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Sie lagen in sinnlosen Haufen herum, und doch wie nach einem unbekannten, schrecklichen Plan, der auf die ungeheuren Kräfte schließen ließ, die sie dorthin geschleudert hatten. Diese Gebilde schienen zwischen organischer und unorganischer Materie die Mitte zu halten. Sie wucherten an den Rändern der Zeit und verkörperten alle jene seltsamen Formen, welche die Erde erstmals tragen sollte, hier träumte die Erde einen Alptraum von der Brut, die sich einstmals über sie verbreiten würde. Es waren kopromorphe Bildungen; sie erinnerten an Elefanten, Robben, Diplodoken, seltsame Squamaten und Sauropoden, an Fragmente von Kraken, an Pinguine, Holzläuse, Flußpferde ... an lebendige oder tote. Es tauchte auch manches auf, was von fernher an die menschliche Physis anklang. Torsos, Schenkel, geschwungene Lenden, Rücken, Brüste, Andeutungen von Händen und Fingern, massige Schultern, phallische Formen; alles unterscheidbar und doch vermischt mit den seltsamen Anatomien dieser geisterhaften Wehen der Natur, und alles seelenlos, erinnerungslos aus jenem grauen Ton geknetet, ohne einen Gedanken an Vergänglichkeit.
Ullstein Buch Nr. 3277 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: CRYPTOZOIC Aus dem Englischen von Karl H. Kosmehl Umschlagillustration: Lehr Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten © Brian W. Aldiss, 1967 Übersetzung © 1976 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1976 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 13277 4
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Aldiss, Brian W. Kryptozoikum: Science-fictionRoman / hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein, 1976. ([Ullstein-Bücher] Ullstein-Buch; Nr. 3277: Ullstein 2000) Einheitssacht.: Cryptozoic (dt.). ISBN 3-548-13277-4
Brian Aldiss
Kryptozoikum SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
In te, anime meus, tempora metior. Augustinus, Bekenntnisse 11. Buch »Ein Gedächtnis, das nur nach rückwärts arbeitet, ist ein ziemlich armseliges Gedächtnis«, bemerkte die Königin. Lewis Caroll, Durch den Spiegel
Sie lagen in sinnlosen Haufen herum, und doch wie nach einem unbekannten, schrecklichen Plan, der auf die ungeheuren Kräfte schließen ließ, die sie dorthin geschleudert hatten. Diese Gebilde schienen zwischen organischer und unorganischer Materie die Mitte zu halten. Sie wucherten an den Rändern der Zeit und verkörperten alle jene seltsamen Formen, welche die Erde einstmals tragen sollte; hier träumte die Erde einen Alptraum von der Brut, die sich einstmals über sie verbreiten würde. Es waren kopromorphe Bildungen; sie erinnerten an Elefanten, Robben, Diplodoken, seltsame Squamaten und Sauropoden, an Fragmente von Kraken, an Pinguine, Holzläuse, Flußpferde ... an lebendige oder tote. Es tauchte auch manches auf, was von fernher an die menschliche Physis anklang: Torsos, Schenkel, geschwungene Lenden, Rücken, Brüste, Andeutun-
gen von Händen und Fingern, massige Schultern, phallische Formen; alles unterscheidbar und doch vermischt mit den seltsamen Anatomien dieser geisterhaften Wehen der Natur, und alles seelenlos, erinnerungslos aus jenem grauen Ton geknetet, ohne einen Gedanken an Vergänglichkeit. Sie erstreckten sich, soweit das Auge reicht, aufeinandergetürmt, als wollten sie das ganze Kryptozoikum füllen ... oder als seien sie die unheimlichen Vorschattungen von etwas, das da kommen wird – und gleichzeitig die Nachbilder von etwas sehr lange Vergangenem.
Erstes Buch 1 – Ein Bett im alten Rotsandstein Das Meer war in den letzten Jahrtausenden langsam verflacht. Es lag fast unbeweglich da, so still, daß man kaum sagen konnte, ob die kleinen Wellen aus dem Meer kamen und an die Küste tupften, oder ob sie sich irgendwie am Ufer bildeten und von dort zur Tiefe zurückgeworfen wurden. Der Fluß, der sich ins Meer ergoß, hatte Bänke von rotem Sand und Strandkies aufgeschwemmt, so daß er sich oftmals den eigenen Weg mit diesen Kiesbänken erschwerte und breite Priele bildete, in denen die Sonne glitzerte. An einem dieser Priele saß ein Mann. Obwohl es aussah, als sei er von grüner Vegetation umgeben, war der Strand hinter ihm so nackt wie ein trockener Knochen. Der Mann war groß, schlank und mit gelenkigen Gliedern. Er war blond, weißhäutig, und selbst im Ruhezustand hatte seine Miene etwas Düsteres, Wachsames. Er trug eine Art Overall und hatte einen Rucksack umgeschnallt. Darin waren ein Vorrat von Preßwasser, mehrere Packungen Nahrungssubstitute, Malzeug und zwei Notizbücher. Um den Hals trug er
einen Apparat, der volkstümlich »Luftlecker« genannt wurde: ein lockersitzender Reifen, der hinten einen kleinen Motor und vorn eine Muffe hatte, die dem Mann frische Luft ins Gesicht blies. Der Name des Mannes war Edward Bush. Er war ein einsiedlerischer Mensch und etwa fünfundvierzig vergangene Jahre alt. Soweit man sagen konnte, daß er zur Zeit überhaupt dachte, dachte er über seine Mutter nach. In der gegenwärtigen Phase seines Lebens befand er sich in einer Flaute; er trieb richtungslos dahin. Sein derzeitiger Job beim Institut war nicht dazu angetan, ihm über das unangenehme Gefühl hinwegzuhelfen, er sei an einem Kreuzweg angelangt, der auf keiner Landkarte zu finden ist. Es war, als ob seine gesamten psychischen Mechanismen leergelaufen seien und tatenlos neben ihm stünden, unfähig, sich unter dem Druck eines ahnungsvollen Mißbehagens so oder so zu entschließen. Bush legte das Kinn aufs Knie und schaute über die trübe Fläche des Meeres. Irgendwo in der Ferne hörte er startende Motorräder. Er wollte nicht, daß jemand sah, was er hier tat. Er sprang auf und eilte zu seiner Staffelei hinüber. Er war vorhin vor lauter Ekel von dieser Staffelei weggelaufen, weiter als er vorgehabt hatte. Das Bild taugte natürlich überhaupt nichts; als Maler war er am Ende.
Vielleicht konnte er deswegen den Gedanken an eine Rückkehr in die Gegenwart nicht ertragen. Im Institut würde Howells auf seinen Bericht warten. Bush hatte Howells in das Bild hineingemalt. Er hatte die Leere ausdrücken wollen, er hatte übers Meer geschaut, mit Aquarellstiften auf nassem Papier gearbeitet – auf Zeitreisen konnte man allenfalls solches primitive Material mitnehmen. Die satten Farben flossen aus den Stiften. Bush hatte wütend drauflosgemalt. Über der bleifarbenen See stieg eine rote Sonne mit Howells' Zügen auf. Er lachte. Ein verkrüppelter Baum am anderen Bildrand; er setzte den Stift an. »Mutter-Figur«, sagte er. »Das bist du, Mutter. Nur damit du siehst, daß ich dich nicht vergessen habe.« Die Züge seiner Mutter starrten ihm aus dem Blattwerk entgegen. Er gab ihr eine Diamantkrone – sein Vater hatte sie oftmals »Königin« genannt – halb liebevoll, halb spöttisch. Also war auch sein Vater mit im Bild und durchflutete es. Bush stand auf und schaute auf das Papier. »Meisterhaft, verstehst du«, sagte er zu der schattenhaften Frau, die in einiger Entfernung hinter ihm stand und ihn nicht ansah. Er griff nach einem Aquarellstift und kritzelte einen Titel hin: FAMILIENGRUPPE. Schließlich war er ja auch mit drin. Das ganze Bild war er.
Dann zog er den Block aus den Klemmen, riß die Skizze ab und rollte sie auf. Er legte die Staffelei ganz klein zusammen und verpackte sie im Rucksack. Hinter ihm schien die Sonne über die niederen Hügel und schickte sich an unterzugehen. Die Hügel waren kahl, nur längs des Flußbettes wuchsen zwergige blattlose Psilophytonen im Schatten urzeitlicher Lycopoden. Aber Bush warf keinen Schatten. Das ferne Geräusch von Motorrädern, der einzige Laut im weiten schweigenden Devon, machte ihn nervös. Eine Bewegung am äußersten Rande seines Gesichtsfeldes ließ ihn aufspringen. Vier Quastenflosser drängten sich in einem der flachen Priele und flappten auf das seichte Wasser. Sie zappelten über den roten Schlamm; ihre seltsam gepanzerten Köpfe hoben sich vom Boden ab, sie spähten mit komischer Geschäftigkeit umher. Bush hob seine ArmbandKamera, um sie zu fotografieren, aber er ließ es sein; Quastenflosser hatte er schon öfters fotografiert. Die stummelfüßigen Fische krochen, nach Insekten schnappend, über die Schlammbank und stupsten eifrig mit den Nasen in der faulenden Vegetation herum. In seinen genialen Tagen hatte er einmal die Abstraktion ihrer grünschuppigen Köpfe in einem seiner erfolgreichsten Bilder verwendet. Der Krach der Motorräder starb. Er suchte die Landschaft ab und erstieg sogar eine Kiesbank, damit
er besser sehen konnte ... durchaus möglich, daß weit hinten am Strand Menschen waren. Der Ozean lag fast reglos da. Auch das Phantom der Dunklen Frau war reglos. Einerseits bedeutete sie so etwas wie Gesellschaft für ihn, andererseits war sie nur eins der irritierenden Gespenster seiner überladenen Phantasie. »Das ist wie in einem gottverdammten Schulbuch!« rief er ihr spottend zu. »Dieser Strand – Evolution – Sauerstoffmangel im sterbenden Meer – die Fische kommen 'raus. Das ist ihr Weltraum-Abenteuer. Und mein Vater – der würde tatsächlich auch noch Religion in die Geschichte hineingeheimnissen.« Der Klang seiner eigenen Stimme munterte ihn auf, und er fing an zu rezitieren (sein Vater hatte sein Leben lang gern aus Gedichten rezitiert): »Lenz ... zu lange ... Gongula ...« Viel zu lange. Ja, ja; man muß schon ein bißchen Spaß haben, sonst wird man hier verrückt. Er atmete durch den Apparat Luft ein und warf einen Seitenblick auf seine Wächterin. Die dunkelhaarige Frau war immer noch da, verschwommen und substanzlos wie stets. Gewiß tat sie irgendwelchen Wachtdienst. Er streckte ihr die Hand hin, aber er konnte sie nicht berühren, ebensowenig wie die Quastenflosser oder den roten Sand. Sinnlichkeit – das war sein Problem. Er brauchte diese Isolation, solange seine innere Uhr stillstand,
aber sie langweilte ihn auch. Erotik würde ihn wieder in Gang bringen; doch diese Dunkle Frau war für ihn ebenso unerreichbar wie alle die unsauberen Weiber seiner Phantasie. Es war kein Spaß, durch ihren Leib die nackten Hügel zu sehen. Er legte sich auf den Kies; mehr oder weniger paßte sich sein Körper dem Gefälle des Hanges an. Statt sich mit dem Problem ihrer Identität herumzuschlagen, wandte er sich lieber wieder dem tristen Meer zu, als hoffe er, irgendein unersättliches Ungeheuer die stille Wasseroberfläche durchbrechen zu sehen – das würde die Untätigkeit zerschlagen, in die er versunken war. Alle Strände hängen zusammen. Ihnen kann die Zeit nichts anhaben. Dieser hier führte direkt auf einen anderen Strand, an dem er einmal als Kind einen scheußlichen Sonntag verbracht hatte – seine Eltern zankten sich mit unterdrückter Wut, und er hockte zitternd, den Schuh voller spitzer Steine, hinter einer Strandhütte und hörte, ohne daß sie es wußten, ihre Gehässigkeiten mit an. Wenn er nur seine Kindheit vergessen könnte – sicher fände er einen schöpferischen Neuanfang ... vielleicht eine Komposition aus hüttenartigen Blöcken ... in der Zeit verweht ... Es war charakteristisch für ihn, daß er hier lag und über sein nächstes räumlich-kinetisches Gruppenbild meditierte, anstatt es tatsächlich in Angriff zu nehmen;
aber seine Kunst (ha!) hatte ihm immer zu frühe und zu leichte Erfolge beschert – in erster Linie deshalb, weil er einer der ersten zeitreisenden Maler gewesen war. Sein einsames Genie und seine strengen, immer monochromer werdenden Kompositionen aus beweglichen Blöcken und Körpern, womit er jene dunklen Raumbeziehungen und Zeit-Synchronisationen ausdrückte, die seine Welt ausmachten, hatten das große Publikum im Grunde gar nicht so sehr beeindruckt. Auf jeden Fall war er über seine rein foto-signalistische Periode hinaus, mit der er vor fünf Jahren so großen Erfolg gehabt hatte. Statt diese Last der äußeren Eindrücke in sein Inneres zu zerren, würde er von jetzt an sein inneres Erleben nach außen freisetzen und es in Beziehung zur makrokosmischen Zeit bringen. Ja – wenn er nur wüßte, wie er das anfangen sollte. Bush konnte jetzt wieder die Motorräder hören, die den verlassenen Strand entlangratterten. Er schob das Geräusch beiseite und vertiefte sich weiter in seinen Gedankengang, den Kopf voller Winkel und Hebel, aus denen sich jedoch nichts herauslösen wollte, was ihn dazu getrieben hätte, es auszudrücken. Eine Anregung des Instituts hatte ihn veranlaßt, sich auf das Zeitreisen zu stürzen (oder Bewußtseinsreisen, wie man es auch nannte); und er hatte absichtlich seinen cirkadischen Rhythmus durchbrochen, so daß er sich mit den neuen und fundamentalen Problemen der
Zeitkonzeption einlassen konnte, mit denen seine Epoche konfrontiert war, und er hatte nichts gefunden, was sich zu einem bildhaften Ausdruck gestalten wollte. Daher sein Stranden an dieser verlassenen Küste. Der alte Claude Monet war für seine Epoche schon den richtigen Weg gegangen: still hatte er in Giverny gesessen, hatte Teiche voller Wasserlilien in Farbformationen umgesetzt, die ganz klammheimlich auf eine schwer faßbare Zeitaussage hinsteuerten. Aber Monet hatte sich auch nie mit dem Devon oder dem Paläozoikum herumschlagen müssen. Jetzt hingegen hatte sich das menschliche Bewußtsein so alarmierend erweitert und bemühte sich so hektisch, alles auf Erden in seine eigenen speziellen Nuancen umzusetzen, daß keine Kunst bestehen könnte, die nicht diese Tatsache voll und ganz zur Kenntnis nähme. Etwas völlig Neues mußte kommen; selbst die biolektrisch-kinetische Skulptur des vorigen Jahrhunderts war bereits ein alter Hut. Er trug die Samenkörner dieser neuen Kunst in sich und in seinem Leben, das, wie er schon lange erkannt hatte, nach dem Prinzip des Wirbels funktionierte: seine Emotionen ergossen sich in ein kreisendes Seins-Zentrum, das nie stillstand, das ständig vorwärts drängte wie ein Taifun, jedoch immer wieder an denselben Punkt zurückkehrte. Der Maler, der ihn
am stärksten erregte, war der alte Joseph Mallord William Turner. Der hatte ebenfalls in einer Epoche gelebt, in welcher die Technologie die Auffassung von der Zeit veränderte; und sein Leben war auch in Wirbeln verlaufen – alle seine späten Bilder waren von dieser Grundfigur beherrscht. Der Wirbel – ein Symbol dafür, daß jedes Phänomen im menschlichen Auge herumstrudelt, wie das Wasser, das aus der Wanne abläuft. Das hatte er tausendmal gedacht. Auch dieser Gedanke kreiselte um und um und führte zu keinem Ziel. Bush knurrte vor sich hin, setzte sich auf und hielt Ausschau nach den Motorrädern. Etwa eine halbe Meile entfernt standen sie auf dem tristen Strand; er konnte sie ganz deutlich sehen, denn die Objekte aus seiner eigenen Zeitdimension erschienen viel dunkler, als sie ausgesehen hätten, wenn sie der Devon-Welt da draußen angehört hätten, weil die Entropie-Schranke etwa zehn Prozent des Lichts absorbiert. Die zehn Fahrer wirkten vor der exotischen Kulisse des Devon wie Silhouetten, als hätten sich alle Kräfte verschworen, um klarzumachen, daß sie nicht hierhergehörten und nie hierhergehören würden. Die Motorräder waren leichte Modelle, wie man sie auf Zeitreisen zur Not mitführen konnte. Sie wirbelten in komplizierten Kreisen her-
um; sie warfen dabei, obgleich man parabolische Staubwolken erwartet hätte, keinen Sand auf, keine Bugwelle, wenn sie auch scheinbar die Sanddünen durchschnitten. Aber sie hatten auch jetzt nicht die Kraft, auf etwas einzuwirken, was sie nie beeinflussen konnten. Es wirkte fast wundersam, wie sie sich gegenseitig auswichen und schließlich zu einer glatten, graden Linie zusammenfanden, die einen mit dem Gesicht hierhin, die anderen dorthin, und ihre horizontalen Schwebescheiben zitterten ein paar Zentimeter über dem Sand. Bush beobachtete, wie die Fahrer absaßen und sich daranmachten, ein Zelt aufzupumpen. Alle trugen diese grünen Wildleder-Anzüge, praktisch die Uniform solcher Cliquen. Einen sah er, der hatte langes gelbes Haar – vielleicht war es auch eine Frau. Er konnte das auf die Entfernung nicht unterscheiden, aber sein Interesse war wach. Nach einer Weile sahen ihn die Fahrer auf dem roten Kies sitzen. Vier von ihnen kamen auf ihn zu. Bush hatte ein unangenehmes Gefühl dabei, aber er blieb, wo er war; zunächst tat er, als sähe er sie nicht. Sie waren alle groß und schlank und trugen hohe wildlederne Stulpenstiefel. Sie hatten ihre Luftlecker um den Hals hängen. Einer hatte einen Reptilienschädel auf den Helm gemalt. Wie bei solchen Gruppen üblich, waren sie alle zwischen dreißig und vier-
zig Jahre alt (daher bezeichnete man sie als Thirts), denn das war die jüngste Altersgruppe, die sich Zeitreisen leisten konnte. Es war ein Mädchen dabei. Obwohl Bush nervös wurde, als sie auf ihn zustapften, überkam ihn beim Anblick des Mädchens eine plötzliche Gier. Die Gestalt mit dem langen blonden Haar – das war sie. Ihr Haar sah ungepflegt und fettig aus, und ihr Gesicht war ohne jedes Makeup. Ihre Züge waren scharf, doch unbestimmt, ihr Blick etwas vage. Sie war schmächtig. Vielleicht sind ihre verdammten Stiefel daran schuld, dachte er mit einem innerlichen, an sich selbst gerichteten Hohngrinsen. Der erste Eindruck war keineswegs verlokkend – aber das Begehren blieb. »Was machst du hier, Kumpel?« fragte einer der Männer und starrte auf Bush herab. Bush hatte eigentlich aufstehen wollen; er blieb nur deshalb sitzen, weil ihm einfiel, es könnte als Drohung aufgefaßt werden, wenn er aufstünde. »Hab mich ausgeruht – bis ihr kamt und Krach machtet.« Er sah sich den Mann, der gesprochen hatte, genauer an. Ein stumpfnasiger Kerl mit einer tiefen Grube in jeder Backe; keiner hätte sich getraut, sie Grübchen zu nennen – der Ausdruck hätte ohnehin nicht gepaßt. Der Kerl hatte nichts Sympathisches an sich – verrotzt, dürrhalsig, aggressiv.
»Bist müde – oder was?« Bush lachte. Wie dieser Thirt das sagte, klang es genau echt, so als interessiere es ihn wirklich. Bushs Spannung ließ nach, und er erwiderte: »Das könnte man sagen – kosmisch müde, gewissermaßen abgelaufen. Siehst du diese Panzerfische hier?« Er schob mit dem Fuß den Bewuchs auseinander, und man sah die Quastenflosser, die am Angespülten knabberten. »Ich hab den ganzen Tag hier gelegen und diese Viecher beobachtet, wie sie Evolution betreiben.« Die Thirts lachten. Einer von ihnen sagte frech: »Wir dachten schon, du liegst hier, weil du selbst 'n bißchen Evolution machen willst. Siehst ganz so aus, als ob du das gebrauchen könntest.« Offensichtlich hatte er sich selbst zum Gruppenclown ernannt und war nicht sonderlich geschätzt. Die anderen ignorierten ihn, und der Führer sagte: »Bist ja verrückt. Die Flut wird dich wegspülen, bestimmt!« »Seit einer Million Jahre ist ja schon Ebbe. Liest du denn keine Zeitungen?« Als sie darüber lachten, stand er auf und klopfte sich ab – rein instinktiv, denn er hatte ja überhaupt keinen Kontakt mit dem Sand gehabt. Jetzt verstanden sie sich. Bush sah den Führer an und fragte: »Tauscht jemand was Echtes zu essen gegen Nährtabletten?«
Das Mädchen sprach zum erstenmal: »Schade, daß wir nicht ein paar von deinen Evolutionsfischen fangen und braten können. Ich kann mich immer noch nicht an diese Geschichte gewöhnen – an die Isolierung.« Sie hatte gesunde Zähne; allerdings hätte ihnen, wie übrigens ihrer ganzen Person, eine ordentliche Säuberung gutgetan. »Schon lange hier?« fragte er. »Wir sind erst vorige Woche aus 2090 gekommen.« Er nickte. »Ich bin jetzt zwei Jahre hier. Wenigstens war ich zwei, nein zweieinhalb Jahre nicht mehr in der – Gegenwart. Komischer Gedanke, daß in unserer Zeit diese Fische im alten Rotsandstein schlafen.« »Wir wollen ins Jura 'rauf«, sagte der Führer und schubste das Mädchen mit dem Ellbogen weg. »Schon mal dagewesen?« »Klar. Und jedes Jahr wird es, hör ich, immer voller – der reine Rummelplatz.« »Wir werden schon Platz für uns finden, schlimmstenfalls machen wir uns welchen frei.« »Sie ist immerhin sechsunddreißig Millionen Jahre groß«, sagte Bush achselzuckend. Er ging mit ihnen zu den anderen zurück, die reglos zwischen den aufgepumpten Zelten standen. »Ich möchte mich mal in eins von diesen riesigen Jura-Viechern hineinversetzen, in so eins mit den
großen Zähnen«, sagte der Humorist, »Tyrannosaurus, oder wie sie heißen. Dann wär ich so hart wie du, Lenny.« Lenny, der mit den narbenartigen Wangengruben, war der Anführer der Gruppe. Der Ulkige hieß Pete. Das Mädchen hieß Ann. Sie gehörte Lenny. Außer Pete redete selten jemand von der Gruppe einen anderen mit Namen an. Bush sagte, er hieße Bush, und ließ es dabei. Es waren sechs Männer, jeder mit einem Schweberad, und vier Mädchen, die offenbar auf den Rücksitzen der Räder ins Devon hineingeschossen waren. Außer Ann war keins der Mädchen attraktiv. Sie lungerten oder standen allesamt bei den Motorrädern herum; Bush war der einzige, der sich hingesetzt hatte. Vorsichtig schaute er nach der Dunklen Frau aus. Sie war nicht da – ganz gut so, denn, so unwirklich wie sie war, spürte sie vermutlich deutlicher als jeder andere hier den wirklichen Grund, weshalb sich Bush mit dieser Clique einließ. Der einzige in der Gruppe, der Bush interessant vorkam, war ein älterer Mann, offensichtlich kein Thirt, obwohl auch er Wildleder trug. Sein Haar war von einem stumpfen Schwarz, vermutlich gefärbt, sein Mund unter der langen Nase zu einem festsitzenden Strich verzerrt, der seinem Gesicht etwas Gequältes gab – es lohnte sich vielleicht, einen Augenblick darüber nachzudenken. Er sagte nichts, doch
verriet der forschende Blick, den er auf Bush warf, einen lebendigen Geist. »Zwei Jahre auf Zeitreise, hast du gesagt?« fragte Lenny. »Bist du 'n Millionär oder so was?« »Künstler. Abstrakter Maler. Ich mache raumkinetische Kompositionen, RKKs, wenn du weißt, was das ist. Und ich arbeite hier für das Wenlock-Institut. Wieso könnt ihr euch alle leisten, herzukommen?« Lenny verschmähte es, auf diese Frage zu antworten. Er sagte herausfordernd: »Du schwindelst ja, Kumpel. Du arbeitest niemals für das Institut. Hör mal – ich bin doch nicht bekloppt. Ich weiß ganz genau, daß die ihre Berichterstatter für höchstens achtzehn Monate in die Vergangenheit schicken. Zweieinhalb Jahre – was willst du denn so lange hier? Mich kannst du nicht verscheißern.« »Ich hab nicht nötig, dich zu verscheißern! Es ist richtig, daß ich einen Achtzehn-Monate-Auftrag hatte – aber ich habe ... ich habe eben um ein Jahr überzogen, das ist alles.« Lenny starrte ihn verächtlich an. »Die werden sich deine Eingeweide als Strumpfbänder nehmen!« »Werden sie nicht! Wenn du's durchaus wissen willst – ich bin einer von ihren Star-Reportern. Ich komme näher an die Gegenwart heran, als sonst irgendeiner, der für sie arbeitet.« »Sehr nahe dran bist du aber nicht, wenn du hier
im Devon 'rumgammelst. Ich glaube überhaupt kein Wort, was du da erzählst!« »Dann laß es bleiben!« sagte Bush. Er konnte Kreuzverhöre nicht ausstehen und zitterte vor Zorn, als Lenny sich abwandte. Unbeeindruckt von diesem Streit sagte einer der anderen Thirts: »Wir haben gearbeitet, Geld zusammengekratzt für CSD – und jetzt sind wir hier, 'ne Menge Arbeit hat das gekostet. Ich kann immer noch nicht glauben, daß wir wirklich hier sind.« »Sind wir auch nicht. Die Welt ist hier, aber nicht wir. Oder vielmehr, die Welt vielleicht – aber wir bestimmt nicht. Das weiß immer noch keiner genau, wie das wirklich ist. Bei den Bewußtseinsreisen ist noch vieles ungeklärt.« Er redete so wichtig und herablassend, um seine Unruhe zu verbergen. »Würdest du uns malen?« fragte Ann. Das war die einzige Reaktion, die seine Ankündigung, er sei Maler, auslöste. Er sah ihr in die Augen. Er glaubte den Blick zu verstehen, der, ohne daß sie es wollten, zwischen ihnen hin und her ging. Einer der wenigen Vorteile des Älterwerdens ist, daß man solche Blicke nicht mehr so oft mißdeutet. »Würde ich schon, wenn ihr mich interessiert.« »Bloß – wir wollen nicht gemalt werden, verstehst du?« sagte Lenny. »Ich reiß mich auch nicht danach. Was habt ihr
denn gearbeitet, um euch das Reisegeld zu verdienen?« Ihre Antwort interessierte Bush gar nicht. Er sah zu Ann hinüber; sie hatte die Augen niedergeschlagen. Er dachte daran, daß er sie würde fühlen können – auf Zeitreisen kann man in der Umwelt der Zeit, in der man sich befindet, nichts anfassen; aber sie kam aus seiner eigenen Zeit, und sie würde seine Berührung erwidern. Einer der anonymen Thirts antwortete ihm. »Wir haben alle mit dem Zeitbahnhof in Bristol zu tun. Wir sind mit die ersten, die von dort abgefahren sind. Kennst du den Bahnhof?« »Ich habe dort die RKK entworfen, die Komposition in der Vorhalle – das signal-synchronisierte nodale Wiederkommens-Symbol mit den dynamischen verschränkten Propellerflügeln. ›Progression‹ heißt es.« »Diesen Mist!« Lenny zerrte sich beim Sprechen einen Cigarillo-Stummel von den Lippen und schnippte ihn auf das träge Meer hinaus. Das vordere Ende ragte ein wenig über die bleiernen Wellen und glomm noch ein paar Sekunden, bis es aus Sauerstoffmangel verlöschte. »Mir hat's gefallen«, sagte Pete. »Sah aus wie zwei Uhren, die versucht haben, 'n Rekord zu brechen und dabei gegeneinandergeknallt sind und nach Hilfe signalisieren.« Er stieß sein leeres Lachen aus.
»Du brauchst gar nicht über dich selbst zu lachen. Das war eben eine ganz gute Beschreibung von allem diesem hier«, und Bush schwang seine Hand in einer Geste, die das gesamte sichtbare und unsichtbare Universum vereinnahmte. »Verpiß dich!« sagte Lenny. Er schwang sich von seinem Rad und kam zu Bush herüber. »Du bist so gescheit und so langweilig, Mensch! Verpiß dich bloß!« Bush stand auf. Wäre das Mädchen nicht gewesen, er hätte sich ›verpißt‹. Er verspürte keine Neigung, sich von diesem Mob zusammenschlagen zu lassen. »Wenn dir meine Konversation nicht gefällt, warum steuerst du nicht selbst etwas dazu bei?« »Weil du lauter Blödsinn redest, deswegen! Diese Geschichte mit dem alten Rotsandstein ...« »Das stimmt aber! Ob's dir nun paßt oder nicht – jedenfalls ist es richtig.« Er zeigte auf den älteren Mann, den mit dem schwarz gefärbten Haar, der sich etwas abseits von der Gruppe hielt. »Frag ihn! Frag deine Freundin! Da oben im Jahre 2090 ist alles, was du hier siehst, in eine Schicht kaputter roter Steine 'reingepreßt – Kies, Fische, Pflanzen, Sonnenlicht, Mondschein, sogar das bißchen Wind – alles auf die Breite von ein paar Fuß zusammengedrückt, und die Geologen können es mit der Picke aus der Erde hakken. Wenn du das nicht weißt, oder wenn die Poesie,
die darin liegt, dir nichts zu sagen hat – warum verbutterst du dann die Ersparnisse von zehn Jahren, um hierherzukommen?« »Darüber rede ich gar nicht, Mann – ich sage nur, du ödest mich an!« »Das beruht völlig auf Gegenseitigkeit.« Er war soweit gegangen, wie er hatte gehen wollen, und Lenny anscheinend auch; denn er wandte sich gleichgültig ab, als Ann herzutrat und sie beide anschrie, sie sollten Ruhe geben. »Er redet aber wie ein Künstler, nicht wahr?« sagte die kleine dicke Josie und wandte sich dabei besonders an den älteren Mann. »Ich denke, an dem, was er sagt, ist was dran. Wir müßten doch eigentlich viel mehr davon haben, daß wir hier sind. Diese Gegend hier – lange bevor es Männer und Frauen gab –, das ist doch eigentlich alles ziemlich wunderbar, nicht?« »Die Fähigkeit, Wunder zu erleben, ist in uns allen. Aber die meisten haben Angst davor.« Der ältere Mann hatte gesprochen. Lenny stieß ein verächtliches Bellen hervor. »Fang du nicht auch noch an, Stein!« »Also ich meine ... das Meer, wo alles herkommt ... und hier sind wir. Wir können es allerdings nicht anfassen ... natürlich.« Josie rang mit Gedankengängen, die zu furchtbar und zu weitläufig für ihre geistige Ausrüstung waren, das sah man an dem trancearti-
gen Ausdruck ihres Gesichts. »Komisch – ich seh auf das Meer und muß immer denken, das ist das Ende der Welt, und nicht der Anfang.« Das stand in einem seltsamen Einklang mit etwas, worüber Bush heute schon einmal meditiert hatte; das Mädel hatte da einen wunderschönen Gedanken ausgesprochen, und einen Augenblick kämpfte er sogar mit sich, ob er sich nicht mit ihr statt mit Ann befassen sollte. Die anderen blickten furchtbar finster drein; so sahen sie eben aus, wenn sie tief nachdachten. Lenny schwang sich auf sein Rad und trat auf den Starter, und sofort begannen die beiden Luftsäulen zu blasen. Daß der Sand dabei ganz ruhig liegenblieb, sah immer noch wie ein Hohn auf die Naturgesetze aus, und das war es auch. Sie waren alle von der unsichtbaren, aber undurchdringlichen Mauer umschlossen, die den Zeitreisenden von seiner Umgebung scheidet. Die vier anderen männlichen Thirts kletterten auf ihre Räder, zwei von den Mädels hockten sich hinten drauf. Mit wütendem Schnarren rasten sie über den dunkler werdenden Sand. Die Nacht stieg hoch; die kurzen stachligen Pflanzenstengel wiegten sich im aufkommenden Landwind, aber in der menschlichen Dimension rührte sich nichts. Bush war mit Josie, Ann und dem älteren Mann alleingeblieben. »Das reicht bis zum Abendbrot«, sagte Bush.
»Wenn ich nicht erwünscht bin, gehe ich. Ich habe ein Lager drüben in der ersten Hügelreihe.« Er machte eine Handbewegung nach Sonnenuntergang zu, aber er schaute dabei unverwandt auf Ann. »Du darfst das Lenny nicht übelnehmen«, sagte Ann, »er hat manchmal solche Touren.« Sie sah ihn dabei an. Sie hat tatsächlich kaum so etwas wie eine Figur, dachte er, und sie ist dreckig und verrotzt; aber trotzdem zitterten ihm immer noch die Knie. Diese Isolierung auf Zeitreisen konnte eine völlige Charakterspaltung bewirken; war man einmal drin, so fühlte, roch, hörte man nichts außer seinen Reisegefährten. Dieses Mädchen – sie war wie die Speisekarte eines Banketts! Und es war noch mehr an ihr – aber was, das konnte er nicht genau sagen. »Nun sind alle weg, die nicht über lebenswichtige Themen diskutieren wollen, da können Sie sich zu uns setzen und mit uns reden«, sagte der ältere Mann. Vielleicht war es nur sein verzogener Mund, vielleicht machte er sich aber auch auf irgendeine Weise über die anderen lustig. »Danke, ich bin schon zu lange geblieben. Ich gehe.« Zu seiner Überraschung trat der ältere Mann auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. »Sie bewegen sich ja in merkwürdiger Gesellschaft«, sagte Bush. An dem Kerl, wer immer er sein mochte, war er nicht interessiert.
Er machte sich auf den Rückweg zu seinem eigenen Lager; dabei dachte er mit seiner obersten Hirnschicht daran, daß es sinnlos wäre, mit Lennys Mädchen herumzuspielen. Das Dunkle draußen im Meer hatte seine ungeheuren Schwingen ausgespannt und schwebte auf das Land zu. Unvermittelt fühlte er die völlige Sinnlosigkeit des Unterfangens, den Menschen in ein so gigantisches All zu setzen, mit dem er dann fertigwerden muß – oder ihm Wünsche zu geben, die er weder beherrschen noch erfüllen kann. Ann sagte: »Ich kann mich nicht daran gewöhnen, daß wir in der wirklichen Welt kein Ding anrühren können. Das macht mich regelrecht verrückt. Ich ... verstehst du, ich habe überhaupt nicht das Gefühl, daß ich da bin.« Sie ging neben ihm. Er hörte, wie ihre Stiefelstulpen an ihre Waden schlappten. »Ich habe mich darauf eingestellt. Was ich vermisse, ist der Geruch. Durch den Luftlecker bekommt man nicht einmal eine Ahnung davon, wie es hier riecht.« »Vom Leben bekommt man überhaupt niemals soviel, wie man haben möchte.« Er blieb stehen. »Mußt du mir nachlaufen? Du machst mir nur Ärger. Hau ab und geh zu deinem Kerl zurück! Du siehst doch, daß ich nicht von eurer Sorte bin.«
»Das haben wir ja bis jetzt noch gar nicht ausprobiert.« Einen Moment lang blickten sie einander verzweifelt an, als müßte etwas ganz Großes schweigend beschlossen werden. Dann stapften sie weiter. Bush war jetzt zu allem entschlossen, oder vielmehr entschlossen, alles so gehen zu lassen, wie es ging. Jegliche Entscheidungskraft war weg, versunken im Ozean seines strömenden Blutes, in dessen Flut und Ebbe es ihm schien, als würde die Richtung dieser Ströme neu geboren. Zusammen stolperten sie in das Tal des Flusses, hasteten stromaufwärts am Ufer entlang, hielten sich bei den Händen. Nur momentweise wußte er überhaupt, was er tat. »Was ist los mit dir?« »Du bist verrückt!« »Nein, du bist verrückt!« Sie hasteten über ein Bett großer zerbrochener Muscheln. Man hätte sich an einer solchen Schale die Hand aufschneiden können. Er hatte schon im Reiseführer darüber nachgelesen. Zuerst hatte er gedacht, es seien Zähne eines Tieres, nicht die Behausungen früher Cephalopoden. Silurisch vielleicht, und vom Meer geschärft, um hier im Tertiär sein Quartärblut zu vergießen, bestünde nicht jene undurchdringliche mentale Schranke zwischen dem Gewesenen und dem Seienden. Die Muscheln knirschten nicht einmal,
als er und das Mädchen darüberstiegen. In fiebriger Erregung blickte er zu Boden und sah, daß ihre Füße sich unter der Muscheloberfläche befanden und auf den schwammigen Boden traten, der eher zu ihrer eigenen Periode als zum Devon gehörte – die zeiteinheitliche Bodenhöhe, eine Art kleinster gemeinsamer Nenner für Erdböden. Sie blieben in einer geschützten Mulde stehen. Sie umarmten sich. Voller Spannung starrten sie im schwindenden Abendschein einander ins Gesicht. Er wußte nicht mehr, wie lange sie so standen, noch was sie sprachen; nur eine Bemerkung Anns drang bis zu ihm: »Wir sind ja Millionen Jahre von unserer Geburt entfernt – wir müßten doch frei sein und tun können, was wir wollen.« Was hatte er erwidert? Irgend etwas, das Wert für sie haben mochte? Etwas, das er geben konnte? Er wußte nur noch, wie er sie zu Boden gerissen, ihr diese angeberischen Stiefel ausgezogen, ihr geholfen, die Hose abzustreifen, sich seine eigene Hose heruntergezerrt hatte. Sie war wie auf Vollgas, sofort und unwiderstehlich bereit für ihn, sie umfaßte ihn mit allen ihren Kräften. Später rührte ihn immer wieder die Erinnerung an diese seltsame Bewegung ihres im Knie gebeugten Beines, wie sie es anhob, um ihn einzulassen; und an die Überraschung und Dankbarkeit, die ihn überkam, weil er im Auf und Ab dieses heulen-
den Meeres der Jahrhunderte jene liebliche Spalte gefunden hatte und darin eingehen konnte. Als sie ruhten, hörten sie die Motorräder dröhnen wie ferne enttäuschte Tiere. Das stachelte sie zu einem neuen Liebesakt auf. »Du riechst verdammt gut! Du bist schön!« Bei diesen Worten merkte er erst, wie angezogen sie beide noch waren. Er schob ihr Hemd und Jacke hoch, um ihre Brüste zu küssen. »Wir müßten so nackt sein wie Wilde ... Wir sind doch Wilde, nicht wahr, Bush?« »Gott sei Dank, ja. Du hast ja keine Ahnung, wie weit ich normalerweise vom Wilden entfernt bin. Muttergebunden, voller Zweifel und Ängste. Nicht wie dein Lenny.« »Der? Der ist ja bloß verrückt. In Wirklichkeit hat er Angst ... Angst vor all dem ...« »Vorm Lieben, meinst du? Oder vor der RaumzeitWelt?« »Genau das. Er hat Angst vor allem, was unter der Oberfläche liegt. Sein Alter hat ihn früher immer blutig geschlagen.« Ihre Gesichter lagen dicht beieinander. Sie waren bleicher als die Dämmerung, die sich um sie vertiefte und für immer in die Verschränktheit ihrer Sinne einsank. »Ich habe Angst vor ihm. Oder hatte Angst, als euer Haufen auftauchte. Ich dachte, sie würden mich
zusammenschlagen. Alles schön und gut ... aber was ist mit dir, Ann?« Sie hatte sich aufgesetzt und fing an, ihre Bluse herunterzuziehen. »Hast du was zu rauchen? Ich bin nicht mitgekommen, um mir anzuhören, was du für 'ne Pflaume bist. Scheiß auf das alles! Ihr Männer seid alle gleich – mit jedem von euch stimmt etwas nicht.« »Wir sind nicht alle gleich, längst nicht! Aber jetzt ist mal der Moment zum Reden. Ich habe monatelang mit keinem richtig reden können. Ich war in Schweigen eingeschlossen. Und nichts, das man anfassen kann ... Da wird man von Phantomen verfolgt. Ich müßte wirklich ins Jahr 2090 zurückgehen, meine Mutter besuchen – aber ich kriege Ärger, wenn ich da aufkreuze. Es ist so lange her, daß ich ein Mädel gebumst habe ... wirklich, ich fing schon an, mir einzubilden, ich sei schwul oder so was.« »Warum erzählst du mir das?« fragte sie böse. »Es ist der Wunsch, ehrlich zu sein, wenn ich kann. Das ist ein Luxus, nicht wahr?« »Also, hör gefälligst auf damit, ja? Ich beschlabbere dich ja auch nicht mit 'nem Haufen Blödsinn, oder? Deswegen bin ich schließlich nicht mit dir mitgegangen.« Noch vor einem Moment hatte Bush nur Liebe für sie empfunden. Jetzt überkam ihn die Wut. Er warf ihr ihre Sachen hin. »Zieh dir deine Hosen an und
hau ab zu deinem Halbaffen, wenn du so darüber denkst! Warum bist du mir denn überhaupt nachgelaufen?« Sie legte ihm die Hand auf den Arm; seine Wut focht sie offenbar nicht an. »Ich hab eben 'nen Fehler gemacht. Dachte, du wärst 'n bißchen anders.« Sie blies Rauch zu ihm hin. »Reg dich nicht auf, der Fehler hat mir schon Spaß gemacht. Du kannst das ganz gut, selbst wenn du schwul bist!« Er sprang auf, zog ohne jede Würde seine Hosen hoch und war wütend – mehr auf sich selbst als auf Ann. Er drehte sich um: da stand Lennys dunkle Gestalt vor dem zitronenfarbenen Himmel. Er nahm sich zusammen, zog seine Reißverschlüsse zu und ließ ihn kommen. Lenny war jedoch stehengeblieben. Er drehte den Kopf und rief zu den anderen hinüber: »Hier ist er!« »Komm her, wenn du was willst!« sagte Bush. Er hatte Angst; wenn sie ihm die Finger brachen, konnte er vielleicht nie wieder richtig arbeiten. Oder wenn sie ihn blind machten ... Hier gab es keine Polizeistreifen, sie konnten mit ihm anstellen, was sie wollten, sie hatten die ganze weite Devon-Zeit zur Verfügung, in der sie ihn zusammenschlagen konnten. Dann fiel ihm ein, was ihm Ann gesagt hatte: Lenny hatte auch Angst.
Er ging langsam vorwärts; Lenny hatte irgendein Werkzeug in der Hand, einen Schraubenschlüssel. »Ich krieg dich, Bush!« sagte er und blickte über die Schulter, ob die andern ihm helfen würden. Bush sprang ihn an, schlang die Arme um ihn und schleuderte ihn heftig hin und her. Der Thirt war unerwartet leicht. Er stolperte, als Bush ihn losließ. Als er den Schraubenschlüssel hob, schlug Bush ihm ins Gesicht und trat dann zurück, als ob er es dabei belassen wollte. »Hau ihn noch mal!« schrie Ann. Er schlug Lenny nochmals. Lenny trat ihm gegen die Kniekehle. Er fiel, faßte Lennys Beine und warf ihn ebenfalls um. Lenny hob wieder den Schraubenschlüssel, Bush packte ihn am Handgelenk, und sie wälzten sich kämpfend herum. Schließlich traf Bush mit seinem Knie Lennys Geschlechtsteile, und der Thirt gab den Kampf auf. Keuchend erhob sich Bush und hielt sein Knie umklammert. Die anderen vier von der Bande standen nicht weit weg in einer Reihe. »Wer ist der nächste?« Als sie keine Neigung zeigten, sich zu rühren, deutete er auf ihren Führer. »Hebt ihn auf! Schafft ihn weg!« Widerstandslos gehorchten sie. Einer sagte nur noch: »Du bist auch bloß ein Schläger. Wir haben dir ja nichts getan. Ann ist schließlich Lennys Mädel.« Der Kampfwille verließ ihn. Von ihrem Standpunkt
aus hatten sie völlig recht, wenn sie die Sache so ansahen. Gewiß, ihre ganze Art hatte ihm von Anfang an mißfallen, aber das war nicht in dem Maße ihre Schuld, wie er angenommen hatte. »Ich haue ab«, verkündete er. »Lenny kann sein Mädel behalten.« Es wurde Zeit. Er würde an eine sichere Stelle gehen und sich in eine andere Zeit und an einen anderen Ort transzendieren. Er suchte sich einen Weg in die Berge und sah sich dabei öfter um, ob sie nicht hinter ihm herkämen. Nach einer Weile hörte er das Geräusch ihrer Motorräder, empfand die Verlassenheit dieses Geräusches, machte kehrt und beobachtete, wie ihre Laser-Lichter immer weiter den Strand entlanghuschten, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Die Dunkle Frau war phantasmagorisch zur Stelle; er konnte die verschwindenden Lichter durch ihre Schattengestalt hindurch sehen. Zweifellos war sie »im Dienst« und kam aus ihrer eigenen weit entfernten Zukunft. Durch ihre Augenhöhlen glitzerte das Sternbild Bootes. Dicht neben sich hörte er ein Geräusch; jemand aus seinem eigenen Kontinuum, jemand zwischen ihm und aller anderen Zeit. Das Mädchen kam hinter ihm her. »Will dein Halbaffe dich nicht mehr haben?« »Sei doch nicht so, Bush! Ich muß mit dir reden.« »O Gott!« Er nahm sie beim Arm und zog sie durch
die Dunkelheit mit sich. Schließlich gab es auf dem Zeit-Einheitsboden keine Hindernisse, über die man fallen konnte. Wortlos kletterten sie zu seinem Zelt hinauf und krochen hinein.
2 – Zum Entropie-Gipfel Als er erwachte, war sie weg. Lange lag er da, starrte hinauf zum Zeltdach, fragte sich, wieviel sie ihm bedeute. Er brauchte Gesellschaft, aber wenn er welche hatte, fühlte er sich niemals völlig wohl dabei; er brauchte eine Frau und war doch niemals ganz glücklich mit einer. Er hatte den Wunsch, sich zu unterhalten, und wußte doch genau, daß ein Gespräch meistens nur auf die Erkenntnis hinausläuft, daß es keine Kommunikation gibt. Er wusch sich, zog sich an und kroch aus dem Zelt. Keine Spur von Ann. Aber in der mentalen Transzendenz hinterläßt natürlich niemand eine Spur; also war ringsum die lebhaft grüne Vegetation unzertrampelt, obwohl Bush ein dutzendmal hin und hergelaufen war, wenn er seinen Wachtposten bei den Quastenflossern bezog. Die Sonne schien. Ihr riesiger unermüdlicher Brennofen goß Wärme über eine Welt, in der die Kohlenlager erst noch angelegt werden mußten, zum Gedenken an die große Zeit der biologischen Verbrennungsvorgänge. Bush hatte Kopfschmerzen. Eine Zeitlang stand er da, kratzte sich und dachte darüber nach, woher seine
Kopfschmerzen kämen – von der gestrigen Aufregung oder vom unerbittlichen Druck der leeren Äonen. Es mußte das letztere sein. In diesen leeren Jahrhunderten lebte keiner wirklich; er und die Thirts und vielleicht noch andere Menschen waren zwar hergereist, aber ihre Beziehung zum wirklichen Devon war ganz oberflächlich. Die Menschen – oder zum wenigsten die Gelehrten des Wenlock-Instituts – hatten den Zeitablauf besiegt, aber da der Zeitablauf nichts weiter war als ein neurotischer Tick des homo sapiens, blieb das Universum als solches von dieser Errungenschaft unberührt. »Malst du nun eine Komposition von mir?« Bush wandte sich um. Das Mädchen stand etwas oberhalb von ihm, ein paar Fuß entfernt. Weil durch den Dimensionenwechsel zwischen ihr und der hiesigen Welt Licht ausgefiltert wurde, erschien sie dunkel und gespensterhaft. Er konnte kaum ihr Gesicht erkennen; alle Zeitreisenden wurden, selbst füreinander, zu halben Gespenstern. »Ich dachte, du wärst zu deinen Freunden zurückgegangen.« Ann kam zu ihm herab. Lässig baumelte ihr Luftlecker. Mit offener Bluse und ungekämmtem Haar sah sie mehr denn je wie eine Landstreicherin aus. Sie faßte seinen Bizeps und fragte: »Hast du gehofft oder gefürchtet, daß ich zurückgegangen sein könnte?«
Er blickte sie mit zusammengezogenen Brauen an und grübelte darüber nach, wie sie eigentlich sei. Menschliche Beziehungen höhlten ihn immer aus; vielleicht hatte er sich deshalb hier so lange herumgetrieben, hier unten im Vakuum der abgepumpten Zeit. »Ich werde überhaupt nicht klug aus dir, Mädchen. Nichts für ungut. Das ist, als wenn man durch zwei dicke Glasscheiben sieht ... Jedesmal stellt sich heraus, daß die Menschen anders sind, als sie scheinen.« Jetzt schaute sie nicht mehr so böse drein, sondern betrachtete ihn fast mit Sympathie. »Was kratzt dich denn so, Süßer? Was ganz Tiefgründiges, ja?« Ihm war, als risse ihre Sympathie eine Wunde auf. »Davon kann ich dir nicht mal den Anfang erzählen. Das sitzt alles so tief drin in meinem Schädel. Alles in den Gehirnwindungen verfilzt.« »Erzähl's ruhig, wenn dir besser davon wird. Ich hab das ganze Devon lang Zeit.« Er schüttelte den Kopf. »Was deine Freundin Josie gestern sagte ... daß dieses hier vielleicht eher das Ende als der Anfang der Welt ist. Ich kann mich da nur 'rauswickeln, wenn ich mein Leben ganz neu von vorn beginne.« Ann lachte. »Zurück in den Mutterleib, hä?« Er merkte, daß ihm unwohl wurde. Auch das mußte man dem Institut berichten; man konnte den
Verstand verlieren in diesen lautlosen Labyrinthen. Er brachte kein Wort heraus, geschweige denn, daß er Ann für diese Scheußlichkeit, die sie eben geäußert hatte, gebührend über den Mund fahren konnte. Mit einem tiefen Seufzer ging er zu seinem Zelt hinüber und zog an der Ventilschnur, um die Luft herauszulassen. Zuckend fiel es zusammen; er mochte dabei nie zusehen, aber heute lieferte irgendein Quatschkopf in seinem Innern einen Kommentar dazu und verglich es mit einem Mutterbauch, der enttäuscht war, weil das Kind Glück gehabt hatte und ihm entflohen war. Gleichmütig legte er das Zelt zusammen und packte es ein. Er holte seine Rationen hervor und traf die einfachen Vorbereitungen für sein Frühstück; das Mädchen stand dabei und sah ihm zu. Zeitfahrer nehmen nur das Nötigste an Nahrung und Kochgerät mit, spartanisch bis zum äußersten, aber sehr praktisch. Mehrere Male hatte er seine Vorräte bei anderen Zeitfahrern ergänzt, die früher als vorgesehen »aufgetaucht« – in die Gegenwart zurückgekehrt – waren, weil sie die Lautlosigkeit nicht länger aushalten konnten; auch bei einem Freund, der im Jura einen kleinen Laden besaß, hatte er sich etwas gekauft. Als sein Napf mit Fleischessenz dampfte, hob er den Kopf, bis er dem Mädchen in die Augen sah. »Hast du Lust mitzuessen, bevor du abhaust?«
»Wenn du mich schon so liebenswürdig einlädst ...« Sie setzte sich zu ihm, lümmelte sich mit gespreizten Beinen und lächelte ihn an – dankbar sogar, dachte Bush, für meine elende Gesellschaft. »Ich wollte dich nicht aufregen, Bush! Du bist ebenso empfindlich wie Stein.« »Wer ist Stein?« »Der alte Knacker, der eine von der Bande. Du weißt doch – gefärbtes Haar. Du hast mit ihm gesprochen. Er hat dir die Hand gegeben.« »Ach so, ja, Stein! Wie ist denn der zu dir und Lenny geraten?« »Irgendwelche Typen wollten ihn zusammenschlagen oder so was, und Lenny mit seinen Jungs half ihm. Er ist furchtbar nervös. Als er dich zuerst sah, dachte er, du wärst ein Spion, weißt du. Er kommt aus 2093 und sagt, da ist es ziemlich scheußlich.« Bush hatte keine Lust, an die zweitausendneunziger Jahre und die triste Welt, in der seine Eltern lebten, zu denken. Er sagte: »Lenny hat also auch seine guten Seiten?« Sie nickte, aber ihre Gedanken gingen ihre eigenen Wege. »Stein hat mir Angst gemacht wegen der Zeitreisen. Er sagte, das Wenlock-Institut könnte ganz falsch liegen, was die Zeitreisen anlangt, und wir sind vielleicht überhaupt nicht hier, oder so was ähnliches, weißt du? Er sagt, mit dem Tiefbewußtsein ist es ganz
was Unheimliches, und das hätte bis jetzt noch keiner begriffen, trotz allem, was das Wenlock-Institut behauptet.« »Na ja, das ist ja auch alles noch ganz neu. Das Konzept vom Tiefbewußtsein wurde ja erst 2073 entwickelt, und die erste Zeitreise wurde nur zwei Jahre später unternommen. Da ist also noch manches zu entdecken – obschon schwer zu sehen ist, was das noch sein könnte. Was weiß denn Stein überhaupt darüber?« »Vielleicht hat er auch bloß angegeben, weil er bei mir Eindruck schinden wollte.« »Hast du ... ich meine, hat er mit dir geschlafen?« »Eifersüchtig?« Sie grinste ihn herausfordernd an. »Was soll ich dir darauf antworten?« Sie starrten einander in die Gesichter. Durch den Drecküberzug des ihren sah er Leben schimmern. Er beugte sich vor, griff sie und küßte sie. Sie nahm den kochenden Fleischextrakt von dem winzigen Kocher und sagte: »Ich glaube, ich habe von der Devon-Zeit so ziemlich die Nase voll. Wie wär's, wenn du mit mir ins Juraikum gingst?« »Wollen nicht Lenny und Co. auch dahin?« »Na und? Es gibt ja sechsundzwanzig Millionen Jahre Jura.« »Touché. Was willst du denn da? Zusehen, wie sich die fleischfressenden Saurier begatten?«
Sie warf ihm einen verschlagenen Seitenblick zu. »Wir können uns das ja gemeinsam ansehen.« Im Augenblick war er erregt. Er ließ seine Hand über ihren Schenkel gleiten. »Ich komme mit.« Als sie ihren Fleischextrakt tranken, mußte er höhnisch über sich selbst grinsen, weil er sich mit diesem Mädel einließ; es war ein konfuses Geschöpf und würde nur sein geistiges Gleichgewicht stören. Immerhin war sie gut auf der Matratze, und nicht unintelligent; aber es hatte ihn noch niemals befriedigt, einen Menschen scheibchenweise zu akzeptieren – doch als Ganzes schien sie ihm nicht recht zugänglich. Und vielleicht war es auch nicht seine Sache, ihr dabei zu helfen, daß sie als Gesamtpersönlichkeit zugänglicher wurde. Sie kuschelte sich an ihn. »Auf Zeitfahrt brauche ich jemanden, der bei mir ist. Ich hätte Angst davor, das allein zu machen. Meine Mutter würde nicht auf Zeitfahrt gehen, nicht um ihr Leben! Leute aus ihrer Generation könnten sich nie daran gewöhnen, glaub ich. Ich wünschte, wir könnten mal ein ganz kleines Stück zurückfahren – nur so eine Generation, weißt du – weil ich so gern mal sehen möchte, wie mein Alter meine Mutter umschwänzelt und bumst – bestimmt haben sie's verpatzt, genau wie alles andere.« Da er nichts darauf erwiderte, stieß sie ihn an. »Na los, sag doch was! Möchtest du nicht auch deinen El-
tern dabei zusehen? Du bist doch gar nicht so spießig, wie du immer tust, was, Bush? Es würde dir bestimmt unheimlich Spaß machen!« »Ann, du merkst gar nicht, was du für gräßliches Zeug zusammenredest!« »Ach komm schon, du hättest doch auch deinen Spaß daran!« Bush schüttelte den Kopf. »Ich besitze so ausreichende Daten über meine Eltern, daß ich dergleichen nicht brauche. Aber deine Ansicht ist wohl die Ansicht der Mehrheit. Doktor Wenlock hat mal eine Umfrage gestartet, vor zehn Jahren, ich meine 2080 –, und die zeigte, wie häufig Zeitfahrer inzest-motiviert sind. Das ist die eigentliche Kraft, die hinter dieser Veranlagung zum Rückblick steckt. Das Resultat koinzidiert auch mit der alten psychoanalytischen Theorie von der Natur des Menschen. Aber nach den heute akzeptierten Theorien ist der Mensch erst zum homo sapiens geworden, nachdem er die – nun, sagen wir Endogamie, also den Brauch, nur innerhalb des eigenen Familien-Clans zu heiraten, mit einem Tabu belegte. Die Exogamie war des Menschen erster schmerzensvoller Schritt vorwärts. Kein anderes Tier hat die Endogamie tabuisiert.« »Und hat sich das vielleicht gelohnt?« rief Ann aus. »Nun, seitdem ist der Mensch all das geworden, was er jetzt ist – soweit wir darüber Bescheid wissen
– Eroberer seiner Umwelt und all das, aber seine Trennung von der Natur scheint mir immer stärker zu werden – ich meine die Trennung von seiner wahren Natur. So wie die Wenlock-Leute das sehen, ist das Tiefbewußtsein eigentlich unsere alte wahre Mentalität. Das Oberbewußtsein ist ein späterer, ein homo sapiensZusatz, ein Hochleistungs-Dynamo, dessen wichtigste Funktion es ist, die Zeit zu strukturieren und alle diese traurigen tierischen Gedanken in das Tiefbewußtsein zu verdrängen. Die ganz Extremen wollen wahrhaben, daß der Zeitablauf nur eine Erfindung des Oberbewußtseins ist.« Vielleicht hatte sie gar nicht zugehört. Sie sagte: »Weißt du, warum ich dir gestern nachgegangen bin? Gleich als du aufgetaucht bist, hatte ich das ganz starke Gefühl, daß wir beide, du und ich, uns in irgendeiner längst vergangenen Zeit gut gekannt haben.« »Ich hätte mich schon an dich erinnert!« »Da muß mein Tiefbewußtsein aufgemuckt haben. Aber ganz egal; was du da gesagt hast, war sehr interessant. Du glaubst es auch selbst, nehme ich an?« Er lachte. »Wie kann man das nicht glauben? Wir sind doch im Devon, nicht wahr?« »Aber wenn das Tiefbewußtsein die Zeitreisen beherrscht und das Tiefbewußtsein so verrückt nach Inzest ist, dann müßten wir doch gerade die Zeiten be-
suchen können, die uns nahe bei der Hand sind, den Anfang unseres Jahrhunderts zum Beispiel, so daß wir sehen können, wie unsere Eltern und Großeltern aufgewachsen sind. Das müßte doch das Allerinteressanteste sein, oder? Aber es ist leichter, sich hierher zu transzendieren, als zu den frühesten Erdzeitaltern. Schon in eine Zeit zu reisen, in der es überhaupt schon menschliche Wesen gibt, ist sehr schwer. Unmöglich für die meisten.« »Stimmt; aber es beweist nicht das, was du denkst. Wenn du dir die Raumzeit als einen riesigen Entropie-Abhang vorstellst, wo die wahre Gegenwart immer am Punkt der höchsten Energie und die fernste Vergangenheit immer am Punkt der tiefsten Energie ist, dann würde doch offenbar unser Bewußtsein, sobald es sich vom Zeitablauf befreit hat, automatisch an diesen tiefsten Punkt zurückfallen, und je höher wir nach oben streben, desto schwieriger wird es – Fallen ist immer leichter als Steigen.« Ann sagte nichts dazu. Wahrscheinlich, dachte Bush, ist dergleichen überhaupt kein Thema für sie, und sie hat es bereits beiseitegeschoben. Aber etwas später fing sie wieder an: »Weißt du noch, was du darüber gesagt hast, daß mein wahres Ich gut und liebevoll ist? Mal angenommen, es gibt so eine Person überhaupt – ist sie dann in meinem Tiefbewußtsein oder in meinem Oberbewußtsein?«
»Angenommen, es gibt, wie du sagst, eine solche Person – dann muß sie ein Amalgam von beiden sein. Was weniger ist als das Ganze, kann nicht das Ganze sein.« »Vermutlich.« Sie lachten. Er war in beinahe heiterer Stimmung. Er diskutierte gern, besonders wenn er sich über das irritierende Thema der Bewußtseinsstruktur auslassen konnte. Wenn sie aufs neue transzendieren wollten, dann war offenbar jetzt die richtige Zeit, da sie in einer Art Harmonie miteinander standen. Transzendieren war niemals einfach, und der Trip konnte recht unangenehm werden, wenn man emotionell erregt war. Sie packten ihre Bündel und schnallten sich ihre wenigen Habseligkeiten auf den Rücken. Dann faßten sie sich an, Arm in Arm, sonst war keine Garantie dafür, daß sie bei der Ankunft nicht ein paar Millionen Jahre und mehrere hundert Meilen auseinandergerieten. Sie rissen ihre Drogenpackungen auf. Das CSD wurde in kleinen Ampullen geliefert, es war klar, fast farblos. Als Bush seine Ampulle hochhob und gegen den paläozoischen Himmel hielt, bekam es zwischen seinen Fingern einen leicht grünlichen Ton. Sie sahen einander in die Augen, gleichzeitig schluckten sie die Flüssigkeit. Bush fühlte die Crypotinsäure seine Kehle hinun-
terrinnen. Die Flüssigkeit war wie ein Symbol der Hydrosphäre, ein Opferwein, der das Meer bedeutet, aus dem das Leben gekommen war, alle jene Meere, welche noch immer die Arterien des Menschen waschen, die Meere, welche immer noch seine äußere Welt regulieren und wohnbar machen, die Ozeane, die ihm immer noch Nahrung und Klima bescheren; das Meer, Blut der Biosphäre. Und er selbst war eine Biosphäre, die alles fossile Leben und Denken seiner Ahnen, andere Lebensformen, zahllose unausgesprochene Möglichkeiten, Leben und Tod umschloß. Er war ein Analogon der Welt; durch das CSD konnte er aus einer Form der Welt in die andere transzendieren. Nur solange man sich im Stadium des Tranzendierens befand, nur solange die Droge wirkte, konnte man andeutungsweise die Natur jener winzigen Störung des Energie-Kontinuums begreifen, die unser Sonnensystem ist, die Luftblase im Ozean kosmischer Kräfte, Teilchen einer grenzenlosen, aber in bezug auf Zeit und Raum keineswegs unendlichen Metastruktur. Und über diese simple Gegebenheit staunt der Mensch nur deshalb, weil er sich von ihr abgeschlossen, seinen Geist vor ihrer Unendlichkeit abgeschirmt hat, so, wie die Ionosphäre um seinen kleinen Planeten ihn vor schädlichen kosmischen Strahlen ab-
schirmt. Daher hat der Mensch dieses Wissen verloren, ja er hat sich sogar gegen diese Erkenntnis mittels der Konzeption vom Ablauf der Zeit verteidigt. Diese Konzeption hat ihm das Universum erst erträglich gemacht, denn sie schied ihn nicht nur von der immensen räumlichen Ausdehnung (die vor einigen Generationen wiederentdeckt worden war), sondern vor allem von der ungeheuren Zeitmasse. Die Menschen hatten die ungeheure Zeit in winzige zappelnde Fragmente zerhackt, mit denen sie fertigwerden konnten, die sie mit Sonnenuhren, Stundengläsern, Taschenuhren, Großvater-Standuhren, Chronometern einfangen konnten – Instrumenten, mit denen jede Generation die Zeit immer kleiner, immer feiner schabte ... bis man die quälende Unnatur dieses ganzen Prozesses erkannt hatte, bis Wenlock und seine Männer diese Verschwörung ans Licht gezogen hatten. Aber eine solche Verschwörung war notwendig gewesen. Ohne eine solche Verschwörung, ohne Schutz vor der blinden Raumzeit-Wüste lebte der Mensch immer noch mit den anderen Tieren, nomadisierte er in Stämmen und Horden an den Rändern der hallenden Vier Meere. Wenigstens besagt das die Theorie. Auf jeden Fall war soviel klar: eine Verschwörung hatte es gegeben. Jetzt war der Schutzschild gefallen. Die Komplexitäten von Cerebrum und Cerebellum standen nackt
vor dem Kontinuum des Universums und verschlangen, was ihnen in den Weg kam. Das Transzendieren war ein Augenblicksprozeß. Es sah leicht aus, obwohl ein hartes Training dahintersteckte. Als das CSD ihren Stoffwechsel umkippte, unterwarfen sich Bush und Ann der Wenlock-Disziplin – diesem Formel-System, das das Institut ausgearbeitet hatte, um sie durch die Schranken des menschlichen Geistes zu führen. Das Devon löste sich jetzt auf, als schreite eine riesige Kreatur der ewigen Zeit hinweg, deren räumliche Merkmale ihr einfach als äußeres Skelett dienten. Bush öffnete den Mund zum Lachen, aber es kam kein Laut. In dem überhöhten Zustand des Transzendierens verlor man die meisten seiner physischen Eigenschaften. Alles verschwand, außer dem Richtungssinn. Es war, als schwimme man gegen den Strom; das Schwerste war die Richtung auf die eigene »Gegenwart«; sich in fernste Vergangenheit treiben zu lassen, war relativ leicht – und führte gelegentlich zum Erstickungstod, wie mancher schon hatte erfahren müssen. Wäre einem Foetus im Mutterleib die Fähigkeit des Zeitreisens gegeben, so stünde er vor derselben Situation – entweder müßte er sich zur Klimax der Geburt durchkämpfen, oder sich ohne Anstrengung zum letzten – oder war es der erste? – Moment der Nichtexistenz zurücksinken lassen. Er spürte die Zeit nicht, auch nicht den Puls in sich,
der ihm als Chronometer diente. In einem seltsamen hypnoiden Zustand fühlte er, daß er einem riesengroßen Körper aus Wirklichkeit nahe war, der gleich viel Verwandtschaft mit Gott wie mit der Erde zu haben schien. Er erwischte sich dabei, daß er wieder zu lachen versuchte. Dann erstarb das Gelächter, und er fühlte sich fliegen. Er spürte die Unbequemlichkeit, jemanden bei sich zu haben – und dann waren er und Ann von einer dunkelgrünen Welt umgeben, und die Wirklichkeit, wie man sie zu fühlen gewohnt ist, war wieder um sie. Die Wirklichkeit des Jura.
