Scan by Schlaflos
Die Vereinigten Königreiche von Wendar und Varre kommen nicht zur Ruhe. Denn während Liath, getrennt...
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Scan by Schlaflos
Die Vereinigten Königreiche von Wendar und Varre kommen nicht zur Ruhe. Denn während Liath, getrennt von Mann und Kind, auf der Suche nach ihrer wahren Bestimmung durch die Sphären wandelt, rüsten sich an allen Grenzen die zahlreichen Feinde zu einem neuen Angriff auf das Reich von König Henry: Da sind die Qumaner, die noch immer von Osten her das Land bedrohen, sowie Starkhand, der listige Anführer der Aikha, der es besser machen will als sein Vater Blutherz, und schließlich gibt es auch noch die geheimnisvolle Adica. Sie ist, mit Alain an ihrer Seite, dazu ausersehen, ihr Volk auf den bevorstehenden Kampf mit den Menschen vorzubereiten. Und während sich Prinz Sanglant den einfallenden Qumanern entgegenstellt, zieht sein Vater König Henry nach Süden: Sein Begehren ist trotz aller Bedrohungen, denen sein Reich ausgesetzt ist, auf den Thron von Aosta gerichtet ... Kate Elliott hatte bereits unter dem Namen Alis A. Rasmussen mehrere Science-Fiction-Romane veröffentlicht, bevor sie gemeinsam mit Melanie Rawn und Jennifer Roberson »Die Chronik des Goldenen Schlüssels« verfasste. »Sternenkrone« ist ihr erstes großes Soloprojekt in der Fantasy und wurde von Kritikern und Lesern begeistert aufgenommen. STERNENKRONE: 1. Erben der Nacht. Roman (24742), 2. Im Namen des Königs. Roman (24743), 3. Auf den Flügeln des Sturms. Roman (24744), 4. Die Kathedrale der Hoffnung. Roman (24842), 5. Der brennende Stein. Roman (24843), 6. Das Rad des Schicksals. Roman (24844), 7. Kind des Feuers. Roman (24131), 8. Schatten des Gestern. Roman (24132), 9. Ins Land der Greife. Roman (24183), 10. Die magischen Tore. Roman (24139)
Kate Elliott
Kind des Feuers Schatten des Gestern Sternenkrone 7+8 Zwei Folgen in einem Band! Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold Originaltitel: Crown of Stars, vol. 4, Child of Flame Originalverlag: DAW Books, Inc., New York Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. 1. Auflage Taschenbuchausgabe Februar 2007 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © der Originalausgabe 2000 by Katarina Elliott Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by Verlagsgruppe Random House GmbH Published in arrangement with the author c/o BAROR International, Inc., Armonk, New York, USA Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Luserke/Bondar UH • Herstellung: HN Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN: 978-3-442-24437-9 www.blanvalet-verlag.de
Kind des Feuers Vorbemerkung Ursprünglich war die Saga von der Sternenkrone auf sechs Folgen angelegt, denen eine zweite Staffel hätte
folgen sollen. Doch wie so oft beim Schreiben, hat sich alles ganz anders entwickelt - irgendwann habe ich festgestellt, dass ich mehr zu erzählen hatte, als mir am Anfang klar gewesen war. Einen Teil des Materials, den ich ursprünglich verwenden wollte, habe ich einfach herausgenommen und erst einmal beiseite gelegt, um ihn vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt zu verwenden; dazu gehört auch ein ganzer Handlungsstrang, der bei den Qumanern spielt. Der Rest fließt in eine einzige Serie, die insgesamt zehn oder sogar zwölf Einzelbände umfassen wird. Diese Lösung hat sich als die beste Variante herauskristallisiert, um angesichts der Stoffmenge die schriftstellerische Qualität zu erhalten und auch die Veröffentlichungsdaten nicht zu weit auseinander klaffen zu lassen. Natürlich behalte ich mir die Möglichkeit vor, zu einem späteren Zeitpunkt für eine weitere Saga zur Welt der Sternenkrone zurückzukehren. Denn eines Tages würde ich gerne die Geschichte von Kereka erzählen, der Tochter des qumanischen Oberhauptes, die ein Mann sein möchte. Prolog Unaufhörlich grollte im Südosten der Donner. In dem breiten Graben, in dem drei Jugendliche und zwei schwer verletzte Soldaten Schutz vor der Schlacht gefunden hatten, hatte der Regen jedoch barmherzigerweise etwas nachgelassen. Ein aus nördlicher Richtung kommender Wind vertrieb die Wolken, sodass der Vollmond unverhüllt am Himmel stand und sein wächsernes Licht auf die Welt fiel. Ivar lauschte den Geräuschen der Schlacht, die mit der Brise zu ihnen wehten. In der Hoffnung, ihren Feinden entkommen zu können, waren sie von dem Erdwall weiter oben in den Graben hinabgestiegen. Allerdings waren sie auf diese Weise hinter den feindlichen Linien gefangen, und so hatten sie nicht wirklich und dauerhaft Schutz gefunden, sondern sich höchstens ein bisschen Zeit verschafft. Früher oder später würden die qumanischen Krieger über den Erdwall kommen und sie niedermetzeln, ihnen die Köpfe abschneiden und sich diese dann als Trophäen an den Gürtel hängen. Zumindest war es wohl das, was Baldwin gerade dachte, denn er sprach höchst verwirrt von qumanischen Soldaten, die mit Fackeln in den Händen den riesigen Hügel durchstreiften. Ivar stand auf dem matschigen Grund des Grabens; er konnte die Fackeln nicht sehen. Ein sanftes Glühen ging von der Hügelkuppe aus, doch es sah ganz anders aus als jedes Fackellicht, das er bisher gesehen hatte. Manchmal, wenn man sich in einer wirklich schlimmen Situation befand und nichts dagegen tun konnte, war es besser, nichts zu wissen. »Vorsicht!«, flüsterte Ermanrich. »Hier ist Wasser. Himmel! Es ist kalt wie Eis!« »Komm schon, Dedi, komm mit, Junge«, drängte der ältere der 11 zwei verwundeten Löwen seinen jüngeren Kameraden, doch der Mann regte sich nicht. Vermutlich war er bereits tot. Ivar trat zum Wasser, formte eine Tasse aus seinen Händen und trank. Die kühle Flüssigkeit klärte seinen Kopf zum ersten Mal, seit er seine Finger verloren hatte, und schließlich konnte er sich zurücklehnen und sich einen Überblick darüber verschaffen, wie schlecht ihre Lage war. Der Mond goss sein weiches Licht über die Szenerie. Das Wasser hatte sich hier gesammelt, weil ein Stück weiter oben ein Bächlein einen steilen Abhang hinunterlief. Im Laufe unzähliger Jahre hatte das Wasser dabei zwei Felsbrocken freigelegt, die durch einen Deckstein verbunden waren. Mondlicht fing sich auf einem der Steine, enthüllte ein Relief, das unter dem Moos halb verborgen war. Ivar hangelte sich am Rand des Wasserlochs entlang, als wollte er vermeiden, nasse Füße zu bekommen - dabei war er schon längst vollkommen schlammverschmiert -, und fuhr die alten Linien nach: Es war eine menschliche Gestalt, die das Geweih eines Hirsches trug. »Sieh nur!« Baldwin schob den dichten Vorhang aus Moos beiseite, der vom Felssturz herabhing, und enthüllte einen Tunnel, der ins Innere des Hügels führte. Prinz Bayan und seine Verbündeten, auf deren Seite sie in den Kampf gezogen waren, hatten die Schlacht ohnehin verloren, und jetzt waren sie von ihm und dem sich zurückziehenden Heer abgeschnitten - und von jenen ihrer Kameraden, die noch am Leben waren. Wie konnte ein uralter Hügel da schlimmer sein als die Qumaner? Ivar zwängte sich durch die schmale Öffnung und betrat den Tunnel. Kaltes Wasser klatschte ihm gegen die Knie, sickerte in seine Stiefel, und seine Zehen pochten schmerzhaft. Er konnte nicht das Geringste sehen. Jemand trat neben ihn. »Ivar? Bist du das, Ivar?« »Natürlich bin ich es! Ich habe gehört, dass die Qumaner Angst vor Wasser haben. Vielleicht können wir uns hier verstecken, so lange es nicht zu tief wird.« Der Boden schien fest zu sein, und das 12 Wasser reichte nur bis zu seinen Knien. Ivar tauchte einen Arm ins Wasser, tastete den Boden ab, griff nach einem Stein und warf ihn nach vorn. Das Geräusch, das daraufhin zu hören war, klang hohl. Ein Stück weiter vorn tropfte unablässig Wasser. Aus der Tiefe des Hügelgrabs erklang ein leises Rascheln. »Was war das?«, zischte Baldwin und griff nach Ivars Arm. »Au! Du zwickst mich!« Es war zu spät. Ihre Stimmen hatten die ruhelosen Toten bereits erweckt. Ein wortloses Stöhnen hallte durch den pechschwarzen Tunnel.
»Oh Gott.« Ivar klammerte sich an Baldwin. »Es ist ein Hügelgrab. Wir sind in ein Grab hineinmarschiert und werden für immer verflucht sein!« Aber die Stimme formte Worte, die sie kannten, wenngleich die steinernen Wände und das tröpfelnde Wasser ihr einen seltsam verzerrten, hallenden Klang verliehen. »Ssseid ihr dass? Sssind dass Ermanrichss Freunde?« »Edelfrau Hathumod?«, stammelte Baldwin ungläubig. »Oh, der Herrin sei Dank!« Obwohl ihre Stimme so merkwürdig klang, war ihr die Erleichterung anzumerken. »Der arme Ssigfrid isst am Arm verwundet worden, und wir haben unss verirrt. Ich habe zzu Gott gebetet, unss ein Zzeichen zzu schicken. Und dann ssind wir hier reingefallen. Aber ess isst trocken hier, und ich glaube, der Tunnel zzieht ssich noch weiter in den Hügel hinein, aber ich hatte Angst, weiterzzugehen.« »Was tun wir jetzt?«, murmelte Baldwin. »Wir sollten die anderen holen und so tief wie möglich in den Hügel gehen. Die Qumaner werden es nicht wagen, uns durch dieses Wasser zu folgen. Nach ein oder zwei Tagen werden sie verschwinden, und dann können wir wieder rauskommen.« »Einfach so?«, fragte Baldwin. »Einfach so. Du wirst schon sehen.« Sie marschierten zum moosbehangenen Eingang zurück, wo Ermanrich zitternd und hustend auf dem Moos kauerte und wartete. 13 »Oh, Gott! Daseidihrja! Ich dachte schon, ihr wärt verschluckt worden.« Er seufzte etwas gehetzt, dann fuhr er mit leiser Stimme fort, versuchte aus seiner Angst und seiner Erleichterung einen Witz zu machen: »Hätte ja sein können, dass sogar der Hügel Baldwins Schönheit erlegen ist und ihn verspeisen wollte. Ich weiß allerdings nicht, was er mit einem seltsamen, rothaarigen Kerl wie dir gewollt hätte, Ivar. » »Die Erde muss blind sein, sonst kommst du da nie rein. Und jetzt komm.« Ivar trat zu dem Löwen, der noch bei Bewusstsein war. »Freund, kannst du gehen?« »Mehr oder weniger. Aber Dedi hier -« Die Stimme des alten Löwen klang plötzlich rau. »Wir werden ihn tragen«, erklärte Ivar hastig. »Aber wir sollten ihn vorher von dem Kettenhemd befreien. Ermanrich, kannst du mir mal helfen? Baldwin, du führst den Löwen in den Hügel hinein, und geh ein Stück voraus, für den Fall, dass es da irgendwelche Löcher gibt.« »Löcher? Und was ist, wenn ich in so ein Loch reinfalle?« »Baldwin, wir haben keine Zeit mehr! Hier.« Er hatte die Schwertscheide des bewusstlosen Löwen gefunden. »Nimm das Schwert; damit kannst du dich vorantasten.« Merkwürdigerweise gehorchte Baldwin, ohne weitere Einwände zu erheben. Er half dem alten Löwen auf die Beine und stützte ihn, dann verschwanden sie im Tunnel. Es war gar nicht so einfach, einem bewusstlosen Mann das Kettenhemd auszuziehen. »Ich glaube, er ist bereits tot«, flüsterte Ermanrich mehrere Male, aber schließlich hatten sie ihn aus der Rüstung geschält. Auch ohne Rüstung war es nicht einfach, ihn in den Tunnel zu zerren. Er war ein großer Mann mit kräftigen Muskeln und so schwer verletzt, dass sie sein ganzes Gewicht zu schleppen hatten. Glücklicherweise stieg das Wasser niemals höher als bis zu ihren Oberschenkeln, und dann stieg der Boden wieder an und führte sie auf trockenes Gebiet. Über ihnen dräute jetzt das Gewicht des 14 Hügels. Der scharfe Geruch von Unrat drang Ivar in die Nase, und seine verstümmelte Hand schmerzte fürchterlich. »Gott sei Dank«, sagte Baldwin in der Dunkelheit. Ivar und Ermanrich ließen den bewusstlosen Soldaten nicht gerade sanft zu Boden sinken, und Ivar richtete sich so rasch wieder auf, dass er sich den Kopf an der steinernen Decke stieß. Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen; am liebsten hätte er sich einfach nur hingesetzt und geweint, so grauenhaft erschien ihm alles. Er hatte wirklich geglaubt, sie würden die Schlacht gewinnen. Die Truppen von Prinz Bayan und Prinzessin Sapientia hatten so wunderbar ausgesehen, als sie gegenüber dem qumanischen Heer Aufstellung bezogen hatten, und auch die gefürchtete Markgräfin Judith war mit einer solch starken Streitmacht geritten, dass er niemals geglaubt hätte, ihre eigenen Linien könnten zerbrechen. Prinz Ekkehard war in dem Durcheinander verloren gegangen, seine Kameraden waren verschwunden oder tot. Sie waren die Einzigen, die übrig geblieben waren. Vermutlich waren sie auf dieser Seite des Flusses die Einzigen von Bayans Heer: zwei schwer verwundete Soldaten, vier Novizen und eine verschwundene Nonne. Die Schlacht hatte am späten Nachmittag begonnen, und jetzt senkte sich die Nacht herab. Zwei Stunden war es erst her, dass sie an ihrem herrlichen Platz vorne bei der rechten Flanke frohgemut darauf gewartet hatten, sich in die Schlacht zu stürzen. Nie hätten sie sich vorstellen können, dass sich alles noch mal ändern würde. Doch in der Zwischenzeit musste jemand zum Eingang des Tunnels zurückkehren und dafür sorgen, dass ihnen keine Qumaner folgen konnten. Frierend, nass und zitternd bereitete Ivar sich darauf vor, durch das Wasser zurückzuwaten, das die tiefer liegenden Teile des Tunnels überflutete. Seine Beinkleider hingen bereits wie eiskalte Flechten an seinem Körper, und seine Zehen waren vor Kälte ganz taub geworden.
Eine Hand kam in der Dunkelheit auf ihn zu und zupfte ihn am Ärmel. »Bist du ganz sicher, dass ich nicht mitkommen soll?«, fragte Baldwin leise mit heiserer Stimme. 15 »Ja. Es ist besser, wenn ich allein gehe. Falls mir etwas zustößt, musst du Ermanrich und Edelfrau Hathumod helfen, den verletzten Löwen zu tragen.« Baldwin beugte sich näher zu ihm. Trotz der vielen Wochen, die sie jetzt schon unter widrigsten Umständen reisten, trotz des Schreckens angesichts der Niederlage und der Verzweiflung, mit der sie sich durch die alten Erdwälle wühlten, war Baldwins Atem noch immer so süß wie der eines Edelmanns, der mitten in seinem wunderschönen Rosengarten saß und einen heißen, mit Minze gewürzten Molketrank zu sich nahm. »Lieber wäre ich tot, als ohne dich weiterzugehen.« »Wir werden alle tot sein, wenn die Qumaner die Rüstung finden; sie werden daraus schließen, dass wir uns in diesem Tunnel verstecken. Ich bitte dich, Baldwin, bleib einfach hier.« Hinter ihm, in der finsteren Schwärze, hob und senkte sich Sigfrids sanfte Stimme im melodischen Gebet. Irgendwie verfälschte die Dunkelheit die Zeit. War es nicht erst wenige Augenblick her, dass sie über diesen verborgenen Eingang gestolpert waren? Es schien bereits Stunden zurückzuliegen. Zusätzlich zu Sigfrids ruhigem Gebet hörte Ivar jetzt auch Hathumod sprechen; sie murmelte Worte, die er nicht ganz entziffern konnte. Der alte Löwe antwortete mit einsilbigen Grunzlauten, und Ermanrich reagierte, indem er leise Fragen stellte. Er konnte ihn nicht sehen, und auch Baldwin nicht, der direkt neben ihm stand. Doch er spürte sie; spürte, wie sie sich unter der dräuenden Last der Erde und des Felsens wie erschreckte Ratten zusammenkauerten. Er nahm Baldwin das Schwert ab, das dem bewusstlosen Löwen gehörte, und betastete mit seiner gesunden Hand das Heft, packte fest zu und entspannte dann seinen Griff, bis er das Gefühl hatte, dass es gut in der Hand lag. Mit zusammengebissenen Zähnen quälte er sich wieder ins Wasser; er zitterte am ganzen Körper, als der Tunnelboden sich wieder senkte und sich erneut eiskaltes Wasser um seine Beine schloss. Das Schwert fest gegen sein linkes Bein gedrückt, näherte er sich 16 dem Eingang möglichst lautlos. Er roch den schwachen Gestank des Schlachtfelds. In der Ferne schrien Nachtkrähen, machten ihre Verwandten auf das Festmahl aufmerksam. Ein Stein verrutschte unter seinem Stiefel, und er ächzte leise, bemüht, das Gleichgewicht zu halten. Mit der verletzten Hand ratschte er an der rauen Mauer entlang. Er unterdrückte mühsam einen Schmerzensschrei, als die Wunde aufplatzte und erneut zu bluten begann. Schmerzen breiteten sich jetzt in seiner ganzen Hand aus, doch er taumelte weiter vorwärts. Die Stümpfe der fehlenden Finger, die gleich beim zweiten Fingerglied abgehackt worden waren, griffen jetzt in ein weiches Bett aus Moos. Tränen strömten ihm aus den Augen, und seine Lippen schmeckten salzig. Nach einer Weile ließ der Schmerz so weit nach, dass er wieder nachdenken konnte. Er hatte den Eingang erreicht. Vorsichtig strich er mit den Fingern seiner gesunden Hand über das Moos, das den Eingang verdeckte. Er blieb vor dem Vorhang stehen und lauschte. Er konnte nicht das Geringste sehen, nicht einmal den Himmel. Draußen schien es genauso dunkel zu sein wie im Innern des Hügels. Der schwere Geruch von Feuchtigkeit, Erde und Moos machte ihn benommen. Doch er konnte das ferne Gemurmel eines sich in Bewegung befindlichen Heeres hören, Hufgetrappel, die Schreie einer armen gequälten Seele, das Knirschen von Geröll, das auf zwei Heere hindeutete, die sich voneinander entfernten, während die Schlacht versiegte und erstarb. Ganz in der Nähe hörte er ein Grunzen, ein leises, gekeuchtes Murmeln. Er rückte das Schwert in der Hand zurecht, bevor ihm klar wurde, dass er seine Position geändert hatte. Die abgelegte Rüstung des Löwen sprach mit jener Stimme, die allen Dingen aus Metall zu Eigen war: Es erklang ein leichtes Klirren, wenn Hände sie berührten. Es war, wie er befürchtet hatte: Ein qumanischer Soldat hatte das Kettenhemd gefunden. Er sprang durch den Vorhang. Der qumanische Soldat hatte 17 Schwingen auf dem kettenhemdgeschützten Rücken, und jetzt breiteten sie sich aus. Ivar duckte sich, um nicht von der Holzkonstruktion erfasst zu werden. In dem Augenblick, da der andere Mann herumwirbelte, stieß er zu. Das kurze Schwert traf den geflügelten Soldaten gleich unterhalb des mit Lederschuppen besetzten Hemdes. Ivar streckte seinen verwundeten Arm aus und schlang den Unterarm um den Nacken des Mannes, zerrte ihn sodann mit all seiner Kraft durch den Eingang. Das Holzgestell schrammte gegen den Sturz, als Ivar ins Wasser fiel und auf dem Qumaner zu liegen kam. Das Schwert drang bis zum Heft zwischen die Rippen des feindlichen Soldaten. Wasser berührte Ivars Lippen, als er den Mann nach unten drückte, ihn unter Wasser hielt. Der Mann stieß mit den Händen und trat mit den Füßen um sich, versuchte, den Kopf aus dem Wasser zu heben, aber Ivar begegnete seinen Versuchen, indem er sich auf den Griff des Schwertes stützte. Der Stahl prallte auf den Knochen, sodass der Soldat das Bewusstsein verlor und damit auch jeden Vorteil, den er einmal gehabt haben mochte. Seine schwarzen Haare trieben jetzt wie Moosfäden im Wasser. Ivar schmeckte Blut. Ganz plötzlich erschlaffte der Qumaner. Ivar schob den Mann tiefer in das Wasserloch und stand mühsam auf. Sein Körper schmerzte von der Kälte. Er
tauchte eine Hand ins Wasser, um sich das Gesicht zu waschen, es von dem Blut zu befreien, doch das Wasser um ihn herum schien von dem Leben, dass jetzt aus dem Körper des Toten sickerte, verseucht zu werden. Er schlüpfte vorsichtig durch den Moosvorhang wieder nach draußen und fand dort klares Wasser. Ein Blitz erhellte den Himmel, gefolgt von einem heftigen Donnerschlag. Ein Ruf erklang, wie auf der Suche nach etwas. Auf dem Erdwall weiter hinten zeichnete sich die Gestalt eines Mannes mit Flügeln gegen den Nachthimmel ab: ein weiterer Qumaner, auf der Suche nach seinem Kameraden. Da Ivar im Graben lag, inmitten des Schatten, den der Sturz warf, war er gut geschützt. Kurze Zeit später bewegte sich die Gestalt, verschwand außer Sichtweite. 18 Regentropfen nässten Ivars Wangen. In der Ferne war das anschwellende Gebrüll des wütenden Flusses zu hören, als hätten sich viele Stimmen auf einmal erhoben, doch Ivar konnte nichts erkennen, genauso wenig, wie er die Sterne über sich sehen konnte. Ein Regentropfen rann seine Nase hinunter, und da er ihn nicht abwischte, blieb er eine ganze Weile dort hängen - genauso reglos wie er, aus Angst, sich zu verraten. Schließlich legte er sein Schwert beiseite, rollte das Kettenhemd zusammen, klemmte es hinter seinen Gürtel und hängte sich den Helmriemen über die Schulter. Mit dem Schwert in der gesunden Hand tastete er sich zum Sturz zurück; seine verletzte Hand pochte währenddessen so schlimm, dass er Kopfschmerzen davon bekam. Grausige Flügel streiften seine Nase, und ein zerbrochenes Stück des Holzgestells schürfte seine Wange auf, während Federn seine Lippe kitzelten. Der Regen draußen war stärker geworden. Donner erklang in der Ferne. Wenn sie Glück hatten, würde der Regen jegliche Spuren verwischen, sodass sie ein oder zwei Tage in Sicherheit waren, bis die Qumaner weiterzogen. Dann konnten sie sich herausschleichen und versuchen, in nordwestlicher Richtung zu entkommen, dem sich zurückziehenden Heer von Prinz Bayan und Prinzessin Sapientia hinterher. Tief in seinem Innern wusste er, dass es eine dumme Hoffnung war. Die Qumaner verfügten über Kundschafter und Späher. Eine übel zugerichtete Gruppe von sieben Personen, von denen vier verwundet waren und die meisten nicht kämpfen konnten, würde niemals ungesehen hinter die qumanischen Linien gelangen. Aber sie durften die Hoffnung nicht aufgeben, wenn sie sich nicht gleich hinlegen und sterben wollten. Hätte Gott ihnen die Vision des Phoenix wirklich gewährt, wenn sie schon kurz darauf auf solch sinnlose Weise sterben sollten? Baldwin wartete dort auf ihn, wo der Boden wieder anstieg und er das Wasser endlich wieder verlassen konnte. »Komm mit, das musst du dir ansehen«, sagte Baldwin aufgeregt. »Gerulf hat ein Feuer gemacht.« 19 »Gerulf?« »So heißt der alte Löwe.« Baldwin zog ihn weiter mit sich, half ihm, das Gleichgewicht zu halten, als er taumelte. Müdigkeit erfasste Ivar. Er wurde von unregelmäßigen Krämpfen geschüttelt, völlig durchnässt, wie er war. Er wollte nichts weiter, als sich an Ort und Stelle hinlegen und schlafen, bis der Tod ihn überraschte, oder bis der Phoenix ihn holte oder der eine den anderen; es war schwierig, noch einen klaren Gedanken zu fassen, wo sich die Wände um ihn herum bewegten. Seltsame Zeichen waren in den hellen Fels gemeißelt; breite Steine, die aufrecht standen und mit Symbolen der Dämonen und alten Götter übersät waren, die in den früheren Zeiten die Leute geplagt hatten: vierseitige Rauten, Spiralen ohne Anfang und Ende, breite Schraffuren, die aussahen, als wäre Stroh kreuzweise in den Stein gedrückt worden. Doch wie kam es, dass er so tief im Herzen eines Hügelgrabes so gut sehen konnte? Mit Baldwins Hilfe stolperte er vorwärts, bis der Tunnel sich zu einer raucherfüllten Kammer öffnete, die von einem Feuer erhellt war. Er starrte die Kameraden an, die sich um eine Fackel gekauert hatten. Die Kammer war wie ein pechschwarzes Loch, dem das flackernde Licht etwas Unheimliches verlieh. Er konnte weder die Decke sehen noch die Wände, die sich in den Schatten verloren. Er nieste. Gleich hinter der qualmenden Fackel markierte eine Steintafel die Mitte des Raums. Eine Königin war hier vor langer Zeit zur Ruhe gebettet worden: Dort lagen ihre Gebeine, ein bleiches Skelett, das im Fackellicht schlief und dessen hohläugige Gestalt verwoben war mit Fasern von zerfallendem Stoff. Das Skelett glänzte in kostbarem Gold, das sich um den Schädel herum und in die Rippen ergoss. Goldgeweihe kamen in Sicht, als Gerulf die Fackel etwas anders hielt, um die Verletzung seines Freundes besser untersuchen zu können. »Du hättest in diesem Hügelgrab kein Feuer entfachen dürfen«, schrie Ivar entsetzt. »Jeder weiß, dass ein Feuer die unheiligen Toten aufweckt!« Der zerbrechlich wirkende Sigfrid saß gleich neben dem Altar, bei dem bewusstlosen Löwen. In seinem Blick lag die Ruhe eines Menschen, der Gottes wundersam heilende Hände auf seinem Körper erfahren hatte. »Hab keine Angst, Ivar.« Schon allein die Stimme, die ihm ein Wunder wiedergegeben hatte, stand in höchstem Widerspruch zu Ivars Angst. »Gott wird uns beschützen. Diese arme, tote Frau hat nichts gegen uns.« Er deutete auf das halb enthüllte Skelett, dann beugte er sich vor, als der alte Löwe ihm leise etwas mitteilen wollte. Aber woher wollte Sigfrid das wissen? Ivar war im Norden aufgewachsen, wo noch immer die alten Götter hausten, voller Eifersucht darauf, dass der Glaube der Einigkeiten ihnen so viele Seelen entrissen hatte. Niemand konnte sagen, welche Bösartigkeit hier ruhte oder wann sie erwachen würde. Ermanrich und Hathumod saßen beieinander, die Hände in verwandtschaftlicher Manier verschränkt. Sie waren beide ziemlich abgemagert. Wie lang schien es her, dass die vier jungen Leute und Hathumod gemeinsam als
Novizen in Quedlingham gedient hatten ! Und doch war nicht mehr als ein Jahr vergangen, seit sie alle aus dem Konvent verwiesen worden waren, weil sie sich der Sünde der Ketzerei schuldig gemacht hatten. Balwin trat um den Steinaltar und die tote Königin herum und bückte sich leicht, um eines der Goldgeweihe anzufassen. Das Skelett reagierte schon auf die leiseste Berührung, und kostbare Bernsteinperlen verteilten sich auf den Gebeinen, fielen nacheinander herab. »Weck die Toten nicht auf!«, zischte Ivar. Aber Baldwin griff mit weit aufgerissenen Augen geradewegs in die Fäden des halb zerfallenden Wollgürtels, dessen mit kleinen Gerten aus grünlichem Metall versehene Enden sich um das Becken kringelten. Er schloss seine Hand fest um einen kleinen Gegenstand, der blau aufleuchtete. 21 »Sehr her!«, rief er, mit der anderen Hand einen Steinspiegel aus der Höhlung holend, die ihre Beckenknochen formten. Die polierte, schwarze Oberfläche glänzte noch immer. Als Ivar einen entsetzten Schritt nach vorn tat, um Baldwin von jeglicher weiteren Entweihung abzuhalten, sah er in diesem Spiegel seine Bewegung. »Oh Gott, ich fürchte, mein Neffe ist tot«, murmelte Gerulf. »Dabei habe ich meiner Schwester geschworen, ihn heil wieder zurückzubringen.« Andere Schatten bewegten sich in den Tiefen des Spiegels, von Dunkelheit verhüllte Gestalten. Sie traten aus den Alkoven, alte Königinnen, deren Augen so hell und scharf wie Klingen strahlten. Die Erste war jung, und ihre Gewänder leuchteten wie brennende Pfeile, doch ihr Mund war zu einem grausamen Lächeln verzogen. Die Zweite hatte den Leibesumfang einer Matrone und die generöse Haltung einer Edelfrau, der es niemals an Nahrung mangelte; in ihren Armen trug sie einen Korb, der von Früchten überquoll. Die Dritte hatte Knöchelchen in ihre Silberhaare geflochten, und die Falten in ihrem gealterten Gesicht wirkten so tief wie die Schluchten eines Berges. Ihre erhobenen Hände waren so filigran wie Spinnweben. Ihr Blick bannte ihn. Er konnte nicht sprechen, konnte die anderen nicht warnen, die nichts sahen und die Gefahr nicht spürten. Hathumod stockte der Atem. »Was liegt da?« Bei ihren Worten liefen Wellen durch die Geistererscheinungen, als würde eine Hand Algen aus einem zugewachsenen See fischen. Ivar fand seine Stimme wieder. »Baldwin! Leg das sofort weg, du Idiot!« Während Baldwin den Spiegel verwirrt sinken ließ, kroch Hathumod näher. Ihre Hand blieb auf etwas liegen, das so voller Schmutz und Schimmel war, dass ihre Hand ganz grün davon wurde. Flocken flogen überall herum, wirbelten auf, um sich mit dem Rauch der Fackel zu verbinden. Hathumod war entweder genauso dumm wie Baldwin oder genauso unempfänglich wie er. Sie griff nach dem, was da lag. Sie bekam einen verblichenen Lederbeutel zu fassen, der in ihren Händen zu Staub zerfiel und nichts weiter hinterließ als einen von Rostflecken gezeichneten Nagel. Sie begann zu weinen, während Gerulf sich daran machte, Kleidungsstücke und Gegenstände zu entfernen, die ebenfalls zerfielen: ein rostendes Kettenhemd, ein Messer, ein Ledergürtel, ein schlichtes Untergewand, ein Überwurf mit Hinweisen auf einen schwarzen Löwen. »Ein armer Kamerad muss vor vielen Jahren hier hereingekrochen und gestorben sein«, sagte der alte Löwe. »Wer ist da?«, fragte Sigfrid und warf seinen Kopf in den Nacken, als hätte er etwas gehört. Baldwin, der noch immer den Obsidian-Spiegel umklammert hielt, schrie auf und sackte vornüber. Auf dem Boden zuckte Gerulfs toter Neffe, als wäre soeben ein Dämon in ihn gefahren. Die Kammer wurde von bläulichem, flackerndem Licht erhellt. Ivar schrie auf, aber er konnte seine eigene Stimme nicht hören. Seine Kehle war wie zugeschnürt, als er die Luft herauspresste. Das blaue Feuer blendete ihn. Der Boden verzog sich unter seinen Füßen, schleuderte ihn zur Seite, und er fiel auf die Knie, doch er bekam mit den Händen nichts zu fassen, woran er sich hätte festhalten können. Er fiel endlos weit, und seine Hände griffen ins Leere, während die junge Königin mit dem messerscharfen Lächeln über einen strahlenden Teppich aus Feuer auf ihn zuging, die Hände wie zum Willkommensgruß erhoben. Er streckte seine eigenen Hände nach ihr aus, als wäre sie eine Rettungsleine. Er berührte ihre Hände. Und verlor das Bewusstsein. Teil Eins Der Blumenpfad I Die Geweihte 1 Bei Sonnenuntergang verließ Adica das Dorf. Die Ältesten verneigten sich respektvoll vor ihr, hielten aber sicheren Abstand, während sie an ihnen vorbeiging. Väter zerrten ihre Kinder zur Seite. Frauen, die mit frischen Korngarben von den Feldern kamen, wandten ihr den Rücken zu, damit ihr Blick nicht auf den gerade erst geernteten Emmer fiel, aus dem sie ihr Brot backen würden. Selbst Weiwara, einst ihre geliebte Freundin, trat von der Türschwelle des Hauses zurück, in dem sie mit ihrer Familie lebte, um ihren hochschwangeren Bauch vor Adicas Blicken zu schützen. Die Dorfbewohner sahen sie jetzt anders an als früher. Das heißt, eigentlich sahen sie sie gar nicht an, jedenfalls sahen sie ihr niemals direkt ins Gesicht, seit die Geheiligte die zukünftige Pflicht Adicas - und damit ihr
Schicksal - verkündet hatte. Selbst die Hunde wichen vor ihr zurück, wenn sie an ihnen vorbeiging. Sie passierte das geöffnete Palisadentor und achtete nicht weiter auf die Holzplankenbrücke, die über den Graben führte, der sich um das Dorf zog. Die Sonnenstrahlen tauchten die Wolken in eine Mischung aus Rosa und Lila, so zart und hell wie blühender Flachs. Die Felder entlang der Flussebene schimmerten golden, willkürlich, ohne einer bestimmten Ordnung zu folgen, gesprenkelt von den alten Häusern der Großmütter. Diese Häuser waren inzwischen verlassen, da das neue Dorf mehr Schutz bot. Die Großmütter hatten noch nicht in der ständigen Furcht gelebt, wie die Leute es heute taten. Als sie die andere Seite des Grabens erreicht hatte, reckte sie ihren Stab dreimal in die Luft und sprach einen Segen über das Dorf. Dann ging sie weiter. Am Fluss standen drei Männer und beugten sich über das Wehr. Als sie näher kam, richtete sich einer von ihnen auf; und sie erkannte Beors breite Schultern, seine entschlossene Art, das Kinn zu recken, wenn er verärgert war. Wie sehr hatte Beor protestiert und geklagt, als die Ältesten beschlossen hatten, dass sie nicht länger als Mann und Frau zusammenleben konnten! Und doch war das Leben mit ihm nie ruhig gewesen. Er hatte das Recht erworben, sie als seine Gefährtin zu betrachten - an dem Tag, da die Ältesten zugestimmt hatten, ihn zum Kriegssprecher des Dorfes zu ernennen, weil er sich im Krieg gegen die Verfluchten so hervorgetan hatte. Aber ihre eigene Wahl wäre sicher nicht auf ihn gefallen, hätte ihr das Gesetz, das sie zur Geweihten des Dorfes bestimmt hatte, die Möglichkeit gegeben, sich selbst einen Partner zu suchen. Auf eine gewisse Weise war sie daher sogar froh, ihn los zu sein. Doch im Laufe der Zeit, als immer mehr Tage und Monate verstrichen, vermisste sie in den Nächten zunehmend die Wärme seines Körpers. Beor machte eine Bewegung, als wollte er zu ihr gehen, sie einholen, aber sein Kamerad hielt ihn davon ab, indem er ihm eine Hand auf die Brust legte. Adica ging weiter allein den Pfad entlang. Sie erklomm das riesige Hügelgrab, folgte dem Pfad, der sich durch das Labyrinth aus Erdwällen emporwand. Als Geweihte, die das Dorf schützte, war sie schon viele Male hier hochgegangen, 28 doch niemals zuvor hatte sie sich so einsam gefühlt wie in diesem Augenblick. Es wuchs noch kein frisches Grün auf dem neu errichteten Erdwall, abgesehen von den Disteln, deren Blätter noch so zart waren, das man sie essen konnte. Weit unter ihr schwankten hohes Gras und ungeerntetes Korn wie Wogen im Wind, als jetzt eine Brise aufkam, während sich die Sonne über das Land der Toten senkte. Der Boden des leicht bergauf führenden Weges war noch immer weich von den vielen Baumstämmen, die benutzt worden waren, um die Steine zum heiligen Steinkreis oben auf dem Hügel zu schaffen. Sie schritt über einen schmalen Damm zwischen zwei riesigen Erdwällen und trat auf ein ebenes Feld, das die Steinkrone darstellte. Hier stand der Kreis der sieben Steine, der während der Lebensspanne von Adicas Lehrerin errichtet worden war. Und hier, im Osten des Steinkreises, markierten drei alte Grundmauern eine uralte Siedlung. Ihre Lehrerin hatte ihr erklärt, dass die umgestürzten Grundmauern zu der Halle der seit langem verstorbenen Königinnen Pfeilhell, Goldsau und Zahnlos gehört hatten, deren Magie aus dem großen Leib dieses Tumulus erstanden war und deren Gebeine und Schätze verborgen im gewölbten Bauch der Erde lagen. Auf halbem Weg zwischen den irdenen Toren und dem Steinwebstuhl, wo die im Westen untergehende Sonne ihre letzten Strahlen über die Schwelle schicken konnte, hatte Adica eine Hütte aus Stöcken und Fellen errichtet. Auf solch primitive Weise hatte die Menschheit lange Zeit Obdach gefunden, noch vor der Zeit, da die großen Königinnen und ihre geweihten Frauen den Südlandbewohnern die Magie der Samen, des Tons und der Bronze gestohlen hatten, noch bevor die Verfluchten gekommen waren und sie zu Sklaven und Opfergaben gemacht hatten. Sie sprach ihre Gebete - sie waren ihr so vertraut, dass sie dabei nicht einmal nachdenken musste - und verspritzte den letzten Rest ihres Biers in die vier Himmelsrichtungen: Norden, Osten, Süden und Westen. Dann lehnte sie ihren Stab gegen den Türsturz aus schlanken Birkenstöcken und klatschte dreimal die Handgelenke gegeneinander. Die Kupferarmbänder, die ihren Status als Geweihte bezeugten, klirrten leise, als würde ein letztes Gebet in die Nacht entlassen. Die Sonne kroch hinter den Horizont. Sie trat über die Türschwelle. Im Innern des Zeltes zog sie ihr Kleid aus Bändern aus und legte es in eine stabile Zedernholzkiste, in der sie all ihre Habseligkeiten aufbewahrte. Schließlich wickelte sie sich in die Felle, die jetzt bei Nacht ihre einzige Gesellschaft waren. Einst hatte sie wie die anderen ihres Volkes gelebt, hatte in einem Haus im Dorf gewohnt und sich in der Gemeinschaft des Dorfes aufgehalten. Natürlich war ihr Haus mit Zaubersprüchen umgeben gewesen, und niemand außer ihrem Mann und ihren Mutterleib-Verwandten wäre eingetreten - aus Angst vor den Mächten, die in den Schatten und den Dachvorsprüngen lauerten. Aber sie hatte immer noch abends das Gebrüll des Viehs in den Ställen hören können, oder bei Morgenanbruch die fröhlichen Rufe der Kinder, die zum Spielen aufstanden. Einem Dorf, in dem eine Geweihte lebte, pflegten stets Glück und gute Ernten beschieden zu sein. Seitdem die Geheiligte sie zur Geweihten ernannt hatte, konnte sie jedoch nicht mehr im Dorf schlafen - aus
Angst davor, dass allein ihre Träume rücksichtslose und böse Geister anlocken könnten. Geister konnten den Tod riechen; alle wussten das. Also konnten sie auch bei ihr den Tod riechen. Sie schwärmten dorthin, wo das Schicksal besonders klar hervortrat. Der Schatten des Todes hatte sie berührt, und so fürchteten die Dorfbewohner, dass wer immer sie berühren würde, ebenfalls vom Kuss des Todes vergiftet werden würde. Sie sprach das Nachtgebet zur Bleichen Jägerin und lag still da, bis der Schlaf sie davontrug, doch er brachte keine Entspannung. Sie bewegte unruhig die Arme und wälzte sich immer wieder herum, träumte davon, einsam und klein in einem Schwindel erregenden Wind zu stehen, während der Tod nach ihr griff. War es möglich, dass das große Weben wirklich Erfolg hatte? Oder würde alles umsonst sein, trotz allem? Sie wachte auf, drehte sich in den Schlaffellen herum, dachte an Beor, den sie einst als ihren Ehemann bezeichnet hatte. Seit sieben Nächten hatte sie immer wieder den gleichen Traum. Doch was ihr solche Furcht einflößte, dass sie immer wieder schweißgebadet aufwachte, war nicht der Tod. Sie legte ihre Stirn auf die zu Fäusten geballten Hände. »Ich bitte dich, Fette, die du barmherzig zu deinen Kindern bist, gewähre mir einen Gefährten. Ich fürchte den Tod nicht, wenn ich den langen Weg in die Dunkelheit nur nicht allein gehen muss.« Ein Wind kam auf. Die Zaubersprüche, die sie an die Pfähle gebunden hatte, erhoben ihre sanften Stimmen. Aus weiter Ferne hörte sie die bronzenen Blätter des geheiligten Kessels klirren, als die Brise ihn ergriff. Dann erstarb der Wind. Es war so ruhig, dass sie schon glaubte, das Atemholen der Sterne hören zu können. Sie schlüpfte nach draußen. Die kühle Nachtluft strich über ihre Haut. Über ihr schimmerten die Sterne in all ihrem Glanz. Der zunehmende Mond war bereits untergegangen. Über ihr blinkten das Schlangenauge und das Drachenauge, die Boten der Macht. Der Mahlstein ging unter. War das ein Zeichen? Die untergehende Konstellation, die sich Mahlstein nannte, würde sie zu Fallenders Heim bringen, und bei Anbruch des Abends würde der aufgehende Mahlstein sie mit Hilfe der Großzügigen - der umherschweifenden Tochter der Fetten -, wieder nach Hause holen. Die Fette sprach oft in Rätseln oder Falschheiten, und vielleicht war es diesmal auch so. Es gab einen Mann, an den sie oft dachte, einen Mann, der mutig genug wäre, an ihrer Seite zu bleiben. Sie kroch wieder in ihren Unterschlupf und durchwühlte ihre Zedernholzkiste auf der Suche nach einem Geschenk für Fallender. Sie entschied sich für eine Kupferstange und ein Elchgeweih. Schließlich fand sie ein Bernsteinhalsband, das sie einst Beor gegeben hatte, um ihre Übereinkunft zu besiegeln, aber natürlich war er von den Ältesten gezwungen worden, es ihr zurückzugeben. Dann kleidete sie sich an, wickelte sich das Kleid zweimal um die 31 Hüfte, zupfte ihr Miederoberteil herunter und hängte den Spiegel an einer Schlaufe an das Kleid. Sie steckte die Geschenke in einen kleinen Korb, zusammen mit einer Kette aus Knochenperlen, die sie als Freundschaftsgabe der Obfrau von Fallenders Dorf geben wollte, und kletterte ins Freie. Sie schlang sich den Korb mit einem Seil über die Schulter und hob ihren Stab. Ein Pfad wand sich durch das Gras zu dem Steinwebstuhl. Der Steinkreis wartete in erwartungsvoller Stille darauf, dass sie die Steine erweckte. Sie blieb auf dem Anrufungsboden außerhalb des Steinkreises stehen, einem staubigen Fleckchen aus Kalkstein, das hell im Sternenlicht erstrahlte. Sie hob den Spiegel und begann mit Gebeten, um die Steine zu erwecken: »Was sich im Osten öffnet - höre mich. Was sich im Westen öffnet - höre mich. Ich bitte dich, Fette, lass mich den Kettfaden deines himmlischen Webens führen, damit ich das Tor durchschreiten kann, das durch seinen Atem entsteht.« Sie verrückte den Spiegel so oft, bis das Licht der Sterne, die den Mahlstein bildeten, sich auf der glatten Oberfläche spiegelte. Derart vom Spiegel zurückgeworfen, würde die schreckliche Macht der Sterne sie nicht verbrennen. Mit ihrem Stab zog sie das gespiegelte Licht in den Webstuhl der Steine und wob sich einen lebendigen Durchgang aus Sternenlicht und Stein. Sie spürte durch die Fußsohlen hindurch die Totenklage der alten Königinnen, die in dem riesigen Webstuhl der Sterne geheimnisvolle Magie geweissagt hatten, von der nicht einmal die Verfluchten wussten. Fäden aus Sternenlicht verfingen sich in den Steinen und verflochten sich zu einer Architektur, die aus körperlosem Licht bestand, das in ein helles Tor gewebt worden war. Sie trat hindurch und in Regen hinein. Ihre Füße trafen auf matschigen Boden, hinterließen feine Kalkspuren im Gras. Die Luft dampfte vor heißer, schwerer Feuchtigkeit. Es regnete. Sie prallte gegen einen Menhir, doch eine dichte Moosschicht um den Stein verhinderte, dass sie sich die Schulter schlimmer stieß. Es war offensichtlich unmöglich, irgendwelche Sterne zu sehen. Und sie konnte auch den Pfad nicht sehen. Aber Fallender hatte eine Behausung in der Nähe errichtet, und sie stolperte in der Dunkelheit weiter, bis sie gegen ein Strohdach stieß. Ein Haufen Stroh, der nach Schimmel roch, bot sich ihr als Sitzplatz an. Während sie wartete, arbeitete sie vor ihrem geistigen Auge immer wieder ihren Anteil an dem Muster der großen Arbeit durch. Sie
konnte das präzise Entfalten des Rituals niemals genug üben; ein Ritual, das nach generationenlangen Kriegen denen, die unter den Verfluchten litten, zurückzuschlagen gestatten würde. Als der Tag anbrach, ließ der Regen nach. Sie verließ den Hügel auf einem abwärts führenden Pfad, und wenn auch ihre Schultern trocken blieben, so waren ihre Füße doch völlig durchnässt. Marschland erstreckte sich rings um sie, ein Flickenteppich aus kleinen Flächen stehenden Wassers, kleinen Inseln und dichten Riedflecken. Fallenders Volk hatte einen Pfad angelegt, der durch das Marschland führte; er bestand aus geschnittenen, zerteilten und zu einem Gewebe verarbeiteten Haselnussschösslingen, sodass man auf einem federnden Streifen den sumpfigen Untergrund überqueren konnte. Während Adica den Pfad entlangschritt, brach die Wolkendecke auf, und die Sonne kam hervor. Auf einem Hügel in der Ferne wurde eine Gestalt sichtbar. Jemand schrie ihr ein lautes »Hallo« entgegen, und sie hob zur Antwort die Hand, ohne allerdings stehen zu bleiben. Der Weg zu den Hügeln am Rande des Marschlandes, wo Fallender und sein Stamm sich niedergelassen hatten, nahm gut und gern den ganzen Morgen in Anspruch. Vögel zwitscherten. Sie hielt einmal an, um die geronnene Milch zu sich zu nehmen, die sie mitgenommen hatte; einmal verließ sie den Pfad, um Beeren zu pflücken. Seetaucher und Enten paddelten in den flachen Gewässern. Ein Schwärm Schwäne glitt majestätisch an ihr vorbei. Ein Reiher lauerte in seinem einzigartigen Glanz, königlich und voller Stolz. Dann rührte er sich plötzlich und erhob sich mit großen, langsamen Flügelschlägen in die Lüfte. Einen Augenblick später hörte sie einen entfernten, trompetenden Ruf; sie duckte sich sogleich auf dem Pfad und sah schweigend zu, wie eine riesige, geflügelte Gestalt am südlichen Horizont entlangglitt und dann verschwand: ein Guivre auf der Jagd. Schließlich führte der Pfad auf trockenes Land, das sich hügelan wand und allmählich selbst zu Hügeln wurde. Verlassene, von Unkraut überwucherte Felder gingen jetzt in Felder voller reifer Gerste und Emmer über. Frauen und Männer arbeiteten mit Flintsicheln daran, einen Streifen Emmer abzuernten. Ein paar von ihnen bemerkten sie und riefen es anderen zu; alle hielten inne, um sie anzusehen. Ein Mann blies in sein Hörn, benachrichtigte das Dorf weiter vorn. Schon bald war sie von einer Eskorte aus Kindern umringt, die alle in ihrer unverständlichen Sprache drauflosredeten, während sie an den vereinzelt stehenden Häusern entlangging, die alle zusammen das Dorf bildeten. Die Hänge waren von weiten Feldern bedeckt, und dahinter war Wald zu erkennen. Es war noch immer heiß und feucht, die heißeste Zeit im Spätsommer. Schweiß rann ihren Rücken hinab, als sie die Häuser erreichte. Zwei Kinder formten Lehm zu Töpfen, während ein drittes den Lehm zu einer flachen Oberfläche bearbeitete, auf der sie eine feinere Paste aus hellerem Lehm verrieb. Ein fertiger, noch nicht gebrannter Topf stand neben dem Mädchen; er trug das Zeichen eines geflochtenen Seils. Vier Männer schabten Felle. Zwei halbwüchsige Jungen kamen den Hang hoch, Borkeneimer voller Wasser in den Händen. Die Obfrau des Dorfes trat aus ihrem Haus. Adica bot ihr die Perlenkette aus dem Norden, ein angemessenes Geschenk, das ihren Stamm nicht entehrte; als Antwort darauf ließ die Obfrau von einem Mädchen warme, mit Koriander gewürzte Gemüsesuppe und dickflüssigen Honigmet bringen. Dann erhielt sie mittels bestimmter, vertrauter Gesten die Erlaubnis, den Weg zu dem Haus von Fallender, dem Beschwörer des Stammes, weiter zu beschreiten. Wie sie gehofft hatte, war er nicht allein. Fallender war so alt, dass seine Haare schon ganz weiß waren. Er behauptete, das Fest der Sonne zweiundsechzigmal gefeiert zu haben, doch Adica konnte nicht recht glauben, dass er so viele Feste gesehen, und erst recht nicht, dass er sie gezählt hatte. Er saß mit gekreuzten Beinen da und schnitzte aus Knochen einen Speer zum Fischen. Weil er ein Beschwörer war - der Geweihte seines Stammes -, wob er Magie in den Speer, indem er Fischadler und langhalsige Reiher in die Längsseite der Klinge schnitzte: So versuchte er, dem Werkzeug mehr Erfolg beim Fischfang zu bescheren. Während der Arbeit pfiff er leise vor sich hin und wirkte damit einen zusätzlichen Zauber, der sich von allein in die Magie einarbeitete. Dorren saß rechts von Fallender. Er nahm mit seiner gesunden Hand Steine aus einem Lederbecher und brachte ein paar Kindern, die in einem ungleichmäßigen Halbkreis um ihn herum saßen, ein Zählspiel bei. Adica blieb hinter ihnen stehen und sah Dorren zu. Dorren blickte auf; er hatte ihre Anwesenheit gespürt. Er lächelte, schickte die Kinder weg und erhob sich. Dann streckte er ihr seine Hand entgegen, die übliche Begrüßung unter Verwandten. Sie wollte ihm ebenfalls die Hand reichen, doch dann zögerte sie und ließ sie wieder sinken. Seine von Falten übersäte Hand zitterte leicht, und es hatte den Anschein, als wollte er sie bewegen, doch dann lächelte er nur traurig und deutete auf Fallender, der immer noch mit seiner Schnitzerei beschäftigt war. »Niemand hat dich hier erwartet«, erklärte Dorren und trat ein paar Schritte beiseite, damit ihre Unterhaltung Fallender nicht beim Wirken seines Zaubers störte. Adica wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Wangen fühlten sich heiß an. Sie war eine Närrin, wirklich. Aber er freute sich, sie zu sehen, oder nicht? Dorren war ein Weißhirsch-Mann aus Altfeste. Man hatte ihn zum Wandelnden des Stammes gewählt - die Wandelnden bereisten die Steinwebstühle um die Sprachen ihrer Verbündeten zu lernen. Als Wandelnder konnte er sich vor
Magie schützen. »Ich habe gehört, dass Beor dir in eurem Dorf Ärger bereitet hat«, sagte er schließlich, als sie nervös mit einem ihrer Kupferarmbänder spielte. »Du hast ihn lange Zeit ertragen. Für eine Frau und einen Mann, die nicht zueinander passen, ist es nicht leicht zusammenzuleben.« Er hatte unendlich sanfte Augen. Wegen seiner verkrüppelten Hand war er niemals in der Lage gewesen, zu jagen und zu schwimmen, wie andere Kinder es taten, aber er war gesund und stark geworden, und man schätzte ihn wegen seiner Klugheit und seiner Geduld. Deshalb hatten sie ihn auch zum Wandelnden erwählt. Er hatte viele Eigenschaften, die Beor ganz offensichtlich fehlten. »Einige scheinen besser dafür geeignet zu sein als andere«, fuhr er fort. Sicherlich vermutete er, dass sie ihn eine Zeit lang aus der Ferne beobachtet hatte. Ihr Herz klopfte verräterisch. Sein Blick war erstaunlich fest und schwankte nicht im Geringsten, obwohl er mittlerweile von dem Schicksal wissen musste, das auf sie und die anderen sechs Geweihten wartete. Angesichts seines Mutes begriff sie, dass sie von der Fetten hervorragend geleitet worden war. Er setzte erneut zum Sprechen an, zögerte kurz, um dann rasch fortzufahren. »Es muss dir so vorkommen, als würden die Tage rasch vergehen. Ich wollte dir sagen -« Er brach ab, errötete, als er auf den Pfad blickte, der zum Dorf führte. Ein paar Kinder trödelten auf dem Weg herum, verteilten sich im Wald, riefen sich etwas zu und kicherten. »Es gibt da eine Frau«, sagte er schließlich etwas hastig. Seine Wangen färbten sich rosa vor aufwallenden Gefühlen. »Sie heißt 36 Wren und ist die Tochter von Rotbauch und Lächelnde. Sie ist wie fließendes Wasser für mich, ein ewiger Segen. Sie hat gesagt, dass der männliche Anteil bei der Zeugung des Kindes, das in ihrem Bauch heranwächst, von mir geleistet wurde. Die Stammesältesten haben zugestimmt, dass ich zum Vater des Kindes erklärt werde und zusammen mit ihr in einem Haus im Dorf lebe, wenn ich sieben Jahreszeiten lang für sie arbeite.« Sie wusste nicht, was er in ihrer Miene las, aber er fuhr rasch fort, sprach jetzt nicht mehr von dem, was er wusste, sondern von dem, was er glaubte. Jedes Wort bereitete ihr weitere Herzensqualen, weitere Demütigung. »Du darfst nicht glauben, dass ich meine Pflichten als Wandelnder vernachlässige. Ich kenne meine Pflicht gegenüber meinem Volk. Aber es gibt keinen Grund, warum ich nicht beides tun könnte. Ich kann die Webstühle bewegen hier arbeiten, denn sie ist eine gute Frau, meine Wren, und ich liebe sie.« Erschreckenderweise begann sie zu weinen; sie gab keinen Laut von sich, doch Tränen rannen ihr das Gesicht hinab, obwohl sie es hasste, beim Weinen gesehen zu werden. »Adica! Du hast das großzügigste und edelste Herz, das ich kenne, und auch das mutigste! Ich wusste, du würdest dich trotz deines eigenen Kummers über mein Glück freuen!« Er blickte auf Fallender und runzelte die Stirn, als würde er eine Entscheidung bedenken, die ihm Sorgen bereitete. »Und jetzt hör zu, Adica, denn du weißt, wie wertvoll du für mich bist. Ich weiß, es bringt Unglück, davon zu sprechen, fordert die Geister heraus. Doch du sollst wissen, dass wir das Kind, wenn es ein Mädchen und wohlauf ist, nach dir benennen werden. Dein Name wird weiterleben, nicht nur in den Liedern des Stammes, sondern auch in meinem Kind.« »Ich freue mich über dein Glück«, sagte Adica unter Tränen. »Adica!« Fallender sprach ihren Namen mit einiger Schärfe, als er von dem Fischspeer aufschaute; ihre Lüge hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Sie floh. Aufgrund des sie verbindenden Bandes, wenn sie zusammen das Weben übernahmen, konnte Fallender ihr geheimstes Inneres erschauen. Aber sie war auch gar nicht wirklich gekommen, um ihn zu sehen. Sie hatte sich einer wilden, unverantwortlichen Hoffnung hingegeben, hatte im Nachtwind ein falsches Rätsel gesehen, und jetzt hatte sie Zeit und Magie für eine närrische Reise, einen selbstsüchtigen Abstecher eingesetzt. Sie schämte sich. Sie rannte durch den Wald, wollte nicht im Dorf gesehen werden. Dorren rief hinter ihr her, aber sie beachtete ihn nicht. Sie kam zum Rand des Moors und marschierte mit schnellen Schritten durch die Preiselbeer-Sümpfe hindurch. Die Beeren schimmerten tiefrot, beinahe reif. Sie wurde bis zu den Oberschenkeln nass, aber es gelang ihr, den Pfad zu erreichen, ohne jemanden zu treffen - abgesehen von einem Jungen, der mit einer Angel auf Fischfang war. Ein Stück weiter den Pfad entlang zogen zwei Frauen ein Netz aus dem Wasser und riefen nach ihr, aber sie konnte ihre Worte nicht verstehen. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr langsam jeder Kontakt mit den anderen genommen, als wäre eine weitere Verbindung gelöst worden - ein weiterer warmer Händedruck, der sich wie so viele andere ihrem Griff entzog -, sodass sie sich schließlich der vielen Arbeit allein gegenüber fand, unterstützt nur von den anderen sechs: Fallender, Zweifinger, Shu-Sha, Spuckt-Zuletzt, Hörn und Helle-HörtMich. Sie waren jetzt sozusagen ein eigener Stamm, jene, die vom Rest der Menschheit getrennt worden waren. Sie stellten das Opfer dar, durch das die Stämme der Menschen von ihrer Angst befreit werden würden. Die Wolkendecke brach auf, und als sie endlich die Insel des Steinwebstuhls erreicht hatte, musste sie nur noch eine kurze Zeit bis Sonnenuntergang warten. Was immer Fallender über ihr Verhalten denken mochte, er war zu alt, um den Weg aus einer Laune heraus auf sich zu nehmen. Er würde ihr nicht folgen, um sie mit peinlichen Fragen zu belästigen. Würde Dorren ihr folgen? Wollte sie ihn denn überhaupt wissen lassen, dass ihr klar war,
38 dass er sein Glück mit einer anderen finden würde, während sie allein blieb? Nicht, dass sie ihm sein Glück neidete, ganz und gar nicht. Sie hatte lediglich gehofft, am Ende selbst ein bisschen davon zu bekommen. Aber die Dämmerung brach herein, und sie blieb allein. Wie immer hatte sie beim Weben gar nicht gemerkt, wie die Tage verstrichen waren. Als sie zum Himmel schaute und die Position der Großzügigen betrachtete, erkannte sie, dass sie beim letzten Gang zwei Tage verloren hatte, obwohl es ihr nur wie ein kurzer Augenblick vorgekommen war. Das war der Preis, den jene zahlten, die die Webstühle bewegten: dass ihnen Tage und manchmal auch Monate entrissen wurden, und zwar von dem Augenblick an, da sie in die Tore traten, die zwischen die Webstühle führten. Aber vielleicht war es auch gar nicht so schlecht, ein paar Tage Einsamkeit zu verlieren. Der Steinwebstuhl - sieben Steine, die in einem nicht ganz runden Kreis standen - wartete auf sie, als die Dunkelheit sich herabsenkte und die ersten Sterne am Himmel erschienen. Sie hob den Spiegel und fing das Licht der Großzügigen ein, der flinkfingrigen Herrin des Korns und der Gefäße, und wob sich einen Durchgang, der zurück zu ihrem eigenen Wohnort führte. Sie trat hindurch, und ihre Füße berührten vertrauten Boden; er war fest und trocken, unberührt von Regen. Sie ging langsam zu ihrer Hütte und legte die Geschenke beiseite, die sie Fallender doch nicht gegeben hatte. Sie hörte Stimmen vom Dorf her, die sich zum Gesang erhoben. Es dauerte etwas, ehe sie sich erinnerte, dass Mutter Orlas älteste Enkelin vor kurzem jene Schwelle überschritten hatte, die sie in die Geheimnisse der Frauen einweihte. Sie würde jetzt das Haus der Frauen verlassen, bereit, ihren Platz als Erwachsene im Dorf einzunehmen. Sie stand am Wall und lauschte dem Gelächter und den alten, vertrauten Melodien. Früher hätten die Dorfbewohner gewollt, dass sie die Feier weihte, aber jetzt würden sie ihre Anwesenheit nur als unangenehm empfinden. Sie würden sich sorgen, dass böse Geister sich in ihrem Gefolge hineinschlängelten und das Glück der jungen Frau vergifteten, so wie solche Geister manchmal die süßen Quellen oder frisches Fleisch vergifteten. Die Furcht der Dorfbewohner war größer als ihre Zuneigung. Wieso hatten die Götter zugelassen, dass die Verfluchten die Menschheit heimsuchten? Hätten sie der Menschheit nicht einen anderen Weg weisen können, sich ihrer Feinde zu entledigen? War es so unmöglich, dass ihr ein bisschen Glück gewährt würde, als Gefährtin von Dorren mit seiner verkrüppelten Hand und seinem sanften Herzen? Wieso waren es immer die Geweihten, die die Opfer bringen mussten? Aber dann schüttelte sie den Kopf, ungeduldig über solche Gedanken, die ihr böse Geister durch den Nachtwind zutrugen. Ein kleiner Zauber, den sie laut aussprach und besiegelte, indem sie mit den Lippen scharfe Minze berührte, vertrieb sie. Nur die Geweihten besaßen jene Magie, mit der getan werden konnte, was notwendig war. So war die Aufgabe ihr zugefallen, ebenso wie den anderen Geweihten. Sie war schon als Kind auf diesen Pfad geführt worden. Sie hatte niemals ein anderes Leben als das einer geweihten Frau gekannt, auch niemals ein anderes gewollt. Sie hatte nur nicht erwartet, dass es ihr so schwer fallen würde, ihre Pflicht zu erfüllen. Als sie in dieser Nacht schlief, träumte sie nicht. Sie erwachte abrupt, als sie den Ruf einer Eule hörte. Am Geruch des Taus und am entfernten Gesang der Vögel im Wald erkannte sie, dass die Dämmerung kurz bevorstehen musste - jene Zeit also, wo die Sonne wartend wie ein goldohriger Bär dalag, bereit, sich jeden Augenblick über den Horizont zu erheben. Die Eule schrie wieder, ließ ein tiefes Buh-hu erklingen. Sie kämpfte sich auf die Füße. Nachdem sie sich angezogen hatte, öffnete sie die Zedernkiste und nahm ihre heiligen Regalien heraus. Sie legte ein Taillenband aus gehämmerter Bronze mit eingemeißelten Spiralen an, außerdem ein Halsband aus Bernstein, das sie eigentlich Dorren hatte geben wollen: Bernstein besaß seit ewigen Zeiten Macht, und ihre Lehrerin hatte ihr immer wieder eingeschärft, die Macht und den Erfolg ihres Stammes zu betonen, wenn es darum ging, sich mit ihren Verbündeten zu treffen. Sie stellte sich den Spiegel aus Hämatit auf die Knie, bevor sie vorsichtig den goldenen Kopfschmuck aus dem Leinen wickelte. Der Ring senkte sich sanft auf ihr Haupt. Das Geweih streifte kurz das gewölbte Dach, bevor sie sich zu einem stillen Gebet niederbeugte. »Lass deine Macht mit mir wandeln, bleiche Jägerin, die du die Königin des Wilds bist.« Sie schob den Spiegel hinter den Taillengürtel und kroch rückwärts auf Händen und Knien aus dem Zelt. Draußen richtete sie sich auf, groß wie ein Hirsch und mit einem goldenen Geweih, das so sehr leuchtete, dass sie beinahe glaubte, vor dem Hintergrund des Himmels die Spiegelung seiner Umrisse erkennen zu können. Derart in Macht gekleidet betrat sie den Pfad, der zu den Steinen führte. In der Mitte des Steinwebstuhls lag der Trittstein; er war so breit wie ihre ausgestreckten Arme, reichte aber nur bis zu den Knien. Der heilige Kessel ruhte auf der Steinplatte, wie er es schon getan hatte, seit ihre Lehrerin jung gewesen war. Hier war Adica vor Jahren niedergekniet, um die Macht von jener Frau zu empfangen, die sie
beinahe alles gelehrt hatte, was sie wusste. Sie weinte ein bisschen, als sie ein kleines Gebet im Angedenken an die Toten sprach. Später berührte sie die heiligen Vögel, die in die sanfte, braune Oberfläche des Bronzekessels eingraviert waren, und gab ihnen Namen: Vater Reiher, Mutter Kranich, Großmutter Rabe und Onkel Enterich. Sie küsste jedes Einzelne der kostbaren Bronzeblätter, schöpfte mit der einen Hand Wasser aus dem Kessel und nipp41 te daran, dann sprach sie einen Segen über das, was noch in der Handfläche verblieben war, und warf es in die Luft, damit es den Wind bestäuben konnte. Mit geschlossenen Augen kniete sie vor dem Kessel und atmete den Geruch der Morgendämmerung ein, lauschte ihren Geräuschen: das entfernte Rauschen des träge dahinfließenden Flusses, das verärgerte Meckern der Ziegen, die vielen Stimmen der Vögel, die der schon bald aufgehenden Sonne ihren Gruß entgegensandten. Sie hörte Flügelschlagen und spürte, wie die Eule sich auf dem Rand des Kessels niederließ, aber sie wagte nicht aufzuschauen, denn die Botin war eine mächtige Kreatur und besaß so viel magische Kraft, dass selbst ein kleiner Blick sich schon als unheilvoll erweisen konnte. Einen Augenblick später erklangen in der Ferne Huftritte auf einem Steinweg, die dann einen nadelbestreuten Pfad zu betreten schienen, da sie gedämpfter klangen, und schließlich raschelte der Taillen hohe Flachs, als ein großer Körper sich hindurchdrängte. Der warme Atem der Geheiligten brachte die Haare in ihrem Nacken in Bewegung. Ihr goldenes Geweih zitterte in dem süßen Wind, den die Geheiligte verströmte. »Du hast geweint, Adica.« Ihre Stimme klang wie die Melodie des Flusses, gleichzeitig hoch und tief. »Ich kann das Salz deiner Tränen riechen.« Waren sie nicht über Nacht getrocknet? Doch es war wohl unmöglich, vor einer Schamanin des Pferdevolkes etwas zu verbergen. »Ich bin einsam, Geheiligte. Es ist eine sehr einsame Straße, die ich beschreite.« »Hast du keinen Ehemann? Ich erinnere mich daran, wie unglücklich du gewesen bist, als die Ältesten deines Dorfes beschlossen haben, dass du ihn heiraten solltest.« »Sie haben ihn mir genommen, Geheiligte. Weil der Tod seinen Schatten auf mich gelegt hat, fürchten sie, dass alle, die ich berühre, ebenfalls vom Tod berührt werden.« »In der Tat, es liegt Weisheit in dem, was sie sagen.« Stille trat ein, die nur vom Wind und vom kehligen Gurren einer Ringeltaube unterbrochen wurde. Sie blickte auf und sah, wie sich das Land unterhalb von ihr auftat, als die Sonne den Nebel über dem Fluss vertrieb. Segler flogen entlang der langsamen Strömung, tauchten immer wieder ins Wasser. Es arbeiteten bereits Menschen auf den Feldern, ernteten Gerste und Emmer. Ein Mädchen trieb Ziegen von den Feldern zum Wald. Die Worte entschlüpften ihr, noch bevor sie wusste, ob sie sie wirklich hatte sagen wollte. »Wenn ich nur einen Gefährten hätte, Geheiligte, dann wäre die Aufgabe nicht so schwer. Natürlich versage ich nicht, aber - ich werde die ganze Zeit allein sein, während ich auf das Ende warte.« Sie schluckte die anderen Worte hinunter, die sich ihrer Kehle entringen wollten, geboren aus einer Welle von Gefühlen des Verlassenseins und der Angst. »Ich bitte dich, Geheiligte, vergib mir meine raschen Worte. Ich kenne meine Pflicht.« »Und deine Pflicht ist leider schwer, Tochter. Doch es ist notwendig, dass sieben da sind, wenn die Zeit gekommen ist. Deshalb bist du auserwählt worden.« »Ja, Geheiligte«, flüsterte sie. Im Gegensatz zu den Dorfbewohnern, über die sie wachte, hatte Adica mit anderen Leuten aus fernen Ländern gesprochen. Sie wusste, dass das Land groß war und dass dort nur wenig Leute lebten - und noch weniger davon waren echte Menschen. Die grauen, nördlichen Meere waren eisig und windumtost, kalt genug, dass ein Mensch, der versuchte, darin zu schwimmen, umkam. Und doch lebten in diesen eisigen Gewässern Leute, deren Haare aus Aalen bestanden, und deren Zähne so scharf wie Obsidian waren. Weit im Osten hatte sie die Wälder aus Gras gesehen, wo der Stamm der Geheiligten lebte - Verwandte der Menschen und doch so ganz anders. Sie hatte sogar einen Hauch von den endlosen Wüsten der südlichen Stämme gesehen, wo die Leute so sprachen, als würden sie Steine in ihren Mündern rollen. Sie hatte die sagenhaften Städte der Verfluchten gesehen. Sie hatte ihre wundersamen Schiffe gesehen und kaum entkommen können, um davon zu berichten. Sie hatte gesehen, wie die Verfluchten Dörfer und unschuldige Stämme versklavt hatten, nur um ihre Gefangenen dazu zu bringen, sich vor ihren blutrünstigen Göttern tief zu verneigen. Sie hatte gesehen, was mit ihrer Lehrerin geschehen war, die sich dem Kampf gegen die Verfluchten angeschlossen hatte und von ihnen auf ihren Altären geopfert worden war. »Wir alle sind Sklaven der Verfluchten, so lange, bis der Krieg, den sie gegen uns führen, beendet ist.« Die Geheiligte rührte sich, verlagerte das Gewicht auf den Hufen, während sie sich erst nach hinten und dann wieder nach vorn neigte. Ihr gewaltiger Körper türmte sich hinter Adica auf. Früher einmal, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte Adica gesehen, wie das Volk der Geheiligten ein paar Späher der Verfluchten eingeholt und niedergetrampelt hatte; niemals hatte sie die schlichte Ehrfurcht vergessen, mit der sie als Kind ihre Größe und Macht bewundert hatte. So sehr sie die Magie der Verfluchten auch fürchtete, so froh war sie auch darüber, eine Verbündete des Pferdevolkes zu sein, derjenigen, die aus der Verbindung einer Stute mit einem Menschenmann entsprungen waren.
»Möglicherweise jedoch -« Die Geheiligte zögerte. In dieser Pause schlich sich Hoffnung in Adicas Herz, aber sie hatte Angst, sich ihr hinzugeben. »Möglicherweise gibt es einen Weg, jemanden zu finden, der bereits von der Hand des Todes berührt worden ist und dein Gefährte werden könnte. Auf diese Weise würdest du nicht allein sein, und er könnte nicht durch dein Schicksal vergiftet werden. Du bist die jüngste der Auserwählten, Adica. Die anderen haben ein langes Leben hinter sich. Du bist dazu ausersehen gewesen, deiner Lehrerin zu folgen - du solltest nicht ihren Platz beim großen Webstuhl einnehmen. Es überrascht mich nicht, dass es dir schwieriger erscheint, auf das Tor zuzugehen, das auf die Andere Seite führt.« Strich da gerade eine Hand über ihren Nacken, wenn auch nur kurz? »Ein solches Versprechen sollte nicht jenseits meiner Macht liegen.« Die Hoffnung hämmerte jetzt so wild in ihrer Brust wie ein Vogel, der mit den Flügeln gegen die Stäbe seines Käfigs schlägt. »Kannst du so etwas wirklich zuwege bringen, Geheiligte?« »Wir werden sehen.« Sie war sehr schmerzhaft, diese Hoffnung. Daher verspürte sie auch ein bisschen Erleichterung, als die Geheiligte das Thema wechselte. »Gibt es beim Weißhirsch Volk ein Kind, dass dir nachfolgen könnte, Adica?« »Nein«, murmelte sie, und das Wort versetzte ihr einen solchen Stich in die Eingeweide, wie es nur ein Messer hätte zustande bringen können. »Und ich habe auch keine Zeit, einer Adeptin all das beizubringen, was sie wissen müsste.« »Verzweifle nicht, Kind. Ich werde dein Volk nicht im Stich lassen.« Ein scharfes, überraschtes Zischen erklang, gefolgt von dem schwachen Schrei einer Eule. »Ich werde gerufen«, sagte die Geheiligte plötzlich erstaunt. Und schon war sie verschwunden. War die Geheiligte wirklich durch das Tor der Steine gereist? Hatte sie in ihrer eigenen Gestalt hinter Adica gestanden? Oder war sie lediglich über den Pfad der Visionen gekommen und hatte Adica in ihrer spirituellen Gestalt aufgesucht ? Die Geheiligte war so mächtig, dass Adica es niemals wusste. Und sie wagte auch nicht, sie danach zu fragen. Es stimmte, dass die Menschen nur einen kleinen Teil der Macht auf dieser Erde besaßen. Doch wenn das so war, wieso führten die Verfluchten dann einen solch erbitterten Krieg gegen sie? Wieso hassten die Verfluchten sie so sehr? Der Wind ließ die Bronzeblätter des Kessels klappern. Einen Augenblick lang dachte sie, dass sie tatsächlich das Aufgehen der Blüten hören konnte, als die Sonne sich über den Horizont schob. Ein Hörn erklang: der Warnruf vom Dorf. Ohne große Sorgfalt hastete sie zurück zu ihrer Hütte, zog die heiligen Gewänder aus und rannte hinunter zu den Erdwällen. Sie erreichte das Palisadentor gerade in dem Augenblick, als ein schlankes Mädchen mit kräftigen Beinen und einem drahtigen Wachhund achtsam aufsprang. Das Mädchen warf Mutter Orla, die dem Aufruf gefolgt und zum Tor gekommen war, Nachrichtenperlen vor die Füße. Mutter Orlas Hände waren so knotig, dass sie kaum die Nachrichtenperlen mit den Fingern abzählen konnte, während sie die Botschaft entschlüsselte. Sie trat zur Seite, damit Adica sich neben sie stellen konnte. In ihrem hohen Alter fürchtete Orla sich weder vor bösen Geistern noch vor dem Tod; von beiden wurde sie bereits geneckt. »Ein Scharmützel«, erklärte sie den Dorfbewohnern, die aus ihren Häusern herbeigelaufen waren. »Die Verfluchten haben wieder einen Raubzug unternommen. Von welchem Dorf kommst du, Rasch?« Ein Kind brachte Met, der so stark nach Mädesüß roch, dass Adica das Wasser im Munde zusammenlief. Die Rasch nippte vorsichtig daran, während sie Luft schöpfte. »Ich komme von Zweistrom, Kieferwipfel und Matschweg. Davor bin ich in Altfeste gewesen. Die Verfluchten haben eine Siedlung in der Nähe von Vierhausen angegriffen. Drei Leute sind getötet worden, zwei Kinder haben sie mitgenommen.« »Ist irgendwer von Vierhausen ihnen gefolgt?«, wollte Beor wissen, der sich jetzt nach vorn durchkämpfte. Er war schon früh aufgestanden, um zu jagen, und trug in der einen Hand eine Schlinge. Von der anderen hingen zwei Moorhühner, ein Rebhuhn und drei Enten, zusammengebunden an einem Seil. Der Wachhund stieß die toten Vögel mit der Schnauze an, aber die Rasch verjagte ihn, während ein anderes Kind dem Tier einen schönen Fleischknochen brachte. Der Hund legte sich sofort nieder und begann, daran zu nagen. »Nein«, sagte die Rasch, »niemand von Vierhausen hat die Verfluchten verfolgt, denn die Leute, die gestorben sind, waren vom Rothirsch-Stamm. Zwei Familien sind im letzten Winter in die Nähe von Vierhausen gezogen. Sie stammten aus dem Westen.« »Was spielt es für die Verfluchten für eine Rolle, ob sie das Rothirsch-Volk oder das Weißhirsch-Volk töten?« Beor war jetzt rich46 tiggehend wütend - auf jene Weise, die andere zu Taten anzuspornen pflegte. »Für die Verfluchten sind wir alle gleich, und wer kann sicher sein, dass sie nicht als Nächstes zum Weißhirsch-Stamm kommen, wenn sie erst das Rothirsch-Volk getötet oder gefangen genommen haben? Ich sage, wir müssen gemeinsam kämpfen, oder wir werden alle durch ihre Pfeile sterben.« Die Anwesenden murmelten zustimmend. Die jungen Männer blickten entweder nervös oder eifrig drein. »Was sagt die Geweihte?«, fragte Orla mit täuschend weicher Stimme.
