Frank G. Slaughter
In Seinem Auftrag
Inhaltsangabe Frank G. Slaughter ist Autor und Arzt zugleich, und von diesem Dop...
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Frank G. Slaughter
In Seinem Auftrag
Inhaltsangabe Frank G. Slaughter ist Autor und Arzt zugleich, und von diesem Doppelberuf her beziehen seine Romane ihre Spannung und Authentizität. Ärzte mit Leib und Seele, die an die Grenzen ihres Faches geraten, die in Abenteuer auf Leben und Tod verwickelt werden, die ihr Schulwissen radikal in Frage gestellt sehen und auf eine ungewöhnliche Herausforderung ungewöhnlich reagieren – das sind Slaughters Helden. Der junge Chirurg Dr. Michael Kerns ist einer von ihnen. Als er an einem Montagmorgen zum Washingtoner Flughafen fährt, ahnt er nicht, daß er von diesem Tag an eine wichtige Rolle in einem teuflischen Spiel übernehmen wird, das die Sicherheit Amerikas – der ganzen Welt bedroht. Über das Autoradio wird Dr. Kerns unfreiwillig Zeuge des letzten Gesprächs zwischen einem Piloten und dem Tower. Sekunden später rast die Düsenmaschine ins Gebäude des Hauptterminals – die Folge eines Anschlags, der Lynne Tallman galt, dem meistgesuchtesten Mitglied des Chicagoer Satanskults. Sie wollte an diesem Tag vor einem Sondertribunal freiwillig über ihre Verbrechen aussagen. Am Unfallort wird Dr. Kerns dringend gebraucht. Ein Opfer hat die Katastrophe wie durch ein Wunder überlebt – die engagierte Reporterin Janet Burke. Dr. Kerns gelingt es, Janets Gesicht in voller Schönheit wiederherzustellen. Aber um welchen Preis? Lynnes dämonischer Geist ist in den schönen Körper Janets gefahren, und Janet ist dazu ausersehen, den wahrhaft teuflischen Plan der Satanssekte in die Tat umzusetzen.
Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln © 1977 by Frank Slaughter © 1980 für die deutsche Ausgabe by Franz Schneekluth Verlag, München Lizenzausgabe mit Genehmigung des Franz Schneekluth Verlages Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln und Bercker Graphischer Betrieb GmbH, Kevelaer Schutzumschlag: Roberto Patelli Printed in West Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Inhaltsangabe 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47
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r. Michael Kerns hörte im Autoradio die Acht-Uhr-Nachrichten, als er von der 1-495, dem Washington Beltway, abbog und auf der Dulles International Airport Road weiterfuhr. An einem gewöhnlichen Montagmorgen im Juni wäre Mike aus seinem Wochenendhaus am Ostufer des Potomac River bei Indian Head auf der Woodrow Wilson Bridge über den Fluß in die dichtbesiedelte ›Schlafstadt‹ Alexandria zurückgefahren. Von dort aus wäre er über den George Washington Memorial Parkway und die Key Bridge nach Georgetown gelangt und hätte seine Praxis in der Nähe des riesigen University Hospitals erreicht. An diesem Morgen war er jedoch zum Flughafen unterwegs, um zu einem wichtigen Kongreß für plastische Chirurgie zu fliegen, und befand sich deshalb so weit westlich seiner gewohnten Route. Aus dem gleichen Grund war er auf dem letzten Abschnitt der Strecke zu dem neuesten und am wenigsten benutzten Flughafen der Bundeshauptstadt, wo der Verkehr merklich nachgelassen hatte, etwas geistesabwesend: Er dachte an seinen Vortrag, den er nachmittags auf dem Kongreß halten sollte. Als 28jähriger Facharzt und außerordentlicher Professor für Gesichts- und Unfallchirurgie an der Georgetown University befand Mike sich noch auf einer unteren Sprosse seiner Karriereleiter. Durch seine Tätigkeit als Assistenzarzt am University Hospital und weitere zwei Jahre als Fellow für kosmetische Chirurgie am New Yorker Bellevue Hospital hatte er sich die notwendigen fachlichen Qualifikationen erworben. Er war groß, sah sehr gut aus – seine Locken, die blauen Augen und das ausdrucksvolle Gesicht verdankte er schottisch-irischen Vorfahren, die sich um 1870 im Shenandoah Valley niedergelassen hatten –, und war ein begeisterter Junggeselle. Obwohl viele junge Frauen auf ihn Jagd machten, hatte Mike Kerns es bisher geschafft, unverheiratet zu bleiben. »…werden Spekulationen darüber angestellt«, sagte der Nachrichtensprecher eben, »wohin das FBI Lynne Tallman, die Femme 1
fatale des Teufelskults, die für mindestens zehn Bombenanschläge verantwortlich sein soll, die in den vergangenen sechs Monaten in Chicago fast fünfzig Todesopfer gefordert haben, gebracht hat. Das von einem Bundesgericht in Chicago gegen Miß Tallman angestrengte Verfahren endete gestern abrupt mit ihrem durch eine befreundete Journalistin übermittelten Anerbieten, über den Kult, seine Tätigkeit, seine Mitglieder und seine Verbindungen zu ähnlichen Organisationen in anderen Städten auszusagen. Als Gegenleistung soll die Staatsanwaltschaft angeblich nicht auf einer Anklage wegen Mordes bestehen, und wie aus gutunterrichteten Kreisen verlautet, soll Miß Tallman schon bald nach Washington gebracht werden und vor einem Senatsausschuß zur Bekämpfung terroristischer Umtriebe aussagen. Da befürchtet werden muß, daß Mitglieder des Teufelskults zuvor versuchen werden, Lynne Tallman zu ermorden, hat das FBI ungewöhnliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Vermutlich befindet sie sich in diesem Augenblick an Bord eines Flugzeugs, das sie nach Washington bringt, wo der Senatsausschuß heute…« Das Röhren der Triebwerke einer Verkehrsmaschine, die sich im Landeanflug auf den dreizehn Meilen weit entfernten Dulles International Airport befand, übertönte kurzzeitig die Nachrichten. Mike streckte die Hand aus und schaltete den Spezialempfänger auf 119,1 MHz um – die Towerfrequenz von Dulles International. Da Mike mit offenem Verdeck fuhr, brauchte er nur den Kopf zu heben, um die Maschine – eine Boeing 727 – fast genau über sich zu sehen. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als er merkte, daß der Pilot das Fahrwerk noch nicht ausgefahren hatte. Sekunden später wurde seine Beobachtung über Funk bestätigt, als die Stimme des Piloten der schlanken 727 aus dem Lautsprecher drang. »Dulles Tower, hier Tri-Continental sechs-zwanzig. Unser Fahrwerk scheint irgendwie blockiert zu sein.« »Sechs-zwanzig, hier Dulles Tower; verstanden. Steigen Sie auf fünftausend Fuß, und bleiben Sie in der Platzrunde.« Mike fragte sich, ob der Fluglotse angesichts einer bevorstehenden Notlandung wirk2
lich so ruhig war, wie seine Stimme klang. »Haben Sie eine Vorstellung davon, wo der Defekt liegen könnte?« »Negativ. Mein Kopilot versucht gerade, das Fahrwerk manuell auszufahren. Ich schlage vor, daß Sie die Landebahn räumen und einen Schaumteppich legen lassen…« »Verstanden, Sechs-zwanzig.« Der Fluglotse war noch immer bemerkenswert gelassen. »Wir bereiten alles für eine Notlandung vor.« Im nächsten Augenblick mischte sich eine zweite Stimme, die scharf und befehlsgewohnt klang, in das Gespräch zwischen dem Piloten der Boeing 727 und der Anflugkontrolle ein. »Sechs-zwanzig und Dulles Tower, hier Washington Center.« Mike stellte sich einen FAA-Controller vor, der im nahen Leesburg vor einem Radarschirm saß und den Leuchtpunkt beobachtete, der ihm die Position von Tri-Continental Flug 320 anzeigte. »Ist was nicht in Ordnung?« »Sechs-zwanzig hat Probleme mit dem Fahrwerk, das sich anscheinend nicht ausfahren läßt«, berichtete Dulles Tower. »Wir bereiten alles für eine Notlandung vor.« »Verstanden, Dulles«, antwortete der FAA-Controller. »Was ist mit Ihnen, Sechs-zwanzig?« »Wir steigen auf fünftausend Fuß und bleiben in der Platzrunde«, meldete der Kapitän der Boeing. Seine Stimme klang hörbar besorgt. »Mein Kopilot versucht inzwischen, das Fahrwerk von Hand auszufahren.« Als Mike das havarierte Flugzeug in der Platzrunde zurückkommen sah, hielt er am Straßenrand, holte ein starkes Fernglas aus dem Handschuhfach und verfolgte damit die Maschine. Er bemerkte sofort, daß das Fahrwerk noch immer nicht ausgefahren war; aber während er die Boeing 727 beobachtete, öffneten sich die Fahrwerksabdeckungen. Dann wurden die Reifen sichtbar, als das Fahrwerk langsam in Position herabsank. Der Kopilot hat einen Orden verdient, dachte Mike. Er hat bestimmt einer Menge Leute das Leben gerettet. »Dulles Tower, hier Sechs-zwanzig.« Die Stimme des Piloten klang 3
jetzt erleichtert. »Mein Kopilot fährt das Fahrwerk manuell aus.« »Verstanden«, antwortete der Fluglotse. »Melden Sie, wenn es ausgefahren und verriegelt ist.« »Okay, wird ausgeführt. Ich bin jedenfalls froh, wenn wir diese Ladung von Bord haben, ohne…« Ein dumpfes Dröhnen, das ebenfalls aus dem Lautsprecher kam, übertönte die Stimme des Piloten. Mike Kerns, der weiterhin das große Flugzeug beobachtete, das jetzt eine der von Norden nach Süden verlaufenden Landebahnen ansteuerte, brauchte nicht zu raten, woher es kam. Während er starr vor Entsetzen und zugleich fasziniert das grausige Drama verfolgte, das sich am Himmel über den grünen Hügeln Virginias abspielte, blähte der vordere Rumpfunterteil der Maschine sich wie ein Kinderballon auf. Noch bevor der Detonationsknall seine Ohren erreichte – was fast eine halbe Minute dauerte –, war Mike sich darüber im klaren, daß das manuelle Ausfahren des Fahrwerks durch den Kopiloten irgendwie eine Explosion an Bord ausgelöst haben mußte. Mike konnte den Blick nicht von dem havarierten Flugzeug wenden und sah jetzt, wie sich eine große Metallplatte unter der vorderen Kabine langsam vom Rumpf löste. Als sie losbrach, fiel eine winzige Gestalt, wahrscheinlich der Kopilot, aus der Maschine. Der verzweifelt mit den Armen rudernde Mann erinnerte auf unheimliche Weise an einen Fallschirmspringer in freiem Fall – aber er hatte keinen Fallschirm. Als Mike von dem Abstürzenden wieder zu dem Flugzeug hinübersah, stellte er überrascht fest, daß es wider Erwarten noch immer zusammenhielt. Außerdem schien es dem Kopiloten, der inzwischen hinter den Wipfeln eines Tannenwäldchens verschwunden war, vorher um den Preis seines Lebens gelungen zu sein, das Fahrwerk auszufahren. Ob es allerdings auch verriegelt war, konnte Mike nicht beurteilen. »Dulles Tower, hier Sechs-zwanzig«, meldete sich der Pilot, dessen Funkgerät wie durch ein Wunder noch funktionierte. »Wir haben eine Explosion an Bord gehabt, und die Fahrwerksanzeige ist 4
ausgefallen! Ist mein Fahrwerk ausgefahren?« »Positiv, Sechs-zwanzig. Ihr Fahrwerk ist ausgefahren und scheint verriegelt zu sein. Frei zur Landung.« Während der Fluglotse sprach, hörte Mike im Hintergrund Sirenengeheul von Rettungsfahrzeugen, die zu der Landebahn rasten, auf der die Boeing 727 gleich aufsetzen würde. Er wartete gespannt auf die nächste Meldung und hielt unwillkürlich den Atem an. »Alles in Ordnung!« meldete der Pilot erleichtert. »Haben eben aufgesetzt, und das Fahrwerk scheint zu halten. Wir…« Er machte eine Pause. »He, ich kann nicht bremsen!« rief er dann erschrocken. »Die Schubumkehr funktioniert auch nicht! Wir rasen ins Abfertigungsgebäude!« Nach dieser dramatischen Ankündigung herrschte einige Sekunden lang Schweigen; dann hörte Mike eine Frauenstimme in seinem Lautsprecher. »Meister! Rette mich!« kreischte sie hysterisch schrill, bevor sie in einem Schreckensschrei gipfelte, der nichts Menschenähnliches mehr an sich hatte, bis er abrupt abbrach. Mikes Hand zitterte, als er auf die Frequenz der State Police umschaltete. Er brauchte nicht lange zu warten. Schon nach kaum einer Minute meldete sich die Zentrale mit einem Ruf an alle: »Auf dem Dulles International Airport ist es soeben zu einer Explosion mit nachfolgendem Brand gekommen! Sämtliche Rettungsfahrzeuge in diesem Gebiet sofort dorthin! Alle übrigen Fahrzeuge übernehmen die Verkehrsregelung, bis Art und Ausmaß des Unglücks feststehen. Eine landende Maschine scheint außer Kontrolle geraten und ins Flughafengebäude gerast zu sein.« Mike dachte an die bedauernswerten Opfer hinter der riesigen Glasfront des Gebäudes, ließ den Motor an, warf einen Blick in den Rückspiegel und fuhr auf die vierspurige Schnellstraße hinaus. Der Porsche beschleunigte rasch auf siebzig, achtzig und schließlich neunzig Stundenmeilen. Während Mike einzelne Wagen überholte, die langsamer in Richtung Flughafen fuhren, erinnerte er sich plötzlich an die rätselhafte Äußerung des Piloten, der dem Fluglotsen erklärt 5
hatte: »Ich bin jedenfalls froh, wenn wir diese Ladung von Bord haben…« Er fragte sich, was der Kapitän damit gemeint haben konnte.
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ine halbe Meile vor der Flughafeneinfahrt stieß Mike auf eine Autoschlange, die beide Fahrspuren blockierte, weil die Polizei offenbar die Zufahrt abgesperrt hatte. Er fuhr auf dem Mittelstrich zwischen den beiden Reihen weiter, ohne auf die Proteste und wütenden Gesten aufgebrachter Autofahrer zu achten, von denen die meisten vermutlich nichts von dem Unglück wußten. Kurz vor der Einfahrt wurde er jedoch aufgehalten: Ein Streifenwagen stand quer auf der Fahrbahn, und ein stämmiger Deputy Sheriff mit rotem Gesicht kam wütend auf Mike zu. »Was soll der Blödsinn, Mister?« knurrte der Uniformierte. »Wie kommen Sie dazu, hier durchzupreschen? Wohin wollen Sie?« Mike zog seine Brieftasche, um sich auszuweisen. »Ich bin Chirurg in Georgetown und dort auch Polizeiarzt der Reserve.« »Mir ist ganz egal, was Sie…« Der Beamte starrte Mike an. »Sie sind Arzt?« erkundigte er sich. »Ja.« Mike zeigte auf das Funksprechgerät, das der andere in der Hand hielt. »Warum fragen Sie nicht an, ob ich drinnen helfen soll, anstatt hier draußen mit mir herumzustreiten?« Der Polizeibeamte hob das Funkgerät an die Lippen. »Hier ist ein Arzt, der reinkommen und helfen will«, meldete er. »Soll ich ihn durchlassen?« »Mann, da fragen Sie noch?« rief eine aufgebrachte Stimme. »Begleiten Sie ihn sofort zu Dr. Smathers. Er braucht dringend Hilfe!« »In Ordnung, Doc«, erklärte der Uniformierte Mike. »Ich fahre 6
voraus, damit Sie nicht wieder aufgehalten werden.« Während Mike dem Streifenwagen auf der weit ausholenden Zufahrtsstraße folgte, konnte er sehen, daß die Boeing 727 tatsächlich in die spektakuläre Glasfront des Abfertigungsgebäudes gerast war. Sie hatte sich mit der Nase in die Halle gebohrt und war erst zum Stehen gekommen, als die Tragflächen von den schräggestellten Stahlpfeilern, die das geschwungene Dach trugen, aufgehalten worden waren. Aus dem Gebäude quollen dichte Rauch- und Dampfschwaden, zwischen denen rötliche Flammen aufzuckten. Das vordere Drittel der verunglückten Maschine brannte offenbar noch, und als Mike das Gebäude betrat, konnte er sich nicht vorstellen, daß jemand in diesem Teil überlebt haben sollte. Die riesigen Glaswände, durch die der Dulles International Airport sich von allen übrigen Flughäfen der Welt unterschied, hatten sich als nachteilig erwiesen. Soviel sah Mike auf einen Blick: Der Boden der großen Halle war mit Glassplittern übersät, die viele Schnittwunden hervorgerufen haben mußten und auf denen man kaum gehen konnte. Seitdem Mike im Lautsprecher den Schreckensschrei des Piloten gehört hatte – »Wir rasen ins Abfertigungsgebäude!« –, waren kaum zwanzig Minuten vergangen. Kein Wunder also, daß in der Halle noch ziemliches Durcheinander herrschte. Aber die Flughafenfeuerwehr, die speziell für den Einsatz bei Unfällen ausgebildet war, zeigte sich auch dieser unerwarteten Katastrophe gewachsen. Von den vor dem Gebäude abgestellten Löschfahrzeugen führten lange Schläuche durch die Halle und setzten das zertrümmerte Cockpit und die vordere Kabine unter Wasser. Aus dem Flugzeugrumpf schlugen noch immer Flammen, und von dem glühenden Metall stiegen dichte Dampfschwaden auf. Feuerwehrmänner in Asbestanzügen und mit Atemgeräten schleppten Tote aus der Maschine und legten sie im rückwärtigen Teil der Halle nebeneinander. Ein Polizeibeamter und ein Angestellter der Fluggesellschaft, der sich auf einem Schreibbrett Notizen machte, versuchten eine erste Identifizierung der Verunglückten. 7
Einige der Lädchen und die Snackbar in der Mitte des Abfertigungsgebäudes schwelten ebenfalls. Aber diese Brände wurden von Flughafenangestellten mit Schaumlöschern bekämpft, so daß die Feuerwehrmänner sich ganz auf die brennende Maschine konzentrieren konnten. An der Rückwand standen mehrere Dutzend Flughafenbesucher, die unverletzt geblieben waren, unter Aufsicht eines uniformierten Sicherheitsbeamten zusammengedrängt. Frauen weinten, und Kinder brüllten, aber ihre Stimmen gingen im Motorengeräusch der auf Hochtouren laufenden Löschfahrzeugpumpen unter. Mike sah zu seiner Verblüffung, daß einige der Flugtouristen damit beschäftigt waren, die grausigen Szenen am Unfallort zu filmen oder zu fotografieren. Ebenso bizarr war die Anwesenheit eines Aufnahmeteams irgendeiner Fernsehstation, das mit Kameras, Handscheinwerfern und Mikrofonen, bis zu dem noch immer brennenden Flugzeugrumpf vorgedrungen war, ohne sich um die Anweisungen und Flüche von Polizisten und Feuerwehrmännern zu kümmern. Vor den in einer langen Reihe auf den Boden der Halle gebetteten Toten stand ein großer, weißhaariger Mann, der eben zwei Feuerwehrmänner mit einer Leiche anhielt. Er versuchte, ihr den Puls zu fühlen, und zog ein Lid hoch, bevor er sie zu den anderen legen ließ. Mike, der seine Arzttasche mitgebracht hatte, ging langsam über den glitschigen Boden auf den Flughafenarzt zu. »Dr. Smathers?« fragte er. »Ja. Was gibt's denn?« »Ich bin Dr. Michael Kerns vom University Hospital. Können Sie mich irgendwo brauchen?« »Entschuldigung, ich habe Sie für einen dieser Leichenfledderer vom Fernsehen gehalten«, antwortete Smathers. »Die meisten Passagiere aus der vorderen Kabine sind tot. Die anderen konnten über die Notrutschen aus der Maschine geholt werden. Kümmern Sie sich um die beiden Frauen, die dort drüben beim Versicherungsschalter liegen? Eine lebt vielleicht noch.« »Okay, ich sehe gleich nach.« 8
Mike machte sich auf den Weg zu dem fünfzehn Meter entfernten Schalter, der von einer hageren Blondine besetzt war. »Ich hab die beiden keineswegs vergessen!« rief der Flughafenarzt ihm nach. »Von der Andrews Air Force Base muß jeden Augenblick ein komplett ausgestattetes MAST eintreffen, dem ich sie überlassen wollte.« »Ja, ich verstehe«, antwortete Mike. Sein Kollege hatte recht, wenn er sich zunächst darauf konzentrierte, die vermutlich noch Lebenden von den einwandfrei Toten zu trennen. Um die schwierigeren Fälle würde sich das ›Medical Aid Service Team‹ kümmern, das in seinem großen Hubschrauber die modernste Rettungsausrüstung zur Verfügung hatte. Die beiden Verunglückten waren in Decken gehüllt, und die Versicherungsangestellte beugte sich weit über ihre Theke, um sie fasziniert anzustarren. »Oh, es war schrecklich, Doktor!« sagte sie, als Mike neben der ersten Frau niederkniete und seine Arzttasche abstellte. »Ich hab zufällig nach drüben gesehen, als das Flugzeug in die Glaswand gerast ist. Die Cockpitverglasung ist sofort zersplittert – und im nächsten Augenblick ist die zweite Frau aus der Maschine geschleudert worden.« Die Blondine schauerte zusammen. »Ein entsetzliches Geräusch, als sie mit dem Gesicht voraus aufgeschlagen ist«, murmelte sie kaum hörbar. Mike hatte die Decke zurückgeschlagen. Die Angestellte beugte sich noch weiter über ihre Theke, um einen Blick auf das Gesicht der tödlich Verunglückten werfen zu können. »Großer Gott!« keuchte sie. »Das ist Lynne Tallman! Na, das nenn ich ausgleichende Gerechtigkeit!« Wunderbarerweise war das Gesicht der Toten fast unversehrt geblieben, obwohl ihre Kleidung zum größten Teil verbrannt war. Ihre Verbrennungen zweiten und dritten Grades waren so großflächig, daß sich bei der Bergung große Hautfetzen gelöst hatten. Mike konnte jedoch seltsamerweise keinerlei Anzeichen für einen Todeskampf feststellen, obwohl Lynne Tallman eines äußerst schmerzhaften To9
des gestorben sein mußte. Statt dessen trug das wachsbleiche Gesicht einen seltsamen, heimtückisch befriedigten Ausdruck, der ihn verblüffte. Die Blondine drückte aus, was Mike bei diesem Anblick dachte. »Sehen Sie sich ihr Gesicht an, Doktor«, schrillte sie. »So hat sie gestern abend auch ausgesehen, als sie im Fernsehen gezeigt worden ist. Wie eine Katze, die den Sahnetopf ausgeleert hat!« Die Versicherungsangestellte hatte recht. Mike war im stillen der gleichen Ansicht, während er Lynne Tallman rasch untersuchte und konstatierte, daß hier kein Arzt mehr helfen konnte. Er zog ihr die Decke übers Gesicht, wandte sich der zweiten Verunglückten zu und schrak unwillkürlich zusammen, als er ihr Gesicht betrachtete. Nach dem Bericht der Blondine mußte die junge Frau offenbar mit dem Gesicht voraus auf dem Fußboden aufgeschlagen sein. Es war praktisch nur mehr eine formlose Masse, obwohl die Haut bis auf einen zwei Zentimeter langen Schnitt im rechten Augenwinkel unversehrt geblieben war. Wie sie früher ausgesehen haben mochte, ließ sich bei dieser kurzen Untersuchung nicht feststellen; aber Mike sah, daß sie über einen großen und sportlich schlanken Körper verfügte. Da keine der Röhrenknochen gebrochen waren, konnte er ihre Größe auf einsfünfundsiebzig schätzen. Die Verunglückte mußte durch die zersplitterte Cockpitverglasung geschleudert worden sein, bevor das vordere Drittel der Maschine in Brand geraten war. Das hatte sie vor den schweren Verbrennungen bewahrt, denen die andere junge Frau erlegen war. Aber bei dem Aufprall hatte sie nicht nur schwerste Gesichtsverletzungen, sondern vermutlich auch eine Gehirnerschütterung und einen oder mehrere Schädelbrüche davongetragen. Unter ihrem Kopf hatte sich ein große Blutlache gebildet. Mike stellte jedoch durch eine überschlägige Berechnung fest, daß dieser Blutverlust noch nicht tödlich sein konnte. Er setzte sein Stethoskop über dem Herzen an, ohne etwas zu hören. Die Tatsache, daß das aus der Nase sickernde Blut noch immer hellrot war, überzeugte ihn davon, daß zumindest ein Lebensfunke erhalten geblieben 10
sein mußte. »Diese Frau hier lebt noch, glaub ich!« rief er dem Flughafenarzt zu, der den Abtransport der Verletzten über Sprechfunk organisierte. »Was ist mit dem MAST?« »Draußen landet eben ein Hubschrauber«, sagte eine neue Stimme. Als Mike den Kopf hob, sah er einen Mann mit Kamera und Elektronenblitz auf der Theke des Versicherungsschalters stehen und ihn und die Verletzte anvisieren. Der aufflammende Blitz blendete Mike sekundenlang. Er wollte aufspringen und dem Fotografen das Gerät entreißen, aber dann erinnerte er sich daran, daß die junge Frau seiner dringend bedurfte – falls sie tatsächlich noch lebte und gerettet werden konnte. Mike wußte, daß er auf die Unterstützung durch das ›Medical Aid Service Team‹ – abgekürzt MAST – angewiesen war, wenn er die Verunglückte retten wollte. Dieses 1970 eingeführte Rettungssystem sorgte dafür, daß bei schweren Unfällen und Katastrophen Sanitäter von Militärstützpunkten zu Hilfe eilen konnten. Er hatte die Teams der Andrews Air Force Base schon mehrmals im Einsatz erlebt, und ihre großen Hubschrauber waren in der Umgebung von Washington ein vertrauter Anblick. »Wie heißen Sie, Doc?« fragte der Reporter. Mike ignorierte ihn, weil er sich anstrengen mußte, um den Flughafenarzt zu verstehen. »Die Sanitäter kommen gleich mit einem Sauerstoffapparat und einem Schrittmacher!« rief Dr. Smathers. »Am besten begleiten Sie sie ins Krankenhaus, Dr. Kerns. Wie steht's mit der Tallman?« »Sie ist tot.« »Nehmen Sie sie bitte im Hubschrauber mit. Das FBI will, daß sie von hier wegkommt.« Ein stämmiger Luftwaffensergeant im Drillichanzug kam quer durch die Halle gerannt, als Mike nach dem Skalpell in dem Besteck für Luftröhrenschnitte griff, das er stets in seiner Arzttasche hatte. Der Uniformierte zog eine auf zwei Rädern rollende Netztrage hinter sich her, an der ein Sauerstoffapparat und ein tragbarer Schrittmacher befestigt waren; hinter ihm tauchte ein Korporal mit einer zweiten 11
Trage auf. Das Fernsehteam, das auf diese neue Entwicklung aufmerksam geworden war, reagierte schnell. Der Kameramann schaltete seinen starken Scheinwerfer aus zwei Meter Entfernung an, und Mike blinzelte irritiert, als die Kamera zu surren begann. »Verdammte Sensationsjäger«, sagte er laut. »Aber lassen Sie den Scheinwerfer an. Ich muß eine Notoperation vornehmen, bei der Sie mich, um Himmels willen, nicht behindern dürfen.« »Geht in Ordnung, Doc«, antwortete der Kameramann. Der Scheinwerfer blieb auf das Gesicht der Verletzten gerichtet, zeigte alle grausigen Details – und diente Mike als Operationsbeleuchtung. »Sergeant Stone, Sir«, stellte der erste Sanitäter sich keuchend vor. »Was sollen wir tun?« »Legen Sie Ihre Hand unter den Hals der Verletzten, Sergeant«, wies Mike ihn an. »Ich muß einen Luftröhrenschnitt vornehmen.« Der Sanitäter wußte, was er zu tun hatte: Er ballte die Hand zur Faust, schob sie unter den Hals der jungen Frau und drückte ihn nach oben, so daß die den Kehlkopf schützenden Knorpel nach vorn gepreßt wurden. »Haben Sie ein Röhrchen, Sir?« »Ja, ein kleines. Ich nehme nur eine Koniotomie vor, damit wir den Respirator anschließen können.« Mike hielt das Skalpell so zwischen Daumen und Zeigefinger, daß kaum mehr als ein Zentimeter Schneidfläche zu sehen war, als er dicht unter dem Kehlkopf einen Einschnitt in die Luftröhre machte. Seine am Skalpell liegenden Finger verhinderten dabei, daß der Schnitt zu tief wurde und den Kehlkopf mit den Stimmbändern verletzte. Mike hielt den Einschnitt mit dem Skalpell offen, während er mit der freien Hand nach einem gebogenen Röhrchen aus dem sterilisierten Besteck griff und in die Luftröhre einführte. Als nächstes befestigte er den breiten Rand des Röhrchens mit Heftpflaster, um ein Herausrutschen zu verhindern, und schloß den Schlauch vom Sauerstofftank des Respirators an, den Sergeant Stone ihm hinhielt. Als der Sanitäter das Ventil öffnete, füllte sich der Respirator mit Sauerstoff und drückte das lebenswichtige Gas in die Lungen 12
der Verletzten. »Wir müssen auch den Schrittmacher anlegen, bevor wir sie zum Hubschrauber transportieren«, entschied Mike. Der Sergeant gab ihm die beiden Elektroden, die zu dem batteriebetriebenen Gerät führten. »Wollt ihr eigentlich alles filmen?« fragte Mike wütend; aber die Kamera surrte weiter. Deshalb stand er auf und trat über die auf dem Fußboden Liegende hinweg, so daß sein Kopf und seine Schultern dem Kameramann die Sicht nahmen. Dann riß er der jungen Frau die Bluse auf und legte die Elektroden direkt über dem Herzen an. Als Sergeant Stone den Schrittmacher einschaltete, zuckte ein Stromstoß von einer Elektrode zur anderen und regte den Herzmuskel an, der sich jetzt wie ihre Brustmuskeln zusammenzog. »Der Pulsschlag ist deutlich zu spüren gewesen, Sir«, berichtete Stone, der einen Finger am Handgelenk der Verletzten hatte. »Das bedeutet, daß ihr Blut noch nicht zu gerinnen begonnen hat«, antwortete Mike. »Sie hat also noch eine Chance – aber das beweist nicht schon, daß sie noch lebt.« »Wann läßt sich das mit Sicherheit feststellen?« erkundigte sich der Fernsehreporter. Als Mike kurz den Kopf hob, sah er sich von etwa zwanzig Neugierigen umgeben: Angestellte von Fluggesellschaften, eine Serviererin aus der Snackbar, ein uniformierter Sicherheitsbeamter und ein Dutzend weiterer Zuschauer bildeten einen Kreis um ihn. »Sorgen Sie dafür, daß diese Leute verschwinden!« forderte er den Sicherheitsbeamten auf, weil er sich darüber ärgerte, daß die anderen seine Bemühungen als interessantes Schauspiel betrachteten. »Wir versuchen hier, einer Verunglückten das Leben zu retten.« »Und leisten dabei verdammt gute Arbeit«, warf der Fotoreporter ein, während er seinen Standort veränderte, um eine weitere Aufnahme zu machen. »In weniger als fünf Minuten haben Sie Herz und Lunge wieder in Gang gebracht.« Die Umstehenden klatschten impulsiv Beifall, was Mike nur noch mehr ärgerte. 13
»Okay, wir transportieren sie jetzt in Ihren Hubschrauber, Sergeant«, entschied er. Dann nickte er dem Sicherheitsbeamten zu. »Und Sie bahnen uns einen Weg – verstanden?« »Würden Sie den Respirator bedienen und auf den richtigen Sitz der Elektroden achten, während wir sie auf die Trage legen, Doktor?« bat Stone. »Nimm ihre Beine, Al.« Der zweite Sanitäter, der bisher untätig dabeigestanden hatte, trat jetzt vor und griff nach den Füßen der Schwerverletzten; Stone faßte sie unter den Achseln. Die beiden Geräte – der Schrittmacher, der ihr Herz rhythmisch stimulierte, und der Respirator, der ihre Lungen gleichmäßig beatmete – ruhten auf ihrem Unterleib, als sie auf die Netztrage gebettet wurde. Zwei weitere Sanitäter hatten inzwischen die von einer Decke verhüllte tote Lynne Tallman auf eine andere Trage gelegt. Der Sicherheitsbeamte ging voraus und bahnte eine Gasse durch die Menge, die zusammengeströmt war, um die berüchtigte Lynne Tallman – wenn auch nur als Leiche – zu sehen. Rasch durchquerte die kleine Gruppe die Halle und erreichte den Hubschrauber, der auf dem Rasenrondell vor dem Abfertigungsgebäude gelandet war. Die erste Trage schaffte man nach hinten in die Kabine, damit Mike genügend Platz zum Arbeiten hatte. Danach kam die Trage mit der zugedeckten Leiche an Bord und wurde auf dem Boden hinter den Pilotensitzen abgestellt. Mike schüttelte irritiert den Kopf, als ein großer, elegant angezogener Mann, der eine Sonnenbrille trug, ebenfalls einstieg. »Was haben Sie hier zu suchen, mein Bester?« erkundigte er sich. »Wir sind hier schon beengt genug!« Der große Mann griff in die Brusttasche seiner Jacke und holte ein Lederetui heraus, das er Mike aufgeklappt hinhielt. Die Metallplatte trug die Aufschrift Federal Bureau of Investigation. »Inspektor Frank Stafford vom FBI«, stellte er sich vor. »Warum will das FBI eine Leiche bewachen?« Da jetzt die Triebwerke angelassen wurden, mußte Mike lauter sprechen, um sich verständlich zu machen. 14
»Zwei meiner besten Freunde sind umgekommen, weil sie diese Tallman auf dem Flug zu begleiten hatten«, antwortete Stafford energisch. »Irgend jemand in Chicago hat offenbar verhindern wollen, daß sie ihre Aussagen macht, und eine Sprengladung am Fahrwerk angebracht, die detoniert ist, als der Kopilot es manuell ausgefahren hat.« »Großer Gott!« sagte Sergeant Stone. »Der Urheber dieses Attentats hat wirklich dafür gesorgt, daß es von möglichst vielen gesehen worden ist.« »Und wer das schafft«, fuhr Stafford fort, »könnte auch die Leiche auf der Fahrt in die Stadt entführen, um dann eine Doppelgängerin als die angeblich wiederauferstandene Lynne Tallman zu präsentieren. Schließlich ist sie die anerkannte Hohepriesterin dieses Teufelskults in Chicago gewesen.« Die kleine Kurve auf dem Oszillographen des Schrittmachers, die den Herzschlag darstellte, wurde plötzlich unregelmäßig, und Mike veränderte rasch die Stellung der Elektroden – zwei teilweise mit Plastikmaterial überzogene Metallscheiben –, bis das Herz wieder gleichmäßig wie zuvor schlug. »Mit den Schrittmacherelektroden haben wir schon oft Schwierigkeiten gehabt, Doktor«, berichtete Stone. »Sie rutschen einfach zu leicht ab.« »Haben Sie einen transvenösen Katheterschrittmacher an Bord, Sergeant?« fragte Mike. »Ich glaube ja, Sir, aber ich kann ihn nicht einführen.« »Ich kenne mich damit aus«, beruhigte ihn Mike. »Der Katheterschrittmacher sorgt für eine erheblich bessere Stimulation der Herztätigkeit.« Sergeant Stone hatte inzwischen einen der Geräteschränke geöffnet. Jetzt gab er Mike ein in Plastikfolie verpacktes steriles Päckchen. »Hier ist er, Sir. Sie finden alles, was Sie brauchen, in der Packung.« »Legen Sie den rechten Arm auf einer Schiene still«, wies Mike den Sergeanten an. »Aber lassen Sie mir in der Ellbogenbeuge Platz 15
zum Arbeiten.« Mike entnahm dem sterilen Päckchen ein Paar Gummihandschuhe, die er vorsichtig überstreifte. Dann desinfizierte er die Ellbogenbeuge der Verletzten mit einem mit Alkohol getränkten Wattebausch und deckte sie mit einem sterilen Leinentuch ab, in dessen Mitte ein Ausschnitt etwa dreißig Quadratzentimeter frei ließ. »Was haben Sie vor, Doktor?« fragte der FBI-Inspektor, der ans Fußende der Trage getreten war. »Ihr Herz schlägt, weil es durch den Schrittmacher von außen stimuliert wird. Aber dieses Verfahren ist zu störanfällig«, erklärte Mike, während er weiterarbeitete. »Gleichzeitig werden ihre Lungen mit reinem Sauerstoff beatmet, den das Blut durch den Körper transportiert.« »Als ob sie noch am Leben wäre«, sagte Stafford. »Ich glaube, daß sie noch am Leben ist.« Mike machte einen kleinen Einschnitt an der Stelle, wo sich eine der Armvenen, die sonst für Blutentnahmen oder intravenöse Injektionen benützt wurde, als bläulicher Schatten abzeichnete. »Jeder Stromstoß des Schrittmachers stimuliert nicht nur das Herz, sondern auch die Brustmuskeln. Sie sehen selbst, wie sie jedesmal zucken. Wenn es mir gelingt, eine spezielle Katheterelektrode durch die Armvene ins Herz einzuführen, bis sie an der Herzscheidewand anliegt, können wir lediglich den Herzmuskel stimulieren, ohne daß weitere Muskeln beeinflußt werden.« »Wenn Sie das schaffen, sind Sie ein Zauberkünstler!« Mike betrachtete die kaum sichtbaren Armvenen, die nur ganz schwach pulsierten, obwohl das Herz auf die Elektroschocks des Schrittmachers hin kräftig schlug. »Sie hat viel Blut verloren, und ihr Blutdruck ist wegen des erlittenen Schocks gefährlich niedrig. Diese Venen sind schon fast zusammengefallen, und wenn sie nicht bald eine Transfusion bekommt…« Er sprach nicht weiter, sondern schnitt die Vene mit der Spitze des Skalpells an. Das aus dem Schnitt hervorquellende Blut ließ sich durch den Druck von Mikes linkem Zeigefinger leicht kontrollie16
ren, während er mit der rechten Hand nach dem Katheter griff. Außer der Elektrode hatte in dem Y-förmig auslaufenden Röhrchen eine Bohrung Platz, durch die ein winziger Ballon an der Spitze des Katheters mit Luft aufgeblasen werden konnte. Mike ließ den Ballon zunächst unaufgeblasen, während er den Katheter in die Armvene einführte und langsam weiter hineinschob. »Der Blutstrom nimmt den Katheter mit«, erklärte er dem FBI-Mann, »sobald die Spitze den Punkt erreicht, wo die Vene größer ist, so daß ich den Ballon aufpumpen kann.« Sergeant Stone hatte inzwischen eine mit Luft gefüllte Injektionsspritze an einen Y-Arm des Katheterendes angeschlossen, während Mike ihn langsam weiterschob und auf die Markierungen an dem Plastikröhrchen achtete. »Etwas Luft, Sergeant«, wies er Stone an. »Wir müßten unter dem Schlüsselbein angelangt sein.« »Was bedeutet das?« wollte Stafford wissen. »Die Katheterspitze befindet sich jetzt irgendwo unter dem Schlüsselbein – fünfzehn bis zwanzig Zentimeter von der rechten Herzkammer entfernt.« »Und was passiert dann?« »Die Elektrode an der Spitze des Katheters kann ihre Stromstöße direkt in den Herzmuskel schicken.« »Raffiniert! Wirklich raffiniert!« »Aber das klappt nur, wenn wir Glück haben. Im Augenblick arbeiten der Schock und die Gehirnverletzung noch gegen uns.« Der Katheter bewegte sich fast eine Minute lang gleichmäßig weiter. Dann spürten Mikes empfindliche Finger eine plötzliche Druckänderung, die ihm verriet, daß die Katheterspitze durch die rechte Vorkammer und die Klappe in die rechte Herzkammer gelangt war. Dort würde die Elektrode hoffentlich an den Muskeln der Herzkammerwand anliegen. »Es ist soweit, Sergeant«, sagte er ruhig. »Wir können es mit der Elektrode versuchen.« Stone schloß rasch die Katheterelektrode an, so daß die Strom17
stöße des Schrittmachers das Herz der Verletzten nicht mehr durch die außen angelegten Elektroden stimulierten, sondern den Herzmuskel direkt erreichten. »Geschafft, Dr. Kerns!« rief er aus, als der Puls sich wieder auf dem kleinen Oszilloskop des Schrittmachers abzeichnete. »Ihr Herz schlägt weiter.« »Als Laie kann ich nicht beurteilen, was Sie da gemacht haben, Doktor«, meinte der FBI-Mann. »Eines weiß ich jedoch: Sie haben dieser Frau das Leben gerettet.« »Das steht noch keineswegs fest«, wehrte Mike ab. Er befestigte die Katheterelektrode mit einem breiten Streifen Heftpflaster am Arm der Bewußtlosen. »Nur der Elektroenzephalograph kann uns sagen, ob sie wirklich noch lebt.« »Ich habe dem University Hospital eben gemeldet, daß wir in fünf Minuten auf dem Dach landen werden, Dr. Kerns«, berichtete der Pilot. »Irgendwelche Anweisungen, Doktor?« »Sie sollen den Aufzug von der Unfallstation aus nach oben schikken und Blut der Gruppe Null bereithalten, damit die Patientin sofort eine Transfusion bekommen kann«, antwortete Mike. »Geben Sie das bitte durch?« »Wird gemacht, Doc.« Inspektor Stafford betrachtete die Schwerverletzte nachdenklich. »Wie beurteilen Sie ihre Chancen, Dr. Kerns?« »Falls das EEG Gehirnströme aufzeichnet, lebt sie noch und hat Chancen, durchzukommen – immer unter der Voraussetzung, daß ihre Gehirnverletzungen nicht allzu schwer sind.« »Und was ist mit ihrem Gesicht?« wollte der FBI-Mann wissen. »Das läßt sich später rekonstruieren«, erklärte Mike. »Unfall- und Schönheitschirurgie ist zufällig mein Spezialgebiet.« »Achtung, wir setzen gleich auf!« rief der Pilot nach hinten. »Hier oben herrscht immer eine gewisse Turbulenz, aber ich versuche, so weich wie möglich zu landen.« Die Landung verlief problemlos. Noch bevor die Rotoren des großen Hubschraubers stillstanden, lag die Verletzte mit Respirator und 18
Schrittmacher auf einem fahrbaren Untersuchungstisch im Lift, der sie ins Erdgeschoß hinunterbrachte. Dort wartete bereits Dr. Stewart Porter, der Chefarzt der Unfallstation. Mike und der etwa gleichaltrige junge Chirurg hatten in diesem Krankenhaus gemeinsam als Assistenzärzte gearbeitet und waren seit jener Zeit befreundet. »Am besten machst du gleich weiter, Mike«, meinte Dr. Porter. »Du bist von Anfang an bei ihr gewesen.« »Wir fertigen ein EEG an, Stew, um zu sehen, ob sie noch lebt«, entschied Mike. »Sorgst du inzwischen dafür, daß sie eine Bluttransfusion bekommt? Sie hat ziemlich viel Blut verloren, aber ich halte den Schock und etwaige Gehirnverletzungen für lebensbedrohender.« Dr. Porter begann mit der Vorbereitung der Transfusion, während Mike den Untersuchungstisch in die erste der zwölf Kabinen der Unfallstation rollte. Dort war ein Elektroenzephalograph installiert, der Gehirnströme – deren Vorhandensein über Leben und Tod entschied – auf einem Bildschirm sichtbar machte. Auf dem gleichen Monitor ließ sich auch der Herzschlag kontrollieren. Mike verlor keine Zeit damit, das blutverkrustete rotblonde Haar der Schwerverletzten zu teilen, sondern begann sofort, ihr die Nadelelektroden in die Kopfhaut zu stechen. So schnell er sie anbrachte, verband Mrs. Saunders, die grauhaarige Oberschwester der Unfallstation, sie mit den entsprechenden Klemmen des Geräts. Gleichzeitig legte eine zweite Krankenschwester der Patientin kleine EKGElektroden an, damit auch die Herztätigkeit aufgezeichnet werden konnte. Dann war Mike mit seiner Arbeit fertig. Er trat einen Schritt zurück und nickte Mrs. Saunders zu. »Schalten Sie bitte ein«, forderte er sie auf. »Wir werden gleich wissen, ob es sich lohnt, überhaupt weiterzumachen.« Die Oberschwester tat wie geheißen und beugte sich wie Mike nach vorn, um auf den Bildschirm zu starren. Zuerst war nichts zu sehen, so daß Mike bereits fürchtete, sich in der vergangen halben Stunde um eine Tote bemüht zu haben. Aber als das Gerät warm wurde, zeichneten sich dünne Linien auf dem Bildschirm ab: nicht 19
so kräftig wie bei einem normalen EEG, aber trotzdem deutlich ausgeprägt. Und am unteren Rand des Monitors erschien jetzt auch die regelmäßige Zackenlinie des künstlich angeregten Herzschlags. »Sie haben sie ins Leben zurückgeholt, Doktor!« rief die Oberschwester und lächelte Mike anerkennend zu. Dann wurde sie wieder ernst. »Aber ich frage mich, ob sie oder ihr Verlobter Ihnen dafür danken werden, wenn sie ihre Gesichtsverletzungen sehen.« »Wie kommen Sie darauf, daß sie verlobt ist?« »Haben Sie denn nicht gesehen, daß sie an der linken Hand einen Verlobungsring trägt?« antwortete Mrs. Saunders. »Den muß ich ihr gleich abziehen und im Safe hinterlegen, bevor er auf geheimnisvolle Weise verschwindet.«
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ährend Mike die Nasenhöhle der Verletzten mit schmalen Gazestreifen ausstopfte, um die Blutung zum Stehen zu bringen, legte Dr. Stewart Porter mit einem kleinen Schnitt die Vene über dem linken Knöchel frei und schob einen kurzen Nylonkatheter hinein. Dann begann die Transfusion mit Blut der Gruppe Null, das in solchen Fällen verwendet wurde, weil es mit den drei üblichen Gruppen verträglich war. Inzwischen entnahm eine MTA der Patientin eine Blutprobe, um Blutgruppe und Rhesusfaktor im Labor bestimmen zu können. Mike hatte sich bei der Arbeit bemüht, dem zersplitterten Nasenbein in etwa seine natürliche Form zurückzugeben. Die endgültige Rekonstruktion mußte jedoch warten, bis die Schwerverletzte wieder bei Bewußtsein und ihr Schock durch die Bluttransfusion so weit abgeklungen war, daß sie gründlich untersucht werden konnte. Dabei würde sich auch herausstellen, ob die durch den Aufprall 20
erlittenen Gehirnverletzungen zu Dauerschäden führen würden. »Ich habe jetzt mehrmals schwache Kontraktionen auf dem Monitor beobachtet«, berichtete Mrs. Saunders, als Mike mit seiner Arbeit fertig war. »Gut, schalten Sie probeweise den Schrittmacher ab«, ordnete Mike an. Als die Oberschwester den Schrittmacher abstellte, starrten alle Anwesenden auf den Bildschirm. Bisher waren dort die regelmäßigen Zacken des künstlich angeregten Herzschlags der Verletzten zu sehen gewesen; jetzt blieb die leuchtende Linie waagerecht. Das Bild blieb sekundenlang gleich. Eben wollte Mike die Hand ausstrecken, um den Schrittmacher wieder einzuschalten, da zeichnete sich plötzlich eine niedrige Welle auf dem Monitor ab. Das Herz reagierte also auf die natürliche Anregung durch seinen eigenen Schrittmacher, der als spezielles Nerven-Muskeln-Bündel im oberen Teil der rechten Vorkammer saß. Der zweite Schlag war bereits sichtlich kräftiger, und der Herzrhythmus wurde danach regelmäßig. »Ein richtiges Wunder!« stellte Dr. Porter mit vor Erregung heiserer Stimme fest. »Ganz recht«, bestätigte Mike. »Das ist jedenfalls nicht unser Verdienst.« Als Mike aus der Intensivstation kam, wohin die Schwerverletzte verlegt worden war, damit sie von der diensthabenden Krankenschwester ständig betreut werden konnte, stand ein großer, grauhaariger Mann mit dicker Brille am Fenster des Vorraumes, der als Wartezimmer eingerichtet war. »Dr. Kerns?« fragte er. »Ja.« »Ich bin George Stanfield, der Chefredakteur der Zeitung ›StarNews‹. Janet Burke…« Er machte eine Pause, als Mike mit diesem Namen offenbar nichts anfangen konnte. »Sie wissen nicht einmal, wie sie heißt?« 21
»Danach habe ich bisher noch nicht fragen können«, antwortete Mike. »Jedenfalls sieht es jetzt so aus, als käme Miß Burke mit dem Leben davon.« »Gott – und Ihnen – sei Dank, Doktor«, sagte Stanfield. Er holte tief Luft, »Janet ist meine Nichte und die beste Kraft in unserer Redaktion in Chicago. Sie hat von Anfang an über den Fall Lynne Tallman berichtet. Man könnte wahrscheinlich sogar behaupten, sie stehe ihr näher als jeder andere außerhalb des Kultes.« »Das würde ich als recht zweifelhafte Ehre bezeichnen.« »Sie dürfen nicht vergessen, daß Janet mit Leib und Seele Reporterin ist, Doktor. Sie hat mich gestern abend aus Chicago angerufen und mir mitgeteilt, das FBI bringe Lynne heute morgen nach Washington und habe ihr gestattet, die Angeklagte zu begleiten. Außerdem hat Janet erzählt, sie schreibe einen Artikel über die Hintergründe von Lynne Tallmans Entschluß, sich schuldig zu bekennen, und werde ihn mitbringen. Ich möchte sogar wetten, daß meine Nichte die Tallman dazu überredet hat, vor Gericht auszusagen.« »Um exklusiv darüber berichten zu können?« »Richtig!« bestätigte der andere. »Für Janet ist das ein großer Coup gewesen. Immerhin haben sich zwei Dutzend Kollegen und Kolleginnen vergebens bemüht, an Lynne Tallman heranzukommen. Ich wollte sie vom Flughafen abholen. Dann ist ihre Maschine verunglückt, und die Polizei hat mich nicht zur Unfallstelle vorgelassen. Daß Janet gemeinsam mit der toten Lynne Tallman im Hubschrauber abtransportiert worden war, habe ich erst vom Sicherheitschef des Flughafens erfahren. Ich bin so schnell wie möglich hergekommen – aber nach allem, was ich gehört hatte, war ich davon überzeugt, Janet sei tot.« »Ihre Nichte ist dem Tod nur um Haaresbreite entronnen, Mr. Stanfield«, antwortete Mike. »Was halten Sie davon, wenn wir uns in das Café in der Eingangshalle setzen? Dort bekommen wir auch eine Kleinigkeit zu essen. Ich bin halb verhungert.« Bei einer Tasse Kaffee und einem Sandwich berichtete Mike dem Chefredakteur, was alles passiert war, seitdem er sich auf dem Bo22
den des Empfangsgebäudes um Janet Burke bemüht hatte. »Sie haben also nichts wegen ihrer Gesichtsverletzungen unternehmen können?« fragte Stanfield. »Die anderen Eingriffe sind wichtiger gewesen. Sobald ihr Allgemeinzustand sich etwas gebessert hat, kann ich damit anfangen, ihr Gesicht zu rekonstruieren.« »Ist es schlimm verletzt?« »Äußerlich ist nur eine kleine Schnittverletzung im rechten Augenwinkel zu erkennen, aber innerlich sind Nase und Oberkiefer stark zersplittert. Auch der Unterkiefer ist mehrfach gebrochen – allerdings ohne daß es zu Verschiebungen an den Bruchstellen gekommen wäre, was für rasche Heilung spricht. Besitzen Sie übrigens ein neueres Foto von Ihrer Nichte, Mr. Stanfield? Ich müßte wissen, wie sie vor dem Unfall ausgesehen hat.« »Ja, ich habe zu Hause ein Farbfoto und kann Ihnen weitere Aufnahmen aus unserem Archiv besorgen.« Stanfield zögerte. »Behält sie viele Narben zurück, Doktor?« »Soviel ich bisher beurteilen kann, dürften später kaum welche zu sehen sein.« »Aber die Operationen…« »Ich hoffe, die meisten Eingriffe von der Mundhöhle aus vornehmen zu können. Wie hat sie früher ausgesehen, Mr. Stanfield. Ist sie eine Schönheit gewesen?« »Nein, eigentlich nur mittelmäßig hübsch«, antwortete ihr Onkel. »Dafür hochintelligent – und mit Leib und Seele Reporterin. Lynne Tallman scheint Janet vertraut und ihr als einziger die Geschichte ihres Lebens erzählt zu haben. Sie hat diese Interviews auf Band aufgenommen und will ein Buch darüber schreiben. Meine Zeitung hat sich die Vorabdruckrechte gesichert – falls Janet jetzt überhaupt noch dazu kommt, ihren Buchplan zu verwirklichen.« »Diese Frage müßte sich bis morgen beantworten lassen«, erklärte Mike. »Ich habe Dr. Josh Fogarty gebeten, sie zu untersuchen. Er ist der beste Neurochirurg im University Hospital und außerdem Spezialist für Gehirnschäden.« 23
»Ja, ich kenne ihn«, bestätigte Stanfield. »Die größte Gefahr für ihre Genesung«, fuhr Mike fort, »sehe ich in der Tatsache, daß ihr Herz zu schlagen aufgehört hat, so daß ihr Gehirn zumindest einige Minuten lang nicht mit Blut und Sauerstoff versorgt worden ist.« »Sind fünf Minuten wirklich die äußerste Grenze, nach der es unweigerlich zu Gehirnschäden durch Sauerstoffmangel kommen muß?« »Das ist nur eine Faustregel«, beruhigte Mike ihn. »Ich habe schon Fälle erlebt, in denen selbst längerer Sauerstoffmangel keine nachteiligen Folgen gehabt hat.« »So bleibt nur zu hoffen, daß sie nicht mit einem Gehirnschaden aufwacht, Dr. Kerns. Das würden weder ihr Verlobter noch ich, noch Janet selbst wollen.« »Wir tun unser Bestes, Mr. Stanfield, und da wir hier alle technischen Möglichkeiten zur Verfügung haben, ist das eine ganze Menge.« »Ich verlasse mich auf Sie, Doktor.« Stanfield sah auf seine Uhr. »Nun muß ich als erstes Gerald Hutchinson in Chicago anrufen. Er leitet unsere dortige Redaktion. Janet und er wollen nächsten Monat heiraten.«
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ie Fotos, die George Stanfield Mike versprochen hatte, wurden ihm am Spätnachmittag von einem Boten in seine Praxis in der Nähe des University Hospitals gebracht. Wie ihr Onkel gesagt hatte, war Janet Burke vor dem Unfall nur mittelmäßig hübsch gewesen. Nachdem Mike die Aufnahmen jedoch studiert hatte, wurde ihm klar, daß ein geschickter Chirurg die junge Frau in eine Schönheit verwandeln konnte. Und je länger er sich mit dieser reizvollen 24
Aufgabe befaßte, desto sicherer fühlte er sich ihr gewachsen. Als Mike auf dem Nachhauseweg das University Hospital zu einer kurzen Abendvisite betrat, erfuhr er, daß Janet Burke etwa eine Stunde nach ihrer Verlegung auf die Intensivstation wieder selbständig zu atmen begonnen hatte. Auch ihr Puls war beruhigend kräftig, und der Blutdruck erreichte seit der morgendlichen Transfusion wieder normale Werte. Mike benützte einen großen Greifzirkel, um Gesicht und Schädel der Bewußtlosen von allen Seiten zu vermessen, trug die Zahlen in sein Notizbuch ein und machte mehrere Aufnahmen mit einer Polaroid-Kamera. Dr. Fogarty war noch nicht bei Janet Burke gewesen, aber seine Sprechstundenhilfe versicherte, er werde im Zuge der Abendvisite bei seinen eigenen Patienten auch bei ihr nach dem Rechten sehen. Kurz nachdem Mike in seine Wohnung in Georgetown zurückgekommen war, klingelte das Telefon. Der Anrufer war Dr. Josh Fogarty, der Neurochirurg. »Ich wollte Ihnen nur rasch erzählen, was ich bei Miß Burke vorgefunden habe, Mike«, sagte er. »Ich habe sie vorhin untersucht und eine Spinalpunktur vorgenommen.« »Ja?« fragte Mike gespannt. »Sie ist noch immer bewußtlos, aber die Spinalflüssigkeit steht unter normalem Druck und enthält kein Blut.« Beide Untersuchungsergebnisse waren erfreulich. Wären die Schädelverletzungen schwer gewesen, hätte der Druck der Rükkenmarksflüssigkeit zumindest etwas ansteigen müssen. Und das Fehlen von Blut in der Flüssigkeit, die Gehirn und Rückenmark umspülte, bildete den Beweis dafür, daß bei dem Aufprall keine Blutgefäße der Hirnhaut geplatzt waren. »Das einzige, was mir Sorgen macht«, fügte der Neurochirurg hinzu, »ist die Tatsache, daß ihr Herz wahrscheinlich über fünf Minuten lang nicht geschlagen hat. Das kann sie natürlich ohne Schaden über25
stehen – andererseits können auch Dauerschäden zurückbleiben.« »Hoffentlich behalten Sie mit Ihrer ersten Vermutung recht. Vielen Dank, daß Sie bei ihr gewesen sind, Josh. Sie kümmern sich doch weiter um sie?« »Natürlich, Mike. Vielleicht sehen wir uns morgen früh bei der Patientin.« Mike setzte sich in seinem Arbeitszimmer, in dem er auch schlief, an den großen Tisch und bereitete den Unterbau für ein Modell von Janet Burkes Kopf vor, das ihm als Grundlage für die Planung der eigentlichen chirurgischen Rekonstruktion dienen würde. In die Mitte einer 25 mal 30 Zentimeter großen Sperrholzplatte nagelte er einen 15 Zentimeter hohen Ständer mit einer Grundfläche von etwa 20 Quadratzentimetern. Als nächstes nahm er ein 40 Zentimeter langes Bleirohr mit 1,5 Zentimeter Querschnitt und bog es so zurecht, daß es entfernt an eine Glühbirne erinnerte. Die beiden geraden Schenkel nagelte er rechts und links an den Ständer. Nun hatte er eine feste Basis, auf der er den Schädel aufbauen konnte. Für diese Bildhauertätigkeit verwendete Mike am liebsten Plastilin, weil dieser ölhaltige Werkstoff nicht so rasch austrocknete wie Ton und formgetreuer blieb, wenn er mehrere Abende lang an dem Modell arbeitete, das ihm vorschwebte. Er riß drei Großpackungen auf, knetete das teigige Material zu etwa 15 Zentimeter langen Rollen zusammen und formte daraus den säulenförmigen Hals, über dem sich der vorerst noch unförmige Kopf auftürmte. Bevor Mike mit der Arbeit begann, hatte er zwei Fotos von Janet Burke in einen Bildhalter unter seine Arbeitslampe gestellt. Daneben stand ein Farbfoto, das die junge Frau im Abendkleid auf einer Gesellschaft zeigte. Auf allen drei Bildern wirkte sie gesund, intelligent und hübsch – keine Schönheitskönigin, aber eine attraktive Erscheinung mit langen rotblonden Haaren. Während Mikes geschickte Finger das Plastilin modellierten, festigte seine ursprüngliche Überzeugung sich immer mehr. Unter der Voraussetzung, daß die Schwerverletzte wieder zu vollem Bewußt26
sein kam, bot sich hier die Chance, sie in eine klassische Schönheit zu verwandeln. Dieser Gedanke faszinierte ihn so sehr, daß er die Arbeit liegenließ und sich die Hände wusch, um im Lexikon Abbildungen klassischer griechischer Statuen nachzuschlagen. Mike suchte eine ganz bestimmte Aphrodite, deren Kopie er im Britischen Museum gesehen hatte, aber er brauchte fast eine halbe Stunde, um sie zu finden. Es handelte sich um die Aphrodite des Praxiteles – eine der schönsten erhalten gebliebenen griechischen Statuen. Je länger er das berückende Marmorhaupt studierte und es mit Janet Burkes Fotos verglich, desto überzeugter war er, daß die Proportionen dieser beiden Köpfe auf erstaunliche Weise übereinstimmten, auch wenn sie bei Janet weniger schön als bei Aphrodite ausgebildet waren. Mike nahm das Lexikon an seinen Arbeitsplatz mit, stellte es aufgeschlagen unter die Lampe und verglich die vier Abbildungen immer wieder miteinander, während er weiterarbeitete. Um zehn Uhr war er ziemlich erschöpft – aber er hatte die Genugtuung, daß sein Modell eine Synthese aus Janet Burkes Gesicht und der klassischen Schönheit der Liebesgöttin, wie sie der berühmteste griechische Bildhauer dargestellt hatte, zu werden versprach. Als Mike endlich zu arbeiten aufhörte, war er mit dem bisher Erreichten hochzufrieden. Er schenkte sich einen doppelten Bourbon ein, stellte den Fernseher an und sah noch die Dreiundzwanziguhrnachrichten, bevor er ins Bett ging.
