie, in einem Salon. Die Frau liest in einer Zeitschrift. Er betrachtet seine Hände, dann geht er zu ihr, nimmt sie bei den Schultern und entzieht sie Carvalhos Blicken. Der Körper des Mannes neigt sich über die Frau und bricht schließlich über ihr zusammen. Sie bemüht sich angestrengt, sich von dem Körper zu befreien, und taucht im Blickfeld auf, ruhig, entspannt, den Blick starr auf den weit entfernten Carvalho gerichtet, ein herausforderndes Lächeln auf den Lippen. Der Körper des Mannes verharrt währenddessen einen Augenblick auf der Sessellehne und fällt dann zu Boden. Carvalho setzt das Fernglas ab. Mit bleischwerer Hand fährt er sich über die Augen und murmelt: «Marta.»
«Wie lange treibt ihr es schon miteinander?» «Zehn Jahre.» «Zehn Jahre! Gratuliere, wie toll du andere hinters Licht führen kannst! Du bist wirklich ein Kerl! Dein Magen verdaut wohl alles, dir könnte man sogar E 605 geben, und es würde ihm nichts ausmachen. Wo wohnt denn die Señora, wenn man fragen darf?» Carvalho deutet mit vager Geste auf das Bücherregal.