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KINDER DES DONNERS Roman Mit einem Nachwort von Ernst Petz
Deutsche Erstausgabe Science Fiction
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JOHN BRUNNER
KINDER DES DONNERS Roman Mit einem Nachwort von Ernst Petz
Deutsche Erstausgabe Science Fiction
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY 06/4683
Titel der englischen Originalausgabe CHILDREN OF THE THUNDER Deutsche Übersetzung von Irene Bonhorst Das Umschlagbild schuf Don Maitz
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1988 by Brunner Fact & Fiction, Ltd. Copyright © 1990 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Copyright © 1990 des Nachworts by Ernst Petz Printed in Germany 1990 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-04266-2
Für WENDY MINTON,
weil sie ein guter Kumpel ist
ANMERKUNG DES AUTORS: Bei den Recherchen zu diesem Roman erhielt ich viele hilfreiche Informationen von Dr. Louis Hughes, Harley Street, London, dem ich entsprechend großen Dank schulde. JKHB
»Vielleicht liebt Little John, genau wie die Söhne Belials, das Böse um seiner selbst willen; vielleicht haßt er es, nett zu anderen zu sein, begreift es jedoch als Preis, den er zu bezahlen hat, wenn er ihnen später überlegen sein will, und vielleicht berechnet er sehr genau die Zugeständnisse, die er um des Bösen willen an die Nettigkeit machen muß.« Aus »Was gut für uns ist« von ALAN RYAN (New Society, 30. Jan. 87)
Der Swimmingpool war leer, abgesehen von dem Abfall, den der Wind hergeweht hatte. Die meisten privaten Schwimmbecken im Silicon Valley wurden in diesem Jahr nicht benutzt, trotz der Hitze des kalifornischen Sommers. Zu viele Industriechemikalien hatten das Grundwasser der Gegend verunreinigt, und der Preis für Kläranlagen, die geeignet waren, sie herauszufiltern, hatte sich in den vergangenen drei Monaten verdreifacht. Trotzdem — vielleicht, weil sie erst vor zu kurzer Zeit aus Großbritannien angekommen waren, um nicht jeden Sonnentag so auszukosten, als ob es morgen schneien könnte — hatten Harry und Alice Shay die langweilige alte Nervensäge von einem Besuch am Swimmingpool empfangen, in Segeltuchstühlen mit ihren Namen in Schablonenschrift auf den Rückenlehnen. Von seinem persönlichen kleinen Reich im Privatflügel des Hauses aus belauerte sie David, der beinah vierzehn Jahre alt war, durch die Schlitze einer Jalousie. Aus dieser Entfernung konnte er nichts hören, doch wußte er viele sachkundige Mutmaßungen über die Unterhaltung anzustellen. Shaytronix Inc. machte etwas durch, das man höflicherweise als >Liquidationskrise< bezeichnete, und der Besucher war Herman Goldfarb, der Oberbuchhalter der Firma, ein gediegener, Brille tragender Mittfünfziger und das typische Musterexemplar eines widerlichen alten Sacks, der dauernd sagte: »Ich kann mich noch erinnern, als ...« Aus mindestens zwei Gründen machte er den Eindruck, als ob ihm äußerst unbehaglich zumute wäre. Sein dunkler Anzug war zweifellos angemessen für ein Büro, in dem die Klimaanlage auf höchster Stufe lief, doch fürs Freie war er lächerlich, und daran änderte auch nichts, daß ihm ein großes Erfrischungsgetränk und der Schatten eines gestreiften Sonnenschirms angeboten worden war. Bis jetzt hatte er noch nicht einmal das
Jackett abgelegt, und was noch erschwerend hinzukam ... Der an der Westküste seit langem gepflegte Kult der schönen nackten Körper entwickelte sich wegen der immer stärker werdenden Strahlen, die durch die beschädigte Ozonschicht der Erde drangen, zu einem Risiko. Dessen ungeachtet huldigten die Shays ihm immer noch mit Hingabe. Obwohl er fast im gleichen Alter war wie Goldfarb und bereits bis zur Brustbehaarung hin grau wurde, hatte sich Harry hervorragend in Form gehalten und machte sich nichts daraus, wenn jemand sein Alter kannte. Er trug einen winzigen französischen Badeslip und eine dunkle Sonnenbrille. Desgleichen Alice — ergänzt durch eine glänzende Schicht Sonnencreme. Harry gefiel es, wenn sie bewundert wurde. Er war über alle Maßen stolz darauf, daß er sie geheiratet hatte, als er vierzig war und sie gerade zwanzig. Er neigte dazu, leichten Sinnes über die Tatsache hinwegzusehen, daß er seine erste Frau und zwei halbwüchsige Kinder verlassen hatte, um dieses Vorhaben durchzuführen. Eine Zeitlang machte es David — der überhaupt nichts anhatte — Spaß zu beobachten, wie Goldfarb so tat, als würde er den Busen seiner Mutter nicht anstarren. Doch der Spaß ließ bald nach, und er wandte sich wieder seinem Computer zu. Er war an einem Modem angeschlossen, der ihm den Zugriff auf ein internationales Datennetz ermöglichte, und er arbeitete mit einem Programm, das er sich selbst ausgearbeitet hatte und von dem er sich interessante Ergebnisse versprach. Dieser große, kühle, niedrige Raum, der im rechten Winkel an den älteren Hauptteil des Hauses angebaut war, war sein persönliches Königreich. Ein Vorhang vor einer Nische verbarg sein Bett und die Tür zum angrenzenden Badezimmer. Regale an allen Wänden waren vollgepackt mit Büchern und Tonbändern, so daß kaum
noch Platz blieb für seine Stereoanlage und den Fernsehapparat; der letztere murmelte mit heruntergedrehter Lautstärke vor sich hin. In der Mitte der Fläche stand ein Schreibtisch mit seinem Computer darauf; aus den halb aufgezogenen Schubladen quollen unordentlich Papiere. Der übrige Raum war zum größten Teil angefüllt mit Erinnerungsstücken an vergangene und gegenwärtige Interessen: entlang einer Wand ein umfangreiches Heimlabor, einschließlich eines gebraucht erstandenen Elektronik-Mikroskops und einer Ausrüstung zur Genanalyse und Bastelei mit Enzymen und Ribozymen; auf einer anderen Seite eine Werkbank mit einer Reihe von versenkten Holzbearbeitungswerkzeugen; an einer anderen Stelle ein zusammengebrochener Heimroboter, den er halbwegs repariert und abgewandelt hatte; in der hintersten Ecke eine Staffelei mit einem verlassenen Porträt und daneben Gläser mit Pinseln, an denen die Farbe vor etwa sechs Monaten getrocknet war ... Die Luft war angefüllt mit sanfter Musik. Aus einer Laune heraus hatte er seinem Auto-Composer eingegeben, eine Fuge nach einem eigenen Thema unter Benutzung der traditionellen Instrumente einer DixielandJazzband zu erschaffen. Das Ergebnis, so fand er, war ziemlich eindrucksvoll. Das Computerprogramm schien noch ein ganzes Stück vom Ende seines Durchlaufs entfernt zu sein. Als der Fernsehapparat etwas kaum Hörbares erzählte von Aufständen in einem halben Dutzend Großstädten, blickte David gelangweilt zum Bildschirm. Eine Meute, die sich hauptsächlich aus jugendlichen Farbigen zusammensetzte, schleuderte Steine in ein Schaufenster. Als er mit der Fernbedienung den Ton lauter stellte, schnappte er den Namen eines Softdrinks auf und kräuselte die Lippen. Sie protestierten also gegen den Erlaß der Food And Drug Administration, mit dem CrusAde verboten worden war. Dummheit auf der ganzen Linie!
