CRAIG THOMAS
JADE TIGER
Roman Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REI...
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CRAIG THOMAS
JADE TIGER
Roman Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE
Nr. 01/6210
Titel der englischen Originalausgabe
JADE TIGER Deutsche Übersetzung von Sepp Leeb
8. Auflage
© 1982 by Craig Thomas
© der deutschen Übersetzung 1983 by
Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
ISBN 3-453-01741-2
Danksagung Zu Beginn dieses Buches möchte ich vor allem den Begleitern auf meinen Reisen danken, und hier insbesondere meiner Frau Jill, deren Hilfe als Sekretärin, Assistentin, Kritikerin, Verbün dete und Herausgeberin von unschätzbarem Wert war. Des weiteren gilt mein Dank Miß Dorothy Goss, Melbourne, für ihre großzügige Unterstützung bei der Beschaffung von Landkarten, Nachschlagewerken und ähnlichem. Außerdem erwies sie sich als eine großartige Gastgeberin und Führerin. Schließlich möchte ich an dieser Stelle auch Anthea Joseph die gebührende Anerkennung zollen, die im letzten Jahr so frühzeitig und unerwartet verstorben ist. Sie hat die Veröffent lichung meines ersten Romans Rat Trap betrieben, und ihrem Zuspruch und ihrer Ermutigung habe ich es zu verdanken, daß ich weiter in dieser Richtung tätig war. Ich bin nur einer unter vielen, der um sie trauert. Die Verse Meng Chiaos, die in Kapitel 8 wiedergegeben sind, wurden dem Penguin-Band Poems of the Late Tang, übersetzt von A. C. Graham, entnommen. Das Zitat, das dem Buch voransteht, ist einer Penguin-Anthologie von Gedichten Li Pos und Tu Fus entnommen, den zwei größten Lyrikern Chinas. Beide sind mit freundlicher Genehmigung der Penguin Books Ltd. abgedruckt.
Hart ist die Reise,
Hart ist die Reise,
So viele Windungen,
Und nun, wo bin ich?
Li Po (701-762 n. Chr.)
Der leitende Beamte der Abteilung für Auslandsoperationen des Ministeriums für öffentliche Ruhe ließ seine schmale, langfingrige Hand in den Lichtkegel der Lampe auf seinem Schreibtisch gleiten. Die Finger strichen zärtlich über Rücken und Flanken einer Tigerfigur aus Jade. Ihr Grün erschien den Augen des Amerikaners zu hell und künstlich, fast plastikartig. Sie sah nicht im geringsten kostbar aus, obwohl sie es vermut lich war. Der Tiger stand auf einem billigen Sockel aus lackier tem Holz, an dem eine kleine Messingtafel mit einer chinesi schen Inschrift befestigt war, die den eifrigen Einsatz des Schreibtischinhabers für die Sache der sozialistischen Revolu tion bekundete. Die Inschrift war dem Besucher und dem im Dunkel liegenden Raum zugewandt. Vermutlich sollte sie die Leute beeindrucken, die dieses Büro betraten. Dem Amerika ner erschien der Tiger plump, schlecht geformt, buddhaähnlich. Und auch von blasierter Selbstzufriedenheit. Dann begann der leitende Beamte in flüssigem, fehlerlosem Englisch mit leicht amerikanischem Akzent zu sprechen. Die Höflichkeit in seinem Tonfall war unverkennbar. »Ja, natürlich. Mit Ihrer Erlaubnis werden wir diese Operati on Jade Tiger nennen. Ist das in Ihrem Sinn?« Der Amerikaner nickte. »Einverstanden. Das ist ein guter Name.« »Wunderbar.« Der übergewichtige, gemästete Tiger lächelte blasiert von seinem kleinen Sockel im weißen Lichtkegel der Lampe herun ter.
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Preludes Er war nun schon sehr lange geschwommen – knapp drei Stun den, und er spürte, wie die Grenzen seines Bewußtseins lang sam verschwammen, obwohl er sich angestrengt bemühte, einen klaren Kopf zu behalten. Vor ihm schimmerten schwach die Lichter von Kowloon und Victoria auf. Zwischen den beiden aus dem Nachthimmel herabhängenden Lichtermeeren lag ein Fleck Dunkelheit – Victoria Harbour. Die Star Ferries – da war gerade eins ihrer Schiffe, dessen Glocke die Geräusche der Übermüdung und Erschöpfung in seinen Ohren übertönte – überquerten die Zehn-Minuten-Kluft zwischen den beiden Lichtern. Und dann war er sich nicht mehr länger sicher, was er eben registriert, was er eben gedacht hatte … Die Fähre, ja, das war es. Lichtfinger reckten sich in das Dunkel hoch – die Hotels auf Kowloon. Dann das Dröhnen einer Düsenmaschine, die Lichter unter ihrem Bauch aufblitzen ließ und zur Landung in Kai-Tak ansetzte. Colonel Wei wußte, daß er, sollte er nicht bald von einem der Patrouillenboote der Polizei entdeckt werden, zu schwimmen aufhören würde, um noch eine Weile erschöpft im Wasser zu treten und dann in dem dunklen, unbewegten, nach Öl schmek kenden Naß zu versinken. Und dann wäre alles umsonst gewe sen. Matt ruderte er mit den Armen, die in den Gelenken schmerzten. Immerhin war er darauf trainiert, wesentlich wei ter zu schwimmen, als er das bis jetzt getan hatte. Er kam vom chinesischen Festland, einer verlassenen, aber streng kontrol lierten Stelle an der Küste, von der aus sich viele Flüchtlinge aus der Volksrepublik schwimmend auf den Weg in die Slums und die Dschunken-Gettos von Aberdeen Harbour machten. Doch nun war er schon nach knapp fünfzehn Kilometern der totalen Erschöpfung nahe. Sein Körper fühlte sich eher warm als kalt an – warm und taub, und er brachte es nicht fertig, deshalb Beunruhigung und Panik zu empfinden. Das Adrenalin 7
war zu rasch und zu heftig durch seine Adern gepulst und hatte sich selbst erschöpft. Nun war nichts mehr davon übrig – nichts, das ihn noch anspornen hätte können. Wo waren nur die nächtlichen Hafenpatrouillen? Er kannte doch ihre Gepflogenheiten, ihre beharrlichen Kontrollfahrten entlang der Buchten und Häfen und Straßen der Inseln. Er hätte schon längst einem Patrouillenboot in die Quere kommen müssen, um sich voller Erleichterung vom Lichtkegel seines Suchscheinwerfers erfassen zu lassen. Eigentlich hätten sie ihn schon ausmachen sollen, als er noch durch Deep Bay oder Urmston Road geschwommen war. Wie ein alter Zelluloidstrei fen flackerte eine Landkarte vor seinem inneren Auge auf und war auch schon wieder verschwunden. Es fiel ihm unsäglich schwer, sich an die einzelnen Namen zu erinnern. Hunderte von anderen Schwimmern wären bis jetzt längst aus dem Was ser gefischt worden – warum nicht er? Sie würden, im Gegen satz zu ihm, zurückgeschickt werden. Merkten sie denn nicht, daß er, hier draußen in dem dunklen Wasser, dem Ertrinken nahe war? Er, Oberst Wei Fu-Chun vom Ministerium für öf fentliche Ruhe, Abteilung Auslandsoperationen, war dem Ertrinken nahe, und all die Einzigartigkeit, die er darstellte, und die noch kostbarere Einzigartigkeit dessen, was er wußte und hätte mitteilen können, sollte ertrinken. Für einen kurzen Au genblick stieg Wut in ihm auf, ein schwacher Gallegeschmack, der aus einem leer erbrochenen Magen in seine Kehle empor drang. Sein Körper kam zum Stillstand. Er strampelte noch mit den Beinen. Sie schienen so weit weg und gefühllos warm zu sein, und zugleich spürte er, wie sich das Gewicht seines Rumpfes ins Wasser senkte. Sein Mund schloß sich, sobald er unter Wasser kam, und dann schoß er plötzlich wieder, mit den Armen rudernd und den Rücken gekrümmt, an die Oberfläche und schnappte verzweifelt nach Luft, als wäre er für Minuten untergetaucht gewesen. Nun trieb er mit mehr Erfolg auf dem 8
Wasser; sein Kopf schaukelte wie der eines müden, verwunde ten Stiers langsam hin und her, während seine Augen nach den Lichtflecken über dem Hafen Ausschau hielten. Er hätte direkt das Ufer ansteuern sollen – er hätte sich nicht auf diesen ausge tüftelten Plan einlassen sollen –, er hätte … Er prustete das Wasser aus seinem Mund, aber da er bereits einiges geschluckt hatte, mußte er husten und würgen. Keine Lichter, keine Dunkelheit, das Anströmen und der Druck des Wassers, das verzweifelte Aufbäumen des Körpers, als er an die Oberfläche zurückschoß … Bleierne Arme, die Beine scheinbar gar nicht mehr vorhanden, der schlanke, schmale Körper so schwer … Und dann wieder die Lichter, dunstiger Sonnenaufgang der Lichter und die dunkle Kluft zwischen ihnen, die größer wurde, näher wirkte … Sein bisheriges Leben überkam ihn in Gestalt eines vagen, hoffnungslosen, unendli chen Sehnens, an das sich, wie Kletten, Bilder von blasser, bedeutungsloser Schattenhaftigkeit klammerten. Sein Auftrag, seine Bedeutung, sein Plan – alles war zur Be deutungslosigkeit verurteilt angesichts seines drohenden Todes, eines Todes, den er mit einer Art von getrübter Gewißheit wahrnahm. Er fühlte sich von seiner Vergangenheit, von sei nem Selbst verlassen. Mit großer Anstrengung schüttelte er den Kopf. Das Wasser und seine Panik dröhnten in seinen Ohren. Der Lärm würde ihn daran hindern, das Tuckern der Barkasse zu hören, wenn sie kam. Wie blasse Lava floß Licht über ihn. Das Pochen seines Blutes, das ihn jetzt rief … Irgend etwas in ihm versuchte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wasser, solid wie Erde, in seiner Nase und Kehle … Er wur de bei lebendigem Leib begraben. Er war unfähig zu atmen. Dunkelheit … Dann ein letztes verzweifeltes Aufbegehren, und ein Ge räusch drang durch das Wasser – ein Tuckern. Dann nichts als Arme – sein Körper in Bewegung, der Eindruck, gezogen zu 9
werden … Etwas legte sich um seinen Mund, während etwas anderes seine Nase zuhielt. Immer wieder und wieder, in seine Lungen injizierte Zuckungen … Er hielt seine Augen geschlos sen, würgte etwas Wasser aus dem erschlafften Mundwinkel, sog ohne fremde Hilfe Luft ein, würgte neuerlich, hustete in krampfhaften Zuckungen. Ein weißes Gesicht starrte auf ihn herab, nur verschwommen wahrzunehmen. Ein gleichgültiges Gesicht, ein Gesicht, das bereits eine Entscheidung gefällt hat, eine negative Entschei dung. Wieder einer, der zurückgeschickt wird. »Nein …«, begehrte er auf und fing neuerlich zu husten an. Er packte den Mann am Arm, hielt ihn zurück. »Nein! Mein – mein Name ist Wei. Ich bin leitender Beamter des Ministeri ums – Ministeriums für öffentliche Ruhe. Ich möchte – ich möchte mit jemandem vom britischen Geheimdienst sprechen. Haben Sie mich verstanden? Oberst Wei Fu-Chun …« Das Gesicht blickte weiter auf ihn herab. Ihm blieb nichts anderes übrig, als seine Situation zu erklären. Dies war ein entscheidender Moment, vielleicht der entscheidende Moment überhaupt. Alles hing von diesem Augenblick ab. Aber den noch konnte er seine Worte nicht wiederholen. Das Gesicht verschwamm immer mehr, verlor seine festen Umrisse, ver schwand. Wei schlief. »Meine Sprachkenntnisse lassen zwar einiges zu wünschen übrig, Peter, aber ich habe ganz sicher Deutsch herausgehört – wie du erwartet hast. Und ganz bestimmt habe ich auch Rus sisch gehört.« Peter Shelley stand am Fenster des Wohnzimmers und sah in den Garten, wo die Schatten länger wurden. Der Baum, auf den sein Blick gerichtet war, loderte mit seinen Holzäpfeln aus der Dämmerung. Einige waren bereits zu Boden gefallen, wo sie wie bunte Perlen im Gras lagen. Ein großes Haus im viktoria nischen Stil in einem Dorf nördlich von Birmingham, nach 10
dem Abendessen, aus der Ferne das Geräusch eines verspäte ten, einsamen Rasenmähers … Michael Davies hatte diesen Satz praktisch ohne Überleitung oder erklärende Worte gespro chen, als führten sie einfach ihr Telefongespräch weiter, in dem er Shelley aus London zu sich eingeladen hatte, während seine Frau Marian das Geschirr vom Abendessen in die Spülmaschi ne gepackt hatte. Shelley starrte auf das Brandyglas in seiner Hand hinunter und schwenkte es leicht hin und her. »Aber Zimmermann? Russisch?« fragte er schließlich, ohne sich vom Fenster abzuwenden. »Ja.« »Fang noch mal von vorn an. Du bist also in Wu Han krank geworden – auf einer Geschäftsreise.« »Ja. Eine Lebensmittelvergiftung oder etwas in der Art.« Da vies kicherte. »Zweifellos habe ich sowohl dem Essen wie den Getränken etwas übermäßig zugesprochen. Ein paar Tage im Krankenhaus, meine Geschäftsfreunde natürlich in Besorgnis um mich und darauf aus, die Verträge zu stehlen, die ich mit den Chinesen abschließen wollte …« Er kicherte neuerlich. »Den zweiten Tag, an dem ich im Krankenhaus lag, wird plötz lich Zimmermann eingeliefert. Er hatte ebenfalls eine Lebens mittelvergiftung – oder etwas in der Art. Du wirst davon ja sicher in allen Zeitungen gelesen haben.« »Ja. Ganz schön peinlich für die Volksrepublik. Deng ist so gar kurz nach Wu Han gekommen, um sein Bedauern auszu drücken. Der Berater des deutschen Kanzlers, seine starke rechte Hand, von Schweinefleisch süßsauer dahingestreckt. Wirklich peinlich.« Michael Davies lachte laut los. »Aber den Deutschen gereich te das keineswegs zum Nachteil. Ihre Handelsmission bekam plötzlich von allen Seiten die Aufträge herein – als eine Art Entschädigung für dieses Malheur, nehme ich an. Bis Zim mermann dann ins Krankenhaus von Shanghai überführt wur 11
de, hatten sie bereits ein gutes Dutzend Abschlüsse unter Dach und Fach – von Kugellagern bis zu Fernsehern. Meine Erkran kung führte allerdings keineswegs zu solch spektakulären Ergebnissen.« Shelley wandte sich vom Fenster ab. Davies’ frische Ge sichtszüge, humorvoll, klug, amüsiert, wurden von der unter gehenden Sonne erfaßt, so daß er blinzeln mußte. Als erfolg reicher Midlands-Geschäftsmann und Inhaber einer Firma, die feinmechanische Geräte herstellte, hatte Davies früher gele gentlich Kurierdienste für den SIS übernommen. Im Gegensatz zu dem armen alten Greville Wynne und anderen wurde er jedoch nie geschnappt oder auch nur verdächtigt. Davies war von Shelley instruiert und eingearbeitet worden und genoß neben dessen Sympathie auch sein vollstes Vertrauen. »Michael«, sagte Shelley schließlich und prostete dabei sei nem Gegenüber zu, »herzlichen Dank für die Einladung zum Abendessen. Es hat wirklich vorzüglich geschmeckt. Marians Kochkünste sind tatsächlich der Vollkommenheit nahe. Und recht herzlichen Dank natürlich auch für die freundliche Auf nahme in deinem Heim.« Shelleys Augen wanderten durch den Raum. »Aber diese Geschichte, der Grund meines Besuchs … Was wolltest du mir eigentlich sagen?« »Ich möchte, daß du in dieser Sache etwas unternimmst. Kannst du mit Aubrey darüber sprechen?« »Ist da überhaupt etwas, das ich ihm erzählen könnte?« »Du bist doch Aubreys engster Vertrauter. Was ist er übri gens inzwischen eigentlich – stellvertretender Direktor?« Shel ley nickte. »In diesem Fall sollte er auf jeden Fall von der Sache erfahren. Und er sollte sich dafür auch interessieren.« »Und wofür genau, Michael?« »Ich habe Zimmermann russisch sprechen gehört. Er hat ge weint und geheult und gewimmert und geschrien. Das ließ sich gar nicht vermeiden. Ich hatte das Zimmer auf der anderen Seite des Gangs. Er hat sich angehört wie eine schlechte Tra 12
gödie in fünf Akten, und du weißt ebensogut wie ich, was das zu bedeuten hat.« »Weiß ich das tatsächlich?« »Jetzt stell dich doch nicht so an, Peter! Er stand unter Dro geneinfluß, aber bestimmt nicht, damit er besser schlafen konn te. Sein Krankenzimmer war ja wie ein Bahnhof, mit all den offiziell aussehenden Chinesen, die dort ständig aus und ein gingen. Und oft stundenlang blieben. Das waren keine örtlichen Funktionäre. Und dann haben sie ihn nach Shanghai gebracht. Eine Woche später war er wieder in Bonn, an Kanzler Vogels Seite. Der zweitmächtigste Mann in der politischen Führung Westdeutschlands, die treibende Kraft hinter der deutschen Ostpolitik, war in einem chinesischen Provinzkrankenhaus und schrie auf russisch nach seiner Mutter. Und dazu das Aufhe ben, das um ihn gemacht wurde! Findest du nicht, daß das alles reichlich merkwürdig ist, Peter?« Shelley ließ sich auf der Chaiselongue vor den Fenstern zum Garten nieder und strich mit seiner freien Hand seine Hose glatt. Von neuem versank er in den Anblick des Brandys in seinem Glas, um erst nach einer Weile wieder aufzuschauen. »Sicher klingt das Ganze etwas merkwürdig, aber vermutlich steckt nichts weiter dahinter.« Er hob seine Hand. »Schon gut. Aubrey ist zwar in Urlaub, aber ich werde ihn wegen dieser Sache anrufen, da du dich deswegen so beunruhigt zeigst …« »Das bin ich keineswegs. Ich finde nur, Aubrey sollte das sein. Zimmermann wurde in diesem Krankenzimmer verhört. Mich hat das Ganze streckenweise an die schlimmsten Alp träume während meiner Tätigkeit als Kurier erinnert. Und er wurde in Russisch verhört.« Das Haus stand oberhalb von Hong Kong Central, an der Peak Road, und bot über Victoria Harbour und Causeway Bay hin weg einen Ausblick auf die an Manhattan erinnernde Skyline von Kowloon auf der anderen Seite der blauen Bucht. Oberst 13
Wei allerdings gelangte nicht in den Genuß dieses großartigen Panoramas. Von seinem Zimmer konnte man nur auf einen staubigen Hof hinausschauen, hinter dem sich ein steiler Hü gelabhang erhob, der die Sicht aus dem geschlossenen Fenster erheblich einschränkte. Das Fenster war außerdem noch mit einem nicht sonderlich wirkungsvollen Fliegengitter versehen. Im Raum war es heiß, und der staubige Ventilator drehte sich nur langsam, als würde seine Kraft zusehends nachlassen. Oberst Wei lag auf dem schmalen Bett. Er war mit Hemd und Hose, beides geborgt, bekleidet. Die Hose war zu weit und zu lang, so daß er die Hosenbeine knapp zehn Zentimeter hoch krempeln mußte. Seiner Ansicht nach hatte man mit dieser Kleidung eindeutig beabsichtigt, ihn zu demütigen. Nachdem der Doktor wieder gegangen war, widmete sich Oberst Wei den größten Teil des Vormittags der Aufgabe, den metallenen Aschenbecher, Werbegeschenk einer örtlichen Brauerei, mit Zigarettenstummeln zu füllen und dichten, blauen Dunst im Raum zu verbreiten, durch den sich der Ventilator wie durch Sirup zu quälen schien. Godwin fächelte beim Ein treten – er hatte die Tür geräuschvoll aufgeschlossen – mißbil ligend den Qualm beiseite. Er verschloß die Tür wieder und zog sich einen Stuhl ans Bett. Oberst Wei setzte sich auf. Godwin war jung und hatte ein stark gerötetes Gesicht. In dem feuchtschwülen Klima Hong Kongs transpirierte er reich lich. Sein heller Anzug war faltig und zerknittert. Seine blaß blauen Augen wirkten nervös, fast verstohlen. »Sie …«, fing er an, räusperte sich und fuhr dann fort: »Sie behaupten also, Oberst Wei Fu-Chun vom Ministerium für öffentliche Ruhe, Abteilung Auslandsfragen, zu sein, dem Geheimdienst der Volksrepublik China?« Wei zuckte mit den Schultern. »Ich bin es – ich behaupte es nicht.« Er betastete das kleine, wasserdicht verpackte Päck chen, das an einer dünnen Goldkette von seinem Hals hing. Sie hatten es offensichtlich untersucht, während er geschlafen 14
hatte. »Wir wissen bereits darüber Bescheid«, kam ihm Godwin zuvor. »Haben Sie die Negative entwickeln und vergrößern lassen?« Godwin nickte. »Und selbst wenn Sie nicht Wei sein sollten, scheinen Sie offenkundig ebenso wichtig zu sein wie er. Es sei denn, die Aufnahmen sind gefälscht.« »Das sind sie nicht.« »Wieso kommt ein Oberst des Geheimdienstes über die Flüchtlingsroute nach Hong Kong? Sie wären doch um ein Haar ertrunken.« »Dieser Weg erschien uns sicherer.« »Sie hätten sich doch ohne weiteres falsche Papiere besorgen können und was Sie sonst noch gebraucht hätten, um legal in den Westen auszureisen. Das heißt, falls Sie wirklich die Per son sind, als die Sie sich ausgeben.« »Das ist mir durchaus bewußt. Aber leider kann ich Sie in diesem Punkt nur bitten, mir zu glauben, daß ich bereits ver dächtigt und deshalb auch überwacht wurde. Wenn ich so etwas versucht hätte, wäre ich sofort entlarvt worden.« »Und aus welchem Grund? Waren Sie in Ungnade gefallen?« »Sagen wir, ich war gerade dabei, in Ungnade zu fallen.« Wei steckte sich mit dem brennenden Stummel seiner letzten Zigarette eine neue an. Wie ein Opiumraucher sog er begierig den Rauch ein, um ihn erst nach einer längeren Pause wider strebend aus seinen Lungen entweichen zu lassen. »Ich war beim Ministerium für öffentliche Ruhe in Shanghai. Sagt Ihnen das etwas?« »Wie lange waren Sie dort?« »Ich stamme aus Shanghai. Ich bin dort aufgewachsen.« »Haben Sie Ihr Englisch in Amerika gelernt?« »Nein, nur meine Lehrer. Ich selbst war nicht dort. Wie be reits gesagt, ich arbeitete also für das Ministerium in Shanghai. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt. Während der Kulturrevolution 15
…« »Ach so«, unterbrach ihn Godwin. »Sie sind vermutlich durch die Viererbande beeinflußt.« Wei nickte. »Genau. Unsere Führung wird gegenwärtig einer erneuten Reinigung hinsichtlich ihrer politischen Linientreue unterzogen. Nun trifft es die Mitarbeiter von Mitarbeitern von Mitarbeitern. Und unter anderen war davon auch ich betroffen. Es wurde zunehmend schwieriger; ja, eigentlich war es schon fast zu spät. Ich arrangierte eine Reise nach Guangzhou – Canton, wie Sie es nennen –, um einen Mann abzuholen, der wegen seines bürgerlichen Revisionismus und konterrevolutio närer Veröffentlichungen verhaftet worden war. Anstatt nach Kanton zu fahren, kam ich jedoch hierher, und zwar auf dem selben Weg wie Tausende anderer gewöhnlicher Flüchtlinge.« »Ich verstehe.« Godwins Stimme nahm einen offiziellen Ton fall an. »Was wollen Sie also nun eigentlich genau, Oberst Wei?« »Eine größere Summe Geld. Und ich möchte in die Vereinig ten Staaten von Amerika reisen – in die Arme des Großen Feindes.« Wei lächelte humorlos. Selbst für einen Asiaten war sein Gesicht auffallend ausdruckslos. Er hätte unter leichtem Drogeneinfluß stehen können, so unveränderlich neutral war seine Miene während der ganzen Unterredung geblieben. »Ich verstehe. Nach Amerika. Und Sie wollen Geld. Was können Sie uns dafür anbieten?« »Eine ganze Menge. Aber nicht Ihnen. Ich bin nur bereit, mit einem höher gestellten Beamten der CIA zu sprechen – und mit Ihrem stellvertretenden Direktor.« »Wir haben hier keinen stellvertretenden Direktor. Sie dürf ten in diesem Punkt falsch informiert sein. Mein Chef ist Mr. McIntosh. Er hält sich jedoch zur Zeit in Macau auf.« »Ich meine den stellvertretenden Direktor in London, Mr. Aubrey. Mit ihm werde ich sprechen – möglicherweise sogar nur mit ihm.« 16
»Wie, bitte?« Godwins Unterkiefer klappte herunter. »Das ist unmöglich. Ich fürchte …« Wei zeigte sich durch Godwins Einwände keineswegs beein druckt, sondern trug ruhig seine weiteren Forderungen vor. »Verständigen Sie London. Teilen Sie der zuständigen Stelle dort mit, ich hätte Informationen – wichtige und umfangreiche Informationen – über ein Komplott der sowjetischen Revisioni sten, mit dem Ziel, die gesamte Regierung der Bundesrepublik Deutschland zu diskreditieren. In diesem Zusammenhang nimmt ein Mann namens Zimmermann eine Schlüsselfunktion ein. Sagen Sie Mr. Aubrey in London bitte, daß ich darüber nur mit ihm zu sprechen bereit bin. Außerdem informieren Sie bitte den Chef der CIA in Hong Kong von meiner Ankunft hier.« Bei diesen Worten breitete sich auf Weis Lippen ein Lächeln aus. Sein Blick war jedoch unverwandt auf seine Hände gerich tet, auf den Rauch, der zwischen seinen Fingern aufstieg. »Der Name war Zimmermann. Vergessen Sie das nicht.« »Shelley hat also Aubrey angerufen?« »Es hat eine Weile gedauert, aber schließlich hat er es getan. Es gab keine Möglichkeit, dies schneller zu erreichen. Wir konnten diesen Davies nicht rascher dazu bringen. Er ist ein freier Agent.« »In Ordnung. Shelley hat aus Hong Kong eine Nachricht über Wei erhalten. Diese Tatsache konnte heute morgen bestätigt werden.« »Wunderbar! Eine reizvolle und vor allem wirkungsvolle Verbindung.« »Das hoffen wir zumindest. Aubrey ist ja für seine Neugier berühmt. Aber manchmal trübt sie auch seine Urteilskraft.« »Ganz meiner Meinung. Glauben Sie, Wei wird seine Sache gut genug machen?« »Aubrey ist ein schlauer Fuchs, aber Wei nicht weniger. Er wurde auf Aubreys Verhörmethoden hin ausgebildet und ge nauestens instruiert. Er weiß, wie Aubrey vorgeht. Ja, Wei wird 17
es schaffen.« »Dann werden jetzt also in Hong Kong alle Fäden zusam menlaufen. Und natürlich werden alle versuchen, sich ihr Stück vom Kuchen abzuschneiden.« »Allerdings. Nur die Deutschen werden dabei etwas zu kurz kommen.« »Hoffen wir’s.« »Glauben Sie eigentlich wirklich an Zufälle, Peter?« Kenneth Aubrey nahm seinen Strohhut ab und wischte sich über seine feuchte Stirn. Aus einem fast farblosen Mittags himmel brannte die Sonne auf den Garten herab. Shelleys große, kantige Gestalt blieb im Schatten des niedrigen Apfel baums. In seinem dunklen Anzug hatte er eine verschwöreri sche Atmosphäre in den kleinen, ummauerten Garten von Aubreys Oxfordshire-Landhaus gebracht. »Ich – weiß nicht, was ich davon halten soll, Sir.« »Gestern haben Sie mich hier angerufen, und heute kommen Sie einfach hereingeschneit und erzählen mir, ein äußerst be deutender Mann des chinesischen Geheimdienstes wäre nach Hong Kong geflohen und hätte dort angedeutet, er könnte wichtige Aussagen über die rechte Hand des deutschen Kanz lers machen. Glauben Sie das wirklich, Peter?« »Es ist – es ist zumindest eigenartig, Sir.« »Schon möglich. Ein sowjetisches Komplott, um die deutsche Regierung zu diskreditieren. Ein russisch sprechender Deut scher in einem chinesischen Provinzkrankenhaus. Wenn Sie das eigenartig nennen, so ist das meiner Meinung nach noch gelinde ausgedrückt.« Aubrey setzte seinen Strohhut wieder auf. Dann blickte er kurz auf die Gartenschere in seinen Hän den hinab, um sie schließlich fallen zu lassen, so daß sie mit der Spitze im Gras stecken blieb. »Mhm.« »Wir könnten Wei hierherbringen lassen, Sir«, warf Shelley ein. 18
Aubrey schüttelte den Kopf. »Wie sollten wir das machen? Das hieße doch, daß auch Godwin und McIntosh kommen müßten, womit praktisch unser Posten in Hong Kong unbesetzt bliebe. Es würde zuviel Zeit verstreichen, und außerdem be stünde die Möglichkeit, daß sich die Leute von der CIA Wei unter den Nagel reißen. Dieser Mann will doch nach Ameri ka?« Shelley nickte. »Nein, ich werde selbst nach Hong Kong fliegen müssen.« »Nach Hong Kong, Sir?« »Glauben Sie nicht, die lange Reise könnte sich lohnen?« »Wir wissen doch nicht einmal, ob Wei überhaupt der Mann ist, als der er sich ausgibt.« »Das stimmt allerdings.« Aubrey runzelte die Stirn. »Ich ha be ganz vergessen, Ihnen ein Bier anzubieten, Peter.« Er mach te jedoch keinerlei Anstalten, zum Haus zurückzugehen. »Vermutlich ließe ich mich auch keinesfalls zu solch einem voreiligen Vorgehen hinreißen, stünde nicht die Ratifizierung des Berlin-Abkommens zwischen den beiden Deutschlands und der Sowjetunion innerhalb der nächsten vierzehn Tage ins Haus. Genau das ist es nämlich, was hinter der Zufälligkeit dieser beiden Informationen steckt, und darin liegt möglicher weise ihre Bedeutung und Bedrohlichkeit. Ich glaube, ich sollte auf jeden Fall mit diesem Oberst Wei sprechen.« »Glauben Sie, die Geschichte könnte etwas mit dem Ab kommen zu tun haben, Sir?« »Zimmermann hat doch alles mit diesem Abkommen zu tun. Berlin wird wieder eine offene Stadt, und sämtliche Ver kehrseinschränkungen zwischen der DDR und der Bundesre publik werden für einen Probezeitraum von einem Jahr aufge hoben. Anfang nächsten Jahres wird dann eine Volksabstim mung über die Wiedervereinigung abgehalten. Und die Einlei tung dazu – der große symbolische Akt, die Berliner Mauer einzureißen. Das alles ist Zimmermanns und Kanzler Vogels Verdienst. Sie haben für dieses Abkommen alles aufs Spiel 19
gesetzt – sogar den Verlust der nächsten Bundestagswahl. Die Ostpolitik spielt bei den Deutschen im Augenblick eine alles überragende Rolle.« Aubrey lächelte. »Versteht sich natürlich von selbst, daß so etwas reichlich politischen Zündstoff liefert, und prompt werde ich auch gleich ganz nervös, wenn ich höre, daß in einem chinesischen Krankenzimmer jemand russisch gesprochen hat.« »Sie werden mich in Hong Kong brauchen, Sir.« »Nein, ich werde Hyde mitnehmen.« »Hyde?« Shelleys Stimme klang eher enttäuscht als verächt lich. »Er wird für meine Zwecke genau der richtige Mann sein, Peter. Außerdem werde ich Sie hier brauchen.« Er tätschelte Shelleys Arm. »Gehen wir ins Haus. Ich habe ein paar Fla schen ausgezeichnetes Lager im Kühlschrank.« Seufzend ließ er seinen Blick noch einmal über den Garten gleiten. »Zumin dest werde ich dafür sorgen müssen, daß der Rasen gemäht wird.« Damit ergriff er den Arm des jüngeren Mannes und führte ihn zum Haus. »Soll ich Ihnen die Akten heraussuchen lassen?« »Natürlich. Habe ich Ihnen übrigens schon erzählt, daß ich Zimmermann persönlich kenne – oder besser kannte? Das war während des Krieges. Ziemlich zu Beginn, noch vor Dünkir chen.« Er blickte mit einem strahlenden Lächeln zu Shelley auf. Seine blauen Augen blitzten schelmisch. »Damals in Frankreich war Wolfgang Zimmermann mein Gefangener.« 12. Mai 1940 Selbst ihm war klar, daß er eher wie ein Ornithologe wirkte und nicht gerade wie ein Mann der Tat – Tweed-Jackett und Knickerbocker, schwere Wanderschuhe, knorriger Spazier stock, Hirschfänger. Diese Verkleidung wäre vielleicht in Den Haag oder Brüssel und am Tag zuvor auch noch in Arras als 20
etwas affektiert betrachtet worden. Aber in dieser Umgebung war sie der nackte Hohn, wie sich Aubrey widerwillig einge stehen mußte, während er auf dem Gipfel einer Anhöhe, von der aus man die Meuse und Sedan überblicken konnte, auf der Lauer lag und Guderians XIX. Panzerdivision beobachtete, wie sie den Fluß hinauf vorrückte. Das Fernglas, das die Deutschen seinen Augen näherbrachte, verstärkte nur noch die Unange messenheit seiner Verkleidung. Das Problem war vor allem, daß es für Spione keine Uniformierung gab und keine Zeit mehr geblieben war, sich als belgischer oder französischer Bauer zu verkleiden. Die Zeit hatte gerade noch gereicht, um sich mit zwei Einheimischen in Verbindung zu setzen, die ihn dann über schmale Landstraßen und kleine Dörfer, in denen sich französisches Militär sammelte, auf diese Anhöhe geführt hatten. Die Franzosen hatten während des Tages Sedan auf der ande ren Seite des Flusses aufgegeben, worauf die Deutschen lang sam und unerbittlich wie schmutziggrauer Schlamm nachsik kerten. Erst vor einer Stunde hatten die Panzer das Ufer der Meuse erreicht. Mit zunehmender Dunkelheit wuchs auch Aubreys Gewißheit, daß Guderian schon am nächsten Morgen seine Infanterie, vermutlich unter Feuerschutz von Seiten der Artillerie und der Luftwaffe, den Fluß überqueren lassen wür de. Die Schlacht um Frankreich würde ihren Anfang nehmen. War sie vielleicht sogar schon verloren? Aubrey versuchte, nicht länger daran zu denken. Man hatte den Deutschen nicht zugetraut, daß sie über die Ardennen kommen würden, und war dann davon ausgegangen, sie min destens für neun bis zehn Tage aufhalten zu können. Das war vor zwei Tagen gewesen. Sie hatten inzwischen bereits die französische Grenze überschritten und waren bis Sedan und zur Meuse vorgedrungen. Morgen würden sie den Fluß überque ren. Daran bestand für Aubrey nicht der geringste Zweifel, auch wenn die französische Heeresleitung sicher wieder an 21
nehmen würde, daß die Deutschen dafür mindestens fünf oder sechs Tage brauchen würden. Aubrey spürte, wie ein Anfall von Frankophobie in ihm auf stieg, den er jedoch ebensosehr verabscheute wie den Defätis mus, der sich während des Jahres 1940 so ungehindert inner halb des britischen Geheimdienstes, des SIS, hatte breitmachen können. Nachdem man im November 1939 zwei maßgebende SIS-Agenten gefaßt hatte, war es um die Moral innerhalb des Geheimdienstes in den Niederlanden geschehen. An die Stelle der aufgeflogenen Agentenringe traten junge und unerfahrene Männer, die eben erst die Universität abgeschlossen hatten. Einer von ihnen war auch Aubrey. Jedenfalls hatte der britische Geheimdienst bis Mai 1940 auf dem europäischen Kontinent keinerlei reelle Möglichkeiten mehr, den Lauf der Dinge in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Selbst hier, auf dieser Anhöhe über dem Fluß und der Stadt Sedan, konnte Aubrey sich in keiner anderen Rolle sehen als in der des kleinen Jun gen, der seinen Finger in das sprichwörtliche Loch im Deich steckt. »M’sieur?« flüsterte Henri hinter ihm. Aubrey ließ sein Fern glas noch einmal über das Flußufer schwenken, das sich lang sam verdunkelte. Eingestürzte Brücken, das breite Band des Flusses, der Rauch von unzähligen Feuern über der Stadt – und überall Feldgrau und Artillerie und Panzer entlang des rechten Ufers … Aubrey, der auf dem Bauch gelegen hatte, setzte sich auf. »Oui, Henri?« »Essen, M’sieur.« Henri bot ihm ein Stück Brot an, das er mit einem Taschenmesser von einem langen Laib abgeschnitten hatte. Es schien keine Butter zu geben, aber dafür etwas Rot wein und ein Stück stark riechenden Käses. Henri hatte sich offensichtlich entschlossen, mit dem Essen nicht auf die Rück kehr seines Bruders Philippe zu warten. Aubrey kaute an dem Brot, das an seinem Gaumen klebte. 22
Er hatte die zwei Brüder rekrutiert. Sie besaßen in der Nähe von Verdun einen Hof und waren für die Überwachung der belgischfranzösischen Grenze zwischen Verdun und Charlevil le zuständig. Seit ihr Vater im letzten Krieg gefallen und in den Kämpfen um Verdun ihr Hof zerstört worden war, hatten sie sich zu vehementen Deutschenhassern entwickelt und versahen ihre Aufgabe mit glühendem Eifer. Philippe, der jüngere von beiden, war gesprächiger als der dunkelhäutige Henri. »Was wollen Sie jetzt tun, M’sieur?« fragte Henri schließlich, als wollte er Aubreys Meinung hin sichtlich seiner Schweigsamkeit widerlegen. »Morgen werden die Boche …«, es war obligatorisch, daß er an dieser Stelle ausspuckte, »… über den Fluß kommen, oder nicht?« Aubrey nickte widerstrebend. »Ich glaube schon, Henri.« Henri deutete nach Westen, wo sich die Wolken in einem grellen Purpurrot vor dem dunkelblauen Abendhimmel abho ben. Er spuckte neuerlich aus. »Die französische Kavallerie hat den Auftrag, Sedan zu halten! Der Rückzug hat begonnen.« »Wir müssen herausfinden, wie sie weiter vorgehen werden.« Aus Henris Mund floß etwas Wein, was ihm ein leicht ver blödetes Aussehen verlieh. Sein Bruder Philippe benutzte gerade im nächsten Dorf ein ganz gewöhnliches Telefon, um sich mit Aubreys Einheit in Verbindung zu setzen und seinen Bericht und seine Schlußfolgerungen durchzugeben. Wie woll ten sie auf diese Weise und mit diesen primitiven Mitteln Guderians Vorrücken auch nur im geringsten verzögern? Henri wischte sich den Wein vom Kinn. »Heute nacht werden sie sicher Spähtrupps über den Fluß schicken«, sagte Aubrey. Henri nickte und fuhr sich mit dem Finger quer über die Kehle. »Nein. Aber wenn sie wie wir Spione sind, werden sie vielleicht einiges wissen. Vielleicht könnten wir von ihnen etwas erfahren, glauben Sie nicht?« »Das stimmt, M’sieur.« Henri schien jedoch enttäuscht zu sein. »Aber nur vor einem Offizier. Wir müssen einen Offizier 23
schnappen.« »Vielleicht erwischen wir einen.« Aubrey rollte sich wieder auf den Bauch und hob den Feld stecher an die Augen, um das letzte Tageslicht auszunützen. Er beobachtete das diesseitige Meuse-Ufer, an dem sich die Schützengräben und Geschützstände der Franzosen erstreckten. Die Artillerie war jedoch hinter Aubrey auf den Marfée-Höhen konzentriert, von wo aus man Sedan und den Fluß überblicken konnte. Falls die Deutschen Spähtrupps über den Fluß schick ten, würden sie sich vor allem für diese Höhen interessieren. Vielleicht würden später in dieser Nacht auf dem anderen Ufer die kleinen, aufblasbaren Gummiboote ins Wasser gelassen werden. Ja, noch in dieser Nacht würden sie einen Deutschen fangen, einen Offizier der Wehrmacht. 13. Mai 1940 Plötzlich klangen Geräusche auf, leise, kaum merkliche Geräu sche, Rascheln von altem Laub, eine Bewegung im frischen Gras. Aubrey sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Drei Uhr fünfzehn. Henri und Philippe hatten sich zu seiner Linken postiert. Die Geräusche deuteten auf eine kleine Gruppe von vielleicht drei Mann hin. Im Mondlicht teilte der schmale Pfad das hohe Gras der Lichtung wie ein Scheitel in dunklem Haar. Sollten die Deutschen wirklich so unglaublich arrogant sein und diesen Pfad benutzen, als unternähmen sie nur einen nächt lichen Spaziergang? Sollten sie wirklich so zuversichtlich sein? Die Geräusche hörten auf. Von der Stelle, an der Aubrey sich verborgen hatte, bog der Pfad in dichteres Gehölz ab, das sich den Abhang zum Fluß hinunter erstreckte. In der Ferne war die Nacht von den gedämpften Geräuschen erfüllt, die der Auf bruch der Deutschen verursachte. Schwere Artillerie, das Rumpeln der Panzer, der gelegentliche Lärm eines Flugzeugs 24
in der Luft. Ein Krieg, der sich da im Hintergrund zusammen braute, reale Gestalt annahm. Aubrey fröstelte, während er auf dem Gras und Laub ausgestreckt lag, fühlte sich nutzlos, war mißmutig und aufgeregt. Neuerliche Geräusche, das Mondlicht spiegelte sich in einem Helm, der hüpfend den Abhang heraufkam, darunter eine massige Gestalt … Dann plötzlich das kurze Aufschimmern eines schlanken Gewehrlaufs im fahlen Licht, ein zweiter deutscher Soldat, der die Böschung herauf stapfte. Keine Tar nung, keinerlei Vorsicht. Der Hügelabhang war offensichtlich bereits Teil eines Großdeutschen Reiches. Der dritte Mann war ein Offizier. Aubrey beobachtete ihn, wie er seine Mütze ab nahm und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Als gäbe es keine Gefahr … Der erste Soldat passierte Aubreys Versteck und näherte sich der Stelle, wo Henri und Philippe sich postiert hatten. Bei der Vorstellung, daß dieser Mann in Kürze sterben würde, überkam Aubrey eine wilde Freude. Der zweite Soldat drehte sich nach dem Offizier um, der ihm mit einer Handbewegung bedeutete, weiterzugehen. Der Offizier setzte seine Mütze auf und hastete den Pfad hoch. Der zweite Soldat stapfte, seinen Rücken nun Aubrey zugewandt, weiter durch das Mondlicht. Eine lange Pause – jeder Schritt des Offiziers akzentuiert durch einen Moment intensiver Stille, in der die Geräusche von der anderen Seite des Flusses auf ein statisches Summen redu ziert zu sein schienen … Der Hauch des Krieges. Dann plötz lich leise, unterdrückte Geräusche – über Münder gelegte Hände, die Aubrey sich lebhaft vorstellen konnte. Messer – das Klappmesser, mit dem Henri das Brot geteilt hatte – quer über die Kehle, in die Seite, durch die Rippen nach oben … Der deutsche Offizier erstarrte mitten in der Bewegung. Ein instinktives, todsicheres Begreifen der Situation. Dieser Mann hatte die Mordgeräusche aus dem Dunkel unmittelbar begrif fen, und Aubrey hatte mit einemmal Angst vor ihm. 25
Aubrey erhob sich auf seine Knie. Der Offizier hatte seine Pistole gezogen und streckte angespannt lauschend den Kopf vor. Aubrey brachte sein Gewehr – es fühlte sich plötzlich klobig und schwer an – mit beiden Händen vor sich in Position, wobei ihm bewußt wurde, daß er noch nie einen Menschen getötet oder auch nur verwundet hatte und dies auch jetzt auf jeden Fall vermeiden wollte … »Halt!« rief er auf deutsch. Der Offizier wirbelte zu ihm her um. Ein Stück weiter unten am Pfad krachte es im Gebüsch. Darauf trat wieder Stille ein. Der Deutsche hob seine Pistole. Aubrey kniete immer noch im Gras und richtete seine Webley auf die Mitte des Schattens vor ihm. Seine Hand krallte sich weiß um den Schaft seines Gewehrs. Der Deutsche sah das Gewehr, mußte das Gewehr unter diesen Lichtverhältnissen sehen … Der deutsche Offizier ließ seine Pistole wieder sinken. Au brey wagte nicht aufzustehen oder sein Gewehr zu senken. Er fühlte sich schwach und hilflos und hoffte, die zwei Franzosen würden bald erscheinen. Der deutsche Offizier lachte unverständlicherweise leise und zuckte dann mit den Schultern. Und dann begann er zu spre chen. »Sie sind ja nicht einmal ein Soldat«, bemerkte er, und die Enttäuschung in seiner Stimme war unverkennbar. Er war höchstens sechs bis sieben Meter von Aubrey entfernt, aber sein Gesicht lag im Schatten. Die Stimme klang noch jung, seine Gestalt war groß und schlank. Aubrey ärgerte sich, weil er immer noch vor dem Deutschen kniete und seine Knie vom feuchten Waldboden inzwischen völlig naß waren. »Was sind Sie denn? Franzose?« »Nein, Engländer«, fühlte Aubrey sich bemüßigt, ihn zu kor rigieren. »Wo ist denn Ihre Uniform?« Schritte kamen den Pfad herun ter. Der Deutsche zuckte zusammen, gewann jedoch sofort 26
seine Fassung wieder. Er hatte Guderians Armee im Rücken. Und wenn er auch im Augenblick Pech hatte, so würde dieser Zustand nur vorübergehend sein. »Ach so, dann sind Sie also ein Agent, ein Spion.« Der Deutsche lachte leise, während Henri und Philippe auf dem Pfad erschienen. Aubrey konnte das Weiß ihrer Zähne erkennen, als sie grinsten. Sie hatten getötet … »Vielleicht – so wie Sie.« Aubrey spürte, wie sich in seinem Bauch ein Gefühl fiebri ger, unbekannter und für ihn neuer Erregung ausbreitete. Er hatte seinen ersten Deutschen gefangengenommen. Henri entriß dem deutschen Offizier seine Pistole, während ihn Philippe nach anderen Waffen abtastete. Dem Deutschen schien das gleichgültig zu sein. Er wirkte sogar gelangweilt. Aubrey stand auf. »Name, Dienstrang und Dienstnummer!« bellte er den Offizier an. Ja, der Deutsche war größer und vermutlich auch ein paar Jahre jünger, schlank und attraktiv in seiner Uniform, furchtlos. »Hauptmann Zimmermann«, erwiderte er. »Zu Befehl.«
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ERSTER TEIL
In unbekanntes Land Wie kalte Wasser für eine durstige Seele,
So sind gute Nachrichten aus einem fernen Land.
Sprüche 24:25
1. Orient-Expreß Die Häuserreihen schossen unter dem Flugzeug davon. Hyde erhaschte einen kurzen Blick von Wäsche, die an Bambusstä ben aus Fenstern gehängt wurde. Und dann war da ein Gefühl, sich zwischen den mächtigen Fingern der Hotelhochhäuser zu befinden, bevor die 747 aus einer eleganten Drehung heraus auf die Landebahn zuhielt, die sich in das blaue Wasser dahin ter zu erstrecken schien. Die Räder berührten den Boden und fanden Halt, so daß die 747 wie ein schnelles Motorboot über die Wasseroberfläche zu schießen schien, während die Gebäu de des Flughafens Kai-Tak näherrückten. Hyde rappelte sich in seinem Sitz auf, während die Maschine ihre Fahrt verlangsamte. Der Geschäftsmann, der ihm die ganze Strecke von London bis Hong Kong Gesellschaft gelei stet hatte, wirkte zerknautscht und müde, obwohl der Geruch von frisch aufgetragenem Rasierwasser eine gewisse Aufge wecktheit assoziierte. Hyde hatte sich während des Fluges ein praktisch allumfassendes Wissen angeeignet, was die Belange des Importgeschäfts mit Kleidung betraf. Einem noch ausführ licheren Beschuß mit entnervenden Informationen und Ge schäftsanekdoten war Hyde schließlich nur zuvorgekommen, indem er seine eigene Lebensgeschichte als selbständiger Journalist zum besten gegeben hatte. Aubrey war natürlich erster Klasse geflogen. Noch bevor die Leuchtbuchstaben mit der Aufforderung, an 28
geschnallt zu bleiben, erloschen, drängte sich Hyde von seinem Fensterplatz auf den Mittelgang hinaus. Er nahm seine Reiseta sche aus dem Fach über seinem Sitz und strebte auf die Spitze der Maschine zu. Dabei wurde er zwar von einer Stewardeß beobachtet, aber offensichtlich hatte Aubrey alles Nötige in die Wege geleitet, so daß seinem Vormarsch kein Einhalt geboten wurde. Als das Flugzeug schließlich zum Stehen kam, schob er den Vorhang zum Erste-Klasse-Abteil beiseite. Aubrey sah ihn sofort, worauf der alte Mann lächelte. Er wirkte müde und gierig. Seine Gesichtszüge und selbst seine hellen blauen Au gen schienen so etwas wie Hunger widerzuspiegeln. Irgendwo in dieser Stadt voller brodelnden Lebens wartete in einem Zimmer ein Mann darauf, verhört zu werden. Es war, als hätte Aubrey die Gegenwart dieses Mannes selbst in der trockenen Luft im Innern der Maschine riechen können. In frischgebügelten Khaki-Hemden und -Shorts kamen Be amte der Einwanderungsbehörde herein und sprühten aus großen Kanistern das Innere der Maschine aus, die in Bombay zwischengelandet war. Fünf Minuten später traten Hyde und Aubrey auf die Gangway hinaus. Hyde trug neben seiner auch Aubreys Reisetasche, die mit dem Emblem der British Airways versehen und so gut wie neu war. In dem Tunnel, der von der Maschine ins Flughafenhauptge bäude führte, war es heiß – ein Vorgeschmack auf den stickig schwülen Tag draußen. Erst als sie dann die Abfertigungshalle betraten, umgab sie wieder künstliche, klimatisierte Kühle. Sie wurden an der Paßkontrolle von McIntosh und Godwin erwartet. Hyde sah einen jungen Mann mit rosigen, gesunden Gesichtszügen, der eine kaum merkliche, aber möglicherweise recht entscheidende Schwäche ausstrahlte, und einen älteren, faltigen, sonnengegerbten Mann in leicht vornübergebeugter Haltung, der einen cleveren Eindruck erweckte und kurz vor der Pensionierung stand. Aubrey schüttelte den beiden die Hände, stellte Hyde vor und wurde von den zwei Männern 29
dann zum Ausgang geführt. Godwin sah sich kurz nach Hyde um, der ihnen folgte. Hyde verstand sehr wohl, weshalb die beiden Männer ihn mehr oder weniger ignorierten. Sie hatten ihn durchschaut, kannten seinen Typ oder – genauer gesagt – seine Funktion. Aubreys Laufbursche. Er lehnte sich gegen den Wagen und blinzelte in die grelle Sonne. McIntosh saß bereits im Auto und suchte in seiner Aktentasche nach etwas, wonach Aubrey gefragt hatte. Aubrey schwitzte ausgiebig und welkte angesichts der Hitze sichtlich dahin, obwohl Hyde die Temperatur kaum über fünfundzwan zig Grad schätzte. Offensichtlich machte ihm die hohe Luft feuchtigkeit zu schaffen, so daß er erst seinen Strohhut zurecht rückte, dann an seiner Krawatte zerrte und sich schließlich in seinem Jackett hin und her wand. »McIntosh«, sagte er plötzlich, worauf der Chef des SIS in Hong Kong seinen Kopf aus dem Innern des kleinen, nicht mehr gerade neuen Ford steckte und Hyde verwundert ansah. Leichte Verärgerung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Ja, was ist?« »Wer ist der kleine Mann, der uns von der Aussichtsterrasse aus beobachtet?« McIntoshs spöttisches Lächeln brachte neue und bisher unbe kannte Falten in seinem Gesicht zum Vorschein. »Ach, nichts, was der Rede wert wäre, Hyde. Nur einer der Leute, die so nebenbei für den KGB arbeiten. Er hat sicher Fotos gemacht, nicht wahr?« »Bis jetzt nicht. Steigen Sie ein, Mr. Aubrey.« »Er wird uns doch überallhin folgen«, protestierte McIntosh. »Sie werden wohl kaum erwarten können, hier nach Hong Kong zu kommen, ohne gewisses Aufsehen zu erregen, Mr. Aubrey.« »Das stimmt allerdings.« Aubrey stieg folgsam in den Ford. »Sie könnten dazu beitragen, Kosten zu sparen, indem Sie 30
dasselbe Transportmittel benutzen«, bemerkte Hyde. McIntosh ging mit einem Achselzucken darüber hinweg, während nun auch der Australier einstieg. Godwin grinste. Während Godwin dann vom Flughafengelände fuhr und in die Schnellstraße einbog, die durch Kowloon und den Tunnel unter dem Hafen hindurch ins Zentrum von Hong Kong führte, wandte McIntosh sich auf dem Beifahrersitz um und reichte Aubrey ein Bündel Papiere. »Das sind die vollständigen Aufzeichnungen, Mr. Aubrey.« Aubrey machte sich daran, sie zu studieren. Hyde lümmelte sich in seinem Sitz zurück und beobachtete eine andere 747, die gerade zur Landung ansetzte. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß ihnen der Wagen, der sich hinter ihnen in den Ver kehr eingeordnet hatte, immer noch folgte, begann er sich langsam zu entspannen. Im Augenblick waren seine Talente nicht gefragt. Durch das offene Wagenfenster wehte ihm eine kühlende Brise ins Gesicht. Auf der anderen Straßenseite drängten sich die Hotels wie weiße, kahle Bäume zum blauen Wasser der Bucht hinunter. »Was halten Sie davon, McIntosh?« fragte Aubrey und sah von den Papieren auf. »Meinen Sie Wei?« »Mit Wei habe vor allem ich gesprochen, Sir«, schaltete sich Godwin ein. »Aha«, bemerkte Aubrey in leicht gequältem Ton. Die Hitze machte ihm sichtlich zu schaffen. »Und welchen Eindruck haben Sie von Wei gewonnen?« »Er ist auf jeden Fall ein äußerst cleverer Mann, Sir.« »Warum ist er zu uns übergelaufen?« »Vermutlich, weil er Angst hat – und das Geld kassieren will.« Die Mau Tau Wai Road war ein einziges Gedränge aus Autos, Rikschas und Fahrrädern. Menschen und Fahrzeuge schie nen durch sie einfach wie in einem Rinnstein davongespült zu 31
werden, um neuen Massen Platz zu machen. Inmitten dieser brodelnden Menschenmenge von Kowloon war der chinesische Überläufer nach Hydes Meinung plötzlich jeglicher Bedeutung beraubt. »Glauben Sie nicht, daß diese Angst davor, in Ungnade zu fallen und möglicherweise auch verhaftet zu werden, Mache sein könnte?« »Eigentlich nicht, Sir. Zumindest nicht, soweit wir das zur Zeit beurteilen können. Er ist ein Geheimdienstmann aus Shanghai. Wir wissen, daß sich dort einiges getan hat, daß es zu Säuberungsaktionen gekommen ist. Deng geht sehr gründ lich vor, Sir, und er hat China inzwischen fest in der Hand.« »Nach der Zerschlagung der Viererbande …«, rezitierte Hyde ironisch, mit dick aufgetragenem chinesischen Akzent. »Genau«, erwiderte Godwin mürrisch. Er fühlte sich in seiner Funktion als China-Kenner von dem Australier verspottet. »Deng ist außerordentlich gründlich, und seine Leute sind bereit zu sieben, zu sieben und noch einmal zu sieben und sich niemanden durch die Lappen gehen zu lassen, der in irgendei ner Weise verdächtig sein könnte. Er gedenkt nicht, seine eigene Person beziehungsweise seinen Großen Sprung nach vorn zu gefährden. Der Vorsitzende Hua ist von der politischen Tribüne abgetreten. Oberst Wei ist nur ein kleiner Fisch inner halb der groß angelegten Säuberungsaktionen.« »Damit kann ich mich vorläufig einverstanden erklären«, bemerkte Aubrey in besänftigendem Tonfall. »Konnte er Ihnen überzeugend klarmachen, daß er gewisse Verbindungen mit der Viererbande und der Phase der Shanghaier Volkskommune hatte?« »Ja, Sir. Was er uns darüber erzählt hat, läßt eindeutig darauf schließen.« »Und diese Sache mit dem Geld und daß er nach Amerika will – fanden Sie das ebenso überzeugend?« »Zumindest scheint es zu ihm zu passen …«, begann God 32
win. »Und ob das zu ihm paßt!« unterbrach ihn McIntosh. »Ein richtiger Raffzahn. Raffiniert, klug und dazu ein hervorragen der Schauspieler. Asiate bis auf die Knochen. Nicht irgend so ein verdammter Kommunist oder Maoist oder Dengist, sondern ein ganz gewöhnlicher Egoist. Ein Macher.« »Ich verstehe.« Die Massen, die im Bahnhof in der Hong Chong Road ver schwanden, erschienen Hyde wie eine riesige Schar von Gläu bigen, die in irgendeinen modernistischen Tempel strömte. Die Sucht nach einer Glaubensmöglichkeit war endlos, verzweifelt und überstürzt. »Die Leute vom hiesigen CIA sind sehr an ihm interessiert, Sir.« »Das kann ich mir denken, Godwin. Man hat sich in Langley wegen dieser Sache bereits mit mir in Verbindung gesetzt. Meiner Meinung nach ist übrigens nichts anderes zu erwarten, als daß sie ihren stellvertretenden Direktor nach Hong Kong schicken werden, damit er sich der Sache annimmt.« »Buchholz? Sie meinen, er wird nach Hong Kong kommen?« »Die von Oberst Wei angekündigten Enthüllungen interessie ren ihn offensichtlich keineswegs weniger als mich. Ich darf wohl davon ausgehen, daß Sie sonst nichts weiter in Erfahrung bringen konnten?« McIntosh schüttelte zögernd den Kopf. Hyde erhaschte einen kurzen Blick auf das gleißende, wilde Blau von Victoria Har bour, aus dem Oberst Wei gefischt worden war, und dann leuchteten die Rücklichter der Autos vor ihnen auf, als sie in den Tunnel einfuhren, der unter dem Hafen hindurchführte. »Dieser Kerl hält absolut dicht«, murmelte McIntosh. »Nur ein paar vage Andeutungen hinsichtlich Zimmermanns und eines sowjetischen Komplotts – und das alles mit diesem selbstzufriedenen, freundlichen, hohlen Grinsen und einer Zigarette in der Fresse.« 33
Aubrey mußte ein Lächeln unterdrücken. »Könnte die Sache denn von größerer Bedeutung sein, Sir?« wollte Godwin wissen. Die Aufregung in seiner Stimme war unverkennbar. »Ich weiß nicht, Godwin, ich weiß es wirklich nicht.« »Und was ist mit dem Berlin-Abkommen, Sir?« »Ja, ich weiß, Godwin. Es soll in zwei Wochen ratifiziert werden. Und jetzt haben Sie einen Chinesen, der aus dem Hafen gefischt wurde und behauptet, das Ganze wäre ein russi sches Komplott. Ich bin mir durchaus im klaren, worauf Sie hinauswollen. Was mich nur etwas stutzig macht, ist der Punkt, woher das ausgerechnet ein Chinese weiß und welche Gründe er haben könnte, uns davon zu erzählen.« Am Ende des Tunnels glitt der Wagen wieder in das blen dende Sonnenlicht hinaus. Über Hong Kong erhoben sich sattgrüne Hügel in den feuchten Dunst, der wie Nebel über der Stadt lag. Aubrey hatte das Gefühl, diese Hügel würden sich gegen ihn richten. Es war, als versteckten und schützten sie Wei und das, was er wußte. Am anderen Ende der Welt von Zimmermanns und Kanzler Vogels Berlin-Abkommen hatte er eine Welt voller Geheimnisse betreten – einen abgedunkelten Raum, in dem sich ein möglicherweise ebenbürtiger und vor gewarnter Gegner aufhielt. »Kenneth!« »Mein lieber Charles, willkommen!« Aubrey schüttelte Charles Buckholz, dem stellvertretenden Direktor der CIA, die Hand. Das Eis klirrte leise in seinem großen Glas mit Limonensaft, als er aufstand und auf den Amerikaner zuging. Die letzten Sonnenstrahlen vor dem Ein bruch der tropischen Nacht warfen wie der Temperamentsaus bruch eines Innenarchitekten ein wildes Muster auf die Wand des von einem Ventilator gekühlten Raums mit seinen weit geöffneten Fenstern. Buckholz sah sich um, als erwartete er, 34
Wei würde jeden Moment zu ihnen treten oder wäre zumindest hinter einem Möbelstück verborgen. Dann sah er den alten Engländer prüfend an. »Mir ist nie aufgefallen, wie gut Sie in eine solche Umge bung passen«, sagte er zu Aubrey, worauf dieser verächtlich auf seinen cremefarbenen Leinenanzug und seine weißen Schuhe hinabsah. »Ach ja?« war alles, was er darauf erwiderte. »Haben Sie mit Wei gesprochen?« Aubrey bedeutete Godwin, den Raum zu verlassen und wies dann auf die Getränke, die auf einem Sideboard standen. Buckholz ließ wenig erwartungsfroh seinen Blick darüber gleiten und goß sich schließlich einen ordentlichen Schluck Bourbon ein, um dann noch eine Handvoll Eis dazuzugeben. Er sah Aubrey an und hob sein Glas. »Ja, ich habe mit Wei ge sprochen.« »Und was halten Sie von ihm, Kenneth?« »Er wird, wie man mir bereits gesagt hat, eine harte Nuß sein, die wir knacken müssen. Besonders verschrumpelt und hart und trocken.« Aubrey mußte unwillkürlich an Kastanien den ken. Ein Schulhof. Herbst. Am nächsten Tag würde Armistice Day sein. Buckholz blickte ihn verwundert an. »Ich dachte, er wollte unbedingt mit Ihnen sprechen.« »Daran zweifle ich auch nicht im geringsten. Ich habe mich nur noch nicht darauf eingelassen, mit ihm über die Informa tionen zu sprechen, die er angeblich hat. So weit sind wir noch nicht. Ich habe nur gemeint, daß es vermutlich schwierig sein wird, den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen zu überprüfen.« »Ja, natürlich.« Buckholz trat an die Glastür, die zum Balkon hinausführte. Seine Gestalt war von orangegelbem Sonnenlicht umrissen, in das man nur blinzelnd schauen konnte. Aubrey nahm einen Schluck von seinem eisgekühlten Limonensaft. Was hatte er Buckholz nur zu fragen vergessen? Er schien in 35
solcher Eile zu sein. »Hatten Sie eigentlich einen guten Flug?« Ja, das war es. Höflichkeiten. »Was …?« »Wie war der Flug?« »Ach so. Na ja, es ging.« Buckholz wandte sich wieder zu ihm um. »Haben Sie hinsichtlich dieses Oberst Wei irgendwel che Zweifel?« »Ich hätte wohl jeder Person gegenüber Zweifel, die zu wis sen behauptet, der engste Berater des deutschen Kanzlers sei ein russischer Agent.« »Hat er das denn gesagt?« »So ungefähr. Wolfgang Zimmermann wurde – so behauptet er – in Wu Han und dann in Shanghai verhört, und dabei eru ierten Beamte des Geheimdienstes, daß er KGB-Agent war.« »Wie Guillaume, der Willy Brandts Sturz herbeigeführt hat.« »Genau.« Buckholz kam zu Aubreys Sessel. Er wirkte zielstrebig, ener gisch und jugendlich. Aubrey warf einen kurzen Blick auf die Couch, wo die kleine Aktentasche lag, mit der Buckholz den Raum betreten hatte. Buckholz nahm einen Schluck von sei nem Bourbon. »Wir müssen darüber unbedingt die Wahrheit herausfinden, Kenneth.« »Das ist mir bewußt, Charles.« »Mein Gott! Wenn das alles wahr ist, würden am Ende allein die Russen von der Ostpolitik profitieren. Es würde mögli cherweise darauf hinauslaufen, daß der deutsche Kanzler in die Hände der Russen arbeiten würde. Nicht auszudenken!« Er trank sein Glas leer, schenkte sich nach, gab ein paar Eiswürfel dazu und wandte sich wieder zu Aubrey. Wie ein Brandmal legte sich nun orangegelbes Licht, inzwischen dunkler wie ein verglimmendes Feuer, auf seine eine Gesichtshälfte und ließ sein kurzgeschnittenes, graues Haar aufleuchten. »Ich habe von 36
diesem Burschen noch nie viel gehalten, Kenneth, und das gilt vor allem für seine Spielchen mit dem Kreml. Aber das …« Kopfschüttelnd nahm er neuerlich einen Schluck. Dann beweg te er sich wie ein gefangenes, gefährliches Tier auf Aubreys Sessel zu. Der Engländer nippte wie ein nervöser Vogel an seinem Limonensaft. »Ist Ihnen klar, daß wir bereits hundert tausend Mann starke Truppenkontingente aus der Bundesrepu blik abgezogen haben, und das alles nur wegen dieses blödsin nigen Berlin-Abkommens?« Aubrey nickte. »Das trifft auch auf uns zu, wobei natürlich die Zahlen in Relation zu sehen sind. In ein paar Jahren wird der Einfluß der NATO in der Bundesrepublik praktisch gleich Null sein, und es ist durchaus zu erwarten, daß die Deutschen aus der NATO austreten. Sie werden das sogar tun müssen, falls ein Volksentscheid hinsichtlich der Wiedervereinigung je zum gewünschten Erfolg führen sollte. Dabei handelt es sich um weltpolitische Geschehnisse, Charles, die sich meinem Verantwortungsbereich entziehen. Es hat bereits begonnen, und es wird geschehen.« »Und das alles könnte von einem russischen Agenten in die Wege geleitet worden sein? Hören Sie, Kenneth, falls Wei tatsächlich die Wahrheit sagt, würde das die Situation von Grund auf ändern.« »Allerdings. Jedenfalls käme es mit Sicherheit nicht zu einem Berlin-Abkommen, wenn die gegen Zimmermann erhobenen Vorwürfe nachweislich wahr sind.« »Das herauszufinden, ist unsere Aufgabe.« »Ganz meiner Meinung.« »Aber das wird schwierig werden, Kenneth.« Buckholz setzte sich Aubrey gegenüber in einen Sessel. »Seit dieser Wei bei uns aufgetaucht ist, werden alle unsere Leute in Shanghai strengstens überwacht.« »Auch die Chinesen, die für Sie arbeiten?« »Nein. Aber ich kann keinen Kontakt mit ihnen aufnehmen.« 37
»Mit meinen Leuten wäre es genauso.« »Aber wir müssen Weis Angaben auf jeden Fall überprüfen. Und selbstverständlich werden wir uns auch um Zimmermann kümmern müssen.« »Ganz recht. Und was schlagen Sie vor?« »Wir schicken einen Mann los – einen Chinesen, einen von meinen Leuten. Ich habe Leute in Shanghai, mit denen er sich in Verbindung setzen kann. Wenn nötig, muß er auch in dieses Wu Han. Er soll herausfinden, ob Zimmermann wirklich in diesen beiden Krankenhäusern war, wer ihn dort besucht hat, wann und wie oft.« »Und das alles soll ein Mann machen?« »Anders geht es nicht. Jede Information, die wir von Wei bekommen, muß überprüft werden – bis ins kleinste Detail. Finden Sie nicht auch?« Aubrey mißfiel die Hast, mit der er sich plötzlich konfrontiert sah. Aber es war mehr als nur Buckholz’ typischer Tatendurst, die durchaus begreifliche Ungeduld des Amerikaners. Die Frist war tödlich knapp. Widerstrebend fühlte Aubrey sich in etwas hineingedrängt, das er für sich nur als Arena, als Amphitheater begreifen konnte. Weis Angaben konnten richtig sein. Wenn nicht, konnte Aubrey die Motive des chinesischen Überläufers nicht verstehen. Und wenn Wei die Wahrheit sprach, beinhalte te dies erschreckende Konsequenzen. Falls Zimmermann tat sächlich ein KGB-Agent war … Aubrey führte diesen Gedanken nicht weiter, sondern sagte: »Diese Geschichte reicht bis 1938 zurück. Wußten Sie das?« »Wie, bitte?« »Zimmermanns Verbindung mit Moskau. Nicht ganz so lan ge wie die Philbys, aber länger als die Ihrer Doubles.« Er lä chelte. »In meiner Aktentasche …«, begann Buckholz und deutete mit seinem Whiskyglas darauf. »Ich habe nämlich Zimmer mann damals entnazifiziert – das ist schon lange her. Es war 38
bei Kriegsende. Ich war damals beim G-2, dem Geheimdienst der Army. Er wurde in der Nähe von Frankfurt gefangenge nommen. Er war Oberst der Abwehr, aber zum damaligen Zeitpunkt mußten bereits alle an der Front kämpfen.« Er beugte sich vor. »Lesen Sie mal seine Akte, Kenneth. Zimmermann war kein Nazi – nicht, wenn Sie mich fragen. Er hat mich damals eindeutig überrascht. Und wenn ich mir nun überlege, was Wei uns zu erzählen hat, frage ich mich wirklich, was er nun eigentlich war. Ich habe die Akten im Flugzeug noch einmal durchgelesen.« Aubrey nickte. »Dieser Mann da, den Sie nach Shanghai schicken wollen – wird er denn irgend etwas ausrichten?« »Uns bleibt keine andere Wahl. Meinen Leuten sind durch die strenge Überwachung die Hände gebunden. Ohne ein neues Gesicht – ein chinesisches Gesicht – werden wir keinerlei neue Informationen über Wei aus China herausbekommen.« »Und wo ist dieser Mann jetzt?« Buckholz sah auf seine Uhr. »Nicht mehr als zwei bis drei Stunden von hier entfernt. Er sitzt in der nächsten Maschine aus den Staaten. Nur für den Fall, Sie wären wie ich der Mei nung, daß wir ihn vielleicht brauchen könnten.« »Sie sind aber wirklich schnell«, murmelte Aubrey. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ist das nicht eigenartig? Zimmermann war einmal mein Gefangener.« »Machen Sie keine Witze!« »Zu Beginn des Krieges, noch vor Dünkirchen. In Frank reich. Ich habe ihn damals auch verhört.« »Und?« »Er war kein Nazi, wie auch Sie schon gesagt haben. Aber das hat an sich noch nichts zu bedeuten.« »Nein? Sie haben meine Aufzeichnungen gelesen. Fünf Jahre – und vor allem diese fünf Jahre – sind eine lange Zeit. Er kann sich durchaus verändert haben. Vielleicht ist er härter gewor den.« 39
»Tja, das ist hier die Frage. Und Sie meinen, Sie können in Shanghai mit Ihrer Organisation absolut nichts ausrichten?« Buckholz schüttelte energisch den Kopf. »Auf keinen Fall. Meine Leute können nicht das geringste unternehmen. Und deshalb müssen wir einen neuen Trumpf aus dem Ärmel schüt teln – meinen zahmen Chinesen.« »Er soll also diese Krankenhäuser überprüfen?« »Ja. Er muß feststellen, wer dort war, wie oft und so weiter. Es gibt sogar im Ministerium für öffentliche Ruhe ein paar Leute, die er anzapfen kann.« Buckholz zuckte mit den Schul tern. »Ich will Ihnen damit nur helfen, Kenneth. Alles deutet darauf hin, daß es hier ums Ganze geht. Wir müssen diese Nuß knacken, und wir haben dazu nur zwei Wochen Zeit.« Leichter Regen fiel aus einem grauen Morgenhimmel. Abgese hen von der Temperatur und der Schwüle hätte auf dem Mari enplatz in München Frühwinter sein können. Wolfgang Zim mermann stand vor der Rednertribüne, die vor dem Rathaus aufgestellt worden war, und sah zu Kanzler Dietrich Vogel hoch, der in der bayerischen Landeshauptstadt gerade zu einer großen Menge sprach. Vogel hatte sich in feindliches Territori um begeben, ins Zentrum des rechtsgerichteten, konservativen Bayern, und er machte seinen Zuhörern das Berlin-Abkommen auf die ihm eigene einfache, aber wirkungsvolle Weise schmackhaft. Er hielt das Mikrofon dicht an seine Lippen, so daß er fast im Konversationston sprechen konnte. Er trug die gewohnte karierte Schildmütze, mit der er sich einen gewissen Anschein der Gewöhnlichkeit verlieh, was sein Image als Mann des Volkes unterstreichen sollte. Ein scharfer Denker, locker im Umgang mit anderen und von einer kühlen Leiden schaftlichkeit, verlangte Vogel nach Bewunderung, ja sogar Zuneigung, und diese wurde ihm von Zimmermann nicht ver sagt. Es war eine aufnahmebereite Zuhörerschaft. Welche Vorbe 40
halte gegen Moskau und Ost-Berlin die Opposition auch vor bringen mochte, welche rechts gesteuerten Ängste sie auch zu wecken versuchte, Vogel hatte doch den großen Traum in seinem Rücken. Er war von Adenauer und Erhard und Brandt weitergereicht worden, ohne im Lauf der Zeit seine Dringlich keit und Intensität zu verlieren. Der große deutsche Traum – die Wiedervereinigung … Im Schatten des Rathauses, mit den beiden Türmen der Frauenkirche im Hintergrund, sprach Vogel über den zur Realität werdenden Traum, dessen magische Anziehungskraft immer noch ausreichte, die Wahlen zu gewin nen. »Sehen Sie«, sagte Vogel ohne jedes Pathos, »ich weiß, daß Sie den Russen nicht trauen – auch mir fällt das manchmal schwer …« Lachen, ein paar Beifallsrufe und nur ganz ver streut widersprechende Äußerungen aus der Menge. »Aber ohne ein gewisses Maß an Vertrauen werden wir gar nichts erreichen. Und die Leute, denen wir wirklich vertrauen müs sen, sitzen in Ost-Berlin. Dies sind die Leute auf der anderen Seite dieser Obszönität von einer Mauer und eines Grenzzauns. Und sie sind Deutsche wie Sie und ich.« Anschwellender Beifall. Zimmermann schien es, als hätte die Menge genau deshalb ihre Stimme erhoben, weil Vogel die seine nicht geho ben hatte. Der deutsche Kanzler erbat sich mit einer Handbe wegung Schweigen und fuhr fort: »Ich weiß, das ist leicht dahingesagt, und man könnte mir zum Vorwurf machen, ich versuchte daraus billiges politisches Kapital zu schlagen. Aber es ist nun andererseits auch so: Sie sind Deutsche wir wir. Sie leben in deutschen Städten wie Dresden, Leipzig, Halle, Mag deburg und Berlin …« Vogel wurde durch neuerlichen Applaus unterbrochen. Er bat wie zuvor um Schweigen. »Sie leben nicht in Rußland oder Polen – das ist alles, was ich sage. Und wir werden sehen müssen, ob es klappen wird – ob sich der Osten und der Westen bereit erklären werden, uns Deutsche auf dieses gemeinsame Ziel hinarbeiten zu lassen. Die Volksab 41
stimmung über die Wiedervereinigung wird nicht vor nächstem Jahr stattfinden, und dann werden Sie alle mit Ihrer Stimme darüber entscheiden können. Ohne Ihre Zustimmung werden wir nichts unternehmen. Wir sind nahezu sechzig Millionen, im Gegensatz zu nicht einmal zwanzig Millionen auf der anderen Seite. Wie sollten sie eine Bedrohung für uns darstellen? Wenn Sie ein geeintes Deutschland wollen, dann liegt es in Ihren Händen.« Neuer Beifall. Zimmermann studierte die Gesichter ringsum. Ja, Vogel und die Sozialdemokraten würden die Wahl gewin nen, und das Berlin-Abkommen würde unterzeichnet. Die Mauer würde fallen. Zimmermann unterdrückte ein Lächeln. Es hätte zu selbstzu frieden gewirkt, und er wußte, daß er vielleicht gerade von einer Kamera gefilmt wurde, während er zu Vogel aufsah. Aber es würde klappen. Sie würden die Wahl gewinnen. Die NATO würde auf deutschem Boden nichts mehr zu suchen haben. Deutschland würde nach so langer Zeit endlich wieder einmal nichts anderes sein als Deutschland – kein Ost und kein West, nur Deutschland. Nun konnte nichts mehr schiefgehen. Der Siegeszug der Sozialdemokraten war durch nichts aufzu halten. »Haben Sie keine Angst«, fuhr Vogel im Konversationston fort. »Wie ein großer amerikanischer Präsident einmal gesagt hat, wir brauchen vor nichts anderem Angst zu haben als vor der Angst selber. Haben Sie also keine Angst.« Trotz der Motten und Insekten, die ständig in den Raum flo gen, angezogen vom warmen Licht der Tischlampen, standen die Fenster immer noch offen. In der Dunkelheit draußen er strahlte das Lichtermeer von Hong Kong. Die Geräusche der Stadt stiegen in Form eines kontinuierlichen Summens zu dem Haus auf dem Hügel herab – drängend, pulsierend, entnervend. In der gespannten Atmosphäre, die im Raum herrschte, er schienen sie Aubrey wie das Schrillen des Bohrers, das man 42
vom Wartezimmer des Zahnarztes aus hört. McIntosh und Godwin, die eher aus Höflichkeit denn aus Notwendigkeit zugegen waren, hielten sich im Zwischenbe reich von Hell und Dunkel auf, den der Schein der Tischlam pen hervorrief. Hyde lehnte mit über der Brust verschränkten Armen reglos, als wäre er aus Holz geschnitzt, an einem der offenen Fenster. Aubrey und Buckholz saßen in zwei Sesseln, die einem riesigen Sofa gegenüberstanden, und auf diesem Möbelstück hatte ein Asiate Platz genommen. Klein und zier lich gebaut, erschien er durch die Ausmaße des Sofas geradezu winzig wie ein Kind. Er wirkte sehr jung und, zumindest in Aubreys Augen, verletzlich. David Liu. Genauer, Liu Kuan-Fu. Seine amerikanische Persona trug den Namen David. Auf dem Couchtisch zwischen ihnen lagen verschiedene Pa piere und Dokumente. Lius neue Identität oder – besser – seine Identitäten. Liu hatte sie aus dem CIA-Hauptquartier in Lang ley mitgebracht. Sie waren einwandfrei. Liu war von Buckholz gründlichst instruiert worden, und die Operation war bereits vollständig geplant gewesen, bevor beide die Staaten verlassen hatten. Es gab keinen Grund, Lius Aufbruch noch länger zu verzögern. »Von der Grenze fahren Sie nach Kwangchow, und dann nehmen Sie den Zug nach Shanghai«, sagte Buckholz gerade. »Ein Heeresoffizier, der von einem Heimaturlaub im Süden ins Hauptquartier des 20. Corps außerhalb von Shanghai zurück kehrt.« Buckholz wandte sich zu Aubrey. »Er gehört der Staatspolizei an. Auf diese Weise ist er vor jeglichen Armee angehörigen sicher, die er unterwegs treffen könnte.« Aubrey nickte. Die Wiederholung von Lius Reiseroute und Tarnung sollte vor allem die im Raum Anwesenden beruhigen. »Wir müssen herausfinden, was mit Zimmermann im Kran kenhaus geschehen ist – zumindest, soweit dies möglich ist«, sagte Aubrey zu Liu. »Wer Zimmermann besucht hat, worüber sie gesprochen haben und natürlich auch, warum Zimmermann 43
im Krankenhaus war, wie er behandelt wurde und so weiter. Wenn wir etwas über seine Krankheit und die Behandlungsme thode erfahren können, läßt sich daraus möglicherweise schlie ßen, ob er dort wirklich verhört wurde oder nicht.« Aubrey wandte sich wieder an Buckholz. »Davies’ Geschichte deutet darauf hin, daß Zimmermann mit ganz speziellen Drogen behandelt wurde. Sollte sich dies nur annähernd beweisen lassen, könnte uns das bereits genügen.« »Ganz meine Meinung.« »Hat Ihre Zelle in Shanghai Zugang zu diesem Kranken haus?« fragte Aubrey. »Ja, zumindest in einem Maß, das ausreichen dürfte. Unsere Leute dort haben eine ganze Reihe von Kontakten aufgebaut. Es sollte also nicht weiter schwierig sein, Liu mit jemandem aus dem Krankenhaus bekannt zu machen, und er kann sich dann ganz nach Belieben auf die jeweilige Person einstellen, um herauszufinden, wieviel sie ihm sagen kann.« Aubrey wandte sich noch einmal zu Liu. »Sind Sie sich der Wichtigkeit Ihres Vorhabens bewußt?« »Das bin ich, Sir – voll und ganz«, erwiderte Liu mit altmo discher Höflichkeit. »Ebenso wie mir die Wichtigkeit meiner Mission bewußt ist, bin ich mir darüber im klaren, daß meine Person dabei keine Rolle spielt.« Er lächelte kurz. »Im übrigen betrachte ich Ihre Aufgabe, mit Oberst Wei zu verhandeln, als nicht minder schwierig als die meine.« Buckholz lachte. »Lassen Sie doch unseren jungen Freund endlich in Frieden, Kenneth. Er wird seine Sache ganz be stimmt gut machen.« Er wandte sich wieder zu Liu. »Also gut, David. Sie wissen, was wir wissen wollen und wie rasch wir die Informationen brauchen. Nachdem nun auch Mr. Aubrey seine Wünsche geäußert hat, sind Sie bereit?« Liu nickte, als würde er eine Audienz beenden, die er gehal ten hatte. »Jawohl, Sir.« Buckholz sah Aubrey an, und dieser nickte. Dann trat McIn 44
tosh in den Schein der Tischlampe. »Also gut, fangen wir an.« Liu stand abrupt, fast mechanisch auf. »Patrick, Sie begleiten Mr. Buckholz«, ordnete Aubrey an. Dann streckte er seine Rechte aus und ergriff Lius schmale Hand. »Viel Glück, junger Mann.« Wei setzte sich fast in der gleichen Position in seinem Bett auf, die er auch eingenommen hatte, als Aubrey ihn an diesem Nachmittag zum erstenmal besucht hatte. Der Aschenbecher war wieder einmal voller Zigarettenstummel, und Wei rauchte auch jetzt. Amerikanischer Tabak – darauf hatte er bestanden – erschien ihm offensichtlich als eine Quelle unendlicher Befrie digung. Aubrey fragte sich, ob der Chinese damit möglicher weise eine Opiumsucht zu überdecken und kompensieren versuchte, um diesen Gedanken jedoch rasch wieder abzutun. Für einen Opiumraucher hatte Wei sich viel zu gut unter Kon trolle. Aubrey schloß die Tür hinter sich. Eine Motte flatterte gegen das Fliegengitter über dem Fenster und suchte verzweifelt nach einem Zugang zu dem hell erleuchteten Raum. Dagegen hatte Wei es offenbar gar nicht eilig, seine Unterkunft zu verlassen. »Ah, Mr. Aubrey«, begrüßte er den Eintretenden. »Ich habe ein Auto wegfahren gehört. Ich nehme an, dieser junge Chinese aus Amerika, den ich vorher kurz gesehen habe, macht sich auf den Weg.« Dieses von Wei offen zur Schau gestellte Wissen verblüffte Aubrey. Er tat jedoch so, als wüßte er nicht, wovon der Chine se sprach. »Wie, bitte?« »Machen Sie mir doch nichts vor, Mr. Aubrey. Sie wollen meine Angaben überprüfen lassen. Offensichtlich traut man mir nicht. Und natürlich braucht man dafür jetzt ein neues Gesicht, da Ihre Leute und die Amerikaner seit meinem Ver schwinden sicher strengstens überwacht werden.« »Ich verstehe.« 45
Wei steckte sich mit dem Stummel seiner letzten Zigarette eine neue an. Selbst an seinen braunen Fingern war ihm seine Nikotinsucht anzusehen. »Nun, Mr. Aubrey?« fragte er, den Blick selbstzufrieden auf den Rauch geheftet, der langsam zur Decke hochstieg. Sein Benehmen verärgerte Aubrey, wie Wei das auch beabsichtigt hatte. »Haben Sie bereits die nötigen Vorbereitungen getroffen, damit ich in die Vereinigten Staaten ausreisen kann?« »Im Augenblick werden Sie erst einmal nirgendwohin verrei sen«, fuhr ihn Aubrey ungeduldig an. Wei zuckte mit den Schultern. »Wie sind Sie in den Besitz dieser Informationen über Herrn Zimmermann gelangt? Waren Sie bei einem der Verhöre zugegen, die Ihren Angaben nach in Wu Han und Shanghai stattfanden?« »Ach so«, entgegnete der Chinese und drückte überraschen derweise seine halb gerauchte Zigarette aus, ohne sich eine neue anzuzünden. »Nein, ich war bei diesen Verhören nicht dabei.« »Dann wissen Sie darüber also nur vom Hörensagen. Es ist wirklich sehr schade, Oberst Wei, daß Sie keinerlei Material mit sich herausschmuggeln konnten, das den Wahrheitsgehalt Ihrer Aussagen beweisen könnte. Denn die Fotos allein, die Sie bei sich hatten, dürften dafür keineswegs ausreichen.« »Das wäre einfach zu schwierig gewesen«, erwiderte Wei in leicht entschuldigendem Ton. »Aber dann kann alles, was Sie uns hier erzählen, erstunken und erlogen sein, Wei!« Aubrey beschloß, den Gang des Ver hörs etwas zu beschleunigen und in einem anderen Ton mit dem Chinesen zu sprechen. Er zog sich einen Stuhl neben Weis Bett. »Sämtliche Informationen, die wir bis jetzt von Ihnen, zum Teil sowieso nur andeutungsweise, bekommen haben, könnten nichts weiter als Ausgeburten Ihrer Fantasie sein.« »Möglicherweise.« »Ihre Motive sind doch ganz offensichtlich.« 46
»Ja?« »Aber natürlich. Welchen Wert könnten Sie angesichts des gegenwärtigen politischen Klimas zwischen China und dem Westen, das sich zunehmend verbessert, schon haben? Wir wären wesentlich mehr an einem KGB-Offizier aus einer der Auslandsabteilungen interessiert. Also schustern Sie sich eine fantastische Geschichte über einen bedeutenden deutschen Politiker zusammen, um sich ein bißchen interessant zu ma chen.« Aubrey breitete seine Hände aus. »Oder können Sie mir vielleicht sagen, wie ich Ihre Geschichte in einem anderen Licht sehen sollte?« »Betrachten Sie sie doch einfach als die Wahrheit.« »Ach ja, und was ist die Wahrheit? Im Augenblick kann ich nur hinnehmen, daß Sie wirklich Oberst Wei sind, aber das ist auch schon alles. Wir wissen, daß Wolf gang Zimmermann in Wu Han erkrankte und dann nach Shanghai gebracht wurde. Und eine Woche später war er bereits wieder in Bonn. Jetzt behaupten Sie, er hätte während dieser Zeit gestanden, ein russischer Agent zu sein. Weshalb haben Ihre Vorgesetzten diese überaus wichtige Information nicht veröffentlicht? Wes halb mußten Sie erst aus China fliehen, um diese Ungeheuer lichkeit ans Tageslicht zu bringen?« »Ich weiß es nicht – und auch nicht, ob sie überhaupt beab sichtigen, je etwas davon an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.« Wei warf einen Blick auf das offene Päckchen Zigaret ten, ohne jedoch danach zu greifen. Aubrey verfluchte die Reglosigkeit asiatischer Gesichtsmuskulatur. Auch Weis aus druckslose Augen waren ihm in keiner Weise eine Hilfe. Er spürte, daß er diesen Mann nie so würde durchschauen können, wie das eigentlich nötig gewesen wäre. »Natürlich benutze ich diese Informationen zu meinem Vorteil, Mr. Aubrey. Aber glauben Sie nicht, daß genau das – zum gegebenen Zeitpunkt, versteht sich – auch meine Regierung tun wird?« »Wer hat Zimmermann in Wu Han verhört?« 47
»General Chiang.« »Und in Shanghai?« »Wieder Chiang – und andere. Ein Spezialteam.« »Eine Ihrer sogenannten Harmonie-des-Denkens-Einheiten?« »Genau.« »Drogen und Hypnose.« Wei nickte als Antwort. »Und was waren Ihre Gründe und Motive, aus China zu fliehen?« »Darüber haben wir doch bereits gesprochen.« »Ich bin noch keineswegs gelangweilt. Erklären Sie es mir ruhig noch einmal.« »Ich stand in den Tagen, als in Shanghai die Viererbande das Sagen hatte, mit der Volkskommune von Shanghai in Verbin dung. Es gab Beweismaterial gegen mich, das von meinen Feinden zusammengestellt wurde und auf verschiedene Verhaf tungen hindeutete, die ich unternommen hatte, ebenso wie auf bestimmte Methoden der Umerziehung, die ich bei Bauern angewandt hatte. Ich – ich ließ dieses Beweismaterial, so gut es ging, verschwinden und die Zeugen beiseite schaffen. Aber die Familien von – von Bauern und Intellektuellen, die umerzogen worden waren, drängten auf eine weitere Untersuchung. Sie wollten wissen, wo die Vermißten geblieben waren. Als Deng …« Für einen Moment verzerrte sich Weis Gesicht vor Haß, um jedoch sofort wieder in gewohnter Ausdruckslosigkeit zu erstarren. »Als Deng schließlich Hua als Parteivorsitzenden ablöste und der Prozeß gegen die Viererbande abgeschlossen war, wandten sich Dengs Leute anderen zu, und einer von diesen anderen wäre auch ich geworden.« Er sah Aubrey in die Augen. »Es war aus ganz persönlichen Gründen für mich nicht mehr ratsam, in Shanghai oder überhaupt in China zu bleiben, Mr. Aubrey.« »Ich verstehe. Sie haben für die Antirevolutionäre Abteilung des Ministeriums gearbeitet?« Wei nickte. »Welche Sparte?« »Reisschale.« Aubrey schüttelte den Kopf. »Vietnam, Kampuchea, Thai 48
land. Für uns ist das alles nicht sonderlich interessant, Oberst Wei. Wie ich schon vorher gesagt habe, brauchen Sie diese Geschichte mit Zimmermann einfach, um Ihren Wert in unse ren Augen etwas zu steigern. Da zudem Ihr Dienstgrad höher zu sein scheint als Ihre Vollmachten oder die Bedeutung Ihres Aufgabenbereichs, neige ich dazu, der ganzen Sache keinen Glauben zu schenken.« Aubrey stand auf. »Wir werden uns morgen weiter unterhalten. Vielleicht haben Sie sich bis dahin eine bessere Geschichte einfallen lassen. Und wenn Sie meinen Rat hören wollen – rücken Sie mit Fakten heraus. Gute Nacht.« David Liu preßte sich flach auf die Steine des schmalen Kies strandes. Ein kleines Boot hatte ihn hierhergebracht, und das quietschende Geräusch der Ruder klang immer noch in seinen Ohren nach, obwohl er wußte, daß sich das Boot bereits wieder vom Ufer entfernt hatte und außer Hörweite war. Hinter ihm erstreckte sich das Wasser der Deep Bay, und der Strand, auf dem er lag, gehörte zur Provinz Kwantung der Volksrepublik China. Eine andere Welt. Hinter ihm schimmerten sanft die Lichter von Hong Kong und den New Territories, schwach reflektiert von den dicken, tiefhängenden Gewitterwolken. Die Lichter der Stadt Paoan vor ihm waren diffuser und weniger vertrauenerweckend. Er blieb liegen, bis sein Atem wieder normal ging und ihm die neuen Kleider, die er kurz vor seinem Aufbruch angezogen hatte, nicht mehr ungewohnt erschienen. Er blieb still liegen, bis seine Ohren anstatt des schwachen, rattenartigen Quiet schens der Ruder nur noch Stille wahrnahmen. Er blieb still liegen, bis das Gefühl von ihm gewichen war, sich an ein Fen stersims am Rande einer unbekannten und gefährlichen Welt zu klammern. Die Dunkelheit vor ihm war so bedrohlich gewe sen wie wüste Beschimpfungen in einer fremden Sprache. Er stand auf und strich sich den formlosen, grauen MaoAnzug glatt. Dann nahm er die Mütze aus der Tasche und 49
setzte sie sich auf. Nachdem er nach den Papieren in seinen Taschen getastet hatte, ging er den Strand hinauf zu den Felsen. Dieser Küstenstreifen war unbewohnt. Die einzige Ansiedlung in der Gegend war der Fischereihafen Paoan, wenn man von ein paar kleinen ländlichen Kommunen absah. Zwar wurde die Küste überwacht, aber weniger im Hinblick auf illegale Ein dringlinge als auf mögliche Flüchtlinge. Dennoch achtete Liu sorgfältig auf Lichter oder Geräusche, als er über die niedrigen Felsen kletterte. Als er sich mit seiner Drahtschere einen Weg durch den Sta cheldraht hinter den Felsen gebahnt hatte, wandte er sich noch einmal um. Das Dunkel über dem Meer wurde nur durch die Navigationslichter vereinzelter Frachter und Fischerboote durchbrochen. Von dem Ruderboot war nichts mehr zu sehen, was Liu auch gar nicht anders erwartet hatte. Hong Kong, eine andere fremde Welt, erinnerte ihn mit seinem Lichterglanz trügerisch an San Francisco. Er wandte sich rasch wieder ab. Die Lichter von Paoan lagen gut einen Kilometer weiter nördlich. Er wußte, daß die Straße dorthin nur hundert Meter vom Strand entfernt lag. Er ging darauf zu. Bald würde er in einem Nachtzug nach Kwangchow sitzen, um von dort schon am nächsten Morgen nach Shanghai weiterzureisen. Es geschah ganz plötzlich. Lichter, Rufe und das Schrillen von Trillerpfeifen. Zum Glück keine Hunde. Schattenartige Figuren bewegten sich um ihn herum, eine prallte mit ihm zusammen. Taumelnd stolperte er in den grellen Lichtschein eines Suchscheinwerfers, der auf einem Lastwagen montiert war. Er zögerte, drehte sich um und folgte dann den fliehenden, halbnackten Gestalten, die hinter allen möglichen Bodenerhöhungen verzweifelt Deckung such ten. Der Motor des Lasters sprang dröhnend an, und der Licht kegel des Suchscheinwerfers kam wackelnd und hoppelnd näher, als wollte er ihn verschlingen. Es war eine Falle. Sie hatten von dem Fluchtversuch gewußt. 50
Irgend jemand hatte die Gruppe von zehn, zwanzig, dreißig Schwimmern verraten, bevor sie den Strand erreicht hatten, und sie hatten sie mit Scheinwerfern, einem Laster und Geweh ren erwartet... Schüsse… In seiner Panik unfähig, sich von der Stelle zu rüh ren, blickte Liu um sich. Neue Schüsse, entsetzte Schreie … Es war ein Witz, ein grausamer Witz. Buh, wir erschrecken euch ein bißchen mit unseren Dämonenmasken. Er warf sich flach ins Gras. Jemand stolperte über ihn. Die Trillerpfeifen erreichten einen freudigen Höhepunkt. Es fielen noch ein paar vereinzelte Schüsse, und dann erklangen Stim men im Befehlston, Menschenleiber wurden umhergestoßen, Schläge klatschten in Gesichter … Ein Gewehrkolben fuhr Liu in die Rippen, und er wurde auf den Rücken gedreht. Der Mann mit der Taschenlampe, der die Uniform der Grenzschutzeinheiten trug, schien überrascht zu sein, als er ihn noch voll bekleidet vorfand. Liu wurde getreten und aufgefordert, aufzustehen. Er hob die Hände über den Kopf und trottete auf die kleine, verängstigte Gruppe von Männern zu, die mit freiem Oberkörper im Licht des Such scheinwerfers zusammengedrängt standen. Er hatte den Boden der Volksrepublik China erst vor knapp fünfzehn Minuten betreten und befand sich bereits in Gefangenschaft. Patrick Hyde sprang von der Spitze des Bootes auf den Pier im Hafen von Kowloon. Buckholz selbst warf ihm das Seil zu. Es klatschte schwer auf Hydes Schulter nieder, worauf er es um einen Poller schlang. Das Boot dümpelte gegen die Hafenmau er. Der Motor erstarb, und die Geräusche von Kowloon sicker ten in die momentan entstehende Stille. Buckholz stapfte keu chend die Stufen vom Wasser hoch, gefolgt von Godwin und der Bootsbesatzung, zwei CIA-Männern. Ein Blitz zuckte über das Wasser und ließ die Lichter von Kowloon und seinen neuen Hotels merklich verblassen. Der 51
Wind fuhr Hyde derb ins Gesicht. Er half Buckholz auf die Mole. Ein zweiter Lichtblitz wurde vom Donner des ersten beglei tet. Für einen Augenblick lag flaches, unheimliches, totes Licht über dem Wasser und der Stadt. Dann war alles wieder dunkel. Während er sich von Buckholz abwandte, erblickte Hyde noch das weiße Gesicht an der Ecke des niedrigen Lagerschuppens am Ende der Mole. Es war, als wäre ein Punktscheinwerfer auf den Mann gerichtet worden, so daß Hyde mühelos den KGBMann erkennen konnte, den Godwin Wassili genannt hatte. Er war derselbe Mann, der sie bei der Ankunft in Kai-Tak von der Aussichtsterrasse aus beobachtet hatte. Hydes Hand legte sich um Buckholz’ Arm, als der Regen einsetzte, begleitet von einem zweiten Donnerrollen. »Ich habe gerade einen unserer Freunde vom KGB gesehen.« »Was? Wo?« »Dort drüben, bei dem Lagerschuppen. Wollen Sie, daß ich mal nachsehe?« Buckholz verfiel für eine Weile in Schweigen. »Stimmt irgend etwas nicht?« fragte Godwin. Ein Motor wurde angelassen, und dann hörten sie einen Wa gen davonfahren. »Nicht nötig«, murmelte Buckholz, um plötzlich herauszu platzen: »Verdammt! Hat jemand den Kerl gesehen, als wir losgefahren sind?« Er wandte sich zu Godwin und seinen eigenen Leuten. »Ist einem von Ihnen ein Mann aufgefallen, der uns beschattet hat, als wir zum Hafen gefahren sind?« Niemand hatte etwas bemerkt. »Das hängt sicher damit zusammen, daß die Leute vom KGB Sie und Mr. Aubrey in Hong Kong gesehen haben«, bemerkte Hyde. »Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß diese Burschen enorm neugierig sein werden, was hier eigentlich los ist.«
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2. Grenzland »Sie gehen zu schnell vor, Mr. Aubrey.« Hyde stand am Fuß der Treppe, und Aubrey blieb auf halbem Weg nach oben stehen, um sich zu ihm umzudrehen. Eine quälende Müdigkeit befiel Aubrey, und er verspürte ein heftiges Widerstreben, weiter die Treppe zu Weis Zimmer hinaufzusteigen. »Finden Sie?« erwiderte er bissig. Hyde nahm einen Schluck Bier. »Ja.« »Und Sie maßen sich auch das Recht an, mir das zu sagen.« »Wissen Sie, Mr. Aubrey, ich habe keinen braunen Anzug und kein blaues Hemd an, und ich habe auch nicht diese stäh lern blauen Augen.« Hyde grinste. »Wenn Sie den entschlosse nen, schweigsamen Robotertypen wollen, sollten Sie sich lieber an die CIA oder den KGB wenden.« Er nahm einen neuerlichen Schluck Bier, um dann mit seinem Glas die Treppe hinauf in Richtung Aubrey zu deuten. »Die Leute vom KGB wissen, daß Sie und der stellvertretende Direktor der CIA zur gleichen Zeit in Hong Kong sind. Möglicherweise wissen sie auch, daß Sie jemanden in die Volksrepublik eingeschleust haben. So etwas kann man doch offensichtlich nicht höchste Geheimhaltung nennen, oder?« »Nein, allerdings nicht. Verdammter Mist!« Und dann fügte Aubrey leise hinzu: »Sie haben natürlich recht. Es gibt nichts, was wir im Augenblick tun könnten, außer in Zukunft alle Türen schön sauber geschlossen zu halten.« »Wollen Sie gerade zu unserem schlitzäugigen Freund ge hen?« »Ja.« »Dann viel Glück.« Aubrey erreichte den Treppenabsatz und ging den Korridor zu Weis Zimmer hinunter. Ein junger Mann, an dessen Name Aubrey sich nicht erinnern konnte, saß müde vor der Zimmer 53
tür. Aubrey machte sich wegen seiner voreiligen Ungläubigkeit selbst Vorwürfe. Er war zu der Überzeugung gelangt, an der er im übrigen nach wie vor festhielt, daß Wei einfach Angst hatte und sich an den letzten Strohhalm klammerte, der für ihn darin bestand, sich wichtiger zu geben, als er tatsächlich war. Während Au brey dem jungen Mann, der ihm die Tür zu Weis Zimmer öffnete, kurz zunickte, überlegte er, ob seine Beurteilung Weis in gewisser Hinsicht nicht einfach auf die Müdigkeit und Resi gnation des Alters und eine Schwächung des Wahrnehmungs vermögens zurückzuführen war. Aber dann wies er diesen Gedanken entschlossen von sich. Diese Geschichte über Zim mermann war eine Erfindung, und das würde er beweisen. Wei las gerade Zeitung. Der Ventilator über seinem Kopf drehte sich langsam, asthmatisch. Als Wei von seiner Lektüre aufblickte, sah Aubrey ein berechnendes Aufflackern in seinen Augen und einen Ausdruck von Trotz um Lippen und Kinn. »Ich habe mich entschlossen«, fing der Chinese an, »daß ich Ihnen nichts mehr weiter zu sagen habe. Ich werde ab sofort nur noch mit den Amerikanern sprechen. Sorgen Sie bitte dafür, daß mich die Amerikaner abholen.« Er faltete die Zei tung gelassen zusammen und legte sie auf die zerknautschte Bettdecke. Aubrey zog sich den einzigen Stuhl im Raum ans Bett. Weis Ankündigung verwirrte ihn, bis er sie zu seiner Befriedigung als einen weiteren Bluffversuch interpretieren konnte. Der Mann hatte absolut keine Karten in den Händen. »Ich glaube nicht, daß das möglich sein wird, Oberst Wei.« »Warum nicht?« Wie die meisten englischsprechenden Chi nesen lispelte auch Wei etwas, wenn er sich mit diesen barbari schen fremden Lauten herumzuschlagen hatte. Er hatte einen schwachen amerikanischen Akzent. »Ich bin mir absolut si cher, daß Mr. Buckholz über meinen Besuch äußerst erfreut wäre.« 54
»Das Problem ist nur, daß die CIA keine Kontrollfahrten im Hafen übernimmt. Falls Sie gern von den Amerikanern gerettet worden wären, hätten Sie auf anderem Wege nach Hong Kong kommen müssen. Außerdem dürfte ein Fall, in dem es sich hauptsächlich um europäische Interessen dreht, mich wohl mehr interessieren als die Amerikaner. Und deshalb sind Sie ja auch zu uns gekommen.« »Aber Sie können doch gar nichts mit mir anfangen. Sie glauben mir nicht …« »Ja, ich glaube, daß Ihre Geschichte von vorn bis hinten er funden ist.« Davies, Davies, rief er sich im selben Moment ins Gedächtnis zurück. Der einzige Grund, weshalb du diese Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen kannst. Davies, der La tymers vollstes Vertrauen genießt, hörte Zimmermann russisch sprechen, sah die Leute, die ihn verhörten … Verdammt. »So ganz scheinen Sie das aber nicht zu glauben«, bemerkte Wei durchaus richtig. »Wie kommen Sie darauf?« »Na ja.« Sie lauschten dem Surren des Ventilators, dem Summen der Stadt unter dem Haus, dem sich zurückziehenden Donner. »Erzählen Sie mir alles«, brach Aubrey schließlich das Schweigen. »Alles, was Sie über Zimmermann wissen.« »Ich hatte natürlich keine Einsicht in die Akten.« »Ich verstehe.« Wei schien verwundert zu sein. Der väterliche Ton, den Au brey plötzlich anschlug, bewog ihn jedoch, vorsichtig zu sein. Unendliche Geduld, unendliche Weisheit, Verständnis für menschliches Versagen und menschliche Schwächen … »Erzählen Sie mir noch einmal, was Sie gehört haben, was Sie denken«, sagte Aubrey. »Also gut. Stört es Sie, wenn ich ein wenig auf und ab ge he?« 55
»Ganz, wie Sie wollen.« Aubrey stand auf und rückte seinen Stuhl an die Wand, so daß er Weis Gesicht, seinen Körper beobachten konnte. Dann gab er dem Chinesen mit einer Handbewegung zu verstehen, daß er sich vom Bett erheben konnte. Wei nickte. »Ein Großteil meiner Informationen beruht auf Gerüchten – was die Leute so reden«, erklärte er und begann auf und ab zu gehen. »Ich verstehe.« »Chiang wurde vom Krankenhaus in Wu Han verständigt und reiste sofort aus Shanghai ab. Damit nahmen die Gerüchte ihren Anfang. Der deutsche Politiker war dort wegen einer Lebensmittelvergiftung eingeliefert worden.« »Das war zumindest die offizielle Erklärung«, bemerkte Au brey. »Und das ist es auch, was Zimmermann und Bonn bis zum heutigen Tag glauben.« »Es könnte tatsächlich so gewesen sein. Jedenfalls habe ich diesbezüglich nie eine andere Erklärung gehört. Ob als Ursache für diesen Vorfall nun ein leichtes Delirium oder eine inad äquate Verabreichung von Medikamenten anzunehmen ist, kann ich nicht sagen. Jedenfalls wurde allgemein davon gere det, daß Zimmermann russisch gesprochen und fantasiert hat. Außer einem untergeordneten Funktionär war in Wu Han jedoch niemand zugegen, der russisch sprach. Dieser Mann wurde daraufhin zu Rate gezogen, und er wiederum hat Gene ral Chiang verständigt.« »Und Chiang hat dann andere hinzugezogen.« »Nein. Chiang brachte die Ärzte in Wu Han dazu, Zimmer mann nach Shanghai überführen zu lassen. Und dort wurde der Deutsche einer Harmonie-des-Denkens-Behandlung unterzo gen.« »Aber wie war es möglich, dies vor den deutschen Konsu latsbeamten und Mitgliedern der Handelsmission aus Deutsch land zu verbergen?« Aubreys Stimme klang vorbehaltlos 56
freundlich. »Diese Mittel sind äußerst raffiniert. Wenden Sie sie denn nicht an?« »Nur ab und zu, aber ich bin auf diesem Gebiet kein Experte, Oberst.« »Aha. Zimmermann durfte zwar Besuch empfangen, aber er stand immer unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln. Und wenn deswegen jemandem Bedenken kamen, wurden diese von unseren Ärzten ausgeräumt.« »Und was hat man aus Zimmermann herausbekommen?« Wei zuckte mit den Schultern. »Darüber kann ich Ihnen lei der nur Informationen aus dritter und vierter Hand anbieten.« »Ich möchte es trotzdem wissen.« »Zimmermann hat schon seit der Zeit vor dem Krieg – ge nauer gesagt, seit Spanien – als Agent der sowjetischen Revi sionisten gearbeitet.« »Zimmermann war in Spanien, mit der Legion Kondor.« »Ja, und er wurde von den Republikanern gefangengenom men und von der Richtigkeit der marxistisch-leninistischen Lehre überzeugt.« Wei lächelte. »Und von diesem Zeitpunkt an verhielt er sich seinen Herren in Moskau gegenüber absolut loyal.« »Zimmermann hat also den ganzen Zweiten Weltkrieg hin durch auf der falschen Seite gekämpft – auf einer Seite, die er doch aufs äußerste hätte verabscheuen müssen.« »Wahrscheinlich.« »Und nach dem Krieg?« »Vermutlich hat er sich einfach still verhalten und gewartet. Aber ich nehme an, das steht in Chiangs Akten.« »Aber was haben Sie gehört?« »Daß er kein aktiver Agent war.« »Nie?« »Das kann ich nicht sagen. Das habe ich nicht gehört.« Wei blieb vor Aubrey stehen. Seine Hände steckten in den Taschen 57
seiner zu großen Hose. »Viel mehr kann ich Ihnen nicht mehr sagen, Mr. Aubrey.« »Und über seine Kontakte, seine Auftraggeber in Moskau wissen Sie nichts?« Wei schüttelte den Kopf. »Sie bestehen zwar. Die üblichen, äußerst unauffälligen periodischen Kontakte. Ich habe Ihnen nun ausreichend Beweise meines guten Willens geliefert, Mr. Aubrey. Mehr kann ich nicht mehr tun, um Sie zu überzeugen. Natürlich möchte ich Sie gern beeindrucken. Darum erzähle ich Ihnen ja auch diese ganze Geschichte. Als ich sie zum erstenmal hörte, wußte ich sofort, daß dies meine Fahrkarte nach Amerika sein könnte. Jetzt liegt mein Schicksal in Ihrer Hand. Sie müssen die Wahrheit ans Licht bringen.« Davies, Davies, durchzuckte es Aubreys Kopf in einer plötz lichen, frenetischen Litanei. Er war in Wu Han, er bestätigte Teile dieser Geschichte. Dieser verdammte Chinese sprach womöglich tatsächlich die Wahrheit. Aubrey hatte eine Vision von einer langen, häßlichen Betonmauer, die unter heftiger Staubentwicklung in sich zusammenstürzte. Und dahinter standen Menschen, die auf russisch ›Bravo‹ schrien. Er schüt telte den Kopf. Zimmermann, in dieser Stellung, mit diesem Einfluß … Die künftige Gestalt und das Schicksal des Westens lagen mögli cherweise in seinen Händen. Das Berlin-Abkommen … Er konnte es sich unmöglich leisten, Weis Geschichte einfach so abzutun. Er mußte herausfinden, was an der Geschichte dieses Mannes wahr war. Er mußte die Wahrheit über Wolf gang Zimmermann an den Tag legen. David Liu wurde in den Rücken gestoßen, und dann wurde das Tor des kleinen, mit Stacheldraht umzäunten Bereichs hinter ihm geschlossen. Die Wachen lachten und kicherten schadenfroh. Liu achtete jedoch kaum darauf, immer noch froh, daß man ihn keiner Leibesvisitation unterzogen hatte. Die Sorglosigkeit der Überlegenheit, der bevorstehenden Erniedri 58
gung. Obwohl er der einzige vollständig Bekleidete unter all den Halbnackten war, lenkte er kaum Aufmerksamkeit auf sich. Die Wachen betrachteten sie alle als Gefangene, als ge scheiterte Flüchtlinge. Seine Drahtschere und seine Papiere befanden sich immer noch in seiner Tasche. Der Regenguß, der kurz nach ihrer Gefangennahme auf sie herabgeprasselt war, hatte ihn bis auf die Haut durchnäßt. Die Nachtluft war zwar warm, aber er klapperte vor Nervosität mit den Zähnen. Er überlegte angestrengt, wie er sich den verän derten Umständen entsprechend verhalten sollte. Die Männer um ihn herum – die meisten waren jung, zierlich, mit kurzge schorenen Haaren und voller Angst – drängten sich furchtsam gegen ihn. Auch ihre Zähne schlugen aufeinander, auch sie ließ die Furcht frösteln. Der umzäunte Bereich gehörte zur nächsten ländlichen Kommune. Die vereinzelten Brocken von tierischem Kot, die auf dem blanken Erdboden verstreut lagen, ließen darauf schließen, daß die Umzäunung als Stall und hin und wieder vielleicht als Gefängnis gedient hatte, wie im Augenblick gerade. Auf einer Seite war ein kleines hölzernes Podest errich tet worden, das vermutlich von dem zuständigen Funktionär bestiegen wurde, wenn er den Insassen dieses provisorischen Lagers gehörig ins Gewissen reden wollte. Einer der Wachen, offensichtlich ein Zugführer, stand auch tatsächlich auf dem Podest, nur fehlte die schweigende Menge der Dorfbewohner, die diesem Schauspiel normalerweise beiwohnte. Sie würden also nicht wegen ihres verräterischen, revisionistischen Verhal tens, wegen ihrer feigen Flucht aus der Volksrepublik zur Rede gestellt werden. Zwei Wachen zerrten etwas ins grelle Licht der Scheinwerfer, das wie eine plattgewalzte Schlange aussah. Liu erkannte, worum es sich dabei handelte, und ging hinter ein paar anderen Gefangenen in Deckung. Ein Schlauch. Die Wa chen würden sie zu ihrer Belustigung mit Wasser bespritzen und ihr Gefängnis in einen Schlammpfuhl verwandeln. Mit 59
