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Buch In ferner Vergangenheit wurden die Aoi mithilfe von Magie in den Äther gestoßen. Nun rückt der Zeitpunkt ihrer Rückkehr immer näher. Doch die Mathematiki setzen alles daran, das magiebegabte Volk an der Heimkehr zu hindern. - Als Liath nach vier Jahren aus den Sphären zurückkehrt, ist viel geschehen: Ihr Ehemann, Prinz Sanglant, hat seine Armee in das ferne Land der Greifen und Zentauren geführt, um dort Verbündete für seinen Kampf gegen die Mathematiki zu suchen und seinen Vater, König Henry, zu befreien. Henry befindet sich unter dem Einfluss eines Dämons weitab seiner Heimatlande in Aosta und unternimmt immer neue Eroberungszüge. Liath macht sich ihrerseits sofort daran, den Kampf gegen die Mathematiki aufzunehmen und die Pläne ihrer skrupellosen Anführer Anne und Hugh zu vereiteln ... Autorin Kate Elliott hatte bereits unter dem Namen Alis A. Rasmussen mehrere Science-Fiction-Romane veröffentlicht, bevor sie gemeinsam mit Melanie Rawn und Jennifer Roberson »Die Chronik des Goldenen Schlüssels« verfasste. »Sternenkrone« ist ihr erstes großes Solo-Projekt in der Fantasy und wurde von Kritikern und Lesern begeistert aufgenommen. Bereits erschienen: STERNENKRONE: 1. Erben der Nacht. Roman (24742), 2. Im Namen des Königs. Roman (24743), 3. Auf den Flügeln des Sturms. Roman (24744), 4. Die Kathedrale der Hoffnung. Roman (24842), 5. Der brennende Stein. Roman (24843), 6. Das Rad des Schicksals. Roman (24844), 7. Kind des Feuers. Roman (24131), 8. Schatten des Gestern. Roman (24132), 9. Ins Land der Greife. Roman (24138) Von Kate Elliott zusammen mit Melanie Rawn & Jennifer Roberson: DIE CHRONIK DES GOLDENEN SCHLÜSSELS: 1. Das Bildnis der Unsterblichkeit. Roman (24649), 2. Die Farben der Unendlichkeit. Roman (24792), 3. Zeit der Wiederkunft. Roman (24793) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Kate Elliott
Ins Land der Greife Sternenkrone 9
Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold blanvalet Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Crown of Stars, vol. 5: The Gathering Storm« (Parts 1-2) Qrbit/Time Warner Books UK, London. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung 10/2005 Copyright © der Originalausgabe 2003 by Katrina Elliott Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Published in agreement with the author c/o BAROR International, Inc., Armonk, New York, U.S.A. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Krasny Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Titelnummer: 24138 Redaktion: Alexander Groß V. B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24138-3 www.blanvalet-verlag.de
Für Jeanne Herzog von Wayland Kate Elliott - Sternenkrone (Was bisher geschah) In den Vereinigten Königreichen von Wendar und Varre herrschen unruhige Zeiten. Die Küstengebiete leiden unter den Raubzügen der nichtmenschlichen Aikha, die in ihren Booten von Norden über das Meer kommen, Städte und Klöster niederbrennen und das Land verwüsten, während die Grenzmarken im Osten von den Reiterhorden der »geflügelten« Qumaner bedroht werden. Im Licht des Vollmonds erwachen alte, halb verfallene Ruinen zu neuem Leben, bevölkert von den seit langer Zeit verschwundenen Verlorenen, und dunkle Geister streifen am helllichten Tag durch das Land. Und als wenn das alles noch nicht genug wäre, zieht auch noch ein Bürgerkrieg herauf, denn Prinzessin Sabella will mit der Unterstützung einiger Edelleute ihrem Bruder Henry die Königskrone entreißen. In diesen Bürgerkrieg geraten zwei junge Menschen: Liath, die ihr Leben lang mit ihrem Vater auf der Flucht vor unbekannten Feinden war, und Alain, ein junger Mann aus einfachen Verhältnissen, dessen Herkunft im Dunkeln liegt. Eines Tages wird Liaths Vater ermordet, und sie selbst gerät in die Fänge des machtgierigen Mönchs Hugh, der ihr nicht nur das »Buch der Geheimnisse«, das sie von ihrem Vater geerbt hat, entreißen willen, sondern auch das alte geheime Wissen, das tief in ihrem Innern verborgen ist. Nach einer langen Zeit des Leidens gelingt es ihr schließlich, mit viel Glück und Unterstützung eines geheimnisvollen Fremden namens Wulfhere Hughs Nachstellungen zu entfliehen, und gemeinsam mit ihrer Freundin Hanna tritt sie den Adlern des Königs bei, königlichen Boten, die nur dem König selbst verantwortlich sind. Alain hingegen wird Zeuge eines Aikha-Überfalls auf ein Kloster und begegnet der Herrin der Schlachten, die für sein weiteres Leben noch eine große Bedeutung haben wird. Auf Gut Lavas sieht er zum ersten Mal Fünfter Sohn, einen Aikha, der dort gefangen 9 gehalten wird und den er heimlich freilässt - ohne zu wissen, dass ihrer beider Lebenswege auf besondere Weise miteinander verknüpft sind. Und er wird von Graf Lavastin als sein Erbe erkannt, eine Tatsache, die nicht bei allen dem Grafen verpflichteten Edelleuten auf Verständnis stößt. Liath kommt mit ihren Begleitern in die unweit der Küste gelegene Stadt Gent und begegnet dort einem Menschen, der in ihrem zukünftigen Leben eine wichtige Rolle spielen wird: Sanglant, dem Hauptmann der Königlichen Drachen, der Elitereiterei Henrys - und sein Sohn, den er mit einer Aoi gezeugt hat. Dass die geheimnisvolle, fremdartige Frau ihn kurz nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes verlassen hat, ist noch immer ein Stachel im Fleisch des Königs. Genau wie die Tatsache, dass er Sanglant, den Bastard, nicht zum Thronerben machen kann, sondern sich schon bald die Zukunft für eine seiner Töchter - die impulsive Sapientia oder die zurückhaltende Theophanu - entscheiden müssen wird. Kurz darauf erhält König Henry eine weitere Hiobsbotschaft, denn die Aikha haben Gent erobert - und allem Anschein nach ist Sanglant bei den Kämpfen um die Stadt um Leben gekommen. Doch dem ist nicht so. Sanglant, der »Prinz der Hunde«, wird nämlich von Blutherz, dem Anführer der Aikha, in der Kathedrale von Gent gefangen gehalten - wie ein räudiger Hund. Das Blut seiner Mutter verleiht Sanglant eine unmenschliche große Lebenskraft, sodass er den normalen Tod nicht fürchten muss - doch wird er von der immer währenden Furcht beherrscht, früher oder später wahnsinnig zu werden. Wer sollte ihm auch Hilfe bringen? Die ist allerdings bereits unterwegs: König Henry hat den Edlen seines Landes Männer und Waffen abgetrotzt und ein Heer zusammengetrommelt, in dem sich auch Alain und Graf Lavastin befinden. Alain muss sich nicht nur mit dem Misstrauen und dem Neid der ehemals engsten Vertrauten Lavastins auseinandersetzen, er wird auch von Visionen heimgesucht - denn er sieht manchmal durch die Augen von Fünfter Sohn, mit dem ihn ein geheimnisvolles Band verbindet. Auch Liath - die ebenso wie Hanna und Wulfhere und der ehrgeizige Mönch Hugh, der sie immer noch bedrängt, an König Henrys Feldzug teilnimmt - verfügt über 10 ungewöhnliche Fähigkeiten. Da ist zum einen die Adlersicht, die Wulfhere ihr beigebracht hat, und mit der sie manchmal Orte und Wesen sieht, die nicht von ihrer Welt zu sein scheinen. Zum anderen kann sie Feuer herbeirufen, wenn sie in höchster Not ist. Durch List und Opferbereitschaft gelingt es den Menschen von Wendar und Varre, Gent von den Aikha zurückzuerobern. Sanglant wird von Liath befreit, Blutherz kommt bei den Kämpfen ums Leben, und Alain, der eigentlich nichts sehnlicher als den Frieden wünscht, wird mit Hilfe der Herrin der Schlachten zum gefeierten Helden. Die Gefahr durch die Aikha scheint fürs Erste gebannt. Liath und Sanglant kommen sich näher, doch ihre Liebe ist in König Henrys Lager nicht gern gesehen. Als ihre Nöte immer größer werden, taucht plötzlich Liaths totgeglaubte Mutter Anne auf und bietet ihr an, mit ihr ins Nest der Mathematiki zu fliehen, ein Angebot, das sie und Sanglant schließlich annehmen. Liath hofft, bei dem geheimen Zirkel von Zauberern, deren Anführerin ihre Mutter ist, das alte Wissen studieren zu können - etwa über die Steinkronen, die es nicht nur ermöglichen, von hier nach dort zu reisen, sondern deren Macht die Mathematiki auch dazu benutzen wollen, die Wiederkehr der Verlorenen in diese Welt zu verhindern -und mehr
darüber zu erfahren, wer oder was sie wirklich ist. Doch ihr und Sanglant wird nur allzu rasch klar, dass sie eigentlich nirgendwo in Sicherheit sind. Und nachdem Liath herausgefunden hat, dass ihre Abstammung sie zu einer möglichen Erbin des alten Kaiserreichs macht, wird sie kurz nach der Geburt ihrer Tochter von den Verlorenen auf magische Weise in deren Sphären geholt. Inzwischen kehrt Sanglants Aoi-Mutter auf der Suche nach ihrem Sohn, den sie als Säugling zurückgelassen hat, in die Welt der Sterblichen zurück. Sie ist über die Ebenen im Osten gekommen, wo sich die Qumaner unter Bulkezu zu einem neuen Raubzug sammeln. Hoch im Norden ist Fünfter Sohn derweil damit beschäftigt, die zerstrittenen Stämme der Aikha zu einen. Dies gelingt ihm nach und nach, und er wird allmählich zu einem großen, klugen Heer11 führer, der schließlich den Namen Starkhand erringt - und der sich fest vorgenommen hat, eines Tages nach Wendar und Varre zurückzukehren. König Henry ernennt derweil seine Tochter Sapientia zur Thronerbin und verheiratet sie mit dem ungrischen Prinzen Bayan, einem polternden, aber rechtschaffenen Mann. Alain hingegen, der sich mit Sabellas Tochter Tallia vermählt hat, wird nach dem tragischen Tod seines Vaters Lavastin - ein Geschehen, das sozusagen die letzte Rache des längst toten Aikha-Anführers Blutherz ist - mittels einer Intrige, an der auch seine frömmlerische Frau beteiligt ist, um sein Erbe gebracht. Im Osten greifen erneut die Qumaner an, und Bayan und Sapientia stellen sich ihnen mit einem Heer entgegen. Es kommt zu einer Schlacht, in die auch König Henrys jüngster Sohn Prinz Ekkehard und seine Freunde verwickelt werden, die auf Irrwege des Glaubens geraten und zu Ketzern geworden sind, und in deren Verlauf Bayan fällt. Das Reich befindet sich in großer Gefahr, da König Henry weit entfernt vom Ort des Geschehens ist und die Soldaten Sapientia nur unwillig folgen. Alain gerät auf magische Weise durch eine der Steinkronen in ein unbekanntes Land, wo er nicht nur seine große Liebe Adica kennen lernt, sondern auch Zeuge eines verzweifelten Überlebenskampfes wird, als er unabsichtlich in den uralten Konflikt zwischen der Menschheit und ihren Feinden, den Verfluchten, gezogen wird. Liath hingegen befindet sich weit weg von Sanglant und ihrer Tochter im Land der Verbannung, wo sie sich ihrer schwierigsten Aufgabe gegenübersieht. Doch dort liegt auch ihre einzige Hoffnung, etwas über ihre wahre Herkunft sowie über die Art und das wirkliche Ausmaß ihrer einzigartigen Fähigkeiten zu erfahren. Und schließlich öffnet sich ihr der Weg zu den himmlischen Sphären. Auch Sanglant verlässt mit seiner Tochter Gnade das Nest der Mathematiki. Er ist fest entschlossen, seinen Vater König Henry aufzusuchen, denn nur er kann ihm die Warnung über die Ver12 schwörung der Zauberer überbringen, die geschworen haben, die Aoi - die Verlorenen - ein für allemal auszulöschen. Und er weiß, dass es die Mathematiki - allen voran ihre Anführerin Anne, die inzwischen auch die Skopos von Darre ist - nicht kümmert, welche Zerstörungen sie mit ihrer Magie anrichten werden. Doch König Henry hat inzwischen seinem geplagten Reich den Rücken gekehrt. Er will Adelheid zu Hilfe eilen, der jungen verwitweten Königin von Aosta, getrieben von dem Wunsch, an ihrer Seite den Thron von Aosta zu besteigen und sich in Darre zum Kaiser krönen zu lassen. Dazu muss allerdings erst Johann Eisenkopf, einer der aostischen Fürsten, besiegt werden, was nach einigem Hin und Her auch gelingt. Während Henrys Tochter Theophanu - die sich ursprünglich seinem Tross angeschlossen hatte - nach Wendar und Varre zurückkehrt, wo Sabella - dieses Mal mit Unterstützung Conrads des Schwarzen - erneut einen Umsturz plant, gerät Rosvita, die Leiterin der Königlichen Schule und eine enge Vertraute von Henry, in die Gefangenschaft von Hugh. Henry ist nun fast nur noch von Leuten umgeben, denen er zwar vertraut, die aber mit Ausnahme seines treuen persönlichen Adlers Hathui ihre eigenen Ziele verfolgen; das gilt für Adelheid ebenso wie für Bruder Hugh oder Anne, die Skopos. Sanglant stößt auf Sapientias Heer und wird von den Soldaten so begeistert empfangen, dass Sapientia ihm grollend den Oberbefehl überlässt. Er kann schließlich nicht nur ein qumanisches Heer unter Bulkezu besiegen, sondern auch Hanna befreien, die in Bulkezus Hände gefallen war. Und so haben nun alle wichtigen Personen den Platz erreicht, den ihnen das Schicksal in dieser Geschichte zugedacht hat, oder sie eilen ihm mit schnellen Schritten entgegen - so wie - Liath, die noch immer in den himmlischen Sphären weilt und weiß, dass sie zurückkehren muss in die Welt der Sterblichen, denn sie will Sanglant und ihre Tochter wieder sehen - und sie muss Anne und die übrigen Mathematiki daran hindern, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. 13 Sanglant, der begleitet von seiner Tochter Gnade und Sapientia mit seinem Heer gen Osten aufgebrochen ist, denn er will ein paar Greifenfedern erbeuten, die vor der Magie der Mathematiki schützen sollen - und er hofft, vielleicht noch neue Verbündete zu gewinnen. Alain, der den Kataklysmus jener in der Vergangenheit gelegenen Welt mit Mühe überlebt hat und mehr tot als lebendig in seine Zeit zurückkehrt, nachdem er einmal mehr das verloren hat, was ihm auf der Welt das Teuerste war. Starkhand, der nicht nur die Aikha-Stämme unter seiner Herrschaft vereint hat, sondern mit dem Mervolk auch einen machtvollen Verbündeten gefunden hat, und der nun seinen Blick auf das Inselreich Alba richtet, die
Heimat der Baumzauberer, mit denen er schon früher zu tun hatte. Doch seine Pläne reichen noch viel weiter ... König Henry, der in seinem Trachten nach der Kaiserkrone in die Falle gestolpert ist, die Hugh ihm gestellt hatte, und der schon längst nicht mehr er selbst, sondern nur noch eine von einem Dämon besessene Hülle ist. Anne und die anderen Mathematiki, zu denen auch der von brennendem Ehrgeiz getriebene Hugh gehört, die mit den magischen Kräften der Steinkronen die Aoi erneut ins Nichts schleudern wollen, endgültiger, als es in der Vergangenheit bereits geschehen ist. Hanna, die nach ihrer Befreiung aus den Händen Bulkezus alles versucht, um ihre Freundin Liath zu finden. Und schließlich noch Rosvita und Theophanu und Wulfhere und viele andere vermeintlich - oder doch nicht? unbedeutende Personen, die unaufhaltsam in den Gang der Ereignisse gezogen werden - ohne zu ahnen, dass einigen von ihnen bei dem, was geschehen wird, eine wichtige Rolle zufallen wird ... Prolog Sie träumte. Am Himmelsgewölbe drehen sich Räder aus Gold, flimmernd und gleißend. Das Trommeln ihrer Umdrehungen erzeugt einen Wind, der sich über die gesamte Schöpfung erstreckt und so heiß und feucht ist, dass er sich in feinen Dunst verwandelt. Der Dunst klärt sich und enthüllt das Grab von Kaiser Taillefer, dessen Bildnis in die Platte des Marmorsargs eingraviert ist. Sein ernstes Gesicht ist in ewiger Ruhe erstarrt. Steinerne Finger umfassen die kostbare Krone - das Symbol seiner Herrschaft -, deren sieben Spitzen mit Schmuckstücken versehen sind: einer strahlenden Perle, einem Lapislazuli, einem hellen Saphir, einem Karneol, einem Rubin, einem Smaragd und einem quer gestreiften, orangebraunen Sardonyx. Im Innern eines jeden Schmuckstücks rührt sich etwas, ein Flüstern, ein Schatten, ein Hauch. Villams Sohn Berthold ruht friedlich auf einem Lager aus Gold und Edelsteinen, umgeben von sechs schlafenden Kameraden. Er seufzt, dreht sich im Schlaf herum und lächelt. Eine Hand kratzt an der Tür einer aus Holzbrettern bestehenden Hütte jener Hütte, in der Bruder Fidelis Unterschlupf gefunden hatte. Als sich die Tür öffnet, werden die Umrisse eines Mannes sichtbar, eingerahmt vom schwindenden Sonnenlicht. Das Gesicht liegt im Schatten. Er ist groß und hat blondes Haar, ist ganz und gar nicht Bruder Fidelis. Er schreit vor Angst auf und läuft weg, als ein Löwe auftaucht. Kerzenlicht beleuchtet Hugh von Austra, der die Seite eines Buches umblättert. Seine Miene ist gelassen, sein Blick konzentriert. Erfolgt dem Fluss der Worte, seine Lippen formen jedes einzelne, ohne es laut auszusprechen. Ein Windstoß vom offenen Fenster bringt die Flamme zum Flackern, bis sie in dieser Flamme die schreckliche Lüge erkennt, die Hugh ihr eingeflüstert hat. 15 Ketzerei. Sie kniete an Stelle von St. Thekla, wurde an ihrer statt Zeugin der grausamen Bestrafung, mit der die Kaiserin des Dariyanischen Kaiserreichs gegen all jene vorging, die sich gegen ihre Herrschaft erhoben hatten. Der heilige Daisan betrat das Opferpodest. Er wurde an ein bronzefarbenes Rad gebunden. Doch nie versiegte sein Lächeln, auch dann nicht, als die Priester ihm die Haut vom Leibe rissen. Tiefe Freude überwältigte sie, denn war sie nicht eine der Auserwählten, denen es vergönnt war, seinen Tod und seine Erlösung zu bezeugen? Die Fluten der Freude überschwemmen sie erneut, drohen sie zu verschlingen. Ist dies nicht das ketzerische Gift, das durch Hughs Lügen in ihre Seele gedrungen ist? Aber was, wenn Hugh nicht lügt? Könnte er tatsächlich eine geheim gehaltene Darstellung der Erlösung gefunden haben? Der Gedanke übersteigt ihr Vorstellungsvermögen. In ihrer Verwirrung verzerrt sich der Traum zu einem Lichtblitz. In einer hohen Halle brennen wie Phönixe geformte Lampen. Die Flammen steigen von Dochten auf, die raffiniert in die Schwanzfedern aus Messing eingelassen sind. Hier hält die Skopos den Vorsitz über eine Synode, die einberufen wurde, um über die Ketzer zu urteilen. Die Angeklagten flehen nicht um Gnade, sondern verlangen, dass endlich die Wahrheit gesprochen wird. Ihr jüngerer Bruder Ivar steht kühn an vorderster Stelle. Wer wird sie verhören? Wer wird die Kirche verhören? Wenn die Erlösung wahr ist, wenn der heilige Daisan die Menschheit durch seinen Tod von ihren Sünden erlöst hat und nicht mit seinem Leib während des Betens in der Ekstasis in den Himmel aufgefahren ist, haben dann die Kirchenmütter die Wahrheit unterdrückt? Oder ist sie ihnen nur verloren gegangen? Wer lügt? »Schwester, ich bitte Euch. Wacht auf.« Dunkelheit und Feuchtigkeit schwappten über sie hinweg und 16 hüllten sie ein, und das kalte Gefängnis der Steinmauern riss sie auf die Erde zurück. Licht stach ihr in die Augen. Sie schloss sie. Eine warme Hand berührte sie an der Schulter, und sie hörte erneut Bruder Fortunatus sprechen, auch wenn seine Stimme irgendwie stockend klang. »Schwester Rosvita! Mögen Gott Barmherzigkeit haben. Könnt Ihr sprechen?« Mit einiger Mühe setzte sie sich auf und öffnete die Augen. Ihre Gelenke schmerzten. Die Kälte des Kerkers hatte sich bis in ihre Knochen gefressen. »Ich bitte Euch«, sagte sie heiser, »schafft das Licht weg. Es ist zu hell.« Erst als das Licht ein Stück zur Seite gerückt war, konnte sie Fortunatus' Gesicht erkennen. Er weinte. Augenblicklich setzte ihr Verstand wieder ein. »Wie lange bin ich schon hier? Ohne Sonnenlicht kann ich das
Verstreichen der Tage nicht verfolgen. Und ich habe auch noch nie einen Wachwechsel gehört.« Er schluckte die Tränen hinunter. »Drei Monate, Schwester.« Drei Monate! Angst und Entsetzen überwältigten sie, und Übelkeit stieg in ihr hoch. Aber ihr Magen war leer, und sie wagte es nicht, jetzt einer Schwäche nachzugeben. Einzig ihre Willenskraft hatte sie all die endlosen Tage bei Verstand gehalten, die seit jener schrecklichen Nacht vergangen waren, da sie die Stimme eines Daemons aus Henrys Mund vernommen hatte. »Was ist mit König Henry? Mit Königin Adelheid? Hat sie denn gar nicht nach mir gefragt? Hat niemand zu meinen Gunsten gesprochen oder sich erkundigt, was aus mir geworden ist? Gott im Himmel, Bruder, was ich gesehen habe -« »Schwester Rosvita«, unterbrach er sie scharf, »ich fürchte, die lange Zeit im Kerker hat Euch etwas wirr im Kopf werden lassen. Ich bringe Euch mit Eigelb gewürzten Haferbrei, um Euer Blut zu kräftigen, und geröstete Quitten für Eure Lunge.« Sie waren nicht allein. Der Mann, der die Lampe hielt, war Petrus, ein Presbyter vom Hofe der Skopos - und Hughs Bewunderer und Verbündeter. Was sie zu sagen hatte, konnte sie vor ihm nicht 17 sagen, denn sie wollte Bruder Fortunatus nicht hineinziehen, genauso wenig wie die Mädchen - Heriburg, Ruoda, Gerwita - und die übrigen getreuen Geistlichen. Wenn sie sich selbst schon nicht schützen konnte, dann die anderen erst recht nicht. Der Rang ihres Vaters und ihre eigene Bekanntheit gewährten ihr einen gewissen Schutz - möglicherweise war dies sogar der einzige Grund, weshalb sie noch nicht tot war. Sie bezweifelte, dass Fortunatus und die anderen ebenfalls auf eine solch geringe Gnade hoffen könnten, wie es die Gefangenschaft in einer Zelle unterhalb des Palastes der Skopos darstellte. Fortunatus sprach weiter. »Schwester Ruoda und Schwester Heriburg bringen Euch jeden Tag etwas Suppe und Brot, gleich nach der Sext, auch wenn ich nicht weiß, wann Ihr es erhaltet.« Er musterte sie mit dem Ausdruck größter Besorgnis, während sie sich zum Grund der Schüssel vorarbeitete. Sie war sehr hungrig, und sie vermutete, dass sie entsetzlich stank, denn nie erhielt sie Wasser, um sich waschen zu können. Aber auf Fortunatus' schmalem Gesicht zeigte sich keinerlei Ekel. Er sah vielmehr so aus, als würde er gleich wieder zu weinen beginnen. »Ihr habt auch nicht gut gegessen, Bruder. Seid Ihr krank gewesen?« »Nur besorgt, Schwester. In jener Nacht habt Ihr geschlafwandelt, wie Ihr es häufig tut, und seid nicht zurückgekehrt. Leider hat es nicht lange gedauert, bis wir herausfanden, wohin Ihr in Eurem Delirium gegangen seid.« Er lächelte und nickte, als versuchte er, eine einfältige Frau zu beruhigen, doch in seinen zusammengekniffenen Augen und dem zuckenden Mund entdeckte sie eine andere Botschaft. »Drei Monate«, wiederholte sie, kaum in der Lage, es zu glauben. In dieser Zeit hatte sie meditiert und gebetet und geschlafen, in dem Wissen, dass alles, was sie durch die Hand der Menschen erlitt, nur eine Prüfung ihres unerschütterlichen Glaubens an Gott war. Doch wer hatte sie belogen? Hugh? Oder die Kirchenmütter? Sie konnte den letzten, schrecklichen Traum nicht aus ihren Gedanken verbannen. »Wahrlich, viele Wochen sind vergangen«, fuhr Fortunatus 18 freundlich fort. »König Henry ist mit seinem Heer nach Süden geritten, um gegen die rebellischen Lords, die arethusanischen Eindringlinge und die jinnischen Banditen im südlichen Aosta zu kämpfen. Königin Adelheid und ihre Berater begleiten ihn. Da ich den König also nicht aufsuchen konnte, habe ich die Skopos um eine Audienz gebeten. Nach acht Wochen geduldigen Wartens wie Ihr wisst, lastet das Wohl der Welt und des Himmels auf ihr -wurde ich zu ihr gelassen. Das war vor zwei Tagen, am Festtag der heiligen Callista. Sie hat sich zwar geweigert, Euch freizulassen, sich aber damit einverstanden erklärt, dass Ihr jeden Tag zwischen der Sext und der None im Flur Eure Andachten abhalten könnt. Ihre Großzügigkeit ist grenzenlos!« Es war bewundernswert, wie es ihm gelang, die Stimme ruhig und frei von jedem Sarkasmus zu halten. Die Schrecknisse ihrer Haft, die angespannte geistige Konzentration, mit der sie sich den Gebeten gewidmet hatte, um der vollständigen Verzweiflung zu entgehen, wurden etwas gemildert, als sie ihn hörte und seine Hand drückte. »Die Heilige Mutter hat mir auch die Erlaubnis gegeben, jeden Himmelstag mit Euch zu beten. Ich bin also gekommen, um Euch jene Dinge zu bringen, die man mir gestattete, sowie eine Decke. Solange ich die Erlaubnis habe, werde ich jeden Himmelstag kommen und mit Euch beten.« »Dann haben wir also fast den ersten Tag des Dezial. Die Dunkelheit der Sonne.« Tatsachen waren das Seil, an dem sie sich in einem Sturm auf See festklammern konnte. Die Ironie, dass sie hier im Kerker festgehalten wurde, während oben die guten Menschen von Darre in dieser längsten Nacht des Jahres den Festtag von St. Peter dem Schüler feierten, erheiterte sie beinahe. »Möchte die Heilige Mutter mich für immer in dieser Zelle einsperren?« »Sofern Euch der Feind dazu veranlasst hat, im Schlaf zu schlafwandeln, Schwester, müsst Ihr von den anderen fern gehalten werden, um sie nicht anzustecken. Eine Wache wird Euch jeden Tag zu Euren Andachten begleiten, und sie wird sowohl taub als auch stumm sein.«
Sie senkte den Kopf. »So sei es.« 19 Sie würden niemals allein sein, und selbst, wenn sie es glaubten, würde Anne sie noch immer mit ihrer Magie belauschen. Sie konnte nicht mehr frei mit ihm sprechen, und er nicht mit ihr. Hugh wusste, dass sie gesehen hatte, wie der König von einem Daemon verzaubert und Helmut Villam mittels unterschwelliger Magie durch Hughs Hand getötet worden war. Und doch hatte Hugh sie nicht töten lassen. Sie war krank, sie war hungrig, und sie war gefangen in der Dunkelheit dieses Kerkers unterhalb des heiligen Palastes, aber bei Gott, sie war noch nicht tot. »Lasst uns also beten, Bruder, wie wir jeden Himmelstag zu beten pflegen, wenn Gott es zulassen.« Sie kniete nieder. Das Stroh unter ihren Knien fühlte sich weich an, und an die Flöhe und das ewige Geraschel der Ratten hatte sie sich längst gewöhnt. Gewiss, ihre Glieder waren unsicher, und ihre Stimme zitterte, und sie musste ihr Gewicht verlagern, weil die Lampe sie zu sehr blendete, doch ihren Verstand hatte sie noch nicht verloren. Und mit Gottes Hilfe würde sie ihn auch nie verlieren. Als Fortunatus mit der Vesper begann, wusste sie endlich, welche Tageszeit es war, denn es handelte sich um das Abendgebet. Voller Freude klammerte sie sich an diesen kleinen Fetzen. An einer geeigneten Stelle wählte sie einen Psalm, denn zu Ehren der Heiligen, deren Festtag es war, fügte man Dank- oder Bittgebete hinzu. »Es ist gut, Gott zu danken, denn Ihre Liebe währt ewiglich. Jene, die ihren Weg in der Wildnis verloren, Fanden keinen Ort, der Obdach bot. Hungrig und durstig verloren sie jeden Mut und riefen nach Gott, und Gott retteten sie aus ihrer Not. Gott verwandeln Flüsse in Wüste und die Wüste in eine Oase, fruchtbares Land wird Ödnis 20 und die Wildnis ein Ort des Schutzes. Die Weise merkt sich diese Dinge, während sie Gottes Liebe annimmt.« Als sie geendet hatte, antwortete Fortunatus mit einem zweiten Psalm. »Gesegnet seien der Herr und die Herrin, die uns dem Bau der Skorpione entrissen. Wie ein Vogel sind wir der Schlinge des Vogelfängers entkommen. Die Schlinge ist zerbrochen, und wir sind geflohen. Gesegnet seien Gott, die zusammen Himmel und Erde erschaffen haben.« Schon allzu bald musste er sie verlassen. Er gab ihr einen Handkuss, so wie ein Diener seinem Herrn, weinte erneut und versprach, in der nächsten Woche wiederzukommen. Es war schwer, ihn und das Licht weggehen zu sehen. Es war eine Qual, zu hören, wie die Tür wieder ins Schloss fiel, die Schritte sich entfernten. Fortunatus mochte in einer Woche wiederkommen, wie er es versprochen hatte, oder auch gar nicht mehr. Sie könnte einen Monat hier hausen oder zehn Jahre. Sie könnte hier sterben, an Hunger, an Lungenfieber, an Verzweiflung oder aufgefressen von den Ratten. Es war schwer, bei all der Schwärze, die Hugh über sie verhängt hatte, die Hoffnung nicht zu verlieren. Aber sie hatte die verheißungsvolle Botschaft gehört, die sich in dem Gebet verbarg, das Fortunatus ausgewählt hatte: Wie ein Vogel sind wir der Schlinge des Vogelfängers entkommen. Der Adler des Königs, Hathui, war entkommen und nach Norden geflohen, um Gerechtigkeit zu suchen. Teil Eins Adlersicht I Der Hieb einer Axt
1 Die Luft roch nach Regen und war schwer und für diese Jahreszeit auch ungewöhnlich warm. Der Wind kam von Osten und führte die verschiedenen Gerüche des Dorfes mit sich: den nach Holzrauch und übervollen Aborten und den Gestank der Innereien der fünf am Nachmittag geschlachteten Schweine. Noch am Tag zuvor hatte sich Hanna mit der Kohorte von Löwen und verschiedenen Fußsoldaten durch Schneewehen gekämpft. Jetzt war es mild genug, dass man die Handschuhe wegstecken und die Umhänge ablegen konnte, während man frisch gebratenes Schweinefleisch und kalten Haferbrei aß und von dem Bitterbier trank, das aus der
Speisekammer des Dorfes stammte. Und doch vermochten weder das Essen noch die vertrauten Gerüche des wendischen Landes ihr irgendwelchen Trost zu spenden. Im Osten befand sich das Ziel ihres Hasses, lebte noch immer, aß noch immer. Ihre unterdrückte Wut war wie eine Wunde, die jeden Tag neu aufgerissen wurde. »Komm schon, Hanna«, sagte Ingo. »Du isst nicht genug. Wenn dieses Schweinefleisch dich schon nicht in Versuchung führt, kann ich sicher ein paar Würmer ausgraben.« Sie aß gehorsam; sie wusste, dass ihre Mutter ihr bittere Vor25 würfe gemacht hätte wegen der unvorstellbaren Sünde, die darin lag, dargebotenes Fleisch zurückzuweisen. Ihr Herz aber blieb taub. Hass hatte sich in ihren Eingeweiden festgefressen, und sie konnte ihn nicht mehr abschütteln. »Oh, Herrin«, rief Folquin. »Jetzt machst du wieder dieses Gesicht. Ich habe dir doch gesagt, ich würde ihn für dich töten. Ich hätte mich in sein Zelt schleichen und ihm einen Stich ins Herz versetzen können, als er schlief.« Als sie die Gefangene der Qumaner gewesen war, hatte sie monatelang keine Träne vergossen. Jetzt brachte auch der kleinste Anlass sie zum Weinen - ein angestoßener Zeh, das Kichern eines Kindes, die Hilflosigkeit im Gesicht eines Freundes. »Ich kann nicht glauben, dass Prinz Sanglant ihn am Leben gelassen hat«, sagte sie heiser. »Er hätte ihn hängen müssen!« »Das hat Prinzessin Sapientia auch gesagt«, bemerkte Leo, »und ich bin sicher, dass sie es nach wie vor sagt, was immer ihr das auch bringen mag.« »Alles Mögliche kann passiert sein, seit wir das Heer verlassen haben«, schaltete sich Stephen ruhig ein. »Prinz Sanglant hat vielleicht seine Meinung geändert, was die Frage betrifft, ob Bulkezu getötet werden soll. Wenn das Heer erst einmal Handelburg erreicht, stimmt die Bischöfin vielleicht Prinzessin Sapientia zu und verlangt seine Hinrichtung. Prinzessin Sapientia ist schließlich die rechtmäßige Erbin, oder nicht? Prinz Sanglant ist nur ein Bastard, und auch wenn er älter ist als sie, muss er doch tun, was sie sagt?« Ingo blickte sich um, um sicherzugehen, dass außer den fünfen niemand in der Nähe war und zuhören konnte. Andere Feuer brannten auf der Wiese und schickten ihren Rauch gen Himmel, jedes von ihnen umgeben von Soldaten, die im grauen Dämmerlicht des Herbstes ihre Mahlzeit zu sich nahmen und sich unterhielten. Aber es marschierten eindeutig weniger Löwen zurück nach Wendar, als vor einem Jahr in Richtung Osten aufgebrochen waren. »Du hast noch nicht begriffen, wie die Welt funktioniert, Junge. Prinzessin Sapientia kann nicht herrschen, wenn ihr niemand folgt.« 26 »Was ist mit dem Gesetz Gottes?«, fragte Stephen. Ingo setzte ein weltverdrossenes Grinsen auf, wie er es immer tat, wenn er mit dem jüngsten und unbedarftesten Mitglied der Löwen sprach. »Wer über das Heer herrscht, herrscht auch über alles andere.« »Still jetzt«, sagte Leo. Hauptmann Thiadbold kam quer über die völlig abgeweidete Wiese zu ihnen, und vertrocknetes Gras knisterte unter seinen Füßen. Hinter der Lichtung reckten sich Bäume empor, die vorderste Reihe des Thurin-Waldes. Ingo erhob sich, als Thiadbold im Schein des Feuers stehen blieb. »Hauptmann. Ist alles ruhig?« »So ruhig, wie es nur sein kann. Ich dachte schon, das Gezeter dieser Dorfbewohner würde nie aufhören. Man könnte meinen, sie wären Schweine, die zur Schlachtbank geführt werden. Sie haben vergessen, dass sie das Heer des Königs ernähren müssen, wenn sie seinen Schutz wollen.« Thiadbold strich sich die roten Haare zurück und sah Hanna an. »Ich habe mich mit den Ältesten unterhalten, als sie sich endlich beruhigt hatten. Es sieht so aus, als wäre gestern ein Adler hier durchgekommen. Prinzessin Theophanu ist nicht mehr in Quedlingham. Sie ist mit ihrer Gefolgschaft nach Gent geritten.« Manchmal fiel es ihr schwer, sich daran zu erinnern, dass das Leben auf der Welt weiterging, während sie selbst in Erstarrung verfallen zu sein schien. Als sie nichts sagte, sprach Ingo an ihrer Stelle. »Werden wir auch nach Gent gehen?« »Quedlingham liegt näher«, wandte Hanna müde ein. »Wenn wir Richtung Norden nach Gent gehen, brauchen wir mindestens weitere zehn Tage.« Thiadbold runzelte die Stirn, musterte sie noch immer. »Prinz Sanglant hat uns aufgetragen, die Botschaft und die Löwen seiner Schwester - und niemandem sonst - persönlich zu übergeben. Es bleibt uns also gar nichts anderes übrig, als Prinzessin Theophanu zu folgen.« Die anderen murmelten ihre Zustimmung, aber Hanna, die sich 27 an ihren Schwur erinnerte, berührte den Smaragdring an ihrem Finger, den König Henry selbst ihr als Belohnung für ihre Treue geschenkt hatte. Pflichtgefühl und Loyalität waren das Einzige, das sie so lange am Leben gehalten hatte. »Das hat Prinz Sanglant gesagt, aber womit dienen wir dem König am besten? König Henry muss erfahren, was in seinem Königreich vor sich geht. Seine Schwester herrscht über das Kloster von Quedlingham. Wir können uns ohne jede Schande an Mutter Scholastika wenden. Sie wird wissen, was zu tun ist.« »Wenn Prinz Sanglant wollte, dass wir seine Botschaft Mutter Scholastika übergeben, hätte er uns zu ihr geschickt. Ich habe den Eindruck, als wären seine Botschaft und die Löwen eindeutig für Theophanu bestimmt.« »Nicht für Henry?« Sie erhob sich und zuckte zusammen, als ein übler Schmerz in ihrer Hüfte aufflammte; die
Verletzung, die sie sich vierzehn Tage zuvor bei einem schweren Sturz während der Schlacht an der Veser zugezogen hatte, war noch immer nicht verheilt. Der Schmerz überflutete sie regelrecht, aber sie musste weitermachen. »Gilt deine Loyalität dem König oder seinem Bastardsohn?« »Hanna!« Folquins leise Ermahnung kam etwas zu spät. Thiadbold musterte sie, den Mund noch immer nachdenklich verzogen. Sie mochte Thiadbold mehr als die meisten anderen; er war ein guter Hauptmann, gelassen und klug und in der Schlacht unerschütterlich. Die unter seinem Befehl stehenden Löwen vertrauten ihm, und Prinz Sanglant hatte ihn sogar zu seinen Beratungen hinzugezogen. »Verzeih, wenn ich das sage«, erklärte er schließlich, »aber die Ketten, die dich am stärksten niederdrücken, sind diejenigen, die du aus freiem, störrischem Willen trägst. Es ist unsinnig, Steine im Sack mit sich herumzuschleppen, für die man keine Verwendung hat.« »Ich wäre dir dankbar, Hauptmann, wenn du mich meinen eigenen Weg in Frieden gehen lassen würdest. Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe.« »Nein, das habe ich nicht, und ich wünsche auch niemandem, zu sehen, was du gesehen hast, oder etwas davon zu erleiden, aber -« 28 Sie humpelte davon, unwillig, weiter zuzuhören. Er fluchte und lief hinter ihr her. »Also gut, schließen wir Waffenstillstand«, sagte er, als er sie eingeholt hatte. »Ich werde nicht mehr davon anfangen, aber ich muss dich warnen -« »Ich bitte dich, tu es nicht.« Er hob die Arme, als wollte er sich ergeben, und seine Lippen verzogen sich zu einer Art Lächeln. Dahinter verbargen sich jedoch unausgesprochene Worte und ein Aufwallen verschiedener Gefühle. In ihrem Innern flackerte etwas auf, ungebeten und unerwartet. Sie musste zugeben, dass er mit seinen breiten Schultern und den dichten roten Haaren ausnehmend gut aussah. War sein Interesse an ihr während der letzten zwei Wochen - seit der Schlacht und seit Prinz Sanglant sie vom Hauptteil des Heeres weg und auf die Suche nach Theophanu geschickt hatte - möglicherweise mehr als einfach nur kameradschaftlicher Natur? Machte er ihr, wenn auch zurückhaltend, den Hof? Und fand sie ihn denn anziehend? Aber allein die Tatsache, derart an einen Mann zu denken, erinnerte sie an Bulkezu, und Wut und Hass schwappten in einer riesigen Woge über sie hinweg und ernüchterten sie. Vielleicht war Bulkezu an der Wunde im Gesicht gestorben, die er sich bei der Schlacht an der Veser zugezogen hatte. Vielleicht hatte sie zu eitern begonnen und ihm eine Blutvergiftung beschert. Aber ihre Adlersicht sagte ihr etwas anderes. Sie blieb am Waldrand bei einem Holzstapel stehen, direkt unter den ausladenden Ästen einer Eiche. Eicheln rutschten unter ihren Füßen weg. Die Löwen hatten bereits den größten Teil des Holzes gehackt und zu den Feuerstellen geschafft, aber ein paar Holzstücke waren noch da. Thiadbold verschränkte die Arme; er sah Hanna nicht direkt an und sagte nichts. Es war noch hell genug, um seine alte Verletzung erkennen zu können - die weiße Narbe, die sich an Stelle des sauber abgetrennten Ohrläppchens kräuselte. An seinem Kinn befand sich eine neue Narbe, die er sich bei der Schlacht an der Veser zugezogen hatte. Oh, Gott, so viele Menschen waren durch die Hand Bulkezus gestorben. 29 Sie rollte ein Stück Holz zwischen ein paar Steine, packte die Axt und begann, draufloszuhacken. Doch so heftig sie auch zuschlug, die Schläge vermochten die Wut und den Kummer nicht aus ihr zu vertreiben. Der Wind wurde stärker, und es begann, heftig zu regnen. Soldaten hasteten in den Schutz ihrer Zelte. Sie zog sich unter das Laubdach der Eiche zurück. Draußen auf der freien Fläche flackerten die Flammen im stürmischen Wind. Eine der Feuerstellen erlosch augenblicklich, ertränkt vom Regen, und auch die anderen etwa ein Dutzend gingen nach und nach aus. In der Ferne flackerte ein Blitz am Himmel, und wenige Herzschläge später erschütterte das Krachen des Donners die Erde. »Das Gewitter hat sich schnell genähert«, bemerkte Thiadbold. »Gewöhnlich hörst du es kommen.« »Ich habe es gespürt. Die Männer hätten eher Schutz suchen sollen.« »Was wir alle tun müssen. Prinz Sanglant ist jemand, der einen bevorstehenden Kampf spüren kann, bevor wir anderen auch nur richtig begreifen, was da gegen uns im Anmarsch ist. Er ist in dieser Beziehung wie ein Hund, der die Gefahr hört und riecht, ehe ein gewöhnlicher Mann merkt, dass irgendetwas zuschlagen will. Wenn er sich jetzt um das Königreich sorgt, wenn er befürchtet, dass sein Vater nicht zuhören wird, während Wendar von schwarzer Magie bedroht ist, traue ich seinem Instinkt.« »Seinem Instinkt oder seinem Ehrgeiz?« »Glaubst du, das ist es? Glaubst du wirklich, dass all sein Gerede von Magie und einer Verschwörung nur dazu dient, seine Eitelkeit und seine Gier zu bemänteln ? Dass er nichts weiter ist als ein Rebell, nur auf Ruhm und seinen eigenen Vorteil bedacht?« »Hat es die großen Edelleute gekümmert, als das gewöhnliche Volk von den Qumanern ermordet und versklavt worden ist? Wie viele sind den Bauern zu Hilfe gekommen? Sie haben nur daran gedacht, sich selbst und ihre Schätze zu retten, sich ihren eigenen armseligen Streitereien zu widmen. Sie haben ihr Volk den brutalen Ungeheuern überlassen.« »Das mag sein. Ich gehöre sicher nicht zu denen, die Leute wie
30 Lord Wichmann verteidigen, auch wenn es Gottes Wille war, dass er als Sohn einer Herzogin geboren wurde und über uns beiden steht. Manche behaupten, dass die Qumaner eine Strafe sind, die Gott den Boshaften geschickt haben.« »Es waren unschuldige Kinder!« »Die jetzt Märtyrer sind, jedes einzelne von ihnen. Doch wer kann sagen, wen Gott begünstigen? Am Ende war es Prinz Sanglant, der die Qumaner besiegt hat.« Sie hatte keine Antwort darauf, schäumte aber vor Wut, während der Regen weiter auf den Boden prasselte. Durchnässt und zitternd schlang sie die Arme um sich. Ein Windstoß schüttelte die Bäume, und erneut krachte ein Donnerschlag. Zweige brachen, wurden vom Wind abgerissen und prallten eine Steinwurflänge entfernt zu Boden. Auf der Wiese riss sich ein Zelt von einigen der Haken los, die in den Boden getrieben worden waren, und die armen Soldaten, die sich darunter gekauert hatten, waren dem Regen plötzlich schutzlos ausgeliefert. Sie sah drei verwundete Männer, deren Bewegungsfähigkeit immer noch stark eingeschränkt war; dem einen fehlte eine Hand, ein anderer hatte ein gebrochenes und geschientes Bein, der dritte trug beide Arme in Schlingen, um seine verletzten Schultern zu schonen. Der Zeltstoff flatterte wie ein großer Flügel, als der Wind versuchte, ihn auch noch von den restlichen Haken loszureißen. Thiadbold fluchte lachend, dann rannte er mitten in den Sturm hinaus. Einen Augenblick lang stand sie einfach nur im Wind und Regen da, starrte ihm träge hinterher. Dann brach wie zur Warnung ein Zweig über ihr, und Blätter regneten auf sie herab. Sie eilte hinter Thiadbold her, und gemeinsam mit einigen verspätet herbeilaufenden Löwen gelang es ihnen, das Zelt wieder festzumachen. Die verletzten Kameraden machten derweil Witze, denn Humor war das Einzige, was ihnen in ihrer hilflosen Lage geblieben war. Schließlich bestand Thiadbold darauf, dass sie zum Dorf ging und als Adler um einen Platz an einem Herdfeuer ersuchte. Dort trocknete sie ihre Kleider und schlief einigermaßen behaglich auf einem Schaffell, das nahe beim Herdfeuer auf einem leicht erhöh31 ten Podest ausgebreitet worden war. Sie wachte gelegentlich auf, weil sie husten musste oder den Schmerz in ihrer Hüfte so eindringlich spürte, als würde sich unaufhörlich ein Messer tief in ihr Gelenk bohren. Würde der Schmerz denn nie aufhören ? Am nächsten Tag suchten sie einen Dorfbewohner - einen schlaksigen Jugendlichen - aus, der Mutter Scholastika eine Nachricht überbringen sollte. Niemand von ihnen, keiner der Löwen und schon gar keiner der Dorfbewohner, konnte schreiben, und so musste der Junge erst noch angeleitet werden, ehe Hanna sicher war, dass er die Worte auswendig gelernt hatte und sie auch wiederholen konnte, wenn es so weit war. Er hatte eine rasche Auffassungsgabe und war eifrig, lernte die Nachricht gründlich auswendig, obwohl sie schließlich ein ganzes Heer von Zuschauern verjagen mussten, die ihn in dem Bemühen, hilfreich zu sein, immer wieder unterbrachen. »Ich wäre auch gern ein Adler, wenn ich könnte«, gestand er, wobei er sich mit einem raschen Blick vergewisserte, dass sein Vater nicht zuhörte. Der alte Mann beklagte sich gerade bei Thiad-bold, dass er die ganze Woche, die der Junge benötigen würde, um nach Quedlingham und zurück zu marschieren, auf seine Arbeitskraft verzichten musste - und das ausgerechnet zu der Jahreszeit, da die Felder gepflügt, die Eicheln für die Schweine von den Bäumen geschüttelt und Stämme gespalten werden mussten. »Es muss ein gutes Leben sein, als Adler dem König zu dienen.« »Wenn man nichts gegen Tod und Elend hat.« Der Junge blickte verwirrt drein, dann verletzt, und ein Anflug von schlechtem Gewissen veranlasste sie, die Schultern zu zucken. Sie hasste es, wie seine Miene sich voller Hoffnung darauf, dass sie fortfuhr, aufhellte. »Es ist ein schweres Leben. Ich habe Dinge gesehen, die so schlimm waren, dass ich nicht darüber sprechen kann ...« Da sie auch jetzt nicht weitersprechen konnte, stand sie einfach nur auf, kämpfte gegen den Schmerz in ihrer Hüfte an, während ihr Tränen in die Augen stiegen. Aber er war genauso jung und dumm, wie sie es einst gewesen war. 32 »Mir würde es nichts ausmachen«, sagte er und folgte ihr zur Tür des kleinen, aber sauberen Bauernhauses. »Ich habe keine Angst vor der Kälte oder Räubern. Ich habe ein gutes Gedächtnis. Ich kenne sämtliche Psalmen auswendig. Alle sagen, dass ich schnell bin. Die Diakonissin, die am Herrintag kommt und die Messe hält, bittet mich immer, den Gesang anzuführen. Aber ... ich kann nicht auf einem Pferd reiten. Auf einem Esel habe ich schon häufig gesessen, deshalb glaube ich, dass ich schnell lernen würde, auf einem Pferd zu reiten.« Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und drehte sich zu ihm um, musterte seine von der Arbeit narbigen Hände und das durchschnittliche, aber gutherzige Gesicht, das sie an den armen Manfred erinnerte, der bei Gent getötet worden war. Sie hatte Manfreds Adlerbrosche gerettet, die Bulkezu ihr an dem Tag, als die Qumaner sie gefangen genommen hatten, vom Umhang gerissen hatte. Sie hatte sich mit aller Kraft an die Messingbrosche und den Smaragdring geklammert, den Henry ihr gegeben hatte. Zusammen mit ihrem Eid als Adler waren es diese Dinge gewesen, die ihr geholfen hatten zu überleben. Der Junge wirkte noch so jung, und doch war er vermutlich nicht viel jünger als sie damals, als Wulfhere ihre Mutter gefragt hatte, ob es ihr Wunsch sei, dass ihre Tochter in den Dienst des Königs trete. In unruhigen Zeiten, so hatte Wulfhere gesagt, herrsche immer Bedarf an geeigneten jungen Menschen, die Botschaften für die
königliche Familie überbrachten. »Ist es wirklich dein Wunsch, als Adler zu dienen?«, fragte sie schließlich. Das erstickte Luftschnappen des Jungen und das krampfartige Zucken seiner Schultern waren Antwort genug. Sogar der Vater schwieg, als ihn die Bedeutung ihrer Frage mit ganzer Wucht traf. Seine jüngere Schwester, die nicht mit den übrigen herumlungernden Dorfbewohnern verjagt worden war, brach in Tränen aus. »Ja«, flüsterte der Junge; mehr brachte er nicht heraus, denn seine Schwester stürzte sich auf ihn und begann zu jammern. »Ernst! Mein Sohn ... ein Adler des Königs!« Die Stimme des Vaters klang mürrisch, und Hanna hatte den Eindruck, dass er kurz 33 vor einem Wutausbruch stand. Aber der eigene Hass hatte ihre Wahrnehmung vernebelt. Überwältigt von Gefühlen und seine Klagen ganz und gar vergessend, kniete der alte Mann auf dem Boden seines Hauses nieder, da seine Beine ihm den Dienst versagten. Tränen strömten ihm übers Gesicht. »Für ein Kind dieses Dorfes ist es eine große Ehre, in den Dienst des Königs berufen zu werden.« So geschah es also, und erst jetzt kam es Hanna in den Sinn, dass sie die Autorität hatte, einen jungen Menschen so einfach zu einem Adler zu ernennen. Aber hatte Bulkezu ihr nicht die schreckliche Macht gezeigt, die jemand besaß, der darüber entschied, wer leben durfte und wer sterben musste, wer leiden sollte und wer nicht? »Wenn du dir das Recht erwerben willst, den Eid der Adler zu sprechen, musst du Mutter Scholastika diese Nachricht überbringen und mit ihrer Antwort zu mir zurückkehren; du wirst mich bei Prinzessin Theophanu finden. Wenn du das schaffst, hast du dich als würdig erwiesen, zum Adler ausgebildet zu werden.« Sie löste ihre Schnalle und nahm den Umhang ab. »Noch hast du dir das Abzeichen der Adler nicht verdient, und es wird auch nicht leicht sein, das zu tun. Aber du kannst diesen Umhang als Zeichen deiner Ausbildung tragen. Er wird dir eine sichere Reise gewähren.« Sie drehte sich um und sah Thiadbold an, der schweigend zugeschaut hatte. »Gib dem Jungen das braune Pony. Er kann es während der Reise pflegen, und vielleicht gibt ihm Mutter Scholastika ja ein besseres Pferd, wenn er von Quedlingham wieder aufbricht.« Die Familie des Jungen weinte, aber er selbst schien nur traurig darüber zu sein, die Schwester verlassen zu müssen. Die Kompanie Löwen marschierte am späten Morgen unter einem aufklarenden Himmel los; der Regen vom Vortag glänzte noch auf den Bäumen und den Brennnesseln, die dort am Wegesrand wuchsen, wo das Blattwerk gestutzt worden war. Hanna und die Löwen wandten sich nach Norden, in Richtung Gent. Der Junge verschwand schon bald hinter einer Biegung auf seinem Weg gen Westen nach Quedlingham, am nördlichen Rand des Thurin-Waldes entlang. Doch noch eine Ewigkeit, so kam es ihr vor, konnte sie den armen, arglosen Kerl fröhlich singen hören, während er seinem neuen Leben entgegenritt. 34 2 »Hanna? Hanna!« Noch halb benommen erkannte sie Folquins Stimme, spürte seine starke Hand an ihrem Ellbogen, die sie zu stützen versuchte. Sie war wieder auf ihrem Pferd eingeschlafen und vornübergesackt. Panisch begann sie, die auswendig gelernte Botschaft des Prinzen vor sich hin zu murmeln, vor lauter Angst, sie könnte verschwunden, ein Opfer ihrer Albträume geworden sein. Aber als er ihr half, sich aufzurichten, riss ein stechender Schmerz in der Hüfte sie aus ihren Gedanken. Tränen verschleierten ihren Blick. Sie blinzelte sie beiseite, um sich schließlich das anzusehen, was die Aufmerksamkeit ihrer Kameraden erregt hatte. Nach vielen Tagen miserablen Wetters mit ständigem Regen hatten sie einen Steilabbruch am Rand eines gebirgigen Gebietes erreicht; von dort aus hatte man gute Sicht nach Norden in das Flusstal hinunter. Ein breiter Fluss schlängelte sich durch Weideland und herbstliche Felder, und mit schmerzhafter Klarheit erkannte sie, wo sie sich befanden. In diesen Roggenfeldern war sie mit Manfred, Wulfhere, Liath und Hathui von den Aikha und deren Hunden angegriffen worden, als sie auf dem Weg nach Gent gewesen waren, um Prinz Sanglant und seine Drachen zu treffen. Hier hatte sie auch das Chaos der Schlacht erlebt, als König Henry mit seiner Armee gegen Blutherz gekämpft und Prinzessin Sapientia sich mit ihren Soldaten auf die Aikha-Schiffe am Flussufer gestürzt hatte. »Hanna?« Folquins Stimme klang scharf vor Besorgnis. »Geht es dir gut ? Du hast weder gestern Abend deinen Haferbrei aufgegessen noch heute Mittag etwas Kaltes zu dir genommen.« »Nein, es ist nichts.« Sie nieste. Jeder Atemzug erzeugte ein leises Pfeifen, wenn sie die Luft in die schmerzende Lunge sog. Doch was spielte es schon für eine Rolle, ob sie Schmerzen hatte? Ob sie zitterte, hungrig oder durstig war? Das alles zählte nicht. Es zählte nur, dass Bulkezu noch lebte. Friedlich erstreckten sich die abgeernteten Felder vor ihnen. 35 Vieh graste auf ein paar Streifen Weideland. Die rundlichen Umrisse von Schafen sprenkelten die nordwestlichen Hänge, die sich vom getreidebestandenen Flusstal hinaufzogen. Ein paar Rauchschwaden trieben von der ummauerten Stadt träge gen Himmel. Der Turm der Kathedrale und der Palast des Bürgermeisters waren aus dieser Entfernung leicht zu erkennen - sie hoben sich deutlich vor dem breiten Fluss und dem weißlich blauen Himmel ab, der an diesem Tag beinahe wolkenlos war. Flatterte da königliche Seide über dem Tor und kündete von Theophanus Anwesenheit? Der kühle Wind strich ihr übers Gesicht, und sie zitterte.