3 – Das Gasthaus zum Amnion-Ei Bush hatte den Jura niemals sonderlich leiden mögen. Er war ihm zu heiß und zu wolkig; er erinnerte ihn an einen langen, elenden Tag seiner Kindheit, als ihn seine Mutter bei einem unschuldigen Streich erwischt und den ganzen Tag lang im Garten ausgesperrt hatte. Das war auch so ein wolkenreicher Tag gewesen, und so heiß, daß die Schmetterlinge nur so hoch flogen, als die Blütenköpfe standen. Ann hatte ihn losgelassen und streckte sich. Sie hatten sich neben einem toten Baum materialisiert. Dessen nackte glänzende Arme waren wie ein Vorwurf für das Mädchen; Bush sah zum erstenmal bewußt, was für eine Schlampe, wie dreckig und ungekämmt sie war, und wunderte sich, daß dadurch seinen Gefühlen für sie keineswegs Abbruch geschah – was für Gefühle das auch immer sein mochten. Sie gingen weiter, ohne zu reden, noch ganz im Banne der Desorientierung, der unweigerlichen Begleiterscheinung des Transzendierens. Auf rationale Weise konnte man nicht wissen, an welchem Erdenort, in welcher Erdenzeit man sich befand, aber ein irrationaler Teil des Tiefbewußtseins merkte es und ließ die Information auch meistens an die Oberfläche gelangen. Das Tiefbewußtsein hatte sie ja schließlich
hierhergebracht und dabei vermutlich seine eigenen guten Gründe gehabt. Sie standen in den Vorhügeln eines Gebirges, auf dem sich Urwald zusammenrottete. Auf halber Bergeshöhe leckten die Wolken alles Sichtbare weg. Alles war still; das Blattwerk schien im langen Schweigen des Mesozoikums gefroren zu sein. »Gehen wir lieber in die Ebene hinunter«, sagte Bush. »Ich denke, da sind wir richtig. Ich habe hier Freunde, die Borrows.« »Die leben hier, meinst du?« »Die haben einen Laden. Borrow war früher auch Maler. Seine Frau ist nett.« »Werden sie mir gefallen?« »Glaube ich kaum.« Er ging voran. Was er für Ann fühlte, wußte er nicht recht; er fürchtete, daß eine allzu feste, unerwünschte Bindung entstehen könnte, wenn er sie zu Roger und Ver brachte. Ann sah eine Weile hinter ihm her und folgte dann. Das Juraikum ist wie keine andere Erdzeit dazu geschaffen, daß man sich darin halb zu Tode langweilt, wenn man allein ist. Fast den ganzen Tag lang stiegen sie abwärts, immer mit dem Rucksack auf dem Rücken. Es war nicht leicht, weil man nicht sehen konnte, wohin man trat; sie waren von der umgebenden Wirklichkeit voll abgeschirmt. Sie waren Gespenster, nicht imstande,
auch nur die kleinste Veränderung des geringfügigsten Bestandteils ihrer Umwelt zu bewirken. Nicht den kleinsten Kiesel konnten sie wegstoßen, allenfalls veränderten sie das Charisma der Orte, an denen sie spukten. Nur die Luftlecker vermittelten eine schwache Bindung an die Aktualität von Ort und Zeit, denn sie saugten ihren Luftbedarf durch die unsichtbare Entropie-Schranke, die sie umgab. Die zeit-einheitliche Bodenfläche, auf der sie schritten, lag manchmal unter dem faktischen Bodenniveau, so daß sie bis zu ihren Gespensterknien im Schlamm wateten; oder es geschah auch manchmal, daß sie in der Luft zu schreiten schienen. Im Innern des Waldes konnten sie ohne Schwierigkeiten durch die Baumstämme hindurchgehen. Nur manchmal hielt ein einsamer Baum sie auf; dann spürten sie seine schwammigweiche Präsenz und mußten um ihn herumgehen, denn seine Lebensspanne war lang genug – will sagen, er hatte den Risiken des Lebens lange genug getrotzt, um für sie ein zwar schattenhaftes, aber doch halbmaterielles Hindernis zu bilden. Einige Zeit vor Sonnenuntergang machte Bush halt und schlug das Zelt auf – er pumpte so lange, bis es sich zu einer Form bauschte. Er und das Mädchen aßen miteinander, und dann wusch er sich ostentativ, bevor sie sich für die Nacht fertigmachten.
»Wäschst du dich überhaupt nie?« fragte er. »Manchmal. Vermutlich wäschst du dich, weil es dir Spaß macht?« »Wem sonst soll es denn Spaß machen?« »Und ich bleibe dreckig, weil es mir Spaß macht.« »Das muß eine Art Neurose sein.« »Ja. Wahrscheinlich weil sich solche Saubermänner wie du darüber ärgern.« Er setzte sich zu ihr und schaute ihr ins Gesicht. »Du hast also wirklich das Bedürfnis, andere Leute zu ärgern? Warum? Denkst du, es ist gut für sie? Oder gut für dich?« »Vielleicht habe ich die Hoffnung aufgegeben, es ihnen recht zu machen.« »Ich war immer der Meinung, es sei im ganzen so rührend leicht, es den Menschen recht zu machen.« Später, als er sich an dieses Bruchstück ihres Gesprächs erinnerte, ärgerte er sich, weil er ihrer Bemerkung nicht mehr Aufmerksamkeit gegönnt hatte; zweifellos öffnete sie eine Einsicht in ihr Verhalten und gab einen Hinweis darauf, wie er am besten mit ihr auskommen könnte. Aber als er zu der Ansicht gelangt war, daß sie ein Mädel sei, mit dem man trotz aller Stachligkeit echt diskutieren könne – da war sie schon weg. Auf jeden Fall war es falsch gewesen, sie herauszufordern, nachdem sie einen so anstrengenden Tag so
klaglos durchgestanden hatte – selbst die Dunkle Frau war müde geworden; sie hatte für heute Feierabend gemacht und sich in Nichts aufgelöst. Als er am nächsten Morgen erwachte, schlief Ann noch. Er stolperte aus dem Zelt, um den Sonnenaufgang zu betrachten. Aus dem Zelt zu kriechen und dort die weite, überladene Landschaft vorzufinden, war wie ein Traum; aber dieser Traum konnte sich noch Jahrmillionen weiterträumen. Eine Million Jahre ... die würden vielleicht eines fernen Tages nach einer Wertskala, deren sich die Menschheit dann bedienen mochte, unbedeutender und trivialer als eine Sekunde sein. Unter dem gleichen Gesichtspunkt war vielleicht keiner dieser Millionen Sonnenaufgänge für Bush so wesentlich wie irgendeine ganz banale, ganz zufällige, ganz unbedeutende Bemerkung Anns. Als sie zusammenpackten, um weiterzuziehen, fragte sie ihn wieder, ob er eine Komposition von ihr malen würde. Bush freute sich, daß sie sich für seine Arbeit interessierte, obwohl sie gar nichts davon verstand. »Ich halte nach etwas Neuem Ausschau. Ich bin zur Zeit blockiert – schöpferische Künstler kennen diesen Zustand. Plötzlich bekommt das menschliche Bewußtsein diese völlig neue Zeitstruktur an den Kopf geschmissen, und ich muß sie, so gut ich kann, in meiner schöpferischen Arbeit widerspiegeln – oh-
ne gerade eine Illustration zu liefern, wenn du verstehst, was ich meine. Aber ich kann nicht anfangen, kann nicht mal anfangen anzufangen.« »Malst du nun eine Komposition von mir oder nicht?« »Ich hab's dir doch eben erklärt: nein. Kompositionen sind auch keine Porträts von irgendwelchen Leuten.« »Also malst du abstrakte Bilder?« »Du kennst wohl nicht die Bilder von J. M. W. Turner? Seit damals – und er gehört zur mittelviktorianischen Periode – besitzen wir technische Mittel zur vollkommenen Wiedergabe der Formen der Natur. Abstrakte Bilder geben aber die Formen von Ideen wieder; und deswegen kann, trotz aller Computer, nur der Mensch abstrakte Bilder schaffen.« »Ich finde aber Computer-Graphik unheimlich gut.« »Und ich kann sie nicht ausstehen. Mit meinen raumkinetischen Kompositionen versuche ich ... oh, die Idee eines Moments, eines Zeitalters zu identifizieren. Eine Zeitlang habe ich auf Spiegelglas gearbeitet – da sah jeder eine RKK anders, weil Teile seines eigenen Gesichts darin herumgeisterten. So sehen wir auch das Universum. Objektives Sehen des Universums gibt es nicht, ist dir das mal klar geworden?
Unser eigenes Gesicht sieht uns aus jeder Ecke des Kosmos an.« »Bist du eigentlich fromm, Bush?« Er schüttelte den Kopf und stand langsam auf. Dabei sah er sie nicht an. »Mein Vater, der ist Zahnarzt, der ist ein frommer Mann ... Und doch, manchmal ... damals, als ich noch Erfolg hatte und mir die Ideen nur so aus den Fingern flossen, wenn ich meine RKKs malte, da wußte ich, daß ich einen Funken Gott in mir hatte.« Da von Gott die Rede war, besannen sich beide auf sich selber. Bush half Ann beim Aufstehen und sagte dabei in kurzem, sachlichem Ton: »Du kennst nichts von Turner?« »Nein.« Damit war das Thema erledigt. Erst am Nachmittag, als sie in die Ebene herunterkamen, erblickten sie die ersten Geschöpfe der Ebene, die sich in einem der Täler tummelten. Instinktmäßig war es Bushs erster Impuls, sich hinter einem Baum zu verbergen. Dann fiel ihm ein, daß sie für diese massigen Kreaturen nicht einmal so wirklich wie Geister waren, und trat hinaus, ihnen entgegen. Ann kam hinterher. Achtzehn Stegosaurier tummelten sich in dem kleinen Tal – es schien ganz voll von ihnen zu sein. Das männliche Tier war gigantisch, über sechs Meter lang und rund wie ein Faß; mit seinem stachligen Panzer sah es noch größer aus, als es tatsächlich war. Die massigen aufrechtstehenden Platten über seinem Rückgrat
waren schmutziggrün, aber der Panzer seines Körpers war an vielen Stellen lebhaft gelbrot gefärbt. Das Tier rupfte mit seinen Kiefern am Blattwerk, aber ständig waren seine schweifenden Knopfaugen auf der Hut. Der Stegosaurus hatte zwei weibliche Tiere bei sich. Besonders das eine war recht hübsch gezeichnet; die Platten über der Wirbelsäule hatten fast den gleichen hellgelben Ton wie der Unterbauch. Zwischen den ausgewachsenen Stegosauriern hüpften ihre Jungen herum. Bush und Ann, die ja für die Tiere nicht vorhanden waren, konnten mitten unter der Herde umhergehen. Es waren fünfzehn Junge, offensichtlich erst vor wenigen Wochen aus dem Ei gekrochen. Ihre Panzerung war noch ganz leicht und behinderte sie kaum; sie sprangen wie die Lämmer um ihre Mütter herum, standen manchmal auf ihren hohen Hinterbeinen und hüpften sogar öfters über die bösartig bestachelten Schwänze ihrer Eltern. Die beiden Menschen standen mitten in der Herde und beobachteten die Kapriolen der jungen Reptile. »Deswegen sind diese Biester vielleicht ausgestorben«, sagte Ann. »Die Jungen bleiben hängen, wenn sie ihren Müttern über die Schwänze springen, und spießen sich dabei tot.« »Das ist als Theorie so gut wie jede andere.« Der alte Stegosaurus schnaubte und trampelte schon seit einiger Zeit aufgeregt, aber Bush bemerkte
den Neuankömmling erst jetzt: aus dem angrenzenden Dickicht beobachtete ein anderes Tier die Szene. Bush faßte Ann beim Arm und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Stelle. In diesem Moment teilte sich das Gebüsch, und noch ein Stegosaurus trat hervor. Es war ebenfalls ein männliches Tier, kleiner; und vermutlich jünger als das Leittier der Herde. Sein Schweif peitschte erregt hin und her. Die weiblichen Tiere und die Jungen hatten für den Neuangekommenen nur ganz geringe Aufmerksamkeit übrig; die Weiber grasten, die Jungen spielten weiter. Aber der Alte sprang augenblicklich vor, um sich mit dem Eindringling zu befassen; es war eine Herausforderung zum Kampf um den Besitz der Herde. Flott aufeinander zutrabend, stießen die beiden Tiere mit den Schultern aneinander. Für die Menschen geschah das völlig lautlos. Die Riesenbestien standen einen Moment reglos, um den Anprall zu verdauen; dann drückten sie sich langsam vorwärts, bis sie Seite an Seite standen; beide hatten dabei die Köpfe in entgegengesetzter Richtung. Jeder versuchte, den anderen wegzustoßen, dabei benutzten sie ihre Schweife nicht als Waffe, sondern als Stütze. Sie rissen die Mäuler auf und zeigten kleine scharfe Zähne. Immer noch kümmerten sich die weiblichen Tiere überhaupt nicht um das Geschehen. Die männlichen Tiere schoben und stießen; ihre
Beine krümmten sich vor Anstrengung, bis die plumpen Bäuche fast den Erdboden berührten. Der Ältere siegte einfach durch sein größeres Gewicht: auf einmal mußte der Eindringling einen Schritt zurückweichen. Das Leittier wäre beinahe über ihn gefallen. Sie trennten sich. Ein paar Sekunden lang sah der Neue mit hängendem Unterkiefer zu den Weibern hinüber, dann trollte er sich ins Dickicht und ward nicht mehr gesehen. Der Herr der kleinen Herde schnaubte noch ein paarmal triumphierend und stapfte zu seinen Frauen zurück. Die schauten nur einmal kurz auf und mummelten dann gemächlich weiter. »Die kümmern sich auch einen Dreck darum, was ihm passiert!« sagte Bush. »Sie haben vermutlich schon gelernt, daß zwischen einem Männchen und dem andern kein großer Unterschied ist.« Er warf ihr einen scharfen Blick zu. Sie grinste. Besänftigt lächelte er zurück. Als sie aus dem hinteren Ende des Tales herauskletterten, hatten sie das weite Panorama der Ebene vor sich, durch die sich ein Fluß schlängelte. Ein paar Kilometer weiter begannen mächtige Wälder. Gleich vorn, an den langen Ausläufern der Felsen, stand das Zelt der Borrows; es gab auch noch andere Anzeichen menschlicher Besiedlung.
»Wenigstens kriegen wir hier was zu trinken«, sagte Ann, als sie sich den Zelten näherten. »Geh schon voraus. Ich will noch eine Weile hierbleiben und nachdenken.« Bush hatte den Kopf voller Dinosaurier. Sie irritierten ihn. In moralischer Hinsicht? Nur selten würden zwei Männer, die sich um eine Frau streiten, so wenig nachtragend sein wie diese riesigen vegetarischen Panzerbestien. Oder ästhetisch? Wer kann sagen, was Schönheit ist, es sei denn von seinem eigenen Standpunkt aus? Jedenfalls hatte diese mächtige Wirbelsäule, deren höchster Punkt über dem Becken lag und die von dort aus in einen langen stachelbewehrten Schweif abfiel, ihre eigene unangreifbare Logik. Intellektuell? Er dachte an Lenny und dann wieder an die springlebendigen Reptilienküken und an die überschäumende Drolligkeit ihrer Bewegungen. Er hockte sich auf dem schwammigen Boden nieder, wo er fast mit einem Felsblock verschmolz, und sah der weggehenden Ann nach. Er überwand die Versuchung, ein Blatt abzupflücken und es zu kauen; von der hiesigen Vegetation konnte kein GeisterFinger etwas abpflücken. Zu den sonderbarsten Charakteristiken des Zeitreisens gehörte die Lichtverminderung, die jeder zu spüren bekam, der sich außerhalb seiner eigenen Zeit befand. Ann war erst ein paar Meter weg, aber schon
tief verschattet, und das Zelt der Borrows war, obschon weiß gestrichen, sogar noch düsterer. Aber es gab noch andere Schatten, und die machten die Szene nicht nur düsterer, sondern auch unheimlicher. Borrow hatte sich offensichtlich eine beliebte Gegend ausgesucht. Auch spätere Generationen von Zeitfahrern würden sich hier zusammenfinden, eine Stadt würde entstehen, die erste Jurastadt vielleicht. Überall gespensterten die Schemen künftiger Gebäude und deren künftiger Bewohner; sie waren um so grauer und nebelhafter, je ferner in der Zukunft sie lagen. Bush saß in der Nähe eines Gebäude-Schemens, das über die primitiven Zelte der jetzigen Generation bereits weit hinaus war. Nach seinem schieferigen Schattenkörper zu urteilen, der so transparent war, daß Bush die zerzauste Landschaft dahinter sehen konnte, mußte es eine Emanation aus einer Zeit sein, die der seinen vielleicht um ein Jahrhundert oder etwas mehr vorauslag. Jene Zukunftswesen hatten schon manche Probleme gelöst, die in der Frühzeit des Zeitreisens noch für absolut unlösbar galten: zum Beispiel die Mitführung schweren Materials und die Installation elektrischer Anlagen. Diese Zukunftsmenschen wollten hier, in der tiefsten Vergangenheit, komfortabel und elegant wohnen; die Bewußtseinsfahrer aus Bushs Generation konnten hier vorerst nur
kampieren wie Wilde. Die späteren würden auch das Problem der Kanalisation gelöst haben. Bush und seine Zeitgenossen ließen ihre Exkremente überall zwischen Pleistozän und Kambrium herumliegen, wobei sie sich nicht einmal mit der Hoffnung entschuldigen konnten, es möchten einmal Koprolithen daraus entstehen. Aus diesem Zukunftshaus blickten Menschen, ob Männer oder Frauen, konnte er bei den schwachen Konturen nicht unterscheiden. Er hatte das beunruhigende Gefühl, ihre Augen seien etwas schärfer, als sie sein sollten. Sicher konnten sie ihn nicht besser sehen, als er sie; aber das Gefühl, beobachtet zu werden, war nichtsdestoweniger unangenehm. Bush wandte seinen Blick von ihnen ab und der Ebene zu, aber auch dort merkte er, wie stark das Gelände mit nebelhaften Gebilden einer späteren Zeit bestanden war, die den freien Blick behinderten. Die bleichen Schemen zweier Menschen gingen durch Bush hindurch, in ein Gespräch vertieft, von dem nicht ein einziges Dezibel durch die zeitentropische Schranke zu ihm drang. Er hatte schon gemerkt, daß seine Schattenfrau wieder bei ihm war; was mochten ihre Gefühle in bezug auf Ann sein? War sie auch ein Geist, so mußte sie doch dort drüben in ihrer stickigen Zukunft Gefühle haben. Das ganze Raumzeit-Kontinuum verstopft sich doch mehr und
mehr mit menschlichen Gefühlen. Dabei fiel ihm wieder Monet ein. Der alte Knabe hatte schon recht daran getan, sich auf Wasserlilien zu konzentrieren; sie mochten die ganze Teichoberfläche bewachsen, aber man würde sie niemals dabei erwischen, daß sie auch noch über das Ufer und die umliegenden Bäume hinauswucherten. In ihrer gemeinsamen Jugend war Borrow ebenso wie Bush Maler gewesen. Es würde guttun, sich mit ihm zu unterhalten. Borrow war ein harter Mann, aber manchmal konnte er sehr amüsant sein. Als er aufgestanden war und sich dem Wohnplatz seines Freundes näherte, bemerkte er, daß Borrow sich erheblich verbessert hatte. Jetzt waren es drei statt der früheren zwei Zelte, und zwei davon waren ziemlich groß. Das eine war eine Art Kombination aus einem Laden für alles und einer Faktorei; das zweite war eine Bar, das dritte ein Café. Über allen dreien hatten Borrow und seine Frau ein mächtiges Schild gehißt: ZUM AMNION-EI. Hinter, vor und zwischen den Zelten gab es eine Ansammlung von Gebäuden in unterschiedlichen, sonderbaren Baustilen; manche hießen ebenfalls ZUM AMNION-EI. Sie waren alle mehr oder weniger schemenhaft, jedoch entsprach ihre Realitätsdichte jeweils dem Grad ihrer Zukünftigkeit. Es waren in erster Linie diese Schatten gewesen, diese deutlichen
An- und Vorzeichen künftiger Prosperität, die Borrow dazu bestimmt hatten, sich hier niederzulassen. Die Borrows machten gute Geschäfte mit dem Paradoxen. »Zweimal Amnion-Ei mit pommes frites«, sagte Bush, als er sich durch den Zeltvorhang in das Café hineinschob. Ver stand hinter der Theke. Ihr Haar war grauer, als er es in Erinnerung hatte; sie mußte jetzt etwa fünfzig sein. Sie lächelte ihr altes Lächeln und kam hervor, um Bush die Hand zu geben. Ihre Hand fühlte sich deutlich gläsern an, denn sie kam nicht aus demselben Jahr; und der gleiche Effekt machte ihr Gesicht grauer, verschatteter, als es tatsächlich war. Selbst ihre Stimme klang gedämpft, denn die wenn auch schwache Zeitbarriere zwischen ihnen reduzierte auch den Ton etwas. Er wußte, daß Speise und Trank, die ihm hier serviert wurden, ebenfalls glasig schmecken und sich langsam verdauen würden. Sie begrüßten einander mit freundschaftlichen Neckereien, und Bush sagte, mit dieser alten Bruchbude mache Ver offensichtlich ein Vermögen. »Ich wette, du weißt nicht einmal, was ein AmnionEi ist«, sagte Ver. Ihre Eltern hatten sie Verbena getauft, aber sie hatte die abgekürzte Form ihres Namens lieber. »Das ist doch euer großer Schlager, nicht wahr?«
»Wir müssen ja irgendwie Leib und Seele zusammenhalten. Und du, Eddie? Der Leib sieht ja ganz gut aus – aber was macht die Seele?« »Macht mir immer noch Ärger.« Er hatte diese Frau in jenen Tagen, damals vor der Epoche der Zeitreisen, als Borrow und er als Maler noch schwer zu kämpfen hatten, recht gut gekannt, hatte sogar ein- oder zweimal mit ihr geschlafen, ehe sich Borrow ernsthaft für sie interessierte. Das schien alles so lange her zu sein – ungefähr hundertdreißig Millionen Jahre vor oder zurück, je nachdem, wie man es ansah. Manchmal gerieten Vergangenheit und Zukunft durcheinander; manchmal schienen sie in verkehrten Richtungen zu fließen. »Ich kriege anscheinend nicht mehr so viele Signale von meiner Seele wie früher, und was durchkommt, taugt meistens nichts.« »Läßt sich das nicht operieren?« »Der Doktor sagt, das ist unheilbar.« Es war großartig, wie man sich über so wesentliche Dinge so beiläufig mit ihr unterhalten konnte. »Da wir gerade von Unheilbarkeit reden – wie geht's Roger?« »Der ist in Ordnung. Du wirst ihn draußen finden, da hinten irgendwo. Machst du noch Kompositionen, Eddie?« »Tja – ich bin gerade in einer Art Durchgangsphase. Ich bin – zum Teufel, Ver, ich bin vollständig verbiestert.« Er konnte ihr ruhig wenigstens die annä-
hernde Wahrheit sagen; sie war die einzige Frau, die ihn nach seiner Arbeit fragte, weil sie sich tatsächlich dafür interessierte, was er tat. »Solche Perioden sind manchmal notwendig. Arbeitest du überhaupt nichts?« »Als ich zuletzt im Jahre 2090 war, habe ich ein paar Bilder gemalt, bloß so aus Langeweile. Strukturierung der Zeit nennen das die Psychologen. Es gibt da so eine Theorie, daß das größte Problem des Menschen die Strukturierung der Zeit ist. Alle Kriege sind – nur Teillösungen dieses Problems.« »Danach könnte man also den Hundertjährigen Krieg* immerhin als einen ziemlichen Erfolg in dieser Hinsicht betrachten.« »Ja. Diese Theorie stellt alle Malerei, alle Musik, alle Literatur unter diese eine Kategorie. Alles Zeitüberschreitende: Lear, die Matthäus-Passion, Guernica, Die Sünden der Stadt.« »Der Unterschied ist wahrscheinlich nur graduell.« »Eben jetzt schlage ich mich mit den Graden herum.« Sie lächelten einander zu. Er ging nach hinten, um Borrow zu suchen. Zum erstenmal – oder hatte er das schon oft gefühlt und nur vergessen – fand er, daß Ver interessanter sei als ihr Mann. * 1328–1453 zwischen England und Frankreich (d. Übersetzer)
Borrow murkste draußen herum, im grauen Tageslicht. Wie seine Frau neigte er zur Korpulenz, aber er kleidete sich immer noch so tadellos wie eh und je; er hatte immer noch, wie in alten Zeiten, einen Anflug von einem Dandy. Er richtete sich auf, als Bush zu ihm hinüberkam, und hielt ihm die Hand hin. »Hab dich ja 'ne Million Jahre nicht gesehen, Eddie. Wie geht's denn im menschlichen Leben? Hältst du immer noch den Rekord für Zeitreisen auf kleinster Distanz?« »Soweit ich weiß, ja, Roger. Was machst du denn so?« »Was war das gegenwartsnächste Jahr, das du erreicht hast?« »Da gab es schon Menschen.« Er verstand nicht gleich, warum sein Freund das fragte oder worauf er hinauswollte. »Das ist ja ganz hübsch. Kannst du es nicht genauer datieren?« »Irgendwann in der Bronzezeit.« Natürlich war jeder, der Zeitreisen machte, von dem Gedanken fasziniert, daß man, wenn das Verfahren weit genug entwickelt war, möglicherweise einmal in geschichtliche Zeiten reisen könnte. Wer weiß, vielleicht graute schon der Tag, an dem es möglich sein mochte, die Entropie-Schranke völlig zu durchbrechen und in die Zukunft zu transzendieren.
Borrow schlug ihm auf den Rücken. »Gut der Mann! Hast du dort mal andere Künstler bei der Arbeit gesehen? Wir hatten neulich einen Kerl in der Bar, der behauptet, er wäre bis in die Steinzeit gekommen. Ich dachte, das ist ja schon ganz schön, aber offensichtlich hältst du immer noch den Rekord.« »Wird schon so sein – die sagen ja, man muß eine gebrochene Persönlichkeit sein, wenn man so weit kommen will wie ich.« Sie blickten einander in die Augen. Aber Borrow schaute schnell weg. Vielleicht war ihm eingefallen, daß Bush es nicht mochte, wenn man zu persönlich wurde. Bush bedauerte seinen Ausbruch und gab sich Mühe, sich zusammenzureißen und freundlich zu sein. »Nett, dich und Ver wiederzusehen. Sieht ganz so aus, als ob das AMNION-EI floriert. Mensch, Roger, du malst ja wieder!« Er hatte gesehen, was Borrow da aufstapelte. Er bückte sich und hob eins der plastischen Gemälde ans Licht. Es waren neun Bilder, Bush betrachtete eins nach dem anderen mit wachsender Verwirrung. »Du hast also dein altes Hobby wieder aufgenommen«, sagte er mit erstickter Stimme. »Ich wildere ein bißchen in deinem Revier, Eddie, fürchte ich.« Aber es waren keine RKKs. Diese Bilder schienen
in gewisser Weise von Gabo und Pevsner beeinflußt zu sein, aber Borrow verwendete die neuesten Materialien, hier etwas heruntergetönt, dort etwas akzentuiert – der Effekt war überraschend neuartig, keine Skulptur, keine Gruppenkomposition, keine Mobiles. Alle neun Platten waren Variationen über ein Thema, Perspex mit Glas inkrustiert, wie Bush sah, und mit rotierenden Metallfragmenten aufgehöht, die von Elektromagneten gehalten wurden. Sie waren so gestaltet, daß sie Assoziationen an große Entfernungen hervorriefen; es waren Beziehungen darin, die sich je nach dem Standpunkt des Beschauers änderten. Einige waren in ständiger Bewegung durch einen PartikelAnstoß mittels ständiger mikro-miniaturisierter, in die Rahmenbasis eingebauter Nuklear-Aktoren, so daß das statische Element völlig eliminiert war. Es wurde Bush sofort klar, was diese Kompositionen darstellten: Abstraktionen der Zeitschichtungen, die sich so bedeutsam um das AMNION-EI herumwickelten. Sie waren mit absoluter Klarheit und Könnerschaft gemalt – Phantasie und Materialbeherrschung hatten sich in ihnen vereint, so daß Meisterwerke entstanden waren. Dicht hinter Bushs beinahe verehrungsvoller Anerkennung kam die Eifersucht, die ihn durchglühte wie eine Feuerwoge. »Äußerst gekonnt«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme.
»Ich dachte, du würdest sie verstehen«, sagte Borrow und blickte seinem Freunde starr ins Gesicht. »Ich bin mit einem Mädel hier, das ich kenne. Sie ist vorausgegangen. Ich möchte was zu trinken.« »Ich geb einen aus. Dein Mädel wird in der Bar sein.« Er ging voran, und Bush folgte ihm. Er war zu wütend, um zu sprechen. Die Bilder waren erstaunlich – kühl, und doch von dionysischer Qualität; revolutionär und ausgesucht individuell ... Bush hatte, als er sie ansah, jenes Prickeln zwischen den Schulterblättern gefühlt, das sein ureigenstes Privat-Signal für das Geniale war – wenn das hier nicht Genie war, dann war es vielleicht etwas, das er übernehmen und ins Geniale hochtreiben konnte – was zum Teufel Genie nun immer sein mochte ... vielleicht ein noch stärkeres Prikkeln, noch stärkere elektrische Wellen bis in alle Körperzellen hinein. Und ausgerechnet der alte Borrow besaß es, Borrow, der schon vor Jahren jede künstlerische Tätigkeit aufgegeben hatte und aus Gewinnsucht Ladenbesitzer geworden war, mit seiner hübschen Frau als Verkäuferin! Borrow, der mit seinen Manschettenknöpfen angab, ausgerechnet Borrow hatte die Botschaft empfangen und gab sie weiter! Besonders schmerzte es Bush, daß Borrow genau wußte, was er da geschaffen hatte. Deshalb hatte er nämlich Bush Honig ums Maul schmieren wollen, in-
dem er davon sprach, daß er, Bush, immer noch den Weltrekord für Zeitreisen auf kleinste Distanz hielt. Bush mochte als Maler passé sein – aber, ah! Er hielt immer noch den Weltrekord für Zeitreisen auf kurze Distanz! Mithin hatte er gewußt, daß Bush die Qualität der Bilder erkennen würde, und hatte ihn bemitleidet, weil er genau wußte, er (Bush) könne nichts Gleichwertiges produzieren. Wieviel um Gottes willen mochten diese Bilder im Jahre 2090 bringen? Kein Wunder, daß das AMNION-EI blühte und gedieh! Jetzt steckte Kapital dahinter, der Maler-Kneipier war da auf etwas Gutes gestoßen, als er seine Inspirationen in Hamburgers und Tonic Water umfunktionierte! Bush fand diese Gedanken zum Kotzen. Aber sie kehrten immer wieder, obwohl er sich selbst deswegen beschimpfte. Diese Bilder ... natürlich ... Gabo ... Pevsner ... zweidimensional ... nein, nein – gewiß hatten sie ihre Vorgänger, aber sie selbst waren original. Keine neue Sprache, aber eine Brücke von der alten her. Eine Brücke, die er selber hätte schlagen sollen; jetzt würde er eine andere finden, mußte er eine andere finden! Aber ausgerechnet der alte Borrow ... ein Mann, der sich einst erdreistet hatte, über Turners Meisterwerke zu lachen! »Doppelter Whisky!« sagte Bush. Er konnte sich nicht einmal soweit zusammenreißen, daß er danke
sagte, als Borrow sich freundschaftlich auf einen Stuhl neben ihn setzte. »Ist dein Mädel hier? Wie ist sie denn? Blond?« »Dreckig. Gott weiß, was für 'ne Farbe ihr Haar hat. Hab sie im Devon aufgezwickt. Sie taugt nichts – bin froh, wenn ich sie los bin.« Das stimmte gar nicht, aber in seiner Beschämung redete er das so hin, ohne nachzudenken. Schon jetzt gierte er danach, sich die Bilder nochmal anzusehen, aber er mochte nicht darum bitten. Borrow blieb einen Moment stumm, als dächte er darüber nach, wieviel von Bushs Reden er glauben sollte. Dann sagte er: »Du arbeitest immer noch für das Wenlock-Institut, Eddie?« »Ja. Warum?« »'n Kerl namens Stein war gestern hier – muß sogar noch hier sein. Hat früher auch für Wenlock gearbeitet.« »Weiß ich nicht.« Der Stein sollte was mit dem Institut zu tun haben? Ausgeschlossen! »Brauchst du ein Zimmer für die Nacht, Eddie? Ver und ich können dich unterbringen.« »Ich hab mein Zelt. Vielleicht bleibe ich überhaupt nicht hier.« »Ach komm, du mußt mit uns essen, abends nach Ladenschluß. Du hast doch Zeit – eine ganze Welt voll Zeit, wie man heute sagt.«
»Kann nicht.« Er machte eine fürchterliche Anstrengung, um sich zusammenzureißen, nicht mehr so biestig zu sein. »Was zum Deibel ist ein Amnion-Ei eigentlich? Ein neues Gericht?« »Das kann man in gewisser Weise sagen.« Borrow setzte ihm auseinander, daß das Amnion-Ei die große Erfindung des Mesozoikums war, das, was die Vorherrschaft der Reptilien für Hunderte von Millionen Jahren bewirkt hatte. Das Amnion ist die Membrane im Innern des Reptilien-Eis, mittels derer ein Embryo sein Kaulquappenstadium im Ei absolvieren kann, so daß er als voll entwickeltes Tier in die Welt tritt. Durch das Amnion waren die Reptilien imstande, ihre Eier auf dem Festland abzulegen und so die Kontinente zu erobern. Denn die Amphibien, aus denen sich die Reptilien entwickelt hatten, legten nur weiche Eier mit gelatinöser Schale, die in einem flüssigen Medium ausgebrütet werden mußten und daher auf Flüsse und Seen beschränkt blieben. Die Reptilien zerrissen die uralte amphibische Bindung an das Wasser, ebenso wie die Menschen die alte Säugetierbindung an die raumzeitliche Zeit zerrissen haben. Das war ihr großer cleverer Trick, und davon profitieren sie seit wer weiß wie langer Zeit. »So wie du von deinem Laden und deiner Bar profitierst.« »Was hast du denn, Eddie-Boy? Du bist doch nicht
so wie sonst? Vielleicht solltest du wieder mal ins Präsens zurück.« Bush trank aus, stand auf und sah seinen Freund an. Mit großer Anstrengung beherrschte er sich. »Vielleicht geh ich tatsächlich zurück, Roger. Ich wollte dir nur sagen: deine Kompositionen sind in Ordnung.« Im Hinausgehen sah er, daß noch eine dieser Kompositionen an der Zeltwand hing. Alle Uhren in seinem Hirn hämmerten wie wild. Man mußte froh sein, wenn überhaupt jemand so was machte. Herrgott, es müßte mich doch freuen, daß es mein Freund ist, der so was macht. Aber ich habe gelitten ... Nun, vielleicht hat er auch gelitten – vielleicht leidet er die ganze Zeit daran, genau wie ich – kann man gar nicht wissen. Er hat im Grunde überhaupt nichts gemacht. Das da – das ist bloß aufgenutteter Kitsch für die Touristen. Ach, ich bin zum Kotzen! Kerl, du hast überhaupt keine Kontrolle über dich! Diese ganze Selbstbeschuldigungsmasche ist ja auch bloß ein Deckmantel. Und unter diesem, unter jenem – ja, pelle nur immer eine Schicht nach der anderen ab, wie bei einer Zwiebel – und du wirst sehen, es kommen immer wieder die gleichen Alternativen zum Vorschein, bis zum verfaulten Kern hinunter. Meine Eltern sind schuld ... Schon wieder das InzestMotiv. Herrgott, mir ist vor mir selber übel. Laßt mich 'raus!
Er sah jetzt, wie er sich kaputtgemacht hatte. Noch vor fünf Jahren hatte er anständig gearbeitet. Jetzt war er ein rückgratloser Zeitreisen-Süchtiger. Ein Weg, um von sich selbst loszukommen, war zur Hand. Ein Mann und ein Mädchen gingen vor ihm her, so unverschattet, daß Bush sofort wußte, sie kamen aus dem gleichen Jahr wie er. Auf den Mann warf er kaum einen Blick. Das Mädchen war toll; sie hatte wunderschöne Beine und einen hochgestochenen Gang, der zu ihren schlanken Knöcheln paßte. Ihr Po war gut. Sie hatte kurze Haare. Bush konnte von ihrem Gesicht nichts erkennen, aber er wurde sofort von dem Verlangen besessen, es zu sehen. Es war die Sucht des Spielers, lange war er ihr verfallen gewesen – und jetzt konnte er sich auch nicht mehr damit herausreden, daß er ein Modell brauchte. Es ist sowieso äußerst unwahrscheinlich, daß ein Mädchen schön ist; tausend Mädchen haben einen hübschen Po – und eine von tausend hat außerdem noch ein annehmbares Gesicht. Sobald er merkte, daß ein Mädchen seinem Schönheitsstandard nicht genügte, erstarb das Verlangen in ihm. Er war ein Gesichts-Fetischist. Als er hinterherging, fiel ihm ein – so ganz nebenbei –, daß Ann ein recht hübsches Gesicht hatte. Er folgte dem Paar vorsichtig, immer von einer Seite zur anderen kreuzend, so daß er möglichst viel von
ihrem Gesicht erspähen konnte. Zelte waren aufgeschlagen, und schäbig gekleidete Individuen standen herum, die nicht wußten, was zum Teufel sie nun, da sie sie hatten, mit der Vergangenheit anfangen sollten. Das Mädchen verschwand hinter einer Zeltecke. Bush beschleunigte seine Schritte und folgte ihr. Er sah, daß das Mädchen jetzt allein war und nur ein paar Schritte vor ihm stand. Sie hatte sich umgedreht und sah ihn an. Sie war eine Kuh. Fast im gleichen Augenblick spürte Bush Gefahr. Er drehte sich schnell um, aber der Schlag fiel schon. Der Begleiter des Mädchens war aus einem Zelteingang hervorgesprungen und versetzte ihm mit einem Totschläger einen heftigen Hieb über die Schulter. Der Augenblick dehnte sich, wurde so lang wie eine ganze Jahreszeit, als hätte der Schock die ganze künstliche Idee des Zeitablaufs aus Bushs Schädel hinausgespült. Es blieb ihm Zeit genug, um im Gesicht des Mannes eine irre Angst zu erkennen, die so scheußlich war wie der Schlag selbst und seine eigene Angst vor dem nächsten. Außerdem konnte er noch eine ganze Gedankenkette abhaspeln: Ich hätte mir den Kerl genauer ansehen oder ihm wenigstens einen Blick gönnen sollen: Ich kenne ihn: Das ist doch der komische Vogel, der mit Lenny und Ann zusammen war, Hol sie der Teufel; gefärbtes Haar; er hieß – aber Roger hat den
Namen auch erwähnt; warum habe ich ihn mir nicht gemerkt? Warum stecke ich immer in irgend etwas anderem drin? Immer in irgend etwas Egoistischem, natürlich ... jetzt gibt es Ärger. Stone – nein: Stein. Stein, Stein! Der Totschläger landete, ungeschickt, aber heftig, halb auf seinem Gesicht, halb im Genick. Er ging zu Boden. Zu spät kam ihm die Wut hoch (wieder, weil er zu introvertiert war, um auf eine äußere Situation schnell zu reagieren?), und im Fallen faßte er nach Steins Beinen. Seine Finger krallten sich in die Hose. Stein trat ihm vor den Brustkasten und riß sich los. Bush blieb hilflos auf dem matschigen zeiteinheitlichen Boden liegen und sah den Mann wegrennen, an dem Mädchen vorbei; er kümmerte sich überhaupt nicht um sie. Der ganze Zwischenfall hatte nicht ein Körnchen Jurastaub aufgewirbelt – der blieb fremd, unbewegbar. Zwei Männer kamen und halfen Bush auf. Sie sagten, sie wollten ihn zum AMNION-EI bringen. Das war das Letzte, was er gewollt hätte. Noch halb betäubt, machte er sich von den beiden los und stolperte davon, aus dem Gebiet der Zelte hinaus. Er hielt sich das Genick, in seinem Innern bebte und kochte alles. Er erinnerte sich an das Gesicht des Mädchens; sie hatte zugesehen, wie er sich hochquälte: mit ihrer
plumpen Stirn und ihrer albernen kleinen Nase war sie nicht einmal halbwegs hübsch. Wo die primitiven Zelte seiner eigenen Zeit zu Ende waren, erstreckten sich die schattenhaften Gebilde, die zukünftigen Einwanderern in die Vergangenheit gehörten, noch weiter. Bush stapfte durch sie hindurch, und durch die Schatten, die dort wohnten, und zwängte sich durch ein dichtes Gebüsch von Gymnospermen. Ein kleiner Coelusaurus, nicht größer als ein Huhn, sprang unter seinen Füßen hoch und hüpfte auf den Hinterbeinen davon. Bush war überrascht, denn er konnte ja keineswegs das Tier hochgeschreckt haben. Als er aus dem Gestrüpp heraustrat, fand er sich am Ufer eines breiten, langsamfließenden Stromes; es war derselbe, den er und Ann gesehen hatten, bevor sie ihn verließ. Er setzte sich hin, die Hand noch an seinen schmerzhaft hämmernden Hals gedrückt. Ganz in der Nähe begann ein Dschungel, der dichte, fast blumenlose Dschungel der mittleren Jurazeit. Das Land auf der gegenüberliegenden Seite, wo sich eine Furt bildete, war sumpfig; dort gediehen Binsen und Cycadeoiden mit faßförmigen Blütenkolben. Ein paar Sekunden lang starrte Bush auf diese Szene, ohne zu wissen, was er von ihr halten sollte, bis er darauf kam, daß sie ihn an eine Zeichnung aus einem Lehrbuch erinnerte, die er vor langer, langer Zeit,
noch auf der Schule, noch vor den Tagen der Zeitreisen, gesehen hatte – schon damals war, seltsamerweise, wie es heute schien, ein gesteigertes Interesse für die Prähistorik zu konstatieren gewesen. Es war wohl etwa um 2056, damals, als sein Vater die neue Zahnarztpraxis eröffnet hatte. Zu dieser Zeit hatte sich eine viktorianische Nostalgie breitgemacht, die an Verrücktheit grenzte – sein Vater hatte sogar eine viktorianische Spülschale, imitierter Mahagoni aus Kunststoff, in welche die Leute hineinspucken konnten. Es waren die Viktorianer gewesen, die zuerst die prähistorische Welt entdeckt hatten, mit den Ungeheuern, die so stark denen gleichen, die in den Tiefen der menschlichen Seele herumkriechen, und so hatte wohl eins zum andern geführt. Vermutlich war Wenlock von der gleichen Zeitströmung beeinflußt gewesen. Aber Wenlock hatte sich als der bedeutendste Wissenschaftler seiner Zeit erwiesen – er war kein zusammengeschlagener, verkrachter Maler wie Bush. Dieses Lehrbuchbild aus vergangenen Tagen entsprach in seinem Aufbau genau der Landschaft, die Bush vor sich hatte: Fluß, Sumpf, unterschiedliche Pflanzen exotischen Charakters, ferne Wälder. Jedoch hatte die Zeichnung auch eine Auswahl urtümlicher Reptilien geboten: links im Bild ein Allosaurus, vornehm an einem niedergerissenen Stegosaurus nippelnd; daneben ein Comptosaurus, menschengleich
wandelnd, die kleinen Vorderpfoten wie im Gebet für die Seele des Stegosaurus erhoben; seine Frömmigkeit wurde von zwei Pterodactylen gestört, die aus der Bildmitte auf ihn niederstießen; dann kam ein kleiner, schnellfüßiger Ornitholestes, der einen Archaeopteryx aus einem Farnbaum herausriß; und schließlich steckte ganz rechts im Bild ein Brontosaurus seinen langen Hals mit dem kleinen Kopf gefällig aus dem Wasser; deutlich sah man Gras aus seinem Maul heraushängen, womit seine vegetarische Lebensweise angedeutet war. Wie simpel war doch diese Lehrbuchwelt, wie ähnlich und zugleich unähnlich der Wirklichkeit! Weder war diese kreischende alte grüne Welt jemals so dicht bevölkert, wie es die Lehrbücher wahrhaben wollten; noch konnten diese Tiere, ebensowenig wie der Mensch, so selbstherrlich einzeln, außerhalb ihrer jeweiligen Artgruppen, existieren. Und schließlich hatte Bush noch nie einen Pterodactylus gesehen. Vielleicht lebten sie in einer anderen Gegend des Erdballs. Vielleicht waren sie selten. Oder vielleicht hatte auch nur ein phantasievoller Paläontologe des neunzehnten Jahrhunderts die Knochen eines kriechenden Geschöpfes falsch zusammengesetzt. Der Pterodactylus konnte durchaus eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts sein, so wie Peter Pan, Alice im Wunderland und Dracula.
Es war heiß und wolkig – insoweit wenigstens stimmte das Bild, denn keins der abgebildeten Tiere hatte einen Schatten geworfen –, so stickig wie damals, als seine Mutter gesagt hatte, sie habe ihn nicht mehr lieb, und das damit bewiesen hatte, daß er den ganzen Tag lang draußen im Garten bleiben mußte und nicht ins Haus durfte. Jetzt sehnte er sich nach einem netten alten Brontosaurus, der hocherhobenen Kopfes platschplatschplatsch aus dem Fluß käme – damals im Garten hätte es ihm sicher auch gutgetan – , aber kein Brontosaurus erschien. Tatsache war: im Reptilien-Zeitalter hatten sich die Reptilien nie so gedrängelt wie die Menschen im Menschen-Zeitalter. Als seine Schmerzen sich legten und der Pulsschlag wieder normal wurde, machte Bush den Versuch, ein paar logische Schlußfolgerungen zu ziehen. Immer wieder schlichen sich Schuldgefühle störend in sein Denken ein, aber einiges wurde doch klar. Stein hatte, aus welchem Grunde auch immer, offensichtlich angenommen, daß Bush ihn selbst und nicht das Mädchen verfolgte. War Stein hier, so trieb sich wahrscheinlich Lenny und seine wildlederbejackte Bande ebenfalls hier herum. Ihre Anwesenheit könnte auch der Grund für Anns Verschwinden gewesen sein; vielleicht hatte Lenny sie erwischt und hielt sie gegen ihren Willen fest. Nein, benimm dich gefälligst nicht wie ein kleiner Junge: sie hatte Lenny gesehen und
war ihm dankbar zugelaufen, nur zu froh, seine drekkigen Füße und seine verschwommene Intelligenz gegen Bushs prätentiöses Gequassel einzutauschen. Na schön – weg mit Schaden! Immerhin: dieser erste Abend, als sie über die lautlosen, unzerbrechenden Phragmoceren-Muscheln geschritten waren, in diesem kleinen Tale ... und diese Bewegung, mit der sie das angewinkelte Bein hochgehoben hatte, die exquisiten Flächen ihrer Schenkel und ihre süße sahnige Erregung – weiß Gott ... »Mach dich bloß nicht verrückt!« rief er laut. Er wollte mit niemand mehr hier zu tun haben, weder mit Roger und Ver, noch mit Lenny und seinen Thirts, noch mit Stein. Aber es war möglich, daß einer oder mehrere von der Bande hinter ihm herkämen und ihn fertigmachten. Was nun Ann betraf: er hatte keine Ansprüche auf sie. Sie hatte nichts von ihm gehabt. Bush blickte nervös umher. Sogar die Dunkle Frau hatte ihn verlassen. Zeit, nach Hause zu transzendieren, dem Ärger im Institut ins Auge zu sehen. Der ganze Jura war so und so eine Pleite, mitsamt seinen Amnion-Eiern! Er öffnete seinen Rucksack und holte eine CSDAmpulle heraus. Seine altehrwürdige, langvergessene Gegenwart harrte seiner. Da gab es keine Reptilien. Nur Eltern.
4 – Der Tod genügt nicht Unter normalen Bedingungen waren Zeitreisen eine verhältnismäßig einfache Sache, wenn man erst einmal die Grundlagen begriffen und die WenlockFormel anzuwenden gelernt hatte. Aber die Rückkehr in die Gegenwart war schwer und anstrengend wie eine Geburt. Es war ja auch eine Art Wiedergeburt. Schwärze hemmt den zurückkehrenden Zeitfahrer, Klaustrophobie fällt ihn an, unmittelbare Erstickungsgefahr droht. Bushs Bewußtsein strampelte und schrie. Mit »Da – dorthin!« schnellte er sich ab und gab sich mit der Peristaltik irgendwelcher unbekannter Partien seines Gehirns die Richtung. In seinem Universum wurde wieder Licht. Schlaff lag er auf nachgiebiger Couch, und Wohlgefühl durchströmte ihn ... er war zurück. Langsam öffnete er die Augen. Er war wieder auf dem Zeitbahnhof LondonSouthall, von dem er abgereist war. Sein Genick tat immer noch weh, aber er war wieder zu Hause. Er lag in einer Art Kokon in einer Kabine, die seit seiner Abreise an einem Wintertag des Jahres 2090 verschlossen geblieben war. Über seinem Kopf hing die kleine Apparatur, die ein Stück Muskelgewebe aus seinem Körper und ein achtel Liter seines Blutes am Leben erhielt. Das war fast sein gesamter irdi-
scher Besitz in diesem Zeitalter, und sicherlich der lebenswichtigste Teil desselben, denn an dieses bißchen organischer Materie war ein geheimnisvoller Osmose-Prozeß gebunden, der ihn instandsetzte, wie eine Brieftaube nach Hause zu fliegen. Jetzt aber hatten diese Ingredenzien ihren Zweck erfüllt. Bush setzte sich auf, riß die feine Plastikfolie ab, die wie ein Kokon sein Lager umschloß – das erinnert an einen jungen Dinosaurier, der aus seinem verdammten Amnion-Ei kullert, nicht wahr? – und sah sich in seiner Kabine um. Eine Kalenderuhr an der Wand vermittelte ihm die trockenen Fakten der Zeit: Dienstag, der 2. April 2093. Er hatte nicht so lange wegbleiben wollen; es war immer ein Gefühl, als habe man Lebenszeit eingebüßt, wenn man zurückkam und sah, wie die Zeit weggetickt war, und man war nicht dabeigewesen. Denn die Vergangenheit war nicht die reale Welt; sie war nur ein Traum, wie die Zukunft auch: nur die Gegenwart ist real, die ablaufende Präsens-Zeit, die der Mensch erfunden hat und nicht mehr loswerden kann. Bush streifte seinen Rucksack ab, stand auf, zog sich aus und blickte prüfend in den Spiegel. In dieser klinisch sauberen Umgebung wirkte er dreckig und vergammelt. Er fütterte seine Maße in den Kleidomat ein und drehte die Wählscheibe bei »Overall«. Die Lieferung erfolgte nach genau dreißig Sekunden; die
metallene Schublade, in der das Kleidungsstück lag, sprang auf und stieß Bush schmerzhaft gegen das Schienbein. Er nahm den Overall heraus, legte ihn auf die Couch, schnallte seine Armband-Instrumente ab, nahm ein sauberes Tuch von dem erwärmten Handtuchständer und trat auf seinen nackten Füßen unter die Dusche. Als er sich unter dem heißen Wasser abbrauste – ein unvorstellbarer Luxus –, fiel ihm Ann und ihr schlampiges Fleisch ein. Es war irgendwo in einer Zeit verlorengegangen, die heute nur noch aus Schichten zerbrochener Steine bestand und tief, tief begraben war. Von jetzt an würde sie für ihn nur noch eins seiner Gelegenheitsmädchen sein; es lag kein Grund vor, anzunehmen, daß er sie jemals wiedersehen würde. Zehn Minuten später war er fertig und konnte die Kabine verlassen. Er klingelte, und ein Wärter kam herbei, um die Tür aufzuschließen und ihm die Rechnung für Kabine und Service zu präsentieren. Bush warf einen Blick auf den Endbetrag und zuckte zusammen – aber das ging alles auf Kosten des WenlockInstituts. Er würde sich in Kürze dort melden und beweisen müssen, daß er in den verflossenen zweieinhalb Jahren etwas getan hatte. Doch erst würde er nach Hause gehen und den pflichtgetreuen Sohn machen. Ganz egal, was er tat; auf jeden Fall wollte er die Rückmeldung im Institut ein bißchen aufschieben.
Er warf seinen Rucksack über die Schulter und schritt den makellosen Korridor hinunter (wo hinter verschlossenen Türen ebensoviele Gegenwarts-Flüchtlinge durch ihr Bewußtsein fuhren, in die dunklen Hinter- und Abgründe der Zeit) und gelangte zur Eingangshalle. Dort hing an der Decke eine seiner Kompositionen, eine der größten. Dieser verdammte Borrow hatte sie zu etwas Überflüssigem gemacht. Er versagte es sich, das Bild anzusehen, ging durch den Hitzevorhang und trat ins Freie. »Taxscha, Sir?« »Ein kleines Souvenir, der Herr? Niedliche kleine Püppchen!« »Kaufen Sie 'n paar Narzissen, Mister! Heute frisch gepflückt!« »Rickscha-Taxi, der Herr? Wohin Sie wollen!« »Möchten Sie 'n Mädel, Chef? Kleine Zerstreuung nach der Zeitreise?« »Haben Sie nicht 'n Cent für mich?« Er erinnerte sich an diese verzweifelten Rufe. Das war die Heimat des Jahres 2090 oder 2093, das war die Zeit, die er kannte. Er könnte ein Lehrbuch-Bild davon machen, Elendsgestalten von links nach rechts: Bettler, Bettlerin, Taxscha-Mann mit Rickscha, Puppenverkäufer (zerlumptes Kind wegstoßend), ganz außen rechts eine Blumenfrau; und im Hintergrund der Kontrast zwischen dem eleganten Zeitbahnhof
und den dreckigen, kaputten Häusern in der verwahrlosten Straße. Er schubste sich durch den kleinen Haufen der Bettler und Straßenhändler, ging ein paar Schritte, besann sich dann anders und wandte sich einem Taxscha-Mann zu, der mürrisch in seiner Rickscha saß. Er nannte ihm die Adresse seines Vaters und fragte, was die Fahrt kosten würde. Der Mann nannte einen Preis. »Viel zuviel!« »Ist alles teurer geworden, während Sie in der Vergangenheit 'rumgeflippert sind.« Das sagten sie jedesmal. Und jedesmal stimmte es. Bush kletterte in das Fahrzeug, der Mann hob die Deichsel, und ab ging's. Die Luft schmeckte wunderbar! Es war ein Mirakel, daß eben nur jene hauchdünne Scheibe Zeit, die Gegenwart, diesen magischen Stoff im Überfluß besitzt, überall, selbst dort, wo es keine Menschen gibt. Wohl war so ein Luftlecker schon ein recht raffinierter kleiner Apparat, aber trotzdem fühlte man sich immer kurz vorm Ersticken. Und es war nicht nur die Luft – es waren die tausend Laute hier, die gesegneten, die Bush so wundervoll ins Ohr gingen – sogar die mißtönenden. Und alles, was man sah, hatte auch seine eigene taktile Qualität: alles, was drüben in der Vergangenheit zu gummiartigem Glas geworden war, besaß hier die wunderbaren Eigenschaften seiner eigenen Struktur.
Obwohl er wußte, daß er dem Zeitreisen gründlich verfallen war und sich unvermeidlich wieder hinausstürzen würde, verabscheute er das Abdanken der Sinne, das damit verbunden war. Hier war die Welt, die reale, die wirkliche Welt: rasselnd, grell, lebendig – und vermutlich hatte sie von allem ein bißchen zuviel für seinen Geschmack, wie es sich schon früher herausgestellt hatte! Und kaum waren seine Lungen gefüllt, konnte er bei der holpernden Fahrt durch die Straßen auch schon an beunruhigenden Anzeichen erkennen, daß 2093 weit davon entfernt war, ein Paradies zu sein, vielleicht noch weiter als 2090. Vielleicht hatte die alte Redensart recht, die besagt, daß man auch zu lange weg sein kann; vielleicht war ihm die bewußtseinslose Reptilien-Vergangenheit näher als diese Gegenwart. Schon daran, daß ihm die auf die Ziegelwände geschmierten Parolen unverständlich blieben, merkte er, daß er nicht mehr so recht hierhergehörte. Etwas vor ihnen marschierte eine Doppelreihe Soldaten die Straße entlang. Der Taxscha-Mann schlug einen weiten Bogen um sie. »Stunk in der Stadt?« »Nicht, wenn man sich da 'raushält.« Eine zweideutige Antwort, dachte Bush. Er brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, warum die Straße, in der seine Eltern wohnten, kleiner,
schäbiger, trister aussah. Nicht weil mehrere Fensterscheiben zerbrochen und mit Brettern vernagelt waren; daran erinnerte er sich noch von früher, ebenso an den Dreck überall auf den Straßen. Erst als er den Mann bezahlte und vor seines Vaters Haus stand, wurde ihm klar, daß alle Straßenbäume abgehauen waren. In dem reinlichen kleinen Vorgarten des Zahnarztes hatten zwei Spalierkirschen gestanden – James Bush hatte sie selbst gepflanzt, als er damals die Praxis übernahm –; sie hätten jetzt zur Blüte kommen müssen. Als er den ziegelgepflasterten Gartenweg entlangging, sah er ihre Stümpfe, braun und verrottet, aus dem Boden ragen, wie Reklameschilder für den Beruf seines Vaters. Manches war noch wie früher. Die Messingplatte verkündete immer noch JAMES BUSH L.D.S.*, KIEFERCHIRURG. Auf der Karte hinter der durchsichtigen Plastikscheibe stand immer noch in der Handschrift seiner Mutter: »Bitte klingeln und sofort eintreten!« Als die Praxis zurückging, mußte sie aus Sparsamkeitsgründen die Sprechstundenhilfe ihres Mannes machen – ein unbeabsichtigtes Exempel dafür, daß das Leben im Kreise in sich zurückläuft, denn als seine Sprechstundenhilfe hatte sie ihn über* Licentiate in Dental Surgery = in England die offizielle Bezeichnung für einen akademisch ausgebildeten Zahnarzt (d. Übersetzer)
haupt erst kennengelernt. Bush bereitete sich seelisch darauf vor, eine Flut von Beispielen dafür zu hören, wie seit seiner Reise alles bergab gegangen sei; ständig lieferte seine Mutter langweilige und sich wiederholende Beispiele für alles mögliche. Er griff nach dem Türknopf und trat ein, ohne zu läuten. Die Diele, gleichzeitig Warteraum, war leer. Zeitungen und Zeitschriften lagen auf den Tischen und Stühlen herum, die Wände hingen voller Ankündigungen, graphischer Darstellungen, gerahmter Urkunden, fast als sei dies ein Testraum für Lesefähigkeit. »Mutter!« rief er und blickte die Stiege empor. Der Treppenpodest lag im Halbdunkel. Keine Bewegung. Er rief nicht zum zweitenmal nach seiner Mutter, sondern klopfte an die Tür des Sprechzimmers und trat ein. Sein Vater, Jimmy Bush, James Bush, L.D.S., saß im Behandlungsstuhl und starrte in den Garten hinter dem Hause. Er trug Plüschpantoffel; sein weißer Kittel stand offen und ließ den schäbigen Pullover sehen, den er darunter trug. Langsam, als ob er nur mit Widerstreben einen Menschen sehen mochte, wandte er den Blick auf seinen Sohn. »Hallo, Vater! Ich bin's, ich bin wieder da – eben zurückgekommen.« »Ed, mein Junge! Wir hatten dich schon aufgege-
ben! Ist ja doll, dich wiederzusehen! Da bist du also doch wieder zurück, wie?« »Ja, Vater.« Für manche Situationen gibt es eben keine rationale Ausdrucksform. Jimmy Bush kletterte aus dem Stuhl, schüttelte seinem Sohn die Hand und grinste, während sie sich liebevoll anmurmelten. Er war von ähnlichem Körperbau wie sein Sohn, machte aber einen etwas heruntergekommenen Eindruck. Sein zunehmendes Alter und die Macht der Gewohnheit hatten seinen Rücken etwas gebeugt, so daß er wirkte, als wolle er sich ständig entschuldigen, und der gleiche um Entschuldigung bittende Ausdruck lag auch in seinem Lächeln. Jimmy Bush war nicht der Mann, der für seine eigene Person große Ansprüche stellte. »Ich dachte schon, du würdest überhaupt nicht mehr zurückkommen! Das müssen wir feiern! Ich hab 'n bißchen was hier. Schottisches Mundwasser – des Zahnarztes Untergang!« Er kramte in einem Schrank, schob einen Sterilisator beiseite und brachte eine halbleere Halbliterflasche zum Vorschein. »Weißt du, was das jetzt kostet, Ed? Fünfzig Pfund sechzig Cents, und das ist bloß 'ne Halbliterflasche! Seit dem letzten Etat ist der Preis wieder 'raufgegangen. Ach, ich weiß nicht, wo das noch hin soll, wirklich nicht! Wie Wordsworth sagt: ›Die Welt ist uns zu nahe, früh und spät, Was heut erworben, gibt man
morgen aus, Und geudet seine Kräfte.‹ Der würde verrückt werden, wenn er heute lebte!« Bush hatte die literarischen Haschespiele seines Vaters ganz vergessen. Aber sie machten ihm Spaß. Mit dem Versuch, sich ein bißchen Leben einzuflößen, sagte er: »Bin eben erst gekommen, Vater, hab mich noch nicht mal im Institut zurückgemeldet.« Als sein Vater zwei Gläser zum Vorschein brachte, fragte er: »Ist Mutter zu Hause?« Jimmy Bush zögerte und beschäftigte sich angelegentlich mit dem Eingießen. »Deine Mutter ist letzten Juni gestorben, Ed. Am zehnten Juni. Sie war 'n paar Monate krank. Sie hat oft nach dir gefragt. Wir waren natürlich sehr traurig, daß du nicht da warst, aber da war ja wohl nichts zu machen, wie?« »Nein. Nein, nichts, Vater. Tut mir so leid ... War es was Schlimmes?« Er merkte selbst, daß das eine idiotische Frage war und korrigierte sich: »Ich meine, was hat sie denn gehabt?« »Das Übliche«, sagte Jimmy Bush, als wäre seine Frau schon des öfteren gestorben; seine Aufmerksamkeit schweifte zu seinem Glas ab, das er geschäftig hob. »Krebs, das arme alte Mädel. Aber es saß in den Därmen, und sie hatte überhaupt keine Schmerzen, da müssen wir dankbar sein. Na, prost jedenfalls, auf deine Gesundheit!« Bush wußte kaum, was er dazu sagen sollte. Seine
Mutter war keine glückliche Frau gewesen; aber jetzt kamen ihm viele Erinnerungen, höchst quälende, an glückliche Stunden. Er trank einen Schluck. Der Whisky war pur und schmeckte nach Desinfektionsmittel, aber es war trotzdem befriedigend, wie er die Kehle hinablief. Er nahm die Mescarette, die sein Vater ihm anbot, und paffte, wie es sich gehört. »Ich muß das erst verdauen, Vater«, sagte er sehr beherrscht – er wollte seine Gefühle nicht zeigen. Er ließ den Whisky stehen und rannte, an seinem Vater vorbei, durch das kleine Gewächshaus in den Garten. Sein Fertigbau-Atelier stand am anderen Ende des Grundstücks. Er rannte hinüber und schloß sich ein. Sie war tot – nein, das konnte nicht sein, es gab so viel Unbeendetes zwischen ihnen! Wenn er pünktlich zu Hause gewesen wäre ... Aber sie war doch ganz gesund, als er ging. Er hatte sich einfach nicht vorgestellt, daß sie, seine Mutter, sterben könnte. Mein Gott, er würde die verdammten Naturgesetze ändern, wenn das ginge! Er hob die Faust, schüttelte sie, knirschte mit den Zähnen. Zuviele Schocks hatte sein Ego zu spüren bekommen! Verwirrt blickte er sich um und starrte mit Ekel auf die Goya-Reproduktion »Chronos verschlingt seine Kinder«. Turners »Regen, Dampf und Schnelligkeit« hing an der anderen Wand – das war
die erschreckende Drohung der Auflösung, ebenfalls unerträglich anzusehen. Auf einem Wandbrett stand eine von Takis elektrischen Skulpturen. Sie stammte aus den neunzehnhundertsechziger Jahren, verstaubt, zerbrochen, eine Ruine, die nicht mehr erleuchtete. Noch schlimmer waren seine eigenen Expressionsversuche, seine Bilder, Skizzen, Collagen, plastische Webskulpturen, Gruppenkompositionen, die letzten RKKs, die er gemacht hatte. Alle waren sie jetzt bedeutungslos, Fortbewegung ohne Fortschritt. Bush stürzte sich in eine Orgie der Zerstörung, er schlug alles im Atelier kurz und klein, schwang die Arme, war sich seiner heiseren Schreie und Schluchzer kaum bewußt. Der ganze Raum schien auseinanderzufliegen. Als er wieder ins Bewußtsein zurückkehrte, lag er in dem schräggestellten Zahnarztstuhl. Sein Vater saß neben ihm, geistesabwesend, Whisky trinkend. »Wie bin ich hergekommen?« »Alles wieder in Ordnung?« »Wie bin ich hergekommen?« »Du kamst einfach 'rein. Dann schienst du ohnmächtig zu werden. Ich hoffe, es war nicht der Whisky.« Bush konnte auf diesen Unsinn nicht antworten. Sein Vater hatte ihn nie verstanden; jetzt war überhaupt niemand mehr zum Verstehen da.
