Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Müller, Wolfgang Kein Fall für Sie, Inspektor
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Müller, Wolfgang Kein Fall für Sie, Inspektor
Kriminalroman
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Es beginnt damit, daß Inspektor Geckeler mit wütendem Bedauern auf Leberspatzen, jungen Wein und frischen Speckkuchen verzichten muß. Sein Chef, der kein Pardon vor Geckelers leiblichen Genüssen kennt, hat ihn per Telefon zum Jagdschloß des französischen Generals de Chalon beordert. Ein Paket soll er entgegennehmen, einen Brand, der bereits zum Dachstuhl herausschlägt, findet er vor. Geckeler weiß, daß ihm ein neuer Fall ins Haus steht. Mutwilliger Umgang mit Feuer, Leichtsinn, vielleicht geplante Brandstiftung – nichts gar so Weltbewegendes für einen altgedienten Kriminalisten und sicherlich schnell geklärt, doch während er noch an ersten Vermutungen bastelt, erreicht ihn bereits die unverblümte Weisung: Kein Fall für Sie, Inspektor! Aber Geckeler ist Schwabe, und Schwaben haben dicke Schädel.
Wolfgang Müller
Kein Fall für Sie, Inspektor
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Verlag Das Neue Berlin
1 Eigentlich hatte der Föhn Schuld, daß alles so kam. Die ganze Nacht und den darauffolgenden Tag wälzte er sich von den Bergen herunter und machte die Leute im Alpenvorland kribblig. Zäh und lau troff Regen auf die Hügel und auf die graue, rifflige Fläche des Bodensees. Auf den weißen Ausflugsdampfern blieben die Plätze unbesetzt, die Bänke glänzten naß. Lustlos produzierten sich die Tanzkapellen vor den wenigen Fahrgästen in den Salons. In den leeren Weinlokalen der Uferstädte saßen die Kellner an den Personaltischen oder poussierten mit den Küchenmädchen. Kein Geschäft zu machen bei so miserablem Wetter. Auch die Badestrände blieben leer. Die steinigen öffentlichen und die sorgsam besandeten der teuren Hotels. Alte Männer sah man am Ufer entlanggehen. Sie sammelten Papier und weggeworfene Flaschen. Sogar die Fähre, die aus der Schweiz kam, hatte heute Verspätung. Es fehlten die sonst so zahlreichen Zuschauer bei den Anlegemanövern am Pier. Nur die Möwen flogen träge von den Dalben auf, stießen in das aufgewühlte Wasser und fischten nach Abfällen. Unter den wenigen Personenwagen, die über die geschwungene Rampe vom Oberdeck an Land rollten, befand sich ein Volkswagen. Am Ende der Rampe hielt der grüne Käfer auf der Parkspur, ließ die anderen an sich vorbei, der Fahrer nahm eine Karte aus dem Handschuhfach und fuhr mit dem Zeigefinger auf ihr herum. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte, schob sich die Karte in die Jackentasche und griff zum Schalthebel. Seine Hand sah sehr gepflegt aus. Dann bog der Käfer in die schwarze Piste der Uferstraße ein, und wenig 7
später kletterte er mit gefräßig brummendem Motor über die Serpentinen der Steige den Hang empor. Als der Käfer hinter der ersten Hügelkuppe verschwunden war, rangierten aus dem Hauptdeck die ungefügen Kästen der Fernlastzüge. Apfelsinen von Malaga nach München, Seidenballen aus Lyon nach Wien. Dröhnend krochen sie die Steigung zur Ausfahrt hinauf. Die Motoren waren noch nicht warm genug nach der stillen Reise über den großen See. Aus dem geräumigen Führerhaus eines Kühlzuges kletterten drei junge Männer, taten das gewandt, sie schienen sich auszukennen mit Lastautos. Sie warfen ihre Beutel auf die Schultern, winkten zum Fahrer hinauf und zogen Kapuzen über den Kopf. Der Regen war stärker geworden. Dann stellten sie sich unter das vorspringende Dach des Bungalows, in dem die Schiffskarten verkauft wurden. Anscheinend wußten sie nicht, wohin. Der See lag grau und endlos, die weißen Felsenspitzen im Süden waren heute nicht zu sehen. Nur den Wind, den die Berge schickten, spürte man. Er machte müde. „Was tun wir, Leute?“ sagte einer von den dreien. Ein hochgewachsener, knochiger Kerl. Seine Zähne schimmerten weiß durch den ungepflegten Vollbart. „Die Kumpels machen ja nach München“, er deutete auf die abfahrenden Laster, „nützt uns nichts, wie?“ Der Regen trieb unters Dach, sie rückten dichter an die Mauer. Es war kalt, und das Gedröhn der Laster war nicht mehr zu hören. Nur der Regen und der Wind und das Klatschen der kurzen Wellen an den eisernen Pfählen. „Also, was ist?“ fing der Lange wieder an und schlug die Füße fröstelnd aneinander. „Gehn wir ’rein ins Städtchen, Bürger schrecken, oder tippeln wir?“ 8
Die anderen drehten Zigaretten. Der zweite, ein Mulatte, war zuerst fertig, er zündete sie an. In seinen engen, schwarzen Augen glitzerte der Widerschein der kleinen Flamme. „Was willst du in dem Nest?“ fragte er. „Willst du in’n Bau? Vierzehn Tage Klappe zu?“ Er stieß den Rauch aus. „Da gibt’s keinen Job. Jetzt bei dem Wetter ist da nichts zu verdienen.“ Seine braunen Hände spielten mit der Zigarette. Er lächelte. „Die haben scharfe Bullen. Die nageln dich gleich an, von wegen ohne festen Wohnsitz. Die wollen ihre Ruhe haben.“ Sein Lächeln wurde breiter. „Ich auch“, fügte er hinzu. Dann war sein Gesicht wieder ernst. Dieses klargeschnittene Gesicht, ganz europäisch unter dem dünnen, schwarzen Kraushaar. Zwanzig Jahre, vielleicht auch älter; mit den schwarzen Falten war das schwer abzuschätzen. Der Körper schmal, nicht groß. Gazelle oder Leopard, das war dem Gesicht nicht zu entnehmen, aber von beidem lag etwas drin. Um den Hals hing ihm an einer Kupferkette ein blankgeputzter Silberdollar. Der Lange mit dem knochigen Gesicht übernahm die krumme Zigarette und paffte ein paar Züge. „Aber ich hab’ Kohldampf“, sagte er. „Ich auch. Wir werden schon was finden“, sagte der Mulatte und blickte auf die leere Straße. Der dritte, offenbar der Jüngste, ein bleiches Kerlchen mit Bartanflug und strähnigen Haaren, die ihm auf die Schulter hingen, kniff die Augen zusammen und sagte: „Mir ist es egal. Hauptsache, weg von hier, ins Trockne.“ Er blinzelte, als ob er kurzsichtig wäre, und sah dabei erschrocken aus. „Hauptsache, weg von hier.“ Er fror. „Na schön, stimmen wir ab“, entschied der Lange. „Wer ist für Aufenthalt und furagieren?“ Er hob seinen 9
schweren Arm. Keiner sonst. „Und wer stimmt für direkten Vormarsch, ohne Proviant?“ Jetzt ließ der Mulatte die rosa Innenfläche seiner Hand sehen. Der Kleine zog nach und hielt den rechten Zeigefinger in die Höhe, wie ein Schulkind, das sich meldet. Er ließ ihn nicht lange oben. „Also gut“, sagte der Lange, fuhr sich resignierend durch den filzigen Bart, zog noch einmal an der Zigarette, löste dann die Glut ab und trat sie sorgfältig aus. Den Stummel ließ er in die Tasche gleiten. „Dann gehe ich eben in die Opposition. Kommt ohnehin aufs gleiche ’raus.“ Er grinste, schüttelte sich und trat unter dem Dach hervor in den Regen. Die anderen folgten ihm wortlos, sie rückten ihre nassen Beutel zurecht und schwenkten auf die Straße ein. Der mißtrauische Blick des Fahrkartenverkäufers lag ihnen im Nacken, aber sie merkten es nicht. Sie marschierten weg vom Ort, auf der Wasserseite der kurvenreichen Straße. Einer hinter dem anderen und als letzter der Mulatte. Die vorüberhuschenden Wagen bespritzten sie, aber es kümmerte sie nicht. Der Mulatte zog im Gehen seine Jacke aus und zweckte ein weißes Tuch auf den Rücken. Darauf konnte man lesen, während er weiterging: KOPENHAGEN?
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2 Inspektor Geckeler war ganz mit sich zufrieden. Der Föhn konnte ihm nichts anhaben, das war schon immer so gewesen. Vielleicht, weil die Geckelers schon immer hier gelebt hatten, am See unter den Alpen. Vielleicht, weil Geckeler so kerngesund war, mit fünfzig noch. Jedenfalls genoß er es, wenn die anderen unter dem Wetter litten und er selbst bei bester Laune war. Außerdem hatte er heute einen Fall abgeschlossen, der nicht einfach gewesen war. Es würde vielleicht die fällige Beförderung geben, zum Jahresende, denn der Kriminalrat hatte sich lobend geäußert. Jetzt war es ein Uhr. Die rechte Zeit also, ein Gericht Maultaschen zu essen oder Leberspatzen. Er hatte sich bislang nicht entschieden. Erst wollte er den neuen Jahrgang kosten, denn er hatte den ganzen Nachmittag noch vor sich. Der dicke Alwin, Wirt im „Schwarzen Roß“, man kannte sich schon seit der Schule, würde alles bestens richten. Heute war Zeit für die alten Freunde, weil die Fremden ausgeblieben waren. Ausnahmsweise würde Alwin mittrinken, und sie würden sich die alten Witze aus der Schule erzählen. Und sie würden wieder darüber lachen, ehrlichen Herzens, ganz von neuem, so, als wäre es das erste Mal. Der dicke Geckeler machte es sich bequem auf der gepolsterten Eckbank, die sonst immer besetzt war von geschwätzigen Touristen, weil man von hier, durchs Erkerfenster, bis an die Alpen sehen konnte. Über die Weingärten, über die Wasserfläche bis zum Schnee, der auch im Sommer blieb. Geckeler saß allein hier, hatte die lästige Jacke ausgezogen und am Hosenbund den Knopf geöffnet. Er fühlte 11
sich so richtig wohl. Alwin brachte den bauchigen Tonkrug und pustete noch, denn die Kellertreppe war steil, und das Gewölbe lag tief im Felsen unter dem alten Haus. „Da ist er“, sagte Alwin und stellte den Krug vorsichtig auf den Tisch. „Ich hab’ ihn auch noch nicht probiert. Komm, gib dein Glas her.“ Dann stießen sie an. Der junge Wein schmeckte süßlich, ein wenig nur, er war sehr kalt und klar. Man durfte nicht viel von ihm trinken. Oder Zeit mußte man haben dafür. Viel Zeit. Geckeler seufzte. Aus der offenen Küchentür zog der Geruch von Leberknödeln in den Gastraum und füllte ihn mit Wohlbehagen, der Wind rüttelte an den Fensterrahmen und blieb draußen. Dann kamen die Witze dran. Das blanke Zinngeschirr auf den Wandborden schepperte beim brüllenden Gelächter der beiden dicken Männer. Der junge Wein hielt, was er versprach. Schließlich kamen die Leberspatzen. Eine doppelte Portion, das konnte man vertragen und hatte man verdient. Und als Geckeler satt war, satt und froh und richtig leergelacht, da kam der Wachtmeister vom Revier und sagte verlegen, denn er merkte, daß er störte: „Sie sollen den Chef anrufen, Herr Inspektor. Es ist dringend, sagte er. Weil ich doch weiß, wo Sie … da dachte ich …“ Er war nicht sicher, ob er weiterreden sollte oder ob Geckeler gleich platzen würde. Der sah plötzlich so rot aus im Gesicht, und der breite Mund wurde so klein. „Also, ich mußt’ es Ihnen ausrichten, nicht wahr, weil sie mir auf dem Revier … Na ja, ich will dann mal gehen.“ Er setzte die Mütze wieder auf die Glatze und ging zur Tür. Schade, dachte er. Heute keinen Schoppen, so rasch zwischendurch. Dann eben nicht. „Grüß Gott!“ sagte er laut, als er den Raum verließ. 12
„Wenn du ihn siehst“, erwiderte der Inspektor und kippte den Rest aus dem Krug. „Grüß Gott, wenn du ihn siehst.“ Da war also alles wieder so wie immer. Den Alten anrufen, wenn man sich gerade vorgenommen hatte, noch einen Krug leer zu machen. Wann kommt man schon dazu? So in aller Ruhe. Alles so wie immer. „Scheiße“, sagte Geckeler. Es paßte nicht zu ihm, zu seinem gutgeschnittenen Maßanzug und zu dem Gesicht, das meistens seriös aussah. Er wußte das, aber er sagte es gern. Vielleicht, weil er das wußte. So wie die blonden Haare nicht zu seinem schwäbischen Dialekt paßten. So wie ihm Fremde nicht glauben wollten, daß er Fischer gelernt hatte, bevor er zur Seepolizei gegangen war. Geckeler sah man vieles nicht an. Alwin war schon aufgestanden. Ihm machte das nichts aus, er war es gewohnt, daß man ihn beim Trinken störte. Schließlich war das sein Beruf. Es lohnte, wenn man sich von den Gästen willig stören ließ. Geckeler brauchte dazu immer etwas länger, denn die Überstunden wurden ihm nicht ausgezahlt. Erst trank er aus, dann ging er zum Telefon. Er sagte nur ja und nein. Vielleicht auch verstanden oder selbstverständlich. Das Gespräch war kurz. Dann zog er die Jacke an, den Mantel ließ er hängen. Aus der Küche roch es jetzt nach frischem Speckkuchen, Geckeler sog den Duft ein, schnaubte ärgerlich. Speckkuchen, triefend-heiß vom Blech und knusprig. Speckkuchen. Gnatzig warf Geckeler die schwere Außentür ins Schloß. Im Wagen, auf der Uferstraße, sprach er lange nicht mit seinem Fahrer, was für ihn sehr ungewöhnlich war. Er schimpfte nur über die klemmende Fensterkurbel, die schon immer klemmte, was den Inspektor vorher nie 13
gestört hatte, und über das Wetter, das ihm eigentlich egal war. „Fahr schneller!“ sagte er nur von Zeit zu Zeit. „Fünfzehn Uhr in Beurenhofen, wo das kleine Schloß steht, da am Reichenbach. Kennst du das?“ „Ja“, antwortete der Fahrer. „Das ist im Wald. War ein Jagdschloß früher. Jetzt gehört es den Franzosen. Irgend so einem General.“ „Eben“, sagte Geckeler. „Fahr zu!“
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3 Der Mulatte, den sie Bläckie nannten und der nach Kopenhagen wollte, saß auf einem Kilometerstein am Rand der Straße auf den Hügeln und kippte sich das Wasser aus den Schuhen. Hier oben, zweihundert Meter über dem Spiegel des Sees, kämmte der zehrende Wind noch härter durch die Bäume. Der Regen schlug kräftiger zu. Alles troff und roch nach feuchtem Laub und Rinde. Starker alter Wald wuchs hier, so wie vor tausend Jahren schon. Die drei jungen Männer fragten nicht danach. Sie froren in ihren durchgeweichten Kleidungsstücken. Die Kilometer wurden immer länger. Ein Wagen, der sie mitnehmen würde, war nicht in Sicht, und die wenigen, die heute fuhren, auf dieser Nebenstraße, die wollten keine nassen Polster durch drei Tramps, von denen einer Neger war. Bläckie sagte: „Wir müssen uns was suchen, wo wir pennen können, Leute.. Das hat keinen Sinn mehr so. Wir holen uns die Pest an den Hals, sonst nichts.“ Er nestelte den zweiten Schuh auf. „Und Essen, was ist damit?“ fragte der Lange. „Fällt aus.“ „Fällt aus. Was heißt das?“ fragte der Kleine und sah erschrocken aus. Aber er sah ja immer so aus. Nur die unbestimmt gefärbten Augen kniff er diesmal noch ein wenig mehr zusammen. „Was heißt das: fällt aus? Haben wir nichts mehr?“ „Nein“, antwortete der Lange und machte eine ungeschickte Armbewegung. „Aber es ist ja erst zwei Uhr. Vielleicht können wir noch was besorgen. Irgendwo muß doch ein Dorf kommen. Paar Mark haben wir ja noch.“ 15
„Und einen Silberdollar“, fiel der Mulatte ein und schlenkerte seinen Anhänger. „Den hab’ ich bis jetzt nicht gebraucht. So dreckig ist es mir noch nie gegangen. Irgendwie geht’s immer weiter.“ Er grinste, und seine kleinen Zähne wurden sichtbar. „Den reiß’ ich auch nicht an.“ Er zerrte den nassen Schuh auf den Fuß und stampfte ihn fest. „Los, Leute! Spulen wir noch ein Ende ab. Nicht kalt werden, das macht fertig.“ Er marschierte los. „Die erste Gelegenheit zum Pennen ist meine“, sagte er schon über die Schulter, dann war er wieder im Tritt. Der erste diesmal, und die anderen folgten ihm. Sie wußten, daß er recht hatte. Sie kamen an eine Lichtung. Der Bach, der neben der Straße herlief, nahm hier einen Zufluß auf. Links tauchte die Straße in den Buchenwald, rechts führte eine Bohlenbrücke über den Bach, und ein verwachsener Fahrweg schlängelte sich auf eine baufällige Feldscheune zu. Sie blieben stehen. Bläckie musterte die Scheune mit dem Blick des Fachmanns und sagte: „Das Dach wird dicht sein, denk’ ich. Und Heu liegt auch drin. Na?“ Die anderen sagten nichts. Es war sehr still. Der Regen wurde hörbar, der Wind strich lauter durch die Buchen hinter ihnen, und der Bach ließ seine kleinen Wasserfälle rauschen. In der Scheune warfen sie ihre Bündel in das trockene Heu und rieben sich die Kälte aus dem Fleisch. Sie fühlten sich angekommen, fast wie zu Hause. Der Hunger würde sich später wieder melden, das wußten sie. Vielleicht aber erst, wenn sie schon schliefen. Der Lange – sie nannten ihn manchmal Hungerkünstler oder auch Kalkleiste, weil er so mager war, dabei konnte er für drei essen, wenn genug da war – der Lange rieb sich den Bart trocken. „Für heute reicht’s, Leute“, 16
sagte er. „Bei dem Wetter von Zürich bis hierher. Und kein Laster mehr auf der Straße, der uns drei zusammen mitnimmt.“ Er reckte sich. „Wirklich, reicht für heute. Essen können wir morgen. Fasten ist gesund.“ Er warf sich ins Heu, streckte sich aus und schloß die Augen. „Trotzdem“, sagte er dann, „was zu essen wär’ auch nicht schlecht. Direkt gesundheitsschädlich wär’s nicht.“ „Hör doch auf“, sagte der Kleine. Ohne den Mantel sah er wie ein Kind aus. „Erzähl bloß nichts von Essen.“ Der Mulatte meinte schläfrig: „Ihr könnt ja angeln geh’n im Bach.“ Er hatte sich ins Heu gewühlt, und nur sein Kopf war noch zu sehen. „Angelhaken sind bei mir im Beutel. Und Strippe. So was hab’ ich immer mit. Geht man angeln.“ Er klopfte das Heu um sich herum fester. „Aber laßt mir den Tabak hier. Ihr fallt ja doch ins Wasser.“ „Fischlein schmausen? Gar nicht übel.“ Der Lange überlegte. Dann sprang er auf. „Na klar“, sagte er, „warum denn nicht! Schlafen kann ich immer noch. Dort, weiter hinten, hab’ ich doch ein Wehr gesehen oder so was. Vielleicht gibt’s hier wirklich Fische?“ Er stakste durch das weiche Heu. „Ich versuch’s mal.“ Er kramte im Beutel. „Kommt ihr mit?“ Nur der Kleine stand auf und folgte ihm. „Die sollen wir dann essen?“ fragte er erschrocken. „Mußt ja nicht.“ „Hunger hab’ ich schon, aber …“, er zögerte, „ob wir hier Feuer machen können?“ „Warum denn nicht? Hier kann doch keiner meckern. Muß ja auch nicht gerade an der Scheune sein. Los, komm! Wir gehen erst mal.“ Der Regen hatte nachgelassen, der Wind blieb oben in den Ästen. Sie kamen an das niedrige Wehr. Der Bach 17
dahinter lag still und klar. Man konnte den Grund sehen: Sand und weiße Kieselsteine. Und Fische. „Na also“, sagte der Lange. „Und womit angeln wir?“ fragte der Kleine. „Na hier, mit dem Zeug. Ach so, da muß was auf den Haken, wie? Ich hab’ noch nie geangelt.“ „Wir müssen Regenwürmer suchen.“ „Hm. Na gut, wenn du meinst. Wo findet man die?“ Der Lange kratzte sich. „Heh, Bläckie!“ rief er dann zur Scheune hinüber. „Komm mal her! Wir finden keine Regenwürmer. Zeig uns mal, wo welche sein können. Du kennst dich doch aus.“ Sie warteten, gingen am Stau entlang, sahen wieder Fische aufblitzen, größere diesmal. Und als der Mulatte kam, schob der Wind die Wolken von der Sonne. Glitzernd fielen Tropfen von den Bäumen, Licht lag auf der Wiese am Waldrand, und dahinter, irgendwo oben, sah man etwas funkeln. Das waren keine Tropfen. Sie hatten es alle gesehen. „Das muß ein Fenster sein. Ein Forsthaus oder so was“, sagte der Mulatte. „Hier gibt’s doch sonst nichts anderes. Nur Wald. Wollen wir mal hingehen?“ Sie standen unschlüssig, starrten in das gleißende Gefunkel zwischen den Stämmen und ließen die plötzliche Sonnenwärme in sich eindringen. Dann machte der Lange den ersten Schritt. „Klar!“ sagte er. „Wir gehen hin.“ Und schon balancierte er über den glitschigen Balken, der auf dem Wehr lag. „Wir gehen quer durch den Wald, nicht auf dem Weg entlang. Der ist bestimmt viel länger.“ Die anderen folgten. Sie stapften durch das kurze Gras bergauf. Das Funkeln wurde greller dort oben, wurde farbig, tiefes Rot und scharfes Grün. Sie stießen wieder 18
auf den Weg, der hier in sanfter Kurve bergan führte, und folgten ihm. Das helle Frühjahrsgras in der Fahrspur, die bis zu einem betonierten Platz vor zwei Garagen lief, war niedergedrückt. Noch ein wenig höher, auf der Kuppe des Hügels, nur zwei alte Linden standen dort, sahen sie endlich das Haus, von dem das Funkeln durch den Wald ging. Sie blieben stehen, schauten. Sahen die mächtigen Linden, den zierlichen, hellen Fachwerkbau dazwischen. Die bunten Scheiben überall, die Türmchen und die Erker, grünbespannte Wetterfahnen und den Dachreiter, in dem eine kleine Glocke hing. Die Sonne trieb die Schatten aus den Ecken, wischte, trocknend, wie mit einem Lappen, über Schieferplatten, ließ das Holz des Fachwerks warmbraun schimmern. Der Hügel und das Haus, wie aus einem Stück gemacht. Von den Butzenscheiben strahlten hundert bunte Sonnen. „Ein Jagdschloß.“ Der Lange kratzte sich den Hinterkopf. „Is ja ’n Ding!“ Bläckie spuckte aus und sagte: „Da brauchen wir nicht hin, da ist nichts zu holen! Kommt, wir gehen angeln.“ „Versuchen könnten wir’s doch mal. Schließlich haben wir Geld. Vielleicht verkaufen sie uns was. Ein Brot. Wollen wir?“ „Dienstboteneingang, wie?“ Bläckie spuckte wieder. „Scheiße.“ Er wandte sich zum Gehen. „Die können mich mal! Vor denen mache ich das Kreuz nicht krumm. Entweder, ich verdien’ mir was, oder ich nehme, was ich brauche. Von da, wo zuviel ist.“ „Mensch, Bläckie!“ rief ihm der Lange nach. „Du sollst ja gar nichts sagen. Aber komm doch mit! Allein mit dem Kleinen ist das nichts.“ 19
Sie gingen dann doch zu dritt. Den Fußweg hinauf, über gelbe Sandsteinplatten, bis an die Linden, die so hoch über den Kronen des Waldes standen. Sie liefen um das Haus herum. In die Fenster konnte man nicht reinsehen, denn die Simse lagen mannshoch. Unten ausgebauchte, schwere Gitter schützten sie. An der Rückseite klopften sie an eine schmale Tür, dort, wo das Gärtchen war. Niemand öffnete. Sie klopften nur zweimal, dann schlenderten sie an der anderen Seite des Hauses entlang, bis sie vor dem Haupteingang standen. Grobgeschnitzte schwere Eichenbohlen, schwärze Gitter und eiserne Beschläge überall. Sie zögerten. „Nur keine Furcht vorm Adel, Leute“, sagte der Lange, aber es klang unsicher. Er hob die Hand, um zu klopfen. Ein Klingelknopf war nicht zu sehen. „Der Hintern ist bei denen auch nicht besser als bei uns.“ Dann hatte er den schweren Ring gefunden, zog daran und ließ ihn in den aufgerissenen bronzenen Löwenrachen fallen. „Ran an die Aristokratie!“ Sie erschraken von dem unerwartet lauten Schlag, der durch das Gebäude hallte, und traten einen Schritt zurück. Im Innern des Hauses rührte sich nichts. Wind war wieder aufgekommen. Über ihnen drehte sich ein Wetterhahn, er kreischte im Gelenk, und irgendwo, weit weg im Wald, gellte ein langgezogener Pfiff. Der Kleine trat zur Tür, versuchte durch eine Ritze zu spähen, aber die Bohlen waren fest gefügt. Sie sahen, daß ein Fenster offenstand, im ersten Stock, es schwang im auffrischenden Wind, und im Haus fiel plötzlich eine Tür mit hartem Knall ins Schloß. In die Fenster konnte man auch hier nicht sehen, wenn man sich nicht am Gitter hochzog. Die Stille lastete auf ihnen. Ein zweites Mal wollte keiner klopfen. 20
„Kommt, wir hauen ab“, sagte der Kleine. Er schien sich vor dem stillen Haus zu fürchten. „Gleich“, sagte Bläckie. „Bloß nochmal hinten gucken.“ Und er ging mit dem Langen wieder um das Haus, musterte die Umgebung dabei genauer. Den Hang, der in den Wald überging, den glitzernden Bach und das unbestellte Gärtchen an der schmalen Tür. Daneben war Maschendraht zu einem Geviert gespannt. Mannshoch an starken Pfählen. Die Tür stand offen. Darin die Hundehütte und der Freßnapf. Bläckie steckte den Finger in das Futter. „Ist noch warm!“ Dann klopften sie erneut an der schmalen Tür, kräftiger, jetzt wollten sie’s wissen. Es kam, wie vorher, keine Antwort. Doch als Bläckie die Klinke probierte, schwang die Tür auf, die vor wenigen Minuten verschlossen gewesen war. Plötzlich sahen sie den Kleinen rennen. Sie merkten erst jetzt, daß er am Haupteingang zurückgeblieben war. Er war schon fast an der Garage, und er rannte, als ob man ihn verfolgte. „Was ist denn mit dem los?“ fragte der Lange und schaute sich mißtrauisch um. „Ist der verrückt geworden?“ Er schüttelte den Kopf. „Versteh’ ich nicht.“ „Ich auch nicht.“ Bläckie zog sein großes Taschenmesser aus der Jacke. Seine Augen wurden schmal. „Wird schon wissen, was er hat.“ Sie ließen die Tür offen. Der Wind fauchte in den schmalen Korridor, in dem man nichts erkennen konnte. Nur hören konnte man, daß da irgendwo ein Wecker tickte. Dann liefen sie zurück, am Haus entlang. Der Kleine war nicht mehr zu sehen. Sie gingen schneller, sahen sich auch nicht um, als sie ein leises Tappen hinter sich hörten, das näher kam. Sie 21
rannten, bis der Lange stolperte und fiel. Jetzt erst blieb der Mulatte stehen, drehte sich um, sprang vor und hielt das aufgeklappte Messer in der Faust.
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4 Inspektor Geckeler war pünktlich gewesen, dafür hatte der Fahrer gesorgt. Als sie von der Straße auf die Bohlenbrücke fuhren, war es fünf vor drei, und sie hatten noch nicht sehen können, was oben auf dem Hügel geschehen war, denn Geckeler hatte halten lassen, im Wald noch, um zu überlegen. Das machte er immer so, wenn er nicht wußte, was an einer Sache dran war; er haßte übereilte Entscheidungen. Im Dienst wie bei der Wahl des Mittagessens. Das pflegte er schon so zu tun, als er noch Bootsführer gewesen war und die Schmuggler den See beherrscht hatten in den Nächten der Nachkriegszeit. Schon damals war er nicht, ohne vorher nachzudenken, zu den unbeleuchteten Booten gefahren, die er mit dem Nachtglas eingefangen hatte. Auch heute mochte er die Kollegen nicht, die gern auf den Schießstand gingen und im Einsatz möglichst alles mit der Waffe klärten und mit Tränengas. Nur weil man wußte, daß die anderen Waffen hatten. Geckeler führte selten eine Waffe mit sich. Meistens gab er sie dem Fahrer, der sie für ihn aufbewahrte. Das hatte sich bewährt. „Hast du das Ding mit, Erwin?“ fragte der Inspektor jetzt. „Natürlich, Chef. Wie immer.“ Der Fahrer klopfte auf seine Brusttasche. „Alles da. Geladen und gesichert.“ „Gut.“ Geckeler überlegte noch einmal, dann sagte er: „Gib mir die Knarre.“ Erwin knöpfte die Jacke auf und schaute zum Inspektor hinüber. „So schlimm sieht’s aus?“ Geckeler schürzte die dicken Lippen und schnalzte leise. „Es sieht nach gar nichts aus. Das ist es eben, was mir nicht gefällt.“ 23
„Versteh’ ich nicht.“ Erwin reichte ihm den Revolver. Geckeler steckte ihn in die Hosentasche, ohne einen Blick darauf zu werfen. „Ich auch nicht“, sagte er. „Da soll einer sein, da oben. Der wird mir was übergeben, und ich soll sofort zum Chef damit, ohne es zu öffnen.“ Geckeler schnalzte wieder. „Da können die keinen Boten nehmen, was?“ Er lehnte sich tief ins Polster und blickte auf die Uhr. „Fahr los, Erwin. Ich will was sehn.“ Und er sah genug, als sie dann vor den Garagen hielten und auf den Hügel schauten. Er sah, wie dunkelrote Flammen aus den Fenstern schlugen, wie der Wind sie ins Gebälk trieb, wie aus der offenen Haustür schwarze Wolken rollten, wie die Türmchen durch das ausgeglühte Dach nach innen brachen. Er sah, daß nichts mehr zu retten war. Das alte Holz brannte wie eine volle Scheune, selbst die hölzerne Einfassung des Brunnens glühte schon. Erwin nahm den Hörer vom Armaturenbrett. „Soll ich …“ Geckeler nickte abwesend, während der Fahrer mit der Zentrale sprach. Als sie dann auf den gelben Sandsteinplatten standen, war es viel zu heiß, um an das Haus heranzukommen. „Wenn da noch einer drinnen ist …“, sagte der Inspektor. Der Fahrer schüttelte den Kopf. „Bleiben Sie hier, Chef. Mit dem wär’s eh schon aus. Da kann man nur noch warten, bis es alle ist.“ Wie zur Bestätigung fiel ein Windstoß über das Haus her, trieb die Flammen höher, ließ sie brüllen und über dem First zusammenschlagen, schleuderte brennende Latten vom Dach, und nur die Linden brannten noch nicht. Papier flog aus den Fenstern, brannte in der Luft und fiel als Asche auf den grünen Hang. 24
„Wohnt hier einer, wenn der General nicht da ist?“ fragte Geckeler. „Der Waldhüter“, antwortete Erwin. „Der muß aufpassen, daß sie ihm die besten Böcke nicht wegschießen. Den Leuten hier in der Gegend gefällt es nicht, daß dem Franzosen alles gehört. Ich weiß das von meinem Schwager. Der geht nämlich jedes Jahr mit, wenn Treibjagd ist, im Herbst. Da kommen immer Offiziere.“ „Sonst wohnt keiner hier?“ „Nicht, daß ich wüßte, Chef. Bevor der General kommt, schickt er seine Leute vor. Die kümmern sich um alles.“ „Ob der Waldhüter vielleicht …“ Geckeler machte einen Schritt auf das Feuer zu. „Nicht doch, Chef. Der wird im Wald sein. Oder im Dorf. Sonst würde es doch gar nicht brennen. Da paßt der Alte auf. Am hellerlichten Tage? Nein.“ Erwin schüttelte den Kopf. Der Wind drehte, drückte den beißenden Qualm auf den Boden und auf die beiden Männer zu. Sie mußten auf die andere Seite des Hauses gehen. Dort waren die Fenster leere Höhlen, die ersten Fachwerkbalken brachen knisternd auseinander, Steine fielen herab. Es war sehr heiß. Geckeler leckte sich die aufgesprungenen Lippen. „Und warum?“ – fragte er. „Wieso warum?“ Erwin schob die Mütze ins Genick. „Was warum?“ „Warum ist niemand hier, wenn ich zu fünfzehn Uhr bestellt bin? Wer hätte mich reingelassen in die Bude? Und warum ist kein anderer hier? Jetzt wenigstens, zehn nach drei? Vom Waldhüter sollte ich doch wohl kaum die wichtigen Papiere übernehmen, oder?“ 25
Erwin kratzte sich die Nasenlöcher. Geckeler nannte das anders. Aber den Fahrer juckte es immer in der Nase, wenn er nachdenken mußte. „Weiß auch nicht, Chef“, sagte Erwin schließlich. Der Dachstuhl fiel in sich zusammen. Das Feuer sprang jetzt in die Linden, prasselte durch die feuchten Zweige. Bald würden die Mauern kippen, denn nun brannten auch die Balken schon. „Na schön“, sagte Geckeler „da muß uns halt was einfallen.“ Er feuchtete wieder die gespannten Lippen an. Was so ein bißchen Hitze ausmacht, dachte er. „Du bleibst erst mal hier, Erwin, von hier aus kannst du alles übersehen. Halt die Augen offen, ja?“ „Ist schon recht, Chef. Mach’ ich.“ Erwin lächelte. „Ich werd’ mich inzwischen ein bißchen umsehen.“ „Da werden Sie nicht viel finden. In der Gegend?“ Geckeler schaute zu Boden. „Hier wird einer nicht viel finden, meinst du? Sehr gut möglich, ja. In der Gegend. Ja. Ist gut für so was, hier die Gegend“, sagte er nachdenklich, und er wußte nicht genau, was er damit meinte. Er starrte ins Feuer und in den dichten Wald dahinter. Dann ging er zum Hundezwinger hinüber. Die rechte Hand steckte in seiner ausgebeulten Hosentasche, obwohl er für saloppes Auftreten sonst niemals etwas übrig hatte.
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5 Zur gleichen Zeit fuhr der grasgrüne Volkswagen durch die kleine Stadt am Bodensee. Er hatte es nicht eilig, das sah man, und außerdem schien der Fahrer fremd zu sein. Mehrmals fuhr er durch die selben winkligen Einbahnstraßen der Altstadt, er schien etwas zu suchen, fragte jedoch niemanden. Schließlich parkte er am Rathaus, stieg aus und nahm eine Tasche vom Rücksitz. Er schloß den Wagen ab, ließ den Blick wie unabsichtlich in die Runde gleiten, aber die prächtigen mittelalterlichen Fassaden des Marktes sah er nicht. Dann ging er auf das Postamt zu. Die Aktentasche, grob geschustert, paßte nicht zu seinem gutgewählten grauen Anzug. Im Schalterraum war kaum Betrieb zu dieser Tageszeit. Er legte dem Beamten ein fertig ausgefülltes Telegrammformular auf den Tisch. Sein kantiges Gesicht mit der scharfgebogenen Nase blieb dabei hinter dem Milchglas der Trennscheibe verborgen. Nur seine Hände, leicht behaart und eingefaßt von weichen Manschetten, lagen offen da. Nachdem er bezahlt hatte, betrat er eine der Telefonzellen, zog die Tür fest hinter sich zu, warf einen beiläufigen Blick in die Zelle neben sich, die aber leer war, und nahm dann einen Briefumschlag aus der Innentasche seines Anzugs. Es klebten viele Marken drauf, wie auf Briefen, die ins Ausland gehen. Er adressierte diesen Umschlag, faltete ein leeres Blatt, legte zwei flache Schlüssel dazwischen, steckte alles in den Umschlag und klebte ihn zu. Draußen, vor dem Postamt, ließ er im Vorübergehen den Brief in den großen Kasten gleiten und ging dann, ohne einen Blick auf sein Auto zu werfen, dem Fährhafen 27
zu. An der Kasse löste er ein Fußgängerbillett, betrat das Schiff, das zur Abfahrt in die Schweiz bereitlag, und stieg hinauf ins Restaurant auf dem Oberdeck. Während er später mit Appetit ein Filet Mignon verzehrte, sah er die deutschen Uferberge langsam im Dunst verschwimmen. Er wischte sich mit der Serviette über den Mund, betrachtete lange seine Fingernägel, und als in Fahrtrichtung das schweizerische Ufer in Sicht kam, legte sich ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. Er warf einen prüfenden Seitenblick auf die schwarze Tasche, die neben seinem Stuhl stand, und als der Kellner für ihn einen großen Kognak holte, drückte er mit geübtem Griff eine winzige Kassette aus einem kleinen Fotoapparat und steckte beides getrennt in die Taschen seines Jacketts.
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6 General de Chalon war heute schlecht gelaunt, denn er hatte nicht schlafen können. Dieser lähmende Wind, den sie hier in Deutschland hatten, in jedem Frühjahr und im Herbst oft auch noch, den konnte er nicht mehr vertragen. Von Jahr zu Jahr weniger, das war am schlimmsten daran. Das Klima damals in Algerien war ihm besser bekommen, und selbst in Indochina hatte er sich nie so schlecht gefühlt wie hier, wenn Föhn war. Gestern hatte er den ganzen Tag Kopfschmerzen gehabt. Diese bohrenden, ganz innen drin, gegen die nur starke Mittel halfen. Sein Herz machte ihm noch heute zu schaffen. Ich hätte nicht soviel Tabletten nehmen sollen, dachte er und goß sich Kaffee in die Tasse. Den Teller mit den Broten hatte er nicht angerührt. Nur ein Stück Schinken und ein Ei hatte er essen können. Ich sollte mich zurückziehen, pflegte er sich an solchen Tagen zu sagen. Das Alter habe ich. Wozu sitze ich hier in diesem feuchten Land mit sowenig Sonne und so unfreundlichen Leuten, die nicht kochen können. Die Pension wird nicht schlecht sein. Man hat ja was getan fürs Vaterland, pour la patrie. Und den de Gaulle, den hat man auch noch überlebt. Er lächelte trotz seiner schlechten Laune und dachte den Gedanken noch mal: Den hab’ ich überlebt. Und dann: Das Weingut wird auch noch was abwerfen, obwohl es stark verschuldet ist und die Spanier auf die Preise drücken. Aber wer bezahlte heute schon seine Schulden? Mit Schulden lebt man einfach und wartet, daß der Dollar weiter fällt. Dann regelt sich das schon. Schulden hat man eben und fertig! Nur die Bauarbeiten auf dem Schloß zu Hause, die machten ihm Sorge, denn da mußte Bargeld her. Viel Bargeld. Die 29
Baupreise … und die vielen steilen Dächer auf den Türmen am Schloß. Die Gerüste, auf denen die Firma bestand, und die glasierten Ziegel, die man brauchte. Handarbeit. Diese Blutsauger. Was das kostet! Aber ich muß das Schloß in Ordnung halten, das bin ich meinem Namen schuldig. Träge rührte er in dem Kaffee. Er trank ihn immer stark und schwarz, sehr süß, wie in Arabien. Der winzige Löffel sah hilflos aus in der großen, schweren Hand des alten Generals. Und nun ist das Jagdhaus weg, grübelte er weiter. Sein fleischiger Mund zog sich zusammen, ein altes Kind, das schmollt. Ich hatte es so billig eingekauft, gleich nach dem Krieg. Ein paar Gefälligkeiten an die Leute, was hat mich das schon gekostet damals! Heute hätte ich das Zehnfache dafür bekommen können. Ach was, noch mehr. Das hätte fast gereicht für Chalon. Schlösser werden wieder Mode bei den Boches, obwohl sie nichts davon verstehen, diese Kartoffelfresser. Die Versicherungssumme, dachte er weiter, die nützt mir wenig. Die reicht noch nicht mal für die neue Heizung in Chalon. Mißmutig probierte er den Kaffee. Ich muß mir noch was einfallen lassen. „Bonaire“, rief er dann laut. Der General hatte ein tiefe, volle Stimme. „Bonaire!“ Er wartete. Neben dem zierlichen Schreibtisch wurde eine Tapetentür geöffnet. Capitaine Bonaire trat ein. Klein, vierzigjährig, nur der dicke, blonde Schnauzbart war bemerkenswert an ihm. Und daß er so viele Jahre schon Adjutant bei de Chalon war, bei dem General, der überall als launisch galt und der keine Freunde besaß. Bonaire blieb am Schreibtisch stehen, warf einen kurzen Blick darauf und fragte: „Mon général?“ 30
Der General gab noch Zucker in die Tasse und blickte seinen Adjutanten von unten herauf an. „Habe ich jetzt was Dringendes zu tun, Bonaire?“ „Nicht unbedingt, mon général. Die Stabsbesprechung für die Übung kann ich leicht verschieben.“ Nur der Schnauzbart bewegte sich beim Sprechen, den Mund des Adjutanten sah man nicht. „Bien“, sagte der General. „Ich will sehen, was vom Jagdhaus übriggeblieben ist. Arrangieren Sie das. Nach Möglichkeit sofort.“ „Jawohl, mon général. Ich lasse den Wagen gleich kommen.“ Bonaire zögerte einen Moment, dann sagte er: „Sehr bedauerlich, das mit dem Brand. Tut mir leid für Sie, mon général. Ich weiß, wie sehr Sie an dem Jagdhaus hängen.“ „Ja, Sie wissen das, Bonaire.“ Der Alte knöpfte langsam seine Uniformjacke zu. Meint der Bonaire das ehrlich, dachte er. Wie lange ist er eigentlich bei mir? Es müssen bald fünf Jahre sein. Ich weiß es nicht genau. Man hat jetzt kein Gefühl mehr für die Zeit. Alles war erst gestern. Vielleicht bin ich schon zu alt. Man kann das nicht mehr an sich sehen, wenn man keinen Spiegel hat. Vielleicht hätte ich doch heiraten sollen, einen Spiegel haben, in dem man sieht, was sich verändert. Auf den man sich beziehen kann. Vielleicht. Aber jetzt ist es zu spät. Ich wollte ja auch gar nicht. Diese Abhängigkeit und was das dann gekostet hätte, die Garderoben und hier dieses und dort jenes. Und der Ärger mit den schlanken jungen Männern, die im Salon rumsitzen, wenn der Gatte aus dem Krieg kommt. Es waren viele Kriege, und es wären viele junge Männer gewesen. Nein! De Chalon schloß den obersten Knopf, seine Uniform saß gut. Nur am Kragen drückte sie ein wenig. Ich muß das ändern 31
lassen, dachte er, in meinem Alter sollte man das tun. Und dann sagte er plötzlich unvermittelt: „Warum heiraten Sie nicht, Bonaire? Frankreich wird keinen Krieg mehr führen.“ Bonaires Gesicht blieb regungslos. „Ich halte mich an Sie, mon général. Sie sind doch ohne Heirat auch ganz gut gefahren.“ „Nun, Bonaire, Sie müssen es ja wissen.“ Der General lächelte, das Lächeln sah mühsam aus. „Wie lange sind Sie schon bei mir?“ „Es werden bald sechs Jahre, mon général. Seit in Algerien Schluß ist.“ „Richtig, Sie kamen aus Oran.“ De Chalon dachte nach, dann sagte er: „Nun, diese Peinlichkeiten haben wir jetzt hinter uns.“ Er wollte seinen Adjutanten nicht daran erinnern. Weder an das Militärgericht noch an die Degradierung, ohne die Bonaire bestimmt schon Oberst wäre oder General, wenn damals alles so gelaufen wäre, wie die OAS es vorbereitet hatte. Wie gut, daß ich mich rausgehalten habe. Nicht nein gesagt, nicht offen ja. Capitaine Bonaire, das hättest du dir sparen können. Ob er mir dankbar ist, daß ich ihn damals in den Stab genommen habe? Oder trägt er mir das nach, sechs Jahre Adjutant bei seinen Fähigkeiten? In Bonaire kann man nicht reinsehen. Dieser verdammte Schnauzer noch dazu. Ich möchte wissen, was er von mir denkt, aber fragen werde ich ihn nicht. „Ist schon bekannt, wodurch der Brand entstanden ist?“ Ich muß das Thema wechseln, befahl er sich, man sieht mir meistens an, woran ich denke. „Haben Sie schon einen Bericht, Bonaire?“ „Bis jetzt noch nicht, mon général. Aber er wird heute kommen.“ Bonaire stützte sich mit einer Hand am 32
Schreibtisch ab. „Überlassen wir das der deutschen Polizei, oder soll ich unsere Leute …“ „Das können Sie machen, wie Sie wollen, Bonaire. Es ändert sich ja doch nichts. Das Haus ist weg.“ Der General winkte ab. „Es sei denn, wir haben irgendwas im Panzerschrank. Ist dort was?“ „Nein, zur Zeit sind keinerlei Papiere dort. Ich habe neulich alles mitgenommen.“ „Na also, dann ist es ja egal.“ „Ich bestelle jetzt den Wagen?“ „Tun Sie das, Bonaire. In einer halben Stunde fahren wir.“ Der Adjutant öffnete die unsichtbare Tapetentür. Von draußen strich ein kühler Luftzug herein, er brachte auch die Kopfschmerzen wieder mit. Fröstelnd zog der General die Füße unter den Stuhl. Man wird alt, dachte er erneut. Es wird Zeit, daß ich die Sache zum Abschluß bringe. Ich darf nichts offenlassen. Ich bin allein, und wenn ich sterbe, das kann jeden Tag sein, wenn ich sterbe … sterbe, sterbe, sterbe, dachte es in ihm weiter, er konnte gar nicht anders. Er richtete sich ruckhaft auf. General de Chalon, ich befehle Ihnen, sagte er zu sich selbst, das hatte noch immer geholfen. Ich befehle Ihnen, die Sache zum endgültigen Abschluß zu bringen! Starr aufgerichtet saß er jetzt in seinem Sessel, den er sich aus Chalon hatte bringen lassen. Sein Gesicht war wieder stark und scheinbar unbesiegbar. Nur das weiße Haar ließ auf sein Alter schließen. Er trank den Kaffee aus. Die zarte Tasse verschwand beinahe in seiner derben, schweren Hand, und als er sie zurückstellte, klirrte nichts. General de Chalon würde keine Rechnung offenlassen.
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7 „Mehr weiß ich auch nicht, Geckeler.“ Kriminalrat Pfitzer nahm eine neue Zigarette und zündete sie an der alten an. Er brauchte meistens nur ein Streichholz täglich. Morgens nach dem Aufstehen. Er rauchte ohne Unterbrechung, und man sah es ihm auch an: die graue Haut auf den Backenknochen, die tiefliegenden Augen in dem mageren Gesicht und die Hände, die immer ein wenig zitterten. „Wirklich, ich weiß auch nicht mehr als Sie, Geckeler“, wiederholte er und hob resignierend die Arme. „Ich hab’ nur den Anruf aus dem Ministerium. Beamten hinschicken, Paket übernehmen und auf dem Dienstweg in die Landeshauptstadt.“ Pfitzer schüttelte ärgerlich den Kopf. „Und nun das! Kein Paket, aber ein Brand. Verstehe ich nicht.“ „Ich auch nicht, Kriminalrat. Aber irgendwas stimmt nicht.“ Geckeler leckte sich die aufgesprungenen Lippen und rieb mit dem Taschentuch an einem Brandfleck seiner Jacke. Noch keinen Monat alt, der Anzug. Er ärgerte sich. „Das ist das Brot der Feuerwehr, Geckeler. Sollen die erst mal ermitteln, wie, warum und was weiß ich. Haben Sie schon was erfahren?“ „Den Bericht kriege ich erst morgen.“ Geckeler sah auf. „Kann mir denken, was da drinsteht.“ Pfitzer runzelte die Stirn. Er hatte zu viele Falten im Gesicht für seine vierzig Jahre. „Das ist nicht zu ändern, Geckeler. Sie müssen es ja nicht ausbaden, Sie können nichts dafür. Ich mache meinen Bericht ans Ministerium. Sie waren pünktlich dort und wurden nicht erwartet, fertig. Sollen die da oben sehen, was sie daraus machen.“ 34
Pfitzer lächelte sein Lächeln mit dem kleinen Mund. Der Mund eines Kindes in dem großflächigen Gesicht mit der hohen Stirn darüber. „Sicherlich werde ich einen Rüffel einstecken müssen, wenn ich auch gar nicht weiß, wofür. Aber die im Innenministerium werden sich schon was einfallen lassen. Na, den Kopf wird’s nicht kosten.“ Nein, deinen Kopf gewiß nicht, dachte Geckeler, während er weiter an dem Brandfleck rieb. Er wußte, daß der Vater des Kriminalrats in der Landeshauptstadt den Ton mit angab. Sonst wäre Pfitzer jetzt auch noch nicht Kriminalrat gewesen. Die paar Dienstjahre, die der erst hatte, und noch keine großen Fälle. Aber man konnte arbeiten mit Kriminalrat Pfitzer, er bediente sich seines hochgestellten Vaters nicht, das mußte man ihm lassen. Geckeler wünschte sich keinen anderen Vorgesetzten. „Sie meinen nicht, daß ich die Augen offenhalten sollte, Chef?“ Er steckte das Taschentuch ein und leckte den geschwärzten Finger ab. Der Kriminalrat zog die Augenbrauen in die Höhe. Es sah mühsam aus, gar nicht erstaunt. „Warum?“ fragte er. „Weil mir die Sache nicht gefällt. So mir nichts, dir nichts brennt ein solches Haus nicht ab.“ Geckeler schnalzte leise. „Besonders, wenn man einen Polizisten als Zeugen hinbestellt.“ „Das ist nicht unsere Sache, Geckeler. Ich glaube, Sie sehen da Gespenster.“ Pfitzer lächelte wieder. „Wir müssen abwarten. Noch wissen wir doch gar nichts. Ich weiß nicht mehr als Sie. Ich weiß nicht, wer Sie dort erwarten sollte. Ich weiß nicht, was man Ihnen geben wollte. Ich weiß gar nichts bis auf diesen Anruf.“ Er hob bedauernd die Schultern. „Verstehen Sie mich doch: Ich würde es Ihnen ja sagen, das wissen Sie. Nicht im Hause hier, nicht dienstlich, das ist klar. Aber Sie würden es erfahren, wenn ich etwas 35
wüßte.“ Er nahm die randlose Brille ab, ließ die Arme auf den Schreibtisch fallen, sah bekümmert aus. Die qualmende Zigarette hing ihm noch immer zwischen den Lippen. „Vorläufig ist das wirklich nichts für uns, Inspektor.“ „Glaube ich Ihnen“, sagte Geckeler, und er meinte es auch so. „Aber: Was wir noch nicht wissen, können wir erfahren.“ Er zögerte. „Ich hoffe es jedenfalls.“ Pfitzer hielt eine frische Zigarette an den Stummel und drückte den dann in die sandgefüllte Schale, die er als Aschenbecher benutzte. „Gut, Geckeler“, sagte er, „wir werden erfahren, ob an Ihrem Gespenst was dran ist. Und dabei lassen wir’s erst mal.“ Der Rauch stieg ihm in die Augen, er setzte die Brille wieder auf. „Warten wir auf den Bericht der Feuerwehr.“ „Ich sagte ja schon, da wird nichts drinstehen.“ „Wieso?“ „Weil die auch nicht ’ran durften an die Ruine.“ „Was heißt das?“ Geckeler rutschte auf seinem Sessel nach vorn. „Zu löschen war nichts mehr. Alles schwarz bis in den Keller. Und dieser Offizier, der hat ja keinen rangelassen. Eigentum der Besatzungsmacht, da machen Sie mal was! Drei Mann hatte der mit, Militärpolizei, bis untern Helm bewaffnet.“ Geckeler schlug die Faust auf den Tisch, er war wütend. „Die waren schneller als die Feuerwehr.“ „Wenn der Bau dort denen gehört, Geckeler, ist es nichts Besonderes, daß sie ihn absperren.“ „Und woher wußten die von dem Brand? Noch vor der Feuerwehr?“ „Die wissen alles eher, Geckeler. Seien Sie doch nicht naiv.“ Geckeler knurrte. „Dieser Schnösel mit dem Schnauzbart hat sich nicht mal ausgewiesen.“ 36
„Die Franzosen werden die Ruine schon freigeben, und dann können Sie drin wühlen, Geckeler.“ Pfitzer lächelte das Kinderlächeln. Es schien ihn zu amüsieren, daß der Inspektor beleidigt war. „Es wird sich alles harmlos aufklären“, sagte er. „Sie wissen doch, wie diese Militärs sind, Geckeler. Vielleicht war in der Bude ein Tresor, Geheimpapiere oder so. Schließlich ist der Besitzer ja General!“ Aber der Inspektor wollte nicht nachgeben. Er wußte, daß er bei seinem Vorgesetzten einen Stein im Brett hatte, wie er es nannte, und das gedachte er auszunutzen. Wenigstens heute, weil er es sonst nie tat. „Das gefällt mir ja eben nicht“, sagte er. „Warum schickt man einen Kreisstadtpolizisten in die Villa eines französischen Generals, um dort etwas zu holen, das in die Landeshauptstadt soll? Können Sie mir das erklären, Kriminalrat? Sie haben schließlich studiert.“ „Nein, das kann ich nicht, Sie wissen es, Geckeler, und Sie wissen auch, warum.“ Pfitzer wand sich. Er mochte diesen dicken, behäbigen Inspektor, dem man nichts sagen mußte, weil er alles, was zu tun war, selbst erledigte. Er mochte Geckeler, der von der Pike auf gelernt hatte und ein guter Kriminalist geworden war, den er als seinen Nachfolger haben wollte, wenn er diese Stadt verlassen würde. Er wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, ablaufen lassen auf dem Dienstweg, nur weil er, der Jüngere und noch Unerfahrene, der Vorgesetzte war. Manchmal wünschte sich Pfitzer, nicht er, sondern Geckeler wäre der Chef. Das würde manches leichter machen. Er zündete eine neue Zigarette an, seine gelben Finger zitterten stärker. „Nein, Geckeler, das kann ich nicht erklären,“ wiederholte er. „Aber jetzt hören Sie bitte auf, sonst werde ich dienstlich, und das würde mir leid tun.“ Er zog den Sessel 37
näher an den Schreibtisch und nahm die Haltung ein, in der er Besucher zu empfangen pflegte. „Wenn Sie meinen, Chef.“ Geckeler zuckte die breiten Schultern. „Dann teile ich Ihnen also offiziell mit, daß der Hausmeister und Waldhüter seit dem Brand nicht wieder aufgetaucht ist.“ „Was?“ Pfitzer stand auf und machte einige Schritte zum Fenster. „Vielleicht ist er mitverbrannt.“ „Vielleicht ist er verreist.“ „Kaum anzunehmen. Er war noch nie verreist, und Angehörige hat er auch nicht.“ „Na, dann ist er eben sonstwo. Und wenn er wirklich in dem Haus war, dann ist auch das Sache der Franzosen. Die hatten ihn ja angestellt.“ Pfitzer kam wieder zurück, sein schlanker Oberkörper war leicht vornübergebeugt, wie immer. Die Hände hielt er auf dem Rücken. „Er ist aber Bundesbürger.“ Geckeler blieb dran. „Dann suchen Sie ihn meinetwegen.“ Der Kriminalrat ging mit langen Schritten durch das Zimmer. Er wünschte diese Unterredung zu beenden, wollte aber nicht allzu deutlich werden. Geckeler musterte ihn. Seine Frau müßte mehr auf seine Kleidung achten, dachte er. Der Anzug des Kriminalrates war geknittert und nicht ausgebürstet. Geld spielt bei denen nicht solche Rolle wie bei anderen. Er müßte wirklich mehr auf sich halten. Dann sagte er: „Weil Sie grade von Suchen sprechen, da fällt mir ein, daß ich was gefunden habe.“ „Was haben Sie gefunden?“ fragte der Kriminalrat über die Schulter. Der gute Geckeler geht mir auf die Nerven, dachte er. Ich werde ihn wohl doch rausschmeißen müssen. „Was haben Sie gefunden?“ 38
Geckeler überlegte und sagte dann, wie aus dem Hinterhalt: „Was ich gefunden habe? Blut.“ Pfitzer blieb stehen, zog den Kopf ein und kam wieder an den Schreibtisch. „Blut? Was soll das heißen? Wo haben Sie Blut gefunden?“ „Zwanzig Meter von dem Haus entfernt, als es noch brannte. Das war frisches Blut, und gar nicht wenig.“ „Blut?“ fragte Pfitzer noch mal und setzte sich. „Sind Sie sicher?“ „Ja. Die Proben sind schon im Labor.“ Pfitzer nahm die Zigarette aus dem Mund. Hat mich der Geckeler doch wieder mal geschafft, der alte Filou, dachte er und lächelte mühsam. Sein Gesicht sah jetzt noch älter aus. „Und was ist damit?“ fragte er interessiert. „Weiß ich noch nicht. Aber ich denke, wir werden es erfahren.“ Geckeler lehnte sich breit in den Sessel. Die Überraschung war ihm gelungen. Seine schlechte Laune war verflogen. Die Sache schien besser zu stehen. Der Kriminalrat war beeindruckt. „Haben Sie noch mehr auf der Hinterhand, Geckeler?“ Pfitzer griff zu einer neuen Zigarette, denn die alte war ihm ausgegangen. Der Inspektor faßte in die Tasche, holte einen glänzenden Gegenstand heraus, hielt ihn seinem Chef entgegen und sagte: „Hier.“ Pfitzer beugte sich darüber, die unangezündete Zigarette im Mund. Geckeler drückte mit dem Daumen, und eine fingerlange Klinge sprang aus dem Messergriff. Der Kriminalrat fuhr zurück. „Ich dachte …“ „Nein, das ist kein Feuerzeug.“ „Was soll das, Geckeler?“ „Das habe ich neben der Blutlache gefunden, lag ganz 39
offen da. Mit sehr viel Blut dran.“ Er reichte das Messer über den Schreibtisch. „Kann ich … Ich meine, sind schon …?“ „Die Abdrücke haben wir. Sind sehr deutlich.“ Pfitzer nahm das Messer mit spitzen Fingern. Es waren keine Blutspuren mehr zu sehen. Er setzte die Brille ab und betrachtete das Messer sorgfältig. Sein Interesse war geweckt. Dann sagte er: „Sie meinen also, daß …“ „Genau das meine ich“, unterbrach ihn der Inspektor. „Genau das!“ „Na gut“, sagte Pfitzer dann, er war wieder ganz Chef. Er klappte das Messer zu und legte es hart auf den Tisch. „Gehen Sie Ihrer Nase nach, Geckeler. Sie haben meinen Segen, und ich nehme das auf meine Kappe. Ein Dienstauftrag kann es aber erst sein, wenn die Franzosen nichts dagegen haben, das müssen Sie wissen! Dieses Grundstück dürfte unter Militärrecht stehen, schätze ich. Aber ich spreche mit meinen Vorgesetzten. Klar?“ Pfitzer stand auf. Er wirkte sehr offiziell. Das war der Rausschmiß, wußte der Inspektor, aber er nahm es seinem Chef nicht übel. Mehr war vorläufig nicht drin. In bester Laune verließ er das Zimmer.