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hrer Patientin geht's ausgezeichnet, Dr. Kerns«, berichtete Mrs. Sheftal, die Oberschwester der Intensivstation, als Mike am näch27
sten Morgen ins University Hospital kam. »Wann kommt sie voraussichtlich wieder zu Bewußtsein?« »Das kann nicht einmal Dr. Fogarty sagen. Hat sie nachts den Schrittmacher gebraucht?« »Nein, keine Sekunde lang. Ihr Puls ist so gleichmäßig wie meiner.« »Gut, dann nehme ich heute nachmittag die Katheterelektrode heraus«, entschied Mike. »Ich bin froh, wenn der Monitor frei wird«, meinte die Oberschwester. »Man weiß nie, wann man ein Gerät für einen Koronarpatienten benötigt. Wie steht's mit dem EEG?« »Ich möchte die Gehirnströme überwachen, bis sie wieder bei Bewußtsein ist.« Mike betrat Janet Burkes Glaskabine, untersuchte die Patientin und stellte fest, daß das einzig Besorgniserregende an ihrem Zustand die andauernde Bewußtlosigkeit war. Daß sie weiterhin anhielt, war ein schlechtes Zeichen, dessen Bedeutung von Stunde zu Stunde zunahm. Als Mike die Untersuchung beendete, hatte er das merkwürdige Gefühl, die Patientin sei nur scheinbar bewußtlos und nehme in Wirklichkeit alles wahr, was er sage oder tue. Zu seiner Verblüffung fragte Mrs. Sheftal plötzlich: »Haben Sie manchmal auch den Eindruck, daß ihre Bewußtlosigkeit nicht mehr so tief ist, wie wir glauben sollen, Dr. Kerns?« »Wie kommen Sie darauf?« »Oh, das ist nur ein unbestimmtes Gefühl.« Die Oberschwester zuckte mit den Schultern. »Vielleicht bin ich allzu mißtrauisch…« »Nein, ich habe eben den gleichen Eindruck gehabt«, bestätigte Mike. »Aber da ich ihn ebenfalls nicht begründen kann, müssen wir uns wohl beide irren. Hat ihr EEG-Bild sich irgendwie verändert?« »Die Gehirnströme sind stärker geworden, und ich habe zwischendurch mehrmals welche gesehen, die ich nicht kenne.« »Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet, aber vielleicht kann es uns Dr. Fogarty sagen.« 28
»Worum geht's denn?« fragte der eben eintretende große blonde Neurochirurg. »Miß Burke ist noch immer bewußtlos. Mrs. Sheftal und ich haben jedoch den Eindruck, daß sie dem Bewußtsein näher ist, als sie sich anmerken lassen will«, klärte Mike ihn auf. »Es handelt sich um ihre Gehirnströme«, fügte die Oberschwester hinzu. »Wenn ich hier Dienst habe, behalte ich auch die Monitoren im Auge. Das tue ich aus alter Gewohnheit.« »Was ist an ihren Gehirnströmen so außergewöhnlich?« »Sie unterscheiden sich optisch von den sonst üblichen – ich kann bloß nicht genau sagen, wodurch. Sie…« Mrs. Sheftal zeigte plötzlich aufgeregt auf den Bildschirm. »Da – das sind sie wieder!« Die beiden Ärzte drehten sich rasch um und beobachteten das über den Monitor wandernde Wellenbild, das Janet Burkes Gehirnströme wiedergab, wie sie von den in ihrer Kopfhaut steckenden Nadelelektroden aufgezeichnet wurden. Mike erkannte sofort, was Mrs. Sheftal meinte: Etwa fünf Sekunden lang wurde der für Benommenheit oder Bewußtlosigkeit charakteristische langsame Alphawellenrhythmus durch kleinere, dicht aufeinanderfolgende Ausschläge verdrängt. »Das ist ein Thetarhythmus!« rief Fogarty aus. »Aber der ist bei einer Bewußtlosen völlig ungewöhnlich.« »Warum, Josh?« »Weil Phänomene dieser Art im allgemeinen mit Parapsychologie in Verbindung gebracht werden…« »Mit extrasensorischer Perzeption?« »Das ist nur ein Aspekt dieser Materie«, stellte Fogarty fest. »Das ganze Gebiet ist ziemlich kompliziert, deshalb machen die meisten konservativen Kollegen einen weiten Bogen um das Paranormale. Trotzdem kann nicht geleugnet werden, daß manche Menschen für Phantasiebilder empfänglicher sind als andere.« »Janet Burke erlebt also unter Umständen Phantasien – die man auch als Träume bezeichnen könnte – im Unterbewußtsein?« fragte Mike. »Lebhafte Phantasien, die eine Veränderung ihrer Ge29
hirnströme bewirken und als Thetarhythmus sichtbar werden, ohne schon bis in ihr Bewußtsein vordringen zu können?« »Ganz recht, Mike«, bestätigte der Neurochirurg. »Aber warum kommt sie nicht zu Bewußtsein, wenn ihre Gehirnzellen gesund sind, um ihr Träume zu ermöglichen?« »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß diese Materie recht kompliziert ist.« »Was können wir also tun?« »Wenn wir wüßten, daß sie die aus der Parapsychologie bekannte Biorückkopplung beherrscht, könnten wir sie vielleicht ausnützen, um ihr zu helfen. Da sie jedoch vermutlich keine Ahnung davon hat…« »Das würde ich nicht so einfach behaupten«, meinte Mike nachdenklich. Der Neurochirurg runzelte die Stirn. »Wie soll ich das verstehen?« »Unsere Patientin scheint Lynne Tallman so nahegestanden zu haben, daß diese darauf gedrungen hat, von ihr nach Washington begleitet zu werden. Außerdem haben die beiden sich offenbar gut verstanden. Möglicherweise hat Lynne Tallman ihr viel anvertraut, was sie anderen gegenüber verschwiegen hätte.« »Richtig, da fällt mir ein Artikel in den ›Star-News‹ ein, den die Burke geschrieben haben muß!« bestätigte Fogarty. »Lynne Tallman hat darin geprahlt, mit Angehörigen ihres Kultes in Chicago ein ganzes Ritual zur Teufelsanbetung entwickelt zu haben. Glauben Sie, daß Janet Burke dieser Gemeinschaft angehört hat?« »Nein, das erscheint mir nach den Erzählungen ihres Onkels ausgeschlossen. Aber sie ist natürlich eine begeisterte Reporterin und könnte vorgegeben haben, sich … nein, das kann ich auch nicht glauben! Auf jeden Fall muß sie großes Einfühlungsvermögen besessen haben – vielleicht sogar eine Art Seelenverwandtschaft –, um Lynne Tallmans Vertrauen zu gewinnen.« »Eine Seelenverwandtschaft mit einer Frau, der es Spaß gemacht hat, Bomben zu legen und Unschuldige zu töten?« Fogarty zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht kann Ihre Patientin uns viel Interessantes erzählen, wenn sie wieder bei Bewußtsein ist.« 30
»Oder sie behält es für sich, weil sie ein Buch über diese Geschichte schreiben will. Noch etwas, Josh: George Stanfield glaubt, daß seine Nichte Lynne Tallman dazu überredet hat, sich schuldig zu bekennen und gegen die übrigen Kultmitglieder auszusagen. Falls das stimmt – und falls Janet Burke inzwischen wieder so weit bei Bewußtsein ist, daß sie weiß, was geschehen ist –, erleidet sie vermutlich alle Seelenqualen der Verdammten, da sie glaubt, für den Unfalltod der Tallman verantwortlich zu sein.« »Das wäre eine mögliche Erklärung für den Thetarhythmus in ihrem EEG und für ihr Widerstreben, ins Bewußtsein zurückzukehren«, meinte Fogarty nachdenklich. »Diese parapsychologische Masche scheint ansteckend zu sein… Ihre Theorie ist jedenfalls viel weitreichender als alles, was ich zu diesem Thema zu sagen hätte.« »Eigentlich ist das gar nicht meine Theorie«, entgegnete Mike. »Platon hat bereits vor zweitausend Jahren festgestellt, daß man mit der Heilung der Seele beginnen muß, wenn Geist und Körper genesen sollen. Wie soll man allerdings einen Menschen von seinem Schuldkomplex befreien, wenn er freiwillig in seiner Bewußtlosigkeit verharrt und auf diese Weise nicht einmal ansprechbar ist?« »Das weiß ich auch nicht«, sagte Fogarty. »Aber ich kenne einen Mann, der Ihnen vielleicht weiterhelfen kann. Professor Randall McCarthy in der psychiatrischen Klinik hat sich schon während seines Studiums für Parapsychologie interessiert. Er beschäftigt sich gern mit dem Paranormalen, und ich weiß, daß er auf diesem Gebiet Erstaunliches erreicht hat.« »Er muß hier Professor geworden sein, während ich letztes Jahr zu einem Studienaufenthalt in New York gewesen bin«, überlegte Mike. »Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, ihn kennengelernt zu haben.« »McCarthy ist erst seit ungefähr einem halben Jahr hier«, bestätigte Fogarty. »Zuvor hat er im Stanford Research Institute, einer kalifornischen Denkfabrik, und dem Laboratorium für Parapsychologie an der Duke University gearbeitet. Soviel ich gehört habe, soll er als Psychotherapeut bemerkenswert erfolgreich sein – auch 31
wenn manche seiner Methoden vielleicht etwas ungewöhnlich sind.« »Zum Beispiel?« »Hypnotherapie, milde Halluzinogene und dergleichen. Aber ich vermute, daß viele dieser Geschichten lediglich auf Gerüchten basieren.« »Gut, dann bitte ich McCarthy, sie zu untersuchen. Ich möchte jedoch, daß Sie sich ebenfalls weiter um sie kümmern, Josh. Wir können erst aufatmen, wenn sie wieder bei Bewußtsein ist.« »Wollen Sie ihr Gesicht zusammenflicken, solange sie noch bewußtlos ist?« »Nein, lieber nicht – obwohl George Stanfield wahrscheinlich in die Operation einwilligen würde. Ich bin noch dabei, ihr zukünftiges Gesicht zu modellieren. Aber ich möchte nicht mit den Vorarbeiten beginnen, bevor die Patientin selbst ihre Einwilligung dazu gegeben hat.« »An Ihrer Stelle würde ich darauf achten, daß sie alles begreift, was Sie vorhaben«, warnte der Neurochirurg. »Sobald wegen eines vermeintlichen Kunstfehlers ein Prozeß angestrengt wird, ist das stillschweigende Einverständnis der Patientin nicht mehr viel wert. Die Klägerin braucht nur zu behaupten, sie habe den Zweck der geplanten Operation nicht richtig verstanden, und schon werden Sie von den Geschworenen, die ihn meistens ebensowenig kapieren, verdonnert.« »Okay, ich denke daran«, versprach Mike.
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ike rief Dr. Randall McCarthy an, erfuhr von dessen Sekretärin, daß der Psychiater auf einer Fachtagung war, und ließ ihn bitten, Janet Burke nach seiner für den nächsten Tag geplanten Rückkehr zu untersuchen. Gegen elf Uhr meldete sich George 32
Stanfield telefonisch bei ihm. »Ich hörte eben von meinem im University Hospital stationierten Reporter, daß dort das Gerücht umgeht, Janet werde vielleicht nie mehr aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachen, Dr. Kerns«, sagte der Chefredakteur. »Ist daran etwas Wahres?« »Gerüchte gibt es in allen Krankenhäusern, Mr. Stanfield. Ich vermute sogar, daß die Reporter sie selbst in die Welt gesetzt haben, um über irgend etwas schreiben zu können.« »Ja, möglich wäre es. Seitdem das ›Recht auf einen menschenwürdigen Tod‹ Schlagzeilen gemacht hat, taucht diese Frage immer wieder auf. Aber was ist mit Janet?« »Ich kann nicht bestreiten, daß diese Möglichkeit besteht, vor der ich Sie bereits gewarnt habe.« »Aber sonst ist alles in Ordnung?« »Ich habe noch keine Schwerverletzte gesehen, die sich so rasch erholt hat.« »Aber wenn sie trotzdem nicht wieder zu Bewußtsein…« »Darüber brauchen wir uns im Augenblick noch nicht den Kopf zu zerbrechen«, unterbrach Mike ihn energisch. »Ich habe eben mit dem Lokalredakteur der ›Post‹ gesprochen«, berichtete Stanfield. »Die ›Post‹ will morgen melden, daß Janet nie mehr aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachen wird, so daß sich früher oder später die Frage stellen dürfte, ob auch in ihrem Fall der Stecker herausgezogen werden soll oder nicht.« »Sie können diese Gerüchte widerlegen und der ›Post‹ zuvorkommen«, beschwichtigte Mike. »Am besten berichten Sie, daß ich heute nachmittag die Katheterelektrode entfernen werde, weil Janets Herz jetzt wieder kräftig und gleichmäßig schlägt, und daß sie inzwischen längst ohne künstliche Beatmung auskommt. Außerdem können Sie schreiben, ich sei zuversichtlich, daß die Patientin in weniger als vierundzwanzig Stunden wieder bei vollem Bewußtsein sein wird.« »Okay, das bringen wir noch in die morgige Ausgabe.« Stanfield zögerte. »Aber ist das nicht eine ziemlich riskante Prognose, Dr. 33
Kerns?« »Ich habe bereits einmal eine gestellt, als ich behauptet habe, sie werde mit dem Leben davonkommen, Mr. Stanfield. Die zweite ist auch nicht riskanter.« »Hat das FBI sich schon mit Ihnen in Verbindung gesetzt?« »Nein – wozu auch?« »An der Unfallstelle ist Janets Aktenkoffer gefunden worden. Er ist beim Aufprall aus der vorderen Kabine geschleudert worden, so daß sein Inhalt weitgehend unbeschädigt geblieben sein dürfte.« »Haben Sie ihn schon untersucht?« »Nein, noch nicht. Das FBI will den Aktenkoffer nicht herausrücken, weil er angeblich wichtiges Beweismaterial enthält. Janets Notizen über Lynne Tallman und einige Tonbänder mit Interviews. Mein Anwalt ist gerade beim Federal District Court, um zu beantragen, daß mir der Aktenkoffer samt Inhalt ausgehändigt wird, damit ich ihn für Janet in Verwahrung nehmen kann. Wir rechnen damit, daß unserem Antrag noch heute stattgegeben wird.« »Hat sich schon jemand um die Freigabe der Leiche Miß Tallmans zur Bestattung bemüht?« »Meines Wissens nein. Anscheinend will niemand zugeben, mit dieser Teufelin verwandt gewesen zu sein.« Stanfield machte eine Pause. »Sie halten mich in bezug auf Janets Zustand auf dem laufenden, nicht wahr?« »Selbstverständlich! Ich benachrichtige Sie, sobald irgendeine Änderung eintritt.« »Übrigens – noch etwas«, fuhr Stanfield fort. »Gerald Hutchinson, Janets Verlobter, kommt heute abend mit dem Flugzeug aus Chicago. Er will natürlich auch mit Ihnen reden, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Möglichkeit, daß Janet für immer entstellt bleibt, etwas herunterspielen würden. Gerald ist ein überzeugter Christ, aber…« »Oh, ich rechne nicht damit, daß sie nach der Operation irgendwie entstellt sein wird!« widersprach Mike. »Bis übermorgen habe ich ein Modell fertig, das ihr zeigen wird, wie sie in Zukunft aussehen 34
könnte – falls sie will.« »Glauben Sie, daß es richtig ist, die Natur korrigieren zu wollen, Doktor?« meinte Stanfield zweifelnd. »Das kann nur Janet entscheiden«, stellte Mike fest. »Ich bin davon überzeugt, daß ihr meine Änderungsvorschläge gefallen werden.« Mike wollte kurz vor ein Uhr zum Mittagessen gehen, als seine Sprechstundenhilfe ihm Inspektor Stafford vom FBI meldete. Er kam aus seinem Zimmer und schüttelte dem großen grauhaarigen FBIMann, der in dem Rettungshubschrauber mitgeflogen war, die Hand. »Ich bin eben unterwegs, um eine Kleinigkeit zu essen, Inspektor«, sagte er dabei. »Haben Sie schon gegessen?« »Nein.« »Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten? Ich weiß ganz in der Nähe ein passables Restaurant.« Stafford warf einen Blick auf seine Uhr. »Um drei spreche ich mit dem Fluglotsen, der gestern für die verunglückte Maschine zuständig gewesen ist. Einverstanden, ich verdrücke ein Sandwich, während wir uns unterhalten.« »Wissen Sie schon, wodurch die Explosion ausgelöst worden ist?« fragte Mike, als sie sich auf dem Weg befanden. »Die Sprengladung ist in einem der Fahrwerksschächte angebracht gewesen«, berichtete der FBI-Mann. »Das Ausfahren des Fahrwerks hat die Detonation bewirkt. Dadurch ist das Hydrauliksystem so schwer beschädigt worden, daß weder Bremsen noch Schubumkehr bei der Landung funktioniert haben.« »Der Sprengsatz muß also von einem Fachmann angebracht worden sein«, stellte Mike fest. »Armand Descaux ist ein Fachmann«, meinte Stafford nüchtern. »Die US-Army hat ihn dazu ausgebildet, bevor er unehrenhaft entlassen wurde.« »Woher wissen Sie, daß er's gewesen ist?« 35
»Wir haben Descaux schon vor einiger Zeit als Führungsfigur – nach Lynne Tallman, versteht sich – in dem Chicagoer Teufelskult identifiziert, aber bisher konnte er uns jedesmal entkommen. Da alle früheren Bombenanschläge die gleiche Handschrift tragen, ist Descaux zweifellos auch für diesen Anschlag verantwortlich gewesen.« Im Restaurant erhielten sie einen Tisch angewiesen und bestellten, bevor sie ihr unterbrochenes Gespräch fortsetzten. »Wie steht's mit Janet Burkes Aktenkoffer?« wollte Mike wissen. »Bekommt Mr. Stanfield ihn jetzt doch?« »Wir haben uns auf einen Kompromiß geeinigt: Er erhält die Originale, und wir haben uns von allem Kopien angefertigt. Aber was wir eigentlich zu finden erwartet hatten – die Namen weiterer Mitglieder der Kultgruppe –, haben wir weder in den schriftlichen Aufzeichnungen noch auf den Tonbändern mit den Interviews…« »Was verstehen Sie unter einer ›Kultgruppe‹, Inspektor?« erkundigte sich Mike. Stafford zuckte mit den Schultern. »Das ist ein Sammelbegriff für Radikale, Spinner, Schizoide und religiöse Fanatiker geworden. Die Tallman scheint eine Gruppe von Teufelsanbetern beiderlei Geschlechts um sich geschart zu haben, deren angeblicher Kult nur ein Rechtfertigungsversuch für ihre Bombenanschläge und Brandstiftungen gewesen zu sein scheint.« »Aber wie kommt es dann, daß Descaux so schlampig gearbeitet hat, daß die Maschine nicht wie geplant abgestürzt ist?« »Er muß unter Zeitdruck gestanden haben«, antwortete der FBIMann. »Unser Büro in Chicago ist erst gegen Mitternacht angewiesen worden, Lynne Tallman am nächsten Morgen nach Washington zu bringen. In diesem Zeitraum ist der Plan verraten worden. Das bedeutet, daß wir die undichte Stelle irgendwo innerhalb unserer eigenen Organisation suchen müssen. Noch unerfreulicher ist der Gedanke, daß der Tippgeber gewußt haben muß, daß Descaux' Sprengladung die Maschine mit sämtlichen Passagieren zum Absturz bringen sollte – also auch mit unseren eigenen Leuten.« 36
»Kann dieser Anschlag gleichzeitig den Zweck gehabt haben, Janet Burke zum Schweigen zu bringen?« »Ja, das vermuten wir ebenfalls«, bestätigte der Inspektor grimmig. »Deshalb möchte ich Sie um Ihre Erlaubnis bitten, die Patientin Tag und Nacht bewachen zu lassen.« »Ich bin natürlich einverstanden – wenn die Krankenhausverwaltung zustimmt.« »Dazu können wir sie zwingen, Dr. Kerns.« »Warum fragen Sie dann erst um Erlaubnis?« »Wenn wir gleich die großen Kanonen auffahren, beschwert sich meistens jemand bei seinem Abgeordneten. Der sieht sofort eine Gelegenheit, sich durch eine Untersuchung von FBI-Methoden zu profilieren, und läuft damit zu dem für uns zuständigen Ausschuß. Und schon ist die nächste Hexenjagd im Gange!« »Hm, ich kann mir vorstellen, worum es dabei für Sie und das FBI geht.« »Nein, das glaube ich kaum«, widersprach Stafford. »Bevor ich Ihnen jedoch mehr erzähle, müssen Sie mir versprechen, alles, was Sie jetzt hören, für sich zu behalten.« »Darauf können Sie sich verlassen – solange es nicht um Dinge geht, die meine Patientin gefährden können.« »Um die handelt es sich leider.« »Dann muß ich darauf bestehen, selbst entscheiden zu dürfen, was an die Öffentlichkeit gelangen darf oder nicht.« Der FBI-Mann nickte. »Ich hatte vermutet, daß Sie so reagieren würden. Folglich habe ich im voraus mit meinem Direktor gesprochen. Wir sind bereit, die Entscheidung darüber Ihnen zu überlassen – unter der Voraussetzung, daß Sie uns informieren, bevor Sie irgendwelche Informationen weitergeben.« »Okay, einverstanden«, antwortete Mike sofort. Stafford wartete, bis der Ober ihren Kaffee serviert hatte, bevor er fortfuhr. »Dieser ganze Hokuspokus hat einen ganz nüchternen Grund«, berichtete er. »Was Miß Burke aus Chicago mitgebracht hat, ergibt 37
vielleicht eine spektakuläre Story für die Zeitung ihres Onkels, aber wir können nicht allzuviel damit anfangen. Aus ihren Unterlagen geht nicht hervor, wer die Komplicen der Tallman gewesen sind oder was sie als nächstes planen.« »Vielleicht haben sie kein Glück mehr, seitdem Lynne Tallman verhaftet worden ist. Schließlich hat Descaux es doch nicht fertiggebracht, das Flugzeug abstürzen zu lassen.« »Aber nur, weil er unter äußerst schwierigen Umständen arbeiten mußte«, wandte der Inspektor ein. »Wenn der Bombenleger mehr Zeit gehabt hätte, wäre die Katastrophe voll eingetreten. So hat er die Sprengladung innerhalb weniger Minuten anbringen und den Hangar wieder verlassen müssen.« »Woher wissen Sie das?« »Die Boeing 727 ist in der Nacht vor dem Flug routinemäßig gewartet worden. Folglich kann sich der Täter nur während der zwischen dem Schichtwechsel der Mechaniker liegenden Viertelstunde in den Hangar eingeschlichen haben. Genau in dieser Zeit dürfte der Bombenleger, der einen Overall der Tri-Continental Airlines getragen haben muß, zu dem Flugzeug vorgedrungen sein, die Sprengladung angebracht haben und wieder verschwunden sein, bevor die nächste Schicht zur Arbeit gekommen ist.« »Ja, das klingt plausibel«, gab Mike zu. »Es ist nicht nur plausibel, Doktor – es steht hundertprozentig fest! Nachdem die Maschine gestartet war, ist in einem Abfallkorb auf dem Personalparkplatz ein Mechanikeroverall entdeckt worden. Niemand hat sich jedoch etwas Schlimmes dabei gedacht – bis der Unfall auf dem hiesigen Flughafen passiert ist.« »Und kein Mensch vermag sich daran zu erinnern, einen Verdächtigen gesehen zu haben?« »Bei jedem Schichtwechsel kommen und gehen so viele Männer, daß niemand sich alle Gesichter merken kann.« Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Nein, wir müssen die restlichen Mitglieder des Teufelskults auf andere Weise aus ihren Verstecken locken.« »Wie wollen Sie das anstellen?« 38
»Mr. Stanfield hat sich damit einverstanden erklärt, in einem morgen erscheinenden Artikel anzudeuten, Lynne Tallman habe Janet Burke die Namen der übrigen Mitglieder und ihre Versammlungsplätze anvertraut.« »Mein Gott, dann benützen Sie ja die junge Frau als Lockvogel!« »Richtig«, bestätigte der FBI-Mann. »Aber Sie dürfen nicht glauben, daß wir das leichten Herzens tun, Doktor. Andererseits haben diese Bombenleger und Brandstifter inzwischen über fünfzig Tote auf dem Gewissen, und Mr. Stanfield hat mir versichert, seine Nichte würde unser Vorgehen billigen, wenn sie bei Bewußtsein wäre.« »Sie sehen die Sache wahrscheinlich nur vom statistischen Standpunkt aus«, wandte Mike ein. »Sie setzen ein Menschenleben aufs Spiel, um viele andere zu retten. Für den, der das Risiko zu tragen hat, bleibt das eine schlimme Sache.« »Sie können uns helfen, Dr. Kerns, indem Sie Ihre Patientin aus der Intensivstation in ein Einzelzimmer verlegen lassen«, sagte Stafford, als sie das Restaurant verließen. »Dort können wir sie leichter bewachen. Sie ist doch nicht mehr in Lebensgefahr?« »Die größte Gefahr, die ihr momentan droht, geht von Ihrem Plan aus«, stellte Mike fest. »Wir beobachten im Augenblick nur ihre Gehirnströme auf einem Monitor.« »Lassen Sie sie also verlegen? Ich habe schon mit Mr. Stanfield gesprochen. Er ist einverstanden.« »Sie denken wohl an alles, was?« »Nein, leider nicht an alles, Doktor. Sonst hätten wir das Flugzeug, das Lynne Tallman nach Washington bringen sollte, nachts keine Sekunde unbewacht gelassen.«
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A
ls Mike zur Abendvisite ins Krankenhaus kam, stellte er fest, daß Janet Burke bereits in ein Einzelzimmer verlegt worden war. Am Ende des Ganges saß ein schnauzbärtiger junger Mann mit dem Rücken zum Fenster auf einem Stuhl. Von seinem Platz aus konnte er die Tür zu Janet Burkes Zimmer im Auge behalten. »Mein Name ist Dr. Kerns.« Mike schüttelte dem FBI-Mann die Hand. »Inspektor Stafford hat heute mit mir zu Mittag gegessen.« »Jim McIvor, Doktor«, stellte der Schnauzbärtige sich vor. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Ich bin voraussichtlich ungefähr eine halbe Stunde mit der Patientin beschäftigt – falls Sie inzwischen unten eine Tasse Kaffee trinken wollen.« »Nichts für ungut, Doktor, aber ich habe den Auftrag, diesen Posten unter keinen Umständen zu verlassen, bis ich um elf Uhr abends von einem Kollegen abgelöst werde.« Die diensthabende Schwester hieß Ellen Strabo. Sie und Mike waren alte Freunde – ja gelegentlich sogar mehr als nur das gewesen. Ellen begrüßte ihn lächelnd, als er ins Stationszimmer kam. »Na, wie fühlt man sich als der berühmteste Unfallchirurg Washingtons?« wollte sie wissen. »Ich frage ihn mal, wenn ich ihn treffe.« »Dazu brauchst du nur in den nächsten Spiegel zu sehen. Wenn ich gewußt hätte, daß du eines Tages so erfolgreich sein würdest, hätte ich dich damals nicht mehr vom Haken gelassen…« Ihr Tonfall änderte sich plötzlich, als eine Kollegin ins Stationszimmer kam. »Miß Burkes Zustand hat sich weiter gebessert, Dr. Kerns. Wir haben einen Monitor frei, deshalb beobachten wir weiter ihr EEG.« »Danke. Ich möchte jetzt die Herzelektrode herausnehmen.« »Ja, ich weiß. Mrs. Sheftal hat uns einen Zettel ans Krankenblatt geheftet. Die Thetarhythmen im EEG treten mittlerweile häufiger auf und halten länger an. Außerdem hat die Patientin ihre Arme 40
und Beine bewegt.« Janet Burke zeigte keine Reaktion, während Mike ihr die Schiene abnahm, die ihren Arm unbeweglich festgehalten hatte. Dann zog er vorsichtig den Katheter heraus und war schon fast fertig, als er zu seiner Verblüffung eine Stimme sagen hörte: »Au, das tut weh!« Mike hob ruckartig den Kopf und blickte in die schönsten dunkelblauen Augen, die er je gesehen hatte. Diese Augen bedeuteten eine unerwartete Überraschung. Selbst auf dem von George Stanfield zur Verfügung gestellten Farbfoto waren diese wundervollen Augen nicht zur Geltung gekommen. »Na, haben Sie jetzt doch beschlossen, wieder aufzuwachen?« meinte Mike lächelnd. »Wir fragten uns schon, wann Sie das tun würden.« »Wer sind Sie überhaupt? Und was ist mit mir passiert?« Ihre Stimme klang wegen der tamponierten Nasenhöhle seltsam dumpf und nasal. Wie jedoch aus den ersten Röntgenaufnahmen ersichtlich war, hatten sich die Unterkieferbrüche nicht verschoben, so daß sie einigermaßen sprechen konnte. »Lassen Sie mich erst einmal weiterarbeiten«, schlug Mike vor. »Es tut vielleicht noch ein bißchen weh, aber ich bin so vorsichtig wie möglich. Danach können wir uns in Ruhe unterhalten.« Er brauchte nur wenige Minuten, um den Katheter ganz herauszuziehen. Janet Burke stöhnte mehrmals, aber sie verbiß sich die Schmerzensschreie – sogar als der Ballon am Ende des Katheters aus ihrer Vene gezogen wurde. Mike kontrollierte die geringfügige Blutung durch einen Druck auf die Armvene, bevor er die kleine Wunde mit einem Heftpflaster bedeckte. »So, das hätten wir!« sagte er, während er sich aufrichtete. »Von der winzigen Narbe ist später praktisch nichts mehr zu sehen.« »Aber mein Gesicht fühlt sich an, als wäre ich von einem Elefanten getreten worden.« »Etwas Ähnliches ist auch passiert: Immerhin sind Sie mit dem Gesicht voraus auf dem Fußboden des Empfangsgebäudes gelandet.« Mike wandte sich an die Krankenschwester. »Danke, Miß Strabo. 41
Ich muß noch mit Miß Burke sprechen, aber ich möchte Sie nicht unnötig aufhalten.« Nachdem Ellen Strabo gegangen war und das Tablett mit dem Arztbesteck, dem Verbandmaterial und dem Katheter mitgenommen hatte, zog Mike sich einen Stuhl an Janet Burkes Bett und griff nach dem Schalter, mit dem sich Ober- und Unterteil des Krankenbetts elektrisch heben und senken ließen. »Sie können wahrscheinlich besser sprechen, wenn Sie halb sitzen«, schlug er vor. »Sagen Sie mir, wenn es für Sie am bequemsten ist.« Ihr Oberkörper war um fast fünfundvierzig Grad angehoben, als Mike hörte, wie sie erschrocken tief Luft holte. Er nahm die Hand vom Schalter, sah zu Janet Burke hinüber und stellte fest, daß sie in ihrer neuen Lage in den Spiegel auf dem Nachttisch blicken konnte. »Ist das mein Gesicht?« rief sie entsetzt aus. »Oder vielmehr die Reste davon?« »Keine Angst, es ist noch alles da«, beruhigte er sie und fuhr die Kniestütze aus, damit sie bequemer saß. »Sie haben nur eine kleine Schnittwunde.« Mike berührte den Verband unter ihrem rechten Auge. »Und wenn ich damit fertig bin, werden Sie die Narbe nicht mehr wiederfinden.« »Was sind Sie? Ein Zauberer?« »Nein, nur ein auf plastische Chirurgie spezialisierter Facharzt, der manchmal Zauberkräfte brauchen könnte. In Ihrem Fall kann ich Ihnen versprechen, daß Ihr Gesicht wieder wie früher wird.« »Ich bin früher keine Schönheit gewesen, aber jetzt…« Sie konnte nicht weitersprechen und drehte den Kopf zur Seite. »Die Situation ist nur halb so schlimm, wie es Ihnen im Augenblick vorkommt«, tröstete Mike und klappte den Spiegel zu, damit sie sich nicht mehr dann sehen konnte. »Ich habe schon viele Gesichter hingekriegt, die anfangs schlimmer als Ihres ausgesehen haben.« »Aber nach den Operationen bleiben bestimmt Narben zurück!« 42
»In dieser Beziehung haben Sie Glück, Miß Burke: Fast alles läßt sich bei einer einzigen Operation von der Mundhöhle aus in Ordnung bringen.« Er gab ihr ein Papiertuch aus der Schachtel auf dem Nachttisch, damit sie sich die Tränen abtupfen konnte. »Wie … wie wollen Sie das mit einer einzigen Operation schaffen?« »In Ihrem Fall handelt es sich darum, die beiden Wangen- oder Jochbeine herauszunehmen. Damit sie danach symmetrisch sind, müssen beide Seiten gleichzeitig operiert werden. Wahrscheinlich brauche ich auch einen kleinen Splitter von Ihrem Hüftknochen, um Ihnen ein neues Nasenbein zu machen…« »Früher habe ich einen kleinen Höcker auf der Nase gehabt«, unterbrach sie ihn. »Ich habe sie mir mit zehn Jahren beim Baseballspielen gebrochen.« »Wollen Sie ihn behalten?« »Nein.« »Dann bekommen Sie Ihre gerade Nase zurück«, versicherte er. »Ihre Kiefer werden allerdings eine Zeitlang mit Draht zusammengehalten, so daß Sie nicht so leicht wie jetzt sprechen können – vor allem weniger deutlich.« »Meine Stimme klingt sowieso ganz anders. Ich habe irgendwie nicht genug Luft beim Sprechen.« »Sie atmen seit sechsunddreißig Stunden hauptsächlich durch einen Luftröhrenschnitt«, erklärte er ihr. »Solange diese Öffnung bleibt, wird ein Teil des Luftstromes schon unterhalb Ihrer Stimmbänder abgezweigt. Aber Sie können lauter sprechen, wenn Sie ein Stück Gaze über die Öffnung halten.« Janet Burkes Stimme klang sofort kräftiger, als er die Öffnung mit einem Gazepolster bedeckte. »Ich verdanke Ihnen offenbar mein Leben, Doktor…« »Kerns, Michael Kerns.« »Eigentlich müßte ich Ihnen dankbar sein, Dr. Kerns – aber wenn ich in den Spiegel schaue…« Die junge Frau brachte den Satz nicht zu Ende. »Ich kann einfach nicht glauben, daß ich jemals wieder 43
normal aussehen werde!« »Nicht nur das, sondern ich kann Ihnen praktisch jedes Gesicht geben, daß Sie sich wünschen. Für die plastische Chirurgie ist heutzutage nichts mehr unmöglich.« »Mein Verstand weigert sich schlicht, all das Grauenhafte zu fassen. Gestern abend habe ich schon geschlafen, als das FBI angerufen und mir erklärt hat, Lynne Tallman weigere sich, ohne mich nach Washington zu fliegen. Und jetzt liege ich hier – bis zur Unkenntlichkeit deformiert.« »Selbst dabei haben Sie noch Glück gehabt«, versicherte er ihr. »Das vordere Drittel der Maschine ist unmittelbar nach dem Aufprall in Brand geraten.« »Das Ganze kommt mir wie ein Traum, ein Alptraum vor.« Sie fuhr erneut zusammen. »Haben Sie gesehen, wie alles passiert ist?« »Zum Teil. Ich bin gestern morgen zum Dulles International Airport unterwegs gewesen…« »War ich so lange bewußtlos?« »Ja. Eine Zeitlang haben wir sogar befürchtet, Sie würden nie mehr aufwachsen.« »Vielleicht wäre das ohnehin besser gewesen.« »Ich verspreche Ihnen, daß alles wieder in Ordnung kommt. Okay?« Die junge Frau warf Mike einen prüfenden Blick zu. Dann nickte sie langsam. »Gut, ich verlasse mich auf Sie. Mir bleibt nichts anderes übrig, glaube ich.« »Ich bin also zum Flughafen unterwegs gewesen«, fuhr Mike fort, »als ich gesehen habe, daß Ihre Maschine notlanden mußte.« Er machte eine Pause. »Wollen Sie wirklich schon darüber reden? Schließlich haben Sie auch eine schwere Gehirnerschütterung erlitten.« »Nein, ich möchte darüber sprechen, wenn Sie soviel Zeit haben. Wie soll ich sonst erfahren, was alles passiert ist?« »Am besten fangen wir damit an, daß Sie mir erzählen, was sich in Chicago ereignet hat. Aber hören Sie bitte auf, falls Sie müde werden oder Kopfschmerzen bekommen.« 44
»Natürlich, Doktor. Die FBI-Männer haben mich gegen Mitternacht aus dem Bett geholt, nachdem die Entscheidung gefallen war, Lynne nach Washington zu bringen. Ich hatte gerade noch Zeit, meinen Onkel anzurufen und einen Handkoffer zu packen, bevor ich zu ihr ins Gefängnis gebracht wurde. Von dort aus sind wir direkt zum Flughafen gefahren.« »Ja, das habe ich von Mr. Stanfield erfahren«, bestätigte Mike. »Er hat sich große Sorgen um Sie gemacht und wird erleichtert sein, wenn er hört, daß Sie wieder bei Bewußtsein sind. Ich rufe ihn anschließend gleich an. Bitte weiter, Miß Burke.« »An Bord habe ich ein bißchen gedöst, um den fehlenden Schlaf aufzuholen. Kurz vor der Landung hat der Pilot uns dann über Lautsprecher mitgeteilt, es gebe Schwierigkeiten mit dem Fahrwerk, Lynne hat aus irgendeinem Grund sehr ängstlich gewirkt, und ich weiß noch, daß ich mich losgeschnallt habe, um zu ihr hinüberzugehen und sie zu beruhigen.« »Dieser Verstoß gegen die Anschnallpflicht hat Ihnen das Leben gerettet«, stellte Mike fest. »Sie sind als einzige aus der Maschine geschleudert worden, bevor diese in Brand geraten ist.« »Dann hat eine Explosion das Flugzeug erschüttert«, berichtete Janet weiter. »Kurze Zeit später, nach dem Aufsetzen, hat der Pilot durchgegeben, die Maschine lasse sich nicht bremsen und werde ins Empfangsgebäude rasen. Lynne hat gekreischt, wir würden alle verbrennen, und ich habe mich bemüht, sie zu trösten. Schließlich hatte ja ich sie dazu überredet, sich schuldig zu bekennen…« »Ihr Onkel hat mir erzählt, Sie hätten sich mit ihr angefreundet«, bestätigte Mike. »Ich habe sie so gut gekannt, wie man sie überhaupt kennen konnte, glaube ich. Jedenfalls Lynne ist überhaupt nicht ansprechbar gewesen. Sie hat panische Angst gehabt und nur mehr gellend gekreischt…« »Wie ein Dämon«, stimmte Mike zu. »Ich habe den Funkverkehr zwischen der Maschine und dem Kontrollturm abgehört und bin über dieses Kreischen erschrocken.« 45
»Es war entsetzlich!« Die junge Frau machte eine Pause. »Dann ist das Flughafengebäude auf uns zugekommen, und ich … ich muß ohnmächtig geworden sein.« »Die Cockpittür scheint sich bei dem Aufprall geöffnet zu haben«, erklärte Mike. »Sie sind durch die zersplitterte Windschutzscheibe geflogen und mit dem Gesicht auf dem Fußboden des Empfangsgebäudes gelandet. Ich habe über Funk gehört, was passiert war, und bin so schnell wie möglich zum Flughafen weitergefahren. Als ich in das Gebäude gekommen bin, haben Sie neben Lynne Tallman gelegen. Sie war von Feuerwehrleuten aus der brennenden Maschine geholt worden, muß zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits tot gewesen sein. Als ich Sie untersucht habe, sind weder Puls noch Atmung festzustellen gewesen, aber ich wollte nichts unversucht lassen und habe deshalb einen Luftröhrenschnitt vorgenommen. Zum Glück ist dann ein MAST-Hubschrauber von der Andrews Air Force Base gelandet, und die Sanitäter haben einen Schrittmacher und einen Respirator mitgebracht. Wir haben Herzschlag und Atmung wieder in Gang gebracht und Sie mit dem Hubschrauber ins University Hospital transportiert.« »Wie ist Lynne Tallman umgekommen?« »Durch die Flammen. Als ich Sie beide auffand, war auf den ersten Blick zu sehen, daß ihr niemand mehr helfen konnte. Deshalb habe ich mich auf Sie konzentriert.« »Die arme Lynne! Ich hatte sie endlich davon überzeugt, daß sie noch etwas aus ihrem Leben machen könne, wenn sie sich schuldig bekenne und gegen die anderen aussage.« »Wissen Sie, wer diese anderen gewesen sind?« »Nein. Darüber haben wir nie gesprochen, und ich hätte es auch gar nicht wissen wollen. In Chicago wäre dieses Wissen nur gefährlich gewesen.« In Washington auch, falls das FBI seinen Plan verwirklicht, dachte Mike, ohne seine Befürchtungen jedoch auszusprechen. Solange Janet Burke nichts davon zu erfahren brauchte, wollte er sie nicht damit belasten. 46
»Eigentlich war das Ganze eine Art Ironie des Schicksals«, fügte Janet hinzu. »In gewisser Beziehung sogar eine ausgleichende Gerechtigkeit. Nachdem Lynne beschlossen hatte, sich auf diese Weise vor dem elektrischen Stuhl oder zumindest vor lebenslänglicher Haft zu retten, ist das Flugzeug bei der Landung verunglückt.« »Es handelte sich nicht nur um ein Unglück«, klärte Mike sie auf. »Jemand hat eine Sprengladung an der Maschine angebracht, die hochgehen mußte, sobald das Fahrwerk ausgefahren wurde. Das Flugzeug sollte beim Landeanflug in der Luft zerbersten.« »Dabei wären wir alle umgekommen«, stellte die junge Frau fest. »Dieser Anschlag muß nicht zuletzt auch mir gegolten haben. Offenbar haben die anderen geglaubt, Lynne hätte mir ihre Namen verraten.« »Richtig, dieser Ansicht ist auch das FBI«, bestätigte Mike. »Deshalb wird dieses Krankenzimmer Tag und Nacht bewacht.« Janet Burke seufzte trübselig. »Eine scheußliche Sache…« »Wichtig ist nur, daß Sie noch leben«, tröstete er sie. »Und Sie können hübscher werden, als Sie früher gewesen sind. Ich kann eine Schönheit aus Ihnen machen – wenn sie nur wollen.« »Sind Sie denn ein Superarzt?« Er schüttelte lachend den Kopf. »Nein, nicht ganz. Ich bin nur auf Unfall- und Gesichtschirurgie spezialisiert. Deshalb kann ich Ihnen ein völlig neues Gesicht geben.« »Hat Onkel George dafür gesorgt, daß Sie sich meiner annehmen?« »Ja … unter der Voraussetzung, daß Sie mit seiner Arztwahl einverstanden sind.« »Ich möchte diese Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen. Wann können Sie operieren?« »Vielleicht schon übermorgen«, antwortete Mike. »Bisher haben wir nur provisorische Röntgenaufnahmen machen können, weil wir Sie nicht bewegen wollten. Morgen möchte ich Sie gern erneut röntgen lassen. Glauben Sie, daß Sie dieser Tortur gewachsen sind?« »Ich kann alles ertragen, was notwendig ist. Aber wenn ich mir überlege, wie mein Gesicht jetzt aussieht, graut mir vor dem End47
ergebnis.« »Wir Chirurgen haben nicht oft Gelegenheit, einer Patientin ein völlig neues Gesicht zu geben«, sagte Mike. »Deshalb arbeite ich zu Hause an einem Modell, das Ihnen zeigen soll, wie Sie aussehen können, sobald die bei der Operation entstehenden Blutergüsse zurückgegangen sind. Ich bin davon überzeugt, daß es Ihnen gefallen wird.« An diesem Abend kam Mike erst gegen Mitternacht ins Bett, nachdem er George Stanfield angerufen und ihm mitgeteilt hatte, seine Nichte sei wieder bei Bewußtsein und offenbar auch bei klarem Verstand. Er schlief beruhigt ein, denn er war davon überzeugt, das inzwischen fertiggestellte Modell auf dem Operationstisch in ein Gesicht aus Fleisch und Blut verwandeln zu können. Schwierigkeiten hatte ihm eigentlich nur die untere Partie bereitet. Irgendein perverser Nervenimpuls hatte seine rechte Hand dazu bewogen, dem Modell von Janet Burkes Gesicht einen sarkastischen Zug um den Mund zu geben. Unermüdlich hatte er ihre Lippen immer wieder modelliert, bis er jetzt davon überzeugt war, daß sich die junge Frau durch die Operation in eine große Schönheit verwandeln würde – ein großartiger Tribut an das chirurgische Genie ihres Schöpfers. Aber als Mike vor dem Zubettgehen einen letzten Blick auf das fertige Modell warf, beschlich ihn das ungewisse Gefühl, es gleiche entfernt einer Frau – nicht Janet Burke –, die er in letzter Zeit gesehen hatte, ohne sie im Augenblick identifizieren zu können.
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iß Burkes Gesicht ist völlig deformiert, Mike«, berichtete Dr. Thorndyke, der Chefröntgenologe, als Kerns am nächsten Morgen in sein Büro im University Hospital kam. »Ich frage mich, wie selbst Sie imstande sein sollen, ihr mehr als eine ›Facies scaphoidea‹ zu geben.« Dieser lateinische Fachausdruck – wörtlich ›Schlüsselgesicht‹ – bezeichnete eine Gesichtsform, die hauptsächlich als Geburtsfehler auftrat, jedoch auch als Resultat einer Folge schwerster Gesichtsverletzungen, die nicht sofort richtig behandelt worden waren. »Nasen- und Tränenbein sind zersplittert«, fuhr Dr. Thorndyke fort, während er die an diesem Morgen gemachten Röntgenaufnahmen auf ein Leuchtpult legte. »Außerdem ist der Oberkiefer zusammengedrückt, so daß die Wangenbeine am Keilbein anliegen. Dazu kommen vier Unterkieferbrüche – zum Glück allerdings ohne wesentliche Verschiebungen.« »Das habe ich mir gedacht, nachdem sie verhältnismäßig gut sprechen konnte.« Mike studierte die Aufnahmen. »Haben Sie eine, auf der zu erkennen ist, wieviel von der Vorderwand der Kieferhöhlen übriggeblieben ist?« »Augenblick, die letzten Bilder müßten eben fertig geworden sein!« Der Röntgenologe drückte auf den Rufknopf der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch. »Bringen Sie mir die restlichen Aufnahmen, Jack?« Wenige Minuten später trat ein junger Assistenzarzt mit den frisch entwickelten Aufnahmen herein und legte sie auf das große Leuchtpult. Kerns und Thorndyke beugten sich gespannt darüber. »Die vordere Wand der Kieferhöhle ist tatsächlich etwas eingedrückt, Mike«, stellte Dr. Thorndyke fest. »Im Vergleich zur Deformation der Wangenbeine ist dies aber eine Bagatelle. Ich beneide Sie nicht um Ihre Arbeit, wenn Sie ihr Gesicht einigermaßen hinbekommen wollen, ohne allzu große Narben zu hinterlassen, während Sie die 49
Brüche von außen einrichten.« »Nein, ich werde hauptsächlich von der Mundhöhle aus arbeiten«, erwiderte Mike. Dr. Thorndyke zog die Augenbrauen hoch. »Und wie wollen Sie die Wangenbeine nach vorn holen, ohne von außen Haken einzuführen?« »Haben Sie gesehen, daß die Patientin am rechten Auge eine kleine Schnittwunde hat? Sie ist gerade groß genug, daß ich dort einen schmalen Elevator einführen kann«, erläuterte Mike. »Wenn ich einen zweiten dicht hinter den oberen Zähnen durch einen Schnitt im Gaumen schiebe, kann ich das Wangenbein in jede beliebige Lage bringen.« »Aber was ist mit der anderen Seite?« »Dort setze ich das Skalpell an genau der gleichen Stelle wie rechts an. Wenn beide Wunden vernäht sind, wirkt ihr Augenschnitt vielleicht ein wenig orientalisch – aber das kann sehr attraktiv sein!« »Und was wird aus den eingedrückten Vorderwänden der Kieferhöhlen?« fragte der Röntgenologe gespannt. »Die müßten von innen aus in ihre normale Lage zurückzubringen sein. Falls das nicht klappt, verpflanze ich einen Knochensplitter vom Hüftknochen, um ihre Oberlippe in Normalposition zu rücken. Da ihr Nasenbein völlig zersplittert ist, muß ich ohnehin eine Knochenverpflanzung vornehmen – und bei dieser Gelegenheit kann ich ihr jede Nasenform geben, die sie sich wünscht.« Dr. Thorndyke schüttelte lächelnd den Kopf. »Darf ich das so interpretieren, daß Sie schon eine ganz bestimmte Vorstellung davon haben, wie Miß Burke nach der Operation aussehen soll?« erkundigte er sich. »Ich stelle jedesmal ein Modell her, damit der Patient die verschiedenen Möglichkeiten sieht.« Mike öffnete das Holzkästchen – es hatte früher ein Mikroskop enthalten –, das er mitgebracht hatte, und hob vorsichtig den Plastilinkopf heraus. »Na, wie gefällt er Ihnen?« 50
Der Röntgenologe starrte den Kopf an, den Mike an zwei Abenden modelliert hatte. »Wollen Sie etwa behaupten, daß Sie ihr dieses Gesicht geben können?« fragte Thorndyke ungläubig. »Ich will's jedenfalls versuchen, wenn sie einwilligt«, bestätigte Mike. »Glauben Sie, daß ihr das Gesicht gefallen wird?« »Gefallen? Die meisten Frauen würden alles dafür geben, so auszusehen! Aber tun Sie's nicht, Mike.« »Warum denn nicht, verdammt noch mal?« »Sie würden sie zu einer modernen Göttin machen, die alle ins Verderben stürzt, die sie anbeten. Lassen Sie sie lieber, wie sie jetzt ist…« »Mit einem völlig deformierten Gesicht? Dann könnte sie auf Schadenersatz klagen – obwohl bei mir nicht viel zu holen ist.« »Gut, dann geben Sie ihr ihr altes Gesicht zurück.« Mike holte eines der Fotos aus seiner Brieftasche. »Das hier?« fragte er. »Wenn sie wie Aphrodite aussehen kann?« Der ältere Arzt betrachtete die Aufnahme, studierte das Modell und seufzte schließlich. »Gut, ich sehe ein, daß Sie ihr die Wahl zwischen beiden Möglichkeiten lassen müssen«, gab er widerstrebend zu. »Aber ich hoffe, daß sie mit ihrem früheren Aussehen zufrieden gewesen ist und sich wieder dafür entscheidet. Wenn Sie sie in diese Schönheit verwandeln, wird sie reihenweise Männerherzen brechen – als erstes wahrscheinlich das Ihre.«
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ike begleitete Janet Burke, als sie aus der Röntgenabteilung in ihr Einzelzimmer zurückgefahren wurde. »Was haben Sie in dem Kasten?« fragte sie, nachdem er sie mit 51
Hilfe der Krankenschwester zu Bett gebracht hatte. »Sie. Oder Ihr mögliches zukünftiges Gesicht.« Janet zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen können Sie ihn gleich aufmachen. Ich bin aufs Schlimmste gefaßt.« »Augen zu!« befahl Mike lächelnd. Als sie gehorsam die Augen schloß, stellte er das Plastilinmodell auf den Bettisch, so daß sie es genau vor sich hatte, sobald sie die Augen wieder öffnete. »Jetzt dürfen Sie sie wieder aufmachen.« Janets erste Reaktion auf den Anblick des Modells war eine Mischung aus Überraschung, Freude und ungläubigem Staunen. »Sie könnten… Sie können mir nicht wirklich dieses Gesicht geben«, stammelte sie schließlich. Dann sah sie bittend zu Mike auf. »Tatsächlich?« »Ich bin bereit, dafür meinen Ruf als Unfallchirurg zu riskieren.« »Warum, Dr. Kerns?« »Wahrscheinlich reizen mich die rein technischen Probleme dieser Operation. Soll ich Ihnen erklären, was ich alles vorhabe?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich will's lieber nicht hören. Was ist, wenn die Operation fehlschlägt?« »Dann sehen Sie nicht schlechter aus als früher, also durchaus passabel«, fügte er hastig hinzu. »Sie brauchen mir keine Komplimente zu machen«, wehrte Janet ab. »Jedesmal wenn ich Lynne Tallman gesehen habe – sogar im Gefängnis –, bin ich mir wie das häßliche Entlein vorgekommen. Aber ich hatte mir schon frühzeitig vorgenommen, das Beste aus meinen Anlagen zu machen, deshalb hat mich das nie deprimiert.« »Sobald Ihr Buch über Lynne und ihren Teufelskult erscheint, werden Sie auch berühmt.« »Wenn Sie mich in diese Schönheit, die Sie modelliert haben, verwandeln können, werde ich allein deshalb berühmt werden.« »Ist das etwa schlimm?« »Ich will nicht behaupten, nie davon geträumt zu haben, eine gefeierte Schönheit zu sein – das tut jede Frau irgendwann einmal, 52
ob sie's zugibt oder nicht. Aber was Sie mir anbieten, verschlägt mir fast den Atem.« »Sie brauchen sich nicht sofort zu entscheiden«, erklärte Mike. »Ich lasse Ihnen das Modell hier, damit Sie es studieren können. Am besten sprechen Sie auch mit Ihrem Onkel darüber und holen seinen Rat ein.« »Gerald Hutchinson, mein Verlobter, ist gestern am späten Abend aus Chicago angekommen – so spät, daß er mich nicht mehr hat besuchen können. Onkel George und er kommen nach dem Frühstück her. Aber ich wünsche mir fast, Gerald brauchte mich erst nach der Operation zu sehen.« »Das ist verständlich. Zum Glück zeigt ihm das Modell, wie das Endergebnis aussehen könnte.« Janet warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. »Würden Sie wollen, daß Ihre Frau wie die Göttin der Liebe aussieht?« fragte sie schließlich. »Ja – vor allem wenn ich ihr dieses Gesicht selbst gegeben hätte.« Sie lächelte, so gut das mit ihren deformierten Zügen möglich war. »Hoffentlich ist Gerald so tolerant wie Sie, Dr. Kerns. Bisher habe ich ihn allerdings als ziemlich konservativ kennengelernt… Welche Statue haben Sie als Modell benützt?« »Die Aphrodite des Praxiteles. Eine Kopie davon steht im Britischen Museum.« »Tut mir leid, dort bin ich noch nie gewesen.« »Ich habe Ihnen das Lexikon mitgebracht.« Mike holte den schweren Band aus seiner Arzttasche, schlug ihn auf und legte ihn auf den Nachttisch, wo sie ihn gut sehen konnte. »Da – das Vorbild.« Janet Burke studierte die Abbildung und verglich sie mit dem Modell. »Ich sehe, daß Sie ein paar Kleinigkeiten daran verändert haben, ohne aber den Gesamteindruck zu beeinträchtigen«, stellte sie fest. »Ist Ihnen klar, daß dieser Kopf Ähnlichkeit mit Lynne hat – besonders die Mundpartie?« »Richtig, die hat mir Schwierigkeiten gemacht«, gab Mike zu. »Eine 53
Zeitlang habe ich fast den Eindruck gehabt, das Plastilin nehme unter meinen Fingern eine ganz andere als die gewünschte Form an.« Sie runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.« »Ich auch nicht, aber meine Finger sind gegen meinen Willen bemüht gewesen, den Lippen einen sarkastischen Zug zu geben, der bei Ihnen völlig fehlt.« »Von woher ist Ihnen Lynne bekannt?« »Ich habe sie nur einmal gesehen, als sie tot auf dem Fußboden des Empfangsgebäudes am Flughafen gelegen hat, aber ihr Gesichtsausdruck hat sich mir eingeprägt. Ich weiß noch, daß ich mir gedacht habe, so müsse sie zu ihren Lebzeiten ausgesehen haben, wenn sie über jemand triumphiert hat.« »Diesen Gesichtsausdruck habe ich während unserer Treffen in Chicago mehrmals erlebt.« »Stört es Sie, wenn Sie ihr etwas ähnlich sehen?« erkundigte sich Mike. »Bestimmt nicht, solange ich wirklich so schön werde wie Ihr Modell! Aber muß dieser leicht orientalische Augenschnitt tatsächlich sein?« »Sie haben eine Schnittwunde unter dem rechten Auge«, antwortete Mike. »Normalerweise könnte ich sie einfach nähen. Ein Teil des darunterliegenden Gewebes ist jedoch herausgerissen worden. Damit möglichst keine Narbe sichtbar bleibt, muß ich das Lid etwas abändern – und das linke natürlich auch.« »Sie reden wie ein Schneider.« Er lächelte zustimmend. »Plastische Chirurgie hat vieles mit dem ehrsamen Schneiderhandwerk gemeinsam.« »Wie lange muß ich diese Kanüle noch in der Luftröhre tragen?« »Bis Sie wieder aus der Narkose erwacht sind. Sie bekommen allerdings nur eine intravenöse Injektion von Natriumpentothal. Aber ich möchte die Kanüle lieber noch an Ort und Stelle lassen – für den Fall, daß sich als Spätfolge der Gehirnerschütterung Atembeschwerden einstellen.« »Gut, lassen wir sie also drin«, entschied Janet. »Sie haben mich 54
einmal von den Toten erweckt, aber nächstes Mal hätten wir vielleicht beide weniger Glück.«
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G
eorge Stanfield rief Mike um zehn Uhr in der Praxis an. »Gerald Hutchinson und ich sind eben bei Janet im Krankenhaus gewesen, Dr. Kerns«, sagte der Chefredakteur. »Er möchte Sie dringend sprechen, und ich wollte fragen, ob Sie einen Augenblick Zeit für uns hätten, da wir ohnehin ganz in Ihrer Nähe sind…« »Der nächste Patient ist erst für zehn Uhr dreißig bestellt«, antwortete Mike nach einem Blick auf seinen Terminkalender. »Sie können also gleich vorbeikommen.« Die beiden Männer erschienen fünf Minuten darauf. Gerald Hutchinson war ein gutaussehender sportlicher Mann Mitte Dreißig, der sein schwarzes Haar ziemlich lang trug. Hinter seiner randlosen Brille blitzten kühle graue Augen. Er wirkte ruhig und selbstsicher, als er Mike die Hand schüttelte. »Am besten sage ich Ihnen gleich, daß ich vor dem Abflug in der Bibliothek des Cook Country Hospitals gewesen bin und mich über Sie informiert habe, Dr. Kerns«, begann er. »Aus dem Facharztverzeichnis geht hervor, daß Sie Ihre Zulassung erst letztes Jahr erhalten haben.« »Richtig«, bestätigte Mike. Hutchinsons aggressive Art ließ erkennen, worauf der andere hinauswollte. Aber wenn der Journalist Janet Burke wirklich liebte und sie heiraten wollte, war es sein gutes Recht, dafür zu sorgen, daß sie nur von einem erstklassigen Arzt behandelt wurde. »Sie praktizieren also noch nicht lange als Facharzt?« »Erst seit einem Dreivierteljahr«, antwortete Mike gelassen. »Ich 55
habe die Zulassung während meiner Tätigkeit am New Yorker Bellevue Hospital erhalten. Vorher bin ich am hiesigen University Hospital Assistenzarzt für plastische Chirurgie gewesen.« »Und der Chefarzt dieser Abteilung am University Hospital ist Dr. Emo Sebastian, einer der besten Chirurgen auf diesem Gebiet und der Autor des bekanntesten Lehrbuchs, nicht wahr?« »Ganz recht, Mr. Hutchinson.« »Gerald, ist dieses Verhör wirklich notwendig?« warf Stanfield peinlich berührt ein. »Ich habe nur das Wohl meiner Verlobten im Auge«, antwortete Hutchinson scharf. »Niemand bestreitet, daß Dr. Kerns ihr durch sein promptes Eingreifen auf dem Flughafen das Leben gerettet hat, und ich bin ihm natürlich dankbar dafür. Aber die Korrektur ihrer schweren Gesichtsverletzungen verlangt erheblich mehr ärztliches Können als ein einfacher Luftröhrenschnitt.« »Damit Sie die Gewißheit haben, daß alles nur Menschenmögliche für Miß Burke getan wird, bin ich gern bereit, Dr. Sebastian zu Konsultationen hinzuzuziehen«, bot Mike ihm an. »Das dürfte ratsam sein«, stimmte der Journalist zu. Mike nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer. Als Dr. Sebastian sich meldete, schaltete er den Tischlautsprecher ein, damit die beiden anderen mithören konnten. »Was gibt's, Mike?« fragte der Chefarzt. »Ich habe eine Patientin im Krankenhaus, die vor einigen Tagen bei dem Unglück auf dem Flughafen verletzt worden ist und…« »Ja, ich weiß. Meines Wissens haben Sie ihr durch Ihr entschlossenes Eingreifen das Leben gerettet.« »Wir haben beide Glück gehabt«, wehrte Mike ab. »Ich rufe an, weil Miß Burkes Verlobter hier ist und Zweifel daran zu hegen scheint, daß ich die nötigen Qualifikationen besitze, um sie zu operieren.« »Qualifikationen?« wiederholte Dr. Sebastian erstaunt. »Nach zwei Jahren am Bellevue Hospital verstehen Sie mehr von kosmetischen Operationen als ich.« »Ich glaube, daß alle zufriedener wären, wenn Sie sich die Patientin 56
ansehen würden, Sir.« »Klar, wird gemacht. Ich komme auf dem Weg zum Mittagessen bei ihr vorbei und benachrichtige Sie anschließend.« »Würden Sie bitte auch Miß Burkes Verlobten anrufen? Er heißt Gerald Hutchinson und ist über die Redaktion der ›Star-News‹ zu erreichen.« »Gern«, antwortete Sebastian. »Sagen Sie ihm, daß er sich keine Sorgen zu machen braucht: Seine Verlobte ist bei dem besten jungen Gesichtschirurgen Amerikas erstklassig aufgehoben.« »Komm, Gerald!« sagte Stanfield, als Mike den Hörer auflegte. »Wann wollen Sie operieren, Doktor?« »Gleich morgen früh, wenn Miß Burke noch die Einverständniserklärung unterschreibt. Im Krankenhaus stehen ein Operationssaal und der Chefanästhesist für uns bereit. Wenn alles wie geplant klappt, hat sie's spätestens um halb elf überstanden. Dann sehen wir uns bestimmt wieder.«
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m zwei Uhr nachmittags begleitete Mikes Sprechstundenhilfe die letzte Patientin hinaus und kam sofort wieder herein. »Draußen wartet ein Dr. Randall McCarthy«, sagte sie. »McCarthy?« wiederholte Mike. »Ich weiß nicht, was…« »Er ist der Psychiater, den Sie zu Miß Burke ins University Hospital geschickt haben.« »Ah, ganz recht! Er möchte bitte hereinkommen.« Dr. Randall McCarthy entpuppte sich als großer, eleganter Mann Anfang Fünfzig. Er war sportlich schlank und bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines durchtrainierten Athleten – aber sein Gesicht paßte nicht recht zu seinem Körper. 57
Die tief in den Höhlen liegenden Augen blitzten intelligent, aber das Gesicht, aus dem sie leuchteten, wirkte seltsam verwüstet. Schwere Tränensäcke und Hängebacken, eine Adlernase und ein schwarzer Spitzbart gaben ihm das Aussehen eines vorzeitig gealterten Wüstlings. Er machte den Eindruck eines Mannes, der in seine fünf Jahrzehnte das Doppelte oder Dreifache der Erlebnisse gewöhnlicher Menschen hineingepackt hatte. »Ich wollte Ihnen einen ersten Bericht über Ihre Patientin Janet Burke erstatten«, sagte McCarthy, als sie sich die Hand gaben. »Ich habe natürlich auch eine Kurzfassung fürs Krankenblatt diktiert.« »Hoffentlich haben Sie sich nicht allzuviel Arbeit damit gemacht.« Mike bot ihm mit einer Handbewegung den Besuchersessel an. »Als Miß Burke noch immer nicht zu Bewußtsein kommen wollte und wir ihre Thetawellen auf dem EEG gesehen haben, haben Dr. Fogarty und ich vermutet, ihre Bewußtlosigkeit sei vielleicht weniger tief, als es den Anschein hatte.« Wenn McCarthy lächelte, hatte er Ähnlichkeit mit einem grinsenden Satyr. »Sie haben ihr zugetraut, daß sie schwindelt?« »Ja, so ähnlich«, gab Mike zu. »Aber da sie jetzt wieder bei Bewußtsein und offenbar bei klarem Verstand ist, habe ich Sie vergebens bemüht, fürchte ich.« »Durchaus nicht, durchaus nicht! Miß Burke ist eine hochintelligente junge Dame. Ich habe es genossen, mich mit ihr zu unterhalten – besonders über die Tallman. Dieser Typ einer Psychopathin hat mich schon immer fasziniert, und Miß Burke ist ja in Chicago wochenlang mit Lynne Tallman zusammen gewesen.« »Haben Sie als Psychiater irgendeinen Defekt bei ihr feststellen können?« »Nein, sie ist eine völlig normale junge Frau«, versicherte McCarthy. »Ich habe sie erst heute morgen besuchen können, weil ich zu einem Seminar über Parapsychologie an der Duke University eingeladen gewesen bin.« »Wie sind Sie darauf gekommen, sich mit extrasensorischer Perzeption zu befassen?« fragte Mike interessiert. 58
»Der wissenschaftliche Name dafür ist Parapsychologie, Dr. Kerns«, verbesserte ihn der andere lächelnd. »Ich habe während meines Studiums einen Sommer lang bei einem Varieté gearbeitet, das von Jahrmarkt zu Jahrmarkt gezogen ist. Dabei habe ich die Standardtricks gelernt: Levitation, Verschwindenlassen, Hypnose und dergleichen. Eine der Artistinnen ist als Gedankenleserin aufgetreten, und ich habe viel mit ihr zusammengearbeitet.« »Sind diese Auftritte nicht immer ein Schwindel?« »Richtig, aber gelegentlich hat es Ausnahmen gegeben, die wir uns beide nicht erklären konnten. Bei Wiederaufnahme meines Medizinstudiums habe ich dann zusätzlich Parapsychologie belegt.« Der Psychiater machte eine Pause. »Übrigens mein Kompliment zu Ihrem Modell von Miß Burkes zukünftigem Gesicht. Eine wundervolle Arbeit, Dr. Kerns.« »Danke. Ich arbeite manchmal auch mit Ton, aber ich möchte nicht hauptberuflich Bildhauer sein.« »Sie wären bestimmt erfolgreich. Aber wenn Sie Miß Burke tatsächlich dieses Aussehen geben können, sind Sie für die Menschheit wertvoller als als Bildhauer.« »Ja, das glaube ich auch.« »Ich bin eigentlich vorbeigekommen, um zu fragen, ob Sie etwas dagegen einzuwenden haben, wenn ich Miß Burke psychologisch studiere, Dr. Kerns. Natürlich erst, wenn sie sich von der Operation erholt hat.« »Sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen ist, habe ich keinen Einfluß mehr darauf, was sie tut oder nicht tut, Dr. McCarthy. Nur Miß Burke kann Ihnen diese Einwilligung geben.« »Ich rechne damit, daß sie einverstanden sein wird, aber ich wollte mich vergewissern, daß es Ihnen recht ist, wenn ich sie gelegentlich besuche, solange sie im Krankenhaus liegt.« »Dagegen spricht nichts. Allerdings kann ich ihr keine Beratung verschreiben, die sie nachher auf ihrer Rechnung wiederfindet.« »Ich wollte selbstverständlich keine Liquidation stellen!« protestierte McCarthy. »Mich interessiert nur, wie sich die Tatsache, daß sie in 59
Zukunft zu den schönsten Frauen Amerikas gehören wird, auf ihr weiteres Leben auswirken wird.« »Glauben Sie, daß diese Veränderung sich positiv auswirken wird?« fragte Mike gespannt. »Sie ist intelligent. Sie ist eine begabte Schriftstellerin. Und sie ist ehrgeizig. Wie soll die Veränderung sich da negativ auswirken können?« »Ich bin mir in dieser Beziehung noch nicht ganz sicher.« Der Psychiater stand auf und streckte Mike die Hand hin. »Vielen Dank, daß Sie nichts dagegen haben, daß ich Miß Burke studiere. Sie ist bestimmt ein interessanter Fall – und das nicht nur, weil sie – wie alle Rothaarigen – ein bißchen schizoid ist. Jedenfalls kann sie von Glück sagen, daß Sie an diesem Morgen zufällig zum Flughafen unterwegs gewesen sind!« Mike begleitete seinen Besucher hinaus. Seine Sprechstundenhilfe, eine attraktive junge Mutter, ordnete Karteikarten ein. Sie sah ihm entgegen, als er zurückkam. »Was halten Sie von ihm, Doktor?« fragte sie. »Das wollte ich eben Sie fragen.« »Ein eigenartiger Mann«, meinte sie kopfschüttelnd. »Ob er wirklich der Casanova ist, nach dem er aussieht?«
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r. Sebastian rief an, als McCarthy eben gegangen war. »Ich bin nach dem Essen bei Miß Burke gewesen, Mike«, berichtete er. »Glauben Sie wirklich, daß sie nach der Operation wie Ihr Modell aussehen kann?« »Ich bin mir meiner Sache ziemlich sicher gewesen. Inzwischen scheinen allerdings so viele Leute daran zu zweifeln, daß ich all60
mählich unsicher werde.« »Lassen Sie sich davon nicht beeindrucken!« riet ihm der Chefarzt. »Selbst wenn Sie ihr nur annähernd dieses Gesicht geben können, ist das schon eine großartige Leistung.« »Ist ihr Verlobter dagewesen?« »Er hat auf mich gewartet«, antwortete Sebastian. »Als er gemerkt hat, daß ich ihm nicht bestätigen würde, daß Sie für diese Operation zu unerfahren sind, hat er versucht, mir das Eingeständnis abzuringen, Miß Burke sei nach ihrer schweren Gehirnerschütterung noch nicht wieder imstande, die Einverständniserklärung für die Operation zu unterschreiben. Aber ich habe mich auf nichts eingelassen.« »Ich kann nicht verstehen, was er gegen mich hat. Bevor Miß Burke und ihr Onkel gestern von ihm gesprochen haben, habe ich nicht einmal gewußt, daß er überhaupt existiert!« »Hutchinson sieht gut aus und ist sehr selbstbewußt. Deshalb schätze ich ihn als den bisher dominierenden Partner ein. Jetzt besteht plötzlich die Möglichkeit, daß seine Verlobte zu einer klassischen Schönheit wird, die natürlich viele andere Männer anziehen wird. Vermutlich befürchtet unser Freund, nicht mehr die erste Geige zu spielen, sobald Sie die junge Frau in eine moderne Aphrodite verwandelt haben.« »Heute vormittag ist auch Dr. Randall McCarthy bei ihr gewesen. Er hat mich vorhin besucht.« »Ach ja, was halten Sie von ihm?« »Ich habe ihn nur flüchtig kennengelernt«, gab Mike zu, »aber er hat mich ziemlich beeindruckt. Er stimmt mit Ihnen überein, daß Janet Burke durchaus imstande ist, vernünftige Entscheidungen zu treffen.« »Eine hat sie bereits getroffen: Sie hat die Einverständniserklärung für die Operation in meiner Gegenwart unterschrieben, während Hutchinson nervös an seinen Fingernägeln gekaut hat«, antwortete Sebastian. »Sie dürfen McCarthy nicht unterschätzen, nur weil er wie der Frauenheld aussieht, der er wahrscheinlich ist, Mike. Er genießt 61
einen ausgezeichneten Ruf als Parapsychologe. Soviel ich weiß, arbeitet er im Augenblick an einem ASW-Forschungsprojekt.« »Außersinnliche Wahrnehmung?« fragte Mike sichtlich zögernd. »Richtig, aber auf einem speziellen Sektor, auf den er sich am Stanford Research Institute spezialisiert hat: die Wahrnehmung zukünftiger Ereignisse. Ich habe einige seiner Forschungsergebnisse gesehen, Mike. Sie sind phantastisch!« »Tut mir leid, aber in der New Yorker Zeit bin ich kaum dazu gekommen, Fachzeitschriften zu lesen.« »Unterhalten Sie sich gelegentlich mit McCarthy«, schlug Sebastian vor. »Und noch etwas, Mike: Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich morgen von der Galerie aus kiebitze? Mir gefällt die Methode, mit der Sie die Wangenbeine nach vorn schieben wollen. Charlie Thorndyke hat mir davon erzählt. Falls sie wirklich funktioniert, möchte ich sie bei der Neuauflage meines Lehrbuchs berücksichtigen.« »Bitte sehr!« stimmte Mike zu. »Vielleicht hebt das mein Selbstvertrauen.« »Das hat keine Stärkung nötig«, versicherte der Chefarzt. »Alles Gute, Mike!«
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anet Burke saß im Bett, als Mike zur Abendvisite hereinkam. Sie schien sich jedoch nicht zu freuen, ihn zu sehen. »Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Irrenarzt zu mir zu schicken?« erkundigte sie sich. »Ich hatte ihn um eine Konsultation gebeten, als Sie noch bewußtlos waren und wir nicht wußten, ob Sie irgendwelche Gehirnschäden davongetragen hatten. Als Sie aufgewacht sind und ganz 62
vernünftig reagiert haben, habe ich vergessen, ihn abzubestellen. Sind Sie nicht gut mit Dr. McCarthy zurechtgekommen?« »Oh, er war eigentlich in Ordnung. Ich bin nur ziemlich erledigt von den Auseinandersetzungen mit Gerald. Er will nicht, daß Sie mich operieren.« »Das ist die Untertreibung des Jahres«, antwortete Mike lächelnd. »Ihr Verlobter hat sich in Chicago über meine Qualifikationen informiert und wollte, daß Dr. Sebastian die Operation übernimmt.« »Er ist auch hier gewesen.« »Ja, ich weiß. Sobald ich gemerkt habe, worauf Ihr Verlobter hinauswollte, habe ich den Chef angerufen und ihn gebeten, bei Ihnen vorbeizuschauen. Mein Operationsplatz und das Modell gefallen ihm recht gut.« »Gerald bezeichnet das Modell als Schwindel, durch den Sie mich dazu bringen wollen, in die Operation einzuwilligen.« »Und was ist Ihre Meinung?« Janet zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihm erklärt, daß ich schon damit zufrieden wäre, nur halb so schön wie das Modell zu sein. Gerald scheint von Anfang an entschlossen gewesen zu sein, Sie abzulehnen, und er hat sich geärgert, als Dr. Sebastian Sie in den höchsten Tönen gelobt hat. Wir haben uns anschließend gestritten, und wenn mein Verlobungsring nicht im Safe läge, hätte ich ihn Gerald bestimmt vor die Füße geworfen.« »Mit solchen schwerwiegenden Entscheidungen würde ich an Ihrer Stelle bis nach der Operation warten«, beschwichtigte Mike. »Danach sehen Sie vielleicht manches anders.« »Ich glaube, daß Gerald sich in Wirklichkeit querlegt, weil er fürchtet, Sie könnten mir tatsächlich das Gesicht Ihres Modells geben. Er hat es noch nie ertragen, irgendwo in den Hintergrund gedrängt zu werden, und wenn er eine Frau hätte, die so schön wie die Aphrodite des Praxiteles ist…« »Dann würde er in Ihrer Gegenwart stets nur eine Nebenrolle spielen«, bestätigte Mike. 63
»Würde Sie das an seiner Stelle stören?« fragte Janet mit einem prüfenden Blick. »Durchaus nicht! Schließlich wären Sie eine wandelnde Reklame für meine Fähigkeiten als Schönheitschirurg. Aber ich wollte mit Ihnen über Dr. McCarthy reden. Was haben Sie gegen ihn, Miß Burke?« »Oh, eigentlich nichts. Er ist im Grunde genommen ein anregender Gesprächspartner. Allerdings hat er sich weniger für mich als für Lynne Tallman interessiert. Er hat mich über sie ausgefragt, als versuche er, sie durch mich zu psychoanalysieren.« »Dr. McCarthy ist nicht nur Psychiater, sondern auch Spezialist für Parapsychologie. Bevor Sie ins Bewußtsein zurückgekehrt sind, haben sich in Ihrem EEG merkwürdige Wellen abgezeichnet, als ob Ihr Bewußtsein an die Oberfläche durchzubrechen versuche. Dr. Fogarty hat geglaubt, McCarthy könne diese Störungen deuten.« »Gut, daß Sie mich daran erinnern!« sagte Janet. »Müssen diese Nadeln noch in meiner Kopfhaut stecken? Ich möchte mir endlich einmal die Haare waschen lassen.« »Ich sorge dafür, daß Sie die Nadeln loswerden«, versprach Mike ihr. »Eine der Schwestern kann Ihnen anschließend bei der Kopfwäsche behilflich sein.« »Was hat McCarthy Ihnen über mich erzählt?« »Daß Sie wie alle Rothaarigen ein bißchen schizoid sind – aber das hält er für ganz normal.« »Er hat sich für mein Buch interessiert. Er wollte wissen, wie weit ich damit bin. Leider weiß ich nicht einmal, ob mein Aktenkoffer mit dem Flugzeug verbrannt ist.« »Nein, er ist nicht verbrannt. Ihr Onkel bewahrt ihn für Sie auf.« »Warum hat er mir das nicht erzählt?« »Weil er und das FBI verbreitet haben, Ihre Unterlagen enthielten wertvolle Hinweise auf Lynne Tallmans Organisation in Chicago.« »Aber das stimmt nicht! Ich habe versucht, sie auszuhorchen. In dieser Beziehung hat sie jedoch eisern dichtgehalten.« 64
»Das wissen wir bereits«, beruhigte Mike. »Das FBI will zumindest in Chicago den gegenteiligen Eindruck erwecken. Auf diese Weise sollen ihre Komplizen ans Tageslicht gelockt werden.« »Mit mir als Lockvogel?« »Richtig. Aber keine Sorge – draußen hält Tag und Nacht ein FBIMann Wache.« »Das paßt mir trotzdem nicht!« widersprach sie energisch. »Lynne ist mit durch meine Schuld gestorben, und nun will das FBI mich mißbrauchen, um ihre Komplicen in eine Falle zu locken. Kommt Ihnen das nicht ein bißchen unmoralisch vor?« »Nein, nicht, wenn ich daran denke, was Lynne Tallman und die anderen verbrochen haben.« »Hm, wahrscheinlich haben Sie recht.« »Dr. McCarthy möchte Sie übrigens ein bis zwei Monate lang studieren«, wechselte Mike das Thema. »Er interessiert sich für die Veränderungen, die nach der Operation bei Ihnen auftreten dürften.« »Sind Sie damit einverstanden?« »Wenn Sie nichts dagegen haben.« »Das könnte ganz interessant sein. Okay, teilen Sie ihm mit, daß ich einverstanden bin.« »Ich rufe ihn nach der Operation an«, versprach Mike. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen in bezug auf die morgige Operation?« »Sehen wir uns denn nicht mehr, bevor Sie anfangen?« »Doch, doch – aber Sie werden mich wahrscheinlich nicht erkennen. Dr. Petrie, der Anästhesist, wird Ihnen ein verhältnismäßig starkes schmerzstillendes Mittel geben, damit er die Dosierung bei der eigentlichen Narkose möglichst gering halten kann.« »Bestellen Sie ihm bitte etwas von mir? Ich möchte völlig hinüber sein, bevor ich in den Operationssaal gefahren werde. Ich will überhaupt nichts merken.« »Sie merken bestimmt nichts«, versprach Mike. »Dr. Kerns!« Er blieb mit der Hand auf der Klinke stehen und fragte sich im ersten Augenblick, ob jemand anders ungesehen hereingekommen 65
sein könne. Eine andere Frauenstimme hatte seinen Namen ausgesprochen – aber als er sich umdrehte, war er weiterhin mit Janet Burke allein. Ihre Stimme war jedoch nicht mehr die gleiche wie zuvor: Sie klang leicht heiser und herausfordernd. Als Mike wieder an ihr Bett trat, stellte er auch einen veränderten Gesichtsausdruck fest. Während Janet Burke zuvor ernst und wegen der morgigen Operation besorgt gewirkt hatte, schien sie jetzt unbekümmert, lebhaft und sogar etwas provokant. Ihre Augen zeigten ein spöttisches Leuchten, das ihm bisher nie aufgefallen war. Sie kam ihm nun fast vor wie eine Fremde. »Ja, was gibt's?« fragte er. »Ich erinnere mich jetzt an die Statue der Aphrodite – im Britischen Museum, nicht wahr?« »Ganz recht.« »Wenn Sie mich schon in eine Göttin verwandeln wollen, können Sie mir doch auch den Busen einer Göttin schenken, wie ihn die Londoner Statue hat?« Dieser maliziöse Tonfall unterschied sich völlig von Janet Burkes normaler Sprechweise. »Welchen Büstenhalter tragen Sie?« fragte er. »Größe achtzig, Cup A – wenn ich einen trage, was selten genug ist.« »Welche Größe möchten Sie haben?« »Sie sind der Onkel Doktor. Welche verschreiben Sie mir?« »Was halten Sie von Größe neunzig, Cup B? Die wäre für Ihre Statur und Ihr Körpergewicht ungefähr richtig.« »Gut, einverstanden – falls sich das machen läßt.« Ihre Stimme klang noch immer seltsam provokant, fast verführerisch. Mike konnte kaum glauben, daß Janet Burke mit ihm sprach, obwohl er sah, wie ihre Lippen die Wörter bildeten. »Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß wir die Brustoperation gleich morgen durchführen«, erklärte er. »Das hängt davon ab, wie lange ich für Ihr Gesicht brauche. Ansonsten holen wir sie in ein paar Tagen nach. Die Operation ist nicht weiter kompliziert, und 66
die Schnitte liegen in den Achselhöhlen, wo sie praktisch unsichtbar sind.« »Okay, dann unterschreibe ich gleich die Einverständniserklärung.« Sie machte eine Pause. »Dr. Kerns?« »Ja?« »Sie werden es nicht bereuen – das verspreche ich Ihnen.« Die tiefere Bedeutung dieser letzten vier Worte ließ sich nicht überhören. Janet Burkes Tonfall war eindeutig, und Mike spürte, daß sein Herz unwillkürlich rascher schlug. »Einverstanden?« fragte sie. »Ich schicke Ihnen die Stationsschwester mit einer Einverständniserklärung herein, die Sie bitte unterschreiben müssen«, antwortete er ausweichend. Als Mike sich abwandte, fiel sein Blick auf den EEG-Monitor, dessen Anzeige ihn mehr verblüffte als die plötzliche Veränderung in Janet Burkes Verhalten. Das seit ihrer Rückkehr ins Bewußtsein regelmäßige Bild der Gehirnströme wurde jetzt größtenteils von dem eigenartigen Thetarhythmus überlagert, der auch während ihrer Bewußtlosigkeit aufgetreten war. Auf dem Nachhauseweg fiel ihm ein, daß sie einmal von der Statue im Britischen Museum gesprochen hatte, obwohl sie noch am gleichen Morgen behauptet hatte, diese nie gesehen zu haben. Das war ein weiteres Glied in der Kette merkwürdiger Ereignisse um Janet Burke: Ihre wunderbare Rettung, die sie der Tatsache verdankte, das sie bei dem Unfall aus dem Flugzeug geschleudert worden war; die während ihrer Bewußtlosigkeit und vorhin wieder sichtbaren Thetarhythmen in ihrem EEG; die veränderte Stimme, als sie ihn um eine Brustvergrößerung gebeten hatte – und dieser Hinweis darauf, daß sie die von Praxiteles geschaffene Statue im Britischen Museum doch kannte. Noch verblüffender war jedoch Mikes Erkenntnis, daß er Janet Burkes zweite Stimme schon einmal bei anderer Gelegenheit gehört hatte – nämlich aus dem Lautsprecher seines Flugfunkempfängers, als Lynne Tallman mit der Boeing 727 verunglückt war. 67
»Meister! Rette mich!« hatte die gleiche Stimme gefleht, kurz vor dem schrillen Schreckensschrei, bei dem es ihm kalt über den Rücken gelaufen war, weil dieser Schrei nichts Menschenähnliches mehr an sich gehabt hatte.