Langsam faßte er sich wieder. »Wie bist du denn zurechtgekommen, Vater? Wer kümmert sich um dich?« »Mrs. Annivale von nebenan. Sie ist sehr nett.« »Ich kann mich an keine Mrs. Annivale erinnern.« »Sie ist erst voriges Jahr hierher gezogen. Witwe. Ihr Mann wurde in der Revolution erschossen.« »Revolution? Was für eine Revolution?« Sein Vater sah sich unbehaglich um. Hinter dem Glashaus lag der Garten vernachlässigt in der Aprilsonne. Da er dort keine Spione erblickte, faßte der Alte Mut. »Das Land ging bankrott, weißt du. Alle diese Ausgaben für die Zeitreisen, und keine Einnahmen. Es gab Millionen Arbeitslose. Die bewaffnete Macht ging auf ihre Seite über, und die Regierung wurde 'rausgeschmissen. Ein paar Monate lang war hier einfach die Hölle los! War schon am besten für dich, daß du weg warst. Ich war direkt froh, daß deine Mutter nicht mehr lebte und das Schlimmste nicht mehr mitkriegte.« Bush dachte an das prosperierende AMNION-EI. »Die neue Regierung kann doch die Zeitreisen nicht unterbinden, oder?« »Zu spät. Alle sind ganz verrückt danach. Das ist wie Trinken, ›es flickt der Sorge ausgefransten Ärmel‹, wie der Dichter sagt. Jetzt haben wir eine Mili-
tärregierung, die bestimmt über Import und Export und so weiter, aber das Wenlock-Institut hat großen Einfluß auf die Regierung, sagt man. Ich kümmere mich um überhaupt nichts mehr. Die sind gekommen und haben mir befohlen, ich soll in den Kasernen arbeiten, zahnärztliche Betreuung der Soldaten. Ich hab gesagt: Hier ist meine Praxis; wenn eure Soldaten was von mir wollen, können sie ja herkommen, aber ich geh nicht zu ihnen, eher könnt ihr mich totschießen! Sie haben mich in Ruhe gelassen.« »Was ist denn mit den Kirschbäumen im Garten passiert?« »Der letzte Winter war furchtbar. Der schlimmste, an den ich mich erinnern kann. Ich mußte sie umhauen, zu Brennholz. Aus reinem Mitleid. Ich hatte Mrs. Annivale bei mir wohnen. Sie hatten keine Heizung. Reine Menschenfreundlichkeit, Ed; heutzutage ist mir die Flasche lieber als Sex, wie bei 'nem Baby. Ich bin ein alter Mann, weißt du, zweiundsiebzig bin ich neulich geworden. Und außerdem – ich halte dem Andenken deiner Mutter die Treue.« »Du mußt sie sehr vermissen.« »Du weißt ja, was Shelley sagt: ›Wenn einmal die Laute zerbrochen, Verweht auch der süßeste Klang; Ist das letzte Wort erst gesprochen, Vergißt du, was Liebe dir sang.‹ Ist aber alles Quatsch! Es gibt Dinge, die bemerkt man erst, wenn sie nicht mehr da sind,
und manche Handlungen verstehst du erst viele Jahre später. Weiß der Deibel, deine Mutter konnte manchmal ganz schön biestig sein. Sie hat mir oft genug zugesetzt – du weißt das nicht so.« Bush ging nicht darauf ein. Sein Vater redete pausenlos weiter, als verfolge er einen vernünftigen Gedankengang. »Und eines Abends, in der allerschlimmsten Zeit, zogen die Truppen in hellem Aufruhr durch die Innenstadt. Naesden hatten sie zum größten Teil niedergebrannt. Mrs. Annivale kam 'rüber, ich sollte sie beschützen. Zwei Soldaten hatten sich auf der Straße 'n Mädel geschnappt. Weiß nicht, wie sie hieß – die Leute haben hier in der Gegend in den letzten Jahren so oft gewechselt – ich geb mich mit niemand mehr ab – entweder haben sie großartige Zähne, oder den Mund voller verfaulter Stummel, jedenfalls kommt kaum noch jemand zu mir. Wie dem auch sei, es war 'n hübsches Mädel, so um zwanzig, und einer von diesen Soldaten zerrte sie hier 'rein, in den Vorgarten – meinen Vorgarten! – und schmiß sie da bei der Mauer hin. Es war ein schöner Sommertag, die Bäume standen damals noch. Er war scheußlich brutal! Sie hat sich so gewehrt, weißt du. Er hat ihr praktisch jeden Fetzen vom Leib gerissen. Und Mrs. Annivale und ich sahen das alles vom Wartezimmerfenster aus.« Seine Augen glänzten, neues Leben schien in ihn
einzufließen. Ich möchte mal wissen, dachte Bush, was bei der Gelegenheit zwischen Mrs. Annivale und ihm passiert ist. Hier war wieder dieses Image von Haß und Gewalt, das er nie los wurde. Was hatte diese Vergewaltigung mit seines Vaters Erinnerungen an die Mutter zu tun? War das alles Phantasie, erfunden von seinem Vater, um seine Gelüste, seine Aggressionen, seinen Frauenhaß, seine Angst auszudrücken? Das alles war ein Rätsel, das er niemals zu lösen wünschte. Ebensowenig war das uralte Tabu über SexGespräche mit seinem Vater aufgehoben, nur weil dieser schon betrunken war; aber so viel sah er: er war nicht der einzige gewesen, dem seine Mutter ihre Liebe vorenthalten hatte. Er wollte nichts mehr hören und sehnte sich nach der klaustrophobischen Stille der tiefen Vergangenheit. Als er aufstand, hatte sein Vater sich wieder gefaßt. »Menschen sind wie Tiere!« sagte er. »Blutdürstige Tiere!« Einst hatte es noch ein Tabu gegeben: er stritt sich nicht mit seinem Vater. Nun, das wenigstens war gestorben, entweder dort, wo die Quastenflosser krochen, oder an sonst einem undeutlichen Ort, an den er sich vor seinem eigenen Leben zurückgezogen hatte. »Ich habe nie von einem Tier gehört, das eine Vergewaltigung begangen hätte, Vater. Das ist das Privi-
leg des Menschen! Die Fortpflanzung war ein neutraler Akt, wie essen oder schlafen oder pinkeln, als sie noch den Tieren überlassen war. Erst der Mensch hat sie verdreht, macht aus ihr, was er will – ein Instrument der Liebe, ein Instrument des Hasses ...« Sein Vater trank, stellte das Glas wieder hin und sagte kühl: »Du hast Angst davor, nicht wahr? Vor Sex, meine ich. Schon immer, nicht wahr?« »Keineswegs. Du projizierst deine Ängste auf mich. Aber wäre es ein Wunder, wenn es so ist? Jedesmal hast du mich angeschissen, wenn ich als junger Mensch mal ein Mädel mitgebracht habe.« »Der gute alte Ed – kann nie 'nen Stunk vergessen, genau wie seine Mutter!« »Und du mußt ja auch ganz hübsch Angst davor gehabt haben, he? Sonst hättest du es vielleicht riskiert, mir 'n paar Brüder und Schwestern zu machen.« »Nach dieser Seite der Angelegenheit hättest du lieber deine Mutter fragen sollen.« »Ha! Der Liebe Sang vergißt sich doch nicht so schnell, was? O Gott, was sind wir für ein Trio!« »Duo – jetzt nur noch du und ich, und du wirst Geduld mit mir haben müssen.« »Nein, immer noch Trio! Der Tod genügt nicht, um Erinnerungen loszuwerden, nicht wahr?« »Erinnerungen sind alles, was ich heute noch besit-
ze, mein Sohn. Ich bin kein Zeitfahrer, der in der Vergangenheit leben kann ... Oben hab ich übrigens noch 'ne Flasche, für den Notfall.« James Bush stand auf und ging aus dem Zimmer. Einigermaßen hilflos folgte ihm sein Sohn. Sie gingen im Dunkeln in das kleine Wohnzimmer im Oberstock, wo es ziemlich muffig und feucht roch. Der Zahnarzt knipste den elektrischen Heizkörper an. »Wir haben ein Loch im Dach. Faß die Decke nicht an, sonst fällt uns der Gips auf den Kopf. Wenn's im Sommer etwas abtrocknet, will ich sehen, daß ich es repariere. Das ist alles so schwierig heutzutage. Vielleicht hilfst du mir ein bißchen, wenn du dann noch hier bist.« Er brachte eine Literflasche Whisky zum Vorschein, noch über dreiviertel voll. Sie hatten ihre Gläser mitgenommen. Sie setzten sich auf die vergammelten Stühle und grinsten sich an. James kniff ein Auge zu. »Auf die lausige alte menschliche Rasse!« sagte er. »›... und Mann ist Mann, trotz alledem ...‹« Sie tranken. »Wir werden von einem Kerl namens General Peregrine Bolt regiert. Für einen Diktator ist er anscheinend so übel nicht. Hat eine Menge Rückhalt beim Volk. Wenigstens ist nachts Ruhe auf den Straßen.« »Keine Vergewaltigungen mehr?« »Fang bloß nicht wieder davon an.«
»Was hat Bolt mit dem Institut gemacht?« »Das blüht und gedeiht, nach allem, was man hört. Ich weiß natürlich nichts Genaues. Ich hab ja nichts damit zu tun. Es soll jetzt mehr nach militärischen Gesichtspunkten geführt werden, heißt es.« »Ich muß mich zurückmelden. Ich geh gleich morgen früh hin, sonst schmeißen die mich 'raus.« »Du gehst doch nicht etwa wieder in die Vergangenheit 'runter? Die neue Regierung will das alles organisieren. Jetzt, wo so viele Leute Zeitreisen machen, steigt da unten die Kriminalität mächtig an. Vorige Woche sind zwei Leute in der Perm-Zeit ermordet worden, hat der Kaufmann Mrs. Annivale erzählt. General Bolt läßt Polizeistreifen in der Vergangenheit 'rumfahren, sie sollen da Ordnung halten.« »Da ist schon Ordnung. Ich habe kein Verbrechen gesehen. Ein paar tausend Menschen über Millionen von Jahren verstreut – was kann da schon groß passieren?« »Aber die Menschen bleiben nicht verstreut, nicht wahr? Jedenfalls, wenn du wieder 'raus willst, kann ich dich auch nicht halten. Aber warum bleibst du nicht hier und machst ein paar richtige Gruppenkompositionen oder so, und verdienst anständig Geld? Dein Zeug ist alles im Atelier. Wohnen kannst du hier.« Bush schüttelte den Kopf; er konnte über seine Ar-
beit nicht sprechen. Nach dem Trinken klopften ihm jetzt wieder die Halsadern. Das Ohr tat ihm weh. Was er jetzt brauchte, war ein ordentlicher Schlaf. Den zum wenigsten konnte er hier finden; nur wenige Leute schienen seines Vaters Privatleben zu stören. Im Moment, als er das Glas auf der breiten Stuhllehne absetzte, hörte man ein donnerndes Klopfen an der Tür. »Da steht doch deutlich genug ›Klingeln und sofort eintreten‹, nicht wahr?« Aber sein Vater war blaß geworden. »Das ist kein Patient. Wahrscheinlich die Miliz. Wollen lieber 'runtergehen und nachsehen. Du kommst doch auch mit 'runter, Ed? Kann sein, es ist für dich. Ich hab ja nichts gemacht. Will bloß die Flasche hier unter dem Stuhl verstecken. Die sind ganz schön Anti-Schwarzmarkt, hol sie der Teufel! Was können die bloß wollen? Ich geh ja kaum noch 'raus ...« Vor sich hinmurmelnd, ging er hinunter, Bush dicht hinter ihm. Das befehlshaberische Hämmern ließ sich nochmals hören. Bush rannte an seinem Vater vorbei in den Warteraum und riß die Haustür auf. Zwei Bewaffnete in Uniform standen vor ihm auf der Türstufe. Sie hatten Stahlhelme auf und sahen keineswegs friedlich aus. Ein Lastwagen mit geräuschvoll laufendem Motor wartete hinter ihnen auf der Straße.
»Edward Lonsdale Bush?« »Bin ich. Was wollen Sie?« »Unterlassung der Rückmeldung beim WenlockInstitut nach überzogener Zeitreise. Das gibt Ärger. Kommen Sie mit!« »Hören Sie, Sergeant, ich bin auf dem Wege zum Institut!« »Kleine Abkürzung, was? Gesoffen haben Sie auch – riecht man meterweit. Los, mitkommen!« Er griff hinter sich auf den zeitschriftenbedeckten Tisch nach seinem Rucksack. »Meine Aufzeichnungen sind alle hier – ich war schon auf dem Weg, sage ich Ihnen ...« »Machen Sie keine Schwierigkeiten, oder wir melden Sie wegen Widerstand, und Sie sehen sich ein Erschießungskommando von vorn an. Los, marschmarsch!« Er sah sich voller Verzweiflung um, aber sein Vater war in das Halbdunkel hineingeschrumpft und nicht zu sehen. Sie nahmen Bush in die Mitte und führten ihn den Gartenweg entlang, an der zerfallenden Ziegelmauer vorbei, wo der Soldat das Mädel vergewaltigt hatte, stießen ihn in den wartenden Lastwagen und schlugen die Tür hinter ihm zu. Der Lastwagen fuhr ab.
5 – Neuer Mann im Institut Seltsam, daß er die Zeit des Fahrens nicht mit ängstlicher Spannung vergeudete, sondern statt dessen in Liebe seines Vaters gedachte! Der alte Knabe stand mit dem Rücken gegen die Wand und verdiente schließlich Mitleid. Die Tage seiner ohnehin fragwürdigen Überlegenheit waren vorbei; jetzt war dieses Verhältnis umgekehrt – oder würde es sein, wenn Bush jemals in das schmuddlige kleine Haus zurückkehren sollte. Wenn auch der Familienstunk irreparabel gewesen war, so bedeutete doch eben diese Tatsache, daß es zwischen den Stürmen auch Windstillen gegeben hatte, Kalmen voll des allerschönsten Friedens, des Friedens der Indifferenz, wenn man sich alle die scheußlichen Dinge gesagt hat und nichts mehr zu sagen bleibt. Wieder das Inzest-Motiv: aller Familienstreit, so lautet die populäre Auffassung, beruht im Grunde auf der Blutschande; dort mischt sich das verbotene Süßeste und Beste mit dem Schlimmsten. Dann begann er, über den Tod seiner Mutter nachzudenken, und prüfte seine Reaktionen darauf. Dabei war er noch, als der Lastwagen mit heftigem Ruck anhielt, so daß er die Holzbank entlangrutschte und krachend gegen die rückwärtige Tür schoß. Sie wur-
de aufgerissen, und er fiel beim Aussteigen halb zu Boden. Die Hände noch auf der Erde, erfaßte sein Blick, ehe er sich zwischen seinen Bewachern aufrichtete, die trübselige Umgebung hinter dem Wagen. Sie hatten eine Schranke in einer hohen Betonmauer passiert, die sich jetzt wieder schloß. Wachtposten standen in militärischer Haltung am Tor; andere Soldaten rekelten sich bei ein paar Schuppen an der Mauer. Der Hof sah aus, als sei er vor kurzem noch bebaut gewesen; überall lag noch Schutt. Die beiden Soldaten führten ihn um den Lastwagen herum zum Eingang eines großen, wenig eindrucksvollen Gebäudes. Bush konnte im ersten Moment gar nicht glauben, daß es, wie er dann erkannte, tatsächlich das Wenlock-Institut war. Die latente Verwirrung, die jeder in sich trägt, der sich zwischen den Zeiten bewegt und gestern als morgen und morgen als gestern erlebt hat, schoß in ihm hoch und überwältigte ihn. Eine Sekunde lang konnte er nicht glauben, daß er im richtigen Jahr war. Das Institut hatte in einer stillen Seitenstraße gestanden, mit einem Parkplatz an der einen und Häusern an der anderen Straßenseite. Vis-à-vis war das Bürohaus einer Versicherungsgesellschaft gewesen, die gute Geschäfte mit den Zeitfahrern gemacht hatte. Erst nachdem sie ihn in das Institutsgebäude eskor-
tiert hatten, fiel ihm die einfache Lösung ein: Unter dem Regime des ehrenwerten Generals Peregrine Bolt hatte das Institut seinen Status beträchtlich verbessert; sein Vater hatte ihm ja davon erzählt. Da hatten sie einfach die ganze Straße abgerissen und eine Mauer um das Institutsgelände gebaut, so daß es nunmehr leicht zu verteidigen war und niemand unregistriert ein- oder ausgehen konnte. Innen hatte sich das Institut wenig verändert. Es schien tatsächlich eine Periode des Gedeihens angebrochen zu sein: die Beleuchtung war besser, der Fußboden auch; eine Fernseh-Befehlsanlage war installiert, die pausenlos bunte Signale übermittelte. Der Empfang war erheblich ausgebaut – vier Uniformierte saßen jetzt hinter dem Tisch. Das Unbehagen und der Stumpfsinn, den man beim Anblick ihrer Uniformen empfand, trug mehr als alles andere dazu bei, die einst so anspruchslose Atmosphäre zu verändern. Die Eskorte zeigte ein Papier vor. Einer der uniformierten Empfangsbeamten sprach in ein Lautlostelefon. Sie warteten. Schließlich nickte der Beamte, legte auf und sagte: »Raum 3!« Die Soldaten brachten Bush zum Raum 3 hinüber – ein kleiner Raum am Hauptkorridor – und ließen ihn dort allein. Der Raum war leer bis auf zwei Stühle. Bush stellte
sich mitten in den Raum, umklammerte seinen Rucksack und lauschte. Es sah so aus, als käme er einigermaßen glimpflich davon. All das Entsetzliche, die Gedanken an Faustschläge in die Zähne, Fußtritte in die Hoden, jene charakteristischen Gesten eines totalitären Systems, traten ein wenig zurück. Vielleicht hatten die Soldaten nur Befehl gehabt, ihn so schnell wie möglich hier einzuliefern, damit er seinen Bericht mache. Er hoffte, Howells sei noch hier; Howells hatte stets seinen Bericht entgegengenommen und ihn, Bush – das war diesem nicht verborgen geblieben – immer heimlich etwas bewundert und beneidet. Jedoch trotz allem überkamen ihn wieder Spannung und Angst, so daß sein Atem schneller und flacher ging. Der Raum war wie eine kleine Schachtel, und sie ließen ihn verdächtig lange warten. Es würde Ärger geben. Wenn sie bloß nicht davon anfangen würden, daß er ein Jahr überzogen hatte – wenn sie nur verstehen würden, daß er hatte zurückkommen wollen, anständige Arbeit leisten, seinen Bericht liefern. Schließlich war er der Star unter ihren Zeitreportern. Aber – und sein Hirn lief auf einem anderen Gleis – wenn es nicht der alte Howells war, sondern ein neuer Mann, der nicht wußte, daß er die vorgesehene Reisezeit überschritten hatte ... Andererseits ... ein Neuer, ein Totalitärer ... einer von Bolts Männern ...
Da Bush von der gegenwärtigen politischen Lage überhaupt nichts wußte, was über die paar Worte hinausging, die sein Vater hatte fallen lassen, fing er an, sich eine schaurige Geschichte zurechtzuweben, in welcher er das Opfer schrecklicher Brutalitäten war und seinerseits die anderen demütigte. Es war, als müsse sein Geist, nun da die Mutter gestorben war, selbst neue Komplikationen erfinden, um sich damit auszustopfen. Die Ereignisse der letzten Zeit: der Zusammenstoß mit Lennys Bande; der unerwartete Schlag, den ihm Stein versetzt hatte; der Schock der Erkenntnis, daß Borrow ohne sonderliche Anstrengung erreicht hatte, was er, Bush, zu erreichen vergeblich gehofft hatte; die Nachricht, daß seine Mutter schon seit ein paar Monaten tot war – das alles war zuviel für ihn. Er fürchtete, daß er nichts mehr ertragen könne. Er sank auf einen Stuhl in der Ecke, nahm den Kopf in beide Hände und ließ das Universum nach Belieben wie ein Schiff schaukeln und stampfen. Unbeschreibliche Dinge fuhren ihm durch den Sinn. Schreck durchzuckte ihn galvanisch – er sprang auf und erstarrte. Die leichte Tür war offen, und ein Melder stand vor ihm. Irgend etwas stimmte nicht mit seinen Augen; er konnte den Mann nicht ordentlich erkennen. »Soll ich jetzt meinen Bericht abgeben?« Bush sprang vor.
»Ja. Kommen Sie mit.« Sie nahmen den Fahrstuhl zum zweiten Stock, wo sich Bush gewöhnlich zu melden hatte. Ein makabrer Schrecken erfaßte ihn, das Vorgefühl großen Übels. Es kam ihm vor, als habe sich das Innere des Instituts auf unerklärliche Weise verändert, als seien Perspektiven und Schatten unmenschlicher geworden, grausamer die Lifte – das Metallgitter der Fahrstuhlkabine schloß sich wie ein Raubtierrachen vor ihm. Er schwitzte, als er auf den Flur trat. »Soll ich zu Reggie Howells?« »Howells? Wer ist das, Howells? Der arbeitet nicht mehr hier. Nie gehört.« Das Report-Zimmer sah noch so aus, wie er es im Gedächtnis gehabt hatte, abgesehen von der TeleSchale und ein paar anderen Anlagen, die eine listenreiche und wachsame Atmosphäre schufen. Stühle vor und hinter dem Tisch, Meldeblöcke, das Sprechbildgerät summte untätig in einer Ecke vor sich hin. Bush stand noch immer reglos da, nur seine Fäuste schlossen und öffneten sich, als Franklin hereinkam. Franklin war Howells' Vertreter gewesen, ein schweinchenhafter Mensch mit pickliger Haut und schlechten schwimmenden Augen hinter einer kleinen stahlgerahmten Brille. Er wirkte keineswegs sympathisch, und Bush erinnerte sich, daß er den Mann nie hatte leiden können; er hatte auch nie versucht, sich
bei ihm in ein günstiges Licht zu setzen. Nun aber begrüßte er ihn einigermaßen überschwänglich – es war eine unerwartete Erleichterung, jemanden zu sehen, den er wenigstens kannte, selbst wenn es Franklin war. Franklin kam ihm umfangreicher, größer vor – einen ganzen Kopf größer. »Setzen Sie sich und machen Sie es sich bequem, Mr. Bush. Legen Sie Ihren Rucksack hierher.« »Tut mir leid, daß ich mich nicht gleich zurückgemeldet habe, aber meine Mutter –« »Ja. Das Institut wird jetzt straffer geleitet als zur Zeit Ihrer letzten Anwesenheit. In Zukunft werden Sie sich unmittelbar nach Ihrer Rückkehr in die Gegenwart zurückmelden. Solange Sie sich an die Vorschriften halten, passiert Ihnen nichts. Ist das klar?« »Aha. Ja, gewiß, ich werde daran denken. Ich höre, Reggie Howells ist nicht mehr beim Institut. So hat mir der Melder jedenfalls gesagt.« Franklin sah ihn an und kniff die Augen etwas zusammen. »Howells, um die Wahrheit zu sagen, ist erschossen worden.« Bush hätte es nicht genau sagen können – aber es war die Redensart »um die Wahrheit zu sagen«, die ihn aus der Fassung brachte; sie klang zu beiläufig, um zum Rest des Satzes zu passen. Er dachte, es wäre sicherer, nichts weiter zum Thema Howells zu sagen; gleichzeitig kam er zu dem Schluß, grade das, was er
am liebsten getan hätte, wäre das Allerunratsamste: nämlich Franklin eins auf seine Schweineschnauze zu hauen. Um seine Verwirrung zu verbergen, stellte er seinen schäbigen alten Rucksack auf den Tisch und wollte den Reißverschluß aufziehen. »Ich werde das aufmachen«, sagte Franklin und zog den Rucksack zu sich heran. Er schob ihn unter eine Maschine zu seiner Rechten, schaute auf eine darüber angebrachte Scheibe, grunzte, riß ihn auf und schüttete den Inhalt zwischen sich und Bush auf den Tisch. Sie blickten beide auf den armseligen Krimskrams, der Bush durch eine so gewaltige Spanne Zeit begleitet hatte. Ein Vorgefühl kommenden Unheils durchkältete Bush, und seine Eingeweide zogen sich zusammen. Sein Zeitsinn war ausgehakt, ebenso wie damals, als Stein ihm den Schlag versetzt hatte. Franklin streckte die Hand nach dem Trödel auf dem Tisch aus; seine Armbewegung geschah unter perfekter Kontrolle, die vieldimensionale Funktion aus einer Serie verzwickter Beziehungen zwischen den Nerven- und Muskelkräften sowie terrestrischen Gravitationskräften, wobei noch Luftdruck und optimale Schätzungen hineinspielten. Es war ein Lehrbuchfall der anatomischen Mechanik. Bush konnte beim Zusehen die grobe Substruktur der Bewegung erkennen: beim leichten Vorwärtsschwung des Humerus hebelten sich Ulna und
Radius ab, das Handgelenk bog sich, die Fingerknochen streckten sich wie die Versehrten Schwingen eines Vogels, unter dem blauen Ärmelstoff gluckerte die Lymphe. Voller Abscheu blickte Bush auf den Mann. Die kleinen anastigmatischen Augen hinter der Isolierung ihrer Brillengläser starrten ihn immer noch an; aber das Gesicht war die nackte anatomische Zeichnung eines Schädels, dessen Fleisch teilweise abgetragen war, um Zähne, Gaumen und die Vertracktheiten des Innenohres zur Darstellung zu bringen. Eine Serie kleiner roter Pfeile sprühte aus den klaffenden Kiefern in die Luft, zu Bush hin; sie deuteten den Weg des Atems an, als dieser Organismus sagte: »Familiengruppe.« Franklin las das Wort von einem Blatt Papier ab, das er aus dem Haufen auf dem Tisch herausgeklaubt hatte. Das Blatt war zusammengerollt. Der Organismus hatte es glattgestrichen und betrachtete es nun. Auf dem Papier war die rohe Farbskizze einer leeren Landschaft mit einer metallenen See; aus einer Sonne, einem Baum entwickelten sich Gesichter. Langsam erinnerte sich Bush: das hatte er damals im Devon gemacht und den Titel daruntergekritzelt, den der Organismus eben abgelesen hatte. Er schloß die Augen und wiegte den Kopf. Als er aufs neue hinschaute, kam ihm Franklin wieder nor-
mal vor; seine Anatomie war anständig unter dem Anzug verborgen. Er hatte die Zeichnung wieder zusammengerollt und sie voller Abscheu beiseitegeschmissen. Jetzt prüfte er noch weitere Skizzen, eine Serie, die Bush auf dem Block entworfen hatte. Es waren kryptische Gebilde; keines war völlig in erkennbare Form übersetzt. Bush hatte sie auf dem Papier übereinandergeschichtet und versucht, sie ungreifbar, unbegreifbar zu machen, dem eingleisigen Sinn zu trotzen, alle Dauer zu vergewaltigen. »Was soll denn das sein?« fragte Franklin. Vielleicht sollte ich mich mal räuspern, dachte Bush. Hier empfand er wieder eine gewisse Spannung. Das war alles äußerst unerfreulich. Hat natürlich keinen Zweck, das ganze Erklären ... Er räusperte sich und freute sich der geringfügigen Erleichterung, als der winzige Druck des Schleims in seiner Kehle aufhörte. Es war ein Irrtum anzunehmen, daß RaumzeitErlebnisse anhand von Symbolen zu Papier gebracht werden können – ein kardinaler Irrtum, von dem die Menschheit seit den Tagen der ersten Höhlenmalereien immerhin manches profitiert hatte. Vielleicht konnte man wirklich einen Weg finden, um solche Erlebnisse in die Sprache der Raumzeit zu übersetzen. Aber das gab es ja schon längst ... Ein paar Takte Musik ... »Meine Skizzen ...« Franklin nickte und akzeptierte das als eine ausrei-
chende Antwort. Er legte den Block sorgfältig in einen Ablagekorb – eine wohlberechnete Geste. Jetzt löst sich der Kerl gleich wieder in eine graphische Darstellung motorischer Energie auf, dachte Bush, aber er kämpfte das Gefühl nieder. »Ich – meine Aufzeichnungen ...« Die Illusion, was immer es war, schwand. Die Zeit schnappte wieder ins Normale zurück. Er konnte wieder die dumpfe Luft des Zimmers riechen, Töne hören, das schwache Geräusch, als Franklin an seinen technischen Apparaten zu fummeln begann. Franklin fischte die Notizbücher und die Armbandkamera heraus und fegte alles andere in den Ablagekorb. Das Foto einer Frau war darunter. »Ihren persönlichen Besitz bekommen Sie später zurück.« Er klemmte das erste Buch in den Miniprüfer und ließ ablaufen. Bushs auf Band genommene Stimme erfüllte den Raum, und der Recorder hinter Franklin verdaute sie noch einmal. Franklin saß unbeweglich und ausdruckslos auf seinem Platz und hörte zu. Bush begann, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln, dann legte er sie auf die Knie. Jedes Buch hatte eine Abspieldauer von fünfundzwanzig Minuten. Viereinhalb Bücher waren da, voller Berichte, die sich über die langen Monate seiner Abwesenheit verteilten. War ein Buch leer, so führte Franklin das nächste ein. Er war darauf gedrillt, Leute nervös zu machen; vor zwei, drei
Jahren noch hätte er in dieser unbehaglichen Atmosphäre gehustet oder sich geräkelt; jetzt tat Bush es an seiner Stelle. Die Berichte waren für Howells' Ohren bestimmt gewesen, für den netten Howells, dem ein bißchen Geplauder immer willkommen war. Sie enthielten wenig Neues über die Vergangenheit. Immerhin war da ein vertrauenerweckend solider Abschnitt über die Phragmoceren; und Bush hatte echte Forschungen über die Zeitlänge der früheren Jahre angestellt: die Jahre wurden länger, je weiter man in die Vergangenheit zurückging, was darauf beruhte, daß der Bremseffekt abnahm, den der Mond mittels der Gezeitenreibung auf die Erdumdrehung ausübt. Bush hatte festgestellt, daß im Früh-Kambrium ein Jahr 428 Tage gehabt hatte. Er hatte auch sorgfältige Beobachtungen über die psychologische Wirkung des CSD bei Zeitreisenden gesammelt. Aber jetzt hörte es sich an, als enthielten diese Berichte viel zuviel Geschwätz über die Menschen, die er auf seinen Wanderungen durch die Zeit getroffen hatte; und dazwischen waren noch allerlei künstlerische Betrachtungen eingesprenkelt. Als das letzte Buch, nach fast zweistündigem Playback, endlich abgespielt war, konnte er sich kaum dazu aufraffen, Franklin anzusehen, der die ganze Zeit immer größer zu werden schien, in dem Maße, wie Bush zusammenschrumpfte.
Immerhin war Franklins Ton ziemlich mild. »Welche Aufgaben hat, Ihren Vorstellungen nach, dieses Institut, Bush?« fragte er. »Tja – es begann als Forschungsinstitut für mentale Analytik und befaßte sich mit der Entwicklung des Tiefbewußtseins und dem Ausbau seiner Theorie. Ich bin kein Wissenschaftler und kann es, fürchte ich, nicht sehr präzise formulieren. Aber Anthony Wenlock und seine wissenschaftlichen Mitarbeiter entdeckten die Möglichkeiten des CSD und eröffneten die neuen Denkbahnen, die es uns ermöglichen, die Schranken zu überwinden, welche unsere Vorfahren in Urzeiten errichtet haben, um sich vor der Raumzeit zu schützen. So wurde das Zeitreisen entwickelt. Das ist natürlich sehr vereinfacht. Ich meine, sicherlich sind da noch allerlei Unstimmigkeiten aufzudröseln ... Also, jedenfalls dient das Institut jetzt als Hauptquartier für Zeitreisen und befaßt sich mit der besseren wissenschaftlichen Durchdringung der Vergangenheit, wie Sie es meine ...« »Und inwiefern haben Sie Ihrer Ansicht nach dieser besseren wissenschaftlichen Durchdringung der Vergangenheit, wie Sie es ausdrücken, gedient?« Der Recorder brummte immer noch vor sich hin und hielt den unaufrichtigen Ton seiner Stimme für die Nachwelt fest. Er wußte, daß er 'reingefallen war. Er riß sich zusammen und sagte: »Ich habe niemals
behauptet, daß ich Wissenschaftler bin. Ich bin Künstler. Dr. Wenlock selbst hat sich bei meiner Einstellung mit mir unterhalten. Er meinte, künstlerische Einsichten seien ebenso wichtig wie, äh, wissenschaftliche. Außerdem fand man heraus, daß ich besonders gut für Zeitreisen geeignet bin. Ich kann schneller und weiter transzendieren als alle anderen und komme außerdem näher an die Gegenwart heran. Sie wissen das ja alles, es steht in meiner Personalakte.« »Jedoch – inwiefern haben Sie dieser ›besseren wissenschaftlichen Durchdringung‹, von der Sie so viel reden, Ihrer Ansicht nach gedient?« »Ich glaube, Sie sehen das nicht richtig. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich bin kein Wissenschaftler. Mich interessiert mehr – also, ich habe mein Bestes getan, aber mich interessieren eben mehr die Menschen. Verflucht nochmal, ich habe schließlich den Job ausgeführt, für den ich bezahlt werde. Ich habe sogar noch eine ganz anständige Nachzahlung zu kriegen.« Franklin klapperte etwas mit den Augenlidern, anscheinend hatte er sich das neuerdings angewöhnt. »Nach Ihrem Bericht würde ich sagen, Sie haben die wissenschaftliche Seite fast völlig vernachlässigt. Sie sind ziellos herumgegammelt; Sie sind sogar nicht einmal in der Epoche geblieben, für die Sie bestimmt waren.« In seinem Innern fühlte Bush, daß Franklin recht
hatte. Das hinderte ihn – vielleicht zum Glück – daran, etwas zu erwidern. Er räusperte sich – die Faust in die Zähne, die Stiefelspitze in die Eier – all das kam wieder näher. »Andererseits – Sie sammeln eine ganze Menge Material über Menschen.« Bush nickte. Franklin nahm es ihm, das spürte er, nicht übel, daß er nichts erwidern konnte; mithin fühlte er sich wieder ein wenig besser. Franklin beugte sich über den Tisch und zeigte mit dem Finger in Bushs Gesicht, als habe er plötzlich im Zimmer etwas Merkwürdiges entdeckt. »Die Ziele des Instituts haben sich seit Ihrer Zeit geändert, Sie sind out of date, Bush, wir haben uns heute um wichtigere Dinge zu kümmern, als um Ihre ›wissenschaftliche Durchdringung‹. Schlagen Sie sich dergleichen lieber aus dem Kopf! Aber das hat ja bei Ihnen auch nie sehr fest gesessen, nicht wahr? Nun, insoweit stimmen wir heute mit Ihnen überein.« Höhnisch lächelnd sah er Bush an: wie mochte dieser Gnadenerweis wirken? Bush ließ den Kopf hängen; es bedrückte ihn, ausgerechnet von dieser Seite Unterstützung für seinen Verrat an der Wissenschaft zu bekommen. Er hielt sich für einen Künstler und hatte sich daher hochnäsigerweise als Opponenten der Wissenschaft empfunden, als Vertreter des Besonderen im Gegensatz zum Allgemeinen. Auf einmal sah er, wie blaß,
wie saft- und kraftlos diese Einstellung war: mit seinem speziellen Unsinn hatte er diese andere Spielart einer Opposition gegen die Wissenschaft unterstützt, die er nun – vielleicht gerade durch den Mief dieses einschüchternden Zimmers – als eine absolut antiethische Opposition gegen alle menschlichen Wertungen erkannte. Wenn Franklin, und sei es auch nur in Form eines säuerlichen Scherzes, behaupten konnte, sie stünden beide auf einer Seite, dann mußte er, Bush, in einem schlimmen Irrtum befangen sein. Sein Mut kehrte wieder. Er stand auf. »Sie haben recht. Ich bin out of date. Ich tauge nichts mehr. Schön, ich verlasse das Institut. Ich kündige, sofort.« Der andere gestattete sich einen einzelnen Lidschlag. »Setzen Sie sich wieder hin, Bush. Ich bin noch nicht fertig. Sie sind tatsächlich out of date, wie Sie sagen. Aber unter dem gegenwärtigen Anstellungsmodus, und in dieser Krisensituation – Sie haben doch wohl erfaßt, daß wir in einer Krise stehen – kann niemand seinen Posten aufgeben.« »Ich kann. Ich weigere mich einfach, wieder auf Zeitreise zu gehen.« »Dann werden Sie eingesperrt werden – oder vielleicht passiert Ihnen noch Schlimmeres. Setzen Sie sich, oder soll ich einen von unseren neuen Leuten rufen? So ist's besser. Hören Sie, Bush – ich sag's, wie's ist – die ganze Volkswirtschaft geht zum Teufel,
weil alle auf Zeitreise gehen, Tausende, Hunderttausende. Sie besorgen sich geschmuggeltes CSD, es kommt aus dem Ausland. Es sind unzuverlässige Elemente, und sie stellen eine Bedrohung der Regierung dar, eine Bedrohung für Sie und mich, Bush! Wir brauchen Leute, die in die Zeit fahren und feststellen, was da passiert – ausgebildete Leute. Mit Ihrem Talent würden Sie dort gute Arbeit leisten – und es ist ein guter Job, gut bezahlt außerdem – dafür sorgt der General schon. Einen Monat Intensivausbildung, und wir schicken Sie 'rüber, mit einem guten Status, vorausgesetzt, daß Sie vernünftig sind.« Bush versuchte, sich klarzumachen, was der Mann da meinte. Er fragte: »Vernünftig? Wie meinen Sie das, vernünftig?« »Nützlich. Ein gut funktionierender Teil der Gemeinschaft. Sie müssen die Idee aufgeben, durch alle Weltalter Ihrer eigenen kostbaren Persönlichkeit nachzujagen.« Nach einer Pause, in der das Gesagte einsinken konnte, fügte Franklin noch hinzu: »Vergessen Sie, daß Sie ein Künstler sein wollen! Das ist aus und vorbei! Es gibt weder einen Markt, noch eine Gelegenheit für Kunst, jetzt nicht mehr. Und überhaupt, Sie haben den Dreh verloren, nicht wahr? Das hat Ihnen Borrow doch sicher bewiesen!« Bush senkte den Kopf. Dann zwang er seine Au-
gen, in die schlierigen Augen hinter den kleinen Brillengläsern zu sehen, die ihn von der anderen Seite des Tisches her beobachteten. »Na schön«, brachte er schließlich hervor. Es war die völlige Unterwerfung unter Franklins Argumente, ein Akzeptieren jedes seiner Worte, das Bekenntnis seiner Unbrauchbarkeit für jede andere Rolle als die des Spions, des Schnüfflers, des Spitzels oder wie immer man es nennen mochte; aber selbst als er sich dem übergab, was er instinktiv »den Feind« nannte, fühlte er neuen Mut und neues Zielbewußtsein in sich erstehen, denn er sah genau, daß seine einzige Chance als Künstler darin bestand, wieder in die Zeit zu fahren. Und darüber hinaus sah er, daß er nicht so sehr Künstler als Zeitfahrer war, der erste einer neuen Rasse, deren ausschließliches métier die Zeitfahrerei war; daß er lieber sterben als von dieser makabren Freiheit des Geistes lassen wollte. Als Folge dieser neuen Erkenntnis spürte er, daß er durch dieses Selbstverständnis auf neuer Basis endlich dazu gelangen würde, die neue Kunstform zu gebären, mit der sich die veränderte Weltanschauung, der neue schizophrene Zeitgeist ausdrücken ließen. Momentweise brach in Bush, als er Franklin anstarrte, eine große Freude auf: er sah, daß er noch die Chance hatte, zur Welt (oder zu den wenigen) von seiner visionären, seiner einzigartigen Imagination zu
sprechen; und dann dachte er daran, wie er Roger Borrows Kitsch in die Bedeutungslosigkeit zurückstoßen würde; und dieser etwas kleinliche Schritt brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück, zum Brummen des Recorders, zu Franklins Nase und seiner Brille. Jetzt war Franklin an der Reihe aufzustehen. »Wenn Sie unten warten wollen – man wird Ihnen Ihre persönlichen Sachen bringen.« »Und mein Gehalt?« »Und Ihr Gehalt. Einen Teil jedenfalls. Der Rest wird als Notfallguthaben verbucht. Sie können dann nach Hause gehen. Der nächste Lehrgang beginnt am Montag; bis dahin sind Sie beurlaubt. Machen Sie gefälligst keinen Unsinn. Montag holt Sie ein Wagen ab, ganz früh. Halten Sie sich bereit! Alles klar?« Aus Gemeinheit antwortete Bush: »Also, es war nett, Sie wieder mal zu sehen, Franklin. Und was denkt Doktor Wenlock über alle diese Veränderungen?« Franklin blinzelte auf seine Art. »Sie waren zu lange weg, Bush. Wenlock ist vor einiger Zeit ... um die Wahrheit zu sagen: er ist in einer Irrenanstalt.«
6 – Die Uhr Es fing an zu regnen, als er an den kariösen Baumstümpfen und an der Mauer, wo Vergewaltiger und Vergewaltigte beieinandergelegen hatten, vorbeiging. Er stieg die Stufen hinauf, aber sein Vater hatte die Tür abgeschlossen. Erst nach vielem Läuten, Klopfen und Durch-den-Briefkasten-Schreien konnte er den Zahnarzt zum Herunterkommen und Öffnen bewegen. Sein Vater hatte den größten Teil des Whiskys absorbiert. Von Bushs Gehalt kauften sie am Abend noch mehr und waren in der Nacht und am nächsten Tage betrunken. Das Besäufnis war ein verläßlicher Ersatz für Freundschaft, die nicht recht Zustandekommen wollte. Es half auch, den Schreck abzubauen, der Bush noch immer im Gemüt saß. Am nächsten Tag, Donnerstag, nahm James Bush seinen Sohn mit zum Grab der Mutter, damit er es ansähe. Sie waren beide nüchtern und bedrückt, sie brauchten eine Dosis Melancholie. Der alte, vernachlässigte Friedhof war auf einem so steilen und windigen Hügel angelegt, daß nur auf einer Seite der Grabhügel Gras wachsen wollte. Für ELIZABETH LAVINIA, GELIEBTE FRAU DES JAMES BUSH, war diese Stelle ein höchst uncharakteristischer Ruheplatz. Zum
erstenmal dachte Bush darüber nach, wie sie sich wohl damals, als sie ihn in den Garten aussperrte, gefühlt haben mochte, denn sie ihrerseits hatte ja den ganzen Tag im Hause bleiben müssen. Jetzt war freilich sie ausgesperrt, und für immer, und ihre Seele war Strandgut an einer steileren und unendlicheren Küste, als die Erdgeschichte jemals eine gekannt hatte. »Ihre Eltern waren katholisch. Aber als sie sechs Jahre alt war, gab sie ihren Glauben auf.« Sechs? Das war ja ein sonderbares Alter, um seinen Glauben aufzugeben! Ebensogut hätte sein Vater sagen können »um sechs Uhr morgens«. »Irgend was ist ihr passiert, als sie sechs war, und da war sie überzeugt, es gebe keinen Gott. Sie hat mir niemals erzählt, was das gewesen ist.« Bush sagte nichts dazu. Sein Vater hatte das Thema Religion vermieden, seit er von Franklin zurückgekommen war. Jetzt anscheinend war er wieder dicht davor; der Augenblick war schauderhaft günstig. Bush pfiff leise vor sich hin, um seinen Vater aus dem Konzept zu bringen. Der bloße Gedanke an Religion irritierte ihn immer. Diese Geschichte, daß seine Mutter im Alter von sechs Jahren von ihrem Glauben (oder was immer das gewesen sein mochte) abgefallen war, hielt Bush für Schwindel. Wäre dergleichen tatsächlich passiert, so hätte er oft etwas darüber gehört, und zwar von
beiden; denn seine Eltern gehörten nicht zu den Menschen, die ihre Wehwehchen für sich behalten. »Dann wollen wir man lieber wieder nach Hause, Vater.« Er scharrte mit den Füßen. James Bush rührte sich nicht. Er starrte auf das Grab seiner Frau und kratzte sich geistesabwesend am Hintern. Bush beobachtete seinen Vater aufmerksam und sah, daß er seine salbungsvolle Miene aufsetzte; dann kam gewöhnlich etwas Aufrichtigeres, vielleicht ein allgemeines leeres Gefühl der Ratlosigkeit vor der Frage, was er und die übrige Menschheit und dieses ganze zappelnde Bündel belebter Materie überhaupt mit dem Leben anfangen sollten. Bush fand das noch beängstigender als den salbungsvollen Ausdruck; er wußte ganz gut, woher seine eigene lästige Neigung zur Selbstbefragung kam. Er hoffte nur, die Jahre, in denen sein Vater mit dem Glauben geflirtet hatte, wären tot und begraben; eine Auferstehung wäre jetzt und hier recht unbequem. »Sieht nach Regen aus.« »Sie wußte einfach nicht, wie sie zu Gott stand. Aber sie wollte hier begraben werden. ›Es lebt der Geist in uns sein eigenes Leben‹, wie der Dichter Skellet sagt.« »Kriegen wir hier einen Bus nach Hause?« »Ja. Du wirst dich wundern – man kann heute nicht mal für Geld und gute Worte einen Grabstein be-
kommen. Den da hab ich selbst gemacht. Wie gefällt er dir, Ed? Armierter Beton, und die Buchstaben habe ich eingeschnitten, ehe er trocken war.« »Richtig fachmännisch.« »Hoffentlich denkst du nicht, ich hätte einfach E. Lavinia schreiben sollen? Den Namen Elizabeth hat sie nie benutzt.« »Sehr schön so, Vater.« »Mir gefällt er.« »Ja.« »Schade, daß du nicht dabei warst. Kam mir irgendwie nicht richtig vor, so ohne dich.« So hatte ihr Leben geendet, nicht einfach unter diesem Hügel, wo das vom Berg herabsickernde Wasser schon begonnen hatte, eine Seite des Grabes abzutragen, sondern mit einem Austausch von Banalitäten zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn. Als Bush sich das sagte, was er überzeugt, daß keiner von ihnen beiden jemals wieder hierherkommen würde. Es gibt eine Grenze für die Sinnlosigkeiten, die ein Mensch ertragen kann. »Aber ist das nicht alles so verdammt sinnlos?« sagte er. »Wer war sie? Ich weiß es nicht, und ich glaube auch nicht, daß du es weißt. Hat ihr Leben überhaupt einen Höhepunkt gehabt? – Und wenn ja, welchen? Damals, als sie sechs Jahre alt war? Wenn dem so ist, dann war ihr ganzes weiteres Leben ein
Abstieg, und sie hätte lieber ihre Tage rückwärts leben sollen, so daß der Krebs geheilt wäre und sie ihre Jugend und schließlich ihren Kinderglauben zurückbekommen hätte.« Er riß sich zusammen, um nicht von einem Gefühl des Schreckens überwältigt zu werden, das auf ihn zukam. Sie verließen das Grab. Sein Vater sagte: »Solche Fragen haben wir uns nicht gestellt, als wir heirateten.« »Entschuldige, Vater. Komm nach Hause. Ich habe das nicht so gemeint. Du warst immer vernünftiger als ich. Es ist eben ...« »Du warst der Höhepunkt ihres Lebens, und ich auch.« »Das ist alles Unsinn, außer du glaubst daran, daß der einzige Zweck der menschlichen Rasse darin besteht, einfach die nächste Generation zu zeugen, und dann noch eine und dann noch eine ...« Sein Vater ging mit raschen Schritten hügelabwärts, auf das baufällige überdachte Friedhofstor zu. Es war ein kalter Tag. Das Haus des Zahnarztes war feucht, und sie aßen einen frugalen Lunch: Bratkartoffeln mit Salz. Lebensmittel waren knapp und erschreckend teuer. Nachmittags las Bush in den alten Zeitschriften im Warteraum. Wunderbarerweise erschien ein Patient, der sich die Backe hielt, in der ein eiterndes Geschwür saß. Bush ärgerte sich über die Störung.
Aus den zerfledderten Seiten der Magazine gewann er ein Bild der Faktoren, die nach und nach die gegenwärtige Lage herbeigeführt hatten. Er war sorgenlos durchs Leben gegangen, hatte sich gestritten, 'rumpoussiert, geredet, gemalt – ohne jede Hemmung seines Appetits, ohne jede Beziehung zu den Strömungen, die seine Generation durchzogen. Jetzt begriff er, daß vor einigen Jahren eine dieser gelegentlich auftretenden Reaktionen gegen eine Hochleistungs-Industriegesellschaft eingesetzt hatte, die sich in einer Nostalgie für die Gaslichtpracht der längst gestorbenen viktorianischen Zeit ausdrückte. Solche Reaktionen laufen sich schnell tot, wenn nichts da ist, um sie zu nähren, und bald zieht eine neue Mode die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Aber in den zweitausendsiebziger Jahren kam als allerneuestes das Zeitreisen auf, oder doch die Möglichkeit dazu; und das heizte die allgemeine Nostalgie eher an, als daß es sie dämpfte. In überraschend kurzer Zeit, sicher schon um die Mitte der achtziger Jahre, hatten sich die höheren Zivilisationen der Welt an der Vergangenheit orientiert – an der fernsten prähistorischen Vergangenheit, denn die war paradoxerweise am leichtesten zu erreichen, da das zweite thermodynamische Gesetz in den unteren Bereichen des menschlichen Geistes nicht gilt. Eine Generation wuchs heran, die alle ihre Kräfte und Fähigkeiten
einsetzte, um ihrer eigenen Zeit zu entfliehen. Jede menschliche Betätigung war davon betroffen, vom kommerziellen Tourismus (Floridas Strände, die Mittelmeerküsten wurden so leer wie zu Zeiten der Königin Viktoria) bis zur Stahlindustrie; vom Showgeschäft bis zur Philosophie. Mitten in dem sich zusammenbrauenden weltweiten Konjunkturniedergang blühten einzig die Wenlock-Institute. Dort konnte man zu relativ bescheidenen Preisen Kurse belegen, in denen man die Wenlock-Disziplin lernte, ein System von Formeln und Übungen, mittels derer man die uralten Schranken des menschlichen Geistes aufschließen konnte. Dort konnten sich die Leute Drogen kaufen, die ihnen auf den Weg zu jenen Meeren halfen, in denen Plesiosaurier schwimmen. Und auf den institutseigenen Zeitbahnhöfen konnten sie, während sie verschwanden, einen nicht allzuteuren Ankerplatz in der Welt der vergehenden Zeit finden – für immer, wenn das Geld reichte. Wie alle menschlichen Systeme war das WenlockSystem, obschon ebenso human wie sein Begründer, fehlbar. In vielen Ländern wurde es als gefährliches Monopol diskriminiert; in anderen geriet es sofort unter die staatliche Oberhoheit. Und natürlich spionierten weniger wohlmeinende Leute das Geheimnis seiner Übungen und Drogen aus und brachten ihre ei-
genen Versionen auf den Markt. Mancher Kühlschrank in mancher leeren Privatwohnung enthielt Schalen mit Blut und Körpergewebe, während die ganze Familie sich heimlich davongemacht hatte und im Gondwanaland* sozusagen die Schule schwänzte. Auch im Wenlock-Empire selbst war nicht alles in Ordnung. In einem Artikel der Dental World vom Januar vorigen Jahres, mit der Überschrift »WenlockDisziplin und Zahnarzt-Honorare« las Bush zum erstenmal den Namen Norman Silverstone, auf den er dann noch in mehreren anderen der zerlesenen Magazine stieß. Wie ein Leitartikler ausführte, beruhte die ganze Theorie der Zeitfahrten auf wenigen Fakten und sehr vielen Hypothesen, ähnlich wie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Theorien des Psychoanalytikers Sigmund Freud. Silverstone wurde für Wenlock, was Jung für Freud gewesen war. Obwohl niemand die Zeitfahrten als Tatsache leugnen konnte, gab es Leute, die behaupteten, daß Wenlock die Fakten falsch interpretiere. Der bedeutendste unter diesen war Norman Silverstone, der einstige Freund und engste Mitarbeiter Wenlocks. Silverstone räumte ein, daß der menschliche Geist von der psychotischen * Bis in die Perm-Zeit bestehender riesiger Festlandblock (Südamerika, Vorderindien, Australien, Antarktis). Zerfiel während des Mesozoikums zu den heutigen Landmassen der südlichen Hemisphäre (d. Übersetzer)
Schranke befreit werden könne, hinter der er seine zeitgebundene Suprematie über den Rest des Tierreiches aufgebaut habe; aber er behauptete, es gäbe noch andere und gewaltigere Kräfte freizusetzen, und die Begrenzungen des Zeitreisens, welche den meisten Reisenden den größten Teil der geschichtlichen Zeit verschlossen, seien Beweis genug, daß die Disziplin nur ein Fragment – und wahrscheinlich sogar ein verzerrtes Fragment – eines größeren Ganzen sei. Silverstone war ein sehr zurückhaltender Mensch, der sich weder fotografieren noch interviewen ließ; und seine gelegentlichen eigenen Beiträge zu dieser Streitfrage waren so dunkel, daß man ihn kaum für einen besonders bedeutenden Gegner Wenlocks halten konnte. Immerhin boten er und seine Jünger ein Instrument, das sich für solche Regierungen als außerordentlich nützlich erwies, die Wert darauf legten, die Institute und Zeitbahnhöfe in den Griff zu bekommen. Aus verständlichen Gründen gab es seit der Revolution keine älteren Zeitschriften mehr; aber Bush glaubte, den Ablauf der Ereignisse, wie er sich folgerichtig ergab, einigermaßen klar vor sich zu sehen. Vermutlich waren in den meisten Ländern die schweren Wirtschaftskrisen von Börsenkrachs begleitet gewesen; Arbeitslose waren in die Hauptstädte marschiert; es hatte Aufstände der Halbverhungerten ge-
geben; die Habenichtse und die Besitzenden hatten gleichermaßen nach einer stärkeren Regierung geschrien, wenn auch aus gegensätzlichen Motiven. Bush hockte in dem unordentlichen Warteraum und dachte sich allerlei Krisensituationen aus. Die unsicheren Verhältnisse dürften nicht lange bestanden haben. Die Nationen waren wieder gesundet, wie sie schon so manches liebe Mal gesundet waren. Schon hatte Bush ein Anzeichen dafür gesehen, daß die Tage von General Bolts Regime gezählt sein mochten, ein beinahe mystisches Zeichen; als es kam, hatte er es kaum bemerkt oder erkannt. Als er nämlich, starr wie in einem kataleptischen Anfall, in Raum 3 gestanden und auf seine Vorführung bei Franklin gewartet hatte, war die Dunkle Frau erschienen. In diesen Minuten war sein Kopf viel zu voll gewesen, um sich diese Besucherin aus der Zukunft richtig anzusehen. Aber jetzt fiel ihm ein, daß sie, schattenhaft wie sie war, einen leichten Glanz ausgestrahlt hatte – nicht anders als eine Fee in den imitiert-viktorianischen Fest-Aufzügen, zu denen ihn seine Mutter manchmal mitgenommen hatte, als er noch klein war. Das konnte nur eins bedeuten: daß sie in ihrer eigenen Zeit nicht in einem geschlossenen Raum, sondern im Freien stand, mit anderen Worten: zu ihrer Zeit würde das Institut zerstört sein, die schützende Hand des Generals Bolt würde also nicht
immer da sein. Nicht immer – aber vielleicht war diese geisterhafte Wächterin fünfhundert Jahre voraus, und das wäre eine ganz hübsch lange Zeit. Immerhin, eine Hoffnung. Auch das Furchtbarste geht vorüber. Er sah sich in der Diele um: zur Zeit war sie nicht bei ihm. Wie treu sie auch sein mochte – sie mußte schließlich etwas dienstfreie Zeit haben. Dann dachte er: Oder ist sie nur pure Einbildung meiner Phantasie, meiner Anima? Bin ich nicht im Grunde absolut unausgeglichen – feige und gleichzeitig waghalsig, kalt und dabei sexbesessen? Vielleicht ist die Dunkle Frau nur eine Projektion meiner gespaltenen Persönlichkeit? Aber sie war mehr als das. Sie war die Zukunft, welche aus bestimmten, ihr wohlbewußten Gründen ein Interesse an ihm hatte. Die Zukunft war überall in seiner Epoche; es war, als sollte diese jetzige Generation eingedämmt werden, so daß ihre Zorneswogen die Zukunft nicht erreichen konnten, die Zukunft, die von der Flut des Mißvergnügens unberührt bleiben wollte, olympisch und unversehrt! In der Zukunft war man bereits soweit, daß man sich unbeschränkt in allen Epochen der Menschheit bewegen konnte. Bush versuchte, noch weiter über die Zukunft zu spekulieren, gab es aber auf und schlüpfte aus dem Haus, um spazierenzugehen. Seit er unter Franklins Ausbildungsbefehl stand, konnte er nicht mehr kon-
struktiv denken. Sein Leben krempelte sich völlig um. Er konnte in der Tat kaum verstehen, was eigentlich vorging. Nachts glaubte er, die Stimme seiner Mutter zu hören. Er versuchte, an das Mädchen Ann zu denken, aber sie schien so fern zu sein wie das Devon selbst, wo er sie einst gefunden hatte. Er versuchte, an seinen Vater zu denken, aber da gab es nichts Neues zu denken. Er dachte an Mrs. Annivale, die er inzwischen kennengelernt hatte, doch der Gedanke beunruhigte ihn. Mrs. Annivale war nicht halb so schauderhaft, wie er sie sich vorgestellt hatte. Sie war, schätzte er, nicht viel älter als er selbst und besaß noch einen Hauch von Jugend. Sie lächelte angenehm, war freundlich und natürlich, schien seinen Vater wirklich gern zu haben, und in geistiger Hinsicht war sie anscheinend nicht völlig banal. Aber sie ging ihn nichts an. Er schlenderte zurück. Es gab keinen Ort, wo er hinwollte, und die dreckigen leeren Straßen ekelten ihn an. Ihm fiel ein, daß in dem verwüsteten Atelier noch eine Kiste Modellierton stehen müßte. Vielleicht konnte er damit etwas anfangen, obschon jeder Funke Inspiration in ihm erstorben war. Als der Tonklumpen, an dem er herumknetete, Franklins Kopf zu gleichen begann, gab er es auf und ging ins Haus. Mrs. Annivale kam eben die Treppe herunter. »Schönen Tag gehabt?« fragte sie.