Sofort schwiegen alle, während Adica nachdachte. Die Rasch trank ihren Met aus und griff dankbar nach der Schüssel Haferbrei, die einer der Jungen brachte - es war einer von denen, die sie letztes Jahr im Sommer bei den Rennen besiegt hatte. Er beäugte sie neidisch, betrachtete ihre schlanken Beine und den losen, weiten Hosenboden, der ihr genug Platz beim Laufen gewährte. Er sah aus, als hätte er am liebsten das Bernsteinhalsband und die Kupferarmbänder berührt, die das Mädchen trug, um ihren Status zu unterstreichen. Beim Sonnenfest des vergangenen Jahres, als alle Dörfer des Stammes zusammengekommen waren, um zu tauschen, umeinander zu werben und Auseinandersetzungen beizulegen, hatte dieses Mädchen die Rennen gewonnen und mit diesem Sieg auch das Recht erworben, den Namen »Rasch« zu tragen - damit war sie eine der bevorzugten Jugendlichen, die Nachrichten zwischen den Dörfern des Weißhirsch-Volkes hin und her trugen. »Die Geweihten der Menschen-Stämme haben sich bereits zusammengetan, und zu unseren Verbündeten gehört auch das Pferdevolk. Doch das Pferdevolk ist weniger menschlich als unsere Rothirsch-Verwandten, und wir freuen uns über die Allianz, die sie mit uns verbindet.« Adica brach ab; sie spürte die Unruhe der anderen. Die Rasch beendete ihr Mahl und hielt die Schüssel in der Hoffnung hoch, noch eine Portion zu bekommen. »Die nächste Sonnenzeit birgt die größte Gefahr. Wenn die Verfluchten den Verdacht hegen, dass wir vorhaben, gegen sie vorzugehen, werden sie ihre Heere aussenden, um uns anzugreifen. Wir sind auf alle Verbündeten angewiesen, die wir finden können - sei es nun das Volk der Rothirsche, der Weißhirsche oder der Schwarzhirsche. Wir brauchen ihre Hilfe unabhängig davon, ob wir auf andere Stämme einen starken Eindruck machen. Wenn ihr nach der nächsten Dunkelzeit noch lebt, werdet ihr nichts mehr zu fürchten haben.« Orla machte das Zeichen, mit dem man böse Geister abwehrte, und spuckte auf den Boden, wie so viele andere auch. Beor tat es nicht. Die Jüngeren zogen sich zurück, um sich wieder ihren Arbeiten zu widmen oder ihre Bögen und Äxte zu überprüfen. Während sich die Dorfbewohner zerstreuten, blieben die Ältesten und der Kriegssprecher zurück. »Ich werde die Kriegstruppe begleiten«, erklärte Adica. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Sie ging zu ihrem alten Haus, um Heilkräuter und ihren Korb mit Zaubermitteln zu holen. Drinnen war alles staubig und verlassen. Sie fuhr mit den Fingern über die Dachgesimse. Von einem der Dachsparren tropfte noch immer ein bisschen Pech, und sie berührte es mit den Lippen, atmete seine Essenz ein. Draußen wartete Beor mit einer Gruppe von neun Erwachsenen, von denen er überzeugt war, dass sie standhalten und kämpfen würden, sollte es dazu kommen. Sie hatten sich mit Bögen bewaffnet, trugen Pfeile mit Obsidian-Spitzen und Äxte aus Feuerstein oder Kupfer. Agda hatte eine Steinaxt, aber Beor trug das beste Stück des ganzen Dorfes: eine Hellebarde mit einer echten Bronzeklinge, die an der rechten Seite am Schaft befestigt war. Er hatte sie einem toten Feind abgenommen. Als sie aufbrachen, sprang die Rasch - gefolgt von ihrem Hund - hinter ihnen her, nahm aber dann die Abzweigung, die sie weiter nach Quellwasser bringen würde, zu Dorrens Dorf. Sie sollte jetzt nicht an Dorren denken. Sicher konnte sie diesen flüchtigen Frieden genießen, während sie unter der strahlenden Sonne und mit dem Wind in ihrem Rücken einherschritt. Es war nicht so heiß wie auf der Heimatinsel von Fallender. Sie ging als Letzte der Gruppe, immer nach nützlichen Pflanzen Ausschau haltend. Als sie ein Fleckchen Senf sah und den Pfad verließ, um das Gewächs zu untersuchen, blieb Beor stehen und wartete auf sie. Die anderen hielten ein Stück weiter vorn auf dem Weg an, außer Hörweite, aber nah genug für den Fall, dass sie angegriffen wurden. Sie versuchte, Beor nicht zu beachten, während sie so viel Senf erntete, wie sie mit einem langen Halm zusammenbinden konnte. Dann legte sie das Bündel in den Korb. Er kam jetzt zu ihr, als sie auf den Pfad zurückkehrte und weiterging. Sie blickte ihn nicht an, und die Art, wie er die Hellebarde schwang, brachte sie zu der Vermutung, dass auch er sie nicht ansah. Dennoch bereitete ihr die Tatsache, dass sie auf dem langen Weg von jemandem begleitet wurde, einen gewissen Trost. Weiter vorn setzten die anderen sich wieder in Bewegung, immer darauf bedacht, genügend Abstand zu ihnen zu halten. »Die Ältesten haben gestern mit mir gesprochen.« Seine Stimme klang etwas heiser, wie immer, wenn er erregt oder gereizt war. »Sie sagen, der Grund, weshalb es niemals ein Kind zwischen uns gegeben hat, liegt darin, dass deine Magie deinem Körper sämtliche Fruchtbarkeit entzogen hat. Sie sagen, dass ich, wenn ich nicht aufhöre, an dich zu denken, von den bösen Geistern ebenfalls ausgelaugt werde und dass ich dann auch nicht fähig bin, mit einer anderen Frau Kinder zu zeugen.« Sie setzte die Füße auf dem Boden auf, einen nach dem anderen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Die Sonne strahlte. Der Pfad schlängelte sich durch den Wald, wo die Blätter in der frischen Brise rauschten. »Ich habe niemals eine andere Frau so gewollt, wie ich dich gewollt habe. Aber das ist jetzt vorbei. So sei es. Die Ältesten sagen, dass Mutter Nahumias älteste Tochter drüben in Altfeste erst letzten Mond den Jagdbeutel ihres Mannes vor die Tür gehängt und ihn zum Verlassen der Hütte aufgefordert hat. Sie wird also nach einem neuen Mann Ausschau halten.«
»Du müsstest nach Altfeste gehen«, sagte Adica; sie hatte den Eindruck, als müsste sie etwas sagen. »Du wirst dort leben müssen.« »Das stimmt. Aber es macht mir nichts aus, wegzugehen. Ich habe sogar daran gedacht, noch weiter nach Osten zu gehen, um für eine Jagdzeit mit unseren Schwarzhirsch-Verwandten zu jagen.« »Das ist ein weiter Weg«, sagte Adica. Sie hörte, wie ihre eigene Stimme zitterte; sie konnte nicht sprechen, ohne die Furcht in ihrem eigenen Herzen zu verraten. »So sei es«, stimmte er zu, und dann wartete er wieder. Möglicherweise wünschte er sich Anteilnahme von ihr, Bedauern oder den Versuch, ihn von dieser voreiligen Handlung abzubringen. Aber sie konnte ihm nicht noch mehr geben. Sie hatte bereits ihrem Volk ihr Leben gegeben, und die Magie hatte ihr nicht einmal ein Kind beschert, sodass ihr Name hätte weiterleben können. »Du bist ein guter Kriegssprecher, Beor«, sagte sie. »Das Dorf braucht dich. Kannst du noch so lange warten, bis meine Arbeit beendet ist? Dann spielt es vielleicht keine Rolle mehr, ob sie dich verlieren-« Hier brach sie ab. Es war verboten, laut von dem großen Weben zu sprechen, weil Worte Macht waren und man sie nicht achtlos in alle vier Winde verstreute - die Verfluchten konnten sie dann hören. »Warte wenigstens bis dahin.« Er schnaubte, antwortete aber nicht, und nach einer kleinen Weile beschleunigte er seinen Schritt, sodass sie die anderen schon bald eingeholt hatten. Da diese aber Angst hatten, mit ihr zu sprechen, und sie auch nicht ansahen, hätte sie genauso gut auch allein gehen können. Die Sonne hatte beinahe den Mittagsstand erreicht, als sie Vierhausen erreichten. Das Dorf bestand aus einer verstreuten Ansammlung von etwa einem Dutzend Hütten, Scheunen, Grubenhäusern und vier beachtlichen Plätzen, an deren vier Ecken jeweils ein Rundhaus mit einem Strohdach stand; dazwischen befanden sich Lagerräume, die von Steinmauern begrenzt waren. Ein halbes Dutzend Erwachsener arbeitete an dem Graben, grub mit Geweihen in der Erde und schaffte sie in Eichenkörben weg. Vierhausen hatte eine Kriegssprecherin, eine kräftige Frau mit zwei Narben, die auf den Namen Ulfrega hörte und den Rock mit Bändern trug, der sie als Frau kennzeichnete, die alt genug war, sich einen Ehemann zu suchen. Den blassen Schwangerschaftsstreifen nach zu urteilen, die Ulfregas Bauch oberhalb der lang herabhängenden Schnüre schmückten, hatte sie bereits mehrere Kinder ausgetragen. Ulfrega führte sie hinab, am Fluss vorbei, durch den von Schweinen bevölkerten Wald und einen Wildpfad entlang, der sie zur Siedlung des Rothirsch-Volkes brachte. Zwei Rundhäuser und sechs Lagergruben lagen still unter der Sommersonne. Seltsamerweise war eines der Rundhäuser bis auf die halbe Steinmauer vollkommen niedergebrannt, während das andere so frisch und ganz aussah, als wäre es erst vor einem Monat errichtet worden und nur am vorherigen Tag bewohnt gewesen. Es gab außerdem einen Steinpferch und eine Heumiete und einen sehr ordentlichen Gemüsegarten voller reifem Gemüse. Fliegen summten. Eine Krähe flatterte träge davon, als sie sich näherten. Selbst die Dorfhunde waren von dem Ort des Blutbads geflohen. Das Dorf lag verlassen da. Nur eine einzige Leiche war zurückgeblieben. Die Rothirsch-Leute hatten ebenfalls bereits begonnen gehabt, einen Graben auszuheben, und er zog sich - genau wie der dazugehörige Wall - zur Hälfte um die Ansiedlung herum. »Zu wenig und zu spät«, sagte Ulfreda und deutete auf den halb fertigen Graben und den eingebrochenen und zum Teil verbrannten Erdwall. Überall lagen die Überreste des Kampfes herum: Pfeilspitzen, ein zerbrochener Speerschaft, ein Schwert der Verfluchten, ein flaches Holzstück, das mit Obsidian gespickt war, wenngleich das meiste davon mittlerweile abgesprungen war. Ul51 freda hob einen Pfeil auf und betastete die Obsidianspitze, bevor sie ihn in die Ledertasche steckte, die sie über der Schulter trug. »Auch ihr seid mit eurem Graben spät dran«, meinte Beor. Sie zuckte mit den Schultern und blickte gereizt drein. »Die anderen Raubzüge hatten immer zuerst Dreieichen und Quellwasser als Ziel.« »Das ist keine weite Reise, zumindest nicht für die Verfluchten.« »Hei!« Sie spuckte in Richtung der Leiche. »Im offenen Gelände mögen sie sich schnell fortbewegen, aber sie werden langsamer, wenn sie mit ihren Pferden in den Wald gehen. Und zwischen Dreieichen und hier gibt es eine ganze Menge dichtes Unterholz.« »Das hat diese Dorfbewohner aber nicht gerettet.« Die Übrigen von Beors Leuten schwärmten aus, um Obsidian-spitzen und reifes Gemüse einzusammeln. Sie hielten sich von der Leiche fern. »Ich werde den Geist verjagen«, erklärte Adica. Zweifellos hatten die Leute von Vierhausen darauf gewartet, dass sie diese Angelegenheit übernahm. Sowohl Beor als auch Ulfrega machten die entsprechende Geste, um böse Geister abzuwehren, und wichen zur Vorsicht vor ihr zurück. Adica wühlte in ihrem Korb und holte die kostbare Kupferschüssel hervor, die sie gewöhnlich für solche Aufgaben benutzte; sie war gerade groß genug, um in ihren zu einer Tasse geformten Händen Platz zu haben. Sie versprühte draußen an der Herdstelle Funken mit dem Feuerstein, den sie dann an ein getrocknetes Stück Pilz hielt, um ein Feuer zu entfachen. Dann goss sie zuvor gesegnetes Wasser aus ihrer Wasserhaut in die Schüssel und stellte diese auf einem behelfsmäßigen Dreifuß über die Flammen, um das Wasser zu erhitzen. Die anderen verschwanden im Wald, um Spuren der
Feinde zu suchen - oder um sich so lange zu verbergen, wie die Magie wirkte. Während das Wasser heiß wurde, starrte sie schweigend auf den Toten. Beim Sturz war ihm die hölzerne Luchsmaske vom Gesicht gerutscht. Er hatte stolze Gesichtszüge und eine kupferfarbene Haut. Seine schwarzen Haare waren auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengebunden, wie es bei Seinesgleichen üblich war, und über den ganzen Arm zogen sich verschiedene, ineinander verschränkte magische Symbole in blauem Waid und rotem Ocker. Doch in der Tat bedeutete seine geschlechtliche Zuordnung nur wenig: Er war ein Erwachsener und schon deshalb gefährlich, denn er konnte zeugen, und er konnte kämpfen. Seine Leiche war von keinerlei Aasfressern berührt worden. Die Verfluchten schützten ihre Geister mit mächtigen Zaubersprüchen, also würde sie sehr vorsichtig sein müssen. Glücklicherweise hatte niemand von Vierhausen versucht, den Körper zu entkleiden, obwohl er wahre Reichtümer bei sich trug. Eine Schicht aus gegossener Bronze mit so wunderbar eingravierten Tieren, dass sie das Kunstwerk einfach bewundern musste, schützte seine Brust. Über der Brustplatte schritt eine geierköpfige Frau majestätisch der grellen Sonne entgegen, während zwei Feuer speiende Drachen sich kampfeslustig anstarrten. Es war schwer, die Kreaturen, die die Menschheit so sehr verfolgten und terrorisierten, mit jenen in Einklang zu bringen, die so wunderschöne Dinge erschaffen konnten. Der mit einem Rosshaarschweif geschmückte Bronzehelm lag neben seinem Kopf im Dreck. Jemand war während des Kampfes auf den Helmbusch getreten, und es war noch immer ein Abdruck davon auf dem Boden zu erkennen. Ein Ledergürtel mit einer Kupferschnalle hielt seinen knielangen Rock zusammen, der aus einem Stück genäht worden war. Das Gewand schmiegte sich so weich und glatt an den Körper, dass sie unwillkürlich ihr eigenes grob gewebtes Oberteil und den Streifenrock berührte. Wenn die Verfluchten solche Reichtümer besaßen, wieso hatten sie es dann überhaupt nötig; die Menschheit anzugreifen? Aber betrachteten sie die Menschen nicht mit dem gleichen Blick, mit dem sie ihr Vieh ansahen? Vielleicht stimmte es ja, dass die Menschheit früher, vor der Zeit der großen Königinnen, wie Tiere gehaust hatte, nicht anders als Tiere getrunken, gegessen, gejagt und sich vermehrt hatte. Jetzt stimmte das allerdings nicht mehr. Sie hängte sich zum Schutz ein Säckchen Wacholder um den Hals und nahm vier getrocknete Lavendelblätter, dann wandte sie sich nach Norden und zerkrümelte sie zwischen den Fingern. Der Staub verteilte sich auf dem Boden. Das Gleiche tat sie in östlicher, südlicher und westlicher Richtung und schuf so einen Schutzring. Dann stellte sie sich mit dem Gesicht nach Westen, hockte sich hin und legte die Handflächen um die Nase, um den nachlassenden starken, reinen Lavendelduft einzuatmen. In diese Hände sprach sie sodann Worte der Macht und des Schutzes. Das Wasser kochte. Mit Knochenzangen nahm sie die Kupferschüssel von der Flamme und stellte sie neben ihren Korb. Sie ließ eine alte Distel ins Wasser fallen und wartete, die Hände mit den Handflächen nach oben erhoben. Der Geist manifestierte sich in ihren Handflächen wie ein winziger Strudel. Dann sah sie, wie er sich vom Körper löste, glitschig und weiß. Er versuchte sich an den vier Ecken, aber er konnte nicht hindurch, denn der Zauber des Lavendels band ihn. Während er sich wie ein Wirbelwind drehte, grollte eine klägliche Stimme, wimmerte sodann und jaulte schließlich, und plötzlich sprang die Wolke des Geistes wie ein Schwärm wilder Mücken gen Himmel, entlang des Tunnels, den sie mit ihren vier Richtungszaubern gewirkt hatte. Sie sprang vor und tröpfelte etwas Lavendelstaub auf die Augen der Leiche, benetzte die Ohren, die Nase und die Lippen damit. Dann zog sie das Gewand hoch und strich etwas Lavendelpaste über sein männliches Teil, drehte die Leiche dann herum, damit sie auch die letzte Öffnung vollständig versiegeln konnte. Weit über sich hörte sie ein verzweifeltes Heulen. Sie klatschte dreimal in die Hände, stampfte mit den Füßen auf, und das Gefühl des in ihren Handflächen wirbelnden Strudels verschwand. Der Geist war in die höhere Welt entwichen, die Weltachse empor, die der Schutzzauber geschaffen hatte. Und doch hatte er einen Schatz zurückgelassen: unter der Leiche lag ein Schwert aus Bronze. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern an der Schneide entlang. Auch die Schneide besaß einen Geist, einen wilden und unerbittlichen sogar. Diese Klinge hatte viele Leben zerstört und viele Geister schreiend von ihren Körpern getrennt. Doch wer sollte ein solch gefährliches und mächtiges Wesen tragen? Niemand im Weißhirsch-Volk, das aus neun Dörfern bestand, besaß ein solches Schwert. Sie fand Eisenkraut in ihrem Korb, rollte ihn zwischen den Fingern und ließ ihn auf das Schwert fallen, um den rachsüchtigen Geist zu besänftigen und seine Blutgier einstweilen zu mäßigen. Zusätzlich zu der bronzenen Brustplatte, dem Helm, dem Schwert, dem Gürtel und der losen Leinentunika trug der Tote ein Messer und einen Beutel, der vier gewöhnliche Flusssteine enthielt, ein Säckchen mit Kräutern, eine Schneckenmuschel und einen kleinen Holzwürfel, in den magische Symbole geritzt waren. Nachdem sie die Leiche ausgezogen hatte, zog sie sie zum verbrannten Haus und bedeckte sie mit Feuerholz. Sie kennzeichnete die verunstaltete Schwelle mit Zaubersprüchen und warf den heiligen Beutel und die Kriegsmaske des Toten hinterher. Während sie heiße Kohlen auf das Stroh schichtete, begann der Scheiterhaufen zu brennen.
Als Ulfrega den Rauch sah, führte sie die anderen aus dem Wald heraus. »Niemand wird sich jemals wieder hier niederlassen«, bemerkte sie, bevor sie Beor folgte, um den Schatz zu untersuchen. »Berührt es nicht«, sagte Adica rasch. Rauch erhob sich vom Scheiterhaufen. »Die Magie der Verfluchten lebt in solchen Dingen.« »Aber ich benutze diese Hellebarde, und auch sie stammt von den Verfluchten.« Beor blickte das Bronzeschwert mit nackter Gier in den Augen an. Die Vision traf sie so hart, dass es ihr beinahe den Atem verschlug.
Dies war der Wahnsinn, den die Verfluchten in ihre Herzen gebracht hatten! Keuchend kauerte sie auf Händen und Knien. Alle waren vor ihr zurückgewichen. Sie schwitzte, obwohl eine Wolke die Sonne bedeckte. Sie weinte wider Willen, vor Schmerz und Trauer innerlich zutiefst zerrissen. Was würde aus dem WeißhirschVolk werden, wenn sie gegangen war? War denn niemand von ihnen stark genug, dem unerbittlichen Geist zu widerstehen, der in diesem Schwert lebte? War es das, was die Vision ihr versprochen hatte - dass ihr Volk von Wut und Gier verzehrt werden würde? War es dazu verdammt, durch jenes Erbe der Verfluchten, genannt Krieg, vergiftet zu werden ? Der unangenehme Geruch von brennendem Fleisch strömte über sie hinweg, und sie trieb auf diesem Geruch in eine noch vielschichtigere Vision, eine, die weder Anfang noch Ende hatte. Es würde Frieden und Krieg geben, Freundlichkeit und Grausamkeit. Es würde Ehre geben und Schande. All dies würde zur Menschheit gelangen. All das war bereits dort. Vielleicht war es sogar wahr, dass die Großmütter in einer Zeit des Friedens und einer liebevollen Güte gelebt hatten, wie sie dem Weißhirsch-Volk inzwischen unbekannt war. Vielleicht hatten ihre Ahnen auch ihre eigenen Kämpfe ausgefochten - schlichte wie Wut zwischen Freunden, verwickelte wie alte Feindschaften zwischen Stämmen. Was geschehen würde, würde geschehen. Sie konnte nur ihre Pflicht tun, hier und jetzt. So hatte die Geheiligte gesprochen. So 56 hatte sie zugestimmt, in dem Wissen, dass es der einzige Weg war, wie sie ihr Volk beschützen konnte. Die Vision verblasste. Zitternd erhob sie sich wieder und stellte fest, dass die anderen zurückgewichen waren; sie kauerten jetzt bei dem noch intakten Rundhaus und nagten an ihren Vorräten aus Trockenfleisch, darauf wartend, dass sie aus ihrer Trance erwachte. Sie musste sich niemals erklären. Sie ging zu dem nahe gelegenen Bach und schnitt Ried mit ihrem Steinmesser, dann flocht sie das Ried zu einem solch festen Seil, dass sie den einzigen Schatz des Toten binden und tragen konnte. Dieses Bündel hängte sie sich um die Schulter, befestigte den Korb an der Hüfte und ging nach Vierhausen zurück. Die anderen folgten ihr in sicherem Abstand; sie sprachen nur leise miteinander. Sie fürchteten sie, weil sie im Gegensatz zu ihnen Magie besaß und weil sie etwas sah, dass sie nicht sehen konnten. Das war die Weise, wie die Götter entschieden - denn einigen gaben sie die Fähigkeit zu sehen, die Übrigen verdammten sie dazu, blind zu bleiben. Doch manchmal, so dachte sie, war es barmherziger, blind zu sein. Sie verbrachten die Nacht in Vierhausen. Die Leute eilten ihr aus dem Weg, sobald sie sich auch nur näherte. Väter zerrten ihre Töchter und Söhne hinter die Tore ihrer Grundstücke zurück, damit sie mit ihrem Blick nicht die überaus wertvollen kleinen Kinder verwunden oder verkrüppeln konnte. Niemand bat sie herein, und Beor war weise genug oder er hatte Angst genug vor dem, was sie tun mochte, wenn sie erzürnt war -, zusammen mit seiner Gruppe ebenfalls draußen zu bleiben, wo sie ihr Mahl gemeinsam mit den Erwachsenen von Vierhausen einnahmen. Sie speisten gut: frisches Wildbret und Schwan, ein Malzbier, das beinahe dick genug war, um es mit dem Finger aufzuschlecken, Käse und Salat, der allerdings etwas faserig war. Die Leute von Vierhausen hielten ihre Hunde angebunden, damit sie in Ruhe essen konnten, ohne ständig von den bettelnden Tieren belästigt zu werden. In dieser Nacht schlief sie draußen, allein im Schatten einer der Heumieten. Doch sie konnte es nicht lassen, immer wieder über den glatten Stoff zu streichen, den einst der tote Verfluchte getragen hatte, musste einfach das weiche Material an die Wange halten. Doch es schenkte ihr keinen Trost. Am Morgen gingen sie zu ihrem eigenen Dorf zurück. Alle wollten das Bronzeschwert sehen, doch sie hielt es verborgen. Sein Geist weinte noch immer um seinen früheren Herrn; es war noch verärgert. Sie trug den Schatz den Hügel hinauf und wob einen Schutzbann aus Kräutern und Zaubern in ein altes Kuhfell. In dieses Fell wickelte sie dann Schwert und Rüstung. Ein flaches Loch außerhalb des Steinwebstuhls ergab ein passendes Grab.
Sie kniete lange Zeit neben diesem Loch nieder, aber es kamen keine Visionen. Schließlich ging sie zum Fluss und wusch das Leinenhemd, bis sie sicher war, dass nichts mehr von dem Verfluchten darin sein konnte. Sie kehrte zum Hügel zurück und fand einen Teller mit etwas zu essen vor ihrer Behausung, eine dicke Gemüsesuppe, die inzwischen kalt und fest geworden war, sowie einen Becher Bier, in den ein paar Pflanzenteile hineingeweht waren. Nachdem sie das Leinenhemd zum Trocknen aufgehängt hatte, aß sie etwas. Niemand lehnte Speisen und Getränke ab. Niemand sonst musste allein essen und trinken. Es war ein warmer, verheißungsvoller Sommerabend in sanftem Gold, doch ihr blieb nichts anderes übrig, als die Einsamkeit zu umarmen. Sie zog die geweihten Kleidungsstücke an und ging den vertrauten Pfad zu den Steinen entlang, während die Nacht hereinbrach. Sterne leuchteten über ihr wie Feuerstellen der Toten. War da nicht ein neuer Stern unter ihnen, möglicherweise der Geist des Verfluchten, den sie gestern von der Erde verjagt hatte? Sie wusste es nicht. Mit bestimmten rituellen Gesten, die ihren Respekt bezeugten, betrat sie den Steinwebstuhl. Die großen Steine schienen sie zu beobachten. Sie kniete vor dem Kessel nieder, nippte an dem Wasser, bevor sie eine Hand voll in die Luft schleuderte, um den Wind mit der heiligen Substanz zu besamen. Die Arme vor der Brust gefaltet, atmete sie sich langsam in einen Zustand der Trance, der notwendig für die Arbeit war. Dann ging sie jeden einzelnen Schritt des großen Webens durch, damit sie, wenn die Zeit kam, ja keinen Fehler machte und die Fäden nicht durchtrennt würden. Als sie die Arbeit beendet hatte, die nur vor ihrem geistigen Auge stattfand, fing sie noch einmal von vorn an. Doch sie konnte nur eine gewisse Zeit in dem Trance-Zustand verharren. Nach einer Weile schüttelte sie ihn ab. Sie war erschöpft, aber nicht schläfrig. Sie neigte leicht den Kopf und wartete. Vielleicht wartete sie nur auf etwas Hoffnung oder Erlösung. Vielleicht wartete sie auch nur auf den Wind. Oder auf den Tod. Es war eine lange Nacht. Nebel kroch zwischen die Steine und verhüllte sie, kalt und weich zugleich. Die Sterne atmeten ein und aus, die Seelen seufzten um ihre verlorenen Heime. Eine Nachtigall sang. Eine Eule schrie. Sie schreckte aus ihrem Dämmerzustand auf. Ihre Knie schmerzten, ihr linker Fuß war eingeschlafen, und als sie sich rührte, um die Nadeln der bösen Geister zu vertreiben, die während ihres Nickerchens gekommen waren, um sie zu plagen, sah sie, wie die Eule geräuschlos auf ihren großen Schwingen herbeiglitt und sich auf dem Kessel niederließ. Rasch legte sie schützend eine Hand über die Augen. Die Morgendämmerung erhellte den östlichen Horizont. Der Nebel zog sich zurück, wie eine Kreatur, die ihre Krallen einzog, 59 bis nur noch die westlichsten Steine von ein paar Schwaden umgeben waren. Ein blauweißes Licht flackerte vor ihren Augen. Der Atem der Geheiligten kitzelte ihren Nacken, er roch nach Gras. Hufe klapperten auf dem Boden, während die Geheiligte davon tänzelte. Der Boden erzitterte, riss sie nach hinten zurück. Eine Kraft griff in ihre Eingeweide und riss sie in die eine Richtung, während sie gleichzeitig in die andere geschleudert wurde. Die Bewegung zerriss sie, und doch war sie ganz, wenngleich sie vor Erschöpfung und Angst keuchte. Ihre Zunge war geschwollen, und ihr Kopf schlug eine Myriade Schwindel erregender Purzelbäume, als würde sie der Länge nach einen steilen Hügel hinunterrollen, während sie doch reglos neben dem Kessel kauerte. Tief im Kosmos war etwas aufgegangen. Die Welt um sie herum murmelte, unruhig und neugierig, und sie hörte Vögel im Wald erwachen, hörte aus einiger Entfernung das Geheul von Wölfen. Der Atem der Sterne strich über ihren Nacken, brannte mit wilder Hitze auf sie herab, so unerbittlich wie die Seelen der Schwerter. Sie hörte ein Keuchen, und dann war alles still bis auf die Bewegungen der Geheiligten, die ruhige Worte murmelte. Und dann war da noch eine andere Stimme, leise und verwirrt. Und da war der widerliche Gestank von Blut und ein unbekannter Geruch, der sie fast zu ersticken drohte, bis sie begriff, was es war: der Geruch eines nassen Hundes. Verwirrt blickte sie auf und sah zwei riesige schwarze Hunde von der Größe halb ausgewachsener Kälber, die wachsam zu beiden Seiten des Trittsteins standen. Sie erhob sich neugierig, doch die Hunde machten keinerlei Anstalten, auf sie zuzugehen, und sie knurrten und bellten auch nicht. Ein nackter Mann lag auf dem Boden auf der anderen Seite des Kessels. Er hatte den schlanken, männlichen Körpers von jemandem, der zwar kein Jugendlicher mehr war, aber auch noch nicht lange erwachsen. Die Geheiligte wartete reglos eine Speerlänge von dem ausge60 streckten Körper entfernt. Ein Haufen blutverschmierter Kleider lag vor ihr. Adica ging neugierig um den Kessel herum, murmelte Worte des Schutzes. War dies ein Beschwörer, der mit seinen spirituellen Führern umherwandelte ? Die Hunde stießen den Körper an, als könnten sie Leben darin riechen, bevor sie sich zufrieden zu beiden Seiten des Mannes ausstreckten. Sie versuchten nicht, sie zu beißen, als sie zwischen sie trat und den Mann an der
Schulter berührte. Seine Haut war so weich wie eine Rosenblüte, wunderbar zart. Er war viel weniger behaart als die Männer der Hirsch-Clans, aber er hatte nicht den bronzefarbenen Teint, der die Verfluchten kennzeichnete. Seine Haut war blass und glatt; er war so ganz anders als alle anderen Personen, die sie bisher gesehen hatte. Sie fuhr die Linie seines Schulterblatts mit den Fingern nach; seine Haut fühlte sich warm unter ihrer Hand an. Er atmete langsam und gleichmäßig. »Hier ist der Ehemann, den ich dir versprochen habe, Adica«, erklärte die Geheiligte. »Er kommt aus der jenseitigen Welt.« Er roch so süß wie wilde Rosen. Die Windung seines Ohrs des einen, das sie sehen konnte - war so zart wie die einer kostbaren Seemuschel, die zum Tauschen aus dem Norden hergebracht wurde, und seine Lippen hatten den violetten Ton von Holunder, als wäre ihm kürzlich sehr kalt gewesen. Sie sprach leise, aus Angst, ihn zu stören. »Kommt er aus dem Land der Toten?« So, wie er dalag, war es schwer, die Beschaffenheit und Form seines Gesichts zu erkennen. »Es stimmt, er ist zum Land der Toten unterwegs gewesen. Aber jetzt ist er hier.« Ihre Hand blieb auf seiner Schulter liegen. Er hatte die Oberschenkel und das Gesäß eines jungen Mannes, aber sie konnte sich nicht überwinden, ihn wirklich als Mann anzuerkennen. Doch ihr Herz pochte heftig. Der Wind fuhr seufzend zwischen den Steinen hindurch, verteilte den Nebel, als die kräftige Sonne höher stieg. Es war schwer, etwas zu sagen, da die Hoffnung so heftig gegen 61 ihre Befürchtungen ankämpfte. Ihre Stimme zerbrach beinahe an den Worten, die sie schließlich herauspresste. »Wird er bis zu meinem Tod bei mir bleiben, Geheiligte?« »Ja, er wird bis zu deinem Tod bei dir bleiben.« Die ruhigen Worte trafen sie bis ins Mark, und ein Gefühl von Trauer stieg in ihr auf. Sie weinte, hockte sich auf die Fersen, um sich abzustützen, und bemerkte nicht, dass er sich rührte - erst, als er sich auf die Unterarme stützte und sie anblickte. Er wirkte nicht weniger verwirrt als sie, aber auch benommen, als hätte er einen Schlag auf den Kopf bekommen. Seine Haut hatte die Blässe von jemandem, der krank gewesen war. Ein kleiner, roter Fleck von der Form einer Rose war auf seiner linken Wange, ähnlich den Zeichen, die das Pferdevolk benutzte, um sein Vieh zu kennzeichnen. Trotz dieses Makels und seiner Blässe hatte er ein angenehmes Gesicht, ausdrucksvoll und offen. Bevor sie begriff, was er vorhatte, strich er mit einem Finger sanft über die Narbe auf ihrer Wange, die von einer Verbrennung herrührte, und wischte ihr eine Träne aus dem Gesicht. Das Gefühl der Nässe überraschte ihn so sehr, dass ihm ein Ausruf entfuhr und er unwillkürlich den Finger an die Zunge hielt, um zu sehen, ob es nach Salz schmeckte. »Wer bist du?«, fragte sie. »Wie heißt du, falls du mir das sagen kannst?« Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Er antwortete, aber die Worte, die aus seinem Mund kamen, klangen so ganz anders als die Sprachen, die sie bisher gehört hatte. Vielleicht war dies die Sprache, die man im Land der Toten sprach, unverständlich für jene, die in der Mittleren Welt lebten, der Welt der Lebenden. Er kämpfte sich unsicher auf Hände und Knie, hockte sich auf die Fersen und begriff plötzlich, dass er nackt war. Er griff nach dem zerrissenen Kleidungsstück, das eine Armlänge von ihm entfernt lag, aber als seine Finger den blutgetränkten Stoff berührten, schreckte er mit einem Schrei zurück, blickte sich um, als suchte er die Hilfe der Geheiligten. 62 Aber von der Geheiligten war nichts mehr zu sehen. Auch ihre Eule war verschwunden. »Komm«, sagte sie und streckte ihre Hände mit den Handflächen nach oben aus - das Zeichen des Friedens. »Hier wird dir nichts geschehen.« Die Hunde hatten sich nicht gerührt, und so setzte er sich wieder hin, die Beine gekreuzt, die Hände sorgsam in seinen Schoß gelegt. Um zu zeigen, dass sie eine menschliche Frau war, nahm sie das goldene Geweih ab, entfernte das bronzene Taillenband und legte beides neben ihn. Er sah ihr mit wachsamem Respekt zu, aber ohne jene Angst, die in jedem Blick der Dorfbewohner mitschwang, mit denen sie aufgewachsen war und bei denen sie beinahe ihr ganzes Leben verbracht hatte. Entweder war er immer noch benommen, oder er hatte einfach keine Angst. Doch wenn er den Pfad beschritten hatte, der in das Land der Toten führte, fürchtete er möglicherweise kein Schicksal mehr, das im Land der Lebenden über ihn kommen mochte. Der Geruch von Blut hing schwer in der Luft. Die Kleidungsstücke, die auf einem wirren Haufen im Gras lagen, waren mit dem hellroten Blut des Herzens getränkt, das erst jetzt zu trocknen und dunkel zu werden begann. Die Hunde zeigten keinerlei Anzeichen von Verletzungen, und der Mann hatte zwar eine frische, rosafarbene Narbe unterhalb der Rippen - die von einer ziemlich hässlichen Wunde stammte -, doch sie war eindeutig verheilt und blutete oder nässte nicht mehr. Woher stammte also das Blut? »Gehören diese Kleidungsstücke dir?«, fragte sie und streckte neugierig die Hand aus, um das nächstliegende zu berühren. Die Wolle schimmerte in einem hellen Goldton, und als sie sie schüttelte, erkannte sie unter den Blutflecken das Bildnis eines Geistes, der auf die goldene Kleidung gebannt worden war: Ein schlanker und mächtiger Löwe war aus schwarzen Fäden in das Gold gewebt worden. 63
Er schreckte vor dem Anblick zurück. Seine Miene war so lebhaft, als würde seine Seele nicht länger in einem tief verborgenen Winkel in seinem Innern schlummern, wie das bei den meisten Leuten der Fall war, sondern als würde sie sein gesamtes körperliches Sein durchdringen. Vielleicht war er ja gar keine Person, sondern die Seele höchstpersönlich, die sich auf der körperlichen Hülle manifestiert hatte, auf der Hülle des Kriegers, der einst diese Kleidungsstücke getragen hatte und in ihnen gestorben war. Vielleicht hatte er den Mann getötet, der sie getragen hatte, und er schreckte jetzt vor der Erinnerung an die Gewalt zurück. Sie untersuchte ein zweites Kleidungsstück aus ungefärbter Wolle, das sogar noch blutiger als das Stück mit dem Löwen war. Darunter lag ein Ledergürtel, in den kleine Löwen eingraviert waren, mit einer Bronzeschnalle, die wie ein fauchender Löwenkopf aussah. Ein Fußschutz, der aus weichem Leder gearbeitet und von atemberaubender Kunstfertigkeit war, lag bei den Kleidungsstücken und Lederstreifen, die, wie sie begriff, schöne Beinkleider darstellten. Wo hatte sein Volk nur solche Fertigkeiten erlernt ? Wieso waren sie nicht der Allianz der Menschen gegen die Verfluchten beigetreten ? Unter den Kleidungsstücken lag ein Teil, das aus winzigen Metallringen bestand, eine helle Farbe hatte, aber weder aus Silber, Zinn, Bronze noch Kupfer war. Es wog schwer. Die Ringe ertönten in tausend Stimmen, als sie sie hochhob. Sie hatten einen harten, unnachgiebigen Geruch. Wie der Löwenumhang hatte auch dieses Kleidungsstück Löcher, um den Kopf und die Arme hindurchzustecken, und es war lang genug, um bis auf die Knie zu fallen. Vielleicht bestand es auch gar nicht aus Metall, sondern war ein magischer Schutzbann, der körperliche Gestalt angenommen und sich zusammengerollt und verdichtet hatte, um einen Körper zu schützen. Ihre Schultern schmerzten von der Anstrengung, es hochzuhalten, und so legte sie es wieder hin und hob stattdessen das Messer auf, das darunter lag. 64 Kein Stein, kein Kupfer, keine Bronze: die metallische Substanz dieses Messers hatte nichts mit dem unerbittlichen Feuer des Bronzeschwerts zu tun, das sie der Leiche des Verfluchten abgenommen hatte. Es war matt, mit einer herzlosen Seele, die so kalt wie Winterschnee war, so rücksichtslos wie die großen Schlangen, die sich in den Tiefen des Meeres krümmten und die Curraghs - die Grundlage für den Handel des Fischervolks - in einem Stück verschlangen: sie fraßen, wenn sie hungrig waren, verzogen sich und kehrten zurück, wenn der Hunger größer wurde. Magie war das Blut dieser Kleidungsstücke. War es da noch eine Überraschung, dass sie überall so blutverschmiert waren? Sie blickte ihn an, in der Hoffnung - und zugleich auch voller Furcht -, in seiner Miene eine Antwort zu finden. Aber wie alle jungen Frauen, die zu lange kein Vergnügen genossen hatten, sah sie nur seinen Körper. Er war ganz offensichtlich kein Kind mehr, das im Sommer nackt herumlief. »Warte hier«, sagte sie und machte eine Geste, um ihm zu zeigen, dass sie weggehen und wiederkehren würde. Als sie sich erhob, glitt ihr Bänderkleid zur Seite und enthüllte ihre Oberschenkel; er errötete überall, was auf seiner hellen Haut nur zu leicht zu erkennen war. Sie blickte rasch weg, verbarg ihre Hoffnung. Fand er sie hübsch? Hatte die Geheiligte wirklich einen Ehemann zu ihr gebracht? Sie raffte ihre Regalien zusammen und eilte zu ihrem Unterschlupf, verstaute das Geweih und das Taillenband in der Truhe und kehrte zu ihm zurück, das Leinenhemd über den Armen. Er saß noch immer mit gekreuzten Beinen da, aber er hielt den Kopf geneigt, stützte ihn mit den Händen ab. Als er sie hörte, hob er den Kopf. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Er war also tatsächlich nicht tot, denn Tote konnten nicht weinen. Sie legte das Leinenhemd vor ihm auf den Boden und trat ein paar Schritte zurück, drehte sich um, um ihn nicht zu stören - für den Fall, dass er irgendwelche Rituale zu befolgen hatte, bevor er 65 die Schwelle von der Nacktheit zur Zivilisation überschritt. Es war still, abgesehen vom Wind und dem Rauschen und Rascheln seiner Bewegungen. Dann hustete er, räusperte sich, und sie drehte sich um. Die Tunika hing lose über seiner Brust, fiel glatt bis knapp unter seine Knie. Seltsamerweise war er genauso groß wie Beor. Die südlichen Stämme und die Verfluchten waren gewöhnlich kleiner als die Leute der HirschClans. Nur die vom Pferdevolk, deren Körper halb menschlich und halb die eines Pferdes waren, waren größer. Mit Hilfe einer komplizierten und unbeholfenen Geste deutete er auf sich und sprach ein Wort. Sie versuchte es nachzusprechen, auf die eine oder andere Weise, und dann lachte er plötzlich äußerst süß, und sie blickte in seine Augen und lächelte ihn an. Sie musste als Erste ihren Blick abwenden. Feuer brannte in ihren Wangen; ihr Herz stand in Flammen. Er war nicht übermäßig hübsch. Er sah ganz anders aus als alle anderen Männer, die sie kannte. Sein Antlitz war eher schmal, seine Stirn etwas flacher, auf der Wange war der Fleck, und seine Haare waren beinahe so dunkel wie die der Verfluchten, aber so schön wie gesponnenes Flachs. Er sagte wieder seinen Namen, langsamer jetzt, und einer der großen Hunde bellte zur Antwort. »Haiahn«, sagte sie. »Alain«, stimmte er ihr gutmütig zu. »Ich heiße Adica«, sagte sie. »Ah-dicah.« Ihr Name war für ihn leichter auszusprechen, als seiner es für sie gewesen war. Als sie ihn diesmal anlächelte, war er es, der errötete und wegsah.
»Was müssen wir mit dem Schatz tun, den du mitgebracht hast?« Sie deutete auf den Haufen Kleidungsstücke. Ein kleiner Lederbeutel lag etwas abseits, aber die Schnalle war zerbrochen. Darunter war ein Stift, nicht länger als ein Finger, der an die Holzstifte erinnerte, mit denen sie die Verbindungsstücke an den Ecken 66 ihrer Häuser befestigten. Der Stift war mittels Magie aus demselben herzlosen Metall geschaffen worden, aus dem auch das Hemd aus Ringen bestand. Rostrotes, altes Blut befleckte den winzigen Nagel. Wie das Messer hatte auch er eine Seele, und sie war mürrisch und verschlagen, sogar ein bisschen quengelig - wie ein missratenes Kind. Er brachte einen erstickten Schrei hervor, taumelte nach hinten und fiel auf die Knie. Hatte er Angst vor der Seele des Nagels, oder hatte dieser Nagel ihn durch eine unsichtbare Bösartigkeit zu Fall gebracht? Sie steckte ihn rasch in ihren Beutel. Mit einiger Anstrengung rappelte er sich auf, trat dann schnell an den Rand des Webstuhls und klammerte sich an einen der Schutzsteine, die Schultern gebeugt, als würde ein übermächtiges Gewicht auf ihnen lasten. Sie raffte die Kleidungsstücke zusammen und versteckte sie in dem flachen Grab neben dem Bronzeschwert und der Rüstung, die sie dem Verfluchten abgenommen hatte. Schließlich kehrte sie zu ihm zurück. »Komm.« Er und seine Hunde folgten ihr gehorsam. Hin und wieder sprach er mit sanfter Stimme zu den Hunden. Er blieb neben der Hütte stehen, um den Unterschlupf aus jungen Bäumen und Blättern zu begutachten, die Fellwände, die Pflöcke und Lederriemen, die alles an Ort und Stelle hielten. »Hier schlafe ich«, sagte sie. Sein Lächeln hatte etwas so Entwaffnendes, dass sie wegschauen musste. Hatte die Geheiligte mitten in ihr Herz gesehen? Spontan neigte sie sich zu ihm und berührte mit ihrer Wange seine. Er roch leicht nach Blut, aber mehr noch nach erblühenden Rosen. Sein spärlicher Bart war so weich wie Blütenblätter. Verwirrt zuckte er zurück. Seine Wangen leuchteten rot, und sie war so überwältigt von ihrem eigenen Ungestüm, von der Geschwindigkeit, mit der sie sich von ihm angezogen fühlte, dass sie eiligst den nächstgelegenen Erdwall erklomm, um einen Blick auf das Dorf und die Felder zu werfen, auf den Fluss und den Wald und den Urwald dahinter, der die Heimat von Ungeheuern, Geistern, Wölfen und jeder Art von wilden Tieren war. Die Hunde bellten. Sie blickte sich um und sah, wie sie nach Alains Fersen schnappten, ihn hinter ihr her trieben. Er gab ihnen hin und wieder einen leichten Klaps auf die Schnauze, ohne jede Furcht vor ihren riesigen Kiefern, aber dennoch folgte er ihr, blieb lediglich nach der Hälfte des Weges stehen, um die Neigung des Walls zu begutachten, die Erde zu mustern, die Beschaffenheit des Hügels und die Erdarbeiten, die ihn umringten. Dann blieb er neben ihr stehen und betrachtete das Dorf unter ihnen, das von einer niedrigen Palisade umgeben war. Sie sahen Menschen auf den Feldern arbeiten, den träge dahinfließenden Fluss und eine nur undeutlich zu erkennende Gruppe am Waldrand - das musste entweder Urta mit ihren Ziegen sein oder Deyilo, der die Schafe seiner Familie hütete. Er sprach ein paar hastige Worte, aber sie begriff nicht, was er meinte, abgesehen von seiner Aufregung, als er auf das Dorf deutete und hinuntermarschierte, vor Eile halb rutschend. Sie sah ihm zuerst nur zu, betrachtete die Art, wie er sich bewegte, wie er sich - sicher und anmutig hielt. Er war nicht so stämmig wie Beor, der ganz Kraft war und nicht die geringste Anmut besaß, und er hatte auch nicht die zurückhaltenden Bewegungen von Dorren, der aufgrund des Mangels all dessen, was für die Arbeit eines Erwachsenen unabdingbar war, bescheiden geworden war. Er war jung, und er war ganz, und sie wollte ihn, weil er keine Angst vor ihr hatte, weil er gut gebaut war, weil sie einsam war und weil da noch etwas anderes um ihn war, dieser Duft nach Rosen, den sie sich nicht erklären konnte. Hastig folgte sie ihm, und er war höflich genug, auf sie zu warten, aber vielleicht hatte er auch anhand der Regalien gesehen, dass sie die Geweihte dieses Stammes war und man ihr daher Respekt zu zollen hatte. Nie würde eine erwachsene Person die Geweihte eines Stammes achtlos beleidigen. Alle kamen herbeigelaufen, um zu schauen. Er starrte sie nicht 68 weniger erstaunt an, ihre Gesichter, ihre Kleider, er hörte ihre Fragen, die wie Wasser von ihm abperlten. Erwachsene verließen ihre Felder, um herbeizukommen und zuzusehen. Kinder krabbelten herum, so verwundert, dass sie in ihrer Eile sogar Adica anstießen, um einen Blick auf diesen Mann werfen zu können. Und nachdem sie anfangs noch sehr vorsichtig gewesen waren, näherten sie sich auch den riesigen Hunden. Erstaunlicherweise ließen sich die Tiere wie geduldige Ochsen nieder, einen Ausdruck verletzter Würde in ihren Augen. In dieses Chaos hinein rannte ein nacktes Mädchen Getsi, eine der Enkelinnen von Orla. »Geweihte! Du musst sofort kommen. Mutter Orla braucht dich im Geburtshaus!« Kalte Furcht ergriff Adicas Herz. Es gab nur eine Frau in diesem Dorf, die kurz vor dem Geburtstermin stand: Weiwara, ihre gleichaltrige Freundin. Sie fand ihren Cousin Urtan in der Menge. »Dieser Mann ist ein Freund unseres Stammes. Behandelt ihn mit der Gastfreundschaft, die wir einem jeden Fremden schulden.« »Natürlich, Geweihte.«
Sie lief mit Getsi weg. Die Streifen ihres Kleides schlugen gegen ihren Körper, hüpften auf und nieder, und die Bronzemanschetten an den Enden klirrten wie Glockenklänge, die Durcheinander tönten, um zu den Waffen zu rufen. Während sie rannte, betete sie zwischen keuchenden Atemstößen zu der Fetten: »Lass sie nicht sterben, Fette. Lass es nicht meine Verdammnis sein, auf diese Weise die Verdammnis in das Dorf zu tragen.« Das Geburtshaus lag außerhalb des Dorfes, stromaufwärts auf einer Erhöhung neben dem Fluss. Ein Zaun umgab es, um weidende Schafe, halsstarrige Ziegen und Kinder fern zu halten. Die Männer wussten, dass sie die Grenze, die den Zaun bildete, nicht überschreiten durften. Eine Gabe aus ungespaltenem Holz lag vor dem Tor. Adica warf einen Blick zurück zum Dorf und sah Weiwaras Ehemann kommen, zusammen mit anderen. Sie schloss das Tor hinter sich und stampfte vor der Tür des 69 Hauses dreimal mit jedem Fuß auf. Dann rüttelte sie an dem Riegel und trat über die Schwelle - sie machte einen großen Schritt über das Holz, als wollte sie unter allen Umständen vermeiden, es mit ihrem Fuß zu berühren. Nur die Tür und der Rauchabzug ließen etwas Licht herein. Weiwara saß auf dem Geburtsstuhl und war tief in die Geburtstrance versunken, die Augen halb geschlossen, während sie keuchte und stöhnte, der Hysterie nahe, obwohl Mutter Orla sie mit ihrem Gesang zu beruhigen versuchte. Weiwara hatte ihr erstes Kind drei Sommer zuvor geboren, und wie alle wussten, waren die zwei ersten Geburten die gefährlichsten. Wenn eine Frau die überstanden hatte, war es wahrscheinlich, dass die Götter ihr und ihrer Kraft ihren Segen gegeben hatten. Adica kniete sich neben die Reinigungsschüssel, die gleich hinter der Türschwelle stand, und wusch ihre Hände und ihr Gesicht mit dem Wasser, das nach Lavendelöl duftete. Sie stand wieder auf und vollführte einen Kreis, indem sie zu jeder Ecke des Geburtshauses ging. Sie sprach jedes Mal einen Segen und strich mit einem reinigenden Wacholderzweig über die Ecke, während Weiwara weiter keuchte, um sich stieß und Mutter Orla mit ihrer trockenen Stimme noch immer sang. Orlas älteste Tochter Agda hatte ihre Hände mit Fett eingeschmiert, das ebenfalls nach Lavendel duftete, um böse Geister abzuhalten. Agda winkte Adica mit dem angemessenen Respekt zu, und Adica kroch auf Knien neben die andere Frau. Getsi begann mit den Eintrittsritualen, sodass auch sie beobachten und als Hebamme wirken konnte, sobald ihre Altersgenossinnen Frauen wurden. Agda sprach mit leiser Stimme. Eine dünne Schicht aus Blut und Schaum verband sich mit dem Fett auf ihren Händen. »Ich danke dir, dass du gekommen bist, Geweihte.« Sie blickte Adica nicht direkt an, aber sie warf Weiwara einen Blick zu, um sicherzugehen, dass die Frau sie nicht hören konnte. »Als ich sie vor zwei Tagen untersucht habe, konnte ich den Kopf des Kindes unten auf ihrer Hüfte spüren. Aber als ich eben den Geburtskanal untersucht habe, musste ich feststellen, dass die Füße heruntergekommen sind. Sie ist früh dran. Und die Glieder des Kindes fühlen sich für mich nicht richtig an.« Sie neigte den Kopf, betrachtete ihre Hände und wagte es, Adica anzublicken. Das Licht, das durch den Rauchabzug fiel, verwandelte ihre Miene in eine Maske. »Ich glaube, das Kind ist bereits tot.« Agda spuckte sofort aus, damit die Worte nicht in ihrem Mund blieben. »Ich hoffe, du kannst seinen Geist binden, damit Weiwara nicht zusammen mit ihm auf die Andere Seite gezogen wird.« Weiwara mühte sich weiter ab; die ungebundenen Haare hingen ihr wie ein Umhang über die Schultern. Sie stöhnte. Orlas Gesang wurde lauter. »Es ist so weit«, keuchte Weiwara. Agda nahm wieder ihre richtige Position ein, zwischen Weiwaras Knien, und gab ihrer Mutter ein Zeichen; Orla packte daraufhin Weiwara bei den Schultern und veränderte den Rhythmus ihres Gesangs, sodass die Frau keuchen und pressen konnte, und wieder keuchen. Agda tastete vorsichtig den Geburtskanal ab, während Getsi hinter ihr alles beobachtete; sie stand wie ein Storch auf einem Bein, das Geburtstuch über der rechten Schulter. Adica erhob sich und trat zur Schwelle zurück, vorsichtig bemüht, der gebärenden Frau nicht den Rücken zu kehren. Ein Weidenkorb, um den Zaubersprüche gewirkt waren, hing vom Dachsparren. Weil das Geburtshaus selbst ein Durchgang von dieser Welt zu den anderen war, musste es stets mit Zaubersprüchen und Ritualen geschützt werden. Jetzt nahm Adica den Korb vom Haken; sie fand darin alles, was sie benötigte. Von draußen hörte sie den rhythmischen Klang von Axthieben, als Weiwaras Ehemann die Magie wirkte, die ihm als Mann möglich war; er spaltete Holz in der Hoffnung, das Kind so in einem sauberen Schnitt von der Mutter trennen zu können. Weiwara begann wie wahnsinnig zu stöhnen, und Agda sprach jetzt sehr ernst mit ihr. »Du musst den Atem anhalten und pressen, und dann wieder atmen. Richte dich nach Orla.« Adica fand einen winzigen Topf mit Ocker, und mit einem Pinsei aus Schweineborsten malte sie Spiralen auf ihre Handflächen. Sie schlüpfte neben Agda. »Gib mir deine Hände.« Agda zögerte, aber Orla nickte. Von Weiwaras Augen war jetzt fast nur noch das Weiße zu sehen, und sie wimmerte leise zwischen angehaltenen Atemzügen. Adica bestrich Agdas Handflächen schnell mit dem Zeichen
für die Mondhörner der Fetten, die Geburt symbolisierten, und mit dem Bogen der Königin des Wilds, die alle Dinge losließ. Sie malte auf ihrer eigenen Stirn den Stock der Alten Vettel, um den Tod auf sich zu ziehen, weg von jenen, die zum Leben vorgesehen waren. Mit einem Ebereschen-Zweig führte sie an allen vier Ecken des Hauses Zeichen der Macht aus. Sie hielt an der Schwelle an, zupfte eine Ecke der Felltür zur Seite, um nach draußen zu spähen. Weiwaras Mann hackte auf der anderen Seite vom Tor noch immer Holz; seine breiten Schultern glänzten in der Sonne. Schweiß rann ihm den Rücken hinab, während er arbeitete, die Arme geschmeidig, den Bauch angespannt. Ein Stück hinter ihm stand Alain; er blickte verdutzt drein. Als sie ihn so sah, sauber und blass und schlank, ganz anders als die Männer ihres Dorfes mit ihren breiteren Gesichtern, den stämmigen Schultern und der von der Sommerarbeit braungebrannten Haut, schreckte Adica abrupt aus ihrer Trance. Ihr Cousin Urtan hatte Alain eine Hand auf den Ellenbogen gelegt, als wolle er ihn zurückhalten, doch Alain setzte sich genau in dem Augenblick in Bewegung, als seine zwei schwarzen Hunde ihn mit den Schnauzen anstießen; allein durch die Kraft ihres Gewichts schoben sie Urtan beiseite. Sie waren so groß, dass sie es gar nicht nötig hatten, zu knurren oder die Zähne zu blecken. »Ahh!«, schrie Weiwara so laut, dass ihr Mann mit dem Holzhacken innehielt und die Männer einen Blick auf das verbotene Haus warfen, um dann rasch wieder wegzusehen. Adica trat entsetzt zurück, als Alain das Tor passierte. Als sie das Fell wieder losließ, damit es die Tür bedeckte, erklang ein Aufschrei aus der Menge, die jenseits des Tores wartete. »Es ist geboren!«, sagte "Orla. »Da ist aber noch eins!«, schrie Weiwara, deren unter Schluchzen hervorgestoßene Worte mehr Furcht als Erleichterung verrieten. »Fette, bewahre uns!«, sagte Agda. »Hier kommt noch eins! Geweihte! Ich bitte dich, nimm das hier. Es ist kein Leben in ihm.« Adica nahm das Baby in ihre Arme und drückte seine kalten Lippen an ihre eigenen. Es rührte sich keine Seele darin. Das Baby hatte keinen Puls. Kein Herz führte Leben durch seinen Körper. Doch sie hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, was sie als Nächstes zu tun hatte - dass sie den Geist des toten Kindes finden und ihm den Pfad zeigen musste, der zur Anderen Seite führte -, denn in diesem Augenblick drängte ein glänzender Kopf zwischen Weiwaras Beinen nach draußen. Der Anblick verblüffte sie so sehr, dass sie einen Satz zurück machte und mit Alain zusammenstieß, der gerade das Geburtshaus betreten hatte. Er stützte sie, indem er ihr eine Hand gegen den Rücken hielt. Nur Getsi sah ihn in diesem Augenblick. Das Mädchen starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, zu schockiert, um sprechen zu können. Welchen Ruin hatte Adica über das Dorf gebracht, als sie ihn herbrachte? Das Baby in ihren Armen war blau wie Kornblumen, kränklich und irgendwie nicht richtig. Tot und verloren. Der Zwilling schlüpfte so rasch durch den Geburtskanal, wie ein Fisch durch nasse Hände glitt. Agda fing das Kind auf, und es begann sogleich aus kräftigen Lungen zu krähen. Weiwara begann, vor Erschöpfung zu weinen. Orla nahm ihre Hände von Weiwaras Schultern und bemerkte in diesem Augenblick die Gestalt, die hinter Adica stand. Sie zischte. »Was ist das für eine Kreatur, die uns da verfolgt?« Weiwara schrie und zitterte, als hätte ein Krampf sie erfasst. Agda hockte sich auf die Fersen und stieß einen lauten Schrei aus, der das Jaulen des Babys übertönte. »Welchen Fluch hat er über uns gebracht?« Alain achtete nicht auf ihre Worte, sondern nahm Adica sanft das Baby aus den Armen und hob es hoch, um mit seinem Ohr dessen Brust zu berühren. Er lauschte intensiv, dann sagte er etwas mit leiser Stimme, aber sie wusste nicht, ob er mit dem toten Kind oder mit sich selbst sprach. Die Frauen sahen entsetzt zu, und der lebende Zwilling schrie, als wollte er protestieren, als Alain sich auf den Boden des Geburtshauses hockte und die Glieder des toten Babys mit den Händen rieb. »Was ist das für eine Kreatur?«, fragte Orla wieder. Adica versuchte zu antworten, doch ihre Stimme versagte; ihr war übel vor Furcht. Selbstsüchtig hatte sie sich in den letzten Tagen einen Gefährten gewünscht, und jetzt, da sie ihn hatte, brachte er Unheil über das Dorf. »Seht nur!«, flüsterte Weiwara. Das tote Baby rührte sich und quäkte. Farbe überzog seinen winzigen Körper. Das Blau verwandelte sich in Rosa, als das Leben in das Kind zurückkehrte. Alain betrachtete das Neugeborene mit nachdenklich gerunzelter Stirn, bevor er das kleine Mädchen hochhob, um es Weiwara in die Arme zu legen. Weiwara hatte den verblüfften Ausdruck eines zur Schlachtbank geführten Schafes im Gesicht. Lebende Zwillinge waren ein mächtiges Zeichen, das auf die Gunst der Fetten hindeutete. »Oh«, stöhnte sie, als der letzte Schmerz sie traf. Ohne groß nachzudenken, gab sie Alain das Kind zurück, bevor sie wieder den Stuhl umklammerte. Getsi wickelte das andere Neugeborene geschickt in Geburtstücher. Als die Nachgeburt herausgeglitten war und Agda ein Stück davon abgeschnitten hatte, damit Weiwara es hinunterschlucken konnte, drehten sich die Frauen um und blickten Alain an. Er wartete schweigend. Adica machte sich bereit. Doch die gefürchtete Sturzflut von Tadeln unterblieb; Orla schwieg. Agda saß still da. Die Nachgeburt lag in all
ihrem strahlenden Glanz auf der Geburtsplatte zu ihren Füßen und wartete darauf, gekocht zu werden. Niemand schalt ihn. Niemand machte die rituellen Zeichen, um sich gegen das Gift zu schützen, dass er mit sich hereingetragen hatte - er, der an einen Platz gegangen war, der Männern verboten war. Doch obwohl es falsch war, ihn hier bleiben zu lassen, hatte Adica nicht die Kraft oder das Herz, ihn hinauszuschicken. Er hatte Licht mit hereingebracht, und wenn auch nur dadurch, dass er die Fellklappe angehoben hatte, die über der Schwelle hing. Die Fellklappe hatte sich an dem Korbhaken verhakt, der etwa in der Mitte des Rahmens angebracht war, und hing schief. Der rosafarbene Fleck auf seiner Wange wirkte jetzt besonders lebhaft, als strahle er geradezu. »Was für eine Kreatur ist das?«, fragte Mutter Orla noch einmal. »Das Kind ist tot gewesen«, sagte Agda. »Ich weiß, wie sich ein totes Wesen anfühlt.« Auch sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden, als wäre er eine Giftschlange - oder ein Wesen von großer Macht. »Was für eine Kreatur ist er, dass er aus dem Tod Leben erschaffen kann?« Kaum waren die Worte ausgesprochen, bot sich die Erklärung von alleine an. »Er ist ein Mann«, erklärte Adica, die ihn musterte, als er sie ansah. Er schien verwirrt und ein bisschen beschämt, hatte sich halb von Weiwara abgewandt, die von Getsi jetzt mit Wasser und einem Schwamm aus gebundenen Binsen gewaschen wurde. »Er war auf dem Weg zum Land der Toten, als die Geheiligte ihn mir als meinen Gefährten gebracht hat.« Weiwara war noch immer zu benommen von der Geburt, um antworten zu können, vielleicht hatte sie es nicht einmal gehört, aber Agda und Orla nickten lediglich und zupften an ihren Ohren, um sicher zu sein, dass keine bösen Geister im Gefolge einer solch herausfordenden Aussage hineingekommen waren. »So sei es«, sagte Orla. »Wenn die Geheiligte ihn dir gebracht hat, dann wird sie keine Angst davor haben, dass er etwas Schlechtes über dieses Dorf bringt.« »Wenn er wirklich auf dem Weg zum Land der Toten war«, meinte Agda, »ist er vielleicht der Seele dieses Kindes begegnet, während sie verloren den Pfad entlangwanderte, und hat sie zu uns zurückgebracht.« Orla nickte zustimmend. »Es erfordert mächtige Magie, jemanden von dem Pfad zurückzuholen, der zur Anderen Seite führt. Vielleicht hat er die Andere Seite gesehen. Hat er etwas davon gesagt?« »Er kann in keiner Sprache sprechen, die ich kenne, Mutter Orla«, gestand Adica. »Nein, natürlich nicht«, pflichtete Agda ihr bei. »Niemand, der einen Blick auf die Andere Seite geworfen hat, kann noch in der Sprache der Lebenden sprechen. Alle wissen das! Wird er dein Ehemann werden, Adica?« Sie zögerte, bevor sie fortfuhr. »Wird er dir dorthin folgen, wohin dich dein Schicksal führt?« »Das hat die Geheiligte mir versprochen.« »Vielleicht sollte jemand, der wandelnde Geister sehen und einfangen kann - so wie bei diesem Kind hier -, vielleicht sollte so jemand in diesen unruhigen Zeiten bei uns im Dorf bleiben«, überlegte Orla. »Er wird die bösen Geister kommen sehen und kann sie verjagen. Dann können sie uns nichts mehr tun.« »Was meinst du damit, Mutter?« Agda blickte misstrauisch zu Alain hinüber. »Ich werde mit den Ältesten sprechen.« »Ich würde ihn jetzt gern nach draußen bringen«, sagte Adica rasch. »Dann werde ich dieses Geburtshaus reinigen, damit Weiwara hier wohnen kann, bis ihre Mondruhe vorüber ist.« Das Bett der neuen Mutter stand vorbereitet an der einen Wand: eine Holzpritsche mit Binsen, einer Schafshaut und der speziellen Wolldecke, an die Büschel von Wacholder gebunden worden waren, die einer neuen Mutter Erleichterung und Schutz gewährten. Vorsichtig berührte Adica Alain am Ellenbogen. Sein Blick, immer noch auf das Neugeborene in Weiwaras Armen gerichtet, fuhr zu ihr herüber. »Komm.«Sie deutete zur Tür. 76 Gehorsam folgte er ihr. Es schien, dass in der kurzen Zeitspanne das gesamte Dorf von dem männlichen Erwachsenen gehört hatte, der in das Geburtshaus gegangen war. Jetzt kauerten alle Dorfbewohner um den Zaun, in Erwartung dessen, was geschehen würde. Beor kämpfte sich bis nach vorn durch. Er nahm Weiwaras Mann die Axt aus der Hand und betastete drohend den Axtkopf, als er Alain aus dem Haus treten sah. Ähnlich den Bullen und Böcken erkannten Männer einen Rivalen auf eine Weise, wie Frauen es niemals verstehen konnten. »Ich werde mich um diesen Eindringling kümmern«, sagte Beor ruppig, als Adica sich dem Tor näherte. »Er steht unter meinem Schutz.« Die Hunde drängten durch die Menge hindurch auf ihren Herrn zu. Ihre Größe und ihr Furcht erregendes Aussehen brachten die Dorfbewohner rasch dazu, beiseite zu treten. »Und unter dem Schutz der spirituellen Führer, wie es scheint.« Einer der großen Hunde, das männliche Tier, stieß mit der Schnauze an Beors Oberschenkel und knurrte leise; es war eine Drohung, aber kein Angriff. Alain sprach energisch mit dem Hund, der sich daraufhin niederließ, und wartete dann. Er musterte Beors breite Schultern und betrachtete das Heft der Axt. Im Sonnenlicht war das rosafarbene Mal, das auf dem Hügel und im Geburtshaus so sehr geleuchtet hatte, nichts weiter als ein einfacher, gewöhnlicher roter Fleck. Urtan eilte herbei und sprach in gedämpftem Ton mit Beor, drängte ihn dazu, beiseite zu treten. Beor zögerte.
Adica konnte den Kampf sehen, der in seinem Innern tobte: Eifersucht, Wut, Stolz und Selbstgefälligkeit kämpften mit der grundlegenden Würde, die dem Weißhirsch-Volk zu eigen war - in dem Wissen, dass man Kompromisse schließen musste, wenn man zusammenleben wollte. »Es ist unnötig, Ärger zu verursachen«, sagte Urtan mit lauter Stimme. »Ich bin nicht derjenige, der Ärger verursacht«, sagte Beor mit einem bitteren Blick auf Adica. »Wer ist dieser Fremde, der wie ein Verfluchter gekleidet ist? Er hat doch bereits Ärger über dieses Dorf gebracht!« »Geh in dein Haus, Beor!« Mutter Orla trat aus dem Geburtshaus. »An einem Tag, an dem die Fette dem Dorf lebende Zwillinge beschert hat, wird es keinen Kampf geben.« Nicht einmal Beor war dumm genug, gegen Mutter Orlas Befehl zu verstoßen - oder Blut an einem Tag zu vergießen, an dem die Fette ihnen ihre Gunst erwiesen hatte. Also nahm er seine Axt, mit der er am liebsten Alains Kopf gespalten hätte, und ging mit seinem Bruder und seinen Cousins davon, während die Dorfbewohner untereinander tuschelten und den fremden Mann anstarrten, der in ihre Mitte getreten war. Alain schwang ein Bein über den Zaun und verließ den verbotenen Boden so gemächlich, dass nur zu offensichtlich war, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass es einen Unterschied zwischen den beiden Seiten des Zauns gab. Er spürte es einfach nicht, im Gegensatz zu Adica, die es tief in ihren Knochen fühlen konnte, ob eine Handbreit Boden gottberührt, geweiht, verboten oder lediglich gewöhnlich und einfach war - ein Platz, an dem das Leben blühte und der Tod sich nährte. Die Menge trat nervös zur Seite, um eine Gasse für ihn zu bilden. »Du musst hier warten, Geweihte«, sagte Mutter Orla, als sie das Dorftor erreicht hatten. »Ich bitte dich darum, betritt das Dorf nicht, so lange die Ältesten nicht entschieden haben.« Sie rief die Ältesten zu einer Sitzung im Ratshaus zusammen, und schon bald sah Adica, wie sich der Versammlungsstab, in den die Gesichter der Ahnen geschnitzt waren, ein Stück durch das Dach emporschob - das Zeichen, das drinnen eine Beratung stattfand. Als Adeptin derjenigen, die vor ihr die Geweihte und Lehrerin gewesen war, hatte Adica gelernt, stillzusitzen, aber sie war überrascht, wie geduldig Alain neben ihr saß. Seine Hunde lagen mit heraushängenden Zungen neben ihm auf dem Boden; sie waren still, aber wachsam, während er das Dorf musterte. Die Erwachsenen verstreuten sich und widmeten sich wieder ihren Arbeiten, die Kinder blieben jedoch und starrten ihn an - wobei die älteren darauf achteten, dass die kleineren, unvorsichtigeren ihm nicht zu nahe kamen. Es dauerte nicht wirklich lange. Schließlich wackelte der Versammlungsstab und wurde durch das Rauchloch wieder nach unten gezogen. Mutter Orla trat heraus, ehrfürchtig gefolgt von den anderen Ältesten. Die Dorfbewohner eilten zu den Toren, um zu hören, was sie zu verkünden hatte, bis auf Beor, der mit seinem Jagdspeer in den Wald gegangen war. Die Hunde stellten die Ohren auf. »Die Ältesten haben entschieden«, verkündete Mutter Orla. »Wenn Adica diesen Mann an sich bindet und ihn bei sich leben lassen will, kann sie wieder im Dorf wohnen, bis eingetreten ist, was kommen wird.« »So sei es«, murmelte Adica, und ihr Herz sang vor Freude. Die Dorfbewohner sprachen die rituellen Worte ihrer Einwilligung, und damit war es vorüber, besiegelt und akzeptiert. Die Geheiligte hatte ihr Versprechen erfüllt. Adica hatte ihre eigenen Pflichten, um die sie sich kümmern musste. Sie musste ihr altes Haus reinigen, das jetzt seit zwei Mondumläufen leer gestanden hatte, und sie musste auch das Geburtshaus reinigen, da ein Mann seinen Fuß hineingesetzt hatte. Frauen, die lebende Kinder geboren hatten, gingen ein und aus, während sie ihre Arbeit verrichtete. Sie brachten Weiwara Geschenke, etwas zu essen und zu trinken, was sie jetzt jeden Tag tun würden, bis ein ganzer Mondzyklus mit Auf- und Untergang vergangen war. Dann konnte die neue Mutter ihr gewohntes Leben wieder aufnehmen. Sobald Adica mit dem Reinigungsritual fertig war, stand es ihr frei, Alain zu beobachten. Sie achtete allerdings sorgfältig darauf, einen gewissen Abstand einzuhalten und es sich nicht anmerken zu lassen. Sie ging davon aus, dass Alain am Tor zum Dorf auf sie wartete, schüchtern und zurückhaltend, wie Fremde sich gewöhnlich verhielten, wenn sie zum ersten Mal an einen neuen Ort kamen. Alain ließ sich jedoch von ein paar Kindern zuerst vom Brunnen zur Palisade schleppen, und von dem frisch ausgehobenen äußeren Graben zum Grubenhaus, wo die Dorfbewohner Korn lagerten. Er hockte sich neben die Erwachsenen, die mit der Herstellung von Töpfen beschäftigt waren, während Mädchen Körbe flochten, und untersuchte einen Kupferdolch, der erst kürzlich von Altfeste eingetauscht worden war, wo ein Beschwörer lebte, der die Magie der Metallarbeit kannte. Er lockte einen humpelnden Hund zu sich heran, sodass er ihm einen Dorn aus der Pfote ziehen konnte, und er schalt ein Kind, weil es einen Stein nach dem Tier geworfen hatte, obwohl er sicherlich wusste, dass das Kind kein Wort von dem verstand, was er sagte. Er betastete die Webstuhlgewichte, die draußen vor dem Haus von Mutter Orla und ihren Töchtern gestapelt worden waren, und wühlte in dem Schutt herum, der neben der Terrasse vom Steinarbeiter Pur lag. Er verbrachte eine beachtliche Zeit damit, die beiden Ards, die hölzernen Pflüge des Dorfes, zu untersuchen. Adica erinnerte sich an das große Staunen, mit dem ihr Großvater darüber gesprochen hatte, wie er als junger Mann geholfen hatte, zum ersten Mal die Felder mit diesen wundervollen Werkzeugen zu pflügen; seine gesamte Kindheit hindurch hatten die Dorfbewohner die Furchen noch mit geschärften Geweihen gezogen.
