Atlan Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 01
Kytharas Erbe von Uwe Anton
Atlan, einst als Kristallprinz des arkonidis...
14 downloads
887 Views
393KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 01
Kytharas Erbe von Uwe Anton
Atlan, einst als Kristallprinz des arkonidischen Imperiums geboren und seines Throns beraubt, strandete nach vielen Jahren auf Terra. Dort wurde er dank eines Zellaktivators zu einem relativ Unsterblichen. Als Freund und Verbündeter Perry Rhodans erlebte er den Aufstieg der Menschheit, als Widerstandskämpfer trat er gegen Usurpatoren und Invasoren an, als Beauftragter der Kosmokraten sah er die Wunder des Kosmos, als Ritter der Tiefe wurde er zum Träger einer entsprechenden Aura. Im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) verschlägt es den Unsterblichen in den Sternhaufen Omega Centauri und die Überreste eines Sternenschwarms. Er begegnet Fremden und Bekannten und streift – wieder einmal – kosmische Ereignisse. Nach der Rettung der Obsidian-Kluft könnte er eigentlich zurückkehren zum Tagesgeschäft galaktischer Politik, doch Atlan und seine neue Begleiterin Kythara verlassen die Obsidian-Kluft mit der AMENSOON, als ein Hilferuf eingeht. Ihn und die Varganin erwartet KYTHARAS ERBE …
Kytharas Erbe
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide erhält einen Hilferuf. Kythara - Die Varganin begleitet Atlan auf seiner Reise. Aktet Pfest - Der Kommandant der ATLANTIS. Mayhel Tafgydo - Die Ara-Medikerin stößt an die Grenzen ihres Wissens.
1. Die Bewusstseinstransferanlage 5. Mai 1225 NGZ »Atlan! Endlich!« Die Stimme dröhnte in meinen Ohren wie Hammerschläge. Zu allem Überfluss hielt auch noch der Entzerrungsschmerz unangenehm lange und stark vor: Mein ganzer Körper schwankte zwischen der Empfindung, in einem Ameisenhaufen zu liegen und in Flammen zu stehen. Und dabei hatte ich lediglich einen Transmitter durchquert, etwas, das ich schon viele tausend Mal gemacht hatte. Mein Zellaktivator hätte ohnehin den Schmerz, der mit der Entmaterialisierung im Ausgangs- und der Rematerialisierung im Zieltransmitter einherging, deutlich dämpfen müssen, aber das hatte er nun einmal nicht. Oder, was ein kaum weniger schrecklicher Gedanke war, er hatte den Schmerz bereits gedämpft. Vermutlich Kompatibilitätsprobleme der Transmitter, die zwischen der AMENSOON, der ATLANTIS und der Stahlwelt geschaltet wurden. Die Grundlagen der Technik sind identisch, sonst wäre keine Transmission möglich gewesen, doch bei der Synchronisierung von arkonidischen, varganischen und lemurischen Geräten dürfte es zu dem einen oder anderen Abstimmungsproblem kommen. »Unkraut vergeht nicht, das hab ich doch schon immer gesagt! Aber dass daneben Orchideen blühen, war mir neu!«, brüllte die Stimme weiter, und allmählich identifizierte ich auch den Sprecher. Es war Aktet Pfest, der Kommandant der ATLANTIS. Ich fasste mich und streckte Pfest die Hand zur Begrüßung hin. »Ihr habt mein Schiff gut behandelt, während ich fort war, will ich hoffen?«
»Du bist so oft weg, dass wir die ATLANTIS schon fast zur Adoption freigegeben haben«, rüffelte der Überschwere mich an, doch das breite Grinsen, das seine Wangen kerbte, verriet mir, wie sehr er sich freute, mich wiederzusehen – was übrigens auf Gegenseitigkeit beruhte. Ich konnte mir keinen besseren Mann vorstellen, um die ATLANTIS zu führen: Aktet Pfest war, wie alle Überschweren, deutlich kleiner als typische Vertreter anderer Menschenvölker der Galaxis, aber dafür ebenso breit wie hoch. Dieses Aussehen war der Tribut, den die Kolonisten dafür zu zahlen gehabt hatten, dass sie Welten mit 2,1 Gravos besiedelten. »Aber ich sehe, dass du deinem Schiffsbaby wenigstens eine attraktive Mutter besorgt hast«, fuhr der schwarzhaarige Mann fort und streckte die andere Hand nach meiner Begleiterin aus, die neben mir aus dem Transmitterbogen getreten war: Kythara. »Ich bin erfreut, dich kennen zu lernen«, sagte Kythara und erwiderte den Händedruck, ohne zu zögern. Ihre schlanke, goldfarbene Hand ergriff die breiten, schwieligen, lindgrünen Finger Aktet Pfests und drückten zu. Nur mit Mühe konnte der Überschwere seine Überraschung und ein Aufkeuchen verbergen – nur sein Blick aus pechschwarzen Augen, den er mir zuwarf, sprach Bände. Hättest du mich nicht warnen können?, schien er auszusagen. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Aktet Pfest, bester Kommandant des besten Raumschiffes weit und breit, das ist die Varganin Kythara, Herrin des Schiffes AMENSOON, wie ich für eine Weile auf den Welten des Obsidianschlundes gestrandet. Sie ist ab sofort unser Gast.« Nachdem Kythara Aktets Hand lange genug gequetscht hatte, ließ sie endlich los. »Ich werde euch nicht zur Last fallen«, ver-
4 sprach sie dem Kommandanten. »Und nein, Atlan und ich haben nichts miteinander.« »Ist sie nicht nur oxtornerstark, sondern auch noch Telepathin?«, brach es aus Pfest heraus, der sich die schmerzende Hand rieb. Dann erst wurde ihm bewusst, wie unhöflich er sich benahm. Kythara sah geflissentlich darüber hinweg und übernahm es, dem armen Mann zu antworten. »Ich bin nur etwas … nun, robuster als ihr, aber ich weiß, wie man zupacken muss«, wiegelte sie ab und ließ ihr zauberhaftes Lächeln noch etwas strahlender werden, »und woran du gedacht hast, als du uns beide aus dem Transmitter hast kommen sehen … das konnte man an deinem Gesicht deutlich erkennen. Ihr habt wohl nicht besonders oft Frauen zu Gast?« Aktet wurde dunkelgrün, als ihm das Blut in den Kopf schoss. »Ja, ich meine, nein, Kythara. Varganin also, soso … habe noch nie von Varganen gehört«, versuchte er das Thema zu wechseln. Kythara ließ es ihm durchgehen. »Wir sind kein besonders zahlreiches Volk«, gab sie zu, »und scheuen öffentliche Auftritte.« Ich grinste. Das war weder gelogen noch die Wahrheit. Doch die war viel komplizierter, und selbst ich kannte bestenfalls Bruchstücke davon. Dass ich vor einer halben Ewigkeit einmal ein Verhältnis mit der letzten Königin der Varganen, Ischtar, gehabt und mit ihr einen Sohn gezeugt hatte, machte mich leider nicht automatisch zum Experten für dieses zersprengte Volk. Geschweige denn, dass ich mehr über Kythara wüsste, ich hatte sie erst vor kurzer Zeit kennen gelernt. Vor sehr kurzer Zeit. »Aktet«, sagte ich, um den plötzlichen Moment unbehaglicher Stille zu durchbrechen. »Irgendwelche besonderen Vorkommnisse, während ich weg war?« »Bis auf den Alarm von der Stahlwelt, den Umstand, dass fast zeitgleich mit unserer Ankunft am Sonnentransmitter ein Einplanetensystem und ein achteckiges goldenes Raumschiff hier wie aus dem Nichts er-
Uwe Anton schienen? Mir fällt nichts ein. Ich nehme an, du hattest etwas damit zu tun?« »Ein bisschen vielleicht. Das Schiff ist übrigens die AMENSOON, und das Planetensystem kommt frisch aus der ObsidianKluft.« Ich reichte ihm einen Datenspeicher. »Hier ist ein Bericht mit allen relevanten Fakten. Weitere Einzelheiten gibt es später. Aber nun zu dem Alarm …« Aktet nickte ernst. »Die Bewusstseinstransferanlage hat sich auf unbekannte Art und Weise aktiviert. Sie reagiert auf irgendetwas.« Ich sog scharf die Luft ein. Die Stahlwelt war einst von den Lemurern, der »Ersten Menschheit« erbaut und erst vor kurzem von uns wiederentdeckt worden. Sie bildete die Steuerwelt des Sonnentransmitters von Omega Centauri – und dieser war ein unersetzliches Transportmittel, das es unter allen Umständen zu schützen, zu sichern und zu bewahren galt. Auf der Stahlwelt harrten zahlreiche lemurische Artefakte noch ihrer Erforschung, darunter auch die Bewusstseinstransferanlage. Sie war im Verlauf einiger turbulenter Ereignisse, die uns erst nach Omega Centauri verschlagen hatten, irreversibel beschädigt worden. Wenn sie jetzt plötzlich aktiviert wurde, war das Grund genug für einen Alarm. Denn eigentlich konnte sie nicht mehr aktiviert werden! »Das sehen wir uns an«, sagte ich. »Aktet, gibt es neue Transmitterverbindungen, oder müssen wir laufen?« »Kaum da, schon wieder weg. Na schön.« Der Überschwere schnaufte. »Ich programmiere sofort den Transmitter neu.«
* Die Stahlwelt … ein exotischer, fremdartiger Ort und doch aufgrund seiner Herkunft in Bauweise und Architektur irgendwie vertraut. Dutzende von Technikern und Raumsoldaten hielten sich in der Halle auf, in der die Bewusstseinstransferanlage untergebracht war. Die Angehörigen der ersten Gruppe standen diskutierend vor Schaltpul-
Kytharas Erbe ten, deren Sinn sie nicht verstanden, ja die sie nicht einmal aktivieren konnten, die der zweiten Fraktion richteten ihre Waffen, hauptsächlich Kombistrahler, auf die Anlage oder irgendwohin sonst. Hauptsache, sie zeigten Präsenz, sei es auch nur zur eigenen Beruhigung. Denn es gab keinen Gegner, den sie in Schach halten konnten. Der sichtbare Teil der Bewusstseinstransferanlage war vergleichsweise klein. Ich wusste, dass ihre Energieerzeuger und weitere Bestandteile in angrenzenden Hallen untergebracht waren oder direkt auf jene der Stahlwelt zurückgriffen. Im Hintergrund der von uns einsehbaren Halle erhob sich ein nachtschwarzer, würfelförmiger Maschinenblock von Hausgröße: zwölf Meter Kantenlänge, völlig fugenlos, massiv und offensichtlich aus einem Stück gefertigt. Er enthielt unter anderem PEWMetall, das den Lemurern als Drokarnam bekannt gewesen war: Eine seiner besonderen Eigenschaften war, Bewusstseinsinhalte parapsychisch begabter Lebewesen aufzunehmen, gewissermaßen einzusaugen und zu speichern. Einige kleinere, fremdartig aussehende, an knorrige Wirbelsäulenknochen erinnernde Aggregate umgaben den Würfelblock. Ich war über alle Maßen froh, dass diese Maschine nicht mehr funktionierte – zu viel Schindluder war damit getrieben worden. Da ihre Konstruktion unsere technologischen Fähigkeiten bei weitem übertraf, hatte ich auch angenommen, die Gefahr verbrecherischen Missbrauchs sei nunmehr endgültig vorbei. Sollte ich mich so geirrt haben? Nein, das konnte nicht sein. Ich bemerkte keines der klassischen Anzeichen dafür, dass die Bewusstseinstransferanlage arbeitete: Es gab keine »Patienten«, die in Energiesphären vor dem Würfel schwebten, die typischen blauweißen Blitze und Lichtbögen, die den Vorgang des Bewusstseinstauschs begleiteten, fehlten ebenso. Und trotzdem … etwas wirkte hier, eine uns unbegreifliche Macht, das spürte ich. Auch Kythara wirkte seltsam angespannt,
5 als sei auch ihr klar, dass hier Dinge vorgingen, die nicht vorgesehen waren. Atlan! Kytharas Stimme ertönte direkt in meinem Geist. Atlan, was ist hier los? Natürlich. Sie war, wie alle Varganen, zur Kommunikation auf telepathischer Übermittlungsbasis fähig, konnte einerseits ihre Gedanken in das Bewusstsein anderer Lebewesen übertragen und andererseits bis zu einem gewissen Grad deren gedankliche Formulierungen erfassen. Das war zwar nur eine reduzierte Form echter Telepathie, aber durchaus eine beeindruckende Fähigkeit, die gegebenenfalls sehr nützlich sein konnte. »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete ich laut. »Mir fallen keine vergleichbaren Situationen ein, und das, obwohl ich schon ziemlich viel erlebt habe.« »Wenn man so viel erlebt hat wie ich«, erwiderte sie mit sphinxhaftem Lächeln, »ist es nur zu verständlich, wenn man etwas vergisst.« Die schöne Varganin spielte auf die Unsterblichkeit an, die wir beide besaßen: Meine stammte aus einer künstlichen Quelle, die Superintelligenz ES hatte mir einen Zellschwingungsaktivator überreicht, der den Alterungsprozess meiner Zellen stoppte und die Regenerationskraft erhöhte, sodass ich selten krank wurde, meine Wunden schnell heilten und Erschöpfung praktisch ein Fremdwort für mich war. Mit anderen Worten: Solange ich ihn trug, war ich relativ unsterblich. Kythara hingegen war auf kein technisches Gerät angewiesen, um ihre Jugend bis in alle Ewigkeit zu erhalten; der Effekt war jedoch der gleiche wie bei mir. Ihre Worte waren eigentlich nicht so tröstlich gemeint, wie sie klingen mochten: Wir waren zwar beide unsterblich, doch sie lebte bereits deutlich länger als ich, schätzungsweise mehr als zwanzigmal so lange! »Ich habe nichts vergessen«, entgegnete ich mit einem Anflug von Verärgerung, weil ich nicht wusste, ob sie mich foppen oder tadeln wollte. »Das verhindert mein fotografisches Gedächtnis.« »Verstehe«, nickte Kythara. Blitzte da ein
6 Lächeln auf? Ich war mir nicht sicher. Diese Frau irritierte mich, mehr als die meisten. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das vor uns liegende Problem. Die Transferanlage leuchtete in unheimlichen Farbtönen, die einander rasend schnell ablösten: dunkelrot, kobaltblau, im nächsten Augenblick giftgrün. Das waren entschieden keine Effekte eines Bewusstseinstransfers. Was aber geschah dann hier? Was spielte sich in dieser Anlage ab, die definitiv beschädigt war, irreparabel beschädigt sogar? Mit unseren Mitteln ließ sie sich keinesfalls wiederherstellen. Ich kniff die Augen zusammen. Am Fuß des Würfels schien eine Gestalt zu materialisieren, ein menschenähnlicher Körper. Ein flimmerndes Feld umgab ihn, durch das die Umrisse nur undeutlich zu sehen waren. Doch schon im nächsten Augenblick löste sich das Wenige, was ich erkennen konnte, wieder auf. Es schien Blasen zu schlagen und zu zerfließen, als hätten die Zellen des Körpers jeden Zusammenhalt verloren, als wäre von einem Moment zum anderen aus einem organisierten und strukturierten biologischen System eine reine Zellmasse geworden. Dann erstarrte die Masse – nur, um einen Herzschlag später wieder zu entmaterialisieren. Ich kenne dieses Phänomen!, dachte ich. Aber es ist … unwahrscheinlich. »Hast du eine Erklärung für das da?«, fragte einer der Wissenschaftler, der mein Mienenspiel bemerkt haben musste. Die primäre Reaktion der Raumsoldaten auf das Phänomen bestand darin, ihre Waffen auf den Materialisationspunkt zu richten. Die flimmernden Mündungsfelder verrieten mir, das sie allesamt entsichert und keineswegs auf Paralysemodus geschaltet waren. »Noch nicht. Ihr habt diesen Vorgang schon öfter beobachtet?«, forschte ich nach. »In dieser Eindeutigkeit zum ersten Mal.« Er zögerte, offensichtlich beschämt, weil ich erst hatte nachfragen müssen. »Insgesamt haben wir zuvor zweimal dieses … Flimmern wahrnehmen können.«
Uwe Anton »Analyse«, sagte ich. Die meisten Wissenschaftler führten spezielle Mess- und Ortungsgeräte mit sich, mit denen sie normalerweise für alle Eventualitäten gewappnet waren. Der Mann schüttelte den Kopf. »Nichts. Keinerlei Ergebnisse!« »Ich habe hier etwas.« Ein anderer Wissenschaftler schaute von seinen Instrumenten hoch. »Unspezifische Ausschläge auf sechsdimensionalem Niveau.« »Sechsdimensional? Eine ÜBSEF-Konstante?« Der Arkonide runzelte die Stirn. Die so genannte ÜBSEF-Konstante war die Bezeichnung für die individuelle sechsdimensionale Energiekonstante, die nur bei hoch entwickelten Lebewesen vorkam, wobei ÜBSEF die Abkürzung für überlagernde Sextabezugs-Frequenz war. Bevor der Wissenschaftler antworten konnte, ließ mich ein Schrei herumfahren. Das unheimliche Farbspiel, das die Transferanlage eingehüllt hatte, war abrupt erloschen, und vor dem Klotz der Bewusstseinstransferanlage war der Körper erneut materialisiert.
* Wieder war er von einem flimmernden Feld umgeben, das sich nun jedoch sofort auflöste. Diesmal gab es keinen »Stabilitätsverlust«; weder schlug die Haut des Geschöpfs Blasen, noch schien sie zu zerfließen. Ich setzte mich in Bewegung, lief zu dem Wesen, das da aus dem Nichts erschienen war, kniete neben ihm nieder. Es war ein männlicher Humanoide, und er sah aus wie ein Terraner oder Terranerabkömmling. Ich schätzte ihn auf etwa 40 Jahre; er war schlank, fast hager, und langgliedrig. Sein dunkelbraunes Haar war halblang, aber fettig und verfilzt, als habe es lange keine Schall- oder Wasserdusche mehr gesehen. Er trug eine hellgraue Kombination, deren Schnitt mich durchaus an eine Uniform erin-
Kytharas Erbe nerte. Sie war allerdings stark verschmutzt und an zahlreichen Stellen zerrissen oder verschmort, sodass ich nichts Genaueres erkennen konnte. Der Mann blutete aus mehreren Wunden; er hatte die Augen geschlossen, schien nicht wahrzunehmen, wo er sich befand. Ein gequältes, völlig unverständliches Stöhnen kam über seine Lippen. Ich überlegte noch, ob ich ihn in die Seitenlage drehen sollte, um zu verhindern, dass er eventuell an seinem eigenen Erbrochenen erstickte, falls er auch innere Verletzungen davongetragen haben sollte, als eine knochige Hand mich behutsam, aber nachdrücklich zur Seite schob. »Ich übernehme, Atlan«, hörte ich eine weibliche Stimme. Ich blickte auf und sah die Ara Mayhel Tafgydo, ihres Zeichens Chefmedikerin und Leiterin der Bordklinik der ATLANTIS. Irgendjemand musste sie informiert und angefordert haben, oder sie war von Anfang an hier in der Halle gewesen, und ich hatte sie nur nicht bemerkt. Zwei kugelförmige Medoroboter schwebten hinter ihr. Sie ging in die Hocke und beugte sich über den Verletzten, was bei ihrem zwei Meter großen, extrem hageren Körper irgendwie ungelenk aussah. Ihre Spezialgebiete waren zwar die Genchirurgie und Implantatmedizin nach Programmwachstum, aber wenn es hier in der Stahlwelt jemanden gab, der den Unbekannten effektiv behandeln konnte, dann sie. Einen Spezialisten für Exobiologie und – medizin hatten wir leider nicht an Bord. Die 117 Jahre alte Medikerin schnitt mit gekonnten Bewegungen die Brustbekleidung des Verletzten auf und begann mit der Untersuchung. Ihr Vorgehen war logisch: Bevor sie die eigentlichen Verletzungen des Fremden behandeln konnte, musste sie sich erst einmal Klarheit darüber verschaffen, mit wem genau sie es zu tun hatte. Nach wenigen Sekunden blickte sie zu mir auf und sah mich kurz aus ihren dunkelroten Augen an. »Der Verletzte ist äußerlich erstaunlich menschenähnlich«, sagte sie,
7 »aber kein Terraner oder Arkonide oder Abkömmling der beiden Völker. Die Unterschiede betreffen in der Hauptsache die innere Anordnung des Körperaufbaus. Das Herz liegt etwa zwanzig Zentimeter tiefer als bei Lemurerabkömmlingen, hat ein größeres Volumen und eine andere Form. Die Lungenflügel sind so groß, dass sie die gesamte Brust einnehmen.« Sie winkte einen der Medoroboter heran. »Vergleichswerte aufrufen!« Dann setzte sie die Untersuchung fort, sprach ihre Erkenntnisse dabei laut und deutlich aus, damit die Roboter sie speichern und zur Analyse heranziehen konnten. Je mehr sie sprach, umso drängender wurde mein Verdacht. Doch erst ein bestimmter Satz ließ ihn zur Gewissheit werden: »Gravierende Unterschiede in der Gehirnstruktur, zudem ist eine weitaus größere und stärker entwickelte Hirnanhangdrüse feststellbar.« »Ich kenne solche Wesen«, sagte ich. »Der Roboter soll die Daten aufrufen, die unter dem Begriff Cappins gespeichert sind.« »Übereinstimmung einhundert Prozent«, schnarrte die schwebende Kugel.