ihren Kleidern war den Häftlingen jedes Recht auf Mensch lichkeit abhanden gekommen. Der Schlauch spuckte und ergoß seinen Inhalt dann mit voller Wucht über sie. Unter dem lauten Gelächter der Wachsoldaten stoben die Gefangenen auseinander. Einer rutschte aus, dann ein anderer. Der Wasserstrahl spülte sie über den rasch ent standenen glitschigen Schlamm auf dem Boden des umzäunten Bereichs. Die Männer der Grenzschutzabteilung hatten sich um den Zaun gedrängt und amüsierten sich, brüllend vor Lachen, über das ihnen gebotene Schauspiel. Der Wasserstrahl traf auf Lius Schulter, trommelte auf Brust und Rücken, um ihn schließlich von den Beinen zu reißen und ein Stück durch die Luft zu wirbeln. Instinktiv legten sich seine Hände schützend über die Taschen mit der Drahtschere und den Papieren. Er blieb reglos liegen. Das Wasser leckte an ihm, um schließlich über andere hereinzubrechen. Langsam richtete er sich auf, da er nur neuerlich die Aufmerksamkeit seiner Peiniger auf sich gelenkt hätte, wenn er liegen geblieben wäre. Die Wachen und ihr Zugführer brüllten und johlten. Ihre ri tualisierte Hysterie erinnerte Liu an die Bücherverbrennungen und Kulturschändungen zur Zeit der Roten Garde. Das Wasser fegte wieder über ihn hinweg. Er wurde von Lärm, Erniedrigung, Schlamm bedeckt. Inzwischen kreischten auch die Gefangenen. Er fühlte sich von diesem Gewoge aus Lärm, Wasser und Bewegung überspült, überwältigt, als wäre die ganze alptraumhafte Szenerie nun einzig und allein auf ihn zentriert, ausschließlich zu seiner Pein geschaffen worden. Er kauerte auf dem Boden, die Hände über Kopf und Ohren gelegt. Er dachte nicht mehr an den Schlamm und das Wasser, an seine Papiere und die Drahtschere. Wie Elemente seiner Identität spülte sie der Lärm einfach hinweg. Und dann, als wäre der Höhepunkt erreicht, erlosch das Licht, verstummte der Lärm. Er war von völliger Dunkelheit umgeben, als wäre er in einem Schrank eingeschlossen. Die 60
Wachen waren verschwunden, die Scheinwerfer erloschen. Die Stille dröhnte in seinen Ohren. In der Nähe erklangen leise Geräusche, tierartig. Das Schmatzen des Schlamms wie in einer fernen Erinnerung an einen Stellungskrieg im Schützen graben, stöhnende Männer, langsam sich regend, ihre Erniedri gung hinnehmend, jegliches Persönlichkeitsgefühl erstickt und hinweggespült … Unpersonen. Ein dramatischer Vorge schmack auf den Rest ihres Leben. Die Hände vor sich ausgestreckt, kroch er, die Augen durch das grelle Scheinwerferlicht immer noch geblendet, durch den ekelerregenden Schlamm. Er berührte die Körper anderer Männer, und seine Hand zuckte von der Berührung zurück. Schließlich ertasteten seine Finger Stacheldraht. Erschöpft und willenlos lag Liu auf dem Boden. In der Ferne konnte er noch schwach das Johlen der Wachen hören, die sich immer noch über ihren gigantischen Scherz amüsierten. Hinter ihm dräng ten sich in einer Ecke des umzäunten Bereichs die restlichen Gefangenen zusammen. Ihr leises Flüstern war bar jeden Tro stes. Als von den Wachen endlich kaum mehr etwas zu hören war, vermochte er in seine Tasche zu greifen und nach seinen Papie ren zu fühlen. Sie befanden sich in einer Plastikumhüllung und waren noch trocken. Dann holte er die Drahtschere hervor und inspizierte das Drahtgeflecht. Das erste schnappende Knacken des Drahts klang erschrek kend und verräterisch laut. Er lauschte. Nur das resignierte, impotente Flüstern hinter ihm. Er durchtrennte den Stachel draht Stück für Stück und bog ihn vorsichtig zurück. Dann schlängelte er sich mit der Geschmeidigkeit eines Tänzers durch die so entstandene Lücke. Er blieb stehen und lauschte in das Dunkel hinaus. Ein rauhes Lachen, kaum lauter als ein Wispern. Die Grenzschutzeinheit war vermutlich wie die örtli che Polizei in der Gemeinde stationiert. Liu entfernte sich rasch von der Umzäunung. Da waren Lich 61
ter, ein paar vereinzelte, schwache Straßenlaternen und Lam pen, die von den Giebeln niedriger Gebäude hingen. Der Ge ruch nach abgestandenem Wasser war stärker als die Salzluft des Meeres. Reisfelder. Er hatte sie vom Lastwagen aus gese hen. Er schätzte, daß sie sich etwa eineinhalb Kilometer von der Straße entfernt im Landesinnern befanden, drei bis vier Kilometer von Paoan und der Bahnstation. Es begann leicht zu regnen. Seine schmatzenden Tritte kün digten seine Anwesenheit an. Er begann vor Erleichterung und Aufregung zu zittern. Er brauchte unbedingt trockene, saubere Kleider. Lehrer, Ärzte, Soldaten, Bauern – irgend jemand brauchte nur seinen Fensterladen zu öffnen oder eine Tür, und schon würde Licht auf ihn fallen. Er hatte keinerlei Vorstellung von der Anordnung und dem Umfang der Gemeinde. Die Kleidung eines Arztes oder Leh rers wäre am besten gewesen, aber bei den länglichen, niedri gen, barackenartigen Bauten, zwischen denen er jetzt hin durchging, handelte es sich offensichtlich um die Unterkünfte von Landarbeitern. Zu viele Menschen auf zu engem Raum, um etwas zu riskieren … Zudem hatten sich vielleicht inzwi schen bereits andere Gefangene durch das Loch im Stachel draht gezwängt und würden durch ihre Flucht auf sich auf merksam machen. Liu betrat eine größere, offene Fläche, die in einer Stadt dem Hauptplatz entsprochen hätte. Er preßte sich gegen die Holz wand eines größeren Gebäudes, holte seine Taschenlampe aus der Hosentasche hervor und beleuchtete das Schild am Ein gang. Das Krankenrevier und die Namen der Ärzte. Glück. Er erschauderte leicht. Das Glück hatte die Arena betreten – eine Tatsache, die der Anerkennung verlangte. Liu hatte seine eige nen Vorstellungen hinsichtlich solcher glücklicher Zufälle. Man mußte sie nutzen, und zwar so schnell wie möglich, bevor sie sich wieder verflüchtigten. Er schlich an der Mauer der Krankenstation entlang und dann in die Durchfahrt dazwischen 62
und dem nächsten Haus, suchte nach einem offenen Fenster. Der schwache Regen rief eine leicht depressive Stimmung hervor, ein Gefühl des Versagens. Da, ein offenes Fenster. Er mußte schlucken. Noch mehr Glück. Aber lange würde seine Glückssträhne nicht mehr anhalten. Er griff über das Sims und betastete vorsichtig den Fenster rahmen. Mit Schlamm verschmiert, hatte er wenig Gefühl in den Fingern. Er holte tief Luft und drückte gegen die Scheibe. Fast lautlos wich das Fenster zurück. Er schwang sich auf das Sims und beugte sich in den dunklen Raum. Der schwache Geruch nach Desinfektionsmitteln und Medikamenten. Die schattenhaften Umrisse eines langgestreckten Raums mit nied riger Decke. An der Rückwand Betten, leer. Er schwang seine Beine über das Sims. Für einen Augenblick blieb er darauf sitzen, um sich dann in den Raum hinuntergleiten zu lassen. Seine Hand stieß gegen einen metallischen Gegenstand, der dadurch in Bewegung geriet, zu wackeln begann. Er griff danach, spürte, wie der Gegenstand fiel, fing ihn gerade noch mit seiner anderen Hand auf und drückte ihn dann gegen seine Bust. Mit heftig klopfendem Herzen kauerte sich Liu unter das Fenster. In dem schwachen Licht der Lampe an der nächsten Hausek ke untersuchte er nun den Gegenstand. Eine abgenutzte, weiße Emailleschüssel. Er stellte sie wieder auf den Tisch zurück, auf dem sie ursprünglich gestanden hatte, und erhob sich. Vorsich tig bewegte er sich in die Mitte des Raums, an dessen hinterem Ende sich eine Tür zu befinden schien. In gebührendem Ab stand von den Betten schlich er darauf zu. Ganz langsam öffne te er sie. Sein Blut tickte ihm die Sekunden in die Ohren, Bil der einer neuerlichen Gefangennahme tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Ein Gang. Er schloß die Tür hinter sich. Ein schmaler, von Bretterwänden eingefaßter Korridor, nicht übertüncht oder verputzt. Geruch nach Desinfektionsmitteln. 63
Die Türen entlang des Gangs waren weder mit Namensschil dern noch mit Nummern versehen. Unter einer der Türen drang Licht hervor. Er lauschte – nichts als Stille. Auf Zehenspitzen schlich er an der Tür vorbei und weiter den Gang hinunter, hoffte Schlafräume vorzufinden. Er machte an jeder Tür halt und lauschte. Schließlich ermu tigte ihn ein Schnarchen, und er versuchte den Türgriff zu bewegen. Er gab nach, und Liu öffnete geräuschlos die Tür. Der Geruch von Seife und Parfüm. Und von Mottenkugeln. Ein schmales, hohes Fenster. Durch die Vorhänge drang von drau ßen schwaches Licht. Unter dem Fenster ein schmales Bett. Ein Schrank, auf der Kommode ein Spiegel, der das schwache Licht zurückwarf, das durch das Fenster drang. Er schlich auf den Schrank zu, seine vorsichtigen Schritte begleitet von geräuschvollem Ein- und Ausatmen. Ein unter bewußter Protest oder Groll über sein Eindringen. Die schla fende Person wirkte klein von Gestalt, aber Kleider, die auch noch paßten, waren im Augenblick ein unerschwinglicher Luxus. Wichtig war nur, daß sie trocken waren. Mit einem Ruck öffnete sich die Schranktür. Er bremste ihren Schwung mit der anderen Hand. Dann griff er in die Mottenkugeldunkel heit, betastete vorsichtig die Kleider. Ein Arbeitskittel? Er bückte sich und tastete nach Schuhen. Sandalen, sehr klein, nicht die eines Mannes … Stille im Raum. Dann ein leichtes Geräusch vom Bett her. Auf den Absätzen kauernd wartete er. Seine Beine begannen von der Anstrengung zu zittern. Setzte sich die Gestalt auf? Er wagte nicht, sich umzuwenden und nachzusehen. Schmatzende Geräusche, das Klatschen einer Zunge gegen einen trockenen Gaumen? Mit ihrer bedrohlichen Anonymität trieben ihn die Geräusche an den Rand der Verzweiflung. Schnarchen. Wie ein Motor, der stotternd ansprang. Regel mäßiges Schnarchen. Er brachte seinen Atem wieder unter Kontrolle. Zitternd richtete er sich auf und verließ den Raum, 64
um die Tür mit übertriebener Langsamkeit hinter sich zu schließen. Eine schnarchende Frau. Er lauschte an der nächsten Tür. Stille. Kein Licht. Er öffnete die Tür, glitt in den Raum, schloß die Tür. Er tat einen achtlo sen Schritt, bevor seine Augen die Konturen des Raums erfaß ten, und schon stieß er mit dem Schienbein gegen das Bettge stell. Das gleiche schmale, hohe Fenster, die gleichen Möbel, aber das Bett stand neben der Tür. »Uuuuh? Was?« Das Wort und vielleicht schon der Laut da vor waren im Wachzustand gebildet worden. Die Person im Bett, offensichtlich mit leichtem Schlaf begabt, war sofort hellwach. Ein Arzt, der es gewohnt war, nachts immer wieder geweckt zu werden? »Was ist los? Was ist? Wer ist da?« Ein aufgerichteter Oberkörper, die Hand tastete nach etwas, offensichtlich nach der Schnur, um das Licht einzuschalten. Für einen Augenblick verfiel Liu in reglose Starre, als er fest stellte, daß der Mann kräftiger war als er. Und dann schoß er vor und stieß dem Mann seinen Unterarm gegen die Nase, so daß dieser mit einem erstickten Gurgeln zurückfuhr, der Kopf schlug gegen die Wand. Liu entlockte dieser Lärm ein leichtes Stöhnen, während er bereits dem Mann das Kopfkissen unter dem Körper hervorzog, ihn auf das Bett drückte und ihm das Kissen über Nase und Mund preßte. Zu Klauen verzerrte Hän de kratzten über Lius Unterarme, schürften ihm in schwächer werdendem Protest die Haut auf. Dann plötzliche Ruhe, ein Arm hing schlaff neben dem Bett herab, der andere faltete sich im Tod um die Brust des Mannes. Liu ließ das Kissen los. Seine Hände bebten unkontrolliert. Er hatte einen Fehler gemacht. Es war falsch und dumm ge wesen, den Mann zu töten. Dadurch schuf er sich Feinde, Verfolger. Es war, als hätte er Fingerabdrücke hinterlassen. Er eilte auf den Schrank zu, zerrte einen Mao-Anzug daraus hervor, hielt ihn gegen seinen Körper und riß sich in der inzwi schen stickig heißen Dunkelheit die nassen Kleider vom Leib. 65
Luftloser Raum. Er fuhr mit den Beinen in die rauhen Stoffho sen, streifte sich die zu große Jacke über. Ein Gürtel … In einer der Schubladen fand er einen schmalen Gürtel. Er schlang ihn sich um die Hüfte, knöpfte dann die Jacke zu, steckte sich seine Papiere und die Taschenlampe in die Hosen tasche. Dann legte er seine alten Sachen zu einem Bündel zusammen und öffnete die Tür des Zimmers. Auf dem Gang war niemand zu sehen. Er eilte zu dem langgestreckten Raum mit den Betten und auf das Fenster zu, schwang seine Beine über das Sims und ließ sich nach draußen auf die Straße glei ten. Später, wenn er sich einigermaßen in Sicherheit befand, würde er das Futter seiner alten Jacke heraustrennen und die zwanzig Geldscheine und seine zweiten Papiere an sich neh men. Aber dazu mußte er erst einmal die Kommune verlassen. In einer der Schubladen fand er einen schmalen Gürtel. Er schlang ihn sich um die Hüfte, knöpfte dann die Jacke zu, steckte sich seine Papiere und die Taschenlampe in die Ho sentasche. Dann legte er seine alten Sachen zu einem Bündel zusammen und öffnete die Tür des Zimmers. Auf dem Gang war niemand zu sehen. Er eilte zu dem langgestreckten Raum mit den Betten und auf das Fenster zu, schwang seine Beine über das Sims und ließ sich nach draußen auf die Straße glei ten. Später, wenn er sich einigermaßen in Sicherheit befand, würde er das Futter seiner alten Jacke heraustrennen und die zwanzig Geldscheine und seine zweiten Papiere an sich neh men. Aber dazu mußte er erst einmal die Kommune verlassen. Die Straßen waren menschenleer. Rasch erreichte er die Reis felder hinter den Wohnquartieren und Lagerschuppen. Es hatte aufgehört zu regnen. Eine schmale Mondsichel hob schwach die Pfade zwischen die Feldern hervor, die unter Wasser stan den. Im Norden schimmerten die Lichter von Paoan. Er sah auf seine billige Armbanduhr. Ein Uhr dreißig. In einer halben Stunde konnte er die Bahn station in Paoan erreichen. Er hastete weiter. Der Gedanke an 66
den Toten lastete auf ihm – jedoch nicht so sehr auf seinem Gewissen als auf seinem Bestreben um die eigene Sicherheit. Aubrey lag im Halbschlaf. Der Ventilator kreiste leise durch die feuchte Luft in seinem Schlafzimmer, und er hatte einen lebhaften Traum. Aufgrund der Hitze vermochte er nicht wirk lich einzuschlafen, und er war noch genügend bei Bewußtsein, als nun die Vergangenheit Besitz von ihm ergriff, noch genü gend bei Bewußtsein, um sich dagegen wehren zu können, an die Lebhaftigkeit der Worte, Eindrücke und Geschehnisse zu glauben, die sich vor mehr als vierzig Jahren zugetragen hatten. Der dünne Baumwollschlafanzug klebte an seinem Körper, und es gab kaum einen Augenblick in seinem Traum, in dem er sich nicht des Leintuchs bewußt gewesen wäre, das mit dem Ge wicht mehrerer Decken auf ihm lag. Nachdem Zimmermann von Henri und Philippe entwaffnet und einer Leibesvisitation unterzogen worden war, führten sie den deutschen Offizier, vorbei an französischen Posten und Patrouillen und durch die Linien der französischen Artillerie, ins Hinterland der Meuse ab. Der sale Boche war bei den Kon trollen durch französische Soldaten Anlaß zu zahlreichen feindseligen Bemerkungen und verächtlichem Ausspucken. Zimmermann schien sich über die Reaktion der Franzosen zu amüsieren. In seinem Traum, in dem er vieles von einem Standpunkt aus wahrnahm, der nicht seinem eigenen entsprach, als würde er sich einen Film über die damaligen Ereignisse anschauen, sah Aubrey Zimmermann als typisch preußischen, großspurigen Nazi. Vor allem diese Bilder waren es, denen er besonders mißtraute, wie er auch den Geräuschen gegenüber Argwohn hegte, die von aufgeschreckten Vögeln und Tieren in den Bäumen herrührten – den Nachtgerüchen, die in dem Schlafzimmer inmitten von Hong Kong, in dem er gerade träumte, keinen Platz hatten. Die Geräusche von Fledermäusen, nächtlichen Affen und sogar einem Haushund drangen an sein 67
Halbwachbewußtsein, aber sie unterschieden sich eindeutig von jenen Ardennenklängen. Auch der schwere, verführerische Duft tropischer Blumen hob sich von dem Geruch des zertrete nen Grases unter ihren Füßen ab. Nach einem ununterbrochenen Fußmarsch von über einer Stunde erreichten sie einen Bauernhof bei Flize, der einem entfernten Verwandten von Henri und Philippe gehörte. Au brey hatte zwar versäumt, den Mann zu rekrutieren, aber er stellte seine Scheune dennoch, wenn auch mit leichtem Groll, für die Zwecke des Geheimdienstes zur Verfügung. Während Philippe ins Wohnhaus ging, um ihre Ankunft anzukündigen und Essen zu holen, führten Aubrey und Henri den Gefangenen in die Scheune. Henri zündete eine Petroleumlampe an und hängte sie an die Halterung neben dem Tor. Ein altes Pferd wurde in seinem Verschlag unruhig. Zwei Friesenkühe begrüß ten die ungewohnten Besucher mit leisem Muhen. Während Aubrey gleichzeitig im Bett lag und an der Scheunentür stand, drang der warme Geruch von Mist und Heu in seine Nase. Die Beleuchtung der Szenerie erinnerte an ein Gemälde von Rem brandt. Henri drückte Zimmermann auf einen Heuballen nie der, als wollte er den Deutschen absichtlich um seine elegante, überlegene Haltung bringen. Wieder sah Aubrey, der alte Mann, sein jüngeres Selbst von einem unmöglichen, gefilmten Standpunkt aus, als betrachtete er als völlig Außenstehender die an ein Weihnachtsgemälde erinnernde Szene in der Scheune. Plötzlich schoß ihm mit überraschender Lebhaftigkeit eine einzelne Bemerkung durch den Kopf: Fangen Sie erst einmal Ihren Deutschen … »Was wollen Sie von mir?« hatte Zimmermann gelassen ge fragt, als hätte er Aubrey seine Unschlüssigkeit vom Gesicht abgelesen. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?« Seine Hand betastete die Brusttasche seiner Uniformjacke. »Natürlich nicht. Aber passen Sie auf, wohin Sie die Streich hölzer werfen.« 68
Zimmermann lächelte. »Selbstverständlich.« Aubrey setzte sich Zimmermann gegenüber. Henri blieb am Scheunentor stehen, seine große, vorsintflutliche Pistole deut lich sichtbar im Gürtel. »So, jetzt haben wir Zeit zum Reden«, kündigte Aubrey an. »Natürlich. Und worüber?« Aubrey hatte deutsch gespro chen, aber nun demonstrierte Zimmermann sein fließendes, fast akzentfreies Englisch. »Literatur, Malerei, Musik, Probleme des Zeitgeschehens?« Aubreys Augen verengten sich. »Ich würde sagen, über Pro bleme des Zeitgeschehens. Sie nicht auch?« Er warf Henri einen kurzen Blick zu. Trotz der bedrohlichen Haltung des Franzosen, die in Kürze noch durch die Rückkehr seines Bru ders verstärkt werden würde, strahlte der deutsche Offizier eine unerschütterliche Ruhe und Gelassenheit aus, gerade so, als wären die Waffen in seinem Besitz gewesen und sie seine Gefangenen. Er schien sich nicht im geringsten isoliert zu fühlen. Und gerade darauf zu achten, hatte Aubrey während seiner Ausbildung gelernt. Die verhörte Person fühlt sich im mer isoliert und hilflos. Aubrey merkte mit einer plötzlichen Einsicht, die der junge Mann von damals nur geahnt haben konnte und die sich erst jetzt, vierzig Jahre später, dem träumenden alten Mann bestä tigte, daß dieser deutsche Offizier trotz seiner gewöhnlichen Wehrmachtuniform kein gewöhnlicher Soldat sein konnte. Ein Geistesverwandter, ähnlich seinen Ausbildern beim SIS und auch dem Offizier, der ihn in Oxford angeworben hatte. Ge heimdienst. Abwehr. In der tropischen Nacht bellte ein Hund. Das Scheunentor protestierte unter lautem Quietschen, als Philippe es öffnete. Die beiden Geräusche drangen gleichzeitig an Aubreys Ohr, trotzdem konnte er sie deutlich unterscheiden. »Aha.« Der Deutsche blies den Rauch seiner Zigarette aus und beobachtete dabei eindringlich Philippe, der mit dem 69
Essen gekommen war. »Und an welche Aspekte des Zeitge schehens haben Sie dabei speziell gedacht? Sind Sie nicht am ehesten an ein wenig Wahrsagerei interessiert? Wollen wir einen Blick in die Kristallkugel werfen?« Der alte Mann hörte Zimmermanns Worte und spürte zu gleich, wie er sein Erinnerungsvermögen überforderte. Und doch wollte er seinem jungen Selbst auf die Sprünge helfen. Reichskristallnacht. Dieses Wortspiel hätte dem alten Aubrey vielleicht nach vierzig Jahren helfen können, den Nazi oder den russischen Agenten zu entlarven. Aber der junge Aubrey war solcher gedanklichen Feinheiten damals noch nicht fähig ge wesen. »Damit haben Sie vermutlich recht. Philippe, geben Sie unse rem Gast etwas zu essen.« Philippe klatschte ein paar Löffel Eintopf auf einen Teller und streckte ihn Zimmermann entgegen, der dem Franzosen höflich dankte. Dann bediente Philippe noch Aubrey und sei nen Bruder, bevor er selbst zu essen begann. Zimmermann aß mit Appetit und lobte das Essen immer wieder. »Hervorragend, wirklich hervorragend …« »Wie sieht Ihre Strategie aus?« fragte Aubrey barsch – wie aus dem Lehrbuch. »Wie lange wird die Front sein? Wie sieht der Zeitplan aus?« Henri, der auf den veränderten Ton von Aubreys Stimme wie ein Wachhund reagierte, zog seine Mau ser aus dem Gürtel und legte sie vor seinem Teller quer über die Knie. Zimmermann fuhr mit seiner Gabel durch die Luft. »Aha, ich verstehe.« Er vermied es, in Henris Richtung zu schauen. »Ihre Männer hier würden mich natürlich sofort umbringen. Aber von Ihnen nehme ich das nicht an. Wir sind beide etwa im gleichen Alter, aber ich glaube, Sie sind in Ihrem Metier erst ein Anfänger. Meiner Meinung nach habe ich von Ihrer Seite nichts zu befürchten.« Aubrey bemühte sich angestrengt, ein möglichst ausdrucksloses Gesicht zu machen. 70
»Sie werden mir meine Fragen schon beantworten, Herr Hauptmann.« »Oh, ich wollte damit keineswegs sagen, daß Sie mich nicht vielleicht ein bißchen durch die Mangel drehen würden. Aber daß Sie mich nicht umbringen lassen werden, dessen bin ich mir ganz sicher.« »Sie gehören der Abwehr an, oder nicht?« Zimmermanns Miene nahm plötzlich einen überraschten Ausdruck an. »Neunzehntes Panzerregiment«, erwiderte er mit betonter Gelassenheit. »Tut mir leid, daß ich Sie in dieser Hinsicht enttäuschen muß. Wenn ich ein Spion wäre, hätte ich mich wohl so ähnlich wie Sie gekleidet.« Er lachte leise. Unfä hig, seine Verlegenheit zu verbergen, errötete Aubrey. Zimmermanns Lachen entlockte Henri ein Knurren. Drohend klapperte seine Gabel gegen den leeren Teller. »Verdammtes Nazischwein!« zischte er. Zimmermann lief rot an. »Nein!« fauchte er zurück, und dann preßten sich seine Lippen fest übereinander, um keine weiteren Worte mehr hervorzulassen. Schließlich entspannte sich sein Gesicht wieder, und er lächelte gelassen. »Infanterie«, sagte er zu Aubrey. Der Traum war chronologisch verlaufen – gleichmäßig und ohne zeitliche Beschleunigungen, Verlangsamungen oder Auslassungen. Aber dennoch war Aubrey bereits vorgewarnt, als dieser Augenblick nahte, als hätte er gewußt, daß er sich dem Höhepunkt einer im geheimen mitschwingenden zweiten Geschichte näherte. Verdammtes Nazischwein. Das war es gewesen, auf französisch hervorgestoßen – und darauf Zim mermanns übereilte, verachtungsvolle Verneinung. Der Film in Aubreys Traum riß, und dann das schweißüberströmte Erwa chen in dem Haus in der Peak Road, hoch über den Dächern von Hong Kong. Das hatte er sich nicht eingebildet, sagte sich Aubrey mit ei nem Lächeln, als er sich im Bett aufsetzte und die Nachttisch 71
lampe anknipste. Halb vier Uhr morgens. In einer halben Stun de würde es tagen. Der Zweck seines Traumes lag offen vor ihm. Sein halb schlafender, halb wachender Verstand hatte mit aller ihm gegebenen Detailliertheit und chronologischen Sorg falt auf einen Punkt hingearbeitet. Zimmermann hatte im Mai 1940 ganz vehement und in voller Absicht abgestritten, ein Nazi zu sein. Was war er dann gewesen? Woran hatte er geglaubt? Aubrey schlug das Laken zurück und stand auf. Ihm war heiß, aber nicht mehr von der drückenden Schwüle, sondern vor Aufregung. Er nahm seine Brille aus dem Etui und griff nach der Akte, die Buckholz ihm gegeben hatte. Dann setzte er sich in den einzigen Lehnsessel im Raum, schaltete die Lampe auf der Kommode ein und begann mit einem zufriedenen Seuf zer zu lesen. Zusammen mit anderen Überlebenden seiner Einheit war Zimmermann von Pattons Dritter Armee östlich von Frankfurt in einem deutschen Widerstandsnest gefangengenommen worden. Er war damals tatsächlich und nicht nur zum Schein Offizier bei der Infanterie gewesen. Als Zeitpunkt seiner Ge fangennahme wurde der 5. April 1945 angegeben, also ein Monat vor Hitlers Selbstmord und der Kapitulation Deutsch lands. Charles Buckholz hatte damals als sehr junger Major eine G-2-Geheimdiensteinheit der Dritten Armee geleitet. Zimmermann war aufgrund seines Ranges als Oberst beim Militäramt des RHSA, der 1944 die Abwehr angegliedert worden war, in seine Hände geraten. Aubrey überflog die Aufzeichnungen des damaligen Verhörs von Zimmermann durch Buckholz und einen gewissen Leut nant Waleski. Der Text bot ihm keinerlei Aufschlüsse. Wenn er sich überhaupt ein Bild von Zimmermann machen konnte, dann aufgrund seiner geträumten Erinnerungen an die Erei gnisse des Jahres 1940. Die Einzelheiten des Verhörs, das Aubrey nun zum zweitenmal las, waren im wesentlichen von 72
keinerlei nennenswertem Interesse, es sei denn, sie brachten verborgene Seiten von Zimmermanns Wesen an den Tag. Diese Stellen sah sich Aubrey genauer an. Zimmermann war müde, erschöpft, zynisch. Auch aufge bracht über die deutsche Niederlage. Frage: »Ihr Scheißnazis seid doch alle gleich, hm?« Aubrey atmete hörbar ein. Die derbe Sprache ließ darauf schließen, daß die Frage von Waleski gestellt worden war, der offensichtlich selten ein Blatt vor den Mund nahm. Also wieder einmal die Anschuldigung, wie sie fünf Jahre zuvor Henri vorgebracht hatte. Antwort: »Wenn Sie meinen. Ganz, wie Sie meinen, wie ich bereits gesagt habe.« Frage: »Major, er hat’s zugegeben. Der hier hat’s zugegeben.« Antwort: »Ich bin Deutscher. Genügt Ihnen das denn nicht? Deutscher ist doch gleich Nazi.« Frage: »Geben Sie zu, Mit glied der nationalsozialistischen Partei zu sein?« Antwort: »Ich war nie Parteimitglied, aber sehen Sie, Ihren Gesichtern ist sofort anzumerken, daß Sie mir nicht glauben, wenn ich das verneine.« Frage: »Sie wollen uns also erzählen, Sie wären ein Roter?« Antwort: »Ich bin kein Kommunist.« Lächelnd blätterte Aubrey ein paar Seiten weiter. Frage: »Was haben Sie gedacht, als das Bombenattentat auf Hitler fehlschlug?« Aubrey fiel auf, daß das Verhör unter veränderten Umständen stattfand. Man hatte vielleicht gegessen – oder ein paar Drinks zu sich genommen? Buckholz und Zimmermann allein. Aubrey stellte fest, daß dieser Teil der Unterhaltung eher auf Tonband aufgenommen worden sein mußte als schrift lich fixiert. Antwort: »Ach, das. Das mußte doch schiefgehen.« Frage: »Sie haben die Verschwörung also nicht unterstützt? Das wundert mich.« Antwort: »Wieso? Das waren doch ro mantische Narren.« Aubrey hatte diese Unterhaltung nicht beachtet, als er die Akte am Tag zuvor durchgelesen hatte. Plötzlich erhielten diese allgemeinen Äußerungen, in denen Zimmermanns Weltschmerz und sein Nihilismus zum Aus druck kamen, größeres Gewicht. Sie schienen mehr zu beinhal 73
ten als die augenblickliche Enttäuschung über die Niederlage. Frage: »Sie hätten befürwortet, nichts zu unternehmen?« Ant wort: »Es hat doch fehlgeschlagen, oder nicht? Wie alle ande ren Versuche, diesen Wahnsinnigen loszuwerden.« Frage: »Sie halten den Führer für verrückt?« Antwort: »Ich halte eher die Deutschen für verrückt, weil sie diesem Mann vertraut haben.« Frage: »Könnten Sie das genauer erklären? Sie haben doch in Hitlers Armee gekämpft.« Ant wort: »Ich wollte nicht ins KZ oder erschossen werden wie die Juden und die Kommunisten und die Zigeuner und all die anderen.« Frage: »Haben Sie auch vor zehn Jahren so ge dacht?« Antwort: »Ja. Aber wenn man einen Krieg gewinnt, ist es immer gut, ihn zu führen. Mein Vater war beim Militär, also ging ich auch dazu.« Frage: »Nach der Universität?« Antwort: »Ja.« Frage: »Fühlten Sie sich an der Universität nicht durch die Nazis angezogen?« Antwort: »Nein, genausowenig wie von den Kommunisten.« Frage: »Damals war die Kommunistische Partei verboten. Weshalb bestehen Sie so nachdrücklich darauf, kein Kommunist gewesen zu sein beziehungsweise zu sein? Ist das für Sie irgendwie von Bedeutung?« Aubrey legte die Akte in den Schoß. Buckholz hatte mit Blei stift eine kurze Bemerkung an den Rand geschrieben, Zim mermann hätte auf diese Frage nur mit den Schultern gezuckt und keine Antwort gegeben. Buckholz kam dann wieder auf Attentate gegen Hitler und die nationalsozialistische Führung von selten der Wehrmacht zu sprechen. Aubrey bewunderte Buckholz’ Voraussicht, diese Einsichten so sorgfältig aufbe wahrt zu haben, da sie später vielleicht noch einmal von Wert sein könnten, was dann ja auch tatsächlich der Fall wurde. Aubrey rieb sich die Augen. Ist das für Sie irgendwie von Bedeutung? las er auf dem dunklen, rot flimmernden Bild schirm hinter seinen aufeinandergepreßten Lidern. War es das? Dabei fielen ihm ähnliche Gesprächsfetzen ein – gar nicht so wenige, wie ihm plötzlich bewußt wurde. Zimmermann hatte 74
es sich einige Mühe kosten lassen, Buckholz davon zu über zeugen, daß er kein Kommunist war – und auch nie gewesen war. Darauf schien er mehr Wert zu legen als auf die Tatsache, kein Nazi zu sein. Ein Tarnmanöver, um seine politische Integrität zu demon strieren? Das war möglich. 1940 und 1945. Dazwischen lagen Welten. Derselbe intelli gente, erfahrene und feinfühlige Geheimdienstoffizier, der nur zuließ, daß das über ihn in Erfahrung gebracht wurde, von dem er wollte, daß es in Erfahrung gebracht wurde. Ich bin kein Kommunist. »Wirklich nicht?« Überrascht über den Klang seiner eigenen Stimme, fuhr Aubrey fort, um dann dramatisch hinzuzufügen: »Was aber sind Sie dann, Wolfgang Zimmermann?« Der Bahnhof von Kwangchow, in der Huanshi Road. Der neue Name der Stadt Canton schoß Liu ständig durch den Kopf. Wie wurde er in Hanyu pinyin geschrieben, dem neuen, offiziellen Transkriptionssystem für die chinesische Schrift? Guangzhou? Ja. Für Liu war dies eines der größten Probleme gewesen, die traditionelle und von ihm als richtig erachtete Schreibweise des Chinesischen, mit der er auch aufgewachsen war, plötzlich in ein neues, ihm fremdes System transponieren zu müssen. Dadurch fühlte er sich weniger chinesisch, sogar weniger als chinesisch. Genauso, wie jetzt auch sein kantonesi scher Dialekt, den seine Freunde in San Francisco und deren Eltern ebenfalls sprachen, eine weitere Verfremdung darstellte. Er kam sich vor wie ein Tourist, ein Fremder. Seine Version des Kantonesischen erschien ihm mühsam und gequält. Und auch sein Mandarin, die Sprache Pekings, der Bürokratie, der Polizei, die er in seiner Tarnung als Offizier der Staatspolizei sprechen mußte, ging ihm nur schwer von der Zunge. Er fühlte sich unvorbereitet, und er konnte dieses Gefühl nicht als bloße Reaktion auf die Tatsache abtun, daß er diesen Arzt oder medizinischen Helfer in dem dunklen Schlafraum 75
getötet hatte. Zugegebenermaßen hatte er seinen Schock nicht gleichzeitig mit seinen nassen, schmutzigen Kleidern ablegen können, die er in einem der Reisfelder unter einen schweren Stein gepackt hatte. Wie durch ein seltsam gefrorenes Meer war er im Mondlicht durch die endlose Weite der Reisfelder geeilt. Paoan war fast menschenleer gewesen, aber seine Ankunft am Bahnhof erregte keinerlei Aufsehen. Am Fahrkartenschalter hatte er seinen Ausweis gezeigt, worauf sich die Augen des Mannes hinter dem Schalter vor Respekt merklich weiteten. Liu hatte Kwangchow in einem langsamen, fast leeren Zug erreicht. Überall strömten die Menschen zur Arbeit, als er die Stadt mit dem Bus durchquerte, um den Bahnhof zu erreichen, von dem die Züge nach Shanghai abfuhren. Es gab zwar kaum Autos auf den Straßen, aber von den Hupen der Laster und den Klingeln der Fahrräder herrschte dennoch ein ohrenbetäuben der Lärm. Tausende, vielleicht sogar Hunderttausende von Beinpaaren, die in die Pedale ihrer Fahrräder traten. Ernste Gesichter, gekrümmte Schultern, über die Lenker gebeugt. Ein seltsam unwirklicher und doch bezeichnender Eindruck. China war rohe menschliche Energie. Das war seine brutale Realität. Nummern. An einer Imbißbude am Bahnhof nahm Liu ein Frühstück aus Reisgrütze und Salzfisch zu sich. Sobald er sich mit dem Löffel – er hatte eigentlich Stäbchen erwartet – den ersten Bissen in den Mund schob und hinunterschluckte, begehrte sein Magen gierig auf. Die Anspannung der Nacht machte einem wahren Heißhunger Platz. Liu bot dem Mann in der Imbißstube für eine zweite Schale Reis sogar noch einen von seinen eigenen Zehn-Yuan-Scheinen an. Das Essen stillte seinen Hunger und erstickte vor allem auch ein mehr metaphysisches Gefühl der Leere – seine zunehmend stärker werdende Einsamkeit. Beim Essen saß Liu auf einer grob gezimmerten Holzbank. 76
Wie das Gerippe eines Wals wölbten sich die Verstrebungen des Bahnhofsdachs über die Bahnsteige. Durch das ver schmutzte Glas drang diffuses, rauchiges Sonnenlicht. Es roch nach Dampflokomotiven. Er beobachtete einen Mann in der Uniform der Bahnpolizei, der auf die Gruppe von Frühstük kenden zukam, zu der auch Liu gehörte, und ihre Papiere zu kontrollieren begann. Neben Liu saß ein Mann in der Uniform eines Hauptmanns der Artillerie, der deutlich vernehmbar rülpste und etwas vor sich hinbrummte. Ein Blick in die Augen seines Nachbarn sagte Liu, daß dieser getrunken hatte. »Scheißpapiere«, brummte der ältere Mann und tastete die Taschen seiner Uniformjacke ab. »Hier müssen sie irgendwo sein.« Der Hauptmann sprach Mandarin, was jedoch vermut lich weniger seinem Bildungsstand oder seinem Rang zuzu schreiben war als dem Umstand, daß er aus dem Norden kam. »Mou tai«, erklärte er grinsend, wobei ihm sein Passierschein zu Boden fiel. Liu mußte lächeln, während der Hauptmann das Papier mühsam wieder aufhob. Weizenwein, fast reiner Alko hol. Sein Großvater hatte ihm als Kind einmal davon zu trinken gegeben, um ihn zu ärgern. Und Liu war damals von diesem Teufelszeug schrecklich übel geworden. Der Bahnhofspolizist stand inzwischen vor dem Hauptmann. Der Offizier lehnte sich zurück und starrte den Polizisten an. Zwischen den beiden Männern spielte sich ein äußerst subtiler Machtkampf hinsichtlich ihrer Position innerhalb der allgemei nen Hierarchie ab. Der Bahnpolizist gehörte sicher dem Amt für öffentliche Sicherheit an, während der Offizier lediglich Mitglied der Armee war, wenn er auch offensichtlich den höheren Rang einnahm. Die beiden einigten sich auf ein Un entschieden. Der Polizist überflog flüchtig die Papiere und gab sie mit einem kurzen Nicken zurück. Dann streckte sich seine Hand nach Lius Reisedokumenten aus. Als Liu nun seine Papiere aus der Tasche zog, war er sich mit fast schmerzhafter Deutlichkeit der Anwesenheit des Haupt 77
manns neben sich bewußt – die scharrenden Füße, das leise Rülpsen, der Geruch nach Salzfisch und Weizenwein in seinem Atem. Auch seines eindeutig zu großen Anzugs war er sich bewußt. Der Bahnpolizist nahm die Papiere und drehte die gelbe Ausweiskarte der Staatspolizei um. Der Hauptmann hustete. Liu spürte, wie er sich neugierig zu ihm herüberbeugte. »Vielen Dank.« Der Polizist gab Liu den Ausweis und die Reisedokumente zurück. Sein Nicken war von einer weniger gezwungenen Höflichkeit als bei dem Heeresoffizier. Liu stopfte die Papiere in seine Tasche zurück. »Sie sind wohl von der Staatspolizei, wie?« brachte der Hauptmann etwas mühsam hervor. »Bezirk Shanghai?« »Ja, zwanzigstes Corps.« Liu versuchte die Reaktionen des Offiziers auf seine Entdek kung zu analysieren. Da war natürlich ein gewisses Maß an Vorsicht, ebenso Überraschung. Dies alles war jedoch auch von einem nicht zu verleugnenden Amüsement begleitet, das vermutlich auf einem Überlegenheitsgefühl aufgrund seines höheren Dienstgrades basierte. »Mein Name ist Feng Yantai.« Der Hauptmann streckte Liu seine Hand entgegen. »Ich bin beim sechzigsten Corps in Nantung.« »Liu Kuan-Fu.« »Waren Sie auf der Politischen Akademie in Peking?« »Ja.« »Ich war auf der Kriegsakademie«, rühmte sich der Haupt mann seiner militärischen Ausbildung. Es stand völlig außer Zweifel, daß er sich Liu von seiner sozialen Stellung her über legen fühlte. »Gratuliere.« »Das ist schon lange her.« Feng zuckte mit den Schultern. »Sie waren vermutlich nie im Feld, oder?« »Nein.« Für einen kurzen Augenblick kam seine Verachtung unver 78
hohlen zum Ausdruck. Liu hatte plötzlich das ungute Gefühl, gefährliches Gebiet zu betreten. Mochte er auch betrunken sein, Feng war offensichtlich ein recht cleverer Bursche. Wie konnte er ihn am besten loswerden? »Macht ja auch nichts«, lenkte Feng jovial ein. »Ihr Leute habt eure Arbeit und wir die unsere.« Er rülpste wieder einmal. »Von diesem Mou tai bekommt man vielleicht immer einen Brand«, brummte er, um dann wieder zum Thema zu kommen. »Ich war fast überall, wo’s mal ordentlich gekracht hat. Im Moment bin ich gerade am Amur. Wir haben da mit den Russen eine Menge Spaß.« Er lachte. Diese Biographie sollte offensichtlich eine einschüchternde Wirkung ausüben. Fengs ungebrochenes Selbstbewußtsein erschien Liu höchst gefähr lich. »Ja, in Tibet war ich auch. Dort war es allerdings ver dammt kalt. Und vor ein paar Jahren auch in Vietnam. Dage gen ist es in Shanghai richtig langweilig.« »Da haben Sie allerdings recht«, murmelte Liu, während Feng ihn prüfend betrachtete. »Wir können uns ja unterwegs noch weiter unterhalten und uns einen ansaufen, was?« Er lachte von neuem. Liu erschauer te innerlich. Das übertraf seine schlimmsten Erwartungen. Nun hatte er Feng am Hals. Wie wurde er den Kerl nur los? Liu lächelte schwach. »Schauen Sie doch nicht so bedrückt drein!« Feng hatte offensichtlich die letzten Schranken der Zurückhal tung abgelegt. Da hatte er sich einen Reisegenossen für die fast zweitausend Kilometer bis Shanghai angelacht. »Kommen Sie, suchen wir uns einen Platz im Zug. Und dann lassen wir uns was zu trinken bringen.« »Aber …« »Ach, zum Teufel mit den Vorschriften! Lassen Sie mal Ihre Beziehungen ein bißchen spielen. Die lassen uns schon vorzei tig einsteigen, und zu trinken werden wir auch etwas bekom men. Los, kommen Sie!« Widerstrebend stand Liu auf. »Also gut.« 79
»Wo haben Sie denn Ihr Gepäck?« Liu deutete auf einen Pappkoffer zu seinen Füßen. »Ist das alles?« »Ja.« Buckholz hatte den Koffer mit Kleidern von einem seiner Leute in einem Schließfach am Bahnhof von Kwangchow deponieren lassen. Unter Fengs strengen Augen schien er im Moment nur eine recht schwache zusätzliche Tarnung zu sein. Feng nahm seine eigenen Koffer. Dann folgte Liu dem Hauptmann auf den Bahnsteig, von dem der Zug nach Shanghai abfuhr. Wenn er Pech hatte, mußte er die nächsten dreißig Stunden in Gesellschaft dieses Mannes zubringen – eine Vorstellung, die ihm einiges Unbehagen bereitete. Feng war keineswegs auf den Kopf gefallen, und Liu traute sich nicht zu, den Hauptmann trotz seines reichlichen Alkoholgenusses dreißig Stunden lang hinters Licht führen zu können. »Godwin?« »Ja, Mr. Aubrey?« »Schicken Sie bitte sofort eine Nachricht nach London.« »Jawohl, Sir.« »An Shelley. Ersuchen Sie ihn, die Akte mit meinem Verhör Wolfgang Zimmermanns aus dem Jahre 1940 zu beschaffen. Das heißt, wenn er sie finden kann. Sagen Sie ihm, er soll in dem Lager in Catford nachsehen. Und sagen Sie ihm, es ist dringend. Außerdem soll er mir sämtliche Informationen schik ken, die wir über Zimmermann aus der Nachkriegszeit haben.« »Jawohl, Sir.« »Ich brauche die Unterlagen so schnell wie möglich.« »Jawohl, Sir.« »Das Essen hier ist wirklich nicht übel«, bemerkte Hyde, wäh rend Aubrey zunehmend zu der Überzeugung gelangte, daß der 80
Australier diesen Tisch in einem der schwimmenden Restau rants im Aberdeen Harbour zum Teil nur aus dem Grund be stellt hatte, um in den Genuß des Vergnügens zu gelangen, ihn, Aubrey, mit Stäbchen essen zu sehen. Allerdings veranlaßten ihn die kleinen Langustenstücke, die er schließlich doch ir gendwie in seinen Mund beförderte, Hyde gegenüber eine gewisse Nachsicht an den Tag zu legen. »Allerdings«, murmelte Aubrey und griff noch einmal nach der Schale mit den Langusten. »Vielleicht sollten Sie die Stäbchen einmal so halten, Sir«, schlug Godwin vor und demonstrierte die richtige Technik. »Das untere Stäbchen genau hier … Ja, so ist es richtig, Sir.« Aubrey sah Godwin ins Gesicht. Seine Miene entmutigte den jungen Mann, der noch mit schwacher Stimme hinzufügte: »Und das hier wird dann so bewegt …« »Vielen Dank, Godwin«, unterbrach ihn Aubrey und begann wieder mit seinen Stäbchen zu hantieren, wobei ein gewisser Fortschritt keineswegs zu verleugnen war. Es sah zumindest nicht mehr so aus, als versuchte er zu stricken. Seine Laune besserte sich. »Das war wirklich eine gute Idee, Hyde. Das Essen ist tatsächlich fantastisch.« »Als nächstes gibt es Hühnchen«, kündigte Hyde an. Nach zwei weiteren Bissen Languste wandte Aubrey sich der Be trachtung seiner Umgebung zu. Lichtflecken auf dem dunklen Wasser des Hafens an der Südküste der Insel von Hong Kong. Andere schwimmende Restaurants mit bunten Lichtern und Papierlaternen, dahinter der schwächere Schimmer von den Hunderten von Sampans und Dschunken, die als schwimmende Behausungen dienten. Aubrey wandte sich den wie Leuchtkä fer durchs Dunkel schwirrenden Lichtern der Wassertaxis zu und schließlich den laternenbeschienenen Gesichtern der übri gen Gäste auf Deck des zu einem Restaurant umfunktionierten Sampan. Die Langusten wurden weggeräumt, neue Teller gebracht, 81
und dann wurde das Hühnchen serviert. Sobald Aubrey und Godwin ihre Teller zu füllen begannen, trank Hyde sein Glas leer und stand auf. »Ich muß mal eben auf die Toilette«, erklär te er. »Bin gleich wieder zurück.« Hyde zog den Kopf ein und stieg die Treppe hinunter. Rasch durchquerte er den Korridor unter Deck, der von tausenderlei Gerüchen aus der Küche erfüllt war. Dann stieg er eine andere Treppe zum Achterdeck hoch, wo andere Gäste an kleinen, runden Tischen saßen, umschwärmt von dienstbeflissenen Kellnern. Für einen Moment blieb er im Schatten der Markise stehen, die über das Deck gespannt war, und stieg dann über eine kurze Holztreppe zur Mole hoch. Er eilte auf einen kleinen Lagerschuppen an deren Ende zu und drückte sich in seinen Schatten. Hyde holte ein kleines Fernglas aus der Tasche seiner Wind jacke hervor. Es erinnerte fast an eine Spielzeugversion eines normalen Feldstechers. Mit dem Rücken lässig gegen die Wand des Schuppens gelehnt, als hätte er ausgiebig Zeit, be gann er den Hafen abzusuchen. Im begrenzten Blickfeld des Fernglases wirkte die Szenerie in dem fast unheimlichen oran geroten Licht gespenstisch vergrößert. Autos, erst nur Schatten, nahmen allmählich Gestalt an, wurden in ihrer Farbe erkenn bar, gaben ihre Insassen preis. Hyde wußte, daß Beobachter am ehesten in einem Wagen zu finden sein würden. Er fühlte sich nicht bedroht, war nur neugierig. Die lange Untätigkeit hatte ihn rastlos gemacht. Café-Fenster – asiatische Gesichter, gelegentlich ein Europä er. Männer und Frauen, über Cafétischen zueinander geneigt oder mehr mit ihrem Essen beschäftigt. Weiße Männer, asiati sche Frauen. Die allgegenwärtige gelbbraune Haut in dem unnatürlichen Licht des Fernglases stärker verbrannt und dunk ler. Auf diese Weise ließ Hyde seine Blicke über etwa fünfzig Tische mit hundertfünfzig Personen wandern. Keine zog seine Aufmerksamkeit länger als einen Moment auf sich. 82
Dann die Autos. Die meisten von ihnen leer. Gelangweilte Taxifahrer, Herumtreiber, Zuhälter – dunkle, im Schatten liegende Mädchengesichter in Hauseingängen, die sich in ihren Umrissen gegen die hell erleuchteten Fenster abhoben, erklär ten die Anwesenheit der Zuhälter – ein Gesicht, eingehüllt in Zigarettenrauch, ein anderes, umschattet vom pechschwarzen Haar eines Mädchens. Ein Auto nach dem anderen, entlang der Hafenfront. Und dann, an dem Punkt, als die Sicht zu ver schwimmen begann und das unheimliche Licht gleichberech tigt neben den Gesichtern und Gestalten Substanz anzunehmen schien, entdeckte er die zwei Männer. Einer von ihnen sah durch ein Zielfernrohr. Hyde zuckte beim Anblick des gewöhn lich auf ein Gewehr montierten Instruments unwillkürlich zusammen, um sich jedoch schon im nächsten Augenblick in Bewegung zu setzen. Er überquerte die Straße, ignorierte die geflüsterten Schmei cheleien aus einem dunklen Hauseingang und schlenderte auf den Wagen zu. Durch die offene Tür eines Cafés drang laute Rockmusik. Auf der Straße brachen zwei Autos in einen wü tenden, hupenden Dialog aus. Etwa fünfzig Meter von dem Wagen entfernt, lehnte er sich an ein unbeleuchtetes Schaufen ster und sah wieder durch sein Mini-Fernglas. Zwei Männer, einer mit einem Stiernacken, beide mit kurzgeschnittenen Haaren, hatten ihm ihr Profil zugewandt, die Blicke auf das schwimmende Restaurant gerichtet. Hyde schwang das Fern glas herum, bis ihm hinter dem glatten, schwarzen Haar einer Chinesin Aubreys Gestalt in die Augen sprang. Erstaunlich geschickt hantierte er im seltsamen Rotschimmer des Ferngla ses mit seinen Stäbchen. Godwin – er hatte Hyde das Profil zugewandt – schien auf seine Rückkehr zu warten. Das Hühn chen auf der Schüssel in der Mitte des Tisches war merklich geschrumpft. Als er sein Fernglas wieder zurückschwenkte, fotografierte der Mann mit dem Stiernacken gerade. Er hatte eine Kamera 83
mit einem starken Teleobjektiv. Vermutlich verwendete er einen Infrarotfilm. Der andere Mann hielt das Zielfernrohr nach wie vor auf das Restaurant gerichtet. Hyde konnte das zugekniffene Auge des Mannes sehen. Seine Lippen bewegten sich. Keine ernsthafte Gefahr also. Zu weit weg. Er schwenkte sein Fernglas neuerlich herum. Keine unmittelbare Gefahr. Aber sie waren zumindest interessiert. Die Tatsache, daß Buckholz und Aubrey innerhalb von vierundzwanzig Stunden in Hong Kong aufgetaucht waren, hatte natürlich ihre Neugier geweckt. Es war allmählich an der Zeit, in Erwägung zu ziehen, ob Wei nicht besser an einen anderen Ort geschafft werden sollte. Nun tauchte wieder Aubreys Gesicht im Fernglas auf. Er unterhielt sich angeregt und machte mit seinen Stäbchen eine verneinen de Geste. Seine Miene war nachdenklich, aber zugleich ent schlossen. Godwin versuchte, ihn von etwas zu überzeugen. Das Fernglas zurück zum Wagen. Die Lippen des Mannes mit dem Zielfernrohr bewegten sich nach wie vor. Zurück zum Restaurant. Aubrey unterstrich das Gesagte, indem er mit den Stäbchen auf die Tischdecke trommelte. Wieder der Wagen, wo sich die Lippen des Mannes mit derselben mechanischen, zögernden, roboterhaften Regelmäßigkeit bewegten, ohne je schneller zu werden. Es war eher ein Vortrag als eine Unterhal tung. Wagen, Restaurant, Wagen, Restaurant, Wagen. Fast konnte er die Worte hören, ihre Wiederholung im Innern des Wagens nachvollziehen. Lippenlesen. Schwierig, aber nicht unmöglich. Es wurde Zeit, zu den anderen zurückzugehen. Leichter Regen. Hyde zog die Schultern hoch und sah nach oben. Aus dem Fenster über dem unbeleuchteten Geschäft ragte wie ein Gewehrlauf ein Richtmikrofon hervor. Hyde sog den Atem ein, spürte, wie er vor angespannter Wachsamkeit zitterte. Er richtete das Fernglas wieder auf Aubrey. Er sprach immer noch. Aus dieser Entfernung würde das Mikrofon zwar 84
nur einen Geräuschebrei aufnehmen, der jedoch nachträglich gefiltert und aufgesplittert werden konnte, so daß sich viel leicht Aubreys und Godwins Stimmen herauskristallisieren ließen – ein Unterfangen, das durch den Umstand erleichtert wurde, daß sie unter all den Chinesen als einzige Englisch sprachen. Er sah sich das Mikrofon, das aus dem halb geöffne ten Fenster über ihm ragte, noch einmal genau an und begann dann zu laufen. Godwin schien erleichtert zu sein, als er ihn wiedersah, wäh rend Aubrey seine feuchten Schultern und Haare und sein gerötetes Gesicht auffielen. »Was ist?« fragte er, als Hyde sich setzte, den Rücken der Kamera und dem Mikrofon zugewandt. »Da ist ein Lippenleser mit einem Infrarotzielfernrohr, und außerdem haben sie ein Richtmikrofon auf Sie gerichtet«, entgegnete Hyde. »Zeigen Sie keinerlei Reaktionen, sondern hören Sie mir nur zu. Falls Sie über unseren schlitzäugigen Freund zu Hause gesprochen haben sollten, sind sie inzwischen vielleicht bereits informiert, was hier gespielt wird. Haben Sie verstanden?« Hyde hatte in rauhem Flüsterton gesprochen. »Wie ich sehe, haben Sie verstanden. Scheiße.« Godwin war blaß geworden. Sein Mund öffnete sich langsam wie der eines Fisches. Aubrey senkte geknickt den Kopf. »Ich verstehe«, sagte er schließlich. Das Stück Hühnerfleisch, das noch von seinen Stäbchen gehalten wurde, zitterte leicht. »Dann haben Sie ihnen jetzt also möglicherweise alles verra ten!« platzte Hyde in demselben heiseren Flüsterton, nur mit stärkerem australischen Akzent, heraus. »Ja«, erwiderte Aubrey, ohne aufzusehen.
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3. Shanghai Die Lichter am Ende des Bahnsteigs waren diffus und von einem Hof umgeben, als der Zug nach Shanghai in Nanchang in der Provinz Kiangsi, das etwa auf halber Strecke lag, in der warmen, von Nieselregen erfüllten Nacht haltmachte. Der Bahnsteig, über den Hauptmann Feng ging, schimmerte feucht vom Regen. David Liu sah ihm nach. Anscheinend wollte er sich etwas zum Lesen kaufen. Aber Lius Magen krampfte sich schmerzlich zusammen. Seine Tarnung war nicht gut genug gewesen. Er hatte sie während der dreizehn- oder vierzehn stündigen Unterhaltung mit dem Hauptmann, mit vier anderen Fahrgästen in einem winzigen Abteil zusammengedrängt, nicht glaubwürdig aufrechterhalten können. Fengs Blicke waren unablässig auf ihn gerichtet gewesen, und Liu hatte das Gefühl gehabt, seine Stimme würde immer deutlicher verraten, daß er nur vorgab, der Staatspolizei anzugehören. Seine Tarnung war dazu gedacht gewesen, neugierige Fragen abzuwürgen, und nicht, um befriedigende Antworten finden zu müssen. Er mußte unbedingt herausfinden, was Feng vorhatte, wohin er wollte. Er öffnete die Waggontür und stieg auf den Bahnhof hinunter. Schon im selben Augenblick sah er zum feuchten Nachthimmel auf. Feng würde sofort auffallen, daß seine, Lius, Kleider und sein Haar naß waren, wenn er ins Abteil zurück kehrte. Er eilte unter das Bahnsteigdach. Feng, fünfzig Meter von ihm entfernt, war bereits an dem noch geöffneten Buchla den vorbeigegangen und schien auf den Ausgang zuzustreben. Die wenigen Bahnsteige erschienen Liu zu kurz, fast leer, bar jeder Deckung. Feng brauchte sich nur umzudrehen, um ihn zu entdecken. Liu war sich sicher, daß Feng Verdacht geschöpft hatte. Er war während ihrer Unterhaltung in seinen Antworten zu oft ausgewichen, hatte gezögert, hatte zu wenig zum Ge spräch beigetragen. Er wußte, daß er während all dieser Stun 86
den genügend Fehler gemacht hatte, um Feng stutzig zu ma chen, zumal dieser inzwischen wieder nüchtern war. Wissen Sie …? Was halten Sie von …? Sind die Leute im Hauptquartier nicht ein bißchen eigenartig? Liu war nie beim Militär gewesen, um eine entsprechende Unterhaltung führen zu können, und auch die Instruktionen, die er erhalten hatte, waren nicht ausreichend gewesen. Waren Sie je an der Grenze? In Tibet? Vietnam? Kampuchea? Ich dachte, Sie hätten dort vielleicht politische Schulung gemacht? Nein? Feng blieb stehen und blickte um sich. Er hatte die kleine Fläche erreicht, die an die Bahnsteige für die Nahverkehrszüge grenzte. Für einen Augenblick stand er da, die Hände in die Hüften gestemmt. Liu blieb stehen und preßte sich gegen eine der Tafeln mit politischen Parolen, wo man im Westen Werbe plakate erwartet hätte. Feng ging nun entschlossen auf das Büro der Bahnpolizei zu. Liu verfluchte seine anfängliche Verachtung für den Hauptmann, der die Situation voll in der Hand hatte, und zwar nicht erst von diesem Zeitpunkt an, sondern schon seit dem ersten Augenblick ihres Zusammen treffens. Im Eingang des Büros stand ein Bahnpolizist in grüner Jacke, dunkelblauer Hose und Mütze. Feng trat auf ihn zu und fing an, aufgeregt und mit Nachdruck auf den Mann einzureden. Liu brachte es nicht über sich, näher an die beiden heranzuschlei chen. Feng und der Polizist standen vielleicht sechzig Meter von ihm entfernt. Es war, als könnte er sie sprechen hören oder ihnen die Worte von den Lippen ablesen. Er rechnete jeden Augenblick damit, daß Feng und der Polizist losgehen würden, um nach ihm zu suchen. Jedenfalls war das Interesse des Polizisten zur Genüge ge weckt. Sein Kopf wandte sich immer wieder in die Richtung des Zuges nach Shanghai, woraus nur noch deutlicher wurde, was der Gegenstand ihrer Unterhaltung war. Feng deutete auf die Tür des Büros, worauf der Polizist nur den Kopf schüttelte 87
und eine würdevollere Haltung einnahm. Offensichtlich ver fügte er über die nötige Kompetenz, um sich der Sache anzu nehmen. Dann machte der Polizist Anstalten, auf den Zug zuzugehen, woran ihn Feng jedoch hinderte. Schließlich brach te er ihn sogar mit Erfolg davon ab, etwas zu unternehmen. Das verwunderte Liu. Feng hatte dem Polizisten seine Hand auf den Arm gelegt und redete mehrere Minuten rasch und mit sichtli cher Dringlichkeit auf ihn ein. Langsam wurde Liu sich des Fauchens und Stampfens der Dampflok hinter ihm bewußt. In wenigen Minuten würde der Zug abfahren. Feng lachte, und das Geräusch drang bis an Lius Ohr. Er machte eine weit aus holende Geste mit dem Arm, als täte er etwas ab, und dann ballte sich seine Hand. Der Polizist nickte, nickte noch einmal und erwiderte etwas. Feng sagte noch etwas, worauf sie sich offensichtlich einig waren. Danach sah sich Feng nach der Lokomotive um. Das Schrillen einer Pfeife schreckte Liu auf. Feng trat von dem Polizisten zurück, der ihm noch irgendwelche Beteuerun gen nachrief, und eilte dann auf den Zug zu. Liu hatte ein schwaches Gefühl in den Beinen und mußte sich fast von der Reklametafel abstoßen. Schließlich wandte er sich um und rannte über den Bahnsteig auf den dritten Waggon zu, so daß Feng ihn nicht sehen konnte. Dann hastete er durch mehrere Waggons auf sein altes Abteil zu. Ein zweites Pfeifen, gefolgt von einem heftigen Dampfstoß, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung, während Liu sich so bar jeder Orientierung fühlte, als hätte sich die Erde aus ihren Angeln gehoben. Shanghai. Feng hatte alles Nötige in die Wege geleitet. Er würde verhaftet und verhört werden, sobald sie Shanghai er reichten. Im Zug gefangen, hastete er weiter, drängte sich zwischen den anderen Passagieren hindurch, die ihn absichtlich zu behindern und zurückzuhalten schienen.
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Vom Fenster seiner Suite im Schloßgartenhotel aus sah Kanz ler Dietrich Vogel auf den Stuttgarter Hauptbahnhof hinunter, um sich dann, ohne wirklich etwas bewußt wahrzunehmen, dem Schloßgarten zuzuwenden, dessen betonierte Fußwege sich weiß gegen den im Sonnenuntergang dunkelgrün auf flammenden Rasen abhoben. Lange Schatten zogen sich über das Gras, während sich durch die Schillerstraße und auf den Hauptbahnhof zu der Abendverkehr wälzte. Der Turm des Bahnhofs warf seinen langen Schatten auf den Park. Hinter ihm schärfte ihm Wolfgang Zimmermanns Stimme noch einmal die wichtigsten Punkte seiner abendlichen Wahlrede im Rathaus ein. »Ja, ja, Wolf«, murmelte der Kanzler und nippte an seinem Whisky. Zimmermann brauchte ihn an nichts zu erinnern, nichts mit ihm zu proben. Er wußte, daß er jetzt nichts mehr falsch machen konnte. Die Stimmung in der Bundesrepublik war genau die Stimmung, die auch er im Augenblick verspürte. Er war eins mit dem deutschen Volk. Dietrich Vogel lächelte vor sich hin. Zu überheblich, dachte er. Zu sehr wie andere, die ebenfalls für sich in Anspruch genommen hatten, für die Deutschen zu sprechen. Aber trotz dem wahr, rief er sich ins Gedächtnis zurück. Er würde durch diese Wahl eindeutig in seiner Macht bestätigt werden, und er würde dies vor allem seiner Ostpolitik zu verdanken haben. »Sei nicht ungeduldig, sei nicht zu zuversichtlich«, sagte Zimmermann in leicht verletztem Ton. Vogel wandte sich vom Fenster ab und seinem Berater und ältesten Freund zu. »Tut mir leid, Wolf«, entschuldigte er sich. »Du hast das wohl gespürt, hm? Selbst in Bayern – obwohl wir dachten, daß man es uns dort nicht leichtmachen würde … Aber die Leute wollen einfach, was wir ihnen anbieten, Wolf. Sie wollen das Berlin-Abkommen.« »Vielleicht.« »Sei doch nicht immer so skeptisch, Wolf!« Vogel durch 89
querte den Raum und setzte sich in dem warmen Lampenlicht in den Sessel neben Zimmermann. Zimmermanns anziehende Gesichtszüge spiegelten Zweifel wider, drückten zugleich jedoch auch die Nervosität eines Mannes aus, der unmittelbar vor einer rein spontanen Handlung oder einem großen Triumph steht. »Du glaubst doch mehr daran als sonst jemand von uns, oder nicht?« sagte er leise. »Du hast auch härter als jeder ande re dafür gearbeitet. Manchmal habe ich fast das Gefühl, du hättest mich regelrecht in die Ostpolitik hineinhypnotisiert.« Zimmermanns Gesicht verzog sich leicht – ein Ausdruck, den man durchaus als Groll oder Unwillen hätte interpretieren können. »Du weißt ja selbst am besten, daß ich noch vor nicht allzulanger Zeit nicht gerade viel von dem Ganzen hielt. Nach Willy Brandts Schlappe schien mir die Sache einfach nichts mehr herzugeben.« Er legte Zimmermann seine Hand auf den Arm. »Aber du hast das Feuer wieder entfacht, Wolf. Und dafür bin ich dir dankbar.« Zimmermann zuckte mit den Schultern. »Das ist alles nur dein Verdienst«, erwiderte er bescheiden. »Vielleicht meine Fähigkeit, den Leuten etwas schmackhaft zu machen, aber deine Arbeit, dein Verdienst. Oder vielleicht auch deine Fähigkeit, etwas zu verkaufen?« Vogels Augen blitzten amüsiert auf. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Mein Gott, von dir habe ich sogar gelernt, den Russen zu trauen! Weil du ihnen traust.« Zimmermann nickte, sein Gesicht war ernst, aber verschlossen. »Ja«, erwiderte er, »ich vertraue ihnen.« Die morgendliche Frische war bereits aus der Luft gewichen, und der gelbliche Himmel schien schwer auf dem weißen Haus in der Peak Road zu lasten. Aubrey sah auf die Happy-ValleyRennbahn hinunter, um seine Blicke dann über die weißen Spielzeugbauten des Government House und das Grün des zoologischen Gartens gleiten zu lassen. Seine Stimmung war 90
von wütenden Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen geprägt. Hyde hatte natürlich recht gehabt. Es war leichtsinnig, ja sogar unverantwortlich gewesen, am Abend zuvor mit Godwin über Wei zu sprechen. Die Fragen des jungen Mannes waren ver ständnisvoll und schmeichelhaft gewesen, und Aubrey hatte sein Wissen und seine Vermutungen in eitler Selbstbeweihräu cherung geäußert. Er hatte Wei mehrmals namentlich erwähnt. Auch auf Zim mermann war er verschiedentlich zu sprechen gekommen. Er hatte seine Zweifel, Ansichten, Überzeugungen, Einsichten geäußert. Er war ein absolutes Sicherheitsrisiko gewesen. Dieses Wort wollte nicht mehr aus seinem Kopf. Es bereitete ihm Unbehagen – ebenso wie die vorübergehende Übertragung der Entscheidungsgewalt an Hyde, seinen Laufburschen. Gehen Sie auf der Terrasse auf und ab, hatte Hyde gesagt. Mit Wei. Unterhalten Sie sich über unwichtige Dinge. Der Ausdruck in Hydes Augen, als er ihm diese Anweisungen gab, hatte Aubrey in seinem Stolz verletzt. Simple Anweisungen für einen alten Mann … Während Godwin nun also als Aufpasser fungierte – er saß auf der niedrigen Ummauerung der Terrasse, durch die Aus buchtung der Schulterhalfter in seinem Leinenjackett alles andere als beruhigt –, schritt Aubrey mit Oberst Wei etwas theatralisch auf und ab. »Ist doch ganz angenehm, wieder einmal an die frische Luft zu kommen?« murmelte Aubrey und sah auf seine Uhr. Tun Sie das zehn Minuten. Nicht mehr und nicht weniger, hatte Hyde ihm eingeschärft. Wei schien verdutzt zu sein. »Ja, wirklich ein gute Idee.« »Was Ihre frühere Laufbahn betrifft«, fuhr Aubrey fort. »Sie waren doch sicher loyales Parteimitglied?« »Muß das denn jetzt schon sein? Ich dachte, darüber könnten wir uns später unterhalten.« Sorgen Sie dafür, daß er auf keinen Fall auf Zimmermann zu 91
sprechen kommt. »Vergessen Sie nicht, daß ich dieses Verhör leite«, wies Au brey ihn barsch zurecht. »Wo ist eigentlich Ihr Laufbursche?« erkundigte sich Wei mit einem Nicken in Richtung Godwins. »Das ist doch eigent lich nicht seine Sache.« »Mein Laufbursche? Ach so, ich verstehe. Er hat zu tun.« »Aha. Ja«, kam Wei dann wieder auf Aubreys Frage zurück, »ich war natürlich der Partei gegenüber absolut loyal. In der Volksrepublik …« Er breitete seine Hände aus. »Es war un möglich, ohne die Partei aufzuwachsen. Kinderkrippe, Schule, Militärdienst – das alles bildet ja ein sehr feinmaschiges Netz. Da gibt es kein Entkommen. Man denkt nicht einmal an Ent kommen.« »Unter Mao?« »Im Grunde hat sich nichts verändert. Die Gegenstände der Ablehnung mögen sich vielleicht geändert haben – wie auch die Glaubensinhalte. Aber wir sind immer noch, was wir waren – Geschöpfe der Volkszeitung.« Wei lächelte rätselhaft. »Sie haben in den Büros unserer großen Zeitung ganze Schränke voller Klischees, fein säuberlich nach den abgedroschensten Phrasen geordnet. Und sie sind so voll wie eh und je. Der einzige Unterschied ist darin zu sehen, daß sich einige Phrasen geändert haben.« Mitten in der Bewegung innehaltend, betrachtete Aubrey sein Gegenüber eingehend. Eine melodische Stimme, hypnotisch wie die eines Schauspielers. Diese Gefühle waren durchaus verständlich, ließen Weis Desillusionierung glaubhaft erschei nen. Aber irgend etwas an seinem Tonfall machte Aubrey stutzig. Machte ihm Wei etwas vor? Der Oberst betrachtete den alten Engländer prüfend, als erwartete er eine Reaktion. »Ich verstehe. Ihr Hauptmotiv ist also die Desillusionierung. Oder nicht doch vielleicht Geldgier?« Die Geräusche der Stadt stiegen zu ihnen herauf, umhüllten sie wie ein Schwarm von 92
Insekten, angezogen durch die Wärme ihrer Körper. »Ja, auch Geldgier«, gab Wei zu. Und dann verzogen sich seine Lippen in einer Bitterkeit, die Aubrey auch beim besten Willen nicht als Schauspielerei abtun konnte. »Der Große Sprung vorwärts und die Vier Modernisierungen sind nicht durchdacht. Das sind einfach nur künstliche, vorgefertigte Produkte.« Wei war dieser westliche Sprachgebrauch offen sichtlich durchaus geläufig. »Verstehen Sie? Ein Mann, der ein bißchen Hirn im Kopf hat, kann nur ein gewisses Quantum hinnehmen, und auch das nur für eine gewisse Zeit, aber dann ist es genug.« »Ich verstehe.« Dies war eine offensichtliche Anspielung auf Aubreys eigene Intelligenz, eine sehr subtile Schmeichelei. Er blickte auf seine Uhr. Die zehn Minuten waren vorüber. »Sol len wir wieder hineingehen?« »Wie Sie wollen.« Wei wandte sich der Eingangstür zu. Hy des Vorschlag, die brisanten Themen in dieser Unterhaltung nicht anzuschneiden, hatte den Oberst in Aubreys Augen nur noch rätselhafter erscheinen lassen. Nachdenklich betrachtete Aubrey den schmalen Rücken und das sauber geschnittene Haar Weis. Dann sah er sich noch einmal um, als er durch die Tür trat. Hydes Aufgabe war ver mutlich leichter als seine. Er zweifelte nicht daran, daß Hyde herausgefunden hatte, was er wissen wollte. Hyde beobachtete das Haus, die zwei Gestalten auf der Ter rasse, und ließ dann sein Fernglas über den felsigen, mit ver einzelten Büschen bestandenen Hügelabhang gleiten, der von dem Haus sanft zur Peak Road abfiel. Auf der Straße parkte ein Wagen, der den Eindruck erweckte, als wollten seine Insassen die herrliche Aussicht auf die Stadt genießen. Der Wagen war jedoch leer, und es war derselbe, den Hyde am Abend zuvor im Hafen von Aberdeen gesehen hatte. Hyde mußte grinsen, als er ihn entdeckte. Er öffnete leicht die Lippen und atmete die Überlegenheit des unbemerkten Beobachters wie Sauerstoff 93
ein. Das Fernglas wanderte wieder zurück, überprüfte sorgfäl tig jeden Busch, jede Bodenerhebung, jeden Felsvorsprung. Das Haus, Stützpunkt des SIS in Hong Kong, lag auf einer aus dem Hügelabhang gegrabenen, ebenen Fläche, hinter der sich der grüne Gipfel des Mt. Kellett erhob. Die besten Stand punkte für einen Beobachter befanden sich auf gleicher Höhe mit dem Haus an der Stelle, wo sich die Böschung zur Straße hinab senkte. Die Büsche, die dort wuchsen, und die Felsen und Erdaufschüttungen, die noch vom Bau des Hauses übrig geblieben waren, boten ausreichend Deckung. Ein plötzliches Aufblitzen? Eine Flasche, eine Glasscherbe, die Linse eines Zielfernrohrs? Hyde justierte die Entfernungs einstellung des Feldstechers und wartete. Etwa fünfzig Meter links unter ihm. Er veränderte die Stellung eines Beines, in dem er langsam einen Krampf zu bekommen drohte, und brachte dabei mit seinem Wildlederschuh ein paar Steinchen ins Rollen. Ein neuerliches Aufblitzen. Der lange Schaft eines Teleobjektivs ruhte auf der abgeflachten Oberfläche eines Felsens und ragte aus einem dichten Dornbusch hervor, der sich leicht zur Straße hin neigte. Der lange schwarze Schaft ließ Hydes Herz für einen Augenblick heftiger schlagen, bis er sich von seiner fotografischen Unschuld überzeugt hatte. Er grinste neuerlich. Derselbe Wagen – dieselben Männer? Wo war das Mikrofon? Er senkte das Fernglas und sah zur Terrasse. Wei und Aubrey wirkten fast etwas gekünstelt, als sie dort auf und ab gingen. Er sah auf seine Uhr. Drei Minuten waren verstrichen. Die Män ner würden auch noch warten, wenn Wei und Aubrey wieder im Haus verschwunden waren, aber sie würden dann weniger abgelenkt und wachsamer sein und mehr auf ihre Umgebung achten. Geduckt bewegte er sich nach links. Obwohl er mit äußerster Vorsicht auftrat, wirbelte er doch kleine Staubwolken auf, löste kleine Kiesel. Er blieb so lange hinter und über den Beobachtern, bis er einen flachen, trockenen Wasserlauf fand, 94
ließ sich hineingleiten und robbte in seinem Schutz vorsichtig den Abhang hinunter. Zweimal hob er den Kopf. Das zweite mal befand er sich leicht unterhalb der beiden Männer und etwa zwanzig Meter hinter ihnen. Bunte Hemden, kurzgescho rene Köpfe, kräftige Nacken, die Schultern in angespannter Konzentration hochgezogen. Kamera und Fernglas. Eine langsame Stimme, die ruhig in ein Mikrofon sprach. Ein kleines Tonbandgerät, das hinter dem Lippenleser auf der Erde lag. Hyde streckte seinen Kopf vor, lauschte. Ein Murmeln, zögernd, mit Unterbrechungen. Lange Pausen. Klick. Weiterdrehen, Klick – das Surren der Kamera, während mehrere Aufnahmen geschossen wurden. Hyde zog den Kopf wieder ein und arbeitete sich weiter die Wasserrinne hinunter. Als er bis auf einige Meter auf gleicher Höhe mit der Straße war, tauschte er seine bisherige Deckung gegen einen kleinen, gefährlich schräg stehenden Busch ein. Eine seiner Dornen kratzte ihn. Er beobachtete die Konturen des Abhangs unter ihm. Er konnte den Fotografen und den Lippenleser über sich nicht sehen, wie auch er ihrem Blickfeld entzogen war. Nach weiteren zehn Minuten bewegte er sich wesentlich rascher vorwärts. Wenn sie überhaupt ein Richtmi krofon angebracht hatten, dann befand es sich bestimmt auf der anderen Seite des Hauses. Staub wirbelte auf. Steine spritzten davon, sein Atem wurde heftiger, sein Rücken schmerzte, als er wieder wie zuvor in gebückter Haltung lief. Wenn sie ihn sahen, dann sahen sie ihn eben. Aber es war unwahrscheinlich, solange Aubrey und Wei auf der Terrasse des Hauses ihr Theater spielten. Er blieb stehen und sah auf. Vom Regenwasser herausgewa schene Rinnen, verstreute Büsche, trockene, gelbe Erde, Fel sen. In der Tarnung eines niedrigen Busches bewegte sich ein Kopf, hüpfte auf und ab. Hyde kletterte nun wieder aufwärts. Als er sich dem Busch auf etwa fünfzehn Meter genähert hatte, glitt er hinter einen Felsbrocken und wartete, bis sich sein 95
Atem wieder beruhigt hatte. Dann richtete er sich auf den Absätzen auf und spähte über den Felsen. Das Aufblitzen der Linse von der anderen Seite des Hauses. Der Hinterkopf eines Mannes, ein weißes Hemd, das sich über breiten Schultern spannte, zwischen den Schulterblättern ein dunkler Fleck. Ein Strohhut, ins Gesicht gezogen, um die Augen zu beschatten. Das zigarrenförmige Mikrofon stand wie ein grauer Laib französischen Brotes von dem Mann ab. Stim men, blechern und schwach, die aus dem Mikrofon hätten kommen können, drangen an Hydes Ohr. Offensichtlich waren Aubrey und Wei auf ihrem Spaziergang gerade wieder auf dieser Seite der Terrasse angelangt. Von den Stimmen ange lockt, ganz in ihren Bann gezogen, ragte das graue U-Boot von einem Mikrofon aus dem Busch hervor. Auf diese Entfernung und ohne jegliche Störgeräusche, wenn man von dem schwa chen Summen der Stadt am Fuß des Hügels absah, würde jedes Wort ganz deutlich verständlich sein. Hyde sah auf seine Uhr. Inzwischen waren zehn und eine halbe Minute verstrichen. Die Stimmen wurden schwächer, vermischten sich mit den Geräuschen der Stadt. Das Mikrofon zog sich zurück. Darauf tauchte der Kopf des Mannes aus dem Busch auf, um wieder darin zu verschwinden, nachdem er für einen Augenblick die Terrasse beobachtet hatte. Als nächstes wurde die russische Stimme des KGB-Mannes vernehmbar, gefolgt von einer leise kreischenden, lautsprecherverzerrten Antwort. Walkie-talkies. Hyde zog sich zurück. Er konnte nur vermuten, was sie als nächstes tun würden. Im Schatten des Felsens erreichte er eine andere Wasserrinne, in der er zur Peak Road hinunterhastete. Die Wasserrinne führte zu der asphaltierten Auffahrt von der Straße zur Garage hinter dem Haus. Als er wieder herausklet terte, ließ er sich sofort auf den heißen, klebrigen Asphalt fallen. In der Auffahrt stand ein grauer, verbeulter VW-Käfer. Godwin hatte ihn von einem Bekannten im Regierungsgebäude 96
geliehen, einem respektierlichen Beamten des Auswärtigen Amtes. Soweit ihm Godwin versichert hatte, würden die Leute vom KGB diesen Wagen nicht verdächtigen. Hyde stieg ein. Obwohl die Fenster offen waren, erstickte ihn die Luft im Innern fast. Er duckte sich in den Fahrersitz und wartete. Drei Minuten später überquerte der Mann, der das Mikrofon bedient hatte, die Auffahrt, warf einen kurzen Blick auf den scheinbar leeren VW und ging dann zufrieden vor sich hin pfeifend weiter. Als er verschwunden war, setzte sich Hyde grinsend auf. Seine Hand berührte den Zündschlüssel. Er lauschte. Während er zuvor den Hügel hinter dem Haus hinaufgestie gen war, hatte er bemerkt, daß ein Stück weiter die Peak Road hinauf ein zweiter Wagen parkte, als gehörte er Besuchern in einem der dortigen Häuser. Er hatte nicht erwartet, daß sofort bei Weis und Aubreys Verschwinden einer der Beobachter zum KGB-Büro zurückkehren würde. Ihr Interesse war offenbar erheblich. Der Motor von einem der zwei Autos sprang an, heulte auf, und dann kreischten die Reifen, als der Wagen auf der Peak Road gewendet wurde. Hyde drehte den Zündschlüssel des Käfers herum und bog von der Auffahrt in die Straße ein. Die staubige schwarze Limousine entfernte sich weiter die Peak Road hinauf. Hyde beschleunigte, bis er sich dem Wagen auf hundert Meter genähert hatte, nicht ohne zwei andere Autos zwischen sich und der Limousine zu lassen. Der Verkehr wur de dichter, und schließlich bogen sie in die verstopfte Caine Road ein. Hyde schwitzte und hatte einige Mühe mit dem Verkehr, als die schwarze Limousine in die Tung Street einbog. Hinter seiner Fassade als Antiquitätenladen wirkte das KGB-Büro reizlos. Der KGB-Mann stieg aus dem Wagen, verschloß ihn und betrat das Haus. Hyde fuhr die schmale Straße weiter hinunter, fand aber keinen Parkplatz. Gereizt fuhr er einmal um 97
den Block und bog neuerlich in die Tung Street ein. Nach der vierten Runde quetschte er den Käfer schließlich mit einem schrecklich kratzenden Geräusch zwischen zwei Autos, die etwa zwanzig Meter von dem Antiquitätenladen entfernt stan den. In dessen Eingang stand ein Chinese, vermutlich der offizielle Inhaber des Ladens, und erklärte gerade zwei offen sichtlich amerikanischen Touristen die Verzierung einer Vase. Hyde nahm seine Kamera vom Beifahrersitz und richtete sich aufs Warten ein. Er sah auf die Uhr. Zehn Uhr vierzig. Verfüh rerische Essensgerüche drangsalierten in der engen, schattigen Straße seinen Magen, und die Temperatur wickelte sich wie ein feuchtes, heißes Tuch um seinen Körper. Kunden. Er fotografierte sogar Leute, die nicht im geringsten verdächtig erschienen, Leute mit umgehängten Kameras, Strohhüten, gestreiften Hemden, Shorts, Miniröcken, Jeans. Älter als möglich, jünger als wahrscheinlich. Als er einen neuen Film einlegte, gelangte er zu dem Schluß, daß unter den sechsunddreißig Aufnahmen nur zwei möglicherweise von Interesse sein würden. Der allgegenwärtige nominelle Inhaber des Ladens war auf mindestens der Hälfte der Aufnahmen zu sehen. Elf Uhr fünfzehn. Ein weiterer möglicher Verdächtiger. Er stellte die Entfer nung mit größerer Sorgfalt ein, als sich der Mann zwischen Rikschas und Fahrrädern hindurchschlängelte. Eine kurze Pause, als wollte er sich zum Fotografieren in Positur stellen, dann betrat er den Laden. Er verließ ihn nicht wieder. Dann ein anderer, und schließlich der kleine Mann vom Flughafen, Wassili. Immer stärker stieg in Hyde der Verdacht hoch, daß Godwin diese Gesichter nicht allesamt bekannt sein würden, daß es sich bei diesen Männern um Neuankömmlinge handelte, sozusagen frisch eingeflogen. Inzwischen zählte nicht mehr, was Aubrey wollte, plante oder durchführte. Langsam bekam der KGB das Heft in die Hand. Sie hatten den Fisch bereits an der Leine und hielten schon das Messer bereit, um ihn auszu 98
nehmen. Noch einer, klick, weiterdrehen, noch einmal klick, bevor er in dem schmalen Eingang verschwand. Elf Uhr drei ßig. Und dann, aus einem Taxi steigend, mit einem kleinen Koffer und einer Reisetasche, das Gesicht bleich und der Sonne von Hong Kong noch nicht ausgesetzt – Petrunin. Das plötzliche Wiedererkennen verursachte Hyde einen heftigen Schmerz in der Brust. Er bekam Atembeschwerden. Noch vor weniger als zwei Jahren hatte dieser Mann ihn töten lassen wollen. Vor achtzehn Monaten genau, im Zuge der Cannock-Jagd. Petrunin. Seine Hände zitterten. Die Aufnahmen würden verwackelt werden. Aber Petrunin hatte bereits das Taxi bezahlt und wand te sich dem Gebäude zu. Ein amüsiertes Lächeln – klick – ein Moment des Zögerns, seine Aufmerksamkeit von einem schlanken, eleganten chinesischen Mädchen erregt – klick – das Mädchen unscharf, Petrunin wehmütig lächelnd – dann trat er in den Laden, verschwand – klick … Dankbar legte Hyde die Kamera wieder auf den Sitz neben sich. Tamas Petrunin, ehemals Rezident an der russischen Botschaft in London, der England hatte verlassen müssen, als eine Operation sich als Schnitt ins eigene Fleisch erwies. Ta mas Petrunin, der mit einer neuen Aufgabe im Ersten Hauptdi rektorium des KGB betraut worden war – hatte es sich dabei um China gehandelt oder um das restliche Asien? Hyde konnte sich nicht mehr erinnern. Sie hatten es auf Wei abgesehen. Die Tatsache, daß in diesem Augenblick, um elf Uhr sechsunddreißig, Petrunin vor dem KGB-Büro in Hong Kong erschienen war, ließ keinen Zweifel mehr daran, daß sie es auf Wei abgesehen hatten. Aubrey hatte die Situation schon längst nicht mehr in den Händen. Er sah als erstes einen Bahnhofskehrer, dessen Kopf sich beim Fegen regelmäßig mit der Nervosität eines fressenden Vogels mitbewegte. Das letzte Aufseufzen der Dampflokomotive hätte 99
ebensogut Lius Brust entweichen können – ein Ausdruck seiner inneren Anspannung. Ein Bahnpolizist – vielleicht, wenn sich Liu auch nicht ganz sicher war, zeichnete sich eine ungewohnte Pistole unter seiner Uniformjacke ab – schlenderte betont langsam am Waggonfenster vorüber, machte auf dem Absatz kehrt und kam den Bahnsteig zurück, als der Zug schließlich endgültig hielt. Liu vermied es, den Mann anzusehen, und versuchte Hauptmann Feng mit einem Lächeln zu bedenken, wie man es aufsetzt, wenn man eine gemeinsame Zugfahrt beendet hat. Währenddessen kam der Polizist gerade wieder an dem verschmutzten Fenster vorbei. Vor Lius geistigem Auge schossen Bilder vorbei, von rauchenden Fabrikschloten, grünen Parks mit kleinen, roboterhaften Gestalten, mit Exerzierübun gen beschäftigt, von Tempeln, Hotels und modernen Beton türmen. Es war, als hätten sich die Eindrücke der letzten Minu ten der Zugfahrt wie auf einem Diapositiv in diesem Waggon fenster verewigt. Shanghai, und sie warteten bereits auf ihn. Er saß in der Fal le. Ein Gefühl der totalen Niederlage erfaßte Liu. Als Feng aufstand – lediglich, um seine Koffer aus dem Gepäcknetz zu nehmen –, zuckte Liu zusammen. »Wir sind da«, meinte Feng lächelnd. Er wirkte müde und erschöpft. »Was?« »Wir sind da – endlich.« Ihre zwei anderen Reisegefährten, ein alter Mann und seine unansehnliche Tochter, drängten sich an Feng vorbei aus dem Abteil. Der alte Mann hatte fast die ganze Fahrt über ge schwiegen und aufrecht sitzend geschlafen. Die Frau, die eben sogut zwanzig wie vierzig hätte sein können, hatte Stunde für Stunde beharrlich gelesen. Liu schien es, als hätten sie von der Verschwörung gegen ihn gewußt, als hätten sie sich in voller Absicht entschlossen, ihn zu ignorieren. Er stand auf, nahm seinen kleinen Koffer aus dem Gepäck netz und wandte sich zu Feng um. Die schwarzen, rosinenarti 100
gen Augen des Hauptmanns betrachteten ihn eingehend. Von der Müdigkeit und vom Alkohol waren sie stark gerötet. Er schwankte leicht – aber eher wie ein Angreifer als ein Betrun kener. Bilder von seiner bevorstehenden Verhaftung schossen be reits durch Lius Kopf und beeinträchtigten sein Konzentrati onsvermögen. Er war unfähig zu denken. »Nach Ihnen«, sagte er schließlich. »Nach Ihnen.« Liu ging Feng zur Waggontür voraus, wobei ihm mit er schreckender Klarheit bewußt wurde, daß er sofort nach Anhal ten des Zuges hätte aussteigen und sich so weit durch die Rei senden drängen hätte sollen, daß er als einer der ersten an die Sperre gekommen wäre. Aber der alte Mann stieg mit quälender Langsamkeit auf den Bahnsteig hinunter. Hinter dem alten Mann und seiner Tochter war das Gesicht des Mannes zu sehen, der den Bahnsteig fegte. Los, mach schon, mach schon … Liu war vor innerer Anspannung einer Explosion nahe. Er mußte etwas unternehmen. Während der alte Mann am Arm der Frau davonschlurfte, stieg Liu aus dem Waggon. Ihm war fast übel geworden von Fengs heißem Atem, der ihm in den Nacken gefahren war, während sie gewartet hatten. Der Mann mit dem Besen fegte mit ständig zunehmendem Eifer. Der Bahnpolizist stand nun ein Stück weiter den Bahnsteig hinunter und unterhielt sich mit einem anderen Polizisten. Beide Koffer in einer Hand, in seiner Linken, hastete Feng neben Liu her. Sie gingen an den zwei Polizisten vorbei. Liu spürte, wie sie ihnen folgten. Vielleicht – nein, ohne Zweifel hatte auch der Mann mit dem Besen etwas mit der Sache zu tun. Liu be schleunigte seine Schritte etwas, drängte sich mit Feng unter die hintersten Reisenden der vor der Absperrung angestauten Menge. Mit den Ellbogen arbeitete Liu sich durch sie hindurch. Feng blieb an seiner Seite. Das Adrenalin in Lius Adern ver 101
dichtete sich, wartete darauf, seine Bestimmung zu erfüllen. Der Bahnsteig stieg zur Sperre hin leicht an. Dahinter, über die Köpfe von wartenden Verwandten und Freunden hinweg, erblickte Liu kurz den prächtigen Bahnhofsplatz, der mit sei nen grünen Pflanzen, den Statuen und dem Springbrunnen an einen Park erinnerte. In dieser Sekunde erschien ihm die Frei heit, die er für ihn darstellte, in unerreichbare Ferne gerückt. Eher würde er zu einem wartenden Polizeiauto abgeführt wer den. Er sah das Mädchen nicht, das sich mit ihm treffen sollte. Und bevor dies nicht der Fall war, konnte er nichts unterneh men. Sie mußte sehen, was er tat und wohin er ging. Und sie durfte sich keine Fehler erlauben. Wenn sie ihn aus den Augen verlor oder nicht über die genügende Erfahrung in solchen Dingen verfügte, wenn sie in Panik geriet, dann war er verlo ren. Dann würde er mutterseelenallein in einer Stadt mit einer Flächenausdehnung von mehr als fünftausend Quadratkilome tern und mit elf Millionen Menschen herumlaufen. Das Mäd chen mußte ihn sehen und begreifen … Er spürte Fengs rechte Hand in seinem Rücken – hart, als würde er ihn mit der Fingerspitze stoßen. Eine Pistole. Wie auf ein Zeichen hin kamen zwei, drei Bahnpolizisten von der Sper re auf Liu zu. Er war neben Feng stehengeblieben. Der Lauf der Pistole drückte gegen seine Wirbelsäule. Er konnte sich den Schaden und den Schmerz, den die Neun-Millimeter-Pistole des Hauptmanns verursachen würde, mit beunruhigender Klar heit vorstellen. Die Menge um sie herum entfernte sich, er reichte die Polizisten. Feng war zu nahe – es wäre ganz einfach gewesen … Das Mädchen, das Mädchen … Vielleicht dreißig Meter von ihm entfernt, arbeitete sich der vorderste Polizist, wie ein Schwimmer mit den Armen rudernd, durch die Menge. Der Bahnpolizist und der Mann mit dem Besen näherten sich wahrscheinlich oder versperrten ihm nur den Rücken. Seine Augen suchten verzweifelt nach dem Ge 102
sicht des Mädchens. Es war unmöglich gewesen, mit ihr aus zumachen, etwas Bestimmtes, Auffälliges zu tragen. Es blieb nichts als … Mit der Volkszeitung zu winken, und da war sie, ihr dünner Arm hoch oben. Nein, nein, eine andere Frau, eine ältere, die ebenfalls winkte und dann jemanden umarmte. Sein Mut sank wieder. Jetzt noch zwanzig Meter. »Machen Sie keine Dummheiten!« zischte ihn Feng an, sein Alkoholatem heiß an Lius Wange. Der Hauptmann nahm gera de die perfekte, zu nahe Stellung ein, in der man ihn leicht aus dem Gleichgewicht bringen konnte – wo war das Mädchen? Sie hatte Angst zu winken – wegen der Polizei. Sie hatte ihn bereits aufgegeben … Feng trat etwas zurück. Vielleicht entfernte er sich jetzt zu weit von ihm. Der nächste Polizist war noch etwa zehn Meter entfernt, ein zweiter dicht hinter ihm. Und dann der dünne Arm, die Zeitung, ein zweimaliges Winken, rasch und verstoh len – eine winzige, gefährliche, verschämte Geste. Verwirrung und fast etwas wie Panik in ihrem Gesicht. Feng war immer noch etwas zu nahe, leicht aus dem Gleichgewicht … Liu wirbelte herum. Seine Hände packten den Lauf der Pisto le und rissen ihn nach oben. Er spürte die Erschütterung des ersten Schusses und die plötzliche Hitzeentwicklung an seinen Händen. Der Knall war laut und ohrenbetäubend. Fengs über raschter Gesichtsausdruck verwandelte sich fast sofort in Wut. Die Wirkung des Alkohols war mit einem Schlag verflogen. Liu rammte Feng sein Knie in den Unterleib, entriß ihm die Pistole und stieß ihn mit dem Fuß zur Seite. Eine Hand klammerte sich an seine Jacke, er hörte Schreie. Der Bahnsteigkehrer hob seinen Besen wie eine Lanze. Die zwei Polizisten in seiner Nähe fingen zu laufen an, als wären ihre Stiefel mit Blei beschwert. Er stieß mit der Schulter eine zierliche Gestalt zur Seite und sprang dann auf das leere Gleis an der anderen Seite des Bahnsteigs hinunter. Liu stolperte 103
leicht und begann loszurennen. Pfiffe und Schreie. Das brennende Gefühl in seiner rechten Hand ließ nach, und er steckte die Pistole in seinen Gürtel. Der kleine Koffer schlug gegen Knie und Schenkel. Er hob ihn auf den gegenüberliegenden, leeren Bahnsteig und schwang sich mit der Leichtigkeit eines Turners ebenfalls hinauf. Er packte den Koffer wieder. Gepäckträger starrten ihn an und zogen sich zurück. In der Ferne fing ein Bahnpolizist zu laufen an. Die ersten Verfolger kamen ihm auf dem Gleis nach. Feng lag immer noch an der Stelle, wo Liu ihn umgestoßen hatte. Das Stampfen einer anderen Lokomotive erstickte die Pfiffe und Rufe. Er überquerte den Bahnsteig und sprang neuerlich. Die Lokomotive war direkt vor ihm, und er konnte das er schreckte Gesicht des Lokführers erkennen. Die Bremsen quietschten lauter. Er schwang sich auf den gegenüberliegen den Bahnsteig, um sich dann in der Dampfwolke, die aus der Lok quoll, zu erheben. Die langsam zum Stillstand kommenden Waggons verdeckten ihn nun. Ein stehender Zug, leer. Er öffnete die Tür eines Abteils, durchquerte es und stieg auf der anderen Seite wieder auf die Gleise hinunter. Ein weiterer Bahnsteig, diesmal mit ein paar Reisenden, die auf einen Nahverkehrszug warteten. Keine Polizei. Er versuch te so auf den Bahnsteig zu klettern, als hätte das irgend etwas mit der Ausübung seines Berufs zu tun, und stieg dann in einen anderen stehenden Waggon. Der Zug füllte sich langsam. Er öffnete die Waggontür auf der anderen Seite, griff nach dem Türgriff eines eben auf dem Parallelgleis eingefahrenen Wag gons, öffnete die Tür und schwang sich hinüber. Ein Mann sah ihn überrascht an, aber Liu schenkte ihm keine weitere Beach tung. Liu mischte sich unter die Reisenden, die diesen Zug verlie ßen, und strebte in ihrem Schutz auf die Sperre zu. An der Sperre keine Polizisten – doch, ein Polizist, die Hände 104
um seinen Uniformgürtel gelegt. Sich in der Würde seines Amtes sonnend, sah er, durch die Pfiffe alarmiert, die Sperre hinunter. Liu passierte die Sperre. Zum Glück waren, wie auch in seinem Zug, die Fahrkarten bereits kurz vor der Ankunft eingesammelt worden. Und dann kam das Mädchen auf ihn zugelaufen. Zierlich, klein, hübsch, mit wachen Augen, drängte sie sich durch die Menge. Sie verstand ihr Geschäft. Da sie aufmerksam die an ihr vorbeiströmenden Gesichter studierte, als suchte sie nach einem verlorenen Kind, stieß sie mit Liu zusammen. Ihre Mie ne spiegelte gleichzeitig Überraschung und Erleichterung wider. Liu fühlte sich schwach und umarmte sie erleichtert. »Schnell«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während sie seine Umar mung erwiderte. Voller Dankbarkeit eilte Liu durch den künstlichen Garten der Bahnhofshalle mit dem Zierbrunnen, den Drachenstatuen, den grünen Büschen und Farnen auf den Ausgang und die Bushaltestelle zu. Das Mädchen hatte ihm seine Hand auf den Unterarm gelegt, als führte es einen Blinden. Das letzte Adre nalin in Lius Adern war verpufft, und er fühlte sich völlig ausgelaugt. Seine Hand zitterte, als er die Tür des Ausgangs aufstieß und in die Mittagssonne hinaustrat. Die Mittagskanone von Hong Kong. Aubrey war zu weit ent fernt, um die kleine Rauchwolke aufsteigen zu sehen, aber das Knallen des Schusses drang wie ein geflüsterter Schrei in das Haus in der Peak Road hinauf, wo es sich frech in dem Schweigen zwischen Aubrey und Hyde aufpflanzte. Hyde war in trübseliger Stimmung. Offensichtlich paßte es dem Australier nicht, sich auf der Terrasse des Hauses aufzu halten, obwohl ihm sowohl Aubrey wie Godwin versichert hatten, daß sich ihre Beobachter entfernt hätten. Vermutlich waren sie wegen Petrunins Ankunft ins Hauptquartier zurück beordert worden. 105
Petrunin … Dieser Mann bereitete Hyde offensichtlich Un behagen. Inzwischen war ein Wind aufgekommen. Wolken drängten sich wie grauer Teig zwischen die Hügel. Ein Zyklon wäre im Anmarsch, hatte Godwin gesagt. Die Sonne war verschwun den, als hätte sie nie existiert. »Hyde, was ist los?« Der Australier hatte Aubreys letzte Fra ge noch nicht beantwortet. »Was?« Hyde sah plötzlich auf. Tamas Petrunin ging ihm nicht aus dem Kopf. Vor achtzehn Monaten hätte ihn dieser Mann fast getötet. Und nun war er hier, in Hong Kong, und er war sicher bereits darüber informiert, daß sich auch Hyde hier aufhielt. Hyde konnte nur mit Mühe einen Schauer unterdrük ken. »Was haben Sie denn?« wiederholte Aubrey, nicht unfreund lich, seine Frage. »Ach, nichts.« »Petrunin?« Hydes linke Schulter begann von der Erinnerung an eine Wunde zu schmerzen. »Nein«, log er. »Sie kennen ihn?« fragte Godwin überrascht. Er hielt die neuen, noch nicht ganz trockenen Fotos von Petrunin in der Hand, die am selben Morgen auf dem Flughafen aufgenommen worden waren. Er schien sie Hyde anbieten zu wollen, der sich jedoch abwandte. »Ganz flüchtig«, murmelte er. »Er war ehemals KGB-Rezident in London«, erklärte Au brey. »Er wurde von dort abberufen, aber erstaunlicherweise befördert. Ein schlauer Fuchs. Er soll inzwischen die Sechste Abteilung des Ersten Hauptdirektoriums leiten.« »China also«, warf Godwin ein. Hyde wandte sich den beiden zu. »Mit einemmal hat diese Geschichte ganz schön Gewicht bekommen, oder etwa nicht?« Seine Augen schienen Aubrey vorwurfsvoll an seine Indiskre 106
tion zu erinnern. »Das hat sie allerdings«, erwiderte Aubrey gelassen. »Und vor allem aufgrund dessen, was der KGB erst kürzlich in Er fahrung gebracht hat.« Das war schon fast eine Entschuldi gung. »Na gut«, brummte Hyde. Er gewöhnte sich allmählich an die Vorstellung, Petrunin in nächster Nähe zu haben. »Ist ja schon gut.« »Das bedeutet, daß Wei hier nicht mehr sicher ist«, bemerkte Aubrey. »Irgendwelche Vorschläge?« »Wir brauchen Verstärkung«, entgegnete Hyde, die Hände in den Hosentaschen, das Haar vom Wind zerzaust. »Wir könnten doch ein paar Leute vom Government House auslernen – Polizei?« »Jawohl, Mr. Aubrey.« »Mhm.« »Warum schaffen wir ihn nicht ins Hauptquartier der Polizei oder gleich ins Victoria-Gefängnis?« schlug Godwin vor. »Dort wäre er bestimmt sicher.« »Aber das könnte den Fortgang meines Verhörs hemmen, junger Mann.« Aubrey rieb sich die Schläfen. Der Wind ließ ihm seine wenigen grauen Haare wie Hörner vom Kopf abste hen. »Hyde?« Hyde trat gegen einen Stein, so daß er über die Terrasse schlitterte. Dann sah er herausfordernd zu Aubrey auf. »Die Sache ist verdammt wichtig. Sie wissen, wer Wei ist und was er uns anzubieten hat.« Aubreys Wangen nahmen für einen Augenblick eine dunklere Tönung an, und er legte die Stirn in Falten, was Hyde jedoch ignorierte. »Wenn sie plötz lich so stark an Wei interessiert sind, werden sie vielleicht auch etwas unternehmen, um Zimmermann zu schützen.« Aubreys Miene drückte Zweifel aus. »Und?« »Falls Sie an weiteren Beweisen interessiert sind, dann finden Sie heraus, wie versessen sie drauf sind, Wei in ihre Hände zu 107
bekommen.« »Und wie stellen Sie sich das vor?« »Ganz einfach. Sie brauchen nur mal zu telefonieren. Teilen Sie dem Hauptquartier der Polizei mit, daß Sie gern einen besonderen Gefangenen dort unterbringen würden. Der Mann würde noch heute abend abgeliefert werden. Der KGB hat mehr Leute eingeflogen – Godwins Fotos stellen das völlig außer Zweifel. Petrunin ist nicht allein gekommen – und das könnte doch gerade die Gelegenheit sein, auf die sie gewartet haben.« »Sie meinen also, eine Falle?« »Sogar eine, die in beiden Richtungen funktioniert. Schmug geln Sie Wei ins Gefängnis, aber tun Sie so, als würden Sie ihn heute abend dorthin bringen – sozusagen in Technicolor. Ein Ablenkungsmanöver. Versuchen Sie herauszufinden, wie sehr sie an Wei interessiert sind, und das könnte Ihnen ja auch zu einigen Aufschlüssen hinsichtlich Ihres deutschen Freundes verhelfen.« »Per Telefon?« »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß wir nicht schon längst angezapft worden sind?« »Das stimmt allerdings.« Godwin schnitt ein Gesicht, als hät te man ihn eines groben Fehlers angeklagt. »Ein Ablenkungs manöver also? Sie?« Hyde nickte. »Ich.« »Würden Sie diese Aufgabe wirklich übernehmen?« »Dafür werde ich schließlich bezahlt.« »Na gut.« Der Wind pfiff inzwischen über die Terrasse. »Wie steht’s mit dem Wetter?« wandte Aubrey sich an Godwin. »Dieser Zyklon ist ziemlich weit auf dem Meer draußen. Es wird schon klappen.« »Gehen wir nach drinnen. Es gibt noch einige Einzelheiten zu besprechen.« 108
Hyde trat zur Ummauerung der Terrasse und beugte sich dar über. Sein Hemd flatterte im Wind. Aubrey erschien der Au stralier verletzlich, klein, schwächlich. Es war ein neuer und ungewöhnlicher Aspekt dieses Mannes. Hyde drehte sich um. »Der Wagen ist wieder zurück.« »Was soll …?« Hyde schüttelte den Kopf. »Sie sitzen noch drin. Eben ange kommen. Die Jungs zeigen wirklich Interesse, oder nicht?« Das Mädchen schwieg, während sie in einem Oberleitungsbus durch das Zentrums Shanghais in Richtung Bund fuhren. Als der Bus schließlich gegenüber dem kleinen Huangpu-Park hielt, berührte das Mädchen Liu nur kurz am Arm. Mit ihnen stieg nur noch eine alte Frau aus. Zwischen anderen Bussen, motorisierten Rikschas und Autos hindurch führte ihn das Mädchen über die Straße. Als sie den Park betraten, überkam Liu ein flüchtiges Gefühl der Ruhe und Geborgenheit, obwohl es hier aufgrund der Mittagszeit von Menschen wimmelte. Der unaufhörliche Lärm der Stadt war gedämpft, die unermeßlichen Menschenmassen traten weniger massiert in Erscheinung. Die Bewegungen waren langsamer. Die Bäume neigten sich über kleine Gruppen, die wie in Zeit lupe die sanfte Selbstverteidigungskunst des tai ji chuan prak tizierten – darüber hinaus auch eine Verdauungshilfe. Hände, die sich bewegten wie in einer Pantomime – gemimte Gewalt tätigkeit. Die harmlosen Bilder von Angriff, Festhalten, Ver nichtung amüsierten Liu. Auch Europäer und Amerikaner nahmen an diesen Übungen teil – Geschäftsleute, Diplomaten, Touristen. »Dort ist er.« Das Mädchen neigte sich. Vor dem Hintergrund des Flusses und den modernen Büround Wohnbauten, den Dschunken, Sampans, Großfrachtern, Ladebäumen und Kränen hob sich ein großgewachsener Mann ab, der nur Amerikaner sein konnte – grauer Anzug, blaues 109
Hemd, breite Krawatte, gepflegtes Erscheinungsbild. Mehr als einen Kopf größer als die Chinesen um ihn herum, machte auch er die Übungen mit. Der Schmetterlingsflügel eines Dschunkensegels schwebte gerade gemächlich hinter ihm vorbei. Frederickson, der CIA-Beamte, an den er sich in Shanghai wenden sollte. Liu sah von dem Mann wieder zu dem Mädchen an seiner Seite. »Vielen Dank.« »Verstehen Sie etwas von tai ji chuan?« fragte sie. »Ja.« »Dann gesellen Sie sich zu ihm.« Liu kam sich vor wie eine Marionette, wie ein abgeliefertes Paket. Er wurde nicht nach seinen Bedürfnissen gefragt. Auch er hatte dem Mädchen nichts zu sagen. Sie hatte keinerlei Intimität zugelassen, hatte nur ihre Funktion als Kurier erfüllt. »In Ordnung.« Liu überquerte die Rasenfläche. Er stellte möglichst unauffällig seinen Koffer ab und trat neben Frede rickson, der ihn scheinbar bis dahin noch nicht erblickt hatte. Liu hob seine Hände, die Handflächen nach außen gekehrt, neigte sich kaum merklich nach vorn und dann zur Seite, beug te die Knie, machte einen behutsamen Ausfallschritt und be wegte die Hände langsam durch die Luft. Niemandem war seine Ankunft aufgefallen. »Willkommen«, sprach Frederickson ihn an. »Schön, daß Sie es geschafft haben. Hat es Probleme gegeben?« Der Amerika ner sah zu dem Mädchen hinüber, das auf einer der Bänke Platz genommen hatte und die mitgebrachte Zeitung las. »Einige.« »Ja?« »Ein Hauptmann im Zug hat Verdacht geschöpft.« Seine Verhaftung unmittelbar nach seiner Ankunft in China erwähnte Liu gar nicht. Dieses Ereignis schien bereits in zu weite Ferne gerückt zu sein. »Er hat die Bahnpolizei verständigt. Sie haben mich hier bereits erwartet …« Fredericksons Bewegungen 110
schienen an Intensität zuzunehmen, während er weiter sein Schattengefecht mit der heißen Luft des Parks führte. Er er weckte den Eindruck, als würde er plötzlich nach einem realen Gegner stoßen und treten. »Und was ist dann passiert?« fuhr er Liu an. »Ich bin ihnen entkommen – mit Hilfe des Mädchens. Sie haben mich nicht verfolgt, falls Sie sich deswegen Sorgen machen sollten.« »Schon gut. Ihre Papiere haben Sie jedenfalls noch, oder?« »Der Hauptmann kennt meine Tarnung.« »Dann nehmen Sie jetzt Ihre zweiten Papiere. Ich werde Ih nen die nötigen Informationen für Ihre neue Tarnung besorgen. Inzwischen …« Frederickson sah sich vorsichtig um. Die Heftigkeit seiner Bewegungen hatte wieder nachgelassen. »Inzwischen können wir ja gleich einmal zur Sache kommen – Ihre Anweisungen.« »Tatsächlich?« Liu zeichnete mit seinen Händen grazile Mu ster in die Luft. »Ich habe mich schon gewundert, wozu Sie mich eigentlich brauchen.« Diese Bemerkung wäre, mußte er sich eingestehen, nicht nötig gewesen. Aber sie erschien ihm dennoch irgendwie berechtigt. Frederickson grinste. Um seine blaßblauen Augen bildeten sich Lachfalten. Das Grinsen war zwar etwas schief, aber sympathisch. »Unsere Leute hier sind zwar durchaus Profis. Aber sie sind keine ausgebildeten Agenten. Sie sind nicht darauf vorbereitet, sich um sich selbst zu kümmern. Sie sind praktisch auf ihren Arbeitsbereich beschränkt – Ministerien, Fabriken, Kommu nen. Sie übernehmen mehr oder weniger die Funktion von Monitoren, mehr nicht. Und ich kann nichts tun, was irgendwie Verdacht erregen könnte. Dafür falle ich zu sehr auf, verstehen Sie?« Wieder dieses schiefe, aber charmante Grinsen, das Liu sichtlich entwaffnete. »Wenn sie schon keine Bewegungsfrei heit haben, dann gilt das für mich noch viel mehr. Und darin ist 111