Alains Neugier ließ niemals nach. Es war beinahe so, als hätte er solche Dinge nie zuvor gesehen. Vielleicht war er in einem Stamm von Wilden aufgewachsen, deren Unterkünfte aus Fellhäuten bestanden und die angespitzte Stöcke als Waffen benutzten. Aber wieso trug er dann solch kunstfertige Kleidung? Sie beobachtete ihn, aber sie fürchtete sich davor, zu viel Interesse an ihm zu offenbaren. Sie fürchtete, dass sie ihm Angst einflößen und ihn verjagen könnte, wenn er bemerkte, dass sie ihm folgte. Sie fürchtete die Macht ihrer eigenen Gefühle, die so plötzlich und so stark über sie gekommen waren. Er war ein Fremder, 80 und doch hatte sie auf eine Weise, die sie nicht erklären konnte, das Gefühl, als hätte sie ihn schon immer gekannt. Er war ein See der Ruhe in der raschen Strömung, die das Leben im Dorf darstellte. Er stand abseits, und doch hatte seine Anwesenheit die Festigkeit jener Dinge, die wach und bewusst in der Welt lagen, die in das hineinragten, was heilig und was gewöhnlich war, die sich auf die gleiche Weise verbanden, wie ein Fluss sich aus vielen Bächen zusammensetzt. So ging es den ganzen Nachmittag; Alain erkundete das Dorf, gefolgt von einer Meute neugieriger Kinder, die er niemals anfuhr, obwohl sie ihn oft belästigten. Und so ging es auch den ganzen Abend; Leute stellten Speisen vor ihre Tür, als wollten sie sich dafür entschuldigen, dass sie sie all die Monate zuvor nicht beachtet hatten, und als wollten sie damit sie und ihren Gefährten willkommen heißen. Sie blickten ihr immer noch nicht in die Augen, aber die Kinder setzten sich neben Alain, und er zeigte ihnen, wie man auf der Erde ein Spiel aus gezogenen Linien und verrückbaren Steinen spielte - ein schlaues Hin und Her zwischen Ergreifen von Gebieten und Rückzug. Urtan machte eine aufwändige Schau daraus, sich direkt neben ihn zu setzen, als wären sie seit langer Zeit Kameraden, wie zwei, die zusammen den Ard bedienten oder einen Nachmittag damit verbrachten, träge ein paar Kindern beim Spielen in den Untiefen des Flusses zuzusehen. Beor war immer noch nicht von seinem einsamen Jagdausflug zurückgekehrt, aber die anderen Männer waren neugierig genug, und auch respektvoll genug gegenüber Urtans Position, dass sie ebenfalls näher kamen und dem Spiel aus Linien und Steinen zusahen. Alain hieß ihre Anwesenheit willkommen. Er schien mit allen gut auszukommen. Bis es Nacht wurde und sie ihn ins Haus drängte und ihm beizubringen versuchte, dass er mit ihr auf dem Bett schlafen konnte. Er blickte sofort sehr aufgeregt drein und sprach Worte, die eher leidenschaftlich als vernünftig klangen. Sie hatte ihn beleidigt. Errötet und grimmig schuf er sich ein Bett aus Stroh gleich 81 vor der Türschwelle, und da lag er dann, zu beiden Seiten ein Hund, als wären sie seine Wächter. Und während sie unruhig in ihrem Bett lag, nicht schlafen konnte und immer wieder nach ihm schaute, schien er in einen tiefen, friedlichen Schlaf gesunken zu sein. Eine Eule schrie, glitt durch die Nacht. Einer der Hunde jaulte im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. Ein Kind schrie, beruhigte sich dann. Das Dorf schlief. Weit weg in ihren Städten schmiedeten derweil die Verfluchten ihre Intrigen, aber in diesem Augenblick schienen ihre Feindseligkeiten ziemlich unwichtig, verglichen mit dem leisen Atem des Mannes, der da vor ihrer Tür lag. Bei Anbruch der Morgendämmerung kam Urtan, um Alain mit zum Wehr zu nehmen, zu dem er mit seinen jungen Cousins Kel und Tosti aufbrechen wollte. Alain ging mit, und sie lachten die ganze Zeit freundlich über seine Versuche, die neuen Worte zu lernen. Die Hunde trotteten hinter ihm her. Es war erstaunlich, wie gutmütig er zu sein schien. Sie wollte sehen, wie er sich am Wehr machte, aber sie musste sich um ihre eigenen Aufgaben kümmern. Sie ging zu dem Geburtshaus, um die Schutzzauber dort zu erneuern, und fand Weiwara gerade dabei, wie sie das eine Kind stillte, während sie das andere, das in einer gewebten Wiege lag, mit Hilfe ihres Fußes hin und her schaukelte. Die Mutter musterte das schlafende Kind mit einem Blick, in dem vor allem Überraschung lag, als hätte sie eine Tür geöffnet und würde sich einem zahmen Bären gegenüber sehen. »Stimmt es, dass dieser Fremde die Erstgeborene wieder zum Leben erweckt hat?« »So hat es ausgesehen.« Adica hockte sich neben das schlafende Kind, aber sie war vorsichtig genug, es nicht zu berühren. »Ich habe dieses Baby in meinen Armen gehalten. Wie Agda habe ich gelauscht, aber ich habe keinen Geist darin ausmachen können. Er hat den Geist zurückgerufen.« »Glaubst du, er ist ein Beschwörer?« »Nein, das glaube ich nicht.« Die Wiege quietschte, als sie sie 82 hin und her schaukelte. Ein Tropfen klarer Flüssigkeit bildete sich auf einer Brustwarze und blieb dort einen Augenblick hängen, eher er Weiwaras Haut hinablief. »Ich habe gehört, dass er dein neuer Ehemann ist«, fügte Weiwara hinzu. »Ist er hübsch? Ich habe ihn gar nicht richtig gesehen.« »Nein«, entgegnete Adica rasch. »Er ist nicht wirklich hübsch. Er sieht nicht aus wie ein Hirsch-Mann.« »Aber.« Weiwara lachte. »Ich höre ein >AberKind< bezeichnet haben, musst du sie selbst fragen.« Die Sterne leuchteten so lebhaft, dass sie zu pulsieren schienen. Seltsamerweise konnte sie nicht eine vertraute Konstellation finden. Es war, als wäre sie in eine andere Existenz versetzt worden, doch der Boden unter ihren Füßen roch so, wie guter, weicher Boden gewöhnlich roch, und viele Pflanzen kannte sie noch aus ihrer Kindheit, als sie und Pa in jenen Landen umhergereist waren, deren südliche Grenze das große Mittlere Meer bildete: silberne Kiefer und weiße Eiche, Olive und Johannisbrotbaum, dorniger Wacholder und Rosmarin und Immergrün. Sie seufzte, atmete den Duft von Rosmarin tief ein, der seltsam beruhigend war, wie die wiederholte Erzählung einer Lieblingsgeschichte aus der Kindheit. »Ich würde sie fragen, wenn ich sie erreichen könnte.« »Um sie zu erreichen, musst du lernen, in den Sphären zu wandeln.« Der Pfeil kam ohne Warnung. Er war so hell wie Elfenbein und grub seine Spitze in den Stamm einer Kiefer. Liath griff nach ihrem Köcher und rollte sich von dem Lager, um Deckung hinter einer tief hängenden Eiche zu finden. Der alte Zauberer blieb ruhig auf seinem Platz sitzen und flocht auf seinem Bein noch immer Flachs zu einem Seil. Er war nicht einmal zusammengezuckt. Hinter ihm hörte das Zittern des Pfeilschafts allmählich auf. Er hob sich weiß gegen die trockene Kiefernrinde ab. »Was war das?«, fragte sie, immer noch schwer atmend. In den vier Tagen, seit sie in dieses Land gekommen war, hatte sie keinerlei Hinweis auf andere Leute gesehen; es schien nur sie und ihren Lehrer zu geben. »Es ist ein Ruf. Wenn das Licht kommt, ist das die Aufforderung, zum Rat zu gehen.« »Was wird mit dir geschehen - und mit mir -, wenn dein Volk erfährt, dass ich hier bin?«
»Das werden wir sehen.« Sie schlief unruhig in dieser Nacht, wachte immer wieder auf, um festzustellen, dass er in einem tranceähnlichen Zustand schweigend neben ihr saß, vollkommen reglos, aber mit geöffneten Augen. Manchmal erwachte sie halb verwirrt aus einem Traum, an den sie sich nicht mehr erinnerte, der ihr jedoch Angst einflößte; wenn sie dann die Sterne betrachtete, glaubte sie mitunter, einen Augenblick die vertrauten Formen in den Konstellationen erkennen zu können, die ihr Vater ihr beigebracht hatte. Aber jedes Mal dauerte es nur einen Augenblick, ehe die Sterne ihre Position veränderten und sie auf einen völlig fremden Himmel starrte. Sie konnte nicht einmal den Lichtfluss sehen, der in ihrem eigenen Land die Himmel umspannte. In diesem Fluss schwammen die Seelen der Toten zur Kammer des Lichts, und einige von ihnen warfen einen Blick zurück auf die Erde, auf die geliebten Personen, die sie jetzt zurückgelassen hatten. War Pa für sie verloren? Blickte sein Geist auf die Erde hinunter und wunderte sich, wohin sie gegangen war? Doch war sie so viel anders als er, wenn sie sich jetzt auch fragte, was aus denen geworden war, die sie zurückgelassen hatte? Pa hatte schließlich nicht vorgehabt zu sterben. aber hatte jene, die sie zurückgelassen hatte, aus freien Stücken verlassen. Nachts fragte sie sich häufig, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Manchmal fragte sie sich sogar, ob sie sie wirklich liebte. Wenn sie sie wirklich liebte, hätte es ihr nicht so leicht fallen dürfen, sie zu verlassen. Das Zwielicht währte an diesem Ort nie lange. Der Tag kam schnell, ohne den dazwischen liegenden Trost der Dämmerung zu gewähren. Liath erwachte, als Licht auf ihr Gesicht fiel, und sah, wie die Miene des alten Zauberers sich veränderte; sie wechselte so weich vom Zustand der Trance in den des Wachseins, dass sie es kaum wahrnehmen konnte. Er erhob sich und reckte sich, um die Steifheit aus seinen Gliedern zu vertreiben, während sie sich aufsetzte und nachsah, ob ihr Bogen bereit und die Pfeile zugegen waren. Ihr Schwert lag griffbereit in der Nähe, und sie schlief ohnehin immer mit dem Messer an ihrem Gürtel. »Du musst zum Bach gehen«, sagte er. »Folge dem Blumenpfad bis zum Wach türm. Komm nicht heraus, ehe ich dich rufe, und du solltest auch nicht umhergehen, damit nicht andere auf dich aufmerksam werden. Sei stets vorsichtig und vermeide alles, womit du dich schneiden könntest oder was möglicherweise dazu führt, dass ein Tropfen Blut auf den Boden fällt.« Er machte sich daran, wegzugehen, blieb aber noch einmal stehen und rief ihr über die Schulter zu: »Nutze die Zeit gut! Du hast noch nicht alle Aufgaben gemeistert, die ich dir gestellt habe.« Dass diese Aufgaben über alle Maßen anstrengend waren, gehörte offenbar zu dieser Ausbildung. Sie gürtete ihr Schwert und hängte sich den Köcher über den Rücken. Sie hatte sich daran gewohnt, eine ganze Weile nach dem Aufwachen nichts zu essen; es half, den Hunger zu vertreiben. Sie hängte sich den Wasserkrug über die Schulter, nachdem sie zuvor ein Seil durch den Griff gezogen hatte. Als sie den Pfad entlangschritt, fiel ihr wieder einmal auf, wie ausgedörrt der Boden war. Die Nadeln an den Kiefern waren trocken; etwa ein Viertel von ihnen wurde braun und starb ab. Nur wenig andere Bäume waren robust genug, um hier zu überleben: weiße Eiche, Olive, und immer häufiger: die silberne Kiefer. Wo abgestorbene Bäume umgestürzt waren, wuchsen Johannisbrotsträucher, und in deren Schatten Kreuzdorn, Klematis und stachelige Gräser. Sie sah kein einziges Nagetier. Trotz der Einsamkeit, in der sie hier lebten, hatte sie weder Hirsche noch Rehe gesehen, auch keine Auerochsen, Wölfe oder Bären überhaupt keine großen Tiere, die die Wälder durchstreiften. Nur selten hörte sie Vögel, sah sie eilig zwischen den trockenen Blättern davonfliegen. Das Land starb. »Ich sterbe«, sagte sie in die Stille hinein. Wie sonst hätte sie sich die Ruhe erklären können, das Gefühl der Erleichterung, das sich in ihr ausgebreitet hatte, seit sie im Land der Aoi eingetroffen war? Vielleicht war es nur Betäubung. Es war einfacher, nichts zu fühlen, als sich all den Ereignissen zu stellen, die sie an diesen Ort geführt hatten. Möglicherweise war ihr Herz genauso hart wie das von Anne, die gesagt hatte: Mit diesen Worten hatte Anne den Mord an ihrem Mann gerechtfertigt. Kein gesichtsloser Feind hatte den Geist aus Luft herbeigerufen und ihm befohlen, Bernard zu töten. Seine eigene Frau, die Mutter seines Kindes, hatte es getan. Anne hatte Pa verraten, und sie hatte Liath verraten, indem sie Pa nicht nur ohne einen Hauch von Reue getötet hatte, sondern deutlich gemacht hatte, dass sie von Liath erwartete, in genau der gleichen Weise zu verfahren. 91 Und hatte Liath nicht ihren eigenen Ehemann, ihr eigenes Kind verlassen? Sie hatte den brennenden Stein nicht aus eigenem Willen betreten, aber als sie erst einmal hier gewesen war, im Land der Aoi, hatte sie die Wahl gehabt, hier zu bleiben und bei dem alten Zauberer zu lernen - oder zu Sanglant und Gnade zurückzukehren. Hatte sie nicht ebenfalls ihre Urteilsfähigkeit über ihre Gefühle gestellt? Hatte sie nicht das Wissen der Liebe vorgezogen? War es nicht sogar sehr leicht gewesen, das zu tun? »Ich bin für Sanglant oder irgendwelche anderen Personen nicht von Nutzen, wenn ich nicht meine eigene Macht
beherrsche«, murmelte sie. »Ich kann Pa nicht rächen, so lange ich nicht weiß, was ich bin.« Ihre Worte schwebten mit der lautlosen Luft davon und verschwanden wie Geister in der unheimlichen Stille des ausgedörrten Landes. Selbst die Wut, die sie seit dem Augenblick gegenüber Anne empfand, da sie die Wahrheit über den Tod ihres Vaters herausgefunden hatte, fühlte sich kalt und leblos an, wie eine unförmige Statue aus Ton. Mit einem Seufzer ging sie weiter. Der Bach war einmal ein kleiner Fluss gewesen. Sie bahnte sich ihren Weg über Flusssteine hinweg, die von einer weißen Schicht getrocknetem Schaum umgeben waren, bis sie den schmalen Kanal erreichte, der als letzter Rest von dem Wasserlauf übrig geblieben war. Wasser tropfte über die Steine, strömte von den Hochlanden herunter, die über dem spärlichen Walddach zu sehen waren. Sie kniete nieder, um den Krug mit Wasser zu füllen, und stöpselte ihn dann sorgfältig zu. In diesem Land war Wasser kostbarer als Gold. Sie stemmte das volle Gefäß gegen die Hüfte und sprang von Stein zu Stein über den Bach auf die andere Seite. Algen formten im Wasser zarte Muster, wie grüne Farbe, die von den Steinen abgesplittert war. Gras hatte sich in das alte Flussbett vorgetastet, aber selbst das wurde braun. Sie erklomm das steile Ufer und fand sich vor einer Weggabelung wieder. Der rechte Pfad schnitt durch ein Dickicht aus Kastanien direkt am Ufer, bevor er, jenseits des Kastanienhains, steil anzusteigen begann. Links führte ein bemerkenswerter Pfad durch eine flache Wiese, auf der die erstaunlichsten, schönsten Blumen blühten: Lavendel, gelbe Gartenraute, blutroter Mohn, zarte Levkoje, fette Pfingstrosen, helle Heckenrosen, lebhafte Ringelblumen, ganze Inseln von Schwertlilien, die wie erdgebundene Regenbogen in allen Farben schillerten, alles in einem Meer aus tiefblauen Kornblumen. Der Blumenpfad zog sich vom Fluss hoch wie ein Traum, unangekündigt, unerwartet und unaussprechlich prächtig in einem Land, das ansonsten so sehr in Brauntönen und verblichenen Goldtönen verblasste. Sie wäre am liebsten länger in dieser Oase aus Farben geblieben, und sie tat es auch eine Weile, aber schließlich musste sie doch weiterziehen. Die Wiese hörte abrupt auf, als ein Streifen aus Kiefern über den Hang führte. Die Dürre hatte auch hier ihren Tribut gefordert, und der Wald verwandelte sich schon bald in grasbewachsene Heide. Oben auf dem Hügel stand ein Haufen bearbeiteter Steine, die einst eine Art Aussichtsplatz gebildet hatten. Sie kletterte auf die höchste, noch sichere Stelle, ließ sich an einer Kante nieder und lehnte sich gegen das bisschen, was von der Felswand noch übrig war. Dann blickte sie über das Land. Der Hügel fiel steil ab, als hätte der Wachturm einst über einem Tal gethront, aber tatsächlich war unten nichts als Nebel zu sehen. Nach dem, was der Zauberer gesagt hatte, war dies die äußere Grenze des Landes. Hinter dem Nebel lag nichts. Lange Zeit starrte sie ihn einfach nur an. Am Himmel über ihr ging das unbarmherzige Blau des von Trockenheit gepeinigten Landes in ein seltsames Weiß über, das mehr Leere als Wolke war. Die Stille bedrückte sie. Hier draußen, am Rande der Welt, hörte sie nicht einmal Vögel, nichts außer einer einzigen Grille. Es war, als würde das Land langsam immer leerer, als würden Herz und Seele in die Leere entweichen. Wie ihr eigenes Herz. Sie legte Köcher und Schwert beiseite und schlug die Beine übereinander. Sie klatschte einmal in die Hände - ein Geräusch, das die gewöhnliche Welt von jener trennte, in der Magie hauste. Zumindest hatte der alte Zauberer ihr das so beigebracht. Mit den Mustern, die er ihr gezeigt hatte, beruhigte sie ihren Geist, damit sie jenseits des Durcheinanders alltäglicher Gedanken dem Herzen der Welt lauschen konnte: dem Murmeln der Luft in ihrem Nacken, dem langsamen Verrutschen von Steinen, dem leisen Gurgeln des Wassers und, am meisten von allem, der in der Entstehung begriffenen Regung einer großen Macht, die wie eine aufgehende Blüte durch ihre ureigene Architektur in Schach gehalten wurde. »Die Menschheit hat sich durch ihre Hände verkrüppelt«, hatte der alte Zauberer gesagt. »Sie kam zu der Erkenntnis, dass die Kräfte der Welt sich der richtigen Handhabung ergeben müssten. Aber das Universum existiert auf einer Ebene, die für unsere Augen unsichtbar ist und von unseren Händen nicht berührt werden kann; wir können es nur durch unseren Geist und unser Herz verstehen. Das ist das Wesen der Magie, die keinen Schaden anrichten oder herrschen, sondern nur bewahren und transformieren will.« In jedem Gegenstand verbanden sich die reinen Elemente in verschiedenen Proportionen. Wenn sie ihre Atemzüge beruhigen konnte, wenn sie es schaffte, ihre Konzentration auf einen solch schmalen Punkt zu richten, dass sie zu einem Blick ins Unendliche wurde, konnte sie das Herz eines jeden Gegenstands erleuchten und aus ihm jene Elemente ziehen, die für ihre Zaubersprüche von Nutzen sein mochten. Auf diese Weise hatten die Daemonen, die Liath mit ihren Schwingen eingehüllt hatten, selbst aus Stein Feuer gerufen, ja sogar von den Bergen. Dies war die Magie, die den Aoi bekannt war. Aber sie musste noch einen weiten Weg zurücklegen, um sie zu meistern. Schließlich schritt sie durch die verschiedenen Ebenen ihres Be-
wusstseins und klatschte viermal in die Hände; ein scharfes Geräusch erklang, dass sie schlagartig in die gewöhnliche Welt zurückbrachte. Ein Fuß war eingeschlafen. Sie kratzte sich am Nacken, der von einem herabgefallenen Blatt juckte, und blinzelte ein Staubkorn aus dem Auge. Sie schlang sich den Köcher über den Rücken und kletterte wieder nach unten, jeden Stein vorsichtig ertastend, um jene zu vermeiden, die lose waren und hinunterpoltern könnten. Am Fuß des Turms, in seinem Schatten, trank sie einen kleinen Schluck und gestattete sich schließlich, etwas zu essen: ein paar gedörrte Beeren, ein grobkörniges flaches Brot, das in Olivenöl gebraten worden war, damit man es besser hinunterbrachte, die gesüßten, getrockneten Johannisbrotschoten, die sie jeden Tag sammelte, und die Leckerei des heutigen Tages, eine Paste aus Fischmehl und zerstoßenen Pastinaken, gewürzt mit Zwiebeln und zu Brei gerührten Wacholderbeeren. Jede Mahlzeit hatte hier etwas Verzweifeltes, und sie hatte rasch begriffen, dass der alte Zauberer sich weder von ihr beim Essen zusehen lassen noch ihr jemals zusehen würde. Nachdem sie sich auch den letzten Krümel von den Fingern geleckt hatte, wandte sie sich dem Seil zu. Die Fasern zu einem Seil zu flechten, war die mühsamste Aufgabe, die der alte Zauberer ihr gestellt hatte. Sie hatte schon ein gutes Stück zustande gebracht. Sie maß es an ihrem ausgestreckten Arm: vierzig Ellen. Es musste genügen. Sie band sich das eine Ende um die Taille, befestigte es und nahm ihre Waffen an sich, um dann zum Rand des Nebels zu gehen. Sie band das andere Ende des Seils an den Stamm einer Kiefer, zog daran, um den Knoten zu testen, bevor sie ihren Blick über den Hang schweifen ließ. Nichts rührte sich. Ein Käfer krabbelte vor ihren Füßen durch das trockene Gras; er war irritiert, denn sie bot den einzigen Hinweis auf Bewegung, abgesehen davon, dass die Bäume sich im sanften Wind wiegten. Sie trat vorsichtig in den Nebel. Fünf Schritte später war sie praktisch blind. Sie konnte die Hand vor den Augen nicht erkennen, obwohl von ihren Fingern etwas Blau aufblitzte: der Lapislazuli-Ring, den Alain ihr gegeben hatte und der, wie er versprochen hatte, sie vor dem Bösen beschützen würde. Sie war sich nicht sicher, was sie zu erwarten hatte: den Rand des Abgrunds? Ein Hindernis? Ein totes Land, das in widerlichem Nebel ertrank? Nach weiteren fünf Schritten ging sie auf einem Grat weiter. Hinter ihr trieb die Wand aus Nebel. Gleich vor ihr wuchs ein dichtes Gewirr aus dornenbesetzten Büschen. Als sie zur Seite sprang, um ihnen auszuweichen, streifte sie mit der herabhängenden Hand einen Dorn. Ein roter Tropfen bildete sich auf der Haut. Sie legte ihre Lippen auf die Stelle und saugte daran. Eine Schlange kam zischend aus dem Schutz des Dornenbusches, und sie wich langsam zur Seite, während abergläubische Furcht sich in ihrem Innern ausbreitete. hatte der alte Zauberer gesagt, Es hörte auf zu bluten, und die Schlange glitt wieder tiefer in die Dornen zurück; Liaths Gedanken wanderten weiter. Er wollte sie weiterhin verborgen halten. Sie wusste nicht, ob er glaubte, dass sie eine Bedrohung für sein Volk war oder sein Volk eine für sie. Als sich der salzige Geschmack des Blutes mit dem Speichel auf ihrer Zunge vermischte, fragte sie sich, was geschehen würde, wenn ihre monatliche Regel in einem anderen Land kam, oder ob sie ohne den Einfluss des Mondes auf ihren Körper überhaupt eintreten würde. Der Wind brachte das Seil in Bewegung, das locker auf dem Boden hing. Die Sonne brannte heiß und schwer auf ihrem Rücken. Der Nebel hatte sie nicht zum Ende der Welt geführt, sondern nur an einen unbekannten Ort, der dem Hochlandwald ziemlich ähnlich war. Sie stand am Rand eines steil abfallenden Hangs. Ein breites Tal, umgeben von Hochebenen, öffnete sich vor ihr. Am anderen Ende des Talkessels erhob sich ein zerklüfteter Gebirgszug. Hohe Gipfel ohne jeden Schnee ragten über dem weiten Tal auf. Eine Straße führte durch den Talboden unter ihr zu einer atemberaubenden Stadt, die am Ufer eines ausgetrockneten Sees lag. Es war die größte Ansammlung von Gebäuden, die sie jemals gesehen hatte, größer sogar noch als die kaiserliche Stadt Darre. Sie lag vor ihr wie ein Architekturmodell, das auf einem Tisch aufgebaut war, und sie musterte sie ausgiebig. Die Luft war so klar, dass sie die Schluchten der fernen Gipfel ebenso gut sehen konnte wie die Einzelheiten der prächtigen Stadt. Plätze, Pyramiden und Terrassen, große Höfe flankiert von Marktplätzen, Häuser, die wie Blumen um rechteckige Teiche arrangiert waren, und sie alle waren durch schlammige Wasserwege, die einmal Kanäle gewesen waren, miteinander verbunden. Terrassenförmig angelegte Steingärten und Inseln lagen einsam da, gesäumt von unbearbeiteten Feldern, Brücken verbanden die Buchten und schmalen Lagunen, die die Insel in einzelne Viertel unterteilten. Drei Straßen hatten einst in die Stadt geführt, leicht zu erkennen an den Dämmen, die sich durch den ausgetrockneten See zogen. Die Gebäude - ausgebleicht wie Knochen - waren in einem so harmonischen Arrangement verteilt, dass Liath sich fragte, ob die Stadt errichtet worden war, um sich den Untiefen und Buchten des Sees anzupassen, oder ob der See gegraben und so gestaltet worden war, dass er die Stadt noch stärker hervorhob. Von ihrer Position aus wirkte die Stadt verlassen, als würden leere Gebäude, in einem riesigen Ödland aus vertrocknetem, porösem
Boden stehen. In diesem Augenblick wurde sie auf eine einzelne Gestalt aufmerksam, die sich unterhalb von ihr langsam die Straße entlang bewegte. Sie blieb plötzlich stehen und drehte sich um, als hätte sie etwas hinter sich gespürt, einen Atem im Nacken, obwohl sie so weit entfernt stand, dass sie außerhalb jeder Hörweite sein musste. Die Gestalt hatte die Hände erhoben und winkte sie zu sich, oder sie gestikulierte einen Fluch. Der Boden schwankte unter ihren Füßen. Sie taumelte rückwärts, zog sich an dem Seil langsam zurück in den Nebel. Weiß umhüllte sie, statisch und leer. Ihr Fuß stieß an einen Felsen, und sie wankte zur Seite, fand sich plötzlich bis zu den Oberschenkeln im Wasser wieder. Salzgischt brannte auf ihren Lippen. Wellen rauschten gegen ein kiesiges Ufer, brandeten und seufzten über den Felsen. Grasbewachsene Dünen krümmten sich hinter dem Strand. Eine Möwe schrie. Sie drehte sich um, riss kräftig an dem Seil und zog sich durch den blendenden Nebel zurück. Als sie auf den Hang des Hügels stolperte, sah sie den Wachturm vor sich in die Lüfte ragen, und sie fiel erleichtert auf die Knie. Sie keuchte. Wasser tropfte von ihren durchnässten Beinkleidern, wurde rasch von dem ausgedörrten Boden aufgenommen. »Du bist ein Narr, Ältester Onkel«, sagte eine Frau mit schroffer Stimme. »Du kennst die Geschichten. Sie können sich nicht selbst helfen. Sie hat bereits die kleinen Beschränkungen übertreten, die du ihr auferlegt hast. Sie hat bereits Wissen für ihr eigenes Volk gesammelt, das sie gegen uns benutzen kann.« Der alte Zauberer ließ ein kurzes Lachen hören. Obwohl er kein Zyniker war, war er ganz sicher auch nicht geduldig, wenn er sich etwas anhören musste, wobei es sich seiner Meinung nach um Unsinn handelte; das hatte sie in der kurzen Zeit, die sie bei ihm war, bereits gelernt. »Wie können sie das Wissen der Grenzen gegen uns verwenden, Weißfeder? Es gibt nur einen Menschen hier bei uns. Niemand außer ihr hat in all der Zeit das Tor durchschritten. Wieso nimmst du an, dass es auch andere tun werden? Nein, sie ist allein, wie ich schon gesagt habe. Sie ist von ihrem eigenen Volk verstoßen worden.« »Das möchte sie dich glauben machen.« »Du bist zu misstrauisch.« »Sollte ich der Menschheit gegenüber nicht misstrauisch sein? Du bist zu vertrauensselig, Ältester Onkel. Jene, die den Menschen vertraut haben, haben damit den Weg eingeschlagen, der uns hierher geführt hat. Hätten wir nicht menschliche Magier in unsere Geheimnisse eingeführt, hätten sie nicht die Macht erringen können, einen solchen Schlag gegen uns zu führen, wie sie es getan haben.« »Nein.« Liath sah sie jetzt; sie standen an der Stelle in dem verfallenen Wachturm, wo auch sie gestanden hatte, und blickten auf sie herab wie Edelleute, die sich über ihre Untergebenen unterhalten. »Es waren die die die Menschheit verdorben haben, nicht wir.« »Sie hätten uns überwältigt, was immer auch wir getan hätten«, räumte die Frau ein. Sie trug über ihrer rechten Schulter einen schlichten Leinenumhang, der vom Alter verblichen war und ihr bis zu den Knien reichte. Darunter trug sie ein Hemd mit roten Rauten und Punkten. Ein Stirnband hielt die Haare aus dem Gesicht; hinten, wo die Haare locker über den Rücken fielen, war es mit einem kleinen Schild aus weißen Federn geschmückt. Ein schwerer Jadering war durch ihre Nase gezogen worden. »Die Menschen vermehren sich wie Mäuse und sterben wie Fliegen. Wir können ihnen nicht trauen. Du musst sie zum Ratsplatz bringen. Der Rat wird sein Urteil fällen.« Mit diesen Worten verschwand sie aus Liaths Blickfeld und kletterte von dem verfallenen Wachturm herunter. Auch der alte Zauberer begann mit dem Abstieg, doch als er schließlich am Fuß des Turms erschien, war Weißfeder nicht bei ihm. Liath erhob sich, um das Wasser aus ihren nassen Beinkleidern zu schütteln. »Sie traut mir nicht«, sagte Liath, überrascht über die starken, eindringlichen Gefühle dieser Frau. »Und ich glaube, sie mag mich nicht. Wird auch das Urteil des Rats so aussehen? Ich sehe keinen Grund, wieso ich mich ihnen stellen sollte, wenn sie ohnehin nur vorhaben, mich zu verurteilen und zu verdammen.« »Nicht einmal ich, der ich von uns allen der Älteste bin und als 99 einziger Erinnerungen an die große Umwälzung habe, könnte dir sagen, welches Urteil der Rat fällen wird.« »Wie kannst du dich an die große Umwälzung erinnern? Wenn die Berechnungen der Sieben Schläfer richtig sind, hat die Umwälzung vor zweitausendsiebenhundert Jahren stattgefunden, nach der Zeitrechnung der Menschen. Niemand kann so alt sein.« »So alt bin ich auch gar nicht, zumindest nicht nach der Zeitrechnung der Menschheit. Die Tage und Jahre werden hier anders gezählt als auf der Erde. Ich weiß, was ich durchlebt habe. Doch ich habe nur ein sehr bruchstückhaftes Wissen über das, was in der Zwischenzeit in der Welt meiner Geburt geschehen ist. Ich weiß lediglich, dass die Menschen das ganze Land überrannt haben, wie wir es befürchtet haben.« Nichts von alledem ergab für Liath viel Sinn. »Was ist dann mit dem brennenden Stein?« Sie würde nicht den gleichen Fehler machen, den sie bei den Sieben Schläfern gemacht hatte, als sie sich geduldig und ergebungsvoll hatte unterrichten lassen, ohne dass sie jemals zum Kern dessen gekommen wäre, was sie wirklich wissen wollte. »Wenn es ein Tor zwischen meiner und dieser Welt gibt, kannst du es dann mit deinem Willen rufen? Es wäre
möglicherweise für mich besser, zur Erde zurückzukehren, statt mich dem Rat zu stellen.« Er dachte gründlich über ihre Worte nach, bevor er antwortete. »Es ist nicht an uns, den brennenden Stein zu rufen. Er erscheint in bestimmten Abständen, die von den Strömungen bestimmt werden, die das Gewebe des Universums stören. Er ist ein Überbleibsel des großen Zauberbanns, den deine Ahnen auf uns ausgeübt haben, auch wenn ich nicht glaube, dass sein Erscheinen in ihrer Absicht gelegen hatte. Doch ein paar von uns haben inzwischen gelernt, ihn zu handhaben, wenn er erscheint.« »Wie könnte ich es lernen?« »Lerne, die Macht der Sterne und die Macht zu rufen, die im Innern eines jeden Gegenstands liegt. Was das Erste angeht, verfügst du bereits über etwas Wissen, glaube ich. Das Zweite ist keine Dis100 ziplin, die der Menschheit bekannt wäre.« Er schwieg und lächelte trocken. Schwache Narben waren um seinen Mund zu sehen, an den Ohrläppchen und auf seinen Händen - selbst an seinen Fersen waren ein paar alte, weiße Linien. »Fürchte nicht die Macht des Blutes, die alle Dinge bindet. Du musst lernen, sie zu benutzen, selbst wenn es schmerzhaft ist. Ich glaube nicht, dass du zurückweichen solltest. Es ist selten klug, wegzulaufen.« Schon allein dadurch, dass Anne diesen alten Zauberer und sein Volk als verschworene Feinde der Menschheit hingestellt hatte, fühlte Liath sich veranlasst, sich auf seine Seite zu stellen. Aber am Ende waren es seine Worte, die sie endgültig überzeugten. Er klang so anders als Pa, der es immer für klug gehalten hatte, wegzulaufen. Der ihr beigebracht hatte, wegzulaufen. »Ich gehe mit dir zum Rat«, erklärte sie schließlich. »Hah.« Das Schnauben verwandelte sich rasch in ein kurzes Lachen - seine Vorstellung von Erheiterung. »Das tust du also. Glaube nicht, dass ich nicht weiß, welche Ehre du mir damit zuteil werden lässt, indem du mir dein Vertrauen schenkst. Es ist lange her, dass jemand von deinem Volk meinem getraut hat.« »Oder dein Volk meinem« erwiderte sie. Die knappe Antwort gefiel ihm. Er mochte eine Herausforderung und störte sich nicht an scharfen Fragen. »Hole also, was du brauchst.« »Alles, was ich von der Erde mitgenommen habe, habe ich dabei.« Er wartete, bis sie das Seil zusammengerollt hatte. »Es ist gut gemacht.« Das Lob erwärmte sie, aber sie lächelte nur. Er selbst hatte für die Reise nur wenig dabei. Sie hatte sich inzwischen an seine Kleidung gewöhnt, an den Lendenschurz aus Perlen, die verzierten Arm- und Beinschienen, den mit Federn geschmückten Knoten auf dem Kopf, den er aus seinen schwarzen Haaren geformt hatte. Er war eher drahtig als dürr, obwohl er nicht im Geringsten gut genährt wirkte. Er nahm ihr das zusammengerollte Seil ab und schlang es sich über die eine Schulter, be101 vor er einen Pfeil aus ihrem Köcher zog. Wie immer betastete er die Eisenspitze einen Augenblick mit entrückter Miene. »Ich fürchte mich vor dem, was aus deinem Volk geworden ist«, sagte er scheinbar beifällig, »davor, dass sie Waffen wie diesen Pfeil und dieses Schwert machen können.« Er reichte ihr das gefiederte Ende des Pfeils. »Halte es fest. Und lass es nicht los, wenn wir in das Grenzland gehen.« »Sollten wir uns nicht an den Baum anbinden? Was ist, wenn wir vom Rand fallen? Du hast selbst gesagt, dass dieser Nebel den Rand deines Landes kennzeichnet.!« Er kicherte. »Eine gute Idee, die für dich spricht. Aber im Grenzland droht uns keine Gefahr. Wir sind Gefangene in unserem eigenen Land, weil alle Grenzen in sich selbst zusammenfallen.« »Bis auf die des brennenden Steins.« »Trotzdem.« Er führte sie durch den Nebel. »Wohin gehen wir?«, fragte sie, aber der Nebel dämpfte jedes Geräusch. Sie konnte den Zauberer nicht einmal mehr sehen, obwohl er ihr nur einen Schritt voraus war; sie wusste lediglich, dass er da war, weil sie den Pfeilschaft in ihrer Hand spürte. Er wusste, wohin er ging. Nach sechs Schritten stolperte sie gegen eine Steinstufe und stieß sich das Schienbein. Sie stand an einer Steintreppe, die von den Köpfen in Stein gemeißelter Ungeheuer gesäumt war; die Köpfe schienen sich jeweils aus einer Steinblume mit zwölf Blütenblättern zu erheben und sahen aus wie der Kopf einer Schlange oder einer großen, geschmeidigen Katze mit einem zahnstarrenden Grinsen, möglicherweise auch einer Mischung aus beidem; sie wusste es nicht. Einige der Köpfe waren in Rot und Weiß, andere hatten goldbraune Tüpfel und saftig grüne Zungen, schwarze, spitze Ohren oder goldblütige Blumen, die aus ihren runden Augen strahlten. Zu beiden Seiten der Treppe erstreckte sich eine gewaltige Pyramide, die aber zu steil war, als das man sie hätte erklimmen können; sie war von einem schlichten, blendenden Weiß, so rein wie Nebel. Hier und dort war 102 die Bemalung abgesprungen und enthüllte den grauen Stein darunter. Sie folgte dem alten Zauberer die Stufen hinauf. Am meisten beunruhigte sie die Treppe selbst, die sie sich hinaufquälten. Sie schien wie eine vertraute Erinnerung zu sein. Sie traten aus dem Nebel auf einen steilen Anstieg, der von den grässlichen, mächtigen Gesichtern umgeben war. Die Treppenstufen führten immer weiter, höher und höher, bis sie anhalten und Luft schöpfen musste. Sie
öffnete den Wasserkrug und trank einen Schluck, kühlte die trockene Kehle, aber der alte Zauberer lehnte das Wasser ab, als sie es ihm reichen wollte. Er wartete geduldig darauf, dass sie endlich wieder aufstand und weiterging. Schließlich erreichten sie die Spitze der Pyramide. Hinter ihr und unter ihr erstreckte sich dichter Nebel. Vor ihr lag eine andere Stadt, etwas kleiner als die großartige Stadt am See, aber mit ihren in schönster Ordnung und Harmonie angelegten Höfen und Terrassen nicht minder eindrucksvoll. Eine von Gebäuden gesäumte Allee führte vom Platz weg, der am Fuß der riesigen Pyramide lag, auf der sie jetzt standen. Jedes bisschen Steinfläche war mit hellen Wandgemälden versehen: riesige, gefleckte gelbe Katzen, schwarze Adler, goldene Phönixe, brennende Pfeile in den Kiefern roter Schlangen, die mit Federkopfschmuck versehen waren. Die Stadt leuchtete vor Farben und war so ruhig, dass sie schon glaubte, Geister würden weinend und jammernd durch die breiten Alleen treiben. Windböen strichen über ihre Haut. Wolken trieben über die Hügel, die den äußeren Rand der Stadt bildeten, und sie sah Blitze aufleuchten. Donner grollte, aber es fiel kein Regen. Sie konnte nicht einmal Regen riechen, nur den Staub im Wind, und sie spürte, wie eine Gänsehaut über ihre Haut kroch. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. »Es ist nicht sehr sicher hier oben, wo ein Blitz einschlagen könnte«, bemerkte der alte Zauberer. Er begann sofort, die Stufen hinunterzugehen, die so steil wa103 ren, dass sie ihm nur dadurch zu folgen wagte, indem sie sich umdrehte und rückwärts ging. Der Nebel hinter ihr schnitt kurzerhand jenen Teil der Stadt ab, der hinter der großen Pyramide lag -in einer solch geraden Linie, als wäre sie mit dem Messer gezogen worden. Donner dröhnte. Blitze trafen die Spitze der Pyramide, genau dort, wo sie gerade eben noch gestanden hatten. Ihre Zunge prickelte als Reaktion darauf. Ihr Fuß setzte endlich sicher auf dem Boden auf, der trocken und kühl war. Sie wusste, wo sie war. Vor langer Zeit, als sie noch ein Kind gewesen war, als sie und Pa aus dem brennenden Haus geflohen waren, hatte er sie durch eine alte Stadt geführt, in der der Wind ächzend durch die offenen Gebäude gestrichen hatte. Gewaltige Ruinen hatten sich in jede Richtung erstreckt und das Skelett einer Stadt geformt, die einst das Land beherrscht hatte. Entlang der Alleen hatte sie die verblichenen Überreste alter Fresken gesehen, die einst die langen Mauern geschmückt hatten. Wind und Regen und Zeit hatten die Farbe von der Oberfläche absplittern lassen, sodass nur die müde Maserung der alten Steinblöcke und ein paar Streifen von übrig gebliebenen Wandgemälden zu sehen waren, verblasst und kaum sichtbar. Die Ruinen hatten an der Uferlinie des Meeres so plötzlich geendet, als hätte ein Messer sie abgeschnitten. Pa hatte Worte gemurmelt, einen uralten Zauberbann, und für einen Augenblick hatte sie die Schattenform der alten Stadt sich mit den Wellen verbinden sehen, die Erinnerung an das, was einst gewesen war, nicht vom Meer ertränkt, sondern ganz und gar Erstaunen ergriff sie, genau so, wie es an dem Tag vor so langer Zeit gewesen war. »Das ist die Stadt«, sagte sie laut. Der alte Zauberer war bereits weitergegangen; jetzt blieb er stehen. »Ich habe den anderen Teil dieser Stadt gesehen«, erklärte sie. 104 »Der Teil, der hier "gewesen ist -« Sie deutete auf die Nebelwand. »Aber die Ruinen waren so alt. Viel älter als die Städte, die von den Dariyanern errichtet worden sind. Das war das Seltsamste daran.« »Dass sie alt waren?« »Nein, nein.« Ihre Gedanken waren bereits weitergeschweift. »Dass die Ruinen so abrupt endeten. Als wäre das Land von der Erde weggeschnitten worden.« Er lächelte traurig. »Hat die Menschheit keine Erinnerung mehr an die Ereignisse jener Tage?« Sie konnte nur stumm den Kopf schütteln, so verblüfft war sie über seine Worte. »Komm«, sagte er. Am anderen Ende der Allee erhob sich ein zweites, monumentales Gebäude, das durch die Straße mit der Pyramide verbunden war. Plattformen erhoben sich in bestimmten Abständen zu beiden Seiten. Es war schwer zu erkennen, was für eine Art von Maschine oder Magie diese Stadt errichtet hatte. Die Leere verunsicherte sie. Sie konnte sich vorstellen, wie es ausgesehen hatte, als die Alleen noch bevölkert gewesen waren: Frauen und Männer in leuchtenden Kleidern, die sich getroffen hatten, um die Aufführungen zu sehen, die auf den Plattformen gezeigt worden waren, oder um zu beten, wenn ihre heiligen Fürsorger ihren Göttern von der gefährlich hohen Pyramide aus huldigten. Doch die Menge hatte keinerlei Spuren ihres Daseins hinterlassen, nicht einmal Geister. Es war ein langer Weg, und es wurde noch heißer, nachdem der Sturm vorbeigerauscht war und sich in der Nebelwand aufgelöst hatte. Nicht ein einziger Regentropfen fiel. Sie musste zweimal stehen bleiben, um etwas zu trinken, und jedes Mal lehnte es der alte Zauberer ab, ebenfalls einen Schluck zu nehmen. Der andere Tempel war ebenfalls eine vierseitige Pyramide, mit Treppenstufen an den Seiten und abgeflachter Spitze. Das Antlitz einer riesigen Steinschlange erhob sich dort oben, doch wo ihr Mund hätte sein sollen, war eine Öffnung, gesäumt von zwei dreieckigen Haufen aus aufgeschichteten hellen Steinen. 105
Flöten und Pfeifen durchdrangen die Stille. Waren die Geister der Stadt gekommen, um sie zu jagen? Ein farbiger Blitz war in der Ferne zu sehen und entpuppte sich als Prozession von Leuten, die in Federumhänge und Perlengewänder gekleidet waren. Die Farben der Gewänder leuchteten so sehr, dass sie vor jedem Hintergrund aufgefallen wären, obwohl sie von dem gewaltigen Anblick der Stadt und dem stürmischen Blau des Himmels beinahe verschluckt wurden. Am Kopf der Prozession hüpfte eine runde Standarte auf einem Stock, ein rundes, goldenes Banner, das mit leuchtend grünem Federschmuck gesäumt war, der so breit war wie die ausgestreckten Arme eines Mannes. Es wirbelte herum wie ein Rad. Seine Leuchtkraft brachte sie zum Taumeln. Die Prozession bewegte sich auf das Maul der Schlange zu und verschwand im Tempel. Sie kamen zu den Stufen, wo Ältester Onkel stehen blieb, während sie Luft holte und ihre Waffen überprüfte: ihr Messer, Lucians Schwert, ihren guten Freund, und ihren Bogen, Herzsucherin. Stimmengewirr drang aus dem Maul der Schlange, wie die Stimmen der Toten, die aus der Unterwelt heraufdrangen. »Sie werden nicht freundlich sein«, sagte er. »Sei gewarnt: sprich ruhig. Um die Wahrheit zu sagen, mein Kind, habe ich dich mitgenommen, weil ich fürchte, dass nur du und ich unsere Völker vor einer größeren Zerstörung bewahren können als jener, die zu erleiden wir bereits verdammt sind.« Seine Worte, so ruhig gesprochen, als hätte er eine Aussage zu einer interessanten architektonischen Entdeckung gemacht, ließen sie frösteln. Die lange Allee hinter ihr war von Dunst und Hitze eingehüllt. Wind wirbelte den Staub auf. Die große Pyramide schimmerte unheimlich in gewaltigem Glanz. »Ich habe es mit Hugh aufgenommen«, sagte sie schließlich. »Ich kann es mit jedem aufnehmen.« Sie erklommen die Stufen zum Kopf der Schlange. Kurz bevor sie ihn erreichten, erkannte Liath, dass die zwei kleinen Steinpyramiden zu beiden Seiten des Kopfes gar nicht aus Steinen bestanden. 106 Es waren Stapel von grinsenden Schädeln. »Wer sind die?«, fragte sie, und ihr Herz raste vor Entsetzen, während die leeren Augenhöhlen sie anstarrten. »Die Gefallenen.« Ein halbes Dutzend Bögen und Köcher lagen auf dem ebenen Stein vor dem Maul der Schlange, und ein Dutzend oder mehr Speere waren daran gelehnt. Alle diese Waffen hatten Steinspitzen. Das einzige Metall, das sie sah, stammte von den drei Messern, die aus Kupfer oder Bronze geschmiedet worden waren. »Leg deine Waffen hier auf den Friedensstein.« »Wollen wir unbewaffnet da hineingehen?« »An jenem Ort, wo der Rat sich trifft, sind keine Waffen gestattet. So ist es Brauch. Auf diese Weise wird im Herzen der Stadt kein Blut vergossen.« Sie zögerte, aber der Anblick so vieler anderer Waffen machte es einfacher, sich zu fügen. Sie kannte die Kraft der anderen nicht, aber sie konnte noch immer Feuer rufen, wenn es nötig war. Sie legte ihre Waffen ab, doch er hielt sie zurück, als sie die Schwelle übertreten wollte. »Auch Wasser ist verboten. Selbst ein einziger Schluck könnte als Versuch der Bestechung empfunden werden. Lass uns hier noch einen großen Schluck nehmen. Es kann Stunden dauern, ehe wir aus der Gruft der alten Mütter wieder auftauchen.« Das Wasser war jetzt brackig und von der Sonne warm geworden. Aber es war Wasser und daher unermesslich wunderbar, wenn man durstig war. Er nahm den halbleeren Krug und verbarg ihn zwischen den Schädeln. Ihre trockenen, grinsenden Gesichter hatten ihren Schrecken verloren. Sie waren nicht einmal Geister, nur die Erinnerung an das Volk, das einst hier gelebt und geblutet hatte. Welches Schicksal hatte ihnen dieses Ende beschert? »Komm.« Der alte Zauberer deutete jetzt auf den Mund der Schlange. Es schien sehr dunkel im Innern zu sein. Selbst das Flüstern der fernen Stimmen hatte, wie in Erwartung ihrer Ankunft, aufgehört. 107 Sie hatte es tatsächlich mit Hugh aufgenommen, sie hatte Mut bewiesen, aber dennoch murmelte sie leise ein Gebet. »Herr, wache jetzt über mich, ich bitte dich. Herrin, gib mir deine Kraft.« Irgendwo, an einem anderen Ort, fragte sich Sanglant sicherlich, was aus ihr geworden war, und vielleicht weinte Gnade auch, fühlte sich in den fremden Armen unwohl. Doch als sie in die dunkle Öffnung und damit in das Maul der Schlange trat, spürte sie ganz deutlich, dass sie noch einen langen Weg würde beschreiten müssen, bevor sie zu ihnen zurückkehren konnte. Nördlich des Alfar-Gebirges stürzte das Land jäh ab und mündete in ein Gewirr aus Ausläufern und Flusstälern. Um diese Jahreszeit, da der Sommer in den Herbst überging, befanden sich die Straßen in bestem Zustand, und auch das Wetter blieb angenehm -sah man einmal von dem gelegentlichen Regenschauer ab, der sie alle immer wieder durchnässte. Sie hatten ein zügiges Tempo vorgelegt und reisten sechs Wegstunden pro Tag. Auf der Straße hielten sich genügend Tagelöhner auf, die sich als Erntehelfer bei den letzten Ernten verdingen wollten, dass ihre kleine Gruppe nicht allzu verdächtig erschien, so lange sie nicht bewusst die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Die Reise verlief zum größten Teil ruhig. Wenn sie Reisenden aus dem Norden begegneten, fragte Sanglant sie aus, doch die Ortsansässigen behaupteten - als er ihren Akzent erst einmal genug verstand -, nichts von dem König und seinem Verbleib zu wissen. Es gab auch gar keinen Grund, dass sie es hätten wissen
müssen. Doch eines Tages hörte er im Vorbeigehen von drei Geistlichen, dass der König und sein Gefolge in Wertburg erwartet worden waren, und so nahmen sie, kurz nachdem sie mit der Fähre über den östlichen Arm des Vierwald-Sees übergesetzt worden waren, an der nächsten Kreuzung die nordöstliche Ab108 zweigung, die sie durch üppige Felder des oberen Waylands in das Flusstal des Mainin führte. In dieser üppigen Landschaft waren mehr Leute auf den Straßen, die in ihren eigenen Angelegenheiten unterwegs waren. Dennoch war es eine Überraschung, als sie zwölf Tage nach der Feuersbrunst von Verna und weniger als sieben Tage nach der Überfahrt über den See um die Mittagszeit auf Kundschafter stießen - an einer Stelle, wo der Wald zugunsten einer gut gepflegten Obstwiese abrupt endete. »Halt!« Ein eifriger junger Bursche auf einer Stute mit deutlichem Senkrücken ritt zu ihnen und verstellte ihnen den Weg. Er hielt einen Speer in der einen Hand und musterte sie kritisch. Zweifellos boten sie einen seltsamen Anblick: ein großer, breitschultriger Mann, der wie ein gewöhnlicher Soldat wirkte und ein in Tüchern gewickeltes Baby auf dem Rücken trug, aber gleichzeitig einen edlen Wallach ritt, dessen Rasse und Zaumzeug einem Prinz angemessen gewesen wären, und eine Frau, bei deren fremdartigem Aussehen jeder Soldat innehalten würde. Das Pony und die Ziege waren dagegen weniger bemerkenswert. Glücklicherweise war Jer-na nicht zu sehen; sie war davon geschossen, um sich in den Ästen eines Apfelbaums zu verbergen. Der junge Bursche starrte sie einen Augenblick an - überwiegend die Frau - und fand schließlich die Sprache wieder. »Seid ihr als Bittsteller zum König unterwegs?« »Das sind wir«, erklärte Sanglant, der seine Stimme bewusst ruhig hielt, obwohl sein Herz aufgeregt pochte. »Ist der König in der Nähe?« »Der Hof ist in Angenheim, aber es gibt eine lange Wartezeit für Bittsteller. Viele sind gekommen -« »Hey, Matto, was sind denn das für zwei?« Der Dienst habende Feldwebel kam zu ihm geritten. Sein Schild trug in der Mitte das Wappen von Wendar: Löwe, Adler und Drache. Er war also ein Mitglied des persönlichen Gefolges des Königs. Der Mann hatte 109 einen Blick wie ein Terrier: Bereit, jederzeit die nächst beste Ratte in Stücke zu reißen. »Sie kommen die Straße entlang wie so viele andere«, protestierte Matto. »Auch der Teufel könnte das tun. Ihrem Aussehen nach könnten sie Verwandte des sein. Jedenfalls sehen sie ziemlich fremd aus, Junge, und ich wüsste zu gern, wie sie an das Pferd eines Edelmannes gekommen sind. Wir halten Ausschau nach Banditen, Matto. Du solltest wachsam sein.« »Gibt es ein Problem, Feldwebel?«, fragte ein anderer Soldat, der jetzt herangeritten kam. Es waren ein halbes Dutzend Männer zu sehen, die sich entlang der Straße verteilt hatten. Sanglant erkannte keinen von ihnen. Es mussten neue Rekruten sein, die man zur Wache eingeteilt hatte. Die Männer blickten gelangweilt drein. Langeweile bedeutete immer Ärger, und es waren nicht nur diese Soldaten, die gelangweilt wirkten. Sanglant warf einen Blick auf seine Mutter. Er befand sich jetzt bereits zwölf Tage in ihrer Gesellschaft, und noch immer strahlte sie etwas Beunruhigendes aus. Sie musterte den jungen Matto mit dem Blick eines Panthers, der seine nächste Mahlzeit betrachtet, und leckte sich sogar gedankenvoll die Lippen, als wäre ihr mit der Luft der Geschmack seines süßen Fleisches zugetragen worden. Sanglant war geübt darin, schnelle Entscheidungen zu treffen. Wenn er diese Männer nicht erkannte, dann waren sie vermutlich an den Hof gekommen, nachdem er und Liath vor mehr als einem Jahr so überstürzt aufgebrochen waren, und sie würden ihn ebenfalls nicht erkennen. Er wandte sich an den Feldwebel. »Bringt mich zu Hauptmann Fulk, und ich verspreche Euch, Ihr werdet eine Belohnung erhalten.« »Hah!«, schnaubte der Feldwebel verblüfft. »Woher wisst Ihr denn, dass Hauptmann Fulk zur Rundreise des Königs zurückgekehrt ist? Er ist erst seit vierzehn Tagen wieder dabei.« »Wir sind getrennt worden.« Sanglant beugte sich zur Seite, da110 mit der Mann das kleine, süße Gesicht von Gnade inmitten all der vielen Tücher auf seinem Rücken erkennen konnte. »Oh.« Der Feldwebel richtete sein Augenmerk jetzt auf Sanglants Mutter, doch er sah rasch wieder weg, als hätte etwas in ihrem Blick ihm Unbehagen bereitete. Was auch sehr gut möglich war. »Dann ist sie also Eure Frau?« Sanglant lachte schroff, nicht ohne eine Spur von Verärgerung. »Nein. Diese Frau ist -« Er konnte es nicht über sich bringen, einen Titel auszusprechen, den sie nicht verdiente. »Diese Frau ist eine Verwandte von mir, die mich begleitet. Sie ist eine Fremde, müsst Ihr wissen. Mein Vater ist wendisch.« »Und was ist mit Eurer Frau geschehen?« Der Kummer nagte noch immer an ihm. »Meine Frau ist... gegangen.« Die Miene des Feldwebels wurde etwas weicher, und er blickte wieder das Kind an. »Mögen der Herr und die Herrin über Euch wachen, Freund. Benötigt Ihr eine Eskorte? Ein Stück weiter die Straße entlang, ganz in der Nähe des Palastes, ist ein weiterer Wachposten. Danach müsst Ihr noch an der Befestigungsanlage des Palastes vorbei. Ich gebe Euch einen Soldaten mit, der sich dort für Euch einsetzen wird.«
»Ich nehme Euer Angebot dankbar an. Wenn Ihr mir Euren Namen nennen wollt, werde ich dafür sorgen, dass der König davon erfährt.« Der Feldwebel kicherte, während seine Männer ungläubige Blicke austauschten. »Ihr seid so sehr von Euch überzeugt wie der Hahn, der am Morgen kräht, was ? Nun denn, wenn Ihr also mit dem König speist, sagt ihm, dass Feldwebel Cobbo von Langbach Euch einen Gefallen getan hat.« Er klatschte sich auf den Oberschenkel, ganz aus dem Häuschen über seinen Witz. »Geht also. Matto, du begleitest ihn bis zu Hauptmann Fulk, ohne ihn an jemand anderen zu übergeben. Der Hauptmann wird wissen, was zu tun ist, falls sie uns doch angelogen haben sollten.« Matto war eine sehr redselige Seele. Es fiel Sanglant nicht 111 schwer, Informationen von ihm zu erhalten. Sie ritten über eine Obstwiese und gelangten in einen weiteren Wald, wo Jerna sich das getüpfelte Licht zu Nutze machte, um sich von den Bäumen fallen zu lassen und sich um Gnades Windeln zu legen. Er konnte ihre kühle Berührung an seinem Nacken spüren, konnte sogar den hellen Schimmer ihrer Bewegung aus dem Augenwinkel sehen, doch wie die meisten Menschen schien auch Matto sie nicht zu bemerken. Der junge Soldat plapperte munter drauflos, während Sanglant ihm weiterhin Fragen stellte. Mattos Mutter war die Verwalterin eines fürstlichen Guts. Sein Vater war vor vielen Jahren im Krieg gefallen, und seine Mutter hatte einen anderen Mann geheiratet. Matto wirkte noch jung, weil er jung Er und sein Stiefvater waren nicht gut miteinander ausgekommen, und als er gerade fünfzehn geworden war, hatte er sich aufgemacht, um in den Dienst des Königs zu treten. »Ich bin jetzt seit sechs Monaten bei der Rundreise des Königs« vertraute er Sanglant an. »Sie haben mich zuerst in den Ställen eingesetzt, aber selbst Feldwebel Cobbo sagt, dass ich gut mit Waffen umgehen kann, und so bin ich vor drei Monaten zur Wache versetzt worden.« Er warf einen Blick zurück auf Sanglants Mutter; vielleicht hoffte er, sie würde von seinem raschen Aufstieg beeindruckt sein, aber wie Sanglant herausgefunden hatte, interessierte sie nichts von dem, was die Menschen so Umtrieb. »Du sehnst dich danach, in einer Schlacht dabei zu sein, hab ich Recht, Junge?«, Sanglant fühlte sich unsäglich alt, während er neben diesem so leidenschaftlichen Jungen herritt, obwohl er nicht einmal alt genug war, um sein Vater sein zu können. Matto ergriff die Gelegenheit und hakte nach. »Ihr seid in einer Schlacht gewesen, nicht?« »Ja, das bin ich.« »Ich nehme an, Ihr gehört zu der Gruppe, die mit Prinzessin Theophanu nach Aosta geschickt worden ist. Es ist wirklich ein Wunder, dass Hauptmann Fulk so viele von ihnen vor dem Tod bewahrt hat. Was für ein Unglück!« 112 »Allerdings.« Sanglant wechselte das Thema, bevor Matto herausfinden konnte, dass er nicht den blassesten Schimmer hatte, was für ein Unglück Theophanus Expedition in Aosta befallen hatte. »Wieso hat man ein so weites Netz aus Wachposten gespannt?« Matto reckte sich; es gefiel ihm sichtlich, etwas zu wissen, was sein Begleiter nicht wusste. »Der Hof zieht Bittsteller an, und Bittstellerziehen Banditen an«, erklärte er mit stolzgeschwellter Brust. »Aber gehört dieses Land nicht Herzog Conrad? Ich dachte, er hätte dem Banditen-Unwesen ein Ende bereitet.« »Das hätte er auch, wenn er hier wäre. Aber er ist nicht einmal zum Fest des Königs erschienen! Der Adler, der nach Bederbor zu seiner Festung geschickt worden ist, hat ihn dort nicht angetroffen. Niemand weiß, wohin er gegangen ist!« Was hatte Conrad vor? Sicherlich war dem Herzog so gut wie alles zuzutrauen. Aber darüber konnte er mit diesem Jungen kaum sprechen. Sie erreichten einen Fluss und verlangsamten ihr Tempo, damit die Pferde einen passenden Weg auf die andere Seite suchen konnten. An einer Stelle, wo die Zweige einer Birke tief über dem Wasser hingen, ließ er Resuelto trinken, während er auf seine Mutter wartete. Obwohl sie das Pony zum Reiten besaß, weigerte sie sich, es auch als Reittier zu benutzen. Dennoch hatte sie ihn schnell eingeholt; nie zuvor hatte er jemanden so rasch und kräftig ausschreiten sehen wie sie. Die Ziege meckerte störrisch am Ufer, und seine Mutter musste sie ungeduldig über die felsigen Untiefen zerren. Ihre kräftigen Arme waren von straffen Muskeln überzogen. Sie hatte die Ärmel von Liaths Tunika aufgerollt, und die rote Schlange, die sich vom Handrücken die Arme hochwand, schien sich zu recken und zu zittern, als sie die Ziege zum anderen Ufer zerrte. Matto starrte sie an. Sanglant wusste nicht, ob der Junge von jener Leidenschaft gepackt worden war, die junge Leute so schnell wie der Blitz erfassen konnte, oder ob er plötzlich begriffen hatte, wie sie war. »Wie heißt Ihr?«, platzte Matto plötzlich heraus. Sie blickte ihn an, und er wurde blass und stammelte eine Ent113 schuldigung, obwohl gar nicht klar war, für was er sich entschuldigte. Ihre Antwort war kühl und klar. »Ihr werdet mich >Alia< nennen.« Sanglant lachte kurz, bevor er sein Pferd wendete und die Straße entlang weiterritt. >Alia< bedeutete >Andere< auf Dariyanisch. Alia gesellte sich zu ihm. Die Ziege hatte sich endlich entschieden, gefügig zu sein, und folgte jetzt sanftmütig dem Pony. »Wieso sagst du diesen Soldaten nicht, wer du bist?«, fragte sie mit leiser Stimme, wobei ihr starker Akzent ihren Worten etwas Stockendes verlieh. »Du könntest eine richtige Eskorte und die Ehre verlangen, die
dir gebührt.« »Da sie mich nicht kennen, würden sie mir niemals glauben, dass ich ein Prinz bin. Ohne ein Gefolge bin ich ja nicht einmal ein Edelmann, nichts weiter als ein Wanderer ohne Land und ohne Sippe, der als Bittsteller zum König geht.« Er hatte nicht gewusst, wie verbittert er war, und er wusste auch nicht, auf wen er am meisten wütend war: auf das Schicksal, auf seinen Vater oder auf die Frau an seiner Seite, die ihn vor vielen Jahren im Stich gelassen hatte. Gnade rührte sich auf seinem Rücken und gluckste, brabbelte Unverständliches vor sich hin. »Still, Liebes«, murmelte er. Resuelto schnaubte. »Da!«, rief Matto. Die Straße war breit genug, dass er problemlos an ihnen vorbeireiten konnte. Er hatte seine Hand am Gürtel, woran ein Messer, eine Lederbörse und das kleine, glänzende Hörn eines Widders hingen. Weiter vorn, wo der Boden in eine von Gebüsch übersäte Mulde abfiel, kam der Fluss der Straße wieder näher, bis sie ihn schließlich erneut kreuzte. In der Mitte der Furt stand eine Alte mit einem Stock. Zerfetzte Tuchstücke bedeckten ihren Kopf und ihre Schultern. Die ausgefransten Enden eines abgetragenen Kleides trieben in der Strömung, wanden sich um ihre Waden. »Eine Münze oder ein Stück Brot für eine alte Frau, deren Ehemann und Sohn im Osten mit Ihrer Königlichen Hoheit Prinzessin Sapientia kämpfen?«, krächzte sie. 114 Matto war schon dabei, abzusteigen, und fummelte an seinem Lederbeutel herum. Vielleicht war er ein gutmütiger Junge, vielleicht wollte er aber auch einfach nur Alia beeindrucken. Doch obwohl die Stimme der Alten hoch klang, hatte sie so gar nichts von einer Frau, etwas, von dem Sanglant durchaus Ahnung hatte. Er zügelte sein Pferd. Einen Augenblick später hörte er lautes Rascheln aus dem dichten Gebüsch, das am anderen Ufer wuchs. Der Pfeil traf Sanglant in die Schulter, und er taumelte zurück. Die Spitze bohrte sich genau in dem Augenblick in sein Kettenhemd, als ein zweiter Pfeil aus dem Gebüsch folgte. Er warf sich zur Seite, während Jerna sich entrollte und mit ihrem luftigen Wesen den Pfeil von seinem Kurs abbrachte. Er flog ohne Schaden anzurichten in die Zweige eines Baums. Alia hatte bereits ihren Bogen hochgerissen und einen Pfeil angelegt. Sie zischte, schoss, und aus dem Dickicht drang ein Schmerzensschrei. Die Alte umklammerte Mattos Bein und stieß den Jungen rückwärts ins Wasser. Bei der raschen Bewegung kamen die Schultern eines Mannes zum Vorschein, der sich mit den Fetzen verkleidet hatte. Mit einem lauten Schrei hob der Räuber den Stock und schlug damit auf Mattos ungeschützten Kopf ein. Der Junge versuchte, die Schläge mit den Armen abzuwehren. Noch mehr Pfeile flogen. Jerna sorgte dafür, dass zwei Pfeile mitten in der Luft vor Resueltos Nacken verharrten, während Sanglant den Wallach zur Seite trieb. Das Pferd stürzte sich eifrig in den Kampf. Es wusste, was geschah, und war wie sein Herr sein ganzes Leben lang darauf vorbereitet worden. Es machte einen Satz über den Bach, und Sanglant hieb nach rechts, trennte dem ersten Banditen die Hand ab, bevor der Mann weiter auf Matto einschlagen konnte. Alias zweiter Pfeil traf »die Alte« in den Rücken, als der Mann sich umdrehen und flüchten wollte. Laute Warnrufe erklangen, doch Sanglant war bereits ins Gebüsch vorgeprescht, brach durch das Blattwerk und stieß auf eine Senke, in der ein Haufen Männer bereitstand - bewaffnet mit Stö115 cken, Messern, einer Axt und einem einzigen Bogen. Sein Schwert traf mühelos Zweige und Fleisch. Ein Mann spannte den Bogen zum tödlichen Schuss, als Sanglant sich näherte. Jerna sprang vor, als befände sie sich auf einem Windstoß. Der Pfeil zuckte zur Seite, genau in dem Augenblick, als der Mann ihn abfeuerte. Auch der Bogen sackte dem Banditen aus den Händen, und er fuchtelte hektisch herum, bis er die Pfeilspitze in seinem Fuß fand und rückwärts in ein dichtes Gebüsch aus Riedgras und Farn taumelte. Winselte da jemand mit dünner, schwacher Stimme um Erbarmen? Sicher war es nur das Jammern einer Mücke. Sanglant schlug mit dem Schwert zu, und der Mann stürzte zu Boden, den Schädel gespalten wie eine Melone. Von der Straße hörte er einen weiteren Schmerzensschrei, gefolgt von einem wilden Geraschel, das immer schwächer wurde und auf zwei Überlebende hindeutete, die jetzt eine ganze Zeit lang einfach nur wegrennen würden. Leise erklang der Ruf eines Horns, und als es nach einer kurzen Pause erneut zu hören war, hatte es schon bedeutend mehr Kraft. Gnade jammerte. Ihre Stimme brachte ihn wieder zur Besinnung. Verwundert starrte er auf die Leichen: sechs Männer, in armselige Lumpen gehüllt und mit ärmlichen Waffen ausgerüstet. Er hatte nicht begriffen, dass es so viele waren. Er hatte gar nichts begriffen, sondern einfach nur gewütet und getötet. Ein Mann zuckte noch immer und stöhnte, aber seine Wunde war tief; er hatte einen Schwerthieb abbekommen, der durch Schulter und Lunge ging, und Blut quoll ihm aus dem Mund. Sanglant stieg ab und schnitt ihm in einem Akt der Barmherzigkeit die Kehle durch. Matto humpelte durch die Lücke im Dickicht, die Resuelto hinterlassen hatte, und blieb taumelnd stehen. »Bei unserem Herrn!«, fluchte er erstaunt. Das Hörn hing an einem Band um eines seiner Handgelenke. »Euer Arm ist gebrochen«, sagte Sanglant. Er wandte sich von den Leichen ab und führte Resuelto auf die
Straße. Das Pony stand 116 mit weit ausgestreckten Beinen da, um der Ziege zu widerstehen, die heftig an ihm zerrte, weil sie unbedingt zum Wasser wollte. Alia war verschwunden. Er hörte ihr Pfeifen, das keiner bestimmten Melodie folgte, und sah sie für einen kurzen Augenblick auf der anderen Straßenseite, wo sich eine weitere Gruppe von Banditen im Schutz schlanker Birken verborgen gehalten hatte. Alia war in dem Schatten kaum zu erkennen, als sie sich jetzt über einen am Boden liegenden Körper beugte. Sie zog an etwas, machte mit einem lauten Ächzen einen Satz zurück und hatte einen Pfeil in der Hand. Links von ihr hatte sich ein Bandit gleich hinter einem Baumstamm versteckt. Sein Körper war von einem Pfeil, der sich in seine Kehle gebohrt hatte, regelrecht an den Baum genagelt worden. Der Stamm war blutverschmiert. Doch das Unheimlichste von allem war, dass die Obsidian-Spitze des Pfeils aus dem Nacken des Mannes ragte, während sich die Befiederung in den Baum gegraben hatten. Es war, als hätte sich der Stamm geöffnet, um den Pfeil hindurchzulassen, und sich dann, nachdem die Spitze ihr Ziel gefunden hatte, wieder um den Schaft geschlossen. Matto stolperte auf den Pfad zurück; er hielt noch immer den gebrochenen Arm mit dem gesunden. Er versuchte angestrengt, nicht laut zu schluchzen. »Lasst es mich ansehen«, sagte Sanglant. Der Junge kam so vertrauensvoll wie ein Lamm. Er setzte sich dort nieder, wo Sanglant hindeutete, und lehnte sich gegen einen Stamm, während der Prinz den Gürtel des Jungen abnahm und die anderen Dinge zusammensuchte, die er benötigte: Moos und zwei feste Stöcke. Er hockte sich neben den Jungen und fingerte an der roten Schwellung herum, die sich über den halben Unterarm hinzog, während Matto zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch zischend den Atem ausstieß und ihm Tränen in die Augen traten. Es schien ein sauberer Bruch zu sein, bei dem sonst nichts verletzt worden war. Der Arm war noch gerade, und der Knochen hatte die Haut nicht durchtrennt. 117 »Es ist keine Schande, zu weinen, Junge. Ihr werdet noch Schlimmeres erleben, wenn Ihr bei Henrys Heer bleibt.« »Wenn ich darf, möchte ich gern bei Euch bleiben«, flüsterte der Junge mit einem ehrfürchtigen Leuchten in den Augen, das von den glänzenden Tränen noch verstärkt wurde. »Ich möchte lernen, so wie Ihr zu kämpfen.« Vielleicht drückte Sanglant den verletzten Arm etwas zu fest. Matto schrie auf und krümmte sich. Alia war plötzlich wieder da und packte die Schulter des Jungen, damit er sich still verhielt, während Sanglant die Schwellung mit Moos bedeckte und den Gürtel dazu benutzte, den Unterarm bis zur Hand mit den Stöcken zu schienen. Als er fertig war, gab er dem Jungen etwas zu trinken; dann erhob er sich und ging zur Mitte der Straße, wobei er den Kopf in den Nacken legte und lauschte. Die Banditen waren entweder alle tot oder geflohen. Ein Eichelhäher schrie. Der erste Aasfresser- eine Krähe - ließ sich auf einem Zweig etwa einen Steinwurf entfernt nieder. In der Ferne hörte er das Klirren von Geschirr, als Reiter sich näherten. Alia trat neben ihn. »Wer kommt da? Lassen wir den Jungen zurück?« »Nein. Es werden seine Leute sein, an denen wir gerade erst vorbeigekommen sind. Der Hornruf muss sie gewarnt haben. Wir werden auf sie warten.« Er löste die Schlinge, mit der seine Tochter an seinem Rücken festgebunden war, und drückte sie an seine Brust - sorgfältig darauf bedacht, dass ihre Wangen nicht von dem Kettenhemd verletzt wurden. Jerna spielte in der Brise über dem Kopf des Kindes -jetzt, wo die Gefahr vorüber war, war sie wieder sorglos. Gnade murmelte etwas und lächelte fröhlich, als sie das Gesicht ihres Vaters sah. »Da da«, sagte sie. »Da da.« Oh, Gott, sie wuchs so schnell. Sie war erst fünf Monate und sah schon doppelt so alt aus; erst am Tag zuvor hatte sie an der Feuerstelle die ersten eigenständigen Gehversuche unternommen. »Wie ist der Pfeil durch den Baum gegangen?«, fragte Sanglant 118 beiläufig, während er seiner Tochter in die flammend blauen Augen blickt. Seine Mutter zuckte mit den Schultern. »Bäume sind nicht fest, Sohn. Nichts ist fest. Wir alle sind Gitterwerk aus Erde und den Elementen Luft und Feuer und Wind und Wasser. Ich habe dem Wind, der den Pfeil trug, einen Zauber mitgegeben, der das Gitter in dem Baum teilte, sodass der Pfeil dort treffen konnte, wo man ihn am wenigsten erwartete.« Sie trat zu dem Baum und lehnte sich gegen ihn. Sie schien ihm etwas zuzuflüstern, wie einem Geliebten. Danach verschwamm seine Sicht etwas, als würde er durch Wasser blicken. Mit einem Ruck zog Alia den Pfeil aus dem Holz. Der Körper sackte zu Boden. Blut spritzte auf und verteilte sich auf dem Farn. Die Krähe schrie freudig, und zwei weitere ihrer Artgenossen ließen sich auf dem Zweig nieder. Feldwebel Cobbo kam mit seinen Männern. Sie ergingen sich über das Blutbad und beglückwünschten Sanglant von ganzem Herzen, während Matto einen unzusammenhängenden Bericht über den Überfall zusammenstotterte. »Ich erkenne jetzt, dass Hauptmann Fulk es sehr bedauert haben muss, Euch zurückgelassen zu haben«, sagte der Feldwebel mit deutlich mehr Respekt, als er zuvor gehabt hatte. Aber Sanglant empfand nichts als Abscheu und Mitleid, als er die toten Männer betrachtete. In Wahrheit verachtete er Berserker - jene, die zuließen, dass die blutdürstige Bestie in ihrem Innern die Oberhand gewann,
wenn sie in der Schlacht waren. Er war immer stolz auf seine Ruhe und Beherrschtheit gewesen. Er hatte immer seine Vernunft beibehalten und sich niemals dem Gemetzel hingegeben. Das war einer der Gründe, weshalb die Soldaten ihn respektierten, bewunderten und ihm folgten: Noch in der schlimmsten Situation in einer Schlacht und davon hatte es viele gegeben - hatte er niemals die Kontrolle über sich verloren. Aber Blutherz und Gent hatten ihre Spuren bei ihm hinterlassen. Er hatte gedacht, er hätte sich von Blutherz' Ketten befreit, 119 aber ihr Geist war noch da, ein zweites Selbst, dass sich in ihm eingenistet hatte, dass ihn in eine andere Form zu bringen versuchte. Er war manchmal so wütend, dass er regelrecht spürte, wie das Ungeheuer tief drinnen an ihm nagte, aber er wusste nicht, ob es die Wut war, die erwachte und die Bestie quälte, oder ob es die Bestie war, die seine Wut nährte. Das Schicksal hatte ihn verraten: Seine eigene Mutter hatte ihn benutzt und abgeschoben, sein Vater hatte ihn nur so lange geliebt, wie er seinen Zielen gedient hatte. Er hatte eingeschworene Feinde, von denen er nie zuvor gehört hatte, die ihn wegen seines Blutes hassten und ohne mit der Wimper zu zucken oder einen Finger zu rühren zugesehen hätten, wie seine geliebte Tochter verhungert wäre. Liath war ihm entrissen worden, und trotz Alias Erklärung, dass die Geschöpfe, die sie entführt hatten, Daemonen waren, also Feuerelemente, wusste er nicht wirklich, was mit ihr geschehen war, ob sie lebte oder tot war. Er wiegte noch immer Gnade in seinen Armen, während er zusah, wie Feldwebel Cobbos Männer den Banditen ihre Habseligkeiten und Kleider abnahmen und ein Loch gruben. Sie kamen schließlich zu dem Mann mit dem Bogen, und er hörte ihre beeindruckten Rufe, als sie sahen, mit welcher Kraft er ihm den Schädel eingeschlagen hatte. Immer wieder blickten sie mit verklärten, ehrfürchtigen Mienen in seine Richtung, verfielen aber glücklicherweise nicht in die gleiche stammelnde Verehrung, mit der Matto ihn fortan betrachtete. Sie hatten nicht gehört, wie der Mann mit dem Bogen um Erbarmen gewinselt hatte. Auch er hatte es nicht wirklich gehört. Er war einfach viel zu wütend und zu stürmisch gewesen, hatte blindlings alles getötet, was ihm in die Quere gekommen war oder Gnade zu bedrohen schien. Erst hinterher hatte er begriffen, was er gehört hatte. Und da war es bereits zu spät gewesen. Möglicherweise galt sein Mitleid nicht wirklich diesen armen, unglücklichen Toten. Sie hatten schließlich auch vorgehabt, ihn zu töten. Der Herr und die Herrin allein wussten, was sie mit Gnade 120 getan hätten, wäre sie ihnen in die Hände gefallen. Vielleicht galt sein Mitleid jener schwachen, unbeachteten Stimme in seinem eigenen Innern, die er zuvor gehört hatte. Die seine Hand zurückgehalten und dafür gesorgt hätte, dass seine Taten von Barmherzigkeit und nicht von Wut geleitet worden wären. Mit einem missmutigen Schnauben nahm er die schmeichelnden Bemerkungen der Männer entgegen, als sie auf die Straße zurückkehrten. Alia war bereit, weiterzureiten. Der Feldwebel half Matto auf seine Stute, während Sanglant Gnade einen Kuss gab und sie dann wieder auf dem Rücken befestigte. »Ich glaube, damit haben wir das Problem mit den Banditen gelöst«, erklärte Feldwebel Cobbo mit einem leichten Grinsen. Er hatte als Zeichen des Sieges die abgetrennte Hand des Anführers mitgenommen - desjenigen Mannes, der als alte Frau verkleidet gewesen war. »Wollt Ihr denn gar nichts ? Ihr habt das Recht des ersten Zugriffs auf die Beute.« »Nein.« Vielleicht war es Sanglants Gesichtsausdruck, vielleicht auch der Ton seiner Stimme - was es auch sein mochte, als sie jetzt eine Eskorte um ihn herum bildeten und weiterritten, stellte ihm niemand, nicht einmal Matto, mehr eine einzige Frage. Und die Stille tat ihm richtig gut. Der nächste Wachposten lag in Sichtweite des Palastes Angenheim. Feldwebel Cobbo übernahm das Reden und führte sie rasch an den Wachen vorbei. Zwei der Soldaten hatten ihn erkannt; er hatte es in ihren Gesichtern lesen können. Sie hatten ausgesehen, als hätten sie einen Bären in Menschengestalt gesehen. Aber Cobbo und seine Gruppe waren längst weitergeritten, bevor einer von ihnen etwas hatte sagen können. In der Hoffnung, vor den König oder einen seiner Verwalter gebracht zu werden, waren so viele Bittsteller gekommen, dass es auf den Feldern von Angenheim nur so von Menschen wimmelte. Der Gestank nach Schweiß, Exkrementen und verrottendem Essen hing schwer über dem Gelände. Das gewöhnliche Volk machte 121 rasch Platz, als Cobbo seine Gruppe durch die Menge der Zuschauer führte. Wie die meisten königlichen Stätten war auch Augenheim befestigt, obwohl es längst nicht so günstig lag wie Werlida, das auf einer Klippe oberhalb einer Flussbiegung lag. Immerhin konnte Augenheim mit Erdwällen und einem doppelten Ring aus Holzpalisaden aufwarten, die den niedrigen Hügel umgaben, auf dem der Palastkomplex errichtet worden war. Der Hofstaat war zu groß für die Befestigungen und dehnte sich darüber hinaus aus, bis zu den Feldern, wo die Bittsteller ihre Zelte und notdürftigen Unterstände errichtet hatten. Weiden hatten sich in Schmutz und Matsch verwandelt. Überall loderten Feuerstellen. Hausierer boten ihre Waren feil; Bettler streckten hustend ihre Schüsseln aus. Grubenhäuser, die bereits Generationen zuvor ausgegraben worden waren, waren gesäubert und von verschiedenen Fuhrleuten und jenen Bediensteten in Besitz genommen worden, die sich für die Zeit, die der König in Angenheim verbrachte, einen anderen Platz hatten suchen müssen. Ein kleines Kloster lag jenseits der Befestigungsmauern, doch auch das schien von dem Andrang der Besucher überschwemmt worden zu sein. Einen Augenblick lang bedauerte Sanglant die Brüder, die zweifellos von der Bürde, dem König und seinem
gewaltigen Hof gegenüber Gastfreundschaft walten zu lassen, völlig überfordert waren. Dann schließlich erreichten sie das letzte Tor. Wie das Glück es wollte, leistete Hauptmann Fulk an diesem Spätnachmittag selbst Wachdienst. Er trat vor und forderte Cobbo auf, anzuhalten; er tauschte ein paar scherzhafte Bemerkungen mit ihm aus, bevor sein Blick mitten im Satz auf Sanglant fiel. Sein Gesicht wurde augenblicklich aschfahl. Er sank auf die Knie, als hätte man ihn gefällt. Fünf andere Soldaten taten es ihm gleich. Sie gehörten zu den Männern, die in jener schicksalhaften Nacht vierzehn Monate zuvor Sanglant ihre Loyalität versichert hatten - damals, als der Prinz mit Liath von der Rundreise des Königs geflohen war. 122 »Ihr seid zurückgekehrt, Eure Hoheit.« Fulk begann vor Freude zu weinen. Sanglant stieg ab und bedeutete den Soldaten, wieder aufzustehen. »Ich habe Eure Treue mir gegenüber nicht vergessen, Hauptmann Fulk.« Als wäre es erst gestern gewesen, konnte er sich noch genau an die Namen und Heimatorte der Männer erinnern, die sie ihm in jener dunklen Nacht mitgeteilt hatten: Anshelm, Siegreich, Wracwulf, Sibold und Malbert. Er reichte Fulk die Zügel von Resuelto. »Ich möchte Euch jetzt bitten, für mein Pferd sorgen zu lassen. Und dieser Junge da benötigt einen Heiler.« »Natürlich, Eure Hoheit!« Sie sprangen eifrig auf, während Feldwebel Cobbo und dessen Männer mit offenem Mund dastanden. Matto sah sogar so aus, als würde er gleich vom Pferd fallen -sei es vor Schmerz oder vor Entzücken. Cobbo stellte jemandem in der Menge eine Frage, und eine Dienerin antwortete ihm verächtlich. »Du weißt nicht, wer das ist, Cobbo? Schäm dich!« »Wo ist mein Vater?«, fragte Sanglant den Hauptmann; er ignorierte das Gemurmel, das seine Ankunft ausgelöst hatte. »Beim Hochzeitsfest natürlich, Hoheit. Ich bitte Euch, lasst mich Euch hinführen.« Fulk reichte Sibold die Zügel und entdeckte erst jetzt Alia und das Baby, das auf Sanglants Rücken gebunden war. »Ich danke Euch.« Sanglant wirkte plötzlich besorgt, aber er musste weitergehen. »Ich möchte ihn sofort sehen.« Es dauerte einen Augenblick, ehe Fulk seine Verwunderung und Neugier abgeschüttelt hatte. Mit einem befangenen Lächeln und der Gehorsamkeit eines guten Soldaten führte er Sanglant zu der großen Halle in der Mitte des Palastkomplexes. Ein ständiger Strom von Bediensteten mit Tabletts voller Fleisch und Weinkelchen bewegte sich hinein und heraus, an der Menge der wartenden Bittsteller und der hoffnungsvollen Unterhalter vorbei, die sich um die Türen scharten. Die Menge teilte sich wie Butter unter einem Messer, als sie Fulk, Sanglant und Alia sahen. Aus irgendeinem Grund zog Alia 123 noch immer ihr Pony und die Ziege hinter sich her. Sofern sie ebenso nervös geworden war wie Sanglant, so war es ihr jedenfalls nicht anzumerken - weder am Gesichtsausdruck noch an der Haltung. Sie blickte allenfalls seltsam grimmig drein. Ihre kühle Miene betonte ihre nichtmenschlichen Gesichtszüge zusätzlich. Sanglant schritt durch die Tür und trat in das Dämmerlicht der Halle. Sogleich schlug ihm die Hitze der feiernden und lärmenden Menge entgegen, und es stank nach Feuchtigkeit. Da er mehr Zeit auf Feldzügen und in frischer Luft verbracht hatte als am Hof, hatte er fast vergessen, was es bedeutete, wenn fünfhundert Menschen sich dicht zusammengedrängt in einer Halle aufhielten, aßen, furzten, rülpsten und pinkelten. Angenheims Halle war so breit und hoch wie eine Kathedrale. An ihrem anderen Ende waren im oberen Teil der Wände Fenster eingelassen worden, die jetzt nicht verschlossen waren, sodass etwas Licht hereinfiel. Das Licht ergoss sich über den Tisch, an dem Henry saß, der über die Kunststücke dreier Jongleure lachte und sich einen Weinbecher mit einer hübschen jungen Frau teilte, die ein paar Jahre jünger als Sanglant zu sein schien. Sie trug eine Krone. Ein Banner hing an der Wand neben dem von Wendar: die Sonne von Aosta. »Wessen Hochzeit ist dies?«, wollte Sanglant von Fulk wissen, aber seine Frage war bei dem Lärm nicht zu verstehen. Er schritt weiter durch die Reihen von Bänken und Tischen, Fulk hinter sich. Kleine Windhunde wichen vor ihm zurück. Bedienstete sprangen zur Seite, schrien auf, als sie Alia hinter ihm entdeckten. Die Edelleute am Tisch waren stumm vor Verblüffung, als er an ihnen vorbeiging, aber vielleicht hatte Alia sie auch mit einem Bann belegt, der ihnen ihre Stimme genommen hatte. Gab es überhaupt etwas, das sie, die einen Pfeil dazu gebracht hatte, den Stamm eines Baums zu durchdringen, nicht zu Wege bringen konnte ? Stille breitete sich hinter ihnen aus. Eine freie Stelle war vor dem Platz des Königs geschaffen wor124 den, um den Unterhaltern die Möglichkeit zu geben, ihre Kunststücke vorzuführen. Die Bittsteller, die am Rand der freien Fläche kauerten, bemerkten ihn nicht, so sehr war ihre Aufmerksamkeit auf den König gerichtet. Sanglant konnte jetzt zum ersten Mal einen richtigen Blick auf ihn werfen, nur ab und zu von dem Treiben der Jongleure behindert. Henry blickte erstaunlich munter drein, errötete sogar ein wenig, als die junge Edelfrau neben ihm lachte, während Gold- und Silberbälle zwischen den drei Jongleuren aufblitzten. Sanglant benutzte seine Stiefel, um einen in Lumpen gekleideten Mann taktvoll aus dem Weg zu schieben. Der Mann blickte verblüfft auf und huschte zur Seite, verursachte damit eine Kaskade von