»Wir sollten schnell weiterreiten«, murmelte Leo so leise, dass sie vermutete, seine Worte waren nicht für sie bestimmt gewesen. An der westlichen Brücke wurden sie von etwa dreißig Stadtsoldaten hinter einer Mauer aus Schilden begrüßt; sie hatten für den Fall Position bezogen, dass es sich bei den herannahenden Soldaten um Plünderer oder Feinde handelte. Eine von Prinzessin Theophanus Verwalterinnen trat hinter der Schildmauer hervor, um sie zu begrüßen, während Hanna neben Thiadbold auf sie zuritt. »Ich bringe eine Nachricht von Prinz Sanglant aus dem Osten«, sagte Hanna. »Der Prinz schickt außerdem diese Löwen, um die Gefolgschaft Ihrer Hoheit zu stärken.« »Gott seien gelobt«, murmelte die Verwalterin. Sie gab einen Befehl, und die Schildmauer löste sich auf. Als die Stadtsoldaten von Gent sich wieder hinter das Tor zurückzogen, eilten sie über einen kleinen Marktplatz voller Bettler und armer Leute, die sich auf dem breiten Vorhof gleich hinter dem Schutzwall versammelt hatten. Dabei trampelten sie beinahe eine zerlumpt aussehende Frau mit einem Korb voller Kräuter nieder, ohne sich jedoch weiter darum zu kümmern, dass die Frau in den Dreck fiel. Die anderen Leute murmelten leise. Hanna lief zu der Bettlerin und half ihr auf die Beine, nur um zusätzlich zu den Schmerzen, die ihr das einbrachte, auch noch angespuckt zu werden. »Komm«, sagte Thiadbold, der neben Hanna getreten war. »Eine gute Tat gegenüber den Verängstigten bleibt niemals ungestraft.« Der Ärger der alten Frau schmolz unter seinem Lächeln 36 dahin, und sie gestattete ihm, Majoran, Fingerkraut und getrocknete Brennnesseln einzusammeln. »Es ist kein Schaden entstanden, Mutter, wenn erst alles wieder an seinem Platz ist.« Hannas Bauch fühlte sich an, als hätte ihr jemand einen Tritt versetzt. Ihr Herz hämmerte, und ihr Atem ging in kurzen Stößen. »Komm schon, Hanna«, sagte Thiadbold, während er die Zügel ihres Pferdes nahm, sodass sie wieder aufsteigen konnte. »Sie hat Angst gehabt, weiter nichts.« »Das nächste Mal machen diese Soldaten eine arme Seele zum Krüppel, ohne sich darum zu kümmern, was sie angerichtet haben. Oh, Gott.« Sie schwang ihr Bein über den Sattel, aber die Anstrengung brachte sie zum Zittern. »Ich habe immer noch Albträume von denen, die mich verflucht haben.« »Aber du hättest doch gar nichts für sie tun können. Du warst ebenso eine Gefangene wie sie. Du hast deine Pflicht als Adler getan und überlebt.« Sie konnte nichts sagen; die Worte blieben ihr im Halse stecken. »Worüber sprecht Ihr?«, fragte die Verwalterin, die hinter ihnen wartete, um sie durch die Stadt zu begleiten. »Wir haben Gerüchte gehört, über Qumaner, über die Pest, eine Dürre und sehr viel böse Zauberei. Aber wir haben nie etwas gesehen. Gerüchte sind die Sprache des Feindes. Lord Hrodik ist mit Prinz Sanglant weggeritten. Wir haben seither nichts von ihm gehört. Jeden Tag beten wir, dass wir eine Nachricht aus dem Osten erhalten.« »Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Thiadbold mit Blick auf Hanna. Die Verwalterin seufzte schwer, dann lachte sie. Sie war klein und kräftig, blickte schlau und ungeduldig drein und hatte offensichtlich Sinn für Humor. »So lehren Gott uns Geduld! Kommt jetzt. Ihre Hoheit, Prinzessin Theophanu, wird begierig darauf sein, Neuigkeiten über ihren Bruder zu erfahren.« Sie ritten durch die Straßen von Gent, und Theophanus Soldaten machten ihnen den Weg frei. Als sie das Palastgelände betraten, schickte die Verwalterin Thiadbold und die Löwen zu den Unterkünften oberhalb der Ställe, während sie Hanna sogleich in das üppig geschmückte Zimmer führte, in dem Theophanu Hof hielt. 37 Die lebhaften Farben, die ihr dort entgegenleuchteten, machten Hanna ganz benommen: der purpurrote Teppich, die goldfarbenen seidenen Wandbehänge beiderseits des königlichen Stuhls, auf dem Theophanu Platz genommen hatte und - umgeben von einem Dutzend edler Kameradinnen in roten, blauen und grünen Gewändern - ein Schachbrett betrachtete. Vier Kohlenpfannen erwärmten das Zimmer, aber Leben und Energie erhielt es von dem Schnattern der Frauen. Die Frauen blickten Hanna erwartungsvoll an, tuschelten leise miteinander. »Aus dem Osten!« »Womöglich von Sapientia? Ich erkenne sie. Sie ist ein Adler und hat zuvor Sapientia gedient.« »Sprecht rasch, Adler!« »Ich bitte Euch, gewährt uns einen Augenblick Ruhe.« Theophanu erhob sich. Auf ihr Zeichen hin löste sich eine Dienerin aus dem Schatten, den die Seidenvorhänge warfen, nahm das Schachbrett und trug es zu einem Nebentisch. »Ihr seht ziemlich blass aus, Adler.« Sie wandte sich an die Dienerin. »Bring etwas Bier und Brot, damit sie sich stärken kann. Und Wasser, um sich Gesicht und Hände zu waschen.« Ihre Kameradinnen waren nicht so geduldig. »Wie könnt Ihr das nur aushalten? Nach all diesen Monaten!« »Nach allem, was wir erlitten haben, dem langen Warten und Bangen! Nach Conrads Unverschämtheit bei Barenberg!« »Ja!«, schrien auch andere. »Sie soll erst sprechen und dann essen.« Theophanu hatte es nicht nötig, die Stimme zu erheben, um sich Gehör zu verschaffen. »Lasst sie essen. Wir werden nicht sterben, wenn wir noch etwas warten, nicht heute. Ich bitte Euch, Adler, setzt Euch.«
Zwei Bedienstete trugen eine Bank mit einem bestickten Kissen herbei, und Hanna sank dankbar darauf nieder. Bier und feines weißes Brot wurden ebenfalls gebracht; Letzteres war so weich, dass es sich wie eine Wolke in ihrem Mund auflöste. Eine Dienerin holte einen Krug mit warmem Wasser und eine Schüssel sowie ein Tuch, wusch Hanna die Hände und das Gesicht, als wäre sie 38 eine Edelfrau. Die Frauen um Theophanu tuschelten leise miteinander, gingen auf und ab, fingerten an Schachfiguren herum; sie waren ebenfalls leise, um die Botschaft nicht zu überhören, die da überbracht werden würde. Eine dunkelhaarige Frau in einem schönen grünen Kleid schlug mit ihrem Fuß immer wieder die Ecke des Teppichs um, während Bedienstete bis weit in den Flur hinein an der geöffneten Tür standen, um ebenfalls Neuigkeiten vom Osten zu hören. Nur Theophanu zeigte keinerlei Anzeichen von Ungeduld, während sie gelassen auf ihrem Stuhl saß, so als wüsste sie bereits, was Hanna zu sagen hatte. Es war schwer, unter diesen Umständen zu essen und zu trinken; vielleicht wäre es besser gewesen, die Nachricht, die sie so viele erschöpfende Tage in ihren Gedanken bewahrt hatte, einfach rasch zu überbringen. Als sie sich schließlich erhob und vor die Prinzessin trat, hörte sie die Anwesenden tief und erwartungsvoll atmen, dann hielten alle die Luft an, und es herrschte ein durchdringendes Schweigen - als würde sich ein trotziges Kleinkind zu einem lauten Schrei bereitmachen. Hanna schloss die Augen, um sich die Nachricht in Erinnerung zu rufen. »Diese Botschaft überbringe ich von Prinz Sanglant an seine ruhmreiche, weise und geliebte Schwester Prinzessin Theophanu. Mit diesen Worten berichte ich Euch von den Ereignissen, die in Osterburg und im Osten vonstatten gegangen sind.« Sie hatte die Worte so oft im Stillen aufgesagt, dass sie jetzt umso schneller flössen, je weniger sie darüber nachdachte, welches Wort auf das andere folgte. Nicht einmal das Pfeifen ihrer Atemzüge oder ihr häufiges Husten vermochte sie abzulenken, als sie jetzt die Ereignisse der letzten zwei Jahre schilderte. König Henry hatte sie und zwei Kohorten Löwen nach Osten geschickt, um seiner Tochter zu Hilfe zu kommen. Ihre Gruppe hatte sich mit Prinzessin Sapientia und Prinz Bayan zusammengetan und schon bald einem qumanischen Heer unter dem Befehl von Bulkezu gegenübergestanden. Nur Bayans klarer Verstand hatte sie vor einer katastrophalen Niederlage bewahrt. Dabei war der schreckliche Rückzug des besiegten Heeres nach Handelburg 39 noch das Beste in diesem ganzen schlechten Jahr gewesen. Als sie Handelburg erreichten, war es sogar noch schlimmer gekommen, denn Bischöfin Alberada hatte Prinz Ekkehard als Ketzer verurteilt. Sapientias Eifersucht hatte sich auf Hanna gerichtet und dazu geführt, dass sie mit Ekkehard und den anderen exkommunizierten Ketzern mitten im unbarmherzigen Winter wegreiten musste. Es war besser, nicht daran zu denken, was als Nächstes geschehen war, sofern sie in der Lage war, die Worte zu sprechen, ohne zu hören, was sie sagte. Es war besser, nicht an das Eindringen der Qumaner in die Marklande und den östlichen Teil Wendars zu denken, nicht daran, wie sie selbst sich schließlich in deren Netz verfangen hatte. Es war besser, nicht an die Zerstörung und Vernichtung zu denken, die Bulkezu über jene armen, unglücklichen Seelen gebracht hatte, die einfach nur zufällig dort gewesen waren, wo er sein Heer entlanggeführt hatte. Von Pest und Elend waren sie heimgesucht worden, und erst nach einer langen Zeit des Leidens hatte sie mithilfe ihrer Adlersicht durch das Feuer einen kurzen Blick auf den Kriegsrat werfen können, der von Bayan und Sanglant geleitet wurde. War sie es gewesen, die Bulkezu geraten hatte, nach Osterburg zu reiten? Oder hatten Gott ihre Stimme geführt? Vor Osterburg in der Veser-Ebene hatte Sanglant die Qumaner geschlagen, aber Bayan war in der Schlacht getötet worden, wie so viele andere, darunter auch Edelmann Hrodik. Die Löwen hatte es besonders hart getroffen; sie verloren über ein Drittel ihrer Leute, sodass zwei stolze Kohorten zu einer einzigen zusammenschrumpften. Sie musste eine Pause machen; das Sprechen strengte sie einfach zu sehr an. Die Anwesenden standen stumm da, sprachlos vor Entsetzen angesichts dieser Litanei von Krieg und Hungersnöten, von Dürre, Pest und anderen Krankheiten, von Ketzerei und unzähligen zerstörten Dörfern und Städten. Theophanu hob die Hand in einer so lässigen Geste, als würde sie eine Fliege verscheuchen. »Das alles ist mir nicht unbekannt«, sagte sie mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme, obwohl nicht die geringste Regung in ihrem glatten, schönen Gesicht zu erkennen war. »Wir sind uns das letzte Mal bei Barenberg begegnet, Ad40 ler, wo ich hilflos war und nicht gegen die Eindringlinge kämpfen konnte, sodass mir keine andere Möglichkeit blieb, als sie vorübergehend durch Bestechung fern zu halten. Ich bin froh, dass Ihr Eure Gefangenschaft überlebt habt.« Jetzt sah Hanna die Prinzessin richtig an, schaute in ihre dunklen Augen mit dem festen Blick, musterte den entschlossenen Mund, der Ausdruck einer Persönlichkeit war, die sich nicht gleich nach jedem Wind richtete. »Das ist nicht alles, Eure Hoheit. In der Tat ist dies nur der geringste Teil, wie Euer Bruder Prinz Sanglant meint.« Theophanu besaß die Klugheit einer Kirchenfrau, auch wenn diese Klugheit manchmal von den unergründlichen Wesenszügen verdeckt wurde, die sie von ihrer aus dem Osten stammenden Mutter geerbt hatte. Sie stand auf, ehe Hanna weitersprechen konnte. »Mein Bruder spricht, glaube ich, von einer von Zauberei gelenkten
Verschwörung, die es sich zum Ziel gemacht hat, ganz Wendar zu zerstören und eine gewaltige Umwälzung über das Land zu bringen.« »So ist es.« Vor Überraschung hatte Hanna den Faden ihrer sorgfältig auswendig gelernten Worte verloren. »Wenn ich meine Gedanken einen Augenblick ordnen dürfte, Eure Hoheit...« Ein Hustenanfall schüttelte sie. Theophanu wartete, bis er vorüber war, ehe sie erneut das Wort ergriff. »Vergesst nicht, dass ich in Angenheim war, als Sanglant mit seinem Kind und seiner Mutter dort erschienen ist. Ich habe ihn sprechen gehört. Doch ich habe nichts gehört, was mich dazu gebracht hätte, Zauberei noch mehr zu fürchten, als ich es ohnehin schon tue. Mein Eindruck war, als hätte er zur Rebellion gegen unseren Vater aufgerufen, gegen den König. Vielleicht ist er nicht ganz bei Verstand. Vielleicht hat das Blut seiner Mutter ihn vergiftet -« »Oder er hat sich bei dieser Hexe, die er geheiratet hat, irgendeine Krankheit geholt«, gab eine ihrer Hofdamen zu bedenken. »Vielleicht«, erwiderte Theophanu so skeptisch, dass Hanna einen Augenblick brauchte, um zu begreifen, dass mit der »Hexe« Liath gemeint war. »Aber wenn uns eine Umwälzung bevorsteht, 41 dann sind unsere Feinde doch sicher die Verlorenen und nicht jene, die uns vor ihnen beschützen wollen. Ich kann nicht glauben, dass mein Bruder in diesem Fall weise handelt. Aber ich bin ihm dankbar, dass er mir die restlichen Löwen schickt, die im letzten Sommer nach Osten gezogen sind. Wieso ist er nicht selbst gekommen?« »Als ich aufgebrochen bin, wollte er die Leiche von Prinz Bayan nach Ungria bringen, Eure Hoheit. Von Ungria aus will er weiter nach Osten in jene Länder reiten, in denen Zauberer und Greifen zu finden sind.« »Können die Geschichten über den Osten denn wahr sein?«, fragte die Frau in dem grünen Kleid. Sie hatte sich nach vorn gedrängt, um besser hören zu können, und saß jetzt auf einem Kissen neben Theophanus Stuhl. »Wunder über Wunder. Schlangen, die Blut trinken. Einbeinige Menschen, die überall herumhüpfen. Habt Ihr so etwas in den Marklanden gesehen, Adler?« »Nein, das habe ich nicht, aber wir sind nicht einmal bis zum Königreich Ungria gekommen. Die meiste Zeit war ich in der Mark der Villams, oder in Avaria und sogar hier in Saony. Ich weiß nicht, was jenseits von Ungria liegt...« Abgesehen davon, dass sie es aus ihren Träumen wusste, denn sie hatte die kerayitische Prinzessin Sorgatani in der Wüste und in Wäldern aus Gras wandeln sehen, das höher stand als mannshoch. Sie hatte die Klauen eines lebenden Greifen an ihrer Schulter gespürt. Sie hatte die silbernen und goldenen Schuppen von Drachen berührt, die am Rand der bewohnbaren Lande zu Dünen aufgeschichtet worden waren. Sie hatte die Zelte des sagenumwobenen Bwr-Volkes gesehen, dessen Körper eine Mischung aus Mensch und Pferd darstellten. »Eine Erkundung des Ostens wird sich immer als gefährlich erweisen und könnte ihn Jahre in Beschlag nehmen, wenn er überhaupt jemals zurückkehrt«, sagte Theophanu. Eine Dienerin brachte einen silbernen Becher auf einem Holzteller, dessen Seiten so geschnitzt waren, als würde sich Efeu darum ranken. »Hier, Leoba.« Sie reichte den Becher der Edelfrau, die zu ihren Füßen saß. »Ist uns der Zugang nach Aosta verwehrt?« Leoba nahm den 42 Becher, trank aber nicht. »Wie ist es möglich, dass eine Botin von Prinz Sanglant eintrifft, nicht aber von König Henry? Wieso hören wir keine Neuigkeiten aus Aosta, wenn uns hier so viele Probleme begegnen ? Wo ist der König?« »Und wo ist dein verehrungswürdiger Ehemann?« Theophanu lächelte ihre Kameradin freundlich an. »Ich bin nicht weniger beunruhigt als du. Es kommt mir seltsam vor, dass ich drei Adler unabhängig voneinander nach Aosta geschickt habe, ohne auch nur eine einzige Nachricht von meinem Vater zu erhalten.« »Jetzt, bei Einbruch des Winters, wird niemand mehr das Alfar-Gebirge überqueren können.« Leoba war so jung und kräftig wie Theophanu, aber im Gegensatz zu deren Gelassenheit zeigte sich in ihrem Gesicht der Eifer eines Hundes, der bereit war, augenblicklich zur Jagd aufzubrechen. »Wir werden warten müssen.« Theophanu nahm den Becher und nippte daran, während ihre Hofdamen leise flüsterten. Zwischen den Fenstern, deren Läden geschlossen waren, hing ein Wandteppich, der aus solch dunklen Farben gewebt war, dass das schwache Licht der Lampen das Bild darauf kaum erhellen konnte: eine heilige Gestalt, die von Messern durchbohrt wurde. Eine Dienerin trat vor, um den Becher nachzufüllen, und die Prinzessin nippte daran, die Augen geschlossen, als würde sie über einer schwierigen Frage brüten. Sie sprach mit veränderter Stimme, so weich, dass sie um einiges gefährlicher wirkte. »Da ist etwas, das mich verwirrt, Adler. Ihr bringt mir eine Nachricht von meinem Bruder Sanglant. Ihr sprecht vom Tod von Prinz Bayan von Ungria und vielen anderen achtbaren Menschen, die in der Schlacht gegen die qumanischen Eindringlinge gefallen sind. Doch Ihr habt kein Wort über Prinzessin Sapientia verloren. Ihr habt ihr einst gedient, wie ich weiß. Was ist aus ihr geworden ?« Die Frage verblüffte Hanna, obwohl sie mit ihr hätte rechnen müssen. »Sie lebt, Eure Hoheit.« »Wo ist sie ? Wo ist ihr Heer? Wieso sind diese Löwen auf Befehl von Sanglant zu mir geschickt worden und nicht auf ihren? Ist sie verletzt? Verschwunden? Vom Heer getrennt worden?« »Nein, Eure Hoheit. Sie reitet mit Prinz Sanglant.«
43 »Wie kann es sein, dass zwar mein Bruder mir Grüße übermittelt, nicht aber meine Schwester? Ist sie nicht von Henry zur Erbin des Throns von Wendar und Varre ernannt worden?« Gehässige Worte gingen ihr leicht über die Lippen. »Prinz Sanglant befehligt das Heer, Eure Hoheit, nicht Prinzessin Sapientia.« Die Hofdamen tuschelten, und ein Stimmengewirr aus Überraschung und Vermutungen erfüllte den Raum. Nur Theophanu schien von Hannas Aussage unbeeindruckt. »Wollt Ihr damit sagen, dass er ihr genommen hat, was rechtmäßig ihr untersteht?« »Ich weiß nicht, was im Kopf von Prinzen vor sich geht, Eure Hoheit. Ich kann nur bezeugen und berichten.« »Wo befindet sich Sapientia jetzt?« »Sie reist mit Prinz Bayans Leiche nach Osten, nach Ungria.« »Hat sie dieser Reise zugestimmt, oder wurde sie dazu gezwungen?« Der ganze Ärger kochte wieder in ihr hoch. Hatte Sanglant sie nicht verraten, sie und all jene, die durch Bulkezu gelitten hatten, indem er ihn am Leben ließ ? Vielleicht war Sanglant wirklich besser zum Herrschen geeignet als Sapientia. Aber er war ein Bastard und für eine andere Position bestimmt; er hatte den Platz seiner Schwester besetzt. Er hatte Bulkezu am Leben gelassen. Sie konnte nicht länger einem Mann vertrauen, der ein Ungeheuer am Leben ließ, dessen brutales Gebaren so vielen den Tod gebracht hatte. Sapientia hätte Bulkezu aufhängen lassen. Sapientia hätte ihn nicht in der vagen Hoffnung verschont, dass er Wendar lebend vielleicht besser dienen würde als tot. Sapientias Entscheidung wäre anders ausgefallen, hätte sie sie fällen dürfen, wie es ihr Recht als Henrys ältestes rechtmäßiges Kind war. Aber sie hatte nicht die Möglichkeit dazu erhalten. »Es ist jetzt mein Heer«, hatte Sanglant nach der Schlacht bei der Veser gesagt. Er hätte ihr auch die Krone vom Kopf reißen können. Und doch hatte ihm nicht einer im Heer den Gehorsam verweigert. »Der Befehl über das Heer wurde ihr gegen ihren Willen entzogen«, sagte Hanna. Augenblicklich begannen alle durcheinander zu sprechen, und 44 Hannas Worte wurden bis zu den geringeren Höflingen und Bediensteten weitergegeben, die im Flur kauerten. »Still«, sagte Theophanu, ohne die Stimme zu heben. Nach einer Weile, in der hier und dort ein paar letzte Bemerkungen ausgetauscht wurden, kehrte Ruhe ein. Wie Sanglant verströmte auch Theophanu die Aura eines Menschen, der es gewohnt war, zu herrschen, aber sie besaß nicht seine Wärme und sein Charisma; sie hatte auch nicht gemeinsam mit einem Heer gekämpft und gelitten wie er, und in ihr erstrahlte nicht das Glück eines Herrschenden wie in ihm. »Wenn das nicht Rebellion gegen Henrys Herrschaft ist, weiß ich nicht, was es sonst sein soll. Heute können wir nichts tun. Adler, ich bitte Euch, esst und trinkt und ruht Euch diese Nacht aus. Ich werde Euch morgen noch einmal ausführlicher befragen.« Hanna glitt von der Bank und kniete nieder, sie zitterte und war viel zu müde, um noch gehen zu können. »Ich bitte Euch, Eure Hoheit, darf ich mich zu den Löwen begeben ? Ich bin lange mit ihnen gereist und vertraue ihnen.« »Einverstanden.« Mit diesem Wort war sie entlassen, und Theophanu ließ sich ihr Schachbrett kommen und widmete sich wieder ihren Vergnügungen. Hanna bewunderte ihre Fähigkeit, Haltung zu bewahren. Es gab keine großen Gefühlsausbrüche bei ihr, so sonderbar das auch in einer Familie sein mochte, die ihre Leidenschaften, ihren Hass, ihre Freude und ihre Wut in aller Öffentlichkeit auslebte. Sie war wie ein stiller Teich, unberührt von den Strömungen der Gefühle, die Hanna zusetzten. Theophanu hätte sich sicherlich nicht der Eifersucht oder dem Neid, der Begierde oder dem Stolz hingegeben. So wie andere. Eine Dienerin trat vor und half Hanna auf. Selbst das Stehen schmerzte, und wider Willen keuchte sie laut auf, und das Keuchen verwandelte sich in einen schmerzhaften Hustenanfall. »Ich bitte um Entschuldigung, Adler. Lasst mich Euch zu den Unterkünften bringen. Ihr braucht dringend etwas Huflattichtee, wie ich sehe. Seid Ihr auch verletzt?« »Ich bin vor ein paar Tagen gestürzt und auf der Hüfte gelandet.« 45 »Ich habe eine Salbe, die Euch helfen wird, wenn ich mich um Euch kümmern darf. Sie stammt von meiner Großmutter, möge sie in Frieden in der Kammer des Lichts ruhen.« Sie schritten durch die Tür, und die Bediensteten im Flur besaßen genug Anstand, zurückzutreten und die beiden hindurchzulassen, obwohl ihr leises Wispern und ihre besorgten Blicke deutlich machten, dass sie wünschten, mehr über die Unruhen zu erfahren, die die Grenzlande und die südlichen Teile des Königreichs betrafen. Um Gent mochte es jetzt ruhig sein, aber sie hatten nicht vergessen, wie sehr die Stadt vor gerade mal zwei Jahren unter der Belagerung der Aikha gelitten hatte. »Ich bin für jede Hilfe dankbar, die Ihr mir gewährt«, sagte Hanna. Eine große Last drückte mit jedem abgehackten Atemzug gegen ihre Brust. »Ist die Pest bis hierher gelangt?« »Nein, zum Glück nicht. Aber wir haben viele Geschichten aus dem Süden gehört. Es heißt, dass im Herzogtum Avaria die Pest ebenso viele Menschen getötet hat wie die Qumaner. Ich weiß nicht, ob das stimmt.« Draußen vor dem Palastgebäude blieben sie auf einer breiten Veranda stehen, und Hanna ruhte sich etwas aus,
während jeder Atemzug sie unendlich viel Mühe kostete. Solch ein kurzer Weg hätte sie nicht so ermüden dürfen, und der Schmerz in ihrer Hüfte ließ vor ihren Augen alles verschwimmen. Leichter Nieselregen nässte den Boden des Innenhofes. Die Unterkünfte lagen auf der anderen Seite der freien Fläche, die ihr jetzt unüberwindlich groß vorkam. »Ihr seid ja kreidebleich«, sagte die Dienerin. »Setzt Euch hin. Ich werde ein paar Männer schicken, die Euch hinübertragen. Ihr solltet nicht gehen.« »Nein, ist schon gut. Ich kann gehen.« Die Dienerin schüttelte den Kopf und half Hanna, sich auf die Holzbretter zu setzen. »Das ist aber nicht die Pest, oder?« »Ich hoffe nicht.« Sie lehnte sich gegen das Geländer und zitterte. Alles tat ihr weh, der Kopf, die Hüfte und die Brust. »Die Pest fängt in den Eingeweiden an, nicht in der Lunge.« Sie blickte auf, spürte eine Bewegung der anderen Frau und sah sie jetzt zum ers46 ten Mal richtig an: Sie war eine gut aussehende Frau, nicht viel älter als sie selbst, mit einer Narbe, die ihre Lippe blass erscheinen ließ, und einem strahlenden, intelligenten und teilnahmsvollen Blick. »Wie heißt Ihr? Es ist nett von Euch, so ... nett zu sein.« Die Dienerin lachte kurz auf. »Es ist so leicht, nett zu sein. Ich heiße Frederun.« Sie zögerte, und ihre Wangen erröteten. Die unerwartete Zurückhaltung und die leichte Färbung ihres Gesichts ließen sie wunderschön wirken, so wie eine jener Frauen, denen die Männer des hübschen Gesichts und des Körpers wegen nachzustellen pflegten. So wie eine jener Frauen, die Bulkezu in sein Bett geholt und später beiseite geschoben hatte. »Stimmt es, dass Ihr mit Prinz Sanglant gereist seid? Hat er sich wirklich gegen seinen Vater, den König, erhoben?« »Wieso ist das für Euch wichtig?«, platzte Hanna heraus. Doch augenblicklich bedauerte sie, dass sie Frederuns Anteilnahme mit solch scharfen Worten beantwortet hatte. Und ihr Bedauern wurde sogar noch größer, da die Antwort offensichtlich war, kaum dass sie die Worte gesprochen hatte. »Es ist nicht wichtig für mich«, erklärte Frederun ein bisschen zu rasch und drehte dabei ihr Gesicht zur Seite, um ihre Miene zu verbergen. »Es war nur so eine Frage. Er und sein Gefolge sind im letzten Winter auf dem Weg nach Osten hier vorbeigekommen.« »Trauert Ihr nicht um den Tod von Lord Hrodik?« Frederun zuckte die Schultern. »Es tut mir immer Leid, wenn irgendein Mensch stirbt. Er war nicht schlimmer als alle anderen. Und er war sehr jung. Aber ich bin froh, dass Prinzessin Theophanu hergekommen ist und dafür gesorgt hat, dass es hier in Gent weder einen Edelmann noch eine Edelfrau als Herrscher gibt. Auf diese Weise bleiben die Geier fern.« »Aber nicht für ewig.« »Nein. Nicht für ewig.« Als hätte sie eine unsichtbare Grenze übertreten, erhob sich Frederun. »Bleibt hier sitzen und wartet, bis ich zurückkehre.« Kaum war sie gegangen, schämte sich Hanna zutiefst. Welches Recht hatte sie, einer freundlichen Frau wie Frederun so zuzusetzen? Sie kämpfte sich auf die Beine, biss die Zähne zusammen und 47 humpelte über den Hof, während der Regen auf sie herabprasselte. Sie konnte gehen, auch wenn jeder Schritt einen Schwerthieb durch ihre Hüfte zu schicken schien, durch ihren gesamten Rumpf und bis in ihre Schläfe. Sie konnte gehen, auch wenn sie keine Luft bekam. Sie konnte gehen, bei der Herrin, und sie würde gehen, so wie Bulkezus Gefangene all die Monate ohne Hilfe gegangen waren, krank und sterbend. Sie war nichts Besseres, und sie verdiente nicht mehr als das, was jene erlitten hatten. Als sie endlich die Unterkünfte erreichte, taumelte sie, und aus irgendeinem Grund war Folquin dort. Er schalt sie, und dann trug Leo sie zu einem Stall, der mit Heu ausgelegt war. Der Geruch von Pferd und Heu brachte sie zum Würgen, und ein Hustenanfall überwältigte sie. »Oh, Gott«, sagte Ingo. »Sie ist ganz heiß. Fühl doch nur ihre Stirn.« »Ich hole den Hauptmann«, erklärte Folquin. »Vielleicht gibt es eine Heilerin oder einen Heiler hier im Palast«, meinte Stephen. »Hanna!«, rief Leo. »Kannst du mich hören?« Sie erstickte fast an ihrem Hass und ihrer Verzweiflung. Benommenheit wogte über sie hinweg, und sie wurde in den Fluten eines rasch dahinströmenden Flusses davongetragen. Sie träumte. In ihrem Albtraum lässt Bulkezu sich seine Mahlzeit schmecken, er säuft Bier und vergnügt sich mit seinen Frauen. Sogar die grauenhafte Wunde verheilt so gut, dass die Leute die Köpfe drehen, um ihm beim Vorbeireiten zuzusehen. Wie kann er noch immer so gut aussehen? Wie können Gott zulassen, dass Ungeheuer so schön sind? Dass sie, selbst in der Niederlage, weiterleben? Oder ist vielmehr sie das Ungeheuer, weil sie trotz allem etwas Schönes in ihm sieht? Die weise, schlichte Agnetha, die er gegen ihren Willen zu seiner Konkubine gemacht hatte, fand ihn häss-lich. Sicher besteht Hannas Sünde darin, dass sie ihren Blick weiterhin willentlich und dickköpfig vor den Tücken des Feindes verschließt. Ein Dunstschleier verhüllt ihren Traum, Nebel wallt vom morastigen Boden auf, und sie erhascht einen Blick auf die spitzen
48 Zelte der Zentaurinnen gleich daneben. Sorgatani bewegt sich durch das Schilf am Ufer des Sumpfes. Der Nebel verhüllt die Welt, und Hanna weiß, dass etwas Riesiges auf sie zuschleicht oder auf die kerayitische Prinzessin -, aber sie kann nicht genau erkennen oder spüren, aus welcher Richtung es angreifen wird. Eine Frau erscheint, löst sich aus dem Dunst, als wäre sie vom Nebel geschaffen: Sie ist ebenso sehr Stute wie Frau. Streifen aus grüngoldener Farbe schmücken ihr Gesicht und den Rumpf. Sorgatani schreit auf vor Wut. »Ich habe alle Auf gaben erfüllt, die mir gestellt wurden! Ich bin geduldig gewesen! Wie viel länger muss ich noch warten?« »Du bist geduldig gewesen.« Als die Schamanin zum Himmel hochstarrt, fällt ihre helle, raue Mähne über ihren Rücken, bis zu der Stelle, wo die Hüfte der Frau in die Schultern der Stute übergeht. »Diese Lektion hast du gut gelernt. Die Ältesten haben sich getroffen. Dein Wunsch wird dir erfüllt werden.« »Dann werden wir nach Westen reiten und mein Glück suchen?« Die Zentaurin verlagert ihr Gewicht, lauscht und antwortet nach einer Weile. »Nein, Kleines. Sie muss das Schicksal erleiden, das sie erwählt hat. Aber wir sind schwach und nur wenige. Wir können nicht allein kämpfen Sie bäumt sich auf, zuckt zusammen, als ein scharfes Geräusch erklingt, so als würde ein Stock über Stein scharren. »Wer ist da?« Ein riesiges Geschöpf bläst Hanna seinen heißen Atem in den Nacken, wirbelt ihre Haare auf. Sie spürt, wie sich sein Maul öffnet und dass es zum Zuschnappen bereit ist. Sie fährt herum, schlägt mit der Faust zu, aber als ihre Hand den Nebel teilt, stolpert sie in die salzige Brise eines flachen Meeresarms, und Wasser benetzt ihre Lippen, brennt in ihren Augen, während Schilf an ihrer Hüfte entlangstreift. Sie ist allein, und doch hört sie ein verwirrendes Gemisch verschiedener Stimmen, spürt wie aus weiter Ferne Hände, die an ihr rütteln. »Es ist das Lungenfieber. Es geht ihr sehr schlecht.« »Still. Wir werden sie durchbringen. Sie hat schon Schlimmeres überlebt.« 49 Eine Frauenstimme erklang: »Ich habe etwas Huflattich und Süßholz gegen den Blutstau aufgekocht.« »Danke, Frederun.« Jedes Mal, wenn die Axt auf das Holz trifft und ein Scheit spaltet, flucht sie, als würde sie versuchen, ihre Wut und Trauer aus sich herauszuschlagen. Aber nie wird sie frei davon sein. Besser wäre es, sich von der Strömung durch das breite Delta des gemächlichen Flusses und hinaus ins weite, unruhige Meer tragen zu lassen. Doch selbst hier verschont der Schrecken sie nicht. Feuer kocht unter dem Meer auf, schwemmt eine Welle der Zerstörung über eine riesige, gewundene Stadt, die in den Tiefen verborgen ist. Leichen tanzen in den Wogen auf und ab, und Haie fressen sich voll. Überlebende fliehen voller Entsetzen, lassen alles hinter sich zurück, bis die Erde sich erneut hebt, als der Meeresboden aufsteigt. Ein Phönix fliegt, so strahlend wie Feuer. Aber ist es überhaupt ein Phönix oder nicht vielmehr eine Frau mit Schwingen aus Feuer? Im Delirium erhält die Frauengestalt ein vertrautes Gesicht. Ist das Liath, die zurückgekommen ist, um sie zu verfolgen? Ist sie jetzt ein Engel und fliegt, ganz und gar aus Flammen bestehend, durch das Himmelsgewölbe? Als die Kreatur aufsteigt, nimmt sie auch die schlanke Gestalt eines Mannes und zwei große Hunde mit sich. Aber ihr Gewicht ist zu groß, und mit einem Schrei der Qual und Enttäuschung lässt der Liath-Engel sie los, sodass sie nach unten stürzen und verschwinden, während der Nebel der Träume über den Himmel wogt und sie verhüllt. Hanna fällt mit ihnen nach unten. »Wie geht es ihr?« »Sie ist die meiste Zeit bewusstlos, Eure Hoheit.« »Wird sie überleben?« »Was das betrifft, können wir nur beten, Eure Hoheit.« II Der Schmerz einer alten Wunde
1 »Hanna?« Jemand hielt ihr eine Lampe vors Gesicht. Sie kniff die Lider zusammen, wandte sich von dem grellen Licht ab. »Hanna«, kam es jetzt noch eindringlicher. Seine Tunika roch nach Pferd. Ein leichter Luftzug kitzelte an ihrem Ohr, und sie riss ein Auge auf, begriff, dass die Helligkeit gar nicht von einer Lampe stammte, sondern von dem Sonnenlicht, das ins Zimmer strömte. Der Raum war schön eingerichtet; ihrem Bett gegenüber befand sich ein zweites, das von einem Seil umspannt war, außerdem gab es einen Tisch und eine Bank, eine Truhe für Kleider und ein paar Gefäße aus Kupfer. Durch die
geöffneten Läden konnte sie einen blühenden Apfelbaum sehen. Ingo kniete an ihrem Bett. »Hanna?« Sie stöhnte, streckte die Hand aus, um seine Schulter zu berühren; sie war sich nicht sicher, ob er wirklich existierte oder es sich nur um einen der lebhaften Träume handelte, die sie immer wieder belästigten. Allein schon den Arm zu bewegen kostete sie Mühe. Sie fühlte sich entsetzlich schwach, aber das Atmen bereitete keine Schmerzen mehr. »Du bist wirklich da«, sagte sie. 51 »Oh, das bin ich in der Tat, Mädchen«, erwiderte er mit einem schiefen Grinsen. Er wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich habe im Laufe des Winters viele Tage hier verbracht, aber das hast du nicht gemerkt. Wir alle haben an deiner Seite gewacht. Ich danke Gott, denn wie es aussieht, hast du es ja wohl überstanden und wirst weiterleben.« »Oh.« Alles, woran sie sich erinnern konnte, waren die Träume, obwohl sie wusste, dass viel Zeit vergangen sein musste. Zeit, in der sie sich manchmal der Anstrengung bewusst gewesen war, die es bedeutet hatte, auch nur Luft zu holen, und in der sie die Fieberanfälle und Kälteschauer gespürt hatte, die über sie hinweggeschwappt waren und sie wie eine kräftige Strömung mitgerissen hatten. »Hör zu, Hanna.« Er nahm ihre Hand. »Wir werden Gent verlassen. Prinzessin Theophanu reist mit ihrer Gefolgschaft nach Osterburg. Herzogin Rotrudis ist gestorben. Die Prinzessin muss sich so schnell wie möglich dorthin begeben und verhindern, dass die Erbinnen der alten Herzogin Saony in Stücke reißen.« »Ja.« Sie erinnerte sich vage daran, dass Prinz Sanglant ihr eine Botschaft aufgetragen hatte, die sie seiner Schwester überbringen sollte - und noch undeutlicher, dass sie diese Botschaft vielleicht schon überbracht hatte. »Wir brechen nach der Sext auf. Heute noch.« Ihr Kopf pochte von der Anstrengung, die das Nachdenken für sie bedeutete. »Wie lange?« »Mindestens eine Woche -« »Sie will wissen, wie lange sie krank gewesen ist«, erklang eine zweite Stimme an der Tür. »Folquin?« Er eilte zu ihr und kniete sich neben sie, und plötzlich drängten sich auch Leo und Stephen ins Zimmer. »Der Hauptmann hat gesagt, erst wenn sie kräftiger ist, darf sie -«, begann Stephen zögernd. »Sie kann es genauso gut auch von uns erfahren.« Folquin hatte so breite Schultern, dass er ihr die Sicht durch das Fenster nach draußen nahm. Er beugte sich zu ihr herunter, legte ihr eine riesi52 ge Hand auf die Schulter - so sanft, als wäre sie ein Neugeborenes. In ihrer Erinnerung waren sie alle längst nicht so groß und kräftig. »Du bist den ganzen Winter krank gewesen. Es war das Lungenfieber. Du wärst fast gestorben. Jetzt ist Frühling. Mariannentag ist inzwischen vorüber. Wir haben beinahe Avril.« Ihr Mund war so trocken, dass ihre Zunge sich ganz geschwollen anfühlte. Trotz der aufgesprungenen Lippen brachte sie ein Lächeln zustande. Das Voranschreiten der Jahreszeiten hatte nur wenig Bedeutung für sie. Es war einfach nett, die vertrauten Gesichter zu sehen. Trotzdem wurde sie schon bald wieder von Erschöpfung überwältigt. Sie wollte nur noch schlafen. Doch würde sie allein zurückbleiben, wenn sie jetzt von Gent weggingen? Ingo und die anderen hatten sie schließlich vor Bulkezu gerettet. »Wer wird sich um mich kümmern?« »Eine gute Frau namens Frederun. Sie hat dich den ganzen Winter über gepflegt. Sie ist die Vorsteherin der Bediensteten des Palastes. Prinzessin Theophanu schätzt dich so sehr, dass sie Edelfrau Leoba als Herrin von Gent hier zurücklässt. Du wirst nach Osterburg reisen, wenn du kräftig genug bist, um reiten zu können. Wir werden uns also schon bald wieder sehen, Hanna.« Sie bemutterten sie noch eine Weile, bevor sie weggerufen wurden, aber eigentlich war sie ziemlich erleichtert, dass sie sich endlich wieder ausruhen konnte. Sie hatte ganz vergessen, wie anstrengend ihre Kameraden waren, obwohl sie die Vermutung hegte, dass dies vor ihrer Krankheit, vor Bulkezu, nicht so gewesen war. Die Tage vergingen, waren ruhig und entsetzlich langweilig. Ihre Hüfte war inzwischen verheilt, aber schon allein das Stehen ermüdete sie. Auch nur vom Bett bis zur Tür und wieder zurück zu gehen schien ihr eine derart unerträgliche Anstrengung zu sein, dass sie bezweifelte, jemals wieder zu Kräften zu kommen. Sie war schrecklich dünn; ihre Rippen zeichneten sich ab, und ihr Bauch war eingefallen, und über den Hüftknochen spannte sich die Haut. An manchen Tagen fehlte ihr jeder Wille zu essen, doch Frederun bedrängte sie ständig mit Haferbrei und warmer Brühe. Aus den Tagen wurden Wochen. Der Avril erblühte, und mit 53 ihm kam der Festtag von St. Eusebe, an dem sich Lehrlinge zum Dienst bei einem neuen Herrn verpflichteten. Sie hatte sich genug erholt, um sich auf einen Stuhl draußen in der Sonne im breiten Innenhof setzen und einem Dutzend Jugendlicher dabei zusehen zu können, wie sie den Dienst im Palast antraten - sieben Jahre Arbeit für eine Schlafstelle und zwei Mahlzeiten am Tag. Edelfrau Leoba kam, um mit ihr zu sprechen, und es gelang Hanna sogar, sich zu erheben und der neuen Herrin von Gent die ihr angemessene Achtung zukommen zu lassen. »Wie ich sehe, geht es Euch besser, Adler.« Edelfrau Leoba sah sie so eindringlich an, wie sie eine kostbare Stute mustern mochte, die sie schon an die Koliken verloren geglaubt hatte. »Meine Herrin Prinzessin Theophanu hatte gehofft, dass wir zum Festtag der Königin bei ihr eintreffen könnten, aber ich habe bereits
einen Boten geschickt, um mitzuteilen, dass wir erst im Sormas kommen werden. Der Bote ist übrigens ein Junge, der behauptet hat, Ihr hättet ihn zum Adler erwählt. Sein Name ist Ernst. Erinnert Ihr Euch an ihn?« Zuerst fiel es ihr schwer, doch während Edelfrau Leoba ihr die Erlaubnis gab, sich wieder zu setzen, schoss ihr eine kurze Erinnerung durch den Kopf: das Dorf, das Gewitter, der eifrige Junge. Aus irgendeinem Grund füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie weinte jetzt nicht mehr so viel, aber das lag nur daran, dass die Welt ihr so dünn und angespannt vorkam, dass sie die Energie zum Weinen kaum aufbrachte. »Hanna?« Frederun trat neben sie. Sie hatte die neuen Lehrlinge zu ihren verschiedenen Pflichten im Stall, in der Halle, den Küchen oder beim Zimmerer geschickt. Sie trug eine schöne, wadenlange Tunika über einem leinenen Unterkleid und wirkte außerordentlich hübsch mit den dichten, mit einem Schal zurückgebundenen Haaren und den von der Sonne rosigen Wangen. »Ihr seht schon wieder ganz müde aus.« »Ich würde mich auch gern wieder ins Bett legen.« »Nein, erst müsst Ihr noch drei Runden im Hof hinter Euch bringen. Sonst werdet Ihr nie kräftiger werden.« Hanna hatte nicht die Kraft, sich Frederuns Befehlen zu wider54 setzen. Sie gehorchte ihr also, weil es einfacher war, als gegen sie anzukämpfen. Und tatsächlich wurde sie allmählich kräftiger. Zu dem Haferbrei kam schon bald frisch gebackenes Brot, und die Tees aus Frauenminze und Galangawurzel wurden durch Bier und warmen Wein ersetzt. Statt leichter Brühe gab es kräftige Suppe, und schon bald danach konnte sie in Wein geschmortes Huhn, Fischsuppe und Uferschnecken mit Erbsen essen. Als der Sormas begann, nahm sie ihre Mahlzeiten in der Bedienstetenhalle ein und nicht mehr allein in ihrem Zimmer. In Gent blieb es ruhig, die Stadt war ein friedlicher Hafen, aber diese Ruhe beruhigte sie nicht. Sie verspürte keinerlei Lust, die Stadt zu erkunden, sondern hielt sich lieber auf dem Palastgelände auf. Jene, die wie Frederun versuchten, sich mit ihr anzufreunden, hielt sie auf Abstand; die anderen beachtete sie gar nicht. Als spät im Sormas der junge Ernst mit einer Botschaft erschien, in der Edelfrau Leoba dringend zum Aufbruch aufgefordert wurde, begrüßte Hanna seine Ankunft erleichtert. Es war Zeit, weiterzuziehen. Leoba und ihr Gefolge brachen am Tag nach der Lucia-Messe auf, dem ersten Tag des Sommers. Der Winterweizen und der Roggen waren im Laufe des Frühlings stark gewachsen und färbten sich bei Anbruch des Sommers golden. Kleine Weiler erstreckten sich immer wieder am Rand der Straße, umgeben von Gärten, die zum Schutz vor wilden Tieren und umherwandernden Schafen eingezäunt waren. Kinder rannten herbei, um sie vorbeireiten zu sehen. Ein paar Bauern hatten neue Apfelwiesen angelegt, als Ersatz für jene Apfelbäume, die von den Aikha gefällt worden waren. Noch waren die Bäume jedoch jung und trugen keine Früchte. Je weiter sie den Fluss entlang nach Süden ritten, desto spärlicher wurden diese Felder, wichen Weideland und einer Reihe von umzäunten Flachs- und Hanffeldern ganz in der Nähe von neuen, mit Palisaden umgebenen Dörfern, die jene ersetzten, die Blutherz und sein plünderndes Heer niedergebrannt hatten. Der Turm der Kathedrale war noch lange Zeit wie ein Leuchtfeuer zu erkennen, verlor sich aber schließlich hinter den Bäumen. Die Siedlungen wurden immer spärlicher und die Kinder immer schüchterner; kaum noch welche standen am Straßenrand und sahen ihnen zu. 55 Ernst bestand darauf, neben ihr zu reiten. »Ich habe noch nie so schöne Edelfrauen gesehen wie die im Hofstaat der Prinzessin! Habt Ihr die Kleider gesehen, die sie beim Reiten tragen? Was für Farben das sind! Ich habe noch nie so viel Gold und Silber gesehen. Gott müssen jene wirklich lieben, denen Sie so viel Reichtum gönnen. Ich bekomme so viel zu essen, dass ich jeden Abend satt bin! Manchmal darf ich die Platten der Edelleute leer essen, wenn sie fertig sind. Ich hatte sogar schon Schwan, aber irgendein Gewürz hat mir die Zunge verbrannt.« Er ritt gut. Das hatte er schnell erlernt, doch sein einfältiger Glaube an das glanzvolle Leben eines Adlers würde schwieriger zu überwinden sein. Hanna schwieg also, und allmählich versiegte sein Redefluss. Die warmen Tage und der wolkenlose Himmel des Quadrii konnten sie nicht aufheitern. Jede Wegstunde schien wie die vorhergehende zu sein, auch wenn es immer etwas Neues zu sehen gab und viele Menschen ihnen bereitwillig ein Mahl aus Haferbrei und Brot anboten, um dafür Neuigkeiten zu erfahren. Die Bauern und auf den Landgütern geborenen Arbeiter hatten Gerüchte über Wegelagerer gehört, über verfluchte Gestalten und die Pest, ohne jedoch selbst irgendetwas gesehen zu haben. Und auch von der großen Schlacht bei Osterburg hatten sie bisher nichts gehört. Hanna fühlte sich verpflichtet, die Geschichte immer wieder aufs Neue zu erzählen. Das war schließlich ihre Aufgabe. Hätte sie Gent und den Schutz, den die kühlen Mauern gewährten, besser nicht verlassen sollen? Doch Hanna war der Freundlichkeit von Gents Bediensteten und ihrer Pflegerin Frederun überdrüssig geworden. Alle wussten, dass Frederun vor einem Jahr, als Prinz Sanglant auf dem Weg in den Osten in Gent überwintert hatte, seine Konkubine gewesen war. Noch immer wurde davon gesprochen, wenn auch stets außerhalb ihrer Hörweite. Er hatte ihr kleine Geschenke gemacht, aber als er dann weitergezogen war, war sie zurückgeblieben, gebunden an den Palast. Bei dem Prinzen war auch ein Kind gewesen, aber niemand wusste, was mit seiner Frau geschehen war - nur dass sie offensichtlich verschwunden war, als die Tochter noch ein Säugling gewesen war. 56 Was war mit Liath geschehen ? Als Hanna die Augen schloss, sah sie Einzelheiten aus dem Fiebertraum vor sich, der sie während ihrer Krankheit geplagt hatte, jene dunstverschleierte Vision von einer Frau mit Flammenflügeln, deren Gesicht
genauso ausgesehen hatte wie das von Liath. In der Nacht suchte sie Liath im Feuer, ohne sie jedoch zu finden. Auch König Henry, Hathui und sogar Prinz Sanglant entzogen sich ihrer Adlersicht, und Sorgatani war nur kurze Zeit zu sehen, verhüllt von Rauch und Funken. Sie hatte Wulfhere schon so lange nicht mehr gesehen, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich seine Gesichtszüge in Erinnerung zu rufen. Nur Bulkezus schönes, grässliches Gesicht erstand vollkommen makellos vor ihr, wenn sie in die Flammen blickte. Sogar Ivar war unzugänglich für sie, für ihre Adlersicht, obwohl sie ihn mit wachsender Verzweiflung suchte. Versagte ihre Sicht allmählich? Oder waren sie alle tot? Sie fühlte sich selbst wie tot, vertrocknet wie ein Blatt im grellen Sonnenschein. Regen verlangsamte ihr Fortkommen. »Er wird die Ernte vernichten«, murmelte Ernst mehr als einmal, wenn er die nassen Felder musterte, aber Hanna hatte keine Antwort darauf. Sie hatte bereits zu viel Regen gesehen. Zwanzig Tage später ritten sie im Schutz eines trägen Sommernieselregens, der einfach nicht versiegen wollte, in Osterburg ein. Grauer Nebel hing über den Feldern, die zur Hälfte brachlagen, nachdem zwei Heere über sie hinweggetrampelt waren. Auf den übrigen Feldern standen im Frühling ausgesäter Hafer und Gerste, und es waren eingezäunte Gärten mit Rüben, Erbsen, Bohnen und Zwiebeln angelegt worden. Steinmetze arbeiteten auf Gerüsten an den schlimmsten Breschen in der Mauer, und obwohl es noch immer viele Lücken und ausbesserungswürdige Stellen gab, war die meiste Arbeit bereits geschafft. Die Straßen innerhalb der Stadt waren schmal, und die Luft kam ihr von dem vielen Abfall ziemlich stickig vor, nachdem sie so viele Tage draußen im offenen Gelände zugebracht hatte. Im Hof des herzoglichen Palastes nahmen ihnen Stalljungen die Pferde ab. Sie ging mit Ernst am Ende der Eskorte von Edelfrau 57 Leoba zur großen Halle, froh darüber, dem Regen zu entkommen. Eine Verwalterin - dieselbe kräftige, intelligente Frau, die sie bei Gent in Empfang genommen hatte - führte sie die Treppe zu dem großen Zimmer hinauf, in dem Prinzessin Theophanu Hof hielt. Trotz des Regens war es so warm, dass man die Läden geöffnet hatte, um die Brise ins Zimmer zu lassen. Theophanu saß bequem auf einem vorzüglich mit Polstern ausgestatteten Sofa und spielte Schach mit einer ihrer Hofdamen, während ihre Kameradinnen schweigend zusahen. Zwei der Frauen kannte Hanna nicht, aber sie hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit dem berüchtigten Edelmann Wichman; sie hockten links und rechts von Theophanu, und es war schwer zu sagen, wer von den beiden gelangweilter, gereizter und mürrischer war. »Oh.« Theophanu blickte mit einem kurzen Anflug von aufrichtiger Freude auf. »Leoba!« Die beiden Frauen umarmten sich. Anschließend wandte Theophanu sich an die Frauen, die neben ihr saßen. »Kusine Sophie. Kusine Imma. Dies ist meine beste Freundin, Leoba. Sie stammt aus dem Hesbaye-Clan und ist letztes Jahr mit Markgraf Villam verheiratet worden.« »Aber müsste sie dann nicht schon tot sein?«, fragte die Frau namens Sophie mit einem anzüglichen Grinsen. »Wie viele Ehefrauen hat Villam überlebt?« »Nein, ich glaube, es handelt sich um einen Wettbewerb zwischen den Hesbayes und den Villams, bei dem es darum geht, wer den anderen auch nach vier oder fünf Hochzeiten überdauert«, erklärte ihre Schwester. Leoba errötete, aber Theophanu lenkte sie ab, indem sie Platz auf dem Sofa schuf, sodass sie sich hinsetzen konnte. »Wie steht es in Gent?« »Gut. Auf den brachliegenden Feldern sind im Frühling Hafer und Gerste ausgesät worden. Die Ernte war - was den Winterweizen und den Roggen anbelangt - sehr gut. Es gibt vier hervorragende Webhäuser. Sie alle haben im Winter und im Frühling genug Kleidung hergestellt, dass es einen Überschuss für den Handel gibt. Der Markt zieht Leute im Umkreis von drei Tagesmärschen an. Es sind sogar Kaufleute von Medemelacha hergesegelt. 58 Sie zahlen bereitwillig die königliche Steuer. Im Jahr der Aikha-Herrschaft haben die Zölle und die Straßen nach Osten sehr gelitten. Es wird einen Herbstmarkt geben, der vermutlich Leute im Umkreis von sieben Tagesmärschen anziehen wird. Gent ist eine blühende Stadt. Ich habe fünf Kisten mit Münzen und Schätzen für Eure Schatzkammer mitgebracht.« »Das sind Saonys Zölle!«, schrie Imma. »Sie gehören unserer Familie!« »Nein, Imma«, widersprach Theophanu sanft. »Sie gehören der Person, die herrscht, und auch Saony. Ihr seid bisher nicht zur Herzogin ernannt worden, vermute ich?« »Weil ich die Altere bin!«, rief Sophie triumphierend. »Das bist du nicht!« »Ich bitte Euch, Kusinen, fangt nicht wieder diesen Streit an. Solange König Henry in Aosta verweilt, herrsche ich an seiner Stelle, und so muss ich darüber urteilen. Wie ich Euch aber bereits gesagt habe, möchte ich meinem Vater die Entscheidung überlassen, wer meiner Tante, möge sie in Frieden ruhen, als Herzogin von Saony nachfolgt. Ich habe nur auf einen erfahrenen Adler gewartet, eine Frau, die das Alfar-Gebirge schon zuvor einmal überquert hat.« Alle Blicke richteten sich auf Hanna. »Willst du es wirklich wagen, noch einmal jemanden auszuschicken?«, fragte Leoba. »Du hast bereits alle drei Adler, die in deiner Obhut geblieben waren, nach Aosta geschickt und kein einziges Wort darüber gehört, ob sie noch am Leben oder tot sind oder den König überhaupt erreicht haben.«