2. Carscann »Cappins?«, fragte Kythara neben mir. Ohne dass ich es bemerkt oder jemand sie aufgehalten hatte, war sie zu uns herangetreten. Kythara hielt man nicht so schnell auf, und das keineswegs, weil sie mit mir hierher gekommen war. Sie musterte den Verletzten mit einem seltsam eindringlichen, fast verschleierten Blick. So als würde er irgendwelche Erinnerungen in ihr hervorrufen. »Bist du schon einmal einem Cappin begegnet? Irgendwann im Verlauf der letzten rund zweihunderttausend Jahre …?« Sie sah mich fragend an. »Cappin ist die Sammelbezeichnung für die biologisch eng verwandten Völker der fast 36 Millionen Lichtjahre entfernten Galaxis Gruelfin«, erklärte ich, während May-
8 hel versuchte, eine Diagnose zu erstellen, um die eigentliche Behandlung des Verletzten einleiten zu können. Die dem VirgoHaufen vorgelagerte Sterneninsel – als M 104 oder NGC 4594 in den terranischen Sternkatalogen geführt – wurde wegen ihres charakteristischen Aussehens auch Sombrero-Galaxis genannt. »Die erste Begegnung zwischen Menschen und Cappins fand vor ungefähr 1500 Jahren statt. Damals verhalfen wir dem rechtmäßigen Herrscher der Cappins, Ovaron, wieder auf seinen Thron – nicht ganz uneigennützig allerdings, aber das ist eine andere Geschichte.« Ich hatte den Eindruck, dass Kythara mir mit ungewöhnlich großem Interesse lauschte. »Wenn ihr den Cappins erst vor 1500 Jahren begegnet seid, wieso hast du dann von zweihunderttausend Jahren gesprochen?« »Eine Gruppe der Cappins hatte die Erde, Perry Rhodans Heimatwelt, auf der ich den Großteil meines Lebens verbracht habe, schon vor etwa zweihunderttausend Jahren entdeckt. Durch Manipulation der Sonne hatten sie versucht, bei den Frühmenschen Mutationen zu erzeugen. Dabei entstanden zahlreiche Monster, aber auch positive Zuchtergebnisse.« Diese Experimente sollten, wie du sehr genau weißt, in den Augen der Cappins den Sinn haben, fügte der Extrasinn ungefragt hinzu, einer ungeheuren Gefahr zu begegnen, die im Universum aufgetaucht sein sollte! Achte auf Zusammenhänge! Diese Gefahr ist bis heute entweder nicht erschienen oder nicht identifiziert worden. Zumindest wissen wir nichts davon. Aber manche Gefahren haben die Eigenschaft, lange zu schlafen, bevor sie dann doch erwachen. »Aus welchem Grund sollten die Cappins so etwas tun?«, riss mich Kytharas Stimme aus dem stummen Dialog. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie die Medikerin mit der bleichweißen Haut und dem typischen haarlosen Ara-Spitzschädel dem Cappin eine Injektion verabreichte.
Uwe Anton Ich nickte und deutete auf den Verletzten. »Eine logische und berechtigte Frage. Wie du siehst, unterscheidet sich ein Cappin äußerlich kaum von einem Menschen …« »Oder von einem Varganen«, warf Kythara ein. »Oder von einem Varganen, wenn man einmal von der Hautfarbe absieht. Den wichtigsten Unterschied stellt ihre Fähigkeit dar, Kontakt mit einem anderen Lebewesen aufnehmen und dieses durch eine Überlagerung seiner ÜBSEF-Konstante beherrschen zu können: Wir nennen diesen Vorgang Pedotransferierung. Damit können Cappins sowohl ihren eigenen Körper über weiteste Strecken in Nullzeit transportieren als auch geeignete Individuen – die Pedo-Opfer – rein geistig übernehmen.« »Du hattest eben bei dem Wissenschaftler nach der ÜBSEF-Konstante gefragt. Hast du von Anfang an vermutet, dass es sich bei diesem Wesen um einen Cappin handelt?« »Die Anzeichen waren eindeutig. Du hast das erste Phänomen gesehen, als der Körper des Fremden Blasen schlug? Wenn ein Cappin ein Opfer übernimmt, bleibt sein eigener Körper an Ort und Stelle zurück, in der Regel als starre, blasige Masse unterschiedlicher Form.« Ich machte eine Pause und sah der Varganin direkt in die goldenen Augen. »Dein Volk beherrscht eine vergleichbare Kunst, allerdings beschränkt auf die toten und konservierten Körper von Varganen.« Kythara ging nicht auf die Anmerkung ein, sondern blickte konzentriert auf den leblosen Cappin. »All das erklärt aber immer noch nicht, wieso sich Cappins vor zweihunderttausend Jahren in deiner Galaxis herumgetrieben haben. Sie ist ziemlich weit von ihrer Heimat entfernt, gewiss hätte es nähere ›Jagdgründe‹ für sie gegeben.« »Die Frühmenschen der Erde galten bei ihnen als besonders gute Pedopole, sie ließen sich leicht anpeilen und übernehmen.« Kythara deutete auf den haushohen Würfel der Bewusstseinstransferanlage. »Um nun wieder auf die Gegenwart zurückzu-
Kytharas Erbe kommen: Du gehst davon aus, dass dieses Ding hier etwas damit zu tun hat, dass der Cappin hierher gelangt ist?« »Ich vermute es«, erwiderte ich. »Die Transferanlage wirkt offensichtlich wie ein Pedopeiler …« »… der dazu dient, die cappinsche Eigenschaft der Pedotransferierung über gewaltige Entfernungen zu unterstützen?« Kytharas Verstand war zweifellos genauso scharf wie von rascher Auffassungsgabe. Sie hatte meine kurzen Erklärungen nicht nur blitzschnell verarbeitet, sondern auch die richtigen Schlussfolgerungen gezogen, wie ihr nächster Satz bewies. »Mit ihm sind im Gegensatz zur rein geistigen Pedotransferierung körperliche Versetzungen möglich.« »Ich vermute, dass die Bewusstseinstransfermaschine auf eine ähnliche Weise gearbeitet haben muss«, bestätigte ich. »Das liegt ja auch nahe … eine Anlage, die Bewusstseine in andere Körper versetzt! Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach Prinzipien arbeitet, die denen eines Pedopeilers ähneln, ist sehr hoch.« »Und dieser Vorgang hat funktioniert, obwohl die Maschine deiner Aussage nach defekt ist? Hört sich das nicht ein bisschen verquer an?« Ich zuckte die Achseln. »Wenn du das verquer nennst, hast du noch nicht so viel gesehen, wie ich gedacht habe. Tatsache ist, dass keiner hier genau weiß, was wirklich beschädigt ist und was nicht, was für ein Funktionieren unabdingbar ist und was man überbrücken kann, wo Selbstreparaturmechanismen arbeiten und wo nicht. Durchaus möglich, dass es Bestandteile gibt, die identisch mit denen eines Pedopeilers sind oder ihnen zumindest ähnlich. Teile, die weiterhin funktionieren.« Der Zweifel in ihren Augen wurde kaum geringer. »Nur, damit du dir die Ausmaße klar machst: Mit einem kaputten Gerät funktioniert das über fast vierzig Millionen Lichtjahre hinweg?« Ich hob eine Hand. »Das hat niemand behauptet. Der Cappin muss nicht direkt aus
9 Gruelfin gekommen sein. Wie gesagt, Cappins waren hier zwar schon vor zweihunderttausend Jahren aktiv. Aber in den letzten fünfzehnhundert Jahren gab es nur wenige Kontakte. Es ist durchaus vorstellbar, dass einige erneut hierher gekommen oder insgeheim am Werk sind …« »Zu welchem Zweck?« »Du kennst sicher die Bedeutung des Begriffs insgeheim«, wehrte ich ihr ständiges Nachfragen ab. Noch hatte ich nicht einmal einen Ansatzpunkt für eine Antwort. Aber ich ahnte, dass das Erscheinen des Cappins nur die Spitze eines Eisbergs war, Vorbote eines Unheils, dessen größter Teil noch unbemerkt in den Weiten der Milchstraße verborgen war. Auch wenn die Metapher schief war – meine Neugier war geweckt. Bevor ich antworten konnte, ließ mich Mayhel Tafgydos scharfer Ruf herumfahren. »Atlan! Er ist jetzt ansprechbar.«
* Ich musterte den Cappin. Sein Gesicht war bleich wie Kreide; die Augen lagen unnatürlich tief in den Höhlen. Ihr Blick flackerte unstet hin und her, wahrscheinlich, ohne dass der Verletzte überhaupt etwas wahrnahm. »Wie steht es um ihn?«, flüsterte ich. Die Ara schüttelte stumm den Kopf. »Auch ohne Cappinspezialist zu sein: schwerste innere Verletzungen«, erwiderte sie genauso leise, »hervorgerufen durch direkte Einwirkungen und Traumata. Hinzu kommt ein starker Schock unbekannter Ursache, der zu einem allgemeinen Organversagen geführt hat. Schon allein das Versagen der Leber wird zu seinem Tod führen. Wir haben ohnehin schon zu wenige Daten für ein effizientes Vorgehen. Und selbst bei wesentlich mehr Daten könnten wir sein Leben wohl nicht retten.« »Was hast du für ihn tun können?« »Ich habe ihm die Schmerzen genommen und seinen Kreislauf unterstützt. Aber er hat
10 nicht mehr viel Zeit, höchstens noch ein paar Minuten.« Ich stellte fest, dass sie seine äußeren Verletzungen nicht behandelt, lediglich Blutungen gestoppt hatte. Wahrscheinlich, weil mehr zu tun sich nicht mehr lohnte. Sie hatte ihm Linderung verschafft und die Schmerzen genommen, und er würde sowieso in wenigen Minuten sterben. Hatte sie ihm das den Kreislauf stabilisierende Mittel injiziert, damit er vor seinem Tod noch mit mir sprechen, mir vielleicht einige Fragen beantworten konnte? Ich sah die Ara-Frau zweifelnd an. »Handelst du ethisch einwandfrei?« »Natürlich! Was willst du damit andeuten?« Ich rief mich zur Ordnung. Viele Aras hatten noch immer einen äußerst schlechten Ruf, noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit hatten viele der dunklen Seite ihres Berufs freien Lauf gelassen, Forschung und Genmanipulation um jeden Preis betrieben, Krankheiten erzeugt, nur um sie gegen fürstliche Löhne behandeln zu können, Gifte entwickelt, zu denen sie allein die Gegengifte anboten, aber die Medikerin der ATLANTIS zählte unter Garantie nicht zu diesen schwarzen Schafen. Ich verließ mich auf ihr Wort. Betroffen kniete ich neben dem Sterbenden nieder und drückte seine Hand, während Mayhel behutsam seinen Oberkörper aufrichtete. »Du bist in der Milchstraße, unter Freunden«, sagte ich eindringlich. »Wir haben dich als Cappin identifiziert. Woher kommst du?« Der flackernde Blick seiner Augen wurde ein wenig steter und fixierte mich schließlich. Dennoch hatte ich den Eindruck, er würde mich gar nicht oder kaum wahrnehmen. Er hustete. »Car … Carscann«, krächzte er dann. »Carscann …« »Du kommst von Carscann?« »Ich …« Er bewegte schwach den Kopf. »Ich … bin … Carscann …« »Und woher kommst du?« »Die … eure Maschine … sie … hat mich eingefangen … ich … konnte mich erst jetzt befreien …« Sein Atem ging etwas ruhiger.
Uwe Anton Ich hatte schon viele Menschen sterben sehen in meinem jahrtausendelangen Leben. Wahrscheinlich stand der Exitus unmittelbar bevor, es war, als schöpfe der Körper noch einmal Luft vor dem letzten Atemzug. »Gruelfin …«, flüsterte er. »Deine Heimatgalaxis! Du kommst direkt von dort?« »Gruelfin droht … eine tödliche Gefahr … Schreckliche Kriege wüten dort, und das … das Schwert der Ordnung wartet nur darauf, endlich zuschlagen zu können … die Ernte einzufahren …« Seine Stimme wurde zusehends schwächer. Ich musste mich tiefer beugen, um ihn noch verstehen zu können. Irgendwo surrten Aufnahmegeräte; sie zeichneten jedes Wort auf, das der Cappin sprach. Sollte ich etwas nicht verstehen, hatte ich zumindest die Hoffnung, dass es mit der entsprechenden syntronischen Bearbeitung verständlich wurde. »Wenn der … wenn die … wenn … Lordrichter von Garb … erst erscheint … sind alle Cappins verloren … nicht nur … Ganjasen … Die Truppen … sind … sind schon am Werk … sie … sie wollen die … die Quelle pervertierten …« Carscann atmete jetzt stoßweise, seine Worte waren ein schwacher Hauch, der von seinem Atem sofort wieder zerrissen wurde. »Auch an Bord der … der Schwarzen Plattform … irregulär … erscheint und verschwindet wieder …« Die Schwarze Plattform? Unwillkürlich musste ich an die Vergessene Positronik denken, die einer schwarzen Plattform glich und die mich erst vor kurzem in die Obsidian-Kluft versetzt hatte. Aber konnte das sein? Konnte die Vergessene Positronik am Ende auch in anderen Galaxien auftauchen, selbst im 40 Millionen Lichtjahre entfernten Gruelfin? Wo war die Verbindung zwischen der Vergessenen Positronik und den Cappins? Gab es überhaupt eine? Du hast schon Seltsameres gesehen und erlebt, versicherte mir der Logiksektor. »Auch in Schwarzer Plattform … Cappins … brauchen Hilfe … Eine schreckliche Gefahr … ganz Gruelfin … die Lordrichter
Kytharas Erbe …!« Carscanns Hand drückte die meine mit einem Mal so stark, dass ich vor Überraschung, aber auch Schmerz fast aufgeschrien hätte, dann erschlaffte sie. Der Cappin atmete nicht mehr. Seine Augen blickten nun endgültig durch mich ins Leere. In die Ewigkeit. Dank meines fotografischen Gedächtnisses konnte ich mich an jedes einzelne seiner Worte genau erinnern. Eine schreckliche Gefahr … Ich musste an das denken, was ich vor wenigen Minuten Kythara erzählt hatte – daran, dass die Cappins vor etwa 200.000 Jahren genetische Experimente auf der Erde durchgeführt hatten. Experimente, die angeblich dazu dienen sollten, einer »ungeheuren Gefahr« zu begegnen, die im Universum aufgetaucht sei. Zwar hatte Ovaron, der legitime Herrscher der Cappins, später behauptet, diese Information sei falsch, weil die Urheber der Experimente versucht hätten, Außenstehenden edle Motive vorzutäuschen; dennoch hatten wir nie ausschließen können, dass es diese Gefahr doch gab. War ich zufällig wieder auf Zusammenhänge gestoßen, die nicht nur Galaxien, sondern auch Jahrhunderttausende umspannten? Trat diese Gefahr nun zutage? Mayhel ließ Oberkörper und Kopf des Toten wieder behutsam zu Boden gleiten. Ich erhob mich langsam, sah Kythara an. Sie hatte alles mitgehört. Doch ihr befremdeter Blick verriet mir, dass sie die zusammenhanglos erscheinenden Aussagen genauso wenig deuten konnte, wie es mir möglich war. Ich öffnete den Mund, doch meine Worte wurden von einem hohen, grellen Jaulen übertönt, das mir buchstäblich in den Ohren schmerzte. Jemand hatte Systemalarm gegeben! Schon wieder! »Zurück zur ATLANTIS?«, erkundigte sich Kythara, und ihre ruhige Stimme übertönte den Alarm mühelos. Ich nickte.
11
* »Da seid ihr ja wieder. Festhalten, wir fliegen los«, empfing uns Aktet Pfest in der Zentrale der ATLANTIS. »Was …?«, begann ich, doch der Überschwere winkte mit einer Hand in Richtung einer großen Holokugel, die die eingehenden Ortungsergebnisse dreidimensional darstellte. »Wenn du Augen hast, schau hin. Dann weißt du so viel wie wir und störst keinen.« Ich wollte gerade zu einer geharnischten Antwort ansetzen, da erkannte ich, was da zu sehen war, und anstelle eines scharfen Tadels sagte ich nur: »Sie ist wieder da.« Kythara stand neben mir und betrachtete die Darstellung in der Holokugel interessiert. »Wer?«, fragte sie. »Nicht wer, was!«, korrigierte Pfest, der sich vor kaum fünf Sekunden noch geweigert hatte, mir eine entsprechende Antwort zu geben. Die Aura der Varganin vollbrachte an dem polternden Überschweren wahre Wunder, wie ich feststellte. »Die Vergessene Positronik ist erneut im Bereich des Sonnentransmitters materialisiert und nähert sich in langsamem Flug dessen Zentrum.« Die Vergessene Positronik … war sie identisch mit der Schwarzen Plattform, die der Cappin erwähnt hatte? Und wieso erschien sie ausgerechnet jetzt, wie auf ein Stichwort? Nachdem sie erst vor wenigen Tagen wieder spurlos verschwunden war? Jahrhundertelang war ich ihr nicht begegnet und jetzt schon zum zweiten Mal binnen kürzester Zeit. Was war hier los? Sie wurde schon einmal von der Aktivität der Transfermaschine angelockt, versetzte der Extrasinn. Warum sollte das nun nicht wieder der Fall sein? Und jetzt sieh sie dir mal genau an. Fällt dir nichts auf? Es war die Plattform, aber sie hatte sich verändert. Stark verändert … »Wir steuern jetzt also auf diese Plattform zu?«, erkundigte sich Kythara gerade bei Aktet, der zustimmend brummte.
12 »Um genau was zu machen?« »Wir müssen sie aufhalten«, antwortete Aktet kurz angebunden; er fand ganz offensichtlich wieder zu seiner alten Form zurück. »Aber weshalb denn?« Kythara war die Ruhe selbst. »Sie bringt Tod und Vernichtung«, beschied ihr der Überschwere knapp. Kythara starrte mich an.
3. Ein unüberwindliches Hindernis »Bring uns endlich näher heran!«, drängte ich den Kommandanten der ATLANTIS. »Die Leistung der Metagrav-Blöcke liegt bereits bei einhundertzehn Prozent!«, brüllte Aktet Pfest vom gegenüberliegenden Ende der Zentrale, als müsse er gegen das Dröhnen der Maschinen anschreien, das hier allerdings nicht zu hören war. »Es geht nicht«, flüsterte Kythara, die die Ortungsanzeigen nicht aus den Augen ließ. »Diese Plattform scheint uns förmlich von sich wegzustoßen. Und zwar umso stärker, je mehr Schub wir geben.« »Wir müssen da durch. Der Rest ergibt sich«, gab ich nicht auf. »Zehn oder zwanzig weitere Prozentpunkte hält das Schiff schon aus.« »Das ist unsinnig, Atlan«, brüllte Aktet. »Ich schalte jetzt ab.« »Wir bleiben dran. Sonden ausschleusen!«, befahl ich. Der Überschwere nickte mürrisch, gab meine Befehle aber weiter, und ich konzentrierte mich wieder auf die Holodarstellung, die rein optische Informationen mit jenen der überlichtschnellen Ortung kombinierte. Der Anblick war faszinierend wie eh und je, besonders die Darstellung des Sonnentransmitters. Insgesamt 20 blaue Riesensonnen des Spektraltyps A4V mit einem Durchmesser von jeweils 2,5 Millionen Kilometern bildeten die Eckpunkte eines regelmäßigen Vielecks. Wenn man sie nun gedanklich miteinander verband, war das Ergebnis einer der fünf platonischen Körper – ein Penta-
Uwe Anton gon-Dodekaeder, bei dem zwölf regelmäßige Fünfecke die Außenfläche bilden. Die Heilige Zwölf der Lemurer, warf der Extrasinn ein. Der Durchmesser des vor langer Zeit von Lemurern gebauten Sonnentransmitters betrug rund 42 Lichtstunden oder 45,2 Milliarden Kilometer. Alle 30 Kanten hatten die gleiche Länge von 16,128 Milliarden Kilometern. Im Zentrum der Wirkungslinien und fächerartigen Einflusszonen erfolgte die hypertechnisch gesteuerte Bündelung der Sonnenemissionen und ließ jenen Transmittereffekt entstehen, der Raumschiffe und sogar noch größere Objekte in die Gegenstation eines anderen Sonnentransmitters versetzte. Jedes der Sonnenfünfecke konnte einzeln geschaltet werden; hinzu kam das Zusammenwirken aller zwanzig Sonnen. Dabei entstand dann die Transmitterzone im Zentrum des Dodekaeders. Doch nicht im Zentrum des Sonnentransmitters, sondern an dessen Rand befand sich das Objekt, das die ATLANTIS nicht erreichen konnte: eine riesige schwarze QuaderPlattform, 6000 Meter lang, 2000 breit und 1000 hoch, die hier materialisiert war. Ihre Oberfläche war früher völlig glatt gewesen, hatte keinerlei Erhebungen, Einbuchtungen oder Öffnungen aufgewiesen. Doch das war jetzt anders … Das diffuse, unwirkliche Leuchten, in das sie gehüllt war, wurde von energetischen Aktivitäten ständig mit neuen Farbschattierungen überzogen. Überschlagblitze leiteten Energien ab, die scheinbar aus dem Nichts entstanden waren, Aufrisse ließen stroboskopartig Bilder wie aus anderen, fremden Kontinua entstehen, doch mehr als ein energetisches Wabern und Brodeln konnte ich nicht erkennen. Die Vergessene Positronik… Ich hatte gedacht, die Plattform wäre auf ihrer ewigen Reise als Kosmischer Holländer mit unbekanntem Ziel weitergeflogen. Ein Irrtum! Sie ist wieder da! Aber warum? Sie näherte sich in langsamem Flug dem Zentrum der 20 Riesensonnen, ohne
Kytharas Erbe dass der Transmitter in irgendeiner Weise darauf reagierte. Zwei torpedoförmige Sonden schossen aus der ATLANTIS und nahmen geraden Kurs auf die Plattform. Ihre Triebwerke zündeten und katapultierten sie geradezu voran. Doch schon nach wenigen 10.000 Kilometern wurden sie langsamer statt schneller. Der geheimnisvolle Einfluss der Plattform beschränkte sich also nicht nur auf größere Objekte wie unseren Schlachtkreuzer. Schließlich schienen die beiden Sonden wie erstarrt im Raum zu hängen. »Wie nicht anders zu erwarten, keine feststellbare Beschleunigung mehr«, meldete Tassagol, der Leiter der Abteilung Funk und Ortung. Der gut 100 Jahre alte Arkonide mit den weißblonden Haaren hatte mich zwar als Vorbild auserkoren, behandelte mich jedoch mit der gleichen Blasiertheit wie jeden anderen. Ich habe es ja gewusst, aber auf mich hört ja keiner!, schien er damit sagen zu wollen. Einen praktikableren Vorschlag hatte auch er allerdings nicht zu bieten. Ich betrachtete die Vergessene Positronik zum wiederholten Male, und noch immer war ich sowohl fasziniert als auch erschrocken über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte: Sie war mit dem aus PsiMaterie bestehenden Kristallmond Vadolon kollidiert und dadurch offensichtlich stark beschädigt worden. Ihre vormals glatte Oberfläche wirkte an zahlreichen Stellen aufgerissen. Aus den unregelmäßig geformten, schroffen, gezackten Spalten quoll eine wabernde Substanz, deren anscheinend kristalline Oberflächenstruktur sich ständig veränderte. Als ich genauer hinschaute, erkannte ich ein transparentes, nur ganz leicht flimmerndes Feld – eine Art Blase, die die Kristalle einhüllte. Die Plattform hat ofensichtlich einen Teil der Psi-Materie mitgenommen, konstatierte mein Logiksektor. Und diese Psi-Materie wuchs. Wie Krebsgeschwüre dehnten sich die kristallinen Auswüchse aus, vereinnahmten mehr und mehr von der Hülle der Platt-
13 form, fraßen sie geradezu auf. Das geschah ganz langsam und war nur bei starker Vergrößerung zu erkennen … doch es geschah! Psimaterielle Reste des Kristallmonds an Bord der Vergessenen Plattform?, dachte ich. Psi-Materie war ein brisanter, extrem seltener Stoff, der aus Hyperenergie erzeugt werden konnte: Eine Masse von nicht mehr als zehn Gramm setzte bei ihrer Explosion Energien frei, die denen einer Nova kaum nachstanden! Und an Bord der Plattform mochten sich viele Tonnen Psi-Materie befinden … »Leistung der Metagrav-Blöcke bei einhundertundzwanzig Prozent.« Aktets Stimme war zwar laut, aber gelassen und fest. Doch es war klar, dass der Kommandant der ATLANTIS eine Entscheidung von mir erwartete. Ich glaubte zu spüren, wie ein Zittern durch die Zentrale des Schiffs lief. Sicherlich eine Täuschung oder eine Warnung meines Unterbewusstseins. Die ATLANTIS bestand aus einem vierfachen Wabenverbund-Zellensystem, sie zählte zum Modernsten und Besten, was die galaktischen Werften liefern konnten. Im gekoppelten Verbund glich sie einer Kugel mit sechs überdimensionalen, halbrunden Auswüchsen der eingedockten Beibootkreuzer, zwischen denen in Äquatorhöhe die vier rechteckigen Segmente der zur Hälfte in das Schiff eingelassenen Antriebsaggregate aufragten. Waren sämtliche Großbeiboote abgekoppelt, sah das Mutterschiff aus wie ein Riesenball mit sechs halbkugeligen Vertiefungen, doch eines der Beiboote, die TOSOMA, wurde gerade auf der Stahlwelt generalüberholt. Ich seufzte. Die Vergessene Positronik schien sich in den Holo-Darstellungen wieder aufzulösen – zum wiederholten Male innerhalb weniger Minuten. Sie war höchstens halb stofflich materialisiert, musste zum Teil noch in einem anderen Kontinuum festhängen, ohne dessen Griff endgültig abschütteln zu können. Dann verfestigte sie sich wieder, ohne allerdings endgültig greifbar zu werden.
