Oskar Lafontaine
Das Herz schlägt links
ECON
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Oskar Lafontaine
Das Herz schlägt links
ECON
Der Econ Verlag ist ein Unternehmen der Verlagshaus Goethestraße GmbH & Co. KG ISBN 3-430-15947-4 & 7999 Verlagshaus Goethestraße GmbH & Co. KG München Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Gesetzt bei Franzis print & media GmbH, München Druck und Bindung: Graphischer Großbetrieb Pößneck
Inhalt
Vorwort Die Nachfolge Willy Brandts Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik Steuersenkungswettlauf Die Wahlkampagne Rote Socken - Rote Hände Wer wird Kanzlerkandidat? Die Männerfreundschaft mit Gerhard Schröder Die Erarbeitung des Regierungsprogramms Aufstellung der Regierungsmannschaft Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung Die rot-grüne Koalition Überflüssiger Fehlstart Die Hessen-Wahl Deutschland und Frankreich Internationale Finanzpolitik Der Rücktritt Der Kosovo-Krieg Die Mediengesellschaft Der flexible Mensch Der dritte Weg ist ein Holzweg Ausblick Personenregister
Vorwort Unmittelbar nach meinem Rücktritt hatte ich nicht die Absicht, die Gründe darzulegen, die zu diesem Entschluss geführt haben. Die Verpflichtung zur Solidarität mit der eigenen Partei und ihrem Führungspersonal schien mir wichtiger als Klarstellungen. Sie werden allzu oft vom politischen Gegner missbraucht. Ich dachte an die Europa-, die Landtags- und Kommunalwahlen und wollte keinen Streit, der die Partei belastet hätte. Daher gab ich einige Tage nach meinem Rücktritt nur ein kurzes Interview, in dem ic h im wesentlichen auf das schlechte Mannschaftsspiel der Regie rung hinwies. Ich war der Auffassung, dass der Hinweis deutlich genug sei und die eigene Partei und die Anhänger der SPD sich durchaus ihren Reim darauf machen könnten. Hierin sollte ich mich täuschen. Auch als der Rücktritt von einigen mir weniger wohlgesonnenen Zeitgenossen so dargestellt wurde, als hätte ein pflichtvergessener Mensch einfach die Arbeit niedergelegt, änderte ich meine Auffassung nicht. Der Ministerrücktritt als politische Entscheidung ist ein fester Bestandteil demokratischer Kultur. Ein Minister sollte nicht nur dann zurücktreten, wenn die Medien ihn aufgrund eigenen Fehlverhaltens dazu drängen, sondern insbesondere dann, wenn er mit der Politik seines Regierungschefs oder seiner Regierung nicht mehr einverstanden ist. Doch dies scheinen Teile der deutschen Öffentlichkeit völlig vergessen zu haben. Der Rücktritt Gustav Heinemanns beispielsweise vom Amt des Innenministers wegen der Wiederbewaffnung der Bundeswehr und des autoritären Führungsstils Adenauers - der Kanzler denkt in Form autoritärer Willensbildung - war in diesem Sinne klassisch. Damals war die Diskussion um die demokratische Verfassung unserer Republik in den Köpfen der Menschen offensichtlich noch so lebendig, dass nie mand auf den Gedanken der Pflichtvergessenheit gekommen wäre. Auch der gleichzeitige Rücktritt vom Amt des Parteivorsitzenden war unvermeidlich. Ein ständiger Streit zwischen Bundeskanzler und Parteivorsitzendem hätte der Regierung und der SPD sehr geschadet. Nach meinem Rücktritt hat die Politik der rot-grünen Koalition eine Entwicklung genommen, die ich nicht für möglich gehalten hätte und die mich mit großer Sorge erfüllte. Dass ausgerechnet unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung die Bundesrepublik Deutschland sich zum ersten Mal an einem Krieg beteiligte, der das Völkerrecht missachtete und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar war, ist schwer zu verkraften. Der Kosovo-Krieg rührt an den Nerv des sozialdemokratischen Politikverständnisses. Spätestens als am 8. Juni 1999 kurz vor der Europawahl in London das Schröder-Blair-Papier vorgestellt wurde und Hans Eichel sein Zukunftsprogramm 2000 vorlegte, fühlte ich mich herausgefordert. Wir hatten mit dem Versprechen einer anderen Politik, mit dem Versprechen, mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Land zu verwirklichen, die Wahl gewonnen. Gerhard Schröder distanzierte sich vier Monate nach meinem Rücktritt von meiner Finanzpolitik: »Ich denke schon, dass es sehr richtig gewesen wäre, Eichels Finanzpolitik von Anfang an zu machen.« Und: »Wenn das als Kritik verstanden wird, dann ist das auch so gemeint«. Diese Äußerungen offenbaren einen Mangel an Fairness und Wahrhaftigkeit. Der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik. Das Kabinett beschließt mit der Stimme des Bundeskanzlers den Haushaltsentwurf, und der Bundestag verabschie det den Haushalt endgültig. Schröder, Fischer und Eichel hatten mich ausdrücklich gebeten, vor der Hessen-Wahl keine unpopulären Entscheidungen zu treffen. Als ich den Bundeskanzler etwas später vor den Bauern den eisernen Sparkanzler spielen sah, musste ich daran denken, dass er mich wenige Monate vorher aufgefordert hatte, diesen keine Steuersubventionen zu streichen. Der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Karl-Heinz Funke, wäre sonst gar nicht nach Bonn gekommen. Dem Bundeshaushalt fehlten dadurch jährlich 1,7 Milliarden DM. Auch die nachgeschobene Feststellung Schröders: »Ich habe die Auseinandersetzung mit der Bundesbank immer für unsinnig gehalten... Doch ich habe nichts gesagt«, ist falsch. Kurz nach seiner Wahl zum Bundeskanzler hatte er auf einem Gewerkschaftskongress gesagt: »Bei allem Respekt, den ich vor der Bundesbank habe; sie sollte jetzt nicht nur allein auf die Geldwertstabilität achten, sondern versuchen, auch ihrer Verantwortung für das wirtschaftliche Wachstum in Deutschland gerecht zu werden.« Über mangelnde Fairness und Wahrhaftigkeit mir gegenüber könnte ich hinwegsehen, schweigen kann ich aber nicht, wenn das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler durch einen politischen Richtungswechsel missbraucht wird. Mein Buch wendet sich daher gegen den radikalen Kurswechsel der rot-grünen Koalition zum Neoliberalismus und gegen das Vom-Tisch-Nehmen der Wahlversprechen. Das Regierungsprogramm, das wir den Wählerinnen und Wählern versprochen haben, ist von mir mit erarbeitet worden und ich
fühle mich weiter im Wort. Sozialdemokraten haben nur dann eine Chance, politische Mehrheiten in der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen, wenn sie die Interessen der Arbeitnehmer, Arbeitslosen und Rentner vertreten. Im Unternehmensbereich müssen sie sich vor allem um kleinere und mittlere Betriebe kümmern. Wenn sie auf das Gerede einer Minderheit hereinfallen, die seit Jahren nach dem Motto verfährt, Reformen und Verzicht stets bei den sozial Schwächeren einzufordern und selbst bei hohem Einkommen und Vermögen möglichst wenig Steuern zu zahlen oder möglichst viel Geld ins Ausland zu schaffen, dann werden sie ihren Auftrag verfehle n. Die letzten Jahre stehen für die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden politischen Welten. Da ich mittendrin stand, will ich die Auseinandersetzungen noch einmal schildern. Dabei hoffe ich, dazu beitragen zu können, dass sich Deutschland nicht noch weiter auf den Irrweg des Neoliberalismus begibt. Vor allem darf die SPD ihre Seele nicht verkaufen. Die folgenden Seiten sind daher auch nicht meine Memoiren. Es geht mir um den fundamentalen Richtungsstreit in der SPD. Bei der Schilderung unserer Diskussionen und Entscheidungen werde ich die Fehler, die ich gemacht habe, benennen. Ich habe die Fehler anderer oft kritisiert, manchmal mit beißendem Spott. Am meisten geärgert aber habe ich mich immer über die eigenen. In meinem Haus hängt für die Besucher sichtbar eine Karikatur von Peter Gaymann: Auf der Hühnerleiter sitzen brav die Hühner, nur ganz oben sitzt ein Schwein. Und ein Huhn fragt das andere: »Ich möchte einmal wissen, wie man ganz nach oben kommt, ohne zum Schwein zu werden.« Mit ironischer Distanz wollte ich der Gefahr vorbeugen, bei der Verfolgung eigener Ziele die Wünsche und Interessen anderer zu wenig zu beachten. Oskar Lafontaine Herbst 1999
Die Nachfolge Willy Brandts DER VÄTERLICHE FREUND
Willy Brandt sah ich zum ersten Mal 1966. Er war zu jener Zeit noch Regierender Bürgermeister von Berlin und hielt in der ATSV-Turnhalle in Saarbrücken eine Rede, in der er einer großen Koalition eine klare Absage erteilte. Wenige Tage später wurde die große Koalition geschlossen, und Willy Brandt Außenminister. So erlebte ich bereits als junger Student, dass in der Politik das gesprochene Wort nicht immer für bare Münze zu nehmen ist. Als Außenminister gewann Brandt schnell Vertrauen in der Welt. Er setzte die Entspannungspolitik der kleinen Schritte fort, die er in Berlin erfolgreich auf den Weg gebracht hatte. Maßgeblich unterstützt wurde er dabei von Egon Bahr. Für uns Studenten wurde Brandt bald zur Leitfigur, hatte er doch, im Gegensatz zu vielen anderen Politikern, aktiv Widerstand gegen die Nazis geleistet. Als junger Mann war er 1933 nach Norwegen emigriert und nach dem Krieg nach Berlin zurückgekehrt. Von vielen Mitläufern wurde er diffamiert, weil er Nazideutschland verlassen hatte, und Adenauer griff ihn an, weil er ein uneheliches Kind war. Seine erste Regierungserklärung als Bundeskanzler 1969 stand unter dem Motto »Wir wollen mehr Demokratie wagen«. Damit hatte er die Hoffnungen der jungen Generation auf den Punkt gehracht. Und tatsächlich: Der sozialliberalen Koalition gelang es, eine Reihe wichtiger Reformen durchzusetzen. Willy Brandts Regierungserklärung war kein leeres Versprechen geblieben. 1979 wurde ich in den Parteivorstand der SPD gewählt und kam dadurch mit Brandt näher in Kontakt. Die Notwendigkeit weiterer atomarer Aufrüstung lehnte er ab. Er glaubte nicht, dass es aus Gründen des militärischen Gleichgewichts notwendig sei, gegen die sowjetische SS zo in Deutschland und Westeuropa Cruisemissiles und Pershing-II-Raketen zu stationieren. Damit stand er in spürbarem Widerspruch zu seinem Nachfolger Helmut Schmidt. Ich erinnere mich an einen Besuch in einem Bonner Wirtshaus, bei dem er spontan sagte: »Ein größerer Industriestaat müsste sich einmal aus dieser ewigen Spirale des Vor- und Nachrüstens verabschieden.« Aufrüstung im Zeitalter des atomaren Overkills widersprach seinen politischen Vorstellungen. In den Weihnachtsferien 1981 lud mich Willy Brandt ein, mit ihm Urlaub auf Zypern zu machen. Hier erfuhr ich, welch große Achtung, ja Verehrung ihm international entgegengebracht wurde. Der zypriotische Präsident Spyros Kyprianou hatte die Hoffnung, Willy Brandt könnte in der ZypernFrage vermitteln. Basil Mathiopoulos, ein griechischer Journalist, der zur Zeit der Obristen politisch verfolgt wurde, hatte die Organisation der Reise übernommen. Er hatte durch Vermittlung Brandts wieder nach Deutschland ausreisen können, als die Obristen ihn während eines Aufenthalts in Athen einsperren wollten. In Zypern lernte ich den Menschen Willy Brandt besser kennen. Er war verschlossen und gab nur selten seine Empfindungen und Gefühle preis. Persönliche Nähe herzustellen fiel ihm schwer. Wir schwammen gemeinsam im Meer und bereisten die Insel. Willy Brandt führte politische Gespräche, ich saß als Lehr junge daneben. Wie so oft bei solchen Auslandsreisen war das Programm so überfrachtet, dass es Willy Brandt zuviel wurde. Als nach vielen offiziellen Terminen ein Mitglied der zypriotischen Friedensbewegung um ein Gespräch bat, setzte er sein bekanntes Lächeln auf und sagte: »Oskar, das ist jetzt dein Bier.« So konnte ich stolz eine erste diplomatische Mission erfüllen und im Auftrag Willy Brandts dieses Gespräch führen. In jenen Tagen rief der polnische Ministerpräsident Jaruzelski den Ausnahmezustand aus, da er eine russische Invasion befürchtete. Im Hotel erfuhren wir über eine Tickermeldung, dass Bettino Craxi, der damals stellvertretender Vorsitzender der Sozialistischen Internationale war, diese Entscheidung Jaruzelskis verurteilte. Er hatte diese Aussage gemacht, ohne Brandt, der Vorsitzender der Sozialistischen Internationale war, vorher zu konsultieren. Brandt hielt Jaruzelski für einen Patrioten und wollte in keinem Fall die Entscheidung Jaruzelskis vorschnell verdammen. Als wir gemeinsam am Strand spazieren gingen, konnte er sich nicht beruhigen. Mit Blick auf Craxi entfuhr ihm die Bemerkung: »Ausgerechnet dieser Strolch!« Später konnte ich in Mitterrands Memoiren nachlesen, dass auch er die damalige Situation ähnlich wie Brandt einschätzte. Über seine Begegnung mit Jaruzelski am 9. März 1990 schrieb der französische
Staatspräsident: »Ich hatte nicht mehr den Mann des Kriegszustands vor mir, der mir damals das Dilemma schilderte, in dem er steckte. Sollte er den Ruhm der Verweigerung wählen um den Preis der Vernichtung seines Vaterlands oder davon retten, was zu retten war, indem er sich Moskaus Befehlen unterordnete. Held oder Verräter? Verräter vielleicht für seine Zeitgenossen. Sicher Held für die Geschichte. Er wusste, dass er gegen den Widerstand seiner Mitbürger hart vorgehen musste und dass er die Bürde des Hasses und der Verachtung zu tragen hatte. Er nahm sie auf sich. Das war, so sagte er mir, seine Pflicht. Statt die Sowjetarmee erneut besetzen und nach Willkür agieren zu lassen, diktierte ihm sein Pflichtgefühl, dem zuvorzukommen, um wenigstens das Schlimmste zu verhüten.« Ich lernte, dass bei der Beurteilung internationaler Fragen ein vorsichtiges Abwägen besser ist als ein vorschnelles Urteil. Heute bin ich sicher, dass Willy Brandt mit seiner Einschätzung Jaruzelskis richtiger lag als viele andere Politiker und Journalisten im Westen, die sofort das übliche Protestgeschrei angestimmt hatten. Nach dem Urlaub auf Zypern waren wir uns menschlich nähergekommen. Willy Brandt lud mic h mit Familie im Sommer 1984 in sein Sommerhaus in die Cevennen ein. Als besonderes Zeichen seiner Zuneigung werte ich, dass die Brandts uns ihr großes Bett zur Verfügung stellten, da wir unseren zweijährigen Sohn Frederic dabeihatten und für uns drei das Gästebett zu klein war, in dem Willy Brandt und seine Frau Brigitte für die Dauer unseres Besuchs schliefen. Ich kaufte jeden Morgen frisches Baguette, Wurst und Käse ein und bereitete das Frühstück. Darüber hinaus gaben wir uns Mühe, die Brandts gut zu bekochen. Das rief allerdings den Missmut von Brigitte hervor. Sie achtete stets auf die Figur Willy Brandts und war der saarländischen Neigung, gut zu essen und zu trinken, weniger gewogen als ihr Mann. Als wir einmal ohne vorherige Absprache eine Lammkeule braten wollten, wäre es beinahe zum Streit gekommen. Das war aber nicht der Anlass dafür, dass es später zu einer Entfremdung zwischen Brandt und mir kam.
DIE ENKEL
Brandt hatte sich vorgenommen, einen Generationenwechsel in der Partei durchzusetzen. Er wollte mich 1987 zu seinem Nachfolger im Amt des Parteivorsitzenden vorschla gen und sprach in diesem Zusammenhang von seinen »Enkeln« - eine damals sicherlich listige Formulierung, mit der er geschickt die Generation der Söhne übersprang. Später sollte dieses Wort für uns alle - gemeint waren unter anderem Fierta Däubler-Gmelin, Hans Eichel, Björn Engholm, Karl-Heinz Hiersemann, Klaus Matthiesen, Uli Maurer, Rudolf Scharping, Gerhard Schröder, Heide Simonis, Heidemarie WieczorekZeul und ich - zu einer Belastung werden. Obwohl wir uns dem Alter von Großmüttern oder Großvätern näherten, wurden wir in der Presse immer noch »die Enkel Willy Brandts« genannt. Willy Brandts Plänen stand ich selbst skeptisch gegenüber. Zu jener Zeit traute ich mir den SPDVorsitz schlicht und einfach nicht zu. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Brandt selbst und Egon Bahr, Horst Ehmke, Erhard Eppler, Peter von Oertzen, Johannes Rau, Hans-Jochen Vogel, HansJürgen Wischnewski und die anderen Politiker dieser Generation einen SPD-Vorsitzenden Lafontaine akzeptieren würden. Das Jahr 1990 sollte mir zeigen, dass ich mit dieser Einschätzung richtig lag. Ich spürte damals instinktiv, dass nur derjenige die Partei führen kann, der aufgrund seiner Erfahrungen und Leistungen von der Mehrheit des Führungspersonals akzeptiert wird. Jedenfalls war es Mitte der achtziger Jahre nicht vorstellbar, dass einer aus meiner Generation den Parteivorsitz übernehmen würde. 1987 kam es dann zum überraschenden Rücktritt Willy Brandts, als viele in der Partei sich weigerten, die parteilose Griechin Margarita Mathiopoulos zur Pressesprecherin der SPD zu machen. Am Abend vor seinem Rücktritt hatte Willy Brandt die »Enkel« in Norderstedt in Schleswig-Holstein versammelt, um über seine Nachfolge zu beraten. Bei diesem Treffen warb er mehr oder weniger offen dafür, dass ich seine Nachfolge antreten sollte. Ich lehnte damals aus den genannten Gründen ab, was ihn wohl tief enttäuschte. Seit dieser Zeit spürte ich eine wachsende Distanz zwischen uns, die sich 1990, im Jahr der Deutschen Einheit, noch vergrößern sollte. Auch die Enkel waren verstimmt. Als ich 1990 zum zweiten Mal den Parteivorsitz ausschlug, wandten sich einige von mir ab und entzogen mir ihre Unterstützung. 1987 wurde Hans-Jochen Vogel zum Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gewählt. Johannes Rau und ich wurden seine Stellvertreter. Ich übernahm darüber hinaus den Posten des Geschäftsführenden Vorsitzenden der Programmkommission. Sekretärin dieser Kommission war Christa Müller. Die neue Aufgabe bereitete mir trotz mancher Mühen auch viel Freude. Ich lernte vor
allem sehr viel. Das neue Grundsatzprogramm, das wir erarbeiteten und das auf dem Berliner Parteitag 1989 verabschiedet wurde, verpflichtete die Partei auf internationale Zusammenarbeit, auf die Gleichstellung der Frau in Beruf und Gesellschaft, auf die ökologische Modernisierung der Wirtschaft und auf die Strukturreform der Arbeitsverhältnisse und der sozialen Sicherungssysteme. Die Auseinandersetzungen um Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich, längere Maschinenlaufzeiten und um Wochenendarbeit brachten mir in der Öffentlichkeit den Ruf des »Reformers« und »Modernisierers« ein. In der Partei bekam ich den Widerstand der Gewerkschaften zu spüren. Die Regelung der Wochenendarbeit und Maschinenlaufzeiten sollte nach unseren Vorstellungen aber stets einvernehmlich mit Betriebsrat und Belegschaft getroffen werden. Das heute weitverbreitete »einheitliche Denken«, das nur noch die Gesetze des Marktes gelten lässt, hatte sich noch nicht in dem Maße durchgesetzt, dass das Recht auf Mitbestimmung und Mitbeteiligung einfach vernachlässigt wurde. Meine Arbeit als Geschäftsführender Vorsitzender der Programmkommission führte dazu, dass ich als Anwärter auf die Kanzlerkandidatur der SPD im Jahre 1990 gehandelt wurde. Klugerweise ließ HansJochen Vogel diese Frage lange Zeit offen. Das war auch in meinem Sinne, denn ich hatte bei der Ausrufung von Johannes Rau zum Kanzlerkandidaten im Jahr 1986 die Erfahrung gemacht, dass es falsch ist, den Kanzlerkandidaten zu früh zu benennen: Irgendwann gewöhnt sich die auf Neuigkeit und Sensation getrimmte Öffentlichkeit an den Namen, und ab einer gewissen Zeit wird der Kandidat, wenn er zu lange Kandidat ist, eher kritisiert als unterstützt. Der Wahlsieg der SPD an der Saar im Jahr 1990 mit einem Wahlergebnis von 54,4 Prozent hatte dann zur Folge, dass ich am Z9. Januar 1990 vom Parteivorstand zum Kanzlerkandidaten der SPD für das Jahr 1990 ausgerufen wurde. Nach der Landtagswahl 1990 reiste ich mit Christa nach Granada. Im berühmten Parador der Alhambra beschäftigten wir uns intensiv mit den wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Konsequenzen der deutsch-deutschen Währungsunion, die von einigen aus der SPD zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme in den neuen Ländern vorgeschlagen worden war. Egon Bahr faxte uns ins Hotel ein Papier von Kurt Biedenkopf, in dem dieser den schnellen industriellen Aufschwung in den neuen Bundesländern voraussagte. Christa und ich hatten erhebliche Zweifel an die ser Prognose. Wir waren der Meinung, dass in der Einheitseuphorie simple wirtschaftliche Überlegungen in den Wind geschlagen wurden. Ich telefonierte aus Granada mit Helmut Schmidt, Karl Otto Pöhl, Jacques Delors, Franz Steinkühler und vielen anderen, um mir ein fundiertes Urteil bilden zu können. Fast alle meine Gesprächspartner standen dem Projekt einer Währungsunion zum Kurs von 1 : 1 ablehnend gegenüber, insbesondere die Gesprächspartner aus den europäischen Partnerländern. Aber öffentlich wurde die Kritik weniger deutlich geäußert. Mich wunderte, dass Bundesbankpräsident Pöhl nach der Entscheidung Kohls, die Währungsunion zum Kurs von 1 : 1 auszurufen, nicht sofort zurücktrat. Bundeskanzler Kohl hatte ihn nicht nur nicht konsultiert, sondern regelrecht überfahren. Mir war klar, dass diese Entscheidung schlagartig die Wirtschaft in den neuen Ländern konkurrenzunfähig machte und Millionen Arbeitslose in Ostdeutschland zur Folge hätte. Ebenso stand für mich fest, dass es zu Steuer- und Abgabenerhöhungen kommen müsste und dass der Westen gezwungen sein würde, über Jahre viele Milliarden zu zahlen, um den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Ländern zu finanzieren. Ich begann nach dem Aufenthalt in Granada die Partei behutsam auf meine abweichende Meinung vorzubereiten, bis das Attentat vom 25. April alles völlig veränderte. In einer Zeit, in der die Weichenstellung für den Wahlkampf 1990 erfolgte, wurde ich daran gehindert, die politischen Entscheidungen mitzubestimmen. Als ich das Krankenhaus verlassen konnte, war die Festlegung der Bundestagsfraktion auf das Ja zur Währungsunion zum Kurs von 1 : 1 nicht mehr umkehrbar. In einem Spiegel-Gespräch mit Dirk Koch und Klaus Wirtgen trug ich noch einmal meine Bedenken vor. Aber die Bundestagsfraktion war fest entschlossen zuzustimmen. So war ich nicht nur durch das Attentat seelisch und körperlich schwer angeschlagen, sondern musste mich auch damit abfinden, dass die Partei mir in den entscheidenden Fragen der deutsch-deutschen Wirtschafts- und Währungsunion nicht folgte. Ich entschloss mich daher, meine Kanzlerkandidatur zurückzuziehen, und setzte folgenden Brief auf: »An die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands! Im Vorfeld der Entscheidung über die Kanzlerkandidatur habe ich an Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau, Björn Engholm und Walter Momper die Frage gerichtet, ob sie bereit wären, diese Aufgabe zu übernehmen. Jeder hatte gute Gründe abzulehnen.
In der Endphase des saarländischen Landtagswahlkampfs haben Hans-Jochen Vogel, Herta DäublerGmelin und Johannes Rau mich öffentlich zum Kanzlerkandidaten vorgeschlagen. Nach der Landtagswahl hatte ich während eines Kurzurlaubs Zeit, darüber nachzudenken, ob ich diese Aufgabe übernehmen könnte. Aufgrund der starken Belastung der letzten Jahre hätte es meinen Interessen entsprochen, weniger in die Pflicht genommen zu werden. Ich habe mich gegen meine Interessen und für unsere gemeinsame Sache entschieden. Nach dieser Entscheidung hielt ich es für wichtig, auf dem Parteitag der SPD in Leipzig und in den letzten Tagen des Wahlkampfs zur Volkskammerwahl in der DDR meine Bedenken gegen die schnelle Einführung der DM in der DDR vorzutragen. Ich wusste, dass dies unpopulär war. Es ging mir aber um die persönliche Glaubwürdigkeit, die Grundlage längerfristiger Wahlerfolge ist. Ich dachte an die Fragen, die die Menschen im Herbst dieses Jahres in der DDR und der Bundesrepublik stellen werden, und an die finanziellen, ökonomischen und sozialen Probleme der dann folgenden Jahre. Die Alternative zur abrupten Einführung der DM in der DDR war die Herstellung der Konvertibilität der Ostmark und das Anpeilen eines festen Wechselkurses. Nach der Volkskammerwahl hat mich der Parteivorstand einstimmig zum Kanzlerkandidaten vorgeschlagen. Ich hatte vor meiner Nominierung darum gebeten, dass die Mehrheit der Partei und der Kanzlerkandidat in wichtigen politischen Fragen zusammenbleiben, weil dies die Voraussetzung für eine erfolgreiche Wahlkampagne ist. Dabei hatte ich meine ablehnende Haltung gegenüber der schnellen Einführung der DM zum i. Juli in der DDR deutlich gemacht. Am 27. März 1990, auf der Parteiratssitzung in Hannover, habe ich vor meiner einstimmigen Nominierung noch einmal meine Argumente gegen die überstürzte Einführung der DM in der DDR vorgetragen. Auch hier hatte ich darauf hingewiesen, dass die Voraussetzung für einen erfolgreichen Wahlkampf ist, dass die Mehrheit der Partei und der Kanzlerkandidat in wichtigen politischen Fragen zusammenbleiben. Am 25. April wurde ich Opfer eines Attentats auf einer Wahlkampfveranstaltung in Köln. Dieses Attentat war für niemanden vorhersehbar, hatte aber für mich zwangsläufig zur Folge, dass ich noch einmal darüber entscheiden musste, ob meine Kräfte ausreichen würden, die Kanzlerkandidatur aufrechtzuerhalten. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, die Partei zu bitten, diese Aufgabe einer anderen oder einem anderen aus unseren Reihen zu übertragen. Erleichtert, nicht herbeigeführt wurde diese Entscheidung durch die Haltung der SPDBundestagsfraktion zur Einführung der DM zum i. Juli in der DDR. Die Fraktion ist, wie mir alle Gesprächspartner versichert haben, mit großer Mehrheit entschlossen, der Einführung der DM zum i. Juli in der DDR - das ist der Kernpunkt des Staatsvertrags - zuzustimmen. Dabei beanspruchen die Kolleginnen und Kollegen der Bundestagsfraktion das von mir respektierte Recht, nicht gegen ihre Überzeugung im Bundestag zu stimmen. Daraus ergibt sich, dass die Kolleginnen und Kollegen der Bundestagsfraktion auch zustimmen werden, wenn der Spitzenkandidat der Partei das Recht für sich in Anspruch nimmt, nicht gegen seine Überzeugung einen Wahlkampf zu führen. In den nächsten Monaten und Jahren wird deutlich werden, dass die Entscheidung der Bundesregierung zur Einführung der DM zum i. Juli zu einer Verschärfung der sozia len Spannungen und damit zu einer Vertiefung der sozialen Spaltung in der Gesellschaft der Bundesrepublik und der DDR führen wird. Auf dem Berliner Parteitag hatte ich deutlich gemacht, dass die Idee des Nationalstaats nicht mehr die Grundlage für eine zukunftsweisende Politik im ausgehenden 20. Jahrhundert sein kann. Vielmehr ist heute eine Politik gefordert, die an die Tradition des sozialdemokratischen Internationalismus anknüpft und die die sozialen und ökologischen Fragen der nationalen Frage überordnet. So steht es in unserem Grundsatzprogramm. Viele Mitglieder in unserer Partei haben mir in den letzten Wochen geschrieben und mir ihre Unterstützung angeboten. Ich bin dankbar dafür. Vie le haben mich gebeten weiterzumachen, aber eingeräumt, dass ich nach dem Attentat von Köln die für mein weiteres Leben wichtige Entscheidung selbst treffen muss.« Den Brief schickte ich nicht ab, weil Hans-Jochen Vogel zu diesem Zeitpunkt auf Auslandsreise war und ich nicht wollte, dass er dort davon erfuhr. In der Zwischenzeit hatten meine Freunde in Bonn Wind von meinen Überlegungen bekommen. Viele besuchten mich mit dem Ziel, mich umzustimmen. So tauchten an einem Abend fast alle »Enkel« in meiner Wohnung auf. Selbst Willy Brandt reiste an. Er zürnte mir schon, da er ebenfalls die Währungsunion befürwortete und sich mit Ibrahim Böhme für eine Einführung im Juli 1990 stark gemacht hatte, damit die ostdeutschen Landsleute mit der DM in Urlaub fahren könnten. Auch sein Anliegen war, mich von meinem Schritt abzuhalten. Ich wiederum bat ihn, die Kanzlerkandidatur der SPD selbst zu übernehmen, da er ja bei den Ostdeutschen in hohem
Ansehen stand. Auf diese Idee hatte mich nicht zuletzt ein Brief des Kölner Künstlers Georg Meistermann gebracht, der mir nach dem Attentat schriftlich vorgeschla gen hatte, doch in dieser außerordentlichen Situation Brandt die Kanzlerkandidatur anzutragen. Willy Brandt lehnte ab und war genauso wenig wie Hans-Jochen Vogel oder Mitglieder der Enkelriege, bei denen ich noch einmal vorgefühlt hatte, bereit, die Kanzlerkandidatur zu übernehmen. In seinen Memoiren Nachsichten schreibt Hans-Jochen Vogel über die damalige Situation: »Viele haben mich danach gefragt, warum ich so weit gegangen bin und es nicht auf einen Rücktritt von [Lafontaines] Kandidatur habe ankommen lassen. Aber ich hatte manchmal den Eindruck, mich an der Grenze meiner Selbstachtung zu bewegen. Dennoch glaube ich unverändert, richtig gehandelt zu haben. Und das aus einer ganzen Reihe von Gründen. Zuerst und vor allem hatte Oskar Lafontaine nach dem Trauma seiner lebensgefährlichen Verletzungen Anspruch auf einen Umgang, der dem Rechnung trug. Deshalb war es für mich selbstverständlich, dass ich nach Saarbrücken fuhr und die Gespräche dort stattfanden. Dass in den Medien von Wallfahrten die Rede war, störte mich nicht. Dann hätte Lafontaines Rücktritt die Partei in eine schwere Krise gestürzt. Er besaß in der Partei - und auch darüber hinaus - eine sehr motivie rte Anhängerschaft, die einen solchen Schritt nicht kampflos hingenommen hätte. Der neue Kandidat - und das hätte nach den Umständen nur ich sein können hätte folglich einen Zweifrontenkrieg führen müssen und die Partei in der Auseinandersetzung mit Helmut Kohl nur zu einem Teil hinter sich gehabt.« Nachdem niemand aus der SPD-Führung bereit war, die Kanzlerkandidatur zu übernehmen, wusste ich, dass ich jetzt einen schweren Gang zu gehen hatte, denn ich war ein Feldherr ohne Truppen. Meine Vorbehalte gegenüber der überstürzten Währungsunion zum Kurs von i: i wurden mir als Gegnerschaft zur Deutschen Einheit ausgelegt. Dabei hatte ich immer so argumentiert: Das Wichtigste sei nicht, dass die Menschen in einem Staat zusammenlebten, sondern dass sie in einer Demokratie in Freiheit leben könnten, die gleichen Lebensverhältnisse hätten, nicht arbeitslos würden und dass dadurch im besten Sinne des Wortes der Fall der Mauer zu einer deutlichen Verbesserung ihrer Lebensmöglichkeiten führen würde. Ich erinnerte mich in jenen Tagen öfter daran, dass Konrad Adenauer schon 1958 vor dem Bundestag eine Österreich-Lösung für die DDR ins Gespräch gebracht hatte. 1962 hatte er erklärt, die Bundesregierung sei bereit, über vieles mit sich reden zu lassen, wenn »unsere Brüder in der Zone« ihr Leben so einrichten könnten, wie sie es wollten. »Überlegungen der Menschlichkeit spie len hier für uns eine noch größere Rolle als nationale Überlegungen.« Mir schwebte ein ähnlicher Weg vor wie 1955 im Saarland: Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde dort mit einer Verzögerung von vier Jahren vollzogen, um der Saarwirtschaft die notwendige Zeit zur Umstellung einzuräumen. Doch was die ehemalige DDR betraf, so war die große Mehrheit anderer Meinung und wollte es anders. Für Helmut Kohl war der Umtausch der Ostmark in DM zürn Kurs 1 : 1 der Wahlkampfknüller. Als sich später herausstellte, dass die euphorischen wirtschaftlichen Erwartungen alle auf Sand gebaut waren, griff man zu der Entschuldigung, zu der man immer greift, wenn die Dinge so fürchterlich schief gehen: »Wir hatten keine andere Wahl.«
DAS ATTENTAT
Nach meinem Rücktritt von allen politischen Ämtern im März 1999 schrieb der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer im Spiegel: »Der Rücktritt Oskar Lafontaines kam für fast alle aus heiterem Himmel und war in seiner Radikalität so unverständlich wie dem Nichtjapaner ein Harakiri. Einen Weg, diesen Entschluss nachzuvollziehen, eröffnet die Trauma - Psychologie... Solange es darum ging, die SPD in Bewegung zu setzen und zu halten, ihre unterschiedlichen Strömungen zu integrieren und den Machtwechsel in Bonn voranzutreiben, hat Lafontaine Qualitäten entwickelt, die zu seinem jüngsten Schritt nicht zu passen scheinen... Die häufigste Spätfolge einer seelischen Traumatisierung scheint eine gesteigerte seelische Verwundbarkeit, verbunden mit einem Anspruch, sich niemals mit weniger als Perfektion zufrie denzugeben... Lafontaine wurde mitten in seiner Karriere als Politiker, subjektiv auf dem Weg zum einflussreichsten Amt in Deutschland, aus einer jubelnden Masse heraus schwer verletzt. Wir haben nichts vom Wesen der psychischen Traumatisierung verstanden, wenn wir annehmen, nach der erfolgreichen Behandlung der Stichwunde sei ein solches Erlebnis erledigt. Es drückt aus, wie wenig verlässlich Macht, Anerkennung, politischer Erfolg sind;... Damals hat er in übermenschlicher Anstrengung die seelische Verletzung verdrängt, so gut und rasch es eben gehen wollte. Er tat es wohl,
um seine Freunde nicht zu enttäuschen... Es ist zu vermuten, dass der Schwung, den Lafontaine nach seiner Wahlniederlage in die Partei brachte, mit einer kompensatorischen Anstrengung zusammenhängt... Der subjektiv vom Attentat aus dem Rennen geworfene Kanzlerkandidat von 1990 hatte taktisch richtig und ohne Rücksicht auf die eigenen Emotionen einem anderen Kanzlerkandidaten Platz gemacht. Seit dem Wahlsieg war Lafontaine nicht mehr Teil einer Bewegung, sondern Gekreuzigter eines Machtsystems, das seine Visionen geringschätzte und seine praktischen Bemühungen entwertete.« Ich bin oft gefragt worden, wie ich das Attentat verarbeitet habe, und glaube, mit gebührendem Abstand heute dazu etwas sagen zu können. Den Anschlag habe ich sehr bewusst erlebt. Mir war auch im Moment des Attentats völlig klar, was passierte. Noch eine Zeitlang war ich bei Bewusstsein. Ich bat die sich über mich beugenden Helfer und Sicherheitsbeamten, den Notarzt zu rufen. Angesichts des starken Blutverlusts konnte mein Leben schnell zu Ende sein. Ich dachte an Christa, meinen Sohn Frederic, meine Mutter, meinen Bruder und an Menschen, die mir wichtig sind; Stationen meines Lebens schössen mir durch den Kopf, bevor ich das Bewusstsein verlor. Dieses einschneidende Erlebnis sollte mich fortan nicht mehr loslassen. Als ich in der Klinik aufwachte und die Ärzte ihre Arbeit erledigt hatten, wusste ich, dass ich davongekommen war. Den Sicherheitsbeamten, die kreidebleich an der Wand standen und mich beobachteten, zwinkerte ich aufmunternd mit dem rechten Auge zu. Ich konnte bald Besuch empfangen. Es kamen als erste Christa und Reinhard Klimmt und dann viele andere. Gut in Erinnerung ist mir, wie am Abend nach der Operation der kompetente und sympathische Oberarzt Prof. Müller mir sagte: »Damit Sie besser einschlafen können, kann ich Ihnen eine Tablette geben, oder Sie können ein Glas Rotwein trinken.« Die Wahl fiel mir nicht schwer. Ich erzähle diese Geschichte, um zu verdeutlichen, dass sich bei mir, neben der Freude, davongekommen zu sein, das Bedürfnis einstellte, das neugewonnene Leben noch intensiver zu leben. In den darauffolgenden Tagen kam mir der ganze Alltagskram völlig unwichtig vor, auch die täglichen Nachrichten bedeuteten mir nichts. Ich fühlte mich wie ein Wanderer, der das Meer erreicht hat und nichts sieht als die unendliche Weite des Wassers und das Blau des Horizonts. Ich hatte erfahren, wie wenig verlässlich Macht, Anerkennung und politischer Erfolg sind. Nach sieben Tagen wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Sehr schnell stellte ich fest, dass die körperlichen Folgen des Attentats leicht zu überwinden waren, es aber viel schwerer sein würde, die seelischen Folgen zu bewältigen. Das Attentat hatte mich verändert: Konkret hatte ich erfahren, dass das Leben von der einen zur anderen Minute zu Ende sein kann. Ich hatte mein bisheriges Leben Revue passieren lassen und Bilanz gezogen: Von nun an wollte ich nur noch das machen, was ich mit gutem Gewissen vor mir vereinbaren konnte. Auch wollte ich mir in keinem Fall vorwerfen, Frau und Kinder zu stark zu vernachlässigen. Tatsächlich habe ich das durchgehalten. Selbst in Zeiten schwerer beruflicher Belastung fand ich immer wieder Wege, die Familie nicht zu kurz kommen zu lassen. Auch die endlose Routine von Wahlkämpfen, Sitzungen, Pressekonferenzen und Interviews habe ich immer wieder von neuem hinterfragt und geprüft, ob ein solcher Einsatz, sich lohnt. Allein meine starke politische Motivation war Grundlage dafür, die vielen Entbehrungen auf mich zu nehmen, die mit den Aufgaben eines Spitzenpolitikers verbunden sind. Der Wunsch, einen Beitrag zur Bewahrung des Friedens, zur Erhaltung der Umwelt, zur gleichberechtigten Teilnahme der Menschen am gesellschaftlichen Leben und zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit leisten zu können, trieb mich an. Nach dem Attentat schielte ich sicherlich öfter als Gleichaltrige bei den Todesanzeigen auch auf das Geburtsdatum der Verstorbenen. Und immer wieder stellte ich fest, dass natürlich darunter Leute waren, die nach mir geboren waren. Auch den frühen Tod von Karl-Heinz Hiersemann und Klaus Matthiesen habe ich wohl anders wahrgenommen als viele meiner gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen in der Politik. Bei öffentlichen Veranstaltungen fühlte ich mich weitaus weniger sicher als in den Jahren zuvor. Wenn sich Unbekannte mir näherten, war ich stets in Alarmbereitschaft. Denn mir war klar, dass ich bei größerer Wachsamkeit den Messerstich der Attentäterin hätte abwehren können. Die Grenzerfahrung des Attentats und seine Verarbeitung sind auch eine Erklärung dafür, dass ich vor dem Mannheimer Parteitag 1995 wenig Neigung spürte, den Vorsitz der SPD zu übernehmen. Wer nicht über meinen Erfahrungshintergrund verfügt, für den mag dies unglaubwürdig klingen. Auch unter der Bonner Käseglocke fühlte ich mich in dieser Angelegenheit immer missverstanden. Meine Gesprächspartner unterstellten mir, dass mein Verweis auf die veränderte Lebenseinstellung nach dem Attentat eine
Schutzbehauptung sei, um meinen überbordenden Ehrgeiz zu kaschieren. Zu Christa hatte ich in den ersten Monaten nach Mannheim immer wieder gesagt, sobald wir bei Meinungsumfragen 40 Prozent erreicht haben, werde ich den Stab weitergeben. Als wir uns dann ein gutes Jahr vor der Bundestagswahl in den Meinungsumfragen bei 40 bis 42 Prozent einpendelten, setzte ich dieses Vorhaben nicht in die Tat um, obwohl durch die Geburt von Carl Maurice im Februar 1997 eine Veränderung in meinem Leben eingetreten war, die einen solchen Schritt zusätzlich gerechtfertigt hätte. Beflügelt durch die Umfrageergebnisse hatte ich mir vorgenommen, die Scharte, die die Wahlniederlage des Jahres 1990 für mich und die SPD bedeutet hatte, wieder auszuwetzen. Ich wollte meinen Anteil dazu beitragen, dass wir den Regierungswechsel endlich schafften. Zudem hatte ich ein neues Projekt. Ich war davon überzeugt, dass die sozialdemokratischen Parteien eine Antwort auf die Anarchie der Finanzmärkte finden mussten. Die aus dem Ruder gelaufene weltweite Währungsspekulation stürzte ganze Volkswirtschaften in die Krise und brachte vielen Menschen Elend und Massenarbeitslosigkeit. Der Kampf gegen diesen Kapitalismus pur musste das große Thema der europäischen Sozialdemokratie und der Sozialistischen Internationale werden. Um einen europäischen Beschäftigungspakt zu verwirklichen, war ich mittlerweile auch bereit, eine Aufgabe in der Regierung zu übernehmen. Ich hatte meinen engeren Freunden in der Parteiführung aber immer gesagt, und das machte meine Stärke aus, dass ich, falls meine politischen Vorstellungen in der Partei nicht mehrheitsfähig wären, jederzeit bereit wäre, einem anderen den Vorsitz zu überlassen. Der Gedanke, mein Leben so einzurichten, dass ich mir bei einem plötzlichen Ende keine zu starken Vorwürfe machen müsste, ließ mich nicht mehr los. So gesehen war mein Rücktritt von allen politischen Ämtern auch eine Spätfolge des Attentats aus dem Jahre 1990.
