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Aus ihnen spricht die Freude des Lesers an der kleinen Schriftenreihe der Lux-Lesebogen, die aus Natur und Technik plaudernd berichten und große Ereignisse und Gestalten aus dem Leben der Völker, aus der Kunstgeschichte und Literatur lebendig werden lassen. — Aas der großen Zahl der Zuschriften: .Ihre natur- und kulturkundlichen Hefte sind unserer Zeit wahrhaft auf den Leib zugemessen. Wie weit ist die Welt, die Sie mit Ihren kleinen Heften auftun! Ich selbst habe immer ein oder zwei Hefte in meinem Notizbuch stecken, das ich täglich bei mir trage." K. G., Landshut „Ich wüßte keine Lektüre, die geeigneter wäre, die Bildungslücken zu schließen, als gerade Ihre ansprechenden Hefte." Th. M., Lentesheim „Ihre Lesebogen bringen einen großen Kreis von Menschen, alt und jung, an oft bis ins Tiefste packende Dinge heran." Studienrat H. Seh., Bebra .Die Heftchen sind ganz entzückend. Ich muß Sie — fast nicht ohne Neid — zu der guten verlegerischen Idee beglückwünschen. Ich lese die Hefte als .alter Hase" selber mit viel Vergnügen." Verleger G W., Braunschweig .Das, finde ich, ist eine der stärksten Seiten der Lux-Lesebogen, daß sie in einer dem völlig unbelasteten Laien verständlichen Sprache Dinge erzählen, die mitunter den ausgekochtesten Fachmann Überraschen." H. W., Bad Harzburg .Die Lesebogen sind geradezu unübertrefflich gut." Kultusminister Dr. G., Hannover .Beste Autoren haben mitgeholfen, dem Leser das Beste zu schenken." Bayer. Lehrerverein .Die leichtverständliche Form Ihrer Lesebogen ist am besten geeignet, Laien einen Begriff von bestimmten wissenschaftlichen Gebieten zu geben." Astron. Arbeitsgem. Nordwest
.Wir sind erstaunt darüber, daß es Ihnen möglich ist, für 20 Pfg. etwas so Wertvolles und Gediegenes zu bieten." Rektor W. B., Thiede .Der frische Stil gefällt, in dem hier an sich schwere Stoffe faßlich dargeboten werden." Nordwestd. Rundfunk .Auch die älteren Pfadfinder sind von den Heften begeistert. Im letzten Herbstlager haben wir manchen Regentag mit Hilfe Ihrer Lesebogen ausgestaltet." L. S., Burbach „Ich schließe mich dem Urteil eines Schulleiters aus dem Rheinland an, daß Ihre Heftchen wohl das einzig wirklich nutzbringende und lehrreiche Schrifttum für die Jugend sind." E. Fl., Herrsching .Mit Ihren Lesebogen erziele ich als Klassenlektüre schöne Erfolge. Sie regen meine Schüler zum Lesen und Lernen an und helfen mit, einen lebendigen Unterricht zu gestalten." E. H., Rapperzell .Mit Ihren Lesebogen haben Sie einen überaus glücklichen Vorstoß in jenes Gebiet guter Literatur unternommen, in dem noch immer eine fühlbare Lücke klafft." G. P., Zool. Institut d. Univ. Kiel „Ich möchte Ihnen danken dafür, daß Sie diese Reihe herausgeben. Wir taten noch keinen Mißgriff." W.-G., Steinkirchen .Die Lesebogen sind inhaltlich wertvoll und gut durchgearbeitete Hefte." .Denkendes Volk", Braunschweig .Die Lux-Lesebogen sind eine in jeder Hinsicht einzigartige Leistung.* Dr. G., Oberursel
KLEINE B I B L I O T H E K DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
VON
HANNS MARIA LUX
Signature Not Verified
Manni