Bewegungen, als alle anderen Bittsteller gezwungen waren, ebenfalls ein Stückchen zur Seite zu rücken. Prinzessin Theophanu, die rechts vom König saß, bemerkte die Unruhe. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, wenngleich sie vielleicht ein wenig blass wurde und ihre Hände sich fester um den Becher schlössen, den sie gerade an den Mund führen wollte. Der Geistliche, der hinter ihr stand, taumelte, als hätte man ihm einen Stoß in die Kniekehle versetzt. Ein Pfad öffnete sich in der Menge, nur von den Jongleuren behindert, die weiterhin auf die Bälle konzentriert waren, die zwischen ihnen hin und her geworfen wurden. Sanglant duckte sich unter einem dieser Bälle, fing einen anderen mit der rechten Hand auf und warf ihn durch ihr unsichtbares Netz hindurch, als Fulk leise fluchte. Ein Ball traf den Hauptmann an der Schulter, fiel zu Boden und zerbrach auf dem kreisrunden Stück, das die Jongleure von Binsen befreit hatten, um ihre Kunststücke vorführen zu können. Das Pony, das bis hierher gezerrt worden war und aufgrund des Gestanks und der auf dem Boden ausgestreuten Binsen zu der Annahme gekommen sein musste, es wäre in einen Stall geführt worden, wählte genau diesen Augenblick, um lange und laut zu urinieren. Henry erhob sich mit vollendeter Anmut. Im gleichen Augen125 blick, da Henry ihn ansah, begriff Sanglant, dass sein Vater ihn bereits erkannt hatte, als er die Halle betreten hatte. Doch wie ein Hauptmann, der in einem Wald im Hinterhalt lag, um gegen räuberische Banditen vorzugehen, hatte auch der König beschlossen, es sich nicht anmerken zu lassen. »Prinz Sanglant«, sagte er mit einer kühlen Förmlichkeit, die Sanglant beinahe das Herz zerriss. »Du hast meine Frau noch nicht kennen gelernt, Königin Adelheid.« Offensichtlich war Henry noch immer wütend auf seinen ungehorsamen Sohn, denn dies war genau die Frau, die er so gern mit ihm hatte vermählen wollen. Sie war hübsch, sicherlich, aber wichtiger noch war die betörende Energie um sie, die gewöhnlich solchen Frauen zu Eigen war, die Gefallen an den Vorgängen im Bett fanden. Zweifellos war dies - abgesehen von der aostanischen Krone auf ihrem Haupt - auch der Grund für die leichte Röte auf den Wangen seines Vaters, für das Lächeln, das seine Lippen umspielte, während er den abtrünnigen Sohn betrachtete, der kaum besser als ein Bettler zurückgehumpelt kam. Wer legte da einen Hinterhalt für wen? Adelheid besaß die Unverfrorenheit und den Rang, ihn zu mustern, als wäre er einer ihrer Hengste. »Wirklich hübsch«, erklärte sie mit klarer Stimme, als hätte er sie mitten in einer Unterhaltung angetroffen, »aber ich habe keinen Grund, meine Entscheidung zu bereuen. Du hast viele Male bewiesen, wie sehr du dich als Herrscher eignest, Henry.« Henry lachte. Die Reaktion des Königs machte die Menge kühner, und einige der Anwesenden nahmen sich die Freiheit, nervös zu kichern, bis einige Männer sich ihren Weg durch die Menge gebahnt hatten und sich Sanglant zu Füßen warfen. »Hoheit!« »Prinz Sanglant!« Er erkannte Fulks Männer, die anscheinend dazu eingeteilt worden waren, an den Tischen zu bedienen oder in der Halle Wache zu halten. Heribert trat zu ihm, drängte sich durch den Haufen 126 von Bittstellern, die sich um den Tisch des Königs scharten, und kniete vor ihm nieder. Er ergriff Sanglants Hand und küsste sie. »Sanglant!«, rief er frohlockend, als wäre er außer Atem von zu hastigem Laufen. »Mein Prinz! Ich hatte schon gefürchtet -« »Nein, mein Freund«, sagte Sanglant. »Fürchte niemals. Ich bitte dich, erhebe dich und stell dich neben mich.« »Das werde ich tun«, erklärte der junge Geistliche, obwohl er etwas schwankte, als er wieder aufstand. »Wer sind diese Männer, die vorgetreten sind?«, fragte Henry. »Dient Bruder Heribert nicht Theophanu?« Theophanu hielt immer noch ihren Becher umklammert. Der alte Helmut Villam, der neben ihr saß, beugte sich zu ihr hinüber und flüsterte ihr etwas zu, aber sie hörte offensichtlich gar nicht hin. Sie nickte Sanglant lediglich ein einziges Mal kurz zu, bevor sie den Weinbecher abstellte. »Dies ist mein Gefolge, Eure Majestät«, sagte Sanglant schließlich. »Diese Männer haben mir ihre Treue geschworen.« »Ernähre ich sie denn nicht?«, fragte Henry mit liebenswürdiger Stimme. »Ich wusste nicht, dass du im Besitz der notwendigen Ländereien bist, um ein Gefolge unterhalten zu können, Sohn. Ganz sicher hast du jene gering geschätzt, mit denen ich dich hatte ehren wollen. Ich sehe nicht einmal einen Goldreif an deinem Hals, mit dem du dich als meinen Sohn ausweisen könntest.« Aber Sanglant hatte seine eigenen Waffen, und er wusste, wann er zum Gegenangriff ansetzen musste. Er trat beiseite und gab den Blick auf seine Mutter frei. Sie stand mitten in einem Lichtstrahl, der von den hohen Fenstern herabfiel. Ihre Haare, die zu einem Zopf geflochten waren, der so dick wie ihr Handgelenk war, schimmerten bronzefarben im Licht. Sie hatte die Ärmel von Liaths Tunika hochgerollt und trug wie alle anderen einen Gürtel um die Hüften, und obwohl ein Stück des Stoffes sich unter dem Gürtel verfangen hatte, bedeckte der bestickte Saum noch immer ihre Knöchel. Doch wenn sie auch solch gewöhnliche Kleidung trug, erstrahlte sie doch in einer Aura
127 des Fremdartigen, ähnlich wie ein geschmeidiger Leopard unter riesigen Auerochsen. Sie sagte nichts. Sie musste auch gar nichts sagen. »Alia!« Henry wurde sichtlich bleich. Aber er war schon zu lange König, um nicht zu wissen, wann Rückzug geboten war. Die steinerne Maske fiel über seine Miene und ließ die Fröhlichkeit in der Halle so durchdringend erstarren, als wäre Magie im Spiel gewesen. Die Ziege meckerte, gefolgt von absoluter Stille. Niemand schien den Windhauch zu bemerken, der durch die Gewänder und Umhänge der Edelleute strich, als Jerna die Halle erkundete. Schließlich sprach Alia. »Ich bin zurückgekommen, Henri«, verkündete sie, seinen Namen dabei auf salianische Weise aussprechend, »aber ich habe nicht den Eindruck, dass du dich so um das Kind gekümmert hast, wie du es mir versprochen hattest.« III Den Gürtel verdrehen 1 Da die Saat des Konflikts häufig zu seltsamen Zeiten Früchte trug, wurde nur zu leicht vergessen, dass sie schon vor langer Zeit gesät worden war und nicht plötzlich aus brachliegendem Boden erwuchs, wie es den Anschein haben mochte. Rosvita aus der Nordmark war seit zwanzig Jahren Geistliche und Beraterin des Hofes. Sie wusste, wann sie einen Schritt zurücktreten und den Dingen ihren Lauf lassen musste - und wann sie eingreifen musste, damit eine Krise nicht außer Kontrolle geriet. Obwohl König Henry sich erhoben hatte und stand, blieben die übrigen Anwesenden noch immer in verblüfftem - oder auch erwartungsvollem - Schweigen sitzen, während sich vor ihnen die Auseinandersetzung abspielte. Selbst der alte Helmut Villam, der links von Rosvita am Tisch des Königs saß, schien vor Erstaunen vollkommen reglos zu sein, den Mund leicht geöffnet, die Finger fest um den Fuß des Weinbechers geklammert, den er mit Prinzessin Theophanu teilte und den diese soeben erst wieder abgesetzt hatte. Rosvita bedeutete Bruder Fortunatus, ihren Stuhl zurückzuziehen, damit auch sie sich erheben konnte. Er eilte sofort zu ihr. Ob129 wohl er wie alle anderen kaum seinen Blick von dem Vater, der Mutter und dem Kind abwenden konnte, deren Auseinandersetzung sich auf dieser öffentlichen Bühne entwickeln würde, bewährte es sich jetzt, dass er von Rosvita persönlich ausgebildet worden war. Es gab viele Züge, die sie bei einem Geistlichen, der ihr diente, tolerieren konnte - Ungehorsamkeit gehörte jedoch gewiss nicht dazu. »Dies ist die Frau, von der wir so viel gehört haben!«, murmelte er ihr ins Ohr, als sie sich erhob. »Mögen Gott uns schützen!« Sein Blick heftete sich auf die Aoi-Frau. Er war nicht der Einzige in der Halle, der sie beäugte. Ihre Gesichtszüge waren beeindruckend, wenn auch nicht hübsch, und obwohl ihr Haar den Glanz von polierter Bronze hatte, trug sie es zurückgebunden in einem komplizierten Knoten, der ihr eher etwas Seltsames als etwas Königliches verlieh. Ihr Blick war wild und gebieterisch, beinahe streitlustig. Sie hatte keine Angst, Henry in die Augen zu sehen, und ihre stolze Haltung ließ vermuten, dass sie sich selbst als Herrscherin und Henry als ihren Untertan betrachtete. »Ich bin zurückgekommen, Henri«, verkündete sie, seinen Namen dabei auf salianische Weise, mit dem stimmlosen »h« und einem verstümmelten »ri«, aussprechend. »Aber ich habe nicht den Eindruck, dass du dich so um das Kind gekümmert hast, wie du es mir versprochen hattest.« »Ich bitte Euch, Eure Majestät«, sagte Rosvita weich in die Stille hinein, die dieser ungeheuerlichen Anklage folgte, »lasst Stühle herbeischaffen, damit Eure Besucher sich setzen und etwas zu sich nehmen können. Sie müssen eine weite Reise zurückgelegt haben. Der Anblick von Speisen und Getränken ist Reisenden stets willkommen. Ich selbst werde Prinz Sanglants Mutter meinen Stuhl anbieten und sie bedienen.« Angestrengt starrte Henry auf die fremdländische Frau, die er einmal »Geliebte« genannt hatte - und von der allgemein behauptet wurde, dass er sie geheiratet hätte, hätte er die Möglichkeit dazu gehabt. Schließlich erhob sich Königin Adelheid mit kühler, 130 sicherer Haltung und deutete auf Rosvitas Platz rechts von Helmut Villam. Das zählte zwar nicht wirklich zu ihren Vorrechten, aber Adelheid war weder eine Närrin noch feige. »Bringt einen Stuhl für Prinz Sanglant, damit er neben mir Platz nehmen kann«, sagte sie mit ihrer hohen, klaren Stimme. »Gewährt seiner Mutter die Ehre, die ihr zusteht und die unsere Pflicht ist, denn dieses Kind war ihr Geschenk an meinen Ehemann, durch das sein Recht als Herrscher von Wendar und Varre begründet wurde.« Sanglant trat vor. »Ich habe ein Kind.« Seine Stimme klang rau, als würde er unter großen Schmerzen leiden, aber das war schon immer so gewesen. Jahre zuvor hatte er sich im Kampf eine Verletzung an der Kehle zugezogen. Er löste das Bündel auf seinem Rücken, wickelte das Leinentuch auseinander und hielt einen Augenblick später ein kleines Kind in den Armen, das süßer war als alle, die Rosvita bisher gesehen hatte, mit runden Wangen, dunkler Hautfarbe und hellen, blauen Augen. »Da, da«, sagte Gnade in der typischen, anmaßenden Weise eines Kindes in diesem Alter. Sanglant stellte sie auf den Boden, und sie machte ein paar schwankende Schritte auf
den König zu, taumelte, verlor das Gleichgewicht und ließ sich auf den Hintern fallen. Sie hob die Hand, deutete auf Henry und meinte mit despotischer Inbrunst: »Bäh! Bäh!« Sanglant hob sie auf, schritt auf Henry zu, beugte sich über den Tisch und legte ihm das Kind in die Arme. Der König wehrte sich nicht einmal. Viele kleine Kinder hätten vor Wut oder Angst geschrien, aber das kleine Mädchen streckte lediglich die Hände aus, bekam den Bart des Königs mit den Fingern zu fassen und zupfte daran. »Bäh!«, rief Gnade erfreut aus. »Jongleure!«, rief Henry heiser. Er setzte sich hin und leerte den Weinbecher in einem Zug, während das Baby versuchte, auf seine Schulter zu klettern, um nach der glänzenden goldenen Krone zu greifen, die auf seinem Kopf lag - nicht die Königskrone 131 selbst, die zu schwer und zu formal für ein Fest war, sondern seine zweite Krone, ein schlanker Reif aus Gold, den er dann trug, wenn ein geringerer Grad an Formalität gefragt war. Prinz Sanglant lächelte, aber es war ein kühles Lächeln. Er drehte sich um und warf den Silberball dem nächststehenden Jongleur zu. Der arme Mann zuckte verblüfft zurück, doch seine Hand reagierte instinktiv, und es gelang ihm, den Ball aufzufangen. Die Halle erwachte in diesem Augenblick wieder zum Leben, als würde die Dämmerung einsetzen: Leute riefen nach Speisen, die Jongleure kehrten zurück, um ihre wagemutigen Kunststücke vorzuführen; die Soldaten, die ins Licht der Öffentlichkeit getreten waren und unwiderruflich ihre Loyalität gegenüber Prinz Sanglant kundgetan hatten, erhoben sich und warteten auf seine Befehle. Sanglant sprach leise mit Hauptmann Fulk, woraufhin der seine Männer freundlich, aber bestimmt wegschickte, die Zügel des Ponys und der Ziege in die Hand nahm und sich mit den beiden Tieren zurückzog. Sanglant trat indessen vor und nahm seinen Platz zur Linken von Adelheid ein. Der junge Geistliche, Heribert, der so mysteriös im AlfarGebirge aufgetaucht war, wich weiterhin nicht von Sanglants Seite. Er war es, der die Aufgabe übernahm, den Prinzen zu bedienen, obwohl er zuvor noch Theophanu bedient hatte. Die Miene der Prinzessin war so ausdruckslos wie Stein. Sie erhob sich und trat zu Sanglant, um ihm einen Kuss auf beide Wangen zu geben, und er zog sie etwas fester an sich und flüsterte ihr etwas zu, das erstaunlicherweise ein kurzes Lächeln auf ihr Gesicht zauberte - rasch und vergänglich wie das Flattern eines Schwalbenflügels. »Geht zu Prinzessin Theophanu«, sagte Rosvita mit gedämpfter Stimme zu Bruder Fortunatus. Er eilte davon und stellte sich hinter den Stuhl der Prinzessin, damit auch sie jemanden von angemessenem Rang hatte, der sie bedienen konnte jetzt, da Bruder Heribert offensichtlich zu ihrem Halbbruder übergewechselt war. Sanglant wandte seine Aufmerksamkeit der charmanten Adelheid zu, während Henry alle Hände voll mit dem unruhigen, temperamentvollen Kind zu tun hatte. Rosvita begriff, dass sich der 132 Prinz in den vierzehn Monaten, die er der Rundreise des Königs ferngeblieben war, grundlegend geändert hatte. Sie hatte gesehen, wie er sich auf dem Schlachtfeld verhielt, und sie hatte ihn auch bei den kleineren Geplänkeln gesehen, die auf dem glatten Parkett des Hofes stattfanden. Niemals zuvor jedoch hatte sie erlebt, dass Sanglant auf dem Feld der Politik taktisch vorgegangen wäre, wie er es jetzt ganz offensichtlich tat. Aber natürlich hatte er zuvor auch noch keine Frau und kein Kind gehabt. Wo war Liath überhaupt? »Euch will ich danken, Frau«, sagte diejenige, die als Alia bekannt war und jetzt neben sie trat. »Ihr seid eine von den Gottfrauen, ja?« Es dauerte einen Augenblick, ehe Rosvita den Ausdruck verstanden hatte. »Ja, ich bin eine Geistliche. Mein Dienst gilt Gott und König Henry. Ich bitte Euch, setzt Euch hierher. Lasst mich Euch Wein eingießen.« Doch die fremde Frau blieb stehen und musterte Rosvita mit einem Blick, unter dem sie sich so fühlte, wie sich ein Insekt fühlen musste, dass kurz davor stand, von jemandem totgeschlagen zu werden. Alia war kleiner als Rosvita und kräftig gebaut; sie hatte die gleiche, beherrschte Energie wie ein Krieger, der zum Stillsitzen gezwungen war. Alia lächelte nicht, aber ihre Miene änderte sich schlagartig. »Ihr habt wie die Ältesten gesprochen, als Ihr Euch erhoben habt, um uns Gastfreundschaft zu gewähren«, meinte sie. »In dieser kurzen Zeit wird es keinen Kampf zwischen Henri und seinem Sohn geben.« »Das hoffe ich«, pflichtete Rosvita ihr bei, aber in Wirklichkeit überraschte sie die Bemerkung. Sie wusste nicht, was sie von der Aoi-Frau zu erwarten hatte. Sie wusste in der Tat gar nichts über die Aoi, außer den Legenden, die in alten Manuskripten verborgen lagen, und den Geschichten, die nachts in den Langhäusern der gewöhnlichen Leute beim Feuer erzählt wurden. Wie so viele andere hatte auch sie zu glauben begonnen, dass die Aoi nur eine Legende waren, ein Traum, der von halb vergessenen Erinnerungen an die Zeit des alten Dariyanischen Reiches verstärkt wurde. Es 133 war jedoch unmöglich zu leugnen, was sie mit eigenen Augen sah. »Setzt Euch doch, ich bitte Euch.« In solchen Momenten bot es sich an, auf grundlegende Formalitäten zurückzugreifen. »Ich möchte Euch gern etwas Wein eingießen.« »Euch werde ich meinen Rufnamen geben, denn Ihr seid weise genug, ihn umsichtig zu benutzen«, sprach Alia, ohne irgendeinen Hinweis darauf zu geben, dass sie vorhatte, sich hinzusetzen. »Ich werde bei meinem Volk genannt, aber wenn das für Eure Zunge zu kompliziert ist, genügt auch Kansi-a-lari.«
Rosvita lächelte höflich. »Mit Eurer Erlaubnis werde ich Euch also Kansi-a-lari nennen. Gibt es auch einen Titel, der Euch angemessen ist? Ich bin mit den Gepflogenheiten Eures Volkes nicht vertraut.« »Kansi-a-lari ist mein Titel, wie Ihr es ausdrückt.« Mit diesen Worten ließ sie sich mit der vorsichtigen Anmut einer Leopardin nieder, die eine Kiste betrat, die auch ihr Käfig sein mochte. Das Fest ging weiter; Platten voll mit dampfendem Rindfleisch, Wildbret und Schweinefleisch wurden von den Küchen der Nebengebäude gebracht, und der Wein floss in Strömen. Bittsteller schlurften in Wellen vor und wurden mit einem Urteil oder einer Münze oder einem Happen vom Teller des Königs wieder auf den Weg geschickt. Ein Poet, der in der Hofkapelle des salianischen Königs ausgebildet worden war, gab ein langes Gedicht zum Besten, in dem er die Taten und den Ruhm des großen Kaisers Taillefer, der sich als König von Salia erhoben und nach der kaiserlichen Krone von Darre gegriffen hatte, rühmte. Kaiser Taillefer stand einer Reihe großer Prinzen und Fürsten vor, denn kein Herrscher in irgendeinem Land hatte in den hundert Jahren seit seinem Tod je wieder genug Macht gehabt, um es mit seinen Errungenschaften aufzunehmen. Jedenfalls nicht, bevor Henry durch die Heirat mit Adelheid sein Königreich von Wendar und Varre mit den Ländereien von Aosta verbunden hatte, in deren Grenzen auch die heilige Stadt Darre lag. Natürlich hatte der Poet den toten Kaiser Tail134 lefer auch deshalb gepriesen, um dem lebenden König, Henry, zu schmeicheln, dessen Ziel, sich selbst den Titel »Heiliger Dariyanischer Kaiser« zu verschaffen, kein Geheimnis am Hof war.
Wenn auch die Ankunft von Prinz Sanglant und seiner Mutter niemals in Vergessenheit geriet, wurde sie doch der vertrauten Heiterkeit des Festes einverleibt. Mehr noch, sie war eine Bereicherung des Gesprächsstoffs, während das Bankett weiterging und der Poet fortfuhr.
Schließlich war es der fünfte Tag des Festes, und selbst dem ausgelassensten Zecher mochte seine wachsende Unruhe nach endlosen Stunden des Vergnügens und der Gefräßigkeit vergeben werden. Auf seltsame Weise war Rosvita dankbar dafür, dass sie stehen konnte, statt sitzen zu müssen. Sie kümmerte sich so unaufdringlich wie möglich um Alia, als wollte sie sie weder erschrecken noch ihr einen Grund geben, sich beobachtet oder bedroht zu fühlen.
Die Aoi-Frau lud nicht gerade zur Konversation ein. Der junge Edelmann Fridebraht, der rechts von ihr saß, war offensichtlich aufgrund ihres seltsamen Äußeren und ihres stürmischen Blickes viel zu ängstlich, um auch nur ein einziges Wort herauszubringen. Selbst der alte Villam, der Alia in ihrer kurzen Zeit am Hof viele Jahre zuvor gekannt hatte und dem es bisher nie an Geist oder Mut gefehlt hatte, einer attraktiven Frau zu schmeicheln, rang sich nur ein paar wenige Bemerkungen ab, bevor er angesichts ihres offensichtlichen Desinteresses seine Bemühungen aufgab. Alia beobachtete den König, den Hof und gelegentlich auch 135 ihren Sohn. Sie aß und trank nur wenig. Auf diese Weise ging das Fest ohne größere Zwischenfälle weiter. Der Poet beendete schließlich seine Lobpreisung, und ein Geistlicher trat vor und sang mit wohlklingender Stimme »Das beste aller Lieder«, das Hochzeitslied, das aus dem alten heiligen Buch Essit stammte.
Der bevorzugte Adler des Königs, Hathui, winkte Rosvita zu. »Seine Majestät wird jetzt die Halle verlassen.« »Was haltet Ihr von dieser neuartigen Entwicklung?«, fragte Rosvita. Obwohl Hathui die Tochter von Gewöhnlichen war, besaß sie ein scharfes Auge und das Vertrauen des Königs. »Sie kommt unerwartet.« Hathui lachte angesichts der Absurdität ihrer eigenen Worte. Henry hatte Gnade inzwischen auf die Knie genommen und fütterte sie mit kleinen Happen von ihm höchstpersönlich zu Brei zermanschten Speisen von dem Teller, den er mit seiner Königin teilte. »Ich glaube, es wäre besser, wenn der König sich in seinen eigenen Gemächern mit der Sache beschäftigt - nicht hier in der Öffentlichkeit vor all den Anwesenden.« Als hätte er die Bemerkung des Adlers gehört, erhob sich Sanglant, um einen Toast auf das frisch vermählte Paar auszubringen. Trotz seiner gewöhnlichen Kleidung hatte er die Haltung eines Prinzen und das stolze Gesicht eines Mannes, der Loyalität und Gehorsamkeit von denen fordert, die ihm folgen. Er war es gewohnt, seine Stimme zu erheben, sodass sie trotz des Lärms der Menge zu hören war. »Lasst diese Verbindung von vielen Gnaden begleitet sein«, sagte er. Als die Hurra-Rufe abebbten, fuhr er fort. »Aber lasst mich eine ganz besondere Gnade erwähnen, eine Gnade, die unser gesegneter Herrscher und mein geliebter Vater, König Henry, in seinen Händen hält.« Stille breitete sich in der Halle aus. Die Wachen an den Türen
136 reckten sich, um besser verstehen zu können. Selbst die Bediensteten verharrten mitten in ihren Aufgaben. Beim Klang der väterlichen Stimme stellte sich das Baby auf Henrys Oberschenkel und krähte laut: »Da! Da!« und man konnte sich schon in diesem Augenblick vorstellen, dass diese Stimme einmal inmitten von Kampflärm erklingen würde. Henry lachte, während viele der Anwesenden anerkennend kicherten oder sich etwas zuflüsterten, gespannt auf das, was der Prinz vorhatte. Dass Bastarde Kinder zeugten, war nichts Ungewöhnliches, aber es war nicht üblich, ein solches Kind der Aufmerksamkeit des gesamten Hofes zu präsentieren. Eine Fliege summte aufdringlich an Rosvitas Ohr. Sie verjagte sie, während Sanglant weitersprach. »König Henry hält in seinen Armen meine Tochter, die ich Gnade genannt habe, wie es mein Recht als ihr Vater ist.« »Und eine Gnade ist sie in der Tat, Sohn«, erwiderte Henry. Obwohl ihn die plötzliche Ankunft von Sanglant und Alia überrascht hatte, war er unter dem Einfluss des Kindes etwas weicher geworden. Zumindest schien es so. Er war ein raffinierter Kämpfer, und unter solchen Umständen vergaß man nur zu leicht, dass sein Zorn, wenn er einmal entbrannt war, nur langsam wieder erlosch. »Es ist nur weise, wenn du jetzt, da du eine solche Verantwortung trägst, zu mir kommst und um Vergebung bittest. So, wie du gekleidet bist - als gewöhnlicher Soldat und sogar ohne Goldreif als Zeichen deiner königlichen Abstammung -, kannst du wohl kaum davon ausgehen, ein Gefolge kleiden und ernähren zu können. Ganz sicher hat deine Tochter etwas Besseres als das Leben eines Umherziehenden verdient.« Adelheids Lächeln wurde fast schroff, als sie Sanglant anblickte und darauf wartete, wie er auf diesen Hieb reagieren würde. Der Prinz leerte seinen Becher in einem Zug, und eine leichte Röte überzog seine bronzefarbenen Wangen. Als er sprach, lag eine leichte Schärfe in seiner Stimme. »Für mich erbitte ich gar nichts, Majestät. Ich dachte, das hätte ich deutlich gemacht, als ich 137 den Ehrengürtel zurückgegeben habe, den Majestät mir selbst an meinem fünfzehnten Geburtstag angelegt hat. Was ich jetzt trage, habe ich mir durch eigene Anstrengungen erworben. Nein, meine Rückkehr zum Hof dient nicht meinem eigenen Nutzen.« Sie waren wie zwei Hunde, die sich gegenseitig abschätzend anknurrten, bevor sie zubissen. »Wenn du nicht gekommen bist, um Vergebung von mir zu erbitten, warum bist du dann hier?«, verlangte Henry zu wissen. »Ich bin um meiner Tochter willen hier. Ich erbitte nicht mehr als das, was ihr als der letzten rechtmäßigen Nachfahrin von Kaiser Taillefer zusteht.« Hundert Jahre war er tot, und auch sein Geschlec ht war seither ausgestorben. Er hatte kein Kind gezeugt, das nach ihm hätte herrschen können, und so war das Kaiserreich nach seinem Tod zerfallen. Rosvita verstand jetzt alles, was ihr bisher nicht klar gewesen war: das Rätsel der schwangeren Königin Radegundis, die nach dem Tod ihres Ehemannes Taillefer ins Kloster geflohen war, das Geheimnis von Mutter Obligatia und die kryptischen Worte von Bruder Fidelis; ganz besonders aber begriff sie den unerklärlichen den Liath ausgestrahlt hatte und durch den sie den Eindruck vermittelt hatte, weit mehr zu sein als eine gewöhnliche Botin des Königs. »So viele verschiedene Menschen scheinen so viel Interesse an einem einfachen Adler zu haben«, hatte der König etwa ein Jahr zuvor gesagt, als sie vor ihn geführt worden war, um sein Urteil zu erwarten. Aber ein Kind aus dem Geschlecht des Kaisers hätte sicherlich ein bisschen von Taillefers legendärem Glanz und Ruhm behalten - von der Aura der Macht, die ihn stets eingehüllt hatte. Henry starrte seinen Sohn an. »Willst du damit andeuten, dass der Adler, mit dem du weggelaufen bist, von Taillefer abstammt?« Sanglant erhob die Stimme, als er antwortete, aber nicht, damit sein Vater ihn besser hören konnte, sondern damit sämtliche Edelleute und Bedienstete in der Halle ihn ebenfalls hören konnten. 138 »Wer hier ist bereit zu bezeugen, dass ich eine rechtmäßige und bindende Heirat mit der Frau namens Liathano eingegangen bin?« Die Soldaten, die neben der Tür gestanden hatten, traten jetzt vor. »Ich kann es bezeugen, Eure Hoheit!«, rief einer, und ein Zweiter, ein Dritter und ein Vierter taten es ihm gleich. Als ihre Rufe verklungen waren, kam Hauptmann Fulk näher. Seine Zuverlässigkeit war nur zu bekannt; er hatte Theophanu auf ihrem Weg nach Aosta begleitet und seine Taten während dieses Unternehmens - in dessen Verlauf sie unter anderem Adelheid aus den Fängen von Edelmann Eisenkopf befreit hatten - hatten ihm eine Menge Ruhm eingebracht. »Ich bezeuge, Eure Hoheit, dass Ihr aus freiem Willen vor Gott und freigeborenen Zeugen Eure Absicht erklärt habt, Euch durch die Eheschließung an die Frau Liathano zu binden«, rief er. »Dann gibt es also kein Hindernis«, sagte Sanglant triumphierend. »Liathano ist die Urenkelin von Taillefer und Radegundis, geboren aus einer rechtmäßigen Verbindung und daher selbst rechtmäßig und kein Bastard. Deshalb trägt auch sie jetzt den Goldreif, den einst ich getragen habe. Auf diese Weise ehre ich ihr königliches Geschlecht und ihr Recht, sich als Abkömmling von Taillefer zu bezeichnen.« Er blickte weder seine Mutter
noch seinen Vater an, als er dies sagte, sondern die Menge. Einige der Anwesenden hatten sich erhoben, um besser sehen zu können, was andere weiter hinten veranlasst hatte, sich auf die Bänke oder sogar auf die Tische zu stellen. Die Luft in der Halle schien zu knistern; die Stimmung der Menge bebte vor Energie, wie sie einem Gewitter vorauszugehen pflegt. Das Lächeln von Königin Adelheid hatte jetzt einen starren Ausdruck angenommen, und für einen Augenblick wirkte sie sogar verärgert. »Das ist unglaublich«, sagte Henry. »Taillefer ist gestorben, ohne einen rechtmäßig geborenen Sohn hinterlassen zu haben, der ihm hätte nachfolgen können, wie es in jenen Tagen in Salia üblich war. Er hat keine Nachfahren.« 139 »Königin Radegundis ist schwanger gewesen, als Taillefer starb.« Sanglant deutete auf den unglücklichen Poeten, der die feiernde Menge gerade erst mit Taillefers Heldentaten unterhalten hatte. »Ist das nicht so, Poet?« Der arme Mann konnte nur nicken, als Sanglant Zeilen in die Halle warf, die Rosvita einmal in ihrer kostbaren von St: Radegundis gelesen hatte, die ihr durch Bruder Fidelis zugekommen war. »>Noch immer hochschwanger, kleidete Radegundis sich und ihre engste Kameradin, eine Frau namens Clothilde, in die Gewänder armer Frauen. Sie zog das Exil den Qualen der Macht vor.< Und sie hat Zuflucht im Kloster von Poiterri gefunden. Was ist aus dem Kind geworden, das Radegundis unter ihrem Herzen getragen hat, Majestät?« »Das weiß niemand«, sagte Hathui plötzlich anstelle des Königs. »Niemand weiß, was aus dem Kind geworden ist.« »Ich weiß es.« Rosvita trat vor. War es illoyal von ihr zu sprechen? Doch sie konnte weder lügen noch etwas zurückhalten, wenn es um so viel ging. Und wenn schon nicht aus anderen Gründen, so schuldete sie zumindest dem Gedenken an Bruder Fidelis die Wahrheit. »Ich weiß, was aus dem Kind geworden ist, das Radegundis und Taillefer geboren wurde, denn ich habe in der Stunde seines Todes in den Bergen oberhalb vom Kloster Herford mit ihm gesprochen. Er nannte sich Bruder Fidelis, und abgesehen von einem einzigen Jahr, in dem er sein Gelübde aus Liebe zu einer jungen Frau vernachlässigt hat, verbrachte er sein ganzes Leben als Mönch im Dienste Gottes. Fidelis hat diese Worte in seiner von St. Radegundis, geschrieben: >Die Welt trennt jene, die einst kein Raum trennte.In der Krone
sehe ich einen Spiegel, und der Spiegel zeigt mir die Himmelssphären und den Nachthimmel. Im Spiegel sehe ich die Sterne, die wir die Sechs-Frauen-Die-Flussaufwärts-Leben nennen, aber sie brennen.< Jetzt hatte sie Angst, denn es schien, dass dies nicht nur seltsam und verwunderlich war, sondern vor allem ein schlechtes Omen. Sie blickte ein zweites Mal in den Spiegel. Sie sah die menschlichen Zauberer in ihren Steinwebstühlen stehen und einen Zauberspruch wirken, der größer war als jeder andere, den die Welt zuvor gekannt hatte. Und dann verstanden die Seher und die Zählfrauen meines Volkes plötzlich die Ziele der Shana-ret'zeri und ihrer menschlichen Verbündeten. Zu spät erkannten wir die Gefahr. Unsere Feinde hatten bereits das Netz gewirkt, um uns zu fangen.« Plötzlich konnte der alte Zauberer nicht mehr weitersprechen. Er sank in sich zusammen, verlor jede Kraft; sein Körper krümmte sich über den übereinander geschlagenen Beinen, als wäre er bewusstlos geworden. »Ich werde nicht von dem Leiden sprechen«, sagte er. Er flüsterte nur, aber es war dennoch im ganzen Raum zu hören. »Und ich spreche auch nicht von denen, die wir verloren haben. Nur so viel: Durch die Zaubersprüche, die die menschlichen Magier und ihre 153 Verbündeten gewirkt haben, wurde unser Land von der Erde fortgerissen. Wir haben uns hier im Exil aufgehalten. Das Land um uns stirbt, wie alle Pflanzen im Lauf der Zeit sterben, wenn sie entwurzelt werden. Wir sind geschrumpft. Wir werden sterben, wenn wir in diesem Exil bleiben müssen.« Er richtete sich auf. Das Feuer der Wut blitzte wieder in seinem Blick - die Dickköpfigkeit eines Mannes, der Schlimmeres als den Tod gesehen hatte, aber die Mittel besaß, länger zu leben als seine Feinde. Er blickte Liath jetzt direkt an. »Aber was aus Erde entstanden ist, wird zur Erde zurückkehren. Diese Wahrheit haben unsere Feinde nicht verstanden. Sie haben gedacht, uns für immer los zu sein, aber sie haben uns nur für eine bestimmte Zeit in die Verbannung geschickt.« »Wie kann das sein ?«, fragte Liath. »Wenn sie euch und eure Heimat von der Erde entfernt haben, müssen es doch sicherlich eure eigenen Zauberer sein, die euer Land zur Erde zurückbringen.« »Gib mir deinen Gürtel.« Sie löste ihren Ledergürtel und trat zu ihm. Die Ratsmitglieder verharrten jetzt in vollkommener Stille, doch ob aus Respekt vor Ältester Onkel und seinen Erinnerungen oder aus Kummer über das, was sie verloren hatten, konnte sie nicht sagen. Er nahm den Gürtel und hielt ihn an der Schnalle, sodass das andere Ende lose auf dem Boden baumelte. Er griff nach diesem Ende und hielt es so, dass es die Schnalle berührte. »Hier ist ein Kreis.« Er legte einen Finger auf die Schnalle. »Wenn ich auf der Oberfläche dieses Gürtels gehen würde, wo würde ich dann ankommen?« Er sah zu, wie sie mit dem Finger von der Schnalle über die Außenseite des Gürtels fuhr, bis sie wieder dort ankam, wo sie begonnen hatte. »So«, stimmte er zu, und sie nickte. »Stell dir diese Schnalle als die Erde vor. Als die menschlichen Zauberer ihren Zauber wirkten, hatten sie vor, mein Volk und das Land, in dem wir lebten, an einen anderen Ort zu verfrachten, so -« Er bewegte ihren Finger von der Schnalle weg auf deren Unterseite. »Jetzt ist das eine vom an154 deren getrennt. Wenn ich auf dieser Seite des Gürtels gehe, werde ich nicht zur Erde zurückkehren. Tu es.« Sie fuhr mit dem Finger an der Innenseite des Gürtels entlang, und obwohl sie sich der anderen Seite der Schnalle näherte, unter ihr vorbeikam, kehrte sie doch nie zu ihr zurück. Die beiden Seiten waren ewig getrennt, sie hatten keinen Verbindungspunkt. Er ließ das Ende des Gürtels wieder los, hielt nur die Schnalle fest. »Aber es scheint, als hätten sie eine wichtige Eigenschaft des Universums übersehen.« Er nahm das Ende des Gürtels, drehte es ein Mal herum und brachte es zur Schnalle. »Siehst du, wenn ich jetzt über den Gürtel fahre, bleibe ich bei der ersten Runde unter der Schnalle, doch bei der zweiten Runde kehre ich zur Schnalle zurück.« »Oh«, sagte Liat, plötzlich sehr neugierig geworden. Sie war die Oberfläche des Gürtels den ganzen Weg entlanggefahren, ohne den Finger von dem Leder zu nehmen, und beim zweiten Mal kam sie dort zur Schnalle zurück, wo sie begonnen hatte. »Daran habe ich nie gedacht!«, rief sie, verwundert und beeindruckt. »Das Universum hat eine Falte!« »Wie du siehst«, sagte Ältester Onkel anerkennend. »Obwohl unser Land von der Erde abgestoßen wurde, wird die Falte im Universum uns wieder dorthin zurückbringen, wo wir begonnen haben.« Er erhob sich unsicher, als würden seine Knie schmerzen. Er streckte den Arm aus und wandte sich an den Rat. »Auf der Erde vergeht der Lauf der Tage und Jahre anders als hier. Schon bald wird die Vollendung des Großjahrs zum dreizehnten Mal auf Erden abgeschlossen sein. Der Endpunkt wird zum Anfangspunkt, und wir werden nach Hause zurückkehren.« Katzenmaske schien kurz davor, eine Bemerkung von sich zu geben, doch bei dem Blick von Ältester Onkel blieben ihm die Worte im Hals stecken. Nachdenklich mühte sich Federkleid auf die Beine. Niemand rührte sich, um ihr zu helfen, bis Liath schließlich vortrat, aber von Schädelohrring zurückgehalten wur155 de. Der ältere Mann hob eine Hand, die Handfläche nach außen gerichtet, um zu zeigen, dass sie der schwangeren Frau, die den Adlersitz innehatte, nicht helfen durfte.
Federkleid keuchte ein bisschen, als sie sich aufrichtete und den Rat betrachtete. Im Stehen wirkte ihr Bauch sogar noch viel riesiger - so riesig, dass es ein Wunder schien, dass er nicht geplatzt war. »Wir werden nach Hause zurückkehren«, stimmte sie ihm zu. »Und doch bleibt eine Gefahr. Wir werden nach Hause zurückkehren, so lange die menschlichen Zauberer auf der Erde ihre Magie nicht dazu nutzen, einen zweiten Zauberspruch zu sprechen, wie sie es schon einmal getan haben. Dann könnten sie uns wieder zurück in den Äther stoßen, und wir würden sicher alle untergehen, zusammen mit unserem Land.« Schmerz bohrte sich in Liaths Bauch. Sie zuckte, krümmte sich instinktiv, aber der Schmerz verschwand so rasch, wie er gekommen war - es war nur die Erinnerung an ihre Geburtsschmerzen, an den Tag, als ihre Mutter ihr die Geschichte von der Großen Trennung und der Bedrohung aufgrund der Rückkehr der Aoi erzählt hatte. hatte Anne gesagt. Hatte Pa es die ganze Zeit gewusst? War dies das Schicksal, vor dem er sie hatte bewahren wollen - dass sie von Anne als Werkzeug benutzt wurde? Wieder kam ein Schmerz, aber dieses Mal war es einer aus Zorn. Pa hatte ihr gar nicht geholfen, indem er die Wahrheit vor ihr verborgen hatte. Er hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Die Unwissenheit hatte sie nicht geschützt, sondern sie nur schwächer und ängstlicher gemacht. »Magie auf eine solche Weise zu benutzen, scheint mir die Tat eines Ungeheuers zu sein«, sagte sie schließlich, ihre Worte vorsichtig abwägend und sich der Wut bewusst, die ein Loch in ihren Bauch zu brennen schien. »Aber ich habe eine Geschichte von meinem Volk gehört, aus einer Zeit, die als die Große Trennung bekannt ist, als die Aoi -« »Nenn uns nicht bei diesem Namen!«, rief Katzenmaske. 156 »Wenn du in Frieden kommst, wie du behauptest, wieso hörst du dann nicht auf, uns zu beleidigen?« »Ich habe nicht vor, euch zu beleidigen«, entgegnete Liath verletzt. »Das ist der Name, mit dem mein Volk euch benennt.« »Weißt du denn nicht, was er bedeutet?«, fragte Grünkleid. »Nein.« Katzenmaske spuckte die Worte geradezu aus. »Die Verfluchten.« »Und wie nennt ihr euch selbst?« Jetzt begannen alle auf einmal zu sprechen. Federkleid hob Ruhe gebietend die Hand. »In unserer alten Heimat nannten wir uns Jene-Die-Begreifen. Nachdem unsere Ahnen diesen Ort verlassen und die See überquert hatten, nannten wir uns Jene-Die-Eine-NeueHeimat-Haben. Jetzt nennen wir uns Jene-In-Der-Verbannung, Ashioi, was außerdem bedeutet Jene-DieVerflucht-Sind.« »Ashioi«, murmelte Liath; sie hörte das Wort »Aoi«, das sie kannte, darin. War das der Weg, wie altes Wissen überlebte, nur in Fragmenten wie der Textsammlung, die Pa im Laufe der Jahre zusammengestellt hatte? Sicher hatte Pa das wahre Ziel der Sieben Schläfer gekannt. Was hatte er in diesen Bemerkungen und den Schnipseln von magischem Wissen gesucht? Hatte er sich gewundert, dass ein Zauberspruch eine solche Macht gehabt hatte, um so etwas wie die Große Trennung zu bewirken? Sie musste sich eingehend damit beschäftigen, um alles zu verstehen. »Aber wenn ein solch riesiges Land wie dieses hier auf die Erde fällt, wird dann nicht ebenfalls eine schreckliche Umwälzung eintreten?« »Möglicherweise«, sagte Ältester Onkel. »Doch wenn dieses Land sich der Erde nähert und wieder von einem Zauberspruch von menschlichen Zauberern weggestoßen wird, wird auch das vielfache Zerstörung bewirken. Die Strömungen des Universums sparen keinen Gegenstand aus, denn selbst wenn Körper sich nicht berühren, beeinflussen sie sich gegenseitig. Wenn du in der Wirkungsweise der Sterne bewandert bist, verstehst du dieses Prinzip. 157 Kein Teil des Ufers ist sicher vor einer hohen Welle oder vor der Strömung der Ebbe. So oder so, die Erde wird leiden.« Die Dämmerung setzte plötzlich ein; durch das Loch im Dach kroch die Dunkelheit so rasch herein, dass die wirbelnden Staubfäden, die in Lichtstrahlen gefangen waren, jetzt einfach verschwanden, als die Schatten sich ausbreiteten. Für einen Augenblick war es so dunkel, dass nicht einmal Liath etwas erkennen konnte. Dann begannen der Adlersitz und der Jaguarsitz zu glühen und die beiden Gestalten zu erleuchten, die hinter ihnen standen: Federkleid und Ältester Onkel. In diesem Glanz nahmen die Perlen, die ihre Umhänge und Armschienen schmückten, neue Farben an, wechselten zwischen einem unruhigen Rot und Grün. Seine letzten Worte hatten wie ein Pfeil direkt auf ihr Herz gezielt. »Die einzige Frage ist, ob mein Volk völlig untergehen wird oder ob wir eine Chance zum Leben erhalten.« Vor ihrem geistigen Auge sah sie die zerstörte Stadt, die am Ufer so abrupt endete, als hätte ein Messer sie abgeschnitten. Nur ein Messer - oder ein gewaltiger Zauberspruch, dessen Macht ihre Vorstellungskraft überstieg und sie benommen machte - hätte das Land so abtrennen können, sauber abgeschnitten wie eine Scheibe Fleisch vom Braten. Allein das Nachdenken über die Macht eines solchen Zauberspruchs, über eine solche Trennung, bereitete ihr Übelkeit. Ihr wurde ganz heiß. Das Blut pochte in ihren Gliedern, und der heiße Geschmack von Feuer brannte auf ihren Lippen, während Wind in ihren Ohren dröhnte.
Wer würde untergehen, und wer würde leben? Wer hatte das Recht verdient, eine solche Entscheidung zu fällen? Der Raum flimmerte vor Hitze. Die Ratsmitglieder schrien auf, als Feuer aus dem Herzen des Adlersitzes aufschoss und Federkleid vollkommen verschlang. Liath taumelte angesichts seines Glanzes, doch inmitten der Wölbung der zuckenden Flammen krümmten sich Schatten. 158
Sie waren verschwunden. »Seht nur!«, rief Katzenmaske. Durch das schwächer werdende Feuer sah Liath einen schlafenden Mann. Sein Kopf war von ihr weggedreht, aber zwei schlafende Hunde lagen auf beiden Seiten von ihm, wie Wächter. Er rührte sich im Schlaf. Und dann lösten sich ganz rasch das Feuer und die Vision auf, und die Flammen legten sich nieder wie fallende Schwingen, offenbarten Federkleid, die unverletzt dastand. Liath sank auf den Boden; sie zitterte so sehr, dass sie nicht mehr stehen konnte. 159 »Lasst dies ein Zeichen sein«, sagte Federkleid ernst. »Wer von euch hat die Ungeduldige und den Mann, der ihr Sohn sein muss - der sowohl von unserem Blut als auch dem der Menschen ist -, gesehen?« Aber die anderen hatten die Vision aus Feuer nicht gesehen, und Liath war zu verwirrt, um sprechen zu können. »Sie muss gehen«, sagte Federkleid zu Ältester Onkel. »Sie trägt einen Namen mit schlechtem Omen. Ihre Macht ist zu groß, und wie alle Menschen versteht sie sie nicht. Ich habe gesprochen.« »So sei es«, sagte Ältester Onkel. Katzenmaske sprang vor. »Ihr Blut soll uns Kraft geben!« Sie alle begannen sofort zu streiten, als Liath aufsprang. »Ist es das, was ihr Gerechtigkeit nennt?«, schrie sie. »Ruhe!«, rief Federkleid mit einer so weichen, leisen Stimme, dass es mehr wie ein Ausatmen klang. Dennoch kehrte Stille ein. Draußen wehte ein Wind, sodass die Wurzeln am Dach raschelnd aneinander stießen. »Sie muss unverletzt bleiben. Ich möchte nicht riskieren, dass ihr Blut vergossen wird, so lange wir noch so schwach sind.« »Doch ich möchte, dass sie die Sphären wandelt, bevor sie geht«, sagte Ältester Onkel so freundlich, als hätte er einem sich verabschiedenden Freund einen letzten Becher Bier angeboten. Weißfeder zischte. Schädelohrring gab einen scharfen Protestlaut von sich, der von anderen wiederholt wurde. Nur Katzenmaske lachte. Federkleid blickte Liath kühl an. Ihre Augen waren so dunkel wie Obsidian, ihr Blick so durchdringend wie ein Messer. »Nur wenige können die Sphären wandeln. Niemand kehrt unverändert von dort zurück.« »Und doch weiß ich«, sagte Ältester Onkel, »dass wir ihr helfen müssen zu erkennen, was sie ist, wenn wir leben wollen.« Der Glanz, der den Adlersitz erleuchtete, erlosch jetzt ganz, bis er das leichte Leuchten einer Meermuschel hatte. Mit der Dämmerung kam ein scharfer Geruch nach trockener Erde und saurem 160 Schweiß, der schwache und beunruhigende Geruch von Wasser, der beißende Geschmack von Ingwer. Liath fühlte sich plötzlich müde, bis ins Mark getroffen durch das bisschen, was sie von Sanglant und Gnade gesehen hatte, als wäre die Hülle der Benommenheit zerplatzt und ihre blanke Haut offenbart worden. »Sie darf nie hierher zurückkehren«, sagte Federkleid, »aber wenn sie den Pfad der Sphären erklimmen kann, werden wir nicht einschreiten. Wenn ein Tag und eine Nacht vergangen sind, werde ich Katzenmaske und seine Krieger auf die Suche nach ihr schicken. Sollten sie sie in unserem Land finden, werde ich wegsehen, falls sie sich entscheiden, sie zu töten. Ich habe gesprochen.« »So sei es«, murmelte Ältester Onkel. Die anderen taten es ihm gleich, während Katzenmaske grinste. IV Hastiges Urteil
1 »Sie ist ganz und gar nicht so, wie ich sie in Erinnerung hatte.« König Henry stand mit seiner Enkelin auf dem Arm an einem geöffneten Fenster in den königlichen Gemächern, umgeben nur von Rosvita, Hathui, vier Verwaltern, sechs Wächtern und Helmut Villam. Prinzessin Theophanu und vier ihrer Frauen saßen im angrenzenden Zimmer und spielten Schach, stickten und diskutierten über das Traktat von der von St. Sotheris, das erst kürzlich von den Nonnen vom Kloster Korvei aus dem Arethusanischen ins Dariyanische übersetzt worden war. Ihre Stimmen klangen fröhlich; sie schienen offensichtlich keine Sorgen zu haben. Königin Adelheid hatte Alia und Sanglant nach draußen begleitet; sie zeigte ihnen den königlichen Garten mit seinen Rosenbeeten und den verschiedenen Kräutern und die Voliere, für die Angenheim berühmt war. Rosvita, die neben Henry beim Fenster stand und ihre Finger um das Fensterbrett krampfte, sah Adelheids leuchtendes Kleid zwischen den Rosen aufblitzen. Einen Augenblick später sah sie Sanglant bei einer der Kräuterparzellen auf den Knien hocken; er betastete gerade Schwarzwurzblüten. Neben ihm 162 kniete Bruder Heribert, und mit gebeugten Köpfen unterhielten sie sich angeregt miteinander. Der Kontrast zwischen den beiden Männern hätte gar nicht größer sein können: Sanglant hatte die riesige Gestalt und die Kraft eines Mannes, der an Waffen und Pferderücken und ein Leben unter freiem Himmel gewöhnt war, während Heribert die für einen Geistlichen typischen Gewänder trug, von schlanker Statur war und schmale Schultern hatte. Doch auch seine Hände zeigten die Spuren körperlicher Arbeit. Wie mochten die beiden sich begegnet sein? Was wusste Heribert, das er ihnen nicht erzählt hatte? »Sie ist ganz und gar nicht so, wie ich sie in Erinnerung hatte.« Henrys Miene wurde nachdenklich. »Es ist, als wäre die Zeit damals nur ein Traum gewesen, den ich mir mit meinem eigenen Verstand eingebildet hätte.« Gnade war an seiner Schulter eingeschlafen. »Vielleicht war es das auch«, bemerkte Rosvita. »Die Jugend fällt der Verführung leicht zum Opfer. Wir sind geübt darin, Paläste zu errichten, die nicht existieren.« »Ich bin sehr jung gewesen«, stimmte er zu. »Wirklich, Schwester, ich finde es verstörend. Ich erinnere mich so deutlich an meine leidenschaftlichen Gefühle, aber wenn ich sie jetzt ansehe, fürchte ich, einen Fehler gemacht zu haben.« Eine steife Brise bewegte die Blätter des Kräuterbeets neben dem Prinzen. Lachend erhob sich Sanglant, als Heribert verblüfft aufsprang. Die frische Luft und Heriberts Anwesenheit hatten dem Prinzen seine gute Laune wiedergegeben, doch jetzt blickte er hoch zu dem offenen Fenster, an dem sein Vater stand. Hatte er sie gehört? Sicherlich stand er zu weit weg, als dass er ihre Unterhaltung hätte mit anhören können. »War es denn ein Fehler, Eure Majestät?« Sie nickte in Richtung des Prinzen. »Nein, natürlich nicht. Vielleicht bin ich nur ein bisschen überrascht, dass mir mein Gedächtnis nicht so gut dient, wie Ihr es tut.« Er lächelte ganz wie ein Herrscher, der genau weiß, wann er 163 seiner Beraterin schmeicheln sollte, doch Rosvita spürte die Anspannung hinter den leichthin gesprochenen Worten. »Ihr seid sehr jung gewesen, Majestät. Gott gewähren uns all die Vorteile der Veränderung und des Wachsens, sofern wir sie nutzen. Ihr seid jetzt ein weiserer Mann als damals, zumindest habe ich so etwas gehört.« Er lächelte, dieses Mal mit aufrichtigem Vergnügen. Das Kind rührte sich; es wachte auf. Gnade gähnte, blickte sich um und meinte dann klar und deutlich: »Da!« Nach dieser eindeutigen Aussage blickte sie mit gerunzelter Stirn Henry an. Sie hatte ein schlaues, süßes Gesicht, mit bezaubernden, lebhaften Zügen. »Bäh!«, rief sie aus. Sie schien gar nicht anders als auf diese herrische Weise sprechen zu können. »Die Zeit vergeht für sie irgendwie anders«,sagte Henry. »Es dauert neun Monate, bis eine Frau ein Kind gebiert, und selbst Frühgeborene können erst nach sieben Monaten auf die Welt kommen, wenn sie am Leben bleiben wollen. Sanglant und dieser Adler sind vor vierzehn Monaten weggegangen, und doch wirkt dieses Kind, als wäre es mindestens ein Jahr, vielleicht sogar noch älter. Die Haut des Kindes ist aber so wie die des Adlers, wenn ich mich richtig entsinne.« »In diesem Fall könnt Ihr Eurem Gedächtnis ruhig vertrauen. Auch ich glaube, dass das Kind auf vielerlei Weise seiner Mutter ähnelt. Seht Euch nur die blauen Augen an! Aber Ihr habt Recht, Majestät. Selbst, wenn sie eine Frühgeburt war, könnte sie jetzt nicht älter sein als sieben Monate.« »Kommt.« Henry ging mit dem Kind nach draußen auf die Suche nach seinem Sohn, doch kaum hatte er den Garten betreten, lenkten die Herbstblätter und Blüten des Spätsommers Gnade ab. Rosvita sah zu, wie der König sich ihren herrischen Befehlen ergab: Immer wieder deutete Gnade auf etwas, das ihren Blick gefangen nahm, und gehorsam brachte er sie erst dorthin, dann hierhin, bückte sich, damit sie eine Blume berühren konnte, löste ihre Finger von einem dornigen Stängel, bewahrte sie davor, ein verwelk164 tes Eichenblatt in den Mund zu stecken, hob sie hoch, um ihr eine Schar Gänse zu zeigen, die über sie hinwegflog. Er war vernarrt in sie. Sanglant war zur Gartenmauer gegangen, wo er leise mit Bruder Heribert sprach. Welch eine Intrige sie wohl
ausheckten? Doch war Sanglant jemals an Intrigen interessiert gewesen? Er hatte immer einen äußerst gradlinigen Eindruck gemacht. Er machte allerdings keinerlei Anstalten, seinen Vater von Gnade zu erlösen, und das Kind fuhr fort, sich von Henry dieses und jenes zeigen zu lassen. Königin Adelheid war zum Vogelhaus gegangen. Rosvita bewunderte die junge Königin: Entweder war sie fest entschlossen, aus Alia eine Verbündete zu machen, oder sie bemühte sich, jedem Verdacht auf Feindseligkeit vorzubeugen, während sie insgeheim einen Plan ausheckte, wie sie ihre Rivalin loswerden konnte. Selbst jetzt, nach so vielen Monaten und gemeinsamen Erlebnissen, konnte Rosvita nicht sagen, was von beidem wahrscheinlicher war. Doch als Rosvita sah, wie Henry das Kind verhätschelte, wurde ihr das Herz schwer. Die Dämmerung trieb sie schließlich wieder ins Haus. Adelheid und ihre Begleiter kamen von den Seemöwen, Sanglant und Heribert aus dem Garten. Alia hielt sich noch draußen auf, um an den Rosen zu riechen. Niemand störte sie. Wie immer würde das Festmahl bis in die Nacht dauern, aber weder Henry noch sonst jemand aus seiner Gruppe schien erpicht darauf zu sein, zur großen Halle zurückzukehren. Zu vieles war noch unausgesprochen geblieben. Gnade ging sofort zu Sanglant. Sie war hungrig und wurde allmählich unruhig. Die Begleiter begannen eine geistreiche Diskussion über die Frage, ob sich die Milch einer Ziege oder einer Kuh besser zur Ernährung eines mutterlosen Kindes eignete. Sanglant brachte das Kind nach draußen. Rosvita trat ans Fenster. Mit der Dämmerung kam ein kühler Herbstwind auf, der sie zum Zittern brachte. Sanglant ging seiner 165 Mutter aus dem Weg und ließ sich außerhalb ihrer Sichtweite auf der anderen Seite des Walnussbaums nieder. Adelheid gesellte sich zu Rosvita. Die Königin roch ein bisschen nach den Seemöven, noch stärker jedoch nach dem Rosenwasser, mit dem sie sich gewöhnlich wusch. Sie hatte ein solch wunderbares, lebendiges Profil, dass ihre Gesichtszüge selbst in dem immer schwächer werdenden Licht verblüffend ausdrucksstark waren und so strahlten wie der zunehmende Mond, der sich über die Mauern und die Baumwipfel erhob. »Ihr habt Euch höchst würdevoll verhalten, Eure Majestät«, sagte Rosvita. »Habe ich das ? Glaubt Ihr denn, dass ich eifersüchtig auf die Leidenschaft bin, die er einst für sie empfunden hat? Das ist viele Jahre her. Ich weiß, sie sieht bemerkenswert jung aus dafür, dass sie schon sehr alt sein muss -, aber so lange sie nicht ihre Absichten erklärt, wüsste ich nicht, wieso sie etwas besitzen sollte, das er auch jetzt begehrt oder vermisst.« Der Ton der Königin hatte etwas Raues, als würde sie ihre Verärgerung verbergen. »Ihr hingegen besitzt so etwas?« »Das habe ich zumindest getan«, erwiderte sie bitter. »Wie Ihr nur zu gut wisst, Schwester Rosvita, denn Ihr habt mich zusammen mit meiner Cousine Theophanu in Vennaci aufgesucht. Aber Ihr habt auch gesehen, wie Henry die lebende Erbin von Taillefers großem Kaiserreich in seinen Armen gehalten hat. Wenn das stimmt, frage ich mich, aus welchem Grund Henry noch eine Königin von meinem Geschlecht brauchte?« »Was redet Ihr denn da, Eure Majestät? Der Anspruch Eurer Familie auf den aostanischen Thron ist unangefochten.« Adelheid lächelte leicht, sogar ein bisschen ironisch. »Es ist wahr, dass keine Familie einen besseren Anspruch auf den Thron hat. Sicher wird die Skopos mich unterstützen, wenn es ihr möglich ist, denn sie ist meine Tante. Doch wie sehr hat mir mein königliches Geschlecht nach dem Tod meiner Mutter und meines ersten Mannes - mögen Gott sie segnen - wirklich gehol166 fen? Welche Edelleute in Aosta sind gekommen, um mir zu helfen, als ich von Eisenkopf belagert wurde? Meine Landsleute haben mich seiner Barmherzigkeit ausgeliefert. Ich wäre seine Gefangene geworden und zweifellos auch seine unfreiwillige Frau, wäret Ihr und Prinzessin Theophanu nicht aufgetaucht. Was wäre geschehen, wenn Mutter Obligatia uns nicht aufgenommen hätte? Was, wenn sie Frater Hugh nicht erlaubt hätte, Zauberei anzuwenden, um unsere Flucht zu ermöglichen?« »Was wollt Ihr damit sagen?« Doch Sorgen, hatten sie erst einmal ein bestimmtes Maß erreicht, konnten sich lange und hartnäckig halten. »Bisher hatte ich keine Rivalen. Jetzt ist das anders.« »Henry hat rechtmäßige Kinder, das ist wahr.« »Von denen aber niemand behaupten kann, ein Abkömmling Kaiser Taillefers zu sein. Nein, Schwester Rosvita, es ist offensichtlich, dass Henry Sanglant bevorzugt. Hätte Henry damals seinen Willen durchgesetzt, wäre ich jetzt mit Prinz Sanglant verheiratet.« Da dies zutraf, sah Rosvita keinen Grund, Adelheid zu widersprechen, und so nickte sie lediglich zustimmend. »Wenn das so war, muss er gehofft haben, dass Sanglant durch die Heirat mit mir zum König von Aosta gekrönt werden würde. Es scheint mir offensichtlich, dass nur ein Herrscher, der so stark ist, dass er einen Anspruch auf den Thron von Aosta hat, auch hoffen kann, den Titel als Heiliger Dariyanischer Kaiser zu beanspruchen. Henry hat gehofft, Sanglant diesen Titel geben zu können. Zumindest vermute ich das.« »Henry hat niemals seine Ziele verborgen. Er hat gehofft, diesen Titel für sich selbst zu erhalten.« »Natürlich hat er jetzt das Recht, sich König von Aosta zu nennen, da er mein Ehemann ist. Aber Eisenkopf herrscht noch immer in Darre. Erkennt Ihr denn nicht, in welcher Lage ich mich befinde?«
Rosvita seufzte. Adelheid war jung, aber sicher nicht naiv. Und 167 doch brachte Rosvita es nicht über sich, etwas zu sagen, das Henry gegenüber illoyal gewesen wäre. »Ihr seid etwas durcheinander, Eure Majestät«, sagte sie stattdessen ausweichend und in der Hoffnung, dass Adelheid nicht weiter drängen würde. Aber diesen Fehler der Jugend, ungestüm und voreilig zu sein, hatte Adelheid noch nicht ganz unter Kontrolle. »Nehmen wir einmal als wahr an, dass dieses Kind hier Taillefers Enkelin ist und somit auch seine rechtmäßige Erbin. Ich habe Henry die Krone von Aosta gebracht. Sie allein ist aber weit weniger wert als Gnades Anspruch auf Aostas Thron auf die Sternenkrone, die Taillefer als Heiliger Dariyanischer Kaiser getragen hat.« Rosvita warf einen Blick zurück in den Raum. Zwei Verwalter standen bei der Tür, blickten gelangweilt drein, während sie den Wein bewachten. Verschiedene Wandteppiche mit Motiven aus dem Leben von St. Thekla hingen an den weiß getünchten Wänden: die Bezeugung der Ekstase; die Unterredung vor der Kaiserin; das Schreiben einer berühmten Epistel an weit verstreute Gemeinschaften; der Erhalt des Stabs, der sie als Skopos kennzeichnete, als heilige Mutter der Kirche; die Stationen ihres Märtyrertums. Henry war mit Villam in die angrenzende Kammer gegangen, um beim Schachspiel zuzusehen, und Hathui hing an ihm wie ein Falke an einem Fußriemen. Villam stützte sich mit einer Hand auf die Stuhllehne, auf der eine von Theophanus bevorzugten Frauen saß, die kräftige Leoba. Noch immer hatte er stets einen Hang zur Liebäugelei. In der Tat war er zurzeit unverheiratet und trotz seines Alters zweifellos eine hervorragende Partie. Leoba überließ es ihm, eine Schachfigur für sie zu verrücken - der Turm, der den Adler nahm. Das Spiel brachte Rosvita zurück zu den Zügen, die hier und jetzt vollzogen wurden. »Eure Majestät, Ihr glaubt doch nicht etwa, dass König Henry Euch aufgrund solcher Geringfügigkeiten beiseite schieben würde?« Adelheid besaß genügend Anstand, um zu erröten. »Nein, 168 Schwester, haltet mich nicht für selbstsüchtig. Um ehrlich zu sein, ich fürchte nichts um meinetwillen. Ich mag Henry, und ich glaube, er mag mich. Er ist bekannt dafür, fromm zu sein und den Gesetzen der Kirche zu gehorchen. Er wird jetzt keinen Vertrag brechen, den er einmal geschlossen hat. Aber wenn Gott bereit sind und uns Ihren Segen geben, werde ich Kinder mit ihm haben. Was soll aus ihnen werden?« Jetzt endlich sah Rosvita die Linien, die gezogen worden waren. »Wie kann ich eine solche Frage beantworten, Eure Majestät? Ich kann bestenfalls hoffen, dass der König auf mich und meinen Rat hört. Ich spreche nicht für ihn.« »Ihr habt mein Leben und meine Krone gerettet, Schwester. Ich vertraue Euch, und ich weiß, dass Ihr das tut, was recht ist, nicht das, was angebracht ist. Ich weiß, dass Ihr mit aufrechtem Herzen dient und dass Ihr Euch nur um das kümmert, was Eurem Herrscher nützt, nicht um das, was Euch nützt. Deshalb bitte ich Euch darum, sorgfältig zu bedenken, was Ihr dem König ratet. Denkt an meine Position und an die der Kinder, die ich hoffentlich haben werde.« Sie lächelte lieblich und trat zur Tür, um Alia in Empfang zu nehmen, die gerade hereinkam. Sie winkte den Verwaltern zu, ließ einen Becher Wein für die Aoi-Frau kommen. »War das nun eine Bitte oder eine Warnung?« Rosvita sprang abrupt auf und fuhr mit einem Finger über den hölzernen Fenstersims. »Ihr habt mich erschreckt, Bruder. Ich habe Euch nicht zu uns treten sehen.« »Genauso wenig wie die Königin«, bemerkte Fortunatus. »Aber sie hat eine ganze Menge erkannt. Henry hat bereits erwachsene Kinder, die stets Rivalen der Kinder sein werden, die sie noch zur Welt bringen wird. Doch die anderen Kinder fürchtet sie bei weitem nicht so sehr, wie sie Sanglant fürchtet.« Rosvita legte ihre Hände wieder auf den Sims, dann stöhnte sie kurz auf, als ihr Finger zu schmerzen begann. »Ihr habt einen Splitter abbekommen«, sagte Fortunatus und nahm ihre Hand in seine. Seine Finger fühlten sich weich und 169 sanft an - die Hände eines Mannes, der viele Jahre nur mit Schreiben zugebracht hatte. Als er sich über ihre Hand beugte und den Splitter suchte, sprach sie mit gesenkter Stimme weiter. »Glaubt Ihr wirklich, dass sie Sanglant fürchtet?« »Würdet Ihr das nicht tun?«, fragte er liebenswürdig. »Ah! Da ist er.« Er zupfte den Splitter heraus und ließ ihre Hand los. Sie saugte kurz an der Wunde, während er fortfuhr. »Er hat überragende Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld. Alle wissen das. Er kehrt erholt und kräftig zum Hof zurück, und augenblicklich knien Soldaten vor ihm nieder. Nur Gott weiß, wann sie ihm die Treue geschworen haben - ihm, der nichts besitzt, das er sein eigen nennen kann.« »Außer seinem Kind.« »Außer seinem Kind«, stimmte Fortunatus zu. Während der entbehrungsreichen Reise über das Gebirge nach Aosta und der anschließenden Flucht vor Eisenkopf war er um einiges dünner geworden. Die Magerkeit unterstrich seine scharfen Augen und den schlauen Mund und gab ihm etwas Mürrisches, obwohl er eigentlich ein Mann war, der Scherze und Gelächter trockenen Erklärungen vorzog. Da er in den letzten paar Wochen auf der Rundreise genügend Gelegenheit gehabt hatte, gut zu essen - wie er es bevorzugte -, nahm er jedoch allmählich wieder zu. Es stand ihm gut. »Und gerade das - dass er nur das Kind hat -, macht ihn umso gefährlicher. Er ist kein Mann, der etwas für sich selbst begehrt.«
»Den jungen Adler hat er für sich begehrt, gegen den Wunsch seines Vaters.« »Ich bitte Gott um Vergebung, Schwester, wenn ich jetzt sage, dass er sie sicherlich so begehrt hat, wie ein Hund in der Brunstzeit eine Hündin begehrt.« »Ihr habt Recht, es ist das Kind, das ihn verändert hat, nicht die Heirat. Und es stimmt auch, dass er nichts für sich, für sein eigenes Fortkommen begehrt. Was er aber für sein Kind begehrt, ist etwas anderes.« 170 »Glaubt Ihr, dass es zu einem Kampf zwischen ihm und Königin Adelheid kommen wird?« Sie runzelte die Stirn, während sie einen Blick auf das Herbstlaub warf. Wind peitschte die Zweige des Walnussbaumes, unter denen Sanglant mit Gnade saß, doch blieben die übrigen Bäume und Büsche im Garten davon unberührt. Dieser schroffe Gegensatz zwischen dem rauschenden Walnussbaum einerseits und der sonst herrschenden herbstlichen Stille andererseits verblüffte Rosvita. Plötzlich erhob sich der Prinz. Heribert, der neben ihm saß, schien darum zu bitten, das Kind nehmen zu dürfen, und nach kurzem Zögern - erkennbar an den steifen Schultern - reichte Sanglant es ihm. Gnade hatte ihre Glieder so von sich gestreckt, wie es typisch war für ein schlafendes Kind. Der Prinz und der Geistliche standen unter den zuckenden Zweigen und unterhielten sich miteinander, während das Kind friedlich schlief. Schließlich blickte Sanglant auf, und Rosvita hatte den Eindruck, als würde er eine Bemerkung gen Himmel richten. Doch sicherlich war es Zufall, dass die Brise, die die Zweige des Walnussbaumes aufgewühlt hatte, sich genau in diesem Augenblick legte. »Was kennt Prinz Sanglant anderes als Krieg? Hat Henry nicht gegen seine eigene Schwester gekämpft? Wieso sollten wir von der nächsten Generation etwas anderes erwarten?« »Es sei denn, gute Ratschläge und kluge Köpfe können sich durchsetzen«, murmelte Fortunatus. Hinter ihnen wurden Stimmen laut, und die Gesellschaft, die sich im angrenzenden Zimmer aufgehalten hatte, kehrte zurück und kam auf Rosvita und Fortunatus zu. Rosvita löste sich genau in dem Moment vom Fenster, als Hathui zu ihr trat. »Ich bitte Euch, Schwester Rosvita«, sagte der Adler. »Der König möchte, dass Ihr ihm aufwartet.« »Ich möchte allein mit dir reden«, sagte Alia zu Henry, während sie sich im Raum umblickte. Henry gab der kleinen Gruppe von Höflingen, Edelleuten und Bediensteten - alles in allem nicht mehr als fünfundzwanzig Leu171 te - einen Wink. »Mein lieber Markgraf Villam und Schwester Rosvita sind mit all meinen persönlichen Angelegenheiten vertraut und werden hier bleiben.« Dann streckte er wohl überlegt eine Hand aus, um Adelheid zu sich zu bitten. Sie trat vor und stellte sich neben ihn, die Wangen gerötet und ein freundliches Lächeln auf den Lippen, das sie jedoch rasch unterdrückte. »Königin Adelheid und meine Tochter, Theophanu, bleiben natürlich ebenfalls bei mir.« Er blickte jetzt auf, sah sich im Zimmer um. Sein Blick traf Hathui. Sie benötigte weder eine Einladung noch eine Entschuldigung; sie stand einfach wie immer ein paar Schritte hinter ihm. Die anderen zogen sich zu den Wänden zurück, wo sie versuchten, möglichst unauffällig zu sein. Henry beachtete sie nicht weiter. »Falls Sanglant hören will, was du zu sagen hast, wird er sicherlich hereinkommen.« »Du hast dich verändert, Henri«, erwiderte Alia. Es war eine Aussage, nichts weiter, ohne jeden Groll. »Du bist zu jenem Herrscher geworden, den ich damals in dir gespürt habe. Es tut mir nicht Leid, dass ich dich anstelle eines anderen ausgewählt habe.« Er zuckte zurück, als hätte er einen Schlag erhalten. Adelheids kleine, aber feste Hand schloss sich um seine. »Was meinst du damit, dass du mich anstelle eines anderen erwählt hättest? An wessen Stelle?« Sie schien über seinen Ausbruch verwundert. »Ist es nicht üblich unter den Menschen, Verbindungen aufgrund des Geschlechts, der Fruchtbarkeit und des Besitzes einzugehen? Ist es nicht das, was du selbst tust, Henri?« Sie deutete auf Adelheid. »Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal auf diese Welt zurückgekehrt bin, habe ich jenen gesucht, dessen Name bei meinem Volk bekannt ist. Es ist der Mann, den du Kaiser Taillefer nennst. Aber er war tot, als ich wieder auf der Erde wandelte, und er hat keine männlichen Nachfahren hinterlassen. Ich konnte aber keine Verbindung mit einem toten Mann eingehen. Ich musste nach den Lebenden Ausschau halten. Ich bin weit gereist auf der Suche nach den Lebenden. Von allen Fürsten dieser Lande war es das wendi172 sehe Geschlecht, in dem ich die größte Stärke gesehen habe. Deshalb habe ich damals geglaubt, dass dein Geschlecht das Gesuchte war.« Henrys Wangen waren - ein Zeichen seiner Verärgerung - gerötet, aber seine Stimme verriet nichts von der Gereiztheit, die kurz in seinen Augen aufblitzte, als er sie ein wenig zusammenkniff. »Ich scheine unsere Beziehung missverstanden zu haben. Ich hatte gedacht, es wäre gegenseitige Leidenschaft gewesen und dass du gütigerweise geschworen hast, dass das Kind, das wir zusammen gemacht haben, sowohl von mir als auch von dir stammt. Damit dieses Kind mein Recht besiegeln würde, als Herrscher die Nachfolge meines Vaters anzutreten. Wenn ich dich jetzt richtig verstehe, hast du aber ein anderes Ziel verfolgt? Demnach hast du mich oder irgendeinen anderen jungen Prinzen eines edlen Geschlechts - absichtlich gesucht und dich wegen der Stärke des Königreichs, das ich einst regieren würde, für mich entschieden?« »Ist es denn anders, wenn ihr hier Verbindungen eingeht?« Alia schien aufrichtig verblüfft. »Schließt ihr nicht für ein Unterfangen von großer Wichtigkeit Abkommen und Verträge, die euren Zielen am besten dienen?« Henry lachte scharf. »Hattest du denn ein Unterfangen im Kopf, als du damals in Darre zu mir gekommen bist,
Alia? Wie gut ich mich an diese Nacht erinnere!« Sie deutete auf den Garten, der jetzt bis auf das Licht, das der Mond und die Sterne spendeten, ganz dunkel war. In der Halle hatten die Verwalter damit begonnen, Lampen anzuzünden. Die vielen Bildnisse von St. Thekla auf den Wandteppichen schimmerten im goldenen Licht; ihre heiligen Kronen waren mit Silberfäden durchwirkt, und im Schein der Lampen erstrahlten sie wie Mondlicht. »Was für ein anderes Unterfangen, als das Kind zu machen? Entsprach das nicht unserer Vereinbarung?« »Sicher, das tat es. Ich wusste, dass ich ein Kind brauchte, selbst wenn mir meine Leidenschaft dir gegenüber wichtiger war, als die173 ses Kind zu zeugen. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass du das Kind ebenso sehr gewollt hättest wie ich.« Er klang verbittert. »Du hast uns beide nur allzu schnell verlassen. Wozu hättest du ein Kind wollen können, wenn du es noch im Säuglingsalter zurücklässt?« Sie trat in das Licht, das von den vier drachenköpfigen Lampen verbreitet wurde, die von den Haken an der Decke hingen und die Mitte des Zimmers beleuchteten. Trotz ihrer Tunika sah Alia eindeutig fremdländisch aus, seltsamer und wilder als die Menschen. »In ihm werden mein und dein Volk eins.« »Eins?« »Wenn es jemanden gibt, der sowohl mein als auch dein Blut in sich hat, kann es eine Hoffnung auf Frieden geben.« Fortunatus rührte sich neben Rosvita, und sie drückte kurz sein Handgelenk, um ihn zum Schweigen aufzufordern. Die anderen, die bei Henry standen, tuschelten leise miteinander. Wie konnte Alias Volk Frieden suchen, wenn es doch gar nicht mehr auf der Erde lebte, möglicherweise überhaupt nicht mehr am Leben war? Alia war die Einzige dieses legendenhaften Volkes, die vor etwa fünfundzwanzig Jahren unter ihnen gewandelt war, um dann ganz plötzlich zu verschwinden und viele Jahre später wiederzukehren, ohne auch nur ein bisschen gealtert zu sein. Aber an Henry hatten die Jahre sehr wohl ihre Spuren hinterlassen. Er zog ein rostfarbenes Stück Stoff hervor und streckte es ihr mit wütendem Triumph entgegen. Alia zuckte mit gequältem Gesicht zurück, als würde ihr der Anblick des Stoffes körperliche Schmerzen bereiten. »Ich habe dieses Stück die ganze Zeit über bei mir getragen, als Erinnerung an die Liebe, die ich für dich empfunden habe!« In diesen Worten spürte Rosvita den jungen Henry, der gerade seine Macht kennen gelernt und noch nicht genau gewusst hatte, wie er mit ihr umgehen sollte - ganz im Gegensatz zu dem erwachsenen Henry dieser Tage, der nie die Beherrschung verlor. »Du hast mich niemals geliebt, nicht wahr?« »Nein.« Henrys Ausbruch erinnerte an die aufspritzende 174 Schaumfontäne, die entstand, wenn eine Welle gegen eine Klippe klatschte. »Ich habe vor dem Rat meines eigenen Volkes einen Schwur abgelegt, dass ich mich für diese Pflicht opfern und ein Kind gebären würde, das das Blut unserer beiden Völker in sich trägt.« Schließlich, als wären die Worte endlich auch an seine eigenen Ohren gedrungen, bekam er seinen Gesichtsausdruck wieder unter Kontrolle und setzte jene hochmütige Miene auf, die eines Herrschers würdig war. »Zu welchem Zweck?« »Um eine Allianz zu schaffen. In einem Kind, das beiden Völkern entstammt, lebt die Hoffnung, dass es in beiden Stämmen leben könnte. Wir hoffen, dass der Junge die Brücke sein wird, die dein Volk zu einer Allianz mit meinem bringen wird. Da wir gewusst haben, dass du uns nicht trauen würdest, habe ich den Jungen bei dir gelassen, damit du und dein Volk ihn lieben lernen würdet. Ich habe gedacht, er würde dazu erzogen werden, nach dir zu herrschen, wie es bei den Menschen Sitte ist. Das hätte unsere Aufgabe erleichtert. Jetzt kehre ich jedoch zurück und finde ihn vom Hofe verbannt vor. Wieso hast du ihn nicht so behandelt, wie du es mir versprochen hast?« »Ich habe ihn als meinen Sohn erzogen!«, rief Henry entrüstet. »Kein anderer Mann hat seinen Sohn je besser behandelt! Aber er ist ein Bastard. Durch seine Geburt habe ich das Recht auf die Krone erhalten, aber er konnte nichts weiter bekommen als die Ehre, zum Hauptmann ausgebildet zu werden. Ich habe getan, was in meinen Kräften stand, Alia. Ich hätte ihn nach mir zum König gemacht, auch wenn alle gegen mich gewesen wären. Aber er hat mir alles, was ich ihm geboten habe, wegen dieser Frau vor die Füße geschleudert!« Er wurde jetzt sogar noch wütender, als er sich an das ungehorsame Verhalten seines Sohnes erinnerte. Sanglant kam vom Garten herein. Die Leute teilten sich rasch, um ihn hindurchzulassen. Er blieb zwischen dem König und der Aoi-Frau stehen, und plötzlich wurden die jeweiligen Ähnlichkeiten noch deutlicher: Die Stirn, das Kinn und die Größe hatte er 175 von seinem Vater, die hohen Wangenknochen, den Teint und die breiten Schultern hingegen von seiner Mutter beide Völker vermischten sich harmonisch in seinem Körper. Aber er hatte nichts von Alias nichtmenschlicher Haltung und ihrem kalten, schroffen Wesen. In Sprache und Gestik war er ganz und gar das Kind seines Vaters. »Liath ist die Urenkelin von Kaiserin Taillefer.« Ohne wirklich zu schreien, hatte Sanglant seine Stimme so sehr erhoben, dass sie überall in dem lang gestreckten Zimmer zu hören war. »Es stimmt, das Volk meines Vaters, das meiner Mutter und das von Kaiser Taillefer, dem größten Herrscher, den die Menschheit je gekannt hat, sind
in einer Person vereinigt. Und zwar in meiner Tochter Gnade.« Er deutete auf Bruder Heribert, der hinter ihn getreten war und Gnade hielt. »Ist es nicht so?« Henry hob leicht die Hand, doch die kleine Bewegung genügte, und sein Adler trat vor, um dem Prinzen eine Gegenfrage zu stellen. »Was für einen Beweis habt Ihr, dass das Kind Taillefers Geschlecht entstammt?«, fragte Hathui. »Wollt Ihr mich etwa der Lüge bezichtigen, Adler?«, fragte Sanglant leise. »Nein, Eure Hoheit«, erwiderte sie freimütig. »Aber Ihr könntet in die Irre geführt worden sein. Schwester Rosvita glaubt, dass Taillefers verlorenem Sohn eine Tochter geboren wurde. Jede Frau könnte daher behaupten, die Urenkelin von Taillefer zu sein.« »Wer würde auf die Idee kommen, so etwas zu behaupten?« Er schüttelte ungeduldig den Kopf. »Dieses Argument ist nicht sehr stichhaltig. Wenn Ihr einen Beweis braucht, werde ich Euch einen geben, und danach wird niemand mehr an Gnades Anspruch zweifeln.« »Sohn.« Wie seltsam es klang, wenn Alia dieses Wort sprach. Es ließ Sanglant mehr wie einen Fremden erscheinen, weniger als ein geschätztes Mitglied der Familie. »Es ist wahr, dass ich damals, als ich zum ersten Mal durch das Tor in dieses Land gekommen bin, die Absicht hatte, ein Kind zu machen, das ein Abkömmling von 176 Taillefer ist. Aber es sollte nicht sein. Dass du nun so etwas zustande gebracht hast -« Sie hatte eine eigenartige, ergebene Art, mit den Schultern zu zucken, als wollte sie damit sagen, dass ihre Götter gehandelt hatten, ohne sie um Rat zu fragen. »So sei es. Ich beuge mich dem Willen von Jene-Die-Erschafft. Zeige also den Beweis, wenn die Menschheit sich nicht anders von der Wahrheit überzeugen lassen will. Aber der Beweis wird nur von geringer Bedeutung sein, wenn ihr alle tot seid, weil nämlich die große Umwälzung auf euch hernieder kommen wird.« Die meisten schienen noch immer auf Gnade zu starren, die sich jetzt in Heriberts Armen rührte, kräftig gähnte und ihren kleinen Mund öffnete; sie machte kurz ein müdes Gesicht und schlief wieder ein. Doch Henry hatte gehört, was Alia gesagt hatte. »Von welcher Umwälzung sprichst du?« Er betrachtete sie eingehend. »Du kennst die alte Prophezeiung, die eine heilige Frau deines Volkes gemacht hat, nicht wahr? Ist darin nicht von einem großen Unheil die Rede?« Rosvita kam etwas in den Sinn, und sie meldete sich ungefragt zu Wort. »>Und es wird großes Unheil auf euch niederfahren, eine gewaltige Umwälzung, wie ihr sie nie zuvor erlebt habt. Das Wasser wird kochen, und die Himmel werden Tränen aus Blut vergießen, die Flüsse werden bergauf fließen und die Winde sich in Strudel verwandeln. Die Berge werden zu Meer werden, und das Meer wird zu Bergen werden, und die Kinder werden vor Entsetzen aufschreien, denn es gibt keinen Boden mehr, auf dem sie stehen könnten. Und sie werden diese Zeit die Große Umwälzung nennen.Gott ihm die Geheimnisse des Universums enthüllten< ? Die Tugenden der Eltern gehen oft auf das Kind über.« »Ich verstehe nicht ganz, Markgraf«, stammelte Zacharias abwartend. Er rechnete damit, dass Villam im nächsten Augenblick den Namen von Kansi-a-lari erwähnen und die Falle dann zuschnappen würde. »Tut Ihr das nicht?«, fragte Villam und blickte aufrichtig überrascht drein. »Hat Prinz Sanglant nicht die Frau geheiratet, die Liathano heißt?« Die Erleichterung traf ihn mit der Wucht eines Faustschlags mitten in die Magengrube. »Ich kenne sie nicht, Markgraf.« Villam lächelte trocken. »Wenn es doch so wäre - wenn Ihr sie gesehen hättet -, würdet Ihr Euch daran erinnern.« »Ach die! Sie war jung und hübsch, aber auf ungewöhnliche Weise, mit einem cremefarbenen, dunklen Teint? War sie schwanger, oder hatte sie ein Neugeborenes bei sich?« »Genau die.« Villam seufzte. Er musterte seinen Weinbecher und nahm sich eine Brotkruste, an der er zu nagen begann. »Was ist aus ihr geworden?«
»Das wisst Ihr nicht? Engel haben sie in die Himmelssphären enthoben.« »Engel?« »Wir könnten auch Daemonen zu ihnen sagen, Markgraf.« »Ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll«, sagte Villam gedankenvoll. Er blickte besorgt drein. »Ist sie eine Agentin vom oder von Gott? Ist sie von niedriger oder von hoher Geburt? Hat sie den Prinzen verhext, oder bekräftigt die Gunst, die sie ihm gewährt, nur seine Fähigkeit zu herrschen?« »Markgraf«, sagte der Diener Humbert so scharf, dass Villam blinzeln musste; die Worte rissen ihn abrupt aus seinen Gedanken. »Der Adler des Königs wartet draußen. Sie hat eine Nachricht für Euch.« Villam sagte eine Weile gar nichts und fuhr mit den Fingern nachdenklich über einen Apfel. »Ich werde einen Reiter benötigen, der meiner Tochter eine Nachricht überbringt«, sagte er schließlich. »Einen vertrauenswürdigen und loyalen Mann, möglichst einen von meinen eigenen Ländereien. Waldhar vielleicht. Sein Vater und sein Onkel haben mir gegen die Redarii hervorragend gedient, und seine Mutter ist eine gute Verwalterin der Arvi-Besitztümer. Er soll sich zur Abreise bereitmachen und dann zu mir kommen.« Der Diener nickte. Er hatte eine sehr korrekte Art, war tüchtig und forsch. »Benötigt Ihr einen Geistlichen, um die Nachricht auf Pergament niederschreiben zu lassen?« »Nein. Was ich zu sagen habe, ist nur für die Ohren meiner Tochter bestimmt. Waldhar soll eine Eskorte von drei Reitern bekommen.« »Angesichts der Neuigkeiten von den Überfällen der Qumaner würde ich zu sechs raten, Markgraf.« »Ja.« Villam war schon seit vielen Jahren Markgraf, und er war nicht nur daran gewöhnt zu befehlen, sondern auch daran, dass seine Bediensteten seine Befehle gewissenhaft ausführten. »Sorg dafür, dass der Frater etwas zu essen und zu trinken bekommt und schick ihn dann wieder los. Aber das muss in aller Stille geschehen.« »Es wird genau so geschehen, wie Ihr wünscht, Markgraf.« Humbert warf Zacharias einen Blick zu, der halb aus Neugier und halb aus Verachtung bestand. »Zieht Ihr es vor, dass jene, die ihm dabei helfen, schweigen, oder dürfen sie erzählen, welche Richtung der Prinz genommen hat, als er vor drei Tagen aufgebrochen ist?« »Leider neigen die Leute zum Tratschen. Deshalb behalte ich dich auch als Verwalter, Humbert, weil du so diskret bist.« »Ja, Markgraf.« Humbert deutete auf Zacharias. Er hatte kein besonders freundliches Gesicht, sah aber aus, als wäre er gerecht. »Kommt, Bruder. Ihr wollt sicher nicht noch länger am Hof des Königs bleiben. Schon bald wird es hier schwierig für Euch werden, wenn erst einmal bekannt wird, wen Ihr sucht.« »Ich danke Euch für "Eure Gastfreundschaft, Markgraf«, sagte Zacharias, doch Villam hatte seine Aufmerksamkeit längst der Frau zugewandt, die gerade durch die Tür kam. Sie trug ordentliche Kleider und darüber einen rot gesäumten Umhang, der an der einen Schulter mit einer Messingschnalle in der Form eines Adlers befestigt war. Zacharias erkannte sie sofort: den vertrauten, stürmischen Ausdruck in ihrem Gesicht, die Hakennase, die Art, beim Gehen ganz leicht zu schlendern - was allerdings nur er bemerken konnte, weil er es wusste. Sie hatte sich diese Art zu gehen als kleines Kind nach einem Sturz vom Apfelbaum angewöhnt. Er drückte sich hastig in die Schatten an der Wand und hoffte, dass sein Gesicht von der Kapuze verdeckt sein würde. Einer guten Botin gemäß ließ sie ihren Blick rasch durch das Zimmer schweifen, um sich ein Bild von den Anwesenden zu verschaffen. Sie stockte einen Augenblick, als sie ihn sah, als wäre sie verblüfft über sein im Schatten liegendes Gesicht. Er kannte sie gut genug, um ihre Miene deuten zu können, denn es war jene, die sie schon als Kind gehabt hatte und die sie immer dann aufsetzte, wenn sie etwas sah, das sie zwar als vertraut empfand, aber nicht recht einordnen konnte. Sie spannte den Kiefer in einer Mischung aus Verärgerung und Neugier an und schien gerade zum Sprechen ansetzen zu wollen, als Villam die Stimme erhob. »Adler, bringt Ihr eine Nachricht vom König?« »Ja, Markgraf Villam«, antwortete Hathui; im Laufe der Jahre und durch das mit ihrem Amt als Adler verbundene Selbstvertrauen hatte ihre Stimme einen dunklen, angenehmen Klang angenommen. Sofort wandte sie dem Markgrafen ihre Aufmerksamkeit zu. Wie unterschiedlich ihre Schicksale doch gewesen waren, das des geliebten älteren Bruders und das der in ihn vernarrten kleinen Schwester. Sie war ein geachteter Adler geworden, wartete dem König auf, während er für immer als Sklave gebrandmarkt war, gejagt und verzweifelt. 251 Er schlüpfte durch die Tür, noch bevor sie ihm ihre Aufmerksamkeit wieder zuwenden konnte. Er fühlte sich so beschämt. Er wollte nicht, dass sie ihn erkannte, dass sie sah, was für eine armselige Kreatur aus ihm geworden war, nicht länger ein Mann, oft benutzt und abgeschoben. Er erinnerte sich daran, wie ihr Gesicht damals, vor vielen Jahren, vor Stolz geglüht hatte, als er ihr Dorf verlassen hatte, um als Missionar in den Osten zu gehen. Niemals durfte sie erfahren, was wirklich mit ihm geschehen war. Es war besser, wenn sie ihn für tot hielt. Er aß und trank, was man ihm anbot, nahm die Ziege und seinen abgetragenen Lederbeutel und verließ den Palastbereich, so schnell er konnte - für den Fall, dass sie vorhatte, zu ihm zu kommen, um ihre Neugier zu stillen. Nach Westen musste er gehen, hatte Humbert gesagt, auf der Straße, die nach Bederbor führte.