POLITIK UND FAMILIE
Wer in der Politik Verantwortung übernimmt, der kann die se Aufgabe nur sehr schwer mit dem Familienleben in Einklang bringen. Schließlich finden an Samstagen und Sonntagen wichtige Veranstaltungen statt, die besucht werden müssen. Dass die Abende werktags auch mit Terminverpflichtungen verplant sind, ist ohnehin selbstverständlich. Wo die Familie da noch Platz haben soll, darüber macht sich keiner Gedanken. 1998 war ein schweres Wahlkampfjahr, das mich als Parteivorsitzenden völlig in Anspruch nahm. An Urlaub war nicht zu denken. Nach den anstrengenden Koalitionsverhandlungen und den Wochen der Regierungsbildung hatten Christa und ich beschlossen, mit Carl Maurice wenigstens vierzehn Tage Weihnachtsurlaub in Mexiko zu machen. Wie immer hatten wir uns für ein Hotel mit wenig Touristen entschieden, um uns in Ruhe erholen zu können. Europäische Hotels kamen für uns nicht in Frage, da ich dort so häufig angesprochen wurde, dass kaum Urlaubsstimmung aufkam. Als die Reise schon gebucht war, hatte der damalige Vorsitzende der europäischen Finanzministerkonferenz, der österreichische Finanzminister Rudolf Edlinger, die Idee, eine Art Silvesterball in Wien zu organisieren. Die europäischen Finanzminister sollten dorthin eingeladen werden, um zum Jahreswechsel symbolisch den Euro aus der Taufe zu heben. Da dieser Silvesterball in Wien stattfinden sollte, musste ich zwangsläufig an den Wiener Opernball und die damit verbundene Berichterstattung denken. Ich riet daher von einer solchen Veranstaltung ab. Das Thema war zunächst damit erledigt. Kurze Zeit später aber setzte mein Freund Dominique Strauss-Kahn durch, dass sich die Finanzminister in Brüssel treffen sollten, um das Glas Champagner auf den Euro zu heben. Sollte ich nun meinen Urlaub unterbrechen und zu Lasten der Steuerzahler von Mexiko nach Brüssel und wieder zurück fliegen, nur um mit meinen Kollegen auf den Euro anzustoßen? Ich hielt es für vernünftiger, meinen Vertreter in der Bundesregierung, Bundeswirtschaftsminister Werner Müller, zu bitten, mich zu vertreten, und unterbrach meinen Urlaub nicht. Obwohl der Euro schon bei vielen Gelegenheiten staatstragend gefeiert worden war, wurde mein Fernbleiben scharf verurteilt. Oppositionspolitiker bezeichneten es als Schande für Deutschland. Sogar Parteifreunde empörten sich hinter vorgehaltener Hand. Aufrechte Kommentatoren, die selbstverständlich nie daran dachten, auf Urlaub zu verzichten, taten ihr Missfallen kund. Zu fragen, was es gebracht hätte, wenn auf dem Foto zu dieser Feier statt des Bundeswirtschaftsministers der Bundesfinanzminister abgebildet worden wäre, auf die Idee kam so gut wie niemand. Wäre ich von Mexiko angeflogen, hätte sicherlich zumindest eines der einschlägig bekannten Nachrichtenmagazine sein Unverständnis darüber geäußert, dass der Finanzminister für ein Glas Champagner so viel
Steuergeld verschleudert. Auch ein Spitzenpolitiker sollte das Recht haben, ungestört ein paar Tage mit seiner Familie verbringen zu können. Und selbst in Mexiko war ich nicht nur als Privatmann. Der mexikanische Präsident Ernesto Zedillo hatte nämlich von meinem Aufenthalt erfahren und mich für einen Tag nach Mexico City geladen. Er war ein liebenswürdiger Gastgeber, und wir unterhielten uns über die Krise des internationalen Finanzsystems. Die Erfahrungen mit der Peso - Krise konnte er mir aus erster Hand schildern. Ich war erstaunt, wie groß unsere Übereinstimmung bei der Beurteilung des internationale n Finanzsystems war. Am darauffolgenden Tag ließ mir der Präsident ein Buch an meinen Urlaubsort bringen: Es war The acddental theorist von Paul Krugman. Ich freute mich darüber. So wie zum Jahreswechsel 1998/99 habe ich im Laufe meiner jahrzehntelangen politischen Tätigkeit leider immer wieder erfahren müssen, dass unser heutiger Politikbetrieb ein normales Familienleben nicht zulässt. Hermann Hesse empfiehlt uns, »suchen Sie mit allen Kräften eine Ihnen gemäße Lebensform, auch wenn Sie alle Pflichten dafür versäumen. Die Pflichten beziehen einen großen Teil ihrer Heiligkeit, wenn nicht die ganze, aus einem Mangel an Mut im Kampf um ein Privatleben.« Viele Kollegen haben mir erzählt, sie hätten zuwenig Zeit für ihre Kinder gehabt. Ich wollte das anders machen. Während ich Bundesfinanzminister war, setzte ich mich manchmal gegen 20 Uhr ins Auto und ließ mich noch nach Saarbrücken fahren, um Christa, Carl Maurice und Frederic zu sehen. Während der zweistündigen Fahrt hatte ich selbstverständlich noch Zeit, zu arbeiten, zu lesen und zu telefonieren. Oft erreichte ich Saarbrücken erst nach 2.3 Uhr. In der Presse konnte ich dann so gehässige Bemerkungen lesen wie: »Waigel saß aber länger im Ministerium!« Bei Geburtstagen und Jubiläen wird nach der ausdrücklichen Würdigung des Geburtstagskinds oder Jubilars üblicherweise auch seiner Gattin gedankt, weil ohne ihre Unterstützung der Gelobte seine bedeutenden Leistungen wohl niemals vollbracht hätte. In der Regel wird ihr ein Blumenstrauß überreicht, und die Anwesenden applaudieren gerührt. Häufig weilt aber bei solchen Feierlichkeiten die Zweitfrau des so pflichtbewussten Menschen, seine Büroliebe, unter den Gästen, denn der Gepriesene muss ja in irgendeiner Form mit seinen emotionalen Entzugserscheinungen fertig werden. Die ganze Veranstaltung wirkt dann eher peinlich. Ich bin seit langem zu der Einsicht gekommen - dazu bedurfte es nicht der Erfahrung des Attentats -, dass in allen Berufen, auch in der Politik, keine gute Arbeit geleistet werden kann, wenn nicht genügend Raum für Familienleben, Partnerschaft und Kinder vorhanden ist. Bei der gegenwärtigen Organisation des Politikbetriebs ist es auch kein Wunder, dass Politiker, wenn sie öffentlich über Partnerschaft, Kinder oder Familienleben reden, eher unglaubwürdig wirken. Ich habe mich oft gefragt, ob Politik so organisiert sein muss, wie sie heutzutage organisiert ist. Ist es nicht lächerlich, wenn im Wahlkampf nach amerikanischem Stil die Familienmitglieder aufs Foto gedrängt werden? Unsere Mediengesellschaft verlangt nach solchen Bildern, heißt es. Aber wird da nicht allzu oft eine Familienidylle vorgegaukelt? Mir fiel es immer sehr schwer, aus dem Haus zu gehen, wenn Carl Maurice weinend die Anne nach mir streckte und mich nicht gehen lassen wollte. Dieses Bild hatte ich manchmal vor Augen, wenn ich mich in den wichtigen Sitzungen in Bonn zu langweilen begann. Auch die Vorstellung, dass wir bei einem Umzug nach Berlin meine 84jährige Mutter nicht mehr, wie bisher, hätten betreuen können, bedrückte mich. Christa bekocht sie und organisiert den fahrenden Mittagstisch. Vieles hätten wir sicherlich über Dienstleistungen organisieren können, aber Dienstleistungen können die Familie nicht ersetzen.
DIE BUNDESTAGSWAHLKÄMPFE
Im Lauf des Bundestagswahlkampfs 1990 entfremdete ich mich immer mehr von Willy Brandt. Empört war ich, als er am 30. September mit Helmut Kohl in der ARD auftrat und für die Politik des Kanzlers warb. Als Kohl sagte: »...die ökonomisch-wirtschaftlichen Fragen werden viel schneller gelöst, als viele glauben... in drei bis fünf Jahren werden wir dort wirklich Landschaften vor uns sehen, die dem Gesamtstatus der Gesamtrepublik entsprechen...«, erwiderte Brandt: »Ich glaube, dass in der Tat in einem halben Jahrzehnt ein wesentlicher Teil der heutigen DDR das modernere Deutschland sein wird, weil unsere Firmen, wenn sie investieren, nicht altes Zeug dorthin schleppen, sondern moderne Technologie ...« Der Abnabelungsprozess, der schon seit einiger Zeit bei mir eingesetzt hatte, wurde durch Willy Brandts Verhalten im Wahlkampf beschleunigt. Nie vergessen
werde ich auch den 3. Oktober, als wir vor dem Reichstag standen und den ersten Jahrestag der Deutschen Einheit begingen. Als die Nationalhymne verklungen war, gab Willy Brandt allen Umstehenden, dem Bundespräsidenten Weizsäcker, Bundeskanzler Kohl, Stoltenberg, Blüm und auch Heiner Geißler die Hand, um zur Einheit zu gratulieren. Demonstrativ verweigerte er mir als einzigem den Handschlag. Zwar ließ ich mir an jenem Abend wenig anmerken, und wir suchten noch gemeinsam einen reservierten Raum im Reichstag auf, um, wie geplant, ein Glas zu trinken, aber danach redeten wir nicht mehr miteinander. Willy Brandt war zu einer offenen Aussprache unter vier Augen nicht bereit, vielleicht auch nic ht fähig. Er setzte auf subtile Andeutungen und Gesten und vertraute darauf, dass sein Gegenüber ihn schon verstehen würde. Aber es gibt Situationen, in denen eine klärende Aussprache notwendig ist. Nach der verlorenen Wahl im Jahr 1990 kam der Parteivorstand in Bonn zusammen. Hans-Jochen Vogel schlug mich dort für den Parteivorsitz vor - worüber er mich schon in Saarbrücken bei der Abschlusskundgebung informiert hatte. Aber die herbe Wahlniederlage sowie die Tatsache, dass sich die Partei in Teilen von mir abgewandt hatte, konnte ich nur schwer verwinden. Als sei das noch nicht genug, kritisierte Willy Brandt in dieser Vorstandssitzung meinen Wahlkampf in ungewöhnlich heftiger Form. Erschöpft und seelisch zermürbt, teilte ich dem Parteivorstand der SPD mit, dass ich für das Amt des Vorsitzenden nicht zur Verfügung stünde. Björn Engholm wurde nach meinem Verzicht zum Vorsitzenden der SPD gewählt. Die Verstimmung zwischen Willy Brandt und mir bela stete mich. Als er im Oktober 1991 erkrankte, schrieb ich ihm einen Brief und schickte ihm eine Kiste Rotwein. Ein Jahr später, am 24. September 1992., ließ ich dem Todkranken nur einen Satz zukommen: »Lieber Willy, ich denke oft an Dich und bin mit meinem Herzen bei Dir.« Ich hatte mir in der Folgezeit die politische Arbeit gut eingerichtet. Im Saarland hatte ich eine satte Mehrheit. Die Aufgabe des stellvertretenden Parteivorsitzenden genügte mir, um auf Bundesebene mitzusprechen, ohne in der ersten Reihe stehen zu müssen. Aber die Dinge kamen anders. In der Folge der Barschel-Affäre entschloss sich 1993 Björn Engholm, vom Amt des Parteivorsitzenden zurückzutreten. Da die Nachfolge auf niemanden eindeutig zulief, wurden die Mitglieder aufgerufen, den Parteivorsitzenden der SPD per Urwahl zu bestimmen. Zur Wahl standen Heidemarie Wieczorek-Zeul, Rudolf Scharping und Gerhard Schröder. Gerhard Schröder erklärte, dass er nicht nur das Amt des Parteivorsitzenden, sondern auch das Amt des Kanzlerkandidaten anstrebe. Ich geriet während einer Parteivorstandssitzung heftig mit ihm aneinander und sagte, dass ich mit ihm nicht zusammenarbeiten könnte. Über die Tatsache, dass er schon vor dem erklärten Rücktritt Björn Engholms Anspruch auf seine Nachfolge erhoben hatte, war ich empört. Zudem war ich enttäuscht darüber, dass er, den ich lange Jahre gegen den Widerstand vieler unterstützt hatte, sich immer mehr von mir abwandte. Die Saar - SPD unterstützte Scharping, weil es schien, dass er bereit war, mir erneut die Kanzlerkandidatur der SPD anzutragen. Peter Glotz erinnert sich in seinem Buch Die Jahre der Verdrossenheit an den Abend des 17. Mai 1993: »Am Abend sitzen wir bei dem Saarländer zusammen und trinken, acht oder neun Vorstandsmitglieder. Das Ziel ist klar: Wir wollen Scharping dazu bringen, Lafontaine als Kanzlerkandidaten zu akzeptieren. Ein Tandem. Schröder bleibt ausgeklammert. Er ist berauscht von der Idee, dass der Moschusgeruch der Macht die Leute betäube. Deswegen wiederholt er täglich sechsmal die Formel >Ich will alles*. - Also muss man dafür sorgen, dass er gar nichts bekommt. Heidi Wieczorek-Zeul, die natürlich genau begreift, was gespielt wird, bleibt ein wenig säuerlich. Es geht hin und her, her und hin. Nach ein paar Stunden sind wir alle angetrunken, Scharping ausgenommen. Klaus Matthiesen bedrängt ihn mit immer neuen Attacken. Er sieht aus wie ein Oberbootsmannsmaat auf großer Fahrt. Gleich, denke ich mir, wird er singen: >Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord.< Er singt aber nicht, er brüllt. Scharping bleibt kalt, vorsichtig. Da weiß ich: der will auch alles, er sagt es nur nicht.« Heidemarie Wieczorek-Zeul wurde insbesondere in den eher linken Landesverbänden und Bezirken und von den Frauen unterstützt. Aus der Wahl ging Rudolf Scharping mir 40,3 Prozent als Sieger hervor. Gerhard Schröder erreichte 33,2 Prozent und Heidemarie Wieczorek-Zeul erreichte 26,5 Prozent. Nach der Wahl erklärte Rudolf Scharping: »Tandem bin ich noch nie gefahren.« Dieser Satz ist ein Beleg dafür, warum Rudolf Scharping im Parteivorsitz an sich selbst gescheitert ist. Er suchte zuwenig das Gespräch und die Zusammenarbeit. Ich erinnere mich noch, dass ich Johannes Rau einmal anrief und sagte: »Johannes, kannst du mir helfen? Der Rudolf redet zuwenig mit mir. Vielleicht kannst du herausfinden, was die Ursache ist, und dazu beitragen, dass wir besser
miteinander ins Gespräch kommen.« Johannes Rau lachte am anderen Ende der Leitung und sagte auf seine unnachahmliche Art: »Da musst du dir nichts draus machen, der redet mit mir auch nicht.« Rudolf Scharping war als Parteivorsitzender gut gestartet und wurde von der Presse mit sehr viel Vorschußlorbeeren bedacht. Es war klar, dass ihm niemand die Kanzlerkandidatur verwehren konnte, wenn er sie wünschte. Er wurde auf dem Parteitag in Halle am 22. Juni 1994 mit 95 Prozent der Stimmen zum Kanzlerkandidaten der SPD gewählt. Nach den Erfahrungen des Jahres 1990 hatte ich mir vorgenommen, meinen Anteil bei der Unterstützung des Kanzlerkandidaten durch die Partei beizusteuern. Die mangelnde Unterstützung von Teilen der Partei hatte mir im Wahlkampfjahr 1990 arg zugesetzt. Gunter Hofmann, Leiter des Berliner Büros der Zeit, urteilt über diese Jahre: »Lafontaine blieb im Hintergrund. Kein geringschätziges oder unfaires Wort aus seinem Mund hat man im Ohr, mit dem er zu Engholm oder Scharping, den jeweiligen Vorsitzenden, auf Distanz gegangen wäre. Oft feilte er Kompromisse mit (Asylgesetz), gelegentlich blockierte er eine Kehrtwendung der Politik (den Ausstieg aus der Kernenergie wollte er nicht aufgeben, und gegen Kampfeinsätze der Bundeswehr am Balkan sträubte er sich) ... Manchmal konnte man fast meinen, er habe die Lust an der Politik verloren. Als stellvertretender Parteivorsitzender und als Ministerpräsident wirkte er zwar im Hintergrund mit, aber Ambitionen schien er nicht mehr zu haben. In dieser Zeit avancierte Gerhard Schröder zum heimlichen, später dann sogar offenen Rivalen Rudolf Scharpings - und zum neuen >Helden< der SPD, der ganz offensichtlich Kanzler werden wollte. Manchmal entstand der Eindruck, Schröder verachte geradezu seine eigene Partei, er galt jetzt unversehens als der kleine Franz Josef Strauß der SPD, nicht mehr Lafontaine. Er schien der destruktive Charakter zu sein, der Unfrieden stiftet, während Lafontaine in die Rolle des stillen Moderators geriet.« Ich unterstützte Rudolf Scharping nach Kräften. Im Wahlkampf 1994 hatte ich nach einem Bericht der Bild am Sonntag von allen Politikern das größte Pensum im Parlament und im Fernsehen auf mich genommen. Leider zeigte sich auch bei diesem Wahlkampf, wie schon bei den Bundestagswahlen davor, dass es ein Fehler der SPD war, den Kanzlerkandidaten zu früh zu bestimmen und auszurufen. Auf einer Pressekonferenz war Rudolf Scharping nach dem Steuerkonzept der SPD gefragt worden. Er sollte auch beantworten, ab welchem Einkommen die SPD eine Ergänzungsabgabe einführen wolle. Da wir diese Grenze noch nicht festgelegt hatten, geriet Rudolf Scharping ms Schleudern. Dies wurde ihm dann ungerechterweise so ausgelegt, als hätte er brutto und netto verwechselt. Danach wandelte sich das öffentliche Meinungsbild. Diejenigen, die vorher seine Eigenschaften - eine gewisse Langsamkeit, Beständigkeit und Verlässlichkeit - gut beurteilt hatten, kamen jetzt zu dem Ergebnis, er sei langweilig, ideenlos und hätte wenig Temperament. Zudem machte Rudolf Scharping im Verlauf der Wahlkampagne eine Reihe von Fehlern. Am Z3- Mai 1994 schafften wir es nicht, dass Johannes Rau zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Roman Herzog setzte sich durch. In der Rau-Biographie von Rolf Kleine und Matthias Struck heißt es dazu: »Unter dem Eindruck der Herzog-Wahl begeht die SPD gleich am nächsten Tag einen schweren taktischen Fehler. Enttäuscht, dass seine Rechnung nicht aufgegangen ist, rückt Parteichef Rudolf Scharping das Ergebnis der Wahl vor der Bundespressekonferenz in die Nähe eines Aktes von zweifelhafter politischer Legitimität. Nicht von dem Bemühen, den Besten zu wählen, sei die Mehrheit getragen worden, >sondern lediglich von machtpolitischem Kalkül von Helmut Kohlwer denn die FDP eigentlich noch braucht«. Das Medienecho auf Scharpings Auftritt ist verheerend. Von >bösem Nachtreten« ist die Rede, von schlechten Verlierern«, die nicht begreifen wollten, dass sie von vornherein keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätten. Selbst in der SPD löst der Auftritt des Vorsitzenden Kopfschütteln aus. Man solle jetzt >nicht nachkarten«, warnt Fraktionschef Hans-Ulrich Klose, >unser politischer Gegner heißt Helmut Kohl und nicht Roman Herzog«. Intern fällt die Kritik sogar noch heftiger aus. >Wie ein trotziges Kind< habe der Parteichef reagiert und damit ohne Not politisches Porzellan zerschmissen«, rügen Präsidiumsmitglieder. Die SPD und ihr Kanzlerkandidat Scharping sind aus dem Tritt geraten.« Was auch schief ging, alles wurde nun Scharping zur East gelegt. Im Gegenzug hatte es Gerhard Schröder verstanden, sich durch Kritik an der Politik der Partei und der Person Rudolf Scharpings als neuer Hoffnungsträger der SPD zu empfehlen. Insbesondere die Hamburger Presse war ihm wohlgesonnen. Als wir sahen, dass die Umfrageergebnisse für die SPD immer schlechter wurden, kam mir die Idee, Gerhard Schröder für die Regierungsmannschaft zu gewinnen. Rudolf Scharping stimmte nach einigem Zögern zu und nahm das Gespräch mit Gerhard Schröder auf. So entstand die Troika.
Der Eintritt Gerhard Schröders in die Wahlkampfmannschaft verhinderte ein weiteres Absinken der SPD in den Umfragen, sicherlich auch, weil jetzt das von der Presse gewünschte neue Gesicht im Wahlkampf auftauchte. »Das ist ein genialer Coup von Rudolf Scharping«, kommentierte die Hamburger Morgenpost. Und unter der Überschrift »Scharpings bester Schachzug« schrieb Martin E. Süskind in der Süddeutschen Zeitung: »Dies alles kann nur bedeuten, dass jetzt, da der Liebling der Nation eingreift, der Wahlkampf einen kräftigen neuen Anstrich bekommen wird.« Vier Tage vor dem Wahltag sorgte Schröder noch einmal für Aufregung. In einem Interview erklärte er sich bereit, auch im Falle einer großen Koalition unter Kanzler Kohl als Wirtschaftsminister nach Bonn zu kommen, und fügte hinzu, Kohl sei für ihn »nie eine Unperson« gewesen, sondern »ein Mann, dessen politische Lebensleistung ich nie in Abrede gestellt habe«. Einen Tag später sagte Theo Waigel zu mir im Bundesrat: »Schönen Gruß vom Kohl: Den Schröder nimmt er nicht.« Das saß! Das Wahlergebnis aber reichte nicht aus, um die Regie rung Kohl abzulösen. Zwar hatte Gerhard Schröder nach den ersten Hochrechnungen die Bildung einer großen Koalition angeregt und gesagt: »Es steht doch fest, dass man Deutschland mit einer so lächerlichen Mehrheit nicht regie ren kann.« Aber die Koalition aus CDU/CSU und FDP war auf Weitermachen festgelegt. Die Enttäuschung war entsprechend groß. Defätismus machte sich breit. Die SPD, so meinten einige, sei strukturell nicht mehrheitsfähig und könne in Deutschland keine Wahlen mehr gewinnen. Helmut Kohl, so meinten wiederum andere, sei ein unschlagbarer politischer Profi, und insbesondere in der Endphase des Wahlkampfs würde er immer wieder das Rennen machen. Damals kam das Wort von der Kohl-Kurve auf: Zu Beginn eines Wahlkampfs lag Kohl immer zurück, um dann während des Wahlkampfs mächtig aufzuholen und am Ende die Nase vorn zu haben. Kohl gewann 1994 nicht, weil er so gut war, sondern weil wir so viele Fehler gemacht hatten. Nach der Bundestagswahl ließ uns vor allen Dingen Gerhard Schröder wissen: »Ich hätte es gepackt.« In den darauffolgenden Monaten kam es zu einem regelrechten Dauerkrieg zwischen Rudolf Scharping und Gerhard Schröder, der die Partei stark beschädigte. Ich hatte Rudolf Scharping immer wieder nahegelegt, auf die Angriffe Gerhard Schröders nicht zu reagieren, da er bei diesem Spiel nur verlieren könne. Rudolf Scharping sah das anders. Höhepunkt der Auseinandersetzung war die Entlassung Gerhard Schröders als wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD, obwohl Johannes Rau und ich davon abgeraten hatten. Die Partei hatte zwischenzeitlich bei Meinungsumfragen sehr schlechte Ergebnisse. Dazu kam, dass ich mich beim Thema Auslandseinsätze der Bundeswehr außerhalb des Nato-Vertragsgebiets genötigt sah, Rudolf Scharping öffentlich zu widersprechen. Die Partei hatte auf dem Parteitag in Bremen 1991 einem Antrag zugestimmt, den Björn Engholm und ich zusammen mit den Außen- und Sicherheitspolitikern ausgearbeitet hatten. In diesen Beschluss wurde die Beteiligung der Bundeswehr an Blauhelmmissionen der UNO befürwortet. Ausdrücklich abgelehnt hatte die Partei Kriegseinsätze der Bundeswehr außerhalb des Nato-Vertragsgebiets. Diese Festlegung wollte Rudolf Scharping verändern. In einem Brief an die Mitglieder des Parteivorstandes und der Bundestagsfraktion schrieb er im Dezember 1994: »Eine deutsche Beteiligung an Nato-Maßnahmen zum Schutz eines eventuellen Abzugs der UN-Blauhelme ist nicht nur eine Verpflichtung gegenüber den Entsendestaaten, sondern unzweifelhaft auch eine Bündnisverpflichtung, wenn die Nato einen entsprechenden UN-Auftrag erhält.« In einem Aufsatz im Spiegel trat ich dieser Auffassung entgegen. Ich spielte über die Bande und kritisierte nicht Scharping, sondern die Bundesregierung: »Jetzt bietet die Bundesregierung Tornados an, um Hilfsflüge zu schützen und, falls nötig, beim Abzug von Blauhelmen serbische Stellungen zu bombardieren. Als verhängnisvoll für die zukünftige Außenpolitik erweist sich, dass die Bundesregierung ihr absurdes Angebot mit unserer Verpflichtung zur Bündnissolidarität begründet, obwohl die Nato in ihren vertraglichen Verpflichtungen gar nicht gefordert ist.« Ich konnte mich dabei auch auf Helmut Schmidt berufen, der bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung gemahnt hatte, darauf zu achten, dass weder die Europäische Union noch die Nato zum Spielball kurzfristiger Entscheidungen des UNO-Sicherheitsrats gemacht würden. Man könne die Nato dadurch sehr schnell demontieren. Ganz auf dieser Linie schrieb er einige Jahre später: »Gegenüber den Weltproble men des nächsten halben Jahrhunderts ist der von Washington betriebene Ausbau der Nato zu einer weltweit operationsfähigen Interventionsstreitmacht wenig hilfreich. Sie könnte weder die zukünftigen Krisen in Asien, noch in Afrika noch in Lateinamerika bewältigen. Auch im Kosovo und auf der BalkanHalbinsel insgesamt kann sie Konflikte zwar gewaltsam unterdrücken, aber nicht dauerhaft lösen. Die westliche militärische Allianz kann mit einer Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit verglichen
werden, keiner der Partner möchte sie aufs Spiel setzen. Dennoch ist sie kein Instrument zur Lösung aller Probleme außerhalb der Territorien der Partnerstaaten. Eine öffentliche Debatte über eine generelle Ausweitung der Aufgaben der Nato (Out of Area) hat es bisher kaum gegeben. Dennoch muss ein Demokrat eine tiefschürfende öffentliche Debatte dringend wünschen.« In der Bundestagsfraktion kam es 1995 zu heftigen Diskussionen um die Frage des Einsatzes von Bundeswehrtornados zur Zerstörung serbischer Stellungen. Ein Teil der Bundestagsfraktion stimmte mit der Regierung Kohl für den Einsatz. Die SPD blieb bei der bis dahin vertretenen Linie. Die Bombardements der Nato in der Krajina hatten schlimme Folgen. Die Kroaten nutzten sie, um etwa 2oo ooo Serben aus der Krajina zu vertreiben. Horst Grabert, ehemaliger Kanzleramtschef bei Willy Brandt, schreibt: »Die Idee, das Kosovo von Albanern zu säubern, stammt vom früheren Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien Cosic und war seine Antwort auf die Vertreibung der Serben in der Krajina. Damit sollte Platz zur Ansiedlung der vertriebenen Serben geschaffen werden. Das hat einen durchaus realen Hintergrund, denn Serbien ist das Land mit den meisten Vertriebenen. Überall gibt es Flüchtlingscamps, in denen auch viele Serben leben, die aus dem Kosovo vertrieben wurden. Milosevic hat sich ungefähr fünf Jahre gegen diesen Vertreibungsplan gewehrt. Aber im Zusammenhang mit der Hereinnahme des Ultranationalisten Seselj in die Regierung hat er seinen Widerstand aufgegeben. Als die Bombardierungen der Nato begannen, stand er vor der Frage, wie lange die auszuhalten sind. Und er ist zu dem Schluss gekommen, dass die Vertreibungen in dieser Zeit erledigt sein müssen.« Wegen des Nato-Bombardements im Jahr 1995 und der brutalen Vertreibung der Serben aus der Krajina kam ich zu der Überzeugung, dass es falsch ist, als Kriegspartei in einen Bürgerkrieg einzugreifen. Das ist auch heute noch meine Meinung.