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ls Mike am nächsten Morgen aus dem Waschraum in den Operationssaal kam, bereitete Dr. Hal Petrie eben die Natriumpentothalinjektion zur Anästhesie vor, trat an den Operationstisch und sah auf die Patientin herab. Die Krankenschwester hatte die Elektroden entfernt und Janet Burke die Haare gewaschen. Ihre Haarfarbe war noch heller, als er gedacht hatte – rötlich golden. »Hier ist Dr. Kerns«, sagte er dicht neben ihrem Ohr. »Können Sie mich hören, Miß Burke?« Sie schlug die Augen auf, die ihn erneut durch ihr tiefes Blau bezauberten. Aber sie leuchteten nicht mehr so herausfordernd wie am Abend zuvor, als sie ihn zurückgerufen hatte, um den Busen einer Göttin zu verlangen. »Hallo, Doktor.« Sie sprach undeutlich, aber ihre Stimme klang wieder vertraut. »Alles ist in bester Ordnung«, eröffnete er. »Dr. Petrie gibt Ihnen jetzt etwas, damit Sie schlafen.« Der Anästhesist nickte ihr zu. »Ich möchte, daß Sie jetzt zählen, Miß Burke«, forderte er sie auf. »Zählen Sie einfach so schnell oder so langsam Sie wollen.« »Eins … zwei … drei…« Ihre Lippen bewegten sich, während Petrie ihr langsam das Anästhetikum injizierte. »Vier … fünf … sechs…« Mike stand wieder im Waschraum, um die letzten Vorbereitun68
gen zu treffen, als die halblaut und schleppend zählende Stimme sich plötzlich in das scharfe, aggressive Organ verwandelte, das er am Vorabend gehört hatte. Und diese neue Stimme gab laut und deutlich einen Schwall von Flüchen und Obszönitäten von sich, der alle Anwesenden in dem weißgekachelten Operationssaal erstarren ließ. Diese Tirade verblüffte Dr. Petrie so sehr, daß seine Finger sich unwillkürlich um die Injektionsspritze verkrampften. Ein Bolus Natriumpentothallösung gelangte in den Kreislauf der Patientin und wirkte sofort: Die Obszönitäten brachen jäh ab. »Großer Gott!« sagte Petrie erstaunt. »Was war denn das?« »Sie hat reihenweise zweifelhafte Typen interviewt – vor allem Lynne Tallman«, antwortete Mike rasch. »Dein Anästhetikum muß einen Teil dieses Materials in ihrem Unterbewußtsein freigesetzt haben, Hal.« »Ich kenne die Auswirkungen von Natriumpentothal in psychiatrischen Fällen und als sogenanntes ›Wahrheitsserum‹ bei polizeilichen Vernehmungen – so etwas habe ich allerdings noch nie zu hören bekommen!« Die durch das Ereignis unterbrochenen Vorbereitungen zur Operation gingen weiter. Aber während Mike sich die Hände scheuerte, wünschte er sich, Janet Burke wäre bei diesem Ausbruch noch mit dem EEG-Monitor in Verbindung gewesen. Er war davon überzeugt, daß auf dem Bildschirm der gleiche Thetarhythmus in Erscheinung getreten wäre, der ihn bereits am Abend zuvor verblüfft hatte. Mike hatte sein Plastilinmodell mitgebracht; es stand auf einem Tisch, wo er es während der Operation sehen konnte. »Glaubst du wirklich, daß du sie so hinkriegst?« Hal Petrie betrachtete das Modell, während Mike mit Hilfe einer OP-Schwester Handschuhe und Kittel anzog. »Ich hab's ihr jedenfalls versprochen.« »Aber doch hoffentlich nicht schriftlich?« »Jedenfalls vor Zeugen. Bezweifelst du etwa, daß ich das schaffe?« »Da du deiner Sache so sicher bist, schaffst du's vermutlich«, er69
widerte Petrie. »Trotzdem sehe ich eine Gefahr: Deine Patientin kann aufwachen und feststellen, daß ihr dieses schöne Gesicht doch nicht gefällt. Dann kann sie dich wegen arglistiger Täuschung verklagen.« »Sie hat einen Verlobten, der nichts lieber täte als das«, sagte Mike. »Ja, ich weiß«, bestätigte der Anästhesist. »Er hat sie hereinbegleitet, und ihr FBI-Leibwächter sitzt auf der Galerie.« Mike hob den Kopf und erkannte Jim McIvor in der verglasten Box, die aus der Rückwand des Operationssaals vorragte. »Was ist mit ihrem Liebsten?« erkundigte er sich. Hal Petrie lachte. »Hutchinson hat geschwiegen, als ich McIvor erlaubt habe, die Operation zu beobachten. Anscheinend ist sein Magen nicht so gußeisern wie sein Verhalten. Glaubst du, daß Lynne Tallmans ehemalige Komplicen aus Chicago tatsächlich versuchen könnten, Miß Burke umzulegen?« »Das FBI nimmt diese Gefahr so ernst, daß es sie ständig bewacht – sogar hier«, antwortete Mike, während er an den Operationstisch trat. »Selbst wenn alles klappt«, fuhr Petrie fort, »müssen sich bei der Patientin psychologische Reaktionen zeigen. Und wenn ihr Verlobter es darauf anlegt, kann er dich deshalb wegen eines angeblichen Kunstfehlers verklagen.« »Dann bleibt mir gar nichts anderes übrig, als aus ihr die schönste Frau der Welt zu machen, nicht wahr?« spöttelte Mike, während er sich von der OP-Schwester ein Skalpell geben ließ. »Spar dir also deine schadenfrohen Kommentare und paß auf ihre vitalen Funktionen auf!« »Die sind in bester Ordnung«, gab Petrie zurück. »Diese Narkose könnte auch ein Roboter vornehmen.« »Sie dich vor, damit das nicht bekannt wird – sonst wirst du durch einen ersetzt.« Mike holte tief Luft und konzentrierte sich, bevor er Janet Burkes Oberlippe hochhob und den ersten Schnitt führte, der den eingedrückten Oberkiefer freilegte. Gleichzeitig nahm der Krankenhausfotograf auf einem erhöhten Hocker Platz, von dem aus er die 70
Operation mit einem Teleobjektiv aufnehmen konnte. Wie alle übrigen Anwesenden trug auch er Mütze, Gesichtsmaske, Handschuhe und Kittel.
15 eorge Stanfield und Gerald Hutchinson warteten in Janet Burkes Zimmer. »Miß Burke geht es ausgezeichnet«, berichtete Mike. »Sie bleibt im Aufwachraum, bis sie wieder bei Bewußtsein ist – nur eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß sie sich übergeben muß. Dann müssen die Gummibänder, die jetzt ihre Kiefer zusammenhalten, so schnell wie möglich durchschnitten werden.« »Sie hat's also gut überstanden?« fragte Stanfield. »Ja, das steht außer Zweifel. Dr. Sebastian hat die Operation von der Galerie aus beobachtet und in allen Einzelheiten ausdrücklich gebilligt. Er will meine Methode zur Hervorhebung der Wangenbeine sogar in die Neuauflage seines Lehrbuchs aufnehmen.« »Das freut mich für Sie, Mike!« sagte George Stanfield lächelnd. »Den zur Brustplastik erforderlichen Eingriff hat sie ebenfalls glänzend überstanden«, fügte Mike ergänzend hinzu. Gerald Hutchinson hatte bisher schweigend aus dem Fenster gestarrt. Als Mike jedoch die Brustoperation erwähnte, wirbelte er herum. »Was soll das heißen?« fragte er. »Was ist das für eine Operation gewesen?« »Eine Schönheitsoperation zur Vergrößerung der Brust«, erklärte Mike. »Sie wird…« »Danke, ich weiß, was man darunter versteht. Das ist eine gerissene Methode, um aus der weiblichen Eitelkeit Kapital zu schlagen! Wer hat Ihnen die Erlaubnis zu diesem Eingriff gegeben, verdammt
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noch mal?« »Miß Burke hat mich gestern bei der Abendvisite gebeten, den Eingriff im Anschluß an die Gesichtsoperation vorzunehmen«, antwortete Mike ruhig. »Sie wollte nicht nur das Gesicht einer Göttin, sondern auch den Busen der Aphrodite haben.« »Das höre ich zum erstenmal«, warf Stanfield ein. »Wann sind Sie und Mr. Hutchinson gestern bei ihr gewesen?« »Ich bin gegen drei Uhr vorbeigekommen«, antwortete Stanfield. »Und ich bin bis kurz vor vier Uhr bei ihr gesessen«, sagte Hutchinson. »Abends habe ich einen seit langem geplanten Vortrag halten müssen.« »Also muß sie sich die Sache mit der Brustkorrektur offenbar erst später überlegt haben.« Mike runzelte die Stirn. »Sie hat die Einverständniserklärung nach meiner Visite um fünf Uhr unterzeichnet. Das beweist, daß sie genau gewußt hat, was sie wollte. Außerdem ist der Eingriff vergleichsweise harmlos – viele Kollegen führen ihn heutzutage als ambulante Behandlung durch. Die Patientin hatte die Gesichtsoperation gut überstanden, deshalb habe ich diesen zweiten Eingriff gleich anschließend vorgenommen. Tut mir leid, daß Sie nicht darüber informiert gewesen sind.« »Janet hat zwar manchmal im Scherz über ihren zu kleinen Busen gesprochen«, sagte Stanfield. »Aber ich habe nie geahnt, daß sie offenbar doch darunter gelitten hat. Wahrscheinlich ist ihr in letzter Minute eingefallen, daß Sie das ebenfalls korrigieren können müßten.« »Bist du wirklich so naiv, George?« erkundigte Gerald Hutchinson sich sarkastisch. »Wahrscheinlich hat der gute Doktor ihre zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit ausgenützt, um ihr eine weitere teure Operation aufzuschwatzen, die ihm ein hohes Honorar einbringt.« Er wandte sich an Mike. »Wollen Sie etwa noch immer behaupten, sie sei trotz ihrer Gehirnerschütterung bei klarem Verstand gewesen?« »Sie ist aufgeregt und irgendwie verändert gewesen«, gab Mike ehrlicherweise zu. »Selbst ihre Stimme hat wie die einer anderen Frau 72
geklungen, als sie mich gebeten hat, die Brustoperation durchzuführen.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Stanfield. »Wieso hat ihre Stimme anders geklungen?« »Sie hat mit veränderter Stimme gesprochen – sonst nichts«, antwortete Mike schulterzuckend. »Ich habe zuerst geglaubt, sie sei vielleicht nur aufgeregt. Aber im Zusammenhang mit Ihrer Nichte sind noch weitere merkwürdige Dinge passiert.« Er schilderte Stanfield die seltsamen EEG-Wellen, die ihn dazu bewogen hatten, Dr. Randall McCarthy zu konsultieren. »McCarthy?« Gerald Hutchinson runzelte die Stirn. »Ist er nicht in irgendeinen Skandal verwickelt gewesen, kurz nachdem er seine Lehrtätigkeit an der hiesigen Universität aufgenommen hatte?« »Davon weiß ich nichts«, wehrte Mike ab. »Ich habe damals in New York gearbeitet.« »Ich kann ja mal im Archiv nachsehen«, sagte George Stanfield, »falls dir dieser McCarthy so wichtig ist, Gerald.« Mike fiel etwas ein. »Haben Sie nicht gesagt, daß das FBI Ihnen Kopien der Tonbänder aus Miß Burkes Aktenkoffer übergeben hat? Mitschnitte ihrer Interviews mit Lynne Tallman?« »Ich besitze die Originale«, erklärte Stanfield. »Das FBI hat sich Kopien angefertigt.« »Könnte ich mir die Aufnahmen anhören?« »Natürlich.« Stanfield warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Wollen Sie gegen fünf Uhr zu mir in die Redaktion kommen? Bis dahin müßte ich auch die Unterlagen über Dr. McCarthy gefunden haben.« »Damit wirst du unseren Doktor kaum beeindrucken können, George«, wandte sich Hutchinson an ihn. »Seit wann hackt eine Krähe der anderen ein Auge aus? Kein Wunder, daß er seinen Kollegen dazu gebracht hat, Janet für zurechnungsfähig zu erklären, obwohl sie das eindeutig nicht gewesen ist.« Mike ignorierte diesen Angriff – sonst hätte er ihn mit einem Kinnhaken beantworten müssen. 73
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ir können uns die Aufnahmen in unserem Audiolabor anhören«, schlug George Stanfield vor, als Mike nachmittags bei ihm in der Redaktion saß. »Inzwischen habe ich das Material über Dr. McCarthy heraussuchen lassen. Es wird Sie vielleicht interessieren.« Gerald Hutchinson war ebenfalls anwesend, bemühte sich jedoch, Mike zu ignorieren. Die Zeitungsausschnitte über McCarthy behandelten einige aufsehenerregende parapsychologische Experimente, die er vor etwa einem Jahr durchgeführt hatte; Mike erinnerte sich daran, wie beeindruckt Dr. Sebastian von den Fähigkeiten des Psychiaters auf diesem Gebiet gewesen war. Er hatte eben erst zu Ende gelesen, als das Telefon auf Stanfields Schreibtisch klingelte. Der Chefredakteur meldete sich. »Das Audiolabor ist jetzt frei, Mike«, sagte er. »Ausgezeichnet! Ich muß nämlich noch zur Abendvisite ins Krankenhaus.« Sie nahmen in den bequemen Sesseln des kleinen Audiolabors Platz. »Okay, Sie können anfangen«, forderte Stanfield den Tontechniker auf. Nach einem Klicken drang Janet Burkes Stimme aus den Lautsprechern. »Band Nummer drei, Interview Lynne Tallman. Erzählen Sie mir jetzt, wie Sie mit den Bombenlegern und Brandstiftern zusammengekommen sind, Lynne?« Die Antwort bestand aus ordinären Verwünschungen, die Mike zusammenfahren ließen. Er erkannte diese leicht heisere Stimme sofort wieder, weil er sie erst am vorigen Abend in Janet Burkes Krankenzimmer gehört hatte, als sie die Brustoperation verlangte – und zum zweitenmal an diesem Morgen vor dem Eingriff… »Irgendwas nicht in Ordnung, Doktor?« wollte Stanfield wissen. »Nein, wie kommen Sie darauf?« »Sie machen ein Gesicht, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.« »Gehört – nicht gesehen.« Mike hatte sich rasch wieder gefangen. 74
»Ich habe Lynne Tallman nur ein einziges Mal gesehen – und da hat sie vor mir gelegen. Deshalb ist es jetzt ein gewisser Schock für mich gewesen, ihre Stimme zu hören.« Er erzählte weder Stanfield noch Hutchinson – der ihn mißtrauisch beobachtete –, daß er diese Stimme innerhalb von vierundzwanzig Stunden zweimal aus Janet Burkes Mund gehört hatte. Und er verschwieg ihnen erst recht, daß er sie schon früher einmal gehört hatte: aus dem Lautsprecher seines Flugempfängers kurz vor der Katastrophe. Damals hatte Lynne Tallman noch selbst um Hilfe gerufen – und der ›Meister‹, den sie angefleht hatte, konnte nur Satan, der Herr alles Bösen, gewesen sein. Das ließ nur eine Schlußfolgerung zu, der Mike bisher ausgewichen war, obwohl sie sich ihm bereits beim Anblick der seltsamen Thetawellen auf dem EEG-Monitor aufgedrängt hatte. Obwohl Lynne Tallman im Leichenhaus lag, war der böse Geist – oder sollte man besser ›Dämon‹ dazu sagen –, der sie dazu getrieben hatte, Verbrechen zu planen und auszuführen, denen schon über fünfzig Menschen zum Opfer gefallen waren, weiterhin lebendig. Durch einen wahrhaft teuflischen Trick hatte Lynne Tallmans Dämon sich irgendwie – zweifellos in dem Augenblick ihres Todes – Janet Burkes Körper bemächtigt. Noch schlimmer war jedoch die Tatsache, daß dieses Wesen, das erst am gleichen Morgen durch Mike Kerns in eine der schönsten Frauen der Welt verwandelt worden war, nun möglicherweise die größten Verbrechen verüben konnte. Und niemand würde ihm, Mike, glauben, was für ihn jetzt als unwiderlegbare Wahrheit feststand.
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n der Eingangshalle des Zeitungshauses schlug Mike eine Telefonnummer nach, bevor er eine der Kabinen betrat, den Hörer abnahm und wählte. »Büro Dr. McCarthy«, sagte eine Männerstimme. »Wer ist bitte am Apparat?« »Hier ist Randall McCarthy. Sind Sie's, Dr. Kerns? Ich habe eben an Sie gedacht.« »Danke, gleichfalls. Sind Sie in der nächsten halben Stunde noch in Ihrem Büro?« »Natürlich. Ich korrigiere gerade Klausurarbeiten, die sich während meiner Abwesenheit angehäuft haben. Sie finden mich in Gebäude dreizehn D, Zimmer dreihundertvier der Medical School. Wie lange brauchen Sie hierher?« »Ungefähr eine Viertelstunde. Ich bin noch in der Redaktion der ›Star-News‹ – habe gerade mit George Stanfield über seine Nichte gesprochen.« »Der geht's doch weiterhin gut?« fragte McCarthy besorgt. »Als ich nach dem Mittagessen bei ihr gewesen bin, ist sie bereits aufgewacht.« »Dann haben Sie sie später als ich gesehen. Also bis gleich.« Mike brauchte doch etwas länger, um sich im Labyrinth der Medical School zurechtzufinden. Aber zwanzig Minuten später stand er vor dem gesuchten Zimmer und klopfte an. Als er die Tür öffnete, sah er zu seiner Verblüffung hinter McCarthys Schreibtisch einen echten Schrumpfkopf hängen, dessen Augen ihm blicklos entgegenstarrten. »Ah, kommen Sie bitte herein, Dr. Kerns.« McCarthy stand auf und streckte Mike die Hand hin. »Lassen Sie sich nicht von meinen Reiseandenken irritieren. Ich habe ein Jahr lang bei den Jivaro-Indianern im Quellgebiet des Amazonas gelebt. Sie sind Kannibalen, aber sie präparieren die Köpfe ihrer gefallenen Gegner als 76
Beweis für ihre eigene Tapferkeit.« »Im ersten Augenblick ist er ein bißchen unheimlich«, gab Mike zu. »Das übrige Zeug habe ich aus Afrika, Polynesien und Haiti mitgebracht«, sagte der Psychiater mit einer Handbewegung auf eine bizarre Ansammlung von kleinen Kunstgegenständen, Masken, Waffen und anderen Souvenirs. »Ist das eine Voodoo-Puppe?« fragte Mike und zeigte auf eine kleine Puppe, die mit mehreren Nadeln im Unterleib auf McCarthys Schreibtisch lag. »Eine gebrauchte Voodoo-Puppe«, betonte der andere. »Ich habe sie einem Hexendoktor abgekauft, nachdem sie ihren Zweck erfüllt und dem Feind seines Klienten den Tod gebracht hatte. Übrigens ein seltsamer Fall: Die Leiche war äußerlich unverletzt, aber der Darm war an einem Dutzend Stellen durchlöchert, was zu einer tödlichen Bauchfellentzündung geführt hatte. Ich habe die Autopsie damals selbst verfolgt.« »Sie glauben doch nicht etwa an diesen Voodoo-Zauber?« erkundigte sich Mike. »Nein, aber mir ist aufgefallen, daß der Hexendoktor jeweils dafür sorgt, daß das potentielle Opfer erfährt, zu welchem Zauber er in seinem Fall gegriffen hat – daß er beispielsweise eine Puppe angefertigt und sie mit Nadeln durchbohrt hat. Sobald der auf diese Weise zum Tode verurteilte Mensch davon erfährt, ist eine Darmperforation eigentlich nicht unwahrscheinlicher als ein durch Angst und Sorge entstandenes Magengeschwür, das schließlich durchbricht.« »Ganz recht«, stimmte Mike zu. »Etwas schwieriger zu klären ist natürlich die Tatsache, daß der Darm des Opfers in diesem Fall, in dem sechs Nadeln in der Puppe stecken, an genau zwölf Stellen durchlöchert gewesen ist.« Der Psychiater zuckte mit den Schultern. »Aber solche Dinge brauchen Sie nicht zu stören, Dr. Kerns. Schließlich gelten die Chirurgen als die größten Pragmatiker unter den Medizinern. Was haben Sie also heute nachmittag auf dem Herzen?« 77
Mike schilderte ihm sein Gespräch mit George Stanfield und zählte die seltsamen Ereignisse auf, die er in letzter Zeit im Zusammenhang mit Janet Burke registriert hatte. Der Psychiater hörte aufmerksam zu und nickte zwischendurch mehrmals. Mit seinem Spitzbart erinnerte er Mike dabei an einen klugen, boshaften alten Ziegenbock. »Dafür gibt es eine einfache Erklärung, Dr. Kerns«, behauptete er. »Für Sie ist sie vielleicht einfach – für mich jedenfalls nicht. Jede Antwort, die mir einfällt, erweist sich als logisch unmöglich. Im Augenblick wäre ich fast bereit, jede Wette darauf einzugehen, daß Lynne Tallmans Dämon von Janet Burkes Körper Besitz ergriffen hat.« »Nein, das ist zu abwegig!« protestierte McCarthy. »Dämonen und böse Geister existieren nur für Strenggläubige – oder in der Phantasie gerissener Autoren, die damit die Auflagen ihrer Bücher in die Höhe treiben wollen. Statt dessen müssen Sie sich Ihre Patientin als eine Frau mit multipler Persönlichkeit vorstellen. Diese Erscheinung kennen wir Psychiater aus Fällen, in denen eine Schizophrenie vorliegt – aber sie ist auch sonst weiter verbreitet, als man annehmen würde.« »Soll das heißen, daß Sie wirklich nicht an Dämonen glauben?« »Wozu wollen sie sich an Phantasiegestalten klammern, wenn es mehr als genug verbrecherische Naturen gibt? Lynne Tallman ist ein erstklassiges Beispiel dafür gewesen.« »Aber wie erklären Sie sich die Veränderung in Janet Burkes Stimme, durch die sie wie Lynne Tallmans geklungen hat?« »Wenn eine zweite – oder dritte – Persönlichkeit zum erstenmal auftritt, benützt sie fast regelmäßig eine andere Stimme und verhält sich auch anders. Falls der Patient oder die Patientin folglich jemanden imitiert, kann der Effekt verblüffend sein, wie Sie gestern abend gemerkt haben.« »Bloß weshalb gerade Lynne Tallman?« »Ich vermute, daß Miß Burke sie insgeheim beneidet hat, so daß sie…« »Etwa wegen ihrer verbrecherischen Anlagen?« 78
»Nein, wahrscheinlich nicht deswegen. Als ich mit Ihrer Patientin gesprochen habe, ist mir aufgefallen, daß sie mit gewissem Neid von der schönen Lynne Tallman erzählt hat, die anscheinend oft damit prahlte, sie könne jeden Mann haben, den sie wolle. Janet Burke ist keine Schönheit gewesen, obwohl sie inzwischen zu einer geworden sein dürfte, wenn man Ihr Modell betrachtet, das ich in ihrem Zimmer gesehen habe. Als der Unfallschock bewirkt hat, daß ihre zweite Persönlichkeit zum Ausbruch gekommen ist, hat diese Persönlichkeit sich verständlicherweise im Unterbewußtsein zum Teil an der schönen Lynne Tallman orientiert.« Das war eine originelle und nach Mikes Auffassung auch logische Erklärung für Janet Burkes merkwürdiges Verhalten – aber er fragte sich trotzdem, warum er sie nicht ebenso gelassen akzeptieren konnte wie der weltmännische Psychiater. »Wie lange kann dieser Zustand anhalten?« »Wahrscheinlich nicht allzu lange«, antwortete McCarthy beruhigend. »Wenn keine Komplikationen auftreten, dürfte sie eine außergewöhnlich schöne junge Frau werden, sogar noch schöner als Lynne Tallman. Die Männer werden ihr rudelweise nachlaufen, und ich überlege selbst, ob ich's nicht auch versuchen sollte.« Er warf Mike einen prüfenden Blick zu. »Oder wollen Sie den Pygmalion spielen und Ihre Schöpfung für sich behalten?« »Bestimmt nicht!« versicherte Mike. »Als ich mich auf mein Fachgebiet spezialisiert habe, ist mir klar gewesen, daß ich hauptsächlich Patientinnen operieren würde, die schöner werden wollen, um auf Männer attraktiv zu wirken. Deshalb habe ich von Anfang auf eine strikte Trennung zwischen Beruf und Privatleben geachtet.« »Das kann man von vielen Ihrer Kollegen nicht gerade behaupten«, stellte der Psychiater fest. »Ich kenne einige, gegen die Casanova der reinste Anfänger ist.« »Übernehmen Sie die Behandlung von Miß Burkes Persönlichkeitsstörung – falls es sich wirklich nicht um mehr handelt?« »Natürlich. Wenn Sie mich als Patienten haben wollen, werde ich sogar eine Zeitlang im Krankenhaus sein. Dann könnte ich prak79
tisch jeden Tag mit ihr sprechen.« »Was soll ich für Sie tun?« fragte Mike. »Die Semesterferien beginnen morgen, und ich spiele mit dem Gedanken, meine Gesichtshaut straffen zu lassen. Überrascht Sie das?« »Durchaus nicht! Das tun heutzutage viele Männer. Die meisten sind jedoch älter, als Sie zu sein scheinen.« »Ich bin siebenundvierzig«, antwortete der Psychiater lächelnd, »und man sieht meinem Gesicht an, daß ich in diesen fünf Jahrzehnten einiges mitgemacht habe, obwohl ich ansonsten durchaus fit geblieben bin. Könnten Sie mich operieren, damit ich etwas jünger wirke?« Mike schaltete die Schreibtischlampe ein, richtete sie auf McCarthys Gesicht und studierte es schweigend. »Sieht schlimm aus, was?« fragte der Psychiater resigniert. »Ich habe schon schlimmere gesehen«, versicherte Mike. »Warum tragen Sie diesen Bart?« »Um ein etwas fliehendes Kinn zu verbergen, falls Sie's genau wissen wollen.« »Das habe ich mir gedacht.« Mike schaltete die Lampe aus. »Wollen Sie ihn unbedingt behalten?« »Nicht mehr als die Tränensäcke unter meinen Augen, die Hängebacken und das fliehende Kinn.« »Gut, dann schlage ich Ihnen vor, daß wir die Fettpolster unter den Augen entfernen, die Gesichtshaut straffen, die Nase verkleinern und einen Teil des Nasenbeins dazu verwenden, das Kinn nach vorn zu bringen.« »Ist das alles mit einer einzigen Operation zu schaffen?« »Ohne weiteres«, antwortete Mike. »Indem ich das Nasenbein abtrage, komme ich am leichtesten zu Knochenmaterial für Ihr Kinn. Ob es jedoch genügt, läßt sich erst feststellen, wenn Sie Ihren Bart abrasiert haben. Notfalls kann ich einen Splitter von Ihrem Hüftknochen oder sogar Knorpelstücke von Ihren falschen Rippen verwenden.« »Gut, ich möchte, daß Sie mich operieren«, entschied McCarthy. »Die Sache mit der Nase muß ich mir allerdings noch überlegen. 80
Ich habe mich schon so an sie gewöhnt – ebenso wie Cyrano de Bergerac damals im siebzehnten Jahrhundert an die seine.« »Meinetwegen können Sie Ihre Nase behalten«, sagte Mike. »Für die Transplantation genügt mir Material von Ihrem Hüftknochen.« »Wann können Sie mich operieren?« »Sobald Sie Zeit haben. Ich habe noch keine allzu große Warteliste für kosmetische Operationen.« »Vielleicht am Montagmorgen?« »Ich erkundige mich, ob ein Zimmer für Sie frei ist und ein Operationssaal zur Verfügung steht, wenn ich jetzt zu Janet Burke fahre«, versprach Mike. »Aber interessiert es Sie denn gar nicht, was der Spaß kosten wird?« »Irgendwo in der Bibel steht, daß der Arbeiter seinen Lohn wert ist. Dieses Detail überlasse ich ganz Ihnen.« »Für eine größere Operation dieser Art würde ich normalerweise fünftausend Dollar berechnen«, stellte Mike fest. »Aber mit einem Kollegenrabatt läßt sich das Honorar auf viertausend drücken.« »Einverstanden!« stimmte der Psychiater zu. »Okay, dann richten Sie sich bitte darauf ein, spätestens am Samstagnachmittag ins Krankenhaus zu kommen«, forderte Mike ihn auf. »Ich bin übers Wochenende ohnehin in der Stadt und möchte am Sonntagmorgen ein paar Fotos von Ihnen machen, damit ich weiß, wie Sie ohne Bart aussehen.« »Mir graut vor dem Gedanken daran«, meinte McCarthy scherzhaft. »Bis Sonntag, Doktor!«
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anet Burke war wach, als Mike am nächsten Morgen in ihr Zimmer im University Hospital kam. Ihr Krankenblatt zeigte, daß sie 81
nachts nur eine schmerzstillende Spritze gebraucht hatte. »Sie sehen wunderbar aus«, behauptete er. »Lügner!« widersprach sie. »Mit dieser Gesichtsmaske ähnele ich dem Mann mit der eisernen Maske – obwohl sie aus Plastikmaterial ist. Wie lange muß ich dieses gräßliche Ding noch tragen?« »Ungefähr zwei Wochen, bis die Knochenbrüche zu heilen beginnen.« »Hat alles wie geplant geklappt?« »Vollkommen. Ich nehme jetzt die Kanüle aus Ihrer Luftröhre.« »Als ich heute morgen gesehen habe, daß das Modell verschwunden war, habe ich gefürchtet, Sie hätten es mitgenommen, um mich nicht merken zu lassen, daß ich in Wirklichkeit doch nicht so schön geworden bin«, gestand Janet, während er den Luftröhrenschnitt mit einem Pflaster verschloß. »Ich habe das Modell heute morgen schon bei einer Metallgießerei abgeliefert, um es in Bronze gießen zu lassen.« »Sind Sie sich Ihres Erfolges immer so sicher?« »Ich habe Ihnen versprochen, Sie so schön zu machen, wie Sie wollten. Irgendwelche Klagen?« »Nur eine, Doktor. Warum habe ich eine Elastikbinde um die Brust? Ich spüre, wie sie sich dehnt, wenn ich tief einatme, und habe manchmal Schmerzen unter den Armen.« »Sie soll die Ansammlung von Serum oder Blut um die Prothesen herum verhindern, damit…« »Welche Prothesen?« unterbrach sie ihn. »Die Kissen aus Silikon-Gel, die ich unter Ihre Brüste eingepflanzt habe.« »Ja, ich weiß – sie dienen bei Schönheitsoperationen zur Vergrößerung der Brust. Soll das heißen, daß Sie diesen Eingriff bei mir vorgenommen haben?« »Da Sie nach der Gesichtsoperation noch in ausgezeichneter Verfassung gewesen sind, habe ich die Brustkorrektur ebenfalls vorgenommen – genau Ihren Wünschen entsprechend.« »Ich kann mich nicht daran erinnern, Sie um eine Brustkorrek82
tur gebeten zu haben, Doktor«, sagte sie hörbar verärgert. »Als ich am Abend vor der Operation Ihr Zimmer verlassen wollte, haben Sie mich zurückgerufen und mich aufgefordert, Ihnen zum Gesicht einer Göttin auch den Busen der Aphrodite zu geben. Außerdem haben Sie die Einverständniserklärung für diese Operation unterschrieben.« »Die möchte ich sehen!« Das klang etwas weniger empört – oder täuschte er sich nur? »Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern.« Mike klingelte wortlos. Als die Stationsschwester sich über die Sprechanlage meldete, bat er sie: »Bringen Sie mir Miß Burkes Einverständniserklärungen – alle beide?« »Sofort, Dr. Kerns.« Eine Minute später klopfte die Schwester an und reichte Mike ein Schreibbrett mit den beiden Vordrucken herein. Er gab sie an Janet Burke weiter, die sie aufmerksam studierte. »Sind das Ihre Unterschriften auf den beiden Einverständniserklärungen?« wollte er dann wissen. »Sie sehen wie meine aus, aber ich kann mich noch immer nicht daran erinnern, Sie um eine Brustoperation gebeten zu haben.« Sie gab das Schreibbrett der Schwester, die damit den Raum verließ. »Und ich weiß auch nichts davon, daß ich diesen Vordruck unterschrieben haben soll.« »Sie werden noch froh sein, wenn Sie Ihren neuen Busen sehen, um den selbst Aphrodite Sie beneiden könnte!« Mike lächelte sie an. Janet zuckte mit den Schultern – und stieß einen leisen Schmerzensschrei aus. »Wahrscheinlich darf ich froh sein, daß ich überhaupt noch lebe, auch wenn ich Babynahrung essen muß, weil meine Kiefer von Gummibändern zusammengehalten werden. Vielleicht verliere ich dabei ein paar Pfund Übergewicht, die ich schon immer loswerden wollte.« »Am Montag operiere ich übrigens einen alten Bekannten«, sagte er. »Dr. McCarthy hat sich zu einer Gesichtsoperation entschlossen.« 83
»Sein Gesicht läßt sich jedenfalls nur verbessern«, meinte Janet Burke. Sie machte eine nachdenkliche Pause. »Glauben Sie, daß ich Ihnen Glück bringen werde, Dr. Kerns?« »Natürlich! Wenn andere Frauen sehen, wie schön Sie sind, werden sie mir die Praxis einrennen…«
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achmittags rief Stanfield an; die Stimme des Chefredakteurs klang besorgt. »Können Sie um fünf Uhr zu einer Besprechung mit Gerald und mir in mein Büro kommen, Mike?« erkundigte er sich. »Ja, das läßt sich machen. Was gibt's denn?« »Es handelt sich um Janet, aber ich möchte lieber nicht am Telefon darüber sprechen.« »Gut, ich bin um fünf bei Ihnen«, entschied Mike. »Vielleicht ein paar Minuten später, wenn ich in der Praxis aufgehalten werde.« Mike legte auf, starrte das Telefon nachdenklich an und fragte sich, warum Stanfield so besorgt war, obwohl es seiner Nichte ausgezeichnet ging. Er hatte damit gerechnet, daß Gerald Hutchinson Schwierigkeiten machen würde, aber daß Stanfield sich quer legte… Mike griff erneut nach dem Hörer, rief das University Hospital an und ließ sich mit der Station verbinden, auf der Janet lag. Ellen Strabo meldete sich. »Hier ist Mike«, sagte er. »Hat Miß Burke heute Besuch gehabt?« »Nur von ihrem Onkel, Mr. Stanfield, und ihrem Verlobten. Du hast gesagt, daß diese beiden sie jederzeit besuchen dürfen, aber ich habe mir trotzdem überlegt, ob ich dich anrufen sollte.« »Warum?« »Nachdem Mr. Stanfield mit seiner Nichte gesprochen hatte, ist er herausgekommen und hat mich gebeten, ihm die Einverständ84
niserklärungen zu fotokopieren. Ich habe ihm diesen Gefallen getan, weil er mir erklärt hat, er brauche die Kopien für Miß Burke. Als ihr nächster Verwandter…« »Wie hat die Patientin reagiert, als sie die Fotokopien gesehen hat?« unterbrach Mike sie. »Sie ist danach ziemlich aufgeregt gewesen«, berichtete Ellen Strabo. »Nachdem die beiden gegangen waren, hat sie um die PRN-Spritze gebeten, die du ihr verschrieben hattest. Ich habe sie ihr gegeben, und sie hat danach den ganzen Nachmittag lang geschlafen.« Als Mike das Büro des Chefredakteurs betrat, war er nicht überrascht, dort Gerald Hutchinson anzutreffen. Aber die Gegenwart eines kleinen rundlichen Mannes, der eine dicke Brille trug, verblüffte ihn. »Professor Leibowitz – Dr. Michael Kerns«, sagte Stanfield. Aus seiner Stimme und seiner ganzen Art sprach jetzt eine gewisse Feindseligkeit, die Mike sich nicht erklären konnte. Im Gegensatz zu ihm ließ Gerald Hutchinson lediglich hämische Vorfreude erkennen – wie ein Römer, der einen Gladiator mit nach unten gehaltenem Daumen zum Tode verurteilt hat, ging es Mike durch den Kopf. »Professor Leibowitz und ich kennen uns, seitdem wir einmal bei einem Prozeß gemeinsam als Sachverständige ausgesagt haben«, stellte Mike fest und schüttelte dem Graphologen die Hand. »Bevor wir weitermachen, muß ich noch etwas gestehen«, eröffnete Stanfield. »Die Sache mit den Fotokopien der Einverständniserklärungen?« »Ja. Woher wissen Sie das?« »Nachdem Sie bei mir angerufen hatten, habe ich mich im Krankenhaus nach Miß Burkes Zustand erkundigt. Miß Strabo, die Stationsschwester, hat mir erzählt, daß Sie sich die Erklärungen haben fotokopieren lassen.« »Ich hätte Sie fairerweise vorher verständigen müssen«, gab George Stanfield zu. »Als wir am frühen Nachmittag bei Janet gewesen sind, hat ihr Krankenblatt am Bett gehangen, und Gerald hat die einzelnen 85
Formulare durchgeblättert.« »Mir ist aufgefallen, daß die Unterschriften auf den Einverständniserklärungen nicht identisch waren«, fuhr Hutchinson fort. »Eine der Erklärungen war offensichtlich eine Fälschung. Deshalb habe ich darauf bestanden, daß George sie sich fotokopieren ließ, um sie einem Graphologen vorlegen zu können.« »Ich habe natürlich an Professor Leibowitz gedacht«, fügte Stanfield hinzu. »Wie Sie vielleicht wissen, ist er sogar vom Obersten Bundesgericht als Handschriftenexperte anerkannt.« »Mich interessiert, was er von dieser Sache hält«, antwortete Mike ruhig. »Aber selbst wenn er Unterschiede festgestellt haben sollte, kann ich Ihnen versichern, daß beide Vordrucke von Miß Burke unterschrieben worden sind.« Gerald Hutchinson schnaubte verächtlich, ohne sich weiter dazu zu äußern. »Bitte sehr, Professor«, forderte Stanfield ihn auf. Leibowitz legte drei Fotokopien auf Stanfields Schreibtisch nebeneinander und holte aus einer Tasche seiner ausgebeulten Tweedjacke ein riesiges Vergrößerungsglas. »Ich habe die Beweisstücke mit A, B und C bezeichnet«, begann er in einem Tonfall, der Mike an eine Sachverständigenaussage vor Gericht erinnerte. »Beweisstück A ist ein Brief, den Miß Janet Burke vor zwei Wochen an Mr. Stanfield geschrieben hat. Beweisstück B ist ein Krankenhausvordruck, eine ›Einverständniserklärung‹, die offenbar von Miß Burke unterzeichnet worden ist. Ihre Unterschrift ist von Oberschwester Amanda Sheftal beglaubigt worden.« »Ein im Krankenhaus bei solchen Unterschriften allgemein übliches Verfahren«, warf Mike ein. »Diese Einverständniserklärung gibt Dr. Kerns das Recht, den bei Miß Burke notwendigen chirurgischen Eingriff vorzunehmen, und scheint von ihr unterzeichnet zu sein, da die Unterschrift mit der auf dem Brief an Mr. Stanfield identisch ist.« »Soll das etwa heißen, daß der zweite Vordruck nicht von ihr unterschrieben worden ist?« fragte Mike ganz verblüfft. 86
»Ganz recht, wie Professor Leibowitz zu bestätigen bereit ist!« antwortete Gerald Hutchinson triumphierend. »Bitte, Gentlemen«, sagte der Graphologe beschwichtigend. »Lassen Sie mich die Analyse zu Ende führen, dann können wir gemeinsam darüber sprechen, was das alles zu bedeuten hat.« »Entschuldigung, Professor«, murmelte Mike verlegen. »Bitte weiter.« »Beweisstück C ist ein ähnlicher Vordruck, der den Anschein erweckt, Dr. Kerns die Vornahme eines Eingriffs zur Brustvergrößerung der Patientin zu gestatten.« »Und den sie am gleichen Nachmittag unterschrieben hat!« stellte Mike fest. »Der mit ihrem Namen unterschrieben worden ist«, sagte Leibowitz ebenso energisch. »Aber diese Unterschrift stammt nicht von der gleichen Person, die den Brief an Mr. Stanfield – Beweisstück A – und die erste Einverständniserklärung – Beweisstück B – unterzeichnet hat.« »Aber das ist doch unmöglich!« rief Mike aus. »Völlig ausgeschlossen!« »Sie übersehen eine reale Möglichkeit, Doktor«, warf Gerald Hutchinson ein. »Fälschung.« »Das ist gelogen!« protestierte Mike empört. »Seien Sie mit solchen Äußerungen vorsichtig, sonst sehen wir uns vor Gericht wieder!« »Damit rechnen wir ohnehin«, antwortete Hutchinson gelassen. »Bitte, Gentlemen!« sagte George Stanfield. »Von einer gerichtlichen Auseinandersetzung kann vorläufig noch gar keine Rede sein. Als Janets nächstem Verwandten geht es mir in erster Linie um die Wahrheit. Bitte weiter, Professor.« »Die zweite Unterschrift ist von einer anderen Zeugin beglaubigt worden«, fuhr der Graphologe fort. »Der Name ist schwer zu lesen, aber ich glaube, daß er Strabo, Ellen Strabo, heißen soll.« »Miß Ellen Strabo ist die Stationsschwester, die zu diesem Zeitpunkt Dienst gehabt hat«, erklärte Mike den anderen. »Miß Bur87
ke hat den Wunsch nach einer Brustkorrektur am Nachmittag vor der Operation geäußert, als ich nach der Abendvisite ihr Zimmer verlassen wollte. Ich habe Miß Strabo gebeten, den Vordruck auszufüllen und die Unterschrift der Patientin zu beglaubigen, was sie auch getan hat. Soweit entspricht alles der im University Hospital üblichen Routine – aber wie kommen Sie darauf, Miß Burkes Unterschrift auf dem zweiten Formular könnte gefälscht sein?« »Das Beweismaterial läßt keinen anderen Schluß zu«, antwortete Professor Leibowitz. »Wer für Miß Burke unterschrieben hat, ist bemüht gewesen, ihre Unterschrift zu imitieren. Die kalligraphischen Unterschiede zwischen den beiden ersten und der letzten Unterschrift sind jedoch eindeutig.« »Warum fragen Sie nicht Miß Burke selbst?« erkundigte Mike sich. »Das ist bereits geschehen«, antwortete Gerald Hutchinson. »Ich habe ihr den zweiten Vordruck gezeigt, und sie kann sich nicht daran erinnern, ihn jemals unterschrieben zu haben.« Mike wußte im ersten Augenblick keine Erklärung für diese verblüffende Tatsache. »Als ich ihr heute morgen von der vorgenommenen Brustkorrektur erzählt habe, ist sie natürlich überrascht gewesen«, meinte er nachdenklich. »Aber sie hat sich nicht sonderlich aufgeregt.« »Ganz im Gegensatz zu später«, stellte Hutchinson fest. »Jedenfalls hat sie mit ihrer ersten Unterschrift alle notwendigen Eingriffe genehmigt«, sagte Mike. »Das genügt mir.« »Ich weiß nicht, ob Sie mit dieser Argumentation in bezug auf den zweiten Eingriff vor Gericht durchkommen würden«, widersprach Professor Leibowitz. »Warum nicht?« »Ist die Brustoperation wirklich notwendig gewesen?« »Kosmetisch jedenfalls.« »Auch im Zusammenhang mit der operativen Beseitigung der Unfallfolgen, die Miß Burke erlitten hatte?« »Nein. Ich habe die Brustkorrektur nur vorgenommen, weil Miß Burke sie verlangt hat.« Mike hob abwehrend die Hand. »Augen88
blick, das läßt sich gleich feststellen! Ich brauche nur Miß Strabo im Krankenhaus anzurufen.« Er griff nach dem Hörer des Telefons auf George Stanfields Schreibtisch. »Darf ich?« »Selbstverständlich.« »Schalten Sie bitte den Tischlautsprecher ein. Ich möchte, daß Sie alle mithören können.« Mike wählte die Nummer des University Hospitals und ließ sich mit dem Stationszimmer von Janet Burkes Station verbinden. »Miß Strabo, hier ist Dr. Kerns«, sagte er, als Ellen sich meldete. »Erzählen Sie mir bitte ganz genau, was passiert ist, als Sie am Nachmittag vor der Operation bei Miß Burke gewesen sind, um die zweite Einverständniserklärung unterschreiben zu lassen.« »Ich habe die Art der Operation und den Namen der Patientin eingesetzt, wie wir's immer machen, und ich bin mit dem Vordruck in ihr Zimmer gegangen«, berichtete die Krankenschwester. »Hat Miß Burke bei der Unterschrift gezögert?« »Nein, Doktor. Aber sie ist sichtlich aufgeregt gewesen. Sie hat vor sich hin gelacht, und ihre Augen haben seltsam geleuchtet, als sie nach dem Formular gegriffen hat. Das war ein ganz eigenartiges Leuchten.« »In welcher Beziehung eigenartig?« »Na ja, man könnte es fast … teuflisch nennen.« Mike fuhr zusammen. »Haben Sie eben ›teuflisch‹ gesagt?« erkundigte er sich. »Ganz recht. Irgendwie aufgeregt, als sei sie dabei, jemandem einen Streich zu spielen. Auch ihre Stimme hat anders geklungen – leicht heiser. Und ihre Hand hat etwas gezittert während des Unterschreibens.« »Aber sie hat die Unterschrift bereitwillig geleistet?« »Ja, durchaus. Sie hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Text genau zu lesen. ›Schwester, jetzt kriege ich die schönsten Titten der Welt‹, hat sie mir lachend erklärt, als ich ihre Unterschrift beglaubigt habe.« »Unsinn!« knurrte Gerald Hutchinson. »So was hätte Janet nie ge89
sagt!« »Ist das alles gewesen, Miß Strabo?« »Nein, sie hat sich noch von mir versprechen lassen, daß ich weder ihrem Onkel noch ihrem Verlobten von der geplanten Brustoperation erzählen dürfte, falls die beiden abends vorbeikämen.« »Haben Sie sie nach dem Grund dafür gefragt?« »Nein. Miß Burke war für ihre Größe ziemlich kleinbusig – deshalb habe ich angenommen, der neue Busen sollte eine Art Hochzeitsgeschenk sein.« Gerald Hutchinson war rot angelaufen. »Hier ist Mr. Hutchinson«, sagte er ins Telefon. »Wissen Sie bestimmt, daß Sie nicht von Dr. Kerns aufgefordert worden sind, über die geplante Operation zu schweigen?« »Nein, bestimmt nicht«, antwortete Ellen Strabo, ohne zu zögern. »Dr. Kerns war bereits gegangen. Aber mir ist etwas anderes aufgefallen. Die Patientin ist noch mit dem EEG verbunden gewesen, und Dr. Kerns hatte mich gebeten, auf das Auftreten von Thetawellen zu achten. Zu diesem Zeitpunkt sind besonders viele auf dem Monitor erschienen.« »Danke, Miß Strabo«, sagte Mike und legte auf. »Was hat sie da von Thetawellen erzählt?« erkundigte Hutchinson sich mißtrauisch. »Auf Miß Burkes Elektroenzephalogramm sind uns von Zeit zu Zeit ungewöhnliche Gehirnströme aufgefallen – offenbar ein Überbleibsel der schweren Gehirnerschütterung, die sie erlitten hat.« Mike konnte nur hoffen, daß die anderen diese Erklärung akzeptieren würden, obwohl sie weit von dem entfernt war, was er inzwischen für die Wahrheit hielt. »Die Krankenschwester steckt offenbar mit Ihnen unter einer Dekke«, behauptete Gerald Hutchinson. Mike hatte Mühe, sich zu beherrschen. »Sie haben eben selbst gehört, daß Janet Burke aufgeregt gewesen sei. Das dürfte die Erklärung für die unterschiedlichen Unterschriften sein.« »Nein, ausgeschlossen!« widersprach der Graphologe. »Dafür sind 90
die Unterschiede viel zu bedeutend.« »Das müssen Sie mir zeigen«, forderte Mike energisch. »Der Angeklagte hat das Recht, die gegen ihn vorliegenden Beweise zu sehen.« »Ich werfe Ihnen nichts vor, Mike«, sagte George Stanfield. »Mir genügt Ihre Erklärung.« »Aber mir nicht!« widersprach Hutchinson. »Bitte weiter, Professor.« Der Graphologe legte die drei Fotokopien nebeneinander unter die Schreibtischlampe, gab Mike sein Vergrößerungsglas und begann, ihm die Unterschiede zwischen den Beweisstücken B und C zu erklären. »Daraus ziehen Sie also den Schluß, daß die beiden Vordrucke von verschiedenen Leuten unterschrieben worden sind?« fragte Mike. »Zumindest in verschiedener Handschrift. Das könnte ich beschwören.« »Nehmen Sie's mir bitte nicht übel, Mike, aber ich möchte Ihnen eine Frage stellen, die Ihnen jeder clevere Rechtsanwalt vorlegen würde, falls es zu einem Prozeß wegen dieser Operation käme«, sagte George Stanfield ernst. »Ich werde mir wahrscheinlich viele solcher Fragen stellen lassen müssen«, stimmte Mike resigniert zu. »Okay, schießen Sie los.« »Wie gut kennen Sie Miß Strabo?« »Ich bin ein paarmal mit ihr ausgegangen«, bekannte Mike offen. »Aber Sie täuschen sich gewaltig, wenn Sie meinen, sie sei deswegen bereit, mir bei der Fälschung einer Einverständniserklärung zu helfen, damit ich ein höheres Honorar kassieren kann! Falls die beiden Vordrucke von zwei verschiedenen Personen unterschrieben worden sind, müssen die beiden im gleichen Körper…« Mike schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ja, das muß des Rätsels Lösung sein!« Er wandte sich an Professor Leibowitz. »Haben Sie schon einmal einen Fall erlebt, in dem sozusagen zwei Persönlichkeiten den gleichen Körper bewohnt haben?« »Nur in einem Fall von Schizophrenie«, antwortete Leibowitz zögernd. »Der Patient hat abwechselnd als eine der beiden Persön91
lichkeiten existiert.« »Sind die Handschriften dieser beiden gleich gewesen?« »Nein. Sie haben sich deutlich voneinander unterschieden – wie diese hier.« »Da haben wir's!« rief Mike triumphierend. »Damit ist alles erklärt!« »Aber Janet ist nicht schizophren oder sonstwie geistesgestört«, fauchte Gerald Hutchinson. »Diesen Nachweis würden Sie vor Gericht kaum erbringen können.« »Dafür hat sie eine schwere Gehirnerschütterung erlitten, die diese Veränderung ausgelöst haben kann. Dr. Randall McCarthy findet ebenfalls, daß sie deutliche Anzeichen für eine Persönlichkeitsspaltung erkennen läßt.« »McCarthy!« knurrte Hutchinson. »Schon wieder dieser verdammte Scharlatan!« »Wovon reden Sie überhaupt, Mike?« fragte Stanfield irritiert. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich McCarthy gebeten habe, Ihre Nichte…« »Ja, ich weiß. Aber hat er nicht festgestellt, der Unfall habe keinerlei Nachwirkungen hinterlassen, die eine Operation zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ratsam erscheinen ließen?« »Von einer Persönlichkeitsspaltung ist anfangs noch nichts zu merken gewesen«, verteidigte Mike sich. »Als ich ihn heute morgen nach dem seltsamen Verhalten der Patientin in bezug auf die Brustoperation gefragt habe, hat er mir erklärt, das zeitweilige Auftreten einer zweiten Persönlichkeit könne daran schuld gewesen sein.« »Dann muß er Janet weiterhin beobachten – und seine bisherigen Erkenntnisse schriftlich niederlegen.« »Was soll das nützen?« fragte Gerald Hutchinson. »Er gibt Kerns auf jeden Fall recht. Du weißt doch, daß Ärzte nie gegeneinander aussagen.« Stanfield winkte ab. »Bitten Sie Dr. McCarthy, Janet möglichst bald erneut zu untersuchen«, forderte er Mike auf. »Gut, wie Sie wünschen. Wahrscheinlich kann er das gleich morgen früh tun.« 92
Hutchinson wollte Einwände erheben, aber der ältere Mann hob abwehrend die Hand. »Laß gut sein, Gerald! Wir haben Dr. Kerns heute schon genügend Unannehmlichkeiten bereitet.«
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E
llen Strabo trank im Stationszimmer eine Tasse Tee, als Mike kurz vor sechs Uhr hereinkam. Sie war eine große, bildhübsche lebhafte Blondine und im Krankenhaus sehr beliebt – vor allem bei den jüngeren Ärzten. »Was ist das für eine Sache mit Miß Burkes Unterschrift auf der Einverständniserklärung gewesen?« fragte sie neugierig. »Bekommst du dadurch etwa Schwierigkeiten, Mike?« »Ein bekannter Graphologe hat festgestellt, daß die beiden Unterschriften nicht identisch sind.« »Ich bin doch dabeigewesen, als Miß Burke die Erklärung unterschrieben hat. Ich habe genau gewußt, wen ich dabei vor mir hatte, aber im nächsten Augenblick hätte sie ein völlig anderer Mensch sein können.« »In welcher Beziehung?« erkundigte Mike sich gespannt. »Das ist schwer zu erklären – ihr Tonfall, ihre Bewegungen, ihr Blick…« »Am Telefon hast du den Ausdruck ›teuflisch‹ gebraucht.« »Ja, so hat sie ausgesehen! Ihre Augen haben geleuchtet, und sie hat völlig verändert gewirkt.« »Das ist mir auch aufgefallen, als sie mich an der Tür zurückgerufen und gebeten hat, die Brustkorrektur vorzunehmen. Hast du auf dem Krankenblatt einen Vermerk über ihr seltsames Benehmen gemacht?« Die Krankenschwester schüttelte den Kopf. »Wozu? Zumal sie mich 93
gebeten hatte, ihrem Onkel und ihrem Verlobten, diesem eingebildeten Affen, nichts von dieser Operation zu erzählen. Außerdem habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie sie den Vordruck unterschrieben hat, und genau gewußt, wer sie war.« Vielleicht haben wir beide nicht gewußt, wer sie in Wirklichkeit gewesen ist! dachte Mike, während er nach dem Krankenblatt griff und zu Janets Burkes Zimmer ging. Sie saß im Bett und war eben dabei, sich die Haare zu bürsten. Vor ihr auf dem Bett lag ein Kamm in einer Silberhülle mit dem Monogramm JB. »Na, fühlen Sie sich schon besser?« fragte er. »Ja – bloß bin ich noch ziemlich schwach. Miß Strabo hat mir eben geholfen, auf die Toilette zu gehen. Aus eigener Kraft hätte ich das nie geschafft.« »Sie haben mehr Blut verloren, als wir durch Transfusionen ersetzt haben. Aber Sie kommen bestimmt rasch wieder zu Kräften, wenn Sie mehr als nur Babynahrung essen dürfen.« Janet sah auf ihre Armbanduhr. »Heute abend sind Sie später dran als sonst.« »Ich bin zu einer Besprechung, bei der es um Sie gegangen ist, im Büro Ihres Onkels gewesen.« »Um mich?« Das klang ehrlich überrascht. »Warum denn?« »Ihr Verlobter hat versucht zu beweisen, daß ich die Brustoperation ohne Ihre Erlaubnis vorgenommen habe.« »Der arme Gerald! Diese neue Entwicklung paßt ihm überhaupt nicht.« »Macht Ihnen das keine Sorgen – als Fundament für eine Ehe, meine ich?« »Darüber habe ich nie nachgedacht«, gab Janet zu. »Da er so dynamisch ist, habe ich mich in Gedanken stets mit einer Nebenrolle abgefunden. Aber jetzt…« Sie machte eine nachdenkliche Pause. »Wen interessiert es eigentlich noch, ob ich die Einverständniserklärung unterschrieben habe, wenn ich mit dem Ergebnis Ihrer Operation zufrieden bin?« 94
»Miß Strabo hat Ihre Unterschrift auf dem zweiten Formular beglaubigt, ohne zu merken, daß sie sich erheblich von der auf dem ersten Vordruck unterscheidet.« »In welcher Beziehung?« Mike hatte einen großen Umschlag mitgebracht, aus dem er jetzt die Fotokopien der Vordrucke und den Bericht des Graphologen zog, den George Stanfield ihm für Dr. McCarthy mitgegeben hatte. »Am besten lesen Sie zuerst diesen Bericht«, schlug er vor. »Dann sehen Sie die Unterschiede leichter.« »Danke, ich sehe sie bereits«, wehrte Janet ab. »Man könnte glauben, jemand habe versucht, meine Unterschrift zu fälschen. Die Fälschung ist übrigens ausgezeichnet gelungen – auf den ersten Blick hätte ich mich beinahe selbst täuschen lassen.« Sie hob den Kopf. »Was bedeutet das also?« »Wenn Sie sich wirklich nicht daran erinnern, mich um die Brustkorrektur gebeten zu haben…« »Ich habe zum erstenmal aus Ihrem Munde von dieser Operation erfahren, nachdem ich Sie wegen der Elastikbinde gefragt hatte.« Die Besorgnis in ihrer Stimme klang echt, aber während Mike sie anstarrte, ging eine verblüffende Veränderung in ihr vor – als sei sie plötzlich ein ganz anderer Mensch geworden. Ihre Augen leuchteten wieder so herausfordernd wie am Abend vor der Operation; auch ihre Stimme war ganz anders als zuvor, und ihre ganze Art unterschied sich von ihrem vorigen Verhalten wie Tag und Nacht. »He!« rief sie herausfordernd. »Ich könnte Sie verklagen, stimmt's?« »Wenn Sie wollen«, bestätigte Mike unangenehm berührt. Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nur nicht, was…« »Mann, ich könnte Sie ausnehmen wie eine Weihnachtsgans!« unterbrach sie ihn lachend. »Es gibt bestimmt Fotos, auf denen zu sehen ist, wie flachbrüstig sie … ich gewesen bin. Wenn ich die vorlege und den Geschworenen zeige, dann sind Sie ganz schön dran!« 95
»Sie haben das Ergebnis der Brustkorrektur noch nicht gesehen«, wandte Mike ein. »Wie heißen die Polster, die Sie mir eingepflanzt haben?« »Prothesen.« »Na ja, sie sehen bestimmt wie ein Brustpanzer aus – und fühlen sich wahrscheinlich entsprechend an.« »Silikon-Gel hat die gleiche Konsistenz wie Brustgewebe«, erläuterte Mike. »Solange Sie nicht so fest drücken, daß Sie die Plastikhülle ertasten, wissen Sie gar nicht, daß die Prothesen da sind.« »Welche Größe haben Sie mir gegeben?« »Größe neunzig, Cup B.« »Ganz schön großzügig, was?« Ihre heisere Stimme klang jetzt sarkastisch. »Wenn ich Sie verklage, steht Aussage gegen Aussage, und die Geschworenen würden mir auf jeden Fall glauben, wenn ich ihnen schildere, was Sie mir da angehängt haben.« »Sie vergessen, daß Miß Strabo Ihre Unterschrift beglaubigt hat und bestätigen kann, daß Sie die Einverständniserklärung unterzeichnet haben«, widersprach er scharf – aber sie lachte nur zynisch. »Ein cleverer Anwalt würde Ihre Aussage zerpflücken. Wenn Sie wüßten, wie die liebe Ellen mir von Ihnen vorgeschwärmt hat! Sie ist verrückt nach Ihnen, Mike, und würde sofort mit Ihnen ins Bett gehen – falls Sie nicht bereits was mit ihr haben. Ansonsten kann ich Ihnen nur raten, es einmal mit ihr zu versuchen. Das lohnt sich bestimmt!« Als Mike unwillkürlich rot wurde, lachte die junge Frau erneut: ein schrilles Lachen, das ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. »Aha!« rief sie triumphierend aus. »Jetzt sind Sie schockiert, was?« »Selbstverständlich nicht.« Er gab sich keine Mühe, seine Verärgerung zu unterdrücken. »So naiv bin ich auch wieder nicht.« Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu und nickte dann zustimmend. »Nein, das sind Sie bestimmt nicht – aber Sie sind auch kein Mann, der eine so lohnende Gelegenheit ungenutzt läßt.« 96
»Wenn wir dieses Gespräch über mein Sexualleben jetzt beenden können, um…« »Sie brauchen nicht gleich wütend zu werden, Schätzchen, nur weil ich Ihnen vorgeworfen habe, normale männliche Triebe zu haben.« Mike machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Ihr spöttisches Lachen verfolgte ihn, bis die Tür hinter ihm ins Schloß fiel. Aber obwohl er vor Wut kochte, konnte er noch immer nicht glauben, daß er das alles tatsächlich aus dem Mund Janet Burkes gehört hatte. Im Stationszimmer vermerkte er auf ihrem Krankenblatt, der Allgemeinzustand der Patientin sei zufriedenstellend und ihre Genesung mache gute Fortschritte. Allerdings verzichtete er darauf, die eben beobachtete Persönlichkeitsveränderung anzuführen, da er sie sich nicht erklären konnte. »Was ist denn dir über die Leber gelaufen, Mike?« fragte Ellen Strabo, als er das Krankenblatt in die Halterung zurücksteckte. »Du siehst ganz verkniffen aus.« »Ich begreife nicht, wie Janet Burke die Persönlichkeit wechseln kann, während man sie beobachtet und mit ihr redet.« »Ich habe schon ein paarmal den Nachtdienst für eine Kollegin in der psychiatrischen Abteilung übernommen«, erzählte Ellen. »Dort gibt's ein paar Patienten, die so ähnlich sind: Im allgemeinen nett und freundlich, aber zwischendurch hat man's mit einem völlig anderen Menschen zu tun – wenn man sich nicht gerade mit Händen und Füßen gegen einen tätlichen Angriff wehren muß. Falls deine Patientin ein Fall für den Psychiater ist, solltest du sie lieber in die andere Abteilung verlegen lassen, bevor sie etwas wirklich Verrücktes anstellt.« »Nein, ich möchte nur, daß du sie etwas aufmerksamer als sonst beobachtest und mir sagst, wann die zweite Persönlichkeit wieder in den Vordergrund getreten ist.« »Soll ich das auf ihrem Krankenblatt vermerken?« »Mir wär's lieber, wenn du vorläufig nur mir Bericht erstatten würdest.« 97
»Klar, Mike.« Ellen Strabo lächelte. »Du bist schließlich ihr Arzt.« Als Mike später durch den abendlichen Berufsverkehr nach Hause fuhr, war er sich jedoch darüber im klaren, daß McCarthys Diagnose, bei Janet Burke liege wahrscheinlich ein Fall von Persönlichkeitsspaltung vor, ihn ebensowenig befriedigte wie Gerald Hutchinson, auch wenn Stanfield sich damit abgefunden zu haben schien und vermutlich auf seine Nichte einwirken würde, keine Schadenersatzklage anzustrengen.