14 »Einhundertfünfundzwanzig Prozent«, meldete Aktet Pfest. Die ATLANTIS bäumte sich unter dem Gravohub auf, schüttelte sich wie ein wildes Tier, das gegen ein Geschirr ankämpfte, wollte sich vorwärts schieben, doch es gelang nicht. »Die von der Psi-Materie ausgehende UHF-Strahlung wird stärker, je mehr wir zu beschleunigen versuchen«, sagte Pfest. »Einhundertdreißig Prozent, Atlan.« Der Kommandant sah mich an, sein Blick war eine einzige Aufforderung. Irgendwie hatte ich den Eindruck, als wolle mich die Vergessene Plattform verhöhnen. Das unwirkliche Leuchten, das sie in den Holos umgab, wurde immer wieder von vielfarbigen Blitzen aufgerissen, begleitet von fünfzig Kilometer oder noch größeren Aufrissen, deren Energie die ATLANTIS ins Verderben reißen konnte, sollte der Kreuzer von ihr erfasst werden. Das geheimnisvolle Objekt reizte mich mehr, als ich zugeben wollte. Wir wussten so wenig davon, was es mit der Plattform auf sich hatte, die scheinbar ziellos durchs Universum reiste. »Atlan!«, donnerte Aktets laute Stimme. Geheimnisse waren dazu da, ergründet zu werden. Aber nicht um jeden Preis. Ich musste es einsehen, obwohl es mir zutiefst widerstrebte: Die Halbstofflichkeit der Plattform, die Psi-Materie oder deren UHFStrahlung waren ein unüberwindliches Hindernis. Die ATLANTIS wurde von der Plattform abgestoßen, konnte nicht zu ihr vordringen. Meine Hartnäckigkeit war im Augenblick sinnlos, gefährdete lediglich das Leben der Besatzung. »Abbruch!«, sagte ich heiser. »Parallelflug mit sicherem Abstand.« Aktet schien aufzuatmen und bedeutete mit einem knappen Nicken, meinen Befehl umzusetzen. »Vielleicht«, schlug Kythara neben mir mit ihrer rauchigen Stimme vor, »sollten wir es einmal mit meinem Schiff versuchen.«
Uwe Anton
* Ich sah die Varganin an. Sie war eine betörend schöne Frau. Fast einen Meter und achtzig groß, schlank, aber kurvenreich an den richtigen Stellen. Eine hüftlange Goldlockenmähne umspielte das schmale Gesicht mit den ebenmäßigen Zügen, der schimmernden Bronzehaut und den goldenen Augen. Sie machte einen sportlichen und durchtrainierten Eindruck, und ihrem extrem robusten varganischen Naturell entsprechend war sie zweifellos sehr unempfindlich gegenüber Hitze, Kälte, Schmerz. Ein wenig erinnerte sie mich an Ischtar, die Varganin, die ich in meiner Jugend kennen gelernt hatte, als Kristallprinz, dem der Oheim den Anspruch auf den Thron geraubt hatte. Ich hatte an Chapat gedacht, unseren gemeinsamen Sohn, und dessen Schicksal, das genauso ungewiss wie das seiner Mutter war. Doch Kythara war zugleich ganz anders als Ischtar: In ihrem Exil in der ObsidianKluft hatten die anderen Bewohner sie sowohl als Ehrwürdige Heilige als auch als Herrin der Schlachten bezeichnet. Besser konnte man die Extreme dieser Frau nicht klar machen: die Heilige und die Kämpferin – augenscheinlich ein Widerspruch. Freilich musste man Kythara nur ansehen, um zu wissen, dass sie ein vielschichtiges Wesen war. Im ersten Augenblick hatte mich ihre Ausstrahlung in den Bann geschlagen. Aber auch wenn ich sie noch immer spürte, faszinierten mich doch auch andere Facetten der Frau: Sie hatte ein beeindruckendes Charisma, eine Aura der Weisheit, Abgeklärtheit und Überlegenheit, die mich trotz oder gerade wegen ihrer sparsamen Gestik, der leisen Diktion und der kühlgelassenen Mimik fast körperlich traf. Sie wirkte keineswegs arrogant, doch ihre ruhige Kraft wurde sofort ersichtlich.
4. Die Berechtigung der Erbauer
Kytharas Erbe Ich sah Kythara an. »Hältst du das für sinnvoll?« Varganische Technik brauchte sich insgesamt hinter der der Galaktiker des Jahres 1225 NGZ keineswegs zu verstecken, war in Teilbereichen sogar besser. Aber Kytharas AMENSOON war alt, uralt – 800.000 Jahre oder noch älter. An ihr hatte unzweifelhaft der Zahn der Zeit genagt. Auch wenn varganische Oktaeder von jeher auf Robustheit ausgelegt waren und über sehr wirksame Selbstreparaturmechanismen verfügten, würde es noch etwas dauern, bis wirklich wieder eine hundertprozentige Leistung erreicht war. Das Schiff war immerhin zwanzigtausend Jahre »eingemottet« gewesen. Würden die Triebwerke der AMENSOON der Belastung standhalten, falls sie ein ähnliches Hindernis überwinden mussten wie gerade eben die ATLANTIS? Und wie würde sich das Schiff verhalten, falls es tatsächlich zu einer Konfrontation kommen sollte – zu einer bewaffneten Auseinandersetzung? Ein Raumgefecht, Arkonide, verdeutlichte der Logiksektor, zwischen einer 848 Meter hohen Doppelpyramide aus goldenem Varganstahl und einer sechs Kilometer langen Plattform dürfte interessant werden. Beide mit uns unbekannten technischen Spezifikationen … Was die reine Ironie betraf, war der Extrasinn mir noch immer nicht gewachsen. In jeder anderen Hinsicht jedoch … Kythara lächelte. »Warte es ab, Atlan. Was hast du zu verlieren?« Dein Leben zum Beispiel, spottete der Logiksektor. Ich erwiderte das Lächeln. »Selbstverständlich werden wir es versuchen. Allerdings nur unter einigen Voraussetzungen.« Kythara sah mich fragend an. Ich wandte mich an Aktet. »Die ATLANTIS hält sich in der Nähe bereit. Sollte uns der Durchbruch gelingen, folgt ein von dir zusammengestelltes Einsatzkommando so schnell wie möglich per Transmitter auf die AMENSOON.« »Verstanden.«
15 Mir widerstrebte es zutiefst, unvorbereitet und Hals über Kopf auf solch eine Mission zu gehen. Wenn ein Cappin erschien und etwas von einer furchtbaren Gefahr berichtete, wollte ich dieser Bedrohung so gut ausgerüstet und vorbereitet wie möglich entgegentreten. »Zuerst werden wir den Durchbruch jedoch allein versuchen«, fuhr ich fort. »Risikominimierung.« Ich war schließlich verantwortlich für meine Leute und wollte ihr Leben nicht wegen nicht untermauerter Andeutungen aufs Spiel setzen. Auch wenn nicht von allen Einsätzen, die ich geleitet hatte, alle lebendig zurückgekehrt waren … »Eine äußerst kluge Entscheidung«, sagte Kythara noch immer lächelnd. Es war in diesem Augenblick so unangebracht wie irgendetwas, doch ich musste mir eingestehen, dass ich mich von der Varganin angezogen fühlte. Kythara hatte ihre Geheimnisse, davon war ich überzeugt. Vielleicht gelang es mir ja, sie ihr im Laufe der Zeit zu entlocken – schließlich kannten wir uns ja ohnehin erst kurz und hatten noch gar nicht die Zeit für intensive und ausführliche Gespräche gehabt. Für sie war ich – Zellaktivatorträger, ehemaliger Kristallprinz, ehemaliger Imperator von Arkon, ehemaliger Lordadmiral der USO, ehemaliger Ritter der Tiefe und so weiter und so fort – genauso ein unbeschriebenes Blatt wie sie für mich! Ich lächelte schwach. »Worauf warten wir also noch? Gehen wir an Bord der AMENSOON!«
* »Die Transmitter sind synchronisiert, diesmal sollte es keine Komplikationen geben«, brummte Aktet Pfest. Die AMENSOON hatte sich auf einen Rafferfunkspruch Kytharas hin der ATLANTIS genähert und ging gerade längsseits. In Gestalt zweier mit den Bodenflächen aufeinander gesetzter gleichseitiger Pyramiden aus goldenem Varganstahl raste der OktaederRaumer nun parallel zur ATLANTIS durchs
16 All. Mit seinen jeweils 600 Metern Kantenlänge betrug die Gesamthöhe der Doppelpyramide 848 Meter. Ich reichte dem Überschweren die Hand. »Wir gehen wie besprochen vor.« Dann wandte ich mich dem Transmitter zu. Ich sah Kythara an, sie nickte, gemeinsam traten wir in das Abstrahlfeld. Unwillkürlich schloss ich die Augen, um mich gegen die Nebenwirkungen des Sprungs zu wappnen. Doch diesmal war der Ent- und Rematerialisationsschmerz nicht ganz so stark. Ich öffnete die Augen wieder, rieb den Nacken und drehte mich. Ringsum erlosch der dunkelrot glühende Ring aus pulsierender Energie. Ein varganischer Transmitter bot ein ungewohntes Bild. Auf vier achteckigen, knapp hüfthohen Säulen lag eine Metallplatte für den Ent- und Rematerialisationsbereich, der vom Energiering umschlossen wurde. Wie ich aus meiner Jugend wusste, verfügten Varganenraumer über kleine Personentransmitter für den Nah- und raumschiffsinternen Bereich wie auch über große Frachttransmitter mit Reichweiten von vielen tausend Lichtjahren. An Bord der AMENSOON gab es laut Kytharas Auskunft insgesamt zehn Klein-, fünf mittlere und drei Großtransmitter. Als das Leuchten des Transmitters erlosch, setzte sich die Helligkeit durch, die die normale Innenbeleuchtung spendete: ein leicht blaustichiges Licht aus Deckenplatten oder indirekt angebrachten Leuchtkörpern. Ich sprang von der Metallplatte. Kythara stand schon vor einem Hologramm und rief Daten auf. Das knielange weiße Kleid, das sie getragen hatte, als ich sie auf Vinara zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie gegen eine blaumetallische, enge Kombination mit eingearbeiteten kniehohen schwarzen Stiefeln getauscht. Ihr handbreiter schwarzer Gürtel war mit einer doppelt handgroßen Schnalle versehen und mit etlichen silbernen Taschen und Etuis besetzt. »Alle Systeme im erwarteten Bereich«, sagte Kythara. »Die Selbstreparaturmechanismen arbeiten auf Hochtouren, aber die
Uwe Anton AMENSOON ist noch längst nicht die Alte. Doch es muss genügen. Gehen wir in die Zentrale.« Ich nickte knapp. Ja, es musste genügen. Ausgestattet für eine Expedition in ein fremdes Universum, waren die Schiffe von vornherein auf extreme Robustheit ausgelegt und verfügten über sehr wirksame Selbstreparaturmechanismen – einerseits, weil viele Aggregate innerhalb ihrer Außenkapsel ohnehin nur auf rein energetischem Wege nach vorgegebenen Programmen projiziert wurden, andererseits, weil es für alle Bereiche Selbstreparaturroutinen, Servomechanismen und Reparaturroboter bis hinab in den Mikro- und Nanobereich gab. Hinzu kamen oval-goldene multifunktionale Servo- und Dienstroboter mit jeweils acht Tentakelarmen, die sich aber auch auf Prallfeldern bewegen konnten. In einwandfreiem Zustand konnte es die AMENSOON mit jedem Schiff der Milchstraße aufnehmen. Aber wie Kythara selbst eingestanden hatte, befand sie sich keineswegs in einem solchen. Der Klumpen in meiner Magengrube schien größer und schwerer zu werden. Ich fragte mich, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte oder nur zu ungeduldig gewesen war.
* Die Zentrale befand sich im Zentrum des Oktaeders. Menschenleer, wie sie war, erweckte sie den Eindruck, als wartete sie auf eine Besatzung, die sie mit Leben erfüllen würde. Die Aggregate wirkten fremdartig, doch selbst wenn ich noch nie an Bord eines varganischen Schiffes gewesen wäre, hätte sich mir ihre Funktion schnell erschlossen. Ein positronischer Hauptrechner verkündete mit angenehmer Stimme seine Bereitschaft. In der Panoramagalerie leuchteten Holos auf, auf Schaltpulten blinkten Bedienungsflächen. Kythara setzte sich hinter eine Konsole. »Die Steuerung der AMENSOON kann dank ausgeprägter Automatisierung und po-
Kytharas Erbe sitronischer Unterstützung durch eine Person erfolgen«, sagte sie geistesabwesend, eher zu sich selbst als zu mir. »Jahrtausende war ich allein an Bord …« Bei aller Automatisierung hatten die Konstrukteure eine grundlegende Basisausstattung für den Notfall vorgesehen. Für den vertikalen internen Transport gab es neben Antigravschächten auch Nottreppen. Horizontale Hauptgänge, die als umlaufende Ringkorridore sowie als Stichgang vom Zentrum zur Außenhülle angelegt waren, konnten ganz normal per pedes benutzt werden, sofern die energetischen Transportbänder oder die Prallfeld-Sphären ausfielen. Eine schimmernde Sphäre raste durch ein sich öffnendes Schott in die Zentrale und entließ einen Roboter, der auf seinem eigenen Prallfeld über einer Konsole schwebte. Nur die Darstellungen der Holos verrieten, dass die AMENSOON soeben beschleunigt und gleichzeitig ihren Kurs geändert hatte. Sie hielt nun genau auf den Sonnentransmitter zu, dessen Zentrum sich noch immer die Vergessene Plattform näherte – ohne ungebührliche Hast und Eile, fast so, als wisse sie, dass nichts und niemand ihr etwas anhaben konnte. »Wir kommen voran«, sagte Kythara. »Zwar nicht mit der Geschwindigkeit, die wir aufgrund der Triebwerksleistung eigentlich erreichen sollten, aber immerhin.« »Jedenfalls besser als die ATLANTIS«, gab ich ihr Recht. »Und woran liegt es?« Die AMENSOON war bei weitem noch nicht hundertprozentig wiederhergestellt, die Selbstreparaturroutinen und -servos arbeiten weiterhin auf Hochtouren. Aber das hatte nichts damit zu tun, dass eine gegebene Triebwerksleistung nicht den eigentlich daraus resultierenden Schub brachte. Auch uns drängte also etwas zurück. Andererseits hatten die Varganen die Plattform früher einmal immerhin als Station auf der Suche nach dem Stein der Weisen genutzt. Offenbar reagierte sie in irgendeiner Hinsicht auf den Varganenraumer und wehrte ihn nicht so konsequent ab, wie es bei der
17 ATLANTIS der Fall gewesen war. Kurz darauf wurde die Vergessene Positronik von den Systemen der Nahortung erfasst, sodass ich erste Einzelheiten erkennen konnte. Die aus dem Quader quellende Psi-Materie war weiter gewuchert und bedeckte noch mehr der Oberfläche, wie ich mit Hilfe meines fotografischen Gedächtnisses zweifelsfrei feststellte. Ich kämpfte gegen aufsteigende Erinnerungen an und drängte sie zurück. Sie fegten mich nicht hinweg, rissen mich nicht in Trance. Es gelang mir, mich auf die zu beschränken, die ich hervorrufen wollte.
* Ich kannte das Objekt aus meiner Jugendzeit. Seit Jahrzehntausenden wurde dieser Kosmische Holländer immer wieder gesichtet, tauchte geheimnisvoll auf und verschwand ebenso rasch wieder. Einige Völker nannten den schwarzen Quader die Vergessene Plattform, andere die Vergessene Positronik. Aber alle sprachen nur hinter vorgehaltener Hand von diesem Gebilde. Für viele galt das Erscheinen der Plattform als böses Omen. Andere hatten sie als Gespensterschiff bezeichnet, denn nachweislich geisterte sie seit über 10.000 Jahren durch die Galaxis. Einige behaupteten, sie sei das Erbe eines kosmischen Urvolks, das spurlos verschwand, bevor unsere Vorfahren überhaupt lernten, das Feuer zu beherrschen. Seitdem erschien der schwarze Quader in unregelmäßigen Abständen mal auf dieser Seite der Galaxis, mal auf jener. Angeblich brachte er allen, die ihm begegneten, den Tod. Ich war schon einmal auf dieser Plattform gewesen und lebte noch immer; vieles von den Legenden war nur dummes Geschwätz. Längst war mir auch bekannt, dass sie von Lemurern geschaffen, aber später von Varganen benutzt worden war. Eng verbunden mit den Legenden und Erzählungen über die Plattform waren jene, die sich auf den Stein der Weisen bezogen: angeblich ebenfalls Er-
18 be eines uralten Volkes, sollte er dem, der ihn in seinen Besitz brachte, Glück und Macht bescheren. Die Zahl der Überlieferungen und Mythen, die sich um ihn rankten, wurde wohl nur von jenen übertroffen, die sich auf die Unsterblichkeit bezogen – zumal es Berührungspunkte und Überschneidungen zwischen beiden Themen gab. Während aber die Unsterblichkeit Realität werden konnte, wie ich sehr wohl wusste, war ich mir bei diesem Stein noch nicht ganz sicher, zumal keine Legende Genaueres über ihn verriet. Er konnte beinahe alles sein, was sich irgendwie unter die Aspekte Glück und Macht fassen ließ. In meiner Jugendzeit war ich dem Stein jedoch über Ischtar auf die Spur gekommen, absolvierte – beginnend mit dem ersten Aufenthalt auf der Vergessenen Positronik – einen Teil der von den Varganen hinterlassenen »Rätselstrecke«, verlor dann aber zunächst die Spur wieder. Später erfuhr ich, dass es sich bei dem »Stein« um jene technische Anlage handelte, die den Varganen einst die Versetzung zwischen ihrer eigentlichen Heimat, dem »Mikrokosmos«, und unserem Standarduniversum und zurück ermöglicht und ihnen die Unsterblichkeit beschert hatte. Ob das letztlich die ganze Wahrheit darstellte, war eine ganz andere Frage. Mehr denn je zweifelte ich inzwischen daran und erinnerte mich an eine der damaligen Aussagen meines Lehrmeisters Fartuloon: Der sagenhafte Stein der Weisen, scheint mir, könnte das Bindeglied zu unseren Wissensfragmenten der galaktischen Geschichte darstellen. Vermutlich werden wir den Äonen umspannenden Bogen unseres Ursprungs erst dann vollständig vor uns ausbreiten können, wenn unsere Suche nach diesem »Kleinod« erfolgreich ist. Bei Gelegenheit solltest du Kythara befragen, raunte der Extrasinn. Vielleicht weiß sie mehr? Die Varganin blickte von ihrem Kontrollpult auf. So zurückhaltend sie sonst auch sein mochte, jetzt blitzte es in ihren Augen hell vor Freude, wenn nicht sogar Triumph.