nun Ihre Aufgabe zu sehen.« »Und was soll ich machen?« »Meine Leute denken, ein Krankenpfleger im Fast China Hospital weiß etwas über unseren deutschen Freund. Und der Mann dürfte einem kleinen Bestechungsversuch gegenüber nicht unaufgeschlossen sein. Meine Leute haben bis jetzt nichts unternommen. Das ist Ihre Aufgabe.« »Ihre Leute scheinen mehr zu denken als zu wissen«, be merkte Liu. »Leider, ja. Uns blieb so wenig Zeit. Langley und Buckholz wollten in so kurzer Zeit so viel wissen. Aber immerhin habe ich einen Krankenpfleger für Sie, der im Fast China Hospital gearbeitet hat, als auch Zimmermann dort war. Alles Weitere ist nun Ihre Sache. Ich kann mich nicht mit ihm in Verbindung setzen. Mit einem Mann aus dem Westen würde er außerdem gar nicht sprechen – zumindest nicht, wenn er meine Hautfarbe hätte.« In einer Art, die man fast als mißbilligend hätte deuten können, sah Frederickson auf Lius zierliche Gestalt herab. Liu spürte, wie sein Gegenüber ihn abzuschätzen versuchte. »Sie werden es schaffen«, sagte Frederickson schließlich. »Wann?« »Heute nacht. Sie werden um neun Uhr im Sauber und Schmackhaft-Restaurant in der Nähe des Fu-xing-Parks zu Abend essen. Der Tisch ist auf Ihre zweite Tarnung reserviert. Wenn Sie gegessen haben, wird Sie das Mädchen dann von dort abholen.« »Wo werde ich wohnen?« »Im Shanghai Mansions. Ihr Zimmer dort ist auf dieselbe Tarnung reserviert.« »In Ordnung.« Frederickson hielt in seinen fließenden Bewegungen inne. »Die Sache ist sehr dringend. Sehen Sie also zu, daß Sie die Informationen erhalten, die Buckholz haben will. Hier in Shanghai dürfte das im übrigen noch um einiges einfacher sein 112
als in Wu Han. Unsere Kontakte in der Provinz sind sehr dünn gesät, verstehen Sie?« »Ja. Und wenn ich heute nacht etwas in Erfahrung bringen sollte?« »Dann dürften Sie wirklich ein Glückspilz sein.« Frederick son grinste. »Das Mädchen wird Ihnen sagen, wie Sie mich erreichen.« Frederickson rückte seine Jacke zurecht und ging davon. Er winkte einem Jogger in knalligen Shorts und einem University of Minnesota-Sweatshirt zu, der sich durch die schattenboxen den Chinesen schlängelte. Fredericksons Deckung, wie Liu vermutete. Liu griff nach seinem Koffer. Das Mädchen war bereits von der Bank verschwunden. Selbst nach dem Glas pijui-Bier und dem grünen Tee, den er nach dem Essen getrunken hatte, konnte Liu noch die Gewürze und den Pimento schmecken, die in der Si chuan-Küche des Sauber und Schmackhaft-Restaurants ausgiebig verwendet wurden. Er fühlte sich angespannt, aber zumindest hatte er die Situation nun wieder unter Kontrolle. Im Shanghai Mansions hatte man seine Papiere und seine Zimmerreservierung akzep tiert, ohne auch nur im geringsten Verdacht zu schöpfen. Er war inzwischen zu einem Bahninspektor geworden. Das hatte zur Folge, daß man ihm mit unaufdringlicher, wenn auch durchaus spürbarer Höflichkeit entgegenkam und ihm ein größeres Zimmer zuteilte, als er erwartet hatte. Er hatte ein wenig geschlafen und sich erholt. Auch den Ecktisch in dem Restaurant, an dem er alleine saß, hatte er seinen Papieren zu verdanken. Als wäre das Abwischen seiner Lippen an der Serviette das Stichwort für das Erscheinen der jungen Chinesin gewesen, betrat sie das Restaurant. Ihre Frisur wirkte nun etwas westli cher, und über einer schwarzen Seidenhose trug sie eine leuch 113
tend rote Jacke. Nicht wenige Köpfe drehten sich nach ihr um, und der Blick des Kellners gab deutlich zu verstehen, daß bei einem Parteifunktionär solch eine Begleiterin durchaus zu erwarten gewesen war. Liu forderte sie auf, Platz zu nehmen, wie es von ihm erwartet wurde, worauf sie jedoch freundlich erklärte, sie hätte noch etwas anderes vor. Liu beglich die Rechnung und verließ mit ihr das Restaurant. »Wohin gehen wir jetzt?« fragte er draußen auf der Straße. Er bot ihr den Arm, damit sie sich einhängen konnte. Die dicht belaubten, wuchtigen Bäume des Fu-xing-Parks ragten in den Sternenhimmel empor. Aus dem kleinen Zoo im Innern des Parks drang das ferne Gezeter der Affen herüber. Auf der Straße tuckerten motorisierte Rikschas vorüber. Das warme Licht der Straßenlaternen, Autos, Fahrräder … Die Stadt strahl te so etwas wie Behaglichkeit aus. Liu fühlte sich auf seltsame Weise zu Hause, anonym, sicher. »Es ist in der Altstadt.« »Und wie kommen wir dorthin?« »Mit dem Fahrrad natürlich.« Das Mädchen lächelte. Sie deu tete auf zwei Fahrräder, die in dem Ständer vor dem Restaurant standen. »Das Ihre hat ein Freund gebracht. Können wir los?« Sie schien ihn zu necken. »Wie soll ich Sie nennen?« »Liang – das wird genügen.« »Sehr gut. Fahren wir.« Liu stieg auf und folgte dem Mädchen zur Kreuzung mit der Fu-xing-Straße. Hier gab es mehr Lichter, und der Verkehr war dichter. Eine altmodische Stadt, geschäftig, überfüllt, laut. Schließlich überquerten sie die Zhonghua-Straße, die sich kreisförmig um die Altstadt legt. Liang führte ihn durch das Gewirr aus verwinkelten, engen, schwach erleuchteten Straßen, unter den überhängenden Obergeschossen reich mit Schnitze reien verzierter Holzhäuser hindurch, vorbei an Reihen von weiß getünchten, schilfgedeckten Hütten. Sie bogen einmal 114
hier ab, einmal da, und Liu erkannte bald, daß er aus diesem Labyrinth ohne Liangs Hilfe nie herausfinden würde. Das Viertel war kein verkommener Slum, es wirkte eher heiter, fast antiseptisch sauber, sogar fröhlich. In der Nähe der Yu-Gärten verlangsamte das Mädchen seine Fahrt und hielt vor einem noch geöffneten Laden, in dem Schnitzereien, Lampen und Vögel zum Verkauf angeboten wurden. Fische schwammen in großen Behältern zwischen Wasserpflanzen und Farnen und Luftblasen hindurch. Liang deutete nach vorn, auf eine niedrige weiße Hütte mit einem Schilfdach. »Da«, sagte sie. »Er ist jetzt sicher zu Hause.« »Kommen Sie auch mit?« »Wenn Sie wollen.« Sie gingen zur Tür der winzigen Hütte. Das Mädchen klopfte. Fast auf der Stelle, als hätte er bereits hinter der Tür auf dieses Zeichen gewartet, öffnete ihnen ein junger Mann mit lebhaften, wachsamen Augen und winkte sie in das Haus. Sie schoben ihre Fahrräder in den schmalen Gang. Das Haus war von einem leichten Räucherstäbchenduft erfüllt. »Bitte, kommen Sie doch herein, bitte.« Hinter diesen Höf lichkeiten war eine rasche, die Besucher abschätzende Intelli genz unverkennbar. »Willkommen in meinem Heim.« Der junge Mann winkte sie durch eine Tür, die er ihnen auf hielt. Der Geruch von etwas anderem als Räucherstäbchen. Der junge Mann war bestechlich. Opium. Der Geruch von Shang hais Vergangenheit, dem früheren Reichtum der Stadt. Die Räucherstäbchen sollten lediglich den Geruch des Opiums überdecken. Die alten Männer in Lius Kindheit hatten es ge raucht, der Geruch war überall gewesen. In Amerika bedienten sich die jungen Chinesen einer Nadel. Hier wurden noch die alten Traditionen am Leben erhalten. Der Geruch half die lebhaften Augen erklären, die prüfenden Blicke. Der Mann frönte einem Laster, das nicht nur teuer, sondern auch mit 115
einigen Mühen verbunden war. Der Partei mißfiel die Opium sucht. Sie hatte es lieber, wenn die Menschen von ihr abhängig waren, von ihren Propagandasprüchen. In dem Krankenhaus, in dem er arbeitete, hatte der junge Chinese sicher eine recht brauchbare Bezugsquelle, aber möglicherweise war er etwas gierig. Vielleicht log er auch, und dann … Der junge Mann deutete auf ein paar Kissen, die am geboh nerten Holzboden lagen. Eine Frau brachte Tee, verneigte sich und verließ den Raum wieder. Liang schien die altmodische, unterwürfige Höflichkeit der Frau zu mißfallen. Liu trank erst von dem angebotenen Tee, bevor er zu sprechen begann. »Man hat mir angedeutet«, sagte er leichthin, »daß Sie mir vielleicht helfen könnten.« »Schon möglich. Ich heiße übrigens Xu Bin.« »Mein Name ist hier unwichtig«, erwiderte Liu. »Sie arbeiten also im Hast China Hospital als Krankenpfleger? Ist das rich tig?« »Ja.« »Also gut, Bin. Sie hatten dort einen Besucher – einen Pati enten –, der vielleicht etwas unerwartet ins Krankenhaus einge liefert wurde. Stimmt das?« »Oh, wir haben viele Patienten.« »Natürlich. Aber dieser Mann war kein Chinese.« »Wir haben viele Leute aus dem Westen.« »Auch Deutsche?« Bin seufzte. »Ach so. Bedeutende Deutsche vielleicht nicht.« Seine Hände umfaßten im Sitzen seine Schienbeine. Sie zitter ten leicht. »Sie möchten also etwas über diesen Mann wissen?« »Ja.« »Sind Sie bereit …?« »Warum wollten Sie nicht mit dem Amerikaner sprechen? Ich bin ebenfalls Amerikaner, wenn auch kein Weißer. Was soll das für einen Unterschied machen?« 116
»Ich möchte nicht … Riechen Sie etwas?« »Ja.« Bin warf Liang einen finsteren Blick zu. »Das hier mache ich vielleicht – für Geld natürlich. Aber ich möchte mich diesen Leuten auf keinen Fall verpflichten. Sie würden mir unter Umständen Stoff anbieten, und ich könnte natürlich nicht widerstehen, und dann hätten sie mich fest in der Hand. Sie brauchten mir nur den Nachschub zu sperren, und ich wäre geliefert. Aber so, mit Ihnen und gegen Bezahlung, haben sie nichts gegen mich in Händen.« »Sie haben es unter diesen Umständen sicher nicht gerade leicht mit Ihrer Sucht, oder?« »Ich habe sie geerbt. Vielleicht ist sie tatsächlich genetisch bedingt. Meine Familie ist schon seit Generationen süchtig. Einmal dachte ich, daß ich davon losgekommen wäre. Aber ich hatte mich getäuscht. Ich schlage mich eben so recht und schlecht durch. Aber ein bißchen mehr Geld kann ich immer brauchen.« Liangs Gesicht verzog sich verächtlich, aber sie sagte nichts. »Wieviel wollen Sie?« fragte Liu. »Hundert Dollar.« »Das ist unmöglich.« »Dann fragen Sie mich doch etwas. Ich werde Ihnen ein paar Informationen geben, damit Sie sehen, daß ich auch wirklich etwas über die Sache weiß.« »Dieser Deutsche – wie hieß er?« »Zimmermann.« Obwohl der Chinese sichtlich Schwierigkei ten mit der Aussprache des deutschen Namens hatte, verstand ihn Liu doch ganz eindeutig. »Könnten Sie mir den Mann vielleicht etwas näher beschrei ben?« Das tat Bin. »Gut. Sie haben ihn also gesehen?« »Ja, sogar mehrmals.« »Woran war er erkrankt?« »Er hatte eine Lebensmittelvergiftung.« 117
»Wer hat ihn besucht?« »Wieviel habe ich bis jetzt verdient?« »Fünf Dollar.« »Mindestens zehn.« »Sieben.« »Also gut. Er hatte viele Besucher.« »Alles Chinesen oder auch Europäer oder Amerikaner?« »Beides.« »Wann arbeiten Sie immer?« »Nachtschicht.« »Hatte er auch nachts Besuch?« »Eine ganze Menge. Wieviel habe ich jetzt verdient?« »Zwanzig Dollar.« Bin nickte. Liu stellte fest, daß der Opiumgeruch durch den Duft der Räucherstäbchen verschluckt worden war. Bin schien sein Fehlen ebenfalls zu bemerken – und zu bedauern. »Das ist gut.« »Er bekam also auch nachts Besuch«, half ihm Liu nach. »Wer war bei ihm?« »Polizei.« Liu gab sich Mühe, sich seine plötzliche Erregung nicht an merken zu lassen. »Polizei? Chinesische Polizei? Das soll wohl ein Witz sein?« »Das ist kein Witz«, protestierte Bin, inzwischen fest ent schlossen, die Anhäufung von Dollars zu beschleunigen. »Chi nesische Polizei. Ich kenne diese Kerle, ihr Auftreten, ihr großspuriges Gehabe. Und Ärzte …« »Natürlich haben ihn in einem Krankenhaus Ärzte …« »Sie waren nicht aus unserem Krankenhaus. Sie wurden ei gens hingebracht.« »Warum?« »Sie haben ihm Drogen verabreicht.« »Was für Drogen?« »Ich nehme an, sie sollten ihn dazu bringen, ihre Fragen zu 118
beantworten. Solche Drogen gibt es doch.« »Sind Sie sich dessen sicher?« »Wieviel habe ich jetzt verdient?« »Fünfzig Dollar«, zischte Liu ungeduldig. »Gut. Ja, ich bin mir absolut sicher. Ich habe es selbst gese hen. Jede Nacht und die ganze Nacht durch. Unsere Ärzte und Schwestern wurden nicht in sein Zimmer gelassen, und sie dürfen auch nicht darüber sprechen. Man stellte ihm die ganze Nacht hindurch Fragen.« »Ich verstehe …« »Habe ich mir jetzt meine hundert Dollar verdient?« »Vielleicht siebzig. Sie können sich jedoch noch die restli chen dreißig verdienen und sogar weitere hundert – aber erst morgen.« Bins Gesichtsausdruck wandelte sich von Enttäuschung über Mißtrauen zu Habgier. »Was wollen Sie dafür?« »Die Unterlagen, sämtliche Unterlagen, die sie im Kranken haus über Zimmermann haben. Fieberkurven, Diätplan, sämtli che medizinischen Aufzeichnungen, einschließlich der Rönt genaufnahmen, falls solche gemacht wurden.« »Das ist doch …« Liu stand auf, entschlossen und zu keinerlei Zugeständnissen bereit. »Das ist Ihre Sache. Sie haben ja gehört – insgesamt zweihundert Dollar.« Er griff in seine Brieftasche und zählte den Gegenwert von siebzig Dollar in Yuan ab. Bins Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Ich weiß ganz genau, daß US-Dollars auf dem Schwarzmarkt wesentlich mehr bringen. Morgen werde ich Ihnen für dieses Geld richtige US-Dollars geben. Insgesamt zweihundert, wenn Sie mir beschaffen, was ich will.« »Unmöglich …« »Das ist Ihre Sache«, entgegnete Liu. »Gute Nacht.« Liang folgte ihm zur Tür. Bin unternahm keinen Versuch, sie zurückzuhalten. Liu nahm an, daß er bereits die Risiken gegen 119
den möglichen Gewinn abwog. Wenn es möglich war, würde er die Unterlagen aus dem Krankenhaus beschaffen. »Glauben Sie, daß er es tun wird?« fragte Liang mit unver hohlenem Abscheu, nachdem sie ihre Fahrräder auf die Straße hinausgeschoben hatten und die Frau die Tür hinter ihnen wieder geschlossen hatte. Von plötzlicher Müdigkeit überfallen, rieb Liu sich die Au gen. »Ich glaube schon. Wir werden ja sehen.« »Sie sind müde.« »Und zufrieden. Würden Sie mich bitte zum Hotel zurück führen?« »Selbstverständlich.« Langsam fuhren sie zur Renmin-Straße, einem anderen Teil abschnitt der Ringstraße, die sich um die Altstadt herumzog. Liang deutete nach Norden, zur hell erleuchteten HenanStraße. »Biegen Sie beim Suzhou Creek nach rechts ab. Dann haben Sie das Shanghai Mansions direkt vor sich.« Liu nickte. »Fahren Sie jetzt nach Hause?« »Ja.« »Werden Sie Frederickson Meldung erstatten?« Das Mäd chen nickte. »Sagen Sie ihm, daß ich mich vermutlich über morgen mit ihm treffen möchte. Ich hoffe, mit guten Nachrich ten.« »Gute Nacht.« Liang fuhr los und war schon nach kurzem von der Menge der Radfahrer verschluckt. Als Liu die Henan-Straße hinauf fuhr, war er außerordentlich zufrieden. Das Gespräch mit Bin war aufschlußreicher gewesen, als er gehofft hatte. Vor dem Hotel verlangsamte er seine Fahrt und stellte das Fahrrad im Park ab. Der Mann hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, daß Liu sich noch einmal umwenden würde, bevor er das Hotel betrat. Er stand unter einer Straßenlaterne, an einen Wagen gelehnt. Eine Kamera hing an seinem Hals, aber er hatte anscheinend 120
nicht die Absicht, Aufnahmen zu machen. Statt dessen wandte er sich unauffällig von Liu ab und beugte sich zum Fahrer des Wagens hinab, um etwas zu ihm zu sagen. Zwei Männer also. Wagen, Kamera, zwei Männer … Liu bekam eine leichte Gänsehaut, als er in die Eingangshalle des Shanghai Mansions eilte. Offensichtlich beschattete man ihn. 4. In Gefahr Kanzler Dietrich Vogel reichte einem seiner Begleiter den Laborkittel und den weißen Schutzhelm, den er während der Besichtigung der chemischen Fabrik getragen hatte. Zimmer mann entlockten die sorgsam einstudierte Nonchalance und zuversichtliche Lockerheit, die der Kanzler ausstrahlte, ein Lächeln. Auch hier, in einem der IG-Farben-Betriebe in einer Vorstadt Frankfurts, verstand er es, wieder einmal die für ihn charakteristische liebevolle und herzliche Hochachtung vor seiner Person zu erwecken. Ein anderer Begleiter reichte Vogel seine Schildmütze und einen Regenmantel, den sich der Kanzler lose über die Schul tern warf. »Darf ich jetzt rauchen?« fragte er lächelnd. »Erst wenn wir das Gebäude verlassen haben, Herr Bundes kanzler«, wurde er nicht ohne einen leisen Unterton des Be dauerns von dem leitenden Direktor aufmerksam gemacht, der ihn durch den Betrieb geführt hatte. »Sie haben doch hoffent lich noch Zeit für eine Tasse Kaffee?« Vogel warf einen kurzen Blick auf Zimmermann, und dieser nickte. »Natürlich – mit Vergnügen«, erwiderte Vogel. »Aber wenn ich erst einmal sitze, werde ich vielleicht gar nicht mehr auf stehen wollen!« Der Direktor spürte, wie sein Lachen zuneh mend jede Künstlichkeit verlor. Vor dem Ausgang blieb der 121
Kanzler noch einmal stehen, um sich umzuwenden und den wartenden Arbeitern und Angestellten zuzuwinken. Viele von ihnen applaudierten. Die Spätnachmittagssonne schien warm, als sie ins Freie tra ten und auf das Direktionsgebäude zustrebten. Überall standen Menschen. Viele von ihnen winkten dem Kanzler zu, als er, gefolgt von einer Menschentraube aus Beratern, Helfern und Leibwächtern, über den offenen Platz schritt. Wolfgang Zimmermann erblickte den Korrespondenten der Prawda, der Anstalten machte, auf ihn zuzutreten. Mit einer Reihe anderer Journalisten stand er auf der Steintreppe vor dem Eingang zu den Direktionsbüros. Zimmermann erkannte meh rere. Einer war von der Bildzeitung, ein anderer von der Frank furter Allgemeinen. Zimmermann grüßte sie mit einem leichten Lächeln, seine Blicke jedoch immer noch auf den PrawdaKorrespondenten gerichtet. Vogel hatte dafür gesorgt, daß die sowjetische und die osteu ropäische Presse ausführlich und ungehindert über den Wahl kampf berichten konnte, so daß der Mann von der Prawda, in der Regel in Bonn stationiert, ungehindert mit den restlichen Journalisten in der Begleitung des Kanzlers reisen konnte. Den Mann an seiner Seite, über und über mit Kameras behängt, kannte Zimmermann nicht. Aber eine kurze Geste, die dieser Mann machte, kam ihm bekannt vor. Er hatte seine Hand auf den Arm des Prawda-Korrespondenten gelegt, um ihn zurück zuhalten. Zimmermann entging auch nicht, mit welcher Ein dringlichkeit dieser Mann seine Anweisungen vorbrachte. Ganz offensichtlich nahm er eine höhere Stellung als der Kor respondent ein. Zimmermann wurde instinktiv und mit absolu ter Gewißheit bewußt, daß dieser Mann kein gewöhnlicher Fotograf war. Polizei … Und sicher nicht von der deutschen Polizei. Die zwei deutschen Reporter schienen zu zögern, auf Zim mermann zuzutreten. Vielleicht war ihnen seine Zerstreutheit 122
aufgefallen. Trotz der warmen Sonne fröstelte er plötzlich, ohne dafür einen Grund nennen zu können. Der Prawda-Korrespondent stieß seinen Begleiter an. Dieser sah zu Zimmermann auf. Selbst aus der Entfernung von viel leicht dreißig Metern entging Zimmermann der dringliche Gesichtsausdruck des Mannes keineswegs – genausowenig wie der Anflug von unterdrücktem Ärger und Argwohn. Erst jetzt schien der Mann sich wieder an seine Tarnung zu erinnern. Er hob eine seiner Kameras ans Auge, so daß ihr Teleobjektiv auf Zimmermann gerichtet war. Zimmermann wandte sich ab, weigerte sich, das Spiel mitzuspielen. Warum gerade jetzt? fragte er sich. Warum interessierte sich der KGB ausgerechnet jetzt für ihn? Was wollten sie von ihm? Trotz der geduldigen Bemühungen des Ventilators über Au breys Sessel war es in dem von Lampen erleuchteten Raum heiß. Die Fenster waren geschlossen, die Läden zugezogen. Der Zyklon tobte sich zwar etwas weiter draußen auf dem Meer aus, aber etwas war davon auch noch auf den Hügeln um Hong Kong zu spüren. Als er zusammen mit Godwin die Lä den vor die Fenster des Salons geklappt hatte, war ihm der Wind wie eine körperliche Kraft erschienen, die am Haus rüttelte – ein Eindruck, der Aubrey beunruhigte. Er legte die Akte beiseite, rieb sich die Augen und sah auf seine Uhr. Zwölf Uhr vierzig. Er hatte telefonisch alles Nötige in die Wege geleitet, so daß Wei um ein Uhr früh ins VictoriaGefängnis gebracht werden konnte. Er würde mit einem Wa gen abgeholt werden. Inzwischen war jedoch dem leitenden Polizeibeamten, der am Nachmittag in das Haus in der Peak Road gekommen war, mitgeteilt worden, daß Wei in Wirklich keit unter McIntoshs Aufsicht erst dreißig Minuten nach Ab fahrt der Tarnlimousine, in der er selbst, Hyde und Godwin sitzen würden, von einem anderen Wagen abgeholt werden würde. Falls das Telefon angezapft und die Nachricht abgehört 123
worden war, würde die Limousine mit Sicherheit abgefangen werden. So argumentierte jedenfalls Hyde, und Aubrey wußte nichts dagegen vorzubringen. Aubrey mußte mit nicht unerheblichem Unbehagen zur Kenntnis nehmen, daß er es gewesen war, der eine Situation herbeigeführt hatte, durch die Hyde nun so massiv gefährdet war. Dies war auch der Grund, weshalb er so nachhaltig darauf bestand, im selben Wagen mit Hyde und Godwin zu fahren, sich in Gefahr zu begeben. Ein Wiedergutmachungsversuch. Heulend rüttelte der Sturm an den Fensterläden. Sein Toben überdeckte fast den Kassettenrekorder, auf dem Hyde leise Jazzpianomusik hatte spielen lassen, bevor er nach oben ge gangen war, um sich seine Haut zu färben und in Wei zu ver wandeln. Obwohl er Jazz nicht mochte, schaltete Aubrey aus einer Art abergläubischem Gefühl heraus die Musik nicht ab. Ungeduldig wartete er auf die Ankunft der ZimmermannAkten aus London. Buckholz’ Verhör hatte er immer und immer wieder gelesen, und die aus London mitgebrachten Akten über die Nachkriegslaufbahn des Deutschen, die nun auf seinem Schoß lagen, erschienen ihm zunehmend belanglos. Frustriert ballte Aubrey die Hände. Nur der genaue Wortlaut seines eigenen Verhörs des jungen Abwehroffiziers aus dem Jahr 1940 würde ihm letztlich weiterhelfen. Nur dadurch würde er sich ein Bild von Zimmermann machen können. Und dann würden sich auch die Akte von 1945, Wei, die allgemeine Nachkriegsakte, Lius Reise und das Berlin-Abkommen in einem anderen Licht darstellen. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Nichts als Illu sionen, redete er sich ein. Mühsam stand er auf. Er bereute bereits seinen Entschluß, Hyde und Godwin im Wagen zu begleiten, aber nun konnte er keinen Rückzieher mehr machen. Er sah zu der Treppe hinüber, die vom Salon nach oben führte. Wei. Zwölf Uhr fünfundvierzig. Vielleicht … Er stieg zu Weis Zimmer hinauf. Beim Eintreten stach ihm 124
als erstes Weis süffisantes Lächeln in die Augen. Und dann Weis Ebenbild, als sich ihm ein zweites gelbes Gesicht zu wandte – Hyde, bekleidet mit dem gleichen bunten Hemd und der gleichen Hose, die Wei an diesem Vormittag auf der Ter rasse getragen hatte. Godwin mußte über Aubreys momentane Verblüffung lächeln. »Wie finden Sie mich?« fragte Hyde. »Was soll das Ganze eigentlich?« wollte Wei wissen. Aubrey fiel auf, daß sich der Oberst betont lässig und unbeteiligt gab. Offensichtlich bekam er es langsam mit der Angst zu tun. Wie auf ein Stichwort hin zog Hyde seine Heckler & Koch-VP70 Pistole, die McIntosh ihm gegeben hatte, und überprüfte die Waffe und das Magazin. Die Pistole und die Handgriffe, die Hyde in rascher Abfolge verrichtete, lenkten Weis Aufmerk samkeit sofort auf sich. Schließlich steckte sich Hyde die Waf fe in seinem Rücken wieder in den Gürtel. »Was soll das Gan ze?« fragte Wei noch einmal. Ohne Hyde anzusehen, klärte ihn Aubrey auf. »Wie Sie se hen, Oberst Wei, wird sich dieser Mann für Sie ausgeben – natürlich nur bei Dunkelheit und in einem Wagen. Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß es zu gewissen Schwie rigkeiten kommen könnte. Sie müssen entschuldigen, aber diese Verkleidung ist nichts weiter als eine kleine Vorsichts maßnahme.« »Gegen was und wen?« »Gegen bestimmte interessierte Gruppen, wenn ich es einmal so formulieren darf.« »Das Ministerium?« »Nein. Ich würde eher sagen – gegen gewisse revisionistische Elemente.« »KGB?« Aubrey nickte. Hyde beobachtete, wie sich auf Weis Gesicht ein Ausdruck der Überraschung ausbreitete, der sich sofort in unverhohlene Angst verwandelte. Die Augen des Oberst irrten 125
plötzlich nervös durch den Raum, als wären seine Wände transparent geworden. Er fühlte sich offensichtlich schutzlos, preisgegeben. Aubrey mußte lächeln. »Ja, ich befürchte es fast. Man scheint sich plötzlich ganz enorm für Sie zu interessieren.« »Warum? Weshalb?« Aubrey zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich auch nicht. Aber machen Sie sich erst einmal keine unnötigen Sorgen. Ich bezweifle sehr, daß Ihnen etwas zustoßen könnte.« »Soll das eine Art …?« »Nein, das Ganze ist kein Bluff – zumindest keiner zu Ihren Gunsten.« Er ließ seinen Blick zu Hyde hinüberwandern. »Ja, Patrick, ich finde, Sie sehen durchaus überzeugend aus.« »Alle Chinesen sehen doch gleich aus«, bemerkte Hyde. »Und vor allem für einen Russen.« »Das ist doch absurd!« protestierte Wei und schwang seine Beine vom Bett. Instinktiv begriff Hyde Aubreys Absicht und bedeutete dem Oberst mit seiner Pistole, sich wieder hinzule gen. Wei kam seiner Aufforderung nach, stieß aber hervor: »Das ist wirklich absurd. Ich verlange, sofort an die Amerika ner ausgeliefert zu werden.« »Bitte, Herr Oberst, lassen Sie mich doch erst ausreden. Die Zeit wird knapp. Entschuldigen Sie mich. Hyde, kommen Sie mit …« Aubrey schickte sich an, den Raum zu verlassen. »Schiller!« rief ihm Wei nach. »Nicht gerade einer meiner bevorzugten deutschen Dichter«, entgegnete Aubrey trocken. »Dennoch überrascht es mich zu hören, daß Sie mit seinem Werk vertraut sind, Oberst Wei. Lesen Sie auch Rilke?« »Schiller war der Name des Mannes«, zischte Wei mit wü tend verzerrtem Gesicht. »Wie, bitte?« Aubrey schien verdutzt zu sein, zugleich über die Verzögerung verärgert. »Wessen Name? Was für ein Mann?« 126
Weis Stimme stieg zu einem atemlosen Schreien an. »Da war ein Offizier, der in Spanien zusammen mit Zimmermann ge fangengenommen wurde. Sein Name war Schiller. Begreifen Sie jetzt endlich?« Aubrey trat rasch auf das Bett zu. Seine Augen verengten sich. »Wieviel wissen Sie eigentlich wirklich, Oberst Wei? Wieviel könnten Sie uns wirklich erzählen, wenn Sie wollten?« Von der Auffahrt vor dem Haus drang das schwache Hupen eines Autos herauf. Ein kurzes, ärgerliches Stirnrunzeln verdü sterte Aubreys Stirn. Nachdem er all die Vorarbeit geleistet hatte, war es ihm nun versagt, die Früchte zu ernten. Im Victo ria-Gefängnis würde Wei wieder Zeit finden, sich für ihr näch stes Treffen irgendwelche Ausflüchte zurechtzulegen. »Und was soll dieser Schiller mit der Sache zu tun haben, wenn ich fragen darf?« Seine Stimme war eisig, voller Geringschätzung für Weis Information. Er konnte sehen, wie Wei bereits wieder zu überlegen begann, als hätte ihm das Hupen als Warnung gedient. Er gab keine Antwort. »Also gut. Sie können sich die Sache ja noch einmal durch den Kopf gehen lassen …« Aubrey wandte Wei neuerlich den Rücken zu. Hyde und Godwin folg ten ihm durch die Tür. Der Wagen hupte noch einmal. Aubrey verfluchte ihn insgeheim. »Sie waren in Spanien in die Hände des NKWD gefallen!« platzte Wei heraus. Aubrey drehte sich zu ihm um. »NKWD?« »Ja, Zimmermann war in den Händen des NKWD – ein Oberst Aladko, einer jener NKWD-Leute mit einem Paß, der einem toten Freiwilligen in einer der internationalen Brigaden gehörte – welche genau, habe ich vergessen. Zimmermann und Schiller standen beide unter der Aufsicht dieses Revisionisten Aladko …« Ungeduldig ertönte die Hupe des wartenden Wagens. »Wo ist Schiller jetzt?« fragte Aubrey begierig. »Ist er noch am Leben?« 127
»Das weiß ich nicht. Hans-Dieter Schiller. Das ist alles, was ich gehört habe …« Wei gab sich ganz seiner Angst hin. Aubrey ballte die Hände. »Man wird sich um Sie kümmern, Oberst Wei. Sie haben nichts zu befürchten.« Wei schien ihm gar nicht zuzuhören. Offensichtlich war er in eine neuerliche, noch heftiger ausgetragene innere Debatte verwickelt. Aubrey verließ den Raum. McIntosh wartete bereits ungedul dig im Salon. »Der Wagen ist bereit …«, begann er völlig unnötigerweise. »Passen Sie auf Wei auf«, schnitt ihm Aubrey das Wort ab. »Er hat uns noch lange nicht alles erzählt, was er weiß.« »Selbstverständlich.« Die Musik aus dem Kassettenrekorder wurde lauter. Aubrey wandte den Kopf und sah Hyde, der davorstand und lauschte. Das Piano trillerte eine hübsche Melodie hinaus – zart, äthe risch, synkopiert. Im Hintergrund hörte man den Pianisten vor Konzentration leise mitstöhnen. Hydes Augen waren geschlos sen. Dann schaltete er das Gerät mit einem lauten Klacken aus – es klang wie das Spannen einer Pistole. »Das bringt Glück«, sagte er. »Gehen wir.« Er holte tief Atem und folgte Aubrey durch den Vorraum und die Küche zum Hinterausgang des Hauses. Zwei Autos. Neben dem leeren Wagen standen zwei Polizi sten, in deren Shorts heftig der Wind fuhr. Sie schienen über Aubreys Auftauchen erleichtert zu sein. »Steigen Sie ein – und Sie auch, Godwin«, ordnete Aubrey fahrig an. Dann wandte er sich McIntosh zu. »Falls mir etwas zustoßen sollte, verständigen Sie sofort Shelley. Eine vollstän dige Überprüfung eines Offiziers der Legion Kondor – er heißt Hans-Dieter Schiller. Vermutlich gehörte er der Abwehr an, wie Zimmermann. Er wurde zusammen mit unserem deutschen Freund gefangengenommen. Ich möchte wissen, ob der Mann noch lebt und wo. So schnell wie möglich.« »Ich werde sofort alles Nötige in die Wege leiten.« 128
Aubrey nickte kurz und trat auf den wartenden Wagen zu. Godwin saß neben dem Fahrer, Hyde auf dem Rücksitz. Au brey nahm neben ihm Platz. Ein Polizist neigte seinen Kopf zu Aubreys Fenster herab. »Wir haben alles vorbereitet, Mr. Au brey. Sie werden hinter uns fahren. Wir werden immer ganz knapp vor Ihnen bleiben und unsere Augen und Ohren aufsper ren. Ihr Fahrer wird uns über Funk sofort verständigen, falls es irgendwelche Schwierigkeiten geben sollte.« Nach einer kur zen Pause fügte er hinzu: »Sind Sie sicher, daß Sie immer noch mitfahren wollen, Sir?« »Nein, eigentlich nicht. Aber ich werde es trotzdem tun.« »Sehr wohl, Sir. Glauben Sie, es wird Schwierigkeiten ge ben?« »Ich weiß nicht. Wir werden ja sehen.« Der Inspektor eilte zum anderen Wagen und stieg ein. Au brey kurbelte das Fenster hoch, so daß der wütend gegen die Limousine anprallende Wind, den der Inspektor nur mit Mühe überschreien hatte können, an Lautstärke abnahm. Gereizt strich sich Aubrey sein zerzaustes Haar glatt. Hyde hatte die Heckler & Koch in seinem Schoß liegen. Aubrey hörte noch das Klicken von Godwins Walther, und dann wurde das Moto rengeräusch lauter, als der Wagen beschleunigte und dem Polizeiauto folgte. Es schien, als peitschte der Wind die Sterne über den Him mel, leuchtende Staubflecken. Die Lichter des Wagens vor ihnen verschwanden, als er um eine Kurve bog. Der Fahrer gab leicht Gas, um etwas näher aufzurücken. Das schwarze, unbeleuchtete Auto schoß plötzlich aus der weiß ummauerten Einfahrt eines dunklen Hauses und rammte die Limousine von der Seite. Aubreys Fahrer kämpfte mit dem Lenkrad, während der Wagen auf den steilen Abhang zu schleuderte, der sich neben der Peak Road in die Tiefe senkte. Die schwarze Limousine fuhr unbeirrt weiter – ein schwerer amerikanischer Straßenkreuzer. Aubreys Fahrer schaffte es 129
gerade noch, den Wagen zum Stehen zu bringen. Seine Spitze ragte bereits über die Steine am Straßenrand in die Dunkelheit hinaus. Die Kühlerhaube des anderen Autos bohrte sich immer noch gegen die Seite ihres Wagens, und Aubrey konnte die Innenverkleidung der Tür spüren, die sich gegen sein Knie drückte. Er konnte das Gesicht des Fahrers am Steuer des Straßenkreuzers sehen, als dessen Front an der Seite ihres eigenen Wagens entlangglitt. Der Wind schlug Aubrey ins Gesicht, als Hyde die Tür aufriß. »Runter!« brüllte Hyde und zerrte Aubrey am Ellbogen. »Funk!« schrie er den Fahrer an, der seine zitternden Hände rang. Und dann hatte sich Hyde auch schon aus dem Wagen gerollt. Er wälzte sich über den Boden und setzte sich schließlich auf, die Pistole steif von sich gestreckt. Der Fahrer verständigte per Funk den anderen Wagen. In der Ferne krachten zwei Schüsse auf, und dann war nur noch die quäkende Stimme aus dem Funkgerät zu hören. Der Wind fuhr ihm in den Rücken. Er wußte, daß Godwin nicht aus dem Wagen kommen würde, da sich wegen des Straßenkreuzers die Tür nicht öffnen ließ. Er war ganz auf sich allein gestellt. Hinter dem Polizeiauto ragte der eingedrückte Kühler des Straßenkreuzers vor. Dahinter wirkte die weiß getünchte Hausmauer wie eine leere Leinwand, auf der sich gleich ein Film abspielen würde. Ein Schatten fiel auf die Mauer. Er bewegte sich hinter dem Straßenkreuzer hervor. Hyde schoß zweimal, und der Schatten zuckte zur Seite. Die Leinwand war wieder leer. Hyde erhob sich auf die Knie. Vor der weißen Mauer würde er deutlich zu sehen sein. Wie ein Betrunkener im Wind schwankend, richtete er sich vollends auf. Geduckt begann er davonzulaufen. Rufe, vom Sturm hinweggefegt. Schüsse, ein hohes Pfeifen dicht an seinem Kopf vorbei. Er erreichte die Stufen, die zu dem Haus mit den weißen Mauern emporführten. Er wandte 130
sich im Dunkel um und sah erst zwei, dann drei Gestalten, die sich von der Masse der ineinander verkeilten Wagen lösten. Jemand versuchte, durch das Schiebedach des Polizeiautos zu klettern. Godwins heller Anzug. Zwei Stichflammen, fast kein Lärm, und eine der Gestalten taumelte und stürzte zu Boden. Ein zweiter Wagen kam um die Kurve geschossen und hielt mit quietschenden Reifen. Sie mußten weiter oben an ihm vorbeigefahren sein, ohne ihn zu bemerken. Der Wagen war kaum zum Stillstand gekommen, als zwei Männer heraus sprangen und sofort in Richtung des Zusammenstoßes feuerten. Godwins heller Anzug glitt wieder in das Innere des Wagens zurück, ohne daß Hyde hätte feststellen können, ob er getroffen worden war oder nur Deckung suchte. Er drehte sich um, rann te die Stufen hinauf und preschte durch die Büsche, die eine Treppe säumten, worauf er sich in einem Ziergarten wieder fand. Der Sturm peitschte ihm Wasser von einem Zierbrunnen in der Mitte des Gartens ins Gesicht. Das Mondlicht war schwach, und er kauerte sich in den Windschatten des Brun nens. Stimmen, Gestalten, die vielleicht nur Einbildung waren oder Schatten … Von dem zweiten Polizeiauto war immer noch nichts zu hören. Der Pseudo-Urin aus dem Penis der Steinsta tue, die den Zierbrunnen krönte, wurde vom Sturm fein zer stäubt durch die Luft gepeitscht. Plötzlich veränderte sich eine dunkle Gestalt durch das Aufflattern eines Mantels, unter den der Wind gefahren war. Hyde feuerte. Die Gestalt fiel ins Gras. Das Feuer wurde von anderen erwidert. Von der Brunnenfigur spritzten Steinsplitter davon und streiften Hydes Wange. Er feuerte noch einmal, worauf sich die Gestalten zerstreuten. Voller Erregung, die in Panik umzukippen drohte, überlegte er, ob sich wohl auch Petrunin unter diesen schemenhaften Gestal ten befand, was er jedoch bezweifelte. Und dann schien er plötzlich von Schatten umringt zu sein – vielleicht von fünf – nein, sechs? Und im Schein des Mondes, 131
der inzwischen vorsichtig über den Gipfel eines Hügels lugte, wurden sie mit einemmal sichtbar, nahmen feste Konturen an. »Geben Sie auf.« Er konnte nicht erkennen, welcher Schatten gesprochen hatte. »Chinese«, fügte die Stimme hinzu. Die Schatten rückten näher, flatterten, bauschten sich, veränderten ihre Form, je nach Laune des Winds. »Verstehen Sie denn nicht? Wir haben Nachtgläser, Infrarot. Wir können Sie sehen. Hinter dem Brunnen.« Hyde lauschte nach dem Geräusch eines Wagens. Hatten sie sich auch das andere Polizeiauto geschnappt? Zwanzig Sekun den hätten doch eigentlich genügen müssen. Wo blieb das andere Auto nur? Sie würden ihn töten, wenn sie den Betrug merkten – die ge färbte Haut, die fehlenden Mandelaugen. In ihrer Wut und Enttäuschung würden sie einfach töten … Das Motorenge räusch eines Wagens? Im Haus keine Lichter. Eine Sirene? Die Schatten kamen näher. »Halt!« schrie Hyde. »Keinen Schritt näher!« Die Schatten blieben stehen. Motorengeräusch, eine Sirene? Stimmen? Schritte, Lichter? »Bleiben Sie mir vom Leib!« kreischte er in verzweifeltem Protest. Eine ersterbende Sirene, rasche Schritte, kaltes Wasser, das aus dem Brunnen über seine Hand floß. Die Schatten zerstreu ten sich. Lichtblitze in der Nacht, Funken von den Stiefeln eines Polizisten, als er auf der Treppe zusammenstürzte und sich nicht mehr rührte, Rufe, noch mehr Schüsse … Und dann nur das Heulen des Windes. Von einem Polizisten am Unterarm gestützt, erhob sich Hyde vom Boden. »Vielen Dank. Wie sieht’s …?« »Hyde? Fehlt Ihnen auch nichts?« Die quengelige Stimme eines alten Mannes, den man gerade in seiner Muße gestört hatte. Eine gebückte schwarze Gestalt auf der Treppe zum Haus hinauf, daneben der Polizeiinspektor. »Hyde?« »Alles in Ordnung.« 132
»Gott sei Dank.« Noch etwas unsicher – allerdings nicht wegen des Sturms – überquerte Hyde den Rasen und ging auf Aubrey zu. Seine Erleichterung verwandelte sich im selben Moment, in dem er die Treppe erreichte, in Aggressivität. »Jetzt wollen Sie doch hoffentlich keine weiteren Beweise mehr, oder?« platzte er wütend heraus. Aubrey starrte ihn verdutzt an. Der Inspektor schien persönlich beleidigt zu sein. »Sie hätten vermutlich auch ein Dutzend Leute umgelegt, nur um diesen verdammten Oberst Wei zu kriegen, oder etwa nicht? Weil Sie ihnen von ihm erzählt haben – weil Sie hier persönlich angereist sind, um mit ihm zu sprechen!« »Hyde …« »Wollen Sie noch mehr Beweise? Reicht es nicht, daß ein Polizist getötet worden ist und einer von unseren Leuten …« »Godwin hat nur einen Streifschuß abgekriegt«, bemerkte Aubrey eisig. »Es ist nicht weiter schlimm.« »Wei sagt doch wohl die Wahrheit, oder nicht?« »Sie wollten Sie haben, und zwar lebend. Daran besteht doch kein Zweifel?« »J-ja, natürlich … Warum?« »Wenn sie bereits alles wüßten, was es zu wissen gibt, hätten sie Sie doch vermutlich einfach umgebracht? Vielleicht wissen sie genauso wenig wie wir.« »Scheiße! Sie drehen einfach durch, weil Wei uns von ihrem kostbaren Patienten erzählt hat!« »Vielleicht drehen sie auch wegen des Berlin-Abkommens durch. Vielleicht ist das so wichtig für sie, daß sie Petrunin hinzugezogen haben und nun versuchen, Wei in ihre Gewalt zu bringen.« Aubrey schrie inzwischen, kämpfte sowohl gegen den Sturm wie gegen Hyde an. Der Inspektor war währenddes sen ein Stück die mondbeschienene Treppe hinaufgegangen, um sich den getöteten Polizisten näher anzusehen. »Tut mir leid, Hyde, aber wir wissen mittlerweile nur ein kleines biß 133
chen mehr als heute nachmittag.« »Dann habe ich also für nichts und wieder nichts auf mich schießen lassen?« »Nur, um Wei zu schützen.« »Meine Güte! Sie täuschen sich, das wissen Sie doch ganz genau. Wei sagt die Wahrheit, und die Russen denken, sie würden dumm in die Röhre gucken.« »Davon bin ich keineswegs so überzeugt …« »Aber ich, mein Lieber! Zimmermanns Schuld steht doch ganz eindeutig fest! Er ist tatsächlich KGB-Agent!« »Nein.« Widerstrebend schüttelte Liu den Kopf. »Das reicht nicht aus. Ich fürchte, diese Aufzeichnungen wurden frisiert.« »Und was ist mit meinem Geld?« fragte Bin. »Ich habe getan, was Sie von mir verlangt haben. Ich habe mir mein Geld ver dient.« »Sie werden Ihr Geld schon bekommen«, versicherte ihm Liu und gab ihm die Akten zurück. Sie hatten ihm keinerlei Auf schlüsse vermittelt. Außer, daß es einen triftigen Grund geben mußte, an den Aufzeichnungen des Krankenhauses etwas zu verändern, wenn man einmal davon ausging, daß die Akten tatsächlich frisiert waren. Oder nichts an der ganzen Geschich te war wahr. Außer Bin befanden sich in dem Raum im vierzehnten Stock eines Wohnblocks für Arbeiter noch vier weitere Personen. Liu, das Mädchen Liang und das junge Paar, dem die Wohnung gehörte und das gelegentlich für die CIA arbeitete. Aus Sicher heitsgründen hatte Frederickson das Mädchen angewiesen, Liu nicht noch einmal zu Bins Haus in der Altstadt zu bringen. Statt dessen war er in diesen modernen Wohnblock aus Beton in einer nördlichen Vorstadt gebracht worden. Die Frau des jungen Mannes hatte Bin geholt. David Liu stand auf, streckte sich und trat an das Fenster des kleinen Wohnzimmers, um auf den dicht bewölkten Nachmit 134
tagshimmel hinauszublicken. Trotz seiner Enttäuschung über Bins frisierte Aufzeichnungen hatte Liu das Gefühl, die Situa tion unter Kontrolle zu haben. Er wandte sich um, studierte die Gesichter der restlichen im Raum anwesenden Personen. Liang und Bin wechselten einen Blick, den er nicht zu deuten ver mochte, obwohl er eindeutig eine Vertrautheit beinhaltete, die ihrer bisher äußerst flüchtigen und oberflächlichen Bekannt schaft in keiner Weise entsprach. Auch das junge Paar, dem die Wohnung gehörte, schien irgendwie in die Bedeutung des Blickes eingeweiht zu sein, obwohl dieses Wissen mit einem mal in ihren Gesichtern erlosch, als Liu sich zu ihnen umwand te. Er fühlte sich plötzlich isoliert, allein – konfrontiert? Er wußte nicht, was er von diesem instinktiven Gefühl halten sollte. War das einfach nur eine Laune, ein Streich, den ihm seine angespannte Aufmerksamkeit spielte? Jedenfalls mißtrau te er seinen Mitarbeitern, versuchte jedoch, sich nichts anmer ken zu lassen. »Was ist mit meinem Geld?« drängte Bin und streckte seine Hand aus. Liu nahm seine Brieftasche heraus und zählte lang sam zehn Zwanzig-Dollar-Noten ab. Bin holte die Yuan vom Vortag hervor und reichte sie Liu, der sorgfältig sein Gesicht studierte. »Die können Sie auch behalten. Sie haben Ihr Bestes getan. Da!« Bins Begeisterung zögerte noch einen Moment unter seiner Haut, bevor sie auf seinen Gesichtszügen erblühte. »Danke, vielen Dank.« Das klang einstudiert. Angesichts der widersprüchlichen emotionalen, physischen und unterbewußten Informationen, die nun auf ihn einströmten, hatte Liu das Ge fühl, man hätte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Er mußte zusehen, daß er irgendwo allein und in aller Ruhe über diese veränderten Umstände und Eindrücke nachdenken konnte. »Und es gibt also nichts, was Sie mir noch sagen könnten?« Liu deutete mit dem Kopf auf die Akten in Bins Hand. 135
»Nein, ich habe Ihnen bereits alles gesagt, was ich weiß.« »Schade.« »Sie müssen mir glauben. Ich habe Ihnen nichts als die Wahrheit gesagt.« »Ja, ich weiß, ich glaube Ihnen«, entgegnete Liu gelassen. Er trat wieder ans Fenster und blickte auf die Straße mit den zahl losen Radfahrern hinunter, auf die Bäume am Straßenrand, auf … Ein Wagen. Er stand auf der anderen Straßenseite vor dem Wohnblock. Er konnte nicht feststellen, ob er leer war. Ohne Zweifel, das Interesse der Wageninsassen galt ihm … Schon den ganzen Vormittag über war er sich sicher gewe sen, daß er beschattet wurde. Der Wagen hatte die ganze Nacht vor dem Shanghai Mansions gestanden. Er hatte sich in regel mäßigen Abständen davon überzeugt. Und am Morgen war ihm sogar jemand in das Restaurant gefolgt, in dem er gefrüh stückt hatte. Und dann, etwa eine halbe Stunde, bevor er sich mit Liang treffen wollte, nichts. Er wurde nicht mehr über wacht. Vielleicht hatte er sich in seiner Anspannung alles nur eingebildet. Und jetzt ein anderes Auto. Er würde ja sehen, ob es dem Bus folgen würde, mit dem er ins Stadtzentrum zurück fahren wollte. Warum interessierten sie sich für ihn? Sie mußten vom Ge heimdienst sein – welche Abteilung, spielte keine Rolle. Er wandte sich wieder dem Raum zu. Nein, diese Frage wür de ihm Frederickson beantworten müssen, nicht diese Leute. Die kannte er nicht. Er konnte ihnen nicht vertrauen. »Wir müssen jetzt gehen«, machte ihn Liang aufmerksam, als wollte sie der angespannten Stimmung, der sie sich offensicht lich auf subtile Weise bewußt war, gewaltsam ein Ende berei ten. »Ja, natürlich.« Er mußte sich das Mädchen jetzt vom Hals schaffen. Der Wagen auf der Straße und der Krankenpfleger. Seine Gedanken konzentrierten sich auf diese drei Ziele. Wie 136
konnte er hier bleiben und warten, und zwar ohne das Mäd chen? »Vielen Dank«, wandte er sich noch einmal an Bin. »Und auch Ihnen herzlichen Dank.« Er war den Leuten, denen die Wohnung gehörte, nicht namentlich vorgestellt worden. Sie standen auf und verneigten sich förmlich. Liu erwiderte die Geste. Bin schien es nicht eilig zu haben. »Wir gehen als er ste«, sagte Liu. »Ja, ja.« Bin wollte ihn offenbar möglichst schnell loswerden. Er hatte die zweihundert Dollar fein säuberlich zusammenge faltet und in seine Hosentasche gesteckt. Die Yuan dagegen lagen wie die Krankenhausakten achtlos neben seinem Sessel über den Boden verstreut. Requisiten, die ihren Zweck erfüllt hatten, dachte Liu. Weshalb hatte der junge Mann die Vorhänge zugezogen? Die Wohnung war doch unmöglich einzusehen. War dies ein Zei chen gewesen? Bei seiner Ankunft war ihm dies nur natürlich erschienen – eine normale Sicherheitsvorkehrung. Aber eine, die völlig unnötig war. Wurde der Raum abgehört? Auf dem Weg nach unten wuchs Lius Argwohn. Angst über kam ihn. Der Köder, mit dem er in die Falle gelockt werden sollte, begann allmählich zu stinken. Das Mädchen, deren zierliche Gestalt nun Ekel in ihm hervorrief, schien seine An spannung und seinen Stimmungsumschwung nicht zu bemer ken. Am liebsten hätte er die Wahrheit aus ihr herausgeprügelt. Im Freien angelangt, fuhr der Wind in die dünnen Baum wollhosen des Mädchens, ließ sie flattern. Liu spürte ihn durch seinen Anzug pfeifen. Er mußte sich zwingen, nicht auf die andere Straßenseite hinüberzublicken, wo unter den Bäumen der Wagen parkte, während sie die paar hundert Meter zur Bushaltestelle gingen. Dort warteten bereits ein alter Mann und zwei Kinder. Liu mußte sich alle Mühe geben, so gelassen wie möglich auf die unschuldigen Bemerkungen des Mädchens einzugehen. In dem Wagen saßen zwei Männer, stellte er fest. Sie waren jedoch zu weit entfernt, als daß er hätte erkennen 137
können, ob sie die Bushaltestelle beobachteten. Selbst als der Bus bereits gehalten hatte und seine Türen seufzend aufgingen, wußte Liu noch nicht, was er tun sollte. Er war dem alten Mann beim Einsteigen behilflich und gab dann Liang zu verstehen, sie sollte mit den beiden Kindern als erste einsteigen. Lius Verstand arbeitete fieberhaft, während ihm der alte Mann zum Dank zunickte. Bushaltestelle, automatische Türen, Wohnungen, Wagen, Bäume, Bin … »In Ordnung!« rief er dem Busfahrer weiter vorn zu, worauf sich die Türen sofort seufzend schlossen. Liu trat wieder zu rück auf das Pflaster des Gehsteigs. Liangs Gesicht spiegelte hintereinander Überraschung, Schock und wütenden Argwohn wider. Während die Türen zuglitten und ihre Züge sekunden lang verdeckten, bis sie den Kopf etwas zur Seite neigte, um ihn weiter im Auge behalten zu können, mußte Liu sich einge stehen, daß er sich in seinem Verdacht bestätigt sah. Diese Erkenntnis ließ ihn frösteln. Der Bus fuhr über die fast leere Straße davon und verschwand unter den Bäumen. Der geparkte Wagen bewegte sich nicht von der Stelle. Liu beobachtete ihn hinter einem Baum hervor vorsichtig. Er kam sich albern vor, als er seinen Kopf wie ein kleiner Junge beim Versteckspiel hinter dem Baumstamm hervorstreckte. Verzwei felt bemühte er sich, sein Gefühl der Isolation unter Kontrolle zu halten. Es war einfach zu stark und übermächtig, um igno riert zu werden. Ihm blieb nicht viel Zeit. Liang würde an der nächsten Haltestelle aussteigen und zurücklaufen … Er sah an dem Wohnblock empor, zählte die Stockwerke, aber er konnte die Wohnung des jungen Paares nicht mit Sicherheit ausma chen. Würde Bin auftauchen? In diesem Augenblick trat der Krankenpfleger ins Freie. Liu blickte sich um und sah, daß der Bus an der nächsten Haltestel le gehalten hatte. Sein Herz schlug heftig. Bin sah ebenfalls die Straße hinunter, wo der Bus stand, und trat dann schnurstracks 138
auf den geparkten Wagen zu. Obwohl Liu genau das erwartet hatte, traute er doch seinen Augen nicht, als sein Verdacht Wirklichkeit wurde. Sein Verstand wollte einfach nicht wahr haben, was er eben sah. Bin beugte sich zum Wagenfenster herunter und reichte die Krankenhausakten hindurch. Liu wandte den Kopf wieder zur Seite, blickte die breite Avenue hinunter. Eine einzelne Gestalt in der Ferne. Er spürte, daß sie auf ihn zugelaufen kam. Liang. In etwa einer Minute würde sie ihn erreicht haben. Bin und die Polizei. Frisierte Akten. Und das Mädchen gehörte auch dazu. Vielleicht sogar Fredericksons gesamte Zelle in Shanghai? Bin öffnete die hintere Tür des Wagens und stieg ein. Sorg fältig darauf bedacht, daß er sowohl von dem Wagen wie von der Wohnung aus nicht gesehen werden konnte, ging Liu im Schutz der Bäume auf die Gestalt zu, die auf ihn zurannte. Es war tatsächlich Liang. Er schlenderte ihr gelassen entgegen, während er sich eine gute Ausrede zurechtlegte. Er mußte unbedingt mit Frederickson sprechen. Liang verlangsamte ihre Gangart, als sie sah, daß Liu auf sie zukam. Mit einem hilflosen Grinsen breitete er in einer ent schuldigenden Geste die Arme aus. Das Mädchen war außer Atem, das Gesicht ohne Ausdruck, nur die Augen betrachteten prüfend seine Züge, wandten sich dann ab, um nach dem Wa gen hinter Liu zu spähen. »Was haben Sie denn da gerade gemacht?« fragte sie in ta delndem Ton. »Tut mir leid. Ich war wohl irgendwie leicht weggetreten. Ich habe dem alten Mann beim Einsteigen geholfen und vergaß darüber völlig, daß ich ja auch in den Bus wollte.« Sein Grin sen wurde breiter. »Tut mir wirklich leid. Ich war in Gedanken ganz woanders.« »Ach so.« Es war offensichtlich, daß sie ihm nicht glaubte. Ihre Augen wanderten zwischen Liu und dem Wagen hin und her. Sie schien jedoch vorerst beschlossen zu haben, so zu tun, 139
als nähme sie ihm seine fadenscheinige Ausrede ab, und dies zweifellos so lange, bis sie entsprechende Order hinsichtlich ihres weiteren Vorgehens erhielt. »Ich dachte schon, Sie hätten vielleicht etwas vergessen.« »Nein. Ich glaube nicht, daß es hier noch etwas in Erfahrung zu bringen gäbe«, entgegnete Liu leichthin. »Das glaube ich allerdings auch nicht«, stimmte sie ihm zu. »Wann fährt der nächste Bus?« »Was? Ach so, in zehn Minuten.« »Dann können wir ja schon mal einen kleinen Spaziergang zur nächsten Haltestelle machen.« Sie nickte zustimmend. Liu nahm ihren Arm, und sie gingen los. Irgendwo hinter sich hörte Liu, wie der Motor eines Autos angelassen wurde, und dann fuhr der Wagen in die andere Richtung davon. Frederickson, schoß es ihm durch den Kopf. Ich muß unbe dingt mit ihm sprechen. Seltsamerweise fühlte er sich nicht unmittelbar in Gefahr. Aus irgendeinem Grund ließen sie ihn laufen. Diese Leute führten ihn zwar in die Irre, aber sie bezweckten damit auch etwas. Er konnte sich jedoch nicht vorstellen, was. Vermutlich wollten sie die Sache mit Zimmermann vertuschen, als harmlos darstellen. Sie wollten Weis Behauptungen Lügen strafen. Liu konnte nur mit Mühe ein erregtes Zittern unterdrücken, während er das Mädchen am Arm hielt. Wei könnte demnach also recht haben. Er mußte recht haben. Denn es gab auf jeden Fall etwas zu verbergen. Sie versuchten, ihn an der Nase her umzuführen. »Sie haben natürlich von den unglücklichen Ereignissen die ses Nachmittags gehört?« »Selbstverständlich. Ihre Leute haben von Grund auf ver sagt.« »Ich finde nicht, daß Ihre Vorwürfe berechtigt sind. Viel leicht ist Ihr Mann keineswegs so naiv, wie Sie behauptet 140
haben.« »Jedenfalls hat er jetzt Verdacht geschöpft.« »In welcher Hinsicht?« »Das kann ich nicht so genau sagen. Jedenfalls hat er nicht angerufen.« »Er wird sich schon noch melden. Ich würde deshalb ein kleines Ablenkungsmanöver vorschlagen.« »Zum Beispiel?« »Die Verhaftung der gesamten Zelle, aller Leute, mit denen er bisher in Berührung gekommen ist – und zwar so, daß er Zeuge des Ganzen wird. Das Ganze muß sehr überzeugend wirken – womöglich sogar mit ein paar Verwundeten oder einem Toten, wenn es sein muß. Das spielt weiter keine Rolle.« »Einen Augenblick …« »Wir haben keine andere Wahl, mein Freund. Liu muß um jeden Preis davon überzeugt werden, daß Wei die Wahrheit gesagt hat.« »Dann lassen Sie ihn die Wahrheit doch wissen.« »Dafür ist es noch zu früh. Er muß hart dafür arbeiten. Dann wird er auch eher daran glauben. Vielleicht in Wu Han.« »Also gut.« »Sorgen Sie dafür, daß Liu nach Wu Han kommt. Und in formieren Sie mich bitte sofort über seinen Bericht, wenn es soweit ist. Dann werde ich für unser Ablenkungsmanöver alles Nötige in die Wege leiten.« »Wenn er zu argwöhnisch ist, wenn ich ihn nicht überzeugen kann …« »Dann wird auch er in den Zuständigkeitsbereich des Mini steriums fallen. Aber tun Sie bitte Ihr möglichstes, dies zu vermeiden.« In der Dunkelheit war Frederickson nichts weiter als ein Schat ten, eine vertraute und doch geheimnisvolle schwarze Maske. Paare, Hand in Hand oder die Arme umeinandergelegt, schlen 141
derten an der Bank im Huangpu-Park vorüber, auf der Liu und Frederickson saßen. Ihre geflüsterten Unterhaltungen ähnelten dem Gespräch zwischen Liu und dem Amerikaner – ein Teilen gemeinsamer Geheimnisse. Irgendwo drang aus einem Transi storradio staatlich sanktionierte Musik. »Worauf läuft das alles Ihrer Meinung nach hinaus, Liu?« Liu hatte auf dem Konsulat angerufen und, ohne sich zu er kennen zu geben, recht kryptisch ein Treffen vereinbart. Inzwi schen – Stunden waren vergangen, seit er Liangs Gesicht hinter den Bustüren und Bin an dem wartenden Wagen gesehen hatte – war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher. Er neigte sogar dazu, seinen eigenen Wahrnehmungen zu mißtrauen. »Ich – ich bin mir nicht sicher.« »Glauben Sie, dieser Bin wurde als Köder für Sie ausge setzt?« Während Frederickson dem darauffolgenden Schweigen Lius lauschte, wurde ihm bewußt, daß er vielleicht eine Erklä rungsmöglichkeit geäußert hatte, die ihm bisher noch nicht in den Sinn gekommen war. »Als Köder? Wie meinen Sie das?« »Es ist doch nicht ausgeschlossen, daß man weiß, wer Sie sind und warum Sie hier sind. Bin war ein Sicherheitsrisiko. Er gehört nicht zu unseren Leuten. Glauben Sie, er wurde auf Sie angesetzt?« »Aber erst hat er doch Weis Geschichte bestätigt.«
»Vielleicht, um Ihr Vertrauen zu gewinnen?«
»Und das Mädchen …?«
»Sie hat Bin nie getraut.«
»Das habe ich nicht gemeint. Ich wollte damit sagen, im Bus
– sie geriet eindeutig in Panik, als ich wieder ausstieg.« »Das hat sie mir auch erzählt. Sie hat sich Ihretwegen Sorgen gemacht. Schließlich ist sie für Sie verantwortlich.« »Ja, natürlich …« Lius Antwort klang in Fredericksons Oh ren hoffnungsvoll, nachdenklich. Der Amerikaner war der 142
Dunkelheit dankbar. »Dann verhindert Bin also, daß die Wahr heit ans Licht kommt?« »Selbstverständlich sähen es die Chinesen am liebsten, wenn Sie wieder abreisen würden, um in Hong Kong alles zu wider legen, was Wei dort behauptet.« »Natürlich, aber …« »Vielleicht ist es genau das, Liu. Trauen Sie Bin?« »Er ist opiumsüchtig. Und wenn sie ihn damit am Haken ha ben, wird er natürlich alles tun, was sie von ihm verlangen.« Frederickson zögerte, bevor er zu sprechen begann. Lius ru hige Stimme klang ganz so, als stünde er kurz davor, den Kö der zu schlucken. »Also gut. Wir werden hier alles Nötige veranlassen und Sie morgen oder übermorgen nach Wu Han bringen.« »Wird man mich dort nicht erwarten?« »Ich beschaffe Ihnen natürlich eine neue Tarnung. In Shang hai sind die Leute zu sehr auf der Hut. In der Provinz werden solche Dinge etwas lascher gehandhabt, und möglicherweise sind die Leute dort auch eher bereit zu reden.« Frederickson stand auf. »Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung. Und, Liu – passen Sie auf sich auf.« »In Südaustralien? Sind Sie sicher?« Aubrey starrte Hyde an, der in überraschtes Gelächter ausgebrochen war. »In der Nähe von Adelaide?« »Ich konnte Adelaide noch nie ausstehen«, brummte Hyde in sein Bier. »Halten Sie endlich den Mund, Hyde!« fuhr Aubrey ihn an. Godwin verging sein verständnisvolles Grinsen, sobald die dadurch in seinem Gesicht entstandene Bewegung das an der Schläfe angebrachte Pflaster erreichte. Aubrey sah von dem Notizblock auf, den Mcintosh aus dem Keller des Hauses geholt hatte, wo sich die Kommunikations zentrale befand. Offensichtlich fühlte Mcintosh sich für den 143
Inhalt der Nachricht aus London persönlich verantwortlich. Er wirkte schuldbewußt. »Genau so hat der Inhalt gelautet, Mr. Aubrey. Das hat Shel ley durchgegeben.« »Und die Akten von 1940?« »Ich habe sie noch einmal angefordert. Er erwähnt sie mit keinem Wort.« »Das sehe ich selbst. Ich muß diese Akten unbedingt haben.« Aubrey sah Hyde an, der sich auf die Couch gelümmelt hatte. Die Kopfhörer, über die er eben noch Musik gehört hatte, lagen wie eine dunkle Krabbe in seinem Schoß. »Hyde?« »Sir?« »Werden Sie aus dem Ganzen irgendwie schlau? Ich verstehe zwar absolut nichts von australischen Weinen, aber ich kann mir nur schwerlich vorstellen, daß ein ehemaliger Abwehroffi zier einen Weinberg in Südaustralien geerbt haben soll.« Hyde schüttelte den Kopf. »Dann haben Sie sich aber einige gute Tropfen entgehen lassen.« »Jetzt lassen Sie den Blödsinn, Hyde!« »Adelaide ist von Weinbergen umgeben. Es ist die Haupt stadt des australischen Weinhandels. Wo soll sein Weinberg sein? Im Barossa Valley?« »Ja. Woher wußten Sie das?« »Das war früher einmal eine deutsche Siedlung. Sie haben den Wein dort eingeführt. Und auch heute gibt es dort noch jede Menge Krauts.« Hyde grinste. »Ein Verwandter stirbt. Schiller denkt sich: Warum soll ich nicht mal einen Tapeten wechsel vornehmen? Er packt seine Siebensachen und macht eben auf Weinbauer. Wieso nicht?« »Ist dieser Wein wirklich gut?« fragte Aubrey völlig ernst haft. »Die besten Sorten sind absolute Spitze.« Dann verengten sich Hydes Augen. »Sie werden sich doch die Gelegenheit, sich davon selbst zu überzeugen, sicher nicht entgehen lassen, 144
oder?« »Das – das weiß ich noch nicht.« »Sie wollen mit Schiller sprechen?« fragte McIntosh über rascht. »Persönlich? Aber was ist mit Wei, Sir?« Aubrey hatte fast den ganzen Tag im Victoria-Gefängnis ver bracht. Er hatte Wei gründlich satt. »Ich kriege den Kerl nicht klein«, gab er zu. »Er hat sich neuerlich zurückgezogen – genau, wie ich es vorhergesehen habe. Er wähnt sich ja jetzt wieder in Sicherheit. Möglicherweise sollte Buckholz …« Er blickte neuerlich auf den Nachrichtenblock. »Ein neuer Anlauf, für zwei, drei Tage.« Er räusperte sich. »Alles, was wir bis jetzt herausgefunden haben, reicht ins Spanien des Jahres 1938 zurück. Wenn überhaupt, dann wurde Zimmermann dort vom NKWD angeworben. Dieser Schiller war damals mit ihm zusammen. Ich glaube, die Reise könnte sich durchaus rentie ren – außerdem kann ich etwas Abwechslung vertragen.« »Ganz meine Meinung, Sir«, fiel Godwin ein. »Ja«, fügte Hyde hinzu. »Sehr gut. McIntosh, besorgen Sie mir zwei Tickets nach Adelaide, für morgen. Aber daß eines klar ist – Mr. Buckholz hat zwar unbegrenzten Zugang zu Wei, aber er ist auf keinen Fall ermächtigt, Wei aus dem Victoria-Gefängnis entfernen zu lassen.« »Selbstverständlich. Die Amerikaner werden sich wohl oder übel gedulden müssen.« »Wenn er Wei verhört, muß immer einer von Ihnen beiden zugegen sein. Und nehmen Sie alles auf Band auf.« »Wie viel, glauben Sie, weiß Wei eigentlich wirklich, Sir?« fragte McIntosh. Aubrey zuckte mit den Schultern. »Alles? Nichts? Ich habe keine Ahnung. Sein Reichtum liegt in dem, was er uns zu erzählen hat – und solange er nicht sieht, daß wir uns um seine Zukunft sorgen, wird er damit weiter recht geizig verfahren. Nein, im Augenblick bin ich mehr an Hans-Dieter Schiller 145
interessiert, ehemals bei der Abwehr, jetzt Winzer im Barossa Valley. Mal sehen, was er uns zu erzählen hat.« »Glauben Sie, er wird reden?« »Falls er dazu nicht bereit sein sollte, werden wir vermutlich mit den australischen Behörden einige Probleme bekommen.« »Sir, was ist mit Petrunin und seinen Leuten?« fragte God win. »Solange sie nichts davon wissen, stellen sie für uns keine Gefahr dar.« Seltsamerweise hatten die toten Russen alle irische Pässe bei sich getragen, komplett mit den regulären Stempeln und Visa. Aubrey hatte erst angeordnet, den Antiquitätenladen streng stens zu überwachen, war aber dann zu dem Schluß gelangt, den KGB in Hong Kong einfach zu ignorieren. Wei befand sich in Sicherheit, und das genügte vorerst. »Ich verstehe, Sir«, murmelte Godwin, nicht unbedingt über zeugt. »Sorgen Sie dafür, daß sie nichts von unserer Abreise erfah ren. Hyde und ich müssen Hong Kong auf jeden Fall unerkannt verlassen.« »Jawohl, Sir.« 5. Fallentür »Ich fürchte, daß sich hinsichtlich Ihrer Leute nichts machen lassen wird.« »Aber ich bitte Sie! Als wir verabredet haben, Sie zum Zweck dieser Operation mit ihnen bekannt zu machen, haben Sie uns ihre Sicherheit garantiert.« »Das stimmt. Aber in diesem Fall ist leider die Sicherheit der Operation wichtiger. Finden Sie nicht auch?« »Natürlich, mir bleibt leider keine andere Wahl …« »Liu muß auf alle Fälle überzeugt werden. Wenn Ihre Leute 146
deshalb sterben werden, dann ist das zwar bedauerlich, aber notwendig.« »So kann ich es leider nicht ganz sehen …« »Als Agenten sind sie nutzlos geworden, sobald wir ihre Namen erfahren haben. Sie können nichts mehr mit ihnen anfangen.« »Darum geht es doch gar nicht …« »Wirklich nicht, mein Freund? Nun ja, in Anerkennung Ihrer westlichen Vorstellung hinsichtlich des Wertes eines Men schenlebens werde ich sehen, was sich hin läßt. Aber wenn es nicht anders möglich ist, wird wohl kein Weg darum herum führen. Wir werden uns auf jeden Fall um ihre Familien küm mern. Und nun befehlen Sie dem Mädchen, sich mit Liu in Verbindung zu setzen.« Liu hatte schlecht geschlafen. Das Gefühl der Isolation und Abhängigkeit hatte seine Fähigkeit, klar zu denken, zunehmend beeinträchtigt. Fredericksons Erklärungen hatten ihn keines wegs zufriedengestellt, aber er hatte auch keine eigenen Lö sungsmöglichkeiten parat, und schließlich war der Chef der CIA-Station in Shanghai noch die einzige Person, der zu ver trauen er einigermaßen geneigt war. David Liu konnte sich immer weniger des Gefühls erwehren, völlig allein zu sein. Er war ein Amerikaner mit gelber Hautfarbe inmitten von Chinas volkreichster Stadt. Die Polizei beschattete ihn, und seine Verbündeten führten ihn allem Anschein nach hinters Licht. Er stand auf, rasierte und wusch sich, um dann ans Fenster zu treten und sich innerlich darauf vorzubereiten, zum Frühstück ins Restaurant des Hotels hinunterzugehen. Er konnte von seinem Fenster aus das Polizeiauto nicht sehen, von dem er wußte, daß es das Hotel bewachen würde. Was er jedoch sah, war das Mädchen, das auf das Hotel zukam. Roter Kittel, schwarze Hose. Sie sah öfter auf, als suchte sie nach dem Fenster seines Zimmers, als er sie, hinter dem Vorhang ver 147
steckt, von oben beobachtete. Was wollte sie? Was hätte sie schon sagen können? Wie würde sie erklären …? Er verließ das Zimmer und fuhr mit dem Lift nach unten. Ohne darauf zu achten, ob er beobachtet wurde, durchquerte er die Halle und drängte sich auf dem Gehsteig vor dem Hotel durch die Menge, bis er nur noch wenige Meter von dem Mäd chen entfernt war. In diesem Augenblick entdeckte sie ihn. »Was wollen Sie?« fragte er sie kalt. Ihr zögerndes Lächeln glitt wieder in ihren Mund zurück. »Frederickson schickt mich«, begann sie hastig. »Ich habe Ihre Papiere, Ihre neue Tarnung.« Sie schien nach einem etwas ruhigeren Ort Ausschau zu halten. Liu folgte ihr durch die Menge. Papiere, Tarnung? Frederickson vertraute ihr also noch. Sie betraten einen kleinen Park, in dem sich hauptsäch lich alte Menschen aufhielten. »Meine Papiere?« verlangte Liu und streckte seine Hand aus. Liang griff in ihren Kittel und holte ein kleines Päckchen hervor, das in durchsichtiges Plastik gewickelt war und von Gummibändern zusammengehalten wurde. »Hier.« »Wie lauten Fredericksons Anweisungen?« Er gewöhnte sich langsam wieder daran, Vertrauen zu haben. »Warum trauen Sie mir nicht?« wollte sie wissen. »Mit Bin ist uns ein Fehler unterlaufen. Aber das war nicht meine Schuld. Alles mußte so schnell gehen …« Sie wirkte eher gekränkt als ärgerlich. »Es war sehr riskant. Er muß die Polizei verständigt haben.« »Schon möglich«, erwiderte Liu, keineswegs ungerührt. »Ich bin zu Ihnen zurückgerannt«, fuhr sie fort, »weil ich für Sie verantwortlich war.« »Na gut. Mit Bin war also nichts. Überwacht die Polizei das Hotel immer noch?« »Als ich vorhin kam – ja. Aber dann ist der Wagen wegge fahren.« »Warum wohl?« 148
»Vielleicht ein Schichtwechsel …« »Ja, das wäre möglich. Und Fredericksons Anweisungen?« »Sie fahren morgen früh mit dem Zug nach Wu Han. Die Fahrkarte liegt bei Ihren Papieren. Sie werden ein niedriger Parteifunktionär sein, der von Shanghai nach Wu Han versetzt wird – wegen einer Beförderung.« Sie lächelte. »Frederickson wird ebenfalls dort sein. Morgen wird nämlich eine amerikani sche Delegation von Geschäftsleuten mit dem Flugzeug nach Wu Han reisen. Frederickson wird sie in seiner Funktion als Handelsattache bei ihrem dortigen Besuch begleiten.« Absurd erweise fand Liu die Tatsache, Frederickson in seiner Nähe zu haben, sehr tröstlich. »Sie werden am Bahnhof von Wu Han abgeholt werden. Sie müssen jedoch auf jeden Fall dafür sor gen, daß niemand Sie beim Besteigen des Zuges beobachtet.« Liu nickte. »Sonst noch etwas?« »Am Bahnhof steht ein Koffer für Sie bereit. Hier ist der Schlüssel für das Schließfach.« Sie reichte ihn Liu, der ihn so rasch in seiner Tasche verschwinden ließ, als wäre er gestoh len. »Eine Waffe?« fragte er unwillkürlich. »Nein« »Natürlich nicht.« »Melden Sie sich bei der Abreise in Ihrem Hotel nicht ab.« »In Ordnung. Sonst noch etwas?« »Heute abend …« »Was soll heute abend sein?« »Wir haben jemanden für Sie, als Entschädigung für Bin.« »Wen?« »Einen Polizisten.« »Was?« fragte Liu verblüfft. »Nein!« platzte das Mädchen heraus, als hätte er sie geschla gen. »Einer von unseren Leuten, einer von Fredericksons Leuten. Er ist Angestellter bei der Polizei, nichts weiter. Wir können ihn nicht oft brauchen. Er hat kaum Zugang …« 149
Liu fing sich allmählich wieder und forderte sie auf, weiter zusprechen. »Ja? Ein Angestellter bei der Polizei?« »Frederickson ließ ihn sofort in Aktion treten, sobald wir Eins wegen Verdacht geschöpft hatten. Möglicherweise hat er heute abend bereits etwas …« »Ist es bekannt, daß er Ihrer Zelle angehört?« Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Die Sache ist wichtig. Eins wegen weiß man über Sie Bescheid, und auch über die Leute in der Wohnung. Wer sonst?« »Das kann ich nicht sagen. Niemand ist mit ihm in Verbin dung getreten, seit – seit diesem Malheur mit Bin.« »Und was sollen das für Informationen sein?« »Wer den Deutschen besucht hat – wie oft –, vielleicht auch, welche Aufzeichnungen zu dem Fall gemacht wurden. Ich weiß es selbst nicht genau. Es wird sehr gefährlich werden, aber er wird es trotzdem versuchen. Werden Sie sich mit ihm treffen?« Liu zögerte. »Wieso kann dieser Mann diese Informationen nicht an Sie oder einen von den anderen weitergeben?« Liang blickte beschämt zu Boden. »Frederickson traut uns nicht. Wir sind keine ausgebildeten Agenten. Wer weiß, ob dieser Mann vertrauenswürdig ist? Er möchte, daß Sie das entscheiden, nicht wir.« Liu nickte. »Heute abend also. Wo?« »Im Yu-Garten in der Altstadt. Genaueres finden Sie bei Ih ren Papieren.« »Um welche Zeit?« »Seine Schicht ist um zehn Uhr zu Ende. Um halb elf wird er am vereinbarten Treffpunkt sein.« »Gut. Und jetzt gehen Sie. Ich möchte nicht noch einmal mit Ihnen gesehen werden – nicht heute. Und halten Sie sich von den Straßen fern, auch von Ihrer Wohnung. Haben Sie verstan den?« »Dieselben Anweisungen hat mir schon Mr. Frederickson 150
erteilt.« »Und ich werde mich bemühen, nicht verhaftet zu werden.« Das Mädchen setzte eine verängstigte Miene auf, aber Liu grinste nur. »Keine Angst. Ich glaube nicht, daß sie mich schon schnappen wollen. Sie wissen noch nicht genügend. Schließ lich könnte ich sie doch zu fast jedem Agenten führen, den Frederickson im südlichen China hat, wenn sie sich an mich halten, oder?« Aubrey konnte es sich nicht verkneifen, bereits während sei nes etwas späten Frühstücks die Aufzeichnungen seines Ver hörs mit Zimmermann aus dem Jahr 1940 durchzusehen. Hyde studierte gerade den Sportteil des Daily Telegraph vom Vortag. »Wann erwarten Sie eigentlich Buckholz?« »Was? Ach so!« Aubreys blaue Augen richteten sich auf Hy de. »Er sollte eigentlich schon längst hier sein. Und dabei habe ich mit dem Frühstück sowieso schon so lange wie möglich gewartet.« Der Ausdruck ironischer Amüsiertheit in seinem Gesicht wich resignierter Müdigkeit. Hyde fragte sich, ob dem alten Mann wohl die bevorstehende Reise im Magen lag oder ob es Wei war, der seinen Optimismus dämpfte. Was auch immer Aubrey im Barossa Valley in Erfahrung bringen moch te, er würde wieder nach Hong Kong zurückkehren müssen, wo der unselige chinesische Oberst auf ihn wartete. Aubrey wandte sich wieder dem Aktenordner mit den eng beschriebenen, mit Schmutzrändern versehenen Aufzeichnun gen zu. »Sie wissen ja, Schiller könnte die Lösung des Rätsels sein«, sagte Hyde. »Vielleicht erklärt er, es wäre so gewesen – oder es wäre nicht so gewesen.« »Denken Sie, ich könnte ihm glauben?« fragte Aubrey ge reizt. »Wieso fragen Sie ihn dann überhaupt?« »Wie Sie bereits festgestellt haben, könnte er ja sagen. Oder ich komme vielleicht zu der Überzeugung, daß er lügt, wenn er 151
nein sagt.« Aubrey seufzte. »Ich muß ihn auf jeden Fall fra gen.« Buckholz wurde gerade von Godwin hereingeführt. Hastig klappte Aubrey den Ordner zu und schob ihn unter die Times vom Vortag. »Mein lieber Charles!« Er stand auf, um den Amerikaner mit einer Überschwenglichkeit zu begrüßen, die Hyde fast peinlich war. »Kenneth, guten Morgen.« Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. Aubrey deutete auf einen Stuhl. Mit einem leichten, aber keineswegs abschätzigen Nicken nahm Buckholz Hydes Anwesenheit zur Kenntnis. »Was möchten Sie denn gern?« »Nur Kaffee. Kenneth …« »Ja, Charles?« Aubrey goß Buckholz und sich Kaffee ein. »Was kann ich für Sie tun?« »Es handelt sich um Wei …« »Ja?« Aubrey konnte wieder einmal kein Wässerchen trüben. »Was ist mit Wei?« »Ich finde, es ist langsam an der Zeit, daß wir uns diesen Burschen etwas näher unter die Lupe nehmen.« »Aber warum denn nicht? Sie verhören ihn doch von heute an.« »Sie wissen ganz genau, was ich meine, Kenneth. Letztlich ist Wei, wenn auch nicht auf dem Papier, einzig und allein unsere Sache. Er hat um Asyl in den Vereinigten Staaten er sucht. Außerdem ist China unser Einflußbereich. Und das gleiche gilt auch für Deutschland. Ich möchte den Mann haben, Kenneth. Ich möchte, daß Sie Wei meinem Schutz unterstel len.« Aubreys Augen verengten sich. Hyde spürte, wie er das ge nügende Maß an Widerstandskraft aufzubringen versuchte. »Tut mir leid, Charles, aber das ist ganz einfach nicht mög lich.« Buckholz’ Gesicht verdunkelte sich leicht. »Es steht Ihnen selbstverständlich frei, an Wei heranzutreten …« 152
»In Begleitung einer Ihrer Männer! Was soll das Ganze ei gentlich, Kenneth? Trauen Sie mir vielleicht nicht?« Aubrey verzog mißmutig den Mund. »Das ist keine Frage des Vertrauens. Wei wurde von der Polizei in Hong Kong aus dem Hafen gefischt. Von daher fällt er in den Zuständigkeitsbereich meines Landes. Und solange meine Ermittlungen nicht abge schlossen sind, bleibt Wei im Victoria-Gefängnis, wo er nun einmal am sichersten ist.« »Und das ist Ihr letztes Wort?« »Ja, das ist es.« »Sie machen einen großen Fehler.« »Das hoffe ich allerdings nicht.« Buckholz zuckte mit den Schultern, um dann zögernd zu grinsen. »Dieser Mann in Australien, Zimmermanns ehemali ger Kumpel … Glauben Sie denn wirklich, das wird etwas bringen?« »Wenn ich das nur wüßte! Zumindest hoffe ich, dadurch ein paar weitere Anhaltspunkte zu bekommen, die uns weiterhelfen können. Falls Wei lügt, müssen wir auch herausfinden, wes halb er lügt.« »Ganz einfach – damit soll eben den Russen eins ausgewischt werden.« »Schon möglich. Falls er jedoch die Wahrheit sagt und dieser Schiller seine Geschichte in irgendeiner Weise bestätigt, wer den wir natürlich Zimmermann bloßstellen müssen.« »Was wiederum Kanzler Vogels Sturz zur Folge hätte. Und damit käme es natürlich auch nicht zur Unterzeichnung des Berlin-Abkommens.« »Das ist mir durchaus klar. Allerdings bleibt diese Entschei dung Sache der Politiker – uns vom Geheimdienst geht das nichts an. Andererseits können unsere Leute in London und Washington nur zu einer solchen Entscheidung gelangen, wenn wir ihnen die entsprechenden Fakten liefern – und vor allem, die vollständigen Fakten.« 153
»Und dafür werden Sie auf Teufel komm raus sorgen«, mein te Buckholz mit einem Grinsen. Aubrey lächelte mißbilligend. »Ich werde es zumindest ver suchen.« Buckholz stand auf. »Also gut, Kenneth. Ich werde mir Ihre Unterlagen zu Weis Geschichte ansehen und mich dann selbst mit ihm unterhalten. Mal sehen, was dabei herauskommt.« »Sobald ich auf irgend etwas Interessantes stoße, werde ich Sie sofort verständigen, Charles.« Aubrey stand auf, und die beiden Männer schüttelten sich wieder die Hände. Buckholz verließ leichtfüßig den Raum, ohne daß sein massiger Körper dabei weniger wuchtig gewirkt hätte. Hyde sah Aubrey fragend an. »Was sollte das denn nun wie der?« »Vermutlich geht es ihm allmählich auf die Nerven, ständig nur das fünfte Rad am Wagen spielen zu müssen.« Aubrey schenkte sich Kaffee nach. McIntosh betrat den Raum. »Mr. Aubrey, ich habe die nötigen Schritte veranlaßt.« Aubrey gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, er sollte sich zu ihnen an den Tisch setzen. »Sie und Hyde werden sich eine halbe Stunde vor den übrigen Passagieren an Bord der Maschine begeben. Offiziell werden Sie im Gefängnis Wei verhören, während Sie bereits seit einer Stunde in Richtung Australien unterwegs sind.« McIntosh schien mit seinen Vor kehrungen sichtlich zufrieden zu sein. »Gut. Sind Sie sicher, daß nichts von unseren Reiseplänen zum KGB durchgedrungen ist?« »Sie können nur davon Wind gekriegt haben, falls sie ihre Wanzen und Ohren an Stellen haben, von denen wir nichts wissen.« McIntosh schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, Sie können sich mit ziemlicher Sicherheit darauf verlassen, daß sie nichts von Ihrem kleinen Ausflug erfahren haben.« »Wieso hat Aubrey für heute nachmittag einen Flug nach 154
Australien gebucht?« fragte Tamas Petrunin. Wassili, der diesmal voller Respekt auf einem der Besucherstühle vor dem Schreibtisch saß, hinter dem er sonst thronte, trug eine ratlose Miene zur Schau. »Sydney und dann Adelaide? Können Sie mir vielleicht sagen, was er dort will?« »Ich habe keine Ahnung, Genosse General«, murmelte Was sili servil. Petrunin wirkte allerdings, wie Wassili unter seinen gesenkten Lider hervor bemerkte, durch die Nennung seines Ranges in keiner Weise beeindruckt. »Es war uns bis jetzt anhand unserer Informationsquellen nicht möglich, irgendeinen Zusammenhang zwischen dieser Geschichte und Aubreys Australienreise herzustellen.« »Australien?« murmelte Petrunin, als spräche er zu sich selbst. »Diese Angelegenheit betrifft die Chinesen, die Deut schen, die Engländer und die Amerikaner. Aber die Australier haben damit ganz sicher nichts zu tun! Haben Sie sich schon mit der Zentrale in Moskau in Verbindung gesetzt?« »Jawohl, Genosse General. Ich habe für den Computer ober ste Dringlichkeit angemeldet. Das war vor drei Stunden.« Petrunin sah auf seine Uhr. »Aubrey wird in zwei Stunden abfliegen. Haben Sie die Plätze bis Singapore reservieren lassen?« »Ja, und auch weiter nach Perth und Adelaide.« »Kann ich mit Unterstützung rechnen?« »Die Botschaft in Sydney wird dafür sorgen, daß Ihnen in Adelaide mehrere Leute zur Verfügung stehen …« Er hielt mitten im Satz an, als wäre er gerade mit einem höchst peinli chen Geheimnis herausgeplatzt. Petrunin lächelte. »Sie haben es sich also schon gedacht?« »Ja, Genosse General – aufgrund Ihres enormen persönlichen Interesses, das Sie für den Fall aufbringen …« »Ja, genau. Ich werde selbst fliegen. Bleibt nur zu hoffen, daß die Geschichte dann auch das Geld für die Flugkarte wert ist. Diesen Hyde kenne ich – sozusagen ein alter Bekannter. Ein 155
sehr tüchtiger Mann. Und Sie können mir glauben, daß Aubrey nicht einfach so zum Spaß nach Australien rüberfliegt – auf keinen Fall …« Das Telefon klingelte. Wassilis Hand schoß automatisch vor, zuckte dann aber ebenso schnell wieder zurück, als hätte er sich verbrannt. »Genosse General?« »Ja, am Apparat.« »Eben ist eine Antwort auf Ihre Anfrage an die Zentrale in Moskau hereingekommen.« »Ja?« »Sie haben den Namen – Schiller. Ein weiterer Abwehroffi zier. Er hat in Spanien für die Faschisten gekämpft …« »In der Legion Kondor?« fragte Petrunin mit affektierter Ge langweiltheit. »Kommen Sie lieber zur Sache. Mit Zimmer mann?« »Ja, in derselben Einheit. Sie gerieten 1938 gemeinsam in Gefangenschaft.« »Interessant. Und …« »Schiller ist inzwischen australischer Staatsbürger. Er lebt in Südaustralien …« »In der Nähe von Adelaide?« »Ja, Genosse General.« »Haben Sie seine genaue Adresse?« »Noch nicht.« »Verständigen Sie Sydney. Sie sollen diesen Mann sofort ausfindig machen. Aber schicken Sie mir vorher noch den vollständigen Text des Kabels, ja? Vielen Dank.« Petrunin legte den Hörer auf. »Aubrey denkt also, Schiller wäre diese Reise wert. Jetzt wäre es freilich interessant zu wissen, welche Rolle dieser Herr Schiller innerhalb des Ganzen spielt. Finden Sie nicht auch, Wassili?« »Aber natürlich, Genosse General.« »Also gut, Hotelreservierungen in Adelaide. Außerdem brau 156
chen wir Verstärkung aus Sydney. Ich möchte diesen Schiller haben, bevor Aubrey ihn aufspürt.« »Warum, Genosse General?« »Warum? Woher soll ich das wissen? Aber vielleicht kann uns Schiller den Grund hierfür nennen.« Petrunin beugte sich vor. »Das Berlin-Abkommen steht und fällt mit der Person Zimmermanns. Moskau ist der Anschauung – eine Anschau ung, die auch ich teile –, daß diese Vorgänge hier an Zimmer manns Position kratzen. Und damit stellen sie auch eine Ge fährdung des Berlin-Abkommens dar. Und nicht weniger ge fährden sie dadurch auch uns – die Sowjetunion. Den Chinesen paßt das Berlin-Abkommen nicht in den Kram. Vielleicht wollen sie es sabotieren, indem sie Zimmermann diskreditie ren. Ich habe allerdings keine Ahnung, was sie ihm mögli cherweise anhängen wollen.« Er lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück. »Jedenfalls müssen wir schnellstens etwas unternehmen.« Die Wolken unter der 747 waren vom Vollmond beschienen. Wie kleine, sandige Inseln schwebten sie gemächlich über die schimmernde See, zehntausend Meter unter ihnen, hinweg. Aubrey döste vor sich hin, die Aufzeichnungen über sein Verhör Zimmermanns aus dem Jahr 1940 in der Aktentasche auf seinem Schoß. Im Halbschlaf schossen ihm, in strikt chro nologischer Reihenfolge, noch einmal die Ereignisse jener Nacht in der Scheune bei Flize unmittelbar nach Zimmermanns Gefangennahme durch den Kopf. Gegen Aubreys besseres Wissen hatte sich der Deutsche da mals beharrlich geweigert, seine Zugehörigkeit zur Abwehr zuzugeben. Und trotz seiner wachsenden Unzufriedenheit hatte Aubrey sich damals gezwungen gesehen, seinem Gefangenen mit einem gewissen Respekt gegenüberzutreten, der wohl vor allem der Professionalität des Deutschen galt. »Sie sind kein Infanterieoffizier«, behauptete er neuerlich. 157
»Sie gehören der Abwehr an, dem deutschen Geheimdienst.« Umgeben vom eintönigen Summen im Innern der Maschine bewegten sich Aubreys Lippen tonlos zu seiner im Gedächtnis vorgebrachten Feststellung, und als nächstes spiegelte sein Gesicht seinen Ärger über Zimmermanns Reaktion wider – ein gelassenes, fast amüsiertes Lächeln. »Neunzehntes Panzerregiment«, erwiderte Zimmermann. Das Lachen eines Mitpassagiers hätte den alten Mann fast aus dem Schlaf gerissen. Aber dann glitt er rasch wieder in die Rembrandt-Szene der Scheune zurück. Erleuchtet vom warmen Schein der Petroleumlampe schlief das französische Brüder paar im Heu. Aus dem Hintergrund das Stampfen einer Kuh. Der Duft von Heu, vermischt mit dem Geruch von Mist und dem Qualm der Lampe. »Sie bestehen also auf Ihrer Geschichte?« »Natürlich. Sie entspricht der Wahrheit.« Zimmermann hielt Aubrey seine Papiere unter die Nase. »Die habe ich bereits gesehen.« Instinktiv war Aubrey an diesem Punkt aufgestanden und aus dem Lichtschein der Lam pe getreten. »Ehrlich gesagt, ich glaube, daß sie gefälscht sind. Aber gefälscht oder nicht – Sie sind hier, und das Sagen haben wir. Übrigens – ich halte nicht besonders viel von Ihrer Erfah rung, Ihrer Schlauheit, Ihrer Gerissenheit.« Gefühlsmäßig wußte der junge Aubrey, daß er den Deutschen reizen, irgendwie aus der Fassung bringen mußte. »Ganz gleich, ob Sie den Mund aufmachen oder nicht – Sie sind mein Gefangener. Ich bin recht zufrieden mit mir, müssen Sie wissen. Mein erster Einsatz – und gleich so etwas. Ein richtiger deutscher Offi zier!« Darauf hatte er leise gelacht. »Anscheinend gerate ich recht häufig in Gefangenschaft«, erwiderte Zimmermann scheinbar völlig ungerührt. »An diesen Zustand bin ich inzwischen gewöhnt. Ich bin schon öfter ver hört worden – auch von Experten auf diesem Gebiet.« »Sie sind schon öfter gefangengenommen worden? Mein 158
Gott, wie dumm von Ihnen!« spottete Aubrey. »Nennen Sie es, wie Sie wollen – Sturheit, Tapferkeit, Blöd heit –, ich weiß es auch nicht. Aber ich muß Sie warnen. Bisher ist es mir immer noch gelungen, nach Berlin zurückzukehren und mir meine Orden abzuholen.« Zimmermann lächelte gelas sen. »Aber trotzdem«, fügte er hinzu, »allmählich beginnen Sie das Spiel zu begreifen.« Aubrey trat in den Schein der Lampe zurück, sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Auf dem Gesicht des alten Mannes in der 747 dagegen breitete sich ein amüsiertes Lächeln aus. »Welches Spiel?« »Das Verhörspiel. Sie sind noch sehr jung.« »Jedenfalls werden Sie mir noch lange genug Gesellschaft leisten, um es mir von Grund auf beizubringen.« »Das wage ich zu bezweifeln. Sie sind zwar durchaus geleh rig. Aber dies ist eine Kunst, für die wir sehr hart werden arbei ten müssen.« Er grinste. »Vergessen Sie den Plural. Ich bin ja nur ein Infanterieoffizier«, fügte er leichthin hinzu, um dann fortzufahren, bevor Aubrey ihn noch unterbrechen konnte: »Ich kann mich erinnern – als ich in Spanien in Gefangenschaft war, in Aragon – ich war damals als ganz junger Offizier bei der Legion Kondor …« Aubrey erschien der in die Ferne schwei fende Blick in Zimmermanns Augen durchaus ungekünstelt. Offensichtlich dachte er mit Bedauern an diese besseren, über schaubareren Zeiten zurück. »Ja, damals wurde ich von einem Russen verhört …« »Erzählen Sie weiter«, hatte der junge Aubrey den Deutschen aufgefordert, als dieser nicht mehr weitersprach. Dann hatte Zimmermann genickt, als stimmte er in einem inneren Dialog mit einem anderen Teil seines Ichs darin überein, daß diese Geschichte keine militärische oder geheimdienstliche Bedeu tung hatte … Aubrey, im Halbschlaf vor sich hindösend, versuchte sich diesen Moment wieder zu vergegenwärtigen … 159
Zimmermanns Gesicht – wie sah es aus? Welchen Ausdruck spiegelte es wider? Im Mondlicht, das durch das Flugzeugfen ster hereinfiel, runzelte der alte Mann in angestrengter Konzen tration die Stirn. Nach einer zweiten Aufforderung, doch weiterzuerzählen, hatte der Deutsche schließlich wieder zu sprechen begonnen. »Ja, ich kann mich noch gut an diesen Russen erinnern. Er nannte sich Aladko. Ich nehme an, er war ein sowjetischer Geheimdienstoffizier.« Genau der Name, den Wei genannt hat, sagte sich der alte Mann in seinem Traum. Zimmermann hatte damals den Namen des Mannes nur einmal erwähnt. Dann hatte er über seinen Bart, seinen Geruch, sein schlechtes Deutsch, seine Brutalität, seine Hinterhältigkeit und Undurchschaubarkeit gesprochen. Sein Gesicht, sein Zögern! fragte sich der alte Mann, während er eine etwas aufrechtere Sitzhaltung einnahm. Er konzentrierte seinen nun fast wachen Verstand auf diesen Moment des Zö gerns und versuchte, sich den Gesichtsausdruck des Deutschen zu vergegenwärtigen. Er hatte einfach weitergesprochen, weil es keinen Grund gegeben hatte, auf der Hut zu sein. Die Ge schichte war ganz natürlich, ohne jede Zensur, hervorgespru delt. Zimmermanns Augen waren erinnerungsselig gewesen, nicht berechnend. Aubrey sah aus dem Fenster auf eine Insel hinunter, die wie ein unbeleuchtetes Schiff unter ihnen vorbeiglitt. Und dann wieder nichts als die gemächlich ziehenden Wolken und die im Mondlicht schimmernde See. Er war keinen Schritt weiterge kommen. Eher war er sogar noch unschlüssiger als zuvor. Weis Angaben zufolge war es also damals geschehen. Zimmermann und Schiller waren von republikanischen Truppen gefangenge nommen worden, und während der paar Tage, die sie brauch ten, um wieder zu entkommen, war Zimmermann anscheinend sowjetischer Agent geworden. Aber er hatte über den Vorfall doch ohne Zögern, ohne Geheimniskrämerei erzählt … 160
Einer weiteren Ausführung dieser Geschichte war dann aller dings ein britischer Geheimdienstmajor zuvorgekommen, der Aubrey die Order erteilt hatte, seinen Gefangenen bei Tages anbruch sofort ins Hauptquartier des Geheimdienstes der Bri tish Expeditionary Force in Louvain zu bringen. Die Erinnerung an den Major weckte den alten Mann vol lends. Er setzte sich auf und rieb sich die Augen. Die lebhaften Erinnerungen verblaßten zusehends. Aubrey gähnte. Eine unstillbare Neugier begann an ihm zu nagen. Er mußte unbe dingt mit Schiller in Australien sprechen. Er vermutete, daß Schiller den Schlüssel zu Zimmermanns Wesen in Händen hielt. In der warmen Dämmerung betrat David Liu ein altes, längst vergangenes China. Der Yu Yuan, der Garten der bedächtigen Glückseligkeit, lag im letzten Sonnenlicht, erfüllt vom Sum men später Insekten, vom Plätschern der von Menschenhand geschaffenen Wasserfälle. Er überquerte die Zickzackbrücke der Neun Windungen und passierte das reich verzierte Teehaus, aus dessen Fenstern bereits warmer Lichtschein fiel. Der Park war immer noch voll von Menschen, leerte sich jedoch bereits mit einer Regelmä ßigkeit, deren Diszipliniertheit deprimierend war. Bis zu seinem Treffen mit dem Polizeiangestellten hatte er noch eine Stunde Zeit. Nachdem ihn das Mädchen wieder verlassen hatte, war er auf sein Hotelzimmer gegangen, um sich seine neuen Papiere anzusehen. Dann hatte er das Hotel verlassen, um nie wieder dorthin zurückzukehren. Er wurde wieder von einem Wagen beschattet, den er jedoch abschüttel te, indem er sich unter die Menschenmassen in den verwinkel ten Straßen der Altstadt mischte. Den Rest des Vormittags verbrachte er dann damit, sich den Yu-Garten mit seinen Tei chen, Hallen, Türmen und Bäumen genauestens einzuprägen. Der Park war eine raffinierte Falle mit zahlreichen möglicher 161
Fallentüren. Den restlichen Tag schlenderte er durch die Straßen der Stadt, um sich gelegentlich in einem Restaurant oder Teehaus auszuruhen. Er hatte keine Ahnung, ob man ihm eine Falle stellte. Der genaue Treffpunkt war die Halle-Welche-den-HügelHinaufblickt im Nordteil des Parks. Unter Bäumen, die mit Lampions behangen waren, ging er darauf zu. Wenn ihm dort die Polizei auflauerte, dann würde er das merken. Zu diesem frühen Zeitpunkt waren sie noch nicht auf der Hut, hatten sie sich noch nicht in ihre Verstecke begeben. Er verbrachte eine Viertelstunde damit, die Umgebung der Halle zu inspizieren – und ihr dämmriges, warm erleuchtetes Inneres. Banner, Lampions, reich verziertes Mobiliar in den einzelnen Räumen, kunstvoll geschnitzte Deckenbalken. Fremd und zugleich vertraut, fremd für seine Erfahrung, vertraut für einen entwurzelten, sehnsüchtigen Teil seines Ichs. Unter den nach oben gebogenen, kunstvoll verzierten Dachrinnen der Halle wünschte er einen flüchtigen Augenblick lang, kein Amerikaner zu sein. Es war niemand zu sehen. Keine Falle also. Er fand eine Bank, von der aus man die Halle und den kleinen Teich und den Hügel dahinter überschauen konnte. Er nahm darauf Platz, um auf Liang und den Angestellten zu warten. Um zehn Uhr zwanzig war der Park praktisch menschenleer. Nur noch ab und zu kam jemand vorbei – niemand, der Liu in irgendeiner Weise verdächtig erschienen wäre. Und dann entdeckte er Liang. Sie kam über den Hauptweg heran. Er würde durch ein paar Büsche ihren Blicken entzogen bleiben, wenn sie an ihm vorbeiging. Er genoß diese Position des ge heimen Beobachters. Dann sah er das Paar aus der Wohnung. Und wenige Minuten später fielen ihm zwei weitere Personen auf, die er zwar nicht kannte, deren Absicht jedoch völlig außer Zweifel stand. Alle vier überwachten das Gelände. 162
Frederickson kümmerte sich wirklich um ihn. Über mangelnde Rückendeckung konnte Liu keineswegs klagen. Möglicher weise war hier die gesamte Shanghai-Zelle angerückt, um ihn zu schützen. Er beobachtete, wie sie sich rings um das Gebäude postierten, und wartete. Liang betrat schließlich die Halle und erschien kurz darauf auf dem reich verzierten Balkon im ersten Stock, wo sie allein im Schein einer einzelnen Lampe stand. Liu wartete immer noch, die Sinne aufs äußerste angespannt, auf jedes Geräusch, auf jede Bewegung achtend. Um zehn Uhr achtundzwanzig schien sich außer Liang und den vieren, die den Sicherheitsgürtel um die Halle bildeten, niemand mehr im Park aufzuhalten. Dann trat auf dem Balkon ein Mann zu Liang. Sie begrüßten sich. Liang fing sofort an, die Wege im Umkreis der Halle abzusuchen, vermutlich nach Liu. Er stand auf, streckte sich und ging langsam auf das Gebäude zu. Aus dem Lichtkegel einer Laterne heraus nickte ihm die junge Frau aus der Woh nung ermutigend zu. Er lächelte. Er betrat die Halle und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. »Da sind Sie ja.« Liang begrüßte ihn wie einen Freund, als er auf dem Balkon erschien, und nicht wie einen Teilnehmer an einer gemeinsamen Verschwörung. »Das ist Huang.« Der Mann neben Liang nickte höflich. Seine Nervosität war unverkennbar – ebenso wie die Tatsache, daß er sich der Wich tigkeit dieses Zusammentreffens bewußt war. »Vielen Dank, daß Sie gekommen sind, Huang.« Liu war voll auf die Situation konzentriert. »Haben Sie irgendwelche Infor mationen für mich?« »Sehen wir uns doch den Teich ein wenig an«, schlug Liang mit einem Einfühlungsvermögen vor, dem Liu seine Bewunde rung nicht verweigern konnte. Bewegung, langsame, zweckbe stimmte Bewegung würde den Mann von der Polizei vielleicht beruhigen, seine Zunge lösen. Sie begannen auf dem Balkon auf und ab zu schlendern, und zwar so, daß sie vom Hauptweg 163
aus, der zur Halle führte, nicht gesehen werden konnten. »Es war sehr schwierig …«, begann Huang. »Das ist mir völlig klar«, erwiderte Liu besänftigend, bemüht, die Unterhaltung in Gang zu bringen. »Ich habe einiges in Erfahrung gebracht …« »Ja?« Bei Nacht wirkte der Teich größer. Der Hügel dahinter war mit Lampen übersät, und selbst die Pagoden auf seinem Gipfel und an seinem Fuß wirkten wie gigantische Lampions. »Ich konnte die Aufzeichnungen natürlich nicht an mich nehmen. Ich mußte mir irgendeinen Vorwand ausdenken, die Schlüssel entwenden … Ich hatte nicht viel Zeit, sie genauer anzusehen …« »Das kann ich mir denken«, murmelte Liu. »Zum Glück hat mir Mr. Frederickson mit den Schlüsseln auch eine kleine Kamera zukommen lassen.« Der Weg direkt unter ihnen war leer. Nur die Frau aus der Wohnung hielt Wache. »Haben Sie Fotos?« »Ja. Ich habe gesagt, ich hätte eine Erkältung, um früher von der Arbeit nach Hause gehen zu können. Einen Teil der Fotos habe ich bereits entwickelt. Das hat mir Mr. Frederickson beigebracht. Es ist Ihnen hoffentlich klar, daß ich nicht viel Zeit hatte, um alles zu fotografieren. Deshalb habe ich mich auf die Papiere beschränkt, von denen ich glaubte, daß sie für Sie am ehesten von Interesse sind …« »Zeigen Sie mal her«, bat Liu wie ein gieriges Kind, dem man Süßigkeiten anbot. Huang beugte sich leicht vor und griff in seine Jacke. Er brachte drei zusammengefaltete Bögen Fotopapier zum Vor schein. Liu trug sie in den Schein einer Lampe, während Liang und Huang ihn schweigend beobachteten. Er faltete die drei Bögen auseinander, hielt sie ins Licht, um die chinesischen Schriftzeichen lesen zu können. Die Verabrei 164
chung von Medikamenten – waren auch spezielle Drogen darunter? Anscheinend ja. Pentathol, übersetzte er, während sein Herz vor Aufregung schneller zu schlagen begann. Er besah sich das zweite Foto. Es war überbelichtet, so daß die Schrift nur noch mit Mühe zu erkennen war. Es handelte sich um die Anforderung von Leuten mit medizinischer wie psycho logischer Qualifikation. Die Namen sagten Liu nichts. Das dritte Foto bildete einen Brief ab, den General Chiang vom Ministerium für öffentliche Ruhe an ein leitendes Mitglied des Politbüros in Peking geschrieben hatte. Ein Bericht über den Deutschen, die Genesung seines von Drogen zerrütteten Vers tandes, wobei die Sprünge so gut gekittet und geglättet wurden, daß dieser sich nicht einmal in seinen Träumen an die Verhöre würde erinnern können, denen man ihn unterzogen hatte. Er steckte die Fotos in die Tasche und wandte sich wieder Huang zu, der erleichtert, sogar beglückt wirkte. Liang wollte eben den Mund aufmachen, um etwas zu ihm zu sagen, aber ein Pfiff von der anderen Seite der Halle erstickte ihre Worte im Ansatz. Andere Trillerpfeifen ertönten, gefolgt von einem Schrei und einem Schuß, der ganz in der Nähe gefallen war. Es war die Stimme einer Frau gewesen, die sich in warnendem Ton erhoben hatte. Das Mädchen aus der Wohnung … Liang wirkte perplex, übertölpelt. Huang war unfähig, sich zu bewegen. Panik hatte seine Muskeln gelähmt – nein, fast schien er entspannt zu sein. Weitere Schüsse. Als Huang vorn über gegen das geschnitzte Geländer des Balkons fiel, spiegelte sich in seinem Gesicht maßlose Verblüffung wider. Liu, mit jeder Faser seines Körpers auf Überleben und Entkommen bedacht, entging diese letzte Lebensäußerung Huangs trotzdem nicht. »Nein, nein, nein …«, murmelte das Mädchen immer wieder, während es auf Huangs leblosen Körper starrte. »Nein …« Sie hatte einen Schock erlitten, war unfähig, sich zu bewegen, etwas zu unternehmen. Liu trat auf sie zu, eine Hand nach ihr 165
ausgestreckt, aber schon im nächsten Augenblick veranlaßte sein Selbsterhaltungstrieb Muskeln, Sehnen und Gehirn, sich zurückzuziehen. Pfiffe, Schüsse, Befehle, durch ein Megafon verstärkt. »Kei ne Bewegung! Rühren Sie sich nicht von der Stelle! Polizei! Sie sind verhaftet!« Das Stottern eines automatischen Gewehrs, etwas schlitterte schwer über den Kies. Liu spähte über die Balkonbrüstung. Laute Schritte auf der Holztreppe zum ersten Stock der Halle. Die Lampen beschie nen das Wasser. Für einen Augenblick zog das silberne Gleiten eines Karpfenkörpers seine Aufmerksamkeit auf sich, und dann kletterte er über das Geländer, und in der Hoffnung, daß der Teich tief genug war, sprang er. Er tauchte in das Wasser ein, das seinen Fall bremste, und dann sanken seine Füße und Knöchel in den glitschigen Unter grund des Teichs. Ohne Orientierung und blind schlug er unter Wasser um sich. Der Lichtschimmer über ihm wurde schwä cher, das Blut pochte in seinen Ohren, seine Lungen sehnten sich nach Luft. Er streifte einen Felsen, seine Hände glitten am Tang ab. Er klammerte sich an den Stein und arbeitete sich an die Oberfläche hoch. Gierig sog er die Luft in seine Lungen und schüttelte das nas se Haar aus den Augen, als er sich umblickte. Die Halle war von zahllosen Gestalten umgeben. Liangs roter Kittel leuchtete auf, als das Mädchen abgeführt wurde. Zwei andere Polizisten trugen Huangs Leiche davon. Die Lichtkegel von Taschenlampen zuckten über das Wasser, suchten nach ihm. Ein paar Schüsse peitschten aufs Geratewohl über die ruhige Oberfläche des Teichs. Liu tauchte wieder unter und schwamm auf den Hügel und die Umgrenzungsmau er des Parks zu. Als er wieder auftauchte, um nach Luft zu schnappen, kauerte er mit den Knien auf einem Felsvorsprung. Die Lampen der Pagode warfen tiefe Schatten über den Fuß des Hügels und die weiße Mauer, die sich dahinter erstreckte. 166
Über die glitschigen Felsen kletterte Liu zu der Mauer hinauf. Als er sie schließlich erreichte, ließ er seine Finger prüfend über ihre Oberfläche gleiten. Rauh, mit zahlreichen Vorsprün gen und Kanten. Das mußte genügen. Er schöpfte erst einmal Atem. Die weiße Mauer würde für seinen verzweifelten Fluchtversuch einen hervorragenden Hintergrund abgeben – die perfekte Leinwand. In etwa zwei einhalb Metern Höhe, knapp zwei Meter unterhalb der Figur eines schlafenden Drachens, der die Oberseite der Mauer zier te, waren verschiedene vorspringende Verzierungen ange bracht. Liu richtete sich zu voller Größe auf und ließ sich emporschnellen. Seine Hand berührte zwar einen der Vorsprünge, bekam ihn jedoch nicht zu fassen. Unmittelbar darauf, als hätte er eine elektronische Alarmanlage ausgelöst, ertönten von der anderen Seite des Teichs Pfiffe und Schüsse. Neben ihm splitterten Ziegel- und Mörtelbrocken von der Mauer ab. Er sprang von neuem, klammerte sich mit einer Hand fest, riß den anderen Arm hoch und packte den sich nach oben biegenden Mauervor sprung. Verzweifelt scharrten seine Füße gegen die rauhe Mauerfläche, bis sie schließlich Halt fanden und Liu sich zu dem Vorsprung hochhieven konnte. Der Drachen über ihm zeigte sich ungerührt. Er spürte, wie die Kugeln in die Mauer schlugen, hörte, wie sie pfeifend an ihm vorbeischossen. Schweißdurchnäßt, einer Panik nahe, rollte er seinen Körper seitlich über den Vorsprung. Und dann, dicht gegen die Mauer gepreßt – er konnte laufende Schritte und Befehle unter sich hören –, streckte er sich wie eine Katze langsam nach oben, bis er aufrecht auf dem Vorsprung stand. Blind über sich greifend, ertasteten seine Finger die Spalten zwischen den Schuppen des Drachens. Als sie schließlich Halt fanden, zog er sich hoch, bis seine Augen auf gleicher Höhe mit dem starren Blick des steinernen Drachens waren. Dankbar kletterte er über den Hals des Drachens. 167
Die schwach erleuchtete Straße auf der anderen Seite der Mauer war fast menschenleer. Mühsam ließ Liu sich an der Mauer hinuntergleiten. Auf dieser Seite waren es nicht mehr als drei Meter bis zum Boden. Als sein Körper schließlich in voller Länge von der Mauer hing, ließ er sich fallen. Er stolperte, taumelte in seiner Erschöpfung, aber dann weck ten die schrillen Pfiffe von der anderen Seite schleunigst wie der seine Lebensgeister. Die drei durchnäßten Fotos immer noch in der Tasche, die Informationen, die sie beinhalteten, sicher in seinem Kopf aufbewahrt, rannte er davon. Langsam erstarben die Pfiffe hinter ihm.