Und so ging er also dahin, allein und verzweifelt bis in sein tiefstes Inneres. Was er gesehen hatte, was ihm angetan worden war, worein er sich gefügt hatte - all das hatte eine Kluft zwischen ihm und seiner Familie geschlagen, die niemals mehr überbrückt werden konnte. Alles, was ihm geblieben war, war die geheime Sprache der Sterne, die leuchtenden Lichter, das silbergoldene Band, das sich zwischen den himmlischen Sphären hindurchwand, die Schönheit eines unbeschreiblichen Kosmos, in dessen Innern er sich möglicherweise verlieren konnte, wenn es ihm gelang, seine Mysterien zu verstehen. Entschlossen folgte er der Straße in westlicher Richtung auf der Suche nach dem Prinzen. Sanglant benutzte einen kräftigen Stock, die Köpfe der Disteln abzuschlagen - eine ganze Kompanie lag aufgrund seiner wüsten Hiebe bereits auf dem Boden. »Du hast ziemlich schlechte Laune«, bemerkte Heribert. Der schlanke Geistliche saß auf einem gefällten Baumstamm und war damit beschäftigt, die letzten Schnitte an dem Schaft eines Stabs anzubringen. In die Spitze hatte er den Turm einer Festung geschnitzt, umgeben von dem Kreis der Einigkeit. Hinter ihnen beaufsichtigte Hauptmann Fulk den Aufbau eines behelfsmäßigen Lagers zwischen den Steinen einer alten, längst zu Ruinen zerfallenen dariyanischen Festung, die durch eine kleine Gruppe von Erlen ihren Blicken entzogen wurde. »Der König hatte Recht.« Sanglant fuhr fort, Disteln zu köpfen, während er sprach. Er konnte es nicht ertragen, still zu sitzen, nicht jetzt, wo er so aufgewühlt und wütend war. Er fühlte sich so hilflos wie die Disteln, die unter seinen harten Hieben zu Boden fielen. »Wie soll ich ein Gefolge unterhalten, wenn ich über keinerlei Land verfüge?« »Herzog Conrads Kastellanin hat keinerlei Einwände erhoben und uns für volle fünf Tage in der Halle von Bederbor untergebracht und beköstigt.« »Aber Conrad ist nicht zurückgekehrt, und sie hat uns auch nicht gesagt, wann sie ihn zurück erwartet. Sie hat uns einfach uns selbst überlassen. Wir sind auf die Großzügigkeit anderer Edelleute angewiesen. Oder auf ihre Furcht.« »Oder auf ihren Respekt vor deinem Ruf, Sanglant«, sagte Heribert in ruhigem Ton. Sanglant hob seine freie Hand und machte eine abwehrende Geste. Er hörte nicht auf, Disteln zu köpfen. Sie boten sich gut als Feinde an, denn es gab sie in Hülle und Fülle, und sie waren leicht zu besiegen. »Auch mein Ruf kann mein Gefolge nicht für immer ernähren. Genauso wenig werden meine Verwandten und Kameraden mich ewig aushalten, wenn sie wissen, dass sie damit den Zorn meines Vaters auf sich ziehen. Er könnte ihnen vorwerfen, einen Rebellen zu unterstützen, und sie wegen mangelnder Loyalität anklagen.« »Dann wird seine Wut auf sie doppelt so groß sein, wenn sie auf deine Worte hören. Was anderes gibst du denn von dir, wenn nicht rebellische Worte, mein Freund?« Diese Worte ließen ihn mitten in der Bewegung verharren. Die malträtierten Disteln schwankten noch eine Weile hin und her. Ja, was? Er drehte sich um und blickte Heribert an. »Was willst du eigentlich?«, fuhr Heribert fort. »Was hast du vor? Du weißt, ich werde dir folgen, egal, wohin dein Weg dich führt, aber es scheint mir, als solltest du ein bisschen genauer wissen, wohin du gehst, bevor du diese Straße noch länger entlang schreitest.« Sanglant ließ sich neben Heribert auf den Baumstamm sinken. »So werde ich an die Bürde des Herrschens erinnert«, bemerkte er bitter, während Heribert mit seiner Schnitzerei fortfuhr. »Es war leichter, einfach nur das zu tun, was man mir befohlen hat, damals, als ich noch Hauptmann der Drachen war.« »Es ist immer leichter, nur das zu tun, was man gesagt bekommt«, murmelte Heribert. Seine Hände verharrten in der Bewegung, und sein Blick wanderte zu den Bäumen, die in einigem Abstand von ihnen standen, doch er blickte auf eine Szene, die nur er allein sehen konnte. Sanglant hatte nicht die Geduld, sich in Selbstmitleid zu ergehen. Es machte ihn ruhelos. Er sprang auf und begann, auf und ab zu gehen. »Wenn ein Adler mit der Nachricht von einer großen Invasion gekommen wäre und mein Vater ihm nicht geglaubt hätte, wäre es doch an mir gewesen, dieser Invasion entgegenzutreten, nicht wahr?« Heriberts Blick wanderte zurück zum Prinzen. »Wäre es das? Wenn du einen geschützten Ort für dich und deine Leute finden würdest -« Sanglant köpfte sieben Disteln mit einem Schlag. Dann lachte er. »Nein, mein Freund, dafür kennst du mich zu gut. Wie kann ich ruhen, wenn Wendar in Gefahr ist? Ich habe geschworen, das Reich zu schützen sowie jede Menschenseele, die unter der Herrschaft meiner Familie lebt.« Heribert lächelte sanft, sagte aber nichts. »Aber ich habe auch eine Pflicht dem Volk meiner Mutter gegenüber. Meine Mutter behauptet, die Aoi, die in die Verbannung getrieben worden sind, würden alle sterben, wenn sie nicht zur Erde zurückkehren. Und doch will Schwester Anne ihnen die rechtmäßige Rückkehr verweigern.« »Schwester Anne hat behauptet, dass der Rückkehr der Aoi eine große Umwälzung folgen wird.« »Schwester Anne hat vieles behauptet, aber sie hätte auch Gnade verhungern lassen. Sie hat Jahre damit verbracht, ihren Mann zu jagen, und am Ende hat sie ihn getötet, weil sie ihre Tochter zurückhaben wollte.
Niemand hat mir je zufrieden stellend erklären können, wieso ein Mann wie Bernard überhaupt mit Liath weggelaufen ist und warum er sie so verzweifelt versteckt hat. Was, wenn er etwas wusste, das wir nicht wissen? Nein, Schwester Anne kann vieles behaupten, und sie kann die Wahrheit so verdrehen, dass sie ihren eigenen Zielen dient. Und am Ende wissen wir nicht, was wahr und was falsch ist, nur dass sie herzlos ist, wenn es darum geht, andere für ihre eigenen Zwecke einzusetzen.« »Darüber werde ich mit dir gewiss nicht streiten«, murmelte Heribert. »Ich habe ihr eine schöne Halle gebaut, und doch bin ich sicher, dass sie mich sofort beiseite geschoben hätte, wenn es keine Verwendung mehr für mich gegeben hätte.« Er seufzte und schob das Messer zurück in die Scheide. Dann fuhr er mit den Fingern über den schön geschnitzten Turm, der jetzt seinen Eichenstab krönte - Zinnen und Schießscharten zierten das Holz und wirkten beinahe wie Stein, und in der Mitte erhob sich der Kreis der Einigkeit. »Alles zerstört, wie du gesagt hast«, sagte er leise und mit veränderter Stimme. »Alles. Die Halle hat wie Zunder gebrannt.« Sanglant senkte seinen Stock und legte Heribert eine Hand kameradschaftlich auf die Schulter. »Du kannst dir ihre Macht gar nicht vorstellen.« »Du meinst die Macht von Anne und den anderen?« »Nein, obschon ich sagen muss, dass Schwester Anne größere Macht besitzt, als ich jemals zuvor gesehen oder begriffen habe. Nein, ich habe die Feuerdämonen gemeint, die Liath mitgenommen haben. Was immer ihr Blick berührt hat, ist in Flammen aufgegangen. Selbst die Berge haben gebrannt.« Die Worte kamen ungebeten. »Ich konnte nichts tun, um sie aufzuhalten.« Trauer färbte seine Stimme, aber andererseits klang sie nach der Verletzung, die er sich fünf Jahre zuvor in einer Schlacht zugezogen hatte, immer etwas heiser. Eine Brise hatte die Bäume erfasst. Er lauschte, konnte aber ihrem Rascheln nichts entnehmen: Es war wirklich nur der Wind, keine Geister aus Luft wie die, denen Anne befohlen hatte. Und doch erinnerte ihn der Klang des Herbstlaubs im Wind daran, dass er noch immer Hoffnung haben konnte. Im Palast von Angenheim hatte er durch ein Tor auf einen Ort geblickt, der durch die Macht, die Entfernung und die in der Architektur des Universums verborgenen Geheimnisse verschleiert gewesen war - so hätte es zumindest Liath gesagt. Er hatte ihre Stimme gehört. »Sie lebt noch«, flüsterte er. »Es ist erstaunlich, dass überhaupt jemand überlebt hat.« Sanglant hob den Stock in seiner Hand, wog ihn, betrachtete die geköpften Disteln und sich für Barmherzigkeit entscheidend -senkte ihn wieder. »Ich weiß, dass Schwester Anne den Strudel überlebt hat. Wie vielen von ihren Kameraden und Kameradinnen es ebenso ergangen ist, weiß ich nicht.« »Schwester Venia hat überlebt«, sagte Heribert grimmig. »Woher weißt du das?« »Sie überlebt immer, egal, was geschieht.« »Das wirst du sicher besser wissen als ich. Sie war deine Mutter und hat dich erzogen.« »Wie einen angeketteten Hund«, murmelte Heribert. Sanglant beobachtete interessiert, wie die glatte Schale der Freundlichkeit von dem Geistlichen abfiel und alter Groll zum Vorschein kam, den er seit vielen Jahren heimlich genährt hatte. Aber wie ein Hund schüttelte der junge Geistliche ihn nach einem 256 kurzen Augenblick ab und hüllte sich wieder in seinen Schleier. Seine Miene klärte sich, und er blickte Sanglant mit einem kühlen Lächeln an. »Wo könnten Zauberer wohl hingehen, wenn ihr Heim abgebrannt ist? Glaubst du, sie versuchen, Verna neu aufzubauen?« »Ich würde dort nicht bleiben, nachdem Daemonen von solcher Macht aufgetaucht sind. Das Ganze ist ein Rätsel, Heribert. Diese Daemonen haben Liath gesucht. Bernard ist vor Anne und ihrer Gruppe geflohen, weil er befürchtet hat, dass die Sieben Schläfer Liath für ihre Zwecke benutzen könnten. Aber er hat vielleicht auch die Daemonen gefürchtet. Nein, da gibt es noch viel, das ich nicht erklären kann. Eines aber weiß ich ganz gewiss: Anne wird nicht ruhen. Sie wird Liath suchen, und auch, wenn sie sie nicht finden kann, wird sie die Vertriebenen daran zu hindern versuchen, zurückzukehren. Sie hat gehofft, dass Liath die Aoi davon abhalten würde, aber nur weil Liath verschwunden ist, wird Anne nicht aufgeben. Ich muss Schwester Anne und ihre Leute aufhalten. Ich muss sicherstellen, das die Vertriebenen zurückkehren können« »Nun«, sagte Heribert und machte eine Handbewegung in Richtung des Lagers, das zwischen den Ruinen errichtet wurde. »Angesicht der Tatsache, dass du es mit einer mächtigen Zauberin wie Schwester Anne aufnehmen willst, hast du ein ziemlich schwaches Heer - siebzig Männer, einen exkommunizierten Geistlichen, ein Kleinkind und ein ätherisches Wesen!« »Das ist wahr.« Sanglant bückte sich und hob eine der abgeschlagenen Disteln auf, deren Köpfe gleich unterhalb der Blüte abgetrennt worden waren. Sie stach ihn in die Hand, aber der körperliche Schmerz dämpfte die Wut und die Bitterkeit, die ihm das Herz schwer machten. »Ich nehme an, so ähnlich fühlt sich ein treuer Hund, der von seiner Herrin am Wegesrand zurückgelassen wird. Ich habe wirklich gedacht, meine Mutter -« Er fluchte, schüttelte die Distel ab, als seine Haut von dem Schmerz zu pulsieren begann. »Ich habe tatsächlich gedacht -« Es war ihm unmöglich, weiterzureden, und so stand er einfach nur da, bemüht, seine Fassung nicht zu verlieren,
während Heribert ihn teilnahmsvoll anblickte. Aus der Ferne war das Meckern der Ziege zu hören, dann erklang ein anderes, viel helleres Meckern. Die Stimmen in den Bäumen schienen ihn zu verspotten, auch wenn es nur der Wind war. »Ich bin ein Narr. Hat sie mich jemals anders behandelt als das Pony, das sie mit sich herumgeschleppt hat?« Heribert schien Einwände erheben zu wollen, besann sich aber eines Besseren. »Kaum war ich - nicht mehr von Nutzen für sie, hat sie mich wieder beiseite geschoben wie damals, als ich noch ein Kind war.« . ;»Nein, Sanglarit, du solltest noch nicht so hart über sie urteilen. Vielleicht hat der König sie davon abgehalten.« »Der König könnte eine Zauberin mit ihren Fähigkeiten niemals von irgendetwas abhalten. Sie hätte uns folgen können, wenn sie es gewollt hätte. Aber sie wollte es nicht. Ich bin für ihre Pläne nicht mehr nützlich -jetzt, wo ich, wie du gesagt hast, gegen die Autorität meines Vaters rebelliert habe. Das war alles, was sie gekümmert hat.« »Nein, mein Freund, ich bin sicher, dass du eine größere Rolle zu spielen hast - wenn diese Prophezeiung sich bewahrheitet.« »Aber werde ich wirklich die Rolle spielen, die sie mir zugedacht haben? Ich bin nicht mehr der Hauptmann der Drachen, den man wie eine Schachfigur nach Gutdünken hin und her schieben konnte.« Er runzelte plötzlich die Stirn und legte die Hand schützend vor die Augen, als er nach Westen zum Lager starrte. Unruhe war dort eingekehrt. Er hörte Stimmen, konnte aber keine Worte verstehen. Stritten sich da nicht zwei Ziegen, obwohl sie doch nur eine besaßen? Aber Hauptmann Fulk würde die Lage sicher im Griff haben. Er selbst hatte andere Schlachten zu schlagen. Der Entschluss kam rasch, und mit ihm ein süßer Beigeschmack. Das Wissen, was zu tun war und dass er es sein würde, der es tun musste, klärte seinen Kopf von Zweifeln und Verzweif258 lung. Ein Mann, der zweifelt, machte sich schlecht in einer Schlacht, und so hatte er schon vor langer Zeit gelernt, Zweifel beiseite zu schieben. »Die Sieben Schläfer müssen aufgehalten werden, Heribert. Wenn mein Vater mir keinen Glauben schenken will und nicht handelt, dann muss ich es tun.« Er wusste, dass er Recht hatte, genauso, wie er in einer Schlacht wusste, wann es an der Zeit war, zum Angriff blasen zu lassen. Er hatte sich nur ein einziges Mal geirrt, damals, als Blutherz' Illusionen ihn besiegt hatten. Er wollte nicht wieder einen Fehler machen. »Denk daran, was meine Mutter getan hat und warum ich überhaupt hier bin. Sie hat sich nie etwas aus Henry gemacht. Sie ist nicht aus Begierde oder Leidenschaft oder Liebe seine Geliebte geworden. Sie hat es getan, um mich zu gebären, damit ich eine Brücke zwischen seinem Volk und ihrem sein könnte. Nach unserer Flucht aus Verna sind wir zwölf Tage lang durch dieses Land gezogen, und wenn sie überhaupt gesprochen hat, hat sie mir von dem Rat der Aoi erzählt und davon, dass er in verschiedene Gruppen zersplittert ist. Einige der Aoi hassen die Menschen noch immer und hoffen, sämtliche menschlichen Reiche zu erobern, während andere nach einer Übereinkunft und Vereinbarungen streben.« »Leider sind nicht einmal die sagenhaften Aoi vor Intrigen geschützt.« »Selbst Tiere markieren ihr Gebiet und stellen klar, wer an erster und wer an letzter Stelle in ihrer Herde steht. Wenn diejenigen Aoi, die die Menschheit noch immer hassen, nach der Rückkehr an Macht gewinnen, werden sich einige Edelleute auf einen Krieg vorbereiten müssen. Wenn mein Vater das nicht tut, muss ich es tun.« Heribert hüstelte. »Mein Prinz. Mein guter Freund. Wenn du Anne nicht gestört hättest und sie in Ruhe ihre Zauberei hätte durchführen können, würden die Aoi gar nicht zurückkehren. Und Wendar würde der Frieden sicher sein.« Sanglant blickte weg. »Und alle meine Verwandten würden bald tot sein. Nein, das kann ich nicht zulassen. Ich kann mich nicht gegen das Volk meiner Mutter stellen. Ich werde sie nicht alle sterben lassen.« »Willst du stattdessen das unwissentliche Werkzeug sein, mit dem sie die Menschheit versklaven ? Du hast selbst gesagt, dass sie herzlich wenig Interesse an dir gezeigt haben. Wirklich, Sanglant, du solltest deinen Vater lieber um Vergebung bitten und ihm helfen, Königin Adelheid den Thron von Aosta wiederzubeschaffen. Wenn er Aosta in seinen Händen hält, hat er genug Macht, um sich zum Heiligen Dariyanischen Kaiser krönen zu lassen, wie Taillefer vor ihm. Eine solche Macht würde ihm die Kraft geben, der Bedrohung durch die Aoi zu begegnen, sollten die Ereignisse, von denen du sprichst, wirklich eintreten.« Das Bild von Blutherz' Kette erschien vor Sanglants geistigem Auge. Diese Ketten lasteten noch immer schwer auf ihm, und sie würden es ewig tun. »Ich werde meinen Vater nicht um Vergebung bitten, weil ich nichts falsch gemacht habe - außer, dass ich gegen seinen Willen geheiratet habe.« »Hättest du Königin Adelheid geheiratet, wie dein Vater es von dir gewollt hat, wärst du jetzt König von Aosta und Erbe deines Vaters. Dann hättest du die Macht, zu tun, was getan werden muss.« Sanglant wandte sich wutentbrannt um, sah Heribert jedoch halb lachend aufspringen, so wie Leute es zu tun pflegen, wenn sie einen bewaffneten Mann beruhigen wollen, den sie unbeabsichtigt beleidigt hatten. Er kannte den Blick nur zu gut. Der Geistliche hielt den Stock vor sich, als wolle er sich verteidigen, obwohl er im Umgang mit Waffen überhaupt nicht geübt war.
»Ich sage nur die Wahrheit, Sanglant. Ich würde dir niemals etwas anderes sagen.« Sanglant fluchte laut. Den harten Worten folgte ein schroffes Lachen. »Das stimmt, und du tust gut daran, mich daran zu erinnern. Aber dennoch werde ich meinen Vater nicht um Verzeihung bitten.« 260 »In Ordnung«, erwiderte Heribert und ließ den Stab wieder sinken. »Ich weiß, wie es ist, nicht nachgeben zu können. Aber es ist gut, wenn du weißt, welchen Weg du beschreitest und was dich dazu gebracht hat, gerade ihn zu wählen.« »Still.« Sanglant hob die Hand, als er im Lager jemanden seinen Namen aussprechen hörte. »Komm.« Heribert beeilte sich, ihm zu dem Gemäuer zu folgen. Sie hatten gerade die Hälfte der Strecke geschafft, als Matto ihnen entgegenkam. »Da vorn siehst du eine Lektion, Heribert. Ich brauche Berater, die sich nicht von ihrer Bewunderung für meine Fähigkeiten blenden lassen.« Heribert lachte. »Du meinst von deiner Fähigkeit zu kämpfen. Vergib ihm, mein Prinz, denn er ist noch jung.« »Ich fürchte allerdings, wenn er darauf besteht, mir zu folgen, wird er auch nicht sehr viel älter werden.« »Das darfst du nicht sagen - mögen Gott dir vergeben!«, schalt ihn Heribert. »Wir können nicht wissen, was uns die Zukunft bringt.« Sanglant antwortete nicht, weil der Junge inzwischen beinahe vor ihnen stand. Sein gebrochener Arm hing noch immer in einer Schlinge, aber er schien nicht mehr allzu sehr zu schmerzen. Mattos Wangen waren vor Aufregung gerötet, und er schien kurz davor, sich vor Sanglant auf den Boden zu werfen, in der Hoffnung, ihm die Stiefel küssen zu dürfen. Glücklicherweise hatte er sich ein Beispiel an Fulks Verhalten und dem seiner Soldaten genommen. Er verkündete seine Botschaft so stolz, als wäre er ein Adler des Königs. »Eure Hoheit! Hauptmann Fulk bittet Euch, sofort zu ihm zu kommen. Ein Frater ist im Lager aufgetaucht und möchte Euch sprechen.« Als Sanglant das Lager betrat, sah er erst einmal nach Gnade; sie schlief in einer Tragschlaufe, die zwischen einer alten Steinsäule und einem neuen Holzpfosten befestigt worden war. Jerna ließ eine Brise aufkommen, die die Tragschlaufe sanft hin und her 261 schaukelte. Seit das Kind mehr und mehr feste Nahrung zu sich nahm und weniger von der Milch der Daemonin trank, versiegte auch Jernas Substanz immer mehr. Er konnte ihre weiblichen Formen nur noch als wässrigen Schimmer im Licht der Nachmittagssonne ausmachen, das sich über die Säule ergoss. Nun gut. Die weiblichen Kurven belästigten ihn genug in seinen Träumen, wenn er mitten in der Nacht aufwachte oder Grund hatte, innezuhalten und seine Gedanken umherstreifen zu lassen. Es war besser, wenn er sie gar nicht sah, als dass er auf solch unziemliche Weise in Versuchung geführt wurde. Es war eine Erleichterung, etwas Ablenkung zu bekommen. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Fremden zu. Es dauerte einen Augenblick, ehe er den zerlumpten Mann in den zerschlissenen Gewändern, die einmal einem Frater gehört haben mochten, erkannte. Der Mann hatte eine störrische Ziege bei sich, die in diesem Augenblick versuchte, die andere von einem besonders schönen Fleckchen mit saftigen Disteln zu vertreiben. Mehrere von Fulks Männer standen genau wie der Hauptmann selbst in angemessener Entfernung und sahen zu. »Ihr seid der Mann, der mit meiner Mutter gereist ist«, sagte Sanglant und ließ seinen Blick über den Mann schweifen. Er bot einen wenig angenehmen Anblick, war schmutzig und hatte ein entzündetes Auge. Er stank erbärmlich. »Sie hat gesagt, dass Ihr tot wärt.« »Vielleicht hat sie geglaubt, dass ich tot bin«, sagte der Mann. »Ihr müsst Prinz Sanglant ordnungsgemäß anreden«, mischte Hauptmann Fulk sich ein. »Für Euch ist er Eure Hoheit. Er ist ein Prinz, der Sohn von König Henry.« »Eure Hoheit«, sagte der zerlumpte Frater mit leichter Ironie. »Ich bin Bruder Zacharias.« Er warf einen Blick auf das Gefolge des Prinzen; inzwischen waren fast sämtliche Soldaten herbeigekommen und beobachteten den Neuankömmling - an diesem schönen Nachmittag gab es ohnehin nichts, was ihre Aufmerksamkeit hätte stärker fesseln können. Zacharias äußerte sich nicht 262 dazu, was er von diesem behelfsmäßigen Gefolge hielt, und Sanglant konnte seine Miene auch nicht deuten. Schließlich begegnete sein Blick wieder dem des Fraters. Der Mann hatte eine störrische Art, dreinzublicken, wirkte gleichzeitig aber auch müde. »Ich bin Euch gefolgt, Eure Hoheit.« »Was immerhin mehr ist als das, was meine Mutter getan hat«, erwiderte Sanglant und blickte dabei Heribert an, bevor er sich wieder dem Frater zuwandte. »Ihr seid mir also gefolgt. Was wollt Ihr denn von mir?« Zacharias zog eine verschmutzte Pergamentrolle aus einem verbeulten Kochtopf, der mit einem abgenutzten Lederstreifen an seinem Gürtel befestigt war. Er entrollte das Pergament vorsichtig und enthüllte einen abgegriffenen Fetzen, auf dem Nummern, Chiffren und Diagramme standen, ferner irgendwelche Verschrobenheiten und Epizyklen sowie Nadelstiche, die wohl Sterne darstellen sollten. Sanglant erkannte die ungeduldige Handschrift sofort. Er nahm dem Frater das Papier aus der Hand, ohne um Erlaubnis zu fragen, und der Mann protestierte auch nicht dagegen, stieß lediglich einen kleinen Überraschungsschrei aus, den er aber rasch unterdrückte, als er die Blicke der umstehenden Soldaten auf sich spürte.
»Liath.« Sanglant hielt sich den Fetzen an die Wange, als würde irgendetwas von ihr in diesen hastig hingekritzelten Nummern und Kreisen stecken, ein Hauch von ihrer Seele, von ihrem Herzen, den er über seine Haut aufnehmen konnte. »Ihr wisst, wer diese Berechnungen niedergeschrieben hat, Eure Hoheit?«, fragte der Frater mit zunehmender Erregung. Seine Wangen röteten sich, und er blinzelte so rasch mit dem entzündeten Auge, dass Tränen über das geschwollene Lid rannen. Nach einer langen Stille ließ Sanglant das Pergament sinken. Es waren letztendlich doch nur Zeichen. Er kannte die Namen, die sie ihnen gegeben hatte, aber er wusste nicht wirklich, was sie bedeuteten. »Meine Frau.« 263 »Dann ist es, die ich suche!«, schrie der Frater triumphierend. Er streckte eine leicht zitternde Hand aus, um den Fetzen zurückzubekommen. Nach einigem Zögern gab Sanglant ihn zurück. »Ihr habt sicher gesehen, was aus ihr geworden ist. Sie ist von Feuerdaemonen geraubt worden.« Die Soldaten kannten die Geschichte bereits, aber jetzt, da sie die Worte so kühn ausgesprochen hörten, tuschelten sie leise miteinander. Von Zeit zu Zeit wunderte Sanglant sich darüber, dass sie mit ihm ritten obwohl er sich seinem Vater und König widersetzt hatte, und trotz des Rufes, den seine Frau genoss, die von einem Kirchenkonzil wegen des Verbrechens der Ausübung von Zauberei exkommuniziert worden und unter höchst rätselhaften Umständen von der Erde verschwunden war. Und trotz der nichtmenschlichen Daemonin, die sich ihm als Amme für seine Tochter zur Verfügung gestellt hatte. »Oh.« Zacharias betrachtete die Ziegen, die ihren Streit beendet hatten, indem sie jeweils die Grenzen der Seile ausreizten, während sie sich an einem Brombeerstrauch zu schaffen machten. Sein Profil schien Sanglant auf unbestimmte Weise vertraut, aber er konnte es nicht richtig einordnen. Hatte er ihn schon zuvor gesehen? Er glaubte es nicht, und doch erinnerte dieser Mann ihn tief in seinem Innern an jemanden. Der Frater hatte eine kühne Nase, eine Hakennase, wie manche wohl gesagt hätten, und eine leicht weibliche Kinnlinie, die weniger scharf als vielmehr voll war. Er war dünn, wie es üblich war für einen Mann, der lange Zeit wenig gegessen hatte, und ein Schopf dunkler Haare war in seinem Nacken zusammengebunden. Wie ein guter Kirchenmann hatte er keinen Bart. Aber sein Blick war klar und ohne Furcht. »Glaubt Ihr, sie ist für Euch verloren, Eure Hoheit?« »Ich werde sie finden.« Zacharias bedachte die Worte und auch den Tonfall, dann nickte er. »Darf Ich mit Euch reisen, mein Prinz?« Die Frage irritierte Sanglant. »Wieso sucht Ihr sie?« 264 »Damit sie mir diese Berechnungen erklären kann. Auch sie ist auf der Suche nach dem Verständnis der Architektur des Universums, genau wie ich. Sie muss etwas von der geheimen Sprache der Sterne wissen -« »Genug.« Der Mann sprach so sehr wie Liath, dass Sanglant es nicht ertragen konnte, ihm länger zuzuhören. Oh, Gott, es erinnerte ihn an das Gespräch, das er zwischen Liath und Schwester Venia mitangehört hatte: Hugh konnte lesen, er konnte den Nachthimmel deuten, konnte den Lauf des Mondes erklären; Hugh besaß eine Leidenschaft für das Wissen, und Sanglant nicht. Würde Liath die Gesellschaft von Zacharias bevorzugen? Sie lebte manchmal so sehr in ihrem Kopf, dass er sich fragte, ob sie überhaupt bemerkte, dass ihre Füße bei jedem Schritt den Boden berührten. Vielleicht berührten ihre Füße jetzt ganz und gar nicht mehr die Erde. Vielleicht hatten sich ihr in einer weit entfernten Sphäre sämtliche Geheimnisse der Sterne enthüllt, und sie brauchte nie wieder zur Erde zurückzukehren, auf der er lebte. Heribert hüstelte, und Sanglant begriff, dass alle auf eine Antwort von ihm warteten. »Ihr könnt mit uns reisen, Bruder, so lange Ihr Euch an meine Befehle haltet und keinen Ärger macht.« »Ich habe ein elendes Mundwerk, Eure Hoheit«, bekannte der Frater. »Es hat mich schon zuvor in Schwierigkeiten gebracht.« Bitterkeit schwang in seinen Worten mit, und er machte mit der Hand eine Geste, die auf seine Hüften deutete, die er dann aber jäh unterbrach, als hätte er sie gar nicht machen wollen. »Ein bisschen Tratsch ist bei Männern, die an das Soldatenleben gewöhnt sind, durchaus üblich, Bruder, aber ich lasse weder Lügen noch Verrat durchgehen. Und ich bestrafe Männer auch nicht dafür, dass sie die Wahrheit sagen.« »Dann seid Ihr ein sehr ungewöhnlicher Prinz, Eure Hoheit.« »Das ist er in der Tat«, mischte sich Fulk ein. Der gute Hauptmann betrachtete den schmutzigen Frater voller Argwohn. »Ich nehme an, Ihr werdet Euren Beitrag leisten, was die anfallende Arbeit im Lager betrifft?« 265 »Ich wurde als gewöhnlicher Mann geboren, Hauptmann«, erwiderte der Frater ein wenig schnippisch, »Ich fürchte harte Arbeit nicht, und ich habe bereits in der Vergangenheit meinen Anteil daran geleistet - mehr sogar. Ich habe sieben Jahre als Sklave bei den Qumanern gelebt.« Die Soldaten murmelten leise, als sie diese Prahlerei hörten. »Ist das wahr?«, fragte Sanglant. »Welcher Stamm hat Euch versklavt, und wie heißt sein Anführer?« Das Grinsen des Fraters hatte etwas vom Flug eines Adlers - es war nur kurz sichtbar und rasch wieder verschwunden. »Ich bin in den Osten gegangen, um den verlorenen Seelen das Licht Gottes zu bringen. Aber der Kirakit-Stamm, dessen Zeichen die Kurve eines Antilopen Horns ist, hat mich verschmäht. Man hat mich als
Teil eines Heiratsabkommens an den Pechanek-Stamm übergeben. Ihr könnt es auf meinem Rücken sehen, wenn Ihr wollt: das Zeichen der Kralle eines Schneeleoparden, das mich als Sklave ihres Begh Bulkezu kennzeichnet.« »Bulkezu«, echote Sanglant. Zacharias erzitterte, denn selbst leise gesprochen und aus solcher Entfernung hatten Namen noch Macht. Sanglant fuhr sich an die Kehle, spürte die Narbe der Wunde, die ihn hätte töten sollen, was aber nicht geschehen war. »Ich habe einmal gegen ihn gekämpft, aber keiner von uns hat den anderen besiegen können.« Er lächelte grimmig. »Ich werde Euch gerne bei uns aufnehmen, Bruder, denn es scheint mir doch, dass ein Mann, der sieben Jahre als Sklave bei den Qumanern überlebt hat, nicht so leicht zusammenbricht.« »Das tue ich sicher nicht«, stimmte der Frater ihm zu, »aber ich hatte gehofft, mich waschen zu können.« »Wer ist für das Wasser zuständig, Hauptmann?« Fulk hatte den Frater mit einer Mischung aus Überraschung und Bewunderung angesehen. Jetzt wandte er sich dem Prinzen zu. »Diese Angelegenheit hatte ich noch mit Euch besprechen wollen, Eure Hoheit. Die Ruinen bilden eine gute Verteidigungsanla266 ge, aber es gibt keinerlei Wasserquelle in der Nähe. Ich lasse die Männer Wasser in Eimern herschleppen, sodass wir für diese Nacht genug haben. Bruder Zacharias sollte am besten zum Fluss hinuntergehen.« »Nein, wartet einen Augenblick, Hauptmann.« Heribert trat vor. »Dies ist doch ein dariyanisches Fort, nicht wahr?« Er durchforstete die Ruinen mit den Blicken eines Mannes, der sich mit alten Gemäuern auskennt. Sanglant hatte schon zuvor in alten dariyanischen Festungen gelagert. Sie waren von stabiler Bauweise und hatten Zeit und Wetter meist so unbeschadet überstanden, dass ihre Mauern noch immer gute Möglichkeiten zur Verteidigung boten. Sanglant hatte so viele Jahre gekämpft, dass er selbst in friedlichen Gebieten ein Lager immer mit einem Blick auf Verteidigungsmöglichkeiten aufschlug. Dieses Fort war wie alle anderen rechteckig angelegt; es gab zwei Straßen, die sich kreuzten und das Gelände in vier Teile unterteilten, und vier Tore. Fulk hatte Wachen entlang den äußeren Mauern aufgestellt und das Lager im inneren Hof errichtet, der noch einmal von einer niedrigeren Mauer umgeben war. Heribert lief jetzt zu dieser Mauer und begann, an ihr entlangzugehen, bückte sich hin und wieder und wischte den Staub vieler Jahre von den Reliefs, die aus adlerköpfigen Soldaten und Frauen mit Schakalschnauzen bestanden, die als in Stein gehauene Parade den gesamten Hof umgaben. Plötzlich klopfte Heribert mit seinem Stock auf den Boden, dann rief er einen Soldaten herbei. Mit dem Blatt eines Speers und einer Schaufel gruben sie ein Loch, und dann plötzlich hoben sie einen Stein. Eine Staubwolke wirbelte auf. »Zauberei!«, murmelte einer der Soldaten. »Ein Wunder!«, meinte ein anderer. Heribert drehte sich gerade in dem Augenblick um, als die Bemerkung erklang. »Nein, das hat weder etwas mit Zauberei noch mit einem Wunder zu tun«, widersprach er leicht angeekelt. »Dariyanische Festungen sind alle nach demselben Prinzip errichtet 267 worden. Im Innenhof liegt immer eine Zisterne, gekennzeichnet durch eine Frau in einem Kleid und von Blitzen umgeben sowie mit einer Seerose in den Händen. In Festungen, die über längere Zeit hinweg bewohnt wurden, leitet gewöhnlich ein ganzes Netzwerk aus Regenlöchern und Kanälen das Regenwasser in diese zentrale Zisterne, und -« Weil er den Eindruck erweckte, als würde seine Leidenschaft ihn zu einem endlosen Monolog anregen, unterbrach Sanglant ihn etwas rüde. »Ich möchte das Wasser erst probieren.« Ein Seil und ein Eimer wurden gebracht. Als ein Soldat ihm den halb gefüllten Eimer brachte, tauchte Sanglant eine Hand in das kühle Wasser, nippte daran und prüfte seinen Geschmack. Er spürte keinerlei Hinweis auf Gift oder Fäulnis. Das Wasser schmeckte frisch, und es war so lang und so gut verschlossen gewesen, dass kein Tier hatte hineinfallen können, um es zu vergiften. »Es ist in Ordnung, Hauptmann.« »Wirklich, das wird uns eine Menge Arbeit ersparen, Bruder«, sagte Fulk. Er betrachtete Heribert jetzt mit neuem Respekt. Der Hauptmann und der Geistliche verschwanden im Innern, und Heribert begann verschiedene Aspekte der Festung herauszustellen. Zacharias verließ das Lager, um sich in Ruhe zu waschen. Gnade rührte sich und erwachte aus ihrem Schlaf, und Sanglant nahm sie aus der Tragschlaufe, während die Soldaten ein ordentliches Feuer entfachten und ihre Ausrüstung auspackten, da sie vorhatten, zerrissene Umhänge und Tuniken zu flicken. Die Köche brieten die sechs Stücke Wild, die sie im Laufe des Marschs an diesem Tag erlegt hatten. Auf diese Weise bereiteten sie sich für die Nacht vor. Sanglant gab Gnade einen Brei aus Hülsenfrüchten und Ziegenmilch zu essen, gesüßt mit etwas Honig, den der Soldat Sibold zwei Tage zuvor aus einem Bienenstock gestohlen hatte; der arme Mann hatte noch immer ganz geschwollene Finger - ein hoher Preis, den er dafür hatte zahlen müssen. »Dada!«, plapperte Gnade eifrig. »Damaba! Wa! Ge! Ge!« Sie 268 strampelte sich frei, kletterte von seinem Schoß und bekam seine Finger zu fassen. Sie wollte gehen. In den vergangenen zehn Tagen war sie immer sicherer auf den Beinen geworden, so dass sie jetzt schon ziemlich
schnell laufen konnte, und das tat sie auch, sobald er sie nicht festhielt oder sie nicht in ihrer Tragschlaufe lag. Sie war so an die Soldaten gewöhnt, dass sie sofort aufgeregt schreiend zu ihnen gelaufen kam, wenn ihr Vater sie einfangen wollte, und sich hinter ihren Beinen versteckte. Es war zu einer Art nächtlichem Ritual der ganzen Truppe geworden. Hatte sie die Männer erst einmal erschöpft, führte sie auf dem Schoß ihres Vaters den Vorsitz über den Gesang, der dem Essen folgte. Jeder kannte ein Dutzend oder zwanzig oder sogar hundert Melodien. Gnade kreischte ordentlich mit, und obwohl sie noch nicht richtig in die Hände klatschen konnte, um den Rhythmus anzugeben, wedelte sie lebhaft mit ihnen. Als sie schließlich gegen die Brust ihres Vaters sank und mit halb geschlossenen Lidern einschlief, rief Sanglant Bruder Zacharias herüber und befragte ihn näher zu Bulkezu und den Qumanern. Der Frater hatte es geschafft, sich den größten Teil des Schmutzes abzuwaschen, doch seine Kleider stanken noch immer. Er hatte den Akzent eines Mannes, der im Osten unter freien Bauern geboren und aufgewachsen war, unter jenen Leuten also, die sich im Tausch für eigenes Land und den Schutz des Königs in den Marklanden niedergelassen hatten. Das Wissen, das Zacharias von den Qumanern besaß, war das eines Sklaven und somit unvollständig und bruchstückhaft, aber er hatte sich Einzelheiten gemerkt und konnte sich verständlich ausdrücken. »Vielleicht ist es am besten, wenn wir nach Osten reiten«, sagte Sanglant schließlich, als auch Fulk und Heribert zuhörten. »Sapientia wird die Nachricht von der Heirat meines Vaters mit Königin Adelheid nicht gefallen.« »Es ist ein langer Weg nach Osten«, bemerkte Heribert. »Alle Wege sind lang.« Gnade war an seiner Brust eingeschlafen. Er legte sie in die Tragschlaufe, sodass kein auf dem Boden 269 krabbelndes Tier sie beißen konnte. Die anderen rollten sich in ihre Decken. Er hörte, wie die Wachen in einiger Entfernung ihre Runden machten; ihre Schritte klangen leicht auf dem Boden. Er konnte nicht schlafen. Seine Hand schmerzte noch immer von dem Stich der Distel. Jernas ätherische Gestalt flatterte neben ihm nieder, wie Wellen schlagendes Wasser. Sie wand sich wie ein beschützender Schleier um das schlafende Bündel in der Tragschlaufe. Vielleicht beschützte sie das Kind wirklich wie ein Amulett. Gnade war nicht ein einziges Mal krank gewesen, seit Jerna sie zu nähren begonnen hatte, und das Baby wurde auch nicht von Fliegen oder Mückenstichen gequält wie all die anderen. Die heiße Sonne verursachte ihr weder Sonnenbrand, noch schien ihr Kälte etwas auszumachen. Sie wuchs unglaublich schnell, und alle wussten, dass dies unheimlich und unnormal war, doch niemand sprach laut darüber. Vielleicht war er ein Narr, dass er sie von einem solchen Wesen nähren ließ. Vielleicht war es nicht sehr klug. Aber was hätte er sonst tun sollen? Er hatte die einzige Möglichkeit genutzt, die sich ihm dargeboten hatte. Nichts weiter. Als sich König Henrys Heer mühsam über den Pass kämpfte, stellte Rosvita fest, dass sie nunmehr zum fünften Mal an diesem Tag hinter einem Wagen feststeckte. Der hier war mit seinen Rädern durch eine Eisschicht in den darunter liegenden Matsch eingebrochen. Fortunatus zügelte sein Maultier neben ihr und seufzte. »Haltet Ihr es für weise, dass König Henry das Gebirge noch so spät in diesem Jahr überqueren will?« »Sprecht nicht schlecht vom König, ich bitte Euch, Bruder. Er marschiert auf Gottes Wunsch. Und Ihr seht, die Sonne scheint immer noch.« Das tat sie, auch wenn sich ihr Licht bei den dunklen Wolken, den kalten Bergen und einem schneidenden Wind nur schwach ausnahm. Soldaten und Bedienstete eilten mit Planken und Stöcken herbei, um den Wagen aus dem Schlamm zu hieven. Schon bald hatte sich ein Dutzend von ihnen um den festgefahrenen Wagen versammelt und diskutierte in einem Ton miteinander, der davon zeugte, dass ihre Geduld jenseits aller Grenzen strapaziert worden war. »Soll ich mit ihnen sprechen, Schwester?« »Nein, lasst sie nur gewähren, so lange es zu keinem Kampf kommt. Aber Ihr könntet die Zügel meines Maultiers nehmen, wenn ich darum bitten dürfte.« Wie immer, wenn sie derart zum Halten gezwungen waren, stieg sie ab und spendete den Soldaten Trost, die auf dem Wagen hinter ihr mit der Flux danieder lagen und zu schwach zum Gehen waren. »Lasst uns beten, Freunde«, sagte sie, als sie sich dem Wagen näherte, obwohl die meisten Soldaten viel zu sehr phantasierten, um sie überhaupt hören zu können. Der Wagen stank nach ihrer Krankheit, denn diese armen Seelen hatten längst nicht mehr die Kraft, vom Wagen zu steigen und sich an den Wegesrand zu stellen, um ihre Gedärme zu erleichtern. Sie brauchte etwa vier Schritte, um von ihrem Maultier zum Wagen zu gehen, und nur so lange kehrte sie dem Pfad, den das Heer sich empor kämpfte, den Rücken zu. Der Wagenfahrer hatte sein Gesicht mit einem Stück Stoff bedeckt, um sich vor dem Gestank der Kranken zu schützen, aber auch so sah Rosvita, wie sich seine Augen vor Entsetzen weiteten, als er an ihr vorbeiblickte. Sie hörte zunächst nur ein Rumpeln, ein krachendes, donnerndes Gebrüll, dass die Schreie und Warnrufe in der Ferne auslöschte. »Schwester!«, schrie Fortunatus. »Oh, Gott, wir werden überrascht !«
271 Sie drehte sich um. Sie hatte sich nur einen Moment abgewendet, aber in dieser kurzen Zeitspanne war die Sonne hinter einem Vorhang aus Weiß, der sich von den Bergen herunterbewegte, verschwunden. Für einen Augenblick war die Sicht so schlecht, dass sie schon glaubte, sie würden von einer Flut aus weißen Blüten überschwemmt. Der Schneesturm traf sie ohne jede Vorwarnung. Sie konnte sich gerade noch rechtzeitig an der Wagenseite festhalten. Fortunatus warf sich von seinem Reittier und riss an den Zügeln ihres Maultiers. Dann verschluckte ihn der Sturm, und er prallte gegen sie. Sie konnte nicht einmal mehr das Stöhnen der kranken Soldaten hören. Peitschender Wind und Schnee griffen nach ihr. Kieselsteine wurden von dem Wind mitgerissen und prasselten gegen ihren Rücken, als ob ein Riese sie auf seine Feinde schleudern würde. Sie tastete sich am Wagen entlang, bis sie hinter der massigen Gestalt des Ochsen Schutz fand. Glücklicherweise trug sie Handschuhe, aber selbst so versteiften sich ihre Finger, als sie Holz und Geschirr umklammerte. Sie musste dem Wind ihren Rücken zuwenden, um überhaupt atmen zu können. Eine schier endlose Zeit harrte sie einfach nur aus, während die Wärme aus ihrem Körper wich. Als der Wind endlich genug nachgelassen hatte, dass sie aufzuschauen wagte, trieb der Schnee knietief um ihre Beine, und ihre Füße waren ganz taub geworden. In dem stürmischen Schnee konnte sie kaum die Umrisse der anderen entlang der Straße ausmachen. Sie marschierten nicht mehr nach Süden, den Pass hinauf in Richtung Aosta. Jetzt flohen sie nach Norden, den Pass hinab und den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Oh, Gott!«, fluchte der Wagenführer; er musste laut schreien, um bei dem kreischenden Wind gehört zu werden. »Ich muss sofort wenden, sonst bleiben die Räder im Schnee stecken!« Sie winkte drei Soldaten herbei, die sich mit dem Rücken zum Sturm hatten zurückziehen wollen. Mit ihrer Hilfe drehten sie den Wagen um, was eine ziemlich mühselige Angelegenheit auf der schmalen Straße war; zur einen Seite fiel das Gelände jäh ab, auf der anderen erhob es sich steil in die Höhe. Sie hatten nicht die geringste Möglichkeit, dem anderen Wagen weiter vorn, der noch immer im Schlamm steckte, zu helfen. »Schwester!« Fortunatus hatte wunderbarerweise noch beide Maultiere an der Hand, obwohl er mittlerweile sehr nah am Rand stand. Er band die Leinen der Maultiere an den rückwärtigen Teil des Wagens; seine Finger waren ganz unbeholfen von der Kälte. Indem sie sich an den Tieren festhielten, folgten sie dem Wagen den Pass wieder hinunter. Der Sturm hatte die Welt in absolutes Weiß verwandelt. Gestalten stolperten an ihnen vorbei, und manchmal kamen sie an Gruppen von Soldaten vorbei, die angehalten hatten, um einem gestürzten Kameraden zu helfen. Der Wagen quälte sich die alte Straße entlang, und der frisch gefallene Schnee knirschte unter seinen Rädern. Der Wind trieb sie weiter, als wäre er froh, sie endlich los zu sein. Rosvita stolperte über Steine und stellte fest, dass sie von der Straße abgekommen war. Fortunatus zog sie wieder zurück, und mit zusammengepressten Lippen und stetig erlahmender Energie klammerte sie sich an ihren Steigbügel und konzentrierte sich darauf, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Ein neuer Ton mischte sich in das Heulen des Windes, der Hornruf, der das Vorbeikommen des Königs ankündigte. Schon bald überholte die Gruppe des Königs sie. Henry hatte es allein kraft seines Willens geschafft, auf seinem kräftigen Schlachtross sitzen zu bleiben. Königin Adelheid ritt mutig neben ihm, in einen Fellumhang gekleidet, der so voller Schnee war, dass sie aussah, als wäre sie von Eis eingehüllt. Der König rief seinen Soldaten ermutigende Worte zu, als er an ihnen vorbeikam. Trotz des Sturms erkannte er Rosvita und winkte ihr zu. »Schwester Rosvita! Benötigt Ihr einen Wagen?« »Nein, Eure Majestät. Die kranken Soldaten brauchen ihn dringender als ich.« Er nickte. »Wir werden schon bald die Herberge erreichen, in der wir letzte Nacht übernachtet haben.« Er ritt weiter, verschwand schon nach wenigen Augenblicken im stetig fallenden Schnee. Nach einer schier unendlichen Weile, während der sie nichts anderes spürte als ihre sich bewegenden Beine, kamen sie an einen Felsvorsprung, der den Wind zum größten Teil aufhielt. Schnee wirbelte um sie herum, bedeckte weich und in Hülle und Fülle den Boden. Die Herberge hatte eine Haupthalle, die zwar etwas primitiv gebaut war, aber durchaus für eine große Gruppe von Kaufleuten reichte. Außerdem besaß sie genügend Ställe für etwa vierzig Tiere sowie ein halbes Dutzend Nebengebäude. Dennoch konnte sie nicht dem Heer eines Königs Schutz bieten. In der Nacht zuvor hatten sie im milden Herbstwetter ihr Lager unter freiem Himmel aufgeschlagen; es hatte nicht ein einziger Fingerbreit Schnee auf dem Boden gelegen, und sie waren zuversichtlich gewesen, dass das Wetter die nächsten fünf Tage so bleiben würde, die sie benötigt hätten, um den Pass bis zum Gipfel zu erklimmen und mit dem Abstieg nach Aosta zu beginnen. Der Wagenführer war kaum in der Lage, seine Zugtiere neben ein Dutzend andere zu lenken, die sich an den Straßenrand drängten. Die Schultern gegen die Kälte zusammengezogen, schwang er sich von seinem Platz. Ein Löwe eilte zu ihm und half ihm, den Ochsen eine Decke über den Rücken zu werfen. Dann kauerte er sich
zusammen mit seinen Kameraden im Windschutz des Wagens nieder. Es gab für die Bediensteten keinen anderen Ort. Soldaten und Geistliche wanderten unter den Kranken umher und halfen jenen, die noch gehen konnten, in die Ställe. Von dem Dutzend Männer, die im hinteren Teil des Wagens gelegen hatten, waren drei bereits tot. Rosvita murmelte ein kurzes Gebet mit Lippen, die vor Kälte vollkommen steif waren. »Ich fürchte, von diesen kranken Männern wird keiner die Kälte überleben«, erklärte Fortunatus traurig, während er neben sie trat. »Wenn es Gottes Wille ist, werden diese armen Seelen überleben. Wenn nicht, werden sie eine gerechte Belohnung erhalten.« »Ja, so wird es sein«, bestätigte Fortunatus. Als alles gesagt war, gab es nichts mehr für sie zu tun. »Kommt«, sagte sie zu Fortunatus. »Gehen wir zum König.« Henry und seine Soldaten hatten Zuflucht in der Halle gefunden. Aufgrund der vielen Menschen war es ziemlich warm, obwohl in den beiden Herdstellen jeweils nur ein Feuer brannte. Der Rauch kratzte ihr im Hals. So viele Menschen hatten sich in die Halle gedrängt, um dem Sturm zu entkommen, dass es richtig schwierig war, den König zu erreichen. Henry hatte die bevorzugten Plätze vor den Feuerstellen bestimmten Hauptleuten und Edelleuten überlassen, die sich die Flux geholt hatten, sowie ein paar ihm bekannten Soldaten, Löwen oder Mitgliedern seiner Leibwache. Er selbst stand mit einem Kreis von Beratern in der Mitte der Halle und hielt dort Hof, diskutierte die verzweifelte Situation mit einer verhutzelten Nonne - der Mutter des Ordens, der die Herberge leitete. Während er Bier trank, lauschte er der alten Frau, deren Worte von einer zweiten Nonne übersetzt wurden. »Nein, Eure Majestät, wenn um diese Jahreszeit ein plötzlicher Sturm aufzieht, ist es höchst unwahrscheinlich, dass er schnell wieder verschwindet. Und wenn er doch nach ein oder drei Tagen aufhört, liegt der Schnee zu hoch, als dass man noch über den Pass ziehen könnte.« Helmut Villam stand beim König. Er blickte erschöpft drein, arg mitgenommen von dem Versuch, dem Sturm zu entfliehen. Erst eine Woche zuvor hatte er bei dem Verlobungsfest, das er mit seiner Braut, der jungen Leoba, gefeiert hatte, noch so ausgesehen, als wäre seine Jugend zurückgekehrt. Jetzt wirkte er so alt, wie er war, nämlich sechzig Jahre, als hätte die bittere Kälte ihn der jugendlichen Kraft beraubt, die ihn bisher ausgezeichnet hatte. »Aber heute Morgen war hier nur so wenig Schnee«, wandte er ein. »Wenn wir hier warten, können wir doch sicherlich noch einen Versuch unternehmen, den Pass zu überqueren, bevor der Winter richtig hereinbricht.« »Das könnt Ihr tun«, bestätigte die Nonne. »Das könnt Ihr sicherlich tun. Aber ich diene in diesem Teil der Welt seit nunmehr dreißig Jahren, Markgraf. Ich kenne diese Stürme. Ihr werdet das Gebirge nicht vor Ende des nächsten Frühlings überqueren können. Wenn Ihr es versucht, wird Euer Heer schwere Verluste hinnehmen müssen, Eure Majestät.« Henry trank noch etwas Bier, während er über die neue Lage nachsann. Plötzlich begannen Rosvitas Füße so schrecklich zu schmerzen, als würden tausend Messerklingen in ihre Fußsohlen schneiden, sodass sie taumelte und beinahe gestürzt wäre, wenn Fortunatus sie nicht aufgefangen hätte. Henry sah sie. Er schickte einen seiner Löwen los, um einen Stuhl zu beschaffen, auf den sie sich setzen konnte. Bier wurde gebracht, und dankbar trank sie. Eine Weile saß sie mit gebeugtem Kopf da, während das Gemurmel und die Gesprächsströme um sie herumwirbelten und sie versuchte, Luft zu schöpfen, und ihre Zähne zusammenpresste. Langsam ließ der Schmerz in ihren Füßen nach. Nach einer Weile wickelte ein Bediensteter ihr die Beinkleider ab und legte ihre Füße bloß. Ihre Zehenspitzen fühlten sich an, als wären sie erfroren. Fortunatus kniete vor ihr nieder und knetete sie mit seinen Händen, bis ihr Tränen die Wangen hinabrannen. Trotz des Nebels, den der Schmerz verursachte, hörte sie Henrys Worte. »Nein, wir können es nicht riskieren. Es ist zu spät im Jahr. Es bedeutet keine Unehre für uns, wenn wir von den Bergen besiegt werden. Wir können aber auch nicht hier bleiben, denn es gibt hier nicht genug Unterkunftsmöglichkeiten für alle. Wir müssen uns nach Bederbor zurückziehen und mit Hilfe von Conrads Freigebigkeit dort den Winter verbringen.« »Er wird sie grollend gewähren«, bemerkte Villam. »Das wird er«, stimmte Henry ihm zu. »Wir werden seine Gast276 freundschaft nutzen, ihn an die Loyalität zu erinnern, die er seinem König schuldet. Aber auf diese Weise bleibt die Stärke des Heers erhalten. Wenn die Pässe im nächsten Jahr wieder frei sind, werden wir nach Süden marschieren und Eisenkopf unerwartet angreifen. Doch sicherlich wirst du froh sein, einen weiteren Winter im Norden verbringen zu können, Helmut. Wir werden deine Braut kommen lassen; sie kann dir das Bett wärmen!« Gelächter folgte diesem Vorstoß, und die Stimmung in der Halle stieg beträchtlich. Das war die Macht des Königs. Rosvitas Füße prickelten so stark, als wären sie von hundert Bienen gestochen worden. »Ich bitte Euch, Bruder,
es genügt!« Fortunatus warf ihr ein grimmiges Lächeln zu. »Besser das, als Eure Zehen zu verlieren, Schwester! Könnt Ihr reiten?« Sie zog die Zehen hoch und stellte fest, dass ihre Füße zwar immer noch schmerzten, sie sie aber bewegen konnte; sie konnte sich sogar ohne allzu große Schmerzen hinstellen. »Das sind schlechte Nachrichten, wenn wir bis nächstes Jahr warten müssen, um nach Aosta zu marschieren«, sagte sie zu ihm. »Wo ist die Königin?« Henry war weggegangen, um seinen Hauptleuten aufzutragen, den Rückzug nach Bederbor vorzubereiten. Rosvita stand vorsichtig auf, aber ihre Füße waren jetzt wieder zu gebrauchen. Zwischen den vielen Menschen sah sie Adelheid in einer Ecke auf einem der Betten sitzen, die unter den Dachsparren aufgebaut worden waren. Sie erbrach sich gerade in eine Schüssel, die von einer Dienerin gehalten wurde. »Eure Majestät!« Rosvita eilte besorgt zu ihr. Erbrechen war das erste Anzeichen, dass die Flux ein Opfer befallen hatte. Aber als sie Adelheid erreicht hatte, richtete die Königin sich mit einem matten Lächeln auf und erlaubte einer Dienerin, ihr das Gesicht zu waschen. »Nein, es ist nichts Gefährliches.« Die Königin streckte die Hände nach Rosvita aus. Adelheids Hände waren warm, trotz des grausamen Sturms, der draußen tobte und dem sie eben erst entkommen war. Ihr Griff war unnatürlich kräftig, und in ihren Augen lag ein triumphierender Glanz, als sie an Rosvita vorbei ihren Mann ansah, der aus der Menge herausragte. »Ich glaube, ich bin schwanger.« Ein dariyanisches Fort sah so aus wie das andere. Sanglant führte seine Männer durch Wayland und folgte dabei dem alten Pfad, den die Dariyaner bei ihrer Invasion hunderte von Jahren zuvor angelegt hatten. Die Festungen hatten mehr Bestand als das Kaiserreich selbst. An diesem Abend - wie an jedem Abend - ging Sanglant, nachdem er sicher war, dass Gnade eingeschlafen war, zum Rand des Lagers und begrüßte die Soldaten, die die erste Wache übernommen hatten. Ein kleiner Witz mit Sibold, eine Bemerkung über das Wetter bei Everwin, eine scharfsinnige Bemerkung über die Landschaft von Wracwulf, und er ging weiter. Als er schließlich zur Feuerstelle zurückkehrte, waren sowohl Zacharias als auch Heribert eingeschlafen; fest eingerollt in ihre Umhänge lagen sie geschützt von einem halb herabgefallenen Dach da. Heribert hatte ein paar Ziegel beiseite geschoben, um Platz für Sanglant zu schaffen, aber der Prinz war wie immer zu unruhig, um schlafen zu können. Brütend saß er am Feuer. Ein ruhiger Wind wehte sämtliche Wolken weg. Der klare Himmel brachte Kälte mit, vertrieb die letzen Reste des Sommers. Die Sterne erinnerten ihn an Liath, denn sie hätte eine Nacht wie diese geliebt, die so klar und kalt war, dass die Sterne doppelt so hell und hundertmal so zahlreich schienen wie sonst. Die drei Juwelen, und glänzten über ihm, während die das zum westlichen Horizont trieb. Der Seelenfluss strömte über den Zenit. Wandelte Liath jetzt dort oben? Konnte 278 sie ihn sehen? Aber er bekam keine Antwort, als er leise ihren Namen in die Brise sprach. Die Sterne behielten ihre Geheimnisse sorgfältig für sich. Nach einer Weile erhob sich der abnehmende Mond und überströmte den Himmel mit silbernem Licht. Er hörte sie, noch bevor die Wachen sie hörten: ein leiser Aufschrei, das Rascheln von etwas, das an trockenen Blättern entlang streifte, vielleicht ein Schwanz an einem Busch. Er sprang genau in dem Augenblick auf, als Jerna sich aus Gnades Schlinge befreite und in die Luft davonschoss. Mit dem Schwert in der Hand folgte er der Gestalt der Daemonin, die sich wie strahlende Schlieren vor dem Nachthimmel und der etwa brusthohen Festungsmauer abhob. Wracwulf begrüßte ihn kurz, wachsam genug, um zu bemerken, dass Sanglants Blicke argwöhnisch den Waldrand absuchten. Auch der Soldat machte sich jetzt daran, den Wald genauer zu beobachten. Drei Wölfe tauchten so leise, wie man es nur von wilden Tieren kannte, aus dem Unterholz auf. Die Wache zischte, doch Sanglant legte dem Soldaten beruhigend eine Hand auf den Arm. Ein vierter Wolf kam einen Steinwurf entfernt zur Linken geisterhaft aus dem Wald geglitten. Die Wölfe näherten sich, aber sie beobachteten nur. Ihre bernsteinfarbenen Augen glänzten im Mondlicht. Wracwulf hob seinen Speer. Eine Bogensehne dehnte sich sirrend ein Stück weiter weg an der Mauer, wo Sibold Wache hielt. »Nicht schießen!«, schrie Sanglant. Warnrufe erklangen. Die Wölfe verschwanden zwischen den Bäumen. Sanglant wirbelte herum, zog sein Schwert und rannte zurück zum Lager, wo die Soldaten in heller Aufregung waren und wie unruhige Bienen untereinander flüsterten. Sie hatten sich Gnades Tragschlaufe genähert, doch der ganze Wirbel störte das Kind nicht; es schlief ruhig weiter. »Eure Hoheit!« Hauptmann Fulk hielt seinen Speer auf eine dunkle Gestalt gerichtet, die neben dem schlafenden Kind stand. »Wer ist das?«, wollte Sanglant wissen; jetzt war er äußerst wütend - ein Gefühl, das von seiner tiefen Furcht genährt wurde. 279 Der Mann löste sich aus den Schatten. Seine Haare hatten denselben, silbrigen Ton wie das Mondlicht, das ihn in
einen sanften Glanz hüllte. »Als ich begriffen habe, dass Ihr es seid, Prinz Sanglant, musste ich das Kind sehen.« »Wulfhere!« Der alte Adler wirkte müde, und er hinkte beim Gehen. Sein Umhang und seine Kleidung waren noch einigermaßen ordentlich, aber die Stiefel waren schmutzig und abgestoßen. Ein übermäßig voll gestopfter Rucksack lag neben ihm auf dem Boden. »Eure Hoheit.« Er betrachtete die Soldaten rings um ihn mit einem so schwachen Lächeln, dass Sanglant nicht hätte sagen können, ob er amüsiert war oder kurz vor dem Zusammenbruch stand. »Ich fühle mich hier etwa so willkommen, als wäre ich in ein Distelbeet gesprungen.« Fulk senkte seinen Speer nicht. Die Spitze lauerte noch immer unruhig vor Wulfheres ungeschütztem Bauch. »Dieser Mann ist vom König verbannt worden.« »Stimmt das?«, fragte Sanglant freundlich. »Leider ja«, bestätigte Wulfhere fröhlich. »Ich habe den Hof des Königs ohne seine Zustimmung verlassen. Als mein Pferd lahmte, hatte ich keine Möglichkeit, ein anderes zu beschaffen.« »Setzt Euch.« Da Gnade nun keine unmittelbare Gefahr mehr drohte, konnte Sanglant die Ironie der Situation durchaus genießen. »Nur zu gern würde ich mir Eure Geschichte anhören. Auf jeden Fall scheint es so zu sein, als wärt Ihr jetzt in meinem Gewahrsam. Es ist nur gut für Euch, würde ich sagen, dass ich gegenwärtig ebenfalls nicht in der Gunst des Königs stehe.« »Nein, das tut Ihr wohl nicht. So viel habe ich an Straßentratsch mitbekommen.« Wulfheres Maske der weisen Distanz verschwand, als er weitersprach; jetzt lag eine bemerkenswerte Mischung aus Verärgerung und Erregung auf seinem gewöhnlich verschlossenen Gesicht. »Wo ist Liath?« »Hauptmann Fulk«, sagte Sanglant, »ich möchte, dass ein Feuer drüben bei der Quelle errichtet wird. Ich möchte mit dem Ad280 ler allein sprechen. Sorgt dafür, dass die Wache bei meiner Tochter verdoppelt wird.« Die meisten Soldaten legten sich wieder zum Schlafen nieder. Der Prinz führte Wulfhere zu einem frischen Feuer, das hell in einer Nische knisterte, die in der Steinmauer angebracht war und vielleicht einmal ein Götzenbild oder Waffen beherbergt hatte. Wulfhere seufzte laut, während er sich niederließ, dankbar für den Becher Bier und den Kanten Brot. »Ich bin es nicht gewöhnt, zu Fuß zu gehen«, sagte wie beiläufig. »Meine Füße schmerzen.« Als Sanglant sich auf einem umgestürzten Stein gegenüber von Wulfhere niederließ, kam Heribert herbei; er rieb sich die Augen. Wulfhere blickte ihn an, sah zuerst nur die Gewänder, blickte dann genauer hin. Langsam breitete sich die Erkenntnis auf seinem Gesicht aus, und es wäre beinahe komisch gewesen, wäre er nicht laut fluchend aufgesprungen und hätte dabei das kostbare Bier verschüttet. »Wie kommt er denn hierher?«, wollte er wissen. »Er ist mein Berater und Freund.« Sanglant bedeutete Heribert, neben ihm Platz zu nehmen. Weil Wulfhere sich nicht setzte, tat auch Heribert es nicht und blieb stattdessen neben Sanglant stehen - wie ein nervöser Vogel, bereit, jeden Augenblick davonzuflattern. »Ihr seid Euch bewusst, was für ein Mann er ist?«, fragte Wulfhere. »Sehr sogar. Ich würde ihm mein Leben anvertrauen. Und auch das Leben meiner Tochter.« »Er ist von einem Kirchenkonzil verdammt worden, weil er an schwarzer Magie teilgehabt hat! Er ist der Bastard von Bischöfin Antonia!« »Dann sollte ich wirklich der Erste sein, der ihn verdammt, wo ich doch selbst ein Bastard bin.« Sanglant grinste, doch als er einen Blick auf Heribert warf, sah er, dass der Geistliche sich versteift hatte wie ein Mann, der im nächsten Augenblick den tödlichen Schlag erwartet. »Das Argument hat keine Bedeutung für 281 mich, Wulfhere. Heribert hat mir schon vor langer Zeit die Wahrheit über seine Geburt und seine Herkunft mitgeteilt, obwohl ich gestehen muss, dass auch er nicht weiß, wer sein Vater ist.« Wulfhere setzte zum Sprechen an, doch Sanglant hob die Hand. »Versucht nicht, mich gegen ihn aufzuhetzen. Ich kenne Heribert und kann ihn, was sein Herz und seine Loyalität betrifft, wesentlich besser einschätzen als Euch!« Wulfheres gewöhnlich ruhige, gelassene Miene zerbrach sogar noch mehr und enthüllte Empörung und einen Hauch von Qual. »Stimmt es, dass Bischöfin Antonia zu Anne gegangen ist und von den Sieben Schläfern aufgenommen wurde?« »Das schwöre ich bei Unserer Herrin und Unserem Herrn«, murmelte Heribert. »Ich bin bei Bischöfin Antonia gewesen, als wir Eurem Gewahrsam entflohen sind, wie Ihr Euch bestimmt noch erinnern könnt. Nachdem wir über viele komplizierte Wege Verna erreicht hatten, hat Anne meiner Mutter das Versprechen abgenommen, als -« Er brach ab, um ein Kichern zu unterdrücken wie ein Kind es tun mochte, wenn es sich über das Ungemach eines verhassten Erwachsenen belustigte. »Als Siebte und Letzte ihres Ordens zu dienen«, vollendete er den Satz. In der Ferne heulte ein Wolf. Jerna flüsterte über dem Prinzen, ließ sich in der Brise herunter und schlang sich beschützend um seine Schultern. Ihre Berührung war sanft und kühl. Zwei Soldaten, die an der äußeren Mauer Wache standen, scherzten miteinander.