DER PARTEITAG VON MANNHEIM
Im Lauf der ersten Hälfte des Jahres 1995 hatte ich immer stärker das Gefühl, dass sich Rudolf Scharping in den von ihm beanspruchten Funktionen des Parteivorsitzenden, Fraktionsvorsitzenden und Kanzlerkandidaten zuviel vorgenommen hatte. Ich drängte also in vielen Gesprächen darauf, gemeinsam eine Neuverteilung der Aufgaben zu suchen. Dabei dachte ich daran, Johannes Rau noch einmal zu bitten, den Parteivorsitz zu übernehmen. Zwar wusste ich, dass er da oder dort auf Vorbehalte stieß, aber immer noch war es so, dass die große Mehrheit sein ausgleichendes Wesen und die Fähigkeit, Menschen zusammenzuführen, sehr schätzte und dass er über ein gehöriges Maß an Autorität verfügte. Gerhard Schröder wollte ich den Parteivorsitz nicht antragen. Er hatte mir einmal gesagt, er sei nicht geeignet, diese Aufgabe zu übernehmen. Eine Zeitlang spielte er damals mit dem Gedanken, sich um das Amt eines EU-Kommissars zu bewerben. Ich lud Rudolf Scharping und Johannes Rau zu mir nach Hause ein, um sie dafür zu gewinnen, die Führungsspitze der SPD neu zu bilden. Das Abendessen brachte aber nicht den gewünschten Erfolg. Johannes Rau und Rudolf Scharping blockten ab. Sie wollten nichts verändern. Am folgenden Tag fragte ich Christa, ob ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt hätte. Sie sagte mir, ich sei überdeutlich gewesen, aber die Bereitschaft von Johannes Rau und Rudolf Scharping, auf meine Gesprächsangebote einzugehen, sei nicht vorhanden gewesen. So beschloss der Vorstand mit großer Mehrheit, Rudolf Scharping erneut zum Parteivorsitzenden vorzuschlagen. Nach den Meinungsumfragen hätten zu diesem Zeitpunkt nur noch rund 30 Prozent der Wähler bei einer Bundestagswahl der SPD die Stimme gegeben. Christa und ich fuhren nach Mannheim in der festen Gewissheit, dass sich nichts ändern würde. Aber es kam anders. Rudolf Scharping hatte bei seiner Rede einen schlechten Tag erwischt. Wer auch immer ihn beraten hatte, er stand allein auf der Bühne, wie von aller Welt verlassen, und trug eine nur mäßige Rede vor. Anschließend machte sich so etwas wie Ratlosigkeit unter den Delegierten breit. Am darauffolgenden Tag sollten in Diskussionsrunden mit Gästen wirtschafts- und sozialpolitische Fragen erörtert werden. Eingeladen waren unter anderem Jacques Delors, Dieter Schulte, Klaus Zwickel und Hans-Peter Stihl. Ursprünglich war geplant, die Gäste nach der Rede von Jacques Delors auf verschiedenen Foren zu den wichtigsten politischen Themen diskutieren zu lassen. Danach sollte die Antragsberatung beginnen. Als ich sah, dass sich der Saal immer mehr leerte und die Aufmerksamkeit immer geringer wurde, schlug ich Ulrich Maurer, der im Präsidium war, vor, mit meinem Bericht aus der Antragskommission früher zu beginnen. Ich hatte die Hoffnung, dass sich das Plenum wieder füllen würde, da in der Regel meine Beiträge auf den Parteitagen auf größere
Aufmerksamkeit stießen. Mein Bericht der Antragskommission wurde zur mittlerweile bekannten Rede von Mannheim, die ich mit dem Satz schloss: »Es gibt noch Politikentwürfe, für die wir uns begeistern können. Wenn wir selbst begeistert sind, können wir auch andere begeistern. In diesem Sinne: Glückauf.« Das Protokoll vermerkt: »Lebhafter, langanhaltender Beifall, die Delegierten erheben sich.« Erst während der Rede war mir klargeworden, dass ich etwas in Gang gesetzt hatte. Die hinter vorgehaltener Hand geführte Diskussion darüber, ob Rudolf Scharping der richtige Vorsitzende sei oder nicht, war nun offen ausgebrochen. Mehrere Delegierte forderten mich am selben Tag auf, für den Parteivorsitz zu kandidie ren. Ich selbst zögerte. Zwar hatte Christa bei unseren Diskussionen zu Hause immer auf mich eingeredet, ich könne doch nicht tatenlos zusehen, wie die Partei immer weiter in den Meinungsumfragen abrutsche. Ich hatte entgegnet, dass die Übernahme des Parteivorsitzes unser Familienleben erschweren werde. Da die Aufgabe des Parteivorsitzenden viel Zeit in Anspruch nähme, müsste ich häufiger unterwegs sein. Außerdem hatte ich nicht damit gerechnet, dass es zu einem Wechsel im Parteivorsitz kommen könnte. Abends saß ich mit Gerhard Schröder an der Bar des Hotels, und er redete ebenfalls auf mich ein zu kandidieren. Auch bei dieser Unterredung, die von vielen so gesehen wurde, als hätten sich die Putschisten zum letzten Mal verschworen, hatte ich mich nicht entschließen können. Noch bis in die späte Nacht erreichten mich in meinem Zimmer Anrufe, die zum Ziel hatten, mich zur Kandidatur zu bewegen. Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Am anderen Morgen bat Rudolf Scharping um ein Gespräch. Er hatte sich mit Freunden beraten und war zu dem Ergebnis gekommen, mich ultimativ zur Kandidatur aufzufordern. Ich wollte nicht mehr ausweichen und sagte zu, ebenfalls zu kandidieren. Über den Ausgang machte ich mir weniger Gedanken. Eine Niederlage wäre kein Beinbruch gewesen. Vor dem Parteitag sagte Scharping später laut Protokoll: »Wir haben jetzt eine Situation, in der man etwas klären muss. Ich habe deshalb heute morgen Oskar gefragt, ob er bereit sei, für das Amt des Parteivorsitzenden zu kandidieren ... Oskar hat auf meine Frage hin gesagt, dass er kandidieren wird.« Er war zu diesem Zeitpunkt fest davon überzeugt, auf dem Parteitag eine Mehrheit zu erhalten. Richtig war seine Einschätzung, dass eine solche Mehrheit, wenn sie auch knapp gewesen wäre, seine Position eher gestärkt als geschwächt hätte. Das Ergebnis war mit 32,1 zu 190 Stimmen unerwartet deutlich. Zum ersten Mal in der Geschichte der SPD war ein amtierender Vorsitzender abgewählt und ein neuer gewählt worden. Ich empfand eine große Verantwortung und sah in dem neuen Amt eine schwere Bürde. Schließlich musste die Partei aus einer Talfahrt herausgeholt werden, und die Zusammenarbeit der Führung ließ viele Wünsche offen. Ich sagte am Schluss des Parteitags an die Adresse der anderen Mitstreiter im demokratischen Wettbewerb: »Zieht euch warm an, wir kommen wieder! postkommunistischgleicher lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort< durch nationale und europäische Regelungen durchgesetzt werden.« Denjenigen, insbesondere aus der FDP, die gegen diese politischen Vorstellungen zu Felde zogen, hielt ich immer entgegen, der Mensch sei keine Ware. Zwar könne man beim Bananenimport oder beim Import von irgendwelchen Industriegütern sehr wohl das Prinzip des Wettbewerbs hochhalten. Aber die Löhne und Arbeitsbedingungen der Menschen seien nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Wettbewerbs zu betrachten. Das entspräche nicht dem sozialdemokratischen Grundverständnis von Politik. Ich war auch zornig auf Politiker in Deutschland, die sich trotz der miserablen Arbeitsbedingungen und Stundenlöhne gegen das Entsendegesetz wandten. Das Entsendegesetz sollte sicherstellen, dass auf deutschen Baustellen keine Arbeitslöhne gezahlt werden, die weit unter dem Existenzminimum lagen. Politikern von FDP, CDU, aber auch „Modernisierern“ in den eigenen Reihen hielt ich entgegen, dass der eine oder andere von ihnen erst wach würde, wenn auch im Deutschen Bundestag polnische oder portugiesische Parlamentarier sitzen könnten, die für ein Zehntel der Diäten bereit wären, die Parlamentsarbeit zu machen. Mit diesem Hinweis hatte ich jedenfalls auf
Wahlversammlungen immer die Lacher auf meiner Seite. Auch hier wurde wie der deutlich, dass die »Modernisierer« Reformen für »den kleinen Mann« vorschlugen, die sie für sich selbst nie akzeptiert hätten. Neben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Rentnerinnen und Rentnern wollten wir auch die Jugendlichen direkt ansprechen. Wir nahmen in das Regierungsprogramm ein Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit auf. Es hieß: »Mit einem Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit werden wir dafür sorgen, dass 100000 jugendliche Arbeitslose so schnell wie möglich in Ausbildung und Beruf kommen. Wir wollen, dass alle Jugendlichen, die länger als sechs Monate arbeitslos sind, einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz erhalten. Für die Finanzierung des Programms werden die Mittel eingesetzt, die sonst für die Bezahlung der Jugendarbeitslosigkeit ausgegeben werden müssten. Unser Grundsatz heißt: Ausbildung und Arbeit statt Jugendarbeitslosigkeit.« Diese Verpflichtung war wichtig, weil sie insbesondere für die Jugendorganisationen eine Möglichkeit bot, bei den jungen Menschen für einen Regierungswechsel zu werben. Dazu kam, dass die Ausbildungsplatzabgabe in das Regie rungsprogramm aufgenommen wurde. Ich legte Wert darauf, dass sie Bestandteil unseres Regierungsprogramms war. Es hieß: »Wirtschaft und Öffentlicher Dienst müssen in eigener Verantwortung für ein ausreichendes Lehrstellenangebot sorgen. Anderenfalls wird auf gesetzlicher Grundlage ein fairer bundesweiter Leistungsausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben notwendig.« Hier musste eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung Flagge zeigen. Eine Gesellschaft, in der sich ein Privatvermögen von 14,5 Billionen Mark angehäuft hatte, musste in der Lage sein, jedem Jugendlichen, der es wollte, einen Ausbildungsplatz anzubieten. Das war nicht eine Frage ökonomischer Rationalität, sondern eine Frage gesellschaftlicher Natur. Wie wollen wir zusammen leben und arbeiten? Ist es zulässig, jungen Menschen den Einstieg ins Berufsleben zu verwehren? Unsere Antwort war eindeutig. Wir wollten es nicht bei unverbindlichen Formulierungen lassen, sondern klare, überprüfbare Zusagen machen. Auch in der Gesundheitspolitik bestand Korrekturbedarf. Jeder weiß, dass der volkstümliche Satz »Ich wünsche dir Glück, vor allem aber Gesundheit« nicht einfach dahergesagt ist. Alles wird belanglos und alles wird unwichtig, wenn plötzlich ein Familienmitglied oder ein Freund von einer schweren Krankheit heimgesucht wird. In diesen Zeiten lernt man die Bedeutung eines guten Gesundheitswesens schätzen. Auf jeden Fall kann eine sozialdemokratische Partei nicht einer Entwicklung tatenlos zusehen, die darauf hinaus läuft, dass bestimmte medizinische Leistungen nur noch von denen in Anspruch genommen werden können, die ein hohes Einkommen haben. Daher haben wir die Absichtserklärung in das Regierungsprogramm aufgenommen, die gesetzlich festgelegte Steigerung der Zuzahlungen bei den Arzneimitteln wieder zurückzunehmen. Wir nahmen ebenfalls ins Programm auf, dass Jugendlichen wieder die Finanzierung des Zahnersatzes zustehen sollte. Auch diese beiden Versprechen spielten im Wahlkampf eine wichtige Rolle. Ich war erleichtert darüber, dass wir es geschafft hatten, ein klar sozialdemokratisch profiliertes Regierungsprogramm aufzuschreiben und dass dieses Programm die Unterschrift des Kanzlerkandidaten und des Parteivorsitzenden trug. Es sollte nach der Wahl keinen Streit darüber geben, welche Politik zu machen war. Es war interessant zu beobachten, dass im Wahlkampf genau diese Programmpunkte eine entscheidende Rolle spielten und von der sozialdemokratischen Anhängerschaft als das Markenzeichen der SPD angesehen wurden. Natürlich fehlte es nicht an Kommentaren, dass diese Versprechen dem »Modernisierer« Schröder von dem »Traditionalisten« Lafontaine und seinem Anhang aufgezwungen wurden seien. Es war für mich aber erfreulich, dass sich alle sozialdemokratischen Wahlkämpfer einschließlich des Kanzlerkandidaten in ihren Reden auf diese Programmpunkte bezogen, weil ihnen dann eine entsprechende Resonanz beim Publikum gewiss war. Mit Sprüchen wie: Die sozialen Leistungen sind zu hoch, die Löhne sind zu hoch, die Arbeitsbedingungen müssen noch flexibler werden, und die Arbeitnehmerrechte müssen weiter abgebaut werden, kann kein Sozialdemokrat Wahlkämpfe bestehen. Man kann mit solchen Parolen vielleicht bei Versammlungen von Unternehmern und Gewerbetreibenden punkten. Diese ärgern sich oft über Kündigungsschutzbestimmungen oder über die sozialen Ansprüche der Arbeitnehmerschaft. Das ist menschlich alles verständlich. Man findet mit
solchen Sprüchen auch Beifall in der Presse. Aber eine sozialdemokratische Wahlkampagne kann nur mit sozialdemokratischer Politik geführt werden. Und wenn es eines Beweises bedarf, dann erbrachte ihn der Bundestagswahlkampf des Jahres 1998. Für mich war es wichtig, dass das Regierungsprogramm auch zur ökologischen Erneuerung der Industriegesellschaft klare Aussagen machte. In Deutschland hatte sich die falsche Meinung durchgesetzt, Modernisierung und ökologische Erneuerung seien ein Widerspruch. Da der Begriff der »Modernisierung« auf Sozialabbau, auf den Abbau von Arbeitnehmerrechten und auf eine falsch verstandene Flexibilisierung des Arbeitsmarkts ausgerichtet war, schien alles Ökologische dem Modernisierungsgedanken zu widersprechen. Interessanterweise übersahen diejenigen, die sich in Deutschland auf Tony Blair und seine Modernisierung beriefen, dass der Vordenker Tony Blairs, Anthony Giddens, die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft zum zentralen Projekt der Moderne erklärt. In seinem Euch Jenseits von rechts und links nennt er die Umweltbewegung die bedeutsamste Bewegung der letzten Jahre. In seinem Buch Der dritte Weg schreibt er: »Modernisierung ist grundle gend für die neue Politik. Ökologische Modernisierung ist ein Bestandteil von ihr neben anderen. Tony Blairs Reden etwa sind mit dem Wort nur so gespickt. Was soll man darunter verstehen? Zum einen natürlich die Modernisierung der Sozialdemokratie selbst. Das Abrücken von klassischen sozialdemokratischen Positionen.[ Giddens zielt hier auf die Verstaatlichungsideen der Labour-Party, die die SPD schon im Godesberger Programm aufgegeben hatte.] Eine allgemeine Modernisierungsstrategie kann jedoch nur Erfolg haben, wenn die Sozialdemokraten ein anspruchsvolles Verständnis des Konzepts haben. Eine ökologisch sensibilisierte Modernisierung kann nicht nach dem Motto mehr und immer mehr Modernität verfahren. Es gilt vielmehr, die Brüche und Grenzen des Modernisierungsprozesses selbst in Rechnung zu stellen. Modernisierung hat angesichts des unberechenbaren Wandels, der von der prinzipiell unvorhersehbaren Dynamik der wissenschaftlichen und technologischen Innovation geprägt ist, die Aufgabe, für ein gewisses Maß an Kontinuität zu sorgen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.« Anthony Giddens käme es nicht in den Sinn, ökologische Forderungen als unmodern oder wirtschaftsfeindlich abzutun. Es käme ihm noch weniger in den Sinn, den Abbau von Arbeitnehmerrechten ins Zentrum der Modernisierung zu rücken, denn dies würde den »gesellschaftlichen Zusammenhalt« nicht gerade stärken. Das Regierungsprogramm enthielt daher eindeutige Forderungen zur ökologischen Modernisierung. Wir versprachen die ökologische Erneuerung des Steuer- und Abgabensystems. Die Arbeit war in Deutschland zu teuer geworden. Der Umweltverbrauch war relativ billig. Da das Steuer- und Abgabensystem die wichtigen Rahmendaten beinhaltet, die der Staat festsetzt, um die soziale Marktwirtschaft zu ermöglichen, ist die ökologische Modernisie rung dieses Steuer- und Abgabensystems ein wesentliches Projekt der Modernisierung. Wir forderten die Energiewende und den Ausstieg aus der Atomkraft. Einen Zeitplan legten wir nicht fest. Viele praktische Argumente sprachen dagegen. Es hieß in unserem Programm, dass wir die Nutzung der Atomkraft so schnell wie möglich beenden wollen. Die Energiewende überschrieben wir mit: »Wir wollen die Brücke ins Solarzeitalter bauen. Das ist unsere Vision für das 21. Jahrhundert. Die erneuerbaren Energien sollen ein Eckpfeiler der Energieversorgung werden. Der Anteil der regenerativen Energien an der gesamten Energieversorgung soll schrittweise erhöht werden. Dazu gehören faire Einspeiseregelungen für Strom aus erneuerbaren Energiequellen, das gilt sowohl national als auch europaweit. Die industrielle Massenfertigung für moderne Solartechnologien muss ausgebaut werden. Wir werden ein Hunderttausend-DächerProgramm initiieren und den Export der Solartechnologie in Entwicklungsländer besonders unterstützen.« Die beiden Worte »Innovation« und »Gerechtigkeit« waren keine leeren Worthülsen. Wir hatten uns im Regierungsprogramm klar festgelegt, und zwar so, dass auch die einfachen Mitglieder die wesentlichen Punkte des Programms vermitteln konnten. Es nützt nichts, langatmige Programme zu schreiben, die nur die Autoren verstehen. Es ist wichtig, im Dialog mit den Wählerinnen und Wählern ein allgemeinverständliches Programm zu formulieren, das den Wünschen der Mehrheit Rechnung trägt und finanzierbar ist.
Aufstellung der Regierungsmannschaft
Die Aufstellung der Regierungsmannschaft ist immer eine heikle Angelegenheit. Diejenigen, die berufen werden, sind zufrieden. Diejenigen, die nicht berufen werden, sind enttäuscht. Daher geht kein Kandidat gerne an die Aufstellung einer Regierungsmannschaft. Gerhard Schröder und ich hatten deshalb vereinbart, eine Kernmannschaft vorzustellen, um uns offen zulassen, im Fall der Regierungsbildung zusätzliche Kolleginnen und Kollegen für Regierungsämter vorzuschlagen. So mussten wir uns nicht exakt darauf festlegen wer im Fall eines Wahlsiegs einen Anspruch auf ein Regierungsamt haben würde und wer nicht. Dies diente der Befriedigung der Partei und wurde letztendlich auch so angenommen. Natürlich versteht es sich, dass der Kanzlerkandidat und der Parteivorsitzende der Regierungsmannschaft angehören. Ich erklärte mich bereit, die Verantwortung für die Bereiche Finanzpolitik und Europapolitik zu übernehmen, ohne dass das eine endgültige Festlegung war. Schon damals war darüber gesprochen worden, dass ich auch das Amt des Fraktionsvorsitzenden übernehmen könnte, um dem zukünftigen Bundeskanzler die notwendige Rückendeckung zu geben. Vor allem ehemalige Bundesminister wie Horst Ehmke und Herbert Ehrenberg rieten zu dieser Lösung. Wir waren uns klar darüber, dass die Regierungsarbeit nur erfolgreich sein könnte, wenn Parteivorsitzender und Bundeskanzler eng zusammenarbeiteten. Überlegungen, die vielerorts angestellt wurden, ob die zusätzliche Übernahme des Amtes des Fraktionsvorsitzenden durch mich nicht eine unzulässige Verschiebung der Machtbalance gewesen wäre, waren im Prinzip richtig. Sie änderten aber nichts an meiner Sicht der Dinge, dass nur auf der Grundlage einer fairen und kameradschaftlichen Zusammenarbeit die Regie rungsarbeit funktionieren konnte. Rudolf Scharping übernahm die Bereiche Außenpolitik und Sicherheitspolitik. Auch das war keine endgültige Festlegung, da Rudolf Scharping weiterhin interessiert war, Fraktionsvorsitzender zu sein. Er war sogar oft gekränkt, wenn Gerhard Schröder oder andere öffentlich darüber redeten, dass der Parteivorsitzende auch Fraktionsvorsitzender werden könne, wenn er es denn wolle. Gerhard Schröder hatte mir in einem der vielen Gespräche, die wir führten, für den Fall der Regierungsbildung auch die Position des Außenministers angeboten. In diesem Amt hatte sich Willy Brandt einst internationales Ansehen erworben. Doch nicht nur mich hätte dieses Amt gereizt - auch Scharping wollte Außenminister werden, und Fischer war auf die ses Amt geradezu fixiert. Der Finanzminister hat dagegen eine Aufgabe, bei der man eigentlich nur verlieren kann. Theo Waigel rangierte, von mir nicht unbemerkt, am unteren Ende der Popularitätsskala. Aber ich hatte mir nun einmal vorgenommen, meinen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten. Es war seit vielen Jahren jedem, der sich näher mit der Sache befasste, aufgefallen, dass der Finanzminister für den Abbau der Arbeitslosigkeit weitaus mehr tun konnte als der Wirtschaftsminister. Helmut Schmidt wollte das Wirtschaftsministerium ganz auflösen, weil es nur noch für Messeeröffnungen und Subventionen zuständig sei. Ich hatte im übrigen als finanzpolitischer Koordinator der SPD im Bundesrat lange Zeit die Finanzpolitik der SPD geprägt. Darüber hinaus war es nur ehrlich, wenn derjenige, der die Wende in der Partei zu einer neuen Wirtschafts- und Finanzpolitik durchgesetzt hatte, auch in der Regierungsarbeit dafür gerade stehen würde. »Unsere Antwort auf die Globalisierung der Wirtschaft ist eine Politik der inneren Reformen und der internationalen Zusammenarbeit«, schrieben wir, und weiter: »Einen Kostensenkungswettlauf gegen die Billiglohnländer dieser Welt kann Deutschland nicht gewinnen. Wenn wir im internationalen Wettbewerb bestehen wollen, dann müssen wir einfach produktiver und besser sein als unsere Konkurrenten. Spitzenprodukte und Spitzenqualität zu wettbewerbsfähigen Preisen, darin liegt die Zukunft der deutschen Wirtschaft. Wir wollen auch einen Leistungswettbewerb um das weltweit beste Bildungssystem, die leistungsfähigste Forschung, die neuesten Technologien und die modernste Infrastruktur. Die globalisierten Märkte brauchen eine neue und faire Weltwirtschaftsordnung, die sich an den Grundsätzen der sozialen und ökologischen Marktwirtschaft orientiert. Mit einer klugen und pragmatischen Kombination von Angebots- und Nachfragepolitik wollen wir für mehr Wachstum und neue Arbeitsplätze sorgen.« Dazu versprachen
wir steuerliche Entlastung, vor allem für Arbeitnehmer und Familien, eine konjunkturgerechte Finanzpolitik mit einer Verstetigung öffentlicher Zukunftsinvestitionen auf möglichst hohem Niveau und einer Verdoppelung der Zukunftsinvestitionen für Bildung, Forschung und Wissenschaft. Das war in wenigen Worten der Gegenentwurf zur Angebotspolitik, die auf Unternehmensteuersenkung, Lohnzurückhaltung, Kürzung sozialer Leistungen und den Abbau von Arbeitnehmerrechten setzte. Die Angebotspolitik beruht auf dem Konzept des Standortwettbewerbs, das Volkswirtschaften mit Betrieben gleichsetzt und Kostensenkung, Steuerwettbewerb und den Abbau sozialer Leistungen zur Voraussetzung für neue Investitionen und Arbeitsplätze erklärt. Unser Regierungsprogramm war eine Absage an die herrschende angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die das Arbeitslosendesaster herbeigeführt hatte. Es bot sich daher an, dass ich selbst die Verantwortung für die se Aufgabe in der Regierung übernehmen würde. So berief ich später mit Heiner Flassbeck und Claus Noe zwei Männer zu Staatssekretären, die für diese neue wirtschafts- und finanzpolitische Konzeption standen. Dass sie dabei anecken würden, war vorauszusehen. Sich brav in die herrschende Meinung einzuordnen ist in der Regel leichter und von mehr öffentlichem Beifall begleitet. Dass Hans Eichel später über die beiden herzog mit den Worten, der eine hat das Ministerium, der andere die Welt gegen sich aufgebracht, war nicht gerade fair, zumal er es in Rekordzeit fertiggebracht hatte, Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner gegen sich aufzubringen. Heiner Flassbeck hatte bei seinen Vorstößen meist die Unterstützung der Franzosen und Japaner. Dass die Angelsachsen und Tietmeyer nicht mit ihm übereinstimmten, sprach nicht unbedingt gegen ihn. Claus Noe ist ebenfalls ein konsequenter Befürworter einer Wirtschaftspolitik, die Angebot und Nachfrage in gleicher Weise berücksichtigt. Auch er traf daher auf Widerstände. Die Kontinuität des Finanzministeriums stellte der langgediente Staatssekretär Manfred Overhaus sicher. Mit Barbara Hendricks und Karl Diller als Parlamentarische Staatssekretäre hatten wir eine gute Mannschaft zusammen. Die Kritik, dass in den ersten Monaten das Ministerium nicht perfekt funktionierte, ist nicht falsch, fällt aber auf die Kritiker zurück. Leute, die von sich behaupten, sie bekämen ein großes Ministerium innerhalb kürzester Zeit in den Griff, offenbaren nur ihre Ahnungslosigkeit. Es gibt aber Minister, die das Ministerium innerhalb kürzester Zeit im Griff hat. Sie übernehmen meist, ohne es zu merken, die Politik ihrer Vorgänger, die das Ministerium ebenfalls fest im Griff hatte. Für den Bereich der Justiz schlug Gerhard Schröder Däubler-Gmelin vor, die im Präsidium die einzige war, dir ihn mehr oder weniger offen bei der Kanzlerkandidatur unterstützt hatte. Für den Bereich Forschung, Bildung und Umwelt verständigten wir uns auf Edelgard Bulmahn. Ursprünglich wollte ich in Abstimmung mit Manfred Stolpe Matthias Platzeck für die Kernmannschaft vorschlagen. Er hatte sich bei der Oder-Flut weit über Brandenburg hinaus einen Namen gemacht und sollte für den Bereich Umwelt zuständig sein. Seine Kandidatur für das Amt des Oberbürgermeisters von Potsdam führte jedoch dazu, dass wir dieses Vorhaben aufgaben. Gesetzt für die Regierungsmannschaft war Christine Bergmann aus Berlin, die mehrere Vorzüge in sich vereinigte. Sie repräsentierte den Osten, war eine attraktive Frau und hatte sich als Berliner Senatorin Fachkompetenz erworben, so dass sie für den Bereich Jugend und Familie in die Wahlkampfmannschaft aufgenommen wurde. Rolf Schwanitz war im Wahlkampfteam für den Aufbau Ost zuständig. Er hatte sich in der Bundestagsfraktion als Anwalt der Ostdeutschen einen Namen gemacht. Auf dem Leipziger Parteitag hatte ich mich mit Gerhard Schröder verständigt, Walter Riester in die Regierungsmannschaft zu nehmen. Er war als ein als reformfreudig bekannter Gewerkschafter eine gute Besetzung für das Amt des Arbeitsministers. Willy Brandt hatte die Tradition begründet, führende Gewerkschafter in die Regierung zu berufen. Ich war und bin der Überzeugung, dass erfolgreiche sozialdemokratische Politik nur in engem Schulterschluss zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaftern möglich ist. Im den Bereich der Innenpolitik einigten wir uns auf Otto Schily. Otto Schily hatte sich meine Wertschätzung dadurch erworben, dass er die schwierigen Verhandlungen über den großen Lauschangriff gut geführt hatte. Er musste dabei auch viel Kritik aus der eigenen Partei einstecken. Letztendlich erwies er sich aber als jemand, der klare Vorstellungen hatte und in der Lage war, sie Stück für Stück umzusetzen. Er hatte ein Gespür dafür, welcher Kompromiss für die jeweils Beteiligten vertretbar war. Auch Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering gehörte dem Wahlkampfteam an. Wir hatten vor, ihn zum Chef des Bundeskanzleramts zu machen. Als besonders schwierig stellte sich die Suche nach dem Kandidaten für das Amt des Wirtschaftsministers dar. Gerhard Schröder hatte in einem seiner Interviews angekündigt, einen unabhängigen Fachmann zu berufen.