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B
ei seinem Kinn ist es kein Wunder, daß McCarthy immer einen Bart getragen hat«, meinte Dr. Hal Petrie, als Mike am Montagmorgen beim Händewaschen vor der Operation neben ihm stand. »Glaubst du, daß seine Nase genügend Knochenmaterial für ein neues Kinn liefert, Mike?« »Er will die Nase behalten. Angeblich verleiht sie ihm eine individuelle Note.« »Sie ist allerdings sehenswert«, bestätigte der Anästhesist. »Mit seiner Nase und den buschigen Augenbrauen wirkt er wie Satans Doppelgänger.« Mikes Bürste fiel ihm aus der Hand und klapperte ins Becken. Am Tag nach der Besprechung in George Stanfields Büro hatte Dr. Randall McCarthy Janet Burke untersucht und die Diagnose gestellt, durch den Unfall sei eine zeitweilige Persönlichkeitsspaltung ausgelöst worden. Das bedeutete, daß Mike rehabilitiert war und nichts mehr von Gerald Hutchinson zu befürchten brauchte. Aber Hal Petries Bemerkung warf eine neue, beunruhigende Frage auf: War McCarthy etwa auch besessen? Falls Janet sich tatsächlich in der Gewalt des Dämons befand, der Lynne Tallman dazu getrieben 98
hatte, Unschuldige zu ermorden, indem sie Bombenanschläge geplant und befohlen hatte, und falls der Patient, den Mike jetzt operieren wollte, sozusagen ihr Artgenosse war, konnte McCarthy kaum zu einer anderen als der gestellten Diagnose gelangt sein. Der eine Dämon beschäftigte Mike schon mehr als genug; jetzt war nicht mehr auszuschließen, daß er es mit zweien würde aufnehmen müssen. Darüber konnte er sich jedoch später Sorgen machen. Zunächst stand Randall McCarthys kosmetische Operation auf dem Programm. Mike streifte sich die dünnen Handschuhe über und trat an den Operationstisch, auf dem der Patient bereits narkotisiert lag. Nach der Operation gab Mike einige schriftliche Anweisungen auf McCarthys Krankenblatt, duschte dann und zog sich um, bevor er zu Janet Burke ging. Diesmal lag sie nicht mehr im Bett, sondern saß in einem Sessel am Fenster und las. Ihre Haare waren mit einem grünen Band zusammengebunden, und Mike stellte erneut fest, daß er wieder das liebenswerte Wesen vor sich hatte, das er schätzengelernt hatte – statt des sarkastischen, zynischen Geschöpfs mit dem seltsamen Leuchten in den Augen. »Ich habe eben eine Gesichtsstraffung bei unserem Freund McCarthy vorgenommen«, erzählte er ihr. »Ja, ich weiß – wir liegen auf der gleichen Station. Er hat mir gestern abend berichtet, daß Sie zuerst seine Nase zu verkleinern beabsichtigten, um Material für sein fliehendes Kinn zu gewinnen.« »Er hat die Nase dann doch behalten wollen, deshalb habe ich eine Transplantation mit einem Stück Hüftknochen vorgenommen.« »Wie bei meinem Oberkiefer?« fragte Janet interessiert. »Ja, so ähnlich. Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht?« »Gestern abend einen sehr netten. Wir haben hauptsächlich über Lynne gesprochen, und er hat mir erklärt, warum sie so gewesen ist.« »Wirklich? Was hat er denn gesagt?« »McCarthy glaubt, daß sie eine Psychopathin ohne Gewissen und 99
Moralität gewesen ist, deren schlechte Anlagen durch Kindheits- und Jugenderlebnisse noch verstärkt worden sind. Diese Erklärung stimmt mit dem überein, was ich über Lynne aus ihren eigenen Erzählungen weiß.« »Wahrscheinlich ist ihr gar nichts anderes übriggeblieben, als in eine solche Rolle zu schlüpfen: eine Art Rebellin ohne eine Sache, für die es sich zu kämpfen gelohnt hätte.« »Oh, Lynne hat durchaus für eine Sache gekämpft!« widersprach Janet. »Sie hat jeden gehaßt, der anderer Meinung als sie gewesen ist.« »Sie sind doch, soviel ich weiß, anderer Meinung gewesen. Warum hat sie also Ihnen Vertrauen entgegengebracht?« »Weil es manche Gemeinsamkeiten zwischen uns gegeben hat.« Mike starrte sie verblüfft an. »Wie meinen Sie das?« »Meine Eltern sind bei einem Verkehrsunfall umgekommen, als ich erst drei Jahre alt gewesen bin, und obwohl Onkel George sich rührend um mich gekümmert hat, habe ich lange gebraucht, um meine Ressentiments ihnen gegenüber zu überwinden. Ich hatte das Gefühl, von ihnen im Stich gelassen worden zu sein, und habe lange Zeit unter Komplexen gelitten, weil ich eine Waise war. Vermutlich hat Lynne gar nicht erst versucht, ihren ursprünglichen Haß zu überwinden. Jedenfalls hat sie den Versuch gemacht, sich durch ihr kriminelles Treiben an der Welt zu rächen.« »Schreiben Sie das auch in Ihrem Buch?« »Ja.« »Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, daß Lynne Ihnen das alles vorgeschwindelt haben könnte? Daß sie es darauf angelegt haben könnte, sich in der Öffentlichkeit möglichst vorteilhaft zu präsentieren.« »Richtig, das hat sie teilweise getan – zumindest anfangs«, bestätigte Janet zu seiner Überraschung gelassen. »Aber als wir uns während ihrer Haftzeit besser kennengelernt haben, hat Lynne eingesehen, daß es mir um sie persönlich und nicht um die verbrecherische Bombenlegerin Lynne Tallman gegangen ist. Danach hat sie 100
mir gegenüber wirklich ausgepackt.« Sie wechselte das Thema. »Wann stellt sich übrigens heraus, wie erfolgreich meine Operation gewesen ist?« »Morgen früh, wenn ich am fünften Tag die Fäden ziehe. Ihr Gesicht ist dann noch blau und schwarz und teilweise geschwollen, aber wir müßten ungefähr erkennen können, wie nahe Sie der Idealfrau kommen, die ich modelliert habe.« »Ihrem Ideal – oder dem des Praxiteles?« »Wahrscheinlich handelt es sich um eine Synthese aus beiden Idealen«, gab Mike zu. »Das Modell und Ihr neues Gesicht sind zum großen Teil von der Aphrodite dieses genialen Bildhauers beeinflußt. Wohl jeder Chirurg, der eine solche Operation durchführt, läßt sich unbewußt auch von seinem eigenen Schönheitsideal leiten.« »Wenn ich daran denke, wie schön Ihr Modell geworden ist, ist das ein ziemliches Kompliment.« »Soll das heißen, daß Sie mich jetzt wieder mit anderen Augen sehen als am vergangenen Freitagnachmittag?« »Wie meinen Sie das?« fragte Janet verständnislos. »Nun, als Sie nach dem Unterschriftenvergleich überlegt haben, ob Sie mich verklagen sollten.« Janet runzelte die Stirn. »Ich weiß noch, daß ich mir die Einverständniserklärung angesehen und mich über die Unterschiede gewundert habe. Aber danach … danach kann ich mich nicht einmal an Ihr Gehen erinnern.« »Manchmal habe ich den Eindruck, Sie existieren zweimal.« Mike musterte sie nachdenklich. »Ihr eines Ich ist das, mit dem ich eben spreche – eine freundliche, liebenswürdige junge Frau. Das andere ist eine ziemlich aggressive, zynische und sogar unsympathische Person.« Sie starrte ihn verblüfft an. »Soll das heißen, daß ich eine Mehrfachpersönlichkeit bin? Über einen derartigen Fall habe ich einmal aus Chicago berichtet.« »Dr. McCarthy ist der Ansicht, etwas davon sei bei jedem Menschen festzustellen.« 101
»Aber ich habe nie etwas davon bei mir bemerkt!« protestierte Janet. »Und meine Freunde haben auch nie darüber gesprochen, was sie bestimmt getan hätten, wenn ich…« »Am besten fragen Sie Ihren Onkel danach, wenn er Sie wieder besucht«, schlug Mike vor. »Er kennt Sie natürlich viel besser als ich.« »Ich weiß nicht, ob's mir recht wäre, zwei verschiedene Persönlichkeiten zu haben«, meinte Janet zweifelnd. »Vor allem, wenn eine von ihnen damit gedroht hat, Sie zu verklagen, obwohl Sie mir auf dem Flughafen das Leben gerettet haben!«
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ike hatte Janet versprochen, die wenigen Fäden am fünften Tag nach der Operation zu ziehen. Als er an diesem Morgen bei ihr erschien, wirkte sie nervös und ängstlich zugleich. »Letzte Nacht habe ich kaum ein Auge zugetan«, begrüßte sie ihn, als er mit einer Krankenschwester und einem Verbandwagen hereinkam. »Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, ob die Operationswunden aufbrechen und klaffende Narben zurücklassen könnten.« »Nein, nein, das brauchen Sie nicht zu befürchten«, entgegnete Mike beruhigend, während er die Verbände der kleinen Schnitte unter ihren Augen entfernte. Sie verheilten ausgezeichnet, und nachdem Mike die Fäden gezogen hatte, nahm er Janet vorsichtig die mit Watte ausgepolsterte Plastikmaske ab. Der winzige Schnitt in der Nasenspitze, durch den er den Knochensplitter für den neuen Nasenrücken geschoben hatte, war schon fast verheilt. »Na, wollen Sie sich Ihr neues Gesicht ansehen?« fragte er und 102
rückte den Spiegel auf dem Bettisch zurecht. »Ich habe noch immer Fäden im Mund.« »Die sind absorbierbar und fallen in einigen Tagen heraus.« Da Janet noch immer die Augen geschlossen hielt, fügte Mike aufmunternd hinzu: »Sie sollten sich Ihr Gesicht wirklich ansehen, bevor ich Ihnen die Maske wieder aufsetze. Es ist ein richtiges Kunstwerk geworden.« Janet tastete nach seiner Hand und hielt sie fest umklammert, als sie langsam die Augen öffnete. Dann holte sie – erstaunt, glücklich und ungläubig zugleich – tief Luft. »Sie haben mir wirklich das Antlitz der Aphrodite gegeben!« rief sie aus. »Ich hätte nie geglaubt, daß das bei meinem eingedrücktem Gesicht möglich wäre.« »Zufrieden?« »Und wie, Mike! Ich komme mir wie Eliza in ›My Fair Lady‹ vor.« Sie drehte den Kopf zur Seite, um ihr Profil betrachten zu können. »Trotz der blauschwarzen Flecken ist schon jetzt zu erkennen, wie schön mein neues Gesicht sein wird. Müssen Sie mir die Maske wirklich wieder aufsetzen?« »Ja, Sie müssen sie noch ungefähr eine Woche tragen. Sonst könnte ein Stoß oder Sturz Ihre schöne neue Nase beschädigen.« »Sie sind ein Wunderdoktor! Als ich aus meiner Bewußtlosigkeit erwacht bin und das ganze Ausmaß meiner Verunstaltung erkannt habe, wäre ich am liebsten gestorben. Aber jetzt…« »Jetzt erwartet Sie ein neues Leben als gefeierte Schönheit. Haben Sie sich schon überlegt, wie alles werden wird?« »Ich habe manchmal davon geträumt, eine Schönheit zu sein – das tun wohl alle Frauen. Jeder Blick in den Spiegel hat mich allerdings auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeholt. Und nun haben Sie mir meine Sehnsucht erfüllt.« Janet drückte ihm die Hand. »Hoffentlich schicken Sie der der Fluggesellschaft eine unverschämt hohe Rechnung. Mein Gesicht ist mir jeden Betrag wert!« »Kommen Sie, ich setze Ihnen die Plastikmaske wieder auf«, antwortete Mike lächelnd. »Nachdem Sie jetzt wissen, was darunter ist, 103
brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen.« Mike arbeitete rasch, bedeckte die beiden Schnitte unter ihren Augen mit Heftpflaster und setzte ihr die Plastikmaske wieder auf, um ihre Backenknochen und die gerade neue Nase zu schützen. »Wenn Sie sich jetzt hochrichten und Ihr Nachthemd über die Schultern streifen, können wir sehen, ob die zweite Operation ebenso erfolgreich wie die erste gewesen ist«, erklärte er Janet danach. Die Krankenschwester half ihr dabei und wickelte dann die Elastikbinde auf. Da die Pflasterverbände der Operationswunden sich in den Achselhöhlen befanden, konnte Janet ihren neuen Busen ganz sehen. Ihr begeisterter Aufschrei zeigte Mike, daß sie mit dem Erfolg der Brustkorrektur mehr als zufrieden war. »Sie haben mir wirklich den Busen einer Göttin gegeben, nicht wahr?« »Versuchen Sie selbst, wie weich das Material ist«, forderte er sie auf. »Ich bezweifle sehr, daß Sie die Prothese ertasten können.« Sie drückte mit beiden Händen gegen ihre Brust und nickte dann erstaunt. »Richtig, ich kann nicht sagen, wo ich aufhöre und wo das Silikon anfängt!« »Durch die Operation sind Sie auch symmetrisch geworden«, erklärte Mike, während er die Fäden zog. »Neunzig – fünfundsechzig – neunzig. Nicht ganz die Maße der Venus von Milo, aber für heutige Verhältnisse gut genug. Und noch etwas«, fügte er hinzu, als er den zweiten Pflasterverband anlegte. »Ich möchte, daß Sie in Zukunft einen Büstenhalter tragen. Er kann sehr klein und leicht sein, solange er nur eine gewisse Stütze ist und die Silikonpolster daran hindert, nach unten zu rutschen.« »Keine Angst, ich tue alles, was Sie für richtig halten!« versicherte Janet. »Können Sie mir schon sagen, wie lange ich noch im Krankenhaus bleiben muß?« »Ihre Kiefer müssen noch ungefähr vier Wochen mit Draht verbunden bleiben, aber so lange brauchen Sie nicht hier zu liegen. Zwei weitere Wochen im Krankenhaus dürften genügen.« Er machte eine Pause. »Wann soll denn die Hochzeit stattfinden?« 104
»Überhaupt nicht«, antwortete Janet. »Ich habe Gerald anscheinend den Laufpaß gegeben.« »Können Sie sich denn nicht daran erinnern?« fragte Mike überrascht. »Nein, das muß mein anderes Ich gewesen sein – diese andere Person, die nach Dr. McCarthys Ansicht manchmal meinen Körper beherrscht.« Ihre Stimme klang plötzlich sorgenvoll. »Aber ich muß mein zweites Ich irgendwie daran hindern, über mein Leben zu bestimmen, ohne daß ich von ihren … von seinen Absichten erfahre.« »Dr. McCarthy hält Ihre Persönlichkeit für ein Ergebnis der erlittenen Gehirnerschütterung. Er glaubt, daß sie bald wieder verschwinden wird.« »Und was ist, wenn sie's nicht tut?« »Haben Sie bereits Grund zu dieser Annahme?« forschte Mike. »Ich weiß es eben nicht – das ist das Dumme! Bisher hat alles wunderbar geklappt. Ich habe ein neues Gesicht und einen schönen Busen und bin Gerald los, von dem ich mich ohnehin hatte trennen wollen. Aber ich bin trotzdem für alles verantwortlich, was mein zweites Ich anstellen könnte, nicht wahr?« »Ja – es sei denn, es gäbe eine andere Erklärung dafür.« »Wie meinen Sie das?« »Ich bin mir meiner Sache noch nicht ganz sicher«, antwortete er ausweichend. »Es ist nur eine Theorie, die ich Ihnen erläutern werde, sobald sie so weit entwickelt ist, daß sie logisch erscheint. Was haben Sie vor, wenn Ihre Verletzungen ganz ausgeheilt sind. Wollen Sie nach Chicago zurück?« »Nein, bestimmt nicht gleich und vielleicht überhaupt nicht mehr. Mein Onkel möchte, daß ich in Zukunft in Washington für ihn arbeite. Außerdem weiß ich, daß er Chicago für ein zu gefährliches Pflaster hält, weil Lynne Tallmans Komplicen mir dort auflauern könnten.« »Wahrscheinlich hat er recht. Das FBI bewacht Sie jedenfalls noch immer.« 105
»Onkel George hat mir vorgeschlagen, eine Zeitlang unterzutauchen und mein Buch fertig zuschreiben. Aber ich habe keine Lust, mich in seinem Appartement zu verkriechen.« »Vielleicht weiß ich etwas für Sie!« sagte Mike geistesgegenwärtig. »Ich besitze ein Wochenendhaus in Maryland am Ostufer des Potomac. Es liegt ziemlich einsam, und Sie könnten dort in aller Ruhe arbeiten oder faulenzen – und niemand brauchte zu erfahren, wo Sie sich aufhalten!« »Das klingt wunderbar.« Janet knöpfte ihr Nachthemd wieder zu. »Aber Sie müssen es mir regelrecht vermieten.« »Ganz wie Sie wollen.« Mike zuckte mit den Schultern. »Das Haus steht ohnehin die meiste Zeit leer…« »Fäden gezogen, Wunden heilen gut ab«, schrieb Mike auf Janet Burkes Krankenblatt, bevor er das University Hospital verließ. Mit ihrer möglichen Zukunft war er allerdings nicht im entferntesten so zufrieden wie mit ihrer medizinischen Gegenwart. Falls Lynne Tallmans Dämon, der sie zu ihren Verbrechen angestiftet hatte, tatsächlich von Janet Burke Besitz ergriffen hatte – was Mike insgeheim befürchtete –, konnte diese zweite Persönlichkeit sich jederzeit verändern. Bisher hatte sie sich nur als ›teuflisch‹ erwiesen, um Ellen Strabos Vergleich zu gebrauchen, und sich mit harmlosen Streichen wie der Auflösung einer Verlobung, die Janet Burke ohnehin hatte lösen wollen. Der Gefahrenpunkt war erreicht, wenn – oder falls – sie sich mit ihrer ganzen verbrecherischen Energie völlig des Körpers der zu einer Schönheit gewordenen jungen Frau bemächtigte.
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ike rief George Stanfield von der Praxis aus in der Redaktion an. »Freut mich, daß Sie von sich hören lassen«, sagte der Chefredakteur. »Ich hätte schon vor ein paar Tagen mit Ihnen telefonieren und mich für Gerald Hutchinsons unverschämte Art entschuldigen sollen.« »Zum Glück hat er mir nichts nachweisen können«, antwortete Mike. »Ich habe erst heute morgen von Ihrer Nichte erfahren, daß sie ihm den Laufpaß gegeben hat.« »Keine Minute zu früh!« »Haben Sie gewußt, daß ihre zweite Persönlichkeit die Verlobung gelöst hat?« »Nein!« Stanfield war betroffen. »Kann das bedeuten, daß sie jetzt Janets Leben zu kontrollieren beginnt?« »Hoffentlich nicht«, erwiderte Mike nachdenklich. »Janet hat mir gegenüber zugegeben, daß sie die Verlobung wahrscheinlich ohnehin gelöst hätte. Vielleicht mache ich aus einer Maus einen Elefanten…« Stanfield antwortete nicht gleich. »Das ist ein seltsamer Ausdruck, Mike«, sagte er dann. »Können Sie nicht deutlicher werden?« »Ich bin mir meiner Sache nicht ganz sicher, weil das, was ich annehme, so unglaublich erscheint.« »Erzählen Sie's mir trotzdem«, beharrte Stanfield. »Als Journalist habe ich schon vor Jahrzehnten gelernt, nichts für unmöglich zu halten.« »Ich habe den Verdacht, daß der Dämon, von dem Lynne Tallman besessen gewesen sein muß, es unmittelbar vor ihrem Tode irgendwie geschafft hat, in Janets Körper zu schlüpfen«, gestand Mike ein. »Aber das ist doch ausgeschlossen!« »Einer meiner Patienten, Pater Julian O'Meara, ist der leitende Exorzist der hiesigen Diözese. Wir haben schon mehrmals über Fäl107
le aus seiner Praxis gesprochen – falls man den Exorzismus als Therapie bezeichnen kann –, und soviel ich von Pater O'Meara weiß, ist das Ganze eine Kraftprobe zwischen dem Exorzisten und dem Dämon.« »So was gibt's doch seit dem Mittelalter nicht mehr!« protestierte der Chefredakteur. »Pater Julian behauptet, genau das wollten die Dämonen uns weismachen. Aber wenn Sie die Berichte über Exorzismus lesen würden, die er und seine Mitarbeiter vorgenommen haben, und sich die Tonbandaufnahmen anhören würden, käme Ihnen alles ziemlich glaubhaft vor.« »Aber nicht bei Janet! Ich kenne sie wie meine eigene Tochter, Mike.« »Vergessen Sie nicht, daß Sie sie jeweils nur kurz gesehen haben, seitdem sie besessen ist – falls diese Vermutung zutrifft.« »Haben Sie ihr von Ihrem Verdacht erzählt?« »Nein. Ich will sie nicht ängstigen, bevor ich hieb- und stichfeste Beweise habe. Möglicherweise ahnt sie aber schon etwas. Wahrscheinlich verschließt sie ihr Unterbewußtsein davor – außer in Fällen, wie wir ihn zu Beginn ihrer Narkose erlebt haben…« »Wovon reden Sie da, Mike?« »Ich meine einen Vorfall, den ich Ihnen damals verschwiegen habe, weil ich mir seine wahre Bedeutung nicht eingestehen wollte.« Mike berichtete Stanfield von Janet Burkes Schimpfkanonade vor der Operation. »Haben Sie mich deshalb gebeten, sich die Tonbänder anhören zu dürfen?« »Ganz recht. Die Stimme und die Ausdrücke sind die gleichen gewesen. Man hätte glauben können, Lynne Tallman spreche aus Janet.« »Ich bin ganz durcheinander«, gab Stanfield zu. »Ich kann das alles nicht glauben – andererseits kann ich's auch nicht ignorieren!« »Der Dämon wird allmählich stärker, fürchte ich.« »Was läßt sich dagegen bloß unternehmen, Mike?« »Vorerst gar nichts. Ich kann mich getäuscht haben, und falls sich 108
das herausstellt, gebe ich gern zu, daß McCarthy recht hat und daß einfach nur eine Persönlichkeitsspaltung vorliegt.« »Hoffentlich behält er recht…« »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, stimmte Mike zu. »Ich habe Janet heute morgen gesagt, daß sie in zwei Wochen entlassen werden kann, aber sie sollte noch mindestens eine Woche in Ihrer Wohnung bleiben. Dort kann ich sie regelmäßig untersuchen und darauf achten, daß sich unter den Silikonpolstern kein Serum ansammelt. Da Janet danach eine Zeitlang zurückgezogen arbeiten will, habe ich ihr mein Wochenendhaus am Potomac nördlich von Indian Head angeboten.« »Die dortige Gegend kenne ich«, sagte der Chefredakteur. »Ich bin mit Sheriff Knott vom Charles County befreundet. Manchmal fahre ich am Wochenende zum Angeln hinaus.« »Ich glaube, daß sie dort ungestört schreiben kann, während die Blutergüsse unter der Haut zurückgehen und die Schwellungen abklingen.« »Sobald sie wieder normal aussieht, bringe ich einen Artikel über Ihre phantastisch erfolgreiche Operation«, versprach Stanfield. »Aber wie wollen Sie ihre Theorie, Janet sei von Lynne Tallmans Dämon besessen, beweisen oder widerlegen?« »Gestern morgen habe ich Dr. McCarthy operiert – er hat sich das Gesicht straffen lassen. Die beiden liegen noch mindestens zehn Tage auf der gleichen Station. Vielleicht kann er uns diese Frage bis dahin endgültig beantworten. Ich halte Sie jedenfalls auf dem laufenden.«
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ls die Junitage verstrichen, konnte Mike befriedigt feststellen, daß die Genesung seiner beiden interessantesten Patienten rasche Fortschritte machte. Zwei Wochen nach der Operation nahm er Janet Burke die schützende Plastikmaske endgültig ab. Zu seiner Freude war ihre Haut bereits nicht mehr so dunkel wie zuvor, und er hielt Janet für noch schöner als das Modell, nach dem er gearbeitet hatte. An einem Montagmorgen brachte Mike den Bronzeabguß ihres Kopfes aus der Gießerei mit. Janet saß im Aufenthaltsraum und unterhielt sich mit Randall McCarthy, der schon am dritten Tag nach seiner Operation wieder aufgestanden war. Er trug noch immer einen Druckverband um die untere Gesichtshälfte, und seine daraus hervorragende große Nase wirkte dadurch um so verblüffender. Die Schöne und das Ungeheuer, dachte Mike, als er die beiden in dem um diese Zeit stets leeren Aufenthaltsraum sitzen sah. »Sobald ich mit Lynne Tallmans Biographie fertig bin, wollen der Professor und ich gemeinsam ein weiteres Buch schreiben«, rief ihm Janet entgegen. »Eine wahrheitsgemäße Darstellung des Psi-Phänomens, durch das extrasensorische Perzeption erst möglich wird«, fügte McCarthy hinzu. »Die Scharlatanerie – und die Wahrheit!« »Angesichts der vielen Sekten, die heutzutage wie Pilze aus dem Boden schießen, könnten Sie mit Ihrer Erfahrung und Ihren Talenten leicht eine neue gründen«, schlug Mike vor. »Das wäre kinderleicht, seitdem Sie eine Kombination aus Adonis und Cyrano de Bergerac aus mir gemacht haben.« »Ich habe bereits mehrere Artikel über solche merkwürdigen Sekten geschrieben, Mike«, sagte Janet. »Sie sind nichts anderes als Sammelbecken für Spinner.« »Und wie steht's mit dem Teufelskult, dessen Hohepriesterin Lynne Tallman gewesen ist?« 110
»Ich bezweifle, daß das Wort ›Scharlatan‹ auf Lynne paßt, denn sie hat nie behauptet, mehr als eine Verkörperung des Bösen auf Erden, eine Braut Satans zu sein.« »Gibt es den überhaupt?« fragte Mike. »Glauben Sie an die Existenz des Teufels auf Erden?« »Lynne hat mir erzählt, sie habe vor ihrem damaligen Körper bereits mehrere andere besessen. Erinnern Sie sich an die vier Morde, die letztes Jahr während der Rassenunruhen in Alabama verübt worden sind?« Mike nickte schweigend. »Lynne hat behauptet, dafür verantwortlich gewesen zu sein. Angeblich hätte sie als Serviererin in einem Schnellimbiß gearbeitet und die späteren Mörder durch sexuelle Versprechungen zu den Verbrechen angespornt.« »Warum ist sie nicht dort geblieben?« »Sie will imstande gewesen sein, ihre Körper zu wechseln. Das habe ich ihr jedoch nie recht geglaubt.« »Hat sie diesen Wechsel aus eigener Kraft bewirken können?« fragte Mike weiter. »Ich weiß nicht mehr, ob der zukünftige Wirt damit einverstanden sein mußte, aber Lynne war eine sehr willensstarke Persönlichkeit. Wahrscheinlich hat sie sich im allgemeinen durchgesetzt – auch in dieser Beziehung.« Janet wandte sich an McCarthy. »Sie sind eine Autorität für das Paranormale, Randall. Gibt es Dämonen wirklich?« »In dieser verrückten Welt steht nichts sicher fest, meine Liebe«, antwortete McCarthy nachsichtig. »Wenn ich an Gott glauben würde, was ich nicht tue, würde ich vielleicht auch glauben, er habe die Welt erschaffen und dann einem gefallenen Engel namens Luzifer das Recht gegeben, mit ihm um die Seelen der Menschen zu kämpfen.« »Einer Theorie nach hat Gott seinen Sohn Jesus auf die Erde geschickt, um ihn mit Luzifer um diese Seelen kämpfen zu lassen, wodurch die Chancen etwas ausgeglichener waren«, sagte Mike. »Das 111
ist zumindest die offizielle Version der christlichen Religionsgemeinschaften.« »Unsinn!« wehrte McCarthy ab. »Es gibt keine bösen Geister, keine Dämonen – nur gute und schlechte Einflüsse, die im Menschen miteinander um die Herrschaft über seine Seele ringen.« »Dann geben Sie also zu, daß der Mensch eine Seele hat, obwohl Sie nicht an Gott glauben!« warf Janet triumphierend ein. »Die Seele ist nur eine Art elektrische Ladung. Sie kann bestenfalls bewirken, daß eine Ansammlung von Zellen zu einem lebenden, funktionierenden Körper wird, anstatt lediglich ein Materieklumpen zu bleiben. Aber wenn dieser Körper verbraucht ist oder zerstört wird, ist auch die Seele am Ende – es sei denn, sie fände einen noch geeigneteren Körper, den sie beleben kann.« »So spricht ein echter Fundamentalist!« sagte Mike lächelnd. »Ich gebe zu, daß ich das nie von Ihnen erwartet hätte, Randall.« »Die höhere Parapsychologie befaßt sich nicht damit, was die Seele – oder wie Sie sie sonst nennen wollen – nach dem Tode tut. Sobald wir wissen, woher sie die Energie bekommt, die menschliche Körper belebt, können wir uns aus dem Käfig unseres Körpers befreien. Beherrschen wir dann noch das Geheimnis der Astralreisen, können unsere ätherischen Körper jeden gewünschten Ort aufsuchen.« »Und tun, was ihnen gefällt?« fragte Mike. »Natürlich! Das ist das Schönste daran.« »Glauben Sie diesen ›Unsinn‹, wie er ihn genannt hat, etwa wirklich?« wollte Mike von Janet wissen. »Wenn er richtig in Fahrt ist, kann ich praktisch alles glauben, was er sagt«, gab sie lächelnd zu. »Randall ist sehr überzeugend. Ich bedaure nur, daß ich während meines Studiums keine Professoren wie ihn erlebt habe. Sobald er allerdings nicht mehr in der Nähe ist, läßt die Überzeugungskraft seiner Argumente allmählich wieder nach.« »Janet hat mir erzählt, daß sie in Ihrem Wochenendhaus bei Indian Head wohnen wird«, sagte McCarthy, um nach kurzem Zö112
gern fortzufahren: »Roger und Rita Coven, ein befreundetes Ehepaar, wollten für diesen Sommer ein Häuschen an der Chesapeake Bay mieten. Ich sollte bei ihnen wohnen können, bis mein Gesicht nicht mehr blauschwarz ist – die beiden haben jedoch leider noch nichts gefunden. Wissen Sie zufällig, ob in ihrer Nähe Wochenendhäuser zu vermieten sind?« Mike schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich kenne eine gute Maklerin dort: Maggie Persons in Indian Head.« »Okay, ich rufe Rita an, damit sie sich mit Ihrer Maklerin in Verbindung setzt. Roger arbeitet bei der Atomic Energy Commission, und Rita ist Stenotypistin. Beide haben vor Jahren an der Duke University zusammengearbeitet.« »Ich muß jetzt weiter«, entschied Mike. »Zeigen Sie mir, wo ich diesen Abguß in Ihrem Zimmer aufstellen soll, Janet?« »Gern.« Sie stand auf. »Bis später, Randall.« »Lassen Sie sich nur Zeit! Ich mache jetzt ein Nickerchen«, meinte er unbekümmert. »Es sei denn, meine Psi-Kräfte wären stark genug, um eine besonders hübsche Krankenschwester, die ich im Auge habe, in mein Zimmer zu locken.« »Die Vorstellung, Dr. McCarthy könnte am Potomac in meiner Nähe wohnen, hat Ihnen nicht gefallen, stimmt's?« fragte Janet auf dem Weg zu ihrem Zimmer. »Wie kommen Sie darauf?« »Das habe ich an Ihrem Tonfall gemerkt.« Janet lachte zufrieden. »Wie Sie sehen, lerne ich Sie immer besser kennen.« »Und ich weiß von Ihnen praktisch nur, was mir Ihr Onkel über die Janet Burke erzählt hat, die es vor dem Flugzeugunglück gegeben hat.« »Aber dafür wissen Sie praktisch alles über die seitdem existierende Janet Burke.« »Ich möchte versuchen, öfters mit Ihnen zusammenzukommen, wenn Sie in meinem Haus wohnen – es sei denn, Sie brauchten absolute Ruhe, um arbeiten zu können.« »Nein, nein, ich rechne fest damit, daß Sie mich an den Wo113
chenenden und auch zwischendurch möglichst oft besuchen.« »Ich habe gehofft, daß Sie mich einladen würden«, gab Mike zu. »Falls McCarthy auch in der Nähe wohnt, kann ich Sie beide regelmäßig untersuchen. Außerdem soll er das Gefühl haben, unter Kontrolle zu stehen. Ich weiß nach wie vor nicht recht, ob ich ihm trauen kann, obwohl ich meine Zweifel nicht begründen könnte.« »Mir ist es zu Anfang ähnlich gegangen«, bestätigte Janet. »Aber seitdem wir beide Patienten sind, ist er immer nur nett gewesen, daß ich meinen ersten Eindruck revidiert habe. Vor der Operation hat er wie ein alter Lüstling ausgesehen, der Kellnerinnen tätschelt und auf der Straße kleinen Mädchen nachstarrt.« »Ich habe sein Gesicht verändert, ohne irgend etwas anderes zu ändern.« »Wollen wir ihm nicht eine Chance geben und abwarten, wie er sich entwickelt?« schlug Janet lächelnd vor. Mike war eben vom Mittagessen in seine Praxis zurückgekommen, als Maggie Persons, die Immobilienmaklerin aus Indian Head, bei ihm anrief. »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, daß Sie die Covens zu mir geschickt haben, Mike«, sagte sie. »Ich habe ihnen Tom Lanes Haus bis September vermietet. Mrs. Covens wollte möglichst in Ihrer Nähe wohnen – und das sind nur ein paar hundert Meter.« »Haben Sie nur am Telefon miteinander gesprochen?« »Mrs. Coven hat zuerst angerufen und ist anschließend vorbeigekommen, um mir einen Scheck für die erste Monatsmiete zu bringen. Sie sieht sehr gut aus, finde ich.« »Ich habe sie noch nie gesehen. Einer meiner Patienten, Dr. Randall McCarthy, wird bei ihnen wohnen, während er sich von einer Gesichtshautstraffung erholt.« »Moment mal – ja, der Scheck, den sie mir gegeben hat, ist von einem Dr. Randall McCarthy unterschrieben. Werden solche Sachen jetzt auch schon bei Männern gemacht? Ich muß ihn mir gelegentlich 114
ansehen, weil ich selbst mit dem Gedanken an eine Schönheitsoperation spiele. Wenn Sie sogar dem starken Geschlecht zu besserem Aussehen verhelfen können, lohnt sich der Versuch vielleicht doch.« »Sie können jederzeit zu mir kommen, Maggie«, antwortete Mike lächelnd. »Ich gebe Ihnen sogar zehn Prozent Rabatt. Übrigens habe ich mein Haus für einige Zeit an eine Miß Burke vermietet. Sie will ein Buch fertig schreiben und braucht dazu viel Ruhe.«
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n einem Freitagnachmittag im Juli fuhren Mike und Janet zu seinem Wochenendhaus. Sie hatte sich einen Wagen gemietet, um auch während der Woche beweglich zu sein, und folgte seinem Porsche auf der Maryland State Road 210 den Potomac entlang nach Süden. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, als sie vor dem kleinen Laden hielten, in dem Mike immer einkaufte und zusätzliche Lebensmittel fürs Wochenende und die ersten Tage der kommenden Woche einlud. Janets anderes Ich hatte sich nicht mehr gezeigt, seitdem sie Gerald Hutchinson den Laufpaß gegeben hatte, und Mike wagte zu hoffen, daß es nie wieder auftreten werde. Als sie am Ende der schmalen Privatstraße vor seinem hübschen Bungalow standen, schlug Janet begeistert die Hände zusammen. »So schön hab ich mir das alles nicht vorgestellt, Mike!« rief sie aus. »Ein Haus direkt am Fluß – einfach herrlich!« »Mir gefällt es auch«, stimmte er lächelnd zu, während er die Tüte mit ihren Einkäufen aus dem Kofferraum holte. »Ich habe es von meinen Eltern geerbt. Der anschließende Wald ist Staatsbesitz, und das nächste Haus steht fast hundert Meter entfernt, so daß man hier 115
völlig ungestört ist.« »Wie können Sie's nur übers Herz bringen, einen so schönen Besitz zu vermieten?« »Das tue ich normalerweise nicht. Solange ich in New York gearbeitet habe, ist das Haus aus finanziellen Gründen vermietet gewesen. Aber seitdem ich wieder in Washington bin, habe ich fast jedes Wochenende hier verbracht.« »Hoffentlich kommen Sie auch in Zukunft her.« »Hat Ihr Onkel sich darüber geäußert, daß wir das Wochenende hier gemeinsam verbringen?« wollte Mike wissen. Janet winkte ab. »Onkel George ist alles recht, was ich tue. Außerdem kann ich mich recht gut selbst verteidigen. Als Studentin habe ich Karate gelernt, um mich meiner Haut wehren zu können.« »Gut, ich denke daran und benehme mich anständig«, versprach er. »Soviel ich von den Krankenschwestern gehört habe, mangelt es Ihnen nicht an hübschen Begleiterinnen und weiblichen Wochenendgästen.« »Das sind alles nur Gerüchte – aber ich würde Ihnen raten, mir nicht allzu bereitwillig zu trauen«, warnte Mike verschmitzt. »Ich bin schließlich auch nur ein Mensch, und da Sie mir einmal diverse Hoffnungen gemacht haben…« »Was?« »Nachdem Sie mich am Abend vor Ihrer Operation zurückgerufen hatten, um mich zu bitten, auch die Brustoperation vorzunehmen.« »Daran kann ich mich auch nicht mehr erinnern«, sagte Janet langsam. »Ich habe Ihnen erklärt, die Brustkorrektur vorzunehmen, falls die eigentliche Operation ohne größere Probleme geglückt sei. Sie haben daraufhin geantwortet: ›Sie werden es nicht bereuen – das verspreche ich Ihnen.‹« »Ist Ihnen meine Antwort nicht eigenartig vorgekommen?« »Ja, in der Tat«, gab Mike zu. »Aber als wir uns Ihre Tonbänder mit Ihren Interviews mit Lynne Tallman angehört haben, ist mir 116
aufgefallen, daß Sie jene verheißungsvollen Andeutungen mit deren Stimme gesprochen haben. Und die gleiche Stimme ist mit einem Schwall von Obszönitäten zu hören gewesen, als Dr. Petrie vor Ihrer Operation die Narkose eingeleitet hat.« Janet ließ sich in den nächsten Stuhl fallen. Sie war blaß geworden, und Mike sah, daß ihre Hände, die auf den Sessellehnen lagen, leicht zitterten. »Mike, ich glaube, ich brauche einen Drink«, stammelte sie mit schwacher Stimme. »Sie erzählen mir Dinge, die ich kaum glauben kann. Aber ich weiß, daß sie wahr sein müssen, und habe Angst davor. Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, welche Ausdrücke Lynne manchmal benutzt hat.« Mike hatte einen Bourbon eingeschenkt und gab ihr jetzt das Glas. »Das hätte ich Ihnen wahrscheinlich lieber nicht erzählen sollen«, meinte er betroffen. »Meine Stimme und meine ganze Art sind also anders gewesen, als ich Sie gebeten habe, die Brustoperation durchzuführen. Und was war mit den bewußten Obszönitäten?« »Sie haben wieder die gleiche Stimme benützt und sogar viele Ausdrücke aus den Tonbandinterviews gebraucht.« »Aber wie kann ich…?« »Ihr Onkel glaubt, daß Sie sich Lynnes Tonfall und ihre Ausdrucksweise unbewußt angewöhnt haben, weil Sie in Chicago so häufig mit ihr zusammengekommen sind. Nach Ihrer schweren Gehirnerschütterung dürften bruchstückhafte Erinnerungen an die Oberfläche gelangt sein, und Sie haben sie in Worte gekleidet, ohne sich über die Zusammenhänge im klaren zu sein.« »Wie lange kann das noch dauern, falls diese Theorie richtig ist?« »Ich glaube, daß Sie keinen Rückfall mehr zu befürchten haben«, versicherte Mike. »Seitdem Ihr Gehirn sich wieder erholt und Ihr starker Wille sich erneut ganz durchgesetzt hat, können diese Erinnerungen nicht mehr die Oberhand gewinnen.« »Hoffentlich nicht!« sagte Janet inbrünstig. »Bis auf das einemal, als Sie mir nach der Operation mit einer 117
Schadenersatzklage gedroht haben, ist mir nichts Fremdartiges mehr an Ihnen aufgefallen – und das liegt schon mehrere Wochen zurück«, beruhigte er sie. »Falls ich heute nacht in Ihr Bett krieche«, antwortete Janet mit einem Lachen, das ihm zeigte, daß sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte, »denken Sie bitte daran, daß das mein anderes Ich ist, und werfen Sie mich hinaus.« Sie wechselte das Thema. »Können wir vor dem Abendessen schwimmen – oder muß ich meine Arme noch schonen? Wir haben doch reichlich Zeit?« »Die Zeit spielt hier keine Rolle«, pflichtete Mike lächelnd bei. »Und die Einschnitte in Ihren Achselhöhlen sind längst verheilt. Ich ziehe mir meine Badehose an und lege die Krebsreusen aus, damit wir frische Krebse zum Abendessen haben. Sie können sich im Gästezimmer umziehen.« Mike ließ eben die Krebsreusen vom Bootssteg aus ins Wasser, als Janet ins Freie kam. Sie trug einen weißen Bikini. Bei ihrem Anblick stieß er einen bewundernden Pfiff aus. »Donnerwetter!« sagte er. »Venus persönlich!« »Mir kommt's allerdings so vor, als hätte ich nicht viel mehr an, als Venus normalerweise getragen hat«, gab Janet zu. Sie war unter seinem bewundernden Blick leicht errötet. »Ich habe den Bikini in Washington gekauft, ohne ihn anzuprobieren – und jetzt ist er ziemlich knapp, nicht wahr?« »Sheriff Knott hat Ihrem Onkel versprochen, jeden Tag einen seiner Deputies vorbeizuschicken. Ich möchte Ihnen allerdings raten, ihn nicht in diesem Aufzug zu begrüßen, sonst werden Sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen«, antwortete Mike. »Halt, machen Sie lieber keinen Kopfsprung!« warnte er gleich darauf. »Das Wasser ist hier zwar tief genug, aber Sie müssen wegen Ihrer schönen Nase noch vorsichtig sein.« »Gut, ich bin ganz vorsichtig«, versprach Janet. »Die Leiter ist dort drüben.« Er winkte mit dem Daumen. »Sie ist allerdings etwas rutschig, weil sie selten benützt wird. Am besten helfe ich Ihnen hinunter.« 118
Mike sprang ins Wasser, schwamm zu der Badeleiter, hielt sich dort fest und streckte Janet die andere Hand entgegen, während sie die Sprossen hinunterstieg. Dadurch kam sie praktisch in seine Arme, und als er den Kopf hob, sah er Janet wissend lächeln. »Ein hübscher Trick, Doktor«, sagte sie, als ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren. »Dafür haben Sie eine Belohnung verdient.« Bevor er begriff, was Janet vorhatte, beugte sie sich nach vorn und küßte ihn – um im nächsten Augenblick aus seinen Armen zu gleiten. Sie stieß sich von der Leiter ab und kraulte mit kräftigen, gleichmäßigen Schwimmbewegungen zu dem zwanzig Meter vom Steg entfernten Badefloß. Bis Mike dort ankam, war Janet bereits aus dem Wasser geklettert und sah ihm lachend entgegen. »Schnecke!« rief sie. »Schämen Sie sich nicht, gegen eine Rekonvaleszentin zu verlieren?« »Ich bin anscheinend nicht in Form«, prustete er atemlos.