_ _ _ _ _ DES
Digitally signed by Manni DN: cn=Manni, c=US Date: 2006.05.07 08:33:13 +01'00'
INHALT HEFTES
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Pilgerfahrt zum Fudsdiisan — .Land dort wo die Sonne aufgeht" — Die Erde bebt — Volk des Lächelns — Zauber weit der Straße — „Fühlige Hände" — Arme Reisbauern — Das Haus — Im Kimono durch den Garten — Fisch, Reis, Eßstäbchen — Gast bei einem Samurai — Götterdämmerung
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU/MÜNCHEN
Pilgerfahrt zum Fudschisan W om Dorfe Gotemba, vierhundert Meter hoch über dem Meeresspiegel, sind wir bis Subaschiri geritten. Wir stehen am Fuß des heiligen Berges; aber der Gipfel verbirgt sich unsern Blicken. Und doch hat uns der Wirt des Gasthofes „Kiefernzweig im Bergwind sich wiegend" gestern abend einen Aufstieg in strahlender Sonne vorhergesagt. Heute morgen jedoch braut schwerer Nebel überm Land, und um den Gipfel des ßergriesen wallen mächtige Wolken. Der Kaufmann Sanuki, vor dessen Laden wir abgestiegen sind und der uns noch von unserer vorjährigen Begegnung her kennt, lacht: „Die Ehrenwerten Herren Fremden haben Glück: der Berggott meint es gut mit Euch, er neckt die Herren Europäer: er verhüllt Euren Blick, daß Ihr den großen Herrn Fudschi nicht schauen könnt! In spätestens einer Stunde jedoch kämmt er die Wolkenhaare vom Gipfel: Ihr werdet den Berg in großem Lichte sehen!" Und indem er uns eine Schale Tee reicht, fragt er neugierig, wie es alle Japaner sind: „Werden die Herren Fremden noch 2
bis zurStation ,"Erste-Meiler-Kiefer" reiten oder bis zur .Pferde urnkehr', bis Umagäschi?" Aus den schleiernden Nebeln tauchen Pilger auf, die wie wir den Fudschi besteigen wollen. Der. Kaufmann hat die Hände voll zu tun. Auch wir kaufen ein. Da in der scharfkörnigen Vulkanasche, die den Fudschisan vom Fuß empor bis zum .Schwertgipfel', dem Kengamine, in 3785 m Höhe bedeckt, jedes lederne Schuhwerk zerreißt, brauchen wir Schutzsohlen aus Hanf und Stroh. Man streift sie über die Schuhe, und wenn sie zerfetzt sind, wirft man sie weg und bindet neue um. Nun noch den mannshohen kantigen Pilgerstab und den mächtigen Hut aus Reisstroh: wir sind gerüstet, Gleich am Ausgang des Dorfes erhebt sich freistehend eines jener formschönen hölzernen Tore, die überall an nationalkultischen Stätten zu finden sind: ein ,Torii', dessen Balken wie zu einem Dürerschen A gefügt sind. Der Name des Berges steht darauf geschrieben: ,Fu-dschi'; diese beiden wohlklingenden Wortzeichen bedeuten .Nicht = Zwei'; denn nicht ein zweiter Berg auf dem Erdball kommt dem Fudschisan gleich: er ist ein ,Berg ohnegleichen', er ist ein ,San', ein .Herr'! Die Pilger, die mit uns durch das Tor treten, schwiegen bisher. Aber jetzt, da wir den ersten Schritt in das Bannfeld des Götterberges tun, ringt sich inbrünstig der Ruf des buddhistischen Glaubens von den Lippen: „Rokkon-schodschoh!", und von nun an wird sich dieses Bittgebet um die unbefleckte Erhaltung der sechs Sinne: des Auges, der Zunge, des Ohres und der Nase, des Körpers und des Herzens, immer und immer wiederholen, und dazu werden die Glöcklein erklingen, die an den