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8 Heute waren Bläckies Schuhe trocken, denn der Regen hatte aufgehört. Er und der Lange waren eine ganze Nacht gelaufen, durch das Oberland bis an die Donau. Bis zur Dunkelheit im Wald und dann weiter auf der Straße. Den wenigen Autos, deren Lichter man von weitem erkennen konnte, waren sie ausgewichen, um die Dörfer hatten sie einen Bogen geschlagen. Niemand hatte sie gesehen, keiner hatte ihre Flüche gehört, als sie durch den nassen Wald gestolpert waren und über die endlos scheinende Straße, die sie weg von Beurenhofen führte, wo das Messer des Mulatten lag. Jetzt, am Morgen des darauffolgenden Tages, ging es nicht mehr weiter. Müde saßen sie im kalten Gras, am Ufer eines Baches, unweit der Straße, die in engen Kurven aus dem Donautal hinauf auf die Alb führte. Auf die Rauhe Alb, wie die Einheimischen diese Gegend nannten. Wo es kaum Bäume gab, kein Wasser und mehr staubige Kalksteine auf den Feldern als fruchtbaren Boden. Wo man bis vor kurzem noch das Wasser aus den Tälern in die hochliegenden Dörfer fahren mußte. Wo die Sonne nur selten schien und Getreide nicht gedeihen wollte. Diese Strecke hinauf auf die Alb wollten sie in der nächsten Nacht hinter sich bringen, denn auch hier, fast eine Tagesreise von dem unheimlichen Jagdschloß entfernt, das sie von weitem hatten brennen sehen, fühlten sie sich noch nicht sicher genug, ein Auto anzuhalten. Deshalb gingen sie auf dieser Nebenroute. Nicht weiter östlich, wie sie es sonst getan hätten, wo die Autobahn über lange Viadukte und durch strahlendhelle Tunnel mühelos den Rücken des Gebirges überwand. Deshalb 41
lagen sie jetzt hier, am Ufer dieses Baches, der von der Straße aus nicht einzusehen war. Ein überhängender Felssturz, den der Bach in vielen tausend Jahren ausgewaschen hatte, bot ihnen Schutz vor Regen, und auch der Wind fand in diesen Einschnitt nicht. Spaziergänger waren schon gar nicht zu erwarten, in dieser Gegend nicht und nicht zu dieser Jahreszeit. In der Nähe gab es kein Dorf und keinen Weg – außer der Straße im Tal, drüben hinter dem dichten Gebüsch. Hierher würde keiner kommen. „Meine Füße sind erledigt“, sagte der Lange und knetete vorsichtig an seinen Zehen. Sie waren rot angeschwollen. „Ich weiß nicht, ob ich das noch länger schaffe, diese Hetzerei.“ Ächzend ließ er sich ins Gras zurückfallen. Sein Bart sah struppiger aus als gestern, und die großen Augen lagen tiefer in den Höhlen. „Du mußt.“ Der Mulatte hatte eine Decke um die Schultern geworfen, saß vornübergebeugt, auf seinem Bündel und tippte mit einem Grashalm auf die Karte, die ausgebreitet vor ihm lag. „Du mußt!“ wiederholte er. „Hier fallen wir bloß auf. Jeder Dorfsheriff nagelt uns an, wenn sie uns suchen. Wenigstens bis Tübingen müssen wir. Da ist ’ne Universität. Wenn wir erst mal dort sind – unter den Studenten dreht sich keiner nach uns um.“ „Ja ja, ich weiß.“ Der Lange wickelte ein Handtuch um die wunden Füße, er verzog das Gesicht und rollte sich dann in seine Decke. „Ich muß es halt versuchen.“ Er zog die Decke fester. „Wenn man nur wüßte, wo der Kleine abgeblieben ist. Dann wär’ mir wohler“, sagte er. „Und warum der abgehauen ist? Verstehe ich nicht.“ „Er stand am Eingang vorn, als wir schon hinten waren“, sagte Bläckie nachdenklich, die Stirn voller Falten. „Vielleicht hat ihm einer aufgemacht.“ 42
„Deswegen rennt man doch nicht weg.“ „Kommt drauf an, wer aufmacht und wie.“ „Verstehe ich nicht.“ „Ich ja auch nicht, Mensch.“ Bläckie hob die Arme. „Aber irgendwas muß gewesen sein, da vorne.“ Der Lange seufzte. „Na ja. Das klären wir heute nicht. Hoffentlich treffen wir ihn, wenn wir nach Frankfurt kommen.“ „Ja, hoffentlich.“ Die Asche des Holzfeuers war kalt geworden. Die halbgaren Kartoffeln, die sie gegessen hatten, lagen schwer im Bauch. Die übrig waren, würden für eine weitere schmale Mahlzeit reichen. Mehr hatten sie nicht, es sei denn, sie würden noch eine Miete finden auf irgendeinem Feld am Rand der Straße. „Reden wir lieber von was andrem“, sagte der Mulatte. „Ja, von was Angenehmem“, antwortete der Lange träge. „Man macht sich sonst verrückt. Zu ändern ist doch nichts mehr.“ Er rollte sich näher an die Feuerstelle, hielt die Hand darüber und zog sie enttäuscht zurück. Dann sagte er: „Wenn ich in Hamburg bin, such’ ich mir feste Arbeit. Hab’ die Schnauze voll vom Trampen. Man ist ja gar kein Mensch mehr.“ Er wälzte sich auf den Rücken. „Ist doch so, oder?“ Der andere blickte nicht auf, er suchte etwas auf der Karte. „Nee“, sprach der Lange weiter, „mir reicht das eine Jahr.“ Er zog den Rotz hoch. „Nee! Meistens Kohldampf schieben, und jeder Affe kann dir dämlich kommen, weil du nie weißt, ob du was Verbotenes gemacht hast. Scheißfreiheit! Da geh’ ich lieber wieder ackern auf die Werft, und abends trink’ ich mein Bier. Im Warmen!“ 43
„War’s dir zu kalt in Tetuán?“ Bläckie legte die Karte zusammen. Er tat es langsam und gewissenhaft, eine Falte in die andere. „Über’n Winter sind wir gut gekommen, oder?“ Er wartete nicht auf die Antwort. „Nordafrika ist nie verkehrt, ich hab’s dir ja gesagt. Viel besser als Türkei.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß gar nicht, was du hast, Langer? Und außerdem“, fügte er hinzu, „jetzt wird es auch hier wieder Sommer.“ „Na ja, so schlecht war’s auch nicht, hast schon recht“, schränkte der Lange ein und zog einen Zipfel der Decke über den Kopf. „Aber für mich ist es jetzt genug. Bin eben doch ein Bürger.“ Er griente. „Will ein eigenes Zimmer haben und freitags mein Geld auf den Tisch. So’n richtiger Spießer mit Federbett und Morgenrock. Hat auch was für sich. Ist nicht jeder so ein Berufstramp wie du, Bläckie. Du kannst das besser, bist der richtige Mann dafür. Ich nicht.“ Bläckie wickelte sich in seine Decke und klopfte den Beutel unter seinem Kopf zurecht. „Das ist nur wegen gestern“, sagte er. „Deshalb siehst du alles schwarz. Das vergeht auch wieder.“ Er scharrte die kalte Asche zu einem Häuflein zusammen und legte sich dann auf den Rücken. „Wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“ „Vielleicht“ antwortete der Lange, aber es klang nicht gerade zuversichtlich. „Ob wir nicht doch zur Polizei gehen sollten?“ Er richtete sich halb auf. „In dem Haus muß einer drin gewesen sein.“ „Polizei? Bist du verrückt?“ Die Augen des Mulatten wurden eng und funkelten böse. Er sah jetzt wie ein Raubtier aus. Wach und sprungbereit. „Was denkst du denn, was die mit uns machen! Solche wie uns mögen die gerade.“ Er spuckte geräuschvoll aus. „Nee, nee, da 44
kriegt mich keiner hin. Die fragen alles aus uns ’raus, was sie nur haben wollen. Du kennst die Brüder nicht. Die wissen schon, wie man das macht, mit unsereinem. Kannst du vielleicht einen Rechtsanwalt bezahlen?“ „Nein.“ „Na also. Und ohne bist du aufgeschmissen. Da machen sie dich fertig. Nein, zur Polizei kriegt mich keiner hin. Freiwillig nie! Und wenn ich bis zum Nordkap laufen muß. Und falls uns wirklich einer gesehen hat, soll der uns erst mal finden.“ Der Wind strich durch die kahlen Bäume über ihnen, von der Straße her hörte man ein Auto fahren, und kleine Steinchen rollten von der Felswand bis an ihren Lagerplatz. Der Lange nahm eins und warf es in den Bach. „Vielleicht hättest du nicht mit dem Messer …“, sagte er zögernd. „Ach, hätte ich warten sollen, bis der uns …?“ „Nein, so meine ich das nicht. Ich mache dir ja keinen Vorwurf. Aber vielleicht wären wir auch so mit ihm fertig geworden …“ „Kaum.“ Bläckie spreizte die Finger seiner rechten Hand und schloß sie dann zur Faust. „Kaum“, wiederholte er. „Nicht mit dem. Der wog bestimmt zwei Zentner. Hackfleisch hätte der aus uns gemacht. Da gab’s nur eins.“ Er schlug die Faust auf den Boden. „Was willst du überhaupt? Schließlich war es Notwehr.“ Der Lange sagte nichts, er kroch nur tiefer in die Decke. „Gesehen hat uns bestimmt keiner“, sagte Bläckie noch. „Nur das Messer, dieses Scheißding! Wenn ich das bloß nicht verloren hätte.“ Nachdenklich kaute er auf seinen Fingernägeln. „Ich kannte mal einen, mit dem war ich in Persien. Jugoslawe war der, Serbe oder so was. Der trug sein Messer immer an einem dünnen 45
Lederriemen. Der wußte schon, warum.“ Er nickte. „War clever, der Junge.“ Der Wind in den Bäumen war eingeschlafen. Das Plätschern des Baches machte die Stille hörbar. Bläckie rollte sich zusammen wie ein Hund im Kalten. „Los, wir müssen schlafen, sonst halten wir nicht durch.“ „Ich schlaf ja schon“, antwortete der Lange dumpf unter der Decke hervor, und nach einer Pause fragte er: „Sag mal, haben wir ’ne Schere?“ „Ich glaube, ja. Wozu denn die?“ „Ich will mir meinen Bart abschneiden.“ „Hast Schiß?“ „Fällt bloß auf. Muß ja nicht sein.“ Bläckie rieb sich nachdenklich über die rasierten Wangen. „Hast recht“, sagte er. „Sicher ist sicher. Vielleicht war doch einer drin im Haus und hat alles gesehen. Vor irgend jemand muß der Kleine doch getürmt sein. Hast recht.“ Er faßte sich an die kurzen, krausen Haare, zupfte spielerisch daran und besah sich dann die Hände. „Und was mach’ ich? Mit meiner schwarzen Pelle?“
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9 Fünfzig Kilometer südlich von den beiden, nicht weit von den waldigen Hügeln, die den großen See umrahmten, stand der Kleine mit dem stets erschrockenen Gesicht. Er stand noch nicht sehr lange hier, obwohl er einen günstigen Platz hatte, im Schatten der Friedhofsmauer. Nein, lange hätte er hier nicht gewartet. Einmal, weil er sich vor Friedhöfen fürchtete – auch bei Tage, wenn die Käuzchen nicht riefen –, zum anderen, weil er niemals lange warten konnte. Schon als er noch zu Hause gelebt hatte, konnte er es kaum erwarten, aus seinem mit vielerlei Spielzeug vollgestopften Kinderzimmer hinauszulaufen auf die Straße, wo die anderen Kinder sich schmutzig machen durften. Er mußte immer sauber nach Hause zurückkehren, sonst regte sich die Mama zu sehr auf, und das sollte sie nicht wegen ihres Herzens, und der Kleine wollte die Mama nicht aufregen. Genug, daß der Vater mit ihr rumpolterte, wenn er abends aus dem Büro kam und das Essen noch nicht fertig war. Mit seinem Stiefvater war der Kleine niemals richtig warm geworden, auch nach zehn Jahren nicht. Ewald Storz, der zweite Mann der Mutter, war ein zu grober Kerl für den zarten, kleinen Siegfried, der von der Mutter verpäppelt wurde, weil er der einzige war. Siegfriedchen konnte sich nicht daran gewöhnen, daß der Bundesbahnbeamte Storz von seinem Stiefsohn verlangte, morgens unter die kalte Dusche zu treten und im April schon im Fluß zu baden, wenn einem bereits an der kühlen Luft die Zähne klappernd aufeinanderschlugen. Der Bahninspektor aber sprang in das eisige Wasser der Isar, schnaubte wie ein Walroß und lachte den zitternden Kleinen aus. Er verspottete ihn, wenn er 47
weinend von der Straße hochkam, weil die anderen Jungen ihn verhauen oder in der Schule gehänselt hatten, weil er einen anderen Namen als sein Vater trug. Storz hatte für seinen Stiefsohn nur Hohnesworte übrig, und adoptieren wollte er so einen Schlappschwanz nicht. „Da mache ich mir lieber noch einen eigenen“, pflegte er zu sagen und lachte dröhnend, während die Mutter rot wurde und zu Boden blickte. Der Siegfried, der so anders aussah, als er hieß, hatte sich aus seinem Kinderzimmer stets weggewünscht, am liebsten wäre er mit der Mutter allein geblieben, aber das war nicht möglich, das sah er ein. Er träumte oft, daß vielleicht später, wenn er sehr viel Geld verdiente, sein Wunsch sich erfüllen würde. Er träumte immer häufiger, je älter er wurde, und der Stiefvater versuchte bald nicht mehr, aus dem Kleinen einen Kerl zu machen. Er verprügelte ihn nur, ohne besonderes Engagement, der Ordnung halber, als er ihn beim Rauchen erwischte. Aber nur beim ersten Mal, später verlor er die Lust daran. Hauptsache, nicht in meinem Haus, sagte er. Was der Bengel sonst treibt, ist mir Wurscht! So kam Siegfried mehr und mehr ’raus aus seinem Kinderzimmer, wo die Mutter noch immer die Puppen und Teddybären auf dem Schrank aufstellte. Mit anderen Vierzehnjährigen lernte er die Spielautomaten kennen, denn in Mamas Portemonnaie war das Kleingeld nie gezählt. Bald trieb er sich mit der Clique auf den Straßen herum, wenn er eigentlich in der Schule hätte sein müssen, bald blieb er also sitzen, kriegte Prügel. Beim zweiten Mal nicht mehr. Ewald Storz war es jetzt gleichgültig, er war ja nicht der Vater. Aus dem Haus jagte er den ungeratenen Stiefsohn erst, als der schon sechzehn war, die Schule absolviert hatte und ein Fünf48
zigmarkschein aus dem Portemonnaie des Hausherrn fehlte. Bahninspektor Storz war als fairer Mann bekannt. Er trat seinem Stiefsohn nur einmal kräftig in den Hintern, bevor er ihn hinauswarf, und sagte: „Du Schwachkopf, drei Tage gebe ich dir Vorsprung, dann zeige ich den Diebstahl an. Laß dich hier nicht wieder blicken!“ Auch das Jammern der Mutter hatte nichts genützt, sie hatte von dem fairen Ewald auch ihr Teil bekommen, weil sie die Tat des Kleinen vertuschen wollte. Seither, seit drei Jahren, war Siegfried nicht wieder in München gewesen. Statt dessen in Hamburg und in Neapel, in Istanbul und Athen und ein halbes Jahr bei Pforzheim, Jugendstrafanstalt. Nach der Entlassung war sein Leben lustiger geworden. Die neuen Freunde, die er im Knast kennengelernt hatte, für die der Gelderwerb kein Problem darstellte, wenn sie draußen waren – die waren richtig, die wußten, wie man lebt. Siegfried lernte von ihnen, und er wollte bald nicht mehr nach München zurück. Er besaß Geld und hatte sich einen neuen Paß gekauft, alles schien so zu kommen, wie er es sich an den langen Abenden in seinem Kinderzimmer erträumt hatte. Aber dann war alles zusammengefallen wie ein Kartenhaus, weil irgendeiner nicht dichtgehalten oder ihn verzinkt hatte. Er erfuhr es nie genau, weil er sehr schnell geflüchtet war, als ihn die Polizei nach der ersten Vernehmung noch einmal laufenließ. Das war im Herbst gewesen. In Nordafrika hatte er damals den Langen und Bläckie getroffen, sie hatten sich angefreundet und waren zusammen nach Deutschland zurückgekehrt. Siegfried wäre lieber noch in Tetuán geblieben, aber ganz allein? Wäre ich bloß nicht mitgegangen mit den beiden, dachte er jetzt am Rand der Straße vor der Friedhofsmauer. 49
Nun geht das Gehetze wieder los. Wäre ich nur nicht mitgelaufen zu diesem Jagdhaus! Hätte ich mich doch nicht an dem Fenster hochgezogen! Wie der mich angestarrt hat! Der Kleine schüttelte sich, schaute sich um. Ich muß weg von hier! Kommt nicht bald ein Wagen? Und endlich näherte sich einer, bremste und hielt. Der Fahrer hatte darauf gewartet, daß hier am Ortsausgang einer stehen würde, der mitgenommen werden wollte. Hier standen öfter welche, auch Mädchen manchmal, wozu hatte man denn Liegesitze. Aber heute war ihm nicht nach Mädchen. Heute war ihm mehr nach einem, der ihn munter hielt. Eine lange Tour lag vor ihm, da war es schon ganz gut, wenn jemand mit im Wagen saß, der einen anstoßen konnte, wenn die Augen nicht mehr offenbleiben wollten. „Wo willst du hin, Kleiner?“ fragte er, gähnte dabei und musterte seinen Fahrgast ungeniert. „Nach Frankfurt erst mal“, antwortete der Kleine, warf den dünnen Reisebeutel auf den Rücksitz des geräumigen Mercedes und rückte sich im Polster zurecht. Für seine kurzen Beine war der Sitz zu weit nach hinten gestellt. Er zerrte den Anorak von den schmalen Schultern, der Wagen war gut durchgeheizt. „Na denn“, sagte der Fahrer, „wenn’s nicht weiter ist, dann geht’s ja. In Frankfurt sind wir schon zum, Mittagessen.“ Er legte den Gang ein, und der Wagen schoß nach vorn. Die kleine Stadt mit ihren zwei niedrigen Kirchtürmen blieb im Tal hinter ihnen zurück. „Bist du da zu Hause, in Frankfurt?“ fragte der Fahrer. Der Kleine blickte auf. „Nein, das gerade nicht. Aber ich will da jemanden treffen.“ „Kleines Mädchen, was?“ grinste der Fahrer. 50
„Ja ja, auch das“, antwortete der andere eilig und versuchte ein männliches Grinsen, aber es gelang ihm nicht. Er richtete sich höher auf. „Ja ja, das auch, klar. Aber ich hab’ einen Kumpel da“, erzählte er dann weiter, „der hat einen Laden, und neulich hat er mir geschrieben, daß er mich braucht. Soll ein guter Job sein.“ Noch immer hatte er das mißglückte Grinsen im Gesicht, er schob die langen Haare ungeschickt nach hinten. „Was denn für einen Laden?“ fragte der Fahrer. Er sah dabei nicht von der Straße auf, denn er trieb den Wagen zügig durch die kurvenreiche Strecke, die sehr schlecht zu überblicken war. „Ein Pornoshop, was?“ Er lachte jetzt laut und weidete sich an der Unsicherheit des Kleinen, der sich verlegen in die Haare faßte. „Nein, das ist ’ne Boutique oder so was. Nichts mit Sex. Boutique und alte Möbel. So richtig poppig.“ „Ach so“, der Fahrer wischte sich den Speichel aus den Mundwinkeln. Er lachte noch. „Ich dachte schon, du kannst mir Rabatt besorgen, wenn ich wieder mal was brauche in der Richtung.“ „Nein, kann ich nicht.“ „Na, so ’ne Boutique ist auch nicht zu verachten. Für dich gerade das Richtige, was?“ Ein kurzer Seitenblick traf den Kleinen. „Ja“, sagte der. „Deswegen mache ich ja auch hin.“ Jetzt zeigte der Fahrer auf das Handschuhfach. „Nimmst du mal die Zigaretten dort ’raus? Du rauchst doch eine mit?“ Er grinste wieder. „Oder nimmst du nur Hasch?“ „Nee, mit Skiffen ist bei mir nichts“, wehrte der Kleine heftig ab. Er sah jetzt noch erschrockener aus als sonst. „Das hat keinen Zweck“, fuhr er fort, „die steigen alle irgendwann mal um auf Schießen, und dann ist der Riemen ’runter. Nee …“, er kramte die Zigarettenschachtel aus 51
dem Fach, „nee, fang’ ich gar nicht erst an, mit Hasch.“ Er klopfte zwei Zigaretten aus der Packung. „Feuer hab’ ich“, sagte er, als der Fahrer in die Tasche greifen wollte. Dann rauchten sie ein paar Minuten schweigend. Der Wagen fraß das schmale Band der Straße, die Bäume an den Seiten huschten hörbar vorbei. Hier gab es keinen Wald mehr. Nur Obstplantagen, so weit man sehen konnte. Eingezäunt und kahl. „Und was hast du vorher gemacht?“ wollte der Fahrer nach einer Weile wissen. Der Kleine rollte den ungewohnten Filter der Zigarette zwischen den Fingern. „Ich?“ Er nahm einen hastigen Zug. „Ach, eigentlich alles so.“ Er sah zur Seite aus dem Wagen, wischte über die Fensterscheibe, obwohl sie nicht beschlagen war, und rieb die Füße unbehaglich aneinander, „Eigentlich alles. Ja … mal hier, mal da. Meistens Tankstellen und so was. Ist aber nicht das Richtige für mich.“ Er musterte den Fahrer verstohlen, bis der es merkte. Da ließ er den Blick schnell wieder auf die Straße gleiten. „Und wo kommst du jetzt her, wenn man fragen darf?“ „Na ja, von weiter unten.“ Er stockte. „Eigentlich auch nicht richtig. Ich hab’ mehr so einen kleinen Trip gemacht. Kleine Rundreise eben. Ja ja.“ Die Zigarette war bis auf den Filter heruntergebrannt und ausgegangen. Trotzdem rieb er den kalten Stummel lange über das verchromte Gitter des Aschenbechers. Der Fahrer hatte seine Zigarette schon aus dem Fenster geworfen. „Redselig bist du ja nicht gerade“, sagte er und zog den Wagen durch eine lange Kurve. „Das ist das Wetter“, antwortete der Kleine ablenkend. „Wenn’s so trübe ist wie heute, bin ich immer langsam, 52
und außerdem hab’ ich nicht geschlafen.“ Aber er sah glatt und ausgeruht aus. Man merkte auch an seiner Stimme, daß er schwindelte. Sie fuhren jetzt durch scharfe Kehren hinab ins Donautal, der Fahrer mußte sich konzentrieren bei dem Tempo, das er hielt. Als sie über eine Brücke fuhren, unter sich das schilfige Flüßchen, das die Donau hier noch war, und vor sich den mächtigen Klotz des alten Hohenzollernschlosses, das auf dem Felsen über der Stadt hockte wie auf einem plumpen Thron, hatten sie keinen Blick für das, was hinter ihnen war – für den emsigen grünen Käfer, der gerade um die letzte Kurve kam, weit hinter ihnen, denn er hatte Mühe, mit dem Mercedes Schritt zu halten. In der Stadt erst holte er auf, fuhr aber niemals dicht heran. Man konnte nicht erkennen, wer hinter der gebogenen Scheibe saß, unter der grünlichen Sonnenblende.
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10 Schlottke war ein Reingeschmeckter. So wurden von den Einheimischen alle die genannt, die nicht im Schwabenland geboren waren. Nicht in Saulgau, nicht in Friedrichshafen und sogar in Stuttgart nicht, das wäre ja noch angegangen. Aber Eduard Schlottke hatte in Königsberg das Licht der Welt erblickt. Königsberg – das war fast so schlimm wie Korsika oder Irland, wüste Landstriche, in denen die Leute keine Spätzle kannten, keinen Most und keinen Guglhupf. Geckeler nannte seinen Assistenten „Ostschwede“, manchmal auch „Eddi“, aber das war selten. Meist nur, wenn Geckeler ein paar Schoppen intus hatte, nichts davon merkte, nein, aber gemütlicher wurde. Sonst hielt er nichts von plumpen Vertraulichkeiten, wie er das nannte. Und „Eduardle“ sagte er nur, wenn er Schlottke ärgern wollte. Der lange Schlottke behauptete zwar, daß er eigentlich Berliner sei, weil seine Eltern in Berlin geboren waren und dort gelebt hätten; nur ganz zufällig sei er in Königsberg zur Welt gekommen. Aber das glaubte ihm selten einer, weil er schon in seinem fünften Lebensjahr an den Bodensee gekommen war. Und er hatte ihn seither nur verlassen, wenn er dienstlich unterwegs war oder wenn er in den Urlaub fuhr. Meist nach Berlin, wo in Charlottenburg noch andere Schlottkes wohnten. Schlottke warf seinen Mantel auf den Haken, das hatte er lange geübt, wenn der Chef nicht im Raum war, jetzt endlich klappte es einigermaßen, und Schlottke vergrößerte täglich die Wurfweite um einige Zentimeter. „Morgen, Chef!“ sagte er. Er bemühte sich, das „g“ berlinerisch zu sprechen, aber es klang trotzdem ziemlich schwäbisch. 54
Geckeler stand am Fenster, wie immer morgens, und blickte auf den See. Es war trübe, aber kein Föhn mehr. „Morgen, Ostschwede.“ Sie gaben einander die Hand. Schlottke setzte sich auf seinen Drehstuhl, der viel zu niedrig für ihn war. Die spitzen Knie hatte er fast unter dem Kinn. „Hast du was mitgebracht?“ fragte Geckeler. Schlottke griff in die Seitentasche seiner abgewetzten Lederjacke. „Nichts Besonderes. Der übliche Kram.“ Er legte einen Packen zusammengefalteter Papiere vor Geckeler auf den Schreibtisch. „Spurensicherung, Feuerwehr und so weiter und so fort.“ Er blätterte in dem Stapel. „Hab’ nichts Interessantes gefunden.“ Geckeler nickte. „Na schön. Wir werden sehen. Übrigens, ist der Schröder abgelöst?“ „Ja, heute nacht, wie geplant.“ Schlottke verschränkte die staksigen Arme vor der Brust, stieß sich ab und wirbelte mit dem Drehstuhl herum. „Schröder sagt, er hat nichts gesehen. Die Franzosen hätten in der Ruine rumgepolkt“, Schlottke genoß den Berliner Ausdruck, schmeckte ihn ab, „rumgepolkt hätten sie, so bis gegen einundzwanzig Uhr. Dann wären sie abgefahren. Sonst nichts Besonderes. Bericht kriegen wir heute. Na, und Wieland muß gleich kommen, kann ja selbst erzählen. Schröder ist schon wieder rausgefahren, ihn abzulösen. Diesmal nimmt er sich ’ne Decke mit, läßt er ausrichten. Es wäre kalt im Wald, so ohne Schnaps.“ Schlottke lachte. „Der soll sich unterstehen …“, sagte Geckeler, mußte dann aber auch lachen. „Der Schlemihl der, dem werd’ ich helfen.“ Schlottke stellte die Füße wieder auf den Boden. „Warum treiben wir eigentlich solchen Aufwand, Chef? Ist das ein Fall?“ 55
„Eduardle“, sagte Geckeler gemütlich, „Eduardle, du hast gut geschlafen, wie? Du fragst zuviel. Das kenne ich sonst nicht von dir.“ Schlottke war heute nicht auf den Arm zu nehmen, dazu hatte er wirklich zu gut geschlafen. Zehn Stunden lang. Das kam selten vor. Er brannte sich eine Zigarette an. „Man lernt nie aus, Chef“, sagte er süffisant. „Wonach suchen wir eigentlich?“ „Nach einem Waldhüter, Eduardle. Und nach dem edlen Spender, der uns das viele Blut auf der Wiese hinterlassen hat. Vielleicht braucht er’s noch, und wir können es ihm wiedergeben.“ Geckeler kramte in den Papieren. „Was sagen die Giftmischer zu dem Blut?“ Alle Leute, die mit Chemie, Labor und ähnlichem zu tun hatten, nannte er so. „Noch nichts, Inspektor“, sagte Schlottke. „Bericht kommt heute erst. Keine Leute, keine Leute.“ „Dann rufen Sie gefälligst an. Tun Sie nicht so neu, Ostschwede.“ Grinsend griff Schlottke zum Telefon und wählte. Während er auf den Anschluß wartete, sagte er: „Das Messer ist aus Spanien, Chef. Ich hab’ mich umgehört. Die Dinger werden bei uns nicht gehandelt.“ „Na, wenigstens etwas.“ Geckeler setzte sich jetzt auch. „Das ist sicher?“ „Ziemlich.“ Schlottke griff wieder in seine viel zu große Lederjacke, holte einen zusammengefalteten, langen Papierbogen heraus. „Fernschreiben“, sagte er. „Ist gerade reingekommen. Die Abdrücke auf dem Messer.“ Geckeler horchte auf. „Was ist mit denen, los doch!“ „Ein gewisser Reffel, Mike Reffel, Mulatte, sechsundzwanzig Jahre, ohne bekannten festen Wohnsitz. 56
Hatte mal acht Monate wegen Diebstahls und Körperverletzung.“ „Mit dem Messer?“ „Davon steht hier nichts, aber …“ „Geben Sie schon her …“ Geckeler zog ihm den Bogen aus der Hand, glättete ihn und las, langsam die Lippen bewegend. „Fahndung ’raus?“ fragte er plötzlich, ohne den Kopf zu heben. „Nach dem Reffel? Nein. Ist doch erst …“ Schlottke legte auf. „Ist besetzt … Soll ich die Fahndung rausgeben?“ „Nein, bloß nicht. Ist schon gut so. Wir warten noch.“ Geckeler las weiter. Schlottke ging zur Tür. „Halt!“ rief der Inspektor. „Bleiben Sie hier, Ostschwede! Arbeit!“ Schlottke zog die blonden Brauen hoch. „Vielleicht darf ich vorher noch meinen Morgenkaffee dorthin bringen, wo aller Kaffee endet?“ Geckeler legte das Fernschreiben beiseite. „Nein“, sagte er, „Sie dürfen nicht.“ Er griente, seine Laune war hervorragend. „Das können Sie sonstwo erledigen, gehört nicht zum Dienst. Sie fahren jetzt nach Beurenhofen, und unterwegs stellen Sie fest, wer in den letzten beiden Tagen in dem Jagdschloß gewesen sein könnte. Klar?“ Schlottke angelte wortlos seinen Mantel. „Soll ich die alle gleich mitbringen?“ Er schien nicht begeistert. Keinen Bürokaffee heute. „Natürlich“, grinste der Inspektor. „Alle!“ Dann fiel die klapprige Glastür hinter dem Assistenten ins Schloß. Geckeler knöpfte die Jacke auf, stemmte die Hände an die Schreibtischkante und kippte sich mit seinem Stuhl nach hinten an die Heizung. Die Jahre auf dem See, bei jedem Wetter in den ungeheizten Booten, Tag und Nacht, 57
die spürte er jetzt im Kreuz. Aber es sollte keiner wissen, daß der Geckeler das Reißen hatte. Der stramme Geckeler, der auch im Winter ohne Handschuhe ging. Seltsam, dachte er, daß mir der Föhn nichts ausmacht, bei dem weichen Kreuz. Immer nur, wenn’s kalt ist. Dann langte er sich das Fernschreiben vom Tisch und las es noch einmal langsam durch. Das brachte seine Laune wieder in Ordnung. Das war doch was, da konnte man anfassen. So ein Mulatte mußte doch zu finden sein. Da werden wir schon hinlangen, werden uns den Burschen mal besehen, ihm ein bißchen Blut abzapfen lassen und ihn fragen … Geckeler rieb sich das Doppelkinn. Vorbestraft und ohne festen Wohnsitz. Kleiner Fisch für das Revier. In die Landeshauptstadt ein Paket. Geheim. Und kein Paket, statt dessen Blut und Feuer, und alles gehört den Franzosen. Ein Fall fürs Kreisgefängnis und ein General. Die Gedanken schwammen durcheinander, nichts ordnete sich ein, nichts paßte zueinander. Fangen wir einfach an. Geckeler ließ den Stuhl wieder nach vorn kippen und griff zum Telefon. „Guten Morgen, Chef. Ich brauche einen Haftbefehl.“ Er wartete. „Für wen?“ Geckeler unterstrich den Namen auf dem Fernschreiben. „Für einen Mike Reffel. Jawohl. Mike Reffel.“ Er buchstabierte. „Wie? – Die Abdrücke auf dem Messerchen, wo so viel Blut dran war …“ Jetzt sprach der Kriminalrat lange. Geckeler schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er dann. „Der Waldhüter hat sich noch nicht angefunden. Da müssen wir schon, Chef.“ Er malte eine Schlinge um den Namen Mike. „Ja ja, ist 58
vorbestraft … Aber Chef, so wie das aussieht …“ Der Kriminalrat zögerte anscheinend. „Ach, der Staatsanwalt, der wird schon!“ Geckeler ließ den Bleistift fallen. „Der ist doch sonst so schnell dabei … Ach, die Franzosen! Die können uns mal. Das geht die doch gar nichts an.“ Geckeler richtete sich auf, seine Stimme klang verärgert, als er sagte: „Na gut, wenn Sie meinen, Chef.“ Er verzog unwillig den Mund. „Ja. Natürlich. Ich warte also noch bis … Ja ja.“ Langsam legte er den Hörer auf die Gabel, nahm den Bleistift auf und klopfte damit sachte an die Vorderzähne. Der Chef hat Schiß vor seinen Obersten, dachte er. Die Landeshauptstadt und die Franzosen. Er kippte den Stuhl wieder nach hinten, der Bleistift klopfte regelmäßig, wie ein Metronom. Warten soll ich. Fakten reichen noch nicht aus. Gerade, daß ich warten muß, der Fakt, der reicht mir schon. Daß ich irgendeinen Messerstecher nicht gleich greifen soll. Ruckhaft stand er auf, warf den Bleistift hin. Der kollerte und fiel auf den Boden. Geckeler hob ihn nicht auf, er hielt schon den Mantel in der Hand. Ich werd’ dem Chef was husten, dachte er. Ist ein guter Junge, aber viel zu ängstlich. Wenn der seinen Vater nicht hätte, wäre er heute noch nicht Kriminalrat. Ich werde ihm mal was abnehmen, sonst läuft uns alles auseinander. Ich fahre einfach los. Ich muß den Anfang machen. Eine Stunde später sprach Geckeler mit dem Beamten, der sich neben einer dicken Buche eingerichtet hatte. Mit einem Fernglas, einem Jägerstühlchen und zwei Decken. Von dieser Stelle aus konnte man den Hügel mit der Brandruine einsehen und auch den Weg, der dorthin führte. 59
Geckeler lehnte sich an den glatten Stamm der Buche. „Geben Sie mir einen ab, Schröder?“ fragte er harmlos. „Wie?“ Schröder wußte nicht, wovon die Rede war. „Mächtig kalt hier.“ Geckeler suchte mit den Augen die Umgebung ab. „Seien Sie kein Unmensch, Schröder“, sagte er, ohne den Beamten anzusehen, „Ich bin auch keiner. Geben Sie mir einen ab. Mir ist kalt geworden. Den Wagen hab’ ich auf der Straße stehenlassen.“ Schröder warf einen scheelen Seitenblick auf den Inspektor, er bückte sich und wühlte in dem feuchten Laub zu seinen Füßen. „Daß Sie auch alles merken“, brummte er, brachte die Flasche zum Vorschein, wischte sie ab und reichte sie hinauf. „Seien Sie aber vorsichtig damit, Inspektor. Das ist gutes Zwetschgenwasser. Da steckt Kraft drin. Nicht die dünne Brühe, die sie einem heute überall andrehen.“ Er spuckte aus und deutete auf die halbgeleerte Flasche. „Den da machen meine Eltern selber.“ Abwehrend hob er die Hand. „Mit Genehmigung, versteht sich. Alles in Ordnung. Bei uns im Schwarzwald gibt’s eben so was noch. Prost!“ sagte er dann, als der Inspektor die Flasche ansetzte. Geckeler hatte Mühe, nicht zu husten, aber er beherrschte sich. Schröder grinste: „Na?“ „Kräftig“, bestätigte der Inspektor und nahm noch einen kleinen Schluck, als er merkte, daß die Wärme sich von innen wohlig ausbreitete. „Ein gutes Zwetschgenwasser, wirklich.“ „Dreimal gebrannt!“ Schröder nickte bedeutungsschwer. Ihm merkte man vom Alkohol nichts an. Geckeler gab die Flasche zurück und fragte: „Und sonst? Außer Zwetschgenwasser nichts gewesen?“ 60
„Nichts.“ Schröder schüttelte bedauernd den Kopf. Seine lange Nase sah richtig traurig aus. „Überhaupt nichts. Nur auf der Wiese ein Hase, der wollte sich nicht festnehmen lassen, sonst hätte ich ihn hier. Tut mir leid, Chef. Na, und oben, in der Ruine, da waren ein paar Krähen, die haben so ein bißchen rumgepickt. Schien mir aber, daß sie nichts gefunden haben. Sind bald wieder abgeschwirrt. Und sonst nur viel kalt.“ Er schielte zur Flasche, legte sie dann aber ins Laub. „Wann werden Sie abgelöst?“ „Zwölf Uhr mittags.“ Schröder stand auf und vertrat sich die Beine. „Hoffen wir’s wenigstens.“ Geckeler schaute durch die Stämme zum Hügel, auf dem ein Haufen schwarzer Steine lag. „Wie war das gestern?“ fragte er. Schröder hüpfte auf seinen kurzen Beinen hin und her, um sich zu erwärmen. „Gestern? Ja, das war so“, stieß er zwischen den einzelnen Hüpfern hervor. „Achtzehn Uhr war ich hier. Bin hintenrum, durch den Wald ’rein, wie Sie gesagt haben. Hat nur noch gequalmt oben. Der eine von den Franzosen, der Offizier, hat im Schutt gewühlt. Sah so aus, als ob er was suchen würde. Die anderen haben Wache gestanden. Gegen zwanzig Uhr dreißig haben sie was rausgetragen und in den Wagen gebracht. Was es war, konnte ich nicht erkennen. Ich hatte ja kein Nachtglas mit. Wir haben nur eins, und das war ausgegeben, als ich losgefahren bin. Zwanzig Uhr fünfundvierzig sind sie alle abgezogen. Das wär’s.“ Schröder setzte sich wieder. „War das schwer, was die getragen haben? Könnte es ein Tresor, ein kleiner, meine ich, gewesen sein?“ „Schon möglich. Aber ich konnte fast nichts sehen. Die hatten nur ihre Taschenlampen an, da oben. Und bei der Entfernung …“ 61
„Haben sie alle an dem Ding getragen?“ „Ich glaube, nur zwei von ihnen, aber“, Schröder hob die Hand und legte den Kopf auf die Schulter, „aber ich kann mich täuschen. Das möchte ich nicht beschwören.“ „Na gut“, Geckeler seufzte, „und nach den Franzosen ist keiner mehr hier gewesen?“ „Bei Wieland nicht, hat er mir gesagt. Also von null bis sechs Uhr morgens. Na, und bei mir, das wissen Sie ja.“ Schröder wollte instinktiv zur Flasche greifen, besann sich aber rechtzeitig und hielt in der Bewegung inne. „Ich gehe mal nach oben“, sagte Geckeler, „mich ein bißchen umschauen. Sie können ja ’ne Runde schlafen, solange ich dort bin.“ Zielsicher faßte er in das Laub, nahm die Flasche und steckte sie in seine Manteltasche. „Sie müssen heute noch Auto fahren“, er grinste in das verdatterte Gesicht seines Mitarbeiters, „oder wollen Sie, wenn Sie abgelöst werden, in die Stadt ’rein laufen, Schröder? Sie wissen doch, wir müssen Vorbild sein.“ Damit war er schon am Waldrand und rief zurück: „Die Flasche finden Sie in meinem Zimmer, Schröder. Keine Angst, Sie wissen ja, ich trinke sonst nur Wein.“ Er grinste noch, als er seinen schweren Körper den Hang hinaufstemmte, der hier steiler war als drüben, wo der Weg auf den Hügel führte. Oben stand er vor einem wüsten Haufen eingestürzter Mauern, aus dem verkohlte Balkenstrünke ragten. Wo die Mauern nach außen gefallen waren, konnte man bis in die leergebrannten Kellerräume sehen. Zerschmolzenes Glas, zerbrochene Flaschen. Trübe Wasserlachen bedeckten das Fundament. Geckeler legte seinen Mantel aufs Gras und kletterte über die geborstenen Feldsteinbrocken in die Ruine. 62
Glassplitter knirschten unter seinen Schuhen, er stieß an ausgeglühte Gitter, an verbogene Heizungsrohre. Es roch nach Kohle, nach verbrannten Lumpen und nach Gummi. Die Einteilung der Zimmer im Parterre konnte man nicht mehr erkennen, denn die Decken waren überall in den Keller gestürzt, und alles Brennbare, viel in einem alten Haus, war ohnehin zu Asche geworden. Das Feuer mußte mit ungeheurer Gewalt gewütet haben. Geckeler stand nun im Heizungskeller. Er sah den ausgeglühten Kessel, das Gewirr der verzogenen Röhren überall, zum Teil herabgefallen und gerissen. Der Boden war mit Schlacke bedeckt, so daß man nur mühsam gehen konnte. Sonst war nichts Besonderes zu sehen in dem rauchgeschwärzten Raum, bloß die Schüreisen hingen noch an ihren Haken von der Wand, als ob nichts geschehen wäre. Geckeler trat zu dem mannshohen Kessel, dessen lange Thermometer weggeschmolzen waren. Er öffnete die Feuertür und schaute auf den Rost. Der war sauber, wie ausgekehrt, und im Aschenraum war alles leer. Geckeler hielt ein Streichholz in das Innere des Kessels, dann faßte er tief hinein. Sein Arm verschwand bis an die Schulter, und als er ihn wieder herauszog, hielt er eine lange, runde Bürste in der Hand, wie sie zur Säuberung von Abzugsrohren verwendet wird. Der Stiel der Bürste war aus Holz. Nein, hier, wo es brennen sollte, hatte nichts gebrannt. Geckeler warf die Bürste nach oben. Er stocherte dann lange in dem Haufen Koksschlacke, der zum Fenster hin anstieg. Von dort aus war der Koks in den Keller geschüttet worden. Doch er fand nichts, das ihn interessierte. Alles war zu glasharten Stücken zusammengesintert, und mit der dünnen Eisenstange kam er nicht bis auf den Grund des Haufens. Außerdem war dort 63
auch nichts zu erwarten. Geckeler wußte, wie Koks brannte, wenn er einmal Feuer gefangen hatte. Da blieb nichts übrig, egal, wie groß der Haufen war. Er warf die Stange weg, klopfte sich die Hände ab und wandte sich schon zum Gehen, als er in der Ecke, dort, wo wenig Koks lag, etwas Helles sah. Soll die Feuerwehr das machen, dachte er, die versteht mehr davon. Doch dann siegte die Neugierde: Er kletterte auf allen vieren über den Haufen in die dunkle Ecke, um zu sehen, was das Helle war. Er fluchte, weil er mit dem Kopf an Rohre stieß und die scharfkantige Schlacke ihm die Handflächen zerschnitt. Endlich hatte er es geschafft, er kauerte in der Ecke, riß ein Streichholz an und schob die Schlacke beiseite, die über dem hellen Gegenstand lag. Er zerrte, riß und stocherte, zerkratzte sich die Hände, fluchte aber nicht mehr. Dann hielt er in den Händen, was er da aus dem verglühten Koks gebrochen hatte: fast weiß, nur ein wenig Ruß drauf, ein Knochen, ein Röhrenknochen, nicht sehr stark. Von einem Erwachsenen ist er nicht, dachte Geckeler als erstes. Der Knochen roch noch nach verbranntem Fleisch. Der Inspektor hielt ihn weit ab von sich. Ein frischer Knochen hier im Heizungskeller? Was noch dazu gehörte, war offensichtlich mit dem Koks verglüht. Geckeler vergaß, wie unbequem er hier hockte, in dieser. Dunkelheit, daß ihm ein alter Eisenhaken in die Nieren drückte und er den Kopf nicht heben konnte, weil er sonst an die Rohre stieß. Er drehte den Knochen dicht vor seinen Augen hin und her, hielt die Luft an, wegen des Gestanks, und schloß die Augen. Nein, dachte er wieder, von einem Erwachsenen ist der nicht. So dünne, lange Knochen hat ein Erwachsener nicht. Ein Kind? Nein, das kann nicht 64
sein. Obwohl … man hört ja oft von solchen Sachen. Ein Kind. Paßt mir nicht in meine Fakten. Kind und Tramp und Landeshauptstadt und ein General? Paßt alles nicht. Nicht ein einziges Detail paßt zum anderen. Geckeler schüttelte den Kopf. Aber das ist es gerade. Das macht mich ja so munter.
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11 „Ziehen Sie die Vorhänge zu, Bonaire.“ General de Chalon drückte sich tief in die Polster des Wagens, warf einen letzten Seitenblick auf den schwarzen Trümmerhaufen und auf die verkohlten Strünke der Linden. „Ziehen Sie zu, machen Sie schon. Los, fahren wir!“ Der Wagen rollte lautlos den grünen Hang hinab. Chalon wollte das nicht mehr sehen. Es tat ihm weh, wenn er an das Schlößchen dachte, wie es vorher ausgesehen hatte. Kupfer, Zinn und alte Balken, blauer Schiefer, warmgetönte Steine – nein, er wollte nichts mehr sehen davon. Früher hatte es ihm nicht weh getan, wenn er zerschossene und verbrannte Häuser gesehen hatte. Planierte Städte, verwüstete Landschaften. Fronten. Das waren keine Häuser gewesen für ihn, keine Wälder. Das waren Kampfgebiete, Linien, Abschnitte, die er von den Karten kannte, Orte, die er einzunehmen hatte oder wenigstens zu zerstören, die er unbrauchbar zu machen hatte für die anderen. Es hatte ihm nicht weh getan. C’est la guerre, hatte er sich gesagt, pour la patrie! Er hatte mit seinem weichen Bleistift Striche auf der Karte gezogen, Kreuze gesetzt, Striche für die Feuerlinie. Kreuze für die Bombardements. Dann nüchtern die Verluste kalkuliert, an Gerät, an Menschen. Geruch von Rauch, verbranntem Fleisch, von Ekrasit war ihm sein Leben lang vertraut gewesen, hatte dazu gehört. In Flandern, in den Ardennen, im Schwarzwald und in Indochina. Erst in Algerien war er weit genug weg von den Gerüchen des Krieges. Da war er schon weit genug oben gewesen, General. Da hatte er auch die Brände seltener gesehen. Nur die schweren Geschütze manchmal gehört in den Nächten, wenn er schlaflos lag. Die Fronten hatte 66
er in dieser Zeit nur noch von oben gesehen, aus den kleinen Fenstern der klimatisierten Kabine des Flugzeugs, das ihn zum Hauptquartier brachte oder zurück, immer mit Begleitschutz von zwei Abfangjägern. Von dort oben hatte der Krieg so ausgesehen, wie sie es auf der Akademie gelernt hauen: bunt, nicht sehr beweglich, mit kleinen weißen, grauen Wölkchen drüber, mit zierlichen ebenmäßigen schwarzen Pilzen, die langsam in die Höhe stiegen und verweht waren, bevor sie das Auge des Betrachters erreichten. Aber im Jagdhaus hatte er gelebt, mit alten Büchern, die er nicht las, sondern nur betrachtete. Mit alten Waffen, die er nicht zu benutzen verstand und die er niemals von den Wänden nahm. Immer hing er nur die Neuerwerbungen dazu und freute sich daran, daß er sie besaß. Er, de Chalon, und nicht der andere, der sie ebenfalls auf der Auktion hatte ersteigern wollen. Im Jagdhaus hatten seine Morgenröcke gehangen, im Schrank seine weichen Stiefel gestanden, er hatte von dem derben bäuerlichen Porzellan gegessen. Nachts im breiten harten Bett hatte er den Wetterhahn knarren hören und das Mondlicht im Bach glitzern sehen, wenn er am Fenster stand, und er hatte das Röhren der Hirsche gehört, tief im Wald hinter den Hügeln. Hier war alles anders gewesen als in Chalon, wo es kaum noch Bäume gab, nur Reben und Sonne, Sonne das ganze Jahr, auch im Winter. Und es war anders gewesen als in der Dienstvilla in der Stadt am See, wo er abgeschirmt war von seinen jungen Männern, die gut aufpaßten, daß ihm nichts geschehen konnte – ihm, dem alten General. Im Jagdhaus hatten die schlanken Männer mit dem Katzengang nicht im Vorzimmer gesessen. Hier saßen sie in der Küche, spielten Karten oder liefen durch den 67
Wald, wo er sie nicht hatte sehen müssen. Im Jagdhaus, hatte der General gedacht, bin ich ein freier Mann. Frei, wie ich es in Chalon sein werde. Nach der Pensionierung. Jetzt aber war das Jagdhaus weg. Nicht so wie nach einer Bombe oder wie nach zwei Granaten mittleren Kalibers. Nichts war auseinander und hochgerissen worden, zerfetzt und zersplittert zurückgefallen. So wie ein Haus im Krieg zerstört wird, war es nicht zerstört. Es war friedlich niedergebrannt. Man hätte es wieder aufbauen können – was ist das schon, ein einziges Haus! De Chalon hatte Städte gesehen, die unter seinem Kommando erobert worden waren, die qualmenden Schutthaufen nach dem Beschuß, wenn die Kellersteine über den Dachbalken gelegen hatten, und er hatte sie wiedergesehen, fünfzehn, zwanzig Jahre später. Nichts war mehr zerstört gewesen, Häuser standen wieder, wie sie Hunderte von Jahren vorher dort gestanden hatten. So, als ob es keinen Krieg gegeben hätte, keine Asche und kein Blut, keine Schmerzen, keinen Tod. Und er hatte sich gefragt damals: Warum nur hab’ ich das zerschießen lassen müssen, was hat es uns denn eingebracht? Hat sich irgendwas geändert dadurch? Aber mit dem Jagdhaus war das anders, glaubte er zu wissen. Das war ein Stück von ihm gewesen oder er ein Teil des Hauses, des Hügels, den der Wald umgab. Der ewige Wald, der überall wieder nachwuchs, nach der Axt und nach den Bombenbränden. De Chalon hatte zu diesem Wald gehört, der Wald hatte ihn aufgenommen, merkte er jetzt, da er wegfuhr, um ihn niemals wiederzusehen. Der General richtete sich aus den Polstern auf. Morgen reiche ich meinen Abschied ein, dachte er. Ich muß einen Strich machen, auch wenn ich nichts erreicht habe. Hier will ich nicht begraben werden. 68
„Bonaire“, sagte er leise, „lassen Sie schneller fahren!“ Das Brummen des schweren Motors schwoll an. Der Adjutant lehnte sich wieder zurück. „Haben Sie für heute weitere Befehle, mon général?“ fragte er. De Chalon blickte ihn nicht an, als er sagte: „Ja, habe ich. Schreiben Sie, noch heute mein Pensionsgesuch, Bonaire. Ich habe mich entschlossen. Mich hält hier nichts mehr. Ich muß zurück, es gibt noch viel zu tun auf Schloß Chalon.“ Er schaute am Fahrer vorbei auf die Straße, sah die Bäume nicht an deren Rand, die Hügel nicht, die buntgemalten Fachwerkhäuschen im Tal, den Zwiebelturm der Kirche darüber. Er sah nur in sich hinein, sah alles auf der schwarzen Straße liegen, was er keinem je erzählt hatte, seinen wenigen Freunden nicht, keiner Frau, keinem Vorgesetzten und keinem Untergebenen. Er sah die Angst, die er lebenslang gehabt hatte, die Angst, von seinen zerlumpten Spielkameraden aus dem Dorf geschlagen zu werden, die Angst, auf der Akademie sich seines Namens nicht würdig zu erweisen, die Angst, im Krieg zu fallen, die Angst vor den Schmerzen einer Verwundung, seine Angst zu versagen – diese Angst, die ihn angetrieben, die ihm Beförderungen, später sogar Ruhm eingebracht hatte. Die Angst, die ihn zu siegen trieb. Er fühlte, daß er jetzt keine Angst mehr hatte, er würde nie mehr siegen müssen. „Ja, ich muß zurück“, sagte er und löste die Augen von der Straße, blickte zu Bonaire hinüber. „Sie wissen nicht, Bonaire, wie das ist, wenn man das Alter kommen fühlt. Und erst, wenn es dann da ist. Wenn Sie es zum ersten Mal merken, glauben Sie es nicht, halten Sie es für irgend etwas anderes, eine Stimmung, ein Unwohlsein. 69
Sie schieben das weg, oder es vergeht von selbst. Man hat ja zu tun, natürlich. Es verfliegt wie eine Wolke. Aber es kommt wieder, und dann wissen Sie, daß es keine Laune ist, daß es nicht vergehen wird – wie könnte es! Und dann, Bonaire, spätestens dann merkt man, daß man nicht mehr weg kann. Daß man in einem Kessel sitzt. Waren Sie mal in einem Kessel?“ Er schwieg einen Moment. „Aus einem starken Kessel ist es sinnlos, ausbrechen zu wollen. Sie wissen das, Bonaire.“ Der General atmete tief ein, faltete die breiten Hände auf der Uniform und lächelte. „Das ist, als ob Sie in einer Festung sitzen, ohne Lebensmittel, ohne Munition. Da wird alles sinnlos. Da ergeben Sie sich, das ist das einzige, was Sinn hat. Sie ergeben sich und haben dienstfrei.“ Lachend ließ der General alle Zähne sehen, die Falten seines ledrigen Gesichts vertieften sich. Jetzt habe ich vor nichts mehr Angst, dachte er. Seltsam. Er lachte laut auf. Ich bin mit allem fertig. Jetzt sollen sich andere fürchten. Immer noch lachend, schlug er seinem Adjutanten die fleischige Hand aufs Knie. Bonaire zuckte zusammen, versuchte aber sofort, es sich nicht anmerken zu lassen, und lächelte mit seinen Schnauzbartspitzen. Der junge Mann in Zivil auf dem Beifahrersitz warf einen kurzen, prüfenden Blick in den Rückspiegel, als er das harte Gelächter des Generals hörte. Während der General sich dröhnend schneuzte, sagte sein Adjutant mit der ihm eigenen leisen, festen Stimme: „Glauben Sie nicht, mon général, daß Sie einen Fehler machen, wenn Sie sich jetzt schon pensionieren lassen?“ De Chalon war noch mit seinem Taschentuch beschäftigt. Er winkte nur ab und brummte. 70
„Sie könnten es bereuen, mon général.“ Bonaire blickte den General nicht an, sprach weiter: „Wenn es Ihnen nun nicht gefällt im Ruhestand? Sie können dann nicht mehr zurück.“ „Warum sollte es mir nicht gefallen? Keinen Ärger mehr mit dem Ministerium, keinen mit der Truppe. Keine langweiligen, ermüdenden Besprechungen mehr, bei denen doch nichts rauskommt, weil alles schon beschlossen ist. Der lange Frieden bekommt mir nicht, Bonaire, der macht mich alt.“ De Chalon lachte wieder. „Es gibt keinen Frieden, mon général. Es gibt nur Waffenstillstand.“ Die Schnauzbartspitzen des Adjutanten spreizten sich ein wenig, widerwillig fast. „Genaugenommen“, setzte er hinzu, „gibt es auch den nicht. Waffenstillstand – wenn man es wörtlich nimmt, Stillstand der Waffen. Wo stehen sie still, mon général, wo?“ Er sah zum General hinüber, sah ihm fest in die Augen, kurz und scharf. Er sagte: „Ich würde es eine Gefechtspause nennen.“ „Wie meinen Sie das?“ „So wie ich es sage, mon général. Ich meine, die Waffen stehen nicht still. Man irrt, wenn man das denkt. Sie wissen das besser als ich. Die Waffen bewegen sich. Werden bewegt.“ Bonaire zupfte an seinem Bart und sagte undeutlich, als ob er etwas im Munde hätte: „Und da wollen Sie sich pensionieren lassen? Ich würde abraten. Sie hatten doch noch so viel vor in Chalon. Die Reparaturen, die so viel kosten. Alles von der Pension?“ Der General fuhr auf. „Was soll das heißen?“ „Nichts, ich rate Ihnen ab. Sonst nichts. Befehlen Sie, daß ich schweige?“ „Ach, gehen Sie zum Teufel“, knurrte der General und drückte sich in seine Ecke. 71
Sie fuhren durch ein Dorf und mußten bremsen. Kühe liefen auf der Straße. Der Bauer, der neben ihnen herging, beeilte sich nicht, die Tiere an den Rand zu treiben. Während er seinen Stock in die braungefleckten Flanken der Kühe stieß, warf er scheele Blicke auf den großen olivgrünen Wagen, hinter dessen Vorhängen man nichts erkennen konnte. Als der Wagen am Dorfausgang wieder beschleunigte, sagte der General in familiärem Ton: „Seien Sie nicht beleidigt, Bonaire. Sie raten mir ab. Das ist Ihr Recht, ich hab’s gehört, und dabei lassen wir’s. Aber mein Entschluß steht schon lange fest. Reden wir von was anderem, ja?“ „Wie Sie befehlen, mon général.“ Bonaire gab sich dienstlich. „Hat sich Heinrich schon gemeldet?“ fragte der General nach einer Weile. Bonaire schüttelte den Kopf. „Bis jetzt noch nicht. Aber es kann sein, daß er inzwischen angerufen hat. Soll ich Verbindung zur Zentrale …“ „Nein, lassen Sie nur. Das hat Zeit, bis wir dort sind.“ Nachdenklich fuhr der General fort: „Ich verstehe nicht, daß er nicht im Hause war. Er ist doch sonst zuverlässig, so ein richtiger Deutscher.“ Er lächelte. „Einer von der angenehmen Sorte, meine ich. Ich verstehe das wirklich nicht.“ Bonaire unterbrach ihn. „Heinrich hatte für gestern um Urlaub gebeten. Habe ich Ihnen das nicht übermittelt, général?“ „Kann mich nicht erinnern. Vielleicht hab’ ich es vergessen. Aber Heinrich nimmt doch sonst nie frei, er lebt ja nur für seinen Wald?“ „Er wollte eine Verwandte besuchen“, sagte der Adjutant. „Vor einer Woche rief er mich deswegen an, und ich sah keinen Grund, es ihm abzuschlagen.“ 72
„Ja, natürlich, Bonaire. Ich sag’ ja gar nichts. Aber daß er sich nicht meldet … paßt wirklich nicht zu ihm.“ Bonaire zog an seinen langen, dünnen Fingern. Die Gelenke knackten. Unangenehme Hände hat er, dachte der General. Bonaire sagte langsam: „Vielleicht … man könnte denken, daß er möglicherweise mit dem Brand … es waren schließlich allerhand wertvolle Dinge im Haus. Und für den Brand hat man noch keine Ursache ermitteln können … wenn etwas gestohlen worden ist, wird man es nie beweisen können.“ „Unsinn“, sagte der General nach einer Pause, „Heinrich würde so etwas nie machen. Nein, Heinrich niemals.“ Er unterbrach sich, dachte nach. „Es könnte höchstens sein, daß Heinrich von dem Brand gehört hat und fürchtet, man würde ihn beschuldigen. Wenn auch nur wegen Fahrlässigkeit. Und daß er deshalb sich nicht traut, zurückzukommen. Haben Sie die Adresse dieser Verwandten, Bonaire?“ Der Adjutant zögerte. „Nein. Ich glaube nicht, nein. Nach der Adresse habe ich ihn nicht gefragt. Er sagte nur etwas von einer Nichte.“ „Eine Nichte?“ Der General runzelte die Stirn. „Eine Nichte – Heinrich? Das kann nicht stimmen, Bonaire.“ „Na, dann ein Neffe oder eine Base. Sie wissen, General, ich verstehe das Deutsche nicht sehr gut.“ „Heinrich hatte überhaupt keine Verwandten. Ich weiß das, Bonaire. Er hat es mir selbst erzählt. Und unsere Abwehrleute haben das auch recherchiert.“ „Dann hat er uns angelogen!“ Bonaires Stimme wurde scharf. „Aber das paßt nicht zu ihm.“ De Chalon machte ein ratloses Gesicht, rieb sich den Hals und öffnete einen Kragenknopf. „Und Sie, Bonaire, Sie lügen mich nicht 73
an?“ sagte er dann plötzlich und lächelte undurchsichtig. „Vielleicht lügen Sie. Könnte das nicht sein? Wenn wir schon bei Hypothesen sind?“ Seine Augen blinkten hinterhältig. Er dachte: Soll er sich mal aufregen, der Schnauzbart. Soll er mir böse sein. Den brauche ich nicht mehr lange. Gemocht habe ich ihn sowieso nie. War mir immer viel zu tüchtig. Machte nie einen Fehler. Hatte auf alles gleich eine Antwort. Warum habe ich ihn nicht schon lange abgeschoben? Habe ich Angst vor ihm gehabt? Angst, daß er zuviel weiß? Im Krieg hätte ich ihn längst verheizt. Wie damals diesen Oberleutnant nordwestlich von Hanoi. Ging ganz einfach, Befehl ist Befehl. Aber jetzt? Dann sagte er in die kalten Augen seines Adjutanten hinein, in dessen schnellen Blick, den er gefühlt hatte: „Sie wissen mehr, als Sie zugeben, Bonaire! Ich weiß, daß Sie das wissen!“ In Bonaires Gesicht war nichts zu lesen, auch sein Bart bewegte sich nicht. Der General bekam die schmalen Augen, die er in Indochina gehabt hatte und als Kind schon manchmal, wenn er vom Erker seines Zimmers über den Schloßpark blickte, wo hinten im Wirtschaftsgarten die abgerissenen Dorfjungen Äpfel stahlen und den Herrensohn verhöhnten, der nicht auf seine eigenen Bäume klettern durfte. Diesen Blick, den alle gehabt hatten, die den alten Namen de Chalon trugen, spöttisch und grausam zugleich. „Ich weiß, daß Sie viel zuviel wissen, Bonaire“, sagte der General mit diesem Blick. „Aber das stört mich nicht. Weil ich genug von Ihnen weiß, verstehen Sie. Sie würden einen Fehler begehen, wenn Sie mich für einen senilen Trottel hielten, weil ich immer vom Alter rede. Einen schwerwiegenden Fehler.“ 74
So schnell, wie sie gekommen war, verflog die beißende Kälte aus den Augen des Generals. Er war wieder ein alter Mann mit viel Vergangenheit und wenig Zukunft. Wie beiläufig sagte er: „Ich möchte jetzt allein sein. Wir sind gleich in der Stadt. Nehmen Sie sich ein Taxi, fahren Sie zur deutschen Polizei, und machen Sie Dampf dort. Ich will wissen, was mit Heinrich ist.“ Sie hatten die ersten Häuser erreicht. Der Adjutant klopfte an die Trennscheibe, ließ halten und stieg wortlos aus. Als er den Schlag zuwerfen wollte, rief der General von drinnen: „Bonaire, Sie haben etwas vergessen!“ „Mon général?“ Der Adjutant beugte sich hinab, sein Gesicht war verschlossen. „Mon général?“ Der General hatte sich bequem zurückgelehnt. „Wissen Sie, was Sie vergessen haben?“ „Nein, mon général!“ Der General lächelte. Das Lächeln war nicht freundlich. Er sagte: „Erweisen Sie mir die Ehrenbezeigung, capitaine Bonaire.“ Der Adjutant zögerte. Das hatte der General noch nie von ihm verlangt. Aber dann richtete er sich auf, nahm die vorgeschriebene Haltung ein und winkelte den Arm zur Mütze. „Danke, capitaine Bonaire!“ sagte der General und erwiderte mit einer lässigen Geste den Gruß. „Das lassen wir von jetzt an so, Bonaire, verstanden?“ Er lächelte. „Sie können gehen, mon capitaine!“
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12 Am Abend saß Geckeler in Alwins Hinterzimmer, in das der nur Touristen ließ, wenn in der Hauptgaststube kein Platz mehr frei war. Hier, in der Trinkstube, stand ein roher Tisch mit hochlehnigen geraden Stühlen drum herum, und durch die Brettertür, die in den Korridor zur Küche führte, hörte man das Klappern der Töpfe, das Scheppern der schweren Steingutteller, das Lachen der Küchenfrauen, und man roch das Abwaschwasser. Hier saß Geckeler abends, wenn er ungestört sein wollte. Hier konnte er die enge Jacke ausziehen und über die Stuhllehne hängen, konnte die Ärmel hochkrempeln und den Knoten der Krawatte aufziehen. In der Trinkstube war es immer warm, wenn es draußen kalt war, und angenehm kühl, wenn man sommers im Restaurant schwitzte. Wenn sich einer wohl fühlen soll, muß er hemdsärmlig sitzen können, nicht frieren und nicht schwitzen, keinen Strick um den Hals fühlen und keinen Gürtel um den Bauch, das war Geckelers Devise. Der Mensch muß sich wohl fühlen, wenn ihm was einfallen soll. Dabei muß sich einer kratzen können, wenn ihn was juckt, nicht qualvoll warten müssen, daß das Jucken aufhört. Lenkt einen doch bloß ab! Man darf gar nicht merken, daß man da ist. Es muß einem schnurzpiepegal sein können, ob ein Weinfleck auf die Tischdecke kommt, man muß den Wein schlürfen können, wenn einem danach ist. Und man muß mit sich selber reden können. Das ist wichtig: mit sich selber reden. Sich ausschimpfen, wenn man was falsch gemacht hat am Tage, und man muß ein Verhör führen können. Den Vorverhören, den man sich am nächsten Tage holen wird. Das Verhör probieren, denn jedes ist anders, muß anders geführt, muß geübt werden. 76
Der Mensch muß seine Ruhe haben, wenn er an einer Sache dran ist. Deswegen saß Geckeler so gern in der Trinkstube, die selten benutzt wurde. Er fühlte sich hier wohl, so wie er sich auf dem kleinen Weinbauernhof seiner Eltern in der Wohnküche am wohlsten gefühlt hatte. Nicht in der Stube mit den dunklen, steifen Möbeln, die nur zu Festtagen betreten werden durfte. Dort hatte er immer ungern gesessen, an dem knarrenden Tisch mit dem brettsteifen weißen Tafeltuch drauf. Bedienung brauchte er in der Trinkstube nicht. An der Rückwand waren Fässer bis zur gewölbten Decke gestapelt, alte schwarzbraune Fässer, voll mit Wein. Geckeler zapfte selbst, wenn sein Henkelglas leer war, und machte jedesmal einen Kreidestrich an das Faß, aus dem er genommen hatte. Alwin schrieb dann später alles in sein Buch, und Geckeler zahlte die Monatsrechnung. Und wenn er essen wollte, genügte es, daß er aufstand, in die Küche ging, an den Töpfen roch und sich dann seinen gefüllten Teller mitnahm. Also, er hatte alles, was er haben wollte. Er hatte auch die Papiere, die er brauchte, vor sich auf den Tisch gebreitet, daneben den roten und den grünen Kugelschreiber. Mit dem grünen schrieb er alles, was gesichert war, Fakten, die bewiesen waren. Mit dem roten schrieb er Meinungen und unbestätigte Aussagen. Für eigene Vermutungen hatte er keine Farbe. Gedanken schrieb er nicht auf Papier. Die dachte er so lange hin und her, bis sie überflüssig wurden und wegfielen. Oder bis er für sie den grünen Kugelschreiber nehmen konnte. Heute lag ausnahmsweise noch der Dienstrevolver auf dem Tisch, weit weggeschoben, ein leeres Blatt Papier darüber. Habe ich doch wirklich vergessen, dem Erwin das Ding zu geben, damit er es einschließt, dachte 77
Geckeler und wunderte sich. Ist ja noch nie vorgekommen, daß ich den am Abend mitgenommen habe, das blöde Ding, das immer drückt, im Wege ist und einem die Sachen ausbeult. Die alte Spritze hab’ ich doch noch nie gebraucht. Man hat immer bloß Angst, daß man das Ding mal irgendwo liegenläßt und die Kinder damit nach Laternen schießen. Er grinste. Müßte man mal machen, dachte er. Oder dem Alwin in die Vitrine hinter der Theke ballern. Mal sehen, was der für ein Gesicht macht, wenn man auf diese Weise einen neuen Schoppen bestellt! Aber Geckeler wurde gleich wieder ernst, als er auf seine Papiere schaute. Ich verstehe noch immer nichts, dachte er, ich weiß viel mehr als gestern, mehr als heute morgen, aber ich verstehe es nicht. Ich habe noch keinen Faden, nicht einmal eine Idee, wo ich den Faden finden könnte. Ich denk’ mir nur, daß etwas faul ist, mächtig faul. Er seufzte, schlürfte einen langen Schluck und stellte das Glas wieder auf den Stapel Fernschreiben. „Ein Mulatte“, brummte er und kratzte sich zwischen den Schulterblättern, „der Kerl muß doch zu kriegen sein. Aber warum hat er …“ Sein Blick fiel auf ein anderes Schreiben: … handelt es sich eindeutig bei beiden Proben (Blut am Messer, Blut an Grassoden) um tierisches Blut, mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Hund. Geckeler brummte unzufrieden: „Ein Hund, ein Hund! Was soll ich mit dem Vieh? Paßt mir nicht ’rein, ist mir nicht genug.“ Knurrend drückte er den Stuhl zurück, trat an die Fässerwand und füllte sich das Glas. Den Schoppen in der Hand, lief er im Zimmer auf und ab. „Der Mulatte, vorbestraft, sein Messer … . Hundeblut! Das ist überhaupt noch nichts“, brummte er. Er blieb stehen, trank einen Schluck. „Aber vielleicht –, ist er gar kein 78
Mulatte. Vielleicht ist er Algerier oder Marokkaner, die haben ja noch so manche Rechnung mit den Franzosen offen. Das wäre schon eher was.“ Er setzte sich und laß sorgfältig noch einmal das Fernschreiben. „Hm“, sagte er dann, „ist nicht ’rauszulesen. Könnte aber sein. Der Name? Ach was, die leben doch alle unter falschem Namen, die Algerier. Pässe sind kein Problem für die.“ Warte nur, Geckeler, dachte er, das könnte passen, da bleib mal dran und wühle in der Richtung! Im Korridor näherten sich Schritte. Geckeler sah auf und blickte zur Tür. Herein trat schwungvoll Schlottke, knallte die Tür hinter sich zu und suchte einen Haken, auf den er seinen Regenmantel werfen konnte. Er fand keinen, hängte den Mantel an einen Spundhahn und warf sich krachend auf einen Stuhl. „’n Abend, Chef!“ Geckeler zog seine abgelegte Armbanduhr vom Tisch zu sich heran. „’n Abend, Ostschwede! Wird Zeit, daß Sie kommen.“ Schlottke blinzelte seinen Chef an, rieb sich die knochigen Hände, grinste. „War noch im Dienst, Inspektor, Dienst geht vor.“ Er deutete auf Geckelers Glas. „Ich hab’s ja nicht so gut wie Sie. Unsereiner muß sich bis in die tiefe Nacht das Regenwasser in den Kragen laufen lassen. Lauter unbezahlte Überstunden. Und das hörte ja nicht auf zu regnen heute! Wann kriegen wir Kriminalbeamte Dienstregenschirme, Inspektor?“ Schlottke schnaubte in ein riesiges weißes Taschentuch und sah mit seinen Pferdeaugen drüber weg zu Geckeler. „Schluß jetzt, Schlottke! Sonst kriegen Sie einen Auftrag.“ „Drohen Sie mir nicht, Chef. Das ist Mißbrauch abhängiger Personen. Sie wissen doch, ich bin in der Gewerkschaft.“ 79
Schlottke wühlte noch immer mit dem Tuch in seinen großen Nasenlöchern. Der Inspektor winkte ab. „Los, Eduardle, wir wollen zur Sache, kommen. Nehmen Sie Ihre Tischdecke vom Gesicht und erzählen Sie, was Sie recherchiert haben.“ Schlottke faltete sein Taschentuch sorgfältig zusammen und stopfte es in die Hosentasche. „Na gut“, meinte, er „ich will mal nicht so sein.“ Er blickte sich suchend im Zimmer um. „Sagen Sie, Chef, gibt es hier nichts zu trinken?“ Geckeler deutete mit dem Daumen auf die Fässer hinter sich. „Warum haben Sie sich kein Glas mitgebracht, Sie wissen doch Bescheid.“ Der Assistent rümpfte die lange Nase! „Ihren Essig kann man nicht trinken, das hält nur ein Schwabe aus, die sind offensichtlich säurefest. Gibt’s denn hier kein Bier für einen anständigen Berliner?“ „Na, dann holen Sie sich doch eins, Sie Berliner, Sie nachgemachter. Holen Sie sich von mir aus drei Bier oder sieben, aber beeilen Sie sich, damit wir endlich zu Stuhle kommen.“ Als Schlottke dann sein Seidel vor sich hatte, fing er an. „Also“, sagte er und hob den langen, dürren Zeigefinger, „wie angewiesen, habe ich meine Nase überall ’reingehalten. Zuerst war ich in Beurenhofen. Mistiges Dorf, kann ich Ihnen sagen, Inspektor. So viel Kuhscheiße auf der Straße, daß man kaum laufen kann …“ „Schwätzen Sie zur Sache, Eduardle!“ „Bin dabei, Chef. Bin dabei!“ Schlottkes Zeigefinger fuchtelte heftig. Dann fuhr er fort: „Gehört alles dazu, Chef! Wenn nämlich dieser Kuhdreck nicht gewesen wäre, wäre ich nicht ausgerutscht und hingefallen …“ 80
Geckeler knurrte unheilverkündend, nahm das Blatt Papier von der Pistole und zog die Waffe demonstrativ zu sich heran. Der Assistent grinste und hob die Stimme. „Wäre ich also nicht hingefallen … Die ganze Hose versaut, Chef. Im Dienst! Das ersetzt mir keiner!“ „Schlottke!“ drohte der Inspektor, entsicherte die Waffe und legte sie hart auf den Tisch zurück. „Geduld, Chef, Geduld! Lassen Sie mich die Ursachen darlegen, die zum Ermittlungsergebnis geführt haben. Sie sagen doch selbst immer: Erst wenn man die Gründe kennt, kriegt man den Fall in den Griff. Oder?“ Geckeler beherrschte sich mühsam und drückte seinen breiten Hintern fest auf den Sitz. Man konnte ihm ansehen, daß er lieber aufgesprungen wäre, um seinen Assistenten bei der Krawatte zu packen. Schlottke wußte das und erzählte jetzt ohne Schnörkel weiter: „Ich gehe also in das nächste Haus ’rein, um mir den Dreck abzuwaschen, dabei rede ich mit der Bauersfrau, was man eben so redet bei solcher Gelegenheit, und als sie mich fragt, was ich im Dorf will, sag’ ich ihr, daß ich von der Versicherung sei, wegen des Brandes im Jagdschloß, und ob sie etwas darüber wüßte. Und stellen Sie sich vor, Chef, die wußte auch was und schimpfte gleich los, daß heutzutage die Verbrecher frei rumlaufen, die Brandstifter und die Mörder. Und die Polizei, die täte sich nur noch um die Studenten kümmern. Na, und all das, Sie kennen das ja. Ich geb’ der Frau fleißig recht, denn erstens bin ich ja auf ihren Seiflappen angewiesen, und zweitens will ich was wissen. Und da erzählt sie mir, daß sie am Tag des Brandes Landstreicher gesehen hat. Solche mit Bart und langen Haaren. Und sie sagt, daß die in Richtung auf das Jagdschloß gelaufen sind, aber nicht 81
auf der Straße durch das Dorf, sondern außen ’rum, an den Gärten entlang. Drei Mann sollen es gewesen sein, noch ziemlich junge Burschen, aber sie hat sie nur von weitem gesehen. Einer von den dreien, sagt sie, und das will sie beschwören, war ein Neger.“ „Ein Neger?“ Geckeler ließ die Hand auf den Papierwust fallen, griff sich die Waffe und sicherte sie wieder. „Der Mulatte war also nicht allein …“ „Sehr richtig, Chef. Messerscharf kombiniert. Sie können das übrigens mit grüner Tinte schreiben. Ich hab’ schon nachgeprüft, ob die Aussage der Frau was taugt. Ich hab’ mir gedacht: Fragst du mal die Fahrkartenverkäufer am Fährhafen. Denn so, wie die drei ausgesehen haben sollen, konnten die nicht aus unserer Gegend stammen.“ „Und?“ Schlottke spitzte die Lippen. „Bei den Fahrkartenmenschen habe ich die gleiche Beschreibung noch mal gehört. Ganz brauchbar. Reicht für ein Signalement.“ „Und die sind von drüben gekommen?“ „Ja, mit der Zwölfuhrfähre. Dann sind sie gelaufen. Die Fähre soll halb leer gewesen sein, nur ein paar LKWs. Die sind aber in Richtung Stadt gefahren. Hier steht alles drin.“ Schlottke schob sein aufgeschlagenes Notizbuch zu Geckeler hinüber. Der Inspektor las lange und sorgfältig. „Eine Klaue haben Sie, Ostschwede“, brummte er zwischendurch, ohne aufzusehen. Schlottke leerte ungerührt sein Seidel. „Tja, Inspektor“, sagte er, „das dürfte dann wohl alles sein. Der Rest ist Routine.“ „So?“ 82
„Natürlich. Für mich gibt’s keine Fragen mehr. Üblicher Fall. Drei Gammler, schlechtes Wetter, kleiner Einbruch in unbewohntes Jagdschloß, vielleicht was Wertvolles gefunden, und damit es keiner merken soll, ein bißchen Feuer in die alte, zundertrockene Bude gelegt. Keine Spuren mehr und fertig. Das sind ganz kleine Fische, Chef. Mit dem Signalement, das wir haben, rennen sie bald irgendwo ins Netz.“ „Und das Hundeblut? Das Messer?“ „Der Hund wird sie überrascht haben. Das ist der Fehler in der Rechnung, aber da war alles schon gelaufen, da konnten sie nicht mehr zurück.“ „Und der Waldhüter?“ „Ja, Chef, der wird sie wohl auch überrascht haben …“, Schlottke hob die Schultern, „da haben sie durchgedreht und …“ „Sie haben ihn mitverbrannt?“ „So denke ich mir das, Chef.“ „Hm.“ Geckeler kratzte sich lange im Nacken. „Hm. Da ist was dran. Das scheint mir möglich. Denn …“, er zögerte, „wegen eines kleinen Einbruchs zünden solche Leute nicht gleich die Bude an, vor allem so eine teure Bude! Deswegen nicht. Aber, wenn ihnen eine Leiche passiert ist – kommt ja vor im Gedränge, in der Angst, eine übern Schädel, und der wird dann nicht wieder, war ja ein alter Mann –, dann lohnt sich schon so ein Feuerchen. Dann muß man! Weil’s nicht mehr um zwei Jahre geht oder um vier, sondern um zwanzig oder lebenslänglich.“ „Eben“, sagte Schlottke. „Für mich ist der Fall klar. Ich tippe: Einbruch, Überraschtwerden, Totschlag, Brandstiftung, Flucht. Ganz gewöhnlich, so wie immer. Sollte nicht soviel werden, aber … na ja.“ 83
Er schwieg eine Weile, drehte sein Seidel hin und her. Dann sagte er: „Scheißberuf, den wir haben, Chef. Immer den Dreck aufrühren. Der Schröder macht das schon seit über zwanzig Jahren. Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum der säuft. Ich geh’ mir auch einen Schnaps holen.“ So schlecht ist unser Beruf gar nicht, dachte Geckeler, als sein Assistent aus der Tür war. So schlecht ist der gar nicht. Und der Schröder säuft auch nicht deswegen. Der hat andere Gründe, ganz andere. Dreck ist überall, dachte er weiter, Abfall gibt’s immer. Gar nicht schlecht, den aufzurühren, kann man gar nicht oft genug machen und genau genug. Damit die anderen sehen, daß er da ist, damit sie nicht drüber weggehen können. Zum Thema, das ihnen paßt. Nein, nein, Dreck aufrühren ist wichtig. Ächzend stand er auf, zerrte sich die Krawatte über den Kopf und warf sie auf eine Stuhllehne, dann füllte er sein Glas neu und setzte den zweiten Strich aufs Faß. Drüben in der Gaststube lärmten sie jetzt. Schwere Gläser stießen auf die Tische, ein Betrunkener brüllte und wurde zum Schweigen gebracht. Andere sangen, schrien durcheinander. Eine Fistelstimme kommandierte: „Schnauzen ’runter, Flieger von vorn, Gaaas!“ Nein, dachte Geckeler, das ist mir alles viel zu einfach, viel zu klar. Das Leben ist ganz anders. Die Wahrheit ist immer krumm. In Gedanken nahm er seine Waffe vom Tisch, zielte aufs Fensterkreuz und steckte sie dann in die Hosentasche. „Erst hole ich mir den Mulatten“, sagte er laut. „Und den lass’ ich reden, der wird reden. Und wenn er dann geredet hat, dann mach’ ich was.“ Langsam trank Geckeler sein Glas leer.