Etwas an der Art, wie für das Zeug geworben worden war, hatte ihn stutzig gemacht, und es war nicht nur die Behauptung, daß man durch den Kauf eine gottgefällige Sache unterstützte — angeblich floß die Hälfte des Gewinns einer Fundamentalistenkirche zu, die inzwischen schon so viel wert war wie eine Fußballmannschaft der Unterliga. Daraufhin hatte er sich eine Dose gekauft, nicht etwa zum Trinken, sondern zum Analysieren, und einige Wochen zuvor hatten die Prüfer der FDA die darin enthaltene Spur einer Designer-Droge gefunden; es handelte sich dabei weniger um ein Aufputsch- als um ein reines Suchtmittel. Er hatte keine Mühe, die Droge zu identifizieren. Es war eine seiner eigenen Erfindungen und erfreute sich bei den Dealern, die er damit belieferte, besonderer Beliebtheit, weil es die Verbraucher fast genauso schnell abhängig machte wie Crack — fast so schnell, um genau zu sein, wie das legendäre (nach Davids Ansicht zum Mythos hochstilisierte) Big L. Wie sich die Hersteller von CrusAde jemals einbilden konnten, ungeschoren davonzukommen, das mochte der Himmel wissen. Vielleicht hatten sie einfach darauf gehofft, sich den Vorteil des ständig wachsenden Mißtrauens der Bevölkerung zur Regierung und deren Unbeliebtheit zunutze machen zu können. Und/oder die immer weiter reichende Immunität, die die Kirchen durch das Inkrafttreten eines neuen Gesetzes genossen. Der Computer piepte. Er drehte sich wieder zu ihm um. Und raufte sich wütend die Haare. Entweder enthielt sein Programm einen Haken, was er bezweifelte, oder die Daten, auf die er scharf war, waren einfach nicht zu knacken. Oder, das konnte natürlich auch sein, sie waren on-line nicht verfügbar. Das letztere erschien ihm am wahrscheinlichsten, wenn man bedachte, welch vertraulicher Natur sie waren. Nun, damit war die Sache besiegelt. Harry Shay
mußte mit seiner Familie für eine gewisse Weile wieder nach Großbritannien zurückkehren, ob das nun die totale Pleite für Shaytronix Inc. zur Folge hatte oder nicht. Tatsächlich, das war Davids Meinung, würde es dem alten Kotzbrocken recht geschehen, wenn seine Herrschaft über die Firma, die er gegründet hatte, zu Ende wäre. Er wäre dann immer noch ein sehr wohlhabender Mann, denn er war gut im Errichten von — nun — Sicherheitspolstern. Was er sagen würde, wenn er dahinterkäme, daß es ihm David während der vergangenen achtzehn Monate nachgemacht hatte, indem er die Einkünfte aus seiner Drogenerfindung in eine Bank auf den Bahamas hatte fließen lassen, war unmöglich zu erraten. Doch wenn sich eine entsprechende Notwendigkeit ergäbe, könnte durch eine Enthüllung ein gewisser Druck ausgeübt werden; da er minderjährig war, hatte er das Geld auf den Namen seiner Eltern deponieren müssen, mit Referenzen, die Mitglieder der Geschäftsleitung von Shaytronix ohne ihr Wissen gegeben hatten, und was er getan hätte, war so offensichtlich legal, da er sich mit Fug und Recht darauf berufen konnte, daß seine neue Droge ein durch Genmanipulation gewonnenes Sekret aus Hefe war und kein synthetisches Produkt, daß diese Nachricht sofort die Aufmerksamkeit des FBI und vielleicht auch der Sicherheitspolizei auf die Firma lenken würde. Tatsächlich war das erstere bereits auf David aufmerksam geworden, wenn auch nicht auf die Firma. Doch die betreffende Abteilung würde keine Schwierigkeiten mehr machen, oder auf jeden Fall diese ganz speziellen Beamten nicht mehr... Angesichts dieser Bedrohung hätte Harry keine andere Wahl, als zu verkaufen und einer Rückkehr nach England zuzustimmen. Doch es war wahrscheinlich gar nicht nötig, daß es soweit käme. David hegte buchstäbliches Vertrauen in seine Überredungskraft, ganz besonders nach dem Zoff, den er mit dem FBI gehabt hatte. Wenn es jedoch hart
auf hart gehen sollte, hätte er keine Bedenken, diese Art von Druck auf seinen Vater auszuüben. Er kippte seinen Stuhl nach hinten und stieß einen Seufzer aus, während er dachte: Vater — Sohn ... Seit er zehn war, hatte er einen gewissen Verdacht, und seit er zwölf war, wußte er genau, daß Harry nicht sein Vater war. Jedenfalls, wenn man seine Blutgruppe in Betracht zog, sprach alles dagegen. Harry wies mit Vorliebe darauf hin, daß sich die Biotechnik von ihren gegenwärtigen Rückschlägen wieder erholen würde und sich in der nächsten Zeit sogar zu einem blühenden Industriezweig entwickeln könnte, wenn erst einmal die Computer der fünften Generation verkraftet wären. Demzufolge war er entzückt, als sich David zu seinem zwölften Geburtstag eine Biologie-Ausrüstung wünschte — eine ganz spezielle, die sich der Junge sorgsam ausgesucht hatte, weil die Möglichkeit einer Blutgruppenanalyse in der Liste der durchführbaren Experimente aufgeführt war. Erst später las er den Hinweis, daß dafür echte Blutproben zur Verfügung stehen mußten, und eines Morgens, als sich Harry beim Rasieren geschnitten hatte, kramte David ein Kosmetiktuch aus dem Abfalleimer des Badezimmers. Ein gebrauchtes Tampon seiner Mutter war leichter aufzutreiben, wenn auch hinterher schwerer auf diskrete Art verschwinden zu lassen. Und mehr als einmal, als er einen Blick auf seinen nackten Vater erhaschte, hatte er etwas bemerkt, das verdächtig wie eine Vasotomie-Narbe aussah ... Er war ein sehr kühles, sehr vernünftiges Kind. Er wäre ganz zufrieden gewesen, wenn Harry und Alice von Anfang an auf gleicher Ebene mit ihm umgegangen wären, oder zumindest ab dem Alter, in dem er die Antworten auf diesbezügliche Fragen verstehen konnte. Was in ihm einen tiefen und eisigen Zorn entfachte, war die Tatsache, daß ihn seine Eltern belogen. Schlimmer noch: Sie scheuten keine Peinlichkeit, um ihre Lüge
nicht nur direkt, sondern auch indirekt zu bekräftigen. So zum Beispiel gefiel es seiner Mutter, andere Leute zu fragen: »Finden Sie nicht, daß David seinem Vater ungeheuer ähnlich sieht?« Vielleicht tue ich das. Wenn ich nur wüßte, wer mein Vater ist, könnte ich es sagen.