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ZWEITER TEIL
Der Hase und der Igel 6. In vino veritas In der warmen Nachtluft wurden Lius Kleider rasch trocken. Zwei endlos lange Stunden trieb er sich in den überfüllten Straßen der Altstadt herum, bis er sich schließlich wieder soweit gefangen hatte, daß er ein Teehaus betrat und dort etwas zu essen bestellte. Mitternacht war bereits vorüber, als er auf dem Weg zum Bahnhof am Shanghai Mansions vorbeikam. Zu seiner Überra schung sah er das Hotel nicht mehr als heimeligen Zufluchts ort, in dessen Schutz er sich zurückzuziehen wünschte. Sein Zimmer dort war nun nichts weiter als ein leerer Raum, den er ebenso leichthin ablegte wie seine letzte Tarnperson. Ab jetzt war er ein Parteifunktionär. Die Papiere in seiner Brusttasche, immer noch in durchsichtiges Plastik gewickelt, waren ein sicherer Schutz. Sobald er seinen zerknitterten und verschmutz ten Anzug abgelegt hatte, würden auch Shanghai und die damit verbundenen Gefahren hinter ihm liegen. Ein neuer Anfang. Auf dem Bahnhof wimmelte es von Menschen, die auf die ersten Morgenzüge warteten. Die Polizei schien zahlreicher vertreten zu sein als bei seiner Ankunft, aber sie ging nur ihren alltäglichen Routinekontrollen nach. Er eilte zu den Schließfä chern, holte den Schlüssel, den ihm das Mädchen gebracht hatte, aus seiner Tasche – für einen Moment wog er ihn in seiner Hand, um sich kurz dem neuen Mitgefühl hinzugeben, das er nun für sie verspürte – und nahm dann den kleinen Koffer aus imitiertem Leder heraus, um sich damit auf die Toilette zu begeben. Er zog sich rasch um, packte seine Unter wäsche und den zerknitterten Anzug in den Koffer und wusch sich dann, so daß er wieder einigermaßen ordentlich aussah. 169
Die zwei kleinen Schaumgummipolster in seinen Backen ver liehen ihm ein runderes Gesicht. Und seine Jacke war so wat tiert, daß er darin einen recht beachtlichen Bauch zu haben schien. Dann scheitelte er sein Haar noch auf der anderen Seite, so daß ihm schließlich aus dem Spiegel heraus ein neuer Mensch mit leicht resignierender Traurigkeit entgegensah. Er nahm seinen Koffer und begab sich in die Bahnhofshalle, wo der Garten in dem harten Kunstlicht wesentlich artifizieller, fast plastikartig wirkte. Er setzte sich in der Nähe des Brunnens auf eine Bank. Das leise Plätschern schläferte ihn leicht ein. Sein Bauch, der im Sitzen deutlich sichtbar wurde, amüsierte ihn. Von den Leuten, die mit ihm auf der Bank saßen, schenkte ihm keiner irgend welche Beachtung. Die meisten dösten zusammengesunken vor sich hin. Den Koffer zwischen den Beinen, die Hände über dem ungewohnten Bauch gefaltet, machte auch Liu es sich bequem. Seine Papiere – er hatte sie inzwischen aus ihrer Umhüllung genommen – dienten ihm als Schutzschild und Trost. Gelangweilt sah er auf seine Uhr. Der Zug nach Wu Han würde in etwas mehr als vier Stunden abfahren. Das Mädchen … Was konnte sie ihnen verraten? Was würde sie ihnen erzäh len? Seine Papiere, seine neue Identität? Nur, wenn sie sich das Päckchen genauer angesehen hatte. Und Liang verstand sicher genug von ihrer Arbeit, so daß sie sich die Papiere nicht angesehen haben würde, um sich nicht mit Informationen zu belasten, die ihrer Organisation schaden konnten. In Gedanken zimmerte Liu sich eine neue, verklärte Realität zurecht. Ihre Verhaftung machte ihn betroffen. Er unterdrückte das Erschauern, das ihn überkam, als Bilder von ihrem Verhör durch seinen Kopf schossen. Nein, er war in Sicherheit. In Wu Han würde es zu keinen 170
Verzögerungen kommen. Rasche Kontaktaufnahme, Übergabe von Informationen, Entweichen. Diesmal würde nichts schief gehen. Eingelullt vom Plätschern des Brunnens und dem Murmeln der wartenden Reisenden, schlief Liu ein. Die Ansett Boeing 727 aus Sydney schwebte über ihren eigenen Schatten hinweg in Richtung Adelaide. Von seinem Fensterplatz aus beobachte te Aubrey den Schatten, wie er über die niedrigen, mit kleinen Büschen bewachsenen Sanddünen des Coorong und dann die sanften Wellen zwischen der Küste und der YounghusbandHalbinsel hinwegglitt. Den Aufenthalt auf dem Flughafen von Sydney hatte Aubrey nur in schwacher, halb bewußter Erinnerung. Das geringe Maß an Aufmerksamkeit, das ihm vor Übermüdung noch geblieben war, wurde von seinen Erinnerungen an jene Tage im Mai des Jahres 1940 in Anspruch genommen, während deren Zimmer mann sich in seiner Gewalt befunden hatte. Mit einemmal war ihm dabei die Wichtigkeit der Tatsache ins Auge gestochen, daß Zimmermann damals über die Rekrutie rung von Agenten durch den NKWD gesprochen hatte. Später hatte er sogar selbst einige dieser Männer, sogenannte ›Maul würfe‹, verhört, die Früchte der Internationalen Brigaden in Spanien. Den Namen Aladko hatte er allerdings nur von Zim mermann gehört. Während des Flugs von Sydney hatten seine Zweifel jedoch wieder zugenommen. Welches Spiel hatte Zimmermann da mals mit ihm gespielt? Hatte er überhaupt ein Spiel gespielt? Hatte der Deutsche vielleicht die Wahrheit gesagt? Ich bin nicht käuflich. Stimmte das? Hatte er das überhaupt gesagt? Dem wachen Aubrey, der aus dem Fenster der 727 sah, kamen diese Worte verdächtig vertraut vor. Sie hätten von ihm selbst stammen können. Die Boeing neigte sich zur Seite, so daß ihr Schatten an den Abhängen der Mount Lofty Ranges emporglitt. Dann kippte 171
das Land unter ihnen wieder zurück, und als erstes fielen Au brey nun die Weinberge auf. Ihre regelmäßigen, grünen Struk turen auf den unteren Ausläufern der Berge, die sich bis zur Küste des Golfs hin erstreckten, schockierten ihn, und er spür te, wie sein Körper in der gespannten Erwartung eines jüngeren Mannes zu kribbeln begann. Schiller. Ja, Zimmermanns Freund. Zimmermann hatte erwähnt, daß Schüler von Aladko verhört und angeworben worden war – ohne Erfolg. Er hielt vielleicht den Schlüssel zur Lösung des Rätsels in der Hand. Das Flugzeug wandte sich nach Norden. Eingehüllt in eine Glocke aus Gestalt gewordener Hitze lag Adelaide vor ihnen. Als die Boeing zur Landung ansetzte, verhüllte der Dunst noch die Parks mit ihren Bäumen, hinter denen sich wie Bastionen die weißen Türme der Bürogebäude erhoben. Aubrey überkam ein Gefühl, als jagte er einer Illusion nach, als versuchte er eine Stadt zu erreichen, die sich ihm immer wieder entzog, ihm nie eine Antwort auf seine Fragen geben würde. Das Barossa Valley lag irgendwo im Norden von Adelaide, verborgen in scheinbar undurchdringlichem Dunst. Dieses Gefühl deprimier te ihn. Hyde holte auf dem Flughafen ihr Gepäck ab und besorgte den Schlüssel für ihren Mietwagen. Aubrey ließ er während dessen wie einen ältlichen, nicht mehr ganz zurechnungsfähi gen Verwandten in der Wartehalle zurück. Auf dem Flughafen von Sydney hatte man ihm einen Schlüssel für ein Schließfach zugesteckt, aus dem er sich nun eine Pistole holte, eine andere Heckler & Koch VP 70. Mit drei zusätzlichen Magazinen. Er ließ die Waffe in seinen Koffer gleiten. Zehn Minuten später fuhr er mit Aubrey neben sich durch den Mittagsverkehr von Adelaide zum Hotel. Aubrey schwieg mehrere Minuten, als wäre Hyde nur ein Taxichauffeur, bis er schließlich sagte: »Ich muß Shelley anru fen, wenn wir im Hotel angekommen sind.« Das klang wie ein Befehl an das Mitglied eines imaginären Gefolges. 172
»Willkommen zurück auf der Erde«, erwiderte Hyde. »Ich dachte schon, Sie hätten sich ganz in Ihren Träumen verstie gen.« »Nein, nein«, entgegnete Aubrey in leicht beleidigtem Ton fall, der jedoch Hydes Bemerkung in ihrer Halbrichtigkeit durchaus bestätigte. »Jedenfalls, willkommen in Adelaide.« Weiße Säulen, Palmen entlang der Straßen, der auffallend wolkenlose Himmel. »Die fünfzehnte Internationale Brigade, das war es doch?« murmelte Aubrey. »Ich war nur bei den Pfadfindern, nicht bei der Jugendbriga de.« Das Hotel lag auf der anderen Seite des Cheltenham Par cours. Hyde bog in die Auffahrt ein. »Shelley wird mir das sicher bestätigen können. Ich kann mich noch an die Zahl erinnern – die fünfzehnte. Einheimische. Spanische Freiwillige. Die Einheiten aus Aragon in dieser Region …« Das Murmeln des alten Mannes zeugte von wach sender Erregung. »Es muß noch Überlebende geben, die sogar noch in dieser Gegend wohnen. Unsere Leute in Madrid sollten sich vielleicht damit befassen …« »Wir sind da. Träumen Sie ruhig weiter. Ich werde mich um alles Weitere kümmern.« »Besten Dank, Patrick«, erwiderte Aubrey eisig. Auf dem Zimmer wählte Aubrey Shelleys Nummer. In Ge danken versunken leerte er den Inhalt seiner Taschen auf den Nachttisch, während Hyde es sich mit einer Flasche Bier, die er aus dem Zimmerkühlschrank geholt hatte, in einem der Sessel bequem machte. Aubrey nahm plötzlich eine aufrechtere Haltung ein. In seine Augen trat ein wachsamer Schimmer. »Shelley, können Sie mich hören?« Eine kurze Pause, und dann klang Shelley Stim me so nahe, als telefonierte er aus dem nächsten Zimmer. 173
Hyde stand auf und trat auf den Balkon hinaus. Wie ein schlafender Hund lag die Stadt vor ihm in der Sonne. Hinter ihm Aubreys Murmeln. Hyde holte tief Luft und schloß die Augen. Mehrere Minuten waren vergangen, als er durch Aubreys ungeduldige Stimme an seiner Seite wieder in die Gegenwart zurückgerufen wurde. »Ich finde, wir sollten gleich mal los, Patrick.« »Wollen Sie sich nicht noch ein wenig ausruhen?« Aubrey durchforschte Hydes Züge nach einem Anflug von Ironie. Zufrieden schüttelte er schließlich den Kopf. »Nein, ich muß so schnell wie möglich mit Schiller sprechen – weil ich die momentane Situtation alles andere als zufriedenstellend finde. Abgeschnitten von unseren chinesischen Freunden – Wei und David Liu – und genauso ahnungslos und ratlos wie zu vor.« Wittenberg. »Was ist?« fragte Hyde und nahm die leere Büchse mit Lager von seinen Lippen. »Was ist los?« Aubreys Gesicht hatte sich in Falten gelegt, seine Augen waren bar jeden Ausdrucks. Wittenberg. Zimmermann war in Wittenberg geboren und aufgewachsen. Das hatte er nicht mehr gewußt. Er hatte diese Information aus dem allgemeinen Dossier über Zimmermann, das ihm Shelley zu der Akte aus dem Jahr 1940 beigelegt hatte. »Wittenberg«, sagte Aubrey schließlich ganz deutlich. »Was soll mit Wittenberg sein?« Seine Hände um das Balkongitter geklammert, sah Aubrey auf die Stadt Adelaide hinunter, die sich im Dunst zurückzog. Jenseits dieses Schleiers war Schiller. Hatte er noch irgendwel che Bedeutung? War es 1938 oder 1940 oder 1945? »Witten berg liegt in der Deutschen Demokratischen Republik, Pa trick.« »Und?« »Zimmermann hat bis 1943 in Wittenberg gelebt, als er zum 174
Militär ging. Seine Familie, falls jemand davon den Krieg überlebt hat, hätte demnach also nach dem Krieg in der russi schen Besatzungszone gelebt. Ist das vielleicht die wichtigste Tatsache hinsichtlich unseres deutschen Freundes?« »Meine Güte!« »Er könnte nach dem Krieg in ihre Hände gefallen sein. Wit tenberg heißt heute übrigens Lutherstadt. Ich muß sofort noch einmal mit Shelley sprechen. Wir müssen uns darüber auf jeden Fall Klarheit verschaffen …« Aubrey zog sich in das schattige Dunkel des schwülen Zimmers zurück. An den Tür pfosten gelehnt, schloß Hyde neuerlich die Augen. Er hörte, wie Aubrey wählte, wie die Scheibe nach jeder Nummer leise in die Ausgangsposition zurückschnurrte. Ostdeutschland? Dann gehörte Zimmermann möglicherweise tatsächlich dem KGB an. Von seinem Zimmerfenster aus sah Wolfgang Zimmermann auf einen Zug hinab, der gerade in den Bahnhof einfuhr. Das Zimmer lag im Dunkeln. Er war mit dem Entschluß aufge wacht, sofort anzurufen. Ohne weiter nachzudenken, hatte er den Hörer abgenommen und gewählt. Es war zwar bereits ein Uhr nachts, aber die Nummer gehörte zur Privatwohnung von Petya Kominski, Mitglied der sowjetischen Botschaft in Bonn. Nachdem er die Nummer zur Hälfte gewählt hatte, hielt er kurz inne, um noch einmal nachzudenken. In dem dunklen Raum schien sein Herz lauter zu schlagen, sein Atem schneller zu gehen. Zähneknirschend wählte er die restlichen Zahlen. Während das leise, regelmäßige Tuten aus dem Hörer anzeig te, daß er durchgekommen war, stellte er sich die kleine, or dentliche Wohnung in Bonn vor. Fast konnte er sehen, wie Kominski vom Bett aufstand, durch das Schlafzimmer zum Telefon im Flur ging, nach dem Hörer griff … »Ja, bitte?« meldete sich Kominski auf deutsch. »Petya – ich bin’s, Wolfgang.« »Wolf, was ist denn? Du hast mich aufgeweckt.« Die Stimme 175
klang fast gereizt. »Tut mir leid, Petya. Würdest du mir bitte einen großen Ge fallen tun? Es ist sehr wichtig. Und du weißt sehr wohl, daß du mir noch einen Gefallen schuldig bist.« Zimmermann konnte sich nicht entscheiden, ob sein wachsender Ärger seiner eige nen Person oder der des etwas groben jungen Russen galt. »Schon gut. Ich weiß, daß ich meine Beförderung hauptsäch lich dir zu verdanken habe. Was willst du?« »All die Jahre, Petya. All die geheimen Zusammenkünfte …«, erinnerte Zimmermann ihn. »Ja, ja, ich weiß.« Kominskis Stimme klang gelangweilt. »Was willst du? Rück schon heraus mit der Sprache!« Dem jungen Russen war das alles völlig gleichgültig. Zim mermann konnte es kaum fassen. »Ich hätte gern, daß du für mich herausfindest, wer von euren Leuten mich beschattet.« »Was? Das soll wohl ein Witz sein?« »Keineswegs. Glaubst du vielleicht, ich würde diese Typen nach all den Jahren nicht auf den ersten Blick erkennen? Da sind zwei Leute vom KGB, und möglicherweise gibt es noch mehr, die ich nur noch nicht entdeckt habe. Sie beschatten mich Tag und Nacht und tun so, als wären sie von der Prawda. Wer sind diese Männer wirklich?« »Da ist niemand. Es gibt niemanden …« »Erzähl mir doch keinen Blödsinn, Petya! Ich habe die Kerle mit eigenen Augen gesehen!« »Reg dich doch nicht gleich so auf, Wolf.« Kominskis leich ter amerikanischer Akzent, sein Radio-MoskauNachrichtensprechertonfall hatte Zimmermann schon immer ein bißchen gestört. Aber nun, in Verbindung mit der amüsier ten Gleichgültigkeit, die dieser Ton zum Ausdruck brachte, versetzte er ihn regelrecht in Wut. »Ich rege mich nicht unnötig auf. Begreifst du denn nicht, wie gefährlich das werden könnte? Jetzt, gerade jetzt! In zehn Tagen soll das Abkommen unterzeichnet werden. Wenn nun 176
herauskäme, daß der KGB seine Nase in die Sache steckt – wenn auch nur irgend jemand Verdacht schöpfen würde, dann hätte doch die rechte Presse genau das, was sie braucht. Sprin ger würde mich und damit natürlich auch das BerlinAbkommen so gründlich zur Schnecke machen, wie du dir das nur denken kannst.« »Ist ja schon gut. Beruhige dich.« »Du scheinst nicht zu begreifen, was ich sage. Ich bin sicher schon hunderte Male angeklagt worden, für den KGB zu arbei ten. Wenn jemand wegen dieser Leute, die mich beschatten, mißtrauisch wird, bin ich geliefert. Versuch herauszufinden, wer diese Leute sind, und dann schaff sie mir vom Hals!« Am anderen Ende der Leitung kicherte Kominski verhalten in die Stille, die jetzt entstanden war. Seine Stimme klang gelas sen und besänftigend, als er schließlich zu sprechen anfing. »Du bist überarbeitet, Wolf, zu angespannt. Glaub mir, da ist niemand. Weshalb sollte gerade dich jemand beschatten?« »Sag deinen Herren …« »Nein, Wolf. Tut mir wirklich leid, aber du bildest dir das alles nur ein. Da ist niemand, der dich beschattet oder irgend welche Nachforschungen hinsichtlich deiner Person anstellt. Gute Nacht.« »Kominski …« Ein leises Klicken am anderen Ende, und dann war die Lei tung tot. Zimmermann nahm den feuchten Hörer von seiner Wange, starrte ihn ungläubig an, als könnte er nicht fassen, daß Kominski einfach aufgelegt hatte. Einfach so, ohne ihm zuzu hören, ohne ihm auch nur ein einziges Wort zu glauben … Zimmermann knallte den Hörer auf die Gabel, so daß das Telefon zu Boden fiel. Er achtete nicht weiter darauf, sondern schritt durch den dunklen Raum zur Bar, ohne den Schmerz zu spüren, als er mit dem Schienbein gegen die Kante des Couch tisches stieß. Dann kauerte er sich nieder und öffnete die Tür der Bar. In dem schwachen Licht, das aus ihrem Innern drang, 177
wirkte sein Gesicht verzerrt und böse. Seine immer noch schö nen Gesichtszüge wurden in dem gespenstischen Lichtschein hager und gequält. Er nahm zwei kleine Whiskyfläschchen heraus und goß ihren Inhalt in ein Plastikglas. Wütend brach er ein paar Eiswürfel aus der Eisschale und ließ sie in das Glas gleiten. Dann nahm er einen so großen Schluck, daß er husten mußte. Er konnte es einfach nicht fassen. Er konnte immer noch nicht glauben, daß Kominski so gleichgültig auf seine Bitte reagiert hatte. Alles hing von den nächsten zehn Tagen ab. Falls er jetzt in irgendeiner Weise verdächtigt wurde, bevor das Berlin-Abkommen unterzeichnet war, dann würde Vogel die Wahl verlieren, man würde ihn, Zimmermann, mit Schimpf und Schande entlassen, und das Berlin-Abkommen käme nicht zustande. Konnten diese Idioten das denn nicht begreifen? An seinem Drink nippend, durchwanderte er den Raum. Aus gerechnet jetzt, wiederholte er sich immer wieder, und seine Angst wuchs. Nach all der Zeit, ausgerechnet jetzt. Warum gerade jetzt? Durch Salisbury, Elizabeth und Gawler fuhren sie auf dem Highway 20 nach Nordosten. Wie von der Hitze ausgedörrt, durch den wolkenlosen Himmel in Verlegenheit gebracht, zogen sich die Vororte von Adelaide die Ausläufer der niedri gen Barossa Range hinauf. In Gawler bog Hyde in den Sturt Highway ein, worauf sie durch eine Bilderbuchlandschaft mit kleinen Farmen und Obstgärten fuhren, bis die flachen Hügel allmählich von schnurgerade angelegten Weingärten überzogen wurden. Die dazwischen stehenden Bauten waren zu groß und überladen, um Farmen zu sein – die Winzereien des Barossa Valley. Ungeduldig saß Aubrey neben Hyde auf dem Beifahrersitz. Die Luft, die durch die offenen Fenster ins Wageninnere blies, war heiß und staubig. Das kurzärmelige Hemd klebte bereits an 178
seinem Körper. In Nuriootpa bog Hyde vom Highway ab und fuhr in Rich tung Angaston weiter. In seiner Ungeduld, eine Sache hinter sich zu bringen, der er schon gar keine Bedeutung mehr bei maß, hatte Aubrey nicht einmal in der Weinkellerei angerufen. Sie würden dort einfach wie ganz gewöhnliche Besucher auf tauchen. Hyde erschien dieses plötzliche Desinteresse unange bracht. Schiller konnte eine entscheidende Schlüsselfunktion einnehmen. Immerhin hatte er Zimmermann gekannt Die Weinkellerei war ein umfangreiches, dreistöckiges Gebäude, umgeben von weiten Rasenflächen und Palmen. Das von HansDieter Schiller übernommene Unternehmen war 1851 gegrün det worden. Das Datum war über der Tür eingraviert, die im tiefen Schatten der Veranda lag. An das Hauptgebäude schloß sich ein kleinerer, zweistöckiger Flügel an, der im Stil des späten neunzehnten Jahrhunderts erbaut war – vermutlich das Wohnhaus. Die beiden Gebäude strahlten einen ebenso unver kennbaren wie unaufdringlichen Reichtum aus. Hyde stieg aus dem Wagen. Aubrey beobachtete einen gro ßen, blonden jungen Mann mit hochgekrempelten Hemdsär meln, ordentlich gebügelten Shorts und weißen Socken, der im Eingang der Weinkellerei gestanden hatte und nun auf sie zukam. Aubrey war leicht schockiert. Der junge Mann erinner te ihn unwillkürlich an den jungen Zimmermann, wie er ihn im Gedächtnis behalten hatte. Teutonisch, fast arrogant, gelassen und selbstbewußt. »Guten Tag, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« wandte er sich an Hyde, während er Aubrey nur einen kurzen Blick zuwarf. Seine Stimme und sein Akzent waren unver kennbar australischer Herkunft. Das Bild Zimmermanns ver flüchtigte sich. »Könnten wir vielleicht mit dem Besitzer sprechen?« »Mit Mr. Schiller? Da haben Sie leider Pech. Er ist gerade nicht da. Tut mir leid. Was hätten Sie denn von ihm gewollt?« 179
»Mein Boß …«, Hyde deutete auf den Wagen und Aubrey, »… ist Weinkorrespondent für die Zeitschrift des Diner’s Club. Schon davon gehört?« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Ich bin bei American Express.« »Er macht gerade in Australien Urlaub und hat eine Menge von Ihrem Zeug getrunken. Und jetzt hätte er gern den Besitzer interviewt. Wirklich schade, daß er nicht hier ist.« »Was machen Sie denn? Sind Sie auch von der Presse?« »Wenn Sie’s so nennen wollen, ja. Ich arbeite für verschiedene europäische Zeitschriften als Korrespondent, damit diese verdammten Engländer endlich mal begreifen, daß es uns auch noch gibt.« »Ach ja?« Aubrey amüsierte sich köstlich über Hydes übertriebenen Akzent und sein großspuriges Gehabe. Der junge Mann streck te Aubrey seine Hand entgegen. Dieser ergriff sie und schüttel te sie. »Mein Name ist Peter. Ich leite das Büro. Vielleicht kann ich Ihnen doch irgendwie behilflich sein – oder Mr. Schillers Tochter?« Der blonde Mann beugte sich näher zu dem offenen Wagenfenster herab. »Eigentlich«, begann er in vertraulichem Ton, »schmeißt sie ja inzwischen den Laden hier. Der Alte interessiert sich fast nur noch für seine Fotografiererei. Im Augenblick macht er gerade wieder einen Ausflug.« Aubrey bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen. »Letztes Jahr hat er sogar ein Buch herausgebracht. Eine tolle Sache, alles in Farbe.« »Ich verstehe«, murmelte Aubrey. »Ich habe wirklich nicht gewußt …« »Sie sind ein typischer Engländer. Möchten Sie nicht viel leicht mit Miß Schiller sprechen? Sie ist drüben im Haus. Sie können sie jederzeit sprechen.« »Aber selbstverständlich gern.« Aubrey nickte mit gezwun 180
gener Begeisterung. Er öffnete die Wagentür und stieg aus. »Besten Dank. Wenn Sie vielleicht so freundlich sein würden, uns vorzustellen? Mein Name ist Kenneth Aubrey.« Hyde mußte über Aubreys pompöse Förmlichkeit grinsen. »Selbstverständlich. Kommen Sie.« Peter ließ sie im Schatten der Veranda vor dem Wohntrakt stehen. Sie hörten ein Klopfen, dann Stimmen. Ein Stuhl knarr te, Schritte ertönten. Aubrey stützte sich auf die Rückenlehne eines Rattansessels, der neben der Tür stand. Er gehörte zu einer Gruppe von drei weiteren Stühlen, die um einen reich verzierten, weißen Metalltisch gruppiert waren. Hyde scharrte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wie ein Besucher von zweifelhaftem sozialen Rang nervös mit den Füßen. Die Frau war etwa dreißig. Ihr blondes Haar war aus der Stirn gekämmt, und ihre Augen waren hellblau. Außer Lippenstift trug sie kein Make-up, und ihr Gesicht war von der Sonne dunkel gebräunt. Irgendwie schien es nicht zu ihr zu passen, daß sie aus dem Hausinnern kam. Sie trug ein kariertes Hemd und blaue Jeans. Aubrey streckte seine Hand zum Gruß aus. Die Frau ergriff sie und schüttelte sie kurz. »Mr. Aubrey? Ich bin Clare Schiller. Sie sind von Signata re?« Aubrey nickte. Die Frau schien eher mißtrauisch als ge schmeichelt zu sein. »Peter, bringen Sie uns ein paar Flaschen Einundachtziger und Zweiundachtziger Riesling. Von den Qualitätsweinen bis zur Auslese. Und auch einen Siebenund siebziger Kabinett.« »Selbstverständlich.« Peter verschwand im Haus. »Bitte, machen Sie es sich bequem«, forderte Clare Schiller die beiden Besucher auf und deutete auf die Stühle neben der Tür. Sobald sie Platz genommen hatten, schien sie auf eine Erklä rung von Seiten ihrer Gäste zu warten. Ihr Blick war klar und ruhig, und die zarten Falten um die Augen hätten ebenso von einer gewissen inneren Belustigung wie von der grellen Sonne 181
herrühren können. Peter kam mit einem Kühlwägelchen zu rück, das eine Reihe von großen Flaschen enthielt. Dann brach te er die Gläser und die Rotweinflaschen. Die Frau schenkte als erstes Schillers Rhein-Riesling ein. Aubrey nippte kennerhaft. Hyde kippte, seiner Rolle entspre chend, in einem Schluck das halbe Glas hinunter. »Vorzüglich«, bemerkte Aubrey. »Und ich bin Ned Kellys Schwester, wenn Sie ein Weinkor respondent sind«, bemerkte die Frau. Sie schien jedoch kei neswegs verärgert zu sein. Hyde mußte lachen, so daß ihm der Wein in die Nase schoß und ihn zum Husten brachte. »Und Ihr Begleiter ist natürlich wirklich ein Weinkenner – das sieht man auf den ersten Blick. Was wollen Sie von meinem Vater?« »Ich – äh …«, fing Aubrey an. »Sie trinken gerade einen unserer schlechtesten Jahrgänge seit den letzten zehn Jahren. Merken Sie das denn nicht?« »Ungewöhnlich …«, murmelte Aubrey. Clare Schiller kippte den Inhalt von Aubreys Glas gegen die grelle Sonne. Ein kurzes Aufleuchten, und dann wurde die Flüssigkeit ein feuchter, brauner Fleck auf dem Boden der Auffahrt. Sie öffnete eine zweite Flasche und füllte damit sein Glas. »Versuchen Sie den mal.« »Hervorragend.« Aubrey war sich des Qualitätsunterschieds nun voll bewußt. »Der Zweiundachtziger, oder?« »Ja, jetzt trinken Sie wirklich guten Wein. Aber würden Sie mir nicht vielleicht doch erklären, was dieses Theater soll?« »Tja.« Aubrey griff in seine Tasche und reichte Clare Schiller ein zusammengefaltetes Stück Papier. »Wenn Sie wollen, rufen Sie jetzt sofort diese Nummer in Canberra an. Um Ihnen zu bestätigen, was uns hierherführt, wird man Sie dort – wie soll ich sagen? – mit der Polizei verbinden.« »Mit der Polizei?« »Aber Sie können sich meine Geschichte auch gleich anhören und sie sich dann später bestätigen lassen.« 182
Nachdenklich schwieg die Frau und nippte abwesend an ih rem Wein. »Also gut, schießen Sie schon los. Sie …«, fügte sie, an Hyde gewandt hinzu. »Ja?« »Sie können ja weiter den Einundachtziger trinken, oder nicht?« »Aber selbstverständlich.« Aubrey begann also mit seiner Erklärung. Er schenkte der Frau nun seinerseits reinen Wein ein, wenn auch nicht in der letzten Konsequenz. Während er ab und zu einen Schluck nahm, sprach er etwa fünf Minuten lang. Er ging nicht weiter auf die Hintergründe seiner Zweifel hinsichtlich Zimmermanns Person ein, sondern wies nur auf die Notwendigkeit hin, mit ihrem Vater über seine Zeit in Spanien zu sprechen. Aubrey war zu dem Entschluß gelangt, daß es keinen Sinn gehabt hätte, Clare Schiller mit irgendwelchen fadenscheinigen Ausflüchten zu kommen. Er hatte das Gefühl, bereits mit ihrem Vater zu sprechen. Als er mit seinen Ausführungen zu Ende war, nickte sie. »Mir ist natürlich klar, daß Sie mir wesentlich weniger als die Hälfte der ganzen Geschichte erzählt haben, aber ich nehme doch an, daß das Ganze in etwa der Wahrheit entspricht. Mein Vater ist zur Zeit auf einer fotografischen Exkursion. Bevor ich Ihnen allerdings sage, wo er sich genau aufhält, werde ich erst einmal diese Nummer hier anrufen.« Sie stand auf und ging ins Haus. »Ich möchte wetten, daß Sie erst bei der Auskunft anruft und sich nach der Nummer der British High Commission erkun digt«, bemerkte Hyde. »Ich wäre richtig enttäuscht, wenn sie das nicht täte«, erwi derte Aubrey. »Was wollen Sie jetzt machen? Werden Sie ihm nachfah ren?« Aubrey sah über seine Schulter zurück, als lägen dort Adelai 183
de und sein Flughafen. »Auf diese Weise wird mein Kontakt mit Shelley unterbrochen. Aber andererseits … Das Mädchen macht einen guten Eindruck. Wenn sie ist wie ihr Vater, hat er sicher nichts vergessen. Der alte Schiller dürfte bestimmt ein heller Kopf sein. Vielleicht hat er irgendeine gute Idee …« »Geben Sie Shelley doch wenigstens eine Chance! Sie haben ihm diese Nachricht erst vor einer Stunde oder so durchgege ben, und Sie haben ein paar Tage Zeit.« »Ich habe weniger als zehn Tage Zeit, bis das BerlinAbkommen unterzeichnet ist.« Clare Schiller tauchte in der offenen Tür auf. »Diese Num mer, die Sie mir gegeben haben … Ich habe mit einem Mr. Price gesprochen, einem Sekretär oder etwas in der Art bei der High Commission. Er scheint zu denken, daß man Ihnen trauen kann. Und er war wirklich sehr höflich und zuvorkommend.« Mit einem spöttischen Lächeln setzte sie sich wieder. Die hängenden Fuchsien hinter ihrem Kopf unterstrichen noch die Exotik des girrenden Lachens eines Kooka-burra. Hyde fuhr auf dieses vertraute Geräusch hin hoch und grinste. »Will kommen zu Hause«, bemerkte die Frau mit amüsiertem Spott. »Wo hält sich Ihr Vater gerade auf, Miß Schiller?« Sie hielt ein großes Buch in ihrem Schoß, das sie nun zur Er klärung hochhob. Verborgenes Australien, stand in großen Lettern über einem Foto von einem Vogel mit einer Schlange im Schnabel. Das Bild wirkte sehr lebensecht, dynamisch. Der Fotograf war Hans-Dieter Schiller. »Das ist es, womit sich mein Vater heutzutage hauptsächlich beschäftigt. Und er versteht etwas von seinem Metier. Ich kann mich währenddessen um die verdammte Kellerei hier küm mern.« Dieser Bemerkung haftete nur ein ganz leiser Anflug von Bitterkeit an. »Wo ist er jetzt?« »Am Cooper’s Creek.« Sie sah Hyde an, dessen Mundwinkel merklich herabsanken. 184
»Ist das weit von hier?« fragte Aubrey. »Nach Norden durch die Flinders bis zum Lake Eyre, und dann rechts abbiegen«, erwiderte Hyde. »Vielleicht achthun dert Kilometer von hier. Das Problem ist nur, daß der Cooper’s Creek dreihundert oder mehr Kilometer lang ist.« Er wandte sich wieder an Clare Schiller. »Wissen Sie nicht genauer, wo er sich dort aufhält? Oder können Sie ihn irgendwie erreichen?« Aubrey schien in irgendwelche privaten und enttäuschten Träumereien zu versinken. Er achtete nicht mehr auf Hydes Fragen und Clare Schillers Antworten. »Er arbeitet sich von Westen nach Osten den Creek hinauf. Und alle paar Tage ruft er hier an.« »Wann ist er abgereist?« »Letzte Woche.« »Ist er zuerst durch die Flinders? Will er dort auch fotografie ren?« Die Frau nickte. »Von wo aus hat er Sie das letztemal angerufen?« Sie runzelte die Stirn. »Vorgestern. Da war er gerade in der Nähe des Leigh Creek.« »Haben Sie vielleicht ein Karte?« »Ja.« »Könnten Sie sie bitte holen?« Clare eilte ins Haus. Hyde betrachtete währenddessen den schweigend meditierenden Aubrey. Er hatte keine Ahnung, zu welchem Entschluß der alte Mann gelangen würde. Nach we nigen Sekunden war die Frau mit einer Karte von Südaustralien zurückgekommen, und sie breitete sie auf dem Tisch aus. »Hier.« Sie deutete auf einen bestimmten Punkt. »Dann hat er die Flinders Range schon vor fast zwei Tagen verlassen. Mhm.« Er sah zu Clare Schiller auf. »Wann wird er wieder anrufen?« »Heute, morgen …« Sie zuckte mit den Schultern. »Irgend wann wird er auf jeden Fall anrufen. Das macht er immer. Er tut so, als interessierte er sich noch für das Geschäft.« Lächelnd 185
schüttelte sie den Kopf. »Sie wollen wohl unbedingt mit ihm sprechen, nicht?« Hyde nickte. Er studierte die Landkarte. Sein Finger folgte einer schwarzen Linie nach Norden. »Birdsville Track. Wenn wir sofort aufbrechen, können wir ihm vielleicht den Weg abschneiden.« »Dann müssen Sie sich aber sehr beeilen«, bemerkte Clare. »Ganz recht. Ich brauche einen Land Rover, den nötigen Pro viant – ein richtig schöner Jagdausflug.« »Und was ist mit dem Herrn Weinkorrespondenten?« »Mr. Aubrey – Sir!« Die Augen der Frau weiteten sich überrascht. »Ja, Patrick?« »Sagen Sie doch endlich – fahren wir, oder fahren wir nicht?« »Ich …« Er hielt inne und zuckte mit den Schultern. »Ich muß etwas unternehmen!« platzte er schließlich heraus. »Wir befinden uns genau am entgegengesetzten Punkt der Erde, um den sich diese ganze Geschichte eigentlich dreht. Ja, wir fah ren.« »Gut, dann sehen wir besser erst einmal zu, daß wir schleu nigst in die Stadt zurückkommen. Es gibt einiges zu erledigen, und wir haben nicht viel Zeit.« Er blickte Clare Schiller an. »Schade, daß wir Sie schon wieder verlassen müssen …« »Erzählen Sie mir doch zur Abwechslung mal was Neues«, erwiderte sie mit erstaunlicher Bitterkeit. »Haben Sie sich umgehört?« »Ja.« »Und?« »Der Besitzer der Weinkellerei, Schiller, ist gerade auf einer fotografischen Exkursion, oben im Norden.« »Wo genau?« »Am Copper’s Creek.« 186
»Hyde und Aubrey wollen ihm in dem Land Rover, den sie gemietet haben, wohl nachfahren. Also gut, dann werden auch wir ihnen folgen – in einem Wagen und in einem Flugzeug, um ganz sicherzugehen. Schiller war ein Kriegskamerad Zimmer manns. Offensichtlich hat diese Bekanntschaft für Aubrey enorme Bedeutung bekommen. Und damit auch für uns. Wir sollten diesen Schiller besser vor ihm aufspüren.« »Jawohl, Genosse General.« »Nennen Sie mich nicht immer so! Mr. Jones, haben Sie ver standen?« »Jawohl, Mr. – Jones.« 7. Hinterhalt Von seinem Beobachtungsposten aus, einer Bank in der Nähe des Dingdao-Tempels, sah David Liu den kleinen Mann aus dem Eingang des Hotels kommen, das am Östlichen See lag. Hinter dem Hotel ragten die Bauten der drei Stadtverwaltungen von Wu Han in den spätsommerlichen, dunstig schwülen Himmel. In ihrem Innern, in einem ihrer Räume, wo die Fen ster von überhängenden, reich verzierten Dachrinnen beschattet wurden, war Wolfgang Zimmermann während seines Aufent halts in dieser Stadt erkrankt. Und der kleine Mann – Liu blick te neuerlich auf den Schnappschuß in seiner Hand – war der Hotelarzt, der den deutschen Politiker als erster behandelt hatte. Der Doktor schlenderte auf die Bushaltestelle am Ufer des Sees zu. Zerstreut betupfte er sich mit einem sehr weißen Ta schentuch die Stirn. Offensichtlich bedauerte er, daß er nun auf die Klimaanlage des Hotels verzichten mußte. Liu stand von der Bank auf und betastete seine Brusttasche, um sich noch einmal zu vergewissern, daß er die entsprechen den Papiere bei sich hatte – Papiere, die ihn ermächtigten, dem 187
Arzt ein paar Fragen zu stellen. Lius Reise von Shanghai nach Wu Han war am Tag zuvor ohne besondere Zwischenfälle verlaufen. Er hatte sich im Hotel Sheng Li in der Stadtgemeinde Hankou am anderen Ufer des Yangtse ein Zimmer genommen. Es entsprach ziemlich genau seinem Status als niedriger Parteifunktionär. Den größten Teil der Fahrt von Shanghai nach Wu Han hatte er geschlafen. Seine Papiere waren dreimal kontrolliert wor den, solange er sich noch im Bahnhof von Shanghai aufgehal ten hatte, und zweimal im Zug. Sie waren kein einziges Mal beanstandet worden. Schließlich hatte er sie noch an der Sperre im Bahnhof von Wu Han und an der Rezeption des Hotels vorzeigen müssen. Jedesmal war man ihm darauf mit unver kennbarem Respekt begegnet. Dann hatte er im Hotel am Östlichen See angerufen. Er hatte allerdings nicht nach dem Doktor verlangt, sondern sich nur vergewissert, um welche Zeit dieser dort Dienst tat. Er hatte keine Ahnung, ob Frederickson bereits in Wu Han angekom men war. Seltsamerweise interessierte ihn dies auch nicht. In Shanghai hatte David Liu vieles zurückgelassen – das Mäd chen, Bin, Frederickson, unmittelbare Gefahren. In Wu Han konnte er noch einmal von neuem beginnen – ohne daß es zu irgendwelchen unliebsamen Zwischenfällen gekommen war. Erst dieser Doktor, dann der Spezialist, der Zimmermann im Krankenhaus des Oktobers 1911 von Wu Han behandelt hatte. Liu würde beiden seine Fragen stellen. Er war von der uner warteten, aber durchaus willkommenen Zuversicht erfüllt, daß einer von ihnen oder sogar beide ihm die gewünschte Auskunft geben würden. Der Hotelarzt hielt seine Tasche mit beiden Händen vor sei nem Bauch, während er auf den Bus wartete. Liu reihte sich ebenfalls in die Schlange der Chinesen ein, die auf den Bus warteten – drei Plätze hinter dem Arzt. Der Bus fuhr an dem runden Buckel des Tortoise Hill vorbei 188
und überquerte dann den Fluß Han in Richtung auf die weiten Boulevards der Stadtgemeinde Hankou. Während sie sich der Wohngegend um den Zhongshan Boulevard näherten, ließ Liu den Doktor nicht mehr aus den Augen. Als der Arzt aufstand und sich durch die stehenden Fahrgäste seinen Weg zur Tür bahnte, erhob auch Liu sich von seinem Sitz und folgte ihm. Das traf sich bestens. Der Doktor wohnte offensichtlich in der Nähe des Hotels Sheng Li. In fünfzig Metern Abstand – er hatte sich kurz gebückt, um sich einen losen Schnürsenkel zu binden – folgte Liu dem Doktor, der zum Fluß ging. Die ruhige Straße war von modernen Wohnblöcken gesäumt. Die Blätter an den Bäumen wurden bereits braun und gelb, als hätte die heiße, schwüle Luft sie geröstet. Liu folgte dem Arzt die Treppe eines Wohnblocks hinauf, inzwischen hatte er sein Tempo beschleunigt. Der Doktor, der die Schritte hinter sich hörte, wandte sich um und sah Liu, der mit einer Ausweiskarte in der Hand auf ihn zutrat. »Dr. Tai?« fragte Liu in betont offiziellem Tonfall. Mit einem bedächtigen Kopfnicken bestätigte ihm der Doktor, daß er der Gesuchte wäre. »Mein Name ist Liu – Amt für öffentliche Sicherheit, Shanghai.« Er streckte Tai seine Ausweiskarte entgegen, so daß dieser das kleine Paßfoto sowie Dienstgrad und Namen darauf erkennen konnte. Tai antwortete mit einem neuerlichen Nicken, das diesmal bereits etwas unterwürfiger ausfiel. »Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte Tai, der ebenfalls Parteimitglied war. »Ich hätte Ihnen gern ein paar Fragen gestellt.« »Zu meiner Person?« Für einen Moment flackerte in Tais Augen Besorgnis auf. Er war vielleicht vierzig. Er fühlte sich sicher – es sei denn, die Partei hätte plötzlich ihre Vorstellung darüber geändert, was nun an ihren Mitgliedern erwünscht war. Für einen Moment starrte Liu aus den dunklen, müden Augen des Doktors Dengs verunsichertes und verängstigtes China 189
entgegen. »Nein«, beruhigte Liu ihn mit einem Kopfschütteln. »Sie könnten nur möglicherweise von Dingen wissen, die für uns von Interesse sind – nichts weiter. Sie gestatten?« »Aber bitte, kommen Sie herein.« Sie passierten die Eingangstür und fuhren in einem quiet schenden, langsamen Lift zum obersten Stockwerk hoch. Durch einen schmalen Korridor gingen sie zu einer Tür aus dunklem Holz. Der Doktor sperrte auf und bat seinen unerwar teten Gast, einzutreten. Dem schlichten, karg möblierten Wohnraum entnahm Liu, daß Tai ein pedantischer und sparsa mer Junggeselle war. »Hätten Sie gern einen Schluck Tee?« fragte der Doktor. »Vielleicht später.« »Nehmen Sie doch bitte Platz. Weshalb sind Sie von Shang hai bis hierher gekommen, um mit mir zu sprechen?« Tais Selbstsicherheit war nur zum Teil gespielt. Sie basierte sicher auch auf seiner makellosen und unanfechtbaren Vergangenheit. Möglicherweise würde Liu sich gezwungen sehen, diese Selbstsicherheit etwas zu erschüttern. Andererseits schien Tai durchaus bereit zu sein, ihm zu helfen. Liu zog ein Notizbuch und einen Stift hervor. Er tat so, als läse er ein paar Notizen durch. »Meine Ermittlungen betreffen den deutschen Diplomaten Zimmermann«, begann er schließ lich. »Ja?« erwiderte Tai, ehrlich erstaunt. War das eben ein kur zes Aufflackern eines Verdachts gewesen? Liu war sich nicht sicher. »Was ist mit ihm? Das war doch schon vor mehreren Monaten. Wie Sie wissen, wurde er hier in das Krankenhaus eingeliefert und dann nach Shanghai gebracht. Ich habe ihn nur behandelt …« »Ja, Sie haben ihn behandelt, als er gerade erkrankt ist.« »Ich hatte damals Dienst. Ich bin mir sicher, daß Ihre Vorge setzten in Shanghai meinen Bericht über den Vorfall haben.« 190
»Ja, ich habe ihn sogar selbst gelesen.« Liu bemühte sich, seiner Stimme einen ambivalenten Tonfall zu verleihen. »Nun, dann …« »Ich bin nicht unbedingt an den medizinischen Details inter essiert, Herr Doktor. Meine Vorgesetzten hätten gern ein paar andere Dinge in Erfahrung gebracht.« »Ich verstehe. Würden Sie mir dann bitte vielleicht auch sa gen …?« »Natürlich«, fiel ihm Liu ins Wort. »Sonst könnten Sie mir ja gar nicht helfen.« Er neigte sich vertraulich vor. »Diese Er krankung war natürlich höchst peinlich, wie Sie selbstverständ lich wissen …« Tai nickte vorsichtig, als brächte man ihn dazu, eine nicht näher spezifizierte Schuld einzugestehen. »Sollte jemand für diesen Vorfall, der unserer Volksrepublik äußerst peinlich ist, verantwortlich sein, bedeutet dies natürlich …« »Verantwortlich? Wie verantwortlich?« »Sie haben doch damals, glaube ich, eine Lebensmittelvergif tung diagnostiziert?« Tai nickte. »In Ihrem Bericht ist aller dings nicht davon die Rede, zu wie vielen ähnlichen Krank heitsfällen es damals im selben Hotel kam.« »Wieso? Ich …« Liu überkam ein Gefühl innerer Erleichterung. Buckholz hat te ihn damals darauf hingewiesen, daß Zimmermann als einzi ger an einer Lebensmittelvergiftung erkrankt war. Diese Infor mation basierte jedoch lediglich auf Berichten aus zweiter und dritter Hand, die im Verlauf von mehr als einem Monat zu sammengetragen worden waren. Aber sie entsprach offensicht lich doch der Wahrheit. »Es gab also keine weiteren ähnlichen Krankheitsfälle?« »Nein.« »Seltsam. Worauf führen Sie Zimmermanns Erkrankung zu rück?« »Ich bin überzeugt, es war das Schlangenfleisch«, beeilte Tai sich zu erklären. »Vielleicht auch der Fisch, aber ich tippe eher 191
auf das Schlangenfleisch.« Er versuchte ein gewinnendes Lächeln. »Europäer sollten damit vielleicht etwas vorsichtiger sein, wenn sie zum erstenmal nach China kommen.« »Hat von den anderen Leuten in seiner Begleitung niemand Schlangenfleisch gegessen?« »Ich – glaube nicht. Inspektor Liu?« »Ja?« »Was sollen diese Fragen eigentlich? Wie wichtig ist es, was Zimmermann damals gegessen hat?« »Die Frage lautet eher, ob wirklich das Essen an Zimmer manns Erkrankung schuld war«, verbesserte Liu den Doktor in scharfem Tonfall. Tai wurde blaß. Dann hüstelte er und ver suchte neuerlich ein Lächeln. »Ich bin mir sicher, daß es am Essen lag. Derselben Meinung waren übrigens auch die Ärzte im hiesigen Krankenhaus. Wel che Diagnose allerdings die Ärzte in Shanghai gestellt haben, hat man mir nie mitgeteilt.« »Ruft eine Lebensmittelvergiftung normalerweise ein Deliri um bei dem Erkrankten hervor?« »Das ist bei jeder Art von Fieber möglich – je nachdem, wie hoch es ist. Warum?« »Würden Sie mit mir übereinstimmen, Dr. Tai, daß es in un serer Gesellschaft gewisse Elemente gibt, die unsere Revoluti on gern scheitern sähen, die glorreichen Vier Modernisierun gen unseres Vorsitzenden Deng am liebsten unterminieren und China im Rennen auf das Jahr zweitausend zu gern Knüppel zwischen die Beine werfen würden?« Dieser Jargon und der darin implizierte Verdacht des Lan desverrats brachten Tai sichtlich aus der Fassung. »Ich – würde schon sagen – ja …« »Hier in Wu Han, wo die erste siegreiche Schlacht der Revo lution von 1911 stattgefunden hat«, fuhr Liu fort, wobei seine Stimme lauter wurde und seine Augen mit Absicht immer wilder funkelten, »in Wu Han, dem Sitz des Nationalen Bau 192
ernbewegungsinstituts, am Schauplatz der entscheidenden Kämpfe mit den Guomindang, die den Weg für unseren end gültigen Sieg ebneten … In dieser Stadt ist es zu revisionisti schen Verschwörungen gekommen, in dieser Stadt wurden die Bauern und Arbeiter von gemeinen konterrevolutionären Ele menten aufgehetzt!« Liu hatte sich halb von seinem Platz erhoben. Als er sich wieder setzte, war Tais Gesicht kreide bleich geworden. Nervös rieb sich der Doktor die Hände. »Ha ben Sie mich verstanden, Herr Doktor? Da sind Elemente, die nichts lieber gesehen hätten, als unsere Führung, unseren Edlen Steuermann Deng in Verlegenheit zu stürzen …« Lius Wort wahl ließ dem Doktor keinen Zweifel an seinem konformisti schen Fanatismus. »Glauben Sie nicht auch?« »Ich – ich nehme an, das ist durchaus möglich …« Tai blick te zum Fenster, als suchte er einen Fluchtweg. »Und ob das möglich ist, Dr. Tai. Genau das ist der Grund meiner Mission.« Liu beugte sich vertraulich in seinem Sessel vor. »Können Sie mit Sicherheit behaupten, daß dieser Deut sche nicht mit Absicht vergiftet wurde?« Darauf trat ein langes Schweigen ein, währenddessen Liu nicht ohne ein gewisses Gefühl der Enttäuschung die wider sprüchlichen Emotionen auf dem Gesicht des Doktors beo bachtete. Allem Anschein nach war Tai sehr wohl der Verdacht gekommen, Zimmermann könnte absichtlich vergiftet worden sein, aber er hatte keine Gewißheit. Tai konnte sich nur auf Vermutungen stützen, nicht auf Fakten. Deshalb hatte Liu bereits beschlossen, den Doktor hinsichtlich dieses Punktes nicht weiter zu behelligen, als dieser den Kopf schüttelte. »Meiner Meinung nach«, begann der Doktor zögernd, »war an dem Fall nichts Ungewöhnliches. Sie spielen hier auf Dinge an, von denen ich nichts weiß. Ich fürchte, ich kann Ihnen in diesem Punkt nicht weiterhelfen. Ich weiß nichts über diese Sache. Ich habe diesen Mann lediglich untersucht, sein Leiden, soweit das möglich war, gelindert und einen Krankenwagen 193
gerufen. Die Symptome ließen eindeutig auf eine Lebensmit telvergiftung schließen.« »Ich verstehe«, erwiderte Liu mit offensichtlicher Enttäu schung, die zum Ausdruck bringen sollte, daß er Tais Aussage glaubte. Der Doktor war sichtlich erleichtert. Liu zuckte mit den Schultern. »Dann habe ich keine weiteren Fragen mehr an Sie.« Tais Erleichterung nahm weiter zu. »Ich muß Sie natür lich ersuchen, niemandem von dieser Unterhaltung zu erzäh len.« Tai stand unsicher auf. »Nein, natürlich nicht.« Liu war enttäuscht. Er war der festen Überzeugung, hinsicht lich Tais völlig richtig vorgegangen zu sein – mit Brutalität, finsteren Andeutungen und den nötigen Überraschungsmomen ten. Dennoch hatte ihn das Ganze nicht weitergebracht. Tai wußte nichts und hatte auch in keiner Weise etwas Verdächti ges an Zimmermanns Erkrankung bemerkt. »Wie haben Sie eigentlich mit Zimmermann gesprochen? Deutsch?« wollte Liu noch wissen. »Ein Dolmetscher hat mich auf sein Zimmer begleitet. Au ßerdem befand sich in seiner Begleitung ein Mann, der hervor ragend Mandarin sprach.« »Ich verstehe. Und er lag im Delirium?« »Nein, als ich ihn behandelte, noch nicht. Er war etwas wirr – vor Schmerzen. Aber er war durchaus noch bei klarem Verstand.« »Aha. Vielen Dank, Dr. Tai. Guten Tag.« »Guten Tag.« Als Liu zum Lift ging, schien es ihm, als hätte Tai vor über mächtiger Erleichterung die Wohnungstür hinter ihm zugewor fen. Oder vielleicht lag es auch nur daran, daß Finger ohne Nerven für das Schließen einer Tür kein Gefühl mehr hatten. Der Himmel erstrahlte in eintönigem, wolkenlosem Blau. Aubrey saß im Schatten eines Sonnendachs, das an der Seite 194
des Land Rover befestigt war und wie eine Markise noch zu sätzlich von zwei dünnen Metallstäben gestützt wurde. Er blickte von Buckholz’ Protokoll seines Verhörs mit Wolfgang Zimmermann auf, um Hyde zu beobachten, der ziemlich ner vös wirkte. »Was haben Sie denn, Hyde?« »Ich – ich wollte mich nur vergewissern, daß uns niemand folgt.« »Haben Sie denn irgendeinen Verdacht?« »Ja, da ist ein Wagen. Er folgt uns, seit wir Hawker verlassen haben. Er fährt ungefähr mit der gleichen Geschwindigkeit wie wir ständig ein gutes Stück hinter uns her.« »Ich verstehe.« Aubrey rieb sich die Arme, als fröstelte er, was angesichts der Hitze jedoch absolut unmöglich war. »Und wo ist er jetzt?« »Er ist an uns vorübergefahren, als wir von der Straße abge bogen sind. Falls er sich für uns interessiert, dann ist er sicher nicht weit.« Hyde holte seine Pistole hinter dem Rücken her vor, wo sie in seinem Gürtel gesteckt hatte, und überprüfte das Magazin. »Ich nehme an, Sie haben eben unter dem Wagen nach ir gendwelchen Wanzen Ausschau gehalten?« »Ich habe keine gefunden. Aber eigentlich haben sie so etwas nicht nötig, oder? Wir sind hier nicht in London. Und allzu viele Möglichkeiten, sich zu verfahren oder zu verstecken, gibt es auch nicht.« Er wies mit einer weit ausholenden Handbewe gung auf die karge Landschaft ringsum. Hyde hatte im Flinders-Range-Nationalpark angehalten, um Mittagspause zu machen. Sie befanden sich bereits knapp zweihundert Kilometer nördlich von Port Augusta, wo sie sich nach ihrer Ankunft aus Adelaide ein Zimmer für die Nacht genommen hatten. »Also gut, ich werde meine Augen künftig auch offen hal ten«, versprach Aubrey. »Ihre Waffe?« Aubrey klopfte auf die Aktentasche. Sie lag 195
neben ihm auf der Decke, die sie auf den Boden gebreitet hatten. »Gut. Also, bis gleich.« Aubrey stand auf, um Hyde nachzuschauen, der die flache Böschung zur Straße hinaufkletterte und hinter einem Felsen verschwand. In diesem Augenblick befiel Aubrey ein Gefühl der Einsam keit und Isolation. Umgeben von einer Stille, deren Bedroh lichkeit durch das Summen der Insekten und das Gezwitscher eines Vogels nicht vermindert wurde, kehrte Aubrey in den Schatten des Sonnendachs zurück, wo ein schon fast realer Reisegefährte und Begleiter auf ihn wartete – Zimmermann. Er wandte sich wieder Buckholz’ Aufzeichnungen zu. Erin nerungen an Zimmermanns Fluchtversuch aus jenem Mansar denzimmer in Louvain überfielen ihn. Mit schmerzendem Kinn, noch halb betäubt von dem Schlag, den Zimmermann ihm versetzt hatte, sah er den Stuhl auf dem Bett unter dem zerbrochenen Oberlicht stehen. Die Tür des Zimmers stand offen. Allem Anschein nach war Zimmermann wieder zurück gekommen, um durch das Oberlicht zu entfliehen. Dann war Aubrey mühsam auf den wackligen Stuhl geklettert, der ihm auch schon, kaum hatte er seine Ellbogen durch das Oberlicht geschoben, unter den Füßen wegkippte. Schwitzend arbeitete er sich durch die Öffnung im Dach, wo er Zimmermann zu sammengekauert über den Rand nach unten blicken sah. Aubreys Pistole immer noch in der Hand, wandte er sich dem Engländer langsam zu und grinste selbstbewußt. Vorsichtig bewegte Aubrey sich über das Dach auf Zimmermann zu, der die Waffe nicht ein einziges Mal auf ihn richtete. Es war, als hätte er vergessen, daß sie sich in seinem Besitz befand. Nach dem Aubrey ihn schließlich erreicht hatte, übergab er ihm die Pistole und zuckte nur mit den Schultern. Als die beiden Män ner sich dann auf den Weg zurück zu dem Oberlicht machten, wandte Zimmermann sich einmal kurz um, ohne daß in seinem Gesicht auch nur eine Spur von Bedauern oder Enttäuschung 196
zu erkennen gewesen wäre. Über seinen Erinnerungen wäre Aubrey fast eingeschlafen. Um das Gefühl einer leichten Betäubtheit loszuwerden, schüt telte er den Kopf und ließ dann seine Blicke wachsam über die Szenerie gleiten. Es war niemand zu sehen, so daß er sich wieder den Aufzeichnungen in seinem Schoß zuwandte. Aubrey las eine Passage, die ihn bereits zuvor besonders an gezogen hatte. Nur Buckholz selbst war zugegen. Leutnant Waleski führte wohl gerade in der ihm eigenen, unverkennba ren Art ein anderes Verhör. Brandy, Zigarren, eine fast gemüt liche Atmosphäre. Zimmermann war dem Amerikaner gegenüber von erstaunli cher Offenheit gewesen. Da standen Sätze wie – Ich hätte selbst vor dem Krieg schon eine Verschwörung unterstützt … Stauffenbergs einziger Fehler war, daß er keinen Erfolg hatte … Ja, mein Vorgesetzter, General Gehlen, war immer loyal – dies ist der Punkt, in dem wir unterschiedlicher Meinung sind … Für Aubrey stand inzwischen völlig außer Zweifel, daß Buckholz bereits mit dem Gedanken spielte, Zimmermann für den amerikanischen Geheimdienst zu rekrutieren, da er das Gespräch ganz offensichtlich auf die Sowjetunion lenkte. Zimmermanns Antworten waren klar und deutlich. Ein Insekt summte an Aubreys Ohr. Er schlug danach und spürte, wie selbst diese kleine Bewegung seine Temperatur steigen ließ. Nein, ich akzeptiere, daß Stalin Fehler gemacht hat … Ich finde nicht, daß Ihr Amerikaner viel vorzuweisen habt, auf das Ihr stolz sein könnt. Was ist zum Beispiel mit den Freiheiten Ihrer schwarzen Bevölkerung? … Aubrey blätterte um. Sie dürfen nicht vergessen, daß die Revolution versucht hat, immer noch versucht, Rußland ins zwanzigste Jahrhundert heraufzuführen. Natürlich wurden dabei Fehler gemacht … Ja, aber es gibt auch vieles, was durchaus bewunderungswürdig 197
ist … Wie auf der Suche nach der Auflösung eines Konflikts, der sich dramatisch zuspitzte, blätterte Aubrey eine Seite weiter, und dann noch eine. Sozialismus – Hitler? Unvereinbar … Aubrey lächelte. Er konnte die Worte aus Zimmermanns Mund förmlich hören. Lenin sagt … Aubrey ließ seine Augen über die nächsten Sei ten wandern. Marx sagt … Lenin sagt … Mit einer ruckartigen Kopfbewegung sah Aubrey auf. Unter dem Schattendach schien ihm das grelle Sonnenlicht entgegen. Die Landschaft schien in der Hitze zu zerfließen. Das blenden de Licht und die tiefen Schatten schmerzten in seinen Augen. Als er feststellte, daß während des Gesprächs ein Stenograf zugegen gewesen war, schloß er den Ordner mit den Aufzeich nungen. Sie waren an Ort und Stelle angefertigt worden, nicht erst aus dem Gedächtnis aufgezeichnet. Er seufzte unbehaglich. Zimmermann, ein marxistisch-leninistisches Sprachrohr, bar jeden selbständigen Denkens und jeder Originalität? Oder beabsichtigte Zimmermann damit, eine Rekrutierung durch die Amerikaner zu vermeiden, indem er sozialistische Sympathien vorschob? War dies wirklich Zimmermann, nach fünf Jahren Krieg und am Rande der Niederlage? Geschlagen, gefangen, müde? Fast lächelte Aubrey, als er den Ordner mit Buckholz’ Auf zeichnungen tätschelte. Es war, als genösse er bereits die Vor freude auf eine unterhaltsame und spannende Geschichte. Aber er war auch beunruhigt. Zimmermann war Deutscher, nicht Russe. Zimmermann war in Spanien durch Aladko mit dem NKWD in Berührung ge kommen. Damals hatte er sich keinen Illusionen hingegeben. Er hatte das nationalsozialistische Gedankengut nicht ge schluckt – würde er sich nun plötzlich überreden lassen? Wenn er 1940 so großen Wert darauf gelegt hatte, darauf hinzuwei sen, daß Aladko ihn in keiner Weise hatte überzeugen können, 198
weshalb gab er dann 1945 seine Sympathien für Rußland so bereitwillig zu? In ihrem Tenor widersprachen die beiden Verhöre einander. Aubrey schüttelte den Kopf. Die Akten in seiner Hand er schienen ihm mit einemmal gefährlich – verdächtig und un wirklich … Unwirklich? Das Wort kehrte immer wieder, obwohl er sich bemühte, es aus seinem Kopf zu verbannen. Es war irgendwie unwirklich. Unwahr? Hyde drängte sich in einen Felsspalt, von dem aus er den sau beren und ordentlichen Campingplatz mit der Grillstelle und dem hölzernen Toilettenhäuschen beobachten konnte. Er hätte sich genausogut irgendwo in der unmittelbaren Umgebung von Sydney, Melbourne oder Adelaide befinden können. Über Hydes Versteck lag der Schatten eines Gummibaums. Bevor er es erreicht hatte, waren zwei erschrockene Känguruhs geflo hen. Die Männer auf dem Campingplatz sahen zu ihnen auf, mußten beim Anblick der davonhüpfenden Tiere lachen und schenkten darauf den Felsen keine weitere Beachtung mehr. Drei Steaks auf dem Grillrost, auch Würstchen für drei Per sonen. In der Nähe des Camping-Busses standen jedoch nur zwei Männer in Shorts und bunten Hemden. Das hieß, daß der dritte Mann den Land Rover beobachtete, wie Hyde nun den VW-Bus auskundschaftete. Er mußte zu Aubrey zurück. Durch seinen Feldstecher beobachtete er die beiden Männer. Er erkannte keinen. Leise, aber deutlich vernehmbar drangen ihre Stimmen zu ihm hoch. Ihr australischer Akzent überrasch te ihn. Er konnte die Steaks riechen, sah den Rauch in einer dünnen, geraden Linie von der Grillstelle aufsteigen. Drei Männer. Keine Spur von Petrunin. Selbst der Gedanke an diesen Mann ließ ihn frösteln. Er wußte mit beängstigender Klarheit und Deutlichkeit, daß Petrunin seinen Tod wollte. 199
Vorsichtig arbeitete er sich zwischen den Felsen zurück zu der Stelle, wo der Gummibaum aus der Erde ragte. Sie hatten alle möglichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen, als sie von Hong Kong hierher, in die Öde Südaustraliens, gereist waren, und doch waren ihnen Petrunin oder zumindest seine Leute dicht auf den Fersen. Offensichtlich gab es vor diesem Mann kein Entkommen. Mit einem grimmigen Grinsen kletterte Hyde die Felswand wieder hinunter. Der niedrige Holzbungalow, das Heim des Spezialisten, der Zimmermann während seines Krankenhausaufenthalts in Wu Han untersucht und behandelt hatte, lag in den Außenbezirken der Stadtgemeinde Wu Chang in einem Viertel in der Nähe des Östlichen Sees, das vorwiegend privilegierten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vorbehalten war. David Liu sah auf seine Uhr. Acht Uhr dreißig. Der Spezialist war nun eine halbe Stunde zu Hause. Er war in einem kleinen, braunen Wagen gekommen, der wie der Bungalow als Symbol seines gesellschaftlichen Rangs galt. Die Fenster waren er leuchtet, und aus dem Innern des Hauses drang Musik. Rasch trat Liu auf die Eingangstür zu. Dieses Treffen würde von entscheidender Bedeutung sein. Dieser Mann wußte über die Medikamente und Drogen, die Besucher und den Gesund heitszustand des deutschen Politikers Bescheid. Er mußte gehört haben, wie Zimmermann Russisch gesprochen hatte, er würde wissen, welche Fragen man ihm gestellt, welche Ant worten er gegeben hatte, als er unter Drogeneinfluß stand. Dieser Mann konnte den Beweis erbringen, daß Zimmermann KGB-Agent war. Oder daß genau das Gegenteil der Fall war? Liu drückte auf den Klingelknopf. Hell und klar konnte er im Innern des Hauses ein Geräusch hören, als schlüge man ein paar Gläser aneinander. Er blickte sich noch einmal kurz zu 200
dem in der Dämmerung liegenden See um, und dann ging die Tür auf. Ein kleiner, alter Mann verneigte sich vor ihm. »Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte er. Liu sah sich mit einemmal in das China seines Großvaters zurückversetzt. Ein Diener? »Ich hätte gern Dr. Meng gesprochen.« Liu versuchte, seiner Stimme einen dienstlichen, autoritären Anstrich zu verleihen. In dem faltigen Gesicht des Dieners nahmen plötzlich alte, immer noch nicht vergessene Ängste Gestalt an. »Ja?« Er wirkte hilflos. Solche Leute kamen doch sonst nicht in dieses Haus. Liu reichte ihm seinen Dienstausweis von der Polizei. Dies sollte der erste gezielte und überraschende Schlag bei seinem Zusammentreffen mit Meng sein, hatte er geplant. Der Arzt im Innern des Hauses wunderte sich vielleicht bereits, wer sein Besucher war. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was da auf ihn zukam, dachte Liu mit einer gewissen grimmigen Befriedi gung. »Sagen Sie Dr. Meng, ich hätte ihm gern ein paar Fragen gestellt.« Der alte Mann eilte den Korridor hinab und verschwand durch eine Tür, die in einen hell erleuchteten Raum führte. Das leise Gelächter, das daraus hervordrang, erstarb für einen Au genblick, dann erklang ein leises Murmeln, gefolgt vom Ge räusch eines Stuhls, der zurückgeschoben wurde. Nun kam eine größere, aufrechtere Gestalt als die des Dieners auf Liu zu. Meng trug einen seidenen Hausmantel in satten Gold- und Brauntönen. Er strahlte eine fast amüsierte Selbstsicherheit aus. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte er. »Ja, ich – hätte ein paar vertrauliche Fragen an Sie, Herr Doktor.« »Betreffen diese mich oder meine Familie?« erkundigte sich Meng leichthin. »Nein, zumindest nicht direkt.« »Dann kommen Sie doch herein, Inspektor …?« Er warf ei 201
nen kurzen Blick auf Lius Ausweis. »Inspektor Liu. Treten Sie bitte ein. Wir können uns in meinem Arbeitszimmer unterhal ten.« Liu betrat den Bungalow. Würziger Essensgeruch, vermischt mit Räucherstäbchen, drang in seine Nase. Der Boden im Gang war mit dicken Teppichen ausgelegt. Ja, dachte er, dieser Mann ist reich, intelligent und privile giert. Er wird etwas wissen. Liu erinnerte sich an die Fotos, die er gesehen hatte, bevor im Yu-Park die ersten Schüsse gefallen waren. Medikamente, Behandlung, Besucher. Dieser Mann würde Bescheid wissen. Er war fast am Ziel … »Herr Professor Zimmermann, sind Sie demnach gewillt, die gegen Sie in der Presse erhobenen Anschuldigungen von Grund auf zu widerlegen?« Die Stimme des Press-Association-Korrespondenten, eines Engländers, dem Zimmermann sonst einen gewissen freund schaftlichen Respekt entgegenbrachte, erschien ihm verletzend mechanisch und unbeteiligt. Der Raum, in dem die Pressekon ferenz stattfand, war natürlich überfüllt. Nach dem Artikel in der Morgenausgabe der Düsseldorfer Abendzeitung war dies auch gar nicht anders zu erwarten gewesen. Wie Vogels Pres sestab festgestellt hatte, fanden sich die skandalösen Enthül lungen auch in fast allen anderen größeren deutschen Tageszei tungen. Die ausländische Presse, vor allem Amerikaner und Engländer, war in der Überzahl. »Natürlich ist das alles Unsinn!« fuhr Zimmermann auf, wo bei er schon im nächsten Augenblick seinen gereizten Ton bedauerte. Er sah bereits die Schlagzeilen der Springerpresse vor sich. Harte Zeiten würden jetzt über ihn hereinbrechen. »Was streiten Sie eigentlich genau ab?« fragte der PressAssociation-Mann. Im Konferenzraum des Düsseldorf Hilton war es still geworden. Zahllose Augenpaare waren durch den Zigarettenqualm hindurch unverwandt auf ihn gerichtet. Hände ruhten über Notizblöcken. Die beiden Pressereferenten zu 202
seiner Seite schienen nicht mehr länger real zu sein. Er war allein auf dem Podest, hinter dem langen Tisch mit dem fri schen, weißen Tischtuch, dem Wasserkrug, den Gläsern und den Reihen von stahlblumenähnlichen Mikrofonen. Zimmermann lehnte sich in seinen Sessel zurück – eine Geste der Zuversicht, die in krassem Widerspruch zu seiner wirkli chen Verfassung stand. »Alles natürlich. Mit Ausnahme der das Abkommen betreffenden Details, von denen einige korrekt sind.« Vereinzeltes Lachen, das jedoch keinen Trost zu spenden vermochte. Die Atmosphäre im Raum war stickig, angespannt – allerdings nicht feindselig, noch nicht, aber es bestand kein Zweifel. Es roch nach einem Skandal. »Gibt es in dem Abkommen keine Geheimklauseln?« wollte der Korrespondent der Welt wissen. »Nein.« »Was ist mit den Anschuldigungen hinsichtlich geheimer Handelsabmachungen – umfangreiche Handelskredite?« Diese Frage kam von der Süddeutschen Zeitung aus München. »Sie werden in dem Artikel als massiver Bestechungsversuch be zeichnet.« Die Leute von der Presse waren selbstverständlich alle wü tend, daß nicht ihre Zeitung die Geschichte als erste an den Tag gebracht hatte. Bild war ihnen wieder einmal zuvorgekommen, und nun stürzten sie sich wie die Bluthunde auf die Sache, um sie nach Möglichkeit auszuschlachten. »Das ist doch alles kompletter Unsinn. Der genaue Wortlaut des Abkommens ist der Öffentlichkeit seit Monaten zugäng lich.« »Aber es wird doch behauptet, Herr Professor, daß es noch ein anderes, bisher unveröffentlichtes Dokument gibt, das den Preis des Abkommens beinhaltet.« Die Frankfurter Rundschau. »Streiten Sie das ab?« »Selbstverständlich streite ich das ab.« 203
Blitzlichter flammten auf und blendeten ihn. Im hinteren Teil des Konferenzsaals surrten mehrere große Filmkameras. »Und wie steht es mit den Anschuldigungen zu Ihrer Person, Herr Professor?« begann der Korrespondent von Bild und Bild am Sonntag. Zimmermann wappnete sich innerlich. Springers Mann. Auch andere im Raum standen hinter dem großgewach senen, bebrillten Sensationsmacher. Nun geht es los, sagte sich Zimmermann. Dies ist die Quelle allen Übels, dies ist das tollwütige Tier. Mein Feind. »Das sollten Sie doch selbst am besten wissen. Schließlich ist das Ganze doch Ihre Geschichte«, konterte er. Vereinzeltes Lachen. Der Korrespondent grinste und verbeugte sich. »Allerdings.« »Was sind eigentlich Ihre Quellen – die CIA?« platzte Zim mermann plötzlich heraus. Für einen Augenblick hatte er ganz eindeutig die Beherrschung verloren. »Immer noch die alten Verleumdungen, Herr Professor?« Mehr Gelächter. Zimmermann war wütend auf sich selbst. »Leugnen Sie für Ihre Person jeden Kontakt und jede Verbin dung mit ausländischen Agenten ab, Herr Professor?« Herr Professor … Nach dem Verkauf seiner Firma hatte er für kurze Zeit eine akademische Laufbahn am Institut für Wirt schaftsforschung in Bremen eingeschlagen. Und nun tat dieser zynische Pressemann, als wäre dieser Titel nur ein fadenschei niger Vorwand, eine Maske der Respektabilität, die ihm vom Gesicht gerissen werden müßte. In Bremen war dann Vogel auf ihn aufmerksam geworden, hatte ihn in seinen Mitarbeiterstab geholt. »Natürlich leugne ich das ab. Es ist absolut lächerlich, daß ich so etwas überhaupt abzustreiten habe.« Zimmermann war tete. Er war müde, ausgelaugt. »Kennen Sie einen gewissen Kominski von der sowjetischen Botschaft in Bonn?« Das Schweigen zieht sich zu lange hin – antworte! befahl 204
Zimmermann sich. Er nickte bedächtig, als ruhte sein Kopf nur in sehr prekärem Gleichgewicht auf seinem Kopf. »Ja. Er ist Mitglied der Botschaft und …« »Wußten Sie nicht, daß dieser Mann dem KGB angehört?« »Das ist doch kompletter Unsinn!« Und dann der plötzliche Aufruhr, alle Aufmerksamkeit auf den Bild-Korrespondenten gerichtet, dann auf Zimmermann. Die Objektive der Film- und Fernsehkameras schwenkten wie Gewehrläufe zwischen den beiden Männern hin und her. Unfä hig, diese nervöse Geste zu unterlassen, strich Zimmermann sich das Haar zurück. Er mußte von hier verschwinden. Er begann zu schwitzen. Er mußte das Feld räumen, wenn er nicht eine noch vernichtende re Niederlage erleiden wollte. Er stand auf. Die Leute von der Presse stürzten sich auf ihn, sobald sie die Bewegung bemerk ten. Hunderte von Fragen. Er winkte ab, um anzudeuten, daß er keinen Kommentar zu geben bereit war. Lächelnd beobachtete ihn der Bild-Korrespondent. Nicht Zimmermann, sondern er war im Augenblick der wichtigste Mann im Raum. »Kominski …?« hörte er mindestens ein Dutzend Menschen rufen. Natürlich würde Petya abberufen werden. Natürlich gehörte er dem KGB an. Das traf auf alle bedeutenderen Botschaftsangestellten zu. Natürlich hatten sie sich mit dem sowje tischen Geheimdienst hinsichtlich der künftigen Sicherheitsbe stimmungen einigen müssen. Aber wie sollte er das erklären können? Er konnte unmöglich eine Antwort auf diese Fragen geben. Zimmermann trat an den Rand des Podests und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Gesichter der beiden Presse sprecher wirkten düster, voller finsterer Vorahnungen. Zim mermann bemühte sich, in Ruhe zu atmen, sah sich dazu aber nicht imstande. Es war, als versuchten seine Lungen Luft ein zusaugen, die sich ihnen immer wieder entzog.