langen, weißen Pilgerhemden baumeln. Wie wir nach dem ersten langen Anstieg die dicke, brodelnde Nebelwand durchschritten haben und wie sich im gleichen Augenblicke auch die geballten Schleierdünste, die wie der Hut eines Riesen den Gipfel bedecken, auflösen und — vom Bergsturm gejagt — in die Ferne wehen, offenbart sich uns die einmalige Schönheit des Fudschi, mit dem kein Berg der Erde sich messen kann. Er steht nicht in einer Bergfamilie, er ist nicht einer unter anderen und vielen: königlich-einsam ragt er empor, das Ebenmaß seiner steilen Flanken, deren Basis hundert Kilometer umfaßt, ist .ohnegleichen', der Gipfeldreizack dünkt eine Krone zu sein, Schnee1
bänder fließen wie Hermelin von seiner Schulter. Z.U seinen Füßen schimmern die seit J a h r h u n d e r t e n besungenen Seen, v o n denen der Yamanaka einem silbernen Halbmond gleicht. Ob du den Berg v o n der Dschunke im Meer aus siehst oder durch das Geäst einer blühenden Kirsche, einer sturmzerspellten Pinie, an schwingenden Tempellinien oder an flatternden Fahnenbändern vorbei, wie sie an allen Kaufläden des Landes h e r a b h ä n g e n : seine adlige Schönheit läßt sich nicht beschreiben; nur empfindsame Dichter und Maler v e r m ö g e n sie andächtig zu besingen und in Form und Farbe zu fassen. So verstehst du, daß das Bild dieses Berges die japanische Kunst und das Kunstgewerbe in einem für uns kaum v o r s t e l l ' b a r e n M a ß e beeinflußt hat. U n t e r den klassischen Malern des Fudschisan ist es vor allem Hokusai (1760—1849), der Sohn eines Hofspiegelgießers, der durch immer wieder n e u e und stets entzückende Variationen des heiligen Berges auch in Europa bekannt geworden ist. In seinem Holzschnittwerk finden wir allein hundertundsechsundreißig Bilder des ,Herrn Ohnegleichen'. In einem Volk, dessen Glaube die N a t u r mit unzähligen Göttern und Geistern beseelt, mußte der Fudschisan zum heiligsten Berge des Landes werden. Unter den Pilgern, die mit uns emporsteigen, befinden sich Mitglieder einer Sekte, die den Gipfel sogar .Zentrum der Welt' nennen: wohnt doch auf dem V u l k a n r i e s e n der Schutzgott des Reiches, thront doch hier .Tenjin, das Himmelswesen'. In steilem Zickzack führt der W e g hinan. Er ist v o n den Schritten der unzähligen Pilger, die zwischen Juli und September zur Höhe wallen, ausgetreten. Unser Blick k a n n den schmalen Aschenpfad weit, weit hinauf verfolgen: A b e r t a u sende gebleichter Strohsandalen weisen die Spur. Wir schauen zurück. A u s der Tiefe, in der die N e b e l n u r noch wie zarte Bänder wogen, steigen immer neue Schwärme frommer Menschen empor, Kinder und Greise sind darunter; die Asche stäubt auf, die Glöckchen läuten, und unaufhörlich klingen die ergreifenden Rufe zu den Göttern. In gewissen Abständen sind Schutzhütten in den Lavaberg gebaut, hier w o h n e n Priester, die ihres Amtes walten. Wir lassen — wie es alle Japan e r tun —i Brandstempel in die Pilgerstäbe prägen. Stunde um Stunde vergeht, die Sonne brennt, und doch stößt immer stärker eisiger Wind in unser Gesicht. 1