Ein zaghaftes Klopfen klang von der Tür her. Da ihm bewußt war, was das ankündigte, schlich er sich lautlos zurück ans Fenster. Seine Eltern diskutierten immer noch mit Goldfarb, der jetzt endlich sein Jackett ausgezogen hatte, und es hatte den Anschein, daß die Unterhaltung so hitzig geführt wurde, wie ihm zumute war. Das würde bestimmt noch eine halbe Stunde so weitergehen — mindestens. Also wartete er; sein Gesicht verzog sich zu einem gemeinen Grinsen. Nach einer Weile wurde die Tür geöffnet, und Bethsaida trat behutsam ein; sie war gekommen, um sein Bett zu machen und die Handtücher zu wechseln. Sie war die philippinische Köchin und Haushälterin der Shays: hübsch, plump, verheiratet mit einem Mann, der als Steward auf einem Kreuzfahrtdampfer arbeitete, und die tugendhafte katholische Mutter von drei Kindern — und sie hoffte inständig, der Sohn ihrer Arbeitgeber möge nicht hier im Zimmer sein. Als sie merkte, daß er es doch war, und noch dazu nackt, japste sie und wollte davonrennen, doch er war zu schnell. Er schoß an ihr vorbei, schob die Tür hinter ihr mit dem Fuß zu und umfaßte sie von hinten, indem er die kleinen, blassen Hände um ihre Brüste legte und ihren Nacken mit dem Mund liebkoste. Sie hielt ihren Widerstand einen Moment lang aufrecht, dann wirkte der Zauber. Er öffnete den Reißverschluß ihres Rocks und ließ ihn zu Boden fallen, gefolgt von ihrem Slip; danach warf er sie halb bekleidet auf das zerwühlte Bett
und begann sie zu rammeln. Sie stöhnte ein wenig ängstlich, als er sie befriedigte, doch sie konnte nicht anders, als sich ihm hinzugeben. Es war gut zwei Jahre her, daß sich irgend jemand geweigert hatte, das zu tun, was David wollte, und wann er es wollte. Jetzt wollte er nichts mehr auf der Welt, als den Grund herauszufinden, warum das so war.
Hier ist das Programm TV-Plus. Es folgen die Nachrichten. Nach dem Verzehr von Gemüse, das aus dem Garten eines Hauses stammte, das auf einer ehemaligen Mülldeponie errichtet worden war, kam ein Kind in Scoutwood, Country Durham, ums Leben, und dreizehn Personen mußten ins Krankenhaus eingeliefert werden. Arthur Smalley, einunddreißig, arbeitslos, der das Gemüse angebaut und verkauft hat, dem Vernehmen nach jedoch selbst Angst davor hatte, es zu essen, wird beschuldigt, das ihm daraus zugeßossene Einkommen nicht angegeben zu haben, und er wird sich morgen vor Gericht verantworten müssen. General Sir Hampton Throzver, der aus Protest gegen den Rückzug von Mittelstrecken-Atomraketen von seinem Amt als Befehlshabender NATO-Beauftragter zurückgetreten ist, empfahl in Salisbury einer jubelnden Menge von Briten, ihren Ansichten Nachdruck zu verleihen und ...