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»Haben Sie jetzt Ihre Bestätigung, hm?« fragte Buckholz mit einem Grinsen, als er die Tür zu Weis Zelle schloß. Godwin zuckte mit den Schultern. McIntoshs Anruf hatte ihn für ein paar Augenblicke von Buckholz und dem Chinesen weggeholt, aber die Neuigkeiten aus London und Bonn waren eine mehr als ausreichende Entschuldigung dafür, gegen Au breys Anweisungen zu verstoßen. Vermutlich ließ Shelley in London die Nachricht auf schnellstem Wege auch an Aubrey in Australien durchgeben. »Glauben Sie? Diese Bild-Zeitung ist doch ein ziemliches Revolverblatt, oder nicht?« »Eine populäre Boulevardzeitung, vielleicht. Aber deshalb muß das Ganze nicht von vornherein falsch sein.« Mit ausge strecktem Daumen deutete Buckholz auf die Tür hinter seinem Rücken. »Unser Freund da drinnen sagt das gleiche doch schon seit einer Woche. Und nun haben anscheinend auch die Deut schen selbst ihre Nase ein bißchen in diese Angelegenheit gesteckt. Jetzt sehen Sie doch selbst, was sie gefunden haben.« Sie gingen den Metallsteg des sichersten Flügels im VictoriaGefängnis entlang. Der Gefängniswärter, der die Tür zu Weis Zelle verschlossen hatte, folgte ihnen auf den Fersen. Durch das vergitterte, drahtverstärkte Glas am Ende des Gangs er leuchteten flackernde Blitze das Innere des Gefängnisses. Aus der Ferne war Donnergrollen zu hören. »Sir?« begann Godwin mit echtem Respekt. »Ja?« Ihre Schuhe klapperten über die perforierten Metallstufen zum Erdgeschoß hinunter. Der Lärm hallte in dem weiten Raum wider. »London tendiert dazu, diese Geschichte aus den deutschen Zeitungen herunterzuspielen, wissen Sie …« »Natürlich. London versucht doch alles herunterzuspielen. Ich möchte wissen, ob in London überhaupt der Beginn des Zweiten Weltkriegs im Radio gemeldet wurde.« Buckholz 206
lachte, und Godwin lächelte. »Und jetzt, nach den Sportmel dungen, der Beginn des nächsten Kriegs …« fuhr Buckholz in übertrieben korrektem BBC-Englisch fort. Der Gefängniswär ter hinter ihnen, ein Brite, konnte sich ein Kichern nicht ver kneifen. »Eines kann ich Ihnen jedenfalls sagen, junger Freund – ich gelange allmählich zu der Überzeugung, daß Wei bezüg lich unseres Freundes Wolfie Zimmermann die Wahrheit sagt. Ich bin inzwischen schon richtig gespannt, was er uns künftig noch auftischen wird.« Godwin wirkte verwirrt. »Vielleicht haben Sie recht, Sir. Ich weiß wirklich nicht. Aber Sie glauben also …?« »Zumindest macht das alles seine Unschuld nicht wahr scheinlicher, oder?« »Das ist allerdings richtig …« »Eben. Jedenfalls soll sich Langley mal mit der Sache befas sen. Wir brauchen Informationen über Zimmermanns Hinter grund, und zwar möglichst ausführliche. Bisher waren das erst die Proben für den Ernstfall. Jetzt benötigen wir sämtliche Hintergrundinformationen zu diesem Abkommen, über die Verhandlungen, und nicht nur das, was in den offiziellen Auf zeichnungen steht. Kommen Sie, es gibt einiges zu tun.« Buckholz klatschte seine mächtige Pranke auf Godwins Schulter. Seine Augen spiegelten eine wild entschlossene Überzeugung wider. Godwin erschien es, als hätte Buckholz das Gefühl, nun die Wahrheit gefunden zu haben. Wildnis. Die sternenklare Nacht war so still, daß er sein Herz schlagen hören konnte, als er neben dem Land Rover am Stra ßenrand stand und wartete. Patrick Hyde war in der Stadt groß geworden, hatte lange in London gelebt. Hier, in den Randbezirken der Stadt Marree, etwa achtzig Kilometer südlich von Lake Eyre, fühlte er sich winzig und unbemerkt. Der klare Himmel war weit, die Stille beinahe absolut, die Luft in seinen Lungen trocken wie Papier, 207
und das Land vor ihm erstreckte sich endlos nach Norden, wo die Simpson Desert lag. Er war ein winziger Mensch, der auf der Oberfläche dieser gigantischen, leeren Landkarte, der australischen Wildnis, nach einem anderen Menschen Aus schau hielt. Er schauderte. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Kein Wunder, daß Aubrey sich sofort nach ihrer Ankunft in sein Motelzimmer zurückgezogen hatte. Aubrey hatte Clare Schiller angerufen. Ja, sie hatte mit ihrem Vater gesprochen. Ja, er würde sich mit ihnen treffen. Wo? Am Lake Palankarinna, westlich vom Birdsville Track, südlich von Cooper’s Creek. Würden sie dorthin finden, ohne sich zu verir ren, hatte ihr Vater gefragt. Das Wissen, daß sich Schiller nun mit einem bestimmten Ort in Verbindung bringen ließ, stellte keinen Trost für sie dar, war kein Wegweiser zu einer be stimmten Stelle in der Öde der Wildnis. Hyde fühlte sich von dieser endlosen Weite überfordert, erschlagen. Aubrey schlief inzwischen. Unwillig, sein Zimmer zu verlas sen, hatte er dort zu Abend gegessen. Er hatte, was für ihn ungewöhnlich war, mehrere Flaschen Bier getrunken. Dann hatte er sich für die Nacht zurückgezogen, möglicherweise, um seine Kräfte zu schonen. Hyde hingegen wußte, was er zu tun hatte – für sein Selbstvertrauen, sein Wohlbefinden und viel leicht auch, um seine Angst zu nähren. Wenn er sie sich einge stand, ihr oft genug offen ins Auge sah, konnte er sie vielleicht zähmen, mit ihr vertraut werden. Er hatte den Land Rover zu dem staubigen Flugfeld im Nor den der Stadt hinausgefahren. Die Flughafengebäude lagen wie das Rollfeld im Dunkel. Wenn eine Maschine per Funk um eine Landegenehmigung bat, würden die Positionslichter ein geschaltet werden. Das Rollfeld war kaum mehr als eine härte re, geradere Linie, die quer über ein umzäuntes Feld aus Stei nen und vertrocknetem Schlamm lief. Es entsprach nicht genau den Tatsachen, daß der Flugplatz in 208
völliger Dunkelheit lag. Durch die Jalousie eines Fensters in einem der niedrigen Flughafenbauten drang Licht – vermutlich die Funkzentrale. Es war ein schwach grünlicher Schimmer. Und gelegentlich das Aufleuchten eines schwachen Licht scheins, wenn jemand eine der Türen des VW-Busses öffnete oder sich eine Zigarette ansteckte. Die drei Australier warteten auf ein Flugzeug. Hyde wartete auf den Insassen dieses Flug zeugs. Er wußte, daß er ihn mit eigenen Augen sehen mußte – er brauchte Gewißheit. Ein Versuch, sich seiner Angst zu stellen, nicht vor ihr davonzulaufen. Wenn er den Mann sah, würde vielleicht seine Macht über Hydes Vorstellungskraft schwinden. Es war nach zwei Uhr, als er das schwache, ferne Geräusch einer einmotorigen Maschine vernahm. Er trat sofort in Aktion. Rasch rannte er auf das größte der hölzernen Gebäude zu, den niedrigen Hangar. Er erreichte ihn noch, bevor die drei Männer aus dem Bus stiegen und den Nachthimmel beobachteten. Auch Hyde beobachtete ihn – so angespannt sogar, daß die Lichter entlang des Rollfelds, als sie eingeschaltet wurden, nichts weiter blieben als ein schwacher Lichtschein am Rand seines Blickfeldes. Das Geräusch wurde lauter. Ein roter Stern, der sich bewegte, zwei weiße Sterne, keiner davon so hell wie die reglosen Lich ter über ihnen. Dann wurde die Silhouette eines Flugzeugs vor den Sternen sichtbar – im Schein der Landebahnbeleuchtung schimmerte sein haifischartiger Bauch. Staub wirbelte unter ihm auf, als es über das Rollfeld heranschoß, auf das Flugha fengebäude zu. Hydes Finger klammerten sich um die Ecke des Hangarge bäudes. Er spürte das faserige, rauhe Holz an seinen Handflä chen. Er wartete. Nicht mehr als fünfzig Meter von Hyde ent fernt, die Spitze ihm zugewandt, blieb die Maschine schließlich stehen. Der Propeller drehte sich langsamer und langsamer, bis die einzelnen Blätter sichtbar wurden, und kam schließlich 209
vollends zur Ruhe. Und dann sah er ihn. Im leichten Safari-Anzug, den breit krempigen Hut in einer Hand, stieg er auf die Tragfläche hin aus und sprang von dort zu Boden. Die drei Australier eilten zu ihm. Er wartete auf sie. Petrunin. Es tat Hydes Angst keinerlei Abbruch, den Mann leibhaftig vor sich zu sehen. Da war er nun. Die Chancen standen fünf zu zwei – oder besser: zwei zu eins. Der Hase und der Igel. Sie waren eingeholt worden. Petrunin. Hyde wollte ihn auf der Stelle töten und wußte doch, daß er es nicht tun würde. Er hatte keinen Befehl für die Exekution dieses Mannes. Aubrey hatte Petrunins Tod nicht angeordnet. Hyde wollte ihn jedoch trotzdem töten. Petrunin. 8. Für die Akten Für David Liu wurde immer klarer, daß der Arzt sich nicht im geringsten verunsichert fühlte. Er hatte die Situation fest im Griff. Sein Selbstvertrauen basierte jedoch weder auf dem relativ niedrigen Dienstgrad, der in Lius falschem Ausweis angegeben war, noch auf der höflichen Ehrerbietung, mit der Liu ihm seine Fragen stellte. Meng Chiao haftete etwas Unver änderliches, Traditionelles an, etwas fast Aristokratisches – seine große Gestalt, seine Haltung, seine Manieren, seine Sprechweise – ein Mandarin. Nach etwa zehnminütigem Ge spräch zeigte sich der Spezialist, der Zimmermann damals behandelt hatte, mit gekonnter Höflichkeit leicht gelangweilt. Es stand völlig außer Zweifel, daß das Lachen aus dem anlie genden Raum, das ab und zu schwach durch die Tür seines Arbeitszimmers drang, in stärkerem Maße seine Aufmerksam 210
keit erregte als das Gespräch mit Liu. Er hatte eine heitere Runde verlassen, um mit einem Polizisten zu sprechen, und wünschte nun, der ungebetene Gast würde wieder gehen. »Ich nehme doch an, das ist alles, Herr Inspektor?« fragte Meng schließlich, nachdem er Liu eingehend studiert hatte. Ihm waren dessen Jugend und sein niedriger Rang keineswegs entgangen. Nun saß er etwas verlegen auf dem Stuhl vor ihm, als fürchtete er, dieses kostbare Möbelstück mit seinem derben Anzug irgendwie zu beschädigen. Neuerlich drang schwaches Gelächter aus dem Speisezim mer. Meng wandte den Kopf zur Tür. Sekundenlang runzelte er die Stirn. Die Gäste waren offensichtlich lange vor der Rück kehr ihres Gastgebers aus dem Krankenhaus eingetroffen, und auch bevor Liu begonnen hatte, den Bungalow zu überwachen. Lange Partys, Alkohol, Intimität, Vergnügen. Wieder einmal die fossilen Überreste des alten China, in neuem Gewand zu altem Leben wiedererstanden. »Dr. Meng …«, begann Liu mit steifer Autorität. Meng hob müde seine Hand. »Bitte, Herr Inspektor! Ich habe Ihre Fragen beantwortet. Ihre Bedenken hinsichtlich der ideologischen Zuverlässigkeit der Leute, die diesen Deutschen aufgesucht hatten, ist eindeutig nicht meine Sache.« »Der Partei ist an dieser Angelegenheit sehr viel gelegen, Dr. Meng.« Lius Tonfall wurde mit einemmal merklich schärfer, respektloser. Mengs Augen verengten sich. »Es handelt sich hier um ein Sicherheitsproblem. Ich habe die Order aus Peking …« Meng schützte nach wie vor Langeweile vor. »Tatsächlich?« entgegnete er mit ätzender Gleichgültigkeit. »Nun ja, ich kann darauf wirklich nichts weiter erwidern, als daß ich Ihre Fragen beantwortet habe. Aber jetzt muß ich mich wirklich wieder um meine Gäste kümmern, wenn Sie erlauben.« »Sie haben bestimmt, welche Medikamente Zimmermann 211
verabreicht werden sollten?« fragte Liu. Meng schien überrascht zu sein. »Natürlich. Und es war dar an absolut nichts auszusetzen«, bemerkte er spöttisch. »Dafür verbürge ich mich.« »Diese Angelegenheit ist eindeutig zu ernst, um darüber zu spaßen, Herr Doktor.« »Selbstverständlich.« Lius sah auf sein Notizbuch hinab und blätterte ein paar Sei ten zurück. Er hatte fast alles: General Chiang, die Harmoniedes-Denkens-Einheit, die sich mit Zimmermann befaßt hatte, die Tatsache, daß der Deutsche russisch gesprochen hatte, die Verhöre unter Drogeneinfluß. Er hatte sämtliche Dosierungen und Einzelheiten über das Sodium Pentathol und das Benze drin, mit dem Zimmermann in einen Zustand betäubter Halb bewußtheit zurückgerufen worden war, so daß er auf die ihm gestellten Fragen antworten konnte. Er kannte auch die Regres sionsmethoden, mit deren Hilfe Zimmermann zu der Überzeu gung gebracht werden konnte, er spräche mit seinen Kon trollinstanzen in Moskau und nicht mit der chinesischen Ge heimpolizei. Es war fast alles da, und er hatte es innerhalb von nur zehn, fünfzehn Minuten aus dem Mund eines einzigen Mannes erfahren. Der Deutsche war ein KGB-Agent – und das schon seit mehr als vierzig Jahren. Vielleicht war Mengs Eitelkeit der entscheidende Punkt ge wesen – möglicherweise sogar seine Verachtung für die Ge heimdienstagenten und Polizisten, mit denen er hatte zusam menarbeiten müssen, während Zimmermann verhört wurde. Er war gewillt gewesen zu sprechen. Lius Orthodoxie und seine steife, unterwürfige Art amüsierten ihn offensichtlich. Er war sogar auf die Vorschläge zu sprechen gekommen, die er Gene ral Chiang und seinem Stab mehrmals gemacht hatte. Jeder Vorschlag war, wie Meng ausdrücklich betonte, durchaus wohlwollend aufgenommen und sofort in die Tat umgesetzt worden. Um seine Bedeutung zu unterstreichen, hatte der 212
Doktor seine Ausführungen mit weit ausholenden Gesten und Handbewegungen begleitet. »Ich habe die Mittel verabreicht beziehungsweise ihre Verab reichung überwacht«, erklärte Meng. »Das wissen Sie ja nun selbst. Sie werden doch nicht etwa von mir verlangen, daß ich Ihnen all das noch einmal wiederhole?« Liu schüttelte den Kopf und stieß dann hervor: »Meine Vor gesetzten hegen in dieser Angelegenheit einen schweren Ver dacht!« »In welcher Hinsicht? Würden Sie sich vielleicht etwas prä ziser äußern?« Liu tippte mit dem Bleistift auf sein Notizbuch. »Ihr Ver dacht bezieht sich auf Ihre Mitwirkung an diesem Vorfall – Ihre Zusammenarbeit mit Elementen, die nun antirevolutionä rer Tendenzen verdächtigt werden …« »Wie sollte die Befragung dieses Deutschen – die Entdek kung, daß er nichts anderes als ein Handlanger der sowjeti schen Revisionisten war …« Mengs ironische Verwendung des offiziellen Parteijargons sollte eine leichte Verunsicherung überdecken. »Wie sollte das als antirevolutionär betrachtet werden können?« Mengs Augen waren auf Lius Brust geheftet, als wollte er sich noch einmal seine Papiere ansehen. Seine frühere Unter würfigkeit und sein niedriger Dienstgrad schienen durch die Fragen, die er nun stellte, Lügen gestraft zu werden. »Das ist nicht Ihre Sache.« »Richten sich diese Ermittlungen gegen General Chiang?« »Niemand ist davor sicher, daß hinsichtlich seiner Person Ermittlungen angestellt werden«, erwiderte Liu obskur. »Richten sie sich gegen ihn?« Mengs Stimme hatte einen be stimmten Ton angenommen. Liu schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht sagen.« »Und wie steht es mit mir?« Dieser Gedanke erschien dem Doktor neu, ungewöhnlich und schwer zu akzeptieren. 213
Liu zuckte mit den Schultern. »Vielleicht …« »Der Deutsche war ein Agent der sowjetischen Revisioni sten!« platzte Meng heraus. »Ich und die Männer aus Shanghai haben der Partei und der Revolution gedient, indem wir ihn entlarvt haben.« Offensichtlich verachtete sich Meng selbst dafür, daß er auf diese allgemein gebräuchlichen, hirnlosen Phrasen zurückgriff. Das war unter seiner Würde. Dennoch schien er beunruhigt und argwöhnisch zu sein. Oder doch nicht? Diese Frage nahm in Lius Gedanken plötzlich einen erstaunlich breiten Spielraum ein. Ein berechnendes Funkeln in Mengs Augen schien seinen Worten zu widersprechen. »Vielleicht …«, wiederholte Liu. »Vielleicht?« Mengs Augen wanderten zu dem Telefon auf seinem Schreibtisch. »Vielleicht sollte ich am besten direkt mit General Chiang sprechen? Vielleicht würde sich dann heraus stellen, was Sie eigentlich wollen?« Diese Drohung war ohne Zweifel ernst gemeint. Liu sah neuerlich auf sein Notizbuch hinunter. Es war alles da – nicht nur fast alles. Er konnte aufstehen, sich für sein Eindringen entschuldigen und auf schnellstem Weg zu Frede rickson gehen, um ihm den Beweis zu überbringen, daß Zim mermann mit dem KGB zu tun hatte. Es würde nichts nützen, Meng so aufzubringen, daß er über diesen Polizisten aus Shanghai Erkundigungen einzog. Es ist besser zu gehen, sagte er sich. Oder? Er betrachtete Mengs Augen, die ihn immer noch ge langweilt, kalt, beinahe amüsiert anblickten. Er war völlig ungerührt durch die angedeuteten Anschuldigungen, seiner selbst so völlig sicher. Warum? »Es ist nicht nötig, sich mit General Chiang in Verbindung zu setzen, zumal das nicht gerade einfach sein dürfte.« Ein kurzes Aufblitzen in Mengs Augen. Ausdruck seines Tri umphs? Liu war verwirrt. Er hatte das Gefühl, Meng in die 214
Hände gearbeitet zu haben. »Das werden wir ja sehen. Sind Sie nun endlich bereit zu ge hen? Sind Sie mit Ihren Fragen fertig?« Meng entließ ihn mit einer Geste, als wischte er ein Stäubchen vom Ärmel seines Morgenmantels. Selbst die Kleidung war aristokratisch, stellte Liu fest. Hinter den verschlossenen Türen des Bungalow spiel ten Meng, seine Familie und seine Freunde das reizvolle Spiel, rund eine Milliarde Menschen und das System, unter dem sie lebten, zu vergessen. Liu schüttelte den Kopf, um die Kompli kationen abzutun, die durch sein Mißfallen an dem Doktor ins Spiel kamen. »Sie haben noch weitere Fragen?« Meng schien überrascht zu sein. »Ich habe gerade an etwas anderes gedacht«, erklärte Liu seine Reaktion. »Könnten Sie das vielleicht anderswo tun? Und ich finde üb rigens nach wie vor, daß ich mit General Chiang sprechen sollte.« Meng stand von seinem Sessel auf und strebte auf seinen Schreibtisch zu. Das Telefon in seiner linken Hand, blätterte er in einem Adreßbuch. Liu beobachtete ihn scharf. Geh jetzt endlich, befahl er sich. Geh endlich, bevor er deinen Bluff aufdeckt … Was sollte das? Was bedeutete dieser Triumph? Nur Eitel keit, Arroganz? Etwas mehr? Warum war alles so leicht und ohne Anstrengung aus ihm herausgesprudelt, wie, wie …? Wie etwas Einstudiertes. Liu fror plötzlich, obwohl es im Raum angenehm warm war. Meng fand die Nummer, blickte kurz zu Liu herüber, der im mer noch in seinem Sessel saß, und begann die Vorwahlnum mer von Shanghai zu wählen. Er spitzte wütend die Lippen. Irgend etwas Einstudiertes – zweite Ziffer – etwas Geprobtes, wie ein kleines Stück oder eine Rede oder ein Geständnis dritte Zahl, vierte … Liu konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das alles nichts anderes war als Theater. Irgend etwas mußte noch dahinterstecken – es mußte noch mehr aufzudek 215
ken geben. Fünfte Zahl, bereits mehr als die Hälfte der Shang haier Nummer. Noch drei Zahlen, und dann würde in einem der Büros des Ministeriums für öffentliche Ruhe das Telefon klin geln. Was noch? Verschwinde hier – bleib. Frage ihn, finde es heraus – sechste Zahl – Meng warf ihm neuerlich einen heraus fordernden Blick zu – oder wollte er ihm eine letzte Chance geben, sich zurückzuziehen? Auch Meng wirkte irgendwie beunruhigt. Weshalb? Warum bluffte er? Warum war ihm mehr daran gelegen, daß sein Besucher ging, als daß er sich über ihn beschwerte, ihn demütigte, ihn vielleicht sogar ruinier te? Siebte Ziffer. Mengs Hand zitterte leicht im Schein der Schreibtischlampe. Frag ihn … Theaterspielerei – vorbereitet, einstudiert, perfekt inszeniert. Der Finger zögerte – noch eine Zahl. Meng wartete erneut. Er möchte nicht, daß das Gespräch zustande kommt – er will, daß ich gehe, seine Geschichte mit mir nehme … Liu griff in die Tasche seiner Jacke und holte die Pistole dar aus hervor, die Frederickson in dem Koffer auf dem Bahnhof von Shanghai hatte deponieren lassen. Er richtete die altmodi sche, schwere und irgendwie nackt wirkende chinesische Waf fe auf Meng. »Legen Sie bitte den Hörer wieder auf«, sagte er ruhig. »Und nehmen Sie wieder in Ihrem Sessel Platz, Herr Doktor.« Liu schwenkte die Pistole zwischen dem Arzt und dem Sessel hin und her. Der Hörer sank auf die Gabel. Wie ein Roboter be wegte Meng sich auf den Sessel zu und setzte sich. Plötzlich starrte die nackte Angst aus seinen Augen. Der Anblick der Waffe hatte ihm jede gelassene Überlegenheit geraubt. Irgend etwas mußte schiefgegangen sein, sagte sich Liu. Die se kleine Probe der Schauspielkunst hatte nicht den gewünsch ten Effekt erzielt. Liu konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß Mengs Angst nicht mehr nur der auf ihn gerichteten Waffe galt, sondern irgendwelcher Vorgesetzten, die ihm wegen seines Versagens Vorhaltungen machen würden. 216
Liu zwang sich, die Pistole unverwandt auf Meng zu richten und nicht zur Tür zu blicken. Er hatte ein Gefühl, als schnappte eine Falle über ihm zu. Er wollte endlich wieder einmal Ge wißheit haben, klar denken. »Was …?« begann Meng, um jedoch im selben Moment wieder zu verstummen. »Was das Ganze eigentlich soll?« vollendete Liu gelassen den Satz. »Ich finde, Sie sollten mir endlich die Wahrheit sagen.« Meng schüttelte ganz schwach den Kopf und versuchte dann, seine Fassung wiederzugewinnen. Langsam kamen wieder Spuren seines alten Selbst zum Vorschein. »Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, Sie Idiot. Was bilden Sie sich eigentlich ein, mich mit einer Waffe zu bedrohen? Woher glauben Sie sich befugt, mich an diesem Anruf zu hindern? In was für ein Kom plott sind Sie eigentlich verwickelt?« »Damit brauchen Sie mir nicht mehr zu kommen, Dr. Meng. Ich glaube Ihnen nicht, daß Sie mir die Wahrheit gesagt haben. Ich bin vielmehr der Ansicht, daß die Wahrheit wesentlich subtilerer, verborgenerer und gefährlicherer Natur ist. Sie haben mir die ganze Zeit nur etwas vorgemacht.« »Das ist doch Unsinn.« »Keineswegs.« »Wer sind Sie wirklich?« »Das spielt hier keine Rolle.« »Was haben Sie vor?« »Ich möchte, daß Sie mir die Wahrheit sagen.« Er bewegte drohend die Pistole. Meng schielte zur Tür. »Ich brauche nur zu rufen …« »Um erschossen zu werden.« »Aber Sie kennen doch die Wahrheit!« Plötzlich ging Liu ein Licht auf. »Sie meinen also, ich wäre dessentwegen gekommen, was Sie mir erzählt haben – womit Sie geprahlt haben?« Sein Hals 217
war wie zugeschnürt. Meng wirkte ratlos, verwirrt. »Das ist nicht der Grund, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin. Ich sagte Ihnen bereits, mein Interesse galt den Leuten, nicht den Medikamenten – der Verabreichung, und nicht den Ergebnis sen. Aber Sie …« Liu beeilte sich, weiterzusprechen, während er mit wachsender Erregung sah, wie Mengs Mund sich öffnete und seine Hände sich um die Sessellehnen krampften, als kämpfte er gegen einen Schwindelanfall an. »Sie haben mich mit Dosierungen, Medikamenten, Methoden, Fragen, Zeiten, Daten vollgestopft. Sie hätten das getan, ganz gleich, wonach ich Sie gefragt hätte. Wir begannen unser Gespräch – erinnern Sie sich noch – über zwei Leute aus Chiangs Team …« Mengs Angst stand nun völlig außer Zweifel. Seine Augen wanderten verzweifelt durch den Raum, als suchten sie nach einer Mög lichkeit zu entkommen. »Völlig unbedeutende Polizeibeamte, die vielleicht einer Säuberung unterzogen werden sollten. Sie konnten sich – und zwar bis ins kleinste Detail – nicht nur an diese Leute, sondern auch an sonst alles erinnern!« »Nein …«, protestierte Meng schwach. »Doch! Sie haben mir eine Wahrheit aufgedrängt, an der ich nicht interessiert war – nicht als Inspektor Liu von der Gehei men Staatspolizei in Shanghai. Sie wollten mir eine Wahrheit andrehen, von der Sie dachten, daß ich sie wirklich erfahren wollte. Eine Wahrheit, die für eine andere Person bestimmt war – für den Mann hinter diesem Ausweis.« Liu richtete den Lauf der Pistole mit voller Absicht auf Mengs Bauch. »Sie wissen, wer ich bin, oder nicht?« »Nein!« »Doch. Sie haben Ihr kleines Theaterstück für mich aufge führt, nicht für den Mann auf dem Ausweis.« »Nein …« Mengs Gesicht war teigig und farblos, sein Körper kraftlos und marionettenartig, während er zusammengesunken in seinem Sessel saß. »Nein«, wiederholte er kopfschüttelnd. »Doch. Sie wußten, wer ich bin und weshalb ich zu Ihnen 218
kam. Sie haben mir alles gesagt, was ich wissen wollte. Aber jetzt verraten Sie mir einmal, warum Sie das getan haben.« Als Meng nun aufsah, zitterten seine Lippen. »Los, sagen Sie mir die Wahrheit.« Aubrey saß im Land Rover. Seine Kleider begannen bereits an ihm zu kleben. Das Motel leuchtete in einem schmutzigen, gedämpften Licht, während er die Türen beobachtete, darauf wartete, daß Hyde, nachdem er die Rechnung bezahlt hatte, ins Freie trat. Die Sterne über ihm funkelten wie die Glanzlichter an der Klinge eines unsichtbaren Messers. Ein Stück die Straße hinunter zeichneten sich die unförmigen Schatten verschiede ner Geschäfte, der Bahnstation und des Postamts vor dem sanften Dunkel der Nacht ab. Er zuckte zusammen, als direkt unter dem Fenster ein schwarzes, breitnasiges Gesicht auftauchte. Mit ausdruckslo sem Gesicht und tief schwarzen Augen starrte das Eingebore nenkind den alten Mann etwa eine Minute lang unverwandt an und verschwand dann langsam in die Dunkelheit. Aubrey hatte dieser Besuch ziemlich aus der Fassung gebracht, und er war froh, als Hyde aus dem Motel kam und rasch auf den Land Rover zuging. Er stieg ein und umfaßte das Lenkrad, atmete tief ein und sah dann zu Aubrey hinüber. »Fertig, Mr. Au brey?« »Ja, fahren Sie endlich!« stieß Aubrey hervor. Er hatte tief geschlafen, als Hyde an seine Tür geklopft hatte. Hastig hatte er sich angezogen, war zum Wagen geeilt. Jetzt erst fand er Zeit, sich zu beschweren. »Tut mir leid, Mr. Aubrey.« Hyde wirkte angespannt. Wie unter einer schweren Last krümmten sich seine Schultern über das Lenkrad. »Wir müssen jetzt sofort aufbrechen, und wir müssen uns beeilen. Petrunin ist nur noch einen – einen halben – Schritt hinter uns.« »Aber wir wissen doch schon die ganze Zeit, daß sie uns fol 219
gen, Hyde …« »Aber es ist Petrunin!« entfuhr es Hyde, wobei sich schon im nächsten Augenblick seine Lippen krampfhaft wieder ver schlossen, um nicht noch weitere Zugeständnisse seiner Angst und Beunruhigung herauszulassen. »Ja«, erwiderte Aubrey leise. »Gut. Ich hoffe nur, daß Schil ler auf uns wartet.« »Sie können sich nicht allzulange mit ihm unterhalten, Mr. Aubrey.« »Wie meinen Sie das?« Hyde wandte sich Aubrey zu. »Sie wollen wissen, warum ich mich so aufrege? Ich werd’s Ihnen sagen. Ich weiß, daß das Ganze auf eine Gewalttat hinausläuft. Das ist so sicher wie der nächste Sonnenaufgang. Petrunin und seine Gorillas haben es auf Schiller abgesehen. Sie werden entweder Antworten haben wollen, oder sie werden dafür sorgen, daß verschiedene Dinge, von denen sie bereits wissen, nicht an den Tag kommen. Oder können Sie mir noch eine dritte Möglichkeit sagen?« »Nein. Vermutlich haben Sie recht.« »Sie können mir also glauben, daß ich vor nichts davonlaufe, sondern nur …« Hyde schnalzte mit der Zunge und ließ dann den Motor an. Er bog vom Parkplatz des Motels auf die unbeleuchtete, stau bige Hauptstraße ein. In einer Minute hatten sie die Stadt hinter sich gelassen. An einer Gabelung nahm Hyde die rechte Ab zweigung, den Birdsville Track. Nun rollten die Reifen über eine rauhe Oberfläche, die sich kaum von der flachen Öde ringsum unterschied. Endlos glitten im Lichtkegel der Schein werfer Sand und Steine unter ihnen hinweg. Nach wenigen Minuten fühlte sich auch Aubrey von der Isolation, der bedroh lichen Einsamkeit der Landschaft um Marree infiziert. Auch er wurde sich immer deutlicher der Tatsache bewußt, daß sie sich nicht einer Gefahr entzogen, sondern sich darauf zubewegten.
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Sie parkten den Wagen an der Straße, die am Östlichen See entlangführte, und gingen zum Wasser hinunter. Der Himmel hinter David Liu und dem Doktor glühte von den Stahlwerken in schmutzigem Orange, als wäre die Sonne eben erst unterge gangen. Meng hatte sich mit einem geheimnistuerischen Hinweis auf einen wichtigen Patienten von seinen Gästen entschuldigt. Er müßte den Inspektor zu ihm begleiten. Es würde nicht lange dauern. Mit höflicher Ehrerbietung in der Tür stehend, hatte Liu sich von privilegierten Augenpaaren begutachten lassen müssen. Er merkte, daß er für sie keine Bedrohung darstellte. Meng hatte kurz seine Frau geküßt – eine gelangweilte, schöne, europäisierte Chinesin –, und dann waren sie gegangen. Als Meng die Tür geräuschvoll hinter sich schloß, drang aus dem Speisezimmer bereits wieder leises Lachen an ihre Ohren. Seine Miene wirkte wütend. Liu spürte, daß die Frau unter den Gästen einen Geliebten hatte. Diese Erkenntnis ließ Meng plötzlich menschlicher erscheinen. Meng starrte auf die schwarze, glatte Oberfläche des Sees, als stünde die Lösung des Rätsels auf das ruhige Wasser geschrie ben. Die Pistole im Gürtel, so daß Meng sich ihrer Präsenz bewußt blieb, beobachtete Liu den Doktor. »So eine Beichte tut immer gut«, ermunterte ihn Liu. Mit wutverzerrtem Gesicht wandte Meng sich zu ihm. »Ich kann es Ihnen nicht sagen!« »Sie werden es aber wohl oder übel sagen müssen.« Liu klopfte leicht auf seine Pistole. »Ich kann nicht!« »Sie haben eine ganz einfache Wahl.« »Ich habe keine Wahl.« »Doch. Entweder töte ich Sie jetzt auf der Stelle – oder Sie rücken mit der Wahrheit heraus und versuchen dann, Ihren Kopf irgendwie aus der Schlinge zu ziehen. Im zweiten Fall ist Ihnen der Tod zumindest nicht ganz so gewiß.« 221
»Wirklich nicht?« Bitter sah Meng zu den Sternen auf. Die Brise trug den Geruch von geschmolzenem Metall mit sich. Liu spürte ihn bis in den Hals hinunter, und er wußte nicht, ob er Meng töten könnte, wenn es darauf ankam. »Nein. Wenn Sie ihnen nichts sagen, werde ich es auch nicht tun.« »Sie verstehen nicht …« »Was verstehe ich nicht? Sagen Sie mir das doch, bitte!« Irgendwo im Schilf neben ihnen raschelte etwas im Schlaf. Meng zuckte erschrocken zusammen. »Ich kann es Ihnen nicht sagen.« »Sollen wir einen kleinen Spaziergang machen?« »Ja.« Sie begannen am Ufer des Sees entlangzuwandern. Auf einer Seite erhob sich wie der gigantische, finstere Helm eines Krie gers eine Pagode. Der abnehmende Mond hatte Mühe, den Dunst zu durchdringen, bei dem es sich um eine Nachtversion von Industriesmog hätte handeln können. Vor ihnen lag eine zierlich gewölbte Brücke. In dem fahlen Mondlicht war Mengs Gesicht bleich und grimmig. »Wollen Sie nicht wieder zu Ihrer Frau und Farn …?« be gann Liu. »Lassen Sie bitte meine Frau aus dem Spiel!« »Sie könnten sicher noch rechtzeitig zurückkehren, um zu mindest für diese Nacht ihre Untreue zu verhindern.« »Sie verdammter …«, fauchte Meng. »Sie haben wirklich alles, was das Leben angenehm macht, Meng«, bemerkte Liu in einem neuen, eisigen Tonfall. »Anse hen, Position, Geld, Einfluß. Und eine schöne Frau, die Ihnen regelmäßig Hörner aufsetzt.« »Halten Sie den Mund!« »Ich kann Ihrem Leid natürlich problemlos ein Ende machen. Ich kann Sie töten – oder für Ihr ganzes Leben zum Krüppel 222
machen. Ja, auch das könnte ich, Meng. Ich könnte Sie für die nächsten dreißig Jahre in den Rollstuhl bringen, so daß Sie noch in der Lage wären, mitanzusehen, wie Ihnen Ihre Frau mitspielt, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Sie würden noch sehen können, wie sie ausgeht, angezogen, nur um sich wieder auszuziehen, einen Tupfer Parfüm an jeder Stelle, wo er sie vielleicht gern küssen würde …« Völlig vom Instinkt geleitet, malte Lius Stimme die Szene in den leuch tendsten Farben. Meng hatte sich ihm ausgeliefert. Er hätte die Untreue seiner Frau abstreiten sollen. Aber nun war er völlig hilflos. »Keine Arbeit, kein Geld, keine Position und kein Ansehen – und keine Frau. Ich kann Ihnen jetzt, auf der Stelle, zu einer Staatspension verhelfen.« Meng wandte sich Liu zu, streckte seine Hände nach ihm aus. Als er auswich, stieß Liu gegen den Doktor, so daß dieser stolperte und ausglitt. Er landete auf allen vieren im Wasser. Schluchzend verharrte er eine Weile in dieser Stellung, bis Liu ihm auf eine derbe, aber kameradschaftliche Art auf die Beine half. »Ich, ich …«, fing Meng zu stottern an. »Ja?« Liu gab sich Mühe, sich seine Erregung nicht anmer ken zu lassen. »Ich – ich schreibe Gedichte, wissen Sie.« »Was?« Liu war verdutzt. Mengs Blick war nach innen ge richtet. In dem fahlen Mondlicht lag ein abwesender, verklärter Ausdruck auf seinem Gesicht, und Liu fürchtete bereits, der Doktor würde ihm entgleiten. »Gedichte. Komisch, nicht?« »Wieso?« Meng setzte sich wieder in Bewegung. Er schritt nun forscher aus. Mit einemmal schienen ihn wieder Stolz und Zuversicht zu erfüllen. Hinsichtlich seines weiteren Vorgehens im unklaren, ging Liu neben ihm her. Meng schien sich in eine private, unwirkliche Welt zurückgezogen zu haben, in der ihm seine 223
Frau nichts anhaben konnte. Vielleicht war er dort auch vor Fragen sicher. »Kälte«, murmelte Meng. »Ich scheine ständig über Kälte zu schreiben. Ein zentrales Bild, könnte man vielleicht sagen.« »Ja?« Meng sah Liu nicht an. David Liu war wütend auf sich. Ir gendwie hatte er selbst diesen Rückzug veranlaßt. Er hatte nichts als Drohungen anzubieten gehabt, und Meng hatte eine Möglichkeit gefunden, dem auszuweichen. Und dann fing er murmelnd zu rezitieren an. »Halte dich fern von scharfen Schwertern, Meide die Nähe einer reizenden Frau.« Mengs Stimme klang entrückt. Die Worte, denen Liu gegen seinen Willen lauschte, schienen aus einem fernen, paradiesi schen Land zu kommen, das noch nicht von menschlichen Füßen betreten worden war. Aus einer Mondlandschaft. »Ein scharfes Schwert, zu nah, wird deine Hand verletzen, Einer Frau Schönheit, zu nah, wird dein Leben verletzen.« Im Weitergehen fühlte Liu sich mehr und mehr in Mengs kühle, eisbedeckte Träume hineingezogen. »Das Gesicht des Herbstmonds gefriert. Alt und heimatlos, sind Wille und Kraft verbraucht. Der Tropfen kühlen Taus unterbricht meinen Traum …« Liu sah zu dem wäßrigen, dunstgetrübten Mond auf. »Ziemlich altmodisch, nicht?« murmelte er. »Aber ja, natürlich«, erwiderte Meng. »Die perfekte Auffri schung alter Formen. Ich fürchte, so etwas ist im Augenblick nicht gefragt.« Er schien sich jedoch nicht wirklich zu rechtfertigen. Sein Rückzug war perfekt – nicht nur in seine Gedichte, sondern auch in die Nachahmung von Formen und Gefühlen, die viel leicht tausend Jahre alt waren. »Der Schock eines Schimmers, und dann ein weiterer …« Liu beobachtete Meng. Der Doktor hatte sich ihm plötzlich 224
zugewandt. Sie hatten inzwischen die Brücke betreten, die sich über einen schmalen Seitenarm des Sees spannte. Liu hatte ein Gefühl, als würden sie immer tiefer in den Traum gezogen, obwohl Mengs Gesicht nun auf sehr intensive Weise lebendig und wach wirkte. »Ja«, sagte er schließlich. »Es stimmt.« »Was?« »Was Sie mir antun können, ist gewisser als das, was mir von der anderen Seite zustoßen könnte.« Unverwandt starrte er auf den schwarzen Fleck der Pistole vor Lius Hemd und nickte. Dieser plötzlichen Wachheit mißtraute Liu ebensosehr wie der geheimnisvollen Abwesenheit wenige Augenblicke zuvor. Meng räusperte sich. Seine Stimme klang, als wäre ihm die Kehle zugeschnürt, und doch war ihr eine klare Wachheit nicht abzusprechen: »Ja, Sie hatten völlig recht. Sie wurden ge täuscht.« »Von wem?« »Vom Ministerium – Ihren Leuten?« Er lächelte frostig und schüttelte den Kopf. »Nein, nicht von den Ihren natürlich. Von der Polizei, vom Geheimdienst, von den Spionen. Nennen Sie sie, wie Sie wollen.« »Wie getäuscht?« »Aufs äußerste. Vielleicht in demselben Maß wie ich selbst auch«, fügte er mit leiser Stimme hinzu. »Alles war eine Fäl schung – meine Fälschung.« Ein kurzes Aufflackern von Stolz. »Alles?« Liu zitterte vor Erregung. Er hatte es! Alles. Auch er verspürte, wie ihn ein Gefühl des Stolzes überkam. Er hatte es geschafft. »Wei?« »Wer?« »Der Überläufer.« Meng zuckte mit den Schultern. »Der Mann, um dessentwil len Sie hier sind? Ja, ich nehme das an. Man hat mir allerdings nicht gesagt, wie die Zweifel geweckt werden sollten.« »Dann …?« »Es hat kein Verhör, keine Entdeckungen gegeben. Keine 225
Drohungen, keine Aufzeichnungen, keine Enthüllungen.« »Und der Deutsche? Ist er kein KGB-Agent?« »Keine Ahnung. Soviel ich weiß, ist es zumindest nicht aus geschlossen. Ich weiß nur, daß man ihm etwas gegeben hat, damit er krank wurde, als hätte er sich den Magen verdorben. Und dann hat man ihn zu mir ins Krankenhaus gebracht. Meine – Fälschungsarbeit wurde dann von General Chiang beaufsich tigt.« Er wandte sich zu Liu. »Jetzt wissen Sie alles.« Seine Augen waren auf die Pistole in Lius Gürtel gerichtet. »Warum?« fragte Liu. »Das weiß ich nicht. Ich habe nur getan, was man mir befoh len hat. Ich war nur für den medizinischen Bereich der Fäl schung zuständig. Die Gründe dafür sind mir unbekannt.« »Alles nur eine Täuschung – aber er hat doch Russisch ge sprochen!« »Eine Tonbandaufnahme. Sie wurde, glaube ich, in seinem Zimmer abgespielt.« »Alles …« Liu blickte auf das ruhige, dunkle Wasser unter der Brücke hinab. Alles – jetzt hatte er es. »Wenn die Abendglocken den scheidenden Gast entlassen, fallen die Klänge, die ich zähle, aus dem fernsten Himmel.« Mengs Stimme nahm wieder einen unirdischen Ton an. Liu betrachtete sein Profil, während sie Seite an Seite standen, auf das Brückengeländer gestützt. Der Stein fühlte sich unter sei nen Händen weich und körnig wie Käse an. »Vielen Dank«, murmelte Liu. »Was …?« Meng schien nur widerwillig in Lius Welt zu rückzukehren. Sein Gesicht spiegelte Bedauern wider, seine Augen waren der Betrachtung seiner Ungewissen Zukunft zugewandt, bevor sie sich wieder auf die Pistole konzentrier ten. Liu schloß seine Jacke über der Waffe. Meng seufzte. »Ach ja, ich hatte natürlich wirklich keine Wahl.« »Nein.« 226
»Und was jetzt?« »Jetzt … Ach so. Sie können zu Ihrer Frau und Ihren Gästen zurückgehen, Herr Doktor.« Am westlichen Horizont leuchtete eine Stichflamme auf. Ein Hochofen. »Ich habe keine weiteren Fragen mehr.« »Und – was wird nun geschehen?« »Möglicherweise wird Ihnen nichts passieren. Aber das ist nicht meine Entscheidung. Solange die Polizei nicht weiß, daß ich mich mit Ihnen getroffen habe, dürfte sie keinen Verdacht schöpfen.« »Wir werden ja sehen. Kann ich jetzt gehen?« Mengs Augen verengten sich berechnend. Liu nickte. Meng betrachtete den kleineren Mann kurz, als überlegte er, ob er Gewalt gegen ihn anwenden sollte. Dann drehte er sich entschlossen um und verließ die Brücke. Liu konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es dauerte lan ge, bis der Gedanke an die Kontaktaufnahme mit Frederickson und an seine Flucht aus China seine Zufriedenheit allmählich verdrängte. »Wolf, was zum Teufel soll das Ganze?« Vogel war wütend. Seit dem Verlassen der Pressekonferenz hatte Zimmermann jeden Augenblick mit seinem Erscheinen gerechnet. Offensichtlich hatte der Kanzler versucht, sich ein Bild von dem Schaden zu machen, den diese Zeitungsaffäre angerichtet hatte. Vielleicht hatte er sogar über Zimmermanns Vergangenheit Erkundigungen einziehen lassen … »Es tut mir schrecklich leid, Dietrich, aber du mußt mir glau ben …« »Das ist ja das Problem, Wolf. Kann ich dir noch vertrauen? Oder soll ich das hier glauben?« Vogel klatschte die verschie denen Ausgaben deutscher Tageszeitungen in seiner Hand auf die Lehne eines Sessels. Zimmermann blieb am Fenster des Düsseldorfer Hotelzim 227
mers sitzen. Vogel hatte sofort gemerkt, daß er getrunken hatte – nicht unbedingt viel, aber er hatte getrunken. Vogel wußte nicht, ob die Flasche Asbach frisch angebrochen war. Jeden falls war sie halb leer. Zimmermann zuckte mit den Schultern. »Du weißt ganz ge nau, daß das alles Blödsinn ist, Dietrich. Es tut mir leid, daß so etwas passieren mußte, aber nichts davon ist wahr. Mein Gott, das weißt du doch!« »Morgen wäre es noch eine Woche gewesen – dann hätten wir es geschafft. Nur noch sieben Tage!« Er hob die Augen zur Decke, während er sich Zimmermann gegenüber in einen Sessel fallen ließ. »Hättest du uns nicht noch eine Woche Zeit lassen können?« Vogel schenkte sich einen Weinbrand ein. Die Zeitungen glitten dabei aus seinem Schoß, um sich anklagend auf dem Teppich breitzumachen, die Schlagzeilen halb ver deckt. Hustend nippte Vogel an seinem Glas. Dann deutete er damit auf Zimmermann. »Dieser Blödsinn wird wie eine Lawi ne über uns hinwegrollen, Wolf.« Seine Stimme war nicht mehr so laut, aber keineswegs weniger wütend. »Geheime Klauseln! Was soll das heißen? Geheime Treffen – natürlich hat es geheime Treffen gegeben! Deine Verbindungen zu Ostdeutschland?« Diese Feststellung wurde, vielleicht völlig unbewußt, zu einer Frage. Zimmermann betrachtete den Boden seines Glases und schüttelte den Kopf. »Deine Vergangenheit – und sogar die Anschauung, du wärst eine Art Zauberer, der mich irgendwie in seinem Bann hätte! Stell dir so etwas einmal vor!« »Was – was willst du dagegen unternehmen?« »Was ich dagegen unternehmen will? Wo sind die Beweise, mit denen wir diesen ganzen Blödsinn widerlegen können? Gibt es die überhaupt?« »Sie würden sicher als Schönfärberei angesehen werden, um die Sache zu vertuschen.« »Wem sagst du das! Ich werde eine öffentliche Erklärung 228
abgeben müssen, daran führt kein Weg vorbei. Sie bedrängen mich ja schon von allen Seiten – Radio, Fernsehen, Presse. Ich werde …« »Willst du, daß ich …?« »Du? Du unternimmst jetzt gar nichts, Wolf. Du hast im Moment schon genug Schaden angerichtet.« Zimmermann errötete vor unterdrückter Wut, aber Vogel übersah es. »Nur noch eine Woche, und wir hätten es geschafft. Ein vereintes Deutschland, eine neutrale Zone in der Mitte Europas. Frieden, Wohlstand … Mein Gott, und das wollen sie nun alle zunichte machen! Du sollst gehen, und ich soll gehen. Das ist ihre Ab sicht. Und dann wird das Abkommen nicht zustande kom men!« Er stand auf und trat ans Fenster, ohne jedoch die Gar dine beiseite zu ziehen. Dann drehte er sich wieder zu Zim mermann um. »Laß nicht zu, daß diese Sache auch mir zum Verhängnis wird, Wolf. Dafür habe ich zu lange und zu hart für das Abkommen gearbeitet. Ich möchte es einfach nicht wahr haben, daß mich Springer und die gesamte Rechtspresse so ohne weiteres aus dem Sattel heben können. Hilf mir, diesen Quatsch zu entkräften, oder – wir sind beide am Ende.« Sie waren die ganze Nacht durchgefahren, und dann immer weiter, während die Sonne aus der rosa besprengten Wüste in den östlichen Himmel emporgeklettert war. Dunkle, trugbildar tige Gummibäume quälten sich mühsam aus der kargen Land schaft empor, ihr Schatten nur äußerst spärlich. Hyde verlor die Fahrspur, fand sie, verlor sie von neuem. Aubrey konnte sich nicht des Gefühls erwehren, daß Hyde sich in der Wildnis Südaustraliens nicht weniger hilflos und verlassen fühlte als er selbst. Dann, kurz nach Mittag, stießen sie auf Wasser. Es war nichts weiter als ein isoliertes Wasserloch – ein Überrest eines Sei tenarms von Cooper’s Creek, der erst wieder mit den ersten Winterregenfällen zu neuem Leben anschwellen würde. Nach 229
der Öde der vergangenen Stunden wirkten die verstreuten Grasflecken auffallend grün im Kontrast zu dem Sand. Vor ihnen tat sich eine Parklandschaft auf, die ohne weiteres eine Fata Morgana hätte sein können. Aubrey stöhnte erleichtert auf. »Wir halten hier an«, sagte Hyde. Seine Lippen waren ausge trocknet, die Augen hinter der Sonnenbrille verkniffen. »Erst machen wir eine kleine Pause, einverstanden?« »Ja.« Hyde stellte den Land Rover im Schatten einiger Gummi bäume ab, die das schmutziggraue Wasserloch säumten. Wäh rend Aubrey ausstieg, blieb Hyde noch sitzen, um bei weit aufgerissener Tür die Karte zu studieren. Seine Miene wirkte gefaßt, vom Wind, von der Flut oder von einer inneren Krise zu kantigen, zerbrechlichen Ebenen und Oberflächen zurecht gehauen, die jedoch jeden Augenblick in sich zusammenfallen konnten. Aubrey öffnete die Kühlerhaube. Die Hitze, die sie ausstrahlte, drohte ihm Gesicht und Hände zu versengen. Er füllte Wasser aus dem Tank in einen Plastikbecher, ohne ver hindern zu können, daß er sich wegen Hydes wenig Zuversicht erweckender Miene Gedanken machte. Wie groß war Hydes Angst wirklich? Wie sehr würde ihn die Tatsache hemmen, daß Petrunin es war, der ihn jagte? Aubrey wurde sich plötzlich mit erschreckender Deutlichkeit bewußt, wie wenig er trotz seines Alters und seiner Erfahrung über die Agenten wußte, über die Männer, die diese Drecksarbeit leiste ten. Er kannte sich mit Gegenspielern, Überläufern, Verwal tungsspezialisten, Strategen aus – aber nicht mit den Männern, die Revolver im Gürtel trugen. Er sah sie nur als Maschinen, die zu funktionieren hatten – ganz gleich, ob in der Niederlage oder im Sieg. Er begriff nicht, welchen mechanischen Anfäl ligkeiten sie ausgesetzt waren. Er schüttelte den Kopf. Die Wüste saugte seinem Verstand das letzte Bißchen an Einsicht, Sensibilität, Scharfsinn aus. 230
Natürlich wußte er mehr über Hyde. Der Mann war einfach … Das Flugzeuggeräusch hätte zunächst ebensogut von einem Insekt herrühren können. Die Fliegen, die um die purpurnen Blüten am Rand des Wasserlochs schwirrten, gaben jedoch Anlaß zu Pessimismus. Das Geräusch wurde in der klaren, stillen Luft lauter, bis Aubrey merkte, daß es von einem klei nen Flugzeug verursacht wurde. Fast auf der Stelle war Hyde aus dem Land Rover gestiegen und neben Aubrey getreten, um den Himmel mit seinem Fern glas abzusuchen. Das Dröhnen wurde lauter, kam auf sie zu. Das Fernglas schwenkte, wie es Aubrey erschien, mit verzwei felter Dringlichkeit hin und her. Hyde seufzte. Blinzelnd beo bachtete Aubrey die kleine Maschine, wie sie flach am nahen Horizont an ihnen vorbeischoß. Dann schaute er Hyde an, als dieser das Fernglas von den Augen nahm. »Nun?« »Ja, es ist das Flugzeug, das ich gestern nacht gesehen habe. Petrunin.« Er schauderte. Bilder eines anderen Flugzeugs, das ihn und ein fliehendes Mädchen in England verfolgte, flacker ten wie von einem Feuer erleuchtete Szenen grausam an sei nem inneren Auge vorüber. Seine Schulter schmerzte. Er räus perte sich. »Wenn wir uns beeilen, haben wir vielleicht gerade noch Zeit, um mit Mr. Schiller zu sprechen. Danach – ich weiß nicht, was dann sein wird. Ich weiß wirklich nicht.« »Davie, mein Junge, das haben Sie großartig gemacht!« David Liu war verlegen. Sein verschämtes, jungenhaftes Grinsen ließ ihn absurd jung erscheinen. Frederickson wirkte zufrieden und glücklich. Bestürzt, atemlos – ja. Aber auch aufgeregt. Seine Augen funkelten, seine weißen Zähne blitzten wie das Gebiß eines wilden Raubtieres, als er Liu noch einmal auf die Schulter klopfte. »Danke.« »Wir haben Ihnen zu danken, Davie.« Sie standen im Eingang eines Bekleidungsgeschäfts in der Zhong nan lu, einer breiten Durchgangsstraße, in der auch das 231
Hong-Shan-Hotel lag, wo Frederickson und die amerikani schen Geschäftsleute untergebracht waren. »Hat es Sie sehr überrascht?« fragte Liu. »Schockiert hat es mich, David, schockiert.« Frederickson rieb sich das Kinn. Liu hatte sich telefonisch mit ihm verabre det, indem er vorgab, seine Hotelreservierung für den Abend ändern zu wollen. Liu war sich sicher gewesen, Fredericksons scharf eingesogenen Atem gehört zu haben, bevor er den Hörer aufgelegt hatte. Das Warngeräusch einer zuschlagenden Schlange? Die Überraschung, nahm er an. Ausdruck seines Schocks, wie Frederickson nun selbst gesagt hatte. »Es wurde also alles nur zum Schein …« »Mann, das war wirklich gut durchdacht und durchgeführt.« »Aber warum?« »Warum?« Fredericksons Augen verengten sich. »Um die deutsche Regierung zu stürzen, vielleicht? Die Chinesen sind an einem neutralen Deutschland keineswegs interessiert. Da durch könnten sich die Russen ausführlicher mit ihnen befas sen. Und darauf wären sie doch bestimmt nicht besonders scharf, oder?« »Allerdings nicht.« Frederickson sah auf seine Uhr. »Sie gehen jetzt in Ihr Hotel zurück, Davie. Bleiben Sie dort. Ich muß dafür sorgen, daß ich mit dieser Nachricht nach Shanghai zurückkomme. Die Nach richtenvermittlung von hier ist nicht sicher genug. Und Sie … Sie müssen wir jetzt so rasch wie möglich wieder aus China entfernen.« Er legte seine beiden Hände auf Lius schmale Schultern. »Bleiben Sie auf Ihrem Hotelzimmer, bis Sie von mir hören. Ich werde mich dann mit Ihnen treffen und Ihnen mitteilen, wie Sie aus China verschwinden werden. Zuerst muß ich jedoch meinen Aufenthalt in Wu Han unterbrechen. Lang ley muß verständigt werden – höchste Dringlichkeitsstufe. In Ordnung?« »In Ordnung«, erwiderte Liu. 232
»Fein. Und vergessen Sie nicht – bleiben Sie auf Ihrem Zim mer, bis Sie von mir hören.« Mit einem kurzen Nicken ging Frederickson davon. Mit eili gen, elastischen Schritten überquerte er die breite, ruhige Stra ße zu seinem Hotel. Ein Mann, der dem befriedigenden Ende eines langes Weges entgegeneilte. Liu sah ihm nach, wie er unter dem Betonvordach in der Eingangshalle des Hotels ver schwand. Seine eigene Zufriedenheit war in diesem Augen blick noch vollkommen. Die Fotos würden nie den ganzen Zauber dieser Landschaft einfangen. Ja, vielleicht die Aprikosen-, Grün-, Rosa-, Purpurund Goldtöne der Felswände und die langsam dahingleitende Gruppe schwarzer Schwäne – die Sandhügel und den weißen Sand am Ufer des Sees, aber nicht das Schreien der Schwäne. Es schien, als wollten sie Schiller auf die Ankunft der Fremden aufmerksam machen. Auch würde auf den Fotos nicht der Land Rover zu sehen sein, der sich mühsam über einen flachen Sandhügel arbeitete, um auf dem Gipfelgrat gemächlich auf die andere Seite zu plumpsen und auf Schillers Lager in einem flachen, vertrockneten Wasserlauf zuzurollen, der in den See mündete. Durch sein Teleobjektiv beobachtete Schiller die beiden Männer hinter der schmutzigen Windschutzscheibe. Ein junger, ein alter. Clare schien hinsichtlich der beiden keinen Verdacht geschöpft zu haben, als sie mit ihm wegen eines möglichen Treffpunkts gesprochen hatte. Schiller vertraute auf die Men schenkenntnis seiner Tochter. Von diesen Männern drohte keine Gefahr. Er senkte die Kamera und winkte träge, als Aubrey aus dem Land Rover kletterte. Der jüngere Mann, sein Fahrer und Be schützer, blieb im Wagen sitzen und massierte sich das Ge sicht, als wollte er seine Müdigkeit zum Ausdruck bringen. »Herr Schiller?« fragte Aubrey und streckte die Hand aus. 233
»Mr. Schiller«, erwiderte der Träger dieses Namens scharf, nahm dieser Korrektur aber durch ein Grinsen und einen dick aufgetragenen australischen Akzent die Spitze. »Ich bin jetzt voll und ganz Aussie.« »Ich verstehe.« »Haben Sie beide schon gegessen?« Aubrey schüttelte den Kopf. »Dann können Sie von mir was bekommen. Laden Sie schon mal Ihr Zeug ab. Wer ist übrigens Ihr Begleiter?« Hyde stand neben dem Land Rover und starrte auf den Pa lankarinna-See, als traute er seinen Augen nicht. Hinter den schwarzen Schwänen, deren Lärmen langsam verstummt war, glitten geduckte, stumpfköpfige Pelikane über die spiegelglatte, rosa schimmernde Wasseroberfläche. Wie Hände legten sich sanft gewellte Sanddünen um das Wasser des Sees. Die leuch tenden Farben schmerzten in den Augen. »Patrick Hyde«, stellte Aubrey seinen Begleiter vor, als der zu den beiden alten Männern trat. »Mein – Reisegefährte.« »Hans Schiller.« Schiller hatte das Gefühl, eingehend beo bachtet und studiert zu werden. In Hyde sah er nicht so sehr ein Individuum als einen Typus. Er ließ den Blick über Hydes Kleidung wandern, um nach der Waffe zu suchen, die dort irgendwo versteckt sein mußte. »Mr. Schiller …« Hyde reichte dem alten Mann die Hand. »Was wollen Sie von mir?« fragte Schiller. »Ich – hätte mit Ihnen gern über Wolfgang Zimmermann ge sprochen.« Schiller nickte, offensichtlich nicht sonderlich überrascht. »Und zwar vor allem über Ihre gemeinsame Ver gangenheit – in Spanien.« »Wollen Sie seine Biografie schreiben? Oder ein Ge schichtswerk über den Bürgerkrieg? Warum fragen Sie nicht Wolf selbst? Er ist doch von England aus etwas leichter zu erreichen als ich, oder nicht? Sie haben doch die weite Reise sicher nicht unternommen, um mir ein paar Fragen über den Bürgerkrieg zu stellen?« 234
»Sie wurden zusammen mit Zimmermann gefangengenom men, nicht wahr?« »Mein Gott, ja – das ist schon lange her. Aber warum fragen Sie ihn nicht selbst, Mr. Aubrey? Sie sind mir Hunderte von Meilen von Barossa Valley bis hier herauf nachgefahren, nur um mir ein paar Fragen über 1938 zu stellen?« Schiller schüt telte unwillig den Kopf. »Wir sollten lieber erst einmal was essen. Lassen Sie mir ein bißchen Zeit zum Nachdenken. Schließlich liegt das alles ja auch schon einige Zeit zurück. Meine Güte …« Das Dröhnen der Beachcraft, die sie fast den ganzen Nach mittag beschattet hatte, rülpste in die Stille, nachdem Schiller in amüsiertes Schweigen verfallen war. Das Flugzeug schoß hinter der Deckung der Sandhügel und Felsen hervor und flog über sie hinweg, um dann gemächlich zu wenden und wieder auf sie zuzukommen. Hyde erhaschte einen kurzen Blick auf Petrunins Gesicht, bevor die Maschine wieder hinter den nied rigen Felsen verschwand. »Wo befindet sich die nächste Stelle, wo dieses Flugzeug landen kann?« fuhr er Schiller an. »Die nächste Stelle? Wieso? Was haben Sie denn?« »Wo?« »Etadunna Station, vielleicht …« »Dort werden Sie es bestimmt nicht versuchen. Wo sonst noch?« »Im Augenblick ist im Lake Eyre kein Wasser. Die Salzkru ste ist fest und flach genug. Im Madigan Gulf gibt es auch eine Menge Sand. Wieso? Sucht der Sie?« »Ja.« »Mr. Schiller«, schaltete sich Aubrey ein, »ich fürchte, diese Leute sind an Ihnen ebenso interessiert wie an uns. Tut mir leid …« Schillers Augen verengten sich. »Wer sind diese Leute?« »Russen.« 235
»Was …?« Schiller beobachtete Hyde, wie er zum Land Ro ver ging. Als er wieder aus dem Wagen stieg, hielt er ein Ge wehr in der Hand. »So ist das also.« Er wandte sich Aubrey zu. »Jetzt erklären Sie mir endlich, was das Ganze soll. Sie haben mir meinen Trip versaut – und mich vielleicht noch mit dazu. Ich hoffe nur, daß Sie dafür auch einen triftigen Grund haben!« »Sie sind verhaftet.« David Liu hatte auf das Klopfen und die Stimme des Zim mermädchens die Tür geöffnet. Er hatte keinerlei Argwohn gehegt. Seine plötzliche Aufregung war nur der Erwartung entsprungen und war auch sofort wieder verflogen, sobald er hörte, daß die Stimme dem Zimmermädchen gehörte und nicht Frederickson. Seinen Weisungen gemäß hatte er den Nachmit tag auf seinem Zimmer verbracht, um auf die Instruktionen für seine Flucht zu warten. Das Warten hatte seiner Zufriedenheit keinerlei Abbruch getan. Und auch die Isolation in dem kleinen Zimmer hatte ihm nichts anhaben können. Er hatte seinen Auftrag durchgeführt – er war mit China fertig. Er hatte es geschafft. Die Tür wurde aufgestemmt, sobald er sie einen Spaltbreit geöffnet hatte, so daß er von ihrer Wucht in den Raum zurück geschleudert wurde und auf den Fußboden stürzte. Sie waren zu viert, drei in Uniform und ein Mann in einem Mao-Anzug, der offensichtlich eine höhere Position einnahm. Noch bevor er zu sprechen anfing, leuchtete Freude in seinem Gesicht auf. »Was – soll das …?« stammelte Liu mühsam. Die Pistolen waren nicht zu übersehen. Das Mädchen war bereits über den Gang davongeeilt. »Sie sind verhaftet. Die Anklage lautet auf Spionage gegen die Volksrepublik.« Lius Zufriedenheit floß davon wie Regenwasser in einem Gully. Und er wurde von kalter Angst erfaßt.
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9. Unbelichteter Film Die Felsen hinter ihnen speicherten wie verglühende Holzstük ke eines Feuers die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Die kräftigen Farben wurden dunkler und versanken schließ lich im Schatten, während Aubrey ihre Pracht bewunderte. Er seufzte, als hätte jemand ein Kunstwerk weggeräumt, das er genossen hatte und das sämtliche persönlichen Belange seines Lebens unbedeutend hatte erscheinen lassen. Er wandte sich Schiller zu. Der Volkswagen des Deutschen, seine Seitentür zierte das Emblem der Weinkellerei, und der Land Rover standen zwischen ihnen und dem See. Sie hatten ihr Lager an eine besser zu verteidigende Stelle verlegt – unter einen überhängenden, flachen Felsen, wo sie von der einen Seite durch eine Bucht des Sees geschützt waren, während sich auf der anderen eine weite Sandfläche erstreckte, über die sich ihnen unmöglich jemand nähern konnte, ohne gesehen und gehört zu werden. Hyde war auf den Felsen geklettert, um Wache zu halten. Die drei Männer in dem VW-Bus, die Petru nin am Flugplatz von Marree erwartet hatten, waren bisher noch nicht aufgetaucht, und auch das Flugzeug war nicht wie der zum See zurückgekehrt. »Woran können Sie sich noch erinnern, Mr. Schiller?« half Aubrey den Erinnerungen seines Gegenübers nach. Er trank den letzten Schluck Kaffee aus seiner emaillierten Blechtasse. »Diese Sache ist sehr wichtig.« »Aber Sie wollen mir noch immer nicht verraten, warum, sie so wichtig ist?« Schiller starrte in die letzten verglühenden Holzstücke des Lagerfeuers. Von einem plötzlichen, heulenden Geräusch aufgeschreckt, blickte Aubrey hoch. »Dingos«, erklärte Schiller. »Das kann ich Ihnen unmöglich sagen, Mr. Schiller. Ich wünschte, ich könnte es, aber ich darf es ganz einfach nicht.« 237
»Bestimmt irgend so ein Staatssicherheitsquatsch, oder nicht?« »Ja.« »Welche Bedeutung sollte Wolfs Vergangenheit heute noch haben? Für Sie und …«, seine Hand deutete zum Himmel und dann zum See und auf das Land dahinter, »… für die Roten?« »Ich kann Ihnen nur wiederholen, daß ich Ihnen das nicht sagen kann.« »Meine Tochter hat sich für Sie verbürgt – also gut. Sie ha ben also bis zu einem gewissen Grad mein Vertrauen. Aber …« Er rieb sich das Kinn. »Ich weiß trotzdem nicht, ob Sie Wolf schaden oder ihm helfen wollen. Gut, Sie haben mich nicht bedroht und mich nicht gezwungen, Ihnen zu helfen, obwohl Sie das gekonnt hätten. Aber letztlich hat das auch nicht viel zu besagen. Ich habe Wolf Zimmermann schon seit … Warten Sie mal – ja, das war 1943, als ich ihn zum letzten mal gesehen habe. Auf irgendeiner Party in Berlin. Er war genau wie sonst. Ich habe einiges über ihn gehört …« »Haben Sie jetzt keine Kontakte mehr mit Deutschland?« »Nein, ich war nie wieder dort. Ich habe nur gelegentlich über ihn gelesen.« Schiller schüttelte den Kopf. »Ich möchte auch nicht wieder zurück. Ich habe meine erste Frau und mei nen Sohn in Hamburg verloren – britische Bomben. Jetzt habe ich keinen Grund mehr, in Deutschland zu leben. Ich hätte mir wirklich nichts Besseres wünschen können, als diese Weinkel lerei zu erben.« »Das Deutschland der Nachkriegszeit wäre wohl nicht unbe dingt das Richtige für Sie gewesen?« »Das haben Sie sich also gedacht, hm?« »Sie waren vermutlich Parteimitglied?« Aubrey sah, daß Schiller langsam nickte. »Ja, das habe ich eigentlich schon vermutet.« »Hat das jetzt noch etwas zu besagen?« »Nein. Es hatte ja auch schon nichts mehr zu besagen, als Sie 238
hierher nach Australien kamen. Der Krieg war schon einige Zeit vorbei und die alte Feindschaft längst vergessen. Und ich nehme auch an, daß Sie bezüglich Ihrer Vergangenheit nicht unbedingt die Wahrheit gesagt haben.« Aubrey schien fast belustigt zu sein. »Ganz recht. Meine Verwandten hier waren durchaus ein flußreiche Leute. Es war nicht schwierig für mich, Australier zu werden, mich schließlich zu Hause zu fühlen.« »Ich möchte Zimmermann nicht schaden. Er – er hat mir einmal das Leben gerettet.« Schiller sah Aubrey eigenartig an. »Wann?« »1940.« »Wo?« »In Frankreich. Ich hatte ihn gefangengenommen.« Lachend schlug sich Schiller auf den Oberschenkel. »Das sieht ihm ähnlich.« Aubrey war zufrieden. Allmählich ergriff die Vergangenheit wieder Besitz von Schiller. Die Erinnerun gen flossen nicht mehr nur zäh und langsam wie ein unterirdi sches Gewässer – sie blitzten nun im vollen Sonnenlicht auf. »Typisch! Er hatte eben schon immer Charme.« »Das kann man wohl sagen.« »Er hat also Ihr Leben gerettet? Ich möchte nur wissen …« Schiller schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »In gewis ser Weise verdanke auch ich ihm mein Leben. Als wir diesen verdammten Republikanern in Aragon entkamen. Wir sind ihm also beide einiges schuldig. Und er steckt in Schwierigkeiten? In internationalen Schwierigkeiten?« »Möglicherweise. Aber ganz gleich, welche Gefahr ihm droht, nur die Wahrheit kann ihm helfen.« »Das klingt aber reichlich bombastisch, was?« »Ja, ich finde schon.« »Also gut, dann stellen Sie mir Ihre Fragen.« Aubrey verspürte eine momentane Unlust, die Vergangenheit weiterzuverfolgen. Das Heulen eines Dingos wurde aus weite 239
rer Ferne von einem anderen Tier beantwortet. Fast unbewußt warf Schiller ein paar neue graue und knochentrockene Hölzer auf das Feuer. Ihr Knistern erinnerte Aubrey an die endlose Weite der Nacht ringsum, an das kleine Flugzeug und an den anderen VW-Bus. Dann verengte sich seine Perspektive. Sie waren zwei alte Männer, in Erinnerungen versunken. »Wie lange …?« begann er unwillkürlich. »Sie werden fast die ganze Nacht brauchen, um die sechzig, siebzig Kilometer vom See bis hierher zurückzulegen. In grö ßerer Nähe hätten sie auf keinen Fall landen können. Also fragen Sie endlich.« »Was wissen Sie über Wittenberg?« »Wittenberg?« wiederholte Schiller nachdenklich. »Wolf stammte aus Wittenberg. Was wollen Sie sonst noch wissen?« »Hat er dort Familie, Freunde?« »Ja, seine Eltern … Nein, sein Vater war schon tot – nur sei ne Mutter, eine Schwester, zwei Brüder. Einer seiner Brüder war noch vor 43 gefallen – in Nordafrika, glaube ich.« »Sie wissen vermutlich nicht, wer von seiner Familie den Krieg überlebt hat?« »Nein. Aber wie ich die Russen kenne, würde ich sagen, niemand.« Schiller spuckte aus. Aubrey, der mit übereinander geschlagenen Beinen auf einem Bündel aus Decken und Schlafsäcken saß, rieb sich die Schenkel. »Legen Sie sich eine Decke über die Knie. Nachts wird es immer ganz schön kalt.« »Ja.« Als er Schillers Rat befolgt hatte, fuhr Aubrey fort: »Erzählen Sie mir von Spanien, von Ihrer Gefangennahme. Aladko …« Schiller schwieg für eine Weile. »Der ist es also, an dem Sie interessiert sind«, sagte er dann. »Er muß doch schon seit Jahren tot sein. Jedenfalls war er nicht mehr gerade der Jüng ste, als wir seine Bekanntschaft machten.« »Wolf Zimmermann hat mir 1940 erzählt, daß er dem 240
NKWD angehörte.« »Allerdings. Ein ziemlich übler Bursche. Sie wollen also wis sen, ob wir uns damals rekrutieren ließen?« »Ja.« »Ach so, dieses verdammte Abkommen also? Das ist es doch, oder nicht?« Schiller grinste triumphierend. »Was haben Sie vor? Wollen Sie ihn anschwärzen? Ist es das?« »Nicht ich?« »Jemand anderer?« »Vielleicht.« »Ich schwöre Ihnen …« »Nein! Schwören Sie nicht – denken Sie nach. Aladko ver suchte also, Sie zu rekrutieren – und Zimmermann natürlich auch.« »Weit ist er allerdings nicht gekommen. Ich habe zwar mehrmals eine ordentliche Tracht Prügel eingesteckt. Sie haben mich ganz schön hergenommen, weil ich Nazi war, aber ir gendwann haben sie es dann bleiben lassen.« »Um sich mehr um Zimmermann zu kümmern?« »Moment mal …« »Ja, was ist?« »Mein Gott …« Schiller rieb sich neuerlich sein kantiges Stoppelkinn. »Mein Gott … Wolf war nie ein Nazi. Diese Russensau hat das sicher sehr schnell gemerkt. Auf den Kopf gefallen war dieser Aladko nämlich keineswegs. Aber ein Roter war Wolf auch nicht. Dessen bin ich mir sicher.« Schiller sah Aubrey in die Augen. »Andererseits …« »Ja?« »Der Russe faszinierte ihn irgendwie. Das konnte man sehen. Wolf war wirklich ein schlauer Fuchs – hat sich immer halb totgelacht, als sie ihn abends wieder zurückbrachten. Er hat diesen Russen ganz schön an der Nase herumgeführt.« »Er hat sich nicht überzeugen lassen?« »Nein, das könnte ich beschwören – nun, zumindest glaube 241
ich es nicht«, verbesserte sich Schiller. »Wolf war zu gerissen, zu eigenständig in seinem Denken, als daß er auf irgendeine Ideologie hereingefallen wäre.« »Wie sind Sie dann entkommen?« »Es war Wolfs Plan. Sie befanden sich gerade auf dem Rück zug. Unsere Leute waren ihnen dicht auf den Fersen. Es war ganz einfach, sich davonzuschleichen.« Schiller zuckte mit den Schultern. »Wir wurden am nächsten Morgen von einer Kon dor-Einheit gefunden – frierend, hungrig und frei.« »Ihre Flucht war nicht vielleicht von dem Russen arrangiert worden – da alles so einfach ging, wie Sie selbst eben gesagt haben?« »Nein, das glaube ich nicht. Es waren noch zwei bei uns, und sie wurden erschossen. Wolf hätte das sicher nicht zugelassen, nur um mich zu überzeugen. Und schließlich stünde ich jetzt nicht hier, wenn alles arrangiert gewesen wäre, oder?« Er spuckte neuerlich aus. »Der Russe hätte mich auf jeden Fall erschießen lassen, um irgendwelche Abmachungen zu vertu schen. Nein, Wolf ist nicht übergelaufen – zumindest nicht damals.« Aubrey seufzte. Er konnte in seinen Gefühlen nicht zwischen seiner Erleichterung und seiner Enttäuschung unterscheiden. Es gab keinen Beweis, nur eine weitere Ansicht. Vielleicht gab es nirgendwo Gewißheit. Schiller griff nach dem Gewehr, das neben ihm lag, als er einen Körper den Felsen herunterrutschen hörte. Am Rand des Feuerscheins wirbelte Staub auf. »Kein Grund zur Aufregung, ich bin’s«, hörten sie Hyde sa gen. Dann trat er in den Lichtschein. »Was ist?« fragte Aubrey. »Ein Feuer, in etwa eineinhalb Kilometern Entfernung, so weit ich das beurteilen kann.« »Dann haben sie sich aber mächtig beeilt«, bemerkte Schiller. »Falls sie es überhaupt sind. Ich werde jedenfalls mal nach 242
sehen. Ich wollte Sie nur warnen – damit Sie Augen und Ohren aufsperren. Es wird nicht lange dauern.« »Seien Sie vorsichtig, Patrick.« »Verlaufen Sie sich nicht«, fügte Schiller hinzu. Hyde nickte. Er warf einen kurzen Blick auf das Gewehr und ging dann davon. Während er wieder den Felsen hinaufstieg und dabei an dem aufgewirbelten Staub würgte, hörte er die beiden Männer sprechen. »Fällt Ihnen sonst noch etwas dazu ein?« »Zu Wolf? Na ja, er liebte Geheimnisse, und er liebte die Macht – vermutlich in dieser Reihenfolge. Aber er war sicher nie ein Roter …« Die Stimmen erstarben hinter ihm, sobald er die obere Kante des Felsabhangs erreicht hatte. Er kauerte sich zu Boden, um Atem zu schöpfen und seine Augen an die Dunkelheit zu ge wöhnen. Ja, da war es. Der Schimmer wirkte diffus, vergrößert, aber es war ein Feuer. Vielleicht nicht einmal einen Kilometer entfernt. Er machte sich auf den Weg. Er umrundete einen umfangreichen Sandhügel und folgte dann einem engen, ausgetrockneten Bachbett, das sich auf Umwegen zu dem fernen Feuer schlängelte. Als es plötzlich verschwand, kletterte er auf einen flachen Hügel. Das Feuer befand sich nun zu seiner Linken. Eine andere Düne erhob sich direkt vor ihm. Als er ihren Grat erreichte, schien das Feuer viel näher gerückt zu sein. Die erste Nachtkühle drang durch seine dünne Windjacke – sie alarmier te und erfrischte ihn gleichzeitig. Zum erstenmal, seit er Ade laide verlassen hatte, verspürte Hyde wieder so etwas wie ein Gefühl der Sicherheit, des Vertrauens in seine Fähigkeiten. Er brauchte mehr als eine halbe Stunde, um das Feuer zu um kreisen und sich von hinten heranzuschleichen. Da er auf kei nen Wachtposten gestoßen war, kletterte er vorsichtig zum Grat einer Düne hinauf. Als er oben angekommen war, legte er sich auf den Bauch, sorgfältig darauf bedacht, den lockeren 243
feinen Sand nicht zu lösen. Schließlich hob er langsam den Kopf. Niemand saß an dem verglühenden Feuer. Ein Trick. Petru nin hatte ihn mit dem Feuer von Aubrey weggelockt. Der Gedanke an einen Hinterhalt ließ Hyde erschauern. Jedoch im gleichen Augenblick gelangte er auch schon zu der Überzeu gung, daß dieses Ablenkungsmanöver nicht ihm galt, sondern Aubrey und Schiller. Er rannte den Abhang der Düne hinunter. Die Anstrengung verdrängte jedes andere Gefühl, es blieb nur eine fast primitive Angst um Aubrey. Er konnte unmöglich glauben, daß Petrunin den alten Mann nicht töten würde, wenn sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Er lauschte angestrengt in die Stille hinaus, wenn er kurz ste hen blieb, um sich an den Sternen zu orientieren oder Atem zu holen, aber er hörte keine Schüsse und keine Geräusche einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Er hastete weiter, riß sich an Felsvorsprüngen Hände und Knie auf, stolperte über Grasbü schel, rollte sich den Abhang einer Sanddüne hinunter, strau chelte in dem feinen Sand und stürzte. Er rappelte sich auf, rannte weiter. Die Minuten verstrichen. Keine Schüsse, kein Motorengeräusch – auch kein Flugzeug. Nichts Lauteres oder Ungewöhnlicheres als der Lärm seines keuchenden Atems und das Pochen des Blutes in seinen Ohren. Wider jede Vernunft schöpfte er wieder Hoffnung. Die ster nenbeschienene Schwärze vor ihm hätte der See sein können. Ein Feuerschein. Verglühende Holzstücke? Nein, das Feuer loderte lebhaft, frisch geschürt. Ohne lange zu überlegen, denn er sah Aubrey im Sand des Ufers liegen – eine dunkle, die Glieder von sich gestreckte Gestalt –, lief er zu ihm. Nur noch wenige Meter von Aubrey entfernt, stolperte er und kroch auf allen vieren weiter auf ihn zu, als der erste Schuß über ihn hinwegpfiff. Unter einem leisen Aufstöhnen rollte Hyde sich aus dem Schein des Feuers in den Schatten des VW-Busses, an dessen Seite das Emblem von Schillers Weinkellerei prangte. 244
Schiller? Kein zweiter Körper. Aubrey war allein. Zwei weitere Schüs se krachten in die Seite des Volkswagens. Hyde, der unter dem Wagen lag, spürte, wie dieser durch die Wucht der Geschosse leicht zu schaukeln begann. Infrarot-Gläser? Aubrey lag nur wenige Meter von ihm entfernt, sein Gesicht scheinbar tadelnd abgewandt. Der Körper war reglos. Auf seinem Kragen schien sich ein dunkler Fleck auszubreiten. Hyde versuchte, nicht länger daran zu denken, als er hinter sich griff und die Heckler & Koch aus seinem Gürtel zog. Die Pistole, die er für einen Augenblick mit beiden Händen fest umfaßte, gab ihm wieder Halt. Schiller? Sie hatten ihn. Sie hatten ihn geschnappt, Aubrey getötet … Aubrey bewegte sich, ballte eine Hand langsam zur Faust, öffnete sie wieder. Nicht, dachte Hyde verzweifelt und zugleich unendlich erleichtert. Im selben Moment wurde ihm auch bewußt daß Aubrey nichts weiter als der Lockvogel war, deut lich sichtbar in den Schein des neu entfachten Feuers gelegt. Das Feuer – ja, es war groß, eine Menge Licht, peng … Noch ein Schuß, fast wie auf Bestellung, klatschte in einen der Vorderreifen des VWs, nicht weit von Hydes Kopf. Hatten sie Nachtgläser, fragte er sich von neuem. Benzin tropfte auf seine Schulter. Der VW-Bus war also außer Gefecht gesetzt, der Land Rover dagegen noch unbeschädigt. Offensichtlich gedachte der Schütze damit zu entkommen. Aubreys Hand scharrte inzwischen schwach im Sand. Es war, als versuchte er, sich die waagrechte Ebene des Seeufers hin aufzuschleppen. War er verwundet – tödlich …? Petrunin hatte Aubrey nicht getötet, hatte es nicht gewagt … Nur Agenten waren ohne großes Aufhebens verzichtbar. Nicht stellvertretende Direktoren. Aubreys Kopf zuckte zur Seite, und dann drehte sich sein ganzer Körper auf den Rücken, als wäre er vom Kopf herumgeschraubt worden. Der Schütze 245
würde nun mehr auf Aubrey achten, sich fragen, ob er nicht doch durch Zufall zum Opfer geworden war … Hyde wälzte sich unter dem Bus hervor, auf der dem Feuer abgewandten Seite. Aubrey stöhnte neuerlich. Durch den Bus gedeckt, stand Hyde auf. Er preßte seine Wange gegen das kalte Metall, spürte den verkrusteten Staub, der daran klebte. Feuer, Aubrey, Fels … Gerade Linie, kürzeste Entfernung. Er trat vom Bus zurück, konnte hören, wie Aubrey sich mühsam aufzurichten versuch te. Ein Stöhnen, gefolgt von einem Husten. Der Schütze würde nun aufmerksam werden, feststellen, daß Aubrey sich in der Schußlinie befand. Hyde hoffte, daß Aubrey tabu war, daß Petrunin ausdrücklich befohlen hatte, Aubrey entweder in der Wüste sterben oder ihn wieder soweit zu Kräften kommen zu lassen, daß er es vielleicht bis Etadunna Station schaffte. Falls dem so war, würde der Schütze übervorsichtig sein. Hyde mußte sterben, aber nicht Aubrey … Hyde erreichte die verstreuten Felsen, wo die kleine Bucht einen Canyon zwischen den Klippen bildete. Auf Zehenspitzen schlich Hyde durch das seichte Wasser und begann dann die Felswand hinaufzusteigen. Als er ihre obere Kante erreichte, sah er nach unten. Aubrey hatte sich inzwischen aufgesetzt, den Kopf auf die Knie gelegt, die Hände wie ein Gefangener im Nacken verschränkt. Er fröstelte und zog die Jacke enger um sich, schien völlig benommen zu sein. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Schütze merkte, daß von dieser Seite keine Gefahr drohte. Hyde entdeckte nur eine einzige mögliche Deckung am Ufer – die Felsen, die außerhalb des Lichtkreises lagen, den das Feuer warf. Wenn er nicht irgendwo oben auf den Felsen war – nein, dafür hatte die Richtung der vier Schüs se nicht gestimmt –, dann hätte er dort sein müssen. Es schien Minuten zu dauern, bis das Licht der Sterne den Schein des Feuers ersetzen konnte. Hyde beobachtete die Fel sen. Der Land Rover stand nicht mehr an derselben Stelle … 246
Er hatte ihn nicht gehört. Er hatte die Umstände des Augen blicks akzeptiert … Die bleiche Seitenfront des VW-Busses, der Feuerschein, der Hyde beleuchtete, der alte Mann als Lockvogel. Wo war er dann …? Da. Der Sand verwischt, um Fußabdrücke zu verbergen. Der Felsen mußte es sein. Hyde konnte nichts sehen, nur die schwarze Masse des Fel sens und seinen dunklen Schatten in dem feinen Sand, der ihn umgab. Geduld, Geduld, redete er sich ein. Aubrey bewegte sich wieder, versuchte stöhnend aufzustehen, um schließlich sogar ein paar Schritte vor sich hin zu torkeln. »Patrick …?« krächzte er mit belegter Stimme. Und dann angstvoller: »Schiller? Schiller?« Aubrey stolperte zu dem VW-Bus. Während er den alten Mann aus den Augenwinkeln beobachtete, starrte Hyde weiter auf den Felsen. Durch den kurzen Blick in den Lichtschein des Feuers war seine Nachtsicht wieder behindert. Er verfluchte sich selbst, daß er den Kopf gewandt hatte, als Aubrey nach ihm rief. Langsam verblaßte der Schein des Feuers in seinen Augen, und der fahle Sand nahm deutlichere Formen an. Nebel, Schleier, Milch, Sand. Vorsichtig löste sich eine Gestalt aus dem Schatten des Felsens. Das Gewehr, in Schulterhöhe, war auf Aubrey gerichtet. Ein verzweifelter Ausweg – Aubrey war im Weg, der Mann würde Petrunin anlügen, man würde nichts mehr hören … Aubrey drehte sich um und starrte in das verglühende Feuer. Seine Gestalt hob sich vor der hellen Seite des Volkswagens deutlich ab. Auf den Knien, die Arme steif von sich gestreckt, feuerte Hyde viermal. Das Gewehr fiel scheppernd auf den Felsen, der Mann stürzte in den Sand, wo er sich wie ein Tier, das sich dort eingraben wollte, verzweifelt wand. Dann rührte 247
er sich nicht mehr. Im Schock begann Aubrey wie ein Betrun kener zu taumeln. Hyde rutschte, Steine und kleine Felsbrocken mit sich rei ßend, den Felsen hinunter. Er hob das Gewehr vom Boden auf und sah sich dann den Schützen an. Einer von den zwei Män nern, die er auf dem Campingplatz in der Flinders Range beim Grillen beobachtet hatte. Er lag auf dem Rücken und starrte, scheinbar überrascht über diesen neuen Ausblick, in den Ster nenhimmel. Der aufgewühlte Sand um ihn herum, während seiner letzten Momente der Qual entstanden, war ohne Bedeu tung. »Scheiße«, hauchte Hyde. »Ist er tot?« fragte Aubrey an seiner Seite. Seine Stimme klang ruhig und gefaßt. »Ja.« »Jetzt kann er uns nichts mehr sagen.« Hyde wandte sich zu Aubrey um. »Verdammt noch mal! Er war gerade dabei, Sie zu erschießen! Ich bin ein Gorilla und kein Chirurg! Ich mußte ihn umbringen!« Er stieg über die Leiche und entfernte sich von Aubrey. Dann hörte er den alten Mann sagen: »Es tut mir leid. Vielen Dank.« »Schon gut«, brummte Hyde mit einer wegwerfenden Hand bewegung. »Wie ist das alles passiert?« Hyde ging zum Rand des seichten Wassers. Die Sterne spie gelten sich schwach im tiefen Schwarz. Aubrey folgte ihm. »Sie sind wie der Blitz über uns hergefallen. Schiller hatte nicht einmal mehr Zeit, nach seinem Gewehr zu greifen …« »Dieses Feuer war eine Falle. Haben sie Schiller mitgenom men?« »Ja. Sie haben ihn weggeschleppt und mir einen Schlag auf den Kopf verpaßt.« »Petrunin?« »Ja.« Hyde trat gegen einen losen Stein und lauschte, wie er plat 248
schend ins Wasser fiel. »Mein Gott …«, flüsterte er. »Wohin werden sie fliegen?« »Was? Zum Lake Eyre. Genau, wie Schiller gesagt hat. Das ist die einzige Stelle, wo ein Flugzeug landen kann.« »Wir müssen ihnen folgen, Patrick.« »Ja.« »Die Autos …?« »Der Land Rover ist in Ordnung. Damit wollte er entkom men.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter auf den Toten. »Warum haben sie mich am Leben gelassen, Patrick?« »Um die ganze Sache besser vertuschen zu können. Sie hät ten in der Wüste sterben sollen. Meine Leiche hätten sie ir gendwie beiseite geschafft – Ihre hätten sie in der Nähe des Wagens zurückgelassen. Ein schrecklicher Unfall. Australien ist doch so ein wildes, gefährliches Land. Jedenfalls wäre in Ihrem Körper keine Kugel zu finden gewesen. So etwas hätte nur zu Vergeltungsmaßnahmen geführt – ein kleiner Banden krieg mit dem SIS. Und das wollte Petrunin auf jeden Fall vermeiden.« »Das kann ich mir vorstellen.« »Warum haben sie Schiller mitgenommen? Wissen sie etwas, oder nicht?« »Keine Ahnung.« Hyde erschauerte. »Los, wir haben bis zum Morgen Zeit. Be vor es hell wird, kann der Pilot nicht riskieren, vom Lake Eyre zu starten. Das wäre eindeutig zu gefährlich. Fehlt Ihnen auch nichts?« »Es wird schon gehen. Und noch mal, vielen Dank, Patrick.« »Kommen Sie, uns läuft die Zeit davon.« Das Morgengrauen war angemessen winterlich. Neblig, feucht, kalt. Die Luft war von den Gerüchen von Stahl, Gummi, Rauch 249