Längst haben wir jene Höhenlinie überschritten, auf welcher der Alpengipfel der zehntausend Kilometer entfernten Zugspitze liegt. In der letzten Hütte lagern wir. Hier wollen wir über Nacht bleiben, um in aller Frühe zum Gipfel zu klettern. In bronzenen Teekesseln über der Feuerstelle am Boden der niedrigen, aus Lavasteinen errichteten Hütte siedet der Schnee, den wir vor der Türe geschöpft haben. Heulender Sturmwind braust über das Dach und fegt durch die Ritzen. Wir kriechen in die Schlafsäcke; trotz des lebhaften' Feuers sind es nur wenige Grad über dem Gefrierpunkt. Um 2V2 Uhr erheben wir uns und steigen die letzte Strecke hinan. Schon nach wenigen Schritten lodern unsere Papierlaternen in Flammen auf. Wir greifen zur Sturmlaterne, dichtgedrängt folgen die Pilger, die mit uns aufgebrochen sind, dem Lichtschein. Kein Gebet wird mehr laut; der niedrige Luftdruck in dieser Höhe erzwingt sparsames Atmen. Oft genug schwankt ein Alter, viele taumeln nur noch voran. Aber alle Mühe ist vergessen, wie wir den Gipfel erreichen. Unser erster Weg führt zum Tempelchen: das Heiligtum liegt windgeschützt in einem Graben zwischen den Lavafelsen. Eine Schale glühheißer Tee, der letzte Brandstempel in den Pilgerstab, ein stumpfes Ruhen, um das leichte. Fieber abzuschütteln: dann klimmen wir über Schnee und Eis am Gipfelrand vorbei zur höchsten Bergzacke, dem Kengamine. Der felszerrissene Trichter, den ein Kranz von Felsbrocken einschließt, ist der Krater des heute erloschenen Vulkans Fudschi. Der Durchmesser des unheimlichen Schlundes mag 600 und die Tiefe 150 m betragen. Ein Steintürmchen erinnert an fünfzig Pilger, die noch vor gar nicht allzulanger Zeit von einem Schneesturm verschlungen wurden. Wir steigen im schnell aufknospenden Dämmer des Frühlichtes in den Trichter hinab. Der Student Kodama aus Akita in Nordjapan, der sich uns seit Tagen angeschlossen hat und unser Cicerone ist, weist uns eine günstige Abstiegsspur. Er berichtet, daß laut ältester Überlieferung der Berg im Jahre 286 vor Chr. durch ein Erdbeben entstanden sei. Er nennt uns die Daten furchtbarer Ausbrüche, er erzählt uns, daß der letzte im Jahre 1708 sechsunddreißig „Todestage" gedauert und meilenweite Landstriche unter glühender Lava und Asche begraben habe. Und immer noch brodelt das Feuer in der Tiefe dieses Berges. An einigen Stellen ist der Schnee geschmolzen, die frierenden Hände der Pilger wärmen sich an Stein und Erde. 5
Auf dem ,Schwertgipfel erwarten wir die Sonne. Wir ver ytssen den eisigen Ostwind, der wütend an unsern Kleidern zerrt. Nichts vermag mehr die andachterfüllten Blicke der Japaner vom fernen Horizont des Meeres abzulenken. Und plötzlich: ein Farbenspiel in Violett und Rot, in Silber und wachsendem Gold! und dann ein Schrei religiöser Entzückung; der Sonnenball schwebt an der Himmelslinie empor, ein Strom von glühgoldenem Licht schießt über die Flut. Die Pilger heben die Arme, sie stürzen auf die Erde, der Wind fegt ein Lied von ihren Lippen; aber einige Klang- und Wortfetzen sind dennoch zu verstehen: die Söhne des Insellandes singen zur Sonne empor, sie huldigen ,Ama-terasu', die die göttliche Ahnin des heiligen Kaisers ist. Der rote Sonnenball steht übei •1er Welt.