Der freiberuflich arbeitende Wissenschaftsredakteur Peter Levin kehrte in seine Dreizimmerwohnung im obersten Stock eines Hauses im Londoner Stadtteil Islington zurück; er war spät dran und schlecht gelaunt. Er hatte den Tag damit zugebracht, einer Konferenz über Computer-Sicherheit als Berichterstatter beizuwohnen. Die Sache versprach einiges an Nachrichtenwert herzugeben. Zwei Monate zuvor war eine LogoBombe in einen Computer der British Gas eingeschlagen — ohne Zweifel das Werk eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin, der oder die über eine zu geringe Ausschüttung an Anteilen verstimmt war; die Folge davon war, daß jedem Kunden im Großraum London die Rechnung zugesandt wurde, die eigentlich für den nächsten in der Liste bestimmt war, woraufhin alle Daten über fällige Zahlungen gelöscht wurden. Nach diesem Vorfall waren derartige Dinge in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Trotzdem hatte Peter das ungute Gefühl, daß der Chefredakteur des Comet, der ihm den Auftrag erteilt
hatte, über die Ausbeute nicht glücklich sein würde. Die Zeitung, die vor zwei Jahren gegründet worden war, war in Wirklichkeit ein Sensationsnachrichtenblatt, dessen Zielgruppe Leute waren, die zwar intellektuelle Ansprüche stellten, deren Interessenreizschwelle jedoch von den Kurzmeldungen im Rundfunk und im Fernsehen geprägt war, und was der Typ tatsächlich wollte, war eine Reihe von aufsehenerregenden Hämmern: wie die Intimsphäre der Leser verletzt wird, wie ein paar schwarze Schafe unter den Programmierern berühmte Firmen erpressen, wie Saboteure sich den Zugang ins Hauptquartier des Geheimdienstes oder des Verteidigungsministeriums ergaunern ... Doch der Großteil des Materials, das Peter mitgebracht hatte, bestand aus trockenen mathematischen Analysen, denn vor allem hatten die Verschlüsselungsexperten den Verlauf der Konferenz bestimmt. Schlimmer noch: die interessanteste Sitzung war unter Ausschluß der Presse abgehalten worden, und niemand außer den Mitgliedern der geldgebenden Gesellschaft war zugelassen. Und dann, um das Faß zum Überlaufen zu bringen, mußte er noch erleben, daß wieder einmal ein seit ewigen Zeiten nicht reparierter U-Bahn-Schacht zusammen gebrochen und die Strecke in sein Viertel stillgelegt worden war, so daß er mit dem Bus fahren mußte; und während er an der Haltestelle wartete, hatte es auch noch angefangen zu regnen. Unter lauten Verwünschungen knallte er seine Aktentasche mit dem Packen Konferenzunterlagen und Werbematerial auf einen Stuhl, breitete seine feuchte Jacke über die Lehne, damit sie dort trocknete, und schleuderte die Schuhe von den Füßen; auch sie waren patschnaß, weil er gleich in eine der ersten Pfützen des Unwetters getappt war. Auf Socken schlurfte er zu der türlosen Wandnische, die ihm als Küche diente, fand eine halbvolle Flasche Whiskey und goß viel davon auf wenig Eis. Nach dem zweiten Schluck beruhigte er sich
etwas. Es gab einen Aspekt, den er ausbauen konnte, wenn er auch alles andere als ideal war. Einer der Redner — der einzige mit einem gewissen Sinn für Humor — hatte einen Teil seiner Rede der Aufklärung gewidmet, mit welchem Unverständnis immer noch viele laienhafte Computerbenutzer reagierten, wenn sie mit der Notwendigkeit konfrontiert wurden, einen Sicherheitscode einzurichten. Die meisten der Zuhörer waren ernst dreinblickende junge Männer und Frauen (eine unerwartet große Anzahl der letzteren, was ebenfalls einer Erwähnung wert wäre), denen es mehr um die mathematischen Gesichtspunkte ihrer Arbeit ging als um den Wert für die Firmen, die versuchten, Industriespione davon abzuhalten, sich Zugriff auf ihre Forschungsdaten zu verschaffen, doch einige der vorgebrachten Beispiele hatten selbst sie zu höhnischem Gelächter hingerissen. Ganz besonders dieser eine Fall von dem Generaldirektor einer Firma ... Doch es war an der Zeit, mit dem Denken aufzuhören und mit dem Schreiben zu beginnen! Die Uhr in seinem Computer zeigte halb acht an, und er war mit Nachdruck ermahnt worden, daß sein Artikel via Modem vor neun eingehen mußte, wenn er noch in den Ausgaben Schottland und West Country erscheinen sollte. Trotz des Umstandes, daß sich die Geschäftsleitung des Comet rühmte, die fortschrittlichste Technologie aller Zeitungen in Großbritannien zu besitzen, übernahmen die Außenbüros die Manuskripte aus London noch lange nicht, ohne sie mit entsprechendem Zeitaufwand für ihre lokale Leserschaft redaktionell zu bearbeiten. Vielleicht war das die Erklärung dafür, daß die Zeitung die angestrebte Auflage nie erreicht hatte und daß über sie das Gerücht ging, sie bewege sich am Rande des Ruins. Voller Abscheu bei dem Gedanken, welchen Machenschaften durch unfundiertes pseudowissenschaftliches Gewäsch der Weg geebnet werden könnte, kramte Peter
seinen Taschenmerker aus der Jacke, übertrug dessen Inhalt in den Computer und machte sich daran, grobe Notizen in eine brauchbare Story umzuwandeln. Der Regen, der auf das Schieferdach trommelte, bildete einen trostlosen Kontrapunkt zum Klacken der Tasten. Zu guter Letzt unterschritt er seinen Abgabetermin um ein angenehmes Maß. Er war sogar einigermaßen zufrieden mit der Art, wie er die Schwerpunkte der durchaus witzigen Rede dargestellt und die mathematische Seite heruntergespielt hatte, ohne sie ganz zu ignorieren. Er feierte das Ergebnis, indem er sich noch einen Drink eingoß, und dann wanderte er auf und ab, um sich die Beine zu vertreten. Er war nicht nur vom langen Sitzen an der Computertastatur steif geworden, sondern auch davon, daß er den Großteil des Tages auf Plastikstühlen verbracht hatte, die offenbar für den Australopithecus konstruiert waren. Aber ganz sicher würde er noch einen Anruf bekommen, sobald der Chefredakteur Zeit gefunden hatte, seinen Text zu lesen, so daß er es trotz stärker werdender Hungeranfälle nicht wagte auszugehen, um irgendwo noch einen Bissen zu essen. Das Warten wurde jedoch ein langes Warten, und unterdessen kehrte seine vorherige Stimmung der Depression und Frustration zurück. Er war jetzt Ende Dreißig und hatte seiner Meinung nach etwas Besseres verdient als diese Wohnung hier. Die höflichste Bezeichnung, mit der man diese Unterkunft beschreiben konnte, war >kompaktPseudo- oder auch Wohnzimmer< bezeichnete, war trotz einer Wand voller Elektronik mit Fernsehapparat, Stereoanlage samt Kassettendeck und