Ich selbst stand dieser Absicht skeptisch gegenüber. Die in der Öffentlichkeit stets positiv aufgenommene Formel von einem Fachmann von außen unterstellt, dass es in den Parteien zu wenig Fachleute gäbe. Meine Erfahrung war aber die, dass weder wissenschaftliche noch unternehmerische Qualifikation ausreicht, um in der Politik für Wirtschafts- und Finanzpolitik verantwortlich zu sein. Die Führung eines Lehrstuhls ist eine Sache. Die Führung eines Unternehmens verlangt ebenfalls eine besondere Begabung. Ganz anders sind aber die Anforderungen, die an die Führung eines Ministeriums gestellt werden. So erwerben sich die Wirtschafts- und Finanzpolitiker der jeweiligen Parteien nicht nur im Laufe der Jahre die notwendigen Fachkenntnisse, sondern auch die notwendigen politischen Kenntnisse, um in einer parlamentarischen Demokratie ein Ministerium führen zu können. Auch in den vergangenen Jahren hatte man mit der Berufung unabhängiger Fachleute - auch hier war Willy Brandt in der SPD Vorreiter - nicht unbedingt die besten Erfahrungen gemacht. Schröder war aber im Wort, und weil sich die Suche lange hinzog, wurde er in der Öffentlichkeit immer wieder mit der Frage konfrontiert, wann endlich der unabhängige Fachmann oder der erfolgreiche Unternehmer präsentiert würde. Was einen unabhängigen Unternehmer oder Manager anging so standen der Berufung auch Eigeninteressen entgegen. Einmal ist die Annahme eines Regierungsamts in der Regel mit einem drastischen Rückgang des persönlichen Einkommens verbunden. Zum anderen läuft die Kandidatin oder der Kandidat Gefahr, im Fall einer Wahlniederlage In den eigenen Kreisen an Ansehen zu verlieren und für die misslungene Bewerbung auch noch mit Spott und Häme konfrontiert zu werden. Im Juni aber war es dann soweit. Schröder rief mich an Und sagte mir, er habe jetzt den richtigen Mann. Einen jungen erfolgreichen Unternehmer aus der Computerbranche. Wir vereinbarten ein gemeinsames Treffen, und am Freitag, dem 19. Juni, lernte ich Jost Stollmann in der Bonner Saarvertretung kennen. Er machte einen guten Eindruck und schilderte seine berufliche Karriere. Er war mit seiner Kerpener Firma CompuNet zum Umsatzmilliardär aufgestiegen und 1990 zum Euromanager des Jahres gewählt worden. Er hatte an der Bostoner Harvard Business School studiert. Sein Unternehmen, das er an den US-Konzern General Electric verkauft hatte, machte zum Schluss einen Umsatz Von 1,9 Milliarden DM und hatte 1800 Mitarbeiter. Das Unternehmen galt als arm an Hierarchien, schnell, beweglich und dynamisch. Stollmann, der Vater von fünf Kindern ist, war also aufgrund seines bisherigen Lebenslaufs ein idealer Kandidat für Gerhard Schröders Politik der neuen Mitte, die sich ja vor allem an junge Aufsteiger wenden wollte. Ich hatte gleichwohl ein ungutes Gefühl, denn ich merkte schnell, dass der Politikbetrieb Jost Stollmann sehr fremd war. Ich bat daher Gerhard Schröder, die Entscheidung nicht vorzeitig bekannt zugeben, da ich noch das Präsidium für diesen Plan gewinnen wollte. Ich hatte es als Parteivorsitzender zu meinem Prinzip gemacht, in schwierigen Fragen das Präsidium entscheiden zu lassen. Es war aber bereits zu spät. Am nächsten Tag stand der Name Jost Stollmann in allen Zeitungen. In den darauffolgenden Wochen ging die Freude erst richtig los. Jost Stollmann gab eine Reihe von Interviews. Er lobte Helmut Kohl für seine phantastischen Leistungen. Er hatte eine sehr kritische Einstellung gegenüber der Mitbestimmung und dem Sozia lstaat. Pfarrer Hintze feixte: »Prost, Jost!« Und Helmut Kohls Kanzleramt spottete: »Das ist unser Mann im Ollenhauer-Haus.« Wir waren erleichtert, als Jost Stollmann seinen Urlaub nahm. Mitte August berief Helmut Kohl als Antwort auf Jost Stollmann seinen alten Widersacher, Lothar Späth, zum Vorsitzenden eines Beraterkreises für Zukunft und Innovation. Das sah aus wie der Griff nach dem letzten Strohhalm. Ein Regierungschef, der kurz vor der Wahl einen Beraterkreis für Zukunft und Innovation braucht, stellt sich selbst das denkbar schlechteste Zeugnis aus. Der Wahlsieg rückte immer näher. Wir stellten in dieser Zeit auch Überlegungen an, wie wir Gerhard Schröders Ansehen in Frankreich verbessern könnten. Die Franzosen hatten den Eindruck, er sympathisiere eher mit der angelsächsischen Kultur. Zudem hatte er die Regierung Jospin mit der schnodderigen Bemerkung brüskiert, die Einführung der 35-Stunden-Woche in Frankreich sei gut für Deutschland. Wir reisten zusammen nach Paris und machten auf »gut Wetter«. Meine Beziehungen zur Parti Socialiste sind sehr eng und sehr freundschaftlich. Ich hatte eine Zeitlang erwogen, für das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien in der Regierung Schröder, das später Michael Naumann übernehmen sollte, Jack Lang vorzuschlagen. Ich bin sicher, dass Jack Lang eine solche Aufgabe, wenn man ihn nur nachdrücklich darum gebeten hätte, auch übernommen hätte. Es wäre ein in Europa einmaliges Experiment gewesen und hätte sicherlich neue Impulse für die deutsch-französischen Beziehungen gebracht.
Eines Tages überraschte mich Gerhard Schröder mit dem Vorschlag, Brigitte Sauzay, die mir als Dolmetscherin Mitterrands begegnet war, zu einer Art Frankreichbeauftragten im Kanzleramt zu machen. Mir ist bis zum heutigen Tage nicht klargeworden, was sich Gerhard Schröder von dieser Berufung versprach. Da die Angelegenheit auch nicht mit dem französischen Außenministerium besprochen war, kam es zu einer zusätzlichen Versammlung. Schon bald war ich gezwungen einzugreifen. Brigitte Sauzay hatte für Gerhard Schröder ein Treffen mit Partnern der bürgerlichen Opposition in Paris organisiert. An eine gleichzeitige Begegnung mit unseren Freunden in der Parti Socialiste, um Missverständnisse auszuschließen, hatte sie nicht gedacht. Als ich davon Wind bekam, unternahm ich große Anstrengungen, dass Gerhard Schröder auch Jospin im Matignon aufsuchte. Auf meine Bitte hin strich Jospin kurzfristig einige Termine, und ein Eklat war vermieden. Schröders gutgemeinter Vorschlag, die Briten sollten künftig stärker an der deutsch-französischen Zusammenarbeit teilhaben, führte in Paris nicht gerade zu freundlichen Reaktionen. Ich hätte mir für die Festigung der deutsch-französischen Zusammenarbeit eine andere Vorgehensweise vorstellen können.
Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung
Die Kenner der Bonner Szene wissen, dass schon vor der Bundestagswahl ein heftiges Gerangel um Posten und Positionen einsetzte, obwohl wir es anders vereinbart hatten. Das ist menschlich nur verständlich. Der Wahlsieg ist das Ergebnis der Arbeit vieler, die sich in den unterschiedlichsten Funktionen für die Partei engagiert und ihre Beiträge geleistet haben. Vor der Bundestagswahl nahm ich das noch mit Humor und schickte alle zu Peter Struck. Ich sagte: »Peter nimmt die Bewerbungen entgegen und vergibt die Posten.« Die bereits vorher getroffenen Absprachen wurden aber direkt nach dem Wahlsieg zum Problem. Ich hatte die Parole ausgegeben, dass wir zuerst die Koalitionsvereinbarung zustande bringen und dann die endgültige Verteilung der Ämter und Funktionen vornehmen sollten. Aber die Bundestagsfraktion hielt sich nicht daran. Wolfgang Thierse hatte schon lange sein Interesse für das Amt des Bundestagspräsidenten bekundet. Dagegen war nichts einzuwenden, denn er hatte in jedem Fall die persönlichen Voraussetzungen für dieses Amt. Er ist nach meinem Eindruck mittlerweile auch zu einem allseits geschätzten Bundestagspräsidenten geworden. Als Parteivorsitzender hatte ich aber stets das Gesamte im Auge zu behalten und zu bedenken, dass wir für das Amt des Bundespräsidenten Johannes Rau vorschlagen wollten. Johannes Rau ist einer der beliebtesten und erfahrensten Politiker der Bundesrepublik Deutschland. Die Verfassung weist dem Bundespräsidenten neben der Repräsentation in schwierigen Situationen der parlamentarischen Demokratie durchaus beachtliche Entscheidungskompetenzen zu. Gerhard Schröder hatte zugestimmt, Johannes Rau für das Amt des Bundespräsidenten vorzuschlagen. Daher plädierte ich für eine Frau als Bundestagspräsidentin. Es wären mehrere Sozialdemokratinnen in Frage gekommen, so unter anderen auch Anke Fuchs. Die ehemalige Ministerin für Arbeit und Soziales im Kabinett Schmidt war Bundesgeschäftsführerin zur Zeit Hans-Jochen Vogels und lange Zeit stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion. Es ist also keine Frage, dass sie in der Lage gewesen wäre, nach Annemarie Renger die zweite sozialdemokratische Bundestagspräsidentin zu werden. Anke Fuchs hatte sich aber, sicherlich aus guten Gründen, dafür entschieden, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags zu werden. Auch Christel Hanewinckel aus Halle wäre geeignet gewesen. Sie hielt vor der Bundestagsfraktion eine überzeugende Vorstellungsrede. Aber die Entscheidung stand fest, da es Vorabsprachen gab. Dazu kam, dass Rudolf Scharping entgegen unseren Vereinbarungen schon vor der Bundestagswahl daranging, bei den Abgeordneten und bei der Presse dafür zu werben, dass er das Amt des Fraktionsvorsitzenden behielte. In der Endphase des Wahlkampfs schrieb er an die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion und an die Kandidatinnen und Kandidaten der SPD für die Bundestagswahl: >> Ich habe im Einvernehmen mit den Fraktionsgremien unsere Planungsgruppe beauftragt, gemeinsam mit den anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktion und auf der Grundlage unseres Wahlprogramms sowie der bisherigen Arbeit der Fraktion und im Vergleich mit den Absichten der anderen Parteien die Grundlagen für Koalitionsverhandlungen präzise vorzubereiten, damit wir sofort nach dem Wahltag am 27. September unsere Arbeit beginnen können. Nach dem Abschluss von Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung können wir dann auch die notwendigen Entscheidungen innerhalb der Fraktion treffen. Für die letzten Tage des Wahlkampfs wünsche ich Euch eine weiterhin so sachliche und engagierte Arbeit wie bisher sowie uns allen die Mehrheit für ein zukunftsfähiges und gerechtes Deutschland. Ich freue mich auf die Fortsetzung unserer gemeinsamen Arbeit und sende Euch allen einen herzlichen Gruß, Rudolf Scharping.« Der Brief wurde so verstanden, wie er gemeint war. Als rechtzeitige Bewerbung Rudolf Scharpings für den Fraktionsvorsitz. Mir blieb nichts anderes übrig, als diese illoyale Vorgehensweise in der Endphase des Wahlkampfs zu ignorieren.
Auch für den Fraktionsvorsitz wäre es denkbar gewesen, eine Frau vorzuschlagen. Herta DäublerGmelin hatte sich um dieses Amt schon früher beworben. Anke Fuchs oder Ingrid MatthäusMaier wären ebenfalls in Frage gekommen. Ingrid Matthäus-Maier, die ich im Lauf der Zusammenarbeit immer mehr schätzen gelernt hatte, war eine hervorragende Finanzpolitikerin und eine unserer besten Rednerinnen im Parlament. Sie kann aber mit Gerhard Schröder nicht, der sie in Hintergrundgesprächen »Ingrid Matthäus-Müller« nannte. Sie hatte daher weder das Amt des Finanzministers angestrebt, noch sah sie es als sinnvoll an, für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren. In beiden Funktionen war eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzler gefordert. Sie suchte daher eine andere Aufgabe. Heute ist sie Vorstandsmitglied bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Scharping dagegen war es während der Koalitionsverhandlungen, die uns sehr in Anspruch nahmen, gelungen, durch intensive Gespräche mit Abgeordneten und Journalisten seine Kandidatur für den Fraktionsvorsitz weiter voranzutreiben. Ich hatte daran gedacht, für den Fall, dass die Bundestagsfraktion eine Frau als Bundestagspräsidentin akzeptiert hätte, Franz Müntefering für das Amt des Fraktionsvorsitzenden vorzuschlagen. Er hat Parlamentserfahrung, war schon einmal Parlamentarischer Geschäftsführer und hatte sich als Parteimanager ein hohes Ansehen in Partei und Fraktion erworben. Als wir uns zum ersten Mal der neuen Bundestagsfraktion vorstellten, wurde er mit sehr viel Beifall begrüßt. Er galt zudem als ein Mann, der weder Schröder noch mir besonders verbunden war. Er pflegte in einer für mich fast provozierenden Weise zu sagen, ich bin nicht der Geschäftsführer des Vorsitzenden, sondern der Geschäftsführer der Partei. Die Hartnäckigkeit Rudolf Scharpings machte diese Plä ne zunichte. Immer wieder kündigte er ohne Rücksprache mit Gerhard Schröder und mir an, dass er darauf bestehen würde, Fraktionsvorsitzender zu bleiben. Hier war die Autorität des Parteivorsitzenden gefordert. Ich bat Rudolf Scharping zu einem Gespräch und teilte ihm mit, dass ich seine Vorgehensweise als Bruch unserer Absprachen ansehen müsse. Abgesehen davon sei ich nicht der Auffassung, dass er in der jetzigen Konstellation der geeignete Fraktionsvorsitzende sei. Ich erinnerte an die verletzenden Auseinandersetzungen, die er im Jahr 1995 mit Gerhard Schröder hatte. Ich erinnerte daran, dass er gegen den Rat von Johannes Rau und mir Gerhard Schröder als wirtschaftspolitischen Sprecher der Partei abberufen hatte. Ich wusste, dass solche Verletzungen tief sitzen und dass in Situationen, in denen es einmal schwieriger würde, der Fraktionsvorsitzende unbedingt loyal zum Kanzler und zum Parteivorsitzenden stehen musste. Aufgrund der Tatsache, dass Rudolf Scharping die von ihm selbst provozierte Abwahl in Mannheim nicht verwunden hatte, war sein Verhältnis zu mir stets gespannt. Darüber konnte die parteiintern gepflegte Höflichkeit nicht hinwegtäuschen. Wie zu meiner Bestätigung schrieb die Süddeutsche Zeitung nach meinem Rücktritt dazu: »Sein Urteil über den eigentlichen Meuchelmörder von Mannheim hatte er längst gefällt. Schon vor dem Gerangel mit Lafontaine um den Fraktionsvorsitz. Frühzeitig lud er so viel Schuld und so viel persönliche Abneigung wie möglich auf die Schultern seines Nachfolgers als SPD-Chef, um auch psychologisch Raum für eine Zusammenarbeit mit Schröder in einer SPD und einer Regierung ohne Lafontaine zu haben.« Der psychologische Raum war im Sommer 1999 schon wieder so groß geworden, dass Minister Scharping jeden wissen ließ, dass er sich für geeignet hielt, Bundeskanzler zu werden. Meine Argumente beeindruckten Rudolf Scharping nicht. Er blieb dabei, dass er als Fraktionsvorsitzender kandidie ren werde. So war ich gezwungen, zum letzten Mittel zu greifen und anzukündigen, dass ich in diesem Fall mich ebenfalls um dieses Amt bewerben würde. Gleichzeitig lud ich den Parteivorstand der SPD ein, um eine Empfehlung in dieser Frage einzuholen. Scharping zog zurück, und es wurde die gesichtswahrende Formel gefunden, dass Gerhard Schröder den Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine und den Fraktionsvorsitzenden Rudolf Scharping gebeten habe, ins Kabinett einzutreten. Rudolf Scharping, der die Absprachen gebrochen hatte, war es gelungen, diesen Vorgang so hinzustellen, als sei er zum zweiten Mal vom Parteivorsitzenden gedemütigt worden. Die Bundestagsabgeordneten, die nicht informiert waren, übernahmen teilweise diese Lesart. Die Berliner Zeitung hatte dagegen für jeden, der es wissen wollte, die Vorgehensweise Rudolf Scharpings genau beschrieben: »Scharping hat
vorgebaut. Vom Wahlabend an verfolgte er eine konsequente Strategie, um sich mit allen Mitteln auf dem Stuhl des Fraktionschefs zu halten. Den hält er für einflussreicher als einen Posten im Kabinett. Mit Hilfe offensiver, wenngleich diskreter Pressepolitik ließ Scharping in Bonn seinen Willen durchsickern, dass er keinesfalls nachzugeben gedenke. Zugleich alarmierte Scharping alle verfügbaren Truppen in der Fraktion, die ihm öffentlich zu Hilfe eilten. Scharpings Strippenzieher und Pressesprecher aktivierten alle Drähte. So stand bald in den Zeitungen zu lesen, Scharping habe die Mehrheit der SPD-Abgeordneten hinter sich. Scharping und Lafontaine, da stehen sich zwei Menschen gegenüber, die ihre wechselseitigen Emotionen seit dem Mannheimer Parteitag nicht mehr in den Griff bekommen. Hinter allem, was der jeweils andere erklärt, vermuten sie finstere Absichten, häufig zu Recht. Deshalb glaubte Scharping den Versicherungen Lafontaines, er diene der Partei besser als Verteidigungsminister, keine Sekunde. Schon weil Lafontaine das Angebot aussprach, musste Scharping es als Versuch ansehen, ihn ins politische Abseits befördern zu wollen. Nur sah Scharping sich diesmal, anders als in Mannheim, bestens vorbereitet. Zunächst hatte er sich mit dem Kanzlerkandidaten und künftigen Kanzler Gerhard Schröder versöhnt. Nach zahlreichen Wahlkampfterminen in Niedersachsen besuchte Scharping Ende Februar seinen einstigen Rivalen in dessen Wohnung in Hannover. Schröder entschuldigte sich für vielerlei Verletzungen, seither gilt ihr Verhältnis als bereinigt. Ähnlich verfuhr Scharping im Bundestagswahlkampf. Um sich Rückhalt in der Fraktion zu sichern, absolvierte Scharping in Wahlkampftermine allein in den letzten fünf Wochen vor dem 27. September bei seinen Abgeordneten vor Ort. Er hofft, dass sich das auszahlt bei seiner Wahl zum Fraktionschef. Auch soll es Verabredungen für bestimmte Posten geben, falls Scharping bleibt... Darum reagierte Scharping auch ungerührt, als Lafontaine ihm am vergangenen Mittwoch wie 1995 in Mannheim mit seiner Gegenkandidatur drohte. Anders als damals ist Scharping überzeugt, beim Zählappell der Wahlberechtigten vorn zu liegen. Darum spitzte Scharping den Konflikt mit öffentlichem Druck auch an diesem Wochenende weiter zu.« Aber wie in Mannheim hatte er die Lage wieder einmal falsch eingeschätzt. Ich stellte fest, dass nach der gewonnenen Bundestagswahl die Dinge anders waren. Ich hatte mich hinsichtlich meiner Möglichkeiten, die Weichen richtig zu stellen, getäuscht. Zudem hatte sich Gerhard Schröder in der Frage des Bundestagspräsidenten, er selbst lehnte Wolfgang Thierse ab, und in der Frage des Fraktionsvorsitzenden nicht engagiert. Die Berliner Zeitung schrieb dazu: »Ansonsten achtet der künftige Kanzler genau darauf, in den Konflikt der Kampfhähne nicht hineingezogen zu werden. Zwar unterstützt er Lafontaines Wunsch, Scharping möge Verteidigungsminister werden. Aber er äußerte dies erst spät und ohne Leidenschaft. Die Personalfragen, sagt Schröder gelassen, die solle ruhig der Parteivorsitzende regeln.« Das war nicht gerade eine kameradschaftliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit, auf die ich nach der gewonnenen Wahlschlacht gesetzt hatte. Als ich auch bei der Parlamentarischen Linken spürte, dass sie den Erzählungen Rudolf Scharpings auf den Leim gegangen war, musste ich einsehen, dass meine Vertrauensbasis als Parteivorsitzender geringer war, als ich es mir nach den drei Jahren der Zusammenarbeit und der Integration vorgestellt hatte. Die Entscheidung um den Vorsitz der Bundestagsfraktion war auch mit der Frage verbunden, wer als Kanzleramtschef das Kanzleramt leiten sollte. Gerhard Schröder hatte mich während des Wahlkampfs darüber informiert, dass er daran denke, Gerd Andres, den Sprecher des Seeheimer Kreises, zum Kanzleramtschef zu machen. Ich konnte ihm dieses Vorhaben ausreden. Gerd Andres tat sich zwar beim fraktionsinternen Intrigen- und Ränkespiel hervor, war aber ansonsten nicht positiv aufgefallen. Ich hatte während des Wahlkampfs die Zustimmung Gerhard Schröders, dass Franz Müntefering Chef des Bundeskanzleramts werden sollte. Nach einer gemeinsamen Sitzung, in der es um die Festlegung der Plakate ging, die wir im Endspurt des Wahlkampfs kleben wollten, waren Gerhard Schröder und Franz Müntefering aber heftig aneinandergeraten. Am darauffolgenden Tag erklärte mir Franz Müntefering: »Mit dem mache ich das nicht.« Ich schlug Gerhard Schröder daraufhin vor, Peter Struck anzutragen, Chef des Bundeskanzleramts zu werden. Peter Struck hatte sich für diese Aufgabe interessiert und verfügt über hervorragende parlamentarische Erfahrung. Als Fraktionsmanager hatte er insbesondere in den Zeiten den Betrieb am Laufen gehalten, als die Fraktion mit ihrem Vorsitzenden Rudolf Scharping äußerst unzufrieden war.
Obwohl Gerhard Schröder zunächst maulte, »der quatscht mir zuviel«, und obwohl beide kein gutes Verhältnis zueinander hatten - Schröder hatte sich immer über das Mittelmaß in der Fraktion lustig gemacht und die Abgeordneten kritisiert, die noch nicht einmal in der Lage wären, einen Wahlkreis zu gewinnen -, stimmte er schließlich zu. Anschließend informierte ich Peter Struck. Unbeschadet dieser Zusage überraschte mich Gerhard Schröder eines Tages mit der Mitteilung, dass Bodo Hombach Chef des Kanzleramts werden solle. Ich war verärgert darüber, dass eine Zusage, die ich, auch in seinem Namen, Peter Struck gegeben hatte, jetzt wieder rückgängig gemacht werden sollte. Zudem brach Schröder die entscheidende Absprache, die wir im »Ritter St. Georg« in Braunschweig mit einem Schnaps besiegelt hatten. Wichtige Personalentscheidungen wollten wir künftig gemeinsam treffen. Der Chef des Bundeskanzleramtes musste, wenn die neue Regie rung Erfolg haben wollte, das Vertrauen des Bundeskanzlers und des Parteivorsitzenden haben. Ich konnte nicht erkennen, welche besonderen Fähigkeiten Bodo Hombach für das Amt des Chefs des Bundeskanzleramts qualifizierten. Er ist sicherlich ein fähiger Wahlkampfmanager. Aber er hatte gerade erst das Düsseldorfer Wirtschaftsministerium übernommen. In den letzten Jahren hatte er in der Bundespolitik keine Rolle gespielt. Die fachlichen Diskussionen bei Steuer- oder Sozialgesetzen und im Bereich der Inneren Sicherheit waren an ihm vorbeigegangen. Ein Chef des Bundeskanzleramts aber, der die Arbeit der Regierung koordinieren soll, braucht dringend einen tiefer gehenden, auch fachlichen Überblick über die verschiedenen Politikbereiche. Diese Voraussetzungen waren bei Bodo Hombach nicht gegeben. Unglücklicherweise kam hinzu, dass Frank Steinmeier, der Chef der Staatskanzlei in Hannover, auch davon ausging, dass er Chef des Bundeskanzleramts würde. Als Administrator ist Frank Steinmeier ein hervorragender Mann. Wir schätzten seine Arbeit, insbesondere die geräuschlose Art, mit der er auch schwierigere Probleme meisterte. Bei den Koalitionsverhandlungen war ich dankbar, dass er für den zukünftigen Bundeskanzler die administrative Seite übernahm. Er ist ein gründlicher Mensch und hatte stets den Überblick über die getroffenen Vereinbarungen. Aufgrund der unterschiedlichen Temperamente, hier der Verkäufer und Überflieger Hombach, dort der seriöse Arbeiter Steinmeier, konnte die Arbeit im Kanzleramt nicht funktionieren. Da Hombach sich als ein Peter Mandelsohn der deutschen Politik verstand, sah er sich als Ideengeber und Spindoctor. Er stellte eine Reihe von Leuten ein, die ihm dabei behilflich waren. Bei dem ehemaligen amerikanischen Außenminister James A. Baker las ich einmal, dass Reagans außenpolitischer Apparat oft die reinste Hexenküche aus Intrigen, Ellbogengerangel, Egotrips und der Jagd nach persönlichen Zielen war. An diese Beschreibung musste ich oft denken, wenn ich die Arbeit der Entourage des Kanzleramtsministers in der Presse verfolgte. Die Arbeit dieser Truppe, ganz nach dem angelsächsischen Vorbild der Spindoctors, bestand aus Indiskretionen und Desinformationen. Selbstverständlich traute sich niemand, den Parteivorsitzenden offen anzugreifen. Aber es war mir immer klar, woher die Sticheleien in der Presse kamen. Ich hatte Bodo Hombach bei einem Gespräch in der Saarvertretung gesagt, dass ich ihm eine faire Chance geben wolle. Er hatte zugesagt, sich ebenfalls um eine korrekte Zusammenarbeit zu bemühen. Nach zwei Monaten jedoch sagte ich Gerhard Schröder, dass ich diesem Treiben nicht mehr lange zusehen würde, er möge es unterbinden. Natürlich versicherte Bodo Hombach immer wieder, dass er sich korrekt verhalte und mit diesen Intrigen nichts zu tun habe. Ich wies Gerhard Schröder mehrfach daraufhin, dass Hombach bei der Koordinierung der Regierungsarbeit versage. Gerhard Schröder änderte aber nichts. Es wäre Bodo Hombach aber zuviel Ehre angetan, wenn man ihn, wie eine Reihe von Sozialdemokraten nach meinem Rücktritt vermuteten, als den Hauptschuldigen für meinen Rücktritt ansehen würde. Verantwortlich dafür, wenn die Regierungszentrale nicht funktioniert, ist nicht der Chef des Bundeskanzleramts, sondern letztlich der Bundeskanzler. Wenn er sieht, dass der Amtschef seine Aufgaben nicht richtig erfüllt, muss er ihn auswechseln. Am 2,5. Juni 1999 titelte Bild: »Hombach auf den Balkan.« Er solle nach dem Willen des Bundeskanzlers Koordinator des Balkan-Stabilitätspakts werden. Schröder hatte viel zu spät begriffen, dass angesichts des Widerstands, der sich gegen seinen Kanzleramtsminister gebildet hatte, die Entscheidung unvermeidlich war. Natürlich wurde versichert, dass Hombach eine politische und unternehmerische Traumaufgabe übernehme und Schröder seinen wichtigsten Mann für diese Aufgabe abstelle. Am Rande des Kölner G-8-Gipfels hatte Schröder mit Bill Clinton über die
Besetzung des Postens geredet. »Da habe ich eine Vibration in mir gespürt und gedacht, das ist ja doll«, vertraute Bodo Hombach der Bild-Zeitung an. Am härtesten fiel der Nachruf auf Bodo Hombach im Schröder nahestehenden Blatt Die Woche aus: »Das System Hombach war freilich schon nach einem halben Jahr gescheitert: an seiner Sucht nach Publizität, seiner Leidenschaft für Intrigen und seiner Unfähigkeit zu diskreter, vorausschauender Planung. Die Bilanz: Das Verhältnis zu SPD-Fraktion, Grünen und wichtigen Kabinettsmitgliedern unrettbar zerrüttet, die Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter in den Sand gesetzt, das Bündnis für Arbeit durch Eigenprofilierung fast blockiert. Einzig Hombachs Medienarbeit funktionierte wie geschmiert; doch seine persönlichen Kontakte zu wichtigen Journalisten in noch wichtigeren Blättern wurden so eng, dass die Fäden im politischen Puppentheater schließlich für jedermann sichtbar waren. Am Ende wurde Bodo Poppenspäler selbst vom Faden geschnitten.« Im nachhinein muss ich schon anerkennend sagen: Die Art und Weise, in der Hombach es verstand, Journalisten, auch Chefredakteure, einzuwickeln, war meisterhaft. Als er ging, erklärte Hans-Olaf Henkel, die deutsche Wirtschaft verliere im Kabinett »eine verlässliche Stütze und den Minister mit der höchsten Wirtschaftskompetenz. Hombach habe Entscheidendes zur Kehrtwende der Bundesregierung in der Finanz- und Sozialpolitik beigetragen.« Als ich das las, kamen mir die Tränen. Wie schwer sich Gerhard Schröder tat, durch Personalentscheidungen sicherzustellen, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Parteivorsitzenden und dem Bundeskanzler reibungslos funktionierte, zeigt folgendes: Kenner der Bonner Szene wussten, dass ich mich im Bundesrat stets auf den Bevollmächtigten des Saarlands beim Bund, Pitt Weber, stützte. Er war einer der Männer im Hintergrund, die vie les bewirken, das Eicht der Öffentlichkeit aber meiden. Durch geschicktes Verhandeln brachte er es immer wieder fertig, dass die sozialdemokratischen Länder im Bundesrat einheitlich agierten. Er bot an, für Gerhard Schröder im Kanzleramt, wie Anton Pfeifer für Helmut Kohl, die Koordination im Bundesrat zu übernehmen. Obwohl Gerhard Schröder diesem Angebot zunächst positiv gegenüberstand, führte die Presseberichterstattung über die Koalitionsverhandlungen und meine angebliche Dominanz in diesen Verhandlungen dazu, dass Schröder davon nichts mehr wissen wollte. Ein Lafontaine-Mann im Kanzleramt, das hätte nach seiner Meinung bei dieser Presselage zu weiteren Missverständnissen geführt. Zum besonderen Problem wurde erwartungsgemäß Jost Stollmann. Er beteiligte sich an den Koalitionsverhandlungen, obwohl er, da er nicht Mitglied in der Partei und nicht im Präsidium war, nicht zu unserer Verhandlungsdelegation gehörte. Wir hatten aber, um die Koordination der Arbeit auch in dieser Phase sicherzustellen, von Fall zu Fall die Ministerkandidaten hinzugebeten. Es war ihm auch nicht vorzuwerfen, dass er das Parteiprogramm der SPD und die Details der Steuer- und Sozialpolitik nicht kannte. Schließlich konnte er sich einarbeiten. Zum Problem aber wurde die Aufgabenverteilung zwischen Wirtschafts- und Finanzministerium. Nicht zuletzt die Auftritte Jost Stollmanns während des Wahlkampfs hatten mich dazu veranlasst, von Gerhard Schröder zu verlangen, dass das Finanzministerium, wenn ich es leiten sollte, zu einer Art Treasury nach angelsächsischem Vorbild ausgebaut werden müsste. Ich verwies auf die Ministerien des amerikanischen Finanzministers Bob Rubin, des englischen Schatzkanzlers Gordon Brown und des französischen Finanzministers Dominique Strauss-Kahn. Mit der Vorstellung, zusammen mit Jost Stollmann, nach dem Vorbild Waigels und Rexrodts, im Ecofin - Rat zu sitzen, konnte ich mich schlecht anfreunden. Ebenso wenig behagte mir der Gedanke, dass ich eine Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik im Finanzministerium einleiten und Jost Stollmann gleichzeitig im Jahreswirtschaftsbericht alle neoliberalen und angebotspolitischen Klischees herunterbeten würde. Ich bestand also darauf, dass die zuständigen Referate und Abteilungen in das Finanzministerium integriert werden sollten. Gerhard Schröder wollte dieser Entscheidung eine Zeitlang ausweichen. Jost Stollmann war ständig mit Journalisten im Gespräch, und in den Zeitungen war nachzulesen, dass er sich gegen Lafontaine durchgesetzt habe. Mit dem mir eigenen Humor sagte ich ihm, er solle nicht alles glauben, was in den Zeitungen stünde. Wie ich später feststellen konnte, hat er die se Ironie nicht verstanden. Vor die Wahl gestellt, Jost Stollmann zu verlieren oder ein Kabinett zu bilden, dem der Parteivorsitzende nicht angehörte, rang Gerhard Schröder sich schließlich dazu durch, den Ressortzuschnitt nach meinen Wünschen vorzunehmen. Jost Stollmann warf das Handtuch, die Partei atmete auf, und der parteilose Werner Müller, der Gerhard Schröder schon bei den Energiekonsensgesprächen als ehemaliger VEBA- Manager beraten hatte, übernahm nach einem kurzen Telefonat mit Gerhard Schröder das Wirtschaftsministerium.