„Land, dort wo die Sonne aufgeht'* Im Lichte des erwachten Morgens liegt Japan vor uns, eint lebende Reliefkarte: der Stille Ozean, die endlosen Bergketten, im Norden der Asama, einer der vierundfünfzig noch tätigen Vulkane (in sein schreckliches Feuermaul sollten wir eine Woche später blicken), die Ebenen, die Dörfer und Städte. Das ist ,Nihon', das- drachenförmige Inselreich zwischen der Japansee im Westen, dem Ochotskischen Meer im Norden, dem Ostmeer im Südwesten und dem Pazifik im Süden und Osten. Ein Land, aus vier großen und über viertausend kleineren Inseln, Inselchen und Eilandfelsen gefügt. Es übertrifft die britischen Inseln um ein Drittel. ,Nihon' oder ,Nippon', ein Name, den schon Immanuel Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" genannt hat. Diese Bezeichnung •— und nicht das anglisierte .Japan' — ist der Name, den der Japaner gebraucht. Die Chinesen lasen vor Jahrhunderten die Wortzeichen in ihrer Sprache: ,Ji-pen'. Marco Polo, der ernste Forscher und kühne Abenteurer aus Venedig (um 1300), machte daraus ,Zipangu', die Holländer, die als erste Kaufleute sich um 1600 in Nagasaki niederlassen durften, schrieben .Jehpun', und die Portugiesen formten das Wort in ,Japao' um. Aber der japanische Nationalstolz liebt nur ,Nihon' oder seit 1931 .Nippon', und das will ungefähr besagen: „Land, dort wo die Sonne aufgeht'." — 70—80 Millionen Menschen — nach heutiger ungefährer Schätzung — bewohnen diese Inselwelt; aber das Land kann
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Reisfelder im Stutenbau am Berghang das ständig wachsende Volk kaum ernähren. Wir schauten soeben vom höchsten Berg in die Weite Nippons; wir sahen Berge und mächtige Gebirgsstränge; aber das Auge entdeckte nur wenige Ebenen, und das bedeutet: wenig ausnutzbare Erde, wenig Ackerland. Kaum ein Sechstel des Landes kann bestellt werden (in Deutschland etwa zwei Fünftel). In Mitteleuropa mögen im Durchschnitt 40—50 Menschen einen Quadratkilometer bestellbare Erde bewohnen, in Japan sind es 200 bis 250. Arm ist der Boden auch an Schätzen. Wohl befriedigt der Reichtum an Kupfer und Antimon die Bedürfnisse Japans, aber an sonstigen Metallen und an Kohle ist das Land bitterarm. Man muß das wissen, um e i n e der Ursachen für die schwerwiegenden politischen Ereignisse in der letzten Vergangenheit zu verstehen.
Die Erde bebt .Wer Japan betritt, tut es auf eigene Gefahr!* so begrüßte uns halb ernst, halb scherzend, ein deutscher Freund, der als 7
Kaufmann auf der Südinsel Kiuschu lebte, als wir auf unseren Fernost-Reisen zum erstenmal das Land betraten. „ . . . auf eigene Gefahr!" M a n wird für l ä n g e r e Zeit ein Unbehagen, eine ' dunkel schwingende Unruhe nicht los, w e n n man als Neuling über diese Erde geht. Weiß man doch, daß man eine der zehn Erdbebenzonen der W e l t betreten hat, man weiß, welche Katastrophen diesen Boden seit J a h r t a u s e n d e n erschüttert haben und ihn immer wieder von neuem in Aufruhr bringen. Auf einer japanischen Erdbebenstation erfuhren wir, daß der Seismograph jährlich 4000—6000 Beben registriert, v o n denen bis zu 1500 Stöße im J a h r e auch v o n der Bevölkerung verspürt werden. Den Göttern Dank, daß vernichtungbringende Erschütterungen gerade nicht alltäglich sind, obwohl die ungewöhnlichen Höhenunterschiede zwischen Meerestiefen von über 8000 m und Bergspitzen bis über 3000 m immer wieder die Erdschichten in gefährliche Spannungen bringen. A b e r w e h e , w e n n einmal diese Erde rast! Seitdem m a n diese Beben registriert, wurden rund 1 Million Häuser zerstört und 270 000 Menschen getötet. Das g r