Radio-Tuner kaum dazu angetan, seine Besucher vom Hocker zu reißen, schon gar nicht seine weiblichen. Nein, das war nicht wahr — seine Verbitterung war lediglich das Ergebnis eines schlechten Tages und des schlechten Wetters. In Wirklichkeit fehlte es ihm nicht an vorzeigbaren Freundinnen, obwohl er selbst auch bei wohlwollendster Bemühung der Phantasie nicht als gutaussehend eingestuft werden konnte. Er war mittelgroß, einigermaßen schlank, in einem einigermaßen ordentlichen Gesundheitszustand, mit dunklem Haar und braunen Augen. Nichts an ihm war außergewöhnlich, nicht einmal seine Stimme. Es war sogar so, daß er jedesmal, wenn er sich selbst auf Tonband hörte, einen Schreck bekam, wie sehr sie jeder beliebigen englischen Ansagerstimme im Radio oder Fernsehen glich — der gemeinsame Stimmnenner sozusagen ... Als er ans Fernsehen dachte, fiel ihm ein, daß es Zeit für die Nachrichtensendung war, und er schaltete den Apparat ein; er stellte fest, daß das Hauptthema eine Story war, über die auch er geschrieben hatte — Zustände, die typisch für diese Zeit waren —, bis zu einem gewissen Punkt, als er der Sache überdrüssig wurde. Wieder mal hatte eine Gruppe von schwarzen Flüchtlingen, dem Verhungern und Verzweifeln nahe, den cordon sanitaire, den die Südafrikaner an ihrer nördlichen Grenze immer noch aufrecht erhielten, gewaltsam überschritten und waren gebührend niedergeschossen worden mit der Begründung, sie seien Überträger biologischer KriegswaffenSich-in-der-Gegend-Auskenneneine Nadel im Heuhaufen suchenbewaffnet und gefährlich< — sind das nicht die Worte, die Sie gebrauchen?« »Schußwaffen?« fragte der männliche Polizist. »Ich glaube nicht. Aber ich habe gesehen, wie er eins der Mädchen mit einer Scherbe bedroht hat.« Die Frau lauschte eine Weile in ihr Funkgerät, dann nickte sie zufrieden. »Zwei Wagen patroullieren in der Gegend. Einer oder beide werden ihn schnappen. Hast du eine Ahnung, wohin er unterwegs ist, für den Fall, daß er uns doch entwischt?« »Er wohnt in Docklands. Ich weiß nicht genau, wo.« »Hm.« Der Mann hob eine Augenbraue. »Und er besitzt einen neuen Jaguar und hat jemanden, der den Wagen fährt. Ich bin überrascht, daß er mit dem Zug fährt, obwohl das jetzt eine salonfähige Mode geworden ist, nachdem die Eisenbahntickets so teuer sind. Ich hätte trotzdem erwartet, daß er fliegt.« »Werden nicht auch manchmal die Leute am Flughafen gefilzt?« entgegnete Crystal. »Das wäre das letzte, was er will.« »Ja, natürlich.« Der Mann biß sich auf die Lippe und
warf seiner Begleiterin einen Blick zu. »Nun, ich schätze, das einzige, was uns jetzt zu tun bleibt, ist, danke zu sagen.« »Genau. Und gute Nacht!« Sie verstanden die Andeutung und marschierten im Gleichschritt davon. Während der letzten paar Minuten hatte ein weiterer Zug seine Passagiere ausgespuckt, und vierzig oder fünfzig Menschen warteten auf eine Gelegenheit, die Straße zu überqueren. Crystals geübte Augen identifizierten einige von ihnen als entlassene Wehrdienstleistende, stets eine vielversprechende Zielgruppe — und außerdem sicher, abgesehen von den vereinzelten faulen Nüssen wie demjenigen, an den sie zuletzt geraten war, denn sie erhielten die AIDS-Impfung gratis. Trotz des Regens postierte sie sich so, daß sie gut zu sehen war, und setzte ihr professionelles Lächeln auf. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie wenig Grund zum Lächeln gehabt, doch heute war ihr Gesichtsausdruck ehrlicher als gewöhnlich, nachdem sie Winston Farmer in die Pfanne gehauen hatte. Sie wünschte nur, sie könnte das gleiche ihrer Tante und ihrem Onkel antun und all den Scheißtypen wie sie, die diese Art von Welt gewollt haben mußten, denn sie hatten alles dafür getan, die Regierung, die diese Zustände möglich gemacht hatte, an die Macht zu bringen und sie dort zu halten.
Sie sehen das Programm TV-Plus. Es folgen die Nachrichten. Die Tatsache, daß Kartoffeln immer knapper und immer teurer werden, wurde von offizieller Seite damit begründet, daß ein Virus mit Importen aus dem Nahen Osten, wahrscheinlich aus Zypern oder Ägypten, nach Großbritannien eingeschleppt wurde. Die einheimischen Sorten dieser Länder sind dagegen resistent, während es die in Großbritannien angebauten nicht sind. Viele Bauern rechnen damit, daß ihre Felder vollkommen abgeräumt und entkeimt werden müssen, und verlangen Hilfe durch die EG, und zwar im gleichen Umfang wie die französischen Anbauer von Zuckerrüben, deren Ernte im letzten Jahr durch eine heimtückische Fäulnis vernichtet wurde. Mehr darüber in Kürze. General Sir Hampton Thrower hat bei einer Veranstaltung in Birmingham vor mehreren tausend Anhängern seine Äußerung wiederholt, daß Patrioten >ihre Meinung deutlich kundtun< sollten; diesmal schlug er vor, sie sollten rot-weißblaue Bänder tragen ...
Sofort nach der Rückkehr in seine Wohnung speicherte Peter so wortgetreu, wie er es eben konnte, die erschütternden — die aufwühlenden — Bemerkungen, die Claudia fallengelassen hatte, in den Computer. Für seinen Seelenfrieden wäre es entschieden besser gewesen, wenn sie ihn beispielsweise mit der fadenscheinigen Ausrede abgewiesen hätte, daß sie zur Zeit nicht belästigt werden wollte, weil sie zunächst Urlaub zu machen gedenke, bevor sie die Absicht habe, die Arbeit aufzunehmen. (Nebenbei bemerkt: Sie hatte, so erinnerte er sich, darauf hingewiesen, daß sie an einer Studie arbeitete, nicht an einem neuen Buch.) Statt dessen ... Und einen Moment lang hatten sowohl ihre Stimme als auch ihr Gesichtsausdruck — dessen war er ganz sicher — echte Angst ausgedrückt. Nachdem er seine Aufzeichnungen immer wieder durchgelesen und noch mal durchgelesen hatte, blätter-
te er durch ihr Buch, um seine Erinnerung aufzufrischen, doch er fand keine Anhaltspunkte. Ihre Ausführungen, die zwar seiner Meinung nach keineswegs schlüssig waren, waren dennoch gründlich dokumentiert, und es war klar erkennbar, daß sie zu dem Zeitpunkt, als sie das Buch schrieb, von dem, was sie zu sagen hatte, zutiefst überzeugt war. Was konnte ihre Ansicht derart verändert haben, daß sie jetzt glaubte, im Irrtum zu sein? Vielleicht würden neuere Veröffentlichungen klarere Erkenntnisse liefern. Ungeachtet der Kosten befragte er alle einschlägigen Datenbanken. Es stellte sich heraus, daß es sich ausnahmslos um kurze Artikel in soziologischen und soziobiologischen Fachzeitschriften handelte, und alle beschäftigten sich mit Aspekten ihrer ursprünglichen Argumentation, indem sie sie untermauerten oder erweiterten oder neue unterstützende Beweise erbrachten. Der letzte war erst im vergangenen Jahr erschienen; ihre neue Entdeckung, falls es so etwas war... Moment mal!