Zum entscheidenden Eklat zwischen Gerhard Schröder und mir kam es aber, als es nach all diesem Gerangel um die Frage ging, wer jetzt Fraktionsvorsitzender werden solle. Peter Struck hatte rechtzeitig sein Interesse angemeldet. Aber auch der Saarländer Ottmar Schreiner, ein profilierter Sozialpolitiker der Fraktion, zeigte Interesse. Schreiner hatte in der Fraktion hohes Ansehen und erreichte bei den Wahlen zürn Fraktionsvorstand immer eines der besten Ergebnisse. Als diese Bewerbung in der Presse berichtet wurde, kamen wir morgens zum üblichen Vorgespräch vor den Koalitionsverhandlungen in der nordrhein-westfälischen Landesvertretung zusammen. Gerhard Schröder kam später und machte ein Gesicht, als wolle er die ganze Welt vergiften. Er setzte sich grußlos hin. Nachdem ich das Wort weitergegeben hatte, flüsterte ich ihm zu: »Was ist denn los?« Er antwortete: »Du willst mir den Schreiner als Fraktionsvorsitzenden unterjubeln.« Ich erwiderte ihm, das sei Quatsch und wir müssten sofort darüber reden. Er fauchte mich an, er habe jetzt keine Lust, mit mir zu reden, und ging wortlos aus dem Raum, wie er es immer tut, wenn er zornig ist oder die Einsamkeit des großen Staatsmanns demonstrieren will. Erst mittags gelang es mir, ihn zur Rede zu stellen. Ich sagte ihm, ein zweites Mal würde ich mir eine solche Behandlung nicht gefallen lassen. Unsere Zusammenarbeit könne nur funktionieren, wenn Kameradschaft und Vertrauen die Grundlagen seien. Ich wisse nicht, wer ihm die fixe Idee eingeredet habe, ich wolle ihm Ottmar Schreiner unterjubeln. Ich könne daraus aber nur entnehmen, dass er das Vertrauen mir gegenüber nicht aufbrächte, das notwendig sei, um erfolgreich in Regierung und Partei zusammenzuarbeiten. Am Nachmittag jenes Tages war ich zu dem Ergebnis gekommen, nicht in die Regierung einzutreten, da Gerhard Schröder die Vermutungen derjenigen bestätigt hatte, die mir immer vorausgesagt hatten: Gerhard Schröder sei nach der gewonnenen Wahl nicht zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit fähig. Ich war tief enttäuscht, hatte ich doch, unter Zurückstellung eigener Interessen, ihm den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur gelassen und die Partei im Wahlkampf mit großer Geschlossenheit hinter ihm versammelt. Nach Saarbrücken zurückgekehrt, teilte ich Christa meinen Entschluss mit. Am späten Abend klingelte das Telefon, und Doris Schröder-Kopf war am Apparat. Sie fragte mich, was los sei. Ihr Mann sei bereits übel gelaunt zu Bett gegangen. Ich erzählte ihr von dem Streit und meiner Absicht, gar nicht erst in die Regierung einzutreten. Dann überließ ich Christa den Hörer. Die Frauen redeten lange miteinander, Gerhard Schröder wurde aus dem Bett geholt und murmelte mir gegenüber eine Entschuldigung. Schließlich gab ich das Vorhaben auf, die Bundespressekonferenz einzuberufen, um mitzuteilen, dass ich dem Kabinett Schröder nicht angehören wolle. Ich rechtfertigte diese Entscheidung vor mir damit, dass ich in der Doppelfunktion als Parteivorsitzender und Finanzminister sicherstellen konnte, dass die im Regie rungsprogramm gegebenen Versprechungen auch umgesetzt würden. Vielleicht spürte ich schon damals, dass Schröder, wenn ich einmal nicht mehr präsent wäre, sehr schnell von diesen Versprechungen abrücken würde. Ich wollte aus der Position des deutschen Finanzministers auf eine Neuordnung der Weltfinanzmärkte hinwirken, um die Währungsspekulation zu bekämpfen. Ich fühlte mich als ehemaliger Ministerpräsident des Saarlands verpflichtet, wichtige regionalpolitische Weichenstellungen wie die Einrichtung einer deutschfranzösischen Hochschule in Saarbrücken, den Anschluss des Saarlands an das Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn, die Teilentschuldung in Höhe von 5 Milliarden Mark und die Einhaltung des Kohlekompromisses durchzusetzen. Also biss ich noch einmal die Zähne zusammen. Während dieser turbulenten Tage trat etwas ein, was ich schon Jahre vorher erwartet hatte und was zu meiner eigenen Verwunderung bis dahin ausgeblieben war. Ich träumte in mehreren Nächten das Attentat von Köln nach. Immerhin acht Jahre später. Ich erzählte nur Christa und Gerhard Schröder davon. Letzterem in der Absicht, ihm deutlich zu machen, dass die Anstrengungen des Wahlkampfs und die Personalentscheidungen auch bei mir Spuren hinterlassen hatten. Die Koalitionsverhandlungen liefen reibungslos. Sowohl die Sozialdemokraten als auch die Grünen wollten schnell zu einem Ergebnis kommen. Diskussionen gab es bei der Steuerreform. Die Grünen wollten einen niedrigeren Spitzensteuersatz. Bezahlen sollten diese Wohltat die Arbeitnehmer. Das konnten wir nicht mitmachen. Die Vereinbarungen zum Atomausstieg wurden von Gerhard Schröder, Jürgen Trittin und ihren Mitarbeitern ausgehandelt. Gerhard Schröder hatte sich über Jahre mit der Energiepolitik befasst und eine Reihe von Sachverständigen der Energie branche konsultiert. Ich unterstützte ihn nachdrücklich in dem Bemühen, keine unrealistischen Zielvorgaben hinsichtlich der Ausstiegsfristen zu machen. Wir schrieben in die Koalitionsvereinbarung: »Der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie wird innerhalb dieser Legislaturperiode umfassend und unumkehrbar gesetzlich geregelt... Die neue Bundesregierung wird die Energieversorgungsunternehmen zu Gesprächen einladen, um eine neue
Energiepolitik, Schritte zur Beendigung der Atomenergie und Entsorgungsfragen möglichst im Konsens zu vereinbaren. Die neue Bundesregierung setzt sich hierfür einen zeitlichen Rahmen von einem Jahr nach Amtsantritt. Die Koalition wird nach Ablauf dieser Frist ein Gesetz einbringen, in dem der Ausstieg aus der Kernenergienutzung entschädigungsfrei geregelt wird; dazu werden die Betriebsgenehmigungen zeitlich befristet. Der Entsorgungsnachweis wird angepasst.« Ein weiterer Streitpunkt war das neue Staatsbürgerschaftsrecht. Otto Schily gelang es, zusammen mit den Grünen einen Kompromiss zu vereinbaren, der von uns mitgetragen werden konnte. Aber wie schon bei der Steuerreform hatten wir uns auch hier zuwenig Zeit genommen. Wir hätten darüber reden müssen, ob es sinnvoll ist, einen solchen Kompromiss nur mit der Mehrheit der rot-grünen Koalition im Bundestag und Bundesrat durchzusetzen. Über das außenpolitische Kapitel des Koalitionsvertrags wurde ebenfalls heftig diskutiert. Die SPD musste zu weit gehende Forderungen des pazifistischen Flügels der Grünen, der während der Koalitionsverhandlungen noch vehement seine Interessen vertrat, abwehren. Wie sich Wochen später herausstellte, hätten wir uns diese Diskussionen sparen können. Zu einem großen Problem wurde die Berichterstattung der Presse. Der Tenor war einheitlich. Lafontaine dominiert die Koalitionsverhandlungen und setzt sich durch. Der Spiegel machte einen Titel »Der Kanzler und sein Schatten«. Unter der Überschrift »Sieger und Souffleur« stellte er fest, dass Oskar Lafontaine »die Konturen von Schröders großangelegter Steuerreform verwischt habe«. Auch der Spiegel hätte wissen können, dass das Steuerreformkonzept von allen Steuerexperten aus Bund und Ländern erarbeitet und vom Parteivorstand mit der Stimme Gerhard Schröders und meiner Stimme verabschiedet worden war. »Schuld am halbherzigen, verwässerten Konzept«, schrieb der Spiegel, »da sind sich fast alle einig, ist der Mann hinter - neben, vor? - dem Kanzler: der SPDVorsitzende Oskar Lafontaine, Schröders roter Schatten. Selbst in der neuen Koalition machen manche den heimlichen Rivalen für den Fehlstart verantwortlich. Der >Umverteiler< Lafontaine, ärgert sich der grüne Haushaltsexperte Oswald Metzger, treibe das Land mit seinem >Vulgärkeynesianismus< ins Unglück. Sein Kollege Fritz Kühn klagt, die Grünen hätten mit einer >strukturkonservativen Partei< verhandelt. Gegen Lafontaine >waren die reformerischen Kräfte in der SPD zu schwachDer Starthätte besser sein können.< Der strahlende Sieger sieht sich plötzlich einem schwelenden Verdacht ausgesetzt: Schröder stehe als Kanzler auf der Bühne, sein Souffleur aber sei Lafontaine. Mit seiner Regierungserklä rung in der übernächsten Woche will sich Kanzler Nummer sieben deshalb noch einmal als Schröder pur präsentieren: einer, der die >Leistungsträger im High-Tech-Bereich< anspricht, die sich zuvor noch nie nach einem Sozi umgedreht haben; einer, der eine neue >Gründermentalität< in die verschlafen-verknöcherte Republik bläst.« Gerhard Schröder litt sichtlich unter der Berichterstattung der Presse. Wir haben jetzt ein Darstellungsproblem, pflegte er immer wieder zu sagen. Dabei war das von ihm und mir unterschriebene Wahlprogramm Grundlage der Koalitionsverhandlungen. An zwei Stellen war ich Gerhard Schröder entgegengekommen. Ich hatte auf seine Bitte hin nicht darauf bestanden, dass die Wiedereinführung der privaten Vermögensteuer in die Koalitionsvereinbarungen geschrieben wird. Ich hatte auch davon Abstand genommen, zu verlangen, dass die Ausbildungsplatzabgabe in den Koalitionsvertrag geschrieben wurde. Man hätte durchaus auch da oder dort schreiben können, Lafontaine ist Schröder bei Vermögenssteuern und Ausbildungsplatzabgabe entgegengekommen. Aber die Story, Lafontaine setzt sich durch, war wohl angesichts der Tatsache, dass der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt, für die Medien schöner. Dieses Erklärungsmuster, wer sich wo durchgesetzt hatte, Lafontaine oder Schröder, lebte auch nach meinem Rücktritt weiter. Bei mehreren Entscheidungen, die die Bundesregierung nach dem n. März traf, wurde darüber spekuliert, ob Oskar Lafontaine diese Entscheidung mitgetragen hätte oder nicht. Beim Zukunftsprogramm 2ooo war oft zu lesen, das wäre mit Oskar Lafontaine nicht zu machen gewesen. Zwar war das von vielen Wirtschaftsjournalisten kritisch gemeint, aber ich fühlte mich geschmeichelt und von der Presse mal wieder so richtig gewürdigt. Ja, das wäre mit mir nicht zu machen gewesen.
Die Wahl des Fraktionsvorsitzenden verlief ziemlich problemlos. Peter Struck und Ottmar Schreiner hatten kameradschaftlich miteinander gesprochen. Der Fraktionsvorstand schlug Peter Struck vor, und er wurde dann auch mit deutlicher Mehrheit gewählt. Diese Entscheidung erwies sich während der vier Monate, in denen ich der Regierung angehörte, als eine gute Entscheidung. Peter Struck war stets zum Kompromiss bereit, suchte auszugleichen und erlag nicht der Versuchung, die Fraktion gegen den Kanzler oder einzelne Regierungsmitglieder in Stellung zu bringen. Franz Müntefering regte an, Ottmar Schreiner zum Bundesgeschäftsführer zu machen. Ich griff den Vorschlag gerne auf. Die Personalentscheidungen fielen dann so, wie wir es bei der Vorstellung unserer Regierungsmannschaft angekündigt hatten. Heidemarie Wieczorek-Zeul übernahm das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Franz Müntefering das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Für die Grünen waren Joschka Fischer als Außenminister und Jürgen Trittin als Umweltminister gesetzt. Eine längere Diskussion gab es um das Gesundheitsministerium. Rudolf Dressler, der lange Jahre für die Fraktion federführend die Sozialpolitik gemacht hatte, war sehr interessiert, das Gesundheitsministerium zu übernehmen. Die Grünen schlugen Andrea Fischer vor. Gerhard Schröder hatte keine sonderlichen Sympathien für Rudolf Dressler. Persönliche Sympathien oder Antipathien sollten aber nicht allein Grundlage von Personalentscheidungen sein. Rudolf Dressler stand als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen für einen wichtigen Teil der SPD und hat, da er viele Jahre die Sozialpolitik beackert hat, einen hohen Sachverstand. Nach seinem tragischen Verkehrsunfall wirkte er auf mich manchmal etwas depressiv. Ich hätte es daher gerne gesehen, wenn wir ihm das Gesundheitsministerium übertragen hätten. Die neue Aufgabe hätte ihn sicherlich beflügelt. Aber da ich sowieso schon täglich lesen konnte, dass ich die Sach- und Personalentscheidungen dominierte, gab ich schließlich nach. Auch heute noch bin ich darüber nicht glücklich. Andrea Fischer wurde Gesundheitsministerin. Nun stand noch die Wahl des Bundeskanzlers bevor. Gerhard Schröder hatte trotz allem Bammel vor dieser Wahl. Er wusste, dass er sich in der Bundestagsfraktion in einer Reihe von Jahren viele Gegner gemacht hatte. Auch war er nicht sicher, ob alle Grünen den Automann Gerhard Schröder unterstützen würden. Ich war relativ gelassen. Nicht nur deshalb, weil die Mehrheit ausreichen musste, sondern weil auch davon auszugehen war, dass wir ein paar Stimmen von der FDP und von der PDS dazubekämen. Tatsächlich hatte Gerhard Schröder mindestens sieben Stimmen von der Opposition bekommen. Er wurde mit 351 Ja-Stimmen von insgesamt 666 Abgeordneten gewählt. Die rot-grüne Koalition hat im Bundestag 344 Abgeordnete. Ich fiel ihm um den Hals. Es war eine spontane Geste. Nichts war daran künstlich. Gleichzeitig schob ich ihm eine Kiste Cohiba-Zigarren, die mit einer roten Rose verziert war, hin. In diesem Moment vergisst man alles Trennende. Jeder Sozialdemokrat ist Mitglied einer großen Familie. Diese große Familie hatte einen großen Tag. Den Tag der Wahl des dritten sozialdemokratischen Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland. Darauf hatten wir viele Jahre hingearbeitet. Es war der Tag, an dem manifestiert wurde, dass die Enkel nicht zur Fußnote der Geschichte geworden waren, wie Henning Voscherau einmal vor Jahren befürchtet hatte. Auch der Wahlsieg war ja nicht von Pappe. Die SPD war nicht nur zum zweiten Mal stärkste Partei im Deutschen Bundestag, sondern »die Enkel« hatten es geschafft, die CDU deutlich auf den zweiten Platz zu verweisen. Die SPD erreichte 40,9 Prozent, die CDU/CSU 35,1 Prozent. Wir hatten die CDU um 5,8 Prozent überrundet. Das hätten unsere Altvorderen nicht für möglich gehalten. Insofern fühlten wir uns berechtigt, diesen Wahlsieg mit dein großen Wahlsieg Willy Brandts im Jahr 1972 zu vergleichen. In der Reihe derer, die dem neuen Bundeskanzler gratulierten, fehlten auch nicht die Wahlverlierer Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Theo Waigel, Klaus Kinkel und andere Politiker der Opposition. Nachdem Heiner Geißler Gerhard Schröder gratuliert hatte, gratulierte er auch mir. Auf meinen erstaunten Blick sagte er: »Das war Ihr Sieg« und ging. Zwar haben andere Politiker der heutigen Opposition mir ähnliche Komplimente gemacht, aber das Wort des Strategen Heiner Geißler zählt. Schließlich hatte er sehr früh erkannt, dass die CDU das Thema der sozialen Gerechtigkeit preisgegeben hatte, was für eine Volkspartei tödlich ist. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht ahnen, dass nach meinem Rücktritt die rot-grüne Koalition alle Fehler wiederholte, die zur Abwahl der Koalition von CDU/CSU und FDP geführt hatten.
Jetzt blieb noch die Aufgabe, nach Gustav Heinemann zum zweiten Mal einen sozialdemokratischen Bundespräsidenten zu wählen. Für mich als Parteivorsitzenden der SPD hatte dieses Ziel eine hohe Bedeutung. Ich war der Meinung, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bei der Besetzung des höchsten Staatsamts nicht ausreichend berücksichtigt worden war. Ich war ebenso der Meinung, dass gerade dieses Amt aus dem Parteienstreit herausgehalten werden sollte. Daher bemühte ich mich sehr früh, auch die Zustimmung von CDU/CSU und FDP für Johannes Rau zu erhalten. Ich sprach auch mit Gregor Gysi. Es ist bedauerlich, dass CDU/CSU und Teile der FDP nach Heuss, Lübke, Heinemann, Scheel, Carstens, von Weizsäcker und Herzog nicht bereit waren, einen Sozialdemokraten zu unterstützen. Die Idee der CDU/CSU, mit Dagmar Schipanski eine ostdeutsche Frau ins Gespräch zu bringen, hatte ihren Reiz. Nachdem das Amt des Bundespräsidenten bisher nur von Männern wahrgenommen wurde, ist es an der Zeit, dass einmal eine Frau in dieses Amt berufen wird. Aber in der SPD hatten wir die Weichen schon anders gestellt. Schließlich hatte Johannes Rau auch gegen Roman Herzog kandidiert. Als einige Sozialdemokratinnen sich dafür stark machten, jetzt eine Frau für das Amt des Bundespräsidenten vorzuschlagen, war es zu spät. Eine solche Entscheidung will gründlich vorbereitet sein. Der Vorschlag, Jutta Limbach zur Bundespräsidentin zu wählen, war allein schon deshalb nicht die Lösung, weil es gut war, dass auch an der Spitze des Bundesverfassungsgerichts einmal eine Frau stand. In Teilen der Presse gab es eine massive Kampagne gegen Johannes Rau. Man versuchte auch mit unlauteren Mitteln und durch persönliche Herabsetzung die Kandidatur des langjährigen nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten zu hintertreiben. Ich ließ mich nicht beirren. Die Gremien der Partei entschieden mit großer Mehrheit, Johannes Rau erneut als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten vorzuschlagen. Am 23. Mai 1999 wurde Johannes Rau zum achten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Ich verfolgte die Wahl im Fernsehen und bedauerte, nicht dabei sein zu können. Mit Johannes Rau verbindet mich seit dem Attentat mehr, als es gemeinhin unter Politikern üblich ist. Wir standen Seit an Seit, und die Attentäterin hatte zunächst vor, statt meiner Johannes Rau zu töten. Ich habe noch sein Gesicht in Erinnerung, als ich bereits am Boden lag und die Sicherheitskräfte ihn von der Bühne drängten. Johannes Rau betrachtet das Amt des Bundespräsidenten als die Krönung seiner politischen Laufbahn. Der Predigersohn aus Wuppertal, aufgestiegen vom Oberbürgermeister seiner Heimatstadt über den Fraktionsvorsitzenden der SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag zum Ministerpräsidenten des größten Bundeslandes, ist für diese Aufgabe geradezu prädestiniert. Seine politische Arbeit hat er immer unter das Motto »Versöhnen statt spalten« gestellt. Freunde und Gegner nennen ihn »Bruder Johannes«. Er hatte als erster von der SPD als Schutzmacht der kleinen Leute gesprochen. In seiner Antrittsrede als Bundespräsident sagte er: »Die wichtigste gesellschaftliche Aufgabe bleibt nach meiner Überzeugung, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist in erster Linie Aufgabe der Unternehmen. Die Politik muss für Angebot und Nachfrage den richtigen Rahmen setzen und die richtigen Impulse geben ... Für unsere Zukunft wird entscheidend sein, dass wir die Arbeit so organisieren und fortentwickeln, dass die Bedürfnisse der Menschen mit den Erfordernissen des Wirtschaftens in Übereinstimmung gebracht werden. Die Arbeit dient dem Lebensunterhalt. Das gibt ihr unmittelbar einen Wert. In ihr - das gibt ihr einen weiteren Wert - entfalten sich aber auch menschliche Fähigkeiten. Darum hat Hans Küng recht, wenn er sagt >Ohne sinnvolle Arbeit geht ein Stück Menschenwürde verlorenDesert Storm< und andere mit Waffeneinsatz und Waffendrohung gespickte >Friedensprozesse< nicht verdrängen.« Den Atomausstieg hatte Gerhard Schröder zur Chefsache gemacht. Ich war an den Verhandlungen nicht beteiligt. Auch dieses Vorgehen widersprach unseren Verabredungen.
Gerhard Schröder hatte gute Kontakte zur Energiewirtschaft und war anfangs sicherlich entschlossen, zu einem Kompromiss zu kommen. Es traten aber sehr schnell Reibungsverluste auf. In den Kabinettssitzungen schoben sich die Beteiligten gegenseitig die Schuld zu. Trittin machte das Kanzleramt für Pannen verantwortlich und umgekehrt das Kanzleramt Trittin und sein Ministerium. Der auch wegen der Energiekonsensgespräche zum Wirtschaftsminister berufene Werner Müller beschwerte sich mehrfach bei mir als Parteivorsitzendem der SPD, dass er an den Verhandlungen nicht ausreichend beteiligt sei. Er könne nicht erkennen, in welche Richtung die Verhandlungen gingen und wer sie koordiniere. Er habe seinen Rücktritt erwogen, um gegen diese Handlungsweise zu protestieren. Ich riet ihm, den Bundeskanzler direkt anzusprechen und auf einer Verfahrensweise zu bestehen, die er für zielführend halte. Mit Erstaunen nahm ich zur Kenntnis, mit welcher Geduld die Grünen es ertrugen, wie Jürgen Trittin in der Öffentlichkeit zum Buhmann gemacht wurde. Die Spindoctors des Kanzleramts leisteten ihren Beitrag, und Gerhard Schröder selbst griff Trittin mehrfach öffentlich an. Ich habe Gerhard Schröder gesagt, dass der Regierungschef sich immer vor die Minister stellen müsse und dass er es auch dann tun müsse, wenn er in verschiedenen Punkten ihre Vorgehensweise missbillige oder anderer Auffassung sei. So verstehe ich die Rolle eines Regierungschefs. In keinem Fall aber halte ich es für vertretbar, dass derjenige, der unter massivem öffentlichem Beschuss steht, vom Regierungschef auch noch öffentlich verprügelt wird. Die Karnevalisten registrierten das natürlich und nannten Jürgen Trittin in ihren Reden »Tritt - ihn«. Diese Verballhornung seines Namens traf den Sachverhalt ziemlich genau. Ich hatte immer Sorge, dass Jürgen Trittin die Konsequenzen ziehen würde, und versuchte, einen guten Gesprächskontakt zu ihm aufrechtzuerhalten. Ich hatte kein Verständnis dafür, dass weder Joschka Fischer noch andere aus der Partei und der Fraktion der Grünen größere Anstrengungen unternahmen, um ihrem bedrängten Parteifreund zur Seite zu stehen. Als ich zur Begründung meines Rücktritts ausführte: »Ohne ein gutes Mannschaftsspiel kann man nicht erfolgreich arbeiten. Mannschaftsspiel verlangt, dass man Rücksicht aufeinander nimmt und dass man auch zueinander steht - auch in der Öffentlichkeit - und dass Teamgeist die Regierungsarbeit bestimmt«, fiel Joschka Fischer dazu nur ein, dass er von einem schlechten Mannschaftsspiel nichts bemerkt habe. Fischer spürt Demütigungen wohl nur, wenn sie ihm selbst widerfahren. Wenn andere gedemütigt werden, nimmt er das offensichtlich kaum zur Kenntnis. Als Jürgen Trittin Ende Juni 1999 auf Geheiß des Bundeskanzlers gegen seine eigene Überzeugung die Altautoverordnung der Europäischen Union kippte, habe ich ihn nicht mehr verstanden. Einige seiner Parteifreunde fragten ihn, ob er noch in den Spiegel gucken könne, weil er so vorgeführt wurde. Andere gingen so weit, seinen Rücktritt zu fordern. Noch enttäuschender war die Haltung Fischers und der Partei der Grünen im Kosovo-Konflikt. Die Partei der Grünen, die einmal angetreten war, um zu demokratischeren Entscheidungsfindungen zu kommen, und deswegen das Rotationsprinzip erfunden hatte, beteiligte sich an der Debatte so gut wie nicht. Sie überließ alles Joschka Fischer. Er aber hatte sich sehr früh dazu entschieden, Bündnissolidarität mit der Konsequenz militärischen Eingreifens zur Grundlage seiner Politik in Jugoslawien zu machen. Der Krieg im Kosovo wurde von ihm moralisch begründet. Wer Realpolitik zur Grundlage seiner Entscheidungen macht, weiß, dass moralische Normen nicht allein das politische Handeln bestimmen können. Wer aber moralische Prinzipien zur Grundlage seiner Entscheidungen macht, verliert sehr schnell den notwendigen Abstand und gerät politisch auf Abwege. Ich habe mich während der ganzen Monate, auch nach meinem Rücktritt, gefragt, was in der Außenpolitik anders gelaufen wäre, wenn Helmut Kohl und Klaus Kinkel noch die Außenpolitik zu verantworten hätten. Ich muss der Wahrheit die Ehre geben und sagen, dass mir wenig dazu einfällt. Ich hatte gehofft, insbesondere in der Frage von Krieg und Frieden, einen Bündnispartner bei den Grünen zu haben, der mithelfen würde, eine Minderheit in meiner Partei in Schach zu halten, die schon immer militärische Interventionen auch außerhalb des Nato-Vertragsgebiets befürwortet hatte. Allerdings hatten auch diese Teile der SPD stets auf einem UNO-Mandat bestanden. Dass es einmal so weit kommen würde, dass bei der Befürwortung solcher militärischer Einsätze auch ohne UNOMandat Joschka Fischer sogar Rudolf Scharping übertreffen würde, habe ich nicht vorausgesehen. Eine andere Frage wird in den nächsten Jahren zu beantworten sein. Die Frage nämlich, wo sich im Parteienspektrum die Partei der Grünen positionieren wird. Jochen Buchsteiner schrieb in der Zeit: »Die Grünen von einst gibt es nicht mehr. Was aber ist es dann für eine Gruppierung, die unter dem
grünen Label Politik macht? Die Partei von heute ist entwurzelt, rückständig, gespalten und erstarrt. Die Macht ist vielleicht ihr letztes Projekt.« Die ökologische Frage wird zwar auch die zentrale Frage des nächsten Jahrhunderts sein, findet aber derzeit in der Wählerschaft ein geringes Interesse. Dem Pazifismus hatten die Grünen spätestens auf ihrem Bielefelder Sonderparteitag zum Kosovo-Krieg im Mai 1998 adieu gesagt. Fischer und der Realo-Flügel erreichten zum ersten Mal in der Geschichte der Partei eine knappe Mehrheit. Jürgen Trittin, Ludger Volmer und Angelika Beer hatten sich staatstragend auf ihre Seite geschlagen. Charlotte Wiedemann schrieb dazu in der Woche: »Die Grünen sind umständehalber Kriegspartei. Wäre die Bundestagswahl um ein paar Haaresbreiten anders ausgegangen, dann säßen auf den Podien der Republik spätestens in dieser achten Kriegswoche kundige, eloquente Kritiker der Nato. Sie hießen Angelika Beer, Ludger Vollmer, Kerstin Müller, wahrscheinlich auch Fischer. Und erst Trittin!« In der Wirtschafts- und Finanzpolitik gewannen Vorschläge an Zustimmung, die auch von der FDP befürwortet wurden. So plädierte eine ganze Reihe von Grünen für einen niedrigeren Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer und machten dies zum Thema der Koalitionsverhandlungen. Da sie dabei zur Gegenfinanzierung Vorschläge machten, die gegen die Arbeitnehmerschaft gerichtet waren, mussten wir sie auflaufen lassen. Dass selbst die USA Anfang der neunziger Jahre die »Besserverdienenden« zur Kasse gebeten hatten, weil so der Konsum nicht gedämpft wurde, hatten die Grünen nicht mitbekommen. Darüber hinaus gab es schwäbische Grüne, die Finanzpolitik auf das Wort »sparen« reduzierten. Es war nicht zu übersehen, dass die Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, die ich in der SPD mehrheitsfähig gemacht hatte und die auch kreislaufwirtschaftliche Zusammenhänge in Rechnung stellte, bei den Grünen kaum diskutiert worden war. Auch nach der Regierungsbildung gab es in dieser Partei niemanden, der für diese Fragestellungen größeres Interesse zeigte. Natürlich werden die Vertreter der Grünen, die mit braven Sparappellen an die Öffentlichkeit treten, in der Presse gelobt, da in Deutschland jeder gelobt wird, der bei den öffentlichen Haushalten Zum Sparen mahnt. Diskussionen darüber, wie das Kürzen öffentlicher Leistungen sich auf die Investitionsbereitschaft der Unternehmen oder auf die Gesamtnachfrage auswirken würde, führten die Grünen nicht. Deutlicher noch wurde diese Neuorientierung der Grünen nach den verlorenen Wahlen in Hessen. Ich hatte ein längeres Gespräch mit Joschka Fischer im Finanzministerium. Angesichts der dramatischen Einbrüche der Grünen in Hessen fragte ich ihn, wie die Partei sich zukünftig programmatisch profilieren wolle, um ihre Position im Parteienspektrum zu behaupten. Zu meiner Überraschung sagte Joschka Fischer, dass die Partei sich mit wirtschaftsliberalen Positionen profilieren müsse. Als er wieder gegangen war, musste ich tief durchatmen. Im Wirtschaftsliberalismus sollte die Partei, die aus der Ökologiebewegung hervorgegangen war und auf die Grenzen des Wachstums hingewiesen hatte, ihre Zukunft finden? Es war ohnehin in vielen Debatten vor der Bundestagswahl, aber auch danach, erkennbar, dass FDP und Grüne in besonderer Rivalität zueinander standen. Offensichtlich glaubten sie, um deckungsgle iche Teile der Wählerschaft buhlen zu müssen. Das Liebäugeln der Grünen mit dem Liberalismus wurde nach meinem Rücktritt noch deutlicher. Eine Reihe von Grünen sprachen davon, dass nunmehr die Koalition die Chance eines zweiten Neuanfangs hätte. Im Juni forderten junge Politiker der Grünen eine radikale Entrümpelung des Programms der Partei. Sie schrieben: »Das Grüne- Programm gleiche mittlerweile einem Dachboden: Alles, was einem früher gut gefallen habe, aber längst ausrangiert sei, lande dort, da man nie wisse, wozu es noch gebraucht wird ... Die Zeit des Burgfriedens und der Formelkompromisse ist vorbei - es bedarf einer klaren Entscheidung über den richtigen Weg der Partei in der Zukunft. Wir treten dabei ein für eine klare, machtbewusste, pragmatische Positionierung, aber auch für eine teilweise Auswechslung der Mitgliedschaft... Es geht um eine Neudefinition der sozia len Marktwirtschaft im Zeitalter der Globalisierung. Individuelle Freiheit und soziale Sicherheit müssen in ein neues Verhältnis gesetzt, die Kräfte des Marktes und gesellschaftliche Anforderungen in Einklang gebracht und die Rechte kommender Generationen ökologisch wie ökonomisch berücksichtigt werden ... Wir wollen das brachliegende geistige Erbe des verantwortungsvollen Liberalismus aufnehmen und mit dem Eintreten für Ökologie und Generationengerechtigkeit verbinden.« Eine andere Gruppe jüngerer Politiker der Grünen antwortete in einer vierseitigen Schrift mit dem Titel »Raus aus der neuen Mitte«: Sie schreiben, »die Zukunft der Grünen ist die einer pragmatischen Linkspartei«. Die Partei habe in neun Monaten Regierungsverantwortung bei der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse versagt. Umweltpolitik müsse wieder ein Markenzeichen der Partei
werden. Die Grünen müssten sich stärker auf soziale Gerechtigkeit und auf die Hoffnungen der Jugend konzentrieren. Das Papier der jungen Realos wurde als der wahrscheinlich längste FDPAufnahmeantrag, den die Welt je gesehen hat, bezeichnet. Eine der Sprecherinnen der Grünen, Antje Radcke, sagte: »Unsere Identität ist uns flötengegangen.« Niemand wisse mehr, wofür die Grünen eigentlich stehen. Zu jedem halbwegs wichtigen Thema gäbe es in der Öffentlichkeit unterschiedliche Meinungen. Das sei verheerend und könne so nicht weitergehen. Die Diskussion um das Erbe des Liberalismus mutet in einer Zeit, in der die FDP bei Landtagswahlen keine 5 Prozent erreicht, merkwürdig an. Es sah so aus, als hätten SPD und Grüne sich vorgenommen, möglichst viele ihrer Wählerinnen und Wähler zu vertreiben. Das war nun wirklich ein Neuanfang. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Partei der Grünen weiterentwickeln wird. Wenn Fischer mit seinem Ansatz durchkommt, die Grünen dadurch »zu modernisieren«, dass sie wirtschaftsliberale Positionen übernehmen, dann wird die Partei an Bedeutung verlieren. Das zur Identität der Grünen gehörende Eintreten für mehr Umweltschutz ist im Regierungsalltag kaum sichtbar. In der Außenpolitik beschwören die Grünen die Bündnisloyalität. Aus Bündnis 90/Die Grünen wurde: »BündnisTreue/Die Grünen«. Zur Rechtfertigung der rot-grünen Koalition diente mir, dass die Grünen in der Sozialpolitik ähnliche Wahlversprechen gemacht hatten wie die SPD. Wenn dieses Bindeglied wegbricht, dann ist es schwer zu begründen, warum die Partei der Grünen für die SPD ein besserer Koalitionspartner sein solle als die CDU/CSU oder die FDP. Immerhin hatten mich die Altvordern der FDP dadurch beeindruckt, dass sie in der Frage des großen Lauschangriffs Standfestigkeit bewiesen. Männer wie Genscher und Lambsdorff hatten deutlich gemacht, dass sie dem Lauschangriff auf besonders sensible Gruppen wie Journalisten, Ärzte, Drogenberater und andere nicht zustimmen würden. Um sie zum Schwur zu bringen, verwiesen wir das Gesetz über den großen Lauschangriff aus dem Bundesrat wieder in den Bundestag zurück. Da die Gruppe um Genscher und Lambsdorff standhaft blieb, gelang es uns, der Regierung Kohl unmittelbar nach der Niedersachsen-Wahl eine schwere parlamentarische Niederlage beizubringen. Die Koalition hatte im Bundestag keine Mehrheit mehr. Der Deutsche Journalistenverband sprach von einem großen Sieg der Pressefreiheit. Das war für mich eine Genugtuung, galt ich doch nach der Novellierung des Saarländischen Pressegesetzes, in dem wir das Gegendarstellungsrecht verbessert hatten, als Gegner der Pressefreiheit. Es hatte mich große Anstrengungen gekostet, Gerhard Schröder, den Medienliebling, für diese Freistellung der Journalisten vom Lauschangriff zu gewinnen. Nach dem fulminanten Sieg in Niedersachsen wog diese Abstimmungsniederlage der Regierungskoalition schwer. Die Stimmung in der Union drohte zu kippen. Jetzt diskutierte die Union darüber, ob mit Helmut Kohl noch die Wahl zu gewinnen sei. Und, kein Wunder, die FDP ging erkennbar auf Distanz zu Kohl. Darauf hatte ich hingearbeitet. Es galt, Kohls Nimbus der Unschlagbarkeit zu zerstören. Dieser Nimbus saß tief im Herzen manches Sozialdemokraten, und das Bonner Pressekorps glaubte immer noch an die Kohl-Kurve, das heißt: Kohl liegt zwar am Anfang des Wahlkampfs zurück, hat am Ende aber doch die Nase vorn. Als Johannes Rau dann erklärte, den Stab an Wolfgang Clement weiterzugeben, verstärkte sich der Druck auf Helmut Kohl. Die Diskussion, ob Kohl der richtige Kanzlerkandidat der Union sei, hielt bis zum Wahltag an. Noch neun Tage vor der Wahl sagte Wolfgang Schäuble im Playboy, es sei politisch ungeschickt gewesen, ihn nach dem Leipziger Parteitag zum Nachfolger auszurufen. Dass es uns gelungen war, in der Union die Zweifel am Kanzlerkandidaten Kohl zu schüren, trug zu unserem späteren Wahlerfolg bei.