Uwe Anton »Ich habe Kontakt!«
* »Kontakt?«, hakte ich nach. »Mit der Plattform?« Sie nickte. »Über eine uralte Frequenz, die ich unter den Stichworten Schwarzer Quader und Stein der Weisen fand. Genau genommen nicht mit der Plattform selbst, sondern mit einem Rechner, der varganischen Ursprungs ist. Er reagiert mit einiger Verzögerung, aber immerhin. Das ist doch schon etwas!« »Mehr, als wir auf der ATLANTIS zustande gebracht haben«, gestand ich neidlos ein. Kythara schaltete. Die Verbindung war schlecht, von Interferenzen überlagert und lautem Rauschen durchdrungen. Doch während des Gesprächs filterte die Bordpositronik immer mehr der Störgeräusche heraus, sodass schon nach wenigen Sätzen eine einwandfreie Verständigung möglich war. Falls man wirklich von Verständigung sprechen konnte … »Die Varganin Kythara an Bord der AMENSOON ruft den varganischen Rechner. Bitte um Bestätigung der Identität!« »Identität zweifelsfrei! Die Ortung erfasst ein varganisches Raumschiff. Ich bestätige die Anwesenheit wie auch die Berechtigung der Erbauer.« Der Erbauer? Ich runzelte die Stirn und sah Kythara an, doch sie beachtete mich nicht. »Ich fordere Landegenehmigung auf der Plattform. Sende mir einen Peilstrahl, damit wir andocken können.« »Landeerlaubnis erteilt. Aber« – die Stimme des varganischen Rechners klang fast entschuldigend – »ich weise darauf hin, dass ich nur auf einen Bruchteil der Plattformaggregate direkten Zugriff habe. Ich bestätige die Berechtigung der Erbauer. Weiterhin gibt es jedoch viele autarke Einheiten, die sich völlig der Kontrolle entziehen und eine Gefahr darstellen könnten, sollten die Erbau-
Kytharas Erbe er an Bord kommen wollen. Ich bestätige die Berechtigung der Erbauer.« Ich sah Kythara stirnrunzelnd an. Ganz einwandfrei schien der Rechner nicht mehr zu funktionieren. Sie antwortete, ohne sich meiner Zustimmung zu vergewissern: »Dieses Risiko gehen wir ein, Rechner.« »Ich bestätige die Berechtigung der Erbauer. Du entbindest mich von jeder Verantwortung, Varganin Kythara?« »Ich leite die notwendigen Schaltungen ein.« Gespannt beobachtete ich Kythara, die ihrerseits konzentriert verfolgte, welche Schaltungen der Nebenrechner vornahm. Sie war mir um einiges voraus, was die Bedienung der AMENSOON betraf, und ich musste dringend meine Kenntnisse auffrischen, sollten wir länger an Bord des Schiffes bleiben. In meiner Jugend hatte ich – von Ischtar und auch bei anderer Gelegenheit – Hypnoschulungen erhalten, die unter anderem die Bedienung von Varganentechnik beinhaltet hatten, aber nicht auf die wissenschaftlichen Grundlagen eingegangen waren. Mit meinem heutigen Wissen war mir allerdings klar, dass die vor rund 800.000 Jahren in die Milchstraße gekommenen Varganen Transitions-Technologie mit Halbraumund Paratron-Technologie verknüpft hatten, und es gab sogar Aggregate, die – das wurde mir jetzt erst so richtig bewusst! – bis in den von den Cappins bekannten Dakkar-Bereich hinein ihre Wirkung entfalteten! Dakkar-Technik! Schon wieder die Cappins, vermerkte der Extrasinn. Hast du eigentlich bemerkt, dass sie selbst deine Frage nach Cappins nicht beantwortet hat und nur dich erzählen ließ? Bevor ich darauf antworten konnte, ging ein Ruck durch die AMENSOON, und das Schiff machte einen Satz. Einen Augenblick lang schien ein Vibrieren durch den Boden zu laufen, als kämpfe es gegen eine unsichtbare Kraft an, dann glitt es sanft voran, als schwimme es auf einem genauso unsichtbaren Strom. »Ein Traktorstrahl hat uns erfasst«, sagte
19 Kythara.
* »Energieemission.« Die Varganin deutete auf ein Holo. Die Darstellung zeigte die AMENSOON und die Vergessene Plattform. Zwischen ihnen hatte sich eine Art Schlauch gebildet, der sich um die beiden Gebilde blasenförmig ausstülpte. Er schützte sie vor einem dunkelblauen Flimmern, das den Rest des Holos ausfüllte – wahrscheinlich ein Ausdruck jener Strahlung, die eine Annäherung der ATLANTIS an die Plattform verhindert hatte. »Triebwerke ausschalten!«, befahl Kythara der Bordpositronik. »Entfernung zur Plattform?« »Einhundertzehn Kilometer.« Kythara runzelte die Stirn. Wahrscheinlich berechnete sie, wann sie spätestens eingreifen musste, um zu verhindern, dass das Schiff mit mörderischer Wucht auf das größere Objekt prallte. Aber welche Möglichkeiten blieben ihr jetzt noch zum Eingreifen? »Entfernung?« »Sechzig Kilometer.« »Triebwerke in Bereitschaft. Auf meine Anweisung Gegenschub. Entfernung?« »Dreißig Kilometer.« Ich musterte das Holo, studierte die eingeblendeten Daten. Dann räusperte ich mich leise. »Wir sollten …« Wieder durchlief ein sanfter Ruck die AMENSOON. Die Andruckabsorber glichen die auf das Schiff einwirkenden Kräfte restlos aus, doch ich wusste, dass wir mit brachialer Gewalt abgebremst wurden. Ein Blick auf die Daten lieferte die Bestätigung. »Entfernung fünf Kilometer … vier … drei …« Kythara entspannte sich. Es bestand keine Gefahr mehr, dass wir wie ein Geschoss in die Vergessene Plattform einschlugen. Hatte der varganische Partialrechner uns beweisen wollen, wozu er trotz aller Einschränkungen noch fähig war, oder war er einfach von
20
Uwe Anton
Werten ausgegangen, die ein varganisches Raumschiff problemlos verkraften konnte? Sanft wie eine Feder stoppte die AMENSOON ihren Sinkflug knapp über der Oberfläche der Plattform, über einem Bereich, der noch nicht von den wuchernden Kristallen bedroht wurde. Der Traktorstrahl blieb bestehen und hielt das Schiff unverrückbar an Ort und Stelle. Im nächsten Augenblick glaubte ich, mein Körper würde auseinander gerissen und in einzelne Atome gespalten werden. Glühende Lava floss meine Nerven entlang und setzte das Fleisch um sie in Brand. Meine Muskeln explodierten und jagten weitere unerträgliche Schmerzen durch meine Glieder, die Knochen zerfielen zu Mehl, die Synapsen in meinem Gehirn sprühten Feuer. Die Vergessene Positronik ist transitiert! Das war mein letzter Gedanke, dann wurde es schwarz …
5. Die Palette des galaktischen Malers Narr!, schimpfte der Extrasinn. Du bist wirklich der größte Narr des Multiversums! Ich widersprach ihm nicht, war noch zu sehr damit beschäftigt, meine Körperfunktionen aufrechtzuerhalten und meine Gedanken zu ordnen. »Was … ist passiert?« Die AMENSOON hat die Vergessene Positronik erreicht, rief mir der Logiksektor in Erinnerung zurück. Doch genau das scheint das letzte Tröpfchen gewesen zu sein, das das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die Plattform ist unmittelbar darauf mit unbekanntem Ziel transitiert … genau, wie du noch vermutet hast! Ich fluchte leise. Mein schnell zurechtgelegter Plan mit der gut ausgerüsteten und vorbereiteten Expedition war gnadenlos gescheitert. Statt direkt Vorsorge zu trefen und zusätzliche Mannschaften, Spezialisten und Ausrüstung mitzunehmen, sitzt du nun an Bord eines Raumers, der Jahrtausende auf Vinara lag und schwerlich noch das Beste ist, was
die moderne Raumfahrt zu bieten hat, fuhr der Extrasinn gnadenlos fort. Selten war die Bezeichnung Narr für dich zutrefender als jetzt, auch wenn ich sie in letzter Zeit etwas inflationär verwendet habe. Narr! »Aber es ist immerhin ein Varganenraumer«, murmelte ich zu meiner Verteidigung, »der ohne Zweifel noch die eine oder andere Überraschung zu bieten hat …« Ich rappelte mich auf. Kythara hatte als Varganin nicht nur den Transmittersprung, sondern auch die Transition besser verkraftet als ich. »Die AMENSOON ist stark in Mitleidenschaft gezogen worden«, sagte sie, ohne von ihren Instrumenten aufzublicken. »Zahlreiche Geräte sind ausgefallen. Besonders hart trifft uns im Augenblick der Verlust der Ortung. Aber auch die Triebwerke reagieren nicht mehr.« Erst jetzt fiel mir auf, dass die meisten Holos in der Zentrale erloschen waren. Die wenigen, die noch funktionierten, zeigten Innenansichten der AMENSOON oder die Oberfläche der Vergessenen Plattform, schwarzes Metall, das auf diese geringe Entfernung zahlreiche schwache Grauschattierungen aufwies. Ich glaubte auf eine Landschaft aus künstlichen Schluchten und eckigen Erhebungen zu schauen, die immer wieder von Rillen durchzogen waren. Hier erhoben sich Gebilde, die an Antennen erinnerten, dort reckten sich wesentlich dickere Türme oder flache Schüsseln in den Himmel, der von einem fahlen, unwirklichen Leuchten erhellt wurde, das sich aus allen Farben des Regenbogens zusammenzusetzen schien. Antennen … Geschütztürme? Ich runzelte die Stirn. »Woran liegt es? An der Transition oder …?« »Vordringlich an der Störstrahlung der Plattform und der Psi-Materie. Sie beeinträchtigen das Schiff zu stark. Ich kann noch keinerlei Rückschlüsse ziehen, ob durch die Transition spezifische Schiffssysteme beschädigt wurden. Wenigstens arbeiten die Selbstreparaturroutinen noch. Sie bemühen sich, die Schäden zu beseitigen und die Stör-
Kytharas Erbe
21
strahlung abzuschirmen – bislang allerdings ohne großen Erfolg.« »Die Frage, wohin die Plattform transitiert ist, erübrigt sich wohl«, sagte ich mit einem Blick auf die Holos. »Ich schlage allerdings vor, dass wir es so schnell wie möglich herausfinden.« Die Vergessene Plattform war bekannt dafür, dass sie an den ungewöhnlichsten Stellen des Weltraums materialisierte. Mir behagte der Gedanke nicht, mich vielleicht in unmittelbarer Nähe zu einem Schwarzen Loch oder zu einem Stern zu befinden, der sich jeden Augenblick in eine Supernova verwandeln würde. »Wer bin ich, dass ich dir widerspreche, Unsterblicher?«, sagte Kythara ruhig. Mir entging nicht ihre feine Ironie, die jedoch weder verletzend noch überheblich wirkte. Uns beiden war klar, dass sie auf eine wesentlich größere Lebensspanne als ich zurückschauen konnte. Auf ihre Art war sie durchaus humorvoll, obwohl Ernst und Erhabenheit zu überwiegen schienen. Ich musste es mir eingestehen, dass sie mich immer mehr beeindruckte. Bei ihr mischte sich permanent das Charisma einer weisen, abgeklärten und überlegenen Frau mit dem Anblick des jugendlichen, straffen Körpers und dem wunderschönen Gesicht. Rein äußerlich wirkte sie viel zu jung und attraktiv, um weise und abgeklärt zu sein. An diesen Widerspruch musste ich mich gewöhnen – war mir allerdings bewusst, dass ein Zellaktivatorträger wie ich auf Normalsterbliche genau den gleichen Eindruck machte. »Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als den Raumer zu verlassen«, sagte sie. »Irgendwo an Bord werden wir wohl Raumanzüge finden, wenn ich mich recht entsinne.«
* Wir fanden sie in einem Ausrüstungsmagazin, zu dem Kythara mich zielstrebig führte. Um es zu erreichen, benutzten wir nicht
eine Prallfeld-Sphäre wie die, die den Roboter in die Zentrale gebracht hatte, sondern die rechte Seite eines gegenläufigen energetischen Transportbands, dessen Gleitenergie sich wie festes Material verhielt, bewegte und sehr tragfähig war. Aus meiner Jugend wusste ich, dass die Sphären wie auch die Transportbänder durch Abstrahlprojektoren in den Decken erstellt wurden. Das Magazin war ein rechteckiger Raum mit sechs Reihen geschlossener, metallisch glänzender Schränke, die bis an die Decke reichten. Kythara öffnete einen und enthüllte dadurch varganische Kampfanzüge mitsamt goldfarbenen Helmen, aus denen ein halb transparenter Kamm ragte. Zum Teil waren sie an Magnethalterungen aufgehängt, zum Teil in Kraftfelder eingebettet. Die typisch varganischen Energieaggregate, die ich ebenfalls aus meiner Jugend kannte, befanden sich in den gewölbten Rückenteilen. Es handelte sich um flugfähige Konstruktionen, die auch einen hochwertigen energetischen Schutzschirm aufbauen konnten. Einige andere Anzugtypen verfügten über im Kragenwulst integrierte auffaltbare Transparenthelme. »Zu jedem Schutzanzug gehört eine Notration biosynthetischer Nahrungskonzentrate und versiegelter Wasserkonserven«, erklärte Kythara. »Beides hat eine praktisch unbegrenzte Haltbarkeit. Es handelt sich um hochwertige Nahrung, die alle Vitamine und Mineralstoffe enthält, die ein auf Eiweißbasis aufgebauter Organismus benötigt. Die Wasserkonserven sind hermetisch versiegelt.« Ich fragte mich, ob sie mir damit andeuten wollte, dass die Nahrung und das Wasser, das ich vielleicht zu mir nehmen würde, 800.000 Jahre alt waren. Nun ja … wenn sie davon aß und trank … Ich entsann mich der Spinnenroboter unterschiedlicher Größe, denen ich bei meinem letzten Besuch auf der Plattform begegnet war, und deutete auf Handwaffen, stabförmige Energiestrahler von 25 Zentimetern Länge und 2,5 Zentimetern Durchmesser,
22
Uwe Anton
die in einem der zahlreichen Fächer lagen. »Die sollten wir mitnehmen. Es könnte sein, dass uns unliebsame Überraschungen erwarten.« »Ich nehme jeden Vorschlag dankbar entgegen.« Kythara schlüpfte in einen Schutzanzug. »Der Kombimodus ist dir bekannt?« »Wahlweise Paralyse-, Thermo- und Desintegratorstrahl.« Der Kampfanzug, den ich ausgewählt hatte, schloss sich selbstständig, nachdem ich ihn angelegt hatte. Den Transparenthelm entfaltete ich allerdings noch nicht. Dann ließen wir uns von einer der Sphären zu einer Außenschleuse bringen.
* Der Anblick war atemberaubend. Ein Maler schien auf eine dunkel geschwärzte Palette leuchtende Farben aufgetragen zu haben, die dann ineinander verlaufen waren. Zartes bauschiges Weiß, gesprenkelt mit Grau- und Brauntönen, floss unregelmäßig in ein fast kreisrundes, pastellenes Rosa. Im Hintergrund streckte eine hellblaue Spirale ihren Arm nach der Berührungsfront aus. »Ein Emissionsnebel«, flüsterte ich. Die Plattform war am Rand eines prächtig leuchtenden Emissionsnebels materialisiert. Unwillkürlich fühlte ich mich an den Orionnebel nahe Sol oder den Tarantelnebel in der Großen Magellanschen Wolke erinnert. Aber dieses astronomische, etliche Lichtjahre durchmessende Objekt war ein anderer Nebel, mir völlig unbekannt. Mich beschlich das dumpfe Gefühl, dass der Versuch, uns zu orientieren, erst einmal fehlgeschlagen war. Ich trat näher an die Kante des Raumschiffs, an den schwarzen Abgrund, der sich vor mir auftat. Kythara schien keinen Blick für die Schönheit des Emissionsnebels zu haben; jedenfalls zeigte sie sich nicht besonders beeindruckt. Sie blickte von dem tragbaren Handortungsgerät auf, das wir – unter anderem – in die Außenschleuse mitgenommen
hatten. »Ich habe die Basisdaten ermittelt«, sagte sie. »Die Wolke besteht aus Protonen und Elektronen – sprich aus vollständig ionisiertem Wasserstoff.« In der Spektroskopie als H II bezeichnet, dachte ich und nickte. Im Gegensatz zum neutralen Wasserstoff H I. »Sie hat einen Durchmesser von etwa zwanzig Lichtjahren, ist von Staub durchsetzt. Die zum Teil chaotisch geformte und von dunklen Gasmassen durchsetzte Struktur weist Bereiche auf, in denen der Nebel von Sonnen beleuchtet wird, aber auch solche, in denen das interstellare Gas selbst hell leuchtet. Genaue Unterscheidungen sind nur vereinzelt möglich. Der Nebel weist Gastemperaturen zwischen 7000 und 12.000 Grad Celsius auf. Insgesamt ist er eine Sternenbrutstätte mit jungen Hauptreihensonnen und weißen und blauen Unterriesensternen, aber es finden sich auch orangefarbene und rote sowie diverse Veränderliche, deren Emissionen das Gas zum Leuchten anregen. Die Wolke erreicht insgesamt mehrere hundert Sonnenmassen.« »Unter den gegebenen Umständen eine erschöpfende Auskunft. Sie hilft uns allerdings nicht wie erhofft weiter. Oder kennst du den Nebel? Weißt du, wo wir uns befinden?« »Leider nicht. Du auch nicht? Ich hatte auf dein fotografisches Gedächtnis gehofft.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe den Nebel noch nie aus dieser Position gesehen … oder vielleicht überhaupt noch nie.« Ich deutete auf einen hell schimmernden Fleck in den pastellenen Schwaden in unmittelbarer Nähe. »Ist das eine Sonne? Vielleicht mit bewohnten Planeten? Oder zumindest mit solchen, auf denen wir überleben können?« »Die Sonne kann ich bestätigen, Unsterblicher. Gut beobachtet. Ob sie allerdings über Planeten verfügt, kann ich dir nicht sagen. Um das festzustellen, sind die Instrumente nicht empfindlich genug.« Ich nickte und richtete meine Aufmerksamkeit auf die Bereiche der Plattform, die
Kytharas Erbe
23
ich einigermaßen überblicken konnte. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich immer mehr auflöste; sie schien von der PsiMaterie geradezu absorbiert zu werden. Aus klaffenden Rissen wuchsen Kristalle, andere Bereiche wechselten immer wieder in einen halb stofflichen Zustand. »Es sieht nicht gut aus«, sagte ich. »Offenbar versucht die Plattform erneut zu transitieren. Und der Zerfall schreitet fort, der Kristall wächst weiter. Wir sollten versuchen, die AMENSOON so schnell wie möglich startklar zu machen.« Kythara legte die Hand auf eine Schaltfläche, das Schott fuhr geräuschlos wieder zu. Als es sich geschlossen hatte, übertrug das Anzugmikrofon ein leises Zischen. Die Lagerhalle wurde wieder mit Atemluft geflutet. »Kehren wir in die Zentrale zurück«, sagte Kythara. »Vielleicht haben die Selbstreparaturroutinen uns ja schon weitergebracht.«
* Sie hatten es nicht. Kythara konnte noch immer nicht auf die wichtigsten Systeme der AMENSOON zurückgreifen. »Dann steht uns wohl nur noch eine Option offen«, sagte ich. »Wir müssen versuchen, in die Vergessene Plattform einzudringen, um sie zu untersuchen und vielleicht doch unter Kontrolle zu bekommen. Eine Vorstellung, die mir ganz und gar nicht behagt. Besteht die Verbindung zum Varganenrechner noch?« »Ja. Er antwortet auf konkrete Fragen, doch seine Aussagen werden immer wirrer und unzusammenhängender. Er wird uns keine große Hilfe sein. Eher gar keine, befürchte ich.« Kythara lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah mich an. »Aber vorher sollten wir schlafen. Ich weiß nicht, wie es um dich steht, Arkonide, aber mir macht die Müdigkeit trotz meiner Unsterblichkeit zu schaffen. Wir sind seit über vierundzwanzig Stunden auf den Beinen.« Ich seufzte. »Und haben in diesen vierundzwanzig Stunden wirklich einiges er-
lebt.« Mein Zellaktivator half mir zwar für eine gewisse Zeit über die Erschöpfung hinweg, aber es hatte wirklich keinen Sinn, hundemüde in die Plattform einzudringen. Müdigkeit verleitete einen zu Fehlern, und Fehler waren in ihrer Umgebung wahrscheinlich tödlich. Mir fiel etwas ein. »Eins noch. Wie sieht es mit den Beibooten aus?« Kythara zuckte die Achseln. »Vier Kleinoktaeder, Kantenlänge jeweils einunddreißig, Gesamthöhe vierundvierzig Meter. Die Sublicht- und Überlichttriebwerke, Schutzschirme und so weiter entsprechen in den Leistungsparametern weitgehend dem Mutterschiff, ihre Reichweite ist jedoch auf maximal zweihundertfünfzigtausend Lichtjahre begrenzt, dann ist eine Nachversorgung durch das Mutterschiff erforderlich.« Sie rief ein Holo auf. »Und fünfzig zwölf Meter lange Tropfenbeiboote, vor allem für den planetennahen Betrieb und daher nur mit Unterlichttriebwerken. Sie sind in einem weitläufigen Hangar untergebracht. Ihr Durchmesser variiert, beträgt maximal drei Meter.« Ich kannte diesen Beiboottyp, wusste, dass die Kabine zwei Kontursesseln Platz bot, vor denen sich das HalbmondKommandopult erstreckte; mehr Raum lieferte die oval geformte Personenzelle nicht. Tatsächlich waren die kleinen Fahrzeuge nichts anderes als eine mit Atemluft gefüllte Kraftfeldzelle aus formstabilisierter Energie, aber dennoch raumtauglich. »Die AMENSOON ist also mehr als nur ausreichend bestückt«, sagte ich, »aber …« »… die Störstrahlung beeinträchtigt die Beiboote genauso wie das Mutterschiff. Sie helfen uns im Augenblick nicht weiter.« Ich musterte Kythara nachdenklich. Sie schien die Auskunft ein wenig widerwillig gegeben zu haben und nur auf Nachfrage. Das bestätigte den Eindruck, den ich von ihr gewonnen hatte. Sie war wirklich nicht besonders redselig, und über ihre Vergangenheit schien sie sich grundsätzlich auszuschweigen. Womöglich hatte sie sich dieses
24 Gehabe in der Obsidian-Kluft angewöhnt, als sie von Wesen umgeben war, die ihr alle nicht das Wasser reichen konnten. Vielleicht hatte sie sich während dieser langen Zeit ganz bewusst angewöhnt, den Eindruck einer geheimnisvollen Frau zu erwecken. Allerdings konnte ich mir aufgrund meiner Jugenderfahrungen mit den Varganen selbst einiges zusammenreimen. »Du bist mit der varganischen Expeditionsflotte in die Milchstraße gekommen?«, fragte ich bedächtig. »Vor rund achthunderttausend Jahren?« Ihr Blick war kaum weniger nachdenklich als der meine. Sie wusste, dass ich schon Kontakte mit Varganen gehabt hatte; bei unserer ersten Begegnung hatte ich Ischtar erwähnt, die Letzte Königin ihres Volkes. Aber sie schien sich hier und jetzt auf keinen Fall offenbaren zu wollen. Vielleicht war es auch nur ein gesundes Misstrauen, das sie im Lauf ihres langen Lebens entwickelt hatte. »Ja«, sagte sie schließlich. Damals waren die Varganen aus einem anderen Universum, das sie als »Mikrokosmos« angesehen und bezeichnet hatten, in unser Kontinuum übergewechselt. Dabei hatten sie Unsterblichkeit erlangt, untereinander jedoch ihre Fortpflanzungsfähigkeit verloren. Ich erinnerte mich noch genau an die Worte, die Ischtar damals zu mir gesagt hatte: »Wir waren potenziell unsterblich geworden, alle! Nicht jeder verkraftete diese Erkenntnis, viele nahmen sich das Leben – etliche der konservierten Körper finden sich noch heute in den Stationen der Versunkenen Welten. Unser Reich zerfiel, die meisten gingen eigene Wege, wurden zu rastlosen Nomaden zwischen den Sternen. Irgendwann kam es zu einer Zusammenkunft, die meisten Überlebenden waren entschlossen, dieses Universum wieder zu verlassen, um heimzukehren. Ich gehörte zu jenen, die hier blieben – unter anderem, weil ich Spuren entdeckt hatte, die scheinbar varganischer Natur waren, aber nicht von uns stammten. Ich nannte die Unbekannten deshalb die ver-
Uwe Anton schollenen Varganen, wollte unbedingt die Zusammenhänge herausfinden.« »Du hast zu den Rebellen gehört, die damals im Standarduniversum blieben«, spekulierte ich, »und wurdest dann von Magantilliken gejagt?« Sie nickte knapp. »Der Henker der Varganen verfolgte mich. Auf meiner Flucht wurde die AMENSOON jedoch von einer Hyperschwallfront getroffen, teilentstofflicht und dann in die Obsidian-Kluft versetzt …« Das war fast rund 20.000 Jahre her, eine Zeit vermehrter Hyperstürme, in der die Raumfahrt extrem schwierig gewesen und zeitweise sogar vollständig zum Erliegen gekommen war. »Und dann?« Sie zuckte die Achseln. »Seither war ich dort gefangen, habe Reiche entstehen und wieder vergehen gesehen, war häufig sogar an ihrem Aufstieg und Fall beteiligt gewesen. Aber das ist Vergangenheit.« Sie lächelte. »Wir sollten jetzt schlafen, um für die Gegenwart gewappnet zu sein. Sonst haben wir vielleicht keine Zukunft!« Wer war ich, dass ich ihr nicht Recht gab?