»Einfach großartig! Am Vormittag haben wir Mutters Grab besucht, und am Nachmittag habe ich in den zwei Jahre alten Zeitschriften gelesen.« Sie sah ihn an und lachte. »Sie reden schon bald genauso wie Ihr Vater. Der schläft übrigens – ich würde ihn an Ihrer Stelle nicht wecken. Ich geh mal eben 'rüber zu mir und hol mein Reibeisen; ich will heut abend Käsepudding für euch machen. Kommen Sie doch mit! Sie haben mein Haus noch nicht gesehen.« Trübsinnig ging er mit. Ihr Haus war hell und sauber und schien nur sehr spärlich möbliert zu sein. In der Küche fragte Bush: »Warum ziehen Sie nicht zu Vater und sparen die Miete und all das, Mrs. Annivale?« »Warum nennen Sie mich nicht Judy?« »Weil ich nicht wußte, daß Sie so heißen. Vater nennt Sie mir gegenüber nur immer Mrs. Annivale.« »Sehr formell! Ich hoffe, Sie und ich brauchen keine Formalitäten, wie?« Sie stand dicht bei ihm, blickte ihn an, zeigte ihre Zähne ein bißchen. »Ich habe Sie gefragt, warum Sie nicht mit meinem Vater zusammenziehen.« »Wenn ich nun sagen würde, daß mir jüngere Männer lieber sind?« Weder der Klang ihrer Stimme noch ihr Blick waren mißzuverstehen. Alles sehr bequem und praktisch, sagte er sich. Ihr Bett würde sauber sein, Vater schlief im Nebenhaus; sie wußte,
daß er, der Sohn, nächste Woche nicht mehr hier sein würde. Ungebeten gab ihm sein Körper auf hinterlistige Weise zu verstehen, daß ihm die Idee gefiel. Hastig wandte Bush sich von ihr ab. »Dann ist es ja sehr nett von Ihnen, daß Sie sich um ihn kümmern, Judy.« »Hören Sie, Ed ...« »Haben Sie Ihr Reibeisen? Dann wollen wir lieber wieder 'rübergehen und nachsehen, was er macht.« Er ging voran und kam sich reichlich blöd vor. Sie offenbar auch, das merkte man an ihrem Geschnatter. Aber schließlich und immerhin – es wäre ihm wie eine Art Inzest vorgekommen. Irgendwo mußte man die Grenze ziehen, wie sehr man auch moralisch abgewrackt war! Obwohl das keineswegs der Fall war, schien Judy Annivale der Meinung zu sein, sie habe Bush irgendwie verletzt, und war daher ermüdend nett zu ihm. Ein paarmal mußte er sich in sein Atelier verkriechen, zu Franklins halbgeformter Tonbüste. Und an dem Tag, als der Wagen fällig war, der ihn abholen sollte, folgte sie ihm ins Atelier. »Hauen Sie ab!« Er sah an den Linien um ihren Mund, daß sie wütend war. »Seien Sie doch nicht so ungesellig, Ed! Ich wollte bloß mal sehen, was Sie künstlerisch arbeiten. Ich habe auch mal gedacht, ich hätte Talent.«
»Wenn Sie mit meinem Modellierton 'rumspielen wollen – bitte! Aber laufen Sie mir nicht hinterher! Wollen Sie mich bemuttern oder was?« »Bin ich Ihnen tatsächlich irgendwie mütterlich vorgekommen, Ed?« Er zuckte die Achseln. Moralisch war er nicht. Vielleicht ließ er sich eine gute Gelegenheit entgehen, die morgen endgültig verpaßt sein würde. James Bush steckte seinen Kopf ins Atelier. »Ach, hier seid ihr beide also?« »Ich sagte eben, wie sehr ich Eds künstlerische Begabung bewundere, Jim! Als junges Mädel war ich selbst mal ein bißchen künstlerisch interessiert. Bestimmt haben Ihnen alle diese mächtigen Perspektiven der Vergangenheit eine Menge Anregungen gegeben, Ed!« Vielleicht flog ein Hauch von Verdacht durch James Bushs Gehirn. Irritiert sagte er: »Unsinn, der Junge hat so gut wie nichts gesehen! Die meisten Leute machen sich anscheinend nicht klar, wie alt die Erde ist, und wie wenig von ihrer Vergangenheit selbst dem Bewußtseinsfahrer zugänglich ist.« »O Gott, bloß nicht diese Geschichte mit der Uhr, Vater!« Er hatte dieses Standardbeispiel schon so oft gehört. Aber sein Vater wollte sich einen guten Abgang sichern. Eindringlich führte er Judy ein Bild aus einem
Lehrbuch vor Augen, eine Uhr. Wenn, so sagte er, die Erde um Mitternacht geschaffen wurde, so folgten zunächst lange Stunden ohne Licht und Leben; dann kam die Zeit der Vulkanausbrüche, der lebensfeindlichen Atmosphäre, der langen Regen: die Zeit des PräKambriums oder Kryptozoikums, wovon man wenig wußte noch wissen konnte. Das Kambrium markierte den Anfang der bekannten Fossilien und begann auf dem Zifferblatt dieser Uhr erst um zehn. Gegen elf erschienen mit dem Karbon die großen Amphibien und Reptilien; um Viertel vor zwölf waren sie wieder weg. Der Mensch erschien zwölf Sekunden vor zwölf Uhr Mittag, und die seit der Steinzeit verflossene Zeit entsprach dem Bruchteil einer Sekunde. »Das ist es eben, was ich mit Perspektiven meine!« sagte Judy tapfer. »Das ist vielleicht nicht ganz richtig gesehen, meine Liebe. Alle diese Jahrmillionen, mit denen die Zeitfahrer in ihren Gesprächen um sich werfen, sind bloß die letzten zehn Minuten auf dem Zifferblatt. Der Mensch ist ganz klein, sein kleines Leben endet nicht nur, sondern beginnt auch im Schlaf.« »Die Uhren-Analogie ist irreführend«, sagte Bush. »Sie läßt keinen Raum für die ungeheure Zukunft, die viele Male größer ist als alle Vergangenheit. Du denkst, deine Uhr bringt alles in die richtige Perspektive, aber tatsächlich macht sie die Perspektive kaputt.«
»Na, die Zukunft können wir ja nicht sehen, oder?« Das war, wenigstens für einige Zeit, eine unangreifbare Feststellung.
7 – Die Korporalschaft Der Lastwagen lieferte Bush um zehn Uhr dreißig vormittags im Ausbildungszentrum ab. Gegen Mittag hatten sie ihm seine Zivilkleidung abgenommen und ihm eine grobe Khaki-Uniform verpaßt; ihm den Kopf rasiert; ihn in ein kaltes Desinfektionsbad gesteckt; ihn gegen Typhus, Cholera, Tetanus und Pokken geimpft und auf Geschlechtskrankheiten untersucht. Seine Stimm- und Netzhautdiagramme und seine Fingerabdrücke wurden abgenommen und registriert; dann wurde er zur Küche geführt, wo es schlechtgekochtes Essen gab. Die eigentliche Ausbildung begann um Punkt dreizehn Uhr und lief von diesem Moment an fast pausenlos bis zum Monatsende. Bush wurde in die 10. Korporalschaft gesteckt, unter einen Sergeanten namens Pond. Pond scheuchte seine Männer durch eine Reihe schwieriger oder unlösbarer Aufgaben. Sie mußten lernen, im Gleichschritt zu marschieren und sogar zu laufen. Sie mußten lernen, über eine Viertelmeile hinweg auf Befehle zu reagieren, die ihnen von einer menschlichen Stimme gegeben wurden – wenn diese Bezeichnung auf die Geräusche anzuwenden war, die Pond von sich gab, wenn er in den rauhesten und widerlichsten Tönen losbrüllte. Sie
mußten lernen, an Ziegelmauern hochzuklettern und aus Fenstern im ersten Stock zu fallen; sie mußten lernen, sich an Tauen hochzuziehen und durch faulige Tümpel zu waten; sie mußten lernen, wie man sinnlos tiefe Löcher gräbt, seine Mitmenschen erdrosselt, erschießt, ersticht; wie man flucht, schwitzt, Abfälle frißt und wie ein Toter schläft. Zu Anfang amüsierte sich der zynisch-unpersönliche Teil seines Gehirns damit, beiseite zu stehen und seine Tätigkeit zu beobachten. Gelegentlich trat er auch hervor und sagte: »Der Zweck dieser Übung ist, dich zu entindividualisieren; du sollst eine Maschine werden, die Befehle entgegennimmt. Wenn du über diese Seilbrücke kriechst, ohne auf die Steine da unten zu fallen, dann wirst du hinterher weniger menschlich sein, als du vorher warst. Würg dieses Stück Seelöwengulasch 'runter, und du wirst noch weniger Künstler sein, als du gestern warst.« Aber Bushs zynische Hirnpartie wurde bald durch sinnlose Tätigkeiten narkotisiert. Er war zu müde und zu bedammelt, um ins Horn der Kritik zu stoßen, und das harsche Gebrüll des Sergeanten Pond übertönte die Flüsterstimme der Intelligenz. Immerhin war er geistig noch soweit rege, daß er das Verhalten seiner Mitrekruten registrierte. Die meisten, die große Mehrheit sogar, akzeptierten und litten wie er, schoben ihr privates Ich beiseite, um, wie die Dinge lagen, besser durchhalten zu können.
Es gab aber auch zwei schwache Minoritäten. Die eine bestand aus jenen Unglücklichen, die ihr PrivatIch nicht wegschieben konnten. Die kamen zu spät und mit staubigen Schuhen zum Antreten; die konnten das Essen nicht 'runterkriegen; die machten linksum, wenn die anderen rechtsum machten; die ertränkten sich beinahe, wenn es durch stinkende Tümpel ging; manchmal weinten sie nachts, statt zu schlafen. Die andere kleine Minderheit nannte sich »die Kaldaunen-Truppe«. Das waren die, denen Sergeant Ponds Anschisse Spaß machten, die sich an den Demütigungen des Kasernenhofes ergötzten, die dafür geboren waren, sägemehlgefüllten Puppen in die Bäuche zu stechen. Und in ihrer Freizeit soffen sie wie wild, kotzten unerwartet auf den Fußboden, verprügelten die von der anderen Minderheit, krochen Sergeant Pond hinten 'rein und benahmen sich ganz allgemein wie Helden. Aber sie waren auch Rückgrat und Geist der Korporalschaft. Bush grübelte manchmal später darüber nach, ob er ohne den Wunsch, sich zu beweisen, daß er ebenso gut und ebenso zäh sei wie diese Kerle, den Lehrgang überhaupt durchgestanden hätte. Der Beste, allen anderen überlegen, war er nur auf dem Schießstand, wo die Korporalschaft jeden Montag- und Donnerstag vormittag in der windigen
Landschaft vertrödelte. Hier lernten sie das Schießen mit der Lichtpistole; diese würde später der Hauptbestandteil ihrer Ausrüstung sein (oder auch nicht, was wahrscheinlicher war). Die Lichtpistolen feuerten Impulsstrahlen kohärenten Lichtes, mit denen man über eine halbe Meile Entfernung ein sauberes kleines schwarzes Loch durch einen Menschen brennen konnte. Aber es war weniger das Tötungspotential, das Bush an dieser Waffe interessierte, als ihre künstlerische Seite. Der schlanke metallene Lauf arbeitete mit der Grundsubstanz aller Maler, dem Licht. Er bündelte, organisierte es im Laser-Rubin, der es in Tausendstel-Sekunden-Stößen ausspie und es in parallelen, monochromen Strahlen ins Ziel jagte. Wenn Bush die Zwölf aus der Scheibe brannte, schwelgte er jedesmal im Vergnügen an der einzigen künstlerischen Tätigkeit, die einem Mann in verzweifelten Situationen übrigbleibt. Neben all dem Marschieren, dem Jagen, den Scheingefechten wurden der 10. Korporalschaft auch noch Verträge über unterschiedliche Themen geboten. Dann saß, o goldener Moment des Friedens und der Ruhe!, der ganze Haufen auf harten Holzbänken; und manchmal stahl sich Bush eine solche Stunde, um über den Zweck des Lehrganges nachzudenken. Klar: er war auf die Schnelle aus anderen, bereits etablierten militärischen Lehrgängen zusammenge-
schustert; aber Bush konnte nicht einsehen, daß dieser Kurs etwas mit der zukünftigen Agententätigkeit zu tun hatte, für die er auserwählt war. Er mußte zugeben, daß er systematisch demoralisiert wurde, und das vielleicht noch stärker als die Männer der Kaldaunen-Truppe, die sich mit hämischer Befriedigung jeglichem Schliff unterwarfen, der ihnen vorgesetzt wurde. Er sah einfach den Zweck nicht ein. Und dann dachte er daran, was das alles für sein Tiefbewußtsein bedeuten würde: das kannte seinen Eigenwert, es würde sich beschämt und geschlagen fühlen und deshalb umso eher zum Sterben auf Befehl bereit sein. Aber das war alles Unsinn, weil es keineswegs ihre Pflicht war zu sterben – im Gegenteil. Der Haß, den Sergeant Pond ihnen zwölf Stunden am Tag einpaukte, sollte ihnen helfen durchzuhalten, aber nicht zu sterben. Das Tiefbewußtsein wurde mit Gift gefüttert – und keiner protestierte! Sie mußten verrückt sein! Und doch war das nicht etwa ein abseitiger Zug im Regime des Generals Bolt; nein, es war eine allgemeine und ewige Verschwörung. So hatten sich die Menschen schon immer vergiftet, hatten sich primitive Gewohnheiten anerzogen, sich ihrer Individualität entäußert. Als Künstler war er immer allein gewesen. Jetzt lebte er zum erstenmal mitten unter seinen Mitmenschen, und er sah in sie hinein. Sie hatten Fenster
in der Brust. Manchmal bewegte sich da drinnen etwas, spähte aus dem Fenster; die Scheibe war trüb, vernebelt von dem Atem, den das Schwammgewebe der Lunge einsog und ausstieß ... man konnte nur schwer hineinsehen. Und eins von den Wesen da drinnen schrieb mit dem Finger etwas auf die Scheibe: einen Hilferuf, eine Erklärung, daß die Menschheit gar nicht irre sei – aber die Buchstaben standen auf dem Kopf und liefen außerdem noch in der falschen Richtung. Es wäre ihm fast gelungen, die Botschaft trotzdem noch zu entziffern, als – Sein Name wurde aufgerufen, und er schrak hoch. Sein Name wurde aufgerufen, und er hatte geschlafen! »Bush, Sie haben zehn Sekunden, um die Frage zu beantworten!« Ein rotgesichtiger Offizier, ein gewisser Captain Stanhope, stand an der Tafel und starrte Bush an. Die Korporalschaft hatte sich umgedreht und glotzte ebenfalls, und die von der KaldaunenTruppe grinsten und stießen sich gegenseitig in die Rippen. »Die Carotis-Vene«, sagte einer vor. »Die Carotis-Vene, Sir!« sagte Bush, den rettenden Strohhalm ergreifend. Die ganze Korporalschaft brüllte vor Lachen. Die Kaldaunen-Truppe purzelte vor Entzücken fast auf den Fußboden. Stanhope bellte: »Ruhe!« Als die Kor-
poralschaft verstummte, sagte er: »Na schön, Bush. Ich habe Sie gefragt, wozu Karotten gut sind. Sie haben Witze machen wollen. Melden Sie sich nachher bei mir!« Bush schoß einen Haßblick auf die guten Kameraden. Als die Korporalschaft hinaustrampelte, baute sich Bush vor dem Captain auf und stand stramm, bis der geruhte, ihn zu bemerken. »Sie haben versucht, auf meine Kosten Witze zu machen!« »Nein, Sir. Ich habe geschlafen.« »Geschlafen? Was soll das heißen? Geschlafen bei MEINEM Vortrag?« »Ich bin total erschöpft, Sir. In diesem Lehrgang wird zuviel herumgerannt.« »Was waren Sie vor der Revolution?« »Kunstmaler, Sir. Ich habe Gruppenkompositionen und dergleichen gemacht.« »Ach. Wie heißen Sie?« »Bush, Sir.« »Weiß ich. Ihr voller Name?« »Edward Bush.« »Dann kenne ich Ihre Arbeiten.« Stanhope wurde etwas zugänglicher. »Ich war Architekt, bis für Architekten nichts mehr zu tun war. Manche von Ihren Sachen haben mir sehr gut gefallen. Ihre Kompositionen, besonders die eine, die Sie für den Southall-
Bahnhof gemacht haben, finde ich großartig. Ihre raumkinetischen Serien sind eine Offenbarung. Ich besitze – oder besaß ein Buch über Ihr Schaffen, mit Illustrationen.« »Das von Branquier?« »Ja, das ist der Name, Branquier. Na, freut mich, Sie persönlich kennenzulernen, wenn auch nicht gerade in dieser Umgebung und unter diesen Umständen. Sie haben ja auch große Erfahrungen im Zeitreisen, wie ich gehört habe.« »Das habe ich lange gemacht.« »Was haben Sie denn in so einem Lehrgang zu suchen? Hat Sie nicht Wenlock selbst als Bewußtseinsfahrer eingesetzt?« »Das mag einer der Gründe sein, warum ich hier bin.« »Mm. Ich sehe schon. Was halten Sie von dieser Kontroverse zwischen Wenlock und Silverstone? Haben Sie nicht auch das Gefühl, daß die orthodoxe Wenlock-Theorie ebensogut eine Mythe sein könnte, und daß Silverstone eine Menge zu bieten hätte, wenn er seine Ansichten von der Sache nicht zu verzerrt darstellen würde? So viele bloße Hypothesen sind als Tatsachen behandelt worden, nicht wahr?« »Keine Ahnung, Sir. Darüber weiß ich gar nichts.« Stanhope lächelte. »Es ist keiner mehr hier. Sie können frei mit mir sprechen. Ganz ehrlich: das Re-
gime macht einen Fehler, wenn es Silverstone verfolgt, nicht wahr?« »Wie gesagt, Sir, das ist ein sehr anstrengender Lehrgang. Ich kann überhaupt nicht mehr denken. Ich habe dazu gar keine Meinung.« »Aber als Künstler müssen Sie doch in einer so lebenswichtigen Angelegenheit wie Silverstone eine ausgeprägte Meinung haben.« »Nein, keine, Sir. Blasen an Händen und Füßen ja, aber keine Meinung.« Stanhope richtete sich auf. »Weggetreten, Bush – und wenn ich Sie nochmal dabei schnappe, daß Sie in meinen Vorträgen dösen, mach ich Sie zur Sau.« Bush trat weg, plattfüßig schweren Schritts. Innerlich lachte und sang er. So leicht würden ihn diese Mistböcke nicht erwischen! Aber was er gehört hatte – daß das Regime Silverstone verfolgte –, machte ihm doch viel Kopfzerbrechen. Es klang authentisch. Und warum horchten sie ausgerechnet ihn nach seinen Ansichten über die Geschichte aus? Von diesem Tage an gerechnet, mußte er noch zwei Wochen rennen, bis er die Antwort darauf wußte. Aber diese zwei Wochen zogen sich endlos hin, und inzwischen lief der Lehrgang seinen sinnlosen Lauf. Als überzeugter Einzelgänger fand er das Kasernenleben keineswegs erfreulicher, als er merkte, daß sein
Zusammenstoß mit Stanhope ihn bei der Truppe beliebt gemacht hatte. »He, Kumpel! Was macht die alte Karotte?« brüllten sie mit lümmelhafter Gutmütigkeit und wurden seiner zotigen Antworten niemals müde. Endlich war die letzte Strohpuppe zerpiekt, der letzte saublöde Vortrag über »Sehen ohne gesehen zu werden« angehört, die letzte Meile gerannt. Die Korporalschaft trat zur Abschlußbesichtigung an. Danach folgte die mündliche Prüfung: in der schäbigen Vortragsbaracke wurde jeder einzelne von zwei Offizieren befragt. Als Bush eintrat, saß da außer Captain Stanhope noch ein kahlköpfiger Mann, Captain Howes. »Sie können sich setzen«, sagte Stanhope. »Wir werden Ihnen eine Reihe Fragen stellen, um mal eben Ihre Reaktionsschnelligkeit und Ihr Wissen zu testen. Was ist falsch an dem folgenden Satz: ›Die Natur und die Naturgesetze lagen unter tiefer Nacht verborgen. Und Gott sprach: Es werde Newton! Und es wurde Licht.‹?« »Das ist ein wörtliches Zitat nach irgendeinem Dichter – ich glaube, Pope. Aber es stimmt nicht. Es gibt keinen Gott; und Newton hat die Welt auch nicht so wesentlich erleuchtet, wie seine Zeitgenossen angenommen haben.« »Was stimmt nicht an dem folgenden Satz: ›Es ist falsch, daß die Regierung Silverstone verfolgen‹?«
»Regierung ist zwar ein Kollektiv-Nomen, aber das Verb muß trotzdem in der Einzahl stehen.« Stanhope verzog wütend das Gesicht. »Was noch?« »Ich weiß nicht.« »Warum nicht?« »Was für eine Regierung? Was für ein Silverstone? Keine Ahnung.« »Nächste Frage.« Es ging durch ein Labyrinth von Banalitäten, wobei die beiden Captains sich im Fragen abwechselten; derjenige, der gerade nicht dran war, saß da und starrte Bush mißmutig an. Schließlich war die Komödie zu Ende. Captain Howes räusperte sich: »Kadett Edward Bush, wir haben das Vergnügen, Ihnen zu eröffnen, daß Sie die Prüfung bestanden haben, und zwar mit achtundneunzig Prozent-Punkten und dem Prädikat ›labile Persönlichkeit, hervorragend geeignet für Zeitreisen‹. Wir hoffen, daß wir Sie in ein paar Tagen mit einer Spezialaufgabe in die Vergangenheit senden können.« »Was für eine Aufgabe?« Howes lachte, aber es klang wenig überzeugend. »Lassen Sie nur, das reicht für heute. Stehen Sie bequem, Bush! Lehrgang beendet. Melden Sie sich morgen früh um neun hier bei Captain Stanhope und mir, dann erhalten Sie ausführliche Instruktionen. Sie können jetzt gehen und Ihre bestandene Prüfung feiern.«
Er bückte sich und holte aus der Schreibtischschublade eine Flasche heraus, die er Bush feierlich überreichte. »Bilden Sie sich nicht ein, Bush, daß das Regime keinen Sinn für ein bißchen Spaß hat, oder keinen Sinn für die besseren Dinge des Lebens! Gehen Sie los und amüsieren Sie sich, und nehmen Sie diese Gabe mit den Glückwünschen der Lehrgangsoffiziere entgegen!« Als sie weg waren, besah sich Bush die Flasche mit einiger Neugier. Sie trug ein großes schottengemustertes Etikett mit der Aufschrift »BLACK WOMBAT SPECIAL – Echter südindischer Reis-Whisky. Gebrannt in Madras nach einem verbotenen Rezept.« Er schraubte den Metallverschluß ab, schnüffelte vorsichtig und erschauerte. Er steckte die Flasche in die Innentasche seiner Uniformjacke und ging zur Kantine. Die KaldaunenTruppe feierte bereits das Ende des Lehrgangs mit einem bösartigen harzigen Schnaps, den sie aus winzigen Bechern tranken. Sie begrüßten Bush mit Hallo und anzüglichen Hinweisen auf die Carotis-Vene. Sie waren dazu ausersehen, als Angehörige der neugegründeten Zeit-Polizei ein neues Leben zu beginnen und hatten vom morgigen Tag an eine Woche Urlaub. Sie schworen, daß sie den ganzen Urlaub lang besoffen sein würden. Bush stiftete ihnen den Whisky nach verbotenem
Rezept. Als er sich zu ihnen setzte, bemerkte er, daß Sergeant Pond dabei war. Pond, dessen freundlichste Worte im vergangenen Monat gelautet hatten: »Ihr gottverfluchte Herde blutiger leistenbrüchiger Kamele«, Pond, der sie wie ein Bluthund angebellt und wie ein Terrier gepiesakt hatte! Pond legte Bush den Arm um die Schulter. »Ihr wa't m' beste Ko... rrralschaff, Jungs. Wa' mach'ch bloß ohne euch! Morgen kommt wieder so'n verdammter Haufen von Rekruten, den' muß ich die ganze Zeit die Nase putzen. Ihr seid meine Freun'e!« Zähneknirschend goß Bush einen Schuß von dem »Verbotenen Rezept« zu der bräunlichen Flüssigkeit in Ponds Becher. »Bis' mein bes'r Freund, Bush«, sagte der Sergeant. Seine mißhandelte Stimme, knarzend und scheppernd im ersten Gang, war kaum zu verstehen, denn ein paar von den helleren oder den dümmsten Kerlen fingen an zu pfeifen, zu singen, zu brüllen und auf Mülleimern, Eßnäpfen und anderen Instrumenten einen primitiven Rhythmus zu trommeln. Bush riß sich zusammen, goß einen Schluck Black Wombat hinunter und war im Augenblick dreiviertel betrunken. Vier Stunden später lag fast jeder Mann in der Stube in alkoholischer Betäubung. Pond war in die Nacht hinausgetaumelt. Dann lagen die Kameraden endlich in ihren Betten; teils waren sie hineingefallen, teils von den noch Rüstigen hineingeschmissen worden.
Ein Mann stand einsam am weit aufgerissenen Fenster des Schlafraumes, umklammerte verzweifelt die letzte Flasche und sang ein säuisches Lied: »... auf ganz gemeine Weise hielt er den Butler fest ...« Endlich Stille und Dunkelheit. Bush lag auf seinem Bett, wach, von einem trügerisch vertrauten Schrekkensgefühl gepackt. »Ich sterbe doch nicht etwa?« flüsterte er. Er konnte Stimmen hören. Vier Männer schienen um sein Bett zu stehen, zwei in Weiß, zwei in Schwarz. Einer sagte: »Er versteht kein Wort von dem, was Sie sagen. Er macht sich das alles zurecht, wie es ihm paßt. Er glaubt sich an einem anderen Ort, vielleicht in einer anderen Zeit. Ist er nicht ein Vergangenheits-Insekt?« Der Gedanke an Insekten trieb ihn hoch. Er setzte sich im Bett auf. Der finstere, trübselige Raum voller fühlloser Leiber erstreckte sich ohne Grenzen nach allen Richtungen. Er tat seiner Phantasie den Gefallen und sagte: »Wo denkt ihr Mordgesindel eigentlich, daß ich bin?« »Ruhig!« befahl eins der Phantome. »Sie werden noch den ganzen linken Flügel aufwecken. Sie leiden an Anoxie in Verbindung mit normalen Halluzinationen.«
»Aber das Fenster ist doch offen«, protestierte er. »Wo bin ich denn hier überhaupt?« »Das ist die Garfield-Nervenklinik. Wir behandeln Sie, wir nehmen an, daß Sie ein Amnion-Ei sind.« »Und ihr seid Rühreier!« sagte er. Er versank wieder in Trunkenheit und Nichtigkeitsgefühl. Diese Männer konnten ihm weder etwas tun, noch ihm helfen. Auf seinem Kissen erwartete ihn ein gähnender Abgrund voller Schlaf. Mit schmerzhaft pochendem Kopf kam er am Morgen gerade noch zur rechten Zeit in die Vortragsbaracke. Howes und Stanhope erschienen ein paar Minuten später. Der Lehrgang war vorbei – bis der nächste anfing. Auf dem Kasernenhof trieben sich die Männer von der entlassenen 10. Korporalschaft in ihrem ungewohnten Zivil herum, bereit, die Kaserne zu verlassen, und riefen sich zum Abschied Scherzworte zu. Die beiden Offiziere setzten sich auf die Bank neben Bush, und Stanhope begann in dienstlichem Tone zu sprechen. »Wir wissen, daß Sie sich durch die Mission, für die unsere Regierung Sie ausersehen hat, geehrt fühlen werden. Bevor wir Ihnen jedoch mitteilen, um was es sich handelt, halten wir es für notwendig, Sie über die Hintergründe der Angelegenheit etwas ausführlicher ins Bild zu setzen.
Wir leben in einer Zeit großer Unsicherheit, sowohl in nationaler als auch in internationaler Hinsicht. Die neue Zeit-Theorie hat den status quo über den Haufen geworfen. Das trifft besonders für den Westen zu – Amerika und Europa, die aus historischen Gründen schon immer sehr zeitbewußte Gebiete waren. Im Osten hat sich im großen und ganzen nicht viel geändert. Zeitdauer bedeutet für einen Inder oder Chinesen etwas ganz anderes als für uns. General Peregrine Bolt war genötigt einzuschreiten und die Verantwortung zu übernehmen, weil dieses Land an der Schwelle des wirtschaftlichen Ruins stand. Für längere Zeit braucht es eine starke Hand, wenigstens so lange, bis wir uns den neuen Bedingungen angepaßt haben – in der Zwischenzeit befinden wir uns in der paradoxen Lage, daß wir vom Osten Hilfe annehmen müssen.« Bushs schmerzender Kopf verleitete ihn zu dem Einwurf: »Daher der Black Wombat Special, nehme ich an.« Es fiel ihm auf, daß Stanhopes Miene ausdruckslos blieb, wogegen Howes auf den Einwand reagierte: »Sie werden einsehen, daß es zu keinem neuen Bruch kommen darf, durch den die Ordnung, die wir zu setzen suchen, umgeworfen wird.« »Was für einen Bruch meinen Sie?« Stanhope blickte etwas verlegen drein. Howes sag-
te: »Ideologien sind manchmal schlimmer als ein bewaffneter Aufstand. Als Intellektueller sollten Sie das wissen ...« »Ich bin kein Intellektueller.« »Pardon. Wenn aber eine divergierende Idee über das Wesen der Zeit auftaucht? Das könnte uns um mehrere Monate zurückwerfen.« Ein unheimliches Gefühl beschlich Bush, als er zu verstehen begann, was sie von ihm wollten. Die beiden Männer taten so harmlos, so beiläufig – und besonders Stanhope wirkte nicht besonders intelligent – ; aber sie saßen wie zwei böse Onkel am Bette eines kranken Kindes, die ihm ein übles Feenmärchen erzählen, mit dem sie vielleicht das ganze Geheimnis des ... Regimes enthüllten, also Bolts geheime Angst vor den Neurosen der Epoche ... Irgend etwas in Howes' Mine bestätigte dieses Gefühl; er war so freimütig, wie er es riskieren konnte, aber dahinter verbarg er auch etwas: das klassische Dilemma eines intelligenten Mannes in einer totalitären Gesellschaft. »Sehen Sie, es ist eine Frage der Zeit«, sagte Howes zu Bush. »Alles, was der Mensch ist, was er sich aufgebaut hat – obschon das, wie Captain Stanhope sagte, mehr auf den Westen als auf den Osten zutrifft –, basiert auf dem Gedanken der unidirektionalen, der in einer Richtung verlaufenden Zeit, wie, sagen wir mal, der Durchfluß des Wassers durch ein Schleusen-
tor. Aber das ist eine Idee, die der Mensch erfunden hat. Wie das alles in Wirklichkeit ist, darüber weiß er herzlich wenig; und dieses Wenige hat er in die dunklen Keller seines Wesens verdrängt, in das Tiefbewußtsein, wie wir dazu sagen. Gelegentlich sind Andeutungen der Wahrheit hochgestiegen und haben ihn geängstigt. Präkognitive Erlebnisse, Träume, außersinnliche Wahrnehmungen, das Gefühl des déjà vu, und so weiter. Fast alles, was man jemals als Magie oder Aberglauben beiseiteschieben konnte, beruht auf solchen Durchlässigkeiten und steht in direktem Widerspruch zu den kostbaren Theorien von der unidirektionalen Zeit. Daher hat man sich auch mit solcher Leidenschaft bemüht, diese Dinge vor dem Forum der Wissenschaft lächerlich zu machen.« »Und Ihre Alternative zur Einweg-Zeit?« »Eine co-kontinuierliche Zeit. Aber Sie wissen das, Sie glauben daran. Sie haben die Wenlock-Disziplin durchgemacht. Entsprechend der Natur der Raumzeit sind Vergangenheit und Gegenwart, als Energien ausgedrückt, identisch. Stellen Sie sich eine Welt ohne Qualität, ohne Tag und Nacht, ohne organische Prozesse vor – dann fehlte jede Basis für irgendeine ZeitKonzeption, selbst für eine so unkorrekte wie die Einweg-Zeit, denn es gäbe vom menschlichen Standpunkt aus keine Möglichkeit, Zeitdifferenzen zu setzen. Dieser Irrtum, die eigentliche Konzeption der
fließenden Zeit, liegt im menschlichen Bewußtsein und nicht im außermenschlichen Universum: daher sprach man zuerst von Bewußtseinsreisen und nicht von Zeitreisen, wie man heute meistens sagt. Das ist Wenlocks Entdeckung, und das gibt uns eine Basis zum Weiterarbeiten. Jede andere rivalisierende Theorie muß zerschmettert werden, damit sie uns nicht wieder in das Chaos zurückwirft.« »Und es gibt solche rivalisierenden Theorien, nehme ich an?« Er wußte, was kommen würde, noch ehe Stanhope antwortete. Das war Stanhopes Gebiet: die Welt der Sicherheit, die soviel einfacher ist als das Reich der Spekulation. »Sie wissen ganz gut, daß es solche Gegentheorien gibt. Der Renegat Silverstone, Wenlocks ehemaliger Mitarbeiter, verbreitet höchst gefährlichen, irreführenden Unsinn.« »Ketzerei, ja?« »Scherzen Sie nicht, Bush! Keine Ketzerei, sondern Hochverrat. Silverstone ist des Hochverrats schuldig, weil er Ideen verbreitet, die geeignet sind, die Sicherheit des Staates zu gefährden. Er muß liquidiert werden.« Bush konnte sich denken, was kommen würde. Schon die Verrückten, die ihn in der Nacht besucht hatten, wußten es. Silverstone mußte entsprechend
der ganzen Art seines Denkens ein erstklassiger Zeitfahrer sein. Das Regime brauchte einen anderen, ebenso guten, um ihn auszulöschen – und so einer war Bush. Howes mußte Bushs Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben, denn er sagte: »Das ist Ihr Auftrag, Bush, und ich hoffe, Sie werden sich dieser Ehre würdig erweisen. Sie werden Silverstone aufspüren und ihn töten. Wir wissen, daß er sich irgendwo in der Zeit herumtreibt, wahrscheinlich unter falschem Namen. Sie erhalten von uns jegliche Unterstützung.« Er ließ die Mappe aufschnappen, die er die ganze Zeit gestreichelt hatte, nahm eine umfangreiche Akte heraus und reichte sie Bush. »Sie haben achtundvierzig Stunden Urlaub; dann empfangen Sie Ihre Ausrüstung und begeben sich auf Zeitfahrt, bis Sie den Verräter Silverstone gefunden haben. Wir werden uns darum kümmern, daß Ihr Vater versorgt wird; er wird den Black Wombat zu schätzen wissen. Sie werden diese Akte durcharbeiten und sich auf jede mögliche Weise mit dem Fall Silverstone vertraut machen ... außer daß Sie sich etwa von den hochverräterischen Theorien dieses Menschen infizieren lassen.« Bush glaubte eine Spur von Ironie in Howes' Stimme zu hören und blickte auf. Aber der Offizier starrte ihn nur unbewegten Gesichts an, und Bush
senkte seine Augen wieder auf das Aktenstück. Obenauf lag eine der seltenen Fotografien von Silverstone. Sie zeigte einem Mann mit langem, strähnigem, weißem Haar und unordentlichem weißem Schnurrbart. Die Nase war lang und gebogen. Obwohl die Augen auf dem Foto ernst und versunken blickten, war ein mattes Lächeln um die Lippen. Als Bush den Mann zuletzt gesehen hatte, war das Haar kurzgeschnitten und gefärbt, und der Schnurrbart war abrasiert, aber es war nicht schwierig, Stein wiederzuerkennen. »Ich werde tun, was ich kann, meine Herren«, sagte er. »Dieser Auftrag wird mir eine Freude sein.« Die Offiziere standen auf und schüttelten ihm die Hand.
8 – Wie der Dichter sagt ... Ein zerbeulter Lastwagen holte Bush von der Kaserne ab und brachte ihn zum Haus seines Vaters zurück. Außer seinem Rucksack hatte er noch eine halbe Kiste Black Wombat geladen, ein Präsent der dankbaren Regierung. Er stand auf dem Gehweg und sah dem verschwindenden Lastwagen nach. Der Frühling war in einen staubigen Sommer hineingesunken. Es sah aus, als sei der Lastwagen vor lauter Staub kaum imstande, die Straße entlangzutuckern. Wenn die städtische Straßenpflege nicht bald wieder in Gang kam, würde schließlich die ganze Straße aufplatzen. Gräser und Disteln wuchsen aus dem Rinnstein. Im Garten des Zahnarztes waren die Kirschbaumstümpfe unter einem Gefilz von Wiesenkerbel und Nesseln verschwunden, ein Symbol dafür, daß Veränderung immer nur in einer Richtung erfolgt. Dort auf der Straße probierte Bush das Gefühl aus, dieser ekelhaften 10. Korporalschaft entronnen zu sein. Ungefähr so muß man sich vorkommen, wenn man eine Zwangsjacke abwirft, dachte er. Er mochte nicht gleich in das kleine Haus gehen, es sah zu beengt aus, und er brauchte etwas Zeit zum Atmen ... Lächelnd stand er da und dachte an ein Mobile, das
er bauen könnte, eins mit glitzernden Metallstücken als Symbole der Minuten und Sekunden, welche die Zeit durch zwei Vogelkäfige hindurchpumpt. Das wäre eine nette kleine Sache, an der er arbeiten könnte, bis er seine richtige Schaffenskraft wiederhatte. Er verbarg die Kiste Whisky unter dem Unkraut und ging ein Stück die Straße hinunter, in Richtung des weggefahrenen Lastwagens. Kein Fußgänger, kein Fahrzeug. Farblosigkeit ringsum. Er dachte an Sex. Er versuchte, sich an Mrs. Annivale und Ann zu erinnern, aber er konnte sich kaum ihre Gesichter vorstellen. Den ganzen letzten Monat lang war er so geschliffen worden, daß ihn alle sexuellen Bedürfnisse verlassen hatten; selbst die Vorstellung eines gastlich angewinkelten Beines und der Schenkel ließ ihn kalt. Immer hatte er den Irrsinn der militärischen Disziplin als Symptom eines tiefsitzenden Menschheitsübels betrachtet – wie sonst konnten alle bisherigen Generationen diese Unterdrückung des eigenen Willens geduldet haben? Jetzt erlebte er wenigstens einen Lohn dieser rauhen Askese. Am Ende einer der Nebenstraßen, durch die er schlenderte, stieß er auf einen alten Teich, an den er sich zu seiner Verwunderung nicht mehr erinnern konnte. Er stand und starrte in sein niedriges, flaches Wasser, in dem allerlei Müll schwamm: Stiefel, Autoreifen, Konservendosen.
Stimmen erklangen aus der Nähe. Ein verfallendes Gebäude stand unweit des Teiches; von dorther schienen die Stimmen zu kommen. Bush hörte genauer hin, als er den Namen Bolt aufschnappte. »Wir sollten lieber ein bißchen auf die Tube drükken, was?« »Ehe Bolt das tut.« »Je eher, desto besser. Noch heute nachmittag, wenn wir die Meldung durchkriegen; die Operation hat sich bloß deshalb verzögert, weil das Geld knapp wurde. Ich nehme sofort Verbindung auf.« Sie erwähnten auch noch einen anderen Namen. Treason? Oder vielleicht war es Gleason. Bush drückte sich vorsichtig etwas näher an das zerfallene Gebäude heran und blickte durch ein drekkiges Fenster. In der Düsternis sprachen zwei Neger mit zwei Weißen. Er bekam plötzlich große Angst, daß sie ihn erwischen könnten. Er entfernte sich möglichst leise aus der Nähe des Teiches, dann fing er an zu rennen und hielt nicht eher an, bis er keuchend vor der Tür der Zahnarzt-Praxis stand. Aber da war er schon so weit, daß er kaum wußte, ob er das, was er glaubte gesehen zu haben, auch wirklich gesehen hatte, oder ob seine Nerven ihm nicht einen Streich gespielt hatten. Der Tod seiner Mutter hatte ihm doch zugesetzt; es wurde Zeit, daß er endlich wieder wegging.
Er nahm seinen Rucksack und die Kiste Whisky und ging eilig ins Haus. James Bush entkorkte eine Flasche des indischen Whiskys, goß Mrs. Annivale, Bush und sich selber ein und hörte mißmutig zu, wie Bush von dem neuen tatenreichen Leben sprach, in das er sich nun stürzen würde. Man hatte ihm befohlen, nicht über Silverstone zu reden. Er erzählte also, daß er Patrouillendienst in der Vergangenheit tun würde, beteuerte, die faulen Tage seien vorbei, und er würde von jetzt an ein Mann der Tat sein. Er wurde dabei ganz aufgeregt und ruderte mit den Armen. »Die haben dich ja schön fertiggemacht!« rief sein Vater. »Ein lausiger Monat – und schon haben sie dich geschafft. Haben dir die Haare abrasiert und die Intelligenz gleich mit. Was bist du denn? Mann der Tat, päh! Tat ist überhaupt nichts!« »Du würdest dich wahrscheinlich lieber sinnlos besaufen, als daß du was tätest!« »Jawohl, genau! Allerdings nicht von diesem indischen Dreckzeug, wenn ich was Besseres kriegen kann. Schade, daß du so unbelesen bist, sonst würdest du wissen, was Wordsworth dazu gesagt hat.« »Zum Deibel mit deinem verdammten Wordsworth!« »Ich werde dir sagen, was Wordsworth gesagt hat.«
»Ich will gar nicht wissen, was Wordsworth gesagt hat!« »Und ich sag's dir trotzdem!« Er stand auf und brüllte seinen Sohn an. Bush sprang ebenfalls auf und faßte seinen Vater bei den Handgelenken. Sie starrten einander wütend an, dann rezitierte der Alte: »›Vergänglich ist die Tat – ein rascher Schritt, ein Schlag; Ist Muskelzuckung nur, hierhin, dorthin gerichtet – Ist sie vorbei, steh'n wir im Nachhinein Verwundert da, betrogenen Narren gleich, Und wissen es: Nur Leiden dauert, ist geheimnisträchtig, Wirft in die Tiefen der Unendlichkeit noch seinen Schatten.‹ Was sagst du dazu, he?« »Verdammter saublöder Einbahn-Quatsch!« Er stieß seinen Vater beiseite und stolperte aus dem Zimmer. Er würde sie alle anschmieren. Sie machten es sich nicht klar, daß alles, was mit ihm passierte, damit zu tun hatte, daß er Künstler war. Wordsworth hätte genügend Verstand haben sollen, um seinen eigenen Irrtum zu erkennen: Tun ist ebenso ein Teil des Leidens wie Nichttun. Im Nichttun der nächsten beiden Tage fand er ei-
nen anderen Stachel, unter dem er litt. Er hatte sich dem Lauf der Ereignisse angepaßt, sagte er sich, nicht nur, weil es sich zu seinem Vorteil auswirken konnte, sondern auch, weil er damit etwas Sicherheit für seinen Vater erreichte. Allerdings, wenn sich die Fürsorge der Regierung auf Whisky beschränkte, dann würde das nicht allzuviel helfen; er hatte sich in der Tat damit abgefunden, daß es mit seinem Vater steil bergab ging. Als sie schon ziemlich tief in der zweiten Flasche Black Wombat waren, drehte James Bush das Fernsehen an. Eine friedliche Landschaft schwamm in der Schale, ein Schrifttitel darüber: ACHTUNG SONDERMELDUNG! Eine Militärkapelle spielte. »Treason!« rief Bush. Er ging vor dem Apparat in die Knie und fummelte nervös an den Knöpfen. Ein Mann mit zwei Köpfen erschien, die zu einem zusammenflossen, als Bush weiterdrehte. Der Mann sprach: »Infolge schwerer Unruhen im ganzen Lande stehen seit gestern alle größeren Städte unter Kriegsrecht. Die sogenannte Regierung des Generals Bolt hat sich als unfähig erwiesen. Heute morgen haben Beauftragte der Partei der Volksaktion nach einer begrenzten militärischen Operation das Regierungshauptquartier übernommen. Die Wohlfahrt der Nation liegt nun in den Händen des Admirals Gleason, der den Oberbefehl über die Regierung und die be-
waffnete Macht ausüben wird, bis das Land wieder auf normale Weise regiert werden kann. Admiral Gleason wird jetzt zur Nation sprechen. Achtung: Admiral Gleason.« Unter Trommelschlag wechselte das Bild zu einem Raum, in dem ein breitschulteriger alter Mann hinter einem Schreibtisch stand. Die Kameras gingen näher, bis nur noch Kopf und Schultern im Bild waren. Er hatte ein schweres, unbewegliches Gesicht, dessen Ausdruck sich während seiner kurzen Ansprache nicht veränderte. Sein mächtiger, aggressiver Unterkiefer biß die Sätze aus dem Mund heraus; der Ton seiner Stimme erinnerte Bush an Sergeant Ponds Gebrüll. »Wir leben in einer unsicheren Übergangszeit. Wenn wir das nächste kritische Jahr überstehen wollen, müssen wir uns alle strengen Einschränkungen unterwerfen. Die Volksaktion, die Partei, die ich vertrete, hat eingegriffen, damit die Nation aus ihren gegenwärtigen Schwierigkeiten herauskommt, ohne Schaden zu nehmen. Das korrupte Regime, das wir gestürzt haben, hat uns allen verschwiegen, wie bankrott wir sind. General Bolt war ein Verräter. Wir haben dokumentarische Beweise dafür, daß er im Begriff war, nach Indien zu fliehen, unter Mitnahme illegal erworbener Goldund Kunstschätze. Es war meine schmerzliche Pflicht, gestern abend der Exekution General Bolts beizuwoh-
nen, die in voller Legalität und im Namen unserer Nation durchgeführt wurde. Ich bitte Sie alle um Ihre uneingeschränkte Mitarbeit. Die Volksaktion ist die Partei des Volkes, doch kann sie in diesen schweren Zeiten keine irregeleiteten, schlechtberatenen Einzelaktionen von seiten der Bevölkerung dulden. Alle Verräter, die Bolt unterstützt haben, werden innerhalb der nächsten Tage vor Gericht gestellt. Sie alle, meine Mitbürger, sind aufgerufen, an ihrer Festnahme mitzuwirken. Ich will Ihnen nichts vormachen. Ich muß Sie davon in Kenntnis setzen, daß wir Feinde im Ausland haben, die nur zu bereit sind, unsere vorübergehende Schwäche auszunutzen. Je schneller wir die Feinde in unseren eigenen Grenzen loswerden, desto eher werden wir, national wie international, einen starken Frieden schaffen und erhalten können. Unser Wahlspruch sei Union durch Aktion. Vereint werden wir alle Schwierigkeiten überwinden.« Bei seinen letzten Worten fingen die Trommeln wieder an zu schwirren. Gleason blickte starr, ohne auch nur einmal zu blinzeln, in die Kamera, bis er ausgeblendet wurde und James Bush über die Schulter seines Sohnes hinweg den Knopf drehte und die Bildschale abschaltete. »Hört sich an, als ob er noch schlimmer ist als Bolt«, sagte Mrs. Annivale düster.
»Bolt war noch einer von den Gemäßigten«, sagte James. »Gleason wird die Zeitreisen abschaffen, paß nur auf!« Er stieß diese Voraussage mit soviel innerer Befriedigung aus, daß Bush sich sofort angegriffen fühlte. »Hoffen wir, daß die Tat – in diesem Falle die Aktion – vergänglich ist, wie dein alter Dichter behauptet hat.« Die Atmosphäre im Haus war zu klaustrophobisch; sein Atelier war seit damals, als er alles kaputtgeschlagen hatte, nur noch ein Trümmerhaufen. Mit vom Alkohol schwerem Kopf verließ er das Haus und lief ziellos in den Straßen umher. Wer auch immer jetzt der Boss dieses Ameisenhaufens war, seine, Bushs, Aufgabe würde immer noch sein, Silverstone zu töten – es sei denn, er bekäme seinen neuen Auftrag von Howes und Stanhope. Ohne darauf zu achten, wohin er ging, gelangte er zu dem alten stagnierenden Teich. Das zerfallene Haus stand still und unheimlich da. Hatte er wirklich dort die vier Männer belauscht, die Bolts Liquidierung geplant hatten, oder war es ein Fall von Präkognition, ein geheimnisvolles hellseherisches Vorwissen? Lustlos stand Bush am stinkenden Ufer des Tümpels und sah zwei Fröschen zu, die aus dem Wasser herauskrabbelten, ganz ähnlich wie seinerzeit die Lungenfische weit hinten im Devon. Im Geiste baute
er mächtige dynamische RKKs auf und gab ihnen großartige Titel, wie »Fluch der Evolution«: Flossen, die sich zu Beinen umbildeten, die sich zu Flügeln umbildeten, die sich zu Flossen umbildeten. Seine eigenen mysteriösen und möglicherweise zyklischen Schübe durchliefen aber, als die Zeit reif war, eine andere Phase. Der Lastwagen holte ihn ab, sein Urlaub war um. Er sagte seinem Vater und Mrs. Annivale auf Wiedersehen und kletterte hinein. Aber es war alles so weit weg. Die beiden hätten ebensogut zwei Elemente eines Musters in einem Gewebe aus komprimiertem Sonnenlicht sein können. Es schien ihm bereits, als falle er in das Frühstadium jenes hypnagogischen Zustandes, den die Wenlock-Disziplin erfordert. Und auch als er sich aufs neue der fremdartigbrutalen Misere des Kasernements verschworen hatte, war er noch ganz weit weg. Als sie in den Kasernenhof einfuhren, den er so gut kannte, und als der Schlagbaum sich hinter ihm senkte, sah Bush, daß schattenhafte Zukunftsgestalten anwesend waren. Sie beobachteten diesen Ort; aber ob sie auf den Zusammenbruch oder das Überleben des neuen Regimes hofften, hätte er nicht zu sagen gewußt. Bush kletterte vom Lastwagen und blieb einen Moment stehen, um einer vorbeimarschierenden
Gruppe zuzusehen. Sie gehörte zu einer der neuen Einheiten, grade vor zwei Tagen frisch einberufen, und die Rekruten hatten noch die Geheimnisse der Bewegung in geschlossener Formation zu lernen. Sergeant Pond beschimpfte sie mit seiner heisersten Stimme und mit so unanständigen Ausdrücken, daß sie vor Angst fast den Kopf verloren – er tat sein Bestes, um sie in Automaten umzufunktionieren. Ob Bolt, ob Gleason oder wer auch immer – Pond hielt seinen eigenen kleinen Acker der Tyrannei sicher eingezäunt. Auf seinen Befehl kam die Gruppe zu einem ungeschickten Halt. Einem der Rekruten fiel die Mütze hinunter. Bush starrte den Mann an. Dieses picklige Gesicht kannte er doch! Es war unwahrscheinlich – bei dem rasierten Kopf konnte man sich irren – aber tatsächlich, das Regime holte sich den Abfall der Vergangenheit heran ... aber sicher, das war Lenny, und er schwitzte wie ein Affe, hier in Ponds neuer Korporalschaft. Als Bush sich bei Captain Howes meldete, sprach er davon. Howes nickte, bellte einem in der Nähe stehenden Korporal einen Befehl zu, und fünf Minuten später stand Lenny auf seine noch unbeholfene Weise vor den beiden stramm, die Wangen hohl, und seine Blicke flogen ängstlich zwischen Howes und Bush hin und her. Er war im Früh-Jura von einer Zivilpatrouille ge-
schnappt worden, wegen »Ruhestörung«. Ihn hatten sie mitgenommen, die anderen waren entwischt. Lenny leugnete, etwas über Stein zu wissen. Howes zog Stanhope hinzu, weil es sich um eine Sicherheitsangelegenheit handelte. Die beiden Offiziere, Bush, Lenny und die Eskorte schritten den Korridor entlang zu einem kleinen leeren Raum. Lenny fing an zu schreien und zu protestieren, als er den Raum sah. Wände und Fußboden waren blutbespritzt. In einer Ecke lehnten ein paar verschrammte Golfschläger. Howes entschuldigte sich und ging. Die Wache postierte sich draußen vor der Tür. Stanhopes Mund war in erschreckender Weise verzerrt. Er ergriff einen der Golfschläger und zeigte Bush, was er damit machen sollte. Lenny stöhnte und warf sich zu Boden. Bush nahm den Schläger, der von Stanhopes Händen noch feucht war. Er knallte ihn Lenny in die Rippen. Das war leicht und machte Spaß. Das war Tat! Im Nachhinein stand er verwundert da, einem betrogenen Narren gleich. Lenny hatte ihnen nichts erzählt, nur immer wieder das eine: er und Stein hatten sich gestritten, und der Ältere hatte sich wegtranszendiert. Nun ja, Lenny hatte ihnen zwar nichts erzählt, aber er hatte ganz schön geblutet. Als Bush sich gewaschen und eine ausgezeichnete einsame Mahlzeit verzehrt hatte, wurde er für seinen
Liquidationsauftrag equipiert. Sie versahen ihn mit einem kräftigen einteiligen Schutzanzug und einem Rucksack. Sowohl der Anzug, mit tiefen Taschen und Beuteln wohlversehen, als auch der Rucksack enthielten eine Menge Sachen, die er auf seiner Reise brauchen mochte; darunter eine Lichtpistole, die auf vierhundert Meter tödlich war (vermutlich die größte Entfernung, bei der man auf Zeitfahrten seinen Mann deutlich sehen konnte), und ein Gasgewehr, dazu zwei Messer – das eine hing in einer Scheide am Gürtel, das andere schnappte aus der Zehenkappe seines rechten Stiefels hervor. Er wurde mit Vitaminpillen, Pep-Pillen und konzentriertem Wasser beladen, auch einen Luftlecker allerneuesten Modells bekam er. Ein Zittern befiel ihn, als ihm befohlen wurde, sich beim Colonel, dem Kommandanten der Kaserne, abzumelden. Seine gesamte Ausrüstung bei Fuß, stand er vor dem Dienstzimmer des Colonels und wartete auf den Befehl zum Eintreten. Fünfzig Minuten schleppten sich hin, bis ein Sergeant ihn hineinführte. Der Kommandant war ein kleiner Mann von milden Sitten. Stöße von schriftlichen Befehlen der neuen Regierung, der Volksaktion, deckten ihn zu wie Schneeflocken. Sicher war er frei von dem Verdacht, ein Parteigänger des Verräters Bolt zu sein – andernfalls säße er nicht hier. Er hatte Bush nichts Positives zu sagen, und das
wenige, was er sagte, brachte er schlecht heraus. Mißlaunig schob er beim Sprechen die Papiere auf dem Tisch hin und her. Zum Schluß sagte er: »Admiral Gleason schätzt Männer, die Erfolg haben. Silverstone ist ein Staatsfeind, weil seine Lehren uns alle verwirren könnten – also, nicht alle, aber unsere schwächeren Brüder. Sie könnten, sagen wir mal, den Sachverhalt verwirren. Wenn Sie Silverstone finden und erledigen, werde ich dafür sorgen, daß der Admiral Ihren Namen erfährt. Betrachten Sie sich nicht als Mörder, sondern als Scharfrichter im Auftrag des Staates! Wegtreten.« Der zeubeulte Lastwagen, der Bush hergebracht hatte, wartete schon, um ihn zum Zeitbahnhof zu bringen. Bald konnte er entfliehen! Als er seine Ausrüstung einlud, erschien Captain Howes. Er betrachtete Bush mit deutlichem Ekel. Es fiel Bush auf, daß er denselben Gesichtsausdruck gehabt hatte, als er sie an der Tür des Folterzimmers verlassen hatte. »Sie halten sich also für fähig, Silverstone zu töten?« fragte er. Bush verspürte ein Verlangen, mit diesem Manne frei und offen zu reden, aber er brachte nichts heraus; er war sogar sich selbst gegenüber verschlossen. »Jawohl.« »Dann sehen Sie zu, daß Sie es schaffen. Sehr viel hängt von Ihnen ab.«
»Jawohl.« Ein Ja ist um sovieles endgültiger als ein Nein. Er stieg auf den Lastwagen. Als der Schlagbaum hochging, sah er, daß Pond seine Männer in Doppelreihe mitten durch die Schatten aus der Zukunft marschieren ließ. Auf dem Zeitbahnhof wurde er wiederum zu einem anderen Menschen. Jetzt war er Patient – den Ärzten und Krankenschwestern ausgeliefert. Sie gaben sich besondere Mühe mit Bush. Auch sie hatten ihre Befehle. Er wurde mit Extra-Dosen von CSD versehen (er bemerkte, daß es jetzt in Kristallform verwendet wurde). Er wurde in einer Sonderkabine untergebracht, so daß er unter keinen Umständen in seine Zeit zurückkehren konnte, ohne bemerkt und registriert zu werden. Eine Schwester mit antiseptischem, lustverbietendem Lächeln nahm ihm das vorgeschriebene Quantum Blut ab und schnitt geschickt einen Streifen Gewebe aus seiner linken Brustseite. Er stand jetzt unter leichten Beruhigungsmitteln, sagte sich ein paar Formeln der WenlockDisziplin auf, krümmte sich in Foetus-Position. Dann nahm er die Droge. Wiederum wurde er ein anderer: weder tot noch lebendig, in einem Zustand, in dem, weil es keine Veränderung gab, auch keine Zeit war. Sein Geist öffnete sich, schob ohne Anstrengung die Türen auf,
die für die Menschheit länger als eine Jahrmillion versiegelt gewesen waren, und ließ einen Teil des Alls herein. Das war Klarheit, war Gesundheit, und deshalb war er glücklich. Golfschläger trieben vorbei, ein angebeugtes Frauenbein, eine Flasche mit schottengemustertem Etikett – er ließ sie treiben. Er wollte das All, nicht seine Winzigkeiten. Er war frei. Frei und doch nicht ohne Ziel. Die Droge und die Wenlock-Disziplin wirkten jetzt zusammen; ein Richtungssinn stieg in ihm hoch wie ein göttlicher Anruf. Er arbeitete, wie ein Taucher arbeiten mochte, der, an der Kante des Kontinentalschelfs schwebend, sich in den Abgrund hinuntergezogen fühlt, jenseits aller Hilfe; so wurde Bush in den weiträumigen Abgrund der Entropie hineingezogen, von einer Kraft, die ihn irgendwo anlanden würde – wo oder wann, das wußte er nicht, aber irgendwo weit hinten im luftlosen Kryptozoikum, wenn er sich nicht wehrte. Und er kämpfte sich den Abhang wieder hinan, schwimmend, stoßend, Richtung suchend. Das Medium zog ihn aufs neue hinab, aber er quälte sich weiter, bis Erschöpfung ihn überkam und er meinte, wieder abzugleiten. Dann schoß er an die Oberfläche.