Überflüssiger Fehlstart
Mit Aufnahme der Regierungsarbeit stellte sich immer deutlicher heraus, dass wir ein strukturelles Problem hatten. Gab es vorher ein klares Entscheidungszentrum, nämlich das Präsidium der Partei, so hatten wir jetzt vier Zentren: das Präsidium der Partei, das Bundeskanzleramt, die Bundestagsfraktion und den Bundesrat. Von Anfang an hätte also eine enge Koordination dieser Entscheidungszentren sichergestellt werden müssen. Das wäre nur durch eine konsequente Zusammenarbeit zwischen Gerhard Schröder und mir möglich gewesen. Davon konnte aber keine Rede sein. Das ging schon bei der Regierungserklärung los. Sie wurde von engen Mitarbeitern Gerhard Schröders wohl unter der Federführung Bodo Hombachs geschrieben. Eine Abstimmung mit dem Parteivorsitzenden gab es nicht. Gleichwohl schaffte ich es, mir die Regierungserklärung am Vorabend zu besorgen und kurz zu überfliegen. Ich bemängelte daran, dass sie nicht mit dem Entwurf der neuen Politik Gerhard Schröders begann. Der richtige Auftakt zum Start der neuen Regierung wäre doch gewesen, gleich zu Anfang zu sagen, das und das wollen wir für unser Land in den nächsten Jahren erreichen. Statt dessen wurde schon auf Seite zwei über die zu hohe Schuldenlast gejammert, welche die Regierung Kohl hinterlassen hatte. Ich sagte den Mitarbeitern von Gerhard Schröder meine Bedenken, aber geändert wurde nichts. Als Gerhard Schröder dann folgende Passage der Regie rungserklärung vortrug, sträubten sich mir die Haare: "Auch deshalb werden wir die sogenannten 63o-Mark-Jobs nicht einfach abschaffen. Aber wir werden sie angemessen m die Sozialversicherungspflicht einbeziehen. Die Grenze werden wir auf 300 DM festlegen. Da wir gleichzeitig die Pauschalbesteuerung aufheben, werden diese Tätigkeiten nicht unzumutbar verteuert. Man sieht daran: Die Bundesregierung erkennt ausdrücklich die Notwendigkeit und Berechtigung solcher Beschäftigungsverhältnisse an: sowohl für die Arbeitgeber als auch für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Verbraucher. Aber wir wollen gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften den Missbrauch, der mit dieser Regelung betrieben worden ist, ernsthaft bekämpfen.« Es ist mir bis heute nicht gelungen herauszufinden, wer dem Kanzler das ausgeschrieben hatte. Diese Passage war ein glatter Bruch der Versprechungen, die Gerhard Schröder und ich im Wahlkampf gemacht hatten. Insbesondere mit Blick auf die Arbeitnehmerfrauen, die sich, wenn die Kinder aus dem Haus sind, ein kleines Zubrot verdienen, hatten wir immer wieder betont: Wir wollten die 630-Mark-Jobs sozialversicherungspflichtig machen, aber so, dass die jenigen, die auf das Geld angewiesen sind, keine finanziellen Einbußen erleiden würden. Dabei waren wir uns der Tatsache bewusst, dass für Besserverdienende im Steuer- und Abgabenrecht ungleich größere Begünstigungen verankert waren. Die 630-Mark-Jobs hießen nicht umsonst»die Steueroase des kleinen Mannes«. In der Bundestagsfraktion erinnerte ich mit Nachdruck an dieses Wahlkampfversprechen und sagte, dass die zwischen den Sozialpolitikern der Fraktion, dem Arbeitsministerium und dem Kanzleramt ausgehandelte Lösung von mir nicht mitgetragen werden könne. Am nächsten Tag las ich in einigen Zeitungen, Gerhard Schröder habe mich bei den 63o-Mark-Jobs gestoppt. Während ich in der Fraktion für die Besserstellung der Leute kämpfte, die auf die 63o-Mark-Jobs angewiesen sind, hatten die Spindoctors die Presse wie der einmal falsch informiert. Es kam zu einem Krisengespräch im Kanzleramt. Wir vereinbarten, die Grenze nicht, wie vom Kanzler in der Regie rungserklärung gesagt, auf 300 Mark, sondern auf 630 Mark festzulegen, um zumindest die Frauen aus Arbeitnehmerhaushalten nicht schlechter als bisher zu stellen. Am nächsten Morgen trug Gerhard Schröder im Parlament selbst die neue Regelung vor. Das Problem war aber, dass darüber nicht ausreichend diskutiert worden war und die Überprüfung durch die Fachministerien noch nicht vorlag. Ich war sehr verärgert über diese Fehler, hatten wir doch in der Partei schon weitergehende Konzepte erarbeitet. Es lag eine Reihe von Vorschlägen vor, die auch auf Vorarbeiten von Fritz Scharpf,
Joachim Mitschke und der Friedrich-Ebert-Stiftung zurückgingen. Der Staat sollte beispielsweise Einkommen unter 1500 Mark als Niedriglohneinkommen ganz oder teilweise von Sozialabgaben befreien, um einfache Arbeiten attraktiver zu machen. Diese Vorschläge hätten auch das Problem der 63o-Mark-Jobs gelöst. Sie wären dann unter die Regeln des größer gewordenen Niedriglohnsektors gefallen. Zum Ausgleich für die ausgefallenen Sozialversicherungsbeiträge hätte man die Ökosteuer heranziehen können. Anders ausgedrückt: Die Ökosteuer wäre nicht dazu verwandt worden, generell die Sozialversicherungsbeiträge zu senken, sondern sie hätte dazu gedient, den Niedriglohnsektor zu öffnen und finanziell attraktiv zu machen. Dem Verkaufsgenie Bodo Hombach gelang es, im Mai 1999 diese Vorstellungen als »neu« zu verkaufen. Unter der Überschrift »Aus Schröders Schublade der Plan - Radikalkur gegen die Arbeitslosigkeit« berichtete der Spiegel von einem umfassenden Umbauplan: »Ziel ist die Einführung eines generellen Freibetrags für Sozialabgaben bei niedrigen (Stunden-)Verdiensten, mit degressiver Beitragsentlastung bis zu einer Schwelle, jenseits derer die vollen Beiträge fällig sind. Eine solche Lösung wäre weder befristet noch ziel-gruppenorientiert; insoweit wäre sie einer allgemeinen Steuersenkung ähnlich. Erlassene Beiträge und Beitragsanteile der Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden der Sozialversicherung vom Staat ersetzt. Damit bleiben die begünstigten Arbeitnehmer voll sozialversichert.« So wurde die Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bodo Hombach sei Dank, wenn auch etwas verspätet, durch einen Spiegel-Titel gewürdigt. Der Wegfall der Pauschalsteuer, den der Kanzler ohne Absprache in der Regierungserklärung festgelegt hatte, stellte nicht nur den Bundesfinanzminister vor Probleme. Da auch die Länder an dieser Steuer beteiligt sind, gab es einen über mehrere Monate andauernden Krach mit den Länderfinanzministern. Es gelang mir nur mit Mühe, die sen beizulegen, wobei ich insbesondere von meinem alten Freund Heinz Schleußer, dem nordrhein-westfälischen Finanzminister, unterstützt wurde. Bei der Neuordnung der nicht sozialversicherten Beschäftigungsverhältnisse und dem Öffnen eines neuen Niedriglohnsektors ging es um eine grundsätzliche Frage: Sollen wir es zulassen, dass immer mehr Menschen scheinselbständig sind, schwarzarbeiten oder Billigjobs annehmen und damit nichts zur Finanzierung des Sozialstaats beitragen, gleichwohl aber Anspruch auf Sozialhilfe haben? Um die Zustimmung der Bevölkerung zu den Reformen zu erlangen, war sorgfältige Arbeit gefragt. Da nichts richtig koordiniert wurde, kamen weitere schwere Fehler hinzu. Gerhard Schröder hatte noch vor der Regierungsbildung am 4. Oktober 1998 ein Interview in Bild am Sonntag gegeben. Der Aufmacher war: »Schröder: Erstes Machtwort! Benzin nicht mehr als 6 Pfennige teurer!« Die Festlegung auf sechs Pfennige war unter keinem Gesichtspunkt vertretbar. Die Benzinpreise waren innerhalb eines Jahres um über zehn Pfennige gefallen. Unter ökologischen Gesichtspunkten machten wir uns geradezu lächerlich. Ich wunderte mich darüber, dass die Opposition nicht in diese Kerbe hieb, sollte man den Gegner doch immer auf dem eigenen Terrain stellen. Die Oppositionsparteien, die selbst Konzepte zur ökologischen Steuer- und Abgabenreform vorgelegt hatten, glaubten vielmehr, beim Wähler gut anzukommen, wenn sie diesen bescheidenen Schritt als billiges Abkassieren diffamierten. Schäuble, Repnik, Sohns und andere wollten sich an ihre eigenen Vorschläge zur ökologischen Steuer- und Abgabenreform nicht mehr erinnern. Glaubwürdig war das nicht. Die sechs Pfennige wurden aber auch für die Regierung ein Problem, weil wir nun eine neue Steuer, die Stromsteuer, einführen mussten. Die ökologische Steuerreform wurde durch dieses Kanzlermachtwort zu einem Torso. Fritz Scharpf meldete sich und fragte, warum die ursprüngliche Absicht aufgegeben worden wäre, die ökologische Steuer zur Finanzierung des Niedriglohnsektors heranzuziehen. Er machte einen schriftlichen Vermerk, den ich sowohl Mitgliedern der Bundestagsfraktion als auch dem Kanzleramt zur Kenntnis brachte. Aber wegen der vielen Festlegungen, Machtworte und Koordinatoren fiel dieser vernünftige Vorschlag zunächst einmal unter den Tisch. Erschwert wurde unsere Arbeit auch dadurch, dass die Wirtschaft erwartungsgemäß sofort gegen beide Reformen Sturm lief. Durch das zu hohe Tempo und die mangelnde Koordination waren bedauerlicherweise gleich zwei zentrale Reformprojekte der rot-grünen Koalition in Misskredit geraten: die ökologische Steuer- und Abgabenreform und die Neuordnung des Niedriglohnsektors. Erschwerend für die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung kam hinzu, dass unsere „Modernisierer“ nicht zu diesen Projekten standen. Gegen die ökologische Steuer- und Abgabenreform wetterten sie im Hintergrund ebenso wie gegen die Neuordnung der nicht Sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse. Es ist
aber nicht möglich, für Reformprojekte in der Bevölkerung Zustimmung zu finden, wenn immer wieder »Modernisierer« aus den eigenen Reihen als Kronzeugen gegen diese Reformprojekte auftreten. Am 8. November i 998 gab Gerhard Schröder wieder ein Interview in Bild am Sonntag. Wir lasen dort: »Schröder: Volle Rente schon mit 60«. Das war wieder aus der Hüfte geschossen, hatten wir doch im Hinblick auf die demographische Entwicklung in unserem Rentenpapier empfohlen, das Renteneintrittsalter anzuheben, sobald die Arbeitslosigkeit zurückgegangen sei. Zudem war auf den ersten Blick erkennbar, dass ein solches Vorhaben nicht finanzierbar war. Bei der Schnelllebigkeit und Vergesslichkeit der veröffentlichten Meinung gelang es, diesen Vorschlag Walter Riester zuzuschieben. Er wurde dann in den darauffolgenden Wochen ausgiebig dafür gescholten. Natürlich musste irgendwann eingeräumt werden, dass ein solcher Vorschlag nicht finanzierbar war. Aber auch hier fragte ic h mich, wer die Interviews des Bundeskanzlers gegenlas und überprüfte. Die Rentendiskussion der SPD jedenfalls war an diesen Mitarbeitern spurlos vorübergegangen. Durch die Fehler bei den 63o-Mark-Jobs, bei der ökologischen Steuer- und Abgabenreform und beim Atomausstieg, die alle bei besserer Koordination und Fachkenntnis im Kanzleramt hätten vermieden werden können, wurde die gute Aufbruchsstimmung, die der Regierungswechsel ausgelöst hatte, spürbar beschädigt. Diese Fehler überlagerten auch die Reformentscheidungen, die wir bewusst an den Anfang der Regierungsarbeit stellten, um der Arbeitnehmerschaft deutlich zu machen, dass eine neue arbeitnehmerfreundliche Regierung die Arbeit aufgenommen hatte. Das waren die Wiederherstellung der Lohnfortzahlung und des Kündigungsschutzes, die Rücknahme der Rentenkürzung und die Verbesserungen im Gesundheitswesen. Das schwierigste Reformprojekt aber war die Steuerreform. Hier ist mir während der Koalitionsverhandlungen ein schwerer Fehler unterlaufen. Ich hatte zugelassen, dass die Steuerreform unter unnötigem Zeitdruck über die parlamentarische Bühne gebracht wurde und dass die Finanzpolitiker der Koalition aus Bund und Ländern während der Koalitionsverhandlungen eine Reihe von Vorschlägen gemacht hatten, die vom ursprünglichen SPD-Konzept abwichen und uns sehr viel Ärger bereiten sollten. Vor allem gegen die Einschränkung der Teilwertabschreibung, die Besteuerung der Veräußerungsgewinne und die Einschränkung des Verlustvortrags lief die Lobby Sturm. Von allen Seiten wurden wir unter Druck gesetzt, das Steuerreformgesetz nicht zu verabschieden. Die Herren Henkel, Stihl und Hundt sahen, wie immer, den Untergang des Abendlands und das Ende des Standorts Deutschland nahen. Mir bereitete diese Auseinandersetzung durchaus sportliches Vergnügen, da das Steuergesetz ein wirklich sozialdemokratisches Gesetz war. Es entlastete die Arbeitnehmer und Familien mit über 20 Milliarden Mark. Es entlastete den Mittelstand nach vielen Korrekturen um 5 Milliarden Mark, es belastete die Großwirtschaft, die sich in den vergangenen Jahren gebrüstet hatte, kaum oder keine Steuern zu zahlen, mit über 10 Milliarden Mark. Besondere Verdienste um die Realisierung des Steuergesetzes erwarb sich meine Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks. Sie hatte sich als ehemalige Pressesprecherin von Heinz Schleußer ein entsprechendes Fachwissen angeeignet und genoss in der Bundestagsfraktion Vertrauen. In einem regelrechten Sitzungsmarathon brachte sie das Gesetz durch die Ausschüsse. Da die Streichung jeder Steuersubvention, es waren insgesamt über siebzig, auf Widerstände stößt, kann man sich vorstellen, welche Arbeit zu leisten war. Bei der Bundespressekonferenz referierte ich am 10. Februar 1999 zum damaligen Stand der Steuergesetzgebung, während gleichzeitig Barbara Hendricks im Finanzausschuss einige Veränderungen durchsetzte. Ich war in der schwierigen Lage, nicht zu wissen, wie die Beratungen des Finanzausschusses ausgehen würden, und hatte daher auch kein Papier dabei, das zu jeder einzelnen Position den aktuellsten Stand wiedergab. Ich eierte daher an einigen Stellen herum, da ich keine exakte Auskunft geben konnte. Diese Panne nutzten meine Gegner dazu aus, in Hintergrundgesprächen zu streuen, ich sei offensichtlich mit dem Amt des Finanzministers überfordert. Das Steuerreformgesetz konnte sich am Schluss durchaus sehen lassen, weil es mehr Steuergerechtigkeit herstellte, Arbeitnehmerfamilien und Mittelstand entlastete und eine Reihe von Steuersubventionen abschaffte. Der viel zu enge Zeitplan wurde zum Vorteil. Trotz der verlorenen Wahl in Hessen erreichte das Steuergesetz die notwendigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, denn Hans Eichel vertrat bei der Schlussabstimmung noch das Land Hessen. Zu einer besonderen Geschichte des Steueränderungsgesetzes wurde die Belastung der Energiewirtschaft und der Versicherungswirtschaft. Erwartungsgemäß wehrten sich die Spitzenverbände dieser beiden Wirtschaftsbereiche und rechneten die zu erwartenden
Mehrbelastungen künstlich hoch. Der Bundeskanzler wurde nervös. Er glaubte, dass eine zu starke Belastung der Energiewirtschaft seine Chefgespräche zum Atomausstieg gefährdeten. Wir kamen sowohl der Versicherungswirtschaft als auch der Energiewirtschaft entgegen. Durch diese Korrekturen am Steueränderungsgesetz war aber leider der Eindruck entstanden, man müsse nur energisch genug im Kanzleramt vorstellig werden, und schon würden bestimmte Dinge wieder zurückgenommen. Zusätzliche Verwirrung stiftete, dass die Belastung der Energiewirtschaft einmal für einen ZehnJahres-Zeitraum, zum anderen für einen Vier-Jahres-Zeitraum ausgerechnet wurde. Das bemerkten natürlich nur die Fachleute. Für die Unkundigen ergab sich eine weitere Möglichkeit, zu stänkern und zu behaupten, das Finanzministerium kenne seine eigenen Zahlen nicht. Das Ende vom Lied war, dass nach meinem Rücktritt, o Wunder, die Energiewirtschaft zu dem Ergebnis kam, dass die Zahlen, die das Bundesfinanzministerium in Abstimmung mit der nordrhein-westfälischen Finanzverwaltung vorgelegt hatte, richtig waren. Die Regierungserklärung hielt für mich eine weitere Überraschung bereit. Der Bundeskanzler sagte, »wir werden auch die Unternehmensbesteuerung grundlegend reformie ren, Unternehmenseinkünfte sollen mit höchstens 35 Prozent besteuert werden«. Davon stand nichts in unserem Regierungsprogramm. Im Steueränderungsgesetz, das schon in Arbeit war, hatten wir vorgesehen, den Körperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne von 45 auf 40 Prozent ab dem i. Januar 1999 und den Spitzensteuersatz für gewerbliche Einkünfte von 47 auf 43 Prozent ab dem i. Januar 2000 zu senken. Die aus dem Hut gezauberte Zahl von 3 5 Prozent stellte natürlich die im Steueränderungsgesetz vorgeschlagenen Unternehmensteuersätze sofort wieder in Frage. Zu Recht wiesen Kritiker darauf hin, was es eigentlich solle, im Steueränderungsgesetz den Körperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne auf 40 Prozent und für gewerbliche Einkünfte auf 43 Prozent zu senken, wenn der Kanzler in seiner Regierungserklärung versprochen habe, die Unternehmenseinkünfte mit höchstens 35 Prozent zu besteuern. Wiederum war nichts abgestimmt. Als dann im Handelsblatt der Druck dadurch verstärkt werden sollte, dass erneut die Zahl von 35 Prozent auftauchte, während wir doch gerade für andere Zahlen im Steuergesetz kämpften, rastete ich in der Bundestagsfraktion aus. Ich ließ meinem Unmut freien Lauf und sagte, so könne man nicht regie ren. Dies wurde dann in der Presse ausführlich berichtet. Spätestens hier hätten bei all denjenigen die Alarmsirenen schrillen müssen, die sich zwei Wochen später von meinem Rücktritt völlig überrascht zeigten. Die erste Steuerreform war noch nicht in trockenen Tüchern, da wurde die nächste Steuerreform angekündigt. Im Zukunftsprogramm 2000 sollen Rentner und Arbeitslose das Absenken der Unternehmenssteuern finanzieren. Dabei wäre es richtig gewesen, nach dem Steueränderungsgesetz, das ein wirklicher Durchbruch war, zunächst keine weiteren Steueränderungsgesetze ins Auge zu fassen. Allenfalls hätte man sich vornehmen können, für das Ende der Legislaturperiode noch einmal eine größere Kraftanstrengung zu unternehmen. Was immer an Argumenten zur Steuerpolitik vorgetragen wird, es gilt die Regel: Man kann nicht ununterbrochen Steueränderungsgesetze einbringen. Das schafft kein Vertrauen bei Investoren und Verbrauchern und schadet der konjunkturellen Entwicklung. Insbesondere die Investoren sind auf länger festgelegte klare Rahmenbedingungen angewiesen. Ein weiteres Argument ist, dass die Steuerharmonisierungsversuche auf europäischer Ebene laufen. Je nach Ausgang müsste dann wieder ein Steueränderungsgesetz aufgelegt werden. Offensichtlich sind manche Fehler so attraktiv, dass sie immer wiederholt werden. Hans Eichel erklärte bei der Vorlage des Zukunftsprogramms 2000, dass die Vermögensteuer nicht wieder eingeführt werde. Dabei hatten wir im Regierungsprogramm die Wiedereinführung der privaten Vermögensteuer aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit versprochen. Hier muss ich erwähnen, dass derselbe Hans Eichel mich während der Koalitionsverhandlungen immer wieder gebeten hatte, darauf zu bestehen, dass die private Vermögensteuer sofort wie der eingeführt werden solle. Da die Vermögensteuer den Ländern zugeht, wollte Eichel mit diesem Geld Bildungs- und Forschungsausgaben in Hessen aufstocken und diese im Wahlkampf den Wählerinnen und Wählern versprechen. Da Gerhard Schröder dagegen war, setzte ich Hans Eichels Forderung nicht durch. Ironie der Geschichte: Nach der für die rot-grüne Koalition verlorenen Landtagswahl gab der neue Ministerpräsident von Hessen, Koch, eine Pressekonferenz, um nach hundert Tagen Bilanz zu ziehen. Die FAZ berichtete: »In den Mittelpunkt ihrer Hundert-Tage-Bilanz stellten Koch und Frau Wagner die Bildungspolitik. Sowohl mit dem Nachtragshaushalt als auch mit dem neuen Schulgesetz und dem Hochschulgesetz seien >ganz schnell erste Voraussetzungen geschaffen worden, um Hessen zum Bildungsland Nummer eins zu machenpublic private partnershipBremser< (Bild) oder die >Sozialmafia< (Der Spiegel) in der SPD-Fraktion und den Gewerkschaften dafür verantwortlich, dass die rot-grüne Reformpolitik nicht auf Touren kommt und die Arbeitslosigkeit, bereinigt um Saisoneinflüsse, sogar leicht steigt. Alle sind schuld - nur nicht der strahlende Held. >Kanzler im Chaos< titelt Die Woche, obwohl die richtige Zeile längst >Der Chaos-Kanzler< heißen müsste. Denn in der Sozialpolitik, dem Schlüsselbereich für die Erneuerung des Landes, hat Schröder nicht nur kein Konzept, er hat oft einfach zuwenig Ahnung. Kaum ein Tag vergeht, an dem der Möchtegern-Modernisierer nicht die Fakten durcheinander wirft.« In den folgenden Monaten konnte man beobachten, wie Walter Riester regelrecht gemobbt wurde. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Innerhalb eines Kabinetts muss es ölt auch heftige Diskussionen geben, und selbstverständlich ist der Regierungschef aufgefordert, dort Kritik anzubringen, wo er sie für notwendig hält. Aber das systematische Durchstechen an die Presse mit der Folge, dass alle Schaden nahmen, auch diejenigen, die meinten, sie glänzten besonders, wenn andere herabgesetzt würden, war nicht hinnehmbar. Die nächste Kabinettssitzung hätte notwendigerweise zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gerhard Schröder und mir führen müssen. Diese wären selbstverständlich mit der notwendigen Garnierung wieder an die Presse weitergegeben worden. Der Fairness halber muss ich anführen, dass Gerhard Schröder mir Wochen vorher vorgeschlagen hatte, den Fraktionsvorsitz zu übernehmen. Er war, wie ich, zu der Auflassung gekommen, dass meine Pflichten als Finanzminister mir zunehmend Schwierigkeiten bereiteten, meine Aufgaben als Parteivorsitzender so wahrzunehmen, wie es gerade in dieser Zeit notwendig war. Peter Struck war eingeweiht und hatte auch zugestimmt. Es ist also falsch, wenn nach meinem Rücktritt Kommentatoren zu dem Urteil kamen, mein Ausscheiden aus der Politik sei das Ziel von Gerhard Schröder gewesen. Einmal war es meine eigene Entscheidung, ob ich Parteivorsitzender bleiben würde oder nicht und ob ich das Parlamentsmandat behalten würde oder nicht. Zum anderen hätte die Übernahme des Fraktionsvorsitzes durch mich zu dem von vielen gewünschten Ergebnis geführt, dass ich in der Doppelfunktion als Partei- und Fraktionsvorsitzender die Politik der Regierungskoalition noch stärker bestimmt hätte. Ich war aber schon seit Wochen zu dem Ergebnis gekommen, dass es aufgrund der unterschiedlichen politischen Auffassungen und unterschiedlichen Arbeitsmethoden eine Lösung nur geben konnte, wenn einer von uns beiden seine Ämter aufgab. Das konnte nach Lage der Dinge nur ich sein. Gerhard Schröder war unser Spitzenkandidat im Wahlkampf, und unsere Verfassung sagt, der Bundeskanzler, nicht der Parteivorsitzende, bestimmt die Richtlinien der Politik. Ich war mir sicher, dass Gerhard Schröder nach meinem Rücktritt auch nach dem Amt des Parteivorsitzenden greifen würde. Darin sah ich wirklich die Chance eines Neuanfangs. Als Parteivorsitzender, so hoffte ich, würde er auf die Partei zugehen und seine bisherige Gewohnheit aufgeben, sich auf Kosten der Partei zu profilieren. Nur so konnte nach meiner Einschätzung eine sozialdemokratische Politik aus einem Guss entstehen.
Ich diktierte meiner langjährigen Mitarbeiterin Hilde Lauer drei kurze Briefe mit folgendem Wortlaut: An Gerhard Schröder: »Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, hiermit trete ich von meinem Amt als Bundesminister der Finanzen zurück. Mit freundlichen Grüßen« An Wolfgang Thierse: »Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, hiermit lege ich mein Amt als Mitglied des Deutschen Bundestags nieder. Mit freundlichen Grüßen« (Die Mandatsniederlegung wurde anschließend noch notariell vollzogen.) An die Mitglieder des Vorstands der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands: »Liebe Parteifreundinnen und Parteifreunde, hiermit erkläre ich meinen Rücktritt vom Amt des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Ich danke Euch und den Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands für die freundschaftliche Zusammenarbeit und das Vertrauen. Ich wünsche Euch für die Zukunft eine erfolgreiche Arbeit für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Euer Oskar Lafontaine« Der letzte Brief fiel mir am schwersten. Schließlich ist es nicht alltäglich, dass ein Parteivorsitzender der SPD zurücktritt. Schumacher und Ollenhauer starben als Parteivorsitzende der SPD. Brandt trat zurück, weil er sich am Ende seiner Amtszeit zuwenig von der Partei unterstützt fühlte und weil die Partei der Berufung von Margarita Mathiopoulos zur Pressesprecherin nicht zustimmen wollte. Hans-Jochen Vogel nannte in seinem Buch Nachsichten mehrere Gründe dafür, dass er 1991 nicht erneut kandidierte: »Einmal erschien mir der Generationswechsel an der Spitze jetzt geboten. Im Falle meiner erneuten Kandidatur wäre meine Ablösung wohl erst wieder nach der dann folgenden Bundestagswahl in Frage gekommen; dann wäre ich aber schon über siebzig gewesen und die für meine Nachfolge in Betracht kommenden Jüngeren auch schon wieder ein Stück älter. Ich hielt auch meine Kraft nicht für unerschöpflich, und mir war kein Gedanke mehr zuwider als die Vorstellung, andere würden ein Nachlassen meiner Präsenz, Konzentration und Leistungsfähigkeit konstatieren können. Schließlich brauchte die Partei nach drei aufeinanderfolgenden Niederlagen bei Bundestagswahlen einen sichtbaren personellen Neuanfang. Programmatisch war sie mit dem Berliner Grundsatzprogramm auf der Höhe der Zeit. Jetzt musste auch eine neue Person an der Spitze der Partei deutlich machen, dass die Phase des Übergangs beendet und die deutsche Sozialdemokratie bereit war, die Konservativen mit langem Atem herauszufordern und abzulösen. Eine solche Entscheidung würde gerade nach der neuerlichen Niederla ge auch die Handlungsfähigkeit der Partei unter Beweis stellen.« Björn Engholm trat zurück, weil er im Untersuchungsausschuss falsche Angaben über den Zeitpunkt gemacht hatte, zu dem er von den Machenschaften Barscheis erfahren hatte. Rudolf Scharping wurde auf dem Mannheimer Parteitag abgewählt. Meine Entscheidung, vom Amt des Parteivorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zurückzutreten, war mit innerem Schmerz verbunden. Ich bin 1966 der SPD beigetreten. Dass ich 29 Jahre später einmal ihr Vorsitzender sein würde, hätte ich mir nicht träumen lassen. Viele Jahre waren seitdem ins Land gegangen, und mein Leben hatte sich untrennbar mit der SPD verbunden. Für mich, wie für die anderen Mitglieder, ist die Partei auch Heimat und Familie. Die Menschen suchen auch in der heutigen Zeit Wärme und Geborgenheit. Gerade die SPD, die von Bismarck unterdrückt und von den Nazis verfolgt wurde, hat die Tradition, ihren Mitgliedern das Gefühl zu geben, dass sie in einer Gemeinschaft von Menschen angekommen sind, die füreinander einstehen wollen. Aus dieser Tradition heraus erklärt sich die Anrede Genossinnen und Genossen. Solidarität und Mitmenschlichkeit müssen das Innenleben der SPD bestimmen. Wie oft versagen wir dabei durch Gleichgültigkeit oder Selbstsucht. Meine Zeit als SPD-Vorsitzender ist danach zu beurteilen, ob wir in dieser Zeit ein Mehr an Miteinander erreicht haben. Es ist uns gelungen, die Partei personell und inhaltlich geschlossen in die Bundestagswahl 1998 zu führen. Das Regierungsprogramm wurde mit großer Mehrheit verabschiedet. Die Personalentscheidungen zum Kanzlerkandidaten und zur Mannschaft erfolgten ohne Streit. Wir erreichten einen auch in der Höhe historischen Wahlsieg. Voller Hoffnung hatte ich darauf gesetzt, nach diesem glänzenden Wahlsieg zusammen mit Gerhard Schröder eine Reformpolitik gegen den vorherrschenden Neoliberalismus auf den Weg zu bringen. Als die Hoffnung zerbrach und ich zu der Einsicht kam, dass ich gehen musste, weil die Wählerinnen und Wähler Gerhard Schröder das Vertrauen gegeben hatten, fiel ich in ein tiefes Loch. Gegen 16 Uhr setzte ich mich ins Auto und fuhr nach Saarbrücken. Auf der Autobahn erreichte mich ein Anruf von Marianne Duden, der Sekretärin des Bundeskanzlers, die mir sagte, der Bundeskanzler
wolle mich sprechen. Ich antwortete ihr, dass die Entscheidungen getroffen seien und daran nichts mehr zu ändern sei. Sie möge Gerhard Schröder herzlich grüßen. Als die Nachrichtenagenturen die Meldung von meinem Rücktritt verbreiteten, machten sich viele Fernsehteams auf, um mein Haus am Hügel zu belagern. Die Belagerung dauerte fünf bis sechs Tage. Ich hatte meinen Rücktritt nicht begründet. Ich wollte Abstand gewinnen und wollte die Begründung so abgeben, dass möglichst wenig Schaden für die SPD entstand. Nach einer schmerzhaften Trennung ist der Mensch im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Er will nicht sprechen, will zu sich selbst kommen und Abstand gewinnen. Unsere Mediengesellschaft aber hat für solche Sprachlosigkeit nicht das mindeste Verständnis. Unisono tönte es aus den Medien, dass die Öffentlichkeit ein Anrecht darauf habe zu erfahren, was die Gründe für meinen Rücktritt waren. Meine naive Vermutung, dass die Öffentlichkeit vor meinem Rücktritt die Fernsehsendungen und Zeitungsberichte verfolgt hatte und dass ihr nicht entgangen sein konnte, wie sich Kanzler und Parteivorsitzender immer mehr auseinander lebten, war falsch. Auch der reißerische Aufmacher der Bild-Zeitung über die vorausgegangene Kabinettssitzung und die Rücktrittsdrohung des Kanzlers haftete wohl nicht im Gedächtnis. Die Fernsehteams belagerten rücksichtslos mein Haus. Gerüchte, ich hätte mit Euro oder Aktien spekuliert oder sei Stasi-Spitzel gewesen, kursierten und wurden genüsslich verbreitet. Entnervt rief ich am Sonntag, dem 14. März, den Korrespondenten der ARD und saarländischen Journalisten Norbert Klein an, den ich seit vielen Jahren kannte, und sagte ihm, ich würde eine kurze Stellungnahme abgeben. Der ARD gab ich dann folgendes Interview: Frage: Herr Lafontaine, was ist denn das Hauptmotiv für Ihren Rücktritt gewesen. Auf die Antwort auf diese Frage wartet ja jeder. Antwort: Ich habe natürlich einen gewissen Abstand zu meiner Entscheidung gebraucht. Ich glaube, das wird jeder verstehen, der nachvollziehen kann, was eine solche Entscheidung bedeutet. Ich möchte zunächst sagen, dass die Entscheidung nichts zu tun hat mit der Richtung der Politik, die wir in den letzten Monaten gemacht haben. Wir sind stolz darauf, dass wir viele Versprechungen gehalten haben, das ist etwas Neues in der Politik. Denn allzu oft waren die Wählerinnen und Wähler enttäuscht, weil die Versprechungen nicht eingehalten wurden. Wir wollten sozia le Gerechtigkeit, wir wollten Politik für Arbeitnehmer und Familien machen. Diese Politik haben wir in Gang gesetzt, und wir finden auch sehr viel Zustimmung dafür. Der Grund meines Rücktritts ist das schlechte Mannschaftsspiel, das wir in den letzten Monaten geboten haben. Ohne ein gutes Mannschaftsspiel kann man nicht erfolgreich arbeiten. Mannschaftsspiel verlangt, dass man Rücksicht aufeinander nimmt und dass man auch zueinander steht - auch in der Öffentlichkeit - und dass Teamgeist die Regierungsarbeit bestimmt. Ein Beispiel: Während wir die Mittelständler um fünf Milliarden entlasten, diskutiert die Mannschaft darüber, ob wir eine wirtschaftsfeindliche Politik machen. Das verstehe, wer will. Wenn die Mannschaft nicht mehr gut zusammenspielt, muss man eine neue Mannschaftsaufstellung suchen. Dazu ist mein Schritt die Voraussetzung gewesen. Die neue Mannschaftsaufstellung ist bekannt. Ich wünsche der neuen Mannschaft mit Gerhard Schröder Erfolg bei der Arbeit. Frage: Was hat das mit dem Kapitän die ser Mannschaft zu tun? Ich wich aus und antwortete: Die Frage, die sicherlich angesprochen werden wird, ist, warum ich mich jetzt erst äußere. Ich sagte, ich brauchte etwas Abstand. Und vor allen Dingen wollte ich vermeiden, dass aus der Erklärung eine Selbstrechtfertigung wird. Ich wollte auch ein Beispiel dafür geben, dass man auch nach dem Rückzug sich nicht dadurch entlastet, dass man andere belastet. Ich sage also noch einmal: Die Fehler, die gemacht wurden, haben wir alle gemacht, und ich glaube, das ist eine Herangehensweise, die jeder akzeptieren kann. Ich hatte mich schon als Parteivorsitzender über diejenigen Freunde geärgert, die zurückgetreten waren oder nicht mehr im Amt waren und ab und zu durch Erklärungen die Partei belastet haben. Denn solche Erklärungen sind bekanntlich besonders erwünscht. Nun noch eine Erklärung für die Partei selbst. Der Schritt ist mir natürlich nicht leichtgefallen. Ich bin 33 Jahre in dieser Partei. Seit dreißig Jahren habe ich Führungsämter inne. Das ist eine längere Zeit, als viele andere Politiker sie begleitet haben. Das heißt, die Partei ist ein Stück meines Lebens. Ich habe mir seit dem Attentat von Köln natürlich immer wieder die Frage gestellt, inwieweit ich diese große Belastung auch mit meiner Familie verbinden kann, mit meinem Privatleben. Und ich habe mich jetzt eben nach vielen Jahren für das Privatleben entschieden, mit all den Gründen, die ich vorgetragen habe. Ich hoffe, dass die Partei dafür Verständnis hat. Ich möchte auch heute noch einmal für viel Vertrauen danken, das mir entgegengebracht worden ist, für viel Zuneigung sogar. Das hat mich über
viele Jahre motiviert, diese schwierige Arbeit zu machen. Ich wünsche der Partei weiterhin einen guten Weg. Ich werde ihn aufmerksam mitverfolgen, ich gehöre zu dieser Partei. Und eines soll sie nicht vergessen: Das Herz wird noch nicht an der Börse gehandelt, aber es hat einen Standort. Es schlägt links. Ich danke Ihnen. Natürlich war diese Erklärung, die mit der Passage über das Mannschaftsspiel deutlic h genug war, nicht das, was die sensationslüsterne Presse erwartet hatte. Im Interesse der Medien wäre es gewesen, wenn ich sofort den Bruderkrieg mit Gerhard Schröder begonnen und heftige Kritik an der rotgrünen Koalition geübt hätte. Aber noch hatte der Kosovo-Krieg nicht begonnen, und noch gab es kein Schröder-Blair-Papier und kein Zukunftsprogramm 2ooo. Darüber hinaus ärgerte manche Journalisten, dass ein Politiker aus freien Stücken zurückgetreten war, ohne dass die Presse ihn dazu gezwungen hatte. Man darf den Jagdtrieb der Medien nicht unterschätzen. Journalisten hatten sich bei mir schon oft gebrüstet, den oder den zu Fall gebracht zu haben. Immer wieder gibt es unter den Journalisten solche, die es sich zum Ziel setzen, Politiker zum Rücktritt zu zwingen. Die Quittung wollten sie mir dadurch geben, dass sie den Rücktritt, der in einer Demokratie selbstverständlich sein sollte, wenn Politiker zu der Auffassung kommen, dass sie unter den gegebenen Umständen ihre Arbeit nicht mehr erfolgreich machen können, zur Fahnenflucht erklärten. Nicht genug damit, verstiegen sich einige dazu, mir auch jedes Recht abzusprechen, nach dem Rücktritt mich zu politischen Themen zu äußern. Ich litt darunter, dass viele Parteifreunde meinen Rücktritt nicht verstanden. Vor allem die Parteilinke warf mir vor, sie im Stich gelassen zu haben. Seltener wurde ich gefragt, ob ich mich nicht ausreichend unterstützt gefühlt hätte. Die vie le bewegende Frage, wie es mit der Linken weitergehen werde, thematisierte Claus Koch in der Süddeutschen Zeitung wie folgt: »Die Wut, die viele Freunde des Parteivorsitzenden nach dessen Befreiungsschlag erfüllt, kann man verstehen. An diesem Rücktritt werden sich alle kommenden Rücktritte, die bald folgen werden, messen lassen müssen. Was Lafontaine sich geleistet hat, lässt sich nur unterbieten. Dass ein Sozialdemokrat so virtuos seine Partei vorführt und die Peinlichkeit ihrer Situation demonstriert, gilt unter Genossen als unanständig. Die ganze Partei muss sich von ihrem Einiger als dequalifiziert betrachten. Und wenn Klaus Zwickel von der Feigheit dieses Fahnenflüchtigen spricht, so ist es vielmehr dieser, der die Feigheit der Sozialdemokratie einschließlich ihrer Linken bloßstellt. Lafontaine erklärt mit dem Rücktritt ja nichts anderes, als dass auf absehbare Zeit eine Alternative zum politischen Einheitsdenken und -handeln nicht verfügbar ist, dass sich die bewusste A-Politik Blairs und Schröders durchgesetzt hat. Er gibt also die moralische Konkurserklärung für die SPD ab. Wenn ein Links von der Mitte vor einem Jahr vielleicht noch konstruiert werden konnte, so herrscht mit Schröder nun eindeutig die Rechte. Denn die Mitte ist immer rechts. Wer jetzt mit linken Lebenslügen noch weitermacht, so muss Oskar Lafontaine verstanden werden, ist zum bloßen Karrierismus unter dem bekennenden Karrieristen Schröder verurteilt. Die Parteilinken haben einzusehen, dass sie, nachdem sie vom Politik-Imitator Schröder missbraucht worden waren, nun auch von Lafontaine abgeschrieben sind. Es blieb ihm, da dies ein sehr politischer Rücktritt war, nichts anderes übrig.« Die Konkurserklärung der Linken wollte ich nicht abgeben. Sehr wohl aber wollte ich durch den Rücktritt auch darauf hinwirken, dass die Partei erneut über ihren Kurs entscheidet. Das Schröder-Blair-Papier und das Zukunftsprogramm 2000 zeigen, dass eine erneute Kursbestimmung unumgänglich ist. In jenen Tagen erinnerte ich mich oft an den Rücktritt Willy Brandts vom Amt des Parteivorsitzenden. Der äußere Anlass war sein Vorschlag, die parteilose Griechin Margarita Mathiopoulos zur Parteisprecherin zu machen. In Wirklichkeit hatte insbesondere die Parteirechte seit längerem seine Ablösung betrieben. Der Spiegel berichtete, dass der ehemalige SPD-Finanzminister Hans Apel den Genossen eine Automarke empfahl: »BMW, Brandt muss weg« und fragte: »Willy Gaga?« Bild, wie konnte es anders sein, sah in Willy Brandts Vorschlag einen Beweis für seine Liebe zu Frauen. »Immer diese Frauen«, hieß es wörtlich, und die Boulevard-Presse bildete Willy Brandt mit verschiedenen Frauen ab, die angeblich sein Schicksal bestimmt hatten. Margarita Mathiopoulos wurde zu »Brandts schöner Grie chin«. Selbst die Frankfurter Rundschau schrieb über »Brandts Sirtaki mit der Griechin«. In seiner Abschiedsrede hatte Brandt noch einmal auf die Diskussion in der eigenen Partei Bezug genommen. »Manches, was ich bei der Gelegenheit zu hören und zu lesen bekam, war so erschreckend, dass sich in mir alles gegen eine Wiedergabe sträubt. Mit sozialdemokratischem Stallgeruch hatte das nichts zu tun. Und ich muss dringend darum bitten, nicht nur abstrakt, sondern Bedürftige auch ganz konkret daran zu erinnern, dass die SPD eine europäische Partei ist und unter dem Gesetz der Völkerverständigung zu wirken begann. Fremdenfeindlichkeit dürfen wir nie