a u s a m s t e Erdbeben aus jüngster Zeit ist noch in aller Erinnerung . . . Aber laßt uns dem Bericht des japanischen Professors Dr. Otsuki folgen; wir waren drei Tage nach u n s e r e r Pilgerfahrt zum Fudschisan bei ihm zu Gast: Tokyo, 1. September 1923, 11.58 Uhr: das Inferno setzte ein und sollte erst nach mehr als 1300 Stößen am Ende des Monats verklingen. Am ersten Tage des Erdbebens wurde die Erde 400 mal spürbar und sichtbar erschüttert! Die Straßen rissen auf, die Bäume w u r d e n entwurzelt, 550 000 H ä u s e r stürzten allein im Gebiet um Tokyo und in dem benachbarten Yokohama in sich zusammen. Hier starben 99 000 Menschen: 44 000 wurden vermißt und 100 000 verletzt. Der Verlust an W e r t e n betrug etwa 10 Milliarden Mark. — „Unsere nationale Existenz", so sagte Dr. Otsuki, „war bis ins Herz getroffen. Aber in J a p a n ist es nicht so sehr das Beben, das uns gefährdet; es ist das Feuer, das immer wieder unsere Kräfte niederbrennen will." Der Blick des Erzählers tastete durch den Raum, in dem wir saßen: es war ein echt japanisches Haus, und deshalb w a r es aus Holz gezimmert, die .Fenster' u n d Schiebetüren w a r e n aus holzumrahmten Papierflächen gebildet und die Böden mit Strohmatten ausgelegt. „Kwaji wa Edo no hana". — „Die Brände sind die Blüten v o n Edo", und Edo ist der alte Name für Tokyo. 8
Wir sind mit unserem Gastgeber in den Stadtteil Honjo hinausgefahren, halten an einem Platze und gehen langsam auf einen Tempel zu. Herr Otsuki berichtet und erklärt, kaum merklich fiebern seine Worte; ein verhaltenes Lächeln schwebt über sein Gesicht, und keine Miene verrät, welche Gefühle sein Herz bewegen. „Als der schreckliche Stoß an jenem 1. September durch die japanische Erde fuhr, als Häuser, Tempel und Pagoden zusammenbrachen, loderten die .Blüten von Edo', die Feuer, auf. Tokyo brannte von allen Richtungen her. Die Kessel der ölkompanien zerbarsten, flammendes öl floß in die Kanäle der Stadt. Gehetzt von Feuer, Hitze, Qualm und Todesangst, liefen die Menschen der großen Straße nach, durch die wir eben fuhren." Otsuki weist zum Tempel: „Hier war einmal ein zehn Morgen weiter Platz, er war groß genug, die Fliehenden des Stadtteils Honjo aufzunehmen. Hier war einmal der mächtige, offene Bezirk der Militärkleidermagazine. Zehntausende gejagter Menschen standen hier; sie hatten mitgeschleppt, was sie tragen konnten: Kleider, zarte lyrische Rollwandbilder aus Seide und Papier, Lackkästchen mit Schmuck und Geld. Die Gefängnisse hatten ihre Tore geöffnet, das Staatsgefängnis allein entließ 1200 Insassen, die das Versprechen gaben, innerhalb 24 Stunden zurückzukehren. Der Himmel verfinsterte sich, Rauch schob sich vor die Sonne. Um vier Uhr befahl der Chef der Polizeistation den von Funkengarben übersprühten Menschen, in den Kleiderdepots Schutz zu suchen. Um 4.20 Uhr explodierte ein höllischer Wirbelwind aus den Rauchschlünden des Himmels hernieder. Ein nicht zu messendes Meer von Flammen raste über den Platz, brennendes Holz, Karren und Wagen, Hausgeräte und Menschen wirbelten durch die entfesselte Luft. Der brüllende Zyklon fing sich an den Mauern, an den Türen, Fenstern und Dächern der Magazine. Erst am Abend gegen 8 Uhr ließ der Flammensturm nach. In der Hölle von Honjo, hier, wo wir stehen, verbrannten allein 32 560 Menschen: Flammenspreu im Spiel dämonischer Götter."
Volk des Lächelns Das Lächeln weicht auch nicht von Otsuki, während er Blumen im Tempel opfert. Es ist der gleiche Ausdruck jener rätselhaften Heiterkeit, von der sich der weiße Mensch beunruhigt fühlt, weil er diese Äußerung der fernöstlichen Seele 9