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13 Geckeler stopfte den Wecker unter das Kopfkissen und schwang sich mit geschlossenen Augen aus dem Bett. Gedämpft klingelte der Wecker weiter, aber der Inspektor kümmerte sich nicht darum, ging im Schlafanzug durch das Zimmer, durch den engen Schrankraum, ins Bad. Als das Läutewerk mit einem Klicken verstummte, hatte er schon zwei Kopfschmerztabletten geschluckt, hatte nachgespült und Zahnpasta auf die Bürste gedrückt. Er blickte nicht in den sanft beleuchteten Spiegel, schloß die Augen wieder, als er den Schaum auf Zunge und Gaumen prickeln fühlte. Vor dem Kaffee wollte Geckeler nichts sehen, und er dachte auch an nichts. Nie. Er spuckte den Schaum aus, spülte, wusch sich flüchtig und stellte den Kessel aufs Gas, bevor er sich abtrocknete. Gemahlenen Kaffee ins Glas, kochendes Wasser drauf, den Löffel in den braunen Schaum gesteckt und kurz gerührt, geblasen, schließlich der erste Schluck. Danach begann Geckeler zu denken: Welches Hemd ziehe ich an? Welche Krawatte paßt dazu? Er wußte, es würde ihn ärgern, wenn er im Laufe des Tages feststellte, daß er falsch gewählt hatte. Dann: Welche Schuhe? Wie ist das Wetter? Thermometer, Barometer. Er schaute aus dem Küchenfenster, dann wußte er Bescheid. Erst danach schnitt er Brot und stellte, was er sonst noch brauchte, auf den Tisch. Die Pfanne auf die Flamme, die Eier, den Speck. Schlürfte laut von seinem dampfenden Kaffee. Kaffee schmeckte ihm nur, wenn er heiß war, frisch gebrüht. Geckeler frühstückte immer in der Küche, obwohl er die moderne, festinstallierte Kücheneinrichtung nicht leiden 85
konnte. Nie kann man was umstellen, nicht das geringste! Und alles sieht so weiß und kalt aus, wie im Krankenhaus, wie in der Leichenhalle. Kacheln und Chrom. Aber frühstücken muß der Mensch in der Küche, wenn sie auch scheußlich aussieht. Glatt, nicht warm und winklig wie die Küchen früher. Frühmorgens muß es nach Kaffee riechen, nach heißer Pfanne, nach aufgeschnittenem Brot, und man muß krümeln können und Wirtschaft haben, Bewegung. Dazu ist eine Küche da. Schlimm genug, daß es keine Herde mehr gibt mit Feuer drin, mit heißer Platte, auf der die Wassertropfen zischend tanzen. Geckeler setzte sich an den schmalen Tisch und strich Brote. Gefrühstückt hatte er schon in der Küche, als seine Frau noch lebte. Auch damals hatte ihm diese Küche nicht gefallen, wenn er allein drin saß. Für zwei war sowieso kein Platz. Gut, daß er ein Frühaufsteher war und seine Frau gern lange schlief. War er früher vom Angeln zurückgekommen – heute angelte er nicht mehr –, dann hatte er mit seiner Frau ein zweites Mal gefrühstückt, bei schönem Wetter auf dem Balkon der Neubauwohnung. Die Frau wollte es so, sie liebte den Balkon mit Wäscheleinen und Blumen, er ging nach Osten, man konnte nur Dächer sehen und einen Rebhang, der den Horizont abschloß. Der See lag auf der anderen Seite des Hauses, wo die Küche war und das Bad. Geckeler hatte darauf bestanden, daß keine Gardine vor das Küchenfenster gespannt wurde. Wenigstens morgens beim Essen wollte er den Blick auf den See haben, auf die Wolken darüber, auf seinen See, an dem er jede Bucht kannte, jeden Steg. Heute dachte Geckeler nicht an den See, betrachtete nicht den diesigen Schleier, der auf der Wasserfläche lag 86
und für den Tag gutes Wetter versprach. Er stocherte in seinem Rührei, fischte die Speckstücke heraus, die Eier waren früher auch mal frischer, alles Kühlhaus, alles künstlich, Ob die überhaupt noch Hühner dazu brauchen? Vielleicht machen sie die Dinger heute aus Erdöl, schmeckt fast so. Aber er aß weiter. Als er eine Stunde später durch die gewundenen schmalen Straßen der Siedlung ging, dachte er nicht mehr an das fade Frühstück, schaute nicht auf die Betten, die zum Auslüften in den weitgeöffneten Fenstern lagen, hörte die Staubsauger nicht, die in den Wohnungen summten, rümpfte nur kurz die Nase, als er auf die Hauptstraße kam, in den Auspuffgestank, den die Autokolonnen hinterließen. Er überquerte schnell die Fahrbahn und stieg die Treppen zur Seepromenade hinunter. Sein üblicher Weg ins Amt, am weißgestrichenen Geländer entlang, unter sich an den granitenen Quadern das schmatzende Geräusch der kurzen Wellen, über sich das Dach der blühenden Robinien. Auf diesem Promenadenweg, auf dem er morgens nur selten jemandem begegnete, pflegte er zu beschließen, was er im Laufe des Tages tun würde. Jeder Arbeitsgang hatte seinen Platz bei Geckeler. Geplant wurde morgens auf der Promenade und ausgewertet abends bei Alwin. Geckeler liebte die Regelmäßigkeit in diesen Dingen. Er setzte sich auf eine der Bänke am Jachthafen. Früher hatte er hier die Morgenzeitung gelesen, wenn das Wetter es zuließ. Aber seit ein paar Jahren hielt er keine Zeitung mehr. Hinter der grobgefügten Hafenmole schaukelten die teuren weißen Boote an den Stegen. Eine der Jachten hatte aufgeklart, setzte Segel und schob sich in die Ausfahrt. Der Wind bauschte das Leinen, drückte das Boot tiefer ins Wasser, Blöcke klapperten hölzern an 87
Deck. Der Steuermann unterhielt sich lachend mit einer Frau, die auf dem Kajütdach saß und in die Segel hinaufschaute. Schöner Schlitten, dachte Geckeler. Kostet nicht unter hunderttausend. Erblickte den kleiner werdenden Segeln hinterher und hielt die Hand über die Augen. Schmerzhaft funkelten die Beschläge in der Sonne. „Wird Sommer“, murmelte er dann und stand auf, obwohl er noch Zeit gehabt hätte. Im Büro war er der erste, wie immer, öffnete die Fenster weit, setzte sich an seinen Schreibtisch, schob den Papierstapel breit auseinander, griff zum Telefonhörer und sagte: „Morgen. Ich bin noch nicht da, verstanden?“ Er wollte den Hörer niederlegen, hörte dann aber doch auf das, was der Beamte vom Nachtdienst durchgab. „Was ist, was soll sein?“ fragte er unwirsch … . „Ja, natürlich suchen wir den Waldhüter noch, das wissen Sie doch. Ja! – Wie? Sie haben eine Wasserleiche? Was geht uns das an, soll die Seepolizei machen. Machen die doch sonst allein … Wie alt war der Mann? Anfang Zwanzig? Was soll uns denn der? Der vermißte Waldhüter ist dreiundsechzig Jahre alt, Sie Spaßvogel. Der Nachtdienst scheint Ihnen mächtig zugesetzt zu haben, wird Zeit, daß Sie ins Bett kommen, Gscheidle. Was soll ich mit ’ner zwanzigjährigen Wasserleiche, kann ich nicht gebrauchen, Sie! Sehen Sie zu, daß Sie bald ins Bett kommen!“ Geckeler knallte den Hörer auf die Gabel. „Zwanzig!“ brummte er abschätzend und beugte sich über die Papiere. Zwanzig, dachte er, zog die frischen Fernschreiben aus dem Papierwust und begann zu lesen: Banküberfall dann und dann, Täter hält sich vermutlich im Bodenseegebiet auf, ist im Besitz von Feuerwaffen und so weiter. 88
Raubmord in Sankt Gallen, Täter vermutlich in die BRD geflüchtet. Bregenz, bewaffneter Raubüberfall auf Tankstelle, Täter hält sich vermutlich im grenznahen Bereich auf. München, Mord an Prostituierter, Signalement des mutmaßlichen Täters: etwa 20 Jahre, Argentinier, weiß … Alles nichts für mich, dachte Geckeler enttäuscht. Nur das Übliche, wie jeden Morgen. Was soll ich mit ’nem Argentinier, zwanzig Jahre. Da fiel ihm etwas ein, er griff zum Telefon, wählte, wartete, klopfte ungeduldig mit dem Bleistift auf den Schreibtisch. „Mensch, haben Sie einen Schlaf, Schlottke!“ sagte er nach fünf Minuten. „Was treiben Sie bloß die ganze Nacht? Schlafen? Na, Ihre Stimme hört sich nicht danach an. Sie sollten das Schnapstrinken sein lassen, bekommt Ihnen nicht … Sind Sie jetzt endlich wach? – Dann lesen Sie mir mal schleunigst die Beschreibung der Gammler vor, die Ihnen der Fahrkartenmann gegeben hat.“ Geckeler hörte zu und wiederholte: „Ein Langer und ein Kleiner. Einer mit Bart, einer ohne. Einer mit Mantel, einer mit Anorak … Ja, natürlich, der Mulatte. Von dem will ich doch nichts wissen, den haben wir doch aktenkundig. Haarfarbe? – Ist nicht? – Hatten Kapuzen auf, ach so. Sonst nichts? Na schön. Dann sehen Sie mal zu, daß Sie schnell herkommen, Kollege Kriminalhauptmeister. Wie spät es ist, werde ich Ihnen lieber nicht sagen, sonst brechen Sie sich unterwegs noch die Beine … Ach so, ja, Sie fahren ja mit Ihrem Stinkeding, Sie Umweltschmutzfink … Gut, gut. Es verlangt mich dringend nach Ihnen, Ostschwede. Dringend! Vielleicht fahren wir ein bißchen spazieren. Ende. Bis gleich.“ Geckeler behielt den Hörer in der Hand und wählte noch einmal die Nummer des Kollegen vom Nachtdienst. 89
„Gscheidle“, sagte er, „wie groß ist denn Ihre Wasserleiche? Ich hab’ mir’s überlegt, vielleicht nehme ich Sie Ihnen ab … Zirka eins sechzig, nicht schlecht. Kann ich gebrauchen, Gscheidle. Rühren Sie das ein mit der Seepolizei, daß die uns hinbringen, so in einer Stunde, ja?“ Später stand Geckeler am Steuer des Polizeibootes und unterhielt sich mit dem Bootsführer, der hinter ihm saß. Man kannte sich aus alten Zeiten. „Solche Motoren hätten wir damals haben sollen“, sagte der Inspektor und lachte. „Da wäre uns keiner weggefahren.“ „Damals“, sagte der Bootsführer, ein sonnenverbrannter, zerknautschter Kerl, und spuckte aus dem Fenster. „Gibt ne ganze Menge, die heute schneller sind als wir, Geckeler. Die können sich die gleichen Maschinen einbauen lassen oder bessere, wenn sie mehr Geld haben. Gibt genug Boote, hinter denen wir nicht herkommen. Da hat sich nichts geändert.“ Aber der Inspektor hörte gar nicht zu. Er hatte beide Hände auf das kleine Steuerrad gelegt, stand breitbeinig da und ließ das Boot Kurven fahren. Schlottke, der das nicht gewohnt war, taumelte in der engen Kajüte hin und her und suchte vergeblich nach einem Halt. Immer wenn er sich irgendwo festgeklammert hatte und zum Stehen kam, ließ Geckeler das Boot einen Satz zur Seite machen, gab mehr Gas oder verringerte das Tempo ruckhaft, so daß der Assistent wieder durch den Raum schoß. Er fluchte und sagte dann: „Ist lange her, Chef, daß Sie das letzte Mal so ein Boot gefahren haben, wie? Sie haben das offensichtlich nicht mehr so recht im Griff, wahrscheinlich war’s früher einfacher.“ Der Bootsführer grinste. Geckeler rächte sich mit einer besonders scharfen Kurve, so daß Schlottke krachend an die Seitenwand 90
flog, dann übergab er das Steuer an den Bootsführer. „Ich werde unsere Landratte, den Ostschweden, anbinden müssen, sonst wird er uns noch seekrank. Dabei ist gar kein Wellengang heute. Wie soll’s Ihnen erst gehen, Schlottke, wenn wir Sturm haben? So was ist nun am Bodensee aufgewachsen …“ Dann nahm er seinen Assistenten um die Schulter. „Kommen Sie, wir setzen uns nach draußen, da kriegen wir gute Luft aus erster Hand, und wenn Ihnen komisch werden sollte, dann können Sie gleich … brauchen wir hier nichts aufzuwischen …“ Sie setzten sich auf die schmale Bank am Heck des Bootes. Unter ihnen vibrierten brüllend die Motoren, der Fahrtwind riß an den Haaren, und das nahe Ufer zog schnell vorbei. Schlottke sagte, jetzt wieder dienstlich: „Der Chef hatte nach Ihnen gefragt, Inspektor. Wollte Sie dringend sprechen. Sie waren gerade draußen, kurz bevor wir losgegangen sind. Ich hab’ mir gedacht, Ihnen wär’s lieber, wenn Sie erst mal … hab’ dem großen Chef gesagt, daß Sie schon unterwegs sind.“ „Gut so“, sagte Geckeler. „Zum Pfitzer komm’ ich noch früh genug. Wer weiß, was er wieder hat. Ich kann jetzt keinen anderen Fall gebrauchen.“ „Der Kriminalrat meinte, es wäre was mit den Franzosen. Ein Offizier wäre bei ihm gewesen. Hörte sich unerfreulich an, wie der große Chef das sagte. Sehr unerfreulich …“ „Aha, das gefällt mir schon besser“, sagte Geckeler. „Viel besser gefällt mir das. Daß die sich rühren, die Franzosen. Wird auch Zeit. Ist ja wohl üblich, wenn einem die Bude abbrennt, solch eine teure Bude noch dazu, daß man sich da mal mit der Polizei ins Benehmen setzt. Wird wirklich Zeit. Heute haben wir Mittwoch, nicht?“ 91
„Ja.“ „Am Montag war der Brand. Die haben sich sehr viel Zeit gelassen.“ Geckeler knöpfte seine Jacke zu, der Fahrtwind war kühl, seit sie im Schatten hoher Uferbäume fuhren. „Haben Sie den Feuerwehrbericht schon gelesen, Schlottke?“ „Nein. Steht was drin? Ich meine, mehr, als wir sowieso schon …“ „Eigentlich nicht. Das, was ich mir vorher dachte. Der Brandherd muß im Keller gelegen haben. Ein starker Brandherd, schreiben sie.“ „Also nichts mit schadhafter Elektroleitung oder umgefallener Laterne oder so was Ähnliches?“ „Nein, was Kräftiges, Durchschlagendes. Kein langsam sich entwickelnder Brand. Aber“, Geckeler zuckte die Schultern, „was Genaues wollen sie dazu nicht sagen. Wissen nichts.“ „Explosion vielleicht?“ fragte Schlottke. „Nein“, antwortete der Inspektor. „Dachte ich auch erst, als ich mir die Ruine angesehen habe. Aber Explosion schließen die von der Feuerwehr aus. Fehlen von Druckwellenspuren und so weiter. Nichts.“ „Aber die Heizung im Keller war doch gar nicht in Betrieb, Chef.“ Schlottke zog sein riesiges Taschentuch hervor, stopfte es in die Nasenlöcher und schnaubte. „Eben“, meinte Geckeler. „Die Heizung kann der Brandherd nicht gewesen sein. Eben, eben!“ „Verstehe ich nicht“, sagte Schlottke und schnüffelte seine Nasenlöcher frei. „Ich auch noch nicht so ganz“, erwiderte der Inspektor und kratzte sich den Hals unter dem Schlipsknoten. „Aber daß es Brandstiftung gewesen ist, steht für mich fest.“ 92
„Das hab’ ich ja gestern schon gesagt, Chef. Die drei Gammler!“ „Hm.“ Geckeler sah seinen Assistenten an. „Womit macht man sich einen starken Brandherd, Schlottke?“ „Na, mit Benzin würde ich sagen, zum Beispiel. Oder irgendwas Chemisches.“ „Einverstanden.“ Der Inspektor zog den Schlipsknoten auf. „Einverstanden, Schlottke. Aber … aber tragen Sie so was mit sich ’rum, wenn Sie Landstreicher sind?“ „Können sie ja im Haus gefunden haben.“ „Nein. Benzinkanister stehen in den Garagen, weiter unten. Drei volle Kanister. Die Türen haben Sicherheitsschlösser, die hab’ ich erst aufgemacht.“ „Dann weiß ich auch nicht, Chef.“ „Eben, da sind wir uns einig, Ostschwede.“ Geckeler stand auf, packte die niedrige Reling und ging zum Bug des Bootes. „Kommen Sie“, rief er über die Schulter zurück. „Wir sind gleich da.“ Der Motorenlärm schwoll ab, das Boot verlor Fahrt und glitt in weichem Bogen in eine schilfbestandene Bucht. Quarrend flogen Enten auf, Bleßhühner ruderten nickend zwischen die gelben Halme. Hier wehte kein Wind. Es roch nach fauligem Schilf, nach Schlick, nach Algen. Die Sonne strahlte heiß, fast drückend. Der Bootsführer stellte den Motor ab. Stille. Nur draußen im freien Wasser pfiff ein Haubentaucher, im Schilf raschelten Wasservögel, piepten, plätscherten. Geckeler stand am Bug, hielt ein Tauende über Bord und warf mit gekonntem Schwung die Schlinge auf den Pfahl eines Anglersteges, der durch den breiten Schilfgürtel bis ins offene Wasser führte. Knarrend rieb sich gleich darauf der Rumpf des Bootes am Holz. Der Inspektor sprang auf den Steg. „Wo liegt er?“ fragte er den Bootsführer. 93
„Gleich rechts vom Steg. Ein Angler hat ihn rausgeholt, heute früh. Wir wollten ihn erst wegbringen, aber dann haben wir gedacht, ist vielleicht besser, wenn ihr erst mal …“ „Gut.“ Geckeler lief über die wippenden Planken dem Ufer zu. Schlottke folgte ihm, vorsichtig auftretend. „Und wo ist er angetrieben?“ fragte er den Seepolizisten. „Hier vorne am Steg, hat der Angler gesagt. Hatte sich mit dem Mantel in einem Nagel verhakt.“ Dann standen sie zu viert auf dem sumpfigen Wiesenboden. Der Uniformierte, der bei der Leiche Wache gehalten hatte, schwatzte drauflos, er schien froh, nicht mehr allein sein zu müssen mit dem länglichen Paket unter der schwarzen Plastikbahn. „Wird ja Zeit, daß einer komme tut! ’s wird einem ganz verkehrt, wenn er ewig bei der Leich’ sitze muß“, schwäbelte er und begrüßte die Hinzugekommenen. „Gewohnheitssache“, brummte Geckeler und hob mit spitzen Fingern eine Ecke der Plastikbahn an. Schlottke sah dem Inspektor über die Schulter, sah auf das kleine spitze Gesicht, weiß, fast grünlich, Sommersprossen traten scharf hervor, die langen dunkelblonden Haare hingen strähnig wirr, die farblos wirkenden Augen waren weit aufgerissen. Saftig dunkelgrüne Wasserpflanzenblätter lagen dem Toten auf der Brust. Seine schmalen Handgelenke ragten weit aus den abgeschabten Mantelärmeln, die Füße steckten in abgetretenen Fransenstiefeln. Durch den nassen Rollkragenpullover zeichneten sich die Rippen ab. „Könnte auf die Beschreibung passen“, sagte Schlottke und wandte sich ab. „Papiere?“ fragte der Inspektor die beiden Uniformierten. 94
„Hatte nichts in den Taschen.“ „Irgendwelche Gegenstände?“ „Haben wir alles in die Tüte dort gesteckt.“ Geckeler deckte den Toten wieder zu. „Und wie ist er reingekommen ins Wasser, Ihrer Meinung nach?“ fragte er den Bootsführer. „Da kann man nichts behaupten. Ich würde sagen, er muß vorn Sieg gefallen sein oder gesprungen. Lange kann er noch nicht drinliegen, da haben wir so unsere Erfahrungen, und der Wind steht seit gestern abend zum andern Ufer ’rüber, also kann er nicht von draußen in die Bucht reingetrieben worden sein. Ich denke, daß es hier passiert ist.“ „Ja, denke ich auch“, sagte Geckeler langsam. „Ich sehe mich mal ein bißchen um. Sie können wieder losfahren, wenn Sie wollen“, sagte er noch zu den beiden Seepolizisten. „Unsere Spurenleute müssen ja bald hier sein, die nehmen uns nachher mit.“ Als das Motorboot die Bucht verlassen hatte und nur noch ein leiser werdendes Brummen zu hören war, fragte Geckeler: „Was halten Sie davon, Schlottke?“ „Wird schon der Junge sein. In ein paar Stunden wissen wir’s. Der Fahrkartenverkäufer wird ihn sicherlich wiedererkennen.“ „Na schön, und sonst?“ „Erst mal den Arzt abwarten, die Obduktion.“ Schlottke bückte sich und griff nach dem Plastikbeutel, schüttete den Inhalt auf einen Bogen Papier. Vor ihnen lagen ein Nylonkamm, eine aufgeweichte Packung mit drei Zigaretten. „Französische“, sagte Schlottke, der die Marke kannte. „Starkes Kraut, ganz billig.“ Außerdem ein einfaches Feuerzeug, wie man es in jedem Tabakladen der Welt kaufen konnte, eine abgegriffene Geldbörse aus 95
schwarzem Leder. „Soll ich?“ fragte Schlottke. „Oder lassen wir das die Spurenleute machen?“ „Machen Sie’s vorsichtig auf“, drängte Geckeler ungeduldig. „Nur an einer Ecke anfassen, nehmen Sie die Tüte dazu. Tun Sie nicht so neu!“ Heraus fielen sieben Mark achtzig, drei Schweizer Franken, einige Rappen, ein spanisches Pesetenstück. „Alles?“ fragte der Inspektor. „Keine Zettel, Fahrscheine, nichts?“ „Nichts. Nur das Geld.“ Schlottke ließ das Portemonnaie ins Gras fallen. „Das reißt einen ja nicht gerade aus dem Anzug“, sagte er enttäuscht. Da hörten sie schon den Wagen der Spurensicherung von der Straße den Wiesenweg herabfahren. „Los, Schlottke“, sagte der Inspektor und zog sich die Jacke glatt. „Jetzt fängt die Arbeit erst an.“ Hinter dem Kombi der Spurenleute näherte sich schaukelnd der Leichenwagen.
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14 Nicht nur am See war der Frühlingstag warm geworden. Ein Himmel wie abgewaschen, seidig glänzend, blau. Das vorausgesagte Mittelmeerhoch griff nach ganz Europa. Weit in den Norden hinauf und tief nach Osten. Zufuhr warmer Meeresluft bis Mittelskandinavien und Zentralrußland, hieß es im Wetterbericht. Im Süden öffneten die Walnußbäume ihre klebrigen, dicken Knospen und schoben kleine Fächerblätter zur Sonne. Die saftig gelben Löwenzahnwiesen trugen schon die ersten weißen Tupfer der Samenstände. Bald würde das blaugrüne fette Gras den Löwenzahn überwuchert haben, bald würde es abgeschnitten werden von den hell klappernden Messerleisten der Mähmaschinen. Bald würde Sommer sein bis Zentralrußland und Mittelskandinavien. Bläckie, der Mulatte, und sein dürrer, langer Freund, der Hungerkünstler, genossen das schöne Wetter. Nach den klammen Regentagen, dem auszehrenden Wind, der den Kopf so schwer gemacht hatte. Der Lange sah ohne seinen Bart verändert aus, ein Fremder hätte ihn nicht wiedererkannt, hätte nur an der helleren Haut von Kinn und Wangen gemutmaßt, daß dort vielleicht ein Bart gewesen wäre bis vor kurzem. Aber keiner konnte das wissen, und der Lange machte auch keinen niedergeschlagenen Eindruck mehr wie noch tags zuvor am Bach unter dem überhängenden Felsen. Ohne Bart sah er viel jünger aus, fast fröhlich, sein Gesicht schien breiter, und den spottlustigen Mund konnte man jetzt erst richtig sehen. Bläckie hatte sich nicht verändert, er schaute vielleicht etwas aufmerksamer um sich, seine Augen waren schneller als sonst, auch etwas stärker eingekniffen, wenn er die 97
Sonnenbrille nicht trug, aber das mochte an dem gleißenden Licht des Vormittags liegen. Zuviel für seine schwarzen Augen. Sein Gang schien noch elastischer zu sein als vor ein paar Tagen. Kein Wunder, denn die beiden hatten lange geschlafen an dem Bach nahe der Donau. Einen Tag und eine Nacht lang. Dann erst waren sie wieder auf die Straße gegangen, hatten sich im Morgengrauen bei einem Parkplatz im Gebüsch versteckt und dort gewartet, bis ein passender Wagen kam. Einen mit Stuttgarter Nummer hätten sie nicht gebrauchen können, einen aus Friedrichshafen oder Konstanz nicht und schon gar nicht einen aus Meersburg oder Überlingen. Keinen vom See und aus dessen Umgebung. Möglichst überhaupt keinen Deutschen. Und vor allen Dingen keinen PKW. Mit Lastwagen hatten sie Erfahrung, da kannten sie sich aus. Die Fernfahrer, die fragten nicht viel, mit denen konnte man reden, ohne daß man ausgefragt wurde. Man war eben unterwegs, von hier nach sonstwo, und fertig. So geht’s halt zu im Leben, man muß immer unterwegs sein, macht seinen Job dabei oder sucht einen anderen. Beschissen wird man sowieso, ob in Genua oder in Saarbrücken. Da war man sich gleich einig mit den Fahrern, da gab es ein Gespräch. Egal, ob deutsch, ob spanisch oder auch französisch. Beschissen werden wir alle, bei dieser Arbeit und bei jeder anderen. Da stimmten die Fahrer zu. Diesmal hatten sie lange warten müssen, weil sie wählerischer waren und weil diese Nebenstrecke nicht sehr dicht befahren wurde. Am besten, hatten sie beschlossen, nehmen wir einen Fahrer, der von sehr weit herkommt, der keine Zeitung gelesen hat – man kann nie wissen, wenn auch der Bart jetzt ab ist. Einen Schweden vielleicht, der Apfelsinen aus Sizilien nach Uppsala bringt; 98
die Schweden sind immer in Ordnung, die kommen ’rum, die wissen, wie es langgeht, mit denen kommt man am besten klar, und die Wagen sind bequem und schnell. Mit Aircondition und vibrationsfreier Kabine. Ein Schwede wär’ nicht schlecht, hatten sie gedacht, aber dann war es ein Italiener geworden, der aus Rom kam und Äpfel nach Hamburg schaffte. Der Fahrer hatte den schweren Wagen auf die Parkspur gesteuert, war mit einem Satz aus dem Führerhaus gesprungen und dreimal um den Zug gerannt, hatte Kniebeugen gemacht und mit den Armen gerudert. Er wollte offensichtlich seine Müdigkeit verscheuchen. „Los, das ist unsrer“, hatte Bläckie seinem Freund ins Ohr geflüstert. „Der sitzt schon lange auf dem Bock, der hat bestimmt schon tausend Kilometer hinter sich.“ Giovanni, so hieß der kleine Italiano, war zufrieden, daß er Gesellschaft bekam, denn seit vierzehn Stunden fuhr er bereits und würde noch zehn fahren müssen, wenn nichts dazwischenkam, bis Hamburg. Einen Beifahrer hatte er nicht, denn mit dem hätte er teilen müssen. „Wenn ich muß für halben Lohn, dann kann ich gleich gehen Müllabfuhr“, grinste er müde, als er wieder anfuhr. Giovanni hatte sechs Paßbilder auf die Frontscheibe geklebt. Seine Frau und die fünf Bambini. Er zeigte sie den beiden Tramps. Auf dem Armaturenbrett, gleich neben dem Tachometer, war mit einem Magneten ein Kruzifix befestigt, und vom Dach der Kabine baumelte eine Madonna. Viel redete er nicht, er hatte zu tun auf der engen Straße. „Nix Autobahn, wenn müde“, sagte er zu Bläckie. „Schlafen ein auf Autobahn, madonna mia!“ Dann zeigte er auf die Koje über sich. „Essen!“ sagte er noch. Die beiden Mitfahrer hatten kräftig in die Kiste voller Äpfel gelangt, und Giovanni hatte sie aufgefordert, ihre 99
Beutel zu füllen. Sie hatten von seinen Zigaretten geraucht, und er hatte von ihren Selbstgedrehten probiert. Dann hatte er noch von seinen Kindern erzählt, daß der Große auf die hohe Schule gehen sollte, der wenigstens, wenn’s für. die anderen schon nicht reichen würde. Gefragt hatte Giovanni nichts, und sie hatten ihm nichts vorschwindeln müssen. Apfelkauend hatten sie sich die karge Landschaft besehen, die krüppligen Bäume hier oben, die ärmlichen Dörfer mit den Misthaufen vor der Tür an der Straße, die Steinwälle am Rand der Feldstreifen. Und dann den Steilabfall der Hochfläche zum Oberlauf des Neckars zu. Die weißen Jurafelsen über den schluchtartigen Tälern, die schnell fließenden Bäche, die bunten Schilder der Dorfgasthöfe, springende Forellen waren draufgemalt, hier unten in den geschützten Tälern lohnte sich Reklame wieder. Fremdenzimmer schrie es von den Fachwerkgiebeln. Die kleinen, festen Kirchen und die großen, gut erhaltenen Pfarrhäuser. Und dann, als das Tal sich weitete, der Blick auf die Berge, die einzeln vor der langen Front des Gebirges standen! Die Burgen drauf, die Schlösser. Hart funkelnd die nahen, hinterhältig im Dunst versteckt die entfernten. Wie eine Kette über dem fruchtbaren Unterland. Giovanni kannte das alles schon. Von Rom nach Hamburg fuhr er jede Woche zweimal. Und zurück. Am Neckar waren sie ausgestiegen, und Giovanni fuhr allein weiter, nun doch auf die gefürchtete Autobahn zu, denn er würde sonst seine Zeit nicht halten können. Bläckie und der Lange schlenderten in die alte Stadt. Durch die engen, kühlen Straßen, über denen Fachwerkgiebel fast zusammenstießen. Vorbei an modernen Schaufensterfronten, an endlosen Reihen parkender Autos. Sie kamen auf einen Platz, auf dem Markt gehalten 100
wurde, fanden, daß ihre Äpfel viel, viel frischer waren, freuten sich darüber, tauchten die Hände in den Marktbrunnen, das eisig kalte Wasser machte sie hellwach und unternehmungslustig. Sie tranken ein paar Handvoll davon, dann gingen sie auf einen Park zu. Am Eingang der Anlage wühlten junge Leute auf Bücherkarren, ein Eisverkäufer rief, eine alte Frau bot feuerrote Tulpen feil. Sie ließen sich in der Menge treiben. Laut redende Studenten, viel langes Haar, viel Nieten an den Kleidungsstücken, viel ausgewaschenes Blau. Sie schauten auf die Beine der Mädchen, auf die Brüste. Auf Lippen und Lidschatten, auf rosige Handballen und auf lackierte Fußnägel. In der Hauptallee unter den riesigen Platanen schienen sich alle Studenten zu drängen, die in der kleinen Stadt lebten. In dieser Stadt, die nur von den Studenten lebte. Sie sahen die Schlitzaugen der unauffällig gekleideten Japaner, die Saris einer Gruppe Inderinnen, die Kastenzeichen auf deren Stirn, und sie sahen … Gott sei Dank, Bläckie stieß den Langen in die Seite, grinste, hob den Kopf und wiegte sich in den Hüften – sie sahen Neger, Negerinnen in allen möglichen Hautschattierungen, von hellbraun bis blauschwarz. Ölig Glatthaarige und Krausköpfe, einige mit europäisch angepaßter Frisur und andere mit wirr abstehender Papuamähne. „Hier sind wir richtig“, sagte Bläckie und ging auf einmal sehr viel lockerer. „Komm, wir setzen uns auf irgendeine Bank, wo nicht soviel Betrieb ist. Dort können wir in Ruhe quatschen, was nun werden soll. Hier sind wir erst mal sicher.“ Sie bogen in einen Seitenweg ein, streiften an blühenden Sträuchern entlang, runde, weiße Kieselsteine knirschten unter ihren Tritten, man konnte hier die Vögel in den Bäumen hören und den Wind in den Blättern über 101
ihnen. Das Schwatzen und Lachen der Hauptallee versank hinter den dichten Zweigen. Auf den Bänken zwischen den blühenden Rabatten saßen Pärchen, die ihre Ruhe haben wollten, oder alte Leute, bei denen keiner von den jungen sitzen mochte. Hier waren sie ungestört, sie nahmen eine leere Bank, von der aus sie nach allen Seiten freies Blickfeld hatten. Dann aßen sie genußvoll jeder einen Apfel, streckten die Beine weit von sich und ließen die Sonne in sich eindringen. „So einen wie den Italiano heute müßte man öfter treffen“, sagte der Lange, griff sich einen zweiten Apfel und tastete zufrieden den Umfang seines Beutels ab. Bläckie hatte den Kopf weit zurückgelehnt. „Solche gibt’s ’ne ganze Menge. Mehr, als man denken sollte.“ Er reckte sich. „Ich sag’s ja immer: LKW ist das Wahre, wenn du auf Trebe bist. Die quatschen nicht dämlich, die fragen immer erst, ob du Kohldampf hast.“ So redeten sie noch lange hin und her, sprachen von alten Bekanntschaften, von gemeinsamen Trips, von gleichen Erfahrungen, die sie gemacht hatten. Die Sonne schien, ein Springbrunnen plätscherte einschläfernd. Endlich raffte sich der Lange auf. „Also, was ist nun, Bläckie, was machen wir? Gehen wir zur Polizei und stellen uns?“ „Bist du irre?“ fuhr der Mulatte hoch, hellwach plötzlich, bösartig wach. „Bist du irre?“ „Mal schnappen sie uns doch!“ „Quatsch!“ „Kann sein“, sagte der andere langsam, als ob er noch überlegen müßte. „Kann schon sein, daß es Quatsch ist. Aber ich will meine Ruhe haben. Wenn ich das hinter mir habe, kann ich neu anfangen.“ „Und der Kleine?“ 102
„Was geht mich der an? Den sehn wir nicht mehr wieder, da nehm’ ich Gift drauf. Der ist schon sonstwo. Der hat doch nur einmal die Hosen voll gehabt, und das war immer. Der geht uns nichts mehr an, ist alt genug.“ Der Lange wiegte den Kopf. „Warum die Bude bloß gebrannt hat …? War doch keiner weiter da. Kann keiner dort gewesen sein. Hätten wir gemerkt. Ob wir nicht doch …“ „Was?“ „Vielleicht ’ne Kippe nicht ausgetreten haben oder so was. So ein alter Bau, der brennt ja wie Zunder.“ „Blödsinn! Und der Hund?“ „Der ist aus dem Wald gekommen, das war zu sehen. Hatte mit dem Brand nichts zu tun.“ „Schön. Aber zu so einem Hund gehört einer. So ein Riesenvieh läuft nicht einfach im Wald ’rum und fällt Leute an.“ „Aber es ist keiner gekommen, nachdem du das Biest …“ „Und das heißt?“ „Weiß ich doch nicht, Mensch!“ Der Lange riß sich an den Haaren, strähnte den nicht vorhandenen Bart, merkte es und steckte die Hand ins Hemd. „Na also, du weißt gar nichts. Genau wie ich. Und da willst du zur Polente gehen? Ganz schön blöde …“ „Ist ja gut“, erwiderte der Lange heftig. „Ich geh’ schon nicht zur Polizei!“ „Psst!“ zischte der Mulatte da und flüsterte, ohne den Kopf zu drehen: „Rechts kommt ein Bulle.“ Der Lange schielte aus den Augenwinkeln. Fünfzehn Meter rechts von ihnen schlenderte ein junger Mann heran. Grauer Sportanzug, eine Hand in der Tasche, Achsel ausgebeult. Na klar, ein Bulle. „Vorn, am Springbrunnen, steht auch einer“, zischte Bläckie leiser, ohne die Lippen zu bewegen, zog nur die Füße an und spannte sich. 103
Tatsächlich, sah der Lange, tatsächlich. Noch einer im auffällig unauffälligen Anzug, sportliche Figur, lehnte über den Brunnenrand, sah an der Fontäne vorbei, so daß er die Bank genau im Auge hatte. Paßte nicht in diesen Park voller lässig gekleideter, laut schwatzender Studenten, die alle mit sich beschäftigt waren. „Wenn er was will, renn’ ich ihn um, und du verschwindest, klar“, hörte er Bläckie hauchen. Er nickte. Klar, dachte er, du bist ein Kumpel, Bläckie. Klar. Er legte seine langen Arme auf die Rückenlehne der Bank. Der junge Mann im grauen Sportanzug kam langsam näher, beachtete die Bank der beiden nicht, schaute über den Rasen zum Springbrunnen hinüber. Sein Jackett war mit einem Knopf geschlossen. Als er heran war, die beiden Freunde wollten schon aufspringen, warf er einen schnellen Seitenblick zu ihnen, verhielt den Schritt nicht, ging vorbei. Der am Springbrunnen drehte ihnen jetzt den Rücken zu. „Noch mal gut gegangen“, murmelte der Lange und atmete tief aus. „Abwarten“, sagte Bläckie. „Der kommt wieder.“ Und richtig: Fünfzig Meter weiter drehte der Graue um und kam zurück. Auch der am Springbrunnen sah jetzt wieder zur Bank. Deutlicher diesmal, ungenierter. Und die Schritte des Grauen auf dem Weg wurden zielsicher, schneller, als er nun auf sie zukam. „Los, weg nach hinten!“ rief Bläckie jetzt laut, sprang auf, riß den Langen mit sich, und da waren sie schon an der Hecke hinter der Bank und drin und drüber. Die gestutzten Äste der Hagbuchen zerkratzten sie, aber sie merkten es nicht. Sie fielen in ein Tulpenbeet, Pärchen sprangen von Bänken hoch, sie sahen es nicht. 104
Sie rannten. Der Lange mit weit ausgreifenden, derben Schritten, Bläckie federnd, wie ein Tennisball. Wieder eine Hecke, hinter ihnen Rufen und Geschrei. Drüber, weg, nur weg! Dann die Eisenstaketen eines Zaunes, dann Gebüsch, ganz gewöhnliche Sträucher, unbeschnitten. Hinter ihnen knackte es. Schließlich waren sie am Fluß. Ein Boot vor ihnen, die beiden Mädchen darin sahen sie entgeistert an. Ohne zu zögern, sprang der Mulatte ins stinkende Wasser, packte den Rand des Bootes, rollte sich hinein wie eine Katze. „Los, Langer, komm!“ schrie er und wehrte die kreischenden Mädchen ab. Dann sprang die eine ins Wasser, der Lange enterte das Boot und ergriff das Ruderpaar, während Bläckie das andere Mädchen zu beruhigen suchte. „Ich kann doch nicht schwimmen!“ kreischte die. Der Lange machte zwanzig, dreißig Ruderschläge oder mehr, das Mädchen schrie und gurgelte, als Bläckie ihr den Mund zuhielt. Da waren sie schon am anderen Ufer unter den Trauerweiden, griffen jeder ein Bündel der herabhängenden Ruten, schwangen sich aus dem Boot und ans Ufer. Wie Tarzan, dachte der Lange, obwohl er überhaupt nichts denken wollte und schon gar nicht so was Blödes. Das Mädchen im Boot war jetzt still, nur die zweite, die ans Land geschwommen war, schrie nach der Polizei. Keuchend rannten die Freunde durch das lichte Unterholz des Laubwaldes, der von hier bis auf die Uferhügel hinaufreichte. Wir kriegen keine Ruhe, dachte der Lange weiter im Takt des Laufschritts, in den sie gefallen waren. Keine Ruhe, verdammt! Nimmt denn das nie ein Ende, diese Hetzerei? Vor jedem dämlichen Polizisten muß man kneifen und abhauen, und wenn sie einen schließlich doch mal kriegen – und sie kriegen einen bestimmt –, wenn sie uns haben, dann geht der Schlamassel erst 105
richtig los. Nirgendwo kann man mehr in Ruhe auf einer Bank sitzen und in der Sonne dösen. Nein, Schluß damit! „Wir sind weit genug weg“, stieß er hervor und ging Schritt. „Ich kann auch nicht mehr.“ Er blieb stehen, lauschte. „Nichts zu hören! Die wissen nicht, wo wir abgeblieben sind.“ Der Mulatte nickte. Sein Gesicht glänzte schweißnaß. „Ja, die sind wir los. Aber komisch … kein Streifenwagen zu hören.“ „Sei doch froh, du Affe!“ „Bin ich ja auch.“ Bläckies Atem ging schon wieder ruhig. Sie stiegen den Hügel hinan. Die Türme der kleinen Stadt wurden über dem Wald sichtbar. Rauch und glitzerndes Fensterglas, der leise brummende Grundton des Straßenlärms. Alles schon weit weg, fast ungefährlich, betraf sie nicht mehr, konnte ihnen nichts mehr anhaben. Der Lange druckste. „Bläckie … Ich …“ „Ja?“ „Ich glaube, ich … ich …“ „Na was?“ „Ich steig’ aus, Bläckie“ brachte er endlich ’raus. „Nimm mir’s nicht übel. Aber ich kann das nicht mehr, sonst dreh’ ich durch.“ „Ich weiß.“ Bläckies Augen blinkerten durch die langen Wimpern. „Ich weiß, daß du jetzt den Hammer fallen läßt. Ich trag dir’s nicht nach, Langer. Du hast schon recht, die Hetzerei … Mancher kann das halt nicht … Jeder ist anders.“ „Eben.“ „Gehst du gleich zur Polizei?“ „Nein. Ich will versuchen, nach Hause zu kommen. Allein schaffe ich es vielleicht, gehe ihnen durch die Lappen, 106
den Polypen. Und wenn sie mich hochziehen, dann hab’ ich eben Pech gehabt und meine Ruhe. Fertig!“ „Verpfeifst du mich, wenn sie dich greifen?“ „Könnt’ ich doch gar nicht, Bläckie. Weiß ich, wo du bist?“ „Nee, allerdings nicht.“ Der Mulatte lächelte. „Und ich werd’ dir vorsichtshalber auch nicht sagen, wohin ich mache.“ „Okay!“ „Also“, Bläckie hielt dem Langen die Hand hin, „machen wir’s kurz, Langer. Wir haben nicht viel Zeit. Hast schon recht, ist besser, wenn’s jeder allein versucht, und … und ich nehm’ dir’s nicht übel, wirklich nicht! Du sollst ja nicht ausbaden, daß ich so ein schwarzes Fell habe. Mach’s gut, alter Junge. Halt die Ohren steif!“ Sie entfernten sich schon voneinander, schauten sich noch einmal um. Der Lange rief: „Die Adresse von meiner Mutter bei Hamburg, die hast du ja, Bläckie. Laß dich mal sehen, wenn Gras über die Sache gewachsen ist.“ Bläckie sagte lächelnd: „Wenn da Gras drauf ist, haben wir Winter. Und im Winter, weißt du ja, da findest du mich in Tetuán bei Hassan und den andern. Dort ist es immer noch am besten.“ Und als er im Gebüsch verschwand, sagte er noch leise zu sich selbst: „Die haben auch so’n schwarzes Fell wie ich.“
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15 Wegen jeder Kleinigkeit die Hose voll, dachte Bläckie, als er allein über das vorjährige feuchte Laub stapfte. Wenn ich immer gleich aufgegeben hätte, wär’ ich nie dazu gekommen, was vom Leben zu haben. Da wär’ ich nie aus diesem Heim rausgekommen. Heim – daß ich nicht lache! Wär’ ich nie nach Afrika gekommen, ach was, nicht mal bis Sevilla. Hätt’ ich wieder im Knast gesessen, wegen Diebstahls, wegen Landstreicherei oder wegen nichts. Nein, man darf nicht aufgeben. Nie! Niemals etwas mit sich machen lassen, niemals warten, bis etwas mit einem gemacht wird. Immer selber machen und am besten immer allein. Da weiß man, woran man ist. Bei zweien ist einer zuviel, wenn man so lebt wie ich. Und während er weiterging, die Augen immer schon dort, wo er später erst gehen würde, alles sah, was rundum sichtbar war, und alles hörte, was man hören konnte, dachte er an seine Kindheit in der rußigen Bergarbeitersiedlung, wo die Kohlebrocken der bergehohen Halden bis in die winzigen Gärten rollten. Diese schwarzglitzernden kahlen Berge, hinter denen die Sonne auch im Sommer nicht vor neun Uhr morgens aufging, so hoch und steil waren die Halden, und so niedrig und dicht daran standen die engen, schmuddligen Reihenhäuschen. Zehn Personen auf drei Zimmer. Und der dunstige, immer rauchverhangene Himmel vor den schlierigen Fensterscheiben. Fenster, die man nicht öffnete, damit der Kohlenstaub nicht in die Zimmer wehen konnte. Der Himmel, der immer braunblau aussah oder gelbgrau und der nur weiße Wolken hatte, wenn die Kokereien Löschdampf abließen. Die Kinder auf der Straße, in der braunen, strengen, kalten Backsteinschule, auf den 108
qualmenden Müllplätzen, in den unkrautverwucherten Kellern der Fabrikruinen, Kinder, die immer staubig aussahen, fast wie ihre Väter, wenn die aus dem Förderkorb stiegen. Kinder, die den kleinen Mike Reffel Bimbo riefen, weil der, auch wenn er frisch gewaschen und gebürstet in der Sonntagsschule saß, immer noch schwarz aussah. Solange er in dieser Siedlung lebte, hieß er Bimbo oder Kaffer. Siedlung VI der Schachtanlage Prinzessin Cäcilie 1., Kirschenstraße 15. Als ob je ein Kirschbaum unter der Halde hätte gedeihen können! Bimbo, dessen Mutter sich mit einem Neger eingelassen hatte, weil sie mit vier anderen Reffels allein dagesessen hatte, die noch zu klein gewesen waren, um für den „größten Führer aller Zeiten“ oder für die Schachtanlage Prinzessin Cäcilie I. die billig abzubauende Donezkohle zu erobern. Deswegen lebten die noch und hatten Hunger. Und weil man Kohlenstaub zwar schlucken konnte, aber nicht satt von ihm wurde, hatte sie sich Arbeit suchen müssen, hatte auch etwas gefunden, durfte Böden wischen in dem großen Haus, das voller fremder Offiziere war und voller Büchsen, Sahne und Fleisch, Bohnen und Birnen. Wo man essen konnte, soviel man wollte, aber nichts mit nach Hause nehmen durfte. Die Soldaten hatten gegrinst, als Frau Reffel um ein paar Lebensmittel für ihre Kinder bat; sie hatten auf die Kiste voller Fleischkonserven gezeigt, dann auf die Tür des Nebenzimmers. Frau Reffel wollte dieses Zimmer nicht betreten, also mußten die Kinder Sauerampfer sammeln für Suppen, Brennesseln für Spinat, mußten Krähen fangen für eine Brühe und auf den Stoppelfeldern Ähren lesen für ein Brot. Die Haut der Kinder sah welk und krank aus neben dem festen, wohlgenährten Fleisch der Mutter. 109
Eines Tages war es dann doch genug gewesen: Frau Reffel hatte sich vom Magazinverwalter eine Flasche Schnaps erbeten, mußte sie an Ort und Stelle leeren, und was danach gewesen war, wußte sie später nicht mehr. Sie wußte nur, daß sie am Tag danach eine große Tasche voller Lebensmittel mit nach Hause nehmen durfte. Ein paar Wochen später ging sie zur Beichte und fügte sich, als der Beichtiger ihr verbot, die Frucht der Sünde zu beseitigen. Als sie nach der Geburt wieder zu sich kam und die Hebamme ihr schweigend und mit höhnischem Gesichtsausdruck ein braunes Bündel ins Bett legte, fiel sie in Ohnmacht und danach in Krämpfe. Diese Schande! Den braunen Wollkopf, den sie zur Welt gebracht hatte, nannte sie Michael, zog ihn auf, weil er da war, weil er aufgezogen werden mußte, weil sie den Nachbarn zeigen wollte, daß sie damit fertig werden würde. Seine Halbgeschwister hielt sie dazu an, in ihm einen richtigen Bruder zu sehen, aber selbst ihre eigenen Hände wollten sich nicht an die rosigbraune Haut gewöhnen. So wurde es auch nichts mit der christlichen Geschwisterliebe, Erst recht nicht, als die Kinder älter wurden, als die Sticheleien in der Schule anfingen und keiner neben dem Amibankert sitzen wollte. Neger stinken, hieß es. Bimbo stinkt eben, und überhaupt sind das keine richtigen Menschen, die Kaffern, die Hottentotten die. Als seine Mutter wieder heiratete, mußte Bimbo vorerst weg ins Heim. Dabei war es der Einfachheit halber dann geblieben, weil ein Neger nicht in ein deutsches Einfamilienhaus gehörte – was sollten da die Leute denken! Man war ja wieder wer, mit neuen Möbeln im frisch gestrichenen Häuschen und mit einem gut erhaltenen Gebrauchtwagen. Und der kleine Neger – man besuchte 110
ihn noch manchmal, schickte ihm Pakete –, der wollte bald nicht mehr zurück. Damit war die Sache aus der Welt geschafft, man zahlte pünktlich an jedem Ersten. Aus, erledigt. Alles Scheiße, dachte Bläckie, als er aus dem Wald trat, und brach seine Gedanken an die Vergangenheit ab. Lohnt sich nicht, daran zu denken, an denen hab’ ich nichts verloren. Lohnt sich wirklich nicht. Auch an die Heime hatte er schon oll gedacht, an die kalten Schlafsäle, in die man eingeliefert wurde und wo sich der Schlüssel im Schloß drehte, rack-ruck und zu. Und an die Regenrohre, an denen man hinabrutschte, die Mauersimse, an denen man sich die Knie wund schürfte, und immer wieder an die in Streifen gerissenen Bettlaken. Stets das Mißtrauen gegenüber den anderen Heiminsassen vorher und die Furcht vor dem Aufgegriffen werden nachher, wenn er wieder mal frei war, allein. Denn allein hatte er sich immer am wohlsten gefühlt, am sichersten. Wenn ich allein bin, glotzt mich keiner an, und niemand fragt mich. Weiß ich denn, wer mein Vater ist! Wenn’s meine Mutter nicht mal wußte. Ich brauch’ keinen Vater. Schluß! Bläckie sah die Schneise in beiden Richtungen entlang, bevor er aus dem Schatten eines Baumes trat, und als er sich überzeugt hatte, daß niemand auf dem Weg war, überquerte er ihn schnell. Der sichernde Blick hatte ihm gezeigt, daß hinter dem Weg ein Bahneinschnitt verlief. Kommt mir gerade recht, dachte er, genau das, was ich brauche. Da war er schon hinter einem Brombeerdickicht verschwunden, das über die ganze Böschung wucherte. Und als er unter den Ranken einen Platz gefunden hatte, zog er Jacke und Schuhe aus und setzte sich ins dichte, sonnenwarme Gras. Hier halt ich’s 111
aus, hier kann ich in Ruhe warten. Ich seh’ alles, mich sieht keiner. Prima. Er schloß die Augen. Eisenbahn, ja. Daran hatte ich gar nicht gedacht im ersten Schreck. Na klar, was Besseres gibt’s nicht. Wenn ich mit der Bahn fahre, können die mich lange suchen. Sehr gut! Er musterte die Gleise, die in sanfter Kurve in den Wald hineinliefen. Sieht mir ganz nach einer Steigung aus, kann schon sein, daß ich hier einen Zug kriege, das wär’ was: Hier bleib’ ich. Was mag das für ’ne Strecke sein? Er schnürte seinen Beutel auf, kramte eine Karte heraus, suchte darauf herum, schaute zur Sonne, schüttelte den Kopf, brummte und wühlte schließlich einen kleinen Kompaß aus der Seitentasche. Später packte er befriedigt alles weg, aß zwei Äpfel und streckte sich aus. Er lag so, daß er, ohne den Kopf heben zu müssen, Weg und Gleis übersehen konnte. Na also, dachte er und blinzelte in die Sonne, wie haben wir das wieder gedreht, Alter? Geht’s uns gut, was? Nur den Kopf schön oben lassen, kühl bleiben und nicht gleich feuchte Hosen kriegen. Augen offen, vorneweg, und schon klappt der Laden wieder. Mir kann keiner. So ein alter Wolf wie ich! Er fletschte spielerisch die weißen, schönen Zähne. Mir kann keiner, und mich können sie alle mal. Er hob seinen Anhänger an der Kette hoch, ließ ihn vor den Augen trieseln, glänzen. „Nee, uns kann keiner“, sagte er und lachte leise in der Kehle. „Dazu haben sie uns zu lange hin und her gejagt, uns zwei.“ Er ließ den Silberdollar auf die Brust fallen und rieb ihn lange am Pullover. Allerhand gelernt, seit damals, dachte er weiter, zerrte den Pullover hoch und ließ die Sonne auf den nackten Bauch brennen. Allerhand gelernt, verdammt 112
noch mal. Mich greift kein Bulle mehr in Bahnhofshallen oder nachts auf einer Parkbank. Was war man für ein blödes Jungchen damals! Aber … aber wo sollte man schon hin im Winter, wenn man nicht bei einer pennen konnte? Heute weiß man, wo der Winter warm ist, kommt zurecht, braucht nicht mehr in Bungalows einzusteigen, kleinkarierter Quatsch, der meistens schiefgeht. Heute tript man schnell mal ’runter bis nach Marakesch oder Casablanca. Letzten Herbst drei Tage von Hamburg bis Gibraltar, das war ’ne straffe Tour, das hat geklappt, mein lieber Junge. Ach, mir geht’s gut. Der Mulatte reckte sich. Vorbei die alten Zeiten, miese Zeiten. Zwei, drei Tage noch, dann bin ich erst mal ’raus aus diesem blöden Deutschland. Woanders ist es immer besser: in Marokko oder auch in Schweden, in der Türkei oder in Frankreich. Diese ekelhaften Deutschen! In Frankreich kümmert sich kein Aas drum, wenn ich mich im Park auf den Rasen lege. Legen sich höchstens noch welche daneben. Wozu ist so ein Rasen schließlich da? Stimmt schon, was der Lange mal gesagt hat: In Spanien ist alles verboten; in England ist alles erlaubt, was nicht extra verboten ist; in Frankreich ist alles erlaubt; und in Deutschland ist alles verboten, was nicht extra erlaubt ist. In Frankreich oder in Italien hätte ich nicht türmen müssen, bloß weil ich so ein Hundevieh abgestochen habe. Hat die Dogge uns angefallen oder nicht? Na also! Mit dem Brand nachher haben wir nichts zu tun, was geht uns das an? Aber nein, wir müssen vorsichtshalber flitzen, damit uns die Polypen nicht festnageln. Wegen irgendeiner Kleinigkeit von früher, die man längst vergessen hat. Vielleicht ein Huhn geklaut oder ein Hemd von der Leine genommen. Ach, die finden immer was, 113
oder sie hängen unsereinem einfach was an. Brauchen immer einen Dummen, auf den sie was abwälzen können. In Frankreich hätte ich schön gewartet, bis die Polizei gekommen wäre, hätte meine Aussage gemacht, und sie hätten uns gehen lassen. Überhaupt … möchte wissen, wie die Greifer uns so schnell geschnüffelt haben. Versteh’ ich nicht, wir sind doch gar nicht aufgefallen, oder? Na ja, das Messer vielleicht, die Abdrücke drauf, damit finden sie die alte Akte. So kann’s gewesen sein. Aber daß sie es so eilig haben … Wegen der toten Töle? Glaub’ ich nicht. Wegen des Brandes? Glaub’ ich auch nicht. Bei so was nehmen die sich Zeit, ziehen einen an der nächsten Grenze hoch oder bei ’ner großen Routinerazzia. Nee, da stimmt was nicht, die wollen was anderes. Da muß ein großes Ding im Busch sein. Ein stinkiges Ding! Vielleicht … wenn mal nicht doch der Kleine irgendwelchen Mist gebaut hat, bevor er abgehauen ist. Wegen Hühnerklauen machen die Polypen keinen schnellen Zug, die haben mehr zu tun, mit ganz anderen Burschen. Was kann der Kleine bloß gemacht haben? Ob sie ihn schon haben? Früher hat er ja mit Stoff zu tun gehabt, der Dussel. Ob er jetzt immer noch, ohne uns was zu sagen …? Und deswegen sind die Bullen hinter uns her? Ach, das ist alles Quatsch, ich werd’ mir den Kopf nicht schwer machen, ich verziehe mich und aus! Eine Zeitung kaufe ich mir aber, wenn ich ein Stück weiter weg bin, das kann nicht schaden. Und diesen Sommer bleib’ ich in Dänemark oder in Schweden. Nichts mit Nordkap oder Finnland, ist zu einsam da oben, fällt man auf. Muß nicht sein. Ich geh’ erst mal zu den Bauern, mach ’ne Woche hier, ’ne Woche dort. Da fragt mich keiner, warum ich eigentlich auf Achse bin. Ich mache meinen Job, die brauchen immer welche im Frühjahr und 114
im Sommer. Ich krieg’ mein Geld, kann abhauen, wann ich will, und keiner fragt mich was, und niemand kennt mich. Aus und fertig! Jetzt wird an was anderes gedacht. Und es gelang ihm auch, an etwas anderes zu denken. Er dachte an die Mädchen, die überall ganz anders waren als in Deutschland. Er zwang sich, auf die Mädchen hinzudenken. Ja, die woanders sind mir lieber. Bei denen vergißt man seine schwarze Pelle, da spielt die Farbe keine Rolle, da ist nur das, was sein soll zwischen Mann und Frau, da macht das Leben Spaß und die Liebe erst recht. Aber es fiel ihm keine ein, mit der er in letzter Zeit zusammen gewesen war, es war wie eine Sperre im Gehirn, ihm fiel einfach keine ein. So was! Nur die von ganz früher waren da, die ersten drei oder vier, von denen man nie etwas vergaß, die einen längst selbst vergessen hatten. Das war alles. Ach was! Bläckie spuckte in hohem Bogen aus. Mir geht’s gut, und mir wird’s gut gehen, wenn man auch manchmal friert und Kohldampf schieben muß. Das hält fit, gehört zum Leben! Werd’ ich an meine alten Leute denken müssen und an dieses blöde Land hier! Hier riecht’s nach Negerschweiß, hat Alfred gesagt, als ich das letzte Mal dort gewesen bin. Der Affe, der sich den Hintern auf dem Büroschemel blank gewetzt hat, der Pavian der. Ich glaube, es waren zwei Zähne, die er dafür verloren hat, hoffentlich vier! War’s letzte Mal, daß ich dorthin gemacht bin. Nie wieder! Diesen Herbst trampe ich nach Persien ’runter, wenn die Mäuse reichen. Vielleicht krieg’ ich ein paar gute Jobs in Kopenhagen, dort ist was zu holen, wenn man clever ist. Touristen oder so was. Oder ich komme wieder in die alte Clique ’rein, da würde schon was abfallen, das würde weiter reichen als bis Persien. 115
Afghanistan vielleicht, Kabul, soll dort nicht übel sein. Oder nach Indien ’rein. Wollte ich schon immer mal hin. Oder Nepal. Gibt ’ne Straße dorthin jetzt. Ja, Nepal wär’ was. Ist ja egal, wohin. Ich komme überall zurecht. Jedenfalls ein, zwei Jahre nicht nach Tetuán, nicht mehr die alte Route, sonst ziehen sie mich dort noch hoch. Ist zwar schade um den schönen Winterjob bei Hassan. Ich hatte mich so richtig eingelebt in seinem Laden. Hassan ist ein feiner Kerl. Und die anderen Jungs dort. Schade. Na ja, werd’ schon was anderes finden. Eine Karte muß ich schreiben, ich kann nicht einfach so wegbleiben, das hat er nicht verdient … Schönen Garten hat Hassan, diese Palmen, diese Palmen … Und die Sonne, immer Sonne, Sonne … Bläckie wachte auf, weil er fror. Die Sonne war untergegangen, ein leichter Westwind wehte, rieb die Brombeerranken aneinander und raschelte im dürren, vorjährigen Gras. Bläckie stopfte den Pullover in die Hose, zog Jacke und Schuhe an und spähte in die Umgebung. Nichts zu sehen, alles ruhig, nur der Wind und die Vögel und die Telegrafendrähte neben den Gleisen. Ein Hase hoppelte die gegenüberliegende Böschung hinauf. Über den Gleisen lag schon die Dämmerung. Bewegungslos saß der Mulatte im Gestrüpp und aß Äpfel. Das letzte Licht schwand schnell. Es müssen Züge durchgekommen sein, ich hab’ von Eisenbahn geträumt, dachte er. Norden ist dort drüben, also muß es das Gleis auf meiner Seite sein. Gut, warten wir, ich hab’ Zeit, viel Zeit. Und erwartete geduldig, ließ einen Güterzug durch, der zu schnell fuhr. Dann donnerte ein D-Zug vorbei, an dem konnte er schon die Richtungsschilder nicht mehr erkennen, weil es dunkler geworden war. Noch ein Schnellzug kurz darauf. Donnern, Brüllen, Tosen, die 116
huschende Lichterkette, vorbei. Als es Nacht war, kam der nächste Güterzug um die Kurve geschnauft. Der ist richtig, dachte Bläckie, duckte sich an den Boden und nach hinten tiefer in die Brombeeren. Erst als die Lok schon wieder im Kurvenausgang verschwunden war, sprang er auf, huschte die Böschung hinab, lief neben dem Zug her, packte eine Griffstange und schnellte sich vom Schotter ab. Es war ein Tankwagen. Gewandt klomm er die Leiter hoch, balancierte über die Bleche des Laufsteges und sprang, ohne zu zögern, auf das Dach des nächsten Waggons. Lief und sprang weiter von Dach zu Dach. Hoffentlich kommt kein Tunnel, bis ich einen Wagen mit Bremserhaus gefunden habe oder einen offenen, dachte er kurz. Die Lok stieß einen gellenden Pfiff aus und beschleunigte.