»Kann ich es wagen, keinen weiteren zu schicken? Hast du die Neuigkeiten noch nicht gehört, Leoba? Mein Vetter Conrad der Schwarze ist zu Penitir in Mainni gewesen und hat diesen Festtag gefeiert, als wäre er König! Er hat sich von der Bischof in außerhalb der Stadt empfangen und in den Palast begleiten lassen, wie sie es getan hätte, wäre mein Vater gekommen. Das höchst königliche Fest hat drei volle Tage gedauert. Er hat Tallia von Arconia zur Frau genommen und geschwängert. Sie ist jetzt bei Conrad und nicht mehr in der Obhut meiner Tante Constanze in Autun, wie mein 59 Vater es verfügt hatte. Wenn das nicht Rebellion ist, dann weiß ich nicht, wie eine aussieht.« »Conrad würde meinen Anspruch auf Saony unterstützen«, sagte Sophie, und ihre Miene nahm einen Ausdruck räuberischer Gerissenheit an, »wenn ich ihm im Gegenzug anbiete, ihn und Tallia zu unterstützen. Das vergesst Ihr wohl, beste Theophanu. Ihr seid nicht meine einzige Zuflucht.« »Aber Conrad ist nicht hier, du dumme Kuh«, wandte ihre Schwester ein. »Und er ist auch nicht König von Wendar, selbst wenn es so aussieht, als würde er die Königsherrschaft über Varre mittels seiner neuen Frau beanspruchen wollen.« »Wo ist der König von Wendar?«, fragte Sophie. »Wie kann er König sein, wenn er sein Volk im Stich lässt?« »Henry ist König von Wendar und Varre«, sagte Theophanu, »und Gott haben ihm Ihren Segen gegeben. Ich gehe davon aus, dass Ihr das nicht vergessen werdet, Kusinen.« »Ich werde nicht vergessen, wie Ihr mit Euren Truppen hier einmarschiert seid, nachdem Euer Bruder uns für seinen wahnsinnigen Zug nach Osten die Hälfte unserer berittenen Krieger genommen hat! Doch Euer Heer ist nicht einmal halb so groß wie das von Sanglant, und Ihr könntet auch die qumanischen Eindringlinge nicht vertreiben. Und Ihr könnt nichts tun, um Conrad aufzuhalten!« Sophies verdrießliche Miene löste sich abrupt auf, als sie einen Blick auf ihre Schwester warf. Die stand nämlich kurz davor, sich angesichts der Tatsache, dass ihre Feindin dabei war, in eine selbst errichtete Falle zu laufen, wie eine Katze in verächtlichem Triumph die Pfoten zu lecken. »Seid gewiss, Theophanu, dass ich Verständnis für Eure Not hege«, fuhr Sophie rasch fort. »Wenn Sapientia nicht nach ihrem Vater herrschen kann, seid Ihr die rechtmäßige Erbin.« »Jetzt wird aber heftig Honig über Euch ausgegossen.« Imma schnaubte verächtlich, während sie nach ihrem Weinbecher griff. »Bei wem willst du dich eigentlich einschmeicheln, Sophie? Bei Conrad oder Theophanu?« »Es ist wahr, und niemand wird es bestreiten können«, sagte Sophie. »Theophanu ist zurückgeblieben, um an Stelle von König 60 Henry zu herrschen, hat aber keine Unterstützung bekommen. Henry hat ein Heer in Aosta, und Sanglant reitet mit dem Heer, das die Qumaner geschlagen hat, nach Osten. Und was habt Ihr, Kusine?« »Meinen Verstand.« Mit einem geheimnisvollen Lächeln deutete Theophanu zum Fenster. »Sieht so aus, als hätte der Regen aufgehört. Ich werde heute ausreiten. Mein Kopf ist ganz benommen von all dem Reden. Adler, ich möchte, dass Ihr mich begleitet.« So fand Hanna sich schon kurz darauf auf dem Rücken ihres Pferdes wieder und ritt neben der Prinzessin an den matschigen Feldern entlang, auf denen im letzten Herbst die beiden Heere aufeinander geprallt waren. Hinter dem westlichen Ufer der Veser befanden sich die Hügel, auf denen das qumanische Heer sein Lager aufgeschlagen hatte und Bulkezus Gefangene ihre letzten verzweifelten Stunden verbracht hatten. In Richtung Osten erkannte sie den ungleichmäßigen Waldstreifen, der den Veserling verbarg, jenen Fluss, wo Ingo und die anderen sie befreit hatten. »Wo sind die Löwen, Eure Hoheit? Sie sind zu Beginn des Frühlings zu Euch gekommen, nicht wahr?« Theophanu nickte. »Ich behalte sie in der Stadt, um meine Kusinen an meine Autorität zu erinnern. Zurzeit arbeiten sie an der Mauer. Meine Tante, möge sie in Frieden ruhen, hat sie auf schmachvolle Weise zerfallen lassen. Ich nehme an, dass sie schon in den letzten Jahren nicht mehr richtig gesund war.« Gemeinsam mit zwei Verwalterinnen, drei Dienerinnen und einem halben Dutzend von Theophanus Edelfrauen umrundeten sie einige mit Regenwasser gefüllte Gräben; auf diese Weise versuchte man, das überschüssige Wasser von den Feldern wegzuleiten. Dann näherten sie sich einem kleinen Hügel, der sich aus der Ebene erhob. Theophanu bedeutete ihren Kameradinnen zurückzubleiben, winkte Hanna jedoch zu sich. Mit einiger Schwierigkeit drängten die beiden Frauen ihre Pferde den rutschigen Hang zum Kamm des Hügels hinauf. Die Erlen und Eichen waren erst kürzlich zurückgeschnitten worden, und sie mussten auf abgebrannte Holzstümpfe achten, an denen sich die Hufe der Pferde verfangen 61 konnten. Binsen und Brombeersträucher wucherten. Dill hatte Wurzeln gefasst, blühte in gelben Flecken entlang cremefarbener Glocken von Schwarzwurz. Doch auf dem Kamm des Hügels hatte sich an einer Stelle das üppige Grün in geschwärzten Boden verwandelt; diese Stelle war so kahl, als wäre dort Salz ausgeschüttet worden. »Wie es heißt, ist Bayan hier gestorben.« Theophanu drängte ihre Stute zu der unfruchtbaren Stelle und starrte ohne jedes Gefühl darauf. »Ich bin ihm nie begegnet. Wie war er?« Hanna stieg ab, kniete nieder und berührte den Boden. Ein Wespenstich erwachte in ihrer Brust zum Leben, als ihre Finger über die versengte Erde strichen. Sie wusste tief in ihrem Innern, dass Bayan hier getötet worden war, aber die unheimliche Sinneserfahrung, die ihre Hand entlangkroch, währte nur einen kurzen Augenblick. Es
war schließlich doch nur Erde, nichts weiter. Sie holte Luft und stand auf. »Er war ein guter Mann, Eure Hoheit, möge er in Frieden in der Kammer des Lichts ruhen. Er war kein Narr.« »Eine gute Partie für Sapientia.« Schwang da Sarkasmus in Theophanus Stimme mit? Hanna wusste es nicht. »Sie hat ihm vertraut, Eure Hoheit. Unter seiner Führung hat sie sehr an Weisheit gewonnen.« »Dann hat mein Vater weise gewählt.« »Das glaube ich tatsächlich. Prinzessin Sapientia hat sehr um Bayan getrauert. Die Dinge hätten sich für uns alle und für das Königreich vielleicht ganz anders entwickelt, wäre Prinz Bayan nicht durch Bulkezu gestorben.« »Hat der Qumaner Prinz Bayan im Kampf getötet?« »Nein, es war qumanische Magie, die Prinz Bayan - und seine Mutter - getötet hat.« Über Theophanus Gesicht huschte ein so vielfältiger Ausdruck, dass Hanna verlegen zur Seite blickte. Aber als Theophanu wieder sprach, färbte nicht das kleinste bisschen Gefühl ihre Stimme. »Beherrscht Ihr die Adlersicht?« Niemand stand nah genug, um sie hören zu können. Die anderen warteten gehorsam am Fuß des kleinen Hügels. »Das tue ich, Eure Hoheit.« 62 »Sicher habt Ihr schon nach meinem Vater gesucht.« Beschämt senkte sie den Blick. »Meine Adlersicht ist vernebelt, Eure Hoheit. Ich habe nach ihm gesucht, aber ich kann ihn nicht sehen.« »Ist es möglich, dass irgendjemand Eure Sicht beeinträchtigt?« Was für eine Närrin sie gewesen war! Cherbu hatte Bulkezus Heer viele Monate lang mithilfe der Magie verborgen. Sicher konnte eine erfahrene Zauberin sich gegen die Adlersicht abschirmen. Doch Wulfhere hatte niemals über solche Dinge mit ihr gesprochen. Vielleicht hatte er nicht gewollt, dass sie davon wusste, damit er sie immer im Auge behalten konnte. »Es wäre möglich«, räumte sie ein. »Ich weiß nur wenig über Magie und noch weniger über die Adlersicht, abgesehen davon, dass ich im Feuer nach Visionen von jenen suchen kann, die ich kenne, und dass ich sie manchmal sprechen höre.« »Ihr habt nichts Falsches getan, Hanna. Der König hat Euch persönlich mit diesem Ring belohnt, den Ihr da tragt, und so weiß ich, dass er Euch für eine treue und vertrauenswürdige Untertanin hält. Deshalb bin ich froh, dass Ihr jetzt bei mir seid. Mein Vater muss erfahren, in welch unmöglicher Situation ich mich hier befinde. Das Herzogtum Saony darf unter keinen Umständen an eine der Töchter von Rotrudis fallen. Ihre Gier und Unfähigkeit zu herrschen würden das Herzogtum schwächen. Aber ich habe weder die Truppen noch die Autorität, jemand anderen an ihrer Stelle einzusetzen, und jede von ihnen würde geradewegs zu Conrad reiten, könnte sie sicher sein, dass er ihre Partei ergreift. Ich habe kein Heer, oder vielmehr nur ein kleines«, sie deutete ungeduldig in Richtung der entfernten Stadt, »und Sanglant hat den Rest mitgenommen.« »Selbst für einen Befehlshaber von seinem Ruf scheint mir das Heer sehr groß zu sein, um sich in die Wildnis zu wagen, Eure Hoheit. Die Leute müssen alle ernährt und untergebracht werden.« »Das ist wahr. Wir haben aus verschiedenen Orten Berichte gehört, dass nach der Schlacht das gesamte Fußvolk aufgelöst und nach Hause auf die Felder geschickt worden ist. Villams Tochter unterstützt Sanglant, wie es heißt. Es geht das Gerücht, dass sie ei63 nen Teil seines Heeres im Marschland zurückhält, für den Fall, dass er aus Ungria und dem Osten zurückkehrt. Es könnte wahr sein. Sie hatte ihn einmal heiraten wollen, aber es war nicht gestattet worden, weil er nur ein Bastard ist.« Der Wind zupfte an den mit silbernen Nadeln hochgesteckten Haaren der Prinzessin, doch nicht die Spur eines Gefühls machte sich in ihrer Miene breit. War es möglich, dass der Sturm in Theophanu umso größer war, je ruhiger sie nach außen wirkte? Es war kein Wunder, dass ihr viele vom Hof des Königs nicht trauten, da sie ihre innersten Überzeugungen stets hinter einer undurchdringlichen Mauer verbarg. Doch Hanna, die vor noch nicht allzu langer Zeit hautnah erlebt hatte, wie Bulkezu getan hatte, was ihm gerade in den Sinn gekommen war, wie er seinen Launen und Verrücktheiten stets freien Lauf gelassen hatte, bewunderte eine Person, die die Kraft und Disziplin aufbrachte, sich zu beherrschen. »Mir wäre vielleicht mehr zugestanden worden, wäre ich als Bastard geboren«, murmelte Theophanu. Als hätte sie gerade erst begriffen, dass sie laut gesprochen hatte, sah sie Hanna direkt und fast trotzig an, die furchtlos und unverwandt zurückblickte. »Ich bitte um Vergebung, Eure Hoheit, wenn ich so frei spreche. Ich bin auch als drittes Kind geboren, und was meinen älteren Geschwistern zugestanden wurde, war mir unmöglich. Deshalb bin ich zu den Adlern gegangen, statt eine Ehe einzugehen, die mir zutiefst zuwider gewesen wäre. Ich bin stolz darauf, König Henry zu dienen.« Theophanu lächelte schwach. »Dann sind wir beide vielleicht die Letzten hier in ganz Wendar, die dem rechtmäßigen König aus freiem Willen die Treue halten. Fürchtet Ihr Euch vor Magie, Adler?« »Ich fürchte mich vor ihr, Eure Hoheit, aber ich habe inzwischen zu viel gesehen, als dass die Bedrohung durch Magie mich von meinem Weg abbringen könnte.« »Ich bin froh, dass Ihr das sagt, denn ich muss all meine Hoffnungen in Euch legen. Ich habe drei Adler nach Aosta geschickt, aber keiner ist zurückgekehrt, obwohl ich den ersten bereits vor mehr als einem Jahr ausgesandt
habe. Ihr müsst nach Aosta reisen 64 und meinen Vater finden. Ich werde Euch eine Nachricht geben, die Ihr ihm überbringt, aber vor allem wird es an Euch sein, ihm begreiflich zu machen, dass seine Position in Wendar immer schwächer wird, sogar hier in Saony, in der alten Heimat unseres königlichen Geschlechts. Conrad treibt im Westen sein Unwesen, während Sanglant im Osten Unruhe verbreitet. Meine Kusine Tallia ist eine gefährliche Schachfigur in Conrads Händen, und ich habe schon seit vielen Monaten nichts mehr von meiner Tante Constanze in Autun gehört. Ich werde mich hier nicht lange halten können, wo sogar meine Kusinen daran denken, von jenen Hilfe zu holen, die Henrys Autorität untergraben wollen. Nicht in einer Zeit, in der Hungersnot und Pest Avaria zusetzen. In der aus Salia Gerüchte über einen Bürgerkrieg zu vernehmen sind. Wenn der König von dem Eroberungsfeldzug der Qumaner und der schrecklichen Verwüstung hört, die dieser den wendischen Landen gebracht hat, wenn er das ganze Ausmaß der Intrigen begreift, die gegen seine Herrschaft gesponnen werden, wird er sicherlich zurückkehren.« 2 »Hanna? Hast du das gehört? Hanna?« Hanna war vollkommen in Gedanken versunken, wiederholte wohl zum hundertsten Mal im Stillen Theophanus Botschaft. Die spürbare Besorgnis in Ernsts Stimme schreckte sie jedoch augenblicklich auf. »Nein, ich habe nichts gehört.« »Weil du mit deinen Gedanken woanders warst. Still. Es wird wiederkommen.« Nebelschwaden hüllten den Buchenwald im zentralen Hochland von Avaria ein, durch das sie und Ernst ritten. Sie waren jetzt mindestens dreißig Tage von Osterburg entfernt. Hanna hatte irgendwann aufgehört mitzuzählen, weil das Wetter ihre Reise nicht gerade begünstigte. Immer wieder waren sie aufgehalten worden, durch tagelang anhaltende Niederschläge, schlammige Wege und 65 von der Pest befallene Dörfer, um die sie einen großen Bogen machen mussten. Der dichte Nebel jetzt war nur das jüngste Hindernis, dem sie sich gegenübersahen. Der Himmel über ihnen war grauweiß, beinahe grell, während um sie herum schlanke Bäume mit dem Nebel zu verschmelzen schienen, sodass sie kaum noch zu erkennen waren. Wildtiere schössen vor ihnen davon, verschwanden rasch im Nebel. Ansonsten gab es jedoch keinerlei Hinweise auf Leben - abgesehen von den kichernden Rufen der Drosseln, dem ausgelassenen Lied einer Kohlmeise und dem gelegentlichen Rascheln eines kleinen Tieres, das ins dichte Unterholz, in Binsen- oder Geißblattsträucher davonschoss. Obwohl die Sicht ziemlich beeinträchtigt war, waren diese Geräusche gut zu hören. Sie lauschte. Nichts war zu hören, abgesehen vom gleichmäßigen Hufgeklapper ihrer Reittiere und der zwei Ersatzpferde. Nichts, abgesehen vom Rauschen des Windes, der von Osten her durch das sommerliche Blattwerk strich. Im Osten lauerten Erinnerungen, und obwohl sie versuchte, sie zu vertreiben, schwollen sie in ihrem Innern immer weiter an, schmerzten wie eine alte Wunde. An einem kühlen Sommertag wie diesem tat auch ihre Hüfte weh. Dort, wo Nebelschwaden sich um die Bäume wanden, suchte sie nach den seltsamen Gestalten aus ihren Träumen: nach Zentaurinnen, die sich an Krieger mit den Körpern von Menschen und den Gesichtern von Wölfen und Luchsen heranpirschten; nach Sorgatani, die am Rand eines riesigen Sumpfes im Schilf kniete; nach einem Greifenpaar, das im hohen Gras jagte; nach einem Langschiff, das durch den Nebel flussaufwärts glitt und sich wie ein Ungeheuer auf seine arglose Beute zubewegte; nach Männern mit menschenähnlichen Gesichtern und den Schwänzen von Fischen, die zwischen den nebelumwobenen Bäumen hindurchschwammen, als wären sie die Säulen einer Unterwasserstadt. »Nichts«, sagte Ernst empört. »Aber ich weiß, dass ich etwas gehört habe. Es klang wie ein Kampf.« Seine Entrüstung brachte sie zum Lächeln. Zu ihrer Überraschung hatte sich der Junge als durchaus angenehmer Gefährte 66 entpuppt. Er sprach längst nicht mehr so viel, erledigte seinen Teil der Arbeit, und vor allem zauderte er weder, noch beklagte er sich. »Ich wäre sehr froh, wenn ich nie wieder einen Kampf sehen müsste«, sagte sie. In diesem Augenblick drehte sich der Wind, und sie hörte das deutliche Klirren von aufeinander prallenden Waffen. »Es ist irgendwo weiter vorn. Los.« Sie riss ihren Stab aus dem Gurt am Rücken, legte ihn quer über die Oberschenkel und drängte ihr Pferd weiter den Pfad entlang. Ernst zog vor Angst oder Aufregung leise keuchend das Kurzschwert, das ihm die Prinzessin gegeben hatte, und folgte Hanna. Da der wabernde Nebel alles verhüllte, kamen sie unbemerkt an das Kampfgeschehen heran, das an einer Stelle stattfand, an der sich der Wald lichtete und einer Kreuzung mit umgestürzten Steinen Platz machte. Eine große Frau in einem arg mitgenommenen Adlerumhang hatte Deckung bei den Resten einer Steinmauer gesucht und verteidigte sich gegen drei zerlumpt aussehende Räuber, die mit Stöcken und einem Messer bewaffnet waren. »Hah! Für König Henry!«, rief Hanna.
»Für König Henry!«, brüllte Ernst mit leicht brüchiger Stimme hinter ihr. Hanna konnte einem der Räuber einen heftigen Schlag verpassen, ehe die Männer wie in Panik geratene Ferkel in den Wald davonstoben und dabei ihre Waffen einfach auf den Boden fallen ließen. .. »Verfolgen wir sie?«, rief Ernst, der fast vergessen hätte, sein Pferd vor der Mauer aus Birken zu zügeln. »Halt!« Hanna blinzelte in den Wald, aber der Nebel schützte die fliehenden Räuber, obwohl sie Zweige knacken und schwächer werdende Rufe hören konnte. Ihr Herz raste von der Anstrengung, aber ihre Hände waren vollkommen ruhig. Freute sie sich darüber, dass sie entkommen waren? Oder hätte sie sie bereitwillig getötet? Vielleicht war es besser, es nicht zu wissen. Sie drehte sich um und sah, dass der Adler sich vornüberbeugte. »Kameradin! Bist du verletzt?« Hanna stieg ab und rannte zu 67 ihr, packte ihren Arm. Dann erkannte sie sie. »Hathui!« Vor Überraschung machte sie einen Schritt nach hinten und prallte hart gegen einen Teil der Steinmauer. »Nein. Ein Schnitt am Arm, mehr nicht.« Hathui richtete sich auf und zog eine Grimasse. »Hanna! Was machst du hier? Wo sind die Wegelagerer?« »Weggelaufen«, rief Ernst fröhlich vom Waldrand. »Wir haben sie vertrieben!« Er saß ab und sammelte die zwei Stöcke ein. Die Pferde begannen zu grasen. Der Nebel gab sich alle Mühe aufzusteigen, und sie konnten jetzt ein ganzes Stück weit in den Wald hineinsehen. Zwischen den nebelumwobenen Bäumen rührte sich nicht das Geringste. »Gott im Himmel«, fluchte Hathui. Blut sickerte zwischen den Fingern hindurch, die sie unterhalb der linken Schulter gegen die Haut presste. »Hast du etwas, womit ich die Wunde verbinden kann? Er hat mir eine Schnittwunde verpasst. Junge, such bitte mein Pferd. Es kann nicht weit sein.« Hannas Schultern pochten von dem Aufprall an der Steinmauer. Ihre Hände glitten über Flechten, als sie sich von der Mauer abstieß und den Schreck schließlich abschüttelte. »Ernst, reite ihnen nach! Halt die Augen offen. Nicht dass sie vorhaben, sich mit Verstärkung erneut anzuschleichen und uns noch einmal anzugreifen.« Sie wusste nicht, was sie zu Hathui sagen sollte. Die Überraschung lähmte ihre Zunge. Sie lief zu dem Pferd, das hinter ihrem gesattelten Wallach stand, und kramte ein bisschen Leinen hervor, das Theophanus Verwalterinnen ihnen für solche Fälle eingepackt hatten. Hathui humpelte zu einer großen Steinbank, die halb von einem Brombeerbusch voller Früchte überwuchert war. Mit einem Ächzen ließ sie sich auf dem Stein nieder und lockerte vorsichtig den Druck ihrer Finger. Blut floss aus einem Loch in ihrem Ärmel. Ihre dunklen Haare waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, und ihre Adlernase war dunkel vom Schmutz. Frisches Blut bedeckte den einen Mundwinkel. 68 »Du solltest dich beeilen«, sagte sie, ohne den Kopf zu heben, während sie vorsichtig den zerrissenen Stoff beiseite schob, um die Wunde zu betrachten. Sie atmete schwer, doch es hatte nicht den Anschein, als würde sie das Bewusstsein verlieren. Hanna hatte schon schlimmere Wunden gesehen. Die Klinge hatte die Haut oberflächlich aufgerissen, war aber nicht tief eingedrungen. Sie löste Hathuis Adlerschnalle und half ihr, die Tunika auszuziehen, dann strich sie eine Paste aus zerstoßenen Ringelblumen auf die Wunde, ehe sie sie mit einem Stück Leinen verband. Hathui streifte gerade die Tunika wieder über, als Ernst triumphierend zurückkam und eine Stute mitbrachte, die erbärmlicher als jedes andere Pferd aussah, das Hanna jemals gesehen hatte. »Danke, Junge.« Hathui humpelte zu ihm und nahm ihm die Zügel ab. »Ich heiße Hathui. Bist du einer von uns?« »Ich heiße Ernst«, sagte der Junge und starrte sie voller Bewunderung an. Hathui war keine wirklich schöne Frau, dachte Hanna, aber äußerst beeindruckend: Sie war stark und stolz und erweckte den Anschein, als wäre sie bereits siegreich durch einen Sturm von Dämonen geritten. »Ich will ein Adler werden. Deshalb reite ich mit Hanna.« »Schön, dich zu treffen.« Nachdem Hathui ihn mit dem formellen Adlergruß begrüßt hatte, rieb sie der Stute liebevoll die Nase und überprüfte die Satteltasche, die jedoch nichts weiter zu enthalten schien als einen halben Laib trockenes Brot und eine leere Weinhaut. Schließlich blickte sie auf. »Oh, Gott, Hanna, es tut so gut, dich zu sehen. Wohin willst du?« »Nach Aosta. Was gibt es für Neuigkeiten, Hathui? Kommst du vom König? Ich bin mit einer dringenden Nachricht von Prinzessin Theophanu unterwegs -« Hathuis Gesicht wurde kalkweiß, und sie sank mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück auf den Stein. »Du musst sofort zu Prinzessin Theophanu zurückreiten!« »Ist der König rot?« »Nicht, als ich aufgebrochen bin.« Hathui sprach so leise, dass es schwer war, sie zu verstehen. »Ich bete, dass er noch nicht tot ist.« Tränen traten ihr in die Augen und liefen über ihre Wangen. 69 »Dass ich so lange gebraucht habe, um auch nur hierher zu kommen! Und ich weiß nicht einmal, wie weit ich
noch reisen muss.« Ihre Miene brachte Hanna zum Zittern, und dann griff Hathui nach dem Schwertgriff und kämpfte sich auf die Beine. Sie blickte grimmig und entschlossen drein. »Wir müssen uns beeilen. Du musst so rasch wie möglich zu Prinzessin Theophanu zurück, und ich ... Weißt du vielleicht, wo Prinz Sanglant ist, Hanna? Die Gerüchte, denen ich folge, führen mich nach Osten, aber vielleicht handelt es sich dabei um eine alte Spur, Gott mögen mir beistehen, denn er verbirgt sich vor meiner Adlersicht. Ich muss unbedingt zu Prinz Sanglant!« Ernst kam allmählich näher, um zuzuhören, aber Hanna scheuchte ihn weg. »Du musst Wache stehen, Ernst! Halte die Augen offen. Diese Räuber könnten sich nur zu leicht zurückschleichen und uns töten, wenn du nicht aufpasst!« Sie hob einen der Stöcke auf, die die Wegelagerer zurückgelassen hatten; es war nichts als ein kräftiger Wanderstock, an dem einen Ende unangenehm zugespitzt. Sie schlug damit auf die Brombeerbüsche um den Stein ein, damit sie und Hathui sich gemeinsam dort niederlassen konnten. Es fühlte sich gut an, auf die Büsche einzudreschen, das Knacken der Zweige zu hören und zu sehen, wie die Blätter sich auf dem Boden verteilten und immer mehr von der alten Steinbank freigaben. Dem Muster der umherliegenden Steine und den ordentlich bearbeiteten Rändern entnahm sie, dass es sich um eine alte Station der Dariyaner handeln musste. Dariyanische Boten, Leute wie sie, hatten vor langer Zeit hier Unterschlupf gefunden. »Setz dich«, sagte sie. Hathui tat wie geheißen; sie zitterte und war noch immer sehr blass. »Du musst mir alles erzählen.« Das tat sie, wenngleich auf eine so abgehackte Weise, wie Hanna es bei dem selbstbewussten und scharfzüngigen Adler, den sie fünf Jahre zuvor in Friedleben kennen gelernt hatte, noch nie erlebt hatte. Während sie sprach, ging Ernst am Rand des Waldes auf und ab, ritt jeden der drei von der Lichtung abgehenden Pfade ein Stück entlang: Einer führte nach Norden zurück zu Theophanu, der andere nach Osten, der dritte nach Südwesten. Jedes Mal, 70 wenn er zurückkehrte, warf er den beiden Frauen einen Blick zu, bevor er sich erneut auf den Weg machte. Hathuis Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. »Ich bringe keine Botschaft von König Henry, nur die Nachricht über seinen Verrat. Hugh von Austra hat sich mit Königin Adelheid und der Skopos, der Heiligen Mutter Anne, zusammengetan, und gemeinsam haben sie Henry in jeder Hinsicht zu ihrem Geschöpf gemacht. Ich weiß nicht, mit welch schwarzer Zauberei Hugh seine Hände besudelt hat, aber ganz sicher hat er einen unirdischen Daemon beschworen und in den vollkommen arglosen König gezwungen. Jetzt spricht der König mit der Stimme des Daemons, der seine Worte und seine Bewegungen kontrolliert.« »Wie hat Hugh von Austra es geschafft, zu den Beratungen von Königin Adelheid und der Skopos hinzugezogen zu werden?« »Er ist jetzt ein Presbyter, dem alle Sünden vergeben wurden«, sagte Hathui verbittert. »Ich weiß nur wenig über die neue Skopos, außer, dass sie behauptet, die Enkelin von Kaiser Taillefer zu sein. Sie behauptet auch, sie wäre Liaths Mutter.« War das möglich? Hanna hatte Liaths Kind zusammen mit Sanglant gesehen, in den wenigen Tagen, die sie an der Seite des Prinzen jenseits der Veser verbracht hatte; damals hatte der Prinz sie ausführlich über die Zeit befragt, die sie als Gefangene bei Bulkezu und dessen Heer verbracht hatte. Bevor er sie weggeschickt hatte, um die Nachricht von seinem Sieg und seinen Plänen seiner Schwester zu überbringen. Sie hatte diese Geschichte selbst gehört, aber sie kam ihr jetzt noch immer so unwahrscheinlich vor wie damals. Aber vielleicht war es auch die einzige Erklärung, die einen Sinn ergab. Der Wind brachte die Blätter zum Tanzen und Wispern. Ein brauner Zaunkönig tauchte im Brombeergebüsch auf, beäugte Hanna und Hathui mit argwöhnischem Blick, ehe er davonflatterte. »Da ist noch etwas«, sagte Hathui schließlich. Ihre Schultern sackten nach vorn, und sie klang erschöpft. »Mathilda, das Kind von ihm und Adelheid, wird zur Erbin ernannt werden. Adelheid 71 wollte, dass Henry in Aosta bleibt und im Süden kämpft, obwohl es seine Absicht war, nach Wendar zurückzukehren. Deshalb haben sie ihn mit einem Daemon gebunden. Jetzt tut er nur noch, was sie wollen.« »Wieso willst du dann zu Sanglant gehen?« »Er muss erfahren, was geschehen ist.« »Er hat selbst gegen den König rebelliert. Du musst diese Neuigkeit sofort Theophanu überbringen!« »Nein, ich muss zu Sanglant gehen. Rosvita hat es mir dringend eingeschärft. Sie hat gesagt...« Hathui legte erneut ihre Hand an die verletzte Stelle, schloss die Augen und weilte einen Moment in ihren Erinnerungen. Ihre Worte waren kaum hörbar. »Sie hat gesagt: >Ein Bastard wird seinen wahren Verdienst zeigen, wenn Verführung seinen Pfad kreuzt und die schlimmsten Geschichten, die er sich vorstellen kann, seine Aufmerksamkeit erringen.< Oh, Herrin. Sie hat sich gefangen nehmen lassen, damit ich entkommen konnte. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt, nach so langer Zeit. Ich habe sie mit meiner Adlersicht gesucht, aber nur Dunkelheit gefunden.« Zu Hannas großem Entsetzen begann Hathui zu weinen. »Ich fürchte, sie ist tot.« Rosvita bedeutete Hanna nur wenig, abgesehen davon, dass sie Ivars ältere Schwester war, genau gesagt seine Halbschwester. »Wann war das? Wie lange bist du jetzt schon unterwegs?« Hathui wischte mit dem Handrücken die Tränen fort. »Monate. Seit letztem Jahr. Ich musste nach Westen reiten,
nach Salia. Trotzdem bin ich zu spät gekommen und konnte die Berge nicht mehr passieren. Schneefälle hatten den Pass bereits geschlossen. Also habe ich mich verborgen und versucht, irgendwie den Winter zu überstehen. Sie haben mich gejagt. Mindestens ein Dutzend Mal habe ich Soldaten in der Uniform von Königin Adelheid auf den Straßen gesehen. Erst vor drei Monaten ist es mir gelungen, mich durch den Schnee nach Salia zu kämpfen, wobei ich gezwungen war, nur in der Wildnis und nachts zu reiten, bis ich schließlich Wayland erreichte. Dort habe ich dann herausgefunden, dass die Soldaten von Herzog Conrad mich eher in den Kerker werfen als mir helfen würden. Du siehst, es war nicht leicht für mich, bis 72 hierher zu kommen.« Sie tätschelte den kalten Stein, beinahe liebevoll. »Diese Wegelagerer waren nur die geringste einer langen Reihe von Schwierigkeiten, mit denen ich mich auseinander setzen musste. Und ich fürchte, meine Reise wird auch weiterhin beschwerlich bleiben.« »Das ist wahr, es sei denn, du wendest dich nach Norden und überbringst diese Nachrichten Theophanu. Prinz Sanglant reitet nach Ungria. Er ist im letzten Herbst von Osterburg aufgebrochen, nach der Schlacht dort, aber ich weiß nicht, wie es ihm im vergangenen Winter ergangen ist. Er verbirgt sich auch vor meiner Adlersicht. Du bist eine Närrin, wenn du ihm nach Osten hinterher reitest. Du musst diese Neuigkeiten unbedingt Theophanu überbringen -« »Nein!« Hathui erhob sich und schritt zu ihrem Pferd. »Ich muss zu Sanglant reiten! Ich werde tun, was Schwester Rosvita mir aufgetragen hat. Sie ist die Einzige, von der ich genau weiß, dass sie dem König treu ergeben ist, seit Hugh Markgraf Villam ermordet hat.« »Villam!« Die Worte waren wie Stacheln, prickelnd und voller Gift. »Mögen Gott uns retten, wenn das wahr ist.« Und doch ... »Wir haben keinerlei Nachrichten aus Aosta erhalten. Nichts. Prinzessin Theophanu hat drei Adler zu ihrem Vater geschickt, um ihn über die hoffnungslose Lage in Kenntnis zu setzen -« »Eine zumindest hat die Nachricht überbracht, aber sie wird in Darre festgehalten. Vielleicht haben die anderen beiden nach meiner Flucht den Hof erreicht, und es ist ihnen genauso ergangen. Hugh und die anderen Verschwörer werden sicher nicht zulassen, dass Theophanus Adler jetzt Aosta verlassen. König Henry wusste, dass er in Wendar gebraucht wird! Er wollte zurückkehren!« Hathui blieb bei dem höchsten Teil der Mauer stehen, der ihr bis zur Schulter reichte. Ein paar Dachbalken aus Holz lagen von Brennnesseln und Moos überwuchert vor ihr auf dem Boden. In ihrem Gesicht zeigten sich Entschlossenheit und Starrsinn. Ihre Miene war unerschütterlich. »Ich gehe zu Sanglant, Hanna. Sanglant wird den Verrat an seinem Vater rächen. Er wird Henry retten. Niemand sonst kann das.« 73 »Sanglant ist nicht der Mann, für den du ihn hältst, Hathui. Reite nicht zu ihm, ich bitte dich. Prinzessin Theophanu -« »Nein.« Hathui band einen Stock an ihren Sattel und machte sich zum Aufsteigen bereit. »Ich werde mich nicht von meiner Aufgabe abhalten lassen.« Das war die Hartnäckigkeit, die König Henry so sehr bewundert hatte, dass er Hathui zu seinem bevorzugten Adler und tatsächlich auch zu einer Beraterin gemacht hatte, deren Meinung er eingeholt und ihr vertraut hatte. Hathui liebte den König. Aber sie irrte sich, was Sanglant betraf. »Also gut«, sagte Hanna schließlich. »Ernst wird zu Theophanu zurückkehren.« Bei dieser Antwort hielt Hathui, die sich schon auf die Stute schwingen wollte, inne und starrte Hanna entsetzt an. »Was soll das heißen?« »Das heißt, dass ich genau das tue, was Prinzessin Theophanu mir aufgetragen hat. Ich werde nach Aosta zum König reiten.« »Hanna!« »Ich kann genauso starrsinnig sein wie du, Hathui.« Aber als sie die Worte sprach, spürte sie den Wespenstich in ihrem Herzen. Wandte sie sich von Sorgatani ab, weil die kerayitische Prinzessin sie nicht aus der Gewalt der Qumaner befreit hatte? Bestrafte sie Sanglant, der sein eigenes Volk verraten hatte, indem er Bulkezu am Leben ließ? Oder tat sie nur das, was richtig war? »Du hast wohl nicht verstanden, was ich dir gesagt habe -« »Ich habe es sehr gut verstanden. Ich werde Theophanus Nachricht überbringen, wie es meine Pflicht ist. Ich werde König Henry meinen Bericht über die Invasion der Qumaner überbringen, wie ich es geschworen habe. Ich werde selbst erleben, wie er reagiert.« »Du darfst ihnen nicht trauen! Was sie dir antun könnten -« »Sie können mir nichts Schlimmeres antun als das, was ich schon erlitten habe.« Während ihrer Unterhaltung hatte die Sonne unmerklich den Nebel weggebrannt, und jetzt fiel helles Licht auf die Lichtung. Tau glänzte auf Brennnesseln und glitzerte auf reifen Beeren, ver74 dunstete rasch in der warmen Sonne. Die Morgenbrise ließ nach, und ein träger Sommerglanz legte sich auf das Grün des Waldes, untermalt von dem Gesang der Vögel und dem Krächzen eines verärgerten Raben. Jede Freundlichkeit war jetzt aus Hathuis Gesicht verschwunden, ersetzt von der Miene einer Frau, die gesehen hatte, wie die Dinge, die sie am meisten liebte, vergiftet und zertrampelt worden waren. »So sei es. Du hast
deinen Weg gewählt. Ich habe meinen gewählt.« Genug, dachte Hanna. Ich habe mich entschieden. Die Wut, die sie in letzter Zeit nie verließ, hatte sich inzwischen zu Eisen verhärtet. Solange Bulkezu lebte, würde sie dem Mann, der sich geweigert hatte, ihm die verdiente Strafe zukommen zu lassen, weder Treue, Hilfe noch Vertrauen gewähren. »So sei es«, rief sie zurück. Drei Wege führten von der Lichtung weg. Sie würde den ihren allein gehen. Teil Zwei Das abgelaufene Jahr III Eine Natter in der Grube
1 Im Osten, so hieß es, untersuchten die Priester des jinnischen Gottes Astareos das Feuer auf Omen hin. Sie deuteten das Flackern und Knistern der Flammen, das Verrutschen der Asche auf den verkohlten Holzstücken und das Glitzern der Kohle, die in der Glut bestimmte Muster bildete. In jeder noch so unbedeutenden Bewegung sahen die Priester eine Botschaft des Gottes, der auf diese Art seinen Willen und das Schicksal all jener enthüllte, die ihm huldigten. Aber so angestrengt Zacharias auch in das lodernde Lagerfeuer starrte, er konnte ihm doch keine Bedeutung entlocken. Ihm kam es wie ein ganz gewöhnliches Feuer vor, das fröhlich Äste und Scheite verschlang. Ähnlich verschlang auch die voranschreitende Zeit alles, sogar das Leben eines Menschen, bis es vollkommen aufgebraucht war. Danach gab es nur noch die kalte Schönheit eines unendlichen Universums, dem das Schicksal einer einzelnen, unbedeutenden Menschenseele unwichtig war. Er zitterte, obwohl die Sommernacht eigentlich zu mild war, um zu frösteln. »Was glaubt Ihr, Bruder Zacharias? Haltet Ihr die Geschichten über den Phönix und die Erlösung für wahr?« 79 Aufgeschreckt blickte er vom Feuer auf und starrte Chustaffus an. Der stämmige Soldat blickte ihn mit einem freundlichen Lächeln auf seinem schlichten Gesicht an. »Welchen Phoenix meint Ihr?«, fragte er. »Er hat nicht zugehört«, sagte Bärbeiß. »Er hört nie zu.« »Er sieht wieder Drachen im Feuer«, erklärte Lewenhardt, der Bogenschütze. »Oder unsere Zukunft«, meinte der stille Den. »Oder den verfluchten Phönix, von dem du ständig redest, Chuf«, fügte Bärbeiß hinzu und gab Chustaffus einen leichten Schlag auf die Schulter. Alle lachten, aber auf freundschaftliche Weise, und redeten weiter, während sie an ihrem Lagerfeuer eine Abendmahlzeit aus Fleisch, Haferbrei und Bier zu sich nahmen. Ihre Feuerstelle war nur eine von etwa fünfzig, die sich auf dem Weideland außerhalb der ungrianischen Siedlung Nabanya verteilten. Wieso Prinz Sanglants treue Soldaten einen abgerissenen, feigen und abtrünnigen Priester in ihrer Mitte duldeten, begriff Zacharias ganz und gar nicht, aber er war dankbar für die Kameradschaft, die sie ihm gewährten. Dadurch konnte er dem Umfeld des Prinzen, dem er als Übersetzer diente, hin und wieder entfliehen, und somit auch der Gegenwart seines schlimmsten Feindes, der unglücklicherweise noch immer nicht tot war. »Prinz Ekkehard war ein Verräter«, erklärte Den. »Ich finde nicht, dass wir auch nur irgendetwas von dem glauben sollten, was er gesagt hat.« »Aber nicht nur er hat solche Geschichten erzählt«, beharrte Chustaffus. »Manche Menschen sind sogar gestorben, weil sie an die Erlösung geglaubt haben. Sie waren bereit, dafür in den Tod zu gehen. Es muss schon ein sehr starker Glaube sein, wenn man dafür ein Martyrium auf sich nimmt.« »Oder es zeugt von einem hohen Maß an Dummheit.« Bärbeiß leerte seinen Becher und sah sich suchend nach weiterem Bier um, doch sie hatten ihre Ration bereits aufgebraucht. »Ich kann das alles nicht glauben.« »Was Prinz Ekkehard gerettet hat, war nicht die Ketzerei«, sag80 te der schwarzhaarige Immersieg, der zwar selten das Wort ergriff, aber lange zu reden pflegte, wenn er es tat. »Ich habe gehört, er ist von den Qumanern wie ein Edelmann behandelt worden. Wenn die Aussagen des Adlers stimmen - und es gibt für mich keinen Grund, daran zu zweifeln -, dann sind viele ehrliche und gottesfürchtige Leute gestorben, während Prinz Ekkehard sich an geraubten Speisen und gestohlenem Wein gütlich getan und sich mit Frauen vergnügt hat, die gegen ihren Willen in sein Bett gesteckt wurden. Es hätte auch eine Schwester von euch sein können, die vor der Wahl gestanden hat, ihm zu Diensten zu sein oder zu sterben.« »Prinz Ekkehard ist nicht der Einzige, der überlebt hat«, erklärte Chustaffus. »Vergessen wir Feldwebel Gotfrid von den Löwen und seine Männer nicht. Sie sind den Qumanern entkommen, und auch den Schatten im Wald, und den Wegelagerern, die sie in die Sklaverei verkauft haben, bevor der Prinz sie ausgelöst hat. Gotfrid ist ein guter Mann. Er hat an den Phönix geglaubt. Selbst Edelmann Wichman hat zugegeben, dass er den Phönix
gesehen hat.« »Hör schon auf, Chuf«, sagte Lewenhardt. »Wenn ich noch einmal etwas über diesen verfluchten Phönix höre, verspreche ich dir, den Nächsten, der mir über den Weg läuft, mit Pfeilen zu spicken.« Den, Johannes und Immersieg lachten lange über diese Worte, aber Chustaffus fühlte sich beleidigt, sodass es an Zacharias war, den finster dreinblickenden Soldaten zu besänftigen. Als Sklave der Qumaner hatte er gelernt, Worte so einzusetzen, dass die unerwarteten Ausbrüche seines Herrn gemildert wurden. »Viele Geschichten sind wahrer, als die Leute es sich vorstellen können, und doch sind andere so falsch wie ein Wolfsherz. Ich frage mich manchmal, ob ich wirklich diesen Drachen oben im Alfar-Gebirge gesehen habe. Es könnte auch ein Traum gewesen sein. Doch wenn ich meine Augen schließe, kann ich ihn noch immer am Himmel leuchten sehen, während sein Schwanz auf den Schnee der Berggipfel um uns herum einpeitscht. Was soll ich nur davon halten?« Die Soldaten wurden niemals müde, sich die Geschichte von dem Drachen anzuhören. 81 »Hatten seine Schuppen wirklich die Größe und die Farbe von Eisenschilden?«, wollte Lewenhardt wissen, der die Begabung der besonders herausragenden Bogenschützen besaß, sich kleine Einzelheiten merken zu können. »Nichts, was so groß ist, kann fliegen«, sagte Bärbeiß. »Vielleicht nicht wie ein Vogel«, erklärte Lewenhardt. »Vielleicht haben diese Drachen eine Art Magie, die sie in der Luft hält. Wenn sie aus Feuer bestehen, stößt die Erde sie vielleicht ab.« »So wie bei dir und den Frauen, ja?«, fragte Johannes, der Mann aus Karrone, der nur sprach, um jemanden aufzuziehen. »Habe ich euch gezeigt, wo die ungrianische Hure mich gebissen hat?« Lewenhardt zog seine Tunika hoch. »Nein, hab Erbarmen!«, rief Johannes mit einem Lachen. »Ich kann genügend Würmer ausgraben, um es mir vorzustellen.« »Jemand hat Würmer gefressen und mag den Geschmack nicht«, sagte Bärbeiß plötzlich. »Es geht das Gerücht, dass König Geza sich von seiner Frau scheiden lassen will, um Prinzessin Sapientia zu heiraten. Für den Prinzen wäre es der einfachste Weg, sie loszuwerden.« »Das würde Prinz Sanglant niemals erlauben!«, wandte Lewenhardt ein. »Auf diese Weise hätte König Geza durch die Kinder mit der Prinzessin einen Anspruch auf den wendischen Thron.« »Still«, warnte Den. Hauptmann Fulk näherte sich durch das blühende Federgras und das üppige Schwingelgras, dessen Halme um seine Beine und Oberschenkel schlugen. Hinter ihm wiegten sich Pappeln in der Abendbrise, am Ufer eines Flusses, den Zacharias nicht kannte. An der Stelle, wo sich der Fluss um einen Hügel wand, erhob sich eine alte, wieder instand gesetzte Ringfestung, der Sitz einer adligen ungrianischen Familie. Hinter der Festung breitete sich eine Siedlung aus, geschützt von einer Palisade und einem Graben. Sie war ungrianisch, wie an den vielen stinkenden Pferchen unschwer zu erkennen war. Jeder ungrianische Soldat besaß zehn Pferde, wie es aussah, und Menschen, die nicht ritten, sondern zu Fuß gingen, wurden als Sklaven und Hunde verachtet. Doch wer bestellte die Felder und kümmerte sich um die Gärten ? Als Prinz Sanglant und 82 sein Heer König Geza durch das ungrianische Königreich gefolgt waren, hatte Zacharias in den Hütten und befestigten Dörfern Bauern gesehen, die kleiner und dunkler waren als die ungrianischen Edelleute, die über sie herrschten. Diesen Leuten war es verboten, eigene Pferde zu besitzen - und doch wurden sie gleichzeitig dafür verachtet, dass sie nicht ritten. Die Männer erhoben sich, als Fulk bei ihrer Feuerstelle stehen blieb. Lewenhardt ergriff das Wort. »Hauptmann Fulk. Ist alles ruhig?« »So ruhig, wie es nur sein kann angesichts der Tatsache, dass wir morgen aufbrechen.« Fulk ließ seinen Blick über das Lager schweifen, dann wandte er sich wieder den ums Feuer sitzenden sechs Soldaten zu. »Ich habe euch hier draußen postiert, damit ihr Wache haltet, nicht, damit ihr quatscht.« Er nickte Zacharias zu. »Bruder, ich komme vom Prinzen. Er braucht Euch.« »Ich dachte, Bruder Breschius würde heute für ihn übersetzen? Sitzen denn nicht ohnehin nur Ungrianer und Wendaner zusammen?« »Ich kann nicht für Seine Hoheit antworten. Aber es hieß, Ihr solltet sofort mitkommen.« Bärbeiß begann, ein Klagelied zu pfeifen, brach jedoch ab, als Chustaffus ihn in den Arm kniff. »Ihr werdet heute die Wache um Mitternacht übernehmen«, sagte Fulk zu seinen Soldaten. »Ich komme noch einmal vorbei, um das zu überprüfen.« Diese Worte ernüchterten sie. Zacharias erhob sich mit einem Seufzer und folgte Fulk. Sie gingen am Fluss entlang und lauschten dem Wind, der klagend durch die Pappeln strich. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, hatten die Wolken noch immer einen kräftigen rosa-orangefarbenen Stich. Die Farbe wurde zum Zenit hin heller, bevor sie sich entlang der Berge im Osten in einem dunklen Grau verlor. »Ich vermisse die Birkenwälder unserer Heimat«, sagte Fulk. »Es heißt, wir würden durch Grasland und Flusstäler bis zum Ketzermeer reiten. Dort gibt es sogar Salzmarschen, wie man sie an 83 der wendischen Küste finden kann, nur dass sie weit vom Ufer entfernt sind. Als ich die Heimat verlassen habe
und in den Dienst des Königs getreten bin, hätte ich nie gedacht, dass ich einmal so weit nach Osten reisen würde. Aber ich nehme an, Ihr habt diese Länder bereits gesehen.« »Nein, das habe ich nicht. Das erste Mal bin ich durch Polenie nach Osten gereist.« »Habt Ihr einbeinige Männer gesehen? Frauen mit Hundeköpfen? Zweiköpfige Säuglinge?« »Nur Sklaven und Tyrannen, wie es sie überall gibt.« Fulk schnaubte, aber es klang wie ein Lachen. Wie alle Mitglieder von Sanglants Leibwache trug er einen blassgoldenen Überwurf mit einem schwarzen Drachen darauf. »Die Ungrianer sind ein seltsames Volk«, fuhr er fort und nahm Zacharias' wortkarge Art gelassen hin. »So freundlich, wie man es sich nur wünschen kann, und sie sind gute Kämpfer. Aber ich weiß, dass ihre Mütter nicht Gott in Einigkeit gehuldigt haben. Ich wette, dass die Hälfte von ihnen noch immer den alten Göttern Opfer darbringt. Einer der Jungen sagte, er hätte bei der Wintersonnenwende gesehen, wie ein weißer Hengst vom Palast des Königs weggeführt wurde, der die ganze Zeit auch nicht zurückgekommen ist, während König Geza den Festtag von St. Peter kniend in der Kirche verbracht hat. Gott wissen, dass sie selbst halbe Ketzer sind, denn es waren arethusanische Kirchenleute, die die Botschaft des heiligen Daisan als Erste in diese Länder gebracht haben.« »Die Messe leitet Bruder Breschius, kein arethusanischer Priester.« »Das stimmt. Es heißt, der letzte Arethusaner wäre aus Ungria geflohen, als wir letzten Herbst mit Prinz Bayans Leichnam angekommen sind. Sie sind schlimmer als Ratten, schleichen umher und verbreiten nichts als Lügen und Aberglauben.« »Ich habe den Eindruck, als würde es in den Reihen von Prinz Sanglants Heer selbst genug Aberglauben geben. Ich habe die Gerüchte über den Phönix und die Erlösung gehört.« Fulk hatte eine täuschend sanfte Miene für einen Mann, der nicht nur eine gehörige Anzahl harter Schlachten hinter sich hat84 te, sondern auch noch König Henry verlassen hatte, um dessen rebellischem Sohn zu dienen. Seine Mundwinkel zuckten nach oben, als wollte er lächeln, aber sein Blick war durchdringend. »Wenn man eine Natter in eine Grube ohne Wasser wirft und sie in Ruhe lässt, vertrocknet sie und stirbt. Quält man sie aber, beißt sie zu und überlebt.« Schweigend verließen sie das Flussufer und folgten dem Pfad über eine zugewucherte Weide zum Palisadentor. Die Ringfestung war entlang der Flusskrümmung errichtet worden, aber seit kurzem waren unterhalb des runden Schutzwalls Häuser, Werkstätten von Handwerkern und Hütten von Schafhirten entstanden, die ihrerseits von einem Graben und einer Holzpalisade umgeben waren. Die beiden Männer überquerten die Holzbrücke, die über den Graben führte, und grüßten die Wachen am geöffneten Tor. Da der König anwesend war, die Qumaner geschlagen waren und ein großes Heer auf den Feldern jenseits der Siedlung lagerte, blieb das Tor für das ständige Kommen und Gehen zwischen der Stadt und dem Lager die ganze Nacht über geöffnet. In Ungria herrschte Frieden. Ein halbes Dutzend Soldaten wartete gleich hinter dem Tor auf Fulk; sie lehnten lässig am Gatter eines leeren Pferchs. Als sie ihren Hauptmann sahen, schlössen sie sich ihm an. »Ein Hauptmann kann nicht ohne Gefolge vor dem Prinzen erscheinen, wenn man ihn nicht seines Ranges für unwürdig befinden soll«, sagte Fulk trocken. »Ihr seid allein gekommen, um mich zu holen.« »Das stimmt. Ich wollte mich im Lager umsehen, ohne bemerkt zu werden. Herausfinden, in welcher Stimmung meine Männer sind.« In der Siedlung ging es lebhaft zu. In der Nähe der Gerbereien war Markt, obwohl der Gestank nach Abfall, Urin und Mist die Leute manchmal zu überwältigen schien, die hier um Binsen, Bronzeeimer, Trinkhörner, Töpfe voller Färbemittel, Wollkleidung und eine beachtliche Vielfalt an Schilden feilschten. Kleine Kinder mit dreckverkrusteten Füßen rannten nackt umher. Eine 85 Frau, die bei einer Lattenkiste mit mageren Hühnern saß, rief etwas in einer unverständlichen Sprache, die Zacharias nur zur Hälfte wie Ungrianisch vorkam und in die sich Brocken einer noch raueren Sprache mischten, die weiter draußen im Grasland gesprochen wurde. Hinter ihnen kamen Pferde herangedonnert. Zacharias warf einen Blick zurück, während Fulk gereizt fluchte. Helle Schwingen streiften den dunklen Himmel; im nächsten Augenblick würden die Reiter bei ihm sein. Der Frater schrie laut auf und warf sich zu Boden, riss die Hände über den Kopf. Die Qumaner töteten schnell. Sie würden ihn niederstechen und ihm den Kopf abschneiden. Vor Entsetzen verlor er vollkommen die Beherrschung; ein heißer Urinstrahl lief ihm die Beine hinunter. Aber die Reiter preschten vorbei, achteten gar nicht auf ihn. Allerdings rissen sie die Kiste mit dem Federvieh um. Die Hühner rannten gackernd über den Markt. Eins von ihnen lief zu Zacharias und grub die Krallen in seinen Nacken. »Kommt, steht auf«, sagte Fulk und packte ihn am Arm, um ihm auf die Beine zu helfen. »Seid Ihr getroffen worden?« Es waren keine Qumaner gewesen, die gekommen waren, um ihm den Kopf abzuschlagen. Es war nur eine