In diesem Augenblick begriff Sanglant. Als hätte Jerna seinen wachsenden Unmut gespürt, schlüpfte sie in die Lüfte davon. Er erhob sich langsam, baute sich zu seiner ganzen, beeindruckenden Größe auf. »Ihr kennt sie demnach, Anne und die anderen.« Er musste es nicht als Frage formulieren. »Ihr seid die ganze Zeit einer von ihnen gewesen. Ihr wart meinem Vater oder dessen Vater gegenüber niemals loyal. Ihr habt Euren Schwur als Adler niemals loyal ausgeübt.« Das war zu viel für Wulfhere. »Verspottet nicht, was Ihr nicht 282 begreift, mein Prinz! König Arnulf hat mir vertraut, und ich habe ihm bis zum Tage seines Todes gedient. Ich habe Wendar niemals verraten.« Erregt fuhr er mit erstickter Stimme fort, während er mit der Müdigkeit eines Mannes auf den Steinblock sank, der viele Wegstunden zurückgelegt hatte, nur um herauszufinden, dass sein geliebtes Heim bis auf die Grundmauern abgebrannt war. »Oh, Herrin! Dass es soweit kommen muss! Dass Anne bereit sein würde, böse Werkzeuge für ein gutes Ziel zu benutzen. Habe ich sie all die Jahre etwa falsch beurteilt?« »Überrascht Euch das etwa?«, forderte Sanglant ihn heraus. »Liath und ich sind mehrere Monate lang ihre Gefangenen gewesen. überrascht das nicht.« »Ihr seid nicht ihre Gefangenen gewesen! Liath war -« An dieser Stelle brach Wulfhere ab und zog ein verärgertes Gesicht. Sanglant beendete den Satz für ihn. »Ihr Werkzeug. Selbst ihre Tochter war für sie nur ein Werkzeug. Hat Anne sie je geliebt?« Wulfhere bedeckte seine Augen mit einer Hand. Der Schmerz in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Nein, Anne hat sie niemals geliebt. Bernard war derjenige, der sie geliebt hat.« »Anne hat ihn getötet, um Liath zurückzubekommen.« »Bernard hat genommen, was ihm nicht gehört hat! Es mag sogar möglich sein, dass er es gut gemeint hat, aber er war auf schreckliche und gefährliche Weise irregeleitet und von sich überzeugt. Er hat niemals auf jemand anderen gehört als auf sich selbst. Er hat Liath Schaden zugefügt, indem er sie vor jenen verborgen gehalten hat, die begriffen hatten, was sie war und welche Macht sie durch ihre Geburt erworben hatte. Wir hatten keine andere Wahl, als alles zu tun, um sie zurückzubekommen!« Er erhob sich, die Hände in den Taschen, und ging zum Feuer, starrte in die Flammen, als könnte er darin Erinnerungen sehen. Schließlich blickte er auf. »Liath ist nicht hier, nicht wahr?« Es klang, als würde der alte Adler an den Worten ersticken. »Verna war verlassen, als ich dorthin kam, alles war zerstört. Anne war mit den Überlebenden bereits weggegangen.« 283 »Ihr seid ihr nicht gefolgt?« »Um diese Jahreszeit über das Gebirge? Ich habe nicht die Fähigkeit, so durch die Steine zu reisen, wie Anne es tut. Um Gottes Willen, Prinz Sanglant, wo ist Liath?« Sanglant schloss die Augen, um die Erinnerung zu verbannen. Er konnte nicht darüber sprechen; der Schmerz saß immer noch zu tief, und er wusste, er würde in Tränen ausbrechen, wenn er zu sprechen begann. Heribert berührte ihn kurz am Arm, bevor er einen Schritt vortrat. »Ich war bereits gegangen«, sagte er leise, »daher habe ich die Feuersbrunst nicht selbst gesehen. Prinz Sanglant hat mir jedoch erzählt, dass unirdische Geschöpfe mit Schwingen aus Flammen durch den Steinkreis in das Tal gekommen sind und Liath mitgenommen haben.« »Selbst der Stein hat gebrannt«, flüsterte Sanglant heiser. Der Anblick des in Flammen stehenden Gebirges hatte sich ihm tief ins Gedächtnis eingebrannt, sodass er es selbst mit geschlossenen Augen sah, nicht einmal dann Ruhe erhielt. Auf gleichzeitig strahlende und schreckliche Weise hatten die Geschöpfe Verna zerstört, dessen Anwesenheit sie anscheinend überhaupt nicht bemerkt hatten. »Oh, Gott.« Wulfheres Seufzer durchbrach die Stille. Er sackte wie eine Marionette zusammen, knickte ein, um sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden zu setzen, während das Feuer ein unruhiges Muster aus Licht und Schatten auf sein gefurchtes Gesicht und die hellen Haare warf. Sanglant wartete eine lange Zeit, aber Wulfhere sprach noch immer nicht. Schließlich rief der Prinz nach Matto und trug ihm auf, den leeren Becher mit Bier aufzufüllen. Wulfhere nahm das Bier dankbar an und leerte den Becher, bevor er einen zweiten Kanten Brot mit einem Stück Käse verspeiste. Nachdem Matto sich zurückgezogen hatte, ließ Heribert sich schließlich auch nieder. Seine Bewegung ließ Wulfhere die Worte aussprechen, die er bisher bewusst zurückgehalten hatte. 284 »Die ganzen Jahre über haben Anne und ich auf ein gemeinsames Ziel hin gearbeitet. Ich bin mit sechs Jahren meinen Eltern weggenommen worden, um ihr zu dienen. Ich dachte, ich würde sie besser kennen als alle anderen, sogar besser noch als Schwester Clothilde, die Annes Jugendträume und Wünsche nicht so kannte wie ich. Anne war immer viel reiner und begeisterter gewesen als wir übrigen. Ich hätte niemals gedacht, dass sie mit einer Malefica wie Bischöfin Antonia gemeinsame Sache machen könnte - mit einer Frau, die mit dem Blut Unschuldiger aus den Steinen ruft, lebende Menschen an ein Guivre verfüttert und keinerlei Skrupel hat, ihre eigenen loyalen Geistlichen zu opfern, um ihren selbstbezogenen Zielen näher zu kommen.« Heribert zuckte bei diesen Worten zusammen, aber er sagte nichts, und Wulfhere - der ihn überhaupt nicht anblickte - fuhr fort.
»Wir sind nicht erzogen worden, um solche Mittel anzuwenden und um mit den Anhängern des Feindes gemeinsame Sache zu machen! Wie kann Anne eine solche Person nur ins Vertrauen gezogen haben, ihr sogar noch größere Macht gegeben haben?« »So binden die Ketten jene, die herrschen«, erwiderte Sanglant. »Die großen Herrscher benutzen jedes Schwert, das sich ihnen bietet. Sind das nicht einfach nur Ausflüchte ? Wenn Euer Plan Erfolg hat, werden ohnehin alle Aoi sterben. Was macht es Euch zu schaffen, welches Werkzeug sie benutzt, wenn Euer Ziel das Töten ist?« »Es ist wichtig, dass es um eine gerechte Sache geht. Es ist wichtig, dass unsere Feinde bösartig sind. Es ist wichtig, dass unsere Bemühungen ehrenvoll sind, und dass unsere Herzen sich nicht von der Heiligkeit abwenden.« »Dann wäre es also ehrenhaft und heilig, ein Kind zu ertränken? Ihr habt niemals bestritten, dass Ihr versucht habt, mich zu ertränken, als ich noch ein Säugling war.« »Ich habe getan, was zum damaligen Zeitpunkt das Richtige zu sein schien.« Sanglant lachte verärgert. »Es freut mich, Euch das sagen zu hö285 ren! Nur - wieso glaubt Ihr dann, dass ich Euch auch nur eine einzige Nacht neben meiner Tochter schlafen lasse - wer weiß, ob Ihr es nicht für richtig haltet, dieses Mal umzubringen? Anne hätte sie verhungern lassen. Seid Ihr so viel besser als sie? Ihr dürft gerne wieder gehen und zu Anne zurückkehren, die sicherlich erfreut sein wird, Euch zu sehen.« Das Mondlicht tauchte Wulfheres Gesicht in eine erschreckende Blässe. »Es war schwer genug, ein Kind zu ertränken, bevor ich wusste, was es bedeutete, eins zu lieben. Ihr müsst mir glauben, mein Prinz. Ich habe mich um Liath so viel gekümmert, wie ich durfte, als sie noch ein Kind war. Aber Anne fand es nicht richtig, dass wir sie liebten, dass wir uns oder sie auf diese Weise schwächten. Nur Bernard hat nicht auf sie gehört. Er hat niemals auf sie gehört.« Er wandte den Kopf abrupt zur Seite, als wäre er geschlagen worden. »Ich habe Anne alles gegeben, mein Leben, meine Loyalität. Ich habe niemals geheiratet oder Kinder gezeugt. Ich habe meine Familie nie wieder gesehen. Was hat das den treulosen Bernard gekümmert? Er hat all das gestohlen, was ich geliebt habe.« Sanglant, der Wulfhere aufmerksam musterte, konnte beim besten Willen nicht sagen, ob der alte Adler nur schauspielerte oder ob es ihm Ernst war. Passten seine innere Überzeugung und der äußere Schein wirklich zusammen? »Das ist ein rührseliges Bekenntnis, aber ich bin weder Geistlicher noch Frater und kann Euch dafür keine Absolution erteilen.« Sanglant ließ die Ironie eine Weile in seiner Stimme, während Wulfhere ihn ansah; er war jetzt ruhiger, da der Fluss der Worte versiegt war, aber noch immer erregt. »Man erzählt sich vieles über Euch, aber ich habe niemals gehört, dass Ihr leichtgläubig oder naiv wärt.« »Nein, doch ich bin der Leichtgläubigste von allen gewesen. Es hat mich beunruhigt, dass Anne keinerlei Anstalten machte, das Kind zu lieben, aber ich habe mich geweigert zu erkennen, wie viel es über ihr Herz aussagt. Doch jetzt fürchte ich, dass meine Zwei286 fei berechtigt gewesen sind. Anne ist nicht der Mensch, für den ich sie gehalten habe.« Der Prinz hob empört beide Hände, als wollte er sich ergeben, dann lachte er. »Ich bin machtlos gegen solche Vorstöße. Entweder Ihr seid der schamloseste Lügner, der mir je begegnet ist, oder Ihr seid endlich zu Sinnen gekommen und erkennt, dass man Anne nicht trauen kann. Ihr Plan ist falsch. Sie ist die Böse. Wie kann ich oder wie könnt Ihr wissen, was die Verlorenen vorhaben? Wollen sie Frieden oder Krieg? Arbeiten sie schon seit Jahren daran, ihre Rache zu bekommen, oder waren sie die ganze Zeit über die Opfer menschlicher Zauberei, wie meine Mutter behauptet? Anne arbeitet an einigen Zaubersprüchen, um sie zu besiegen. Erklärt mir, was sie vorhat.« Lange Zeit betrachtete Wulfhere den Mond. Sein Licht ergoss sich über die Mauer hinter ihnen, und die Wand schimmerte wie Marmor, enthüllte Flecken von roter, blauer und goldener Farbe sowie missgestaltete Figuren, die für alte dariyanische Festungen typisch waren: Wesen mit den Körpern von Frauen und den Köpfen von Adlern, Schlangen oder Löwen. Ein Wolf heulte in der Ferne, wie ein Kamerad, der einem anderen in Not einen Rat gab. »Das kann ich nicht. Ich habe nicht viele Fähigkeiten. Und ich bin auch nie bei den Ratssitzungen anwesend gewesen oder habe das volle Ausmaß der Künste der Mathematiki verstanden. Ich bin nicht von so edler Geburt wie Ihr, mein Prinz.« War das Sarkasmus oder lediglich die scharfe Klinge der Wahrheit? »Ich bin zum Dienen erzogen worden, nicht zum Herrschen.« »Wieso folgt Ihr dann mir statt Anne, nachdem Ihr gesehen habt, was in Verna vorgefallen ist? Was wollt Ihr von mir?« Wulfhere dachte schweigend über die Frage nach. Es war ein Zeichen seines Scharfsinns, dass man ihn nicht drängen konnte, obwohl Sanglant inzwischen den deutlichen Drang verspürte, auf und ab zu schreiten. Schließlich gab er ihm nach und machte zwei Schritte auf die Wand zu, fuhr die attraktiven Kurven eines in den Stein gemeißelten Frauenkörpers nach. Er hatte einen solchen Grad 287 von Erregtheit erreicht, dass jedes Steinkörnchen unter seiner Berührung zum Leben zu erwachen schien. Als er begriff, was er tat, dass seine Finger auf der weichen Rundung einer Brust ruhten, zog er seine Hand rasch
wieder zurück und verschränkte die Arme. Schließlich schüttelte Wulfhere sich wie ein Wolf, der aus dem Wasser kommt. »Ich weiß es nicht. Ich will Liath finden, Prinz.« »Das will ich auch. Aber was habt Ihr mit ihr vor, wenn Ihr sie gefunden habt? Wollt Ihr sie zu Anne zurückbringen? Ist es das, was Anne Euch aufgetragen hat?« »Nein. Ich hätte eigentlich Anne und den anderen von Verna aus folgen sollen, aber ich konnte es nicht über mich bringen, nicht nach dem, was ich gesehen hatte. So viel Zerstörung! Die Mönche bei der Herberge hatten einen Mann gesehen, auf den Eure Beschreibung passte und der nach Norden unterwegs war. Es war leicht, Euch und Eurer Mutter zu folgen, obwohl es nicht so einfach war, der Aufmerksamkeit der königlichen Soldaten zu entgehen, da König Henry mit seinem Heer nach Süden marschierte.« »Wohin ist Anne gegangen?« Wulfhere zögerte. Der Prinz machte einen Schritt auf ihn zu. Eine einzige Armlänge war jetzt alles, was die beiden Männer voneinander trennte: den alten Adler und den jungen Prinzen, der einst ein Drache gewesen war. »Sagt mir die Wahrheit, Wulfhere, und ich lasse Euch mit uns reisen, wenn das Euer Wunsch ist. Ihr könnt mir bei der Suche nach Liath behilflich sein, denn Ihr sollt wissen, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als sie zu finden.« Wulfhere musterte ihn. Der Schein des Feuers umspielte sein Gesicht; Licht und Schatten kämpften miteinander, doch es schien, als würde niemals das eine über das andere triumphieren. »Wie wollt Ihr nach Liath suchen, Prinz Sanglant, wo Anne und ich acht Jahre gebraucht haben, sie zu finden? Mit welcher Magie wollt Ihr eine Frau finden, die von unirdischen Kreaturen geraubt worden ist, die auf Flügeln aus Feuer fliegen?« »Wenn sie mich und das Kind liebt«, erwiderte Sanglant grim288 mig, »wird sie einen Weg zu uns zurück finden. Ist das nicht so? Ist das nicht die Prüfung für Liebe und Treue?« »Vielleicht. Aber was wollt Ihr in der Zwischenzeit tun? Ihr reitet nicht mit dem Heer Eures Vaters in Richtung Süden. Hättet Ihr das getan, hättet Ihr schon bald bemerkt, dass Anne und die anderen nach Darre unterwegs sind.« »Ah! Hat Anne Euch deshalb geschickt? Damit Ihr mich ausspioniert? Also gut. Ich werde die Herausforderung annehmen, denn ich habe vor, sie zu vernichten, jetzt, wo ich begriffen habe, was sie ist und was sie dem Volk meiner Mutter antun will.« Wie gewöhnlich wusste Sanglant inzwischen genau, was sein Plan war - ein Plan, der sich jetzt vor ihm entfaltete. »Ich brauche Greifenfedern und Zauberer, um mich ihrer Magie entgegenzustellen. Und ein Heer.« »Und all das wird keinen Nutzen haben, Prinz.« Wulfhere war viel zu alt und zu gerissen, um sich von der Aufregung über einen solch kühnen Plan mitreißen zu lassen; zweifellos erwartete er einen ausgewachsenen Adler, keinen gerade flügge gewordenen Vogel. »Ihr versteht ihre Macht nicht. Sie ist Taillefers Enkelin und dazu eine Mathematikus von unvergleichlichen Fähigkeiten und enormer Stärke.« »Ich respektiere ihre Stärke. Aber Ihr vergesst, dass ich mit ihrer Tochter verheiratet bin und dass ihre Enkelin in meiner Obhut ist. Gnade stammt zur Hälfte von mir ab. Ich habe selbst einen gewissen Rang und Macht.« »Ihr tragt den Goldreif nicht mehr, der Eure königliche Herkunft kennzeichnet.« »Liath trägt jetzt meinen Goldreif, wie es ihr zusteht. Meine Tochter trägt einen.« »Aber werdet wieder einen tragen? Oder habt Ihr dem, was Henry Euch gab, wie es sein Recht als Vater war, den Rücken gekehrt?« Die kühlen Worte reizten Sanglant. »Ich werde mir nehmen, was ich brauche und verdiene, wenn es soweit ist, nicht früher! 289 Mein Vater besitzt mich nicht.« Aber Gereiztheit ließ sich in etwas Nützliches verwandeln, so wie man schneller Holz hackte, wenn man wütend war. »Helft mir dafür zu sorgen, dass Taillefers Geschlecht seinen rechtmäßigen Platz wieder einnimmt, Wulfhere, als Vorbereitung auf die Rückkehr der Aoi. Dann können wir uns ihnen aus einer Position der Stärke entgegenstellen. Helft mir, Liath zu finden. Helft mir, Anne zu besiegen. Eure Erfahrung könnte sich in der Tat als sehr wertvoll für mich erweisen.« »Ihr würdet Eure kostbare Tochter der Gefahr meiner Nähe aussetzen, Prinz?« War da ein Hauch Verletztheit in der Miene des alten Adlers, als er sich jetzt vorbeugte, um das Feuer mit einem Stock zu schüren? Funken trieben langsam in den Nachthimmel empor, gingen flackernd aus, wo sie auf Stein prallten. »Ich kann Euch nicht trauen, das ist wahr. Möglicherweise ist dies eine Falle von Euch. Aber meine Tochter wird sehr gut von einem Wesen bewacht, das niemals schläft und das schon bald wissen wird, was für eine Gefahr Ihr darstellt. Und es scheint mir, mein Freund, dass Ihr Euch ungesehen in mein Lager geschlichen habt. Ihr wart meiner Tochter bereits nah genug und hättet sie töten können, wäre das Eure Absicht gewesen. Ein Messer im Dunklen bedeutet einen raschen Tod. Doch trotz meiner Nachlässigkeit lebt sie noch.« War da eine Träne auf Wulfheres Wange? Es war schwer zu sagen, und die Hitze des Feuers trocknete schon bald sämtliche Feuchtigkeit. Sanglant lächelte leicht und blickte Heribert an, der lediglich mit den Schultern zuckte, um zu zeigen, dass er in dieser Angelegenheit keinen Rat anzubieten hatte. »Reist mit mir und meiner Gruppe von Disteln, Wulfhere. Was für eine bessere Möglichkeit hättet Ihr? Ihr traut Anne nicht. König Henry hat Euch in Acht und Bann
erklärt. Zumindest kann ich Euch vor dem Zorn des Königs bewahren.« Wulfhere lächelte spöttisch. »Es ist nicht der Zorn des Königs, den ich fürchte«, sagte er, erhob aber keine weiteren Einwände. VII Ein Todesurteil 1 Starkhand hatte in seinen Träumen gesehen, dass es eine Angewohnheit der Menschen war, ihre Feste zu einer Zurschaustellung von Ausschweifungen und Genuss zu machen. Sie ließen sich ihren Kopf durch fermentierte Getränke vernebeln. Sie aßen zu viel. Oft wurden sie lärmig, streitsüchtig und undiszipliniert, und sie verschwendeten ihre Mittel großzügig und auf eine Weise, als würden sich ihre Becher des Reichtums endlos füllen. Selbst die Anführer seines eigenen Volkes hatten es sich angewöhnt, nach jedem Sieg so zu feiern. Sie pflegten dann den Kriegern zu befehlen, mit ihren Schätzen vor ihnen aufzumarschieren, oder sie schlössen Wetten über Kämpfe zwischen Sklaven und Tieren ab. Mit solchen Mitteln und in der Gesellschaft ihrer Rivalen rühmten sie sich ihrer Stärke und Macht. Er selbst hatte keinen Bedarf an solchen Dingen. Die Schiffe seiner toten Rivalen waren an seinen Stränden an Land gezogen worden und verstärkten jetzt seine Flotte. Er hortete zahlreiche Waffen, und die Eisenschmiede von zwanzig oder mehr Stämmen hämmerten und schmiedeten auf seinen Befehl hin. Die Anführer von zwanzig Stämmen waren auf seinen Befehl nach Rikin-Fjord 291 gekommen, um ihm die Stäbe der Autorität zu Füßen zu legen. Sie hatten ihn als Herrscher über alle Stämme akzeptiert, einige von ihnen bereitwillig: ein Primus inter pares, wie die Menschen den Herrscher nannten, der über jene herrschte, die sich selbst Prinzen und Edelleute nannten. Er hatte sich den Namen Starkhand gegeben, kraft des Rechtes, das ihm die AltMutter seines Stammes verliehen hatte. Er war schließlich der erste Anführer, der sämtliche Stämme der FelsenKinder unter einem Befehl vereinigte. Aber das Gefühl von Macht und der Triumph der Siege versetzten ihn nicht in Ekstase. Er hatte keine Lust zu feiern. Er widmete sich stattdessen in seinem Herzen und in seinem Geist dem kühlen Messer des Ehrgeizes, besänftigte die kalte Leere, die er aufgrund der Abwesenheit desjenigen empfand, den er einst als Bruder gekannt hatte: Alain, Sohn von Henri, der jetzt völlig aus dem Land der Sterblichen verschwunden war. Starkhand träumte nicht mehr. Und der Verlust der Träume war für ihn ein steter Quell von Verbitterung und Kummer. Aber Träume waren nicht sein ganzes Leben. Er benötigte sie nicht wirklich. Er hatte über seine Begierden und Wünsche nachgedacht, mit aller ihnen zustehenden Aufmerksamkeit. Nicht einmal der Verlust seines Herzens würde ihn von seinen Zielen abbringen - ohnehin dienten Ehrgeiz und Willenskraft den Herzlosen am besten. Er saß mit dem Stab in der Hand auf seinem Stuhl und betrachtete die Versammlung: ein Heer von FelsenKindern verteilte sich auf dem sanft abfallenden Land, das hinunter zum Strand und zum Wasser führte. Zweiundzwanzig Stäbe lagen ihm zu Füßen, und die Anführer, die diese Stäbe seiner Autorität unterstellt hatten, warteten in respektvollem Abstand. Die Krieger des Rikin-Stammes standen hinter ihnen, vermischten sich mit jenen Kriegern, die mit ihren Kriegsführern zum Rikin-Fjord gesegelt waren. Mindestens achtzig Schiffe waren an Land gezogen worden oder vor Anker gegangen, jedes Einzelne davon mit mindestens fünfzig Kriegern bemannt. Und doch stellte diese große Versammlung nur einen kleinen Teil des Heeres dar, das ihm jetzt unterstand. Sie waren viele, und weitere warteten in den Fjorden, die den anderen Stämmen gehörten. Aber die Menschen waren in ihrem eigenen Land noch immer zahlreicher als alle FelsenKinder zusammen. Das war es, was Blutherz und die alten Anführer niemals richtig begriffen hatten. Die Menschen mochten schwächer sein, was ihren Körper betraf, aber allein aufgrund ihrer bloßen Anzahl verfügten sie über eine unerbittliche Macht. Die Versammlung wartete. Wind war von einem fernen Fjell zu hören, wo die WeisMütter sich in jener Stille berieten, die das Vorrecht des Steins war. Hinter ihnen rührten sich die RaschTöchter unruhig. Sie besaßen nicht die Geduld ihrer Mütter und Großmütter. Nicht ihnen galt das langsame Verrinnen der Ewigkeit. Wie ihre Brüder und Cousins würden sie die Erde etwa vierzig Winter lang bewohnen und sich dann unter dem Druck der Zeit auflösen. Rikins AltMutter stand am Eingang zu ihrer Halle und beobachtete das, was geschah, wie es ihr Recht und ihre Pflicht war. Er spürte ihren Atem in seinem Nacken, obwohl sie weder etwas sagte noch sonst ein Zeichen von sich gab. Dies war sein Tag. Schließlich würde sie selbst dann, wenn sie das Messer der Autorität an die JungMutter weitergab und den langsamen Weg hinauf zum Fjell begann, noch viel länger leben als irgendeines ihrer Kinder. Seine großen Bemühungen mussten ihr wie die Wettkämpfe der Kleinen vorkommen, die rasch ausgetragen und rasch gewonnen wurden. Dennoch beabsichtigte er, so viel wie möglich daraus zu machen.
Als Letzter trat Hakonins Anführer vor und legte seinen Stab ganz oben auf den Stapel - er war deshalb der Letzte, weil Hakonins AltMutter die Erste gewesen war, die das Ausmaß seiner Ziele und Absichten begriffen und ihm ihre Unterstützung und Allianz angeboten hatte. Dann trat auch der Hakonin-Anführer zurück und wartete; er stand in der ersten Reihe der Versammlung neben Zehnter Sohn des Fünften Wurfs, der Starkhands Steuermann und Hauptmann sowie sein eigener Wurfkamerad war. Starkhand erhob sich. Zuerst schnitt er in das Heft eines jeden Stabs den zweifachen Kreis, das Zeichen seiner Herrschaft. Dann färbte er die Schnitte mit Ocker, um sie sichtbarer zu machen. Niemand sprach, während er auf diese Weise seiner Autorität Nachdruck verlieh: Die Stäbe dieser Anführer würden auf ewig das Zeichen von Starkhands Oberherrschaft tragen. Als er damit fertig war und nachdem jeder Anführer vorgetreten und seinen Stab zurückerhalten hatte, starrte er über den Fjord. Das Wasser war kalt und ruhig. Nichts störte die stille Oberfläche. Nichts störte das Schweigen, das sich über die Versammelten gesenkt hatte. Sollten sie sich ruhig wundern über seinen Mangel an Ausdruckskraft. Sollten sie ihn fürchten, weil er nicht in Triumphgeheul ausbrach, wie sie es getan hätten. Wozu musste er heulen und schreien, jammern und brüllen ? Sollten jene, denen seine Schläge galten, schreien und wehklagen. Das Schweigen war sein Verbündeter, nicht sein Feind. Während sie ihm zusahen, trat er durch ihre Reihen hindurch zum Ufer. Er warf einen Stein ins Wasser. Der Stein schuf, wie jeder andere Gegenstand es getan hätte, kreisförmige Wellen. Was seine Verbündeten nicht wussten, war, dass dies ein zuvor vereinbartes Signal war. Augenblicklich brachen sie aus dem ruhigen Wasser hervor -mehr, als er zählen konnte. Die Merwesen krümmten und wölbten sich durch stetes, kräftiges Schlagen ihrer Hinterteile empor, drehten sich in der Luft und wirbelten wieder hinunter. Jene, die bei der Halle warteten, sahen nur ihre silbrigen Körper, sahen einen kurzen Schimmer von ihren Furcht erregenden Köpfen und Haaren, die sich in der Luft wanden und zuckten, bevor sie dann 294 mit einem gewaltigen Platschen wieder ins Wasser stürzten. Mit dem dumpfen Klatschen ihrer Schwänze verschwanden die Merwesen. Das Wasser wirbelte noch immer, beruhigte sich allmählich wieder und lag schließlich so still da wie zuvor, eine glatte Oberfläche, auf der die Spiegelungen der Bäume und eines einzelnen, kreisenden Adlers zu sehen waren. Eine Rauchsäule erhob sich in den Himmel: das Wachfeuer, das auf der Klippe an der Mündung von Rikin-Fjord errichtet worden war. Gemurmel geisterte durch die Reihen der Versammlung und erstarb dann wieder. Sie alle wussten, welches Ende sein letzter Feind, der mächtige Nokvi, genommen hatte. Nachdem er seine Hände und den Sieg verloren hatte, war er ins Meer geworfen worden, um vom Mervolk verschlungen zu werden. Es war kein rühmlicher Tod. Starkhand ging zurück zu seinem Stuhl und hob seinen Stab. Er machte sich nicht die Mühe, laut zu schreien: Jene in den letzten Reihen, denen der Wind seine Worte nicht zutrug, sollten sich ruhig etwas anstrengen, um ihn zu verstehen. »So hört meine Worte. Wir werden jetzt handeln. Meine Schiffe verfolgen bereits jene von uns, die sich weigern, sich auf unsere Seite zu stellen. Doch niemand darf ruhen, während die anderen die Arbeit erledigen. Wir müssen bauen und uns vorbereiten.« Auf den steilen Abhängen des bewaldeten Tals waren Breschen zu sehen, wo seine menschlichen Sklaven neues Land zum Beackern geschaffen hatten. Es war nicht viel, aber es würde genügen, um jeder Sklavenfamilie, die zu seinem ursprünglichen Sklavenbesitz gehörte, ein Fleckchen Land zu geben. Er hatte auch für sie Pläne. Krieg war nicht der einzige Weg, ein Reich zu erschaffen. Zehnter Sohn des Fünften Wurfes stellte die entscheidende Frage. »Auf was bereiten wir uns denn vor?« »Sollen wir den Baumzauberern von Alba, die gedacht haben, sie könnten unsere Anführer zu ihren Marionetten und Sklaven machen, den Rücken zukehren?« Starkhand ließ seinen Blick über 295 die Menge schweifen. »Jenen, der sich Nokvi genannt hat, haben sie zuerst zum Narren und dann zur Leiche gemacht. Sollen wir zulassen, dass diese Baumzauberer glauben, wir wären um nichts besser als Nokvi und seine Anhänger? Oder wollen wir uns für diese Beleidigung rächen?« Tausend Kehlen brüllten die Antwort heraus. Er wartete, bis es wieder ruhig war. Die ständige Anwesenheit von Rikins AltMutter hinter ihm lastete schwer auf seinen Schultern. »Geht nach Hause in eure Täler. Im Laufe dieses Herbstes und Winters bereitet ihr eure Schiffe vor und schmiedet eure Waffen. Wenn die Winterstürme ihre Wut herausgeblasen haben, werden wir auf Alba zuschlagen. Und im nächsten Sommer verlange ich das von euch: Schlagt hart zu, und tut es oft. Wo immer ihr könnt. Nehmt, was immer ihr wollt. Ein Sechstel der Beute übergebt ihr mir, und ihr unterrichtet mich davon, wenn ihr auf Baumzauberer gestoßen seid. Ich werde sie finden und ausrotten, wenn es an der Zeit ist, und die Insel Alba und ihre Reichtümer werden dann unserem Volk gehören. Dies ist der Anfang.« Sie bejubelten ihn laut und leidenschaftlich, mit jenem Geheul und Geschrei, das einem willigen und gefährlichen Heer zu eigen ist. Die Menge löste sich so rasch und reibungslos auf, wie es nur durch gründliche
vorherige Planung möglich war. Schon jetzt bewegten sie sich weniger wie eine tierische Herde, die es auf augenblickliche Befriedigung abgesehen hat, sondern wie denkende Wesen, die planen, handeln und triumphieren konnten. Er drehte sich um, wollte zur AltMutter gehen, doch sie war bereits zurück in ihre Halle gegangen. Ihre Tür war verschlossen. Sie hatte anscheinend nicht das Bedürfnis gehabt einzugreifen. Sie hatte ihre Verkündigung bereits an dem Tag von sich gegeben, als sie ihm gestattet hatte, sich einen Namen zu wählen: Er machte eine Geste, und Zehnter Sohn trat vor. »Wenn unsere Verbündeten den Fjord verlassen haben, sollen jene, die als Plünderer eingeteilt sind, ins Land der Moerin gehen und dort Raubzüge durchführen. Sie sollen sicherstellen, dass niemand von denen, die einst Nokvi unterstützt haben, am Leben bleibt. Ein paar Skiffe sollen an der Küste patrouillieren, und einige unserer Brüder, die ruhigen und gerissenen, sollen reisen, so weit sie können. Sie sollen zuhören. Es könnte sein, dass sogar von denen, die jetzt vorgeben, unsere Verbündeten zu sein, einige sich gegen uns wenden. Ich muss wissen, wer das ist.« »Es wird geschehen.« Zehnter Sohn winkte, und ein paar seiner vertrauenswürdigen Leutnants eilten herbei, um Starkhands Stuhl wegzuschaffen. »Gibt es welche, denen du weniger traust als anderen?« Starkhand dachte nach. »Isa, Ardanekas Anführer. Er ist erst zu mir gekommen, als er gesehen hat, dass alle anderen es auch getan haben. Wir müssen ein Moerin-Hündchen als Anführer der Reste finden, die noch von diesem Stamm übrig sind. Aber schicke auf diese Expedition nur solche, die mit offenen Augen marschieren.« Ein Gedanke kam ihm, doch er wendete ihn erst mehrere Male im Kopf, ehe er ihn laut aussprach. »Sklaven sollen mit ihnen gehen, solche, die sowohl stark als auch schlau sind. Von den Sklaven anderer Stämme lässt sich vieles besser erfahren.« Von seinem Volk hatte nur Zehnter Sohn aufgehört, sich darüber zu wundern, auf welch ungewöhnliche Weise Starkhand immer wieder seine Sklaven einsetzte. Zehnter Sohn neigte seinen Kopf zu einer Seite, wie ein Hund, der lauschte, und blickte gedankenvoll drein. »Es wird geschehen«, bestätigte er. »Es gibt noch einen anderen Weg, die Baumzauberer zu suchen. Wir können davon ausgehen, dass die Kaufleute, die von Hafen zu Hafen segeln, etwas über sie erfahren. Obwohl Blutherz Hundse verloren hat« - die Stadt, die die Menschen Gent nannten -, »hat unser Volk durch seine Bemühungen doch große Schätze erhalten. Mit einem Teil dieser Schätze könnten wir Handel treiben, und jene, die diese Aufgabe übernehmen, könnten dabei zuhören und versuchen, Neuigkeiten zu erfahren.« Die Worte trafen ihn mit der Kraft eines hellen Sonnenstrahls, der zwischen Wolken hindurch ungehindert zur Erde fiel. Er hatte nicht erwartet, dass sein Bruder so schlau denken konnte. »Ich muss über das nachdenken, was du gesagt hast.« Die RaschTöchter zogen sich zurück, widmeten sich ihren eigenen Aufgaben, den Dingen, die am wichtigsten waren: der Sorge um das Weiterleben des Stammes. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie ihn allein und unbeachtet arbeiten ließen. In ihren Augen waren solche Unternehmungen wie Raubzüge und Plünderungen, Kämpfe und Eroberungen unbedeutend und geringfügig. Nach tausend weiteren Wintern würden die Felsen noch so sein wie immer, während seine Gebeine und seine Bemühungen schon längst zu Staub zerfallen sein würden. Den Stab in der Hand machte er sich auf den langen Weg zum Fjell empor. Langhallen machten verlassenen Sklaven-Scheunen Platz; nur wenige wurden noch von zerlumpten Sklaven bewohnt, die zu dumm waren, um ihr Gefängnis zu verlassen. Wenn er hier vorbeikam, roch er zunächst und sah dann auch mehr als ein halbes Dutzend von ihnen geistlos im Schmutz sitzen, wo sie sich vor und zurück wiegten. Die klapprigen Anbauten, in denen die Sklaven einst überwintert hatten, waren niedergerissen worden, und mit dem Holz und den Steinen waren ordentliche Hallen errichtet worden. Diakonissin Ursuline und ihre Leute waren in den Wochen, seit er Anführer von Rikin geworden war, sehr fleißig gewesen. Felder erstreckten sich überall entlang der niedrigen Abhänge, eingezäunt von flachen Steinmauern. Er hatte den menschlichen Sklaven, die einst seinen verschwundenen Brüdern gehört hatten, ein gewisses Maß an Freiheit gegeben, aber sie unterstanden der strengen Aufsicht seiner eigenen Krieger und jener Sklaven, denen er trauen konnte. Jetzt quälten sie sich damit, dort, wo sich der Boden dafür eignete, Korn anzubauen. Weiter oben hüteten halb ausgewachsene Kinder Herden aus Schafen, Ziegen und Vieh, von denen die FelsenKinder abhängig waren. Die Sklaven auf den Feldern und Weiden sahen ihn vorbeigehen, aber niemand von ihnen war so dumm, die Arbeit zu unterbrechen und ihn anzustarren. Die Felder machten Weiden Platz, das Weideland wiederum einem kleinen Waldbestand aus Fichten, Kiefern und Birken. Als der Pfad sich höher wand, öffnete sich der Wald, die Kiefern und Fichten wurden weniger, bis nur noch Birken, einzelne Büsche und vom Wind flach gehaltene Heide zu sehen waren. Auch die letzten verkümmerten Bäume verschwanden, als er auf das hohe Fjell trat, jenes Land aus Fels und Moos und heulendem Wind. Der Wind zerrte an seinem Stab, sodass die am Kreuz befestigten Gebeine und die Eisenrute gefährlich hin und her schaukelten. Sein Zopf wirbelte hin und her, wand sich um seine Schulter, als enthielte er eine Erinnerung an das lebendige Haar, das den Merwesen wuchs. Eine Frostschicht bedeckte den Boden. Die jüngste WeisMutter war ein Stück weiter gekommen, seit er das
letzte Mal hier gewesen war. Er brachte ihr eine Gabe, wie er es immer tat: Dieses Mal war es die getrocknete Nachgeburt einer Sklavin. Sie sollte das Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens sein - und für seine Ungeduld. Er blieb nicht, um mit ihr zu sprechen, denn auch ein kurzer Austausch hätte Stunden gedauert. Stattdessen schritt er weiter auf dem Pfad auf den Ring der WeisMutter zu. Zuerst sahen sie aus wie kräftige Säulen, aber als er näher kam, vorsichtig darauf bedacht, die geschlängelten Linien aus silbrigem Sand-die Spuren der tödlichen Eis-Wyrm - nicht zu betreten, nahmen die WeisMutter immer mehr Gestalt an. Obwohl sie vollkommen zu Stein erstarrt waren, blieben die Konturen ihrer Glieder und ihrer Köpfe doch erkennbar, ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie sich noch bewegen konnten. Die WeisMutter standen in einem Kreis um den Rand des Nistbodens. Hier hielt er inne, prüfte die Steine, die er in seinem Beutel hatte, und betrachtete die weiche Kuhle aus Sand, die vor ihm lag. Nur die WeisMutter wussten, was sie unter diesem Sand ausbrüteten. Stein um Stein bahnte er sich vorsichtig seinen Weg zu dem Hügel, der sich in der Mitte der Mulde erhob. Die weiche, runde Kuppel verströmte Wärme und den schwachen Geruch von Schwefel, und als er auf ihr stand, war er erst einmal sicher vor den Eis-Wyrm, die in der schimmernden Senke hausten. In dieser Einsamkeit, wo er wegen der gefährlichen Umgebung garantiert ungestört blieb, dachte er über den Pfad nach, den er bislang beschritten hatte, über den Ort, an dem er jetzt stand, und über die Reise, die noch vor ihm lag. Ein verirrtes Blatt flog über die Senke, kam zum Stillstand und legte sich sanft auf den Sand. Eine glänzende, durchsichtige Klaue tauchte an die Oberfläche empor, krallte sich das Blatt und riss es mit sich in die Tiefe. Dann war alles wieder still. Der Wind strich seufzend um seinen Körper. Er hörte ein schwaches Rumpeln wie von herabfallenden Felsen, das so weit weg war, dass es auch ein Traum hätte sein können. Doch als er die Augen schloss, um in eine dauerhafte Trance zu fallen, umgab ihn die gleiche stumpfe und graue Leere wie sonst auch. Alain war noch immer weg, ihre Verbindung war abgerissen. Er war vollkommen allein. Die Nacht brach herein. Unter dem Dach der Sterne stand er so still da wie ein uralter Stein. Er hörte die WeisMütter sprechen.
Nicht nur er hatte neue Ideen. Auch andere von seinem Volk begannen nachzudenken. Die Worte von Zehnter Sohn fielen ihm ein: »Wir könnten Handel treiben. Wir könnten versuchen, in den Häfen der Menschen Neuigkeiten zu erfahren.« Vor langer Zeit, noch vor dem Aufkommen der sich bekriegenden Anführer in der Zeit von Blutherz' eigener Zeugung, hatten die FelsenKinder mit den menschlichen Stämmen Handel getrieben, und natürlich auch mit den Fischern. Die Kriege um die Vormachtstellung hatten das alles geändert. Durch die reiche Ernte, die durch Versklavung eingefahren worden war, die Freude am Plündern, die Lust an Überfällen hatten sich die Traditionen der alten Zeiten gewandelt. Wieso sollte man für etwas Handel treiben, wenn man es auch umsonst bekommen konnte? Doch jeder Stein, der in ruhiges Wasser fiel, verursachte Wellen. So wie die Stämme, die sich unaufhörlich bekriegten, niemals wirklich stark werden konnten, durfte ein Clan, der seine Macht einzig auf Plünderungen baute, keine wirkliche Hoffnung auf lang anhaltenden Erfolg hegen. Die Lager voller Reichtümer, die Blutherz angesammelt hatte, würden Starkhand dienen, doch an sich waren die Schätze nichts weiter als Gegenstände. Sie hatten nur den Wert, den andere ihnen beimaßen. Natürlich war dies eine Art von Wert, den er ausnutzen konnte. Der Krieg hatte seinen Nutzen, aber man konnte nicht alles allein mit seiner Hilfe erreichen. Er stand in der Mitte des Nistbodens und lauschte dem erwachenden Kreischen der Möwen. Der Horizont hellte sich auf. Die Lebensspanne eines jeden einzelnen Wesens bedeutete wenig angesichts des langen Laufs der Welt, deren Spanne sich anhand der Gespräche der WeisMütter und nicht nach den vergänglichen und rasch vergessenen Kämpfen bemaß, die so flüchtig waren wie Eintagsfliegen oder Sterbliche. Dass er nachdachte und Planungen anstellte, machte ihn nicht wichtiger als das geringste Geschöpf auf der Erde. Aber vielleicht erhielt er dadurch mehr Freiheit für sein eigenes Handeln. Ein Herrscher, der den Handel kontrollierte, kontrollierte den Ein- und Ausgang von Waren; er kontrollierte die Steuern, die auf diesen Waren lasteten, und er bestimmte, wer was bekam und was wohin gelangte. Es gab mehr als eine Art, die Hand der Herrschaft über die Untertanen auszustrecken. Bei Anbruch der Morgendämmerung verfielen die WeisMütter wieder in die Starre, die sie immer tagsüber befiel. Stein für Stein machte er sich an den Rückweg über den Sand des Nistbodens. Der Tag - jetzt im Laufe des Herbstes ohnehin viel kürzer - war halb
301 vorüber, als er wieder festen, sicheren Boden unter den Füßen hatte. Er holte seinen Stab aus dem Versteck in einer Felsspalte und begann, den Pfad hinunterzugehen, der vom Fjell weg und zum Tal führte. Als er an der jüngsten WeisMutter vorbeikam, legte er ihr einen Zweig Moos in ihre rauen Arme, dann ging er weiter. Ein Schwärm schreiender Wildgänse flog hoch über ihm zu einem Pfeil formiert vorbei. Ein Turmfalke schraubte sich in der Ferne in die Höhe. Starkhand verließ das Fjell, betrat den Birkenwald und dann den dichteren Wald aus Fichten und Kiefern. In der Ferne erklangen Axtschläge in einem gleichmäßigen Rhythmus. Das Hacken hörte auf, und ein Mann stieß einen Warnruf aus. Das Geräusch eines krachend umstürzenden Baums zerriss die Luft. Das Donnern seines Aufpralls hallte noch lange nach, während die gleiche Stimme Befehle von sich gab. Neugierig geworden nahm er den Seitenpfad, der zu den oberen Weiden führte. Auf einer Lichtung errichteten seine Sklaven ihre Kirche. Sie wuchs schnell. Einer von ihnen hatte eine schlaue Idee gehabt, wie man die Bäume des Nordens bearbeiten konnte, da die meisten von ihnen zu schlank waren, als dass man sie hätte spalten können. Die aus Stämmen bestehende Struktur war rechteckig und wirkte einigermaßen unbeholfen. Ein paar halbwüchsige Sklaven Schwachköpfe ihrem Aussehen nach - hingen am Rand der Lichtung herum und sahen einfach nur zu, dabei tierische Laute von sich gebend. Diese geistig minderbemittelten Tiere gerieten sogar jenen Arbeitern in den Weg, die dabei waren, Zweige von den gefällten Bäumen zu schlagen, die Rinde abzuschälen oder die Baumstämme mit Steinbeilen und Äxten abzuhobeln. Als Diakonissin Ursuline ihn sah, eilte sie zu ihm, gefolgt von dem Mann, der als Anführer der Sklaven galt, obwohl er sich selbst nur Papa Otto nannte. Eine Möwe kreiste über der Lichtung, zweifellos auf der Suche nach ein paar Nahrungsresten. Ihr Kreischen war schroff und keifend, und schon bald kam eine zweite Möwe in Sicht, blieb aber hinter der Baumlinie zurück. »Mein Herr.« Ursuline benutzte Begriffe, die bei den Menschen üblich waren, und er akzeptierte sie. Obwohl sie nur ein Mensch war und deshalb nicht viel mehr galt als ein Tier, verdiente sie doch ein gewisses Maß der Autorität und Achtung, die er der AltMutter entgegenbrachte. Sie als Einzige von allen seinen Sklaven hatte längst keine Angst mehr vor ihm, und so sprach sie auch jetzt frei heraus. »Ihr habt uns gerecht behandelt, mein Herr, wie wir beide wissen. Obwohl Gott bestimmt haben, dass niemand als Sklave gehalten werden soll, wissen wir beide, dass sowohl bei den Aikha als auch bei den Menschen Sklaven existieren. Deshalb fügen wir, die wir Eure Gefangenen sind, uns noch immer Eurem Willen. Aber lasst mich Euch Folgendes fragen: War es Euer Wille, dass heute Morgen einige von uns weggeführt wurden, um mit den Rikin-Kriegstruppen zu ziehen?« »Das war es.« Obwohl Alain nicht mehr in seinen Träumen wohnte, beherrschte er noch immer die Fähigkeit, die Sprache, die er in diesen Träumen gelernt hatte, fließend zu sprechen. »Ein paar von euch, die stark und schlau sind, haben wir geholt, weil sie als Spione arbeiten sollen. Sie werden mit meinen Kriegern reisen, um herauszufinden, ob meine neuen Verbündeten anders reden, wenn ich nicht in der Nähe bin. Eure Leute können mit den menschlichen Sklaven der anderen Stämme sprechen, denn möglicherweise haben diese Sklaven - sofern sie genug Verstand besitzen - Dinge gehört, die andernfalls vor uns verborgen bleiben.« »Wieso sollten die Sklaven anderer Stämme die Wahrheit sagen?«, fragte Papa Otto. »Ich bin überzeugt, dass sich die Nachricht auf diese Weise verbreiten wird«, erklärte Starkhand. »Diese Sklaven werden die Hoffnung hegen, dass sie ebenso viel Freiheit erlangen können wie ihr, solange die Aikha unter meiner Herrschaft stehen.« »Es ist etwas Wahres an dem, was Ihr sagt«, meinte Ursuline. Sie blickte Otto an, und eine unausgesprochene Botschaft wechselte zwischen ihnen hin und her - etwas, das kein Wesen außer den Menschen selbst verstehen konnte. »Wer sind die, die hier arbeiten?« Starkhand deutete auf die Leute, die in ihrer Arbeit innegehalten hatten, als er die Lichtung betreten hatte, die sich aber jetzt wieder ihren Aufgaben zuwandten. »Habt Ihr Grund zur Klage, was unsere Arbeit betrifft?«, fragte Ursuline sanft. »Ist irgendeine Arbeit, die Ihr oder Eure Hauptleute von uns gefordert habt, unverrichtet geblieben? Ist ein Tier nicht versorgt worden? Verwildern irgendwelche Felder? Gibt es nicht genug Feuerholz für den Winter oder Kohlen für die Schmieden?« »Du bist kühn«, sagte Starkhand, aber er bewunderte sie deswegen. Sie lächelte, als würde sie seine Gedanken kennen. »Ihr habt keine Klagen, denn wir arbeiten jetzt noch härter, seit Ihr Euren Anteil der Abmachung erfüllt habt, die wir getroffen haben.« »Und doch sorge ich mich über jene bei euch, die wie Tiere hausen und doch weder Arbeit noch Fleisch anzubieten haben. Sie sind lediglich eine Bürde. Wenn der harte Winter einsetzt, müssen wir sie loswerden.« »Wie sollen wir sie auswählen?«, fragte Papa Otto. »Tötet die, die wie Tiere sind. Ich sehe sie hier und dort im Tal; sie sind nicht besser als die Schweine, die im Wald leben, und um einiges schmutziger. Sie sind Abschaum. Sie sind von keinerlei Nutzen, weder für euch noch für mich.« »Sie sind keine Tiere, mein Herr«, widersprach Otto. Er war ein starker Anführer für die menschlichen Sklaven,
aber schwach, weil er das Töten fürchtete. »Sie werden von Euren Leuten nur wie Tiere gehalten, erzogen und behandelt. Sie haben längst vergessen, was es heißt, ein Mensch zu sein.« »Das macht sie für uns nutzlos, oder nicht?« »Nein, mein Herr«, sagte Ursuline rasch. Sie legte Otto eine Hand auf den Arm, eine Geste, die dazu diente, ihn zum Schweigen zu bringen. »Es mag sein, dass jene Sklaven, die seit Generationen in den Sklaven-Gehegen gelebt haben, ohne die Lehren der Kirche niemals in der Lage sein werden, so wie wir zu arbeiten und zu sprechen. Aber sie sind dennoch von Nutzen für Euch.« »Auf welche Weise?« »Sie können zeugen. Ihre Kinder können von uns, die wir nicht durch die Sklaven-Gehege behindert sind, aufgezogen werden, und diese Kinder dienen Euch dann so gut, wie wir es tun. Solange Ihr sie so behandelt, wie Ihr uns behandelt. Vielleicht werden diese Kinder Euch sogar noch besser dienen als wir, denn sie werden nur die Loyalität und den Dienst Euch gegenüber kennen. Sie werden sich an kein anderes Leben erinnern, wie wir es tun.« Sie war wirklich eine schlaue Person. Er wusste, dass sie Worte dazu benutzte, etwas zu erzwingen oder herbeizureden. In seinen Träumen - als er noch welche gehabt hatte - hatte er gesehen, dass Lügen und Betrügen sehr üblich bei den Menschen war. Ein Messer ist immer noch ein Messer, ein Werkzeug, das sich zum Schneiden und zum Töten eignete. Es gab keine Notwendigkeit, ihm schöne Namen zu geben, nur um so zu tun, als wäre es etwas anderes als das, was es wirklich war. Doch vielleicht konnten sie nicht anders. Vielleicht waren sie wie das Vieh, das sein Futter wiederkaute, wenn sie Worte verdrehten und schmeichelten und betrogen. Vielleicht war es ein Teil ihres Wesens. »Was du sagst, mag sogar stimmen. Doch es scheint mir, dass da viele in den Sklaven-Gehegen sind, die nicht zeugen und gebären können und die niemals etwas lernen. Ich habe keine Verwendung für kaputtes Werkzeug. In zwei Monaten werden meine Männer die Herden für den Winter durchsuchen. Alle Sklaven, die bis dahin keine richtigen Worte sprechen können, werden zusammen mit dem Vieh aussortiert werden.« »Zwei Monate ist nicht sehr lang«, gab Otto zu bedenken. »Selbst in unserem eigenen Land spricht ein Kind erst nach zwei oder drei Jahren, und sicher vergehen fünf oder sechs Jahre, bevor ein Kind so wie ein erwachsener Mensch sprechen kann.« Otto hatte Feuer in sich, eine Leidenschaft für das Leben und für das, was die Menschen Gerechtigkeit nannten. Das war es, was Starkhand als Erstes auf ihn aufmerksam gemacht hatte. »Wenn wir sie lehren sollen, so zu sprechen wie wir und die einfachen Befehle zu befolgen, die sie bereits kennen, brauchen wir ebenso viel Zeit, wie ein Kind unseres Volkes braucht, um sprechen zu lernen.« »Ich bin diese Unterhaltung leid. Und jetzt hört zu, was ich befehle.« Er fuhr seine Krallen aus, ließ sie aus ihren Scheiden gleiten, und scharfe Spitzen zerteilten die Luft. »Der Rikin-Stamm wird keine nutzlosen Bürden mit sich herumschleppen. Wir müssen noch weit gehen, und alles, was wir mit uns nehmen, muss einen Nutzen haben. Ich werde keine Diskussion zu diesem Thema mehr gestatten.« Er schwieg, aber keiner der beiden antwortete. Otto war vom Alter gezeichnet. Tiefe Linien zerfurchten sein Gesicht. Der harte Winterwind und die grelle Sommersonne hatten seiner Haut zugesetzt. Selbst seine Haare hatten an Farbe verloren, das Braun war zu Weiß geworden, sodass er auf gewisse Weise seinen Aikha-Herren ähnelte, obwohl Starkhand begriffen hatte, dass dies die übliche Art war, wie sich bei den Menschen fortgeschrittenes Alter zeigte. Diakonissin Ursuline hörte einfach nur zu, das Gesicht beherrscht und still. »In zwei Monaten wird die Herde durchkämmt. Wenn ihr dann nicht eine Auswahl der Sklaven trefft, werde ich es tun. Meine Wahl wird weit umfassender sein, als wenn ihr es selbst tut, also akzeptiert die neue Verantwortung oder überlasst sie mir und fügt euch meiner Entscheidung.« Ursuline war so beharrlich wie geduldig. »Dann lasst mich Euch um einen Gefallen bitten, mein Herr.« Er war es leid zu handeln. Er war den Anblick der wimmernden und jammernden schmutzigen Sklaven leid, die für ihn von weniger Nutzen waren als die schmächtigsten Ziegen, das magerste Vieh, weil ihr Fleisch zu sauer war, als dass man es hätte essen können. Er schnitt ihre Worte mit einer schroffen Geste ab. Er drehte sich um, hob einen Fuß, um die Lichtung zu verlassen 306
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Starkhands Fuß kam auf dem Boden auf und riss ihn wieder zurück in die Wirklichkeit. Er musste blinzeln, denn
die schwache Herbstsonne wirkte so grell, dass er seine Augen nicht an sie gewöhnen konnte. Großes Entsetzen durchströmte ihn, erfasste seinen Körper wie ein Welle. In den Laich-Tümpeln eines jeden Stammes reiften die Nester der FelsenKinder heran. Auch er war einmal ein geistloser Embryo gewesen, der in den Wassern der Vergessenheit badete, nichts weiter suchte als seine nächste Mahlzeit. In den Nestlachen lebten jene, die ihre Nestbrüder verschlangen, statt selbst verschlungen zu werden. Jene, die aßen, wuchsen zu Männern heran, und jene, die einfach nur überlebten, anstatt gefressen zu werden, blieben Hunde. Bevor Alain ihn aus Lavastins Käfig befreit hatte, war auch er wie seine Brüder ein Sklave der aufrichtigen Gier nach Töten, Krieg und Plünderungen gewesen, die noch immer die meisten seiner Art kennzeichnete. Wie dicht war er daran gewesen, ein Hund zu sein anstelle eines denkenden Mannes? Wie nah war ein jedes Geschöpf den nicht denkenden Tieren, vergaß dabei, was es einst selbst gewesen war? Mit einiger Mühe bezwang er seine Furcht. Er war nicht zu lange in jenen Wassern gebadet worden. Er hatte sich seinen Weg freigehauen. Alain hatte ihn aus seinem Käfig befreit, und er wollte so bleiben, wie er war. Er würde nicht zulassen, dass seine Erinnerung schlief und sein Instinkt ihn beherrschte. Langsam wurde die Welt um ihn herum wieder klarer, und er konnte wieder sehen. Er verstärkte den Griff um seinen Stab. Diakonissin Ursuline und Papa Otto hatten ihren Blick abgewendet, bemüht, nicht dabei ertappt zu werden, dass sie Zeugen seiner Schwäche gewesen waren. Doch sie blickten verblüfft drein, vollkommen verwundert. Sie durften nicht zu der Überzeugung gelangen, dass er sich geändert hätte, dass er beinahe zusammengebrochen wäre. »So lautet meine Entscheidung. Es stimmt, dass diese Schwachsinnigen für eure Familie das sind, was die Hunde, die um unsere Hallen schwärmen, für meine Brüder sind. Wenn ihr euch um die Schwachsinnigen kümmert und sie euch nicht bei eurer Arbeit behindern, werde ich sie nicht anrühren. Aber ich auferlege euch die gleichen Pflichten wie damals, als wir die Vereinbarung über euer Gotteshaus getroffen haben. Solange ihre Anwesenheit bei euch nicht die Aufgaben stört, die eure Herren für euch ausersehen haben, dürft ihr mit ihnen verfahren, wie ihr es für notwendig erachtet. Wenn ich aber unzufrieden bin, werde ich rasch handeln.« »Wir können nicht mehr verlangen als das«, sagte Diakonissin Ursuline bestrebt, die Abmachung schnell zu besiegeln. »Nein«, pflichtete er ihr bei, »das könnt ihr nicht.« Bevor er noch weitere voreilige Abmachungen treffen konnte, ging er davon, noch immer zittrig. Doch weil er ein scharfes Gehör besaß, konnte er hören, wie sie sich mit leisen Stimmen unterhielten. »Diese Sklaven haben bei den Aikha viele Jahre lang bestimmte Aufgaben verrichtet, wie das Reinigen der Aborte. Wir sollten die Arbeitskraft derjenigen, die schlau sind, nicht verschwenden, indem wir sie geistlose Arbeit verrichten lassen. Sie könnten auch andere Dinge tun, gerben zum Beispiel oder Gebäude errichten. Sicher finden wir für sie alle eine geeignete Aufgabe, selbst für die, die kaum besser als Hunde sind.« 308 Diakonissin Ursuline antwortete nicht sofort. Er hörte, wie sie Luft holte, als hätte man ihr einen Schlag in die Magengrube versetzt. Als der Pfad im Wald verschwand, blieb er stehen und lauschte. Ihre Worte trieben so schwach wie ein Seufzen zu ihm. »Ich habe in Saony einem Herrn gedient, der weniger gerecht war als der hier.« Papa Otto antwortete nicht darauf. Leise folgte Starkhand dem Pfad weiter in den Wald. Es lag Weisheit in dem, was Papa Otto gesagt hatte, sicher. Es würden alle einen Nutzen davon haben, wenn man die Starken von Aufgaben entband, die auch von den Schwachen erledigt werden konnten. Er hatte in der Angelegenheit der schwachsinnigen Sklaven zu voreilig gehandelt. Ein weiser Anführer gab jenen, die klug waren und sie gut nutzen konnten, genug Leine, und sicherlich würde er Zehnter Sohn mehr Leine geben müssen. Man durfte die Loyalen nicht zu fest binden; ihre Gehorsamkeit gründete sich auf Vertrauen, nicht auf Furcht. Seine Sklaven hatten ihn bisher noch nicht enttäuscht, selbst wenn sie hin und wieder an Rebellion und Freiheit dachten. Er musste nicht mehr sagen oder anders handeln, als er es gerade getan hatte. Sie wussten, welche Konsequenzen es haben würde, wenn sie ihn enttäuschten, und sie wussten, was geschehen würde, wenn seine Herrschaft über Rikin-Fjord endete. Es lag in ihrem Interesse, dass er seine starke Position behielt. »Es ist wirklich unheimlich«, sagte Ingo in dieser Nacht, als sie an der Feuerstelle ihres Lagers saßen. Er hatte den Tonfall eines Mannes, der das Gleiche schon am Tag zuvor gesagt hatte und davon ausging, dass er sich auch am nächsten so äußern würde. »Der Re309 gen ist immer hinter uns, niemals vor uns. Aber immerhin sind meine Füße trocken.« »Es ist diese Wetterhexe«, sagte Folquin spontan. »Sie lässt es nur auf das qumanische Heer regnen.« Seine Kameraden brachten ihn rasch mit ein paar Gesten zum Schweigen; sie blickten sich argwöhnisch um, als
fürchteten sie, der Wind könnte ihre Worte zu der mächtigen Frau tragen, von der Folquin gesprochen hatte. Hanna hatte ihre Hände in dem verzweifelten Versuch, sie zu wärmen, um einen Becher gelegt; der aus Nordwest wehende Wind war zwar trocken, biss und brannte aber dennoch kalt wie Eis. »Pass auf, was du sagst, Folquin. Prinz Bayans Mutter hat einen Blick für gut aussehende junge Männer, besonders, was ihre Sklaventräger betrifft. Sie könnte Gefallen an dir finden, wenn sie erst einmal auf dich aufmerksam geworden ist.« Ingo, Leo und Stephen lachten über diesen Witz, aber Folquin schienen die Worte zu treffen - vielleicht, weil er nicht der Typ war, der von Mädchen umschwärmt wurde. »So, wie Prinz Bayan ein Auge auf dich geworfen hat, Adler?« »Genug jetzt, Jungs«, schalt Ingo. »Es ist wirklich nicht Hannas Schuld, dass die Ungrianer ihre hellen Haare für ein Zeichen des Glücks halten.« »Schon gut«, sagte Hanna rasch, als Folquin Anstalten machte, sich als Entschuldigung vor ihr auf den Boden zu werfen. »Wie auch immer, Prinz Bayan ist ein guter Mann -« »Und zweifellos wäre er ein noch besserer, wenn er seine Hände bei sich behalten könnte«, meinte Folquin mit einem beschwichtigenden Grinsen. »Wenn ein umherschweifender Blick sein schlimmster Fehler ist, dann ist er, so Gott wissen, besser als die meisten von uns«, erwiderte Ingo. »Ich kann nicht klagen, was seine Qualitäten als Anführer in einer Schlacht betrifft. Unsere Köpfe würden längst an den Gürteln der Qumaner hängen, hätte er letzten Monat an dem alten Hügel nicht bewiesen, dass er Nerven wie Stahl hat.« »Wenn Prinz Sanglant uns geführt hätte«, sagte der normaler310 weise wortkarge Leo, »hätten wir gewonnen, oder wir hätten uns gar nicht erst auf eine Schlacht eingelassen, bei der die Vorzeichen so ungünstig waren.« »Oh, Gott, Mann!«, rief Ingo mit dem höhnischen Grinsen eines Soldaten, der doppelt so viele Schlachten erlebt hatte wie sein starrsinniger Kamerad. »Wer hätte schon ahnen können, dass Markgräfin Judith so schnell sterben und ihre gesamte Linie zusammenbrechen würde? Ein Drittel der schweren Reiterei stand unter ihrem Kommando. Wir haben keine Chance gehabt, als ihre Leute das Weite gesucht haben. Prinz Bayan hat aus der Situation noch das Beste gemacht.« »Es hätte viel schlimmer kommen können«, pflichtete ihm auch Stephen bei, aber da er als Novize galt, der erst eine einzige richtige Schlacht erlebt hatte, wurde seine Bemerkung stillschweigend übergangen. Das Feuer knisterte. Die zu Asche verkohlten Zweige fielen zusammen, glommen noch einmal kurz auf, bevor Leo ein anderes Stück Holz ins Feuer legte. Um sie herum brannten und qualmten andere Feuerstellen - den ganzen Wagentross entlang, der sich auf dem Rückzug nach Handelburg befand. Der Anblick so vieler Feuerstellen gab Hanna trotzdem kein wirklich sicheres Gefühl. Sie nippte an dem heißen Apfelwein und wünschte sich, er würde die Kälte vertreiben, die ständig an ihrem Herzen zehrte. Ivar fehlte. Sie hatte ihn nirgendwo gesehen, nicht einmal eine Spur von ihm gefunden. Sie hatte auch niemanden gefunden, der ihn am Tag der Schlacht gesehen hatte, abgesehen von dem verletzten Prinzen Ekkehard. Doch der war so mitgenommen, weil er seinen Liebling Baldwin verloren hatte, dass er sich gar nicht die Mühe machte, darüber nachzudenken, wo und wann er Ivar zum letzten Mal gesehen haben könnte. »Nur Gott können den Ausgang einer Schlacht im Voraus wissen«, sagte sie schließlich mit einem Seufzen. »Es macht keinen Sinn, sich über etwas Sorgen zu machen, das bereits geschehen ist.« 311 »Passiert ist passiert«, sagte Ingo mit einem Lachen, doch er wurde rasch wieder ernst, als er ihren traurigen Gesichtsausdruck sah. »Hier, nimm noch etwas Apfelwein. Du siehst durchgefroren aus, Mädchen. Was gibt es für Neuigkeiten vom Lager des Prinzen?« »Prinzessin Sapientia hat Gefallen an Edelmann Wichman gefunden, der sich inzwischen von seinen Verletzungen erholt, und ihr wisst ja, dass Prinz Bayan ihr bei allem ihren Willen lässt. Aber dieser Wichman und seine edlen Freunde -« Sie zögerte, aber sie konnte an ihren Mienen sehen, dass ihre Bemerkungen hier niemanden entsetzen würden. »Wirklich, ich würde eher mit einem Rudel räudiger Hunde davonrennen. Manchmal glaube ich, die Prinzessin - nun, mögen Gott sie segnen, und ich äußere mich nie mehr dazu. Aber es wäre besser, wenn sie sich um ihren armen Bruder kümmern würde.« »Kann er seinen Speerarm noch immer nicht bewegen?«, fragte Ingo. »Soviel ich weiß, ist die Verletzung so schwer gewesen, dass er ihn wohl nie wieder benutzen können wird. Edelmann Wichman ist unerträglich genau, was das angeht, denn er war es, der Prinz Ekkehard vor dem qumanischen Prinzen gerettet hat, als dieser ihn gerade niedermachen wollte.« »Ich sage euch«, meinte Folquin mit leiser Stimme, »und ich will wirklich nicht schlecht von der Prinzessin sprechen, mögen Gott sie segnen, aber ich frage mich ernsthaft, ob sie weiß, was Prinz Ekkehard an den Abenden hier im Lager treibt... « »Was meinst du denn damit?«, fragte Hanna. Folquin zögerte. »Du solltest es ihr besser sagen«, meinte Ingo. »Es hat in den Reihen der Soldaten bereits ein paar Kämpfe deswegen gegeben, doch Auseinandersetzungen untereinander kann sich ein Heer in unserer Lage eigentlich
kaum leisten.« »Komm mit«, sagte Folquin zögernd. Hanna leerte ihren Becher und reichte ihn Ingo. Die vier Löwen 312 hatten ihr Feuer dort entfacht, wo die Wagen in Hufeisenform aufgebaut waren, um eine Barriere zwischen der Nachhut und den äußeren Wachposten zu bilden. Der Holzkarren gewährte ihnen ein bisschen Schutz vor den geflügelten Reitern, die sie auf ihrem Rückzug nach Norden unaufhörlich belästigten - einem Rückzug, auf dem sie dem erstaunlich schlechten Wetter immer knapp voraus waren. Stets hatten sie den Eindruck, als wäre ein richtiger Regenschauer hinter ihnen, und während Hanna Folquin folgte, konnte sie einen Sturm losbrechen hören. Wind und Regen wühlten den Wald hinter ihnen auf, aber der Regen fiel niemals auf Bayans Heer. Der trockene Boden unter ihren Füßen war hinter ihnen zu Schlamm geworden und behinderte ihre Verfolger so sehr, dass die Hauptstreitmacht des qumanischen Heers sie nicht einholen konnte. Das war die Macht von Prinz Bayans Mutter, einer großen Zauberin von beachtlichen Fähigkeiten und Prinzessin des gefürchteten kerayitischen Volkes. Doch obwohl ihre Magie sehr hilfreich war, hatten sie einen schlimmen Monat erlebt, seit Bayans Heer bei dem uralten Hügel besiegt worden war. Es gab ein Sprichwort bei den Ungrianern: Ein besiegtes Heer ist wie eine sterbende Blume, deren fallende Blütenblätter eine Spur hinterlassen. Jeden Morgen, wenn sie weiterzogen, ließen sie weitere frische Gräber mit Soldaten zurück, die an den Verletzungen der Schlacht gestorben waren. Die Gräber markierten ihren Weg. Nur Prinz Bayans fester Führung hatten sie es zu verdanken, dass alles nicht noch viel schlimmer gekommen war. Aber auch diese Führung hatte nicht genügt, um Ivar zu retten. Die Löwen bildeten die Nachhut, zusammen mit den stärksten Kompanien der übrig gebliebenen leichten Reiterei, die jetzt unter dem Kommando von Markgräfin Judiths zweiter Tochter und ihrer Kampftruppe standen. Edelfrau Bertha war die Einzige von Judiths Befehlshaberinnen aus Austra und Olsatia, deren Truppen einigermaßen ungeschoren davongekommen waren, als die Mark313 gräfin auf dem Schlachtfeld ihren Kopf verloren hatte. Es ging das beliebte und unauslöschbare Gerücht, dass Edelfrau Bertha ihre Mutter so wenig gemocht hatte, dass der Tod der Markgräfin sie eher aufgemuntert als entmutigt hatte. Es war ihr Lager, zu dessen Rand Folquin Hanna jetzt führte. Sechs Feuer brannten hell lodernd; sie waren in einem Kreis errichtet. In ihrer Mitte saß Edelfrau Bertha mit ihren bevorzugten Kameraden und Kameradinnen; sie tranken den restlichen Met, den sie zwei Tage zuvor von einem Salavi-Gut mitgenommen hatten. Gewöhnlich konnte Hanna sie den ganzen Tag über in den vordersten Reihen singen hören, denn sie waren eine äußerst trinkfeste und kräftige Truppe. Heute jedoch saßen sie still wenn auch ruhelos da; Edelfrau Bertha hatte ihnen zu schweigen befohlen, während sie Prinz Ekkehards Worten lauschte. »Er erzählt jede Nacht dieselbe Geschichte«, flüsterte Folquin. Ein Dutzend oder mehr Löwen waren gekommen, um ebenfalls zuzuhören; sie standen so, dass der Rauch, der in südöstliche Richtung davon geweht wurde, sie nicht belästigte. Diejenigen, die am nächsten standen, drehten sich verärgert um und machten ihm klar, dass er still sein sollte, damit sie zuhören konnten. Prinz Ekkehard war ein attraktiver Jüngling noch an der Schwelle vom Jungen zum Mann. Wie er so dastand, den rechten Arm in der Schlinge und die Haare vom kalten Wind zerzaust, war er durchaus eine beeindruckende Erscheinung. Wichtiger noch war, dass er die Stimme eines Barden hatte und so die Fähigkeit besaß, auch die unwahrscheinlichste Geschichte so glaubhaft zu erzählen, dass man fast glaubte, sie selbst erlebt zu haben. Seine Zuhörerschaft lauschte wie gebannt, bis er zum Ende kam. »Der Hügel aus Asche und Kohlen glomm wie eine Schmiede, und sicher war er auch eine Schmiede für Gottes Wunder. Er öffnete sich wie eine Blume in der Morgendämmerung. Aus der Asche erhob sich der Phoenix. Nein, wirklich, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Der Phoenix erhob sich in die Morgendämmerung. Blumen regneten auf uns herab, aber die Blütenblätter 314 verschwanden, sobald" sie den Boden berührt hatten. Ist es nicht ebenso bei jenen, die sich weigern zu glauben? Für sie ist der Blumenpfad mehr Illusion denn Wirklichkeit. Aber ich glaube, denn ich habe den Phoenix gesehen. Ich bin verletzt gewesen und durch ein Wunder vollkommen geheilt worden. Denn seht, als der Phoenix sich erhob, ließ er einen lauten, trompetenden Ruf erschallen, der bis in die Himmel zu hören war, und wir hörten auch, wie er beantwortet wurde. Da begriffen wir, was es war.« »Und was war es?«, fragte Edelfrau Bertha, die so aufmerksam der Geschichte lauschte, dass sie noch keinen Tropfen Met getrunken hatte; dafür hatte sie die peinliche Angewohnheit, an ihrem Schwertgriff entlangzustreichen, als wäre es ihr Geliebter. Ekkehard lächelte süß, und Hanna spürte einen kalten Schauer in ihrem Innern, als sie sah, welche Entschlossenheit in dem Blick lag, den er über seine Zuhörer schweifen ließ. »Es war das Zeichen des heiligen Daisan, der von den Toten auferstanden ist, um für uns alle das Leben zu werden.« Viele der Zuhörer lächelten nervös. »Ivars Ketzerei«, murmelte Hanna.