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16 „Eduardle, wo ist der Obduktionsbefund von unserer Wasserleiche? Ich warte schon eine geschlagene Stunde. Die drüben haben mir gesagt, daß Sie ihn abgeholt haben. Her mit dem Ding!“ Geckeler streckte den Arm aus, ohne von den Papieren hochzusehen, und schnippte ungeduldig mit den dicken Fingern. Er hatte schlechte Laurie heute, wie immer, wenn ihm schien, daß etwas in der Luft hing. Schlottke hatte gerade seinen Mantel an den Haken werfen wollen, ganz automatisch, so wie jeden Morgen. „Ihr Gummifell vergessen?“ knurrte der Inspektor. Der merkt auch alles, dachte Schlottke. Wie macht der Alte das, hat mich doch noch gar nicht angesehen. „Ja, vergessen“, murmelte er. „Geben Sie den Befund her!“ „Den hab’ ich nicht, Chef.“ „Den haben Sie nicht?“ Geckeler blickte jetzt auf, ließ die fordernd ausgestreckte Hand sinken. „Den haben Sie nicht?“ „Nicht mehr.“ Schlottke tippte sich an die Stirn. „Jetzt weiß ich auch, wo ich meinen Mantel liegengelassen habe.“ „‚Mantel‘ nennt er die gefärbte Plastiktüte“, knurrte der Inspektor und richtete sich zu voller Höhe auf. „Sie, Eduardle Schlottke, machen Sie mich nicht ärgerlich, machen Sie keine wilde Sau aus mir. Sie wissen, eine wilde Sau ist gar nichts, wenn man mir …“ „Ich weiß, Chef, ich weiß. Eine Wildsau ist noch viel zuwenig, wenn man Sie in Fahrt sieht.“ „Schluß jetzt, Schlottke! Machen Sie deutschen Dienst, sonst lass’ ich Sie strammstehen. Sie wissen, daß 118
ich Obermaat gewesen bin, ich kann das prima. Hab’ ich nicht verlernt. Also?“ Schlottke zog die Nase hoch. „Schlechte Laune heute, Chef?“ „Ja!“ Das war kein Frotzeln mehr, merkte der Assistent. Er nahm den Anfang eines Grinsens aus dem Gesicht. Sein Pferdekopf sah ernst und müde aus. „Der Befund ist beim Kriminalrat“, sagte er. „Wieso das?“ Geckeler fuhr auf. „Er hat mich kommen lassen.“ Schlottke warf sich auf seinen Drehstuhl, klapperte spielerisch über die Tasten der alten Olympia, bis die Glocke hell klingend anschlug. Er blickte seinen Chef von der Seite an. „Der Herr Kriminalrat haben mich gebeten“, Schlottke ahmte spöttisch Pfitzers distinguierte Sprechweise nach, „der Herr Kollege Kriminalrat haben gebeten, den Befund gleich bei ihm zu lassen.“ Schlottke zog die Knie hoch und verschränkte seine langen Arme darauf. „Er wird Sie anrufen, Chef.“ Geckeler griff nach einem Bleistift, rollte ihn unter der flachen Hand über die Schreibtischplatte, schwieg. Gleich wird er lostoben, dachte Schlottke. Aber der Inspektor widmete alle Aufmerksamkeit dem Stift, brummte nur mehrmals: „Hm.“ Sonst nichts. „Stört uns das nicht, Inspektor?“ fing Schlottke vorsichtig an. Warum tobt er bloß nicht? Brüllt doch sonst so gern, wenn ihm was gegen den Strich geht. Ich werd’ ihn mal ein bißchen rauskillern. „Wir übergeben den Fall an Oberinspektor Reimann!“ „Hm.“ Der Bleistift klapperte. „Hm.“ Ausgerechnet an den Reimann, den Scharfmacher, den er nicht leiden kann. Wann brüllt er denn nun endlich? Ist 119
er krank? Das läßt er sich doch sonst nicht bieten, so von hinten durch die Brust geschossen. Jetzt kullerte der Bleistift vom Tisch. Keiner bückte sich, um ihn aufzuheben. Na endlich, dachte Schlottke. Jetzt platzt er. Hat aber heute lange gedauert. Geckeler stieß seinen Stuhl zurück, stellte sich ans Fenster und schaute auf den See, der in der Sonne glitzerte. Er sah die weißen Segel, die weißen Dampfer, weiße Stege, weißgekalkte Häuser an den Ufern. Weiße Wolken obendrüber. Alles weiß, dachte Geckeler, noch weißer, am weißesten … zwingt weiß ’rein … weiß muß reingezwungen werden … einer will hier weiß reinzwingen! Er wandte sich seinem Assistenten zu. „Haben Sie nicht auch schon drauf gewartet, Schlottke?“ „Worauf?“ Schlottke wußte noch immer nicht recht, was er von Geckelers Ruhe halten sollte. Warum poltert der nicht, ist ja unnormal, sieht fast so aus, als ob es ihm recht wäre, daß sie ihm den Fall wegnehmen … na, so was. „Worauf gewartet?“ fragte er verständnislos. „Auf den Weißmacher, Schlottke, auf den Hauptwaschgang!“ „Hä?“ Schlottke sah verwirrt aus. „Hauptwaschgang? Ich verstehe bloß Bahnhof, Chef.“ Geckeler kratzte sich den Nackenspeck. Jetzt ist mir besser, dachte er, so langsam und allmählich geht die schlecht Laune weg. Er sagte: „Warum, Schlottke, gönnen die uns die kleine Wasserleiche nicht?“ „Der Fundort gehört, genaugenommen, nicht in unseren Bezirk“, erwiderte sein Assistent. „Da hat der Kriminalrat schon recht.“ „So?“ Geckeler lachte breit und laut, tief aus dem Bauch heraus. „Sagt er das? Und wenn der liebe Kollege 120
Reimann in seinem Bezirk ein paar Leichen zuviel hat – wer darf ihm dann immer Arbeit abnehmen? ‚Bei Ihnen, Geckeler, ist doch nicht soviel zu tun! Sie haben ja keinen festen Ganovenstamm auf dem Hals in Ihrer verschlafenen Kreisstadt! Haben Sie nicht, nein! Sie machen das doch gern, Kollege Geckeler! Helfen Sie uns mal!‘“ Geckeler erregte sich, lief gestikulierend durch den Raum, stieß an Tische und Aktenschränke. „Da können wir gar nicht genug Amtshilfe machen, wie? Da kann ich Wasserleichen haben, soviel ich möchte, da kann ich sogar die aus der Schweiz noch mit besorgen. Ist nicht nur einmal passiert, daß sie ’ne angetriebene Leiche wieder ins Wasser geschmissen haben, wenn der Wind zu uns ’rüber stand. Und wir dürfen dann ermitteln, haben die Arbeit am Hals … ‚Gehört nicht in meinen Bezirk‘ – da muß ich aber lachen.“ Der Inspektor setzte sich abrupt wieder an den Schreibtisch, fischte mit sicherem Griff drei, vier Papiere aus dem Haufen, faltete sie sorgsam und steckte sie in die Jackettasche. „So, jetzt kann der Reimann kommen.“ Er blickte auf, zog die Brauen hoch. „Haben Sie was gesehen, Schlottke?“ Fast hätte der Assistent gegrinst. Ganz der Alte, dachte er und sagte: „Natürlich habe ich alles ganz genau gesehen, Chef. Wie Sie die Akte vor meinen Augen zur Übergabe fertiggemacht haben. Kann also für die Vollständigkeit bürgen.“ Geckeler grinste zurück. „Vorbildliche Dienstauffassung, Schlottke. Kann Sie nur empfehlen. Weitermachen!“ „Wollen wir nicht langsam mal an Kaffee denken, Chef?“ Schlottke griff zum Telefon. „Leiten Sie das ein, Ostschwede. Aber einen richtigen! Ich bin gleich wieder da. Muß jemanden was fragen.“ In 121
bester Laune riß Geckeler die Tür auf und stürmte hinaus, bremste sich ruckhaft, steckte den Kopf durch den Türspalt ins Zimmer. „Sie, Schwede, haben Sie noch zwei Schnäpse in Ihrem Fläschle? – Gut! Ich komme gleich.“ Daß er das so ohne weiteres schluckt, dachte Schlottke. Da steckt doch was hinter, daß er keinen Zirkus macht. Paß auf, Schlottke, der Alte hat was in der Rückhand. Er griff in die Schubfächer seines Schreibtisches, klatschte eine Akte auf die Platte und fischte einen Packen Zettel aus der Jackentasche. Lust hab’ ich gar nicht, an der Apothekensache weiterzumachen, überhaupt nicht. Hätte der Wächter nicht am Leben bleiben können? Dann wär’ der Fall beim Einbruchsdezernat geblieben. Mußten sie ihm unbedingt eine aufs Dach hauen? Einem achtundsechzigjährigen Opa! Hätte es nicht genügt, den Alten beiseite zu schieben: ,Mach mal keinen Ärger, Opa, wenn erwachsene Leute ihrer anstrengenden Nachtarbeit nachgehen. So ein Apothekentresor macht Arbeit, da kommt man schon ins Schwitzen, wenn man auch noch leise sein muß.‘ Aber nein, der Opa muß dazwischengehen. Was haben wir davon? Opa tot, und Schlottke hat den Fall am Hals. Dabei hat mir unsere Wasserleiche viel besser gefallen. Schlottke kramte in seinen Zetteln, las ab: Tod durch Ertrinken, keine Gewaltanwendung. Eintritt des Todes etwa 22.00 Uhr. Zum Zeitpunkt des Todes starke Rauschgifteinwirkung, zwei Einstiche im linken Unterarm … Unser Kleiner ist also high gewesen, als er ins Wasser geraten ist. In dieser abgelegenen Gegend … Geckeler polterte aufgeräumt ins Zimmer. „Wo bleibt der Schnaps, den Sie mir versprochen haben, Ostschwede?“ Schlottke holte die Flasche und goß zwei Gläser voll. 122
„Auf die abgenommene Wasserleiche!“ Geckeler prostete seinem Assistenten zu und trank mit einem Ruck das Glas leer. „Der Kleine ist high gewesen, als er ertrank, Inspektor.“ „Ich weiß, Schlottke. Er war bis über den Eichstrich voll. Weit darüber!“ Geckeler grinste. „Sagt uns das was?“ „Hm.“ Schlottke rieb sich die Nasenflügel. „Kann alles mögliche heißen.“ „Und wenn es nun wirklich einer von unseren drei Burschen gewesen ist?“ „Dann sagt mir das schon eher was. Ist er denn …?“ „Er ist, Schlottke, er ist. Ich hatte den Fahrkartenverkäufer zu heute morgen hierherbestellt. Eben hab’ ich ihm ein Bild gezeigt.“ „Wo haben Sie denn das her? Die liegen doch alle beim …“ „Beim Pfitzer, natürlich. Alles, was Sie hingetragen haben, liegt dort …“ „Meinen Sie nicht, daß Sie Ärger kriegen könnten, Chef?“ Schlottke zeigte grinsend seine gelben Pferdezähne. „Könnte ich, könnte ich!“ Geckeler zog sein Jackett an. „Der Kaffee müßte jetzt schon drüben stehen, wie? Kommen Sie, Schlottke, den führen wir uns jetzt zu Gemüte, und dann fahren wir, in die Apotheke und machen Dienst nach Vorschrift, so wie wir es unserem Dienstherrn schuldig sind.“ Geckeler lachte. „Wir wollen uns doch keinen Ärger machen, was? Wenn wir’s auch könnten! Aber wir wollen nicht, wir sind so frei.“ Geckeler ging zur Tür, sein Assistent folgte ihm. Als er an die Klinke faßte, sagte der Inspektor: „Stecken Sie Ihre Spickzettel ein, Schlottke! Schließlich haben wir den Fall nicht mehr und Sie also auch keine Zettel diesbezüglicher Natur.“ 123
17 Vorbei die Routinearbeit in der Apotheke, vorbei die Befragungen und das Lesen der langatmigen Protokolle. Das Gespräch mit der Witwe des Mannes von der Wach- und Schließgesellschaft – nicht sehr schön das alles, aber was sein muß, muß sein. Alles anhören und dazu was sagen und zwischendurch die richtigen Fragen stellen, deren Sinn die Angehörigen meistens doch nicht begreifen. Und dann zusehen, daß man schnell wieder wegkommt, sich nichts erzählen läßt, was man gar nicht wissen will und nicht gebrauchen kann. Routine. In zwei, drei Tagen wird man die Burschen haben. Gleicher Schuhabdruck bei Apothekeneinbruch in Stuttgart vor einem Monat. Gleiche Tatmerkmale. Keine Fingerabdrücke, aber Werkzeugspuren, ebenfalls wie in Stuttgart. Na ja. Lohnt sich nicht, darüber nachzudenken. Man gibt die Fahndung ’raus und wartet. Hier in der Stadt sind die Jungs auf keinen Fall geblieben. Fluchtwagen ist bekannt. Gestohlener Wagen – wird man finden. Meistens hinterlassen sie doch irgendwo Fingerabdrücke. Routine. Geckeler war im Café neben der Hirsch-Apotheke sitzen geblieben, während sein Assistent den Kram im Amt erledigte. Kann der Schwede allein machen. Damit kommt er längst zurecht. Hab’ keine Lust, jetzt am Nachmittag noch dem Reimann übern Weg zu laufen. Ich kann den arroganten Kerl nun mal nicht leiden, den jungschen Schnösel. Der kann mir mal am Abend begegnen. Besser gar nicht. Und den Pfitzer werde ich sehen, wenn ich es will, oder er muß mir dienstlich kommen. Traut er sich ja doch nicht. Soll mal sehen, wie er mich kriegt, um mir das alles zu erklären. Kann mir schon denken, was er sagen wird, der Kettenraucher. Erfahre ich wahrscheinlich 124
noch heute nachmittag, wenn ich ihm unangemeldet ins Haus schneie. Eigentlich habe ich’s hier gut getroffen in unserem Nest. Wenn ich an den Federle denke, was der alles um die Ohren hat in diesem Hexenkessel Stuttgart. Der weiß ja nie, wo ihm der Kopf steht. Zwanzig Fälle auf einmal am Hals und fünfundzwanzig halbe. Kein Feierabend, kein Nichts. Na, der hat selbst schuld. Wollte ja unbedingt dorthin. Kann man schnell was werden. Landeshauptstadt. Was hat er nun davon? Magengeschwüre hat er, und befördert ist er immer noch nicht. Der wär’ froh, wenn er noch hier säße in unserem langweiligen Städtchen, nur fünf Morde im Jahr, paarmal Totschlag und ein Dutzend Wasserleichen. Die sind das einzige, wovon wir mehr haben als die in Stuttgart. Mir reicht’s jedenfalls. Die Serviererin stellte Geckeler den zweiten Kaffee auf das Marmortischchen. „Habet Se d’Bursche scho im Käschtle, Herr Geckeler?“ fragte sie, während sie das leere Geschirr abräumte. „Des ischt aber auch arg heitzutag, mit dene junge Bursche und mit dem Hasch und des alles, wie des heiße tut, des ausländische Dreckzeig!“ „Woandersch habe mir’s ärger, Margaretle“, besänftigte Geckeler in echtem Schwäbisch und schlürfte von dem frischen Kaffee. Das Margaretle strich sich die Schürze über dem kugelrunden Bäuchlein glatt. „Ha no“, sagte sie. „Isch’s net scho schlimm g’nug, Herr Inschpeklor, wenn d’ Leit auf der Straß totg’schlage werdet. Des sind beschtimmt. Ausländer g’wäse. Italiener oder Türke oder solche Araber. Neulich hatte mir einen hier im G’schäft, der hat ganz so ausg’sehe, als ob der so was alle Tag mache tät.“ Sie schüttelte sich. „Die müsset alle eig’locht werde. Was i bin, wenn i was zu sage hätt’, i tät’ se alle nausjage, 125
Inschpektor.“ Das Margaretle lächelte Geckeler freundlich zu und wedelte milder Serviette Krümel vom Tisch. Geckeler lächelte zurück. „Ischt gut, Margaretle, wenn i se hab’, dann jag i se naus.“ Besonders wenn sie aus Tuttelfingen gebürtig sind oder aus Pforzheim, fügte er noch für sich hinzu. Das Margaretle war schon zum Büfett gelaufen. Woher soll sie’s besser wissen, dachte Geckeler, schließlich liest sie Tag für Tag die Zeitung, und da steht’s ja drin, daß alle Italiener faul sind und jeder Perser deutsche Kinder schändet. Geckeler ließ die Hälfte seines Tortenstückes liegen, schob den Teller von sich. Ich werde sowieso zu fett, sitze zuviel ’rum, müßte Bewegung haben. Er verzog das Gesicht. Ich muß mir mal ein Hobby zulegen, das mich Geld kostet, vielleicht verfresse ich dann nicht mehr soviel. Überhaupt, ein Hobby muß bald her. Ans Alter denken, an die Pensionszeit. In zehn Jahren spätestens kanten sie mich ’raus, brauchen meinen Platz für einen, der nachrücken will. Ein Hobby zulegen, ja ja. Ein Boot werde ich mir vielleicht kaufen, eines mit kleiner Kajüte, in der man übernachten kann, das wär schon was. Dann sehe ich die Wohnung nur im Winter. Ach, hör auf, Geckeler, du hast noch was zu tun. Er rührte den Kaffee auf und trank ihn aus. Und da sah er auch schon Erwin, wie er zur Tür hereinkam, die dicke Frau Meierbaum hinter dem Büfett grüßte, jeder in der Stadt kannte Frau Meierbaum und ihr Café am Markt, ff Conditorei seit 1824. Erwin behielt die Mütze auch in geschlossenen Räumen auf, ganz gegen die Dienstvorschrift, denn er zeigte nicht gern die blaurote, handtellergroße Narbe, die er aus dem Kurland mitgebracht hatte. Mit der Mütze drauf, da sah er ganz normal aus, aber sonst grausten sich die Frauen vor Erwins Kriegsauszeichnung, wie er seine Narbe nannte. 126
Erwin schaute in die blankgeputzte Spiegelwand und entdeckte Geckeler. Er ging die drei Stufen hinauf und setzte sich zu seinem Chef. „Wir können, wenn wir wollen, Inspektor“, sagte er. „Wollen wir denn?“ Geckeler sah auf die Uhr. „Ja, wir wollen. Ist jetzt die richtige Zeit.“ Er wartete, bis Erwin einen Kaffee getrunken hatte, dann gingen sie. Im Wagen fragte er: „Was hat Schlottke gesagt?“ „Ich soll Ihnen ausrichten, er hat eine warme Spur, wegen des Raubüberfalls gestern im Stadtpark. Er hat deswegen noch in der Stadt zu tun. Er will Sie heute abend anrufen.“ „Gut.“ Geckeler rekelte sich bequem zurecht. „Soll er mal dranbleiben, damit der Chef Ergebnisse kriegt. Was Genaues hat er nicht gesagt?“ Erwin bremste sanft und hielt vor einer Ampel. „Nein, nur daß er Sie anrufen will. Und daß es prima läuft, soll ich Ihnen noch ausrichten. Ihm wäre noch was eingefallen zum Jagdhaus.“ „Na, wunderbar.“ „Machen Sie denn da noch weiter, Inspektor? Ich meine, mit dem Jagdhaus … ich hab’ gehört, daß …“ Erwin legte den Gang ein und fuhr zügig an. „Du hast richtig gehört, Erwin. Wir machen die Sache nicht weiter.“ Geckeler lächelte ironisch. „Die Sache läuft uns nur noch ein bißchen nach, hängt uns am Kreuz, wie man so schön sagt.“ Erwin sah den Inspektor forschend von der Seite an, aber als dieser den Blick ignorierte, nahm er die Mütze ab und rieb sich die Narbe auf dem Scheitel. „Wetter schlägt um“, sagte er nur. „Kann schon sein, Erwin, du hast ja ein Gespür fürs Wetter. Wieviel Tage vorher merkst du es?“ 127
„Drei“, antwortete der Fahrer und setzte die Mütze wieder auf. Geckeler lächelte noch immer ironisch. „Ich werde also heute abend meinen Regenschirm ölen, damit ich gut vorbereitet bin.“ Erwin nahm routiniert einem Lieferwagen die Vorfahrt, das machte er gern, wenn er in Uniform im Wagen saß, obwohl er sonst vernünftig fuhr. Er drohte dem schimpfenden Fahrer des Lieferwagens mit väterlicher Geste. Geckeler griente. „Wir werden uns ein Disziplinarverfahren einhandeln, Erwin, wenn wir so weitermachen.“ „Leicht möglich, Inspektor. Sehr leicht möglich“, erwiderte der Fahrer und trat das Gaspedal kräftig durch. Zehn Minuten später waren sie oben auf den Hügeln über der Stadt, wo ein geschotterter Fahrweg abzweigte. Kein Wegweiser war an die Tannen genagelt, nur die beiden Telefondrähte, die dem schmalen Weg folgten, verrieten, daß er zu einem bewohnten Haus führte. Fremde, die auf der asphaltierten Straße vorüberfuhren, hätten den Weg nicht von den vielen anderen Holzfuhrwegen unterscheiden können. „Soll ich nicht doch bis zum Haus …“, fragte Erwin und fuhr ein Stück in den Weg hinein. „Es ist noch weit zu laufen bis dahin, Inspektor.“ „Nein.“ Geckeler drückte den Schlag auf. „Laß nur, Erwin. Ich laufe gern durch den Wald. Hier oben ist es schön. Das ist nicht so eine Holzplantage wie sonst die Wälder heute. Hier wächst noch alles durcheinander, wie sich das gehört für einen richtigen Wald. Die Tannen dort vorn“, er deutete auf eine dichte Gruppe flechtenbehangener Bäume, „die haben mindestens dreihundert Jahre auf dem Buckel. Das sind Bäume, Erwin! Unter denen 128
muß man laufen. Ohne Benzingestank. Fahr wieder zurück in die Stadt.“ „Und abholen soll ich Sie auch nicht?“ „Nein. Nicht nötig. Ich laufe mir Fett ab.“ „Von hier bis in die Stadt sind es sieben Kilometer, Inspektor!“ „Macht nichts, Erwin. Ich laufe. Sei doch froh, wenn du heute früher Feierabend hast.“ „Wie Sie wollen, Chef. Dann also bis morgen.“ „Bis morgen, Erwin.“ Erwin wendete, kurbelte die Scheibe herunter und rief, während er schon anfuhr: „Viel Spaß heute abend!“ Geckeler hob grüßend die Hand, nickte und dachte: Hoffen wir’s. Dann ging er den gewundenen Weg in die Tannen hinein, zwischen denen es schon dämmerte. Der Wind bog die Spitzen der Bäume, rauschte in den oberen Ästen, unten bewegte sich die kühle, modrige, nach Pilzen riechende Luft nicht. Geckeler sog den Harzgeruch, den Duft der Tannennadeln und des feuchten Waldbodens tief ein. Hier kann man’s aushalten, dachte er, hier könnte ich den ganzen Tag rumlaufen, brauchte keine Stadt, keinen Kaffee, keinen Wein. War lange nicht mehr hier. Muß zwei, drei Jahre her sein. Er blickte an den Astquirlen der riesigen Tannen empor, konnte aber die Spitzen nicht erkennen, so dicht standen die Bäume. Zu hören waren nur die Vögel, manchmal ein knarrender Ast, das hohle Hämmern eines Spechtes und das Tuten eines Dampfers unten auf dem See. Die haben es gut hier oben, dachte Geckeler. Wer hier wohnen kann … Das ist der reinste Urlaub alle Tage. Diese Luft und diese Ruhe! Man könnte neidisch werden. Dann ging er durch Laubwald. Eichen, Bergahorn und Ebereschen, dichtes Unterholz wucherte bis auf den 129
Weg. Himbeeren. Brombeeren, Hagebutten, alles durcheinander. Der Hang hinter dieser Wildnis stürzte zum Ufer des Sees hinunter. Boote konnten hier nicht anlegen, weil die grauen Felsen steil ins Wasser abfielen. Nur die Kronen der gestürzten Bäume erreichten den Spiegel des Sees. Den wenigen Spaziergängern, die hierher fanden, waren die kaum sichtbaren Pfade, die hinabführten, zu beschwerlich, zu steil und mit zuviel Dornengestrüpp verwachsen. Nur die Damhirsche kletterten in der Dämmerung hinunter, um an den flachen Stellen zu trinken. Die Fischreiher auf ihren weißgekalkten, dürren Bäumen blieben ungestört. Aber Geckeler sah die Damhirsche nicht, die im Schatten des Hochwaldes warteten, bis er vorüber sein würde. Er sah nur den Weg und die Bäume und viel Gebüsch dazwischen. Mit geübtem Ohr hörte er das Surren eines leichten Motorbootes auf dem See und dann wieder den Specht, das klang auch fast wie ein Motor, so regelmäßig klopfte der. Geckeler ging gemächlich auf dem grasbewachsenen Rand der Fahrspur, streifte an den Büschen entlang, riß gelegentlich ein Blatt ab, roch daran und warf es wieder weg. Fr sah den Wald, nahm Eindrücke auf, aber er mußte nichts entdecken, suchte nichts. Er war nicht im Dienst. Er konnte das: für eine halbe Stunde nicht im Dienst sein. Vorher Dienst und nachher Dienst und dazwischen, ohne Übergang, nur Geckeler für sich. Vielleicht eine halbe Stunde war er so gegangen, dann verbreiterte sich der Weg und endete vor einem Gittertor. Rechts und links führte eine mannshohe Mauer in den Wald und verlor sich im dämmrigen Gebüsch. Kletterrosen rankten an der Mauer hoch und ließen von den Steinen fast nichts sehen, der Stacheldraht auf der Krone der Mauer war rostig und an vielen Stellen schon zerfressen. 130
Das schwere, kunstvoll geschmiedete Gitterwerk des zweiflügeligen Tores und die schmale, niedrige Tür daneben waren lange nicht gestrichen worden. Wie Borke blätterte die schwarze Farbe von den ineinander verflochtenen Eisenstangen ab. Der rechte Flügel des Tores stand halb geöffnet, man konnte sehen, daß das Schloß zerrostet war, an den Pfosten rankte dunkelgrüner Efeu empor. Ohne zu zögern, betrat Geckeler das Grundstück. Er wußte, daß der in die Mauer neben dem Türchen eingelassene Klingelzug nicht mehr funktionierte. Als seine Schritte auf dem weißen Kies der Allee knirschten, schlugen die Hunde bereits an, und ihr Gebell kam rasch näher. Schöne weiße Kieselsteine hat er streuen lassen, dachte Geckeler beim Gehen. Die ganze Allee war damit beschüttet. Nur hier und da stieß ein Grasbüschel hindurch. In den alten Pappeln, die zu beiden Seiten des Weges standen, rauschte der Wind. Es würde Regen geben. Dann waren die Hunde heran. Zwei große, weiße Setter. Sie liefen in weitem Bogen um Geckeler herum, verbellten ihn, kamen aber nicht näher. „Bellt mal“, sagte Geckeler. „Ihr traut euch sowieso nicht, mich zu beißen, kenn’ euch doch. Dazu verpäppelt euch der Alte viel zu sehr. Ihr könnt ja gar nicht beißen, seid froh, daß ich euch nicht an den Pelz gehe.“ Und ohne sich um die Hunde zu kümmern, ging er weiter die Allee entlang. Am Haus wurde eine der vorderen Terrassentüren geöffnet, ein Mann trat heraus, stieß einen Pfiff aus, und sofort ließen die Hunde von Geckeler ab. „Sie, Inspektor?“ fragte der Mann erstaunt. „Ich dachte, Sie wollten morgen erst …“ Geckeler stieg die breiten Stufen zur Terrasse hinauf, an der morschen Pergola vorbei, von der aus wilder Wein 131
in die Spaliere an der Hauswand wuchs. Dichtes Laub bedeckte die ganze Front der Villa, im oberen Stockwerk waren sogar die Fensterläden überwuchert, so daß sie nicht mehr geschlossen werden konnten. Zwischen den stumpfen Steinplatten der Terrasse wuchsen Löwenzahn und Goldraute. Nur der schmale Platz unmittelbar vor der Front der französischen Fenster war von den Pflanzen gesäubert worden, und die Steine waren gefegt. „Ja, ich bin’s, Kriminalrat“, sagte Geckeler mit einer bedauernden Geste. „Ging leider nicht anders. Mit den neuen Fällen, Kriminalrat, bin ich so tief in der Kreide, daß ich morgen nicht hätte kommen können. Auf keinen Fall! Da hab’ ich mir gedacht …“ Er trat neben seinen Chef und machte eine grüßende Geste, als ob er eine Mütze trüge. „Ich hatte grade in der Nähe zu tun, da habe ich mich schnell mit ranfahren lassen. Ich hoffe, Sie sind mir nicht allzu böse, und ich störe Sie doch nicht?“ „Nein, das nicht, Geckeler, das nicht. Ich bin heute sozusagen frei. Keine Akten mit nach Hause genommen.“ Pfitzer lächelte schwach. „Ausnahmsweise.“ Seine halb gerauchte Zigarette warf er in einen leeren Blumenkübel. Wie ein krankes Kind sieht er aus, dachte Geckeler. Wie ein Kind, das immer krank ist, so ein altes Kind. Wie die Kinder, die im Krieg aufwachsen, die nichts anderes kennen als Krieg. „Aber kommen Sie doch ’rein, Inspektor!“ Pfitzer wies mit dem Arm auf die offene Tür. Er trug eine kragenlose Kordjacke und einen Rollkragenpullover darunter. Seine Hosen waren an den Knien ausgebeult. Geckeler betrat das Terrassenzimmer. Draußen fielen die ersten Regentropfen. Große, schwere Tropfen, sie klatschten auf die Steine, der Wind brach einen morschen 132
Ast von einer Pappel. Die Hunde bellten irgendwo weit entfernt in der Tiefe des Parkes. Geckeler brauchte sich in dem Raum nicht umzusehen, er kannte ihn, er wußte, welchen von den schwärzlichbraunen, tiefen Ledersesseln, in denen man wie in einer Festung saß, Pfitzer ihm anbieten würde. Er ging über den weichen Teppich auf diesen Sessel zu. Das alte Parkett, das in den Ecken des Zimmers sichtbar wurde, knarrte unter seinem Gewicht. Das Mobiliar des großen Raumes, die dunklen, geschnitzten Eichenholzschränke, der riesige Schreibtisch mit den Sphinxfüßen, die bis zur halben Höhe getäfelten Wände – alles alt und schwer und dunkel. Der Geruch nach Holz, das Knacken von Holz, das Ächzen von Holz. Und an der schmalen Seitenwand, auf die das meiste Licht fiel – die einzige Wand, die weiß war von oben bis unten, denn das Paneel hatte Pfitzer dort entfernen lassen –, an dieser Wand das liebste Stück des Kriminalrats, der Degas. Die zerbrechlichen Ballettfiguren, kaum zu erkennen heute im diesigen, abnehmenden Licht des Abends. Dieser Teil des Zimmers sah aus wie ein Altarraum. Der steiflehnige, reichgeschnitzte Stuhl stand dem Gemälde zugekehrt und wurde nie woandershin gerückt. Pfitzers Kapelle Zum Heiligen Degas nannte Geckeler für sich den Raum. Und er hatte mit dem Kriminalrat fast bis zum Streit geredet, damit der sich eine bessere Alarmanlage einbauen ließ, eine, die wirklich sicher war, denn das Gemälde, ein Familienerbstück, wurde auf eine halbe Million geschätzt, und Sammler hatten schon weit mehr geboten. Aber Pfitzer wollte keine Gitter vor seinen Fenstern, keine elektronische Abschirmung für das Haus. Dem Degas wird keiner etwas tun, sagte er immer, wenn die Rede darauf kam. Dazu ist er viel zu schön. Wenn sich einer so 133
viel Mühe macht und so viel Risiko einkalkuliert, dann hat er ihn beinahe verdient. Geckeler versank in seinem Sessel, das dicke Leder knarrte leise. „Trinken Sie was, Inspektor?“ fragte Pfitzer und ging zu einem der Schränke. Geckeler schüttelte den Kopf. „Nein, danke, Kriminalrat. Heute nicht mehr.“ Er legte die Arme breit auf den Wulstrand des Sessels. „Ich will auch gar nicht lange bleiben. Wollte sie nur etwas fragen, das ich im Amt schlecht fragen kann, da hören zu viele Leute zu.“ Pfitzer ließ sich in einen Sessel sinken, sah an Geckeler vorbei zu den Fenstern. „Fragen Sie, Inspektor.“ Er fischte eine neue Zigarette aus der Jackentasche, zündete sie an und sog den Rauch tief ein. „Sie wissen, Kriminalrat, daß ich gern unter Ihnen arbeite?“ fing Geckeler an. Pfitzers graues Gesicht blieb unbewegt. „Ich glaube schon. Ich denke es zumindest manchmal, und es sollte mich freuen, wenn es an dem ist.“ „Es ist an dem.“ „Und warum sagen Sie mir das?“ „Ich möchte, daß Sie es wissen.“ „Ich danke Ihnen, Geckeler. Ich weiß, daß Sie kein Mann sind, der Komplimente macht. Sie sind eher ein …“ „Schwieriger Charakter“, unterbrach ihn Geckeler. „Sprechen Sie es getrost aus.“ Pfitzer lächelte. „Das ist nicht ganz unwahr, Geckeler. Aber die sogenannten einfachen geradlinigen Charaktere sind meist nicht die angenehmsten.“ Die Asche der Zigarette fiel auf den Teppich, Pfitzer merkte es nicht. Dann sprach er weiter: „Sie möchten also, daß ich weiß, daß Sie gern bei mir arbeiten, mit mir oder ich mit Ihnen. 134
Unter mir … Sie wissen, ich schätze den Dienstweg nicht so sonderlich. Daß ich zwei Sessel über Ihnen sitze, Geckeler, habe ich meiner Herkunft zu verdanken und den besseren Startmöglichkeiten, die daraus resultierten. Nicht meiner eigenen Leistung. Die Vorleistung hat meine Familie gebracht, die Familie“, Pfitzer dehnte das Wort spöttisch, „und das Geld, das wir immer hatten.“ Er warf einen Blick auf seine Zigarette, klopfte Asche in die Sandschale neben sich, zündete eine neue an der alten an und scharrte den Rest in den Sand. „Aber ich gerate ins Schwatzen, Geckeler“, sagte er langsam. „Kommt wohl von der Regenstimmung. Sie wollten Fragen stellen. Sie haben erst eine gestellt. Ich habe sie beantwortet. Noch welche?“ Er schwang sich aus dem Sessel, drückte den offenen Fensterflügel an und öffnete eine Schranktür. „Stört es Sie, wenn ich eine Platte auflege? Ich brauche das manchmal abends.“ Geckeler nickte. „Natürlich, bitte!“ Und erdachte: Jetzt sieht er plötzlich ganz munter aus, der Alte. Was so ein bißchen Honig ausmacht … ach Quatsch, ich habe es ja ernst gemeint. Ich kann ihn ja wirklich recht gut leiden, den Pfitzer. Ein bißchen leid tut er mir immer, kommt mir vor, als ob er mein Sohn sein könnte, dabei ist er so jung nun auch nicht mehr. Pfitzer kam zurück zu seinem Sessel, die Zigarette hing ihm im Mundwinkel, aus zwei Ecken des Zimmers rieselten die warmen Töne eines Cembalos. „Scarlatti“, sagte Pfitzer und rollte sich in seinen Sessel. Geckeler setzte wieder an: „Nachdem die erste klar ist, Kriminalrat, stelle ich die zweite Frage.“ „Bitte!“ „Warum darf ich den Fall nicht weiterbearbeiten?“ 135
Pfitzers Hals versteifte sich, seine Stimme wurde kalt. „Weil das kein Fall ist, Geckeler! Das habe ich Ihnen schon mal gesagt. Ich kann es präzisieren: Es handelt sich um eine Angelegenheit, Inspektor Geckeler, vielleicht eine delikate, aber auf jeden Fall nur um eine Angelegenheit, sonst nichts! Den Unterschied kennen Sie, Sie sind kein Anfänger in unserem Metier.“ „Das ist die Antwort?“ „Ja, das ist alles, was ich Ihnen dazu sagen kann.“ Geckeler schnalzte mit den dicken Lippen. „Gut, das wollte ich wissen.“ „Also, jetzt wissen Sie es!“ Die tiefen, vollen Töne des Cembalos ließen den Fußboden vibrieren, Geckeler spürte es bis in die Sohlen. „Eine letzte Frage, Kriminalrat.“ „Bitte, ich höre.“ Pfitzer kniff die Augen ein. „Aber fangen Sie nicht wieder von vorn an, es hat keinen Sinn.“ „Ist das dreckige Wäsche der Franzosen?“ „Kein Kommentar, Geckeler. Ich sagte es schon.“ „Dreckige Wäsche unserer eigenen hohen Herren?“ „Hören Site auf!“ Das klang hart, viel härter als dienstlich. Die Zigarette flog in die Sandschale, qualmte weiter. Pfitzer stand auf und stellte mit einer heftigen Bewegung den Plattenspieler ab. Stille im Raum, der Regen war wieder hörbar, der Wind, und einer der Hunde blaffte. Geckeler wußte jetzt, daß er nichts erfahren würde. „Auch gut, Kriminalrat“, sagte er. „Entschuldigen Sie.“ Pfitzer winkte nur ab. „Und wenn Ihnen gemeldet werden sollte, daß ich mich, in meiner Freizeit selbstverständlich, ein wenig um die …“, Geckeler schmeckte das Wort ab, „um die Angelegenheit kümmere, dann werden Sie …“ 136
„Natürlich!“ unterbrach ihn Pfitzer, zündete an der qualmenden Kippe die neue Zigarette an. Seine Hände zitterten leicht. „Natürlich werde ich …“ „Gut, ich wollte nur wissen, wie ich mit Ihnen stehe.“ Pfitzer paffte hastig. Er sah wieder wie ein altes Kind aus, gelblich unter der Blässe des Gesichtes, die Augen klein und glanzlos, der Mund zusammengekniffen. „Machen Sie mir das Leben nicht noch schwerer, Geckeler“, sagte er. „Es würde mir keinen Spaß bereiten, Sie in die Pfanne hauen zu müssen.“ „Das tröstet mich, Kriminalrat.“ Geckeler grinste schief und arbeitete sich aus dem tiefen Sessel hoch. Jetzt möchte ich ihm gerne einen Seitenhieb verpassen, dachte er. Möchte ich, wirklich, mir ist sehr danach. Aber ich werd’s sein lassen. Reiß dich am Riemen, Geckeler! Pfitzer war zur Terrassentür gegangen, hatte sie geöffnet und schaute in die Bäume hinauf. Es regnete nicht mehr, nur der Wind schüttelte noch Tropfen von den Blättern. Eine Uhr schlug an in einem Nachbarraum, Geckeler zählte die Schläge nicht. „Ich muß gehen, Kriminalrat.“ sagte er. „Es ist schon fast dunkel draußen. Ich muß.“ „Warten Sie, ich rufe Ihnen einen Bereitschaftswagen. Der kann in zehn Minuten hier sein.“ Pfitzer ging zum Schreibtisch, auf dem die beiden Telefone standen. „Sie werden doch nicht laufen wollen.“ „Doch, ich möchte laufen. Sie haben gute Luft hier oben.“ „Unsinn! Sie fahren, Geckeler!“ Pfitzer sprach eine Anweisung in die Muschel und legte den Hörer wieder auf. Der Inspektor war schon in der Tür. „Ich gehe vor. Ein bißchen Luft schnappen. Kriegen wir selten in der Stadt. 137
Wir müssen ja die Nase immer an den Auspuffrohren haben.“ Pfitzer folgte ihm bis an die Tür. „Der Wagen kommt Ihnen entgegen, Sie können ihn nicht verfehlen. Es gibt nur einen Weg.“ „Danke, Kriminalrat.“ Geckeler gab seinem Chef die Hand. „Ich danke Ihnen für die offenen Karten.“ „Offene Karten …?“ Geckeler schlug sich den Mantelkragen hoch. „Ja. Dafür, daß Sie mir offen gesagt haben, wo mein Platz im Spiel ist.“ Fahrig, fast verlegen aussehend, machte Pfitzer eine weite Handbewegung. Glut fiel von der Zigarette ab. „So habe ich das nicht gemeint!“ „Ich weiß“, antwortete Geckeler und trat auf die Terrasse. „Und entschuldigen Sie die späte Störung, Chef.“ Dann stieg er mit schnellen Schritten die kleine Treppe an der Pergola hinunter, und seine Schuhe knirschten auf den weißen Kieselsteinen. Er hörte noch, wie am Haus die Tür geschlossen wurde, dann ratterten die schweren Jalousien herab. Als Geckeler durch das Tor ging, merkte er erst, daß es Nacht geworden war, so hell schien der Mond durch die Bäume. Er fröstelte und schritt schneller aus. Vielleicht doch ganz gut, daß er den Wagen gerufen hat, dachte er.
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18 Geckeler ging im Laubwald. Der Mond schien voll, und der Wind hatte sich gelegt. Jetzt sah der Wald ganz anders aus, ohne Farben, nur schwarz und weiß, gleichsam nackt die Stämme, wie Klumpen das Gebüsch. Der Weg lief schmal und hell wie ein Milchfluß zwischen schwarzen, hohen Ufern. Der Inspektor beeilte sich nicht. Er wollte über nichts nachdenken, und kalt war ihm jetzt auch nicht mehr. Der Wagen würde ohnedies gleich kommen. Vielleicht schicke ich ihn sogar zurück, überlegte er. Läuft sich gut bei diesem hellen Mondlicht. Wann bin ich wohl das letzte Mal bei Vollmond durch den Wald gegangen? Muß viele Jahre her sein. Erinnern kann ich mich nicht mehr dran. Ich muß öfter in den Wald gehen, nahm er sich vor. Braucht der Mensch. Merkt man jetzt erst, was einem fehlt, wenn man aus der Stadt nicht rauskommt und immer Dienst macht. Vor dem Dienst nur die Seepromenade und nach dem Dienst nur bei Alwin im „Schwarzen Roß“. Ich sollte leiser gehen, nicht so drauflostrampeln, ich Stadtochse, dachte er, als er knackend einen Zweig zertrat. Vielleicht kann ich Rehe sehen oder einen Fuchs, wenn ich nicht solchen Krach mache. Aber da trat er schon wieder auf einen Ast. Nicht gesehen, dabei ist es wirklich hell genug jetzt! Und wieder knackte es, lauter diesmal. Was ist denn das? Von mir doch nicht? Geckeler wollte sich gerade umdrehen – vielleicht läuft mir ein Hirsch hinterher und will ein Stück Zucker, dachte er belustigt –, da war die Stimme schon hinter seiner Schulter, und ein rundes Eisen preßte sich schmerzhaft in seinen Rücken. 139
Er blieb stehen. Der Schreck fuhr ihm ins Herz, er fühlte es puckern, fühlte, wie es sich zusammenzog, zusammenschnürte, sich überschlug. Zum ersten Mal seit Jahren, daß ich wieder mal mein Herz spüre, dachte es blitzschnell in ihm. So wie an dem Morgen, Sonntagmorgen, als Maria neben mir tot im Bett lag. Ich wache auf, und sie ist tot. Ich schüttle sie, doch sie bleibt steif. Ganz kalt schon. Damals war das auch so gewesen. Alles Blut im Herzen war wie zäher Gummi, wie ein geknautschter Gummiball im Herz. Maria, mußtest du so früh schon sterben? Diese Gedanken rasten durch Geckelers Gehirn wie eine flirrende Scheibe, wie der Lichtfleck eines Taschenspiegels über die Fenster einer schattigen Hauswand. Nur viel schneller. Viel, viel schneller. „Nur die Ruhe, Inspektor“, sagte eine weiche Stimme hinter ihm. Da floß das Blut schon wieder durch Geckelers Herz, da dachte er schon wieder selbst und nicht mehr es in ihm. Und die Stimme sprach gleich weiter, das Eisen in Geckelers Rücken bewegte sich dazu ein wenig nach oben. „Sie wissen doch, Inspektor, was Sie jetzt mit den Händen machen müssen. Sie kennen sich ja aus.“ Langsam hob Geckeler die Arme und faltete die Hände auf dem Scheitel. Der andere tastete ihn mit fließenden Bewegungen ab, wie ein geschickter Schneider, der dem Kunden einen zu weit geschnittenen Anzug anklopft. Dann sagte der Mann mit der geschmeidigen Stimme: „Jetzt können Sie sich umdrehen.“ Wo hab’ ich die Stimme schon mal gehört, fragte sich Geckeler, wo hab’ ich bloß, ich bin mir sicher, daß ich 140
die schon mal … Er sagte: „Das kommt dich teuer zu stehen, Spezi.“ Aller Schreck war vorbei, auch das Suchen nach der Stimme hatte jetzt keinen Sinn. Geckeler war nur noch wütend, daß man ihn überrumpelt hatte, und er überlegte, wie er den Angreifer am schnellsten unschädlich machen könnte. „Sehr teuer kommt dich das, wenn ich dich auf der Schippe habe.“ Er drehte sich um, und im gleichen Moment, bevor er ganz herum war, verlor er das Gleichgewicht, und etwas Kaltes, Hartes riß ihm das Gesicht auf, warf ihm den Kopf nach hinten, ließ ihn auf den Schotter stürzen. Der Schmerz nahm ihm für einen Augenblick den Atem. Er merkte gar nicht, daß ihn der andere mit den Schuhen in die Seite trat. Die weiche Stimme kam von oben: „Sie werden mich nicht auf der Schippe haben, Inspektor, Sie nicht! Dazu sind Sie zu schwach auf der Brust.“ Ganz ruhig und fast unbeteiligt klang die Stimme, als der Fuß wieder schmerzhaft in Geckelers Nieren trat. „Bleiben Sie liegen“, befahl der Mann, als Geckeler sich nach oben krümmte. „Bleiben Sie liegen, sonst geht der Ballermann los, Inspektor. Sie wissen ja, uns hört hier keiner, ich riskiere nichts.“ Geckeler öffnete die Augen zu schmalen Schlitzen, sah die Bäume über sich schwanken, den weißblauen großen Mond und die Silhouette des Mannes, der auf ihn zielte. „Es wird Ihnen noch schlechter gehen, wenn Sie die Finger nicht von dem Jagdhaus lassen.“, sagte der Mann. Eine gepflegte Stimme, akzentfrei, nicht langsam, nicht schnell sprechend. Er trat einen Schritt zurück und steckte etwas in die Jackentasche. Der Inspektor versuchte den brennenden Schmerz in seinem Gesicht zu verdrängen, das schneidende Ziehen 141
in den Nieren. Er wälzte sich auf die Seite, sah aber weiter nach oben. Ich muß mir alles merken, dachte er quälend langsam. Wie groß ist der Kerl? Ungefähr eins achtzig, schätze ich. Schlank ist er auf alle Fälle. Wiegt hundertsechzig oder hundertsiebzig Pfund, volles Haar, scheint kraus zu sein. Das Gesicht? Ach, daß man das Gesicht nicht sehen kann! „Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen“, ächzte er und dachte: Zeit gewinnen, der Wagen muß bald kommen. Aber der Mann ließ sich auf einen Wortwechsel nicht ein. „Stehen Sie jetzt langsam auf“, sagte er ruhig und trat noch einen Schritt zurück in den Schatten eines Eichenstammes. „Keine Mätzchen, Sie wissen, wie das funktioniert. Stehen Sie auf, drehen Sie sich um, und gehen Sie vor mir her.“ Er wies mit der Waffe in den Wald. „Los, machen Sie, sonst kriegen Sie noch eine!“ Geckeler gehorchte. Da ist nur schwer was zu unternehmen, dachte er, der Kerl macht so was nicht zum ersten Mal. Der ist Profi. Wo habe ich diese Stimme bloß schon … „Gehen Sie! Los, doch! Weiter!“ Der andere blieb dicht hinter ihm. „Strecken Sie die rechte Hand zurück, los!“ Der Revolver stieß wieder schmerzhaft in den Rücken. Geckeler streckte die Hand nach hinten, da schnappte die Handschelle um sein Gelenk. Geckeler sprang nach vorn, ließ sich fallen, versuchte die Beine seines Gegners wegzustoßen, aber der war flink wie eine Katze über ihm und hielt ihm die Waffe an die Wirbelsäule. „Nicht mit mir, Inspektor“, sagte er leise, völlig beherrscht, bog Geckeler den anderen Arm nach hinten und schloß ihn ein. Er drehte Geckeler auf den Rücken, so daß der auf seinen zusammengeschlossenen Armen lag. Dann schlug er dem 142
Inspektor drei-, viermal über das Gesicht. Kurz und hart, routiniert und schmerzhaft. Geckeler stöhnte. „Sie können noch mehr kriegen, Inspektor. Sie wissen ja, was in unseren Kreisen üblich ist, Sie kennen das alles. Beim zweiten Mal wird’s härter, da geht es ohne ein paar Knochenbrüche nicht ab – oder ein rausgedrücktes Auge. Nur zur Warnung, Sie verstehen mich?“ Der Unbekannte drückte seine Daumen von hinten in Geckelers Augenwinkel, bis der Inspektor aufbrüllte. „Und beim dritten Mal … na, Sie wissen ja. Ein viertes Mal gibt es nicht.“ Der furchtbare Griff lockerte sich. Geckeler lag still. Der Mann richtete sich auf, immer darauf bedacht, im Schatten zu bleiben. „Ich denke, wir haben uns verstanden, Inspektor“, sagte er in dem gleichmütigen Tonfall, den er immer behielt, ob er fragte oder befahl. „Sie brauchen mir nicht zu antworten. Aber wenn das heute nicht genügt hat, können wir uns … na, ich wiederhole mich. Ihnen muß ich das nicht erklären, Sie kennen die Spielregeln. Und jetzt bleiben Sie schön ruhig hier liegen, bis Sie mich nicht mehr hören, dann laufen Sie nach Hause und lassen sich die Armbänder abnehmen.“ Er wandle sich zum Gehen. „Ich hoffe, wir müssen uns nicht wiedersehen. Ich hoffe es sehr für Sie!“ Geckeler bewegte sich noch immer nicht. Ich muß was sagen, dachte er, ich darf ihn noch nicht weglassen, ich muß ihn beschäftigen, der Wagen wird gleich kommen. Er zog die Beine an und versuchte aufzustehen. Sofort richtete der Unbekannte die Waffe auf ihn. Geckeler sagte: „Ich will mich nur hinsetzen, kann so nicht mehr liegen.“ Und er richtete sich auf. „Glauben Sie wirklich, daß die Sache klappt? Wenn ich Sie nun erkannt habe …“ 143
„Sie haben mich noch nie gesehen, Inspektor. Wenn das anders wäre, würden Sie diesen Wald nur in einem schwarzlackierten, geschlossenen Wagen verlassen.“ „Dann würden Sie nicht weit kommen, danach …“, knurrte Geckeler. Jetzt lachte der andere leise. „Ich habe es auch nicht weit, Inspektor. Dort, wohin ich will … Ach, was werde ich Ihnen erzählen …“ Er senkte die Waffe wieder. Geckeler hatte es zuerst gehört, weil er darauf gewartet hatte. Er grinste über sein zerschlagenes Gesicht, obwohl das die Schmerzen steigerte. Das Motorgeräusch eines Autos näherte sich. Volkswagen, stellte Geckeler fest. Ein Streifenwagen, gut! Da können wir gleich … Jetzt horchte auch der Unbekannte auf, ließ aber kein Zeichen der Unruhe sehen. Diesmal hielt er dem Inspektor die Waffe an die Schläfe und legte sich neben ihn ins Gras. „Ein Ton von Ihnen, und es knallt!“ Der Wagen näherte sich schnell, brummte eine Steigung hinauf. Geckelers Gehirn arbeitete wie ein Rechenautomat, probierte alle Möglichkeiten durch, plante und verwarf. Als das Auto vorbeifuhr, konnten sie die beiden Polizisten im Innern sehen, die sich unterhielten. Einer zündete sich mit einem Feuerzeug eine Zigarette an. Schießt er, schießt er nicht, schießt er, schießt er nicht? Nein er wird nicht schießen, er kann ja gar nicht schießen, denn wenn er abdrückt, kriegen ihn die beiden. Er wird nicht … Mit aller Kraft riß Geckeler seinen Kopf weg, wälzte sich über den Unbekannten, klammerte sich mit den Beinen an ihm fest und brüllte, so laut er konnte. Der Fahrer des Wagens nahm das Gas weg, bremste, ein 144
Suchscheinwerfer flammte auf, mit heulendem Motor stieß der Wagen zurück, eine Tür klappte. Geckeler fühlte noch die Kälte des Stahls an seiner Schläfe, aber er lag schon allein. Äste peitschten, knackten. Hastige Schritte auf dem Schotter, der hochtourig laufende Motor, brechendes dürres Unterholz, die ratlosen Rufe der beiden jungen Polizisten. Geckeler richtete sich mühsam auf und schrie: „Los, Männer, dem Kerl hinterher!“ Er rannte auf den Weg. „Sie, Inschpekter Geckeler? Was ischt denn Ihne …“ „Los! Redet nicht! Dem Kerl hinterher! Aber vorsichtig, der schießt sofort. Gleich draufhalten, wenn ihr ihn seht.“ Der eine der Uniformierten riß seine Pistole aus der Tasche, stürzte in den Wald, dem Geräusch des Flüchtenden hinterher. Der grelle Strahl seiner Taschenlampe huschte über Blätter und Stämme. Dem anderen hielt Geckeler seine gefesselten Hände entgegen. „Schnell aufschließen, hopphopp!“ Der Fahrer beugte sich über die Handschellen, schüttelte den Kopf. „Geht net, Inschpekter! Da passet unsre Schlüssel net. Dös sind ausländische. Tut mer leid!“ „Auch das noch!“ fluchte Geckeler. „Verdammte Scheiße!“ Er rannte in den Wald. „Los, kommen Sie, wir müssen den Kerl kriegen.“ Der Fahrer folgte ihm. Vor sich hörten sie den ersten rufen: „Halt, stehenbleiben, Polizei! Bleibet Se stehe, Sie!“ „Der Depp!“ stieß Geckeler hervor, brüllte: „Schnauze halten, den Kerl fangen, nicht rumbrüllen, Sie Depp! Sie Dackel!“ Der rufende Polizist blieb stehen, rannte weiter, dann holten sie ihn ein. Vor ihnen war nichts mehr zu hören. „Still!“ befahl der Inspektor. „Lampe aus“, flüsterte er. Sie lauschten, aber es rührte sich nichts. 145
Ausgeschwärmt liefen sie weiter. Ist ein Fehler, daß ich meine Knarre nicht mitnehme, dachte Geckeler, jetzt könnte ich sie brauchen. Ab heute muß ich das Ding dabeihaben. Besser wären zwei. Wo kann der Hund bloß abgeblieben sein? Ob er irgendwo im Busch sitzt und wartet? Nein, von der Sorte ist der nicht. Der kennt sich hier aus, bei dem ist alles gut geplant, vorher hat der sich die Gegend angesehen, und es sollte mich nicht wundern, wenn … natürlich, da haben wir die Scheiße, Geckeler fluchte laut und unflätig. Weit vor ihnen, dort, wo der Hügel steil zum See abbrach, wurde ein Motor gestartet, ein starker Motor, das hörte man an dem dumpfen Aufbrüllen. „Aus!“ sagte Geckeler müde und fiel in Schritt. Seine aufgeschundenen Handgelenke schmerzten ihn jetzt wieder, und er fühlte das Brennen im zerschlagenen Gesicht, das Stechen im Leib. Der erste Polizist rannte, so schnell er konnte, zur Uferkante, und als er sie erreicht hatte, feuerte er ein ganzes Magazin in den dünnen Nebel, der vom See aufstieg. Von dem Boot war nichts zu sehen, und das Motorengeräusch schien von allen Seiten zu kommen. Es wurde schnell leiser. „Lassen Sie den Blödsinn!“ rief Geckeler, als er sah, daß der junge Polizist eifrig ein neues Magazin eindrückte. „Lassen Sie den Unfug! Sie treffen eh keinen mehr.“ Er horchte angestrengt. „Gleich werden, sie aus der Bucht heraussein. Die fahren bestimmt ’rüber auf die andre Seite.“ Tatsächlich war das Motorgeräusch plötzlich kaum noch hörbar. Das Boot war um den Landvorsprung gebogen. „Klar, die fahren ’rüber“, wiederholte Geckeler träge und rieb sich die schmerzende Wange an der Schulter. 146
„Rüber! Die Sauhunde, die elendigen.“ Die Eisen scheuerten stärker an den Handgelenken, die Arme wurden in den Schultern steif. Er ächzte und versuchte die Hände zu bewegen. Nur schnell nach Hause, dachte er. Nach Hause und die Armbänder ab. Hätte nie gedacht, daß die so weh tun können. „Soll i Ihne die Handschelle aufschieße, Inschpekter?“ fragte der Polizist, der so eifrig geschossen hatte. „Aufschießen …“, knurrte Geckeler, „Sie haben wohl nicht alle … Handschellen aufschießen gibt’s nur im Kino. Denken Sie, ich bin lebensmüde? Sie … Sie … ach was, gehen wir.“ Geckeler ließ den Kopf auf die Brust fallen und trottete voran in den Wald. Der Fahrer fragte: „Soll i glei zum Wage, Inschpekter? Alarm für die Seepolizei und an die Gendarmerie?“ Geckeler schüttelte den Kopf. „Fällt Ihnen jetzt schon ein? Daran hätten wir gleich denken sollen, wir Dackel wir.“ Er spuckte heftig aus, was sonst nicht seine Art war, besonders unter Leuten. „Aber es hätte auch keinen Sinn gehabt“, sagte er. Während er sich durch die Äste zwängte, die der Fahrer vor ihm hochhielt, dachte er: Die werden auch mit der Gendarmerie fertig, die schon lange. Der Kerl war nicht allein, zu zweit sind die mindestens gewesen. Könnte mir vorstellen, daß sie auf der Straße irgendwo sogar noch einen Reservewagen stehen haben für alle Fälle. Solche Burschen fängt man nicht so einfach. Halt, bleiben Sie stehen! Polizei! Die sind was Härteres gewohnt, und die fassen nur sichere Sachen an, solche sind das. Hinter denen steckt so allerhand. Möchte wirklich rauskriegen, warum die solch einen Aufstand machen? Da geht’s um große Beträge. Von wem mögen die erfahren haben, daß ich allein unterwegs war? Ob sie 147
mich dauernd überwachen, oder ob sie einen haben, der ihnen alles steckt? Einen von meinen Leuten vielleicht? Diese Stimme von dem Kerl! Wo stecke ich die bloß hin? Ich muß sie irgendwann schon mal gehört haben. Schade, daß ich so wenig gesehen habe von ihm, könnte jeder fünfte sein … Ich sehe immer weniger durch. Ich erfahre mehr und kann nichts draus machen. Scheiße! Als er sich in den Fond des Wagens fallen ließ, krumm und mit dem Gesicht an der Türfüllung, denn er konnte nicht richtig sitzen mit den gefesselten Händen, sagte er zum Fahrer: „Stellen Sie die Heizung an, Wachtmeister, mir ist kalt.“ Der Mond war hinter einer Wolkenwand verschwunden, der Wald stand schwarz wie eine Mauer da.