Zweites Buch 1 – In einem anderen Garten Zu beiden Seiten des schotterigen Weges kletterten die Häuser den Berg hinan. Sie waren klein – die meisten hatten im Oberstock nur zwei winzige, unter das Schieferdach gequetschte Zimmerchen –, aber solide aus Stein gebaut und gemütlich in den Abhang hineingeschoben, so daß sie ein wenig vor den kalten Ostwinden geschützt waren. Hinter jedem Haus lag ein eigener kleiner Garten, der bei den höher gelegenen Häusern, die sich dem Kamm des Hügels näherten, so steil war, daß man das Unkraut beinahe von einem der oberen Fenster aus jäten konnte. Auf dem Kamm des Hügels, wo das letzte der steinernen Häuser stand, hatte man den Ausblick auf das flache, unter dem weitgespannten Himmel sich ausbreitende Land und sah deutlicher als von unten, daß es seiner Natur nach unzähmbares echtes Moor war. Bush passierte das letzte Haus; ein Teil des Untergeschosses war zu einem kleinen Kaufmannsladen ausgebaut. Von dort hatte er den Blick auf das ganze kleine Dorf, doch wurde er nicht gleich klug daraus. Von dieser Stelle aus konnte man den größten Teil
des Ortes überblicken. Wenn er das Übrige sehen wollte, brauchte er sich bloß umzudrehen; denn dort, wo die Steinhäuser aufhörten, begannen Häuser von einer anderen Art. Diese anderen Häuser, die aussahen, als gehörten sie kaum noch zum Dorf, standen auf elenden kleinen Terrassen, die einander gegenüberlagen. Sie waren aus Ziegeln und standen in geraden, sich rechtwinklig kreuzenden Reihen, ohne Anpassung an das Gelände, wie Bauklötze, die ein Kind auf der Decke seines Krankenbettes geometrisch aneinanderbaut. Von keinem dieser Ziegelhäuser aus konnte man etwas anderes sehen, als das bräunliche Moor und den Himmel, aus dem zu dieser Jahreszeit oftmals Regen in die zerwühlten, abflußlosen Straßen peitschte; das übrige Dorf lag jenseits des Hügelkammes und war nicht zu sehen. Der steinerne Kaufmannsladen, dessen Dach eben noch über den Hügelkamm lugte, war nicht einmal von dem Haus am Ende der Terrasse aus zu erspähen, denn in den Häusern dieser bevorzugten Lage mußte man sich ohne den Luxus von Seitenfenstern behelfen. Bush blieb im starken Regen stehen, um die Szene in sich aufzunehmen. Die Bewohner dieses tristen Ortes mußten in Schwierigkeiten stecken; dessen war er so sicher wie seiner eigenen Probleme. Aber bis jetzt war er noch nicht imstande, auch nur den Anfang ei-
ner Antwort auf die Frage zu finden, was das sein mochte. Auf ihn fiel kein Regen – er war ja auf Zeitfahrt, und Kontakte zwischen ihm und dieser unbekannten Zone der Erdgeschichte konnte es allenfalls auf emotionaler Ebene geben. Unbekannt schien diese Gegend tatsächlich zu sein – keine Schatten aus der Zukunft geisterten hier umher, es gab auch keine Gebäude-Phantome; verglichen mit der Jurazeit kam ihm dieser Ort wie eine Wüste vor, weit weg von aller Unternehmungslust der Raumzeit-Welt. Sein Wille, dem Regime der Aktion zu entfliehen, war so stark, daß er sich in eine verhältnismäßig späte Periode der menschlichen Geschichte transzendiert hatte – und das war überhaupt nicht schwer gewesen! Mit der einfallenden Dämmerung ließ der Regen nach. Sie senkte sich wie ein Vorhang über das Land und zog alles, was sich da so kümmerlich über den Horizont erhob, wieder an ihr wolkenverhangenes Herz. Die Häuser wehrten sich nur schwach gegen diesen Vereinnahmungsprozeß, sie ließen die trüben Lichter in ihren Fenstern erst aufleuchten, als die Dunkelheit schon fast völlig hereingebrochen war. Doch gab es Ausnahmen, besonders am Fuße des Hügels, und dorthin wandte Bush sich jetzt. Unterhalb der Steinhäuser standen ein paar eindrucksvollere Gebäude, ebenfalls aus Stein: ein paar Läden und eine Kirche. Dann kam ein ebenerdiger
Bahnübergang mit einem etwas verwahrlosten, altertümlichen Bahnhof, eine Anlage, wie Bush noch keine gesehen hatte. Metallene Schienen führten in einer Kurve zu einem Komplex von massigen düsteren Gebäuden etwas abseits von der entfernteren Ecke des Dorfes. Diese Bauten überragte, wie Bush noch bei Tageslicht gesehen hatte, ein hölzerner Turm, an dessen Spitze sich ein mächtiges Rad befand, das sich aber nicht drehte. In der Dunkelheit konnte Bush zwei oder drei Lichter im Gewirr der Bahnhofsgebäude ausmachen; dort glommen ein paar Lampen. Von dem Schienenstrang, der sich in einer Kurve von diesem Areal entfernte, um dann von einem steinernen Viadukt aus dem Tag heraus und jenseits der mächtigen Landschultern hinweggetragen zu werden, sah man zu dieser Stunde nichts mehr. Und kein einziges Licht blinzelte in den toten Gebäudemassen jenseits des Bahnübergangs. Das Leben des Ortes spielte sich hauptsächlich vor und im Wirtshaus ab. Das lag ein halbes Dutzend Häuser von der Kirche entfernt, hügelaufwärts, und seine abgetretenen Türstufen befanden sich ungefähr auf gleicher Höhe mit den Regenrinnen des Kirchendaches. Das einzige Zeichen seiner Funktion war ein kleines Schild über dem Eingang, auf dem zu lesen stand GASTHAUS ZUR SCHMIEDE. Das Haus muß-
te schon längere Zeit dort gestanden haben und würde noch lange dort stehen, denn selbst in seinem transzendierten Zustand konnte Bush nicht durch die Wand ins Haus gehen, sondern mußte wie ein normaler Gast die Tür benutzen. In der SCHMIEDE war weder viel Betrieb noch viel Licht. In dem einzigen Gastraum saßen Männer auf Bänken, die Stiefel fest auf dem sägemehlbestreuten Fußboden gestellt, als ob sie so bald nicht wieder aufstehen wollten. Manche rauchten Zigaretten, nur wenige hatten etwas zu trinken vor sich. Sie waren alle ähnlich gekleidet: sie trugen dunkle Anzüge und darüber dünne, selbst in der warmen Kneipe bis an die Hälse zugeknöpfte Mäntel, und hatten Tuchmützen auf. Sie sahen sich sogar alle etwas ähnlich; die Gesichter hatten feine Runzeln, und die Augen blickten scharf, aber besonnen. Ein Mann saß allein an einem kleinen Tisch und trank. Obwohl ihn die anderen beim Kommen und Gehen grüßten, setzte sich keiner zu ihm. Er trug die gleiche armselige Kleidung wie sie, aber sein Gesicht war voller und hatte vielleicht etwas mehr Farbe. Bush richtete sein besonderes Augenmerk auf diesen Mann, denn er glaubte aus irgendeinem Grunde, daß dieser, ebenso wie er selbst, Bush hieße. Als der Mann ausgetrunken hatte, blickte er sich um, als hoffe er auf irgendwelche Unterhaltung; da er
keine fand, stand er auf, reichte dem Wirt sein leeres Glas und sagte Gute Nacht – der Gruß war an alle im Raum gerichtet. Es sah so aus, als gäben die anderen ihm murmelnd den Gute-Nacht-Gruß zurück, doch drang kein Laut in die Isolation, in der sich Bush befand. Er folgte seinem Namensvetter ins Freie. Der Mann schlug sich den Mantelkragen fest um den Hals, krümmte seine mageren Schultern und stieg hügelan; Bush immer hinterher. Bush bemerkte, daß sein ZeitEinheits-Boden, auf dem er schritt, fast genau der Straßenoberfläche entsprach; die Straße mußte also schon sehr lange da sein. Oben auf dem Hügel verhielt der Mann bei dem kleinen Kaufmannsladen und ging um das Haus herum nach hinten. In diesem Garten hatte Bush zwischen Unkraut und Kohlstrünken sein kleines bescheidenes Zelt aufgeschlagen; der Mann konnte es weder sehen noch berühren. Der Mann klopfte an die rückwärtige Tür und wurde eingelassen. Bush schlüpfte hinter ihm hinein. Als er zuerst, noch halb verwirrt, durch das Dorf gegangen war, hatte er gesehen, daß ein Schild im Fenster des Ladens hing – es war ein normales Hausfenster, das einfach dadurch für Geschäftszwecke umfunktioniert worden war, daß man die Vorhänge entfernt und ein paar Stücke roter Seife und einen
Stapel Corned-Beef-Büchsen hineingestellt hatte; und als er näher hinsah, las er die verblaßten Buchstaben AMY BUSH KOLONIALWAREN. Er hatte zwar keine Ahnung, wieso die instinktiven Antriebe des Zeitreisens ihn gerade hierher geführt hatten, doch glaubte er, daß er bei seinem Namensvetter auf eine Spur stoßen würde. Er überlegte sogar, ob diese Bushs nicht vielleicht seine Vorfahren gewesen sein könnten. Er befand sich in einem Hinterzimmer, das so voller Menschen war, daß man Platzangst bekommen konnte. Drei kleine Jungen unterschiedlichen Alters rannten und hopsten umher – sie schrien und brüllten aus vollen Hälsen, doch drang nicht ein Dezibel durch die Entropie-Schranke an Bushs Ohr. Der kleinste und aufgeweckteste dieser drei Bengel, der auch der blasseste und so mager war, daß seine Knochen überall am Körper schmerzhaft hervorzutreten schienen, war nackt und pudelnaß. Seine Schwester rannte hinter ihm her, um ihn zu fangen und wieder in die große Zinkbadewanne zu stecken; um ihr zu entfliehen, sprang er wie wild im Zimmer herum. Dabei kollidierte er mit einer vollbusigen Frau, die in Pantoffeln an einem steinernen Abwaschbecken stand und dort irgendein Kleidungsstück wusch; und auch mit einer alten Frau, offenbar der Großmutter der Familie, die mit einer Decke über
den Knien in einer Ecke saß und auf ihren falschen Zähnen herumkaute. Der Mann, dem Bush hügelaufwärts gefolgt war, fuchtelte mit den Armen und schien laut und scharf etwas zu rufen. Der kleine freche Junge kam daraufhin zu seiner Schwester, die ihn ohne weiteres hochhob und in die Badewanne steckte, während sich seine älteren Brüder auf ein paar Holzkisten fallen ließen, die an der Wand neben der Tür eine Art Sitzbank bildeten. Dort blieben sie apathisch hocken. Die vollbusige Frau am Spülstein wandte sich dem Manne zu und zeigte ihm, wie dünn und geflickt das Hemd war, das sie wusch; bei dieser Bewegung konnte Bush sehen, daß sie hochschwanger war. Wie alt die Tochter war, vermochte Bush nicht zu erraten; sie konnte fünfzehn, aber auch neunzehn sein. Sie hatte schon so etwas wie eine Figur, und ihr Haar war hübsch, doch waren ihre Zähne nicht gut. Auch wirkte sie im ganzen matt und glanzlos, wodurch man an die unerfreuliche Tatsache erinnert wurde, daß nur verhältnismäßig wenige Jahre sie von der alten mummelnden Frau in der Ecke trennten. Immerhin lachte sie ihren Bruder an, als sie ihn abschrubbte, ihn geschickt trockenrieb und schließlich, von einem Machtwort des Vaters unterstützt, die drei Jungen ins Bett scheuchte. Die Schlafgelegenheiten im ersten Stock waren äußerst armselig. Im größeren der beiden engen, dump-
fen Räume schlief der Jüngere mit seinen Eltern in einem Doppelbett, die beiden anderen Jungen daneben auf einem Strohsack. Im kleineren Raum war kaum Platz für das Einzelbett, in dem die Tochter mit der Großmutter schlief. Der Mann goß die Badewanne im Garten aus. Als die Tochter wieder herunterkam, nahm er sie liebevoll aufs Knie und arbeitete am Tisch an irgendwelchen Rechnungen, wobei ihm seine Frau half, als sie etwas später dazukam. Die Tochter hatte zufrieden den Arm um seinen Hals geschlungen und lehnte die Wange an seinen Kopf. Das war also die Familie Bush. In den folgenden Tagen und Wochen lernte Bush seine Namensvettern gut kennen. Langsam wurden ihm auch ihre Vornamen vertraut. Die werdende Mutter, die den Laden versah, hieß Amy, wie das Schild am Fenster besagte. Als die alte Großmutter hügelabwärts zum Postamt humpelte, sah Bush aus ihrem Rentenbuch, daß sie die verwitwete Alice Bush war. Als sein Namensvetter in der Reihe der Arbeitslosen stand und seine Karte zum Stempeln an einem Schalter vorlegte, entdeckte der geisterhafte Bush, der ihm durch die Schulter blickte, daß es sich um Herbert William Bush handelte. Das Mädchen hieß Joan. Die beiden älteren Knaben hießen Derek und Tommy. Aber er erfuhr niemals den Namen des Jüngsten.
Bald hatte er heraus, daß das Dorf Breedale hieß. Eine Darlingtoner Zeitung, die ein launischer Wind den Hügel hinabwehte, verriet ihm das Datum: März 1930. Seine Reise hatte ihn also hundertzwanzig Jahre von jener Zeit weggeführt, die er bequemlichkeitshalber als ›die Gegenwart‹ bezeichnete. Daß er hier Silverstone finden würde, war unwahrscheinlich; ebensowenig aber würde er selbst von Gleasons Spitzeln aufgestöbert werden, falls sie tatsächlich hinter ihm her waren. Hier war also Sicherheit; aber es blieb ihm unverständlich, was für ein richtungsbestimmendes Moment ihn hierher verschlagen hatte. Das war der Aspekt des Zeitreisens, der ihm schon immer am meisten zu schaffen gemacht hatte. Es mußte etwas sein, das dem geographischen Instinkt der Zugvögel entsprach und ihn hierher, in das Jahr 1930, verfrachtet hatte – aber wie dergleichen funktionierte, blieb noch zu ergründen. Was ihn innerlich am meisten beschäftigte, war weder diese Frage, noch das Problem seiner eigenen Sicherheit, sondern etwas anderes, das ihm immer wieder in den Sinn kam, ohne daß er damit fertig wurde. Es war wie ein Strudel in einem Fluß, der alles, was vorbeischwimmt, anzieht und schließlich einfängt. Was er auch immer dachte, in welche Angelegenheiten Breedales er auch verwickelt war – immer wieder mußte er daran denken, wie brutal er Lenny
mit den Golfschlägern geschlagen hatte. Der geweißte Raum in der Kaserne kam ihm nicht aus dem Sinn. Er sah das hohe blinde Fenster vor sich, hörte den dumpfen Aufprall des Eisens auf Lennys Rippen, sah das dicke Blut sich auf dem Fußboden ausbreiten. Für sein Opfer war das nichts Neues – Ann hatte ihm ja erzählt: »Sein Alter hat ihn immer blutig geschlagen.« Er dachte an die überhitzte Miene Stanhopes und an die Verachtung auf Howes' Gesicht, als dieser sie an der Tür des Folterraumes alleinließ. Er wußte, daß er sich erniedrigt hatte. Obwohl er sonst nie in theologischen Begriffen dachte, fühlte er sich im Stand der Sünde. Breedale war der Ort seiner Selbstverbannung. Dieses Gefühl ließ ihn in den folgenden Wochen niemals los; es war wie ein schlechter Geschmack im Mund. In diesem Zustand würde er auf jeden Fall in Breedale ein Ausgestoßener sein, auch wenn er nicht durch die Entropie-Schranke isoliert wäre. Er machte keinen Versuch, seine Sünde zu büßen. Sie war wenigstens wie etwas Greifbares. Er konnte sie mit sich herumschleppen wie einen Buckel, und Befriedigung darüber empfinden, daß sie eine Bürde war, die er tragen mußte. Was er da getan hatte, war das Schlimmste, was er bisher in seinem Leben getan hatte – und in seiner jetzigen selbstanklägerischen Stimmung empfand er es eher als einen Höhepunkt seines
Daseins und nicht so sehr als eine Verirrung und Folge seiner militärischen Ausbildung – vielmehr als etwas, womit er tatsächlich die Verbannung in den Garten verdient hatte, damals, als die rotglühenden Feuerhaken über ihm geschwebt hatten und seine Mutter ihm bewiesen hatte, daß sie ihn nicht mehr liebte. Jene Strafe paßte zu dieser Tat. Typisch, daß Vergehen und Strafe ihre Reihenfolge vertauscht hatten – als ob er symbolisch sein Leben rückwärts lebte ... geistige Verwirrung vom Anfang bis zum Ende! In seinem Zelt im 1930er Garten versuchte er manchmal zu weinen, aber jedes Zeichen von Weichheit wäre unecht bei jemandem, der mit soviel Vergnügen sein Opfer kaputtgeprügelt hatte; und so blieben seine Tränen ungeweint und seine Augen hart und trocken wie eine Fensterscheibe. Vor dieser Fensterscheibe führten die Einwohner Breedales ihre eigenen kleinen Dramen auf. Es war, so fand er, ganz gut, daß er nur ihre Außenseite sah. Ziemlich lange konnte sich Bush – er war auch im Grunde gar nicht so neugierig darauf – überhaupt nicht vorstellen, wie diese Leute ihren Lebensunterhalt verdienten. Es kam ihm vor, als seien sie ebenso von der Wirklichkeit abgeschnitten wie er selbst. Er bekam die Antwort darauf in Raten, so, wie sie ihre Sozialunterstützung bekamen. Erst nachdem er ein paar Tage lang in der Ortschaft
herumgegeistert war, ging ihm die Funktion der finsteren Ansammlung von Gebäuden jenseits der Eisenbahnlinie auf. Es war eine Offenbarung für ihn, als er begriff, daß es sich um ein Kohlenbergwerk handelte. In seiner eigenen Zeit-Ebene waren Kohlenbergwerke noch an verschiedenen Ecken der Welt in Betrieb, aber sie hatten wenig äußere Ähnlichkeit mit dieser primitiven Anlage. Ein Pfad schlängelte sich hinter der Zeche entlang. Eines Tages um Frühlingsanfang folgte er auf diesem Pfad der kleinen Joan. Sie hatte einen Jungen bei sich, einen Jüngling fast so blaß wie sie selbst, der ihre Hand faßte, sobald sie außer Sichtweite des Bahnhofs waren. Sie ließen die grimme, lautlose Zeche hinter sich – niemand ging hinein oder kam heraus, nur ein paar Spatzen zankten sich um spärliches Nistmaterial. Der Weg führte an einen Fluß, die Landschaft wurde schön. Bäume wuchsen dort und streckten ihre grünsten Blätter aus; einer wuchs über eine steinerne Brücke, eine graue Brücke, die den Pfad über den Fluß ins Weite trug, zu noch schöneren Ufern. Hier ließ sich Joan von ihrem Freund küssen. Sie blieben einen Moment stehen und sahen einander tief in die Augen, voller Liebe und Hoffnung. Bush dachte mit sehnsüchtigem Hunger an die Perm-Zeit, wo die frühen Amphibien umherkrochen, so frei von Liebe,
Hoffnung und Schmerz, wie sie an den von Menschen bevölkerten Jahrhunderten kleben. Voller Angst vor ihrer eigenen Courage schritten der Jüngling und das Mädchen weiter. Sie sprachen lebhaft miteinander; der Späher war froh, daß er nicht hörte, was sie sagten. Der Pfad trat auf eine Steinmauer und wand sich an ihr entlang. Joan und der Junge blieben hier stehen, lehnten sich gegen die Mauer und lächelten sich an. Bush blieb, wo er war, er mochte nicht noch einmal zusehen, wie sie sich küßten, als seien Küsse goldene Gelübde. Er war schließlich in einem Alter, wo die gläubige Gewißheit der Jugend ihn verlassen hatte. Er blickte über die Steinmauer auf ein schönes Haus in einem Park, in der besten Lage des Tales. Die Mauer hatte schon so lange gestanden, daß sie nicht mehr durchlässig war und er hinüberklettern mußte, um auf das Grundstück zu gelangen. Er schritt durch üppige, wohlgepflegte Gemüsebeete und kam an die Hinterfront des Hauses. So entdeckte er das Herrenhaus des Ortes und die Familie Winslade, der es, wenigstens in dieser Periode ihrer Geschichte, auf ihre Art beinahe ebenso schlecht ging wie den Dorfbewohnern. Indem er wie ein Phantom in ihrem großartig eingerichteten Hause herumgeisterte, kam er nach und nach dahinter, daß ihnen die Zeche gehörte. Diese Information empfand
er als Beleidigung seiner gesunden Vernunft, da er historisch wenig belesen war und daher nicht begriff, wie ein Mensch oder eine Familie ein Naturprodukt wie Kohle besitzen könne. Die Tage blätterten ab. Behext von seinem Schuldgefühl, begriff Bush nur langsam, daß die ganze Gegend an einem langdauernden Streik krankte. Der Rost am Vorhängeschloß des Zechentores war ein Symbol der allgemeinen Gelähmtheit. Wenn auch das Leben weiterging, das Amys Bauch mehr und mehr unter ihrer Schürze anschwellen und die Winde über dem Moor immer sanfter wehen ließ, befanden sich doch die Angelegenheiten der Menschen völlig auf einem toten Punkt. Nun glaubte Bush zu wissen, warum er hier war: es war Solidaritätsgefühl – ihm ging es ebenso. Er hatte sein Lager im Garten hinter dem Laden, lebte frugal von seinen Nahrungskonzentraten, und das Unkraut schoß hoch, unbehindert von der schattenhaften Substanz seines Zeltes. Der Kaufmannsladen lag an sich günstig. Die Nachbarn aus den Steinhäusern kamen, und aus allen den schäbigeren Häusern lockte er ebenfalls Kunden an, denn viele wollten sich nicht die Mühe machen, in den größeren Laden beim Gasthaus zu gehen, unten am Fuße des Hügels. Aber das Geschäft ging sehr schlecht; die Kunden hatten, je länger sich der Streik hinzog, im-
mer weniger Geld, und Kaufmann Bush konnte keinen Kredit mehr geben; er mußte schließlich seine Lieferanten bezahlen. Bush bekam mit, daß Herbert in besseren Zeiten Bergmann war und Amy dann den Laden allein betrieb. Damals, als Bush zuerst zu Herbert gekommen war, ging der Mann noch ganz vergnügt in den Laden, half beim Saubermachen, vertrieb sich die langen Stunden des Streiks, indem er mit den Kunden seiner Frau schwatzte. Ein paar Wochen später wurden die Kunden weniger gesprächig und waren offenbar pikiert, daß sie nicht mehr anschreiben lassen konnten. Herbert lächelte nicht mehr so oft und gewöhnte sich an, vom Laden wegzubleiben. Er veranlaßte seine Tochter, mit ihm lange Spaziergänge über das Moor zu unternehmen. Einmal ging Bush ihnen ein Stück nach und sah ihre beiden Silhouetten über den leeren Horizont wandern – das Mädchen blieb mehr und mehr zurück, offensichtlich machte sie sich nicht viel aus diesen Spaziergängen. Als sie nicht mehr mitkam, ging auch Herbert Bush nicht mehr spazieren. Er gesellte sich statt dessen zu den anderen Männern, die mit zerknautschten Hosen in der steilen Straße herumstanden, wenig sprachen und gar nichts taten. Eines Morgens gab es eine Versammlung vor der Kirche, und der Besitzer des Herrenhauses kam und hielt eine Ansprache; er stand mit einem halben Dut-
zend seiner Angestellten auf dem angeschütteten Wege bei der Kirche, und die Männer drängelten sich auf der Straße. Bush vermochte nicht zu hören, was gesprochen wurde; jedenfalls gingen die Männer am nächsten Morgen wieder nicht zur Arbeit. Er war von seiner Umgebung abgeschnitten. Trotzdem dünkte ihn seine zunehmende Verbundenheit mit den Leuten von Breedale besser als seine Situation in der eigenen Zeit-Ebene, wo er in direkter Berührung mit den Geschehnissen gewesen war und sie auch beeinflussen konnte, sich aber trotzdem von allem was geschah in emotioneller Hinsicht ausgeschlossen fühlte. Amys schwere Stunde kam näher. Sie verbrachte die meiste Zeit im Laden, der immer leerer wurde und immer mehr verstaubte. Sie schien sich völlig von der Familie zurückgezogen zu haben; Joan mußte die Großmutter und die Kinder allein versorgen. Sie kümmerte sich auch nicht mehr um ihren Mann, der seinerseits immer mehr das Haus mied. Sie waren einander fremd geworden. Herbert kehrte erst abends wieder zurück, wenn Joan da war. Obschon sie jetzt viel mehr zu tun hatte, trug sie doch einen Hauch Frühling auf ihren Wangen; das mochte mit ihrem Freund zu tun haben. Jetzt, da seine Frau so abweisend war, schien Herbert mehr und mehr auf Joans Zuwendung angewiesen zu sein. Er half ihr, die Kinder zu waschen und besorgte
jeden Tag das Frühstück: Tee, Brot und Marmelade. Amy ging früh zu Bett, noch vor der alten krächzenden Großmutter. Dann faßte Herbert seine Tochter um die Taille und sah mit ihr das kränkelnde Ladenkonto durch. Manchmal ließ er auch die Zahlen ganz liegen, saß nur da, hielt des Mädchens Hand in seiner und starrte ihr in die Augen. Bei einer solchen Gelegenheit hatte Bush einmal den Eindruck, daß Joan heftig protestierte; sie machte sich los, als wolle sie aus dem Zimmer gehen. Herbert sprang auf, faßte sie um und küßte sie, als wolle er sie besänftigen, aber sie entschlüpfte ihm gewandt und huschte davon. Herbert blieb noch eine ganze Weile unbeweglich stehen und starrte auf einen Punkt, wobei sein Gesicht auf einmal einen Ausdruck so furchtbarer Angst bekam, daß auch Bush sich fürchtete; einen Moment schreckte ihn der Gedanke, er sei durch irgendwelche magischen Einflüsse plötzlich für den Mann sichtbar geworden. Aber Herbert hatte vor sich selbst und vor dem, was er dachte, Angst bekommen. Um die Jungen kümmerte man sich kaum noch. Sie fischten im Fluß oder spielten mit anderen kleinen Strolchen im Rinnstein. Amy lebte ganz in ihrem Laden und blickte ihren Mann manchmal an, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Herberts Interesse für seine Tochter erinnerte Bush daran, was irgend jemand vor langer Zeit einmal über den Inzest gesagt hatte: daß
das darauf liegende Tabu (mit welchem die Isolation des Urmenschen von seinen Mit-Hominiden begann) zur Entstehung des Individual-Bewußtseins geführt habe, der Wurzel aller Kultur und Zivilisation. Wäre 1930 noch die interfamiliäre Heirat Brauch gewesen, so hätten Amy und Herbert Vetter und Base sein können, oder vielleicht sogar Bruder und Schwester. Dann hätten sie sich ihr ganzes Leben lang gekannt und wären einander jetzt nicht so fremd gewesen. Eine der äußeren Ursachen ihrer Sorge wurde Bush eines Tages offenbar, als er am unteren Ende des Dorfs gewesen war und zurückkam. Er kannte jetzt alle Einwohner vom Sehen, und ihre Angelegenheiten interessierten ihn so stark, daß er den größten Teil seines Tages damit verbrachte, in ihren Wohnungen ein- und auszugehen. Dabei nahm er alles mit gleicher Befriedigung in sich auf, ob es nun zeitbezogen war oder nach Ewigkeit schmeckte. Als er zu dem kleinen Laden zurückkam, sah er draußen den Lieferwagen des Großhändlers stehen, der jede Woche kam; er war jetzt lange genug hier, um den Namen einer Firma aus Darlington auf seiner zerbeulten Karosserie zu erkennen. Bush trat durch die Vordertür ein, aber es war niemand im Laden. Er ging durch den Laden zum Hinterzimmer – mittlerweile hatte er sich mit der Zeit-Ebene so stark identifiziert, daß er, wenn er es vermeiden konnte, nicht mehr durch
Wände oder andere feste Körper ging – und sah Amy und Herbert mit einem Fremden zusammensitzen, einem rundlichen, elegant gekleideten Mann, der sich aber gleich darauf, den Hut in der Hand, vom Tisch erhob und einige Papiere in seiner inneren Jackentasche verstaute. Bush gefiel der Fremde nicht besonders. Der lächelte gezwungen, während Amy, den Kopf auf ihren auf dem Tisch liegenden Armen, bitterlich weinte. Herbert stand hilflos neben seiner Frau und hielt ihre Schultern umfaßt. Ein juristisch aussehendes Dokument lag auf dem Tisch. Bush konnte einen Blick darauf werfen, ehe Amy es aufnahm. Aus dem wenigen, was er gelesen hatte, reimte er sich zusammen, daß sie ihr Geschäft an den Großhändler verkaufen mußten. Wahrscheinlich gab es sonst keinen Ausweg, weil sie zu sehr in Schulden geraten waren. Bush blickte auf Amy herunter und empfand wie sie den Schicksalsschlag und den Schmerz. Der Dicke machte sich davon. Amy saß am Tisch und versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken, während Herbert ruhelos auf und ab ging, zwei Schritte hin, zwei Schritte her. Amy riß sich zusammen und stand auf. Dabei sagte sie etwas Unfreundliches zu Herbert. Der antwortete unter allerlei Handbewegungen. Auf einmal waren sie mitten in einem furchtbaren Streit, vielleicht dem
schlimmsten, den sie je gehabt hatten. Aus Amys Gesten – sie zeigte des öfteren hügelabwärts – merkte Bush, daß sie auch auf die Zeche schimpfte, diese Zeche, die sich mit ihren dunklen, verschlossenen Werksstraßen so weit und so tief in ihrer aller Leben hineindrängte. Der Streit wurde immer heftiger. Amy ergriff ein Schulbuch, das auf dem Tisch lag, und warf es nach Herbert. In dem winzigen Zimmer war sie ihm so nahe, daß sie gar nicht vorbeiwerfen konnte; es traf ihn am Mundwinkel. Er sprang auf und packte sie mit beiden Händen am Hals. Bush sprang auf, fiel mit rudernden Armen durch sie hindurch und schlug mit dem Kopf ans Kaminsims. Er taumelte zur Seite. Herbert warf Amy zu Boden, rannte durch die Hintertür und schlug sie hinter sich zu. Bush lehnte an der Mauer, an der er sich gestoßen hatte. Sie fühlte sich gläsern und zugleich gummiartig an, wie sich jedes Ding durch die EntropieSchranke anfühlt. Er griff hastig nach seinem Luftlekker und atmete unter Schmerzen. Sein Kopf brummte, aber schon freute er sich darüber, daß er der Frau instinktiv beigesprungen war. Er öffnete ein Auge und sah sie an. Sie krümmte sich in Wehen auf dem Fußboden. Er vergaß seine eigenen Schmerzen, sprang auf
und stürzte hinaus auf die Straße. Kein Mensch war zu sehen. Es war zwei Uhr nachmittags – da saßen sie alle in ihren Wohnzimmern und taten so, als hätten sie vernünftig zu Mittag gegessen – oder hockten im Wirtshaus, um zu vergessen, daß es kein vernünftiges Mittagessen gegeben hatte. Außerdem – das fiel ihm fast sofort ein, als er stehenblieb, weil alles leer war – konnte er sich ja gar nicht bemerkbar machen, selbst wenn er jemand gesehen hätte. Er stöberte Tommy und Derek auf; sie spielten mit ein paar anderen kleinen Strolchen in einem leeren Güterwagen, der am Ende eines Nebengleises stand. Der Jüngste war nirgends zu sehen. Die Oma saß in der Küche eines Nachbarhauses und tratschte. Es dauerte eine Stunde, bis er Joan fand. Wie er sich hätte denken können, wäre er nicht so durcheinander gewesen, saß sie mit ein paar Freundinnen plaudernd in einem kleinen Hinterzimmer irgendwo in der Nachbarschaft. Er stand da und starrte. Sie war so bescheiden, so anspruchslos – und hatte so gar keine Ahnung, daß ihre Mutter zu Hause in Todesschmerzen lag. Sie und ihre Freundinnen redeten und redeten; die ganze Zeit bewegten sich ihre Lippen, manchmal lächelten sie, manchmal runzelte eine die Stirn, hier und da unterstrich das eine das, was sie gesagt hatte, mit einer kleinen Handbewegung. Und was redeten sie alle miteinander? – es war schon so lange vorbei, so hoffnungslos
in der Zeit begraben! Er kannte Joans Leben durch und durch; er hatte sie in der Badewanne belauscht, sie schlafend im Bett gesehen, hatte bei ihrem ersten Kuß spioniert. Man konnte nichts über sie sagen, was des Erwähnens wert wäre, selbst an einem so toten Nachmittag. Wozu das eigentlich alles? Diese Frage dehnte sich aus, bis sie die ganze Menschheitsgeschichte umfaßte. Es kam Bush vor, als hätte er sich in seinem Leben diese Frage viel zu oft gestellt, und alle anderen hätten sie nicht oft genug gefragt. Sein verdammtes Gedächtnis – er erinnerte sich an einen uralten Tag, weit im Hintergrund seiner eigenen Tage ... oder an einen jungen Tag, wenn man so wollte, denn er war höchstens vier Jahre alt gewesen ... Der Zahnarzt hatte seinem Sohn einen kleinen Sandkasten zum Spielen gemacht. Söhnchen hatte eine Burg gebaut und einen Tunnel hindurchgetrieben. Söhnchen hatte Graben und Tunnel mit Wasser vollgegossen, aus seinem Eimerchen (rot? mit gelbem? Griff). Es traf sich gut, daß Söhnchen nebenan in einem Blumenbeet einen Käfer gefunden hatte. Söhnchen hatte den Käfer in ein Spielzeug-Boot gesetzt. Unter leichtem Anstoß war das Boot durch die große wirbelnde Höhlung gefahren, Käferchen kühn am Bug, jeder schwarze Millimeter ein Kapitän. Frage, damals und jetzt: Was war Käferchen wirklich? Was war Söhnchen wirklich? Was bestimmte in Wirklichkeit ihre Rollen?
Und das ›in Wirklichkeit‹ – zeugte das von irgend etwas Absolutem außerhalb des Bewußtseins? Gott in Verkleidung? Gott wie eine allesverschlingende fremde Wesenheit aus einer anderen Galaxis, die alles verdaut: Käfer, Blumen, Würmer, Katzen, Söhne, Mütter, damit es durch sie und ihr Wesen das Leben erlebt, unersättlich auf ewig? Nun ja, das war in diesem Teil des Erdballs mehr oder weniger die traditionelle Antwort auf die Frage nach dem Geheimnis des Lebens. Dann gab es noch die wissenschaftliche Antwort, aber nach einer Weile stieß man auch hier wieder auf eine leere Wand: Gott. Dann gab es noch die atheistische Antwort: alles ist blindes Glück – oder Pech. Und noch hundert andere Antworten. Vielleicht gingen sie alle vom falschen Ende an das Problem heran. Eine Sekunde lang überkam Bush ein Schwindel, der nichts mit seinem angeschlagenen Kopf zu tun hatte. Ihm war, als hätte er beinahe die Hand auf den Schlüssel des Ganzen gelegt, aber ihm war auch, als hätte er so ein Gefühl schon einmal gehabt. Anscheinend gelangte er immer nur bis an den Rand der Klarheit, wo die große Konfusion begann, in die er sich dann hineinstürzen konnte. Unverrichteter Dinge verließ er die plaudernden Mädchen. Draußen schien die Sonne, wenn auch nicht bis zu ihm hin. Der Sommer schwirrte über
Breedales Schwelle. Bush war zwischen den ärmlichen Häusern am Rande des Moores stehengeblieben. In ein paar Gärten sah er die tapferen Versuche, Beete anzulegen, in denen Blumen wachsen sollten, oder Gemüse, um den leeren Kochtopf zu füllen; aber jeglicher Agrikultur hatte sich das moorige Land stur widersetzt. Er wandelte über den Hügelkamm und starrte hinunter auf Breedale, wie schon so oft. Und er sah Herbert Bush. Herbert kam bergauf und war schon fast daheim. Bush merkte sofort, daß der Mann betrunken war. Er rannte den Hügel hinab ihm entgegen, lief neben ihm her; aber er war ja ein Geist, ein Nichts. Wenn Herbert seine Gegenwart seelisch spürte, ließ er jedenfalls nichts davon merken. Er war rot im Gesicht und murmelte pustend vor sich hin. Er mußte den größten Teil des Nachmittags irgendwo im Dorf gewesen sein und mit einem Freund getrunken haben. Jetzt sah er aus, als wolle er nach Hause, um seiner Frau noch ein bißchen die Meinung zu sagen. Er riß die Hintertür auf und sah sie zusammengekrümmt auf dem Fußboden liegen. Sofort schloß Herbert die Tür hinter sich, so plötzlich, daß Bush, der dicht hinter ihm war, zurücksprang und draußen bleiben mußte. Er konnte nur durch das winzige Fenster über dem Abwaschbecken in die Stube sehen, ein hilfloser, ausgesperrter Voyeur.
Amy lag jetzt anders. Sie hatte sich anscheinend auf einen Stuhl gezogen und war dann, hilflos vor Schmerzen, wieder hinuntergefallen. Jetzt lag sie völlig verkrümmt, der Stuhl war ihr über Gesicht und Brust gekippt, ein Arm steckte zwischen den Stuhlbeinen. Irgendwann hatte sie sich die Kleider heruntergerissen. Ihr totes Kind lag zwischen ihren Beinen, noch nicht ganz geboren. Herbert warf sich neben sie auf den Fußboden. »Nein!« Bush keuchte. Er riß sich vom Fenster weg und stützte seinen schmerzpochenden Kopf gegen die glasglatte Mauer. Sie konnte doch nicht tot sein! Man stirbt doch nicht einfach so! Doch, doch, man stirbt einfach so, wenn man seit Jahren unterernährt ist, wenn man beim Fallen gegen den Tisch geschlagen ist, wenn man in einem ganzen Kettennetz ökonomischer, historischer, emotionaler Widrigkeiten gefangen ist – dann stirbt man ziemlich leicht. Aber ihr Leben – sie konnte doch nicht für einen so scheußlichen Tod geboren worden sein? Die Verheißung ihres Mädchentums ... ihre Heirat ... noch vor ein paar Wochen hatte sie ausgesehen, als sei sie ganz glücklich, trotz allem ... Aber das war nun egal. Er schrak zurück, als er Herberts Gesicht am Fenster sah, das ihn anstarrte. Es hatte seine Röte verloren und war aschfarben – es schien sogar die Form
verloren zu haben. Bush begriff, daß der Mann ihn gar nicht ansah. Er sah überhaupt nichts, es sei denn sein verpfuschtes Leben. Mit einer Hand faßte er auf das kleine Wandbrett, wo er sein Wasch- und Rasierzeug hatte. Er nahm sein langes halsabschneiderisches Rasiermesser herunter. »Herbert, nein, nein!« Bush sprang vors Fenster und klopfte sinnlos an die Scheibe, die sich elastisch anfühlte. Er schwenkte die Arme, er brüllte – und vor seinen Augen schnitt sich Herbert Bush die Kehle durch – zog die Schneide vom linken Ohr bis fast ganz zum rechten herüber. Jetzt erschien er in der Hintertür, das Rasiermesser noch in der Faust. Das Blut sprudelte über seine Hand. Er tat drei Schritte in den Garten, kniehoch im Wiesenkerbel, und brach unter den sahniggelben Blütenköpfen zusammen, halb lag sein Körper über Bushs phantasmagorischem Zelt. Bush floh entsetzt. Aber es war, als sei die Tragödie der Familie Bush eine historische Notwendigkeit gewesen. Das ganze Dorf sammelte pennyweise Geld für die Kinder, das ganze Dorf ging beim Leichenzug mit zum Friedhof hinter dem Ort. Selbst der Zechenherr entsandte einen seiner Bergwerksdirektoren; möglicherweise hatte Bush eine ganz gute Stellung in der Zeche gehabt. Einige Bergleute sprachen hinterher mit dem Direk-
tor, die Gewerkschaft wurde eingeschaltet, Verhandlungen kamen wieder in Gang. Diese beiden schauderhaften Todesfälle hatten alle aus ihrer düsterstörrischen Apathie hochgeschreckt. Sie waren jetzt wieder bereit zu verhandeln. Und es kam zur Einigung. Nur vier Tage nach der Beerdigung von Amy und Herbert Bush strömten die Männer wieder in Arbeitskleidung hügelab, wurden in den primitiven Förderkörben hinunter in die Eingeweide der Erde gefahren und hackten dort die fossilen Bäume los, die sich einst, in urfernen Tagen, über dem Erdboden erhoben hatten. Bush blieb noch in Breedale. Er sah Joan als Verkäuferin im Laden arbeiten, unter einem Angestellten des Großhändlers, dem der Laden jetzt gehörte. Der junge Mann kam jeden Tag mit dem Fahrrad aus einem anderen Ort, gut gewaschen, tüchtig, aus seinem unbequemen Hemdkragen heraus lächelnd, ein vielversprechender junger Mann. Eine Nachbarin kümmerte sich tagsüber um die Bush-Jungen. Großmutter sorgte für sich selbst. Jetzt, da das Wetter schön war, konnte sie vor der Hintertür auf einem harten Stuhl sitzen – was sie offensichtlich ärgerte, denn die anderen Omas, die nicht mit einem Kaufmannsladen maledeit waren, konnten neben der Vordertür sitzen und sehen, was sich auf der Straße tat.
Bushs Hauptanliegen war, über Joan zu wachen. In einem Jahr oder so würde sie alt genug sein, um den Jungen zu heiraten, der sich immer noch um sie bemühte – er arbeitete jetzt zum erstenmal unter Tage. Bush konnte kein Zeichen dafür entdecken, daß sie jemals an ihre Eltern dachte. Er war nicht sicher, ob es ihr jemals in den Sinn kam, daß ihr Vater sich in einem Augenblick der Verwirrung umgebracht hatte, nicht aus Not, sondern aus Schuld – aber wenn das der Fall war, dann würden sie und er die einzigen sein, die so dachten. So schien Bush in eine Sackgasse geraten zu sein. Nach und nach mußte er sich jedoch mit seiner eigenen mißlichen Situation befassen – und dabei merkte er, und das zu seiner nicht geringen Überraschung, daß sein Ich wieder in Ordnung war. Er fand sich damit ab, daß der Schock, den der Tod seiner Mutter ihm versetzt hatte, und der darauffolgende mörderische militärische Schliff seinen Geist vorübergehend verdunkelt hatten. Gleichzeitig bewirkten ein paar Fetzen moralischer Disziplin, die sich, verschüttet, aber intakt, aus einer früheren Existenzperiode hinübergerettet hatten, daß er zu der Ansicht kam, er müsse in Zukunft für das Positive und Gute wirken. Er glaubte, durch genügend Böses gegangen zu sein, um das Gute zu erkennen.
Und das führte ihn zu dem Schluß, er müsse tun, was in seiner Macht stände, um das Regime der Volks-Aktion zu stürzen – aber wie echt war ein Gefühl, das nicht in einer äußeren Handlung seinen Ausdruck fand? Er benutzte diese Frage, um seine guten Vorsätze zu stärken; und die allumfassende Schönheit dieser Frage überwältigte ihn, denn sie verkörperte, das spürte er deutlich, Wahrheiten, die er erst in Breedale entdeckt hatte; und etwas später merkte er, daß sie zu einem alten Bibelspruch Beziehung hatten, den sein Professor in der Ölmalerei-Klasse der Akademie oftmals scherzhaft zitiert hatte, wenn seine Studenten an ihren Stilleben aus Äpfeln und Birnen herumpusselten: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!« Immerhin war er durch eigene Überlegung zu dieser Erkenntnis gelangt, was auf alle Fälle ein vielversprechender Anfang war. Bushs Seele war aus ihrer kleinen Lehmhütte ausgebrochen. Sie zog nun in einem mächtigen kristallenen Palast ein. Er spürte göttergleiche Eigenschaften in sich. Dieses gnadenvolle Interludium in Breedale, weit weg von der realen Welt, hatte ihm die Gelegenheit verschafft, sich selbst zu finden. Das waren seine vierzig Tage in der Wüste gewesen. In diesen Tagen der Entdeckung seiner seelischen Transformation
verbrachte er viel Zeit im Gebet, aber seine Gebete wechselten in Form und Ton und schwangen schließlich auf ihn selbst zurück. Er mußte die Göttlichkeit in sich enthüllen, und zwar nicht nur sich selbst, sondern auch anderen gegenüber. An jenem langen Tage in einem anderen Garten, als seine Mutter sich klar und deutlich gegen ihn selbst gestellt hatte, war ihm bewußt geworden, daß es in der moralischen Struktur des Universums eine dünne Stelle gab. Jetzt fühlte er sich stark genug, um auf diese Stelle ein Pflaster zu kleben, den Kurs der positiven Aktion einzuschlagen, die Welt neu zu schaffen! Er fastete. Er hatte Visionen. Er war so weit von der Welt entfernt, und er konnte sie an seinen Fingerspitzen glitzern sehen, bereit, neu geformt zu werden. Es war ein sehr vielschichtiges Kunstwerk, und er hatte den größten – den reinsten! – Ehrgeiz dazu. Er würde seiner Mutter zeigen, daß er ein Gott sein konnte und durchaus jenseits ihres kleinlichen Schemas aus Belohnung und Strafe stand! Er machte sich zu einer neuen Bewußtseinsreise fertig. Er wußte, was er zu tun hatte. Die kleinen Dinge vor den größeren; erst das Materielle, dann das Transzendentale. Ein Zweifel kam ihm vor allem (doch er schob ihn rasch beiseite): sollte er im Jahre 1930 bleiben, aber nicht in Breedale, sondern anders-
wo hingehen? – am besten nach London, denn es war allbekannt (und, so glaubte er sich zu erinnern, so etwas wie ein gängiger Scherz), daß intellektuelle Zeitfahrer unweigerlich im Buckingham-Palast landeten: sein Snob-Appeal, sein unbequemer Luxus, seine Brauchbarkeit als Treffpunkt zogen sie an. Aber im Jahre 1930 lag der Palast so dicht an der Gegenwart, daß niemand außer den Mitgliedern des Königlichen Hauses Windsor und ihrem Hofstaat dort sein würde. Nein; der, an den er dachte, könnte durchaus ebenfalls fort sein ... aber weiter zurück in der Zeit, in einer Epoche, die für die große Masse der Zeitfahrer (abgesehen von solchen Ausnahmen und Einzelgängern wie Bush) leichter zugänglich wäre. Er glaubte, das Datum genau abschätzen zu können und bereitete sich innerlich darauf vor. Ehe er die Bergwerkssiedlung verließ, erlebte er noch eine Überraschung: der neue Leiter des kleinen Ladens, der erst zehn Tage da war, ließ eines schönen Abends um acht Uhr das Rouleau über der Tür hinunter, riegelte ab, drehte sich um und machte Joan einen Heiratsantrag. So jedenfalls deutete Bush ihre geschämigen Blicke, ihr Lächeln, ihre kurze Angst und seinen feierlich-zärtlichen Händedruck. Am nächsten Morgen kam der Bursche wie üblich angeradelt, holte einen Ring aus der Westentasche und präsentierte ihn Joan. Als er ihn ihr über den Finger
streifte, lächelte sie ihn mit verschleierten Augen an, schlang plötzlich den Arm um seinen Hals und legte ihre Wange an die seine. Bush grübelte lange über dieses einfache Mädchen nach. War es bloßer Opportunismus von ihrer Seite? War sie hartherzig und gleichgültig? Rein von außen betrachtet, konnte man ihre Handlungen sehr verschieden auslegen. »Das ist meine Geschichte, sie wird für mich gespielt«, sagte er sich. »Wenn ich meine eigenen Angelegenheiten erledigt habe, kann ich immer noch herkommen und nachsehen, wie es ihr geht – wenn ich Lust habe.« Die würden immer und ewig hier hokken, an der Kante des großen Moores. Und, wenn man es so sehen wollte, würde ihr Vater immer und ewig mit durchgeschnittener Kehle sterbend ins Unkraut rennen. Vielleicht würde Bush zurückkommen und kraft seiner neuen Göttlichkeit alles zum Guten wenden. Als er sein Zelt zusammengelegt, seine Habe eingepackt hatte und schon im Begriff war, sich seinen Schuß CSD zu verpassen, nahm er vorher noch Abschied von Joan. Sie war im Hinterzimmer und hakte Lieferscheine ab, die alte Oma saß in der Ecke und kaute mit der fürchterlichen Freundlichkeit eines mittelalterlichen memento mori auf ihren falschen Zähnen herum. Bush hob die Hand und grüßte all das Bittere
und Süße, schon halb benommen von der Wirkung der Droge. Er dachte, daß er in seiner eigenen Epoche, unter Menschen, die er anfassen und mit denen er reden konnte und die er vermutlich besser ›verstand‹ als diese kleine unterernährte angewelkte Jungfrau, oft viel einsamer gewesen war. Aber verglichen mit dem ›Wunder‹ ist Verstehen etwas Armseliges. Er wollte nicht vor ihren unsehenden Augen verschwinden und ging hinaus. Über ihm schwirrte ein Kuckuck in parabolischem Fluge, wie aus einer großen, gefiederten Kanone geschossen, zum nackten Horizont des Moores. Bush verschwand aus der Landschaft, wie ein Geist verschwindet.
2 – Der große viktorianische Palast Er stand unter hohen Ulmen und wußte: das ist der richtige Ort. Seine Dunkle Frau stand in der Nähe, sehr schattenhaft – tausendmal wurde ihre Gestalt von Vorübergehenden ausradiert. Wo die Ulmenreihe zu Ende war, stand ein großer kristallener Springbrunnen, dessen Wasser sich in einen runden Teich ergoß. Springbrunnen, Teich und Ulmen waren von einer mächtigen gläsernen Arkade umschlossen und von bizarren Statuen flankiert. Dank der Leidenschaft, die in seiner Jugend für alles Viktorianische geherrscht hatte, erkannte Bush ohne Schwierigkeiten Zeit und Ort: das war das Jahr 1851, als zum Ruhme des Aufschwungs und Reichtums Groß-Britanniens die Große Weltausstellung veranstaltet wurde. Er ging hinüber und blieb bei einer riesigen Statue stehen, die ihn ebenso fesselte wie die Menge der Schaulustigen. Es war eine deutsche Statue aus Zink und stellte eine hehre Amazone dar, die bloßbrüstig auf einem sattellosen Hengst ritt. Sie war im Begriff, ihre Lanze in einen Tiger zu schleudern, der sich aus Gründen, die er selbst am besten kennen mußte, veranlaßt gesehen hatte, auf und über die Schulter des Hengstes zu klettern. Die Viktorianer waren in Malerei und Plastik die
Meister des »Was kommt jetzt?«, sie konnten eine Zeitsekunde in eine Frage einfrieren, aber ihr Können war verloren und dem Spott anheimgegeben, als Fotografie und Kino und Lasoid aufkamen – Techniken, die unbedingt auf die Frage antworten wollten, statt sich damit zufriedenzugeben, sie zu stellen. Nun war er in seinem eigenen Leben und in eigener Person mit dieser Frage konfrontiert und mußte sie durch die Tat beantworten. Die Dunkle Frau beobachtete ihn. Da sie von ihrem Aussichtsturm die Zeit überschauen konnte, mochte ihr die Antwort auf die Frage »Waswird-mit-Eddie-Bush?« recht wohl bekannt sein. Ein sonderlich trostreicher Gedanke war das nicht; es war ihm angenehmer zu glauben, sie wisse auch nicht besser als er selbst, ob die Amazone oder der Tiger die Schlacht gewinnen würde. In seiner persönlichen Gleichung steckten noch andere Was-kommt-jetzt-Unbekannte. Beim Herumlungern an der großen Zinkplastik entschied er, daß die erste Silverstone alias Stein betreffe. Er war zur Liquidation Silverstones ausgebildet worden. Offensichtlich besaß dieser Mann etwas, das ihn für das Gleason-Regime gefährlich machte – und für Bush in seiner jetzigen Stimmung verdiente dieses Etwas jede Unterstützung. Es war also seine Pflicht, Silverstone zu finden und zu warnen – wenn Silverstone noch lebte –, denn wenn Bush auch aus persönlicher Erfah-
rung wußte, daß Silverstone sich recht gut selbst schützen konnte – inzwischen waren bestimmt ein paar Gleason-Agenten auf seiner Fährte. Die Zeitfahrer der Volks-Aktionen würden alle Epochen infiltrieren, um nach Silverstone und anderen potentiellen Unruhestiftern zu suchen; vielleicht stand Bush selbst inzwischen ebenfalls auf ihrer Liste. Durch diese Überlegungen kam er aus dem göttergleichen Höhenflug der Breedaler Zeit wieder auf die Erde zurück. Der wahrscheinlichste Ansatzpunkt für die Suche nach Silverstone war der Buckingham-Palast. Unsichtbar schob sich Bush durch die Menge. Selbst in diesen Momenten äußerster Konzentration fand er Zeit, sich an der Vielfalt, den Sonderbarkeiten, dem Glanz dieser Menschenmenge zu erfreuen, so verschieden war sie von den herunternivellierten Massen seiner Eigenzeit. Draußen war die Menge sogar noch pittoresker. Da standen Wagen, private wie auch solche zur öffentlichen Vermietung, lederbekleidete Männer hielten die Pferde, feine Herren ritten einzeln und in Gruppen vorüber. Bush dachte, diese Viktorianer seien am stärksten sie selbst, wenn Pferde, diese dunklen, zweideutigen Geschöpfe, in ihrer Nähe seien. Er wünschte, er könne reiten und hätte eins, da würde er Zeit sparen. Die prächtige Glas- und Eisenfront des Kristallpalastes mit ihren reihenweise flatternden Fahnen blieb
hinter ihm, als er den Hyde Park durchschritt und Rotten Row hinunterging. Elegante Gigs fuhren dort entlang; er ging ihnen aus dem Wege, obwohl sie ihm keinen Schaden tun konnten. Irgendwo in dieser Menschenwildnis hatte Turner gearbeitet, der große Turner, dessen Gedanken zu lauter gelb- und schreiendroten Feuerausbrüchen wurden, ein Künstler, der alles gewesen war, wovon Bush nur träumte: einer, der seine Zeit und sich selbst verzehrte und durchdrang. Irgendwo hier könnte er sein, der alte, versoffene Turner seiner Spätzeit – eben dieses Jahr war sein Todesjahr – und sich für solche hochverräterischen neuen Techniken wie Fotografie interessieren, und, wenn er die Weltausstellung besuchte, würde er zweifellos die reitende Zink-Amazone anlächeln. Bush wollte nicht mehr daran denken. Eines Tages, so versprach er sich, würde er voll und ganz Künstler sein, aber vorher galt es noch, ein paar historische Notwendigkeiten aus dem Wege zu räumen. Nun aber waren alle seine Sinne wachsam. Als er dem Palast näherkam, paßte er genau auf, ob er jemand aus seiner eigenen Zeit erblicken konnte; er wußte, selbst aus einiger Entfernung würde er sie an ihrem dumpferen, verstaubteren Aussehen erkennen; sie sahen aus, als fehlte es ihnen und nicht der Szene, in der sie sich bewegten, an Realität.
Wachtposten zu Pferde paradierten vor dem ornamentenüberladenen Bau; hochmütig sahen die Tiere, auf denen sie saßen, durch Bush hindurch. Er schlüpfte an ihnen vorbei auf das Areal des Palastes und arbeitete sich vorsichtig zur rückwärtigen Front, wo eine Kolonne von Frachtwagen und Karren aufgefahren war. Diener und Träger entluden sie geschäftig und brachten die Waren in die Küchen des Palastes. Aus einem der Wagen wurde, wie Bush bemerkte, Wildgeflügel ausgeladen – Moorhühner, Fasanen, Rebhühner. Sie lagen auf Tragbrettern, von mächtigen Blöcken schmelzenden Eises umgeben, deren Wasser das schon zerzauste Gefieder der Vögel dunkel verfärbte. Von einem anderen Wagen wurde ein Stapel Puten abgeladen. Bush schaute weg; er befand sich noch im Stande der reinen Unschuld, und der Anblick von soviel kleinlichem Tod störte ihn. Der Buckingham-Palast stand schon sehr lange. Selbst für Zeitfahrer waren seine Mauern so voller Substanz, daß sie wie gewöhnliche in der Zeit gefangene Sterbliche durch die Türen gehen mußten. Waren Agenten von der Volks-Aktion hier, dann würden sie folglich die Türen unter Beobachtung halten. Er ließ seine Blicke über die Männer in Livreen und Schürzen schweifen. Als eine Kiepe mit toten Fasanen hineingetragen wurde, sah er einen Mann mit hineingehen, der ebenfalls eine trug, einen Mann mit blauer
Schürze und einem flotten, krausen Schnurrbart. Er sah gegen den Hintergrund etwas grau aus. Eben als Bush genauer hinsah, verschwand er im Gebäude. Am Farbton konnte Bush erkennen, daß er aus einer Zeit kam, die Bushs eigener Gegenwart bis auf ein oder zwei Jahre nahe sein mußte – einer von Gleasons Agenten, zweifellos ... Oder einer von Silverstones Leuten? Bush mußte erst noch herausbekommen, ob Silverstone auch schon eine Organisation aufgezogen hatte. Aber ob er nun auf Gleasons oder Silverstones Männer stieß – weder die einen noch die anderen würden ihn, das konnte er sich vorstellen, freundlich behandeln. Am besten war es, im Palast unterzutauchen, ehe der Gegner von seinem Hiersein Wind bekam. Bush ging rasch an den Lakaien vorbei in den Palast. Er geriet in ein Labyrinth von Dienstbotenquartieren und Spülküchen – die kleine Dame, die in diesem Kaninchenbau wohnte und von dort ihr Land sowie eine Menge ferner und fernster Länder regierte, hielt sich wahrscheinlich öfter in Indien als in dieser Gegend auf – oder irrte er sich? Waren in dieser Epoche schon Luftschiffe im Gebrauch? Er glaubte nicht, aber seine Geschichtskenntnisse waren in diesem Punkt unsicher. Er kam zu einer Dienertreppe ohne Teppichläufer und stieg sie ungeschickt hinauf – Treppen machten
bei Zeitreisen immer Schwierigkeiten. Im ersten Stock gelangte er an einen kahlen Treppenabsatz und trat rasch in eine Nische, weil eine Gruppe Frauen auftauchte. Drei Zimmermädchen in ihrer steifgestärkten Diensttracht – sie marschierten tatsächlich im Gleichschritt, und neben ihnen stolzierte – Bush mußte an Sergeant Pond denken – ein pompöses Frauenzimmer, wahrscheinlich eine Unterhaushälterin, prächtig anzusehen in feierlich purpurrotem Kleid, das um ihre Füße rauschte. Die Zofen hielten vor allen Zimmern auf diesem Flur; vor jeder Tür trat eine aus der Reihe und öffnete sie für ihre Vorgesetzte, worauf diese mit den beiden anderen in das Zimmer ging, vermutlich um die Sauberkeit zu kontrollieren. Bei dem dämmerigen Licht war schwer zu sagen, ob diese Gestalten aus ihrer eigenen Zeit stammten. Bush riskierte es. Er konnte dort nicht stehenbleiben, bis die Schlafzimmerinspektion vorbei war. Kühn schritt er an ihnen vorüber. Sie blickten überhaupt nicht hin, er war weniger als ein Gespenst. Am Ende des Flurs war eine Schwingtür. Er ging hindurch und befand sich in einem breiteren und luxuriöseren Korridor. Es war noch so früh, daß außer der Dienerschaft noch kein Mensch auf den Korridoren war. Ihm fiel die viktorianische Sitte ein, das Frühstück bis halb elf oder noch länger auszudehnen. Als er den Flur entlangging, sah er in die daran lie-
genden großen Staatszimmer: schwere Vorhänge an den Fenstern, üppige Teppiche auf den Fußböden, reichgeschnitzte schwere Tische und Stühle, riesige Topfpflanzen. Er durchschritt Korridor auf Korridor und wußte schließlich nicht mehr, wo er war. Ihm fiel ein, daß die Intellektuellen gern in Prinz Alberts Rauchsalon ihre Zelte aufschlugen, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wo dieser war. Verwirrung beschlich ihn jetzt. Gleasons Agenten wußten wahrscheinlich schon um seine Anwesenheit. Es hing von ihm ab, so gut wie möglich für jeden Zwischenfall gerüstet zu sein; seine Waffen waren jedoch noch im Rucksack. Er bog in einen Seitengang, wo es nicht so hell war. Ein Zimmermädchen kam ihm entgegen. Nervös drückte er sich in die nächste Türnische. Das Mädchen folgte ihm. Sie faßte ihn am Arm. »Eddie! Krieg keinen Schreck! Ich bin's!« Wie lange war es her, daß er eine andere Stimme als seine eigene gehört hatte? Wieviele hundert Jahre? Er sah, daß ihr Luftlecker als Brosche an ihrem gestärkten Kleid kaschiert war. Ihr Haar war unter dem Zofenhäubchen versteckt, ihr Gesicht so ungewaschen wie immer. »Ann, Ann! Bist du es wirklich? Vor Jahrmillionen bist du mir doch beim Amnion-Ei weggelaufen!« Er schloß sie in die Arme, er wußte nicht genau, was
er für sie fühlte – das hing davon ab, was sie für ihn fühlte. Sie fühlte sich etwas gläsern an, ihre Stimme kam etwas dünn durch die Entropie-Schranke, aber sie kam aus einer Gegenwart, die so dicht bei der seinen lag, daß sie ihm vollkommen wirklich vorkam. »Was machst du hier?« fragte sie. »Und du?« »Ich habe eine furchtbare Zeit hinter mir.« Sie schob ihn zum nächsten Zimmer, und sie schlüpften hinein. Es war ein kleiner Raum mit einem großen Kamin, in dem ein Feuer knisterte, das auf diese kalte, morgendliche Art brannte – keine glühenden Kohlen zu unterst, so daß es nicht weiterbrennen würde, wenn es etwas heruntergebrannt war. Eine rundliche Frau mit einem Schlüsselbund am Gürtel saß, ihren Rücken den gelben und blauen Flammen zugekehrt, an einem kleinen Escritoire und schrieb an einer Liste irgendwelchen Haushaltsbedarfs. »Was sollen wir hier?« »Das ist die Haushälterin. Das ist eins von den Zimmern neben dem Bedienten-Aufenthaltsraum, wo Zofen und Lakaien von Besuchern empfangen und bewirtet werden können. Beruhige dich doch, Eddie! Man könnte meinen, du freust dich gar nicht, daß wir uns getroffen haben.« Das Ganze gefiel ihm nicht. Als sie sich zuletzt gesehen hatten, war sie ihrer Umgebung gegenüber völ-
lig indifferent gewesen. Dieses Scheibchen GratisInformation, das sie ihm da servierte, machte ihn sofort mißtrauisch. Er nahm seinen Rucksack ab. Er wollte an seine Waffen heran. »Du bist mir damals im Jura beim Amnion-Ei weggelaufen. Wohin bist du gegangen?« »Ich bin dir gar nicht weggelaufen, Süßer. Ich bin ein dutzendmal zurückgekommen und habe dich gesucht – dauernd habe ich deinen Freund gefragt – diesen schicken Mann –, ob er dich gesehen hat, aber du warst weg und hast mich alleingelassen.« »Damit ist immer noch nicht geklärt, warum du zuerst abgeschwirrt bist.« Er fühlte die Lichtpistole in einer Innentasche seines Rucksacks und steckte sie in seinen Anzug, in der Hoffnung, Ann würde nicht sehen, was er tat. »Ich traf meinen alten Freund, Lenny, und ein paar von seinen Kumpels. Die nahmen mich mit, und ich konnte nicht eher weg, als bis sie eingeschlafen waren.« »Das könnte allenfalls eine Erklärung sein.« »Zum Teufel mit dir – das ist die Erklärung. Außerdem bedeute ich dir doch gar nichts. Ich war doch bloß ein Zeitvertreib für dich. Lenny hat mich wenigstens gebraucht.« Er sagte tonlos: »Damals habe ich dich gebraucht. Und heute brauchst du anscheinend mich. Wie
kommt es, daß du im Jahre 1851 bist?« Die Erwähnung Lennys hatte ihm nicht gefallen, weil sie ihn daran erinnerte, wie Lenny, zusammengekrümmt wie ein Foetus, blutverschmiert in der Folterkammer gelegen hatte. Wenn sie davon wußte – wie hatte das auf sie gewirkt? Jetzt war sie wieder so stachlig wie sonst. Sie schmiß ihre Zofenhaube auf den Tisch neben ihr; die Haube fiel durch die Tischplatte und landete auf dem Fußboden. »Ich brauch dir überhaupt nicht auf deine Fragen zu antworten, weißt du das? Wenn du mir nicht helfen willst – na dann eben nicht; aber es hat keinen Sinn, wenn du mir Löcher in den Bauch fragst und mir dann kein Wort glaubst. Ich merk doch an deinem ganzen Benehmen, daß du über irgend was sauer bist, oder?« »Ich habe dich gefragt, was du im Jahre 1851 zu suchen hast.« »Na, du weißt doch, wie es hinten in der Gegenwart aussieht. Die neue Regierung ist gemein. Sie versuchen, alle Zeitfahrer einzufangen, nehmen ihnen das CSD weg und halten sie in ihrer eigenen Epoche fest. Im Jura haben sie alle Zeitfahrer geschnappt – die Armee arbeitet in Zivil, da merkt man sie nicht, bis sie einen haben. Sie haben Lenny und seine Jungs in die Gegenwart zurückgebracht, aber
ich konnte auskratzen – du weißt ja, daß ich sehr gut transzendiere –, und da bin ich hierhergekommen, weil ich dachte, hier ist es am sichersten. Na, bist du jetzt zufrieden?« Die Haushälterin ging im Zimmer umher. Obwohl Bush sicher war, daß sie zu ihrer eigenen Zeit gehörte und gar nichts mit ihm zu tun hatte, machte ihr Herumgehen ihn nervös. Er zog die Lichtpistole und zielte auf Ann. »Nein, ich bin nicht zufrieden«, sagte er. »Du verbirgst etwas. Woher wußtest du, daß ich ins Jahr 2093 zurückgekehrt bin?« Sie sah ängstlich aus. Mit kläglich verzogenem Munde blickte sie ihn an. »Was ist los mit dir? Bist du verrückt, Bush? Ich habe nicht gewußt, daß du in 2093 warst. Das hab ich doch nie gesagt, nicht wahr?« »Du hast gesagt, ich wüßte, wie es hinten in der Gegenwart aussieht.« »Man braucht doch nicht dortgewesen zu sein, um zu wissen, wie es da aussieht. Du traust mir ja nicht über'n Weg! Ich war auch nicht dort und weiß doch Beschied.« Er mußte zugeben, daß das plausibel klang. Aber da war noch etwas. »Du hast gesagt, sie haben Lenny und die anderen Thirts geschnappt. Welche anderen?«
»Ihre Namen meinst du? Pege, Jackie, Josie ...« Sie rasselte die Namen herunter. »Stein?« Sie leckte sich die Lippen. »Eddie, bitte, du machst mir Angst!« Er zielte immer noch auf sie. »Stein?« »Ich habe Stein im Jura nicht gesehen. Du etwa?« »Wo ist er jetzt?« »Eddie, ich weiß nicht.« »Warum bist du hergekommen?« »Ich hab es dir doch gesagt. Ich dachte, hier war ich sicher.« Er faßte sie am Arm, starrte ihr ins Gesicht, fühlte ihren Körper an seinem. »Hör mal, du weißt ja, mit mir ist nicht zu spaßen! Sag mir gefälligst – ist Stein hier?« Sie drehte sich angstvoll zu ihm um. »Eddie, Eddie, sei doch nicht so grausam zu mir. Ich weiß, du bist ein böser Mensch, aber ich würde dir nie schaden wollen ...« Er schüttelte sie. »Ist der verdammte Stein hier, habe ich dich gefragt.« »Ja, ja, er ist hier – unter seinem richtigen Namen.« »Silverstone?« »Ja.« Er durchsuchte sie. Unter ihrer Schürze hatte sie eine altmodische Gaspistole. Es erregte ihn, ihren
Körper zu betasten, und er konnte sie riechen – das erste, was er seit langer Zeit gerochen hatte; aber er konzentrierte sich auf sein Tun. Während er sie anstarrte, schritt die Haushälterin durch sie beide hindurch in einen Nebenraum. »Du bist hergekommen, um ihn zu töten, nicht wahr, Eddie? Du arbeitest als Agent für die anderen.« Sie schloß die Augen vor Angst, seine Antwort zu hören. Er sah, wie schmächtig sie war, tatsächlich nicht kräftiger als Joan Bush, trotz ihrer ganz anders gearteten Persönlichkeit. Er sah, daß sie genau wie Joan in den Zeitumständen gefangen war. Wenn er sie auch niemals lieben konnte, tat es ihm doch leid, sie so zu behandeln. »Ann, ich wurde hergeschickt ... ich wurde hergeschickt, damit ich Silverstone umlege. Du mußt mich zu ihm bringen. Du weißt, wo er ist, nicht wahr?« Sie war nervös, biß sich auf die Lippen und blickte zum Fenster hinaus, als ob der triste Sonnenschein des neunzehnten Jahrhunderts eine Botschaft für sie hätte. »Hör zu, Eddie, ich weiß, du bist böse, du hast es ja vorhin selbst gesagt, aber – bitte, hab nur fünf Minuten lang Vertrauen zu mir. Kannst du hier warten? Ich verspreche dir, daß ich wiederkomme. Ich weiß, du traust mir nicht, aber ich verspreche es.« »Silverstone ist also hier? Ich merke es.«
»Ja, er ist hier.« »Also, in fünf Minuten! Bring Silverstone hierher! Sag nicht, wer ich bin, komm nicht mit irgend jemand anderem an, sag keinem, daß ich hier bin. Hast du verstanden?« »Ja, Eddie, ja. Bitte vertrau mir.« »Wie meiner Mutter.« Sie starrte ihn an, als spüre sie eine verborgene Bedeutung in diesen Worten. Dann drehte sie sich um und ging. Sie hatte bestimmt nichts Gutes im Sinn, was immer es auch sein mochte. Er glaubte, in ihrem Wesen irgendeinen Vorbehalt zu entdecken, als hätte ihr jemand einen Willen aufgezwungen, der nicht ihr eigener war, und Bush wußte, wer dieser Jemand war, oder glaubte es wenigstens zu wissen. Wenn die Bullen von der Volks-Aktion sie zusammen mit Lenny geschnappt hatten, dann war sie vermutlich auch zu einer Art Ausbildungslehrgang kommandiert worden, so wie er selbst und Lenny. Wenn sie dabei ihre labile Persönlichkeit und dazu ihren weiten Transzendierungsrahmen entdeckt hatten, dann könnte sie dazu ausgebildet worden sein, Silverstone zu töten, genau wie er. Aus diesem Grunde hatte er ihr seine wahren Absichten nicht enthüllt. Sein Hirn arbeitete mit fieberhafter Schnelligkeit; er sah das Spinngewebe, das von der Gegenwart her über die unwissende Vergangenheit gespannt war.