Er prüfte das Datum der Eingabe. Die Arbeit war sieben Monate vor ihrem tatsächlichen Erscheinen vorgelegt worden. Veröffentlichungen per Computer mochten zwar schnell machbar sein, doch eine gründliche Bearbeitung brauchte eben immer noch ihre Zeit. Ganz so aktuell war die Sache also nicht. Doch es gab nichts Neueres, nicht einmal eine inoffizielle Verlautbarung, um sich die Priorität zu sichern, nicht einmal einen Brief als Antwort an einen der vielen Kollegen, die nicht ihrer Meinung waren. Eine kahle Wand! Seine Enttäuschung wuchs, und er erwog, einige Kontaktpersonen in Amerika anzurufen, die vielleicht noch vor kurzem mit ihr gesprochen haben könnten. Gleich darauf verwarf er die Idee wieder; er gab bereits mehr Geld aus, als er verantworten konnte. Morgen
müßte er jedoch zwischendurch, während er den Entwurf für die Geschichte über das alternative Therapiezentrum ausarbeitete, Zeit finden, ihren Verlag anzurufen. Claudia mochte Publicity ablehnen, doch die Leute dort könnten sie vielleicht zu einem Sinneswandel überreden. Er hätte gern den Namen der Person gewußt, die versucht hatte, sie anzurufen, dann hätte er gezielt nach dem Betreffenden fragen können. Außerdem gab es noch einen Typen namens Jim Spurman, einen ehemaligen Bewährungshelfer, der jetzt an einer der Universitäten im Norden als Dozent arbeitete. Er gehörte zu den ersten Leuten in Großbritannien, die Claudias Ideen verfochten hatten, indem er einen Artikel über sie in Society Now veröffentlichte. Vielleicht würde er sich als hilfreich erweisen. Nachdem er eine Liste gemacht hatte mit all den Dingen, die er tun wollte, aber nicht gleich tun konnte, weil es fast Mitternacht war, ging Peter ins Bett, wo er noch eine Stunde lang wach lag. Als er schließlich einschlummerte, überfielen ihn unruhige Träume.
Unter dem Vorsprung eines Berges, teilweise grün durch sommerliches Gras, teilweise grau durch kahle Felsen, durchzogen von groben Steinwällen und einem tosenden Wildbach und gegen den Gipfel hin von einer Schafherde gesprenkelt, stand ein Bauernhaus, gebaut aus dem gleichen Felsgestein und gedeckt mit Schieferplatten, von denen jedoch einige fehlten und durch Plastikfolie ersetzt worden waren. Die Fensterrahmen hätten eines neuen Anstrichs bedurft, und etliche der Scheiben waren blind durch Sperrholzverschläge ... oder vielleicht war es auch Pappe. Dahinter, wie das versteinerte Skelett eines gigantischen Straußenvogels, ragte das Gerüst einer verlassenen Windmühle empor. Längs zum Haus verlief eine Scheune in noch weiter heruntergekommenem Zustand, stellenweise geflickt mit rostigem Wellblech. Und das, was da soeben im blendenden Glitzern der Sonne auf dem Wildbach zu erkennen war: sollte das als Wasserrad gedacht sein? Falls es so war, dann drehte es sich jedenfalls nicht. Froh darüber, angeschnallt zu sein, während der verrostete Mini, in dem sie als Beifahrerin saß, über eine schlechte Straße holperte, versuchte Miss Fisher, an diesen Ort die gleichen Maßstäbe anzulegen, wie an eine normale Schule. Sie war Schulinspektorin. Manche behaupteten, sie habe das ideale Nervenkostüm für diesen Job. Als ob es um die Vorbereitung auf eine Prüfung ging, wollte sie ihrem Begleiter und Fahrer, Mr. Youngman (Miss Fisher gehörte nicht zu den Leuten, die andere nach kurzer Bekanntschaft beim Vornamen nannten) dieselben Fragen wie sonst stellen. Doch er biß sich auf die Lippen vor Konzentration, um Schlaglöcher und Querrillen zu umfahren, und sie mußte sich zwangsweise damit begnügen, noch einmal alles zu überdenken, was er ihr bereits gesagt hatte. Schließlich war er so entgegenkommend gewesen, sich anzubieten, sie hier her-
aufzufahren, anstatt ihr einfach den Weg zu weisen und es ihr selbst zu überlassen, sich zurechtzufinden. Also: »Wie lange ist es her, daß die Crowders hierhergekommen sind?« »Das war in dem Jahr, als Garth in die Schule kam. Er ist jetzt dreizehn, das muß also vor acht Jahren gewesen sein. Ich habe sie damals noch nicht gekannt — habe sie erst kennengelernt, als Garth im Alter von elf Jahren zu mir kam.« »Obwohl Mrs. Crowder selbst Lehrerin war?« »Die Menschen hier in der Gegend sind sehr verschlossen. Sie mögen keine Zugezogenen. Und außerdem hielten sie Roy und Tilly für eingebildet, bestrebt, den Leuten hier ihre althergebrachte Lebensweise auszutreiben. In Wirklichkeit war es ihr Traum, zum Ursprünglichen zurückzukehren. Unabhängig und eigenständig von dem zu leben, was ihr Stück Land hergab.« »Haben sie dann doch Fuß gefaßt? Wurde Garth beispielsweise in der Schule akzeptiert?« »Es hat eine Weile gedauert, doch nach allem, was ich von seinen Lehrern gehört habe, paßte er sich in der Grundschule ziemlich gut an. Es wurde gleich von Anfang an deutlich, daß er sehr intelligent ist, und so etwas führt unweigerlich zu Problemen. Aber im großen und ganzen ... Und natürlich hatte Roy einen ganzen Batzen Geld gespart, so daß er für alles, was er getan haben wollte, prompt zahlte.« »Soweit ich weiß, war er Ingenieur?« »Elektoringenieur. Er träumte davon, sein Wissen praktisch umzusetzen ... nun, zum Beispiel baute er ein Wasserrad. Er verlegte andere Kabel im Haus, damit der Strom mit einem Autodynamo erzeugt werden konnte; zur Beleuchtung verwendete er Scheinwerferbirnen.« »Funktionierte es?« »Eine Zeitlang, ja. Sie hatten sogar einen Schwarzweiß-Fernseher. Allerdings, das einzige, was sie jetzt noch haben ist ein batteriebetriebenes Radio.«