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19 An dem gleichen mondklaren Abend war es zweihundert Kilometer nördlich dicht bewölkt. Eine grauweiße Wolkenschicht bedeckte den weiten Talkessel, in dem die große Stadt lag. Unter ihr blieb der Rauch der Schornsteine, auf die Hänge drückte das Blei der Auspuffgase, die blauen Blitze von den Fahrleitungen der Elektroloks waren nicht weit zu sehen. Die große Stadt war abgedeckt. Vom Wasserdampf, der aus der Nordsee aufgestiegen war, aus dem Kanal, aus der Irischen See, und vom Rauch aus ihren eigenen Schloten. Die sonst so bunte Stadt war grau, und in ihr war schwer zu atmen. Fred Unger, der Lange, den seine Freunde Hungerkünstler nannten, hatte gründlich gesucht, bis er in einer alten, schmalen Straße hinter dem Hauptbahnhof ein Friseurgeschäft gefunden hatte, in das er hineingehen konnte. Eigentlich ging er nicht gern zu Friseuren; dieser Widerwille hatte ihn schon erfüllt, als er noch ein Kind gewesen war und auf dem hohen Kinderdrehstuhl sitzen mußte. Er hatte sich schon damals nicht wohl gefühlt, wenn er zwischen den Lehnen still sitzen sollte, auch dann noch, wenn die abgeschnittenen Haare im Nacken und an den Wangen juckten, piekten, so daß man sich hätte kratzen mögen. Aber man durfte es nicht, man hatte still zu sitzen beim Friseur, so lange still zu sitzen und das Jucken zu ertragen, bis einem der Spiegel an den Hinterkopf gehalten wurde oder bis die Mama sagte: So ist es aber schön. Nein, daß man dasitzen und alles mit sich machen lassen mußte, das hatte ihm noch nie gefallen, und deshalb waren seine Haare schon immer viel zu lang gewesen, auch als die langen Haare noch nicht an der Tagesordnung waren. Deshalb hatte er 149
stets die Friseurläden aufgesucht, in denen nicht viel Betrieb war, in denen nur der alte Meister mit einem alten Gesellen und einem jungen Lehrling hantierte. Die Läden, die in Seitenstraßen lagen, wo die modisch angezogenen Friseure nicht arbeiten wollten, weil die Räume dunkel waren, altmodisch aussahen und die Kunden sicherlich wenig Trinkgeld geben würden. Dort konnte man sich kratzen, wenn es juckte. In einen solchen Laden war der Lange auch heute gegangen, hatte einen Igelschnitt bestellt; das wird mich verändern, dachte er, als er in den fleckigen Spiegel über dem alten Marmortisch blickte und seine schulterlangen Haare musterte. Der alte Mann mit der Schere hatte nicht geredet beim Schneiden, als er merkte, daß der Kunde nicht reden wollte. Hatte nur getan, was nötig war. Mit der Schere geklappert und die Maschine brummen und das Messer schaben lassen. Gesagt hatte er nur ‚Jawohl‘ und ‚Selbstverständlich, wie Sie wünschen, junger Herr‘. Das war alles gewesen, genau wie der Lange es haben wollte. Seine abgeschnittenen Haare waren vom Lehrling zusammengefegt worden, er hatte bezahlt und die Summe aufgerundet, und der Meister persönlich hatte ihm die Tür geöffnet, als er gegangen war. Und dann hatte er die Seitenstraße verlassen, die er nie wieder betreten würde, weil es so viele von ihnen gab, in jeder großen Stadt. Er kannte viele große Städte. Er liebte die großen Städte, vielleicht, weil er aus einer kleinen kam, die einen langgestreckten Marktplatz besaß, der eher eine breite Straße war; die ein Rathaus hatte, das aussah wie die anderen Häuser auch; dazu fünf Kneipen, in denen Bier getrunken werden konnte, ein Café, in dem es Torten gab und Eis. Und die Schleuse war noch in der Stadt, nicht weit davon wenigstens. Und die Werft am 150
Kanal, in der Binnenschiffe gebaut worden waren, später Torpedoschnellboote bis Kante Oberdeck. Die mußten dann zur See und dort fertigmontiert werden, sonst hätten sie nicht durch die Brücken gepaßt. Torpedoboote wurden mehr benötigt als Frachtkähne. Das war die Stadt, in der der Lange aufgewachsen war, die Stadt, die keine war, die nur so hieß, weil ihre Bewohner irgendeinem Grafen vor dreihundert Jahren mit Geld aus einer Patsche geholfen und dafür ein Papier bekommen hatten, auf dem stand, daß ihr Flecken jetzt Stadt war und Rechte besaß. Ackerbürgerstadt mit einigen Scheunen, vielen Pferdewagen, wenig Straßenpflaster, einer Kirche. Die Leute keine richtigen Bauern mehr, noch keine richtigen Bürger. Ackerbürger eben. Für die Alten reichte die Arbeit in den Hauswirtschaften, die Jungen gingen auf die Werft. Schweißen, brennen, Rost schruppen. Im Regen, in der Kälte, unter Sonne, unter Schnee. Jeden Tag das gleiche: abends Flaschenbier und Kartenspielen, später Fernsehen, morgens Kater und der weite Weg zur Werft. Die Werft bestimmte alles in der kleinen Stadt, von der Wahl des Bürgermeisters bis zur Farbe der Fensterläden, denn Farben aus Restbeständen gab sie verbilligt ab an ihre treuen Arbeiter. Das Graugrün der Torpedoboote schmückte die meisten Häuser der Stadt, die Balkons und die Gartenzäune, die Tore und die Bänke. Die Werft war überall dabei. Sie lag weit vor der Stadt, am brackigen Kanal, in dem das Baden nicht verboten werden mußte, denn niemand tauchte durch die treibende Ölschicht bis zum Wasser hinab. Diese grauen, rußigen Hallen würden den Langen wieder einsaugen, wenn er die großen Städte verließ, die weit wegführenden Landstraßen, die hell 151
betonierten Autobahnen, die sich in sanften Bögen über die Gebirge wanden, Schluchten überquerten und Bergmassive untertunnelten. In die schräge Kammer unter dem durchhängenden Dach würde er zurückkehren und die Löcher in den Ecken mit Glasscherben verstopfen müssen, bis die Mäuse neue Löcher genagt haben würden. Sie nagten immer neue, es dauerte nie länger als vier Tage. Abends würde er wieder am Küchentisch hocken, seine Mutter würde stricken, seine ältere Schwester mit dem Abwasch klappern, und sein Vater würde unten in der Werkstatt sitzen. Der saß immer in der Werkstatt, wenn es auch kaum etwas zu tun gab für einen Sattler. Wer brauchte denn noch Pferdegeschirre und Sättel, Riemenzeug und Ledertaschen? Wo sie doch jetzt alles aus Kunststoff machten. Aber der alte Unger saß eben in seiner nutzlosen Werkstatt, neben den nutzlosen, teuren Maschinen, die er im Krieg angeschafft hatte, als die Artilleriegäule Zaumzeug brauchten. Er brabbelte vor sich hin, dort unten, zwischen Lederfetzen und Pechdrähten, und räumte sinnlos hin und her. Alles war sinnlos gewesen in der kleinen Stadt. Die Arbeit, von deren Lohn nichts übrigblieb, das Zuschmieren der Mauselöcher, die immer neu genagt wurden, das Biertrinken, von dem immer nur der Kater blieb. Arbeit, Essen, Bier und Kater. Arbeit, Essen, Bier und … Deswegen war er weggegangen: weil alles keinen Sinn zu haben schien und ein Ausweg nicht zu sehen war. Weil nichts sonst herausgeführt hätte aus den bröckligen Häusern, durch die schiefen Scheunentore, über das abgefahrene Katzenkopfpflaster, durch das baumlose Marschland – in die Welt. Nur die Flucht schien helfen zu können, nur die Flucht war möglich gewesen. Einfach eines Abends 152
nicht zurückkehren in die verräucherte Küche, auf die blankgewetzte Eckbank. Einen Monatslohn in der Tasche, auf den zu Hause schon gewartet wurde, denn die Schwester konnte auf der Werft keine Arbeit finden. Den Lohn, die Papiere, weg! In die große Stadt an der See und weiter in die nächste große Stadt. In Städte an Bergen, in Städte an Strömen. In Städte aus Beton und Glas und Stahl. Graue Städte, weiße Städte, bunte Städte. Menschen, Häuserblocks und Straßenbahnen, das war Leben, da bewegte sich alles, da ging es voran. Und er hatte auch Arbeit bekommen in den Städten, mehr Lohn erhalten als auf der Werft, aber auch mehr bezahlt, weil die Preise stiegen. Nichts hatte sich geändert, nur daß er sein Zimmer jetzt mit einem anderen teilen mußte, weil es allein zu teuer geworden wäre. In jeder neuen Stadt war es anders gewesen, besser, so schien es jedenfalls anfangs, und dann doch wieder das gleiche, wenn der Monat um war und er in sein Portemonnaie gesehen hatte. Die Flucht mußte noch weiter gehen. Viel, viel weiter. In andere Länder, wo die Menschen anders sprachen, wo die Sonne anders schien, wo die Münzen anders klangen. Doch auch dort bekam man nicht viel mehr dafür, wenn man sie auf ein Zahlbrett legte. Und Zahlbretter waren überall, ohne Zahlbretter gab es nichts. Wer kein Geld zum Drauflegen besaß, der blieb draußen, der ging leer aus. Und die Arbeit war in Frankreich auch nicht angenehmer als in Deutschland. Nur viel seltener war sie dort und schwerer zu finden. Vor allem für einen Ungelernten, von denen hatten sie überall genug. Es hatte also nicht an der kleinen Stadt gelegen und nicht an dieser Werft am Kanal. In den großen Städten war es kaum anders, in den Stahlwerken, in den stinkenden 153
Chemiebuden. Und bei den Bauern erst recht nicht, in der gesunden Landluft. Nein, daran hatte es nicht gelegen, auch an Deutschland nicht, denn in Italien war nichts besser, nur die Sonne schien heißer, und man schwitzte schneller. Nein, es war überall der Wurm drin, überall der gleiche Wurm, vielleicht sogar derselbe. Dies war dem Langen mittlerweile klargeworden. Doch welcher Wurm, warum und wie, seit wann und wie lange noch? Das hatten ihm auch die Studenten, die er getroffen hatte, nicht erklären können, die redeten klug, und es hörte sich gut an und einleuchtend, was sie zu sagen wußten, aber die einen hatten es genau gewußt und die anderen noch besser, und die dritten hielten von den beiden ersten nichts, schimpften auf alles und wollten ändern von Grund auf und für immer oder auch nicht. Und wenn sie dann ihr Diplom und eine Anstellung bekommen hatten, wurde der verbeulte Volkswagen auf den Schrottplatz gefahren und der Familienwagen angeschafft und die Bausparverträge abgeschlossen. Ihre Haare waren lang geblieben, aber das bedeutete nichts mehr, weil jeder, der nicht gerade eine Glatze hatte, inzwischen lange Haare trug. Also auch die Zeit, die der Lange mit den Studenten gelebt hatte, in der Geborgenheit der Großfamilien, im Gewühl der Go-ins, im Rausch der Hausbesetzungen – auch aus dieser Zeit war nichts geblieben, was er hätte mitnehmen können. Er war nach wie vor allein und wußte nicht, warum und wozu. Auch die ewige Sonne von Marokko und die lustige Clique in Hassans Teppichladen hatten daran nichts ändern können, denn im Sommer, wenn die Touristen aus dem Norden ausblieben, weil der Wind aus der Sahara zu heiß und zu trocken wehte, brachte Hassans Bude nicht 154
viel ein, da konnten nur die Marokkaner bleiben, die anderen mußten zusehen, wo sie etwas anderes fanden. In Salzburg, Frankfurt oder Uppsala: Zigeunerleben. Dafür war der Sattlersohn Fred Unger nicht gemacht. Und überhaupt: Bei Hassan in den Hinterzimmern wurde mit mehr gehandelt als mit Teppichen, Kamelhaardecken und alten Schwertern. Das hatte er oft gedacht, wenn er Gesichter dort zum fünften oder zehnten Mal auftauchen sah. Keiner wußte, wovon Hassan seinen großen Laden halten konnte, aber es war ihnen auch egal gewesen. Man war zurechtgekommen, faules Leben ohne Pflichten, ohne Sorgen – was war da eine Woche, was ein Monat, was waren da Gedanken an das, was später sein würde? Heute ist schon später, dachte der Lange, als er an der Mauer des Bahngeländes entlangging, auf den Hauptbahnhof zu. Die Straßenbeleuchtung war eingeschaltet worden, spiegelte auf den wenigen Autos, die hier fuhren, zeigte die Löcher in den Stuckfassaden der Mietshäuser. Hier, auf der Güterbahnhofsseite, war noch nichts zu sehen von Beton und blankem Glas, hier wohnten die, die keiner haben wollte, die man aber brauchte, Türken, Griechen, Portugiesen. Die störten sich nicht daran, daß die Mülltonnen überquollen, daß das Treppenlicht nicht funktionierte, daß der Putz von den Mauern fiel und daß es keine Spielplätze gab. Die hatten sich nicht dran zu stören, die wollten schließlich billig wohnen, also. Der Lange schritt kräftig aus und überlegte: Geh’ ich in den Hauptbahnhof, oder lass’ ich’s lieber? Bahnhof ist immer so eine Sache, wenn man nicht gesehen werden will. Aber waschen muß ich mich und umziehen, bevor ich weiterfahre. Oder gehe ich in ein … Quatsch, die Hallenbäder sind jetzt schon geschlossen. Und bis morgen warten? Nein, hat auch keinen Sinn. Ich will weg 155
und weiter. Morgen abend kann ich schon bei uns oben sein, wenn alles klappt. In Hamburg weiß ich, wohin ich gehen kann. Wo der Bläckie jetzt sein mag? Und der Kleine? Na, was geht’s mich an! Und am besten, dann gleich weiter bis nach Hause. Sollen sie doch komisch kucken und sich wundern, wo ich auf einmal herkomme. Ich bin eben wieder da, und die Sache ist erledigt. Werden mich schon nicht rausschmeißen. Dann liege ich erst mal zwei Tage im Bett. In einem richtigen Bett mit Federn oben und unten! Ewig nicht gehabt. Was die wohl sagen, wenn ich plötzlich in der Tür stehe? Tag, ich bin wieder da, ist mein Zimmer noch frei? Vielleicht werden sie es vermietet haben. Geld brauchen sie doch immer, hat hinten und vorne nie gereicht, schon als ich noch dort war und regelmäßig abgegeben habe. Bestimmt, das haben die längst vermietet. Auf der Werft ging das ja damals auch schon los mit den Griechen und den Türken. Egal, miete ich mir selber eins. Ist sowieso besser, dann redet mir keiner ’rein. Bin alt genug, daß ich allein wohnen kann. Will ich auch, klar. Inzwischen war er am Ende der Seitenstraße angekommen, wo sie auf eine breitere mündete, die heller beleuchtet war, auf der die Autos dicht an dicht in vielen Spuren rollten. Fast eine Stoßstange an der anderen. Eine buntlackierte Blechlawine, blanke Scheiben und blendende Scheinwerfer, in endloser Folge, im Pulsschlag der Ampeln. Ohne zu überlegen, ging er nach rechts auf den Bahnhofsvorplatz zu, zwängte sich ins Gedränge der Passanten, hörte den monotonen Lärm der Autokolonnen, das eilige Gebimmel der Straßenbahnen, die auf dem Mittelstreifen fuhren, das Trillern einer Polizistenpfeife irgendwo, das peitschende Sirren der Oberleitungsdrähte. 156
Überall Bewegung. Hast. Überall Gesichter, Gesichter, Gesichter. Bewegtes Blech, viel Licht. Jetzt, zwischen all den Menschen, mußte er nicht mehr an die Vergangenheit denken. An diese Vergangenheit, an die er sich nicht gern erinnerte. Und auch nicht an die Gegenwart, die so unsicher war, von der man noch viel weniger wußte als von der Vergangenheit. Er dachte gar nichts, ging seinen Weg, den er zu gehen sich vorgenommen hatte, unter den Leuten hier, die alle so aussahen, als wüßten sie genau, wohin sie gingen. Er ließ sich in der Menge treiben, war ein Teil von ihr, wurde geschoben und schob und ging einfach dorthin mit, wohin sie alle gingen. Schließlich schwemmte es ihn die breite Freitreppe zur Bahnhofshalle empor, er schaute nach Schildern aus, die ihn zu den Toiletten weisen würden. Dann war er auch schon zwischen den weißen Kachelwänden, wo es nach Chlor roch und nach Desinfektion. Er drückte einem alten Mann ein Geldstück in die Hand, der brubbelte etwas und sabberte dabei ein wenig, ließ die Münze in die Kitteltasche gleiten, schloß eine Tür auf und warf sie krachend wieder zu. Fred Unger war endlich ungestört. Was war das schön, mit heißem Wasser sich zu waschen! War das schön, verdammt! Als er sich abgetrocknet und wieder angezogen hatte, schlitzte er mit seinem Taschenmesser das weiche Leder auf, mit dem die Hosenbeine unten gesäumt waren. Aus dem Loch zog er ein winziges Päckchen, wickelte Plastikfolie von ihm ab und entfaltete das Stück Papier, das darin gewesen war. Fünfhundert Deutsche Mark der Deutschen Bundesbank stand auf dem großformatigen Schein. Er hielt ihn gegen die weiße Kugel der Lampe, murmelte die Zahl vor sich hin und strich den Schein auf der Handfläche glatt. Dann 157
spuckte er darauf, schob ihn in die Jackentasche und zog den Reißverschluß zu. Diesen Großen, das hatte er sich vorgenommen, hole ich nur ’raus, wenn’s mir mal dreckig geht. Dieser Große war in Düsseldorf über den Schalter einer Bank geschoben worden für fünf Mittelgroße aus der letzten Abrechnung der letzten Firma, für die der Lange gearbeitet hatte. Der Große war in Paris gewesen, in Nizza, in Marseille, in Rom und in Neapel. Er war naß geworden in den reißenden Bächen der Pyrenäen, er war getrocknet auf der Sierra Madre und fast verbrannt unter der Sonne von Marrakesch. Er war einmal gestohlen worden mitsamt der Hose am Strand des Tyrrhenischen Meeres, als sein Besitzer schwimmen gegangen war. Aber er war zurückerobert worden. Und in der Mülltonne hatte er auch schon gelegen, nicht weit von Montreux, als die Dame mit der Zwanzigzimmervilla am See, diese dickliche Dame mit dem portugiesischen Akzent, für ihren süßen deutschen Bub, wie sie den Langen nannte, neue Kleidung gebracht hatte. Es war eine verchromte Mülltonne gewesen, aus der sich Fred Unger sein gutes Stück wiedergeholt hatte, am nächsten Tag, als er sich aus der Villa schlich. Den hellen Sportinglife-Anzug hatte er auf dem Rasen liegengelassen, als er den Gürtel über den abgeschabten Jeans zuzog. Und den Deckel der Tonne hatte er auf den geschenkten Anzug draufgelegt. Diese alte fette Pflaume, hatte er gedacht, bloß weil sie Geld hat, glaubt sie, sie kann alles kriegen. Möcht’ nicht wissen, wo sie’s herhat. Aber als er dann auf einem unbewohnten Seegrundstück die Flasche Johnnie Walker austrank, die er mitgenommen hatte aus dem großen Barschrank, hatte er doch gedacht: So schlecht ist die Olle auch nicht. Hat mir nichts getan, und schließlich hab’ ich ja zuerst gewollt, als ich 158
besoffen war und mitgegangen bin. Geht bloß nicht zusammen, unsereiner und so was, mit ’ner Masse Geld. Soviel Geld wie die möchte ich nicht haben. Könnte ich gar nicht. Müßte immer daran denken, wieviel Arbeitsstunden einer braucht, bis er soviel zusammen hat. Einer? Quatsch! Wieviel Stunden hundert Leute brauchen, bis sie … tausend! Ich möcht’ nicht wissen, was so ’ne Villa kostet. Nee, wär’ kein Job für mich. Das hatte der Große alles mitgemacht, drinnen im Leder und nie erkannt. Nicht benutzt bei Hunger, nicht benutzt bei Kälte, nicht benutzt bei Einsamkeit. Er war dagewesen, das hatte genügt. Hatte genügt, den Hunger leichtzunehmen, denn es würde wieder was zu essen geben. Hatte genügt, die Kälte der Alpenpässe zu verspotten, denn zweihundert Kilometer weiter in den südlichen Tälern würden die Kirschbäume blühen. Hatte genügt, das Alleinsein zu ertragen, denn man würde wieder ein Clique treffen, in Brindisi oder Tetuán, und man würde dazu gehören, man würde gefragt werden, und man würde Antwort geben. Mädchen würden da sein, Mädchen, die keine Büstenhalter trugen, oder Frauen, die keine Brust hatten. Und umgekehrt. Der Große war dabeigewesen. Fünfhundert Deutsche Mark der Deutschen Bundesbank, von denen keiner wußte, mit denen keiner rechnen konnte, mit denen keiner rechnete, auch der Tramp Fred Unger nicht. Der war da, so wie der Daumen an der Hand, so wie der Fuß am Bein, den durfte man nicht nehmen, der war nicht zum Verbrauch. Der mußte einfach dasein und sonst nichts. Jetzt ist es soweit, dachte der Lange, als er das Hosenbein wieder auf den Knöchel rutschen ließ. Jetzt ist es soweit. Jetzt denke ich zum ersten Mal, daß es mir richtig 159
dreckig geht. Er starrte lange in sein blankgewaschenes, müdes Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegenstarrte. „Doch“, sagte er dann laut, „jetzt muß ich.“ Und ohne den Blick aus dem Spiegel zu nehmen, spuckte er ins Waschbecken. „Jetzt muß ich wirklich. Gar nicht wegen dieser beschissenen Polizei, nein, deswegen noch lange nicht, deswegen nicht, mein Gott! Ich muß für mich alleine, endlich, gottverdammtnochmal. Ich muß!“ Als er die Toilettenräume verließ und wieder in die lärmerfüllte Haupthalle ging, an den strahlenden Vitrinen vorbei, den bunten Kiosken, hinüber zu der langen Reihe der Fahrkartenschalter, beachtete er die beiden jungen Männer nicht, die ihm folgten und von denen einer gerade ein handliches Foto in die Tasche seines grauen Sakkos zurückgesteckt hatte.
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20 Diese beiden jungen Männer fielen ihm erst später auf, als er sich längst eingerichtet hatte in dem Erster-KlasseWaggon, der hinter der Elektrolok nach Norden donnerte, weich in den Federungen schwang und vollklimatisiert war. Der Zug war unterbesetzt, Fred Unger hatte ein ganzes Abteil für sich. Er hatte den Sitz ausgezogen, die Rollos zum Gang geschlossen und lag entspannt im Sessel. Der Schaffner war schon durchgekommen und würde nicht mehr stören, die Hauptbeleuchtung war ausgeschaltet, das Nachdicht tat den Augen gut. Er hatte fest geschlafen und geträumt, daß ihn einer ansah und etwas fragte. Nur kam kein Ton aus dessen Mund. Da schlug der Lange die Augen auf, und es sah ihn wirklich jemand an. Aus wasserblauen kleinen Augen, die spöttisch zwinkerten. Ein junger Mann mit kurzgeschnittenem blondem Haar. Schlank und kräftig aussehend, braungebrannt. Wie die jungen Männer von den Werbeplakaten, diese Männer, die immer siegten. Als er sah, daß der Lange sich aufsetzen wollte, sagte der Mann: „Immer ruhig bleiben, Junge. Ist noch nicht ganz soweit.“ Und er lächelte stärker, deutlicher, noch siegesbewußter, dabei nicht unfreundlich. Nein, sein Lächeln war sympathisch. Der ganze Kerl sah recht sympathisch aus. Von Kopf bis Fuß. Nur die kleine Pistole nicht, die er so in der großen Hand hielt, daß fast nur das bösartig blinkende Loch der Mündung zu erkennen war. „Nur ruhig bleiben, Junge!“ sagte der Mann noch einmal. „Schön ruhig bleiben!“ Er zog die Wörter in die Länge, so wie man einem ängstlichen Kind zuredet: „Schöön ruhig bleiben!“ 161
Dieses Lächeln, verdammt, dieses Lächeln. Warum lächelt der bloß so, dachte der Lange. „Was wollen Sie von mir?“ fragte er. „Gar nichts, gar nichts. Nur Geduld, mein Kleiner. Nur schön sitzen bleiben, bis wir aussteigen. Bald ist es soweit.“ „Sind Sie ’n Bulle?“ „Na, was werde ich wohl sein?“ „Was wollen Sie?“ Der Mann legte den linken Zeigefinger auf den lächelnden Mund. „Psst, mein Kleiner. Psst! Verrate ich dir später. Nur ruhig bleiben. Schöön ruhig bleiben.“ So saßen sie fast fünf Minuten. Die Räder unter ihnen hämmerten über die Schienenstöße, die Kupplungen klirrten, der Fahrtwind heulte an den Fenstern. Wenn der Lange zum Sprechen ansetzte, schüttelte sein Gegenüber nur den Kopf, blinzelte und ließ die gepflegten Zähne sehen. Die Pistole veränderte ihre Richtung nicht. Plötzlich bremste der Zug sehr scharf. Die Abteiltüren flogen krachend auf, überall polterten Koffer auf den Fußboden. Frauen kreischten, Männer fluchten, Kinder schrien. Es roch nach aufgewirbeltem Staub, nach heißem Eisen, heißem Öl. Vorn heulten die Motoren der Lok. Der Lange war auf sein Gegenüber geprallt, der Reisebeutel war ihm ins Genick gefallen. Der Blonde lächelte jetzt nicht mehr, er packte den Langen, riß ihn hoch, stemmte sich hinterher. „Los! Raus jetzt! Flott! Wir sind da.“ Die Abteiltür, fünf, sechs Schritte Gang, die Plattform, durch die offene Waggontür auf den Schotter, dann waren sie schon im Wald. „Alles okay!“ sagte der Blonde zu einem zweiten Mann, der plötzlich vor ihnen stand. „Hast Maßarbeit 162
gemacht. Genau an der richtigen Stelle. Los, weiter!“ Er drehte dem Langen die Arme fester auf den Rücken, stieß ihn voran. „Ruhe!“ sagte er nur, als der Lange vor Schmerz stöhnte, und drückte ihm die Pistole in den Nacken. Als sie ein paar Minuten gegangen waren, kam ein dritter Mann hinzu, tauschte ein paar halblaute Worte mit den anderen beiden, und sie wechselten die Richtung. Der Lange konnte keine Gesichter erkennen, weil es zu dunkel war und weil ihn der Blonde mit dem schmerzhaften Griff zwang, sich beim Gehen weit vornüberzubeugen. Er konnte an nichts mehr denken, nur an den reißenden Schmerz in seiner Schulter und in seinem Ellenbogengelenk. Die niedrigen Zweige kratzten ihm das Gesicht blutig, er merkte es nicht. Später, auf einem Waldweg, wurde er in einen großen Wagen gestoßen. Endlich ließ der Schmerz nach. Der Blonde schraubte den Verschluß von einer Flasche, hielt sie dem Langen hin. „Los! Trinken!“ befahl er. Und als der Lange zögerte, schlug ihm der Blonde sofort die Waffe ins Geschlecht. Der Lange brüllte, krümmte sich, der Blonde lächelte. „Trink, mein Kleiner, trink! Das wird dir guttun. Oder muß ich noch mal?“ Als er sich erholt hatte, setzte der Lange die Flasche an und trank. Es war ein starker Whisky, das merkte er noch. „Trink weiter, Kleiner!“ befahl der Blonde lächelnd. „Trink nur weiter, ist ’ne gute Sorte, trink nur, trink!“ Und andeutungsweise hob er die Waffe wieder. Der Lange schluckte von dem scharfen Zeug, bis ihm die Luft wegblieb und er husten mußte. Aber da wirkte der Alkohol schon auf seinen nüchternen Magen. Er mußte lachen, nichts tat ihm mehr weh. „Ihr seid vielleicht ein 163
paar komische Bullen“, sagte er mit schwerer Zunge. „Erst haut ihr unsereinem ins Gemächt, und dann gebt ihr Schnaps aus, bis man umfällt. Ihr seid vielleicht ein paar Heinis … Her die Pulle, los! Ich nehm’ noch einen.“ Und er griff nach der hingehaltenen Flasche, tat einen langen Zug, behielt die Flasche in der Hand. Der Wagen war schon lange aus dem Wald heraus und fuhr auf einer kurvenreichen Bergstraße. Die beiden Männer auf den Vordersitzen hatten sich die ganze Zeit nicht umgedreht. Der Lange trank und brubbelte vor sich hin, bis er einschlief. Wach wurde er erst wieder, als sie ihn auf die Straße fallen ließen. Verschwommen sah er drei Männer über sich gebeugt, lachte albern, als ihm einer die Nase zuhielt, so daß er immer schlucken mußte und schlucken. Dabei bin ich schon voll, konnte er noch denken, und: Bekleckert mich doch nicht, ihr Säue! Sie gossen ihm Schnaps aus einer zweiten Flasche ins Gesicht und auf die Kleidung. Da machte er die Augen zu. Bin so besoffen, will meine Ruhe haben, will nach Hause, ja, nach Hause will ich! Er sah nicht mehr, daß der Blonde die leere Flasche gründlich abwischte und dann mit seiner behandschuhten Rechten die Hand des Langen auf das grüne Glas drückte. Einmal, zweimal, dreimal. Und er merkte auch nicht mehr, daß sie ihn auf die Mitte der Fahrbahn trugen, oben auf dem Hügel, in der Kurve, wo man die Straße nach beiden Richtungen weithin einsehen konnte. Nirgends ein Scheinwerfer, auch der Lastwagen, der aus dem Waldweg auf die Straße einbog, fuhr ohne Licht. Fred Unger hörte nur ein ungeheures Dröhnen, wie das der Niethämmer in den Schiffsräumen auf der Werft. 164
Und daß das Dröhnen näher kam, hörte er, und blitzendes Licht sah er, fühlte es hinter den Augen schmerzen. Aber ich darf doch gar nicht schweißen, wunderte er sich. Den Schweißerpaß haben sie mich doch nicht machen lassen, die Schweine, die Schweine … Dann knipste der Blonde die Taschenlampe aus, mit der er den Langen angeleuchtet hatte, damit der Lastwagen ihn richtig traf. „Erledigt“, sagte er trocken. „Einmal hat genügt. Feierabend, Jungs!“ Und als er die dünnen Lederhandschuhe auszog, warf er noch einen Blick auf das zerfahrene Bündel. Wenig Blut für so viel Straße. Eigentlich schade drum. Aber da lächelte er schon wieder.
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21 „Auch einen Anzug im Dienst versaut, Chef? Und das Hemd dazu, hab’ ich gehört …“ Heute war ausnahmsweise Schlottke als erster im Büro gewesen, und als Geckeler eintrat, machte sein Assistent einen sehr beschäftigten Eindruck. Auf dem Tisch lagen hohe Aktenstapel, Stöße von Fotos, Fernschreiben und Zeitungsmeldungen. Vorsichtig sah er zu dem Inspektor hinüber, der nicht gegrüßt hatte. „Wollen Sie nicht doch in die Polizeigewerkschaft eintreten, Chef? Ist vielleicht besser, wenn wieder mal … wer soll das immer bezahlen … Ihre Anzüge sind nicht gerade die billigsten, die von der Stange passen Ihnen ja nicht …“ „Maul halten!“ knurrte Geckeler, rieb sich das bepflasterte Gesicht, öffnete das Fenster. „Daß Sie nicht eingehen in Ihrem Mief hier, Schlottke …“, er blieb am Fenster stehen, „und wenn Sie denken, ich tät’ mich ärgern über die Prügel, die ich gekriegt hab’, Sie Schwede, dann sind Sie auf der falschen Spur. Und das kommt bei Anfängern öfter vor, Sie wissen ja, wie das ist. Mit den Anfängern.“ Geckeler lächelte süffisant und setzte sich vorsichtig an seinen leeren Schreibtisch. „Ich kann’s mir vorstellen, Chef. Kann ich mir lebhaft vorstellen!“ „Ruhe!“ Geckeler grinste und drückte ein Pflaster fest. „Ruhe, ich muß überlegen.“ „Oh!“ „Jawohl, ich kann schon wieder scharf überlegen, und zwar: Wem ich jetzt zuerst ins Kreuz trete. Hab’ extra feste Schuhe angezogen heute. Sehr feste!“ Er hob ein Bein und hielt es seinem Assistenten vors Gesicht. „Sehen Sie, was da für Eisen dran sind? Damit können Sie 166
einen Ochsen töten. Das ist noch Ware! Damit macht das Treten Spaß, kann ich Ihnen sagen. Davon habet) alle Beteiligten was!“ „Kann ich mir gut vorstellen. Und was wollen Sie tun?“ „Rufen sie den Reimann an, den Herrn Oberinspektor, und erkundigen Sie sich – mit der gebührenden Höflichkeit natürlich –, ob es etwas Neues gibt im Fall Jagdschloß.“ „Hm …“ „Was heißt hier ‚hm‘?“ „Dabei wird nicht viel rauskommen.“ „Wunderbar, Sie Schlaumeier. Soll ja auch nicht. Ich will den Fall wiederhaben. Jetzt ist es nämlich ein Fall. Mein Fall, verstehen Sie? Geckelers Fall! Hab’ ich Dresche gekriegt für das Jagdhaus oder nicht?“ „Haben Sie!“ „Kann man wohl sagen …“ Geckeler griff sich ans Kinn und betastete seine geschwollenen Jochbeine. „Ein deutscher Polizist ist bedroht und überfallen worden. Ein deutscher Beamter ist verprügelt worden, und, wie Sie ganz richtig bemerkt haben, nicht zu knapp. Und das ist entschieden zuviel. Da hat jemand einen Fehler gemacht. Einen deutschen Beamten verprügelt man nicht ungestraft.“ „Und fesselt ihn nicht noch mit einer Handschelle, die in Argentinien hergestellt worden ist“, ergänzte Schlottke. „Wo haben Sie denn das so schnell her? Auf den Armbändern stand doch nichts drauf.“ „Der Schröder hat’s mir gesagt. Er hat solche Dinger schon mal gesehen. Ich hab’s dann gleich nachgeprüft. Stimmt.“ „Hm.“ „Sagt uns das was?“ 167
„Jetzt noch nicht.“ „Messer aus Spanien, Handschellen aus Argentinien, Mulatten, Wasserleichen, vollgepumpt mit Stoff. Und der sich mit Ihnen – na, sagen wir mal – unterhalten hat, war das ein Profi?“ „Auf alle Fälle!“ „Hm.“ Schlottke bohrte mit einem angespitzten Streichholz zwischen seinen Zähnen. „Der Kleine war übrigens mal in Bangkok, auch in Hongkong. Interpolsache!“ Geckeler brummte: „Wo haben sie das nun wieder her?“ „Ich hab’ noch mal so ein bißchen …“ „Weiß der Reimann das schon?“ „Glaube nicht.“ Schlottke grinste. „Das Fernschreiben muß ich irgendwo liegengelassen haben. Diese ewige Übermüdung in unserem harten Dienst, da kann man schon gelegentlich was vergessen …“ Er griff in seine Lederjacke, holte ein eng zusammengefaltetes Papier heraus und las dem Inspektor einige Absätze vor. Geckeler hörte aufmerksam zu und wiederholte dann ein paar Sätze: „Vorläufige Festnahme. Verdacht der Beteiligung an einem Goldschmugglerring. Gold hin, Opium her … und so weiter. Hm. In einem Jahr zehn Flüge zwischen Frankfurt und Bangkok, drei nach Hongkong … Hm, nicht schlecht.“ Schlottke sagte: „Sie mußten ihn aber laufenlassen. Haben nichts bei ihm gefunden, und danach ist er nicht mehr geflogen. Ist dann nach Spanien abgehauen, dort haben sie ihn verloren … Ich dachte nur, das könnte Sie interessieren.“ Er stopfte das Papier wieder in die Tasche. „Interessiert mich auch. Wann war das mit den Flügen nach Fernost?“ „Vergangenes Jahr.“ 168
„Gold hin, Opium her. Gefällt mir, Schlottke. Hört sich saftig an. Könnte ein Motiv abgeben für einen kleinen Mord.“ „Durchaus!“ „Na schön, Ostschwede, behalten Sie Ihre klebrigen Finger auf der Fernschreiberin!“ „Mit Vergnügen, Inspektor. Das ist doch ein Dienstauftrag?“ „Natürlich!“ „Und die Spesen rechne ich bei Ihnen ab?“ Geckeler atmete geräuschvoll ein. „Sie!“ Aber dann überlegte er es sich: „Spesen zahle ich bei Alwin aus, wenn Sie was Neues bringen.“ Und er fragte: „Von den anderen Fällen noch etwas, das ich wissen muß?“ „Nö.“ Schlottke zog die Schultern hoch und den Mund nach unten. „Nichts Wichtiges. In der Apothekensache hab ich ’ne warme Spur, wahrscheinlich sind das die Brüder. Haben gestern noch eine geknackt, in Sankt Gallen drüben. Ich fahre anschließend ’rüber. Das kann ich allein machen.“ „Gut.“ „Haben Sie noch Aufträge für mich, Inspektor? Sonst verschwinde ich. Will nämlich ein paar Leute besuchen. Routine, aber was sein muß, muß sein.“ „Apotheke?“ „Ja. Und den Burschen vom Stadtpark. Den haben wir heute hochgezogen.“ „In Ordnung, Schlottke. Um das andere kümmere ich mich selbst.“ Der Assistent verließ den Raum, Geckeler zog das Telefon zu sich heran, wählte langsam und genußvoll. „Ja, hier Geckeler“, sagte er dann. „Guten Morgen, Kriminalrat … Ach, Sie wissen schon? … Danke, danke, soweit 169
ganz gut wieder … Nein, krankfeiern will ich nicht … Nein, wirklich nicht, fühle mich ausgezeichnet, Kriminalrat! Ausgezeichnet! Wie? Ach so. Das läuft sehr gut mit der Apothekensache, ich war ja gestern morgen noch mal dort, hab’ mich gekümmert. Ich denke, wir schließen den Fall heute ab … Natürlich, Kriminalrat, positiv, ja positiv. Spätestens morgen haben Sie meinen Bericht … Und ich denke, unter den neuen Aspekten – ich meine den Überfall auf mich und die dazugehörige Drohung – werden Sie doch nichts dagegen haben, wenn ich mich mal wieder ein bißchen umsehe? … Wie bitte? … So? Aber Kriminalrat, im Gegensatz zu Ihrer Meinung von gestern dürfte es sich hierbei wohl doch um einen Fall handeln! Ich weiß nicht, wie die Presse reagieren wird, wenn sie erfährt, daß wir uns das gefallen lassen … Wie? Ich Sie erpressen? Aber ich bitte Sie, Kriminalrat, ich bitte Sie! Schließlich war ich nicht allein, als es passiert ist, und so was haben wir nicht alle Tage, hatten wir noch nie, so was spricht sich ’rum im Amt und spricht sich ’raus aus dem Amt. Es sollte mich wundern, wenn nicht heute schon im ‚Generalanzeiger‘ … Wie? … Sie haben nichts dagegen, fein! … Wie bitte? … Dezent? Ja natürlich, Kriminalrat. Dezent werde ich das schon machen. Ich danke sehr. Auf Wiederhören!“ Geckeler kippte seinen Stuhl nach hinten, rieb sich die Stirn. Tut noch ganz schön weh, dachte er. Dieser Sauhund, wenn ich den habe, aber dann … Der macht mir Spaß, der Pfitzer. Mit solchen Burschen und dezent. Geckeler leckte sich die Fingerknöchel. Dann hob er den Hörer wieder ab. „Gscheidle? Morgen, Sie Spezi! Lachen Sie nicht so schadenfroh! Sonst schicke ich Sie in den Wald, da passiert Ihnen das gleiche. Brauch’ ich nur zu bestellen, aber 170
ich lasse Sie dann nicht von einer Funkstreife abholen … Sagen Sie mal, ist der Schröder da?. ‚.. Ach, hat Nachtdienst gehabt, so. Na, dann nicht … Halt! Stillgestanden, herhören! Suchen Sie mir mal ’raus, wo ich den französischen General erwische, diesen Dingsda, wie heißt er noch schnell, na der, dem das Jagdschloß gehört. Dem es zuletzt gehört hat. Beide Adressen, privat und dienstlich! Klar? … Ob ich was? Ob ich lebensmüde bin? Nein, im Gegenteil, Gscheidle, ganz im Gegenteil. Muß mal was passieren, wird Zeit. Verstehen Sie nicht, wie? Ich auch nicht, Gscheidle, ich auch nicht. Eben deswegen muß ich was tun. Übrigens: de Chalon heißt der General!“
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22 Ich muß noch mal ganz von vorn anfangen, dachte Geckeler, als er neben Erwin saß und sie durch die Stadt fuhren. Ich muß das mal so sehen, als ob ich nicht beteiligt wäre, als ob ich keins auf den Hut gekriegt hätte. Eins auf den Hut vom Chef und eine ins Genick von diesem Burschen. Ich muß das so sehen, als ob ich draußen stünde. Und am Anfang beginnen, nicht bei dem, was später geschah, denn das muß nicht damit zusammenhängen, wenn ich auch sicher bin, daß es zusammen … Ja, anfangen muß ich bei dem eigentlichen Fall, dem Urfall, aus dem dann weitere Fälle geworden sind. Bei dem Brand muß ich einhaken, nur bei dem Brand, sonst nirgendwo. Nicht auf ein anderes Gleis abdrängen lassen, nicht auf die Folgefälle eingehen. Vorerst nicht … „Erwin?“ fragte er dann. „Erwin, sag mal, wie bringt man so ein Schießeding an seinem Körper unter, ohne daß es beim ersten Filzen gleich gefunden wird?“ „Schlucken.“ Erwin wendete den Blick nicht von der Straße. „Runterschlucken, Inspektor. Nur runterschlucken kann da helfen. Ist das einzige, das sicher ist, wenn Sie nicht gerade durch eine Flugplatzschleuse müssen.“ „Hm. Darauf wäre ich zur Not auch noch selbst gekommen. Ich wollte was anderes hören. Halt mal an, Erwin!“ Der Fahrer fuhr an den Straßenrand, Geckeler zwängte sich hinaus und winkte Erwin, ihm zu folgen. Der Inspektor stellte sich mit dem Gesicht an eine Mauer, hob die Arme, setzte die Füße zurück. „Los, klopf mich ab, Erwin! Aber so, als ob du es eilig hättest.“ Erwin blickte kopfschüttelnd die Straße auf und ab. Zwei Frauen, die vor einem der Einfamilienhäuser standen 172
und sich unterhielten, machten lange Hälse, duckten sich dann und verschwanden eilig hinter der Haustür. „Na, los doch, Erwin! So wie du es gelernt hast. Wie lange soll ich denn hier stehen? Mach zu!“ Der Fahrer schob die Mütze ins Genick, gab sich einen Ruck, dann schnauzte er den Inspektor dienstlich an: „Hopphopp, Geckeler, haben wir Sie endlich? Füße weiter zurück, Pfoten höher, wird’s bald! Ab heute weht ein anderer Wind!“ Erwin zog seine Dienstpistole, nahm das Magazin heraus und drückte Geckeler den Lauf in die Seite. „Bist du verrückt?“ protestierte der Inspektor und wollte sich umdrehen. „Stehenbleiben habe ich gesagt! Keine Mätzchen! Alles streng nach Dienstvorschrift, wie ich’s gelernt habe. Bleib stehen, du Gangster!“ Erwin tastete seinen Vorgesetzten ab, wie er es gelernt hatte. Geckeler hielt jetzt ergeben still. „Fertig, Inspektor“, sagte Erwin schließlich und grinste. „Ab in die grüne Minna!“ Geckeler drehte sich von der Wand ab. „So stilecht, ich meine, mit Ballermann, hättest du es ja nicht machen müssen. Bringt einen auf unangenehme Gedanken, wenn man das Ding im Kreuz spürt. Erinnerungen, weißt du?“ „Glaube ich Ihnen, Chef, aber gelernt ist gelernt, und Sie haben gesagt, ich soll …“ „Ist gut, Erwin. War schon in Ordnung. Fahren wir weiter, sonst gibt’s hier einen Auflauf.“ Im Wagen fragte Geckeler: „Und wo hast du mich nicht abgeklopft, Erwin? Wo hätte ich jetzt noch so eine kleine Waffe haben können?“ „Nur im Bauch, Inspektor, Ich sagte es ja schon“, erwiderte Erwin überzeugt. „Woanders hätte ich sie gefunden!“ 173
„Denkst du!“ grinste Geckeler hinterhältig. „Alles streng nach Vorschrift gemacht. Hände hoch und von den Achseln nach unten abgeklopft! Erwin, Erwin, du siehst zu oft diese Kriminalfilme aus der Röhre. Da machen die das immer so.“ Erwin zeigte ein verwundertes Gesicht. „Na und?“ „Na und? Das Schießeisen, das ich am Unterarm in einem Futteral trage, hätte ich jetzt noch! Dort hast du nicht geklopft, die Arme waren ja weit oben. Du wärst jetzt schon ’ne Leiche.“ Erwin tat beleidigt. „Am Unterarm trägt keiner eine Waffe. So was gibt’s ja gar nicht.“ „Um so besser, Erwin! Um so besser! Das wollte ich nur wissen. Und jetzt fahr zu, damit wir rechtzeitig zu General de Chalon kommen. Diese hohen Militärs, die sind ja sehr für Pünktlichkeit. Ich bin angemeldet. Da staunst du, was? Also los, ein bißchen früher ist immer gut. Schon dort sein, wenn man noch gar nicht erwartet wird. Manchmal sieht man dabei etwas, was man sonst nicht zu sehen gekriegt hätte. Manchmal erscheint man gerade dann, wenn die Leute noch dabei sind, sich die Fingernägel zu reinigen. Dreck wegmachen.“ In der Straße, die sie durchfuhren, wurden die Grundstücke größer, die Häuser teurer, sie standen tiefer im Gelände, waren hinter hohen Bäumen und Buschwerk kaum noch zu sehen. Neben den Briefkästen waren häufig nur Nummern angebracht, keine Namenschilder mehr wie in der Gegend, in der sie vorhin ausgestiegen waren. Hier schnupperten keine Zwergpudel an den Zaunpfählen, hier sah man keine Frauen mit Einkaufstaschen. Über die ruhige, leere Straße wölbten alte Linden ein dichtes Dach. „Dort vorn muß es sein“ sagte Erwin nach einiger Zeit 174
und deutete auf eine lange weiße Mauer, „falls die Adresse stimmt, die Sie mir genannt haben.“ „Fahr erst mal vorbei.“ „Mach’ ich.“ Am schmalen Torbogen der weißgeputzten Mauer, an der sie dann entlangfuhren, war nicht einmal ein Briefschlitz zu sehen. Nur das genormte Schild mit der Hausnummer und ein fast unsichtbarer Klingelknopf darunter. Hinter der Mauer Bäume, kein Haus, kein Fenster, kein Türmchen, keine Wetterfahne, nichts. Als sie vorbei waren, fragte Geckeler: „Was ist das für ein Grundstück, Erwin? Du bist doch von hier.“ Erwin rückte an seiner Mütze. „Hat früher einem Schokoladenfritzen gehört. Schwerreich geworden, der Kerl. Fliegerschokolade und so’n Zeug. Kennen Sie noch, was?“ „Ja, leider“, antwortete Geckeler. „Und dann?“ „Zum Schluß war die SS drin, auch ein General, glaube ich. Der Schokoladenfritze war schon weg mit seinem Geld. Na, und dann sind die Franzosen ’rein, und seitdem wohnt dort der General, der für unsere Gegend zuständig ist. Scheint ihm zu gefallen, das Häuschen.“ „Kennst du das Haus?“ „Nein. Gesehen hab ich’s nur von hinten, vom See aus. Beim Eisangeln. Die Bucht dort ist sehr flach, manchen Winter friert sie zu, dann kann man ziemlich dicht ’ran, wenn man die Schilder nicht aufhebt.“ „Welche Schilder?“ „Wenn das Wasser offen ist, stehen Verbotstafeln drin, zweisprachig, daß man nicht in die Bucht fahren darf. Militärisches Gelände und solcher Quatsch. Was da eben immer so drauf steht auf solchen Schildern. Dabei will der General bestimmt bloß seine Ruhe haben, wegen der Motorboote. Aber wenn der See zufriert, dann brechen 175
die Schilderpfähle weg, dann darf man eben ’ran. Hab’ aber nicht viel gesehen.“ „Das muß ja ein Riesengrundstück sein, wenn es bis zum Wasser runterreicht.“ „Ist es auch, Chef. Das ist mehr Land als ein mit derer Bauernhof.“ „Ich müßte es eigentlich kennen, wenn es Seefront hat.“ „Die Schilder stehen noch nicht sehr lange, höchstens zehn Jahre. Und so lange sind Sie ja schon bei der Kripo.“ „Und vorher?“ „Vorher haben sie jeden hoppgenommen, der dort an Land gehen wollte. Jetzt werden sie auch Personalmangel haben, da haben sie halt Schilder aufgestellt, damit weniger zu tun ist.“ Geckeler überlegte. „Sag mal, Erwin, stehen da drei große Pappeln direkt am Wasser, neben so einem Badehäuschen?“ „Ja, richtig. Das ist es.“ „Aha, dann kenne ich es doch. Mußte ich ja. Gut!“ Zufrieden lehnte sich Geckeler zurück. „Und das Haus?“ „Der Bruder von meinem Schwager ist mal drin gewesen. Ist Tapezierer, und seine Firma hat dort renoviert. Der hat mir einiges erzählt. Aber das ist schon bald fünf Jahre her. Na, jedenfalls ist es ein sehr großes Haus, mit Nebengebäuden. Die Franzosen haben sogar noch was dazugebaut. Der General soll ja einen ganzen Rattenschwanz von Leuten um sich ’rum haben, die wohnen alle dort. Als die Handwerker die Zimmer renovierten, war immer einer von den Franzmännern dabei. Die durften nie allein im Zimmer sein.“ Erwin lachte. „Jede Tapetenbahn sollen die sich vorher angesehen haben, bevor sie an die Wand geklatscht wurde. Hätte ja ein Mikrofon im Kleister sein können.“ 176
„Na schön, das ist üblich bei Generälen. Sollen sie. Wer Heimlichkeiten hat, muß eben aufpassen. Fällt dir sonst noch was ein?“ Erwin kratzte sich die Narbe. „Nicht, daß ich wüßte, Chef.“ „Und die anderen Grundstücke hier auf dieser Seite grenzen auch an den See?“ „Nein, Chef, nicht doch!“ Erwin winkte heftig ab. „Bevor der See kommt, ist da noch die Platanenstraße, die Magnolienstraße und der Akazienweg. Die anderen Grundstücke sind sehr viel kleiner.“ „Aha, die Franzosen haben sich das Beste ausgesucht.“ Erwin grinste. „Natürlich! Die haben ja auch den Krieg gewonnen. Hätten Sie es anders gemacht, Chef?“ „Weiß nicht.“ Geckeler nahm den Arm vom Schlag, kurbelte die Scheibe hoch und sagte: „Na, dann fahre uns mal hin zu dem Gewinner.“ Erwin wendete den Wagen. „Chef, warum haben wir eigentlich vorhin die Sache mit dem Abklopfen geübt? Hat das was zu bedeuten?“ fragte er. Geckeler schwieg lange, als ob er die Frage überhört hätte oder nicht auf sie antworten wollte, dann sagte er: „Hat es, Erwin, hat es. Ist ganz einfach. Ich will meinen Krieg nicht verlieren.“
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23 Vor der weißen Mauer lief dann alles ab wie in einem durchschnittlichen Agentenfilm. Geckeler stieg aus, knöpfte sich das Jackett zu, drückte auf den Klingelknopf, sah die Straße auf und ab. Eine Stimme schnarrte aus dem kleinen Lautsprecher in der Tür, der Inspektor sagte seinen Namen, die Tür klickte auf, das Tor der Wageneinfahrt blieb geschlossen. Geckeler trat ein. Der Mann in Zivil, der hinter der Tür gestanden hatte, lächelte höflich, wies mit ausgestrecktem Arm auf den Bungalow neben der Einfahrt. „Monsieur l’inspecteur, votres papiers, s’il vous plait!“ Ganz offensichtlich wollte er kein Deutsch sprechen, Geckeler hörte den Elsässer Akzent durch, und er dachte: Wenn der Kerl hier Tordienst macht, darin nehmen sie einen, der auch Deutsch kann, ist doch klar. Na, meinetwegen, soll er französisch reden, bis ihm das Maul schief bleibt. Wortlos reichte er seinen Dienstausweis dem Uniformierten, der aus dem Wachbungalow gekommen war. „Ich werde erwartet!“ Der Caporal telefonierte, nickte und schrieb etwas in sein Wachbuch, dann reichte er den Ausweis an Geckelers Arm vorbei dem Zivilisten, der ihn lächelnd einsteckte. „Aber …“, protestierte Geckeler. „Wo gibt’s denn so was!“ Der Zivilist zog die Schultern bedauernd hoch, lächelte noch freundlicher, deutete auf den Fahrweg zur Villa, sagte: „S’il vous plait, monsieur! Allons!“ Er ging ein Stück voraus. Geckeler konnte die tadellos geschnittene Rückfront eines grauen Anzugs bewundern. Wie sauber der Schneider das hingekriegt hat, daß man 178
die Kanone nicht sieht! Der muß doch tatsächlich die leere rechte Achsel ausgepolstert haben, damit es schön symmetrisch wirkt. Oder ob der gar keine … Quatsch, natürlich hat der eine. Ohne sind die doch keine Menschen, die Gorillas. Na ja. Geckeler legte ein paar Schritte zu, um an die Seite des jungen Mannes zu kommen, versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen, aber sein Begleiter schüttelte immer nur den blonden Kopf und antwortete etwas Französisches, das der Inspektor nicht verstand. Da steckte Geckeler auf und ging schweigend neben ihm her. Und dann lief es weiter wie im Dutzendfilm. Die Villa, eine Vorhalle, von der zwei Treppen halbmondförmig nach oben führten, unten der Hallenkamin, schwere Sitzgruppen um zwei niedrige Tische. Im Sessel an der rechten Treppe ein junger Mann im grauen Anzug. Der schaute nur kurz von seiner Illustrierten auf, als sie eintraten. Jetzt werden sie mich warten lassen, dachte Geckeler, und sie ließen ihn auch warten. Ein General und ein Kriminalinspektor – da muß man schon warten lassen. Der Mann, der ihn abgeholt hatte, verschwand in einer Seitentür, der Inspektor richtete sich in einem Sessel ein. Sein Gegenüber drehte sich demonstrativ so, daß er Geckeler aus den Augenwinkeln beobachten konnte, ohne von der Illustrierten aufzublicken. Alles wie im Kino. Geckeler schaute sich um. Teure Möbel, stellte er fest. Sehr teure und so gut wie neu. Die stammen aber nicht von dem Schokoladenfritzen. Und der Bau ist aufwendig renoviert worden, hätte man billiger machen können, und trotzdem hätte es anständig ausgesehen. Viel Geld geben die für einen einzigen General aus. Muß Geld haben, viel Geld, dieser General de Chalon. Glaube nicht, daß ihm 179
sein Verteidigungsminister solche Sessel bezahlt. Seide mit alten Mustern. So was muß man anfertigen lassen, kann man nicht im Laden kaufen, steht in keinem Versandhauskatalog. Und die Gobelins an den Wänden … Ja, Geld hat der auf alle Fälle. Den kann das nicht sehr schmerzen, daß ihm das Jagdschloß abgebrannt ist. Der sagt bestimmt Jagdhütte dazu. Dabei war der Laden gut versichert. Kauft er sich ein anderes, aus und fertig! Eine Viertelstunde später wurde die Seitentür wieder geöffnet, der erste junge Mann gab dem zweiten ein Zeichen, der legte die Zeitschrift ab, drückte seine Zigarette aus, stand auf und stieg die Treppe empor, ohne den Inspektor eines Blickes zu würdigen. Erst auf halber Höhe sah er sich um, ob Geckeler ihm folgte. Kindisches Getue, dachte der Inspektor und mußte lachen. Die möchte ich mal bei mir im Amt haben, diese müden Brüder, die würde ich schon auf Trab bringen. Die gammeln hier den ganzen Tag bloß ’rum, spielen harter Mann, die Affen, die lackierten. Oben ein breiter Korridor, sparsam und mit Geschmack gestelltes antikes Mobiliar, Kristallüster, viele Spiegel. Geschnitzte Balustraden, geschnitzte Türen. Der junge Mann öffnete eine von ihnen, hielt sie auf, bis Geckeler im Raum war, schloß sie leise und setzte sich in einen Sessel an der Tür, nahm eine Zeitschrift vom Tisch, zündete eine Zigarette an und zog den Aschenbecher näher. Alles wieder wie unten, nur daß mein Bewacher jetzt vor dem Ausgang sitzt, dachte Geckeler. Unten konnte ich nicht nach vorn, von hier oben kann ich nicht zurück. Sein Anzug ist übrigens schlechter geschnitten als der von dem Blondschopf, dem Elsässer. Bei dem hier sieht man deutlich, daß er einen Trommelrevolver trägt. 180
Wahrscheinlich ‚Smith and Wesson‘. Wilder Westen – was sind wir doch für Kerle! Dabei trifft man mit den alten Dingern nichts, was kleiner als eine Kuh ist. Reine Kinderei. Nach einer weiteren Viertelstunde schließlich saß Geckeler dem General gegenüber; er hatte keine Zeit, die Einrichtung des Arbeitszimmers zu taxieren, sah sich den General an, mit dem alles angefangen hatte. Ein schlapper General, dachte er. Die, die ich im Kriege von weitem gesehen habe, traten zackiger auf. Der hier ist ja bloß ein alter Mann wie viele andere. Außerdem trägt er Filzpantoffeln. General in Pantoffeln. Geckeler hatte Mühe, nicht zu lächeln. De Chalon sagte in fast akzentfreiem Deutsch: „Sie wollten mir einige Fragen stellen, Inspektor?“ Aha, der geht gleich ’ran. Kann er haben. Geckeler saß nicht sehr bequem auf dem zierlichen Stühlchen vor de Chalons Schreibtisch. Auf den Sitz paßte nur eine Hälfte seines Gesäßes. „Ja“, sagte er, „wollte ich. Schon vor ein paar Tagen wollte ich das, aber man hat mich nicht gelassen, General.“ „So?“ Sonst nichts, keine Frage. „Wußten Sie das?“ „Ja.“ „Und das kam Ihnen nicht ungewöhnlich vor.“ „Nein.“ Der ist aber kurz angebunden, so erfahre ich gar nichts. Ich muß schärfer rangehen, muß ihn aus der Reserve locken. Der hat ein Gesicht wie eine alte, große Katze, nichts drin zu lesen. Also, Geckeler, ’ran! „Diese Pflaster, General, stammen von gestern.“ Geckeler tippte an sein lädiertes Kinn. „Man hat mich überfallen und mir mit Mord gedroht, wenn ich in der Sache 181
weiterermittle. Kommt Ihnen wenigstens das ungewöhnlich vor?“ De Chalon lächelte freundlich: „Ja, das kommt mir ungewöhnlich vor.“ „Wissen Sie etwas darüber?“ „Worüber?“ Wieder das Katzengesicht. Aber Geckeler stieß gleich weiter: „Ihr Jagdhaus war mit fast einer halben Million versichert, soviel war es nicht wert!“ „Meinen Sie?“ „Ich weiß es!“ „Nichts wissen Sie, Monsieur Geckeler! Die deutsche Polizei kann mir ja nicht mal sagen, wo mein Waldhüter geblieben ist, geschweige denn, wer mein Haus angezündet hat. Es war doch Brandstiftung, nicht?“ „Wahrscheinlich“, antwortete Geckeler überrascht. „Woher wissen Sie das?“ „Fragen Sie nicht so naiv, Inspektor. Sie wissen, daß wir so etwas erfahren können, wenn wir es nur wollen. Dieses Haus ist kein Betsaal, von hier aus werden Truppen geführt. Nicht wenige.“ Er lächelte wieder. Seine breiten Hände hoben sich von der Schreibtischplatte. „Sie würden staunen, was ich alles weiß, Monsieur Geckeler! Ich könnte Ihnen zum Beispiel alle Seegefechte aufzählen, an denen Sie während des zweiten Weltkrieges bei der deutschen Kriegsmarine teilgenommen haben. Ich weiß sogar, daß Sie als Siebzehnjähriger in die WaffenSS wollten. Soll ich Ihnen die Fotokopie Ihres Gesuchs zeigen?“ „Danke!“ Der Hund weiß alles, dachte Geckeler. Die schnüffeln in allen Dummheiten herum, die man mal gemacht hat, die wühlen’s ’raus und benutzen es. Scheißmarine, ich Idiot, was wußte ich denn damals? 182
Schön, ich wollte zur SS, wir aus dem Dorf wollten alle dorthin, wir jungen Bengels, woher sollten wir wissen, was das wirklich war? Wer hat es uns denn gesagt? Na, Gott sei Dank haben sie mich nicht genommen, weil mein alter Herr mal Sozi war. Überhaupt: Was soll’s? Will der mir etwa bange machen? De Chalon hatte zum Fenster hinausgesehen und blickte den Inspektor erst jetzt wieder an. „Ich hoffe, Ihnen ist nun klargeworden, daß ich über einiges informiert bin, auch was Ihre Arbeit betrifft. Nebensächliche Fragen können Sie sich ersparen, meine Zeit ist begrenzt. Also lassen Sie das mit der Versicherung. Wenn ich Geld brauchte, hätte ich andere Möglichkeiten. Sie vergessen, wer ich bin.“ Kann schon sein, dachte Geckeler. Aber vielleicht brauchst du mehr Geld, als selbst ein General beschaffen kann. Viel mehr. Könnte doch sein. So sagte er: „General, warum habe ich an der Garagentür beim Jagdhaus keine Fingerabdrücke gefunden? Nicht einen einzigen!“ De Chalons Brauen zuckten nach oben, senkten sich aber gleich wieder. „Keine Abdrücke an der Garagentür? Ist das ungewöhnlich?“ „Ja.“ „Also muß jemand die Tür abgewischt haben, wie?“ „Muß er.“ „Seltsam. Haben Sie eine Vermutung?“ Geckeler zögerte. „Vielleicht“, sagte er dann. „Ich höre.“ „Die Spur ist noch nicht abgesichert.“ Warte, ich kann dich auch zappeln lassen, und ich lass’ dich zappeln. „Raus damit!“ Kommandostimme und ein kalter Blick. Jetzt lächelte Geckeler zum ersten Mal in diesem Zimmer. „Jeder von uns beiden hat sein eigenes Dienstge183
heimnis, General. Ich bin ein kleiner Beamter, ich habe ein kleines, und Sie sind ein großer Beamter, Sie haben vielleicht ein …“ „Was soll der Unfug?“ schnitt der General ihm das Wort ab. „Vergessen Sie nicht, wo Sie sind! Sie könnten dieses Haus als Pensionär verlassen, schließlich …“ „… haben Sie den Krieg gewonnen, ich weiß, General, ich weiß.“ De Chalon lächelte böse. „Sie sind ein Schelm, Monsieur Geckeler, Frankreich hat seine letzten Kriege verloren.“ „Eben! Also was soll die Drohung? Warum bin ich am Brandtag zum Jagdhaus bestellt worden?“ „Kein Kommentar.“ „Also wissen Sie es?“ „Natürlich weiß ich.“ Chalon strich sich prüfend über das glattrasierte Kinn. „Dienstsache, Monsieur Geckeler. Manchmal pflegen wir uns der Mithilfe der deutschen Behörden zu bedienen. Schließlich sind wir befreundete Länder und vertrauen einander.“ Geckeler grunzte. „Mit dem Brand hat das nichts zu tun“, fuhr der General fort. „Diese beiden Vorgänge sind zufällig auf einen Tag gefallen. Ziehen Sie keine falschen Schlüsse daraus, das bringt Sie nicht weiter. Ermitteln Sie neue Fakten, und schaffen Sie den Waldhüter her. Ich will wissen, was mit ihm ist.“ „Ich denke, Sie Wissen alles?“ „Ich weiß mehr als Sie, aber nicht alles. Ich bin nicht der liebe Gott.“ „Als General ist man doch ziemlich dicht dran am lieben Gott. Herr über Tod und Leben. Ein halber Herrgott wenigstens.“ Das hatte rausgemußt. Vielleicht ein Fehler, 184
dachte Geckeler, vielleicht ist er jetzt sauer und schmeißt mich ’raus, aber … De Chalons Augen funkelten auf wie eine Flamme vor dem Erlöschen, ganz kurz nur. Dann sagte er gleichmütig: „Haben Sie die beiden Clochards schon?“ „Die beiden Clochards? Wovon reden Sie?“ fragte Geckeler. „Ja, ja, ich weiß, es waren drei. Aber einer ist tot.“ Der General wurde ungeduldig: „Sind Sie den beiden anderen auf der Spur? Ich will, daß die Burschen gefaßt werden! Schaffen Sie sie ’ran!“ „Woher wissen Sie überhaupt, daß …“, fragte Geckeler. De Chalon winkte nur unwirsch ab. „Nun lassen Sie doch endlich die Kindereien. Natürlich erfahre ich, was die deutschen Behörden ermittelt haben. Schließlich ist es mein Jagdhaus gewesen, das abgebrannt ist. Denken Sie, wir haben keinen Kontakt zu Ihrem Apparat? Sie kennen doch die Praktiken. Haben Sie nun eine brauchbare Spur oder nicht?“ „Nein, noch nicht. Nur die Leiche. Der Junge ist ertränkt worden!“ Wieder das kaum wahrnehmbare Zucken der Augenbrauen. „Sind Sie sicher?“ „Absolut!“ antwortete Geckeler in überzeugendem Ton. Auf den Busch klopfen! Vielleicht sitzt ein Hase drin. Vielleicht rennt er sogar ’raus. „Seltsam. Das wußte ich noch nicht, daß er ermordet wurde.“ Diesmal blieben die Augenbrauen lange und deutlich oben. „Das kann Ihr … Ihr Kontaktmann auch noch nicht wissen.“ Geckeler grinste zufrieden und log weiter frisch drauflos: „Der Nachtrag zum Obduktionsbefund liegt noch in 185
meinem Schreibtisch. Und ich … ich bin ja nicht Ihr Mann im Apparat.“ De Chalon lächelte zynisch. „Noch nicht, Inspektor, noch nicht!“ „Ich würde auch nie für Sie arbeiten, General. Liegt mir nicht, zwischen zwei Feuern zu braten. Eines genügt mir.“ Geckeler richtete sich zu voller Größe auf und sah dem General scharf ins Gesicht. Das zierliche Stühlchen krachte unter ihm, für zweieinhalb Zentner Schwabenfleisch war es nicht gebaut worden. De Chalon erwiderte den Blick, lächelte jetzt herablassend. „Sie sind ein Kindskopf, Inspektor, oder ein Bauerntölpel. Wer für uns arbeiten wird, bestimmen immer wir; und wer zuerst nicht will, der wird später müssen.“ „Wen Sie nicht in der Hand haben, den können auch Sie nicht zwingen!“ Geckeler wurde wütend. „Das wäre ja noch schöner!“ „Und wenn Sie eines Morgens neben einem Toten aufwachen, Monsieur Geckeler? Und die Kugel im Schädel des anderen stammt aus ihrer Dienstwaffe, die Sie in der Hand halten? So etwas läßt sich arrangieren. Es gibt Erfahrungen auf diesem Gebiet. Würden Sie es in einer solchen Situation nicht doch vorziehen, für uns tätig zu sein, wenn wir uns um die Leiche kümmern?“ Geckeler preßte die Lippen zusammen. Diese Schweine kriegen alles fertig. Ja, jetzt glaube ich das, was manchmal so erzählt wird von den Geheimdiensten. Da gibt es kein Recht, da gibt es nur Nutzen. Keine Menschen, nur Nummern. „Nein“, sagte er dann. „Ich würde es vorziehen, noch mal abzudrücken.“ „Das ist das einzige, worin Sie frei sind. Für uns ist dann der Fall erledigt. Fini. Der nächste.“ Der General 186
lachte. „Aber das nur am Rande, monsieur l’inspecteur, wir haben nicht vor, Sie zu beschäftigen.“ „Sehr freundlich von Ihnen!“ sagte Geckeler kratzig. Der General lächelte ironisch. „Bitte, bitte, gern geschehen.“ Ich muß weitermachen, dachte Geckeler. Der spielt nur mit mir ’rum. Ich darf nicht wütend werden, ich muß ruhig bleiben, kühl. Ich will was erfahren! Der alte Hund ist abgebrüht, der kennt sich aus, der läßt mich leer laufen. Ich muß ’ran an ihn. „Sagen Sie, General“, fing er an „warum behindern Sie unsere Ermittlungen? Warum haben Sie mir den Fall wegnehmen lassen? Warum lassen Sie mich heute hier ’rein? Das paßt nicht zusammen.“ „Ich habe Ihnen den Fall nicht wegnehmen lassen.“ „Sie haben keine solche Anweisung gegeben?“ „Nein.“ „Das glaube ich Ihnen nicht.“ „Ihre Sache, Inspektor.“ „Aber es stimmt doch, daß eine solche Anweisung ergangen ist?“ De Chalon schürzte die Lippen, nickte und sagte: „Ja, es scheint so.“ „Wissen Sie, woher die Anweisung gekommen ist?“ „Nein, noch nicht.“ Der General sah wieder zum Fenster hinaus und zupfte mit den Fingern an der Unterlippe. „Noch weiß ich es nicht. Und wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen nicht sagen.“ Er wandte sich Geckeler wieder zu. „Hier jedenfalls nicht. Dieser Raum wurde mir als abhörsicher bezeichnet, monsieur l’inspecteur. Deshalb bin ich gewiß, daß jeder hier gesprochene Satz in Paris ausgewertet wird und danach in Brüssel, im NatoHauptquartier. Das ist der normale Ablauf.“ 187
„Wir könnten uns woanders unterhalten, General.“ „In Gottes freier Natur, wie die Deutschen so lustig sagen?“ „Wo Sie wollen, General.“ „Ich denke nicht daran! Bringen Sie mir die Clochards! Ich will Zeugen, die beim Brand dabei waren. Oder besser: Täter. Also!“ Der General stand auf und rückte an seinem Uniformrock. Er war kleiner, als Geckeler erwartet hatte. Ein Sitzriese. „Ich denke, ich beende diese Unterredung“, sagte de Chalon ohne jede Höflichkeit. Aber Geckeler blieb noch sitzen. „Wußten Sie, von wo die Tramps gekommen sind?“ „Nein. Ist das von Bedeutung?“ „Sehr leicht möglich.“ „Also: Von wo kamen Sie?“ „Direkt aus Nordafrika, General. Sagt Ihnen das was?“ Diesmal hob de Chalon nur eine Braue. „Vielleicht.“ Dann drehte er Geckeler den Rücken zu. „Gehen Sie jetzt, Monsieur! Sollte ich Sie brauchen, lasse ich Sie rufen.“ Und dann, mit einem hinterhältigen Lächeln: „Passen Sie gut auf sich auf, Monsieur Geckeler. Es wäre schade, wenn Ihnen etwas zustieße. Sie sind so ein possierlicher Deutscher, diese Sorte wird immer seltener.“ Geckeler schlug die Tür mit einem Knall ins Schloß. Der junge Mann im Vorzimmer legte die Zeitschrift auf den Tisch, drückte die Zigarette aus; diesmal grinste er, als er Geckeler einen Blick zuwarf. Aus einem kleinen Lautsprecher schnarrte die Stimme des Generals: „Capitaine Bonaire, sofort zu mir!“ Geckeler und sein Begleiter gingen lautlos über den dicken Teppich davon. Zur Halle hinab benutzten sie die rechte der beiden Treppen. Immer geht es rechts ’rum, 188
wie die Kaffeemühle. Unten stand der Blonde, unter dessen Anzug man die Waffe nicht erkennen konnte. Der andere setzte sich in seinen Sessel und nahm die Zeitschrift auf. Oben klappte eine Tür.