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ie badeten eine halbe Stunde und fuhren dann mit Mikes Motorboot auf den Fluß hinaus und an der Landzunge vorbei, hinter der auf dem Westufer der Mount Vernon zu sehen war. Als sie zurückkamen, war es schon dunkel, und Mike konnte fast ein Dutzend Krebse aus den Reusen holen. Während Janet sich umzog, setzte er einen großen Topf Wasser auf, um die Krebse zu kochen. »Ich hab's immer scheußlich gefunden, daß man Krebse in kochendes Wasser wirft«, sagte Janet. »Aber mein Onkel hat mir versichert, sie seien augenblicklich tot.« »Richtig!« bestätigte Mike. »Hast du Hunger?« »Ich könnte sie mitsamt den Scheren verschlingen.« 119
»Das wäre nichts für deine kaum verheilten Kieferbrüche – solange du jedoch vorsichtig kaust und nicht auf ein Stück Schale beißt, dürfte nichts passieren.« Das Abendessen mit Krebsfleisch auf Toast und einer Flasche Weißwein dauerte eine Dreiviertelstunde. Nachdem Mike die Krebsreste in den Fluß gekippt hatte, um Fische anzulocken, stellte er zwei Liegestühle auf den Steg. Der Potomac leuchtete im Vollmondschein wie geschmolzenes Silber. »Wenn ich einmal zu alt bin, um noch zu praktizieren, wohne ich ganz hier«, erklärte Mike träumerisch. »Meine Großmutter hat mir den altmodischen Schaukelstuhl in deinem Zimmer hinterlassen. In den setze ich mich und sehe zu, wie die Boote vorbeifahren.« »Du hast's herrlich hier draußen. Wenn mein Buch fertig ist, ziehe ich bestimmt ungern von hier fort.« »Du kannst bleiben, solange du willst, wenn ich nur an den Mittwochnachmittagen und Wochenenden herkommen darf.« »Hast du vergessen, daß ich auch arbeiten muß?« fragte Janet lächelnd. »Der Verlag will das Buch so schnell wie möglich haben, und Onkel George möchte bald mit dem Vorabdruck in der Sonntagsausgabe der ›Star-News‹ beginnen.« »Wie lange wirst du daran sitzen?« »Etwa sechs bis acht Wochen – vielleicht auch weniger. Ich muß noch die Kapitel über Lynnes Verhaftung und den Prozeß in Chicago schreiben. Außerdem müssen die übrigen Kapitel nochmals durchgesehen werden.« »Ich lese meistens nur Fachzeitschriften, deshalb bin ich mit den Einzelheiten nicht sonderlich vertraut«, gab Mike zu. »Wie ist sie überhaupt gefaßt worden?« »Lynne hat den Verdacht gehabt, jemand aus ihrer Gruppe sei auf ihre Führungsrolle eifersüchtig gewesen und habe sie deswegen verraten. Sie hat ungefähr die gleiche Rolle wie Charles Manson in seiner ›Familie‹ gespielt und bedingungslosen Gehorsam gefordert. Aber einige der Männer sollen gemurrt haben, und vielleicht ist der Ju120
das sogar Armand Descaux, ihr Liebhaber, gewesen.« »Was für ein Mensch ist er?« »Ich habe ihn nie kennengelernt – ich weiß nur, daß Lynne schon seit langem seine Geliebte gewesen ist. Da er sich ihrer Aussage nach für den Hohepriester des Kults gehalten hat, kann er die Rolle des Prinzgemahls satt gehabt und sie deshalb verraten haben. Außerdem hat sie sich oft mit anderen Männern eingelassen.« »Vielleicht ist Descaux eifersüchtig gewesen.« »Lynne hat mir nicht viel über den Alltag ihrer Gruppe erzählt, aber ich habe jedenfalls mitbekommen, daß sie keineswegs monogam organisiert ist. Soviel ich weiß, hat sie zuletzt ein großes Projekt geplant, das die anderen weiterführen sollten.« »Hat sie angedeutet, worum es bei diesem Projekt geht?« erkundigte Mike sich gespannt. »Nein, mit keinem Wort. Sie hat nur geprahlt, seine Durchführung werde ihr im Königreich der Finsternis neue Ehren einbringen.« »Was kann sie damit gemeint haben?« »Lynne hat sich für die anerkannte Hohepriesterin Satans auf Erden gehalten«, antwortete Janet einfach. »Und du hast ihr das geglaubt?« »Ich habe nie recht gewußt, wieviel ich glauben sollte«, erwiderte Janet zögernd. »Aber einiges von dem, was sie mir erzählt hat, legt zumindest den Schluß nahe, daß sie von einem Dämon besessen gewesen ist. Heutzutage glauben viele Leute an eine solche Möglichkeit.« »Ein Geistlicher, den ich kenne, ist der offizielle Exorzist der Diözese Washington«, sagte Mike. »Er besteht bei jedem Exorzismus auf die Anwesenheit eines Arztes und hat mich schon mehrmals aufgefordert, ihm dabei zu assistieren. Bloß hab ich's noch nie getan.« »Warum nicht? Du interessierst dich doch offenbar sehr für die Frage, ob es eine Unterwelt gibt, die wir nur nicht wahrnehmen können.« »Sie hat mich früher nie sonderlich interessiert – bis zu dem Tage, 121
an dem ich Lynne Tallman gesehen habe«, erklärte Mike nachdenklich. »Vor allem werde ich ihren Gesichtsausdruck nie vergessen: Obwohl sie Todesqualen erlitten haben muß, hat ihr Gesicht einen fast triumphierenden Ausdruck gezeigt. Man hätte glauben können, sie freue sich über einen gelungenen Streich.« Janet stand auf. »Bist du mir böse, wenn ich jetzt ins Bett gehe? Das lange Aufbleiben strengt mich noch ziemlich an.« »Entschuldige, daß ich das vergessen habe! Willst du morgen früh ausschlafen?« »Ich wache meistens ziemlich früh auf, aber vielleicht kann ich morgen etwas länger schlafen. Gute Nacht, Mike.« »Ich lasse meine Tür offen, falls du nachts etwas hörst, das dich beunruhigt«, sagte er. »Hier am Potomac gibt's große Frösche, die oft die halbe Nacht lang quaken. Manchmal kratzt auch ein harmloser Waschbär an der Küchentür und versucht, an das Essen heranzukommen.« »Ich ängstige mich bestimmt nicht!« versicherte Janet. »Nochmals vielen Dank, daß ich hier wohnen darf, Mike. Ich liebe dein Haus!« »Meinetwegen kannst du einen Teil deiner Zuneigung auf den Hausbesitzer übertragen«, gab Mike lächelnd zurück. »Das wäre bestimmt nicht schwer.« Janets Stimme klang warm, aber sie blieb dabei ernst. »Du mußt mir nur Zeit lassen. Mir fällt es vorläufig schwer genug, mit meinem neuen Ich zurechtzukommen.«
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ls Mike aufwachte, duftete es im ganzen Haus nach Kaffee und Schinken, und er hörte Janet nebenan vor sich hin summen. Er stand auf, schlüpfte in seine Badehose und ging in die Küche 122
hinüber. Janet begrüßte ihn mit einem Lächeln. Sie trug das weiße Bikinioberteil, Shorts und Sandalen. »Guten Morgen«, sagte er. »Habe ich noch Zeit für einen Sprung ins Wasser, damit ich richtig aufwache?« »Laß dir nur Zeit! Wie magst du deine Spiegeleier?« »Leicht überbraten. Okay, ich bin gleich wieder da.« Mike schwamm zum Badefloß hinaus, kam wieder zurück und verschwand im Bad, um sich abzutrocknen und anzuziehen. Als er in Shorts und Polohemd in die Küche trat, waren die Spiegeleier gerade fertig. Janet hatte den Tisch liebevoll gedeckt und sogar eine kleine Vase mit Blumen hingestellt. Da sie beide hungrig waren, sprachen sie bis zur zweiten Tasse Kaffee nicht viel miteinander. »Was kannst du noch außer glänzend schreiben, schwimmen, kochen – und selbst um diese Tageszeit schön aussehen?« fragte Mike. Janet lachte. »Mein Aussehen verdanke ich ganz dir. Hoffentlich schickst du der Fluggesellschaft eine entsprechende Rechnung. Onkel George meint, daß ich eine beträchtliche Abfindung erhalten werde, aber wenn ich in den Spiegel sehe und mein neues Gesicht mit meinem früheren Spiegelbild vergleiche, habe ich fast ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken an eine Schadenersatzklage.« »Vergiß nicht, daß du lebensgefährlich verletzt gewesen bist und große Schmerzen erlitten hast.« »Daß ich noch lebe, ist jedenfalls einzig und allein dein Verdienst!« »Im Orient würde das bedeuten, daß ich unser Leben lang für dich verantwortlich wäre.« Mike lächelte, aber seine Stimme klang plötzlich ernst. »Und je mehr ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, daß ich nichts lieber täte, als diese Verantwortung zu übernehmen.« Janet beugte sich impulsiv nach vorn und griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand. »Das hast du ganz süß gesagt, Mike! Ich bin davon überzeugt, daß keine Frau sich etwas Schöneres wünschen könnte, als von dir geliebt zu werden.« »Warum wehrst du dich dann dagegen?« »Wer wehrt sich denn?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nur nichts 123
überstürzen. Schließlich habe ich mich eben erst von meinem Verlobten getrennt, den ich heiraten wollte – bis ich dich kennengelernt habe. Außerdem weiß ich nicht sicher, ob du wirklich bereit bist, dich an eine einzige Frau zu binden.« »Ich habe dir doch eben erklärt, daß ich dich liebe – obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich nie in eine Patientin zu verlieben. Welche Beweise willst du noch?« »Vielleicht eine Art Probezeit, die mir beweist, daß du monogam leben kannst. Schließlich hast du bereits alles, was ein gutaussehender Junggeselle sich nur wünschen kann.« »Nur dich nicht!« »Du kommst offenbar auch so zurecht. Ich habe in meiner Kommode eine Strumpfhose gefunden – und im Bad lag eine angebrochene Packung Antibabypillen.« »Beides Überbleibsel aus der Zeit der letzten Mieter«, behauptete er geistesgegenwärtig. Janet lachte. »Nein, das glaube ich nicht. Ich muß mein Buch fertig schreiben und den Prozeß gegen die Fluggesellschaft durchfechten, bevor ich wieder mehr Zeit für mein Privatleben habe. Außerdem müssen wir uns erst besser kennenlernen. Bei Gerald habe ich mich auch getäuscht, stimmt's? Ich begreife allerdings selbst nicht mehr, wie ich so dämlich sein konnte. Wie wäre es, wenn wir die kommenden Monate dazu benützen, einander besser kennenzulernen. Dann wissen wir, daß wir nicht von äußeren Einflüssen zu Entscheidungen gedrängt werden, die bedacht werden wollen.« »Zum Beispiel?« »Vergiß nicht, daß ich tatsächlich deine Schöpfung bin, für die du dich logischerweise verantwortlich fühlst. Aber du wirst auch andere Frauen schöner machen – und bei deinem Aussehen werden viele von ihnen bereit sein, sich dir zu schenken – auch ohne Trauschein.« »Wie könnte ich mich für andere Frauen interessieren, wenn ich mit Aphrodite verheiratet wäre?« »Vielleicht wäre ich als Ehefrau sexuell so enttäuschend, wie ich 124
dekorativ bin – und auch das nur durch deine Kunstfertigkeit.« »Diese Frage läßt sich leicht beantworten.« »Nicht so hastig, junger Mann!« wehrte Janet lachend ab. »Arztehen sind ständig gefährdet, weil so viele Patientinnen sich in ihren Arzt verlieben und es ihm auch beweisen wollen. Solange ich außerdem nicht genau weiß, wer ich bin, wäre ich nur eine Belastung für dich.« »Was tun wir also jetzt?« »Dasselbe wie bisher: Wir freuen uns an unserem Zusammensein, ohne deswegen gleich miteinander ins Bett zu gehen.« »Heute nacht gegen halb ein Uhr habe ich mir eingebildet, wir könnten zu viel intimeren Beziehungen gelangen, als…« Janet starrte ihn überrascht und angstvoll an. »Wovon redest du da?« »Weißt du etwa nicht mehr, daß du kurz nach Mitternacht nackt gebadet hast? Und anschließend an meinem Bett gestanden hast, als überlegtest du, ob du zu mir unter die Decke kommen solltest?« »Deshalb sind meine Haare heute morgen noch feucht gewesen…« Janet war blaß geworden. Sie mußte sich einen Ruck geben, um weitersprechen zu können. »Was … was ist passiert, Mike?« »Nichts«, gab er bedauernd zu. »Aber was wäre dabeigewesen, wenn du letzte Nacht mit mir geschlafen hättest, da du mich offenbar so sehr begehrst wie ich dich?« »Mike, ich weiß nichts von dem, was du mir erzählt hast.« »Willst du etwa behaupten, daß ich lüge?« fragte Mike gekränkt. »Natürlich nicht, Liebling!« entschuldigte sie sich rasch. »Aber selbst wenn ich heute nacht zu dir gekommen wäre, hättest du nicht die wahre Janet im Bett gehabt. Berichte mir bitte ganz genau, was passiert ist.« Mike schilderte ihr in allen Einzelheiten, wie er davon aufgewacht war, daß sie vom Bootssteg aus in den Fluß gesprungen war; sie hatte im Mondschein gebadet und war danach nackt ins Haus zurückgekehrt. »Und ich bin in dein Zimmer gekommen?« 125
»Du hast an meinem Bett gestanden«, bestätigte er. »Ich habe dich im Mondschein deutlich gesehen. Du hast mindestens eine Minute lang dagestanden und mich prüfend betrachtet. Dann bist du noch einen Schritt näher getreten, so daß ich geglaubt habe, du würdest in meine Arme kommen. Aber du hast dich wieder abgewandt mit dem gleichen leisen Lachen wie am Abend vor deiner Operation, als du mich gebeten hast, die Brustkorrektur vorzunehmen.« Mike machte eine Pause. »Anschließend bist du hinausgegangen – und dann habe ich dich erst vorhin in der Küche wiedergesehen, wo du das Frühstück gemacht hast.« »Das ist ja furchtbar«, sagte Janet mit einem Schluchzen in der Stimme. »Ich kann also folglich nicht länger leugnen, daß meine zweite Person existiert und ein regelrechtes Flittchen ist?« »Du darfst dich nicht so aufregen.« Mike griff nach ihrer Hand. »Irgend jemand hat einmal gesagt, die ideale Ehefrau sei im Salon eine Dame, in der Küche eine Meisterköchin – und im Schlafzimmer ein Flittchen.« »Aber ich bin nichts dergleichen!« Janet war nahe daran, in Tränen auszubrechen. »Ich bin eine Doppelpersönlichkeit, und keine der beiden Hälften weiß, was die andere tut, während sie meinen Körper beherrscht.« Mike nahm sie tröstend in die Arme. »Hoffentlich bin ich in der Nähe«, sagte er halblaut, »wenn du dich jemals wie ein Flittchen fühlst.« »Nein, du verstehst mich nicht!« protestierte sie. »Ich habe keinen Einfluß auf mein Alter ego. Es läßt sich nicht von mir kontrollieren.« »Letzte Nacht anscheinend doch – sehr zu meinem Bedauern.« »Bitte, mach keine Witze darüber, Mike! Wenn solche Dinge passieren, frage ich mich allen Ernstes, ob ich allmählich den Verstand verliere.« »Mit deinem Verstand ist alles in Ordnung«, antwortete er beschwichtigend. »Du hast eine schwere Gehirnerschütterung erlitten, und deine Gehirnzellen sind einige Minuten lang kaum oder gar 126
nicht mit Sauerstoff versorgt worden. Wegen dieses Sauerstoffmangels wären nachträgliche Funktionsstörungen zu erwarten gewesen, aber du bist seither völlig normal gewesen.« »Nur vergangene Nacht nicht.« »Wahrscheinlich bist du einfach eine Schlafwandlerin. Dir ist es nachts zu heiß gewesen, deshalb hast du ein kühles Bad genommen. Das ist das ganze Geheimnis!« »Und wie erklärst du dir meinen Besuch in deinem Zimmer?« fragte Janet zweifelnd. Mike grinste. »Vielleicht ist dein Sexualtrieb doch stärker, als du annimmst. Als du nackt an meinem Bett gestanden hast, bist du so atemberaubend schön gewesen, daß es mich fast übermenschliche Beherrschung gekostet hat, nicht aufzuspringen und dich in die Arme zu schließen. Aber du bist in dein Zimmer zurückgegangen, was beweist, daß deine wahre Persönlichkeit stärker als diese andere ist, die verschwinden wird, sobald die Spätfolgen der Gehirnerschütterung abklingen.« »Wahrscheinlich hast du recht«, stimmte sie zu. »Außerdem hat Randall McCarthy versprochen, mir zu helfen, da wir hier am Fluß beinahe Nachbarn sein werden. Du weißt doch, daß seine Freunde, das Ehepaar Coven, ein Haus ganz in der Nähe gemietet haben?« Mike nickte ziemlich trübselig. »Mir ist noch nicht ganz klar, was ich davon halten soll, daß er ständig hier herumhocken wird, während ich nur an Mittwochnachmittagen und Wochenenden kommen kann.« »Ich bin Randall höchst dankbar, wenn es ihm gelingt, mich von einer Bête noire zu befreien, während wir uns beide von unseren Operationen erholen.« »Weil wir gerade von Bêtes noires sprechen«, sagte Mike. »Kannst du mit einer Pistole umgehen?« »Ziemlich gut. Warum?« »Sheriff Knotts Leute kommen nur einmal täglich vorbei, deshalb mußt du dich in der übrigen Zeit selbst verteidigen können. Au127
genblick, wir machen gleich ein paar Schießübungen.« Er verschwand und kam bald mit einer kleinkalibrigen Pistole und einer Patronenschachtel zurück. »Damit mache ich vor allem Jagd auf Schildkröten, die Fische verscheuchen«, erklärte er Janet. »Manchmal treiben sich allerdings hier auch Einbrecher herum – vor allem im Winter, wenn viele Häuser unbewohnt sind. Komm, wir gehen auf den Steg, damit du mir deine Schießkünste beweisen kannst.« Mike nahm eine Bierdose aus der Mülltonne. Auf dem Steg schob er ein volles Magazin in die Pistole und gab sie Janet, bevor er die Dose ins Wasser warf. »Glaubst du, daß du sie triffst?« »Zumindest will ich's versuchen.« Janet hob die Pistole, zielte kurz und drückte ab. Die Aluminiumdose flog in die Luft und klatschte ins Wasser zurück. »Gut gemacht! Ich weiß nicht, ob mir das ebensogut gelungen wäre.« Sie gab ihm die Waffe, und er versenkte die Bierdose mit einem zweiten Schuß. »Ich lasse die Pistole mit der Munition und einem vollen Magazin in deiner Kommode. Wenn du willst, kannst du auf Schildkrötenjagd gehen. Sollte sich jemand auf verdächtige Weise in der Nähe des Hauses herumtreiben, genügt sicher ein Schuß in die Luft. Meistens handelt es sich nur um Liebespaare aus der Nachbarschaft auf der Suche nach einem ruhigen Platz.« »Was hast du heute vormittag vor?« fragte Janet. »Eigentlich nichts Bestimmtes.« »Wenn du dich selbst beschäftigen kannst, möchte ich an meinem Buch weiterarbeiten.« »Gut, dann hole ich mein Angelzeug und sehe zu, daß ich etwas fürs Abendessen fange.« »Macht es dir wirklich nichts aus?« »Durchaus nicht, ich bin nämlich begeisterter Angler. Und du brauchst dir keine Sorgen wegen des Mittagessens zu machen. Ich rufe, wenn die Sandwiches fertig sind.« 128
Als Janet nachmittags um vier Uhr zu arbeiten aufhörte, hatte Mike seinen Fang bereits ausgenommen, filetiert und in den Kühlschrank gelegt. Sie fuhren in seinem schnellen Motorboot zwei Stunden weit flußabwärts bis zu der Stelle, wo die US 301 den Potomac auf einer Brücke überquerte. Bei ihrer Rückkunft ging eben die Sonne hinter dem Mount Vernon unter: ein glutroter Ball, der für den nächsten Tag gutes Wetter versprach. »Manchmal ist alles wie ein Traum«, gestand Janet, während sie das Motorboot vertäuten. »Mein Unfall, und daß du mich zu einer Schönheit gemacht hast…« »Das ist alles nur passiert, weil du den Auftrag hattest, Lynne Tallman im Gefängnis zu interviewen.« »Den hatte ich nur einem Zufall zu verdanken«, erläuterte Janet. »Eigentlich sollte ein älterer, erfahrener Kollege das Interview machen, aber Lynne hatte einige meiner Artikel gelesen und sich geweigert, mit jemand anders als mit mir zu sprechen.« »Wie lange hast du sie schon gekannt, als sie diesen Wunsch geäußert hat?« »Ich habe sie zum erstenmal im Fernsehen gesehen, als gezeigt worden ist, wie sie nach ihrer Festnahme von FBI-Männern abgeführt worden ist. Daß sie mich als Gesprächspartnerin haben wollte, ist eine völlige Überraschung für mich gewesen. Merkwürdigerweise hat Lynne auch gut über mich Bescheid gewußt – über Onkel George, mein Studium an der Northwestern University und meine Arbeit.« »Ich habe inzwischen einige Artikel gelesen, die du über sie geschrieben hast. Baut dein Buch auf ihnen auf?« »Das Material bleibt natürlich gleich, aber ich hoffe, daß die Darstellung besser wird. Bei Zeitungsartikeln hat man nie genug Zeit, weil immer irgendein Termin einzuhalten ist. Möchtest du lesen, was ich bisher geschrieben habe? Ich gebe dir das Manuskript gern.« »Es interessiert mich natürlich – aber ich bin kein Literaturkritiker.« »Ich schreibe auch kein literarisches Werk, sondern gebe hauptsächlich wieder, was Lynne mir erzählt hat. Ich habe ihre Angaben 129
separat geprüft und festgestellt, daß sie bis auf Kleinigkeiten stimmen.« »Sobald ich geduscht und mich umgezogen habe, kann ich mit dem Lesen anfangen«, schlug Mike vor. »Machst du uns nachher ein paar Sandwiches?« »Vielleicht sogar ein richtiges Abendessen, obwohl ich nicht versprechen kann, mich als die Meisterköchin zu erweisen, die du dir als Ehefrau wünschst.« »Ich habe nicht behauptet, daß ich eine will«, protestierte Mike, »sondern nur gesagt, daß manche Leute das von einer idealen Ehefrau fordern.« »Richtig«, bestätigte sie lachend, »du wolltest nur ein Flittchen fürs Schlafzimmer! Geh jetzt unter die Dusche, aber laß mir ein bißchen heißes Wasser übrig, ja?« Der Umfang von Janets Manuskript verblüffte Mike. Sie hatte bisher über zweihundert Schreibmaschinenseiten getippt – und mußte noch Lynne Tallmans Entschluß, sich schuldig zu bekennen, den Unglücksflug nach Washington und das tragische Ende auf dem Flughafen schildern. Mike fand die Darstellung so spannend, daß er nur widerstrebend eine Pause einlegte, als Janet zum Abendessen rief. Je mehr er las, desto besser verstand er, warum Janet in ihrem Beruf so schnell Karriere gemacht hatte. Lynne Tallman stand jetzt als komplexes Wesen vor seinem inneren Auge: gewissenlos, ohne Rücksicht auf die Meinungen anderer, sogar eine Mörderin, weil sie sich an die Spitze einer Bewegung gestellt hatte, deren Anschläge über fünfzig Menschen den Tod gebracht hatten. Als Mike die letzte Manuskriptseite weglegte, sah er zu seinem Erstaunen, daß es bereits nach ein Uhr morgens war. Er hatte gar nicht gemerkt, daß Janet längst ins Bett gegangen war. Im Flur sah er, daß sie ihre Schlafzimmertür offengelassen hatte, damit ein kühler Luftzug durch den Raum streichen konnte – eine rührend vertrauensvolle Geste. Mike gab einem Impuls nach, schlich 130
auf Zehenspitzen an ihr Bett und küßte die Schlafende. Weiche Arme schlangen sich für wenige Sekunden um seinen Hals, als Janet seinen Kuß erwiderte; aber dann sanken ihre Arme wieder herab, und sie schlief mit einem leisen Seufzer weiter.
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A
m Sonntagmorgen standen Mike und Janet erst gegen zehn Uhr auf, nahmen ihr Morgenbad im Fluß und setzten sich an den Frühstückstisch, den diesmal Mike gedeckt hatte. »Jetzt kannst du mir sagen, was du von meinem Manuskript hältst«, schlug Janet vor, als Mike ihnen Kaffee nachschenkte. »Mit einem guten Frühstück im Magen wirft mich so leicht nichts um.« »Ich finde dein Buch hochinteressant und spannend, geradezu sensationell«, antwortete Mike. »Damit wirst du reich und berühmt! Wie du schreibst, kannst du dir dein Geld spielend als freie Journalistin verdienen – falls du das willst.« »Das ist eben das große Problem, Mike«, gab sie zu. »Früher bin ich mit meinem Job und der Aussicht auf eine Ehe mit Gerald zufrieden gewesen. Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich will – und nicht einmal, wer ich wirklich bin.« »Das sind Nachwirkungen deiner schweren Gehirnerschütterung.« »Randall McCarthy hat mir das gleiche versichert, und da ihr beide Kapazitäten eures Faches seid, müßte ich eigentlich überzeugt sein, aber…« Mikes Telefon klingelte schrill. »Verdammt noch mal!« sagte er und stand auf, um in seinem Schlafzimmer ans Telefon zu gehen. »Das muß das Krankenhaus sein. Ich habe dort meine Nummer für Notfälle hinterlassen.« »Na, auch schon wach, Doc?« fragte Randall McCarthy jovial. 131
»Natürlich. Wir haben schon gebadet und gefrühstückt. Seit wann sind Sie hier?« »Seit Freitagabend. Wir sind gestern nachmittag in Roger Covens Boot bei Ihnen vorbeigekommen. Aber Ihr Motorboot hat nicht am Steg gelegen, und ich habe auf mein Rufen keine Antwort bekommen.« »Wir haben eine Spazierfahrt bis zur großen Brücke unternommen und sind erst bei Einbruch der Dunkelheit zurückgekehrt«, bestätigte Mike. »Um Ihr heutiges Mittagessen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen: Sie sind beide zum Essen eingeladen und können hier auch baden und Wasserski fahren, wenn Sie wollen. Am besten kommen Sie gleich im Badeanzug herüber.« »Ich muß erst Janet fragen«, antwortete Mike ausweichend. »Klar, aber reden Sie ihr gut zu. Ich möchte, daß sie die Covens kennenlernt, da wir eine Zeitlang Nachbarn sein werden. Ich habe ihnen von Ihrer phantastisch erfolgreichen Operation erzählt, und die beiden sehen trotz meiner noch verfärbten Haut, wie gut Sie mich hinbekommen haben. Sie wollen Sie unbedingt kennenlernen, Mike.« Mike bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und drehte sich nach Janet um, die an die Schlafzimmertür gekommen war. »Es ist McCarthy – die Covens laden uns ein, bei ihnen zu baden und zu essen. Was hältst du davon?« »Ich richte mich ganz nach dir.« »Ich wäre lieber mit dir allein, aber ich möchte sehen, was für Nachbarn du da hast.« Er nahm die Hand von der Sprechmuschel. »Janet kommt gern. Wir sind in ungefähr einer Stunde drüben.« »Okay, wir erwarten euch.« Drei gutaussehende Leute sonnten sich auf der Terrasse von Lanes Haus, als Mikes Boot anlegte. Janet warf die Bugleine einem hageren Schwarzhaarigen zu, der auf den Steg hinausgelaufen kam. Randall 132
McCarthy stemmte sich aus seinem Liegestuhl hoch und trabte ebenfalls zum Steg, um Janet beim Aussteigen zu helfen. »Euer Gastgeber ist Roger Coven, und die üppige Blondine dort drüben ist Rita, seine charmante Ehehälfte«, sagte McCarthy. »Das hier sind Mike und Janet, Leute. Ich schlage vor, daß wir die Nachnamen gleich weglassen.« McCarthy hatte Rita Coven zutreffend charakterisiert, wie Mike feststellte, als sie sich jetzt aufrichtete. Sie war blond, blauäugig und gerade mollig genug, um das Adjektiv ›üppig‹ zu rechtfertigen; dabei trug sie einen winzigen Bikini, der womöglich kleiner als der Janets war. Ihr Mann hatte breite Schultern, ein schmales, kantiges Gesicht und kalte graue Augen, die nicht die geringste Wärme ausstrahlten, obwohl er seine Gäste freundlich begrüßte. »Randall hat mir davon vorgeschwärmt, daß Mike Sie in die Aphrodite des Praxiteles verwandelt hat, Janet«, sagte Rita Coven mit hörbar neidischem Unterton. »Das habe ich ihm nicht abgenommen, aber ich sehe ein, daß er keineswegs übertrieben hat.« Sie wandte sich an Mike. »Sie sind ein regelrechter Künstler, Mike.« »Ich habe mit gutem Material arbeiten können. Janets Knochenstruktur ist ausgezeichnet gewesen, und ich habe sie lediglich an einigen Stellen verändern müssen.« »Und mit Randall ist Ihnen ein weiteres Meisterstück gelungen! Ich habe mich allmählich daran gewöhnt, ihn als lüsternen, langsam alternden Satyr zu sehen, aber jetzt haben Sie den reinsten Adonis aus ihm gemacht.« Rita lächelte. »Nur eine Kleinigkeit ist schiefgegangen.« »Welche?« »Er ist schon immer eitel gewesen – jetzt ist er geradezu unerträglich. Ich nehme an, er hat Ihnen erzählt, daß wir vor vielen Jahren an der Duke University zusammengearbeitet haben?« »Roger und Rita gehören zu den besten Versuchspersonen in bezug auf extrasensorische Perzeption, die mir je untergekommen sind«, stellte McCarthy fest. »Als ich einmal zu einem Seminar in England gewesen bin, haben wir einen Versuch gemacht: Roger hat sich be133
müht, mir ein Bild von einer in den Duke Gardens blühenden seltenen Orchidee zu übermitteln. Und ich habe sie danach in allen Einzelheiten richtig gezeichnet.« »Ist es nicht manchmal peinlich, Männer um sich zu haben, die Ihre Gedanken lesen können?« erkundigte Janet sich bei Rita Coven. Die Blondine lachte: »Oh, das ist nicht so schlimm. Ich denke ohnehin meistens an das gleiche wie sie.« Was sie damit meinte, war klar. »Lassen Sie sich nicht von Ritas Offenheit verblüffen, Janet«, riet McCarthy schmunzelnd. »Sie ist selbst ein hervorragendes Medium – und noch dazu verdammt tüchtig in ihrem Beruf. Wie kommen Sie übrigens mit Ihrem Buch voran?« »Ich fange morgen mit den Schlußkapiteln an, sobald Mike nach Washington zurückfährt.« »Ich muß schon ziemlich früh aufbrechen«, sagte Mike. »Um zehn Uhr steht bereits eine Haartransplantation auf dem Programm.« »Gott sei Dank, daß ich die nicht auch noch gebraucht habe!« meinte McCarthy. »Mike hat die bisher fertigen Kapitel gestern abend gelesen.« Janet lächelte zu ihm hinüber. »Er findet sie ziemlich gut.« »Ziemlich gut – Unsinn!« widersprach Mike. »Ich finde es faszinierend!« »Mich interessiert es auch sehr«, warf Roger Coven ein, der bisher schweigend zugehört hatte. »Ich erinnere mich noch gut an Lynne Tallman. Sie hat an der University of Chicago Physik studiert, als ich dort Assistent gewesen bin.« »Dann müssen Sie mir von ihr erzählen!« bat Janet ihn sofort. »Ich fahre lieber Wasserski, als mir eure langweiligen alten Geschichten anzuhören.« Rita stand auf und griff nach ihrer Bademütze. »Es sei denn, es fände sich kein Kavalier, der mich ziehen will.« »Wir können mein Boot nehmen«, schlug Mike vor. »Ich steuere«, erbot McCarthy sich, »und Sie können mit Rita fahren, Mike.« 134
»Vielleicht will Janet doch mitkommen?« meinte Rita. »Ich bin keine gute Wasserskiläuferin, und Mike möchte nicht, daß ich's schon wieder versuche«, antwortete Janet. »Wenn ich bei voller Fahrt mit dem Gesicht voraus ins Wasser klatsche, müßte ich gleich wieder auf den Operationstisch. Außerdem würde ich mich lieber mit Roger über Lynne unterhalten.« McCarthy erwies sich als ausgezeichneter Steuermann, und sie fuhren weit flußabwärts, bevor er in einem großen Bogen umkehrte. Als sie zurückkamen, sprachen Roger und Janet noch immer ernsthaft miteinander – über Lynne Tallman, vermutete Mike. »Wo haben Sie so gut Wasserskifahren gelernt?« fragte er Rita, als sie über die Badeleiter auf den Steg kletterten, während McCarthy im Boot beschäftigt war, die doppelte Schleppleine aufzuschießen. »Während wir in Oak Ridge gewohnt haben, bin ich viel auf den TVA-Stauseen herumgekurvt. Sie wissen doch, daß Roger bei der Atomic Energy Commission ist?« »Ja, Randall hat so etwas angedeutet.« »Roger geht völlig in seiner Arbeit auf«, stellte die Blondine fest. »Ich könnte den ganzen Tag unterwegs sein – meistens auch die ganze Nacht, nur an den Wochenenden nicht –, ohne daß er überhaupt merken würde, daß ich nicht zu Hause bin.« Das war eine kaum verhüllte Einladung, und Mike war Mann genug, um sich darüber im klaren zu sein. »Ich bin in den nächsten Monaten wahrscheinlich oft hier«, antwortete er. »Ganz in der Nähe gibt es ein nettes Lokal, die ›Taverna Milano‹. Vielleicht gehen wir einmal alle gemeinsam aus.« »Alle?« Rita zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe eher an einen kleineren Rahmen gedacht.« Mike wechselte das Thema. »Ich bin noch nie in Oak Ridge gewesen. Wie ist das Leben dort?« »Langweilig. Ein Haufen unnützer Sicherheitsvorkehrungen und Ehefrauen, die sich irgendwie zu beschäftigen versuchen, ohne sich einen Liebhaber zu nehmen – zumindest in der ersten Zeit. Später passen sie sich dann an. Das dortige Leben leidet unter dem so135
genannten Lockheed-Syndrom: müde, unromantische Ehemänner, langweiliges Bridge, Kinder, die in die Schule fahren und wieder abgeholt werden müssen, Clubversammlungen… Sie wissen ja, wie das ist.« »Sie haben keine Kinder, stimmt's?« »Nein, und ich bin ganz froh darüber. Roger ist ein guter Liebhaber, wenn er sich darauf konzentriert – was allerdings nicht sehr oft vorkommt.« »Hier dürfte es noch weniger Abwechslung als in Oak Ridge geben, fürchte ich.« Rita lachte. »Sie unterschätzen unseren Freund Randall McCarthy. Vergessen Sie nicht, daß der Autor des Buches ›Spiele für Erwachsene‹ ein Psychiater ist. Randall kennt ein paar Spiele, von denen sein Kollege wahrscheinlich nicht einmal gehört hat.« Um drei Uhr gab es ein verspätetes Mittagessen, das allerdings köstlich war. Janet und Mike entschuldigten sich danach mit der Behauptung, Janet wollte noch arbeiten. »Du scheinst dich ja glänzend mit Rita zu verstehen«, meinte Janet auf der Rückfahrt. »Sie ist auch sehr attraktiv.« »Wenn man für üppige Blondinen schwärmt, die praktisch nur darauf warten, mit einem ins Bett gehen zu dürfen.« Sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Ich habe den Eindruck gehabt, du seist nicht gerade abgeneigt – unter anderen Umständen.« Mike grinste. »Man darf schließlich nicht alles auf eine Karte setzen – das wäre dumm. Außerdem bin ich davon überzeugt, daß McCarthy sich sehr um dich bemühen wird, während ich in Washington schufte.« »Er hat mich wenigstens beachtet«, stellte Janet aufgebracht fest. »Das kann man dir heute nachmittag nicht nachsagen!« »Ich habe versucht, Informationen zu sammeln. Rita wird nach ein paar Stunden und ein paar Drinks recht gesprächig.« »Und was ist das Ergebnis deiner Bemühungen?« »Vielleicht bin ich nur neugierig, aber ich frage mich, warum die Covens sich so schnell hier am Potomac etabliert haben, nur um 136
einem alten Freund einen Gefallen zu tun.« »Hast du nicht gesagt, daß Randall die Miete zahlt?« »Das kommt mir auch merkwürdig vor. Als Atomphysiker verdient Roger bestimmt eine Menge Geld – vielleicht sogar mehr als Randall. Nein, es muß noch einen weiteren Grund als den offiziell genannten für diese traute Gemeinsamkeit geben.« »Soll das heißen, daß du sie ausdrücklich danach gefragt hast?« »Nein«, antwortete Mike. »Aber Rita hat kein Hehl aus der Tatsache gemacht, daß sie viel Spaß an diesem Zusammenleben zu dritt haben.« »In einem Dreiecksverhältnis?« »Ja, so ähnlich.« »Ich habe schon davon gelesen, aber noch niemanden kennengelernt, der tatsächlich zu einem gehört hat. Wie funktioniert so etwas?« »Wenn du das nicht weißt, denke ich gar nicht daran, es dir zu erklären! Mir ist's lieber, wenn meine zukünftige Frau von solchen Dingen keine Ahnung hat.« »Manchmal ärgere ich mich etwas über meine Naivität, Mike«, gestand Janet. »Als Lynne einmal von der ›Missionarsstellung‹ gesprochen hat, habe ich sie fragen müssen, was man darunter versteht. Sie hat mich später immer wieder damit aufgezogen!« »Tust du mir einen Gefallen?« fragte er, während sie das Boot festmachten und die Persenning darüberzogen. »Laß dich nicht mehr mit den dreien ein als unbedingt nötig.« »Heißt das, daß du auf Randall McCarthy eifersüchtig bist?« »Natürlich, aber ganz so einfach ist die Sache auch wieder nicht. Ich habe von Anfang an den Verdacht gehabt, daß bei ihm und den Covens irgend etwas nicht ganz stimmt.« »Warum hast du ihn dann operiert?« »Wer kann es sich leisten, auf ein gutes Honorar zu verzichten. Zumal ich heiraten will, sobald die Frau, die ich liebe, sich dazu durchringen kann? Hat Roger dir übrigens Einzelheiten über Lynne erzählen können?« 137
Janet runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?« »Nun, er kennt sie doch noch aus Chicago, und ihr habt euch danach angeregt unterhalten.« »Eigenartig«, meinte Janet besorgt. »Ich weiß noch, daß er mir erzählt hat, er habe sie als Physikstudentin in einem von ihm geleiteten Seminar kennengelernt. Alles Sonstige scheint mir entfallen zu sein. Glaubst du, daß ich…« Sie machte eine Pause und warf Mike einen bittenden Blick zu. »Wie erklärst du dir das, Mike?« »Ich weiß noch keine Erklärung dafür«, gab er zu. »Offenbar hat deine zweite Persönlichkeit sich in den Vordergrund gedrängt.« Mike zuckte mit den Schultern. »Am besten hältst du Augen und Ohren offen und rufst mich sofort an, falls etwas Ungewöhnliches passiert.« »Wie kann ich mich vor Gefahren in acht nehmen – und du redest ja wohl von Gefahren –, wenn du selbst nicht weißt, woraus sie bestehen?« »Falls mein Verdacht sich bestätigt und wir beide wachsam sind, finden wir vielleicht die Antwort … und die Frage. Ich bin davon überzeugt, daß sie irgendwie mit dir zusammenhängen wird, deshalb mache ich mir große Sorgen. Versprichst du mir, mich auf dem laufenden zu halten?« »Natürlich, Liebling. Und ich verspreche dir auch, jedesmal einen Bademantel zu tragen, wenn einer von des Sheriffs Leuten kommt. Ich will schließlich nicht, daß dein hiesiger Ruf als ehrsamer, moralisch gefestigter Bürger Schaden leidet.« Mike rang sich ein zustimmendes Lächeln ab. Sein sechster Sinn warnte ihn vor einer Gefahr, in der Janet schwebte: Aber ihm fiel nur die Möglichkeit ein, jemand aus Lynne Tallmans Gruppe könne versuchen, Janet und ihr Buchmanuskript zu vernichten, um etwaige Enthüllungen über den Teufelskult zu verhindern. Und solange die County Patrol auf verdächtige Herumtreiber achtete, konnte diese Gefahr nicht allzu groß sein.
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n den nächsten zwei Wochen befand Mike sich im siebten Himmel. Er fuhr an Mittwochnachmittagen und Wochenenden zu seinem Haus und verliebte sich dort mehr in die von ihm mitgeschaffene Schönheit, als er es je für möglich gehalten hätte. Und er wußte, daß Janet ihn ebenso liebte. Sie kamen nur selten mit den Covens oder Randall McCarthy zusammen, sondern blieben lieber zu zweit allein. Am Mittwochnachmittag der dritten Woche, an dem Mike mittags zu seinem Wochenendhaus hinausgefahren wäre, wurde er zu einer dringenden Operation ins University Hospital gerufen. Mike kam erst nach sechs Uhr aus dem Operationssaal, in dem er großflächige Hautübertragungen an einem Jungen vorgenommen hatte, der beim Bau einer selbstkonstruierten Rakete schwere Verbrennungen erlitten hatte. Als Mike vor dem Umziehen bei Janet anzurufen versuchte, war die Nummer belegt. Er wählte sie noch mehrmals, kam aber erst nach etwa einer halben Stunde durch. »Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst, Mike«, sagte Janet. »Bei einem Jungen mit schweren Verbrennungen mußten große Hautübertragungen vorgenommen werden.« »Puh! Erinnere mich lieber nicht daran, daß ich auch hätte verbrennen können.« »Wie kommst du zurecht?« »Danke, mir geht's ausgezeichnet. Ich arbeite täglich bis zu zwölf Stunden und falle abends ins Bett, ohne mir auch nur die Fernsehnachrichten anzusehen. Heute morgen hat Onkel George angerufen, um mir zu sagen, daß der Verleger unbedingt das Manuskript braucht, damit er es in Satz geben kann. Wenn ich so weiterarbeite, habe ich es in zehn Tagen geschafft. Es wird allerdings auch Zeit, denn das Buch muß erscheinen, solange die Leser sich noch an die dramatischen Umstände von Lynnes Tod erinnern.« »Kommst du viel mit McCarthy zusammen?« »Er weiß genau, daß er mich nicht bei der Arbeit stören darf!« 139
zerstreute Janet lachend seine Bedenken. Sie wurde wieder ernst. »Wie sieht's am Wochenende aus? Du kommst doch am Freitagnachmittag?« »Unter allen Umständen! Warum fragst du danach?« »Ich wollte mir vor dem Abendessen einen Highball mixen, um meine Enttäuschung über dein Ausbleiben darin zu ertränken, und mußte feststellen, daß wir fast keinen Bourbon mehr im Haus haben.« »Meine Lieblingsmarke gibt's in der ›Taverna Milano‹«, sagte Mike. »Ich kaufe am Freitag eine Flasche und bringe sie mit. Aber jetzt will ich dich nicht länger von der Arbeit abhalten, mein Schatz. Du mußt mir nur versprechen, nicht allzu spät ins Bett zu gehen.« »Wird gemacht«, stimmte Janet lachend zu. »Rita Coven hat mir heute die Einkauferei abgenommen und mich für morgen abend zum Ausgehen mit Roger und Randall eingeladen. Ich weiß allerdings nicht recht, ob ich Lust dazu habe.« »Ein bißchen Abwechslung täte dir vielleicht gut, aber du mußt auf diesen McCarthy aufpassen. Ich bezweifle, daß er in bezug auf dich ehrliche Absichten hat.« Janet lachte erneut. »Keine Angst, Liebling, ich weiß mich meiner Haut zu wehren! Falls Randall zudringlich wird, soll er mich kennenlernen!« »Wirklich nette Nachbarn, die Sie da haben, Dr. Kerns«, sagte Jake, der Barkeeper in der ›Taverna Milano‹, als Mike dort am Freitagnachmittag eine Flasche Bourbon kaufte. »Sie sind gestern abend mit Miß Burke hiergewesen. Eine echte Schönheit!« »O ja, durchaus«, bestätigte Mike lächelnd. »Wie eine griechische Statue, finde ich. Aber sie ist vielleicht in Fahrt gewesen! Und erst der Professor! Alle haben davon gesprochen, wie Sie Dr. McCarthy verjüngt und Miß Burke nach ihrem Unfall ein neues Gesicht gegeben haben. Schreibt sie wirklich ein Buch über die Tallman?« 140
»Ja. Sie hat mein Haus gemietet, um in Ruhe daran arbeiten zu können. Es soll schon bald erscheinen.« »Das wird bestimmt hochinteressant! Diese Lynne Tallman ist ein richtiges Biest gewesen, glaub ich.« Janet kam aus dem Haus, als sie Mikes Porsche hörte. In ihrem hellen Sommerkleid erschien sie ihm noch schöner und begehrenswerter, als er sie in Erinnerung hatte. Die letzten Hautverfärbungen in ihrem Gesicht verschwanden fast ganz unter Sonnenbräune und dem dunklen Make-up, das sie auf seinen Rat hin benützte. »Onkel George möchte, daß wir uns zum Abendessen in Alexandria mit ihm treffen«, erklärte sie zur Begrüßung. »Wir können's gerade noch rechtzeitig schaffen.« »Wozu die Eile?« fragte er und küßte sie. »Am besten gebe ich gleich zu, was ich angestellt habe.« Janet zögerte. »Als ich gestern mit Roger, Randall und Rita ausgegangen bin, habe ich einen über den Durst getrunken, wie man so schön sagt. Wenn ich angeheitert bin, rede ich immer zuviel, und Onkel George ist von irgend jemand darauf angesprochen worden.« »Ich komme gerade aus der ›Taverna Milano‹«, berichtete Mike. »Der Barkeeper hat mir erzählt, wie ausgelassen ihr gefeiert habt. Aber davon weißt du nichts?« »Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, in der ›Taverna Milano‹ gewesen zu sein…« »Der Barkeeper jedenfalls hat erzählt, daß du toll in Fahrt gewesen bist.« »Und du bist jetzt eifersüchtig? Armer Mike!« Sie küßte ihn zum Trost und schob ihn dann von sich fort zum Auto. »So, das war's vorerst, und wenn du dich nicht anständig benimmst, wird nicht mehr geschmust, wenn wir nach Hause kommen. Außerdem brauchst du nicht auf Randall McCarthy eifersüchtig zu sein: Er will mich nur verführen.« »Reicht das etwa nicht?« 141
»Ich habe dir doch gesagt, daß ich mich meiner Haut wehren kann, Liebling. Falls Randall zudringlich werden sollte, steht ihm eine unangenehme Überraschung bevor. Aber er heitert mich auf, wenn ich von der Arbeit müde und deprimiert bin, deshalb habe ich ihn gern um mich.« »Was ist mit Roger und Rita Coven?« wollte Mike wissen, als er wendete und zur Hauptstraße zurückfuhr. »Roger ist ein bißchen undurchsichtig. Ich weiß von Rita, daß er ein hervorragender Atomphysiker ist, aber er spricht nie über seine Arbeit.« »Er scheint überhaupt ein großer Schweiger zu sein«, behauptete Mike. »Wahrscheinlich hast du mit deiner Vermutung betreffs des Dreiecksverhältnisses recht. Rita und Randall sind offenbar schon lange sehr gute Freunde, und Roger scheint nichts dagegen zu haben – was bedeutsam genug ist.« »Kein Wunder, daß du eine Starreporterin bist, wenn du das alles rausgekriegt hat, während du angesäuselt in einer halbdunklen Kneipe…« »Ich habe dir doch gesagt, daß ich mich nicht einmal daran erinnern kann, in der ›Taverna Milano‹ gewesen zu sein! Was ich weiß, habe ich von Rita. Sie hat es mir heute morgen erzählt. Seitdem hat sie übrigens nicht mehr angerufen.« »Wahrscheinlich ist sie sauer, weil du dich auf Randall McCarthy gestürzt hast.« »Ich finde dich süß, wenn du eifersüchtig bist, Liebling.« Janets Hand ruhte kurz auf seiner. »Meine Zurückhaltung hat einen ganz bestimmten Grund, weißt du. Ich ängstige mich ein bißchen, daß du in mir ein Wesen sehen könntest, das du geschaffen und auf das du deshalb einen Besitzanspruch hast.« »Tatsächlich? Ich meine, habe ich denn einen Besitzanspruch?« »Nicht ganz, aber ich sage dir rechtzeitig, wann's soweit ist – vielleicht schon bald, wenn ich mit dem Buch fertig bin und nicht mehr ständig an Lynne Tallman und das Flugzeugunglück denken muß.« 142
»Wie lange brauchst du noch?« »Acht bis zehn Tage. Rita fragt mich jedesmal danach, wenn wir uns sehen.« »Vielleicht haben Roger und Lynne in Chicago etwas miteinander gehabt«, meinte Mike nachdenklich und runzelte die Stirn. »Hat Roger noch mal von ihr angefangen?« »Bevor wir in die ›Taverna Milano‹ gefahren sind, hat es bei den Covens einen Drink gegeben«, berichtete Janet. »Dabei hat er mich aufgefordert, ihm den Hergang des Flugzeugunglücks – von der Ankündigung des Piloten, es gebe Schwierigkeiten mit dem Fahrwerk, bis zu dem Augenblick, in dem ich das Bewußtsein verloren habe –, genau zu schildern. Glaubst du, daß dieses eigenartige Interesse auf seine Bekanntschaft mit Lynne zurückzuführen ist?« »Vielleicht, aber es kann auch einfach morbide Neugier sein.« Janet schüttelte den Kopf. »So einfach ist die Sache bestimmt nicht, Mike. Ich vermute, daß Roger Lynne schon vor vielen Jahren gekannt hat – wahrscheinlich bereits vor seiner Ehe mit Rita. Jetzt fällt mir übrigens auch ein, daß er über Gehirnerschütterungen gesprochen hat. Er hat als Student Football gespielt und sich dabei eine zugezogen, nach der er monatelang unter Gedächtnisaussetzern gelitten hat.« »Was versteht er darunter?« erkundigte Mike sich gespannt. »Na ja, er ist manchmal irgendwo zu sich gekommen – so hat er's bezeichnet –, ohne zu wissen, wie er dorthin geraten war. Oder er hat nicht einmal gewußt, wie lange er schon ohne Erinnerung gewesen ist – und genau das ist mir inzwischen mehrmals passiert!«
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ls Mike und Janet das ›Howard Johnson's Restaurant‹ am Beltway jenseits des Potomc erreichten, marschierte George Stanfield nervös auf dem Parkplatz hin und her. »Wo brennt's denn?« fragte Mike ihn, während er Janet beim Aussteigen half. »Los, kommt schon, wir haben's eilig!« drängte der Chefredakteur. »Wir können eine Kleinigkeit essen, während ich euch die Sache erkläre. Für ein richtiges Abendessen bleibt leider keine Zeit mehr.« »Hat das alles mit dem Donnerstagabend in der ›Taverna Milano‹ zu tun, Onkel George?« wollte Janet wissen. »Tut mir leid, daß ich ein bißchen über den Strang geschlagen habe.« »Schon gut, schon gut«, wehrte Stanfield ab. »Ich hätte nicht erst versuchen sollen, dich so lange versteckt zu halten, aber ich habe gehofft, wir würden dein Buch ankündigen und gleichzeitig die neue Janet Burke vorstellen können.« »Ich weiß nicht mehr, was passiert ist, nachdem ich bei meinen Bekannten zwei Drinks bekommen habe. Dieser verflixte Alkohol – ich vertrage einfach nichts…« Stanfield winkte eine Bedienung heran. »Dreimal Hamburger und Kaffee – wir haben's eilig«, sagte er, bevor er sich wieder an Janet wandte. »Unser Korrespondent fürs Westufer ist zufällig in dem Lokal gewesen und hat heute morgen unseren Klatschkolumnisten angerufen, um ihm deinen spektakulären Auftritt zu schildern. Da wir nicht wissen, wer von Presse, Rundfunk und Fernsehen davon erfahren haben kann, habe ich beschlossen, dich in der Sonntagsausgabe vorzustellen, bevor ein Fernsehteam bei dir aufkreuzt.« Stanfield sah zu Mike hinüber. »Wieviel Material können Sie uns aus der Krankenhauszeit zur Verfügung stellen?« »Ein Fotograf hat alle Phasen der Operation aufgenommen«, antwortete Mike. »Ich habe einen kompletten Satz seiner Bilder – und die Genehmigung des Krankenhauses, sie zu veröffentlichen.« 144
»Ausgezeichnet! Das ist ein großer Vorteil. Wir wollen das chirurgische Wunder, das Janet nicht nur das Leben gerettet, sondern sie auch zu einer bemerkenswert schönen Frau gemacht hat, in allen Einzelheiten schildern.« Der Chefredakteur beugte sich nach vorn, um Janet prüfend zu betrachten, und nickte dann zufrieden. »Dein dunkles Make-up verdeckt die letzten Verfärbungen fast ganz, mein Schatz. Die Maskenbildnerin, die ich für heute abend in unser Atelier bestellt habe, kann sie wahrscheinlich völlig verschwinden lassen.« Stanfield wandte sich wieder an Mike. »Was ist aus dem Abguß geworden, den Sie von Ihrem Plastilinmodell haben anfertigen lassen?« »Den Bronzeabguß habe ich zu Hause – gemeinsam mit dem übrigen Material, das ich gesammelt habe, um auf einem Fachkongreß im Herbst über Janets Fall berichten zu können.« »Würden Sie von hier aus in Ihre Wohnung fahren, um alles zu holen, während ich Janet in die Redaktion bringe, wo die Maskenbildnerin wartet?« schlug Stanfield vor. Er sah zu seiner Nichte hinüber. »Hast du deinen Bikini mitgebracht?« »Ja, in der Handtasche. Aber er ist sehr offenherzig.« »Je offenherziger du dich zeigst, desto mehr Zeitungen verkaufen wir am Sonntagmorgen«, flachste Stanfield. »Wir sind im Fotoatelier, wenn Sie in die Redaktion kommen, Mike. Sie brauchen dem Pförtner nur Ihren Namen zu nennen, dann hilft er Ihnen, die Sachen herauf zubringen. Aber vergessen Sie auch das ursprüngliche Modell nicht.« »Ich bringe außerdem ein Farbfoto der Aphrodite im Britischen Museum mit«, versprach Mike. »Ein Freund in London hat es mir auf meine Bitte hin geschickt. Es ist für die Operation zu spät gekommen – aber Sie können es vielleicht brauchen.« »Ausgezeichnet.« Stanfield war sichtlich zufrieden. »Molly Walker ist eine unserer besten Journalistinnen. Sie wartet bereits und wird Janet während der Aufnahmen interviewen. Der Schnappschuß, den ich Ihnen für Ihr Modell geliehen habe, soll den Lesern zei145
gen, wie Janet vor der Operation ausgesehen hat, Mike. Vergessen Sie ihn also bitte auf keinen Fall zu Hause.« »He!« sagte Janet plötzlich. »Werde ich denn überhaupt nicht gefragt?« »Doch, doch«, versicherte Stanfield. »Was paßt dir also nicht?« »Eigentlich alles. Aber ich sehe ein, daß du deine Story brauchst…« Janet posierte in dem weißen Bikini, als Mike etwa eine Stunde später in das strahlend helle Atelier kam. Er brachte die nach seinem Modell gegossene Bronzebüste mit. Der Pförtner hinter ihm trug zwei große Schachteln mit Abzügen der Röntgenaufnahmen und den während der Operation gemachten Fotos. »Gut, daß Sie schon kommen, Mike«, sagte Stanfield, der im gleichen Augenblick aus der Dunkelkammer trat. »Die ersten Schwarzweißfotos sind hervorragend. Haben Sie das Farbfoto von Janet gefunden, das ich Ihnen damals geschickt habe?« »Hier.« Mike nahm es aus einem Umschlag und gab es dem Fotografen, der hinter Stanfield aufgetaucht war. Der junge Mann studierte die Aufnahme und nickte dann zufrieden. »Kodacolor, stimmt's?« fragte er Janet. »Ja. Ist das schlecht?« »Nein, nein, die Kontraste sind genau richtig für die Farbfotos, die ich jetzt von Ihnen machen werde.« Er sah den Bronzeabguß und die Aufnahme der Aphrodite im Britischen Museum. »Wißt ihr, was sensationell wäre? Dieses Foto, eine Aufnahme von Dr. Kerns' Modell und ein Bild von Miß Burke – alles in drei Spalten nebeneinander.« Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Eine zweitausendjährige Schönheit, ein Modell, das den Lesern zeigt, was Dr. Kerns sich vor der Operation vorgenommen hatte, und das Endergebnis à la Aphrodite.« »Aber nicht als Aktaufnahme!« protestierte Janet. »Okay, wenn Sie nicht wollen«, meinte der Fotograf schulterzuckend. 146
»Mit einer Aktaufnahme könnte Dr. Kerns ein Vermögen machen«, stellte Molly Walker fest. »Am Montagmorgen würden Patientinnen bei ihm Schlange stehen und ihn bitten, ihnen einen solchen Busen zu schenken.« »Janet hat nein gesagt, und dabei bleibt's!« sagte Mike energisch. »Außerdem brauche ich die Werbung nicht. Meine Praxis ist schon groß genug.« Am nächsten Morgen kam Mike in alten Jeans und einem T-Shirt zum Frühstück. »Wenn du heute arbeitest, will ich auch nicht faulenzen«, erklärte er als erstes. »Im Garten gibt's reichlich zu tun.« »Heute wird's aber bestimmt sehr heiß.« »Ich kann zwischendurch ins Wasser springen, um mich abzukühlen«, erwiderte Mike. »Im Bootsschuppen steht ein kleiner Rasentraktor, mit dem ich zumindest das hohe Gras unter den Bäumen mähen will. Das abgemähte Gras werfe ich immer in den Fluß, weil Brassen gern darin laichen – womit unsere Versorgung mit Fisch im Ruhestand gesichert wäre.« »Du hast dir wohl alles schon überlegt?« fragte Janet lächelnd. »Ein nettes Spiel, aber wenn ich mich jetzt nicht auf mein Buch konzentriere, kommt mir jemand anders mit einem ähnlichen Titel zuvor.« Mike griff nach ihrer Hand. »Warum hörst du nicht endlich auf, dich gegen das zu wehren, was du im Grunde genommen genauso wie ich willst? Warum heiratest du mich nicht sofort?« Janet antwortete nicht gleich. »Ich habe dir doch neulich erklärt, daß ich erst rauskriegen muß, wer ich wirklich bin, Mike«, sagte sie zögernd. »Das Schwierige ist, daß ich den Verdacht – oder eigentlich die Angst – nicht loswerden kann, nicht nur ich selbst, sondern auch jemand anders zu sein. Und ich fürchte, daß diese zweite Persönlichkeit nicht besonders nett ist.« Er sah überrascht, daß Janet zitterte, und stand rasch auf, um sie in die Arme zu schließen. 147
»Machst du dir noch immer Sorgen wegen Donnerstagabend, wo du in der ›Taverna Milano‹ deinen Auftritt hattest, ohne dich später daran erinnern zu können?« »Nein, nicht nur darum. Letzte Woche ist mein Haar eines Morgens beim Aufwachen wieder feucht gewesen, als hätte ich nachts erneut gebadet – wie in der ersten Nacht nach unserer Ankunft hier.« »Schade, daß ich das nicht gesehen habe.« »Das ist nichts, worüber man Witze reißen könnte, Liebling. Zuerst das nächtliche Bad und dann der Abend in der Kneipe, von dem ich nichts mehr weiß. Was soll ich nur tun, wenn das so weitergeht?« »Du könntest mich zum Beispiel heiraten?«, schlug Mike vor. »Das wäre die beste Lösung.« »Nein, das kann ich nicht, solange ich ständig befürchten muß, mich in diese andere Person zu verwandeln, die … die dir vielleicht untreu werden könnte.« »Ich bezweifle, daß diese andere Persönlichkeit stark genug ist, um dich zu etwas zu bringen, das dein persönlicher Moralkodex nicht zuläßt. Aber mich beunruhigt der Gedanke, du könntest bei einem nächtlichen Bad ertrinken oder mit dem Auto wegfahren und einen Unfall haben. Warum kommst du nicht in die Stadt zurück, wo dein Onkel und ich auf dich aufpassen können?« Janet schüttelte energisch den Kopf. »Ich kann hier am besten arbeiten, Mike. Und mit diesem anderen Ich, das vielleicht mehr als eine zweite Persönlichkeit ist, muß ich selbst fertig werden.« »Aber…« »Du hast mir eben bestätigt, daß ich einen starken Moralkodex habe – und das stimmt auch! Selbst während meiner geistigen Abwesenheit wird es keinem Mann gelingen, mir etwas gegen meinen Willen anzutun.« »Manche werden's aber vielleicht versuchen – vor allem ab morgen, wenn die ›Star-News‹ in großer Aufmachung über dich berichten. Hast du die Pistole immer griffbereit?« »Sie liegt nach wie vor in der Kommode.« 148
»Soll ich sie durchladen, bevor ich wieder abfahre? Für alle Fälle?« »Nicht mehr nötig«, berichtete Janet. »Letzte Woche habe ich eine Angelleine ausgelegt, um Fisch zum Abendessen zu fangen. Zwei hatten tatsächlich angebissen, aber eine dieser verdammten Schildkröten hat die Beute bis zum Angelhaken aufgefressen. Sie ist weiter um den Steg herumgeschwommen, als wollte sie mich provozieren, bis ich wütend geworden bin und die Pistole geholt habe. Ich habe sie mit dem ersten Schuß getroffen. Danach ist sie wie ein Stein untergegangen.« Mike lachte. »In Zukunft melde ich mich lieber von irgendeiner Tankstelle aus an, wenn ich herkomme, sonst durchlöcherst du mich auch noch!«
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ike war beim Rasenmähen, als das Motorboot der Covens an seinem Steg anlegte. Randall McCarthy war allein an Bord. »Roger und Rita sind nach Washington gefahren«, sagte der Psychiater, nachdem sie sich begrüßt hatten, »und ich höre Janet tippen. Was halten Sie davon, wenn wir schmählich Verlassenen einen Angelausflug unternehmen?« »Tut mir leid, aber ich muß arbeiten«, wehrte Mike ab. Er zeigte auf das gemähte Gras. »Das alles muß noch zusammengerecht werden.« »Okay, ich helfe Ihnen«, entschied McCarthy. »Allein macht mir das Angeln keinen Spaß.« Er vertäute das Boot. »Wie wär's mit einem Bier? Ich habe zwei Sechserpackungen in der Kühlbox.« »Ein Bier kann ich immer vertragen.« Mike setzte sich auf den Steg, der um diese Tageszeit noch im Schatten einer großen Weide lag, 149
nahm die geöffnete Dose entgegen und trank durstig. »Ah, das war gut!« sagte er, bevor er fast widerstrebend hinzufügte: »Danke, Randall.« »Sie haben irgend etwas auf dem Herzen, das offenbar mich betrifft«, stellte der Psychiater nach einem prüfenden Blick fest. »Wollen Sie sich aussprechen?« »Vielleicht erklären Sie mir als erstes, warum Sie sich entschlossen haben, sich ausgerechnet hier – ganz in Janets Nähe – zu erholen.« »Nichts leichter als das. Ich bin schon früher am Potomac gewesen und finde diese Gegend bezaubernd. Janet ist eine Schönheit, zu der sich jeder Mann allein aus physischen Gründen hingezogen fühlen muß – wie Sie selbst, Mike. Aber sie ist gleichzeitig auch intelligent und amüsant. Ich bin gern mit Janet zusammen und hoffe, daß Ihr meine Gesellschaft ebenso angenehm ist. Und da wir beide mindestens einen Monat lang hierher verbannt sind, gibt es keinen logischen Grund, der gegen möglichst große Nähe spräche.« »Oder dagegen, daß Sie die Miete für das Haus zahlen, in dem Sie mit den Covens wohnen?« »Aha, Sie haben sich also informiert«, stellte McCarthy gelassen fest. »Nun, das nehme ich Ihnen nicht übel. Die Covens und ich sind, wie Sie wissen, alte Bekannte. Mit Rita bin ich sehr gut befreundet gewesen, als sie noch ledig war, aber sie hat eingesehen, daß ich der geborene Junggeselle bin, und sich für Roger entschieden. Als die beiden nach Washington gekommen sind, haben sie mit mir Verbindung aufgenommen. Roger ist leider sehr mit irgendeinem Geheimprojekt der AEC beschäftigte, so daß Rita und ich viel Zeit miteinander verbringen – übrigens auf höchst angenehme Weise.« »Weiß Coven davon?« »Hören Sie, so naiv können Sie doch nicht sein, Mike! Solche Arrangements, bei denen es um eine leidenschaftliche, begehrenswerte Frau geht, deren Mann weder die Zeit noch den Wunsch hat, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, sind ziemlich häufig – in Washington allerdings eher mit umgekehrtem Vorzeichen.« »Dafür bin ich zu altmodisch, fürchte ich.« 150