6. Der Gallertklumpen Das von dem kleinen Quader erzeugte Prallfeld hielt die Atmosphäre zurück, die sonst durch die Luke entwichen wäre, die wir mit dem fein gebündelten Desintegratorstrahl in die Hülle der Vergessenen Positronik geschnitten hatten. Von Prallfeldern getragen, glitten wir durch die Öffnung und verschweißten das herausgetrennte Metallstück wieder nahtlos mit der Hülle. Kythara desaktivierte per Funk das Prallfeld und aktivierte damit gleichzeitig die zweite Funktion des Würfels, der vielleicht bis in alle Ewigkeit an der Hülle der Plattform haften bleiben würde. In ihm befand sich ein Peilsender, der automatisch alle fünf Minuten einen überlichtschnellen ultrakurzen Impuls abstrahlte, der von der AMENSOON empfangen werden konnte. Wir hatten Dutzende weiterer Hyperfunk-
Kytharas Erbe Peilsender mitgenommen, die wir an geeignet erscheinenden Stellen der Plattform anbringen wollten. Schwerelos schwebten wir zum Boden der hohen Halle hinab, in die wir uns Einlass verschafft hatten. Sie war gefüllt mit endlosen Reihen würfelförmiger schwarzer, fugenloser Klötze, die durch Rohre und Schläuche miteinander verbunden waren. Über ihre Funktion konnte ich nicht einmal Spekulationen anstellen. Ich hatte Kythara in groben Zügen berichtet, was ich bisher bereits an Bord der Vergessenen Positronik erlebt hatte. Da die Plattform allerdings enorm groß war, waren die Warnungen freilich nur begrenzt nützlich. Dennoch – die Terraner hatten nicht umsonst das geflügelte Wort Gefahr erkannt, Gefahr gebannt! Zu meiner Erleichterung schien es in diesem Bereich keine Gefahren zu geben, die erkannt oder gebannt werden mussten. Wir fanden nicht den geringsten Hinweis auf Leben, blieben aber nach wie vor vorsichtig, indem wir Deckung hinter den haushohen schwarzen Objekten suchten und uns langsam einem torgroßen Schott näherten. Keine Panik. Ihr befindet euch in einer ganz anderen Sektion des Quaders, verdeutlichte der Extrasinn. Berücksichtige die Aussage des varganischen Rechners. Er sprach von zahlreichen autarken Einheiten. Was kann das bedeuten? Vielleicht ist die Vergessene Positronik in Diadochenbereiche zerfallen, in denen jeweils ein anderer Rechner die Kontrolle ausübt? Mit sechs Kilometern Länge, zwei Kilometern Breite und einem Kilometer Höhe ist die Plattform eine Welt für sich. Berechne nur den Rauminhalt. Ich verzichtete darauf. In solch einem Volumen konnten sich ganze Kulturen etablieren, ohne in Kontakt mit den Nachbarn zu geraten, auch wenn die Plattform kein Generationenraumschiff war. Neben dem großen Schott gab es eine Personentür, die Kythara öffnete, indem sie eine Hand auf eine Schaltfläche legte. Dahinter erwartete uns ein zweieinhalb Meter
25 hoher Gang mit metallisch wirkenden Wänden, Decke und Boden. Ovale Leuchtkörper in der Decke verbreiteten eine diffuse Helligkeit. Lebewesen oder Roboter waren nicht auszumachen. Wir schienen in dieser Sektion der Plattform völlig allein zu sein. Ich kam mir vor wie in einem Gespensterschiff, nur die Gespenster fehlten. Bei jedem Schritt durch die metallenen Gänge rechnete ich damit, dass sie vor mir materialisierten, die entstofflichten Körper der Abertausende von Wesen, die es im Verlauf der Jahrzehntausende in die Vergessene Positronik verschlagen haben mochte. Nichts geschah. Keine Spinnenroboter, keine qualvollen Schreie teilentmaterialisierter Wesen, gar nichts. Nur unsere hallenden Schritte in einem schier endlosen, gleichförmigen Ganglabyrinth. Die Karte, die Kythara von dem varganischen Rechner angefordert hatte, war nicht zuverlässig. Entweder sie war uralt, und jemand hatte bauliche Veränderungen vorgenommen, oder die Umgebung änderte sich auf unerklärliche Art und Weise. Auch der Extrasinn reagierte verwirrt; ich hatte mehrmals das Gefühl, im Kreis gelaufen zu sein, obwohl dies nach arkonidischem Ermessen wirklich nicht der Fall sein konnte. »Wir befinden uns in einer Sektion am Rand der Station«, sagte ich. »Ich bezweifle, dass wir den Hauptrechner der Plattform auf diese Weise erreichen können. Er befindet sich wahrscheinlich im Zentrum der Station, mehr als zwei Kilometer entfernt. Und ich habe den Eindruck, dass wir noch keine fünfhundert Meter zurückgelegt haben. Vielleicht sollten wir Brotkrumen streuen oder einen roten Faden irgendwo festbinden, um den Rückweg zu finden.« Kythara verstand die Bemerkung: auch wenn sie das Märchen von Hänsel und Gretel nicht kannte, so gab es die Legende um Ariadne und den Minotaurus in ähnlicher Form auch bei den Varganen. »Mich macht noch etwas besorgt. Dieser Teil des Quaders ist nicht so stark von der Psi-Materie befal-
26
Uwe Anton
len wie andere. Sie scheint sich im Zentrum der Plattform zu konzentrieren. Was ist, wenn wir Bereiche erreichen, die nur noch aus Psi-Materie bestehen?« Ich nickte. »Und noch eine Gefahr dürfen wir nicht ignorieren. Was, wenn die Plattform plötzlich wieder entmaterialisiert, während wir uns in ihr befinden? Was geschieht dann mit uns?« »Wir sollten unsere Ziele neu definieren«, gab ich ihr Recht. »Der varganische Partialrechner ist nur ein Teilziel, da der kleine Knotenrechner wahrscheinlich selbst keine Kontrolle über die Plattform hat. Wir müssen auch die eigentliche Zentrale der Plattform erreichen. Vielleicht finden wir einen Transmitter. Oder wir müssen auf das Leuchten des Hoagh hoffen, was allerdings nicht ganz ungefährlich sein dürfte.« »Leuchten des Hoagh?« »Ein Transmittereffekt, der …« Ich verstummte. Eine Nische unterbrach die bisherige Gleichförmigkeit der rechten Wand. Wenige Meter weiter endete der Gang, mündete auf die rechtwinklig nach links weiterführende Fortsetzung. In der Nische gestattete eine große ovale Luke den Blick hinaus ins All. Ich fluchte leise. Wir befanden uns noch immer an der äußersten Peripherie der Plattform. Der Karte und der Einschätzung des Extrasinns zufolge hätten wir uns jedoch schon mindestens 300 Meter in ihr Inneres vorgearbeitet haben müssen. Doch nicht nur das verblüffte mich. Vor der Luke lag ein Gegenstand auf dem Boden – der erste Verstoß gegen die aseptische Sauberkeit und Ordnung, die in dem Gangsystem herrschte.
* Ich bückte mich, hob den Gegenstand auf und kauerte mich auf den niedrigen Sockel der Nische, um das Objekt zu untersuchen. Es war kopfgroß und kugel- bis tropfenförmig, eine Vielzahl kleinerer Aufsätze ließen es wie die Miniatur eines tropfenförmigen,
vor Antennen und Waffentürmen starrenden Raumschiffs wirken. Kythara wandte sich plötzlich von mir ab, schaute den Gang entlang, als hätte sie etwas gehört oder gesehen. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie schüttelte den Kopf. Ich schaute aus der Luke. Deutlich war die über der Plattform schwebende AMENSOON zu sehen, von den unsichtbaren Traktorstrahlen gehalten, eine Doppelpyramide aus goldenem Varganstahl vor einem dunkelblauen Hintergrund. Das einfallende Licht ließ Kytharas Haut gelbgrün schimmern, ein Effekt, der ihrer Schönheit und Exotik nur unwesentlich Abbruch tat. »Was ist das?«, fragte ich und betrachtete das Gerät genauer. Mehrere Knöpfe und Schaltflächen waren zu erkennen, ließen aber keinen Rückschluss auf die Funktionen des Objekts zu. Eine Waffe? Ein Ortungsgerät? Etwas, über dessen Wirkung wir nicht einmal Vermutungen anstellen konnten? Und wieso lag ausgerechnet dieser Gegenstand hier auf dem Gang? Wer hatte ihn hier platziert? Und warum? »Keine varganische Herkunft. Ich habe so ein Ding noch nie gesehen.« »Ich auch nicht.« Ich befestigte das Objekt mit einer Magnetklammer an meinem Gürtel. »Atlan!« Kytharas leiser Ruf ließ mich aufschauen und in die Richtung blicken, in die sie zeigte. »Da ist es schon wieder …«
* Etwas schien in der Luft zu schweben, ein filigran wirkendes Geäst aus unbekannten, fremdartigen Bauteilen. Kythara kniff die Augen zusammen. »Ich habe es eben schon mal gesehen, doch dann verschwand es wieder. Ich dachte, ich hätte mich geirrt …« »Ein Schaltelement«, sagte ich und trat näher heran. »Von Antigravfeldern anderthalb Meter über dem Boden gehalten?«, flüsterte sie skeptisch. Ich schüttelte den Kopf, ging einige
Kytharas Erbe Schritte, sah nach links in den abknickenden Gang und streckte vorsichtig die Hand aus, bis die Fingerspitzen auf einen Widerstand stießen. »Eine transparente Querwand.« Ich hatte solch eine Wand schon einmal gesehen, damals, in meiner Jugend, als ich mit meinem väterlichen Freund, dem Bauchaufschneider Fartuloon, in der Vergessenen Positronik war. Einen kurzen Moment lang überschwemmten mich die Erinnerungen … Wir gingen an der transparenten Wand entlang, bis wir eine Öfnung fanden, ein ovales Tor, durch das ein schwerer Gleiter hätte fliegen können. Sein Rand leuchtete hellblau. Wir traten hindurch, ohne dass etwas geschah. Doch als wir uns umwandten, konnten wir weder die transparente Wand noch die Schalteinheiten sehen, die uns geführt hatten. Wir nahmen lediglich ein dunkelblaues Leuchten wahr, das sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. »Ich denke«, sagte Fartuloon bedächtig, »es gibt für uns nur dann eine Rückkehr, wenn wir uns entweder mit der Zentrale einigen oder sie besiegen. Das ist das Leuchten des Hoagh, und es verschlingt jeden, der es unbefugt betritt!« »Woher weißt du das?« »Es gibt zahllose Erzählungen über das Leuchten des Hoagh, und ich nehme an, sie haben sich im Verlaufe ungezählter Generationen aus Informationen gebildet, die einst von dem Urvolk, das die Vergessene Positronik schuf, ausgestreut wurden.« »Wenn wir der Wand folgen«, sagte ich heiser, noch die Erinnerungen zurückdrängend, »werden wir die Zentrale erreichen … zumindest die Subzentrale dieser Sektion. Wir dürfen nur nicht durch Tore oder andere Öffnungen treten, die wir in der Wand finden.« Ich lachte leise auf. Kythara sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Du kannst mir glauben. Ich war schon an Bord der Plattform. Zweimal sogar.« Sie nickte zögernd und folgte mir. Wie damals orientierte ich mich an den Schaltelementen, die alle paar Meter in die transparente Wand eingelassen waren. Gelegent-
27 lich schienen sie zu verschwimmen, wurden von einem flachen Flimmern überzogen, das sie fast unauffindbar werden ließ, und einmal verschwanden sie sogar völlig, waren überhaupt nicht mehr zu entdecken. Doch jedes Mal materialisierten sie wieder, manchmal nach wenigen Sekunden, manchmal nach drei, vier Minuten. Zwei ovale Öffnungen ignorierte ich geflissentlich, ebenso die in tiefster Finsternis liegenden Räume dahinter. Schließlich endete die transparente Wand abrupt. Der sich anschließende Quergang war beiderseits ganz schwach gebogen. Kythara warf einen Blick auf die Karte und schüttelte ungläubig den Kopf. »In dieser Sektion gibt es nur einen Kreisgang. Er umgibt die Zentrale, in der der varganische Knotenrechner installiert ist. Wir müssten ihm eigentlich nur bis zum nächsten Schott folgen, um den Rechner zu finden.« »Dann tun wir das doch«, schlug ich vor.
* Wir fanden nicht nur ein Schott. Zehn Meter davor lag eine blasige, erstarrte Masse auf dem Boden, grau und von den ungefähren Umrissen eines humanoiden Körpers. Kythara prallte mit einer Heftigkeit vor ihr zurück, die mich überraschte. Sie hob eine Hand vor den Mund und betrachtete den Klumpen aus weit aufgerissenen Augen. Ich musterte sie, besorgt, aber auch etwas misstrauisch. »Hast du so etwas schon mal gesehen?« Sie erwiderte den Blick. »Du vermutest, dass es sich um den Körper eines pedotransferierten Cappins handelt?« Ich nickte. »Nach dessen Pedotransferierung, der ohne den stabilisierenden Faktor des Bewusstseins als Gallertbrocken zurückgeblieben und erstarrt ist.« »Und wo … befindet sich das Bewusstsein?« Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Wir können nur nach weiteren Cappins suchen … die keine Pedotransferierung vorge-
28 nommen haben. Und vielleicht noch leben.« Kythara schaute sich zweifelnd um. Dann deutete sie auf das Schott. »Das kannst du übernehmen. Ich versuche derweil, uns Zutritt zur Zentrale zu verschaffen.« Ich nickte und kniete neben dem blasigen, erstarrten Körper nieder. Vorsichtig berührte ich ihn mit den Fingerspitzen und fühlte eine warme, harte Oberfläche. Die Geschichte des in der Stahlwelt materialisierten Cappins schien also richtig zu sein, zumindest, was die bislang überprüfbaren Aussagen betraf. Damit stellte sich für mich erneut die Frage: Woher kam der Cappin? Wie war er hierher gekommen? Was hatte ihn Bord der Vergessenen Plattform verschlagen? Vor allem: Wann war das geschehen? Bevor ich in die Obsidian-Kluft geraten war oder erst in den wenigen Tagen seit deren Auflösung? Ich bezweifelte, dass die Obsidian-Kluft etwas mit den Cappins zu tun hatte. Die Kürze der Zeit ließ mich vermuten, dass sie bereits vor der Versetzung in dieses Miniaturuniversum an Bord der Plattform angekommen waren. Möglicherweise war dabei die Verbindung zwischen dem pedotransferierten Bewusstsein und seinem Körper gerissen. Carscann musste die Transferanlage in der Stahlwelt für einen Pedopeiler gehalten haben, hatte sich zunächst jedoch nicht befreien können. Wo aber waren die von ihm erwähnten weiteren Cappins? Stammte das Gerät vielleicht von ihnen? Ich löste es vom Gürtel, hielt es über die erstarrte Masse. Entgegen meiner Hoffnung gab es absolut keine Reaktion, deshalb befestigte ich das Objekt wieder. Ich sah zu Kythara hinüber. Sie versuchte, mit einem Kodegeber am Schott ihre Berechtigung nachzuweisen, die Zentrale mit dem varganischen Knotenrechner betreten zu dürfen. Während sie konzentriert arbeitete, rief ich mir in Erinnerung, was ich über die Cappins wusste. Über viele aktuelle Informationen verfügte ich allerdings nicht; der letzte Kontakt mit den humanoiden Bewohnern Gruelfins lag schon einige Zeit zurück.
Uwe Anton Die wichtigsten Cappin-Völker waren die Ganjasen aus dem Syveron-System und die Takerer, die auf dem Planeten Takera beheimatet waren. Zwischen ihnen herrschte seit jeher eine Rivalität, die auch vor bewaffneten Auseinandersetzungen nicht Halt machte. Andere Cappin-Völker waren die Loisooger, die Wesakenos, die Olkonoren und die Moritatoren. Nach der Rückkehr der MARCO POLO aus Gruelfin in die Milchstraße war es jahrhundertelang nur selten zu Kontakten zwischen Terranern und Cappins gekommen. Nach dem Tod Ovarons erlebte Gruelfin eine Phase des allgemeinen Niedergangs, der von kriegerischen Konflikten und blutigen Machtkämpfen zwischen den Cappins geprägt gewesen war. Der Ganjo-Kult um den nun legendären Ovaron hatte eine Renaissance erlebt und als pseudomessianische Religion die Völker wieder geeint. Bald jedoch war der Kult zum Selbstzweck geworden, die Kultisten hatten als Organisation alle Andersdenkenden unterdrückt und Gruelfin nach außen abgeschottet. Allerdings bestand wieder Hoffnung für die Galaxis, seit bekannt geworden war, dass Ovarons Bewusstsein noch existierte und später auch selbst in das Geschehen eingriff: Der Ganjo-Kult wurde in angemessenere Bahnen gelenkt, jene Cappins, mit denen Ovaron Pedokontakte hatte, wurden zu dessen »Interpretatoren«. Die Völker schlossen sich zur so genannten Gruelfin-Allianz zusammen, die von den Interpretatoren geleitet wurde. Seit diesen Ereignissen wussten wir praktisch nichts mehr von den Cappins, die turbulente Geschichte der Milchstraße hatte weitgehend verhindert, dass wir alte Freundschaften so gründlich gepflegt hatten, wie man es eigentlich erwarten sollte. Einerseits war die Zivilisation der Cappins in Erwartung des über rund 200.000 Jahre zurückerwarteten Ganjos Ovaron förmlich erstarrt, wie wir bei unserem Besuch dort herausgefunden hatten. Andererseits war die Geschichte der Cappinvölker wiederholt von blutigen Fehden und Kriegen
Kytharas Erbe untereinander geprägt gewesen. Auch zwischen den humanoiden Völkern der Milchstraße, den Arkoniden, Akonen und Terranern, um nur einige zu nennen, die ja alle in mehr oder weniger direkter Linie von den Lemurern abstammten, den ursprünglichen Bewohnern der Erde, hatte es immer wieder Rivalitäten, Auseinandersetzungen und sogar Kriege gegeben, die aber von den Bruderkämpfen der Cappinvölker bei weitem in den Schatten gestellt wurden. Und ein weiteres nie geklärtes Rätsel war die – zumindest äußerliche – verblüffende Ähnlichkeit zwischen Cappins und Menschen. Natürlich, sie hatten vor 200.000 Jahren biologische Experimente auf der Erde angestellt, aber deren Ergebnisse hatten wenig Ähnlichkeit mit den heutigen Menschen gehabt – und zu denen zählte ich alle Lemurerabkömmlinge, auch wenn der arkonidische Adel mich für diesen bloßen Gedanken schon in einen Konverter geworfen hätte. Im Endeffekt würde sich wahrscheinlich alles auf die gemeinsame Wurzel der menschenähnlichen Völker zurückführen lassen, aber … was lag dazwischen? Gab es noch mehr Verbindungen, von denen wir noch nichts ahnten oder die wir schlichtweg bisher nicht erkannt hatten? Ich lächelte schwach. Mit den Cappins waren noch immer zahlreiche ungelöste Geheimnisse verbunden. Ovaron erwähnte einmal Wuthana, den ersten Ganjo des Ganjasischen Reiches; eine Sagengestalt aus der Vorzeit der Cappinvölker, die angeblich das Urvolk der Cappins zu seinem heutigen Siedlungsgebiet zwischen den fernen Sternen geführt haben sollte. Leider seien die meisten Unterlagen aus jener Zeit der Kriegswirren nach Wuthanas Tod vernichtet worden, sodass alle Informationen nur bruchstückhaften Charakter besäßen. Mit anderen Worten: Die Cappins stammten ursprünglich gar nicht aus Gruelfin! Und da jedwede Geheimnisse einen starken Reiz auf mich ausübten, war wohl eins meiner Wesensmerkmale, dass ich einfach versuchen musste, ihnen auf den Grund zu
29 gehen … »Atlan!«, rief Kythara, und dann hörte ich auch schon das leise Zischen, mit dem sich das Schott öffnete. Sie hatte es geschafft.