Gruppe von ungrianischen Reitern mit weißen Umhängen gewesen, was bedeutete, dass sie zu König Gezas Leibgarde zählten. Fulks Soldaten rannten hinter den Hühnern her und brachten sie der Frau zurück, die laut vor sich hin fluchte. In dem Durcheinander konnte Zacharias sich immerhin unbemerkt auf die Beine kämpfen. Doch wenn die Dunkelheit auch den Fleck auf seinem Gewand verbarg, konnte nichts den Gestank überdecken, der ihn als Feigling entlarvte. Solange er die Qumaner fürchtete, solange er Bulkezu fürchtete, war er noch immer ein Sklave. Er blinzelte Tränen der Scham und der Angst zurück und stapfte zu dem mit schmutzigem Wasser gefüllten Trog. Begleitet von den erstaunten Ausrufen von Fulk und den Soldaten sprang er hinein. Hühner, Ziegen und Kinder wichen unter ohrenbetäubendem Lärm vor dem aufspritzenden Wasser zurück. Zacharias tropfte von der Brust an abwärts, als er wieder aus dem Trog kletterte. Jemand in 86 der Menge warf einen verfaulten Apfel nach ihm. Er duckte sich, aber nicht schnell genug, und so klatschte das Wurfgeschoss gegen seine Brust. »Um Gottes willen«, fluchte Fulk und zog ihn weiter. »Welcher Wahnsinn ist jetzt über Euch gekommen, Bruder?« Der Boden stieg steil an, und die Brustwehr türmte sich dunkel und unerschütterlich vor ihnen auf. »Ich bin in einen stinkenden Haufen Pferdemist gefallen. Puh! Ich kann doch nicht vor den Prinzen treten, wenn ich nach Stall rieche.« Er zitterte immer noch, als sie in den tieferen Schatten des Tores der Brustwehr traten, das nur von der Fackel einer einzigen Wache beleuchtet wurde. »Das nächste Mal werden diese ungrianischen Soldaten irgendeine arme Seele zum Krüppel machen und sich keinen Deut darum kümmern, was sie da angestellt haben.« »Schon gut«, sagte Fulk, verblüfft über Zacharias' Heftigkeit. »Es ist ein Wunder, dass die Pferde nicht auf Euch getreten sind, so, wie Ihr gestürzt seid.« Der von Fackeln erhellte Gang durch die Brustwehr machte eine scharfe Biegung nach links und dann wieder nach rechts. Wachen unterhielten sich auf der Mauer über ihnen, von wo aus sie freie Sicht auf den Durchgang hatten. Einer der Soldaten sang eine traurige Melodie, doch je näher sie dem Innenhof in der Mitte der Festung kamen, desto mehr wurde der Gesang von Stimmengewirr überlagert. Die Edelleute speisten an diesem Abend spät in der Halle, zu Ehren von St. Edward Lloyd, einem scharfsinnigen, frommen Kaufmann aus Alba, der außer Zinn auch den Glauben der Einigkeit in den Osten gebracht hatte. Zacharias hörte Gesang und Gelächter und sah das helle Glühen von zahlreichen Lampen durch die geöffnete Tür. Bedienstete eilten mit gefüllten Platten und Krügen von den Küchen in die Halle und kehrten mit den Resten zurück, die für die Dienerschaft, die Bettler und die Hunde gedacht waren. Fulk schenkte der hell erleuchteten Halle kaum einen Blick, sondern eilte direkt auf die Stallungen zu, in denen sich der Rest von Sanglants Leibwache und ein beachtliches Kontingent von un87 grianischen Reitern versammelt hatten. Wulfhere fing sie an der Tür ab. »Es regnet doch gar nicht«, sagte der Adler, während er Zacha-rias auf die für ihn typische, unangenehm hochmütige Weise von Kopf bis Fuß musterte - ganz so, als hätte er den Bruder wieder einmal bei einer Verfehlung ertappt. »Ein Unfall.« Die Worte kamen krächzend, schroff und abwehrend. Wulfhere zuckte mit den Schultern. »Hier entlang, Hauptmann. Wir haben ihr Haferbrei und Bier gebracht, wie der Prinz befohlen hat. Sie besteht jedoch darauf, sich erst dann auszuruhen und zu baden, wenn sie ihre Nachricht überbracht hat.« Statt auf die Leiter zuzugehen, über die man nach oben in den Raum gelangte, in dem die Soldaten untergebracht waren, führte der alte Adler sie an den Ställen vorbei, die zur einen Hälfte Pferde beherbergten, zur anderen Waffen und Rüstungen und Fässer mit Korn und Bier. Sie gelangten zu einem leeren Stall, in dem Heribert und Feldwebel Cobbo bei einer großen, dunkelhaarigen und grobknochigen Frau hockten, die einen fleckigen Adlerumhang trug und gerade einen Krug mit Bier an den Mund führte. Schwankte der Boden etwa? Seine Knie schienen so schnell unter ihm nachzugeben, dass er sich mit aller Kraft gegen die Wand stemmen musste, um aufrecht stehen zu bleiben. »Schön, Euch zu sehen, Adler.« Fulk trat in den Schein des Lampenlichts. »Ihr seid weit geritten.« Stroh knisterte unter seinen Stiefeln, als er zu ihr ging. Der Adler senkte den Krug und erhob sich, um ihn zu begrüßen. Hathui. Nur ein einziger unterdrückter Laut entfuhr Zacharias. Er zupfte an der Kapuze seines Umhangs, um sein Gesicht zu verbergen, aber sie hatte ihn bereits gesehen. Sie starrte ihn an, nur so lang, wie ein geübter Schlachter benötigte, um einem Kalb die Kehle durchzuschneiden, verblüfft und mit einem Blick, der so scharf war wie eine Speerspitze. Er hatte sich so verändert, dass sie ihn vielleicht gar nicht erkannte. Wenn er vorsichtig war, konnte er dafür sorgen, dass sie niemals erfuhr, wer er war, niemals be88 schämt darüber sein würde, was aus ihm geworden war. Er drehte sich um, wollte sein Gesicht in den Schatten verbergen. Ihre Augen weiteten sich, als sie begriff. Der Krug glitt ihr aus den Händen, und Bier ergoss sich über ihre Hose, während das Gefäß polternd zu Boden fiel und zerbrach. Ihre Lippen formten seinen Namen, aber es kam kein
Laut. Sie taumelte, sank vornüber, als wäre sie geschlagen worden, und reflexartig, wie er es immer getan hatte, als sie nichts weiter als seine kleine Schwester gewesen und wieder einmal in Schwierigkeiten geraten war, machte er einen Satz nach vorn und fing sie auf. Sie drückte ihn fest an sich. »Oh, Gott.« Sie war so groß wie er, hatte einen festen Griff und roch unangenehm. »Ich dachte, du wärst tot.« Ich bin tot. Ich bin nicht mehr der Bruder, den du gekannt hast. Aber er brachte kein Wort heraus. »Mögen Gott barmherzig sein«, sagte Wulfhere leise und ziemlich überrascht. »Ich wusste, dass du einen Bruder hattest, der als Frater in den Osten gegangen war und dort verschwunden ist, Hathui. Ist er das etwa?« Sie weinte, obwohl sie als Kind nie viel geweint, sondern vielmehr die verachtet hatte, die es getan hatten; ihr geliebter älterer Bruder war der einzige Mensch gewesen, der sie jemals in Tränen hatte ausbrechen sehen, so selten das auch geschehen war. »Schsch«, machte er, erinnerte sich mit einiger Bitterkeit an diese längst vergangene Zeit. Erinnerungen schwappten mit einer solchen Heftigkeit über ihn hinweg, dass ihm regelrecht übel wurde. Jetzt würde sie es wissen. Jetzt würde sie ihn verachten. »Ich dachte, du wärst tot«, wiederholte sie mit hohler Stimme. Die Tränen liefen ihr noch immer übers Gesicht, doch ihre Miene war verändert, angespannt und entschlossen, als der Adlerblick wieder auf die Beute in der Ferne fiel. »Wenn du nach all dieser Zeit tatsächlich noch am Leben bist, ist alles möglich. Oh, Gott, Zacharias, wir müssen über so vieles reden, aber ich muss erst dem Prinzen meinen Bericht überbringen.« Sie nickte den anderen zu und verließ die Stallungen. Zacharias blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, wobei er das 89 Schlimmste befürchtete: dass sie schlechte Nachrichten brachte und dass er hergerufen worden war, weil Prinz Sanglant vorhatte, den gefangenen Qumaner zu holen, und ihn zum Übersetzen brauchte. Warum auch nicht? Sollte sie das Schlimmste ruhig sogleich erfahren, dann würde sie ihn auf der Stelle zurückweisen und er den Schmerz dieser Zurückweisung sofort erleiden. Das war besser, als ewig damit rechnen zu müssen. Sie drängten in die Halle, vorbei an Bediensteten und irgendwelchen Schmarotzern, schoben ein Rudel Hunde beiseite, die hoffnungsvoll auf ein paar Knochen warteten. Hathui humpelte deutlich beim Gehen, als hätte sich die alte Verletzung aus ihrer Kindheit verschlimmert, die ihr ein leichtes Hinken beschert hatte. War es wirklich erst zwei Jahre her, als er sie in Gegenwart von Helmut Villam erblickt hatte ? Zacharias hatte sich damals in den Schatten verborgen, und Hathui hatte ihn nicht erkannt. Sie sah nun dünner, erschöpfter und abgespannter aus, und ihre eingefallenen Wangen ließen ihre kühne, scharfe Adlernase noch stärker hervortreten. Aber als sie sich durch die Menge drängten und zu dem hohen Tisch kamen, von dem aus König Geza das Festmahl leitete, stand sie stolz in ihrem geflickten Adlerumhang und der zerrissenen Kleidung da, und ihre Stimme klang so selbstsicher und stolz, wie er sie in Erinnerung hatte. »Eure Hoheit, König von Ungria, möge in Eurem Königreich alles zum Besten bestellt sein. Ich bitte Euch, vergebt mir mein plötzliches Auftauchen.« Es wurde still in der Halle, während die Edelleute sich vorbeugten, um zuzuhören. Sapientia hatte den Ehrensitz rechts von Geza inne, während Sanglant zwischen dem kräftigen, aber grauhaarigen König Geza und Edelfrau Ilona saß, einer reifen Schönheit und sagenhaft reichen ungrianischen Witwe. Bruder Breschius beugte sich zu König Geza hinab, um ihm die Übersetzung ins Ohr zu flüstern, während Hathui ihre Aufmerksamkeit jetzt auf die königlichen Geschwister richtete. »Eure Hoheit, Prinzessin Sapientia, ich komme mit Neuigkeiten aus Aosta. Ich bin weit und unter großen Anstrengungen gereist, um Euch zu erreichen. Es hat beinahe zwei Jahre gedauert, 90 hierher zu gelangen, und mehr als einmal bin ich nur knapp dem Tode entronnen.« Sanglant stand auf, in der Hand einen Becher Wein. Er trug eine kostbare goldene Tunika mit dem schwarzen Drachen darauf, und seine schwarzen Haare waren aus dem bartlosen Gesicht zurückgekämmt. Wer immer ihn ansah, wurde daran erinnert, dass seine Mutter nicht von Menschen abstammte. Doch war auch unübersehbar, dass er ein Prinz war, der Befehlshaber des Heeres, das die Qumaner besiegt hatte. Sogar Sapientia - oder vielmehr gerade sie - wirkte in ihrem hübschen, einer Edelfrau angemessenen Putz so unbedeutend wie ein Stieglitz gegenüber einem mächtigen Drachen. »Ihr bringt schlimme Neuigkeiten«, sagte Sanglant. Hathui erstickte beinahe an den Worten. »Ja, ich bringe schlimme Neuigkeiten, Eure Hoheit, mögen Gott uns allen helfen. König Henry ist verhext worden, verzaubert durch eine Intrige, die die Königin und sein vertrauter Berater gesponnen haben. Er ist in seinem eigenen Körper gefangen. Ihr seid der Einzige, der ihn retten kann.« 2 Gnade hatte die beunruhigende Angewohnheit, sich so weit aus den Turmfenstern zu lehnen, dass es aussah, als würde sie jeden Augenblick herausfallen oder davonfliegen. »Sieh nur!« Sie war bis zu dem Sehschlitz der Schießscharte gekrochen; noch war sie klein genug, um sich in die schmale Öffnung zwängen und so einen Blick auf den Hof werfen zu können. »Mein Vater hat die Halle verlassen. Ich mag es nicht, wenn er mich hier zurücklässt, als wäre ich in einem Gefängnis. Hat er nicht genug Gefangene, über die er herrschen kann ? Wieso hat er es immer auf mich abgesehen?«
»Dein Vater mag es nicht, wenn du dich so verhältst wie heute Morgen«, sagte Anna wohl schon zum zehnten Mal an diesem 91 Abend. »Wenn du dich wie eine Barbarin aufführst, musst du auch wie eine behandelt werden.« Matto saß beim kalten Herdfeuer; eine brennende Lampe baumelte über ihm. Er hatte den ganzen Nachmittag damit verbracht, das Geschirr der jungen Prinzessin zu ölen und zu polieren, bis es in hellem Glanz erstrahlte. Jetzt blickte er auf und zwinkerte Anna verstohlen zu, die daraufhin errötete, gleichermaßen erfreut und verwirrt. Gnade zwängte jetzt ihre Arme und Schultern durch die Öffnung. Anna packte hastig ihre Füße, während das Mädchen mit vom Stein gedämpfter Stimme rief: »Wer ist da bei ihm? Sieht aus wie ein Adler! Er kommt wieder zurück!« Anna zog an den Füßen und ächzte, doch entweder war Gnade eingeklemmt, oder sie hielt sich irgendwo fest. »Matto!« Der war überglücklich, dass er das Pferdegeschirr beiseite legen konnte und einen Grund hatte, die Arme um Anna zu schlingen, als er Gnades Knöchel packte. »Hoheit!«, sagte er. »Ich bitte Euch, bleibt nicht da drin. Sonst werden wir die Wut Eures Vaters zu spüren bekommen!« Eine Zeit lang passierte gar nichts. Dann schlängelte Gnade sich zurück, rutschte die Stufe vor der Schießscharte halb hinunter und sprang auf den Boden. Bei all ihren Schwächen besaß das Mädchen einen tiefen Sinn für Gerechtigkeit, und es gefiel ihr ganz und gar nicht, wenn ihre Begleiter für ihr Missgeschick verantwortlich gemacht wurden. »Nun, da ist wirklich ein Adler bei ihm«, erklärte sie trotzig. »Ich weiß nicht, woher sie kommt oder wie sie uns hier draußen in Ungria gefunden hat. Ich hasse Ungria.« »Wir alle wissen das, Hoheit«, sagte Anna müde und gestattete es sich, gegen Mattos breite Brust zu sinken. Seine Hand auf ihrer Schulter packte etwas fester zu. »Das wird Thiemo aber gar nicht gefallen.« Zwar hatte Gnade noch immer ein süßes Gesicht, auch wenn sie so groß war wie ein neun- oder zehnjähriges Mädchen, doch funkelten in ihrer Miene eine gewisse Boshaftigkeit und Schadenfreude, als sie jetzt grinste. »Ich höre ihn die Treppe hochkommen.« 92 Anna löste sich von Matto. »Ich habe keine Angst vor ihm«, murmelte Matto, als der Riegel sich bewegte. Die Tür klemmte, daher dauerte es etwas, ehe Thiemo sie aufgestoßen hatte. Um ganz sicherzugehen, trat Anna noch zwei weitere Schritte von Matto zurück. »Der Prinz kehrt zurück«, sagte Thiemo, an Gnade gewandt. »Hoheit.« Sein Blick huschte rasch zu Anna und Matto, prüfte den Abstand zwischen ihnen, dann grinste er Anna gewinnend an - es war ein Lächeln, das sie schon immer ganz benommen gemacht hatte. Wie konnte es sein, dass ein Edelmann wie Thiemo sie überhaupt ansah, eine Gewöhnliche, deren Haut von den Gerbergruben nussbraun gefärbt war? Gnades Tunika war vom Klettern verrutscht. Während Anna dem Mädchen half, die Kleider in Ordnung zu bringen, und mit einem Kamm durch ihre unordentlichen Haare fuhr, sammelten Thiemo und Matto das Geschirr ein und säuberten den Raum; dabei sprachen sie die ganze Zeit kein einziges Wort miteinander. Die beiden jungen Männer waren nie Freunde gewesen, denn die Kluft zwischen ihren jeweiligen Rängen gestattete eine solche Annäherung nicht. Und doch hatte es einmal eine Zeit gegeben, da waren sie im Dienst gegenüber Gnade freundschaftlich verbundene Kameraden gewesen. Dem war jetzt nicht mehr so. Der Lärm von Schritten und Stimmen hallte von unten herauf. Lampenlicht schimmerte, und plötzlich drängte sich ein Dutzend Menschen in das Turmzimmer. Gnade stand rasch auf, um sich auf dem Tritt der Schießscharte zu verbergen, kauerte sich dort nieder wie ein hübsch gestalteter Wasserspeier. Rechts und links bauten sich Thiemo und Matto als ihre Wachen auf. Anna zog sich zum Herdfeuer zurück, als Prinz Sanglant und seine edlen Kameraden und treuen Gefolgsleute sich im Zimmer verteilten. Seine Schwester nahm am Tisch Platz, neben ihr ihre treue Kameradin, Edelfrau Brigida; die anderen blieben respektvoll stehen oder machten es sich auf dem Bett oder der anderen Bank bequem, ganz wie es ihrem Rang entsprach. Es handelte sich um die übliche Gefolgschaft, bestehend aus Edelfrau Bertha von Austra, Bruder Heribert, 93 Wulfhere, dem widerlichen Bruder Zacharias, dessen Gewand ganz nass war, Hauptmann Fulk, dem freundlichen Bruder Breschius, dem ausgelassenen Edelmann Druthmar, der ein Kontingent von Villams Reiterei befehligte, und dem berüchtigten Edelmann Wichman, den alle das Brunsttier nannten. Der einzige anwesende Ungrianer war Istvan, nicht nur ein Edelmann, sondern vor allem ein grimmiger Hauptmann, der nach dem Tod von Prinz Bayan an der Veser seine Loyalität auf Sanglant übertragen hatte, ebenso wie Bruder Breschius. Anna hatte damit gerechnet, auch Edelfrau Ilona zu sehen, deren Lieblingskleid Gnade an diesem Morgen so gründlich verschmutzt hatte, aber offensichtlich war ihr Rang als Vertraute nicht hoch genug, um an dieser privaten Versammlung teilnehmen zu dürfen. Sanglant schritt auf und ab, von der Tür zum Fenster und wieder zurück, aber seine Aufmerksamkeit war unablässig auf den arg mitgenommenen Adler gerichtet, der jetzt auf Annas Stuhl saß und damit die einzige Gewöhnliche war, die nicht stand. Dies hatte nichts mit einem Privileg zu tun, das ihr als Adler gewährt worden
wäre, sondern schlicht damit, dass die Frau aussah, als könnte sie vor Erschöpfung nicht allein stehen. Doch obwohl ihre Schultern herabhingen, ließ ihr scharfer Blick den unruhig hin- und herlaufenden Prinzen niemals los. »Dann stimmt es also«, sagte Sanglant schließlich. »Wulfhere hat mit seiner Adlersicht die Wahrheit gesehen, nur hatten wir keine Möglichkeit, es zu beweisen.« Er warf einen Blick auf Wulfhere, der den anderen Adler mit gerunzelter Stirn musterte, als wären die Neuigkeiten, die die Frau da brachte, nichts weiter als das Kreischen eines Eichelhähers. »Wir müssen sofort nach Aosta marschieren!«, rief Sapientia. Sanglant würdigte sie kaum eines Blicks, und sie versuchte auch nicht, ihn zu unterbrechen, als er einfach weitersprach. »Mit welcher Magie sollen wir gegen diejenigen kämpfen, die den König gefangen genommen haben? Nein. Dies ändert nichts an unseren Plänen, im Gegenteil, unser Weg wird nur umso klarer. Wir müssen weiter nach Osten marschieren. Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir unsere Feinde besiegen können.« 94 »Aber Eure Hoheit«, wandte der Adler ein, »ich habe zwei Jahre damit verbracht, Euch zu finden. Wie wissen nicht, was in der Zwischenzeit mit König Henry geschehen ist. Er ist vor meiner Adlersicht verborgen. Er könnte tot sein. Sie können ihm antun, was immer sie wollen!« »Und darin könnten sie auch fortfahren«, sagte Heribert ruhig. »Ich habe gesehen, wie mächtig die Zauberei ist, die sie beherrschen. Wir können sie nicht mit Speeren oder Schwertern bekämpfen.« »Aber Eure Hoheit«, flehte der Adler. »Wenn Ihr nach Osten in das unbekannte Land der Qumaner reitet, könnte es Jahre dauern, ehe Ihr nach Wendar zurückkehrt. Was wird in der Zwischenzeit mit Eurem Vater geschehen?« Sie kniete zu Füßen des Prinzen nieder, was ihn dazu zwang, stillzustehen. »Henry muss am Leben bleiben, wenn sie durch ihn herrschen wollen«, sagte Sanglant. »Sobald Henry stirbt, werden seine wendischen Heere Adelheid und ihre Berater verlassen. Die Edelleute und ihre Gefolgschaften werden nach Wendar zurückkehren, wenn der König nicht mehr da ist, um sie anzuführen.« »Da ist dieses Kind, Eure Hoheit.« Die Stimme des Adlers klang leise, aber Sapientia brach plötzlich in wildes Geschrei aus. »Abgeschoben! Einfach verdrängt! Und auch noch für ein schreiendes Balg!« Wichman schnaubte, verstummte jedoch auf einen Blick des Prinzen hin. »Es stimmt, dass das Kind an Henrys Stelle Königin werden könnte, aber das Mädchen kann noch keine drei Jahre alt sein.« Sanglant starrte auf die Schießscharte, wo seine unnatürliche Tochter sich in den Schatten des Fensterbogens verbarg. Auch Gnade war noch keine drei Jahre alt, wirkte aber so viel älter, dass König Geza vorgeschlagen hatte, sie mit seinem Lieblingskind zu vermählen, einem frechen Fünfzehnjährigen, von dem sich viele hinter vorgehaltener Hand erzählten, dass er trotz eines Dutzends älterer Brüder zum Erben ernannt werden würde. »Schon früher haben Herrscher durch dreijährige Kinder regiert, Eure Hoheit«, erklärte Wulfhere. »Diese Mathilda wird 95 zweifellos leichter zu kontrollieren sein als ein erwachsener Mann vom Format und mit der Erfahrung König Henrys.« »Schlagt Ihr also vor, dass wir unsere Suche aufgeben sollen?« »Nein, das tue ich nicht, aber ich möchte Euch nahe legen, sorgfältig zu bedenken, was Hathui gesehen und gehört hat. Ich selbst habe sie ausgebildet, und König Henry hat ihren Wert erkannt und sie zu seiner rechten Hand und seiner vertrauten Beraterin erhoben.« Sanglants Lippen zuckten, als wüsste er nicht so recht, ob er lächeln oder die Stirn runzeln sollte. »So, wie Ihr die rechte Hand meines Großvaters König Arnulf wart?« Wulfhere zuckte die Schultern, unwillig, sich in einen Streit verwickeln zu lassen, der so alt war, dass Anna den wahren Sachverhalt nur erahnen konnte. Da sie die Aufgabe hatte, sich um Gnade zu kümmern, wurde sie oft Zeugin der Unterhaltungen zwischen Sanglant und seinen engsten Vertrauten. Obwohl Wulfhere den Status eines respektierten Älteren innehatte, hatte sie häufig Wutanfälle und Vorwürfe erlebt, die wie scharfe Messer hin und her flogen. Sanglant wandte seinen Blick wieder dem jüngeren Adler zu. »Ich stelle Eure Loyalität meinem Vater gegenüber nicht infrage, Hathui. Die habt Ihr allein dadurch bewiesen, dass Ihr so weit gereist seid, um meine Hilfe zu suchen.« »Was ist mit dem König?«, fragte sie. »Wie mir scheint, brauchen sie Henry als Anführer des Heeres, wenn sie gegen die rebellischen Edelleute von Aosta, die Banditen von Jinna und die arethusanischen Eroberer vorgehen wollen. Wieso sollten sie ihn töten, wenn sie ihn mittels Zauberei kontrollieren können? Und wieso kontrollieren sie ihn mittels Zauberei, wenn sie mächtig genug sind, ihn zu töten und die Krone von Wendar auf dem Kopf des Kindes zu belassen? Nein, beten wir, dass mein Vater noch lebt und dass seine Königin und ihre Vertrauten ihn am Leben lassen werden, bis das Kind alt genug ist, um im Kriegsrat selbst einen Platz einzunehmen.« Er blickte erneut zur Schießscharte, aber seine Tochter wurde von den Schatten verborgen. Nur ihre Augen blitzten dort auf, als wären sie zwei Feu96 erfunken. »Wir können gegen die Zauberer erst kämpfen, wenn wir die Chance auf einen Sieg haben, und die haben wir nicht, solange wir uns nicht gegen ihre Magie schützen können.«
»Greifenfedern«, murmelte Zacharias. Sein Gesicht war gerötet, und er schwitzte. »Ich fürchte, dass die Kerayiten sich nichts aus Euren wendischen Problemen machen, Hoheit«, erklärte Breschius sanft. »Sie könnten sich weigern, Euch zu helfen.« »Das habt Ihr schon zuvor gesagt. Nicht, dass ich Euren Rat nicht schätzen würde, Bruder. Aber Annes Intrigen bedrohen die Kerayiten genauso wie alle anderen Völker. Kein Ort auf der ganzen Welt wird davor gefeit sein.« »Und wir alle könnten morgen sterben«, fügte Edelfrau Bertha heiter hinzu. Wichman brach in schallendes Gelächter aus, fing Annas Blick auf und winkte ihr zu. Sie trat unruhig von einem Bein aufs andere. Er hatte einmal versucht, sie anzufassen, und obwohl Sanglant eingeschritten war, machte der ungestüme Sohn der Herzogin sie noch immer nervös. »Ersetzt von einem bewaffneten Säugling!«, murmelte Sapientia. Doch war es Monate her, seit ihr jemand richtig zugehört hatte, und obwohl sie noch immer den Glanz des königlichen Geschlechts besaß, war sie auf unerklärliche Weise verblasst, wie unpoliertes Silber. »Haben die wendischen Edelleute nicht gehört, dass mein Vater mich zur Erbin bestimmt hat? Wie können sie sich jetzt vor einem Kind in Aosta verbeugen?« »Was ist mit Wendar selbst, Hoheit?«, fragte Hathui. Er schritt zur Tür und blieb dort mit dem Rücken zu den anderen stehen. »Ich sollte nach Wendar zurückkehren!«, rief Sapientia. »Ich frage mich, ob meine Schwestern sich noch immer um Saony streiten«, bemerkte Wichman. »Und ob es Ekkehard inzwischen gelungen ist, seinen Schlüssel in die Schatzkammer seiner Frau zu stecken.« Sanglant ging auf diese Bemerkungen nicht ein, sondern antwortete dem Adler. »Ich habe Theophanu eine Kohorte von Löwen 97 an die Seite gestellt. Ich habe etliche Soldaten zurück auf ihre Bauernhöfe geschickt. Wie Ihr seht, reite ich mit weniger als eintausend Soldaten nach Osten. Zwei Drittel des Heeres, das wir an der Veser besaßen, sind nicht mehr bei mir. Diese Soldaten müssen Wendar verteidigen, bis ich zurückkehre.« »Sind sie dazu in der Lage ?« Hathui verzog vor Schmerz das Gesicht, als sie sich erhob und trotzig mitten im Raum stehen blieb. »Habt Ihr eine Ahnung davon, was ich in den zwei Jahren gesehen habe, die ich hierher unterwegs war, Hoheit?« Normalerweise hätte sich ein Edelmann einen solchen Ton von einer Gewöhnlichen niemals gefallen lassen. Doch hatte man schon seit langem eingesehen, dass Adler eine gewisse Freiheit darin besitzen mussten, ihre Meinung kundzutun, sofern die Nachrichten, die sie überbrachten, für den Herrscher von irgendeinem Nutzen waren. Hathui fuhr also fort, ohne seine Erlaubnis abzuwarten. »Salia ist zerrissen vom Bürgerkrieg, von Pest und Dürre. Überall lauern Wegelagerer. Ich habe nur wenig über Varre gehört, während ich durch Wayland geritten bin, doch die Anhänger von Conrad dem Schwarzen haben mir nichts als Verachtung entgegengebracht. Es heißt, dass er Penitir in Mainni gefeiert hätte, als wäre er König, begleitet von Sabellas Tochter Tallia als seiner neuen Frau. In Avaria herrscht die Pest. Ich bin durch mehr als einen leeren Weiler geritten, und bei vielen anderen waren die Zugänge durch gefällte Bäume versperrt, während die Dorfbewohner mit Sensen und Schaufeln bewaffnet dastanden, um sich vor allem zu schützen, das ihnen die Seuche bringen könnte. Prinzessin Theophanu weigert sich, eine der Töchter von Herzogin Rotrudis zur Erbin des Königreichs Saony zu ernennen, aber beide haben damit gedroht, sich an Conrad zu wenden, um mit seiner Hilfe den herzoglichen Sitz zu erringen.« »Zwei Säue wälzen sich im Schlamm, und der Eber sieht zu!« »Ich bitte Euch, Wichman«, sagte Sanglant, »lasst den Adler den Bericht beenden, ohne ihn zu unterbrechen.« Hathui fuhr fort. »Verwandte kämpfen gegeneinander um Ländereien und frei gewordene Titel, weil es in den jüngsten Kriegen 98 so viele Tote gab. Während ich durch die Marklande geritten bin, habe ich Felder gesehen, die völlig vertrocknet waren. Die Kinder sind von Hungersnöten geschwächt, ihre Bäuche geschwollen und die Augen eingesunken wie bei Leichen. In Ostfall hat es zwei Monate ununterbrochen geregnet, und die Hälfte des eingefahrenen Roggens ist der schwarzen Fäule zum Opfer gefallen. Ketzer predigen von einem Phönix, der Erlösung gewährt. Es ist kein Wunder, dass die Leute zuhören. Das Volk fürchtet, dass das Ende der Welt bevorsteht.« Wichman lachte. »Gibt es denn auch irgendwelche Übel, von denen Wendar verschont geblieben ist?« Hathui ließ sich nicht so leicht einschüchtern. »Ich habe keine Berichte über Heuschrecken gehört, und es gab in diesen letzten zwei Jahren auch keine Nachrichten über Aikha-Plünderungen entlang der Nordküste.« »Ein echter Hitzkopf! Fahrt Ihr Eure Krallen auch im Bett so aus?« Ungeduldig wandte sich Hathui wieder an Prinz Sanglant. »Prinzessin Theophanu hat drei Adler nach Aosta geschickt, aber von König Henry noch keine Antwort auf ihre Bitte um Hilfe erhalten. Letzten Sommer bin ich einem vierten Adler begegnet, der nach Süden ritt, um den König aufzusuchen.« Ihre Lippen zogen sich kurz verärgert zusammen. »Ich habe mit meiner Adlersicht gesehen, dass sie in diesem Frühjahr wohlbehalten das Alfar-Gebirge überquert hat, aber als sie sich Darre näherte, verlor sie sich im Schleier der Zauberer ... Conrad von Wayland benimmt sich, als wäre er König und nicht Herzog. Yolanda von Varingia ist ganz mit den salianischen Kriegen beschäftigt. Bischöfin Constanze in Arconia schweigt. Liutgard von Fesse und Burchard von Avaria reiten mit Henry durch Aosta. Saony hat keinen Herzog. Theophanu kann mit den wenigen Soldaten,
die ihr zur Verfügung stehen, nichts unternehmen. Wer wird Wendar retten, Hoheit? Wer wird den König retten?« Sanglant sagte nichts. In der Schießscharte rührte sich Gnade; ihre Füße scharrten über den Stein. Sapientia weinte leise, während Brigida sie tröstete. Die anderen warteten. Anna blickte zum 99 Fenster und bemerkte, dass Thiemo und Matto sie ansahen. Ein Hitzeschauer brachte ihre Wangen zum Glühen, und sie senkte den Blick. Was würde geschehen, wenn sie sich prügelten? Würde Prinz Sanglant sie wegschicken, weil sie Unruhe gestiftet hatten? Sie wollte keinen von beiden verlieren, aber so konnte es nicht ewig weitergehen. Sie würde sich entscheiden müssen. Doch genau das wollte sie nicht. »Ihr habt das Heer und die Führung, Prinz Sanglant«, fuhr Hathui fort. »Kehrt nach Hause zurück.« »Das kann ich nicht.« »Ihr könnt es! Henry hat Wendar in einer Zeit der Heimsuchung verlassen. Wäre er in Wendar geblieben, wäre er nicht verhext worden. Er hätte in Wendar bleiben und nicht einer Krone wegen nach Aosta reisen sollen! Und das solltet auch Ihr nicht!« »Ich reite nicht wegen einer Krone nach Aosta.« Anna hörte, wie die Stimme des Prinzen jenen Ton annahm, der bedeutete, dass die Worte des Adlers ihn verärgert hatten; den Adler schien das aber nicht zu stören, oder sie kannte ihn nicht gut genug, um die Warnung zu verstehen und entsprechend zu handeln. »Aber Ihr reitet nach Osten, auf der Suche nach anderen Zeichen der Macht. Manche bezeichnen Euch als Rebellen, der gegen seinen Vater aufbegehrt. Ich sehe selbst, dass Ihr Eurer Schwester den Befehl über das Heer entrissen habt.« Schweigen breitete sich aus, tödlich und kalt. Aber stimmte es denn nicht ? Auch wenn niemand es aussprach ? Ein scharfes Knack ließ alle zusammenzucken, aber es war nur Wulfhere, der auf einen Zweig getreten war, den irgendjemand mit in den Raum geschleppt hatte. Edelmann Wichman kicherte; er blickte Sapientia an, um zu sehen, was sie, derart herausgefordert, tun würde. Edelfrau Bertha verschränkte die Arme vor der Brust und verzog die Lippen zu einem schmalen, bösartigen Lächeln. Sapientia starrte ihren älteren Bruder an und wartete. Auf seltsame Weise hatte Prinz Bayan ihr beigebracht, ihm zuzuhören und seine Zustimmung abzuwarten, ehe sie handelte, dachte Anna. Jetzt sah sie Sanglant auf die gleiche Weise an. Im Laufe der letzten drei Jahre hatte sie die Fähigkeit zu führen verloren. 100 »Ich habe getan, was ich tun musste.« Der raue Unterton seiner Stimme gab seinen Worten etwas Zwingendes und eine gewisse Leidenschaft, doch klang sie andererseits immer so. »Ich habe nie gegen meinen Vater rebelliert. Und ich werde es auch nicht tun. Aber der Krieg ist noch nicht gewonnen. Adelheid und ihre Gefolgsleute haben den König in eine Schachfigur verwandelt, die mit seiner Stimme spricht, aber ohne seinen Willen. Wer wird jetzt wie ein Herrscher handeln? Ich sage, derjenige, der ihn retten kann, indem er gegen Anne und ihre Zauberer vorgeht.« Heribert räusperte sich und erklärte zaghaft: »Wir sollten nicht vergessen, dass Anne auf dem Thron der Skopos sitzt. Sie ist keine gewöhnliche >Schwester »Du bist nicht die Erste, die das sagt.« Sie lachte erneut und strich mit der freien Hand über seine 104 Schulter. »Nein, natürlich nicht. Was wollte ich sagen?« Sie schien dadurch, dass sie seine Haut spürte, abgelenkt zu sein, und die Art, wie sie ihn streichelte, machte es auch ihm schwierig, ihren Worten zu folgen. »Ah, ja. Der Weiße Hengst. Meine Mutter hat als Mädchen drei Jahre bei den verschleierten Priesterinnen verbracht. Sie dienen der Blinden Mutter, einer der Göttinnen, denen jene huldigen, die den alten Bräuchen folgen. Meine Mutter wäre amüsiert bei der Vorstellung, dass ich zwar ihre Bräuche abgelegt habe, um mich dem Gott der Einigkeit zu widmen, aber schließlich einen Mann in mein Bett hole, der den Namen des Gefährten der Blinden Mutter trägt.« Inzwischen hatte er es sich neben ihr bequem gemacht und stützte sich auf einen Ellbogen. Doch im nächsten Moment schoss er hoch. »Heißt das, der weiße Hengst, der zur Wintersonnenwende geopfert wird, wird der Ehemann der Blinden Mutter sein? Das entspricht aber nicht dem Ritual, wie ich es vom Hörensagen kenne.« »Du hast gehört, was die Männer sagen. Das hier ist das, was die Frauen wissen. Unsere Großmütter haben die alten Bräuche aus dem Grasland mitgebracht, als wir vor vier Generationen nach Ungria gekommen sind. Draußen in der Wildnis nehmen sich die kerayitischen Schamaninnen noch immer einen gut aussehenden jungen Mann als Gefährten, um ihr Bett warm zu halten.« »Als Sklaven, wie Bruder Breschius gesagt hat. Als Pura, was in der Sprache der Kerayiten >Pferd< bedeutet.« Für einen Augenblick hatte Sanglant das unbehagliche Gefühl, dass Ilona die ganze Zeit über mit ihm gespielt hatte, als hätte sie all die vergangenen Monate so getan, als wäre er ihr Pura. Vielleicht war sie gar nicht so verrückt nach ihm, wie er es inzwischen nach ihr war. Aber es war unmöglich, es genau zu wissen, wenn sie so lachte wie jetzt, und vielleicht spielte es auch gar keine Rolle. »Der weiße Hengst, der Pura, ist auch eine Opfergabe, die dem Wohlergehen des Stammes dient. Sei vorsichtig, dass die kerayitischen Frauen dich nicht als Pura haben wollen, Sanglant, als Gegenleistung für ihre Hilfe bei dem Versuch, die westlichen Zauberer zu besiegen. Denn diese Hilfe wird einen Preis haben. Die Ke105 rayiten und ihre Herren gehen niemals einen Handel ein, aus dem sie nicht viel für sich selbst herausschlagen können.« 4 »Ich habe Angst, schlafen zu gehen.« Hathui drückte Zacharias' Hand, während sie zusammen auf dem Rand des Steintrogs im breiten Hof vor den Ställen saßen. »Wenn ich aufwache, bist du vielleicht nicht mehr hier.« »Ich werde hier sein.« Er hätte am liebsten geweint. Wie konnte er so glücklich darüber sein, dass er wieder mit seiner Schwester zusammen war, und gleichzeitig so erschreckt? »Ich werde nirgendwo hingehen.« »Es tut mir Leid, dass ich dich für tot gehalten habe«, erwiderte sie und verzog dabei die Lippen zu einem ironischen Lächeln. Der Mond war inzwischen aufgegangen, jagte ein paar versprengte Wolken, und weil er ihr Mienenspiel so gut kannte, konnte er es auch jetzt deuten, obwohl es nicht hell genug war, um sie deutlich sehen zu können. »Ich hatte wohl nicht sehr viel Vertrauen in dich.« »Nein, sag das nicht. Du konntest es ja nicht wissen.« Sie drückte seine Hand und starrte über den stillen Innenhof. Einen Speerwurf entfernt auf der Brustwehr gingen zwei Wachen auf und ab. Sie blieben bei einer Fackel stehen, die in einem Dreifuß über dem Tor befestigt war; das flackernde Licht spiegelte sich auf ihren Helmen. »Zacharias, kann ich ihm trauen ? Ist er würdig, dass ich ihm meine Loyalität schenke, bis der König wieder er selbst ist?« »Welche Wahl hast du sonst, außer nach Aosta zurückzukehren?« »Ich könnte zu Prinzessin Theophanu gehen. Hanna hat genau das von mir verlangt. Hätte ich es letzten Sommer getan, nach dem Treffen mit Hanna, könnten wir inzwischen schon mit einem Heer in Aosta sein.« 106 Er scharrte mit den Füßen über den Boden, verwischte die Linien, wo ein Bediensteter am Abend Dung und Abfall weggeharkt hatte. Der Geruch der Pferde lag schwer über ihnen. In der Nähe bellte ein Hund, dann schwieg er, als er von einem Mann gescholten wurde. Plötzlich sah Zacharias den Hund, einen dunklen Schatten, der sich neben einer Wache auf der Brustwehr entlangbewegte, die Leine festgezurrt. Das Tier wurde beinahe erwürgt. Er rieb sich den Nacken, als das hässliche Geflüster in seinen Kopf drang. Sie würde ihn hassen, wenn sie die Wahrheit herausfand. Sie würde ihn verachten, was noch schlimmer wäre. Es reichte schon, ein Feigling zu sein, aber er würde es nicht ertragen, wenn sie sich voller Verachtung von ihm abwandte. »Aber wer sonst?«, fragte sie, ohne sein Schweigen, seinen Kampf, seine Qual zu bemerken. »Wer sonst könnte Henry retten? Wer kann gegen Hugh von Austra vorgehen, und auch gegen die Heilige Mutter Anne? Prinzessin Sapientia ist wie ein Schoßhündchen, das essen und bellen darf, aber ansonsten an der Leine gehalten wird. Sie kann dieses Heer nicht anführen. Doch was kann Prinzessin Theophanu gegen die Magie von Hugh von Austra unternehmen? Sie ist schon einmal seinem Bann verfallen. Es könnte wieder geschehen.« Er musste nicht antworten. Es genügte, dass er einfach nur zuhörte, während sie sich durch ihr eigenes Für und Wider arbeitete. Sie fragte ihn nicht wirklich um Rat; sie versuchte, sich selbst zu überzeugen, weil sie
verzweifelt war. »Schwester Rosvita hat mir aufgetragen, hierher zu gehen. Sie muss gewusst haben, dass der Prinz es wert ist. Sie muss einen Grund gehabt haben. Sie hat dem König treu und weise gedient. Worauf sonst kann ich mich stützen?« »Du solltest besser etwas schlafen. Morgen früh wird sich dein Weg deutlicher abzeichnen.« Oben auf der Brustwehr knurrte der Wachhund. Jemand kam mit einer Kerze von den Ställen herbei; das Licht ließ Schatten um sie herumtanzen. Ohne dass er sich umdrehen musste, wusste er, wer gekommen war, um nach ihr zu sehen. »Hathui? Du solltest besser schlafen gehen.« Wulfhere klang 107 besorgt, sogar mitfühlend. All die entwürdigenden Jahre, in denen Zacharias als Sklave bei den Qumanern gelebt hatte, war Wulfhere ihr Mentor bei den Adlern gewesen und hatte sie ausgebildet. Sie achtete Wulfhere; das hatte sie selbst gesagt, als sie in den Unterkünften der Soldaten gegessen hatten, nachdem der Prinz sie entlassen hatte. Sie würde ihren eigenen, teuren Bruder niemals achten, wenn sie erst einmal die Wahrheit erfuhr. Sie ließ Zacharias' Hand los. »Das ist wohl wahr, alter Mann. Viele Male habe ich in den vergangenen Monaten daran gezweifelt, Prinz Sanglant zu finden. Doch jetzt, da ich hier bin, kommt mir mein Weg genauso verworren vor wie zuvor. Wo wird er enden? Hast du eine Antwort?« »Du sagst, dass Schwester Rosvita dich zu unserem Prinzen geschickt hat«, antwortete der alte Adler. »Sie ist eine kluge Frau und eine treue Beraterin von König Henry. Bleib bei uns, Hathui. Das ist die einzige Möglichkeit, Henry zu retten.« Sie gab ein Schnauben von sich, das ein halbes Lachen war, und erhob sich mit schmerzverzerrter Miene. »Und das sagt ein Mann, den König Henry einst verbannt hat? Du hast ihn nie gemocht.« »Das stimmt nicht. Ich habe nie etwas gegen ihn gehabt. Es war Henry, der mir nicht getraut hat.« »Wie weise«, murmelte Zacharias, aber niemand hörte ihn. Hathui hatte sich schon ein Stück entfernt, dann hielt sie inne, als sie begriff, dass er ihr nicht folgte. »Wo schläfst du, Zachri?«, fragte sie; sie benutzte den Spitznamen, den sie ihm gegeben hatte, als sie noch zu klein gewesen war, um seinen vollen Namen aussprechen zu können. »Woanders«, sagte er leise und hoffte, dass Wulfhere es nicht mitbekam. Es schmerzte ihn, zu hören, wie sie liebevoll diesen alten Namen benutzte. Er war nicht mehr ihr geliebter älterer Bruder, dem sie überallhin folgte. Er war nicht besser als die Hunde, schlief überall dort, wo er ein Eckchen fand, in das er sich verkriechen konnte. Niemand duldete ihn lange genug, dass er irgendwo eine Pritsche hätte aufstellen können - aber vielleicht war es richtiger zu sagen, dass Anna ihn nicht ausstehen konnte, er selbst es 108 nicht ertragen konnte, in der Nähe von Wulfhere zu schlafen, und er die Kameradschaft der Soldaten nach ein paar Nächten unerträglich fand. Er konnte nur am Rand existieren, niemals im Zentrum, niemals im Herzen. Sie kam zurück und umarmte ihn. »Da, wo man mir etwas Stroh ausgelegt hat, ist Platz genug -« »Nein, nein«, wehrte er hastig ab. Tränen brannten in seinen Augen. »Geh schlafen, Hathui. Wir sehen uns morgen früh.« Sie blieb noch ein paar Atemzüge lang stehen, starrte ihn im dunstigen Lichtschein von Wulfheres Kerze an. Sie versuchte, sein Zögern zu verstehen, denn sie kannte ihn gut genug, um zu begreifen, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Aber sie konnte noch nicht erkennen, was aus ihm geworden war. Sie sah noch immer den älteren Bruder, der stolz nach Osten aufgebrochen war, um den Barbaren das Licht der Einigkeiten zu bringen. Wie sollte sie wissen, dass er sich im dunklen Kern des Schattens verloren hatte ? Dass er seine Ehre befleckt, sich den schlimmsten Entwürdigungen hingegeben hatte? Dass er jenen die Füße geleckt hatte, denen er gehörte, nur um am Leben zu bleiben? Erst als sie ihm gedroht hatten, ihm die Zunge herauszuschneiden, war er geflohen. Hätte er nicht seine Zunge opfern sollen, sogar sein Leben, ehe er seinen Glauben und seine Ehre opferte? »Du siehst müde aus, Zacharias«, sagte sie schließlich, beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Du solltest dich auch hinlegen. Ich werde morgen bei Tagesanbruch nach dir suchen und mich vergewissern, dass du kein Traum bist.« Sie ging mit Wulfhere in die Ställe. Das Licht verschwand. So klein der Kerzenschimmer auch gewesen war, hatte er doch ein grelles Licht in seine Seele geworfen. Wenn sie die Wahrheit erfuhr, würde sie ihn hassen. Und sie würde die Wahrheit irgendwann herausfinden, denn die eine Person, die alles wusste, reiste noch immer mit Sanglants Heer und hatte nichts Besseres zur Verfügung, um sich zu amüsieren. Er würde es wissen. Er würde Zacharias' Schwäche sehen, seine Ängste, seine Hoffnungen. Er würde Zacharias' letzte Möglichkeit der Erlösung zunichte machen, solange er lebte. 109 Zacharias erhob sich und taumelte wie ein alter Mann zur Tür der Stallungen. Es war dunkel im Innern: Wulfheres Kerze war von der Schwärze vollkommen verschluckt worden, obwohl noch Stimmen zu hören waren, die allmählich verklangen. Die Hälfte der Ställe war leer; um diese Jahreszeit und in einer solch friedlichen Stadt befanden sich viele Pferde draußen auf der Weide jenseits der inneren Mauer. Aber Soldaten bewahrten hier auch andere Dinge auf. Er tastete langsam und so leise wie möglich umher, fand in einem der Ställe ein paar Speere. Er schloss seine
Finger um einen von ihnen und kroch davon. Mit zitternden Händen und ruckartigen Atemzügen hielt er sich in den Schatten, stützte sich dabei auf den Speer, wann immer seine Knie nachzugeben drohten. Der Schaft schien sich seinen Händen wieder und wieder entwinden zu wollen, aber er hielt ihn krampfhaft fest. Er würde Hathui nicht verlieren, nicht, nachdem er schon alles andere verloren hatte. Neben der großen Halle lag der alte Bergfried, der nach Aussage der Ortsansässigen zur Zeit der alten Dariyaner errichtet worden war. Heribert hatte allerdings standhaft behauptet, dass er unmöglich von den Dariyanern erschaffen worden sein konnte: Die Art der Ausführung war zu unbeholfen. Da jetzt die neue Halle und neue Stallungen innerhalb der wiederhergestellten Mauer errichtet worden waren, hatte man den alten Bergfried als zu zugig und zu feucht für den König und seinen Hof erachtet. Aber Stein eignete sich hervorragend für einen Kerker. Die zwei ungrianischen Soldaten, die am Eingang Wache hielten, kannten ihn vom Sehen und ließen ihn durch. Oben, die gewundene Treppe hinauf, befanden sich die Turmzimmer, in denen König Geza diejenigen Gefangenen unterbrachte, die ihn ständig begleiteten - seine erste Frau, eine unbußfertige Heidin, von der er sich beim Übertritt zum daisanitischen Glauben hatte scheiden lassen und die er als Geisel halten musste, damit ihre verärgerten Verwandten ihn dieser Beleidigung wegen nicht umbrachten; einen arethusanischen Priester, der einen jungen ungrianischen Fürsten vergiftet hatte, den Geza aber nicht hinzurichten wagte, 110 weil der Priester Verbindungen zum arethusanischen Königshof besaß; einen Albinojungen, der entweder ein Hexer oder ein Heiliger war, auf jeden Fall aber viel zu verrückt, als dass er ihn auf eigene Faust hätte herumstreichen lassen können, und zu wertvoll, um ihn in die Obhut von jemand anderem zu geben. Noch andere schliefen eingesperrt in bestimmten Zimmern, aber sie waren nicht die wirklich Gefährlichen, sondern nur Geiseln. Die Gefährlichen wurden gewöhnlich sofort getötet. So wie er hätte getötet werden sollen, an dem Tag, da man ihn gefangen genommen hatte. Zacharias benutzte den Speer, um sich den Weg die Treppe hinunter zum unteren Stockwerk zu ertasten. Hier unten war es kühler und feucht, es roch nach Moder und Verfall. »Wer ist da?«, fragte die Wache auf Wendisch. Der Mann erhob sich von dem Stuhl, auf dem er des Nachts in dem feuchten, dunklen Kerker saß. Eine Öllampe hing an einem Ring, der in die Wand eingelassen war. Das Licht beleuchtete mit Mühe das Loch in den Dielen am Boden und die Leiter, die daneben lag. »Oh, Ihr seid es, Bruder. Was führt Euch so spät noch hierher?« Würden das Zittern seiner Hände und der Schweiß auf seiner Stirn ihn verraten? Er durfte jetzt nicht aufgeben. Bisher hatte ihn seine Schlagfertigkeit noch immer gerettet. »Der Prinz hat mich geschickt, den Gefangenen zu befragen.« »Mitten in der Nacht?« Er legte einen Finger an die Lippen und winkte den Soldaten näher zu sich heran, sodass sie den Gefangenen nicht aufweckten. »Malbert, wann hat Eure Wache angefangen? Habt Ihr gehört, dass ein Adler angekommen ist?« »Ein Adler? Nein, davon habe ich nichts gehört. Von Prinzessin Theophanu? Gibt es Neuigkeiten aus Wendar?« Malbert stammte von der nördlichen Küste von Wendar, aus der Nähe von Gent, und war immer begierig auf Neuigkeiten aus dem Gebiet, in dem er aufgewachsen war. »Nein, sie bringt Neuigkeiten aus Aosta. König Henry ist krank. Er ist durch Zauberei vergiftet worden.« »Mögen Gott ihn retten!« 111 »Prinz Sanglant weiß nicht, ob er nach Osten reiten oder nach Aosta zurückkehren soll. Ich soll den Gefangenen erneut über die Gebiete im Osten befragen. Herausfinden, ob er redet und uns irgendwelche Auskünfte gibt.« Malbert schnaubte. »Als wenn er das tun würde. Er wird Euch auslachen!« Aber nicht lange. »Wenn er noch schlaftrunken ist, wird er vielleicht etwas verraten. Wie viele Tage es noch bis zu den Sümpfen im Osten sind. Wo die Greifen jagen.« »Warum ist der Prinz nicht selbst gekommen, um ihn zu verhören? Wo ist er?« »Es geht ihm gut. Sehr gut. Er ist da, wo die meisten Männer mitten in der Nacht gerne wären. Er hat sich zu Bett begeben.« Malbert grinste. »Ich wünschte, ich wäre jetzt auch in einem so köstlichen Bett wie er. Aber ich kann nicht mit Euch runtergehen. Ihr kennt die Regeln.« »Es ist besser, wenn er glaubt, dass ich allein bin. Ich habe diesen Speer, um ihn in Schach zu halten.« Er biss sich auf die Zunge, um die wahnsinnigen Worte zurückzuhalten, die nach draußen drängten: um ihn zum Schweigen zu bringen. Das war die einzige Möglichkeit. Hathui durfte es niemals erfahren. Malbert hatte ein offenes Gesicht und war zu aufrichtig, um seine Zweifel nicht zu zeigen. Alle wussten, wie schmachvoll Zacharias sich zuvor in einem Gefecht verhalten hatte. »Das sagt Ihr. Ich werde hier oben Wache halten.« Sie ließen die Leiter durch das Loch nach unten, bis sie auf dem Boden zu stehen kam. Malbert hielt die Lampe über die Öffnung, sodass Zacharias beim Absteigen Licht hatte. Mit dem Speer unter dem Arm kletterte er hinab.