unwidersprochen lassen. Wir müssen ihr so entgegentreten, dass auch Banausen merken, woran sie bei uns sind.« Zwar schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen über seinen Rücktritt unter der Überschrift »Ein fröhlicher Abschied«: »Die formelle Verabschiedung ging auf einem außerordentlichen Parteitag Mitte Juni 1987 in der Bonner Beethovenhalle vor sich. Die Versammelten sparten nicht mit Blumen, auch nicht im übertragenen Sinne des Wortes... Ich blickte nicht im Zorn zurück, sondern dankbar für viele schöne Jahre, und ich blickte guten Mutes und fröhlichen Herzens voraus. Der Abschied war mir leichtgefallen.« Diese Darstellung Willy Brandts habe ich nie geglaubt. Dafür kannte ich den Alten dann doch zu gut. Der Abschied vom Parteivorsitz der SPD ist ihm, dem größten Vorsitzenden dieser Partei in diesem Jahrhundert, in Wirklichkeit sehr schwer gefallen. Verglichen mit Willy Brandt, dem viel widerwärtiger Dreck hinterhergeworfen wurde, war ich noch relativ gut davongekommen. Christa und ich hatten beschlossen, in den ersten Tagen nicht mehr ans Telefon zu gehen. Der Anrufbeantworter war überlastet. Viele Freunde aus der Partei meldeten sich am Telefon und wollten Erklärungen. Einfache Mitglieder, Abgeordnete und Funktionsträger schrieben mir rührende Briefe. Egon Bahr schrieb: »Du musst schreckliche Stunden hinter Dir haben. Ich wünsche Dir Genesung von den Verwundungen und Abstand, um Kraft für Neues /u gewinnen.« Ich war ihm dankbar für diese Worte. Auch führende Politiker anderer Parteien riefen an oder schrieben mir Briefe. Von der CDU Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Norbert Blüm, von der FDP Hans Dietrich Genscher und Günter Rexrodt, von den Grünen Antje Vollmer. Auf einem unserer Anrufbeantworter teilte uns ein Mitarbeiter von Joschka Fischer mit, dass dieser mich sprechen wolle. Zu einem Gespräch ist es nicht gekommen. Auch Gregor Gysi meldete sich. Ebenso Hans Modrow, den ich in der Zeit der DDR als Bezirksvorsitzenden der SED von Dresden kennen- und schätzen gelernt hatte. Von den Vertretern der europäischen Mitgliedsparteien rief als erster mein langjähriger Freund Alfonso Guerra aus Spanien an. Alfonso Guerra war lange Zeit Stellvertretender Ministerpräsident in der Regierung von Felipe Gonzalez gewesen. Er hatte seit 1974 zusammen mit ihm die PSOE in Spanien aufgebaut. In der Franco-Zeit war er Buchhändler in seiner Heimatstadt Sevilla, die auch die Heimatstadt von Felipe Gonzalez ist. Die noch heute existierende Buchhandlung heißt Antonio Machado. Sie ist nach einem spanischen Dichter und Schriftsteller benannt, der 1939 am Ende des Spanischen Bürgerkriegs in Frankreich elend ums Leben kam. Mein saarländischer Landsmann Gustav Regler hat in seiner Autobiographie Das Ohr des Malchus darüber berichtet. Antonio Machado ist der Lieblingsschriftsteller Alfonso Guerras. Guerra pflegt zu Weihnachten und Neujahr seinen Freunden anspruchsvolle literarische Texte zuzuschicken. Ich habe im Lauf der Jahre zu Alfonso Guerra eine wirkliche Freundschaft entwickelt. Als mein Sohn Carl Maurice zur Welt kam, schrieb er ihm den ersten Brief. Guerra hatte sich nach vielen Jahren mit Gonzalez in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch in ideologischen Grundsatzfragen überwerfen und war im Januar 1991 ausgeschieden. Er war tief enttäuscht darüber, dass ich zurückgetreten war, zumal Christa und ich wenige Wochen vorher in Madrid unser Buch Keine Angst vor der Globalisierung vorgestellt hatten, das auch ins Spanische übersetzt wurde. Die Buchvorstellung, die von meinem langjährigen Freund Dieter Koniecki, dem Leiter des Friedrich-Ebert-Büros in Madrid organisiert worden war, war ein großer Erfolg. Mehr als 900 Zuhörer waren gekommen, die in ihrer großen Mehrheit Hoffnung schöpften, weil ein deutscher Finanzminister mit seiner Frau dem neoliberalen Einheitsdenken eine solch schnörkellose Absage erteilte. Dominique Strauss-Kahn meldete sich aus Paris, bestellte Grüße von Lionel Jospin und wollte die Gründe für meinen Rücktritt wissen. Ich sagte ihm, was ohnehin bekannt war, dass ein Schiff nicht zwei Steuermänner haben könne, die in unterschiedliche Richtungen wollten. Dominique StraussKahn lud meine Frau und mich nach Paris ein. Auch Jack Lang, der langjährige Kultusminister Frankreichs, der uns im Bundestagswahlkampf unterstützt hatte, rief an. Er fragte mich, ob ich nicht doch Präsident der Europäischen Kommission werden wolle, nachdem ich nun durch kein Amt an der Übernahme dieser Aufgabe gehindert sei. Ich sagte ihm, dass ich mich gerade dafür entschieden hätte, mehr Zeit für meine Familie zu haben. Ich konnte mir aber die Bemerkung nicht verkneifen, dass der deutsche Bundeskanzler über seinen Vorschlag sicherlich hellauf begeistert wäre. Ende 1998 waren in der Presse Berichte aufgetaucht, nach denen ich das Amt des Europäischen Kommissionspräsidenten anstreben würde. Nichts davon war wahr. Ich konnte mich nur retten, indem ich erklärte, ich wolle Papst werden. Nachdem die Geschichte einmal in der Welt war, sprach mich
tatsächlich Dominique Strauss-Kahn in Berlin an und sagte, Frankreich würde es unterstützen, wenn ich Kommissionspräsident werden wolle. Ich sagte ihm, er solle es selbst machen. Da wir in der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik an einem Strick zogen, wäre er für mich eine hervorragende Besetzung gewesen. In je nen Tagen sagte auch Gerhard Schröder zu mir, wenn ich wolle, würde er mich zum Kommissionspräsidenten vorschlagen. Aus den Vereinigten Staaten schrieb mir Bob Rubin. Er würdigte meine Bemühungen, in Europa Wachstum und Beschäftigung zu unterstützen, und dankte mir für die Zusammenarbeit. Das war gentlemanlike. Von den vielen Zeichen der Freundschaft, die ich von den europäischen Sozialdemokraten erhielt, möchte ich noch einen Brief meines langjährigen Freundes Heinz Fischer erwähnen, der Präsident des österreichischen Nationalrats ist: »Die Tatsache, dass Du Dich zu einem so radikalen Schritt entschlossen hast, deutet für mich darauf hin, dass Du es mit sehr schwierigen Abwägungen und grundsätzlichen Entscheidungen zu tun hattest. Nicht einmal im nachhinein kann man beurteilen, ob die Entscheidung richtig (vielleicht sogar unvermeidbar) war, wenn man Deine Motive nicht ganz genau kennt und auch die Rahmenbedingungen nicht kennt, unter denen diese Entscheidung getroffen wurde. Ich bin aber sicher, dass Du Dir alles sorgfältig überlegt hast. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass nicht nur die Entscheidung selbst schwierig war, sondern auch die nachfolgende gigantische Umstellung schwierig war und immer noch ist.« Besonders erfrischend war ein Telefongespräch mit Helmut Kohl, das ich dem Leser nicht vorenthalten möchte. Der ehemalige Bundeskanzler versicherte mir zunächst seinen Respekt und seine Sympathie. Dann erkundigte er sich, ob wir tatsächlich einen Bauernhof gekauft hätten. Ich sagte ihm, dass wir in Verhandlungen stünden und diese noch nicht zum Abschluss gekommen wären. Helmut Kohl versprach mir für den Fall des Erwerbs eines Bauernhofs, einen jungen Stier zu stiften. Dann fragte er weiter, oder wollen Sie lieber einen Löwen oder einen Tiger. Nachdem ich etwas verlegen die Frage stellte, was ich damit anstellen solle, fasste er nach und wollte wissen, ob ich die Preise kenne, zu denen junge Löwen und Tiger angeboten werden. Auch hier musste ich passen. Ich erfuhr von ihm, dass die Preise bei 250 DM liegen und dass die Tiere deshalb so günstig angeboten werden, weil immer mehr Zoologische Gärten in Deutschland den Nachwuchs der Raubkatzen ohne Proble me großziehen können. Meine Unkenntnis der Preise für Tiger- und Löwenjungen quittierte Helmut Kohl mit der Bemerkung: »Ich wusste schon immer, dass Sie vom wirklichen Leben keine Ahnung haben!« Anschließend vereinbarten wir, bei Gelegenheit ein Glas Wein zu trinken. Ich schildere dieses Gespräch, weil es den weniger Eingeweihten zeigt, auf welch schlitzohrige Art Helmut Kohl seine jeweiligen Gesprächspartner einzuwickeln versucht. Kohl war, was nachher von niemandem mehr bestritten wurde, allgemein unterschätzt worden. Die Fähigkeit, mit der er die anfänglichen Demütigungen der Presse wegsteckte, hat stets meine Bewunderung hervorgerufen, und immer wenn die Presse über mich herfiel, erinnerte ich mich daran, dass Helmut Kohl über viele Jahre noch übler mitgespielt worden war. Gerhard Schröder demonstrierte nach meinem Rücktritt Handlungsfähigkeit. Er sagte sinngemäß, dass die Arbeit nun weitergehe und er zügig einen Nachfolger vorschlagen werde. Gleichzeitig erklärte er in internen Gesprächen seine Bereitschaft, den Parteivorsitz zu übernehmen. Seine Zwiespältigkeit gegenüber diesem Amt kam in seinem Satz zum Ausdruck: »Ich habe an den Gittern des Kanzleramts gerüttelt, nicht aber an der Tür des Ollenhauer-Hauses.«
Der Kosovo-Krieg
Zwölf Tage nach meinem Rücktritt, am 2.3. März 1999, beschloss die Nato, Serbien anzugreifen, um Milosevic zu zwingen, Mord und Vertreibung im Kosovo zu beenden. Gerhard Schröder gab eine Erklärung im Fernsehen ab. Er sagte: »Heute Abend hat die Nato mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern ... Die Militäraktion richtet sich nicht gegen das serbische Volk. Dies möchte ich gerade auch unseren jugoslawischen Mitbürgern sagen. Wir werden alles tun, um Verluste unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden.« Wie wir heute wissen, ist keines dieser Ziele erreicht worden. Weder gelang es der Nato, die humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern, noch konnte sie Verluste unter der Zivilbevölkerung Serbiens vermeiden. Selbstverständlich richtete sich der Krieg, bei dem die serbische Wirtschaft und Infrastruktur zerstört wurde, auch gegen das serbische Volk. Während des Krieges kamen mir Zweifel, ob es richtig war, gleichzeitig mit dem Rücktritt vom Amt des Bundesfinanzministers auch den Vorsitz der SPD abzugeben. Die Friedens- und Entspannungspolitik Willy Brandts war für mich, wie für viele andere, einer der wesentlichsten Gründe gewesen, der SPD beizutreten. Die Zustimmung zur Kosovo-Politik Gerhard Schröders war mir von Anfang an schwergefallen. Nach dem Wahlsieg der rot-grünen Koalition lud uns die Regierung Kohl ein, um unsere Zustimmung zu einer Entscheidung des alten Deutschen Bundestags zu erreichen: Sie wollte beschließen, für die Alarmbereitschaft von Nato-Verbänden auch deutsche Truppenteile zur Verfügung zu stellen. Als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei warf ich bei diesem Gespräch die Frage auf, ob ein solcher Beschluss des Deutschen Bundestags und der Bundesregierung eine Automatik in Gang setze, die keine politische Konsultation mehr zuließe, bevor es zu einem militärischen Angriff komme. Die Antworten der beteiligten Minister, des Verteidigungsministers Volker Ruhe und des Außenministers Klaus Kinkel, waren unterschiedlich. Während Ruhe sagte, es bestehe keine politische Möglichkeit mehr, nach dieser Entscheidung einen Angriff der Nato zu verhindern, erklärte Kinkel das Gegenteil. Wolfgang Schäuble blickte peinlich berührt in den Garten des Kanzleramts. Ich verlangte eine klare Antwort. Ich ließ mir am selben Tag vom Außenministerium schriftlich bestätigen, dass eine solche Entscheidung des Deutschen Bundestags keine Automatik in Gang setze. Es war also möglich, bevor es zu einem Angriff kam, noch einmal politisch zu beraten und zu entscheiden, ob, nachdem die Truppen in Alarmbereitschaft waren, ein Angriffsbefehl gegeben würde. Nach dieser Zusicherung habe ich als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands dem Bundestagsbeschluss zugestimmt. Es wäre nicht richtig gewesen, nach all den Vorbereitungen und nach all dem, was vorher von den Regierungen Europas und den Vereinigten Staaten auf den Weg gebracht wurde, zu diesem Zeitpunkt bereits ein Veto einzulegen zumal die Regierung Kohl noch im Amt war. Ich habe dann während der Verhandlungen von Rambouillet darauf bestanden, dass es, bevor es zu einer Zustimmung Deutschlands zu einem militärischen Angriff käme, zu einer ausführlichen Erörterung der militärischen Planungen im Kabinett kommen müsse. Ich war der Auffassung, dass es nicht möglich sei, Militäreinsätzen zuzustimmen, ohne die Planungen und deren Auswirkungen zu kennen. Während der Verhandlungen von Rambouillet sagte Fischer im Kabinett, dass die Nato entschlossen sei, im Fall des Scheiterns mit den Luftschlägen zu beginnen. In Erinnerung an den Vermerk des Auswärtigen Amtes war mir sofort klar, dass jetzt erneut politisch entschieden werden musste. Nachdem Fischer seinen Vortrag beendet hatte, sagte Gerhard Schröder, an Fischer und Scharping gewandt: »Wenn es soweit ist, telefonieren wir miteinander.« Ich meldete mich zu Wort und sagte, dass das so nicht gehen könne. Wenn Deutschland zum ersten Mal in einen Krieg eintrete, müsse zumindest eine Kabinettsberatung stattfinden, die zu einem Kabinettsbeschluss führen müsse. Kriegseintritt per Telefon, das sei wohl nicht das richtige Verfahren. Ich sagte, zu Gerhard Schröder gewandt, es müsse doch auch in seinem Interesse sein, wenn das Verfassungsorgan »Bun-
desregierung« die Entscheidung mittrage. Joschka Fischer unterstützte mich, und Gerhard Schröder war schnell überzeugt. Es wurde vorsorglich das Datum für diese Kabinettssitzung festgelegt. Zu ihr kam es aber nicht, weil die Nato direkt nach den Verhandlungen von Rambouillet doch nicht eingreifen wollte. Vor meinem Rücktritt vorn Amt des Finanzministers wurden also die militärischen Überlegungen und Planungen der Nato nicht mehr erörtert. Daher kann ich nur im nachhinein urteilen. Die militärische Vorgehensweise der Nato war überhaupt nur zu rechtfertigen, wenn man darauf setzte, dass Milosevic nach kurzer Zeit unterschreiben würde. Wenn damit aber nicht zu rechnen war, und es sprach einiges dafür, dann war die Vorgehen s weise der Nato unverantwortlich. Bei den langjährigen Debatten in der SPD über die Zulässigkeit solcher Militäraktionen hatte Christoph Zöpel einmal argumentiert, Militäreinsätze, die die Verletzung von Menschenrechten verhindern sollen, seien eher als Polizeieinsätze zu betrachten. So kann man das sehen. Was würde man aber von einer Polizei halten, die, wenn sie erführe, dass Verbrecher von A nach B zögen, um in B zu plündern und zu morden, Polizeikräfte nach A schicken würde, um dort die Infrastruktur zu zerstören? Die Verantwortlichen würden sofort zum Teufel gejagt. Aber bei grenzüberschreitenden Polizeieinsätzen ist das offensichtlich anders. Ein unverzeihliches Versäumnis muss ich mir selbst anla sten. Ich habe mich nicht um den Vertragstext, der in Rambouillet vorgelegt wurde, gekümmert. Ich verließ mich auf den Außenminister. Vom Annex B dieses Abkommens, das die Stationierung von Nato-Streitkräften mit unbeschränkten Durchmarsch- und Bewegungsrechten in ganz Jugosla wien vorsah, erfuhr ich erst später aus der Presse. Die völkerrechtliche Frage, ob jemand mit der Androhung militärischer Gewalt zum Abschluss eines Vertrags gezwungen werden darf, wurde im Kabinett nicht erörtert. Zu Recht urteilte Rudolf Augstein: »Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können.« Als der Angriff begann, war ich erleichtert, dass ich der Regierung nicht mehr angehörte. Es ist zwar problematisch, im nachhinein zu sagen, wie man sich im Fall des Falles entschieden hätte. Aber angesichts der Tatsache, dass ich ohnehin fest entschlossen war zurückzutreten, wird man es mir abnehmen, dass ich den Kriegseintritt unter diesen Bedingungen ebenfalls zum Anlass eines Rücktritts genommen hätte. Selbst wenn man den Militäreinsatz als unvermeidbar ansah, war die politische und militärische Vorgehensweise der Nato fahrlässig und verantwortungslos. Ich machte mir in den ersten Tagen des Krieges Vorwürfe, dass ich aus falsch verstandener Loyalität den drohenden Kosovo-Krieg in der SPD nicht früher thematisiert hatte. Zu lange hatte ich darauf gesetzt, dass die Nato ihre Drohungen nicht wahr machen würde. Nur mit einem eindeutigen Beschluss der Partei im Rücken hätte ich den Gang der Dinge vielleicht noch beeinflussen können. Ich habe allerdings Zweifel, ob ein solcher Parteitagsbeschluß ausgereicht hätte. Wahrscheinlich hätte ich nur als Bundeskanzler den Beginn des Krieges aufhalten können. Ich hätte darauf bestanden, den UNO-Sicherheitsrat, Russland und China einzubinden und militärische Planungen nicht zu akzeptieren, die, statt Mord und Vertreibung zu beenden, das Gegenteil bewirken. Die deutsche Öffentlichkeit hätte diesen deutschen Sonderweg am Anfang sicherlich heftigst kritisiert. Aber einen solchen Gegenwind muss ein Politiker, der zu seinen Überzeugungen steht, aushaken. Schließlich steht in unserem Regierungsprogramm: »Die Nato ist und bleibt ein Verteidigungsbündnis. Das globale Gewaltmonopol zur Sicherung des Weltfriedens liegt ausschließlich bei den Vereinten Nationen. Einsätze der Nato, die über ihren kollektiven Verteidigungsauftrag hinausgehen, bedürfen eines Mandats der Vereinten Nationen oder der OSZE; (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa).« Die Koalitionsvereinbarung war noch eindeutiger. In ihr heißt es: »Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völkerrechts und des deutschen Verfassungsrechts gebunden. Die neue Bundesregierung wird sich aktiv dafür einsetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren und die Rolle des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu stärken.« Nie hätte ich geglaubt, dass nach einigen Monaten nichts von alledem mehr Gültigkeit hatte. Am 1. Mai 1999 sprach ich auf einer Maikundgebung des DGB Saar in Saarbrücken. Die Veranstaltung fand große Aufmerksamkeit. Die Presse erwartete eine Abrechnung mit der Regierung Schröder. Viele meiner Parteifreunde und Kollegen in den Gewerkschaften interessierten sich dafür, was ich zum Kosovo-Krieg zu sagen hatte. Ich wollte in keinem Fall den Eindruck erwecken, als hätte ich eine Patentantwort, aber ich wollte deutlich machen, dass ich die Vorgehensweise der Nato verurteilte.
Ich sagte: »Wenn ich zum Krieg in Jugoslawien heute Stellung nehme, dann möchte ich daran erinnern, dass dies nicht der einzige Krieg auf dieser Erde ist, dass Not und Elend, Tod und Vertreibung leider in vielen Ländern dieser Erde den Alltag bestimmen. Ich denke an Afrika, ich denke an Algerien, ich denke an Äthiopien, ic h denke an den Sudan, ich denke an Ruanda, ich denke an das Kongo-Gebiet, ich denke an Asien, ich denke auch an die verfolgten Kurden. Die Türkei ist ein Mitgliedsstaat der Nato. Ich denke an Tibet, an die Verfolgten dort, ich denke an Afghanistan, an viele andere Länder dieser Erde, in denen großes Unrecht geschieht und in denen die Menschen leiden. Heute möchte ich mich mit Jugoslawien beschäftigen. Ich möchte das differenziert tun, weil niemand von uns einfache, fertige Antworten haben kann. Was aber im Vordergrund aller Überlegungen stehen sollte, ist nach meiner Auffassung, wie kann das Leid der Menschen dort möglichst schnell gelindert werden. Wie kann dort möglichst schnell Frieden hergestellt werden. Dabei geht es nicht um Gesichtswahrung, wie ic h das da oder dort lesen muss. Es geht immer und allein um das Leid der Menschen, um die Bewahrung menschlichen Lebens. Natürlich denken wir alle an die Menschen im Kosovo, die Vertreibung erleiden, die getötet wurden. Aber wir denken auch an die Menschen in Serbien, die sich ängstigen, die darunter leiden, dass bombardiert wird. Wir denken an die Menschen in Serbien, die Opfer der Bombardements geworden sind. Und ich denke auch an die Deserteure der Armeen, die verfolgt werden, weil sie sich nicht am Krieg beteiligen wollen... Dass Fehler gemacht worden sind in Jugoslawien, wissen wir mittlerweile. Die Fehler liegen teilweise Jahre zurück. Ich höre so oft, dass die Deutschen keinen Sonderweg beschreiten sollten, aber ich muss dann daran erinnern, dass sie zu Beginn einen Sonderweg beschriften haben, als sie gegen die Widerstände in Paris, in London und in Washington die Anerkennung der Teilstaaten durchgesetzt haben, weil man die Begriffe von Freiheit und Selbstbestimmung falsch verstanden hat. Freiheit und Selbstbestimmung vertragen sich nicht mit ethnischer Ausgrenzung. Das ist das Missverständnis dieser Politik. Freiheit und Selbstbestimmung sind überhaupt nur vorstellbar, sind überhaupt nur erfahrbar und erlebbar, wenn sie mit Solidarität und Mitmenschlichkeit verbunden sind. Deshalb war es falsch, dieser Kleinstaaterei, die auf völkischer Ausgrenzung beruhte, auch noch Anerkennung zu geben. Ein Fehler war es auch, dass durch das Bombardement der Nato vor einigen Jahren in der Krajina ermöglicht wurde, dass die Kroaten die Serben vertrieben haben. Auch daran möchte ich heute erinnern, wenn wir über den Krieg in Jugoslawien sprechen. Es wäre falsch, wenn man zu der Auffassung käme, dass nur ein Volksteil des Vielvölkerstaats in Jugoslawien Vertreibung erlitten hat. Auch die Serben haben Vertreibung erlitten ... Ich höre jetzt oft den Satz: Die Nato müsse ihr Gesicht wahren, sie könne jetzt nicht anders, sie müsse jetzt siegen. Nietzsche schrieb in Also sprach Zarathustra: >Euer Friede sei ein Sieg.< Ich frage aber, wessen Sieg wäre dieser Sieg eigentlich? Was bedeutet eigentlich Gesichtswahrung gegenüber dem Elend der Menschen, die unter diesem Krieg leiden.« Ich forderte einen sofortigen Stopp der Bombardierung und die Aufnahme politischer Verhandlungen. 78 Tage und Nächte hat die Nato Jugoslawien bombardiert. Die Luftwaffe flog 36000 Einsätze. Zurückgeblieben ist ein zerstörtes Land. Niedergebrannte Ortschaften im Kosovo, zerstörte Schulen, Krankenhäuser, Fabriken, zerstörte Straßen, Brücken, Energie- und Wasserversorgungsanlagen in Serbien sind neben Tod und Vertreibung die Bilanz des Krieges. Das peinliche Feilschen um die Verteilung der Wiederaufbaulasten hat begonnen. Die Europäische Kommission schätzt, dass 60 Milliarden DM notwendig sind, um das zerstörte Jugoslawien wiederaufzubauen. Die Amerikaner, die die Hauptlast des Krieges getragen haben, sagen, dass jetzt die Europäer dran sind. Hans Eichel hat sofort erklärt, dass wegen des Kosovo-Krieges keine Steuererhöhungen in Frage kämen. Theo Waigel war da weniger zimperlich. Als ihm nach dem Golf-Krieg die Rechnung von 13 Milliarden DM aus Washington präsentiert wurde, erhöhte er die Mehrwertsteuer. Unmittelbar nach dem Einstellen der Kriegshandlungen zeigte sich, dass Waffenstillstand nicht gleichzusetzen ist mit Frieden. In früheren Reden hatte ich immer den Satz eingeflochten: »Unter Bombenteppichen wächst kein Friede.« Die Serben werden jetzt aus dem Kosovo vertrieben. NatoOberbefehlshaber Wesley Clark musste den Serben Schutz vor albanischen Racheakten zusichern. Er sagte: »Die Nato ist bereit, zur Verhinderung schwerer Menschenrechtsverletzungen erneut in Jugoslawien militärisch einzugreifen.« Für uns Unbeteiligte ist es wahrscheinlich nicht vorstellbar, was es nach all den Grausamkeiten für Albaner und Serben bedeutet, nun wieder zusammenleben zu müssen. Dieser Krieg hat Deutschland verändert, und ich hoffe, dass wir jetzt die richtigen Lehren ziehen. Es ist schon bezeichnend, dass es so gut wie keine Friedensdemonstrationen gab. Zwar organisierte die
PDS einige Veranstaltungen, vor allem in Berlin, aber größere Demonstrationen blie ben aus. Das ist auch kein Wunder, wenn die beiden Großorganisationen, die durch ihr Programm und ihre Tradition gehalten sind, für den Frieden und gegen den Krieg einzutreten, nämlich die SPD und die Gewerkschaften, der Regierung Schröder nicht in den Rücken fallen wollten. Zornig war ich auch über die Rolle der Grünen. Ich hatte die rot-grüne Koalition gewollt, weil ich hoffte, für eine auf friedliche Lösung setzende Außenpolitik die Unterstützung der Grünen zu erhalten. Aber die Grünen hatten, wie Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung schrieb, den Pazifismus aus ihrem Souffleurkasten vertrieben. Fragen mit pazifistischem Grundansatz galten in den Fraktionssitzungen der Grünen als degoutant. In der Debatte um den Kosovo-Krieg tauchte das Problem der Konvertiten auf, das ich aus Katholizismus und Protestantismus kannte. Der Konvertit wird vom Saulus zum Paulus. Er tauscht seinen Glauben, seine Weltanschauung gegen eine neue aus und vertritt diese mit noch größerer Überzeugung. Aus dem Slogan »Frieden schaffen ohne Waffen« wird »Frieden schaffen mit aller Gewalt«. Joschka Fischer beispielsweise hatte einmal gesagt: »Ich wünsche mir, dass unsere Partei die Kraft hat, dass dort genügend Pazifisten sitzen, um eine andere friedensbezogene Außenpolitik ohne Militär machen zu können.« Während des Kosovo-Krieges sagte er: »Ich habe nicht nur gelernt, nie wieder Krieg, sondern auch, nie wieder Auschwitz. Die Bomben sind nötig, um die >serbische SS< zu stoppen.« Rudolf Scharping sprach vom »Blick in die Fratze der deutschen Vergangenheit, von Völkermord, Selektierung, Konzentrationslagern«. Und weiter: »Wer dem Grauen keinen Ausdruck gibt, macht die davon betroffenen Menschen klein und austauschbar.« Und er zeigte täglich im Fernsehen die Bilder des Grauens. Immer neue Gräuelfotos von ermordeten Albanern. Während die Bundesregierung, wie dargestellt, argumentierte, sagte der Schriftsteller Peter Handke: »Wir wollen ein neues Auschwitz verhindern. Gut, jetzt hat die Nato ein neues Auschwitz erreicht... Damals waren es Gashähne und Genickschusskammern; heute sind es Computer-Killer aus 5000 Meter Höhe.« Ich empfand es als wohltuend, dass CDU-Politiker vor der moralischen Überhöhung des deutschen Kriegsbeitrags warnten. Denn politisch ist die übermoralisierende Begründung des Krieges im Kosovo ein Sprengsatz. Wer so argumentiert wie Fischer und Scharping, kann nicht mehr begründen, warum er Mord und Vertreibung in vielen anderen Teilen der Welt nicht militärisch bekämpft. Nüchtern abwägende Politiker können begründen, warum das nicht geht. Moralisch argumentierende Politiker haben auf die Frage, warum sie in anderen Teilen der Welt nicht eingreifen, keine Antwort. Wenn wir Menschenrechtsverletzungen wie im Kosovo ahnden wollten, müssten wir die halbe Welt bombardieren. Es steht jedem selbstverständlich frei, seine Meinung zu ändern, aber ein radikaler Kurswechsel birgt immer die Gefahr der Übertreibung. Die Gleichsetzung der schrecklichen Vorgänge im Kosovo mit Auschwitz, das Umwandeln von »Nie wieder Krieg« in »Nie wieder Auschwitz« war eine solch unzulässige Übertreibung. Die Kriegspropaganda machte die Serben zu den Bösen und die Albaner zu den Guten. Heißt aber »Nie wieder Auschwitz« nicht auch, dass nie wieder ein ganzes Volk als die alleinige Ursache des Bösen dargestellt werden darf? Auch wenn Fischer später zurückruderte, so kann ich seine Rolle im Kosovo-Konflikt im nachhinein nicht gut heißen. Zwar hatte er frühzeitig die Kehrtwende vollzogen und auf dem Bielefelder Parteitag der Grünen den Beschluss durchgesetzt, dass auch militärische Gewalt zum Erzwingen des Friedens notwendig sei. Er hatte aber die Koalitionsvereinbarung unterschrieben und versprochen, sich dafür einzusetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren. Musste er all die schlimmen Fehler mitmachen, obwohl er als Außenminister die Gelegenheit hatte, massiv dagegenzuhalten? Es war unverzeihlich, den Amerikanern zu folgen und die UNO zur Seite zu schieben. Wer Frie denspolitik machen will, muss das internationale Recht stärken. Er darf es nicht schwächen. Genau das aber ist im Kosovo-Krieg geschehen. Es war unverzeihlich, nicht darauf zu bestehen, dass Russland eingebunden wird. Wie Gerhard Schröder Primakow behandelt hat, war völlig unangemessen. Erst als das Kind schon im Brunnen lag, erkannten Schröder und Fischer, dass ohne Russland keine europäische Friedensordnung möglich ist. Wir brauchen in der Außen- und Sicherheitspolitik ein koordiniertes europäisches Handeln. Zumindest Deutschland und Frankreich müssen wie zu den besten Zeiten Giscards und Schmidts oder Mitterrands und Kohls an einem Strang ziehen. Aber Gerhard Schröder findet keine richtige Einstellung zur französischen Politik. Zudem kann man nicht behaupten, dass die »Kohabitation« zwischen Chirac und Jospin die Handlungsfähigkeit der französischen Politik verbessert. Der britische Premierminister
Tony Blair kann wenig zur europäischen Handlungsfähigkeit beitragen. Er kämpft mit der traditionellen britischen Europafeindlichkeit und setzt auf Events und Infotainment. Bezeichnend war auch, dass China zuwenig einbezogen wurde, obwohl China als Atommacht ein Vetorecht im UNSicherheitsrat hat. Die, soweit man heute weiß, unbeabsichtigte Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad verschärfte die Situation. Anerkannt werden muss, dass Gerhard Schröder bei seinem Besuch in Peking den richtigen Ton traf und erreichte, dass sich die Dinge im Verhältnis zu China wieder zum Besseren wendeten. Der so unglücklich verlaufene Kosovo-Krieg gibt jetzt die Möglichkeit, die Out-of-AreaEinsatzplanungen der Nato neu zu überdenken. Zu viele Fragen bleiben unbeantwortet, wenn man der Nato diese neue Aufgabe geben will. Dass Soldaten zur Verteidigung ihres Landes und ihrer Familien ihr Leben einsetzen, braucht nicht begründet zu werden. Dass sie diese Verpflichtung auch für ein anderes Land im Rahmen eines gegenseitigen Beistandspakts übernehmen, kann ebenfalls begründet werden. Warum aber sollen sie ihr Leben einsetzen, um als Schlichter oder Polizisten in einem Bürgerkrieg für Ruhe und Ordnung zu sorgen? Einen richtigen Hass, wie man ihn vielleicht spüre, wenn das eigene Land angegriffen werde, hätten sie nicht gefühlt, sagten Bundeswehrsoldaten nach ihrem Einsatz im Kosovo. Die Zweifel führten zu der Strategie der Luftschläge. Man wollte vermeiden, dass Nato-Soldaten ihr Leben ließen. Der Luftkrieg minimierte zwar das Risiko für die eigenen Soldaten, steigerte aber das Risiko der Albaner und der Serben. Ein MenschenrechtsInterventionismus, der aus verständlichen Gründen das Leben der eigenen Soldaten schont, aber das Leben anderer Menschen um so mehr gefährdet, stößt auf Skepsis und Ablehnung. Kürzer formuliert, im Namen der Menschenrechte unschuldige Menschen umzubringen, ist auch dann nicht begründbar, wenn solch tragisches Geschehen als Kollateralschaden bezeichnet wird. Hier zeigt sich wieder einmal, dass im Krieg nichts so verräterisch ist wie die Sprache und dass das erste, was auf der Strecke bleibt, die Wahrheit ist. Kann sich irgend jemand vorstellen, dass der Nato-Sprecher Jamie Shea, der mich allein schon deshalb erschreckte, weil er oft so heiter und locker wirkte, den Tod der eigenen Frau oder der eigenen Kinder als Kollateralschaden bezeichnen würde? Ulrich Beck schrieb dazu: »Aus alledem geht hervor, wie groß die Verwirrung ist, die das globale Zeitalter im Felde der Gesellschaft und der Politik stiftet. Die grenzenlose Selbstermächtigung eines militärischen Humanismus der Menschenrechte ist äußerst gefährlich. Die Befugnis, mit moralischem Anspruch in anderen Staaten einzufallen, kann zur Quelle eines neuen Kreuzrittertums der Menschenrechte werden. Es ist in einer Welt voller Diktatoren die Einladung zum unendlichen Krieg, ein Freibrief zum Missbrauch. Und dies im Zeitalter einer technizistischen Militär-Chirurgie, welche die operative Kontrollierbarkeit des Krieges in der Weltrisikogesellschaft vorgaukelt.« Den gegenteiligen Standpunkt formulierte Vaclav Havel. Er schrieb in einem Essay mit dem Titel »Das Kosovo und das Ende des Nationalstaats«: Die Bombardierung Jugoslawiens, für die es kein UN-Mandat gab, habe »die Menschenrechte über die Rechte des Staates gestellt. ... Dies geschah jedoch nicht in unverantwortlicher Weise, als aggressiver Akt oder in Missachtung des internationalen Rechts. Im Gegenteil. Es geschah aus Achtung vor dem Recht, einem Recht, das höher steht als jenes, das die Souveränität der Staaten schützt. Die Allianz hat aus der Achtung vor den Menschenrechten gehandelt, wie es sowohl das Gewissen als auch internationale Rechtsdokumente gebieten.« Dieses »höhere Recht« habe seine »tiefsten Wurzeln außerhalb der wahrnehmbaren Welt«. »Während der Staat ein Werk des Menschen ist, ist der Mensch ein Werk Gottes.« Anders gesagt: Die Nato durfte internationales Recht verletzen, weil sie als unmittelbares Werkzeug des >höheren Rechts< Gottes handelte. Es bedarf keiner großen Phantasie um sich auszumalen, was in Asien, Afrika oder Südamerika alles möglich wird, wenn sich dort Interventionsstreitkräfte auf das höhere Recht Gottes berufen. Während des Kosovo-Krieges beging die Nato den 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Nordatlantik-Vertrags. Die Atlantische Allianz hatte sich nicht nur als militärisches Bündnis verstanden. Sie hielt sich immer auch für eine Wertegemeinschaft. Das kann man im Nato-Vertrag nachlesen. Hier bekennen sich die Partner zu den Grundwerten der Freiheit in der Demokratie und des Rechtes. Sie verpflichten sich, • in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen zu handeln, • jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Weg zu regeln, • den Frieden, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht zu gefährden und • sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung und Gewaltanwendung zu enthalten.