»Was ging schief?« »Ich weiß nicht. Aber irgend etwas muß schiefgegangen sein.« »Wann?« »Ich vermute, daß es kurze Zeit, nachdem Garth in meine Schule überwechselte, angefangen haben muß.« »Machte er sich dort ebenso gut wie in der Grundschule?« »Während der ersten paar Schulhalbjahre schon. Doch ... ach, ich weiß nicht. Kinder in diesem Alter neigen dazu, streitsüchtig zu werden, nicht wahr? Und gleichzeitig verschlossen. Vielleicht lag es daran, daß die anderen Kinder merkten, wie klug er ist. Unter ihnen gibt es kaum einen von fünfzig Schülern, der das Zeug zum höheren Bildungsweg hätte, und da tauchte nun Garth auf, bestes akademisches Material, wenn ich je welches gesehen habe, voller drängender Fragen, während die anderen Jungen, die ich seit meiner Ankunft hier zu unterrichten versuche, der Auffassung sind, bereits genügend zu wissen, um sich durch den Rest ihres Lebens zu schlagen. Also schalten sie einfach ab, hören nicht mehr zu. Das ist natürlich die Schuld ihrer Eltern.« Miss Fisher nickte diplomatisch. Sie kannte Mr. Youngmans Sorte. Ende der Dreißig, fügte er sich resignierend in die Einsicht, daß er niemals Schuldirektor werden würde, und in seiner Resignation würde er es wahrscheinlich nicht einmal mehr bis zum Fachbereichsleiter schaffen. »Waren die häuslichen Verhältnisse in Unordnung geraten? Sie sagten, daß Sie etwa um diese Zeit herum die Crowders kennengelernt haben. Und eine Krise in der Familie, genau dann, wenn ein Kind in die Pubertät eintritt ...« Ein heftiges Kopfschütteln brachte Mr. Youngmans wirre Haare noch mehr durcheinander. »Nein, sie machen den Eindruck eines einander sehr
zugeneigten Ehepaares. Es kann allerdings sein, dessen bin ich nicht ganz sicher, daß Tilly Roys Begeisterung für das Leben in der totalen Einöde nicht in vollem Umfang teilte, doch vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft an betonte sie immer wieder, daß sie dem Plan um Garths willen gern gefolgt sei, denn dort, wo sie zuvor gelebt hatten, waren die Kinder, die sie unterrichtete, so sehr von jeder Realität abgeschnitten, und sie wollte nicht, daß er sich genauso entwickelte.« »>Wo sie zuvor gelebt hatten< — das war ...?« »Mitten im Zentrum von Birmingham. So großstädtisch, wie es nur geht.« »Mit >Realität< meinte sie ...?« »Ich nehme an, die Erfahrung, wie Getreide wächst, wie Tiere gezüchtet und geschlachtet werden ... Nicht, daß das für sie in Frage käme; sie sind Vegetarier.« »Haben sie versucht... nun, die anderen zu ihrer Überzeugung zu bekehren? Ich meine, die meisten Bauern hier leben von der Schafzucht, oder nicht? Sie können sicher wenig Sympathie aufbringen für Leute, die danach trachten, ihnen das Fleischgeschäft kaputtzumachen.« Wieder ein heftiges Kopfschütteln. »Nein, ich habe sie stets als sehr tolerant eingeschätzt.« »Trotzdem habe ich etwas über gewisse Vorkommnisse gelesen ...« »Ich weiß, was Sie meinen« — mit einem Beiklang von Verbitterung in der Stimme. »Und ich mache mir ebensoviel Sorgen über die Geschehnisse wie alle anderen. Aber ich kann einfach nicht glauben, daß Garth etwas damit zu tun hat.« »Es entstand ein Grenzkonflikt, der zur Vergiftung eines Schäferhundes führte, eines in mehreren Wettbewerben preisgekrönten Tieres, von dem sein Besitzer hoffte, es in die nationale Ausscheidung bringen zu können.« »Und zum Fernsehen. Es handelte sich um Jack Atterthwaites Judy. Sein Hof liegt im nächsten Tal.«
»Ist nicht sein Sohn ertrunken aufgefunden worden? Und war der nicht auch ein Schüler von Ihnen, in derselben Klasse wie Garth, doch älter?« »Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, wie?« — mit einem spöttischen Kräuseln der Lippen. »In beiden Fällen: ja, so ist es. Und die Schlinge, in die Bob geriet, als er in den Wildbach stürzte und so unglücklich auf einen Stein aufschlug, daß er ohnmächtig wurde, soll mit einem Draht aus der Scheune der Crowders hergestellt worden sein. Jedenfalls versuchten sie das nachzuweisen. Doch es handelte sich um eine weitverbreitete Sorte Draht. Bei der Untersuchung konnte nichts nachgewiesen werden! Hören Sie, Sie können am besten selbst beurteilen, was von solchen Beschuldigungen zu halten ist, wenn ich Ihnen sage, daß die Einheimischen die Crowders verdächtigen, magische Kräfte zu besitzen!« »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!« »Ganz vollständig waren Ihre Hausaufgaben nun doch nicht, was? Ich meine es wörtlich!« Funken sprühten aus Mr. Youngmans Augen — und aus seiner Stimme. »Halten Sie sich ein paar Tage hier auf, und Sie werden feststellen, daß hier Worte in den Mund genommen werden, die seit mindestens einem halben Jahrhundert niemand mehr ausgesprochen hat — >die dunkle Herrin< und >der Gehörnte
gehört, daß Tilly — das ist meine Mutter — qualifizierte Lehrerin ist. Wieviel Kinder haben das Glück, den ganzen Tag lang in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis von eins zu eins unterrichtet zu werden? Oder ich sollte besser sagen: zwei zu eins, denn Dad vermittelt mir sein Wissen ebenso rastlos. Bei allem Respekt für Mr. Youngman, meinen Sie, ich hätte, wenn ich weiterhin an seinem Unterricht teilgenommen hätte, jetzt schon die allgemeine Relativitätstheorie durchgenommen und wäre außerdem vertraut mit den Grundlagen praktischer Konstruktion von Gebäuden und funktioneller Kraftwerke, die geeignet sind, das nationale Stromnetz zu speisen?« Mit plötzlich erwachtem Widerspruchsgeist sagte Mr. Youngman: »Dort drüben sehe ich vier abgebrannte Kerzen. Was ist mit eurem wasserbetriebenen Dynamo? Und mit dem windbetriebenen, den ihr davor hattet?« Miss Fisher warf den Kopf herum. Das war ihr nicht eingefallen! »Wir sind dabei, eine verbesserte Version zu entwikkeln«, warf Roy Crowder ein. »Das stimmt«, bestätigte seine Frau. »In der Zwischenzeit kann ich anhand des Gebrauchs von Kerzen Garth die Grundlagen des Verbrennungsprinzips näherbringen. Roy und ich scheuen keine Mühe, wenn es um sein Wohlergehen und seine Fortbildung geht. Noch etwas Tee?« Die Besucher waren so sehr von Garth in Bann geschlagen, daß sie weggingen, ohne bemerkt zu haben, wie ausgemergelt Roy und Tilly geworden waren seit jenem entsetzlichen Tag, als er von der Schule — oder vielmehr vom Schuleschwänzen — nach Hause gekommen war und verkündet hatte: »Roy! Ich habe keine Lust mehr, dich weiterhin Vater zu nennen. Du bist nicht mein wirklicher Vater, stimmt's?«