Wenn die Regierungsleute gemerkt hatten, daß er in den Jahrhunderten untergetaucht war, dann würden sie Ann nicht allein hinter ihm herschicken. Es würde jemand geben, mit dem sie reiste, wie sie ja auch mit Lenny und Bush gereist war. Aus dem gleichen Grund würde sie auch in fünf Minuten mit jemand anderem zurückkommen. Bestimmt waren mehrere Agenten der Aktion im Palast; bestimmt würde sie einen mitbringen, selbst wenn Silverstone käme. Vielleicht würden sie abwarten, ob er Silverstone erschösse; vielleicht war das die einzige Möglichkeit für ihn, seiner eigenen Exekution zu entgehen. Der Vorteil der Initiative lag bei ihm: sie wußten nicht, was er tun würde, aber er wußte es – er würde alles tun, um Silverstone zu retten. Und es war nicht seine Absicht, hier stehenzubleiben und sich in diesem Vorzimmer schnappen zu lassen. Er traute Ann nicht, hatte es nie getan, selbst damals nicht, als er mit ihr zusammengelegen hatte – das war mehr Sport, Herausforderung gewesen als Zuneigung. Sie war eine Thirt und ebenso labil wie er selbst. Er steckte ihre Gaspistole in seine linke Tasche, nahm die Lichtpistole in die Rechte und ging dann durch die Tür. Gegenüber, auf der anderen Seite des Korridors, befand sich ein Arbeitsraum. Die Tür stand offen. Es
war ein ziemlich großes Zimmer. Zwei ältliche Frauen in gestärkten weißen Leinenschürzen bügelten Wäsche. Die massiven eisernen Bügeleisen wurden auf einem langen Rost erhitzt. Mit einem raschen beiläufigen Blick erfaßte er das rote Monogramm in den Ecken der Laken: ein VR mit der Krone darüber. Er drückte sich in die Türnische und beobachtete den halbdunklen Korridor. Er merkte, daß die Gefahr ihn reizte. Auf diese Weise blieb man wenigstens in Kontakt. Das Warten dämpfte seine nervös-euphorische Stimmung. Natürlich konnte er jederzeit in das Jahr 2093 zurücktranszendieren; aber da würden sie schon auf ihn warten. Und wenn er sich widerstandslos ins Devon, ins Cambrium sinken ließe, würde sein neugefundenes Zeitbewußtsein auch dort bei ihm sein, ein zeitloser Gefährte. Wie lang war doch die Zeit, sogar die menschliche Zeit! Alles in allem war es ihm lieber, wenn er es im Buckingham-Palast auskämpfen könnte. Jemand rannte den Korridor entlang. Bush hörte die raschen Schritte und dachte: »Mein Gott, er ist verrückt!« Er drückte sich vor dem Näherkommenden, wer es auch immer sein mochte, in die dunkle Nische hinein. Ein Mann tauchte auf, kurze blonde Haare hingen lose um seinen Schädel, ein ansteckendes breites Lä-
cheln spaltete sein Gesicht. Er hielt Bush die offene Hand hin. Die Geste war von so spontaner Freundlichkeit, daß Bush sie lächelnd erwiderte, schon ehe ihm bewußt wurde, wer der Mann war: dieser Fremde war sein bester Freund. »Du!« »Ich.« Das war er selber, göttergleich der Zeit entschwebt, um sein Vorhaben zu segnen! Das war eine Art Liebesaustausch; er war überwältigt, diese Ausdehnung seiner selbst zu sehen und zu fühlen, er brachte kein Wort hervor. Aber die Vision hatte nur einen Augenblick Bestand, dann sprang sie, wie ein scheuendes Pferd, tief in das Unterbewußtsein zurück. Das Bild war von seiner Netzhaut, das Gefühl von seiner Hand weggezaubert. Die Nische war wieder leer, und sein zukünftiges Selbst mischte sich wieder in die Zeit ein, wie eine Karte sich ins Spiel einmischt. Er spürte, wie ein Schluchzen in seiner Kehle hochkam und stechende Tränen in seine Augen stiegen. Er hatte grade noch Zeit, sich zu fassen, da kamen schon andere Geräusche im Korridor auf ihn zu. In der tiefen Tonlosigkeit hörte er Schritte, gedämpft, wie Zeitfahrer gehen. Er drückte sich tiefer in den Schatten, damit seine Silhouette nicht im Licht der offenen Tür, hinter der die Frauen ihre Bügeleisen schwangen, zu sehen wäre.
Es würde eine Befriedigung sein, Silverstone so anzuspringen, wie der ihn damals im Jura angesprungen hatte – zweifellos hatte er ihn damals für einen von Stanhope, Howes und so weiter ausgebildeten Mörder gehalten: eine Art hellseherischer Irrtum. Zwei Gestalten tauchten auf und blieben einen Meter vor Bush stehen. Er sah sofort, daß sie seiner eigenen Zeit angehörten, obgleich sie beide viktorianisch gekleidet waren. Die eine war Ann; sie trug noch ihre Zofentracht. Die zweite Gestalt war ein Herr im Cutaway und weißer Weste. Bush konnte sein Gesicht nicht deutlich sehen, denn er blickte scharf auf Ann; er sah nur einen glatten Backenbart, doch sah er sofort, daß es nicht Silverstone war. Die beiden gingen durch ein Vorzimmer in den Steward-Aufenthaltsraum. Bush ging hinterher und hob seine Lichtpistole. »Hände hoch!« sagte er. Sie wandten sich erschrocken um. Da sah er das Gesicht des Mannes. Selbst unter dem Bart war es unfehlbar zu erkennen. Und der Kerl hatte auch eine Perücke auf, die seine Glatze verdeckte. Einst hatte er Bush mit einer Flasche Black Wombat Special bestochen. Er hatte Bush den Befehl zu seiner Mord-Mission gegeben. Er war einer von denen, die am meisten darauf erpicht sein würden, Bush zu töten, wenn dieser seinen Auftrag nicht ausfüllen würde. Sein Name war Howes.
Wenn Ann ihn hergebracht hat, dachte Bush, dann hat sie mich verraten. Wie allen Frauen kann man auch ihr nicht trauen, sie liebt mich nicht. Er schoß. Sie war nur anderthalb Meter von ihm weg, und sie fiel, als der dünne Lichtstift sie schneidend durchfuhr. Er schwenkte seine Pistole zu Howes hinüber und sah, wie dieser seine Waffe zog. Er sah die Pistole hochgehen und auf ihn zielen; er sah, wie sich Howes' Gesichtsausdruck veränderte, als dieser auf den Abzug drückte. Und die ganze Zeit ging Bushs Arm langsam, ganz langsam nach oben, wie der Arm eines Toten im Wasser, und Ann lag noch zu seinen Füßen, die blonden Haare lagen wie ein Schleier über ihrem Gesicht. Er sah, wie Howes' Pistole losging, und dann fiel er über Ann, ausgelöscht wie sie.
3 – Unter den Röcken der Königin »Sie haben Wordsworth zitiert«, sagte Howes. »Stehen Sie auf!« Der Brechreiz hatte Bush aus einer schmierigen und verwühlten Bewußtlosigkeit hochgerissen. Er setzte sich auf, immer noch schwer atmend. Howes hatte eine Gaspistole benutzt; ihre Wirkung war unerfreulich, aber nicht tödlich. Bush faßte sich an die Stirn und wünschte beinahe, es möchte umgekehrt sein. Howes hatte ihn in ein Schlafzimmer gezerrt, ein riesiges, selbst für viktorianische Verhältnisse etwas exzentrisch möbliertes Zimmer, mit einem Messingbett an der einen und einem massiven Kamin in nachempfundenem Cinquecento an der anderen Wand, den zwei trauernde Damen und eine überraschende Anzahl minderer Cherubim aus Gußeisen zierten. Bush starrte verwirrt ... er brauchte anscheinend nur noch so ein Schrecknis, um völlig die Orientierung zu verlieren. Er sah das Ding aus nächster Nähe, denn er lag auf einem riesigen Eisbärfell, dessen Haare er jedoch nicht spüren konnte. »Mein Gott, ich habe Ann getötet«, sagte er und wischte sich das Gesicht ab. Howes stand über ihm. »Ich habe Sie gesucht, Bush! Was haben Sie mir zu sagen?«
»Ich spreche mit Ihnen, wenn ich aufstehen kann, eher nicht.« Howes faßte ihn am Arm und zog ihn hoch. Im Aufstehen schlug Bush zu. Aber die Wirkung der Gaspistole war noch nicht völlig abgeklungen. Er konnte keine Kraft in den Schlag legen, und Howes wehrte ihn mühelos ab. »Also schön, Bush, Sie stehen auf Ihren Füßen! Hier gibt es Ärger, und ich will wissen, wo Sie sich verkrochen haben, seit sie aus 2093 abgereist sind. Los, reden Sie!« »Ich habe weder Ihnen noch irgend jemanden Ihres Regimes etwas zu sagen.« »Ich habe den Verdacht, Sie wissen nicht, auf welcher Seite ich stehe, oder auf welcher Seite Sie selbst stehen.« »Über mich bin ich mir klar genug, dankeschön. Lecken Sie gefälligst Ihre eigenen Wunden!« »Na schön, fangen wir mit Ihnen an. Warum haben Sie Ann erschossen?« Das war eine Frage, die er nicht einfach beiseiteschieben konnte. »Sie wissen ganz gut, warum ich Ann erschossen habe. Ich habe sie erschossen, weil sie mich verraten hat. Ann hat Sie hierhergebracht, damit Sie mich umlegen, und erzählen Sie mir bloß nicht was anderes!« »Warum haben Sie denn nicht zuerst auf mich ge-
schossen, wenn ich es war, von dem Ihnen Gefahr droht?« Da Bush nicht gleich antwortete, fuhr Howes fort: »Ich werde Ihnen sagen, warum. Schon lange bevor ich Sie hinter Silverstone herschickte, habe ich mir Ihre Personalakte vom Wenlock-Institut angesehen. Sie sind, was Frauen anlangt, völlig verklemmt, weil Sie glauben, daß Ihre Mutter Sie irgendwie verraten hat; seitdem haben Sie immer die Tendenz gehabt, eine Frau zu verraten, ehe diese Sie verraten kann.« Bush, der den Drang fühlte, sich zu rechtfertigen, erwiderte: »Sie wissen nicht, was vorgegangen ist, Howes. Ich konnte Ihren verdammten Befehl nicht ausführen. Ich war außerhalb Ihrer Reichweite, ich meditierte, ich habe die Probleme einer in der Geschichte verlorengegangenen Familie gesehen, ihre Hoffnungen, ihre Leiden. Da gab es eine Frau, für die ich alles getan hätte, um ihr zu helfen.« Howes ging auf diese Ausführungen nicht ein. Bush hatte oft probiert, mit einem vorherigen Selbstbekenntnis den Gegner zu entwaffnen; das klappte nie, und doch war er so eingefahren auf seinem Kurs, daß er von dieser falschen Taktik nicht lassen konnte. »Sei dem wie ihm wolle. Sie sind ja völlig durcheinander. Ich werde Ihnen sagen, warum Sie diesen schweren Fehler mit Ann gemacht haben – und was ich in der Sache für eine Rolle spiele.«
»Zum Teufel mit Ihrem Predigen! Machen Sie ein Ende und schießen Sie mich tot, opfern Sie mich dem Großen Gleason – oder wer immer Ihr derzeitiger Boss ist!« Howes lehnte sich an die eichene Täfelung und erwiderte: »Ich habe sie hierhergebracht, um mit Ihnen zu reden, nicht um Sie zu töten. Ich bin in Schwierigkeiten, Bush, und ich bin nicht Ihr Feind, wenn ich auch keineswegs leugnen will, daß Sie mir nicht sonderlich sympathisch sind. Jetzt hören Sie zu: Ann hat Sie geliebt. Man kann sagen, sie hat ihr Leben für Sie hingegeben. Ich hatte Ann hierher ins Jahr 1851 geschickt, damit sie Sie aufspürt und tötet, ehe Sie Silverstone töten können – wir wußten, Sie würden trödeln, aber Sie würden irgendwann aufkreuzen, wenn es Ihnen paßt. Sie dachten, Ann wäre ein hartgesottenes kleines Luder – nicht wahr, das dachten Sie doch? Das war nur Pose, mit der sie ihr weiches Inneres schützte. Als sie Ihnen zufällig auf dem Korridor in die Arme lief, brachte sie es nicht fertig, Ihnen was zu tun. Sie kam zu mir und sagte mir Bescheid, und –« Bush stieß ein kurzes Lachen aus. »Sicher, Sie würden ihr die Arbeit schon abnehmen. Sehr weichherzig von ihr! Ich würde das Heuchelei nennen.« »Zweifelsohne. Sie begreifen die Situation nicht. Während Sie sich auf Zeitreise amüsierten, hatte ich, besonders in den letzten Monaten, zuviel auf dem
Hals, als daß ich mich um Sie hätte kümmern können. Aber als Ann kam und mir erzählte, wußte ich, daß Sie sich die Sache mit Silverstone anders überlegt haben – ich kenne Sie doch, ich habe doch recht, Bush, nicht wahr? Sie kamen doch her, um ihn zu warnen, nicht um ihn zu erschießen, nicht wahr? Ich sehe Ihnen das am Gesicht an, Mensch! Ich hatte mich hierher transzendiert, um Silverstone zu retten. Ich hoffte, Sie zum Verbündeten zu gewinnen – deswegen holte mich Ann nämlich – damit ich mit Ihnen sprechen konnte. Und Sie haben sie kaltblütig umgelegt!« »Sie schwindeln ja – das sind ja alles verdammte Lügen! Sie und dieser Idiot Stanhope haben mich doch überhaupt erst losgeschickt, um Silverstone zu erledigen. Tun Sie doch nicht auf einmal so, als ob Sie plötzlich auf der anderen Seite stehen!« »Nicht plötzlich, Bush! Mein moralisches Make-up ist von dem Ihren sehr verschieden! Ich stand immer auf derselben Seite – gegen Bolt oder Gleason und gegen alles, was die verkörpern –, wobei zu bemerken ist, daß sich Gleason zu einem viel schlimmeren Tyrannen entwickelt hat, als es Bolt jemals war.« Bush rieb sich den Nacken und starrte auf die schwarzen Damen am Kamin. »Sie sind ja verrückt, wenn Sie denken, daß ich das schlucke. Wozu tun Sie denn das alles?« »Silverstone besitzt ein Wissen, womit er die Akti-
ons-Partei stürzen kann ... und nicht nur die VolksAktion, sondern jedes andere totalitäre Regime. Wenlock hat man, wie Sie vielleicht wissen, in ein Irrenhaus gesperrt und hält ihn unter scharfer Bewachung. Er ist völlig gesund. Wenn er auch Silverstone früher als Rivalen betrachtet hat, sieht er ihn jetzt, nach alledem, was er gelitten hat, als seinen Verbündeten an. Es ist uns gelungen, ein paar von unseren Leuten in Wenlocks Bewacher-Mannschaft einzuschleusen. Wenlock gehört, ebenso wie Silverstone, zu den Schlüsselfiguren der kommenden Revolution. Und für diese Revolution arbeite ich.« Bush starrte ihn ungläubig an. »Das beweisen Sie erst mal!« »Sie selbst sind mein Beweis! Wie Sie wissen, war es meine Aufgabe, Killer und Agenten auszuschikken, die mögliche Regimegegner umlegen oder zurückbringen sollten. Ich habe das recht wirkungsvoll sabotiert, indem ich unfähige Offiziere beim Ausbildungslehrgang einsetzte – Sie haben ja selbst gesagt, daß Stanhope ein Idiot ist – und indem ich die falschen Leute für die einzelnen Jobs aussuchte. Sie als Silverstones Liquidator – das war mein Meisterstück.« Unerwarteterweise mußten sie beide lachen. Bush konnte immer noch nicht ganz akzeptieren, was der andere sagte; er hatte das unangenehme Gefühl, es
gäbe irgend etwas, das er nur erkennen müsse, um Howes zu widerlegen – aber andererseits war etwas in Howes' Miene, das ihm Vertrauen einflößte. »Angenommen, ich akzeptiere, was Sie sagen – wie geht es dann weiter?« Howes entspannte sich und steckte, etwas ostentativ, seine Pistole weg. Er hielt Bush die Hand hin. »Dann stehen wir auf derselben Seite. Wir müssen hier 'raus, und zwar mit Silverstone, ehe die Gangster von der Volks-Aktion ihn erwischen.« »Und Anns Leiche? Ich möchte sie gern nach 2093 zurückschaffen.« »Das kommt später. Das wäre jetzt zu gefährlich. Erst Silverstone.« Er umriß die Lage. Die neue Regierung nahm das Land immer fester in ihren Griff. Sie verbot Gewerkschaften und Universitäten gleichermaßen, verkündete ihre eigenen rechtswidrigen Gesetze, schränkte den Import scharf ein, führte Säuberungen durch. Einer von Howes' engsten Verbindungsleuten zur Revolutionsbewegung war erwischt worden. Howes sah, daß es Zeit war zu verschwinden – und in jedem Falle würde seine Anwesenheit bei den revolutionären Kadern in der Vergangenheit nützlich sein. So hatte er sich zusammen mit Ann aus seinem Schlupfwinkel hierher transzendiert. Sie brauchten eine ganze Weile, bis sie festgestellt
hatten, wo sich Silverstone aufhielt. Er hatte die Jurazeit verlassen, als dort die Suche nach Verdächtigen einsetzte, und hatte sich in verschiedenen Epochen verborgengehalten, bis er schließlich nach 1901 kam, der obersten Grenze seiner Transzendierungsfähigkeit. »1901 hat ihn deprimiert«, erklärte Howes mit einem halben Lächeln. »Er war ganz allein – das Mädchen, das er im Juraikum bei sich hatte, kann sich nicht so weit transzendieren –, aber er entschloß sich, den Buckingham-Palast zu seinem Hauptquartier zu machen. Nur hatte er unglücklicherweise gerade den Monat nach dem Tode der Königin erwischt, alles war schwarz verhangen, alle trugen schwarz. Das und die Tatsache, daß er weder mit jemandem sprechen, noch irgend etwas riechen konnte, war zuviel für Silverstone. Nach einer Weile hielt er es nicht mehr aus und kam schließlich bis hierher zurück, um etwas Gesellschaft zu haben. Wir trafen ihn beinahe sofort.« »Und was jetzt?« fragte Bush. »Wer ist Ihre Freundin?« fragte Howes und zeigte zum Bett hinüber. Bush schrak abergläubisch zusammen. Einen Moment lang glaubte er an Geister. Eine schattenhafte Frau stand hinter dem Bett; die blumengemusterte Tapete schimmerte durch ihren Körper. Dann erkannte er die Dunkle Frau.
»Wir sind nicht die einzigen Phantome in diesem Palast.« »Sie folgt uns. Wer ist sie?« »Ich nenne sie nur die Dunkle Frau. Sie folgt mir schon jahrelang. Manchmal ist sie nicht da, aber sie kommt immer wieder.« »Kein Privatleben, was?« Howes ging quer durch den Raum auf sie zu. Bush machte eine Bewegung, um ihn zurückzuhalten, hielt es dann aber für besser, nicht noch mal Streit anzufangen, und folgte ihm. Howes stand vor der Dunklen Frau. Sie war nebelhaft, kaum mehr als eine in die Luft gezeichnete Kontur. Bush hatte sich nie getraut, sie so genau anzusehen; sie war ihm wie ein Teil seines eigenen Charakters gewesen, dem er nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten wagte – etwas aus den Verliesen seines Sadismus Entsprungenes. Mit diesen Gedanken im Kopf fand er es gar nicht erfreulich, daß Howes sagte: »Sie sieht Ihnen ähnlich.« »Also weiter. Wo ist Silverstone jetzt?« »Sie spioniert uns nach.« »Was können Sie dagegen tun?« »Vermutlich haben Sie recht.« Als Howes sich abwandte, mußte Bush aus irgendeinem Grunde fragen: »Hat Ann mich wirklich geliebt?« Howes schlenkerte mit der Hand. »Mir kam es je-
denfalls so vor.« Er zuckte mit den Schultern, als hätte er noch mehr sagen wollen, fuhr dann aber in lebhaftem Ton fort! »Wir müssen Silverstone in Sicherheit bringen; der ganze Palast ist von der VolksAktion umstellt und infiltriert. Unglücklicherweise ist ein sicherer Ort für ihn schwer zu finden. Und ebenso unglücklicherweise hat sich Silverstone selbst als ziemlich schwierig erwiesen.« »Inwiefern?« »Er hat sich auf seinen Streifzügen durch die Zeit mit einer Bande Thirts 'rumgetrieben. Davon ist er etwas, hm, wild geworden. Und dann seine wissenschaftlichen Erkenntnisse – er will sie nur an die richtigen Leute weitergeben.« »Und?« Der Captain lachte verlegen. »Er betrachtet mich nicht als einen von den richtigen Leuten. Er traut dem Militär nicht. Warten Sie mal – Bush, Sie sind der richtige Mann! Sie sind doch Künstler! Zur Zeit ist er ganz verrückt nach Kunst! Los, weiter – ich gebe Ihnen dann das Stichwort! Wir müssen zusammenarbeiten.« Sie sahen sich etwas zweifelnd an. »Gehen Sie vor«, sagte Bush. »Wenn ich Ihnen Ihre Geschichte glauben soll, dann müssen Sie mir glauben, daß ich Sie nicht in den Rücken schieße.« Howes lächelte. »Ich weiß, Sie werden das nicht
tun.« Und wieder fühlte sich Bush durch den Gedanken irritiert, daß er (Bush) etwas wisse, was sein Hirn nicht freigeben wollte. Die ganze Situation kam ihm falsch vor, nachgemacht, so wie der Kamin ein nachgemachtes Jungferngrab und Howes ein nachgemachter viktorianischer Gentleman war. Er konnte das alles nicht klarkriegen; sein Gedankenablauf war blockiert durch die Last von Leid und Schuld, die er wegen Anns Tod zu tragen hatte. Als sie einen Moment zögerten, schwebte die Dunkle Frau an ihnen vorbei und verließ das Zimmer. »Man weiß nicht, wer sie ist, Bush. Vielleicht eine Regierungsspionin.« »Oder der Geist aller jener Frauen, die ich, wie Sie sagten, verraten habe.« Howes knurrte. »Also weiter!« sagte er. Im Hauptkorridor griff Bush nach seinem Luftlekker und schluckte mehrmals Luft. Ihm war, als müsse er ersticken. Nemesis mochte ihm dicht auf den Fersen sein, um seine Schulden bei Ann und Lenny zu kassieren – Nemesis in einer besonders nervenzersägenden Form, denn an diesem Ort waren die wirklichen Bewohner Geister, und die Geister waren wirkliche Menschen; unter den falschen Backenbärten konnte Leben oder Tod versteckt sein – und er folgte einem Mann, dem er nicht traute.
Unterwegs murmelte Howes ein paar Ratschläge. Bush nickte; antworten konnte er nicht. Die Stunde näherte sich, da die Berge von toten Vögeln und anderen Tieren serviert und verschlungen wurden; der Palast war voller Leben, und es waren relativ viele Menschen auf dem Korridor. Wenn Bush jetzt niedergeschossen würde – keiner würde es hören oder sehen, blind würden sie durch seinen Leichnam trampeln. »Silverstone ist in der westlichen Empfangshalle, vier Türen weiter«, sprach Howes über seine Schulter. Betreßte Fräcke mit großen Aufschlägen, Mieder mit Schößen, gestickte Westen, Röcke mit zahllosen Volants umgaben sie, und jeder zweite Gast hatte einen Lakaien des Königlichen Haushalts neben sich. Bush spähte ängstlich über die nackten Schultern und die Backenbärte nach einem eventuellen Mörder aus. Sie kamen an die Tür der Empfangshalle. Die Gäste strömten den teppichbelegten Korridor hinunter. Vor der Tür der Empfangshalle stand ein Mann in Livree, der von tieferem Schattenton zu sein schien. Bush hob seine Pistole; Howes machte ein Zeichen, er solle nicht schießen. »Einer von unseren Leuten.« Er wandte sich dem Wächter zu und fragte: »Alles in Ordnung?« »Silverstone ist drin. Keine Zwischenfälle; der Gegner muß wohl draußen im Freien warten.«
Howes runzelte die Stirn. »Verstehe nicht, was sie davon haben.« Er tat die Sache mit einem Achselzukken ab und drückte sich durch die halboffene Tür. Voller düsterer Ahnungen starrte Bush den Türsteher an, er kannte den Unterschied zwischen Freund und Feind nicht mehr, vielleicht hatte er ihn nie gekannt. Er wußte nur, daß er diesen Raum nicht betreten wollte – aber einen Mann niederschlagen, den Howes wahrscheinlich gut kannte, wollte er auch nicht, das hätte das Unternehmen nur verzögert. Er überwand seine Bedenken und gab sich das Versprechen (über das er innerlich selbst lachen mußte), sich einen gloriosen Nervenzusammenbruch zu leisten, sobald er aus diesem Mist heraus war, ging dicht hinter Howes durch die Tür, wurde drinnen sofort ergriffen und bekam einen Schlag in den Magen. Er hatte die Vision eines häßlichen zähnebleckenden Gesichts, von Beinen, von seiner rechten Hand, die krampfhaft den Abzug der Lichtpistole preßte, und dann vom Fußboden, der auf ihn zukam und wie ein üppiger türkischer Teppich aussah, obwohl er sich so gläsern-gummiartig anfühlte, wie alle Fußböden auf Zeitreisen. Er kämpfte um seinen Atem und quälte sich dabei in eine halbsitzende Stellung – er mußte an Lenny denken, der auch so dagehockt hatte – und richtete sich dann zum Sitzen auf. Sofort kam jemand und knuffte ihm eine Pistolenmündung in
den Nacken. Verkrampft saß er da und überlegte, was er wohl fühlen würde, wenn diese Pistole losginge. »Wer ist der Kerl?« fragte jemand. »Freund von mir«, sagte Howes. Vorsichtig blickte Bush sich um, wobei er nur die Augen bewegte und den Kopf möglichst still zu halten suchte. Eben kam der verräterische Türsteher hinein. Seine Genossen im Zimmer waren fünf an der Zahl. Vier hatten in einer Reihe neben der Tür gestanden und beugten sich jetzt über Howes und Bush. Sie waren sämtlich als viktorianische Gentlemen verkleidet, doch verriet ihre aschige Gesichtsfarbe, daß sie aus dem Jahre 2093 kamen und unter Lichtausfall standen. Sie sahen intelligent aus – aber sie konnten auch kaum Dummköpfe sein, wenn sie sich ins Jahr 1851, so dicht an die Gegenwart, transzendieren konnten. Einer beugte sich vor und riß Howes Perücke und Backenbart herunter. Er sah nackt und hilflos aus, wie er so am Boden lag und eine Pistole auf ihn zielte. »Das ist Ihre Schuld – ich hatte so viele Scherereien mit Ihnen, daß ich nicht richtig aufpassen konnte!« sagte er zu Bush. Bush zog nur die Brauen hoch und antwortete nicht. Er war gewohnt, auf solche Dinge zu achten, und merkte daher, daß Howes unter einer Art Zwangsvorstellung stand, die ihn veranlaßte, immer
die Schuld auf andere zu schieben. Etwas davon hatte er schon in ihrem merkwürdigen Gespräch nach dem ... Zwischenfall mit Ann enthüllt. Howes beschimpfte den Mann an der Tür, weil der ihn verraten hatte, aber er bekam alsbald einen Schlag ins Gesicht und hielt den Mund. Der fünfte Mann bei diesem Hinterhalt – oder der sechste, wenn man den Türsteher mitzählte, – stand drüben bei den Vorhängen zuseiten des hohen Fensters. Neben ihm stand ein Sessel, und in dem saß ein gefesselter und geknebelter Mann. Seine dämmerigen Gesichtszüge und die Helligkeit des hinter ihm einfallenden Lichts machten es schwierig, ihn zu erkennen, aber Bush zweifelte nicht daran, daß es Silverstone war. Aus den Geräuschen, die er von sich gab, ließ sich schließen, daß er Schwierigkeiten mit dem Atmen durch den Luftlecker hatte. »In Ordnung! Es war leichter, als wir dachten«, sagte der Mann, der über Howes gebeugt stand. Er schien der Anführer zu sein. Er hatte eine breite, bleiche Stirn und einen wulstigen Mund; er trug einen Anzug aus grauer Seide und hatte einen rehfarbenen Zylinder etwas abseits gestellt, damit ihm nichts passierte. Nun setzte er ihn wieder auf. Der Hut bildete einen scharfen Kontrast zu seinem schlauen, fast brutalen Gesicht. »Das hätte ich mir denken können, Grazley, daß Sie sich die Beine ausreißen würden, um der Aktion bei-
zutreten!« sagte Howes verächtlich. Der Name Grazley kam Bush bekannt vor; vermutlich einer von Bolts Stabsoffizieren, der die Seite gewechselt hatte. Grazley ignorierte die Bemerkung. »Wir nehmen Sie und Ihren Spießgesellen mit nach 2093, Howes«, sagte er. »Sie werden beide vor Gericht gestellt, wegen Hochverrats an der Regierung, der zu dienen ich die Ehre habe. Wir werden Ihnen Lähmungstropfen geben und dann CSD injizieren und Sie, an uns gefesselt zurücktranszendieren. Silverstone wird auf die gleiche Weise nach Hause gebracht.« Noch während des Sprechens steckte er seine Pistole ins Halfter zurück und gab einem der Männer ein Zeichen, der sofort begann, seinen Rucksack auszupacken. »Warum erschießen Sie uns nicht gleich hier und ersparen uns die Komödie?« sagte Howes. Die einzige Antwort war ein Tritt ins Kreuz. Während der Mann eine Spritze aus dem Rucksack holte, kamen ein paar livrierte Diener in den Raum. Grazleys Männer schreckten hoch, aber diese Lakaien gehörten offensichtlich ihrer eigenen Epoche an und liefen durch die Zeitfahrer hindurch, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie schritten zeremoniell zu den hohen Fenstern, um die Vorhänge gegen die einstrahlende Sonne vorzuziehen; vielleicht wurde das jeden Tag um diese Zeit gemacht.
Die Aufmerksamkeit aller war auf die Eintretenden gerichtet. Bush berechnete die Zeit für einen Sprung zur Tür. Unter normalen Bedingungen hätte sich dieser Versuch nicht gelohnt, aber jetzt war die Situation verzweifelt genug, um ihn zu riskieren. Die Lakaien hatten kaum zwei Schritte in den Raum getan, da hatte er die Lage schon durchdacht und spannte die Muskeln zum Sprung. Und da trat die Zukunft ein. Sie waren vier: die Dunkle Frau und drei Männer. Sie schienen unkörperlich in der Luft zu hängen, wie Beinlose hinter einer Glaswand. Und sie hatten schlanke Stäbe bei sich, mit denen sie jetzt zielten. Bush und die Dunkle Frau blickten einander an. Sie machte eine kleine Handbewegung, die für ihn bestimmt war: sie hob die freie Hand und bedeckte damit Mund und Nase; dann nahmen die vier Grazley und seine Leute unter Beschuß. Grazley reagierte schnell. Er warf sich auf die schattenhaften Angreifer – und sprang genau durch sie hindurch, wobei sein rehfarbener Zylinder zu Boden ging. Die Zukunftswaffen funktionierten durch die Entropie-Schranke hindurch. Rasche Stöße eines klebrigen Gases lösten sich von den Mündungen. Zwei von Grazleys Männern schossen blindlings zurück, als die Waffen sich auf sie richteten, taumelten sie und fielen um. Bush bekam einen ätzenden Geruch in die Nase,
der ihm fast den Kopf vom Halse hob. Er rappelte sich auf und rannte zur Tür. Sein Kopf schwamm, das Gas biß in seine Sinne. Es hatte keinen Zweck, etwas zu tun. Er war niemals frei. Wie war das mit der Natur der Unendlichkeit ...? Handeln ist ... Leiden ist ... Gott, ja, dunkel, permanent, finster ... wie Ann ... Es gelang ihm, etwas von seinem Verstand zusammenzuhalten. Er stolperte über den üppigen Teppich auf den Korridor hinaus. Die Menge der Gäste hatte sich inzwischen verlaufen, sie hatten sich zum Lunch gedrängt. Nur zwei anscheinend bedeutsame Gestalten kamen ihm entgegen: eine Frau unter vollen Segeln, in königlicher Haltung, die Hand leicht auf den Arm ihres Begleiters gelegt, so daß er ... Er! und Sie! Kein Wunder, daß die Lakaien, an denen sie vorbeigingen, sich so unterwürfig neigten, daß ihnen fast die Perücken von den Köpfen fielen! Stöhnend machte Bush erfolglose Versuche, sich aus dem Wege zu rollen, doch die Königin von England und der Prinzgemahl segelten durch ihn hindurch, und sie hätte ihn beinahe in ihren wallenden Phantom-Röcken ertränkt. Das Schockierende, Verrückte, Lächerliche dieser Situation brachte ihn wieder zu sich. Er rieb sich die Augen und schnappte durch seinen Luftlecker nach frischer Luft, stand auf und zog Anns Gaspistole, die einzige Schußwaffe, die er noch hatte. Er spähte vor-
sichtig in den Raum, aus dem er geflohen war. Alle Transzendierten lagen bewußtlos auf dem Fußboden. Die viktorianischen Bediensteten machten eben zeremoniell an den Vorhängen kehrt, die sie bis auf einen schmalen Spalt zugezogen hatten, und gingen gemessenen Schrittes durch Bush hindurch aus der Tür. Das Gas hatte ihnen nichts getan. Die vier aus der Zukunft grüßten ihn mit einem höflichen Nicken und schwebten, die Dunkle Frau voran, schattengleich aus dem Raum. Bush starrte nur eine Sekunde hinter ihnen her. Rasch durchschritt er den Raum und entwaffnete Grazley und seine Männer; sie rührten sich nicht. Dann, schon im Weitergehen, wandte er sich ihnen noch einmal zu, weil ihm etwas eingefallen war: er nahm ihnen ihr CSD ab, um ihre Rückkehr nach 2093 zu verzögern; allerdings würden sie sich sicher bei anderen Ersatz zu verschaffen wissen. Er packte den besinnungslosen Howes unter den Achseln und zerrte ihn auf den Korridor – ihm brannten die Augen noch von dem im Raume schwebenden Gase. Dann stürzte er sich noch einmal ins Zimmer und holte Silverstone samt dem Sessel, an dem er festgebunden war. Als er den Mann über den Fußboden schleppte, stieß er mit dem Fuß zufällig an seine Lichtpistole, die ihm aus der Hand gefallen war, und sein Verstand, wenn auch noch etwas getrübt vom Gas,
fing an, Offenbarungsfunken zu sprühen, so daß er vor Überraschung und Erleichterung fast laut aufgeschrien hätte. Er hatte ein Messer im Rucksack. Er holte es heraus, zerschnitt die Schnur, die Silverstone fesselte, und band statt dessen Howes die Hände auf den Rücken und die Fußknöchel an die Handgelenke. »Du schlaues Aas!« sagte er. Dann rannte er durch die Korridore und schrie: »Ann! Ann!«
4 – Inkohärentes Licht Eine Anzahl zufallsbedingter Punkte markiert die geistigen Grenzen unseres Lebens. Konstruiert man eine Kurve aus, sagen wir, folgenden Signifikanten: ein angebeugtes Bein, eine Zeile Wordsworth, ein Tag in einem leeren Garten, eine zärtliche Wange an deiner Schulter, ein blutiger Golfschläger, eine Droge, die lange Dämmerung einer Küste der Devon-Zeit, eine Lichtpistole – dann umschreibt man damit eine menschliche Existenz. Es muß schon ein sehr ungewöhnliches Menschenwesen sein, das mehr ist, als das Produkt seiner Faktoren. Bush hatte sich weggerissen. Die plötzliche Erkenntnis, daß Ann noch leben mußte, wirkte so stark auf ihn, daß er alles vergaß, was er je gelernt hatte, und anfing, neue Regeln zu erfinden. Nach den ersten paar Sekunden wilden Rennens und Schreiens auf dem Korridor erkannte er, daß er Ann so nicht finden würde. Er war überzeugt, daß sie noch lebte; aber wahrscheinlich hatte sie ihre eigenen Gründe gehabt, den Palast zu verlassen. Ihm blieb nur eine kleine Spanne Zeit zum Handeln, bevor Grazley und seine Männer aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachten. Um festzustellen, ob Ann wirklich noch lebte, transzendierte er.
Er tat es, indem er Muskeln spannte, von deren Existenz in den dunklen Gründen seines Tiefbewußtseins er nie etwas geahnt hatte. Von seinem kürzlichen Übergang in das Jahr 1851 her hatte er noch immer CSD in seinen Adern, sonst hätte er es nie geschafft. Er tauchte in die Empfangshalle ein und ließ sich sinken; die Raumzeit kippte, und er tauchte im Palast wieder auf – wieviel früher? Er wußte es nicht. Andere Menschen waren in der Halle, echte Viktorianer, kein Silverstone, kein Howes, keine Ann. Wieder tauchte er unter, stieß mit den Füßen aus, kam hoch, tauchte wieder. Menschen. Zeiten. 1847? 49? 50? Mittels purer Emotion tauchte er unter und wieder auf, immer wieder, wie ein Delphin durchs Wasser schießt, starrte durchs Fenster, versuchte, das Medium zu spüren, in dem er schwamm; das Sonnenlicht draußen auf dem Hof wurde zu Schnee, dürre Blätter wirbelten über das Pflaster, Nacht, Tag, graue Dämmerung oder Tageslicht. Er kämpfte sich stromauf. Und die ganze Zeit verbarg er sich in einer Fensternische. Die schweren Vorhänge nützen ihm dabei. Er mußte den raumzeitlichen Ort finden, der unmittelbar vor seinem Zusammentreffen mit Ann und Howes lag – als sein früheres Ich in dem kleinen Vorzimmer am anderen Ende des Korridors wartete. Nachdem der er-
ste Schwung vorbei war, wurde das Transzendieren schwieriger. Der Delphin war im Flachwasser gestrandet. Es hörte auf. Irgendein verdammter regnerischer Tag im Jahre 1851, ein Tag, von dem niemand Notiz nahm ... doch die Queen würde eine Eintragung in ihr Tagebuch machen, sorgfältig und Schritt für Schritt durch alle Einzelheiten; und nicht der geringste Zweifel an dem Universum, von dem sie ein so beträchtliches Stück regierte, würde sie dabei anfechten. Ungeduldig stieß er sich die Spitze einer weiteren Ampulle CSD in die Vene und transzendierte wieder in die Zeit. Da war Silverstone! In einer Ecke des Saales schritt er auf und ab. Klar erinnerte sich Bush an dieses interessante Gesicht mit dem verzogenen Mund und der schnabelartigen Nase; ein Satz, der es gut charakterisierte, tauchte in seinem Hirn auf: die Spottdrossel, die über sich selbst spottet! Am anderen Ende des Raumes standen vier echte viktorianische Gentlemen und rauchten. Bush wußte: das war der Moment, den er brauchte; jener geheimnisvolle Instinkt, der ihn auf Zeitreisen leitete, hatte sich wieder einmal bewährt. Er mußte vorsichtig sein. Er war zeitlich nur ein paar Minuten, allenfalls eine knappe Stunde, von Silverstone entfernt. Der Mann konnte ihn ganz leicht sehen, hören, anreden, totschießen. Er duckte sich hinter die schweren Vorhänge.
Silverstone wandte sich um – erblickte Bush, drehte den Kopf – vielleicht hatte er aus den Augenwinkeln gesehen, wie er sich materialisierte. Seine Miene verfinsterte sich, er streckte anklagend den Finger gegen ihn aus. Wütend über seine eigene Dummheit tauchte Bush wieder unter. Er hatte vergessen, daß Silverstone schon eine Weile im Jahre 1851 gewesen war, ehe Howes dort ankam, hatte vergessen, gründliche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um nicht von den Menschen seiner eigenen Zeit gesehen zu werden. Er tauchte wieder auf. Jetzt war der Raum leer, voller Zwielicht, wie ein Abbild seiner selbst in einem Museum. Er verbarg sich hinter einer Chaiselongue, deren gepolsterte Rückenlehne sich kurvte wie eine Welle aus Mahagoni, mit einer Schaumkrone aus Rosen und Rosenknospen. Dort, im sicheren Versteck, zwängte er sich aufs neue durch die Zeit, seiner Müdigkeit nicht achtend. Da hatte er es! Sein Instinkt hatte ihn gut beraten und ihn in dem Moment ans Ziel gebracht, als sie eben von ihm sprachen. Silverstone saß auf dem Fußboden, mit dem Rükken zur Wand. Howes stand neben ihm, hatte sich aber umgedreht, als Ann hereinkam. Sie war verzweifelt und aufgeregt, rief die beiden schon, während sie noch quer durch den Raum zur anderen Wand lief,
wo die Männer waren. Jedes Wort drang zu Bush hinüber, dumpf, aber in der Stille deutlich zu verstehen. »Eddie Bush ist im Palast, David! Ich habe ihn eben auf dem Korridor getroffen!« Sie stand vor Howes, ihre Hände zerrten nervös an den Säumen ihrer Zofentracht. Howes sah auf einmal ernst und gespannt aus, ja, er strich sich sogar seinen falschen Backenbart. Silverstone rief: »Ich habe euch doch gesagt, er kommt zurück. Er war hier in diesem Raum, vor zwei Monaten. Ich habe ihn an dem Fenster da gesehen. Hätte mich damals umbringen können, der junge Schurke!« Howes achtete nicht auf ihn, sondern fragte das Mädchen: »Haben Sie den Befehl ausgeführt?« »Ich konnte es nicht, David. Hören Sie – wir brauchen Bush jetzt nicht mehr zu töten. Er ist anderen Sinnes geworden. Er wird jetzt uns helfen, und wir können weiß Gott Hilfe gebrauchen.« Howes wollte an ihr vorbei und faßte nach seiner Pistole. »Sie haben Ihren Befehl nicht ausgeführt, Ann. Wir haben schon genug Schwierigkeiten, ohne daß dieser Unsicherheitsfaktor Bush uns das Leben noch schwerer macht. Bringen Sie mich zu ihm!« Sie faßte ihn am Arm. »Tun Sie nichts, was Sie spä-
ter bereuen würden, David! Seien Sie vernünftig – Sie haben doch selbst gesagt, er ist ein Künstler-Typ. Außerdem, er hat eine Lichtpistole.« »Ha! Deswegen brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Da haben wir vorgesorgt.« »Ja – ihr seid ganz große Vorsorger! Aber ich will ja nur, daß Sie ihm nichts tun. Bitte!« Er sah sie an, und seine Miene wurde milder. »Sie haben ihn immer noch gern, was? Na schön, ich werde mit ihm reden, wenn Sie durchaus wollen. Aber vergessen Sie nicht, was alles vom Erfolg dieser Operation abhängt! Professor Silverstone, wenn Sie freundlicherweise hierbleiben wollen – wir sind in ein paar Minuten zurück, und dann werden wir sofort transzendieren, ehe es hier zu gefährlich wird.« »Aber mein Paket!« sagte Silverstone. »Ohne das kann ich nicht weg. Sie wollten es mir doch holen, Ann.« Ann schnippte mit den Fingern. »Ich war gerade dabei – als ich Eddie sah, habe ich nicht mehr daran gedacht. Das geht schon in Ordnung, Professor – ich hole Ihr Paket sofort.« Bush verzichtete auf den Schluß des Gesprächs. Er rannte geduckt zur Tür hinaus, solange sie noch mit sich selbst zu tun hatten. Auf dem Korridor tat er einen Freudensprung – was kümmerten ihn die Feindagenten! Wunderbar! Er hatte Anns Gesichtsausdruck
beobachtet, als Howes sie fragte, ob sie ihn noch immer gern habe. Bis zu diesem Moment hatte er glatt vergessen, daß er überhaupt Talent zum Lieben besaß. Ihre hingegebene Miene machte es ihm wieder klar, – ja, hingegeben, genauso wie die kleine Joan, die er gesehen hatte, wenn sie sich nicht zusammennahm, und jetzt hatte er Ann zum erstenmal so gesehen, wie sie war, wenn sie sich nicht beherrschte. Und auch Howes hatte er ohne Visier erwischt! Howes – den großen Organisator. Ein tapferer, kaltblütiger, weitblickender Mann, alles Eigenschaften, die Bush bei sich selber vermißte. Howes' seltsame Sabotage der Regierungspläne war so vollständig wie möglich gewesen, er hatte sogar dafür gesorgt, daß die Waffen seiner ausgesuchten Killer im gegebenen Moment nicht richtig funktionieren würden. Zweifellos hatte Bushs Gaspistole ein harmloses Kohlendioxyd abgeschossen, ebenso wie seine Lichtpistole harmloses ungelasertes Licht schoß, statt kohärenter Lichtstrahlen, wie es sich gehörte. Alles war ihm jetzt klar. Er hatte Ann nicht getötet. Was Howes eben gesagt hatte, bestätigte Bushs Vermutungen. Die Tatsache, daß man mit seiner Pistole irgend etwas angestellt hatte, war das einzige Stückchen greifbaren Beweises dafür, daß Howes' Angaben über seine Widerstandsarbeit stimmten. Jetzt wußte er auch, daß er sich ohne Sorge zu dem
Punkt zurücktransferieren konnte, an dem er Silverstone und Howes betäubt auf dem Korridor zurückgelassen hatte. Die Zeit war wesentlich – ein bedeutungsschwangerer Gedanke! Aber er war kein Mörder mehr! Er war begnadigt! Und Ann lebte immer noch ihr ungreifbares Leben! Eine Laune überkam ihn. Lachend sprang er den Korridor hinunter, den Weg zurück, den, wie er wußte, Ann soeben gekommen war. Er fand sein früheres Ich im dunklen Alkoven hokken, hinter dem die Frauen noch immer ihre Wäsche bügelten. Impulsiv streckte er die Hand aus und spürte, wie sie von ihm selbst ergriffen wurde. Er lächelte. Wie gut er aussah, größer als er sich vorgestellt hatte, wie gewandt er sich bewegte! »Du?« »Ich!« Es war wie ein Liebesaustausch. Wie er diesem Manne wohlwollte, diesem Fremden, von dem er jeden Gedanken, jeden Zollbreit Körper kannte – der einzige auf der Welt, von dem sich das sagen ließ! Was war das für ein verrückter, dunkler, unbekannter Inzest – sich selbst liebend zu umfangen! Er konnte nichts mehr sagen, so stark war seine innere Bewegung, so froh war er über die abgeworfene Last! Er transzendierte. Er war wieder zurück – oder: er war die ganze Zeit
hiergewesen, nur das Universum war woanders gewesen. Die Anstrengung beim Durchbrechen der Entropie-Schranke war groß und ernüchterte ihn, und er dachte wieder an die unmittelbare Gefahr. Silverstone und Howes, draußen auf dem teppichbelegten Korridor, wurden langsam wieder wach. Obwohl sie beide verhältnismäßig weniger Gas als Grazleys Männer eingeatmet hatten, würde es doch nicht lange dauern, bis auch die Gegner wieder aufwachen würden und auf den Korridor gestürzt kämen. Er bückte sich, schlug dem Professor auf die Wangen und rieb ihm kräftig das Gesicht. »Stein! Stein!« rief er; dann besann er sich und rief: »Silverstone!« Der Professor schlug die Augen auf. »Das ist der Beweis«, murmelte er, »diese Waffe – der einwandfreie Beweis.« Diese Worte verwirrten Bush aufs höchste. Konnte Silverstone wissen, daß Bushs Lichtpistole frisiert worden war? Bush konnte überhaupt nicht verstehen, woher dieser Mann wußte, was er, Bush, durchgemacht hatte. Er starrte Silverstone wortlos an, als dieser sich in sitzende Stellung aufrichtete und, nun schon wieder beinahe völlig klar, weitersprach: »Diese Waffe, welche die Leute aus einer anderen Zeit benutzten – sie ist der Beweis, daß meine Theorie absolut korrekt ist, und wir werden noch mehr Beweise
erhalten, Sie werden sehen! Das ist das erste Mal, daß sie durch die Entropie-Schranke hindurch eingegriffen haben.« Etwas enttäuscht, weil nicht von ihm selbst die Rede war, sagte Bush: »Ich schaffe Sie hier 'raus, Silverstone! Auf jeden Fall kann ich nicht begreifen, wie die durch die Entropie-Schranke schießen können.« »Einfach so, nicht wahr? Zweifellos werden wir das in ein paar Jahren auch entwickelt haben. Wir haben ja schon gelernt, Luft durch die Schranke zu filtern; ohne das wäre die ganze Zeitfahrerei überhaupt nicht möglich. Die haben ja schließlich nur ein Betäubungsgas durch die Schranke gefiltert. Helfen Sie mir jetzt auf, ja? Sie sind Edward Bush, ich weiß. Wir haben uns ja schon hier und da im Zeitspektrum getroffen, nicht immer unter erfreulichen Umständen. Hoffentlich habe ich Ihnen damals beim Amnion-Ei nicht allzu weh getan. Ich dachte, Sie wären ein Agent von diesem Schurken Bolt.« Bush lachte. »Ich habe Sie bei der Gelegenheit überhaupt nicht bemerkt. Ich habe mich zu sehr für das Mädel interessiert, mit dem sie zusammen waren.« Silverstones ziemlich gespannte Miene glättete sich etwas. »Na ja, ich war auch ziemlich von ihr in Anspruch genommen. Frauen sind meine Schwäche, glücklicherweise. Jetzt schönen Dank, daß Sie mich
aus dem Zimmer herausgeholt haben. Binden Sie Howes los, und dann wollen wir gehen.« »Ich habe Howes aus ganz bestimmten Gründen gefesselt. Er hat mir etwas Scheußliches angetan, bloß um mich so fertigzumachen, daß ich ihm gehorchte, ohne zu fragen. Ich lasse mich von niemandem als Werkzeug benutzen.« »Irgend jemandes Werkzeug sind wir alle. Das bedeutet ja gerade Gesellschaft. Sie sind ein sehr gefühlvoller Mensch, Bush, aber jetzt haben wir keine Zeit für Emotionen. David Howes ist ein hochwichtiger Mann, und wir müssen ihn bei uns haben.« Irgend jemandes Werkzeug sind wir alle ... kein sehr hochfliegender Gedanke, Bushs Ansicht nach, aber eine Methode, um in die menschlichen Angelegenheiten etwas Sinn zu bringen. Man benutzt und wird benutzt. Er hatte Ann benutzt. Howes hatte ihn benutzt. Er würde Howes benutzen. Er würde Silverstone benutzen. Howes und Silverstone hatten Macht, und sie konnten noch mehr Macht gewinnen. Nach der Rückkehr in die Gegenwart – in das Jahr 2093 – konnten sie Bush helfen, wenn er ihnen jetzt helfen würde. Durch sie konnte er die Freiheit erlangen, wieder zu malen, wieder Kompositionen zu machen – er brauchte das Schaffen, wie ein Schlafender den Traum braucht. Wenn seine Kunst lebendig bleiben
sollte, würde er etwas von der Kleinlicheit, er selbst zu sein, aufgeben müssen. Er bückte sich und begann Howes, der schon die Augen öffnete, loszubinden. Während er sich mit den Knoten abmühte, sagte Silverstone zu ihm: »Sie wissen vielleicht, daß es im Buckingham-Palast eine Clique von Intellektuellen aus unserer Zeit gibt, die hier im Exil leben. Ich habe ihnen meine Botschaft verkündet, und sie verbreiten sie weiter.« »Botschaft verkündet? Sind Sie religiös geworden?« »Also meine Lehre. Ich wünschte, Wenlock wäre hier; unser Streit ist jetzt vorbei. Selbst ich kann kaum fassen, was ich entdeckt habe. Es stellt die Welt auf den Kopf, völlig auf den Kopf. Wir müssen so schnell wie möglich transzendieren.« »Ich gehe nicht ohne Ann.« »Ich weiß. Wir brauchen Ann. Sie muß jeden Moment wieder da sein, sie holt nur mein Paket, das ich unten gelassen habe. Wie geht's Ihnen, Captain?« Howes grunzte. Er setzte sich auf, als Bush ihn losband, schüttelte den Kopf, um ihn klarzukriegen, und sah Bush an. »Wissen Sie Bescheid wegen Ann? Daß sie lebt?« Bush nickte. »Tut mir leid, Bush. Ihr unsicheres Temperament war schuld. Als sie mit der entschärften Lichtpistole auf sie schossen, hat sie sich zu Boden geworfen, und
als ich Sie mit der Gaspistole betäubt hatte, überredete ich Ann, daß sie weiter tot spielte. Es wurde Zeit, daß Sie mal einen Schock bekamen – gut gegen Ihren Sadismus!« »Sie sind ja krank!« sagte Bush und wandte sich angewidert ab. Ann kam eilig den Korridor entlang, mit einer großen Plastikschachtel unter dem Arm. Bush griff nach ihr. Sie lächelte ihn an, aber mit erhobener Augenbraue und einem Widerschein ihres alten Mißtrauens. »Warum hast du das getan?« fragte er. »Das wagst du zu fragen? Warum hast du auf mich geschossen? Sei bloß still! Ich weiß, was du sagen willst – du traust mir nicht, weil du nicht wagst, dir selbst zu trauen!« Er schwindelte sie an. »Die Pistole ist zufällig losgegangen.« »Du lügst ja! Ich habe an deinen Augen gesehen, daß du mit voller Absicht abgedrückt hast!« »Ich war verrückt vor Enttäuschung – das weißt du doch ganz gut. Du weißt doch, daß ich dachte, du hättest Howes mitgebracht, damit er mich erschießt. Nur weil ich dich liebe, bin ich so wild geworden, Ann!« Sie senkte den Blick und sagte böse: »Du hast kein Vertrauen zu mir.« »Von jetzt ab müssen wir alle uns gegenseitig ver-
trauen«, sagte Howes, »denn wenn wir nicht sehr schnell hier wegtranszendieren, erwischen uns Grazley und seine Leute nochmal. Wir könnten sie ja schlankerhand abschießen, wie sie da liegen – vielleicht hätte Bush Lust dazu –, aber ich möchte doch lieber weg, ehe sie aufwachen.« »Ausgezeichnete Idee, Captain – obschon ich denke, daß Sie Bush gegenüber unfair sind. Schließlich hat er uns beide der Volks-Aktion aus den Klauen gerissen, und wir schulden ihm Dank«, sagte Silverstone. »Jetzt habe ich auch mein Paket wieder – hakt euch gegenseitig unter und verpaßt euch einen Schuß CSD. Konzentriert euch auf die Formel, und dann nichts wie 'raus aus diesem Irrenhaus. Wir transzendieren alle vier in die Jurazeit zurück.« »Ich dachte, wir gingen wieder nach 2093«, sagte Bush. »Sie stehen unter Befehl«, sagte Howes, brachte eine Ampulle hervor und drückte sie sich in den Arm. »Wir haben noch eine Kleinigkeit zu erledigen – wir müssen jemand im Jura abholen«, sagte Silverstone; offensichtlich wollte er Bush für Howes' schlechte Manieren entschädigen. Bush zuckte die Achseln. »Ich muß mit dir reden, Ann«, sagte er leise, während er sich ebenfalls zum Transzendieren fertigmachte. Sie sagte gedämpft: »Ich will nicht reden. David hat
mir soviel von Silverstones Tiefbewußtseins-Theorie erzählt, daß mir der Kopf schwirrt.« »Ann, bitte!« sagte Silverstone. »Jetzt wird nicht mehr geredet. Fertig, Captain?« Howes hatte Silverstone bereits untergehakt. Jetzt nahm er Bushs Arm, und Bush nahm Anns Arm. »Los!« sagte er.
5 – An den zerbröckelnden Rändern der Zeit
Buckingham-Palast – die Savannen des Juraikums: für den Zeitfahrer besteht zwischen beiden, wenigstens in einer wichtigen Hinsicht, nur geringer Unterschied. Beide liegen unter dem ewigen Fluch des Schweigens und sind zwar dreidimensional, doch für einen anderen Sinn als den Gesichtssinn kaum zugänglich. Und keine Pterodactylen fliegen umher. Die vier kamen zusammen an, und eine ungeheure Müdigkeit befiel Bush. Er blickte mit Mißvergnügen auf Silverstone und Howes. Diese ganze Keilerei im Buckingham-Palast ekelte ihn an, wenn er an die guten Vorsätze und das Göttlichkeitsgefühl dachte, mit denen er Breedale verlassen hatte. Jeder Versuch der Beteiligung an weltlichen Affären war ihm zuwider; er wollte Stille und Einsamkeit. Zynische Reflektionen wie ›Absolute Machtlosigkeit korrumpiert absolut‹ gingen ihm durch den Kopf; und was dahintersteckte, daß seine Pistole nicht funktioniert hatte, war ihm klarer denn je. Sie standen an einem träge dahinfließenden Strom; hinter ihnen erstreckte sich der Dschungel in trübem Blaugrün, vor ihnen Ebene und Berge. Nur der Strom
bewegte sich. Der Himmel war mit rollenden Wolken bedeckt. So war es immer im Jura, erinnerte sich Bush. »Wir werden den Plan, auf den wir uns geeinigt haben, weiterverfolgen«, sagte Silverstone. »Captain Howes, wenn Sie und Ann weitergehen und unseren Freund aufsuchen wollen, bleibe ich mit Bush hier.« »Wir gehen gleich los«, sagte Howes. »Schlafen Sie ein bißchen, Professor. Und Sie, Bush, sehen auch aus, als ob Ihnen das ganz guttun würde. In zwei, drei Stunden sind wir wieder da, wenn alles klappt.« Ann winkte, und ohne weitere Umstände marschierten sie und Howes ab, mit den schleppenden Schritten derer, die noch unter CSD-Einfluß stehen. Silverstone holte sofort eine leichte Matratze aus seinem Rucksack und riet Bush, desgleichen zu tun. »Wir sind hier ganz sicher. Ich habe diesen Fleck ausgesucht, weil er meilenweit von jeder menschlichen Behausung entfernt ist. Der Captain und Ann holen noch jemand, und dann beginnt die letzte Etappe unserer Reise.« »Professor, ich übe einige Zurückhaltung, weil ich nur ein Bauer in diesem Schachspiel bin, aber würden Sie mir bitte erklären, mit wem wir jetzt zusammentreffen und wo wir anschließend hingehen?« »Sie befassen sich zuviel mit Kleinigkeiten, mein Freund – aber ich auch ... Da mache ich mir Sorgen,
weil ich meine Armbanduhr kaputtgemacht habe und nun die Zeiten nicht mehr weiß – die Zeit! Eine, Zeit! Und das, obwohl ich weiß, alle Armbanduhren sind veraltet. Ich bin ein inkonsequenter Mensch.« »Ich auch. Genie ist immer inkonsequent. Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit?« »Wir müssen uns etwas ausruhen. Aber ich will Ihre Fragen von vorhin beantworten.« Er fing an, das Plastikpaket auszuwickeln, das er aus der viktorianischen Zeit mitgebracht hatte. »Sie waren ja früher so etwas wie ein Maler, nicht wahr?« »Ich bin Maler. Man hört nicht auf, Maler zu sein.« »Also sagen wir: Sie manifestieren das zur Zeit nicht.« Bush suchte nach einer ironischen Antwort, aber er vergaß, was er sagen wollte, als aus dem Paket ein Bild zum Vorschein kam. »Wir treffen uns mit dem Mann, der das gemacht hat. Er wird meine Entdeckung verstehen können, wenn ich sie ihm erkläre, zum mindesten in ihrem Urgrund, wenn nicht intellektuell. Alles Neue in der Welt muß der großen Masse nicht nur durch Wissenschaftler, sondern auch durch Künstler erklärt werden – das ist die ewige Rolle des Künstlers. Und dieser Mann hat sich als ideal für meine Zwecke erwiesen. Sehen Sie sich dieses großartige Bild von ihm an!«
Bush war schon dabei. »Das ist ein Borrow. Er ist fabelhaft, nicht wahr?« Ohne Kleinlichkeit hatte Borrow in dieser Komposition mehrere dunkle Flächen nebeneinandergesetzt und durch Farbschichten in eine Beziehung gebracht, die sich hier und da zu dominierenden Massen zusammenfanden. Sie waren so durchgearbeitet, daß sie als atomare Nuklei, als Städte oder Sterne gedeutet werden konnten; das Gleichgewicht des Ganzen wurde auf diese Wiese schwankend; noch weitere Mehrdeutigkeiten konnten auf zweifache, ja dreifache Weise interpretiert werden. Einige Partien schienen noch ziemlich roh und schlecht durchgeführt, aber sie waren vom Ganzen untrennbar, als habe Borrow sich hier erweitert, die Dandy-Maske abgeworfen und versucht, seinem ganzen Ich und gleichzeitig seiner ganzen Welt ins Gesicht zu sehen. Diese Komposition kam Bush technisch weniger perfekt vor als die Montagen, die er im Amnion-Ei gesehen hatte, doch besaß sie unendlich mehr Größe. Er erkannte ohne weiteres, daß er hier ein späteres Werk vor sich hatte, zu dem die früheren sich wie vorläufige Fingerübungen verhielten. Das war ein später Roger Borrow wie ein später Turner, Kandinsky, Braque, Rellom oder Wotaguci. Es kam Bush unglaublich vor, daß der kühle Borrow eine solche Aussage produziert haben sollte, und doch trug das Bild
bei aller Unpersönlichkeit unverkennbar und überall die Handschrift seines Freundes. Und jetzt sollte Borrow mit Ann und Howes zu ihnen stoßen. Bush wurde sich bewußt, daß er das Bild schon minutenlang anstarrte. Teile desselben waren, so kam es ihm vor, in langsamer kontrapunktischer Bewegung; der Beschauer wurde so auf das ominöse Mahlen des menschlichen Schicksals hingeführt, auf die planvolle Verschiebung der Galaxien und der Protone, und auf die Zeitgeschichten, die sich wie ein reifender Sturm über dieser Welt zusammenbrauen. Nun blickte er Silverstone an. Er hatte nicht einmal mehr Lust zu fragen, wohin sie gingen, wenn Borrow da wäre. »Also, Professor, wie Sie meinen – schlafen wir ein bißchen.« Stimmen. Ann, die sich bückte und seinen Arm berührte. Er setzte sich auf. Seit er die Augen geschlossen hatte, schien überhaupt keine Zeit vergangen zu sein, und doch war sein Kopf klar. Dort drinnen war irgend etwas geschehen – sein Vater hatte gelacht oder seine Mutter hatte gelächelt –, aber jetzt konnte er sein Bewußtsein wieder in Besitz nehmen; sofort erinnerte er sich wieder an das meisterhafte Bild. Er drückte Ann die Hand und stand auf, um hinüberzugehen und Borrow die Hand zu schütteln.