»Am besten bleiben Sie, wie Sie sind. Ein hervorragender Chirurg wie Sie sollte sich auf seine Arbeit konzentrieren, anstatt an Scheidung, Affären und ähnlich schlimme Dinge zu denken. Außerdem ist Janet viel zu konservativ, als daß Sie ihr etwas anderes als eine Ehe vorschlagen dürften.« McCarthy machte eine Pause. »Wo bin ich vorhin stehengeblieben? Ah, ganz recht: Die Covens und ich sind alte Freunde, und als sie ein Ferienhaus gesucht haben, habe ich es gemietet und wohne dafür als Gast bei ihnen – ohne weitere Kosten.« »Das klingt recht gemütlich.« »Uns gefällt's – und das ist die Hauptsache. Aber was ist mit Ihnen los, mein Freund?« »Wahrscheinlich werde ich Ihren Rat als Psychiater brauchen.« »Nanu? Sie kommen mir ziemlich normal vor.« »Nein, es geht um Janet. Wie Sie wissen, leidet sie seit dem Flugzeugunglück an Gedächtnislücken, die peinliche Folgen haben können – zum Beispiel den Streit um die von ihr unterschriebene Einverständniserklärung für die zweite Operation.« »Bewußtseinsstörungen nach schweren Gehirnerschütterungen sind keineswegs ungewöhnlich. Aber damit sage ich Ihnen ja nichts Neues«, antwortete McCarthy. »Außerdem ist Janet fast eineinhalb Tage bewußtlos gewesen, was bedeuten könnte, daß sie einen Gehirnschaden davongetragen hat.« »Was mir – und natürlich auch Janet – Sorgen macht, sind ihre Absencen.« »Sie müssen mir erklären, was Sie darunter verstehen, Mike. Dieser Begriff kann alle möglichen Zustände bezeichnen.« Mike schilderte dem Psychiater Janets nächtliches Bad und die beunruhigende Tatsache, daß sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, mit McCarthy und den Covens in der ›Taverna Milane‹ gewesen zu sein. »Daß sie das nicht mehr weiß, ist vielleicht kein Wunder«, meinte der andere grinsend. »Sie hat sich ziemlich die Nase begossen und sich als Alleinunterhalterin produziert. Wahrscheinlich ist ihr die 151
Sache später so peinlich gewesen, daß sie die Erinnerung daran verdrängt hat.« »Ist Ihnen Janets Verhalten nicht ungewöhnlich vorgekommen?« »Viele Leute benehmen sich ungewöhnlich, wenn sie angeheitert sind, mein Freund. Ich gebe zu, daß ich überrascht gewesen bin, als sie so aus sich herausgegangen ist. Aber auch das ist bei ihrem eher verschlossenen Typ nicht weiter verwunderlich.« »Janet weiß nicht einmal, daß sie mit Ihnen und den Covens ausgegangen ist«, stellte Mike nachdrücklich fest. »Wie erklären Sie sich das, Randall? Läßt das nicht auf eine längere Geistesabwesenheit schließen?« McCarthy runzelte die Stirn. »Sie kann sich an gar nichts mehr erinnern?« »Nur, daß ihr zu viert das Haus verlassen habt.« »Hm, das ist merkwürdig, denn in der ›Taverna Milano‹ hat sie ganz normal gewirkt. Wir haben miteinander getanzt, und dann hat sich Janet mit Roger unterhalten, während ich mit Rita getanzt habe. Aber sie hat durchaus vernünftig geredet.« »Am meisten Sorge macht mir die Möglichkeit, sie könnte sich in diesem Zustand mit Männern einlassen«, gab Mike zu. »Nicht am Donnerstagabend, das verspreche ich Ihnen. Ich bin kein Unschuldslamm, aber ich lege es andererseits nicht darauf an, Frauen zu verführen, die zu angeheitert sind, um genau zu wissen, was sie tun.« »Und was ist mit Roger?« »Von dem droht ihr bestimmt keine Gefahr!« antwortete McCarthy mit wegwerfender Handbewegung. »Janet kann sehr provokant sein, wenn sie angeheitert ist: Sie spielt dann mit den Männern. Allerdings darf sie sich dabei nicht einmal zufällig in falscher Gesellschaft befinden. Das könnte dazu führen, daß sie vergewaltigt wird.« »Richtig, das macht mir auch Sorgen«, bestätigte Mike. »An Ihrer Stelle würde ich ihr raten, nicht die Kokotte zu spielen, wenn sie nicht bereit ist, alle Konsequenzen dieser Rolle auf sich zu nehmen«, fügte der Psychiater ernsthaft hinzu. 152
»Glauben Sie, daß wir's hier mit einer echten Mehrfachpersönlichkeit zu tun haben, Randall?« »Möglich. Das ließe sich nur durch eine eingehende psychiatrische Untersuchung feststellen – und selbst dann nicht hundertprozentig. Aus der Fachliteratur kenne ich mehrere Fälle, in denen zwei oder gar drei Persönlichkeiten sich zu verschiedenen Zeiten in den gleichen Körper geteilt haben. Sie sind oft völlig gegensätzlich – wie die normale Janet und die andere junge Frau, die ich in der ›Taverna Milano‹ erlebt habe.« »Weiß die zweite Persönlichkeit wirklich nicht, was passiert, während die erste den Körper kontrolliert … und umgekehrt?« »Das Erinnerungsvermögen scheint völlig blockiert zu sein. Ich vermute jedoch, daß die ›unterdrückte‹ Persönlichkeit trotzdem gewissen Einfluß behält. Janets Verhalten von neulich ist eine Bestätigung dieser Vermutung gewesen.« »Wie meinen Sie das?« »Na ja, wenn Sie mit von der Partie gewesen wären – immer unter der Voraussetzung, daß Janet Sie tatsächlich liebt –, hätte die Sache ganz anders ausgehen können. Im allgemeinen findet der Wechsel von einer Persönlichkeit zur anderen jedoch plötzlich statt, und die jeweils andere weiß nicht, wie sie in ihre neue Umgebung geraten ist. Übrigens kommt es oft genug vor, daß die anomale Persönlichkeit – falls man zwischen einer normalen und einer anomalen unterscheiden kann – verschwindet, sobald sie in eine kritische Situation gerät, was ich auch in Janets Fall für möglich halte.« »Sie zögern also, Janet als Mehrfachpersönlichkeit zu bezeichnen?« »Ich habe Ihnen doch eben erklärt, daß ich mich erst eingehend mit diesem Fall befassen muß!« antwortete McCarthy irritiert. »Bis Sie davon angefangen haben, hätte ich Janet für eine charmante junge Frau gehalten, die neulich ein bißchen zuviel getrunken hat, ohne wirklich zu wissen, welche Folgen das haben könnte. Zum Glück ist sie mit Freunden zusammen gewesen, und als wir zurückgekommen sind, hat Rita sie ins Bett gebracht.« »Gott sei Dank!« 153
»Mich überrascht auch nicht, daß Janet sich an nichts mehr erinnert«, fuhr McCarthy fort. »In ihrem alkoholisierten Zustand kann sie alles vergessen haben – oder sie geniert sich im Unterbewußtsein so sehr, daß ihr Erinnerungsvermögen in dieser Beziehung blokkiert ist.« »Aber was ist mit den anderen Gedächtnislücken? Wie kommt es beispielsweise, daß sie sich nicht daran erinnert, mich um die Brustoperation gebeten zu haben?« »Das sind alles Spätfolgen ihrer schweren Gehirnerschütterung. Zufrieden?« »Nein. Dennoch bin ich Ihnen für Ihre Offenheit dankbar – und für die Versicherung in bezug auf Donnerstagabend.« »Mike, alter Junge, ich geniere mich keineswegs, offen einzugestehen, ein Schürzenjäger zu sein. Aber mag ich auch beruflich mit dem Paranormalen zu tun haben, das die Ungebildeten als okkulte Phänomene bezeichnen – deshalb stehe ich noch lange nicht mit dem Teufel im Bunde.« Janet kam ins Freie, als Mike das abgemähte Gras zusammenrechte, nachdem der Psychiater wieder abgefahren war. »Können wir jetzt zu Mittag essen?« fragte sie. »Ich wollte Randall und dich nur nicht bei eurer tiefschürfenden Diskussion stören. Außerdem reicht der Schinken bloß für zwei.« »Zum Abendessen gibt's wieder Krebse«, versprach Mike. »Ich lege die Reusen gleich nachher aus.« Ihr improvisiertes Mittagessen bestand aus Schinkensandwiches, Orangensaft und einer pikanten Quarkspeise. »Wegen deines Auftritts in der ›Taverna Milano‹ brauchst du dir übrigens keine Sorgen mehr zu machen«, berichtete Mike, als sie beim Nachtisch waren. »McCarthy hat mit erzählt, daß du dich provokant genug verhalten hast, um alle Männer wild zu machen, aber mehr ist nicht passiert. Obwohl Randall nach eigenem Eingeständnis ein Schürzenjäger ist, scheint er auch ein Gentleman zu sein. Er hat mir jedenfalls versichert, der Abend hätte ganz harmlos damit geendet, daß Rita dich ins Bett gesteckt hat.« 154
»Welche intimen Fragen habt ihr noch erörtert?« erkundigte Janet sich verärgert. »Keine mehr«, antwortete Mike. »Er möchte, daß ich dich vor den Konsequenzen warne, die dein Benehmen haben kann. Was ich nicht verstehe, ist die Tatsache, daß du in meiner Gegenwart immer viel zurückhaltender bist.« »Dann kannst du dich auf um so mehr freuen!« sagte Janet lächelnd. Sie beugte sich über den Tisch, um Mike zu küssen. »Entschuldige, daß ich so schnippisch gewesen bin. In Wirklichkeit habe ich zuviel getrunken und mich zum Narren gemacht. Das soll nicht wieder vorkommen, Liebling.« »Oder zumindest nur, wenn ich in der Nähe bin«, fügte er grinsend hinzu. »Wärst du so edel wie Randall McCarthy gewesen?« »Vielleicht nicht«, gab Mike zu. »Aber diese Sache mit den beiden Persönlichkeiten dürfte zum Glück nicht lange anhalten. Sie ist nur eine auf die Gehirnerschütterung zurückzuführende Phase. Das meint auch McCarthy.« »Ich wollte, ich wäre davon so überzeugt wie ihr«, murmelte Janet zweifelnd. Janet schlief noch, als Mike am Sonntagmorgen kurz nach acht Uhr aufwachte; deshalb zog er sich an und verließ das Haus, ohne sie zu wecken. An der ersten Tankstelle, die auch Zeitungen verkaufte, ließ er sich drei Exemplare der Sonntagsausgabe der ›Star-News‹ geben. Als er den Lokalteil aufschlug, stieß er unwillkürlich einen bewundernden Pfiff aus. Andy Stoltz, der junge Fotograf, war unbestreitbar ein Meister seines Fachs: Sein viertelseitiges Farbfoto von Janet in ihrem weißen Bikini war atemberaubend. Ebenso interessant war der Vergleich zwischen den drei Schwarzweißbildern mit dem Untertitel WELCHE IST DIE WAHRE APHRODITE?, die Praxiteles' Büste, Mikes eigenes Modell und Janets anmutige Silhouette zeigten. Auch Molly Walker hatte 155
erstklassige Arbeit geleistet, wie Mike feststellen mußte, als er ihren Artikel überflog: Seine Bemühungen um Janet wurden eingehend geschildert – und in der rechten unteren Ecke fand er sogar ein kleines Foto von sich. Als Mike zurückkam, schlief Janet nach wie vor. Er rüttelte sie jedoch unnachsichtig wach und breitete die Zeitung vor ihr auf der Bettdecke aus. »Dein Onkel hat sich wirklich alle Mühe gegeben«, kommentierte er. »Unterdessen beneidet dich jede Frau, die schon ihre Sonntagszeitung aufgeschlagen hat.« »Oh, Mike!« rief Janet nach dem ersten Blick aus. »Ich bin wirklich schön!« »Richtig, deshalb wirst du dich daran gewöhnen müssen, daß dir Männer zu Füßen liegen – darunter auch ein schwerarbeitender Arzt.« »Mein Schöpfer, meinst du! Alles auf dieser Seite ist dein Werk.« »Nein, nicht alles«, verbesserte er sie lächelnd. »Deine schlanke Taille und die langen Beine hast du schon immer gehabt. Aber du hast dummerweise nie versucht, sie durch deine Kleidung zu unterstreichen.« »Das wird in Zukunft anders«, versprach Janet. »Ich wollte nur, ich könnte ein Skalpell nehmen und dein anderes Ich herausschneiden – das andere, das später nicht mehr weiß, was es getan hat.« Janet nickte betroffen. »Mir macht das ebenfalls Kopfzerbrechen. Woher weiß ich, daß diese andere nicht eines Tages die Herrschaft über mich gewinnt, so daß ich sogar…« Sie sprach nicht weiter, aber Mike wußte auch so, was sie meinte. »Ich bezweifle, daß sie dich dazu bringen könnte, einfach mit irgendeinem Mann ins Bett zu gehen«, tröstete er Janet. »Zumindest hoffe ich, daß du dich weiterhin durchzusetzen vermagst.« »Aber wie können wir uns Gewißheit verschaffen?« »Ich vertraue darauf, daß deine Liebe zu mir sich am Ende als allen Verlockungen überlegen erweisen wird. Andererseits ist allerdings 156
unbestreitbar, daß du die Hilfe eines Psychiaters brauchst. Randall McCarthy kommt am Montagnachmittag in die Praxis, weil noch eine kleine Nachbehandlung nötig ist. Er hat dein zweites Ich erlebt und würde dich bestimmt gern vom psychiatrischen Standpunkt aus studieren.« »Aber können wir ihm auch trauen, wenn mein zweites Ich die Kontrolle über meinen Körper hat?« »Ja, ich habe Vertrauen zu Randall«, bestätigte Mike. »Außerdem scheint das vorläufig die beste Lösung zu sein, wenn wir dich nicht gleich in eine geschlossene Anstalt stecken wollen. Ich werde ihn bitten, gelegentlich als Psychiater nach dir zu schauen. Aber an deiner Stelle würde ich mich von Roger und Rita Coven fernhalten. Den beiden traue ich nämlich nicht.« Janet lächelte schwach. »Keine Angst, das ergibt sich von selbst. Seitdem Rita mich in der ›Taverna Milano‹ erlebt hat, will sie bestimmt nicht mehr mit mir Zusammensein, solange Männer anwesend sind. Und Roger ist die meiste Zeit in Washington oder hockt zu Hause in seinem Arbeitszimmer.« »Okay«, sagte Mike zufrieden. »Da fällt mir übrigens noch etwas ein: Ich habe an den kommenden zwei Wochenenden Notdienst im Krankenhaus, aber du brauchst trotzdem nicht alleine zu sein. Vielleicht hat dein Onkel Lust, dich übers Wochenende hier zu besuchen?« »Ja, das wäre schön«, stimmte Janet zu. »Wir haben uns seit Jahren immer nur flüchtig gesehen. Ich rufe ihn gleich nach dem Frühstück an und lade ihn ein.«
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ie haben eine Eroberung gemacht«, erklärte Mike dem Psychiater, als McCarthy am Montagnachmittag in seinem Sprechzimmer Platz nahm. »Meine Sprechstundenhilfe ist sehr von Ihnen beeindruckt.« »Ja, ich habe gemerkt, daß ich bei ihr Chancen hätte. Ob ich sie wohl mal gelegentlich zu Lunch und Liebe einlade?« »Nur zum Lunch«, entschied Mike. »Sie ist glücklich verheiratet und hat zwei Kinder. Kommen Sie, ich will mir den Hautfetzen unter Ihrem Ohr ansehen. Da muß ich mit der Schere ausgerutscht sein.« Die kleine Operation dauerte kaum zehn Minuten: Mike injizierte etwas Novokain zur örtlichen Betäubung, schnitt das überschüssige Material ab und schloß die Wunde mit einigen wenigen Stichen. »Haben Sie noch ein paar Minuten Zeit?« fragte Mike, während er einen Pflasterverband anlegte. »Klar. Rita ist beim Frisör, und Robert hat bei der Atomic Energy Commission zu tun. Wir treffen uns um fünf Uhr vor der Union Station.« »Die beiden sind ein interessantes Paar. Da fällt mir ein: Rita hat einmal von Oak Ridge gesprochen.« »Roger ist von der Duke University aus für ein paar Jahre nach Oak Ridge gegangen, bevor er letztes Jahr erneut an der University of Chicago gelehrt hat.« »Die beiden scheinen ziemlich herumzukommen.« »Es geht«, meinte Randall schulterzuckend. »Roger ist außerdem ein Jugendfreund von Senator Magnes, und da Magnes in der AEC eine führende Rolle spielt, kann Roger sich praktisch aussuchen, wo er arbeiten möchte, und hat sich für Washington entschieden.« Der Psychiater machte eine Pause. »Aber Sie wollten doch bestimmt nicht nur über die Covens mit mir sprechen? Um welches Problem geht's 158
denn?« »Um die zweite Persönlichkeit, die manchmal Besitz von Janets Körper zu ergreifen scheint: Ist es wirklich vorstellbar, daß sie schon ihr Leben lang existiert hat und erst jetzt zum Vorschein kommt?« »Richtig, das ist nach unseren heutigen Erkenntnissen der Fall«, bestätigte McCarthy. »Es ist jedoch ebenso schwer zu erklären wie die Tatsache, daß die jeweils andere Persönlichkeit nach einem Wechsel nichts von den Aktivitäten der vorigen weiß.« »Das verstehe ich eben auch nicht!« »Janet und ich haben im Krankenhaus viel miteinander gesprochen. Aus ihren Erzählungen habe ich den Eindruck gewonnen, daß sie sich frühzeitig darauf konzentriert hat, Karriere als Journalistin zu machen. Sie hat dafür praktisch ihr Privatleben vernachlässigt – bis zu dem Punkt, wo ihr inneres Ich manchmal gegen dieses Leben, das nur aus Arbeit bestand, protestiert hat.« McCarthy machte eine Pause. »Sie hat also Karriere gemacht, Mike, und andere junge Frauen insgeheim beneidet. Und dann ist Gerald Hutchinson aufgekreuzt. Er hat sich als erster Mann richtig um sie bemüht, was prompt zu ihrer Verlobung mit ihm geführt hat.« »Ich begreife nur nicht, wie sie auf diesen Kerl hereinfallen konnte.« »Vielleicht hat ihr die Aufmerksamkeit dieses gutaussehenden Mannes so geschmeichelt, daß sie zu keinem klaren Gedanken mehr imstande gewesen ist. Dann wird sie aus dem Flugzeug geschleudert, wobei sie eine schwere Gehirnerschütterung erleidet, und ein Zauberdoktor verwandelt sie in eine strahlende Schönheit. Das bedeutet, daß sie in Zukunft jeden Mann haben kann, den sie will – auch Sie, Mike. Dadurch entsteht natürlich ein Konflikt zwischen ihrer bisherigen Tätigkeit und dem, was Janet in Zukunft beim Film, im Washingtoner Gesellschaftszirkus oder auf einem halben Dutzend anderer Gebiete sein könnte.« »Oder ganz einfach als meine Frau«, ergänzte Mike trübselig. »Aber daraus wird wohl nichts werden.« »Jedenfalls nicht mit der zweiten Persönlichkeit, die vielleicht nur 159
an die Oberfläche gekommen ist, als Janet ihre Gehirnerschütterung erlitten hat. Sobald wir sie losgeworden sind, ist Janet in ihrem Innersten viel zu vernünftig, um nicht zu wissen, was sie an Ihnen besitzt.« »Sind Sie bereit, ihr zu helfen, diese zweite Persönlichkeit zu verdrängen?« »Natürlich! Das ist einer der interessantesten Fälle in meiner ganzen bisherigen Praxis. Aber können Sie mir denn überhaupt trauen?« »Ja – obwohl ich Ihren Ruf kenne«, antwortete Mike spontan. »Mein Vertrauen basiert darauf, daß die wahre Janet mich so liebt, daß sie nicht zuläßt, daß die andere mich betrügt.« »Hm, wenn Sie diese ›andere‹ in Aktion erlebt hätten…« McCarthy machte eine Pause, runzelte die Stirn und rief dann aus: »Aber das ist ja die Lösung ihres Problems!« »Wovon reden Sie überhaupt?« »Sie machen sich Sorgen, weil irgendein Kerl Janet zwei verführen könnte – folglich müssen Sie eben einfach selbst diesen Part übernehmen.« »Ich bitte Sie – wie stellen Sie sich das vor?« »Neulich haben zwei Drinks genügt, um Janet völlig zu verwandeln.« McCarthy zwinkerte listig. »Eigentlich ist Ihr Haus am Fluß genau das richtige Liebesnest.« »Nein, das hat keinen Zweck.« »Warum nicht?« »Ich habe diesen Vorschlag bereits gemacht. Er ist abgelehnt worden.« »Aber nicht von Janet zwei?« »Nein.« »Dann sind Sie's sich – übrigens auch ihr – schuldig, einen Versuch mit Janet zwei zu machen. Und ich vermute, daß Ihnen ein Erlebnis bevorsteht, das Sie nie vergessen werden.« »Es kommt mir aber unfair vor, einen schwachen Augenblick auszunützen, in dem ihr Körper von ihrer anderen Persönlichkeit kon160
trolliert wird. Welche Alternative dazu sehen Sie?« »Keine… Keuschheitsgürtel sind schon seit Jahrhunderten außer Mode, und ich möchte wetten, daß es bereits damals sehr geschickte Schlosser gegeben hat.« McCarthy stand auf. »Weiß Janet, daß Sie mich bitten wollten, sie zu behandeln?« »Wir haben darüber gesprochen, bevor ich nach Washington zurückgekommen bin. George Stanfield besucht sie übrigens am Wochenende – Janet hat ihn eingeladen. Er ist nicht von der Existenz einer zweiten Persönlichkeit überzeugt.« »Das wird sich ändern, sobald er sie einmal erlebt hat.« »Wie wollen Sie das bewerkstelligen?« »Ich werde es mit Hypnose versuchen, und falls das nicht klappt, brauche ich ihr nur ein paar Drinks zu geben. Ihr Bourbon würde sogar einen Schneemann sexy machen.«
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ine Woche später rief George Stanfield am Montagmorgen Mike in der Praxis an und lud ihn für halb eins zum Mittagessen in den ›Gridiron Club‹ ein. Der Chefredakteur saß an der Bar, als Mike hereinkam. »Freut mich, daß Sie kommen konnten«, sagte Stanfield, als sie an einem reservierten Tisch Platz nahmen. »Was halten Sie von einem Drink? Ich genehmige mir einen zweiten, glaube ich.« »Bourbon mit Ginger Ale«, bestellte Mike, während Stanfield einen weiteren Scotch mit Wasser nahm. »Janet hat mir am Samstagnachmittag am Telefon erzählt, daß abends alle zusammenkommen würden«, begann Mike, während sie die Speisekarte studierten und auf ihre Drinks warteten. »Ein zauberhafter Abend«, schwärmte Stanfield. »Janet fühlt sich 161
dort offenbar sehr wohl und macht überraschende Fortschritte mit ihrem Buch. Ich habe natürlich auch mit Dr. McCarthy gesprochen und muß zugeben, daß ich ihn falsch eingeschätzt habe. Er hat viel Sinn für Humor, und obwohl er ein richtiger Frauenheld zu sein scheint, ist er hochintelligent und sehr unterhaltsam.« Sie wurden unterbrochen, als der Ober ihre Drinks brachte und ihre Bestellungen entgegennahm. »Was halten Sie von dem Ehepaar Coven?« fragte Mike, nachdem der Ober verschwunden war. »Sie ist offensichtlich auf Männerfang aus, wobei sie sogar einem alten Knaben wie mir schöne Augen macht, und ihren Mann scheint das nicht zu stören. Roger Coven ist entweder sehr tiefsinnig oder auf die Welt sauer – ich weiß nur nicht, welche dieser beiden Vermutungen zutrifft. Irgend etwas an ihm stößt mich ab, aber ich kann es nicht genau definieren.« »Mir ist's ähnlich gegangen«, bestätigte Mike. »Aber sie sind sehr nett zu Janet gewesen.« »Sie scheint die Covens auch sympathisch zu finden – und sie wohnt schließlich dort.« »Hat die zweite Persönlichkeit sich bemerkbar gemacht, während sie bei Janet gewesen sind?« »Nein, und ich frage mich, ob Sie da nicht allzu voreilige Schlußfolgerungen ziehen. Viele Frauen sind nach ein paar Drinks ganz schön in Fahrt, und dieser Zustand kann leicht mit etwas anderem verwechselt werden.« »Hoffentlich behalten Sie recht.« »McCarthy hat schon versucht, Janet mit Hypnose zu behandeln«, berichtete Stanfield, nachdem ihr Essen serviert worden war. »Ich bezweifle allerdings, daß er damit Erfolg gehabt hat. Er will mit Ihnen darüber sprechen.« »Morgen kommt er zu mir in die Praxis, weil noch ein paar Fäden zu ziehen sind. Bei dieser Gelegenheit kann ich ihn danach fragen.« »Ich muß sagen, daß Sie ihn bemerkenswert verändert haben!« Stan162
field wurde plötzlich wieder ernst. »Übrigens habe ich auch meinen alten Freund Sheriff Knott angerufen. In letzter Zeit ist nichts Verdächtiges beobachtet worden. Ich habe ihn gebeten, trotzdem die täglichen Kontrollgänge weiterhin durchführen zu lassen. Obwohl Inspektor Stafford es für unwahrscheinlich hält, daß die Anhänger der Tallman noch jetzt versuchen könnten, sie zum Schweigen zu bringen, bin ich nicht ganz glücklich darüber, daß Janet dort allein lebt.« »Nun, auch McCarthy und die Covens kümmern sich ein bißchen um sie.« Mike betrachtete nachdenklich sein Glas. »Wirklich schade, daß Janet sich einbildet, nur dort unten arbeiten zu können!« »Sie will ihr Buch über Lynne Tallman bis nächstes Wochenende abgeschlossen haben, und ich habe eine Pressekonferenz organisiert, in der wir die Fertigstellung am Freitagnachmittag bekanntgeben«, sagte Stanfield. »Die Pressekonferenz findet so rechtzeitig statt, daß wir in der Sonntagsausgabe einen ausführlichen Bericht bringen können. Außerdem hat uns Janet einen Artikel über Lynne Tallman geschrieben, mit dem wir eine Serie von Vorabdrucken aus ihrem Buch beginnen, die fortgesetzt wird, bis das Buch dann tatsächlich erscheint.« »Ausgezeichnet!« sagte Mike. »Dann ist sie in Washington, wenn ich nächstes Wochenende wieder Notdienst habe.« »Sie sind natürlich auch zu der Pressekonferenz eingeladen«, fügte der Chefredakteur hinzu. »Ich kann mir vorstellen, daß die Reporter Ihnen ebenfalls ein paar Fragen stellen werden. Für Ihre Praxis wäre das bestimmt nicht schlecht.« »Die wird seit Janets Operation bereits von Tag zu Tag größer«, antwortete Mike. Er seufzte resigniert. »Ich bin auf dem besten Wege, ein Spezialist für Brustkorrekturen zu werden.«
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ls Mike am Dienstagnachmittag in seine Praxis zurückkam, unterhielt Randall McCarthy Mrs. Fenters, seine Sprechstundenhilfe, mit Geschichten aus seiner Varietezeit. Nachdem er bei McCarthy die Fäden gezogen hatte, unterhielten sie sich über Janet. »George Stanfield hat Ihnen wahrscheinlich erzählt, daß es mir nicht gelungen ist, das Alter ego Ihrer Freundin durch Hypnose zum Vorschein zu bringen«, sagte McCarthy. »Wie erklären Sie sich das, Randall?« »Solange Janet die dominierende Persönlichkeit ist, kann sie vermutlich die andere unterdrücken – es sei denn, ihre Willenskraft wird durch Alkohol oder dergleichen geschwächt.« »Was meinen Sie mit: ›solange sie die dominierende Persönlichkeit ist‹?« »Ich habe mich inzwischen in der einschlägigen Fachliteratur über ähnliche Fälle informiert«, berichtete der Psychiater. »Das Auftreten einer zweiten Persönlichkeit bei dafür veranlagten Patienten bedeutet im allgemeinen, daß der Betreffende mit seinen Lebensumständen unzufrieden ist. Die meistern zögern ein Weile, bevor sie die zweite Persönlichkeit auftreten lassen – manchmal aus Gewissensgründen, oft aus Angst vor den Konsequenzen. Aber wenn Nummer zwei in den Vordergrund tritt, fühlen sie sich oft wohler als früher, als Nummer eins den Ton angegeben hat. Unter solchen Umständen weicht die erste Persönlichkeit zurück und überläßt das Feld der zweiten.« »Soll das heißen, daß der Patient eine bewußte Entscheidung trifft, welcher Persönlichkeit er den Vorzug geben will?« »Durchaus nicht! Solche Veränderungen finden stets im Unterbewußtsein statt.« »Stets?« wiederholte Mike und zog die Augenbrauen hoch. »Ganz recht, denn sonst müßten die beiden Persönlichkeiten voneinander wissen.« 164
»Halten Sie das wirklich für völlig ausgeschlossen?« »Irgendwo im Unterbewußtsein bleibt bestimmt eine Erinnerung erhalten«, gab McCarthy zu. »Deshalb habe ich versucht, Janet in Hypnose zu befragen. Aber es ist mir nicht gelungen, bis in diese Tiefen vorzudringen.« »Was haben Sie sich davon versprochen?« »Bei ungewöhnlich sensiblen Patienten, zu denen sie übrigens nicht gehört, lassen sich in der Hypnose oft Erinnerungen an frühere Existenzen freilegen.« »Wie im Fall Bridey Murphy?« »Der ist durch alle Zeitungen gegangen, aber es hat auch andere gegeben. Meiner Ansicht nach hat Janet eins sich aus einem ganz einfachen Grund geweigert, in Anwesenheit ihres Onkels Janet zwei zu werden: Er sollte nicht wissen, wie herausfordernd sexy ihre zweite Persönlichkeit sein kann.« »Glauben Sie nicht, daß es möglich wäre, Janet eins zu kurieren, indem man sie mit Janet zwei konfrontiert – beispielsweise durch einen in der zweiten Phase gedrehten Film?« »Vielleicht, falls Sie sie wirklich kuriert haben wollen.« »Wie meinen Sie das?« erkundigte Mike sich. »Sie wollen Janet doch heiraten, stimmt's?« »Natürlich! Aber sie behauptet, mich nicht heiraten zu können, solange die Möglichkeit besteht, daß Janet zwei wieder auftritt und mich in eine peinliche Lage bringt – oder mich unter Umständen sogar betrügt.« »Warum überzeugen Sie sie nicht davon, daß Sie beide Persönlichkeiten wollen, wie ich neulich vorgeschlagen habe? Auf diese Weise hätten Sie, was viele Männer sich vergeblich wünschen: eine konventionelle Ehefrau und eine höchst unkonventionelle Geliebte in einer Person.« »Unsinn!« wehrte Mike ab. Der Psychiater zuckte mit den Schultern. »Ich wäre schon mit Janet zwei zufrieden«, stellte er fest. »Ein verführerisches Wesen! Nur schade, daß Sie's noch nicht kennen.« 165
»Und Sie sollten die wahre Janet inzwischen gut genug kennen, um zu wissen, daß sie nie glücklich wäre, solange sie fürchten müßte, sie könnte sich in diese andere Person verwandeln, für die sie sich schämt.« »Ich bedaure nur, daß Janet eins und zwei nicht Zwillingsschwestern sind, statt zwei Persönlichkeiten in einem Körper zu sein. Mir bricht das Herz, wenn ich daran denke, daß ich das erregende Wesen, das ich in der ›Taverna Milano‹ kennengelernt habe, vernichten soll.« McCarthy stand auf. »Immerhin hat sie noch Glück, daß sie heute, statt im Mittelalter, lebt.« »Warum?« »Damals galten Mehrfachpersönlichkeiten als Hexen oder von Dämonen Besessene und wurden mit Feuer kuriert.« Janets Pressekonferenz, auf der ihr Buch über Lynne Tallman vorgestellt und der Vorabdruck in den ›Star-News‹ angekündigt wurde, fand am Freitagnachmittag um fünf Uhr im ›Hotel Mayflower‹ statt. Mike hielt sich im Hintergrund, bis Janet darauf bestand, ihn den zahlreich erschienenen Reportern von Presse, Rundfunk und Fernsehen als ihren Lebensretter vorzustellen, dem sie zudem ihre jetzige Schönheit verdankte. Er mußte ein Blitzlichtgewitter über sich ergehen lassen und atmete erleichtert auf, als die Pressekonferenz zu Ende war. »Was hältst du davon, wenn dein zukünftiger Verlobter dich und deinen Onkel zum Abendessen in ein ruhiges kleines Restaurant einlädt?« fragte Mike, als die letzten Reporter gegangen waren. »Amüsiert euch nur, ihr beide«, sagte Stanfield, »ich bin schon zu müde. Du hast doch noch deinen Wohnungsschlüssel, Janet?« »In meiner Handtasche«, bestätigte Janet. »Willst du wirklich nicht mitkommen, Onkel George?« »Vielen Dank, heute gehe ich lieber früh ins Bett«, sagte Stanfield. »Wenn du mir einen Gefallen tun willst, sei beim Nachhausekommen besonders leise. Ich habe einen festen Schlaf, aber wenn ich 166
nachts geweckt werde, kann ich kaum wieder einschlafen.« »Wir sind ganz leise, wenn ich sie nach Hause bringe«, versprach Mike. »Wohin möchtest du, Janet?« »Vielleicht in den Wolf Trap Farm Park? Ich habe in Chicago viele der dortigen Musikabende im Fernsehen gesehen und bin jedesmal begeistert gewesen.« »Okay, ich rufe an und erkundige mich, was heute abend auf dem Programm steht«, stimmte Mike zu. »Dort draußen gibt's übrigens ein ausgezeichnetes kaltes Büfett.« »Es hat geklappt«, berichtete er, als er vom Telefon zurückkam. »Wir können einen ganzen Abend lang Country-Musik unter Sternen hören. Ich habe gleich einen Tisch bestellt.« Über den Washington Beltway war der berühmte Park in der Nähe von Vienna, Virginia, rasch zu erreichen: Mike und Janet trafen bereits um acht Uhr dort ein. Das kalte Büfett erwies sich als hervorragend, und die Solisten, die zu Gitarre, Banjo und sogar Zither sangen, fanden ein begeisterungsfähiges Publikum. Auch Janet klatschte enthusiastisch Beifall. »So gut habe ich mich schon lange nicht mehr amüsiert«, schwärmte sie, als sie kurz nach halb elf über den großen Parkplatz zu ihrem Auto gingen. Er lächelte zufrieden. »Fährst du wieder an den Potomac, obwohl dein Buch jetzt fertig ist?« »Vielleicht am Montagabend, falls ich rechtzeitig mit meinen Einkäufen fertig werde. Onkel George will, daß ich noch vier Wochen Urlaub mache, bevor ich in Washington zu arbeiten anfange, und ich möchte diese Zeit hauptsächlich am Potomac verbringen. Außerdem will Randall McCarthy mich weiterbehandeln, um das nach meiner Gehirnerschütterung eingetretene Durcheinander zu entwirren.« »Wieviel hat er dir schon erzählt?« »Eigentlich nur, daß er die andere als Janet zwei bezeichnet und daß sie mir völlig unähnlich ist. Ich verstehe allerdings nicht, wie sie existieren und Dinge tun kann, an die ich mich dann nicht er167
innere.« Sie warf ihm einen besorgten Blick zu. »Existiert sie wirklich, Mike? Oder drehe ich allmählich durch?« »Doch, doch, sie existiert!« versicherte Mike. »Davon bin ich überzeugt – obwohl ich mir ihre Entstehung anders erkläre als McCarthy.« »Wie soll ich Janet zwei davon abhalten, etwas zu tun, das ich als Janet eins nicht tun würde, wenn ich mich an nichts erinnern kann, was während der Herrschaft der anderen passiert?« »Dein wahres Ich würde trotzdem nichts zulassen, was dir widerstrebt«, sagte Mike beruhigend, aber Janet schüttelte den Kopf, als sei sie damit nicht zufrieden. »Ich wünschte, ich könnte davon überzeugt sein«, meinte sie nachdenklich. Dann hellte sich ihre Miene plötzlich auf. »Ich weiß, wie wir die Probe aufs Exempel machen können!« »Na?« »Wir sind vorhin an einer Cocktailbar vorbeigekommen… Was hältst du davon, wenn wir auf einen Drink hineingehen? Du hast mich den ganzen Abend lang noch nicht gefragt, ob ich einen Drink möchte.« »Das hat einen ganz bestimmten Grund«, gab Mike zu. »Ich bin völlig mit Janet eins zufrieden. Alkohol scheint nämlich die andere aus dem Käfig zu lassen.« »Solange ich mit dir zusammen bin, kann mir nichts passieren – auch als Janet zwei nicht.« Die ›Purple Pussycat‹ war eine intime kleine Bar mit dezenter Musik, indirekter Beleuchtung und abgeteilten Sitznischen. Sie wurden an einen Tisch geführt, und Mike bestellte ihre Drinks. Janet nickte zufrieden. »Hier gefällt's mir«, sagte sie. »Die ganze Atmosphäre ist richtig romantisch.« »In deiner Nähe ist mir überall romantisch zumute.« Sie lachten und stießen miteinander an. »Ob die Tempel der Aphrodite früher so ähnlich ausgesehen haben?« meinte Janet. 168
»Na ja, der Zweck dürfte ähnlich gewesen sein«, bestätigte Mike grinsend. »Aber ich habe das Gefühl, daß das Ritual etwas freizügiger gewesen ist.« »Ich muß mich über das Ritual informieren, damit ich weiß, was Göttinnen alles getan haben.« »Mir wär's lieber, wenn du dich da nicht allzusehr nach deinem Vorbild richten würdest – oder zumindest nur mit mir.« Er sah erst, daß Janets Glas leer war, als ein Ober ihnen zwei weitere Drinks auf einem Tablett servierte. »Mit den Komplimenten des Hauses für die berühmte Miß Burke«, sagte er, bevor Mike protestieren konnte. »Er muß Gedankenleser sein«, meinte Janet, als er gegangen war. »Ich wollte dich eben bitten, mir noch einen zu bestellen. Sie schmekken ausgezeichnet.« »Aber sie sind auch ziemlich stark.« »Wen stört das schon?« fragte Janet mit der rauchigen Stimme, die das plötzliche Auftreten ihres zweiten Ichs signalisierte. »Mußt du morgen früh operieren, Liebling?« »Nein«, antwortete Mike zögernd. Er wußte, was sie sagen würde, und fragte sich, ob er es wirklich hören wollte. »Gut, dann feiern wir bei dir weiter«, schlug Janet vor. Sie starrte Mike herausfordernd an. »Du traust dich doch, mich in deine Wohnung mitzunehmen?« »Was wird dein Onkel denken?« »Daß ich mit dir ins Bett gegangen bin – was sonst? Das tun heutzutage alle.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Willst du mich denn nicht?« »Natürlich will ich dich! Aber ich habe nicht die Absicht, dich zu verführen, solange…« »Verführen!« Sie lachte so laut, daß das Paar am Nebentisch zu ihnen hinübersah und amüsiert lächelte. Mike war sich darüber im klaren, daß er Janet aus der überfüllten Bar schaffen mußte, bevor sie in ihrem angeheiterten Zustand für einen Skandal sorgte. 169
»Gut, wir fahren zu mir«, entschied er und winkte den Ober heran, um zu zahlen. Bevor er Janet daran hindern konnte, hatte sie den Rest ihres zweiten Drinks gekippt und stand auf. Sie schwankte bereits, und er mußte sie stützen, damit sie nicht gegen den Tisch stieß. Während Janet sich lachend an ihn lehnte und ihn zwischendurch mehrmals küßte, gelang es Mike mit einiger Mühe, sie ins Freie und zu seinem Wagen zu bugsieren. Im Auto schlief Janet augenblicklich ein. Mike fuhr langsam zu George Stanfields Appartement statt zu seiner eigenen Wohnung. Janet wachte erst wieder auf, als er vor dem Haus bremste. Sie starrte nach draußen, merkte, wo sie sich befand, und setzte sich ruckartig auf. »Was soll der Unsinn, verdammt noch mal?« fragte Janet zwei irritiert. »Hier sind wir nicht bei dir.« »Du bist so schnell eingeschlafen, daß ich geglaubt habe, du seist für alles zu müde. Deshalb wollte ich dich gleich nach Hause bringen.« »Nein, ich bin jetzt hellwach, und du kannst mit raufkommen«, antwortete sie schulterzuckend. Dann lachte sie, als Mike sie beim Aussteigen stützen mußte. »Du hast mir soviel Alkohol eingeflößt, daß du mich wahrscheinlich tragen mußt – aber sobald wir oben sind, werd ich dir zeigen, wofür ich nicht zu müde bin. Um Onkel George brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Er hat selbst gesagt, daß er wie ein Murmeltier schläft.« Mike mußte sie mehr tragen als stützen, während sie die Eingangshalle durchquerten. Er konnte nur hoffen, daß um diese Zeit keine anderen Hausbewohner heimkommen würden. Vor George Stanfields Wohnungstür kramte sie den Schlüssel aus ihrer Handtasche und gab ihn Mike. »Du hast's jetzt mit Lynne zu tun, Schätzchen«, erklärte sie ihm. »Mit diesem Körper, den ich Janet und dir verdanke, kann ich die wahre Aphrodite in den Schatten stellen. Wart nur, ich werd dir beweisen, was in mir steckt!« 170
Mike blieb nichts anderes übrig, als sie über die Schwelle zu tragen und die Tür hinter sich zu schließen. »Leise!« mahnte er sie flüsternd. »Wir dürfen deinen Onkel nicht wecken.« Sie legte mit Verschwörermiene den rechten Zeigefinger auf die Lippen und nickte ernsthaft. »Du kannst uns noch einen Drink machen, während ich mir was Bequemeres anziehe«, sagte sie, bevor sie leicht torkelnd in ihrem Zimmer verschwand. Mike mixte an der Hausbar im Wohnzimmer zwei Bourbon mit Eis und Ginger Ale und stellte die Gläser auf den Couchtisch. Als Janet kurze Zeit später hereinkam, vergaß er prompt seine ehrenwerte Absicht, ihr so viel Bourbon einzuflößen, daß sie einschlief. Sie trug ein hauchdünnes weißes Nylonnachthemd, das ihren Körper wie die Schleier einer Schönheitstänzerin umschmeichelte. Janet nickte dankend, als er ihr einen Drink anbot, und leerte das Glas in einem Zug. »Ich bin froh, daß du mich hierher gebracht hast, Liebling«, sagte sie mit der leicht heiseren Stimme, die seinen Puls beschleunigte. »Auf diese Weise brauche ich nicht im Morgengrauen aus deiner Wohnung zu schleichen, um deinen guten Ruf zu bewahren.« Mike war bei ihrem Eintreten aufgestanden, und als sie ihm jetzt die Arme um den Hals schlang, hätte er aus Stein sein müssen, um dieser Versuchung zu widerstehen. Nach einem leidenschaftlichen Kuß bückte er sich, um Janet hochzuheben und in ihr Zimmer zu tragen. »Das ist erst die Vorspeise gewesen, Schätzchen«, girrte sie lachend. »Warte nur, bis der Hauptgang kommt!« Plötzlich wurde draußen ein Schlüssel in die Wohnungstür gesteckt. Janet erstarrte; dann entglitt sie aus Mikes Armen, verschwand im Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich. Mike konnte sich gerade noch umdrehen, bevor George Stanfield die Diele betrat. Der Chefredakteur nickte ihm müde zu. »Hallo, Mike!« sagte Stanfield. »Wann seid ihr zurückgekommen?« »Vor ein paar Minuten.« Mike hörte, wie heiser seine Stimme klang, 171
und fragte sich, ob Stanfield erriet, was hier vorgegangen war. »Wir haben noch einen Schluck getrunken, und Janet wollte … sie wollte sich nur etwas Bequemeres anziehen.« »Okay, dann warte ich lieber nicht mehr auf sie. Ich gehe sofort ins Bett – bin völlig erledigt.« »Was ist denn passiert?« »Eine unserer Rotationspressen ist ausgefallen, und ich habe mit der ›Post‹ verhandelt, damit sie morgen früh unseren Lokalteil druckt. Wünschen Sie Janet eine gute Nacht von mir?« »Gern«, antwortete Mike erleichtert. »Gute Nacht, Mr. Stanfield.« Als der Chefredakteur in seinem Zimmer verschwunden war, schenkte Mike sich einen weiteren Bourbon ein. Er wartete, bis im Bad Wasser lief, bevor er leise bei Janet anklopfte. Da sie keine Antwort gab, öffnete er die Tür einen Spalt weit und stellte fest, daß Janet in ihrem durchsichtigen Nachthemd quer über dem Bett lag. Mike bemühte sich vergebens, sie wachzurütteln – und begriff dann, was passiert war. Als Randall McCarthy versucht hatte, die andere Janet – die sich heute zum erstenmal selbst als Lynne bezeichnet hatte – in Stanfields Gegenwart heraufzubeschwören, waren alle Bemühungen vergeblich gewesen. Das konnte nur bedeuten: Die zweite Persönlichkeit weigerte sich, vor Stanfield aufzutreten; aus diesem Grund hatte Janet sich in ihr wahres Ich zurückverwandelt, sobald ihr Onkel, der dafür als einziger in Frage kam, in Erscheinung getreten war. Und die wahre Janet – bei weitem nicht so trinkfest wie Lynne – hatte gerade noch ihr Bett erreicht. Mike blieb eine halbe Minute lang neben ihr stehen, betrachtete die Schlafende, nachdem er sie in die richtige Lage gebracht und leicht zugedeckt hatte, und bedauerte im stillen, daß keine Hoffnung auf Rückkehr ihrer erregenden zweiten Persönlichkeit bestand. Schließlich beugte er sich über Janet und küßte sie, aber ihre warmen, weichen Lippen reagierten nicht auf seinen Kuß. Mike verließ trübselig das Appartement und fuhr in seine eigene Wohnung und zu seinem leeren Bett zurück. 172
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ach der Morgenvisite im Krankenhaus stand Mike um halb elf wieder vor George Stanfields Wohnungstür, weil er damit rechnete, daß Janet inzwischen ausgeschlafen haben würde. Janet war noch etwas benommen, hatte vom Schlaf zerzaustes Haar und trug einen dünnen Morgenrock über ihrem Nachthemd. »Was willst du hier?« fragte sie ungehalten. »Ich bin eben erst aufgewacht. Ich will dich nicht mehr sehen … nie mehr!« Sie wollte die Tür zuschlagen, aber Mike stellte einen Fuß dazwischen und drückte sie mit der Schulter auf, bis er Janet in die Arme schließen konnte. Sekundenlang blieb sie steif und widerstrebend – dann brach sie plötzlich in Tränen aus und drängte sich gegen ihn. Mike sprach beruhigend auf sie ein, tröstete sie mit einem Kuß und lieh ihr sein Taschentuch, damit sie ihre Tränen abtrocknen konnte. »Ich … ich bin im Nachthemd aufgewacht! Folglich mußt du mich ausgezogen haben«, sagte Janet mit unsicherer Stimme. »Was ist passiert, Mike?« »Du hast dich selbst ausgezogen, bevor du mich vergewaltigen wolltest«, berichtete er. »Nach den beiden Drinks in der ›Purple Pussycat‹ hast du hier noch einen doppelten Bourbon gekippt – daher auch dein Kater.« »Liebst du mich überhaupt noch, nachdem ich mich bestimmt schrecklich aufgeführt habe?« »Nein, das war die andere.« Mike lächelte sie zärtlich an. »Wenn du jetzt ins Bad gehst, mache ich das Frühstück. Du brauchst gutes Zureden, Kaffee und Essen – in dieser Reihenfolge.« »Aber…« »Keine Widerrede! Beeil dich lieber!« Janet verschwand im Bad, und Mike ging in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen und den Frühstückstisch zu decken. Als Janet aus dem Bad kam, kochte er eben Eier. 173
»So gefällst du mir schon besser«, sagte Mike, während er Kaffee einschenkte. »Du siehst aus, wie die meisten Frauen morgens aussehen möchten – oder zu irgendeiner anderen Tageszeit.« »Jetzt weißt du wohl, wie das Flittchen, das sich angeblich jeder Mann fürs Schlafzimmer wünscht, aussieht und was es tut?« »Nein, ich weiß nur, wie es aussieht. Dein Onkel hat gestern abend durch seine Rückkehr verhindert, daß ich feststellen konnte, wie du als Geliebte sein könntest.« »Was soll ich nur tun, Mike?« fragte Janet verzweifelt, als er ihr gegenübersaß. »Du hast letzte Nacht selbst erlebt, wozu die andere imstande ist.« »Am besten heiratest du mich«, schlug er vor. »Das darf ich dir nicht antun.« »Damit tust du mir nichts an. Ich bin bereit, die Verantwortung zu übernehmen.« »Mike, du mußt mir eine Frage ganz ehrlich beantworten«, bat Janet. »Mal angenommen, ich wäre gestern abend in der Bar, an die ich mich kaum erinnere, allein gewesen und von irgendeinem Mann angesprochen worden. Glaubst du, daß ich … daß sie mitgegangen wäre?« Mike schwieg verlegen. »Du mußt mir die Wahrheit sagen, Mike! Es ist sehr wichtig für mich.« »Ich fürchte, daß du mitgegangen wärst«, gab er zu. »Aber sobald wir verheiratet sind…« »Du wüßtest nie, was ich in deiner Abwesenheit täte oder wo ich wäre. Zudem könntest du mich nicht ständig beobachten. Sie ist es gewöhnt, ihren Willen durchzusetzen, und ich fürchte, daß er allmählich stärker als meiner wird.« Mike erinnerte sich, daß Randall McCarthy die gleiche Hypothese geäußert hatte, und schwieg betroffen. »Ich fahre in dein Haus zurück«, entschied Janet. »Nur dort fühle ich mich vor ihr sicher.« »Das wäre vielleicht keine schlechte Idee«, pflichtete Mike bei. »Ran174
dall glaubt noch immer, daß er dir helfen kann, dein Alter ego loszuwerden. Deine zweite Persönlichkeit hat sich übrigens gestern einen Namen gegeben.« »Welchen denn?« »Lynne.« Janet starrte ihn überrascht und erschrocken an. »Warum hat sie … habe ich das wohl getan?« »McCarthy vermutet, daß du Lynne Tallman insgeheim beneidet hast.« »Unsinn!« »Was weißt du über ihr Verhalten Männern gegenüber?« »Sie ist die reinste Nymphomanin gewesen!« stellte Janet fest. »Ich glaube, daß du im Unterbewußtsein stets davon geträumt hast, eine Femme fatale zu sein, der die Männer zu Füßen liegen. Als deine zweite Persönlichkeit als Folge der Gehirnerschütterung zum Vorschein gekommen ist, hat sie logischerweise den Namen Lynne angenommen, weil Lynne Tallman ihr Vorbild ist. Dieser Ansicht ist übrigens auch Randall.« »Warum bin ich dann nicht mit ihm ins Bett gegangen?« »Er ist der Meinung, deine Liebe zu mir sei stark genug, um so etwas zu verhindern, aber…« Mike sprach nicht weiter. »Du wolltest eben sagen, daß du dir nach dem Auftritt von gestern abend deiner Sache nicht mehr so sicher bist, nicht wahr?« Mike nickte wortlos. »Was soll ich nur tun, Mike?« fragte Janet verzweifelt. »Die letzte Nacht hat bewiesen, daß ich mein Alter ego tatsächlich nicht mehr kontrollieren kann.« »Letzte Nacht bist du mit mir zusammen gewesen – wie ich hoffe, liegt darin auch der Grund für deine Bereitwilligkeit. Dennoch bin ich weiterhin der Meinung, du solltest mich heiraten und mir die Sorge um deine Zukunft überlassen.« »Nein, damit darf ich dich nicht belasten«, widersprach Janet energisch. »Mit dieser Sache muß ich selbst fertig werden.« »Dann ist eine psychiatrische Behandlung vielleicht deine einzi175
ge Hoffnung.« »Soll das heißen, daß du mich für verrückt hältst? Oder sogar für eine zweite Lynne Tallman?« »Nein, nein!« »Woher willst du das wissen, wenn ich mir meiner Sache keineswegs sicher bin?« »Ich bin davon überzeugt, daß nicht einmal dein anderes Ich, das sich als Lynne bezeichnet, zu Verbrechen imstande wäre«, antwortete Mike nachdrücklich. »Das moralische Empfinden deines wahren Ichs ist zu stark, als Janet zwei – dieser Name gefällt mir übrigens besser als Lynne – sich jemals völlig durchsetzen könnte. Du würdest beispielsweise niemals eine Bombe legen, nur weil es dir Spaß macht, Menschenleben und Sachwerte zu vernichten.« »Liebling, die Sache ist hoffnungslos.« Janet hatte fast nichts gegessen; jetzt schob sie ihren Teller weg. »Ich fahre in dein Haus zurück. Dort bin ich sicherer.« »Aber ich kann dich nicht einmal besuchen«, wandte er ein. »Ich bin für den Notdienst im Krankenhaus eingeteilt.« »Für mich ist es im Moment wichtig, in Ruhe nachdenken zu können und vielleicht eine Lösung zu finden. Janet zwei kann mich dort unten nicht in Schwierigkeiten bringen.« »Ich habe inzwischen eine ganz bestimmte Vorstellung von den Umständen, unter denen deine Persönlichkeitsveränderungen stattfinden«, erklärte Mike zögernd. »Falls sie sich als richtig erweist, können wir Lynne endgültig loswerden.« »Oh, Mike!« Janet beugte sich über den Tisch, um ihn zu küssen. »Wenn du das schaffst, liebe ich dich tot!« »Vielleicht kannst du kurz vor dem Exitus aufhören«, meinte er grinsend. »Aber ansonsten hast du Carte blanche.« Bevor Mike jedoch versuchen konnte, die Persönlichkeit, die sich Lynne nannte, zu vertreiben, kam es zu einer Katastrophe. Am Mittwochabend, kurz vor halb elf, klingelte bei ihm das Telefon. 176
»Mike!« Janets fast hysterisch klingende Stimme machte ihn mit einem Schlag hellwach. »Kannst du sofort herkommen?« »Natürlich.« Eigentlich hatte er noch immer Notdienst, aber Janet schien ihn im Augenblick dringender zu brauchen. »Was hast du? Was ist passiert?« »Ich habe eben mit deiner Pistole auf einen Einbrecher geschossen.« Janets Stimme versagte; Mike hörte sie schluchzen. »Er … er ist tot!«
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ennst du den Mann?« lautete Mikes erste Frage. »Nein, ich hab ihn noch nie gesehen.« Janets Stimme klang wieder etwas fester. »Er ist durch die Küche reingekommen, während ich ferngesehen habe. Er … er hat mich vergewaltigen wollen.« »Wo ist die Pistole?« »Auf dem Fußboden. Sie ist mir einfach aus der Hand gefallen.« »Und du weißt bestimmt, daß er tot ist?« »Es kann nicht anders sein! Er hat ein Loch im Kopf und bewegt sich nicht mehr. Ich hab schießen müssen, Mike!« Das klang fast hysterisch. »Als er gesehen hat, daß ich die Pistole aus der Kommode genommen habe, hat er einen Revolver gezogen. Der liegt jetzt neben ihm.« »Laß alles so, ohne irgend etwas zu verändern«, befahl Mike. »Siehst du die rotumrandete Karte mit den Notrufnummern an der Wand vor dem Telefon?« »Ja.« »Gut, dann rufst du als erstes den Sheriff an und meldest, was passiert ist. Danach telefonierst du mit Randall McCarthy und bittest ihn, herüberzukommen und bei dir zu bleiben, bis dein Onkel und 177
ich eintreffen. Okay?« »Ja, aber beeilt euch bitte!« »Ganz ruhig, Liebling, du brauchst keine Angst zu haben. Der Kerl hat dich mit einer Waffe bedroht – folglich liegt ein Fall von Notwehr vor. Du hast nichts zu befürchten.« »Hoffentlich behältst du recht«, meinte Janet zweifelnd. »Ich muß jetzt den Sheriff verständigen, glaub ich.« »Okay, wir sind in einer Dreiviertelstunde draußen.« Als Mike mit George Stanfield vor seinem Wochenendhaus hielt, parkten drei Streifenwagen und ein schwarzer Leichenwagen davor. Ein Polizist richtete eine starke Taschenlampe auf die beiden Neuankömmlinge, so daß sie im ersten Augenblick geblendet waren. »Alles in Ordnung«, rief Mike ihm zu. »Ich bin Dr. Kerns, und das hier ist Mr. Stanfield, Miß Burkes Onkel, der mit Sheriff Knott befreundet ist.« »Gut, dann dürfen Sie rein«, entschied der Uniformierte. »Die Leiche soll abtransportiert werden, sobald mein Kollege seine Fotos gemacht hat.« Janet stürzte Mike entgegen und begann zu schluchzen. Er hielt sie in den Armen, bis sie ihre Selbstbeherrschung zurückgewonnen hatte. Dann nickte er Randall McCarthy und den Covens zu, die in einer Ecke des Wohnzimmers standen; währenddessen begrüßte George Stanfield den Sheriff, einen untersetzten Mann mit breitkrempigem Hut, Amtsstern und Cowboystiefeln. »Wißt ihr schon, wer der Mann gewesen ist?« erkundigte sich Stanfield. »Nein.« Knott zuckte mit den Schultern. »Er könnte zu den Streunern gehören, die im Sommer hier in den Wäldern am Fluß kampieren. Sie sind oft nachts unterwegs, um irgendwo einzubrechen – oder schutzlose Frauen zu überfallen.« »Warum nimmst du an, daß er nur auf der Durchreise gewesen ist?« fragte Stanfield weiter. 178
»Wir haben am Waldrand ein Motorrad mit einem Kennzeichen aus Illinois entdeckt. Morgen früh können uns die Kollegen in Illinois vielleicht sagen, um wen es sich handelt – es sei denn, er hätte das Motorrad gestohlen.« »Dürfen wir ihn uns kurz ansehen?« »Selbstverständlich. Sobald Thornton seine Fotos gemacht hat, wird der Tote ins Leichenhaus gebracht.« Mike ging mit Stanfield ins Schlafzimmer hinüber. Der Erschossene war ein Mann Mitte Dreißig mit kümmerlichem Bart und ungewaschenen blonden Haaren, die im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Er trug ausgebleichte Jeans, ein Khakihemd und Sandalen an den bloßen Füßen. Janets Schuß in die Stirn mußte ihn auf der Stelle getötet haben. »Ein Unbekannter«, stellte Mike fest. George Stanfield hatte halblaut mit dem Deputy gesprochen, der den Tatort und die Leiche fotografierte, und ihm einen Geldschein in die Hand gedrückt. Jetzt blieb er neben Mike stehen, um den Toten aus der Nähe zu betrachten. »Ich kenne ihn auch nicht«, erklärte er und ging wieder zu Knott hinaus. »Janet wird doch wohl nicht etwa in Untersuchungshaft genommen?« fragte Stanfield den Sheriff. »Ich finde, daß eindeutig Notwehr vorliegt, und verbürge mich dafür, daß meine Nichte zur Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache erscheint – falls überhaupt eine stattfindet.« »Der Leichenbeschauer dürfte in diesem klaren Fall von Notwehr darauf verzichten«, bestätigte Sheriff Knott. »Miß Burke hat glücklicherweise schnell reagiert, als der Mann sie mit seinem Revolver bedroht hat.« Der Tote wurde, in eine Decke gehüllt, auf einer Tragbahre zum Leichenwagen hinausgetragen. Nachdem Knott und seine Männer gegangen waren, blieben Mike, Janet, Stanfield, Randall McCarthy und die Covens im Zimmer zurück. »Am besten lassen wir euch jetzt allein«, schlug McCarthy vor. »Als Janet angerufen hat, sind wir in Rogers Boot gesprungen und 179
sofort hergekommen.« »Es war schrecklich!« sagte Rita heiser. »Überall das viele Blut…« Sie drehte sich hilfesuchend nach ihrem Mann um. »Ich brauche einen Drink, glaub ich.« »Den bekommst du zu Hause«, erwiderte er kurz und griff nach ihrem Arm. »Können wir gehen, Randall?« »Natürlich«, antwortete der Psychiater. »Gute Nacht allerseits.« »Da ihr als erste eingetroffen seid, wird der Leichenbeschauer euch vielleicht vorladen, falls doch eine Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache stattfindet«, sagte Mike. »Aber das bekommt ihr dann von Sheriff Knott mitgeteilt. Gute Nacht – und vielen Dank, daß ihr euch so rasch um Janet gekümmert habt. Für sie ist das alles ein ziemlicher Schock gewesen.« »Jedenfalls hat sie sich gut gehalten«, stellte McCarthy fest. »Wahrscheinlich erheblich besser, als ich es unter solchen Umständen vermocht hätte. Gute Nacht.« »Und was nun, Janet?« erkundigte George Stanfield sich, als die anderen gegangen waren. »Willst du nicht lieber mit uns in die Stadt zurückfahren?« »Mir ist alles recht, solange ich nur nicht ins Schlafzimmer zurück muß«, antwortete sie leise. »Rita hat recht – das viele Blut und…« »Du brauchst nicht mehr hinein.« Mike zog sie tröstend an sich. »Ich komme am Sonntagmorgen her und bringe alles wieder in Ordnung. Hast du alles, was du brauchst, bei deinem Onkel?« »Ja. Können wir bitte gleich fahren?« Während George Stanfield seine Nichte hinausbegleitete, holte Mike Janets Handtasche aus dem Schlafzimmer. Dann schloß er die Haustür ab und ging zu den beiden Wagen hinaus. »Ich folge euch in Janets Auto – aber wundert euch bitte nicht, wenn ich unterwegs abbiege«, sagte Stanfield. »Ich habe dem Deputy, der die Fotos gemacht hat, einen Fünfziger gegeben und bekomme dafür jetzt ein paar Abzüge von ihm. Dann muß ich noch in die Redaktion, um die dazugehörige Meldung zu diktieren, so daß ich wahrscheinlich erst in ein paar Stunden nach Hause kom180
me. Die Morgenausgabe der ›Post‹ ist bereits in Druck, was bedeutet, daß die ›Star-News‹ kurz vor Mittag mit ihrer Stadtausgabe als erste mit dieser Meldung erscheinen werden.« »Onkel George!« rief Janet vorwurfsvoll. »Willst du diese Geschichte wirklich ausschlachten?« »Soll ich etwa warten, bis es die Konkurrenz tut?« Stanfield schüttelte den Kopf. »Nein, dazu bin ich zu sehr Journalist, meine Liebe. Die Story geht morgen früh an die Nachrichtenagenturen – du wirst die Heldin des Tages.«
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uf der Rückfahrt lehnte sich Janet neben Mike mit geschlossenen Augen in ihren Sitz zurück. Er hoffte, daß sie ein Nickerchen machen würde, aber auf halber Strecke ergriff sie plötzlich das Wort – und was sie sagte, verblüffte ihn. »Mike, an dieser Sache von heute abend ist irgend etwas merkwürdig. Als der Mann hereingekommen ist, hat er sich benommen, als sei er eingeladen.« »Wie kommst du darauf?« »Er hat mich mit einem Namen angesprochen…« Mike war wie vor den Kopf geschlagen. »Hat er dich Lynne genannt?« »Ja.« Sie umklammerte seinen rechten Arm mit solcher Kraft, daß der Porsche beinahe ins Schleudern geraten wäre. »Woher weißt du das?« »Bevor ich dir das zu erklären versuche, mußt du mir genau erklären, was passiert ist.« »Ich habe, wie schon gesagt, beim Fernsehen gesessen und nichts Verdächtiges gehört – bis der Unbekannte plötzlich im Zimmer ge181