Obwohl der Prinz die Grube an dem Tag, an dem sie hier eingetroffen waren, gründlich hatte reinigen lassen, stank sie noch immer nach Abfall, Urin und Kot. Malbert ließ eine zweite, frisch entfachte Öllampe herunter und befestigte sie an einem Haken in 112 der Unterseite der Dielen. Wassertropfen hingen an der Steinwand, tröpfelten auf den Boden. Der Gestank der abgestandenen Luft raubte Zacharias schier den Atem, aber der Hass trieb ihn weiter. Der Gefangene lag still und noch immer schlafend auf einem Haufen Stroh. Ketten lagen um seinen Körper, waren an der Wand befestigt. Ohne Ketten war er zu gefährlich, wie der Prinz herausgefunden hatte. Zwei Bedienstete waren gestorben, und drei Soldaten waren bei dem ersten und einzigen Fluchtversuch verletzt worden, den er einen Monat nach der Schlacht an der Veser unternommen hatte. Doch selbst die schweren Ketten vermochten ihn nicht zu schwächen. Sie konnten ihn kaum festhalten. Tu es jetzt, während das Fieber rast. Tu es für Hathui, damit sie es nie erfährt. Damit sie ihrem Bruder nie ins Gesicht spuckt. Schweiß tropfte ihm in die Augen und kitzelte ihn im Nacken. Erregt und mit pochendem Herzen, als wäre er gerannt, stolperte er vorwärts. Siegestaumel überschwemmte ihn, während seine Hände sich fest um den Speerschaft klammerten; die Spitze schoss auf den Rücken des Mannes zu, der im Stroh lag. Er hätte es schon vor langer Zeit tun sollen. Die dunkle Gestalt wand sich geschmeidig wie eine Schlange herum, und der mit einer Handschelle versehene Unterarm schlug den Speer beiseite. Die Spitze bohrte sich durch das Stroh in den Boden. Blitzschnell packte der Mann den Schaft mit der rechten Hand und wickelte mit der linken die Kette um die Spitze. Derart durch den hölzernen Schaft verbunden, starrten die beiden Männer sich an. Ein zittriges Lächeln spielte um Bulkezus Lippen, als er auf die Füße sprang und sich nur durch die begrenzte Länge der Ketten aufhalten ließ. Die Wunde, die ihm die halbe Wange aufgerissen hatte, war bemerkenswert gut verheilt, doch die zackige Narbe verunstaltete sein schönes Gesicht. Niemand konnte ihn jetzt noch ansehen und sich fragen, wieso ein so schöner Mann ein solches Ungeheuer sein konnte. Nie hatte es der Wahrheit entsprochen, dass Gott die Welt so geschaffen hatten, dass jene Dinge, denen Sie Schönheit verliehen und sie dadurch mit liebevoller Zuneigung überhäuften, nur 113 wegen ihres schönen Aussehens auch gut sein mussten. Manchmal traf man das Böse auch in der Verkleidung des Schönen. Man musste vorsichtig sein. »So kommt also der Wurm mit einem langen Messer, um dem Löwen einen Stoß zu versetzen.« Bulkezu stieß zu. Zacharias wurde nach hinten geschleudert, prallte zuerst mit dem Rücken, dann mit dem Kopf gegen die andere Wand. Sein Schrei brach abrupt ab, als das Speerende, das er noch immer umklammert hielt, mit aller Wucht in seinen Bauch gerammt wurde und ihn so an der Wand festnagelte. »Unfähiger, saftloser Wurm«, sagte Bulkezu gefährlich leise. Jetzt, da er das eine Speerende in der Hand hielt, konnte er jeden Winkel der Zelle erreichen. »Aber Würmer sind keine Menschen, sondern nur Würmer. Sie können nicht einmal bellen wie Hunde oder andere Hunde bespringen, nicht wahr?« Wie er diese Stimme hasste, dieses melodiöse Lachen, in dem Vergnügen und jener scharfsinnige Wahnsinn mitschwangen, der Bulkezu zum größten Stammesführer seiner Zeit gemacht und es ihm ermöglicht hatte, viele qumanische Stämme zu einem Heer zu vereinen, um Wendar zu überfallen. Alles, was er tun konnte, war, den Speer noch fester zu umklammern. Wenn er losließ, war alles vorbei. Bulkezu änderte seinen Griff, ging in die Knie und benutzte seine Oberschenkel als Hebel, schleuderte Zacharias vom Boden hoch und erneut gegen die Wand. Wieder presste der Qumaner ihn gegen den harten Stein, und Zacharias schrie vor Wut und Schmerz auf. Malberts Gesicht tauchte oben auf, wie ein Engel, der vom Schimmer des Lampenlichts eingerahmt wurde. Er rief irgendwelche unverständlichen Worte herunter, während Bulkezu weiterhin Zacharias gegen die Mauer schleuderte und der sich weiterhin festhielt. Erklangen da oben auf dem Dielenboden Schritte ? Wieder und wieder schmetterte Bulkezu ihn gegen die Wand, und vor Zacharias' Augen flackerten Funken, und seine Ohren summten. Ein Stein fiel von oben herunter, dann ein zweiter, aber der Winkel 114 stimmte nicht, die Falltür lag zu weit an der Seite. Die Wachen konnten Bulkezu nicht treffen, der Zacharias immer wieder gegen die Wand hämmerte. Doch mischten sich da nicht Wut und Enttäuschung in das Lachen des Ungeheuers ? Wenn er es nur noch einen Augenblick aushalten konnte. Er war den Qumanern vor allem deshalb entkommen, weil er einfach ausgeharrt hatte, weil er nicht aufgegeben hatte. Das durfte er nicht vergessen. Eine neue Stimme erklang von oben. »Zacharias!« Entsetzen packte ihn, und seine Kehle brannte, als Galle in ihm aufstieg. Hathui würde alles mit ansehen. Wieder stieß Bulkezu zu, und erneut krachte Zacharias gegen die Mauer, doch als sein Kopf diesmal gegen den
Stein prallte, wurde es dunkel um ihn. Der Speerschaft glitt ihm aus den Fingern. Seine Beine hielten ihn nicht länger aufrecht. Er stürzte vornüber, kam auf dem Boden auf, und als ihm die Sinne endgültig schwanden, machte er sich auf den Todesstoß gefasst. 5 Er konnte nicht schlafen. Schon wieder nicht. Nicht einmal das weiche Bett und die Frau, die leise neben ihm atmete und deren volle Brüste er an seinem Arm spürte, konnten in dieser Nacht seine wüsten Gedanken besänftigen. So leise wie möglich glitt er aus dem Bett, streifte sich die Tunika über und griff nach den Beinkleidern, dem Gürtel und den Hofschuhen, die in einem Haufen auf einer Bank lagen. Ilona wachte nicht auf. Das tat sie nie, wenn er unruhig war - anders als Liath, die seine Stimmungen gespürt hatte -, oder aber sie tat nur so, als würde sie noch schlafen, weil sie von ihm bekommen hatte, was sie wollte, und nicht bereit war, ihm mehr zu geben als ihren Körper. Sie war Ungria gegenüber loyal, nicht ihm. Sie war loyal gegen115 über ihren Besitzungen und ihren jungen Kindern, die ihren Anteil erben würden, wenn die Zeit gekommen war. Es gab keinen Grund, weshalb sie ihm ihr Herz schenken sollte, ihr Vertrauen, irgendeine Vertraulichkeit, die über die hinausging, die sie im Bett miteinander teilten. Zwei einsame Menschen, die gemeinsam Erleichterung fanden. Aus irgendeinem Grund störte es ihn, dass sie, sosehr sie seine Gegenwart auch genoss, keine echte Liebe für ihn zu empfinden schien, ihm nicht einmal irgendwelche besonderen kameradschaftlichen Gefühle entgegenbrachte. Eine der Zofen erwachte und öffnete die Tür für ihn, sah ihn dabei jedoch nur kurz an und zeigte mit einem respektvollen Kopfnicken, dass sie seinen fürstlichen Rang anerkannte. Auf ähnliche Weise würde sie auch einen an der Tür scharrenden Hund nach draußen lassen. Er ging barfuss den Korridor entlang, tastete sich die Treppe hinunter zum Eingang der großen Halle. Das Festmahl war beendet. Männer schnarchten in der Halle, wo es nach Alkohol und Urin roch. Ein Hund knurrte, und er knurrte zurück und brachte ihn zum Schweigen. Die ganze Welt schien zu schlafen, schien in der Lage zu sein, sich auszuruhen - was er nicht konnte. Doch das war nicht alles, was ihm Sorgen bereitete. Irgendetwas stimmte nicht; er konnte es riechen. Seine Nackenhaare kribbelten, und er trat hinaus in die frische Luft, atmete tief ein und lauschte. Sein Gehör war schon immer so gut gewesen wie das eines Hundes. Laute Rufe und Bewegung wühlten die Nacht auf, gleich beim alten Bergfried, wo die Gefangenen untergebracht waren. Er rannte, kam zur gleichen Zeit wie Wulfhere bei der Tür an. »Gibt es Ärger?«, fragte er. Von drinnen erklangen die unverständlichen Worte einer Wache, und er hörte die Stimme des Adlers Hathui, laut und voller Angst. Immer drei Stufen auf einmal nehmend, landete er neben ein paar Wachen, die alle wild durcheinander riefen; einer der Männer kniete auf dem Boden und warf Steine durch die offene Falltür nach unten. 116 »Dieser verdammte Narr«, fluchte einer, während Hathui versuchte, an ihm vorbei zur Leiter zu gelangen. »Dieser verdammte Narr hat einen Speer mit runtergenommen. Jetzt hat ihn der Gefangene.« »Ich brauche ein Schwert«, sagte Sanglant. Malbert reichte ihm eines. Sanglant nahm es und sprang durch die Falltür, rutschte mehr die Leiter hinunter, als dass er die Sprossen benutzte. Seine Augen hatten sich bereits an das schwache Licht gewöhnt, obwohl eine Öllampe rechts von ihm quietschend hin und her schwankte. Bewegung flackerte vor ihm auf. Er sprang von der Leiter und wirbelte herum, das Schwert hoch erhoben. Er schlug den Speer entzwei, mit dem Bulkezu gerade nach der Gestalt stieß, die ausgestreckt vor der Mauer lag. Der qumanische Stammesführer hob die Hälfte hoch, die ihm noch geblieben war, und schleuderte sie Sanglant entgegen. Mit einem Hieb seines Schwertes wehrte der Prinz das Speerstück im Flug ab. Bulkezu erreichte das Ende seiner Ketten und wurde zurückgerissen. Er zitterte, ob vor Lachen oder vor Wut, war unmöglich zu sagen. War er wahnsinnig, oder tat er nur so? Wie konnte jemand so lange angekettet und eingesperrt sein wie Bulkezu, ohne dem Wahnsinn anheim zu fallen? Das scheußliche Lachen hallte von den Steinen wider. »Ich bin sauberer, als Ihr es seid, Prinz, denn ich habe mich von den Würmern befreit, die in mein Zelt kriechen.« »Der hier lebt noch.« »Oh, Gott, Zacharias.« Hathui kletterte die Leiter herunter, ohne dass sie jemand aufgefordert hätte, und kniete sich neben ihren Bruder, der sich stöhnend bemühte aufzustehen. »Nein, bleib liegen. Du bist jetzt in Sicherheit.« »Hat der Wurm etwa eine Geliebte?«, flüsterte Bulkezu. Im weichen Glühen der Lampe konnte Sanglant sehen, dass die Lippen des Stammesführers noch immer zu einem irren Lächeln verzerrt waren. Hathui blickte auf, jetzt, da der Gegner ihres Bruders keine Waffe mehr besaß, eher neugierig als ängstlich.
»Wer ist das, Ho117 heit?« Dann änderte sich ihre Miene so grundlegend, dass Sanglant verblüfft zur Seite trat, als wäre ihr Blick ein Pfeil, dem er ausweichen musste. »Ich weiß, wer du bist!«, rief sie, während Zacharias benommen aufstand, die eine Hand am Hinterkopf. Bulkezus Lachen verschwand. Er kniff die Augen zusammen und starrte den Adler an, verärgert und verwirrt. Er war immer dann besonders gefährlich, wenn er aufgebracht war. »Hathui.« Zacharias stolperte zwischen seine Schwester und den angeketteten Gefangenen. »Er ist gefährlich.« »Das weiß ich.« Sie trat an ihm vorbei und stellte sich vor Sanglant. »Hoheit, ich verlange Vergeltung. Seine Majestät König Arnulf der Jüngere hat seine Untertanen nach Osten geschickt, damit sie dort heidnisches Gebiet besiedeln. Als Gegenleistung dafür hat er ihnen versprochen, dass sie nur dem König selbst Untertan sind, keinem anderen Herrn und keiner anderen Herrin. Das Gesetz des Königs kennt eine Strafe für bestimmte Verbrechen, nicht wahr?« »Das stimmt«, sagte Sanglant mit Blick auf Bulkezu. Der Gefangene wusste ganz offensichtlich ebenso wenig wie er, wovon sie sprach. »Dieser Mann hat mich vergewaltigt, als ich vierzehn Jahre und noch Jungfrau war. Er hat mich so verletzt, dass die weise Frau meines Dorfes sagte, ich würde niemals Kinder bekommen können. Deshalb habe ich meinen Blick auf die Adler des Königs gerichtet. Ansonsten wäre ich in meinem Dorf geblieben, hätte das Land meiner Mutter geerbt und selbst Töchter großgezogen, die wiederum mich beerbt hätten. Habe ich nicht einen Anspruch auf Vergeltung, Hoheit?« »Er hat dich vergewaltigt, Hathui?«, krächzte Zacharias. Er blickte sich hastig um, griff nach dem zerbrochenen Schaft und riss ihn hoch. »Halt.« Sanglant riss ihm den Speer aus der Hand und schleuderte ihn gegen die Leiter. »Tut nichts Voreiliges, Bruder. Ist das wahr, Prinz Bulkezu?« Bulkezu lachte erneut. »Sie sehen alle gleich aus. Ich erinnere mich nicht. Es muss Jahre zurückliegen. Aber ich erinnere mich 118 noch gut daran, was ich diesem Wurm angetan habe. Weiß sie, deine Geliebte, dass du keinen Schwanz hast, Zacharias? Dass wir ihn abgeschnitten haben, weil du uns gesagt hast, dass du lieber deinen Schwanz als deine Zunge verlieren würdest ? Weiß sie, dass du dich von Männern als Frau hast benutzen lassen, nur um am Leben zu bleiben? Weiß sie, dass du zugesehen hast, wie andere gestorben sind, weil du selbst leben wolltest? Dass du es warst, der mir die wendische Sprache beigebracht hat, damit ich meine Feinde verstehen kann, ohne dass sie es bemerken?« Zacharias schrie vor Zorn auf und machte einen Satz auf Bulkezu zu. Sanglant wirbelte herum und wollte ihn festhalten, aber Hathui hatte ihn bereits gepackt. Sie war fast so groß wie ihr älterer Bruder und besaß die Kraft einer Frau, die schon viele Jahre damit verbrachte, im Auftrag des Königs zu reiten. »Halt, Bruder, tu nichts Voreiliges«, sagte sie und wiederholte damit fast die Worte von Sanglant. »Was bedeutet es schon, was dieser Gefangene über dich sagt?« Wider Willen wich Sanglant einen halben Schritt von dem zerlumpten Frater zurück; er war von den Vorwürfen Bulkezus angeekelt und fand den Gedanken an eine derartige Verstümmelung abstoßend. Welcher Mann würde zusehen, wie seine eigenen Leute starben, und nicht alles tun, um es zu verhindern? Welcher Mann würde sich jedweder Entwürdigung hingeben, nur um sein eigenes Leben zu retten? Und, um Gottes willen, welcher Mann würde wohl eher auf sein Gemächt als auf seine Zunge verzichten? »Welche Antwort habt Ihr auf diese Anschuldigungen?«, fragte er und bemühte sich, die Verachtung aus seiner Stimme herauszuhalten. Es war bemerkenswert einfach, zu glauben, dass Zacharias all diese abscheulichen Dinge getan hatte. Der Frater verhielt sich nie wie ein richtiger Mann. Was immer ihn antrieb - und es fehlte ihm nicht an Courage -, er brach so oft zusammen, wich zurück, versteckte sich. Und er war auch niemals wirklich ein Mitglied von Sanglants Gefolge geworden. Er kauerte am Rand, nicht ganz akzeptiert, niemals in der Lage, sich einen Ruck zu geben und sich mit den anderen zusammenzutun. Zur Überraschung des Prinzen brach der Frater in Tränen der 119 Verzweiflung aus. »Es ist alles wahr«, keuchte er. »Und noch schlimmer.« Seine Miene war so trostlos, dass Mitleid in Sanglant aufstieg. »Es tut mir Leid, Hathui. Verachte mich, wenn du musst -« »Du willst dich entschuldigen, dass du sieben Jahre ein Sklave dieses Ungeheuers warst?« Sie ließ Zacharias' Arm los, machte drei Schritte auf Bulkezu zu und spuckte ihm ins Gesicht. Der qumanische Stammesführer zuckte vor ihrer Wut zurück, mehr überrascht als erschreckt. »Ich werde meinen Fall vor den Prinzen bringen und volle Wiedergutmachung verlangen. Und auch für die Verbrechen, die er gegen meinen Bruder verübt hat.« Sie wartete seine Erwiderung nicht ab. »Komm, Zacharias. Es war dumm von dir, hierher zu gehen, aber ich nehme an, du hattest Angst, ich würde mich von dir abwenden, wenn ich die Wahrheit erfahre.« Ihre Wut hatte sich noch nicht gelegt; sie ergoss sich jetzt auch über ihren unglückseligen Bruder. »Ich würde mich niemals von dir abwenden. Was ein Mensch mit sich machen lässt, wenn er als Gefangener und Sklave gehalten wird, kann man ihm nicht vorwerfen. Komm jetzt, lass uns diese stinkende Grube verlassen.«
Zacharias krächzte ihren Namen, und seine Stimme klang brüchig und armselig, aber er folgte ihr gehorsam die Leiter hoch. Malberts Gesicht tauchte oben auf. »Prinz Sanglant?« »Ich komme«, sagte Sanglant, drehte sich um und hob die zwei Speerhälften auf. Bulkezu war noch nicht fertig. »Sie hat das Abzeichen eines Adlers getragen. Sind die Adler des Königs auch seine Huren?« »Ein schwacher Hieb, Prinz Bulkezu, und Euer unwürdig.« Er setzte den Fuß auf die unterste Sprosse, streckte sich und reichte Malbert den zerbrochenen Speer und dann auch das Schwert. Bulkezus Lippen bebten; inzwischen hatte Sanglant gelernt, dieses ganz bestimmte Zucken als Vorspiel zu seinen schlimmsten Wutausbrüchen zu deuten. »Was für Waffen gebt Ihr mir?«, fragte Bulkezu mit einer Stimme, die so weich wie Federn klang, aber bis ins Mark vergiftet war. »Ich werde Euch einen Speer geben, wenn Ihr mich zu den Jagd120 gründen der Greifen geführt habt - genau so, wie ich es versprochen habe. An dem Tag werde ich Euch freilassen -« »Und bis zu diesem Tag? Ihr solltet mich lieber töten, wenn Ihr so viel Angst vor mir habt, dass Ihr mich in Ketten legt wie ein Hund einen Löwen. Zach'rias ist zumindest ein ehrlicher Wurm. Ihr bezeichnet Euch als Menschen, aber Ihr handelt wie ein Hund, schleicht herum und duckt Euch.« Sanglant lachte. Die Unruhe, die ihn aus Ilonas Bett getrieben hatte, kehrte jetzt doppelt so stark zu ihm zurück. Zwei Jahre lang mühten sie sich nun schon langsam und voller Umwege nach Osten, aufgehalten von Stürmen, Schneefällen, Hochwasser, Regen und allen möglichen Krankheiten unter den Soldaten und den Pferden. Er hatte noch nie zuvor so viel Regen und Schnee gesehen wie in den anderthalb Jahren seit der Schlacht an der Veser. Der Regen hatte das Land ertränkt, hatte Überschwemmungen verursacht und das Korn schimmeln lassen, und der Schnee hatte es zwei Winter lang begraben, als würden Gott sie für ihre Sünden bestrafen. Aber nicht all ihre Probleme ließen sich allein mit Gottes Hand erklären. Sie waren auch aufgehalten worden, weil sie nett zu König Geza sein mussten, dessen Ländereien sie durchquerten. Sanglant mochte Geza nicht annähernd so sehr, wie er Bayan gemocht hatte, und Sapientias Anwesenheit war eine schwärende Wunde, ein beständiger Quell der Verärgerung. Vielleicht war es aber auch einfach nur zu lange her, seit er einen richtigen Kampf gehabt hatte. »Malbert!« »Ja, mein Prinz?« »Werft den Schlüssel runter und zieht die Leiter hoch.« »Mein Prinz!« »Den Schlüssel!« Leise fluchend zog Malbert die Leiter durch die Falltür hoch und warf den Schlüssel herunter, den Sanglant mit der linken Hand auffing. Bulkezu rührte sich nicht, als Sanglant die Handschellen aufschloss und den Schlüssel gegen die Wand warf. Dennoch schlug er zuerst zu, noch immer schnell nach all den Monaten, die er angekettet war. Sanglant duckte sich unter dem Hieb weg. Er 121 packte seinen Feind an Handgelenk und Arm und stieß ihn mit dem Kopf voran gegen die Steinmauer. Taumelnd sackte Bulkezu auf die Knie, griff nach Sanglants Beinen. Sie gingen gemeinsam zu Boden, rollten umher und schlugen aufeinander ein, bis Bulkezu für einen kurzen Augenblick auf Sanglants Brust saß. Bulkezus Hände schlössen sich um Sanglants Hals, doch der Prinz wand sich aus dem Würgegriff, stieß den Qumaner herunter und sprang wieder auf die Beine, lachte atemlos, erregt und mit pochendem Herzen, fast schon voller Befriedigung, während er Bulkezu gestattete, sich in grimmigem Schweigen wieder aufzurappeln. Die Lampe oben zitterte, als sich weitere Männer um die Falltür versammelten und herabstarrten. Er hörte ihr Flüstern, während sie Wetten abschlössen, wie viele Schläge ihr Prinz wohl benötigen würde, um den Gefangenen zu besiegen. Schlagartig war er der Scharade überdrüssig. Was für ein Wettstreit war es, gegen einen Mann zu kämpfen, der seit beinahe zwei Jahren angekettet war? Bulkezu war noch immer erstaunlich kräftig, doch was für ein Mann war er, dass er einen anderen ebenso quälte, wie Blutherz einst ihn gequält hatte ? Bulkezu schlug nach seinem Gesicht. Sanglant wehrte den Schlag ab und versetzte dem Qumaner einen Hieb in die Magengrube, stieß ihn zurück, setzte nach und drehte sich zur Seite, als Bulkezu austrat, sodass der Fußtritt von seinem Oberschenkel abprallte. Als er ganz nah an ihn herantrat, versuchte Bulkezu, nach seiner Kehle zu greifen, doch Sanglant packte seine Handgelenke, und einen Moment lang standen beide völlig starr und reglos da, beinahe wie gelähmt. »Niemand, weder Mann noch Frau, kann mich töten«, murmelte Sanglant, »daher ist es nie ein Kampf mit gleichen Chancen gewesen.« Mit einem Fluchen riss Bulkezu seine Hände los, wirbelte herum, um mit dem Ellbogen zuzuschlagen. Sanglant fing den Stoß mit dem Unterarm ab und versetzte dem Qumaner einen scharfen Hieb unterhalb der Rippen, gefolgt von einem Wirbel von Schlägen, die die Männer oben aufjubeln ließen. Bulkezu sackte schlaff zu Boden. 122
»An dem Tag werde ich Euch freilassen«, wiederholte Sanglant, »und dann werden wir sehen, welcher Mann Greifenfedern erringt.« Malbert ließ die Leiter herab und kletterte nach unten, eifrig darauf bedacht, beim Anketten des Gefangenen zu helfen. »Nein, ich werde es tun.« Er wollte selbst die schmutzige Arbeit erledigen, einen Krieger anzuketten, der lieber im Kampf starb, als wie ein Sklave angebunden zu sein - oder wie ein Hund. Aber vielleicht verdiente Bulkezu nichts Besseres als das Schicksal, das er den vielen Leuten bereitet hatte, die er versklavt und ermordet hatte. Was war Gerechtigkeit? Was war richtig? »Hier ist der Schlüssel«, sagte er und reichte ihn Malbert, froh darüber, ihn los zu sein, auch wenn er niemals die Verantwortung für das loswurde, wofür er sich entschieden hatte. Doch die Arbeit in dieser Nacht war noch nicht erledigt. Er kletterte die Leiter hoch und stellte fest, dass König Geza von seiner eigenen Wache geweckt worden war. Sanglant begegnete ihm gleich vor dem Bergfried. Der König kam in Begleitung von einem halben Dutzend seiner weiß gekleideten Leibwächter, junge Männer mit langen Schnurrbärten. Geza war etwa zehn Jahre älter als Bayan, aber sehr viel stämmiger, ein bisschen zu fett und äußerst intelligent. Er besaß die machtvolle Ausstrahlung eines Königs, aber es fehlte ihm der schalkhafte Humor, der Bayan zu einem so guten Kameraden gemacht hatte. »Gibt es ein Problem mit dem Gefangenen?«, ließ er durch seinen Übersetzer fragen. War er argwöhnisch oder erheitert? »Er hat meinen Vater beleidigt«, antwortete Sanglant. »Ah.« Geza spuckte auf den Boden, um seiner Verachtung für den Gefangenen Ausdruck zu verleihen. »Ist er tot?« »Nicht, solange er mir nicht gegeben hat, was ich brauche.« Geza nickte und entschuldigte sich, kehrte zu seinem Bett zurück. Er war dankbar dafür gewesen, dass er Bayans Leichnam zurückbekommen hatte, und er hatte Sanglant nie das Gefühl gegeben, im Königreich Ungria nicht willkommen zu sein. Und doch wartete er unübersehbar darauf, dass Sanglant und sein Heer auf123 brachen, und er war auch keinesfalls glücklich bei dem Gedanken, dass das gleiche Heer auf dem Weg zurück nach Wendar erneut ungrianisches Land durchqueren würde. Er hatte sogar vorgeschlagen, dass Sanglant sein Heer nördlich durch die von Kriegen zerrissenen polensischen Lande führte. Doch andererseits wollte er auch nicht gegen die wendischen Soldaten kämpfen; schließlich waren er und König Henry formal gesehen Verbündete. Als Geza ihm einen seiner Söhne als neuen Ehemann für Sapientia angeboten hatte, hatte Sanglant tatsächlich mit der Idee geliebäugelt etwa drei Atemzüge lang. Während Geza und sein Gefolge den Hof überquerten, erhaschte Sanglant einen Blick auf Hathui und Zacharias bei den Ställen; sie hielt ihren Arm um seine Taille, als müsste sie ihn stützen. Wulfhere stand am Türeingang, leuchtete ihnen den Weg mit einer Lampe, und sie verschwanden im Innern. Wie hatte Zacharias seine Verstümmelung all die Monate verheimlichen können? Niemand hatte so etwas auch nur vermutet. Aber Zacharias war immer sehr verschlossen gewesen, niemals wirklich ein Teil der Gruppe, und tatsächlich stank er auch, weil er sich so wenig wusch. »Prinz Sanglant!« Heribert eilte zu ihm, die Haare wirr und das Gesicht vom Schlaf noch verquollen. »Alle sagen, du hättest Bulkezu getötet.« »Die Gerüchte ziehen also bereits ihre Kreise, wie ich sehe. Dank sei dem Herrn, dass wir morgen weiterziehen. Diese Ungrianer singen zuviel.« »Du hast dich nicht über die Aufmerksamkeiten von Edelfrau Ilona beklagt.« »Sie ist die Schlimmste von allen! Ich bin nichts weiter als ein Hengst für sie, der die Stute schwängern soll. Nie wieder Frauen, Heribert!« Der Geistliche kicherte. »Hast du das nicht auch in Gent gesagt?« »Diesmal meine ich es ernst!« Dankbarerweise erwiderte Heribert nichts darauf, sondern hob nur eine Augenbraue und blickte zweifelnd drein, während er sich mit den Fingern durch die Haare fuhr. Die ersten Vögel zwitscherten bereits und begrüßten den neuen Tag. 124 »Die ungrianischen Prostituierten werden zurückbleiben, wenn wir Gezas Königreich verlassen. Wer könnte mich dann noch verführen? Beten wir zu Gott, dass die Zauberer, die wir finden, wissen, wie wir Liath zurückbekommen.« »Aber was liegt jenseits von Ungria? Eine weglose Ebene, heißt es. Wie wollen wir diese Greifen und Zauberer finden, nach denen du suchst?« Sanglant lächelte, aber tief in seinem Innern herrschte alles andere als Friede, denn er wusste, dass er einige unangenehme Entscheidungen würde fällen müssen. »Das ist der Grund, weshalb Bulkezu noch lebt. Er wird mich zu den Greifen führen - als Gegenleistung für seine Freiheit und die Chance, mich zu töten.« IV Die Sommersonne
1 In der ungrianischen Stadt Vidinyi verabschiedete sich König Geza und führte seinen Hofstaat dann gen Westen, zurück ins Kernland seines Reiches. Eine kleine Flotte ausladender Handelsschiffe und ein Dutzend kleinerer und wendigerer Galeeren standen für Prinz Sanglant bereit. Nachdem die Ladung - Wein, Öl und Seide aus dem Arethusanischen Reich - gelöscht worden war, wurde Korn für die Rückreise auf die Schiffe geladen; außerdem gingen zweitausend Pferde, achthundert Soldaten und mehr als zweihundert Bedienstete mit ihren verschiedenen Karren und Lasttieren an Bord. Der Fluss wirkte auf Sanglant so breit wie ein See, als er jetzt neben Heribert an Deck stand und zusah, wie die Pferde auf die Schiffe getrieben wurden. Jenseits der Kais qualmten mit Erde abgedeckte Feuerstellen; da kein Wind ging und die Luft schwer und feucht war, zogen sich die Rauchschwaden geisterhaft das ganze Ufer entlang, verhüllten Weidenbüsche und junge Pappeln. »In der Nähe der Stadt ist fast keine Holzkohle mehr zu kriegen«, sagte Heribert. »Sieh nur, wie weit sie den Wald schon gerodet haben.« »Sie brauchen die Holzkohle, um noch mehr Waffen zu schmieden. Ungria wird von Jahr zu Jahr stärker und verlegt die Grenze 126 weiter nach Osten.« Sanglant deutete auf die neue Palisade von Vidinyi. »Es heißt, bis zum Ketzermeer wären es sieben Tage - für meinen Geschmack viel zu lange, bis wir aus Ungria raus sind.« »Na, vermisst du Edelfrau Ilona schon?« »Das habe ich wohl verdient, was? Ich vermisse viel eher Bayan. Er war der Beste von ihnen allen.« »Wenn Bruder Breschius und Zacharias die Wahrheit sagen und ich mir das Beispiel von Bulkezu vor Augen führe, gehe ich davon aus, dass du schon bald freundlicher über die Ungrianer denken wirst - sobald wir draußen in der Ebene auf die Gnade der Qumaner und Kerayiten angewiesen sind.« »Möglicherweise. Aber Geza hatte seine eigenen Gründe, uns so lange aufzuhalten. Er ist ein störrischer Mann und viel durchtriebener, als es den Anschein hat.« »Hat er vielleicht gehofft, dass Sapientia doch noch einwilligt, einen seiner Söhne zu heiraten? Oder setzt er darauf, dass wir der Wildnis zum Opfer fallen und der Winter den Rest besorgt?« »Schwer zu sagen. Geza ist nicht leicht zu durchschauen. Zweifellos sind die Barbaren ehrlicher, wenn es darum geht, zu erkennen, was sie wollen.« »Unsere Köpfe? Unsere Pferde?« »Uns selbst als Sklaven und Puras?« Er lachte kurz auf und wischte sich den Schweiß vom Nacken. »So was in der Art.« Der Wald war in der Tat rund um die Stadt gerodet worden, aber als sie endlich ablegten und mit der Strömung um eine Biegung und außer Sichtweite von Vidinyi gelangten, waren immer mehr Bäume an beiden Ufern zu sehen, bildeten schließlich eine gleichförmige Mauer. Gelegentlich wurde diese Mauer von ein paar niedrigen Häusern unterbrochen, und die Dorfbewohner blickten von ihrer Arbeit auf und starrten neugierig zu ihnen herüber. Einige Kinder riefen ihnen zur Begrüßung etwas zu, dann verlor sich das kleine Dorf hinter einem weiteren Schleier aus Wald, als hätte es nie existiert. In den langen Waldstücken zwischen den Dörfern war nichts zu hören als das gleichmäßige Schlagen der Ruder und das gegen den Bug klatschende Wasser. Einmal sah Sanglant einen Falken halb 127 verborgen in den Zweigen einer Pappel. Der Himmel über ihnen war leuchtend blau; in der Ferne erhoben sich zerklüftete Berge vor einem so klaren Horizont, als wäre die Luft dort irgendwie reiner, näher am himmlischen Äther. Wenn er sich nur genug Mühe gab, würde er dann Liath in den himmlischen Sphären sehen können? Aber die Luft war klar - nur kleine Wölkchen und eine strahlende Sonne waren zu sehen - und verbarg weder Engel noch Daemonen. Seit jenem schrecklichen Tag in Gent hatte er keinerlei Lebenszeichen mehr von ihr erhalten. Zweieinhalb Jahre waren seither vergangen; es war fast so, als wäre ihr kurzes gemeinsames Leben nicht wirklich, sondern eher ein Traum gewesen. »Glaubst du, sie ist tot, Heribert?«, fragte er schließlich. Heribert seufzte. Der schlanke Geistliche hatte nie zu denen gehört, die nur sagten, was er hören wollte. Deshalb schätzte Sanglant seine Kameradschaft so sehr. »Wie können wir das wissen? Es tut mir Leid.« »Papa! Sieh mich an!« Gnade war in die aufgerollte Takelage des dreieckigen Segels geklettert und arbeitete sich jetzt den Mast hoch. »Oh, Gott!« Heribert rannte zu ihr, aber er war auf dem schwankenden Schiff so unsicher, dass er gegen einen Seemann prallte.