»Du hast für deine Zeit gesprochen«, sagte er. »Das Amnion-Ei ist schuld – daß ich da festgebunden war und mich von jedem Dummkopf 'rumkommandieren lassen mußte. Da brauchte ich unbedingt ein Mittel, um mich selbst auszudrücken.« »Es ist mehr als das. Ver hat dir bestimmt auch gesagt, daß es mehr ist.« Borrow ließ merken, daß er das Thema zu wechseln wünschte. »Ver habe ich dagelassen, damit sie die Stellung hält«, sagte er. »Norman Silverstone stößt ins Horn zum Abenteuer. Das ist was Neues für mich. Ich bin nervös wie eine junge Katze.« Aber er machte einen völlig ruhigen Eindruck. Wie immer war er korrekt gekleidet: er trug einen etwas altmodischen zweiteiligen Anzug und hatte seinen Rucksack nachlässig-elegant über eine Schulter geworfen. Ein seltsamer Prophet der neuen Ordnung, dachte Bush – wie immer diese neue Ordnung nun aussehen möge. »Nervös sind wir alle, Roger, aber wenigstens ist das Juraikum nicht so gefährlich wie der viktorianische Buckingham-Palast.« »Darauf wetten Sie lieber nicht«, mischte sich Howes ein. »Da hinten im Amnion-Ei wimmelt es von Agenten. Wir sind bestimmt erkannt worden, und es ist nur eine Frage der Zeit – sehr kurzer Zeit –, bis sie
sich organisiert haben und hinter uns her sind. Auf Silverstones Kopf steht ein Preis.« »Dann brauch ich was zu essen«, sagte Bush, »ich bin am Verhungern.« »Keine Zeit. Professor Silverstone, bringen Sie uns auf den Weg?« Der Professor war ebenso rasch wach geworden wie Bush und rollte schon seine leichte Matratze zusammen. Als er herüberkam, fiel es Bush auf, wie nervös er aussah. Er sah auch, daß die Dunkle Frau wieder da war; sie stand in einiger Entfernung und sah ihnen gelassen zu. Bush unterdrückte den Impuls, sie sich näher anzusehen, und dachte daran, daß sie so unzugänglich für ihn sei wie die Anima seines Unterbewußtseins – für etwas dergleichen hielt er sie manchmal. Silverstone sagte: »Außer Ihnen, Mr. Borrow, müssen wir alle noch CSD in den Adern haben. Wollen Sie sich bitte welches injizieren? Ich freue mich, daß Sie kommen konnten. Wird Ihre Gattin ohne Sie mit dem Amnion-Ei fertigwerden?« »Klar. Sie hat einen Rausschmeißer, der hilft ihr.« Borrow drückte sich eine Ampulle in die Vene seines linken Unterarmes und verlor keine Zeit mit höflichem Gerede. »Sie und Mr. Busch werden mit Ihrem künstlerischen Talent für die Zeit, die vor uns liegt, hoffentlich
auch eine Art Amnion-Ei für uns sein. Die menschliche Rasse muß sich frei machen von dem, was sie war, ebenso wie sich die Reptilien vom Amphibientum freigemacht haben; und ich hoffe, von Ihnen beiden werden einige der Medien kommen, durch welche diese Transformation in Gang gebracht wird.« »Captain Howes hat mir gesagt, wohin wir gehen.« »Gut.« Er wandte sich an Bush. »Dann sind Sie der einzige, der über meinen Plan noch nicht informiert ist. Nehmen Sie Anns Arm – Ann, Sie haken Mr. Borrow unter, und Sie, Borrow, den Captain. Ich nehmen Ihren anderen Arm, Bush, und wir vollziehen die Disziplin gemeinsam. Wir transzendieren uns in die einzige Epoche, in der wir vor Unterbrechungen sicher sind – jenseits des Devon, so weit wir können ins Kryptozoikum.« »Sie wissen über die veränderten Luftverhältnisse in den Frühzeitwelten Bescheid?« »In der Tat. Wir werden so tief sinken, bis wir eben noch atmen können.« »Ist das wirklich nötig?« fragte Borrow. »Wie wär's denn mit einer fernen Ecke des Karbon? Hübsche Gegend, sehr viel Deckung. Der Gegner kann das nicht alles durchkämmen.« »Das ist mir durchaus klar. Aber etwas kann er eben doch durchkämmen, und ich will keine so knappen Sachen mehr erleben, wie in den viktoriani-
schen Tagen. Howes ist Soldat – er kann so was aushalten, ich nicht. Also ab ins Kryptozoikum, und ich glaube, wenn wir in Schwierigkeiten geraten, werden uns andere Mächte helfen.« Er wies auf die Dunkle Frau und nickte ihr dabei höflich zu. Sie hakten sich unter, und Bush achtete darauf, daß er Ann ganz fest hielt. Er wollte nichts sagen, nicht nur, weil er sah, daß Howes immer noch eine Wut auf ihn hatte und Ärger machen könnte, sondern auch, weil er des festen Glaubens war, er sei an einer Küste gestrandet, von der sich die Wirklichkeit zurückzieht wie das Wasser bei Ebbe. Selbst die Aussicht auf eine Art künstlerischen Auftrag ließ ihn kalt. Das einzige, was ihm in den Sinn kam, während ein Teil seines Gehirns die in Frage kommenden Abschnitte der Wenlock-Disziplin automatisch herunterrasselte, war das idiotische Gleichnis, das sein Vater benutzt hatte, um Mrs. Annivale die Erdzeitalter zu erklären: das Zifferblatt der Uhr, auf dem die Welt um Mitternacht hervorgezaubert wurde und die allerfrühesten Morgenstunden mit den furchtbaren Vulkanen der Schöpfung ausgefüllt waren und die Zeiger sich zur Melodie der ewigen Regenstürme drehten und die Viertelstunden-Glockenschläge im leeren Raum als tosende Magma-Wogen verhallten. Dann dämmert der Tag, der Wecker schrillt und setzt irgendwelche Pepsin-Ketten frei, so daß die
Verdauung der schlafenden Wolken in Bewegung gerät. Aber der trübe Morgen ist schon ein ganzes Stück vorangeschritten, ehe die ersten Zähne in den ersten Mäulern in die ersten Flanken beißen, und nicht vor dem zweiten Frühstück kommen die segeltragenden Polycosaurier auf eine Tasse Kaffee. Erst ein paar Sekunden vor zwölf steckt der Mensch die Nase herein – und zu diesem Zeitpunkt fällt, so wenigstens besagt jenes Blendwerk, schon wieder Dunkelheit ein, und die ganze Geschichte beginnt von vorn – abgesehen davon, daß in diesem Zeiger-Ablauf fünf dieser naseweißen Säugetiere sich den Weg zurück in die Morgendämmerung erkämpfen mußten. Er tauchte auf, und es war fest ebenso dunkel wie in seiner Halluzination. Die anderen waren auch da; Ann hing an seinem Arm. Sie standen ganz still und atmeten heftig durch ihre Luftlecker. Sie standen auf dem Einheits-Erdboden, auf dem man bei Zeitreisen immer steht. Der hiesige Boden lag etwa drei Meter unter ihren Sohlen, so daß sie sich vorkamen, als hingen sie in der Luft. Es dauerte eine ganze Weile, ehe einer von ihnen sich traute, einen Schritt vorwärts zu tun. Die Welt unter ihnen schwitzte und schauerte im langen Fieber des Seins, riesige Regengürtel liefen über die Oberfläche des Planeten – es waren eher senkrecht fließende Flüsse als gewöhnliche Regen-
schauer. Der Regen hatte eine Farbe wie verdünnter Lack. »Das Kryptozoikum – aber wir haben einen regnerischen Tag erwischt«, sagte Silverstone mit unsicherem Grinsen. Die Felsenwildnis unter ihnen gor Flüssigkeit aus. Überall wurden ihre schwarzen, ungeheuren steinernen Zähne von Wasserstürzen gepeitscht, die irgendwohin fließen wollten. Das Wasser auf der Erde schäumte oder sprühte nicht, obgleich es ständig von dem Wasser gepeitscht wurde, das von oben herunterstürzte. An diesem furchtbaren Ort gab es nur ein auffälliges Charakteristikum: eine breite Spalte, die einen herausragenden Fels auseinanderriß und in seine Kuppel einschnitt, wie ein Axthieb einen Schädel spaltet. Aus der Spalte floß noch mehr Wasser, oder schoß vielmehr heraus, spritzte wütend hervor, leichter Dampf stieg auf und verschmierte die Landschaft mit seinen galligen Dünsten. Zwischen schwarzen Basalten gurgelte gelbes Wasser in braunes. Am Himmel wehten überall die gleichen trüben Fahnen, und oben zog unaufhörlich das Wettrennen der Wolken vorbei. Von der Sonne war nichts zu sehen – nur eine Reihe lichterer oder dunklerer Flecken, je nachdem, ob die am Himmel hängende Nässe herabfiel oder nicht.
Die Zeitfahrer wußten nicht, ob sie über Festland oder zukünftigem Meeresboden schwebten; diese Frage war auch sinnlos. Ihre Höhe über dem Bodenniveau verriet nur, wie sich die Erde in ihrem Delirium hob und senkte. »Hier können wir nicht bleiben«, sagte Ann. Dem stimmten alle ohne Diskussion zu. Sie transzendierten. Sie transzendierten fünfmal, wobei sie jedesmal tiefer in die furchtbaren Äonen sanken, immer weiter der Zeit entgegen, wo die Erde zum fremden Planeten wird, dessen Atmosphäre eine stürmische Mixtur aus Methan und Ammoniak ist, tödlich für menschliche Lungen. Sie waren nur noch wie Pollenkörner im Meer. Bush hörte, daß die anderen die Wenlock-Disziplin laut rezitierten wie ein Gebet. In ihnen allen war der Schrecken vor dem Unbekannten, dem Unwißbaren: das rasende Reich des Kryptozoikums umfaßt fünf Sechstel der geologischen Zeit. Jedes Transzendieren ging über vielleicht zehn Millionen Jahre; und doch brachte sie das fünfmalige Transzendieren insgesamt nur in die letzten Ausläufer der Erden-Frühzeit. Beim Auftauchen stieg und fiel die Bodenhöhe – einmal waren sie ganz in den Felsen eingeschlossen –, aber immer fiel der Regen vom Himmel und versprühte an den exponierten Abhängen zu Nebel. Bush dachte an Turners Bild »Regen, Dampf und
Schnelligkeit«; der Alte hatte es gemalt, nachdem er mit dem Dampfzug durch Maidenhead gerast war! Hier entarteten sie selbst zu einem dreidimensionalen Turner, der durch die präphanerozoische Zeit raste. Beim fünften Auftauchen gelangten die Zeitfahrer in eine trockenere Periode, in der die finsteren Wolkenschichten ihre Säfte nicht mehr über die Landschaft ergossen. Sie wußten nicht, ob das ein Waffenstillstand für einen Tag oder ein Äon war; in der Tat waren sie über jenen meta-empirischen Punkt hinaus, an dem die alten menschlichen, vom Oberbewußtsein geformten Zeitbegriffe noch Sinn besitzen. Sie konnten nur betäubt auf das sie umgebende unerforschliche Georama starren. Keiner zweifelte daran, daß die Stille, die sie hier umschloß, der Welt jenseits der Entropie-Schranke tatsächlich entsprach. Dieses Panorama konnte nur lautlos sein; es machte sie stumm und umschloß sie in seiner Weite wie fünf Ameisen in der Ruine einer Kathedrale. Und ebenso wie ihre Ohren begriffen auch ihre Augen nichts mehr. Sie standen inmitten eines morphologischen Rätsels, in dem die Regeln der Perspektive ebenso machtlos waren wie die Gesetze der Akustik oder die Launen der Zeit. Die lehmigen Felsbrokken um sie herum waren jeder so groß wie ein kleiner. Berg, und doch erinnerte das Ganze an die Men-
hire von Stonehenge. Die Steine lagen in einem sinnlosen Haufen, und doch mit einem schrecklichen Sinn, der auf die Kräfte deutete, die sie dorthin geschleudert hatten. Sie waren grau, ohne Formation, ihre Kanten durch die Kräfte des Wassers zerrieben. Sie lagen überall herum und bildeten eine Konfusion von Winkeln und Ecken; und darunter drohten die Schlingen und Fallen der Schatten. Unter dem gelben Wolkennetz schienen sie etwas zwischen organischer und anorganischer Materie zu sein, weder zum Mineralreich noch zum Tierreich zu gehören. Es war, als lägen hier, an den zerbröckelnden Rändern der Zeit, alle jene überraschenden Formen vorgebildet, die einst die Erde tragen würde – als träume die rauhe, turbulente Erde selbst einen Alptraum aus Stein von der Nachkommenschaft, die sich einst auf ihr tummeln würde. Diese kopromorphen Gebilde deuteten tierische Formen aller Art an: Elefanten, Robben, Walrosse, Schädel, Diplodoken, seltsame Squamaten und Sauropoden, Flußpferde, Käfer, flossenfüßige Schildkröten, Schnecken, Eier, Enten, Fledermäuse, Mordhaie, Fragmente von Kraken, Trachodonten, Pinguine, schaufelzähnige Mastodons, Holzläuse, Foeten und Faeces, Lebendes und Totes; es gab auch Erinnerungen an die menschliche Physis: Torsos erschienen, Schenkel, geschwungene Lenden, Wirbelsäulen, Brüste, Andeutungen von Händen und Fin-
gern, Knien, massigen Schultern, phallischen Formen, jede von der anderen unterschieden und doch mit der noch seltsameren Anatomie der Umgebung vermischt, zu einer Kolik der unauslotbaren Eingeweide der Natur – und alles unbeseelt aus grauem Ton gestanzt, sinnlos, ohne einen Gedanken an Disintegration. Das erstreckt sich, soweit das Auge reicht, das türmt sich aufeinander und scheint in seiner Vielfalt zu besagen, daß der ganze Erdball mit diesen Gebilden bedeckt ist. Die Zeitfahrer blickten um sich; aus Schrecken wurde beinahe Freude, als liefen ihre Gefühle ebenfalls im Wirbel, im Kreise der Welten-Uhr. Für diese unerschaffenen Versprechen aus grauem Ton gab es keine Worte. Bush sah die Dunkle Frau; sie stand wieder mitten unter ihnen. Er spürte ein Element in der Luft, das in den Augen prickelte und sich in der Kehle festsetzte. Ganz egal – irgendwie mußten sie diese kryptozoische Luft, die sie umgab, schlucken und verdauen, ehe sie ihre eigenen Ziele verfolgen konnten. Aber Bush war der erste, der etwas sagte, der Worte herausbrachte. »So also hat die Welt angefangen!« »Nein, so hört sie auf«, verkündete Silverstone. Er starrte sie an, die alte Selbstverspottung in der Miene. »Wir sind im Kryptozoikum, ganz richtig – aber
das Kryptozoikum steht am Ende, nicht am Anfang der Erdgeschichte, wie ihr geglaubt habt.« Und er erklärte es ihnen.
6 – Die Himalaya-Generation Ich muß euch von einer Revolution des Denkens berichten (so sprach Silverstone), die so groß ist, daß kaum einer von uns, die wir hier stehen, sich ihr im Laufe seines Lebens völlig anzupassen imstande sein wird. Einsteins Generation war auch nicht imstande, die Revolution zu begreifen, die er in die Welt brachte; und in aller Bescheidenheit: wir stehen jetzt vor etwas viel Gewaltigerem. Ihr werdet bemerken, daß ich sage ›Revolution des Denkens‹, und es wird euch sehr viel helfen, wenn ihr nie vergeßt, daß es sich eben um eine solche handelt. Es ist keine Umkehrung aller Naturgesetze, wenn es auch manchmal so aussieht. Der Irrtum, der uns bis jetzt getäuscht hat, liegt im menschlichen Denken, nicht in der äußeren Welt. So verwirrend es ist, was ich euch vorzutragen habe – es wird euch doch klarer werden, wenn ihr über die einfache, aber oft übersehende Tatsache nachdenkt, daß wir von der Außenwelt – vom Universum, vom Garten hinter unserem Hause, von unseren Fingernägeln – nur durch unsere Sinne etwas wissen. Mit anderen Worten: wir kennen nur Außenwelt plus Betrachter, Garten plus Betrachter, Fingernägel plus Betrachter. Das bleibt auch dann wahr, wenn wir
zwischen dem betrachteten Objekt und unseren Sinnen Instrumente einschalten. Aber was die Menschheit bisher noch nie in Rechnung gestellt hat, ist das Ausmaß dieser Verzerrung des Objekts durch den Betrachter; und die Tatsache, daß der Mensch ein riesiges Gebäude aus Wissenschaft, Kultur und Zivilisation auf eben dieser Verzerrung aufgebaut hat. Soviel als Einleitung. Jetzt will ich euch, so einfach und gedrängt wie ich kann, erklären, was es mit dieser Revolution des Denkens auf sich hat. Als ich mit Anthony Wenlock arbeitete – und später, fürchte ich, gegen ihn –, da haben ich und meine engeren Mitarbeiter die wahre Natur des Tiefbewußtseins entdeckt. Bekanntlich ist das Tiefbewußtsein, historisch gesprochen, der uralte Kern des Gehirns; seine Entsprechung existierte schon, ehe der Mensch zum homo sapiens wurde, und ist auch bei den höheren Säugetieren bereits vorhanden. Das obere Bewußtsein ist eine viel spätere Entwicklung, ein erstaunliches Gewebe von Energien, das hinsichtlich seiner Fähigkeit zu vernunftgemäßem Schließen nicht seinesgleichen hatte, bis es den Computer zeugte; aber seine eigentliche Existenzberechtigung liegt, wie wir Grund haben anzunehmen, darin, daß es die wahre Natur der Zeit verzerrt und vor dem Menschen verbirgt. Jetzt erst besitzen wir den absoluten Beweis dafür – tatsächlich hat der absolute Beweis schon immer exi-
stiert, er ist nur niemals als solcher erkannt worden –, daß sich das, was wir als Zeitablauf bezeichnen, nicht in der Richtung bewegt, wie es uns scheint, sondern in umgekehrter Richtung. Ihr wißt, daß Wenlock unsere bisherigen Zeitbegriffe in Frage gestellt hat: er widerlegte die alte unidirektionale, also die Einbahn-Konzeption der Zeit und damit die Verräumlichung der Zeit. Ich habe dem keine neue Zeittheorie entgegenzusetzen; das einzige, worüber ich fundamental qualifizierte Aussagen machen kann, ist der menschliche Geist. Aber ich stelle fest, daß unsere Forschungen über den menschlichen Geist ergeben haben, daß die Zeit, wie ihr es nennen würdet, rückwärts abläuft. Zu Anfang gingen Wenlock und ich in dieser Angelegenheit von ungefähr der gleichen Idee aus – einer sehr alten Idee. Schon Sigmund Freud, der große Denker des neunzehnten Jahrhunderts, hat etwas davon geahnt. Er sagte ungefähr, daß die unbewußten mentalen Prozesses zeitlos sind – sein ›Unterbewußtes‹ war eine Art Parodie unseres Tiefbewußtseins. Und an anderer Stelle sagte er dem Sinne nach, daß wir in unserer Theorie viel zuwenig Gebrauch von der Tatsache gemacht haben, daß unterdrückte Gefühle vom Zeitablauf unbeeinflußt bleiben. Damit stand Freud dicht vor der Aussage, daß Repressionen, die in jenem uralten Teil unseres Gehirns gespei-
chert werden, gegen diejenige Sorte Zeit immun sind, die das Oberbewußtsein erfunden hat. Das nächste Jahrhundert, das zwanzigste, war völlig zeit-besessen; die Menschen litten massenweise an Schizophrenie, da die Spaltung zwischen Tief- und Oberbewußtsein stärker hervortrat. Wie so oft, waren die Künstler die ersten, welche diese Zeitbesessenheit enthüllten oder doch auf ihre Weise unverhüllt zum Ausdruck brachten: Maler wie Duchamps, Degas und Picasso, Schriftsteller wie Thomas Mann, Olaf Stapledon, Proust, Wells, Joyce und Virginia Woolf. Dann kamen die Wissenschaftler und entdeckten immer kleinere Zeit-Einheiten: die Millisekunde, die Nanosekunde und die Attosekunde, die sie sämtlich als viable. Einheiten mit eigenen Geschehnisskalen aufstellten. Zu Beginn des jetzigen Jahrhunderts haben wir eine Zeit-Inflation erlebt; wir sprechen ganz vergnügt von Mega- und Gigasekunden und finden es bequem zu denken, daß das Sonnensystem vor einigen 150 000 Terasekunden begann. Der größte Romancier unserer Epoche, Marston Orston, hat mit seinem Buche Fulbright einen absichtlich unvollendet gelassenen Roman von über vier Millionen Wörtern geschaffen, der sich ausschließlich mit den Handlungen eines jungen Mädchens befaßt, das aufsteht und ihr Schlafzimmerfenster öffnet. Die Gruppenkompositionen unseres zeitbewohnenden Freundes Borrow
werden sich, dessen bin ich sicher, als ebenso bedeutsam erweisen. Alle diese Erscheinungen sind Symptome der immer verzweifelter werdenden, bald nach der einen, bald nach der anderen Seite ausschlagenden Bemühungen des Oberbewußtseins, seine schwindelhafte Befehlsgewalt über das Tiefbewußtsein aufrechtzuerhalten. Meine Entdeckung jedoch setzt seiner Dominanz ein absolutes Ende. Es hat sich so ergeben, daß ich als das Instrument seines Niederganges aufgetreten bin; in mir kulminiert eben lediglich ein Prozeß, der, wie wir rückblickend erkennen, schon seit langem im Gange war. Im vierten Jahrhundert schrieb Augustinus in seinen BEKENNTNISSEN die berühmten Sätze: ›In te, anime meus, tempora metior ... In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten. Der Eindruck, der von den Erscheinungen bei ihrem Vorübergehen in dir erzeugt wird und in dir zurückbleibt, wenn die Erscheinungen vorüber sind, der ist es, was ich messe als etwas Gegenwärtiges, nicht das, was da, den Eindruck erzeugend, vorüberging; nur ihn, den Eindruck messe ich, wenn ich Zeiten messe. Also sind entweder die Eindrücke die Zeiten, oder ich messe die Zeiten überhaupt nicht.‹ So weit Augustinus. Er hat beinahe die Wahrheit getroffen, und das Genie – das stets im engsten Kontakt mit dem Tiefbewußtsein lebt –, scheint häufig die Wahrheit zu ahnen.
Aber wie ihr bemerkt, trage ich euch das alles in der alten Terminologie vor, so wie wir es unser Leben lang gewohnt waren. Nunmehr werde ich es in der richtigen Terminologie paraphrasieren, so wie es der richtigen Zeitkonzeption entspricht, und wie unsere Kinder es lernen werden! Nach den Tagen Wenlocks und Silverstones war die wahre Natur der Zeit verlorengegangen, und man glaubte, daß sie rückwärts liefe. Weil die Wahrheit bisher so dicht an der Oberfläche gelegen hatte, bewirkte das eine Periode großer Unruhe, in der die Wissenschaftler sich eine Inflation von Zeitskalen ausdachten; während ein zeitgenössischer Romancier, Marston Orston, einen Roman von vier Millionen Wörtern mit dem Bericht über ein junges Mädchen füllte, das aufstand und sein Schlafzimmerfenster öffnete. Frühere Autoren wie Proust, und Maler wie Picasso zeigten die Zeitverzerrung auf, unter der die Gesellschaft laborierte. Zahlreiche Angehörige dieser Gesellschaft, die sich nicht damit abfinden konnten, daß die Zeit rückwärts fließt, wurden Opfer geistiger Erkrankungen, insbesondere der Schizophrenie. Die Gesellschaft suchte mit dem Problem fertigzuwerden, indem sie ihr Lebenstempo durch Abschaffung der schnellen Transportmittel, wie Automobil und Flugzeug, allgemein verlangsamte. Am Beginn eines gemächlicheren Zeitalters stand der Psychoana-
lytiker Freud, der offensichtlich vom Wesen dieser Zeitströmung eine ganze Menge begriffen hat, wenn er auch niemals bis zu ihren eigentlichen Ursachen gelangte. Nach ihm wird die Idee des Tiefenbewußtseins in der Tat ziemlich verschwommen. Im Laufe der Jahrhunderte sinkt die menschliche Bevölkerung zahlenmäßig ab, und die beunruhigenden Wahrheiten des Tiefbewußtseins sind fast begraben, wenngleich hier und da ein Genie sie ahnt; im vierten Jahrhundert kommt der Kirchenvater Augustinus bis auf Haaresbreite an die Wahrheit heran. Nun, meine Freunde, so liegen, in aller Kürze dargestellt, die Dinge. Ich habe sie euch vor Augen geführt, ohne viel nach dem Wie und schon gar nicht nach dem Warum zu fragen; aber ich weiß, es ist eine erschreckende und schwerverdauliche Angelegenheit. Ehe wir fortfahren, möchtet ihr vielleicht ein paar Fragen stellen. Silverstone hatte sich erhoben, als er seinen vier Begleitern diese Ansprache hielt; sie hatten sich wie selbstverständlich zwischen den kryptischen grauen Formen hingesetzt und zu ihm aufgesehen, während er sprach. Als er nun schwieg, senkten sie alle ihre Blicke auf die vieldeutigen Steingebilde vor ihnen. Howes war der erste. »Augustinus – das war doch so 'ne Art Verrückter, nicht wahr?« Er lachte. »Da haben wir Sie also deswegen gerettet, damit Sie der
Welt erzählen können, daß wir in allen diesen Jahren die Zeit von hinten nach vorn gelebt haben.« »Genau. Eben deshalb wollen mich sowohl Bolt als auch Gleason aus dem Wege haben.« »Na ja, das ist sicherlich eine Theorie, mit der Sie jede Regierung stürzen können, die Sie stürzen wollen.« Und er lachte nochmals. Bush dachte, Howes' Einwurf zeige eine bestimmte grobschlächtige Begrenztheit seines Denkens. Aber als künftige Interpreten der Silverstoneschen Entdeckung würden er und Borrow gerade solche Begrenzungen überwinden müssen. Beim flüchtigen Überdenken dieser neuen Perspektive wurde ihm erschütternd klar, daß die Idee einer rückwärtslaufenden Zeit und eines rückwärtslaufenden Lebens gefühlsmäßig in seinem Innern schon seit jeher ihren Platz hatte. Er würde nicht umhinkönnen, sich auch intellektuell auf die Seite des Professors zu schlagen und ihm zu helfen, bei den anderen Glauben und Verständnis zu gewinnen. »Wenn die sogenannte Zukunft also in Wirklichkeit die Vergangenheit ist«, sagte er, »dann verleiht das Ihnen, Professor, eine zentrale Funktion. Anstatt Sie als den großen Entdecker der wahren Natur des Tiefbewußtseins zu sehen, sollten wir Sie vielmehr als den großen Vergesser betrachten, nicht wahr?« »Das ist richtig – obgleich es korrekter wäre zu sagen, daß in unserer Generation das Oberbewußtsein
mit der letzten Kraft aller seiner zeitverdrehenden Eigenschaften zuschlägt, und daß ich der Letzte bin, der unter seinen Schlägen zu leiden hat.« Nun sprach Borrow. »Ja, ich sehe schon. Ich glaube wenigstens, daß ich Sie verstehe. Und unsere Generation trägt die Hauptlast dieser Verzerrung. Wir, die letzte Generation mit einer richtigen Bewußtseinskontrolle, sind, – wie passend! – durch alle Zeitalter verstreut!« »Genau. Wir sind die Himalaya-Generation, der große Buckel, über den die menschliche Rasse in eine Zukunft hineinrutscht, die sie bereits kennt: die zunehmende Vereinfachung der menschlichen Gesellschaft, bis sich zuerst das Individuum und dann die Menschheit selbst im amorphen Sein der frühen – Pardon, der späten – Primaten, Lemuren verlieren wird.« Aber das war zuviel für sie, das konnten sie einfach nicht mehr verkraften. Silverstone merkte das und wandte sich Ann zu: »Sie sagen ja gar nichts, Ann. Was halten Sie von alledem?« »Ich kann einfach kein Wort davon glauben, Professor! Hier ist irgend jemand verrückt. Was haben wir in diesem gottvergessenen Loch zu suchen, warum müssen wir uns anhören, was dieser verrückte ... Sie wollen mir erzählen, daß ich hier sitze und jünger statt älter werde?«
Silverstone lächelte. »Dem Himmel sei Dank, daß wir eine Frau bei uns haben, die sofort die persönlichen Aspekte sieht. Ich versichere Ihnen, Ann, daß Sie tatsächlich, wie wir alle, jünger werden, obschon die Gedankenrevolution so gewaltig ist, daß erst die kommenden Generationen imstande sein werden, sie völlig zu verstehen. Ihr werdet, wie ich glaube, alle diese Zusammenhänge leichter begreifen, wenn wir zunächst von den kosmischen Maßstäben reden und unsere Blicke auf das Weltall richten, da wir es nun mit den Augen der Wahrheit sehen können. Später werden wir zu den menschlichen Maßstäben hinabsteigen. Seid ihr bereit, noch ein paar Ausführungen entgegenzunehmen?« »Ich würde gern erst etwas trinken und eine Kleinigkeit essen«, sagte Howes. Schon wieder diese grobschlächtige LandserMentalität! Aber Bush sagte lebhaft: »Dafür bin ich auch.« Ann sprang auf. »Gebt mir alle eure Rucksäcke, und ich koche uns ein anständiges Essen, so gut das hier geht. Dann werde ich wenigstens nicht ganz verrückt von eurem Gequassel!« »Und wir werden uns alle etwas von dem zweifachen Schrecknis dieses Ortes und meiner Ausführungen erholen können«, sagte Silverstone. Er kam herüber und setzte sich zwischen Borrow und Bush.
»Sie lehnen alles das nicht von vornherein ab, nicht wahr?« fragte er. »›Die Zeit ist aus den Fugen‹«, zitierte Bush aus Hamlet. »Wie können wir das ablehnen? Ich empfinde es nicht einmal als ›Schmach und Gram, daß ich zur Welt, sie einzurichten kam‹. Viele Menschen werden jetzt erst sinnvoll leben können.« Silverstone faßte ihn in leidenschaftlicher Zustimmung beim Arm und nickte heftig. »Der Bruchteil einer Sekunde in der Zeit – die Attosekunde – das hat die Maler schon immer fasziniert«, sagte Borrow. »Wenn Sie die Verzerrung des Zeitablaufs durch den Verstand als eine Krankheit ansehen, dann kann der irregeleitete Geist mit Hilfe der eingefrorenen Zeit, wie sie die Attosekunde verkörpert, der Gesundung am nächsten kommen. Und eben darauf haben sich die Maler in der Hauptsache konzentriert: die eingefrorene Zeit, der Pfeil in dem Moment, wo er in die Flanke des Heiligen Sebastian fährt, der Mann mit dem halb zum Munde erhobenen Glase, das nackte Mädchen, auf ewig mit einem Fuß in ihrem Höschen gefangen.« »Die Amazone, die den Tiger speert«, fiel Bush ein. »Degas' Ballettmädchen, in der Stellung einer Attosekunde festgehalten«, stimmte Silverstone zu. »Und die ersten Andeutungen einer bevorstehenden Veränderung finden Sie bei den Malern der Epoche von
Freuds Kindheit, in der Was-kommt-jetzt-Schule, der Genre-Malerei.« Bush hatte keine Lust, weiter über Kunst zu reden; er empfand das Bedürfnis, die Konsequenzen soweit als möglich auszuschöpfen. Unvermittelt war er seiner selbst gewiß, beinahe wiedergeboren; er erkannte die fürchterlichen Unsicherheiten seines Charakters, unter denen er immer halb unbewußt gelitten hatte, die Ängste, die in seinem Innern wie TotenuhrenKäfer getickt hatten. Sie waren weg – er hoffte, für immer. Aber ob für immer oder nur vorübergehend, sein Kopf war jetzt klar genug, diesem außerordentlich und erschreckend Neuen ins Auge zu sehen. Eingeengt wie er war von den tausend Übeln seiner Phantasie, ließ ihn dieses unvorstellbare Übel, das dem menschlichen Geist entsprungen war und den ganzen Kosmos zu erfassen schien, verhältnismäßig kalt. Doch als er sich umsah, bemerkte er, daß er als Einziger bereit war, sich dem Neuen zu stellen, denn die anderen ließen deutlich die Symptome einer ausgesprochenen Neophobie erkennen. Ann hatte alle Rucksäcke neben Bush aufgereiht und kochte auf drei Kochern, an die sie die Ansatzstücke der Luftlecker angeschlossen hatte. Sie rührte, kostete – es war deutlich zu sehen, daß sie in diesen kleinen fraulichen Arbeiten Ablenkung suchte. Howes hatte sich von der Gruppe abgewandt, marschierte finsteren Ge-
sichts auf und ab; vielleicht wälzte er Pläne zum Sturze Gleasons – das wäre soviel einfacher als der Umsturz alles menschlichen Denkens. Borrow: er hatte bereits einen Block aus einer Tasche seines altmodischen zweiteiligen Anzuges genommen und machte Skizzen – die Kunst verlockt ja dazu, daß man sie eher als Fluchtort denn als festen Stützpunkt benutzt; und diese Falle stand weit offen vor ihm. Sogar Silverstone! Sogar er – jetzt noch war er in der Stimmung weiterzumachen, aber wer konnte sagen, ob sein merkwürdiger Rückzug, sein Sichverbergen, sein Herumziehen mit Lennys verrotzter Thirt-Bande nicht ebensosehr ein Rückzug vor der dämonischen Idee war, die er da hervorgezaubert hatte, als eine Flucht vor den Killern des Jahres 2093? Alles das stieg in Bush sekundenschnell, zwischen zwei Atemzügen, auf. Er machte eine Geste zu der Dunklen Frau hin, die in einiger Entfernung stand, etwas höher als die vier Menschen auf ihrem eigenen Zeit-Einheits-Boden, und sagte zu Silverstone: »Was sie da über die Himalaya-Generation sagten, das gefällt mir. Dort drüben steht jemand von der anderen Seite des Himalaya – jemand aus einer Zeit, die wir tatsächlich von jetzt an unsere Vergangenheit nennen müssen, oder die Vergangenheit unserer Rasse. Ich meine, sie wird uns wieder zu Hilfe kommen, wenn wir sie brauchen, wie im Palast.«
»Die Vergangenheit hat sich schon seit langem für mich interessiert«, stimmte Silverstone zu. »Seit meiner Jünglingszeit wacht jemand über mich – er war einer von denen, die im Buckingham-Palast eingriffen und uns vor dieser Mörderbande retteten.« »Wir sind ihre Nachkommen ... wir können nur in die Zukunft transzendieren, nicht in die Vergangenheit. Ich möchte mal wissen, wie lang diese Zukunft ist.« Bush dachte laut. »Mein Vater liebte die UhrenMetapher, um die Winzigkeit des Menschen in der Zeit auszudrücken. Sie wissen doch – die Fossilienwelt beginnt um halb zehn oder so ähnlich, und der Mensch schleicht sich fünf Sekunden vor zwölf Uhr mittags aufs Zifferblatt. Jetzt sehen wir das andersherum, nicht wahr? Wo Gedächtnis war, ist jetzt Vorgefühl, Präkognition – und nach den fünf Sekunden auf dieser Uhr wird die Menschheit ausgestorben sein, vererbt, wenn Sie wollen ...« »Entwickelt zu einfacheren Geschöpfen.« »Na schön. Aber wir wissen nicht, was auf der anderen Hälfte des Zifferblattes geschieht, in dem, was Sie als Vergangenheit bezeichnen. Dann gibt es also das, was wir Gedächtnis nannten, überhaupt nicht?« »O doch. Gedächtnis ist nicht eben das, wofür wir es bisher gehalten haben, aber es existiert. Nehmen Sie zum Beispiel unseren Richtungssinn beim Zeitreisen. Haben Sie sich mal gefragt, wie wir das machen,
daß wir gerade da auftauchen, wo wir örtlich und zeitlich hin wollen und hin müssen?« »Oft.« »Das kommt vom Gedächtnis. Es mag ein ererbtes Gedächtnis sein – was weiß ich. Unsere archetypischen Fallträume sind vielleicht verzerrte Erinnerungen an die Zeitreisen unserer Vorfahren – manche ihrer Reisen können so lang gewesen sein, daß uns unser Trip ins Kryptozoikum dagegen wie ein Gang ums Zimmer anmuten würde! Ich glaube, unsere wahren Vorfahren hatten schon seit Myriaden von Jahren Zeitreisen. Ihre fünf Sekunden auf der Uhr sind wie nichts im Vergleich zur möglichen Dauer der Geschichte der menschlichen Rasse. Ist Ihnen das klar, Bush?« Bush blickte zur Dunklen Frau hinüber. »Das ist mir klar«, sagte er. Er hob den Finger und deutete wortlos zu ihr hin. Silverstone und Borrow blickten in die angegebene Richtung. Die Dunkle Frau stand dort nicht mehr allein. Das Kryptozoikum war voller menschlicher Schatten – nicht Schatten aus der Zukunft, sondern aus der langen und rätselvollen Vergangenheit, Hunderten und Aberhunderten menschlicher Schatten, mache deutlicher konturiert als die anderen; sie überschnitten sich, standen lautlos, warteten. »Es ist ein Augenblick – ein historischer Augenblick – ein Moment ...« stotterte Borrow.
Aber Bush hatte gesehen, was Howes vorhatte. Er sprang blitzschnell auf, riß eine Lichtpistole heraus und zielte auf Howes. »Werfen Sie die Ampulle weg, Howes! Diese Pistole hier funktioniert – ich habe sie nämlich vorhin aus Ihrem Rucksack genommen, für den Fall, daß Sie einen von Ihren Tricks vorhaben!« Howes erwiderte: »Sie vergeuden hier nur Zeit, Bush! Mein Auftrag ist, die Rebellenregierung zu stürzen, nicht die ganze menschliche Gesellschaft. Jetzt, da ich weiß, was hier gespielt wird, will ich nichts mehr damit zu tun haben. Ich gehe zurück in die Gegenwart – 2093!« »Sie bleiben hier und hören zu! Werfen Sie die Ampulle weg!« Zum Teil hinter Ann verborgen, die sich jetzt bei ihren Kochern aufgerichtet hatte, um zu sehen, was vorging, hatte Howes eine Ampulle CSD aus der Tasche genommen und sich verstohlen den Ärmel aufgerollt. Jetzt stand er reglos da und starrte Bush wütend an. Was er auch immer in dessen Augen las – es machte ihm wenig Mut. Langsam öffnete er die Finger und ließ die kleine angespitzte Kugel fallen. Bush trat sie in den Boden hinein. »Und nun geben Sie mir alles, was Sie noch an CSD haben! Was Silverstone zu sagen hat, ist wichtiger als
ein ganzer Planet voller Gleasons. Wenn wir zurückgehen, dann nicht eher als bis wir die Lage verstanden haben, mit der wir fertigwerden müssen. Recht so, Professor?« »Recht so, Eddie, danke. Captain Howes, ich muß Sie wirklich ersuchen, Geduld zu haben und mich zu Ende anzuhören.« Howes warf Bush eine frischgeöffnete Packung Ampullen hinüber. »Ich kann Geduld haben, Professor«, sagte er. Er kauerte sich wieder hin und starrte Bush an. Bush blieb stehen, wo er war und lockerte sich nur etwas. Ann brach die Spannung, indem sie die Suppe herumreichte. Sie blickten auf Bush, als ob sie auf sein Zeichen zum Anfangen warteten. Er nahm Ann einen Löffel ab und nickte Silverstone zu. »Wir werden uns freuen, von ihrem neuen Weltbild zu hören, Professor«, sagte er.
7 – Wenn die Toten erwachen »Ich bin kein Physiker und kann mich deshalb mit dieser Seite der Angelegenheit nicht allzu gründlich befassen (fuhr Silverstone fort), was, wie ich annehme, für euch alle eine Erleichterung sein wird. Auch haben bis jetzt weder ich noch meine Kollegen eine Chance gehabt, irgendwelche Forschungen über die umgedrehten Gesetze der Physik anzustellen. Sobald die gegenwärtige totalitäre Regierung gestürzt ist und die wissenschaftlichen Institute ihrer Ketten wieder ledig sind, werden, das versteht sich von selbst, die bereits bekannten kosmischen Gegebenheiten im Lichte dieser umwerfenden neuen Erkenntnisse überprüft werden. Ich will euch jetzt lediglich ein oder zwei Beispiele für die neue Betrachtungsweise im Hinblick auf den Makrokosmos vor Augen führen. Eines ist nunmehr klar: alles was der Mensch sich über das, was er seine Vergangenheit nannte, zusammengestückelt hat, betrifft in Wirklichkeit seine Zukunft. So wissen wir jetzt, daß die Erde nach und nach einschmelzen, dann auseinanderbrechen und schließlich zu Gas und interstellarem Staub werden wird, der auf seiner Umlaufbahn um die alternde Sonne ins All zerstiebt.
Wir können auch erkennen, daß dieses Geschehen in einem schrumpfenden All statthaben wird. Der Doppler-Effekt ist Teilbeweis für die Tatsache, daß die fernen Sterne und Insel-Milchstraßen auf uns zustürzen und der Zeit entgegenrasen, in der das ganze Universum sich in ein einziges Ur-Atom – oder EndAtom – zusammenballt. So wird das Universum enden. Hier haben wir also die Antworten auf Fragen, die uns bisher verborgen waren – wobei wir natürlich jetzt nicht mehr wissen, was wir zu wissen glaubten: zum Beispiel, wie die Erde entstand – geschweige denn, wie das Leben begann. Ihr erseht daraus, daß alle grundlegenden Axiome unseres Denkens, die wir uns unter so vielen Schmerzen im Laufe der Jahrtausende erarbeitet haben, nun auf dem Kopf stehen. Jedes Naturgesetz wird umgedreht oder vernichtet. Wir haben falsch beobachtet und nicht gewußt, was wir taten. Alle unsere hochgepriesene wissenschaftliche Akkuratesse und Objektivität weicht um hundertachtzig Grad von der Wahrheit ab. Das berühmte zweite thermodynamische Gesetz zum Beispiel; jetzt fangen wir an zu begreifen, daß in Wirklichkeit die Wärme vom kälteren in den wärmeren Körper übergeht: Sonnen sind Wärmesammler, nicht Wärmeverteiler. Die Natur der Wärme selbst hat sich gewandelt. Energie wird von einfachen organisierten Körpern abgegeben und
sammelt sich in höher organisierten – ein Haufen Rost kann zum Eisenstab werden. Einige unserer mühsam erworbenen naturwissenschaftlichen Gesetze bleiben jedoch bestehen. Ich kann zum Beispiel nicht einsehen, warum das Boyle'sche Gesetz, nach dem sich das Volumen eines Gases bei konstanter Temperatur im umgekehrten Verhältnis zum Druck verändert, nicht auch weiterhin gelten sollte. Was wir mit der Relativitätstheorie anfangen sollen, weiß ich nicht. Aber die ganze klassische Mechanik ist hinfällig geworden. Denkt an das erste Newton'sche Gesetz der Bewegung, wonach ein Körper im Zustand der Ruhe oder der gleichmäßigen gradlinigen Bewegung bleibt, wenn nicht eine zweite Kraft auf ihn einwirkt! Stellt euch vor, wie das in Wirklichkeit ist! Ein Fußball liegt auf dem Feld, fängt plötzlich an zu rollen, wird immer schneller und schießt plötzlich an die Stiefelspitze eines Spielers!« Silverstone wurde von Captain Howes unterbrochen. »Sie sind ja verrückt!« rief er aus. »Ja, ich dachte zuerst auch, ich sei verrückt. Wenlock glaubte, ich sei verrückt, als ich ihm zum erstenmal etwas von meinen Gedanken mitzuteilen versuchte – damals begann unser Streit. Jetzt glaube ich, daß ich nicht verrückt bin. Die Verrücktheit liegt bei allen bisherigen Generationen der Menschheit, seit Beginn der Geschichte!«
Ungläubig bedeckte Howes mit den Händen seinen kahlen Schädel. »Ich soll also glauben«, sagte er, »daß von nun an ein Laser-Lichtstrahl aus dem Körper irgendeines Schurken herauskommt und in meine Lichtpistole einschießt, wenn ich auf den Knopf drücke? Wie kann man denn in einem solchen Universum überhaupt jemanden umbringen?« »Ich muß einräumen, daß ich das auch nicht verstehe«, sagte Borrow. »Das ist auch sehr schwierig, da haben Sie recht«, sagte Silverstone. »Wir leben in einer Generation, die von Paradoxen angefressen wird, weil wir zufällig am Punkt einer Offenbarung angelangt sind. Aber sehen Sie, Captain, Sie haben unrecht, wenn Sie sagen, daß das Licht von jetzt an aus dem Leichnam in Ihre Pistole einschießen wird. Ich muß darauf hinweisen, daß sich in der äußeren Welt nicht das Geringste geändert hat; sie gehorcht denselben äußeren Naturgesetzen, denen sie immer gehorcht hat und immer gehorchen wird. Lediglich unsere Auffassung hat sich plötzlich geändert, ist plötzlich klar geworden. Immer ist das Licht vom Leichnam in Ihre Pistole geschossen, dann haben Sie auf den Abzug gedrückt, und dann haben Sie auf den Abzug drücken wollen.« »Das ist ja verrückt! Das ist absoluter Irrsinn! Bush! Sie hören, was er sagt. Sie wissen, daß er phantasiert, und daß die Dinge einfach nicht so geschehen!«
Bush sagte: »Doch, ich fange an, die Dinge so zu sehen, wie es der Professor erklärt. Die Handlung geschieht so, wie er sagt; es klingt nur deswegen so irre, weil die Auffassung des Oberbewußtseins derartig verdreht ist, daß sich das Newton'sche Gesetz umgekehrt hat – oder sich vielmehr umkehren wird. Die Entropie verläuft eben andersherum als wir dachten – genau entgegengesetzt. Es klingt besonders deswegen so verrückt, weil wir die Reihenfolge von Ursache und Wirkung verkehrt sehen, und zwar aus dem gleichen Grunde. Die Anwälte bei den Gerichten haben ihre post und propter hocs falsch herum plädiert.« Howes breitete die Arme aus – es war eine Geste hilfloser Wut. »Also schön – wenn es so ist, wie Sie und Silverstone sagen –, warum sehen wir es dann nicht so?« Seufzend antwortete der Professor: »Das haben wir ja erörtert. Unsere Wahrnehmungen sind durch eine umkehrende Bewußtseinslinse gegangen, so daß wir die Dinge rückwärts sehen, genau wie die Linse des Auges die Dinge in Wirklichkeit kopfunter sieht.« Er wandte sich an Borrow, der ein paar Fleischstäbchen knabberte, die Ann gereicht hatte. »Können Sie das alles erfassen, mein Freund?« »Ich kann das mit dem Laser eher begreifen, als daß das All auf uns zukommt. Angenommen, Sie teilen das Schießen in eine Serie auf, wie einen ComicStrip, und numerieren die einzelnen Bilder. Das erste
Bild zeigt einen Leichnam, horizontal; das zweite: Leiche halb aufgerichtet; das dritte: Leiche fast senkrecht mit von ihr ausgehendem Lichtstrahl; das vierte: Strahl geht in die Pistole hinein; fünftens: Knopf der Pistole wird gedrückt; sechstens: Entschluß entsteht im Kopf des Schützen. Alle diese sechs Szenen existieren in der Raumzeit – und durch unsere Erfahrungen von den Zeitreisen her wissen wir, daß sie permanent existieren, daß wir sie wieder und wieder aufsuchen können, wie jedes andere geschichtliche Ereignis. Also gut: sie liegen da wie die sechs Bilder eines Strips auf einer Heftseite. Man kann sie von eins bis sechs oder von sechs bis eins lesen – allerdings ist nur eine Leseart richtig. Zufällig haben wir bisher immer falschherum gelesen. Stimmt's, Professor?« »Ja, ja, das ist eine gute Analogie. Wir haben sie in der verkehrten Richtung erlebt, denn eben unser Gedächtnis war verkehrt. Wird es Ihnen jetzt klarer, Captain?« Howes kratzte sich den Hinterkopf und zuckte die Achseln. »Geben Sie mir noch eine Tasse Kaffee, Ann, bitte!« Sie waren gewissermaßen in ein Vakuum geraten. Silverstone und Bush sahen sich ziemlich hilflos an. Vielleicht weil Bush so müde war, hatte sein erster Spurt intellektueller Begeisterung etwas von seinem Schwung verloren. Er hatte sein Essen kaum ange-
rührt. Düster starrte er auf die dichten Reihen der Schattengestalten, die sie umstanden; viele von ihnen standen scheinbar halb in den undeutlich geformten Felsen – eine auf Zeitreisen häufig auftretende Sinnestäuschung. »Ann – ich möchte noch eine Tasse Kaffee!« wiederholte Howes mit scharfer Stimme. Sie saß mit hochgezogenen Knien da, ihre Essensportion neben sich. Sie starrte in den grauen Fels; ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Erschrocken beugte sich Bush zu ihr hinüber und schüttelte sie sanft an der Schulter. »Ist was, Ann?« »Willst du wieder mit deiner Pistole auf mich zielen, Eddie, um das neue System zu demonstrieren? Ich glaube, ihr träumt alle – dieser furchtbare Ort hat euch hypnotisiert. Begreift ihr denn nicht – das, was ihr da sagt, das ist doch, als ob ihr das menschliche Leben mit der Wurzel ausreißt und es dann verhöhnt! Ach, ich will kein Wort mehr davon hören! Ich habe genug, und ich will wieder zurück, ins Juraikum oder sonstwohin, lieber als euch Kerlen hier noch länger zuzuhören, hier in dieser schauderhaften Müllkippe! Das ist ja wie ein furchtbarer Traum! Ich gehe zurück – oder vorwärts – oder wo zum Teufel ihr denkt, daß das liegt!« »Nein!« Silverstone sprang auf. Er sah, daß sie am Rande der Hysterie war. Besorgt faßte er sie bei der Hand.
»Ann, ich kann Sie nicht weglassen! Ich brauche – wir alle brauchen den gesunden Menschenverstand einer Frau bei dieser Sache! Sehen Sie das nicht ein? Wir sind so etwas wie Jünger, eine Jüngerschar. Wir müssen ins Jahre 2093 zurück, sobald wir die Dinge geklärt haben, und es den anderen begreiflich machen ...« »Also, mich werden Sie nicht dabei erwischen, Norman, daß ich andern was begreiflich mache! Ich bin nicht von Ihrer Sorte, und das wissen Sie ganz genau. Ich bin bloß ein ganz gewöhnlicher Mensch.« »Wir sind alle ganz gewöhnliche Menschen, und alle gewöhnlichen Menschen werden der Wahrheit ins Auge sehen müssen!« »Warum denn? Ich habe zweiunddreißig Jahre mit dieser Lüge gelebt und war ganz glücklich damit!« »Glücklich, Ann? Wirklich glücklich? Nicht innerlich voller Angst, in ständiger Erwartung, daß eine unerhörte und schreckliche Offenbarung jeden Moment hereinbrechen könnte? Die Menschen müssen die Wahrheit erfahren!« »Lassen Sie mich mit ihr sprechen, Professor!« sagte Bush und legte den Arm um sie. »Bitte bleib hier und hör mir zu, Ann! Wir brauchen dich hier. Du wirst es überwinden. Ich weiß, wie hart du im Nehmen bist. Du kannst das aushalten.« Sie schaffte es beinahe, ihn anzulächeln.
»Hart im Nehmen? Ihr Männer seid alle gleich, ob's so 'rum oder so 'rum läuft! Ihr seid scharf auf alles Neue, auf Theorien und so'n Zeug! Sieh mal, alles, was du da sagst, daß der Lichtstrahl in die Pistole zurückfliegt, und wie du das in sechs Bildchen erklärst – « »Roger hat das doch sehr schön klargemacht.« »Lieber Gott, klar!« Sie lachte höhnisch. »Verstehst du überhaupt, wovon ihr redet? Ihr redet davon, daß die Toten wieder lebendig werden – wenn einer blutend am Boden liegt, vielleicht, und das Blut saugt sich wieder in seine Adern, und dann steht der Kerl auf und geht weg, als wenn nichts passiert wäre!« »Jesus Christus!« riefen Bush und Borrow gleichzeitig aus. Das Mädchen sprang auf. »Also bitte, Christus zum Beispiel! Ihr redet davon, wie er am Kreuz hängt, mit der Speerwunde in seiner Seite, und er wird wieder lebendig, die Römer ziehen – nein hämmern ihm die Nägel wieder aus den Händen, nehmen ihn ab und führen ihn zurück zu seinen Jüngern ... nicht wahr?« Silverstone schlug die Hände zusammen. »Sie hat's erfaßt! Sie hat's als erste erfaßt! Ich wollte die neue Konzeption von der menschlichen und tierischen Existenz noch etwas zurückstellen, aber ...« »Zur Hölle damit!« Trotzig stand sie vor ihnen, den Rücken zu den grauen Felsen. »Zur Hölle mit allen
neuen Konzeptionen! Ihr habt darüber gesprochen, daß Tote wieder lebendig werden, und habt es nicht einmal gemerkt, so sehr seid ihr in neue Theorien eingewickelt! Ihr seid ja irre, sag ich euch!« »In diesem Sinne sind wir das vielleicht«, gab Silverstone zu. »Entschuldigung, Ann. Wir haben nur versucht, objektiv zu bleiben. Das ist nun mal Männerart, so gehen wir an die Dinge heran. Das mit dem Schießen war ja nur ein Beispiel, das uns Captain Howes gab. Befassen wir uns mit dem menschlichen Leben, und ich verspreche Ihnen, es ist gar nicht so schrecklich, wenn Sie es erst richtig begriffen haben.« »Die Toten stehen wieder auf und wandeln!« Sie schlug die Arme unter und starrte ihn an, als hätte sie noch nie einen Menschen gesehen. »Okay, Professor Norman Silverstone, fangen Sie nur an und machen Sie mir wieder Angst!« »Wie Ann erkannt hat – wie ich erkannt habe –, beim Zusammenbruch des Oberbewußtseins ist die nackte, wahre Auffassung des Tiefbewußtseins vom Leben etwas schlechthin Überraschendes, ja Erschreckendes«, sagte Silverstone. »Die Sonne geht im Westen auf und im Osten unter. Sie beherrscht alles organische und sterbliche Leben, das unter ihren cirkadischen Einfluß gerät. Kurz nach Jahresbeginn fangen sich die dürren Blätter an zu regen, werden golden, erheben sich in Schwärmen vom Erdboden und
bedecken die Buchen; die Buchen werden dann grün, und um den achten Monat herum saugen sie die Blätter in sich hinein und bilden Knospen. Während dieser ganzen Zeit haben die Bäume ihre Nährstoffe in den Erdboden ergossen; jetzt stehen sie im März, Februar, Januar und Dezember kahl, bis ihnen die nächste Blätteraufnahme Kraft gibt, wieder etwas kleiner zu werden. Wie mit den Buchen ist es natürlich auch mit den anderen Bäumen. Riesige Eichen wachsen zu Eicheln herab. Und wie mit den Bäumen, so ist es mit den Tieren und Menschen. Manche der großen Weltregionen – die natürlich ihre Kräfte aus dem Tiefbewußtsein ziehen – müssen die wahren Zusammenhänge geahnt haben: ihre Behauptung, daß wir alle aus dem Grabe auferstehen werden, ist nichts weniger als buchstäbliche Wahrheit. Gleichermaßen wird die mittelalterliche Ansicht von der Spontanzeugung bestätigt. In den Gebeinen, die im Grabe verwesen, rührt es sich, organisiert es sich – die Würmer tragen das Fleisch an die Knochen an, etwas wie eine menschliche Form baut sich auf, der Sarg füllt sich; jetzt brauchen nur noch die trauernden Angehörigen zu kommen, um ihn aus der Erde zu ziehen, ihn mit nach Hause zu nehmen, die Feuchtigkeit aus ihren Taschentüchern zu absorbieren und sich zu umarmen, kurz bevor der erste Atem in den Leichnam einzieht. Oder wenn der
Leichnam verbrannt wurde, bilden die Flammen die Asche zu Fleisch um. Auf zahllosen Bahnen schießt das menschliche Leben in die Welt ein. Ertrunkene steigen vom Meeresgrund auf und werden auf die Schiffe zurückgespült, die ebenfalls wieder aus den Wogen auftauchen. Ein Verkehrsunfall – der Krankenwagen fährt rückwärts heran, voller gebrochener Knochen, die über das Pflaster verstreut werden; sie fügen sich zu einem lebendigen Menschen zusammen und springen in ein Auto, das sich ziehharmonikaartig aus einem anderen Auto herauszieht, Wrackteile, die vermutlich jahrelang auf einem entlegenen Berghang vor sich hin gerostet haben, fangen an zu glühen, kriechen plötzlich zur Form zusammen und schießen flammend gen Himmel, und drinnen im Flugzeug erwachen die Passagiere zu hektischem Leben, ängstigen sich, und furchtbar aufgeregt – aber alles wird gut, weil das Feuer erlischt und die Maschine rückwärts auf einem Flugfeld landet. Auf diese und viele andere Arten wird sich die Bevölkerung vermehren. Aber die spezielle Zeremonie zur Hebung der Bevölkerungszahl ist der Krieg. Aus Ruinen, Bombenkratern, zerschmetterten Wäldern, ausgeweideten Panzern, gesunkenen U-Booten und morastigen Schlachtfeldern stehen die Toten auf und leben, und ihre Wunden heilen, und sie werden jün-
ger. Der Krieg ist der große Geburtshelfer auf diesem Planeten. Soviel über die Geburt. Was ist mit dem Tod? Wir kennen die Zukunft: die menschliche Rasse schwindet ihrer Vereinigung mit der tierischen entgegen; geologisch gesprochen ist das Ende der Welt so nahe, daß alles zum Geringeren und zum Seelenlosen strebt. So wunderbar ist alles geplant, daß die Menschheit ebenfalls diesem Schema folgt, im Ganzen und individuell. Jedes menschliche Wesen – und das gleiche gilt natürlich auch für die Tiere – wird jünger und kleiner. Die meisten seiner Fähigkeiten sind kurz vor dem Ende der Pubertät auf ihrer höchsten Stufe. Dann wächst der Mann durch sein Knabenalter, wobei er wahrscheinlich die Schule besucht, damit er das Wissen vergißt, das er nicht mehr braucht. Das Absinken in die Hilflosigkeit geschieht relativ schnell und gnadenvoll. Wahrscheinlich befindet sich der Mensch als sogenannter Zwölfjähriger – will sagen: zwölf Jahre bis zum Mutterleib – auf seinem höchsten Stand geistiger Regsamkeit; und er braucht diese geistige Regsamkeit sehr nötig, denn er hat den komplizierten Prozeß des negativen Lernens, des Weg- oder Ablernens seiner Muttersprache zu bewältigen. Für die meisten ist das eine glücksvolle Periode, die sie am Ende ihres Lebens gern durchmachen. Sie können gemütlich im Arm ihrer Mutter liegen und sorglos vor sich hin lallen.