7. Mehr Fragen als Antworten »Berechtigung der Erbauer anerkannt!« Das schien zwar nicht die einzige, bei weitem aber die beliebteste Antwort zu sein, zu der der varganische Rechner sich hinreißen ließ. Ich stöhnte leise auf. Kythara wirkte, als wolle sie sich die Goldmähne raufen. Dieser Sektionszentraleraum hatte nichts mit der Unversehrtheit gemein, die die Gänge in der Plattform aufgewiesen hatten. Er maß vielleicht dreißig Meter im Durchmesser, doch nur ein Bruchteil seiner Einrichtung war noch funktionstüchtig. Eine Vielzahl von Konsolen wies eindeutig Spuren von Kämpfen auf: von Thermostrahlen verschmolzen, von Desintegratoren halb aufgelöst. Zahlreiche klaffende Lücken in den konzentrischen Reihen der Schaltpulte ließen darauf schließen, dass die letztere Waffengattung hier bevorzugt zum Einsatz gekommen war. Was war hier geschehen? Wir würden es wahrscheinlich nie erfahren. Außer, wir bekamen den varganischen Rechner zum Sprechen … Er umfasste die Gesamtheit der kastenförmigen Gebilde, die in der Mitte des Raums angeordnet waren, im Zentrum der Pultreihen. Von den Lautsprechern, über die er sich früher geäußert hatte, waren die meisten ausgefallen und die restlichen vom Zahn der Zeit angenagt. Die positronische Stimme klang wie ein blechernes Stammeln, manche Silben wurden völlig verschluckt. »Übst du irgendeine Kontrolle über die Plattform aus?«, versuchte Kythara es erneut. »Berechtigung der Erbau anerkt!« Aber diesmal folgte wenigstens noch ein »Negat!« »Hast du Verbindung zu dem Rechner, der die Kontrolle ausübt?« »Brechtig anerkannt!«
30 »Weißt du, wo sich dieser Rechner befindet und wie wir ihn erreichen können?« »B'igung anerkannt!« Kythara seufzte. »Hast du Verbindung …« Ich schüttelte den Kopf. »Wir müssen es anders versuchen.« Sie verzog das Gesicht. »Ich nehme stets jeden guten Vorschlag dankbar entgegen.« »Was ist mit dir geschehen?«, fragte ich in die Luft. »Bist du dir im Klaren darüber, dass du nur bedingt funktionsfähig bist?« »Negativ. Nega. Po'tiv.« »Was hat zu deinen Beschädigungen geführt?« »Negativ.« »Stelle sämtliche Informationen über die Vergangenheit der Plattform zusammen, die dir bekannt sind!« Diesmal erfolgte gar keine Antwort. Zumindest vorerst nicht. Als ich schon glaubte, die Verbindung zum Knotenrechner endgültig verloren zu haben, flackerte im hinteren Teil des Raums ein Licht auf. Und erlosch wieder. Und flackerte erneut auf und dann ein zweites, ein drittes, ein ganzer Lichterkreis, der jedoch zahlreiche Lücken aufwies. Der Kreis verdichtete sich zu einer Kugel, deren Oberfläche nun grell und irrlichternd aufblitzte. Ein Hologramm, dachte ich. Zwar mit zahlreichen beschädigten Projektoren, doch man kann noch erkennen, was dargestellt werden soll. In einer Konsole vor mir öffnete sich eine Klappe, in einer Vertiefung kam ein daumennagelgroßer Kristall zum Vorschein. »Ein varganischer Datenspeicher!«, rief Kythara. »Er enthält wahrscheinlich alle Angaben, die wir gerade als Holo zu sehen bekommen.« Ich sah zuerst gar nichts, nur Dunkelheit, Schwärze. Das All? Dann kam am Rand der Darstellung ein heller, silbriger Fleck zum Vorschein, wanderte in die Mitte und wurde dabei immer größer und in seinen Details deutlicher erkennbar. Ein riesiger Quader. Die Vergessene Positronik? Zumindest eine baugleiche Plattform.
Uwe Anton
* Sie zog majestätisch ihren Orbit um einen Planeten: Zeut, der zu Zeiten der Lemurer fünfte Planet des Solsystems, der während des Bestienkrieges zerstört worden war und sich heute als Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter ausdehnte. Dann verließ die Plattform die Umlaufbahn und nahm mit für solch ein gewaltiges Objekt verblüffenden Beschleunigungswerten Kurs auf den Rand des Sonnensystems. Hunderte, wenn nicht sogar Tausende anderer Schiffe begleiteten sie, umschwärmten sie wie Bienen eine Königin. Aufgrund ihrer Größe und Form erkannte ich sie als lemurische Einheiten – hauptsächlich Schlachtschiffe, aber auch Aufklärungskreuzer und Versorgungstender. Eine Streitmacht, die durchaus imstande war, ein gesamtes Sonnensystem zu verteidigen – oder zu vernichten. Ich erkannte gewaltige Geschütztürme auf der silbern schimmernden Oberfläche des Quaders, Projektoren, die einen Planeten in winzige Magmabrocken zertrümmern konnten, die dann irgendwann als kalte Asteroiden durchs All treiben würden. »Die Bestätigung«, murmelte ich, von Bildern heimgesucht, die den NevusErinnerungen entstammten und weitere der Metallquader zeigten. »Es war ursprünglich definitiv eine Raumabwehrplattform der Lemurer! Hast du die Lemurer kennen gelernt, Kythara?« Sie nickte, eher nüchtern und unbeteiligt. Natürlich – die Varganin war 750.000 Jahre vor der Glanzzeit der Lemurer geboren worden und dürfte Aufstieg und Niedergang des Tamaniums als Zeitzeugin miterlebt haben. Die Vorstellung war beinahe Schwindel erregend: Kythara hatte die Anfänge der Lemurer miterlebt, jenes Volkes, aus dem späterhin praktisch alle humanoiden Völker der Milchstraße entstanden waren. Das Urvolk … das Urvolk mit großer Macht über die Elemente, das ofenbar gewillt war, diese Macht auch nach seinem
Kytharas Erbe Untergang zu bewahren, hinüberzuretten in ein neues Zeitalter, damit sein Leben und Streben nicht umsonst war … Die gewaltige Streitmacht kam nicht weit. Der Raum schien aufzureißen. Rote Spalten im Kontinuum entließen kugelförmige Schiffe, die schwärzer als die Nacht wirkten. Sie waren viel kleiner als die lemurischen Einheiten, im Vergleich zu der Plattform gar nur Stecknadelköpfe, entfesselten jedoch unvorstellbare Gewalten. Ein blaues Licht leuchtete dicht neben der Positronik auf, wurde zunächst von ihr zurückgeworfen. Dann erstrahlte ein zweites, heller als jede Sonne, ein drittes, ein viertes. Der in den Augen schmerzende grellblaue Schein schlug nun doch auf den Quader über und erfasste ihn. Pechschwarze, von roten Fahnen und Schlieren umgebene Risse entstanden, wuchsen zu einem bikonvex klaffenden Spalt … »Ein Paratronschlag«, murmelte ich. »Die gefürchtetste Waffe der Bestienkrieger.« Mir war klar, was nun mit der Plattform geschehen würde … eigentlich geschehen musste, korrigierte ich mich, denn ihr späteres Schicksal war mir ja bekannt. Normalerweise wäre die Plattform komplett in den Hyperraum abgestrahlt worden. Normalerweise. Sie schien sich tatsächlich aufzulösen, von dem Aufriss im RaumZeit-Kontinuum erfasst und verschlungen zu werden. Doch irgendwie behielt sie Gestalt, ein verschwommenes, fluktuierendes Gebilde, ein Schatten zwischen den Dimensionen. »Sie ist nur teilentstofflicht worden«, sagte ich. So viel hatte ich ahnen können. Aber wie war das möglich? Die Bilder des Datenspeichers beschleunigten sich, als liefen sie im Zeitraffer ab. Ich sah ein blaues Universum, durch das rote Blitze zuckten. Dann verblasste der helle Schein und wurde irgendwann von abgrundtiefer Schwärze verschluckt. Ich hoffte darauf, dass sie wieder erhellt wurde, aber sie hatte Bestand. Eine Ewigkeit lang.
31
* Ich verbiss einen Fluch der Enttäuschung. Was genau während des Paratronschlags oder kurz darauf geschehen war, hatte der lemurische Bordrechner nicht erfasst oder gespeichert. Unwillkürlich fragte ich mich, wie viele Jahrhunderte oder Jahrtausende verstrichen waren, bis ein goldener Punkt in der alles umfassenden Dunkelheit erschien und schnell zu einer Doppelpyramide wuchs. Nun beugte Kythara sich so interessiert oder fasziniert vor, wie ich es bei den lemurischen Raumschiffen getan hatte. Kein Wunder – vielleicht hatte sie ihre Artgenossen, die den Quader gefunden hatten, noch persönlich gekannt. Die Perspektive wechselte, der Datenspeicher zeigte nun den im All treibenden – und zu meiner Verblüffung vollständig verstofflichten! – Quader. Die gewaltigen Geschütztürme waren abgeschmolzen, die Oberfläche tief geschwärzt. Dann in schneller Abfolge Bilder von Varganen, die in der Plattform an der Arbeit waren. »Sie bauen mehrere varganische Rechner ein, rüsten die Plattform um und statten sie mit Varganentechnik aus«, stellte Kythara fest. »Es sieht so aus. Was danach geschah, kennen wir zumindest in groben Zügen.« Die Varganen hatten die Vergessene Positronik bei ihrer Schnitzeljagd benutzt, bei der Suche nach dem Stein der Weisen. Das Bild wechselte nun erneut, zeigte zwei Varganen, Paradebeispiele ihres Volkes, menschenähnlich, groß, mit ebenmäßigen Gesichtern und dichten goldenen Haarmähnen. Stimmen erklangen, zunächst unverständlich, dann klarer. »… erst nach dem Abflug herausgestellt, dass es sich um ein verfluchtes Schiff mit massiven Fehlfunktionen handelt. Die auf den Paratronangriff der Bestien zurückgehende Teilentstofflichung greift immer wieder nach der Plattform …«
32 Die Stimme wurde unverständlich und schließlich durch die des anderen Varganen ersetzt. »Hinzu kommen noch die Wechselwirkungen mit unserer zusätzlich eingebauten Technik, die diesem Prozess entgegenzuwirken versucht. Dieser extrem instabile Zustand lässt die Plattform verstärkt auf außergewöhnliche physikalische und hyperphysikalische Umstände reagieren. Sie wird von ihnen geradezu magnetisch angelockt …« Eine Erklärung, sicher, aber eher eine Bestätigung dessen, was ich eine »begründete Vermutung« nennen würde. Die Bildabfolge beschleunigte sich wieder, wurde so rasant, dass ich kaum noch Einzelheiten mitbekam. Gleichzeitig schienen die Lücken in der chronologischen Darstellung immer größer zu werden. Ohne die zusätzlichen Erklärungen des Logiksektors und die Informationen, über die ich bezüglich der Vergessenen Positronik bereits verfügte, wären die Bilder wohl völlig unverständlich für mich geblieben. Im Lauf der Zeit fanden sich zahlreiche Gäste an Bord ein, Vertreter bekannter und unbekannter Spezies, die auf der Spur nach dem Stein der Weisen waren. Der Rechnerverbund des Quaders stellte ihnen Prüfungen, die darüber entschieden, ob sie »würdig« waren, an Bord zu verbleiben. Häufig scheiterten sie an ihnen, da sie aufgrund des instabilen Zustands der Rechner und der Plattform selbst nicht immer korrekt zu absolvieren waren. Viele kamen ums Leben, andere ließen bei einer überstürzten Flucht ihre Ausrüstung zurück und brachten somit weitere Faktoren in das Geflecht ein, die das Konglomerat als Ganzes noch eigenwilliger und unkontrollierter werden ließen. Teilentstofflichungen, Materialisation und Transitionen folgten keinem berechenbaren Schema mehr – der varganische Rechner hatte in dieser Hinsicht komplett die Kontrolle verloren. Hinzu kam, dass weite Bereiche der sich im Verlauf der Jahrtausende permanent weiter verändernden Plattform seiner Beobachtung entzogen wurden. Wir
Uwe Anton mussten tatsächlich davon ausgehen, dass es zahlreiche mehr oder weniger autarke Sektionen gab, die jeweils unter dem Einfluss eines anderen Nebenrechners standen – oder gar keiner Kontrolle mehr. Als die Aufzeichnung endete, schüttelte ich den Kopf und fluchte leise. »Die Vergessene Positronik hat den Großteil ihrer Geheimnisse behalten. Ihr Ursprung ist zwar durchaus bekannt, nicht aber, was sich im Lauf der Jahrtausende an Bord ereignet hat und was mit der Plattform geschehen ist … wo sie überall war, welche Mächte vielleicht auf sie Zugriff haben …« »Was hast du erwartet?«, fragte Kythara. »Der varganische Rechner ist nicht mehr … zurechnungsfähig!« »Sicher. Aber ich bin trotz allem ein unverbesserlicher Optimist geblieben. Ich hatte gehofft, zumindest zu erfahren, ob die erratische Bewegung der Plattform letztlich doch einem Muster folgt. Und ob es vielleicht einen fremden, kontrollierenden Faktor oder eine uns unbekannte Macht gibt, die sich der Plattform mit unbekanntem Ziel bedient. Oder ob der Quader wirklich nur spontan und dem reinen Zufall folgend versetzt wird, ob er tatsächlich nur auf außergewöhnliche hyperphysikalische Umstände reagiert und dann als Kosmischer Holländer weiterzieht. Aber das, was wir gerade erfahren haben, wirft eher neue Fragen auf, als dass es Antworten auf alte gibt.« Kythara lächelte. »Ist das nicht immer so? Jedenfalls wissen wir nun, dass wir die Plattform allein mit Hilfe des varganischen Rechner nicht unter Kontrolle bekommen können. Ohne genaue Kenntnis der anderen Einflüsse bleibt der Versuch einer Übernahme eindeutig zum Fehlschlag verurteilt. Dass nun mit den psimateriellen Resten des Kristallmonds noch eine weitere, nahezu nicht einschätzbare Störgröße hinzugekommen ist, erleichtert die Angelegenheit keineswegs. Ganz im Gegenteil …« Hochachtung, spottete der Extrasinn. Eine trefendere Analyse hätte ich auch nicht erstellen können …
Kytharas Erbe
33
Ein dumpfes Geräusch verhinderte, dass ich darauf antwortete. Das Brummen wuchs zu einem Donnern an, durchsetzt von ächzenden Zwischengeräuschen. Kythara sah mich an. »Das klingt ganz so, als würde die Plattform auseinander brechen.« »Oder von Psi-Materie überwuchert werden. Oder entstofflicht werden oder eine Transition versuchen. Wie dem auch sei, ich möchte nicht herausfinden, woran es liegt.« Sie nickte. Ich steckte den Datenkristall ein, wirbelte herum und folgte ihr zum Schott.
* Wir hetzten den Ringkorridor entlang, zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren, doch die blasige, erhärtete Masse des Cappinkörpers war verschwunden. An der Stelle, an der die transparente Wand in den Gang gemündet hatte, sah ich jetzt nur glattes, stumpfes Metall. Mein fotografisches Gedächtnis ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich tatsächlich um dieselbe Stelle handelte. Dimensionsverzerrungen? Einflüsse der Psi-Materie? Parareale Einbrüche? Was auch immer. Wir rannten weiter, immer weiter, bis die Luft in unseren Lungen brannte. Plötzlich sah ich ein filigranes Schaltelement in der Luft schweben. Ich streckte die linke Hand aus, bis die Fingerspitzen auf einen unsichtbaren Widerstand trafen, reichte die rechte Kythara und zerrte sie weiter, immer weiter. Die Schaltelemente wurden genauso transparent wie die Wand, ich wagte keinen Schritt mehr. Atemlos pumpten wir Luft, nutzten bange Sekunden zur Erholung, während mein Instinkt mich eigentlich zu noch größerer Eile antrieb. Der Boden unter unseren Füßen vibrierte immer stärker. Die Schwingungen schienen auch auf die Schaltelemente einzuwirken. Sie tauchten als verschwommene Schemen wieder auf, ohne sich nachhaltig zu verfestigen. Doch das genügte mir. Ich
rannte weiter, Kythara dicht hinter mir. Ich sah eine Öffnung in der Wand, einen schattenhaften Umriss im Nichts. Die Versuchung war groß. Vielleicht würde uns der Ausgang an den Rand der Plattform bringen. Vielleicht aber auch in ihr Inneres, in der kristallisierte Psi-Materie ungehindert wucherte. Und wenn wir diesen Ausgang nahmen, würde die transparente Wand verschwinden, sich einfach auslösen … Es war zu riskant. »Weiter!«, keuchte ich, taumelte ohne die Hilfe des Tastsinns mehr, als dass ich ging. Fünf Schritte, sechs, dann trafen die Fingerspitzen erneut auf Widerstand. Noch eine Öffnung und dann eine dritte … Auf dem Hinweg waren es nur zwei, warnte der Extrasinn. Das könnte ein ganz anderer Gang sein, der ein ganz anderes Ziel hat. »Schon bemerkt«, flüsterte ich. »Hast du eine Alternative anzubieten?« Der Extrasinn schwieg. Weiter, immer weiter. Plötzlich taumelte ich an der transparenten Wand entlang in einen ganz normalen Gang … und sah vor mir die große Luke, vor der ich das seltsame Objekt gefunden hatte, das noch an meinem Gürtel baumelte. Weiterhin schwebte die AMENSOON im All, von Traktorstrahlen gehalten. Kythara drückte schon den zweiten magnetisierten Quader an die Wand, der nicht nur einen Hyperpeilsender enthielt. Das Prallfeld baute sich hinter uns flimmernd auf. Wir schlossen unsere Raumhelme und aktivierten die Desintegratoren. Diesmal schnitten wir nur eine halb mannshohe Öffnung in die Außenhülle und krochen schnell hindurch. Am liebsten wäre ich sofort mit den Anzugsystemen zur AMENSOON geflogen, doch irgendwann würde die Energiezelle des Kraftfeldquaders erschöpft sein, und dann würde das Feld zusammenbrechen. Die Atmosphäre würde ausströmen und das Leck vielleicht vergrößern. Dieses Risiko wollten wir nicht eingehen; vielleicht war das dann der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen
34
Uwe Anton
brachte und die sowieso geschwächte Konstruktion endgültig in den Untergang riss. Außerdem war es durchaus möglich, dass in dieser Sektion der Plattform doch irgendwelche Wesen lebten – oder sich weitere Cappins hier aufhielten, obwohl wie von ihnen keine Spur gefunden hatten. Wir bugsierten den ausgeschnittenen Hüllenteil mit den mobilen Antigravprojektoren wieder in die Öffnung und verschweißten ihn. Dann fuhren wir die varganischen Energieaggregate in den gewölbten Rückenteilen der Anzüge hoch und flogen der geöffneten Außenschleuse unterhalb der Kante der Doppelpyramide entgegen, die wie ein eckiges, hell erleuchtetes Loch in dem schimmernden Gold des Varganstahls klaffte. Ich fürchtete mich vor dem, was ich sehen würde, schaute aber trotzdem auf die Vergessene Plattform hinab. Am Rand meines Blickfelds wölbte sich die schwarze Oberfläche, bäumte sich auf, als hätte sich dort Flüssigkeit abgelagert, als würde ein Tsunami über ein wütendes, sturmgepeitschtes Meer preschen, genau auf uns zu. Ein Tsunami aus kristallisierter PsiMaterie.
8. Kristall-Tornados Die Nahortung der AMENSOON bestätigte die flüchtigen Eindrücke, die wir während des kurzen Flugs gewonnen hatten. Die Psi-Materie wucherte immer schneller über die Vergessene Plattform, hatte fast schon zwei Drittel von ihr bedeckt. Die Sektion des varganischen Knotenrechners bildete den äußersten Rand. Mehr noch – eine Strukturanalyse wies darauf hin, dass die Psi-Materie mittlerweile das Innere der Vergessenen Positronik durchdrang, umwandelte. Die Plattform selbst schien sich zunehmend in ein Kristallgebilde zu verwandeln. Der Prozess schritt wie in Zeitlupe, aber stetig voran. Nur noch wenige Stunden, wenn überhaupt, und sie würde vollständig kristallisiert sein. »Wir müssen hier weg«, sagte ich. »Ich
habe nicht die geringste Ahnung, was passieren wird, sobald die Plattform vollständig aus Psi-Materie besteht. Vielleicht wird sie sich spontan entladen, die gespeicherte Energie schlagartig freisetzen? In diesem Fall wird es einen Emissionsnebel und ein varganisches Raumschiff im Universum weniger geben.« »Vielleicht geschieht auch gar nichts. Vielleicht fliegt die Plattform einfach weiter, als wäre gar nichts geschehen. Vielleicht ist diese Umwandlung die nächste Stufe in ihrer natürlichen Entwicklung. Ein verfluchtes Schiff, das völlig unberechenbar reagiert …« »Willst du es darauf ankommen lassen?« Kythara seufzte. »Nein.« Sie schaute auf die Anzeigen des Kommandantenpults. »Ortung sowie Triebwerke scheinen vordergründig normal zu funktionieren. Ich bekomme keinerlei Fehlermeldungen, doch die Ortung bringt nur etwa ein Zehntel ihrer üblichen Leistung. Ich befürchte, dass es bei den Triebwerken ähnlich sein wird.« »Das finden wir nur heraus, wenn wir es ausprobieren.« »Du hast Recht.« Ihre Fingerspitzen huschten über die Schaltflächen, ein deutlich spürbares Zittern durchlief das Schiff. Binnen Sekunden verwandelte es sich in ein heftiges Vibrieren, das von einem immer lauteren Dröhnen untermalt wurde. Schließlich drehte sie den Kopf zu mir um. »Bei wie viel Prozent Triebwerksleistung hatte dein Kommandant Aktet Pfest den Versuch abgebrochen? Einhundertzwanzig oder einhundertdreißig?« »Einhundertdreißig«, knurrte ich. »Wir haben gerade einhundertvierzig erreicht.« Kythara tippte mit einer Fingerspitze auf eine Schaltfläche, das Vibrieren und Dröhnen ließ abrupt nach und hörte schließlich ganz auf. Der Versuch, das Varganenschiff zu lösen, war gescheitert. Uns blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, was mit der Vergessenen Plattform geschah.
Kytharas Erbe
35
* Das Warten zerrte an meinen Nerven. Kythara versuchte sich regelmäßig an unserer zweiten Option – dem varganischen Knotenrechner zu befehlen, den Traktorstrahl zu unterbrechen, doch dabei wuchs ihr Frust lediglich mit stetiger Regelmäßigkeit an. Seit unserer Rückkehr auf die AMENSOON reagierte der Rechner überhaupt nicht mehr auf unsere Funksprüche. Warten … tatenlos herumsitzen, sich Überlegungen und Wunschvorstellungen hingeben, zwischen Hoffen und Bangen schwanken. Warten. Ich räusperte mich. »Kythara, es könnte sein, dass du bei dem, was irgendwann geschehen wird … was auch immer es ist … nun ja, dass du verletzt wirst, nicht mehr handlungsfähig bist …« »Oder sogar getötet!« Ich schüttelte den Kopf. »Vielleicht muss ich die AMENSOON dann allein steuern. Eine kleine Hypnoschulung über ihre Spezifikationen wäre angebracht, aber dafür haben wir keine Muße. Die Plattform kann jeden Augenblick auseinander brechen. Ich verabscheue dieses Warten, deshalb sollten wir die Zeit sinnvoll nutzen. Ich verfüge über ein fotografisches Gedächtnis. Es genügt, wenn du mir die wichtigsten Details mitteilst.« Sie nickte. »Du hast Recht. Wir müssen auf diese Eventualität vorbereitet sein. Was willst du wissen?« »Die Sublichttriebwerke?« »Sind in den acht Ecken des Oktaeders untergebracht.« Sie zeigte auf das Kommandopult, dessen Anzeigen und Sensorflächen zum Teil als Flussdiagramme angeordnet waren. Hauptschalter, Detailfenster, die wichtigsten Parameter in Permanentdarstellung. Insgesamt ein variables, aber in sich logisches Schema. Ich nickte, rief das Wissen der vor langer Zeit erhaltenen Hypnoschulungen ab, verglich es mit dem, was
Kythara sagte. »Im Normalfall kommen nur die gravomechanischen Emitter und Antigravaggregate zum Einsatz, im Notfall kannst du aber die in den Ecken auf Äquatorhöhe eingebauten Impulstriebwerke zuschalten.« Ich nickte, merkte mir ihre über die Sensorflächen huschenden Handbewegungen, während Holos entstanden und Details der Triebwerke neben erläuternden Textblöcken zeigten. »Die Waffen?« »Alle entlang der Äquatorkante sowie in halber Höhe der Seitenflächen hinter Irislamellen-Pforten.« »Das Überlichttriebwerk?« »In der unteren Pyramide. Und ehe du fragst: Die Schutzschirmgeneratoren und – projektoren sind in der oberen Pyramide platziert.« Dieser erste Überblick musste reichen. Außer … »Leistungsdaten der Sublichttriebwerke?« »Die Sublichttriebwerke schaffen es in 158 Sekunden auf 50 Prozent Lichtgeschwindigkeit, genug für den Eintritt in den Linear- oder Hyperraum.« »Beides ist möglich?« Kythara wirkte erheitert. »Selbstverständlich. Man muss auf alles vorbereitet sein – aber das lernt man praktisch wie von selbst, wenn man die ersten hunderttausend Jahre hinter sich gebracht hat.« Die ersten hunderttausend Jahre … Ich galt bereits als ältester der Unsterblichen in der Milchstraße und hatte gerade einmal ein Fünftel dieser Lebensspanne hinter mir. Es war unglaublich. »Fein, dann bleibt mir ja noch ein bisschen Zeit zum Fragen. Welche Antriebssysteme?« Das Lächeln Kytharas schien zu signalisieren, dass sie mich für ein wissbegieriges Kind hielt – ein Umstand, der mich sowohl erheiterte als auch enttäuschte. Die unsterbliche Varganin sollte einen Partner in mir sehen, aber das ging so lange nicht, wie ich ihrem Wissen so weit hinterherhinkte.