»Keine Sorge«, rief Sanglant ihm lachend nach. »Entweder sie fällt runter und bricht sich das Genick, oder sie bleibt oben.« Aber es wurde rasch klar, dass der Kapitän des Schiffes nicht von einem Kind behindert werden wollte, und so fand Sanglant sich kurz darauf am Bug des Schiffes Auge in Auge mit seiner mürrischen Tochter wieder. »Auf diesem Schiff musst du dem Kapitän gehorchen, denn hier ist er der Herrscher.« »Er ist nur ein Gewöhnlicher, Papa.« »Und wenn Hauptmann Fulk dir in deiner ersten Schlacht einen Rat gibt, willst du ihn dann auch ablehnen, nur weil er als Sohn eines Verwalters geboren wurde und du als Tochter eines Prinzen? Eine weise Herrscherin hört denen zu, die vielleicht etwas wissen, 128 das sie nicht weiß, und sie sucht sich Berater, die ihr die Wahrheit sagen und nicht versuchen, ihr zu schmeicheln.« Oh, Gott, sie war schon so erwachsen, dass sie eine Schnute zog, die Arme vor der Brust verschränkte und mit hochgezogenen Schultern auf den Fluss starrte. Der Wald ging jetzt in ein Sumpfgebiet über, und ein Reiher erhob sich in die Lüfte, schlug langsam mit den Flügeln, während er über den Untiefen im Dunst verschwand. Würde ihr Leben auch so rasch vorbeiziehen wie dieser Vogel? Würde sie eine alte Frau werden, ehe er dreißig Jahre alt war? Er konnte den Gedanken nicht ertragen, sie auf solch unnatürliche Weise zu verlieren, zusehen zu müssen, wie das Alter von ihr Besitz ergriff und sie zu seiner Gefangenen machte. Wie schnell würde sie erblühen und heiratsfähig sein? Sie hatte noch immer den Körper eines Kindes, voll unschuldiger Anmut und Übermut, so lebhaft und stark, wie es ein frei lebendes Geschöpf nur sein konnte. Der Herrin sei Dank zeigte sie noch keinerlei Hinweise auf die Frau, die sie einmal werden würde, und je länger er solche Überlegungen beiseite schieben konnte, desto besser. Doch er würde eine sorgfältige Wahl treffen müssen, wenn es um den Mann ging, den sie heiratete; sie würde jeden Vorteil benötigen, wenn es an der Zeit war, sich das zurückzuholen, was ihr zustand: ihr Geburtsrecht, den rechtmäßigen Anspruch als Abkömmling von Kaiser Taillefer. Wenn er sie in Augenblicken wie diesem beobachtete, war er der Verzweiflung nahe. Sie hatte ganz das Aussehen von Liath, zarte Gesichtszüge, den cremig braunen Teint und die überraschend blauen Augen. Aber sie hatte auch das nachtschwarze Haar der Aoi und etwas, das ihn an seine eigene Mutter erinnerte. Je älter sie wurde, desto deutlicher wurde diese Ähnlichkeit. Rein äußerlich hätte niemand sie für Taillefers Erbin gehalten; sie hatte überhaupt nicht das Aussehen der Westländer. Möglicherweise war etwas von König Henry in ihr - sie neigte schließlich genau wie er zu Wutausbrüchen und besaß auch seine großzügige Fähigkeit zu verzeihen -, aber so gründlich er auch suchte, er fand nie eine Ähnlichkeit mit Anne, nicht ein kleines bisschen. Das war etwas, das ihn sehr froh stimmte. 129 Auf Gnades hübschem Gesicht lag jetzt ein solch wilder Ausdruck beleidigten Zorns, dass er fast lachen musste, aber er wusste, es war besser, genau das nicht zu tun. Sie kämpfte mit sich, schob die Unterlippe vor und zitterte; eine Träne glänzte in einem Auge und lief ihr die Wange hinunter. Heribert machte Anstalten, sie zu trösten, aber Sanglant hielt ihn mit einer knappen Handbewegung davon ab. Anna, Thiemo und Matto standen ganz in der Nähe; sie wussten, dass sie sich nicht einmischen durften, wenn er ihr eine Strafe auferlegte. »Papa«, sagte sie schließlich, den Blick noch immer störrisch flussabwärts gerichtet. Der Schiffsbug schnitt durch das Wasser, vorwärts getrieben von den Ruderern und der Strömung. Ein ganzes Stück voraus plätscherten die Wellen um einen Holzbalken, der aus dem Wasser ragte. »Ich würde auf Hauptmann Fulk hören. Das würde ich wirklich tun. Wann kann ich anfangen, mich an den Waffen zu üben?« »Du bist noch zu jung -«, setzte er zu der alten Leier an, dann brach er ab. Wieso leugnen, was für jeden Narren, der mit ihm reiste, offensichtlich war? Er hatte mit sieben Jahren mit den Übungen an den Waffen begonnen. Vor sechs Monaten war Gnade noch zu jung gewesen, aber für sie waren ein paar Monate so viel wie für einen normalen Menschen ein ganzes Jahr. Wenn er jetzt nicht begann, sie auszubilden, würde es möglicherweise zu spät sein; dann war sie vielleicht schon erwachsen und hatte die Blüte ihrer Jahre hinter sich, ohne jemals die Chance erhalten zu haben, sich zu beweisen. Wenn sie schon zu einem kurzen Leben verdammt war, musste er versuchen, ihr so viel wie möglich zu geben, und dazu gehörte auch, ihr ihren Herzenswunsch zu gewähren: ein Soldat zu sein wie ihr Vater. »Sieh nur!«, rief sie, als von dem Kriegsschiff, das als Vorhut vorausfuhr, ein Schrei aufstieg. Der Holzbalken erwies sich jetzt als der oberste Teil eines alten Turms, den ein Anstieg des Wasserspiegels und eine Veränderung des Flusslaufes überflutet hatten. Wie alle irdische Macht war auch diese Befestigung schließlich zusammengebrochen, und ihre Erbauer und die Königinnen waren seit langem in Vergessenheit 130 geraten. Aber in dem Wirbel, dort, wo sich der Fluss an den zerbrochenen Steinen brach, wartete etwas und beobachtete sie. Rufe zerteilten die Luft, als andere Ruderer und Seeleute sahen, was da im trüben Wasser lauerte. Ihre Schreie waren voller Furcht und Entsetzen. Und da trieb es, ein Geschöpf wie aus einem Albtraum, mehr Fisch als Mensch mit flachen, roten Augen, einem lippenlosen Mund, ohne Nase und nur mit Schlitzen zum Atmen. Jede einzelne Strähne der sich windenden Haare war so dick wie ein Aal mit kleinen Knopfaugen und einem schnappenden Mund.
»Mögen Gott uns bewahren«, murmelte Heribert, während er Halt an der Reling suchte. Er war kreidebleich. Thiemo fluchte und schlug das Kreiszeichen vor der Brust. Matto packte Anna am Arm, als wollte er sie vor dem Anblick des schrecklichen Wesens beschützen. Sie schüttelte ihn jedoch ab, zitterte und taumelte, während sie es weiter anstarrte. »Sieh nur, Papa!«, rief Gnade so glückselig wie ein Kind, das zum ersten Mal Schneeflocken zu Boden schweben sieht. »Es ist ein Fischmensch! Ich möchte mit ihm schwimmen!« Sanglant hielt sie fest, als sie an dem Wesen vorbeiglitten und die Strömung sie durch einen schmalen Trichter zwischen hohen Klippen führte. Doch eine ganze Weile hörte er hinter sich noch die Rufe und beunruhigten Schreie, als auch die anderen Schiffe nacheinander die Stelle passierten. »Was das wohl zu bedeuten hat?«, fragte der Kapitän, dessen Worte von Bruder Breschius übersetzt wurden. »Es verheißt jedenfalls nichts Gutes, wenn man einen von den Wasserbrüdern flussaufwärts schwimmen sieht.« »Haben sie einen Namen?«, fragte Sanglant. »Nein, Hoheit. Mein Großvater hat von ihnen erzählt, denn er war auch ein Kapitän. Er hat gesagt, sie wären nur eine Legende.« Er machte eine Geste, spuckte aufs Deck und stampfte mit dem linken Fuß auf; dann erinnerte er sich, wo er war und vor wem er stand, und schlug hastig das Kreiszeichen vor der Brust, wie jeder gottesfürchtige Mensch es tun würde. »Ein schlechtes Omen, Prinz Sanglant.« »Vielleicht. Hat Euer Großvater auch gesagt, ob solche Geschöp131 fe einen Verstand haben oder ob es sich nur um verstandeslose Tiere handelt?« »Sie haben sogar einen sehr schlauen Verstand, Hoheit. Und Hunger. Es hat immer geheißen, dass sie jeden fressen würden, der über Bord fällt.« »Und doch hat weder Euer Großvater noch sonst jemand, der mit ihm gesegelt ist, jemals einen solchen Fischmenschen gesehen?« »In der Tat, sie haben nur Geschichten gehört.« An diesem Abend machten viele Geschichten die Runde, nachdem die Schiffe und Boote für die Nacht entlang eines sumpfigen, von zahllosen Vögeln bewohnten Uferabschnitts festgemacht worden waren. Von Deck aus konnte Sanglant fünf Schiffe sehen, eines vor und vier hinter ihm, ebenso wie flussaufwärts ein paar Feuerstellen am Strand. Nur die ganz Närrischen oder Dickhäutigen trauten sich jedoch ans Ufer, denn dort wimmelte es nur so von Mücken und Stechfliegen. Es war sogar noch heißer und feuchter als schon den ganzen Tag über. Als Hauptmann Fulk von der ersten Galeere herangerudert kam - und Bertha, Wichman, Druthmar und Istvan von ihrem Boot weiter flussaufwärts -, berief er einen Rat ein. Viele alte Geschichten kamen ans Licht, aber erst, als er gehört hatte, was die Mitglieder seines Rates zu sagen hatten, sah er Zacharias hinten zwischen Hathui und Wulfhere stehen. Der Gesichtsausdruck des Bruders ließ Sanglant innehalten. »Habt Ihr dazu etwas zu sagen, Bruder Zacharias?« Der Bruder stammelte eine sinnlose Verneinung. »N-nein, mein Prinz. N-nichts.« »Habt Ihr jemals zuvor ein solches Wesen gesehen?« Sein Zögern verriet ihn. »Erzählt mir davon«, forderte Sanglant ihn auf. Hathui beugte sich näher zu ihrem Bruder und flüsterte ihm etwas ins Ohr, doch nicht einmal Sanglant konnte es bei all dem Gemurmel und dem Plätschern des Wassers verstehen. Der Wind trug den Geruch des sumpfigen Bodens heran, und die Luft war schwer vom Gestank nach Moder. 132 »Es war ein Traum, mein Prinz, eine Vision. Ihr wisst, dass ich eine Zeit lang mit Eurer Mutter gereist bin, die mich zu einem Ort geführt hat, den sie den Palast der Irrungen nannte.« »Das Spiraltor«, murmelte Wulfhere, aber Zacharias achtete nicht auf ihn, sondern fuhr einfach fort. »Dort habe ich viele Visionen gesehen, aber ich hatte auch den Eindruck, als wäre ich für kurze Zeit selbst zu solch einem Wesen geworden, wie wir es heute gesehen haben. Ich bin mit meinen Brüdern geschwommen, draußen im salzigen Meer, und wir sind einer Flotte von Schiffen gefolgt.« Zacharias zitterte. »Das ist alles.« Er log; da war noch mehr, aber Sanglant bezweifelte, dass er es aus ihm herausbekommen könnte. Vielleicht schaffte es Hathui. »Das ist alles?« »Erst hören wir Geschichten über einen Phönix, und jetzt sehen wir ein Merwesen«, sagte Edelfrau Bertha vergnügt. Probleme und Schwierigkeiten pflegten sie stets aufzuheitern. »Es war verdammt hässlich«, meinte Wichman. »Ich dachte, Merfrauen hätten große, weiche Brüste, in denen ein Mann versinken kann. Der hier war nur ein ekliger Dämon.« Bertha lächelte. »Es heißt, dass am Ende der Zeit sämtliche uralten Geschöpfe aus den Legenden aus ihren Verstecken kriechen und erneut die Erde heimsuchen.« »Jetzt werden wir sehen, ob daran etwas Wahres ist«, erklärte Sanglant mit Blick auf Wulfhere. Der alte Adler sagte nichts, sondern ging zur Reling und starrte zu den vereinzelten Feuerstellen am Ufer. Sie kehrten zu ihren Booten zurück, aber niemand wusch sich im Flusswasser. Niemand wusste, wie nah ans Ufer die Merwesen schwimmen konnten. Wie jede Nacht gab Sanglant auch diesmal den Befehl, den gefesselten Bulkezu vom Frachtraum hochzuschaffen, damit er unter Aufsicht der Wachen frische Luft schnappen konnte.
Nur wenige Männer waren geeignet für diese Aufgabe, da stets die Gefahr bestand, dass Bulkezu sie mitten in der Nacht mit seiner sanften Stimme - seiner einzigen Waffe - verhöhnte und so wütend machte, dass sie sich in seine Reichweite begaben. 133 Nachdem Bulkezu an den Mast gekettet worden war, schmiegte Gnade sich an ihren Vater, der am Schiffsbug stand. Sie starrte den qumanischen Stammesführer an. Seine Ketten klirrten und rasselten, als er sich streckte, die Muskeln dehnte und die Länge und Stärke der Ketten prüfte. Bulkezu hörte niemals auf, die Ketten zu überprüfen. Er verzweifelte niemals. Vielleicht war er zu verrückt dazu - oder zu gerissen. Es war die einzige Möglichkeit für ihn, seine Kraft nicht zu verlieren. »Ich wäre lieber tot als ein Gefangener wie er«, flüsterte Gnade. Sie lehnte sich an ihren Vater und schlang ihre Arme um seine Taille. Ihr Kopf reichte ihm fast bis zur Brust. »Wäre es nicht barmherziger, ihn zu töten? Er muss dich sehr hassen.« So wie ich Blutherz gehasst habe. »Kein Gefangener liebt seinen Wärter«, sagte er schließlich. »Glaubst du, dass mich dieser Mermann gefressen hätte, wenn ich in den Fluss gesprungen wäre?« »Ich weiß es nicht.« Der Fluss strömte an ihnen vorbei, jetzt deutlich träger, da er mit zusätzlichem Wasser gespeist wurde, das vom Marschland herbeiströmte. Ein Chor von Fröschen quakte, verstummte dann, als hätte eine vorbeistreichende Eule sie erschreckt. Einen Augenblick lang trat tiefe Stille ein, in der das Murmeln des Flusses und das ständige Klatschen der Wellen gegen den Schiffsrumpf die einzigen Geräusche darstellten. Dann ein kräftiges Platsch draußen auf dem Fluss, beantwortet von einem zweiten und dritten Platschen. »Sie unterhalten sich«, sagte Gnade. »Wer unterhält sich?« »Die Merwesen.« »Wie können Tiere sich unterhalten?« »Aber sie tun es! Sie beobachten uns.« Er lächelte, aber ein seltsames Jucken zwischen seinen Schulterblättern hielt ihn davon ab, über ihre Bemerkung zu lachen. »Es ist viel zu dunkel, um sie sehen zu können.« »Nein, das stimmt nicht. Es sind elf. Sie reisen in Rudeln. Wie Hunde. Sie sind gekommen, um uns auszukundschaften.« Erfand sie da nur eine spannende Geschichte, um sich auf der 134 langen Reise aufzuheitern? Oder hatte sie durch das Blut ihrer Eltern einen unheimlichen Sinn geerbt? »Kannst du noch mehr sehen, von dem du mir nicht erzählt hast?« »Nun, hin und wieder kann ich Mama sehen.« Die beiläufige Bemerkung ging ihm durch Mark und Bein. Der Schweiß brach ihm aus, und seine Haut prickelte wie beim Angriff eines Mückenschwarms. »Was meinst du damit?« »Ich sehe sie nur manchmal. Sie ist immer noch im brennenden Stein gefangen. Sie versucht, einen Weg zurück zu finden.« Wie schwer es war, die Stimme ruhig zu halten. »Können wir ihr irgendwie helfen?« Sie zuckte mit den Schultern, so unbeteiligt, dass es ihn schmerzte. »Wir können nur warten. Die Merwesen warten auch.« »Worauf warten sie?« Er spürte ihre Konzentration an der Art, wie sich ihr kleiner Körper anspannte. Bulkezu veränderte wieder seine Position beim Mast, und seine Ketten schrappten über das Holz. Seine Wachen -in dieser Nacht Malbert und Den unterhielten sich leise miteinander, sie schwelgten in Erinnerungen an ein bestimmtes Kartenspiel, bei dem sie gegen zwei mogelnde ungrianische Soldaten verloren hatten. »Oh!«, sagte Gnade. Sie klang überrascht, aber gleichzeitig auch fasziniert. »Sie warten darauf, Rache zu nehmen.« 2 Als der Fluss breiter wurde und sich träge durch die sumpfige Wildnis schlängelte, verbrachte Zacharias mehr Zeit an Deck und beobachtete die Vogelschwärme, die überall zu sehen waren: Enten, Silberreiher, Störche, Seeschwalben und auch Kormorane strichen dicht über der glatten Wasseroberfläche dahin. Einmal nur, ein einziges Mal, sah er auch einen grauen Kranich. Hathui wich nie von seiner Seite, abgesehen von den Malen, da sie zum 135 Prinzen gerufen wurde. Zacharias empfand es als seltsam und unangenehm, in solch kameradschaftlicher Stille neben seiner geliebten jüngeren Schwester zu stehen. Er rechnete damit, dass Hathui schließlich wieder zu Sinnen kommen und ihn zurückstoßen würde, aber das tat sie nicht. Stattdessen fragte sie ihn über Sanglants Gefolge aus, wollte die Namen und Eigenschaften der einzelnen Mitglieder wissen. »Und was ist mit den drei jungen Leuten, die sich um Prinzessin Gnade kümmern? Da braut sich Unheil zusammen.«
Er schaute zum Bug, wo Anna zwischen den zwei jungen Männern stand. Matto war kleiner, hatte aber breitere Schultern; er war stark genug, um eine Axt mit tödlicher Genauigkeit schwingen zu können. Thiemo, einen halben Kopf größer, hatte noch immer die schlanke Gestalt eines Heranwachsenden, bewahrte aber in den meisten Situationen einen kühlen Kopf. Und er hatte ein treues Herz und ein bezauberndes Lächeln. Anna hatte sich bemerkenswert verändert seit dem Tag in Gent, als Sanglant sie in sein Gefolge übernommen hatte. Sie war richtig aufgeblüht. »Das ist wahr«, bestätigte er. »Als sie Prinzessin Gnades Zofe geworden ist, war sie noch ganz dürr.« Anna würde niemals richtig hübsch sein, aber sie strahlte eine Offenheit aus, die sie ebenso anziehend machte wie Mädchen mit makellosem Teint und einem schöneren Gesicht. Sie hatte sich verblüffend entwickelt und besaß nun einen üppigen Körper, für den ein gesunder Mann hundert Meilen weit kriechen würde. »Sie sind wie Hunde, die um eine läufige Hündin herumschnüffeln. Bemerkt das denn sonst niemand?« »Was soll man tun? Sie sind jung. Sie können nicht anders.« »Das arme Mädchen«, sagte sie, aber dann erregte ein dichtes Gebüsch am Ufer ihre Aufmerksamkeit, dessen Zweige voller roter Beeren waren. »Sieh nur diesen Hagedorn!«, rief sie mit aufrichtiger Begeisterung. Über eine kurze Strecke stieg das Land etwas an, war nicht mehr so sumpfig, sodass Pappeln und Weiden wurzeln konnten, deren Blätter im Wind aufblitzten. Dann sank das Gelände wieder ab, 136 und erneut zeigten sich grasige Ufer, die zwar einladend aussahen, aber nichts weiter als feuchte, sumpfige Fallen waren, heimgesucht von den allgegenwärtigen Stechfliegen. Er kratzte sich am Kinn, verscheuchte einen Schwärm Mücken; es war schon hier auf dem Schiff schlimm genug. »Hathui ...« Er hätte gern mit ihr gesprochen, fürchtete sich aber zu sehr. »Ja?« Als er nicht antwortete, hakte sie nach. »Wolltest du etwas sagen?« »Nein, nein. Ein seltsames Land ist das hier. In diesen Gefilden wohnen nicht viele Leute. Ich muss zugeben, ich hätte nie gedacht, dass ein Fluss mehr einer Marsch oder einem See statt einem Fluss ähneln könnte.« »Und doch gibt es eine Strömung, die uns nach Osten zieht. Hast du das Ketzermeer jemals gesehen?« »Ja.« »Wie ist es?« »Voller Wasser.« Sklavenhändler hatten ihn in Sichtweite dieses Meeres ergriffen. »Die Ufer wimmeln nur so von Ketzern und Ungläubigen. Daher stammt auch der Name.« »Wie nennen die Ketzer und Ungläubigen das Meer?« Überrascht sah er sie an, aber sie musterte das Ufer und lächelte, als sie auf einer Landzunge ein paar Schafe entdeckte, die von einem mageren Jungen und seinem Hund bewacht wurden. Der Hund rannte bis zum Wasser, bellte laut und wedelte mit dem Schwanz. Sie wandte den Blick erst von ihnen ab, als sie außer Sicht gerieten. »Tut mir Leid. Was hast du gesagt?«, fragte sie dann. Nichts, hätte er am liebsten mürrisch geantwortet, schämte sich aber wegen seiner schlechten Laune. »Die Ungläubigen, die ihrem Feuergott namens Astareos huldigen, nennen es das Nordmeer, denn es liegt nördlich von ihrem Land. Ich weiß nicht, wie die Arethusaner es nennen. Vielleicht heißt es bei ihnen auch Ketzermeer.« »Wieso sollten sie es so nennen?« »Nun, weil sie glauben, wir wären die Ketzer!«, erklärte er lachend, aber Hathui starrte ihn nur an. 137 »Wie können sie uns für Ketzer halten, wenn wir doch diejenigen sind, die Gott in Einigkeit auf angemessene Weise huldigen? Die Skopos ist Gottes Diakonissin auf Erden.« Ihre Miene verdüsterte sich, wie immer, wenn sie an Darre dachte, an Aosta und den von Zauberei heimgesuchten König. »Ich bete, dass wir finden, was wir suchen, und zwar schnell.« »Das Grasland ist groß. Glaube nicht, dass es so leicht wird, in diesen weglosen Gefilden irgendetwas zu finden, geschweige denn Greifen und Zauberinnen.« »Hast du diese Kerayiten jemals gesehen?« »Ich habe einmal einen ihrer Kriegstrupps gesehen, aber niemals den Wagen einer ihrer Zauberinnen. Und auch das Bwr-Volk nicht, ihre Herren, die halb Mensch und halb Pferd sind.« »Gibt es wirklich solche Kreaturen?« Das Wasser glitt an ihnen vorbei, eine fleckige Brühe voller Pflanzen und Schmutz. »Ich habe in meinen Träumen einmal ein solches Wesen gesehen. Nie habe ich mehr Angst gehabt als in diesem Augenblick.« »Nie?«, fragte sie sanft. Er errötete. »Was meinst du damit?« »Niemals, Zacharias?« Er sagte nichts, und als ihr klar wurde, dass er nicht antworten würde, warf sie einen Blick auf den Prinzen und fuhr in verändertem Tonfall fort, als wollte sie ein neues Thema anschneiden: »Was ist mit dem Mervolk?« »Lass es gut sein, Hathui! Ich bitte dich. Lass uns damit aufhören.« Aber er hatte sie verärgert, obwohl es sicher das Letzte war, was er wollte. »Du wirst niemals zufrieden sein, nicht?«, fragte sie. »Deshalb hast du das Dorf verlassen, oder ? Du kannst keinen Frieden finden.« »Bulkezu hat mir den Frieden genommen! Es ist seine Schuld, dass ich keinen Frieden mehr finde!« »Nein. Du selbst lässt nicht zu, dass du ihn findest. Du hast gelitten. Du hast getan, was du tun musstest, um zu
überleben. Ich mache dir deshalb keine Vorwürfe. Wir alle haben Dinge getan, 138 auf die wir nicht stolz sind. Aber glaube nicht, dass du vor dem Feind weglaufen kannst. Die Dämonen werden nicht lockerlassen, wenn du sie nicht loslässt.« Er antwortete nicht darauf, und schließlich ließ sie ihn in Ruhe. Eine lange Zeit standen sie einfach nur zusammen an der Reling und sahen das Ufer vorbeigleiten. Es war eine Art Frieden. So viel Frieden, wie er jemals für sich erhoffen konnte - so viel und nicht mehr. 3 Am nächsten Morgen gab es keine grasbestandenen Ufer mehr; stattdessen waren sie mit Schilf überwuchert. Den ganzen Nachmittag sah es so aus, als würden sie auf einem braunen Band segeln, das durch ein grünes, sich nach allen Seiten bis zum Horizont erstreckendes Meer führte. So viele Kanäle schnitten durch das Schilf, dass Anna sich wunderte, wie der Kapitän unbeirrbar den Hauptkanal fand, sofern es überhaupt einen gab. An diesem Abend machten sie die Boote an einer Landzunge fest, aber wegen der vielen Fliegen wagte es niemand, an Land zu gehen. Abgesehen davon hatte auch noch niemand den Anblick des Merwesens vergessen. Bei Anbruch der Morgendämmerung setzten sie ihre Fahrt fort, vorbei an weiteren Landzungen voller Binsengebüsch. Es schien nichts anderes zu geben als Schilf, Wasser und Himmel. Sie hatten zwar das Land hinter sich gelassen, waren aber noch immer nicht auf dem Meer. Schließlich blieben auch die letzten Inseln aus Binsen hinter ihnen zurück, und das braune Wasser des Flusses ergoss sich ins Blau des Ketzermeers, bis sich der erdige Farbton ganz aufgelöst hatte. Das Delta mit den Binsen lag im Westen und schimmerte grün. Ansonsten gab es nur das Blau des Himmels oder des Meeres. Anna stand neben Gnade an der Reling. In ihrem ganzen Leben hatte sie niemals etwas so Gewaltiges gesehen. Selbst Gnade war 139 derart verblüfft, dass sie angesichts der riesigen Weite der Wasserfläche und des mit kleinen Wölkchen gesprenkelten Himmels schwieg. Der Wind wirbelte ihren Zopf hin und her, fuhr wie eine sanfte Liebkosung durch ihre Kleider. »Ich habe das Meer schon einmal gesehen«, sagte Thiemo prahlerisch zu Matto. »Das Nordmeer. Ich bin mit Prinz Ekkehard dorthin geritten, als wir in Gent waren.« »Ich bin nur ein armer Junge vom Land«, gab Matto in einem Ton zurück, der Anna zusammenfahren ließ. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.« Beide sahen in diesem Augenblick zu ihr herüber, prüften ihre Reaktion, und sie errötete und schaute aufs Wasser. »Sie folgen uns«, sagte Gnade, den Blick auf die hinter ihnen durchs Wasser gleitenden Boote gewandt. »Natürlich tun sie das. Wir segeln gemeinsam, wie wir auch gemeinsam marschiert sind.« »Nein, ich meine die Fischmenschen. Sie wollen wissen, wohin wir gehen. Sie folgen uns. Aber ich glaube nicht, dass sie uns an Land folgen können.« Anna erzitterte, aber obwohl sie angestrengt zurückblickte, konnte sie kein Merwesen erkennen. Sieben Tage lang segelten sie nach Nordosten, immer in Sichtweite des Landes und fast nur bei schönem Wetter. Sie sahen häufig andere Schiffe nach Südosten segeln, und dreimal erhaschte der Kapitän einen Blick auf ein Segel, das zu einem lauernden Kaperschiff zu gehören schien. Ein einzelnes Piratenschiff hätte es jedoch niemals gewagt, eine ganze Flotte anzugreifen, und so verlief ihre Reise ohne jeden Zwischenfall. Am achten Tag liefen sie in den Hafen von Sordaia ein. Mindestens fünfhundert arethusanische Soldaten standen in dichten Reihen am Ufer. Die Anzahl der Schiffe und Boote hatte sie argwöhnisch gemacht, und es wurde schon bald offensichtlich, dass jeder Versuch, an Land zu gehen, auf Widerstand stoßen würde. Die Statthalterin dieser Stadt, eine arethusanische Potentatin aus der kaiserlichen Hauptstadt, hatte einen Gesandten geschickt, 140 der mit den Ankömmlingen sprechen sollte. Der Höchst Ehrenwerte Oberste Schatzmeister Basil, Verantwortlicher der Schatzkammer der Statthalterin, hatte keinen Bart, war aber auch kein Priester. Er war, wie Bruder Breschius erklärte, ein Eunuch. »Man hat ihm die Eier abgeschnitten?«, rief Matto entsetzt. Er sah Anna an und wurde rot. »Wie Bruder Zacharias«, sagte Thiemo. »Aber der hier sieht anders aus. Er wirkt weicher.« »Was Bruder Zacharias widerfahren ist, war etwas ganz anderes«, sagte Bruder Breschius sanft. »Das war Verstümmelung. Zweifellos ist die Operation bei diesem Mann - sofern wir ihn so nennen können - ausgeführt worden, als er noch ein Junge war. So etwas gilt als große Ehre.« Thiemo lachte nervös, und Matto war zu verlegen und entsetzt, um etwas sagen zu können. Nach einer langwierigen Begrüßung und nachdem der Eunuch eine ermüdende Rede gehalten hatte, schickte Sanglant Bruder Heribert, der Arethusanisch sprechen konnte, mit einer Reihe von Geschenken zum Palast - einem mit Marderfell gesäumten Umhang, einer goldenen Schatzkiste, schön geschnitzten Elfenbeinlöffeln und einem mit Goldfäden bestickten Altartuch. Die Verhandlungen zogen sich den ganzen restlichen Tag hin, endeten erst am späten Nachmittag, als Prinz Sanglant sich einverstanden erklärte, am nächsten Tag mit einer kleinen Gruppe zum Palast zu gehen, als Gewähr für das gute Benehmen seiner Soldaten.
»Der Höchst Ehrenwerte Oberste Schatzmeister Basil erklärt mir, dass uns gestattet ist, in einer verlassenen Festung der früheren jinnischen Herrscher außerhalb der Stadtmauern unser Lager aufzuschlagen«, erklärte Heribert. Er war noch immer ganz erhitzt und schwitzte - schließlich war er viele Male in der heißen Sommersonne zwischen dem Hafen und dem Palast hin- und hergelaufen. »Bis Einbruch der Dunkelheit ist nicht genug Zeit, dass noch viele von Bord gehen könnten«, sagte der Kapitän mit Blick auf den Sonnenstand. »Vielleicht ist es besser, die Sache auf morgen zu verschieben.« 141 »Wir könnten heute noch eine kleinere Streitmacht rausschicken, die schon mal alles vorbereitet«, sagte Fulk. »Das würde ich empfehlen.« »Ist das denn nicht gefährlich?«, fragte Hathui. »Die wenigen, die heute Abend von Bord gehen, werden leicht zu töten sein, sollten die Arethusaner Verrat im Sinn haben.« »Es wäre dumm, auf solche Weise unseren Zorn hervorzurufen«, erklärte Sanglant. »Wir können auch kämpfend von Bord gehen, wenn es nötig ist. Was würde es ihnen nützen, uns auf so armselige Weise zu verärgern?« »Es sind Arethusaner, Prinz Sanglant«, bemerkte Edelfrau Bertha, die von einem anderen Schiff herübergekommen war. »Sie saugen den Hang zum Verrat mit der Muttermilch auf. Wir können ihnen nicht vertrauen.« »Und das tue ich auch nicht. Trotzdem hat der Hauptmann Recht. Fulk, schickt heute Nacht noch einhundert Mann zu dieser Festung. Aber nicht Wichman oder irgendeinen von seinen Leuten. Die Männer sollten genug Zeit haben, die Festung zu erreichen und zu erkunden, ehe es zu dunkel ist.« »Ich will mit! Ich will mit!«, rief Gnade. »Nein.« Sanglant rief Breschius zu sich. »Ich brauche Heribert im Palast bei mir. Bleibt Ihr hier bei den Schiffen, bis alle gegangen sind. Ihr beiden seid die Einzigen, die Arethusanisch sprechen. Es darf keine Missverständnisse geben.« »Jawohl, Prinz Sanglant.« »Ich möchte morgen mitgehen und mir den Palast ansehen, Papa!« »Nein. Du bleibst beim Heer.« »Ich will nicht zurückbleiben! Ich will mitgehen!« Das Mädchen packte die Reling, und es schien, als wäre sie drauf und dran, über Bord zu springen und ans Ufer zu schwimmen. »Nein.« Die Enge während der langen Schiffsreise hatte Sanglants Stimmung nicht gerade gebessert, und auch das ungeduldige Warten im Hafen hatte ihn nicht beruhigt. Gnade zuckte zusammen, als er sie am Arm packte. 142 »Ich tue es aber doch.« Ihre Lippen zitterten, aber ihr Blick blieb fest. »Das tust du nicht.« Der Prinz wandte sich an Anna. »Du gehst mit, Anna, und bereitest ein Lager für deine Herrin vor. Und ...« Sein Blick schweifte zu Matto und Thiemo, die während der Verhandlungen in den Hintergrund getreten waren. »Edelmann Thiemo, Ihr werdet auch mitgehen.« »Ich will mitkommen!« Gnade versuchte, sich dem unnachgiebigen Griff ihres Vaters zu entwinden. »Wenn du mir heute Abend irgendwelchen Ärger machst, wirst du das Schiff auch morgen nicht verlassen, wenn die Soldaten von Bord gehen, Gnade«, fügte Sanglant sanft hinzu. »Dann bleibst du hier in der Kabine eingesperrt, bis wir aus diesem Hafen auslaufen. Hast du verstanden?« Gnade kämpfte gegen ihre Tränen an; sie wehrte sich aber nicht, als Sanglant sie in Mattos Obhut gab. Doch dessen wütender Gesichtsausdruck, mit dem er jetzt Anna ansah, hätte Blumen zum Welken bringen können. Sie spürte seinen Blick wie eine Pfeilspitze im Rücken, als sie die Landungsbrücke hinunterging. Obwohl sie auf festem Boden stand, schien die Erde unter ihren Füßen immer noch zu schwanken, und es fiel ihr schwer, auf den Beinen zu bleiben. Da Matto und Gnade so wütend waren, traute sie sich nicht, einen Blick zurückzuwerfen. Der unebene Boden bereitete ihr Übelkeit; außerdem hatte sich bei dem Zelt, das sie trug, die Zeltklappe von den Bändern gelöst und flatterte jetzt vor ihren Augen, was sie noch benommener machte. Sie taumelte, als sie über eine breite Allee durch die Stadt schritten. Da der Zeltstoff ihr die Sicht nahm, sah sie nur ihre eigenen Füße, Abfall und gelegentlich einen Haufen Hundedreck. Die Stadt stank auf eine Weise, wie es das Schiff nicht getan hatte; es gab nicht genug Wind, um den Gestank zu vertreiben. Stimmen erklangen überall um sie herum - die Straßen waren voller Leute -, aber sie verstand kein einziges Wort. Wie hatte sie sich nur so weit von Gent entfernen können ? Was, wenn sie nun in diesem Land der Barbaren und Fremden sterben würde? War dies Gottes Strafe für ihre Sünden? Tränen traten ihr 143 in die Augen, aber sie biss sich auf die Lippe, bis der Schmerz sie beruhigte. Weinen hatte noch nie etwas genützt. Es war ein langer, einsamer Marsch bis zur Festung. Der Sonnenuntergang tauchte das Land in helles Gold, als sie schließlich eine schmale Holzbrücke über einen steil abfallenden Graben erklommen, einen gähnenden Abgrund, der sie zum Zittern brachte. Dann fand sie sich in der Festung wieder und ließ das zusammengerollte Zelt auf den Boden gleiten. Ihre Schultern schmerzten, aber immerhin schwankte der Boden nicht mehr. Es war gut, wieder auf fester Erde zu stehen. Während sie die Schultern dehnte, musterte sie die Festung. Eine Mauer aus gestampftem Lehm umgab die
inneren Gebäude, die an einen Bienenstock erinnerten: eine Reihe von zellenähnlichen Räumen, die scheinbar planlos in mehreren verstreut liegenden Einheiten erbaut waren. Ein paar Soldaten machten sich daran, das Gebiet zu erkunden. Sie folgte ihnen. »Diese Ungläubigen haben hier wie Schweine gehaust«, bemerkte Lewenhardt, als er sich aus einer der Kammern zurückzog, die voller Abfall und getrockneter Exkremente war. »Oder sie haben ihre Tiere hier untergebracht«, sagte Den. »Sieht aber gar nicht nach Kuhscheiße aus«, meinte Bärbeiß. »Was denkt Ihr, Bruder Zacharias?«, fragte Chustaffus. »Behandeln die ungläubigen Könige ihre Soldaten wie Tiere? Gibt es keine Halle, in der die Männer zusammen mit ihrem Herrn die Mahlzeiten einnehmen können?« Zacharias schützte die Augen mit der Hand vor der Sonne. »Ich kenne die Bräuche der Jinnen nicht, aber ich sehe hier keine Halle, nur diese kleinen Räume.« »Der hier ist leer!«, rief Lewenhardt, der zum nächsten Gebäude vorangegangen war. Der überwiegende Teil der kleinen Zimmer war leer, gerade groß genug, dass vier Männer darin schlafen konnten. Sie wirkten eher wie Steinzelte als wie richtige Unterkünfte. »Genug!«, rief Feldwebel Cobbo. »Macht euch an die Arbeit. Wir müssen die Zelte aufbauen und das Tor verbarrikadieren. Schafft dorthin, was immer ihr an Brauchbarem findet!« Anna half Den gerade dabei, mit Seilen einen Platz abzugren144 zen, damit die Pferde nicht überall herumliefen, als die Letzten der Vorhut eintrafen: ein Dutzend Reiter, die beim Tor abgestiegen waren, um ihre Pferde nacheinander über die Holzbrücke zu führen. Es handelte sich nicht wirklich um ein Tor. Das alte Tor war schon lange eingestürzt und offensichtlich weggeschafft worden; nur der tiefe Graben schützte noch den Eingang, auch wenn ein Haufen Müll - Pfosten, Bretter, weggeworfene Räder zusammengekarrt worden war, um auf dieser Seite des Grabens eine behelfsmäßige Mauer zu errichten. War das da Thiemo bei ihnen? Sie beschattete die Augen, um besser sehen zu können. »Hey!«, rief Den. »Lass das Seil nicht so locker hängen!« Sie konzentrierte sich wieder auf die Arbeit, aber als es zu dunkeln begann, konnte sie nichts mehr tun. Sie ging zu den Pferden hinüber, fand Thiemo jedoch nicht. Sie war ein wenig verwirrt. Gewöhnlich teilte sie jede Nacht das Bett mit Gnade. Sie war an so viel Freiheit nicht gewöhnt. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich darum, ihn zu finden, aber sie wollte auch nicht den Anschein erwecken, als würde sie ihn suchen. Sie erklomm eine schmale Treppe, die zu dem Laufgang entlang der Mauer hinaufführte; von hier aus hatte man einen guten Überblick über das Lager. Ein purpurfarbenes Glühen säumte den westlichen Horizont, doch der Osten lag im Dunkeln. Die Stadt selbst war als das Schimmern ferner Lichter zu sehen. Unten in der alten Festung brannten Feuer, und Feldwebel Cobbo begann zu singen. Schritte erklangen auf der Mauer, aber es war nur der Wachmann am Eckturm. »Anna.« Als er ihren Arm packte, so plötzlich aus dem Dunkeln heraus, schnappte sie nach Luft, und er legte einen Arm um sie, drückte sie fest an sich. Er war einen Kopf größer als sie, hatte breite Schultern, aber ansonsten die schlanke Gestalt eines jungen Mannes. »Ich möchte dir etwas zeigen«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr. »Komm mit.« »Ich muss zurückgehen -«, begann sie, plötzlich unruhig. Und zugleich freudig erregt. 145 »Wir sitzen heute Nacht hier fest, Anna. Niemand wird uns brauchen. Komm mit.« »Ich sehe nichts.« »Schsch. Wir werden langsam gehen.« Im Dunkeln war es nicht leicht, auf der Mauer zurückzugehen, wo sie nur zu leicht auf der Innenseite hätten hinunterfallen und zwei Körperlängen tiefer auf den festgetrampelten Boden hätten stürzen können. Und um die abgenutzten Stufen zu bewältigen, mussten sie sich immer wieder an der Mauer oder aneinander festhalten. Als sie endlich unten ankamen, kicherten beide und waren doch gleichzeitig bemüht, es nicht zu tun, um Cobbo oder einen der anderen Soldaten nicht auf sich aufmerksam zu machen. »Hier entlang.« Thiemo hielt noch immer ihre Hand, aber als er sich am Fuß der Mauer entlang in Bewegung setzte, zögerte sie. Er drehte sich zu ihr um, fuhr mit einer Hand ihren Arm hoch zur Schulter, streichelte dann ihren Hals. »Anna ? Ich habe eine Stelle gefunden, an der uns niemand finden wird. Es ist auch sauber dort. Ich habe eine Decke hingebracht.« Sie sehnte sich so nach ihm. Allein bei seiner Berührung wurde ihr auf eine Weise heiß, wie es selbst die heißeste Sommersonne nicht vermochte. »Was wird dann passieren?« Die Zukunft breitete sich unergründlich und tief wie das weite Wasser des Meeres vor ihr aus. Seine Lippen berührten ihre, zunächst so leicht wie die Berührung eines Schmetterlings, dann plötzlich beharrlicher. Als er sich schließlich von ihr löste, keuchten beide. Anna klammerte sich an ihn. »Wir könnten morgen schon tot sein«, murmelte er. Was war mit Matto? Aber sie konnte Mattos Namen nicht laut aussprechen. Wenn Prinz Sanglant den einen und
nicht den anderen geschickt hätte, wäre Matto jetzt an Thiemos Stelle. Und was, wenn es der Prinz selbst wäre, der sie da in der Dunkelheit umfangen hielt? Sie traute sich nicht, diesen Weg weiterzugehen. Thiemo war 146 ein Edelmann, allerdings nur das achte Kind eines unbedeutenden Grafen. Deshalb war er in Prinz Ekkehards Gefolge gekommen, um bei einem hochgeborenen Mann seinen Weg als adliger Bediensteter zu machen. Er war ersetzbar, zählte zu jenen Jungen, die man zu den Drachen schickte. Vielleicht war er deshalb nicht so hochnäsig wie die anderen Edelleute. »Der Tod ist uns sicher«, flüsterte sie. Wenn nicht jetzt, dann später. Eines Tages. Niemand von ihnen wusste, in welche Schwierigkeiten der Prinz sie führen mochte. Vielleicht wusste es der Prinz nicht einmal selbst. Alles konnte passieren. Alles. »Thiemo.« Ihr Scheitel reichte kaum bis zu seinem Kinn, aber es war nicht schwer, die Arme um seinen Nacken zu schlingen und ihn zu sich herabzuziehen, um ihn noch einmal zu küssen. An dem Tag, an dem sie sterben würde - was würde sie da wohl bedauern? Das hier jedenfalls nicht. V Sordaia
1 Zacharias schlief lange am nächsten Morgen; er hatte sich in einem der kleinen Räume in wohltuender Einsamkeit eine Schlafstatt eingerichtet. Als er schließlich verschlafen in die grelle Morgensonne und zu all den Männern, Tieren und Habseligkeiten trat, die inzwischen eingetroffen waren, hatte Hauptmann Fulk am Tor Wachen und auf der Mauer Ausgucke postiert. Die übrigen Soldaten versammelten sich auf dem freien Gelände vor dem Tor. Edelmann Wichman, Edelmann Druthmar und die anderen Edelleute sahen von ihrem Platz im luxuriösen Schatten eines geräumigen Zeltdachs aus zu, genossen die freie Zeit, während sie an ihrem Wein nippten, Schach spielten und einander beim Lautenspiel zuhörten. Fulks Worte an die Soldaten klangen ernst. »Ihr werdet nicht in die Stadt gehen, es sei denn, es ist euch von mir oder Prinz Sanglant aufgetragen worden. Kein Markt. Kein Bordell. Keine Taverne. Ist das klar?« Derart entlassen, trieben sich die Soldaten missmutig in der Festung herum; es gab nichts weiter zu sehen als die eigenen Kameraden, nichts anderes zu tun, als bitteres Bier zu trinken. »Kein Wunder, dass das hier wie ein Gefängnis aussieht«, sagte Bärbeiß. »Genau das ist es auch.« 148 »Ich habe mich immer gefragt, wie die jinnischen Frauen wohl aussehen«, grübelte Lewenhardt. »Stimmt es, dass sie nackt durchs Feuer tanzen, um ihrem Gott zu huldigen?« »Das würde dir gefallen«, lachte Johannes, »bis du es selbst auch tun musst. Und dann würde dir das Feuer deinen -« »Still«, zischte Den. »Der Hauptmann kommt.« »Bruder Zacharias!« Hauptmann Fulk nickte seinen Soldaten zu, und sie zogen sich zurück. »Der Prinz möchte, dass eine kleine Gruppe auf den Markt geht, um herauszufinden, ob wir dort Vorräte und Führer für die Reise nach Osten bekommen können. Ihr habt im Grasland gelebt, Bruder. Ihr werdet wissen, nach welchen Dingen wir Ausschau halten müssen.« »Wagen.« Er erinnerte sich nur zu gut an die Wagen. »Das habt Ihr schon zuvor gesagt«, erklärte Fulk mit jener Skepsis, die vermutlich allen Westländern eigen war, die sich im Grasland nicht auskannten. »Wir wissen nicht, wie lange wir hier aufgehalten werden. Wir brauchen Vorräte und jede Menge Bier und Wein bei dieser heißen Sonne. Wulfhere wird mit Euch gehen, ebenso wie Robert, der Heiler von Edelfrau Bertha, der die arethusanische Sprache ein bisschen beherrscht.« Auf dem Weg zum Tor wurden sie von Gnade aufgehalten. »Nehmt mich mit! Ich will nicht hier bleiben!« »Prinzessin Gnade!« Matto kam schnaufend hinter ihr hergerannt. »Ihr müsst wieder ins Zelt gehen. Ihr wisst, was Euer Vater gesagt hat.« »Ich will nicht hier bleiben! Ich will den Palast der Statthalterin sehen. Ich will Leute mit Ohren sehen, die so groß sind wie Zelte. Vielleicht gibt es sogar einen Phönix auf dem Markt.« Matto zuckte zusammen, blickte schuldbewusst drein, während das Mädchen die Arme vor der Brust verschränkte und finster vor sich hin starrte. »Ich will mit ihnen gehen!« Wulfheres Gesichtszüge wurden weicher, als ihr Blick auf ihn fiel. »Was schadet es, wenn sie uns begleitet?«, fragte er. »Hat die Sonne Euch den Kopf verbrannt?«, fragte Zacharias. »Es gibt einen Sklavenmarkt in diesem Hafen!«
»Ich will den Sklavenmarkt sehen!« 149 Zacharias presste vor Wut die Zähne zusammen, aber er bemühte sich, daran zu denken, dass sie noch ein Kind war. »Es ist nicht witzig, auf einem Sklavenmarkt verkauft zu werden, wie ich ja wohl wissen muss. Wie wollt Ihr einen arethusanischen Dieb, der sieht, was für eine stolze, gute Edelfrau Ihr seid, daran hindern, Euch geradewegs zu stehlen und an die Ungläubigen zu verkaufen?« »Ich würde ihn beißen!« »Er würde Euch so kräftig schlagen, dass Ihr Euren Verstand verlieren würdet«, erwiderte Zacharias, was ihm einen scharfen Blick von Fulk einbrachte. Gnade hüpfte von einem Fuß auf den anderen; sie hatte nicht zugehört. »Ich würde ihn fünfmal beißen, bis er mich gehen lässt.« »Um Himmels willen, Wulfhere, redet ihr diese dumme Idee aus!« »Ein Tag Freiheit wird dem Kind nicht schaden«, murmelte Wulfhere gereizt. »Mir gefallen diese Hitze und der Staub ebenso wenig wie ihr. Dieser Ort ist unnatürlich.« »Unnatürlich, in der Tat! Wie könnt Ihr es für ungefährlich halten, dass sie auf dem Markt herumläuft, wenn wir nicht einmal wissen, wie wir von den Stadtbewohnern empfangen werden?« Gnade setzte ihre entzückendste Miene auf und stemmte die Fäuste in die Hüften; sie steuerte geradewegs auf einen großen Sturm zu. »Prinzessin Gnade.« Hauptmann Fulk bedeutete Matto, einen Schritt zurückzutreten. »Ich werde Euch persönlich auf den Markt begleiten, aber nicht heute. Jegliche Störung könnte den Verhandlungen Eures Vaters mit der Statthalterin schaden. Das würdet Ihr nicht wollen.« Hauptmann Fulk war der einzige Mensch - abgesehen von ihrem Vater -, dem sie wirklich Achtung entgegenbrachte. Alle anderen beachtete sie entweder nicht oder hielt sie fest an der Leine, wie einen ergebenen Hund. Sie runzelte so heftig die Stirn, dass Zacharias überrascht war, wieso nicht Wolken davon angezogen wurden und die unbarmherzige Sonne verbargen. »Ich gehe, so oder so«, murmelte sie. 150 »Ich muss tun, was Euer königlicher Vater mir befohlen hat, Eure Hoheit, und dafür sorgen, dass Ihr in diesem Lager bleibt. Wenn ich es nicht tue, wird er mich meines Ranges entkleiden und mich aus seinem Kriegstrupp werfen, was nur richtig wäre.« Der Gedanke, dass jemand, den sie mochte, von ihrer Seite gerissen werden würde, war ihr unerträglich. Mit einem verletzten Seufzen stapfte sie davon. Matto eilte ihr nach, während Fulk hilflos den Kopf schüttelte. »Wo ist eigentlich Anna?«, fragte der Hauptmann, aber niemand der Umstehenden wusste es. »Gehen wir los, solange wir noch können«, sagte Zacharias zu seinen Begleitern. »Ein halsstarriges Kind«, bemerkte Edelfrau Berthas Heiler, als sie zum Tor eilten. Robert war kahl, klein und dick, aber er hatte schöne Hände, langgliedrige Finger und lachte gern - was bemerkenswert war angesichts des vielen Leids, das er bei seiner Arbeit schon gesehen haben musste. »Es kommt mir aber so vor, als würde ihr Körper schneller wachsen als ihr Geist. Wann werden sie einander einholen?« »Ja, wann?«, murmelte Wulfhere. Die Wachen taten kund, was sie sich am meisten von der Stadt erhofften: Wein, Frauen oder wenigstens einen süßen Apfel. Der Eingang zur Festung wurde von einem außergewöhnlich tiefen Graben geschützt, dessen Seiten senkrecht abfielen und nicht erklommen werden konnten. In diesen Spalt hatte Fulk Bulkezu hinabgelassen. Zacharias sah den qumanischen Begh dort unten auf und ab gehen. Der Gefangene blickte hoch, als die Männer geräuschvoll die Brücke überquerten, die den einzigen Zugang zur Festung darstellte. »Ich kann riechen, dass der Wurm herauskriecht. Willst du dich auf dem Sklavenmarkt verkaufen, Wurm? Vermisst du ihn so sehr?« Zacharias stolperte weiter, sprang auf den festen Boden und wartete nicht auf die anderen, sondern eilte den Weg entlang, der um die Mauer herum zurück zur Stadt führte. Aber sie holten ihn dennoch ein. Barmherzigerweise erwähnten sie Bulkezu nicht. 151 »Die Erbauer haben sich anscheinend mehr vor der Steppe gefürchtet als vor dem Meer«, bemerkte Wulfhere, während er die Lage der Festung musterte; die Tore waren zum Wasser ausgerichtet, nicht zum Land. »Es heißt, dass es im Grasland Männer gibt, die sich in Wölfe verwandeln können«, sagte Robert. »Schenkt Ihr allem Eure Aufmerksamkeit, was an Euer Ohr dringt?«, fragte Wulfhere mit einem Lachen. »Viele Dinge dringen an mein Ohr, und wie ich festgestellt habe, ist es unklug, ihnen meine Aufmerksamkeit nicht zu schenken.« Robert kam aus dem Westen, aus dem Grenzland zwischen Varingia und Salia. Er hatte nie erklärt, wie er in den Dienst der Edelleute der Marklande geraten war, weit entfernt von seiner Heimat, und Zacharias hatte auch nicht vor, ihn zu fragen, seit er einmal einen Blick auf ein Sklavenzeichen an seiner rechten Schulter erhascht hatte. Er war ein paar Salianern begegnet, die aufgrund von Schulden oder Armut aus ihren Heimen vertrieben und als Sklaven an die qumanischen Stämme verkauft worden waren. Wer nicht an Hunger oder den Folgen der Misshandlungen gestorben war, war an Verzweiflung zugrunde gegangen.