»Hat die Skopos nicht das gesamte arethusanische Volk und all ihre Vasallen-Staaten exkommuniziert, weil sie an die Erlösung glaubten?«, fragte Edelfrau Bertha. »Meine Mutter, möge sie in Frieden ruhen, hatte einen Arzt, der aus Arethusa kam. Der arme Bursche hatte als Junge im Palast des Kaisers seine Eier verloren, denn Eunuchen waren dort sehr beliebt; hier in Wendar hätte er beinahe seinen Kopf verloren, weil er sich zur arethusanischen Ketzerei bekannt hat. Es ist eine schöne Geschichte, die Ihr da erzählt, Prinz Ekkehard, aber ich mag meinen Kopf sehr und ziehe es vor, wenn ich ihn noch ein bisschen auf meinen Schultern tragen könnte, statt dass er als Zierde eines Pfahls vor dem Bischofspalast in Handelburg dient.« »Zu leugnen, was ich gesehen habe, wäre schlimmer als zu lügen«, sagte Ekkehard. »Und es haben auch nicht nur jene die Wahrheit erkannt, die das Wunder des Phoenix gesehen haben. 315 Andere haben die wahre Botschaft ebenfalls gehört und verstanden, und vielleicht haben sie genug Mut, um aufzustehen und Zeugnis abzulegen.« »Ist das so?« Edelfrau Bertha blickte jetzt sogar noch interessierter drein, als sie ihren Blick über den Kreis ihrer Vertrauten schweifen ließ. Nach einem Augenblick heftete sie ihn auf einen jungen Edelmann namens Dietrich. Hanna erinnerte sich sehr gut daran, wie viel Ärger er bereitet hatte, als sie im vergangenen Sommer von König Henry mit zwei Kohorten Löwen und einer Gruppe von anderen Kämpfern als Verstärkung für Sapientia in den Osten geschickt worden war. Ab einem bestimmten Zeitpunkt hatte er sein Benehmen plötzlich geändert, doch der rätselhafte Umschwung seines Herzens war ihr damals nicht so verblüffend vorgekommen, wie es jetzt der Fall war. Langsam erhob sich Edelmann Dietrich. Für einen ungeschlachten Kämpfer wirkte er seltsam scheu. »Ich habe Gottes Werk auf dieser Erde gesehen«, sagte er zögernd, als würde er seinen eigenen Worten nicht trauen. »Ich bin kein Barde und kann keine schönen Worte machen, damit es hübsch und angenehm klingt. Ich habe die Lehren gehört. Ich weiß tief in meinem Innern, dass es wahr ist, denn ich habe gesehen, wie -« erstaunlicherweise wischte er sich Tränen ekstatischer Freude aus dem Gesicht -»Ich habe Gottes heiliges Licht auf die Erde scheinen sehen. Ich habe mich an dem versündigt, der mein Lehrer geworden ist. Ich bin eine leere Hülle gewesen, nicht viel besser als eine verwesende Leiche. Begierde hatte mein Herz zerfressen, sodass ich gedankenlos von einem Tag zum nächsten lebte. Aber Gottes Licht hat mich wieder erfüllt. Ich hatte schließlich die Wahl, mich für eines der Lager zu entscheiden - für Gott oder den Da habe ich die Wahrheit über das Opfer und die Erlösung des heiligen Daisan begriffen -« Hanna packte Folquin am Arm und zerrte ihn weg. »Ich habe genug gehört. Das ist gottlose Ketzerei.« Das Licht der vielen Feuerstellen verlieh Folquins Gesicht einen 316 schwer zu deutenden Ausdruck. »Du glaubst nicht, dass es wahr sein könnte ? Wie sonst würdest du einen Phoenix erklären ? Und das Wunder, dass alle ihre Verletzungen geheilt worden sind?« »Ich gebe zu, dass etwas passiert ist, das Edelmann Dietrich verändert hat, denn ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr ihr Löwen bei dem Marsch nach Osten im letzten Sommer über ihn geklagt habt. Ist es dieses Gerede, über das die Leute sich streiten?« »Ja. Einige kommen jeden Abend, um Prinz Ekkehard zu hören. Er predigt für alle, ob sie nun Hochgeborene oder Gewöhnliche sind. Andere sagen, er würde mit der Stimme des sprechen. Glaubst du das auch, Adler?« »Ich habe so viele seltsame Dinge gesehen -« Das Hörn erklang, wie jede Nacht. Die Wachen stießen Warnrufe aus. Ekkehards Zuhörerschaft löste sich auf, Soldaten griffen nach den Waffen, die neben ihnen bereit lagen. Jenseits der Wagenlinie lösten sich geflügelte Reiter aus dem Sturm und preschten auf die Nachhut zu, aber lediglich ein paar durchnässte Pfeile fanden den Weg ins Lager, ohne dabei irgendwelchen Schaden anzurichten, und dann konnten Edelmann Dietrich und seine Reiterei sie auch schon mit Speeren und einem Hagel surrender Pfeile in die Flucht schlagen. Als Prinz Bayan von der Vorhut herankam, um nachzusehen, was los war, hatte sich schon wieder alles beruhigt, bis auf den ständigen Wind und den niederprasselnden Regen im Südosten. Er ritt mit einem kleinen Kontingent seiner persönlichen Leibgarde, einem Dutzend ungrianischer Reiter, deren einst leuchtende Kleidung jetzt schmutzverschmiert war. Fußsoldaten beleuchteten ihnen den Weg mit Fackeln. Bayan hatte die Angewohnheit, auch unter solchen Umständen verhältnismäßig sauber zu bleiben - im Fackellicht konnte Hanna das intensive Blau seiner Tunika sehen -, und der Kontrast verlieh ihm etwas noch Beeindruckenderes; er war ein kräftiger intelligenter Mann im besten Alter, dem anscheinend kein Missgeschick etwas anhaben konnte. »Heute waren es weniger Angreifer«, sagte Edelfrau Bertha und 317 reichte ihm einen Pfeil, nachdem er abgestiegen war. »Möglicherweise sind sie so weit zurückgefallen, dass sie es aufgegeben haben, uns noch erwischen zu wollen. Oder aber sie wollen, dass wir selbstgefällig werden und uns sicher fühlen, damit sie uns überraschen und sich mit aller Macht auf uns stürzen können.« Prinz Bayan drehte den Pfeil in seinen Händen und betrachtete die nasse Befiederung. »Vielleicht«, sagte er skeptisch. »Mir gefallen diese Angriffe nicht, die jeden Abend zur gleichen Zeit stattfinden.« Edelfrau Bertha hatte den kräftigen Körperbau und die o-beinige Haltung einer Frau, die die meiste Zeit ihres Lebens in einer Rüstung auf einem Pferd verbracht hatte. Es war kein Wunder, dass sie frühzeitig gealtert war,
schließlich war sie durch die harte Schule der Grenzlande gegangen, wo Kämpfe an der Tagesordnung waren. »Ich habe drei Kundschafter zurückgeschickt, um herauszufinden, ob Bulkezus Heer uns noch immer folgt, aber keiner von ihnen ist zurückgekehrt.« Bayan nickte und zwirbelte die Enden seines langen Schnurrbarts. »Wir müssen nach Handelburg gehen. Wir müssen uns ausruhen, unsere Waffen und Ausrüstung reparieren, Essen und Wein beschaffen. Wenn wir sichere, feste Wände um uns herum haben, können wir einige Zeit ausharren, bis -« Er drehte sich zu seinem Übersetzer Breschius um, einem Geistlichen mittleren Alters, dem die rechte Hand fehlte. »Wie heißt dieses Wort? Bis weitere Truppen kommen.« »Verstärkung, mein Prinz.« »Ja! Verstärkung.« Er hatte Schwierigkeiten, das Wort auszusprechen, und grinste über seine Bemühungen. Edelfrau Bertha lächelte nicht. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die oft lachten, wenn sie es denn überhaupt jemals taten. »Sofern wir überhaupt eine Botschaft aus Handelburg herausschaffen können. Bulkezu hat uns vielleicht im Schutz dieses Sturms mit seinem Heer umzingelt.« »Nicht einmal ein qumanisches Heer kann an allen Orten zur 318 gleichen Zeit sein«, erwiderte Bayan. In diesem Augenblick fiel sein Blick auf Hanna; sie stand in der Menge, die sich versammelt hatte, um ihre Befehlshaber zu beobachten. »Schneefrau!« Sein Gesicht hellte sich mit einem kühnen Lächeln auf: »Hier verbirgt sich deine Helligkeit. Es ist so dunkel geworden an meinem Feuer!« Hanna spürte, wie ihr Gesicht vor Scham heiß wurde, aber glücklicherweise wurde Bayan von Bruder Breschius abgelenkt, der sich vorbeugte, um mit leiser Stimme mit dem Prinzen zu sprechen. »Ekkehard?«, rief Prinz Bayan; er wirkte verblüfft. Hannas Blick schweifte über den Ring aus Feuerstellen, aber Prinz Ekkehard war verschwunden. Sie packte Folquin am Ärmel und glitt davon, begierig darauf, aus Prinz Bayans Sichtweite zu kommen. Sie hatte mehr als einmal Sapientias Wut aushalten müssen; ohne Notwendigkeit wollte sie das nicht noch öfter erleiden müssen. Da sie von Sapientia die Erlaubnis bekommen hatte, weiterhin nach Informationen über Ivar zu suchen, konnte sie sich in den letzten Tagen des Marsches im Hintergrund halten, bis sie die Grenzfestung und Stadt Handelburg erreichten. Als sie die östlichen Hänge hinab in das Tal der Vitadi marschierten, konnte sie die von einer Mauer umgebene Stadt sehen, die auf drei durch Brücken miteinander verbundenen Inseln lag, zwischen denen die Arme der Vitadi dahinströmten. Im Westen lag die Mark der Villams, die sich bis zur Odar erstreckte. Im Osten breitete sich jenseits des spärlich bewohnten Grenzlandes die lockere Konföderation der halbzivilisierten Stämme aus, die man als Königreich von Polenie kannte. Die Flagge der Bischöfin flatterte vom hohen Turm und verkündete, dass sie trotz des drohenden Angriffs der Qumaner in ihrer Stadt geblieben war. Alle Tore waren jetzt verschlossen, und die wenigen Schuppen entlang der Flussufer - die Heime der Fischer und armen Arbeiter - waren leer, jedes Möbelstückes be319 raubt. Selbst das ungewöhnlichste Teil konnte in einer belagerten Stadt noch als Brennholz dienen. Die Felder waren abgeerntet und die Flussbänke von jeglichem Pflänzchen, das sich als Futter oder zum Herstellen von Betten eignen mochte, befreit: Ried, Stroh, Gras alles war als Vorbereitung auf einen Angriff der Qumaner abgerissen worden. Die Landschaft rund um Handelburg sah so aus, als hätte sich ein Schwärm Heuschrecken über sie hergemacht, sich ordentlich satt gefressen und dann das Gebiet wieder verlassen. Ein Bote kam von der Vorhut: Der Adler musste vorne reiten, da er das Ohr des Königs repräsentierte. Mit einigem Zögern verließ Hanna ihre lieb gewonnenen Kameraden und ritt nach vorne, um so unauffällig wie möglich ihren Platz neben Bruder Breschius einzunehmen. »Bleibt in meiner Nähe«, sagte er leise. »Ich tue mein Bestes, sie von Euch fern zu halten.« »Ich danke Euch, Freund.« Die Tore wurden geöffnet, und sie ritten in die Stadt. Die Stadtbewohner begrüßten Bayan und Sapientia und ihr Heer mit großem Jubel, doch Hanna bemerkte, dass die Straßen ansonsten nicht sehr bevölkert waren. Sie fragte sich, wie viele wohl nach Westen zur Mark der Villams geflohen waren. Bischöfin Alberada erwartete sie in der ganzen Pracht ihrer Amtsgewänder auf den Stufen zu ihrem bischöflichen Palast; sie trug einen Goldreif um den Hals, der ihre königliche Abstammung kennzeichnete. Eine Reihe von Edelfrauen und Edelmännern war bei ihr, darunter auch ein schneidiger Mann, der die Schirmmütze trug, die bei den Polensern üblich war. Die Bischöfin wartete, bis Prinzessin Sapientia abgestiegen war, dann kam sie die Stufen herunter, um sie und Prinz Ekkehard zu begrüßen. Mit solch genau festgelegten Begrüßungszeremonien kennzeichneten die Edelleute untereinander ihren Rang und ihr Gebiet. Wäre König Henry in Handelburg eingetroffen, hätte die Bischöfin ihn auf der Straße vor der Stadt willkommen geheißen. Hätte Markgraf Villam ihr seine Hochachtung gezollt, wäre Alberada im Innern des Hauses geblieben, und er hätte zu ihr gehen müssen. Sapientia und Ekkehard küssten der Bischöfin die Hand, wie es ihrer heiligen Stellung angemessen war, und sie küsste ihr die Wangen als Zeichen der Verwandtschaft, die sie verband. Es war nicht leicht, eine Ähnlichkeit zwischen ihnen festzustellen. Alberada war älter als Henry, hatte bereits den Winter ihres Lebens betreten. In
dem Jahr, seit sie der Hochzeit von Sapientia und Bayan beigewohnt hatte, war sie sichtlich gealtert. Ihre Haare waren schlohweiß geworden. Ihre Schultern beugten sich unter dem Gewicht ihrer bischöflichen Gewänder. Sie wandte sich von ihrer Nichte ab und begrüßte Bayan sowie die anderen Edelleute, deren Rang ihre Aufmerksamkeit rechtfertigte. Hanna hätte nicht sagen können, ob sie die Absicht hatte, Bayans Mutter, die in ihrem Wagen verborgen war, zu begrüßen oder zu ignorieren, doch der Wagen wurde ohnehin nach einer kurzen, wortlosen Verständigung davon- und zum Gästeflügel gezogen. Falls Bischöfin Alberada diese Beleidigung bemerkte, ließ sie sich das jedenfalls nicht anmerken. »Kommt, gehen wir aus der Kälte. Ich wünschte, ich hätte bessere Neuigkeiten zur Begrüßung, aber wir bekommen von allen Seiten Ärger.« »Was sind das für Neuigkeiten?«, fragte Sapientia neugierig. Der lange Marsch hatte die Prinzessin sogar noch hübscher gemacht; was ihr an Weisheit mangelte, glich sie durch Leidenschaft und ein gewisses Leuchten in ihrem Gesicht wieder aus, sobald sie sich für irgendetwas interessierte. »Qumanische Heere haben die polensischen Städte Mimik und Girdst überfallen. Girdst ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden. Sowohl die königliche Festung als auch die neue Kirche sind zerstört worden.« »Das sind bittere Nachrichten!«, rief Edelfrau Bertha aus, die links von Sapientia stand. »Und es kommt noch schlimmer.« Es begann zu regnen; es war 321 ein feiner nebliger Nieselregen, der durch den schneidenden Wind noch kälter wurde. »Der polensische König ist tot, seine Frau, Königin Sfildi, ist eine Gefangene der Qumaner, und sein Bruder Prinz Woloklas hat Frieden mit den Qumanern geschlossen, um sein eigenes Leben und seine Ländereien zu retten. Das alles wissen wir von Herzog Boleslas -«, sie deutete auf den Edelmann, der am oberen Ende der Stufen stand, »- der mit seiner Familie in meinem Palast Schutz gesucht hat.« »Wer regiert jetzt das polensische Volk, wenn ihr König tot ist?«, fragte Bayan. Es war offensichtlich, dass Herzog Boleslas nicht genug Wendisch sprach, um eine Antwort geben zu können, denn Alberada antwortete für ihn. »König Sfiatslevs einziges überlebendes Kind ist eine Tochter, die nach Osten zu den heidnischen Starviki geflohen ist, um dort Hilfe zu erbitten. Soll ich fortfahren?« Bayan lachte. »Nur, wenn ich etwas Wein bekomme, um diese Neuigkeiten besser hinunterschlucken zu können. Wir haben seit einem Monat keinen Wein mehr gehabt.« »Gehen wir in die Halle!«, rief die Bischöfin; diese Aussage schien ihr mehr Entsetzen zu bereiten als die polensische Niederlage. Vielleicht wollte sie auch einfach nur aus dem Regen kommen, der mittlerweile in Strömen auf sie herabprasselte. Die Bediensteten eilten voraus, um ihre Vorbereitungen zu beenden. »Natürlich gibt es Wein.« »Dann fürchte ich mich nicht davor, Eure Nachrichten zu hören. Solange es noch Wein zu trinken gibt, ist der Krieg noch nicht verloren.« Bischöfin Alberada hatte ein Fest vorbereiten lassen, das ihrem Status als unehelichem Kind der Königsfamilie entsprach. Sie war mit der polensischen Königsfamilie verwandt und hatte dreißig Jahre zuvor die Erlaubnis bekommen, das Bistum Handelburg zu gründen; damals war sie noch eine sehr junge Frau gewesen, die erst kurz zuvor zur Kirche gekommen war. Eine von König Sfiatslevs Tanten war während der Kriege zwischen Wendar und Polenie fünfzig Jahre zuvor gefangen genommen worden, und diese junge Edelfrau hatte man dem Jüngling Arnulf dem Jüngeren als erste Konkubine gegeben - eine königliche Mätresse, die seine jugendliche Lust stillen sollte, während er auf seine Verlobte Berengaria von Varre wartete, die das heiratsfähige Alter noch nicht erreicht hatte. In den vergangenen dreißig Jahren hatte Alberada die stetig wachsende befestigte Stadt Handelburg beaufsichtigt, und die edlen Familien von Polenie waren alle in richtiger, geordneter Weise zum daisanitischen Glauben übergetreten. Während Wein ausgeschenkt wurde und man den ersten Gang brachte, erinnerte die Bischöfin sie an ihre erfolgreichen Bemühungen der Bekehrung. »Deshalb habe ich Angst um Sfiatslevs Tochter, Prinzessin Rinka, denn die Starviki haben sehr störrisch an ihrer alten heidnischen Lebensweise festgehalten. Was ist, wenn sie sie zwingen, einen ihrer Prinzen zu heiraten? Sie könnte abtrünnig werden, oder noch schlimmer, sie könnte den Arethusanern in die Hände fallen, denn die Starviki sind dafür bekannt, dass sie mit den Arethusanern Felle und Sklaven gegen Goldnomias tauschen. Was gibt es für Neuigkeiten von König Henry, Sapientia? Ich hoffe, wir dürfen ihn schon bald hier im Osten erwarten, denn wir benötigen ihn sehr dringend.« Sapientia warf Hanna einen Blick zu, die zusammen mit dem Dienstpersonal etwas weiter hinten stand. »Dieser Adler hier hat die neuesten Nachrichten überbracht«, sagte sie in einem Ton, der nahe legte, dass der Inhalt der Nachricht, so schlecht er auch sein mochte, von Hanna zu verantworten war. »König Henry hat vor, nach Süden, nach Aosta zu reiten. Er hat ein kleines Kontingent von zweihundert Löwen und nicht mehr als fünfzig Reiter geschickt, obwohl ich ihm eindringlich habe ausrichten lassen, wie verzweifelt unsere Situation hier ist.« »Er strebt nach der Kaiserkrone«, sagte Alberada. »Ich frage mich, was die Kaiserkrone noch wert ist, wenn der Osten brennt«, sinnierte Bayan. »In diesen Zeiten gibt es mehr als nur einen Unruheherd.« Al-
berada gab ihrem Verwalter ein Zeichen, und die Becher am Tisch wurden nachgefüllt. »Die Kaiserkrone mag einem Land, das von den Einflüsterungen des heimgesucht wird, durchaus Stabilität und Ordnung bringen. Diese Raubzüge der Qumaner sind Gottes Urteil, die Antwort auf unsere Sünden. Täglich bringen mir meine Geistlichen mehr Geschichten aus der Grube der Korruption, in die wir gefallen sind -« Nachdem sie so viele Tage auf spärliche Rationen angewiesen gewesen waren, freute sich Hanna aufrichtig, zum Aufwarten eingeteilt worden zu sein, da es bedeutete, die Reste auf den Platten essen zu können. Einem Eintopf aus Aal folgten ein gebratener Schwan, verschiedene Sorten Fleisch und eine würzige Wildfleisch-Wurst. Obwohl die Bischöfin sich soeben ausführlich über die Sünde ausgelassen hatte, aßen die Edelleute mit sichtlicher Freude, und gewiss würde noch genug für die Bediensteten und die Hunde übrig bleiben. Prinz Bayan hatte die Unterhaltung schlau auf das Thema gelenkt, das ihn am meisten interessierte: der Krieg. »Wir müssen den Winter hier verbringen.« »Sicher wird der Winter den qumanischen Raubzügen ein Ende bereiten.« Ohne ihre Waffen und die schweren Reisegewänder wirkte Sapientia viel kleiner. Doch wenn sie auch nicht so groß oder breit in den Schultern war wie ihr Vater, hatte das monatelange Reiten ihr doch eine gewisse Stärke verliehen, die sie vor der Heirat nicht gehabt hatte. Bayan lachte. »Ist meine Löwenkönigin den Krieg leid?« »Bestimmt nicht!« Sapientia hatte die Angewohnheit, sich zu brüsten, wenn Bayan ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Sie konnte niemals genug von seinem Lob bekommen, und der Prinz hatte ein Gespür dafür, wann er seiner Frau schmeicheln musste. »Aber niemand kämpft im Winter.« »Das stimmt nicht, Eure Hoheit«, sagte Breschius so weich, als hätten er und Bayan den Wortwechsel eingeübt, »die Qumaner sind bekannt dafür, dass sie auch während des Winters angreifen, wenn das Eis die Straßen trocknen lässt und Pfade aus den Bächen und Flüssen macht. Schnee hält sie nicht auf. Nichts außer fließendem Wasser hält sie auf. Doch selbst dafür haben sie ihre Gefangenen in ihrem Heer, ehemalige Baumeister, die Brücken für sie bauen und ihnen zeigen, wie man Furten und Fähren benutzt.« »Ich habe alles für eine Belagerung vorbereiten lassen«, sagte Alberada. »Aber eine Belagerung kann in vielerlei Gestalt daherkommen«, fügte sie missbilligend hinzu. Am anderen Ende des Tisches saß Edelmann Wichman und trank kräftig mit seinen Kameraden. Er hatte einen Platz neben Edelmann Dietrich bekommen, doch er kam weder mit kruden Witzen noch mit kruderen Anmaßungen an ihn heran; Dietrich machte einfach nicht mit, und er verlor auch nicht die Geduld. Da Wichman das Scharmützel verloren hatte, machte er sich daran, jede Dienerin zu belästigen, die in seine Reichweite kam. »Wenn euer Heer hier überwintert, Prinz Bayan, brauche ich Garantien, dass die Männer nicht das Leben meiner Stadtbewohner und Bediensteten durcheinander bringen.« »Es ist auch mein Heer!«, sagte Sapientia. »Ich gestatte keine Unverschämtheiten oder Unruhestifter.« »Natürlich nicht, Nichte«, erklärte Alberada mit solch beschwichtigend ruhiger Miene, dass Hanna wusste, sie würde weiter an Sapientia vorbeireden; wie alle anderen wusste sie, wer dieses Heer wirklich befehligte. »Ich erwarte von dir, dafür zu sorgen, dass die wendischen Streitkräfte sich benehmen, genauso, wie ich von Prinz Bayan erwarte, dass er für Ruhe unter seinen ungrianischen Landsleuten sorgt.« Bayan lachte. »Meine ungrianischen Brüder verursachen keinen Ärger, sonst lasse ich ihnen ihre Schwerter kürzen, auf meinen eigenhändigen Befehl hin.« »Ich billige solche Barbarei nicht«, sagte Alberada spröde, »aber ich hoffe, dass Eure Soldaten den Frieden eher halten als brechen.« Die Verwalter reichten ein wohlschmeckendes Gericht aus gekochten und gewürzten Birnen mit Fenchel, Galgant-Wurzel und Lakritze herum, als Verdauungshilfe für die Edelleute, die inzwisehen ziemlich voll gestopft und übersättigt waren. Trotzdem zog sich das Fest noch weit in die Nacht hinein. Ein polensischer Barde aus Herzog Boleslas' Gefolge sang, und er hatte eine solch ausdrucksstarke Stimme und so viel Dramatik in seinen Gesten, dass die ganze Halle hingerissen dasaß und lauschte, wenngleich er in einer unverständlichen Sprache sang. Hannas Augen brannten von dem Rauch in der Halle. Sie war so lange draußen in frischer Luft marschiert, dass sie ganz vergessen hatte, wie dick die Luft in geschlossenen Räumen war, selbst in einer Halle, die so geräumig war wie die im Palast der Bischöfin. Trotz des Rangs und des Reichtums der Bischöfin war ihr Palast nicht so reich geschmückt, wie es bei den älteren Palästen Wendars üblich war. Diese Halle war erst zehn Jahre zuvor fertig gestellt worden und sah noch immer irgendwie unfertig aus, als wäre ihr Holz noch nicht von tausend Händen und Füßen abgenutzt worden und hätte noch nicht den Glanz des Alters. Die Säulen in der Halle starrten sie verdrossen an; sie waren den Gestalten mürrischer Heiliger nachempfunden, die zweifellos das Feiern und den Gesang missbilligten - die mit den Füßen stampfenden, grölenden Männer, die unter den Tischen nach Resten schnappenden Hunde, die Dienerinnen, die den Wein in Strömen ausschenkten und gleichzeitig neckenden Fingern auswichen. In der Tat verhielten sich Bayans Ungrianer besser als ihre wendischen Kameraden; vielleicht war Bayans witzig gemeinte Drohung gar kein Witz gewesen. Erst spät zogen sich die Edelleute zu ihren Schlafstätten zurück, während Bedienstete wie Hanna sich auf die
Suche nach einer geeigneten Pritsche machten. In einer so großen Halle waren viele Schlafstellen unter die Dachvorsprünge eingebaut, und als Sapientia keinerlei Geste machte, um Hanna zu sich in die Kammer zu rufen, in der sie etwas abgeschirmter schlief, fand Hanna ein gemütliches Plätzchen bei den Dienerinnen. Sie lagen eng beieinander, ein warmes Nest von halb nackten Frauen, die sich mit Fellen zugedeckt hatten und in der Dunkelheit tratschten. »Die Ungrianer stinken. Ich habe es dir gesagt.« 326 »Nicht mehr als drei wendischen Soldaten. Oh, Gott, hast du gesehen, wie sich die arme Doda die ganze Zeit vor Edelmann Wichman in Acht nehmen musste? Er ist ein Tier.« »Er ist der Sohn einer Herzogin. Ich nehme an, er kriegt, was er will.« Nervöses Gekicher folgte diesem Ausspruch. Eine Frau veränderte ihre Position. Eine andere seufzte. »Nicht im Palast der Bischöfin, Freundin«, erwiderte eine andere Stimme. »Bischöfin Alberada ist streng, aber gerecht, und so etwas gibt es in ihrer Halle nicht. Und jetzt seid bitte still, damit ich schlafen kann!« Aber sie waren nicht alle still. Hanna fiel in einen Schlummer, eingelullt von ihrem Geflüster und der seltsamen Art, wie sie die »P«s und die »T«s zischten, genauso, wie die Leute es in dem einsamen Dorf östlich von Machteburg getan hatten, wo eine qumanische Bande sie überfallen hatte. Dort hatte sie Ivar wieder gesehen, der sich so sehr von dem impulsiven, gutmütigen Jungen wegentwickelt hatte, mit dem sie aufgewachsen war. Er hatte das Wunder des Phoenix gesehen. War es wirklich möglich, dass die Geschichte wahr war? Hatten Gott ein Wunder des Heilens vollbracht und Ivar und seinen Kameraden und Prinz Ekkehard eine Vision der Wahrheit gegeben? Sie drehte den schweren Smaragdring herum, den König Henry ihr gegeben hatte. Hier, neben den anderen Frauen, fühlte sie sich warm und auch sicher, aber ihr Herz blieb rastlos. Sie kannte ihre Pflicht. Sie war zuallererst Henrys Dienerin, seine Botin, sein Adler, hatte sich zum Dienst ihm gegenüber verpflichtet, unabhängig davon, welcher Kirchendoktrin er anhing, ohne die Autorität derer in Frage zu stellen, die er als die rechtmäßigen Führer der Kirche anerkannte. Doch was war mit den Göttern ihrer Großmütter? Hatten sie nicht ihre Anhänger gerecht behandelt und ihnen gute Ernten beschert, auch wenn sie sich manchmal abgewendet und schlechte Zeiten gebracht hatten? Was war mit den vielen, die nicht im Kreis des Lichts lebten, sondern außerhalb ? Waren sie alle dazu verdammt, endlos in den Abgrund zu stürzen, weil sie einenn anderen Glauben anhingen? Wie würde Bruder Breschius, der den Zorn einer kerayitischen Königin überlebt hatte, eine solche Frage beantworten ? Sie sank in einen tiefen Schlaf und träumte.
328
Pura
Hanna erwachte abrupt, als eine Hand nach ihr griff und sie unsanft berührte. Sie roch den Gestank des sauren Atems auf ihrer Wange und spürte das Gewicht eines Mannes auf sich. Sie trat hart und zielgenau zu. Mit einem wütenden Fluch taumelte die schattenhafte Gestalt, die sie belästigt hatte, zurück und prallte gegen eine andere Gestalt, die ebenfalls zu ihrer Schlafstelle gekommen war. Frauen schrien auf und fluchten. Die Felle zuckten, als plötzlich alle Frauen aufwachten. Eine von ihnen, die am Rand der Plattform geschlafen hatte, stieß erstickte Schreie aus, während sie gegen einen kräftigen Mann kämpfte, der sich auf sie gelegt hatte. 331 Verwalter und Bedienstete erschienen, einige hatten Fackeln mitgebracht. Das laute Schlurfen von unzähligen Füßen war zu hören. Ein paar Männer gingen zu Boden, bevor Prinz Bayan brüllend hereinkam; er war wütend, weil er aus dem Schlaf gerissen worden war. Ein paar ungrianische Soldaten, Männer, die ihn Tag und Nacht bewachten, drängten sich mit fröhlichen Flüchen in das Gewühl. Als die Bischöfin eintraf, von Verwaltern mit hübschen Keramiklampen in den Händen flankiert, war der Kampfplatz bereits abgesteckt: Die Dienerinnen kauerten auf der Pritsche und posaunten ihre Anklagen so laut heraus, dass Hanna schon glaubte, taub zu werden. Die Verwalter und Bediensteten standen ein wenig abseits und lecken ihre Wunden, während Edelmann
Wichman und sein Haufen räudiger Hunde - ein Dutzend narbenübersäter, großspuriger und ungestümer junger Edelmänner - trotzig am schwelenden Herdfeuer standen. »Wieso bin ich gestört worden?« Alberada hielt eine Lampe in Gestalt eines Greifen vor sich, an dessen Zunge die Flammen leckten. In diesem Augenblick - so wütend und doch voller Würde -sah sie ganz und gar nicht wie eine Frau aus, die man vielleicht nicht ernst nehmen musste. »Ihr besitzt tatsächlich die Frechheit, in meiner eigenen Halle meine Dienerinnen zu vergewaltigen, Wichman? Ist dies die Art, wie Ihr mir meine Gastfreundschaft zurückzahlt?« »Ich habe seit Tagen keine Frau mehr gehabt! Diese Frauen waren willig genug!« Wichman deutete wie beiläufig auf die Schlafstellen, und einen Augenblick wirkte einer seiner Kameraden, als wolle er einen erneuten Versuch starten. »Wir können uns nicht alle mit Schafen zufrieden geben, wie Eddo es tut.« Seine Kameraden kicherten. »Außerdem sind es doch nur Gewöhnliche. Wir werden Eure Geistlichen schon nicht anrühren.« Die Worte riefen neues Gelächter hervor. »Ihr seid noch immer betrunken und habt den Verstand eines Tieres.« Alberadas bissiger Tadel traf auf unsensible Ohren. Einer von Wichmans Kameraden kratzte sich tatsächlich am Schwanz, vollkommen überwältigt von seiner Lust. Beim Anblick seiner pumpenden Hände überfiel Hanna ein Brechreiz. In der Zwischenzeit hatten sich viele bewaffnete Bedienstete hinter der Bischöfin aufgebaut. »Bringt sie zum Turm. Sie werden die Nacht dort verbringen, denn ich werde nicht gestatten, dass der Frieden in dieser Halle gestört wird. Morgen werden sie aufbrechen und zu Herzogin Rotrudis zurückkehren. Eure Mutter wird zweifellos barmherziger sein als ich, Wichman.« In diesem Augenblick merkte Hanna, dass Bayan sie gesehen hatte. Er blickte sie an, als hätte er es Edelmann Wichman nur zu gern gleichgetan. Dann lachte er wie über einen Witz, den nur er verstand, und begann, die Enden seines langen Schnurrbarts gedankenvoll zu zwirbeln. Er winkte Bruder Breschius zu sich und sprach leise mit ihm. »Ich bitte Euch, Euer Gnaden«, sagte Breschius. »Prinz Bayan schlägt vor, dass Ihr Edelmann Wichman bestraft, wie es in Eurem Ermessen steht, aber wenn der Krieg vorüber ist.« Alberadas Blick war äußerst frostig. »Und wie, schlägt Prinz Bayan vor, soll ich in der Zwischenzeit meine Dienerinnen vor Vergewaltigung und Belästigung schützen?« Bayan betrachtete sie spöttisch. »In jeder Stadt leben Huren. Ich werde sie aus meiner eigenen Tasche bezahlen.« »Eine Sünde begleichen, indem eine neue begangen wird?« Er zuckte mit den Schultern. »Um gegen die Qumaner zu kämpfen, brauche ich Soldaten.« »Um gegen die Qumaner zu kämpfen«, begann Wichman, der sich in der typischen Weise betrunkener junger Männer belustigte, die nur an sich dachten, »brauche -« seid jung und dumm«, blaffte Bayan, der schließlich am Ende seiner Geduld angelangt war. »Aber Ihr kämpft gut. Und nur deshalb brauche ich Euch noch. Ansonsten würde ich Euch den Wölfen vorwerfen.« Wichman hatte ein hohes, unangenehmes Lachen. »Wenn Ihr mich so sehr braucht, mein Prinz«, sagte er gedehnt, »werde ich selbst einen Preis nennen und verlangen, dass er mir zehnfach bezahlt wird.« Er deutete mit obszönem Blick auf die Dienerinnen. Bayan bewegte sich rasch für einen Mann, der gerade erst aufgestanden war. Er packte Wichman am Kragen und hielt ihn fest. Wichman war ein bisschen größer und erst halb so alt wie Bayan, doch der ungrianische Prinz war jetzt ausnehmend wütend, und er hatte echte Autorität auf seiner Seite - er hatte große Heere auf dem Schlachtfeld befehligt und unzählige Schlachten überlebt. Wer es geschafft hatte, so lange am Leben zu bleiben wie er, musste schon ein sehr guter Soldat sein, und das wusste er. Und das wusste auch Wichman. »Fordere mich niemals heraus, Junge«, sagte Bayan leise. »Ich entledige mich der Hunde, wenn sie mir auf die Füße pinkeln. Ich weiß, wo ich den Sklavenmarkt finde, der immer auf der Suche nach jungen Männern ist. fürchte den Zorn deiner Mutter nicht.« Wichmans Haut veränderte sich, nahm die Farbe eines schlecht gewordenen Brotteigs an. Jeder Mann hätte sich mit solchen Worten brüsten können, aber aus Bayans Mund trafen sie. »Zu den Unterkünften.« Bayan ließ Wichman wieder los. Die ungrianischen Wachen umstellten den jungen Edelmann und seine Kumpane. »Ich kann das nicht billigen«, sagte Alberada. »Diese Männer sollten bestraft und verbannt werden.« »Ich brauche sie«, sagte Bayan. »Ebenso wie Ihr und diese Stadt sie braucht.« »Dies ist genau die Art und Weise, wie der Krieg Böses gebiert, Prinz Bayan, denn sowohl das Gute als auch das Böse profitieren auf üble Weise, säen üblen Samen und vollführen üble Taten, getrieben von der Verzweiflung, die sie Notwendigkeit nennen.« »Ich habe keine Antwort auf Eure Worte, Eure Heiligkeit. Ich bin nur ein Mann, kein Heiliger.« »Es ist ziemlich offensichtlich, dass niemand von uns zu den Heiligen zählt,« meinte Alberada tadelnd. »Wären wir Heilige, gäbe es keine Kriege, abgesehen von dem, der gegen Ungläubige und Ketzer geführt wird.«
»Doch sicherlich ist der Krieg nicht die Ursache unserer Sünden, Euer Gnaden«, wandte Breschius ein. »Ich würde sagen, dass Wichman nicht durch den Krieg verroht wurde, sondern durch sein eigenes rücksichtsloses und zügelloses Wesen. Nicht alle Männer verhalten sich so. Die meisten Soldaten, die heute hierher gekommen sind, haben es nicht getan.« »Ich bin nicht der einzige Sünder«, protestierte Wichman plötzlich. Er klang verletzt, als wäre er eines Verbrechens angeklagt worden, das er nicht begangen hatte. »Wieso erkennt keiner, was mein kleiner Cousin Ekkehard jede Nacht tut, jetzt, wo er seinen bevorzugten Lustknaben verloren hat?« Ein Pfiff entfuhr Bayan, heftig und wütend. Oh, Gott, Bayan hatte es die ganze Zeit über gewusst. Wieso hatte Hanna nur geglaubt, dass einem Befehlshaber mit einer Beobachtungsgabe, wie Bayan sie besaß, entgehen könnte, was in den Reihen seines eigenen Heeres geschah? Er hatte sich lediglich entschieden, es zu übersehen, auf die gleiche Weise, wie er Wichmans Angriff übersehen würde. Alles, was ihn interessierte, war der Sieg über die Qumaner. In Anbetracht ihrer gegenwärtigen Situation konnte Hanna nicht umhin, sein praktisches Denken zu bewundern. »Was meint Ihr damit, Wichman?« Bischof in Alberada hatte eine Art, ihren Kopf zur Seite zu neigen, die sie wenn auch nur kurz - einem Geier ähneln ließ, der darüber nachdachte, ob er mit dem weichen Bauch oder mit der klaffenden Kehle der zarten Leiche beginnen sollte. »Mit welcher Sünde hat der junge Ekkehard sich besudelt?« »Mit der Sünde der Ketzerei«, sagte Wichman.
Liath hatte das Gefühl, das Innere einer Perle zu betreten. Das Glühen, das von der Essenz des Mondes stammte, benebelte ihre Sicht; die milchige Substanz war leicht wie Luft, aber trüb, und sie konnte kaum den blauen Lapislazuli-Ring erkennen, den Alain ihr vor so langer Zeit geschenkt hatte und der jetzt ihr Leitlicht war, als sie die Hand ausstreckte. Ihre Ohren funktionierten besser. Sie hörte eine leise Bewegung, konnte sie im perlmuttartigen Äther aber nur vage sehen. Der Boden schien einigermaßen fest zu sein, obwohl sie sicher war, dass er keinerlei Ähnlichkeit mit der Erde besaß. Der gewundene Pfad, den sie entlangschritt, schlängelte sich wie ein silbernes Band spiralförmig immer weiter hinauf. Sie hatte keine feste Vorstellung davon gehabt, was sie erwarten würde, aber dieses perlmuttartige Licht, dieses Meer der Leere, das alles schien irgendwie - nun ja, es wirkte enttäuschend. Um sie herum wogten Schimmer wie körperlose Schleier, die in einer nicht spürbaren Brise flatterten. Hatte sie das Tor durchschritten, war sie jetzt im Mond? Eine Gestalt huschte vor ihr her, dicht genug, um ihr ihre Haare ins Gesicht zu wehen. Sie kitzelten an ihrem Mund. Die Gestalt verschwand im Äther, doch einen Augenblick später - oder auch eine Ewigkeit später huschte eine weitere Gestalt an ihr vorbei, dann eine dritte. Plötzlich waren es ganze Scharen, deren dunstige Gestalten so fließend wie Wasser waren. Wie Elritzen schössen und trieben sie vor ihr her. Sie tanzten. Dann erkannte sie, was sie waren: Verwandte von Jerna, aber viel glänzender und weniger blass; ganz sicher waren einige der Daemonen, die Anne als Bedienstete bei Verna gefangen gehalten hatte, aus der Sphäre des Mondes gekommen. Sie waren so unglaublich schön. Von ihrem Anblick ganz verzaubert blieb Liath stehen, um sie 336 zu beobachten. Rhythmische Klänge dröhnten durch den Äther. War dies die Musik der Sphären? Die hellen Töne von Erekes und die üppige Melodie von Somorhas klangen hurtig. Der Glanz der Sonne erinnerte an Hörnerklang, fand seinen Widerhall in den weichen Harfenklängen, die den geschäftigen Gang des Mondes zwischen Abnehmen und Zunehmen kennzeichneten. Jedus Bahn mischte einen kühnen, kriegerischen Rhythmus hinzu. Mok vermittelte eine erhabene Weise, gemächlich und ernst, und die weise Aturna klang wie ein heiterer Bass, der alles andere unterlegte. Sie drehten und wanden sich, stiegen auf und ab, wirbelten umher und verharrten. Ihre Bewegungen besaßen eine ganz eigene Schönheit, so wie alles, was von künstlerischer Fertigkeit war, eine wahre Freude darstellte. Auch Liath konnte tanzen. Sie hießen sie in ihrer unendlichen Bewegung des Universums willkommen, und als sie sich zu ihnen gesellte, entfaltete sich die geheime Sprache der Sterne vor ihr. In dieser Einfachheit manifestierte sich der Kosmos, ein Tanz, der ein Widerhall des größeren Tanzes war - jenes Tanzes, in dem sich das Rad der Sterne drehte, und das des Schicksals und des undurchdringlichen Rätsels um das Sein, ohne dass die Sterblichen jemals davon Kenntnis erhielten. Sie musste nur den Pfad verlassen. Es war einfacher zu tanzen, wenn sie sich im wolkigen Herzen des Universums verlor. »Liath!« Hannas Stimme riss sie zurück. War das ein Echo gewesen oder nur Einbildung? Sie stand am Rand des Abgrunds. Noch ein Schritt, und sie würde vom Pfad hinab in den Äther springen. Sie taumelte zurück, schwankte beinahe zur anderen Seite, bis sie schließlich ihr Gleichgewicht zurückgewonnen hatte. Sie war ganz außer Atem. Der Tanz ging dessen ungeachtet weiter. Gemessen an der glanzvollen Weite der Himmel war sie nicht von
Bedeutung. Ihr Sehnen mochte ihr ihren eigenen Untergang bescheren, aber nichts würde den Tanz aufhalten ganz egal, welche Entscheidung sie traf. Das war die Lehre der Rose, die Pflege benötigte, um ihre ganze Schönheit zu entfalten. Sie trug die Dornen der gedankenlosen Sehnsucht, und ihr Stich galt derjenigen, die versuchte, sie zu pflücken, ohne genau hinzuschauen. Sie war so kurz davor gewesen, zu fallen. Mit einem bitteren Kichern kletterte sie weiter. Schließlich gabelte sich der Pfad vor ihr; das silberne Band verlief in beide Richtungen entlang einer hellen Eisenwand, von der sie nicht ermessen konnte, wie weit sie in die Höhe oder in die Tiefe reichte. Ein Riss schnitt durch die Wand, eine gezackte Träne, durch die sie auf eine gestaltlose Ebene blickte. War dies das Tor des Schwertes, das die Sphäre von Erekes ankündigte, dem raschen Planeten, der einst als Bote der alten, heidnischen Götter bekannt gewesen war? Als hätte ihr Gedanke sich in die Lüfte erhoben und aus dem wogenden Äther Gestalt angenommen, näherte sich ihr ein Wesen, ein Wachposten von einem Weiß, das an gebleichte Knochen erinnerte. Er hatte weder einen richtigen Mund noch Augen, vielmehr lediglich die Anmutung eines lebendigen Gesichtes. Die zarten Flügel flatterten lebhaft, als hätte eine Spinne ihre Fäden zwischen Knochen und Haut gewebt. Er versperrte den Pfad mit einem Schwert, das so sehr strahlte, dass es den Äther mit einem Zischen durchtrennte. Seine Stimme klang wie Eisen. »Zu welchem Ort begehrst du Einlass?« »Ich möchte die Sphäre des Erekes betreten.« »Wer bist du, dass du Einlass begehrst?« »Ich werde die Strahlende genannt oder auch Kind des Feuers.« Augenblicklich, als wäre es eine Antwort auf ihre Worte, stieß die Gestalt zu, und Liath machte einen Satz zurück. Instinktiv griff sie nach Lucians Freund, dem Schwert, das sie schon so lange bei sich trug. Sie zog es, parierte, und wo das gute, schwere Eisen von Lucians Freund das leuchtende Schwert des Wachpostens traf, blitzten Funken auf. Die Gestalt stieß erneut zu, und Liath blockte ab, sprang zurück, prüfte ihre Position auf dem Pfad und versuchte, an ihr vorbeizukommen. Doch jetzt stand sie an einer Stelle, an der sie eben noch nicht gestanden hatte, das Schwert hoch erhoben. »Es ist zu viel Sterbliches in dir, um das Tor zu durchschreiten«, rief die Gestalt triumphierend; ihre Stimme klang wie das Dröhnen eines auf Eisen niederfahrenden Schmiedehammers. Der heiße Wind von Erekes' dunkler Ebene lastete schwer auf Liath. Sie war zu schwer, um hinüberzugehen. Aber sie würde sich nicht besiegen lassen. Sie würde nicht fallen, und sie würde jetzt auch nicht umkehren. »Nimm also dieses Schwert, wenn du etwas haben willst«, rief sie und warf dem Wachposten das Schwert entgegen. Es durchdrang die Gestalt. Sie löste sich in tausend glitzernde Fragmente aus leuchtendem Eisen auf. Unerwartet wurde Liath von einem starken Wind gepackt und stolperte kopfüber in das pechschwarze Reich von Erekes. Die Verhandlung begann zwei Tage später, offensichtlich sehr zu Bayans Missfallen. Sapientia dagegen weigerte sich erstaunlicherweise, die Untersuchung ihrer Tante zu behindern, und während Bischöfin Alberada sich wenn auch zögernd - bereit gefunden hatte, die Frage der Sünde des Fleisches zu ignorieren, war sie doch fest entschlossen einzugreifen, was die Angelegenheit der Ketzerei betraf. Noch immer regnete es unaufhörlich, und so war es sowohl im Palastbereich als auch in den anderen Unterkünften feucht und ungemütlich. Der Gestank, der von dem Rauch der Herdstellen herrührte, wurde beinahe unerträglich, und im Heer grassierte eine Erkältungswelle, die mit Schmerzen, Mattigkeit und schniefenden Nasen einherging. Es wurde daher viel gehustet, geschnäuzt und geschnupft, als 339 der Rat der Bischöfin sich in der großen Halle versammelte. Alberada führte von ihrem bischöflichen Stuhl aus den Vorsitz, flankiert von Bayan und Sapientia zu ihrer Linken und von einem Dutzend schreibender Geistlicher zu ihrer Rechten. Ketzerei war ein solch ernster Vorwurf, dass Alberadas Geistliche einen Bericht über den Verhandlungsverlauf und über die Urteile verfassen würden. Dieser Bericht sollte sodann der Skopos überbracht werden, damit Mutter dementia über die Verdorbenheit im Bilde war, die ihre irdische Herde befallen hatte. Normalerweise hätte Alberada mindestens zwei andere Bischöfinnen kommen lassen, um so die Rechtmäßigkeit der Vorgänge zu bekräftigen. Doch angesichts der Jahreszeit und der hoffnungslosen Situation, in der sie sich befanden - täglich waren qumanische Patrouillen von den Stadtmauern aus zu sehen -, begnügte sie sich damit, dass die ortsansässige Äbtissin und der Abt, deren beachtliche Gefolgschaften innerhalb der Mauern von Handelburg Schutz gefunden hatten, Zeugen der Vorgänge wurden. Es waren gefällige, weltfremde Leute, die wenig geneigt waren, die Bischöfin herauszufordern, was immer sie auch sagen mochte. Als Adler des Königs wurde von Hanna erwartet, dass sie während des gesamten Verfahrens anwesend war, damit sie dem König in allen Einzelheiten von den Sünden seines Sohnes und von der rechtmäßigen Untersuchung berichten konnte, die die Bischöfin - Henrys ältere und uneheliche Stiefschwester - durchgeführt hatte. Ekkehard bekam eine gerechte Chance, sich zu den Anklagen zu äußern. Die anderen der Ketzerei angeklagten
Männer standen ihrem jeweiligen Rang entsprechend hinter ihm, während verschiedene Zeugen vorgeladen wurden. Nach stundenlangen, ermüdenden Befragungen verlas Alberada das Urteil. Ein Prinz hatte seinen Rang und Einfluss dazu benutzt, unglückselige Unschuldige mit der Seuche der Ketzerei zu infizieren. Wenngleich einige seiner Opfer rasch widerriefen, als sie sich dem Zorn der königlichen Bischöfin ausgesetzt sahen, hielten andere weiter hartnäckig an seinen gottlosen Lehren fest. Ekkehard saß die ganze Zeit so voller Entrüstung da, wie es nur ein Junge von nicht einmal sechzehn Jahren tun konnte, den blankes Entsetzen, Unsicherheit und fanatische Entschlossenheit antrieben. Vielleicht war er zu jung und zu sehr von sich überzeugt, um wirklich Angst zu empfinden. Sechs seiner engsten Kameraden hatten die Schlacht am alten Hügelgrab überlebt. Es war offensichtlich, dass Bischöfin Alberada der Loyalität Respekt zollte, die zwischen einem Edelmann und seinem Gefolge bestand, denn niemals versuchte sie, jemanden dazu zu bringen, seinen Herrn zu verraten. Ihn mitten in der Hitze des Gefechts - als das auch diese Untersuchung bezeichnet werden konnte - zu verlassen, wäre eine stärkere Beleidigung gewesen, als es ihr geistiger Irrtum je sein konnte. Es war daher auch nur angemessen, wenn sie gemeinsam mit ihrem Herrn bestraft wurden. Viel mehr beunruhigte die Bischöfin die Unnachgiebigkeit von Edelmann Dietrich, seinem Gefolge und den rund zwanzig anderen Personen, die unterschiedlichen Ranges waren und verschiedene Absichten verfolgten. »Was für Untergebene des haben bloß ihre Klauen in Euch gegraben?«, wollte sie von Edelmann Dietrich wissen, nachdem der sich zum dritten Mal geweigert hatte, sich von der Doktrin des Opfers und der Erlösung loszusagen. »Die Mutter und der Vater des Lebens, die Gott in Einigkeit sind, brachten das Universum hervor. In diese Schöpfung stellten sie die vier reinen Elemente Licht, Wind, Feuer und Wasser. Über der Schöpfung ruht die Kammer des Lichts, darunter liegt der den wir auch die Finsternis nennen. Doch während die Elemente in Harmonie dahintrieben, kamen sie in Berührung mit der Finsternis, die aus den Tiefen aufgetaucht war. Sie vermischten sich miteinander. Das Universum schrie vor Ungemach über diese Vergiftung, und Gott haben daher als Erlösung die Botschaft des Gedankens geschickt, die wir auch Vernunft nennen. Gott haben diese Welt durch die Botschaft des Gedankens geschaffen, doch Finsternis bleibt darin vorhanden. Dies ist der Grund für das Böse und die Verwirrung in der Welt.« »Der heilige Daisan hat uns erlöst«, unterbrach Ekkehard sie störrisch. Edelmann Dietrich besaß genug Verstand, zu schweigen. »Natürlich hat er das! Der heilige Daisan hat uns allen die Botschaft des Gedankens gebracht. Er hat sieben Tage und sieben Nächte gebetet, um für uns, die wir dem Glauben der Einigkeiten folgen und ins Licht gebracht werden, Erlösung zu erhalten. Am Ende dieser sieben Tage und Nächte führten Engel ihn in einem solch strahlenden Licht in den Himmel, dass auch St. Thekla, die seine Ekstasis beobachtet hatte, sieben mal sieben Tage lang nichts sehen konnte.« »Er ist geopfert worden! Ihm ist auf Befehl von Kaiserin Thaissania die Haut abgezogen worden, aber sein Blut hat Rosen hervorgebracht, und er hat wieder gelebt! »Schweigt!« Alberada stieß den Bischofsstab mehrmals kräftig auf den Boden. Das schroffe Geräusch brachte nicht nur ihn, sondern auch all jene zum Schweigen, die bei seinen Worten aufgeregt miteinander getuschelt hatten. Selbst der Geistliche, der Herzog Bolesla die Übersetzung der jeweiligen Äußerungen zuflüsterte, schloss seinen Mund. »Ihr habt Euch der Ketzerei schuldig gemacht, Prinz Ekkehard. Die Strafe für Ketzerei ist Exkommunikation und Verbannung oder Tod.« »Ich bin bereit zu sterben«, sagte Edelmann Dietrich nicht ohne Triumph. Er hustete in seine hohle Hand. »Ihr könnt mich nicht bestrafen«, erklärte Ekkehard beherzt. »Ich bin der Sohn des Königs, entstanden aus einer rechtmäßigen Ehe!« »Und ich bin hier in Handelburg die Kirche«, erwiderte Alberada, ohne den Hinweis auf ihre eigene unrechtmäßige Geburt zu beachten. »Nicht ich bestrafe Euch, Prinz Ekkehard. Es ist die Kirche, die Euch - und all jene, die Euch bei diesen ketzerischen Lehren folgen - bestraft. Aber es ist wahr, dass ihr einen besonderen Fall darstellt. Ich werde Euch zum Hof des Königs schicken müssen.« »Zu meinem Vater?« Ekkehard blickte auf einmal viel jünger drein, wie ein Junge, der Unfug angestellt hatte, dabei erwischt worden war und erst jetzt begriff, dass er deshalb Ärger bekommen würde. Bayan schnaubte vor Wut. »Wie viele Soldaten muss ich ihm als Eskorte mitgeben? Wie viele werden dann noch auf den Mauern stehen, wenn die Qumaner angreifen?« »Könnt Ihr Ekkehard nicht einfach ins Kloster stecken, bis die Qumaner besiegt sind?« Sapientia legte Bayan eine Hand auf den Arm, als wollte sie ein wildes Tier besänftigen. »Er ist immerhin der Abt von St. Perpetua in Gent.« »Ich soll die heiligen Mönche seiner ketzerischen Seuche aussetzen? Schlimm genug, dass ich jede Woche Berichte darüber höre, wie sehr sich seine vergiftenden Worte in der Umgebung ausgebreitet haben. Nein, er geht entweder zum König, oder er bleibt hier im Gefängnis, bis die Qumaner besiegt sind und er mit einer entsprechend großen Eskorte reisen kann. So lange wird er keinerlei Zugang zu den Sakramenten erhalten, und eine Wache wird im Turm darauf achten, dass er mit keinem seiner Anhänger sprechen kann -« »Oh!« Bayan stieß seine Hände verzweifelt in die Luft. Er warf dem Hund, der sich quer über seine Füße gelegt
hatte, einen bösen Blick zu, schob ihn mit dem Fuß rüde zur Seite, griff nach seinem Becher und leerte ihn in einem einzigen Zug. Ein Bediensteter eilte herbei, um ihn nachzufüllen. »Ich brauche Männer, die auf den Mauern Wache stehen und gegen die Qumaner kämpfen. Es ist unmöglich, dass sie unsere eigenen Leute bewachen sollen.« »Ihr begreift den Ernst unserer Lage nicht, Prinz Bayan, was ich der Tatsache zuschreibe, dass Ihr erst vor kurzem zu unserem Glauben übergetreten seid. Ich darf dem keinerlei Sieg zugestehen. Ich darf nicht zulassen, dass die arethusanische Vergiftung das Königreich und die heilige Kirche erfasst. Ich darf mich nicht einfach abwenden und zur Seite sehen, wenn durch Prinz Ekkehards Verfehlung alle bedroht werden.«
»Meiner Meinung nach sind es die Qumaner, die uns alle bedrohen«, sagte Bayan. »Besser, wir sind tot, als Ketzer!« Bayan zwirbelte gereizt die Enden seines Schnurrbarts, aber er antwortete nicht. Wie beim alten Hügelgrab erkannte er auch hier den Zeitpunkt, an dem ein strategischer Rückzug einer kompletten Niederlage vorzuziehen war. »Ich ziehe den Tod vor«, sagte Edelmann Dietrich. »Lasst meinen Märtyrertod Beweis dafür sein, dass ich die Wahrheit spreche.« Alberada blickte überrascht drein. »Ich bin nicht daran gewöhnt, Hinrichtungen anzuordnen, Edelmann Dietrich.« »Wenn Ihr Euch davor fürchtet, Euer Gnaden, müsst Ihr zugeben, dass ich Recht habe. Ich fürchte den Tod nicht, weil der heilige Daisan ihn willkommen geheißen hat, um die Menschheit von ihren Sünden zu befreien.« »Und ich fürchte ihn auch nicht!«, rief Ekkehard aus; er konnte nicht zulassen, dass er als weniger mutig erschien als ein einfacher Edelmann. Da er von keiner Erkältung heimgesucht worden war, hatte seine Stimme einen klaren und kräftigen Klang, frei von jedem Zweifel und jeder Teilnahmslosigkeit. »Ich heiße den Märtyrertod ebenfalls willkommen!« »Ich bezweifle, dass sich eine Hinrichtung gut auf die Moral der Soldaten auswirkt«, meinte Sapientia weise. Die Vorstellung vom möglichen Ableben ihres jüngeren Bruders schien sie ganz und gar nicht in Unruhe zu versetzen. Seit sie sich im bischöflichen Palast aufhielt - inzwischen insgesamt zwei Tage -, strahlte sie eine schmierige Zufriedenheit aus, die an den fauligen Geruch erinnerte, der einen sterbenden Menschen umgab. Es war beinahe, als hoffte sie, ihren Bruder loszuwerden. »König Henry muss davon erfahren«, begann Alberada in der Hoffnung, Zeit zu gewinnen. »Einen Prinzen von königlichem Geblüt, der den Goldreif trägt, kann man nicht so behandeln, als wäre er irgendein gewöhnlicher Unruhestifter.« »Dann schickt meinen Adler zum König«, erwiderte Sapientia mit einem bösartigen, selbstgefälligen Lächeln. »Sie hat diese Reise schon zweimal unternommen. Sie kann dem König die Nachricht überbringen.« War das der Hieb, den Hanna schon seit Tagen erwartet hatte? Wollte sich Sapientia wirklich mit allen Mitteln von ihrer mutmaßlichen Rivalin trennen? Bayan sagte nichts. Bruder Breschius, der hinter dem Stuhl des ungrianischen Prinzen stand, beugte sich herunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr, aber Bayan schüttelte nur ungeduldig den Kopf, als hätte er nach seinem letzten Ausbruch beschlossen, sich aus der Sache herauszuhalten - egal, um was es auch gehen mochte. Von allen verlassen, wartete Hanna darauf, dass das Schicksal zuschlug. Donner dröhnte in der Ferne. Sie hörte es regnen, dann versiegte der Regen wieder, als wäre eine Tür geöffnet und geschlossen worden. Die Unterstützung kam von eher ungewöhnlicher Seite. »Ich soll einen Adler allein durch die Marklande schicken, während die Qumaner dort umherstreifen und wir uns hinter unseren Mauern verbergen?« Alberada betrachtete die Ketzer mit Abscheu. »Das ist ein Todesurteil, Sapientia.« »Aus dem Weg!« Eine Botin eilte herein; ihr tropfender Umhang hinterließ ein Rinnsal in der Halle, und ihre Füße, die lediglich in durchnässten, mit einem Band zusammengeschnürten Lederschuhen steckten, verursachten schmutzige Abdrücke auf den Teppichen. Bedienstete eilten herbei, um den Dreck wegzuwischen, solange er noch feucht war. »Euer Gnaden!« Die Botin sank auf die Knie. Sie blickte erleichtert drein, als wäre sie froh darüber, dass sie knien konnte und nicht mehr reiten oder gehen musste, sich noch dazu in einem solch sicheren Hafen befand. »Sind das Prinzessin Sapientia und Prinz Bayan? Dank sei Gott, Eure Hoheit. Ich bringe schreckliche Nachrichten. Machteburg wird von den Qumanern belagert. Die Stadt Dirden ist niedergebrannt worden, und wer nicht tot ist, ist in die Sklaverei verschleppt worden.« Bayan erhob sich. »Das ist eine Frechheit.« Er streckte die Faust in die Luft, als wäre sie ein Stock. »Bulkezu verspottet mich.« Er blickte grimmig drein, und Hanna sah in seiner Miene den Geist seines toten Sohnes, der ihn unerbittlich aufforderte, Rache zu üben. Sie zitterte, als sie sich daran erinnerte, wie er einem qumanischen Gefangenen die Finger abgeschnitten hatte. Es war schwer, einen Mann, der oft so pragmatisch und fröhlich war, mit dem schroffen, unbarmherzigen Soldaten in Einklang zu bringen, der in ihm manchmal die Oberhand
gewann. »Euer Gnaden, es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um gute Soldaten gefangen zu halten. Wer immer in der Lage ist zu kämpfen, muss auch kämpfen.« »Die Qumaner sind nicht unsere einzigen Feinde, Prinz Bayan. Wenn wir die Untergebenen der erst einmal in unsere Herzen lassen, werden sie uns vernichten. Was sie uns bringen, ist schlimmer als der Tod.« Alberada ließ sich nicht umstimmen. Sie rief ihre Verwalter zu sich und sprach eindringlich mit ihnen. Kaum waren sie davongeeilt, um die angeordneten Vorbereitungen zu treffen, führten die Palastwachen Ekkehard, Dietrich, deren Gefolgschaften und das Dutzend anderer Ketzer zur Kirche. Auf Alberadas Befehl hin folgte auch der übrige Teil der Versammlung. Wie der großen Halle und den Palasträumen war auch der Kathedrale der Bischöfin - sofern Kathedrale das richtige Wort war -eine gewisse Unfertigkeit zu eigen. Es wurde noch immer an den Verzierungen im Innern und an der äußeren Fassade gearbeitet. Hier in den Marklanden war Holz leichter zu beschaffen als Stein, und selbst die Kathedrale nahm sich bescheiden aus gegenüber den alten kaiserlichen Gebäuden, die noch immer im Westen standen. Auch hier blickten griesgrämige Heilige auf die etwa hundert Menschen herab, die sich unsicher im Hauptschiff drängten. Die aus Eiche und Walnuss geschnitzten Statuen wirkten so deutlich unzufrieden, dass Hanna regelrecht erwartete, dass sie die unten 346 versammelten Sünder schelten würden. Vier Statuen waren noch unvollendet, lediglich kantige, vage Andeutungen - eine Hand, die aus dem Holz auftauchte, der Schwung einer halb geschnitzten Stirn, ein grinsender Mund in einem noch augenlosen Gesicht. Wandbehänge unterbrachen die Monotonie der Eichenwände, aber sie waren in solch düsteren Farben gewebt, dass Hanna gar nicht genau erkennen konnte, was auf ihnen abgebildet war - zu wenig Fenster ließen Licht herein. Das größte Fenster hinter dem Altar war nach Osten gewandt. Teile von altem, dariyanischem Glas waren zusammengesetzt worden, um ein Mosaik zu bilden, ein Abbild des Kreises der Einigkeit. Da es Nachmittag war, drang der größte Teil des Lichts, der das Hauptschiff erhellte, durch die offenen Türen. Kühle Luft wehte von außen herein, kalt und beruhigend. Hanna, die weiter vorne saß, spürte in der hitzigen, bedrückenden Atmosphäre des überfüllten Raums jedoch nur einen leichten Hauch auf ihren Lippen. Sie nahm den Geruch von Furcht und Besorgnis sowie rechtschaffenem Zorn wahr. Sämtliche Edelleute aus Bayans Heer waren erschienen; wären sie ferngeblieben, hätten sie möglicherweise Verdacht auf sich gezogen. Von ihrem Platz nahe beim Altar musterte Hanna die Menge, aber sie war nicht sehr groß, und so sah sie lediglich den Kopf von Hauptmann Thiadbold, den sie an seinen roten Haaren erkannte. Die Bischöfin hatte auch Löwen von höchstem Rang als Zeugen herbefohlen, damit sie den Soldaten, die unter ihrem Befehl standen, von den Vorgängen berichten konnten. Kein geistiger Angriff wog schwerer als die Ketzerei. Sie kam nahezu dem Verrat am Herrscher gleich. Aber Hanna konnte nur daran denken, dass sie ihren Kopf an eine qumanische Patrouille verlieren würde. Vielleicht wäre sie besser dran gewesen, wenn sie sich mit Hilfe von Magie hätte nach Osten befördern lassen. Vielleicht hätte sie Sorgatani gegenüber dem wenigen, das sie von Liath gesehen hatte, vorziehen sollen. Aber war das nicht nur ein Traum gewesen? Würde Bischöfin Alberada sie nicht exkommunizieren, wenn sie von dem Ausmaß, in dem sie mit der Zauberei in Verbindung stand, erführe? Manchmal war es besser zu schweigen. Das war es auch, was sie an Ekkehard, Edelmann Dietrich und dem verschwundenen Ivar besonders verblüffte. Wieso verhielten sie sich so widerspenstig, was ihren Glauben betraf? Warum mussten sie beständig an der Kette zerren? Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Mutter. »Wieso eine Verabredung mit dem Ärger treffen«, pflegte sie zu sagen, »wenn der Ärger dir ohnehin nicht ausweicht, falls er dir auf dem Weg entgegenkommt?« Wie Prinz Bayan betrachtete auch Meisterin Birta die Welt mit einem Sinn fürs Praktische. Vermutlich war das der Grund, weshalb Hanna Prinz Bayan respektierte, trotz der lästigen Bewunderung, die er ihr gegenüber an den Tag legte und die ihr, auch wenn sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Stellungen im Leben kaum als Liebäugelei zu bezeichnen war, sehr wohl den Tod bringen konnte. Natürlich hatte Birta niemandem die Finger abgeschnitten, doch das hieß nicht, dass sie es nicht tun würde, wenn sie es für notwendig hielt. Eine mürrische Hymne näherte sich ihrem Ende. Hanna benutzte ihren Ellenbogen, um sich Platz zu verschaffen, und sie schubste einen von Sapientias Verwaltern etwas zur Seite, damit sie besser sehen konnte. Die Geistlichen schritten nach vorn, trugen jeweils eine angezündete Kerze, um den Kreis der Einigkeit zu symbolisieren, das Licht der Wahrheit. Sie ließen sich in einem Kreis um Ekkehard, Dietrich und die anderen nieder, die sich im vorderen Teil des Hauptschiffs zusammengedrängten. Die Lichter, die sie trugen, brannten so heiß, dass Hanna blinzeln musste; sie schälten die Mienen der geschnitzten Heiligen heraus - eine Lippe, die mitleidig heruntergezogen war, eine Hand, die mit zwei ausgestreckten Fingern erhoben war, um Gerechtigkeit zu üben, ein finsterer Blick unter schweren Augenbrauen, ähnlich denen bei der unvollendeten Kameradin. Sie sahen zu, und sie urteilten. Bischöfin Alberada trat die Stufen zum Podest hinauf, auf dem sich ihr Stuhl befand. Sie hob Ruhe gebietend die Hände.
»Lasst ungesüßten Essig bringen, damit die Angeklagten den bitteren Geschmack der Ketzerei schmecken können.« Ihre Bediensteten brachten Becher, die sich entsprechend dem jeweiligen Rang dessen, der ihn bekommen sollte, unterschieden: Ekkehard erhielt einen goldenen Becher, seine edlen Kameraden einen silbernen; auch Edelmann Dietrich erhielt einen silbernen und seine störrische Gefolgschaft einen aus Messing. Die Gewöhnlichen mussten mit einem Holzbecher auskommen, den sie untereinander weiterreichten. Einer von ihnen weigerte sich zu trinken und wurde dreimal gepeitscht, eher er es dann doch tat. Sie alle husteten und keuchten wegen des sauren Geschmacks -nur Edelmann Dietrich leerte den Becher, als wäre Honig darin. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper und hielt seinen trotzigen Blick die ganze Zeit auf die Bischöfin gerichtet. »Lasst allen den Kreis abnehmen, denn sie ruhen nicht länger in dem beschützenden Ring seines Lichts und seiner Wahrheit. Lasst ihnen die Haare schneiden als Zeichen ihrer Schande.« Einer von Ekkehards jungen Freunden war besonders stolz auf seine blonden Haare gewesen und weinte jetzt, während Ekkehard verloren dastand, ohne ihm helfen zu können, als die Geistlichen vortraten und ihnen mit Messern die Haare in ungleichmäßigen Büscheln abschnitten. Erst als Edelmann Dietrich zu dem Jungen trat und leise mit ihm sprach, beruhigte sich der, richtete sich auf und reckte das Kinn mit zittrigem Stolz, während eine griesgrämig dreinblickende Geistliche ihm seine schönen Haare abschnitt. »Sie sollen sehen, dass das Licht der Wahrheit nicht länger in ihren Herzen brennt.« Die Bischöfin trat von ihrem Podest herunter, umrundete den Kreis und löschte die Kerzen eine nach der anderen. Rauch stieg in geisterhaften Schwaden in die Höhe. »So seid ihr von der Kirche getrennt. So seid ihr exkommuniziert. So sind die heiligen Sakramente für euch verboten. So seid ihr für immer von der Gesellschaft aller Daisaniten ausgeschlossen.« Das Licht erstarb. Der Nachmittag ging in die Abenddämmerung über. Die Farben verblassten zu Grautönen. »Alle, die ihnen helfen, sollen ebenfalls exkommuniziert werden, denn sie stehen nicht länger im Kreis des Lichts. Gott sehen sie nicht länger.« Ekkehard taumelte, als wäre er geschlagen worden. Einer seiner Kameraden wurde ohnmächtig. Andere schluchzten. »Ich habe keine Angst«, sagte Edelmann Dietrich. »Gott soll Ihren Willen bekannt machen. Ich bin Ihr bereitwilliges Gefäß.« Stille trat ein. Alberada schien auf ein Zeichen zu warten. Hinten in der Menge hüstelte ein Mann. Edelmann Dietrich zuckte plötzlich so stark, dass er aus dem Kreis gewirbelt wurde. Drei Kerzen rollten über den Boden, als er hinfiel. Er zuckte noch ein zweites Mal, stieß dann Arme und Beine wild von sich, als hätte ihn der Schlag getroffen. »Ihr seht«, rief Alberada triumphierend, »der enthüllt seine Gegenwart. Ein böser Geist hat die Kontrolle über diesen Mann errungen. Dies ist das Schicksal, das alle erwartet, die der Ketzerei anhängen.« Der mutigste Kamerad von Edelmann Dietrich kniete sich neben ihn und bekam seine Glieder zu fassen, drückte ihn zu Boden, bis er seltsam reglos wurde. Schaumiger Speichel tropfte ihm von den Lippen. Ein einziger Blutstropfen bildete sich in seinem Nasenloch und lief seine erschlaffte Wange herab. Er zitterte noch ein letztes Mal, dann verdunkelte sich der Boden, und ein übler Geruch stieg von der Stelle auf, an der er seinen Darm entleert hatte. »Er ist tot«, sagte Ekkehard mit erstickter Stimme und wich vor der mit verrenkten Gliedern daliegenden Leiche zurück. In der entsetzten Stille klang Bischöfin Alberadas Stimme so klar wie ein Ruf zu den Waffen. »Führt die Exkommunizierten zu ihrem Gefängnis. Niemand soll mit ihnen sprechen, denn alle, die es tun, werden selbst exkommuniziert werden. Der Feind lauert tief in ihrem Innern. Morgen werden wir jene züchtigen, die noch übrig sind, denn nur so können wir den Feind aus ihren Körpern treiben.« Niemand erhob Einwände. Sie hatten gerade erst den bei seiner Arbeit gesehen. Die Kirche leerte sich rasch. Wachen schleppten die Leiche weg, und Bedienstete blieben zurück, um die Spuren zu beseitigen. Hanna wartete noch, da auch Sapientia sich nicht sofort rührte. Die Prinzessin wiederum wartete, weil Bayan am Altar kniete, als würde er beten. Irgendwie hatte Bruder Breschius einen der Silberbecher zu fassen bekommen, und als die Kirche sich bis auf Bayan, Sapientia und einige ihrer treuesten Anhänger geleert hatte, reichte er ihn Bayan. Bayan fuhr mit dem Finger über den Becherrand, leckte kurz daran, spuckte aus und verzog dabei das Gesicht. »Gift«, sagte er leise. Es blieb lange still. Hanna hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht und hoffte, dass niemand bemerkte, dass sie Zeugin dieser schrecklichen Enthüllung geworden war. Wenn sie überhaupt wahr war. »Wird sie Ekkehard vergiften?«, fragte Sapientia. »Sollten wir versuchen, sie aufzuhalten, wenn wir glauben, dass sie es vorhat?« Sie hatten Hanna noch immer den Rücken zugekehrt und untersuchten den Silberbecher und den rußigen Dreck am Boden, der von den umgestürzten Kerzen stammte. Sie glitt zur Seite in die Schatten. »Ekkehard ist keine Bedrohung für uns«, betonte Bayan.