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24 Zur gleichen Zeit war Eduard Schlottke auf der Rückfahrt von Sankt Gallen. Die Arbeit war ihm schneller von der Hand gegangen, als er es erwartet hatte, denn die Schweizer Kollegen hatten gut vorgearbeitet. Einen Beteiligten an den Apothekeneinbrüchen hatten sie in Zürich eingefangen, den übrigen war man auf den Fersen. Schlottke hatte nur seine Ermittlungsergebnisse auf den Tisch legen müssen, den Rest hatten die gemütlichen Schweizer besorgt, die sehr ungemütlich werden konnten, wenn man ihre Ruhe stören wollte. Ein glatter Fall, rund wie eine Billardkugel, blank wie eine Gastwirtsglatze, alles schön gelaufen. Schlottke hatte noch viel Zeit. Es war eben Mittag vorbei – was die hier so Mittag nannten –, vierzehn Uhr, in der Schweiz ging alles etwas langsamer, immer mit der Ruhe. Schlottke fuhr auf einer guten Straße durch das schöne Appenzell der österreichischen Grenze zu, denn er wollte nicht mit der langweiligen Fähre zurück über den See. Er hatte Zeit, sein Dienst war für heute beendet. Und auch für den morgigen Samstag wurde er im Amt nicht erwartet, denn laut Dienstplan gab es in Sankt Gallen viel zu tun, und er würde über Nacht dort bleiben. Er konnte jetzt also in Ruhe über Bregenz fahren, am See entlang, über Lindau nach Norden. In der Schweiz hatte er zu Mittag gegessen, so berühmt ist das nicht mit der Schweizer Küche, fand Schlottke wieder mal wie schon so oft. So können die bei uns schon lange kochen! In Österreich würde er Kaffee trinken, das lohnte sich immer, von Kaffee verstanden sie was in Bregenz, vielleicht würde er dort auch im Café Heimerdinger diese Serviererin wiedertreffen, das Mariandl, die 190
damals … na, man würde sehen. Besser nicht zu früh freuen. Aber schließlich, der Urlaub rückte heran, und man mußte sich umsehen. Vielleicht könnte man zusammen … wenn sie überhaupt noch dort war. Hatte ja ewig nicht geschrieben, die Kleine. Nettes Mädchen. Mal nachschauen. Recherchieren. Wozu ist man vom Fach? Am Abend würde er mit der kleinen Schwarzen Pizza essen im Ristorante Brigantino bei Luigi Componella, am Bregenzer Hafen unten, oder er würde ein Bauernfrühstück zu sich nehmen, in Deutschland, mit viel Schinken und sehr wahrscheinlich allein am Tisch, wie das in Deutschland üblich war. Aber jetzt schnurrte der alte Motor des VW noch über die Appenzeller Hügel, durch Wald und Wiesengrün, durch hübsche, sehr gepflegte Dörfer, vorbei an den unzähligen, über die Landschaft gewürfelten Häuserchen. Hügelauf, hügelab. Wenig Wald, viel Weiden. Sattes Vieh und der Geruch von Milch und Käse bis ins Auto hinein, wenn man durch ein Dorf fuhr. Der Blick im Süden auf die kahlen Felswände des Säntisgebirges, im Nordosten auf den dunstigen Spiegel des Sees. Ein Paradies noch ohne Industrie. Nur sattes, dunkelgrünes Gras und Milch und Fleisch und Butter daraus. So was gibt’s doch gar nicht mehr, dachte Schlottke, wenn er aus dem brummenden Auto auf die Kühe blickte, die den fressenden Kopf nicht aus dem fetten Gras hoben. Diesen Frieden täuschen die ja nur für die Touristen vor. Ausbeutung der Landschaft, das ist die spezielle Industrie hier. Die Leute arbeiten hier auch bloß für Geld und nicht, weil sie, juchhei, die Arbeit so schön finden. Ferngeheizte Bauernhäuser mit Teilpension in harter Währung und vollsynthetische Sennerinnen, Knopfdruck genügt, Bedienungsanleitung in sechs Sprachen. 191
Aber trotz der Sarkasmen verflog die idyllische Stimmung erst, als er im dichten Kolonnenverkehr der Hauptstraße vor dem Grenzübergang auf den dritten Gang schalten mußte. Schon zu Ende die angenehme Dienstreise, schon wieder das übliche Gewühl, der Lärm, der Gestank, der Verschleiß im Schaltgetriebe und das Zerren an den Nerven. Seufzend reihte sich Schlottke in die Schlange vor dem Schlagbaum ein. Diese Reisen schiebt er immer mir zu, der Alte, dachte er, während er Meter für Meter vorrückte. Selbst ist er froh, wenn er nicht mehr aus dem Bau muß. Und ich kann mir meine alte Karre dabei zu Schrott fahren, für die paar Mark Reisespesen. Als ob ich davon einen neuen kaufen könnte, bei meinem Gehalt! Selber hat Geckeler ja keinen Wagen. Stinkt ihm zu sehr. Aber mitfahren tun wir doch ganz gerne, Chef, was? Ist schon eine komische Kruke, unser Alter. Kruke! Schlottke kostete das Wort aus und wiederholte es laut: „Kruke! Komische Kruke!“ Auch ein Berliner Ausdruck. Mußte ich in diesem blöden Schwabennest hängenbleiben? Konnte sich meine Mutter nicht woandershin evakuieren lassen? Ich hab’ schon ein Pech! Mit meinem Geburtsort, von dem ich nichts kenne als den Namen. Mit meiner Mutter, die nicht mehr ganz richtig ist. Kein Wunder auch. Wie kann man einen versoffenen Germanisten heiraten, wenn man Freifrau von Riplitz heißt und im Gotha steht. Mußte ja schiefgehen! Na, ist ja auch … Du, du, du böses Schicksal! Schlottke rückte wieder eine Wagenlänge vor. Freifrau von Riplitz, dachte er weiter, als er den Fuß vom Gaspedal nahm und auf die Bremse trat. Riplitz – Dorf in der Mark Brandenburg, heute DDR, Bezirk Potsdam. 1965 zweitausendvierhundertsechzig Einwohner, 192
Landwirtschaft, im Gebäude des Schlosses Riplitz ein Schulungsheim des kommunistischen Jugendverbandes der DDR, FDJ, Freie Deutsche Jugend, nach. Knaurs Lexikon von 1968. Von Herrmann Karl Eduard Schlottke stand nichts im Lexikon, den hatte das Freifräulein ja nur angeheiratet, diesen schwarzlockigen Dr. phil. aus kleinen Verhältnissen, der ihr so hinreißende Liebesgedichte geschrieben hatte. Das war alles, was geblieben war von den Riplitzens: die alte Freifrau und der halbe Riplitz, Kriminalhauptmeister Schlottke. Den Dr. phil. hatte man noch kurz vor Kriegsende nach Sachsenhausen eingeliefert, wegen Defätismus. Ausgeliefert hatte man ihn ordnungsgemäß in einer billigen Urne, gestorben war er wegen Kreislaufversagens, wie im gebührenpflichtigen Begleitpapier zu lesen stand. Nur drei Monate hatte er im Lager zugebracht, und erst nach seinem Tode gebar die Freifrau einen kräftigen Sohn. Lohnt sich nicht, mit den Gewalten anzubinden, dachte Schlottke, als er wieder anfuhr. Nur Bescheid wissen sollte man, was gespielt wird und wer das Spiel macht. Aber nicht mit Kartoffeln nach Kanonen schmeißen, nicht in die Trompete blasen, wenn man Mühe hat, mit dem Rücken an die Wand zu kommen. So wie der gute Geckeler es tat. Der rennt tatsächlich zu diesem General und hofft, der wird ihm was erzählen. In den Finger wird sich der Inspektor schneiden. Dem reicht’s noch nicht, daß sie ihm gezeigt haben, wie das Spiel gemacht wird. Als ob nicht ein Blinder mit dem Krückstock ertasten könnte, daß hier eine Geheimdienstsache abrollt. Aber der Alte merkt es nicht, und wenn ich’s ihm stecke, kriege ich eins auf den Deckel. Na, ich werde die Klappe halten, bin doch nicht lebensmüde! Bloß der Geckeler, 193
der lernt’s nicht mehr. Glaubt immer noch an Recht, Gesetz und Ordnung. Oder ob ich ihm doch einen Tip zukommen lasse, auf Umwegen, damit er sich nicht allzusehr den Kopf stößt? Wenn er nämlich so weitermacht, habe ich spätestens Anfang nächster Woche einen anderen Vorgesetzten. Und zwar den Reimann, diesen aalglatten Hund, den ich gerade leiden kann. Ich muß wohl mal mit Erwin reden, vielleicht kann der den Alten von seinem Spleen abbringen. Auf Erwin hört er manchmal. Schlottke lächelte mitleidig, die alten Landser halten eben zusammen. Kurland-Erwin und Torpedo-Geckeler. Die waren irgendwann zusammen im Krieg, von Kurland rückwärts übern Teich. Aber Erwin hat gelernt aus Kurland, der ist schlauer als Geckeler, der eckt nicht mehr an. Na, ich werde mal zusehen, was ich für den Geckeler, unseren Ritter ohne Furcht und Tadel, tun kann. Wenn die Jungs ihn ein zweites Mal greifen, machen sie ihn so fertig, daß ich einen neuen Chef brauche – aber ich brauche keinen neuen, als Chef bekommt mir Geckeler gut. Endlich der Schlagbaum, Schlottke zeigte seinen Dienstausweis, weil er wußte, daß man ihn dann, ohne weitere Fragen zu stellen, passieren lassen würde; noch ein Schlagbaum, durch. In der Oberstadt von Bregenz hatte er Mühe, mit dem Wagen voranzukommen: die engen Einbahnstraßen, die man durchfahren mußte, wenn man die Umgehung nicht benutzte, die vielen Ampeln, die nicht aufeinander abgestimmt waren – so schön österreichisch schlampert –, die Ortsfremden, die überall im Wege standen, die Wagen mit den französischen Kennzeichen, den englischen, den schwedischen. Wo nehmen die Leute bloß den vielen Urlaub her, fragte sich Schlottke säuerlich, wenn wieder mal ein Däne zögernd aus einer Seitengasse gefahren 194
kam und dann nicht weiter wußte. Schlottke hupte mehrmals wütend und dachte: Diese Skandinavier sind ja fast so stur wie ein gewisser Geckeler. Sich mitten auf die Kreuzung stellen und dann staunen, wenn es kracht! Endlich das Café Heimerdinger. Kein freier Platz zum Parken, natürlich, erst mal ein Stückchen rausfahren in Richtung Unterstadt, Parkplatz suchen. Können die Schweden nicht zu Hause bleiben oder wenigstens gleich nach Neapel oder Taormina durchfahren? Als er endlich den Schlag hinter sich zuwerfen konnte – Gebühr bezahlt, im voraus, versteht sich –, war Schlottke bester Laune. Und als er ins Café kam, sich an einen der kleinen Marmortische setzte, wer fragte da: „Was darf’s, bittschön, sein, der Herr?“ Marianne hatte ihr altes Revier behalten. „Ach, du bist es?“ sagte sie erstaunt, wollte es sich aber nicht anmerken lassen. „Was machst denn du bei uns? Suchst du wieder einen Mörder?“ Sie sprach sehr hochdeutsch, ganz gegen ihren Tonfall, den sie sonst drauf hatte und der zu ihr paßte. Diese Mischung zwischen Wien und Innsbruck! So, wie sie auch aussah. „Wie immer?“ fragte sie und nestelte an ihrem weißen Schürzchen. Aber da war sie schon weg, bevor Schlottke etwas sagen konnte. So war sie eben. Mariandl. Als das Café Heimerdinger dann geschlossen und Marianne abgerechnet hatte, gingen sie ins Ristorante Brigantino, aber danach kam alles ganz anders, als Schlottke es erwartet hatte, vielleicht, weil das Mariandl am nächsten Tag nicht arbeiten mußte, vielleicht auch wegen überhaupt. Die Nacht war warm, wie sich das gehörte für den Frühsommer am See. Und später hatten sie beschlossen, gemeinsam in den Urlaub zu fahren. Nach Skandinavien hoch. So einfach ging das alles. 195
Gegen Morgen fuhr Schlottke das Mariandl nach Haus, sie bewohnte ein möbliertes Zimmer in der Unterstadt, wo sie keinen Herrenbesuch empfangen durfte, da paßte die vermietende Rittmeisterwitwe gut auf. Wenigstens Anstand sollte es in Österreich noch geben, wenigstens in ihrem Hause, wenn’s schon keinen Kaiser mehr gab, nicht mal einen Führer. Vor dem Haus hatten die beiden noch lange im Wagen zu tun. Marianne wollte nicht nach oben, und Schlottke zog es nicht nach Deutschland. Schließlich fuhren sie doch wieder weg, ein Stück in den Bregenzer Wald hinauf, solch einen Samstag gab’s nicht jede Woche, den wollten sie nicht verschlafen. Im Wald dann waren sie nicht die einzigen, das wirkte störend, aber es half auch nichts, daß sie ein paar Wege weiterfuhren und dann noch ein Stück. Der graulackierte Chevrolet kam immer nach und parkte in der Nähe. Bis Schlottke wütend wurde. „Ist das bei euch in Österreich so üblich, daß zwei Mann hinterherschleichen, wenn einer mit seiner Frau in den Wald geht? Als Reserve vielleicht? Oder macht ihr hier in Gruppensex? Ich bin nicht so sehr dafür, muß ich dir ehrlich sagen. Mir reicht’s jetzt. Ich kaufe mir die Burschen.“ Leise verließ Schlottke den Wagen, huschte ins Gebüsch und ging in weitem Bogen auf den Chevrolet zu. Die beiden Männer im Wagen wandten den Kopf nicht, als Schlottke aus dem Gesträuch neben ihnen auftauchte und auf sie zuging. Das Auto trug ein Schweizer Kennzeichen, Lausanne, Schlottke baute sich an der Tür auf, zückte seine Marke, hielt sie dem Fahrer flüchtig hin und fragte in barschem Ton: „Kann ich mal Ihre Papiere sehen?“ 196
Der Fahrer musterte Schlottke mit einem langen Blick, dann schüttelte er lächelnd den Kopf. „Machen Sie kein Theater, sonst lasse ich Sie festnehmen, wir haben hier eine Fahndung laufen.“ Schlottke beherrschte sich nur mühsam. Der Fahrer lächelte stärker, startete, legte den Gang ein und fuhr aufreizend langsam fünf Meter vor. Dann stand der Wagen wieder. Das ist ein freches Volk, dachte Schlottke, na, wartet, euch werde ich’s eintränken. Vorsichtshalber merkte er sich die schweizerische Nummer des Wagens, dann trat er wieder an die Fahrertür, faßte mit schnellem Griff durchs offene Fenster zum Zündschlüssel und zog ihn ab. Damit hatten die beiden Männer nicht gerechnet. Ihre Lethargie verschwand, der Beifahrer sprang aus dem Wagen, faßte ins Jackett, dem anderen hielt Schlottke die Tür zu, während er zur eigenen Waffe griff. Da bekam der Fahrer die Tür frei, stieß sie Schlottke gegen die Beine, warf ihn ins Gras und war plötzlich über ihm. Doch Schlottke war schneller, schlug dem Angreifer die Handkante an den Hals, und der sackte still zusammen. Schlottke riß die Waffe hoch, um dem zweiten zu begegnen, aber da war niemand mehr. Er sprang auf, blickte sich um, doch er fand keinen. „Kommen Sie ’raus, es hat keinen Zweck!“ rief er ins Gebüsch, wartete gespannt und erhielt auch Antwort. „Eddi!“ rief eine ängstliche Stimme aus der Richtung, wo sein Volkswagen stand. „Eddi, komm schnell her! Er hat mich, du sollst den Zündschlüssel mitbringen.“ Schlottke ließ die Waffe sinken, und er ging mit langsamen Schritten zu seinem Wagen. Was wollen die bloß von uns? Die fahren doch nicht spazieren, weil’s hier so 197
schön ist. Fahren die hinter mir her oder hinter dem Mädchen? Der Beifahrer stand neben Marianne, die im Wagen saß, und er hielt ihr den Lauf an die Schläfe. Als er Schlottke kommen sah, streckte er die linke Hand aus, deutete mit dem Kinn auf Schlottkes Waffe, nahm sie und warf sie ins Gebüsch. Seine langen, gepflegten Finger schlossen sich dann um den Zündschlüssel. Er machte zu Marianne eine Kinnbewegung, sie stieg aus, er drückte ihr den Lauf jetzt in den Rücken und schob sie vor sich her. Immer noch wortlos, winkte er Schlottke, ihm zu folgen. Sie gingen zu dem Chevrolet. Der Fahrer hatte sich inzwischen aufgesetzt und rieb sich mit schmerzverzogenem Gesicht den Hals. Aus engen Augen blickte er Schlottke böse an. Dann stand er auf und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Schlottke riß den Arm hoch, um zurückzuschlagen, Marianne schrie: „Hör auf, Eddi!“ Er sah, daß der Bewacher, ein Mann mit hagerem Gesicht, ihr den Arm verrenkte. Der Fahrer schlug ihn ein zweites Mal. Schlottke wehrte sich nicht, als der andere nach ihm trat. Dann knurrte der Hagere etwas Unverständliches, der Fahrer ließ von Schlottke ab und ordnete seine Kleidung. Der Hagere sagte: „Versuchen Sie das nicht noch einmal!“ Der Fahrer nahm den Zündschlüssel, dann stiegen sie beide ein. Der Hagere mit Marianne auf den Rücksitz. Schlottke kam nur mit Mühe wieder hoch und schleppte sich hinter dem Wagen her. Zweihundert Meter weiter, bevor der Weg eine Kurve machte, verminderten sie die Geschwindigkeit, eine Tür flog auf, und Marianne wurde hinausgestoßen. Sie 198
überschlug sich und rollte in den Straßengraben. Der Wagen beschleunigte rasch und verschwand in der Kurve. Als Schlottke heran war, saß Marianne am Grabenrand, zog ihre zerfetzten Strümpfe aus und besah sich die zerschrammten Beine. „Alles in Ordnung?“ fragte Schlottke, noch atemlos vom Rennen. „In Ordnung nennst du das, du großer, starker Polizist?“ antwortete sie und deutete auf ihr aufgeschlagenes, blutendes Knie. „Ach, das vergeht wieder. Kannst du aufstehen und gehen, oder soll ich das Verbandzeug aus dem Wagen holen?“ „Könnte dir so passen, daß ich liegenbleib’!“ Sie zog sich an seinem Arm hoch und humpelte, auf ihn gestützt, los. Außer den Abschürfungen war ihr nichts geschehen, stellten sie im Wagen fest. Mariandl war sogar recht munter, viel munterer, als nach solchem Schreck zu vermuten war, und sie hatte nicht vergessen, weshalb sie in den Wald gefahren waren. Danach erst kam Schlottke dazu, ihr in Ruhe die Schürfwunden oberhalb des Knies zu bepflastern. „Du wärst wirklich eine gute Polizistenfrau, Mariandl“, sagte er anerkennend. „Dich kann so leicht nichts erschüttern. Dich könnten meine dienstlichen Verwicklungen sicherlich nicht an der Wahrnehmung ehelicher Rechte hindern. Also wirklich, meine ich ehrlich! Die ideale Polizistenfrau!“ Marianne richtete sich auf und zog den zerrissenen Rock über die Knie. Sie runzelte die flach gewölbten Brauen. „Geht das bei euch alle Tag so zu? Daß der Mann Prügel kriegt und die Frau aus’m Auto naus 199
g’schmissen wird? Dann überleg’ i mir’s noch mit’m Urlaub. Ärger mit den Mannsbildern hab’ ich im Café g’nug, wenn’s das Tatschen nicht lassen können. Auf die Finger hauen dürfen wir den Gästen ja nicht, sonst schmeißt uns die Chefin naus.“ Dann wurde sie ernst. „Was waren das für welche, Eddi? Was haben die g’wollt von uns?“ Schlottke drehte nachdenklich an den Zierknöpfen ihres Rockes. „Ich weiß es nicht, Mariandl. Ich verstehe es nicht. Sind sie mir hinterhergefahren oder dir? Und weswegen?“ Marianne schob seine Hand von ihrem Rock. „Weshalb sollten’s mich ausspionieren wollen? Wo sie doch eh nicht von hier sind? Aus dem Café steigt einem ja manchmal einer nach … aber nur, wann ich allein bin. Es muß mit dir z’ammenhängen, weil du ein Polizeier bist, ein Gendarm. Da wirst wohl manch einen Feind haben, der dir gern eins heimzahlen tät’. Meinst nicht auch?“ „Heimzahlen? Aber doch nicht so! Außerdem bin ich an sie rangegangen, weil sie uns gestört haben, und nicht sie an uns.“ „Bist ein tapferer Gendarm, Eddi. Man muß sich recht fürchten vor dir!“ spöttelte Marianne. Das ging Schlottke an die Ehre. „Was soll ich denn machen, wenn er dich bei der Gurgel hat? Sonst wäre ich mit denen schon fertig geworden, den ersten hab’ ich ja gleich schlafen gelegt, den andern hätte ich auch noch zu Bett gebracht, aber …“ „Ich weiß ja, Eddilein. Ich sag’s doch auch: Du bist ein tapferer Gendarm und ein tüchtiger dazu. Nicht nur im Dienst …“ „Nun hör endlich damit auf! Hast du nichts anderes im Kopf jetzt?“ 200
Marianne blinkerte ihn von der Seite an, flüsterte: „Das hab’ ich gar nicht im Kopf, das ist doch ganz anderswo … Hast das nicht g’merkt, Gendarm?“ Schlottke mußte lachen. „Doch!“ sagte er, legte ihr den Arm um die Schultern und schob mit der anderen Hand den Rocksaum höher. „Spurensicherung.“ „Was ist schon so ein kleiner Überfall“, hatte Marianne später gewitzelt, als sie merkte, daß Schlottke sich Sorgen machte. „So ein kleines Überfällchen, ein paar Rowdys, das haben wir doch alle Tag hier. Und nicht mal die Handtasch haben’s mir genommen. Was werden wir uns da noch Gedanken machen! Und zur Gendarmerie brauchen wir nicht zu gehen, da kommt eh nix ’raus, die erwischen eh keinen. Wir haben ja einen eigenen Gendarmen … an’ Schandi.“ „Hör doch mit dem blöden Gendarm auf.“ „Bist einer oder bist keiner? – No also!“ Das war alles gewesen, was sie darüber noch gesprochen hatten, bis Schlottke seine Marianne vor dem Rittmeisterhaus absetzte, denn sie mußte noch schlafen, weil sie am nächsten Tag Frühdienst hatte. Frühkonzert im Caféhausgarten. „Kommst nächste Woch, wann ich frei hab’?“ fragte sie, bevor sie ins Haus ging. „Kannst auch eher, sind ja nur sechzig Kilometer.“ „Vierundsechzig!“ „Ja ja, bis ein Gendarm sich so bewegt … ich hab’ die ganze Woche Frühdienst, drei Uhr ist’s Feierabend.“ „Ich komme, sobald ich kann!“ „Stellst mich deiner Frau Gräfin vor, Eddi?“ Sie lachte. „Freifrau, Mariandl! Freifrau!“ „Na, ist auch nix B’sonders …“ 201
Sie fluderte sich durch die dichten, krausgelockten schwarzen Haare, sagte lachend: „Ich seh’ ja aus wie’s Kätzel am Bauch.“ und drückte Schlottke einen schnellen Kuß auf. „Servus!“ Dann war sie weg. Schlottke fuhr auf der Uferstraße nach Norden. In dieser Richtung war der Verkehr nicht so dicht, man kam voran. Während das schwarze Band der Straße unter ihm abrollte, dachte er an die Überraschungen des vergangenen Tages. Das Mariandl und die Jungs im Chevrolet. Was denen bloß eingefallen war? Da hat irgend was nicht geklappt, auf mich brauchen sie doch gar nicht aufzupassen. Ich mache keinen Ärger. Vorher haben sie sich immer die Richtigen gegriffen, und jetzt auf einmal mich? Da ist etwas schiefgelaufen. Dem Alten werde ich’s am besten gar nicht sagen, der denkt sich gleich was Falsches. Aber ich weiß schon, wen ich fragen kann … ich vermute schon lange, daß der mehr weiß, als wir glauben. Den überfahre ich einfach mit der Frage, dem komme ich schlicht und treudeutsch dienstlich. Muß ich gleich morgen machen. Hab’ wenig Lust kaputtzugehen, bloß weil die Jungs den Überblick verlieren und blind nach allen Seiten hauen. Schluß für heute! Sonst geht’s mir auch bald so wie Geckeler: Nur noch den Job im Kopf. Nein, nichts für mich! In weitem Bogen spuckte Schlottke aus dem Fenster und überholte flott einen Lastzug, dann gleich noch einen, nun war die Straße vor ihm wieder leer. Er konnte es nicht leiden, wenn er so einen Kasten vor der Nase hatte. „Mariandl, du bringst Wandel“, sang er lauthals vor sich hin und ließ den Wagen im Takt dazu Schlangenlinien fahren. Weit hinter den Lastzügen fuhr der graue Chevrolet, der ihm schon seit Sankt Gallen gefolgt war. 202
25 Bläckie hatte dem quirligen, klaren Kopenhagen einfach nicht widerstehen können, war also nicht bei einem Bauern oder in einer Gärtnerei als Saisonkraft untergeschlüpft, wie er es sich vorgenommen hatte, bevor er auf den ersten Zug gesprungen war. Vielleicht war alles zu glatt gegangen. Dieser Zug war die ganze Nacht durch gefahren und erst in Hannover stehengeblieben. Halbe Strecke bis nach Kopenhagen oder mehr sogar. Ein zweiter Zug hatte den Mulatten bis kurz vor Flensburg gebracht; ein Wunder, daß der nicht über Hamburg gefahren war. Wer wagt, gewinnt, hatte sich Bläckie gesagt. Soviel Glück auf einem Haufen hatte ich schon lange nicht mehr. Aber es wurde auch Zeit, verdammt noch mal! In der ersten Nacht hatte er weich auf einigen Ballen Isolierwatte gelegen, in der zweiten hatte er sich ins offene Führerhaus einer Straßenbaumaschine gesetzt. Über die Grenze nach Dänemark war er vorsichtshalber durch den Wald gelaufen, dort, wo er sie schon einmal heimlich passiert hatte. Er kannte sich in solchen Schlichen aus. Und nun also doch gleich Kopenhagen und auch gleich zu Hjalmar, der im „Uppercut“ so etwas wie der Manager war. Bei Hjalmar konnte man immer Vorschuß kriegen, jedenfalls zu Anfang der Saison. Und Geld mußte erst mal her. In der Stadt konnte man nicht von gestohlenen Hühnern leben, in der Stadt mußte Geld sein. Hjalmar hatte auch was rausgerückt, nicht gerade viel, aber für die ersten Tage würde es reichen, und im „Uppercut“ bekam Bläckie das Essen umsonst. Er bekam auch gleich ein Mädchen, das ihm Platz auf ihrer Bude anbot. Hjalmar sorgte für alles, er war eben 203
ein umsichtiger Manager. Er hatte aus einem verfallenden Werftschuppen am Alten Hafen ein vielbesuchtes Beatlokal gemacht. Mit wenig Geld und einer Menge origineller Einfälle. Jetzt hing er in allen nur möglichen und sicherlich auch in einigen unmöglichen Geschäften drin und machte Geld. Egal, hatte Bläckie gedacht. Ich bin erst mal sicher hier, mir wird es an nichts fehlen, ich werde neue Leute kennenlernen und alte Bekannte wiedertreffen. Prima. Volles Leben. Mir geht’s gut! Aber schon am ersten Abend hatte die Polizei das „Uppercut“ ausgeräumt, einen Wagen voller Leute mitgenommen, wie immer, wenn sie Razzia machte. Aber diesmal war Bläckie dabeigewesen, und seinen Paß trug er in der Tasche bei sich. Und das alles nur, weil er sich einen angetrunken hatte, weil er das Zeug nicht mehr gewohnt war, es also nicht mehr geschafft hatte, wie sonst bei Hjalmar hintenrum über den Pier zu verschwinden, als vorne die Bullen gemeldet wurden. So was Blödes! Nur weil er sich von der Kleinen, bei der er fürs erste wohnen wollte, hatte vollkippen lassen. Mehr als blöde! Das mußte ihm passieren, ihm, dem alten Fuchs! Als sie nichts bei ihm gefunden hatten und ihn schon wieder laufenlassen wollten, hatte so ein junger Bulle, einer von den scharfen, den Anfängern, die noch nichts zu sagen haben, seinen Namen in einer abgelegten Liste gefunden, einer langen Liste, die aus Deutschland gekommen war. Und so saß er nun hier, in dieser modernen hellen Zelle mit gekachelter Sanitärecke, Spülklosett, gepolstertem Stuhl und dem staatseigenen Lexikon in drei Bänden auf dem Wandbord. Auslieferungsverwahrung nannten sie das, sie gaben sich recht umgänglich und stellten keine 204
Fragen. Das würden die deutschen Kollegen schon noch besorgen. Ja, Klappe zu und Bläckie drin, da ist nichts mehr zu löten. Sie haben mich wieder mal aufs Kreuz gelegt. Heute, sagt der Wärter, wird einer von denen da unten kommen, um mich abzuholen. Überstellung. Brandstiftung werden sie mir anhängen. Gottverdammt! Und was weiß ich noch alles. Nach einem halben Tag in Kopenhagen, nichts davon gehabt, noch nicht mal das Mädchen angefaßt. Nicht im Tivoli gewesen, dort wollte ich so gerne wieder hin. Ole Jarnsen nicht getroffen, der hätte mir Tips geben können für Afghanistan, der war schon bis Indien und weiter bis Bangkok. Scheiße! Ich hab’ mich hochziehen lassen wie der erste beste Bahnhofspenner, der eben seiner Mammi weggelaufen ist und sich nicht nach Hause an den Ofen zurücktraut, weil er Angst vor einem Arschvoll hat. Scheiße! Hoffentlich kommen die nicht drauf, mir was anzuhängen, was mit dem Kleinen zu tun hat. Irgend was mit Stoff. Dafür brauchen sie immer welche. Hoffentlich hat der Kleine mehr Glück gehabt als ich! Vielleicht ist der gar nicht so doof, wie er aussieht? Vielleicht ist das die Masche, mit der er immer durchkommt? Könnte man sich vorstellen. Alles Scheiße! Frühling in Kopenhagen! Hat sich was. Voll reingetreten! Bläckie streckte sich auf der bequemen, breiten Pritsche aus und starrte durch das kleine Fenster in das Laubwerk der Bäume. Mehr konnte er nicht sehen. Die Sonne schien hell draußen, drang aber nicht bis in die Zelle wie das Zwitschern der Vögel und das gleichmäßige Brausen des Verkehrslärms. Bläckie versuchte zu schlafen. Erst als an seiner Tür geschlossen wurde, wachte er auf. Vor dem Fenster waren die Blätter schwarz geworden, es dämmerte schon. Langsam setzte er sich auf. 205
Herein kam der freundliche Wärter mit dem weißen Backenbart, der so ein lustiges Deutschkauderwelsch sprach, weil er mit der Zunge anstieß, und nach ihm zwei Fremde, die Formulare in den Händen hielten. „Die deutschen Bullen sind da. Aus dem lieben Heimatland. Na, dann wollen wir mal“, sagte Bläckie schwerfällig und stand auf. Er reckte sich in aller Ruhe, wollte sich noch waschen, aber die Polizisten drängten zum Aufbruch, sie wären ohnehin verspätet dran. „Mich habt ihr noch lange genug, warum denn überschlagen?“ knurrte Bläckie, als er betont langsam die Jacke anzog und sich mit dem Kamm durch die zerzausten Haare fuhr. Man darf den Bullen gar nicht erst den kleinen Finger geben, dachte er. Um so leichter können sie einem später die Hand abreißen. Erst mal sperren oder sich dämlich stellen. Nachgeben kann man immer noch, wenn’s gar nicht anders geht. Er sagte: „Mir steht noch ein Essen zu. Kann ich verlangen, bevor ich auf Transport geschickt werde. Ich hab’ Hunger!“ Der weißbärtige Schließer nickte, brummte etwas Dänisch-Deutsches und wandte sich dann an die deutschen Polizisten: „Jo, ssteht ihm ssü!“ lispelte er. „Ist ja gut“, erwiderte der ältere der beiden. „Weiß ich. Wir essen unterwegs. Auf dem Bahnhof oder im Speisewagen. Jetzt müssen wir weg und sehen, daß wir den Zug noch kriegen. Der nächste fährt erst morgen früh. Die Spesen sind knapp, wir können hier nicht übernachten.“ Sein jüngerer Kollege, ein untersetzter, schwerer Kerl mit verkniffenem Eisenfressergesicht, grinste zustimmend und schwenkte einladend die Handschellen. Bläckie maulte nur noch aus Prinzip; er sah, daß er nichts mehr verzögern konnte, und vor einem Transport, 206
bei dem er mit den beiden allein sein würde, wollte er sich nicht mit ihnen anlegen. „Na schön, dann legt mir mal Schmuck an, Männer“, sagte er und hielt dem Eisenfresser seinen rechten Arm hin. Und dann gingen sie hinter dem Schließer her, der ihnen die Türen aufhielt. „Bye-bye, Opa. Bist in Ordnung“, sagte Bläckie zu dem Alten, als der die letzte Tür öffnete. Der Opa nickte freundlich und tippte an die Mütze. Vor dem Gefängnis setzte sich der Altere ans Steuer eines Wagens, der offenbar gemietet war, der Eisenfresser stieg mit Bläckie hinten ein. Der Fahrer schimpfte und fluchte, weil die dichten Radfahrerpulks sich von den Autos nicht überholen ließen, ja, sie überhaupt nicht zu bemerken schienen und überall von den Verkehrspolizisten bevorzugt wurden. „Schöne Sitten haben die hier, da kann man gleich zu Fuß gehen. Ist ja fürchterlich!“ Er kam noch nicht mal in den dritten Gang. „Warum fahrt ihr denn nicht links ’rum, hinter der Plakatwand ’rein?“ sagte Bläckie. „Kommt ihr doch schneller zum Bahnhof. Wenn ihr’s so eilig habt, daß ich nicht mal mehr was essen konnte … Gradeaus ist es ein Umweg. Da braucht ihr ’ne halbe Stunde.“ Aber der Fahrer reagierte nicht darauf. Nur der Eisenfresser brummte mit kratziger Stimme: „Das laß unsre Sorge sein. Halt’s Maul!“ „Na, na! Noch bin ich nicht verknackt“, beschwerte sich Bläckie. „Könnte sein, ich hab’ einen Rechtsanwalt, he? Seid nett zu mir, Jungs. Ich bin ein dicker Fisch!“ Er lachte. „Man kann nie wissen! So mancher Millionärssohn latscht in zerrissenen Klamotten durch Europa. Sieht man den Leuten heute nicht mehr an. Manche lassen sich ihre Plünnen schon zerrissen anfertigen, 207
für verdammt viel hartes Geld. Mit garantiert echten Schweißflecken!“ „Negerschweiß, was?“ fragte der Eisenfresser übellaunig. „Halt jetzt endlich die Schnauze, sonst hau’ ich dir eine ’rein!“ Er hob seine pflastersteingroße Faust. „Dann biste aber lange still, du Hottentotte!“ Bläckie schwieg. Da bin ich ja an ein paar miese Arschlöcher geraten, dachte er, die machen nicht mal einen Witz mit. Und gegen mein schwarzes Fell hat er auch was, der Bullenbeißer, der blöde. Ich werde den Rand halten, ist besser, die sind zu zweit, und nachher im Abteil sind wir garantiert allein, ist ja meistens reserviert. Man hat so allerhand gehört, was die Bullen mit unsereinem machen, wenn keine Zeugen dabei sind. Nierenschläge sind später nicht mehr nachweisbar, die kennen sich da aus. Der Eisenfresser auf alle Fälle, der macht mir ganz den Eindruck. Wie ein Orang-Utan, keine Stirn, nur Kiefer, fressen, brüllen und dreschen, das einzige, wozu der brauchbar ist. Na, schnarchen wird er wohl noch können, das werde ich mir heute nacht anhören dürfen. Und aus dem Mund stinkt er auch. Bläckie drehte sein Gesicht zur Scheibe und schaute hinaus in die Auslagen der erleuchteten Schaufenster, an denen sie langsam vorüberfuhren. Kopenhagen kaufte ein. Er sah auf die vielen kurzen Röcke oder vielmehr dorthin, wo kein Rock drauf war. Auf schlenkernde Handtaschen, auf lange blonde Haare und auf kurze schwarze, auf schlanke Taillen und breite Hüften, in lachende Gesichter und in ernste, aber er begegnete keinem Blick. Frühling in Kopenhagen! Voll reingetreten diesmal, wahrhaftig! Er stak noch tief in trüben Gedanken, als er merkte, daß die Schaufenster draußen weniger hell erleuchtet waren, daß die Front der Läden durch Wohnhäuser unterbrochen 208
wurde, daß sie sich also aus der Innenstadt entfernten. „Hier geht’s nicht zum Hauptbahnhof, hier kommt ihr in die Vororte“, warf er dem Fahrer hin, aber weder der noch der Eisenfresser kümmerten sich um seine Worte, der Wagen fuhr stur geradeaus. Hier stimmt was nicht, dachte Bläckie. Die wissen genau, daß sie nicht zum Bahnhof fahren. Er musterte seine beiden Begleiter. „Wo wollt ihr mit mir hin?“ „Schnauze!“ knurrte der Eisenfresser und zog die Kette der Handschelle straff. Der Fahrer schwieg. Die Straße war schon nicht mehr sehr belebt, kaum noch Autos, wenige Fahrräder, ein einzelner Polizist. Die haben was vor mit mir, mach’ ich nicht mit, das verpatze ich ihnen, denen mache ich Ärger, dachte Bläckie ganz schnell, und er hatte sich noch nicht entschlossen, da riß er die Tür schon auf, packte den Eisenfresser, zog ihn an sich – der war gar nicht so schwer, wie er aussah –, und sie rollten beide aus dem Wagen. Bläckie fiel auf den anderen, der schrie, und irgend etwas knackte in ihm, der Wagen bremste scharf, Radfahrer klingelten, einer stürzte, Hupen, dann rannte der uniformierte Polizist herbei und griff ordnend ein. „Mein Arm!“ stöhnte der Eisenfresser. „Aaah, mein Arm, mein Arm!“ Sein Unterarm war an der Handschelle gebrochen, man konnte das Weiße des Knochens sehen. Der Uniformierte zerrte den an einem Kettchen befestigten Schlüssel aus der Tasche des Liegenden und schloß die Handschellen auf. Jetzt oder nie, dachte Bläckie, rollte sich zur Seite, sprang hoch, rammte dem Polizisten den Kopf in den Leib. Auf und fünf, sechs lange Schritte, ein Fahrrad umgeworfen, zwei Gaffer umgerannt. Rein in die Menge, durch und ’raus! Nicht umsehen! Schneller, schneller! 209
Plötzlich peitschten Schüsse über die Straße, kurz und trocken, gar nicht sehr laut, nur wie Stockschläge anzuhören. Neben ihm splitterte Glas, ein Querschläger surrte. Da warf er doch noch einen Blick zurück, sah den Fahrer am Wagen stehen, die Ellenbogen aufs Dach gestützt, die Waffe in beiden Händen. Er sah das Mündungsfeuer, etwas Heißes fuhr ihm am Kopf entlang, Frauen schrien auf, die Leute rannten durcheinander oder warfen sich hin, Reifen quietschten, der lange Ton einer Trillerpfeife. Kein Schuß mehr. Bläckie war schon weit. Die Menschen um ihn schauten nur dorthin, wo geschossen worden war, niemand achtete auf ihn. Er war in der Menge wieder allein. Als er in Schritt fiel, sah er, wie der Uniformierte dem Fahrer half, den Verletzten in das Auto zu legen, dann jagte der Wagen davon. Von weitem näherte sich das Geräusch einer Polizeisirene. Wo jetzt hin, dachte Bläckie. Was mache ich bloß … ohne Geld und ohne Papiere. Wie weit werde ich kommen? Ich blute, verdammt!
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26 „Sie fahren heute noch nach Kopenhagen, Schlottke!“ Geckeler schloß die Wohnungstür hinter seinem Assistenten und schlurfte voran ins Wohnzimmer. „Wieso denn das?“ fragte Schlottke ganz verdattert, und sein Pferdekiefer fiel nach unten. „Wieso denn? Ich hab’ doch erst im Juli Urlaub. Oder bin ich vom Dienst suspendiert? Hat mich der Kriminalrat rausgeschmissen wegen Insubordination?“ Er suchte einen Haken für den Mantelwurf, ganz automatisch, bis ihm einfiel, daß er keinen Mantel bei sich hatte. Achselzuckend folgte er Geckeler ins Zimmer. Nachkriegsneubau. Stein auf Stein gemauert, enger Raum, der Fußboden noch mit Holz gedielt, doppelte Fenster, das Glas durch Stege unterbrochen, keine Thermoscheiben aus einem Stück mit eloxiertem Aluminiumrahmen. An der langen Wand, der Tür gegenüber, die Nullachtfünfzehn-Anbauschränke. Einer mit Glasschiebetüren, hinter denen Sammeltassen standen, denen man ansah, daß sie seit Jahren nicht herausgeholt worden waren. Ein anderer mit herausklappbarer Schreibplatte, einer mit Türen, einer mit Schüben, dann der Eckschrank und an der kurzen Wand noch einer mit zwei Türen – aus. Gegenüber der Schrankwand, wie sich das gehörte und wie es anders gar nicht möglich war, die obligate Klappcouch, zwei Drehsessel und der nierenförmige Couchtisch dazwischen. Könnt’ sich auch mal was anderes zulegen, dachte Schlottke, als er sich in den Sessel warf, der an der Tür stand und immer leise quietschte, wenn man sich mit ihm drehte. „Also, bin ich nun entlassen, Chef?“ Er hatte Mühe, seine langen Beine unter dem niedrigen Tisch unterzu211
bringen, ohne an die Platte zu stoßen. „Oder wie soll ich das verstehen mit Kopenhagen? Sie wissen doch, daß ich erst im Urlaub dorthin will.“ „Verstehen müssen Sie das überhaupt nicht, Eduardle“, grinste Geckeler. „Wozu der Aufwand? Ich bin sowieso nicht sicher, ob Ihnen das bekommt, wenn Sie allzu heftig nachdenken. Bei Ihrer Länge … bis das vom Kopf in die Beine rutscht …“ Schlottke warf einen schrägen Blick zu dem behäbig sitzenden Inspektor. „Ich merke schon, Chef, Ihnen geht’s gut heute. Irgendwas ist nach Ihrem Wunsch gelaufen, sonst würden Sie nicht so auf mir rumhacken.“ „Genauso ist es, Eduardle! Sie werden doch noch ein richtiger Kriminaler, wenn Sie eine Weile bei mir … Na, ich will Sie nicht verlegen machen. Zuviel Lob ist nicht gut für junge Menschen! Die überschätzen sich dann leicht und bringen sich in Schwierigkeiten. Das will man ja auch nicht, man kennt ja seine Verantwortung den jungen Menschen gegenüber.“ „Danke, Sie alter Mensch!“ „Mittelalter, bitte, Herr Kollege!“ „Na gut. Also: Sie mittelalterlicher Mensch.“ Geckeler rekelte sich in seinem Sessel zurecht, griff zu dem großen Humpen, der neben ihm auf dem Tisch stand, drückte den silbernen Deckel hoch und trank. „Gießen Sie sich ein, Ostschwede. Bier steht links von Ihnen, neben dem Sessel.“ Schlottke nahm eine Flasche Bier vom Teppich, brummte anerkennend, als er das Etikett sah, und öffnete den Verschluß. „Also, was soll ich in Kopenhagen, Chef?“ fragte er, nachdem er sich über den Mund gewischt hatte. „Warum ausgerechnet Kopenhagen?“ 212
„Weil Sie dort etwas abholen sollen, was ich hier brauche.“ „Pornohefte? Wußte gar nicht, daß Sie neuerdings …“ „Werden Sie nicht privat, Eduardle!“ „Ich habe Dienstschluß!“ „Wann Sie Dienstschluß haben, bestimme ich! Aber kommen wir zum Thema, Schlottke.“ Geckeler wurde unvermittelt ernst. „Sie steigen heute zweiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig in den Kurswagen nach Kopenhagen, es ist alles bestellt, Gscheidle fährt Sie bis Stuttgart. Klar?“ „Keineswegs.“ „Doch! Sie holen in Kopenhagen den Mulatten ab, Schlottke. Endlich haben wir ihn!“ Geckeler setzte seinen Humpen an. „Und das machen Sie so spannend?“ fragte Schlottke enttäuscht. „Ich dachte, Sie hätten die Lösung des Falles.“ „Der Mulatte ist die Lösung!“ „Davon bin ich nicht so überzeugt. Sie kennen ja meine Ansicht zu der Sache. Glaube nicht, daß der Reffel uns weiterbringt. Da mischen zu viele andere mit. Seitdem Sie mir erzählt haben, wie General de Chalon Sie bedient hat, besser: wie er Sie hat abfahren lassen …“ „Er hat mich nicht abfahren lassen!“ „Von mir aus. Nennen Sie es doch, wie Sie wollen …“ Geckeler stand auf, schlurfte zum Fenster und öffnete einen Flügel, dann nahm er einen riesigen Aschenbecher aus einem der Schränke und stellte ihn vor Schlottke auf den Tisch. „Wie ich Sie kenne, werden Sie gleich anfangen loszupaffen, Sie willensschwacher Mensch Sie.“ „Ich bin eben noch ein junger Mensch. Wo haben sie den Mulatten eigentlich eingefangen?“ fragte Schlottke. 213
„In so einem Beatschuppen in Kopenhagen haben sie ihn hoppgenommen.“ „War zu erwarten. Wo soll er denn sonst hin, wenn er keinen festen Wohnsitz hat?“ Schlottke blies eine riesige Rauchwolke aus seinen großen Nasenlöchern. Geckeler verzog angewidert den Mund. „Nicht in irgendeinem Beatschuppen, sondern in einem, dessen Manager mit Sicherheit der wichtigste Rauschgiftverteiler Dänemarks ist.“ „Na und? Das muß noch gar nichts heißen.“ „Könnte aber!“ Schlottke rollte seine Zigarette weich. Er rauchte immer ohne Filter. Am liebsten diese schwarzen französischen Zigaretten, die so stark waren, daß man Tabak spürte. Kein Papier, keinen mildernden Filter, der meistens nach Chemie schmeckte. Wenn schon rauchen, dann Tabak. „Ich würde darüber erst urteilen, wenn wir ihn ausgequetscht haben, Chef“, sagte er. „Wer von den jungen Leuten hängt heutzutage nicht in irgendeiner Rauschgiftsache drin? Gehört doch fast zum guten Ton. Highlife. Daraus auf einen Fall zu schließen … ich weiß nicht. In irgendeinem Fall stecken doch alle drin. In diesen Kreisen vermischt sich das oft: Opposition, Kriminalität und Terror. Die wollen doch alle nur sagen, daß irgendwas faul ist bei uns. Und es stimmt ja auch so manches nicht. Die wissen bloß nicht, woran es liegt. Aber …“ „Nun lassen Sie doch das Politisieren, Schlottke, das kleidet Sie nicht. Und außerdem machen wir hier Dienst, das hat mit Politik nichts zu tun.“ „So?“ Geckeler ließ den Deckel seines Humpens hart zuschnappen. „Ja!“ sagte er unduldsam. „Politik ist eine 214
Sache und Kriminalität eine andere. Das bedingt sich nicht. Sie sehen Gespenster, Schlottke. Aus dem Alter müßten Sie eigentlich ’raus sein.“ Schlottke setzte seine Bierflasche ab. „Sie müssen’s ja wissen, Chef … in Ihrem Alter … Gut, ich fahre also heute noch nach Kopenhagen. Dienstlich! Irgendwie schade um Kopenhagen. Ich hatte mir das anders vorgestellt. Im Dienst. Na ja.“ Er öffnete eine neue Flasche und sah auf seine Armbanduhr. „Hab’ ja noch zwei Stunden Zeit.“ Er prostete zu Geckeler hinüber. „Hauptsache, Sie sind in Kopenhagen wieder nüchtern, alter Schwede!“ „Ich bin immer nüchtern, Chef. Sie unterschätzen mich!“ Während er die Flasche an den Lippen hatte, musterte er Geckelers Zimmer. Die geblümten Vorhänge, die gefalteten Stores, auch mit Blumenmuster, den handgeschmiedeten schwarzen Kerzenhalter auf dem Sammeltassenschrank, die braunrote Tonplastik an der gestreiften Tapete, die Unbekannte aus der Seine. Und zwei Meter daneben ein Gemälde im Goldrahmen. Gold über Gips. Rothenburg ob der Tauber. Marktplatz oder irgend so etwas, alte Häuser mit nicht sehr alter Farbe gemalt, Fachwerk und Katzenkopfpflaster. Alte Trachten und galvanisierte Bilderhaken auf der silberglänzenden Tapete. „Nein, nein, Chef“, sagte er. „Sie unterschätzen mich. Ich bin immer nüchtern. Besonders wenn ich Bier getrunken habe. Dann sehe ich vieles sogar noch genauer.“ Geckeler war in die Küche gegangen. Dort hatte er das Fäßchen stehen, das ihm Alwin jeden Monat füllen ließ. Mit dem Jahrgang, den der Inspektor bevorzugte. Geckeler trank nicht gern aus der Flasche, vor einem Fäßchen konnte man viel weiträumiger entscheiden: Heute Schluß? 215
Oder noch weiter? Und was man am Donnerstag zuviel entnommen hatte, konnte man am Freitag wieder einsparen. Nicht wegen des Geldes, nein, aber wegen des Selbstgefühls. Schließlich war man ja kein Trinker! Als sich der Inspektor mit dem nachgefüllten Humpen in seinen abgeschabten Sessel sinken ließ, fragte Schlottke: „Was ist denn nun bei dem General wirklich rausgekommen, Chef?“ „Nicht viel“, antwortete Geckeler und nahm einen langen Zug, „nur, daß er wohl nichts weiß, was mit dem Tod des Kleinen zusammenhängt. Er schien mir überrascht, als ich ihm sagte, der Kleine sei ertränkt worden. Daß wir über das Bundeskriminalamt seine Angehörigen ermittelt haben und von denen wissen, daß er Schwimmer war, habe ich ihm allerdings nicht gesagt.“ „Na, aber das versteht sich doch am Rande, daß wir mit seinen Fingerabdrücken gleich beim Bundeskriminalamt …“ „Gewiß versteht sich das … aber auch ein General denkt halt nicht an alles.“ Geckeler nahm einen neuen Zug aus seinem Humpen. „Jedenfalls scheint er weniger dick drinzuhängen in der Sache, als ich ursprünglich dachte.“ „Wieso? Haben Sie einen mit ihm getrunken?“ Schlottkes Frage klang fast bösartig. Geckeler fixierte seinen Assistenten mit einem schnellen Blick, der nicht vom Wein getrübt war. „Was soll denn das, Kollege Schlottke? Was sind denn das für Töne?“ „Ach, nichts, war nur so eine Idee.“ – „Kollege“ hat er zu mir gesagt, bin also zu weit gegangen, wollte ich ja gar nicht. Das Bier macht einen leichtsinnig. „So hab’ ich’s nicht gemeint, wie Sie denken“, sagte er beruhigend. 216
„Hm!“ „Nein, wirklich nicht. Ich finde nur, Sie verrennen sich zu schnell in eine Version, die man Ihnen hinhält. So wie mit diesem Dealer in Kopenhagen. Was hat das schon zu bedeuten? Gar nichts, denke ich. Da ist doch was ganz anderes im Busch, Chef!“ „Eben! Sage ich doch schon seit einer ganzen Weile!“ „Bloß Sie denken in einer anderen Richtung! Wenn es eine einfache Rauschgiftsache wäre, hätte man Ihnen den Fall nicht abgenommen, Inspektor. Das wäre eine Routinesache gewesen, die Sie hätten aufklären müssen. Oder nicht?“ Geckeler nahm einen Zug aus seinem Humpen, klappte den Deckel bedächtig zu, fuhr mit der anderen Hand über die Gravierung und stellte erst dann den Humpen wieder auf den Tisch. „Ich weiß, was Sie meinen, Schlottke“, sagte er. „Ich sträube mich noch dagegen, solange ich keine Beweise habe, aber vielleicht kriegen Sie recht. Wir kennen uns ja schon ’ne Weile, kann sein, Sie haben wirklich den besseren Riecher und ich bin ein alter Mann, der nichts mehr sieht von den Dingen, die sich geändert haben. Kann sein. Aber solange Sie mir für Ihre Version keine Beweise bringen, gerichtsfähige Beweise, Schlottke, so lange bleibe ich bei meiner Sicht des Falles, einverstanden?“ So vernagelt ist der gar nicht, dachte Schlottke. Wer weiß, wie unsereiner reagieren wird, wenn er in dem Alter ist! Er fragte: „Wie haben die den Reffel eigentlich hochgenommen?“ „Routinerazzia. Zufall, daß der gerade drin war. Auf diesen Dealer, diesen Hjalmar Skoppen, haben sie in Kopenhagen schon lange ein Auge, aber sie konnten ihm nie etwas nachweisen.“ „Können sie es jetzt?“ 217
„Nein, natürlich nicht. Die Brüder sind doch abgesichert. Die haben ihre Leute bis ins Präsidium hinauf, wenn nicht noch höher … Da geht’s um sehr viel Umsatz, Schweinebande die! Nicht ranzukommen.“ „Wie üblich.“ „Ja, wie üblich. Bei uns auch, gottverdammtnochmal! Leider!“ Geckeler stand auf und stellte sich ans offene Fenster, sog tief die frische Luft von draußen ein. „Wir haben übrigens auch einen im Amt, der nicht dicht ist, Schlottke. Einen, der für die Franzosen arbeitet. Wußten Sie das?“ Schlottke zündete sich mit Geckelers Feuerzeug eine neue Zigarette an. „Nicht so direkt“, sagte er. „Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht, aber … aber daß da einer sein muß, vielleicht sogar zwei oder drei, das ist doch klar. Schließlich sind wir französische Besatzungszone … wenn auch kaum noch einer diesen Begriff benutzt, wir bleiben’s doch, laut Potsdamer Abkommen. Also haben die Jungs ein Auge auf uns. Dazu sind sie sogar laut Völkerrecht befugt, weil wir …“ „Den Krieg verloren haben“, unterbrach ihn Geckeler. „Ja, ich weiß. Aber …“ „Vertrag ist Vertrag, Inspektor. Und der Verlierer muß ihn einhalten. Haben wir die force de frappe mit Atomsprengköpfen, oder haben’s die Franzosen, weil sie die Siegermacht sind?“ „Aber finden Sie das in Ordnung, Schlottke?“ „Nein, im Prinzip nicht. Aber es beruhigt doch die deutschen Gemüter, finde ich. Trotz der besseren Handelsbilanz keine Atomwaffen haben zu dürfen … ich finde das schon ganz in Ordnung. Doch!“ Schlottke schlug die langen Beine übereinander und öffnete eine neue Bierflasche. 218
„Vielleicht haben Sie recht.“ Geckeler griff sich an das glänzende, glattrasierte Kinn, fingerte an der Ecke eines Pflasters und riß es mit einem Ruck ab. Dann warf er es in den Aschenbecher und sagte: „Vielleicht sind Sie wirklich besser beraten mit Ihren neuen Ideen, Schlottke, und ich muß zulernen. Ist schon möglich. Aber … lassen Sie mich das nicht immer so deutlich merken, Sie Schwede Sie. Ich bin ein alter Mann.“ Schlottke arbeitete sich aus seinem quietschenden Sessel hoch. „Wenn wir gerade bei Politik sind, Inspektor, da muß ich erst mal pinkeln gehen.“ Als er wiederkam, hatte Geckeler eine volle Bierflasche auf den Tisch gestellt und den Offner danebengelegt. „Wir haben noch ’ne knappe Stunde Zeit“, sagte er, „und wenn Sie gerade beim Auspacken sind, Schlottke, erzählen Sie mir doch mal, warum wir das Fernschreiben aus Kopenhagen erst heute, am Montag, bekommen haben?“ „Woher soll ich das wissen, Chef?“ „Es ist am Freitag in Kopenhagen abgegangen, war also Freitagnacht bei uns.“ „Übers Wochenende ist Pause, Chef, das wissen Sie doch!“ „Unsinn! Selbst bei uns in der Provinz ist der Fernschreiber rund um die Uhr besetzt!“ „Das heißt?“ „Heißt gar nichts! Aber es könnte heißen, daß unser Fall mit halber Kraft bearbeitet wird.“ „Oder mit halber Kraft rückwärts, um Ihren Marinejargon zu verwenden.“ „Hm.“ Geckeler trat wieder ans Fenster, lehnte sich über die Brüstung, sah zu den Terrassen der Weinberge hinüber, auf denen auch bald Bungalows stehen würden. 219
„Sie denken an den Mann in unserem Amt, nicht wahr?“ fragte Schlottke. „An den Mann, der plaudert.“ „Ja“, sagte Geckeler zum Fenster hinaus auf die Weinberge, „genau an den denke ich. Daß Sie das nicht sind, Schlottke, weiß ich. Aber wer von den anderen ist es? Ich kenne doch alle schon seit fast zehn Jahren. Sollte ich mich so getäuscht haben? Wäre ein schwerer Schlag für mich!“ „Wir werden es schon rauskriegen, Chef, und wir werden ihn festnageln. Dan wissen wir’s und können uns danach richten.“ „Kann es dann eigentlich noch weitergehen, Schlottke? Ohne Vertrauen zueinander?“ „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Unser Beruf!“ Geckeler wandte sich ins Zimmer. „Und wenn es Erwin ist? Mit dem ich immer alles beredet habe wie mit meinem eigenen Bruder? Oder Schröder, den ich so gern habe, als ob er mein Junge wäre? Oder der kleine Gscheidle, dem ich immer Vorschuß besorgen muß, weil er so gerne einen trinkt, und das bei vier Kindern. Der aber nie fragt, wann die Dienststunden ’rum sind, der immer macht, ob Tag, ob Nacht. Der immer da ist, wenn’s not tut? Das ist wie in einer Familie, Schlottke: Wenn man erfährt, daß einer, mit dem man täglich am Tisch sitzt, daß der ein … ja, daß der ein Gangster ist, der alle in die Pfanne haut. Nicht schön, Schlottke, daß man so was denken muß, nach so viel Jahren Arbeit mit den Männern! Nicht schön, bei unserem Herrgott nicht! Wenn ich auch nicht an den glaube.“ Schlottke zog die nächste Flasche hoch, und Geckeler peilte, ob noch volle auf dem Teppich standen. Schlottke sagte: „Sie machen sich Gedanken, Chef, die erst später gedacht werden müssen. Übrigens kommen Sie damit 220
dorthin, wo ich schon seit einer Woche bin. Aber ich glaube, ich muß jetzt langsam aufhören, wenn ich heute noch …“ Geckeler unterbrach ihn: „Nicht nötig, Eduard. Gscheidle holt Sie von hier ab. Das ist schon eingerührt. Zahnbürste und Schlafanzug können Sie von mir kriegen.“ Er stand auf. „Schlafanzug brauche ich nicht, aber für eine Zahnbürste wär’ ich Ihnen dankbar. Vielleicht auch einen Rasierapparat. Ich weiß ja, Sie haben vier, weil Sie jedes neue Modell kaufen, wenn nur die Werbung stark genug ist, aber den alten schmeißen Sie nicht weg, Sie Geizkragen.“ Geckeler überhörte das, als er aus dem Zimmer ging, um für seinen Assistenten eine Tasche zu packen. Und Schlottke dachte: Daß ich der Mann sein könnte, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Mit so viel Vertrauensseligkeit wird er’s heutzutage nicht weit bringen …
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27 Kalt hier, dachte Schlottke, als er in Kopenhagen aus dem Transeuropa-Expreß stieg. Verdammt kalt, mein lieber Junge, wo doch bald der Sommer anfängt. Ist ja schon Südschweden hier oben, nicht allzuweit entfernt vom Nordpol. Randpolargebiet. So unrecht hat der Alte gar nicht, wenn er mich immer mit meinem Königsberg vereiert. Finnisch-Asien, Vorsibirien. Also, Skandinavien nur im Juli, vielleicht noch im August, genau dann, wenn ich Urlaub habe in diesem Jahr, Mariandl! Und nicht anders. Die Sonne hier und unsere Sonne unten, das ist ein Unterschied. Fröstelnd schlug Schlottke den abgewetzten Kragen seiner Lederjacke hoch und verließ den Bahnhof. Erst im Taxi, das ihn zum Zentralen Untersuchungsgefängnis fahren sollte, fiel ihm sein Job wieder ein. Schon wieder eine Dienstreise, nimmt überhand in letzter Zeit, man kennt sein eigenes Bett kaum noch, der Alte könnte wirklich auch mal selber … Und dann ausgerechnet Kopenhagen! Vermiest einem ja den Spaß am Urlaub, man hat dann alles schon vorher gesehen, es gibt nichts Neues mehr, wenn die Zeit zum Bummeln wirklich da ist. Na ja, ist eben Dienst. Der Knast sieht hier genauso aus wie überall, hatte er gedacht, als er den Chauffeur bezahlte. Was in dem Gebäude drin ist, kann man gleich von weitem sehen. Entweder ’ne Volksschule oder ein Gefängnis. Groß ist der Unterschied tatsächlich nicht. In der Schule machen sie aus Menschen Automaten, und wenn’s nicht ganz gereicht hat, der Automat nicht richtig funktioniert, dann muß er korrigiert werden. Korrektionsanstalt hieß der Knast ja auch früher. Mensch, was mir heute für ein Blödsinn einfällt … 222
Schließlich hatte Schlottke das schwere, geschmiedete Tor aufgestoßen und an der Wache seine Papiere vorgelegt. Ein Uniformierter führte ihn zu einem anderen Uniformierten, der mehr Sterne auf der Schulter trug und auf einem gepolsterten Stuhl saß. Der hatte dann gründlicher in Schlottkes Papieren geblättert, viel gründlicher, dabei Schlottke angestarrt und auf Dänisch etwas vor sich hin gebrummelt. Schließlich hatte er noch die Eintragungen in seinen dicken Kladden miteinander verglichen, mißbilligend aufgesehen und in mühsamem Deutsch gesagt: „Dieser Mike Reffel, den Sie haben wollen, der ist schon abgeholt, Herr Schlottke.“ Und er hatte ausgesehen, als wollte er hinzufügen: Ist ja ein schönes Durcheinander bei der deutschen Polizei. Soll das etwa die berühmte deutsche Ordnung sein? „Was?“ hatte Schlottke nur verdutzt herausgebracht. „Was? Der ist schon abgeholt? Das gibt’s ja gar nicht.“ Wortlos und mit beleidigtem Gesicht hatte ihm der Däne die Kladde unter die Augen geschoben und mit seinem bockwurstgroßen Zeigefinger auf eine Spalte getippt. „Ist abgeholt! Sehen Sie doch selbst!“ Die beiden Unterschriften konnte Schlottke nicht entziffern, und auch mit den in Druckschrift geschriebenen Namen der übernehmenden Beamten wußte er nichts anzufangen: Kriminalobermeister Heinrich, Kriminalhauptmeister Perten. „Nie von den Jungs gehört!“ sagte Schlottke. „Gibt’s bei uns nicht, hat’s auch nie gegeben. Kann ich mal meine Dienststelle anrufen?“ Der Däne schob ihm das Telefon zu, und während Schlottke wählte und wartete, polkte er blonde Riese mit einer Nagelfeile bedächtig zwischen seinen gelbgerauchten Vorderzähnen herum. 223
Als Geckeler am Apparat war, sagte Schlottke nur: „Morgen, Chef, ich bin in Kopenhagen. Der Mulatte ist schon abgeholt worden. Sagt uns das was?“ Dann hörte er lange zu, sagte nur ja und nein dazwischen und hielt den Hörer weit vom Ohr ab. Der Däne hatte die Nagelfeile aus den Zähnen genommen und sie sorgfältig in ein rotledernes Etui gepackt; nun telefonierte er von einem zweiten Apparat. Er redete viel in die Muschel, doch Schlottke konnte nichts verstehen, und bevor er auflegte, nahm er Haltung auf seinem Stuhl an. Das verstand auch Schlottke, und er grinste. Im Zimmer hatte sich inzwischen ein halbes Dutzend Uniformierter eingefunden, die sich murmelnd unterhielten und Seitenblicke zu Schlottke warfen. Als sie schließlich mit ihm durch die peinlich sauberen, weißlackierten Gänge in den Zellenbau gingen, war der Schwarm um Schlottke bereits auf ein volles Dutzend angewachsen, und alle paar Türen kam noch ein Mann hinzu. Auch der weißbärtige Schließer wußte nicht mehr als seine Kollegen. Er habe ein Papier erhalten, das gestempelt gewesen sei. Und die Nummer, die auf dem Schein gestanden hatte, habe er auch übergeben. Die Unterschrift des Chefs sei auch auf dem Schein gewesen, deutlich lesbar wie immer, fertig, aus und alles klar. Zu dieser Auskunft lächelte der Alte freundlich. „Hab’ ich was falsch gemacht?“ Der große blonde Nagelfeilendäne fluchte. Schlottke erkundigte sich nach den Polizisten, die den Mulatten mitgenommen hatten, aber dem Schließer war nichts an ihnen aufgefallen. Sie waren so gewesen, wie Polizisten eben sind. Mürrisch und kurz angebunden. „Aber der Schwarze war ein netter Junge, war er“, berichtete der Alte eifrig. „Kann er so slimm was nicht 224
haben ausgefressen. Kenn’ ich doch seit vierssig Jahren meine Pappenheimer, kenn’ ich doch!“ Mehr war nicht rauszuholen aus dem Alten, und die anderen Wärter wußten noch weniger. Nur allgemeine Beschreibungen der beiden Polizisten konnten sie geben, die auf jeden vierten Mann paßten. Wer schaut sich schon zwei deutsche Polizisten an, deren Papiere stimmen! Der Nagelfeilendäne scheuchte seine Leute auseinander, schnauzte, knurrte und sagte dann zu Schlottke: „Wir brauchen etwas Zeit, den Fall zu klären. Wenn Sie vielleicht …“ „Ich wollte sowieso was essen gehen“, antwortete Schlottke. „Wo kann man denn?“ Der Blonde erteilte einen dänischen Befehl, und Schlottke wurde von einem pausbäckigen jungen Polizisten zu einer dieser Imbißstuben geführt, wo man am Eingang einen festen Preis bezahlt und dann drinnen essen kann, soviel man nur verträgt. Schlottke fraß, bis seine Magenwände schmerzten. Alle Tage hielte ich das nicht aus, dachte er, die viele Butter, der fette Käse, die Mayonnaisen, Speck und Schinken und kaum Brot dazu. Soviel kann einer jeden Tag nicht essen. Der Besitzer kommt schon auf sein Geld mit diesem Laden, denn den Festpreis ißt man doch nicht ab. Als Schlottke zum Abschluß eine Schale Apfelmus auslöffelte – ganz schön sauer, das Zeug, dachte er, würd’ ich nicht noch mal nehmen, und wenn’s umsonst wäre –, kamen sie ihn holen. Der beleidigte Polizeiapparat hatte sich inzwischen warm gelaufen. Vor dem Tor des Untersuchungsgefängnisses standen bereits die ersten Journalisten niemand wußte, woher sie erfahren hatten, daß es berichtenswerte 225
Unregelmäßigkeiten bei der Polizei gab. Abgeschirmt durch drei stämmige Beamte in Zivil, ging Schlottke durch die neugierige Meute, ohne auf die Fragen zu hören, ohne die hingehaltenen Mikrofone zu beachten. Die drei Dänen machten ihre Ellenbogen breit, Schlottke hing zwischen ihnen wie ein angeschlagenes Schiff im Dock. Im Untersuchungsgefängnis überquerten sie viele Höfe, liefen durch zahllose Gänge, stiegen Treppen und fuhren Paternoster, bis sie endlich ins Präsidium kamen. Und erst dort sah Schlottke den üblichen Betrieb einer großen Polizeidienststelle bei besonderen Vorkommnissen. Nicht der tägliche Mord, nicht der übliche Bankraub – nein, das hätte keinen aufgestört. Diesmal war etwas geschehen, das nicht in den Spielregeln stand. Diesmal waren die sonst so klaren Fronten verwischt worden. Die Großmutter vergiften, bitte schön! Einen Kassierer überfallen, bitte schön! Einen Konkurrenten umlegen lassen, bitte schön! Alles kein Grund zur Aufregung. Einer schlägt zu, die Polizei schlägt zurück. Dazu war man schließlich da. Aber so was! Nein! Im Präsidium klappten viele Türen, klingelten sich viele Telefone heiß, kamen viele Polizisten nicht zum Essen. Schlottke war Gott sei Dank satt. Und außerdem wollten die Dänen den Deutschen aus dem Wege haben, solange sie im dunkeln tappten. Freundlich schickten sie ihn in ein kleines Zimmer, in dem nur Stuhl und Lederpritsche standen. Schlottke legte sich nieder und schlief vorzüglich. Als er aufwachte, blickte er in ein schweißbedecktes braunes Gesicht. Sieht übel aus, der Junge, dachte er, noch schlaftrunken. Der ist völlig fertig. Kopfverband und aufgeschlagene Augenbrauen. Dem haben sie kräftig Maß genommen. Mit der harten Elle. Übel, übel! 226
„Ist dies die Person?“ fragte eine rauhe Stimme von der Seite. Ein künstliches Deutsch, wie man es nur noch in Lesebüchern findet. „Wer?“ Schlottke verstand nicht und setzte sich langsam auf. Das grelle Deckenlicht blendete ihn. „Wer soll das sein? – Ach so, ja. Woher soll ich denn das wissen? Ich hab’ ihn nie gesehen. Dem Foto nach … hm, könnte er schon sein. Ja ja, das ist er wohl.“ Schlottke war jetzt wach, er strich sich durch die verschwitzten Haare, kniff die Augen zusammen. „Wo habt ihr ihn denn aufgetrieben?“ „Unsere Sache. Wir haben ihn eben“, antwortete die rauhe Stimme. Sie gehörte einem schlaksigen, fischigen Kerl, der nichts mit seinen bleichen Händen anzufangen wußte. Auf den rechten Fingerknöcheln hatte er frischen Schorf. „In einer Stunde fährt Ihr Zug“, sagte er noch, dann ging er, seine langen Beine vorsichtig, wie suchend aufsetzend, aus dem Zimmer. Der Mulatte schoß ihm einen haßerfüllten Blick nach. So fertig ist der gar nicht, merkte Schlottke, als er diesen Blick sah. Das ist einer, den man nicht kaputt kriegt. Nicht mit zwei Millionen Dollar und nicht mit einem Sonderverhör. War aber auch ein ekliger Kerl, der Fischige. Auf den möchte ich nicht angewiesen sein. Schlottke schluckte, denn er hätte spucken mögen. Er fingerte in seiner Jackentasche und hielt dem Mulatten die zerknautschte Zigarettenpackung hin. Bläckie nahm sich wortlos eine und steckte sie vorsichtig zwischen die angeschwollenen Lippen. „Na, dann wollen wir mal, was?“ sagte Schlottke, ihm fiel nichts Besseres ein. Der Braune ist ein ganzer Kerl, dachte er, sieht so hart aus, wie ich immer sein wollte. Knallhart ist der Junge, den machen wir nicht fertig, der weiß, was er will. Steht immer wieder auf. 227
„Gehen wir.“ Schlottke knöpfte seine Jacke zu und öffnete die Tür zum Korridor. Der Mulatte rückte an seinem frischen Kopfverband, senkte den Kopf und ging voran. Unter seinen Mundwinkeln zuckten Falten. Sie sprachen nicht miteinander, bis sie, zusammen mit zwei dänischen Polizisten, im Abteil des Zuges saßen. Im Gefängnis hatten sie dem Braunen die Arme auf den Rücken gefesselt und die Füße zusammengekettet, so daß er gerade noch mit kurzen Schritten gehen konnte. Zu viert saßen sie in den rotgestreiften Polstern der ersten Klasse. Nur die leichten Fälle fuhren zweite. Schlottke hatte versucht, mit den begleitenden Dänen ins Gespräch zu kommen, aber sie verstanden kaum sechs Worte Deutsch und Schlottke noch weniger Dänisch. Nur Bläckie schien sowohl den Deutschen als auch die Dänen zu verstehen, aber er schwieg. Erst als die Fähre in Puttgarden anlegte, verließen die Dänen den Waggon. Ihr Job war gemacht und die Ehre der dänischen Polizei wiederhergestellt. Aufmunternd beklopften sie Schlottke die Schulter, wünschten ihm Unverständliches und stiegen dann in den Gegenzug, um dort, wie Schlottke verstanden hatte, zollfrei ungeheure Mengen Aquavit zu trinken. Im schwimmenden Schnapsexpreß nach Kopenhagen. In den abendlichen Marschen Fehmarns, unter der tiefstehenden roten Sonne, das Tacken der Räder des rasenden Zuges, die ruhig weidenden Kühe rechts und links des Dammes – in dieser unwirklichen Gegend, die halb Land, halb Meer war, versuchte Schlottke ein Gespräch mit seinem Gefangenen anzuknüpfen. Zuvor packte er auf das schmale Klapptischchen das, was er im Kopenhagener Hauptbahnhof gekauft hatte. Brot, Butter, Käse, Zigaretten, zwei Büchsen Bier, und Bläckie nahm davon, ohne zu danken. 228
Schlottke wartete darauf, daß der Braune endlich etwas sagen würde, er wollte ihn nicht drängen. Unbeweglich saß der Mulatte an seinem blankgeputzten Fenster, rieb sich gelegentlich den Kopf, betastete die blauen Flecken auf den Jochbeinen, den Handrücken und den Unterarmen. Er blickte schweigend auf die Koppelzäune, auf die Strohdächer der alten Bauernhöfe und auf den Nebel, der in dünnen Schleiern aus den Gräben stieg, über die nassen Wiesen rollte und sich am Bahndamm staute. Er sah aus wie einer, der nach sehr viel Arbeit in der Pause einschätzt, wieviel Arbeit noch zu tun bleibt. Nicht ganz mutlos, aber auch nicht sehr zufrieden. Erst als das Getöse der stählernen Brücke hinter ihnen verhallt war, sie also auf dem Festland fuhren, wandte sich der Mulatte seinem Begleiter zu. „Und du?“ fragte er lächelnd und ließ seine spitzen Wolfszähne sehen. „Bist du nun wenigstens ein echter Bulle?“ „Sieht man das nicht?“ „Weiß nicht.“ Bläckie grinste. „Aber für einen Killer siehst du eigentlich recht harmlos aus. Und auch zu billig angezogen.“ Schlottke grinste breit zurück, zog seine Schuhe aus, und kratzte sich ächzend zwischen den Zehen. „Killer, killer, killer!“ alberte er und lehnte sich seufzend weit zurück. „Nun erzähl mal, was gewesen ist!“ Der Mulatte nahm sich eine neue Zigarette.