36
Uwe Anton
»Kyri-Triebwerk, maximaler Überlichtfaktor hundertzehn Millionen, Standardbetrieb bei zehn bis fünfzig Millionen, wobei bis dreißig der Linear-, zwischen dreißig und hundert der Hyperraum und über hundert die Dakkarzone als Transportmedium genutzt wird.« »Kein Transitionsantrieb?«, spottete ich, bereute es aber schon, ehe mir der Extrasinn ein Narr! Was denkst du bloß? zuwispern konnte. »Selbstverständlich gibt es auch die Möglichkeit einer schockgedämpften Transition bis zweimal hunderttausend Lichtjahre am Stück, wobei die material- und energiesparendste Sprungweite nur fünf- bis zehntausend Lichtjahre beträgt.« Bevor ich die nächste Frage stellen konnte – die Leistungsfähigkeit der Schutzschirme und Waffen betreffend –, wurde die AMENSOON so heftig durchgeschüttelt, dass es mich fast aus meinem Kontursessel geworfen hätte.
* Es war ein Schütteln, das nicht einmal von den Andruckabsorbern neutralisiert wurde. Die Faust eines Riesen schien das Oktaeder gepackt zu haben und hin und her zu werfen. Es gab nur eine Erklärung: Die Traktorstrahlen, die das Schiff festhielten, mussten irrationale Bewegungen durchführen oder weiterleiten. »Die Plattform hat sich in Bewegung gesetzt«, rief Kythara. »Sie hat Kurs auf den Emissionsnebel genommen.« »Können wir ausbrechen?« »Ich versuche es gerade.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Negativ, wie der Knotenrechner sagen würde. Auch wenn er keine Kontrolle über die Plattform hat, der Traktorstrahl scheint auf sämtliche ihrer Energiequellen zurückgreifen zu können.« Ein hoher Ton ließ mich zusammenzucken. Er schmerzte buchstäblich in den Ohren. Die Hülle der AMENSOON wurde in Schwingungen versetzt – in so starke,
dass sie sich bis in die besonders geschützte Zentrale im Zentrum der Doppelpyramide fortpflanzten. Kein gutes Zeichen, raunte der Extrasinn. Ich widersprach ihm nicht. Sobald die Schwingungen eine gewisse Stärke erreicht hatten, würden sie das Schiff buchstäblich zerfetzen. »Ich habe rudimentäre Ortungswerte.« Kytharas Stimme klang wesentlich gelassener als die meine, vermutete ich zumindest. »Die Plattform fliegt ein nahe gelegenes Sonnensystem im Emissionsnebel an! Sonne noch nicht genau klassifizierbar, Planeten ebenfalls nicht. Aber es sind zwei, höchstens drei. Die Ortung spielt verrückt.« »Wie ist das möglich?«, murmelte ich, eher zu mir selbst als zu der Varganin. »Die Plattform müsste doch mittlerweile zu neunzig Prozent aus Psi-Materie bestehen.« »Sie ist zu fünfundneunzig Prozent kristallisiert. Unsere Ecke ist die letzte noch nicht befallene! Wir haben Glück, oder nicht?« Genau. Sollte ich mir wünschen, dass auch die Sektion des Varganenrechners kristallisiert wurde? Würde dann der Traktorstrahl ausfallen? Konnte die AMENSOON dann mit voller Beschleunigung durchstarten? Die Schwingungen schienen sich einzupendeln, wurden weder stärker, aber auch nicht schwächer. Ich fragte mich, welche Auswirkungen sie auf die Hülle des Schiffs hatten, wenn wir sie hier in der Zentrale schon so deutlich wahrnehmen konnten. »Ist es möglich …« »Die Störstrahlung wird schwächer«, sagte Kythara, bevor ich die Frage vollenden konnte. »Einige Systeme funktionieren wieder.« »Die Ortung?« Die Varganin nickte. Konzentriert arbeitete sie an den Schaltflächen des Kommandopults. Ein erstes Holo bildete sich, dann drei, vier weitere. Sie zeigten in einer Gesamtdarstellung und verschiedenen Vergrößerungen ein Sonnensystem, wie es sie zu Millionen gab: eine gelbe Sonne mit zwei Planeten, der
Kytharas Erbe zweite ein Gasriese mit Ringsystem und insgesamt siebenunddreißig Trabanten, die Größen bis 12.776 Kilometer erreichten. Ich rief eine Vergrößerung auf. Die Dutzende von größeren und kleineren Ringe kamen mir selbst in unserer Situation noch prächtiger vor als die des solaren Saturn. Seltsam, dass mir im Augenblick einer konkreten, lebensgefährdenden Bedrohung solch ein Gedanke kam … Aber vielleicht versuchte ich damit auch nur, diese Gefahr zurückzudrängen, erträglich zu machen. »Die Plattform hält auf den ersten Planeten zu. Er hat zwar keinen Mond, aber eine Sauerstoffatmosphäre mit akzeptablen Bedingungen.« Als ich auch von dieser Welt die größtmögliche Vergrößerung aufrief und die Daten einblendete, sah ich, was Kythara mit »akzeptabel« meinte. Die Meeresflächen des Planeten machten nur etwa ein Drittel der Oberfläche aus. Sie formten Dutzende von Binnenmeere auf einem zusammenhängenden Großkontinent. Die Polkappen waren ausgedehnt vereist und erstreckten sich bis zu etwa 60 Grad nördlicher beziehungsweise südlicher Breite. Die Welt war insgesamt vergleichsweise kühl, die Niederschläge waren eher gering. Ein Gebirgszug, der nur an wenigen Stellen von Tiefebenen und Binnenmeeren durchbrochen wurde, zog sich rings des Äquators um die gesamte Welt. Sein höchster Gipfel erreichte genau 7856 Meter über dem Binnenmeerniveau. »Wie stark ist unsere Bewaffnung?«, wollte ich wissen. Kythara warf mir einen undefinierbaren Blick zu. »Die der AMENSOON setzt sich aus achtmal zwei Kombikanonen mit Thermostrahl-, Desintegrator- und überlichtschneller Schockimpuls-Wirkung zusammen, dazu noch Gravo-Zyklon-Projektoren, die allerdings derzeit nicht betriebsbereit sind. Warum willst du das gerade jetzt wissen?« Ich überging die Frage. »Wirksame Kernschussweite?« »Thermo- und Desintegratorstrahlen bis
37 zu 600.000 Kilometern, die Schockimpulse bis zu 7,5 Millionen Kilometern, Wirkungsentfaltung in Nullzeit! Du willst doch nicht etwa die Plattform zerstören, Atlan?« »Ich habe mit dem Gedanken gespielt, aber das ist wohl keine Option. Es würde uns zwar gelingen, die Plattform zu vernichten oder zumindest schwer zu beschädigen, aber es ist wohl kaum empfehlenswert, eine unbekannte Menge kristallisierter PsiMaterie detonieren zu lassen …« »Schön, dass wir da einer Meinung sind.« »Hat die Auswertung des Datenspeichers etwas ergeben?« Überrascht schaute sie auf. Wahrscheinlich hatte sie mit einer weiteren Frage zu den technischen Einzelheiten der AMENSOON gerechnet. »Nein. Das Speichermaterial ist uralt. Es wird eine Weile dauern, es positronisch aufzubereiten und in Einzelbilder zu zerlegen. Dabei müssen wir wahrscheinlich mit einem Datenverlust von über fünfzig Prozent rechnen.« Ich nickte, hatte nichts anderes erwartet. Im Augenblick würden uns diese Erkenntnisse vermutlich sowieso nicht weiterhelfen. »Verdammt«, flüsterte ich, »wieso bleibt die Plattform trotz der Kristallisation funktionsfähig? Wieso fallen die Fesselfelder nicht aus?« Auf sämtlichen Holos zuckte ein greller Blitz auf, kaum gedämpft von automatisch zwischengeschalteten Filtern. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen, sah ein irrlichterndes Farbenspiel, das der Phantasie eines Malers der surrealen Schule entsprungen zu sein schien. Die Vergessene Positronik war in ein grellbuntes Leuchten gehüllt, in ineinander fließende Schlieren, die wieder erloschen, als sie sich berührten. Übrig blieb eine glitzernde Oberfläche aus Kristallen – die Psi-Materie, die die Oberfläche der Plattform mittlerweile vollständig vereinnahmt hatte. Und die Kristalle lösten sich wie eine zweite Haut von ihr ab, verloren dabei ihre Konsistenz, als würden sie sich in einer unerklärlichen Veränderung des Aggregatzu-
38
Uwe Anton
stands in Gas verwandeln. Sie schwebten, nein rasten ins All empor, bildeten dabei zahlreiche Strudel, die immer mehr und schließlich alle noch freien Kristalle ansogen und bei der Annäherung ebenfalls aufzulösen, in Gas zu verwandeln schienen. Die Strudel rotierten immer schneller, bildeten überdimensionale Windhosen, die um ihre eigenen Achsen rotierten und dann, als hätten sie genug Geschwindigkeit gewonnen, wie Tornados davonrasten, ins All hinaus, genau auf den Planeten zu. Und aufeinander zu. Sie trafen sich Hunderte Kilometer über der AMENSOON. Entladungen bildeten Überschlagblitze, als Energie freigesetzt wurde – Reibungshitze, Energie aus der Explosion gesättigter Massen, ich konnte es nicht sagen. »Was passiert hier?«, murmelte ich. Gute Frage, lobte der Extrasinn, nur um sogleich zu mahnen: Finde es heraus! Erschöpfe dich nicht in haltlosen Spekulationen, sondern sammle Informationen und deute sie. Ich lachte leise auf. Was hat die PsiKristalle zu dieser Reaktion veranlasst? Der riesige Tornado schoss weiter ins All hinaus, auf den Planeten zu, und zurück blieb ein Quader von sechs Kilometern Länge, zwei Kilometern Breite und einem Kilometer Höhe, mit einer pechschwarzen Oberfläche, die so glatt und unversehrt wirkte, als sei sie gerade generalüberholt und von einem Roboterheer poliert worden.
9. Die Ebene ohne Schatten »Die Vergessene Positronik scheint wieder voll funktionsfähig zu sein«, rief Kythara. »Sofern man bei ihr überhaupt von funktionieren sprechen kann …« Auch die Systeme der AMENSOON liefen nun, da die Psi-Materie den Quader verlassen hatte, wieder an. Immer mehr Holos bildeten sich, zeigten erschreckende Bilder. Die Plattform war von einem Augenblick zum anderen nur noch verschwommen auszumachen, verzerrt. Fast durchsichtige Sch-
lieren flossen über Teile ihrer Oberfläche hinweg, vereinigten sich, leuchteten dabei auf, trennten sich wieder und wurden dunkler. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte nun, dass in einigen Bereichen der Quader selbst halb transparent schimmerte. Und es wurden immer mehr … »Sie versucht, in den teilstofflichen Zustand zu wechseln«, sagte ich. »Offenbar, um eine Transition einzuleiten. Triebwerke der AMENSOON?« »Keine Veränderung.« »Der Traktorstrahl?« »Hält uns noch immer fest. Aber die Ortung funktioniert wieder einwandfrei. Die Daten der optischen Fernbeobachtung werden ausgewertet.« Kythara rief Holos auf, die den Planeten zeigte, vergrößerte sie ausschnittsweise. »Der berechnete Aufschlagpunkt des PsiStrudels.« Sie vergrößerte ihn erneut. Ich starrte das Holo an und glaubte, meinen Augen nicht zu trauen.
* Das Holo zeigte eine grob kreisförmige Ebene, in deren Zentrum sich ein Berg erhob. So weit, so gut. Ungewöhnlich daran war einerseits, dass auf der gesamten Ebene kein einziger Schatten zu sehen war. Nicht einmal der Berg selbst warf einen, als sei er nicht materiell, als würde das Licht der hoch am Horizont stehenden Sonne einfach durch ihn gleiten, ohne auf Widerstand zu stoßen. Und andererseits, dass die Ebene in einem Gebiet von etwa hundert Kilometern Durchmesser total vereist war – trotz der hoch stehenden Sonne und obwohl sich das Flachland an der Küste eines Binnenmeers nur knapp nördlich des Äquators befand! Von dem Berg schien ein künstlicher Winter auszugehen. Ich sah zu Kythara hinüber. Sie betrachtete die Darstellung auf dem Holo genauso entgeistert wie ich, mit weit aufgerissenen Augen, als würde …
Kytharas Erbe Als würde sie ihr bekannt vorkommen. Genau wie mir. Ihre Verblüffung, Verwirrung währte nur einen Moment lang, dann riss sie sich wieder zusammen und schaute auf die Ortungsdaten. Vielleicht will sie auch nur ihr Gesicht und damit ihre Überraschung verbergen, konstatierte der Extrasinn. Schließlich ist sie eine Varganin. Jetzt war keine Zeit, um darauf einzugehen. Später. Demnächst, baldigst. Die AMENSOON hing noch immer im Traktorstrahl der Vergessenen Positronik, die Positronik drohte zu entstofflichen und eine Transition durchzuführen, die Tornados aus Psi-Materie rasten auf einen Berg zu, der keinen Schatten warf … jeder einzelne dieser Umstände konnte uns das Leben kosten. »Ich habe weitere Ortungsdaten.« Kytharas Stimme klang seltsam belegt, gar nicht mehr rauchig, sondern irgendwie gepresst. »Der Berg ist genau 572 Meter hoch und …« Sie verstummte und schaltete noch eine Vergrößerungsstufe höher. Nun konnte ich einen unregelmäßig geformten und von tiefen Schründen durchzogenen, weißlich glasigen Eisklotz sehen, der … etliche Meter über dem Boden schwebte, an keiner Stelle die vereiste Ebene berührte. »… ist zweifellos künstlicher Natur!«, vollendete Kythara endlich den begonnenen Satz. Zum ersten Mal, seit wir uns kennen gelernt hatten, hatte etwas sie gründlich aus der Fassung gebracht. Auf einem anderen Holo verfolgte ich gebannt, wie der Tornado aus ehemals kristallisierter und nun gasförmiger Psi-Materie in die Atmosphäre des Planeten eindrang. Ich rechnete mit wirbelsturmartigen Turbulenzen, vielleicht sogar mit einer Explosion, die die ganze Welt zerfetzte. Tonnen bei der Berührung mit fester Materie sich auflösender Psi-Materie … Ich verdrängte das Rechenexempel mit Ribald Corellos Fähigkeiten, das sich mir sofort aufdrängen wollte und mich nur von der direkten Beobachtung abgelenkt hätte. Die Energieentfaltung einer
39 Supernova würde auch die Vergessene Plattform in den Untergang reißen … und die AMENSOON. Nichts davon geschah. Die Einzelheiten blieben mir aufgrund der Unzulänglichkeiten der optischen Fernbeobachtung zwar verborgen, doch der Tornado reagierte nicht im Geringsten auf die für ihn zunehmende Dichte der Atmosphäre. Ich verkrampfte unwillkürlich die Finger um die Lehnen des Kontursessels, als er dann auf den schwebenden Berg prallte. Ich holte tief Luft – mein letzter Atemzug? – und hielt sie an. Sekundenlang. Im Holo explodierte ein Regenbogen, grelle Helligkeit wurde ausgeschüttet … und vielleicht auch reine Energie? Der ehemalige Flottenadmiral in mir drängte danach, Anweisungen zu geben, das Unvermeidliche abzuwenden. Die Schutzschirme hochfahren, voller Schub der Triebwerke, um dem Traktorstrahl vielleicht doch noch zu entkommen, im letzten Moment in den Hyperraum einzudringen … Sinnlos, alles sinnlos. Die Systeme der AMENSOON reagierten nicht und hätten das Schiff sowieso nicht retten können. Ich hörte, wie Kythara vernehmlich schluckte. Das banale Geräusch riss mich aus meiner Erstarrung. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte ich, wie die Helligkeit des Regenbogens sich auflöste und verblasste, wie die gasförmige oder vielleicht nun energetische Psi-Materie in den schwebenden Berg eindrang und darin verschwand, als hätte es sie nie gegeben. Der schrundige Eisklotz veränderte sich nicht im Geringsten, explodierte nicht, löste sich nicht auf. Eine Sekunde später kündete rein gar nichts mehr von dem, was eben hier geschehen war. Was war hier geschehen? »Ich messe starke ultrahochfrequente Hyperstrahlung an«, sagte Kythara ganz leise, als befürchtete sie, selbst aus dieser Entfernung könne ein einziges zu lautes Wort das Geschehene wieder ungeschehen machen, doch noch die vernichtende Explosion auslösen, mit der wir gerechnet hatten, mit der
40 wir hatten rechnen müssen. Ich räusperte mich, damit meine Stimme nicht unangenehm krächzte. »Geht sie von dem im Berg verschwundenen Psi-Strudel aus, oder emittiert der Eisklotz selbst ebenfalls im psionischen Bereich?« »Nicht verifizierbar. Fest steht nur, dass diese Strahlung den gesamten Planeten einhüllt und sich störend auf die Orter und Taster auswirkt. Davon ausgenommen scheinen nur der Berg und die Ebene ohne Schatten zu sein.« »Du kannst gar nichts anmessen? Keine Anzeichen einer hoch technischen oder auch primitiven Zivilisation, keine …« »Gar nichts. Die rein optische Beobachtung liefert ebenfalls keine Ergebnisse.« »Moment … Wenn die Störung der Ortungssysteme von der Strahlung verursacht wird, die den Planeten umgibt …« Kythara begriff, bevor ich ausgesprochen hatte. Sie fuhr herum, ließ die Finger über andere Schaltflächen gleiten, und ein dumpfes Brummen drang durch das Schiff, ein angenehmes, ein wohliges Brummen … das der Triebwerke! »Triebwerke reagieren wieder! Selbstreparaturroutinen, Statusbericht.« »Wiederherstellungsgrad neunundachtzig Prozent«, meldete die angenehme, neutrale Stimme der Positronik. Das Brummen wurde lauter, klang nun trotzig, fast zornig. Ich war sicher, dass Kythara die hundert Prozent Triebwerksleistung schon wieder überschritten hatte; der Antrieb der AMENSOON bäumte sich mit allem, was er hatte, gegen den Traktorstrahl auf. Vergeblich. Vibrationen und Schwingungen der Hülle, die sich bis in die Zentrale fortsetzten – alles wie gehabt. Die Energie, die die Konverter der AMENSOON erzeugen konnten, reichte nicht. Die Andruckabsorber des Varganenschiffs reagierten verzögerungsfrei, als die AMENSOON plötzlich einen Satz machte; andernfalls wären Kythara und ich zu knochenlosem Brei zermalmt worden. Ich konnte den Sprung nur auf den Holodarstellungen
Uwe Anton verfolgen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass auf anderen Holos die Vergessene Plattform einen Moment lang völlig transparent geworden war, sich endgültig entstofflicht hatte. Aber nur für einen Sekundenbruchteil, dann waren zumindest Teile von ihr wieder materialisiert. Sie schwebte nun wie ein flackernder Schemen im Raum, nicht von dieser Welt, aber auch noch nicht ganz von der anderen, unbekannten. Und in diesem Augenblick setzte der Traktorstrahl aus! Mit einer Beschleunigung von fast tausend Kilometern pro Sekundenquadrat raste die AMENSOON von der Versunkenen Plattform weg. Zweieinhalb Minuten bis zur halben Lichtgeschwindigkeit … bis wir in den Hyperraum gehen und diesen ganzen Irrsinn hinter uns lassen können. Die Vergessene Plattform hatte ihre Psi-Materie verloren oder abgeschüttelt und stellte keine größere Gefahr dar als zuvor. Nach einer kurzen Überlichtetappe konnten wir in den Normalraum zurückfallen, uns orientieren, nach Terra, Arkon oder zur Stahlwelt fliegen, die nötige Hilfe und Unterstützung zusammenstellen und dann gut ausgerüstet zu dieser Welt mit dem schwebenden Eisberg über der »Ebene ohne Schatten« zurückkehren und nach dem Rechten schauen. Noch zwei Minuten … Die Plattform gab uns diese beiden Minuten nicht. Einige Holos wurden von Sicherheitsschaltungen desaktiviert. Ein weiterer Schlag traf die AMENSOON, ein heller Überschlagblitz, als die Vergessene Positronik diesmal endgültig entstofflichte und ihr unvermittelt die Transition gelang, die sie kurz zuvor nicht zustande gebracht hatte. Erneut verschwand sie mit unbekanntem Ziel – mit einem wahrhaft donnernden Strukturschock. Doch ich hatte das eindringliche Gefühl, dass sie sie wiedersehen würde. Vielleicht sogar schneller, als mir lieb war. Falls wir das hier überlebten. Kythara sah mich an. Ihr Gesicht war bleich geworden. »Überlichttriebwerke aus-
Kytharas Erbe gefallen. Zahlreiche andere Schiffssysteme mehr oder weniger schwer beschädigt. Uns bleibt nichts anderes übrig, als eine Notlandung auf dem Planeten mit dem schwebenden Berg zu versuchen!«
10. Projekt Kyrlan Gespannt beugte ich mich vor. Noch reagierten die Sublicht-Triebwerke der AMENSOON auf Kytharas Befehle, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung. Der Planet wurde auf den Holos schnell größer. Wir schwenkten in einen Orbit ein und erreichten gerade die Nachtseite, als uns der nächste Donnerschlag traf, diesmal noch heftiger und ohne jede Vorwarnung. Ich glaubte, ein lautes Knirschen zu hören, als würde die AMENSOON unter einer gewaltigen Belastung zerbrechen. Abrupt fielen zahlreiche Systeme aus, darunter auch die Zentralebeleuchtung. Die Notbeleuchtung setzte nicht ein, sie war schon vorhanden. Sie bestand aus bioaktiven Schichten unter der transparenten Innenwandlackierung, die sich aus Mikrolebewesen zusammensetzten, die mit Hilfe spezieller Enzyme in der Lage waren, sich von der ebenfalls dort vorhandenen Versorgungsmasse sehr langsam zu ernähren, wobei die Ausscheidungen ihrer Stoffwechselprozesse Licht erzeugten. Zwar reichte die auf diese Weise entstehende Helligkeit gerade aus, um ein ungewisses Halbdunkel zu schaffen, doch wenigstens konnte man sich dabei orientieren. »Was ist passiert?«, fragte ich in das diffuse Zwielicht, das im nächsten Augenblick wieder von der normalen Beleuchtung ersetzt wurde. »Die UHF-Emission des Planeten hat sich sprunghaft verstärkt! Ich weiß nicht genau, was geschehen ist, aber den wenigen noch halbwegs funktionierenden Ortern und Tastern zufolge hat sie dabei die Intensität und das Wirkungsspektrum eines starken Hypersturms gewonnen. Wir können von Glück sagen, dass wir uns verhältnismäßig dicht
41 über der Oberfläche befinden, weiter draußen im Sonnensystem tobt das nackte Chaos. Dort hätten wir keine Chance!« »Schaffst du eine Notlandung – oder müssen wir in ein Beiboot umsteigen?« Ich ahnte mehr, dass Kythara die Achseln zuckte, als ich es erkennen konnte. Die meisten Holos zeigten noch immer nur Schwärze. Entweder waren sie ausgefallen, oder die optischen Systeme fingen lediglich die tiefe Dunkelheit über dem Planeten auf. Kythara fluchte leise. Das Knirschen und Ächzen schien noch lauter, durchdringender zu werden; die AMENSOON schüttelte sich wie ein unwilliges Wildpferd, das zugeritten werden sollte. Die Datenholos lieferten völlig widersprüchliche Werte. Mal schienen wir uns zehn Meter über der Oberfläche zu befinden, mal 10.000 oder gar eine Million. Winzige Schweißtropfen perlten auf Kytharas Stirn, während sie das Schiff nach Gefühl zu fliegen schien. Ich wusste nicht, wonach sie sich orientierte, ob sie den Holos oder den Daten mehr entnehmen konnte als ich, wollte es auch gar nicht wissen. Aber es war ihr Schiff. Sie musste entscheiden, ob wir es aufgeben und versuchen mussten, mit einem Beiboot zu fliehen, oder ob ihre Aktion begründete Aussicht auf Erfolg hatte. Andererseits … vielleicht blieb uns gar keine Zeit mehr, ein Beiboot zu erreichen und zu starten. Vermutlich funktionierten die bordinternen Transmitter, die PrallfeldSphären und die Rollbänder nicht mehr. Und dann … ein harter Ruck, ein Knarren und Knacken. Aber das Knirschen und Ächzen der Schiffszelle verstummte, wurde von wohltuender, erleichternder Ruhe ersetzt. Kythara war, wohl mit knapper Not, die Landung gelungen. Eine Vielzahl Warnlämpchen deutete an, dass die meisten Schiffssysteme weiterhin ausgefallen waren. Ich sah Kythara an. Unsere Blicke begegneten sich, und sie sprachen wohl Bände.