und Öl durchwoben. Selbst auf dem Flughafen fiel Wu Han über ihn her, drängte ihm seine Realität auf, als wollte es ihn immer wieder darauf hinweisen, daß er nicht mehr länger über seine Freiheit verfügen konnte. David Liu bemerkte die uner reichbaren Flughafengebäude, als er durch den verglasten Korridor zum Ausgang für die Maschine nach Peking taumelte. Er war von zwei bewaffneten Wächtern flankiert. In seiner Betäubung ließ Liu alles mit sich geschehen, als wäre er der blutleere Kadaver eines Tieres, das gerade aus dem Schlacht hof gezerrt wurde. Sein Verstand weigerte sich schlichtweg, zu funktionieren, die Situation zu überdenken. Er hatte die Nacht in einer Zelle im Hauptrevier der Polizei von Wu Han verbracht. Man hatte ihm weder Fragen gestellt noch auf seine Fragen und Proteste geantwortet. Von Zeit zu Zeit war das Guckloch in der Tür seiner Zelle von außen auf gegangen. Er war keinerlei körperlichen Schikanen ausgesetzt worden. Man hatte ihn lediglich ignoriert. Nach dem Frühstück – dünne Fischgrütze – wurde er in einem fensterlosen Polizei kombi zum Flughafen gebracht. Seine Niederlage war so plötzlich und so vollständig gewe sen, daß der Schock darüber immer noch anhielt, ihn immer noch betäubte. Der Ausgang lag vor ihnen. Die Wächter hielten sich dicht an seiner Seite, so daß sie fast seine Arme berührten. Beide hatten kurze, dicke SMGs vom Typ 43 um den Bauch geschlungen. Der Detektiv im Mao-Anzug hinter ihm hatte eine Pistole in einer Schulterhalfter, wie Liu auf der Wache festgestellt hatte. Unter der Leuchttafel mit dem Flugziel wartete eine einsame Gestalt. Ein großer Mann in einem hellgrauen Anzug. Das Wiedererkennen raubte Liu den Atem. Frederickson. Der Chef der CIA-Station in Shanghai bedachte ihn mit ei nem dünnen, wissenden Lächeln und nickte dann dem Detektiv hinter Liu zu. »Bringen Sie ihn an Bord«, wies er die beiden 250
bewaffneten Polizisten an. Sofort spürte Liu den Lauf einer SMG im Rücken. »Machen Sie keine Schwierigkeiten, David – seien Sie ein guter Junge.« »Hat die Maschine Verspätung?« fragte der Detektiv. Am Ende des Tunnels, der wie eine Nabelschnur auf das Rollfeld hinausführte, war eine chinesische Version des alten sowjetischen IL-14-Transporters zu sehen. Die beiden Trieb werke der Militärmaschine, die im Nebel grau und kalt wirkte, standen still. Frederickson zuckte mit den Schultern. »Schon möglich. Bringen Sie ihn trotzdem schon an Bord.« Liu öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, um ihn je doch sofort wieder zu schließen. Frederickson schien seine Sprachlosigkeit zu genießen und nickte. Durch den Tunnel stießen die Polizisten Liu zum Einstieg der IL-14. Wie gebannt von den Bildern und Stimmen auf dem Bild schirm saß Zimmermann vor dem Fernseher. Er hatte den Sessel näher herangezogen und sich weit nach vorn gebeugt. Gegenstand der halbstündigen Sendung war der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Dietrich Vogel. Die Frage, ob der Interviewer links- oder rechtsorientiert war, spielte ange sichts der höchst prekären Situation keine Rolle mehr. Vogel bewegte sich über ein politisches Minenfeld. Und er hielt sich durchaus wacker. Zimmermann versuchte sich die Millionen vorzustellen, die ihn nun beobachteten. Vogel hatte sich bereit erklärt, vor den Fernsehkameras Rede und Antwort zu stehen. Vogel, sein Freund, hatte Mut bewiesen. Und er hatte nichts zu verbergen. Vogels Wahl war diesmal auf seine Pfeife gefallen, obwohl er sonst Zigaretten bevorzugte. Zigaretten hätten jedoch eine stärkere Nervosität zum Ausdruck gebracht. Sie verliehen den Lippen eine andere Form, beeinträchtigten die Atmung. 251
Eine Pfeife implizierte Solidität, Selbstvertrauen, Zuverläs sigkeit. Sie erlaubte Vogel, sich in seinen Sessel zurückzuleh nen, die Arme über der Brust zu verschränken, gelassen zu erscheinen. Und er hatte etwas, womit er seine Augen und Hände beschäftigen konnte. »Herr Bundeskanzler, es sind Anschuldigungen erhoben worden, daß das Abkommen Geheimklauseln beinhaltet, die sich auf den Handel mit der Sowjetunion und ihren Satelliten staaten beziehen. Umfangreiche Handelskredite, beträchtliche Darlehen, Lieferungen fortschrittlicher technologischer Pro dukte – vielleicht sogar militärischer Natur. Das alles könnte natürlich als massiver Bestechungsversuch dem Kreml gegen über angesehen werden. Was haben Sie diesen Anschuldigun gen entgegenzuhalten?« Gemächlich nahm Vogel die Meerschaumpfeife aus dem Mund und blickte mit einem Lächeln auf. Zimmermann be wunderte seine Gelassenheit. Die Brille des Interviewers fun kelte im Scheinwerferlicht, während er ungeduldig auf eine Antwort wartete. »Ich halte diesen Anschuldigungen entgegen, daß sie nicht der Wahrheit entsprechen«, verkündete Vogel ruhig. »Solche Klauseln gibt es nicht. Und wenn Sie darauf anspielen wollen, wir würden der sowjetischen Führung Details über den Panavia Tornado zukommen lassen …« Er lächelte von neuem, schien nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken zu können. »Der fran zösische Präsident scheint in diesem Punkt unsere Zusicherun gen zu akzeptieren, wohingegen die britische Regierung dies offensichtlich nicht tut. Sowohl die heutige Times wie die amerikanische Washington Post erscheinen mir in dieser Frage übertrieben hysterisch. Ich kann Ihnen versichern, daß die Piloten der NATO in ihren Tornados auch künftig nicht gegen russische Piloten in russischen Tornados antreten werden!« Er lachte, lud zu einer Komplicenschaft der Unschuld ein. »Kredite, Darlehen, zivile Technologie, Computer, Herr 252
Bundeskanzler? Sie haben sich bisher zu keinem von diesen Anklagepunkten geäußert.« »Ich bitte um Entschuldigung. Der Handel mit der Sowjet union und ihren Verbündeten in Osteuropa wird wie bisher abgewickelt werden. Wir halten nun schon seit mehr als zwan zig Jahren Handelsbeziehungen mit ihnen aufrecht. Und diese werden wir nicht abbrechen – wie wir uns im übrigen auch nicht zum Sklaven der Sowjetunion machen lassen, der nur in deren Tasche zu wirtschaften hat. Ich denke, damit dürfte Ihre Frage beantwortet sein?« »Ihr Berater und Unterhändler, Professor Zimmermann …« »Ja?« Vogels Gesichtszüge verhärteten sich. »Nein«, murmelte Zimmermann, »bleib ruhig.« »Gegen Herrn Professor Zimmermann wurde vorgebracht …« Vogel unterbrach den Interviewer mit einer kurzen Handbe wegung. »Paß auf, Dietrich, sei vorsichtig«, flüsterte Zimmermann. »Diese Verleumdungskampagne gegen meinen Berater – und Freund Wolfgang Zimmermann gehört zu den unangenehmsten Vorkommnissen im deutschen Journalismus der letzten zwan zig Jahre«, donnerte der Kanzler. »Er ist kein russischer Agent. Das ist ganz einfach Blödsinn und der deutschen Presse in keiner Weise würdig. Und er war das auch nie. Er ist Deutscher und hat unermüdlich für das Wohl Deutschlands gearbeitet, für die Wiedervereinigung unseres Landes.« Vogel neigte sich dem Interviewer zu. »Nennen Sie Herrn Zimmermann bitte keinen russischen Agenten – deuten Sie das nicht einmal an. Nicht in meiner Gegenwart.« Er setzte sich zurück und wandte sich wieder einmal der Be trachtung seiner Pfeife zu. Zimmermann war sich darüber im klaren, daß Vogel sich damit voll hinter ihn gestellt hatte. Er nahm die gefährliche Gratwanderung auf sich. Zimmermann fragte sich, ob dieser 253
Einsatz noch etwas nützen würde. Denn im Vorteil war eindeu tig die andere Seite. Zimmermann war sich sicher, daß das Berlin-Abkommen damit zum Scheitern verurteilt war. Es würde in sechs Tagen nicht unterzeichnet werden. Die Russen würden die Mauer nicht einreißen. Alles würde beim alten bleiben, wie es vierzig Jahre lang gewesen war. Sie würden nicht kampflos untergehen – aber sie würden untergehen. Ihre Niederlage war bereits besiegelt. Im kahlen Innern der IL-14 kam Liu sich vor wie im Bauch eines riesigen, mechanischen Walfisches. Frederickson mußte gegen den Lärm der zwei Triebwerke förmlich anschreien. »Sie hätten China als freier Mann verlassen können – mitsamt Ihren Informationen.« Fredericksons Grinsen nahm einen verächtlichen Zug an. »Aber Sie mußten natürlich Charlie Chan spielen und Ihre Nase tiefer in die Sache stecken, als uns lieb war.« »Dann war also alles nur eine Täuschung?« fragte Liu. Sein Interesse war rein akademischer, überpersönlicher Natur. »Alles. Wei, Shanghai, Wu Han, Dr. Meng – alles.« »Was wird mit Meng geschehen?« »Er hat versagt.« »Es war also alles nur vorgetäuscht?« »Ganz richtig, mein Freund.« »Sie wußten alle Bescheid. Die CIA, die Chinesen und die Engländer – alle.« »Nicht die Briten.« »Was?« »Irgend jemand muß bei so einem Spiel der Dumme sein. Und das waren in diesem Falle Sie – und die Engländer. Irgend jemand mußte Wei außer uns doch ernst nehmen. Die Englän der haben ihn aus dem Hafen gefischt, an Land gebracht, ihm zugehört. Und da sie sich natürlich nicht ganz sicher waren, ob 254
sie ihm nun Glauben schenken sollten, hat man Sie losge schickt. Sie hätten natürlich als letzter von der Sache Wind bekommen dürfen. Sie hätten auf jeden Fall überzeugend wir ken müssen, wenn Sie Aubrey Bericht erstattet hätten.« Frede rickson schüttelte den Kopf. »Es wäre alles so wunderbar glattgegangen.« »So wunderbar glatt«, echote Liu. »Ja, es wäre alles ganz glatt über die Bühne gegangen.« »Und warum das Ganze?« »Weil wir nicht wollen, daß die Deutschen aus der NATO austreten. Weil wir nicht plötzlich mitten in Europa ein Loch brauchen können, in das jeder unserer Feinde einfach pissen kann, wie es ihm gerade beliebt. Das konnten wir auf keinen Fall zulassen. Sicher, für die Krauts ist das eine tolle Sache, wenn die Mauer fällt – aber nicht für uns.« »Uns?« »Wir – die Chinesen und Amerika.« »Amerika und China?« fragte Liu, als hätte er nichts begrif fen. »Ja, im Augenblick, wir. Der Feind ist die Sowjetunion, wenn Sie es so genau wissen wollen. Haben Sie jetzt endlich ka piert?« Frederickson grinste wieder. »Wir müssen dafür sor gen, daß die Russen ihre Panzer und Kanonen an allen Grenzen brauchen – im Osten und im Westen. Nicht irgend so eine halbherzige Neutralität. Haben Sie denn von Strategie gar keine Ahnung, Charlie Chan?« Für einen Moment zuckten in Lius Augen Haß und Wut auf. Dann schüttelte er den Kopf. Allmählich begann sein Kopf wieder normal zu arbeiten. »Und das glauben Sie nun dadurch erreichen zu können?« »Sicher. Wenn Zimmermann zu Fall kommt, zieht er Vogel mit sich. Und damit auch das Abkommen.« »Nicht schlecht. Und – was wird mit mir geschehen?« »Machen Sie sich keine Sorgen. Sie verhalten sich einfach 255
ruhig, bis alles vorbei ist. Dann wird Ihnen nichts passieren.« Plötzlich überkam Liu Angst. Er glaubte Frederickson nicht. Die Sache hatte zu großes Gewicht, als daß sie es sich hätten leisten können, Zeugen dieser gigantischen Drahtzieherei überleben zu lassen. Er schluckte die ätzende, gallige Flüssig keit wieder hinunter, die ihm in die Kehle hochgestiegen war. »Ich verstehe«, entgegnete er vorsichtig. »Sie hätten ja fast ganze Arbeit geleistet«, gestand ihm Fre derickson zu. »Nur hätte Meng den Mund halten sollen.« »Warum hätten die Deutschen nicht auf Sie gehört? Warum mußten Sie das tun?« Frederickson betrachtete Liu prüfend. »Interessiert Sie das wirklich?« Liu nickte. »Das einzige Interesse der Krauts ist ein geeintes Deutschland. Das wollen sie sich einfach nicht aus dem Kopf schlagen. Sie wollen unbedingt ein geeintes, neutra les Deutschland.« Fredericksons Gesicht verzog sich, als hätte er Zahnschmerzen. »Diese Idioten!« »Demnach ist Zimmermann also kein russischer Agent?« »Nein, natürlich nicht – oder zumindest nicht, soweit wir das wissen.« Lachend klatschte sich Frederickson auf die Schenkel. »Völlig ausgeschlossen ist es natürlich nicht. Aber wer könnte so etwas schon mit Gewißheit sagen? Ein Witz wäre es natür lich schon, wenn er am Ende doch einer gewesen wäre. Genü gend russische Ärsche muß er ja im Lauf der Zeit schon ge leckt haben. Vielleicht ist er tatsächlich einer.« Fredericksons rauhes Lachen gellte gespenstisch durch den leeren Flugzeug rumpf. Liu warf einen Blick durch die Ladeluke. Ein Loch in der geschlossenen Wolkendecke gab den Blick frei auf flaches, grünes Land, das in der Ferne von graubraunen Hügeln be grenzt wurde. Liu fühlte sich losgelöst, isoliert in dem Wal fischbauch des Flugzeugs und dem noch engeren Gefängnis seines Wissens. Er dachte an Aubrey, den Engländer, den anderen Dummen. Er hatte keine Chance, die Wahrheit zu 256
erfahren. Und dann dachte er an sein eigenes Schweigen – wie der CIA-Mann dafür Sorge tragen würde, daß es endgültig, ewig bliebe. Der Erdboden schien weit, weit unter ihm zu sein, die Berge in der Ferne hart und kantig und unendlich massig. Die Beechcraft stand reglos und still auf der Kruste der Salz pfanne, deren Farbe sich in der Morgendämmerung mit er staunlicher Schnelligkeit von Grau über Rosa in Gold färbte. Im Hintergrund der Salzpfanne des Madigan Gulf schimmerte weiß der südöstliche Abschnitt von Lake Eyre. Den letzten Kilometer hatten Hyde und Aubrey zu Fuß zurückgelegt. Sie waren in dem zerfurchten, teils mit Schilfgras bewachsenen Gelände nur mühsam vorwärtsgekommen. Die Beechcraft stand ein paar hundert Meter von dem grasbewachsenen Schlamm entfernt, der die Begrenzung des Sees darstellte. »Können Sie Schiller irgendwo sehen?« fragte Aubrey mit müder, abgespannter Stimme. Hyde, der die Stelle mit dem Zelt neben dem VW-Bus und dem Flugzeug abgesucht hatte, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, konzentrierte seinen Feldstecher schuldbewußt auf andere Gestalten als die Petrunins. »Nein. Er muß wohl im Zelt sein. Der arme Teufel.« Hyde richtete das Fernglas wieder auf Petrunin. Er war über eine Schale gebeugt, ein Spiegel reflektierte die Sonne. Er rasierte sich gerade. Fast neidisch fuhr Hyde über sein eigenes Stoppelkinn. Einer der zwei Australier, die sie seit Adelaide beschattet hatten, machte Frühstück. Der andere war hinter einer Düne verschwunden – vermutlich, um sein Morgenge schäft zu verrichten. Der Pilot der Beechcraft hielt sich vermut lich noch mit Schiller im Zelt auf. Hyde nahm das Fernglas von den Augen und sah Aubrey an. »Sind Sie …?« begann Aubrey schließlich. »Bereit? Ja. Und wie steht’s mit Ihnen?« »Ich – ich werd’s schon schaffen.« 257
»Also gut. Jetzt oder nie.« Der Pilot kam aus dem Zelt und streckte sich in der Morgen sonne. Petrunin sah vom Rasieren auf und nickte, um sich dann wieder seiner früheren Beschäftigung zuzuwenden. Dann tauchte hinter der Düne der zweite Australier wieder auf und verscheuchte eine Handvoll Vögel, als er gegen einen Busch schlug. »Was?« »Geben Sie mir die Waffe.« Aubrey zögerte nur einen Augenblick lang und reichte dann Hyde das Jagdgewehr. Ohne diese Waffe wären sie völlig hilflos gewesen. Der Heckenschütze, der ihm am Lake Palan karinna aufgelauert hatte, war also nicht umsonst gestorben, dachte Hyde mit wilder Zufriedenheit, denn er hatte ihnen ein Zielfernrohr vererbt. Hyde justierte es und richtete es auf Petrunin. Plötzlich sprang ihm der Russe hinter seinem Rasierspiegel scheinbar überlebensgroß in die Augen. Er rasierte sich gerade die linke Kinnhälfte. Im Fadenkreuz erschien Petrunins Schläfe. »Nicht Petrunin«, warnte ihn Aubrey scharf. »Was?« schnappte Hyde wütend zurück. »Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wir müssen auf jeden Fall vermeiden, einen führenden KGB-Mann zu töten, wenn es sich irgendwie vermeiden läßt. Schließlich setze ich damit das Leben meiner Leute hier und in anderen Teilen der Welt aufs Spiel.« »Meine Güte …«, hauchte Hyde. »Er ist doch die einzige wirkliche Gefahr.« »Trotzdem.« »Also gut, schließlich bestimmen Sie, was zu tun ist.« »Richtig.« Hyde ließ den Lauf des Gewehrs die Uferlinie entlanggleiten. Verschwommen flimmerte im Hintergrund die weiße Salzkru ste. Der Pilot … 258
Er justierte das Zielfernrohr, fixierte das Fadenkreuz über der Brust des Piloten, wo dichtes, schwarzes Haar aus dem offenen Hemd quoll. Langsam drückte er den Abzug. Fluchend setzte Hyde die Waffe ab. Der Australier, der hinter der Düne verschwunden war, stürzte zu Boden und blieb vor dem Piloten liegen. Er war genau im falschen Moment in die Schußlinie geraten. Hyde stellte das Zielfernrohr neu ein und setzte das Gewehr neuerlich an, als der Pilot stolpernd davonzurennen begann. Er verlor den Piloten aus dem Visier, bekam dann aber den Mann zu sehen, der das Frühstück zubereitet hatte und sich nun aus seiner Kauerstellung erhob. Er feuerte. Sand spritzte in der Nähe des Feuers auf, und dann schwang Hyde das Gewehr neuerlich herum. »Sie verteilen sich«, machte ihn Aubrey aufmerksam. »Der VW-Bus …« Hyde sah über dem Zielfernrohr auf das Lager hinunter. Der Pilot und Petrunin rannten auf die Beechcraft zu. Der Austra lier kletterte hinter das Steuer des VW’s. Der Motor stotterte erst ein wenig, sprang dann aber an. Ins Zielfernrohr blinzelnd, fand Hyde schließlich den Hinterreifen. Er feuerte zweimal, bevor der Bus aus dem Visier zuckte. Er riß das Gewehr hoch und richtete es auf das Flugzeug. Zwei unscharfe, laufende Gestalten. Er stellte die Entfernung ein, bis er Petrunins nack ten Rücken scharf im Sucher hatte. »Sie entwischen uns!« stieß er hervor. »Aber sie haben Schiller nicht. Das ist das einzige, was zählt!« zischte Aubrey. Unbeholfen kletterte Petrunin in die Kanzel der Beechcraft. Die Tür fiel hinter ihm zu. Zwei Köpfe im Profil – der Petru nins vor dem des Piloten. Der VW-Bus schlitterte mit einem platten Hinterreifen über das Salz davon. Der Motor der Beechcraft sprang an, und dann rollte das Flugzeug langsam auf die Salzpfanne hinaus, beschleunigte seine Fahrt. Der VW 259
Bus raste hinter ihm her. »Scheiße!« »Los, runter zum Zelt. Schiller ist sicher …« »Glauben Sie wirklich?« fragte Hyde finster, als wollte er Aubreys Zufriedenheit absichtlich dämpfen. Sie stolperten den leicht geneigten Abhang der Düne hinun ter, bis sie den vertrockneten Schlamm erreichten. Hyde rannte vor Aubrey, blieb nur kurz stehen, um sich den toten Australier anzusehen und den verbrannten Speck auf dem Frühstücksfeu er zu riechen, und hob dann mit dem Gewehrlauf die Leinwand am Zelteingang hoch. Schiller schien zu schlafen, aber er war tot, starrte zum Zelt dach hinauf. Sein Gesicht war bleich. Atemlos erreichte nun auch Aubrey den Eingang des Zelts. Hyde wandte sich zu ihm um. Das Motorengeräusch der Beechcraft schien inzwischen aus weiter Ferne zu kommen. »Sie mit Ihrem Fairplay!« schimpfte Hyde. »Diese Hunde haben sich diesem armen Teufel gegenüber ja auch so ver dammt fair verhalten!« »Hyde!« »Petrunin ist eine Drecksau! Er hat diesen armen Teufel ge killt.« Auf der fahlen, wachsigen Haut von Schillers Gesicht waren Flecken zu sehen. Spuren von Gewalt. Schillers Lippen waren immer noch gegen sein Gebiß zurückgezogen, als ver suchte er krampfhaft, ein verzweifeltes letztes Mal Atem zu schöpfen. »Mein Gott!« Aubrey kniete einen Augenblick neben Schillers Leiche nie der und erschauerte. »Ein Herzinfarkt, glaube ich«, murmelte er. Hyde trat wieder aus dem Zelt und beobachtete den See und den Himmel. Der VW-Bus und die Beechcraft waren zwei kleiner werdende Punkte in der Ferne, unverletzlich und uner reichbar. In ohnmächtiger Wut mit den Zähnen knirschend, krallte Hyde seine Hände um das Gewehr. Der Speck in der 260
Pfanne war inzwischen vollends verbrannt. Aubrey erschien im Eingang des Zelts. »Werden sie wieder zurückkommen?« »Kann ich mir kaum vorstellen?« »Was sie wohl herausgefunden haben? Etwas über uns? Warum haben sie ihn geschlagen? Was wollten sie so unbe dingt wissen? Wissen sie denn überhaupt selbst, was hier ge spielt wird?« Schuldbewußt blickte er sich nach dem offenen Zelteingang um und fügte hinzu: »Ich hätte ihn noch einiges fragen können.« Seine Stimme erstarb zu einem beschämten Murmeln. Hyde trat ans Feuer, betrachtete es kurz und stieß dann mit dem Fuß die Pfanne auf den vertrockneten Schlamm. Sie krachte gegen die Schläfe des toten Mannes, der Speck schlitterte verkohlt über den Boden. »Hyde«, hörte er Aubrey hinter sich sagen. Ohne sich umzudrehen, fragte Hyde: »Was ist?« »Gehen Sie zurück zum Land Rover. Setzen Sie sich per Funk mit der nächsten Siedlung in Verbindung. Sagen Sie, wir hätten einen Unfall gehabt. Lassen Sie auch die Polizei ver ständigen. Sagen Sie ihnen, daß wir ein Flugzeug brauchen werden. Ich – ich werde mich hier um alles Weitere küm mern.« Wie im Trotz blieb Hyde einen Augenblick lang reglos ste hen. Dann drehte er sich um, schleuderte das Gewehr in Au breys Richtung von sich und begann auf die ersten Dünen zuzutrotten, die das Seeufer wie Felsklippen säumten. 10. Endstation Die Shoudu-Jichang-Straße, der breite Boulevard, der vom Peking International Airport ins Zentrum der Stadt führte, war von Bäumen gesäumt. Die mittäglichen Menschenmassen schienen in ebenso ordentlichen und regelmäßigen Abständen aufgereiht wie die Alleebäume, obwohl sie wie ein Strom 261
dahinglitten. Lius Eindruck von der chinesischen Hauptstadt war durch seine Stimmung absoluter Hoffnungslosigkeit ge prägt. Er wurde, das wußte er mit tödlicher Klarheit, hierherge bracht, um zu sterben. An dieser ebenso einfachen wie unum stößlichen Tatsache war nicht zu rütteln. Und so erschienen ihm Pekings Bauten, seine Menschen, seine Atmosphäre ex trem bedrohlich und beengend. Das Polizeiauto benutzte den mittleren Fahrstreifen der brei ten Prachtstraße, der den Funktionären und bedeutenden Per sönlichkeiten vorbehalten war. Zu ihren Seiten glitten endlose Ströme von Radfahrern vorbei. Liu saß zwischen Frederickson, dem seine Angst ein zufrie denes Grinsen entlockte, und einem Geheimdienstoffizier, der Frederickson offensichtlich gut kannte und zweifellos eine gehobene Position innehatte. Im vorderen Teil des Wagens saß neben dem Fahrer ein bewaffneter und rangniedrigerer Ge heimdienstbeamter. Das Schweigen der Männer um ihn, das seit Fredericksons kurzen Ausführungen in der Militärmaschi ne kaum mehr gebrochen worden war, legte sich mit fast phy sischer Schwere auf Liu. Dies war der Anfang von seinem Begräbnis in der kalten, abweisenden Erde des Schweigens. Er schauderte unkontrol liert. »Ist Ihnen kalt?« fragte Frederickson zynisch. Liu schüttelte den Kopf. Der Wagen passierte den ebenso gigantischen wie häßlichen Komplex der sowjetischen Botschaft. Liu entging das verstoh lene, triumphierende Lächeln auf Fredericksons Lippen kei neswegs. Nachdem sie eine Weile die Chang An Avenue hinunterge fahren waren, bog der Fahrer durch einen Bogen in den Hof eines nicht näher bezeichneten Gebäudes ein. Liu schloß, daß sie im Hauptquartier des Geheimdienstes, des Ministeriums für öffentliche Ruhe, angekommen waren. Der Hof stand voller 262
schwarzer Limousinen und Polizeiautos. Der Fahrer zeigte einem bewaffneten Posten einen Ausweis und hielt dann vor einer kleinen, verschlossenen Tür. »Endstation«, sagte Frederickson. »Wir sind da.« »Steigen Sie bitte aus«, forderte der Geheimdienstoffizier Liu auf. Der jüngere Beamte öffnete ihnen die Wagentür, und Liu stieg hinter dem Chinesen aus. Er sah zu den Fenstern auf. Viele waren vergittert. »Das ist es doch, oder nicht?« fragte er. Frederickson nickte. »Das Ministerium für öffentliche Ruhe. Es wird Ihnen hier sicher gefallen.« Er grinste von neuem. Die Fenster, eines neben dem anderen, waren leer – leer und aus druckslos wie die Augen des Amerikaners. Sie betraten ein kleines, überfülltes Büro, wo er Gürtel und Schnürsenkel ablegen mußte, wo man ihn gründlich durchsuch te, ihm seine Papiere abnahm und ihn dann zu den Zellen im Keller hinunterführte. Diesmal wurden Liu und seine zwei Bewacher nicht von Frederickson und dem hohen Geheim dienstbeamten begleitet. Die Zellen waren in zwei Reihen zu beiden Seiten eines ge fliesten Korridors angeordnet. Eine Tür stand bereits für ihn offen. Er wurde hineingeschoben, und dann wurde die Tür hinter ihm geschlossen und verriegelt. Das Innere der Zelle war winzig und fensterlos. Eine nackte Glühbirne leuchtete durch verstärktes Glas von der Decke auf ihn herab. Das Bett war schmal und hart und nur mit einer Decke versehen. In einer Ecke stand ein Toiletteneimer, auf einem schmalen Holztisch eine Schale mit kaltem Wasser, das zum Waschen gedacht war. Der Raum war völlig anonym. Liu ließ sich auf dem Bett nieder, den Arm über seine Augen gelegt, um sie gegen das Licht von der Decke abzuschirmen – um sie vor dem Guckloch in der Tür zu verbergen. Eine Polizei-Cessna hatte Aubrey, Hyde und Schillers Leiche 263
vom Lake Eyre nach Adelaide gebracht. Aufgrund von Au breys diplomatischem Status hatte die Polizei auf eine nähere Untersuchung des Falls verzichtet und statt dessen, allerdings ohne Erfolg, nach Petrunins Maschine gefahndet. Die Polizei von Adelaide hatte Clare Schiller mitgeteilt, daß ihr Vater von den zwei englischen Besuchern tot vorgefunden worden war. Offensichtlich war er einem Herzinfarkt erlegen. Hatte Ihr Vater öfter Schwierigkeiten mit dem Herz, Miß Schiller? … Schon seit einiger Zeit nicht mehr … Es tut mir schrecklich leid, Miß Schiller … Hyde hatte den höflichen, unpersönlichen Anruf mitgehört, und er hatte dabei nichts anderes als Erleich terung verspürt, daß ihm nicht die Aufgabe zugefallen war, der jungen Frau die traurige Nachricht zu übermitteln. Auf dem Flug von Adelaide über Melbourne nach Sydney hatten Aubrey und Hyde geschlafen. Doch nun, als er von der SIS-Zentrale im obersten Stock des Mutual Life Centre über die Spitzen der Wolkenkratzer hinweg auf die Muschel des Opernhauses und den Hafen von Sydney hinuntersah, spürte Hyde, wie seine Müdigkeit mit einem Schlag verflog. Irgendwie hatte er das ungewöhnliche und unerwartete Gefühl, nach Hause zu kommen. Aubrey stand gerade in ständigem Kontakt mit Shelley in London. »Peter«, sprach er in das Mikrofon vor der riesigen Schaltanlage mit ihren langsam sich drehenden Bändern. »Ich habe keine Ahnung, wie viel die Russen nun eigentlich wissen. Ich weiß nicht, was sie von Schiller erfahren haben, bevor er – starb.« Auf Aubreys Nicken hin drückte der Schaltpultoperator auf einen Knopf. Die Tonbandspulen hinter ihrer durchsichtigen Plastikabdeckung begannen plötzlich, sich mit rasender Ge schwindigkeit zu drehen. Das Gespräch wurde in einen Ge räuschfetzen konvertiert und dann übertragen. Wenn Shelley das Signal an seinem Schaltpult auffing, wurde es wieder auf normaler Geschwindigkeit abgespielt, so daß er die Stimme 264
seines Vorgesetzten so deutlich hören konnte, als telefonierten sie miteinander. Auf diese Weise konnte die Nachricht, obwohl sie nicht verschlüsselt war, nicht abgefangen werden, da die Übertragungsfrequenz mittels einer Computerkarte, die nach einmaligem Gebrauch sofort gelöscht wurde, einhundertmal pro Sekunde verändert wurde. Ein kurzes Geräusch, ähnlich einem Aufschrei, und dann ver langsamten sich die Umdrehungen der Spulen, bis sie wieder ihre gewohnte Geschwindigkeit erreicht hatten. Shelleys Stimme ertönte mit einer Klarheit, als säße er im angrenzenden Raum. »Und Sie haben also das Gefühl, Ihre Unterhaltung mit ihm hätte keine näheren Schlüsse zugelassen? Sie haben also keine festen Vorstellungen? Wir füttern gerade den Computer. Zimmermann war während der späten fünfziger und die ganzen sechziger Jahre hindurch regelmäßig in Wittenberg zu Besuch. Damit hätten wir zumindest schon einmal eine Korrelation. Dadurch sähe sich doch Ihre Vermutung hinsichtlich engerer familiärer Kontakte bestätigt.« Das Band summte leicht, als wollte es eine Antwort Aubreys herausfordern. Die Finger des Operators tippten mehrmals auf das Schaltpult. Die Bänder stoppten. Aubrey verspürte nichts als eine tiefe Enttäuschung. Die Besuche – Erpressung? Beloh nung für ordnungsgemäß durchgeführte Aufträge, oder ledig lich Reisen, um wichtiges Informationsmaterial zu übergeben, sich mit seinen Vorgesetzten zu treffen …? Alles konnte als verdächtig angesehen werden. Alles, was ein Agent tat, war verdächtig. Er nickte. Die Bänder setzten sich wieder in Bewegung. »Peter, ich brauche Informationen aus der DDR, und zwar schnell. Wenn das keinem unserer Leute rasch genug möglich ist, werden wir jemanden dorthin schicken müssen. Ich möchte alles wissen, was über die Familie Zimmermann nach 1945 in Erfahrung gebracht werden kann.« Beschleunigte Bänder, Stille, die Bänder neuerlich in Bewe 265
gung, und dann Shelleys Antwort. »Dafür habe ich bereits Sorge getragen, Sir. Ich glaube, wir werden jemanden dorthin schicken müssen. Von unseren Leu ten in Wittenberg kann im Augenblick niemand etwas unter nehmen, ohne allzu großes Aufsehen zu erregen. Soll ich alles Nötige in die Wege leiten?« Wenige Sekunden später antwortete Aubrey: »Nein, ich komme sofort zurück. Haben Sie diese Hercules für mich? Sie kann doch auch einen Umweg über die Bundesrepublik Deutschland machen …« Aubrey spürte, wie Hyde auf der anderen Seite des Raums aus dem Fenster starrte, und nickte. »Ich werde mich selbst mit dieser Sache befassen. Und ich werde Sie dort natürlich brauchen.« »Wo in der Bundesrepublik, Sir?« fragte Shelley nach der erforderlichen kurzen Pause. »Das Ganze wird einige Zeit dauern.« Als sich die Bänder wieder in Bewegung setzten und auf dem Schaltpult das Aufnahmebereitschaftssignal aufleuchtete, sagte Aubrey: »Ich werde veranlassen, daß Buckholz alles organi siert. Vielleicht von der amerikanischen Basis in Wiesbaden aus. Sie verständigen unsere Leute. Höchste Alarmsrufe! Und noch etwas, Peter – fiel das Ende von Zimmermanns regelmä ßigen Besuchen mit irgendeinem bestimmten Abschnitt inner halb seiner beruflichen Laufbahn zusammen?« Das Band lief langsamer. »Ja, das war etwa zu der Zeit, als er seine Firma verkaufte und seine akademische Karriere ein schlug …« »Und kurz darauf ist er ja in die Politik eingestiegen, ver dammt!« Der Operator zuckte zusammen, als hätte ihn dieser eher überflüssige Einschub überrascht und beleidigt. »Er berei tete sich darauf vor, in der Politik aktiv zu werden. Und in diesem Zusammenhang konnte er sich natürlich keine Besuche in der DDR mehr erlauben.« Schweigen. Die hereinkommende Antwort sirrte und wurde 266
dann langsamer. »Was ist mit Spanien, Sir? Ihr Bericht ist ziemlich vage. Haben sie ihn nun rumgekriegt?« »Ich weiß es nicht. Ich kann es wirklich nicht sagen. Haben Sie etwas über Spanien für mich?« »Tut mir leid, Sir. In Madrid wurde bisher noch kein Überle bender von den Einheiten aufgespürt, die sich damals in diesem Gebiet aufgehalten haben. Niemanden, der genügend mit den Kommunisten sympathisiert hätte, um Einblick in die Sache bekommen zu haben. Wir stellen aber noch weitere Nachfor schungen an. Im übrigen spitzt sich die Kampagne gegen Zimmermann und das Abkommen weiter zu, Sir.« »Das kann ich mir denken. Ist in diesem Zusammenhang noch irgend etwas Brauchbares an den Tag gekommen?« »Nein, Sir. Das meiste besteht einfach nur aus Spekulationen und Gerüchten – nichts, womit wir etwas anfangen könnten.« »Also gut, Peter, ich werde mich von Hong Kong aus wieder melden. Inzwischen möchte ich ein Szenarium für eine Reise in die DDR, nach Wittenberg. Ich möchte ein paar Anhaltspunkte, mit denen unser Agent etwas anfangen kann, wenn er dort eintrifft. Und dann möchte ich Sie in der Bundesrepublik. Viel Glück.« Die Bänder sirrten und hielten dann an. Mit einem Seufzer lehnte Aubrey sich in seinen Sessel zurück. Der Kaffee, der neben ihm auf dem Schaltpult stand, war inzwischen kalt ge worden. »Patrick«, sagte er müde. Diese frequenzagilen Übertragun gen waren eine höchst anstrengende Form der Kommunikation. So starke Anspannung, Neugierde, Aufregung füllte das Schweigen zwischen den Worten. »Sir?« »Wir müssen sofort zum Flughafen fahren.« Charles Buckholz, stellvertretender Direktor der CIA, beobach tete, wie sich die Bänder über ihm in Bewegung setzten und 267
das rote Licht aufleuchtete. Er griff nach dem Mikrofon. Die Finger über dem Schaltpult, wartete der Operator neben ihm. Selbst am frühen Vormittag war es im Raum feucht und schwül, und Buckholz hatte seine Krawatte gelöst und sich die Hemdsärmel hochgekrempelt. Die amerikanische Botschaft in Hong Kong lag in der Nähe des Botanischen Gartens und des Regierungsgebäudes. »Also gut, hören Sie zu. Aubrey kommt heute zurück. Ich werde zusammen mit ihm und dem Chinesen reisen. Und er will, daß in Wiesbaden alles für ihn vorbereitet wird. Also werden Sie keinesfalls mehr als vierundzwanzig Stunden Zeit haben, dafür zu sorgen, daß er von dem entsprechenden Emp fangskomitee erwartet wird, wenn er aus dem Flugzeug steigt. Ich möchte, daß Wei sofort in unseren Zuständigkeitsbereich fällt, sobald wir in Deutschland gelandet sind, und ich möchte, daß Aubreys Ermittlungen unterbunden werden. Das muß sofort bei unserer Ankunft geschehen. Und dies ist auch die einzige Möglichkeit, ihn zu stoppen. Was unseren Freund Liu betrifft, habe ich seinen frisierten Bericht zur Hand, sobald Aubrey in Hong Kong eintrifft. Er wird Aubrey allerdings nicht zufriedenstellen. Er mag Zimmermann, und er möchte an seine Unschuld glauben. Und er wird ihn sicher persönlich sprechen wollen. Aber das geht auf keinen Fall. Vielleicht wird der Bericht ja doch genügen. Aber Sie – Sie müssen auf jeden Fall dafür sorgen, daß Aubrey gestoppt wird, und zwar von seiner eigenen Regierung.« Das rote Licht erlosch. Der Amerikaner schüttelte den Kopf. Nur ein paar Punkte seines Plans hatten nicht geklappt. Im wesentlichen war die Operation, die Buckholz und der Chinese Jade Tiger getauft hatten, ein voller Erfolg. Es war nur schade, daß er Aubrey nicht völlig hinters Licht hatte führen können und daß dieser clevere junge Charlie Chan, den sie nach China geschickt hatten, auf die verkehrten Informationen gestoßen war. Aber zumindest war Liu aus dem Weg geschafft worden, 268
und auch Aubrey würde bald auf der Stelle treten müssen. Buckholz nickte. Bis jetzt sah alles noch bestens aus. Es wür de klappen. Der ältere Junggeselle, der in einer ruhigen Straße in einer der dicht bewohnten südöstlichen Vorstädte Melbournes lebte, war in der Nachbarschaft allgemein als begeisterter Hobbyfunker bekannt. Aufgrund dieser Tatsache konnte der KGB außerhalb eines offiziellen sowjetischen Gebäudes oder Amts eine Kom munikationsbasis einrichten. Der Keller des ordentlichen und peinlich sauberen Holzhauses war vollgestopft mit Apparatu ren, die zwar wesentlich schwerer und umfangreicher als die entsprechenden Instrumente des SIS waren, aber doch den gleichen Zweck erfüllten. Und so saß Petrunin im Keller dieses angeblichen Amateur funkers vor dem Schaltpult der Übertragungsanlage und warte te auf die Antwort auf seinen ausführlichen Bericht an den stellvertretenden KGB-Vorsitzenden in der Moskauer Zentrale. Der Amateurfunker, der offiziell eine Stellung in einem Büro hatte, war inzwischen zur Arbeit gegangen. Petrunin hatte den Piloten der Beechcraft direkt nach Marree fliegen lassen, wo sie aufgetankt und eine Flugerlaubnis nach Melbourne beantragt hatten. Dort blieb die Maschine auf dem Flugplatz stehen, der Pilot wurde ausbezahlt, und Petrunin suchte sofort den Hobbyfunker auf. Was aus dem Fahrer des VW-Busses geworden war, wußte er nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Darum würden sich andere kümmern, wie sie auch dafür sorgen würden, daß diese australische Operation fein säuberlich vertuscht würde. Seine Vorgesetzten in Moskau hatte Petrunin mit äußerstem Nachdruck auf die Dringlichkeit des Unternehmens hingewie sen. Schiller war zwar aufgrund seiner Anspannung und der Schläge einem Herzinfarkt erlegen, aber er hatte doch genü gend enthüllt, um Tamas Petrunin aufs äußerste zu beunruhi 269
gen. Er hoffte, die Zentrale in Moskau möchte seine Besorgnis teilen. Er sah auf seine Uhr. Eineinhalb Stunden waren vergangen, seit er seinen Bericht abgeschlossen hatte. Er seufzte. Zehn Minuten später leuchtete auf dem Schaltpult die Anzei ge für Empfang grün auf. Die Bänder drehten sich schnell und blieben dann stehen. Petrunin spulte sie zurück und spielte sie dann mit normaler Geschwindigkeit ab. Es war die Stimme des stellvertretenden KGB-Vorsitzenden. »Genosse General Petrunin«, begann er förmlich. Diese Grußformel sagte Petrunin bereits, daß er Moskau hatte über zeugen können. »Das Krisenkomitee hat Ihre Ausführungen zur Kenntnis genommen und Ihre Empfehlungen …« An die sem Punkt wurde die Übertragung durch irgendein Störge räusch zur Unverständlichkeit verzerrt. Gereizt schnalzte Pe trunin mit der Zunge. »Wir sind zu der Entscheidung gelangt, Ihre Vorschläge zum frühestmöglichen Zeitpunkt in die Tat umzusetzen. Das Politbüro hat sich durch den Vorsitzenden Andropow vollständig mit dieser Entscheidung einverstanden erklärt.« Nach kurzer Pause fügte der stellvertretende Vorsit zende hinzu: »Wir verfügen nicht über die ausreichende Zeit, um in Gänze aufzudecken, welchen Umfang diese Operation der Amerikaner und Chinesen einnimmt. Deshalb ist im Ge gensatz zu unserer normalen Verfahrenspraxis die Eliminie rung der entscheidenden Elemente von vorrangiger Bedeutung. Werden Sie deshalb innerhalb der nächsten zwei Stunden den Plan für unser weiteres Vorgehen der Zentrale mitteilen? Ende der Durchsage.« Petrunin schaltete das Gerät mit einer energischen, endgülti gen Geste ab und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Aubrey war am Flughafen von Sydney zusammen mit Hyde beim Besteigen der Qantas-Maschine nach Hong Kong gesehen worden. Er würde zu Wei und Buckholz zurückkehren. Dann also Hong Kong. 270
Aubrey tot, Buckholz tot, Wei tot und natürlich Hyde. Auch eine persönliche Rechnung konnte er innerhalb dieser Operati on begleichen. Er würde Rache an Hyde nehmen können. Tötet sie alle, hatte er vorgeschlagen. Dann tötet sie, hatte Moskau geantwortet. Bringt sie zum Schweigen. Wenn wir schon nicht in Erfahrung bringen können, worum es geht, dann stoppt sie zumindest. Als die 747 auf dem Flughafen von Hong Kong landete, konnte Hyde von seinem Fensterplatz aus die plumpe, olivfarbene RAF-Transportmaschine vom Typ Hercules erkennen, die auf sie wartete. Er stieß Aubrey in die Seite und deutete auf das Flugzeug, das abseits von den Flughafengebäuden stand. Es war von drei winzig wirkenden Wagen umgeben, und mehrere Männer in den blauen Uniformen der RAF waren mit War tungsarbeiten beschäftigt. Aubrey lächelte zufrieden. Als sie aus dem Erste-Klasse-Abteil der 747 in die Nachmittagshitze Hong Kongs hinaustraten und zum Rollfeld hinunterstiegen, wurden sie bereits von Godwin erwartet, der ein breites Lä cheln aufgesetzt hatte und neben einer schwarzen, offiziell wirkenden Limousine stand. Sichtlich beeindruckt, beobachte ten andere Fluggäste, wie sich die drei Männer die Hände schüttelten und in den Wagen stiegen. Die Limousine fuhr auf die Hercules zu. Aubrey stellte fest, daß einer der Wagen rings um die Transportmaschine ein amerikanischer Straßenkreuzer war. Buckholz. »Sind Sie beide soweit in Ordnung, Sir?« fragte Godwin und drehte sich zu seinem Chef um. »Danke, Godwin, ja. Aber ein bißchen müde und erschöpft sind wir natürlich schon.« »Wir haben alles vorbereitet, Sir. Mr. Buckholz hat eine Lan deerlaubnis für die Wiesbaden Air Base erhalten, und Shelley ist bereits unterwegs, um die nötigen Schritte in die Wege zu leiten. Ich soll Ihnen mitteilen, daß Unternehmen Wild Hunt 271
startklar ist.« »Wild Hunt – Wilde Jagd. Ja, diese Bezeichnung scheint mir durchaus zutreffend«, murmelte Aubrey. »Gut. Sonst noch etwas?« Angewidert starrte Hyde die drohende Masse der Hercules an. Er forschte in diesem Augenblick noch nicht nach irgend welchen inneren Reserven. Wenn er in Aktion treten mußte, würden sie schon verfügbar sein – und wenn nicht, würde er zweifellos scheitern. Die Deutsche Demokratische Republik lag momentan noch jenseits seines emotionalen Horizonts. Im Augenblick war er nichts weiter als Frachtgut. »Ich …« Godwins Gesicht erinnerte an einen aufgeregten Schuljungen, der eine wichtige Neuigkeit erzählen will. »Ich glaube, er möchte voll die Verantwortung für Wei übernehmen. Und möglicherweise hat er damit sogar recht.« »Wieso? Was ist passiert?« »Ich glaube, unser Freund Liu hat etwas entdeckt … Mr. Buckholz glaubt …« Godwins Züge verfinsterten sich zuse hends. »Er ist der festen Überzeugung, daß Wei die Wahrheit sagt …« »Weiß er etwas Neues?« stieß Aubrey hervor. Der Wagen hielt unter dem Schatten der Hercules. Buckholz kam auf sie zu, ein feierliches Grinsen auf den Lippen. »Charles!« rief Aubrey dem Amerikaner entgegen, als dieser die Wagentür öffnete. Vom Rücksitz der amerikanischen Limousine blickte Wei, eingekeilt zwischen zwei Polizisten, heraus. Es schien, als hätte die CIA den Chinesen bereits in Besitz genommen. »Charles, was gibt es Neues?« »Gute Nachrichten – und schlechte, Kenneth. Gute Nachrich ten insofern, als sie unumstößlich sind – schlechte, weil sie Weis Geschichte bestätigen. Verdammt!« Aubrey stieg aus dem Wagen. »Sie meinen …?« Buckholz nickte. »Zimmermann wurde verhört, und er muß etwas erzählt haben. Sie haben ihn ordentlich rangenommen und dann wie 272
der aufgepäppelt, damit er nichts merkt. Liu hat die Aufzeich nungen gesehen, mit den Beteiligten gesprochen. Man hat Zimmermann eingeredet, er würde sich in Moskau befinden. Er hat alles erzählt – bis zurück ins Jahr 1938.« Buckhok schien erbost zu sein. »Der Kerl gehört dem KGB an – und das schon seit mehr als vierzig Jahren! Stellen Sie sich so etwas einmal vor!« Aubrey war konsterniert. »Sind Sie sich ganz sicher?« war alles, was er zu erwidern wußte. Hyde beobachtete die beiden. Wie Aubrey hatte auch er das Gefühl, gerade gegen eine Wand gelaufen zu sein. Alle ihre Mühen waren umsonst gewesen, während dieser kleine Chine se sämtliche Antworten gefunden hatte. »Wo ist Liu jetzt?« fragte Hyde eher beiläufig. »Was? Ach so, noch in Shanghai. Wir werden ihn so bald wie möglich aus China herausschaffen.« Hyde verspürte leichten Neid. All die Mühen und Gefahren – umsonst. Jemand anderer hatte die Lösung gefunden. Trotz alledem überraschte ihn Aubreys Reaktion. »Schaffen Sie ihn an Bord – sofort!« fuhr er Godwin an und deutete auf Wei. Der Pilot der Hercules, der gerade die Leiter von der Ladelu ke heruntergeklettert war, kam auf sie zu, als wäre er ein uner wünschter Zeuge bei einem Familienzwist. Er nickte Aubrey militärisch zu. »Sind Sie bereit, Sir?« »Jawohl, Geschwaderführer …?« »Michaels, Mr. Aubrey.« »Jawohl, Geschwaderführer Michaels, wir können starten.« »Hier entlang, Sir.« Aubrey beobachtete Wei mit unverhohlenem Haß, als dieser von den beiden Polizisten die Stufen zu der Öffnung im Rumpf der Transportmaschine hinaufgeführt wurde. Buckholz’ Be hauptungen hatten ihn verdutzt. Zimmermann ein KGB-Agent? Er konnte es nicht glauben, obwohl er mußte. Damit war alles 273
besiegelt. Liu hatte den Beweis erbracht. Zimmermanns Schuld war erwiesen. Das Berlin-Abkommen war also durch einen altgedienten, aktiven sowjetischen Geheimdienstagenten vor bereitet worden. Gott allein wußte, welche geheimen Klauseln, welche geheimen Zugeständnisse der Sowjetunion gemacht worden waren, um die Illusion eines geeinten Deutschlands Wirklichkeit werden zu lassen … Er wagte nicht zu denken, welche Konsequenzen dies nach sich zog – und mußte diese bitteren Gedanken dennoch zu Ende führen … Aubrey fühlte sich persönlich hintergangen – von dem chine sischen Überläufer ebenso wie von Zimmermann. Je mehr er sich mit der Vergangenheit des Deutschen befaßt hatte, desto mehr hatte er gewünscht, der Mann möge unschuldig sein. Er war sich jedoch nicht sicher, ob sein Ego befriedigt gewesen wäre, wenn er Weis Geschichte Lügen gestraft hätte. Andrerseits verdankte er Zimmermann sein Leben … Von Buckholz dicht gefolgt, stieg er die Stufen zum Bauch der Maschine hoch. »Eigentlich könnte auch ich unseren chinesischen Freund in meine Obhut nehmen«, bemerkte Buckholz wie beiläufig, als sie in die plötzliche dunkle Kühle im Innern der Hercules traten. Ein Offizier der Besatzung deutete lächelnd auf das Truppenabteil hinter dem Flugdeck, wo sie an den Spanten befestigte Tische und Stühle erwarteten – ein komfortloses, ungemütliches Büro. »Besten Dank«, murmelte Aubrey. »Kaffee, meine Herren?« »Ja, bitte.« Die zwei chinesischen Polizisten salutierten und gingen. Dann betraten zwei RAF-Posten das Truppenabteil und setzten sich neben den etwas desolat wirkenden Wei. Darauf ging auch der Besatzungsoffizier und schloß die Metalltür hinter sich. Buckholz saß Aubrey an einem schmalen Metalltisch gegen 274
über. »Tut mir leid, Charles, was haben Sie da eben gesagt?« »Ich meinte, ich könnte Ihnen diesen Burschen ebensogut abnehmen, Kenneth.« Buckholz’ Daumen zuckte in Richtung des Oberst, dessen Miene sich sichtlich erhellte. »Ach so. Aber Sie müssen mir erst einmal Zeit lassen, mich auf die neue Situation einzustellen, Charles.« Aubrey sah Wei an. Sofort machte sich auf dessen Zügen wieder dieser betrüb liche, zurückgezogene, niedergeschlagene Ausdruck breit. Aubrey war verwirrt, als hätte er einen Blick auf eine Maske erhascht – oder auf ein Gesicht hinter einer Maske. »Ich muß mir erst noch Klarheit verschaffen«, murmelte er, an Buckholz gewandt. »Worüber?« entgegnete dieser scharf. »Über alles. Oh, ich wollte Ihnen noch etwas zurückgeben …« Er deutete auf die Aktentasche, die auf Hydes Schoß lag. »Ihre Aufzeichnungen des Verhörs mit Zimmermann. Eines muß ich Ihnen sagen, Charles – Sie hatten 1945 wesentlich mehr Ahnung, wie man ein Verhör führt, als ich 1940!« Au brey lächelte gewinnend, während er sich von Hyde die Akte geben ließ und an Buckholz weiterreichte. Unten auf dem Rollfeld fuhr der Straßenkreuzer davon, ge folgt von den beiden anderen Autos. Hyde sah ihnen gleichgül tig nach. »Damals war Zimmermann einfach nur am Ende, Kenneth – das ist alles. Er hatte genug. Als Sie ihn gefangennahmen, war er noch voller Optimismus. Aber als ich ihn verhörte, war er bereits gründlich desillusioniert und daher auch nicht mehr so vorsichtig.« »Und doch, ich hätte nie gedacht …«, murmelte Aubrey. In diesem Augenblick wurden die vier Triebwerke, eines nach dem anderen, angelassen. Der Rumpf begann zu vibrie ren, so daß der Tisch zwischen Aubrey und Buckholz zu zittern anfing. Buckholz’ Aufzeichnungen gerieten in Bewegung, als 275
verfügten sie über menschliche Nerven. Wenige Augenblicke später rollte die Hercules an. Der Offizier brachte ihnen Kaffee und ging dann wieder. Die Hercules schwang in die Startbahn ein und beschleunigte. Aubrey ließ Wei nicht aus den Augen. Die Maschine hob vom Boden ab. Wei saß auf seinem Sitz wie eine Statue oder wie eine Maschine, der man ihre Energie versorgung gekappt hatte. Ihm war der Dampf ausgegangen, oder der Sprit – kein Saft … Grüne, im Dunst liegende Hügel glitten am nächsten Fenster vorbei, und dann war nur noch der wolkenlose Himmel zu sehen. Hong Kong war verschwunden. Kein Saft … Aubrey schnallte sich los und nippte an seinem Kaffee. Er war durchaus genießbar. Er beobachtete Wei weiter, bis dieser es merkte. Der Oberst wich seinen Blicken aus und sah statt dessen Buckholz an, als würde dieser eine gewisse Beschützer funktion einnehmen. Aubrey wurde sich bewußt, daß Buckholz ihn beobachtete. Jeder von ihnen hatte seine Aufmerksamkeit mit unverkennbarem Argwohn auf die anderen gerichtet – ein kleiner, enger Kreis der Schuld … Warum Schuld? Wie komme ich auf diesen Gedanken? »Ich muß unseren jungen Freund Liu so bald wie möglich sprechen«, verkündete Aubrey schließlich. Dabei fiel ihm ein sonderbar wachsamer Ausdruck in Buckholz’ Augen auf, ein Schuldbewußtsein, das jedoch sofort von gespielter Verblüf fung maskiert wurde. »Sie wollen ihn sprechen?« »Um ihm zu seinem Erfolg zu gratulieren, natürlich. Er hat wirklich großartige Arbeit geleistet.« »Ach so, ja, natürlich … Sicher, wir werden ihn hinfliegen lassen, wohin Sie wollen, sobald wir ihn einmal aus China geschafft haben.« »Wunderbar!« Aubrey hob den Plastikbecher mit dem Kaf fee, als prostete er Buckholz zu. Wei beobachtete den Englän 276
der mit unverhohlenem Mißtrauen. Buckholz’ Miene strahlte Zuversicht und Selbstvertrauen aus. Und ich habe Schuldgefühle gesehen, sagte sich Aubrey. Ich wünschte, ich hätte das nicht gesehen, und ich verstehe auch den Grund dafür nicht. Aber ich habe es gesehen. Charles hat ein schlechtes Gewissen. Aber warum? Wolfgang Zimmermann griff nach dem Telefon, das gerade klingelte. Er war in der Nacht nach Bonn zurückgekehrt, wäh rend Vogel im Zuge des Wahlkampfs nach Bremen und Ham burg gereist war. Seine Gegenwart, hatte man ihm zu verstehen gegeben, war dem Kanzler zunehmend ein Dorn im Auge. »Ja?« Obwohl er sich in der vertrauten Umgebung seines Büros befand, fühlte er, daß er nicht mehr hierher gehörte. Den Mut, seine Wohnung aufzusuchen, hatte er jedoch noch nicht aufge bracht. Er hatte Angst, dort auf eine ähnliche Zurückweisung zu stoßen. »Kominski«, meldete sich Petya mit kaum verdecktem Ärger. Es war das private Telefon. Plötzlich in einer neuen und frem den Welt, in der er niemandem mehr vertrauen konnte, hatte Zimmermann sich sofort nach seiner Ankunft in seinem Büro davon überzeugt, daß es während seiner Abwesenheit nicht mit einer Abhörvorrichtung versehen worden war. »Petya …«, begann er zögernd. »Jetzt laß diesen Blödsinn!« schnitt ihm Kominski das Wort ab. »Was ist eigentlich los? Meine Leute in Moskau wollen wissen, was das alles soll.« »Petya!« Zimmermanns Ton war flehend, als wollte er eine aufgebrachte Geliebte beruhigen. »Bitte, Petya, hör mich doch erst mal an.« »Du mußt das sofort unterbinden. Du mußt beweisen, daß du nicht für uns arbeitest. Und zwar schnell!« 277
Wie magisch von den Schlagzeilen der Zeitungen angezogen, die auf dem Couchtisch lagen, wandte Zimmermann seinen Blick vom Fenster ab. BERATER ANGEKLAGT … EIN ZWEITER FALL GUILLAUME … ZWEIFEL HINSICHTLICH DER RATIFIZIERUNG DES ABKOMMENS … TRITT ZIMMERMANN ZURÜCK? … ABKOMMEN MUSS NEU ÜBERDACHT WERDEN … NEUE VERHANDLUNGEN? … ABKOMMEN DARF NICHT UNTERZEICHNET WERDEN … In großen, schwar zen Lettern starrte ihm die Niederlage entgegen. »Und wie stellst du dir das konkret vor?« fragte er sarka stisch, in plötzlichem Ärger über den unverschämten Ton Kominskis. »Hast du vielleicht eine Idee?« »Laß dich vom Fernsehen interviewen, dementiere alles in der Presse, reiche eine Verleumdungsklage ein – kurzum, unternimm etwas und verteidige dich gefälligst!« »Nimm den Mund lieber nicht ganz so voll!« wies Zimmer mann den jungen Russen zurecht. »Die Empörung deiner Vor gesetzten steht dir nicht zu. Du könntest ruhig einen etwas – unterwürfigeren Ton anschlagen.« »Komm mir bloß nicht auf diese Tour! Letzte Woche bist du mir noch vor Angst halb in den Arsch gekrochen.« »Inzwischen tu’ ich das aber nicht mehr.« »Dann steh endlich auf und sag ihnen, daß das alles nur Lü gen sind, verdammt noch mal!« »Ich werde sehen, was sich tun läßt.« »Und halt mich auf dem laufenden!« »Nein, mein Lieber, das werde ich nicht tun. Diese Sache geht nur mich an, nicht dich. Auf Wiedersehen, Petya.« Zimmermann legte auf. Im selben Augenblick war sein verzweifelter Optimismus auch schon wieder verflogen. Wenn sie nicht von Kominskis Anschuldigungen und Forderungen angestachelt wurde, verließ ihn seine Zuversicht, als hätte nur der Widerstand sie zum 278
Leben erweckt. Was er auch tun mochte, das Abkommen war nicht mehr zu retten. Nicht einmal Vogel konnte er noch vor dem sicheren Sturz bewahren. Einer Meinungsumfrage zufolge war seine Beliebtheit seit dem ersten Erscheinen der Sensationsmeldung in Bild um vier Punkte gesunken. Selbst im Regen und in der Dunkelheit haftete den beiden Gestalten unter ihren schwarzen Regenschirmen etwas Ominö ses an, das Aubrey trotz des langen und anstrengenden Fluges von Hong Kong plötzlich wieder hellwach machte. Das ge schäftige Treiben auf der regennassen Wiesbadener Air Base trat in den Hintergrund, als er Peter Shelley, diesmal ohne das gewohnte Begrüßungslächeln auf den Lippen, und Alex Da venhill erkannte, den SIS-Sonderberater im Auswärtigen Amt. Die amerikanischen Offiziere, Angehörige der Armee und der CIA, nahmen innerhalb dieses Dramas nur Statistenfunktionen ein. Weis Haar war sofort vom Regen durchnäßt. Trotz seines blauen RAF-Mantels zitterte er vor Kälte. Godwin äußerte seine Beschwerden über die eisigen Temperaturen etwas bered ter. Am Fuß der Gangway vom Rumpf der Hercules angelangt, trat Buckholz näher an Aubrey heran, wobei dieser die Zufrie denheit des Amerikaners förmlich zu spüren glaubte. Die Hän de in den Taschen und ohne Kopfbedeckung, drängte Hyde sich hinter die kleine Gruppe. »Sir«, begrüßte ihn Shelley knapp. »Mr. Buckholz.« »Peter, ist das Alex Davenhill?« Für einen Moment hielt Davenhill seinen Regenschirm zur Seite und grinste mit beunruhigender Jugendlichkeit darunter hervor. »Kenneth!« rief er und trat, die Rechte ausgestreckt, auf Aubrey zu. Dieser ergriff seine klammen Finger. »Sie sehen müde aus, mein Lieber.« »Australien ist nun einmal nichts für alte Männer«, entgegne 279
te Aubrey. Unwillkürlich mußte er an die Wüste und an Schil lers totenstarres, schmerzverzerrtes Gesicht denken. »Was verschafft uns die Ehre Ihrer Anwesenheit, Alex?« Davenhill deutete auf Shelley. »Sir, ein Brief für Sie, vom ›C‹.« Aubreys Augen verengten sich, als sein Adjutant ihm einen Regenschirm über den Kopf hielt. Die Dächer der war tenden Autos schimmerten im Regen. Eine GalaxyTransportmaschine der USAF donnerte über ihre Köpfe hin weg, so daß Aubrey schreien mußte, um sich Shelley verständ lich zu machen. »Was soll das, Peter?« »Nicht hier, Sir …« Shelleys Stimme klang eher flehend. »Welcher Wagen?« fuhr Aubrey den schweigenden, offen sichtlich zaghaften Davenhill an. »Der hier …« Shelley deutete auf einen großen Ford. »Charles, verteilen Sie meine Leute auf die Wagen, ja?« Au brey stieg in den Ford. Shelley, der ihm die Tür aufgehalten hatte, schaltete die Innenbeleuchtung ein und reichte ihm den Brief, den er wortlos las. »Können Sie mir sagen, was das soll?« »Wir sollen alles einstellen, Sir, das Unternehmen abbre chen.« »Lesen kann ich selbst. ›C‹ ist benachrichtigt worden. Durch wen?« Aubrey sah zu Davenhills schmächtiger Gestalt unter dem schwarzen Regenschirm hinüber. »Vom Sekretär des Auswärtigen Amtes?« fügte er fast ungläubig hinzu. Dann fiel sein Blick auf Buckholz, der Wei zu einem der amerikanischen Dienstwagen bugsierte. Wütend kurbelte er das Fenster herun ter und brüllte. »Patrick, schaffen Sie Wei auf der Stelle in unseren Wagen!« Darauf folgte eine kleine Pantomime für drei Männer mit Regenschirm – Buckholz, Davenhill, Hyde. Und dann schob Hyde Wei in den zweiten Ford. »Sir …«, protestierte Shelley vorsichtig. »Nein!« schrie Aubrey. »Ist das ein Befehl aus Washington? 280
Steckt hinter dem Ganzen vielleicht Washington?« »Glauben Sie mir, Sir – ich weiß es nicht!« Durch das offene Wagenfenster spritzte der Regen auf die Velourspolsterung des Rücksitzes. Davenhill und Buckholz waren immer noch in einen Wortwechsel verwickelt – aufge bracht und erbost von Seiten des Amerikaners, steif und zu rückhaltend von selten Davenhills. Godwin und Hyde beobach teten die Szene von dem zweiten SIS-Wagen aus. Die CIABeamten hielten sich in leichtem Abstand von Buckholz und Davenhill bereit. »Alex!« rief Aubrey aus dem offenen Wagenfenster. »Ich hätte gern mit Ihnen gesprochen.« Davenhill wandte sich von Buckholz ab, der sofort von den Amerikanern umringt wurde, als wäre er in einem Kampf verletzt worden. Davenhills Gesicht war bleich vor Wut. »Mein Gott, Kenneth …«, fing er an. »Halten Sie den Mund, Alex, und sagen Sie mir lieber, was das alles soll.« Der Bogen Briefpapier in Aubreys Hand war bereits feucht und schlaff. »Nichts weiter, als was auf dem Papier steht.« »Haben Sie das verfaßt?« »Ja, auf Wunsch des Außenministers.« »Und was soll das Ganze bedeuten?« »Daß Sie Ihre Ermittlungen zur Person Zimmermanns ein stellen müssen und den chinesischen Überläufer an die Ameri kaner auszuliefern haben. Nicht mehr und nicht weniger.« Davenhills unterdrückter Ärger richtete sich nun voll gegen Aubrey. Der Regenschirm war zur Seite geneigt, und sein dunkles, gewelltes Haar blitzte von Regentropfen. Die Schul tern seines Ledermantels schimmerten feucht. »Warum?« »Wir sind übereingekommen, daß es nicht unsere unmittelba re Interessenssphäre betrifft …« »Deutschland?« 281
»Wir haben eben zugestimmt – genauso, wie wir bereit wa ren, Wei auszuliefern. Sie sind doch längst mit ihm fertig.« Shelley rutschte schuldbewußt auf seinem Sitz hin und her. »Nein«, erwiderte Aubrey entschieden. »Ich bin noch kei neswegs mit ihm fertig. Steht das Haus zur Verfügung?« wand te er sich an Shelley, der nur kurz nickte. »Gut. Fahren wir dorthin. Dann können wir alles Weitere besprechen.« »Kenneth, das geht nicht …« »Und ob das geht!« »Sie haben ausdrücklichen Befehl erhalten …« »Deswegen habe ich immer noch meinen Verstand – und der sagt mir, daß hier hinter meinem Rücken einiges gemauschelt wird. Mit einemmal ist alles wieder völlig offen. Warum jetzt plötzlich dieser Befehl? Mir ist durch einen von Buckholz’ Männern versichert worden, daß Zimmermann dem KGB angehört.« »Sie werden die Operation Wild Hunt nicht einleiten.« »Und warum nicht?« »Weil Sie den ausdrücklichen Befehl haben, dies zu unterlas sen.« »Wer steckt eigentlich hinter dieser Farce? Buckholz? Das Auswärtige Amt?« »Das Ganze ist eine politische Entscheidung.« Alex Daven hills Miene wirkte plötzlich schuldbewußt, als hätte er ein Geheimnis verraten. »Eine politische Entscheidung?« »Liefern Sie Wei aus, Kenneth …« »Noch nicht, mein Lieber. Ich möchte hierfür eine Erklärung. Man hat mir versichert, daß sich Zimmermann schuldig ge macht hätte. Möglicherweise ist diese Operation hier in Deutschland unnötig, aber warum dieser Befehl, sie auf keinen Fall zu starten? Was steckt hinter dem Ganzen?« »Das ist doch nicht Ihre Sache, Kenneth. Kümmern Sie sich nicht weiter darum.« 282
Aubreys Wut kannte keine Grenzen. Er war sich sehr wohl bewußt, daß er sich ausschließlich von seinen Gefühlen leiten ließ, aber dennoch konnte er sich nicht von ihnen freimachen. Und immer wieder diese siedend heißen Verdachtsmomente, begleitet von Bildern … Zimmermann, Wei, Schiller tot, Pe trunin, Buckholz … »Ich – ich brauche Zeit zum Nachdenken. Im Augenblick bin ich jedenfalls noch für Wei zuständig. Ich muß mit ›C‹ spre chen – mit London. Bringen Sie uns bitte zum Haus. Dann können Sie mir ja alles noch einmal genauer erklären«, fügte er schließlich hinzu, um in Davenhill eine schwache Hoffnung zu wecken. »Vielleicht können Sie mich dann davon überzeugen, daß ich im Unrecht bin.« Nach einem kurzen Zögern nickte Davenhill und drehte sich um. Buckholz erwartete ihn bereits. Sie redeten in aufgeregtem Flüsterton aufeinander ein, bis der Amerikaner schließlich mit den Schultern zuckte. Dann erteilte Davenhill seinen Leuten die entsprechenden Anweisungen. Aubrey konnte die Feuch tigkeit im Regenmantel des Fahrers riechen, als dieser einstieg. Hyde und Godwin begleiteten Wei in dem anderen Wagen. Aubrey kurbelte das Fenster hoch und wandte sich zu Shelley. In den Augen des jüngeren Mannes stand Bewunderung ge schrieben – und Angst. Buckholz’ Limousine überholte sie und nahm die Spitze des kleinen Konvois ein, als sie zum Flughafengebäude fuhren. »Es – es tut mir leid, Sir«, stotterte Shelley. Aubrey tätschelte ihm den Oberschenkel. »Schon gut, schon gut. Das war nicht Ihre Schuld, Peter. Sie haben nur getan, was man Ihnen befohlen hat.« »Was wollen Sie jetzt machen, Sir?« Shelley winselte fast. In Wirklichkeit war das eine Warnung gewesen. Er hatte gefragt: Was können Sie jetzt machen? Langsam schüttelte Aubrey den Kopf, als bedauerte auch er seine Wut und seine übereilte Handlungsweise. 283
»Ich weiß nicht, Peter. Ich bin in Hong Kong zu der Über zeugung gelangt, daß Wei lügen könnte. Ich war mir nicht sicher, aber die Möglichkeit konnte ich zumindest nicht aus schließen. Dann flog ich nach Australien, um mich dem Pro blem von einer anderen Seite her zu nähern. Auch dort konnte ich zu keiner endgültigen Klärung gelangen. Ich habe Akten studiert, die sich widersprechen, zwei verschiedene Männer beschreiben. Ich kehrte wieder nach Hong Kong zurück, um zu erfahren, David Liu hätte erfolgreich die Wahrheit ans Licht gebracht. Zimmermann wurde tatsächlich als sowjetischer Agent entlarvt, als er krank wurde. Aber damit kann ich mich einfach noch nicht zufriedengeben. Was ist, wenn Liu ge täuscht oder belogen wurde?« Er sah Shelley an, dessen be drückte Miene nichts Gutes ahnen ließ. »Ich habe keinerlei Beweise gesehen. Nein, dieser Fall ist noch keineswegs abge schlossen. Die Operation Wild Hunt könnte durchaus noch zu einem neuen Ergebnis führen. Und Sie wissen ja, was hier auf dem Spiel steht. Ich kann ganz einfach nicht zulassen, daß Zimmermann aufgrund der bisher vorliegenden Beweise für schuldig erklärt wird.« »Aber, Sir …« »Nein, Peter. Ich bin fest entschlossen. Das mag vielleicht fürchterlich stur und selbstgerecht klingen, aber mein Ent schluß steht fest. Ich muß weiter mit Wei sprechen – und vor allem auch mit Liu. Ich bin sozusagen der ungläubige Thomas, der erst seine Hände in die Wunden dieser Sache legen muß, bevor ich glauben werde …« »Und?« frage Shelley leise. »Und außerdem hat mir Zimmermann einmal geholfen«, er widerte Aubrey leicht verlegen. »Ich verdanke ihm mein Le ben, Peter.« Dann versank Aubrey in Schweigen, und beide starrten durch die regennassen Scheiben auf Wiesbaden hinaus, das wie eine Illusion im Dunkel an ihnen vorüberglitt. 284
Die SIS-Station befand sich in einer Villa in Sonnenberg am Fuß des Taunus. Sie war nur bei Bedarf besetzt und gab sich sonst als Büro einer Londoner Exportfirma aus. Das Tor der Einfahrt stand bereits offen. Die Straße war hell erleuchtet, aber still und menschenleer. Es war bereits nach elf Uhr. Hinter einer der CIA-Limousinen bog der Ford in die laut knirschende Kiesauffahrt ein. Über dem Hauseingang brannte ein Licht. Der Regen hatte nachgelassen, aber die Wagen glänzten immer noch wie schwarze Käfer. Aubrey beobachtete Hyde, der Wei beim Aussteigen aus dem anderen Ford behilf lich war. Godwin flankierte den Chinesen von der anderen Seite, als führten sie einen alten Mann die Treppe zum Eingang hinauf. Buckholz wurde von einem CIA-Mann die Wagentür aufgehalten, und er stieg aus. Das Halbrund der Auffahrt war von den vier Wagen praktisch ausgefüllt. Die CIA-Beamten waren eindeutig in der Überzahl, als wollten sie ihnen allein dadurch drohen. Buckholz’ Gesicht war eine starre Maske unterdrückten Ärgers, als er einen kurzen Bück auf Aubreys Wagen warf. Die Eingangstür war geschlossen. Hyde drückte auf die Klin gel, deren gedämpftes Geräusch irgendwo tief im Innern des Hauses zu ertönen schien. Abgesehen von dem Licht über dem Eingang lag das Haus in völliger Dunkelheit. Plötzlich wurden Hydes Instinkte geweckt. Das Licht im Korridor ging an, aber er hörte keine Schritte oder Stimmen. Er drehte sich zu den Autos auf der Auffahrt um. Die Anweisungen mußten sehr präzise gewesen, die einzelnen Ziele in eine strikte und not wendige Reihenfolge gebracht worden sein. Das Gewehr war natürlich mit einem Schalldämpfer versehen, dessen verlang samende Wirkung auf diese Entfernung jedoch keine Rolle spielte. Vermutlich war der Schütze in einem der dunklen Häuser auf der anderen Straßenseite postiert. Hyde beobachte te, wie Buckholz gegen den Straßenkreuzer sank – das weiße Aufblitzen eines Regenmantels auf dem schwarzen Dach, ein 285
Mund zum Schreien geöffnet. Dann knickte Aubrey vornüber und stürzte auf den Kies. Shelley war durch den Schock unfä hig, sich zu bewegen. Weiße Regenmäntel bewegten sich langsam durch das zähflüssige Element lähmender Überra schung. Hyde zog seine Heckler & Koch und schoß das Licht über dem Eingang aus, während Godwin mit überraschender Geistesgegenwart Wei zu Boden zog und sich auf den Stufen über ihn legte. Godwins Körper erschauerte von dem Krachen zweier Geschosse, während Hyde das Schloß aufschoß und die Tür mit der Schulter aufdrückte. Der Gang war leer. Zur Sicherheit feuerte Hyde zweimal hin ein. Kein Schatten, der sich bewegte. Im hinteren Teil des Hauses fiel eine Tür zu. Er drehte sich um. Weiße Regenmäntel bewegten sich zu gebrüllten Anweisungen über die Straße. In den umliegenden Häusern gingen Lichter an. Shelley beugte sich über die am Boden liegende Gestalt Aubreys. Buckholz war herumgedreht worden und lehnte nun reglos an der Limou sine, starrte mit leeren Augen in den Nachthimmel hinauf. Hyde zerrte Wei und den schwerfälligen Godwin – seine helle Jacke hatte an der Schulter einen dunklen Fleck – ins Haus und warf die Tür hinter sich zu. 28. Mai 1940 »Wie Sie wissen«, erklärte Zimmermann entschuldigend, »waren Sie nicht in Uniform, als Sie in unsere Hände fielen. Deshalb können Sie auch nicht als Kriegsgefangener gelten. Sie sind – ein Spion. Sie verstehen?« Aubrey nickte langsam, wurde sich der Tragweite dieser Feststellung bewußt. Der Raum in dem Haus in Courtrai, dreißig Kilometer von Ypres, war voller Schatten. Das Haus war von einer Ab wehreinheit konfisziert worden. Aubrey vermutete, daß es sich dabei um eine Einheit handeln mußte, der Zimmermann einmal 286
angehört hatte, da er die meisten Offiziere beim Vornamen zu kennen schien. »Ich verstehe«, sagte er mühsam. Seine zwei gebrochenen Rippen protestierten schmerzhaft, als er seine Lage auf dem Bett veränderte. Er konnte immer noch das drückende Gewicht des Mauerwerks der von den Deutschen beschossenen briti schen Geheimdienstzentrale in Louvain auf Brust und Bauch spüren, das ihm langsam die Lunge zerquetscht hatte, bis ihn die in die Stadt einrückenden deutschen Soldaten auf Zimmer manns Befehl aus den Trümmern geborgen hatten. Er erschau erte. Sein gebrochener Knöchel sandte einen stechenden Schmerz durch sein linkes Bein. Aber trotz der unangenehmen Neuigkeiten, die Zimmermann ihm eben überbracht hatte, konnte er ein Gefühl der Dankbarkeit nicht verleugnen, weil er noch am Leben war. »Trotzdem, vielen Dank.« »Tut mir leid, daß das passiert ist.« Zimmermann zuckte mit den Schultern. »Wie spät ist es?« »Ein Uhr früh.« »Oh.« »Können Sie sich schon bewegen? Glauben Sie, daß Sie eine längere Autofahrt aushalten würden?« »Jetzt schon?« In plötzlicher Panik wanderten Aubreys Au gen durch den kleinen Raum. Beruhigend legte ihm Zimmermann die Hand auf den Arm. »Nein, nicht, was Sie denken. Ich möchte Sie hier rausschaffen …« »Ich – ich glaube nicht. Die Rippen, mein Knöchel … Ich fühle mich noch sehr schwach.« Selbstmitleid wallte in Au breys Brust auf, stach in seine Augen. »Auch nicht, wenn ich Ihnen helfe?« Zimmermann lächelte im Schein der Petroleumlampe. Der Strom war immer noch ausgefallen. »Sie – mir helfen …?« 287
»Ja, denn ich möchte Sie nicht auf dem Gewissen haben«, erklärte Zimmermann barsch. »Es wird sich zwar nicht ver meiden lassen, daß ich mit einigen Gewissensbissen aus all dem hervorgehe. Aber mit Ihnen möchte ich es möglichst nicht belasten, wenn es irgendwie geht.« »Und wie stellen Sie sich das vor?« Aubrey dachte an die Kilometer, die sie in einem konfiszierten Wagen zurückgelegt hatten, nachdem ihn in Ypres ein Sanitäter notdürftig verarztet hatte. Dann der Arzt, den Zimmermann in das AbwehrHauptquartier hatte kommen lassen – seine schmerzhafte Sanftheit. Die Schwindelanfälle, die Phasen der Bewußtlosig keit. Er fühlte sich völlig hilflos. »Jetzt hören Sie mal gut zu, Kenneth Aubrey.« Zimmermann beugte sich vor und senkte seine Stimme. »Ich habe einen Einsatzbefehl und einen Wagen. Außerdem genieße ich hier vollstes Vertrauen, wie Sie sicher schon selbst bemerkt haben. Ich habe einen Passierschein, so daß ich zu meiner Einheit nach Boulogne zurückkehren kann – auf einem kleinen Umweg natürlich. Und auf dem Weg dorthin werde ich Sie mitneh men.« »Warum?« »Warum? Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich möchte nicht, daß Sie als britischer Spion erschossen werden, selbst wenn Sie einer sind.« »Aber – aber warum liegt Ihnen daran soviel?« »Betrachten Sie es einfach als Dank dafür, daß Sie mich so gut behandelt haben. Sie hätten ja auch anders mit mir um springen können.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Was ist nun? Kommen Sie mit?« »Ich werde es versuchen. Vielen Dank …« »Nichts zu danken. Ich muß Sie jetzt kurz allein lassen.« Zimmermann stand auf. »Versuchen Sie, sich aufzusetzen, bis ich wieder zurück bin. Wir haben nicht viel Zeit.« Fünf Minuten später kam Zimmermann mit zwei Unteroffi 288
zieren zurück, die Aubrey mühsam die Treppe hinunter und auf den Hinterhof hinaus trugen, wo ein offener Mercedes wartete. Aubrey wurde nicht unsanft auf den Rücksitz gelegt, wo er in einem weichen Kleiderhaufen versank. Er war vor Schmerzen einer neuerlichen Ohnmacht nahe. Als der Mercedes schließ lich durch einen Torbogen aus dem Hof auf die Straße hinaus fuhr, wurde Aubrey noch tiefer in die Lederpolsterung ge drückt, und er spürte die kühle Nachtluft, die ihm über das Gesicht strich, immer weniger. Die Nacht wurde für Aubrey zu einem mehrmals unterbro chenen Alptraum, akzentuiert durch die Schmerzen in den Rippen und im Kopf, vom Motorengeräusch des Mercedes, von seinen eigenen zusammenhanglosen und vagen Fragen und von Zimmermanns präzisen Antworten. Gelegentlich wurden ein dringliche Warnungen zu ihm nach hinten geflüstert – oft in Verbindung mit einem kurzen Anhalten des Wagens und mur melnden Stimmen, in denen Aubrey eine gewisse Unterwürfig keit zu erkennen glaubte. Wieder ein Halt. Aubrey fuhr hoch. Wo sind wir? Keine Antwort. War Zimmermann nicht mehr im Wagen …? Aubrey schlief wieder ein. »Wo sind wir?« »Was ist denn mit dem da los, Herr Hauptmann?« Eine deut sche Stimme. Aubrey stammelte irgend etwas auf deutsch. »Er liegt im Delirium«, hörte er, und dann verebbte ein La chen in Schweigen. Viel später erst glaubte er Zimmermann antworten zu hören: »In Dixmunde – jetzt ist es nicht mehr weit.« Aubrey bedauerte die Langsamkeit dieser Reise. Und dann versank sein Bewußtsein aus seinem halbwachen Zustand wieder in völlige Dunkelheit. Fiebrig heiße Dunkelheit, kühle Dunkelheit, heiße Dunkelheit, kaltes Licht … »Was ist?« fragte er. »Aufwachen, Aubrey, aufwachen!« Sein Gesicht wurde von 289
kalten Fingern sanft getätschelt. Graues Licht der Morgen dämmerung. »Wo …? Ihre Papiere?« fragte Aubrey verwirrt, während er heftig zitternd seine Arme um sich schlang. »Jetzt hören Sie endlich zu, verdammt noch mal! Dort vorn kommt ein Kontrollposten der SS. Haben Sie verstanden? SS! Sehen Sie zu, daß Sie wach bleiben, und halten Sie den Mund!« Darauf rutschte Zimmermann wieder hinters Steuer. Mühsam versuchte Aubrey sich aufzusetzen. Nur das Zittern seines fiebergeplagten Körpers hielt ihn bei Bewußtsein. Er roch die feuchte, salzige Seeluft, vermischt mit den Gerüchen von Schlick und Algen. Zimmermann hielt vor der hastig errichteten Straßensperre an. Dahinter stiegen mehrere Säulen dicken, schwarzen Rauchs in den grauen Morgenhimmel auf. Ein paar Häuser der kleinen Ortschaft standen in Flammen, verschiedene Feuer in der Ferne rührten vermutlich von brennenden Bauernhöfen und Feldern her. Hinter dem letzten Haus war ein englischer Panzer fast auf die Seite gekippt. Vom Turm stieg eine dünne Rauchfahne hoch. Unmittelbar daneben lag etwas Verkohltes. »Ihre Papiere?« »Sie haben es aber schnell bis hierher geschafft«, erwiderte Zimmermann und wies auf die SS-Uniform des Leutnants, dem dieser Kontrollposten unterstand. »Herr Hauptmann, dieser Einsatzbefehl gilt doch für Boulo gne.« »Ich nehme nur eine kleine Abzweigung – mit ihm.« Zim mermann deutete auf die zusammengesunkene Gestalt Aubreys im Fond des Wagens. »Wer ist der Mann?« »Ein britischer Spion«, entgegnete Zimmermann gelassen. »Dann wird er wohl hier aussteigen müssen.« »Sie lassen die Hände von diesem Mann, Herr Leutnant!« 290
fuhr Zimmermann ihn an. »Der gehört mir – oder besser, der Abwehr.« »Das ist aber schade«, erwiderte der SS-Offizier sarkastisch. »Kann er eigentlich auch sprechen? He, Sie – Name, Rang, Dienstnummer!« Aubrey öffnete den Mund, aber alles, was daraus hervorkam, war das Geräusch seiner hemmungslos klappernden Zähne. Die meisten Soldaten brachen in schallendes Gelächter aus. »Meine Güte!« sagte der Leutnant angewidert. »Ist das viel leicht auch noch der Beste, den sie haben? Der Mann ist ja schon halb tot. Kein Wunder, daß sie keine Chance haben …« Er wandte sich wieder an Zimmermann. »Sie können hier nicht durch, Herr Hauptmann. Sie werden zurückfahren müssen – oder hier so lange warten, bis sich die Zange geschlossen hat. Die Belgier haben schon kapituliert – also vielleicht schon heute, oder morgen … Dann können Sie nach Boulogne weiter fahren.« Zimmermann zuckte mit den Schultern. »Dann werde ich eben zurückfahren und warten.« Nachdem sich der SS-Offizier Zimmermanns Papiere noch einmal angesehen hatte – zu seinem Bedauern war nichts daran auszusetzen – reichte er sie barsch zurück. »Los, fahren Sie schon!« Zimmermann wendete den Wagen und fuhr aus der Ortschaft. Auf dem Meer, nur knapp zwei Kilometer von der Straße entfernt, waren graue Kriegsschiffe zu sehen. Hinter ihm stöhn te Aubrey vor Erleichterung – oder vielleicht auch vor Enttäu schung. Hinter einer Straßenbiegung hielt Zimmermann an. Aubrey öffnete die Augen, um Zimmermann auf der Kühler haube des Mercedes stehen zu sehen. Er beobachtete mit sei nem Feldstecher die Umgebung. »Was machen Sie denn da?« »Noch mal guten Morgen«, erwiderte Zimmermann, ohne Aubrey anzusehen. »Ich kann Ihr Feld-Hauptquartier sehen, 291
unsere Nachschublager, unsere Artillerie und unsere Reserve. Das Problem ist nur, daß ich die britische Front nicht erkennen kann. Sie ist zu weit weg. Hmm …« »Lassen Sie mich einfach hier raus«, schlug Aubrey vor. »Noch nicht. Ja, wir werden den Rat des Leutnants befolgen und zurückfahren. Halten Sie nur noch eine Weile durch, ja?« »Ich werd’s versuchen«, erwiderte Aubrey. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Das gleichmäßi ge Motorengeräusch lullte Aubrey sofort ein. Zimmermann schien zu ihm zu sprechen, aber Aubrey achtete nicht darauf. Er nahm nur noch die Temperaturwechsel in seinem Körper wahr, das Anschwellen und Nachlassen des Fiebers. Halt …? »Aufwachen!« Die Stimme wirkte verändert. Aubrey spürte, daß es lange gedauert haben mußte, ihn aufzuwecken. »Aufwa chen!« befahl Zimmermann von neuem und schlug ihm leicht ins Gesicht. Endlich schlug Aubrey die Augen auf. »Was …?« »Sie müssen jetzt zu Fuß los. Haben Sie verstanden? Zu Fuß!« »Wohin …? Ich will nicht – ich kann nicht!« »Sie müssen – oder wollen Sie erschossen werden?« »Wohin?« fragte Aubrey und setzte sich mühsam auf. »Dort hinunter.« Zimmermann deutete einen langen, flachen Abhang hinab. An seinem Fuß zog sich eine Straße entlang, von einer dunklen Hecke gesäumt. Auf der Straße fuhren oliv farbene Militärfahrzeuge, Lastwagen und gelegentlich auch ein Panzer. »Das sind Engländer«, erklärte Zimmermann. »Sie rücken nach Norden vor, um für die Belgier in die Bresche zu springen.« »Wo sind die Deutschen?« platzte Aubrey heraus. »Hinter uns. Sie bereiten sich auf einen Angriff vor.« »Wie haben Sie es geschafft, mich …?« »Sie können sich wohl gar nicht mehr erinnern, daß ich Ihnen 292
einen Knebel in den Mund gesteckt und die Kleider auf dem Rücksitz über Sie geworfen habe?« Aubrey schüttelte den Kopf. Sein Mund fühlte sich trocken an. »Nein …« »Ich bin auf einer Sonderpatrouille. Im Auftrag von Bocks GHQ. Wer würde so etwas nicht respektieren – mit Ausnahme der SS vielleicht? Jetzt steigen Sie schon endlich aus. Los!« Aubrey kletterte aus dem Fond des Mercedes, auf die Tür gestützt. Zimmermann beobachtete ihn dabei mit kritischer Miene. Offensichtlich hatte er hinsichtlich des Gelingens seines Vorhabens wenig Hoffnung. Aubrey ließ mit einer Hand die Tür los. »Ich – ich werde es versuchen …« »Los, ein bißchen schneller! Sonst kommt noch jemand. Erst nur ein paar Schritte – passen Sie auf Ihren Knöchel auf – ja, so ist es gut – nur weiter so – ja, gut, und jetzt stehenbleiben!« Wie ein Baby bei seinen ersten Gehversuchen hatte sich Au brey zaghaft humpelnd ein paar Schritte vom Wagen entfernt. »Mir ist schwindlig – mein Knöchel tut weh«, jammerte er. Zimmermann stützte ihn, und dann sagte er: »Viel Glück, Kenneth Aubrey. Und jetzt – los mit Ihnen!« Aubrey tat zwei zögernde Schritte und begann dann, mühsam den Abhang hinunterzuhumpeln. Zimmermann beobachtete ihn eine Weile und wandte sich dann der Straße zu, die nur ein paar hundert Meter von ihnen entfernt lag. Lastwagen, bewaff nete Autos, ein paar Panzer. Wenn sie auch den deutschen Vormarsch nicht würden stoppen können, würden sie zumin dest einen englischen Spion retten. Er lächelte und kletterte hinters Steuer seines Mercedes. Aubrey kam inzwischen besser und schneller vorwärts. Zimmermann ließ den Wagen an und legte den Rückwärtsgang ein. Aubrey blieb stehen, um nicht das Gleichgewicht zu verlie ren, als er seinen Arm hob und winkte. Das Motorengeräusch des Mercedes verlor sich in der Ferne.