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28 „Das geht Sie nun wieder gar nichts an, Inspektor“, sagte der hagere, braungebrannte Mann auf Geckelers Stuhl und winkte ab. „Fragen Sie doch so was nicht! Sie wissen ganz genau, daß Sie darauf keine Antwort kriegen. Wozu denn auch? Schließlich bin ich ein unbescholtener Bürger des schönen Schweizerlandes da drüben.“ Er wies mit dem Daumen über seine Schulter. Mit der schlanken, frisch verbundenen Rechten drückte er den Schirm der Schreibtischlampe tiefer. „Und solch helles Licht ist überhaupt nichts für meine schönen braunen Augen, Geckeler.“ Er lächelte freundlich. „So was bin ich nicht gewohnt, wollen wir auch gar nicht erst einführen. Also lassen wir das Theater. Den dritten Grad, Inspektor, den haben Sie nicht drauf, Daraus wird nichts.“ Geckeler goß sich aus Schlottkes Flasche noch einen großen Schnaps in die Kaffeetasse, schlürfte ihn aus und dachte: Das ist der vierte Dreifache, ich muß bald aufhören, ich vertrag’ das Zwetschgenwasser nicht. Ich muß ruhig bleiben und ganz oben. Schade, daß kein Wein da ist, den könnte ich schon eher … Ich muß was rauskriegen aus dem Hund, muß ihm Angst machen oder ihn wenigstens zum Plaudern bringen. Aber der hat keine Angst, der weiß, was er für einen Paß hat, der ist, gottverdammt, kein Angeber wie sonst die Ganoven. Was mache ich bloß mit dem? „Lassen Sie mich endlich telefonieren, Inspektor“, brach der Hagere in Geckelers Überlegungen ein. „Sie wissen, was ich will und was mir zusteht.“ Die mullweiße Rechte machte eine geschmeidige Bewegung auf den Apparat zu. „Einen Anwalt will ich, eine Mahlzeit und 230
meine Zigaretten, die mir Ihre Leute abgenommen haben. Und außerdem will ich Ihren Vorgesetzten, um mich über Sie zu beschweren.“ „Das kannst du immer noch“, knurrte Geckeler und schlürfte den letzten Tropfen aus der Tasse. Was fange ich mit dem Schweinehund bloß an, bevor sie ihn mir abnehmen! Und sie werden ihn mir abnehmen. Scheiße. Der Hagere grinste, seine makellosen Zähne glänzten. „Na, Geckeler“, sagte er aufreizend langsam, „Sie möchten mir gerne eine hauen, was?“ Die scharfgratige Nase bog sich weit über die Oberlippe. Er winkte mit der unverletzten Linken. „Sieht man Ihnen an, Inspektorchen, sieht man Ihnen sehr an, Sie haben sich schlecht in der Gewalt. Sie sind eben doch nur ein ganz gewöhnlicher Polizist. Ein Taschendiebgreifer. Sie sollten weniger von dem Zeug da trinken. Ist nichts mehr für Sie. Ist überhaupt nicht gut für einen Mann, so viel zu trinken. Sehen Sie mich mal an …“, er streckte die verbundene Hand über die Schreibtischplatte, „sehen Sie da was zittern? So wie bei Ihnen? Obwohl ich doch Grund haben müßte, zittrig zu sein, wenn’s nach Ihnen ginge. Von einem Oberbullen angeschossen und verhaftet. Aber es geht nicht nach Ihnen, Geckeler!“ Er lachte laut auf. „Ach, wie gerne Sie mir jetzt eine reinhauen möchten. Und wie man’s Ihnen ansieht! Ihre Schläfenadern, Geckeler, sind dick geschwollen! Kommen Sie doch, hauen Sie zu. Obwohl Sie’s nicht dürfen. Aber riskieren muß man schon was. Sie wissen ja, ich bin da nicht so pingelig. Wenn ich denke, daß es die Sache schneller vorwärtsbringt, dann lang’ ich schon mal kräftig hin. Ein kleiner Jochbeinbruch beschleunigt oft den Vorgang, können Sie mir glauben, Inspektor. Ich spreche aus Erfahrung. Na, Sie kennen mich ja im Dienst. Auf sogenanntes Recht und 231
sogenannte Ordnung müssen Sie schon pfeifen, wenn Sie was erreichen wollen. Besser, alles selber machen – Recht und Ordnung auch!“ Geckeler zwang sich, ruhig zu bleiben. Der doch nicht, dachte er. Der doch mich nicht. Nein! Den lass’ ich noch ein paar Stunden abhängen. Er ging zum Schrank, holte sein Rasierzeug und ein Handtuch, zog sich einen Stuhl ans Waschbecken, setzte sich und seifte gründlich ein. Nur die Ruhe, Geckeler. Der schafft dich nicht! Das erste Morgenlicht zeichnete die Umrisse des Fensters. Von den beschlagenen Scheiben liefen Tropfen. Es roch nach Schweiß und warmem Schnaps. Der Hagere angelte mit seinen langen Beinen einen Stuhl heran und legte die Füße darauf. „Nun? Machen Sie schon schlapp, Inspektor? Fällt Ihnen nichts mehr ein?“ „Noch haben wir viel Zeit, Garolle“, brummte Geckeler aus dem dicken Schaum, der sein Gesicht bedeckte. „Bei uns ist das anders als bei euch Ganoven. Bei der Polizei ist Zeit die Seele des Geschäfts. Mit der Zeit kriegen wir euch alle auf die Schippe. Wenn du erst mal sitzt, Garolle, werden wir schon was erfahren. Und sitzen wirst du, beim heiligen Joseph, gottverdammt, das weiß ich! Bewaffneter Überfall auf einen Kriminalinspektor in Tateinheit mit … na, und so weiter, du weißt ja gut Bescheid.“ Sorgsam legte Geckeler eine Klinge in den Apparat und schaltete die Lampe über dem Spiegel ein. „Die paar Jahre, die du dafür kriegen wirst“, fuhr er fort, „die reichen erst mal, denke ich. Auch wenn ich dir nichts anderes nachweisen kann. Aber ich werde schon was finden, glaube mir. Gnade dir der liebe Herrgott, wenn dein Alibi nicht dicht ist für die Posten, die auf meiner Liste noch offen sind. Ich würde dir sehr gern 232
einen kleinen Mord anhängen. Ich brauche dringend einen Mörder. – Dich decke ich zu, Garolle, bis über beide Ohren!“ Genußvoll grunzend schabte sich Geckeler den Bart von den Wangen und beobachtete den Hageren im Spiegel. „Na, du lachst ja gar nicht mehr, Garolle? Willst du mir vielleicht was sagen? Na los! Ich höre!“ Schmatzend klatschte Schaum ins Waschbecken. „Na, rede nur!“ Die Klinge schabte langsam, Strich um Strich. „Rede dich aus der Klemme. Los! Oder kannst du nicht so reden, wie du zuhauen kannst? Ist übrigens immer falsch, als erster zu hauen. Das war dein erster Fehler. Einen macht ihr ja mindestens … Ich weiß, ich weiß, auch die Polizei macht Fehler. Aber bei uns wirkt sich das anders aus. Wir werden vielleicht versetzt. Ein Dienst ist wie der andere. Aber wenn ihr versetzt werdet … Und uns schickt man schlimmstenfalls in Pension. Aber wenn ihr in Pension gehen müßt, sieht das schon ungemütlicher aus. Stimmt’s?“ Der Hagere drehte die Lampe so, daß alles Licht auf Geckeler fiel. „Abwarten, Inspektor! Warten wir ab, wer zuerst pensioniert wird.“ Geckeler grunzte und tastete seinen Kehlkopf ab. Er konnte es nicht ausstehen, wenn er nach dem Abtrocknen noch irgendwo an Hals oder Kinn ein Barthaar pieken fühlte. „Ich schätze, Inspektor“, fuhr der Hagere fort und betrachtete seine verbundene Hand, „ich schätze, Sie haben Ihren Fehler schon gemacht. Mich in die Hand zu schießen, obwohl ich Sie doch nur was fragen wollte! Das war nicht klug von Ihnen, weil ich Ihnen das übelnehme. Und wem wir etwas übelnehmen, der kriegt bald schweren Ärger.“ 233
„Wer ist wir?“ „Das geht Sie nichts an. Aber Sie werden es schon noch merken.“ Geckeler klatschte sich Wasser ins Gesicht und prustete. „Du machst dich wichtig, Garolle. Bist ein kleines Licht in einem großen Lüster. Wenn du durchgebrannt bist, wird einfach eine neue Birne eingeschraubt, und du wirst in den Müll geschmissen. Du flackerst ja schon.“ Wirklich schade, dachte Geckeler, als er sich abtrocknete. Schade, daß ich ihn nicht besser getroffen habe. Ich hätte ihm mehr gegönnt. Wenigstens soviel, wie er mir beim ersten Mal verpaßt hat … Warum bin ich denn plötzlich so rachsüchtig, war ich doch sonst nicht? Und während er sich Rasierwasser in die Haut massierte, ging er noch einmal den Ablauf der Nacht durch: Wie er im Amt Bescheid hinterlassen hatte, daß er beim Pfitzer in der Villa zu erreichen wäre, weil im Jagdhausfall etwas Neues … Wie er sich von Erwin wieder bis zum Abzweig hatte fahren lassen und dann den gleichen Weg zu Fuß gelaufen war. Aber diesmal nur bis ans Tor der Villa und dann gleich zurück. Nicht in Gedanken und nicht ohne Waffe wie beim ersten Mal. Nein, aufmerksam auf jedes Knacken lauschend, jeden Schatten beargwöhnend – und auf dem Unterarm, im neuen Futteral, das er sich beim Sattler hatte anfertigen lassen, die entsicherte Kugelspritze. Und dann war tatsächlich wieder das Geräusch hinter ihm gewesen, aber er war weitergegangen. Dann der Anruf, die gleiche Stimme. Aber diesmal war Geckeler nicht erschrocken, diesmal war er erfreut. Eine freudige Spannung vor dem Losschlagen. Endlich ist er mir in die Falle gegangen! Umdrehen, abtasten, nichts gefunden, der Hagere holte aus, wie schon gehabt. Und dann war alles viel schneller gegangen, als 234
Geckeler es hatte haben wollen. Es krachte, Geckeler erschrak. Wer hatte geschossen? Bin ich denn schießwütig neuerdings? Kenne ich ja gar nicht von mir. Da brüllte der Kerl mit seiner sonst so leisen Stimme – wie der plötzlich brüllen konnte! – und stöhnte vor Wut und Schmerz, als er Geckelers Waffe im Rücken fühlte. Los, Abmarsch, Freundchen! Alles wie im Kino. Heimtückischer Überfall aus dem Dunkel, blitzschnelle Abwehr. Schuß aus dem versteckten Rohr, dem Bösewicht die Waffe aus der Hand geschossen, und schon ist der Unhold überwältigt und saugt jammernd an der verletzten Pfote, wie das Gesetz es befiehlt. Leider kein Anlaß, keine Notwendigkeit mehr, dem Kerl in aller Ruhe eine reinzuhauen oder ihm wenigstens ein paar kräftige Tritte heimzuzahlen. Wäre ’ne kleine Rückvergütung gewesen. Schade. Sehr schade. Als Geckeler mit seinem Mann am Abzweig anlangte und die im Gebüsch versteckten Polizisten sich um den Angeschossenen kümmerten, hatte man plötzlich auch das Motorboot wieder gehört. Diesmal allerdings fuhr es von einer anderen Stelle ab, so schlau waren die Burschen immerhin. Die Seepolizei würde sie also nicht abfangen können. Aber ich habe einen gefangen, hatte Geckeler gedacht und sich richtig die Hände gerieben. Ich habe einen gefangen, und die haben einen verloren. Na bitte, die Partie steht für mich. Im ganzen war er sehr mit sich zufrieden gewesen, denn es ging voran. Nur jetzt, nach dem stundenlangen, ermüdenden Verhör, bei dem er nichts gehört hatte, was er nicht schon wußte, war von der Zufriedenheit kaum etwas geblieben. Im Gegenteil. Je öfter der Hagere ihn anlächelte – mit 235
seinem schmalen Mund, mit seinen Mandelaugen lächelte er selbstbewußt bis unverschämt, er konnte mit diesem Lächeln alles sagen, oder man konnte darin alles lesen und nichts –, je öfter also der Kerl seine Zahnpastareklamezähne sehen ließ, um so beunruhigender wurde in Geckeler der Gedanke, daß hier nichts zu machen sei, daß der Fisch, den er da an Land gezogen hatte, eine Nummer zu groß für ihn war oder zu glitschig. Daß er ihn nicht würde halten können. Daß das Ganze für Herrn Inspektor Geckeler tatsächlich nicht das richtige Spiel war. Wie hatte es der Pfitzer formuliert: „Das ist eine Angelegenheit, Geckeler, kein Fall.“ Und für „Angelegenheiten“ ist ein kleiner Kriminalinspektor nicht zuständig. Hat seine Finger draußen zu lassen, wenn er sich nicht klemmen will … Das hat er zwar nicht gesagt, aber gemeint hat er’s. So sieht also eine Angelegenheit aus, dachte Geckeler weiter und schielte mit zusammengekniffenen Lidern zu dem Hageren hinüber. Ein Gangster ist das und keine Angelegenheit! Ein Gangster, wie ich viele auf dem Stuhl dort hatte. Nur daß der da vielleicht höher abgesichert ist. Gehört zu einer Firma. Mord und Totschlag en gros. Preise nach Vereinbarung. So eine Firma hält zusammen, wenn’s um sehr viel Geld geht. Und darum geht es mindestens. Von wegen „Angelegenheit“! Ich glaube nicht, daß ein Geheimdienst hier was dreht. Geckeler hängte das Handtuch an und räumte sein Rasierzeug in den Schrank. Schade, daß der Ostschwede noch nicht zurück ist, dachte er. Dann wäre ich schon ein bißchen schlauer, könnte den Kerl hier in die Zange nehmen. Der weiß bestimmt was wegen Kopenhagen. Unvermittelt fragte er darin den Hageren: „Garolle! Warum bist du in Constantine geboren? Das ist doch Algerien! He, warum stammst du gerade von dort?“ 236
Garolle sah zu Geckeler auf. „Was soll die dumme Frage? Warum wird man an einem bestimmten Ort geboren und nicht woanders?“ Er schnalzte mit der Zunge. „Ihnen ist die lange Nacht nicht bekommen, Inspektorchen. Sollten Sie auch nicht machen, so was. Ein alter Herr geht vor Mitternacht ins Bett, weil er mit seinen Kräften haushalten muß … Warum ich in Constantine geboren bin? Haben Sie keine anderen Sorgen? Wollen Sie nicht vielmehr wissen, wie ein kleines, rothaariges Jungchen in den See gekommen ist, oder besser: Warum es nicht mehr rausgefunden hat?“ Jetzt grinste der Hagere breit. „Ja, das möchten Sie gern wissen, was? Und vielleicht weiß ich’s sogar. Aber Ihnen, Geckeler, werd’ ich’s nicht sagen.“ Er stand auf und öffnete das Fenster. Geckeler machte einen schnellen Schritt nach vorn. „Keine Angst, Inspektor! Aus der dritten Etage zu springen, das habe ich nicht nötig. Ich komme viel bequemer ’raus. Heute mittag, Inspektor, weil ich ein gutes Alibi habe. Ich habe viele gute Freunde, mit denen ich oft zusammen bin. Und auch in dieser Regennacht, in der ein rothaariges Bürschchen offensichtlich ertrunken ist – bedauerlich, bedauerlich –, habe ich mit meinen Freunden in fröhlicher Runde gesessen. Weit weg von diesem kalten See. Und sehr, sehr fröhlich.“ Jetzt lachte der Hagere aus voller Kehle, ein weiches, angenehmes Lachen. Er schaltete die Schreibtischlampe aus, weil nun das Tageslicht stark genug war. „Machen wir Schluß, Inspektor, ich hab’ keinen Spaß mehr an dem Spielchen.“ Geckeler knipste die Lampe wieder an. „Werde nicht frech, sonst …“ Garolle lächelte wie einer, der sich amüsiert. „Sonst?“ Geckeler antwortete nicht, setzte sich vor Garolle auf den Schreibtisch, nahm das lange Lineal und tippte seinem 237
Gegenüber auf die Brust. Ganz ruhig, in fast väterlichem Ton sagte er: „Ich weiß, daß ich dir jetzt keine überbraten kann, und du weißt es auch.“ Das Lineal tippte wieder spielerisch. Garolle lenkte es von sich ab. „Das wissen wir voneinander“, fuhr Geckeler nachdenklich fort. „Ich werde dir also schwerlich den alten Dreck von den Fingern klopfen können. Aber eines kannst du mir glauben“, das Lineal legte sich auf die verbundene Hand des Hageren und drückte sie fest auf die Schreibtischplatte, Garolle biß die Zähne zusammen, seine Kiefermuskeln spielten, sonst regte sich nichts in seinem Gesicht, „das eine kannst du mir glauben, nein, wissen sollst du das, du Sauhund, du elendiger“, immer noch sprach Geckeler ganz ruhig, besonders ruhig, und das Lineal gab Garolles Hand nicht frei, sondern preßte sie härter auf den Schreibtisch, „du Sauhund! Dir frischen Dreck an die Finger zu schmieren, dazu wird es nicht kommen, Garolle! Jedenfalls nicht hier in dieser Stadt, solange ich meinen Kopf am Hals hab’! Ein bißchen Recht und Ordnung gibt es noch in unserem Land, auch wenn die Herrschaften, von denen du dein dreckiges Geld für deine dreckige Arbeit beziehst, auch wenn die dreimal denken, daß sie der Herrgott und der Heilige Geist in einem sind.“ Garolle riß seine Rechte frei. Die Falten seines Gesichtes sahen tief eingegraben aus, er rieb sich die gequetschte Hand. „Sie sind ein Trottel, Geckeler, Sie haben nichts begriffen. Sie sind nicht nur ein Deutscher – das allein ist ja schon schlimm genug –, nein, Sie sind außerdem Provinzler, und noch dazu einer von gestern. Ich dachte, Sie wären wenigstens clever, weil Sie mich hochgezogen haben, ich dachte, Sie sind ein kluger 238
Fighter, der weiß, wann er aufgeben muß, aber Sie sind auch nur ein dressierter deutscher Diensthund, der eine gute Nase hat und scharfe Zähne. Wenn irgendwo eine Mauer steht, über die Sie nicht rübersehen können, dann schinden Sie sich lieber die Knochen kaputt bei den Versuchen darüberzuspringen, anstatt einfach außen rumzulaufen.“ Garolle stand auf, massierte seine Rechte, zog die Jacke glatt, ging zum Waschbecken und füllte sich ein Wasserglas, goß es aus, füllte es wieder und trank. „Ich werde weitermachen, was mein Job ist, Geckeler, ob Sie sich nun das Fell abschaben oder die Knochen brechen. Und ich kann’s ruhig sagen“, jetzt lächelte er wieder, „ich werde immer ein wasserdichtes Alibi haben. So dicht wie dieses Glas hier.“ Er hielt es Geckeler entgegen. „Wollen Sie einen Schluck? Sie könnten jetzt was gebrauchen.“ Geckeler hatte sich umgedreht und sah in den Nebel hinaus, der vom See aufstieg. Burrend flog eine Kette Enten vorbei. Weit weg jaulte eine Dampfsirene. Vom Himmel war nichts zu sehen. „Pfeifen Sie Ihren Unterdiensthund ’rein, Inspektor. Ich will mich ein paar Stunden auf die Pritsche legen, unser Beruf ist nicht der leichteste. Ich hab’ heute abend wieder Dienst, denn mittags werden Sie einen Anruf bekommen und mich entlassen müssen.“ „Dienst?“ knurrte Geckeler. „Ja. Wir beide machen doch die gleiche Arbeit. Ob so oder so. Wir helfen, Interessen durchzusetzen, zu verteidigen. Wir sorgen dafür, daß der Geschäftsgang nicht durch Außenseiter allzusehr gestört wird.“ Geckeler trank den zweifingerhohen Rest aus der Flasche und ging zur Tür. „Diesmal irrst du dich, Garolle.“ 239
So ist das alles gar nicht, dachte er, so ist das wirklich nicht. Recht ist. immer Recht geblieben. Er war müde und fühlte sich immer noch unrasiert.
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29 Schlottke hatte sich entschlossen, den Mulatten nicht aufs Amt zu bringen. Als sie sich auf dem Bahnhofsvorplatz zu Schröder in den Wagen setzten, ganz unauffällig, ohne Fußkette und Handschellen, wußte Schlottke alles, was Bläckie zugestoßen war seit jenem regnerischen Tag, an dem das Jagdschloß gebrannt hatte. Er hatte erfahren, daß ein paar Leute quer durch Europa – und wenn nötig, noch viel weiter – jeden jagten, der an jenem Tag in der Nähe des Jagdschlosses gewesen war. Jagten, um ihn stillzumachen. Auf der Straße, auf Parkbänken, im Gefängnis oder in der Tiefe des Sees. Im Auto hatten sie nicht viel geredet. Schröder hatte die üblichen Fragen gestellt und die Antworten kommentarlos eingesteckt, wie man hingehaltene Reklamezettel nimmt. Er konzentrierte sich aufs Fahren. Er fuhr nicht gerne Auto, und er machte selten den Mund auf – wenn ein Fremder dabei war, schon gar nicht. So fuhren sie schweigend über die dunklen Hügel nach Süden: durch die langweiligen, schnurgeraden Baumreihen der Obstplantagen, durch die alten Buchenwälder, in denen das Geräusch des Motors nachhallte, und schließlich die offenen Rebhänge hinab zum See. Es war die gleiche Strecke, die der Mulatte ein paar Tage früher gegangen war, in entgegengesetzter Richtung, mit seinem Freund, dem bärtigen Langen, damals durch die Wälder und um die Dörfer herum. Das Laub war jetzt viel dichter, und es regnete nicht mehr. „Wir fahren erst zu mir“, sagte Schlottke, und Schröder schaltete den Blinker rechts, als die Straße zu Schlottkes Wohnung abzweigte. Schröder fragte nicht 241
nach dem Grund, bog ab, und während er wieder hochschaltete, warf er einen kurzen Blick in den Innenspiegel. „Erkläre ich dir später“, sagte Schlottke. „Schon gut, schon gut. Ich wollte ja gar nichts wissen“, entgegnete Schröder, und es klang beleidigt. Er bremste weich. „Da sind wir.“ Er griff nach hinten und entriegelte die Sicherung der Tür. „Brauchst du den Wagen noch? Sonst nehme ich ihn heute mit nach Hause.“ Er tippte auf seine Armbanduhr. „Ist bald wieder früh. In vier Stunden hab’ ich Dienst.“ „Fahr nur“, meinte Schlottke beim Aussteigen und begegnete wieder Schröders Blick im Spiegel. Schröder fuhr langsam an. Sie gingen gleich nach oben. Bläckie wartete auf jedem Treppenabsatz, bis Schlottke an ihm vorbei war. Fast wie im Gefängnis. Im dritten Stock, an der zweiflügeligen Wohnungstür mit den altmodischen ungeputzten Messingbeschlägen, mußte Schlottke mehrere Schlösser öffnen, dann faßte er durch den Türspalt und nahm die viel zu weite Kette von innen ab. „Meine alte Dame legt sie immer vor, sie glaubt noch, daß dann keiner ’rein kann“, grinste er säuerlich. „Sie glaubt noch an so manches, was längst nicht mehr auf dieser Erde ist. Na, außerdem will sie wohl, daß ich klingeln muß, damit sie weiß, wann der kleine Eduard nach Hause kommt.“ Dann standen sie in der geräumigen Diele zwischen goldgerahmten, schweren Spiegeln. Vielarmige Leuchter an den Wänden, auf dem Boden eine dicke Schicht übereinandergelegter Teppiche, in die man einsank. Es roch nach alten Leuten. Schlottke öffnete die erste Seitentür und schob den Mulatten in ein großes Zimmer. Bücher in grobgezim242
merten Regalen, die bis zur Decke reichten. Bücher in grauen Kisten mit der verblaßten Aufschrift Wehrmachtseigentum, Bücher in Stapeln auf dem abgetretenen Parkett, Bücher in sauber geschichteten Quadern und in umgekippten Haufen. Eingestürzte Büchertürme, tief durchgebogene Regalbretter. Bücher als Bank, Bücher als Hocker, Bücher auf den Tischen und darunter. Selbst der Fußboden sah durchgebogen aus. „Sie sind alle noch von meinem Vater“, entschuldigte sich Schlottke, nahm einen Stoß Lexika von einem der beiden abgewetzten Sessel und bot dem Mulatten Platz an. Seinen Mantel hing er über einen Bildband, der weit aus dem Regal ragte. „Gelesen habe ich die meisten nicht, aber keiner traut sich, die Dinger wegzuschmeißen.“ Er grinste und warf mit kräftigem Schwung einige Schweinslederbände von der Couch in die Ecke. „Ich find’s allmählich lustig, muß ich ehrlich sagen. Schließlich bin ich mit den Dingern aufgewachsen. Meinen Vater kenne ich ja nicht, nur seine Bücher. Aber so langsam lerne ich den Alten kennen, wenn ich ein paar von seinen Büchern lese, vor allem das, was er drin angestrichen hat. Muß gar nicht so verkehrt gewesen sein, der alte Herr! So wie meine Mutter meistens von ihm redet, war er ganz bestimmt nicht. Na ja. Willst du was trinken? Ich hab’ aber nur billigen, ist nämlich nicht toll mit meinem Gehalt.“ Schlottke griff in einen Bücherhaufen – Neue Geschichte der Alten Welt in siebzehn Bänden, mit Supplement und Registerband –, zerrte eine Flasche heraus, maß den Inhalt mit sachkundigem Blick und grinste wieder. „Die reicht noch für uns beide, wenn wir uns nicht gerade vollaufen lassen.“ Er holte Gläser von irgendwoher, goß ein und lehnte sich in seine Bücher. Die Gläser sahen grau aus, schlierig. 243
Wie oft benutzt und niemals ausgespült. Der Schnaps war viel zu warm und schmeckte fuselig. „So, und nun wollen wir mal sehen, wie wir dich aus dem Schlamassel kriegen. Raus mußt du auf alle Fälle, sonst kommst du ins Getriebe, und da dreht sich etwas! Und zwar sehr, sehr mächtig, wenn wir auch nicht wissen, wie die Räder heißen. Überall, wo man die Hand hinstreckt in diesem Fall, kriegt man eins drauf von irgendwem. Und wenn man die Hand nicht sofort wegzieht, dreht’s einen in die Mühle.“ Schlottke kippte wieder die Gläser voll. „Für mich gibt’s gar keinen Zweifel mehr … denn sieh mal, immer wenn Spuren fehlen oder Motive rar sind oder wenn wir an vorhandene Spuren nicht randürfen, dann stinkt es kräftig nach Geheimdienst. Soll ich dir mal spaßeshalber aufzählen, wieviel Dienste wir in unserem schönen Ländchen haben? – Ach, soviel Finger gibt’s nicht. Ist ja auch egal, welche Truppe da an den Rädern dreht. Die gehen alle über Leichen, sind das gewohnt und dürfen das, und wenn sie irgendeinen umgelegt haben, werden wir den Grund nicht erfahren. Ich bin schon lange überzeugt, daß ihr mit der Sache, mit diesem Brand, nichts zu schaffen habt. Außerdem gibt’s da gewisse Dinge, die … na, kannst mir schon glauben, ich mache dir nichts vor. Hätte ich dich sonst in meine Wohnung gebracht, anstatt dich im Amt abzuliefern, he? – Na also! Hier bist du erst mal sicher.“ Bläckie goß sich Schnaps nach, Schlottke nagte an seinem Daumennagel, draußen schlug eine Uhr vier helle Schläge und vier dunkle. Im gardinenlosen Fenster war ein Hauch von Morgenrot zu sehen. „Wird Ärger geben mit dem Wetter“, sagte Schlottke. „Na und?“ Bläckie trank sein Glas leer. „Irgendein Wetter gibt’s immer. Wetter muß sein, das tut uns doch 244
nichts, Wetter steckt man weg.“ Das Glas klapperte, als er es auf den Tisch stellte. Er merkte, daß der Alkohol schon in ihm wirkte. „Wetter? Kenn’ ich gar nicht, so was!“ Er schob das Glas weit von sich weg. Schlottke sah aus dem Fenster, sah auf die Blütenkerzen der Kastanien, die als Silhouette sichtbar wurden, sah auf die herabgelassenen Jalousien gegenüber: Tanzschule von der Aache, Herrmann und Gerlinde, auch moderne Tänze. „Hast du keine Angst, Mike?“ fragte er. „Hast du wirklich keine Angst, daß sie dich kriegen und daß sie dich fertigmachen, so wie sie den Kleinen fertiggemacht haben wegen irgendwas, das wir nicht wissen, das ihnen aber wichtig sein muß?“ Er füllte sein Glas. „Nee! Warum sollte ich? Hab’ ich denn was ausgefressen?“ „Darum geht’s doch gar nicht!“ „Sondern?“ „Um das Unbekannte, das die Finger ausstreckt.“ „Du bist besoffen, Langer!“ „Na und? Irgendwas streckt immer seine Finger aus nach uns. Zu irgendwas brauchen sie uns immer. Zum Stillmachen vielleicht. Noch stiller, als wir schon sind.“ „Du bist ganz schön angesoffen, Langer!“ „Kann schon sein.“ Schlottke setzte die Flasche an und nahm einen langen Zug. „Aber fest steht, daß du bald ein toter Mann sein wirst, wenn ich dich morgen im Kreisgefängnis abliefere. Sind wir uns da einig?“ Er hatte Mühe, nicht zu lallen. „Dazu gehören noch immer zwei. Einer, der umlegen will, und einer, der sich umlegen läßt.“ Bläckie drückte die Flasche beiseite, die ihm Schlottke hinhielt. „Und ich … ich will so mindestens vierzig werden … vierzig, ja, das 245
ist ein gutes Alter, um in die Hölle zu marschieren. Vorher möglichst nicht. Ich will vorher schätzungsweise noch zwanzig Frauen haben oder dreißig – oder eine richtige mindestens. Eine, wo alles drin war. Eine, bei der … na ja … und vorher kippt mich keiner vom Planeten! Keiner! Auch dein komischer Geheimdienst nicht!“ Schlottke schlürfte aus der Flasche. „Bist ein Kindskopf, Schwarzer! Auf Leute wie uns kommt’s doch gar nicht an. Wir sind doch nur zum Verbrauch da. Zum Verbrauch für andere. Für die, die alles unter sich aufgeteilt haben. Das Leben und das Sterben. Gewinn und Verlust. Wir werden eingeplant, investiert und konsumiert und abgeschrieben und beseitigt …“ Schlottke schlürfte den Bodensatz aus der Flasche. „Hast recht, du schwarzer Bruder. Ich bin ganz schön blau. Die Fahrt und alles, was du mir erzählt hast … Und dann jetzt und … ganz schön angegangen, mein lieber Freund, jawohl!“ Er stemmte sich schwankend hoch. Warum haut mich das bißchen Schnaps denn heute schon auf die Bretter, dachte er, warum denn dieses? Ich kann doch sonst, bis andere unter dem Tisch liegen. Ich versteh’ heut gar nichts mehr. Dieser Halbneger, ach, keinen Rassismus, nein! Dieser Halbherero oder Vollsudanese, dieser angeschwärzte Bursche – bringt der mich auf solche Dinger? Dabei ist er wirklich nicht der Klügsten einer. Muß man klug sein, um zu wissen, wie der Hase läuft? Klug ist er nicht, nein. Das, was man so klug nennt, nicht … aber vielleicht hat er etwas, das mehr ist. Unbewußtes Wissen, irgend so einen Instinkt? „Komme gleich wieder“, sagte Schlottke, als er, fest auftretend und nicht allzu sicher, auf die Tür zuging. „Bin gleich wieder hier.“ 246
Der Mulatte nickte nur und sah zum Fenster hinaus, wo das violette Morgenrot immer heller strahlte. Mich kriegt ihr nie, dachte er, und in seinen Augen, ganz tief drinnen, funkelte etwas Böses, Katzenhaftes. Und wenn doch – dann nehme ich vorher noch ein paar von euch mit über den Jordan. Alles oder nichts. Was anderes lass’ ich mit mir nicht machen. Ich doch nicht. Ich nicht! Er ging, das Fenster zu öffnen. Schlottke betrat das Zimmer wieder, er hielt sein Hemd in der Hand, und von der mageren Brust perlten Wassertropfen. „Wenn du dich waschen willst … die Tür gleich gegenüber. Ist aber nur kaltes Wasser, der Boiler ist kaputt.“ Er rieb sich die Seiten. „Tat gut, so kalt. Ich bin fast wieder nüchtern. Genau das richtige jetzt. Wir müssen sehr nüchtern sein. Viel nüchterner als die anderen. So nüchtern wie ein leeres Zahnputzglas.“ Er nahm ein frisches Hemd aus dem schmalen Schrank und warf das alte auf die Bücher. In der Diele schlug die Klingel an. Schlottke ließ das Hemd auf den Tisch fallen, reckte den Kopf, lauschte. „Was soll denn das? Zu dieser Zeit?“ Sie lauschten beide, bewegten sich nicht, nur der Mulatte schätzte mit einem schnellen Blick die Entfernung zu den Ästen der Kastanie. Die Klingel schlug ein zweites Mal an, nicht heftiger als vorher. Ein ruhiger, sicherer Knopfdruck. „Und das Halfter mit dem Ballermann liegt noch im Badezimmer, Scheiße!“ sagte Schlottke leise. Dann raffte er sich aus der Erstarrung auf, machte einen Riesenschritt zur Tür, riß sie auf, und schneller, als der Mulatte es ihm zugetraut hatte, sprang er ins Bad und wieder heraus und stand dann neben der Korridortür, an die Wand gepreßt. Die Sicherung der Waffe klickte. Ein kalter, zielbewußter Ton. „Wer ist draußen?“ 247
Schweigen. Ein Fuß scharrte auf dem Abtreter, ein kratzendes Geräusch am Holz der Tür. Schlottke hob die Waffe höher, dorthin, wo der Kopf des anderen sein mußte. „Wird’s bald?“ Schlottkes Stimme klang nicht mehr so sicher. Der Lauf der Waffe schwankte. „Mach auf, du Rindviech“, sagte da eine Männerstimme von draußen. Schlottke erschrak, und sein Arm fiel herab, dann drehte er fahrig an den Knebeln der Sicherheitsschlösser und hakte die Kette aus. Die Waffe hielt er noch in der Hand. „Hat man so was schon erlebt?“ knurrte Geckeler und drückte die Tür mit der Schulter auf. „Auch schon verrückt geworden, wie? Siehst wohl hinter jedem Baum die Killer zielen? Hör bloß auf! Steck das Ding weg!“ Der Inspektor ging an Schlottke vorbei, warf einen Blick ins Badezimmer. „Wo ist der Mann aus Kopenhagen?“ Seine Stimme war plötzlich drohend. „Warum krieg’ ich den nicht angeliefert? Hast du ihn dir wegnehmen lassen, oder was ist?“ Schlottke deutete wortlos zu seinem Zimmer, Geckeler ging hinein, ohne seinen Mantel aufzuknöpfen. Schlottke steckte jetzt endlich die Waffe in die Hosentasche und folgte dem Inspektor. Sein nackter Rücken überzog sich mit einer Gänsehaut. Drinnen saß der Mulatte auf dem Fensterbrett und hatte die Beine hochgezogen. Er lächelte. „Noch ’n Bulle? Wer hätte das gedacht …“ „Maul halten!“ knurrte Geckeler, fegte polternd einen Bücherstapel von der Couch und setzte sich schnaufend. „Du redest, wenn ich dich was frage.“ Der Mulatte lächelte noch immer unbestimmt und wippte spielerisch mit den Spitzen seiner Fransenstiefel. „’n echter, kerniger Bulle“, sagte er zum Fenster hinaus 248
ins Morgenrot. „Da weiß man doch, woran man ist.“ Er zog die Oberlippe hoch, und seine Zähne blitzten aus der braunen Haut. „Was wollt ihr von mir?“ fragte er, rutschte vom Fensterbrett und deutete mit dem Daumen zu Schlottke, der sich gerade das Hemd anzog. „Dem Langen hab’ ich alles schon erzählt. Der kann ein Protokoll draus machen. Oder zwei oder drei.“ Geckeler aber gab sich damit nicht zufrieden. Er schnauzte den Mulatten an, bis der merkte, daß er tatsächlich alles noch einmal würde erzählen müssen. Und er fing wieder an. Mit dem Regen und der Feldscheune und dem Hund, der sie verfolgt und den er erstochen hatte. Und von dem Kleinen erzählte er, der so gerannt war, als ob er gejagt würde. Geckeler hörte zu und stellte keine Zwischenfragen. Drehte an einem losen Mantelknopf und nagte langsam an der Oberlippe. Schlottke war in die Küche gegangen und klapperte mit Geschirr. Als er Kaffee brachte, Brot und Butter und Wurst, war Bläckie fertig mit dem Erzählen, aber Geckeler schwieg noch immer. Erst als er seine Tasse halb leer geschlürft hatte, fragte er mit einem Seitenblick auf Schlottke: „Was meinst du, Schwede? Haut er uns die Taschen voll, oder stimmt es, daß er nichts weiß? Ein schwarzer Unschuldsengel sozusagen? Was meinst du, Schwede? Sag was!“ „Sie haben es selbst gehört, Chef. Sie merken doch sonst immer, wenn einer nicht echt ist. Was fragen Sie mich! Sie wissen es doch, und meine Antwort, die kennen Sie auch schon. Was sollen wir lange reden, wir müssen was tun.“ „Du meinst, wir sollen ihn laufenlassen?“ „Nein. Wir müssen ihn irgendwo unterbringen. Wo keiner an ihn ran kann.“ 249
„Wenn alles stimmt, was er erzählt hat, darf ich ihn nicht einsperren. Wofür denn? Kriege ich nie einen Haftbefehl. Allerdings wäre er dort vorerst sicher, im Knast.“ Schlottke pfiff leise durch die Zähne. „Seit wann glauben Sie denn, Chef, daß der Reffel nicht sicher ist, obwohl er doch gar nichts ausgefressen hat? Sind ja bei Ihnen ganz neue Töne … Wer soll ihm denn was tun? Warum denn?“ „Weiß ich doch nicht! Verdammt noch mal!“ Geckeler riß den losen Knopf ab und warf ihn auf den Tisch. Und er erzählte seinem Assistenten von der Vernehmung des Hageren. Dann wandte er sich an den Mulatten. „Und da ist noch was“, sagte er. „Der, mit dem du bis vor kurzem noch zusammen warst, hieß Unger, stimmt’s? Alfred Unger?“ Bläckie nickte. „Ja. Der Lange heißt Fred Unger, stimmt.“ Geckeler schnippte den Knopf vom Tisch. „Hieß, mein Junge, hieß!“ Schlottke setzte seine Tasse ab und hörte auf zu kauen. Er legte die angebissene Schnitte auf den Teller. „Hat man ihn gefunden?“ „Oben im Fränkischen. War nicht mehr viel übrig. Haben ihn richtig breitgefahren. Auf einer Nebenstraße, wo nachts niemals Laster unterwegs sind. Haben ihm noch nicht mal die Papiere abgenommen. Haben die gar nicht nötig.“ Geckeler zog seinen Mantel fester um sich und duckte den breiten Schädel in den Kragen. „Hast recht gehabt, Ostschwede. Ich bin ein alter Trottel.“ „Quatsch“, sagte Schlottke nur, dann schwiegen sie lange, und Geckeler rührte den Satz in seiner Kaffeetasse auf. 250
„Ich bin also der letzte“, sagte Bläckie, stand auf und ging zum Fenster. „Jetzt alle Mann auf mich!“ Seine Mundwinkel zuckten, als er lächelte. „Ich bin ’ne richtig wichtige Person.“ „Bleib ruhig, uns wird schon was einfallen“, sagte Schlottke. „Iß jetzt, du mußt fit bleiben.“ „Ich bin fit, Langer, ich bin“, sagte Bläckie mit unbewegtem Gesicht. Seine Augen sahen durch die Wände, seine Stimme klang, als ob er träumte. „Ich muß mal ’raus“, murmelte er vor sich hin und ging zur Tür. „Muß ich unter Bewachung pinkeln, oder …?“ fragte er über die Schulter, als er schon in der Diele war. Geckeler sagte: „Abhauen würde ich an deiner Stelle nicht. Vielleicht wartet draußen jemand auf dich.“ Schlottke nickte. „Ich weiß, ich weiß“, sagte Bläckie nur noch, dann zog er die Tür des Badezimmers hinter sich zu. Die beiden Männer saßen, wußten nichts zu sagen. Es roch nach kaltem Kaffee, draußen war es Tag geworden. Als der Mulatte nicht wiederkam, stand Schlottke auf. „Wo bleibt er bloß so lange?“ „Wird schon kommen“, sagte Geckeler. Aber da rief Schlottke bereits aus dem Badezimmer. Geckeler stemmte sich von der Couch hoch. „Was ist denn nun schon wieder? Kann man nicht mal endlich seine Ruhe haben?“ Dann standen sie beide neben der Badewanne, besahen das ausgehängte Klappfenster, die frischen Kratzer auf der Wand darunter. Schlottke beugte sich weit hinaus. „Der verrückte Hund ist von hier aus in den Baum gesprungen.“ „Und? Hat er sich das Genick gebrochen?“ „Nein. Er hat’s geschafft. So ein verrückter Hund!“ 251
„Na also.“ Geckeler rieb sich die Speckfalten unter dem Kinn. „Nun hat er ja, was er wollte. Und wir sind die Sorge los, was wir mit ihm machen sollen.“ „Finden Sie das in Ordnung, Chef? Daß wir ihn rennen lassen? Mitten ’rein?“ Schlottke wandte sich Geckeler zu. „Ach, laß mich doch in Ruhe, Schwede! Sind wir Kindermädchen? Der will’s doch gar nicht anders, den halten wir sowieso nicht. Und außerdem, der … der ist clever genug. Der wird schon wissen, wie er wegtaucht.“ „Trotzdem … ich find’s nicht in Ordnung, daß wir …“ Schlottke unterbrach sich, starrte in das offene Toilettenbecken, bückte sich, es klapperte Metall auf Steingut. Schlottke hielt einen Silberdollar in der Hand. Sehr blank und abgegriffen. An der Öse hing noch ein Stück Kupferkette. „Hat er sich beim Klettern abgerissen.“ „Hm. Vielleicht.“ „Was heißt ‚vielleicht‘?“ Schlottke warf die Münze hoch, fing sie und ließ sie dann in seine Tasche gleiten. „Vielleicht hat er das Ding auch weggeschmissen. Hat ihm ja kein Glück gebracht. Jetzt kann er sich nur noch auf sich selbst verlassen.“ Geckeler verstand nicht.