*
42 »Nicht schon wieder«, stöhnte ich nur unmaßgeblich gespielt. Auch Kythara verzog unwillig das Gesicht. Ihr war die Technikblockade in der Obsidian-Kluft gleichfalls in Erinnerung. In dieser Hinsicht waren wir uns einig: Einen neuerlichen Technikausfall brauchten wir jetzt so dringend wie einen Kropf. Sie überprüfte die Systeme. »Alle Aggregate auf hyperphysikalischer Basis sind nahezu komplett gestört. Zur Sicherheit fahre ich die ausklappbaren Hüllensegmente aus und aktiviere den Ortungsschutz.« »Eine gute Idee.« Diese Segmente konnten bei totalem Energieausfall rein mechanisch-hydraulisch ausgefahren werden und verliehen dem Schiff sicheren Stand. Im Normalfall kamen unsichtbare Antigrav- und Kraftfeldpolster anstelle von Landestützen zum Einsatz. In unserer jetzigen Situation konnte diese Vorsichtsmaßnahme aber nicht schaden. Ich kannte die Konstruktion, wusste, dass sich die Bodenschleuse in etwa zehn Metern Höhe befand; von ihr führte eine ausfahrbare Rampe hinab. An die Schleuse schloss sich eine Art Vorhalle an, in deren Decke sich die ovalen Öffnungen von drei Antigravschächten befanden. So oder so – auch bei einem Ausfall sämtlicher Systeme würden wir das Schiff problemlos verlassen können. Alles andere wäre auch konstruktionstechnischer Wahnsinn gewesen. Und die Varganen hatten stets auf Redundanz gesetzt. Aus meiner Jugend wusste ich, dass Varganenraumer über einen hervorragenden Ortungsschutz verfügten, ein AntiOrtungsfeld, das auch als rein optische Tarnung zum Einsatz kam. Aus größerer Distanz war das Schiff dann nicht mehr zu erkennen, sondern wirkte wie ein nebelverhangener Berg. Kythara blickte von ihrem Pult auf. »Die letzten Auswertungen besagen, dass der vermeintliche Hypersturm eher die Qualität eines Psi-Sturms hat. Einschließlich mentaler Beeinflussungen noch unbekannter Natur, Auswirkungen auf die Stabilität der Raum-
Uwe Anton Zeit-Struktur sowie massiver Störstrahlung im unteren Bereich des hyperenergetischen Spektrums. Diese interferiert mit den Geräteemissionen und löscht somit die Wirkung weitgehend aus. Wie gesagt, im interplanetaren Raum hätten wir nicht die geringste Chance gehabt.« »Das war also wirklich knapp. Danke für die Analyse.« »Als Epizentrum des Sturms, wenn man es so bezeichnen kann, habe ich eindeutig den Eisberg ausgemacht.« »Kannst du feststellen, ob und wann wir die Blockade überwinden können?« Sie schüttelte den Kopf. Ich seufzte leise. Wir waren also bis auf weiteres auf einem fremden Planeten in einem unbekannten Sektor des Weltalls gestrandet … wahrlich keine berauschenden Aussichten! Solange aber der Hyper- oder Psi-Sturm tobte, war an einen Start sowieso nicht zu denken. Vorläufig konnten wir nicht einmal die Schutzschirme aktivieren. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Aber nun ist endlich Zeit, ein paar Fragen zu stellen und wichtige Informationen auszutauschen, mahnte der Extrasinn. Ich gab ihm Recht. Ich kannte Kythara erst seit einem Tag persönlich. Abgesehen von den wenigen Fragen, die ich ihr bereits gestellt und die sie mitunter eher ausweichend beantwortet hatte, war für eine ausführliche Schilderung unserer Lebensläufe bislang selbstverständlich keine Zeit gewesen. Kythara war eigentlich noch schlechter dran als ich. Sie wusste mich genau genommen überhaupt noch nicht richtig einzuschätzen. Im Gegensatz dazu hatte ich immerhin den Vorteil, einiges über die Varganen im Allgemeinen und Ischtar im Besonderen zu wissen, wenngleich diese Dinge in meiner Jugend passiert waren. Ganz so benachteiligt wird sie nicht sein, stellte der Logiksektor klar. Im Verlauf der Reise auf Vinara wird sie einiges von Lethem da Vokoban und den anderen erfah-
Kytharas Erbe ren haben, und durch die direkte Begegnung mit dir wird sie dein Charisma und deine Fähigkeiten erkannt haben. Außerdem vergiss ihre Parafähigkeit nicht. »Ich muss etwas mit dir besprechen, Kythara.« Sie sah mich an. »Das habe ich bereits vermutet.« »Ich kenne solch einen Eisberg«, fuhr ich fort, »habe zumindest einen ähnlichen schon einmal gesehen: Skanmanyon, eine PsiQuelle varganischen Ursprungs, mit der ich zwischen Mai und August 2843 als Lordadmiral der USO zu tun hatte. Mir gelang es damals, sie als Bedrohung für die Milchstraße auszuschalten. Aber damals ist offen geblieben, ob Skanmanyon nicht irgendwann wieder erstarken und sozusagen auferstehen würde …« Ihre Augen weiteren sich überrascht. »Du bist schon mal in den Bann einer unserer Psi-Stationen geraten … und hast überlebt?« Ich lächelte. »Offensichtlich.« Sie zeigt sich durchaus erstaunt darüber, wie gut du über die Varganen und ihre Hinterlassenschaften informiert bist, stellte der Extrasinn fest. Für ihre Begrife vielleicht fast schon ein bisschen zu gut! Für sie stellt sich also mindestens ebenso wie für dich die Frage, welche … Überraschungen das jeweilige Gegenüber noch auf Lager hat! Deine eigentliche Frage muss jedoch lauten: Was weiß Kythara? »Du hast Recht«, bestätigte sie meine Einschätzung. »Wir sind hier zweifellos auf eine der Psi-Quellen gestoßen. Aber ich weiß nicht, ob das Skanmanyon ist. Über diese Quelle kann ich dir nicht das Geringste sagen. In den letzten rund einundzwanzigtausend Jahren war ich in der Obsidian-Kluft gefangen. Mir ist nicht bekannt, was in dieser Zeit im Standarduniversum passiert ist. Aber ich habe die Ausstrahlung des Bergs sofort erkannt … einwandfrei als Psi-Quelle varganischen Ursprungs.« Sie zögerte kurz. »Skanmanyon sagt mir zwar nichts … aber Kyrlan.« Nun war es an mir, Überraschung zu zei-
43 gen. »Kyrlan?« »Ja.« Sie sah mir in die Augen. »Wir hatten etwa sechstausend Jahre nach dem Übergang ins Standarduniversum benötigt, um unser Reich in der Milchstraße zu errichten. Damals hatte die Mehrzahl von uns noch nicht beschlossen, in den ›Mikrokosmos‹ zurückzukehren. Unsere Wissenschaft stand in voller Blüte. Wir hatten zahlreiche Projekte eingeleitet, die unseren Wohlstand sichern und unser Reich schützen sollten. In eins dieser Projekte war ich eingebunden – zumindest im Anfangsstadium. Es war das Projekt Kyrlan…« »Worum ging es dabei?«, fragte ich, obwohl ich es schon ahnte. »Wir hatten damals begonnen, im Leerraum rings um die Milchstraße insgesamt fünf Psi-Stationen zu erbauen, mit denen wir die Kosmischen Kräfte anzapfen und ihre Energie speichern wollten.« Kytharas Blick verklärte sich leicht. »Ein Speicher Kosmischer Kräfte, der uns unbegrenzt und auf Dauer zur Verfügung stehen sollte …« Ich ersparte mir die Frage, was genau diese Kosmischen Kräfte waren. Selbst wenn Kythara mir geantwortet hätte, wäre die Erklärung vielleicht zu langwierig ausgefallen. Am Rand meines Wachbewusstseins raunten vom fotografischen Gedächtnis reproduzierte Informationen, die ich vor Jahrhunderten von Skanmanyon selbst erhalten hatte. … suchten sie eine Welt auf, die weit draußen im Leerraum lag: Schneeball. Mit Hilfe ihrer ungeheuren Technik verwandelten sie den Planeten in eine Empfangsstation für psionische Strahlung. Diese Station sollte Psi-Impulse, die aus der fernen Tiefe des Universums und aus anderen Räumen kommen mochten, empfangen und speichern. Was für ein gewaltiges Unterfangen! … und dann verschwanden die Varganen von der kosmischen Bühne. Viele Denkmäler, die sie gesetzt hatten, blieben zurück, zerfielen langsam zu Staub, vergingen zu Nichts. Einige Denkmäler aber blieben erhalten. Eins davon war Schneeball: die Empfangsstation für psionische Strömungen.
44 Sicherlich gibt es an anderen Koordinaten noch weitere Psi-Empfänger wie Schneeball, die noch zu finden wären … Aber du interessierst dich nur für Schneeball. Denn hier beginnt etwas, dessen Ende du miterlebt hast: Skanmanyon! Die Varganen sind gegangen. Zurück blieb die Welt im Leerraum und erfüllte nach wie vor ihre Funktion. Psi-Strömungen aus fernsten Räumen wurden hier empfangen und gespeichert. Pausenlos strömten psionische Energien aus anderen Galaxien und fremddimensionalen Universen nach Schneeball. Psi-Impulse von Lebewesen wurden ebenso gespeichert wie paraabstrakte Naturphänomene und psionische Strahlungen paramechanischer Natur. Sie wurden aufgefangen, sortiert, gespeichert. Die Psi-Station Schneeball war pausenlos in Betrieb, über Jahrtausende hinweg, arbeitete ununterbrochen, sich selbst regenerierend. Im Laufe der Zeit entstand in den Speichern der Station eine solche Ballung von psionischer Energie, dass die Maschinerie sie nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. Das ist einfach formuliert, obwohl es in Wirklichkeit viel, viel komplizierter gewesen sein muss. Es müssen unzählige Faktoren zusammengespielt und gerade diese Mischung ergeben haben, die es ermöglichte, dass die Psi-Energie eine Eigeninitiative entwickelte. Sie befreite sich aus dem Gefängnis der varganischen Technik. Oder anders ausgedrückt: Das Zusammenwirken unbekannter Faktoren ließ den Funken des Lebens auf die geballte psionische Energie überspringen. Sie entwickelte ein eigenes Bewusstsein. Auf der ehemaligen Empfangsstation Schneeball entstand eine eigene Psi-Quelle. Skanmanyon war geboren. Ein körperloses Wesen, bestehend aus psionischer Energie. Eine völlig neue Lebensform, geformt von den parapsychischen Impulsen aus allen Galaxien und Universen. Ein kosmisches Psi-Bewusstsein …
Uwe Anton Kytharas Stimme riss mich aus den Erinnerungen. »Es kam zu Differenzen zwischen mir und einem der Projektleiter über die Richtung, in die wir das Projekt vorantreiben sollten, deshalb schied ich mehr oder weniger freiwillig aus.« Sie lächelte schwach. »Ich verlor Projekt Kyrlan aus den Augen. Erst wesentlich später erfuhr ich, dass im Verlauf der Jahrhunderttausende drei der Stationen durch die gehorteten psionischen Ballungen ein Eigenbewusstsein entwickelt hatten. Seither strahlten sie ihrerseits im Psi- oder UHF-Bereich, wie ihr es nennt. Sie waren zu Psi-Quellen geworden. Von den Stationen aus sind etliche unserer Versunkenen Welten direkt zu erreichen und umgekehrt über die Transmitter Versunkener Welten die Psi-Stationen.« Ihre Aussage deckte sich weitgehend mit den mir zur Verfügung stehenden Informationen. Und ich verstand auch die Zurückhaltung, mit der sie über die Psi-Stationen sprach – war das, womit wir es nun zu tun hatten und was uns fast das Leben gekostet hatte, doch praktisch Kytharas Erbe, wenn auch nur ansatzweise. Ich fragte mich, welche Informationen sie noch über die PsiStationen beisteuern konnte, obwohl sie bei ihrer Konstruktion, falls man diesen Ausdruck benutzen konnte, schon frühzeitig ausgeschieden war. Mir wurde schlagartig klar, dass ich in vielerlei Hinsicht sogar besser informiert war als die Varganin. Ich wusste um das Schicksal der in den »Mikrokosmos« zurückgekehrten Varganen und dass die Eisige Sphäre zerstört, der Henker Magantilliken tot und Ischtar, die Letzte Königin der Varganen, verschollen war … alles Dinge, die ich ihr so behutsam wie möglich beibringen musste. Aber nicht hier und nicht jetzt. »Du kannst also nicht sagen, ob wir es hier mit einem wieder erstarkten Skanmanyon oder einer anderen Psi-Quelle zu tun haben?«, fragte ich. »Nein. Wie gesagt, die Psi-Stationen entstanden im Leerraum rings um die Milch-
Kytharas Erbe straße. Keine einzige wurde in einem Emissionsnebel errichtet. Ich weiß nicht, wie die Psi-Quelle hierher gelangt ist. Ich kann auch noch nicht abschätzen, welche Auswirkungen die Zufuhr der beachtlichen Menge PsiMaterie des Kristallmonds auf die Quelle haben wird. Obwohl … der Psi-Sturm könnte schon einen Vorgeschmack auf das Kommende liefern. Für die Psi-Materie in der Plattform muss die Psi-Quelle jedoch ein fast unwiderstehlicher Anziehungspunkt gewesen sein.« Ich rieb nachdenklich mein Kinn. Noch weniger konnten wir ahnen, ob sich die wirren Äußerungen des Cappins Carscann gar auf diese hiesige Psi-Quelle bezogen hatten. Immerhin hatte er davon gesprochen, dass die Quelle pervertiert werden solle! Was war damit gemeint? Andererseits konnten wir es auch nicht ausschließen. Ich war nicht geneigt, an Zufälle zu glauben, und über den Cappin an Bord der Vergessenen Positronik führte die Spur genau hierher. Vorläufig lässt sich das Puzzle mangels weiterer Informationen noch nicht zusammensetzen, stellte der Extrasinn fest. Du hast bestenfalls die ersten Zipfel aufgedeckt, doch angesichts Carscanns Hinweisen sieht es ganz so aus, als wärest du dabei, mitten in ein Wespennest zu greifen … Ich nickte. Eine tödliche Gefahr für Gruelfin? Schreckliche Kriege sollten dort wüten? Das Schwert der Ordnung, das darauf wartete, die »Ernte einfahren zu können«… was auch immer mit diesem ungewöhnlichen, antiquierten Ausdruck gemeint sein sollte? Und wenn der Lordrichter von Garb erst erschien, wären alle Cappins verloren …? Oder die Lordrichter, stellte der Logiksektor klar. In dieser Hinsicht waren die Aussagen nicht eindeutig. Falls man bei den unzusammenhängenden Worten eines zweifellos verwirrten Sterbenden überhaupt von Eindeutigkeit sprechen kann! Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Kytharas Aussage, dass sich über die Psi-Stationen et-
45 liche der Versunkenen Welten der Varganen direkt erreichen lassen. Ich war auch schon darauf gekommen. Was, wenn dieses ominöse Schwert der Ordnung oder der oder die Lordrichter von Garb diesen Umstand ebenfalls entdeckt hatten und nun versuchten, zu den Versunkenen Welten vorzustoßen? Ihre Schätze zu plündern, um sie für die Verwirklichung ihrer Ziele einzusetzen? Und nach allem, was Carscann gesagt hatte, schienen es eher düstere als hehre Ziele zu sein. Die Versunkenen Welten der Varganen … selbst ich wusste nicht genau, was sich alles auf und hinter ihnen verbarg. Einige hatte ich in meiner Jugend kennen gelernt. Aber der Rest? Es musste Hunderte oder gar Tausende geben. Auf den meisten waren die varganischen Hinterlassenschaften im Verlauf der Jahrhunderttausende zweifellos längst zu Staub zerfallen, auf anderen dagegen … »Unsere Lage sieht nicht rosig aus«, murmelte ich. »Abgesehen von den kleinen vordergründigen Problemen …« Sie grinste. »Womit du zweifellos einen Psi-Sturm, die Strandung auf einer unbekannten Welt, ein vorläufig nicht funktionierendes Raumschiff und dergleichen Kleinigkeiten mehr meinst …« Ich grinste ebenfalls. »Genau. Aber mir gehen die Worte des Cappins nicht aus dem Sinn. So vage sie auch erscheinen mögen … wenn auch nur ein Körnchen Wahrheit in ihnen steckt …« »Du möchtest also … längerfristig zu erreichende Ziele abstecken?« Ich lachte kurz auf. »Die kurz zu umschreiben sind mit mehr Informationen erlangen…« »Um dann gegebenenfalls einzugreifen und mögliche Gefahren auszuschalten?« »Möglich. Wir werden sehen.« »Du erweckst nicht den Eindruck«, sagte Kythara, »als würdest du untätig warten. Meine Strategie ist vielleicht etwas kurzfristiger ausgelegt, doch ich schlage vor, dass wir zunächst eine Pause einlegen, um zu essen, zu trinken, zu schlafen und das zu tun,
46
Uwe Anton
was man während solcher Mußezeiten noch alles zu tun pflegt. Eine heiße Dusche wäre zum Beispiel nicht übel …« »Einverstanden.« Draußen war ohnehin noch Nacht. »Nach Sonnenaufgang können wir die AMENSOON verlassen, um als ersten Schritt die Umgebung zu erkunden. Vielleicht hat bis dahin ja der Sturm nachgelassen, so dass dein Raumer wieder einsatzbereit ist …« »Das bezweifle ich zwar, aber ich wünsche es mir. Ich gehe durchaus davon aus, dass es sich nicht um eine dauerhafte Blockade handelt. Ich für meinen Teil habe jedenfalls lange genug auf einer Primitivwelt gelebt, auf der der Einsatz von höherer Technik unmöglich war.« Einundzwanzigtausend Jahre – in der Tat lange genug, dachte ich und dachte an die Jahrtausende auf der Barbarenwelt Larsaf III …
»Du sprichst mir aus der Seele, Kythara. Ich habe im Vergleich zu dir zwar nur eine winzige Zeitspanne auf den Vinara-Welten verbracht, aber die Nase voll von Käfern und Echsen als Reittiere, auf denen man sich den Hintern wund scheuert.« Ich zeigte auf ein Holo, das eine Aufnahme des farbenprächtigen Emissionsnebels zeigte. »Der Weltraum wartet auf uns. Wir werden ihn erreichen. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber bald.« Davon war ich überzeugt. Der Weltraum wartete auf uns – und in ihm irgendwo die Versunkenen Welten der Varganen, mit allen Gefahren und Rätseln, die sie für uns bereithielten, einschließlich Kytharas Erbe… ENDE
ENDE
Gefangen im Psi-Sturm von Michael Marcus Thurner Gestrandet – in unmittelbarer Nähe einer Psi-Quelle von unbekannter Macht. Während die AMENSOON ihre Reparaturmechanismen anstrengt, um ihren Passagieren möglichst rasch wieder volle Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, bleibt diesen Zeit, sich den Planeten genauer anzusehen. Dabei werden Atlan und Kythara GEFANGEN IM PSI-STURM