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DRITTER TEIL
Wilde Jagd Er sehnte sich danach, auf der anderen Seite der Gitterstäbe zu sein, als wäre er tatsächlich ein Gefangener auf dem Ge lände dieses Zentrums revolutionärer Verschwörungen, die ses Hauses der Tollheit, der Blindheit, der Schurkerei und des Verbrechens. Joseph Conrad: Unter westlichen Augen 11. Eindringen Buckholz war tot. Noch ganz seinen lebhaften Erinnerungen an seine Rettung durch Zimmermann hingegeben, gelangte Au brey zu der Überzeugung, daß der stellvertretende Direktor der CIA sofort tot gewesen sein mußte und von den Agenten in ihren weißen Regenmänteln weggeschafft worden war. Er wußte, daß auch er selbst verletzt war. Er verspürte einen einzelnen, deutlich lokalisierbaren Schmerz in seinem Ober schenkel. Er überlegte, ob er versuchen sollte, seine Zehen und Finger zu bewegen, da er Angst hatte, gelähmt zu sein. Und obwohl aus dem Dunkel das Bild eines Rollstuhls auf ihn zuglitt, sank er wieder in Bewußtlosigkeit zurück. Hyde beobachtete den Arzt, der die Spritze aufzog. Aubrey war schon wieder bewußtlos, als die Nadel in das faltige Fleisch seines Armes stach. »Und?« fragte Alex Davenhill und brachte damit alle ihre Ängste zum Ausdruck. Der amerikanische Armeearzt sah zu ihnen auf, als sie sich wie die besorgte Verwandtschaft um ihn drängten. »Ich glaube, er wird durchkommen. Er kann zwar unmöglich hierbleiben, aber für den Augenblick ist er außer Gefahr.« Er stand auf und ließ seine Blicke über die Versammlung gleiten. 294
»Sie greifen ja ganz schön hart durch. Wenn es schon soweit gekommen ist, daß auf alte Männer geschossen wird … Wollt ihr auf diese Weise an den Renten sparen?« Er scheuchte sie zurück. »Es ist besser, wenn er jetzt allein ist. Ich werde ihn von einem Krankenwagen in die Klinik bringen lassen – in unsere Klinik.« »Vielen Dank, Herr Doktor – Herr Major.« »Doktor genügt vollauf, Mr. Davenhill.« Er grinste, als er die Tür leise, aber bestimmt hinter ihnen schloß. Von Davenhill angeführt, trotteten sie in den Salon der Villa hinunter, von wo aus man den hintersten Gartenteil überblickte. Untertags erho ben sich dahinter die frostig bewaldeten Ausläufer des Taunus. Jetzt waren die Vorhänge jedoch zugezogen, und im Garten waren Posten aufgestellt. »Was trinken Sie?« fragte Davenhill. Er stand an der reich verzierten Hausbar und schenkte sich gerade einen Brandy ein. »Einen Scotch, bitte«, meldete sich Shelley. »Für mich nichts, danke.« Davenhill sah Hyde kurz an und zuckte dann mit den Schul tern. Er reichte Shelley sein Glas und setzte sich. Hyde blieb in der Nähe der Tür stehen, als könnte es notwendig werden, den Raum ganz plötzlich zu verlassen. »Sie glauben, daß Godwin durchkommen wird«, teilte ihnen Davenhill mit. »Die Ärzte im Krankenhaus sind ziemlich zu versichtlich. Die Frage ist nur, ob er je wieder wird gehen können …« Davenhill fuhr sich durch sein gelocktes Haar. »Meine Güte, was für eine Sauerei!« »Das war keine Sauerei, Davenhill – das war ein verdammtes Massaker, und Sie wissen das ganz genau. Petrunin hat eindeu tig gegen die Spielregeln verstoßen – und zwar gegen die!« »Ihr Ärger ist natürlich verständlich …« »Glauben Sie wirklich, Sie können das verstehen? Sie will schließlich niemand abknallen.« »Patrick …«, schaltete sich Shelley ein. Er hielt, das Glas auf 295
halbem Weg zu seinen Lippen, mitten in der Bewegung inne und sah Hyde begütigend an. »Sie wissen ganz genau, wieso es dazu gekommen ist, Da venhill. Und was wollen Sie dagegen unternehmen? Jetzt, wo Sie den alten Mann aufs Abstellgleis geschoben haben, bestimmen schließlich Sie, was zu geschehen hat. Was sollen wir jetzt tun?« »Nichts …« »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst. Sie haben selbst gehört, was Aubrey gesagt hat, bevor sie ihn außer Gefecht gesetzt haben. Es wurde gegen die Regeln verstoßen, weil die Zeit nicht auf unserer Seite ist. Wenn sie alle Leute killen, die mehr über die Sache wissen, dann schert sich in ein paar Tagen, wenn dieses verdammte Abkommen unterzeichnet ist, niemand mehr auch nur einen Dreck um das Ganze. Was auch immer die Konsequenzen sein mögen, um was es bei diesem kleinen Bandenkrieg zwischen der CIA und dem KGB auch gehen mag – es wird den Aufwand schon wert gewesen sein.« »Ich werde jedenfalls nicht die Verantwortung für Gewalttä tigkeiten übernehmen«, entgegnete Davenhill. »Mir ist natür lich klar, daß Buckholz’ bedauerlicher Tod enorme Nachwir kungen haben wird. Und das dürfte mit Sicherheit auch für Moskau außer Zweifel stehen. Aber für den Augenblick wer den wir nichts unternehmen.« »Ich verstehe, Sir«, sagte Shelley leise, als antwortete er für Hyde. »Es geht darum, was er will.« Hyde, der inzwischen in die Mitte des Raums getreten war, deutete zur Decke und den Räumen im Obergeschoß hoch. »Der einzige Grund, weshalb er noch nicht im Krankenhaus liegt, ist darin zu sehen, daß er geblieben ist, um das mit Ihnen auszudiskutieren. Und Sie lassen ihn mit Beruhigungsmitteln vollpumpen, wenn er das Bewußtsein verliert! Verpassen Sie ihm doch noch eine Sprit ze, Herr Doktor! Sieht ja ganz so aus, als wollte dieser arme 296
Irre sogar in diesem Zustand noch etwas unternehmen! Meine Güte!« Das Lächeln auf Shelleys Lippen verflog. Davenhills schma le, anziehende Gesichtszüge röteten sich vor gekränkter Wut. »Wir werden nichts unternehmen – nichts«, zischte er zwi schen zusammengepreßten Zähnen hervor. »Sie haben Ihre Befehle, Hyde.« »Aber wir müssen uns doch Klarheit verschaffen!« fuhr Hyde auf. »Wir können das alles nicht einfach auf sich beruhen lassen. Sie haben Aubrey zu töten versucht, und sie haben Buckholz getötet. Und auf Wei hatten sie es ebenfalls abgese hen. Auf alle, die etwas wußten. Warum? Ist Zimmermann einer von ihnen – oder nicht? Das müssen wir doch, verdammt noch mal, herausfinden!« »Die Anweisungen, die ich aus London überbracht habe, bleiben unverändert bestehen …« »Quatsch. Stecken Sie sich London mal lieber in den Arsch! Wollen Sie nun die Wahrheit wissen, oder nicht? Und ich werde die Wahrheit, verdammt noch mal, finden. Wo ist dieser kleine, schlitzäugige Kotzbrocken?« »Hyde!« Hyde stürmte aus dem Raum und die Treppe hinauf. Wei war in einem der Schlafräume im ersten Stock inhaftiert, der nur über ein kleines, vergittertes Fenster verfügte. Bilder von dem Hausmeisterehepaar, das die Villa instand hielt, gefesselt und geknebelt in der Küche – das leere Zimmer in dem Haus auf der anderen Straßenseite, in dem sie nicht einmal eine leere Patronenhülse gefunden hatten – die Familie, die dort wohnte, in einem Raum im Erdgeschoß gefesselt – der Lärm der rasch davonfahrenden Autos – all diese Eindrücke verfolgten ihn wie Furien seiner eigenen Machtlosigkeit auf seinem Weg die Treppe hinauf. Nichts. Sie würden nichts unternehmen … In unkontrollierbarem Zorn mahlten seine Zähne aufeinander. 297
Godwin möglicherweise reif für den Rollstuhl, Aubrey um ein Haar getötet, Buckholz tot, Liu – mein Gott, Liu – nirgendwo aufzufinden … Und London hockte auf seinem fetten Arsch. Er kochte vor Wut. Petrunin legte sich nicht mehr die geringste Zurückhaltung auf, und Davenhill wollte einfach nur dasitzen und abwarten … Auf dem Gang stand ein US-Marinesoldat, der Hyde passie ren ließ, obwohl sich seine jungen Augen beim Anblick von Hydes Miene erstaunt weiteten. Eine zweiter Posten saß in Weis Zimmer. Er sah von einer Zeitschrift auf, als der Austra lier eintrat. Wei, der mit Handschellen ans Bett gekettet war, wirkte mit einemmal hellwach und argwöhnisch. »Raus«, zischte Hyde. »Sir …« »Raus! Und lassen Sie niemanden herein – niemanden!« »Sir!« »Den Schlüssel!« Der Soldat reichte Hyde den Schlüssel und schloß dann die Tür hinter sich. Angst breitete sich auf Weis Zügen aus. Schüt zend zog er die Knie an den Oberkörper. Der Raum schien eng und winzig zu sein – bedrohlich. Hyde schloß die Handschellen auf und trat dann wieder vom Bett zurück. Wei verdrückte sich wie ein verängstigtes Tier in die hinterste Ecke des Raums, während Hyde grinsend die Kommode vor die Tür schob. »Sir …?« hörte er eine Stimme vom Gang her. »Also gut, mein Freund – jetzt bin ich an der Reihe. Sie ha ben mir Ihr Leben zu verdanken. Und dafür werde ich mich jetzt an Ihnen etwas schadlos halten …« Langsam ging Hyde auf Wei zu. Zusammengekauert belauer te der Chinese den Australier. Hyde täuschte einen Tritt mit dem Fuß vor und hieb Wei in den Bauch, so daß dieser stöh nend vornüberkippte. Hyde packte ihn am Kopf und drosch ihn gegen die Wand, daß der Putz Sprünge bekam. Und dann noch 298
einmal und noch einmal. »Das – ist – alles – deine – Schuld – du …« Hyde betonte jedes Wort mit einem Schlag des Kopfs gegen die Wand. Hin ter ihnen klopfte es gegen die Tür. Er hörte Davenhills Stimme. Hyde schüttelte den Chinesen und ließ ihn dann zu Boden fallen. Er kniete sich neben ihn. »Hyde, lassen Sie ihn! Haben Sie mich gehört, Hyde?« Die Tür ruckte gegen die Kommode, die im Protest über die Holzdielen des Fußbodens quietschte. Die Heckler & Koch VP 70 befand sich direkt an Weis Wange, zog dessen Blicke wie ein Magnet auf sich. Die Tür ging ein paar weitere Zentimeter auf. »Zu spät«, zischte Hyde. »Mir langt’s, und zwar endgültig. Ich weiß, daß du nichts als Lügen erzählst, und ich hab’s satt, weiter für dich Kopf und Kragen zu riskieren. Jetzt bist du geliefert.« Er richtete den Lauf der Pistole auf Weis Kopf und drückte den Abzug. Weis Augen waren zur Tür gezuckt, in der das junge Gesicht des Soldaten erschienen war, und hatten sich dann wieder dem Lauf der Pistole zugewandt und dem Finger am Abzug. »Nein …« Hyde feuerte zweimal, wobei er den Lauf leicht anhob, so daß die Schüsse ein paar Zentimeter über Weis Kopf hinweg in die Wand krachten. Der Lärm war ohrenbetäubend. Für Wei mußte sich der Aufprall der Geschosse angefühlt haben, als wären sie in seinen Kopf gefahren. Seine Augen verdrehten sich, und er schrie in der Gewißheit des Todes auf. Er sackte zu Boden, als wollte er sich in dem alten Teppich vergraben, und schrie und schrie. »Ja, ja, ja, ja, ja …« Die Kommode wurde beiseite gerückt, und Shelley und Da venhill drängten sich hinter den beiden Soldaten in den Raum. »Hyde!« »Jetzt hör mal, du Dreckskerl!« Er zerrte Wei vom Boden 299
hoch, die Hand um den Stoff seines Hemds geballt. »Es war doch alles Schwindel, oder nicht? Eine abgekartete Sache? Das war es doch? Nicht wahr?« Wei war nur noch zu einem haltlo sen Schluchzen fähig. Unfähig zu sprechen, nickte er nur – so heftig, als schlüge ihn Hyde immer noch gegen die Wand. Hyde ließ ihn zu Boden gleiten. Der Chinese schien nur noch eine leere, haltlos schluchzende Hülse zu sein. Hyde stand auf und grinste. »Na?« »Hyde, was bilden Sie sich eigentlich ein?« Davenhills Ge sicht war weiß vor Wut. Shelley wirkte verwirrt. Er kniete neben Wei, aber es widerstrebte ihm anscheinend, ihn zu be rühren – als wäre er schmutzig oder ansteckend. »Ach was! Sie haben es doch selbst gehört. Diese ganze Ope ration ist nichts als ein gigantischer Schwindel …« Hyde hielt inne, seine Augen verengten sich. »Und Sie haben es gewußt!« schrie er. »Raus!« fuhr Davenhill die zwei Soldaten an, und schon im nächsten Moment schloß sich die Tür hinter den beiden. »Brül len Sie nicht so!« fuhr er Hyde an. Hyde blickte zu Shelley hinüber, der nicht weniger schockiert wirkte. »Wie lange haben Sie es schon gewußt?« »Ich nehme an, daß der wahre Sachverhalt gestern dem Se kretär des Auswärtigen Amtes und dem Generalsekretär des Geheimdienstes unterbreitet wurde. Ein Anruf aus Washington. Der Direktor der CIA – im Auftrag des – des Außenministeri ums …« Davenhill war offensichtlich keineswegs gewillt, Hyde all dies mitzuteilen, aber er schien zu der Überzeugung gelangt zu sein, daß er diesen nur mit der Wahrheit beruhigen konnte. »Einfach nur so?« Shelley stand auf und sagte: »Ihm fehlt nichts weiter. Nur die Angst sitzt ihm noch in den Knochen.« »Ach, lassen Sie ihn doch! Sie meinen also, das Auswärtige Amt hat ganz einfach die Instruktion erhalten, die Finger von 300
der Sache zu lassen – und das wird ohne Widerspruch hinge nommen, obwohl auf Aubrey und Buckholz ein Anschlag verübt worden ist? So ist es doch, oder? Und wir sollen schön stillhalten?« »Was sonst sollten wir tun? Sie wissen doch jetzt …« Da venhill verkniff sich ein überlegenes Grinsen und deutete mit schlaffen Fingern auf die fötusartig gegen die Wand gekauerte Gestalt Weis. »Wir alle wissen inzwischen Bescheid. Was wollen wir denn noch?« »Und Sie haben bis gestern nichts davon gewußt?« Shelley bemühte sich um einen bewußt neutralen Tonfall. Seine Augen wirkten beunruhigt. »Natürlich nicht!« fuhr ihn Davenhill scharf an. Weis Schluchzen ließ langsam nach. In den Augen der ande ren drei Männer war er im Augenblick nichts weiter als ein hilfloses, verwundetes Tier, dem man keine weitere Beachtung schenkte. Hilflos hob Hyde die Arme und ließ sie wieder sin ken. »Und die Deutschen?« fragte er. »Geben sie sich damit zufrieden? Wollen sie der Sache nicht näher auf den Grund gehen?« »Der BfV-Mann, mit dem ich gesprochen habe, wird natür lich einen ausführlichen Bericht sehen wollen. Jedenfalls geben sich die deutsche Polizei und der deutsche Geheimdienst im Augenblick damit zufrieden, daß wir dieses – unglückliche Vorgehen von selten – unbekannter Personen nicht näher erklä ren können. Uns hat das nicht minder überrascht.« Für einen Moment war auf Davenhills Lippen ein selbstgefälliges Lä cheln zu sehen. »Shelley!« Hyde wandte sich von Davenhill ab. »Instruieren Sie mich über meine Tarnung.« »Sie werden nicht in die DDR gehen, Hyde«, warf Davenhill ein. »Achten Sie nicht auf ihn, Shelley. Sie haben doch auf Au breys Gefasel gehört, auch wenn er das nicht für nötig hielt. 301
Zimmermann hat ihm das Leben gerettet …« »Er hat wirklich nur fantasiert …« »Achten Sie nicht auf ihn, Shelley. Aubrey ist Zimmermann noch etwas schuldig. Schaffen Sie unseren Mann ›Caspar‹ aus der DDR, wenn es geht. Oder schleusen Sie mich dort ein.« »Warum, Hyde? Sie wissen doch, was auf dem Spiel steht. Weshalb wollen Sie Ihr Leben schon wieder riskieren?« Hyde wandte sich zu Davenhill. Shelley und Davenhill hatten verstohlene Blicke gewechselt. Hyde hatte das Gefühl, als könnten ihm jeden Moment die Bodenbretter unter den Füßen weggezogen werden. Die Atmosphäre im Raum war span nungsgeladen und trügerisch. »Wie nennen sie Leute wie mich doch gleich wieder – Not einsatztrottel? Oder Scheißeschaufler?« Hyde konnte sich des Gefühls nicht erwehren, manipuliert zu werden. »Also los, wie sieht es aus?« fragte er aggressiv, die Fäuste in die Seiten gestemmt. Davenhill rieb sich die Nase. »Nur Freiwillige werden ge nommen«, murmelte er schließlich und trat zum Bett. Er setzte sich darauf und beobachtete Wei eine Weile. Als er schließlich zu der Überzeugung gelangt schien, daß der Chinese keinerlei Bedeutung mehr hatte, sagte er: »Wie Sie wissen, stehe ich in Kontakt mit London, mit dem Auswärtigen Amt und unserem Generaldirektor. Natürlich sind beide über den Lauf der Dinge aufs äußerste bestürzt – und dasselbe gilt für die – äh, Enthül lungen, die dadurch an den Tag gekommen sind.« Er deutete mit einer kurzen Kopfbewegung auf Wei. Hyde kreuzte die Arme vor der Brust und lehnte sich an die Wand. Davenhill studierte den Teppich zu seinen Füßen. »Was momentan passiert, paßt eigentlich niemandem so recht«, fuhr er fort. »Offenbar ist mit der zunehmenden Wahrscheinlichkeit, daß das Berlin-Abkommen ratifiziert wird, auch der Wider stand dagegen gewachsen. Peking sah sich natürlich vor allem durch die Tatsache bedroht, daß eine Schwächung des Einflus 302
ses der NATO im Westen der Sowjetunion …« Davenhill breitete seine Hände aus. Es schien, als übte er lediglich eine auswendig gelernte Rede ein und hätte die anderen beiden Männer völlig vergessen. »Wir mußten uns natürlich nach den Amerikanern richten. Das ist auch der Grund, weshalb ich Kenneth auftragen mußte, die Operation abzubrechen. Im Kabinett wird jedoch in letzter Zeit in zunehmendem Maße die Meinung vertreten, daß das Abkommen, indem es unsere Ver antwortung innerhalb der NATO erheblich reduziert, einen etwas fragwürdigen Segen darstellen könnte …« Davenhill sah auf. Shelley nickte übereifrig. Hyde hatte keine Ahnung, wieweit Aubreys Assistent bereits von Davenhill in den Stand der Dinge eingeweiht worden war. »Und?« fragte Hyde gereizt. »Die Premierministerin ist sich des sehr speziellen Verhält nisses zum Präsidenten der Vereinigten Staaten bewußt«, erklärte Davenhill gereizt. »Ebenso ist sie sich der Notwendig keit bewußt, die öffentlichen Ausgaben effektiv zu kürzen. Im Kabinett hofft man nun, infolge eines aus der NATO ausgetre tenen, neutralen Deutschlands und eines Rückzugs der sowjeti schen Truppen nach Polen und der Tschechoslowakei mit einem Schlag den Verteidigungshaushalt reduzieren zu können, und dies schon für das nächste Fiskaljahr.« »Und?« »Aus diesem Grund würden das Auswärtige Amt und ›C‹ bis auf weiteres gern hinsichtlich der allgemeinen Entwicklung auf dem laufenden gehalten werden.« »Und wie soll das in der Praxis aussehen?« »In der Praxis bedeutet das, daß sie es gern sähen, wenn Wild Hunt weiterlaufen würde – inoffiziell, versteht sich.« »Verdammt …« »Ich betone – inoffiziell. Dies ist auch der Grund, weshalb ich mich erst vergewissern mußte, daß Sie die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen würden. Im Augenblick ist Ihr 303
persönliches Engagement unsere einzige Waffe, Hyde. Sie werden sich in Wittenberg mit diesem Agenten, ›Caspar‹, treffen und sehen, was Sie in Erfahrung bringen können. Dar über werden Sie dann Shelley Bericht erstatten. Was Aubrey also vorhatte, wird – zumindest vorerst – durchgeführt.« »Und?« »Das Kabinett wird sich morgen weiter mit dem Fall befas sen, aber selbstverständlich nur im Komitee für Auswärtige Angelegenheiten.« »Sie werden also die Amerikaner auszutricksen versuchen?« »Das hängt davon ab. Die Amerikaner wollen das Abkom men auf jeden Fall verhindern. Wir dagegen könnten unter Umständen daran interessiert sein, daß es zustande kommt. Das ist alles, was ich Ihnen im Augenblick sagen kann.« Davenhill stand auf. Seine Befriedigung, selbst innerhalb des Geheim dienstes einem noch eingeweihteren, geheimeren Zirkel anzu gehören, war offensichtlich. »Sie können sich ja hinsichtlich der Einzelheiten weiter besprechen. Ich muß Sie nun leider verlassen und dafür sorgen, daß der arme Kenneth in das briti sche Militärkrankenhaus in Hannover überführt wird. Ich bin mir sicher, daß Sie in der nächsten Zukunft auf seinen Rat schwerlich werden verzichten können.« »Meine Güte! Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie ihm nicht einmal Zeit lassen, sich ein wenig zu erholen?« »Ich fürchte, nein. Wie er selbst so schön bemerkt hat, spielt die Zeit eine alles überragende Rolle, und sie ist nicht auf unserer Seite.« »Es sei denn, das Kabinett entschließt sich doch noch dazu, die Amerikaner zu unterstützen.« »Ganz richtig. Also viel Glück, Hyde. Shelley …« Davenhill nickte und verließ den Raum. Die Tür schloß sich geräuschlos hinter ihm. »Mein Gott«, hauchte Hyde. Shelley grinste nervös. »Ich habe ihm von Anfang an gesagt, 304
daß Sie trotzdem weitermachen würden. Aber er wollte ganz sichergehen.« Energisch fuhr sich Hyde durchs Haar. »Diese verdammten Politiker!« »Nächstes Jahr sind Wahlen«, murmelte Shelley. »Staatsver schuldung, Arbeitslosigkeit …« »Ich kenne diese Litanei bereits auswendig. Inflation, Kür zung der öffentlichen Mittel. Sie hatten vier Jahre Zeit, um das in den Griff zu kriegen. Und jetzt glauben sie plötzlich, auf ganz einfache und saubere Weise den Kopf aus der Schlinge ziehen zu können.« »Oder das Ganze kann natürlich noch mehr in die Hose ge hen. Wenn wir zum Beispiel unsere Truppen nicht aus Deutschland abziehen können …« »Keine Kürzung des Verteidigungshaushalts, kein Wahl sieg.« Hyde schüttelte heftig den Kopf. »Können Sie ›Caspar‹ denn nicht herausschaffen?« »Leider nicht, Patrick. Er wartet auf eine Verhandlung – we gen Trunkenheit am Steuer. Deshalb wird er unmöglich die nötigen Reisepapiere bekommen. Wäre er nicht Parteimitglied, wäre er vermutlich sowieso ins Gefängnis gewandert. Ich fürchte, Sie müssen in die DDR …« Auf Shelleys Lippen breitete sich ein unerwartetes Grinsen aus. »Stehen Sie auf Camping?« »Nein.« »Schade! Das ist nämlich Ihre Tarnung – eine Campingtour nach Polen. Das wird Ihnen sicher Spaß machen.« Hyde sah Wei an. Der Chinese hörte ihnen halb abwesend zu. »Denken Sie sich nichts weiter bei dem Ganzen. Man hat uns beide benutzt. Aber darin besteht doch letzten Endes unser Job, oder nicht?« Weis Augen blieben geschlossen, sein Gesicht ausdruckslos. Er war eine Figur, die aus dem Spiel gezogen worden war. Diesen Umstand würde er bald voller Dankbarkeit akzeptieren. 305
Er brauchte sich um den weiteren Verlauf dieses Spiels keine Sorgen mehr zu machen. »Gut, aber nicht sehr gut – schlecht, aber nicht sehr schlecht«, bemerkte Petrunin, zu Petya Kominski gewandt, der sich seit der Ankunft des Genossen General Petrunin in seinem eigenen Büro etwas fehl am Platze vorkam. »Das bedeutet, daß wir weiterhin auf keinen Fall lockerlassen dürfen. Wir müssen ihnen dicht auf den Fersen bleiben.« Kominski bemühte sich, seinem Nicken einen unterwürfigen Anstrich zu verleihen. Einoder zweimal hatte er bereits gedacht, Petrunin könnte viel leicht eine gewisse Aufmüpfigkeit unter seiner ergebenen Fassade entdeckt haben. Und Petrunin war nicht gerade je mand, dessen Zorn er auf sich lenken wollte. »Selbstverständlich, Genosse General«, murmelte er. »Letzten Endes war es die Sache wert. Noch vier Tage. Ver wirrung und Orientierungslosigkeit waren das mindeste, was wir von unserer – Intervention erwarten konnten. Ob uns da durch ausreichend Zeit verbleiben wird …« Er zuckte mit den Schultern. »Nun ja, wir werden sehen. Inzwischen möchte ich, daß Hyde und dieser Mann vom Auswärtigen Amt beobachtet und beschattet werden. Kümmern Sie sich darum.« Kominski stand eilig auf und verließ den Raum. Die Wut über diese barsche Entlassung aus seinem eigenen Büro hatte ihn erröten lassen, und er wollte nicht, daß sein Gesicht ihn verriet. Petrunin blickte jedoch auf die offene Akte, die auf dem Schreibtisch lag. Sie war am selben Nachmittag, noch vor seiner Ankunft in Bonn, von einem Sonderkurier in der sowje tischen Botschaft überbracht worden. Sobald die Zentrale in Moskau seinen Überfall auf Aubrey und Buckholz genehmigt hatte, war er von Sydney auf kürzestem Weg nach Frankfurt geflogen. Der Bonner KGB-Rezident hatte dann die Operation in Wiesbaden in die Tat umgesetzt. Petrunin betrachtete sie durchaus als erfolgreich. Die Zentrale in Moskau behielt sich 306
ihre Zustimmung noch vor, bis gewisse Aufräumarbeiten abge schlossen waren. Das war auch der Grund, weshalb Aladkos Akten plötzlich von solcher Wichtigkeit waren. Die Zentrale in Moskau wollte alle Mitarbeiter Aladkos in Spanien während des Zeitraums von Zimmermanns Gefangenschaft eliminieren. Nur um ganz sicherzugehen. Es durfte absolut kein Verbin dungsglied zwischen Zimmermann und dem KGB oder der Kommunistischen Partei geben. Petrunin hatte noch einen anderen Befehl erhalten. Er sollte ein Treffen mit Zimmermann arrangieren, um sich einen Ein druck zu verschaffen, ob der Mann dem auf ihn ausgeübten Druck würde standhalten können – und auch, ob er gewillt war, angesichts der veränderten Umstände weiterzumachen. Während des langen Flugs von Australien bis hierher war Petrunin mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, daß Zimmermann dazu überredet und – wenn nötig – sogar ge zwungen werden sollte, zurückzutreten. Sein Rücktritt, wie riskant er auch sein mochte, würde dem Abkommen eine zu mindest geringe Chance lassen, indem der Hauptangriffspunkt in den Hintergrund trat. Welcher Meinung in diesem Punkt seine Vorgesetzten auch sein mochten, er mußte ein Treffen mit Zimmermann arrangieren. Spanien also. Und Zimmermann. Der Druck nahm von Minu te zu Minute spürbar zu. Petrunin hatte die undankbare Aufga be, die sich überstürzenden Ereignisse so weit unter Kontrolle zu halten, daß das Berlin-Abkommen in den noch verbleiben den vier Tagen unterzeichnet wurde. Alles andere würde in der allgemeinen Euphorie über die Schleifung der Mauer und die Öffnung der Grenze schnell in Vergessenheit geraten. Nach diesen vier Tagen würde sich niemand mehr um das Ganze kümmern – keine Fragen würden gestellt, keine Zweifel erho ben. Er überflog mit raschen Blicken die Akte. Spanien … Wer von diesen Männern war wohl noch am Leben, fragte er sich. 307
Sein Finger fuhr über die Namenliste. Die Seite war eine Foto kopie des alten, fleckigen, oft gefalteten Originals. Liniertes Papier. Die Initialen des NKWD in kyrillischer Schrift. Wie viele würden nach mehr als vierzig Jahren noch am Le ben sein? Ein langer Zeigefinger glitt über die lange Liste von Namen. Spanische Kommunisten, ein paar Amerikaner, Fran zosen – alle in Einheiten der Internationalen Brigade, für die Aladko Leute angeworben hatte. Er hatte alle persönlich ge kannt. Guter Gott, die meisten mußten schon seit Jahren tot sein … Petrunin studierte die Geburtsdaten. Sie standen in der Ko lumne neben dem Zeitpunkt des Eintritts in die Partei. Nein, ein paar mußten noch am Leben sein. Junge Burschen zwi schen achtzehn und zwanzig, Männer zwischen zwanzig und dreißig … Er griff zum Telefon. »Ja, Genosse General?« meldete sich unverzüglich eine Stimme. »Verbinden Sie mich sofort mit dem Rezidenten in Madrid«, ordnete er an. Shelley sah auf seine Uhr. Seit Tagesanbruch war etwa eine Stunde vergangen. Auf der Autobahn zwischen Frankfurt und Kassel herrschte bereits reger Verkehr. Der VW-Campingbus mit Hyde am Steuer kam gut voran. Bis Wittenberg, wo auch ›Caspar‹ war, lagen noch etwa vierhundert Kilometer vor ihm. »Mr. Aubrey ist inzwischen sicher schon nach Hannover un terwegs«, bemerkte Shelley, als Hyde hinter einem Tanklaster auf die mittlere Fahrspur ausscherte. Ein Mercedes ließ die Scheinwerfer aufblinken und überholte auf der Außenspur. Er fuhr sicher über hundertvierzig. Hyde schüttelte neidisch den Kopf. »Der Alte wird’s schon schaffen, Patrick.« »Hoffen wir’s.« »Ich werde ihn in Hannover besuchen, bevor ich nach Lon 308
don zurückfliege. Ich werde ihm Grüße von Ihnen bestellen.« »Das ist einfach ein Scheißjob, finden Sie nicht auch?« »Sicher, aber machen Sie sich keine Sorgen. Aubrey ist außer Gefahr. Er wird rechtzeitig wieder auf dem Damm sein, um …« »Es ist schon ein Jammer, daß dieser ›Caspar‹ nicht heraus kommen – oder sich zumindest sonst irgendwie mit uns in Verbindung setzen kann.« »Das geht auf keinen Fall. Seit wir vor zwei Jahren acht von unseren Leuten verloren haben, weil die Ostdeutschen bessere Abfanganlagen entwickelt hatten, können wir unseren Leuten auf keinen Fall mehr erlauben, über Funk mit uns Kontakt aufzunehmen. Aber regen Sie sich nicht auf, Sie werden da reinkommen und wieder raus, bevor Sie noch lange Zeit zum Überlegen haben.« »Na, wollen wir’s hoffen.« »Sie brauchen nur in Erfahrung zu bringen, was ›Caspar‹ über Zimmermanns Familie und seine Reisen in die DDR herausgefunden hat. Und weshalb er dann plötzlich nicht mehr in die DDR gefahren ist. Sie sind nichts weiter als ein Ku rierein überzeugter Kommunist mit einer Vorliebe für die freie Natur Osteuropas«, fügte Shelley grinsend hinzu. »Was wollen Sie mehr?« »Na ja, immerhin geht es um mein Leben«, bemerkte Hyde, wenig belustigt. Er sah einen Porsche 928 im Rückspiegel, der hinter ihm ausscherte und an ihm vorbeiglitt. Hyde beobachtete ihn so vorsichtig wie einen Feind. Zuerst hatte David Liu angenommen, Frederickson wäre ge kommen, um sich an seiner Niederlage zu weiden. Doch dies schien nicht der Fall zu sein. Die Atmosphäre in der Zelle war unangenehm drückend, und seltsamerweise stand es für Liu völlig außer Zweifel, daß in dieser Beichtszene er der Priester war und Frederickson der reumütig bekennende Sünder. 309
»Wie ist das Wetter draußen?« fragte Liu. Wütend wandte Frederickson sich ihm zu. »Was?« »Das Wetter?« wiederholte Liu. »Gut. Ein warmer Tag.« »Danke.« Frederickson schritt weiter verlegen in der Zelle auf und ab. Er erinnerte an einen Tiger im Zoo. Schließlich sagte er: »Es geht alles aus dem Leim.« »Was?« »Das!« Er fuhr mit den Armen durch die Luft, um damit die Zelle, das Gebäude, in dem sie sich befand, und sogar China selbst zu umschließen. »Alles.« »Und es ist nicht meine Schuld?« fragte Liu mit einer stoi schen Ruhe, die ihn selbst überraschte. »Ihre Schuld?« Frederickson schüttelte den Kopf. Wut und Enttäuschung prägten seine Züge. »Ach was, Buckholz ist tot.« »Was? Wie ist das passiert?« Liu hob überrascht die Brauen. »Warum erzählen Sie mir das?« Ratlos sah Frederickson ihn an. Seine Hände gestikulierten schwach, als wollten sie den Sachverhalt erklären, sanken dann aber schlaff nach unten. Liu vermutete, daß Frederickson ge kommen war, um sich dem einzigen anderen Amerikaner in China anzuvertrauen, der ebensoviel wußte wie er selbst. Und der auch der einzige Mann in China war, der ihm nicht schaden konnte. »Ich …« »Wie ist das passiert?« »Die Leute vom KGB haben ihn erschossen.« »Wo?« »In Deutschland, verdammt noch mal. Sie haben Oberst Wei nach Hause geflogen. Der Engländer, Aubrey – er lebt noch.« »Warum?« »Vielleicht nur, um alles zu versauen?« Frederickson zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Jedenfalls hat es geklappt.« »Wie?« Liu wurde allmählich mit der Rolle des Fragestellers 310
vertraut. Sie verstärkte noch seine Ruhe, die er sich in der Stille und Isolation der Zelle wie einen Schutzpanzer zugelegt hatte. »Langley hält im Augenblick einfach nur still. Sie hoffen wohl, diese Sache durchzuziehen.« Kopfschüttelnd fuhr sich Frederickson durchs Haar. »Mein Gott, ich weiß es auch nicht. Die Chinesen drängen jedenfalls darauf, daß etwas mehr ge schieht.« Er blinzelte zu Liu hinüber. »Nehmen Sie sich in acht, mein Freund. Die Burschen sind ganz schön scharf.« »Sind Sie gekommen, um mich zu warnen?« »Ich bin immerhin für Sie verantwortlich.« »Was ist eigentlich mit Ihnen?« »Mit mir? Ach, mir kann nichts passieren.« »Und Zimmermann? Steckt er in ernsthaften Schwierigkei ten?« »Keine Ahnung. Er ist jedenfalls noch nicht zurückgetreten, soviel weiß ich …« »Und wird er denn zurücktreten?« »Was weiß ich?« »Ich werde rauskommen, wenn er zurücktritt oder das Ab kommen unterzeichnet wird, oder?« Während Liu nun bei dieser scheinbar völlig natürlichen Fra ge anlangte, wurde ihm mit einemmal bewußt, daß er in den Luftballon seiner eigenen Ruhe gestochen hatte. »Schon möglich. Ich weiß nicht, was jetzt passieren wird. Diese Chinamänner quaken alle durch die Gegend, das Ganze wäre Ihre Schuld. Ich werde mich – bemühen, etwas für Sie zu tun, soweit das in meiner Macht steht …« »Vielen Dank, Frederickson.« Trotz seines gelassenen Ton falls konnte Liu seine alte Ruhe nicht wieder heraufbeschwö ren. Der Ballon war endgültig in sich zusammengesackt. Er konnte sich nicht länger mehr etwas vormachen. »Schon gut.« Heftig schlug Frederickson mit der Handfläche gegen die Zellentür, als hätte er es eilig, diesen Ort zu verlassen. Liu 311
schluckte. Seine Ruhe war dahingeschwunden, und an ihre Stelle war Angst getreten. Staub, der Gestank von Auspuffgasen. Das Häuschen mit den kahlen Fenstern, die lange Schlange von Autos und Lastern. Die kurze Phase der Stille, bevor jeder einzelne Wagen die Erlaubnis zum Weiterfahren erhielt. Das Geräusch von Türen, Tritte. Die Gewehre und Maschinenpistolen, die Uniformen. Die Förmlichkeit. Hyde hatte Shelley nach Braunschweig gebracht, wo ihn be reits ein SIS-Mann erwartete, um ihn nach Hannover zu Au brey zu fahren. Auf der E8 zur Grenze in Helmstedt war Hyde dann gut vorangekommen. Nun stand er bereits zwanzig Minu ten in der langen Schlange von Autos, die in die DDR einreisen wollten. Während der Fahrt von Wiesbaden nach Braunschweig hatte Shelley ihn hinsichtlich seiner Tarnung instruiert. Mitglied der Kommunistischen Partei, ehemals an der Universität politisch aktiv, Gewerkschaftssekretär, Teilzeitlehrer, Demonstrant – zweimal verhaftet und verurteilt – und ein begeisterter Besu cher Osteuropas. Hyde verspürte kaum Aufregung, als er die Grenze überquer te. Diese Indifferenz entsprang jedoch weniger seiner Müdig keit als der Tatsache, daß er sowieso nur Kurierdienste würde verrichten müssen, da Agent ›Caspar‹ auf eine Verhandlung wegen Trunkenheit am Steuer wartete und deshalb nicht in die Bundesrepublik ausreisen konnte. Außerdem war seine Tar nung sehr gründlich und praktisch unanfechtbar. Seine Angst und seine wachsende Wut richteten sich mehr gegen Davenhill und Whitehall als gegen ›Caspar‹, die DDR oder die CIA. Schließlich war inzwischen eine Antwort verfügbar. Zimmer mann war kein KGB-Agent und war auch nie einer gewesen. Das Ganze war nur ein Komplott der Amerikaner und Chine sen. Er mußte jetzt nur Hintergrundinformationen zur Person 312
Zimmermanns beschaffen, die sich vielleicht noch als wichtig erweisen konnten und Aubreys Wahrheitsdurst befriedigen würden. Und nicht zuletzt stand Aubrey ja auch tief in Zim mermanns Schuld. Dann mach es für Aubrey, redete er sich ein. Nicht für Da venhill und Whitehall, sondern für Aubrey. Das Gesicht des Postens erschien am Fenster des Camping busses. Seine Mütze war mit einem roten Streifen versehen. Grenzpolizei. Seine Augen musterten Hyde. »Ihre Papiere.« Er hielt die Hand zu dem offenen Fenster hoch. Hyde unterdrückte ein Gähnen. Plötzlich nahmen die Lippen des Grenzpostens einen verkniffenen Zug an. Hyde hatte bereits begonnen, sich in seiner Rolle wohl zu fühlen. Er reichte seinen abgegriffenen Paß und die gefälschten Visa nach draußen. »Aussteigen!« befahl der Grenzposten, während er den Paß studierte. »Was ist denn nicht in Ordnung?« fragte Hyde in überrasch tem, leicht nörgelndem Ton. »Aussteigen! Fahrzeug durchsuchen!« Zwei Soldaten einer Grenzschutzeinheit traten auf den Bus zu, während Hyde aus dem Führerhaus kletterte. Seine verbli chenen Jeans und sein zerknittertes kariertes Hemd, das ihm zum Teil aus der Hose hing, belustigte die Posten offensicht lich. Der Offizier betrachtete ihn voller Verachtung. »Was stimmt denn nicht?« fragte Hyde noch einmal und füg te diesmal hinzu: »Genosse …« Das Gesicht des Offiziers spiegelte unverhohlenen Argwohn wider. »Sie sind viel unterwegs, Mr. Haynes. Vor allem in Ländern des Warschauer Pakts?« »Ganz richtig, Genosse.« Hyde hörte, wie die zwei Grenzposten die Campingausrü stung im hinteren Teil des Volkswagens durchstöberten. Sie klapperten mit den Töpfen und dem Geschirr, entfalteten Bett zeug und Kleider, öffneten das auf engem Raum verstaute, 313
sorgfältig zusammengelegte Zelt. Es war höchst unwahrschein lich, daß sie auf die Waffe oder die anderen Papiere stoßen würden. Darauf zielte diese Durchsuchung gar nicht ab. Eine reine Schikane. »Wieso bedienen Sie sich immer noch dieser Anredeform?« »Wir sind doch alle Genossen innerhalb der Partei«, erwider te Hyde mit einem eulenhaften Blinzeln. Seine Stimme war ein etwas prekäres Gemisch aus Stolz, Respekt und Selbstgerech tigkeit. Er war durchaus zufrieden mit ihrem Tonfall. »Vielleicht …«, gestand der Offizier schließlich zögernd ein. Offensichtlich schien ihm nicht daran gelegen zu sein, mit diesem Touristen, dessen Papiere er gerade inspizierte, etwas gemein zu haben. »Herr Leutnant?« Einer der Posten erschien hinter dem Bus. Er hielt einen Aktenordner in der Hand. »Sehen Sie, Herr Leutnant.« Gut, sie hatten ein Album gefunden. Der Offizier überflog die Seiten mit den Zeitungsausschnitten und Fotos. Das Sammelalbum Haynes’ fiktiver politischer Laufbahn mit den eingeklebten Beweisen seines staatsgefähr denden Charakters war ein kleines Kunstwerk für sich. »Warum schleppen Sie das mit sich herum?« fuhr ihn der Offizier an, zugleich verwirrt und neugierig. »Ach, das gibt guten Gesprächsstoff«, erklärte Hyde fröhlich. Er rückte einen Schritt näher an den Offizier heran. »Sie gestat ten, Genosse?« fragte er einschmeichelnd und begann in dem Ordner zu blättern. Ein grobkörniges Bild der amerikanischen Botschaft, der Polizeikordon davor von der Menge zurückge drängt. »Das war ein großer Tag, Genosse«, verkündete er stolz und tippte mit dem schmutzigen Nagel seines Zeigefingers auf die Transparente. Sie forderten die Beendigung des Vietnam kriegs. Ein anderes sprach sich gegen den Einsatz von Na palmwaffen aus. Auch ein von einem Galgen baumelnder Nixon fehlte nicht. »Sie kann ich darauf aber nicht sehen«, stichelte der Offizier. 314
»Leider nicht.« Er überflog ein paar Seiten. »Hier – hier bin ich zu sehen.« Er deutete auf ein Foto. Eine Reihe bekannter Gewerkschaftsführer, und hinter ihnen – ein Gesicht in der Menge – Hyde-Haynes. Das Foto war echt. Hyde hatte an dieser Veranstaltung absichtlich teilgenommen und sich in die Nähe von Shirley Williams und anderen promi nenten Linken gedrängt, um seine Tarnung als Haynes zusätz lich zu untermauern. »Ja, tatsächlich. Auf dem Foto sehen Sie allerdings noch jün ger aus«, bemerkte der Offizier mit beißender Ironie, um Hyde den Ordner dann mit übertriebener Gleichgültigkeit zurückzu geben und sich wieder dessen Papieren zuzuwenden. »Dieses Transitvisum ermächtigt Sie nur zu einem eintägigen Aufent halt in der Deutschen Demokratischen Republik. Sie müssen bereits morgen die polnische Grenze überqueren.« »Machen Sie sich keine Sorgen, Genosse, das werde ich tun.« Der Offizier gab Hyde seine abgegriffenen Papiere zurück und rieb sich dann die Finger, als wollte er den Schmutz davon entfernen. Er warf den beiden Posten, die inzwischen neben dem Bus standen, einen Blick zu. Einer von den Männern schüttelte den Kopf. »Sie können losfahren.« »Danke, Genosse«, verabschiedete Hyde sich mit einem ver traulichen Lächeln. Ohne seine Verachtung zu verbergen, drehte der Offizier sich um und ging zu dem Lastwagen, der hinter Hyde wartete. Hyde stieg ein und fuhr los. Er mußte grinsen, als der Schlagbaum vor ihm hochging. Wittenberg und ›Caspar‹ lagen nun nur noch hundertdreißig Kilometer vor ihm. Er würde den Campingplatz am frühen Abend erreichen. »Gut, Kominski. Das nenne ich gute Nachrichten.« »Warum, glauben Sie, ist er in die DDR gereist?« 315
Seufzend nahm Petrunin seine Brille ab. »Zimmermanns Hin tergrund. Allerdings habe ich keine Ahnung, was er über ihn in Erfahrung zu bringen hofft. Wir wissen allerdings, was er herausfinden wird …« »Wird es ihnen weiterhelfen?« »Das hängt ganz von ihren Motiven ab.« »Ich werde ihn aufgreifen lassen …« »Nein, noch nicht. Sehen wir erst, mit wem er sich trifft. Dann können wir ihn immer noch früh genug schnappen. Viel leicht erwischen wir auf diese Weise einen ihrer Agenten – wenn wir Glück haben, sogar mehr als einen. Wir werden bis morgen warten. Morgen sind Mr. Hyde und unser Freund Zimmermann geliefert. Wir werden warten.« 12. ›Caspar‹ Das britische Militärhospital am Stadtrand von Hannover schien fast verlassen zu sein. Die Regierungen Großbritanniens und der Bundesrepublik waren übereingekommen, daß das Krankenhaus nach Abzug der letzten britischen Truppen aus Deutschland in deutschen Besitz übergehen und als Zivilkran kenhaus dienen sollte. Im Augenblick herrschte dort jedoch noch kasernenartige Ruhe und Ordnung. Peter Shelley stieg aus dem Wagen, der ihm vom General konsulat in Hannover zur Verfügung gestellt worden war, und ging die Stufen zum Haupteingang hoch. Ein Wachtposten – er war vermutlich Aubreys wegen aufgestellt worden – inspizierte seinen Paß und hielt ihm dann die Tür auf. Die Eingangshalle roch nach Desinfektionsmitteln. Der Bau wirkte ausgestorben. Sechzig Prozent der britischen Truppen in Deutschland waren bereits abgezogen worden. Shelley bedrückte das Geräusch seiner Tritte, die in dem menschenleeren, blank polierten Kor ridor laut widerhallten. 316
Aubrey lag, einen Tropf am Unterarm befestigt, aufgerichtet in seinem Bett. Die Laken wölbten sich über sein verletztes Bein. Er war frisch rasiert und sah sehr alt aus. Shelley konnte sich nicht vorstellen, daß dieses Aussehen nur auf die Medika mente zurückzuführen war, die ihm verabreicht worden waren. Langsam öffnete Aubrey die Augen, um zu sehen, wer ihn besuchte. »Sir?« Shelley trat neben das Bett. »Wei?« erkundigte sich Aubrey und tätschelte leicht Shelleys Hand, die auf der Bettdecke ruhte. »In Sicherheit«, erwiderte Shelley. »Er befindet sich in Schutzhaft. Ich fürchte, er ist am Ende, Sir.« »Ach«, bemerkte Aubrey ohne sonderliches Interesse. »Wie geht es Ihnen, Sir?« Shelley setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand. »Es geht so. Ich – nehme an, der amerikanische Arzt hat mir die Kugel durchaus sachkundig entfernt, und auch sonst …« Aubrey schien mitten im Satz seine Kräfte zu sammeln, aber dann versagte ihm trotzdem die Stimme. Seine Konzentration nahm ab. »Das ist gut«, erwiderte Shelley in begütigendem Tonfall, was Aubrey plötzlich in Wut brachte. »Ich liege noch keineswegs im Sterben!« schimpfte er. »Entschuldigung, Sir …« »Ich – ich kann mich immer nur für kurze Zeit konzentrieren. Ich bin sehr müde und ausgelaugt. Haben Sie also bitte etwas Geduld mit mir.« Shelley räusperte sich. »Hyde ist bereits über die Grenze.« »Wie werden Sie ihn wieder herausbekommen?« »Er hat noch einen zweiten Paß dabei. Wenn alles klappt, kann er morgen schon wieder zurück sein.« Aubrey nickte. Die Anstrengung schien ihn zu ermüden. Er schwieg eine Weile, bis er schließlich fragte: »Warum ist er überhaupt losgefahren?« Seine Augen wirkten sehr hell und 317
wach. »Haben Sie und Davenhill …?« »Wir müssen weitermachen, Sir. Es könnte sein, daß – die Regierung gern Zimmermanns Unschuld bewiesen haben möchte.« Aubrey schwieg lange. Bis auf den Atem des alten Mannes war es still im Raum. Die Krankenhausgerüche deprimierten Shelley. Er versuchte es zu vermeiden, Aubrey anzusehen und dessen Alter und Gebrechlichkeit zu erkennen. Schließlich sagte Aubrey ruhig: »Ich verstehe. Es würde eine Menge Geld kosten, die Uhr wieder zurückzustellen …« Er seufzte, als hätten die letzten Ereignisse seine schwachen Energiereserven überfordert. Aber dann fügte er energischer hinzu: »Also gut. Wir werden tun, wie unsere Brotgeber aus der Politik verlangen. Wir werden beweisen, daß Wolfgang Zimmermann zu Unrecht verdächtigt wurde.« Aubrey lächelte, scheinbar außerordentlich zufrieden. Das überraschte Shelley. Offensichtlich verschloß er unter dem Einfluß des Schocks, der Schmerzen und der Beruhigungsmittel vor allem anderen die Augen, was sich nicht auf seine Wiedergutmachungsversuche gegenüber Zimmermann bezog. Shelley konnte sich eines Gefühls der Enttäuschung über sei nen Vorgesetzten nicht erwehren. Er hatte moralische Entrü stung erwartet. Aber vielleicht wäre das zuviel verlangt gewe sen. »Ja, Sir«, erwiderte er ernst. »Sie benutzen uns, wie sie das eben gelernt haben.« Aubrey tätschelte besänftigend Shelleys Hand. Seine Fingerspitzen waren voller Energie. »Zumindest befiehlt man uns nicht zu morden, Peter.« Er ermutigte Shelley zu einem Lächeln. »Ich habe immer gewußt, daß etwas damit nicht gestimmt hat!« fügte er mit kurz aufflackerndem Ärger hinzu. »Etwas an der Sache war einfach faul. Ich war nie überzeugt …« Seine Stim me wurde schwächer, und in seine Augen trat ein feuchter Schimmer. »Der arme Charles. Er hat es nicht verdient, so zu 318
sterben. Das war einfach auf kriminelle Weise dumm und gefährlich von seiten Petrunins. Schon allein aus diesem Grund sollte diesem Mann das Handwerk gelegt werden.« Er betrach tete Shelley prüfend. »Und Sie, Peter? Was haben Sie als näch stes vor?« »Erst fliege ich nach London, und dann werden wir uns wohl ein wenig mit Spanien befassen …?« Aubrey nickte. »Wir brauchen einen Überlebenden – jemanden, der damals dabei war – jemanden aus Spanien. Wann wird eigentlich im Kabinett eine endgültige Entscheidung gefällt werden?« »Morgen.« Aubrey überlegte kurz und sagte dann: »Ich will die Wahrheit herausfinden, Peter. Ganz gleich, wie die Entscheidung unserer politischen Herren lauten mag, ich muß die Wahrheit finden. Ich habe Wolfgang Zimmermann noch eine erhebliche Schuld zurückzuzahlen.« »Sie wollen sich eventuell über die Entscheidung der Regie rung hinwegsetzen?« fragte Shelley. »Wenn nötig, werde ich Hyde seine Befehle erteilen. Wenn sich Ostdeutschland als ein Schlag ins Wasser erweisen sollte, werde ich ihn nach Spanien schicken. Aber sagen Sie mir, wie stehen die Dinge hier im Augenblick?« »Nicht gut. Sie haben zur Hetzjagd auf Zimmermann gebla sen. Bei der letzten Meinungsumfrage ist Vogel um weitere sechs Prozent zurückgefallen. Inzwischen liegt er zwei Prozent hinter den Christdemokraten. Es sieht also keineswegs rosig aus.« Aubrey zuckte mit den Schultern. Der Plastikbehälter seines Tropfs baumelte hinter seinem Kopf leicht hin und her. Er schloß für einen Moment die Augen. »Dann könnte es also klappen. Aber das ist letztlich nicht unser Problem. Es kann sehr gut sein, daß das Abkommen nicht unterzeichnet wird. Daran werden wir nichts ändern können. Aber …« Er packte Shelley am Handgelenk. »Zimmermann und Vogel haben es 319
nicht verdient, auf diese Weise zu Fall gebracht zu werden. Zumindest so weit sollten wir es auf keinen Fall kommen lassen.« »Jawohl, Sir.« »Dann machen Sie schon mal zu. Fliegen Sie nach London, und versuchen Sie, bis morgen zurückzukommen.« »Ich werde es versuchen, Sir.« Shelley stand auf. Sein Stuhl rutschte leise quietschend über das blaue Linoleum zurück. Aubreys Augen waren wieder geschlossen. Als Shelley die Tür öffnete und aus dem Zimmer treten wollte, hörte er Aubrey etwas murmeln. Er blieb kurz stehen, ging dann aber endgültig hinaus, mit gesenktem Kopf, als schämte er sich. Vielleicht befand Aubrey sich wieder im Delirium. »Politik ist nicht Sache der Geheimdienste – Geheimdienst arbeit ist nicht Sache der Regierungen. Diese zwei Arme der Exekutive – offen und geheim – dürfen auf keinen Fall ver mengt werden. Sie dürfen sich nicht überschneiden …« In Shelleys Ohren klang dies altmodisch, veraltet und ana chronistisch. Es war alles, was Aubrey repräsentierte und glaubte. Er rezitierte diese Sätze wie eine Passage aus seinen Memoiren oder eine Einführungsvorlesung für Rekruten. Er schien nicht mehr so wild entschlossen zu sein, die reale Welt zu bewohnen, wie zuvor. Ein Rückzugsversuch vielleicht? Shelleys Schritte hallten unheimlich in den leeren Gängen des Militärhospitals wider. Der Campingplatz lag acht Kilometer südwestlich von Witten berg an einem kleinen See. Er war fast militärisch sauber und ordentlich und verfügte über hervorragende sanitäre Anlagen. Obwohl er fast voll war, fand Hyde ohne weiteres noch einen Platz. Auch die Segel der kleinen Jollen auf dem von Bäumen gesäumten See wirkten ordentlich. Sie rundeten das Bild der friedlichen Szene ab. 320
Hyde stellte den VW-Bus am Seeufer ab. Aus dem Chaos, das die Posten an der Grenze hinterlassen hatten, holte er das Zelt hervor und baute es mit einer Geschwindigkeit auf, die eher auf seine Eile als auf seine Erfahrung in solchen Dingen zurückzuführen war. Nachdem er auch das Kochgeschirr aus dem Fond des Wagens geräumt und neben der ihm zugewiese nen Feuerstelle aufgereiht hatte, sah er auf die Uhr. Es war halb sechs Uhr abends. Er wischte sich die Hände an seinen Shorts ab und stieg wieder in den Bus. Zwei Minuten später bog er auf die Hauptstraße nach Wittenberg ein. Er hatte auf den Cam pingplatz fahren müssen, um sein Transitvisum abgestempelt zu bekommen und nicht aus seiner Rolle zu fallen. Wenn seine Papiere nun inspiziert werden sollten, konnte er zumindest für diese Nacht eine Unterkunft vorweisen. Auf den Straßen herrschte kaum Verkehr, so daß er das Zen trum der alten Stadt schnell erreichte. Auf dem immer noch gepflasterten Hauptplatz standen gegenüber einer herunterge kommenen gotischen Kirche, die in ein Museum umgewandelt worden war, die Tische und Stühle eines Cafés. Hyde parkte den VW-Bus so, daß er vom Café aus gesehen werden konnte, und wartete. Vom Rathaus und den Kirchen schlugen die Glocken die Zeit. Sechs Uhr. ›Caspar‹ sollte um sechs kom men. Wenn er etwas von seinem Geschäft verstand, war er bereits an Ort und Stelle, irgendwo hinter der Anonymität aus weißem Tischtuch, Bier und Zeitung, um nach ihm Ausschau zu halten und nach irgendwelchen unliebsamen Begleitern. Träge kurbelte Hyde das Seitenfenster ganz herunter. Ein rundes, rosafarbenes Gesicht starrte ihm entgegen. Ein ange nehmes, noch nicht richtig ausgebildetes, scheinbar altersloses Gesicht. »Würden Sie bitte die Tür auf der anderen Seite auf machen?« Hyde beugte sich auf die Beifahrerseite hinüber und zog den Knopf heraus. ›Caspar‹ stieg ein und strich sich die Hose sei nes leichten Anzugs glatt. Er war auffällig gut gekleidet. Er 321
betrachtete Hyde kurz und schien sich über dessen etwas zer zaustes Äußeres zu amüsieren. »Tut mir leid«, bemerkte Hyde. »Ich hätte mich wohl etwas in Schale werfen sollen.« »Fahren Sie doch ein bißchen durch die Gegend.« Hyde drückte den Anlasser und ordnete sich in den Verkehr ein. ›Caspar‹ strich sein blondes Haar glatt und kurbelte trotz des warmen Abends sein Fenster hoch, damit der Fahrtwind seine Frisur nicht durcheinanderbrachte. »Haben Sie irgend etwas für mich?« fragte Hyde, als sie an einer Ampel halten mußten. »Ich denke schon. Die üblichen Abmachungen? Ich habe kei ne Ahnung, wann ich endlich von hier weg kann. Ich muß noch auf diese verdammte Verhandlung warten. Tut mir leid, daß Sie deswegen die weite Reise machen mußten.« ›Caspars‹ Englisch war so gestochen scharf und vornehm, daß Hyde allein der Stimme nach einen Mann erwartet hätte, der einer noch früheren Generation angehörte als Aubrey. »Die üblichen Vereinbarungen«, bestätigte Hyde, um hinzu zufügen: »Nächstes Jahr wird es wohl nichts mehr mit dem Geld sein, was?« ›Caspar‹ lächelte. »Täuschen Sie sich nicht! Alle werden sie noch über Jahre hinweg an uns interessiert bleiben – einfach nur, um sich auf dem laufenden zu halten, was sich im verein ten Deutschland so tut. Dann werden sie nämlich vor allen Leuten Geheimnisse haben, und alle werden natürlich entspre chend neugierig sein.« Mit einem Lächeln strich er sich wieder das Haar zurecht, das durch den Luftzug durch Hydes Fenster in Unordnung gebracht worden war. »Haben Sie etwas über Zimmermann in Erfahrung ge bracht?« fragte Hyde und sah kurz in den Rückspiegel. Kaum Verkehr. Sie wurden offensichtlich nicht beschattet. »Der übliche Bonus?« wollte ›Caspar‹ wissen. »Der übliche Bonus«, antwortete Hyde. 322
»Großartig. Ich verstehe gar nicht, weshalb die Engländer in dem Ruf stehen, so schlecht zu zahlen. Ich kann mich keines wegs beklagen. Außerdem sind sie wesentlich weniger grob und unverschämt als die Amerikaner.« Er betrachtete seine Fingernägel. Die Statue war ein sowjetisches Kriegerdenkmal. Häßlich, bedrohlich – eher den Krieg fordernd als zum Frieden mah nend. Hyde umfuhr es und lenkte den Bus in eine andere, von grauen Wohnblöcken gesäumte Straße. Er nahm an, daß die farbigen Balkonverkleidungen auf bessere Wohnungen oder einen höheren gesellschaftlichen Rang ihrer Bewohner hinwie sen. »Und was haben Sie über ihn herausgefunden?« »Wissen Sie, der Verwaltungsapparat hier ist sehr straff or ganisiert und in strikt voneinander gesonderte Abteilungen untergliedert. Aber aufgrund meiner Position war es mir zum Glück möglich, mir Zugang zu den nötigen Dokumenten zu verschaffen.« ›Caspars‹ grüne Augen leuchteten vor Genug tuung. »Die Familie Zimmermann war ehemals ziemlich reich. Gar nicht so dumm von ihm, sich auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs niederzulassen. Jedenfalls hätte man für Leute wie ihn hier nicht viel übrig gehabt. Wie nicht anders zu erwarten, ist der Familienbesitz nun ein Kollektiv.« »Was ist mit der restlichen Familie?« »Alle tot – schon seit langem. Die beiden Brüder sind im Krieg gefallen, der eine in Nordafrika, der andere 1944 in Frankreich an der Westfront.« »Und was ist mit der Schwester? Da war doch auch eine Schwester.« ›Caspar‹ schürzte enttäuscht die Lippen. »Jetzt haben Sie mir meine Überraschung verdorben.« »Was ist mit der Schwester?« »Sie war der Grund für seine Besuche in der DDR, die in den fünfziger Jahren ihren Anfang nahmen und schließlich 1967 323
aufhörten. Es handelte sich dabei um regelmäßige Besuche, die von den Behörden genehmigt wurden …« »Was wollte er hier?« »Natürlich seine Schwester sehen.« »Mit ihr konnten sie ihn also unter Druck setzen …?« begann Hyde. Wilde Gedanken schossen durch seinen Kopf. Wenn also trotzdem etwas an den Anschuldigungen war … »Ich nehme an, ja. Aber ich hätte das eigentlich nicht gedacht …« »Warum hat er dann nicht versucht, seine Schwester in den Westen zu bringen?« »Es dauerte Jahre, bis er sie überhaupt ausfindig machte.« »Was?« Ein kleiner Park mit einem Spielplatz – Kinder auf den Schaukeln und Klettergerüsten – ein bellender Hund –, auf der anderen Seite der Pflasterstraße und der Trambahnschienen eine Reihe von kleinen, schäbigen Privatläden. »Und als er sie fand, konnte er sie nicht herausholen.« »Wie ich bereits gesagt habe …« »Entschuldigen Sie, aber ganz so ist es nicht. Er wollte das auch gar nicht, und für sie hätte es kaum einen Unterschied gemacht.« »Wie das?« »Sie hätte die Ortsveränderung vermutlich kaum bemerkt.« »Jetzt hören Sie mal. Ich verstehe ja inzwischen, daß Sie sich gern etwas mysteriös ausdrücken, aber haben Sie eigentlich auch irgendwelche Tatsachen, mit denen Sie aufwarten kön nen?« »Tatsache ist«, verkündete ›Caspar‹ großspurig, »daß Zim mermanns Schwester hoffnungslos geistesgestört war. Das ist nicht weiter ungewöhnlich, da sie vermutlich Opfer einer Mas senvergewaltigung durch die Russen wurde. Ich habe zwar ihre Krankengeschichte nicht zu Gesicht bekommen, so daß ich in diesem Punkt auf meine Vermutungen angewiesen bin … 324
Jedenfalls wurde sie hier für Jahre in einer Anstalt wegge schlossen – praktisch so gut wie tot. Und dann hat sie Ihr Herr Zimmermann schließlich doch ausfindig gemacht. Das Ganze dürfte ihn einiges Geld gekostet haben, aber …« »Ja, was aber?« »Ein erfolgreicher Geschäftsmann mit politischen Ambitio nen? Und eine geisteskranke Schwester? Nicht gerade die beste Publicity, hm?« »Sie meinen, er hat sie hier gelassen?« »Ja, dreizehn Jahre, nachdem er sie gefunden hatte. Vielleicht war das letzten Endes sowieso das Humanste. Mit der guten Frau war ja auch wirklich nichts mehr anzufangen. Ein ziem lich umfangreicher Gehirnschaden, sowohl im physiologischen wie im emotionalen Sinn. Eigentlich wartete sie nur noch aufs Sterben. Die Mutter ist übrigens zum gleichen Zeitpunkt ge storben, als das mit ihrer Tochter passierte … Ein Zufall?« ›Caspar‹ zuckte mit den Schultern, während sie gerade unter einer Eisenbahnbrücke hindurchfuhren. »Ich bitte Sie, aber sie war immerhin seine Schwester!« »Darüber ließe sich streiten. Jedenfalls ist sie 1967 gestorben, und damit nahmen auch Zimmermanns Besuche ein Ende.« »Aber es hätte doch sein können …« Auf der Straße war kein verdächtiges Auto zu sehen. Eine Weile war ihnen ein brauner Wartburg gefolgt, der jedoch irgendwann doch in eine andere Straße abgebogen war. ›Caspar‹ schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Zimmer mann – dessen bin ich mir aufgrund der Regelmäßigkeit seiner Besuche und anderer Einzelheiten sicher – hat hier so viel Geld unter die Leute gebracht, daß man ihn in keiner Weise kom promittiert hätte. Dafür war er einfach eine zu gute Einnahme quelle.« Hyde verdaute diese Information. Zimmermanns Verhalten erschien ihm zwar keineswegs korrekt, aber als kriminell oder hinterhältig konnte er es auch nicht bezeichnen. Nein, wenn 325
überhaupt, mußte die Lösung 1938 in Spanien zu finden sein. »Mann, Sie hier in Wittenberg versauern zu lassen, ist ja die reinste Verschwendung.« »Ich weiß. Vielleicht klappt es nächstes Jahr … Viele meiner Vorgesetzten beneiden mich um meinen Geschmack, was meine Kleidung, meine Möbel, meinen Weinkeller und meine Ehelosigkeit betrifft. Ich habe nicht wenige Feinde, aber am Ende werde ich doch den Sieg davontragen.« »Sind Sie sicher, daß die Schwester tot ist?« »Biegen Sie dort vorn links ab. Ich werde Ihnen ihr Grab zei gen. Ich fürchte zwar, daß es nicht besonders gepflegt ist. Er kümmert sich nicht mehr um sie – genau, hier nach links, dann jetzt immer geradeaus.« Das zweite von vier Autos, die Hyde nach einem komplizier ten, ständig wechselnden System verfolgten, bog fünfzig Meter hinter dem Camping-Bus in die Geschäftsstraße ein. Trotz seiner Schmerzen war sich David Liu der präzisen, fast aseptischen Natur der Schläge bewußt, die er bekommen hatte. Sie wollten herausfinden, wie viel Meng ihm erzählt hatte, zu welchen Schlüssen er gelangt war, was er sonst noch in Erfah rung gebracht hatte. Und Liu würde ihnen nichts sagen. Trotz seiner Schmerzen und trotz seiner Angst schwieg er beharrlich. In einem Univer sum bar jeder Loyalität klammerte er sich plötzlich mit bisher unbekannter Leidenschaftlichkeit an seine neu entdeckte Loya lität gegenüber Meng. Mit verdrehtem Kopf – aus dem Mund floß ihm mit Blut vermischter Speichel – lag Liu auf dem dünnen, harten Teppich des Büros im dritten Stock mit dem vergitterten Fenster. Er vermutete, daß seine Nase gebrochen war. Rippen und Rücken waren übel mitgenommen. Die röhrenförmigen Ledertotschlä ger, mit denen sie ihn bearbeitet hatten, waren treffende Sym bole ihrer Verachtung, ihrer klinischen Exaktheit und ihres 326
Mangels an persönlicher Feindseligkeit. Rasch und fast, als wäre es ihnen unangenehm, ihn zu berüh ren, wurde er hochgezerrt und auf einen Stuhl gesetzt, in dem er zusammensackte, als wäre sein Rückgrat gebrochen. Seine Beine standen in ungewohntem Winkel vom Körper ab. Die Hände und Arme hingen ihm herab, als wäre er eine Marionet te, der man die Schnüre gekappt hatte. Er war sich nicht mehr sicher, wie viele Leute im Raum waren. Zwei Männer mit Totschlägern? Ein Mann mit einem Notizblock und einem kleinen Tonbandgerät? Ja, es war ihm aufgefallen, als sie ihn aus seiner Zelle in das Büro gebracht hatten. Und dann der Mann, der sie auf der Fahrt vom Flugplatz in die Stadt begleitet hatte. Er hatte am Fenster gestanden. Die zwei Männer, die ihn geschlagen hatten, waren ganz plötzlich in das Büro getreten – auf ein Signal hin, das ihnen durch einen Knopf unter dem Schreibtisch übermittelt worden war? Er schüttelte stöhnend den Kopf. Das Blut aus seiner Nase und aus seinem Mund tropfte auf seine Hose und auf den Tep pich vor seinem Stuhl. Das Verhör war mehr oder weniger Formsache gewesen, damit man zu den Schlägen übergehen konnte. Vermutlich würden sie Meng sowieso töten. Aber nicht, weil er Meng verraten hatte. Das wollte er auf keinen Fall. Meng sollte nicht seinetwegen sterben. Die Schläge waren eine eiskalte, wütende Reaktion auf die Art und Weise, wie sich die CIA in dieser Operation verhalten hatte. Wie war doch gleich wieder ihr Deckname? Irgend etwas mit Tiger? Ach ja, Jade Tiger. Liu spuckte in seine Hand. In der kleinen Pfütze aus Blut und Speichel waren auch Zahnsplitter zu erkennen. »Bringen Sie ihn zurück«, hörte er jemanden in Mandarin sagen. Er wurde hochgezerrt und nach vorn gezogen, so daß seine Knie einknickten und seine Zehen durch den Raum schleiften. Er drehte den Kopf herum, aber er konnte den Mann, der sie 327
am Flughafen abgeholt hatte, nicht richtig erkennen. Sein Gesicht war nur ein verschwommener weißer Fleck. Ein Schat ten bewegte sich in der Ecke des Raums – der Mann mit dem Notizblock? Die Tür ging auf, und er wurde hindurchgezerrt. Er stolperte erst ein paar Schritte dahin, bis es ihm schließlich leichterfiel, sich von den beiden Männern tragen zu lassen. Seine Zehen schleiften über den Boden. Die Treppe hinunter schmerzten sie schrecklich, aber er schaffte es nicht, auf eige nen Beinen zu stehen und zu gehen. Ein Korridor glitt an ihm vorüber, gelbe Wände. Gesichter starrten ihn an. Die Dielen des Holzfußbodens schossen unter ihm hindurch. Tot. Er bildete den Gedanken mit großer Klarheit und großer An strengung. Er war tot. Ganz gleich, was er ihnen hinsichtlich Mengs sagen oder nicht sagen würde, am Ende würden sie ihn doch töten. Er war völlig bedeutungslos geworden. Er war von keinerlei Wert mehr. Er war zu einer Voodoopuppe geworden – etwas, dem man weh tat, so daß sich die Schmerzen auf diejenigen übertrugen, nach deren Bild er geschaffen worden war. Er war ein Amerikaner. Voodoopuppe. Nadeln, Totschlä ger, Kugeln, Messer … Kühle Luft? Von woher war die kühle Luft gekommen? Sie mußte durch eine Tür gedrungen sein, die ins Freie führte. Das war eine andere Kühle gewesen als die im Korridor, an dem die einzel nen Zellen lagen. Gelbe Wände, Stufen, grüne Wände, Tep pich, Teppich, Teppich …? Die Zellentür wurde aufgestoßen und Liu hindurchgescho ben. Er stürzte gegen das Bett, die Hände darauf abgestützt, die Knie auf dem Boden. Er krallte seine Finger in die dünne Matratze, als versuchte er die Eindrücke der letzten Sekunden gewaltsam am Entweichen zu hindern. Teppich, Teppich, Teppich, Teppich … 328
Eine kleine Tür, dunkles, fast schwarzes Holz – der weiße Fleck eines Gesichts über einem dunklen Anzug – irgend et was, das hereinkam, Dunkelheit dahinter, das Geräusch eines Wagens … Kalte, frische Luft mit einem ganz leichten Benzin geruch, bevor man ihn bereits zu weit den Gang hinunterge zerrt hatte. Draußen – draußen – Flucht …? Die Telefonnummer der britischen Botschaft. Peking wie ein Stadtplan in seinem Kopf. Er wandte sich um. Das Licht über ihm glühte, bewegte sich, pulsierte, wurde größer. Er ließ sich zu ihm hochziehen, und es kam auf ihn zu – die dunklen Ränder seines Bewußtseins falte ten sich nach innen, hüllten ihn in der Finsternis ein. Flucht …? Er mußte … Oder tot. Tür. Nach – draußen … Er versank in Bewußtlosigkeit. Das Café leerte sich langsam. Der Ansturm der Feierabendgä ste hatte sich wieder gelegt. Daher erblickte Zimmermann den Russen, kaum daß er den länglichen, hohen Raum betreten hatte und sich zwischen den Tischen und Stühlen hindurch schlängelte. Er war Petrunin zwar noch nie zuvor persönlich begegnet, erkannte ihn aber trotzdem. Ein typischer Vertreter seiner Spezies. Noch etwa zehn Meter von Zimmermanns Tisch entfernt, winkte Petrunin zum Gruß mit der Abendzei tung in seiner Hand. Einer instinktiven Eingebung folgend, blickte Zimmermann durch das Fenster des Cafés auf den Marktplatz mit dem Rat haus und dem Bonner Münster. Petrunin deutete mit einem gewinnenden Lächeln auf den Stuhl Zimmermann gegenüber, worauf dieser finster nickte. Der Russe setzte sich. Zimmermann wußte nichts über den Rang des Mannes, da er nicht gewagt hatte, beim BND oder BfV Erkundigungen über ihn einzuziehen, nachdem sie telefo nisch ein Treffen verabredet hatten. Er konnte sich jetzt un 329
möglich nach einem KGB-Offizier erkundigen, nicht jetzt … Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete Zimmermann, wie Petrunin seine Zeitung aufschlug. Er wandte sich dem Fenster stärker zu und ignorierte die dicke Schlagzeile mit seinem Namen. Petrunin bestellte sich Kaffee und einen Schnaps und sprach Zimmermann dann an. »Ihre Position, Herr Zimmermann, wird in zunehmendem Maße unhaltbar. Dessen sind Sie sich doch bewußt?« Zimmermanns Kopf fuhr herum. »Was wollen Sie damit sa gen?« Petrunin tippte mit dem Finger auf die Schlagzeile der Zei tung in seiner Hand. Zimmermann zuckte zusammen, aber starrte weiter den Russen an und nicht die Stelle, auf die sein Finger deutete. Es war, als müßte er einer enormen Versuchung widerstehen. Petrunin lächelte. »Das wissen Sie doch ebensogut wie ich, Herr Zimmermann. Meine Regierung ist Ihnen natürlich für Ihren Einsatz und Ihren Eifer hinsichtlich des Zustandekom mens des Berlin-Abkommens zu tiefstem Dank verpflichtet …« Er machte eine kurze Pause. »Ja, das ist sicher richtig. Aber nun ist Moskau zu der Überzeugung gelangt, es wäre allmählich an der Zeit, daß Sie Ihren Hut nehmen und – abtre ten.« Er seufzte theatralisch. Zimmermanns Lippen spannten sich zu einer dünnen, farblosen Linie. »Ja, wir bedauern das natürlich alle außerordentlich. Aber – um zu retten, was noch zu retten ist … Schließlich haben wir alle während der letzten Jahre und Monate auf dieses Ziel hingearbeitet. Tun Sie, was das beste für uns alle ist. Ihretwegen ist das Abkommen in Verruf gekommen, und deshalb müssen Sie zurücktreten.« Zimmermann schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er kurz, und dann schloß sich sein Mund wieder, als fürchtete er, ein sorg sam gehütetes Geheimnis preiszugeben. »Nein? Das meinen Sie doch nicht wirklich? Ein Mann, der sich so selbstlos dem Wohle Deutschlands verschrieben hat?« 330
Der Tonfall des Russen war von Spott ebenso wie von Wut geprägt. Er sah den Kellner nicht an, als dieser seinen Kaffee mit dem Schnaps brachte, murmelte nur leise: »Danke.« »Es ist doch einfach lächerlich, mich von einem KGBOffizier auffordern zu lassen, zurückzutreten«, bemerkte Zim mermann. »Schon möglich. Und was haben Sie dann vor?« »Ich beabsichtige eine Klage wegen Rufmords – und zwar gegen jede einzelne Zeitung.« »Das wird zu lange dauern.« Petrunin nippte an seinem Kaf fee. »Sie können ja wieder zurückkommen.« »Was?« »Wenn das Abkommen unterzeichnet ist, wird sich niemand mehr groß um diese Angelegenheit kümmern. Noch bevor dieses Jahr um ist, werden Sie wieder an Vogels Seite stehen.« »Wie freundlich von Ihnen.« Petrunin kippte den Schnaps in einem Zug hinunter. Er schien jedoch von der Qualität des Getränks nicht sonderlich begeistert zu sein, als er fortfuhr: »Lassen Sie mich vielleicht einmal Moskaus Position darlegen – genauso, wie es unser Botschafter täte, wäre er hier an meiner Stelle.« Er legte seine Hände zu beiden Seiten der Kaffeetasse auf den Tisch, als wollte er sie jeden Augenblick packen und würgen. »Also gut«, murmelte Zimmermann. Petrunin verneigte sich ironisch. »Es ist meine Aufgabe, Ih nen klarzumachen, daß Sie auf jeden Fall zurücktreten müssen und werden. Morgen. Bevor weitere Anschuldigungen gegen Sie erhoben werden und bevor Herrn Vogels Partei weiter an Boden verliert.« Petrunins Gesicht war ruhig und emotionslos, seine Worte hart wie Kiesel. »Falls das Abkommen unter zeichnet werden und Bestand haben soll, müssen Sie gehen. Daran führt kein Weg vorbei. Sie sind im Augenblick nichts weiter als ein Krankheitsträger und müssen deshalb entfernt werden.« 331
»Was soll das Ganze eigentlich?« fragte Zimmermann mit belegter Stimme. »Das steht hier nicht zur Debatte. Im Augenblick zählen nur die Tatsachen. Diese Tatsachen …« Er tippte neuerlich auf die Zeitung. »Die Kampagne gegen Sie war erfolgreich. Sie sind am Ende. Sie müssen morgen zurücktreten. Haben Sie mich verstanden?« Zimmermann sagte nur: »Verschwinden Sie!« Seine Stimme klang leise und schwach. Dennoch stand Petrunin auf und warf ein paar Münzen auf den Tisch. »Ich hoffe, Sie haben nicht vergessen, was ich Ihnen gesagt habe«, warnte er Zimmermann und ging. Dessen Blicke wurden nun unwiderstehlich von der Schlag zeile der Zeitung, die Petrunin auf dem Tisch hatte liegen lassen, und dem Bild darunter angezogen. Obszön. Gemein, unwahr, obszön. Das Bild war grobkörnig und zeigte eine völlig fremde Per son, die als seine Schwester Gretl beschrieben wurde. Die unbekannte Frau posierte mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern vor der weißen Wand eines Hauses. Gretl. Die Schlagzeile lautete: WARTEN SIE AUF ZIMMERMANNS ABKOMMEN? Und darunter stand in etwas kleineren Lettern: Sind sie der wahre Grund? Zimmermann las nicht weiter. Sein Magen begehrte auf. Sei ne Augen konnten sich auf nichts mehr konzentrieren als auf ein inneres Bild von einem Grab, hinter dem verschwommen das leere, bleiche, jugendliche, idiotische Gesicht Gretls schwebte. All die Jahre vergeblicher Besuche, vergeblicher Gespräche mit einem leeren Kopf hinter einem leeren Gesicht, in Räumen, die nach Desinfektionsmittel rochen. Vergebliche Tränen – meistens seine eigenen –, das unbemerkte gelegentli che Nässen der Unterwäsche, das vergebliche Daumenlutschen. All die Jahre. Gretl. Er wischte die Zeitung vom Tisch und stieß dabei auch Pe 332
trunins Tasse um. Ein dunkler Fleck breitete sich auf dem weißen Tischtuch aus. Tränen stiegen in Zimmermanns Augen, und er war unfähig, sie zurückzuhalten. »Was der Staat bestattet, das hält er auch sauber«, bemerkte ›Caspar‹ und deutete auf das gepflegte Grab mit dem kleinen Stein. Es gab keine Blumen – auch keine Vase oder ein Mar meladenglas. Die einzige Zierde auf dem Kies, der das Grab bedeckte, waren die dunkelgrünen Moospolster. »Der geliebten Schwester«, las Hyde laut, die Ironie in seiner Stimme unverkennbar. »Was haben Sie denn erwartet?« fragte ›Caspar‹ scharf, als wäre diese Bemerkung gegen ihn persönlich gerichtet gewesen. »Einen Helden?« Hyde sah auf. »Schon möglich.« Er ließ seine Blicke über die anderen Gräber gleiten. »Warum ist sie hier begraben? Wo ist das eigentliche Familiengrab?« »Oh – auf einem Dorffriedhof in der Nähe von Pratau. Von dort stammt die Familie. Vielleicht dachte er, nun wäre es sowieso egal. Was die Leiche der Mutter betrifft, da herrscht Unklarheit – das heißt, falls sie überhaupt je identifiziert und ordnungsgemäß bestattet wurde. Ein Bruder liegt in Nordafri ka, nehme ich an, und der andere dürfte unter dem Schutt eines Hauses oder einer Straße irgendwo in Frankreich begraben sein. Wer kann das schon sagen? Immerhin kam er ständig hierher, bis sie starb …« »Ja, natürlich.« Hydes Fuß scharrte im Kies in einer Ecke von Gretl Zimmermanns Grab. Dann sah er auf. »Also gut, ›Caspar‹, und vielen Dank.« Er wandte sich um und betrachtete den Dunst über der Stadt. Es war inzwischen fast dunkel. Ge gen Westen zu leuchtete der Himmel noch in dunklem Rot. Wittenberg war eine schwere, schwarze Masse, durchsetzt von winzigen Lichtern. Zeit zum Gehen. Um das Thema zu wech seln, fragte er schließlich: »Und Sie glauben also, die Beste 333
chungsgelder fielen so reichlich aus, daß er sich seine Schwe ster damit vom Hals halten konnte?« »Die Antwort darauf können Sie sich selbst am besten zu sammenreimen. Sie finden es offensichtlich nicht korrekt, wie er sich ihr gegenüber verhalten hat.« ›Caspar‹ deutete mit dem Kopf auf den Grabstein. »Sie war keine Gefahr für ihn. Was hätten sie gegen sie schon unternehmen können? Und Zim mermann stand damals noch nicht im politischen Leben, wie auch seine Geschäftsinteressen keinerlei Ansatzpunkt geboten hätten. Nein, ich glaube, Sie brauchen sich deshalb wirklich keine Sorgen zu machen …« Hyde nickte. »Und was ist mit seinem Ruf, seinem Ansehen in der Öffentlichkeit?« »Dasselbe. Ich glaube nicht, daß er in dieser Hinsicht anders über sich denkt als Sie. Sollen wir nicht lieber gehen …?« Das Schrillen einer Trillerpfeife schnitt ihm das Wort ab. Es wurde von einem zweiten Pfiff von der anderen Seite des Friedhofs beantwortet, gefolgt von einem dritten. An einigen der Gräber hatten andere Besucher gestanden, aber plötzlich sahen sie sich von mehr Menschen umgeben, und einige kamen auf sie zugerannt, während die restlichen an Ort und Stelle verharrten. ›Caspars‹ Gesicht spiegelte eher Schmerz und Trauer wider als Angst. Er starrte Hyde an, dessen Augen hektisch über seine Umgebung wanderten. Der Agent, ein wertvoller Mann … Der Grabstein, nicht un bedingt ein Zeugnis Zimmermanns heroischer Gesinnung … Die laufenden uniformierten Gestalten, die von einem Mann in einem weißen Regenmantel dirigiert wurden … Der Grabstein, ähnlich einer falschen eidesstattlichen Aussage … Rennende Polizisten, die langsam Gestalt annahmen, sie umzingelten … ›Caspars‹ Gesicht, seine Tarnung als Agent aufgedeckt, ruiniert … Der Grabstein … ›Caspar‹ … Der nächste Polizist wurde von den Beinen gerissen, als Hyde sich mit der Schulter gegen 334
den laufenden Mann stemmte und ihn mit dem Rücken gegen Gretls Grab schleuderte. Hyde rannte los. Die Pfiffe nun dringender. Schüsse? Keine Schüsse. Offen sichtlich wollte man ihn lebend schnappen. Er hatte also eine Chance. Er rannte auf den kleinen Parkplatz zu, der sich an den Friedhof anschloß. Polizeiautos, ein paar Privatwagen, Fahrrä der, der VW-Bus eingesperrt von einem Wagen der Volkspoli zei und einem schmutziggrünen Kombi mit vergitterten Fen stern. Sie hatten ihm den Fluchtweg abgeschnitten. Die Waffe und seine Papiere befanden sich im Bus. Ohne sie hatte er keine Chance. Keine neue Tarnung, keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Schwere Tritte kamen hinter ihm den Weg entlang. Er drehte sich um. Ein Polizist rannte mit gezogener Waffe auf ihn zu. Hyde versuchte, seine Kräfte zu sammeln, und wartete. Der Gesichtsausdruck des Polizisten wandelte sich von Tri umph zu Furcht. Im letzten Augenblick wich Hyde aus, so daß der Polizist, der offensichtlich ausdrücklichen Befehl hatte, nicht zu schießen, durch seinen eigenen Schwung zu Fall kam und zwischen zwei Gräbern hindurch den leichten Abhang hinunterrollte. Fünfzig Meter hinter ihm sammelten sich weiße Regenmäntel zu einer kleinen Gruppe. Hyde drehte sich um und rannte neuerlich los. ›Caspar‹ war aufgeflogen … Es hatte keinen Sinn, sich deswegen Gedanken zu machen. Er mußte durchkommen. Das war alles, was zählte. Er schwang sich über das niedrige Metalltor zwischen dem Fried hof und dem Parkplatz und stieß mit dem massigen Körper des nächsten Polizisten zusammen. Hyde wurde herumgerissen, stürzte zu Boden, rollte sich ein Stück dahin, stand wieder auf und trat die Uniform genau an der Stelle, wo Jacke und Hose aufeinandertrafen – hart. Der Polizist kugelte von ihm weg. Er holte die Wagenschlüssel aus seiner Tasche und schloß die Tür des Volkswagens auf. Ein zweiter Polizist erreichte den 335
Bus. Hyde wehrte die nach ihm greifende Hand ab und knallte die Tür zu. Ein hoher, schriller Schmerzensschrei. Hyde ließ die eingequetschten Finger des Mannes frei und schlug die Tür neuerlich zu. Er drückte den Anlasser – nur nicht die Ruhe verlieren, ganz wenig Gas, ja – der Motor sprang an. Er legte knirschend den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gas. Der Bus schoß zurück. Durch die schmutzige Windschutzscheibe konn te er die weißen Regenmäntel und die dunkel uniformierten Schemen davor erkennen. ›Caspars‹ heller Anzug war ein schwacher Schimmer, umgeben von dunklen Gestalten. Der VW-Bus krachte in das Polizeiauto. Er stieg auf die Kupplung, um sie dann langsam, aber schneller werdend loszu lassen. Das Knirschen von Metall schmerzte in seinen Ohren. Das Polizeiauto rührte sich nur widerstrebend von der Stelle. Er fuhr wieder vorwärts, um neuerlich mit voller Wucht zu rückzustoßen. Die Seite schliff an dem Kombi entlang, wäh rend er den Wagen direkt hinter sich beiseite schob. Langsam kam er frei. Jetzt würden sie vielleicht schießen … Er fuhr noch einmal vorwärts und stieß wieder zurück. Das Polizeiauto befand sich plötzlich seitlich von ihm und kratzte unter laut knirschendem Protest an der Seite des VW-Busses entlang. Hyde riß das Steuer herum. Zwei Schüsse. Einer davon hatte möglicherweise den Reifen getroffen. Er beschleunigte auf die Ausfahrt des Parkplatzes zu. Die zwei Polizisten, die ihm den Weg abzuschneiden versuch ten, waren viel zu langsam. Weitere Schüsse, die in die Hinter tür krachten. Er bog in die kaum befahrene Seitenstraße ein und sah bereits die Lichter der nächsten Hauptverkehrsstraße vor sich, die ins Zentrum von Wittenberg führte. Hinter ihm blitzten Lichter auf, die Verfolgungsjagd begann. Ohne ›Cas par‹ wußte er nicht, wie er sich in der Stadt oder in der Umge bung zurechtfinden sollte. In seinem Rückspiegel leuchteten helle Scheinwerfer auf, dichtauf gefolgt von einem zweiten Paar Lichter. 336
Hyde bog in die Hauptstraße ein, die Scheinwerfer noch im mer nicht eingeschaltet, und schoß in die nur gelegentlich von Scheinwerfern erhellte Dunkelheit. Die zwei Scheinwerferpaa re waren nun vielleicht eine knappe halbe Minute hinter ihm. Sie hatten ihn inzwischen sicher verloren, aber es herrschte zu wenig Verkehr, um sich irgendwo zu verbergen. Sie würden ihn sofort haben, wenn sie ihn überholten – und das war nur eine Frage von Minuten. Direkt vor ihm tauchten die Lichter von Wittenberg auf. Scheinwerf er – drei, vier Paare. Drei kamen entgegenvier waren hinter ihm. Das erste bewegte sich zu langsam. Es wurde vom zweiten und dritten überholt. Das vierte ein Lastwagen. Sie holten rasch auf, waren höchstens eine halbe Minute hinter ihm. Bald würden sie ihn erreichen. Dunkelheit – vor ihm die Lichter von Wittenberg. Die Grenzübergänge würden jeden Augenblick alarmiert werden. Selbst um an die Pistole zu kommen, würde er mehr als eine Minute halten müssen – eine weitere halbe Minute für die zweiten Papiere. Eindeutig zu lang. Er hatte nur eine Chance – weiterfahren. Sein Fuß hatte das Gaspedal bis zum Anschlag durchge drückt. Diese Scheißkiste taugte nichts. Hundertdreißig Kilo meter bis zum Grenzübergang Helmstedt. Sonst konnte er nirgendwo ausreisen. Hundertdreißig Kilometer … Heftig riß Hyde das Steuer herum und schleuderte mit laut quietschenden Reifen auf die Gegenfahrbahn herüber. Er lenkte den Wagen aufs Bankett und hielt an. Schwitzend erschauerte er im Luftzug eines vorbeidröhnenden Lasters. Dann beobach tete er die beiden näherkommenden Scheinwerferpaare, bis sie auf gleicher Höhe waren, weiterfuhren … Hyde brach neuer lich in Schweiß aus, als er die Lichter sich im Rückspiegel entfernen sah. Er schaltete das Licht ein und ordnete sich in den nordwärts gerichteten Verkehr ein. Berlin war sechzig Kilometer entfernt. Etwas mehr als eine 337
halbe Stunde Fahrzeit. West-Berlin. Die Tachonadel kletterte langsam auf hundert zu. Sobald er die Autobahn erreicht hatte, war es nicht einmal mehr eine halbe Stunde. Peter Shelley schenkte den Millionen Lichtern um Century House kaum Beachtung. Sein Gespräch mit ›C‹ war höchst unangenehm und unbefriedigend gewesen. Der alte Mann zeigte sich zwar reumütig und geknickt, aber er würde den Befehl des Auswärtigen Amtes in die Tat umsetzen, wie wenig er ihm auch ins Konzept passen mochte. Er erwartete jedoch für den kommenden Tag einen Kabinettsbeschluß, der in Shel leys und Aubreys Sinn ausfallen und auf eine Aufklärung der Verleumdungskampagne gegen Zimmermann und das BerlinAbkommen drängen würde. Das Telefon klingelte. Obwohl er mehr als eine Stunde auf den Anruf gewartet hatte, erschreckte ihn das Geräusch. Er nahm den Hörer ab. »Shelley.« »Peter, John Lodge am Apparat.« Die Stimme des Leiters der Computerabteilung. »Ich habe mir wirklich eine Einladung auf ein Bier verdient. Ich habe drei Namen – einer davon klingt wirklich gut.« »Sehr gut, ich komme sofort runter.« Er legte den Hörer auf, stand auf und lief zur Tür seines Büros. Er mußte grinsen, als er zum Lift ging. Spanien. Drei Namen, die Hyde überprüfen mußte. Shelley war sehr erleichtert, weil sich das Kabinett zum Wei termachen entschlossen hatte. Hätte es die Operation gestoppt, hätte Aubrey vermutlich trotzdem Hyde oder ihn selbst nach Spanien geschickt, um jemanden aufzutreiben, der Licht in das Dunkel von Zimmermanns Vergangenheit hätte bringen kön nen. Und das, wurde Shelley bewußt, hätte sich für seine eige ne Karriere durchaus nachteilig auswirken können. Aubrey wäre nie gewillt gewesen, die Sache einfach auf sich beruhen 338
zu lassen. Das Ganze hätte sehr peinlich werden können – sehr peinlich … In einer langen Schlange von Autos der unterschiedlichsten Nationalitäten rollte Hyde in seinem Campingbus auf den Kontrollpunkt Dreilinden zu. Bis sämtliche Formalitäten erledigt waren, war eine Stunde vergangen. Als auf der DDR-Seite seine Papiere inspiziert wurden, brachte er zur Entschuldigung vor, daß es ihm auf dem Campingplatz in Wittenberg nicht gefallen hätte und er deshalb beschlossen hätte, einen kleinen Umweg über Berlin zu ma chen. Der Bus wurde nicht durchsucht. Nachdem man ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, daß er am nächsten Tag die polnische Grenze würde überqueren müssen, wurde er unter dem Schlagbaum hindurchgewinkt. An der ersten Telefonzelle an der Potsdamer Straße hielt Hy de an und rief das Generalkonsulat an. Man schien dort über seine Ankunft gar nicht erfreut zu sein. Für die Kollegen in Berlin stellte er nichts weiter als zusätzliche Arbeit dar. »Jetzt setzen Sie sich aber mal auf Ihren Hosenboden«, schnauzte Hyde die gelangweilte Stimme am anderen Ende der Leitung an. »Informieren Sie Hannover. Verständigen Sie Aubrey, und dann schaffen Sie mich hier raus. Oder bringen Sie Shelley hierher, damit er mich in meine weiteren Aufgaben einweihen kann. Wie Sie das machen, ist mir letztlich egal.« »In Ordnung.« Der Anflug von Ärger war noch keineswegs aus der Stimme des anderen Mannes gewichen, aber die Na men, die Hyde genannt hatte, wirkten doch offensichtlich mittlere Wunder. »Auf welchem Campingplatz werden Sie die heutige Nacht verbringen?« »Auf gar keinem, mein Freund. Ich möchte, daß Sie mir ein Hotelzimmer besorgen.« »Das soll wohl ein Witz sein. Um diese Zeit sind hier alle Hotels voll.« 339
»Sie werden das schon irgendwie hinkriegen. Vielleicht ist das sowieso einer Ihrer letzten Jobs hier in Berlin. Und schik ken Sie jemanden hier raus, um mich abzuholen, ja?« »Ich werde sehen, was sich tun läßt.« »Nur zu.« Hyde legte auf und trat aus der Zelle in die kühle Nachtluft hinaus. Er fühlte sich müde und heruntergekommen – außer dem tat ihm ›Caspar‹ leid – schade um den Mann. Und er konnte sich eines zunehmenden Schuldgefühls ›Caspars‹ we gen nicht erwehren. Er hätte wissen müssen, daß sie beschattet wurden, wie raffiniert sie die Autos auch ausgetauscht haben mochten. Er hätte es wissen müssen. Die leichte Herbstbrise kühlte sein Gesicht und fuhr in die abgefallenen Blätter auf dem Boden, die er mit seinen Füßen raschelnd aufwirbelte, während er vor der Telefonzelle auf und ab ging. Eine Zeitung wurde vom Wind an ihm vorbeigeblasen. Er stieß mit dem Fuß danach, worauf sie sich wie ein Drachen oder der Flügel eines Nachtvogels entfaltete. Er erhaschte einen Blick auf die Schlagzeile und rannte hinter dem flatternden Papier her. Er packte die Zeitung. Sie war noch feucht von dem Schauer früher am Abend. Das Bild starrte ihm entgegen. Eine ge schickte Fälschung, einfach ein x-beliebiger Familienschnapp schuß … »Mein Gott«, hauchte er. Er sah von dem Bild auf, als hörte er das Geräusch einer näherkommenden Lokomotive. Er wußte jedoch, daß es in Wirklichkeit nur die Wucht der amerikanisch chinesischen Kampagne gegen Zimmermann war, der er nichts entgegenzusetzen vermochte. Dieser Zug war durch nichts mehr aufzuhalten. Wütend schleuderte er die Zeitung von sich. Wie ein ver wundeter Vogel flatterte sie zu Boden. »Dann sind sie größere Idioten, als ich gedacht hätte«, bemerk 340
te Petrunin eisig. »Aber sie haben zumindest diesen Agenten, von dem sie vorher nichts wußten?« Kominski nickte. »Selbst das ist nichts weiter als ein zusätzlicher Beweis ihrer Blödheit. Bilden die sich tatsächlich ein, in Deutschland würde sich etwas ändern? Sind sie in der DDR tatsächlich so naiv?« »Ich weiß nicht, Genosse General«, antwortete Kominski in betont neutralem Ton. »Macht nichts.« Petrunin warf einen Blick auf die Papiere unter seinen Händen. Er fühlte sich müde und erschöpft und hätte sich am liebsten die Augen gerieben. Er war sich jedoch zu sehr der Anwesenheit des jungen Mannes auf der anderen Seite des Schreibtisches bewußt, der ihn genau beobachtete, als daß er sich diese Geste der Schwäche hätte erlauben können. Sein Nacken schmerzte vor Anspannung. »Die Sache mit Hyde kann vorerst warten«, fügte er schließlich noch hinzu, obwohl er es keineswegs meinte. Er wußte, daß sich die ganze Angelegenheit immer mehr zu spitzte. Wenn die Sache schiefging, würde die ganze Last der Verantwortung auf seinen Schultern ruhen. Die Zentrale in Moskau hatte ihm die Sache anvertraut, er sollte retten, was noch zu retten war … Und gleichzeitig wuchs in ihm mit zunehmender Deutlichkeit die Illusion heran, daß Hyde – einzig und allein Hyde – schuld an dem Ganzen war. Hyde, mit Aubrey wie einem Schatten hinter sich. Hyde … Er wollte mit der Faust auf den Tisch hauen. Aber in Ko minskis Augen wäre dies eher eine Geste der Hilflosigkeit als der Stärke gewesen. Er blickte auf und ergriff die Namensliste, die man ihm überbracht hatte. Aladkos Gruppe, seine Vertrau ten, seine Leutnants. Er hatte keine Gewißheit, daß sie alle ausfindig gemacht hatten, aber zumindest diese Namen würden eliminiert werden. Niemand würde einem von ihnen noch eine Frage stellen, Erkundigungen über Zimmermanns Vergangen heit anstellen können. Sie würden einfach aufhören zu existie 341
ren, diese paar Männer, die den Krieg, Franco und das Alter überlebt hatten. »Diese Namen …«, fing er an. Kominski griff nach der Liste, die ihm gereicht wurde. »Ordnen Sie sofortiges Einschreiten durch unsere Terroristenkontakte an. Die Gruppe soll noch heute nacht oder spätestens morgen nach Spanien eingeschleust werden. Jeder Name auf dieser Liste …« »Ja, Genosse General?« »Ich will sie alle eliminiert – auf der Stelle.« Petrunins Stim me klang unsicher. Er starrte Kominski an, der zur Seite blick te, als erwartete er, ein Offizier, höher gestellt als sie beide, beträte den Raum. »Ja?« fügte Petrunin mit einem bedrohli chen Unterton hinzu. »Die Zentrale in Moskau?« »Ich habe immer noch die Leitung dieser Operation inne. Das Ganze ist meine Entscheidung …« Er hatte den jüngeren Mann in eine ebenso gewohnte wie unangenehme Situation für einen rangniedrigeren, aber aufstrebenden KGB-Offizier manövriert. Er war sich sicher, daß Kominski bereits seine dienstlichen Verpflichtungen gegen den weiteren Verlauf seiner Karriere abwog. »Ich weiß, Genosse General – ich bin nur etwas verunsichert und kann mir nicht vorstellen, warum …« »Warum so drastische Maßnahmen ergriffen werden müs sen?« sprach Petrunin den Satz mit gekünstelter Großzügigkeit zu Ende. Kominski nickte und gab sich dabei bereits mit der Einsicht zufrieden, daß Petrunin im Augenblick noch so ge fährlich – und so mächtig – war, daß man sich nicht in seinen Weg stellen konnte. Seine Chance würde schon noch kommen. »Hm«, murmelte er. »Die Engländer – oder vielleicht ist es auch nur Aubrey selbst – möchten offensichtlich den Beweis erbringen, daß Zimmermann nicht für uns arbeitet …« »Aber weshalb, Genosse General?« »Wer weiß? Vielleicht aus wirtschaftlichen Erwägungen her 342
aus. Sie wollen ihre Truppen sicher nicht wieder in Deutsch land stationieren müssen. Jedenfalls scheinen sie sich mit dem gegenwärtigen Status quo nicht zufriedenzugeben. Wie bereits gesagt, könnte dahinter möglicherweise auch lediglich Aubreys verdammter Gerechtigkeitssinn stecken.« Er lächelte. Aubrey war ein Gegner, den er normalerweise akzeptieren, ja sogar bewundern konnte. Aber das traf natürlich nicht auf den Au genblick zu. Dagegen war Kominski ein Gegner, dem er nur mißtrauen konnte, den er fürchten mußte, wie im Augenblick alle seine Feinde – in der Moskauer Zentrale, im Politbüro, in den Geheimdiensten der Satellitenstaaten, im Westen – nicht mehr für ihn voneinander zu unterscheiden waren. Sie alle waren Teil der gigantischen Verschwörung gegen ihn, gegen seine Karriere. »Jawohl, Genosse General«, erwiderte Kominski, offensicht lich alles andere als überzeugt. »Gut. Diese Liste muß natürlich nicht unbedingt vollständig sein. Jede Person, die sich darauf befindet, wird binnen drei – im Höchstfall vier – Tagen eliminiert. Jeder Mitkämpfer Alad kos während seines Einsatzes in Spanien. Jedem Namen ist eine Adresse beigefügt. Also leiten Sie alles Nötige in die Wege, Kominski.« »Gibt es irgendwelche Prioritäten, Genosse General?« »Die Gruppe soll bei ihrer Arbeit von Norden nach Süden vorgehen. Die Liste ist nach geographischen Gesichtspunkten zusammengestellt, wie Sie selbst sehen werden. Zufälligerwei se ist auch der erste Name auf der Liste, Velasquez, der wich tigste. Velasquez war unter den Spaniern, mit denen Aladko zusammenarbeitete, einer der nächsten Vertrauten. Fanatisch, zuverlässig, tapfer. Das ideale Material …« Petrunins Augen verhärteten sich, während er Kominski betrachtete. »Die Eng länder werden sicher jemanden nach Spanien schicken, da dort der Schlüssel zu Zimmermanns Schuld oder Unschuld liegt. Aubrey wird sicher nichts unversucht lassen. Er wird ganz 343
bestimmt jemanden nach Spanien schicken. Und falls auch er über eine Liste verfügt, wird auch dort Velasquez an einer der vordersten Stellen rangieren.« Seine verschränkten Hände lösten sich voneinander. »Und jetzt gilt es, keine Zeit mehr zu vergeuden. Leiten Sie alles Nötige in die Wege. Erteilen Sie Ihre Anweisungen.« »Jawohl, Genosse General.« Noch bevor Kominski den Raum verlassen hatte, fielen Pe trunins Gedanken in eine immer dringlichere Litanei ein, die durch sein Kopf pulsten. Schicken Sie Hyde, schicken Sie Hyde, schicken Sie Hyde … Es war, als versuchte er Aubrey über die Entfernung hinweg hypnotisch diesen Gedanken zu suggerieren. Seine Hände ballten sich, sein Nacken war steif und angespannt. Sein Ärger nahm zu. Zumindest Hyde, dachte er. Diese alten Männer in Spanien – und Hyde … Er hätte in diesem Augenblick beten können, hätte er einen Gott gehabt. 13. Endgültige Entscheidungen Sir Richard Cunningham, Generaldirektor des SIS, saß in seinem Arbeitszimmer Alex Davenhill gegenüber. Lady Cun ningham hatte den beiden Männern Kaffee gebracht, hatte sie dann aber allein gelassen, um eine Versammlung ihres Wohl fahrtsausschusses zu besuchen. Wortlos hatten die beiden Männer wie in stillschweigendem Einverständnis ihren Kaffee zu sich genommen, bevor sie auf den Grund von Davenhills Besuch zu sprechen kamen. Cunningham schien es zu wider streben, die Unterhaltung in Gang zu bringen, die ihn über die Entscheidung des Kabinetts informieren würde. Als Davenhill schließlich zu sprechen begann, richtete er sich merklich in 344
seinem Sessel auf. »Freut mich zu hören, daß es Kenneth bessergeht.« In seinen Augen war ein Anflug von Besorgnis und Erleichterung zu spüren. Es war seine Entscheidung gewesen, Aubrey nach Hannover bringen zu lassen und nicht nach London. »Ja, durchaus. Natürlich dürfen wir jetzt auf keinen Fall zu lassen, daß er sich über Gebühr anstrengt und überfordert«, erwiderte Cunningham ernst, die Augen unter den buschigen, grauen Brauen hart und unverwandt auf Davenhill gerichtet. »Natürlich nicht«, entgegnete Davenhill hastig, als wiese er eine Anschuldigung zurück. »Warum ist das Kabinett schon gestern abend zusammenge treten, und nicht erst heute?« erkundigte sich ›C‹ und überwand damit endlich seinen Widerwillen, zur Sache zu kommen. »Es gab einiges zu besprechen, und natürlich ist die Lage sehr ernst. Aufgrund der Dringlichkeit der Situation wurde das Treffen des Sonderausschusses bereits für gestern abend anbe raumt.« »Aufgrund der Dringlichkeit der Situation? Ich fürchte, ich verstehe nicht recht …« »Die Sache soll nicht ernst sein?« erwiderte Alex Davenhill mit spöttischer Stimme. »Das hieße doch, die Dinge etwas oberflächlich betrachten.« »Dann klären Sie mich doch über alles weitere auf«, forderte Cunningham mit unterdrücktem Ärger. »Das Kabinett möchte, daß das Berlin-Abkommen zustande kommt – wenn schon nicht in zwei Tagen, so doch so bald wie möglich.« »Um Geld zu sparen.« »Das Ganze ist nicht nur eine Frage des Geldes, Sir Richard.« »Nein? Dann muß ich mich aber getäuscht haben. Ich dachte, wir sprächen über eine Möglichkeit, den Verteidigungshaushalt zu kürzen.« »Nur zum Teil. Falls Vogel die nächsten Wahlen verliert, 345
können wir, was Deutschland und die EG, die NATO und die Entspannungspolitik betrifft, wieder von vorn anfangen.« »Wo werden Sie sein, wenn Sie enthüllen werden, welche Rolle die Amerikaner in dieser Affäre gespielt haben?« »Der verantwortliche Mann ist tot.« »Buckholz war doch nicht dafür verantwortlich.« »Glauben Sie denn im Ernst, Washington wird etwas anderes erklären, wenn die Sache publik wird?« Auf Davenhills vollen Lippen lag ein wissendes Lächeln. »Und die Chinesen?« »Vielleicht kann man ihnen alles in die Schuhe schieben. Das ist zumindest nicht ganz so gefährlich – jedenfalls, was uns betrifft – wie das, was Washington und Peking im Schilde geführt haben.« »Hm. Sagen Sie mir noch, was dabei eigentlich heraussprin gen wird – ich meine, wirklich herausspringen. Vielleicht wäre das einmal ganz nützlich, bevor ich anfange, mir zu überlegen, wieviel Zeit, Energie und Menschenleben ich dafür aufwenden soll.« »Aber Sir Richard!« Davenhill schüttelte grinsend den Kopf. »Wir wollen nichts weiter als Beweise – keine Menschenle ben.« »Menschenleben wird die Sache auf jeden Fall kosten. Sie haben ja selbst gesehen, wie großzügig bisher damit bereits verfahren wurde.« Davenhill sank tiefer in seinen Sessel zurück und gab sich der Betrachtung seiner Hände hin. »Zwischen der Ratifizierung des Abkommens und den Wah len in Deutschland liegen zwei Wochen. Innerhalb dieses Zeitraums müssen wir Vogel vor den Konsequenzen schützen, das Abkommen unterzeichnet zu haben. Rehabilitieren Sie diesen Zimmermann, waschen Sie ihn von jeder Schuld frei. Wenn diese Sache befriedigend bereinigt ist …«, Davenhill lächelte, »… wird Vogel die Wahl gewinnen, und der deut 346
schen Wiedervereinigung wird nichts im Wege stehen.« »Und das soll zu unserem Vorteil sein.« »Das hat zumindest das Kabinett beschlossen.« »In seiner unendlichen Weisheit.« »Jedenfalls könnte dadurch die Entspannungspolitik weiter vorangetrieben, und unsere Verteidigungsausgaben könnten enorm verringert werden, neue Handelsverbindungen täten sich für uns auf, und nicht zuletzt bliebe damit ein guter Freund von uns in Europa an der Macht. Und ich glaube«, fügte er hinzu, »daß dies nur eine kurze, stichwortartige Zusammenfassung des Gesamtzusammenhangs ist. Glauben Sie nicht auch, Sir Richard?« »Na gut. Und was wollen Sie nun vom Geheimdienst?« »Beweise. Je konkreter, desto besser. Am besten einen leben den Zeugen. Alle anderen sind tot. Wir – das heißt, das Kabi nett – wollen schlüssig beweisen, daß Zimmermann kein so wjetischer Agent ist und auch nie gewesen ist. Sie verfügen ja bereits über umfangreiche Hinweise, welche in diese Richtung deuten. Sie müssen nur noch weiter untermauert werden – und zwar sehr massiv.« »Die Russen scheinen in dieser Hinsicht wesentlich weniger von Skrupeln geplagt.« »Das ist schiere Panik. Sie sind natürlich an dem Abkommen aufs äußerste interessiert. Sie müssen ihren Verteidigungshaus halt kürzen. Sie müssen sich sozusagen aus dieser Klemme freikaufen, und sie verfügen natürlich auch über die Mittel dazu.« »Einverstanden. Inzwischen sind sie mit nichts anderem be schäftigt, als genau das Beweismaterial zu vernichten oder unzugänglich zu machen, das wir so dringend brauchen.« »Das ist mir völlig klar, Sir Richard. Dies ist auch der Grund, weshalb ich zu größter Eile dränge.« »Und weshalb Sie alles aufs Spiel setzen wollen.« »Wenn Sie es so nennen wollen.« 347
»Unseren Beziehungen zu Washington wird das natürlich alles andere als zuträglich sein. Ich hoffe, man ist sich im Kabinett darüber im klaren.« Davenhill nickte. »Selbstverständlich. Aber ich fürchte, daran läßt sich nun einmal nichts ändern. Natürlich wird es innerhalb der CIA zu einigen internen Umstrukturierungen kommen, wenn man es einmal so ausdrücken will – jedenfalls ein mittlerer Skandal. Aber auch darüber wird die Welt nicht zugrunde gehen. Abge sehen davon wären auch die Amerikaner, trotz der Entschlos senheit ihres Präsidenten, einer Kürzung ihres Verteidigungs haushalts für die nächsten Jahre keineswegs abgeneigt. Falls der Präsident für die zweite Amtsperiode ins Weiße Haus einziehen will …« »Mit anderen Worten – jeder müßte eigentlich überzeugt werden können, die Dinge von vernünftiger Warte aus zu betrachten – aus unserer vernünftigen Warte.« »Ganz genau.« Seufzend rückte Cunningham in seinem Sessel hin und her. »Also gut, und was wollen Sie nun?« »Am erfolgversprechendsten erscheint im Augenblick Spani en. Dort dürfte die Entscheidung fallen. Schicken Sie ein paar von unseren Leuten nach Spanien, um diese drei Überlebenden aus dem Bürgerkrieg aufzuspüren. Versuchen Sie, wenigstens einen von ihnen zu bekommen – einen lebenden Zeugen, wie ich bereits gesagt habe.« »Ich werde dafür Sorge tragen«, stimmte Cunningham zu und erhob sich. Davenhill stand ebenfalls auf. »Wenn wir nur mit diesem Burschen sprechen könnten – Liu hieß er, glaube ich? Der Mann, der nach China ist. Das wäre sicher außerordentlich interessant.« »Dafür bestehen kaum Aussichten. So viel ich weiß, ist zu Liu jeglicher Kontakt abgerissen.« Davenhill streckte seine Hand aus, worauf Cunningham sie 348
auf fast mechanische Art ergriff und schüttelte. »Also, dann Spanien«, sagte Davenhill. Cunningham nickte ernst. Es war einfach absurd. Schon allein der Versuch, sich die einzelnen Entfernungen, die Farbe der Wände, die Standpunkte der Posten zu merken, hatte seine Kräfte bei weitem überschrit ten. Stöhnend lag David Liu auf dem dünnen, fleckigen Tep pich des Büros. Blut und Speichel flossen ihm aus dem Mund. Vorsichtig tastete seine Zunge über seine Zähne. Er fühlte kaum etwas. Vielleicht war sein Kiefer gebrochen. Seine Hände krümmten sich schützend um seine Genitalien. Er hatte die Knie an den Körper hochgezogen. Auf dem Tep pich direkt vor seinem Gesicht lagen Wollmäuse. Dahinter waren verschwommen Stiefel oder Schuhe zu erkennen – kaum mehr als ein dunkler Schatten. Die Stimmen konnte er nicht verstehen. Er wurde neuerlich auf die Beine gezerrt. Protestierend stöhn te er auf. Er schien von einer Woge des Schmerzes durchflos sen, die sich schließlich auf Rippen und Rücken konzentrierte. Er schüttelte den Kopf. Der Mann, der sie auf dem Flughafen abgeholt hatte, der sich Oberst nannte, obwohl er einen höhe ren Rang einzunehmen schien, und dessen Hände Liu nie berührten, obgleich es ihm in den Fingern zu jucken schien, dieser Mann trat näher und hob Lius schwach herabhängenden Kopf, so daß ihre Blicke sich trafen. Liu war nicht imstande, die komplexen Emotionen in den Augen des Oberst zu deuten, wenn er auch spürte, daß er irgendwie versagt hatte. Der Offi zier war offensichtlich von ihm enttäuscht. Und dann wurden ihm wieder die Beine unter dem Körper weggezogen, und er spürte, wie er zur Tür geschleppt wurde. Die zwei Wachen hatten ihn fest an den Armen gepackt. Das Verhör war zu Ende. Erleichtert öffnete Liu den Mund, so daß ihm das Blut das Kinn herunterlief. Er hatte nichts gesagt. Er hatte ihnen 349
nichts über Meng verraten. Er verhielt sich immer noch loyal, obwohl er wußte, daß ihnen das Ganze eigentlich bereits mehr oder weniger egal war. Sie wollten ihn nur für seine Schläue bestrafen … Die Tür ging auf. Dankbar nahm er zur Kenntnis, daß es auf dem Korridor kühler war als im Büro. Erleichterung, fast ein Gefühl des Entkommens umhüllte ihn. Entkommen …? Ganz langsam formte sich das Wort in sei nem Kopf, ohne jedoch irgendwelche Assoziationen mit sich zu bringen. Es blieb haften, hing in der Dunkelheit wie ein sinnloser Slogan. Entkommen …? Ja, er war entkommen. Gelbe Wände. Holzfußboden. Er spuckte auf den Boden. Das Gemenge aus Blut und Spei chel klatschte jedoch auf seinen Schuh. Einer der Wärter lach te. An der Treppe blieben sie stehen, als wollten sie ihn einfach hinunterwerfen. Er klammerte sich mit den Händen an ihren Armen fest, die ihn immer noch hielten. Er holperte die Stufen zum nächsten Stockwerk hinunter, wo ein Teppich auf dem Boden des Gangs lag. Die Wände waren grün. Schmerzhaft schlugen seine Zehen bei jedem Schritt auf die Stufen. Die Wärter hatten ihn absichtlich aus dem Gleichge wicht gebracht. Seine Fußgelenke protestierten. Mit jedem neuen Schmerzstoß wurde auch sein Denken immer klarer. Und dann schleiften seine Zehen über den Teppich. Das Hol ster des einen Wärters drückte gegen seine Hüfte. Durch ein vergittertes Fenster fiel goldenes Abendlicht – ein Anblick, der ihm nutzlose Tränen in die Augen trieb. Flucht …? Die Tür bildete das Stichwort, diesmal von einer Vielzahl von Assoziationen begleitet. Grüne Wände, Teppich, frische Luft, Benzingestank, der in seiner Zelle gefaßte Plan, das gegen seine Hüfte drückende Holster, die Wachen überrumpelt. Fantasie und Erinnerung wurden durch einen Adrenalinstoß vermischt und püriert. 350
Flucht. Die Tür, schon fast vorbei, seine Kräfte überschätzt? Es hatte keinen Sinn, sich diese Frage beantworten zu wollen. Er mußte es auf jeden Fall versuchen. Tür – anderer Faktor? Der andere Faktor? Leiste keinen Widerstand, laß dich einfach weiterzie hen … Halfter … Er drehte unter dem leicht gelockerten Griff des Wärters zu seiner Rechten den Arm herum und schwang seinen Körper gegen den Mann links von ihm, der seinen Arm lang genug fester umklammerte, so daß Lius Hand Zeit blieb, nach der Halfter zu fassen. Er riß die Lasche zurück, und dann schloß sich seine Hand um den Griff der Pistole. Er zerrte sie aus der Halfter und brachte den Wärter aus dem Gleichgewicht, indem er ihn gegen seinen Körper preßte. Erst jetzt erreichte die sensorische Information sein Gehirn, daß sich sonst niemand im Korridor befand, daß sie etwa zehn Meter hinter der Tür ins Freie standen und daß sich die Hand des zweiten Wärters inzwischen mit einer Pistole darin auf ihn gerichtet hatte. Der andere Mann versuchte, ihn zu umklam mern und gegen die Wand zurückzudrängen. Seine Hand krall te sich in Lius Gesicht. Liu feuerte zweimal. Der zweite Wärter wurde gegen die Wand geschleudert. Aus seiner Pistole löste sich ein Schuß, der in die Decke fuhr. Sein Körper wurde auf der Stelle hart, weich, formlos, still – alles in einem einzigen Augenblick. Und dann wurde Liu von dem Wärter, den er umklammert hielt, gegen die Wand geschmettert. Eine zur Kralle verzerrte Hand fuhr über seine Augen und den Mund. Er riß die Pistole herum und drückte den Abzug. Der Körper glitt an seinem hinab – die Hand strich fast zärtlich über seine Lider und Lippen. Und dann rührte auch er sich nicht mehr. Liu hastete zur Tür. Andere Türen hinter ihm öffneten sich, jemand schrie etwas, eine Frau kreischte. Die Tür ins Freie war verschlossen. Er schoß zweimal in das Schloß und drückte sie 351