»Noch nicht. Er ist noch jung. Aber er könnte eine Bedrohung werden. Und was ist mit der Kirche ? Sicher weiß meine Tante, was sie tut, wenn diese Ketzerei wirklich so schlimm ist. Wir sollten sie unterstützen.« Bayan schüttelte den Kopf, als Hanna gerade die Wandteppiche erreicht hatte. »Wenn wir Bulkezu nicht besiegen, enden wir tot oder als Sklaven. Erst einmal muss dieser Krieg beendet werden. Soll die Kirche hinterher über die Ketzerei diskutieren. Adler.« Alle bis auf Breschius fuhren zusammen und blickten überrascht und besorgt drein, als sie sich wie Verschwörer umdrehten 351 und Hanna ansahen. Der Wandteppich konnte sie nicht länger verbergen. Bayan hatte die ganze Zeit über gewusst, dass sie da war. »Adler«, wiederholte er, nun, da er ihre Aufmerksamkeit hatte. »Bei Morgenanbruch reitet Ihr nach Osten zu König Henry.« »Ja, Eure Hoheit«, sagte sie, kaum in der Lage, die Worte auszusprechen. Eine üble Vision von ihrem geschrumpften und geschwärzten Kopf am Gürtel eines qumanischen Kriegers quälte sie. Wollte Bayan sie opfern, weil sie zugehört hatte ? Oder war dies lediglich der Versuch, seine eifersüchtige Frau zu beschwichtigen, während sie ihre Pläne bezüglich der Nachfolge ausbrüteten? »Frau.« Er nahm Sapientias Hand in seine. Die Prinzessin hatte sich nicht gerührt. Eine ihrer Bediensteten hielt eine Keramiklampe in der Hand, einen krähenden Hahn, in dessen Schnabel eine Flamme brannte: Das Licht machte ihre Miene weicher, verlieh ihrem schwarzen Haar einen schönen, seidigen Schimmer. »Dich bitte ich um dieses: Ekkehard muss bei Morgenanbruch mit dem Adler reiten.« »Ist das weise?«, fragte Sapientia. »Er und die anderen Gefangenen müssen wegreiten. Wir können keine ... was ist das, Breschius, was unsere Gedanken von dem Krieg wegbringt?« »Ablenkungen, Eure Hoheit.« »Ja, eines dieser Worte, die ich mir nicht merken kann. Denk daran, wie verzweifelt unsere Lage ist. Die Bischöfin ist eine gottergebene Frau, das weiß ich. Aber sie glaubt, dass Gott vor dem Krieg kommen. Bulkezu wartet aber sicher nicht auf Gott.« Er deutete auf den Altar und auf den Ring aus Kerzen, die dort brannten - das Licht der Einigkeiten. »Aber wohin schicken wir Ekkehard?« »Er soll zur Mark der Villams gehen. Dort kann er kämpfen. Dort wird er sterben oder leben, wie Gott wollen. Er und sein Gefolge können den Adler begleiten, bis sie außer Gefahr ist. Sie muss zu Henry gehen und ihm von unseren Problemen berichten. Aber Ekkehard werde ich nicht in Handelburg dulden. Dass er ein Gefangener ist, bringt Hader in unser Lager. Wir befinden uns in einer sehr schlechten Lage. Wenn König Henry keine Verstärkung schickt, wenn er nicht selbst nach Osten marschiert, wird Bulkezu das ganze Land hier brandschatzen. Dies ist die nackte Wahrheit. Vielleicht können wir uns eine Weile halten. Wenn wir keine Streitereien in unserem Heer haben. Wenn es keine Ab- ah! gibt.« »Es ist ein guter Plan«, sagte Sapientia langsam, während sie über seine Worte nachsann. Das war die große Veränderung, die Bayan bei ihr bewirkt hatte; sie hatte gelernt, über die Dinge nachzudenken. »Ekkehard kann immer noch im Kampf gegen die Qumaner sterben, aber das wäre ein besserer Tod für ihn, als wegen Ketzerei hingerichtet zu werden. Als Gefangener stellt seine Anwesenheit für uns nur eine zusätzliche Schwierigkeit dar. Einige werden sicherlich mit seinem Los Mitleid haben. Er könnte den Wachen schlechte Worte zuflüstern, und möglicherweise sind im Heer welche, die ihm weiterhin glauben, aber bei der Verhandlung gelogen haben, weil sie nicht bestraft werden wollten.« Bayan nickte. »Aber wie kann ich ihn aus dem Turm meiner Tante befreien? Sie wird mich exkommunizieren, wenn ich ihm helfe.« Bruder Breschius trat vor. »Ihr seid die Erbin, Eure Hoheit. Ihr habt Eure Eignung als Herrscherin bereits bewiesen. Betrachtet das hier als Test für Eure zukünftige Herrschaft. Bischöfin Alberada würde König Henry nicht herausfordern, wenn er hier wäre und erklären würde, dass Prinz Ekkehard in sicheren Gewahrsam zur Festung von Villam geschickt werden muss - mit oder ohne große Eskorte -, weil man es sich in solch unruhigen Zeiten nicht leisten kann, eine große Anzahl von Männern als Wachen zu verlieren. Und sie wird auch Euch nicht herausfordern, die Ihr dazu bestimmt seid, nach Eurem Vater zu regieren, mögen Gott ihn mit einem langen Leben segnen.« Sapientia drehte die schöne, bestickte Kante ihrer Tunika in den Händen, zerdrückte die kleinen, runden Scheiben zwischen den Fingern. Die Geste ließ sie ein bisschen wie eine Gänsemagd aussehen, die kurz davor stand, mit ihrem Liebsten zu schelten. Doch selbst eine gewöhnliche Gänsemagd konnte sich das Befehlen angewöhnen. Einen Augenblick lang erinnerte sich Hanna an das, was Hathui immer gesagt hatte: Gott lassen die Sonne auf Edelleute und Gewöhnliche scheinen, denn vor Gott sind alle Menschen gleich. Was trennte Hanna wirklich von Sapientia?
Sapientia ließ ihre Hände sinken. Sie hatte die Haltung einer Königin; in diesem Augenblick, in der düsteren Kirche, als die stummen Heiligen von oben auf sie herunterstarrten, konnte man das Glück des Herrschens auf ihrem Gesicht sehen. »Ich werde mit meiner Tante sprechen. Ekkehard wird bei Morgenanbruch abreisen, um den Adler zu begleiten, bis es sicher für sie ist, allein weiterzureiten.« Hanna lachte leise in sich hinein. sich. Gott hatten schon lange die Hochgeborenen von den anderen getrennt, egal, was Hathui auch dazu sagen mochte. Ein paar Worte wurden ausgetauscht, und Hannas Schicksal war besiegelt. »Adler.« Der Blick, mit dem Bayan sie jetzt betrachtete, war fest, noch immer ein bisschen bewundernd, aber auch endgültig, als wüsste er, dass er ihr zum letzten Mal Lebwohl sagte. »Wendet Euch auf keinen Fall nach Süden, bevor Ihr nicht westlich der Odar seid. Selbst dann müsst Ihr noch vorsichtig sein. Die Qumaner pflegen weit umherzustreifen.« »Ja, Eure Hoheit.« »Ekkehard ist jung und närrisch, Schneefrau«, fügte er hinzu. »Gebt auf ihn Acht.« »Komm, wir gehen«, sagte Sapientia scharf. Bayan ging gehorsam. Er warf nicht einmal einen Blick zurück. Seine stämmige, beeindruckende Gestalt verschwand in der Düsternis neben der Prinzessin. Hanna hörte sie weiterreden, aber sie konnte nicht mehr verstehen, was sie sagten. Breschius blieb noch. Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich, bis sie vor dem Alfar stand. »Vertraut in Gott, Hanna.« Er vollführte das Zeichen des Segens über ihr. »Ich danke Euch, Bruder. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe Angst.« Er ging mit ihr weiter, hielt noch immer ihre Hand. Seine Berührung hatte etwas Beruhigendes, wie eine Rettungsleine. Als sie auf der Schwelle standen, hinter den heiligsten Bereichen, neigte er den Kopf und flüsterte ihr ins Ohr: »Vergesst niemals, dass eine kerayitische Prinzessin Euch als ihr Glück gekennzeichnet hat.« Die Stille und das Geheimnisvolle, der seltsame Ton seiner Stimme, in der Verdammnis mitschwang, ließen sie erschauern. Der Tod hatte sie mit seinen kalten, schwieligen Händen berührt. Sie brachen im kühlen Licht der Morgendämmerung auf, Hanna, Prinz Ekkehard, seine sechs edlen Begleiter und die zwanzig anderen Ketzer, die alle exkommuniziert worden waren. Sechzehn von ihnen marschierten zu Fuß, da Bayan nicht zu viele Pferde opfern wollte. Der Boden war hart gefroren und von einer dünnen Eiskruste überzogen, die von Hufen und Stiefeln schnell zerbrochen wurde. Als sie die westliche Brücke überquerte, drehte Hanna sich um und sah Edelmann Dietrichs Kopf auf einem Pfahl über dem Tor stecken. Danach brachte sie es nicht mehr über sich, noch einmal zurückzuschauen. Ivar war möglicherweise ohnehin schon tot. Sich umzuschauen würde ihn nicht wieder lebendig machen. Sie heftete ihren Blick auf Ekkehards Banner, das schwach in einer trägen Brise flatterte. Der Regen, der ihnen so lange gefolgt war, hatte inzwischen aufgehört. Sie ritten bei kaltem, unangenehmem Wetter, und die Sonne stand hoch am Himmel, doch es lag keinerlei Wärme in ihrem Licht. Hanna hatte nicht einmal die Erlaubnis bekommen, sich von ihren Freunden, den Löwen, zu verabschieden. Ekkehards hastiger Aufbruch hatte etwas Unangenehmes, und das lag nicht nur an Edelmann Dietrichs grässlichem Tod und der Exkommunikation. Sie sahen keinerlei Hinweise auf qumanische Späher. Es war, als würde eine unheilvolle Drohung sie begleiten.
Alain bahnte sich seinen Weg durch die Menge hindurch nach draußen; die Dorfbewohner diskutierten inzwischen laut und heftig, ein paar jammerten und wehklagten. Vor dem Ratshaus pfiff er die Hunde zu sich und rannte zu Adicas kleinem Haus, das mit verschiedenen Zaubermitteln, Glöckchen und Kränzen gekennzeichnet war. Niemals hatte sie ihr Haus verlassen oder betreten, ohne an der Schwelle bestimmte Rituale zu vollführen, und noch nie hatte er eine andere Person die Hütte betreten sehen. Doch wenn ihre Götter oder der Rat wirklich vorhatten, ihn zu vernichten, konnten sie das genauso gut auch später tun. Er verstaute den Lederbeutel mit Adicas kostbaren Gegenständen in einer Holzkiste, damit die Sachen in Sicherheit waren. Dann griff er sich eines ihrer Schlaffelle und eilte nach draußen zu den Hunden. Kummer und Rage waren nicht allein; das halbe Dorf war hinter ihm hergelaufen, wenn ihm auch niemand in die Hütte gefolgt war. Die andere Hälfte wartete noch immer unsicher beim Ratshaus. Während die Hunde an dem Schlaffell schnüffelten, trat Kel vor und machte Anstalten zu sprechen, doch Beor stieß ihn beiseite und hielt Alain seinen Speer an die Brust. Die Bronzeklinge blitzte bösartig auf. Alain packte den Schaft von Beors Speer, denn obwohl Beor eigentlich stärker war als er - er besaß wahre Bärenkräfte -, verlieh ihm die Wut ungeahnte eigene Kräfte. »Tritt zur Seite«, sagte er in seiner eigenen Sprache und starrte Beor eindringlich an. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es vielleicht noch, Adica zurückzuholen. Wenn es ihre Absicht gewesen wäre, sie zu töten, hätten sie das gleich hier tun können, aber da sie das nicht getan haben und sie stattdessen mitgenommen haben, bleibt
uns vermutlich ein bisschen Zeit. Um Gottes willen, haltet mich nicht davon ab, sie zu suchen.« Ein seltsamer Ausdruck huschte über Beors Gesicht. Die Dorfbewohner hinter ihm tuschelten leise. Beor trat zögernd zur Seite. »Ich gehe jetzt und suche Adica«, erklärte Alain, mühselig um die richtigen Worte ringend. Mutter Orla sagte etwas, und sofort rannten einige der Umstehenden zurück ins Dorf. Kel machte einen Satz nach vorn; er trug jetzt zusätzlich zu dem Bronzespeer, den er dem toten Eindringling abgenommen hatte, noch ein Bronzemesser. »Ich komme mit!«, rief er triumphierend. »Ich komme auch mit«, sagte Beor plötzlich. Nach und nach meldeten sich noch zwölf andere Erwachsene, doch eine so große Gruppe konnte sich weder rasch noch unauffällig bewegen. »Kel.« Alain zögerte einen Moment, dann nickte er. »Beor. Ihr beide kommt mit.« Sie machten sich sofort zum Aufbruch bereit. Alain hätte gerne sein Messer und sein Schwert mitgenommen, aber er wusste nicht, wo Adica die Waffen versteckt hatte, und es blieb ihm keine Zeit, danach zu suchen. So nahm er stattdessen ein Bronzemesser. Mutter Orla ließ Seil bringen, außerdem Wasserhäute mit Met, eine Holzröhre, die mit gebrannter Keramik ummantelt und mit hei358 ßen Kohlen gefüllt war, getrockneten Fisch, haltbares Brot, ein Bündel Lauch. Beor und Kel hatten sich Holzgestelle an den Rücken geschnallt, an denen jeweils ein Lederbeutel hing, in dem sie diese Vorräte verstauten. Selbst das kostete wertvolle Zeit. Alain führte die Hunde hinunter zum Geburtshaus. Urtans Tochter folgte ihm und zeigte ihm die Stelle, wo die Auseinandersetzung stattgefunden hatte; mit Händen und Füßen teilte sie ihm mit, was sie von dem Wachturm beim Tor aus beobachtet hatte. Urtan und seine Kameraden waren, als sie die Banditen vom Hügelgrab herbeilaufen gesehen hatten, sofort zu Adica und Tosti gerannt. Die Banditen - mindestens zwanzig an der Zahl hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt; die eine hatte sich das Dorf vorgenommen, die andere sich darangemacht, die Geweihte Adica gefangen zu nehmen. Die Hunde schnüffelten am Boden und trotteten dann auf einen Befehl von Alain zu dem Hügelgrab; sie schienen dabei einem Pfad zu folgen, den nur sie wahrnahmen. Alain hastete hinter ihnen her, gefolgt von Kel und Beor. Die Dorfbewohner versammelten sich am Tor und sahen ihnen nach; sie wirkten wie die Mitglieder einer Trauergemeinschaft. Dann schlössen sie das Tor. Die erst zur Hälfte errichtete äußere Palisade kam Alain äußerst dürftig vor, und er sah einen farbigen Fleck im Graben liegen: eine Leiche. Was waren das für Banditen, die da zugeschlagen hatten? Wieso sahen sie aus wie Verwandte von Prinz Sanglant? Alle wussten, dass die Aoi nicht länger auf der Erde weilten - es sei denn als Geister, gefangen im Fegefeuer zwischen Körper und Geist. Und wieso wollten sie ausgerechnet Adica? Beor und Kel hätten die Frage wahrscheinlich beantworten können, aber ihm fehlten die richtigen Worte, um sie zu stellen. Er konnte also nichts tun, als Adica zu folgen. Er vermutete, dass sie von Kummer und Rage zu dem Steinkreis geführt werden würden. Als die Hunde jedoch den höchstgelegenen Erdwall erreicht hatten, schlugen sie eine andere Richtung ein, 359 trotteten eine Weile in seinem Schatten entlang, um sich dann an der östlichen Seite wieder nach unten zu begeben. Als sie den größten Teil des Hügels wieder hinabgestiegen waren, sahen sie einen Steinsturz - der Eingang zu einem Tunnel, der in den großen Hügel hineinführte. Kel stöhnte vor Angst, als die Hunde an der Öffnung herumschnüffelten. Vor langer Zeit hatte jemand in die linke Säule eine menschenähnliche Statue gemeißelt, die die Haut und das Geweih eines Hirsches trug. Daneben lag eine Blumengabe, die inzwischen verwelkt war und zum Teil auf dem Boden verstreut umherlag. Tiere hatten ihre Notdurft dort verrichtet, wo er stehen geblieben war, um den Blumenkranz zu untersuchen; jetzt wurden die Hunde von diesem faszinierenden Gegenstand angezogen. Beor kniete sich hin. Als er wieder aufstand, hielt er eine bronzene Schuppe in der Hand, die vermutlich von einer Rüstung abgefallen war. Alain blickte sich suchend um, damit sie keinerlei Hinweise auf die Anwesenheit der Banditen übersahen. Ein Stein war vom Hügel herabgefallen und lag jetzt zwischen Kornblumen. Rainfarn hatte an der Seite einer Spalte, wo sich Wasser sammelte, Fuß gefasst. Das war alles. Kummer bellte und verschwand im Eingang. Kel war inzwischen kreidebleich. Beor grunzte nur, aber als er Alain anblickte, stand ein wildes Grinsen in seinem Gesicht - als wollte er den Fremden prüfen, ob er mutig genug war, weiterzugehen. Ein überflüssiger Gedanke. Ein halbes Dutzend Fackeln lag bereit, gleich hinter der Schwelle sorgsam aufbewahrt. Alain entzündete den mit Pech getränkten Kopf mit einem Funken. Eine Flamme flackerte auf. Er klemmte sich eine zweite Fackel zwischen Gürtel und Tunika und folgte Kummer in den Gang hinein, wobei er mit dem Stab den Boden abtastete, um Hindernisse frühzeitig zu bemerken. Beor und Kel führten einen kurzen Wortwechsel, der aber von den Steinen erstickt wurde. Alain musste sich bücken, um weiter gehen zu können. Ein Stück weiter vorn hörte er Kummer schnüf360
fein und keuchen. Von der Fackel stieg jetzt Qualm in die von Kragsteinen gestützte Decke auf. Dunstiges Licht enthüllte Verzierungen, die entlang des Ganges in den Stein gemeißelt worden waren: hauptsächlich Rauten und Spiralen, aber hier und dort auch seltsame stockähnliche Hände, die nach vier Linien griffen, die sich über ihnen trafen. Solche Symbole der Macht verrieten die Anwesenheit der alten Götter, aber Alain hatte keine Angst vor ihnen. Sie hatten keine Macht über jene, die auf die Herrin und den Herrn vertrauten. Die Decke schraubte sich weiter nach oben, und die dicken Steinwände wurden immer höher, bis er völlig unerwartet in einer großen Kammer stand. Eine Steinplatte lag in der Mitte der Kammer auf dem Boden. Kummer schnüffelte ungeduldig daran herum, als röche er eine Ratte. Alain hielt die Fackel hoch, während Beor ihm vorsichtig in die Kammer folgte, den Speer kampfbereit erhoben. Rage trottete hinterher. Von Kel war keine Spur zu sehen. Die Kragstein-Decke war jetzt so weit oben, dass das Fackellicht sie nicht mehr erreichte. Gegenüber von Alain und an beiden Seiten befanden sich Nischen; jeder dieser Alkoven war mit der Darstellung einer uralten Königin verziert. Hier, tief im Innern von Stein und Erde, war nicht einmal der Wind zu hören. Aber irgendetwas beobachtete sie. »Wo ist sie?«, fragte Alain die unsichtbare Anwesenheit. Die Fackel ging flackernd aus, als hätte ein Windstoß sie gelöscht. Zunächst zischte sie noch, verteilte ein qualmiges Licht, doch dann, von einer Sekunde zur nächsten, war es zu dunkel, um überhaupt noch irgendetwas sehen zu können. Alain nahm den Geruch von brennendem Teer wahr, der erst aufwogte und dann erstarb, bis er nur noch Erde, Feuchtigkeit und Kälte roch - und den beruhigenden Duft der Hunde. Beor fluchte leise, aber es klang mehr wie ein Stoßgebet als wie ein Fluch. Dann vergingen selbst diese Empfindungen, und Alain konnte weder etwas fühlen noch hören, nahm auch das Hecheln der Hun361 de oder den Stein unter seinen Füßen nicht mehr wahr. Er war allein, bis auf ein zittriges, keuchendes Seufzen um ihn herum, als hätte sich der Hügel selbst in eine lebendige Kreatur verwandelt, halb schlafend und halb wach. »Wo ist sie?«, rief er noch einmal. Die Vision traf ihn wie ein Lichtblitz und versengte ihm die Augen.
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»Es
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Kummer bellte. Alain taumelte, als würde der Boden, auf dem er stand, nachgeben. Beor fing die Fackel auf, bevor er stürzte. Er schien etwas sagen zu wollen, doch dann hörten sie ein gespenstisches Wimmern und drehten sich beide um, die Waffen erhoben. Kel taumelte in die Kammer, schwitzend vor Angst, aber mit einem entschlossenen Ausdruck auf seinem jungen Gesicht. Rage begann wild am Steinaltar zu scharren. Erde spritzte auf, befleckte die Wände, und kurz darauf enthüllte das tiefer werdende Loch eine kleine Holztür, die flach auf dem Boden angebracht war. Beor zog daran und öffnete sie. Eine Treppe war vor langer Zeit in den Fels gehauen worden. Sofort begann Kummer, hinabzusteigen. Kel murmelte leise etwas und gemahnte die anderen zur Vorsicht, aber als Alain dem Hund folgte, spürte er, dass auch der Junge hinter ihm war. Licht flackerte auf; Beor hatte eine zweite Fackel angezündet. Die Stufen waren so glatt, als wären sie poliert worden, und führten in sanftem Schwung immer tiefer hinab lang genug, dass Alain hätte die Nachtmette singen und den Sonnenaufgang bei der Prim sehen können. Statt die Stufen zu zählen, richtete Alain jedoch seine Aufmerksamkeit auf Kummer, damit sie nicht plötzlich unerwartet aus dem Dunkel angegriffen wurden. Einmal blieb er, als er ein Geräusch hörte, so abrupt stehen, dass Kel ihm in die Fersen trat. Alle kamen zum Stehen. Das Geräusch erklang wieder und wieder. Es war nur Wasser, das in eine unsichtbare Pfütze tropfte. 364 Fackellicht flackerte an den schlichten Wänden. Die Decke war so tief, dass er sie mühelos mit der Handfläche anfassen konnte. Wenn er seinen Arm hob, konnte er die Wände mit den Ellenbogen berühren. Der Fels hatte sie regelrecht umschlungen. Es war besser, nicht weiter darüber nachzudenken. Es war besser, nicht an die Gruppe von bewaffneten Kriegern zu denken, die möglicherweise ein Stück weiter vorn mit erhobenen Speeren darauf warteten, ihnen die Bäuche aufzuschlitzen. Es war besser, dankbar dafür zu sein, dass der Fels trocken war und keine Feuchtigkeit absonderte. Es war immer weise, Gott für kleine Barmherzigkeiten zu danken. Er lächelte grimmig, als Kummer wieder vor ihm in der Dunkelheit verschwand. Was hatte er noch zu fürchten, nachdem ihm bereits das Schlimmste geschehen war, was einem Sterblichen widerfahren konnte ? Sie gingen weiter, bis die Treppe plötzlich auf einem Absatz endete, der groß genug war, dass die zwei Hunde und die drei Männer gemeinsam darauf Platz fanden. Beor hob seinen Speer und klopfte an die Felsendecke. Zwei Tunnel öffneten sich vor ihnen. Ein Windhauch zupfte an Alains Gesicht, als hätte der Fels selbst seinen Atem ausgespuckt. Dann war alles still. Sie tranken einen Schluck Wasser, um ihre trockenen Kehlen anzufeuchten. Die Luft hatte sich verändert, hatte jetzt einen scharfen Geruch. Auch der Fels hatte sich verwandelt; er sah jetzt gar nicht mehr wie Fels aus, sondern hatte einen weichen, polierten Glanz, der im Fackellicht erzitterte. Kel flüsterte etwas von einem Hügel oder von etwas unter einem Hügel. Nein, von einem das unter dem Hügel lebte, wie es schien, denn er benutzte mehrere Male das Wort oft genug, dass Alain in der Lage war, es unter all den anderen Worten herauszuhören. Gab es hier einen Stamm, der tief in der Erde lebte? Irgendjemand musste diese Tunnel schließlich in den Fels gehauen haben. Beor antwortete mit seiner polternden Stimme. Falls auch er Angst hatte, so war es Alain jedenfalls unmöglich, das zu erkennen. 365 Rage schnüffelte an den zwei schwarzen Öffnungen und wählte die rechte. Sie gingen weiter, aber schon bald teilte sich der Tunnel erneut, und dann noch zwei weitere Male. Wenn die Hunde nicht gewesen wären, hätten sie sich sicher verirrt, denn sie stolperten in einem Labyrinth umher, das sich ewig fortzusetzen schien. Doch die Steinwände blieben trocken und ohne Spuren, und sie fühlten sich seltsam warm und unnatürlich glatt an. Das machte es leicht für Alain, jedes Mal wenn sie eine neue Richtung nahmen, ein Zeichen aus Ruß auf die rechte Seite zu malen; er hoffte inständig, dass sie damit später ihren Weg zurück finden würden. Die Fackel war jetzt schon ziemlich heruntergebrannt und begann zu spucken. Sie hielten inne, um ein bisschen
Wasser und ein paar Happen getrockneten Fisch zu sich zu nehmen. Der dicke, nach Pech riechende Rauch strömte an Alain vorbei und brachte ihn zum Husten. Seine Augen tränten. Er schnappte nach Luft, atmete dabei aber nur noch mehr giftigen Rauch ein. In seinem Kopf drehte sich alles, und er musste sich an der Mauer festhalten, lehnte sich mit dem Kopf an den Stein in dem Versuch, aufrecht stehen zu bleiben. Lärm erscholl aus der Tiefe des Felsens, schien das Pochen seines Herzens noch zu übertönen: ein knirschendes Rumpeln, in das sich in rhythmischen Abständen ein entschiedener Klang mischte, wie die Hiebe eines gigantischen Schmiedehammers. Er schloss die Augen, um die Benommenheit abzuschütteln. Einen Augenblick lang hatte er Halluzinationen: Es war, als würde seine Wange nicht an der Wand, sondern auf blankem Stahl ruhen. Er fuhr mit der Hand an der Wand hinauf und begriff. Die Wände waren gar nicht aus Stein. Geschmiedetes Eisen ummantelte sie, so wie weiches Leder als Handschuh eine Hand umhüllt. Die Fackel erstarb. Er griff nach der anderen, die noch in seinem Gürtel steckte, wurde aber davon abgehalten, als sich eine große Hand um seine schloss. Beors feindselige Gestalt kauerte neben ihm. Nichts und niemand würde Beor aufhalten können, ihn hier und jetzt umzubringen, wenn er es wollte. Die Hunde knurrten nicht. 366 In der Stille versuchten Beor und Kel ebenfalls zu hören, was Alain zu hören schien: die schwachen Geräusche eines Handgemenges, die seltsam verzerrt durch das Labyrinth der Eisentunnel hallten. Beor drängte sich an Alain vorbei, um die Führung zu übernehmen, aber er war kaum mehr als zehn Schritte gegangen und hatte zwei Tunnelabzweigungen passiert, als er stehen blieb. Durch irgendeinen Trick des Labyrinths waren die Geräusche jetzt schwächer; einen Augenblick lang ging der Kampflärm sogar in dem Zischen von Beors Fackel unter. Der große Mann kehrte um, wollte einen anderen Tunnel nehmen, aber die Hunde und Alain drängten an ihm vorbei und schritten in der gleichen Richtung weiter. Die Kampfgeräusche klangen jetzt mal weit entfernt, mal ziemlich nah, je nachdem, wie der Gang sich wand. Obwohl sie rasch gingen, war Alain noch immer bemüht, jede Abzweigung zu markieren, damit sie zurückkehren konnten. Seine Sehfähigkeit hatte sich der Düsternis angepasst. Da Beors Fackel hinter ihm willkürlich auf und ab flackerte und Schatten und Lichtstreifen an die beinahe unheimlich gleichmäßige Wölbung des Tunnels warf, hatte er keine Probleme, seine Schritte zu setzen. Die Hunde stockten kein einziges Mal. Kel bildete die Nachhut. Alain hatte keine Probleme beim Gehen, bis er an einer Stelle, wo der Boden steil nach unten abfiel, ausrutschte. Er glitt in eine Kammer, die wie durch Zauberei von einem flackernden gelbweißen Licht erhellt wurde, das so hell leuchtete, dass er wie geblendet war. Einer der Hunde prallte gegen Alain, sodass er in den dunklen Bogengang des Tunnels taumelte und auf die Knie fiel. Es gelang ihm, im Fallen seinen Stab hochzureißen, aus Angst, möglicherweise niedergeschlagen zu werden, wenn er so hilflos war. Aber es kam kein Hieb. Weniger als vier Schritte vor ihm war ein Abgrund, in den er beinahe hineingestolpert wäre. Von da aus, wo er lag, konnte er nicht erkennen, wie tief der Spalt war. Waffengeklirr hallte in der ganzen Kammer wider und machte 367 es schwer, zu erkennen, wo der Kampf stattfand. Besonders seltsam war, dass er gar keine Stimmen hörte, als würde das Gefecht vollkommen schweigend ausgetragen. Die Hunde bellten nicht und gaben auch sonst keine Warnzeichen von sich. flüsterte Kel, doch Beor brachte ihn mit einem Zischen zum Schweigen. Helles Licht flackerte wieder auf, verdüsterte sich rasch zu einem weichen Glühen, als hätte ein Riese plötzlich zehn Kerzen auf einmal ausgeblasen - bis auf eine. Das Licht genügte jedoch, dass Alain auf der anderen Seite des Spalts ein Handgemenge erkennen konnte. Mehr als ein Dutzend maskierter Krieger kämpfte gegen kleine, schlanke Kreaturen, die wie halbwüchsige Kinder aussahen, deren Haut so lange poliert worden war, bis sie den matten Glanz von Zinn hatte. Die Federn, die die Helme und Rüstungen der Krieger schmückten, wurden bei jeder Bewegung erschüttert. Viele hatten ihre Masken abgenommen, um bei dem schlechten Licht besser sehen zu können. Ihre Bronzespeere klirrten auf den runden Schilden, die die kleinen Leute in den Händen hielten Schilde, die mit seltsamen geometrischen Mustern verziert waren. In der linken Hand hielten die kleinen Kämpfer schlanke Schlagstöcke mit verdickten Köpfen, die für einen Kampf nicht besonders geeignet schienen. Plötzlich entdeckte Alain Adica. Sie wurde inmitten der Meute der Krieger festgehalten, die Hände gefesselt. Ein Mann, dessen Helm vollständig mit schneeweißen Federn geschmückt war, schob sie weiter zu den Soldaten, die dem Eingang zu einem noch größeren Gang am nächsten standen: dieser Gang musste ihr Fluchtweg sein. Beor stieß Alain an und deutete auf etwas. Eine Brücke spannte sich über die Kluft. »Ashioi«, fuhr Beor mit leiser Stimme fort. »Fe skrolin dAshioiket.« Die schmale Brücke bestand aus raffiniert gespannten, dicken Eisenseilen. Alain glitt rasch über sie hinweg, tief geduckt und dicht gefolgt von den Hunden und den anderen beiden Männern. 368 Die Brücke schwankte bei jedem Schritt. Noch hatte sie niemand auf der anderen Seite bemerkt; die Kämpfenden waren viel zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, während das Handgemenge vor und zurück wogte, ächzende Stimmen sich mit Husten und Keuchen mischten und einmal auch ein gequälter
Schmerzensschrei erscholl, der aber wie abgeschnitten abbrach. Das Licht veränderte sich wieder, wurde heller, als ein Blitz aufzuckte. Die Skrolin drängten gemeinsam vorwärts, um gegen ihre Feinde zu kämpfen. Jetzt konnte Alain sehen, dass die Waffen der Skrolin bösartiger waren, als es zunächst den Anschein gehabt hatte: feuchte Dornen ragten aus den Köpfen der Knüppel Schlangenfänge voller Gift, das im Zauberlicht glänzte. Sie schlugen mit den Schlaghölzern auf die Beine ihrer größeren Gegner ein und versuchten, sie so zu Boden zu reißen. Eine maskierte Kriegerin wurde auf die Knie gezwungen und befand sich Auge in Auge mit dem kleineren Krieger, dessen Knüppel jetzt unter ihrem Gewicht festgeklemmt war. Das Skrolin schmetterte seinen Schild gegen ihre wunderschöne Adlermaske, und Holz zerbarst, doch als es zu einem neuen Schlag ausholte, presste die kniende Kriegerin ihren Speerschaft gegen den Hals des Skrolin, um es gegen seinen eigenen Schild zu drücken. Der Druck des Speerschafts raubte dem Skrolin die Luft; die Augen traten hervor und sein Kopf zuckte, während es nach Luft zu schnappen begann. Sein Helm fiel zu Boden, rollte mit einem rhythmischen Klirren bis zur Kante und stürzte in das schwarze Loch. Alain sprang von der Brücke auf den sicheren Fels. Er schwang seinen Stab und traf die Kriegerin seitlich am Kopf, sodass sie umfiel. Das Skrolin strampelte und rollte sich zur Seite. Die Augenlider der Frau flatterten. Ihr Mund, durch die zerbrochene Maske hindurch einigermaßen sichtbar, war leicht geöffnet, wie im Tod. Hatte er sie getötet ? Aber sie stöhnte und versuchte aufzustehen, bevor sie noch immer benommen rücklings zu Boden sackte. Der am nächsten stehende maskierte Krieger rammte seinen Schild gegen das Skrolin, das ihm gegenüberstand, und zielte dann 369 mit einem kräftigen Hieb auf Alains Kopf. Alain parierte blitzschnell und trat nah an den Krieger heran, rammte ihm das Ende seines Stabes in den Unterleib und schickte ihn anschließend mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter zu Boden. Beor und die beiden Hunde drängten an Alain vorbei. Der weiß behelmte Hauptmann trat vor, um sich der neuen Bedrohung zu stellen. Rage und Kummer sprangen ebenfalls hinzu, wurden aber von einem Nebel aus Mücken belästigt. Kummer jaulte, brach auf dem Boden zusammen und kratzte sich wütend am Kopf, während Rage sich in den Schaft eines Speers verbiss. Die Kiefer fest in das Holz vergraben, schüttelte sie den Speer in dem Versuch, ihn dem Hauptmann aus der Hand zu reißen, wild hin und her. Beor nutzte den Vorteil, den Weißfeders Hilflosigkeit ihm gewährte, und zielte auf den ungeschützten Rücken des Mannes, doch der weiß behelmte Krieger ließ den Speer los und duckte sich, um dem Angriff auszuweichen. Blitzschnell sprang er wieder hoch und zog sein Bronzeschwert. Beor besaß keinen Schild, mit dem er die Klinge hätte abwehren können. Mit der Wut eines Berserkers oder auch nur aufgrund der raschen und realistischen Abschätzung seiner Chancen ließ Beor seinen Speer fallen, wich dem Hieb aus, packte den Hauptmann und begann mit ihm zu ringen. Kel hatte sich zu Alain gesellt, und gemeinsam parierten sie die Hiebe der anderen Krieger, versuchten, Verwirrung zu stiften. Versuchten, am Leben zu bleiben. Rage stürzte sich mitten ins das Gewühl, und Alain verlor sie aus den Augen. Kummer hatte sich in sicherem Abstand niedergelassen und leckte sich die Schnauze. Kel war mutig, hatte aber wenig Erfahrung. Sein Zögern hätten sie mehrfach beinahe teuer bezahlt, und nur die Anwesenheit der Skrolin bewahrte sie davor, von den Feinden überwältigt zu werden. Aber viele der Skrolin waren bereits gefallen. Alain konnte sie erkennen - die, die verwundet, und andere, die getötet worden waren. Diese Wahrnehmungsfähigkeit weitete sich aus, schien sich auf das gesamte Handgemenge auszudehnen, während er gleichzeitig versuchte, am Leben zu bleiben, seine Kameraden am Leben zu erhalten und sich einen Pfad zu Adica zu bahnen. Die Herrin der Schlachten half ihm nicht. Er hatte kein Verlangen danach zu töten; allein der Gedanke daran bereitete ihm Übelkeit. Aber während er parierte und um sich schlug, Kel einen Hieb ersparte und einen gefallenen Skrolin mit dem Fuß aus dem Weg schob, gewann das Handgemenge an Schärfe und Klarheit, eine fast unheimliche Voraussagbarkeit, als wären all die anderen in einer durch Magie entstandenen Zeitlupe gefangen. Die Blößen, die sich seine Gegner gaben, wurden offensichtlich, den gegen ihn gerichteten Schlägen war leicht zu begegnen. Als Kind hatte er die Fresken an den Kirchenwänden heiß und innig geliebt, von ihnen geträumt:
Das Schlachtfeld wurde selbst zu einer dieser Wandmalereien, war kein unentwirrbares Chaos mehr, sondern ein Gemälde, auf dem jeder Kämpfer und jede Kämpferin für ihn zu erkennen waren, als hätte sich in ihrem Geist ein Fenster geöffnet. Er wusste, wer verängstigt war und wer zögerte, wer zum ersten Mal in einer Schlacht war, wer aufgrund seiner Erfahrung oder Kaltblütigkeit gefährlich war. Er wusste, wer kurz davor stand, wegzulaufen, und wer bereit war, auch um den Preis des eigenen Lebens nicht zu weichen. Die Kriegerin vor ihm wollte nicht kämpfen; sie wollte nichts mit den Menschen zu tun haben und hatte es sowieso für höchst unklug gehalten, sich unter die Erdoberfläche zu begeben. Ein anderer Krieger, der Kel zusetzte, war jung und bereit, seinen Heldenmut unter Beweis zu stellen, und er fürchtete sich genug vor
371 den Menschen, dass er Kel gegenüber einen Vorteil hatte. Alain trat dazwischen, schlug einen Speer beiseite, der auf Kel zielte, dessen Aufmerksamkeit durch den sich am Boden wälzenden Beor abgelenkt worden war. Zur gleichen Zeit schwang die erfahrene Kriegerin ihren Speerschaft gegen seinen Kopf, doch er wehrte den Hieb mit seinem Stock ab. Er brachte das Ende seines Stabes hinter das Bein des jungen Kriegers, und mit einer raschen Drehung holte er ihn von den Beinen, während er der älteren Kriegerin einen Stoß gegen die Stirn versetzte. Auch sie stürzte zu Boden. Kel schrie laut auf. Die feindliche Linie zerbrach. Adica, von ihren Wachen befreit, duckte sich tief und verschwand entlang der Höhlenwand in den Schatten. Die Frau unter Alain versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Alain drückte ihr seine Hand auf das Brustbein, um sie am Boden zu halten. Ihre Augen weiteten sich: Sie blitzten grün auf, so hell und durchdringend wie Jade. Sanglant hatte solche Augen, die mit edelsteinähnlicher Intensität leuchteten. Er starrte sie an, und sie starrte ihn an - er vor Verwunderung über ihre Schönheit und ihr wildes Herz, sie vor Verwirrung, die sich in Überraschung und Respekt verwandelte. Ohne ein Wort gab Alain ihr die Erlaubnis wegzulaufen. Sie sprang auf und zog sich zurück, zerrte den stolpernden jüngeren Krieger hinter sich her. Rage trottete unverletzt aus dem Handgemenge hervor und gesellte sich an Alains Seite. Beor hatte nicht so viel Glück. Weißfeder traf ihn hart an der Schulter, stieß ihn zurück und sprang auf die Beine. Er rief etwas so laut, dass es lange in der Kammer widerhallte. Seine Krieger -einige von ihnen noch immer kämpfend, andere bereits im Rückzug begriffen - bildeten eine feste Linie, um die Verwundeten zu schützen. Wo war Adica? Die Skrolin, die eine grünliche Substanz absonderten, wenn sie bluteten, warteten in unheimlicher Stille - ganz so, als ob sie nicht sprechen wollten oder könnten. Alain spürte jedoch, dass sie einfach nur ihren Feind hinhalten wollten. Aber worauf warteten sie ? Beor kam auf die Beine, rutschte auf seinem eigenen Blut aus und taumelte. Er blieb neben Kel stehen. Adica löste sich aus dem Dunkel und stolperte über Leichen hinweg zu ihnen. Mit wütenden Schreien griffen die maskierten Krieger die vier Menschen und das halbe Dutzend Skrolin an. Schlagartig breitete sich wieder Verwirrung aus. Mit gebundenen Händen griff Adica nach einem Speer, der auf den Boden gefallen war, doch er entglitt ihrer Hand. Beim zweiten Mal gelang es ihr, die Finger um den Schaft zu legen, und sie hob ihn gerade noch rechtzeitig genug hoch, um unbeholfen einen Hieb zu parieren. Ein Schwerthieb streifte Kels Rücken, als er sich verwirrt in die falsche Richtung drehte, doch das Holzgestell schützte ihn. Der Lederbeutel sackte nach unten, wurde von dem Schlag aufgeschlitzt, und Nahrungsmittel fielen heraus. Ein Krieger rutschte auf getrocknetem Fisch aus und stürzte schwer zu Boden. Die anderen drängten unter dem Befehl von Weißfeder weiter vorwärts, auf der Suche nach Adica. Kel stolperte rückwärts und prallte gegen Adica, die ebenfalls taumelte. Halb vornübergebeugt, ging Beor zum Angriff über; trotz seiner Verletzung war er noch immer eine Gefahr für seine Feinde. Wo war die Klarheit geblieben, die aus der Schlacht einen leuchtenden Wandteppich gemacht hatte ? Es schien so einfach gewesen zu sein, in jenen kurzen Momenten, die sich wie ein Faden in die ungebrochene Gegenwart erstreckt hatten. Jetzt war Alain kaum mehr in der Lage, einen Hieb des weiß behelmten Kriegers abzuwehren, der auf Adicas Kopf zielte; tief grub sich das Schwert des Hauptmanns in seinen Eichenstab. Kummer fehlte, und Rage war wieder außer Sichtweite. Klauen kratzten an seinen Waden. Vielleicht war es möglich, zweimal zu sterben. Der Gedanke verursachte mehr Verwunderung als Furcht. Dann zerbrach die Welt. Von einem zum nächsten Atemzug ging das Licht aus, und Dunkelheit hüllte sie ein, machte sie blind. Kel schrie vor Angst laut auf. Geräusche wie Donnerschläge krachten in Alains Ohren. Die Erde zerbarst zwischen seinem linken Fuß und seinem rechten. Er packte Adica und zog sie mit sich zurück, aber er spürte, wie er auf Knien vorwärts rutschte, auf eine neue Spalte zu. Hitze brodelte Von der schwarzen Tiefe empor, unsichtbar, aber deutlich spürbar - ein schmaler Strudel bloßer Luft, von einem glühenden Wind getrieben. Als er den Mund öffnete, um eine Warnung herauszuschreien, verbrannte die Luft ihm schier die Zunge. Er konnte seine eigene Stimme bei dem lauten Wind nicht hören. Zähne packten ihn. Ein Kiefer schloss sich um seinen rechten Fuß. Die Hunde versuchten ihn daran zu hindern, weiter zu rutschen. Adica bemühte sich, irgendwo Halt zu finden. Ein Speer glitt an ihm vorbei. Sein kühler Schaft strich an seiner Wade entlang, fiel dann taumelnd hinunter, hinunter, hinunter - nie hörte er den Speer unten aufschlagen. Er schien eine Ewigkeit unerbittlich auf die Spalte zuzurutschen, während Adica neben ihm versuchte, sich nach oben zu kämpfen. Seine stark beanspruchte Hand, mit der er versuchte, sich an dem glatten Stein festzuhalten, rutschte über die Kante, und er fiel nach vorn; seine zusätzliche Fackel löste sich aus dem Gürtel, klebte dank der Wucht des Windes kurz an seiner Brust und stürzte schließlich in die Tiefe. Eine kleine Hand packte seine Leinentunika, dann seinen Gürtel. Hundert Hände berührten ihn, pieksten und drückten ihn überall, während sie ihn wieder hochzogen. Er war ihnen hilflos ausgeliefert, während sein Rücken über den Boden scheuerte.
Die Hände ließen ihn los, alle bis auf eine, die seinen Rumpf mit bösen, scharfen Stichen absuchte. Vom Schwefelgeruch beißender Atem kitzelte sein Gesicht. Die Klauen fuhren seinen rechten Arm entlang und zwickten ihn hart, drehten die Haut herum, bis er schrie. Blut trat hervor, wo eine Klaue seine Haut aufgescheuert hatte. Ein kühler Druck legte sich auf seinen Arm. Sofort waren die Hunde bei ihm, leckten ihn und stießen ihn an. Die Kreatur, die ihn angegriffen hatte, war verschwunden. »Adica?« Seine Kehle schmerzte, und auch sein Rücken tat weh. Vollkommene Dunkelheit umgab ihn. Er konnte immer noch nichts anderes hören als den Wind. Eine Lampe flackerte". Adica lag neben ihm; sie wirkte benommen. Ihr Feind blickte von der anderen Seite der Spalte zu ihnen herüber; ein fürchterlicher Riss hatte sich gebildet, aus dessen Tiefe der beißende Wind hochstieg, der geradewegs zur nicht zu erkennenden Decke der Höhle emporschoss. Die Flamme zitterte und beruhigte sich wieder, als der Hauptmann sie mit einer Hand schützte. Es gab ein Dutzend Krieger, die noch immer kämpfen konnten. Sechs von ihnen hatten Bögen, die sie während der Dunkelheit bereitgemacht, mit Pfeilen versehen hatten. Weißfeder brüllte einen Befehl. Alain warf sich über Adicas ausgestreckten Körper. Sie schössen. Keiner der Pfeile schaffte es über die Spalte hinweg. Sie wurden vom Wind erfasst, stiegen in die Höhe und gerieten außer Sicht. »Ha! Ha!«, rief Kel; es klang wie ein Hilfeschrei. Alain sprang auf, wischte sich die Augen, die vom Wind tränten. Beor und Kel hingen am Rand des Spalts. Alain zog sie hoch. Auf eine seltsame Weise hatte der glühende Wind ihnen geholfen. Beor hatte seine Fackeln verloren, und seine verletzte Schulter blutete noch immer, aber er konnte gehen. Kels aufgeschlitzter Ledersack baumelte gefährlich hin und her. Sie hatten keine Waffen mehr, aber auf dem Absatz zwischen ihnen und der Brücke lagen ein paar Speere herum. Kel beeilte sich, einige von ihnen aufzusammeln, während Alain sich neben Adica kniete und das Seil durchtrennte, das ihre Hände fesselte. Sie schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht, dann erhob sie sich. Der Spalt zog sich quer über den Boden, sodass sie den größeren Tunnel, auf den sie eigentlich zugegangen waren, nicht mehr erreichen konnten. Stattdessen bot sich ihnen nur noch ein einziger, kleiner Tunnel als Fluchtmöglichkeit an. Weißfeder rief etwas, das sehr viel Ähnlichkeit mit einem Fluch hatte, aber es gab nichts mehr, was er und seine Leute hätten tun können. Sein stolzes Gesicht verzerrte sich vor unterdrückter Wut; eine böse Schnittwunde verlief von der Lippe zum Kinn, und seine linke Wange war ein einziger blauer Fleck. Blut rann aus einem Ohr, tropfte auf die Lederrüstung, die seine Schultern schützte. Er trug eine Brustplatte aus gehämmerter Bronze, in die eine geier-köpfige, wild und herrisch wirkende Frau eingraviert war. Mit einem Fauchen drehte er seinen Feinden den Rücken zu. Ein Bogenschütze, der die Maske eines Ebers trug, schoss einen zweiten Pfeil ab, aber der Wind packte den Pfeil, trug ihn immer höher, bis er in den düsteren Höhen verschwand. Es war unmöglich, über die Spalte zu springen. Zudem war die Kluft wie ein Dreizack in drei tiefe Spalten zerbrochen und machte so aus dem Höhlenboden winzige Inseln, die von Winden umgeben waren. Der wohl jüngste Krieger tat, als wollte er einen Pfeil nach ihnen schleudern, aber ein Kamerad hielt ihn davon ab. Nach einer kurzen Unterredung gingen sie vorsichtig über das bisschen Boden, das ihnen noch verblieben war, schleppten die drei Kameraden mit sich, die zu sehr verletzt waren, als dass sie noch hätten laufen können. Sie betraten einen kleinen Tunnel, der so niedrig war, dass sie sich ducken mussten, als sie eintraten. Kel fluchte wütend. Während das Lampenlicht schwächer wurde, sah Alain, dass die Brücke über den ersten Spalt in der Mitte zerbrochen war und dass beide Teile in den Abgrund hingen. Sie waren auf einem schmalen Kamm zwischen zwei Schluchten gefangen. Jetzt verschwand auch Weißfeder in dem schmalen Tunnel, und sein Licht mit ihm. Schwärze senkte sich wieder herab. Aus dem Abgrund ertönte ein Pochen, das an die hallenden Schritte eines Riesen erinnerte. Einen Augenblick später erstarb der Wind. Rage bellte, als wäre sie überrascht; dann war alles still und vollkommen dunkel. 376 Ihre Hände brannten, als das Blut wieder in sie zurückströmte. Sie bewegte sie, während sie in der Dunkelheit tief Luft holte. Sie war frei, aber noch nicht in Sicherheit. Doch es war immerhin besser, als von den Verfluchten gehängt zu werden. »Geweihte, kannst du sprechen?« »Beor, wie kommt es, dass ihr mir gefolgt seid? Was ist beim Dorf geschehen? Wen haben sie sonst noch geholt?« Er stand rechts von ihr und keuchte so, wie ein Krieger es zu tun pflegt, wenn er den Schmerz seiner Verletzungen bekämpfen will. »Sie haben einen von Weiwaras Säuglingen mitgenommen, aber der Fremde hat ihn zurückgeholt. Nein, Geweihte, es sind keine anderen mitgenommen worden. Nur du. Es ist alles nur ein
Ablenkungsmanöver gewesen.« »Um mich zu kriegen.« Er grunzte zustimmend. »Wir sind gefangen.« Kels Stimme klang krächzend; für einen Augenblick klang sie fast wieder so hell wie die eines Jungen, wurde dann wieder etwas tiefer. »Adica.« Sie konnte Alain nicht sehen, aber sie spürte ihn, so wie sie ein brüllendes Feuer gespürt hätte. Er stand etwa eine Armeslänge von ihr entfernt. Statt zu antworten, streckte sie die Hand in die Schwärze aus und suchte nach seinem Arm. Er drückte ihre Hand. Das war alles. Die Dunkelheit in der Höhle war so vollkommen, dass sie nicht einmal sein Gesicht sehen konnte. Oder doch? Sanftes Licht erglomm; es hatte den Schimmer von Magie. Zuerst konnte sie nicht erkennen, woher es kam. Kel fluchte. Alain glühte. Nein. Einen Augenblick später sah sie ein bronzefarbenes Armband, das dreimal um Alains Oberarm gewunden war. Es war dieser Gegenstand, der glühte. Seine Miene verriet, dass Alain ebenso überrascht war wie sie selbst. Er fingerte vorsichtig an dem Armband herum, drehte es leicht und verzog das Gesicht vor Schmerz, als es sich nicht abnehmen ließ. »Die Großmütter haben immer eine alte Geschichte erzählt«, sagte Beor mit merkwürdiger Stimme. »Danach machten die Weisen jenen, die ihnen helfen, kostbare Geschenke.« Alain wandte sich ab, verbarg sein Gesicht, während er das seltsame Armband untersuchte. Die Brise, die aus der Spalte aufstieg, war jetzt leicht und kühl und bewegte seine Tunika. Von hinten, mit den schönen, schwarzen Haaren und der schlanken Gestalt, hätte er auch ein Verwandter der Verfluchten sein können - aber das war er nicht. Er hatte sich für sie menschlich genug angefühlt, in den Momenten vor dem Überfall der Verfluchten, als sie ihn beim Geburtshaus umarmt und geküsst hatte. »Das Seil«, sagte Kel. Beim Klang seiner Stimme blickte sie zu ihm hin und sah ihn neben der herabgestürzten Brücke stehen; er starrte in die klaffende Spalte. Enttäuschung und Wut mischten sich auf seinem jungen Gesicht. Er hielt ein Stück Seil aus seinem Rucksack in der Hand. Mit den Augen maß er die Entfernung zwischen den Brückenpfählen auf den beiden Seiten der Spalte. Beor humpelte herbei, um die Festigkeit der Pfähle zu prüfen. Adica ging sofort zu ihm und zwang ihn dazu, sich zu setzen, damit sie seine Wunden untersuchen konnte. Er hatte eine ganze Reihe, Schnittverletzungen an beiden Beinen und eine tiefere Wunde in der linken Schulter. Jemand hatte daran gedacht, eine Kompresse und ein Stück Stoff in Beors Rucksack zu legen. Sie holte Kräuter aus ihrem eigenen Beutel, um einen kleinen Zauber zu wirken, den sie in die Kompresse und den Stoff einarbeitete. Er grunzte dankend. Kels schiefes Lächeln verriet Furcht, obwohl er sich bemühte, mutig dreinzublicken. »Werden die Weisen uns dafür töten, dass wir in ihr Gebiet eingedrungen sind?« »Wenn sie uns hätten töten wollen, hätten sie es schon längst tun können«, sagte Beor. »Wieso haben sie mit der Gruppe gekämpft, die dich entführt hat, Geweihte?« »Ich weiß es nicht. Zuerst habe ich gedacht, der Weißgefiederte, der Anführer, wollte uns zum Webstuhl bringen.« Kel und Beor blickten entsetzt drein. »Die Verlorenen kennen die Magie der Webstühle doch sicherlich gar nicht«, sagte Kel und sprach damit aus, was Beor wohl wissend für sich behielt. »Ist es nicht die einzige Macht, mit der wir uns ihrer Herrschaft entziehen können?« »Das habe ich auch immer geglaubt«, murmelte Adica. »Wie auch immer, es ist noch eine andere Gruppe zu den Steinen gerannt, vielleicht als Köder. Weißfeder und seine Soldaten haben mich in die Gruft der Königinnen gezerrt, wo der Tunnel beginnt, den auch ihr gefunden habt; jene Weisen, die unter dem Hügel leben, haben ihn geschaffen.« Beor hustete verständnisvoll, wie jemand, der hinter einem bewaffneten Erwachsenen aus seinem Versteck tritt. »Ich habe niemals gehört, dass jenseits der Gräber der heiligen Königinnen Tunnel verlaufen.« »Ich auch nicht. Es könnte sein, dass die Weisen Weißfeder und seine Gruppe deshalb angegriffen haben, weil sie dort eingedrungen sind. Die Weisen sind keine Verbündeten, die uns helfen.« »Ich war mir bisher nicht einmal sicher, dass sie überhaupt existieren«, sagte Kel nervös. Sofort führte Adica einen komplizierten Zauberspruch in der Luft aus, um Unheil abzuwenden. »Sprich nicht so! Nur weil du etwas nicht gesehen hast, heißt das noch nicht, dass es nicht existiert! Hast du den Ozean gesehen, wie ich es getan habe? Nein, das hast du nicht. Hast du die Mutter deiner Mutter gesehen, möge ihre Seele in Frieden auf der Anderen Seite ruhen? Bedeutet es, dass sie nicht existiert hat, dass sie deine Mutter nicht geboren hat, die wiederum dich geboren hat? Die Älteren sind keine Narren, die sinnlose Geschichten erzählen. Lausche ihren Worten, und verschließe deine Ohren nicht vor dem, was sie zu sagen haben!«
Er beugte sich vor, berührte um Vergebung bittend mit der Stirn den Boden, voller Furcht vor den Geistern, die immerzu um sie herum waren; er konnte den Tod riechen. »Ich bitte um Vergebung, Geweihte. Verfluche mich nicht!« Er weinte beinahe. Sie fühlte sich unermesslich alt im Vergleich zu seinem jungen Gesicht, obwohl sie in der gleichen Jahreszeit, im gleichen Jahr wie er geboren worden war. Er war nicht einmal alt genug, um einen richtigen Bart zu haben, wenngleich feiner Flaum sein Kinn umrahmte. »Ich werde dich nicht verfluchen, Kel. Es war sehr mutig von dir, mich zu retten.« »Nein, das war nicht meine Idee«, sagte er. Dann fügte er trotzig hinzu: »Und es war auch nicht Beors. Es war Alains. Wir beide sind ihm lediglich gefolgt.« Alain gab seine Versuche, das Armband abzunehmen, auf, drehte sich um und hielt dann inne, als er begriff, dass die anderen ihn musterten. Adica kannte die vielen Geschichten, die die Großmütter über vergangene Zeiten erzählt hatten. Sie hatte immer angenommen, dass einiges davon stimmte und anderes nicht, und doch stand ihr jetzt Alain gegenüber und trug ein Armband, das aus Magie entstanden war. Sie hatte immer gewusst, dass die Weisen wirklich unter den Hügeln lebten, aber sie - die so vieles gesehen hatte! - hatte sie niemals gesehen oder den Geschichten über das große Ausmaß ihrer Magie Glauben geschenkt. Heute war sie Zeugin ihrer Magie geworden: Licht ohne Flamme und die Fähigkeit, Fels zu spalten. Was sie gesehen hatte, versetzte sie in aufrichtige Ehrfurcht, denn sie verstand die Wurzel dieser Macht nicht. Und da stand also Alain und trug ein Armband, das die Weisen geschmiedet und geformt hatten. Sie hatte ihn kämpfen sehen. Nichts hatte ihn berührt. Er hatte nicht gezögert. Und er schien auch jetzt keine Angst zu haben, sondern betrachtete sie mit verwirrtem Blick, als erwartete er, dass sie ihm eine Frage stellte. Das Licht des Armbands warf seltsame Schatten auf sein Gesicht, machte seine Augen noch heller und schöner. Vielleicht begriff sie jetzt, dass er nicht so war wie die anderen. 380 Irgendeine nicht zu benennende Eigenschaft trennte ihn vom Rest der Menschheit, vielleicht, weil er den Pfad beschritten hatte, der zum Land der Toten führte. Aber er hatte diesen Pfad wieder verlassen. Er war zurückgekehrt ins Land der Lebenden. Er war von einer Macht berührt worden, die über das hinausging, was sie verstehen konnte. Sie liebte ihn. Einer der Hunde strich an ihren Beinen entlang und lehnte sich so kräftig gegen sie, dass sie ein bisschen zur Seite stolperte, halb lachend, weil ihr Herz bereits so heftig pochte. Der andere Hund, der am Rand des Lichtkreises stand, jaulte leise und machte ein paar Schritte den Kamm entlang, der zur anderen Seite der Höhle führte, die in undurchdringlicher Schwärze verschwand. »Ich glaube, wir sollten den spirituellen Führern folgen.« Ihre Finger schmerzten noch immer, als sie die drei Speere und die zwei Pfeile vom Boden aufsammelte. Es war wirklich schwer, irgendetwas richtig anzufassen, aber ihre Beine funktionierten noch ganz gut. Als Alain sich bewegte, schwankte das Licht, und gemeinsam gingen sie vorsichtig dicht an der Wand entlang, so weit wie möglich weg von der Felskante. Die Hunde hatten eine Öffnung gefunden. Der Tunnel war niedrig, hatte für die Weisen und die Hunde durchaus eine angenehme Höhe, doch Alain musste sich bücken, um den Hunden hineinfolgen zu können. »Ich will da nicht reingehen«, sagte Kel. »Komm.« Alains Stimme hallte merkwürdig von den Steinen wider. Kel lächelte schwach und folgte ihm. »Geh«, sagte Adica zu Beor. »Du bist verwundet. Trag das, was du tragen kannst. Ich bringe den Rest mit.« Beor hatte viele Fehler, aber nicht den, sich zu streiten, wenn er verwundet und gemeinsam mit anderen gefangen war. Angeführt von den Hunden krochen sie durch den niedrigen Tunnel. 381 Der Tunnel war gerade, und nach einiger Zeit wurde er höher, und sie konnten aufrecht - wenn auch niemals nebeneinander -gehen. Als Beor müde wurde, machten sie eine Pause und teilten das, was sie noch zu trinken und zu essen hatten. Sie gingen ein weiteres Stück und machten erneut eine Pause. Der Verlust von Kels Vorräten traf sie schwer, sie hatten kaum noch etwas. Sie sprachen wenig. Beor hatte genug damit zu tun, weiterzugehen, und die Stille und die Dunkelheit jagten Kel zu viel Angst ein, als dass er sie mit Worten zerstört hätte. Hin und wieder pfiff Alain leise vor sich hin. In bestimmten Abständen rief er den Hunden etwas zu, aber ansonsten blieb auch er still. Adica machte sich Sorgen. Würden die Verfluchten hier in der Dunkelheit über sie stolpern? Wenn sie wussten, wer und was sie war, mussten sie ihre sechs Kameraden eigentlich auch entführt haben. Wenn der Zauberspruch nicht von sieben Menschen gewirkt wurde, würde er nicht funktionieren, und die Verfluchten würden sich in den Ländern der Menschen mittels ihrer Herrschaft des Blutes, der Opfer und der Sklaverei verbreiten. Noch schlimmer aber: Wussten sie, was die menschlichen Zauberer vorhatten? Hatten sie von dem Geheimnis der Webstühle erfahren? Die Menschheit konnte niemals siegen, wenn sie die Macht über die Webstühle verlor. Diese Sorgen lenkten sie ab. Sie hörte das Scharren hinter ihr erst, als es schon zu spät war. Ein Gegenstand fiel neben ihr schwer zu Boden, sodass sie nach vorn stürzte, dann fiel ein zweiter herab. Sie schrie auf, zur gleichen
Zeit, als Alain weiter vorn etwas rief. Ein Hund bellte, und Alains Licht verschwand. Sie fuchtelte mit dem Speer herum, den sie erhoben hatte, um der Bedrohung von hinten zu begegnen, doch in dem schwarzen Tunnel rührte sich nichts. Schließlich kniete sie nieder, während sie Beor eine Frage stellen hörte. Sie betastete den Boden und fand die verlorenen Fackeln - jene, die in den Spalt gefallen waren. Einen Augenblick später stellte sie fest, dass sie die Hand verschwommen vor den Augen sehen konnte. 382 »Geweihte! Wir haben einen Weg nach draußen gefunden!«, rief Kel von vorn. Sie sammelte die Fackeln ein und folgte dem Klang seiner Stimme. Kel half Beor dabei, einen schroffen Felsen zu erklimmen. Von oben strömte Licht durch die Baumwurzeln. Indem sie mit einem Fuß Halt suchte und sich mit der Hand an einer Wurzel festhielt, konnte sie sich selbst hochziehen. Oben angekommen, fand sie sich in einem dichten Wäldchen wieder. Das Licht schmerzte in ihren Augen, obwohl das Laub der Bäume etwas Schutz gewährte. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen musste es Mittag sein, doch sie waren so lange unter der Erde gewesen, dass sie annahm, ein ganzer Tag und eine ganze Nacht wären seit dem Überfall vergangen. Tief sog sie die kühle, frische Luft ein. Mit einiger Mühe schafften sie die Hunde nach oben und halfen auch Beor, den Felsen zu erklimmen. Schließlich lagen alle keuchend auf einer kleinen Erhebung im Schutz der Bäume. Sie hätte am liebsten vor Erleichterung gelacht, aber sie traute sich nicht. Möglicherweise lauerten ihre Feinde noch in der Nähe. Kel griff sich einen Speer und machte sich auf, die Gegend zu erkunden. Nach einer Weile kehrte er mit einer Eskorte von sechs erstaunt dreinblickenden Angehörigen des Weißhirsch-Stammes zurück. »Wir sind in der Nähe von Vierhausen!«, rief Kel aus, und begleitet von Ulfrega und ihren Kameradinnen marschierten sie in den Schutz des Dorfes. Eine Heilerin kümmerte sich um Beor. Eine Rasch wurde nach Königinnengruft gesandt, um die Nachricht zu überbringen, dass Adica gefunden worden war. Die Leute von Vierhausen wussten, wie man ein gelungenes Fest veranstaltete: frisch getöteter Eber und Wild, mit einer dicken Suppe vermischte Birnen und Äpfel, Brot und mit Honig gesüßter Gerstenbrei. Das Bier floss in Strömen, und die Geschichte wurde ein erstes Mal lang und breit wiedergegeben, dann ein zweites Mal, als die erfahreneren Krieger von Vierhausen nach mehr Einzelheiten verlangten. 383 Welche Waffen verwendeten die Verlorenen? Was war mit den Knüppeln, die die Weisen benutzten? Besaßen die Wesen unter dem Hügel Augen, oder waren sie blind? Stimmte es, dass sie nicht sprechen konnten? War der Fremde von den Weisen verzaubert worden, oder war er selbst ein Zauberer, der große Macht in sich trug? Konnte Vierhausen einen der Bronzespeere im Tausch für die Gastfreundschaft behalten, die man der Geweihten an diesem Tag erwiesen hatte? Beor wiederum schalt sie wegen der nicht fertig gestellten Palisade, und Kel fand sich in einem Kreis von Jugendlichen wieder, die ihn offensichtlich bewunderten und alles über seine heroischen Taten hören wollten. Alain saß schweigend daneben. Er war eine zu seltsame Gestalt, als dass man sich mit ihm beschäftigt hätte, und er schien sich auch nichts daraus zu machen, dass man ihn allein ließ, während er mit Essen beschäftigt war. Sicher hatte er sich daran gewöhnt, angestarrt zu werden. Hin und wieder stellte Adica fest, dass er sie beobachtete, und jedes Mal schlug ihr Herz ein bisschen heftiger bei dem Gedanken an das, was noch geschehen mochte. Sie selbst wartete mit wachsender Ungeduld auf die Rückkehr der Rasch. Das junge Mädchen kehrte am späten Nachmittag zurück: Eine große Eskorte würde am nächsten Tag von Königinnengruft kommen, um die Geweihte zu ihrem Dorf zurückzubringen. Außerdem wartete der Wandelnde namens Dorren zu Hause auf sie; er hatte eine Nachricht von Fallender. Sie verbrachte eine unruhige Nacht und ging am nächsten Morgen rastlos auf und ab, während Kel und Alain den Bewohnern von Vierhausen halfen, die Baumstämme ihrer Palisade aufzurichten. Beor ruhte sich aus. Schließlich traf die Eskorte ein, überglücklich, sie zu sehen, und außer sich vor Freude, ihr mitteilen zu können, dass niemand von den Leuten, die bei dem Angriff verletzt worden waren, gestorben war oder sich eine eiternde Wunde zugezogen hatte. Auf dem Marsch zurück nach Königinnengruft verging die Zeit wie im Fluge; das ganze Dorf - obwohl immer noch von dem Überfall gezeichnet - war mit Braten und Backen beschäftigt und bereitete sich darauf vor, am nächsten Tag ein großes Fest zu geben. Dorren wartete auf der Bank im Ratshaus und nippte an einem Bier. Wie eifrig er sie begrüßte! »Geweihte!« Er konnte sie nicht berühren. Er stand neben dem Tisch, zufrieden damit, den Becher mit der gesunden Hand herumzudrehen, immer und immer wieder. »Ich bringe eine Nachricht von Fallender, aber ich fürchte, ich bin zu spät gekommen. Ich habe von dem Angriff gehört.« Er blickte an ihr vorbei und errötete, die Augen vor Überraschung weit aufgerissen, als Alain das Ratshaus betrat. »Das ist der Fremde. Genau wie Fallender vorhergesagt hat. Er hat ihn in einem Traum gesehen.« »Hat er das?« Ihr Magen zog sich zusammen. Fallender besaß die Gabe des prophetischen Traums, und sollte er sich zu Alains Ungunsten äußern, konnte selbst Mutter Orla ihre Zustimmung wieder zurückziehen, was seine Anwesenheit im Dorf anbelangte. »Er hat einen fremden Mann weinend durch ein Tor aus blauem Feuer stolpern sehen, begleitet von zwei Hunden. Es war ein Geschöpf mit flammenden Flügeln bei ihm, eine Dienerin der Götter. « »Er ist durch den Webstuhl gekommen. Die Geheiligte hat ihn hergebracht.«
»Fallender konnte nicht genau sagen, ob die Vision von der Vergangenheit oder von der Zukunft handelte. Er hat gesagt, dass ich hierher reisen muss, um mir diesen Fremden selbst anzusehen, und dass ich dir eine Nachricht überbringen soll.« Adica blickte Alain nicht an. Das war gar nicht nötig. Sie wusste genau, wo er stand, spürte, wie er den Becher Bier entgegennahm, den Mutter Orlas Enkelin Getsi ihm brachte; ja sie glaubte beinahe den Geschmack des Bieres auf seinen Lippen spüren zu können, als er einen Schluck davon trank »Um was für eine Nachricht handelt es sich?« Mit ruhiger Miene überbrachte Dorren die Worte. Adica sah in seinem Gesicht all die Eigenschaften, die sie immer so anziehend 385 an ihm gefunden hatte, Güte, Intelligenz und Verstand. Jetzt jedoch wirkte er irgendwie kleiner, sozusagen im Schatten eines anderen stehend, seit sie Alain getroffen hatte. Als Dorren sprach, tat er das mit dem üblichen Sing-Sang, den die meisten Wandelnden benutzten, wenn sie ihre auswendig gelernten Nachrichten übermittelten. Seine gesunde Hand webte kleine Gesten, während er sprach, jede Einzelne dazu gedacht, seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. »Fallender vom Stamm Fenn spricht diese Worte zu Adica vom Stamm Weißhirsch. ShuSha vom Stamm der Kupferleute schickt ihren Schwestern und Brüdern diese Warnung.« Seine Hand wedelte wie ein Kranich, der leicht dahinschwebt und wegen seines wachsamen Wesens nicht so leicht zu überraschen ist. »Die Verfluchten haben bemerkt, dass wir uns gegen sie verbündet haben. Sie können jederzeit und aus jeder Richtung zuschlagen. Sei wachsam.« Er machte das Zeichen eines Adlers, der unerwartet zuschlug. »Hörn glaubt, dass die Verfluchten das Geheimnis des Webstuhls kennen und es hüten, bis sie nacheinander gegen uns losschlagen, aber Helle-HörtMich widerspricht: Ein Mann mag heiliges Blut aus einer Frau kommen sehen, aber das heißt noch lange nicht, dass er es aus seinem eigenen Körper kommen lassen kann. Zweifinger hat Unruhen in den Tiefen gesehen. Seid stets vorsichtig, sowohl ober- als auch unterhalb der Erde, denn die Verfluchten haben die Macht, von jedem Ort aus zuzuschlagen. Befestigt eure Wohnstätten und verschließt eure Häuser. Zieht euch in die Wildnis zurück, oder umgebt eure Lager mit Zaubersprüchen. Benutzt die Webstühle nur, wenn es wirklich notwendig ist. Haben die Verfluchten das Geheimnis der Webstühle erst einmal entschlüsselt, ist niemand von denen, die sie benutzen, noch vor ihnen sicher. Wenn eine Nachricht befördert werden muss, schickt die Wandelnden. Seid wie die Greifen, die ihre Eier gegen den Löwen verteidigen: Schützt euch gut, bis der Tag kommt, an dem wir handeln werden.« Als er fertig war, ließ sie ihm ein bisschen Zeit, damit er etwas 386 trinken konnte, trat jedoch unruhig von einem Bein aufs andere, während sie darauf wartete, dass er den Becher Bier geleert hatte. Dann, als er sich erholt hatte, sagte sie: »Und doch haben die Verfluchten hier zugeschlagen. Wenn sie Sklaven hätten haben wollen, hätten sie entsprechend viele Leute mitgenommen, nicht nur mich.« »Dann ist das, was Shu-Sha fürchtet, also bereits eingetreten«, sagte Dorren. »Als ich das Moor verlassen habe, war noch nicht die Rede von Unruhen, aber aufgrund des Mondstands weiß ich, dass drei Tage vergangen sind, seit ich durch die Webstühle getreten bin.« »Du musst schnell zurückkehren und nachsehen, ob Fallender etwas zugestoßen ist. Erzähl ihm von dem, was hier passiert ist, und lass die Wandelnden diese Geschichte zu meinen Schwestern und Brüdern tragen, damit sie von der Gefahr hören, die uns erwartet.« »Diese Worte werde ich zurück zu Fallender tragen. Was ist mit unseren Verbündeten, dem Pferdevolk?« »Die Geheiligte besucht diesen Ort manchmal bei Vollmond. Ich werde also dort auf sie warten.« Dorren nickte. Sie wunderte sich über die Stille hinter ihr, drehte sich um und sah, dass Alain aufmerksam lauschte. Seine Miene brannte vor Enttäuschung, und er schüttelte den Kopf, setzte den Becher mit einer Grimasse ab. »Lass mich eine Weile mit ihm reden, bevor ich wieder aufbrechen muss«, sagte Dorren. »Ich kann ihm etwas von unserer Sprache beibringen. Die Wandelnden haben mir bestimmte Geheimnisse anvertraut, die mir geholfen haben, die Sprachen unserer Verbündeten schneller zu erlernen.« »Wenn du das tust, werde ich dir sehr dankbar sein.« Er blickte sie seltsam an. »Stimmt es, dass die Geheiligte ihn dir als Ehemann geschickt hat?« Sie musste den Blick abwenden. Getrocknete Fische und Kräuter hingen von den Balken, und Rauch sammelte sich zwischen den 387 Dachsparren. »Ich beuge mich dem Willen der Geheiligten.« Würden die anderen es als unziemlich erachten, wenn sie wüssten, wie schnell sie Alains Zauber erlegen war? Nicht alle trauten dem Pferdevolk und ihrer mächtigen Schamanin, aber sie tat es. Es hatte nichts mit Magie zu tun gehabt. Manchmal wurden die Leute einfach so von Leidenschaft überwältigt, die unerwartet wie ein Adler zuschlagen konnte. Dorren untersuchte sorgfältig das Ratshaus, bevor er sich respektvoll Mutter Orla näherte. »Wo ist meine Adeptin Dagfa? Sie ist nicht bei der Geweihten, wie sie es sein sollte.« »Ihre Mutter hat kurz nach Erntebeginn aufgehört zu atmen. Sie ist nach Matschweg zurückgekehrt, um dabei zu helfen, den Weg auszulegen, der den Geist ihrer Mutter zur Anderen Seite bringen wird. Dein alter Lehrer ist zu verkrüppelt, um den ganzen Weg von Altfeste zurücklegen zu können, und sein anderer Adept ist weggegangen,
um die Sprache des Schwarzhirsch-Stamms zu erlernen.« »Eine seltsame Zeit, das zu tun, wo doch immer einer bei der Geweihten sein sollte«, sagte Dorren mit einem Stirnrunzeln. »Schicke eine Rasch, die Dagfa zurückholen soll. Ihre Schwester kann die letzte Spirale selbst malen. Wenn ich weg bin, soll Dagfa den Fremden unterrichten, damit er unsere Sprache sprechen lernt. Fallender hätte nicht von ihm geträumt, wenn er nicht wichtig wäre. Was ist, wenn er eine Nachricht von der Anderen Seite für uns hat? Was ist, wenn die Götter durch ihn gesprochen haben, wir ihn aber nicht verstehen können?« »So sei es«, sagte Mutter Orla, die die Richtigkeit seiner Aussage durchaus erkannte. Doch Alain konnte sich verständlich machen, wenn auch nicht immer mit Worten. An diesem Abend, als Adica Dorren zum Webstuhl führte, begleitete Alain sie, obwohl kein gewöhnlicher Dorfbewohner es jemals wagte, Zeuge der Zauberei zu werden - aus Angst vor den Winden und Wirbeln, die die Magie hervorrufen mochte. 388 Sie hatte den Nachmittag mit dem Steinschläger Pur verbracht, der ihren Spiegel repariert hatte. Er hatte versprochen, ihr einen neuen zu machen, aber in der Zwischenzeit hatte er Klebstoff aus den Hufen von Auerochsen gebrannt und den alten Spiegel wieder zusammengesetzt - gut genug, dass sie in dieser Nacht den Webstuhl benutzen konnte. Als sie Dorren und Alain vor Sonnenuntergang wieder traf, begrüßte Alain sie mit hübschen Worten, obwohl es ihm eindeutig leichter fiel, diejenigen Worte nachzusprechen, die Dorren ihm beigebracht hatte, als ihre Antwort zu verstehen. Sie verließen das Dorf und gingen zwischen den Erddämmen hindurch zum Tumulus. »Ich erinnere mich daran, wie mein Vater sich mit diesen Dämmen abgeplagt hat«, sagte Dorren. »Er hat geglaubt, dass solche Befestigungen den Weißhirsch-Stamm vor den Beschwörungen der Verfluchten schützen würden, doch wie können sie das -jetzt, wo die Verfluchten gelernt haben, die Webstühle zu benutzen?« Sie blieben stehen, um einen Blick auf das unter ihnen liegende Dorf zu werfen; die Längsseiten der Häuser waren nach Süden ausgerichtet, um so viel Wärme wie möglich von der Wintersonne abzubekommen. Die Gärten waren leer bis auf die letzten, noch nicht abgestorbenen Rüben, die noch ihren Samen verteilen würden, und eine unruhige Schafherde, die sich für die Nacht dicht aneinander drängte. Erwachsene schwärmten um die äußere Palisade, richteten Baumstämme auf. »Jedes Dorf muss sich selbst schützen«, sagte Adica. »Bis zu dem Tag, an dem wir uns von den Verfluchten befreien.« Dorren blickte rasch weg; er erinnerte sich an das Schicksal, das ihr bevorstand. Alain kniete neben ihr nieder und schaufelte mit der Hand >Erde< auf. »Dies heißt >ErdeErdwallLebwohlIhr seid dem Sohn meiner Schwester auf dem Schlachtfeld entkommen, aber jetzt halte ich Euer Leben in meinen Händen, wie es mein Ziel gewesen war, Bruder.« »Er ist derjenige, gegen den Ihr gekämpft habt?«, rief Benedict aus. »Er hätte Euch beinahe getötet!« 486 »Nein, das war ein anderer. Er hat nur die gleichen verfluchten Eisenflügel«, sagte Ekkehard, der zunehmend nervös dreinblickte. »Der Prinz hat das einfach nur so dahingesagt. Aber wieso nennt er mich >Bruder