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30 Kriminalrat Pfitzer hatte sich verfahren. Er fuhr schon zum zweiten Mal durch das Viertel, in dem Geckeler wohnte. Diese Neubauten, die alle gleich aussahen, ein Fenster wie das andere, eine Tür wie die andere, sogar die Muster der Gardinen unterschieden sich nicht wesentlich voneinander. Wie sollte man da die Straßen auseinanderhalten! Marienbader Straße oder Franzensbader Straße oder Reichenberger – alles gleich. Pfitzer war noch nie in Geckelers Wohnung gewesen, und er hatte auch keine Vorstellung, wie sie aussehen könnte. Darüber hatte er nie nachgedacht, und seinen Inspektor hatte er schon gar nicht danach gefragt. Was verband ihn eigentlich mit Geckeler? Er mochte den trotzigen Dicken, der immer wußte, was er wollte, ja, er mochte ihn, und manchmal hatte er sich gewünscht, so zu sein wie Geckeler. Ruhig, fest, draufzu. Keine Stimmungen, keine Nervosität, immer im Heute lebend. Ja, oft hatte er den Geckeler beneidet. Um dessen Kinderglauben, wie er es bei sich nannte. Dieser Glaube, daß auf der Welt schließlich alles in die richtige Bahn kommt. Über Hindernisse, aber immerhin: Was Recht ist, wird Recht bleiben. Pfitzer kurbelte die Scheibe herab und warf den Zigarettenstummel hinaus. Schüttelte die neue Zigarette aus der Packung und schaltete den Anzünder ein. Ich werde wohl halten müssen, jemanden fragen, wo diese Karlsbader Straße ist. Er fragte ungern fremde Leute, er war überhaupt nicht gern mit Menschen zusammen. Er hatte lieber seine Hunde um sich oder Bilder oder Musik. Denn von denen kamen keine Fragen, er mußte nicht reagieren, konnte so bleiben, wie er war. Da war alles einfach. Pfitzer mußte lächeln. Und so was, dachte er, ist 253
nun Oberpolizist geworden, und wenn ich stillhalte, steige ich noch höher. Als ob mir an Karriere etwas läge … Das wird mein Herr Vater nie begreifen, das glaubt er einfach nicht. Daß ich lieber einen mehr über mir hätte, der mir sagt, was ich zu machen habe … Verantwortung? Führen? Ich würde mich lieber führen lassen. Warum sagt mir denn keiner, wo diese Karlsbader Straße ist? Ich werde die alte Frau dort vorn fragen, die sieht so aus, als ob sie in dieser Gegend wohnt. Und als er seine Auskunft hatte – er war nicht ausgestiegen, und die Frau hatte sich zu ihm herabbeugen müssen –, als er endlich wußte, daß es die dritte Straße rechts war, in die er fahren mußte, fragte Pfitzer sich plötzlich, was er eigentlich bei Geckeler wollte: Es gibt doch nichts zu reden zwischen uns, ich muß ihm nichts erklären. Ein Chef muß nie erklären. Ein Chef ordnet an und läßt ausführen. Ein Chef diskutiert nicht, er trifft Maßnahmen. Erklären muß er vielleicht mal nach oben, wenn irgendein Vorgang nicht reibungslos läuft. Ja, was will ich überhaupt bei Geckeler? Warum lasse ich ihn nicht kommen, wenn ich irgend etwas will? Pfitzer sah im Vorüberfahren Geckelers Hausnummer, die er sich aufgeschrieben hatte, der Zettel lag noch auf dem Nebensitz. Aber er fuhr weiter den Block entlang, obwohl der Parkplatz vor dem Haus frei war. Er bog rechts ab und wieder rechts und noch einmal, dann die Hausnummer, und diesmal fuhr er auf den Parkplatz. Ich sollte wirklich mit ihm reden, dachte er. Zwar weiß ich nicht, weshalb … Er stellte den Motor ab, ließ den Schlüssel stecken und vergaß, die Handbremse anzuziehen. Wie immer. Der schwere, tief dunkelblau schimmernde Mercedes sah wie verirrt aus auf dem steinigen, zerfahrenen Parkplatz voller Pfützen, und die Volkswagen neben ihm wirkten wie Spatzen 254
neben einem Fasan. Pfitzer lebte in allem teuer, teurer, als sein Dienstrang es erwarten ließ. Als er den Schlag öffnete, um auszusteigen, sah er Geckeler über die Straße auf sich zukommen. Auch das noch, dachte er, gleich auf der Straße, was sage ich ihm denn nun schnell? „Na, Chef?“ sagte Geckeler näher kommend und grüßte nur mit einem Kopfnicken. „Wollten Sie zu mir, oder haben Sie hier Bekannte? Könnte ja sein. Dann will ich nicht aufhalten.“ Grinst der nun, oder grinst der nicht, fragte sich Pfitzer unsicher. Und die Hand gibt er mir heute auch nicht … „Ich werde ab morgen nicht mehr im Amt sein, Inspektor“, sagte er und bemühte sich um einen dienstlichen Ton. „Ich werde in die Landeshauptstadt versetzt. Ins Innenministerium. Wir würden uns also aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr sehen.“ „Da gratuliere ich Ihnen, Kriminalrat“, sagte Geckeler und nickte noch einmal. „Haben Sie sich zweifellos verdient!“ Wie meint er das, der undurchsichtige Bursche mit seinem Pokergesicht? Will er mich auf den Arm nehmen? Pfitzer ließ die Tür ins Schloß fallen, klemmte sich eine frische Zigarette zwischen die Lippen und drückte die glimmende Kippe dagegen. Der Rauch stieg ihm in die Augen, er kniff die Lider ein und sagte: „Ich dachte, Sie würden vielleicht noch ein paar Worte mit mir wechseln wollen, bevor ich abreise. Selbstverständlich privat.“ Er machte einen unentschlossenen Schritt auf Geckeler zu. „Gehen wir ein Stück? Wohin kann man denn hier gehen, wenn man sich unterhalten will?“ Geckeler zuckte die Schultern: Ihm schien nicht viel daran zu liegen. „Na schön“, sagte er schließlich, „wir 255
können ja nach oben gehen“, und er deutete auf die Weinberge. „Dort stehen Bänke, und am frühen Nachmittag kommt kaum einer dorthin.“ Er wandte sich ab und ging voraus. Pfitzer folgte ihm. Sein teurer Maßanzug sah irgendwie schlottrig aus und war voller Ascheflecken. Den steilen Weg hinauf sprachen sie nichts. Geckeler stieg in gleichmäßigen Schritten und wiegte sich im Gehen wie ein alter Bär. Pfitzer hatte Mühe, ihm zu folgen, er blieb oft stehen, rang nach Atem. Die Zigarette hatte er schon fortgeworfen. Geckeler drehte sich nicht um. Über den Terrassen des Weinbergs spürten sie den kühlen Wind, der vom See heraufstrich und in den verfilzten Weißdornbüschen raschelte. Ein Bussard kreiste sehr hoch über ihnen. „Schießen Sie los, Kriminalrat!“ sagte Geckeler respektlos und drückte seinen breiten Hintern auf eine morsche Bank. „Oder sind Sie inzwischen Oberrat geworden? Dann bitte ich um Entschuldigung.“ „Was soll das, Geckeler? Sie wissen, daß mir Ränge nichts bedeuten.“ Pfitzer wischte sich den Schweiß von der Stirn, nahm eine neue Zigarette und beugte sich zu Geckeler hinüber, der ihm Feuer reichte. Der Bussard über ihnen schrie. „Lassen wir doch dieses kleinliche Spitzenwerfen, Geckeler“, fing Pfitzer wieder an und atmete den Rauch tief ein. „Wir sind erwachsene Menschen und waren in einer Situation, in der wir uns gegenseitig Ungelegenheiten bereiten mußten. Daraus ist keine moralische Wertung ableitbar, das ändert nichts an uns …“ „Doch, mich hat das sehr geändert“, sagte Geckeler mit einem Seitenblick. „Und andere, die überhaupt nichts damit zu tun hatten, sind noch sehr viel mehr verändert 256
worden. Die sind jetzt kalt, so verändert sind die. Was für eine Antwort haben Sie darauf? Sie haben doch immer eine.“ „Aber Geckeler …“ „Was ‚aber‘?“ Geckeler war wütend. „Und die anderen, von denen ich mir schon einen gegriffen hatte – was geschieht mit denen? Unter Einsatz meines Lebens habe ich mir den übrigens gegriffen, meines privaten Lebens, außerdienstlich –, und dieser Schweinehund, den ich schon kleinkriegen würde, den nehmen Sie mir aus den Fingern! Heute, zwölf Uhr mittags, haben Sie ihn entlassen. Ein Sanitätswagen hat ihn abgeholt!“ Geckeler spuckte heftig aus, was man ihn sonst nie tun sah. Dann zog er die Oberlippe hoch und fixierte Pfitzer. „Bin ich eigentlich auch schon entlassen, Kriminalrat? Oder wenigstens vom Dienst suspendiert, damit alles wieder seinen Trott gehen kann und keiner mehr fragt: ‚Was ist hier los?‘ Wollen Sie mir schonend beibringen, daß ich morgen nicht ins Amt zu gehen brauche? Mich wird man ja nicht wegbefördern …“ „Regen Sie sich doch nicht so auf, Geckeler! Ich bitte Sie! Über Vorgänge, die wir nicht beeinflussen können, an denen wir noch nicht mal schuld sind, kurz: für die wir keine Verantwortung zu tragen haben! Die liegt in diesem Fall bei anderen Herren!“ „Stillhalten und die Augen zudrücken, was?“ „Nicht unbedingt. Warum nicht zusehen, registrieren, auswerten? Aber eingreifen doch erst, wenn es an der Zeit ist. Wenn eine Chance der Wirksamkeit besteht.“ Geckeler knurrte nur, die Latten der Bank knarrten unter ihm. „Außerdem“, sprach Pfitzer weiter, „und deswegen bin ich hauptsächlich gekommen heute – außerdem können 257
Sie mir glauben, daß ich an Fakten, soweit sie die Ursache dieser unerquicklichen Angelegenheit betreffen, nicht mehr zur Verfügung habe, als ich Ihnen schon einmal sagte. Ich weiß wirklich nur, daß gewisse Dienststellen ein starkes Interesse daran haben, gewisse Leute aus dem Verkehr zu ziehen. Sicherheitsrisiko! Solche Fälle kommen vor, und leider können sie manchmal nur auf sehr unangenehme Weise erledigt werden. Das Recht der Gesellschaft auf Sicherheit muß über dem Recht des einzelnen auf Leben und Wohlergehen stehen.“ „Quatsch!“ spuckte Geckeler heraus. „Tot ist tot! Für den einzelnen.“ Aber ganz langsam machte sich der Gedanke in ihm breit, daß Pfitzer so unrecht eigentlich nicht hatte. Vielleicht geht es wirklich um eine wichtige Sache, Spionage oder so was. Da muß man schon draufhauen! Und für solche Dreckarbeit, die gemacht werden muß, braucht man eben miese Typen wie den Garolle. Ist es denn so schade um ein paar Penner, die noch nie etwas Vernünftiges gemacht haben im Leben? Wozu sind die eigentlich auf der Welt? Die gammeln und klauen und betteln sich durchs Leben, und unsereins, der jede Woche seine fünfzig Stunden Dienst macht oder mehr, der muß die Brüder finanzieren. Und wenn sie ins Gedremmel geraten, weil sie ihre ungewaschenen Nasen überall reinstecken, soll unsereins sie auch noch aus dem Dreck ziehen und sich die Knochen dafür krumm hauen lassen. Aber laut sagte Geckeler: „Sie können mir viel erzählen, Kriminalrat, ich bleibe dabei: Ohne Beweis kein Richter, ohne Richter kein Urteil, und wer ohne Urteil jemanden umlegt, ist ein Mörder. So steht es im Gesetz, und das gilt ja wohl noch, oder?“ „Gesetz, Gesetz! Seien Sie doch nicht so naiv, Geckeler! Sie wissen genau, daß Gesetze nur von den Schwachen 258
eingehalten werden müssen. Sie sind ein erwachsener Mann. Waren Sie im Krieg oder nicht?“ „Das ist etwas anderes!“ „Unsinn!“ Pfitzer erregte sich jetzt und rückte an seiner Brille. „Krieg ist nur eine intensive Phase des Wirtschaftslebens. Umverteilung und Konzentration von Besitz, der letztlich Macht bedeutet.“ Pfitzer starrte über den Rebhang hinab ins Leere. „Aber davon wollte ich gar nicht sprechen. Ich wollte …“ „Bitte!“ „Sie machen mir’s schwer, Geckeler.“ „Wieso? Sie sind doch ’raus! Sie haben jetzt Ihre Ruhe.“ Geckeler leckte sich die Lippen. Jetzt möchte ich einen trinken, dachte er. Das kluge Gequatsche von dem interessiert mich nicht. Der wird nie was ändern! Ja, was zu trinken müßte man jetzt haben. Der hat seine Zigaretten. Ich muß aufpassen, daß ich nicht zu saufen anfange. Ich glaube, jetzt könnte mir’s Spaß machen. Aufpassen, Alter! Der Himmel wurde diesig, im Dunst über dem See war die Sonne verschwunden, der Bussard war abgestrichen. Mit gleichmäßigen Flügelschlägen zog ein Schwärm Krähen vom Ufer in die Hügel. Vom Hafen hörte man das dumpfe Hornsignal der auslaufenden Fähre, das Blinkfeuer warf einen grellen, zuckenden Schein von der Mole auf die unsichtbare Wasserfläche, und die harten Blätter des Dorngestrüpps hinter den Bänken kratzten nicht mehr aneinander. Geckeler zog den Gürtel seines Mantels fester. „Ich weiß schon, was Sir mir sagen wollen, Chef. Daß Sie mir keinen Ärger machen wollten, daß Sie an nichts schuld sind und daß das alles sowieso nicht zu ändern ist, weil’s auch ohne uns so gekommen wäre. Und damit 259
haben Sie sogar recht! Aber daß man alles einstecken muß, bloß weil es schon immer so gewesen ist und noch lange so bleiben wird, das finde ich ganz beschissen von Ihnen, entschuldigen Sie schon … Ihr Studierten, ihr wißt immer alles ganz genau und redet uns besoffen. Aber machen tut ihr nie etwas. Diese Typen kann ich gerade leiden!“ „Ich habe getan, was ich konnte, Geckeler.“ „So?“ „Ja, ich habe mich dafür eingesetzt, daß Sie nicht vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden …“ „Sehr freundlich“, knurrte Geckeler. „Noch mehr Mühe hat es mich gekostet, Ihren Assistenten vor dem Rausschmiß zu bewahren.“ „Sind Sie sicher, daß Sie ihm damit einen Gefallen getan haben?“ sagte Geckeler träge, aber dann wurde er munter. „Geben Sie mir eine Zigarette, Kriminalrat? Ich muß jetzt eine rauchen! Seit beinahe sieben Jahren hab’ ich nicht mehr geraucht. Na, geben Sie mir schon eine!“ Seine Finger zitterten kaum merklich. Als er vorsichtig den ersten Rauch einsog und stoßhaft wieder ausblies und gleich darauf merkte, wie sein Gehirn zu schwimmen begann – der wußte schon, warum er’s mir verboten hat, der Arzt damals –, als er sich also fast wieder so schlecht fühlte, wie er sich früher jahrelang gefühlt hatte bei fünfzig Zigaretten täglich, fragte er den Kriminalrat: „Warum haben Sie mich damals hingeschickt zu dem Brand? Das werden Sie mir doch jetzt sagen können. War da wirklich ein Paket zu holen?“ Geckeler machte hastige, kurze Züge an der Zigarette und klopfte ungeschickt die Asche ab. Pfitzer zögerte, nahm seinem Inspektor die Zigarette aus der Hand und hielt die Glut an eine neue Zigarette für 260
sich. Dann sagte er: „Ein Paket hat es nie gegeben, jedenfalls weiß ich von keinem. Ich habe Sie geschickt, weil ich einen Hinweis bekommen hatte, daß vielleicht etwas Bestimmtes geschehen würde. Sie hätten es vielleicht verhindern können. Aber …“, Pfitzer nahm die Brille ab und rieb sie mit der Krawatte sorgfältig blank, „aber es ist etwas ganz anderes geschehen, etwas, das ich nicht ahnen konnte. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe eine kranke Frau und eine Tochter, die noch studiert.“ Mit einem energischen Ruck, den man ihm nicht zugetraut hätte, setzte er die Brille auf und drückte die Bügel hinter den Ohren fest. Dann sagte er noch, merkwürdig fest und sicher: „Fragen Sie nie woanders danach, Geckeler, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!“ Geckeler paffte schweigend. Sein Kopf schmerzte, und er hätte sich erbrechen mögen. Nein, dachte er, als er aufstand und die Zigarette austrat. Ich fange nicht wieder an zu rauchen. Dann doch eher saufen. „Ich gehe jetzt“, sagte er zu Pfitzer, der noch zusammengekrümmt auf der Bank saß. „Ich gehe, aber … aber das heißt nicht, daß das mein letztes Wort in dieser Sache ist. Wir Schwaben haben dicke Schädel, Pfitzer. Wir haben schon viele Kaiser schwach gemacht.“ „Machen Sie nur, Geckeler. Machen Sie nur!“ antwortete Pfitzer abwesend, und er dachte: Woher nehmen die bloß diese Zuversicht, diese kleinen Leute, die nichts wissen! Hunderttausend Mäuse beißen nicht eine einzige Katze tot, obwohl sie es mit Leichtigkeit tun könnten. Schon fünfzig Mäuse könnten eine Katze töten. Aber sie werden es nicht tun, solange sie sich wie Mäuse verhalten … und die Katze wird kein Gras fressen, weil sie vom Gras nicht leben kann. Nichts wird sich ändern. Es wird Macht und Ohnmacht geben, so wie es oben und 261
unten gibt. Die Starken, die Rücksichtslosen werden immer oben sein, und es werden stets nur wenige sein. Es wird nichts Neues geben. Ich kann … ja, ich kann diese jungen Leute verstehen. Vielleicht sollte man wirklich Hasch nehmen? Als Pfitzer aufsah, ging Geckeler schon den steinigen Weg hinab. Der Dunst am Horizont hatte das letzte Sonnenlicht geschluckt. Die Dämmerung kam grau auf den Berg zu. Lange starrte Pfitzer dorthin, wo Geckelers Rücken an der Biegung des Weges verschwunden war. Ich glaube, ich werde den Degas verkaufen, dachte er müde. Dann ging auch er und merkte gar nicht, daß er keine Zigarette hatte. Und er sah auch die beiden jungen Leute nicht, die sich zwei Bänke weiter küßten, und niemals würde er erfahren, daß an diesem trüben Frühlingsabend vor dem Weißdorn ein neuer Mensch entstanden war.
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31 Am nächsten Morgen war Geckeler wie immer zeitig im Büro. Der Wachtmeister vom Tordienst hatte ihn besonders freundlich begrüßt, wie einen Kranken, von dem man annimmt, daß er nicht mehr lange leben wird. Mit den Kollegen vom Nachtdienst hatte Geckeler nicht gesprochen, weil die sich rechtzeitig in die Kantine verdrückt hatten. Auf seinem Schreibtisch lagen keine neuen Akten. Es sah so aus, als ob die Kriminellen Urlaub machten. Geckeler warf nur einen kurzen, unbeteiligten Blick auf seinen Arbeitsplatz, drehte den Stuhl zum Fenster, setzte sich und wickelte das Papier von einer Schnapsflasche, die er unter dem Mantel getragen hatte. „Wirkt wie ein Ballermann“, murmelte er, als er den Verschluß abschraubte und die Flasche an die Lippen setzte. Nachdem er getrunken hatte, stellte er sie auf die leere Schreibtischplatte. Die können mich alle mal, dachte er. Ich trinke so viel Schnaps im Dienst, wie ich will. Sollen sie mich doch rausschmeißen, ist mir eh Wurscht! Das Telefon klingelte. Geckeler langte nach hinten, nahm den Hörer ab. „Ja?“ „Ach, Sie sind’s Geckeler?“ Reimanns breite Managerstimme. Geschmeidiger Wille hinter viel Fett. „War für Sie nicht Urlaub angesetzt?“ „Ja.“ „Und trotzdem sind Sie …“ „Ja, trotzdem bin ich. Stört das?“ „Nein, nein …“ „Kann ich Sie schon mit ‚Kriminalrat’ anreden, oder ist die Urkunde noch nicht geschrieben?“ Pause. 263
„Sie können, Geckeler, Sie können.“ Kleine Pause. „Wenn Ihnen das was gibt …“ Geckeler schwieg in den Hörer. „Ist Ihr ehemaliger Assistent, dieser Schlottke, Eduard, schon bei Ihnen aufgetaucht?“ „Ehemaliger?“ „Ja. Er ist strafversetzt. Wußten Sie das noch nicht?“ „Jetzt weiß ich’s!“ „Na, hervorragend, Geckeler! Vergessen Sie’s nicht wieder!“ „Wissen Sie was, Herr Kriminalrat Reimann?“ Geckeler mußte lachen. „Was soll ich wissen?“ „Sie können mich am Arsch lecken, Reimann. Jetzt wissen Sie es.“ Geckeler lachte scheppernd. „Aber das haben Sie schon immer gewußt, daß Sie mich das können, stimmt’s? Wir kennen uns doch schon ein paar Jahre.“ Reimann hatte aufgelegt. Geckeler warf den Hörer auf den Schreibtisch. „Der Scheißer der“, brummte er, dann griff er der Flasche an den Hals. Bis zur Hälfte hatte er sie bereits ausgetrunken, als Schlottke mit dem ihm eigenen Schwung die Tür aufriß. Geckeler warf nur einen scheelen Blick zu seinem ehemaligen Assistenten, registrierte aus den Augenwinkeln, daß der den Mantel nicht wie sonst quer durchs Zimmer auf den Haken warf, sondern bis zum Haken ging und dann den Mantel aufhängte, ganz ordentlich am Aufhänger, wie es vorgesehen war. Das ist nicht mehr der alte Schlottke, dachte er. „Du weißt wohl schon, daß man dich versetzt hat?“ fragte er. „Deswegen komme ich ja so früh.“ Schlottke schob seinen Drehstuhl in die Ecke und setzte sich auf die 264
Schreibtischkante. Er sah auf seine unförmige, große Armbanduhr. „Eine Viertelstunde früher als sonst“, er dachte kurz nach, „kam ja sonst nur vor, wenn wir …“ Geckeler unterbrach ihn. „Wenn wir beide früh am Morgen was Interessantes zu erledigen hatten, nicht?“ Seine Zunge gehorchte ihm nur noch mühsam. „Ja. So war’s, alter Herr.“ „Hm.“ Geckeler schob die Flasche zu Schlottke hin. „Und nun? Was machen wir jetzt? Ohne Amt und Auftrag? Saufen wir uns den Arsch voll?“ „Nein. Wozu?“ Schlottke nahm den Verschluß vom Schreibtisch und schraubte die Flasche zu. „Was soll’s, Chef?“ „Ich bin nicht mehr dein Chef!“ „Das bestimmen doch andere nicht, was Sie für mich sind.“ „Werden Sie nicht sentimental, Schwede. Sie Schwede Sie! Nichts mit Gefühlen! Kann ich nicht vertragen heute.“ „Ich rede nicht von Gefühlen.“ Schlottke überlegte, drehte dann die Kappe wieder von der Flasche, ging zum Waschbecken und goß den Schnaps bis auf zwei Doppelte hinein. „Verrückt geworden?“ protestierte Geckeler leicht lallend. „Der schöne Schnaps! Hat mich fünfzehn Mark gekostet!“ Schlottke antwortete nicht, klappte eine Schranktür auf, stellte zwei Gläser auf den Schreibtisch und füllte beide mit dem Rest. „Trinken wir einen, Heinrich Geckeler aus Tiefenhofen am Bodensee. Trinken Sie einen mit Schlottke, Eduard, geboren in Königsberg, Kaliningrad, ganz zufällig, wenn’s Zufall gibt, gemacht in Riplitz (Mark) mit Absicht, aufgewachsen in der fetten 265
Wohlstandsscheiße, nichts gemerkt bis vor ein paar Tagen. Trinken wir den letzten hier in diesem Zimmer. Wenn wir uns später noch mal sehen sollten, wird das woanders sein.“ Schlottke trank sein Glas in einem Zuge leer, Geckeler nippte nur. „Machen wir denn nichts mehr?“ fragte er seinen Assistenten. „Wollen wir denn nicht wenigstens …“ „Ein Ende mit Schrecken machen? Wem nützt das? Ist doch pubertär.“ Schlottke sprach sehr nüchtern, ging zum Waschbecken und spülte sein Glas aus. Er stellte es oben in den Schrank zu den anderen, nahm einige Gegenstände heraus und warf sie in die mitgebrachte Plastiktüte. „Besser ist wohl, daß man klipp und klar weiß: Der Schrecken hat so bald kein Ende.“ Geckeler grunzte nur zur Antwort. Aber dann fragte er doch noch einmal: „Wir wollen uns das gefallen lassen?“ „Wir müssen, Geckeler, wir sind allein. Aber wir können’s uns merken, daß wir uns das gefallen lassen mußten. Vergessen darf man das wahrscheinlich nicht.“ Schlottke machte seinen Rundgang durchs Büro. Zog Schubladen auf, öffnete Schranktüren, hob Schreibunterlagen auf, wühlte in Papieren. Er fand Pullover, die ihm gehörten, Hemden, Zahnbürsten, Tauchsieder und Tassen. Ein paar weiche Hausschuhe und ein Regencape, zwei Apfelsinen und eine Handvoll verschrumpelter Äpfel. Er verstaute alles in der Plastiktüte. „Denen lasse ich noch nicht mal meinen Abfall“, sagte er zwischendurch, „kein Stück, nicht eine Scherbe und nicht einen Apfelkern, und die Fingerabdrücke …“, ein langer Blick glitt über alle Möbel, „die Fingerabdrücke möchte ich am liebsten auch noch abwischen.“ Dann räumte er weiter. „Aber die lasse ich ihnen, vielleicht ganz gut so. Irgendwas muß bleiben.“ 266
Die Tüte war prall gefüllt. Zuletzt griff Schlottke sich seinen Mantel, reichte Geckeler die knochige Hand. „Machen wir’s kurz, Chef. Ich denke, wir sehen uns ohnehin bald mal. Ich muß auch weg“, er hob die Armbanduhr, „fahre nach Bregenz und mache dort zwei Tage blau mit Marianne. Der Zug fährt in zwanzig Minuten … Ach so, das wissen Sie ja nicht: Mein Wagen ist weg; ich möchte wetten, den hat der Bläckie mitgenommen … Na, soll er. Die alte Karre taugte sowieso nichts mehr. Vielleicht hilft’s ihm, schneller wegzukommen. Also, Chef, ich muß.“ Er ging zur Tür. „Was ich noch sagen wollte, Chef …“, er zögerte, „ich meine, verrückt zu spielen hat jetzt keinen Sinn. Ich hab’ auch erst überlegt, ob ich meinen Dienst nicht ganz und gar kündige und irgendwo eine Stellung annehme. Aber wenn man erkannt hat, daß der Apparat nichts taugt, sollte man vielleicht doch besser drin bleiben, sich wieder aufrappeln, ganz still und heimlich, und nichts vergessen. Ich glaube, nur so hat man die Möglichkeit, irgendwann mal an den Rädern zu drehen.“ Er grinste und drückte die Türklinke ’runter. „Der lange Marsch durch die Institutionen! Da ist schon was dran.“ Dann schloß er die Tür, und Geckeler fühlte sich sehr alt und sehr allein. Ohne einen Gedanken fassen zu können, drehte er die leere Flasche sinnlos hin und her. Eine Stunde später aber stapfte er, ohne zu wissen, was er eigentlich dort wollte, durch die blühenden Buschwindröschen des Buchenwaldes auf die Ruine des Jagdhauses zu. Wie es den Mörder an den Ort der Tat zieht, dachte er und wollte grinsen, aber es gelang ihm nicht. Er schrak zusammen, als er plötzlich einen Mann vor sich sah, der an einer Buche lehnte. Der Mann drehte sich 267
um und verzog den Mund. Es war kein Lächeln. „Sie hier, Monsieur Geckeler? Mit Ihnen hatte ich eigentlich nicht gerechnet …“ „Und ich nicht mit Ihnen, General!“ „Sie sind älter geworden, Geckeler“, sagte der General nach einem forschenden Blick befriedigt. „Sie nicht?“ „Ich bin schon lange alt.“ Jetzt lächelte der General richtig. Sie gingen auf den Hügel zu. Die Ruine sah schon nicht mehr so schwarz aus wie noch vor Tagen. Der Regen hatte den Ruß abgewaschen. „Nächstes Jahr wird Gras drauf wachsen“, sagte der General, „und in zwei Jahren der erste junge Baum. Und nach fünfzig Jahren wird man die Steine nicht mehr sehen. Nur die Buchen werden noch unverändert sein, wenn man sie nicht vorher abgeschlagen hat.“ Der General stieg mit kräftigen Schritten zum Hügel hinauf. Geckeler folgte ihm. Was will der hier, fragte er sich. „Sie wollen wissen, weshalb ich hier bin?“ Der General schien Geckelers Gedanken erraten zu haben. Der Inspektor nickte. „Natürlich.“ „Hier habe ich mich immer am wohlsten gefühlt.“ De Chalon griff in seine Uniformjacke. Erst jetzt sah Geckeler, daß die Brust des Generals voll Orden hing. De Chalon zog einen Revolver aus der Tasche. Geckeler zuckte zusammen. Verdammt, ich hab’ meine Knarre nicht bei mir, dachte er. „Gehen Sie ein paar Schritte zurück, Geckeler.“ Der General entsicherte die Waffe. „Was wollen Sie machen, General?“ „Ein Ende, Geckeler. Das Ende.“ 268
„Und warum?“ Geckeler fühlte, daß er bleich wurde, er sah seine Hände zittern. „Warum?“ Der General schien nachzudenken, man sah es ihm an. „Natürlich, das können Sie nicht wissen. Ich werde es Ihnen sagen, jetzt kann ich deutlich werden.“ De Chalon hob den Lauf der Waffe. „Bleiben Sie dort stehen!“ sagte er mit scharfer Kommandostimme, dann sprach er ruhig weiter: „Selbst Ihnen, Geckeler, dürfte nicht unbekannt sein, daß es zu den Aufgaben eines Generals gehört, über Menschen und Gerät zu verfügen … Unterbrechen Sie mich nicht! Sie haben zu warten. Eine Armee verbraucht viel, auch im sogenannten Frieden. Die Menschen sind dabei das billigste, aber bei Gerät ist das anders. Das kann man nicht einfach ausheben wie die Menschen – durch ein Gesetz, einen Papierwisch, und schon sind die Regimenter aufgefüllt. Nein, Gerät kostet Geld. Unsere Geräte kosten heute sehr viel Geld, werden sehr schnell unmodern und sind dann nicht mehr brauchbar für den Ernstfall. Also muß das alte möglichst rasch aus der Feuerlinie, um für das neue, bessere Platz zu machen.“ De Chalon lächelte ironisch. „Sie lesen doch gelegentlich Zeitungen, Geckeler, nicht wahr? Hören Radio, sehen fern?“ Geckeler knurrte nur. „Und dort, in sogenannten enthüllenden Dokumentationen, lesen oder hören Sie von Beträgen“, fuhr der General fort, er lachte gemein. „Wenn Sie an diese Zahlen, die Sie in Wut bringen – Sie sind doch so einer, stimmt’s? –, wenn Sie an diese Zahlen glauben, dann wissen Sie nichts! Die Summen sind viel höher, als Sie es jemals glauben würden. Bleiben Sie stehen, wo Sie sind!“ Die kleine Pistole des Generals zielte genau auf Geckelers Brust. „Hören Sie nur weiter zu, diese Gelegenheit 269
kommt so schnell nicht wieder. Also: Im Krieg ist das einfach mit dem Umschlagen der Geräte. Man gibt für die Waffen Geld und verdient mit den Waffen weitaus mehr Geld. Im Frieden allerdings muß man ein bißchen nachhelfen, damit die lieben Arbeiter in den Stahlwerken nicht stempeln gehen müssen. Und hier, Geckeler, beginnt meine Rolle in dem Spiel, in das Sie hineingeraten sind.“ De Chalon lehnte sich an einen Mauerrest. „Generäle pflegen Ersatz anzufordern für das, was sie verbraucht haben oder was aus Gründen des moralischen Verschleißes unbrauchbar geworden ist. In gewissen Grenzen kann ich natürlich auch auf dem Papier verbrauchen. Ich kann mit dem überzähligen Gerät nichts anfangen, aber es gibt Interessenten in Afrika oder Asien, in Irland oder Bolivien. Und es finden sich Vermittler, europäische Herren, die mit afrikanischen Herren zum Beispiel freundschaftliche Beziehungen unterhalten oder einfach ein Geschäft machen möchten. Aber sie brauchen eine schriftliche Erklärung und eine kompetente Unterschrift, daß die Armee verbraucht hat, was sie verkaufen wollen, und diese Unterschrift kostet natürlich eine Kleinigkeit … Sie sollen dort stehenbleiben, habe ich Ihnen gesagt! Legen Sie die Hände auf den Rücken!“ Geckeler fügte sich. Weshalb erzählt er mir das, dachte er. Stimmt es also, daß sie rückhaltlos von sich erzählen, bevor sie einen killen? Wie es immer in Kriminalromanen nachzulesen war? Aber da redete der General schon weiter: „Irgendwann jedoch, Geckeler, wenn Sie tief genug drinstecken, können Sie Ihre Unterschrift nicht mehr verkaufen, dann müssen Sie sie umsonst hergeben. Und kurz danach werden Sie nicht mehr benötigt, dann stehen Sie größeren Geschäften sogar im Wege, und dann müssen Sie weg. 270
Total. Dann werden Sie coventriert.“ De Chalon grinste schief. „Aber ich bin General, ich habe meine Erfahrungen in Strategie und Taktik, ich falle nicht im ersten Sturm. Schließlich weiß ich, wie man einen hinhaltenden Rückzug durchführt. Erst Frontbegradigung, dann den Einbruch des Gegners provozieren, abriegeln, Kessel schließen, Luftwaffe drauf … sonst würde ich schon längst dort unten liegen.“ Der General wies auf den Keller der Ruine und lächelte ein böses Lächeln. „Ja, in meiner Jagdhütte sollte ich verbrennen. Aber ich wollte noch einen mitnehmen. Den, der den Mörder für mich bestellt hatte. Am Morgen des Tages, an dem es hier gebrannt hat, hatte ich angekündigt, daß ich ins Jagdhaus fahren würde. Es war eine Finte, um herauszufinden, wer der Mann über mir ist, der meinen Tod befohlen hat. Der Mörder und das spurentilgende Feuer, die waren für mich bestimmt, nicht für Heinrich, den Waldhüter, und nicht für seinen Hund.“ De Chalon hob jetzt die Waffe und zeigte mit dem Lauf zur Straße. „Ich hoffe, daß ich den Mann, der mich während der letzten Jahre so treu beschattet hat, ohne daß ich es wußte – daß ich den noch auszahlen kann für seine Dienste. Bevor ich selbst …“ Er tippte mit dem Lauf an seine Schläfe. Seine Augen funkelten gierig. „Ich möchte seine Visage sehen, wenn ich hineinschieße, sein …“ Ein Schuß fiel und noch einer. Geckeler sprang vor. Der General fiel auf das Gesicht, war tot, Geckeler sah es mit einem Blick. Im Hinterkopf zwei Einschußlöcher. Der Inspektor lag im Gras neben dem Toten, wartete auf weitere Schüsse, doch es fielen keine mehr. Hinter der Ruine richtete sich ein Mann auf, neben ihm ein zweiter. 271
„Erwin!“ entfuhr es Geckeler. „Was machst …“ Er konnte es nicht fassen, er stotterte. Sein Fahrer hielt noch die Waffe in der Hand. „Ist übrigens Ihre Dienstwaffe, Inspektor“, sagte Erwin in bedauerndem Ton. „Sie sollten wirklich besser auf die Knarre aufpassen. Eine andere hatten wir so schnell nicht zur Hand, außerdem schießt sie ganz gut, hab’ ich schon öfter ausprobiert. Sie lassen das Ding ja überall rumliegen.“ Geckeler stand auf, klopfte sich den Anzug ab, wartete, bis das Zittern in ihm abgeklungen war. So ist das also, dachte er. Es geht noch nicht mal um Politik, um Geheimdienst. Es geht ganz einfach ums Geschäftemachen, nur um Geld. Die Schweinerei ist viel größer, als ich mir hab’ träumen lassen. Dann sagte er zu Bonaire, der in einem Zivilanzug hinter Erwin stand: „Aber jetzt, Capitaine, haben Sie Ihre Milchkuh totgeschossen.“ Bonaire schlenderte heran. „Was ist schon ein General? Die sind auswechselbar, die kann man im Dutzend kaufen. Und diese verarmten Adligen sowieso.“ Er lachte. „Die sind am billigsten. Die bezahlen sogar ihre Ausbildung noch selbst. Von denen gibt’s genug. Wir kaufen uns einen neuen, Geckeler. Einen jüngeren, der besser funktioniert.“ „Und jetzt werdet ihr mich umlegen müssen. Mit meiner Dienstwaffe in die Schläfe, neben dem toten General. Paßt ja.“ „Sicher, das wäre eine Möglichkeit. Aber es wird nicht nötig sein. Sie sind auch so ein toter Mann.“ „Aber ich weiß jetzt alles, Bonaire. Und welche Rolle Sie spielen, kann ich mir vorstellen.“ Bonaire warf einen Blick zur Leiche des Generals. „Hat der alte Mann geplaudert, ja? Stimmt, in letzter Zeit 272
hatte er sich das angewöhnt, deshalb brauchten wir ja auch einen frischen.“ Er lachte. „Und ich werde wieder der kleine Adjutant sein. Der kleine Capitaine Bonaire, der bescheiden die Papiere zur Unterschrift bereitlegt.“ Bonaire ging zur Leiche des Generals und drehte sie auf den Rücken. Die Orden klimperten und blitzten in der Sonne. „Viel Blech für einen alten Trottel. Mehr ist nicht übrig nach so viel Jahren Generalsein. Ein Kadaver voll buntem Blech … na, vielleicht sind die Dinger auch vergoldet …“ „Und jetzt ist die Leiche ohne Blech an der Reihe?“ fragte Geckeler, denn er konnte Bonaire nicht glauben. „Nein, Geckeler, Sie werden schön am Leben bleiben und erzählen, daß jeder gut dran tut, seine Finger draußen zu lassen. Das, was Sie wissen, kann jedermann erfahren. Und daß Sie nicht unnötig viel wissen, dafür hat ja Ihr Fahrer gesorgt, als er den Alten da … Vielleicht hätte er Ihnen doch noch zuviel erzählt. Aber das wollten wir Ihnen nicht zumuten, Sie haben so ein weiches Herz. Der Alte hätte Ihnen vielleicht erzählt – Selbstmörder pflegen ja so was zu tun –, daß es bei unserem Geschäft nicht um Millionen, sondern um Viertelmilliarden geht, manchmal sogar um halbe. Können Sie sich vorstellen, was ein Allwetterjäger kostet? Oder besser: Was eine Staffel von denen kostet? Mit vollem Service, Munitionsreserve und mit Piloten? Denn mit einem einzigen von diesen Fürstenspielzeugen können Sie nichts anfangen, die müssen Sie im Verband kaufen, inklusive Bodendienst. Und es gibt so viele Fürsten oder Fürstchen, mit oder ohne Krone, die allzugern mit solchen schnellen Sachen spielen. Das macht munter und sehr zuversichtlich, wenn man solche Pferdchen in seinem Stall hat. Die Angelegenheit hat nur einen Haken, Geckeler: Ein paar große Fürsten 273
sehen es gar nicht gern, wenn die kleinen Fürsten so was haben, weil … na, Sie können sich das denken. Und diese kleinen Hindernisse im freien Warenverkehr, die helfen wir beseitigen, Geckeler. Wir sind ein Dienstleistungsbetrieb. Es werden hohe Umsätze gemacht, es wird viel verdient, also sind Leute im Geschäft, die Einfluß haben. Wenn ich Ihnen Namen verriete, würden Sie einige sogar aus der Zeitung kennen. Und deshalb, Monsieur Geckeler, muß alles aus dem Wege, was den Kontenbewegungen hinderlich ist.“ „Deshalb habt ihr auch die beiden …“, sprach Geckeler vor sich hin. „Aber warum waren die im Wege? Gewöhnliche Gammelbrüder?“ „Das müssen Sie nicht wissen, Geckeler, das beschwert Sie nur.“ Bonaire ließ seine kleine Hand auf Geckelers Schulter fallen. Der zog die Schulter weg und wandte sich ab. „Gehen Sie nur“, sagte Bonaire, und Geckeler stieg stolpernd über die breiten Sandsteinstufen den Weg hinab. „Inspektor!“ rief Erwin ihm nach, und hinter ihm fiel etwas Hartes auf die Steine. „Nehmen Sie den Ballermann mit, Inspektor, sonst kriegen Sie noch mehr Ärger! Muß ja nicht sein.“ Aber Geckeler drehte sich nicht um.
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32 Die Sonne war voll durchgekommen, die letzten Wolken zogen nach Osten ab. Der See lag blau und kalt. Geckeler blieb vor der schweren Tür des „Schwarzen Rosses“ stehen, sah auf die weite Wasserfläche unter sich, sah die weißen Dampfer, sah sie nicht, sah sehr deutlich die weißen Gletscherkappen der Berge im Süden, die über dem See zu schweben schienen, weil man die Hügel an ihrem Fuß nicht erkennen konnte. Er sah die bunten Autobusse funkeln, Glas und Chrom und Lack, er sah die Schlangen hellgekleideter Touristen herausklettern, sah sie Brot ins Wasser werfen für die ölverschmutzten Schwäne, sah sie Schub für Schub in die Ufergaststätten einrücken. Und er hörte ihr ausgelassenes Lachen. Wie beim Kommiß das Essenfassen, dachte er. Sonst konnte er nichts denken, und er wollte auch gar nicht. Er wollte am Tisch sitzen, drinnen im „Roß“, und wollte dort mit Alwin reden, er wollte lachen können. Darüber, wie sie den alten Käse unter das Lehrerpult genagelt und wie sie dem Kutschpferd des Dorfpfarrers eine Handvoll Pfeffer unter den Schwanz gerieben hatten. Oder wie Alwin die Leiter weggenommen hatte, als Geckeler bei Haberies Käthe in die Kammer gestiegen war. Wie Geckeler in die Rosenhecke hatte springen müssen, als der alarmierte Haberle mit dem Knüppel die Stiege heraufkam, und wie ihm nachher der Hund die Hose vom Hintern gerissen hatte. All das wollte Geckeler noch einmal hören oder noch zweimal. Aber er hörte es nicht, als er in der stark besetzten Gaststube saß, seinen Wein vor sich. Alwin mußte heute laufen, klappte Speisekarten auf, machte den Buckel krumm, beriet, empfahl. Heute würde seine Kasse stimmen. 275
Endlich waren die Touristen wieder da. Selbst im Hinterzimmer hatte er eine Reisegruppe sitzen. Die Saison ließ sich gut an. Geckeler hockte da auf seiner Bank am Zweiertisch und sah nicht auf. Er wollte gar nichts sehen durch die blankgeputzten Butzenscheiben des Fensters an seiner Seite, und die fröhlich schwatzenden Fremden an den Tischen um ihn herum, die wollte er erst recht nicht sehen. Den Mann, der sich zu ihm setzte, bemerkte er erst, als der die Speisekarte nahm und fragte: „Können Sie mir was empfehlen, Inspektor? Sie sind doch Stammgast hier.“ Garolle saß ihm gegenüber, lächelte freundlich zu ihm hin und sagte: „So trifft man sich, Kollege. Haben Sie schon gegessen?“ Geckeler antwortete nicht, füllte nur sein Glas aus dem Krug nach. Der Krug klirrte, als er ihn absetzte. Das Sonnenlicht funkelte schmerzhaft hell im Glas. Die Serviererin stellte zwei große Kognakgläser auf den Tisch. „Kommen Sie, Geckeler, seien Sie kein Frosch und kein Idiot.“ Garolle schob Geckeler ein Glas zu. „Trinken wir einen auf den Abschluß der Geschichte. Sie sind ein Typ, mit dem ich gerne einen trinken würde. Sie haben mir imponiert, Inspektor. Ehrlich! Ich sage das nicht nur so hin. Sonst würde ich mich nicht hierher setzen.“ Er hob sein Glas. „Die Sache ist jetzt abgeschlossen. Wir sollten uns vertragen.“ Laß ihn doch erzählen, dachte Geckeler, ganz ruhig bleiben, soll erzählen, der Junge. Er schlürfte von seinem Wein. „Wirklich, wir könnten Frieden schließen, Geckeler.“ Garolle, mit dem zum Anstoßen erhobenen Glas, sah aus, als ob er es ehrlich meinte. 276
„Ein paar Fragen vorher, Garolle.“ Garolle lächelte, seine Zähne blitzten. Er trank einen Schluck. „Immer noch der Alte, was? Sie sind eine Bulldogge, Inspektor, und ich mag Bulldoggen. Na, fragen Sie schon, heute kann ich Ihnen etwas sagen.“ Geckeler spielte mit dem Kognakschwenker. „Wie seid ihr an die Tramps gekommen? Warum wolltet ihr sie unbedingt haben?“ „Wie wir an die gekommen sind? Kann ich Ihnen zeigen.“ Er lachte laut, griff in seine Sakkotasche, zog die Hand, zur Faust geballt, heraus und öffnete sie vor Geckelers Augen. „Na?“ Auf der langgestreckten feingliedrigen Hand lag eine Kamera, nicht größer als eine Streichholzschachtel. „Trage ich immer bei mir. Ist ja nicht schwerer als ein Feuerzeug. Und wenn man mal ein Bildchen braucht von einem, den man später noch mal aufstöbern möchte, schnappschnapp, schon hat man eins.“ Er lachte ein gutmütiges Lachen. Ganz ruhig bleiben, Alter, der erzählt noch weiter, dachte Geckeler und nippte einen Schluck vom Kognak. „Gib mir eine Zigarette, Garolle.“ „Aber gerne!“ Der Hagere reichte Geckeler Zigarette und Feuer. Die Serviererin stellte die Suppe auf den Tisch und rückte das Besteck zurecht. „Du warst also in dem Jagdhaus, als die drei …“ „Hm.“ Der Hagere schlürfte genußvoll den ersten Löffel. „Ich hatte dort zu tun, ja. Heute kann ich Ihnen das sagen.“ „Du hast … du hast den Alten umgelegt?“ fragte Geckeler weiter. Garolle legte den Löffel ab und machte eine bedauernde Geste. „Ich hatte den Auftrag, einen Mann, der zu einer bestimmten Zeit ins Haus kommen würde …“ Er 277
tippte mit der Handkante auf den Tisch. „Daß sie mir den Richtigen nicht geschickt haben, das geht mich nichts an. Pech für die drei Jungens, daß sie mich im Haus gesehen haben. Also …“ Wieder die Handkante auf dem weißen Tischtuch. „Eins, zwei, drei!“ tippte Garolle. „Ordnung muß sein. Keine Zeugen.“ „Wieso drei?“ „Erkläre ich Ihnen noch, Inspektor, erkläre ich Ihnen noch. Darf ich erst mal die Suppe …“ Garolle schaute lächelnd hoch, lächelte richtig freundlich heute, ohne das Lauern hinter den Pupillen. „Diese Suppe! Also wirklich, ganz vorzüglich!“ Er kratzte das letzte bißchen Flüssigkeit auf der bäurisch-derben Suppentasse, schmatzte leise und leckte den Löffel ab, bevor er ihn hinlegte. „Sie haben Geschmack bei der Auswahl Ihres Stammlokals, Inspektor. Alles sehr gemütlich hier. Angenehme Atmosphäre.“ Mit der buntbedruckten Serviette tupfte er sich langsam den Mund ab und ließ dabei seinen geübten schnellen Blick über den Gastraum gleiten. Er sah zufrieden aus, gelockert. Das herrliche Frühlingswetter draußen wirkte auch auf ihn. Er meinte heute alles ehrlich, was er sagte. Erzähl du nur, dachte Geckeler, wollte gar nicht denken, schob das gefüllte Kognakglas an den Rand des Tisches, zog sein Weinglas näher und spielte mit dem Henkel. Erzähl du nur, du Schweinehund. Du kannst mir nichts erzählen. Mir wird keiner mehr so schnell etwas erzählen. Jedenfalls glauben werde ich so leicht nichts mehr. Glauben darf man wohl gar nichts. Entschlossen trank er den Schoppen in einem Zuge leer und stellte das Glas hart auf den Tisch. „Du kommst dir großartig vor, wie?“ fragte er ganz ruhig und lächelte zu Garolle hinüber. „Der großmütige 278
Sieger, was? Der freigesprochene Ganove, der dem Polizisten, der ihn hopp genommen hat, einen ausgibt …“ „Was soll das, Inspektor? Sie wissen, daß ich ein kleines Licht bin. Haben Sie ganz richtig gesagt. Ich werd’ nur ungemütlich, wenn man mir ans Fell geht.“ Garolle ließ die geknüllte Serviette in die Tasse fallen und schob das Geschirr beiseite. „Ich mache meine Arbeit, das ist alles. Ich muß sie machen! Und diese vielleicht, weil ich keine bessere gefunden habe oder für eine andere nicht so gut geeignet bin. Ich kenne nur diese, Geckeler.“ Sein braunes Gesicht sah faltig aus in einer grellen Bahn des Sonnenlichtes. Dann lachte der Hagere auf, und sein Gesicht wurde glatt. „Sie können mir glauben, Geckeler, ich war auch mal ein kleiner Junge, wollte Lokomotivführer werden, Kapitän später oder Bandenchef. Genau wie Sie …“ Geckeler zuckte unwillig mit den Augenbrauen. „Doch, doch! Wir wollten das alle mal. Oder etwas Ähnliches zumindest.“ Garolle schüttelte, ohne hinzusehen, eine Zigarette aus der Packung und rollte sie mit der Handfläche auf dem Tisch hin und her. Er sah zum Fenster hinaus in die raschelnden Blätter des Weinspaliers und sprach dann langsam weiter: „Ja … aber ich bin eben an einen solchen Job geraten. Daß ich dabei bleiben muß, wenn ich einmal angefangen habe, das wissen Sie, Geckeler. Und ich will auch dabei bleiben, weil das meine einzige Chance ist. Diese Arbeit machen viele. Die einen mit dem Bleistift, die anderen am Telefon. Und ich mit … na, Sie wissen ja.“ Geckeler rückte an seinem Stuhl, als ob er aufstehen wollte, dann nahm er die Zigarette vom Tisch und zündete sie an. Garolle grinste, beugte sich zu Geckeler hinüber, dämpfte die Stimme und sagte, vertraulich, als ob er einen 279
pikanten Witz erzählen wollte: „Ich bin Spezialist geworden. Töten ist ein Beruf. Millionen junger Männer werden dazu ausgebildet. Jeder Soldat muß es erlernen und muß es tun. Und wenn er Glück hat, bekommt er bestenfalls eine Blechmedaille dafür …“ „Das ist etwas anderes!“ entfuhr es Geckeler. Er stieß Rauch aus und hustete hohl. „So?“ grinste der Hagere, und seine langen schwarzen Wimpern legten einen Schleier auf die Augen. „Sehr was anderes ist das!“ knurrte Geckeler, stieß die Zigarette in den Aschenbecher und zerdrückte sie. Garolle lächelte mild und schob die Zigarettenpackung zu Geckeler hin. „Sie sind ein Kindskopf, Inspektor. Langsam müßten Sie gemerkt haben, daß der Dienstherr immer der gleiche ist. Ihrer oder meiner. Ob in Krieg oder Frieden. Man sieht nur immer den, der direkt über einem ist. Den noch weiter oben, den sieht man schon nicht mehr. Der ist zu weit weg, im Dunst. Haben Sie mal gesehen, wie man heute Hunde abrichtet, einfach und zeitsparend? Nein? Geht wirklich ganz einfach! Man schnallt dem Tier eine Batterie um, legt ihm eine Elektrode an, dann läßt man es laufen. Der Dompteur hat einen kleinen Sender. Er pfeift dem Hund, der Hund bleibt natürlich nicht stehen, der Mann kippt am Sender einen Schalter, Hund erhält einen Stromstoß, jault und hat gelernt!“ Jetzt lachte Garolle auf, und seine Nasenspitze bog sich auf den Mund hinab. „Bis an sein Lebensende, Inspektorchen, wird der Hund nicht begreifen, von wem er da gezwickt wird. Danach richten aber wird er sich.“ Geckeler fingerte eine Zigarette aus der Packung und zerbröselte sie über dem Aschenbecher. „Was soll’s, Garolle? Weshalb erzählst du mir das?“ knurrte er und 280
versuchte gleichmütig auszusehen. „Denkst du, mich interessiert dein Quatsch?“ Der Hagere lächelte unverändert freundlich. „Ich denke gar nichts, Geckeler. Fiel mir nur so ein. Man will sich doch ein bißchen unterhalten, wenn man schon an einem Tisch sitzt. Fiel mir ein, als ich an Sie dachte und an Ihren Chef. Sie wissen beide auch nicht, wem sie eigentlich gehören. Sie wissen nur, daß Sie sich nicht selbst gehören. Daß Sie etwas machen müssen, was Sie gar nicht wollen. Freiheit … Wer ehrlich zu sich selbst ist, weiß das, Geckeler … daß er nicht den Sender in der Hand hält, sondern die Elektrode im Genick. Daß er nur die Freiheit hat, rechtzeitig kusch zu machen, wenn der Pfiff kommt, bevor …“ Der ist verrückt, dachte Geckeler, schenkte sich sein Glas wieder voll und trank es gleich aus. Dann gab er sich Mühe, gleichgültig auszusehen, und dachte dabei: Soll endlich abhauen, der Kerl. Der redet einen ja besoffen! Ich will meine Ruhe haben, hab’ genug Ärger am Hals. Er grinste den anderen an, dem die Serviererin gerade das Besteck neben den Teller legte. Er sagte: „Wär mir lieb, wenn du bald verschwinden würdest, Garolle. Sehr lieb wäre mir das!“ „So?“ Zielsicher stach der andere die Gabel ins blutige Steak. „Ja!“ Garolle schnitt sich in aller Ruhe einen Happen ab, spießte Pommes frites dazu, und während er langsam kaute, blickte er Geckeler lächelnd an. Wie eine Gummiwand ist der Kerl, dachte Geckeler. Nasser, glitschiger Gummi, so daß es einen davor ekelt, ihm eine reinzuhauen. Der ist überhaupt kein Mensch, 281
fiel ihm dann ein. Na klar, das ist es. Der funktioniert wie aufgezogen, der hat Lochkarten im Gehirn – und noch dazu die falschen. So was dürfte überhaupt nicht leben. So was müßte man … Geckeler stockte in seinem Gedankengang. Was müßte man mit dem? Vergasen und dann unterpflügen? Da haben wir’s ja wieder, verdammt. Wie komme ich denn bloß darauf? Sind wir schon wieder so weit? Hau dir selber eins aufs Maul, Geckeler! Aber was machen mit denen, die keine Menschen sind, was machen …? Ich will weg! Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf. „Warum so eilig, Inspektor?“ Die weiche Stimme des Hageren. Zwischen zwei Bissen die Zunge, die über die schmalen Lippen fuhr. Die spöttisch herabgezogenen Mundwinkel. „Ich hab’ noch ein paar Neuigkeiten für Sie!“ „Neuigkeiten?“ Geckeler wollte sich nicht setzen, plumpste aber doch wieder auf den Stuhl zurück. „Raus damit!“ Ist eh alles egal, dachte er müde. Garolle schnitt sich einen Happen zurecht, tränkte ihn sorgsam mit Soße, dann sagte er: „Kurland-Erwin hat diesen General …“ Er hielt sich den Zeigefinger an die Schläfe. „Wußten Sie das schon? Ihr altvertrauter Kurland-Erwin.“ Geckeler knurrte und sah nicht auf. Er fühlte sich sehr müde plötzlich. „Das sollen Neuigkeiten sein, du Waschweib?“ Ich will weg hier, ich will aufstehen, dachte er, aber er kam nicht hoch. Am liebsten hätte er seinen Kopf auf den Tisch gelegt. „Aber Erwin haben sie neben dem General gefunden. Er war genauso tot.“ Garolle legte die Gabel ab und lachte leise in der Kehle. Geckeler hob den Kopf ein wenig, seine Augen blieben glasig. Was, dachte er, den haben sie auch? Scheiß 282
drauf! „Geschieht ihm recht, dem Schweinhund.“ Mitgegangen, mitgehangen! Für mich war er schon vorher tot. Kurland-Erwin! Keinem wird man mehr trauen können, selbst dem besten Freund nicht. Geckeler hob seine leere Karaffe und winkte der Serviererin. Er lachte albern auf. „Bin gespannt, Garolle, wie lange die mich noch laufenlassen? Stehe ich schon auf deiner Liste? Haben sie dir nicht schon einen Schlüssel gegeben, der zu meiner Wohnung paßt? Bist du zum Maßnehmen hierhergekommen? Kannst du mir ruhig sagen! Ich halt’ sowieso still, wenn’s soweit ist. Keine Lust mehr!“ Er goß sich aus der frischen Karaffe Wein ins Glas, so heftig, daß es überschwappte. Seine Hand zitterte nicht, war nur schwer, wie aus Holz und auch so ungelenk. Garolle lachte nicht mehr, sah teilnahmslos zu Geckeler hinüber, schüttelte dann leicht den Kopf und sagte: „Nein, Inspektor. Auf meiner Liste stehen Sie nicht. Ich habe ab heute Urlaub.“ Er zögerte kurz, dann griff er in die Jackentasche, klappte seine Brieftasche auf und entfaltete einen Zeitungsausschnitt. Er reichte ihn zu Geckeler hinüber, der ließ ihn in die Weinpfütze gleiten, fischte ihn heraus, schüttelte ihn ungeschickt und versuchte zu lesen. Garolle beobachtete ihn, griff über den Tisch. „Ach, Sie können nicht ein bißchen Spanisch? Ich werde es ihnen vorlesen, Geckeler. Ein paar Zeilen, das genügt.“ Geckeler widersprach nicht. Er spürte einen bohrenden Kopfschmerz und fühlte sein Gehirn im Schädel schwimmen. „Volkswagen, älteres Modell“, las der Hagere und spießte nebenbei Pommes frites auf die Gabel. „Fahrer: ein Mulatte unbekannter Herkunft … offensichtlich die Gewalt über den Wagen verloren … in eine Schlucht 283
gestürzt, in Brand geraten … Toter konnte nicht identifiziert werden. Punkt.“ Er faltete das Stück Papier mit einer Hand und steckte es wieder ein. Warf einen lauernden Blick zu Geckeler, der nicht aufgesehen hatte, der dumpf auf die Tischplatte starrte. Dann sagte Garolle, während er weiteraß: „Schlechte Straßen dort unten, ich kenne die Gegend. Besonders im Gebirge … keine Leitplanken, nichts, ziemlich ärmlich da zwischen Murcia Granada … ich komme gerade von dort.“ Er beugte sich tief über den Teller, um Geckeler in die Augen sehen zu können. „Schlechte Gegend für einen, der allein fährt. Sehr schlecht. Aber nun ist Ruhe. Alles ausgestanden. Sie sehen, ich kann mir Urlaub gönnen, Inspektor.“ Geckeler hob den Kopf, drückte die Daumen in die Augen. Er wollte es gar nicht, aber vielleicht war es wegen des rasenden Kopfschmerzes, der ihm den Schädel fast auseinandertrieb, daß er plötzlich brüllte: „Du Schwein! Ihr Schweine! Alle seid ihr Schweine!“, daß er den Tisch gegen Garolle kippte, der mit seinem Stuhl zusammenbrach, daß er sich auf den Liegenden stürzte, ihn schlug, mit Füßen trat, daß er den schweren Tisch wieder hochriß, um Garolle den Schädel einzuschlagen. Aber bevor er den Tisch niederschmettern konnte, hatte man ihn überwältigt. Einige junge Männer drehten ihm die Arme auf den Rücken, traten ihn in den Leib, und Geckeler wehrte sich nicht, er wollte nichts mehr. Er sah Alwins rotangelaufenes Gesicht vor sich auf und ab tanzen und hörte seinen Schulfreund giften: „Du kommst hier nicht mehr ’rein! Nie wieder, hörst du? Du nicht mehr! 284
So was will Beamter sein! So einen setzt man sich in den Pelz, tut alles für ihn, und das ist nun der Dank!“ Und er sah auch, daß Alwin nach ihm treten wollte, daß nur die Gäste ihn daran hinderten. „Laßt mich jetzt los, ich muß kotzen“, sagte Geckeler dumpf. Vorsichtig lockerten die Männer ihre Griffe, und Geckeler ging schwankend zur Toilette, der zeternde Alwin hinter ihm her. „Wenn du dich noch einmal sehen läßt bei mir, lass’ ich dich von der Polizei rauswerfen, merk dir das! Und überhaupt, den Schaden mußt du mir ersetzen, du Lump!“ Bis an die Schwingtür der Toilette folgte er seinem Schulfreund, dann machte er den Rücken wieder krumm, setzte ein leidendes Lächeln ins fette Gastwirtsgesicht und beschwichtigte die Gäste. Eine neue Reisegruppe kam, ausgelassen plaudernd, von der Garderobe. „Oh, ist das hier gemütlich!“ riefen einige. Alwin wischte die Hände an der Schürze ab. „Darf ich bitten, meine Herrschaften? Wieviel Plätze dürfen’s denn sein?“ Als Geckeler durch die Hintertür aus der Toilette trat, fühlte er sich schwach, benommen, wie nach schwerem Blutverlust. Jetzt werd’ ich wohl immer Kopfschmerzen haben, wenn Föhn ist, dachte er und tappte mit der Rechten an der Wand entlang, wie ein alter, kranker Mann. Am Ende des halbdunklen Korridors, der nach Abwaschbrühe und nach Küchenschaben roch, stand einer, faßte Geckeler unter und stützte ihn. Schröder sagte: „Laß die mal, Geckeler, laß nur. Ich weiß, wie das ist, wenn man so völlig fertig ist, wenn man denkt, daß es nicht weitergehen kann. Ich kenn’ das. Tritt sich alles fest. Man fällt auf die Schnauze, ’rein in den Dreck, man spuckt’s aus und krabbelt wieder hoch. 285
Man kommt immer wieder hoch, Geckeler. Immer wieder! Sogar gegen die, die unsereinen unten haben wollen. Man muß nur selber wollen.“ Sie traten ins Freie. Die Sonne blendete, die Wellen des Sees klatschten ans Ufer, die Fremden lachten unbeschwert, Möwen schrien, und ein kühler Wind wehte von den Alpen herunter. Geckeler kniff die Augen zusammen und leckte sich die aufgesprungenen Lippen. „Du meinst, man muß nur immer wieder wollen?“ „Ja“, sagte Schröder lächelnd. „Muß man wohl.“
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Jerzy Edigey Der Tod wartet vor dem Fenster Kriminalroman DIE Reihe Aus dem Polnischen von Roswitha Buschmann etwa 224 Seiten, etwa 2,- Mark Erscheint im Verlag Das Neue Berlin
Leseprobe Der Major fürchtete, er werde es noch mit vielen solcher Fehlinformationen und verworrenen, ins Nichts führenden Spuren zu tun bekommen. Ungeachtet dessen, wer der Mörder war – in der einen Sache funktionierte die kleine Welt der Honoratioren und hielt fest zusammen: Sie ließ es nicht zu, daß sich jemand in ihre Angelegenheiten einmischte. Das Gebäude der Milizwache in Podleśna bestand aus fünf Zimmern. Eigentlich aus vier und der ehemaligen Küche, die zum Lager und Archiv umgebaut worden war. Im größten Raum hatte ständig ein Milizionär Dienst, und dort wurden auch die Besucher abgefertigt. An diesen Raum schloß sich ein kleinerer an, in dem sich das Arbeitszimmer des Kommandanten befand. Auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs gab es noch drei Zimmer. Eines war das bereits erwähnte Lager, das zweite der Aufenthaltsraum für die Milizionäre. Hier konnten sie ihre Berichte und Meldungen schreiben und sich in den Pausen zwischen dem Außendienst ausruhen. Das letzte, fünfte Stübchen, das kleinste von allen, hatte keine besondere Bestimmung. Es diente einfach als eine Art Rumpelkammer.
Dieses Zimmerchen nun beschloß der Major zu seiner Junggesellenbude zu machen. Weil zur Zimmereinrichtung auch ein Waschbecken gehörte, durfte man annehmen, früher, bevor das Gebäude in eine Dienststelle umgebaut worden war, sei hier das Bad gewesen. Jetzt trug man der Reinigungskraft auf, das überflüssige Gerümpel wegzuschaffen und den Raum so herzurichten, daß er benutzt werden konnte. An Möbeln fehlte es nicht. Es fanden sich ein kleiner Tisch, zwei Stühle und ein schmales, aber noch gut erhaltenes Sofa an, ja sogar ein alter, klappriger Schrank, den Korporal Nierobis, der sich aufs Tischlern verstand, sehr bald wieder in Ordnung zu bringen versprach. Als die Wohnungsfrage geklärt war, durfte sich der Major endlich auch um seine Verpflegung kümmern. Die einzige Gaststätte am Ort konnte sich keiner guten Küche rühmen. Die Existenzgrundlage besagten Lokals waren drei „Gerichte“: Wodka, saure Gurken und Rollmops. Wer etwas anderes verlangte, wurde betrachtet, als käme er vom Mond. Im nahe gelegenen Ruszków gab es zwar eine Konsum-Betriebsküche, aber dort zu essen hielt Niewarowny für Zeitverschwendung. Er beschloß, sich wie in Warschau einmal am Tag selbst eine warme Mahlzeit zu bereiten. Zum Frühstück hatten Milch und ein Stück Brot zu genügen, und die Abende beabsichtigte er im Café „Marysieńka“ zu verbringen. Gleich bei der Bahnstation stand ein hübscher und recht ansehnlicher Flachbau. Die „Kaufhalle“, wie ihn die Einwohner von Podleśna mit einiger Übertreibung nannten. Es war der größte Laden im Ort und lag außerdem ganz in der Nähe des Milizgebäudes. Der Major ging also dorthin, um das Notwendigste für sein Mittagessen einzukaufen. Den Abend über wollte er noch in
Warschau bleiben. Er hatte einiges für seinen privaten Bedarf von zu Hause zu holen. Der erste Mensch, den der Major im Laden erblickte, war Frau Hanka Nielisecka, die im weißen Kittel an der Kasse saß. Sie begrüßte den Offizier mit einem strahlenden Lächeln. „Wie nett von Ihnen, Major, daß ich nach der ‚Marysieńka‘ an zweiter Stelle auf Ihrer Besuchsliste stehe. Ich würde mich echt geehrt fühlen, wenn ich nicht den leisen Verdacht hätte, daß Ihr Spaziergang nicht meiner bescheidenen Person gilt, sondern prosaischere Gründe hat. Trotzdem, ich heiße Sie herzlich willkommen. Womit kann ich Ihnen dienen?“ „Ich wußte gar nicht, daß Sie hier arbeiten“, gestand Niewarowny ganz offen. „Ich bin überzeugt, wenn Sie es nur geahnt hätten, wären Sie einen Kilometer weiter zum nächsten Laden gelaufen. Bitte nehmen Sie einen Korb, ich führe sie durch mein Reich und helfe Ihnen bei Ihren Einkäufen.“ Die Nielisecka wandte sich an eine Verkäuferin: „Jadzia, bitte vertritt mich mal an der Kasse.“ Der Major nahm gehorsam einen Korb und folgte ihr. Frau Hanka sagte: „Sie brauchen bestimmt etwas zum Mittag, denn in die hiesige Kneipe zu gehen rate ich Ihnen nicht. Weißwurst kann ich Ihnen heute besonders empfehlen. Einen Topf und einen elektrischen Kocher wird es im Milizgebäude ja geben, nicht wahr? Ja, und dann noch Brot, Zucker und ein Päckchen Tee. Sie als bedeutende Person bekommen ein Päckchen ‚Yunan‘, das gibt’s normalerweise nur unter dem Ladentisch. Zum Tee schlage ich diese Kekse hier vor. Die sind wirklich vorzüglich und werden nicht schlecht, was in Ihrer Junggesellenwirtschaft ziemlich wichtig ist. Und hier noch ein Achtel Butter.“
Die Verkaufsstellenleiterin fragte den Major nicht einmal, ob er auch einverstanden sei, sondern legte ihm die Lebensmittel einfach in den Korb. „Sie fahren heute nach Warschau zurück? Folglich essen Sie heute abend und morgen früh zu Hause. Aber übermorgen … Was brauchen Sie zum Frühstück?“ „Etwas Milch und ein Stück Brot.“ „Dann müssen wir Sie auf die Milchbestelliste setzen, Major. Einen Liter oder einen halben?“ „Schreiben Sie ruhig einen Liter.“ „Recht so. Da bleibt immer was für saure Milch. Die ist nämlich sehr gesund, besonders wenn man aus dem Café ‚Marysieńka‘ nach Hause kommt, wo Sie sicherlich Stammgast werden. Jetzt kommen Sie bitte mit zur Kasse, Sie bezahlen, und danach lade ich Sie zu mir nach hinten ein. Da unterhalten wir uns bei einem guten Kaffee.“ Der Major gehorchte ohne Widerrede den Anweisungen der energischen Dame. Er bezahlte ganz mechanisch, steckte den langen, schmalen Kassenbon in die Brieftasche, aber er war mit den Gedanken woanders. Endlich, als sie bereits in dem kleinen Büro im hinteren Teil der Verkaufsstelle saßen, erkundigte sich der Offizier: „Liefern Sie die Milch auch nach Hause?“ „Seit ungefähr zwei Jahren. Vorher brachten sie die Frauen aus den Dörfern. Eine Milch, von der man nicht wußte, woher sie stammte, und Gefäße, die auch nicht gerade sauber waren. Ich habe lange kämpfen müssen, damit der Privatverkauf abgeschafft wurde. Die größte Schwierigkeit war, jemand zu finden, der die Milch austrägt, denn das ist ein weit schlimmeres Amt als in Warschau. Da muß man mit einem Handwagen durch den ganzen Ort kutschieren, von Villa zu Villa. Aber
schließlich habe ich dann doch einen Freiwilligen aufgegabelt. Der Mann ist kein Zusteller, sondern einfach eine Perle. Pünktlich, fleißig. Der hat mich noch nie versetzt. Wenn er nicht selber kommt, schickt er einen, der ihm aushilft. Tagtäglich erscheint er morgens Punkt vier Uhr vor dem Laden. Manchmal muß er sogar noch auf das Molkereiauto warten. Wirklich eine Hundearbeit. Tag für Tag, egal, bei was für Wetter. Er verdient dabei zwar ziemlich gut, aber so viel nun auch wieder nicht. Ich nehme an, er kriegt von den Kunden noch was zusätzlich zugesteckt, sonst hätte er wahrscheinlich nicht so lange durchgehalten.“ Diese Worte bestätigten Niewarownys Vermutungen. Es gab also jemand, der täglich im Morgengrauen mit seinem Handwagen durch die Straßen des Ortes zog. Vielleicht war dem etwas aufgefallen, was ein Licht auf den Mordfall Kwaskowiak werfen konnte. Bei seiner Großaktion, gleich nachdem das Verbrechen entdeckt worden war, hatte Hauptmann Lewandowski Dutzende von Personen vernommen. Der Milchzusteller war ihm entgangen. Zum zweitenmal verspürte Niewarowny eine gewisse Genugtuung, daß er auf eine Unterlassung seines jüngeren Kollegen gestoßen war. „Ich möchte mit diesem Milchzusteller sprechen. Was ist das für ein Mann?“ „Stefan Zborkowski. Er wohnt hier in der Nähe, hinter den Bahngleisen.“ Die Verkaufsstellenleiterin sah auf die Uhr. „Sie brauchen nicht lange nach ihm zu suchen. Es ist gleich zwei. Stefanek, so nennen ihn hier alle, kommt für gewöhnlich um diese Zeit in den Laden, um festzulegen, welche Milchmenge er am nächsten Tag ausfährt.“ „Das steht doch wohl von vornherein fest, wer und wieviel jemand bestellt hat?“
„In Warschau schon. Bei uns geht es familiärer zu. Manchmal möchte jemand einen oder zwei Liter mehr haben, oder er verzichtet an einem Tag überhaupt auf die Milch. Außerdem bestellt das Café täglich eine andere Menge, ja nachdem, welcher Betrieb zu erwarten ist. Diese Abweichungen liegen übrigens im Interesse des Zustellers, denn Zborkowski erfüllt derlei Sonderwünsche bestimmt nicht nur aus purer Freundlichkeit. Warten Sie einen Moment, ich sage im Laden Bescheid, daß wir Stefanek hier brauchen.“ Als Frau Hanka zurück war, nahm der Major einen Schluck von dem kräftigen Kaffee und fragte: „Woher wissen Sie, daß ich heute nicht in Podleśna übernachte?“ „Ganz einfach. Man braucht nur an der Kasse zu sitzen und zuzuhören, was die Leute so erzählen. Es gibt praktisch niemanden, der in Podleśna wohnt und nicht alle paar Tage mal zu mir in die Genossenschaft einkaufen käme. Hier kennt jeder jeden, und jeder interessiert sich für jedes. Gegen zwölf kam die Reinemachfrau in den Laden. Sie erzählte, sie hätte viel zu tun. Sie müßte nämlich das kleine Zimmer im Milizgebäude saubermachen und scheuern. Der neue Kommandant wolle dort wohnen, aber er müsse noch sein Bettzeug aus Warschau holen. Alles andere ist nur die logische Schlußfolgerung, die ich daraus gezogen habe.“ „Aus Kwaskowiaks Ermordung haben Sie allerdings falsche Schlüsse gezogen.“ „Wieso?“ „Kinder haben den Hauptwachtmeister nicht umgebracht. Nicht mal so zügellose wie der junge Belkowski, Janka Workucka oder die Sprößlinge von Marysieńka Kowalska.“ „Jeder einzelne von ihnen hat aber gedroht, es dem Kommandanten ein für allemal heimzuzahlen.“
„Schon möglich, aber von solchen unreifen Drohungen bis zu einem Verbrechen ist ein weiter Weg.“ „Andrzej Belkowski ist kein Kind mehr. Er ist vierundzwanzig Jahre alt, und er war am Vorabend des Mordes in Podleśna.“ „Das alles wird noch sehr genau nachgeprüft, das verspreche ich Ihnen. Wir werden nachforschen, was dieser Goldjunge so treibt. Aber zwischen dem Straßenfegen vor zwei Jahren und dem Stemmeisenschlag auf Kwaskowiaks Hinterkopf liegt eine gehörige Entfernung. Sowohl zeitlich gesehen als auch, was die Bedeutung dieser beiden Taten anbelangt. Außerdem wohnt der junge Belkowski nicht ständig in Podleśna, folglich kann der Kommandant auf seinen Morgenspaziergängen nicht ihn beobachtet haben …“
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