standen hat.« »Und er hat sich so verhalten, als wärt ihr alte Bekannte?« »Nein, das ist nicht der richtige Ausdruck«, widersprach Janet. »er ist eher verblüfft gewesen – als habe er eine andere Frau an meiner Stelle erwartet. Ich weiß noch, daß er gesagt hat: ›Baby, auf den Zeitungsfotos bist du viel schlechter rausgekommen‹, bevor ich ihn gefragt habe: ›Was wollen Sie hier?‹ – ›Dich, Baby – ganz und gar‹, hat er geantwortet.« Sie fuhr zusammen. »Das hat richtig merkwürdig geklungen, Mike – als habe er damit gerechnet, daß ich ihn mit offenen Armen empfangen würde. Als ich aufgesprungen und ins Schlafzimmer gelaufen bin, um die Pistole zu holen, hat er mir nachgerufen: ›Du brauchst gar nicht die Spröde zu spielen, du Satansweib! Ich weiß, daß du Lynne bist, auch wenn du dich jetzt anders nennst. Ich bin eine ganze Nacht und einen ganzen Tag gefahren und laß mich jetzt nicht abwimmeln!‹« »Weißt du bestimmt, daß er ›Lynne‹ gesagt hat?« »Ja. Das habe ich nicht begreifen können, obwohl du mir erzählt hattest, daß mein anderes Ich sich neulich Lynne genannt hat. Wie hätte ein Fremder das wissen können?« Mike zuckte mit den Schultern, weil er Janet noch nicht verraten wollte, welche schreckliche Vorahnung ihn inzwischen beschlich. »Was ist dann passiert?« »Ich bin ins Schlafzimmer gelaufen, und er ist hinterhergekommen. Dabei hat er gelacht, als spielten wir ein Spiel, das er am Ende doch gewinnen würde. Als ich an der Kommode gestanden habe, ist er gerade in der Tür erschienen. ›Du wolltest mich also ins Schlafzimmer locken, du kleine Hexe‹, hat er gesagt. ›Seit wann so vornehm? Früher hat dir oft der blanke Fußboden genügt.‹ – ›Ich bin nicht die, für die Sie mich halten‹, habe ich geantwortet, während ich die Pistole aus der Schublade geholt und sie entsichert habe. Da muß ihm wohl bewußt geworden sein, daß er sich in mir getäuscht hatte, denn er hat seinen Revolver gezogen. Mir war klar, daß er mich erschießen würde, wenn ich ihm nicht zuvorkam.« Sie fuhr zusammen. »Als ich abgedrückt habe, ist er keine zwei Meter 182
mehr von mir entfernt gewesen.« Im nächsten Augenblick drängte sie sich schluchzend gegen Mike. »Mein Gott, es ist schrecklich gewesen! Das Loch in seiner Stirn, das viele Blut, als er zusammengebrochen ist…« Inzwischen waren sie vor George Stanfields Wohnhaus angekommen: »Du mußt versuchen, nicht mehr daran zu denken. Ich gebe dir eine Schlaftablette und bringe dich ins Bett.« »Aber du darfst erst gehen, wenn Onkel George nach Hause kommt«, bat Janet im Aufzug. »Ich hab heute abend schon genügend Ängste ausgestanden.« »Gut, dann bleibe ich da und halte Händchen, bis du eingeschlafen bist«, versprach er. Während Janet ihren Schlafanzug anzog, schenkte Mike sich einen doppelten Bourbon ein und setzte sich damit auf die Couch, um nachzudenken. Was Janet ihm auf der Fahrt nach Washington erzählt hatte, ließ nur einen einzigen Schluß zu. Und obwohl Mike nicht bereit war, diese Lösung zu akzeptieren – er sah keine andere Möglichkeit, so grausig sie auch sein mochte. »Du kannst jetzt kommen!« rief Janet. »Ich bin im Bett!« Mike ging ins Schlafzimmer hinüber, wo Janet auf ihren Gutenachtkuß wartete. »Du hast mir eine starke Schlaftablette gegeben«, murmelte sie schläfrig. »Ich bin fast unter der Dusche eingeschlafen. Und jetzt hab ich das Gefühl, in der Luft zu schweben.« »Träum was Schönes, Liebling«, flüsterte er zärtlich. »Ich bleibe hier, bis dein Onkel zurückkommt.« »Rufst du mich morgen an?« fragte Janet noch. »Ich brauche dich, damit du mir hilfst, mir über die ganze Sache klarzuwerden.« »Gegen elf Uhr«, versprach Mike. »Vielleicht können wir zusammen zu Mittag essen, wenn die Reporter und Fernsehleute bis dahin verschwunden sind. Du machst wieder einmal Schlagzeilen.« »Ich wollte aber lieber mit der Ankündigung unserer Hochzeit in die Zeitungen kommen«, murmelte Janet undeutlich, bevor sie einschlief. 183
Mike trank seinen Bourbon, schenkte sich nach und überlegte deprimiert, was er dagegen tun sollte, daß die Frau, die er mehr als alles andere auf der Welt liebte, von unbegreiflichen Mächten angegriffen wurde, die er kaum verstand und noch viel weniger bekämpfen konnte. George Stanfield kam erst kurz nach drei Uhr todmüde zurück. Er schenkte sich ebenfalls einen Drink ein, bevor er sich in einen Sessel fallen ließ. »Gibt's schon was Neues?« wollte Mike wissen. Der Chefredakteur schüttelte den Kopf. »Thornton hat mir erzählt, daß Sheriff Knott hofft, den Toten morgen vormittag identifizieren zu können.« »Mit Hilfe des Motorradkennzeichens?« »Falls das Motorrad nicht gestohlen war. Knott ist damit einverstanden, daß die Zeitungen Fotos veröffentlichen. Möglicherweise findet sich jemand, der den Mann kennt. Er hat ihm auch die Fingerabdrücke abgenommen, um sie vom FBI überprüfen zu lassen. Falls der Bursche vorbestraft ist, jemals beim Staat gearbeitet hat oder Soldat gewesen ist, spuckt der Computer innerhalb weniger Minuten die entsprechenden Daten aus. Hat Janet Ihnen irgend etwas erzählt, das wir noch nicht gewußt haben?« Mike überlegte, ob er Stanfield über ihr Gespräch auf der Rückfahrt berichten sollte, entschied sich dann aber dagegen. »Nein, nichts Besonderes«, log er deshalb. »Ich habe ihr ein ziemlich starkes Schlafmittel gegeben, von dem sie erst spät aufwachen dürfte.« »Ausgezeichnet! Damit kann ich ihr die Reporter der ›Post‹ vom Leibe halten. Ich sage ihnen einfach, Janet hätte einen Schock erlitten, und laut Anweisung ihres Arztes dürfte niemand zu ihr.« Auf der Nachhausefahrt dachte Mike weiter über Janets eigenartige Aussage nach, daß der Eindringling, den sie erschossen hatte, of184
fenbar geglaubt habe, erwartet zu werden. Aber erst am nächsten Morgen fiel ihm ein, wie sich sein Verdacht nachprüfen ließe. Von seiner Praxis aus rief Mike die Telefongesellschaft an und wurde mit einer jungen Frau mit sympathischer Stimme verbunden, die für das Ortsnetz zuständig war, zu dem sein Wochenendhaus gehörte. »Hier ist Dr. Michael Kerns«, sagte er. »Ich glaube, daß jemand ohne meine Erlaubnis von meinem Wochenendhaus am Potomac bei Indian Head aus telefoniert hat. Könnten Sie in der bisherigen Monatsrechnung nachsehen und mir sagen, ob von meinem Apparat aus Ferngespräche geführt worden sind?« »Natürlich Doktor. Welche Nummer haben Sie?« »Sieben-sieben-vier-zwo-sieben-null-eins.« Mike brauchte nicht lange auf den Rückruf zu warten. »Von Ihrem Apparat aus ist am Montag ein Ferngespräch geführt worden: nach zwanzig Uhr und mit der Nummer fünf-fünf-fünf-sieben-sechssieben-sieben in Chicago. Das Gespräch hat zehn Minuten gedauert und drei Dollar fünfundsechzig gekostet.« »Besten Dank.« Mike legte den Hörer auf, starrte eine halbe Minute aus dem Fenster und griff dann nach dem Telefonbuch, um die FBI-Nummer nachzuschlagen. Er wählte sie, gab seinen Namen an und verlangte Inspektor Stafford. »Ah, Dr. Kerns!« sagte der FBI-Mann freundlich. »Ich habe eben Sheriff Knotts Bericht, der mir mit den Fingerabdrücken des Toten abgegeben worden ist, auf meinem Schreibtisch. Tut mir leid, daß Miß Burke schon wieder in einen unangenehmen Vorfall verwickelt worden ist.« »Deswegen rufe ich an«, erklärte Mike. »Und zwar möchte ich Sie um einen Gefallen bitten.« »Gern, wenn ich Ihnen behilflich sein kann.« »Am Montagabend ist von meinem Wochenendhaus am Potomac aus nach Chicago telefoniert worden.« Er nannte die Nummer. »Mich interessiert, wem dieser Anschluß gehört.« »Das läßt sich leicht feststellen. Hat Miß Burke telefoniert?« 185
»Möglicherweise, aber das steht nicht ganz fest.« »Gut, ich besorge Ihnen die gewünschte Auskunft – allerdings inoffiziell, nur weil Sie es sind.« »Noch etwas: Gibt es hier in Washington tatsächlich einen Zentralcomputer mit Angaben über jeden, der schon einmal beim Staat gearbeitet hat, Soldat gewesen ist oder Vorstrafen hat?« »Solche Informationen sind geheim, Doktor. Selbst wenn es einen derartigen Datenspeicher gäbe, dürfte ich seine Existenz nicht bestätigen.« »Sie brauchen mir nichts mitzuteilen, was nicht mit Miß Burke, Lynne Tallman, dem Erschossenen von letzter Nacht und drei weiteren Leuten zusammenhängt.« »Der reinste Großauftrag. Wer sind diese drei Leute?« Die Stimme des Inspektors klang jetzt fast geschäftsmäßig. »Ein Angestellter der Atomic Energy Commission namens Roger Coven – dann seine Frau Rita, die früher als Stenotypistin in Oak Ridge gearbeitet hat – und außerdem ein Professor für Psychiatrie und Parapsychologie an der hiesigen Medical School namens Randall McCarthy. Mich interessieren in diesem Zusammenhang nur Informationen, die den Fall Tallman oder den des getöteten Einbrechers betreffen.« »Mit diesem Fall haben wir vorerst noch nichts zu tun. Bisher sind wir nur von Sheriff Knott aufgefordert worden, die Fingerabdrücke des Toten zu überprüfen.« »Wieviel wollen wir wetten, daß Sie nach dieser Überprüfung bis über beide Ohren in Sheriff Knotts Fall stecken, Inspektor.« Der FBI-Mann antwortete nicht gleich. »Unter diesen Umständen dürfte ein weiteres Gespräch unter vier Augen angebracht sein, Doktor. Ich sorge dafür, daß Sie die gewünschten Auskünfte erhalten.« »Aber bitte mit höchster Dringlichkeitsstufe!« setzte Mike hinzu. »Miß Burkes Leben – oder ihre geistige Gesundheit – könnten auf dem Spiel stehen.«
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urz vor zwölf Uhr brachte Mikes Sprechstundenhilfe ihm ein Exemplar der Stadtausgabe der ›Star-News‹ herein. »Mr. Stanfield hat sie mit einem Boten hergeschickt, Doktor«, sagte sie. »Sie scheinen eine ereignisreiche Nacht hinter sich zu haben.« Die Meldung über den erschossenen Einbrecher stand auf der letzten Seite und war mit drei Fotos garniert, die den Toten, Janet in ihrem weißen Bikini und Mike zeigten. George Stanfield hatte sich jedoch bemüht, die Tatsachen so nüchtern wie möglich aufzuzählen: Ein Einbrecher mit Notzuchtabsichten war von einer tapferen jungen Frau erschossen worden, die sich nicht gefürchtet hatte, in Notwehr zur Waffe zu greifen. Mike las den Artikel eben zum zweitenmal, als sein Telefon klingelte. Inspektor Stafford war am Apparat. »Mein Kompliment zu Ihrem Spürsinn, Dr. Kerns«, begann er lebhaft. »Der Einbrecher, den Miß Burke erschossen hat, ist als Armand Descaux identifiziert worden…« »Also der Mann, der vermutlich den Bombenanschlag auf das Flugzeug mit Lynne Tallman verübt hat?« »Er gehört außerdem zu den zehn meistgesuchten Schwerverbrechern Amerikas – angeklagt wegen Mordes, Brandstiftung, Notzucht, Drogenhandel, Hehlerei, Autodiebstahl und so weiter. Sein Motorrad war übrigens auch gestohlen. Descaux ist nicht nur Lynne Tallmans Liebhaber und Hauptkomplice gewesen, sondern hat außerdem in ihrem Teufelskult die Rolle des Hohepriesters gespielt.« Mikes Herz sank, obwohl er etwas Ähnliches erwartet hatte. »Was ist mit dem Anruf, Inspektor?« »Darauf wollte ich eben zu sprechen kommen«, antwortete der FBIMann. »Der Anrufer – oder die Anruferin – muß Descaux in Ihr Wochenendhaus eingeladen haben, was natürlich verdächtig ist. Auf meine Veranlassung hin haben die Kollegen in Chicago heute morgen das Gebäude durchsucht, in dem das bewußte Telefon instal187
liert ist. Obwohl in diesem ehemaligen Lagerhaus nur ein Mitglied der Bande gefaßt werden konnte, sind wir offenbar auf das Hauptquartier von Descaux und einer ganzen Anzahl weiterer Terroristen gestoßen, die alle mit Lynne Tallman zusammengearbeitet haben.« »Ihre Kollegen haben also einen geschnappt?« »Ja, einen gewissen Frelinghausen, einen kleinen Ganoven und Drogensüchtigen, der sofort ausgepackt hat. Die Bande ist letzte Nacht telefonisch aus Washington oder Umgebung von Armand Descaux' Tod benachrichtigt und aufgefordert worden, ihr Versteck zu räumen, bevor der erste Anruf dorthin verfolgt werden könne. Daraufhin müssen die Terroristen Hals über Kopf geflüchtet sein. Frelinghausen haben wir nur gefaßt, weil er nochmals zurückgekommen ist, um sich seinen Stoff zu holen, den er vergessen hatte.« »Gute Arbeit, Inspektor.« »Aber nicht gut genug«, antwortete Stafford trocken. »Wer ist gestern abend in Ihrem Wochenendhaus gewesen – außer Sheriff Knott und seinen Leuten?« »Dr. McCarthy und das Ehepaar Coven sind nach Janets Anruf mit ihrem Boot herübergekommen. Als Mr. Stanfield und ich angekommen sind, haben eben zwei Männer den Erschossenen abgeholt.« »Augenblick, ich muß vom zweiten Apparat aus telefonieren, Doktor. Bleiben Sie solange dran, oder soll ich zurückrufen?« »Ich bleibe am Apparat«, entschied Mike. »Schließlich bin ich gespannt, was aus dieser Sache mit den Anrufen wird.« Stafford meldete sich nach etwa fünf Minuten wieder. »Nach Auskunft der Telefongesellschaft ist letzte Nacht kein Ferngespräch vom Ferienhaus der Covens aus geführt worden. In diesem Punkt wissen wir also vorerst nicht weiter.« »Ich bin froh, daß Sie Miß Burke nicht verdächtigen…« »Für das zweite Gespräch dürfte sie kaum in Frage kommen – aber wer hat das erste geführt? Soviel ich weiß, hält Miß Burke sich auf Anweisung ihres Arztes – der vermutlich Sie sind – in der Wohnung ihres Onkels auf. Glauben Sie, daß ich sie heute kurz sprechen könn188
te?« »Ein Reporter der ›Post‹ hat mich heute morgen angerufen. Die Konkurrenz ist ziemlich erbittert, weil George Stanfield ihr diesen Knüller vorenthalten hat, und liegt jetzt sicher vor dem Haus auf der Lauer«, antwortete Mike. »Sobald Sie dort aufkreuzen, wissen die Reporter natürlich, daß es Querverbindungen zum Fall Tallman geben muß.« »Das möchte ich allerdings vermeiden«, bestätigte der FBI-Mann. »Gut, dann überlassen Sie die Sache am besten mir«, schlug Mike vor. »Ich habe noch nicht mit Janet gesprochen – vielleicht schläft sie noch. Allerdings bin ich davon überzeugt, daß ihr sehr viel daran liegt, Klarheit in dieser Angelegenheit zu schaffen. Nehmen wir einmal an, sie könnte das Gebäude am frühen Nachmittag unbeobachtet durch den Hinterausgang verlassen: Welchen Ort würden Sie für ein Treffen vorschlagen?« »Mein Büro hier, wo ihre Aussage zu Protokoll genommen werden kann. Miß Burke kann übrigens ihren Anwalt mitbringen.« »Wozu braucht sie einen Rechtsanwalt, wenn wir hundertprozentig mit Ihnen zusammenarbeiten?« »Richtig, sie braucht keinen, da sie Descaux einwandfrei in Notwehr erschossen hat. Können Sie sie um zwei Uhr herbringen?« »Gut, wir kommen, aber ich möchte Sie bitten, sie vorsichtig zu behandeln, Inspektor. Dieser Fall hat medizinische Aspekte, die ich vorläufig selbst nicht verstehe.« »Machen Sie sich übrigens keine Sorgen, wenn Sie unterwegs das Gefühl haben, beschattet zu werden«, fügte Stafford noch hinzu. »Seitdem wir aus Chicago wissen, daß die Bande telefonisch gewarnt worden ist, wird Miß Burke von unseren Leuten überwacht – und natürlich auch beschützt.« »Aber…« »Der kleine Fisch, der uns in Chicago ins Netz gegangen ist, hat gesagt, daß der gesamte Tallman-Descaux-Clan nach Washington unterwegs sei, Doktor. Wir müssen damit rechnen, daß auf Miß Burke ein Attentat verübt wird, weil sie Descaux erschossen hat, oder 189
die Terroristen planen irgendeinen Anschlag. Wofür sie sich entscheiden, ist noch nicht abzusehen: Auf jeden Fall werden wir versuchen, Miß Burke vor ihnen zu schützen.«
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urz nach zwei Uhr betraten Mike, George Stanfield und Janet das FBI-Gebäude und wurden in Staffords Büro geführt. »Ich habe es für richtig gehalten, auch Mr. Stanfield mitzubringen«, sagte Mike, als der Inspektor sie höflich begrüßte. »Er ist Miß Burkes nächster Verwandter und vertritt außerdem ihren Arbeitgeber, die Washingtoner ›Star-News‹.« »Natürlich, natürlich. Nehmen Sie doch bitte Platz.« Stafford wartete, bis sie vor seinem Schreibtisch saßen. »Als erstes möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß unsere Begegnung auf Tonband aufgenommen wird. Und ich muß mich vergewissern, daß Miß Burke die ihr zustehenden Rechte anerkennt.« »Bin ich denn wegen eines Verbrechens angeklagt, Inspektor?« fragte Janet ruhig, und Mike bewunderte ihre wiedergewonnene Selbstbeherrschung. »Nicht durch das FBI, Miß Burke. Aber die Schießerei hat sich in einem benachbarten County ereignet, und man weiß nie, wann ein übereifriger Staatsanwalt…« »…sich einmischt, weil er hofft, dadurch bekannt und vor allem wiedergewählt zu werden«, warf George Stanfield gelassen ein. »Als Journalisten kennen meine Nichte und ich diesen Typ – aber was sollte er ihr unter diesen Umständen anhaben können, Inspektor?« »Immerhin besteht die Möglichkeit, daß der zuständige Staatsanwalt in Maryland Anklage gegen Miß Burke erhebt, weil sie einen steckbrieflich gesuchten Verbrecher in eine Falle gelockt haben soll, die 190
ihm den Tod gebracht hat.« »In welche Falle?« erkundigte sich Janet empört. »Ich habe den Mann nie zuvor gesehen!« »Trotzdem ist am Montagabend von Dr. Kerns' Wochenendhaus aus, in dem Sie wohnen, Miß Burke, ein Telefongespräch geführt worden. Der Gesprächspartner ist ein Teilnehmer in Chicago gewesen, und sein Apparat hat in einem ehemaligen Lagerhaus gestanden, das Lynne Tallman, Armand Descaux und ihren Komplicen als Unterschlupf gedient hat. Auf diesen Anruf hin hat Descaux Chicago verlassen und ist auf einem gestohlenen Motorrad geradewegs zu Dr. Kerns Wochenendhaus gekommen. Das Weitere wissen Sie ja.« »Großer Gott!« Janet umklammerte Mikes Hand. »Dann hat er also recht gehabt – sie muß ihn angerufen haben!« »Was soll das heißen?« fragte George Stanfield verblüfft. »Ich schlage vor, daß wir Janet über gestern abend berichten lassen«, warf Mike ein. »Wahrscheinlich wird dann alles klar.« »Bedeutet das etwa, daß Sie davon gewußt und es mir verschwiegen haben?« erkundigte sich der Chefredakteur aufgebracht. »Janet hat mir Descaux' Verhalten geschildert, als wir miteinander nach Washington zurückgefahren sind«, antwortete Mike. »Da mir klar gewesen ist, zu welchen Spekulationen diese Sache führen und welches unangenehme Aufsehen sie erregen könnte, habe ich abgewartet, bis ich heute vormittag feststellen lassen konnte, ob von meinem Haus aus telefoniert worden war. Nachdem ich erfahren habe, daß jemand am Montagabend mit Chicago telefoniert hatte, habe ich Inspektor Stafford gebeten, den Angerufenen ermitteln zu lassen.« »Du bekommst trotzdem noch alles zu hören, Onkel George«, versprach Janet ihm. »Vielleicht kann Inspektor Stafford dir sogar eine Kopie seiner Aufnahme machen lassen.« »Sie sind also einverstanden, wenn ich Ihre Aussage auf Tonband aufnehme, Miß Burke?« »Selbstverständlich, Inspektor. Ich habe bisher stets die Wahrheit 191
gesagt und werde es auch weiterhin tun.« »Gut, dann können wir anfangen.« Stafford beugte sich nach vorn, um den Kassettenrecorder auf seinem Schreibtisch einzuschalten. »Miß Janet Burke macht diese uneidliche Aussage freiwillig und aus eigenem Entschluß.« Er nickte ihr zu. »Bitte sehr, Miß Burke.« Janet sprach langsam und deutlich, als sie wiederholte, was sie Mike auf der Rückfahrt nach Washington erzählt hatte: In allen Einzelheiten schilderte sie ihr Erlebnis mit Armand Descaux. »Danke, Miß Burke«, sagte Stafford, als sie fertig war. »Haben Sie mit Descaux telefoniert, bevor er angekommen ist? Oder nach seinem Tod mit seinem Hauptquartier in Chicago?« »Nein, niemals!« antwortete sie energisch. »Das kann ich beschwören.« »Trotzdem beweisen die Unterlagen der Telefongesellschaft, daß am Montagabend von Dr. Kerns' Wochenendhaus aus ein solches Gespräch geführt worden ist«, stellte der Inspektor fest. »Aber nicht von mir.« »Sie sind den ganzen betreffenden Abend allein gewesen?« »Ja.« »Laut Ihrer Aussage von vorhin hat Descaux offenbar erwartet, von Ihnen mit offenen Armen empfangen zu…« »Darauf brauchst du nicht zu antworten, Janet!« sagte George Stanfield scharf. »Ich will aber nicht lügen, Onkel George. Er hat sogar behauptet, von mir eingeladen worden zu sein.« »Wie läßt sich das Ihrer Ansicht nach mit Ihrer Aussage vereinbaren, Sie hätten nicht nach Chicago telefoniert, obwohl Sie am Montagabend allein im Haus gewesen sind?« Janet sah zu Mike hinüber, der sie unterwegs auf eine Frage dieser Art vorbereitet hatte. »Ich bin bei Dr. Kerns in Behandlung«, sagte sie. »Deshalb möchte ich, daß er für mich antwortet.« »Können Sie das, Doktor?« fragte Stafford. »Ja, wenn Sie mich etwas weiter ausholen lassen.« 192
»Natürlich.« »Miß Burke ist meine Patientin in bezug auf die physischen Verletzungen, die sie bei dem Flugzeugunglück erlitten hat«, begann Mike. »Zu diesen Verletzungen hat eine schwere Gehirnerschütterung gehört, nach der sie fast sechsunddreißig Stunden lang bewußtlos gewesen ist. Da ich den Verdacht hatte, in ihrem Fall könnte ein bleibender Gehirnschaden vorliegen, habe ich Dr. Josh Fogarty, einen Neurochirurgen, und Dr. Randall McCarthy, einen Psychiater, hinzugezogen.« »Weshalb einen Psychiater?« wollte der FBI-Mann wissen. »Bevor Miß Burke aus ihrer Bewußtlosigkeit erwacht ist, sind Dr. Fogarty einige ungewöhnliche Wellen auf ihrem Elektroenzephalogramm aufgefallen, Inspektor. Da nach schweren Gehirnerschütterungen psychische Störungen auftreten können, wollten wir für alle Eventualitäten gewappnet sein. Nachdem sie nun tatsächlich aufgetreten sind…« »Augenblick, Mike!« rief George Stanfield aus. »Mit Janet ist alles in Ordnung.« »Nein, wir wollten nur nicht, daß du dir darüber Sorgen machst, bevor Mike und Dr. McCarthy sich über die Hintergründe einig waren, Onkel George«, sagte Janet ruhig. »Ich verstehe das Ganze selbst nicht recht, aber bei mir scheint eine Persönlichkeitsspaltung vorzuliegen: Anscheinend habe ich zwei Persönlichkeiten.« »Eine Mehrfachpersönlichkeit!« warf Stafford ein. »Das erinnert mich an einen Fall, den ich als Leiter unserer Außenstelle in Birmingham erlebt habe.« »Gut, dann kennen Sie die Problematik«, sagte Mike erleichtert. »Nach Dr. McCarthys Auffassung sind Miß Burkes Gehirnfunktionen durch die Gehirnerschütterung so weit beeinträchtigt worden, daß sich in ihr zwei gänzlich verschiedene Persönlichkeiten herausgebildet haben. Eine ist die Janet Burke, die hier vor Ihnen sitzt – die andere ist ein boshaftes Wesen, das sich Lynne nennt und gelegentlich Besitz von Miß Burkes Körper ergreift.« »Haben Sie diese zweite Persönlichkeit schon selbst erlebt, Dok193
tor«, wollte Stafford wissen. »Ja. Ihr Verhalten entspricht in vielen Einzelheiten Lynne Tallmans in Chicago, wie Miß Burke es geschildert hat.« »Großer Gott!« ächzte Stanfield. »Das ist unglaublich!« »Soll das heißen, daß diese zweite Persönlichkeit, die sich Lynne nennt, am Montagabend in Chicago angerufen hat, Dr. Kerns?« fragte der Inspektor. »Ich sehe keine andere Möglichkeit.« »Aber woher können Sie die Telefonnummer gewußt haben?« wandte sich der FBI-Mann an Janet. »Hat Lynne Tallman Ihnen etwa den Schlupfwinkel der Bande in Chicago verraten?« »Nein, davon hat sie nie gesprochen. Ich habe Lynne erst kennengelernt, als ich sie im Gefängnis interviewt habe, und sie hat immer eisern geschwiegen, sobald das Thema auf ihre Komplicen gekommen ist.« »Wissen Sie eine Erklärung für das Phänomen mit der richtigen Nummer, Doktor?« »Ja, eine Vermutung hätte ich – aber ich möchte sie vorerst noch nicht preisgeben.« »Mike!« rief Janet aus. »Was soll das heißen?« »Das heißt nur, daß ich mir eine Theorie zurechtgelegt habe, die ich aber nicht bekanntgeben darf, solange ich sie nicht beweisen kann.« »Sobald Sie sie beweisen können, erfahre ich davon, nicht wahr, Doktor?« Staffords Tonfall war plötzlich schärfer geworden. »Sofort«, versicherte Mike ihm. »Einverstanden Doktor. Sie haben vorhin erklärt, Sie hätten Miß Burkes zweite Persönlichkeit erlebt. Würden Sie uns bitte schildern, was es damit auf sich hat?« Mike berichtete, wie eigenartig Janet sich neulich in der Bar benommen hatte; er verschwieg jedoch die Fortsetzung in Georges Stanfields Wohnung. »Zwei Menschen im gleichen Körper – und einer davon imitiert eine Mörderin!« Stanfield fuhr sich mit seinem Taschentuch über 194
die Stirn. »Ich schlage vor, daß wir Dr. McCarthys Theorie mit der Doppelpersönlichkeit vorerst akzeptieren, Doktor«, sagte der FBI-Mann. »Warum erinnert Miß Burke sich dann nicht an das Telefongespräch vom Montagabend, das sie als Lynne, als ihre zweite Persönlichkeit – geführt haben muß?« »Das ist eine weitere Eigenart von Mehrfachpersönlichkeiten«, antwortete Mike. »Keine von ihnen weiß, was die anderen gesagt oder getan haben.« »Kann diese zweite Persönlichkeit, die sich Lynne nennt, nach Belieben auftreten?« wollte Stafford wissen. »Das steht nicht in meinem Belieben«, antwortete Janet bestimmt, »aber offenbar in ihrem.« »Welchen Unterschied sollte das machen?« erkundigte Stanfield sich verständnislos. »Vielleicht einen ziemlich großen«, sagte Stafford. »Frelinghausen, den wir in Chicago geschnappt haben, hat ausgesagt, die Nachricht von Armand Descaux' Tod sei gegen Mitternacht telefonisch durchgegeben worden. Die ganze Bande ist uns nur deshalb durch die Lappen gegangen, weil Descaux seine Leute angewiesen hatte, ihm am Wochenende nach Washington zu folgen. Nach Frelinghausens Darstellung kennen die anderen sogar einen Treffpunkt, obwohl sie sich bis zu ihrer Benachrichtigung auf Washington und Umgebung verteilen sollten.« »Ist dieser Treffpunkt mein Wochenendhaus gewesen?« fragte Mike. »Frelinghausen hat sich nur undeutlich an die Ortsbeschreibung erinnern können. Das wenige, was wir aus ihm herausgequetscht haben, würde allerdings darauf hindeuten, Doktor.« Janet fuhr zusammen. »Dieser Mann hat also damit gerechnet, von jemanden willkommen geheißen zu werden…« »Wahrscheinlich von deiner Lynne-Persönlichkeit, die offenbar beabsichtigt hat, Lynne Tallmans Platz in ihrem Teufelskult einzunehmen«, stellte Mike fest. »Mike!« protestierte Janet. »Wie kannst du so was auch nur den195
ken?« »Wir müssen realistisch bleiben, Liebling. Du hast diese andere Persönlichkeit noch nie in Aktion erlebt und kannst dich nicht an sie erinnern. Deshalb weißt du auch nicht um ihre Gefährlichkeit. Falls sie beschlossen hat, Lynne Tallmans Nachfolge anzutreten, muß sie logischerweise den Plan gefaßt haben, Armand Descaux als ihren einzigen Rivalen um die Führerschaft innerhalb des Kults zu beseitigen.« »Indem sie ihn mit einem Anruf nach Washington gelockt und eine Situation herbeigeführt hat, in der Miß Burke ihn aus Notwehr erschießen mußte«, bestätigte Stafford. »Das ist doch eine ganz einleuchtende Theorie, Doktor.« »Aber mir leuchtet sie nicht ein!« Janet war empört. »Sie stempelt mich praktisch zur Mörderin!« »Nicht dich – Lynne«, entgegnete Mike geduldig. »Du hast eindeutig in Notwehr gehandelt und kannst folglich nicht deswegen angeklagt werden. Stimmt's, Inspektor?« »Sie haben zumindest auf dem Papier recht.« »Können Sie sich vorstellen, daß ein Schwurgericht sich meine Theorie zu eigen macht und Janet wegen dieser Sache bestraft, für die sie selbst nichts kann?« »Nein.« Stafford beugte sich nach vorn, um den Kassettenrecorder abzuschalten. »Aber es will mir einfach nicht in den Kopf, daß Miß Burkes zweite Persönlichkeit zu den Verbrechen einer Lynne Tallman imstande sein soll.« »Etwas anderes ist viel wichtiger!« Janets Stimme versagte, und Mike griff unwillkürlich nach ihrer Hand, aber sie schob sie fort. »Wie soll ich als Doppelpersönlichkeit weiterleben können, wenn ich weiß, daß eine davon diesen Mann in den Tod gelockt hat, weil er ihr vertraut hat?«
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ike setzte Janet zu Hause ab und brachte Stanfield in seine Redaktion. »Was Ihre Theorie über Janets Doppelpersönlichkeit betrifft, geht es mir ähnlich wie dem Inspektor«, meinte Stanfield unterwegs. »Ich kann's einfach nicht glauben.« »Ich auch nicht«, sagte Mike einfach. Der Chefredakteur starrte ihn verblüfft an. »Aber Sie haben doch…« »Ich habe nur Dr. McCarthys Theorie und seine Erklärung für Janets Verhalten wiederholt, damit Stafford sie nicht etwas für Descaux' Mörderin hält. Meine persönliche Überzeugung dürfte Ihnen noch abstruser vorkommen, obwohl ich sie für logischer als die andere Theorie halte.« »Was meinen Sie damit?« »Ich bin davon überzeugt, daß Janet von einem Dämon besessen ist.« »Das klingt noch ebenso wahnwitzig wie damals vor sechs Wochen, als Sie zum erstenmal von dieser Möglichkeit gesprochen haben. So was gibt's heutzutage einfach nicht mehr!« »Richtig, das habe ich auch geglaubt, bis ich vor etwa einem Jahr mit Pater O'Meara gesprochen habe, der…« »Nie von ihm gehört«, brummte Stanfield. »Er betreut eine kleine Gemeinde am Stadtrand von Washington und ist gleichzeitig der offizielle Exorzist dieser Diözese. Seiner Aussage nach gibt es in unruhigen Zeiten wie der jetzigen immer mehr Besessene, was daran liegen mag, daß die Menschen emotional so gestört sind, daß sie nicht mehr die moralische Kraft aufbringen, den Sendboten Satans Widerstand zu leisten.« »Janet ist meine einzige Nichte, Mike. Ich habe sie wie eine Tochter aufgezogen.« Stanfield schüttelte trübselig den Kopf. »Und jetzt soll ich glauben, daß sie sich in eine Teufelin wie die Tallman verwandeln könnte?« 197
»Nicht Janet, sondern der böse Geist, der sie jetzt zu beherrschen versucht. Davor müssen wir am meisten Angst haben.« »Aber warum?« »Lynne Tallman ist hochintelligent gewesen, wie aus Janets Aufzeichnungen über sie hervorgeht. Deshalb hat sie von Janets Körper während deren Bewußtlosigkeit Besitz ergreifen können. Dieser Wechsel ist um so dringender gewesen, als Lynne Tallman damals der Feuertod gedroht hat.« »Fürchtet ein Dämon aus der Hölle das Feuer?« »Haben Sie vergessen, was Dante schreibt? Der neunte Höllenkreis, aus dem die Dämonen stammen dürften, weil er der schlimmste ist, ist bitterkalt. Auch Pater O'Meara hat bestätigt, daß es bei einem Exorzismus oft eiskalt werden kann, obwohl außerhalb des Raumes brütende Hitze herrscht.« »Ich will nicht vorgeben, das alles zu verstehen – oder zu glauben«, sagte Stanfield. »Aber ich weiß, daß Janet Sie liebt und Vertrauen zu Ihnen hat, Mike. Und da Sie sie ebenfalls lieben, sind Sie vielleicht der einzige, der sie vor der Teufelin in ihrem Inneren beschützen kann.« »Das will ich auch. Als erstes muß uns allerdings der Beweis gelingen, daß in Janets Körper ein Dämon existiert. Zum Glück versteht Pater O'Meara sich auf dergleichen.«
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m Montagmittag kamen Mike und sein Gast um zwölf Uhr dreißig in das Restaurant des Sheraton-Carlton-Hotels und wurden zu dem für sie reservierten Tisch geführt. Mikes Begleiter war ein großer grauhaariger Mann, dessen breite Schultern noch immer den berühmten Footballspieler der Notre Dame University ahnen lie198
ßen, der er einst gewesen war. Er hatte ein hageres, intelligentes Gesicht mit freundlichen Augen und trug eine sportliche Kombination. »Miß Burke muß gleich kommen, Pater«, sagte Mike. »Erzählen Sie mir inzwischen, wie Sie sie auf die Probe stellen wollen?« »Diese Dämonen können Gedanken lesen. Wenn Sie's wüßten, wäre auch Ihre Verlobte augenblicklich gewarnt, aber ich habe gelernt, mich in solchen Fällen auf unverfängliche Gedanken zu konzentrieren.« »Und wann wollen Sie sie auf die Probe stellen?« »Ich kann Ihnen nur versprechen, daß das Ergebnis eindeutig sein wird, falls sie besessen ist. Sie…« Pater O'Meara machte eine Pause. »Ah, das muß sie sein! Eine seltene Schönheit!« Mike stand auf, um Janet zu begrüßen, die in ihrem leichten Sommerkleid, zu dem sie weiße Handschuhe und einen Blumenhut trug, bezaubernd aussah. Ihr Gesicht war leicht gerötet, weil sie die bewundernden Blicke aller anwesenden Männer und die neidischen aller Frauen auf sich gerichtet fühlte. »Hallo, Liebling«, sagte Mike mit einer Hand auf ihrem Arm. »Das ist mein alter Freund, Pater Julian O'Meara.« Er spürte, daß Janet kurz zusammenzuckte, als sie hörte, daß der andere ein Geistlicher war, aber dann streckte sie ihm lächelnd die Hand hin. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Pater.« »Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Miß Burke«, erwiderte der Geistliche. »Ich bin ebenfalls schon von Ihrem Verlobten operiert worden. Bei Ihnen hat er jedoch sein Meisterstück geliefert.« Sie bestellten ihre Drinks: Sherry für O'Meara und Janet, Bourbon für Mike. Die Mahlzeit verlief in ungestörter Harmonie. Der Pater unterhielt sie mit irischem Charme, indem er Anekdoten aus seiner Laufbahn als Footballspieler erzählte, Mike fragte sich bereits, ob er noch an die Probe denken würde, als der Geistliche das Thema wechselte. »Ich betreue eine kleine Gemeinde in einem der ältesten Stadtviertel, Miß Burke«, wandte er sich an Janet. »Man könnte die Ge199
gend fast als einen Slum bezeichnen. Wir konzentrieren uns darauf, die jungen Leute für alle möglichen Sportarten zu interessieren, und haben wunderbare Erfolge damit. Als Reporterin könnten Sie sich unsere Jugendarbeit einmal ansehen und vielleicht sogar einen Bericht darüber schreiben.« »Ja, das tue ich gern.« »Letzten Montag habe ich Geburtstag gefeiert. Das hier hat mir die Basketball-Jugendmannschaft geschenkt.« O'Meara nahm ein etwa zwölf Zentimeter langes vergoldetes Kruzifix aus der Tasche, drehte es um und zeigte auf ein fischförmiges Akrostichon aus griechischen Buchstaben. »Das Fischzeichen, ein altes Symbol für den Namen des Gottessohnes«, fügte er wie beiläufig hinzu, während er das Kruzifix dicht vor Janet auf den Tisch legte. »Kennen Sie diese Geschichte, Miß Burke?« Mike hatte bisher das vergoldete Kruzifix betrachtet. Irgend etwas in Pater O'Mearas Stimme ließ erkennen, daß dies die Probe war, auf die der Geistliche Janet hatte stellen wollen. Mike sah deshalb rasch zu ihr auf – und erstarrte förmlich. Beim Anblick des Kruzifixes war Janet leichenblaß geworden, aber ihre Augen leuchteten auf die unheimliche Weise, die Mike bereits kannte. Sie blieb nur wenige Sekunden lang sitzen; dann schob sie ruckartig ihren Stuhl zurück, stand auf, ohne darauf zu achten, daß der Stuhl umfiel, und wandte sich ab. »Entschuldigung, ich komme gleich wieder«, sagte sie mit vor Angst und Wut heiserer Stimme, die Mike eindeutig als Lynnes erkannte. Janet war schon am übernächsten Tisch, bevor Mike sich von seiner Überraschung erholt hatte; sie rannte beinahe, prallte mit neu hereinkommenden Gästen zusammen, ohne sich zu entschuldigen, und hastete durch die Hotelhalle zur Toilette. Während dieser Flucht – man konnte es nicht anders bezeichnen – herrschte an den übrigen Tischen erstauntes Schweigen. »Das ist die Probe gewesen, stimmt's?« fragte Mike den Pater, als 200
die anderen Gäste ihre Unterhaltung wieder aufnahmen und ein Ober den umgefallenen Stuhl aufgehoben hatte. O'Meara nickte langsam. Aus seinem Blick sprachen Mitleid und Besorgnis zugleich. »Jetzt ist kein Zweifel mehr möglich, Mike«, bestätigte er. »Ihre Verlobte ist von einem bösen Geist besessen.«
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as können wir bloß tun?« fragte Mike den Geistlichen mit heiserer Stimme. »Im Augenblick kommt es darauf an, sie daran zu hindern, als Lynne wegzugehen – sonst sehen Sie sie vielleicht nie mehr als Janet wieder.« »Wissen Sie ganz bestimmt, daß es sich um den gleichen Dämon handelt, von dem Lynne Tallman vor ihrem Tode besessen gewesen ist?« »Luzifer kann einen anderen Abgesandten damit beauftragt haben, das unselige Werk der Tallman und ihrer Teufelsanbeter fortzusetzen – das macht jedoch keinen Unterschied.« Pater Julian stand auf und steckte das Kruzifix ein, das diese erstaunliche Veränderung in Janet bewirkt hatte. »Falls Miß Burke mich nicht sieht, bevor sie das Restaurant verläßt, können Sie ihr vielleicht helfen, wieder zu sich zu kommen und ihr das Geschehene erklären. Ich vermute, daß sie sich nicht an diesen Vorfall erinnern wird – oder wollen wird.« Mike hatte gezahlt und wartete in der Hotelhalle, bis Janet aus der Toilette kam. Sie ging dicht an ihm vorbei, ohne ihn zu erkennen; aber als sie kurz zu ihm herübersah, fiel ihm ein Ausdruck in ihren Augen auf, den er zum erstenmal bei ihr wahrnahm. Aus ihrem Blick sprach blankes Entsetzen – als fürchte die äußerlich selbst201
sichere und gelassene Lynne-Janet nichts mehr als das Kruzifix, die Nähe eines Geistlichen und die himmlische Macht, die er vertrat. Diese Erkenntnis ließ Mike neue Hoffnung schöpfen, daß es schließlich doch noch gelingen werde, Janet von ihrem Dämon zu befreien. Sie war schon fast an der Drehtür, als er nach ihrem Arm griff. Im ersten Augenblick glaubte er, sie werde sich mit Gewalt freimachen; plötzlich ließ jedoch ihre Muskelspannung nach, und Mike spürte den Eiseshauch, den er schon früher wahrgenommen hatte, wenn der Dämon, den er Lynne nannte, ihren Körper verließ. Und als Janet zu ihm aufsah, war ihr Blick so hoffnungslos verzweifelt, daß Mike sie am liebsten in die Arme genommen hätte, um sie zu trösten. »Was ist im Restaurant passiert, Mike?« fragte sie halblaut. »Das erzähle ich dir draußen. Er … sie ist verschwunden, nicht wahr?« »Ja. Aber ich verstehe nicht, was passiert ist.« Mike führte sie ins Freie, setzte sie in seinen Porsche und startete. Der Wagen hatte sich in der Sonne aufgeheizt und glich einem Backofen, aber die Klimaanlage kühlte ihn rasch ab. Janet saß mit geschlossenen Augen neben ihm, als er zum Rock Creek Park hinausfuhr und unter einer der großen Eichen parkte. Nachdem er den Motor abgestellt und die Fenster elektrisch versenkt hatte, wehte eine angenehm frische Brise über ihre Gesichter. Janet schien zu schlafen, als sei die zweimalige Verwandlung zu anstrengend für sie gewesen. Auf einmal fragte sie, ohne die Augen zu öffnen: »Mit wem haben wir zu Mittag gegessen, Liebling? Ich weiß, daß es ein Mann gewesen ist – aber ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern.« »Pater Julian O'Meara. Er betreut eine kleine Washingtoner Gemeinde, gehört aber gleichzeitig zu den Mitarbeitern des hiesigen Bischofs. Ich kenne ihn aus meiner Assistenzarztzeit am University Hospital.« »Er ist sehr nett – soviel weiß ich noch. Dann muß irgend etwas passiert sein, und ich…« Janet machte ein Pause. »Die andere Per202
sönlichkeit, weißt du! Ich kann nur hoffen, daß sie sich deinem Freund gegenüber nicht unmöglich benommen hat.« »Das Ganze ist in Wirklichkeit ein Trick gewesen«, gab Mike zu. »Aber ich habe keine andere Möglichkeit gesehen, die Wahrheit herauszubekommen…« »Die Wahrheit über Lynne?« fragte sie sehr leise. »Ja. Von Anfang an habe ich nicht viel von Randall McCarthys Theorie gehalten, du seist durch den Unfall zu einer Doppelpersönlichkeit geworden. Allerdings bin ich noch weniger bereit gewesen, an die andere Möglichkeit zu glauben, obwohl für mich beinahe feststand, daß sie die eigentliche Erklärung für deine scheinbare Persönlichkeitsspaltung sein mußte.« »Aber du hast es bei mir doch mit zwei ganz verschiedenen Frauen zu tun?« »Eine ist die Frau, die ich liebe«, antwortete Mike ernsthaft. »Die andere fürchte ich, weil sie dir etwas antun könnte. Ich habe mir nicht mehr zu helfen gewußt – und da ist mir Pater Julian eingefallen.« »Dabei sind wir beide nicht katholisch«, stellte Janet verwundert fest. »Das spielt in diesem Fall keine Rolle. Pater Julian ist nämlich kein x-beliebiger Priester, sondern in Wirklichkeit der erste Exorzist der Diözese Washington.« Mike hörte Janet tief Luft holen und wußte, daß sie verstanden hatte, was er meinte. »Deshalb habe ich dieses Mittagessen arrangiert, um dich mit ihm zusammenzubringen – obwohl er mir nicht verraten wollte, was er vorhatte.« »Warum nicht?« »Böse Geister sind noch bessere Gedankenleser als Randall McCarthy. Hätte ich von seinem Vorhaben gewußt, hätte Lynne möglicherweise vor der Zeit gewarnt werden können. Dann wäre sie heute mittag nicht in Erscheinung getreten.« »Ich habe tatsächlich Angst verspürt«, gestand Janet. »Ich habe 203
sogar gegen elf Uhr in deiner Praxis angerufen, um mich zu entschuldigen. Die Sprechstundenhilfe hat mir erklärt, du seist erst nachmittags wieder zu erreichen. Deshalb bin ich dann doch gekommen.« Sie machte eine Pause. »Womit hat der Geistliche Lynne so erschreckt? Ich weiß nicht mehr, was nach dem Dessert geschehen ist.« »Pater Julian ist ein amüsanter Unterhalter, und ich hatte den Eindruck, alles sei in bester Ordnung. Dann hat er ganz beiläufig ein vergoldetes Kruzifix, ein Geschenk junger Gemeindemitglieder, aus der Tasche geholt.« Janet hatte eine Gänsehaut, obwohl eine laue Brise wehte. »Ich erinnere mich an das Kruzifix. Es hat eine Art Emblem auf der Rückseite gehabt…« »Ein altes Akrostichon: Die griechischen Anfangsbuchstaben von ›Jesus Christus, Gottes Sohn, Heiland‹ bilden die Umrisse eines Fisches. Pater Julian hat mir erzählt, daß dies ein heiliges Symbol der Urkirche gewesen ist.« »Daraufhin muß mir schwarz vor den Augen geworden sein.« »In diesem Moment hat Lynne die Herrschaft über deinen Körper an sich gerissen, aber sie muß Angst vor dem Kruzifix oder dem heiligen Symbol empfunden haben. Sie hat ihren Stuhl zurückgestoßen, ist aufgesprungen und hat die Flucht ergriffen.« »Ich bin erst wieder zur Besinnung gekommen, als du mir in der Hotelhalle die Hand auf den Arm gelegt hast.« Janet schluckte. »Du hast mich zum Glück in die Wirklichkeit zurückgeholt.« »Ich habe dafür gesorgt, daß dein wahres Ich Lynne Tallmans Dämon verdrängt hat, der beinahe die Herrschaft über deinen Körper an sich gerissen hätte.« »Nicht nur beinahe – er hat ihn beherrscht.« »Da bin ich nicht ganz deiner Meinung«, widersprach Mike. »Wie hätte Lynne mich sonst dazu bringen können, Armand Descaux nach Washington zu locken, damit ich ihn erschießen konnte, während er nichts Böses ahnte?« »Du hast nicht mit Descaux gesprochen – das ist Lynne gewesen«, korrigierte Mike geduldig. »Und sie beherrscht dich vorerst noch 204
nicht ganz.« »Wie kannst du das behaupten, wenn sie mich offenbar zu allem zu zwingen vermag?« »Du bist vorhin nicht ohne mich gegangen, was in Lynnes Absicht gelegen haben muß.« »Aber nur, weil du mich zurückgehalten hast.« »Soviel ich gelesen und von Pater Julian gehört habe, verfügen Dämonen über starke Kräfte, obwohl sie keine körperlichen Wesen sind. Hätte Lynne dich vorhin beherrscht, hätte sie mich mühelos abschütteln können. Das hat jedoch die wahre Janet nicht zugelassen. In der Praxis bedeutet das: Obwohl ein Teil von dir zweifellos von Lynne Tallmans Dämon besessen ist, kann dein anderes Ich, das mich liebt, noch immer ihre Absichten durchkreuzen.« »Aber ihre Stärke nimmt zu! Ich spüre, daß es von Mal zu Mal schwieriger wird, die Herrschaft über meinen Körper zurückzugewinnen.« »Das werden wir bald ändern«, behauptete Mike zuversichtlich. »Wie denn?« »Durch einen Exorzismus.« »Aber daran glaubt doch niemand, Mike!« »Pater Julian O'Meara glaubt daran – und die Menschen, die er von bösen Geistern befreit hat, tun es ebenfalls. Ich habe mit einigen von ihnen gesprochen und weiß, daß vor kurzem ein Buch erschienen ist, in dem mindestens fünf dokumentierte Exorzismen geschildert werden.« »Dokumentiert?« »Durch Tonbandaufnahmen, Zeugenaussagen und teilweise sogar durch Filmaufnahmen belegt.« »Du weißt nicht, wie stark sie sein kann, Mike.« Janet tastete schutzsuchend nach seiner Hand. »Sie könnte mich sogar umbringen, wenn ich versuche, sie an irgend etwas zu hindern. Oder dich ermorden, weil ich ihr aus Liebe zu dir Widerstand leiste.« »Dann akzeptierst du also Pater Julians Diagnose, daß du von einem bösen Geist besessen bist?« 205
»Akzeptieren? Ich bin davon überzeugt, seitdem ich Armand Descaux erschossen habe und du mir bewiesen hast, daß ich ihn hergelockt hatte, um ihn…« »Nicht du – Lynne.« »Wir teilen uns den gleichen Körper und eigentlich sogar den gleichen Verstand…« »Zum Glück weiß die eine jedoch nicht, was die andere tut«, warf Mike ein. »Davon bin ich inzwischen nicht mehr überzeugt.« Janet schüttelte langsam den Kopf. »Was sie tut, nehme ich nur undeutlich und bruchstückhaft wahr. Hingegen befürchte ich, daß ihr Wissen immer umfangreicher wird, je stärker sie selbst wird.« »Deshalb muß der Exorzismus so bald wie möglich durchgeführt werden«, drängte Mike. »Die einzige Frage ist nur: Bist du bereit, dich ihm zu unterziehen?« »Ich würde alles tun, um wieder ich selbst sein zu können – auch wenn sie mich dafür umbringt.« »Dadurch würde sie deinen Körper verlieren«, wandte Mike ein, »den sie aber zumindest im Augenblick dringend braucht, um ihr nächstes Verbrechen zu planen und auszuführen.« »Woher willst du das wissen?« »Der Trick, daß sie Armand Descaux – der vermutlich Lynnes einziger Rivale in bezug auf die Führungsposition innerhalb des Teufelskults gewesen ist – nach Washington gelockt hat, um ihn dort erschießen zu lassen, und die Tatsache, daß die übrigen Bandenmitglieder hierher beordert worden sind, deuten darauf hin, daß sie einen weiteren Terroranschlag vorbereitet.« »Und dazu benützt sie meinen Körper!« stellte Janet erbittert fest. »Aber ich kann sie nicht daran hindern – es sei denn, ich beginge Selbstmord.« »Daran darfst du nicht einmal denken!« erwiderte Mike scharf. »Du hast den wichtigen Vorteil, daß sie deinen Körper braucht, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Und wenn wir den Dämon austreiben, der als einziger Teil der wahren Lynne Tallman erhalten ge206
blieben ist, machen wir ihn hilflos.« »Bis er ein anderes Opfer gefunden hat?« »Soviel ich von Pater Julian weiß, vertreibt ein erfolgreicher Exorzismus den bösen Geist nicht nur, sondern schwächt und verwundet ihn auch. Außerdem prahlt der Dämon während der Teufelsaustreibung oft mit weiteren Schandtaten, die er in Zukunft zu verüben gedenkt, so daß wir unter Umständen nicht nur Lynne-Janet von Lynne befreien, sondern auch den geplanten neuen Anschlag vereiteln können.« »Bittest du Pater Julian, den Exorzismus möglichst bald vorzunehmen?« Flehend blickte Janet Mike an. »Ich habe Angst, daß der Dämon sich nicht mehr vertreiben läßt, wenn wir noch lange zuwarten.«
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anet ist einverstanden«, erklärte Mike Pater Julian am gleichen Abend am Telefon. »Wir würden am liebsten sofort anfangen.« »Augenblick, ich muß erst in meinem Terminkalender nachsehen. Ich weiß, daß bereits mehrere Fälle vor Miß Burke eingetragen sind.« »Läßt sich diese Reihenfolge nicht ändern?« »Ein Exorzismus braucht seine Zeit, Mike. Allein wegen der notwendigen Vorbereitungen können wir frühestens in der ersten Septemberwoche einen Versuch ansetzen.« »Welche Vorbereitungen meinen Sie?« »Wir unternehmen keinen Exorzismus ohne gründliche physische Einstimmung, denn die Belastungen, denen der Patient dabei ausgesetzt ist, können oft lebensbedrohlich sein.« »Sie haben Janet heute mittag gesehen«, wandte Mike ein. »Sie ist kerngesund.« 207
»Richtig – sie sieht blühend aus. Aber sie hat vor wenigen Monaten einen schweren Unfall erlitten. Kann er nicht Spätfolgen haben, die sich noch nicht gezeigt haben?« »Ja, das ist möglich«, gab Mike widerstrebend zu. »Außerdem unternehmen wir keinen Exorzismus ohne gründliche psychiatrische Beobachtung«, fügte der Geistliche hinzu. »McCarthy beobachtet sie seit längerem. Ich bin davon überzeugt, daß er uns innerhalb weniger Tage einen Abschlußbericht liefern könnte.« »Gut, dann bitten Sie ihn am besten gleich darum. Ich trage Miß Burke vorläufig für Mitte September ein.« »So lange wird sie nicht warten wollen, aber vielleicht kann ich sie dazu überreden.« Janet ließ sich jedoch viel leichter überreden, als Mike gefürchtet hatte. Als er sie nach seinem Telefongespräch mit Pater Julian anrief, fand er sie in bester Laune, obwohl sie nachmittags wegen des bevorstehenden Exorzismus noch ziemlich deprimiert gewesen war. »Warum so fröhlich?« erkundigte er sich. »Ich habe eine wunderbare Nachricht bekommen, Mike! Erinnerst du dich an den Artikel über Hellseherei, den ich vor einigen Wochen geschrieben habe? Randall McCarthy hat am Stanford Research Institute diverse Experimente gemacht, bevor er an die hiesige Universität gekommen ist.« »Ja. Ein guter Artikel, aber schwer zu glauben.« »Wenn du die Berichte gelesen hättest, die Randall mir gezeigt hat, würdest du's auch glauben«, versicherte Janet. »Jedenfalls hat heute nachmittag ein Redakteur von ›Newsweek‹ angerufen, um zu fragen, ob ich Interesse daran hätte, gemeinsam mit Randall einen Artikel über außersinnliche Wahrnehmungen und speziell Hellseherei zu schreiben. Ich habe natürlich sofort zugesagt.« »Das freut mich für dich, Liebling, nur – was wird dann aus dem Exorzismus? Ich habe bereits mit Pater Julian einen Termin vereinbart.« 208
»Den können wir doch verschieben, nicht wahr? ›Newsweek‹ braucht diesen Artikel schon bald.« »Na ja, wenn du…« »Welchen Termin hast du mit Pater Julian vereinbart?« erkundigte sich Janet. »Er hat Mitte September vorgeschlagen.« »Bis dahin muß der Artikel ohnehin fertig sein. Als Termin ist der zehnte September festgesetzt.« »Aber Pater Julian besteht auf gründlicher medizinischer und psychiatrischer Voruntersuchung.« »Randall kennt mich als Psychiater, und ich bin inzwischen wieder gesund wie ein Pferd. Ich kann mich ja zu einer Generaluntersuchung im University Hospital anmelden, damit alle beruhigt sind.« »Einverstanden«, antwortete Mike resigniert. »Diese Verschiebung macht mir allerdings aus einem Grund Sorgen.« »Und der wäre?« »Deine Lynne-Persönlichkeit kann inzwischen deine Stimme und deine ganze Art geradezu unheimlich gut imitieren. Ich hoffe nur, daß sie nicht eines Tages so perfekt wird, daß selbst ich darauf reinfalle.« »Du machst mir keine Sorgen, Liebling!« versicherte Janet verschmitzt. »Wenn du's genau wissen willst – manchmal wünsche ich mir, Onkel George wäre nicht so früh hereingeplatzt, als du mich neulich aus der ›Purple Pussycat‹ nach Hause gebracht hast.« Mike lachte. »Anscheinend bekomme ich doch noch das ersehnte Flittchen fürs Schlafzimmer. Ich bin nur gespannt, ob es am Ende Lynne oder Janet heißen wird.« »Sorge bitte dafür, daß es nicht Lynne ist, Liebling. Um Himmels willen – nicht Lynne!«
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ie Nachmittagssprechstunde war vorbei, und Mike machte eben letzte Eintragungen auf den Krankenblättern von Patienten, die er an diesem Tag untersucht hatte, als das Telefon klingelte. Inspektor Stafford war am Apparat. »Ich kann endlich mit ein paar Informationen über die Leute aufwarten, für die Sie sich neulich interessiert haben«, sagte der FBIMann. »Oder brauchen Sie die nicht mehr?« »Doch, doch!« versicherte Mike. »Ich möchte auch etwas mit Ihnen besprechen, über das man schlecht am Telefon reden kann.« »Ich habe noch eine halbe Stunde im Büro zu arbeiten. Können wir uns danach in ›Hennesy's Tavern‹ treffen?« »Gut, ich warte dort auf Sie.«
Mike hatte sich einen Tisch im hintersten Winkel des berühmten alten Lokals gesichert, als Stafford hereinkam. Der Inspektor bestellte im Vorbeigehen an der Bar einen Scotch mit Soda, den er gleich mitnahm. Mike stand auf, um ihn zu begrüßen. »Tut mir leid, aber ich habe weniger Zeit, als ich dachte«, entschuldigte der FBI-Mann sich, als sie Platz genommen hatten. »Meine Frau hat vorhin angerufen, um mich daran zu erinnern, daß wir heute abend bei Freunden eingeladen sind.« Er zog ein mit der Maschine beschriebenes Blatt aus der Innentasche seiner Jacke. »Ihr Freund McCarthy ist in Ordnung, Doktor. Er macht gern Reklame für sich selbst und scheint psychische Kräfte zu besitzen, an die ich aber nicht recht glaube.« »McCarthy hat sie an der Duke University, am Stafford Research Institute und an der hiesigen Universität bewiesen. Janet schreibt gemeinsam mit ihm einen Artikel für ›Newsweek‹ über Hellseherei…« »Richtig, darüber hatte ich neulich einen Fernsehbericht gesehen«, bestätigte der Inspektor. »Eine phantastische Sache.« 210
»Die ganze Parapsychologie ist phantastisch, aber unterdessen steht fest, daß sie eine eigenständige Wissenschaft ist.« »McCarthy ist jedenfalls sauber«, sagte Stafford. »Und wie steht's mit den Covens?« »Die beiden sind ein interessantes Paar. Mrs. Coven hat in den Jahren seit ihrer Hochzeit unzählige Affären mit anderen Männern gehabt – offenbar mit Covens Einverständnis. Zumindest einer ihrer Liebhaber ist ein ziemlich prominenter Politiker, so daß wir in bezug auf die Covens vorsichtig sein müssen.« »Senator Magnes?« Der FBI-Mann nickte. »Roger Coven scheint nichts dagegen zu haben. Außerdem hat er ungewöhnlich rasch Karriere gemacht, was wohl darauf zurückzuführen sein dürfte, daß der Senator sich für Mrs. Covens Gefälligkeiten erkenntlich zeigen will.« »Soviel ich gehört habe, hat sie auch eine Schwäche für McCarthy«, warf Mike grinsend ein. »Richtig, das haben wir ebenfalls festgestellt – aber ihr Privatleben ist schließlich ihre Sache. Sie wissen wahrscheinlich auch, daß Roger und Rita Coven Ihren Freund im Rahmen einer Versuchsreihe an der Duke University kennengelernt haben?« Mike nickte. »Ich weiß weiter, daß Roger Coven in Chicago Lynne Tallman gekannt hat.« Der Inspektor starrte ihn verblüfft an. »Ja, das stimmt – aber wie haben Sie das erfahren?« »Roger hat mir selbst erzählt, daß er Lynne als Studentin kennengelernt hat.« »Sogar recht gut«, fügte der FBI-Mann hinzu. »Seine Ehe mit Rita wäre ihretwegen beinahe in die Brüche gegangen, aber dann hat er den Job in Oak Ridge bekommen. Rita ist dort viel mit Magnes zusammen gewesen, wenn er auf Inspektionsreisen in Oak Ridge aufgekreuzt ist.« »Die er wahrscheinlich häufig unternehmen mußte?« »Meistens an Wochenenden«, bestätigte Stafford gelassen. »Er scheint sich allerdings mehr für Rita als für die Laboratorien in211
teressiert zu haben.« »Klingt recht gemütlich – selbst für das Washingtoner Establishment.« »Aber auch für die Covens. Während ihrer Zeit in Oak Ridge sind immer wieder kleine Mengen spaltbaren Materials verschwunden. Auf Magnes' Vorschlag hin hat man Roger mit der Aufklärung dieser Diebstähle beauftragte.« »Warum nicht das FBI?« Stafford verzog das Gesicht. »Das FBI ist nicht mehr so allgewaltig wie zu Hoovers Zeiten. Außerdem hat Roger sich als der richtige Mann für diesen Job erwiesen: Er hat einen Techniker im Isotopenlabor als Täter entlarvt. Der Beschuldigte hat sich natürlich gegen diese Anschuldigung zur Wehr gesetzt und behauptet, das spaltbare Material sei ihm untergeschoben worden. Er wisse nichts davon.« »Was ist dann mit ihm passiert?« »Er ist fristlos entlassen worden.« »Sonst nichts?« »Ein Strafverfahren hätte nur unliebsames Aufsehen erregt. Da die Angst vor Atomunfällen ohnehin grassiert, hat man die Sache lieber verschwiegen.« »Roger Coven ist wahrscheinlich wütend gewesen?« »Jedenfalls nicht nach außen hin. Er hatte sich als Spezialist für Diebstähle von spaltbarem Material oder vielmehr deren Aufdeckung bewährt und ist von der AEC nach Chicago geschickt worden, um das dortige Laboratorium zu überwachen. Nach einem halben Jahr konnte er den nächsten Erfolg melden: Er hatte einen Wissenschaftler gefaßt, der dem Agenten eines südamerikanischen Diktators Plutonium in kleinen Mengen verkaufte.« »Ich kann mich nicht erinnern, darüber etwas gelesen zu haben.« »Diese Meldung ist nie verbreitet worden, um die Öffentlichkeit nicht durch die Mitteilung zu verunsichern, einer unserer Nachbarn im Süden habe es um ein Haar geschafft, eine Atombombe zu bauen. Coven ist also erneut befördert und als Abteilungsleiter nach 212
Washington versetzt worden…« »Und Senator Magnes amüsiert sich wieder mit Rita?« »Nicht ›wieder‹ – noch immer. Roger Coven ist allerdings nichts nachzuweisen. Er hat sich in den sechziger Jahren an Studentenunruhen an der Duke University beteiligt, aber inzwischen ist er wie die meisten jungen Radikalen der damaligen Zeit grauer und zahmer geworden.« Der Inspektor stand auf. »Tut mir leid, daß die erbetenen Angaben so dürftig ausgefallen sind.« »Trotzdem vielen Dank. Haben Sie inzwischen etwas von der Tallman-Descaux-Bande gehört?« »Ihre Mitglieder dürften an die Ostküste gekommen und in Washington untergetaucht sein. Aber ich vermute, daß sie demoralisiert sind, nachdem sie innerhalb weniger Monate beide Anführer verloren haben.« Es sei denn, sie hätten inzwischen eine neue Anführerin! schoß es Mike durch den Kopf, während er dem hochgewachsenen FBIMann nachsah, der sich durch hereinströmende Gäste einen Weg zum Ausgang bahnen mußte. Mike winkte den Ober heran und bestellte einen zweiten Bourbon. Während er ihn langsam trank, zogen vor seinem inneren Auge die Ereignisse vorbei, die damit begonnen hatten, daß er den Landeanflug der Boing 727 zum Dulles International Airport beobachtet hatte. Das alles schien bereits Jahre zurückzuliegen. Die ihm bekannten Tatsachen ließen nur einen Schluß zu: Janet war von einem Dämon besessen. Aber was sollten sie tun, falls der geplante Exorzismus fehlschlug? Mike grübelte darüber nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.