Wenn schließlich die Zeit herankommt, in den Mutterleib, dieses Grab der menschlichen Rasse, zurückzukehren, dann spüren sie es kaum. Vielleicht sollte ich hier anmerken – ich bitte um Verzeihung, Ann! –, daß die Mutter bei diesem Vorgang oftmals erst Schmerz und dann Unbequemlichkeiten zu ertragen hat; es dauert einen oder zwei Monate, bis das Strampeln des Kindes aufhört und es voll und ganz in das Leben ihres eigenen Körpers eingeht. Und wenn das Kindchen nur noch ein Fleck ist, dringt ihr Gatte oder Liebhaber in sie ein und saugt den winzigen Rückstand ab. Dann ist der Prozeß abgeschlossen, und häufig verlieben sie sich ineinander, ehe sie sich auf immer trennen. Noch irgendwelche Fragen?« Bush, Howes und Borrow blickten auf Ann. Sie stand immer noch an einem der monströsen grauen kryptozoischen Felsbrocken und starrte Silverstone an. Sie alle hatten die Rezession des Universums mit einiger Fassung hingenommen, aber der Rückwärtsfluß des menschlichen Lebens haute sie um. »Sie machen das so zurecht, daß es beinahe hübsch klingt«, sagte sie. »Um die häßlichen Seiten haben Sie sich 'rumgedrückt, nicht wahr? Was ist mit Krankheit und Essen und alledem?« »Sie können diesen Prozeß selbst durchdenken«,
sagte Silverstone unbewegt. »Nahrungsaufnahme und -eliminierung sind nur die Umkehr dessen, was uns das Oberbewußtsein eingeredet hat. Es mag Ihnen abstoßend vorkommen, aber das ist nur, weil es so neu ist –« »Ja – aber wollen Sie sagen, das Fleisch kommt aus dem Mund auf den Teller, wird dann entkocht, bis es wieder roh ist, wird zum Schlächter gebracht, und der macht dann daraus wieder ein lebendiges Tier – das wollen Sie doch sagen, nicht wahr?« »Ganz recht. Und ich sage außerdem: Wenn man wie ich ein, zwei Jahre mit dieser Idee gelebt hat, dann wird man sie nicht abstoßender finden als die Idee, Tiere zu zerhacken, zu kochen und zu essen.« Ann machte eine ungeduldige Handbewegung, als hielte sie seine Argumentation für bloße Sophisterei, und wandte sich Bush zu, der neben ihr stand. Er bemerkte, daß die schattenhafte Menge, die sich um die fünf Menschen scharte, jeder ihrer Bewegungen folgte, und diese Zuschauer waren ihm ausgesprochen unbehaglich. »Du kannst das alles akzeptieren, nicht wahr, Eddie?« »Ja. Ja, ich akzeptiere es; vielleicht weil ich halb berauscht bin von der Schönheit der seltsamen Konsequenzen dieser Sehweise: Wasserfälle, die aufwärts schießen – Melker, die Milch in die Kuheuter hinein-
spritzen – eine Tasse mit kaltem Kaffee, die sich selbst bis zum Sieden erhitzt ... das ist, als wenn man wieder zum Kind würde. Damals hat es mich ebenso fasziniert, wenn ein Topf kalter Milch heiß wurde, Blasen warf und sich dann Haut bildete. Wie ist ein Wasserfall magischer oder gehorcht er den Naturgesetzen mehr – wenn das Wasser aufwärts, oder wenn es abwärts fließt? Was ich nicht verstehe – Sie können es uns sagen, Professor: wann kommen wir von unserem Oberbewußtsein weg, wann sehen wir selbst, wie die Zeit andersherum fließt – sehen meine ich, nicht nur davon reden?« Silverstone schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß dieser Augenblick jemals kommen wird. Nicht für uns jedenfalls, die Himalaya-Generation. Unsere Hirne sind zu beladen mit dem, was wir Hemmungen der Zukunft nennen müssen. Aber schon die nächste Generation, die unserer Söhne, wird keine Bindung mehr an das Oberbewußtsein haben, wenn wir die Botschaft allen Menschen möglichst bald und möglichst klar verkünden.« Eine ganze Weile hatte Howes mißmutig abseits gestanden, fast als habe er überhaupt nicht zugehört. Jetzt wandte er sich wieder den anderen zu und sagte: »Sie erklären gut, Silverstone, aber Sie haben nicht ein einziges konkretes Fäserchen Beweis für das alles geliefert.«
»Im Gegenteil, ich habe aus Kunst und Wissenschaft Beweise genug zitiert. Wenn wir unsere Feinde gestürzt haben und die Astronomen ihre Forschungen wieder aufnehmen können, dann werden wir bald die Unterlagen dafür liefern, daß der Doppler-Effekt in Wirklichkeit ein schrumpfendes Weltall beweist – und nicht ein sich explosionsartig ausdehnendes, wie heute angenommen wird. Bald werden Sie von Beweisen umgeben sein. Sie sind ja schon von Beweisen umgeben, aber Sie wollen ja diese tristen Felsen hier nicht als Zeugnisse für das nahe Ende der Welt akzeptieren.« Howes schüttelte den Kopf. »Ich will nicht glauben, sondern wissen. Angenommen, ich schaffe es, an Gleason heranzukommen, und ich töte ihn – wird er dann wieder lebendig?« »Denken Sie doch zu Ende, Mann! Wir hoffen, Sie haben Gleason bereits erwischt und getötet. Jetzt, 2093, hat er die Macht, aber wir wissen: er wird die Macht verlieren, die Wirtschaft wird wieder gesunden, und bald wird niemand mehr etwas von ihm gehört haben – er wird ein unbedeutender Major sein, der irgendwo in der Mongolei Dienst tut. Und wenn Sie, sagen wir mal, nach 2000 zurücktranszendieren, wird auch nicht ein Flüsterlaut seines Namens übriggeblieben sein.« »Wenn ich ihn getötet habe, warum erinnere ich mich nicht daran?«
»Überlegen Sie sich das doch selbst, Captain! Sie glauben, Sie haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis, aber so gut wie gar keine präkognitiven Fähigkeiten. Jetzt wissen Sie, daß das Gegenteil der Fall ist, und dafür gibt es einen logischen Grund. Jenseits der Wasserscheide des Himalaya, von dem wir gesprochen haben, wird das menschliche Leben auf das Vergessen hin organisiert sein; ein schlechtes Gedächtnis wird als ein ausgesprochener Vorzug gelten – indessen glaube ich, daß Sie mir insofern zustimmen werden, daß die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, jederzeit nützlich sein würde.« Howes sah die anderen an, als erwarte er von ihnen moralische Unterstützung. »Der Professor – da will er Prophet spielen und dem Volke große Dinge verkünden!« »Falsch! Ausgesprochen falsch, Captain!« sagte Silverstone. »Ich sehe nur, daß wir am Ende eines großen Zeitalters stehen, wenn die Menschen die Wahrheit erkennen. Aus irgendeinem Grunde werden wir und alle, die nach uns kommen, bis zur Steinzeit hin, einer vollkommenen Täuschung unterliegen. Ich – ich bin nur der letzte Mensch, der sich der Wahrheit entsinnt; mein Teil ist das schreckliche Wissen darum, daß ich ausgestoßen bin und verfolgt werde, bis auch ich vergessen habe, was jedermann bereits vergessen hat; daß ich so tief sinken werde, Wenlocks falsche
Theorie zu akzeptieren und daß ich meine Jünglingsjahre damit vergeuden werde, daß ich den Lehren des alten Freud und seiner Partisanen teilweise Glauben schenke!« Einen Augenblick lang glich er in der Tat einer tragischen Gestalt und war plötzlich von der Größe seiner eigenen Aussage so überwältigt, daß er kein Wort mehr herausbrachte. Jetzt war klar, woher der vogelhafte Gesichtsausdruck (wie eine sich selbst verspottende Spottdrossel) kam. Ann und Bush versuchten, ihn zu beruhigen. Howes nahm die Gelegenheit wahr, um mit Borrow zu sprechen. »Es wird dunkel. Wir sollten sehen, daß wir von diesem verdammten Schreckensort wegkommen – wenn ich noch viel von diesem rätselhaften Zeug höre und dabei von Phantomen angeglotzt werde, ich bin reif fürs Irrenhaus! Was halten Sie denn von alledem, Borrow? Anfangs haben sie ja mitgemacht, aber jetzt sind Sie ein bißchen still geworden – ich dachte, vielleicht haben Sie sich die Geschichte überlegt?« »Nicht eigentlich. Ich glaube, ich akzeptiere, was Norman sagt; aber wenn man es voll akzeptiert, muß man offensichtlich damit leben. Ich überlege mir das Warum. Warum hat sich das Oberbewußtsein auf das eigentliche Hirn gesetzt wie eine schwarze Brille und alles verdunkelt? Warum?«
»Ha! Das hat Silverstone nicht erklären können. Silverstone!« Sie drehten sich nach Silverstone um. Hinter ihm stand noch ungebrochen, sich überschneidend wie die zahllosen Einzelbilder einer verrückten Fotomontage, der große Kreis der Schatten, Zeitfahrer aus der Vergangenheit, wie sie jetzt wußten. Aber vor ihnen – da bewegte sich etwas, das nicht unter die Geister gehörte. Bush sah es. Ein Mann löste sich von der Kante eines der elefantischen Felsen. Bush erkannte ihn. Er fiel völlig aus dem Rahmen des Kryptozoikums, er gehörte nicht dazu (wenn es so etwas wie Zugehörigkeit überhaupt noch gab): der Mann, der da aus dem Schatten des Felsbrockens trat, trug noch den grauseidenen Anzug und den rehfarbenen Zylinder, mit dem er sich im BuckinghamPalast verkleidet hatte. Bush wußte sofort, wer er war: Grazley, der Killer. Grazley war auch jetzt dienstlich hier. Sein brutaler Mund war verkniffen, er hatte die Pistole erhoben. Bush hatte noch die Pistole, die er für den Fall, daß es Ärger geben würde, aus Howes' Rucksack genommen hatte. Er riß sie hervor: es war wie eine Reflexbewegung. »Hinlegen!« brüllte er. Er feuerte. Beim Abdrücken wußte er: zu spät. Die Luft neben seiner linken Wange wurde für einen Se-
kundenbruchteil bläulich, als der Laserstrahl aus Grazleys Pistole zuckte. Bush hatte nicht getroffen. Er schoß noch einmal. Der Killer verblaßte, er transzendierte, offensichtlich stand er noch unter CSD. Bushs Lichtimpuls brannte sich in seine linke Schulter. Grazley drehte sich langsam um und fiel, ohne daß sich seine starre Haltung änderte, aber bevor er den Boden erreichte, war er verschwunden; vermutlich trieb er nun wie ein aufgegebenes Schiff bewußtlos durch die Äonen, glitt den Entropie-Abhang hinunter, durch die unergründlichen Geochronen des Kryptozoikums, der Auflösung der Erde entgegen. Bush vergaß Grazley sofort und wandte sich um: Silverstone lag sterbend in Anns Armen. Seine Jacke schwelte noch, und über der Brust war der Stoff verkohlt. Keine Hoffnung mehr. Howes raste wie ein Verrückter. »Dafür werden sie mich erschießen! Ihr Idioten! Bush, das ist Ihre Schuld! Sie haben meine Waffe gestohlen – wie konnte ich da Silverstone richtig beschützen? Was machen wir jetzt? Daß Grazley bis hierher kommen konnte – unglaublich! Aber auf eine Art war es nur logisch, uns hier zu suchen – Silverstone hätte das erkennen müssen. Er hat sein eigenes Todesurteil unterschrieben!« »Sie haben Grazley im Palast das Leben gelassen – es ist ganz allein Ihre Schuld, Howes!« sagte Bush.
Er blickte auf den hingestreckten Silverstone und dachte: Was für ein wunderbarer Mensch, wunderbar und unerkannt! Die Augen des Professors brachen, er atmete nicht mehr. Ann stützte immer noch hilflos seine Schultern. Borrow zupfte Bush am Ärmel. »Eddie, noch jemand!« »Was ist los?« Widerstrebend hob er den Kopf. Er mochte nichts mehr sehen. Die Dunkle Frau war aus der zahllosen Schar der Schatten hervorgetreten. Jetzt war sie dicht bei ihnen, direkt neben Borrow. Sie hob die Hand mit königlicher Geste und gewann rasch an Substanz, bis sie ebenso wirklich und körperlich war wie die vier. Sie blickte Bush, der vor der Intimität dieses Blickes zurückwich, liebevoll und forschend an. »Du kannst dich in unserem Kontinuum materialisieren?« fragte er. »Warum hast du dann Grazley nicht daran gehindert, Silverstone zu töten? Ihr müßt doch Tausende sein – warum zum Teufel seid ihr nicht dazwischengegangen, wenn ihr konntet?« Sie machte eine Handbewegung zum Leichnam Silverstones. »Wir haben uns hier versammelt, um bei der Geburt eines großen Mannes zugegen zu sein.«
8 – Wanderer im Kryptozoikum Sie war, aus der Nähe betrachtet, eine schöne Frau. Bush schätzte ihr Alter auf höchstens fünfundzwanzig Jahre; sie hatte eine makellose bräunliche Haut, klare graublaue Augen und mitternachtsschwarzes Haar. Figur und Haltung waren gut; ihre prachtvollen langen Beine wurden durch das kurze hemdartige Kleid eindrucksvoll betont. Aber es war ihre Persönlichkeit, die Bush beeindruckte und fast einschüchterte. Er starrte sie an; sie ergriff lächelnd seine Hand. »Wir kennen uns schon sehr lange, Eddie Bush! Mein Name ist Wygelia Say. Nur für diesen Augenblick, kurz vor der Geburt Norman Silverstones, haben wir vom Zentral-Amt die Erlaubnis erhalten, mit euch zu reden.« Sie sprach Englisch, aber mit so seltsamer Intonation, daß nicht ganz leicht zu verstehen war, was sie sagte. Ungeachtet seiner Betroffenheit konnte Bush sich nicht enthalten zu fragen: »Warum hast du Silverstone sterben lassen, wenn du hättest eingreifen können? Du mußt doch gewußt haben, daß der Mörder kam?« »Wir denken anders als ihr, mein Freund. Es gibt menschliches Eingreifen, aber es gibt auch Schicksal.«
»Aber er wurde gebraucht!« »Ihr vier besitzt jetzt seine Gedanken. Soll ich euch sagen, was in der Zeit geschehen ist, die ihr für die Zukunft haltet? Ihr seid nach 2093 zurückgekehrt – wir verwenden ein anderes Datensystem – und habt dort die Geburt Silverstones gemeldet. Ein Umsturz erfolgt. Wenlock flieht mit eurer Hilfe. Ihr besetzt einen Radiosender und fangt an, den Menschen die Wahrheit zu verkünden. Revolutionen brechen aus –« Sie wurde von Howes unterbrochen, der wütend vorstieß: »Sie können sich da nicht so einfach 'rausreden, junge Dame! Wenn –« Er verstummte mitten im Satz. Ein Ausdruck maßloser Verwirrung überzog sein Gesicht. Wygelia hatte die Hand erhoben und ein paar Worte gesprochen, die Bush noch in den Ohren klangen. »Was hast du da gesagt?« »Das ist nur ein bestimmter Satz – einen Zauberspruch würde man das vielleicht in ein paar Jahrhunderten nach euren Tagen nennen. Eine degenerierte Version dieses Satzes wird in einigen Jahren in die Wenlock-Formel aufgenommen werden. Dieser Satz blockiert die motorischen Regionen in David Howes' Hirn auf eine gewisse Zeit, die ihm jedoch nur wie der Bruchteil einer Sekunde vorkommen wird.« Mit gemessener Grazie wandte sie sich lächelnd zu
Borrow und Ann, um sich mit ihnen bekanntzumachen. Inzwischen änderte sich die Szene. Die Schatten der Dämmerung krochen herauf, und die Scharen der Zeitfahrer aus der Vergangenheit kamen näher, um die Geburt Silverstones zu beobachten – für Bush jedoch, der noch mit seinem Oberbewußtsein belastet war, sah es aus, als zögen sie sich nunmehr zurück und überließen die weite Landschaft ihren eigenen verwirrenden Strukturen. Bush trat etwas abseits; er wollte das Geschehene allein für sich durchdenken. Die Scharen lösten sich auf. Die Landschaft wurde leer; sie schien jetzt weder Maß noch Sinn zu haben. Schließlich rief ihn Ann, und er ging zu der Gruppe zurück. Ann und Borrow sahen entschieden froher aus. Wygelias Einfluß hob anscheinend die Stimmung; sicher hatte sie ihnen Mut gemacht. Selbst Howes, der jetzt aus seiner Trance erwachte, hatte seit langem nicht so zufrieden ausgesehen. »Wygelia ist lieb«, sagte Ann und hakte sich bei Bush ein. »Sie hat mir erzählt, daß sie jahrelang Rückwärtssprechen trainiert hat, damit wir sie verstehen können. Jetzt glaube ich wirklich, daß alles, was uns Silverstone erzählt hat, die reine Wahrheit ist.« Vier einheitlich uniformierte Männer aus der Vergangenheit materialisierten sich neben Wygelia. Sie
trugen eine Bahre, auf die sie Silverstones Leiche ehrfurchtsvoll gebettet hatten, und warteten jetzt auf einen Befehl Wygelias. »Ihr habt noch eine Reise gemacht, nachdem ihr nach 2093 zurückgekehrt seid«, sagte sie zu Bush. »Nein, das habe ich verkehrt gesagt – ich bitte um Entschuldigung, es ist so schwierig, die Dinge so auszudrücken, wie ihr sie seht. Also, ihr habt noch eine Reise zu machen, ehe ihr nach 2093 zurückkehrt. Ja, so stimmt es. Weil Geburt und Tod bei uns etwas anderes bedeuten als bei euch, unterscheiden sich auch die entsprechenden Zeremonien auf jeder Seite der Himalaya-Generation, wie das euer Freund Silverstone so treffend bezeichnet hat. Wir möchten, daß ihr mitkommt und als seine allerersten Gefährten der Geburt seines Körpers beiwohnt – was ihr sein Begräbnis nennen würdet –; für uns ist es jedoch ein freudiges Ereignis.« Sie spürte Widerstand bei ihnen und fügte rasch hinzu: »Bei der Gelegenheit werde ich über alles Auskunft geben, was ihr etwa wissen wollt. Manches kann ich euch beantworten, wozu Silverstone nicht imstande sein wird.« »Wir kommen gern mit«, sagte Bush. »Und nehmt ihr uns mit in eure Welt – in die Vergangenheit?« fragte Borrow. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht möglich, und
wenn es möglich wäre, dann wäre es nicht erlaubt. Auf jeden Fall haben wir einen angemesseneren Geburtsort für Silverstone.« Sie wollten sich für die CSD-Injektionen fertigmachen, aber Wygelia bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, das sei nicht nötig. Die Wenlock-Disziplin war auf solche materielle Hilfen angewiesen, aber in Wygelias Tagen gab es wirkungsvollere Verfahren – die Wenlock-Disziplin war im Grunde nur eine degenerierte Erinnerung an diese. Wygelia sagte etwas zu ihnen und machte ein seltsames Zeichen über ihren Köpfen, und schon waren sie miteinander auf dem Weg, transzendierten, erweiterten ihren Geist nach Wygelias Geheiß, fuhren geschwinde dem entgegen, was für sie einst der Anfang der Welt gewesen war. Noch mehr: sie waren voneinander getrennt, lebten innerhalb ihrer jeweiligen Seinssphären, aber ihre Gedanken gingen zwischen ihnen hin und her. Oder, um es genauer zu sagen, sie befanden sich in einer Sphäre, in der sie selbst Gedanken-Form annahmen. Was sie dachten, waren sie im gleichen Augenblick. Da jeder sich im Gedankenfluß des anderen befand, existierten sie ausschließlich als Gedanken-Wesen. »Alles Bewußtsein steht in ständiger Kommunikation«, empfingen sie Wygelia in ihrer denkenden Form, die ihnen entgegensprühte wie ein riesiger
blühender Strauch. »Nur dadurch, daß man einen Bruchteil dieser ungeheuren Kraft an sich zieht, sind Bewußtseinsreisen möglich. Habt ihr nie darüber nachgedacht, wo die Kräfte verborgen liegen, auf denen das Bewußtseinsreisen beruht? Einst gab es eine Zeit, in der die gesamte menschliche Rasse, wie wir eben jetzt, ständigen und direkten Kontakt von Bewußtsein zu Bewußtsein hatte; aber heute, das heißt in meiner Zeit, die von der euren nur ein paar Jahre entfernt ist, hat die Menschheit ihre große Epoche schon hinter sich und versinkt im Sonnenuntergang – oder hat den Grat des Himalaya überschritten, um diese plastische Bezeichnung zu gebrauchen.« Aber aus der bleichen Metapher der Sprache wurde hier die Sache selbst, so daß sie für einen zeitlosen Moment Teil des endlosen Generationszuges aller Männer und Frauen waren, welche in die trübe Glut hinabströmten, die jenseits der wolkenumwogten allerhöchsten Gipfel liegt. Anns Gedanken kamen klein und einsam, aber springlebendig, wie tänzelnde Schuhe auf einem leeren Parkett. »Wygelia, du bist ein Teil jener herrlichen Wirklichkeit, auf die Norman Silverstone nur einen kurzen Blick werfen konnte!« Hinter dem tanzenden Paar Schuhe flatterten bunte Wimpel und sprachen davon, wie Ann die junge Frau und ihre Fähigkeiten bewun-
derte. Und hinter den Wimpeln kam ein silberner Bumerang geflogen und sang: »Und ich bin auch nicht mal eifersüchtig auf deine alte Freundschaft mit Eddie!« Und Wygelias Gedanken kamen zurück, komplex wie eine Schneeflocke, aber launig und hüpfend vor lauter Lachen und Neckerei: »Eifersüchtig solltest du auch nicht sein – ich bin, was du die Enkelin deiner Vereinigung mit Eddie nennen würdest!« Und alle waren von einem Konzert der Formen erfüllt, Ausdruck einer Mischung von Emotionen – Entzücken, Verwirrung und Überraschung – und ein paar kleine Obsidianwürfel Protest, die von Ann und Bush ausgingen und in hochzeitlicher Munterkeit zusammenschmolzen. Dieses ganze verwirrende Erlebnis wurde noch verwirrender, weil Borrow riesige vieldimensionale Räume mit abstrakten Gedanken füllte – er verwandelte sich in vervielfachte Balken mentaler Energie, welche ein mächtiges, aber vergängliches Kunstwerk aufbauten; und zu gleicher Zeit führte Howes einen gesonderten Gedankenaustausch mit Wygelia. Seine Frage, die wie eine Schaufel Kies durch den Raum flog, erkundigte sich, wohin die Fahrt ginge. Ihre Antwort, leuchtend und elektrisch, bedeutete ihn: »Du weißt, daß wir bereits Milliarden Jahre hinter dem Phanerozoikum und mitten in der dekompositorischen Zeit sind, wo nur noch Chemikalien miteinander um ihre
Existenz kämpfen. Du wirst sehen, daß Silverstone von den letzten Tagen der Welt herkommt.« Und darauf Howes' winzige Reflektion, sanft und duldend wie ein Pollenkorn: »Dann werden wir sterben.« Sie standen irgendwo und wußten nicht wo; sie hatten etwas erlebt und wußten nicht was. Sogleich griff sich erst Howes an die Kehle, dann Borrow, Ann und Bush: kein Sauerstoff sickerte mehr durch die Luftlecker. Sie waren durch soviele Erdzeitalter zum Ende – oder zum Anfang? – der Welt gefahren, daß die Gase, von denen menschliches Leben abhängig ist, jetzt im stöhnenden Innern des Erdballs in Form nichtflüchtiger chemischer Verbindungen eingeschlossen waren. »Ihr seid sicher!« rief Wygelia und wies auf die Träger der Bahre. Aus den Behältern, die sie auf dem Rücken trugen, ragten hohle, antennenartige Röhren, die jetzt heftig qualmten wie schlechtbrennende Pechfackeln. »Wir haben ein eigenes Verfahren, um uns an diesen wüsten Orten mit Sauerstoff und Stickstoff zu versorgen«, sagte sie. »Außerdem sind wir vor der Umwelt durch eine Energieglocke abgeschirmt, die noch innerhalb der Entropie-Schranke arbeitet, so daß uns hier nichts geschehen kann.« Schon während sie sprach, bekamen sie Luft in die
Lungen und konnten sich Zeit nehmen, ihre Umgebung zu betrachten. Die Erde, die ihrem Ende entgegensank, befand sich in halbgeschmolzenem Zustand. Die Temperatur außerhalb der schützenden Sphäre und jenseits der Entropie-Schranke betrug mehrere tausend Grad Celsius. Es schien die Stunde der Morgendämmerung zu sein, doch war auf diesem zergehenden Planenten sicher gar nicht richtig Nacht gewesen. Um sie war weiter nichts als ein Meer von Asche; darauf lagen Flecken gebrochenen Lichts, welches aufwärtsstrahlte. Dieses Meer wogte; die Asche bildete nur eine dünne Kruste über einem Brei aus geschmolzenen Felsen. Die kleine Gruppe mit Silverstones Leichnam in ihrer Mitte stand auf dem einheitlichen Zeit-Niveau, das ungefähr der Oberflächenhöhe einer riesigen, etwa einer halben Meile breiten Felsplatte entsprach. Wie das geschmolzene Meer befand sich auch dieser Fels in ständiger unruhiger Bewegung; er trieb wie ein Eisberg auf dem Magma, und wie ein Eisberg würde er sich irgendwann auflösen und zergehen. Bush starrte auf die Szene. Er spürte keine Ergriffenheit. Er fühlte überhaupt nichts. Fürs erste hatte er Wygelias Information, daß er Ann heiraten würde, beiseite gelegt; durch irgendeinen Trick seines Gedächtnisses konnte er sich eben jetzt an nichts ande-
res erinnern als an die kleine Joan Bush, die aus irgendeinem obskuren Grunde den Mann geheiratet hatte, der ihres Vaters einstigen Laden führte. Ihr Bild, wie sie ihrem Vater liebevoll den Arm um die Schulter legte, war ihm nahe, vielleicht weil ihm eben eine Offenbarung über sein eigenes zukünftiges Familienleben zuteil geworden war. In ihm erhob sich etwas, das keinen besseren Namen als Sehnsucht hatte; ihr Leben, das spürte er, konnte kaum weniger wichtig sein als das Leben der Erde selbst. Er wandte sich zu Wygelia und unterbrach ganz unbewußt ihr Gespräch mit Ann: »Du bist an vielen Orten bei mir gewesen. Du kennst das Bergmannsdorf und Joan, du hast gesehen, was mit Herbert passierte.« Sie nickte. »Dort hast du angefangen, dein wahres Selbst zu finden – oder vielmehr, wie ich es ausdrükke, dort hast du dich verloren.« »Was dort in Breedale passierte, ist in eurer Ausdrucksweise weniger eine Tragödie gewesen als in unserer – habe ich da recht?« »In welcher Hinsicht?« »Du hast Herberts Ende gesehen. Er konnte sein Schicksal schließlich nicht mehr ertragen. Zum Schluß sah er keine andere Lösung mehr, als sich die Kehle durchzuschneiden und blutend in den Garten zu rennen. Das Ende seiner Frau war ebenso furcht-
bar. Joan – ich glaube, sie heiratete eher des Geldes als der Liebe wegen, die ihr nichts als Sorgen gebracht hätte. Diese Geschichte könnte allein in ihrer Generation viele Tausendmal multipliziert werden, nicht wahr? Nun sieh das mal so, wie es wirklich war, ohne die verdunkelnde Linse des Oberbewußtseins! Joans liebeleere Ehe ist vorbei, sie kommt zurück und findet ihren Vater reglos im Unkraut liegen, kurz vor seiner Geburt. Ihre Mutter wird wieder lebendig, und die Misere ihrer Schwangerschaft ist zu gegebener Zeit vorbei. Der dicke Mann kommt und gibt ihr den kleinen Laden zurück. Die Zeche ist wieder in Betrieb, und alle haben Arbeit. Nach und nach wird die Familie kleiner, die Lasten werden leichter, die Hoffnungen größer. Joan, wollen wir annehmen, wird ein glückliches Baby und sinkt schließlich wieder in ihre Mutter hinein, die ihrerseits wieder jung und hübsch wird. Es gibt keine Tragödie und viel weniger Verzweiflung. Ich begreife jetzt, warum der Aufenthalt, den ich bei meiner Zeitreise in Breedale einlegte, für mich von so vitaler Bedeutung war. Ich erkannte: menschliche Sünde ist meistens das Resultat großer menschlicher Not. Ich selber habe die niedrigen Handlungen meines Lebens aus Not begangen, und diese Not war vor allem Unsicherheit. Ist man erst einmal vom
Oberbewußtsein frei, dann kann man – dann kann niemand mehr – unter der Unsicherheit leiden, weil man die Zukunft kennt. Was Joan geschah, einer liebenden Kreatur, welche schließlich die Liebe verleugnete, ist wie die Geschichte aller unter der Herrschaft des Oberbewußtseins lebenden Menschen. Sag mir also, welche furchtbare Heimsuchung war es, die den Menschen das Oberbewußtsein brachte? Was geschah eigentlich auf dem Himalaya?« Borrow sagte nachdenklich: »Ich weiß nicht, Eddie, was du mit Joan erlebt hast; aber das war die Frage, die ich schon an Silverstone richten wollte – und an Wygelia: Warum in des Himmels Namen alles dieses, vom Steinzeitmenschen bis zu uns?« »Du verdienst eine Antwort, und ich will dir antworten, so einfach, wie es mir möglich ist, und dabei versuchen, mich deiner Ausdrucksweise zu bedienen«, sagte Wygelia. Sie blickte in das stille Gesicht Norman Silverstones auf seiner Bahre, als ob sie Kräfte sammeln wollte. »Bisher habt ihr noch nichts über die lange Vergangenheit der menschlichen Rasse vernommen – über ihre Zukunft, wie ihr es zu sehen gelernt hattet. Aber ihr müßt wissen, daß diese Vergangenheit ungeheuer lang war – ein Dutzend Kryptozoika aufeinandergestapelt, ungezählte Äonen. Das Wachstum des Oberbewußtseins war hingegen sehr schnell, es
vollendete sich innerhalb zweier oder dreier Generationen. Das Oberbewußtsein entstand aus der ersten ernsthaften geistigen Störung, die wir jemals erfuhren – denn wir hatten niemals eine von Tragödien und geistigen Leiden geprägte Geschichte, wie ihr sie auf eurer Seite des Himalaya hattet. Diese Störung wurde durch die Erkenntnis bewirkt, daß das Ende der Welt näherkommt. Ihr habt keinen Begriff von der Macht und dem Glanz unserer Rasse. Ihr seid unsere Kinder, und wir sind eure Kinder, die Nachfolge ist ungebrochen. Und doch leben wir unter anderen Naturgesetzen als ihr, wie Silverstone euch erklärt hat, und haben mit diesen vieles geschaffen – Dinge, die euch zu wundersam vorkommen würden, als daß ihr sie glauben könntet – Zeitreisen in ungeheurem Maßstab sind nur ein kleines Beispiel. Wir waren eine beinahe vollkommene Rasse – ihr würdet sagen: wir werden es sein. Könnt ihr euch nun die Bitternis vorstellen, die solche Menschen empfanden, als sie in den Tagen ihrer Größe einsehen mußten, daß der Planet, auf dem sie leben, sterben würde, und mit ihm das ganze Sonnensystem, dessen Teil er ist? Wir waren nicht so abgehärtet durch unzählbare Sorgen wie ihr; wir kannten überhaupt keine Sorge; und so überkam uns eine Massenkrankheit: die Abkehr von der Zeit. Durch
diese Epidemie gerieten wir an den Rand der Katastrophe. Wir meinen, daß es eine evolutionäre Krankheit war. Unsere nächste Generation, oder in manchen Fällen die übernächste Generation, wurde geboren (oder starb, wie ihr sagt) mit einem Bewußtsein, dessen obere Schicht in ihrer zeitlichen Polarität umfunktioniert war, so daß sie die Welt sahen, wie ihr sie seht – denn ihr wart diese Generation. Und wir sehen heute, daß diese Umkehrung die größte Gnade war, daß ...« »Warte, Wygelia«, sagte Bush. »Wie kannst du das Gnade nennen, wenn du zugibst, daß wir – daß die Leute von Breedale glücklicher sein würden, wenn sie ihr Leben richtig herum sehen würden? Und ebenso alle Generationen der menschlichen Geschichte, durch alle Kulturen hindurch?« Sie antwortete entschieden und ohne Zögern: »Ich nenne es Gnade, weil ihr durch eure vielen kleinen Leiden abgelenkt wurdet, so daß das größte Leid euch verborgen blieb!« »Das kannst du nicht sagen! Denk an Herbert Bush, der, an seinem eigenen Blut erstickend, in den Garten rannte! Welches Leid kann größer sein als das?« »Nun – der Schmerz, genau zu sehen, wie alle deine herrlichen Fähigkeiten nacheinander weggleiten, Generation für Generation. Zu sehen, wie die Ingeni-
eure immer primitivere Maschinen konstruieren; wie hohe Regierungskunst zugunsten einer blöden Tyrannei abdankt; wie die Baumeister gute und bequeme Häuser abreißen, um schlechtere zu bauen; wie die Chemiker zu alten Narren degenerieren, die nach einem Metall suchen, das sie zu Gold transmutieren können; wie die Chirurgen ihr kompliziertes, hochentwickeltes Instrumentarium wegwerfen und dafür zur Holzsäge greifen; wie Bürger ihre Anstandsskrupel vergessen und zu öffentlichem Hinhängen rennen – und das alles geschieht ein paar armselige Generationen, nachdem ihr vier Menschen dort in die Leiber eurer Mütter gekrochen seid. Könntet ihr das ertragen? Es ist die Vergreisung einer ganzen Gattung! Könntet ihr ertragen, zuzusehen, wie die letzten Reste der Agrikultur in schmutzigem Nomadentum zugrundegehen? Könntet ihr ertragen, Hütten gegen armselige Höhlen einzutauschen? Könntet ihr ertragen, das menschliche Auge seinen Glanz verlieren zu sehen, nachdem die Intelligenz es verlassen hat? Und dann beginnt alles zu vergreisen, selbst die Pflanzen, selbst die Reptilien und Amphibien. Auf euren Zeitreisen habt ihr sie an Land kriechen und es bevölkern sehen. Wie zynisch ihr auch immer sein möget, ihr müßt Hoffnung und Zuversicht daraus geschöpft haben! Aber nehmt einmal an, ihr hättet diesen Vorgang mit unseren klaren Augen gesehen.
Würdet ihr nicht die schwerfälligen Amphibien des Perm lieben, wie primitiv, wie unvollkommen sie auch immer sein mögen, weil sie Zeichen der Erhabenheit sind, die einst auf Erden war? Und wenn diese Amphibien in Schlamm und Sumpf zurückkriechen und zu Flossenwesen degenerieren – würdet ihr da nicht weinen? Würdet ihr nicht weinen, wenn ihr seht, wie die letzten grünen Pseudo-Algen von ihrem Felsen auf immer in die warme See zurückgleiten? Wenn die Trilobiten verschwinden? Wenn das Leben zu Schlamm verstirbt? Dieser furchtbare Prozeß, die Vergreisung der Erde, kann nie rückgängig gemacht werden! Die Menschheit muß den schweren Weg in die hinwegeilende sinnlose Welt des Dschungels gehen; das Dschungel muß in der unentrinnbaren Ebbe der Zeit zum Algenwald verschrumpfen, und alles, was war, muß sich in Feuer und Asche auflösen, wie wir es hier um uns sehen. Kein Entrinnen! Keine Hoffnung auf Entrinnen! Aber das Oberbewußtsein fiel wie ein Visier herab und schützte die Menschheit davor, den vollen Schrecken ihres endgültigen Verfalls zu erkennen.«
9 – Gott der Milchstraßen Darauf wurde Silverstone begraben, oder, wie Bush und seine Gefährten es zu sehen begannen, man empfing seinen Körper von der Natur. Und diese MagmaWelt schwimmender Felsen war sicherlich das wildeste Antlitz der Natur, in das einer von ihnen jemals blicken würde. Wygelia regulierte die Energie-Sphäre. Die Bahre mit dem Leichnam des Professors wurde abgesetzt und dann die Sphäre derart verzogen, daß die Bahre in eine Ausstülpung der Sphäre zu stehen kam; diese Ausstülpung schnürte sich sodann ab, ähnlich der Kugel, die ein Glasbläser bläst. Mit dem Leichnam in ihrem Innern trieb die Blase von der Masse der schwimmenden Felsen hinweg. Sie schwebte über dem Ozean wogender Asche und berührte ihn schließlich. Im selben Augenblick stieg ein riesiger Strahl, ein Block flüssigen Feuers, hinauf in die verdichtete Luft. Die Blase flammte auf und war verschwunden. Alles war vorüber, nur ein großer Lichtstreif zuckte über der breiigen Wüstenei auf und verschwand ebenfalls. Mit bewegter Stimme sagte Howes: »Wir müßten eine Trompete haben – dann hätten wir den Zapfenstreich blasen können.«
»Die Reveille«, verbesserte Borrow, »das Große Wecken.« Es war wohl nichts mehr zu sagen. Sie konnten die Augen nicht von der phantastischen Szenerie lösen. Es war jetzt taghell. Ein starker Wind hatte sich erhoben und blies Funken aus dem wüsten Land. Noch ein paar Jahrtausende, und alles würde Feuer sein, ihre Insel würde schmelzen wie eine Kerze im brennenden Ofen. Der Wind riß die Wolken auf, die über der ganzen Weite des Himmels gelegen hatten wie eine Schicht von der Farbe und anscheinend auch von der Dichte des Schiefers. Diese Schicht löste sich jetzt in mächtigen Fetzen ab, die eher Inseln als Wolken glichen, und die Sonne wurde frei. Die Sonne loderte, und doch war es fleckig dunkel. Sie zog Feuerstreifen. Es war wie ein Augenzeichen des nahenden Infernos. »Ja, nun müssen wir wohl nach 2093 zurück, Wygelia«, sagte Howes in gezwungen-leichtem Offizierskasino-Ton. »Eines möchte ich dich aber noch fragen, bevor wir gehen: Wir kriegen Ärger, wenn wir zurückkommen – wie werde ich – äh – geboren werden?« »Als Sieger, Captain. Tapfer und keineswegs nutzlos. Mehr brauchst du nicht zu wissen. Und hast du jetzt alles vollkommen verstanden?« »Ich habe ja keine andere Wahl, nicht wahr? Und
ich weiß, was ich tun werde, mein Plan steht fest. Ich werde natürlich zuerst mit unserem revolutionären Kader Kontakt aufnehmen und dort Bericht erstatten. Dann werde ich mich der Volks-Aktion stellen. Ich werde vor Gleason kommen. Und ich werde ihm alles sagen – alles über das Oberbewußtsein.« »Werden Sie ihn überzeugen?« fragte Borrow. »Ich werde versuchen, ihn zu erschüttern. Oder, wenn ich eine Chance dazu habe, werde ich ihn töten.« »Ich glaube, nach alledem werden wir auch aktiv werden müssen«, sagte Ann. »Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich es anfangen soll, die ganze Geschichte zu erklären.« »Hier ist noch ein Argument, das bis jetzt noch nicht zur Sprache gekommen ist«, sagte Bush. »Vielleicht habe ich es aus meinem eigenen Leben, vielleicht aus Breedale – oder, was noch wahrscheinlicher ist, es liegt überall in der Luft. Du und ich, Ann, wir haben mal über Inzest gesprochen. Das ist die Stelle, wo die Naht zwischen Ober- und Tiefbewußtsein am schwächsten ist – ganz natürlicherweise, denn da geraten Leben und Sterben, Geburt und Tod durcheinander. Das Tabu auf dem Inzest – wir haben damals gesagt, kein Tier hätte so ein Tabu; es wurde erfunden, damit wir nicht mehr auf unsere Eltern zurückblicken, denn das Tiefbewußtsein wußte, daß dieser Weg zum Tode führt,
nicht zum Leben. In der Vergangenheit habt ihr kein Tabu auf dem Inzest, Wygelia?« Sie schüttelte das dunkle Haupt. »Nein. Bei uns gibt es überhaupt keinen Inzest, weil wir auf jeden Fall in unsere Eltern eingehen.« »Ich denke«, warf Howes kopfschüttelnd ein, »bei meinen Bekehrungsgesprächen werde ich mich lieber auf Kimme und Korn verlassen.« »Ich bin kein Soldat«, sagte Borrow bestimmt, »aber ich will mit Freuden tun, was Silverstone mir aufgetragen hat. Laßt mich nur zum ›Amnion-Ei‹ und Ver abholen, dann fange ich sofort mit einer interpretativen Montage an. Ich kann die Lehre in Künstlerkreisen verbreiten – von dort aus wird sie sich schnell genug aussamen.« »Kommst du mit nach 2093?« fragte Bush Wygelia. Traurig lächelnd schüttelte sie den dunklen Kopf. »Ich habe alles getan, womit mich das Zentral-Amt beauftragt hat. Meine Mission ist erfüllt, mehr darf ich nicht tun. Aber ich werde dich und Ann wiedersehen, wenn ich ein Kind bin. Bevor ich euch verlasse, werde ich euch mit diesen vier Männern hier an die Schwelle des Jahres 2093 geleiten.« Sie transzendierten wieder und verließen das Ende der Welt, von dem sie so lange geglaubt hatten, daß es der Anfang sei. Bush und Ann fluteten Wygelia eine Frage zu.
Von Bush Millionen Spiralen, malvenfarbenes Rasseln zumeist: »Wenn – die lange Vergangenheit – der Menschheit – so groß war – warum bleiben wir auf diesem Planeten und sterben hier?« Und von Ann wirbelten gelbe Kreise dazwischen: »Berichte uns – gönne uns – einen kleinen Blick in diese großartige Vergangenheit!« Wygelia bedeutete ihnen, daß sie beide Fragen sogleich beantworten würde. Ein großes weißes Schloß entschwebte ihr. Es trieb zu ihnen hin, wurde auf seinem Weg durch die Berührung mit ihren Gedanken transformiert und kreuzte über einem schwindelndleeren Raum. Es hatte viele Zimmer. Die Wände überschnitten und durchdrangen sich. Es war das komplizierte Gewebe der Weltgeschichte in vereinfachter Form, so daß sie es ungefähr erfassen mochten – ein genialer Geist mußte es in diese Form gebracht haben. Es war darüberhinaus ein Kunstwerk von höchstem Rang. Nach Ähnlichem würden Bush und Borrow ihr weiteres Leben lang suchen, es vergessen, sich um Nachschöpfung mühen und schließlich etwas von seinem paradoxen Glanz an Maler wie Picasso und Turner weitergeben. Etwas von seinem Sinn erfaßten sie, als sie, Fischen gleich, durch seine Helle schwammen. Vor langer, unmeßbar langer Zeit wurde die menschliche Rasse, an Myriaden Punkten gleichzeitig, in die
Schöpfung hineingeboren. Sie war so diffus wie Gas. Sie war reiner Intellekt. Sie war allmächtig. Sie war GOTT. Sie war Gott gewesen und hatte das Universum erschaffen. Damals regierte es sich durch sein eigenes Gesetz. Dann, im Verlauf ungezählter Äonen, war diese menschliche Rasse stärker in ihre eigene Schöpfung eingetreten und hatte Substanz erlangt. Sie verband sich mit den Planeten und besiedelte viele Millionen Sternenwelten. Nach und nach aber, während zahlloser vergessener Äonen, war sie zusammengerückt, wie eine große Familie sich des Abends nach getaner Arbeit unter dem gemeinsamen Dach zusammenfindet. Dieses Zusammenwachsen bedeutete aber das Abwerfen gewisser nun überflüssig gewordener Fähigkeiten. Andere Fähigkeiten blieben erhalten. Bald waren die Planeten allen menschlichen Lebens bar, ganze Galaxien waren evakuiert. Aber die Galaxien selbst näherten sich einander an, stürzten aufeinander zu. Ein langer, langer Prozeß – es gibt heute in der menschlichen Rasse nichts mehr, was noch an ihn erinnert. Schließlich hatte sich alles, was von der funkelnden, unendlichen Menge noch übrig war, auf dem Planeten Erde zusammengefunden. Die große Symphonie der Schöpfung war beendet; jetzt begann das schon lange vorausprogrammierte Finale.
»Es gibt in unseren Religionen Legenden, die noch etwas von der Wahrheit künden – das ist ein Trost«, dachte Bush. »Nicht Legenden – Erinnerungen«, verbesserte Wygelia. Wie tröstlich waren ihnen Wygelias Gedanken in ihrem gefallenen Zustand! Das große Schloß hatten sie länger durchdrungen, als sie glaubten. Wygelia führte sie an die Oberfläche; sie wollte sie auf wunderbare Weise an einem sicheren Ort absetzen, in der Nähe eines der Verstecke der Opposition. Sie tauchten auf. Wygelia war verschwunden, die vier Bahrenträger waren verschwunden; Howes war bereits wachsam und verteidigungsbereit. Ann und Bush blickten einander an, zärtlich und doch herausfordernd. »Du mußt dir aber noch verdammt Mühe geben, um mich herumzukriegen!« sagte sie. »Das schaffe ich schon«, antwortete Bush. »Aber erst muß ich Wenlock finden und ihm Bescheid sagen.« »Gute Idee«, sagte Howes, »kommen Sie mit mir mit, zum Quartier der Rebellen, dort erfahren Sie den Namen der Nervenklinik, wo Wenlock gefangengehalten wird.« Sie wandten sich und folgten ihm durch die Ruinen ihres eigenen transhimalayischen Zeitalters.
Eine Krankenschwester kam den grauen Flur entlang. Der Zahnarzt James Bush riß den Kopf hoch und war hellwach. Er sah auf die Uhr und stellte fest, daß er schon zwanzig Minuten auf diesem unbequemen Metallstuhl saß und wartete. Die Schwester trat zu ihm und sagte: »Der Chefarzt hat noch zu tun, Mr. Bush. Dr. Frankland, der stellvertretende Chefarzt, wird Sie empfangen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?« Sie wandte sich um und trabte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war, so daß er sich hastig erheben mußte, um ihr nachzugehen. Am hinteren Ende des Flures stiegen sie eine Treppe hinan, und die Schwester ließ ihn durch eine Tür mit dem Namen ALBERT FRANKLAND treten. Ein dicker Mann mit randloser Brille und umständlichem Gebaren saß hinter einem Schreibtisch. Er stand auf und ging Bush entgegen, um ihm einen Stuhl anzubieten. »Mein Name ist Frankland, stellvertretender Chefarzt der Carlfield-Nervenklinik für fortgeschrittene Fälle, Mr. Bush. Wir sind erfreut, Sie hier zu sehen, und wenn wir Ihnen irgendwie helfen können, brauchen Sie es selbstverständlich nur zu sagen.« Diese Worte gaben den Groll frei, der sich in James Bush angesammelt hatte. »Ich will meinen Sohn sprechen. Das ist alles. Das ist doch einfach genug, nicht
wahr? Und trotzdem ist es das vierte Mal in zwei Wochen, daß ich hier bin, und jedesmal bin ich unverrichteter Dinge weggeschickt worden. Die Fahrt kostet Geld, verstehen Sie, und mit den Verkehrsverhältnissen ist es heutzutage überhaupt ziemlich schwierig.« Dr. Frankland nickte strahlend und tippte mit dem Zeigefinger auf die Schreibtischplatte, als verstünde er genau, worauf Bush hinauswollte. »Sie üben indirekte Kritik an der Partei, wenn Sie den öffentlichen Verkehr auf diese Weise tadeln«, sagte er konspiratorisch. Sein Lächeln hinter dem Schreibtisch wirkte auf einmal häßlich. James lenkte ein. Etwas ruhiger sagte er: »Ich bitte nur darum, meinen Sohn Ed sehen zu dürfen, das ist alles.« Frankland blickte ihm fest ins Auge und biß sich auf die Unterlippe. Schließlich sagte er: »Sie wissen, daß Ihr Sohn an einer gefährlichen Geisteskrankheit mit Wahnvorstellungen leidet, nicht wahr?« »Ich weiß nichts, ich habe nichts erfahren können. Warum kann ich ihn nicht wenigstens sehen?« Frankland fing an, sich die Nägel zu polken, blickte plötzlich hinunter, um zu sehen, was seine Hände da eigentlich taten, und richtete dann seinen Blick unter den Brauen hervor wieder auf Bush. »Um die Wahrheit zu sagen – er steht unter Beruhigungsmitteln.
Darum können Sie ihn nicht besuchen. Als Sie zuletzt hier waren, war er am Tage vorher aus seiner Zelle entwichen, rannte auf dem Flur herum und richtete allerlei Schaden an; er hat eine Schwester und einen Pfleger angegriffen. In seinem halluzinatorischen Zustand glaubte er, im Buckingham-Palast zu sein.« »Buckingham-Palast!« »Buckingham-Palast! Was sagen Sie dazu? Zuviele Zeitreisen, das ist das Grundübel, und außerdem, äh, hereditäre Schwächen. Er war zu lange auf Zeitfahrt. Gewiß, Zeitreisen sind ja noch ein ziemlich neues Gebiet, aber wir beginnen zu verstehen, daß die speziellen anosmischen Bedingungen, die damit verbunden sind, dazu beitragen können, den Geist zu brechen. Anosmie heißt Verlust des Geruchssinnes – die Geruchszentren sind die ältesten Hirnzentren. Ihr Sohn begann zu glauben, er könne in von Menschen bewohnte Epochen fahren, und daraus resultierte eine lange Serie von Halluzinationen, die wir aufzuzeichnen und zu studieren bemüht sind, als Hilfe für spätere Fälle.« »Hören Sie, Doktor Frankland, spätere Fälle interessieren mich nicht. Ich will etwas über Ed wissen! Sie sagen, die Zeitreisen haben ihn umgeschmissen? Ich fand ihn ganz normal, als er nach Hause kam, nachdem er zweieinhalb Jahre weggewesen war – seine Mutter war inzwischen gestorben.«
»Wir können die geistige Gesundheit anderer nicht immer einwandfrei beurteilen, Mr. Bush. Zu der Zeit war Ihr Sohn schon so weit, daß ein plötzlicher Schock ihn in den Wahnsinn stürzen konnte. Er litt bereits an einer vorgeschrittenen Form von Anomie.« »Kein Geruchssinn mehr?« »Das wäre Anosmie, Mr. Bush. Ich spreche von Anomie, einem wesentlich ernsteren Krankheitsbild. Das scheint die große geistige Zeitfahrer-Krankheit zu sein. Ein Anomiker ist völlig isoliert; er fühlt sich von der Gesellschaft und von der breiten Palette ihrer Wertungen abgeschnitten; er wird normenlos und ekelt sich vor dem Leben, wie es ist. Während der Zeitreise, bei der er sich in einer Welt befindet, die er auf keine Weise beeinflussen kann, hält der Anomiker das Leben für ziel- und sinnlos. Er neigt dazu, sich seiner eigenen Vergangenheit zuzuwenden, die Uhr zurückzudrehen, in einen katatonischen Embryonalzustand zu verfallen.« »Mit Ihrer Wissenschaft streuen Sie mir bloß Sand in die Augen, Doktor Frankland«, sagte James kummervoll. »Wie gesagt, Ed schien mir ganz normal zu sein, als er damals nach Hause kam.« »Und die Umweltumstände vereinten sich, um ihm diesen entscheidenden Stoß zu versetzen«, fuhr Dr. Frankland fort und nickte James flüchtig zu, zum Zeichen, daß er es für netter hielte, dessen Unterbre-
chung zu ignorieren. »Dieser Stoß war natürlich der Tod seiner Mutter. Wir wissen, daß er eine inzestöse Bindung an sie hatte, und die Entdeckung, daß sie seinem Verlangen endgültig entrückt war, löste bei Ihrem Sohn einen gravierenden manischen Schub aus, der als maskierter Versuch einer Rückkehr in den Mutterleib zu verstehen ist.« »Das klingt überhaupt nicht nach Ed.« Frankland erhob sich. »Da Sie nicht geneigt scheinen, mir zu glauben, will ich Ihnen einen kleinen Beweis liefern.« Er ging zu einem transportablen Bandapparat, wählte ein Band aus dem danebenstehenden Regal, legte es auf und ließ es anlaufen. »Wir haben einen erheblichen Teil der Äußerungen aufgenommen, die Ihr Sohn in halluzinatorischem Zustand getan hat. Hier ein Bruchstück aus der allerersten Zeit der Behandlung, kurz nachdem er eingeliefert wurde. Ich muß dazu sagen, daß er einen Zusammenbruch erlitt, während er auf eine Unterredung mit Mr. Howells, seinem Vorgesetzten im Wenlock-Institut, wartete. Aus Gründen, die wir noch nicht verstehen, war er überzeugt, daß unser Großes Staatsoberhaupt, General Peregrine Bolt, das Land durch Zwang und Unterdrückung regiert. Bei solchen Fällen wie dem Ihres Sohnes ist stets Verfolgungswahn mit im Spiel. Später ersetzte er in seiner Vorstellungswelt General Bolt durch eine andere Figur,
einen gewissen Admiral Gleason, den er leichter mit dem Bösen identifizieren konnte; aber zur Zeit dieser Aufnahme war er noch nicht allzu tief in seinen Wahnvorstellungen befangen. Zum mindesten glaubte er noch, sich in unserer Zeit zu befinden und führte eine Art Gespräch mit seinem Stationsarzt und einigen Studenten, das Sie jetzt hören werden.« Er stellte den Apparat an. Gedämpfte Geräusche, Stöhnen. Ein undeutliches Gemurmel, aus dem sich ein Name löste: Howes. Kommentar einer präzisen, unpersönlichen Stimme: »Als sich der Patient im Institut meldete, glaubte er, sein Vorgesetzter Howells sei ein Mann namens Franklin. Franklin ist eine Verdrehung meines Namens, Frankland; Patient wurde mir vorgestellt, als sich der geistige Zusammenbruch manifestierte. Der Name Howells erscheint, gleichfalls etwas verändert, als der einer Figur – eines Hauptmanns – in der militärisch bezogenen Serie innerhalb des wahnhaften Vorstellungskomplexes des Patienten. Patient war in einer subjektiv verzerrten Vorstellungswelt befangen, als die Aufnahme erfolgte.« Die murmelnde Stimme auf dem Band wurde plötzlich klar erkennbar als die Stimme Eddie Bushs; er fragte: »Ich sterbe doch nicht etwa, oder?« Es klang, als ständen einige Studenten herum, die sich leise miteinander unterhielten:
»Er versteht kein Wort von dem, was Sie sagen.« »Er macht sich das alles so zurecht, wie es ihm paßt.« »Er glaubt sich an einem anderen Ort, vielleicht in einer anderen Zeit.« »Hat er nicht Zwangsvorstellungen von begangenem Inzest?« Wieder Bushs Stimme, jetzt sehr laut: »Wo denkt ihr Mondkälber eigentlich, daß ich bin?« Und wieder die anderen Stimmen, mahnend: »Ruhig!« »Sie werden die anderen auf diesem Flügel aufwecken!« »Sie leiden an Anomie und Gehörhalluzinationen.« »Aber das Fenster ist doch offen«, erwiderte Bush, als sei mit dieser mysteriösen Bemerkung alles erklärt. »Wo sind wir denn hier überhaupt?« »Sie sind in der Carlfield-Nervenklinik.« »Wir kümmern uns schon um Sie!« »Wir glauben, Sie sind ein Fall von Anomie.« »Rührt euch!« sagte Bush. Frankland schaltete den Bandapparat ab, kniff die Lippen zusammen und schüttelte bekümmert den Kopf. »Sehr trauriger Fall. Bei dieser Aufnahme glaubte Ihr Sohn in einer Art Kasernenstube zu sein; er war
nicht imstande zu akzeptieren, daß er sich auf einer Station der Klinik befand. Von diesem Zeitpunkt an zog er sich immer weiter aus der Realität in seine eigene Vorstellungswelt zurück. Einmal wurde er aggressiv und attackierte einen Spezialisten mit einer metallenen Krücke. Wir mußten ihn eine Zeitlang isolieren – hier in dem neuen Motherbeer-Flügel ...« James unterbrach den Vortrag und rief mit Tränen in der Stimme: »Ed ist alles, was ich habe! Er war ja niemals ein frommes Kind, aber er war ein guter Junge! Nie ist er mit Absicht heftig geworden ... nie!« »Sie haben mein volles Mitgefühl. Natürlich tun wir alles, was wir können für ihn ...« »Armer Ed! Wenigstens könnten Sie mich ihn doch mal sehen lassen!« »Das wäre nicht ratsam. Er glaubt nämlich, daß Sie tot sind.« »Tot!« »Ja, tot. Er glaubt, daß er mit der Armee ein Abkommen getroffen hat, wonach Sie mit Schnaps beliefert werden, und zwar mit einer Marke, die bezeichnenderweise Black Wombat* heißt, und daß Sie sich damit zu Tode getrunken haben. Ihr Sohn hat es also erreicht, Sie – in seiner Vorstellung natürlich – zu ermorden und die Schuld dafür jemand anderem zuzuschieben.« * Wombat = ein australisches Beuteltier; womb = Mutterleib (Anm. d. Übersetzers)
James schüttelte den Kopf, schon beinahe wie Frankland. »Anomie ... ich verstehe überhaupt nichts mehr, wirklich nicht. So ein guter, ruhiger Junge, und so ein begabter Maler.« »Ja, das ist immer der Typ, den es trifft, fürchte ich«, sagte Frankland und schaute auf seine Armbanduhr. »Um die Wahrheit zu sagen, wir hoffen, die Mal-Therapie wird ihm etwas helfen. In seine halluzinatorischen Zustände spielt viel Kunst hinein. Ich halte auch Ihre Ansicht, daß Ihr Sohn nicht fromm ist, für falsch. Einen bestimmten Aspekt seines Krankheitsbildes würde der Laie als religiösen Wahn bezeichnen. Sehen Sie, die Suche nach Vollkommenheit, nach einem Ende aller Unglückseligkeit, ist sehr stark in ihm. Zu einer bestimmten Zeit – das war während seiner Isolation, ich meine in Motherbeer – versuchte er, sich eine ideale Familieneinheit aufzubauen, in der er Frieden finden könnte. Wir haben Bandaufnahmen aus dieser Periode seiner Krankheit hier – einfach herzzerreißend. In dieser hypothetischen Familieneinheit identifiziert sich Ihr Sohn mit dem Vater, bemächtigt sich also Ihrer Rolle. Der Vater war, wiederum sehr bedeutsam, ein arbeitsloser Bergmann. Angehörige unserer Schwesternschaft wurden in andere Rollen seiner Phantasie übernommen.« »Was passierte?« »Ihr Sohn war nicht imstande, die Illusion des
Friedens lange durchzuhalten; der auf ihm lastende Druck nötigte ihn, in einen Status des unverhüllten Schreckens hinüberzuwechseln, zum Paradigma des Jägers und des Gejagten, des Tötens oder Getötetwerdens. So wurde der Aufbau der Familieneinheit brutal zerstört und in Selbsthaß aufgelöst: er endete durch symbolischen Selbstmord – Symptom einer völligen Abkehr von der Vernunft – und kehrte in den Mutterleib-Status zurück, der stets das letzte Ziel solcher inzest-fixierten Naturen ist. Er brach alle Verbindungen ab. Sie wollten ja solche Einzelheiten hören, Mr. Bush.« »Brach alle Verbindungen ab ... Aber das hört sich gar nicht nach meinem Jungen an. Ich weiß natürlich, daß er mit Frauen zu tun hatte ...« Frankland gestattete sich ein kurzes grollendes Lachen. »Mit Frauen zu tun! – Ja. Ihr Sohn, Mr. Bush, Ihr Sohn kennt nur eine Frau – seine Mutter, und alle anderen weiblichen Wesen, die er trifft, identifiziert er mit ihr. Daher sucht er weder, noch findet er eine echte Beziehung zu einer Frau, weil er Angst hat, sie könnte ihn beherrschen. Seine Besessenheits- und Zwangsvorstellungen sind schließlich in eine Schizophrenie eingemündet, die sich an dieser speziellen psychischen Störung orientiert. Er erlebt seine Anima – das ist der weibliche
Antriebsbestandteil seiner Persönlichkeit, nicht zu verwechseln mit Anomie oder Anosmie – getrennt von sich, als eine separierte Wesenheit. Diese Wesenheit nennt er seine Dunkle Frau. Ursprünglich erfüllte sie die klassische Anima-Funktion, indem sie ihn beschützte.« »Dunkle Frau ... nie gehört.« »Jetzt, im späteren Stadium der Krankheit Ihres Sohnes, hat sich die Dunkle Frau in eine andere Replika der Inzest-Figur verwandelt, in eine Frau, die gleichzeitig Mutter und Tochter ist, was als weiteres Symptom des geistigen Verfalls des Patienten betrachtet werden muß.« James Bush blickte in dem scheußlichen Raum umher, ohne wirklich etwas sehen zu wollen. Die erkältenden Worte, die er weder ganz verstand noch ganz glaubte, trieben ihn in sich selbst zurück. Sein Wunsch zu entfliehen war ebenso stark wie sein Bedürfnis, Ed zu sehen; und was das Entfliehen anbetraf, so konnte er nicht sagen, welche Methode ihm lieber sein würde: ein gutes, langes Gebet oder ein guter, langer Schluck aus der Flasche. Franklands Stimme dröhnte weiter, nicht ohne hin und wieder eine gewisse Befriedigung zu verraten: »Auf seiner letzten Reise in die Devon-Zeit, als seine tragische Krankheit schon manifest war, hatte er sexuelle Beziehungen zu einer jungen Frau namens
Ann. Sie taucht ebenfalls in seinen Phantasien auf. Diese Beziehung war gleichfalls nicht sehr erfolgreich. Er glaubt, daß diese Frau zur Zeit die Anstalt beobachtet und in Kürze die Führung bei einem Versuch, ihn zu befreien, übernehmen wird. Bedeutsamerweise beschreibt er sie als liederliches, schmutziges, unterentwickeltes Mädchen. ›Zottelhaarige Hure‹ hat er sie einmal genannt. Sehr bedeutsam ist, daß er sie einmal tötete und dann wieder zum Leben erweckte. Äußerst tragisch – so ein brillanter Geist! ›Welch edler Geist ward hier zerstört‹, wie der Dichter sagt. Aber ich darf wirklich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen ...« Er stand auf und neigte den Kopf. »Mr. Frankland, Sie waren sehr freundlich«, sagte James Bush verzweifelt. »Lassen Sie mich doch nur einen Blick auf den armen Jungen werfen! Er ist doch alles, was ich habe, wissen Sie!« »Oh, tatsächlich?« Frankland sah überrascht aus; er lehnte sich über den Tisch und setzte wieder sein konspiratives Grinsen auf. »Ich hörte, Sie haben Beziehungen zu einer gewissen Mrs. Annivale, einer Witwe.« »Nun ja – es gibt eine Dame dieses Namens, die meine Nachbarin ist.« Ein etwas übertriebenes Nicken. »Das Bewußtsein spielt seltsame Tricks mit Namen. Und natürlich muß man merkwürdige Zufälle in Rechnung stellen. Ann,
Annivale, Anomie ... Wissen Sie, was ein Amnion ist?« »Nein. Kann ich nicht bloß mal einen kurzen Blick ...?« »Es würde ihn aufregen, wenn er Sie sieht. Ich sagte Ihnen doch gerade, Mr. Bush, er hält Sie für tot.« »Wie kann er mich sehen, wenn er unter Schlafmitteln steht?« »Er arbeitet gerade wieder an einer GruppenKomposition. Wir haben ihm Malmaterial gegeben, damit er ruhig bleibt. Das nimmt ihn völlig in Anspruch, aber er könnte sich umdrehen und Sie sehen, und das würde ihn aufregen.« »Sie sagten doch, er steht unter Schlafmitteln.« »Nein, nein, das war gestern. Ich sagte, daß er gestern sediert wurde. Und jetzt, Mr. Bush, wirklich ...« Es war James klar, daß das Gespräch zu Ende war. Er machte einen letzten, verzweifelten Versuch. »Warum kann ich ihn nicht mit nach Hause nehmen? Ich passe schon auf ihn auf. Es passiert ihm bestimmt nichts. Ich meine – was tun Sie denn hier für ihn? Besteht denn Hoffnung auf Heilung?« Äußerst ernsten Gesichts tippte Frankland mit gestrecktem Zeigefinger auf den obersten Knopf von James' Regenmantel und sagte: »Laien unterschätzen immer den Ernst einer schweren geistigen Erkrankung. Manchmal ist es, als ob im Bewußtsein des
Kranken ein Bürgerkrieg ausgebrochen ist. Ihr Sohn glaubt, daß die Zeit rückwärts läuft! Er glaubt nicht mehr an Ihr Universum, Mr. Bush, und seine Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt ist unbedingt notwendig. Um die Wahrheit zu sagen: auf Heilung ist vorläufig kaum zu hoffen. Unsere Pflicht ist es, ihn ruhigzuhalten. Also, ich bringe Sie noch bis zum Ausgang, wenn Sie erlauben.« Er drängte James sanft zur Tür und öffnete sie. Auf dem Flur gab es ein Handgemenge. Ein dünner Mann in grauem Pyjama stand in einiger Entfernung in einer Türnische und bemühte sich, zwei Pflegerinnen abzuschütteln. Er schrie nach dem Chefarzt. »Doktor Wenlock, Sie müssen wieder ins Bett«, sagte die eine Schwester und zupfte ihn am Ärmel. »Entschuldigen Sie!« rief Frankland und lief den Flur entlang auf den sich Sträubenden zu. Ehe er da war, kam ein untersetzter Pfleger in weißem Overall aus dem Zimmer, legte eine Hand über das Gesicht des Patienten und riß ihn grob zurück und außer Sicht. Die Tür schlug zu. Der Vorfall hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Frankland kam mit ernster Miene zurück. »Ich habe noch zu tun, Mr. Bush, ziemlich dringend. Zweifellos finden Sie allein den Weg hinaus.« Es war nichts mehr zu tun als zu gehen. Die Carlfield-Klinik stand auf einem weitläufigen,
von einer hohen Mauer umgebenen Gelände. Der Zahnarzt wußte, er würde ziemlich nahe beim Tor einen Bus kriegen. Mit nur zweimaligem Umsteigen würde er nach Hause kommen, aber die Anschlüsse waren schlecht, und es fuhren nur wenige Busse. Es regnete stetig. Er hatte keinen Hut. Er wand sich seinen Schal um den Kopf und schlug den Kragen seines dünnen Regenmantels hoch, ehe er tapfer den langen Fahrweg entlangmarschierte. Es würde gut sein, zu Hause zu sitzen und zu trinken. Frankland hatte ihn natürlich 'reingelegt. Wenn er das nächste Mal käme, würde er eins von Eds Bildern zu sehen verlangen, an denen er angeblich arbeitete. Das Ganze war so deprimierend. Alle Verbindungen abgebrochen – sieh mal einer an! Er und Ed würden immer Verbindung miteinander haben, was dem Jungen auch immer geschehen mochte. Natürlich, die Schuld hatte zum Teil Lavinia –; nein, das war ungerecht, es hing mit der Zeit zusammen, in der sie lebten. Der Regen peitschte, und James Bush begann zu beten. Es war eine lange Auffahrt. Er fühlte, wie seine Beine in den Hosen naß wurden. Er würde ein Senfmehlbad nehmen müssen, wenn noch genug Senfmehl da war, sonst würde er sich schwer erkälten. Was ist das doch für ein Elend, wenn man alt wird,
und noch dazu in solchen Zeiten! O Herr, schau herab in Deiner unendlichen Gnade ... Sie prüften am Tor seinen Passierschein, und er trat hinaus auf die langweilige Straße. Er ging zur Autobushaltestelle und hatte den Kopf dabei tief gesenkt; daher bemerkte er die schmächtige junge Frau nicht, die spähend unter einem Baum stand – das Wasser tropfte von ihren zotteligen blonden Haaren. Sie hätte ihn berühren können, so dicht ging er vorbei. O Herr, in Deiner unendlichen Gnade ...