Sie kamen schon bald an die Grenze der Stadt, wo sich die Gärten, Pferche, Weiden, Hütten und Häuser derjenigen befanden, die sich innerhalb der Mauern kein Fleckchen Erde zum Leben leisten konnten. Kinder liefen neben ihnen her und riefen ihnen in ihrer schnatternden Sprache etwas zu. Sie hatten die unterschiedlichsten Gesichter, hätten ebenso mit qumanischen Reitern verwandt sein können wie mit Kaufleuten aus Aosta, mit arethusanischen Seeleuten oder jinnischen Priestern, mit dunklen Kartiakanern oder den verschlagenen und mächtigen Sazdakhen-Kriegerinnen mit ihren breiten Gesichtern und den grünen Augen. Allerdings gab es keine blonden Menschen unter ihnen. Wulfhere wirkte wie ein stolzer silberner Wolf unter schäbigen Mischlingshunden. Die Wachen am Tor weigerten sich zunächst, sie in die Stadt einzulassen, aber Robert hatte ein paar ungrianische Münzen dabei, um sie zu bestechen. Sie schritten durch einen tunnelähnlichen Durchgang, der in 152 die breite Mauer getrieben worden war, und gelangten schließlich in die Stadt. Die Gassen stanken bedrohlich, waren voller Abfälle, die in der Hitze vor sich hin faulten. Und doch waren unzählige Leute unterwegs, gingen eifrig ihren Besorgungen nach und achteten sorgfältig darauf, wohin sie ihre Füße setzten. »Nehmt Euch vor Taschendieben in Acht«, warnte Zacharias. Ein paar Köpfe drehten sich nach ihm um, als sie die unbekannte Sprache hörten. Auch Wulfheres Haare erregten Aufmerksamkeit, aber die meiste Zeit blieben sie unbehelligt. Zu viele Reisende kamen in einen Hafen wie Sordaia, als dass drei schmuddelige Besucher wirklich Aufsehen hätten erregen können. Sie passierten mit Mauern eingefasste Flächen, ein Dutzend der außergewöhnlichen achteckigen arethusanischen Kirchen und einmal auch einen runden jinnischen Tempel mit dem steilen Dach und der in der Mitte geradewegs gen Himmel ragenden Säule. Am oberen Teil dieser Säule flatterten zerfetzte Banner aus rotem Tuch träge im Nordwind. Eine schwache Rauchschwade wirbelte an der Säule hoch, deutete darauf hin, dass im Innern des Tempels ein Feuer brannte. »Stimmt es, dass sie die Gläubigen bei lebendigem Leib verbrennen ?«, flüsterte Robert, kaum dass der Tempel außer Sicht geraten war. »Dass ihre Priesterinnen sich mit jedem Mann paaren, der mutig genug ist, ins Feuer zu treten?« Wulfhere schnaubte. »Ich weiß es nicht.« Zacharias blickte sich unruhig um. »Auf jeden Fall droht jenen der Tod, die solche Rituale bezeugt haben und darüber sprechen. Seid vorsichtig, was Ihr sagt, sonst sprecht Ihr noch etwas Wahres aus und bekommt dafür ein Messer zwischen Eure Rippen.« »Kann uns hier irgendjemand verstehen?«, fragte Robert. »Ich habe noch keine Seele Wendisch sprechen hören.« Dies wurde sogar noch offensichtlicher, als sie den Hafen mit den Docks und den Lagerhäusern erreichten. Zacharias hörte ein Dutzend Sprachen, die einander antworteten und sich vermischten, aber kein einziges klares wendisches Wort. Hier, im Hafen von Sordaia, handelte der Norden mit dem Süden, aber die Stadt lag so 153 weit im Osten, dass der Westen - also ihr eigenes Land - nur eine Geschichte war, die man den Kindern erzählte. Schiffe löschten ihre Ladung - Stoffe und Gewürze und kostbare Trinkgefäße aus Jade - für jene reichen Beghs im Grasland, die lieber handelten als stahlen. Holz, das von den Wäldern im Norden den Fluss hinuntergeflößt worden war, lag stapelweise neben eingezäunten Plätzen voller Fuchsfelle, Bärenfelle und weicher Marderpelze und wartete darauf, verladen zu werden. Offene Schuppen bargen Amphoren mit Korn, das dazu bestimmt war, die große Stadt zu ernähren, von der aus die arethusanischen Herrscher ihr Land von Ketzern regierten. Der Sklavenmarkt war stets geöffnet. Robert blieb abrupt vor einer Reihe von hellhäutigen, rothaarigen und vollkommen nackten jungen Frauen stehen, die aneinander gebunden eine Plattform hinaufgestoßen wurden, damit die Kunden sie mustern konnten. Jinnische Kaufleute mit Kopfbedeckungen, verschleierte Frauen aus Hessi, arethusanische Eunuchen mit bartlosem Kinn und andere Leute, deren äußere Erscheinung Zacharias keinem Volk zuordnen konnte, prüften die Kraft der Beine, die Festigkeit der Brüste oder klopften gegen Zähne und musterten die Linien der Handflächen. »Müssen wir unbedingt zusehen?«, fragte Zacharias. Er schwitzte stark, als er die Tränen in den Gesichtern derjenigen sah, die an neue Herren verkauft werden würden. Wenn er noch länger hier stehen blieb, würde er sich an den Tag erinnern, an dem ihm das Gleiche widerfahren war. »Sie brauchen nicht auch noch Zuschauer, die sie in all ihrem Unglück anstarren!« Sie gingen weiter zu den Kais, wo gerade zwei Schiffe vertäut wurden. Die Mittagssonne begann, sich gen Westen zu senken, und die Schiffe, die Sanglants Heer befördert hatten, nahmen bereits neue Ladung auf. Robert und Wulfhere gingen los, um den Kapitän zu suchen, mit dem Sanglant gereist war, denn der Mann kannte Sordaia gut und hatte versprochen, ihnen ehrliche Kaufleute zu empfehlen. Zacharias folgte ihnen nicht sofort. Seine Aufmerksamkeit wurde von einem Stallburschen und einem wunderschönen grauen Hengst in Beschlag genommen; der Mann ver154 suchte, das Tier die Landungsbrücke eines gerade erst eingetroffenen Schiffes herunterzuführen. Jedem Schritt
nach vorn folgte ein nervöses Zurückscheuen, während an Deck ungeduldig ein Reisender wartete, erpicht darauf, ebenfalls von Bord gehen zu können, woran ihn das ängstliche Pferd jedoch hinderte. Der Mann machte einen Satz zur Seite, um nicht von dem Tier getreten zu werden. Ein Westländer, dachte Zacharias, während er den leichten Umhang des Fremden und den Hut mit der breiten Krempe musterte. Wenn er auch kein besonders großer Mann war, deutete seine arrogante Haltung doch auf eine Person von edler Geburt hin, und sein Gewand und der geschnitzte Ebenholzstab, auf den er sich stützte, legten nahe, dass es sich um einen hochrangigen Geistlichen handelte. Ein Diener war bei ihm, ein untersetzter Mann, der die Schultern hängen ließ und dessen Rumpf behängt war mit zusammengerollten Bündeln und einer kleinen, versiegelten Holzkiste; es war fast zu viel Gepäck für einen einzigen Menschen. Der Stallbursche redete dem Hengst erneut gut zu. Das Tier machte einen Schritt, schnaubte und scheute zurück. Das war zu viel für den Mann aus dem Westen. Er machte dem Stallburschen gegenüber eine Bemerkung, und der stark schwitzende Mann nickte heftig, als würden auch tausend Entschuldigungen nicht genügen. Dann zog er das Pferd mit einiger Mühe an den Zügeln zu sich. Der Hengst trat zur Seite, warf unruhig den Kopf hin und her. Es war ein wunderschönes Tier, in seiner wilden, männlichen Schönheit Prinz Sanglant nicht ganz unähnlich, empfänglich für die Berührung des Windes und das Schwanken des Schiffes im Wasser, das immer wieder gegen die Pfosten stieß. Noch mehr Menschen waren inzwischen gekommen und sahen ebenfalls zu; ein solch herrliches Geschöpf gab es nicht jeden Tag zu bewundern. Jemand prallte gegen ihn; es war der schwer beladene Diener vom Schiff, der seinem Herrn den Weg durch die Menge bahnte. Gekleidet in das Gewand eines Geistlichen ging der Edelmann an Zacharias vorbei; die Hutkrempe war derart gebogen, dass er einen Blick auf das Gesicht darunter erhaschen konnte: ein dunkelhaari155 ger Mann, glatt rasiert wie ein Kirchenmann, mit geschürzten, abschätzigen Lippen. Sein Blick schweifte über die Menge, glitt an Zacharias vorbei, während er seinem Diener rasch folgte. War da etwas Vertrautes an dem Mann? Oder kam es ihm nur so vor, weil sich in einem Land voller Barbaren alle Westländer ähnelten ? Der Druck der Menge hatte ihn von Wulfhere und Robert getrennt. Er war allein. Oh, Gott, an einem Ort wie diesem war er von Sklavenhändlern ergriffen worden. Das Zittern kam so plötzlich, dass er schon fürchtete, die Beine würden ihm den Dienst versagen. Seine Kehle schnürte sich zu, und er konnte kaum Luft holen. Er schwankte benommen, und seine Handflächen wurden feucht. Niemand sonst litt unter dem schwankenden Boden, nur er allein. Stürmisch drängte er sich durch die Menge, sah sich unter den Turbanen der arethusanischen Marktfrauen und den roten Kappen und Pferdeschwänzen der jinnischen Kaufleute um, bis er Wulfhere entdeckte, der sich ebenfalls zwischen den vielen Menschen hindurchzwängte. Robert war nirgends zu sehen. Zacharias hob zitternd die Hand. Er wollte etwas rufen, brachte aber kein Wort heraus. Wulfheres Miene veränderte sich so abrupt, wie eine Lawine das Antlitz eines Berges verändert. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, und die Brauen wölbten sich. Sein vernarbtes Gesicht zeigte einen Hauch von Panik oder Freude, bevor es sich wieder in eine steinerne Maske verwandelte. Er drehte sich um, entdeckte Zacharias und drängte durch die Menge hindurch auf ihn zu. Zacharias' Herz klopfte so heftig, dass er ganz außer Atem war. Er kam gegen die vielen Leute nicht an, die ihn immer weiter von Wulfhere wegtrieben. Der Hengst wieherte laut, und gerade als Zacharias von der Wucht eines gegen ihn prallenden Mannes halb herumgewirbelt wurde, sah er, wie der Hengst sich losriss. Anmutig sprang das Tier von der Landungsbrücke herunter, landete mitten in der Menge und trampelte einen unglücklichen Zuschauer nieder. Die Leute schrien und stoben auseinander. 156 Zacharias brüllte laut, konnte sich vor Schreck jedoch nicht von der Stelle bewegen. Die Menge um ihn herum wogte, als die Leute versuchten, dem wild gewordenen Hengst auszuweichen, der jetzt bockte und um sich trat wie ein Dämon. »Dieser närrische Stallbursche!« Wulfhere tauchte auf, packte Zacharias am Handgelenk. »Er hätte bis zum Abend warten sollen, wenn hier Ruhe einkehrt -« Die nächsten Worte blieben ihm beinahe im Hals stecken. »Mögen Gott uns helfen!« Wiehernd stellte sich der Hengst auf die Hinterbeine. Er hatte sich Platz geschaffen, auch wenn mehrere Menschen als Folge davon auf dem Boden lagen; einige rührten sich und krabbelten weg, andere lagen reglos an Ort und Stelle, wo sie gestürzt waren. Blut bedeckte die Pflastersteine. Der Stallbursche rief seinen Kameraden auf dem Schiff etwas zu, und sie brachten ihm ein Seil, stürzten sich jedoch nicht schnell genug ins Gewühl. Denn in diesem Augenblick trat eine kühne Seele vor und stellte sich dem grauen Hengst entgegen. Ein einzelner Mensch war begierig darauf, sich gegenüber dem wilden Geschöpf zu beweisen, das jetzt die Docks in Angst und Schrecken versetzte. Ein kleines, dickköpfiges und unbekümmertes Kind - zu verwöhnt, um die Bedeutung von Vorsicht oder die Kraft eines Tieres zu ermessen, das deutlich größer und um einiges stärker war als es selbst. »Gnade!« Wulfhere steckte hinter einer Gruppe von kräftigen Seeleuten fest, die lauthals Wetten darüber abschlössen, ob das Mädchen unter die Pferdehufe geraten würde oder nicht. »Bruder Lupus!«, rief eine Stimme siegesgewiss hinter Zacharias. »Habe ich Euch endlich gefunden!«
2 Zu Sanglants Überraschung begrüßte die arethusanische Statthalterin ihre Besucher nicht am marmornen Säulengang zum Palast, sondern ließ sie in der Sonne warten, gewährte ihnen noch nicht einmal den Schatten, den die Kolonnade bot. Ein glatt rasierter Eu157 nuch erklärte auf Arethusanisch, dass er erst ihre Namen und Titel auswendig lernen müsse, ehe er sie der Höchst Erhabenen Edelfrau Eudokia vorstellen könne. »Was für eine Brüskierung«, murmelte Sapientia, und ihre Haut rötete sich - entweder von der Hitze oder vor Ärger. »Wir werden behandelt wie arme Bittsteller! Wie Gewöhnliche müssen wir draußen in der Sonne stehen! Die Statthalterin hätte uns persönlich empfangen und in den Palast führen müssen!« »Sei still.« Tatsächlich wusste Sanglant nicht, wie er die herablassende Haltung des Eunuchen deuten sollte, der sie anstarrte, als wären sie ein paar wertvolle Pferde, die ins Haus geschafft werden sollten, damit die Herrscherin sie sich ansehen konnte. Sapientia schwieg, kochte aber innerlich. »Heribert, ich bitte dich, tu dein Möglichstes.« Während Heribert auf Arethusanisch mit dem Eunuchen feilschte, warf Sanglant einen Blick auf die anderen Kameraden, die er als Begleitung ausgewählt hatte: Edelfrau Bertha, weil sie darauf bestanden hatte, mitzukommen, Hauptmann Istvan, weil er schon zuvor in arethusanischen Städten gewesen war, drei junge Edelleute, die klug genug waren, sich nicht zu äußern, Hathui und zwanzig seiner besonnensten Soldaten. Sie alle schwitzten heftig. Es war fast Mittag, und die Sonne brannte jetzt doppelt so heiß. Bertha zwinkerte ihm zu. Sie schien sich als Einzige zu amüsieren. Zweifellos lag es auch an der Hitze, dass Heriberts Ärger anschwoll und es zwischen ihm und dem Eunuchen, der in seinem Leinengewand und den juwelenbesetzten Schuhen ganz und gar nicht zu schwitzen schien, zu einem heftigeren Wortwechsel kam. Er endete damit, dass der Eunuch sich hinter die Tür zurückzog. »Worüber habt ihr gestritten?«, fragte Sanglant, als Heribert zu ihm zurückkehrte. »Über den Titel, mit dem er dich und Prinzessin Sapientia bei der Statthalterin vorstellen wird. Der Schatzmeister war der Meinung, dass ein Wort genügen würde, das so viel bedeutet wie >Edelmann< und >EdelfrauPrinzeps< vorgestellt werden.« »Aha.« »Vertrau niemals den Arethusanern, Sanglant. Sie sind verschlagen, gierig und schmeicheln dir, während sie gleichzeitig deinen Geldbeutel stehlen. Ränge bedeuten ihnen alles. Handle dort, wo es nötig ist, aber gib ihnen niemals etwas, das dich in ihren Augen klein macht.« »Wieso müssen wir diese Beleidigungen erdulden?«, wollte Sapientia wissen. »Wir sollten einfach verschwinden!« »Wir brauchen die Unterstützung der Statthalterin, um uns für eine Reise ins Grasland mit Vorräten auszustatten«, sagte Sanglant. Es ermüdete ihn, dass er es Sapientia ein weiteres Mal erklären musste. »Wir werden auch Führer benötigen.« »Haben wir nicht Bulkezu als Führer?«, entgegnete sie. »Ist das nicht der Grund, weshalb du ihn am Leben gelassen hast?« »Ich möchte mich nicht nur auf ihn verlassen müssen, aber ich verspreche dir, Schwester, er wird uns am Ende dienen. Und was die Statthalterin betrifft, müssen wir so diplomatisch wie möglich vorgehen. Es sollte hier keinen Ärger geben, mit dem wir uns dann auf dem Rückweg herumschlagen müssen.« Die schweren Türflügel öffneten sich lautlos, von unsichtbaren Gestalten zurückgezogen, und der Eunuch tauchte wieder auf. Sein jadegrünes Gewand wirbelte ihm um die Beine, während er ihnen bedeutete, ihm zu folgen. Kaum waren sie im Palast, wurde die Hitze einigermaßen erträglich. Marmorböden schmückten die Kolonnaden. Der Palast zeugte von großem Wohlstand, gemessen daran, dass er sich in einer Handelsstadt im Grenzland befand. Sie passierten einige Innenhöfe, in denen Brunnen plätscherten, und erhaschten Blicke in Zimmer, die mit Verzierungen aus Gold und Elfenbein und edelsteinbesetzten Diwanen ausgestattet waren. Schließlich betraten sie eine schattige Laube, die mit dichten Weinreben bewachsen und durch vorzüglich gearbeitetes Flechtwerk abgeschottet war. Ein Dutzend Soldaten hielt mit Speeren in den Händen Wache. Drei Eunuchen flüsterten in einer schattigen Ecke neben einem mit Wein und Früchten beladenen Tisch mitei159 nander. Zwei Sklaven an beiden Seiten eines Sofas fächerten der Frau Luft zu, die sich entspannt zurückgelehnt hatte und sie beäugte, als wären sie Kröten, die an einen Ort gelangt waren, an den sie nicht gehörten. Sie hatte die Blüte ihrer Jahre bereits überschritten, in ihrer kunstvollen Frisur zeigten sich graue Strähnen, und an ihrem Kinn wuchsen zwei borstige schwarze Haare. Die kostbaren Ringe an ihren kurzen, dicken Fingern und der Glanz des Goldes, das schwer an ihrem Hals hing, kündeten von ihrem Rang. Ein schlichter Goldreif krönte ihren Kopf. Sanglant war es unmöglich, ihre Größe oder Figur zu erkennen, denn eine leichte Decke verbarg sie. Nach allem,
was er wusste, hätte sie auch eine Lamia sein und einen Schlangenkörper an der Stelle haben können, wo eigentlich Beine sein sollten. Ganz sicher zeigte ihre Miene keinerlei Willkommenslächeln, und auch ihre winzigen Maulwurfsaugen beäugten ihn nicht interessiert, sondern voller Verachtung. Zwei wacklige Schemel standen vor ihr - die Art von Sitzgelegenheit, auf der ein Stalljunge Platz nehmen würde, wenn er seine Kühe molk. »Sollen wir uns etwa da drauf setzen?«, zischte Sapientia. »Sicherlich gibt es noch ein weiteres Sofa«, sagte Sanglant zu Heribert, bevor er sich an den Eunuchen wandte, der sie eingelassen hatte. Er wusste, wie er einen Hauch von Drohung in sein Lächeln legen konnte. Er wusste, wie er einen Schritt vortreten und seine Größe einsetzen konnte, ohne aggressiv zu wirken. Er wusste, wie man sich unmerklich drohend aufbauen konnte. »Ich kann auf einem solchen Stuhl nicht sitzen, aber wenn es sein muss, kann ich auch vor meiner lieben Verwandten, der Erhabenen Edelfrau Eudokia, stehen.« Natürlich war es nicht gut, wenn er so groß und drohend dastand und die Statthalterin in seiner Gegenwart wie eine Gebrechliche wirkte. Also schleppten zwei Bedienstete ein zweites Sofa herbei und stellten es in gebührendem Abstand zur Statthalterin ab. Als Erste ließ Sapientia sich - am Kopfende - nieder. Sanglant wartete, bis Bertha und Hauptmann Istvan auf den Schemeln 160 rechts und links vom Sofa Platz genommen hatten; die anderen stellten sich hinter ihm in einem Halbkreis entsprechend ihrem Rang auf. Erst dann setzte Sanglant sich ans Fußende des Sofas. Es war so niedrig, dass er die langen Beine ausstrecken musste, was ein Hindernis für die Eunuchen darstellte, die herbeieilten und Wein anboten. Trotz seines Durstes brachte er das üble Gebräu, das wie ein Gemisch aus Pech, Harz und Gips schmeckte, kaum herunter. Dann sprach die Statthalterin plötzlich. Sie hatte eine bemerkenswert sanfte Stimme, die gar nicht zu ihren unfreundlichen Gesichtszügen passte. Dem Klang ihrer Worte war unmöglich zu entnehmen, was sie sagte. Heribert errötete, und seine Wangen wurden heiß. »So spricht die Höchst Erhabene Edelfrau Eudokia«, sagte er, aufrichtig bemüht, eine ruhige Miene aufzusetzen. »>Ich bin verpflichtet, jenen Edelleuten, die in meine Provinz kommen, einen höflichen Empfang zu gewähren. Ich weiß, dass Ihr die Tochter von Prinzessin Sophia seid, meiner Verwandten, die ihrer Sünden wegen in die barbarischen Königreiche verbannt wurde. Und doch, wie kann ich in gutem Glauben die Kinder eines Herrn bewirten, der höchst gottlos in Aosta eingefallen ist, in Länder, die längst geschworen hatten, meinem Verwandten, dem Höchst Gerechten und Heiligen Kaiser von Arethusa, zu dienen? Dieser feindselige Eindringling hat die heilige Stadt Darre in Besitz genommen, die rechtmäßig jenen von uns gehört, die sich zum wahren Glauben bekennen. Er hat meine Landsleute ins Exil gezwungen. Er hat Städte niedergebrannt, die sich dem Glauben an den Höchst Gerechten und Heiligen Kaiser verschrieben haben, und er hat treue Stadtbewohner niedergemetzelt. Er schickt seine ketzerischen Priester aus, die in unserer westlichsten Provinz Dalmiaka umherstreifen, und verfolgt dabei Pläne, deren Bösartigkeit ich nicht abschätzen kann.Ein Novize, vergiftet durch Ketzerei.An meinen Vater, Seine Glorreiche Majestät Henry, König von Wendar und Varre, sende ich, seine treue Tochter Theophanu, aufrichtige Gebete für seine Gesundheit, sein Wohlergehen und seine Weisheit. Ich bitte Euch, mein König, lasst meine flehenden Worte Euer tiefes Mitleid für den Zustand Eures Königreichs erwecken.Schon oft habe ich solche Dinge vernommen, Ihr, die Ihr mit jedem Atemzug Ärger bereitete Es ist der Feind, der Euch hartnäckig im Streite macht, der Euch dazu bringt, mit Euren Reden die Herzen des einfachen Mannes und der leichtgläubigen Frau in Unruhe zu versetzen. >Ist es möglich, dass Gott uns in die Klauen der Übeltäter geworfen haben, dass sie uns der Gnade derer überlassen haben, die sich der Bosheit hingehend Wenn Ihr mit Gott gehen wollt, dann geht in Schweigen und befreit Euer Herz vom Griff des Feindes. Lasst keine weiteren solcher Geschichten hören, die sich wie eine Plage auf der Erde verbreiten.« Die Steinsäulen saugen seine scharfen Worte in zurückhaltendem Schweigen auf. Eingemeißelte Blumen krönen jede Säule, und auf diesen Blumen ruhen Dachgewölbe, die mit Reben verziert sind. Hoch oben an der Wand über dem mittleren Altar ste301 hen die Gipsstatuen der Märtyrer; jede einzelne von ihnen stellt einen Gipfel der Heiligkeit dar. Ihre ernsten Mienen bewegen sich nicht; das können sie auch nicht, denn sie sind nur Darstellungen. Und doch dringt ihr unveränderlicher Blick tief in sein Herz. Tot. Tot. Tot. Alle tot. Im Mittelschiff leben Mäuse. Er lockt ein paar von ihnen aus ihren Verstecken, wenn er spät in der Nacht vor der Nachtmette nicht schlafen kann und wie ein Schatten im Kloster herumläuft, von einem Ort zum anderen. Sie schlüpfen in seine Hand, so klein und hilflos und warm, geben ihm geringfügigen Trost. Stammt das Scharren von ihnen? Er hat ein scharfes Gehör, seit er sich an den Aikha-Prinz gebunden hat, der als Starkhand bekannt ist. fetzt hört er nicht das Trippeln der Mäuse auf Holz, sondern das Keuchen eines Menschen, das Kratzen von Fingern auf dem Arm eines anderen, um dessen Aufmerksamkeit zu erwecken. Er blickt nach rechts und erhascht einen Blick auf zwei Männer, die die geflickten, aber sauberen Überwürfe von Löwen tragen. Sie starren ihn entsetzt und staunend an, den Mund aufgerissen, das Gebet vergessend. Genau wie er lauschen sie nicht mehr der Predigt des Abtes, die jetzt donnernd ihr Ende erreicht, während von den versammelten Mönchen, Novizen, Arbeitern und Besuchern die Bitte um Vergebung aufsteigt. Sie starren ihn an, als würden sie ihn erkennen. Die hohen Wände drehen sich um ihn. Die gewölbte Decke erzittert, die Reben zucken. Von draußen hört er Rage jaulen. Ist das nicht der junge Löwe Dedi, der eines Abends beim Würfelspiel gewonnen und dafür von dem armen, dummen Folquin eine Tunika erhalten hat? Der ältere Mann hatte sich als Onkel des jungen ausgegeben, und vermutlich war er das auch. Doch die beiden sind vor langer Zeit im Osten gestorben. Ist diese Kirche ein Sammelplatz für tote Seelen, die im Fegefeuer gefangen sind, so wie er selbst? Wieso ist dann Adica nicht bei ihm? Er beugt sich vornüber, als die Männer um ihn herum im Ge302 bet auf die Knie sinken, aber er kann nichts mehr sehen oder hören, während er gegen heiße Tränen ankämpft. Die Trauer frisst sich tief in seinen Bauch. Klauen zerreißen sein Herz. Er sackt neben den anderen Arbeitern nach vorn und verharrt so, bis der Anfall ihn ertränkt. »Wer ist dieser junge Mann, den sie sieht?« Die Worte rissen Hanna zurück, und ihr Kopf war voller Fragen. Wie kommt es, dass er noch lebt? Was bekümmert ihn so? Nein, sie musste sich konzentrieren. Es war so lange her, seit sie Liath zum letzten Mal gesehen hatte - damals, im Palast von Werlida, als Liath in Ungnade gefallen war, nachdem sie Sanglant gegen den Willen von König Henry geheiratet hatte. Eines Nachts war sie dann heimlich davongeritten und nicht mehr zurückgekehrt, aber Hanna sah sie immer noch deutlich vor sich, groß, ein bisschen zu schlank, als bekäme sie nie genug zu essen, die Haare zu einem Zopf geflochten, die Augen leuchtend blau. In Friedleben hatte niemand daran gezweifelt, dass Liath und ihr Vater Edelleute waren, vom Rad des Schicksals auf die Erde geschickt. Aber Liath hatte Hanna aufgrund ihres unterschiedlichen Ranges nie anders behandelt. Liath hatte sie einfach nur als eine andere Seele betrachtet, die vor Gott gleich war. Oh, Gott. Wo war Liath jetzt? Feuer flackerte hell in den Kohlen, bevor es so rasch erstarb, als hätte ein eisiger Wind es ausgelöscht. Sie sank wieder auf die Fersen, schwitzte und zitterte. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Weinte sie um Liath, um Alain oder um sich selbst? Sie wischte sich die Nase ab.
»Nichts«, sagte Hugh. »Wie ich Euch gesagt habe, Liath wandelt nicht mehr auf dieser Erde.« »Wer ist dieser junge Mann, den sie gesehen hat?«, fragte die Skopos erneut. »Er kommt mir vertraut vor ... nein, ich kenne ihn nicht.« »Die Hunde bei ihm könnten Nestbrüder von dem sein, der mich bewacht. Ist der hier nicht ein Abkömmling von Taillefers berühmten Hunden? Wieso sehe ich seinesgleichen an der Seite ei303 nes gewöhnlichen Jungen? Adler, was für ein Mann war das, den Ihr in den Flammen gesehen habt?« Wie konnte sie eine Zauberin anlügen, die so mächtig war, dass sie in die Vision sehen konnte, die Hanna mit ihrer Adlersicht erschuf? »Seine Name ist Alain, Heilige Mutter. Er war der Erbe von Graf Lavastin, bis -« »Lavastin!« Hanna zuckte bei dem scharfen Ton zusammen, aber die kleine Bewegung machte den Hund argwöhnisch, und so kam er unter dem Thron hervor und baute sich vor ihr auf. Das Knurren in seiner Kehle war so leise, dass es fast nicht zu hören war. Sie wich zurück. Nur ein einziger Befehl, und er würde ihr das Gesicht zerfleischen. »Lavastin.« Das Wort klang wie die Berechnung eines Feldherrn, der kurz davor stand, sich auf einen heiligen Feldzug zu begeben. »Schwester Abelia, Ihr werdet morgen aufbrechen und Bruder Severus aufspüren. Ich möchte, dass dieser Alain gefunden und zu mir gebracht wird.« »Ja, Heilige Mutter.« Die Skopos erhob sich und verließ mit ihrer Begleiterin den Raum. Der Hund tappte gehorsam hinter ihr her. »Wisst Ihr, wo Liath ist, Hanna?«, fragte Hugh, als der Vorhang an Ort und Stelle zurückgefallen war. »Habt Ihr sie in den Flammen gesehen?« »Nein, Eure Exzellenz.« »Wisst Ihr, was aus ihr geworden ist, Hanna?« »Ich habe die Geschichte gehört, die Prinz Sanglant erzählt hat - dass glühende Daemonen sie gestohlen hätten.« »Glaubt Ihr diese Geschichte?« Sie heftete ihren Blick auf das Wandgemälde. Das Beben hatte im Gips einen Riss erzeugt, der mitten durch den linken Fuß des heiligen Daisan verlief. »Aus welchem Grund sollte Prinz Sanglant lügen, Eure Exzellenz?« »In der Tat, aus welchem Grund?« Ein Blick sagte ihr alles, was sie wissen musste: Er war nicht Bulkezu, der den Kampf der Willenskräfte schätzte. Er sah sie nicht 304 einmal an; er hatte sie bereits entlassen. Das Ungeheuer Bulkezu hatte in ihr jemanden mit einiger Bedeutung gesehen, sie fast als Kameradin betrachtet, weil sie das Glück einer kerayitischen Schamanin war. Weil sie es gewagt hatte, sich ihm zu widersetzen. Für Hugh war sie lediglich eine Dienerin. Er erinnerte sich nur wegen ihrer Verbindung zu Liath an ihren Namen. Sie zählte ganz und gar nicht für ihn - nur Liath zählte, damals und jetzt. Was ihr eine gewisse Freiheit gab, die sie bei Bulkezu nie gehabt hatte. »Prinz Sanglant ist kein Dichter, Eure Exzellenz. Die Dichter sind es, die Geschichten erfinden, um ihre Zuhörer zu verwirren und zu täuschen. Ich glaube nicht, dass er eine falsche Fährte legen würde, um seine Feinde in die Irre zu führen. Das ist nicht seine Art.« Er gab ein kleines Geräusch von sich, das nach Zustimmung klang. »Nein, er ist kein gebildeter Mann. Da ist auch ein Kind. Lebt sie noch?« »Als ich den Prinzen das letzte Mal gesehen habe, ja.« »Sieht sie aus wie ihre Mutter?« Seltsamerweise trieb ein kalter Luftzug durch die Halle und strich über ihren Nacken. »In gewisser Hinsicht, Eure Exzellenz. Sie sieht sowohl ihrer Mutter als auch ihrem Vater ähnlich. Sie ist noch sehr jung.« »Noch sehr jung«, murmelte er, als würde er mit sich selbst sprechen, als hätte er vergessen, dass Hanna da war. »Und weich und gefügig, wie es die Jugend oft ist. Es ist zu schade, dass Bruder Marcus versagt hat. Doch es könnte noch eine andere Möglichkeit geben ...« Sie machte sich auf weitere Fragen gefasst. Es kamen keine. Er hatte sie bereits vergessen. Sie verlagerte ihr Gewicht auf die Fersen, um den Druck von den Knien zu nehmen. Von draußen war wieder das Harken zu hören. Als Hughs Schweigen sich in die Länge zog, begann sie mitzuzählen. Sie war bei neunundvierzig angekommen, als Hugh wieder sprach. 305 »Ja. So muss es gehen.« Er eilte zur Tür, blieb stehen und drehte sich um. »Kommt, Hanna. Ihr müsst Euren Bericht abgeben. Ein Geistlicher wird ihn aufschreiben.« »Eure Exzellenz.« Sie stand auf. »Es ist die Pflicht eines Adlers, dem Herrscher direkt zu berichten.« Er wartete in einem Streifen Sonnenlicht. »Eure Treue ist lobenswert. Aber es ist nicht möglich, dass Ihr heute dem König berichtet. Er ist zu beschäftigt, um Euch zu empfangen.« »Dann werde ich warten. Es ist der Befehl des Königs persönlich, dass wir Adler nur ihm allein Bericht erstatten, wenn wir an seinen Hof kommen. Ich wage es nicht, dem ausdrücklichen Befehl des Königs zuwiderzuhandeln,
Eure Exzellenz. Bittet mich nicht, gegen den Eid zu verstoßen, den ich König Henry geschworen habe.« Seine Lippen zuckten vor Ärger, und er ballte die rechte Faust, diejenige, mit der er Liath meistens geschlagen hatte. Aber dies war nicht der rücksichtslose, hochmütige junge Frater, der die Schmach erlitten hatte, dem halb heidnischen, gewöhnlichen Volk der Nordmark mit kaum verhohlener Verachtung als Geistlicher dienen zu müssen. Dieser Mann besaß den Rang eines Presbyters, den Respekt seiner Kameraden, die Liebe der gewöhnlichen Aostaner und eine beispiellose, aufgrund seines bescheidenen Benehmens und seiner unbestreitbaren Schönheit angenehm erscheinende Machtfülle. Er unterhielt sich mit der Heiligen Mutter und stand zur Rechten des Königs und der Königin, die schon bald Kaiser und Kaiserin sein würden. »Nein, und das solltet Ihr auch nicht«, sagte er schließlich mit vollkommener Liebenswürdigkeit. »Es ist der Eid dem König gegenüber, der einem Adler Ehre verleiht. Ihr seid zusammen mit Prinz Ekkehard von den Qumanern gefangen genommen worden, nehme ich an?« »Ja, Eure Exzellenz.« »Wie sollen wir dann wissen, ob Ihr Euch nicht auch gegen Eure Landsleute gewandt habt, sofern diese Geschichte über Prinz Ekkehards Verrat wahr ist ? Wie können wir sicher sein, dass diese Geschichten, die Ihr uns bringt, wahr sind und nicht gelogen? Un306 terstützt Ihr den rechtmäßigen König? Oder unterstützt Ihr jene, die gegen ihn vorgehen?« Gott, was war sie für einen Närrin gewesen, dass sie geglaubt hatte, ihn überlisten zu können. Er lächelte traurig. Das Licht, das auf ihn herabströmte, ließ ihn wie einen leibhaftigen Heiligen erstrahlen. »Der König muss Euch daher also auch als Verräterin betrachten, Adler. Ihr wisst, wie er über Wulfhere denkt, den er aus einem weit geringeren Anlass vom Hof verbannt hat. Wie soll er auch sonst mit Verrätern umgehen? Wie soll er es ertragen, mit seinem Adler zu sprechen, wenn er glauben muss, dass dieser ihn zusammen mit seinen liebsten Kindern verraten hat?« Obwohl er sich nicht gerührt hatte, wirkte er jetzt noch viel größer, und es war, als besäße er die Macht, denen, die in der Dunkelheit gefangen waren, das Licht zu bringen - oder jenen, die unter seinem strahlenden Glanz gefangen waren, den Tod. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit Ihr nicht sofort wegen Verrats eingesperrt werdet, Hanna. Tatsächlich habe ich das bereits für Euch getan. Die Kerker hier sind nicht gesund. Die Ratten werden groß. Wenn Ihr nicht mit mir zusammenarbeitet, kann ich nichts für Euch tun, kann ich mich nicht für Euch beim König einsetzen. Ich weiß nicht, was dann mit Euch geschehen wird. Habt Ihr das verstanden?« 2 Keuchend kam er wieder zu sich, während alle um ihn herum sich erhoben. Die Messe war zu Ende. Die beiden Löwen saßen nicht mehr auf den Bänken rechts von ihm. Vielleicht hatte er sie sich auch nur eingebildet. Er träumte, brachte Vergangenheit und Gegenwart durcheinander. Nur Adica schien wirklich zu sein - sie und das bronzene Armband an seinem rechten Oberarm, das er nicht abnehmen konnte. »F-Freund.« Iso hinkte und stotterte. Von seinen Eltern verlas307 sen, hatte er bereits sein halbes Leben im Kloster verbracht. Obwohl er sich verhielt, als wäre er höchstens sechzehn, sah er so aus, als hätten ihn Schmerzen und Kummer und ein unstillbarer Hunger aus seiner Kindheit deutlich früher altern lassen. »Es ist ein ... äh ... es ist ein ... äh, verletztes Tier. Komm mit.« Er hatte knochige Finger, die auch durch noch so viel Haferbrei nicht dicker wurden, und mit ihnen zupfte er jetzt an Alains Ärmel, während die Arbeiter darauf warteten, dass die Mönche vor ihnen hinausgingen. Der Abt rauschte mit ernster Miene nach draußen, und die Gäste folgten ihm, die Gesichter vor Bestürzung gerötet. Aber Iso zupfte weiterhin an Alains Ärmel, und das stumme Flehen riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich komme.« Er ließ sich von Iso aus der Kirche führen, und gefolgt von den Hunden gingen sie zu den Ställen. Iso hatte nicht mehr viele Zähne, weshalb er nur Haferbrei und andere weiche Nahrung zu sich nehmen konnte. Manchmal taten ihm die verbliebenen Zähne weh; heute Abend war es so. Alain wusste es, weil Iso sich hin und wieder über den rechten Unterkiefer strich, als versuchte er, eine Fliege zu verscheuchen, und eine Träne befeuchtete das rechte Auge, rollte ihm die Wange hinunter und wurde durch eine neue ersetzt. Iso klagte niemals über Schmerzen. Vielleicht hatte er keine Worte dafür, aber vielleicht kannte er es auch gar nicht anders. Vielleicht hatte er in seinem ganzen Leben keinen Tag ohne irgendeinen körperlichen Schmerz verbracht, sei es nun, dass ihm die missgestaltete Hüfte wehtat, die verschrumpelte linke Hand, die vor langer Zeit verbrannt und vernarbt war, oder die hässlichen Narben auf seinem Rücken. Doch trotz all seiner Schmerzen - oder vielleicht auch deswegen - hasste Iso es, Tiere leiden zu sehen. Mehr als einmal hatte er sich von einer wütenden Katze einen Kratzer eingefangen, wenn er eine Maus aus ihren Klauen befreit hatte, oder er hatte es riskiert, am Waldrand von einem verletzten, hungrigen Hund gebissen zu werden, dem er ein kleines Stück Fleisch angeboten hatte. Die Buchenwälder in der Nähe des Klosters waren so stark gerodet worden, dass der nahe gelegene Wald von Schösslingen und üppigen Büschen beherrscht wurde. Die Hunde rochen eine Ge308
fahr im Unterholz jenseits des Stalls, und ihr Fell sträubte sich, sie bleckten die Zähne und knurrten. Zweige knisterten, als irgendein Wesen sich rührte. Es klang groß. Das dämmrige Licht verstärkte noch das Gefühl, dass es sich um etwas Riesiges handelte. Alain packte Iso bei der Schulter und hielt ihn zurück. Der Geruch von Eisen kitzelte seine Nase, und der Geschmack von Furcht machte sich in seinem Mund breit. Obwohl er nur den Hauch eines Schattens dort sah, wo junge Buchen sich mit Geißblatt und Segge um Platz für die Wurzeln stritten, bekam er eine Gänsehaut. Im Osten erhob sich der abnehmende Mond; es war zwei Tage nach Vollmond. »S-sie t-töten ihn, w-wenn s-sie ihn f-finden.« Tränen tropften von Isos Kinn und benetzten Alains Hand. »Still.« Alain machte den Hunden ein Zeichen, und sie setzten sich gehorsam hin, auch wenn ihnen das nicht gefiel. Vorsichtig trat er vor, um die Büsche zu teilen. Das Wesen, das da im Schatten der Segge lag, zuckte mit dem Kopf, und diejenigen von Alains Gliedern, auf die der bernsteinfarbene Blick fiel, erstarrten. Iso wimmerte. Kummer jaulte. Das Wesen war so groß wie ein Pony und hatte einen leuchtenden Schimmer. Es scharrte mit seinen Klauen über den Boden. Blätter lagen überall verstreut. Es hatte den Kopf eines Adlers und den Körper eines Drachen, und ein peitschenähnlicher Schwanz schlug gegen die Segge hinter ihm. Unbeholfen wuchtete es sich nach hinten. Es war zum Fliegen bestimmt, aber die Flügel waren noch voller Flaum, hatten noch keine richtigen Federn. »Was i-ist das?«, flüsterte Iso. »M-meine Füße f-fühlen sich so langsam an.« »Es ist ein Guivre.« Seine scheußliche Gestalt hätte ihm eigentlich Angst einjagen müssen. »Es ist ein Junges.« Die Erstarrung löste sich. Es hatte nicht den kraftvollen Blick eines ausgewachsenen Guivre, der einen Menschen an den Boden nageln konnte. Das Junge stieß unbeholfen den Kopf nach vorn, aber es konnte ihn nicht erreichen, denn ein Bein war unter dem Körper begraben. Es hatte mehr Angst vor Alain als der vor ihm und davor, was aus dem jungen Guivre einmal werden würde. »Es kann noch nicht einmal 309 fliegen. Siehst du die Flügel? Sie haben noch keine Federn. Es müsste eigentlich noch im Nest sein.« »E-es ist ein U-Ungeheuer. S-sie werden es t-töten, w-wenn sie es f-finden.« »Ja, das werden sie.« Vielleicht sollten sie das auch. Ein einziger Ruf würde ein ganzes Heer herbeirufen, und mit Stöcken, Schaufeln und Hacken würden sie es totschlagen, ihm den Schädel zerschmettern. Aber es war noch so jung, und es war frei, nicht angekettet und gequält wie das, das Agius getötet hatte. Auf seine Weise war es wunderschön - dort, wo sich die letzten Strahlen des Sonnenlichts mit dem silbrigen Glanz des Mondlichts verbanden, glänzte die schuppige Haut. Nur Gott wussten, wie es hierher gekommen war. Dann sah er die Wunde, die den linken Oberschenkel bis zum Knochen aufgerissen hatte. »Iso, hol etwas gekämmten Flachs und einen Streifen in Fingerkraut getauchtes Leinen. Schnell, Freund. Und pass auf, dass dich niemand sieht.« Iso murmelte die Worte in sich hinein, wiederholte sie. Er konnte sich nur schwer etwas merken. Er ging mit einem rollenden Schritt davon, denn zu allem Überfluss war auch noch ein Bein kürzer. Alain zwängte sich in den Busch und hockte sich neben das Junge, das ihn vergeblich anzischte. Es konnte ihn weder erreichen noch sich zurückziehen. Blätter wirbelten auf und flatterten wieder zu Boden, als die Brise nachließ. In der Ferne erhoben sich Stimmen zur Komplet, dem letzten Gebet des Tages. Der Gesang der Mönche verband sich mit seiner eigenen Stimme, als er leise mit dem Guivre-Jungen sprach. Er sprach mit ihm über Adica, über die Wunder, die er gesehen hatte, als er als Toter in ihrem Land gelebt hatte. Er sprach über die Drachen, die sich majestätisch in den Himmel erhoben hatten, und von den Löwenköniginnen, auf deren gelbbraunen Rücken er und seine Kameraden geritten waren. Er sprach über Wesen, die er in dunklen Schluchten und tiefen Höhlen gesehen hatte, und über die Merwesen und ihre herrliche Unterwasserstadt. 310 Ein Guivre konnte natürlich nicht denken, aber das Junge lauschte ihm auf die Weise, in der halb wilde Wesen sich von einer friedlichen Stimme beruhigen ließen. Die Hunde lagen vollkommen still daneben; ihre Köpfe ruhten auf den Vorderbeinen, und ihre Augen leuchteten. Iso kehrte mit vollen Händen zurück. Das junge Guivre starrte Alain mit seinem bernsteinfarbenen Blick unverwandt an, hielt aber still, als er die Wundränder zusammendrückte, einen Streifen Leinen auf den Schnitt legte und alles mit dem Flachs fest genug zusammenband, dass es halten würde, ohne ins Fleisch zu schneiden. »Füge keinem Menschen irgendein Leid zu«, sagte er zu dem Guivre, »sondern nimm dir, was du zum Leben brauchst, von den Tieren im Wald, denn sie sind deine rechtmäßige Beute. Mögen Gott über dich wachen.« Während er sich unter einen ausladenden Haselnuss-Strauch zurückzog, erwachte das Junge zum Leben. Es breitete die Flügel aus, schlug mit ihnen auf die Zweige ein, als wollte es Donner herbeirufen. Kummer und Rage bellten, und das Wesen torkelte in den Wald davon, benutzte die Flügel, um sich vorwärts zu bewegen, da es sich nicht in die Luft erheben konnte. Mit lautem Getöse geriet es außer Sicht. Hinter ihnen hatte die letzte Hymne die abschließende Kadenz erreicht. Die Messe war vorüber. Dies war die Zeit des Tages, da die Gläubigen sich ihren letzten Arbeiten widmeten, ehe sie sich zum Schlafen bereitmachten. Iso hüpfte besorgt von einem Bein aufs andere. »S-sie werden es hören und k-kommen.« Er hatte keine Angst vor dem Tier, nur davor, was Bruder Lallo ihm antun mochte, weil er die Komplet ver-passt hatte. Die Ställe, nur einen Steinwurf entfernt, blieben seltsam ruhig, obwohl jetzt eigentlich die Zeit war, in der die
Arbeiter, die keine eigene Bettstelle im Dormitorium besaßen, ein letztes Mal die Tiere versorgten, ehe sie sich selbst einen Platz auf dem Heuboden suchten. Lange Zeit blieb Alain am Waldrand stehen, obwohl er wusste, dass er Iso zum Schlafsaal bringen musste. Stattdessen 311 lauschte er dem sich immer weiter entfernenden Tier, bis er schließlich nicht mehr das leiseste Geräusch wahrnehmen konnte. Würde es sich zu einem Furcht erregenden ausgewachsenen Guivre entwickeln, das Menschen jagte? Hatte er, indem er es verschont hatte, sein eigenes Volk dazu verdammt, Opfer seines Hungers zu werden? Er erinnerte sich an das arme Guivre, das Edelfrau Sabella gehalten hatte, das ausgehungert und krank gewesen und mit sterbenden Menschen gefüttert worden war - und am Ende so unbarmherzig wie ihre übrigen Verbündeten benutzt worden war. Er bedauerte nicht, dass er jetzt eines gerettet hatte, nachdem er einst ein anderes getötet hatte. Seufzend wandte er sich vom Wald ab und ging zum Dormitorium zurück, während Iso neben ihm herhumpelte, dabei keuchte und vor sich hin murmelte. Es würde schwer für ihn sein, nichts von dem Guivre zu erzählen, aber wer würde ihm schon glauben? Alain lachte leise. Vielleicht war Ungläubigkeit eine Form der Freiheit. Zum ersten Mal, seit er aus dem Steinkreis gestolpert war, niedergedrückt von der Erinnerung an Adica, spürte er eine gewisse Leichtigkeit in seinem Innern, den Hauch einer Heilung. Als sie zu den Ställen kamen, wären sie fast in Mangod hineingerannt, der hier schon gearbeitet hatte, als Alain noch gar nicht geboren war. Er war ein Krüppel wie Iso, denn er hatte sich einmal einen Arm gebrochen, der nie wieder richtig zusammengewachsen war. Als er seinen Hof an den Sohn seiner Schwester verloren hatte, war er ins Kloster gegangen. Seine Stimme klang aufgeregt, und er hüpfte von einem Bein aufs andere, wie ein Kind, das pinkeln musste. »Hast du's gehört?«, fragte er mit dem Akzent der Westländer. »Heute Morgen sind ein paar heilige Mönche zum Abt gekommen, zusammen mit zwei Soldaten des Königs. Sie behaupten, sie haben unter dem Hügel Schläfer gesehen, von denen einer so ausgesehen hat wie der Sohn vom alten Villam, der vor ein paar Jahren da oben verschwunden ist. Ziemlich starke Magie, sagen sie. Und eine Offenbarung, die sie uns mitteilen wollen.« Seine Worte machten Alain nervös; sie kribbelten wie Nadeln in 312 einem eingeschlafenen Fuß. Als er mit Iso an den Ställen vorbeiging, sah er die meisten Arbeiter auf der Veranda, obwohl sie sich normalerweise um diese Zeit bereits hingelegt hätten. Ein Dutzend Mönche stand bei ihnen, drängelte sich nach vorn. In einer Ecke kauerten sechs Novizen in hellen Gewändern, die eigentlich in völliger Abgeschiedenheit in ihrem eigenen Bereich lebten und schliefen, bis sie das Gelübde ablegten. »>Das Herz wurde ihm herausgeschnitten! Und dort, wo das Blut seines Herzens die Erde berührte, erblühten Rosen.Aber durch sein Leiden und durch sein Opfer hat er uns von unseren Sünden erlöst. Unsere Rettung vollzieht sich durch diese Erlösung. Denn obwohl er starb, wurde er wiedergeboren. So hat Gott ihn in Ihrer Weisheit erlöst, denn war er nicht Ihr einziger Sohn ?LiathanoDer Sklave< ist in meinem Heer kein Sklave mehr, sondern ein Soldat. Jetzt geht es nur noch um Geschwindigkeit. Wir werden im Eiltempo marschieren, sie frontal angreifen, während Erster Sohn seine Hakonin-Brüder durch den Wald führt und von der Seite angreift. Sofern er dazu in der Lage ist.«
Erster Sohn grinste als Antwort; er nahm die Herausforderung an. Die beiden Schlingel waren kleinere Schutzwälle, mit deren Hilfe das tief gelegene Gelände zwischen den Waldstücken gehalten werden sollte, wobei ihre Position zusätzlich von einem Netz aus Bächen unterstützt wurde, die dieses Land durchzogen. Doch wer immer Grimmwall auch hielt, hatte nicht genügend Kämpfer, um auch diese westlichen Schutzwälle zu bemannen, und so war es ein Leichtes, über sie hinwegzuschwärmen und nach Osten zu marschieren, während der Nachmittag voranschritt. »Werden wir Männer zurücklassen, die diese kleineren Wälle halten?«, fragte Zehnter Bruder. Starkhand schüttelte den Kopf. »Nein. Heute werden wir sehen, was unsere albischen Verbündeten wert sind. Alle sollen weiter vorrücken.« Die Sonne befand sich hinter ihnen. Ihre Schatten wurden lang 574 und immer länger, als sie sich in Schlachtordnung aufstellten und auf den letzten großen Wall zubewegten. Der Grimmwall war in der Tat grimmig; die Wälle waren auf raffinierte Weise quer über dem grasbewachsenen Heideland errichtet, wobei das eine Ende in einen dicht bewachsenen Wald aus Eichen und Eschen ragte, während das andere ins flache Moor auslief. Von der Stelle aus, von der sie sich jetzt näherten, erstreckte sich der Grimmwall zu beiden Seiten weiter, als mit dem bloßen Auge zu erkennen war. Die Verbindung aus hoch aufragendem Erdwall und davor klaffendem großem Graben stellte ein ernst zu nehmendes Hindernis dar. Dahinter lag Weorod, wo Ediki als junger Mann ergriffen und als Sklave in die ferne Stadt verschleppt worden war. Rauchfahnen stiegen von den Feuerstellen im Gutshaus auf - vielleicht von Herdfeuern oder auch von Schmieden, in denen sich die Alben zum Krieg rüsteten. Erster Sohn und sein Stoßtrupp waren bereits im Wald verschwunden, als Starkhand seine Standarte hob, um das Zeichen zum Angriff zu geben. Es handelte sich um nichts weiter als einen direkten Angriff auf eine ziemlich unterlegene Streitmacht. Er gestattete Vitningsey, den Angriff zu führen, und begab sich selbst in die zweite Reihe. Schweigend rannten sie tief geduckt los, begleitet von den Hunden. Diese Soldaten waren wendig und stark, und so fiel es ihnen leicht, in den steilen Graben hinunterzuspringen und auf der anderen Seite wieder hinaufzuklettern; sie hoben die Schilde über die Köpfe, als Pfeile und Speere auf sie herabregneten. Aber selbst die Waffen, die sie erreichten, vermochten ihrer kräftigen Haut nur wenig Schaden zuzufügen. Die. Alben auf dem Wall rühmten sich des Besitzes bronzener und steinerner Waffen, aber sie besaßen offensichtlich keinen Stahl, der fast als Einziges die Haut seiner Krieger hätte aufschlitzen können. Die Verteidiger waren so wenige, dass sie ohnehin in einer hoffnungslosen Lage waren. Er kletterte den Graben hoch und stieß einen blutenden Körper beiseite, während die erste Welle sich über die Kante des Walls schwang und schweigend ihre Arbeit verrichtete. Nur die Schreie unglücklicher Männer und das Geräusch, mit dem Speere und Äxte sich in Schilde und Fleisch gruben, mischten sich in das Heulen des Windes. Als er - nur von einem einzigen 575 Pfeil belästigt, der den Hang hinter ihm nach unten rollte - oben ankam, sah er sowohl das Kampfgetümmel wie auch die Landschaft dahinter. Im dunstigen Licht der tief stehenden Sonne, die das Heideland mit Gold übergoss, erhaschte er einen Blick auf ein paar Gebäude in einiger Entfernung, die von einer niedrigen Palisade und Feldern und Weiden umgeben waren. Winzige Gestalten flohen mit nichts außer dem, was sie tragen konnten, von dem Anwesen. Unterhalb der Stelle, an der er stand, bildeten die verbliebenen albischen Verteidiger - nicht mehr als sechzig Mann - dicht gestaffelte Gruppen, die Schildwälle fest geschlossen, während die Überlebenden des ersten Angriffs versuchten, sich neu zu formieren und zurückzuziehen. Weit hinter sich hörte er ein Hornsignal. Der albische Edelmann und sein Heer näherten sich rasch. Damit sein Plan funktionieren konnte, musste Starkhand unverzüglich die Kontrolle über den gesamten Wall erringen. Erster Sohn brach zwischen den Bäumen hervor und griff die albischen Verteidiger von hinten an, genau, wie er es geplant hatte. Der albische Schildwall brach zusammen, und die Hunde begannen, auch noch die Verletzten zu töten. Um ihn herum strömte das Heer über den Wall und auf der anderen Seite wieder hinunter wie eine Flutwelle über eine Sandbank. Zehnhundert, wie Alain es auf die Art und Weise, wie die Wendaner Menschen ordneten, sagen würde. Er brauchte keine genauen Zahlen, um sich klar zu machen, dass er zwar ein großes Heer besaß, aber dennoch gezwungen gewesen war, eine zweite Gruppe von der gleichen Größe als Garnison für Hefenfelthe und das Umland zurückzulassen. Vierzig Schiffe waren nach Norden gesegelt, damit er Verstärkung vom Meer aus erhalten konnte - sofern er das Meer erreichte. Vom Wall hatte er eine bessere Sicht auf die Landschaft im Nordosten, wo das Land sich zu einem flachen Moor absenkte, das sich ewig hinzuziehen schien, baumlos, offen und völlig kahl. Er sah keinerlei Deckungsmöglichkeiten für sein Heer, keine Möglichkeit, sich heimlich zu nähern, nicht die geringste Deckung. Und doch hielt sich da draußen im pfadlosen Moor die Königin von Alba versteckt. 576 »Herr, wir sind so weit.« Außer Atem blieb Ediki mit den vierzig Freiwilligen neben ihm stehen - Männer, die Erster Sohn Abtrünnige genannt hatte, Männer, die einst Sklaven gewesen waren. Sie waren stark, aber das Laufen und der Aufstieg hatten sie etwas ermüdet. Waren sie stark genug, um zu tun, was notwendig war?