dann auf. Sonnenlicht ergoß sich in einen schmalen Durch gang. Er war sich nicht mehr sicher, ob der Benzingeruch nur eine Erinnerung war. Die Luft schien kühl. Er warf die Tür hinter sich zu. Die Mauern des Hauptgebäudes und eines Seitenbaus ragten seitlich von ihm hoch. Abblätternde gelbe Farbe, vergitterte Fenster. Er rannte den Cañyon aus Ziegeln und Steinen hinun ter, um sich auf einer kleinen Stellfläche voller geparkter Autos zu finden, welche so dicht aneinander standen, als dienten sie einzig und allein dem Zweck, ihm den Fluchtweg abzuschnei den. Nachdem er aus dem schmalen Durchgang um die Ecke gebogen war, hatte er völlig die Orientierung verloren. Schon beim Öffnen der Tür hatte er eigentlich nicht gewußt, wohin er sich wenden sollte. Er blickte nach oben. Drohend ragten die Gebäude des Mini steriums über ihm auf. Es schien keinen Ausweg aus dem kleinen Hinterhof zu geben. Mit zunehmender Verzweiflung drängte Liu sich zwischen den Autos hindurch. Im Hauptgebäude ertönte eine Alarmanla ge. Zwischen zwei Gebäudetrakten fiel die warme Abendsonne hindurch, und wie ein blindes, unterirdisches Tier folgte er einfach nur der Sonnenwärme zwischen den hoch aufragenden Steinmauern hindurch. Es konnte doch nicht so einfach sein – das war doch unmöglich … Er hastete auf die riesige Weite des Tiananmen-Platzes hin aus. Er schob sich die Pistole in den Gürtel, und dabei fiel sein Blick auf sein blutverschmiertes, zerfetztes Hemd. Er schlang seine dünne Jacke fester um sich. Und dann mischte er sich unter die Menge. Er fühlte sich so fort von ihr umfangen – sicher und gefangen zugleich. Er sah nicht zurück und nicht nach vorn. Er ließ sich von der Menge treiben und setzte ihr erst Widerstand entgegen, als er sich ein gutes Stück von dem Platz entfernt hatte und eine Telefonzelle entdeckte. Seine Beine zitterten. Es war so einfach gewesen. Er 352
stolperte. Jemand reichte ihm stützend seinen Arm. Er zuckte zurück, als hätte die hilfreiche Hand einem der Wärter gehört, um sich dann jedoch mit einem Nicken zu bedanken und wei terzugehen. Die städtischen Behörden hatten nichts gegen die Errichtung von vielleicht zwei Dutzend zusätzlichen Beobachtungsplatt formen unternommen, welche neben den offiziell genehmigten Tribünen entlang des Mauerstücks aufgebaut worden waren, hinter dem der Potsdamer Platz lag. Auf den Plattformen herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Zehn oder zwölf knarrende Stufen hinauf, und man konnte auf der anderen Seite die Bulldozer sehen, die wie Panzer, zum Einsatz bereit, aufge reiht standen. Der Minenstreifen war frisch umgepflügt worden. Der Sta cheldraht war verschwunden. Die Wachtposten waren aber noch zugegen. Sie schienen jedoch unbewaffnet zu sein. Gele gentlich winkte einer von ihnen den Gesichtern zu, die über der Mauer auftauchten. Auch am Brandenburger Tor und am Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße waren Bulldozer und Lastwagen aufgefahren. Im Augenblick der Ratifizierung des Berlin-Abkommens in zwei Tagen würden sich die Schaufeln der Bulldozer wie Visiere senken, und die Mauer würde fallen. Und diese Bilder würden durch das Fernsehen in alle Welt übertragen werden. »Velasquez – genau wie der Maler«, sagte Shelley, als sie schließlich auf der Plattform standen. Hyde schien die Wacht posten auf dem Potsdamer Platz zu beobachten. Einer von ihnen winkte. Hyde zeigte jedoch keinerlei Reaktion. »Aha«, erwiderte Hyde mit unverhohlener Gleichgültigkeit. »Sie müssen verstehen, daß ich von allen Seiten unter Druck gesetzt werde, Patrick. Und das gleiche gilt auch für den Gene raldirektor. Wir haben bereits einen Flug für Sie gebucht. Sie werden schon heute abend in Barcelona eintreffen. Ein Dol 353
metscher wird Sie dort abholen. Eigentlich – vergeuden wir hier nur unsere Zeit. Ich hätte Sie auf dem Konsulat schneller und sicherer instruieren können.« Hyde wandte sich Shelley zu und schüttelte langsam den Kopf. Mit einer achtlosen Geste deutete er auf die Weite des Platzes hinter der Mauer. »Das ist es doch, oder nicht? Das alles wird fallen …« »Sie und sentimental?« »Nein, keineswegs. Ich wollte nur sehen, wofür ich das ei gentlich tue. Die werden doch alle ganz schön die Wände hochgehen, falls die Sache nicht klappt.« Er sah nach OstBerlin hinüber. »Wie wenn einem die gebratenen Tauben im letzten Augenblick doch noch am Mund vorbeifliegen«, fügte er grinsend hinzu. Dann wandte er sich wieder Shelley zu. »Aber Sie wollen doch nicht, daß ich diesem Mann nur ein paar Fragen stelle, oder? In diesem Fall würden Sie doch sicher nicht mich nach Spanien schicken. Sie wollen Velasquez per sönlich – in Madrid oder in London?« »Wie kommen Sie darauf?« »Sie haben Wei in London, der inzwischen den Mund über haupt nicht mehr halten kann. Sie haben meinen Bericht von unserem armen Freund ›Caspar‹ – und jetzt brauchen Sie noch Velasquez, und zwar möglichst in eigener Person. Sozusagen eine kleine Gegenkampagne in der Presse. Sie brauchen diesen Spanier doch, um zu beweisen, daß die Amerikaner und Chine sen diese Geschichte einfach nur erstunken und erlogen ha ben.« »Ja«, gab Shelley zu. »Davenhill ist ein ganz schön gerissener Bursche.« »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Patrick – kommen Sie ihm lieber nicht in die Quere.« »Aber Sie werden mich doch hoffentlich nicht bei ihm an schwärzen?« antwortete Hyde mit einem Grinsen. »Was hält eigentlich Aubrey von der Sache?« 354
»Aubrey würde Sie auf jeden Fall nach Spanien schicken – ganz gleich, wie die Entscheidung des Kabinetts ausgefallen wäre.« »Warum?« »Um die Wahrheit an den Tag zu bringen. Um eine Stimme vorweisen zu können, die sich für Zimmermanns Unschuld ausspricht.« »Und das alles, weil Zimmermann ihm vor vierzig Jahren das Leben gerettet hat?« »Genau. Und wir wissen beide, daß Sie es für Aubrey tun werden.« »Scheiße – ja. Letzten Endes werde ich es für den Alten tun.« Hyde grinste bitter. »Also gut, geben Sie mir schon die Tickets und die Papiere. Aber bevor ich losfahre, sind Sie mir noch ein Mittagessen schuldig. Ich hoffe, Sie haben das nicht verges sen.« »Natürlich nicht«, erwiderte Shelley erleichtert. Sie stiegen die Stufen von der Plattform wieder hinunter. »Wie nahe stand dieser Velasquez Aladko eigentlich?« er kundigte sich Hyde, als sie auf Shelleys Konsulatswagen zutra ten. »Sehr nahe. Er war über mehrere Monate hinweg – vielleicht sogar ein ganzes Jahr lang – seine rechte Hand. Oder sollte ich besser sagen, seine linke? Er stammt aus Aragon, kannte die dortige Gegend sehr gut. Außerdem war er überzeugter Kom munist, wenn auch nicht gerade der hellste. Aber wer wollte schon mehr verlangen?« »Und er war damals also dabei?« »Er muß dabeigewesen sein. Er hat sicher die Gespräche zwi schen Aladko und Zimmermann mitbekommen. Vielleicht fungierte er sogar als Aladkos Gorilla – sozusagen die bittere Pille unter dem Zuckerguß von Aladkos Verhörtechniken. Jedenfalls muß er mitbekommen haben, was sich zwischen den beiden abgespielt hat …« Shelley wirkte in fast übertriebenem 355
Maße enthusiastisch. Zynisch entgegnete Hyde: »Ihnen ist das alles völlig egal – solange er nur dazu gebracht werden kann, zu erklären, Zimmermann wäre kein Kommunist gewesen.« »Wie meinen Sie das?« »Aubrey will die Wahrheit. Die Regierung und ›C‹ und Da venhill und Sie – Sie wollen alle nur eine Stimme.« »Es war in Spanien, Patrick. Es muß in Spanien gewesen sein, falls Zimmermann sich je anwerben hat lassen.« »Sicher«, murmelte Hyde. Shelley wandte sich dem Wagen zu und öffnete die Tür. »Möchten Sie noch ein anständiges Mittagessen, bevor Sie aufbrechen?« »Sicher.« Hyde stieg ein. »Sicher.« »Es tut mir schrecklich leid, Wolfgang, daß es soweit kommen mußte … Du weißt das sehr wohl.« In Vogels Stimme hatte sich ein unehrlicher Ton eingeschli chen. An die Stelle seiner gewohnten Offenheit und Direktheit war eine peinliche, sich selbst entschuldigende Verlegenheit getreten. Das Rücktrittsgesuch – es war angefertigt worden, bevor man Zimmermann in das Büro das Kanzlers im Palais Schaumburg gerufen hatte – lag auf dem großen, prachtvollen Schreibtisch aus dem achtzehnten Jahrhundert, ein weißer Schandfleck auf der sonst leeren Schreibtischauflage aus Le der. Mit einer schwachen Handbewegung verbat Zimmermann sich alle weiteren Entschuldigungen und Ausflüchte. »Ich verstehe«, murmelte er mit belegter Stimme. »Wirklich?« fragte Vogel seufzend. »Du weißt, hätte es einen anderen Ausweg gegeben, ich hätte ihn gewählt. Aber mir blieb wirklich keine andere Wahl …« Zimmermann schluckte und sah auf. Das Licht, das durch das 356
Fenster fiel, blendete ihn. »Ja, natürlich. Aber glaubst du denn wirklich, das wird aus reichen? Wirst du damit das Abkommen tatsächlich retten können?« »Ich hoffe es zumindest.« Vogel zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls scheint mir dies im Augenblick noch die einzige Chance zu sein. Die Stimmen, die sich gegen eine Unterzeich nung des Abkommens aussprechen, berufen sich nun ganz auf die gegen dich erhobenen Anschuldigungen, Wolf. Ich weiß doch, daß das alles Geschwätz ist – aber es verfehlt seine Wir kung keineswegs …« »Wirst du auch ganz sicher das Abkommen nicht fallenlas sen, um deinen Wahlsieg nicht zu gefährden, Dietrich?« fragte Zimmermann, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Wolf, ich bitte dich!« fuhr Vogel fast zu entrüstet auf. »Es geht einzig und allein darum, das Abkommen – unser Abkom men – zu retten. Wie kannst du mir in diesem Punkt solche Hintergedanken unterstellen!« Der Kanzler schien sich fast zwingen zu müssen, hinter seinem Schreibtisch hervorzukom men und auf Zimmermann zuzutreten. Als er schließlich vor ihm stand, fügte er hinzu: »Wenn wieder Gras über die Sache gewachsen ist, hindert dich doch nichts daran, wieder zurück zukommen. Wir werden wieder zusammenarbeiten, wenn sich das Abkommen als Erfolg erwiesen hat.« Zögernd schwebte seine Hand über Zimmermanns Schulter, ohne sich auf sie herabzusenken. »Ja, natürlich«, erwiderte Zimmermann leise. Er sah in Vo gels energisches Gesicht auf. »Natürlich«, wiederholte er. Vogel zog hastig seine Hand zurück, als Zimmermann auf stand. Er straffte seine Schultern und ging zum Schreibtisch. Dann drehte er das Rücktrittsgesuch zu sich herum und griff nach seinem Füllfederhalter in die Brusttasche seines Jacketts. Die goldene Feder, welche Vogel neben dem Papier hatte liegen 357
lassen, ignorierte er. Langsam und bedächtig setzte Zimmer mann seine Unterschrift unter das Schreiben. Er hörte Vogel erleichtert seufzen. Und dann breitete sich fast auf dem Fuß eine angespannte, dringliche Atmosphäre in dem geräumigen, kühlen Raum aus. »Willst du, daß ich meinen Entschluß in Funk und Fernsehen bekanntgebe?« fragte Zimmermann böse. Vogels Miene signalisierte ein plötzliches, überraschtes Schuldgefühl. Dann gewann er jedoch die Kontrolle über seine Gesichtszüge wieder und schüttelte ernst den Kopf. »Nein, Wolf, das möchte ich dir wirklich nicht zumuten. Das werde ich schon erledigen. Ich werde es gleich mit den ersten Nach mittagsmeldungen hinausgeben. Du stehst im Augenblick für keinerlei Kommentare zur Verfügung.« Er betrachtete Zim mermann prüfend, um schließlich hinzuzufügen: »Du wirst dich doch der Presse nicht stellen, Wolf, oder?« Zimmermann schüttelte den Kopf und erwiderte steif: »Na türlich nicht. Ich weiß, wie man sich in solch einem Fall zu verhalten hat, Dietrich.« Und dann fügte er mit blitzenden Augen hinzu: »Aber ich werde natürlich eine Verleumdungs klage einreichen.« »Selbstverständlich – und wann?« »Ich denke, nächste Woche.« »Gut. Also, dann bis nächste Woche.« Vogel trat auf Zim mermann zu, seine Hand ausgestreckt, in seinem Gesicht eine Miene des Bedauerns. Zimmermann erschien der Mund des Kanzlers wie ein übertriebener, gemalter Ausdruck der Be sorgnis, wie man ihn von den weiß geschminkten Zügen eines Clowns kennt. Ebenso kamen ihm die Schatten unter Vogels Augen wie künstlich aufgetragen vor, um den traurigen Ernst dieses Treffens noch zu verstärken. Der Abscheu, den Vogels Züge in ihm weckten, überraschte, schockierte Zimmermann. Sein ältester Freund … Zimmermann räusperte sich und sagte: »Laß nicht locker, 358
Dietrich – auf keinen Fall. Laß das Abkommen nicht fallen!« Er merkte, daß seine Handflächen feucht waren, und zog sie von Vogels Hand zurück. »Das werde ich auf keinen Fall, Wolf. Das verspreche ich dir.« »Na gut. Dann werde ich jetzt gehen, um meinen Rücktritt bekanntzugeben.« »Das ist bereits …« Vogel brach mitten im Satz ab. Zimmermann nickte mit geknickter Ironie. »Ich verstehe. Auf Wiedersehen, Dietrich.« Er durchquerte den Raum in einer Haltung, die Vogel nur als militärisch bezeichnen konnte, öffnete, ohne sich umzuwenden oder noch einmal stehen zu bleiben, die Tür und verschwand. Leise fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. Vogel trat an seinen Schreibtisch und nahm das Rücktrittsge such. Sein erleichtertes Seufzen war echt und tief empfunden, als er die feste, energische Unterschrift betrachtete. Dann drückte er den Knopf der Sprechanlage, um seinen Sekretär zu rufen. David Liu lehnte an der Steinbalustrade der Treppe, die zur Halle Oberster Harmonie im Kaiserlichen Palast, der ehemali gen Verbotenen Stadt, hinaufführte. Nachdem er schließlich den SIS-Offizier in der britischen Botschaft erreicht hatte, waren sie übereingekommen, sich hier zu treffen. Liu blickte um sich. Niemand schenkte ihm Beachtung. »Entschuldigen Sie. Könnten Sie mir vielleicht sagen, ob es hier irgendwo ein Restaurant mit englischem Essen gibt?« sprach ihn eine Stimme an seiner Seite an. Langsam wandte er den Kopf. »Was?« Nachdem er mehrere Tage lang nur Mandarin ge sprochen hatte, kam ihm sein Englisch nur schwer von den Lippen. Auch der Akzent erschien ihm seltsam und sogar unerwartet. 359
»Ja, englisches Essen«, wiederholte der junge Mann zaghaft. »Wo kann ich hier englisches Essen bekommen?« Von seinem Hals baumelte eine Kamera, und er trug ein kurzärmeliges Hemd und eine leichte Hose. Von seiner Schulter hing ein großer Beutel. Sein Gesicht war von der Sonne rosarot ver brannt, und seine Nase fing an, sich zu schälen. Auch hatte er Sommersprossen. »Meinen Sie eines mit Straßenverkauf?« erwiderte Liu zö gernd. »Hallo, mein Name ist Forbes. Von der britischen Botschaft. Sie sind also David Liu, oder nicht?« Forbes wirkte keineswegs unfreundlich. »Ja«, erwiderte Liu stumpf. Forbes blickte sich um. »Wir sollten hier nicht bleiben. Ma chen wir einen kleinen Spaziergang durch den Garten?« Seine Hand deutete auf den Himmel über dem roten Dach der Halle Oberster Harmonie. Liu nahm den Trost in Forbes’ Hand durchaus wahr, als sie sich auf seinen Ellbogen legte. Offensichtlich war sich der Engländer recht schnell bewußt geworden, in welch schlechtem Zustand Liu sich nach den Strapazen der letzten Tage und Stunden noch befand. Forbes machte seinen Begleiter lediglich auf die verschiede nen Einzelheiten des Kaiserlichen Palasts aufmerksam, als sie ihn nach Norden zu durchwanderten, bis sie schließlich die Kaiserlichen Gärten erreichten. Liu seufzte schwer, blieb stehen und holte immer wieder tief Atem, nachdem sie die Galerie verlassen hatten, die sich um die inneren Räume und Höfe von der Halle der Obersten Har monie zog. Schließlich stiegen sie die ausladende Steintreppe in den tiefen Schatten der Pinien und Zypressen hinunter. »Geht’s, alter Junge?« fragte Forbes besorgt. Liu nickte. »Ja, ja, machen Sie sich keine Sorgen.« Unter den Bäumen standen mehrere Bänke. Die alten Chine 360
sen, die auf ihnen saßen, wirkten wie versteinert – als gehörten sie zu der Miniaturlandschaft des Gartens. Liu verscheuchte einen Mückenschwarm. Allmählich ging sein Atem wieder leichter. Forbes nahm einen kleineren Beutel aus seiner großen Schultertasche. »Rasierzeug, neue Kleider, Papiere«, erklärte er fast ent schuldigend, während er Liu den Beutel an seinem langen Riemen reichte. Liu nickte dankbar. »Sie kommen aus dem Süden, aus der Provinz Kwangsi. Das paßt gut zu Ihrer Stimme und Ihrem Akzent. Sie sind auf Urlaub in Peking. Sie sollten ein Hotelzimmer nehmen. Aber versuchen Sie es lieber in einem kleinen, billigen Hotel. Dort nehmen sie es nicht so genau.« Liu nickte von neuem. Er entspannte sich in Forbes’ bestimmten und kompetenten Anweisungen wie in einem warmen Bad. »Ich glaube, das wäre im Augenblick alles.« »Im Augenblick?« fragte Liu mühsam. »Wieso? Ist sonst noch etwas?« »Nun ja«, bemerkte Forbes. »Ich glaube, Sie müssen sich erst von den Strapazen erholen.« Liu rieb sich das Gesicht. »Ich … Ja, das tut mir leid.« »Wie viele haben Sie …?« erkundigte sich Forbes vorsichtig. »Zwei von ihnen.« »Aha. Tut mir leid, aber das genügt noch nicht ganz. Nur kurz in Stichworten vielleicht. Was haben Sie alles entdeckt?« Forbes ließ sich neben Liu auf einer niedrigen Steinmauer nieder, die einen kleinen Steingarten mit ein paar winzigen Büschen und sanft plätscherndem Wasser einfaßte. In schein bar völlig unbeteiligtem Ton berichtete Liu darauf von seinen Gesprächen in Wu Han, seiner darauf folgenden Verhaftung und Fredericksons Geständnis. Er sprach ohne Berechnung und Zurückhaltung. Die Ereignisse gehörten nicht mehr länger ihm. Forbes murmelte hin und wieder etwas oder schlug wütend nach den Mücken. Als Liu mit seinen Ausführungen zu Ende war, sagte Forbes: 361
»Ich glaube, das ist genau, was wir brauchen. Diese Wahrheit.« »Was?« »Schon gut. Sie haben von uns nichts zu befürchten.« Liu schien verwirrt zu sein. »Das habe ich auch nie gedacht.« »Ihre Wahrheit hätte durchaus ungelegen kommen können.« »Ich – habe Mr. Aubrey vertraut.« Forbes schnalzte mit der Zunge. »Aha. Ich habe ihn bisher nur wenige Male gesehen. Aber es stimmt – er erweckt diesen Eindruck.« »Glauben Sie, ich werde mit ihm sprechen können?« »Er ist im Moment leider indisponiert. Aber Sie werden auf der Stelle nach London geflogen werden, sobald wir Sie hier herausbekommen. Dort werden Sie zweifellos mit ihm spre chen können.« »Wie werden Sie mich aus China schaffen?« »Ach, ich versuche mir im Augenblick gerade etwas Passendes und Sicheres auszudenken. Bisher hatte ich leider noch nicht allzuviel Zeit …« »Und was soll in der Zwischenzeit geschehen?« Forbes merkte, daß Liu wieder Verdacht zu schöpfen begann. Er hatte sich dem halb betäubten, schlafwandlerischen Zustand des Rückzugs vor den letzten Geschehnissen, den Morden und seiner Flucht entrissen. Er war wieder in der realen Welt ange langt. »In der Zwischenzeit ist Ihre Tarnung als Tourist das sicher ste. Sie haben keine Arbeit. In Ihrer Tasche werden Sie eine kleine Kamera finden. Machen Sie ausgiebig Gebrauch davon. Unternehmen Sie morgen einen Ausflug zur Chinesischen Mauer. Das tun alle. Ich werde als ein anderer Tourist daran teilnehmen. Und bis dahin werde ich auch Genaueres wissen, wie wir Sie aus China schaffen können.« Er tätschelte Lius Arm. »Machen Sie sich keine Sorgen. Die Leute in London sind sehr daran interessiert, mit Ihnen persönlich zu sprechen. Das ist eine gute Sicherheitsgarantie.« 362
»Und danach?« »Ebenfalls kein Grund, sich Sorgen zu machen. Der übliche Handel. Neue Identität, Pension, Umschulung, wenn Sie wol len. Sehen Sie nur zu, daß Sie sich nicht unter Preis verkau fen.« Forbes lachte leise. »Buchen Sie für morgen eine Fahrt zur Chinesischen Mauer. Sie dürften dort etwa mittags oder am frühen Nachmittag eintreffen. Dann können wir uns weiter unterhalten.« Der Park war inzwischen fast dunkel. Schatten hafte Gestalten huschten an ihnen vorüber. In der Ferne ertönte eine Trillerpfeife. Liu zuckte zusammen, aber Forbes berührte ihn beruhigend am Arm. »Sie schließen jetzt den Park«, erklär te er. »Wir müssen gehen.« Er stand auf. »Alles in Ordnung?« »Ja, danke.« »Nichts zu danken. Bis morgen also. Und vergessen Sie nicht: Sie sind ein Tourist.« Er kicherte. »Und noch etwas – Sie sind schon fast zu Hause und in Sicherheit.« Forbes winkte ihm zu und ging davon. Liu blieb noch eine Weile sitzen. Die Trillerpfeife ertönte noch ein paarmal, ohne Liu zu er schrecken. In seiner Schultertasche befand sich seine neue Identität, in deren Schutz er sich nun zurückziehen konnte. Als er die Augen schloß, konnte er die Pinien riechen. Schließlich gesellte er sich zu den letzten Besuchern der Ver botenen Stadt und verließ durch das Tor Göttlichen Stolzes die Kaiserlichen Gärten. Während er auf einen Bus wartete, um zum Hauptbahnhof zu fahren, wo sich viele der billigen Hotels befanden, betrachtete er die Lichter der Stadt und die kälteren Sterne darüber. Der Dolmetscher der Station in Madrid hieß Fernando de Lor ca. Er war jung, gut gekleidet, gutaussehend und intelligent. Er hatte bereits einen Leihwagen gemietet, als er mit offensichtli chem Diensteifer und voller Tatendrang auf dem Flughafen Muntadas von Barcelona wartete. De Lorca war zwei Stunden vor Hyde mit einer Maschine der Iberia aus Madrid nach Bar 363
celona gekommen. Die Waffe, die man ihm in der Botschaft in Madrid für Hyde mitgegeben hatte, war eine neue belgische FN 7,65 mm mit speziellen Geschossen, so daß dieses Modell eine größere Durchschlagskraft hatte als die meisten anderen Waf fen dieses Kalibers. Hyde hatte diesen Typ erst wenige Male benutzt, hatte aber keinerlei Beanstandungen hinsichtlich sei ner Funktionstüchtigkeit geäußert. Der Abend war heiß und trocken, und die Luft war schwer von Staub und Abgasen, als de Lorca Hyde zu dem Mietwagen, einem Audi, führte. Wenige Minuten später fuhren sie auf der E4 in Richtung Westen. »Wir werden fast die ganze Nacht brauchen«, erklärte de Lorca entschuldigend. Hyde sank tiefer in den Sitz. »Das macht nichts. Schließlich fahren ja Sie.« »Aha, so ist das also«, erwiderte de Lorca ohne Groll. »Dieser Velasquez – wo lebt er eigentlich?« »Oben in den Pyrenäen, im Ordesa-Nationalpark. Er lebt dort ganz allein, er hat keine Familie.« Hyde rieb sich die Arme. »Das soll es ja ab und zu geben. Wie weit ist es bis dorthin?« »Schätzungsweise dreihundert Kilometer. In Meilen etwa hundertachtzig.« De Lorca seufzte, als stellte sich die vor ihm liegende Strecke als eine Art Melodram dar. »Wo werden wir zu Abend essen?« »In Lerida.« De Lorca lächelte. »Ich kenne dort ein gutes Restaurant. Wir werden gerade rechtzeitig zum Abendessen kommen.« »Sehr gut. Und Sie sind sicher, daß Velasquez auch zu Hause ist?« »Ja, ganz sicher.« »Und Sie wissen auch, daß in dieser Angelegenheit nicht nur – geredet werden wird?« »Ja. Auch ich bin bewaffnet, Mr. Hyde. Ich bin mir durchaus 364
im klaren, daß wir einen spanischen Bürger kidnappen wer den.« Hyde ließ die Gewichtigkeit dieser Worte aufschauen. Im Licht eines entgegenkommenden Wagens sah er de Lorcas weiße Zähne aufleuchten. Hyde machte es sich in seinem Sitz bequem. Der Bursche war offensichtlich in Ordnung. »Sie wissen, was sie zu tun haben«, sagte Kominski mit einem Anflug von Strenge in seiner Stimme. »Das erste Zielobjekt, Velasquez, wird morgen früh getötet werden. Die anderen kommen dann die restlichen drei Tage.« Petrunin war sich hinsichtlich des größeren Selbstvertrauens des jungen Mannes im klaren. Die Order war erteilt worden – die Order für seine Rückkehr nach Moskau. Und er würde bestimmt keinen Orden bekommen oder befördert werden. Die Zentrale in Moskau hatte die Geduld verloren und suchte nun nach einem Sündenbock. Kominski wußte das und schwelgte nun in diesem Wissen. »Ich hoffe, wir können uns darauf verlassen, daß Ihre Leute mit der entsprechenden Effizienz vorgehen.« »Wenn es nach mir ginge – ich würde eine Eliteeinheit der ETA nicht nur um ihrer eigenen Sicherheit wegen auf der französischen Seite der Pyrenäen stationieren«, erwiderte Kominski nicht ohne eine gewisse Aufmüpfigkeit. »Und auch von unserem Rezidenten in Madrid glaube ich das nicht.« Der Tonfall des jüngeren Mannes schien Petrunin geradezu prophetisch. Seine Zurückberufung nach Moskau war für Kominski Adrenalin. Er hatte im Lauf des Gesprächs bewußt vermieden, Petrunins Rang zu nennen, und studierte nun seine Fingernägel, als wartete er darauf, einen lästigen Besucher loszuwerden. »Sie haben vermutlich recht«, murmelte Petrunin. Und doch war da noch etwas, was Kominskis Zuversicht leicht beein trächtigte – vielleicht Petrunins Ruf, alle Fährnisse und An fechtungen zu überdauern. Er war geradezu berüchtigt dafür, 365
aus allen Krisen letztlich doch als Sieger hervorzugehen. Und als Petrunin seine Hände in den Lichtschein der Lampe auf den Schreibtisch legte, waren sie ruhig und zuversichtlich. »Also gut. Die Zentrale in Moskau stimmt mit mir überein, daß diese Eliminierungen durchgeführt werden müssen. Es darf keinerlei weiteres für Zimmermann belastendes Material an den Tag kommen. Und da uns von selten Madrids bestätigt wurde, daß sich die Engländer für Spanien und Aladkos alte Mitkämpfer interessieren, dürfte es auf jeden Fall sicherer sein, wenn wir sie dort absolut nichts mehr vorfinden lassen.« »Aber, wenn Zimmermann unschuldig ist …« »Das ist er. Aber Sie wissen doch selbst, wie leicht manche Menschen dazu überredet werden können, Dinge zu sagen, die in keinster Weise den Tatsachen entsprechen, Anschuldigun gen zu erheben, Zweifel zu schüren. Dadurch werden sie zu mindest nichts finden, was sich gegen Zimmermann verwenden – nichts, das sich für ihre Zwecke verdrehen und entstellen läßt. Und auch nichts, dessen sich die Amerikaner zu einem späteren Zeitpunkt bedienen könnten.« »Wenn wir Velasquez am Leben ließen – vielleicht könnten wir dann die Engländer überzeugen, daß …« »Nein! Würden Sie den Engländern trauen? Morgen werden sie vielleicht glauben wollen – und sagen, daß Zimmermann ein sowjetischer Agent ist. Dazu könnten die Amerikaner sie ohne weiteres veranlassen. Und dann werden auch Velasquez und die anderen sagen, was man von ihnen hören will. Nein, auf diese Weise kann es zumindest keine Lügen geben.« »Jawohl, Genosse General.« Kominski war jedoch offen sichtlich nicht überzeugt. »Genosse General«, begann Kominski schließlich, indem er sorgsam Petrunins Rang abwägte. »Unsere Meldungen bestäti gen, daß die Briten hinsichtlich Velasquez’ und einiger anderer Männer Nachforschungen angestellt haben …« »Leider stirbt Velasquez schon am frühen Morgen. Wen auch 366
immer sie also losgeschickt haben, er wird die weite Reise umsonst unternommen haben …« Schickt Hyde, schickt Hyde, schickt Hyde … Petrunin hatte keine Kontrolle mehr über die Litanei in sei nem Kopf. Sein Rachedurst war stärker als der Wunsch, sich aus dieser Klemme zu befreien. Er hatte zwar Aubrey nicht erwischt, aber nun mußte er Hyde töten. Hyde mußte sterben. »Haben Sie die nötigen Anweisungen erteilt?« fragte Petru nin barsch. »Jawohl, Genosse General. Die Gruppe rechnet mit dem Ein schreiten der Engländer – und wird ihm mit dem maximalen Effekt entgegentreten.« »Ein Jargon«, seufzte Petrunin. »Wie aus dem Lehrbuch.« Und dann fügte er hinzu: »Ist mein Wagen bereit? Ich werde direkt zum Flughafen fahren.« »Selbstverständlich, Genosse General.« Kominskis frühere Überlegenheit gewann allmählich wieder die Oberhand. Und mit unverhohlener Ironie fügte er hinzu: »Sie werden noch vor Tagesanbruch in Moskau eintreffen. Ich beneide Sie um Ihre Rückkehr.« »Sie wissen genausogut wie ich, daß das Blödsinn ist, Ko minski.« Der jüngere Mann schien sich eine Antwort zu ver kneifen. Petrunin stand auf. »Also gut, gehen wir. Und sobald Sie irgendwelche Nachrichten vom Fortgang dieser Eliminie rungen haben – speziell der von Velasquez –, möchte ich sofort informiert werden. In Moskau.« »Glauben Sie wirklich, daß die Engländer diesen Hyde nach Spanien schicken werden?« fragte Kominski leise. Unwillkür lich fuhr der General auf und drehte sich zu ihm um. »Ja, Aubrey wird ihn nach Spanien schicken. Ich an seiner Stelle täte das jedenfalls.« Kominski schloß die Tür seines Büros hinter ihnen. Der Kor ridor war leer, nur das Geräusch eines Staubsaugers war aus einem anderen Raum des Gebäudes zu hören. 367
Schickt Hyde, schickt Hyde, schickt Hyde … Petrunins Ge danken drehten sich im Kreis. »In Ordnung, Oberst, das ist gut – sehr gut sogar.« Frederick son stand am Fenster des Büros des Leiters der CIA-Station in der amerikanischen Botschaft in der Guanghua-Straße. Der Telefonhörer war leicht feucht vom Schweiß seiner Aufregung und Erleichterung. Die ganze Nacht hatte er auf den Anruf aus dem Ministerium für öffentliche Ruhe gewartet. »Gut«, sagte er noch einmal. »Sehr, sehr gut.« »Leider«, fuhr der Oberst fort, »haben meine Männer Liu irgendwo in der Nähe des Bahnhofs aus den Augen verloren.« »Scheiße!« »Das ist natürlich höchst bedauerlich. Sie werden auch ent sprechend zur Verantwortung gezogen werden. Wir überprüfen im Augenblick immer noch sämtliche Hotels und Pensionen in diesem Gebiet.« »Glauben Sie, Sie werden ihn aufspüren?« Der Schweiß auf Fredericksons Stirn fühlte sich inzwischen kalt an. »Er hat sich bereits mit den Engländern in Verbindung gesetzt, verdammt! Sie werden ihn aus China schaffen.« »Ich bin mir über den Ernst der Lage durchaus im klaren, Mr. Frederickson. Wir kennen jedoch Forbes. Wir kennen jeden Angestellten der britischen Botschaft, der für den Geheim dienst arbeitet. Wir werden also in der Zwischenzeit Forbes und die anderen überwachen. Sie werden sich noch einmal treffen – vermutlich später irgendwann.« »Sie klingen ja verdammt zuversichtlich …« »Das bin ich auch. Liu kann die Botschaft nicht betreten, oh ne gestoppt zu werden. Das wird auch den Engländern klar sein. Er wird also auf inoffiziellem Wege aus dem Land ge schafft werden müssen. Und so etwas bedarf immer umfang reicher Vorbereitungen.« »Na gut, kann schon sein. Langley und Peking stehen in 368
ständigem Kontakt. Wußten Sie das?« »Natürlich.« »Ich warte jeden Augenblick auf eine Entscheidung von oben, was wir hinsichtlich Lius unternehmen sollen.« »Das tue ich auch.« »Und was für einen – Lösungsvorschlag erwarten Sie?« »Eliminierung.« »Ganz meiner Meinung. Nur – wir haben den Burschen noch nicht.« »Wir werden ihn uns schon schnappen, Mr. Frederickson. Forbes werden wir auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Und Forbes wird uns zu Liu führen.« »Dieser Bursche muß einfach weg. Ich hoffe nur, daß sich auch Langley der Notwendigkeit dessen bewußt ist.« »Dessen bin ich mir absolut sicher. Und jetzt, gute Nacht, Mr. Frederickson. Falls es irgend etwas Neues geben sollte, werden Sie selbstverständlich umgehend von mir hören.« »Ich danke Ihnen, Oberst. Gute Nacht.« Frederickson legte den Hörer auf die Gabel und massierte sich die Stirn. Seine Finger waren naß von Schweiß. Wo zum Teufel steckte Liu? Um jemanden zu eliminieren, brauchte man einen Körper, um ihn zu einer Leiche zu machen. Sie mußten Liu finden. Frederickson war sich sicher, daß ihn Lang ley beiseitegeräumt haben wollte – und zwar umgehend. Aber wo steckte der Kerl nur? 14. Endpunkt Der verantwortliche Leiter der ETA-Gruppe, der auch mit dem Rezidenten in Madrid in Verbindung stand, war ein französi scher Baske. Über das Telefon – die Verbindung war zudem sehr schlecht – hatte Petrunin Mühe, das Französisch des Man nes zu verstehen. Er hatte einen eleganten Pariser Akzent – die 369
Sprechweise der gebildeten Oberschicht, vielleicht ein Arzt oder Jurist. »Haben Sie verstanden?« fragte Petrunin noch einmal und hob seine Stimme. Vor der Telefonzelle scherzte Kominski mit den Sicherheits beamten, die seine Eskorte bildeten. Einer von ihnen würde Petrunin nach Moskau begleiten – angeblich, um ihn zu be schützen, in Wirklichkeit jedoch, um zu gewährleisten, daß er auch wirklich dort ankam. Kominski hatte Petrunin sein Profil zugewandt und kümmerte sich offensichtlich nicht darum, ob seinem Vorgesetzten seine gute Laune nun auffiel oder nicht. Die Abfertigungshalle war ruhig, fast menschenleer. »Ja.« Die Antwort des Gruppenführers war schwach, durch die Entfernung verwaschen. »Ich habe verstanden, Genosse General.« »Sie wissen, wie Sie vorzugehen haben?« beharrte Petrunin. »Ja.« »Daß Sie auf jeden Fall warten müssen, bis die Briten in Ak tion treten.« »Ja.« Der Baske schien Petrunins neu erteilte Befehle ohne Zögern entgegenzunehmen. Sicher würde er sie sich nicht mehr von anderer Stelle bestätigen lassen wollen. Dieser Mann würde die Befehle eines KGB-Generals ohne auch nur einen Gedanken an Widerspruch zur Kenntnis nehmen. »Und es muß zum Abschluß kommen.« »Ich werde die entsprechenden Anweisungen erteilen, Ge nosse General. Dafür wird die Zeit gerade noch ausreichen, bevor sie die spanische Grenze überqueren.« »Sehr gut. Und dann – viel Erfolg.« Als er den Hörer wieder auflegte, der in seiner Hand feucht geworden war, hatten seine Gedanken den Siedepunkt erreicht. Er konnte kaum das Zittern unter Kontrolle halten, das von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. Er haßte Kominski, der immer noch mit den anderen herumlachte. Aber Hyde … 370
Ja, jetzt hatte er ihn. O ja … Er trat aus der Telefonzelle. Kominski wandte ihm sein lä chelndes, wissendes, überlegenes Gesicht zu. Es erinnerte ihn an seine kalte, ungewisse Zukunft. Er schauderte. Er würde sich während des Flugs nach Moskau am Alkohol und den Gedanken an Hydes Tod und Aubreys Frustration wärmen. Hyde war die Nacht wie ein endlos langer, ununterbrochener Aufstieg in die Berge erschienen. Kurz nachdem sie in Lerida zu Abend gegessen hatten, waren sie in Barbastro von der Hauptstraße abgebogen, um entlang des Rio Cinca in Richtung Aragoneser Pyrenäen zu fahren. Hyde schlief unruhig und bot de Lorca kein einziges Mal an, ihn am Steuer abzulösen. In dieser wilden und unwirtlichen Landschaft und dazu nachts war sein Vertrauen in seine Fahrkünste etwas gedämpft. Dage gen schien de Lorca noch keinerlei Zeichen von Müdigkeit zu zeigen. In Ainsa folgten sie der kurvenreichen E136 am Ufer des Rio Ära entlang in die Pyrenäen. Wie ein erschöpftes Tier glitt die Morgendämmerung in das Flußtal. Hinter Broto stieg die Stra ße nach Torla und zum Ordesa-Nationalpark dann steiler an, während sich der Ära immer wilder und hastiger den Niede rungen zubewegte, aus denen sie gerade kamen. In Torla war bereits ein winziges, dunkles Café geöffnet. Gierig verschlan gen sie das warme Brot und tranken dunklen, bitteren Kaffee. Draußen auf dem kleinen Platz war es noch kühl, und die metallenen Tische und Stühle waren feucht von der Kälte der Nacht. Die Sonne war noch nicht über die Gipfel der Sierra de las Cutas geklettert, aber sie erstrahlten bereits in kräftigem Gold. Die wenigen, kleinen Wolken am Himmel schimmerten in zartem Rosa. »Was wissen wir eigentlich über Velasquez?« fragte Hyde, als sich de Lorca gerade eine Zigarette anzündete. Der Rauch hing schwer wie Pulverdampf in der Luft. 371
»Er arbeitet hier schon seit einigen Jahren als Waldarbeiter. Vermutlich so eine Art Pension.« »Er ist die ganze Zeit in Spanien gewesen – ich meine, die letzten vierzig Jahre?« fragte Hyde überrascht. »Nein. Während des Krieges war er in Frankreich – mit der Maquis natürlich.« De Lorca zupfte sich einen Tabakkrümel von der Unterlippe und trank seine Tasse leer. »Noch einen?« fragte er. Hyde nickte, worauf de Lorca ihre beiden leeren Tassen in das dunkle, aromatische Innere des Cafés trug. Als er zurückkam, nahm er das Gespräch sofort wieder auf. »Nach dem Krieg konnte er natürlich nicht zurück nach Spanien. Wie unzählige andere war er als Kommunist und Republikaner gebrandmarkt. Er wäre sofort ins Gefängnis gekommen.« »Wohin ist er dann gegangen?« »Er blieb in Frankreich. Wir vermuten, direkt an der Grenze. Jahr um Jahr. Stellen Sie sich das einmal vor …« De Lorca beugte sich über seine Tasse nach vorn. Die Zigarette zwischen seinen Fingern zitterte. »Er brauchte nur den Kopf zu heben, um Berge sehen zu können, die in Spanien lagen, in seiner Heimat. Solange Franco noch lebte, konnte er natürlich unmög lich hierher zurückkommen. Ich kann mir gut vorstellen, daß er noch am selben Tag, als der Generalissimo starb, die Grenze überquert hat.« De Lorca lächelte mit überraschender Bitter keit. »Er hat als Landarbeiter und Waldarbeiter gearbeitet – vielleicht auch gewildert … Ich weiß es nicht. Alles, was man in den Bergen eben so an Arbeit finden kann.« »Und hatte er Familie?« »Nein. Niemanden. Sie können sich ja selbst denken, daß er ein bißchen schwierig war, wenn Sie sich einmal sein Leben seit dem Bürgerkrieg ansehen. Er wird sicher ganz schön stur und hartnäckig sein – also mit Sicherheit niemand, der sich freiwillig kidnappen läßt.« »Das ist mir durchaus klar.« Hyde trank seine zweite Tasse Kaffee. Die Spitze des Kirchturms hatte sich inzwischen von 372
der Morgensonne golden verfärbt. »Wie weit ist es jetzt noch?« »Der Ordesa ist ziemlich klein. Nicht mehr als höchstens zwölf, dreizehn Kilometer.« »Können wir die ganze Strecke fahren?« »Ein Stück werden wir zu Fuß gehen müssen – etwa den letz ten Kilometer. Aber das ist weiter kein Problem.« Er warf einen kurzen Blick auf Hydes Wildlederstiefel. »Die werden schon gehen. Ich habe im Kofferraum ein Paar Wanderschuhe. Außerdem könnten wir im Hotel hier welche leihen. Sind Sie fertig?« Hyde stand auf. »Ja, gehen wir.« De Lorca legte ein paar Münzen auf den Tisch, und dann stiegen sie wieder in den Audi. »Wie wollen Sie Velasquez eigentlich aus Spanien schaf fen?« fragte de Lorca, während sie weiter den Rio Ära entlang fuhren. Die Sonne war inzwischen über die Berge gekommen. Wo er nicht vor Ungeduld weiß schäumte, gleißte der Fluß im Sonnenlicht. Die Häuser waren mit Licht gekalkt. »Haben Sie die Papiere?« De Lorca nickte. »Sie wollen ihn so schnell wie möglich. Wir sollen Velasquez Shelleys Leuten in Tarbes übergeben. Sie werden ihn dann ausfliegen.« »Das klingt einleuchtend. Mit den Papieren, die man mir in Madrid ausgehändigt hat, kann ich ihn über die Grenze schaf fen. Er wird sich zwar mit Händen und Füßen wehren …« »Das weiß ich. Aber er wird wohl müssen, oder nicht?« »Ja.« Sie passierten das Hotel und den Campingplatz. Unwillkür lich mußte Hyde an die mückendurchsetzte Abendluft auf jenem Campingplatz in der Nähe von Wittenberg denken. Dadurch wurde ihm jedoch zugleich auch ›Caspar‹ ins Ge dächtnis zurückgerufen, und er beeilte sich, an etwas anderes zu denken. Sie überquerten den Ära auf der Puente de Los Navarros, und dann begann der Ordesa-Nationalpark. In steilen Windungen strebte die Straße von der Talsohle die Abhänge 373
des Cañyon hinauf, bis dieser mit dem Rio Arazas in der Tiefe in voller Länge vor ihnen lag. Die Felswände zu beiden Seiten des Wasserlaufs leuchteten in der Sonne in kräftigen Stahl- und Ockertönen auf. Die flacheren Hänge am Fuß der steilen Fels klippen waren dicht mit Fichten, Lärchen und Buchen bewal det. »Großartig«, bemerkte Hyde, da anscheinend ein Kommentar von ihm erwartet wurde. »Der alte Velasquez hat wirklich keine schlechte Wahl getroffen.« »Na ja, lange genug hat er ja gewartet«, bemerkte de Lorca. Zwischen den silbernen Stämmen der Buchen hindurch fiel das Sonnenlicht schräg über das felsige Flußbett. Zwischen den Bäumen und Büschen entlang des Ufers entdeckte Hyde ver einzelte Angler. Von einer Lichtung flüchtete ein Hirsch oder eine Gemse ins Dickicht des Waldes. Er versuchte, das Tier zu beobachten, aber er verlor es aus den Augen. »Eine Ziege«, meinte de Lorca. Der Parkplatz war von Buchen und Pappeln gesäumt und er streckte sich bis zum Fluß hinab. Er war sauber und ordentlich. Die Luft erwärmte sich langsam und duftete würzig und frisch. De Lorca parkte den Wagen und zog sich dann die Wander schuhe aus dem Kofferraum an. Schließlich zog er unter dem Armaturenbrett eine Landkarte hervor und zeigte sie Hyde. »Hier ist er.« Er deutete auf ein Kreuz, das fein säuberlich in die Karte eingezeichnet war. Dann hob er seine Hand. »Dort oben«, erklärte er und deutete nach Norden. »Etwa eineinhalb bis zwei Kilometer von hier.« Er lächelte nervös. »Oder vier oder fünf«, fügte Hyde hinzu. »Also gut, gehen wir schon los.« »Ja.« Automatisch ließ Hyde seine Blicke über die anderen Autos auf dem Parkplatz gleiten. Französische, englische Nummern schilder. Sie sagten ihm nichts. Was erwartete er eigentlich? Überhaupt etwas? Nichts? 374
In dem Restaurant am anderen Ende des Parkplatzes schlug eine Tür zu. Das Geräusch hallte wie ein Schuß durch das Tal. Hydes Hand zuckte von der Kühlerhaube des Audi zurück, als hätte er sich verbrannt. De Lorca betrachtete ihn prüfend. »Unter der Oberfläche sind Sie sehr müde, mein Freund«, meinte er schließlich. »Ja«, gab Hyde verlegen zu. »Aber immer noch genug für einen kleinen Marsch. Gehen Sie schon voraus, El Cid.« De Lorca grinste. Seine Miene hätte vielleicht als ein Aus druck der Erleichterung gedeutet werden können. »Hier lang – Ned Kelly.« »… falsch eingeschätzt – in schwerwiegendem Maße falsch eingeschätzt, was die allgemeine Stimmung in Deutschland betrifft. Mit dem größten Bedauern, aber doch in dem Wissen, damit dem Willen des deutschen Volkes nachzukommen, erkläre ich hiermit, daß das sogenannte Berlin-Abkommen morgen nicht unterzeichnet werden wird.« Die Aufzeichnungen seiner vorbereiteten Erklärung in den Händen, beugte Vogel sich vertraulich vor. Das Fernsehstudio war klein, und nur zwei Kameras waren auf ihn gerichtet. Hinter ihm stand ein in neutralem Grau gestrichener Wand schirm. Jedoch wurde nun, um neun Uhr morgens, seine Rede über sämtliche Rundfunk- und Fernsehstationen der Bundesre publik gesendet. Auch in ganz Europa und – per Satelliten – in den Vereinigten Staaten wurde sie übertragen. Und er wußte mit absoluter Sicherheit, daß er auch in der DDR und in der Sowjetunion gesehen und gehört wurde. Er war sich seiner Rolle als Schauspieler durchaus bewußt, in der er ein riesiges, überraschtes Publikum in seinen Bann zog. Dietrich Vogel und seine Partei, die SPD, lagen nach Anga ben verschiedener Meinungsumfragen inzwischen zwölf Pro zent hinter den Christdemokraten zurück. Sie würden die Wah len in zwei Wochen klar verlieren. Dessen war er sich absolut 375
sicher. Er mußte das Berlin-Abkommen fallenlassen. Er wollte sich räuspern oder einen Schluck Wasser aus dem Glas auf seinem Tisch nehmen. Aber er versagte es sich. Er wußte sich der zunehmenden leichten Heiserkeit seiner Stimme geschickt zu bedienen. Sie deutete Gefühle an, die er nicht verspürte. »Sie werden daraus vielleicht schließen«, fuhr er fort, »diese Entscheidung sei voreilig gefällt worden – mir durch die Erei gnisse der jüngsten Vergangenheit und die Ergebnisse der Meinungsumfragen diktiert und aufgezwungen worden. Lassen Sie mich dazu nur eines sagen – die Verleumdungen gegen meinen engen Mitarbeiter Wolfgang Zimmermann, die ihn zum Ausscheiden aus meinem Mitarbeiterstab gezwungen haben, zählen zu den unliebsamsten und schwärzesten Vorkommnis sen in der Geschichte der deutschen Medien.« Vogels Mund verzog sich zu einer blutleeren, wütenden Linie. »Wenn eines Tages die Wahrheit an den Tag kommen wird – und glauben Sie mir, das wird geschehen –, werden Sie selbst entscheiden können, wie tiefes Unrecht diesem Mann widerfahren ist.« Er schüttelte tadelnd, jedoch nicht ohne ein wohlwollendes Mitge fühl, den Kopf. »Was die Meinungsumfragen betrifft«, fuhr er nach kurzer Pause fort, »haben wir uns natürlich danach zu richten. Nicht als Vorgehensmaßstab im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen, sondern als Ausdruck der mangelnden Begeisterung des deutschen Volkes für das Berlin-Abkommen. Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, daß das Abkommen nicht ratifi ziert würde, falls Sie sich dagegen aussprechen sollten. Und dieses Versprechen löse ich nun ein. Es wird kein BerlinAbkommen geben. Die Zeit ist dafür noch nicht reif. Wenn es jedoch soweit ist – wenn Sie mir zu verstehen geben, daß Sie Deutschland wieder geeint sehen möchten, im Frieden mit seinen Nachbarn –, dann wird es dazu auch kommen. Das verspreche ich Ihnen.« 376
Er wandelte das Kitzeln in seiner Kehle in ein unterdrücktes Husten voller tiefer und schmerzlicher Gefühle um. »Die Grö ße Deutschlands hängt nicht von den Verträgen oder Handels abmachungen, von Stacheldrahtzäunen und Mauern ab. Sie ruht in seinen Bürgern und in deren politischer Willensäuße rung. Die Menschen Deutschlands können nicht getäuscht oder fehlgeleitet werden. Das Berlin-Abkommen wird nicht unter zeichnet werden, weil Sie dies nicht wünschen und zwar einzig und allein aus diesem Grund und keinem anderem.« Er blickte weiter unverwandt in die Kamera, die Miene von ernster Würde geprägt. Das rote Licht an den Kameras erlosch. Vogel entspannte sich. Geschafft. Ohne den Mühlstein des Abkommens am Hals konnte er die Wahlen immer noch ge winnen. Er war eifrig darauf bedacht, nicht plötzlich seinen Gesichtsausdruck zu ändern. Was hätten sonst die Fernseh techniker von ihm denken sollen? Aber ja – ja, er konnte es immer noch schaffen … Der arme Wolf … Er konnte die Wahlen immer noch gewinnen. Der arme Wolf … Sein Bedauern währte jedoch nicht lange. Diese Entschei dung war eine politische Notwendigkeit. Es ging ums Überle ben. Alles stand auf dem Spiel. Zu seinen Lebzeiten würde Deutschland jedoch nicht wieder vereint werden. Aber er, Dietrich Vogel, würde eine weitere Amtsperiode als Kanzler antreten. Der arme Wolf … Er verbannte den Gedanken an Zimmermann aus seinem Kopf und straffte die Schultern, während er aufstand. »Ein englischer Wagen und ein anderer, der dem Nummern schild nach aus Barcelona kommt. Sonst ist nicht viel zu se hen.« Die Antwort knackte aus dem Sprechfunkgerät in der Hand des Mannes. Er sah zu den fichtenbestandenen Bergen auf. 377
Irgendwo dort oben? »In Ordnung, wir werden die Augen offen halten. Wie lange …?« Der Mann befühlte die Kühlerhaube des Audi mit dem HertzAufkleber und dem Nummernschild aus Barcelona. Sie war noch leicht warm – wärmer als der Rest der Karosserie. Der Motor konnte also noch nicht allzu lange stillgestanden sein. »Vielleicht eine halbe Stunde – auf keinen Fall länger als eine Stunde.« »Gut. Ihr Vorsprung ist also nicht allzugroß. Wir haben noch etwa sechs bis sieben Kilometer vor uns.« »Soll ich hier warten – falls sie hierher zurückkommen?« Das Sprechfunkgerät knackte, und dann ertönte wieder die blecherne, quäkende Stimme: »Nein, fahren Sie schon zum nächsten Zielpunkt – Pamplona. Arrangieren Sie bereits den optimalen Ort und Zeitpunkt. Ich möchte dort heute nacht fertig sein.« »In Ordnung. Ende der Durchsage.« Er schaltete das Sprechfunkgerät aus und ließ seine Blicke über den Parkplatz wandern. Zeit für einen Kaffee? Vielleicht … Er tätschelte die warme Kühlerhaube des Audi, als würde das Glück bringen, und ging zum Restaurant. Die Kühle der unterirdischen Marmorpaläste schien wie eine böse Prophezeiung in seine Knochen gefahren zu sein. Er rieb sich beim Aussteigen aus dem Bus die Arme. Die restaurierte Badaling-Sektion der Chinesischen Mauer befand sich direkt vor ihnen. Von seinem Handgelenk baumelte an einem Plastik riemen die billige, kleine Kamera. Bevor sie zur Chinesischen Mauer gefahren waren, hatten sie die Ming-Gräber, fünfzig Kilometer nördlich von Peking, besucht. Was David Liu ur sprünglich nur als eine Verzögerung erschienen war, artete mit einemmal in einen seltsamen und schwerwiegenden Ausdruck 378
seiner Isolation aus. Die gigantischen unterirdischen Marmor gräber mit ihren kühlen, hallenden Gewölben hatten ihn be drückt – ein Gefühl, von dem er auch noch infiziert schien, als der Bus längst seine Fahrt zu dem von den Touristen bevorzug ten Abschnitt der Mauer bei Badaling fortgesetzt hatte. Die Nacht hatte Liu in einem billigen Hotel verbracht, das, eingezwängt zwischen Läden und verfallenen Steinhäusern, in der Nähe des Bahnhofs lag. Er hatte schlecht geschlafen, da er wußte, daß sie sicher nach ihm suchen würden, nachdem er seine Beschatter abgeschüttelt hatte. Halb wachend, halb schla fend, wartete er ständig auf das Klopfen an der Tür, das er noch vor Tagesanbruch erwartete. Jedoch niemand war gekommen. Seine Reserven an Zuversicht und Hoffnung waren erschöpft. Unfähig, sich zu entspannen oder etwas zu essen, streifte er die meiste Zeit des Vormittags durch die Straßen und durch überfüllte, laute und dunkle Cafés. Als er schließlich nach dem Mittagessen die Rundfahrt in dem Bus antrat, besserte sich seine Stimmung etwas, um dann jedoch durch den Besuch der Gräber endgültig auf den Nullpunkt zu sinken. Der neu restaurierte Abschnitt der Chinesischen Mauer wand sich wie eine endlose Schlange über die Gipfel und Senkungen der Jundu-Berge. Sie schien tatsächlich zu leben, wie sie sich geschmeidig durch die Landschaft schlängelte. Rasch bewegten sich die Teilnehmer der Rundfahrt an den Andenkenläden am Fuß der Mauer vorbei auf den nächsten Wachturm zu. Liu begann vorsichtig Ausschau zu halten – nach Forbes, nach möglichen Verfolgern, nach dem plötzlichen Aufleuchten des Erkennens in einem der Gesichter, die ihn umgaben. Ein amerikanischer Akzent ließ ihm beim Besteigen des Wachturms Tränen in die Augen treten, als hätte er von der anderen Seite der Gefängnismauern die Stimme eines Freundes oder nahen Verwandten gehört. Deutsche, Engländer, Ameri kaner, Japaner, Chinesen. Flöhe auf dem Körper der gewalti gen Schlange. Weiß wand sich die Mauer in der Sonne über die 379
grünen und braunen Berge. Der Wind trug einen Eishauch von Winter aus dem Norden herunter. Ihre Reiseleiterin ging vor ihnen her und leierte sämtliche Fakten herunter, die sie über die Mauer und ihren Bau wußte – mit Ausnahme der Hunderte von Tausend Menschenleben, die ihre Errichtung im Lauf der Jahrhunderte gekostet hatte. Sie war jetzt fünftausend Kilome ter lang. Früher waren es vielleicht sogar einmal fünfzigtau send gewesen … Die; Zahlen betäubten ihn. Die Mauer war keine Schlange, sie war ein gigantisches Grab. Fast verzweifelt sah er sich nach Forbes um, suchte die hellen Gesichter über den farbenfrohen Hemden nach einem ab, das er kannte. Keine Spur von dem Engländer. Der Wachturm, unter dem sie nun standen, reckte sich klein und vergeblich aus der Weite rings um. Er war völlig allein inmitten der scheinbar endlosen Öde der Berge, die doch nur einen verschwindend geringen Teil der Volksrepublik China ausmachten – und es gab kein Entkom men. »Alles klar, alter Junge?« Forbes’ Stimme neben ihm war leise. Das Gesicht des Mannes war durch die Kamera, in die er blinzelte, halb verdeckt. Liu konnte ihn jedoch unter der Nikon lächeln sehen. »Sie …«, stammelte er verdutzt. »Alles in Ordnung?« Ihre Führerin entließ sie nun, indem sie mit ihren Armen an deutete, daß sie sich nach Belieben selbst umsehen konnten. Aber nur dreißig Minuten, schärfte ihnen ihre Stimme noch ein. »Ja …«, erwiderte Liu zögernd, während er sich vorsichtig umblickte. »Machen wir einen kleinen Spaziergang«, schlug Forbes vor. »Und machen Sie nicht so ein bedrücktes Gesicht. Sie werden nicht beobachtet.« »Gestern nacht …«, begann Liu. »Ist man Ihnen gefolgt?« 380
»Ich habe sie abgeschüttelt.« »Gut gemacht. Hier sind sie jedenfalls nicht.« Sie traten unter dem Torbogen des Wachturms hervor in die Sonne hinaus. Der Wind war kalt und zerrte an ihren Kleidern, als sie den Hügel zum nächsten Turm hinaufstiegen. »Zu – zu welchem Entschluß ist man inzwischen gelangt?« »Die Dinge stehen nicht schlecht für Sie. In London will man Sie unbedingt haben.« »Gott sei Dank …« »Das hat natürlich vor allem politische Gründe, würde ich sagen. Aber immerhin … Ich weiß, wie ich Sie hier rausschaf fen kann. Sie werden einige Zeit in Peking bleiben müssen, und dann in Tientsin. Ich habe neue Papiere für Sie.« »Wieso ausgerechnet Tientsin?« Liu rieb sich heftig fröstelnd die Arme. »Und wie lange?« »Tientsin liegt an der Küste. Und eine Fregatte der Royal Navy, die HMS Sabre, wird dem dortigen Hafen einen kleinen Freundschaftsbesuch abstatten, um mit den Chinesen vielleicht auch ein paar Waffengeschäfte abzuschließen. Sie wird morgen in Tientsin eintreffen. Und wenn sie dann mit Kurs auf Hong Kong wieder in See sticht, werden Sie an Bord sein!« Auf Forbes’ Lippen breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus. Er strich sich sein vom Wind zerzaustes blondes Haar glatt. »Vielen Dank«, sagte Liu nach einer Weile, um dann mit wachsendem Überschwang zu wiederholen: »Vielen Dank, ich danke Ihnen …« Forbes schien, obwohl er sicherlich mit Dankesbezeigungen von selten Lius gerechnet hatte, nun doch leicht verlegen zu sein. Für einen Moment gewann er zu tiefe Einblicke in die Psyche des Amerikaners und schreckte davor zurück. »Ist doch schon gut, mein Lieber. Das ist doch wirklich nicht der Rede wert …« Sie hatten den Gipfel des Hügels erreicht. Nach dem langen Aufstieg über die Treppe waren beide Männer außer Atem. 381
Trocken pfiff der Wind um sie. Aber Liu fror nicht mehr. Forbes war bei ihm, und Forbes hatte einen Plan für seine Flucht. Er war nicht mehr länger ein Gefangener inmitten dieser endlosen Weite. Als Frederickson das Fernglas absetzte, kippte die Szene vor seinen Augen weg, als hätte eine Kamera eine rasche ZoomFahrt in die Totale gemacht. Forbes hatte sich die Haare glatt gestrichen, als wäre dies ein Zeichen gewesen. Und Liu stand neben ihm. Er hatte Forbes wieder entdeckt – kurz nach der Ankunft hatte er ihn aus den Augen verloren –, als die beiden Männer vom Wachturm den Hügel hinaufstiegen. Zwei gegen zwei. Der Oberst vom Ministerium für öffentli che Ruhe setzte gerade neben ihm mit akribischer Sorgfalt das Gewehr zusammen und brachte das Zielfernrohr an. Frederick son war überrascht, wie geschickt der Oberst mit dieser kom plizierten Waffe umzugehen verstand. Eigentlich hatte er er wartet, einen speziellen Scharfschützen aus den Reihen des Geheimdienstes oder der Armee hinzuziehen zu müssen. Lius Schicksal war besiegelt. Als Forbes und Liu auf dem Gipfel des Hügels angekommen waren, nickte der Oberst. »Ich bin bereit«, erklärte er mit emotionsloser Förmlichkeit. »Sie sind etwas zu weit entfernt. Sie müssen noch ein Stück näher auf uns zukommen. Warten wir also lieber noch.« Der Oberst zuckte mit den Schultern. »Wie Sie meinen.« Frederickson und der Oberst waren durch kleine, gedrungene Büsche verdeckt, von denen die Hügellandschaft im Umkreis der Chinesischen Mauer übersät war. Ihr Standort lag etwas höher als die Mauer und etwa sechshundert Meter von ihr entfernt. Für Frederickson, der neben dem Oberst auf dem Boden saß, war Liu bereits so gut wie tot. »Na gut«, sagte er. »Warten wir eben noch ein bißchen. 382
Langley und Ihre Leute haben Ihre Zustimmung gegeben. Also dann – Liu.« Der Oberst erwiderte nichts, sondern beobachtete nur weiter durch das Fernrohr sein Ziel, wobei er ständig die Entfernungs einstellung veränderte. Trotz seines durchaus überzeugend wirkenden Zynismus verspürte Frederickson nicht das gering ste Verlangen, durch sein Fernglas zu sehen. Statt dessen ver änderte er seine Haltung etwas, so daß sein Rücken der Mauer zugekehrt war. Der Oberst würde ihm schon alles Nötige sa gen, und er würde sicher nicht danebenschießen. Er brauchte also nicht hinzusehen. Die Waldarbeiterhütte, in der Velasquez wohnte, war klein und spärlich möbliert. Nach dem langen, heißen Aufstieg durch die Fichten war es in ihrem Innern angenehm kühl. Velasquez bot den beiden Männern Bier an. Seine Gastfreundschaft wirkte eher widerstrebend, nichts weiter als ein Ausdruck des Arg wohns, mit dem er sie betrachtet hatte, als sie auf der Lichtung vor der Hütte erschienen waren, wo er gerade an einem kleinen Schleifstein eine Axt geschärft hatte. Durch die offenen Fenster drang Vogelgezwitscher und das Summen von Insekten ins Innere der Hütte. Helles Sonnenlicht fiel in den Raum und frischte die verblichenen Farben des Teppichs und der Polster auf. Der Hütte haftete etwas Friedvol les an, das allen dreien zusehends zu entschwinden schien, je länger sie sprachen. Zuerst zeigte Velasquez sich wenig zugänglich. Er rieb sich seine eingefallenen, unrasierten Wangen oder zupfte an den Enden seines grauen Schnurrbarts. Ständig verrückte er die Mütze auf seinem Kopf. Sein Hals ragte faltig aus dem offenen Hemdkragen, aber sein hagerer Körper wirkte immer noch kräftig und intakt. Seine Augen waren klar und scharf wie die eines jungen Mannes. Der alte Spanier war nicht gerade gesprächig, und ihre Un 383
terhaltung kam erst einigermaßen in Gang, als de Lorca das Thema Bürgerkrieg anschnitt, und hier vor allem den Rückzug der republikanischen Einheiten nach Aragon in den ersten Frühlingstagen des Jahres 1938. Selbst nach mehr als vierzig Jahren lag um den Mund des alten Mannes ein bitterer Zug, als er von den damaligen Ereignissen erzählte. Seine Augen blitz ten. Er war immer noch erbost, immer noch stolz. Vorsichtig brachte Hyde die Rede auf Aladko. Der kleine Kassettenrekor der lag wie ein Spieleinsatz auf dem fleckigen Tisch zwischen ihnen. Velasquez’ Argwohn wurde schlagartig stärker. »Dazu hat er nichts zu sagen«, übersetzte de Lorca. »Fragen Sie ihn noch einmal.« Das tat de Lorca, aber Velas quez zuckte nur mit den Schultern. De Lorca wandte sich zu Hyde. »Sagen Sie ihm, daß Aladko schon seit mehr als zwan zig Jahren tot ist. Er kann ihm keinen Schaden mehr zufügen.« Hyde verspürte weder Ärger noch Ungeduld. In seinen Augen war Velasquez nichts weiter als ein einsamer, alter Mann, der sich immer noch an die Ideologie klammerte, der er den größ ten Teil seines Lebens geopfert hatte. Es war alles, was ihm nach Francos Sieg und seit dem Beginn seines Exils auf der anderen Seite der Pyrenäen noch geblieben war. Und das wür de er sicher nicht so ohne weiteres preisgeben. »Er meint, er hätte sich bereits gedacht, daß Aladko tot wäre. Er war schon damals nicht mehr gerade jung.« »Dann fragen Sie ihn wegen der Deutschen, die sie damals gefangengenommen haben.« Hyde sah auf seine Uhr. Sie würden versuchen müssen, Velasquez dazu zu überreden, sie ein Stück freiwillig zu begleiten, bevor sie mit der eigentlichen Entführung beginnen konnten. Mit der erwarteten Verachtung spuckte Velasquez aus. »Er kann sich erinnern.« »Erwähnen Sie Zimmermanns Namen.« Hyde sah Velasquez direkt an. »Zimmermann«, sagte er langsam und deutlich. 384
Velasquez schien der Name nichts zu sagen. Darauf zog Hy de ein kleines, etwa zwanzig Jahre altes Foto von Zimmermann aus der Tasche und legte es vor dem Spanier auf den Tisch. Nach einer Weile nickte der alte Mann. »Er kann sich an ihn erinnern.« »Dann fragen Sie ihn.« Hyde ließ nun de Lorca den Verlauf des Gesprächs bestim men, den entsprechenden Druck ausüben. Velasquez war we nig mitteilsam. »Machen Sie sich seine Verachtung zunutze, seinen Haß ge gen die Deutschen«, schlug Hyde vor. De Lorca nickte. Und dann legte Velasquez mit einemmal los. Seine sehnigen Hände schlossen sich um die Tischplatte, um sie wieder loszulassen und neuerlich zu umgreifen. Er schien abwesend auf das Ton bandgerät zu starren. Hyde ließ seine Blicke über den gemauer ten Kamin wandern. »Er hat Zimmermann gehaßt … Ein arroganter Dreckskerl … An ihn kann er sich besonders gut erinnern … Aladko hat zu viel Zeit und Energie auf ihn verwandt … Lieber hätte er ihn exekutieren lassen sollen …« De Lorca übersetzte zwischen durch in kurzen Stichworten, während er sich mit Velasquez weiter in Spanisch unterhielt. »… sie waren alle dafür, sie umzubringen – immer – Nazis – stritt mit Aladko. Alle wären Nazis … Jeder von ihnen ein Faschist …« Hyde starrte zu den Balken an der Decke hoch. Sie waren fast schwarz vom Rauch und Alter. Haken, an denen Fleisch abgehangen wurde, hingen von den Balken herab. Der alte Mann war inzwischen völlig von seiner Vergangenheit eingeholt worden. Er schien in eine hitzige Debatte verwickelt – jedoch nicht unbedingt mit de Lorca. Eher hätte Aladko sein Gesprächspartner sein können. »… Aladko dachte, er hätte ihn überzeugt … Ich habe gesagt, Faschisten kann man nicht ändern … Aladko ließ nicht locker … Nicht einmal geschlagen hat er ihn …« Ein schmutziger Fingernagel tippte leicht neben dem Foto auf die Tischplatte. 385
»… er hat die ganze Zeit nur gelacht, sich über Aladko lustig gemacht … Er hat seine ganze Zeit mit diesem Mann vertan …« Der Finger tippte neuerlich auf die Tischplatte. Die Hand dahinter ballte sich, und nur der eine Finger ragte wie der Lauf eines Revolvers daraus hervor. »… ein paar von ihnen hat er einfach erschießen lassen – im Schnee, einfach nur so … Aber ihn nicht … Er ist entkommen … Das überraschte Aladko nicht einmal – kam sich so verdammt schlau vor …« Allmählich versiegte das heftige Sprudeln des Monologs wieder. In der Stille, die darauf eintrat, wandte sich de Lorca fragend an Hyde, der vorschlug: »Fragen Sie ihn noch einmal, ob Zimmermann sich von Aladko hat überzeugen lassen.« Nachdem de Lorca dem alten Mann diese Frage ins Spanische übersetzt hatte, antwortete Velasquez in aufgebrachtem Ton und schüttelte energisch den Kopf. »Er sagt, nein und nochmal nein«, übersetzte de Lorca. »Dann wird ihn London haben wollen.« De Lorca sah Velasquez kurz an. Sein Gesicht spiegelte Wi derstreben wider. »Ich weiß nicht …«, begann er schließlich. »Er wird wohl kaum aus freien Stücken mitkommen?« be merkte Hyde. »Und schon gar nicht, um Zimmermann zu helfen.« Die Augen des alten Spaniers waren mit unverhohle nem Argwohn auf den Australier gerichtet. »Fragen Sie ihn, worüber sie gesprochen haben.« De Lorca übersetzte ins Spanische. Velasquez schien das In teresse verloren zu haben. »Politik, nichts als Politik, sagt er. Irgendwelches intellektu elle Gefasel, das ihn nicht weiter interessiert hat, Mr. Hyde.« »Fragen Sie ihn, ob Zimmermann Kommunist war. Los, fra gen Sie ihn ganz direkt.« Velasquez lachte. »Nein, er war keiner. Er war Faschist.« »Ein richtiger?« Velasquez brauste auf. 386
»Er sagte, sie wären alle echte. Dieser war nur schlauer als die anderen.« »Fragen Sie ihn noch einmal.« »Er behauptet nach wie vor steif und fest, er wäre Faschist gewesen.« »Hat Aladko ihn überzeugen können – los, fragen Sie ihn.« »Er sagt, auf keinen Fall. Das war völlig ausgeschlossen.« »Genau das wollen wir von ihm hören.« Hyde sah durch das offene Fenster auf die Lichtung und die dunklen Fichten dahin ter hinaus. »Fragen Sie ihn – ganz höflich –, ob er nach London kommen würde, um dort seine Geschichte zu erzählen.« »Er wird sicher nicht wollen …« »Ich weiß. Fragen Sie ihn trotzdem. Erzählen Sie ihm die Geschichte, die wir uns zurechtgelegt haben.« De Lorca brachte die Frage mit schmeichlerischer Betonung der Bedeutung von Velasquez’ Aussage vor. Hyde konnte den Sinn des Gesagten nur vermuten, während er sich die Ge schichte ins Gedächtnis zurückrief, mit der sie den alten Spa nier zu ködern versuchten – Zimmermanns angebliche Verbin dung mit neofaschistischen Gruppen in Deutschland und Eng land. Hyde erwartete eigentlich nicht, daß Velasquez darauf einsteigen würde. Er starrte aus dem Fenster und wartete auf das Ende dieser Charade. Dann würde nur noch eines bleiben – sie mußten den alten Mann gewaltsam entführen. Vorsichtig trat der Mann auf der anderen Seite der Lichtung hinter den Fichten hervor. Aus den Augenwinkeln beobachtete Hyde, wie Velasquez energisch den Kopf schüttelte, bis sich sein Blickfeld voll auf das Gewehr konzentrierte, das der Mann vor seiner Brust hielt. Dann tauchte ein zweiter Mann auf. Er blickte nach allen Seiten vorsichtig um sich. Velasquez weiger te sich nicht nur ausdrücklich, mit ihnen zu kommen, sondern fing nun sogar an, sie zum Gehen aufzufordern. Ein dritter Mann erschien auf der Lichtung. Für einen Augenblick bilde ten sie vor dem Hintergrund der Bäume und der kahlen Berg 387
hänge eine Gruppe, die wie für ein Gemälde komponiert zu sein schien, bis der vorderste Mann, das Gewehr immer noch militärisch schräg über die Brust haltend, auf die Hütte zuzu laufen begann. Hyde stand auf. Velasquez’ Augen weiteten sich, als er ihn die FN-Pistole aus dem Gürtel ziehen und ein Magazin einle gen sah. »Was ist …?« wollte de Lorca eben fragen. »Runter – runter!« brüllte Hyde. Der Mann blieb stehen und riß das Gewehr an die Schulter. »Runter!« Hyde feuerte zweimal durch das offene Fenster. Gebannt starrte Wolfgang Zimmermann auf den Bildschirm des Fernsehapparats. Sie zogen die Bulldozer wieder von der Mauer ab. Das westdeutsche Fernsehen hatte den Bericht des DDR-Senders über die Ereignisse an der Mauer übernommen. Der herausfordernde Grundton des Berichts war nicht zu über hören – sozusagen die beleidigte Reaktion auf das Nichtzu standekommen des Berlin-Abkommens. Die Berichterstattung war ganz bewußt daraufhin ausgelegt zu verletzen. Fast kam es Zimmermann so vor, als wäre die Sendung einzig und allein für ihn bestimmt und an seine Adresse gerichtet. Wie eingesperrte wilde Tiere hetzten die Kamerateams den Mauerabschnitt am Potsdamer Platz entlang. Totalen verschaff ten einen Gesamteindruck von der Szenerie. Teleaufnahmen zeigten die Gesichter von Bulldozerfahrern der Armee, von wieder bewaffneten Wachtposten und von sowjetischen Offi zieren, welche den Abzug der Fahrzeuge beaufsichtigten. In einer Stunde würde alles wieder genau so sein wie zuvor, sah man von den Spezialeinheiten ab, die wieder neue Minen verlegen und Stacheldrahtzäune anbringen würden. Genau wie zuvor. Zwei Deutschlands, die obszöne Mauer … Zimmermann betrachtete den Inhalt seiner Weinbrandflasche und schenkte sich dann ein neues Glas ein. Er brachte aller 388
dings nicht genügend Ironie auf, um sein Glas im Spott zu den Bildern auf dem Bildschirm zu heben. Statt dessen trank er den Weinbrand in einem einzigen erschauernden Schluck. Aubrey betrachtete das Gesicht eines der Pioniere. Sie über prüften die Kontakte der Minen in dem freien Gelände hinter der Mauer. Hinter ihm und nur unscharf zu erkennen, rollten zwei Männer Stacheldraht von einem langsam fahrenden Last wagen. Wie eine nicht aufzuhaltende Spinne spann er die Drahtspule auf seinem Rücken über den Potsdamer Platz. Als nächstes eine Totale von der gesamten Fläche des Pots damer Platzes. Am unteren Rand des Bildschirms hüpften die Köpfe von Westberlinern und Touristen wie dunkle Flecken auf und ab. Gegen seine Kissen aufgestützt, mußte Aubrey an Wolfgang Zimmermann denken. Es schien, als verspürte er die Qualen, die diese Bilder dem Mann, der ihm das Leben gerettet hatte, bereiten mußten, am eigenen Leib. Er glaubte an Zimmer manns Unschuld, aber das allein würde nicht ausreichen, seine Schuld abzutragen. Das konnte er nur, wenn Hyde jemanden auf treiben konnte, der erzählte, was sich 1938 in Spanien zugetragen hatte. Hyde mußte es schaffen … General Tamas Petrunin saß in der rauchigen Atmosphäre des Vorzimmers zu einem der Büros von KGB-Chef Andropow und rief sich seinen Rang innerhalb des KGB ins Gedächtnis zurück, wog seine Leistungen der Vergangenheit gegen seine Zukunft ab. Halb geöffnet lagen seine Hände, die Handflächen nach oben gerichtet, auf seinen Schenkeln, als erwartete er, jeden Moment die Insignien seiner Macht und seines Einflusses auffangen zu müssen, wie sie von ihm fielen. Die ganze Last der Verantwortung würde auf seine Schultern gelegt werden. Daran hatte er nicht die geringsten Zweifel. Das Abkommen war nicht zustande gekommen. Und nun würde das Politbüro in seiner kollektiven Enttäuschung einen Sündenbock brauchen. 389
Und er war für diese Rolle ausersehen worden. So einfach war das – und so unumstößlich endgültig. An einer Wand des Raums waren mehrere Farbfernsehgeräte aufgereiht, die alle eingeschaltet waren. In den bequemen Sesseln lungerten Andropows Leibwächter vom Neunten Di rektorium des KGB herum. Jedes der japanischen Fernsehgerä te war mit einem Video-Rekorder gekoppelt. Von den ver schiedenen Filmen, die sich die Leibwächter ansahen, durch zog ein wirres Gebrabbel von unterschiedlichen Sound tracks den Raum. Es wirkte so greifbar und störend wie Zigaretten rauch. Ein finsteres, von Kontrabaß und Cello vorgetragenes Motiv aus dem Weißen Hai kündigte eine drohende Gefahr an. Auf einem anderen Bildschirm jagten sich in endloser Uner müdlichkeit die Comic-Figuren einer Maus und einer Katze. Ein Stück weiter tummelten sich glatte Körper zu einer Unter malung aus leisen Seufzern und drängendem Stöhnen, und auf dem Fernseher, der dem Fenster am nächsten stand, expandier te James Bond die Möglichkeiten der Technologie in einem erschreckenden, inflationären Maßstab. Auf dem Bildschirm vor Petrunins Sessel war nur die Berli ner Mauer zu sehen, verwittert und unantastbar. Es gab keinen Ton zu dem Bild. Einer der Leibwächter hatte ihn sofort abge dreht, als Petrunin nach diesem Programm verlangt hatte, um seine Verwunderung zu verbergen, weil man ihn in diesem Raum warten ließ. Jedenfalls war das alles andere als ein gutes Vorzeichen. Und Petrunin machte sich bereits darauf gefaßt, hier noch einige Zeit warten zu müssen. Einer der Leibwächter lachte und pfiff leise. Petrunin war sich nicht sicher, ob er sich über die Spaße der Katze und der Maus amüsierte oder über die Liebenden. Es war jedoch völlig gleichgültig. In diesem Vorraum konnte alles bedeutungslos und lächerlich gemacht werden. Die Leibwächter ignorierten ihn. Auf der anderen Seite des Korridors befand sich ein ande rer Warteraum mit dicken Teppichen und bequemen Polster 390
sesseln, der den Männern vorbehalten war, die nur mit der geringstmöglichen Verzögerung und möglicherweise sogar noch mit einem Cognac oder Wodka von Andropow empfan gen wurden. Petrunin unterdrückte einen Seufzer, der nicht nur auf den Qualm zurückzuführen war. Möglicherweise war er erledigt … Die Hände auf seinen Schenkeln begannen zu zittern. Er steckte sie in seine Taschen, als wären sie gestohlene Äpfel, die sein Vergehen an den Tag legten. Er versuchte, eine entspannte Haltung anzunehmen. Dies war zwar nicht gerade einfach, aber als es ihm schließlich doch gelang, verspürte er ein leises Ge fühl der Zufriedenheit. Er wandte sich wieder den Bildern von der Berliner Mauer zu, die ihm auch sofort das wenige an neu gewonnener Zuver sicht raubten. Er hatte versagt. Das war es, was er sich in Kürze würde sagen lassen müssen. Degradierung, Versetzung, frühe Pensionierung, ein Prozeß … Die Liste der Dinge, die ihm möglicherweise bevorstanden, war endlos … Und dann erschien plötzlich ein junger Mann in einem drei teiligen Anzug in der Tür und winkte ihn schweigend zu sich. Er stand auf, straffte die Schultern und knöpfte sein Jackett zu. Hyde, dachte er. Zumindest würde Hyde mit ihm untergehen. Hyde war bereits ein toter Mann. Der Adjutant schloß hinter ihm die Tür und führte ihn dann über den Korridor zur Tür von Andropows Büro. »Und, Oberst?« »Und, Mr. Frederickson?« erwiderte der Geheimdienstoffi zier. Er rollte sich auf den Rücken und setzte sich auf. Das Gewehr ruhte in seinem Schoß. Der Wind zerrte an ihren Jak ken und zerzauste ihr Haar. Liu und Forbes hatten sich wieder in Bewegung gesetzt. Sie gingen langsam dahin, als wären sie zwei reinkarnierte Wachen, welche auf der Mauer auf und ab 391
patrouillierten. »Sind Sie mit dem Gang der Ereignisse zufrieden?« »Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn unser Plan einen et was durchschlagenderen Erfolg gehabt hätte. Dies hier«, er deutete auf das Gewehr, »ist nicht unbedingt die Lösung, die ich gewählt hätte.« Fredericksons Gesicht verdunkelte sich. Zumindest einen Funken Optimismus hätte er von dem Chinesen eigentlich erwartet, eine gewisse Zufriedenheit über den bevorstehenden erfolgreichen Abschluß ihres Vorhabens. Dadurch wäre ihm erspart geblieben, sich einzugestehen, daß er diesen Mann vor ihnen kannte und daß dieser Mann seine Anweisungen befolgt hatte – allerdings unglücklicherweise etwas gründlicher, als dies von ihm erwartet wurde. Frederickson war über die schwachen Regungen seines Ge wissens keineswegs erfreut. Vielleicht hätte er doch auf einem Scharfschützen aus den Reihen der CIA bestehen sollen. Das hätte die Sache vereinfacht. Dagegen war der Chinese neben ihm, der Liu nun töten würde, ein Fremder, ein potentieller Feind. Dies war eine Situation, die unwillkürlich eine gewisse Sympathie für Liu in ihm wachrief. Er war zwar auch Chinese, aber ein amerikanischer. »Lassen Sie das lieber mal, ja?« bat Frederickson sich aus. »Sagen Sie es mir nur, wenn alles erledigt ist, in Ordnung?« Der Oberst zuckte mit den Schultern. »Wie Sie meinen, Mr. Frederickson. Eigentlich ist bereits alles erledigt. Das Abkommen wird nicht unterzeichnet wer den, und genau das war das Ziel der Operation Jade Tiger. Das Unternehmen hat sich also für unsere beiden Länder als ein voller Erfolg erwiesen.« Frederickson betrachtete den Oberst. Sein Gesicht war aus druckslos, und seine Stimme schien bar jeder Ironie. Und doch fühlte sich Frederickson als Gegenstand einer Belustigung, die einem subtileren Verstand entsprang als dem seinen. 392
»Sicher«, erwiderte er unsicher. »Das hier«, der Oberst deutete auf das Gewehr, »ist nichts weiter als ein Detail. Zerbrechen Sie sich deswegen nicht unnötig den Kopf.« Der Chinese benahm sich wie eine Schwester in einer psych iatrischen Anstalt. Böse hob Frederickson wieder das Fernglas an seine Augen, um Liu und Forbes kurz zu beobachten. »Beeilen Sie sich ein wenig!« schnauzte er den Oberst an. »Die Reiseleiterin trommelt sie schon wieder zusammen.« Der Oberst rollte sich hastig auf den Bauch. Frederickson ließ das Fernglas neuerlich in seinen Schoß sinken und wandte der Mauer den Rücken zu. Inzwischen verspürte David Liu mehr und mehr das Verlangen, Forbes in Dankbarkeit die Hand zu schütteln. Er verschloß vor den wahren – politischen – Motiven der Engländer einfach die Augen und konzentrierte sich statt dessen nur auf die Tatsache, daß ihm die Flucht ermöglicht werden sollte. Er war verraten und verkauft, verhaftet und geschlagen worden – und er hatte bereits dem sicheren Tod in die Augen gesehen. Aber nun befand er sich in Sicherheit. »Vielen Dank, vielen, herzlichen Dank«, sagte er schließlich. »Sie werden sich in London – oder in irgendeiner anderen unserer großen Städte – etwas einsam fühlen«, erklärte ihm Forbes und errötete dabei trotz des eisigen Windes. »Ich – es tut mir leid …« »Nein, das macht doch nichts. Es gibt dort eine Menge Chi nesen, oder nicht?« Liu grinste. »Vielleicht eröffne ich ein kleines Restaurant – mit Straßenverkauf?« Forbes nahm Lius Humor dankbar zur Kenntnis. Allmählich wurde ihm dieser Mann sogar sympathisch, indem ihm bewußt wurde, was er seit dem Zeitpunkt seiner Verhaftung durchge macht haben mußte. Und das alles nur, um die Wahrheit aufzu decken, sich absolut loyal zu verhalten, wofür er ausgebildet 393
worden war. »Los jetzt, Ihre Reiseleiterin fängt schon an zu winken. Las sen Sie sie nicht warten. Haben Sie Ihre neuen Papiere?« Liu legte seine Hand auf die Brusttasche seiner Jacke und lächelte. »Sie sind jedenfalls besser als die letzten. Aber halten Sie sich von den Straßen fern. Es wird nur ein paar Tage dauern – nicht länger. Das verspreche ich Ihnen. Los jetzt! In einer Woche werden Sie bereits an Bord der HMS Sabre und unterwegs nach Hong Kong sein. Und dann mit dem Flugzeug weiter nach London. Das haben Sie sich ehrlich verdient!« »Ja«, stimmte David Liu zu, »das habe ich, glaube ich, wirk lich.« Er lachte. Wie zwei kleine Jungen eilten sie die Stufen hinunter und auf die Stelle zu, wo sich die kleine Reisegesell schaft versammelte. Mehr aus Freude an der Bewegung als aus Eile verfiel David Liu in Laufschritt. Er hörte Forbes hinter sich lachen. Liu spürte, wie sich eine tiefe Freude aus dem Bauch heraus einen Weg durch seine Brust und seine Kehle bahnte. Und dann fing auch er an zu lachen. »Passen Sie auf – sonst fallen Sie noch von der Mauer!« rief ihm Forbes nach. Aber Liu hörte den Engländer kaum mehr. Die Reisegesellschaft im kalten Schatten des Wachturms kam in sein Gesichtsfeld gewackelt. Sein Brustkorb fühlte sich zugeschnürt an – vor Anstrengung und vor Gefühlsüber schwang. Er wurde von einer lange nicht mehr gekannten Ausgelassenheit befallen. Er befand sich in Sicherheit, in Si cherheit … Himmel und Berge schienen sich mit einemmal wie zarte Gardinen zu öffnen. Er fühlte sich nicht länger bedrückt. Die Mauer war keine gigantische Schlange mehr, die sich über die Hügel wand – eher eine bunte Luftschlange, die von einem Karnevalszug übriggeblieben war. Und dann ein Schmerz in seiner Brust, und ein zweiter. Er schien sich in ihm auszubreiten wie die Freude, die er eben noch verspürt hatte. Aber dieser Schmerz begann sofort zu 394
brennen und riß ihn zur Seite. Sein Blickfeld neigte sich aus der Horizontalen, erfaßte die Balustrade der Mauer mit der braunen Erde und den grünen Büschen dahinter. Und dann schlossen sich seine Augen zu der tiefsten Dunkelheit, die er je gekannt hatte. Forbes beobachtete Lius Fall. Erst kippte er zur Seite, als wä re er auf einer Bananenschale ausgerutscht. Seine Hände faßten an seine Brust und dann nach der Mauerbrüstung, um schließ lich verzweifelt ins Leere zu greifen, bis der Körper über die Balustrade kippte und in die Tiefe stürzte. Unwillkürlich ging Forbes hinter der Mauerbrüstung in Dek kung. Er rechnete jedoch nicht mit weiteren Schüssen. Vermut lich war Liu nur beseitigt worden, um künftige Komplikationen zu vermeiden. Dennoch fing er an, haltlos zu zittern und zu schluchzen, während er auf dem Boden kauerte. Die Touristen in seiner Nähe beugten sich entsetzt über die Mauerbrüstung, um auf den reglosen Körper hinabzustarren. Der laufende Mann prallte plötzlich wie von einer unsichtbaren Wand zurück. Beim zweiten Schuß zuckte sein Kopf zurück. Wo vorher sein Gesicht gewesen war, breitete sich nun ein großer roter Fleck aus. Hyde war von der Durchschlagskraft der FN-Pistole selbst überrascht. Dann fiel der Mann rücklings zu Boden, zuckte noch kurz und blieb dann reglos liegen. Die zwei Männer hinter ihm schossen, nachdem sie sich von dem momentanen Schock erholt hatten, in verschiedenen Richtun gen davon, so daß sie sich außerhalb von Hydes Gesichtskreis befanden. Hyde warf sich zu Boden und preßte sich gegen die rauhen Bretter. Eine Sekunde später krachte eine Feuersalve durch die Holzwände der Hütte, prallte vom Kamin ab und schlug schließlich in den Boden und die gegenüberliegende Wand. Bevor wieder Stille eintrat, ertönte ein kontinuierliches Ge räusch, als würde ein Stück Papier zerrissen. Ein langer, frisch 395
aus dem Boden herausgerissener Splitter lag plötzlich neben Hydes Hand. Als er ein kurzes, tiefes Stöhnen hörte, setzte er sich alarmiert auf. Über den Rücken von de Lorcas Maßanzug breitete sich Blut aus. Das leere, leblose Gesicht des jungen Mannes war ihm voll zugewandt. Dahinter erhob sich Velasquez langsam auf die Knie. Seine Miene spiegelte Angst, Unsicherheit, Rach sucht wider. »Die Hintertür«, brachte Hyde schließlich hervor. Velasquez verstand ihn nicht. »Ist – da – eine andere Tür?« flehte Hyde. Der alte Spanier zuckte mit den Schultern. »Porte!« kreischte Hyde fast. »Une autre porte?« »Oui.« Velasquez deutete auf die kleine Küche hinter dem Raum, in dem sie sich befanden. Auf allen vieren kroch Hyde darauf zu. Die Hintertür war offen. Sie war jedoch wie eine Stalltür in der Mitte unterteilt, so daß nur die untere Hälfte zufiel, als Hyde dagegenstieß. Er richtete sich auf und preßte sich gegen die Küchenwand, die Pistole gegen seine Wange gedrückt. Er lauschte angespannt. Er hörte, wie Velasquez sich in dem anderen Raum bewegte. Auf dem schartigen Holztisch in der Küche lag ein gehäutetes Kaninchen. Das Fell lag noch neben dem nackten Körper. Sein Anblick verursachte Hyde Übelkeit. Das Häuten ließ den Tod des Tieres endgültiger erscheinen – und seinen eigenen wahr scheinlicher. Vorsichtig spähte er durch die offene obere Türhälfte nach draußen. Eine dreischüssige Salve aus einer Maschinenpistole meißelte einen wahren Splitterregen aus dem Holz des Tür rahmens und der dahinterliegenden Wand – gar nicht weit von seinem Kopf. Er wußte zuviel über diese Operation. Er hörte Velasquez immer noch in der Hütte herumstöbern. Das Klicken eines Gewehrbolzens ließ ihn auffahren, bis er merkte, daß der alte Mann selbst ein Gewehr hatte. Schließlich befand sich in dem toten Körper des Kaninchens ein Einschußloch. 396
Hyde lauschte nach draußen. Wie viele? Gesehen hatte er drei. Wer? ETA, irgendeine baskische Einheit. Petrunin … Er schluckte trocken und würgte den galligen Geschmack wieder in seinen Magen hinunter. Es mußte Petrunin sein. Das Gesicht des laufenden Mannes war dunkelhäutig gewesen – keinesfalls das Gesicht eines Russen. ETA also. Und ihre Order lauteten ganz einfach: aufräumen, saubermachen. Be weismaterial entfernen. Velasquez töten. Und der Vollständigkeit halber auch Hyde. Ja, genau diese Anweisung hatte er erteilt, sozusagen in Erinnerung an alte Zeiten. Er sah einen Schatten, der sich unter den Fichten bewegte, und feuerte zweimal. Es raschelte im Gebüsch, aber er glaubte, den Mann nicht getroffen zu haben. Er zog sich zurück, und im nächsten Augenblick ließ eine Salve Wände und Fenster erzit tern. Splitter flogen vom Tisch auf, und eines der kleinen, schmutzigen Fenster zerbrach. Hastig schloß Hyde die obere Türhälfte und zog sich wieder in den Wohnraum zurück. Velasquez kauerte am Fenster und blickte hinaus. Er hielt eine alte Lee-Enfield-Flinte in den Händen. Er wandte sich nach Hyde um, worauf sich ein französischer Wortschwall von seinen Lippen ergoß, von dem Hyde jedoch kaum etwas verstand. Der Fleck auf de Lorcas Schultern breitete sich nicht mehr weiter aus. Der Tod hatte jeden Ausdruck vom Gesicht des jungen Mannes gewischt. »Pssst!« zischte Hyde. »Seien Sie still!« Velasquez brach mitten im Satz ab und spuckte aus. »So ist es schon besser.« Velasquez wandte sich wieder dem Fenster zu. Alte Instinkte schienen wieder in ihm geweckt zu werden. Erleichtert spürte Hyde, daß er sich auf den alten Spanier würde verlassen kön nen. Er war noch keineswegs ein hilfloser alter Rentner, der voll und ganz auf seine Hilfe angewiesen war. Er mußte nachdenken, vorwegnehmen, was die Männer da draußen vorhaben konnten … 397
Was würden sie tun? Schnell, schnell – rein und raus. »Die Schüsse«, sagte Velasquez in langsamem Französisch, ohne seinen Blick vom Fenster abzuwenden. »Sie werden Hilfe herbeirufen. Die Waldhüter werden denken, sie sind Jäger.« Er sprach langsam und einfach. Mit einiger Mühe konnte Hyde ihn verstehen. »Ja«, sagte er und fügte murmelnd hinzu: »Ich hoffe nur, daß Sie auch wirklich recht haben.« Velasquez hatte recht. Auch die Männer draußen mußten sich dessen bewußt sein. Sie mußten die Sache rasch hinter sich bringen. Kurz rein und wieder raus. Sie hielten sich inzwischen schon mindestens drei Minuten am Schauplatz des Geschehens auf. Würden sie die Hütte stürmen? »Die andere Tür«, erklärte er Velasquez. Inzwischen war die Hütte für ihn nichts weiter mehr als vier Wände mit einem Dach darüber – eine Kiste, in der sie steckten. Lauschend kroch er in die Küche zurück. Er blickte auf. Die obere Türhälfte war fest verschlossen. Er leichtert atmete er auf. Ja, sie würden die Hütte stürmen müs sen. Sie konnten nicht mehr lange warten … Wie eine Schlange glitt er auf die fleckige Spüle und streckte den Kopf dem zerbrochenen Fenster zu. Das Summen von Insekten, Vogelgezwitscher. Nichts. Die Zeit wurde knapp. Teeblätter in der Spüle, das gehäutete Kaninchen so deutlich vor seinen Augen, als starrte er darauf – der Fettgeruch, der die ganze Küche durchzog. Das Geräusch war nur ganz schwach. Er wandte sich langsam um. Die obere Türklappe bewegte sich ganz vorsichtig. Er hörte ein Geräusch wie keuchendes Atmen. Das gehäutete Kaninchen beobachtete ihn, seine Vorderpfoten aneinanderge legt, als betete es. Die Türklappe bewegte sich weiter. Das Atmen nahm zu. Er hob seine Pistole und schärfte sich ein, nur ein wenig höher als die Mitte der Tür zu zielen. Er zögerte. Die Tür hatte sich inzwischen vielleicht zwanzig Zentimeter geöff 398
net, und dann plötzlich nichts mehr. Ein Geruch? Brennen … Petroleum? Die Angst drohte ihn zu ersticken. Im Türspalt erschien die Flasche mit einem brennenden Lumpen im Hals. Hyde feuerte. Die Hand zog sich zurück, während die Flasche zu Boden fiel und auf ihn zurollte. Sie roch nach Petroleum. Eine Weinfla sche. Er versuchte, sich zu bewegen. Der Lumpen flackerte auf. Die Flasche rollte weiter. Draußen ertönte ein Stöhnen, das Hyde kaum wahrnahm, und dann entfernten sich langsame, schleppende Schritte. Er versuchte sich zu bewegen … »Vor sicht!« brüllte er dann und stolperte in den Wohnraum, wo er sich neben der Tür zu Boden warf. »Runter!« Der Molotow-Cocktail explodierte und ergoß wie ein Feuer hydrant Flammen über den Raum. Die Fenster zerbrachen klirrend. Velasquez hatte sich halb aufgerichtet. Seine Jacke brannte, aber seinen Kopf hatte er geschützt. Hyde kroch auf ihn zu und wickelte einen Teppich um den alten Mann. Indem er mit den Händen auf die Flammen einschlug, konnte er sie schließlich ersticken. Auf Velasquez’ Gesicht hatten sich in zwischen dunkle Flecken ausgebreitet. Er winselte vor Schmerzen. Auch seine Handrücken waren verbrannt. Die Küche loderte. Der Türrahmen und ein Teil der Zwi schenwand zum Wohnraum brannten ebenfalls bereits. Und dann fauchte eine Flammengarbe gegen das Fenster hinter Velasquez, als eine andere mit Petroleum gefüllte Flasche gegen die Außenwand der Hütte krachte und explodierte. Ve lasquez in seinen Armen, wich Hyde vor der Hitze und den Flammen zurück. Die Hitze war beängstigend, der Rauch beißend und scharf. Hyde begann zu husten. Das Flammeninferno drang nun so wohl vom Fenster als auch von der Küche in den Wohnraum und schnitt sie völlig von der Außenwelt ab. Hyde erblickte eine Flüssigkeitsspur auf dem Boden, die sich 399
wie eine dunkle Schlange durch den Raum und auf das Fenster zuschlängelte. Sie kam aus dem Kamin. Erst dachte Hyde, es wäre Wasser. Aber dann wußte er mit einemmal Bescheid. Einer von den Männern goß Petroleum durch den Kamin her unter. Er riß seine Pistole in die Höhe und feuerte viermal in die Decke. Er hätte nicht sagen können, ob er den Mann auf dem Dach getroffen hatte. Jedenfalls hatte er bereits ausreichend Petroleum in den Kamin gekippt. Die Schlange hatte inzwi schen so stark an Umfang zugenommen, als hätte sie ein gro ßes Nagetier verschlungen. Trotzdem bewegte sie sich noch rascher, als wäre sie dadurch nicht im geringsten in ihrer Be wegungsfreiheit eingeengt. Hyde zerrte den wimmernden Velasquez zur Tür. Er war immer noch in den Teppich eingewickelt. Seine Füße schleif ten träge neben ihm über den Boden. Die Flammen und der Rauch hüllten sie ein, aber Hyde konnte immer noch die Petro leumspur sehen, die sich auf das Feuer zuschlängelte. Hustend lehnte er sich sekundenlang gegen die Tür. Seine Augen trän ten, seine Lungen schnappten verzweifelt nach Luft, und die Hitze fing an, seine Brauen und das Haar zu versengen. De Lorcas Leiche war inzwischen fast völlig von den Flammen eingeschlossen. Raus, raus … Ins Gewehrfeuer. Er lehnte Velasquez gegen die Tür. Der alte Spanier wimmer te zwischen vereinzelten, heftigen Hustenanfällen immer noch leise vor sich hin. Von den Schmerzen und vom Rauch waren seine Augen tränennaß. Hyde schoß in die Mitte des Raums, wo die Beine des Tischs und die Teppiche auf dem Boden zu brennen angefangen hatten. Die Petroleumspur war nun nur noch wenige Zentimeter von dem Feuer entfernt, das aus der Küche kam, und tränkte einen Teppich, der an einer Ecke bereits angesengt war. Seine Hände schmerzten fürchterlich, 400
als er de Lorcas Leiche über den Boden zog. Er packte ihn an seiner bereits brennenden Jacke und zerrte ihn auf die Beine, um ihn wie eine Geliebte zu umfangen. Er starrte Velasquez an. »Verstanden?« schrie er ihn auf französisch an. »Haben Sie verstanden?« Velasquez nickte. »Bleiben Sie dicht hinter mir!« Hyde öffnete die Tür und stürzte sich, während er de Lorcas Leiche vor sich hielt, durch die Tür nach draußen in das plötz liche Sonnenlicht und die Luft. Seine Beine bewegten sich ängstlich und behutsam, seine Lungen schnappten nach Luft, er hustete. Die Geschosse ließen de Lorcas Körper gegen seinen eigenen zucken. Weiter, weiter, redete er sich selbst gut zu. Velasquez …? Weiter … Er schleuderte de Lorcas Leiche von sich und fing an zu ren nen. Wie das Störgeräusch eines Radios knackte irgendwo in der Ferne Holz, und ein Teil des Hüttendachs stürzte ein. Er merkte kaum, daß er den alten Mann hinter sich fest am Hand gelenk gepackt hatte. Vor Schmerzen aufheulend, folgte ihm der Spanier. Hyde war nun aus dem Schatten der Hütte auf die sonnenbeschienene Lichtung hinausgerannt. Er stolperte über ein Grasbüschel und zog im Sturz den alten Mann mit sich. Dumpf klatschten die Geschosse neben ihnen ins Gras oder schossen pfeifend über ihre Köpfe hinweg. Die Hütte war nun von allen Seiten von lodernden Flammen eingeschlossen, die zum Himmel aufzüngelten. Eine Seitenwand senkte sich unter einem wahren Sprühregen von Funken auf de Lorcas Leiche. Hyde zerrte die Pistole aus seiner Windjacke und richtete sie, halb aufgesetzt, auf eine Gestalt unter den Bäumen. Er drückte dreimal ab. Der Mann taumelte. Hyde richtete sich auf die Knie auf. In der Schläfe des alten Mannes klaffte ein blaues Loch. Von dem Mann auf dem Dach oder dem Mann an der Küchen tür war nichts zu sehen. Wie ein Sprinter beim Startschuß 401
schoß Hyde los und hastete hakenschlagend auf die Bäume zu. Schüsse krachten hinter ihm auf, allerdings nur vereinzelt und zögernd. Er warf sich mit voller Wucht in die Büsche und in die ersten tiefen Schatten der Fichten. Die Zweige peitschten gegen seinen Körper, zerkratzten ihm das Gesicht. Immer weiter drängte er sich durch das Gewirr aus Ästen und Zwei gen, bis er zu Fall kam, sich über den Boden rollte und schließ lich gegen den schlanken Stamm einer Fichte zu liegen kam. Er setzte sich auf. Die Hütte war bereits nur noch ein erster bendes Feuer, dessen Flammen blaß und unschuldig in der Mittagssonne flackerten. Etwa fünfzehn Meter von der Hütte entfernt lag Velasquez, immer noch in den Teppich eingehüllt, im Gras. Er war nichts weiter als eine kleine, dunkle, zusam mengekrümmte Unterbrechung der gelbgrünen Fläche der Lichtung. Grauer Rauch hing wie eine Decke in der fast wind stillen Luft. Hastig ersetzte Hyde das leergeschossene Magazin durch ein neues. Zu seiner Linken waren über den Baumspitzen die Berge zu sehen. Wie viele von ihnen waren wohl noch am Leben? Die letzten Schüsse hatten wie eine vereinzelte Stimme geklungen, die um Beistand zu flehen schien. Einer, dann … Unwahrscheinlich. Unmöglich. Tritte krachten durch das Unterholz. Hyde erhob sich, zögerte erst und begann dann zu laufen. Er hielt sich im Schatten der Fichten. Er mußte das Restaurant erreichen. Dort gab es andere Menschen, ein Telefon. Auf gut Glück schlug er die Richtung ein, aus der er mit de Lorca gekommen war. Als er schließlich auf den gewundenen Pfad stieß, der zu der Hütte heraufgeführt hatte, blieb er in seiner Überraschung kurz stehen, um in seiner Erschöpfung vornübergebeugt Atem zu schöpfen. Er spürte, wie seine Beine zu zittern begannen, und sofort krampfte er seine Hände um seine Knie, um sie daran zu hindern. Er lauschte. Sein keuchender Atem und das Pochen seines Her zens behinderten seine Hörfähigkeit, arbeiteten für seine Ver 402
folger. Seine Hände waren schwarz versengt. Sein ganzer Körper schmerzte und protestierte gegen jede weitere Anstren gung. Hinter ihm Rufe … Langsam, fast widerstrebend, wandte er sich um und hob die FN-Pistole wie ein schweres Gewicht. Er konnte das Spanisch, das er hörte, nicht verstehen. Die Lippen vor Wut und Schwä che angespannt, wartete er. Seine Augen suchten die Zwischen räume zwischen den Fichten ab. Ein dunkler Schatten trat aus dem Dämmer unter den Bäumen und blieb in einem grellen Fleck Sonnenlicht stehen. Mühsam schwenkte der Mann die Maschinenpistole vor sich hin und her. Eine Hand hatte er sich mit einem weißen Taschentuch verbunden. Hyde feuerte zweimal. Der Mann taumelte und stürzte dann hinter einer Fichte zu Boden. Hyde rannte weiter, den Pfad hinunter. Er befand sich etwa anderthalb Kilometer über dem Restaurant und dem Parkplatz. Er konnte sich noch genau an die Windungen des Pfads erin nern. Zu weit. Von Zeit zu Zeit blickte er sich um, während er weiterhastete, hüpfend, stolpernd, balancierend. Der Weg war dicht von Bäumen gesäumt, die nur gelegentlich leicht zurück traten, um ihm wie einen unerwarteten Preis den Blick auf die herrliche Aussicht des Ordesa-Nationalparks freizugeben – die Felswand des Cañyon, das Glitzern des Flusses an ihrem Fuß, die weißen Tupfen der Gebäude, das saubere Quadrat des Parkplatzes. Steil ragte eine Felswand vor ihm auf, als er um eine Win dung des Pfads bog. Vorsichtig balancierte er am Rand eines vertrockneten Wasserfalls entlang. In etwa hundert Metern Entfernung bewegte sich ein rascher Schatten durch die Luft. Auf einem Felsvorsprung posierte eine junge Gemse, als wollte sie ihre optimale Anpassung an das unwegsame Gelände ihres Terrains demonstrieren. Und dann schlug der riesige Adler das junge Tier, hob es vom Fels, begann mit seinen gewaltigen 403
Schwingen zu schlagen und hob sich wieder in die Lüfte, ganz dicht über Hydes Kopf hinwegstreichend. Die Geschwindigkeit und Endgültigkeit dieser Exekution ließ ihn erschauern, raubte ihm die letzten Energiereserven. Widerstrebend setzte er seinen schmerzenden Körper wieder in Bewegung. Von neuem Bäume. In ihrem duftenden Schatten fühlte er sich sicherer, geborgener. Er stolperte in einen Schaft Sonnen licht und gegen einen Felsen, preßte sein Gesicht dagegen, krallte sich mit den Händen daran fest, als hätte er eine verbor gene Tür erreicht, durch die er dem allen entrinnen könnte. Die Augen geschlossen, seine Wange gegen den von der Sonne erwärmten Stein gepreßt, kroch er über den Felsen. Seine Füße stolperten über Wurzeln und Steine, als hätte er nie laufen gelernt. Er war am Ende. Irgend etwas schnürte seine Kehle zusammen. Er öffnete sei ne Augen nicht. Einen Augenblick lang versuchte er lediglich, tiefer zu atmen und zu schlucken. Der Griff um seinen Hals wurde fester. Es schien ihm, als litte er an einem durch die übermäßige Anstrengung hervorgerufenen Anfall. Er röchelte. Durch den Kranz aus Sonnenlicht war das Gesicht zum Teil verdunkelt. Es wirkte dunkel, angespannt und entschlossen. Hyde kannte den Mann nicht. Es war ein Fremder in einem schwarzen Pullover. Auf seiner bleichen Stirn und auf den Haaren seines schmalen Schnurrbarts glitzerten Schweißperlen. Er hatte beide Hände um Hydes Hals gelegt und würgte ihn. Nur langsam drang diese Information in Hydes Bewußtsein vor – die Warngeräusche durch milchigen Dunst gedämpft. Hyde hob seine Hände, packte die Handgelenke des Mannes, worauf ihm dieser sein Knie in den Unterleib rammte. Hydes Beine knickten unter ihm ein. Er schloß vor Schmerzen die Augen, als er nach vorn in den Griff der Hände des Mannes zu fallen, seinen eigenen Tod zu beschleunigen schien. Er sehnte sich nach Dunkelheit, nach dem Ende der Schmerzen, die seinen Körper durchzuckten. 404
Er kannte den Mann nicht … Schwarz – kannte ihn nicht, sie waren – schwarz – Fremde, völlig Fremde – schwarz – kein Groll, keine Feindschaft – Dunkelheit – keine Luft – Dunkelheit, dunkler, schwärzer – dumm – für – schwarz … was? Schwarz. Seine Hand glitt auf seinen Rücken. Sein Verstand verlor ständig Kontakt mir ihr und mit ihrer Absicht – die Pistole in seinem Gürtel. Seine andere Hand legte sich um seine Hoden, schützte sie, versuchte ihren Schmerz zu lindern. Er konnte sich nicht erinnern, weshalb seine Hand nach hinten griff … Warum? Sie tastete über seinen Rücken – ziellos. Umfaßte etwas Kal tes, zerrte es hervor, brachte den Gegenstand – Pistole? – an die Seite des anderen Mannes – der Finger drückte instinktiv den Abzug … Schwarz. Zwei Geräusche, Explosionen in der Dunkelheit. Er fiel zu rück, losgelassen. Er wollte nach vorn fallen, das Dunkel zu rückbringen, es beenden, aufgeben. Wie in ein Wasserbecken in die Schwärze hineintauchen. Aber er fiel nach rückwärts, der Körper aufgebäumt, die Kehle schmerzend, als er hustete. Er preßte die Lider fest aufeinander, als sie sich flatternd zu öff nen versuchten. Er wollte nicht aufwachen. Er war fertig. Eine Hand am Unterleib. Der Schmerz ließ nach. Die andere Hand am Bauch. Die linke Hand weich, die rechte schwer. Schwerer … Er hustete krampfhaft und schlug dann die Augen auf. Seine rechte Hand hielt die Pistole hoch, um sie sich anzusehen. Er ließ sie wieder auf seinen Bauch zurücksinken. Meine Güte, dieser verdammte Organismus gab einfach nicht klein bei, dachte er fast enttäuscht. Er lag eine Weile nur da. Von den schlanken Zweigen über ihm beobachteten ihn kleine Vögel. Ameisen krabbelten an 405
seinen feuchten Wangen vorüber. Der Duft der Fichten stieg in seine Nase. Da waren keine Geräusche außer absolut unschul digen. Andere Richtungen, andere Pfade … Er wußte nicht, wie lange er so auf dem Boden lag. Schließ lich rappelte er sich auf und kletterte die zerklüftete Felswand hoch, bis er auf seinen Beinen stand. Wie ein Invalide lehnte er sich vom Fels weg und tat ein paar zögernde Schritte. Und dann setzte er langsam seinen Weg den Pfad hinunter fort, nachdem er fast über den auf dem Boden liegenden Körper des Fremden in dem schwarzen Pullover gestolpert wäre. Nun befand er sich jenseits allen Wissens, jenseits von Feindschaft, Kampf, Ideologie, Mord. Etwa eine halbe Stunde später erreichte er das Restaurant. Er hatte unterwegs niemanden getroffen. Er hatte keine Ahnung, weshalb sie ihn nicht mehr weiter verfolgt hatten. Vielleicht hatten die anderen, wenn es noch andere gab, einfach aufgege ben, nachdem sie Velasquez’ Leiche identifiziert hatten. Aber es war ihm auch egal. Er stieß die Tür zur Bar des Restaurants auf. Der Barkeeper und zwei Gäste, ein Mann und eine Frau, sahen zu ihm auf. »Allmächtiger!« hörte er den Mann herausplatzen, bevor er dem Barkeeper einen fragenden Blick zuwarf, den dieser je doch nur mit einem argwöhnischen Schulterzucken beantwor tete. Über der Bar lief ein Fernseher. Hyde verstand zwar den Kommentar nicht, aber die Bilder faszinierten und erschreckten ihn. Er zog sich einen Stuhl unter einem der Tische hervor und ließ sich darauf niedersinken. Die Augen der Frau musterten ihn mit wachsendem Widerwillen. Auf dem Bildschirm war der Stacheldraht wieder ausgelegt, während die Bulldozer weg waren. Die Mauer. Der Potsdamer Platz. Das Abkommen war längst aufgegeben worden. »Verdammte Scheiße!« stöhnte er und ließ seinen Kopf auf seine Arme heruntersinken, die ineinander verschlungen auf dem Tisch lagen und ihre Bürde erwarteten. 406
»Also wirklich!« rief die Engländerin entsetzt. »Ach, reg dich doch nicht auf, meine Liebe«, hörte er eine Antwort. »Scheiße!« wiederholte Hyde. Er hatte verloren. Alles war umsonst gewesen. Er gestattete sich, kopfüber in das Dunkel äußerster Erschöpfung zu stürzen, dankbar für das Fehlen jeglicher Bewußtheit. Er hörte nicht, wie der Mannschaftswagen der Guardia Civil in den Parkplatz vor dem Restaurant einbog.
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Bibliographischer Hinweis
Die Volksrepublik China hat während der letzten Jahrzehnte ein spezifisches alphabetisches Transkriptionssystem über nommen, das unter der Bezeichnung Pinyin bekannt ist. Es verdrängt in zunehmendem Maße andere, bisher gebräuchliche Systeme, darunter auch das von Wade entwickelte, das bisher im Westen weithin verwendet wurde. Aus diesem Grund sieht sich der Autor eines Romans, in dem chinesische Orts- und Eigennamen in Erscheinung treten, mit einem kleinen Problem konfrontiert – das darin besteht, welches Transkriptionssystem er verwenden soll. Es gibt zwei Möglichkeiten, die Unterschie de zwischen den beiden Systemen zu erläutern. Die Hauptstadt Chinas, nach dem System Wades Peking, wird in Pinyin Be jing. Ein in Peking spielender Roman würde also zweifellos an Wirkung und Atmosphäre verlieren, übernähme man das neue System. Dies gilt in gleicher Weise für Orte wie Canton und vor allem vielleicht Shanghai. Aus diesem Grunde habe ich beim Schreiben dieses Buches auf eher willkürliche Weise auf beide Systeme zurückgegrif fen. Ich habe die Bequemlichkeit besserer Vertrautheit gegen über Bestrebungen größerer Genauigkeit und Exklusivität vorangestellt. Deshalb treffen wir in diesem Buch zwar auf Peking, Shanghai und Canton, während der mächtigste Mann im postmaoistischen China als Deng und nicht als Teng wie dergegeben wird. Ich kann nur hoffen, daß er, wie auch der Leser, mit diesem Eklektizismus von meiner Seite einverstan den ist. Bei den Hintergrundstudien für diesen Roman waren mir die Nagel Guides für Spanien, China und die Bundesrepublik Deutschland und die Michelin Guides für Spanien und Deutschland eine wertvolle Hilfe. Nicht weniger gilt das für Keijzer & Kaplans China Guidebook. In Australien begleiteten mich die zwei Bücher Roma Dulhuntys über den Lake Eyre 408
und Michael Pages South Australia. Andere wichtige Quellen waren The Chinese War Machine, herausgegeben von Ray Bonds; British Intelligence in the Second World War von F. H. Hinsley; Terence Pritties The Velvet Chancellors; Purnells History of the Second World War, Band 2; und The Encyclopaedia of World War II, herausgege ben von Thomas Parrish.
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