»Was um alles in der Welt...?« »Halt den Mund! Und schaltet das Scheißradio aus!« Es wurde gerade gemeldet, daß schon wieder mal auf das Haus eines Juden in Tokio ein Brandanschlag verübt worden war, doch solche Vorkommnisse fanden in zu großer Entfernung statt, als daß sie für Garth in diesem Moment von Bedeutung sein konnten. Er fuhr mit unverminderter Heftigkeit fort: »Tilly, ich akzeptiere dich als meine Mutter. Aber auch du hast mich angelogen!« »Was ...?« Und »Wie ...?« gleichzeitig von Tilly und Roy. »Auf dieses >Wie< habe ich gewartet«, lautete Garths spitze Antwort. »Bis jetzt hatte ich nur einen Verdacht. Jetzt bin ich sicher. Ich werde nie mehr in die Schule gehen. Ich halte es nicht mehr aus, dieses ...« »Wir wollten dir alles erklären!« brach es aus Tilly heraus. »Sobald die Zeit reif dafür gewesen wäre!« »Sie wäre niemals reif gewesen, was? Ihr habt mich hierher in die Wildnis verschleppt, umgeben von Bauerntölpeln, die ich nicht ausstehen kann, der sanften Gnade von Lehrern ausgeliefert, die noch unwissender sind als ihr — sogar als ich, in meinem Alter! —, und ich werde von jetzt an bekommen, was mir zusteht. Ihr habt zwölf Jahre lang unter Vorspiegelung falscher Tatsachen mein Leben gegängelt, damit ist jetzt Schluß! Trefft die notwendigen Vorkehrungen, damit ich zu Hause unterrichtet werden kann! Haltet mich körperlich und geistig fit, und bringt mir bei, was ich wissen will — angefangen damit, daß ihr die komplette Encyclopedia Britannica anschafft, denn diese Woche gibt es gerade ein Sonderangebot in einem Buchclub; später könnt ihr ja wieder austreten. Verlangt nicht mehr von mir, daß ich mich mit euren verdammten Steckrüben quäle oder die Asche aus dem Kamin räume! Ich werde es nicht mehr tun! Ich weiß genug über die Art von Leben, auf das ich mich hätte freuen können — Busse und Taxis und Discos und Konzerte und Computer und Buche-
reien und Fernsehen und Mädchen und allerlei Annehmlichkeiten! Um all das habt ihr mich gebracht! Und zwar um eines öden Stückchen Landes willen, das ihr jetzt nicht einmal für mich erhalten könnt, weil ihr pleite seid!« Tränen standen ihm in den Augen, doch seine Stimme blieb ausgeglichen und beherrscht. »Also du, Roy, kannst mit deinem landwirtschaftlichen Getue weitermachen. Ich sehe ein, daß du das bei Tageslicht tun mußt. Aber wenn du mich jemals Hunger leiden lassen wirst, dann wirst du vor mir hungern, das verspreche ich dir! Und sobald ich irgend etwas erfahren möchte, das du mir beibringen kannst, dann läßt du den Spaten fallen und kommst zu mir gerannt, verstanden? Und was dich betrifft, Mutter, du kannst den Haushalt für mich in Ordnung halten, bevor ich aufstehe und nachdem ich ins Bett gegangen bin, auch wenn das bedeutet, daß du für den Rest deines Lebens keine Nacht mehr als fünf Stunden Schlaf bekommen wirst. Wenn ich von hier weggehe, was meiner Schätzung nach in ungefähr vier Jahren der Fall sein wird, dann beabsichtige ich, soweit zu sein, mir von euch alles Wissen, das ihr vermitteln könnt, angeeignet zu haben, weil ihr mich den ganzen Tag über unterrichtet habt, angefangen vom Kochen bis hin zur Quantenphysik! Wenn ich mich schließlich aus euren verlogenen Fittichen befreie, dann möchte ich in der Lage sein, zumindest im abstrakten Sinn gut allein zurechtzukommen — und euch wünsche ich, daß ihr quieken müßt, um als Schweine anerkannt zu werden!« Jetzt waren es nicht mehr nur Tränen, sondern auch Schweißperlen, die ihm übers Gesicht kullerten. »Sohn ...«, wagte Roy eine Entgegnung. »Wessen?« kam die bissige Antwort. Das war der letzte Einwand gewesen.
Natürlich, wenn Garth nicht seine ungeteilte Aufmerksamkeit voll und ganz auf sie richtete — wie zum Beispiel gerade jetzt, da er einiges davon dafür verwendete, die Besucher abzublocken —, schafften es Roy und Tilly, die Gelegenheit zu einer kurzen Frage zu nutzen. »Garth, wenn nun diese Inspektorin ...?« »Was denn? Was denn?« — mit unsagbarer Verachtung. »Habe ich mich eurer nicht ebenso angenommen wie ihr euch meiner? Habe ich nicht mit Jack Atterthwaite abgerechnet, nachdem er seiner Hündin eingebleut hatte, seine Schafe in eure Gemüsebeete zu treiben? Und das, obwohl ich etwas so Fades wie Gemüse nicht ausstehen kann! Hat er keinen Rückzieher gemacht, als dieses Ekel von seinem Sohn im Wildbach dahintrieb? Und habe ich euch nicht gewarnt, kein Wasser davon zu nehmen, bis es wieder sauber war, das heißt, bis man Bobs Leiche entfernt hatte?« Roys Gesicht war kreideweiß, Tillys grau. »Dann warst du es also ...?« »Warum erschüttert euch das so? Seither hat man uns doch in Ruhe gelassen, oder etwa nicht?« »Aber die Polizei ...«, jammerte Tilly. »Haben Sie uns bei der Ermittlung auch nur als Zeugen vernommen?« »Nein, aber...« »Und halten uns die anderen jetzt nicht allesamt für unberührbar? Nennen sie euch nicht >die dunkle Herrin< und >den Gehörnten