»Ihr wisst, welches Risiko ihr eingeht«, sagte er. »Und ihr wisst, was geschehen wird, wenn ihr versagt, ja?« »Das wissen wir, Herr. Wir wissen, was du uns versprochen hast. Es ist das Risiko wert. Wir empfinden keinerlei Zuneigung gegenüber denjenigen, die uns unterdrücken.« Ediki spuckte auf die Leiche, die zu Starkhands Füßen lag; es war ein blonder, kaum erwachsener Jugendlicher, dessen Kinn von einem Axthieb zerschmettert worden war. Gestorben war er allerdings durch den Speerstoß, der ihm den Bauch aufgeschlitzt hatte. »Sie sind nicht einmal meine Verwandten. Sie sind über das Meer gekommen.« »So wie wir«, sagte Starkhand. »Das war nicht als Beleidigung gemeint«, erwiderte Ediki, während die anderen Alben leise murmelten. Ein paar von ihnen waren so klein und stämmig wie Ediki, hatten dunkle Haare und braune Augen, aber die Übrigen hatten die Größe und die helle Haut der Alben. »Aber es waren die Alben, die meine Ahnen vor langer Zeit in die Berge und ins Moor getrieben haben.« »Sie haben meine Mutter vergewaltigt«, sagte Erling plötzlich wie ein Mann, der sich beweisen muss, indem er seine Wut zeigt. »Ich bin ein Bastard und der Sohn einer Sklavin. Du bist der einzige Mensch -« Er zögerte, als würde er Starkhand zum ersten Mal sehen. Seit Starkhand so viel Zeit bei den Menschen verbracht hatte, wusste er, was die meisten von ihnen an seinem Aussehen beunruhigte: die Klauen, die aus den knöchernen Handrücken herausragten; die schuppige, kupferfarbene Haut; die schwarzen, geschlitzten Augen; der Zopf aus rauem weißem Haar und die Juwelen, die aufblitzten, wann immer er die Zähne bleckte. So sehr ein Mensch und doch kein Mensch. Erling fasste sich rasch wieder und sprach weiter. »- der einzige Herr, der mir etwas anderes angeboten hat als Ketten und die Peitsche.« »Das habe ich«, pflichtete Starkhand ihm bei. »Und das habe ich 577 versprochen. Soll der Sklave zum Herrn werden und der Herr zum Sklaven.« Ein halbes Dutzend seiner Soldaten eilte von unten herauf; sie trugen Kettenhemden, blutverschmierte Tuniken und Helme mit geöffneten Visieren, die sie den Toten abgenommen hatten. »Zieht das an«, sagte Starkhand, »und nehmt dann eure Plätze ein. Wir haben nicht viel Zeit.« Inzwischen befand sich sein gesamtes Heer hinter dem Wall und stellte sich so auf, wie sein Plan es vorsah: Ein Drittel kniete in gestaffelten Reihen gleich unterhalb des Kamms nieder, ein anderes Drittel machte sich auf, das ein Stück entfernt gelegene Gutshaus anzugreifen, während sich die Übrigen auf den Flanken verteilten. Hundert Soldaten krochen unter dem Befehl von Erster Sohn in den Wald zurück, wobei sie den gleichen Weg nahmen, den sie gekommen waren. Starkhand kniete neben Ediki, der ihn mit einem der rechteckigen albischen Schilde verbarg. Seine albischen Freiwilligen trugen jetzt die Kleidung der Männer, die zuvor diesen Wall verteidigt hatten. Zwei Banner kamen in Sicht, flatterten im Sonnenlicht: der Hirsch der Königin und der Eber. Zwar glänzte kein Wolfskopf bei dem Heer, aber vorneweg ritt ein Mann, dessen Helm mit den Hauern und der Schnauze eines Ebers verziert war. Das Heer näherte sich wohl geordnet, diszipliniert und zuversichtlich. Starkhand schätzte es auf fünf- oder sechshundert Mann, genug, um großen Schaden anzurichten, wenn es zu einem richtigen Kampf kommen sollte. Sie konnten an der von den Aikha aufgewühlten Erde erkennen, dass eine große Streitmacht vor ihnen hier vorbeigekommen war. Erling trat vor und wedelte mit den Armen. »Beeilt Euch!«, rief er. »Brüder, beeilt Euch! Herr, ich bitte Euch, gebt Acht! Eine kleine Gruppe von ihnen versteckt sich im Wald, um Euch aus dem Hinterhalt anzugreifen. Sie wollen Euch erschrecken und glauben machen, sie hätten den Wall eingenommen. Die anderen sind am Wall entlang ins Moor abgeschwenkt. Wir haben sie bisher abgewehrt, aber wir haben nicht viel Zeit, bevor sie wieder angreifen!« 578 Die anderen albischen Freiwilligen traten neben ihn, boten ein leichtes Ziel für Pfeile, sollte die albische Streitmacht ihnen die Geschichte nicht abnehmen. Es erforderte Mut, sich so ungeschützt in die Schusslinie zu stellen. »Beeilung!«, riefen sie. »Beeilt Euch! Wir brauchen Verstärkung!« Einen Augenblick, ein Jahr oder zehn Atemzüge lang fragte sich Starkhand, ob der albische Edelmann mit dem Eberkopfhelm in die Falle gehen würde. Dann machte Erster Sohn seinen Zug - Äxte und Speere klapperten und rasselten gegen Schilde, erzeugten gewaltigen Lärm im Wald. Diese Alben hatten noch nicht begriffen, dass die Felsen-Kinder lautlos angriffen. Der albische Anführer rief einen Befehl; sein Banner tauchte erst ab und erhob sich dann wieder als Zeichen zum Vormarsch, und die Streitmacht stürmte los, sodass die Ordnung sich auflöste, als die Männer sich gegenseitig überholten und in den Schutz des Walls zu gelangen versuchten. Starkhand bleckte die Zähne. Hinter sich spürte und hörte er das Gemurmel seiner Krieger, die ihre Waffen fester packten. Als die ersten Alben die Krone des Erdwalls erreichten und in dem Glauben, ihre Brüder würden sie erwarten, unbeholfen über die Kante kletterten, hatten sie nicht die geringste Chance. Ganz am Ende - das Gemetzel war mittlerweile vorbei, und die Sonne verschwand bereits hinter dem westlichen Horizont - ergriffen sie den Eberkopf lebend. Er war ein Mann von unbestimmtem Alter, schlank, hart und allem Anschein nach gerissen. Ein Mann, der sich nicht leicht unterwerfen würde. Er war zu stolz, um sein Schicksal
zu verfluchen, und zu schlau, um seinen Atem damit zu verschwenden, um Gnade oder Milde zu flehen, als Starkhands Soldaten ihn auszogen. Er trug kostbare Kleidung unter dem Kettenhemd, eine wattierte Tunika mit Goldrand sowie die goldenen Armbinden der albischen Edelmänner, zwei goldene Ketten und Silberringe und Armreifen - es war auf jeden Fall eine üppige Beute. Im Laufe seines Lebens hatte er drei Verletzungen 579 erlitten, die seit langem verheilt waren, aber an diesem Tag blutete nur seine rechte Hand von einem Hieb, der ihm den Handschuh weggerissen hatte. Sein Schild war fast in zwei Teile gespalten worden, aber er war damit immer noch besser dran als die vier jungen Männer, die bei einem letzten Versuch, ihn aus der Schlacht zu schaffen und ins Moor zu entkommen, gestorben waren. Die albischen Freiwilligen versammelten sich und musterten ihn. Sie hatten den Blick hungriger Hunde, die darauf warteten, gefüttert zu werden, aber von Ketten der Furcht zurückgehalten wurden - weil sie den vernarbten und kampfgestählten Edelmann fürchteten, der da bis aufs Hemd ausgezogen barfuß, unbewaffnet und ganz auf ihre Gnade angewiesen vor ihnen stand. Dennoch konnte Starkhand ihre Furcht riechen, denn sie stank so ranzig wie altes Fleisch. »Die Jungen sollten nicht sterben, um die Alten zu retten«, bemerkte Ediki ernst, als er die vier Leichen musterte, die ausgestreckt zu Füßen des Edelmanns lagen. »Ich bin der Onkel der Königin und heiße Eadig, Graf des Mittellands und Herrscher von Wyscan«, sagte der Edelmann zu Starkhand, als hätte Ediki gar nicht gesprochen. Er beachtete die ehemaligen Sklaven einfach nicht. »Welches Lösegeld forderst du von mir, Räuber? Wie kann ich die Soldaten auslösen, die noch leben?« Starkhand hob beide Hände, drehte die Handflächen in einer Geste nach oben, die er von den Menschen übernommen hatte. »Es ist nicht an mir, über dein Schicksal zu entscheiden. Ich habe ein paar ganz bestimmten von meinen Edelleuten versprochen, dass sie die Überlebenden versklaven können, wenn sie wollen.« Eadigs hochmütiger Blick glitt über die gebrandmarkten Gesichter von Ediki und den anderen, schweifte dann weiter zu den Aikha, die jetzt die Toten ausraubten oder sich innerhalb des befestigten Gutshauses für die Nacht einrichteten. »Du hast Edelleute bei dir? Ich dachte, ihr wärt wie wilde Hunde, die in Rudeln jagen und alles verschlingen, was ihnen in die Quere kommt.« »Dann hast du uns noch nicht verstanden. Aber es sollte dich nicht beschäftigen, was wir sind. Du hast unter deinen eigenen Männern Edelleute, Eadig, denn du bist einmal einer von ihnen 580 gewesen. Nun, hier sind andere. Ich nenne sie dir, damit du weißt, wer dir Gnade oder Gerechtigkeit widerfahren lässt. Hier ist Edelmann Ediki von Weorod -« »Eadwulf ist der Herr von Weorod!«, rief der Edelmann entrüstet. »Die Nichte meines Vetters hat ihn vor fünf Jahren geheiratet!« »Eadwulf ist tot oder wird schon bald tot sein. Dieser Mann hier zu meiner Rechten ist Edelmann Ediki von Weorod. Hier ist sein Verwandter, Edelmann Erling von - welches Land beanspruchst du?« Erling lachte; der Siegestaumel machte ihn verwegen. »Südlich von Hefenfelthe liegt Gut Braiden. Meine Mutter ist dort begraben. Es steht unter der Herrschaft von Edelfrau Ealhflaed.« »Also schön, Edelmann Erling, du bist jetzt der neue Herr von Gut Braiden. Was die anderen betrifft -« Aber als er sich zu ihnen umdrehte, um herauszufinden, was sie beanspruchen würden, trat Eadig in der furchtlosen Art eines Mannes vor, der es gewohnt war, zu herrschen, und damit rechnen konnte, dass seine Befehle befolgt wurden. Sein Tonfall war mürrisch und verächtlich, und er zitterte angespannt wie ein Hund, der an der Leine zerrt. »Du hast nicht die Autorität, jenen ihr Erbe zu stehlen, die diese Ländereien rechtmäßig erworben haben!« »Habe ich diese Autorität nicht?«, fragte Starkhand neugierig. »Ich habe das Recht, das mir die Waffengewalt zubilligt. Willst du das bestreiten?« »Es ist wider die Natur, dass Sklaven den Platz von Freien einnehmen und sich anmaßen, wie Herren über jene zu herrschen, die durch Gesetz und göttliche Gunst rechtmäßige Edelleute sind!« Starkhand trat dicht an ihn heran, fuhr eine Handbreit vom Gesicht des Grafen entfernt die Klauen aus. Eadigs Miene änderte sich von Grund auf; sein Blick flackerte nervös über die Leichen, die auf dem Wall und den Feldern herumlagen. Seine Nasenflügel bebten, sein Gesicht war bleich, aber er wich nicht zurück. »Deine Einwände verwirren mich«, sagte Starkhand. Er drehte die linke Hand herum, sodass die Klauen besser zur Geltung kamen. »Du hast über sie geherrscht. Das Rad des Schicksals hat sich 581 gedreht, und jetzt hast du sowohl das Gesetz als auch die göttliche Gunst verloren. Wieso ist das wider die Natur? An einem Tag mag es einem Wolf gut ergehen, und er reißt Schafe, am nächsten Tag wird er von den Speeren der Schäfer aufgespießt.« »Du kannst mich einen Sklaven nennen, aber ich werde dennoch der Graf des Mittellands bleiben.« Starkhand grinste und bleckte die Zähne. »Erling, knie nieder.« Erling tat es, das eine Knie auf dem Boden, das Gesicht gehorsam erhoben und demjenigen zugewandt, der über ihn herrschte. »Ich ernenne dich hiermit zum Grafen des Mittellands und Herrn von Wyscan.« Eadig begann zu protestieren, aber Starkhand fuhr mit der Spitze einer Klaue über sein Kinn, und der Mann
verstummte. »G-Graf ?«, stammelte Erling. »Ich hätte nie gedacht, dass... ein Gut, Herr, aber zum Grafen ernannt zu werden »Ich benötige loyale Männer, die herrschen, Erling. Du bist einer von ihnen. Ich bin nicht der Ansicht, dass es eine leichte Aufgabe ist. Ich erwarte von dir, dass du ein verantwortungsvoller Verwalter dieser Ländereien wirst. Die Reichtümer von Alba dürfen nicht verschwendet werden. Es gibt andere Männer, die das begehren, was du jetzt erhalten hast. Diene mir gut, und es wird dir wohl ergehen. Diene mir schlecht, und du wirst sterben.« »J-ja, Herr.« Der junge Mann war jetzt so weiß im Gesicht, dass das Brandzeichen sich tiefrot von seiner blassen Haut abhob. Seine Kameraden starrten ihn an, flüsterten miteinander und begannen, sich zu beäugen, als fragten sie sich, wem von ihnen ihr großzügiger Wohltäter wohl die größte Belohnung gewähren würde. »Nicht alle von euch werden mir gut dienen«, bemerkte Starkhand. »So ist die Natur der Menschen, wie ich herausgefunden habe. Aber ich herrsche über dieses Land, und jene, die ich erhoben habe, kann ich auch wieder zu Fall bringen.« »Nur solange du lebst.« Eadig spuckte Starkhand ins Gesicht. »Du kannst die Königin und ihren Rat nicht besiegen, und du kannst auch nicht Gottes Gunst erlangen.« »Lass mich ihn für dich töten!«, rief Erling und sprang auf. Starkhand beachtete den Speichel nicht. Er war so unbedeutend 582 wie Regen, auch wenn er wusste, dass die Menschen so etwas für eine tödliche Beleidigung hielten. »Edelmann Ediki, wie dient dieser namenlose Sklave uns besser - lebend oder tot?« Ediki dachte mit ernstem Stirnrunzeln über diese Frage nach, ganz, wie sie es verdiente. »Lebend, mein Herr, aber verkrüppelt. Wenn er blind ist, kann er keine Sklaven in eine Rebellion führen oder mit Waffengewalt gegen uns vorgehen.« »Also gut. Sorg dafür, dass ihm die Augen herausgenommen werden, Edelmann Erling. Er sollte die Operation möglichst überleben. Edelmann Ediki, begleite mich ein Stück. Wir brauchen Fackeln.« Es wurden Fackeln gebracht. Sie kletterten zurück auf den Wall, wobei sie darauf achteten, nicht auf die Leichen der albischen Soldaten zu treten. Es gab viele von ihnen. Eadigs Schreie zerrissen die Luft, und einen Augenblick roch Starkhand den sauren Gestank von verkohltem Fleisch. Er unterließ es, einen Blick zurückzuwerfen. Vierzig Aikha-Soldaten mit Fackeln begleiteten sie. Der ebene Pfad oben auf dem Wall teilte sich hier und da um eine Palisade oder einen Haufen Äste und Zweige, die zu einem Hindernis aufgeschichtet worden waren. Während die Nacht voranschritt und der Mond den Zenit erreichte, kamen sie an das nördliche Ende des Walls. Das Mondlicht war so hell, dass er die Landschaft überblicken konnte: Links von ihm erstreckte sich ein Mischwald nach Süden und Westen, aber im Nordosten fiel das Land zu einer weiten zinngrauen Fläche ab. Was er von diesem Ödland roch, war unbeschreiblich - süß, berauschend und mit einem schwachen Hauch Salz versehen. »Die Moore«, sagte Starkhand. »Da draußen wartet die Königin auf uns.« »Du wirst dich verirren, wenn du das Heer ohne Führer dort hineinmarschieren lässt«, sagte Ediki. »Du wirst dich verirren und sterben. Geister leben dort, die Seelen der Menschen, die dort ertrunken sind.« »Du hast als Junge in diesem Land gelebt.« »Ja, aber ich habe viel von dem Wissen verloren, das ich damals 583 hatte. Die Wasserläufe werden sich geändert und die sicheren Pfade werden sich verlagert haben.« »Die Königin hat ihren Weg in die Sicherheit gefunden.« »Das hat sie, mein Herr. Sie hat Verbündete und Sklaven, so wie du. Aber ich kenne welche, die uns vermutlich helfen werden. Ich habe Verwandte, die die albische Königin nicht mögen. Gib mir etwas Zeit, und ich werde sie finden.« »Wie viel Zeit? Je länger sie sich mir entzieht, desto stärker wird sie. Du kannst nicht Edelmann von Weorod bleiben, wenn die Königin von Alba zurückerhält, was sie verloren hat.« Ediki grinste, das war im Mondlicht leicht zu erkennen. Für einen Mann seines Alters hatte er kräftige, gerade Zähne - und noch nicht einen einzigen verloren. Das war bemerkenswert angesichts der vielen verheilten Striemen, die Starkhand an dem Tag auf Edikis Rücken gesehen hatte, als der Mann zu seinem Heer gestoßen war. »Bevor der Mond wieder voll ist, mein Herr, werde ich einen Führer ins Moor finden. Das verspreche ich. Aber die Königin ist mächtig, und ihre Zauberer sind gefährlich, wie meine Verwandten zu ihrem Kummer in jenen Tagen herausgefunden haben, als wir noch frei waren und über dieses Land geherrscht haben. Damals, vor langer Zeit.« Starkhand warf Zehnter Sohn einen Blick zu, der nahe genug bei ihnen stand, dass er jedes Wort verstehen konnte. Sein Nestbruder schüttelte die Standarte, und die Knöchelchen und Perlen erklangen, klapperten aneinander. »Ich habe keine Angst vor den Baumzauberern, und die solltest du auch nicht haben. Wir sind stark, die wir im Norden geboren wurden. Deine Familie wird in diesem Land wieder herrschen, wenn sie zu denen gehört, die
mir gut und treu dienen. Zeige mir, wie ich die Königin finden kann. Dies ist die erste Aufgabe, die ich dir und deinem Stamm stelle.« Ediki neigte den grau werdenden Kopf als Zeichen des Gehorsams und Einverständnisses; er wirkte ernst und zufrieden. Das tagelange Reisen und Kämpfen hatte ihn nicht ermüdet. »Es ist eine kleine Aufgabe verglichen mit den Jahren, in denen ich mich be584 müht habe, den Kopf aufrecht zu halten, obwohl ich ein Sklave war.« Mondlicht glänzte auf dem Wasser. Die Schönheit der halb sichtbaren Landschaft und die ruhige Nacht überschwemmten Starkhand wie eine ansteigende Flut. Es war so still. Die Landschaft war ihm ein Rätsel, eine pfadlose Ödnis aus Wasser und Schilf, die - trotz allem - ein Ort unzähliger Wunder war. Brachten die Geister der ertrunkenen Menschen das Wasser zum Glänzen, oder war es nur der Schimmer des Mondes? Lichter flackerten und blitzten und erstarben in den Schatten zwischen dem Riedgras und dem Schilf; jedes einzelne flammte einen Augenblick wie eine Kerze auf, ehe es wieder erlosch. Wie das Leben, dachte er. Sein eigenes Leben würde eine helle, kurzlebige Flamme sein, die so lange die Dunkelheit zerteilte, wie ein Blitz den Himmel entflammte, aber nicht mehr. »Was sind das für Lichter?«, fragte er Ediki. »Sie brennen einen Augenblick, und dann sind sie weg.« Der Edelmann von Weorod lächelte traurig, als er den Blick über das Land seiner Kindheit schweifen ließ. »Es sind die Seelen der Männer, die wir heute getötet haben. Sie suchen das Tor, das zur Anderen Seite führt, zum Land der Toten, wo die Wiesenblumen blühen.« 2 Ediki lenkte das Kanu einen Seitenkanal entlang in ein Labyrinth aus Riedgras und Schilf. Kleine, mit Gras oder niedrigem, weiß blühendem Weidengebüsch bewachsene Inselchen hoben sich wie die runden Buckel von Walen aus dem seichten Wasser. Durch dieses Gewirr glitten sie nun, Ediki am Heck des Kanus und sein Neffe Elafi am Bug. Sie hatten Elafi zehn Tage nach dem Angriff auf Grimmwall gefunden, und es hatte Edikis ganze Überredungskunst erfordert, den jungen Mann davon zu überzeugen, dass er genau der war, der 585 zu sein er behauptete. Am Ende hatte Starkhand zugestimmt, die Flüchtlinge im Sumpfland allein zu treffen. Nur unter dieser Bedingung hatte sich Elafi bereit erklärt, sie hinzuführen. Die Sonne ging gerade auf, als die zunehmende Mondsichel unterging. Die letzten Sterne verblassten, und der Himmel hellte sich allmählich auf. Der sanfte Hauch einer Morgenbrise fuhr leise wispernd durch das Schilf, wie das Gemurmel der Ertrunkenen. »Wir sind da, Onkel«, sagte Elafi, drehte sich um und grinste Ediki an. »Du bist ein bisschen langsam und nachlässig, aber du lenkst wie jemand, der im Moor aufgewachsen ist.« Das da erwies sich als nichts Spektakuläreres als ein breiter Hügel aus Riedgras und Schilf, der vor ihnen aus dem Wasser ragte. Aber Starkhand konnte riechen, dass hier Menschen lagerten. Das Kanu glitt an ein schlammiges Ufer, wo das Schilf zurückgeschnitten worden war; ansonsten war unmöglich zu erkennen, dass die Insel bewohnt war. »Da ist sie«, erklärte Elafi unnötigerweise, als eine kleine Frau mittleren Alters sich durch das Schilf drängte und am Strand stehen blieb. Schlamm quoll zwischen ihren Zehen hindurch. Sie starrte sie an und strahlte vor Freude. »Manda!« Ediki kletterte hastig aus dem Boot und lief auf die Frau zu. Er lachte, und sie packte ihn und drückte ihn kräftig an sich. Sie weinte. »Bruder. Bruder. Ich dachte schon, wir hätten dich verloren.« Elafi bedeutete Starkhand, ebenfalls aus dem Kanu zu klettern. Gemeinsam zogen sie das Boot an den Strand und verstauten es an einer Stelle, wo es nicht gesehen werden konnte. Ein halbes Dutzend schlichter Boote war im Schilf versteckt. Starkhand nahm seine Standarte und seinen Speer und folgte dem jungen Mann zum Lager, wo Ediki alle begrüßte, angefangen vom jüngsten Kind bis zum ältesten Erwachsenen. Dies war ein Flüchtlingslager, in dem etwa zwanzig Menschen lebten, die Hälfte von ihnen Kinder. Der stabilste Unterschlupf bestand aus einem Schuppen aus Holzscheiten mit einem Schilfdach, und die Menschen trugen Röcke und Umhänge aus raffiniert geflochtenem Gras. Es gab nur einen einzigen Kochtopf sowie Körbe 586 und geschärfte Stöcke, die als Fischspeere dienten. Und doch gab es jede Menge zu essen: gerupfte Enten und Wasserhühner, gehäutete Wühlmäuse und Hasen, ausgeweidete Flussbarsche, Plötzen und Hechte und unzählige glitschige Aale sowie Blüten und junge Blätter von den Frühlingsblumen. Ein Junge näherte sich mit einem Becher aus Bronze. »Willst du trinken, Geehrter?«, fragte er kühn. Starkhand sah den Becher nachdenklich an. Die Flüssigkeit, die darin dampfte, roch ganz und gar nicht angenehm. Ediki eilte mit seiner Schwester zu ihm. »Meine Verwandten bieten dir das Gastrecht an«, erklärte er. »Ich bitte dich, Herr, trink.« Er schenkte ihnen sein aufblitzendes Grinsen, in dem Wissen, dass sie ihn prüften. Er nahm den Becher und erhob ihn. »Ich bin allein gekommen, um euch ein Bündnis anzubieten«, sagte er und trank die Hälfte. Das
Gebräu lief die Kehle leichter hinunter, als er vermutet hatte, begleitet von einem Nachgeschmack, der so scharf auf seiner Zunge brannte, dass er vor Überraschung beinahe lachen musste. Aber stattdessen streckte er Manda den Becher mit dem Rest darin entgegen. Edikis Schwester trat zu ihm. »Ich bin Manda, die Großmutter dieses Clans. Ich heiße dich willkommen. Ich habe von dir geträumt, Drachenmann.« Sie war nicht schlank und muskulös wie ein Krieger; sie war untersetzt, sogar etwas pummelig, trotz des offensichtlichen Elends, das sie und ihr Clan erlitten hatten, und sie hatte die gleichen -kurz geschnittenen struppigen schwarzen Haare wie Ediki, nur das in ihren weniger Grau war. Auf den ersten Blick sah sie wie jede andere gewöhnliche Frau aus. Er bemerkte jedoch Autorität in ihrer Haltung, und an der Art und Weise, wie sich die anderen ihr fügten und sich zurückhielten, bis sie gesprochen hatte, erkannte er, dass sie die Anführerin war. Sie war ein geschärfter Speer, geschmiedet in einer Zeit der Not. Wie ein Speer besaß sie Gewicht und Gleichgewicht, und ihre Sicherheit war wie das scharfe Ende einer tödlichen Klinge. »Ich habe Träume«, erklärte sie ihm. »Ich habe geträumt, dass 587 ein Mensch kommen würde, der kein Mensch ist, und dass er in einem Schiff segeln würde, das kein Schiff ist, sondern ein Drache aus Holz. Die Göttin hat mir gesagt, dass dieser Mensch, der kein Mensch ist, mir meinen Bruder zurückbringen wird, der uns vor vielen Jahren weggenommen wurde. Die Göttin hat mir auch gesagt, dass ich ihm den Becher anbieten soll, der zwischen Verbündeten gereicht wird.« Sie nahm ihm den Bronzebecher ab und trank den Rest, zuckte angesichts der Schärfe zusammen und grinste dann fast ebenso wie zuvor er. Sie pfiff zwischen kräftigen Zähnen hindurch. Der Junge nahm ihr den Becher ab und zog sich zurück, damit sie allein mit Starkhand sprechen konnte. Sogar Ediki ging zurück in das Durcheinander des Lagers. Einige seiner Verwandten hängten sich an ihn, noch immer verwundert über sein Auftauchen, aber niemand sagte etwas. Sie sahen vielmehr einfach zu, als die Verhandlungen begannen. »Was willst du, Fremder?« »Ich möchte eure Hilfe, um die Königin von Alba aufzuspüren und zu töten und die Macht ihrer Baumzauberer zu vernichten. Wenn dies geschehen ist, werde ich über Alba herrschen und diejenigen belohnen, die mir geholfen haben.« Die Sonne stieg höher. Licht glänzte auf dem Wasser. Ein Schwärm Gänse flog über sie hinweg, schrie so laut, dass Manda wartete, bis sie vorüber waren, ehe sie sprach. »Du wirst ihre Macht niemals zerstören können. Ihre Magie ist sehr stark. Sie hat uns besiegt, hat meinem Volk vor langer Zeit den Anspruch auf dieses Land streitig gemacht und vor wenigen Monden mich und meinen Clan verjagt. Die Königin und ihr Heer haben uns von der heiligen Insel vertrieben, auf der wir seit dem Anbeginn der Zeit als Hüter gelebt haben. Meine Mutter war eine Hüterin. Das Recht auf das Land und die Ehre der Hüterschaft hat sie von ihrer Mutter erhalten, und die wiederum von ihrer, bis zurück in die früheste Zeit. Es gibt dort genug Land, um ein bisschen Korn anzubauen und eine große Herde Schafe und Gänse zu halten. Das ist alles weg. Wie du siehst, haben sie uns von dort vertrieben.« 588 Sie deutete auf das behelfsmäßige Lager, die primitiven Unterkünfte, die offenen Feuerstellen, die zerlumpten Kinder. Sie hatten nicht viel mitgenommen auf ihrer Flucht. Aber sie wirkten nicht hungrig und verzweifelt. »Du kommst mit einem Heer«, sagte sie. »Willst du sie angreifen?« »Sollte ich das tun?«, fragte er zurück. »Auf dem Landweg? Nein. Ihr würdet alle im Moor sterben.« »Was ist, wenn wir vom Meer aus heransegeln?« »Es ist schwierig, jenen Ort vom Meer aus zu erreichen. Das Wasser ist seicht. Die Baumzauberer werden Nebel aufkommen lassen, um euch zu verwirren.« »Unsere Schiffe können auch in flachem Wasser segeln. Die Magie der Zauberer wird uns nicht behindern. Aber wir kennen den Weg nicht, der vom Meer zu diesen Inseln führt.« Zu seiner Überraschung zuckte sie mit den Schultern. »Selbst ich weiß nicht, welche Flüsse ins Schwemmland führen und wie sie sich durch das Moor schlängeln. An der Küste leben einige Menschen, die es wissen, aber genau diese Clans haben die Königin zur heiligen Insel geführt. Sie werden uns nicht helfen. Sie machen gemeinsame Sache mit den Alben.« »Ohne Hilfe werden unsere Schiffe sich im Sumpfland verirren, nicht wahr?« Sie legte die Hände um den Mund und ließ einen Ruf erklingen. Ein zweiter Ruf antwortete aus der Ferne, von irgendwo zwischen dem Riedgras und dem Schlamm. »Das ist mein anderes Kind, Ki. Sie ist die Tochter meiner Schwester - und jetzt meine Tochter. Du kannst sie nicht sehen, und das können auch die Weißhaarigen nicht. Um im Moor zu jagen, brauchst du einen Führer.« »Ich brauche Führer für mein Heer, und ich brauche eine Hüterin für die heilige Insel.« Ihr Lächeln blitzte kurz und heftig auf, aber ihre Miene blieb ernst. »Gib mir den heiligen Anspruch auf die Insel zurück, der meinem Clan vor langer Zeit übertragen wurde, und ich werde dir helfen. Aber wenn du nur Versprechungen machst und mich be589
friedlich - ein Mann, der sich mehr für Taten interessierte als für Worte. Ein guter Soldat, ein hervorragender Anführer und ein loyaler Prinz. Hugh hatte ihn nach seinem Jahr als Gefangener von Blutherz mit dem Titel »Prinz der Hunde« verhöhnt, und es lag eine gewisse Wahrheit in dem Namen. Aber sie wusste nicht, was er jetzt war. Er hatte vier Jahre ohne sie gelebt, Jahre, die für sie kaum mehr als eine Woche gewesen waren. »Ich weiß nicht, wie sehr er sich verändert hat, während ich in den Sphären gewandelt bin.« »Es ist am besten, man trennt sich von einem Pura, wenn er unberechenbar und gefährlich geworden ist.« »Das ist bei uns nicht Brauch. Er benötigt Zeit, sich von seiner Verletzung zu erholen.« Von seiner Wut. Die Schamanin stellte die Ohren auf. Sie erreichten den Hügel und drehten sich um, sodass sie auf das Lager der Zentaurinnen blicken konnten, das sich am Grund einer Mulde befand. »Wie kann ich meine Tochter retten?«, fragte Liath. »Sie ist bei der Trennung der Verbindung nicht gestorben. Daraus müssen wir Hoffnung schöpfen, dass sie sich davon erholen kann.« »Sie muss essen und trinken, wenn sie überleben will.« »Es ist möglich, sie eine Zeit lang mithilfe von Zauberei zu ernähren.« »Mein Vater hat gesagt, dass sich eine Raupe in einem Kokon in einen Schmetterling verwandelt. Es ist ein magisches Binden aus sich selbst heraus. Könnte Zauberei sie verändern?« »Ich weiß es nicht. Aber wenn wir sie nicht aufwecken können, ist es vielleicht die einzige Möglichkeit, sie am Leben zu erhalten, bis wir herausfinden, wie wir sie heilen können.« Liath seufzte. Im Osten fiel das Gelände zu einem Tal ab; der Fluss in der Ferne flimmerte, als das fließende Wasser im Sonnenlicht aufblitzte. In riesigen Windungen bahnte sich der Fluss seinen Weg durch das Gras. Weiter östlich leuchteten die Felsen, als das Sonnenlicht des Nachmittags auf ihnen spielte und Farbschnipsel einfing. Als sie nach Westen blickte, blendete die Sonne sie, doch mit zusammengekniffenen Augen konnte sie eine hügelige Landschaft erkennen. 592 »Steigt da Rauch auf?«, fragte sie und deutete auf graue Säulen, die sich gen Himmel erhoben. Die Schamanin musste die Augen nicht zusammenkneifen, um zu erkennen, was Liath meinte. »Dort lagert Prinz Sanglants Heer.« »Er hat ein Heer bei sich ? Woher hat er es ? Wie lange dauert es, von hier zurück nach Wendar zu reisen?« »Viele Monate, nehme ich an.« »Er hat über eine so weite Entfernung ein Heer mitgenommen? Wie ist das möglich? Er muss viele Verluste erlitten haben, sowohl an Menschen als auch an Tieren.« »Das weiß ich nicht. Darüber haben wir nicht gesprochen.« »Nein«, sagte Liath. Sie fragte sich, was Li'at'dano stattdessen mit Sanglant besprochen hatte oder ob sie überhaupt irgendetwas mit ihm besprochen hatte. »Wir müssen seine Leute benachrichtigen, dass wir hier sind. Wieso hat er sein Heer verlassen und sich allein ins Grasland aufgemacht?« »Um die Bestie zu jagen.« »Die Greifen?« »Nein. Den Mann. Den Mörder. Aber auch Greifen. Er sucht Greifenfedern und Zauberer, um gegen diese >Sieben Schläfer< zu kämpfen, von denen auch Ihr gesprochen habt. Er hat gehofft, beides hier im Grasland zu finden.« »Und hat er sie gefunden?« »Er hat Euch gefunden, und er hat mich gefunden und jene, die unter meinem Schutz stehen. Und was die Greifen betrifft...« Sie deutete zum Himmel, wo einer oder beide Greifen kreisten, die nicht willens waren, Liath aus den Augen zu lassen. »Da sind sie.« Sie gingen wieder hinunter ins Lager der Zentauren. Das größte der runden Filzzelte stand in der Mitte, während die übrigen sich in einem spiralförmigen Muster anschlössen. Die Zentauren reisten mit leichtem Gepäck; trotz ihrer großen Zahl zählte Liath nur zwanzig Zelte, von denen zehn wie ein schützender Pferch den äußersten Ring bildeten. Es sah jedoch nicht so aus, als ob die Zentaurinnen niemanden hinaus- oder hereinlassen wollten, abgesehen von Wölfen. 593 Die Zentaurinnen hatten auch einige ihrer kerayitischen Verbündeten mitgenommen, darunter auch die Heilerin, die sich um Sanglant kümmerte, und zwei Dutzend Wagen, die zum größten Teil von Ochsen gezogen wurden. Nur zwei waren so gebaut, dass die Zentauren sie selbst ziehen konnten. Die meisten Wagen standen im äußersten Ring und bildeten so ein Hindernis. Einer jedoch, leuchtend bemalt und gebaut wie ein kleines Bauernhaus auf Rädern, stand neben dem Zelt in der Mitte, in dem Gnade schlief und Sanglant sich erholte. Es gab auch Pferde - richtige Pferde -, aber sie wurden getrennt gehalten und sowohl von den Zentaurinnen als auch ihren menschlichen Verbündeten beaufsichtigt. Ganz in der Nähe waren einige Männer damit beschäftigt, Schafe zu scheren und die ungewaschene Wolle in riesigen Lederbeuteln zu sammeln. Als Liath und die Schamanin das Lager betraten, blickten einige Zentaurinnen Liath neugierig an, näherten sich aber nicht. Ein paar junge Zentaurinnen folgten ihren Muttertieren, und ein halbes Dutzend Fohlen ebenfalls, die immer wieder die Zitzen der Zentaurinnen anstupsten. Sämtliche erwachsenen Zentaurinnen trugen Bögen auf
dem Rücken und einen Köcher voller Pfeile. Drei Frauen kochten Schafseintopf in einem Eisenkessel, der über einem Herdfeuer hing; eine andere polierte Fußbänder und Lederkapuzen für Hühnerhabichte, während ihre Kameradin einen Käfig flickte; zwei klopften Wolle, während wieder andere die geklopfte Wolle mit kochendem Wasser übergössen - Vorbereitungen für die Herstellung von Filz, mit dem sie ihre Zelte bedeckten und aus dem sie ihre Teppiche und Teile ihrer Kleidung herstellten. Fünf Männer waren damit beschäftigt, Milch in einem Fass umzurühren; die Milch schäumte. Der herbe Geruch brannte in Liaths Nase. Plötzlich begriff sie, wie hungrig sie war. »Kommt«, sagte die Schamanin. »Es gibt noch eine, die Ihr treffen müsst, denn wir zwei sind nicht genug, um jene zu besiegen, die sich uns in den Weg stellen.« »Dann sind wir also Verbündete? Das habt Ihr bisher noch nicht gesagt.« »Wenn wir keine Verbündeten wären, würdet Ihr nicht neben 594 mir hergehen, und ich auch nicht neben Euch. Ich bin nicht so dumm, mich und mein Volk gegen jemanden zu stellen, der sogar von den Greifen gefürchtet wird. Ihr seid nicht so wie andere Menschen, Strahlende. Euer Vater hat Euch die Gestalt gegeben, die von den Menschen benutzt wird, aber Euer Herz und Eure Seele sind in den Himmeln geboren worden.« »Es stimmt, dass es für mich in keiner dieser Welten leicht ist, weder hier noch dort. Es ist nicht leicht, eine Wahl zu treffen. Ich kann nicht beides haben.« »Dann habt Ihr bereits gewählt.« Sie blieben vor dem bemalten Wagen stehen. »Hier lebt meine Schülerin. Sie hat ihr Glück getroffen, und so muss sie sich nun vor jenen verbergen, die nicht zu ihrer Familie oder ihren Sklaven gehören. Aber ich nehme an, Ihr steht jenseits solcher irdischen Verbote. Ihr beide müsst Euch treffen. Geht hinein.« »Ich möchte keine Verbote überschreiten, wenn dadurch jemand anderem Schaden zugefügt wird.« Li'at'dano lachte; es klang eher wie ein Schnauben. »Sorgatani wird kein Schaden zugefügt werden, sondern nur denjenigen, die von ihrer Macht heimgesucht werden. Ich glaube, Ihr seid mächtig genug, dass Euch nichts geschehen wird.« Liath lachte. Ein seltsames Gefühl von Heiterkeit überkam sie. »Dann bete ich, dass Ihr Recht behaltet.« Sie verspürte keine Angst, lediglich Neugier, als sie die Stufen zu dem hohen Wagen hinaufstieg. Bevor sie an die Tür klopfen konnte, öffnete sich diese bereits und glitt zur Seite. Liath duckte sich und trat über die Schwelle. Sie rechnete damit, sich beengt zu fühlen, aber hier war Magie am Werk, prickelte bis tief in ihre Knochen. Das Innere des Wagens war deutlich größer, als es von außen den Anschein hatte. Es gab keine andere Möglichkeit, die Geräumigkeit der Kammer zu erklären, die sich ihrem überraschten Blick bot. Sie erinnerte an das Innere eines runden Zeltes. Die Ecken verloren sich im Schatten, und möglicherweise existierten sie auch gar nicht wirklich. Wände flatterten in der Brise, blähten sich auf und sanken wieder in sich zusammen, obwohl sie hätte schwören können, dass sie aus 595 Holzplanken bestanden. Streben stützten das runde Filzdach; sie gingen von einem Pfahl in der Mitte aus, der kerzengerade war und durch ein Rauchloch stieß. Liath war ganz sicher, dass sie von außen keinen Pfahl aus dem Dach des Wagens hatte ragen sehen. Der Himmel, den sie durch das Rauchloch erkennen konnte, hatte einen grauen Schimmer und war mit wandernden Funken gesprenkelt, wies also nicht das kräftige Blau des freien Himmels auf. Links im Zelt stand ein eingebautes Bett mit einer Kiste am Fußende. Darauf - an allen Seiten ordentlich unter die Matratze geklemmt - lag eine farbenprächtige Filzdecke, die kunstvoll mit leuchtenden Tieren verziert war einem goldenen Phönix, einem silbernen Greifen und einem roten Hirsch. Teppiche und zwei Kissen vervollständigten das Mobiliar, denn ansonsten war diese linke Seite des Zeltes leer. Hinter dem Pfosten in der Mitte stand ein Altar mit einem goldenen Becher darauf, der bis zum Rand mit Öl gefüllt war und dessen Oberfläche brannte. Außerdem sah sie einen Spiegel, in dessen Griff Gold und Perlen eingelassen waren, eine silberne Handglocke und eine zugestöpselte Flasche. Neben dem Altartisch stand ein tragbarer Ofen. In der Kohlenpfanne glühten Kohlen, und daneben stand ein Bronzefass auf einem flachen Stein, gefüllt mit leicht qualmender Asche. Eine junge Frau hockte neben der Kohlenpfanne, in der rechten Hand eine Eisenschaufel für die Asche; sie starrte Liath an, wie man einen Bullen mustern mochte, der mitten im Gebet in eine Kirche platzte. Eine zweite, sehr viel ältere Frau stand neben einer hohen Bank; sie hielt in ihrer Tätigkeit inne, eine weiße Flüssigkeit in zwei Becher zu gießen. Sie hatte einen wunderschönen, doppelschnauzigen Wasserkrug aus Silber in der Hand, wobei die Schnauzen jeweils von dem Hals, dem Kopf und dem geöffneten Maul eines Kamels gebildet wurden. »Ihr werdet die Strahlende genannt, weil Ihr leuchtet.« Liath sah sich um, suchte die Quelle der Stimme. Die dritte Person im Raum saß auf einem breiten Sofa. Ein über die Pfosten an den vier Ecken gespanntes Gazenetz aus schönster, durchsichtiger Seide verhüllte sie und das Sofa. Neben diesem Sofa befand sich eine hohe Truhe, die kunstfertig zu einem Regal mit großen und kleinen Schubladen gearbeitet worden war, jede ein596
zelne liebevoll mit Geweih tragenden Hirschen und hochmütigen Widdern bemalt. Daneben lag auf einem Holzstamm ein wunderschöner Sattel, dessen Überwurf bis zum Teppich hinabhing; die silbernen Ornamente im Rahmen und auf der Sitzfläche blitzten im rauchgeschwängerten Licht. Ein Zügel war achtlos über den Zwiesel geworfen worden. »Trinkt mit mir.« Ihre Stimme klang hell und lebhaft, aber fest. Sie bedeutete Liath, näher zu treten. Liaths Schritte erzeugten keinerlei Geräusch auf dem Teppich, der über einer gewebten Grasmatte ausgebreitet worden war. Als sie sich näherte, schob die Frau den Gazeschleier etwas beiseite, sodass Liath sich auf ein besticktes Kissen am anderen Ende des Sofas setzen konnte. Liath hatte nie Schwierigkeiten gehabt, im dämmrigen Licht etwas zu erkennen, aber der Hauch von Zauberei vernebelte ihre Sehfähigkeit; sie konnte keinen klaren Blick auf das Gesicht der Frau werfen, obwohl sie kaum mehr als eine Armeslänge von ihr entfernt saß. Die Frau trug ein Gewand aus goldener Seide. Schmuck glänzte im dämmrigen Licht: ein hoher, mit Gold versehener Kopfschmuck, an dem Bänder aus Perlen und Filigranarbeiten aus Gold hingen, sowie bis zu den Schultern herabhängende Ohrringe, die geschwungen waren wie Schilfboote und an etwa einem Dutzend Ketten baumelten. Wann immer sie sich bewegte, klirrten die Ohrringe leise, und die Filigranarbeiten aus Gold raschelten. Die ältere Dienerin gab ebenfalls klimpernde Geräusche von sich: Sie trug Fußkettchen und Armbänder mit winzigen Glöckchen daran und Silberohrringe, die tanzten und sangen, wenn sie sich rührte. Sie kam mit dem Silberkrug und goss ihnen aus dem Maul des Kamels von dem berauschenden Gebräu ein, das einen scharfen, stechenden Geruch verströmte. Als Liath davon trank, stieg ihr das Getränk sogleich zu Kopf. »Ihr seid diejenige, die den Namen meiner Lehrerin trägt«, bemerkte die andere Frau. »In meiner eigenen Sprache werde ich Liathano genannt.« Die andere Frau versuchte sich einige Male an dem Wort, konnte aber die weichen Konsonanten nicht hervorbringen. Schließlich lachte sie, erheitert über ihre Bemühungen. 597 Liath stimmte in das Lachen ein und sagte dann: »Ihr heißt Sorgatani.« »Ja, so heiße ich. Auch ich bin nach einer benannt, die vor mir war. Weil sie in dem Jahr gestorben ist, in dem ich geboren wurde, sind ihr Name und ihre Seele auf mich übergegangen.« »Steigen die Seelen Eures Volkes denn nicht zum Fluss des Lichts auf?« »Sie bleiben auf der Erde. Seelen durchlaufen mehrere Leben. Wir werden wieder und wieder in die Welt hier unten geboren. Kennt Euer Volk diese Wahrheit denn nicht?« Liath schüttelte den Kopf. »Ich habe vor kurzem vieles gesehen, sodass ich die Welt oben und unten mit ganz anderen Augen betrachte. Aber es stimmt, dass mein Volk nicht das Gleiche glaubt wie Ihr. Der Herr und die Herrin warten in der Kammer des Lichts, die jenseits der Welt dort oben existiert. Dorthin steigen unsere Seelen nach unserem Tod auf, um in Frieden und Harmonie mit Gott zu leben.« »Das ist sehr seltsam«, erwiderte Sorgatani. Sie schwieg, dann brach sie in fröhliches Gelächter aus. »Was tun Eure Seelen in dieser Kammer des Lichts? Tanzen sie? Essen sie? Finden sie Vergnügen im Bett? Reiten und jagen sie?« Eine Kirchenfrau hätte sich durch diese Fragen beleidigt fühlen können, aber Liath schloss daraus auf einen Verstand, der ihrem nicht unähnlich war. »Was diese Fragen betrifft, herrscht Uneinigkeit zwischen den Kirchenmüttern. Einige sagen, dass nur unsere Seelen in der Kammer des Lichts existieren können, dass wir uns in der ewigen Glückseligkeit, die die Anwesenheit Gottes bedeutet, auflösen würden. Andere sagen, dass unsere Körper vollständig wiederhergestellt würden, dass wir mit unseren Körpern in der Kammer des Lichts sein würden, aber ohne jeden Makel der Finsternis. Der Feind wird in der Kammer des Lichts nicht Fuß fassen können.« »Wenn Eure Körper wiederhergestellt sind, was esst Ihr dann? Wer ernährt diesen riesigen Stamm?« »Gott sind die Nahrung, mit der die Gesegneten genährt werden.« 598 »Werden Gott dann nicht verzehrt?« »Nein. Gott haben keine materielle Substanz, nicht so wie wir.« »Ich gebe zu, ich bin verwirrt. Wer ist dieser Feind?« »Finsternis und Verdorbenheit.« »Aber Finsternis und Verdorbenheit gibt es überall. Sie sind ein Teil der Erde. Wie kann ein Ort existieren, an dem es dies alles nicht gibt? Ist dann dieser Feind der Grund, weshalb die Menschen böse Dinge tun?« »Nein, ganz und gar nicht. Wir leben unser Leben gemäß unserem freien Willen. Finsternis ist in die Welt gekommen, aber es ist an uns, zwischen dem, was gut ist, und dem, was böse ist, zu wählen. Wenn Gott es anders gemacht hätten, wenn wir nicht das Böse wählen könnten, wären wir Sklaven, ein Instrument in der Hand Derer, die uns in Bewegung gesetzt habenMütternBruder