Im Kosovo-Krieg hat die Nato alle Verpflichtungen über Bord geworfen. Sie handelte gewaltsam, ohne ein erforderliches Mandat der UNO. Die Militäreinsätze erfolgten unter Bruch des Völkerrechts und standen im Gegensatz zu den Verpflichtungen des Nato-Vertrags. Das moderne Kriegsvölkerrecht hat seine Grundlagen in den Genfer Abkommen von 1949 und den Zusatzprotokollen von 1977, die ebenfalls im wesentlichen gewohnheitsrechtlich von den Völkern anerkannt sind. Das erste Zusatzprotokoll bestimmt, dass weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen Ziele von Angriffen sein dürfen. Gewaltanwendung mit dem »hauptsächlichen Ziel«, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist verboten. Genau das aber war das Ziel der Bombardie rung durch die Nato. Konnte sich die Bundesregierung anfangs noch auf eine hohe Zustimmung der Bevölkerung zu den Bundeswehreinsätzen im Kosovo stützen, so änderte sich mit jedem Tag des Krieges das Meinungsbild. Die Anzeichen verdichteten sich, dass der Krieg die Zahl der Menschenrechtsverletzungen nicht verringert, sondern gesteigert hatte. Im Europawahlkampf war die Stimmung schon eine andere geworden. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung lehnte die Vorgehensweise der Nato ab. Zu einer Zeit, in der schon wieder über Rentenkürzungen und Kürzungen von Arbeitslosengeld geredet wurde, klang es in den Ohren der Bürgerinnen und Bürger merkwürdig, dass wir in Jugoslawien Straßen, Brücken, Schienenwege, Energieversorgungs- und Wasserversorgungsanlagen bombardierten und zerstörten, um sie direkt, wenn die Waffen schwiegen, mit dem Geld der ohnehin gebeutelten Steuerzahler wiederaufzubauen. Die Zerstörung der jugoslawischen Wirtschaft und Infrastruktur war auch eine Folge der Kriegführungsstrategie der Nato. Rückblickend müssen wir uns fragen, wo wir hinkommen, wenn internationales Recht missachtet wird und das Grundgesetz bis zur Verbiegung interpretiert wird, weil man sich, ob ausgesprochen oder nicht, auf ein archaisches Recht stützt: das Recht des Stärkeren. Niemand kann in einer Welt des Rechts zugleich Ankläger, Richter und Henker sein. Wer so handelt, darf sich nicht wundern, wenn das international Schule macht. Der Kosovo-Krieg war für die internationale Staatengemeinschaft ein Rückschritt. Wenn man diese Politik fortsetzen wollte, dann wäre die erste Konsequenz, die Verteidigungsministerien wieder so zu benennen, wie sie früher einmal hießen: Kriegsministerium. Ein Verteidigungskrieg war der Kosovo-Krieg sicher nicht. Das Argument, wir müssen die Menschenrechte verteidigen, trägt allein deshalb schon nicht, weil man Menschenrechte nicht dadurch verteidigt, indem man unschuldige Menschen umbringt. In seinem Buch Die einzige Weltmacht schreibt der ehemalige amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski: »Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern. Das ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika noch für die europäischen Nationen.« Die Weltpolitik braucht neben der einzigen Weltmacht ein starkes und geeintes Europa. Die einzige Weltmacht ist so leicht in Gefahr, wie Helmut Schmidt schreibt, »mit innenpolitisch motivierter Rücksichtslosigkeit ihre aktuellen Interessen durchzusetzen«. Eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, das hat auch der Kosovo-Krieg gezeigt, ist notwendiger denn je.
Die Mediengesellschaft
Dass sich die Bedingungen der Politik im Lauf der Zeit deutlich verändert haben, ist heute ein Allgemeinplatz. Unsere Gesellschaft ist eine Mediengesellschaft geworden. Es ist daher an der Zeit, über die Folgen, die die Mediengesellschaft für die Politik hat, nachzudenken. Meiner Auffassung nach sind es sehr nachteilige Folgen. Damit dieses Urteil nicht als eine persönliche Marotte des medienkritischen Oskar Lafontaine abgetan werden kann, zitiere ich Wolfgang Schäuble: »Politik im Medienzeitalter... steht unter permanenter Beobachtung und damit unter dauerndem Erfolgszwang. Das hat nichts mit dem Herstellen notwendiger demokratischer Transparenz zu tun, sondern es handelt sich um das Umfunktionieren normaler politischer Prozesse in eine Abfolge von scheinwerferbeleuchteten Ereignissen. Gerade bei Verhandlungen über schwierige Fragen, die ein Nachdenken über komplexe Zusammenhänge und diskursives Herantasten an sachgerechte Lösungen erfordern, also meistens zeitaufwendig sind, ist eine künstlich dramatisierte Ereignisöffentlichkeit der erste Schritt zur Negativsaldierung des Geschehens in der öffentlichen Wahrnehmung. Denn melden die beteiligten Politiker nach einem derart aufgeladenen Treffen nicht unmittelbar Vollzug, so gilt das Gespräch als gescheitert, oder die Nachricht lautet, man habe sich ergebnislos vertagt, was sozusagen ein halbes Scheitern ist. Die moderne Infotainment-Kultur huldigt lieber der fetzigen Überschrift, der flotten Schlagzeile und bestenfalls noch Fünf-Zeilen-Meldungen, in denen die komplizierte Wirklichkeit kaum eine Chance hat... Die Inszenierung von Politik wird als ihr Erfolg verkauft, die Substanz bleibt dann entbehrlich. Gerade das Fernsehen hat tiefe Spuren in unserer politischen Kultur hinterlassen, die nicht alle positiv sind: die Personalisierung und Skandalisierung der politischen Berichterstattung, was zu entsprechender Wahrnehmung und Bewertung des politischen Geschehens führt; die Distanzlosigkeit des Mediums gegenüber der Privatsphäre des einzelnen und des sich in die Öffentlichkeit Begebenden, was oft mit einem Verlust jeglicher Würde einhergeht.« Entscheidend ist, dass die Medien, vor allem das Fernsehen, unsere Wahrnehmung verändern und damit uns verändern. Der Einwand, es komme immer darauf an, was wir aus den Medien machen, ist bekannt. Aber dieser Einwand ist mehr als zweifelhaft. Er unterstellt, dass wir frei über die Technik verfügen können. Das ist aber eine Illusion. Natürlic h können wir über das Fernsehen an einem Gottesdienst teilnehmen. Wir konsumieren dann allerdings nur dessen Bild. Dieser Bilderbuch-Effekt ist aber das Gegenteil von dem, was wir bezwecken, nämlich beim Gottesdienst dabei zu sein. Hinzu kommt, dass solche Bilder, solange es nur das Medium Film gab, in der Gemeinschaft konsumiert wurden. Heute schauen wir Fernsehsendungen im Kreise der Familie oder mit Freunden an, noch öfter aber allein. Je einsamer die Menschen sind, um so länger sitzen sie vor dem Fernseher. Günther Anders schreibt, dass der Typ des MassenEremiten entstanden sei: »In Millionen von Exemplaren sitzen sie nun, jeder vom anderen abgeschnitten, dennoch jeder dem arideren gleich, einsiedlerisch im Gehäus' nur eben nicht, um der Welt zu entsagen, sondern um um Gottes willen keinen Brocken Welt zu versäumen... Keine Entprägung, keine Entmachtung des Menschen als Mensch ist erfolgreicher als diejenige, die die Freiheit der Persönlichkeit und das Recht der Individualität scheinbar wahrt.« Was bedeutet es, dass wir heute auch den Krieg live im Fernsehen erleben können? Charles Simic, der jugoslawische Lyriker schreibt: »Die Bombardierung von Städten gehört zu den großen Spektakeln des späten 20. Jahrhunderts. Das trifft heute im Fernsehzeitalter in noch viel höherem Maße zu als in den Tagen des Rundfunks und der Tageszeitungen, als vieles noch der Phantasie überlassen bleiben musste. Jetzt können wir uns mit einem kühlen Bier, einer Tüte Kartoffelchips auf das Wohnzimmersofa setzen und die nächtlichen Bombardements auf Bagdad oder Belgrad verfolgen. Ich bin sicher, dass die Bombardierung von Hiroshima oder Dresden live im Fernsehen übertragen worden wäre, wenn es die entsprechende Technologie bereits gegeben hätte. Heute sitzen wir in unseren Hausschuhen da und schauen uns solche Entsetzlichkeiten an.« Auch hier entsteht, wie bei der Übertragung eines Gottesdiensts die Illusion dabei zu sein. Aber wir sind eben nicht dabei, sondern trinken Bier oder essen Kartoffelchips. Unsere Wahrnehmung von den schrecklichen Geschehnissen wird verändert und daher auch unser Urteil. Schon den Krieg gegen den Irak erlebten die Fernsehzuschauer als »war game« aus der Computerwelt. Diese Veränderung der Wahrnehmung macht auch vor Staatsmännern nicht halt. Der französische Philosoph Paul Virilio
schreibt: »Heute ist die amerikanische Technologie für Clinton zu einer Art >Wonderland< geworden. Wie ein Kind auf dem Spielplatz, das nicht als schwach abgeschrieben werden möchte, will der Präsident alle seine wunderbaren Instrumente ausprobieren und vorzeigen. Was im Irak bereits durchgespielt wurde, wiederholt sich im Kosovo: Die große Supermacht muss einerseits auf dem Register des humanitären Mitleids spielen, andererseits ihrer globalen Vorherrschaft Geltung verschaffen. Also präsentiert sie ihr martialisches Arsenal: nicht nur die Marschflugkörper und die F107 die bereits im Irak eingesetzt wurden, sondern auch den B-2-Bomber - dessen Preis ungefähr dem Bruttosozialprodukt von Albanien entspricht.« Viel schlimmer aber noch ist, dass die perfekten Fernsehbilder den Anschein vermitteln, als sei der Krieg kontrollierbar. Fernsehkriegsteilnehmer müssen eine Einstellung zum Krieg haben, die elementar verschieden ist von der unserer Eltern. Sie haben die Schrecknisse des Krieges auf dem Schlachtfeld oder im Luftschutzbunker erlebt. Die Fernsehbilder verändern aber nicht nur unsere Wahrnehmung und unsere Erfahrung. Mehr und mehr bestimmen die Medien auch durch die Auswahl dessen, was sie zeigen, die politischen Entscheidungen. In Amerika nennt sich das »foreign policy by NBC«. Das Fernsehen bestimmt die Außenpolitik. Horst Grabert, ehemaliger Chef des Kanzleramts bei Willy Brandt und 1984 Botschafter der Bundesrepublik in Jugoslawien, schrieb, als der Kosovo-Krieg mit der Formel »nie wieder Auschwitz« begründet wurde: »Die Krajina liegt noch näher an Zentraleuropa als der Kosovo. Aber kaum jemand, der sich heute moralisch empört, hat bei der Vertreibung von immerhin rund 220000 Serben, die dort seit Maria -Theresia siedelten, nach den Menschenrechten gerufen. Was also ist eine Moral wert, die einen solchen Vorgang nicht registriert, den jetzigen aber dazu nutzt, militärisch anzugreifen? Diesen Vorwurf richte ich an die politisch Verantwortlichen und ausdrücklich nicht an die Menschen. Sie sind heute moralisch von der Vertreibung im Kosovo berührt, weil sie über die Medien persönlich damit konfrontiert wurden. Sie konnten es während der Krajina-Vertreibung nicht sein, weil die Medien nicht oder nur sehr wenig darüber berichtet haben.« Muss es uns nicht nachdenklich stimmen, dass die Entscheidung, ob ein Krieg begonnen wird, durch die Berichterstattung der Medien bestimmt wird? Henry Kissinger urteilt im Hinblick auf die im Kosovo-Krieg verantwortlichen Staatsmänner folgendermaßen: »So geschieht es, dass diese Politiker die Außenpolitik eher als einen mit ideologischen Zielen verbundenen Aspekt der Innenpolitik betrachten. Die Verfolgung strategischer Langzeitziele rückt dagegen in den Hintergrund. Sie wagten den Kosovo-Einsatz zumindest teilweise als Reaktion auf das öffentliche Entsetzen und die Fernsehbilder der Flüchtlinge. Doch eine ähnliche Furcht vor den Bildern alliierter Kriegstoter brachte sie andererseits dazu, eine militärische Strategie zu wählen, die auf perverse Weise die Leiden der Bevölkerung verstärkte, in deren Namen der Krieg angeblich geführt wurde.« Während Rudolf Scharping die täglichen Bilder des Grauens von ermordeten Albanern im Fernsehen zeigte, dachte ich an die Arbeit meiner Frau. Sie hat einen Verein (I)NTACT (Internationale Aktion gegen die Beschneidung von Mädchen und Frauen) gegründet. Weltweit sind 130 bis 150 Millionen Frauen beschnitten. Das Wort »Beschneidung« klingt harmlos. Doch weibliche Beschneidung bedeutet Folter. Denn die Geschlechtsorgane der Mädchen und Frauen werden auf schlimmste Art verstümmelt. Und sie bleiben es ein Leben lang, da der Eingriff nicht rückgängig zu machen ist. Das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit wird verletzt. Die Operationen werden nur in Ausnahmefällen in medizinischen Einrichtungen von geschultem Personal durchgeführt. Meist finden sie in einfachen Hütten unter katastrophalen hygienischen Bedingungen statt. Die Operateure sind traditionelle Heilerinnen, Hebammen und Barbiere. Der Eingriff, der oft eine halbe Stunde dauert, wird ohne Narkose durchgeführt. Mehrere Frauen halten das Mädchen während der Operation mit Gewalt fest. Zwei Millionen Mädchen werden jährlich neu beschnitten. An den unmittelbaren Folgen sterben 5 bis 10 Prozent der Kinder. Das sind 100000 bis 200000 junge Mädchen jährlich. Ich stellte mir vor, was wohl passieren würde, wenn diese Bilder des Grauens täglich im Fernsehen gezeigt würden. Die Medien verändern aber nicht nur unsere Wahrnehmung, sie beeinflussen nicht nur unsere Entscheidungen, sondern sie formen auch die Akteure, die in den Medien auftreten. Die ständige Medienpräsenz führt zu narzisstischen Verhaltensweisen. Als Narzissmus bezeichnet der Psychotherapeut Alexander Löwen sowohl einen psychischen als auch einen kulturellen Zustand: »Auf der individuellen Ebene ist er eine Persönlichkeitsstörung, die gekennzeichnet ist durch eine
übertriebene Pflege des eigenen Image auf Kosten des Selbst. Narzisstische Menschen sind mehr daran interessiert, wie sie anderen erscheinen, als an dem, was sie fühlen. Tatsächlich leugnen sie Gefühle, die dem von ihnen angestrebten Image widersprechen. Da sie ohne Gefühl handeln, neigen sie zu verführerischem und manipulativem Verhalten und streben nach Macht und Herrschaft. Sie sind Egoisten, auf ihre eigenen Interessen ausgerichtet, aber ihnen fehlen die wahren Werte des Selbst nämlich Selbstausdruck, Gelassenheit, Würde und Integrität. Auf der kulturellen Ebene kann man den Narzissmus an einem Verlust menschlicher Werte erkennen - an einem Fehlen des Interesses an der Umwelt, an der Lebensqualität, an den Mitmenschen. Eine Gesellschaft, die die natürliche Umwelt dem Profit und der Macht opfert, verrät, dass sie für menschliche Bedürfnisse unempfindlich ist. Wenn Reichtum einen höheren Rang einnimmt als Weisheit, wenn Bekanntheit mehr bewundert wird als Würde, wenn Erfolg wichtiger ist als Selbstachtung, überbewertet die Kultur selber das >ImageKorridor der Verlässlichkeit< werden alte Positionen geräumt, werden neue Wagnisse eingegangen.« Die Verfasser dieses Schröder-Papiers waren Hombach und Mandelsohn weit voraus.
Der dritte Weg ist ein Holzweg
Nach meinem Rücktritt war die Reaktion der Presse fast einheitlich. Nun habe Gerhard Schröder die Chance, die »Modernisierung« endlich in Angriff zu nehmen. Allzu lange habe er Lafontaine und dem Parteiapparat nachgegeben. Der Spiegel schrieb: »Nun strebt Schröder eine schnelle Stimmungswende an. Mit neuem Elan wollen die SPD-Modernisierer ihre Projekte vorantreiben, unterstützt durch die Grünen, die am vergangenen Freitag rasant auf einen wirtschaftsliberalen Kurs einschwenkten: • Die Steuerreform, Teil eins, wird zwar durchgezogen. Aber schon zum i. Januar 2000 soll die Industrie kräftig von einer Reform der Unternehmenssteuern profitieren. Den Familien soll das Karlsruher Urteil zugute kommen. • Neuen Schwung versprechen sich die Schröder-Leute für das Bündnis für Arbeit und den Energiekonsens: ohne Buhmann Lafontaine kann Schröder mit wohlgesinnten Unternehmern rechnen. • Handwerklich saubere Arbeit fordert der Kanzler für die weiteren Reformvorhaben, die die Wirtschaft treffen: Gesundheit, Rente, Niedriglohn. Endlich soll verwirklicht werden, was der Kanzler nach dem Chaos der ersten 100 Tage versprochen hat: Genauigkeit vor Schnelligkeit. Lobbyisten und Wirtschaftsverbände triumphierten über Lafontaines Abgang, als gelte es, den zweiten Sieg des Kapitalismus über die Planwirtschaft zu feiern. >Das ist einer der schönsten Tage meines beruflichen LebensJetzt hat sich der Kanzler von einer Fußfessel befreitnun hat er nur noch eine - und die heißt Trittin.< Die Börsen erlebten ein Kursfeuerwerk wie schon lange nicht mehr: Binnen sieben Minuten legte die europäische Währung gegenüber dem Dollar um zwei Cent zu; der Deutsche Aktienindex Dax kletterte am Freitag in der ersten Viertelstunde im Vergleich zum Vortag um über 300 Punkte, mithin um 6 Prozent - Vorschußlorbeeren für Schröder.« Die albernen Jungs des britischen Boulevardblattes Sun jubelten ebenfalls und taten so, als seien ihre dämlichen Überschriften der Anlass für meinen Rücktritt. Unter unseren Gegnern gibt es bekanntlich solche und solche. Fjodor M. Dostojewski, einer meiner Lieblingsautoren, schreibt: »Zudem gibt es ja verschiedene Opponenten: nicht mit jedem kann man sich in ein Gespräch einlassen. Ich will hierzu eine Fabel erzählen, die ich vor ein paar Tagen hörte. Man sagte mir, es sei eine uralte Fabel, womöglich indischen Ursprungs, was überaus beruhigend ist. >Einmal geriet ein Schwein mit einem Löwen in Streit und forderte ihn zum Duell. Nach Hause zurückgekehrt, besann es sich und bekam Angst. Die ganze Herde versammelte sich, man dachte nach und beschloss also: ,Siehst du, Schwein, hier in der Nähe ist eine Jauchegrube; geh hin, wälze dich in ihr herum, und erscheine dann so auf dem Kampfplatz. Dann wirst du schon sehen.' Das Schwein tat, wie ihm geheißen. Der Löwe kam, schnupperte, zog die Nase kraus und ging weg. Noch lange nachher rühmte sich das Schwein, dass der Löwe Angst bekommen hätte und vom Kampfplatz weggelaufen sei.links< zu führen, noch einmal den Aufstand gegen den neoliberalen Mainstream zu wagen, gescheitert. Es gibt in der SPD eine Menge Leute, denen das nicht passt, aber niemand, der außerhalb der engeren Parteiumgebung der Idee einer Sozialdemokratie ä la Lafontaine Gehör verschaffen könnte.« Den Aufstand gegen den neoliberalen Mainstream zu wagen, das war der Kern meiner Arbeit als Parteivorsitzender der SPD. Die Sozialdemokraten haben die politische Aufgabe, einen wild gewordenen Kapitalismus zu bändigen, der sich unter Hinweis auf die vermeintlich ehernen Gesetze der Wirtschaft rechtfertigt. Wir befinden uns in einer Epoche neokonservativer Restauration. Diese konservative Revolution redet uns ein, sie sei fortschrittlich, vernünftig und wissenschaftlich. Sie erklärt das Gesetz einer Wirtschaftswelt, die nach ihrer eigenen Logik operiert, nach dem Gesetz des Marktes als dem Gesetz des Stärkeren zur gesellschaftlichen Regel. Sie glorifiziert die Herrschaft der Finanzmärkte, jenen Kapitalismus pur, der als Gesetz nur den maximalen Profit kennt. Der Neoliberalismus, wissenschaftlich verbrämt und mit Medienmacht unterstützt, wurde zu einer Art konservativer Ideologie, die sich unter der Überschrift »Ende der Ideologien« und »Ende der Geschichte« empfahl. Der Ruf nach weniger Staat ist allzu oft der Ruf nach weniger Demokratie. Die demokratischen Entscheidungen der Politik sollen durch die Märkte ersetzt werden, und wie immer schon in der Geschichte, passen sich viele dem herrschenden Zeitgeist an. Die SPD steht im Herbst 1999 wieder einmal am Scheideweg. Die Bilder gleichen sich. Wie vor dem Mannheimer Parteitag 1995 nähert sich die SPD in den Meinungsumfragen der 3o-Prozent-Grenze. Und wie vor Mannheim muss sie die Frage beantworten, ob sie sich dem neoliberalen Zeitgeist unterwerfen will. Der Unterschied ist: Heute ist sie die führende Regierungspartei. Der Parteivorsitzende ist der Bundeskanzler. Vor dem Mannheimer Parteitag forderte Hans-Jochen Vogel
Gerhard Schröder auf, gegen Rudolf Scharping zu kandidieren. Vogel schrieb: »Aber mehr und mehr stellt sich die Frage, wofür er die Macht, um die er kämpft, eigentlich einzusetzen gedenkt. Und ob ihm die eigene Medienpräsenz nicht wichtiger ist als das Gesamtinteresse der deutschen Sozialdemokratie, die keiner als Trampolin für eigene hohe Sprünge missbrauchen darf. So wie Schröder bislang agiert, hat er nicht nur der Partei Schaden zugefügt, sondern sich auch selbst beschädigt.« Heute versucht Gerhard Schröder die Politik der SPD von oben zu verändern. Ein Richtungswechsel, der von oben verordnet wird, entspricht nicht der Tradition der SPD, die sich immer als Mitgliederpartei, als demokratisch organisierte Programmpartei, verstanden hat. Es wäre daher konsequent, wenn Gerhard Schröder auf dem kommenden SPD-Parteitag erklären würde, was sein politischer Neuanfang bedeutet und warum er das mit großer Mehrheit beschlossene Regierungsprogramm nicht mehr gelten la ssen will. Das Schröder-Blair-Papier als Sammelsurium von Allgemeinplätzen und dehnbaren Begriffen eignet sich nicht für eine ernsthafte Programmdebatte. Es behindert die bereits erfolgreich vorangekommene programmatische Neuorientierung der SPD. Es gibt wirklich große Herausforderungen, denen sich die sozialdemokratische Regierungspartei stellen muss: Neben den klassischen Aufgaben geht es heute vor allem darum, dem angelsächsischen Kapitalismus einen europäischen Sozialstaat gegenüberzustellen und dem deregulierten Weltmarkt einen Ordnungsrahmen zu geben. Das ist der Auftrag, den die Wählerinnen und Wähler den sozialdemokratischen Regierungen Europas gegeben haben. Viele Europäer setzten ihre Hoffnung auf die neue sozialdemokratische Regierung in Deutschland. Doch nach der Veröffentlichung des Schröder-Blair-Papiers war die Enttäuschung groß. Auch im Medienzeitalter gilt es, eine langfristig angelegte Politik zu verfolgen. Wer Modernisierung ruft, muss sagen, was er darunter versteht. Wörter wie Anpassungsfähigkeit und Flexibilität sind Worthülsen. Der soziale Aufstieg ist erstrebenswert. Möglichst viele Menschen sollen an den Lebensgewohnheiten der wohlhabenderen Gesellschaftsschichten teilhaben. Für uns alle aber gilt: Das Urteil von Karl Marx, »Das Sein bestimmt das Bewusstsein«, ist kein ehernes Gesetz.. Der Aufgestiegene ist nicht gezwungen, den geistigen Überbau der besitzenden Schichten zu übernehmen. Wenn wir wissen, wo wir herkommen, wissen wir auch, wohin wir gehen müssen. In der heutigen Zeit haben die Leitideen der Sozialdemokratie nichts von ihrer Ausstrahlung verloren. Das hat die CDU/CSU aus ihrer Wahlniederlage gelernt. Sie verteidigt jetzt die soziale Marktwirtschaft gegen die »Modernisierer« im Regierungslager. Die SPD hat den Wählern aber versprochen, die notwendige Erneuerung mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. Sie muss dem neoliberalen Zeitgeist widerstehen. Wenn die »Modernisierer« Hombach und Mandelsohn ihren Chefs aufgeschrieben haben: »In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität, Diversität und herausragender Leistung«, stellt sich die Frage, welche Vergangenheit mit dem Herunterbeten dieser konservativen Vorurteile unserer Gegner gemeint ist. Die Regierungszeit Willy Brandts? Die Regierungszeit Helmut Schmidts? Die Wahldesaster bei den Europawahlen, den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen und den Landtagswahlen zeigen, dass der neue Kurs, den die Regierung Schröder eingeschlagen hat, von den Wählerinnen und Wählern abgelehnt wird. Das Festhalten an diesem Kurs wird unweigerlich zu weiteren verheerenden Wahlniederlagen führen. Die SPD als die große linke Volkspartei ist aufgerufen, ihren Weg erneut zu bestimmen. Dabei darf sie nicht vergessen: Das Herz wird noch nicht an der Börse gehandelt. Aber es hat einen Standort. Es schlägt links.
Register
Auf das Register habe ich hier verzichtet. Die darin aufgeführten Namen und deren Seitenzahlen treffen auf den vorangegangenen Text nicht mehr zu.
Ursprüngliche Seitenzahl: 317 Ca. 20 Seiten mit Bildern von Politikern und dem Register fehlen, können aber auf Wunsch nachgeliefert werden
Eingescannt und bearbeitet von Becket
Literatur gehört ins Netz!