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m nächsten Nachmittag erschien Randall McCarthy in Mikes Praxis, um sich zum letztenmal untersuchen zu lassen. Die Operationswunden waren vollständig verheilt, und seine Sonnenbräune verdeckte die noch nicht restlos absorbierten Blutergüsse am Kinn, wo Mike die Knochentransplantation hatte vornehmen müssen, um ihm ein normales Kinn zu geben. »Wahrscheinlich bekommen Sie bald die Frauen einiger Kollegen unters Messer«, berichtete McCarthy. »Ich kenne allein drei Arztfrauen, die ernsthaft daran denken, ihre Ersparnisse anzugreifen.« Er wechselte das Thema. »Hat Janet Ihnen schon erzählt, daß wir gemeinsam einen Artikel über Hellseherei für ›Newsweek‹ schreiben?« »Ja. Ist an der Hellseherei wirklich was dran?« »Selbstverständlich!« »Janet behauptet, Sie hätten eine besondere Gabe dafür.« »Die haben wahrscheinlich alle psychisch Empfänglichen«, wehrte McCarthy ab. »Wir haben uns nur bisher allzu stark auf extrasensorische Perzeption und Telepathie konzentriert, anstatt…« »Anstatt beides zu kombinieren und Dinge zu sehen, bevor sie passieren?« fragte Mike lächelnd; McCarthy winkte irritiert ab. »Das ist auch schon versucht worden – in Stanford. Nimmt man die Hellseherei ernst, wie es ein verantwortungsbewußter Parapsychologe tut, bürdet sie einem eine ziemlich schwere Verantwortung auf.« »Vielleicht könnten Sie dadurch wahre Tragödien voraussehen – und verhindern.« »Nein, lieber nicht, Mike. Das hieße Gott spielen, und es gibt zahlreiche Beispiele für Menschen, die dabei zu Schaden gekommen sind. Sie brauchen nur an einige der griechischen Tragödien zu denken…« »Weil wir gerade bei Tragödien sind, Janet grübelt noch immer über den Fall Armand Descaux nach.« »Ja, ich weiß«, bestätigte der Psychiater, »und ich möchte bezweifeln, 214
daß Ihre Schnapsidee, ihr einzureden, sie sei von einem Dämon besessen, Janet helfen wird, diesen Schock zu überwinden.« »Sie hätten keinen Zweifel an ihrer Besessenheit, wenn Sie erlebt hätten, wie Janet auf den Anblick von Pater Julians Kruzifix reagiert hat. Sie hat mir einen heillosen Schreck eingejagt!« »Nur schade, daß Janets zweite Persönlichkeit sich offenbar nicht hat verjagen lassen. Ich habe monatelang gebraucht, sie zu überzeugen, daß sie eine Doppelpersönlichkeit ist und ihr anderes Ich loswerden kann, wenn sie sich darum bemüht. Aber jetzt haben Sie und ein Amateurpsychologe in der Soutane Janet eingeredet, die Befreiung von ihrem Alter ego lasse sich durch ein paar Gebete und ein bißchen Weihwasser bewirken.« »Pater Julian hat häufig Dämonen ausgetrieben…« »Danke, ich weiß Bescheid!« wehrte McCarthy ab. »Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit, damit ich die entsprechenden Zaubertricks vorbereiten kann, dann führe ich Ihnen einen klassischen Exorzismus vor.« »Sie sind also nicht bereit, die psychiatrische Beurteilung vorzunehmen, die Pater Julian angefordert hat?« »Das habe ich nie behauptet. Ich brauche nur noch ein paar psychometrische Tests durchzuführen und eine Zusammenfassung zu schreiben. All das tue ich allerdings nur, weil mir klar ist, daß Sie stur genug sind, um sie andernfalls zu einem neuen Psychiater zu schleppen.« »Ich weiß nicht, ob ich sie einem anderen anvertrauen würde«, gab Mike zu. »Besonders nicht, wenn sie als Lynne auftritt…« »Noch etwas«, sagte der Psychiater unerwarteterweise. »Ich möchte bei dem Exorzismus anwesend sein. Können Sie das arrangieren?« »Ich kann's zumindest versuchen.« Mike schlug in seinem Telefonverzeichnis nach, fand die Nummer des Geistlichen und wählte sie. Das Gespräch dauerte nur kurz. Mike lächelte, als er den Hörer auflegte. »Pater Julian zieht bei jedem Exorzismus einen Arzt hinzu und 215
ist gern bereit, Sie teilnehmen zu lassen. Er interessiert sich sehr für Ihre Arbeit und möchte Sie persönlich kennenlernen.« »Dazu bin ich nicht dabei«, wehrte McCarthy ab. »Ich komme nur, um Janet zu beschützen.« »Unsinn! Schaden kann ihr in Wirklichkeit nur Lynne Tallmans Dämon.« »Ich spreche hier nicht von körperlichen Schäden – ich will sie vor geistigen schützen. Wenn Sie die Auswirkungen der Dämonenfurcht erlebt hätten, die seit dem Film ›Der Exorzist‹ in ganz Amerika umgeht, wären Sie nie mit Janet zu diesem Geistlichen gegangen. Aber da Sie's getan haben, muß ich meine Patientin vor einem weiteren emotionalen Trauma bewahren, das eine echte Schizophrenie auslösen könnte, die sich wahrscheinlich nie mehr heilen ließe.« »Aber ein Exorzismus kann doch nicht so gefährlich sein!« protestierte Mike. »Meiner Ansicht nach durchaus. Janet hat nur unbewußt phantasiert, als sie begonnen hat, die Rolle einer Femme fatale nach dem Vorbild Lynne Tallmans zu spielen.« »Warum hätte sie das tun sollen?« »Wer weiß schon genau, was in der Psyche einer Patientin vorgeht? Als Janet im Krankenhaus aufgewacht ist und einen gutaussehenden jungen Arzt, der offenbar an ihr interessiert war, an ihrem Bett gesehen hat, scheint ihr Unterbewußtsein beschlossen zu haben, ihrem sonst sublimierten sexuellen Interesse in diesem Fall freien Lauf zu lassen und gleichzeitig den lästig gewordenen Gerald Hutchinson abzuhalftern. Sie hat einfach dem Teil ihrer Psyche, der Lynne Tallman um die Freiheit beneidete, sich jeden beliebigen Mann zu angeln, freien Lauf gelassen. Auf diese Weise konnte Janet ihre kleinbürgerliche Moral wahren und sich trotzdem wie nie zuvor amüsieren…« »Das ist die verrückteste Geschichte, die ich je gehört habe!« »Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß solche Dinge sich nicht erklären lassen. Aber ich kann Ihnen als Psychiater und erfahrener 216
Liebhaber einen guten Rat geben: Ergreifen Sie die Gelegenheit – und Janet –, sobald sie sich bietet, sonst setzt sich in ihrem Unterbewußtsein der Eindruck fest, Sie wollten sie gar nicht.« »Natürlich will ich sie – allerdings erst, wenn sie wieder bei richtigem Verstand ist!« McCarthy grinste und hatte dabei noch mehr Ähnlichkeit mit einem Satyr als vor seiner Gesichtsoperation. »Eine Frau, die mit einem ins Bett gehen will, ist bei richtigem Verstand, glauben Sie das einem altem Wüstling.« »Sie sprechen von der Frau, die ich liebe!« protestierte Mike. »Von der Frau, die ich heiraten will – aber als Janet, nicht als Lynne.« »Und ich sage Ihnen, daß die beiden identisch sind. Die eine ist die Frau, die sie in Wirklichkeit ist – vor allem Ihretwegen. Die andere ist die Frau, die sie gern sein möchte. Sie brauchen sie nur zu heiraten und ihr als Lynne oder Janet zu erklären, sie sei die tollste Frau, die sich ein Mann wünschen könne, dann verdrängt sie die andere Persönlichkeit für immer und ewig.« »Aber sie weigert sich, mich zu heiraten, solange Lynne existiert!« »Das ist Ihr Problem«, wehrte der Psychiater ab. »Ich versuche nur, Ihnen zu helfen, indem ich ihr die beiden Aspekte ihrer Persönlichkeit erläutere, damit sie sie zu einer vollkommenen Frau vereinigen kann.« »Ich tue natürlich alles, um Sie dabei zu unterstützen«, versicherte Mike. »Aber falls sie wirklich besessen ist und Pater Julian den Dämon austreiben kann…« Er konnte nicht weitersprechen. Als McCarthy ihm einen nachdenklichen Blick zuwarf, fragte Mike sich, ob der andere seine Gedanken lesen konnte – und stellte fest, daß er mit dieser Vermutung recht gehabt hatte. »Sie fühlen sich für Janet verantwortlich, weil Sie ihr damals das Leben gerettet haben, stimmt's?« erkundigte sich der Psychiater. »Und Sie überlegen, ob es nicht Ihre Pflicht wäre, die Welt vor ihr zu bewahren, wenn Lynne Tallmans Dämon tatsächlich von ihr Besitz ergriffen hätte?« »Ja, so ähnlich.« »Dann habe ich ein schönes Stück Arbeit vor mir, wenn ich Sie 217
beide retten soll«, meinte McCarthy besorgt. »Aber ich komme nicht weiter, weil Sie mir ständig den Boden unter den Füßen wegziehen…« »Soll das heißen, daß ich nicht mehr mit Janet zusammen sein darf?« »Jedenfalls so selten wie möglich.« »Aber sie glaubt dann bestimmt…« »Ich kann ihr alles erklären, wenn wir uns morgen nachmittag treffen, um an dem Artikel für ›Newsweek‹ zu arbeiten. Eines steht jedenfalls fest: Janet ist es mit ihrem Wunsch nach Rückkehr zu ihrem normalen Ich ebenso ernst wie Ihnen. Falls es mir nicht gelingt, sie bis Mitte September von ihrer Doppelpersönlichkeit zu heilen, überlasse ich alles Weitere Ihrem Pater Julian.«
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ike hielt sein Versprechen, allen Kontakt mit Janet zu meiden. Als sie ihn jedoch etwa zwei Wochen später anrief, um ihn zu bitten, mit ihr zum Abendessen zu gehen, konnte er schlecht ablehnen. »Was hältst du vom ›Harbour House‹ am alten City Dock in Annapolis?« schlug Mike vor. »Wunderbar, dort bin ich schon jahrelang nicht mehr gewesen! Ich habe übrigens Appartement zwo-fünf-sieben in Onkel Georges Gebäude gemietet. Holst du mich um halb sieben ab?« »Okay, ich warte unten am Eingang.« Nachmittags war ein Gewitter niedergegangen, und die Autofahrt durch das grüne Maryland mit seinen duftenden weiten Tabakfeldern war diesmal besonders reizvoll. Mike und Janet aßen in dem holzgetäfelten Restaurant ›Terrapin à la Maryland‹ und tranken dazu eine Flasche Liebfrauenmilch aus 218
deutschen Weinbergen. »Ich wollte, wir könnten unsere Hochzeitsreise auf dem Rhein machen, wenn diese Sache erst einmal überstanden ist«, sagte Janet beim letzten Glas. »Der Spätherbst ist in Deutschland und der Schweiz besonders schön«, antwortete Mike. »Ich habe als Student eine Radtour rheinaufwärts gemacht und dabei in Jugendherbergen übernachtet. Damals habe ich mir keine Rheinreise per Schiff leisten können, aber jetzt holen wir sie in den Flitterwochen nach. Einverstanden?« »Wenn's überhaupt dazu kommt«, meinte Janet deprimiert. Sie griff über den Tisch nach seiner Hand, und Mike spürte, wie ihre Fingernägel sich in seine Handfläche gruben – wie in der Nacht, in der sie Armand Descaux erschossen hatte. »Versprich mir, daß wir unsere Hochzeitsreise machen werden, Liebling«, bat sie. »Ich will auch daran glauben können!« »Was ist los? Hat Lynne dich nicht in Ruhe gelassen?« »Ich kann mich an nichts erinnern – das ist das Schlimmste. Als ich am Samstagabend auf den Meilenzähler meines Wagens gesehen habe, nachdem ich wegen einer Story in Baltimore gewesen war, und ihn am Montagmorgen vor der Fahrt in die Redaktion erneut abgelesen habe, hat er fünfzig Meilen mehr angezeigt.« »Ziemlich genau die Entfernung bis zu meinem Wochenendhaus und zurück.« »Richtig – aber Randall hat am Sonntag weder mich noch meinen Wagen gesehen.« »Sind die Covens noch dort?« »Randall hat das Haus jetzt bis Mitte September gemietet. Roger ist am Wochenende auf Dienstreise gewesen, so daß er mit Rita allein gewesen ist.« »Bestimmt recht amüsant.« »Ja, das glaube ich auch«, bestätigte Janet. »Als ich am Montagnachmittag bei ihm in seinem Büro gewesen bin, um ihm den ersten Entwurf unseres gemeinsamen Artikels zu zeigen, hat er noch ziemlich mitgenommen ausgesehen.« 219
»Wie kommt er mit deiner Behandlung voran?« wollte Mike wissen. »In letzter Zeit habe ich nicht mehr mit ihm darüber gesprochen.« »Ich bin davon überzeugt, daß Lynne von Tag zu Tag stärker wird«, gestand sie ein. »Manchmal weiß ich schon gar nicht mehr, wer ich wirklich bin.« »Was sagt Randall dazu?« »Er ist der Überzeugung, daß ich mich einer Gefühlskrise nähere, durch die ich mich für eine der beiden Persönlichkeiten entscheiden werde.« »Darauf arbeiten wir alle hin«, bestätigte Mike. »Aber was ist, wenn ich mich für Lynne entscheide?« fragte Janet besorgt. »In deinem Innersten bist du nur du selbst. Falls diese Doppelpersönlichkeit tatsächlich Spätfolge deiner Gehirnerschütterung ist, muß sie im Lauf der Zeit abklingen. Sollte es sich wirklich um Besessenheit handeln, können wir Lynne durch den Exorzismus austreiben.« »Ich wollte, ich wäre mir meiner Sache so sicher wie du«, meinte Janet zweifelnd. »Ich habe dir nicht das Leben gerettet und dich zu einer der schönsten Frauen der Welt gemacht, um dich jetzt im Stich zu lassen. Nach unserer Hochzeit…« »Du meinst, falls wir heiraten«, unterbrach sie ihn trübselig. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, in Ungewißheit zu schweben und nicht zu wissen, wer man ist und was man als nächstes tun wird.« »Wie kommt ihr mit dem Artikel für ›Newsweek‹ voran?« erkundigte Mike sich, um sie abzulenken. »Recht gut. Mir ist eigentlich erst jetzt klargeworden, was für eine bemerkenswerte Persönlichkeit Randall ist – seitdem ich seine früheren Versuchsergebnisse kenne und einige Experimente miterlebt habe.« »Zum Beispiel?« fragte Mike interessiert. 220
»Letzte Woche ist er in seinem Büro geblieben«, berichtete Janet lebhaft, »und ich bin bis Punkt drei Uhr kreuz und quer durch die Stadt gefahren. Um drei Uhr bin ich vor einem Kaufhaus in Oxon Hill gewesen – ungefähr zehn Meilen von Randall entfernt. Ich habe mir eines der ausgestellten Kleider angesehen und mit einer Polaroid-Kamera fotografiert. Als ich zurückgekommen bin, hatte er bereits die Kaufhausfassade aufgezeichnet, den richtigen Firmennamen angegeben und das bewußte Abendkleid skizziert.« »Randall ist ein ausgezeichneter Hypnotiseur«, wandte Mike ein. »Er kann dir in der Hypnose den Befehl erteilt haben, genau zu diesem Kaufhaus zu fahren.« »Richtig, daran habe ich auch gedacht, deshalb haben wir einen weiteren Versuch angestellt. Dabei habe ich eine Adresse aus einem Telefonbuch in einer Telefonzelle herausgesucht.« »Die McCarthy dir genannt hatte?« »Nein, nein, ich habe mich unwillkürlich für irgendeine entschieden! Ich bin in der neuen Raumfahrtausstellung im Smithsonian gewesen – und Randall hat die Apollo-Raumkapsel gezeichnet, vor der ich lange gestanden habe. Er hat auch die Ergebnisse zahlreicher anderer Experimente katalogisiert, und ich kenne die grundlegende Arbeit der Forscher in Stanford, die damit überhaupt begonnen haben.« Mike zögerte, bevor er die nächste Frage stellte: »Hat er dich jemals beobachtet oder gesehen, während du Lynne gewesen bist?« »Ja – allerdings nur einmal und während des Zeitraums am vergangenen Wochenende, an den ich mich nicht erinnern kann. Randall hat mich angerufen, und als ich nicht zu Hause gewesen bin, hat er zu ›sehen‹ versucht, wo ich war.« Janet zögerte, bevor sie fortfuhr: »Er hat gesehen, daß ich irgendwo mit einem Mann zusammen gewesen bin, aber er konnte die Umgebung nicht erkennen.« »Oder den Mann?« »Randall hat ihn nur von hinten gesehen. Nach seiner Schilderung ist er so groß wie Roger Coven gewesen und hat auch solche grauen Haare wie dieser gehabt.« 221
»Du und Roger Coven?« fragte Mike erstaunt. »Nein, das glaube ich nicht.« Janet schüttelte den Kopf. »Ich kann Roger eigentlich nicht leiden, obwohl er immer sehr nett zu mir ist. Als Randall bei den Covens angerufen hat, erklärte ihm Rita, Roger sei weggefahren, um Bier zu kaufen, und Roger hat ihre Aussage bei einem zweiten Anruf eine halbe Stunde später bestätigt.« »Weiß Randall eine Erklärung dafür?« Janet schüttelte den Kopf. »Er sagt, der Mann, mit dem ich … mit dem Lynne gesprochen hat, müsse von hinten zufällig wie Roger ausgesehen haben.« Mike runzelte die Stirn. »Mir gefällt's nicht, daß du dich mit fremden Männern triffst und nachher nichts mehr davon weißt.« »Aber das ist doch Lynne gewesen!« »Und du kannst dich nicht an dieses Treffen erinnern?« »Ich ahne, daß Lynne irgendein neues Verbrechen vorbereitet, aber ich weiß nicht, worum es sich handelt.« »Das gefällt mir nicht, Liebling – das gefällt mir ganz und gar nicht.« »Was können wir bloß dagegen tun?« »Fährst du mit mir zu Pater Julian?« »Gleich jetzt?« »Ja. Ich habe das Gefühl, daß wir keine Sekunde verlieren dürfen.« »Wobei?« fragte Janet. »Das weiß ich selbst nicht«, gab Mike zu, während er den Ober heranwinkte, um zu zahlen. »Ich weiß nur, daß wir irgend etwas tun müssen.« Pater Julian O'Meara war gern bereit, sie trotz der späten Stunde noch zu empfangen, als Mike ihn von dem Restaurant aus anrief. Eine knappe Dreiviertelstunde später klingelten Janet und Mike an der Tür seines Pfarrhauses im Nordosten Washingtons, einem der ärmsten Bezirke der Stadt. Der Geistliche trug eine leichte Sommerhose, einen schwarzen Rollkragenpullover und Pantoffeln, als er sie empfing und in sein Studierzimmer führte. Schweigend hörte er sich Janets Bericht an, daß Randall McCarthy sie mit einem offenbar Fremden ›gesehen‹ hatte. 222
»Ein merkwürdiger Fall«, meinte er, als sie geendet hatte. »Andererseits bin ich mir darüber im klaren, daß es viele Aspekte menschlicher Erfahrungen gibt, die sich weder medizinisch noch religiös erklären lassen.« O'Meara lächelte Janet zu. »Dr. McCarthy ist so freundlich gewesen, mir einen Durchschlag seines Berichts über Ihre Gemütsverfassung zu schicken, Miß Burke. Ich muß zugeben, daß er Ihren Fall überzeugend als einen Fall von Doppelpersönlichkeit dargestellt hat.« »Nennen Sie mich bitte einfach Janet, Pater.« Sie wirkte ungezwungener als in dem Restaurant, weil sie eingesehen hatte, daß O'Meara es gut mit ihr meinte. »Dann glauben Sie also nicht mehr, daß sie…«, begann Mike. »Ich glaube, daß Janet eine reizende junge Frau ist, die Hilfe braucht – wahrscheinlich von Medizin und Religion.« Er blätterte in McCarthys Bericht. »Bei unserem ersten Zusammentreffen bin ich Ihnen gegenüber nicht ganz fair gewesen, Janet«, entschuldigte er sich. »Aber ich habe mich nur so vergewissern können.« »Daß ich von einem Dämon besessen bin?« »Ganz recht. Bevor wir jedoch weitersprechen, sollte ich Ihnen vielleicht erläutern, was meine Kirche unter Besessenheit durch einen bösen Geist versteht.« Mike sah Janet bei diesen Worten erstarren und griff nach ihrer Hand. Sekunden später holte Janet tief Luft, und ihre Erstarrung löste sich, als der Geistliche ruhig und nüchtern weitersprach. Mike, der Janet aufmerksam beobachtet hatte, war davon überzeugt, daß der böse Geist, der sich ihres Körpers zu bemächtigen versuchte, jetzt anwesend war, obwohl sie sich nicht in Lynne verwandelt hatte. »Vor Gott ist jeder Mensch zu Bösem und Gutem fähig«, begann Pater Julian. »Oder um es anders auszudrücken: In jedem von uns hausen ein potentiell böser und ein potentiell guter Geist. Solange sie miteinander harmonieren, befindet der jeweilige Mensch sich in einem geistigen und seelischen Gleichgewicht und ist deshalb im223
stande, Gottes Gnade zu empfangen und ein gottgefälliges Leben zu führen. Wo das Gute vorherrscht, finden wir einen Heiligen – wo das Böse dominiert, finden wir einen Gewissenlosen, der Sinn und Zweck des menschlichen Lebens zerstören will.« »Worin sehen Sie diesen Sinn und Zweck?« wollte Mike wissen. »Der Prophet Micha hat ihn besser definiert, als ich es je könnte«, antwortete Pater Julian. »In der Schrift heißt es: ›Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.‹« »Das klingt einfach genug.« »Ja, aber unglücklicherweise sind nicht einmal die Engel im Himmel vollkommen. Einer von ihnen ist vor Äonen in Ungnade gefallen und hat viele andere schwache Geister mitgenommen. Anstatt diesen einst schönsten aller Engel zu vernichten, hat Gott Luzifer und seine Gefährten auf die Erde verbannt. Dort sind sie ständig bemüht, ihre Gefolgschaft zu mehren, indem sie Besitz von den Seelen der Menschen ergreifen, die das Unglück haben, ihnen in die Hände zu fallen – wie zum Beispiel die arme Lynne Tallman.« Mike beobachtete Janet, um sie aufhalten zu können, falls sie zu flüchten versuchte, und spürte, daß ihre Fingernägel sich wieder in seine Handfläche gruben. Gleichzeitig nahm er einen eiskalten Hauch wahr und roch Verwesungsgeruch. Beides dauerte jedoch nur wenige Augenblicke und schien weder von Janet noch O'Meara bemerkt worden zu sein. »Bitte weiter«, forderte Janet den Geistlichen mit gepreßter Stimme auf. »Die Geister des Bösen – ganze Heerscharen in verschiedenen Formen und von unterschiedlicher Stärke – umgeben uns auf allen Seiten«, fuhr Pater Julian fort. »Sie versuchen ständig, uns körperlich und geistig zu beherrschen, um uns für ihre üblen Zwecke auszunützen. Da nicht alle Menschen ihren seelischen Halt bei Gott finden, erliegen manche den Einflüsterungen des Bösen und werden vernichtet, während andere zu Agenten Luzifers auf Erden werden. 224
In beiden Fällen sind diese schwach Gewordenen zum Tode und zu ewiger Verdammnis im Fegefeuer verurteilt.« »Gibt es denn keine Möglichkeit, einen Dämon völlig zu vernichten?« fragte Mike. »Nur wenn der böse Geist – den Sie als Dämon oder sonstwie bezeichnen können – außerstande ist, seinen gegenwärtigen Körper unmittelbar vor dessen Tod zu verlassen und in einem anderen Zuflucht zu finden. In früheren Zeiten sind Besessene auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, weil man glaubte, den bösen Geist dadurch besiegen zu können. Aber ein Dämon läßt sich nur durch Feuer vernichten, wenn es ihn – und den bedauernswerten Menschen – so vollständig umgibt, daß beiden kein Fluchtweg mehr bleibt.« »Und was ist mit denen, die Sie durch einen Exorzismus austreiben?« wollte Janet mit der gleichen seltsamen Stimme wissen. »Die kehren leider in die Reihen der anderen bösen Geister zurück«, antwortete Pater Julian. »Wir wissen jedoch, daß der ehemals Besessene, der durch die Gnade Gottes gerettet worden ist, in Zukunft gegen weitere Angriffe dieser Art immun ist.« Der Geistliche legte Janet segnend die Rechte aufs Haupt. »Sie dürfen nicht ängstlich sein, mein Kind. Ich sehe Ihr wahres Ich in Ihren Augen und weiß, daß es stark ist. Der Exorzismus ist stets eine schwere Prüfung, aber Sie werden sie siegreich bestehen und an Geist und Seele geheilt werden, wie die Kunstfertigkeit des Mannes, den Sie lieben, Ihnen Gesundheit und Schönheit zurückgegeben hat.«
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ike hielt sich auch weiterhin an sein Randall McCarthy gegebenes Versprechen und kam in dieser Woche nicht mehr mit Janet zusammen. Statt dessen verbrachte er die Abende zu Hause, 225
weil er hoffte, sie werde ihn erneut anrufen. Aber der erwartete Anruf blieb aus, und als Mikes Telefon am späten Samstagnachmittag klingelte, war Pater Julian O'Meara am Apparat. »Sind Sie in letzter Zeit mit Janet zusammengetroffen, Mike?« fragte der Geistliche hörbar besorgt. »Seit unserem gemeinsamen Besuch bei Ihnen nicht mehr. Warum?« »Ich bin vor einigen Minuten aus Baltimore zurückgekommen und hab einen Zettel vorgefunden, den meine Haushälterin mir neben das Telefon gelegt hat. Janet hat heute morgen angerufen und den Exorzismus abgesagt.« »Das darf sie nicht! Haben Sie versucht, Janet zu erreichen?« »Ja, aber sie meldet sich nicht.« »Janet ist aus Mr. Stanfields Wohnung ausgezogen. Wissen Sie bestimmt, daß Sie die richtige Nummer haben?« »Ich habe sie mir von Mr. Stanfield geben lassen. Er hat übrigens auch keine Ahnung, wo seine Nichte sein könnte.« »Fassen Sie diese Absage bitte nicht als endgültig auf, Pater«, drängte Mike. »Vielleicht finde ich Janet noch und kann sie davon überzeugen, daß sie damit einen großen Fehler gemacht hat.« »Sie muß uneingeschränkt zustimmen, Mike. Wir zwingen niemanden den Exorzismus auf – das könnte für Geist und Körper zu gefährlich werden.« »Warten Sie bitte noch bis Montag? Dann habe ich zwei Tage Zeit, um sie zu überzeugen.« »Hoffentlich gelingt Ihnen das.« Der Geistliche zögerte einen Augenblick. »Ist Ihnen neulich etwas Ungewöhnliches aufgefallen, als wir in meinem Studienzimmer miteinander gesprochen haben?« »Ja – ein eiskalter Hauch und deutlicher Verwesungsgeruch.« »Das sind untrügliche Anzeichen für eine Besessenheit. Der Dämon hat versucht, mich vor dem Exorzismus zu warnen, und nun ist er noch einen Schritt weitergegangen.« »Dann muß Lynne bei Ihnen angerufen haben, Pater! Deshalb braucht Janet Ihre Hilfe um so dringender.« 226
»Rufen Sie mich auf jeden Fall am Montagmorgen an, Mike. Ich bin für zehn Uhr zum Bischof bestellt: Falls Sie Janet bis dahin nicht überzeugt haben, muß ich ihm mitteilen, daß der Exorzismus abgesagt worden ist.« »Vielen Dank, daß Sie mir bis dahin Zeit lassen. Sollte ich mit meiner Vermutung recht behalten, können ihre geistige Gesundheit und ihr ganzes Leben davon abhängen.« »Ganz recht«, bestätigte O'Meara. »Ich wünsche Ihnen – und ihr – alles Gute.« Mike legte auf, nahm den Hörer sofort wieder ab und wählte Randall McCarthys Nummer. Als sich niemand meldete, stieß er einen Fluch aus und versuchte es mit der Labornummer des Psychiaters. Überraschend meldete McCarthy sich schon nach dem zweiten Klingeln. »Verdammter Judas!« knurrte Mike ihn an. »Warum sind Sie mir in den Rücken gefallen?« »Was soll der Unsinn, Mike? Außerdem haben Sie Ihre Metaphern durcheinandergebracht.« »Schon gut, schon gut! Warum haben Sie Janet dazu überredet, den Exorzismus abzusagen?« »Wann hat sie das getan?« wollte der Psychiater wissen. »Heute morgen. Sie hat es Pater Julian bestellen lassen.« »Ich schwöre Ihnen, daß ich davon nichts geahnt habe, Mike, obwohl ich als Arzt fast glaube, daß das für sie besser ist.« »Haben Sie den Verdacht gehabt, Janet könnte mit diesem Gedanken spielen?« »Sie hat nie mit mir darüber gesprochen. Sie wollte heute nachmittag hierherkommen, um mit mir an der endgültigen Fassung des Artikels für ›Newsweek‹ zu arbeiten. Als sie nicht erschienen ist, habe ich versucht, sie zu Hause anzurufen, und da sie sich nicht gemeldet hat, habe ich angenommen, sie sei mit Ihnen in Ihr Wochenendhaus gefahren.« »Ich möchte wetten, daß sie jetzt dort ist – als Lynne.« »Richtig«, bestätigte McCarthy. »Wenn die Behandlung einer Dop227
pelpersönlichkeit ins entscheidende Stadium tritt, reißt die zweite oftmals in einem letzten trotzigen Aufbegehren die Herrschaft an sich.« »Oder ein Dämon bestimmt das Handeln der Besessenen?« »Um das zu glauben, müßte man an Dämonen glauben, was ich nicht tue.« McCarthy machte eine Pause. »Was haben Sie jetzt vor, Mike?« »Ich fahre natürlich hin und versuche, sie davon abzuhalten, sich selbst zu zerstören.« »Haben Sie mit ihr telefoniert, um Ihren Besuch anzukündigen?« »Nein. Ich mußte mich erst vergewissern, daß sie nicht irgendwo in Washington ist. Außerdem könnte sie fliehen, wenn ich sie auf diese Weise warne.« »Wohin?« fragte der Psychiater interessiert. »Keine Ahnung«, gab Mike zu. »Aber als wir neulich miteinander ausgegangen sind, hat Janet mir von Ihrem Hellsehertrick erzählt – daß Sie sie irgendwo mit einem Mann gesehen haben, an den sie sich nicht erinnern konnte.« »Das ist kein Trick, Mike«, entgegnete McCarthy ernst. »Ich wollte fast, dem wäre so!« »Sie halten den Mann also wirklich für Roger Coven?« »Nein. Ich bin überzeugt davon, daß er nur wie Roger ausgesehen hat.« »Wieso sind Sie sich Ihrer Sache so sicher?« »Ich habe Roger und Rita nachdrücklich aufgefordert, die Finger von Janet zu lassen, als sie damals meine Patientin geworden ist. Keiner der beiden würde es wagen, ihre jetzige Gefühlskrise auszunutzen. Sie sind sich darüber im klaren, daß ich zuviel über ihre Beziehungen zu gewissen Leuten weiß.« »Zum Beispiel zu Senator Magnes?« »Großer Gott, Mann! Über so was redet man doch nicht am Telefon!« »Okay, ich glaube Ihnen, daß der Mann nicht Roger gewesen ist – aber können Sie mir wenigstens sagen, wo Sie die beiden gesehen 228
haben?« »Ich weiß nur, daß ihre Umgebung wie ein Tunnel ausgesehen hat. An den Wänden sind Lichtflecken zu erkennen gewesen, und der Boden hat irgendwie merkwürdig gewirkt.« »Vielleicht fällt Ihnen noch mehr ein, wenn Sie darüber nachdenken«, sagte Mike. »Ich fahre inzwischen los.« »Sie müssen mir etwas versprechen, Mike«, fügte McCarthy hastig hinzu, bevor er auflegen konnte. »Überlassen Sie die Initiative Janet, wenn sie dort ist, was ich nicht bezweifle.« »Wie meinen Sie das?« »Falls sie Janet ist, müssen Sie behutsam auf sie eingehen und dürfen ihr keinen Vortrag über Exorzismus halten. Überlassen Sie ihr die Initiative, und hören Sie geduldig zu, wenn sie sich aussprechen will.« »Und falls sie Lynne ist?« »Dann lassen Sie am besten der Natur ihren Lauf.« »Wie meinen Sie das, verdammt noch mal?« »Vielleicht machen Sie dabei die Entdeckung, daß zwei Geliebte in einem Körper besser als eine sind. Wie ich Sie um diese Chance beneide!« Er sah die gelbe Bademütze draußen im Fluß, als er den Porsche neben Janets Wagen parkte und auf den Steg hinausging. Sie mußte ihn ebenfalls erkannt haben, denn sie hob grüßend den Arm und kam zurückgekrault. Mike stand an der Badeleiter und streckte ihr die Hand entgegen, als sie wie eine Göttin aus dem Meer auftauchte. »Liebling!« rief sie mit der Stimme aus, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte, und fiel ihm naß um den Hals, um ihn leidenschaftlich zu küssen. So bestimmt Mike wußte, daß er Janets Körper in den Armen hielt, so sicher war auch, daß dieser Körper im Augenblick von Lynnes Persönlichkeit kontrolliert wurde. »Halt, nicht so stürmisch!« meinte sie dann lachend und stieß ihn atemlos von sich fort. »Dafür haben wir später noch genug Zeit.« 229
»Warum nicht jetzt – und später?« »Du bist ganz schön scharf, was?« fragte sie mit der gleichen kehligen Stimme. »Wie spät ist es jetzt?« »Schon fast sieben Uhr. Zieh dich an, dann fahren wir zum Abendessen in die ›Taverna Milano‹.« »Nicht heute abend, Liebling«, sagte sie, als er ihr ins Haus folgte. »Ich muß noch ein paar Stunden an dem ›Newsweek‹-Artikel arbeiten. Schließlich bin ich absichtlich hergefahren, um ungestört arbeiten zu können.« Sie drehte sich an der Tür um und küßte ihn erneut. »Du darfst mich allerdings immer stören.« Mike glaubte einen Augenblick lang, er habe wieder Janet vor sich, so ausgezeichnet verstand Lynne es inzwischen, sie zu imitieren. »Da du dich nicht angemeldet hast«, fuhr sie fort, »mußt du mit Käsesandwiches zum Abendessen zufrieden sein – und dazu gibt's Holunderwein aus einem kleinen Laden in Potomac Heights. Er hat ein wunderbares Bukett. Was hältst du von einem kurzen Bad im Fluß, solange ich mich umziehe? Bis du zurückkommst, steht das Essen auf dem Tisch.« Mike hörte sie im Bad summen, als er aus seinem Zimmer kam, in dem er sich umgezogen hatte. Während er zu dem Floß hinausschwamm, hatte er genügend Zeit, sich Gedanken über die hier angetroffene Situation zu machen. Daß Lynne im Augenblick die beherrschende Persönlichkeit war, stand außer Zweifel, auch wenn es ihr gelungen war, eine fröhliche, sexuell stimulierte Janet zu spielen. Das bedeutete wie erwartet, daß Lynne bei Pater Julians Haushälterin angerufen und den Exorzismus abgesagt haben mußte. Mike sah im Augenblick jedoch keinen Vorteil darin, eine Rückumwandlung zu erzwingen; er empfand nur ein leichtes Schuldgefühl wegen seiner Vorfreude über dieses Wochenende mit Lynne-Janet. Sie erwartete ihn am Steg, als er zurückkam, und hielt ihm seinen Bademantel entgegen. »Am besten ziehst du den gleich an«, sagte sie. »Ich habe den Wein schon eingeschenkt, und wir wollen ihn nicht warm werden lassen.« 230
Mike schlüpfte in den Bademantel und ließ seine nasse Badehose auf dem Steg zurück. In der Küche war der Tisch zum Abendessen gedeckt – diesmal mit zwei großen Weingläsern. »Auf unser Wohl!« Sie stieß mit ihm an. »Und auf ein aufregendes Wochenende.« »Ist das ein Versprechen?« Mike leerte sein Glas mit einem Zug und stellte fest, daß der Wein seltsam schmeckte – etwas nach Mandeln wie manche italienische Aperitifs. »Er wird nach einem alten italienischen Rezept mit etwas Mandelöl gewürzt«, sagte sie, und Mike erinnerte sich erschrocken daran, daß Pater Julian erwähnt hatte, Dämonen seien Gedankenleser. »Aber ich finde ihn wunderbar, und du gewöhnst dich bestimmt noch daran.« Sie schenkte ihm nach. »Tut mir leid, daß ich so drängen muß, Liebling, aber wenn du nicht ißt, damit ich arbeiten kann, bleibt uns nachher keine Zeit für Spaß und Tollerei.« Die Sandwiches schmeckten ausgezeichnet, und der Wein kam Mike beim zweiten Glas noch blumiger und würziger vor. Nach dem Essen wollte er ihr beim Abwaschen helfen, aber sie stießen mehrmals zusammen, weil der Wein Mike stärker zu Kopf stieg, als er jemals für möglich gehalten hätte. Als er dann zu torkeln begann, legte sie ihm einen Arm um die Schultern und führte ihn lachend in sein Zimmer. »Am besten ruhst du dich ein bißchen aus, bis ich mit meiner Arbeit an dem Manuskript fertig bin«, schlug sie vor, während sie ihm half, den Bademantel auszuziehen und unter die Decke zu schlüpfen. »Wie kann man nur nach zwei Gläsern Holunderwein umkippen!« Mike verstand trotz seiner Benommenheit, was passiert war, und stemmte sich im Bett hoch, um ihr lächelndes Gesicht besser sehen zu können. »Du hast mir ein Betäubungsmittel in den Wein gekippt!« warf er ihr vor; sie lachte jedoch nur, drückte ihn ins Kissen zurück und küßte ihn, daß ihm trotz aller Benommenheit ganz heiß wurde. »Nur ein bißchen Haschisch im Wein«, gab sie zu. »Aber ich ver231
spreche dir, daß du dafür entschädigt wirst – noch an diesem Wochenende.« Im nächsten Augenblick war sie verschwunden, und Mike, dessen Arme und Beine ihm nicht mehr gehorchten, blieb nichts anderes übrig, als in ein süßes Nichts zu versinken, in dem er sich mit einer herrlichen nackten Göttin vergnügte, die irgendwie zum Leben erwacht und von der Themse an den Potomac gekommen war. Als Mike wieder halbwegs zu sich kam, war er noch zu benommen, um die Leuchtziffern seines Weckers genau zu erkennen; der Zeigerstellung nach mußte es kurz vor ein Uhr sein. Allerdings nahm er etwas anderes deutlich wahr: Stimmengewirr im Wohnzimmer und dazwischen das kehlige Lachen, das Lynnes Gegenwart anzeigte. Er schlug die Bettdecke zurück, wollte aufstehen, konnte jedoch bloß kriechen und schaffte es gerade noch bis ins Bad, wo er sich übergeben mußte. Auf dem Rückweg sah Mike im Flurspiegel eine Reflexion des Wohnzimmers. Obwohl dort nur Kerzen brannten, war zu erkennen, daß Lynne den Vorsitz einer Versammlung von sechs oder sieben Leuten zu führen schien. Eine Stimme kam Mike vage bekannt vor: die eines Mannes, der offenbar Anweisungen gab, weil Mike ihn »fünfzehn Meilen« sagen hörte. Aber in seinem benommenen Zustand konnte er nicht beurteilen, ob die Dinge, die er hörte und sah, Realitäten oder Halluzinationen waren. Und da selbst das Spiegelbild vor seinen Augen schwankte und verschwamm, gab Mike auf und kroch ins Bett zurück. Wenig später verlor er erneut das Bewußtsein. Mike wachte durch einen Nadelstich ins Gesäß auf und spürte, daß ihm dort etwas injiziert wurde, bevor er sich dagegen wehren konnte. »So, das müßte dich wieder munter machen, Schätzchen«, sagte Lynnes Stimme, und als Mike den Kopf hob, sah er sie mit einer Injektionsspritze neben dem Bett stehen. »Nur gut, daß du Adre232
nalin in deiner Arzttasche gehabt hast«, fügte sie hinzu, während sie die leere Plastikspritze in den Papierkorb warf und ihre Bluse aufknöpfte. »Armand hat mir gezeigt, wie man damit Leute munter kriegt, die zuviel Hasch oder LSD erwischt haben. Wenn ich das Adrenalin nicht gefunden hätte, würdest du wahrscheinlich bis mittags durchschlafen.« »W-wie spät ist's denn schon?« Mike kam rasch wieder zu sich, als das starke Stimulans in seinem Zentralnervensystem zu wirken begann: Die Zahlen auf dem Ziffernblatt waren nach wie vor verschwommen. »Erst drei Uhr.« Sie lachte. »Die Nacht ist noch jung.« Sie warf ihre Bluse auf den Sessel, hakte den BH auf, ließ ihn achtlos zu Boden fallen und öffnete den Reißverschluß ihrer Khakijeans, als ihr Blick auf Mikes wiedererwachende Männlichkeit fiel. »Donnerwetter!« Sie stieß einen anerkennenden Pfiff aus, streifte das letzte hauchdünne Kleidungsstück ab und forderte Mike auf: »Mach Platz, Schätzchen! Dir steht jetzt eine Fréquentation à la Tallman bevor, wie die Franzosen sagen würden. Und ich garantiere dir, daß du diese Nacht dein Leben lang nicht vergessen wirst!«
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ie Morgensonne, die durch das Südostfenster ins Schlafzimmer schien, weckte Mike gegen zehn Uhr. Er stützte sich auf einen Ellbogen, um Janet betrachten zu können, die nackt neben ihm schlief. Als er sich über sie beugte, um sie zu küssen, schlang Janet ihm einen Arm um den Hals und zog ihn an sich. Aber im nächsten Augenblick schrak sie auf, starrte wild um sich und schien gar nicht zu wissen, wo sie sich befand. »Mike!« rief sie aus. »Was tun wir hier? Und in diesem Zustand?« 233
»Du bist freiwillig in mein Bett gekommen«, versicherte er ihr, ohne recht zu wissen, ob er wirklich Janet vor sich hatte oder Lynne sich wieder einen ihrer makabren Scherze erlaubte. »Die Beweise dafür liegen dort drüben, wo du sie um drei Uhr morgens zurück gelassen hast«, fügte er hinzu und deutete auf die ausgezogenen Kleidungsstücke. Janet saß jetzt im Bett, hatte nach der Decke gegriffen und zog sie mit einer fast jungfräulichen Geste hoch, über die Lynne bestimmt schallend gelacht hätte. »Ich kann mich an nichts erinnern, Mike. Ich weiß nur noch, daß ich zu Hause gefrühstückt habe, um zu Randall zu fahren, mit dem ich das Manuskript unseres Artikels durcharbeiten wollte.« »Das ist gestern morgen gewesen«, erklärte Mike ihr. »Als Pater Julian gestern nachmittag gehört hat, daß du morgens angerufen und eine Nachricht hinterlassen hattest, aus der hervorging, daß du den Exorzismus absagen wolltest…« »Ich habe nichts abgesagt!« »Natürlich nicht«, beruhigte er sie. »Nachdem ich von Randall erfahren habe, du seist gestern entgegen eurer Vereinbarung nicht zu ihm gekommen, ist mir klar gewesen, daß Lynne die Herrschaft über deinen Körper an sich gerissen und…« Janet nickte betroffen. »Ich vermag sie nicht mehr daran zu hindern, Mike!« unterbrach sie ihn. »Sie kann tun, was sie will – oder meinen Körper dazu bringen.« Janet starrte ihn plötzlich an. »Sie … und du?« »Wir«, sagte Mike. »Weißt du denn gar nichts mehr von letzter Nacht?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann mich nur an einen Traum erinnern, in dem wir zusammen waren.« »Im Bett?« »Ja.« »Das ist nicht nur ein Traum gewesen.« Mike schilderte ihr, wie Lynne ihn zuerst betäubt und dann mit einer Injektion geweckt hatte. 234
»Hier hat also eine Art Versammlung stattgefunden?«, erkundigte sich Janet. »Ja, mit sechs oder sieben Leuten, die ich noch nie gesehen hatte.« »Sie bereitet irgendeinen schrecklichen Anschlag vor, Mike. Ich bin ihr gleichgültig, denn selbst wenn ich umkomme oder eingesperrt werde, sucht sie sich eben einfach einen anderen Körper. Und ich kann nichts dagegen tun!« »Vielleicht kann ich etwas tun«, sagte Mike und nahm sie in die Arme. »Aber du darfst's mir nicht erzählen, sonst liest sie meine Gedanken und hindert dich daran!« Janet klammerte sich an ihn. »Ich habe Angst, Mike – schreckliche Angst!« »Verlaß dich ganz auf mich, Liebling.« »Sie vernichtet dich auch, wenn du ihr in die Quere kommst.« Janet schien nicht zu merken, daß die Decke sie nicht mehr trennte, aber Mike war sich der Schönheit, die er jetzt in den Armen hielt, durchaus bewußt. »Du hast Vertrauen zu mir gehabt, als ich dich operieren sollte. Jetzt mußt du Vertrauen zu mir haben, wenn ich dir helfen will«, flüsterte er mit seinen Lippen an ihren. »Du bist meine einzige Hoffnung. Lieb mich, Mike! Laß nicht zu, daß sie mich vernichtet.« Janet reagierte nicht gleich auf seinen Kuß; dazu war ihre Angst noch zu stark. Aber als seine Hände über ihren Körper wanderten und ihn gegen seinen preßten, erwachte auch ihre Leidenschaft. Sie fanden zueinander, und als sie gemeinsam den Höhepunkt erreichten, genoß Mike das Bewußtsein, daß diese Vereinigung ihm viel mehr bedeutete als die Nacht mit dem Wesen, das sich Lynne nannte. Gegen Abend fuhren sie in das sonntäglich stille Washington zurück. »Frag mich bitte nicht, ob du mit hinaufkommen sollst, Mike«, 235
bat Janet, als er vor ihrer Haustür hielt. »Ich würde dich dableiben lassen, nur im Augenblick brauche ich etwas Zeit zum Nachdenken dringender als Liebe – sogar als deine Liebe.« »Ja, ich verstehe«, sagte Mike. »Aber vergiß nicht, Pater Julian noch heute abend anzurufen. Er muß bis morgen früh wissen, ob du einverstanden bist.« »Ich rufe ihn sofort an«, versprach sie. »Glaub mir, Liebling, mir geht's wie dir darum, den Exorzismus so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.« »Gut, dann hole ich dich morgen gegen sieben Uhr zum Abendessen ab«, schlug Mike vor. »Am Dienstagabend muß ich leider zu einer Fachveranstaltung.« »Am besten verschieben wir die Sache auf den Mittwoch«, machte Janet den Gegenvorschlag. »Ich muß morgen und wahrscheinlich noch am Dienstag an dem ›Newsweek‹-Artikel arbeiten, der übers Wochenende liegengeblieben ist.« Während Mike langsam nach Hause fuhr, griff er in die Brusttasche seines Polohemdes und holte einen verknitterten Zettel heraus, der aus Lynnes Jeans gefallen war, als er sie morgens ins andere Zimmer hinübergetragen hatte. Er hatte den Zettel rasch eingesteckt, bevor Janet darauf aufmerksam wurde. Nachdem er seinen Porsche in der Tiefgarage abgestellt hatte, versuchte er, den Text zu enträtseln. Ein Blick genügte, um Mike zu zeigen, daß er ihn gleich beim erstenmal richtig gelesen hatte – aber das bedeutete keineswegs, daß er den Text auch deuten konnte. Tag X… Di. 10 Uhr, stand dort in der charakteristischen Handschrift, die Mike kannte, seitdem er sie auf der Einverständniserklärung für Janets Brustkorrektur gesehen hatte. Darunter stand ein Datum, das durch Ausstreichen unleserlich gemacht worden war; dann folgte die Feststellung: Reichweite 15 Meilen. Lynne hatte sich auf diesem später zusammengeknüllten Zettel offenbar Notizen gemacht – wahrscheinlich bei der nächtlichen Besprechung. Mike erinnerte sich daran, daß ein Mann »fünfzehn Mei236
len« gesagt hatte, aber obwohl ihm die Stimme auf unheimliche Weise vertraut war, konnte er sie noch immer nicht identifizieren. In Annapolis hatte Janet ihm erklärt, sie sei davon überzeugt, daß Lynne einen neuen Anschlag plane, und dieser Zettel mit den kryptischen Notizen konnte ein erster Hinweis darauf sein. Mike konnte nur erraten, daß irgend etwas an einem Dienstagvormittag um zehn Uhr passieren sollte. Worum es sich handelte, war vorerst nicht festzustellen. Einen Moment überlegte er, ob er Inspektor Stafford anrufen und um Rat bitten sollte, kam dann aber doch wieder von diesem Gedanken ab. Wenn er den FBI-Mann einschaltete, mußte er berichten, was übers Wochenende passiert war – vor allem von der Besprechung, zu der sich ein halbes Dutzend Unbekannter in seinem Haus versammelt hatte. Und obwohl Stafford wußte, daß Randall McCarthy einen Fall von Doppelpersönlichkeit annahm, während Pater Julian von Besessenheit sprach, war Mike davon überzeugt, daß der Inspektor keine dieser beiden Theorien akzeptiert hatte. Pater Julian rief etwa eine Stunde später an. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Ihre Verlobte offenbar noch immer großen Wert auf den Exorzismus legt, Mike«, begann der Geistliche. »Ich habe ihr alle nötigen Anweisungen gegeben. Wenn Sie einverstanden sind, treffen wir uns am Samstag nächster Woche morgens in Ihrem Wochenendhaus.« »Das ist acht Tage früher als vorgesehen, stimmt's?« »Ja. Da Miß Burke großen Wert darauf legt, die Sache hinter sich zu bringen, habe ich mich zu diesem früheren Versuch entschlossen.« »Gut, ich bringe sie am Vorabend hin«, versprach Mike. »Aber was ist mit Dr. McCarthy?« »Den habe ich eben angerufen. Er hat zum Glück auch Zeit. Wir kommen am Samstagmorgen gemeinsam zu Ihnen hinaus.« »Danke, Pater«, antwortete Mike. »Sie können sich nicht vorstellen, wie mich das erleichtert!« »Also bis dann«, sagte der Geistliche. »Gute Nacht, mein Sohn. 237
Ich werde für die Heilung Ihrer Verlobten beten.« Und wir können beide nur beten, daß Lynnes Anschlag nicht schon innerhalb der kommenden beiden Wochen geplant ist, fügte Mike im stillen hinzu.
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ls der Dienstagmorgen verging, ohne daß irgend etwas darauf hingedeutet hätte, dies könnte der Tag sein, den Lynne sich notiert hatte, atmete Mike erleichtert auf. Nachmittags war er mit dem Vortrag beschäftigt, den er abends im ›Pygmalion Club‹, einem vierteljährlich zusammentretenden Forum von Unfall- und Schönheitschirurgen aus Washington und Umgebung, halten sollte. Mikes Vortrag basierte auf einer Darstellung von Janets Gesichtsoperation, die er mit Dias illustrierte. Mike kam erst nach elf Uhr nach Hause, überlegte noch, ob er Janet anrufen sollte, um ihr von seinem Vortrag zu erzählen, und kam dann davon ab, weil sie sich am nächsten Tag zum Abendessen treffen würden. Am Mittwochabend klingelte Mike wie vereinbart um sieben Uhr bei Janet. Als sie nicht an die Tür kam, ging er zu George Stanfields Appartement hinunter, aber der Chefredakteur war offenbar nicht zu Hause. Da Mike fürchtete, Janet könnte krank oder bewußtlos in ihrer Wohnung liegen, wandte er sich an den Hausmeister, der ihn kannte, und ließ ihn die Wohnungstür aufsperren. Überall herrschte peinliche Ordnung, aber Janet war nicht da – ebensowenig wie ihr Auto in der Tiefgarage. Besorgt fuhr Mike nach Hause und hoffte, sie habe vielleicht inzwischen bei ihm angerufen. Aber sein Anrufbeantworter hatte kein Gespräch aufgezeichnet, deshalb begann er, verschiedene Krankenhäuser anzurufen, weil er fürchtete, Janet hätte einen Unfall er238
litten. Als auch diese Versuche ergebnislos blieben, überlegte Mike, ob er die Polizei verständigen sollte. Dann klingelte sein Telefon. Janet war am Apparat. »Wo steckst du?« fragte er aufgeregt. »Ich habe schon ein halbes Dutzend Krankenhäuser angerufen!« »Ich bin im Besucherzentrum im alten Bahnhof in der alten Union Station. Die Polizei hat mich festgenommen…« »Warum?« »Das scheint der Leutnant, der nach meiner Festnahme verständigt worden ist, selbst nicht recht zu wissen.« Mike hörte, daß Janet gegen Tränen ankämpfte. »Ich habe nämlich keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin.« »Lynne?« »Ja, wahrscheinlich. Ich … ich kann mich an nichts mehr erinnern, was nach dem Frühstück passiert ist.« »Kopf hoch, Liebling!« ermutigte er sie. »Du kannst den Beamten sagen, daß ich dein Arzt bin und daß du bei mir in Behandlung stehst. Ich bin Chirurg in der Polizeireserve und kenne alle hohen Tiere persönlich. Keine Angst, ich hole dich dort raus.« »Beeil dich bitte, Mike.« Eine Viertelstunde später parkte Mike seinen Porsche im Halteverbot vor der riesigen Union Station, dem in ein Besucherzentrum umgewandelten ehemaligen Bahnhof, auf dem nur noch wenige Züge ankamen. Er fand den Polizeiposten ohne Mühe und wurde von Janet begrüßt, die sich ihm schluchzend in die Arme warf. »Onkel George ist in Kanada«, erklärte sie. »Wenn ich dich nicht erreicht hätte, wäre ich ins Gefängnis gewandert.« Ein stämmiger Uniformierter, dem man seine irische Abstammung deutlich ansah, kam auf die beiden zu. »Guten Abend, Doktor«, begrüßte er Mike. »Ich bin Leutnant Gerald O'Flanagan.« »Richtig, wir kennen uns aus einem meiner Kurse über Sofortmaßnahmen am Unfallort, die ich als Assistenzarzt gehalten habe«, bestätigte Mike. »Miß Burke ist meine Patientin und meine Verlobte, Leutnant.« 239
»Vielleicht können Sie sie dazu bringen, uns zu erzählen, was sie vierhundert Meter vom Bahnsteig entfernt in einem der alten Tunnel zu suchen gehabt hat.« »Das weiß ich doch selbst nicht!« beteuerte Janet. »Ich … ich bin erst zu mir gekommen, als ein Wachtposten mir mit seiner Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet hat.« »Mehr ist aus ihr nicht rauszukriegen, Doktor«, sagte der Uniformierte geduldig. »Mit dieser Antwort müssen Sie sich fürs erste begnügen, Leutnant. Miß Burke hat bei einem Flugzeugunglück eine schwere Gehirnerschütterung davongetragen und leidet seitdem an zeitweiligem Gedächtnisverlust. Diese Anfälle lassen allmählich nach, aber sie sind natürlich jedesmal sehr beunruhigend.« »Steht sie denn in psychiatrischer Behandlung?« »Ja, bei Dr. Randall McCarthy von der University Clinic. Er kann sich für sie verbürgen und…« »Ihr Wort genügt mir, Dr. Kerns«, beschied Leutnant O'Flanagan. »Ich übernehme die Verantwortung, Ihre Verlobte in Ihre Obhut zu entlassen.« »Muß sie mit einem Strafverfahren rechnen?« »Wir können sie schlimmstenfalls wegen Hausfriedensbruch anzeigen, aber das ist ein zu unbedeutendes Delikt – vor allem auf einem Bahnhof. Sie kann nur von Glück sagen, daß sie in ihrem Zustand nicht in einen der noch benützten Tunnel hineingelaufen ist.« Mike bedankte sich und verließ mit Janet das riesige alte Bahnhofsgebäude. »Weißt du, wo dein Wagen ist?« fragte er. »Er steht nicht in der Tiefgarage.« »Nein, Mike. Ich weiß nur noch, daß ich das Frühstücksgeschirr in die Geschirrspülmaschine gestellt habe. Wann ich das Haus verlassen habe, kann ich nicht sagen.« »Vielleicht steht dein Auto drüben im Parkhaus«, sagte Mike plötzlich. »Dann müßtest du den Parkschein in deiner Handtasche haben.« Janet fand tatsächlich einen um 18.30 Uhr abgestempelten Park240
schein in ihrer Handtasche. Aber als sie die letzte Eintragung in ihrem Fahrtenbuch mit der Anzeige des Meilenzählers verglich, ergab sich eine Differenz von fast fünfzig Meilen. »Lynne bleibt anscheinend bei ihren alten Tricks«, meinte Mike, als er Janets Wagen aus dem Parkhaus fuhr. »Kannst du dich an eine Art Trauma erinnern, der uns einen Hinweis auf die Zeit bis halb sieben geben könnte?« »Nein, leider nicht. Ich weiß nur noch, daß ich den Rücken eines Mannes gesehen habe, der in dem Augenblick, in dem der Wachtposten mich mit der Taschenlampe angeleuchtet und zum Stehenbleiben aufgefordert hat, in einem Seitengang verschwunden ist.« »Hat der Wachtposten den Mann gesehen?« »Wahrscheinlich nicht – aber ich hab ihn erkannt. Es ist Roger Coven gewesen.« »Weißt du das bestimmt?« »Ganz bestimmt! Ich habe sein Gesicht deutlich in Erinnerung.« »Dir ist doch klar, was das bedeutet?« fragte Mike ernst. »Vor allem im Zusammenhang mit deiner anderen Amnesie, bei der Randall dich in Gesellschaft eines Mannes, der Ähnlichkeit mit Coven gehabt haben soll, gesehen haben will?« Janet nickte langsam. »Er muß es damals auch gewesen sein. Das bedeutet, daß die beiden schon früher zusammengekommen sind – wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem von Lynne geplanten Anschlag. Was sollen wir nur tun, Mike? Sie kann uns bestimmt überlisten, wenn wir versuchen, uns ihr in den Weg zu stellen.« »Vielleicht uns, aber nicht das FBI.« Mike hielt neben einer Telefonzelle in der Nähe seines geparkten Wagens. »Kannst du hinter mir her zum FBI-Gebäude fahren, falls Inspektor Stafford zufällig noch im Büro ist. Ich weiß, daß er oft bis in die Nacht hinein arbeitet.« »Ich kann alles, solange ich mit dir zusammen bin«, versicherte Janet. »Das bist du in Zukunft immer!« sagte er und stieg aus, um zu telefonieren. 241
Inspektor Stafford, in dessen Büro sie eine Viertelstunde später saßen, hörte schweigend zu, als Mike berichtete, was sich am Wochenende in seinem Haus abgespielt hatte – natürlich ohne die Episoden mit Lynne und Janet. Als Mike den Zettel aus Lynnes Jeans auf den Schreibtisch legte, beugte Janet sich interessiert nach vorn. »Das ist Lynnes Schrift!« stellte sie fest. »Kennst du sie nicht mehr, Mike? Es handelt sich um die gleiche Schrift wie auf der Einverständniserklärung, an die ich mich nicht erinnern konnte.« »Ich habe sie sofort wiedererkannt und bin davon überzeugt, daß Professor Leibowitz den Unterschied bestätigen wird, Inspektor.« »Gut, wir legen ihm die Schriftprobe vor«, entschied Stafford. Er schob Janet einen Notizblock hin. »Schreiben Sie den Text bitte in Ihrer eigenen Schrift ab, Miß Burke, damit der Professor die Handschriften vergleichen kann.« Janet tat wie geheißen, und Inspektor Stafford legte den Zettel in einen Aktenordner, in dem bereits ein gutes Dutzend Berichte abgeheftet waren. »Wie Sie sehen, haben wir inzwischen nicht geschlafen, Doktor«, wandte er sich an Mike. »Wir haben beispielsweise eine eidesstattliche Aussage von Pater Julian O'Meara, in der er bestätigt, seiner Überzeugung nach sei Miß Burke von einem Dämon besessen – wahrscheinlich Lynne Tallmans Dämon.« Der Inspektor lächelte. »Meines Wissens ist dies allerdings die erste derartige Aussage, die das FBI zu den Akten genommen hat.« »Sie akzeptieren sie also als Tatsache?« »Ich akzeptiere, daß Miß Burke imstande ist, als zwei verschiedene Persönlichkeiten aufzutreten…« »Aber nicht freiwillig.« »Richtig, darüber liegt uns eine eidesstattliche Aussage Dr. McCarthys vor.« »Wieviel ist eigentlich noch nötig, damit Sie sich überzeugen lassen, Inspektor?« fragte Janet. »Vor allem nach dem, was vorhin auf dem Bahnhof passiert ist.« »Ich versuche, unvoreingenommen zu bleiben«, wehrte Stafford 242
ab. »Sind Sie bereit, in einer eidesstattlichen Aussage zu klären, daß Sie Roger Coven heute abend in dem Tunnel gesehen haben und daß er wahrscheinlich mit Ihnen zusammengewesen ist, bis der Wachtposten Sie entdeckt hat?« »Den zweiten Teil müssen Sie streichen«, warf Mike rasch ein. »Janet weiß nicht, wie sie in den Tunnel gekommen ist und was sie dort getan hat. Sie kann sich nur daran erinnern, Roger Coven unmittelbar nach ihrer Entdeckung durch den Wachtposten gesehen zu haben, als er in einem Seitengang verschwunden ist.« »Okay, das genügt vorläufig«, bestätigte der Inspektor. »Können Sie dann Coven nicht festnehmen lassen?« Stafford schüttelte den Kopf. »Vorerst können wir ihn ebenso schlecht wegen Hausfriedensbruchs verhaften, wie Leutnant O'Flanagan Miß Burke wegen des gleichen Delikts in Haft behalten konnte.« Mike schüttelte verständnislos den Kopf. »Wir wissen, daß irgendein Anschlag geplant ist – wahrscheinlich an einem Dienstagmorgen um zehn Uhr –, an dem Roger Coven und Lynne beteiligt sind. Wollen Sie einfach untätig zusehen, bis etwas passiert?« »Coven wird selbstverständlich überwacht, Doktor, aber es wäre verdammt schwierig, einen Richter zu finden, der uns abnimmt, daß Miß Burke von einem Dämon besessen ist. Und wie soll man jemanden … etwas kontrollieren, das nur dann körperlich existiert, wenn es Miß Burkes Körper für seine eigenen Zwecke benützt, ohne daß sie etwas davon weiß?« Mike hatte jedoch kaum noch zugehört; ihm war plötzlich ein Licht aufgegangen. Er wußte jetzt, warum Janet in dem Tunnellabyrinth tief unter dem alten Bahnhof gewesen war! »Hören Sie sich bitte meine Theorie an, Inspektor«, forderte er Stafford auf. »Wir sind uns darüber einig, daß irgend etwas Wichtiges passieren wird, nicht wahr? Vermutlich ein Bombenanschlag, weil Lynne Tallman und ihr Kult früher auf Anschläge dieser Art spezialisiert gewesen sind.« »Bloß wann?« fragte Janet. »Wir wissen nur, daß ein Dienstagmorgen 243
vorgesehen ist – und einer ist schon vergangen, ohne daß etwas passiert wäre.« »Der Anschlag muß für die nächste Zeit geplant sein, sonst wäre das Treffen am Samstagabend nicht nötig gewesen«, stellte Mike fest. »Ja, das ist logisch«, bestätigte der FBI-Mann. »An welchem kommenden Dienstagmorgen ist in Washington denn Hochbetrieb, so daß ein Bombenanschlag die meisten Opfer fordern würde?« fragte Mike. »Am Dienstag nach dem Feiertag Labor Day, dem ersten Montag im September!« rief Janet aus. »Das muß der Tag X sein!« »Bitte weiter, Doktor«, forderte Stafford ihn ernst auf. »Und wo ließe sich eine Bombe, die den Kern Washingtons und die Regierungszentren vernichten soll, besser plazieren als in dem Tunnellabyrinth unter der alten Union Station?« »Ihre Theorie hat zwei schwache Stellen«, wandte der Inspektor ein. »Armand Descaux ist der Bombenfachmann in Lynne Tallmans Gruppe gewesen, und seitdem er tot ist, dürfte wohl keiner der anderen imstande sein, eine Bombe dieser Art zu bauen. Außerdem müßte diese Bombe so groß sein, daß sie bestimmt nicht mehr unbemerkt in einen der Tunnels gebracht werden könnte.« »Haben Sie schon mal an die Möglichkeit einer kleinen Atombombe gedacht?« »Vielleicht, aber das wäre äußerst schwierig.« »Wahrscheinlich nicht so schwierig, wie man auf den ersten Anhieb glauben würde«, widersprach Mike. »Sie haben Lynne Tallman ursprünglich nur wegen des zwischen ihr und Armand Descaux stattfindenden Machtkampfes fassen können, nicht wahr?« »Ganz recht«, bestätigte Stafford. »Descaux hat den Anschlag auf das Flugzeug mit Sprengstoff ausgeführt, weil das die Methode war, die er am besten beherrschte. Nachdem Lynne sich jedoch in Janets Körper festgesetzt hatte, lockte sie ihren Rivalen durch den Anruf in Chicago in mein Wochenendhaus, wo Janet ihn als Einbrecher erschossen hat. Daraus ergibt sich logischerweise, daß Lynne einen anderen Bombenfach244
mann finden mußte, um ihre Terroranschläge fortsetzen zu können. Und als Janet mein Wochenendhaus bezogen hat, ist ganz in der Nähe einer eingezogen: Roger Coven.« Als Stafford noch immer ein zweifelndes Gesicht machte, erkundigte Mike sich: »Coven ist doch imstande, eine kleine Atombombe zu bauen?« Der FBI-Mann antwortete nicht gleich. Er stand auf, trat an einen der großen Aktenschränke in seinem Zimmer, zog einen Ordner heraus und blätterte darin. Dann kam er damit an seinen Schreibtisch zurück. »Ich habe hier einen Zeitungsausschnitt mit einer interessanten Meldung«, sagte er. »Ein Student, der in Princeton Raumfahrttechnik und Maschinenbau studiert, hat eine wissenschaftliche Arbeit mit folgendem Titel geschrieben: ›Die Grundlage des Atombombenbaus: Eine Analyse der Probleme und Möglichkeiten einer Terroristengruppe bei dem Versuch, eine primitive Pu-235-Bombe zu bauen.‹« »Wissen Sie bestimmt, daß das kein Schwindel ist wie die Arbeit, die vor einigen Jahren ein Schüler in Florida vorgelegt hat?« fragte Mike. »Nein, das ist hier eine ernstzunehmende Arbeit«, versicherte der FBI-Mann ihm. »Der Verfasser bezieht sich dabei ausschließlich auf Broschüren und amtliche Veröffentlichungen, die jedermann sich von der Regierungsdruckerei schicken lassen kann. Und die reinen Materialkosten liegen bei etwa zweitausend Dollar, wenn man das Plutonium nicht mitrechnet.« »Das ist richtig unheimlich«, meinte Janet. »Aber es kommt noch schlimmer«, fügte der Inspektor hinzu. »Wir haben inzwischen festgestellt, daß eine nach dieser Anleitung gebaute Atombombe nur etwa einen halben Meter Durchmesser hätte und knapp hundertzehn Pfund wöge – keine allzu große Last für einen kräftigen Mann.« »Das heißt also, daß jeder, der genug von Atomphysik versteht, ganz Washington in die Luft sprengen könnte?« fragte Mike erschrocken. 245
»Richtig, genau das glaubt die AEC, wie aus einer neueren Untersuchung hervorgeht«, bestätigte Stafford. »Hören Sie sich das an: ›Amateure können vermutlich Bomben mit einer Sprengkraft von einer zehntel Kilotonne (das heißt hundert Kilogramm TNT) bauen. Mit einer Bombe dieser Art könnten sie die Doppeltürme des hundertzehnstöckigen World Trade Centers in Manhattan zum Einsturz bringen – oder das Capitol in Washington‹.« »Darauf haben sie's abgesehen!« sagte Janet sofort. »Wenn Sie die Tunnels unter der Union Station auf einem Stadtplan verfolgen, stellt sich bestimmt heraus, daß manche direkt unter dem Capitol vorbeiführen.« »Richtig, das könnte stimmen«, meinte der FBI-Mann. »Kannst du dich daran erinnern, daß Lynne Tallman in Chicago jemals von Washington oder dem Capitol gesprochen hat?« wandte Mike sich an Janet. »Nein, niemals.« »Einige andere Schlußfolgerungen aus dem gleichen AEC-Bericht sind vielleicht ebenso wichtig«, sagte Stafford. »Ich zitiere: ›Da es so reichlich Plutonium gibt, dürfte es Terroristen nicht allzu schwer fallen, sich welches zu beschaffen. Die AEC hat ihre Sicherheitsmaßnahmen verschärft, um Diebstähle zu erschweren, aber ein gewisser Prozentsatz des spaltbaren Materials geht bei der Verarbeitung verloren und wird einfach als ›nicht nachgewiesenes Material‹ abgeschrieben. Sollte ein Angestellter auf die Idee kommen, das benötigte Plutonium in kleinen Mengen abzuzweigen, dürfte dieser Verlust höchstwahrscheinlich gar nicht auffallen‹.« »Als Chefermittler in Sachen Plutoniumverluste der AEC hat Coven jedenfalls Zugang zu spaltbarem Material gehabt«, stellte Mike fest. »Er kann über Jahre hinweg Plutonium gesammelt haben, um eine Bombe zu bauen.« »Aber er ist für einen Terroristen zu vernünftig«, wandte Janet ein. »Das ist etwas für Wirrköpfe – oder Dämonen.« »Richtig«, bestätigte der FBI-Mann. »Coven ist ein Realist, dem ich eher einen Erpressungsversuch mit der Drohung, Washington 246
zu zerstören, zutrauen würde.« »Aber wie sollte er danach fliehen können?« fragte Mike. »Den freien Abzug könnte er sich garantieren lassen. Es gibt genügend Länder, die ihn mit offenen Armen aufnehmen und sogar als Helden feiern würden.« »Lynne hätte allerdings kein Interesse an einer Lösegeldforderung«, widersprach Janet. »Sie würde Angst und Schrecken verbreiten wollen, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß keine Regierung sie vor solchen Anschlägen schützen kann. Für Lynne geht es unter allen Umständen nur um einen Terroranschlag. Falls Roger mitmacht, betrachtet er die Sache vermutlich ausschließlich als Probe aufs Exempel, um die Möglichkeit einer späteren Lösegeldforderung zu testen.« »Unsere Erfahrungen mit der Chicagoer Bande lassen darauf schließen, daß Miß Burke ihre Motive richtig einschätzt«, bestätigte Stafford. »Ich verstehe nur nicht, warum ein Mann in Roger Covens Position dieses Risiko eingehen sollte«, meinte Mike nachdenklich. »Ich bin nicht der einzige Mensch, der von einem Dämon besessen ist, Mike«, gab Janet zu bedenken. »Pater Julian sagt, daß es Tausende von Besessenen gibt – und nur wenige haben wirklich den Wunsch, sich aus den Krallen Satans zu befreien.« »Ist Ihr Exorzismus noch immer für den Samstag nach dem Labor Day angesetzt, Miß Burke?« wollte Stafford wissen. Janet nickte schweigend. »Dann ist der Terroranschlag offenbar für kommenden Dienstag geplant«, stellte der FBI-Mann fest. »Wir haben also nicht mehr viel Zeit«, fügte Mike hinzu. »Die Beweise gegen Roger Coven reichen doch wohl für eine Verhaftung aus, Inspektor?« »Ja, wenn er ein gewöhnlicher Verbrecher wäre. Coven hat jedoch hier in Washington einflußreiche Freunde, und wir müssen uns vorläufig auf Indizienbeweise stützen. Falls er Verbindung zu der Tallman-Bande in Chicago unterhalten hat, ist es ihm ausgezeichnet gelungen, alle Spuren zu verwischen. Wir haben nur feststellen kön247
nen, daß er vor Jahren eine kurze Affäre mit Lynne Tallman gehabt hat. Wenn ich ihn jetzt verhafte, beantragt sein Anwalt eine sofortige Haftüberprüfung, bei der die Anklage niedergeschlagen würde. Oder er würde gegen Kaution entlassen und könnte ungehindert weiterarbeiten. Ich möchte ihn lieber nur überwachen lassen, damit wir seine Bombe finden und entschärfen können.« Stafford wandte sich an Janet. »Glauben Sie, daß Ihre Gegenwart – oder vielmehr die der Lynne-Persönlichkeit – für die Durchführung seines Planes erforderlich ist, Miß Burke?« »Nein.« »Warum nicht?« »Roger Coven hat mich der Bahnpolizei überlassen, weil er vermutlich damit gerechnet hat, daß Lynne sich in mich zurückverwandeln würde. Vielleicht hat er sogar meine Festnahme erwartet. Immerhin konnte ich nicht erklären, was ich in dem Tunnel zu suchen hatte. Das kann nur bedeuten, daß er Lynne – und mich – nicht mehr braucht.« Inspektor Stafford klappte den Aktenordner zu und stellte ihn in den Schrank zurück. »Noch etwas«, sagte er, als er an seinen Schreibtisch zurückkam. »Glauben Sie, Roger Coven weiß, daß Sie ihn heute abend erkannt haben, Miß Burke?« »Nein das glaube ich nicht. Die Taschenlampe des Wachtpostens hat mich fast geblendet. Wenn ich dabei nicht rasch zur Seite geblickt hätte, wäre mir Roger nicht aufgefallen. Ich habe ihn ohnehin nur ganz kurz gesehen.« »Wieso sind Sie sich Ihrer Sache trotzdem so sicher?« wollte der FBI-Mann wissen. »Vertraute Gesichter erkennt man leichter«, antwortete Janet ruhig. »Ich weiß, daß ich Roger Coven gesehen habe Inspektor – und ich bezweifle sehr, daß er sich dessen bewußt ist.« »Und da du unter Kontrolle von Lynne gestanden hast, solange du mit ihm im Tunnel gewesen bist«, warf Mike ein, »muß er annehmen, du würdest nach deiner plötzlichen Rückverwandlung in Janet nichts mehr wissen.« 248
»Genau das ist auch passiert!« »Dann haben Sie wahrscheinlich von Coven nichts zu befürchten«, bestätigte der Inspektor. »Ich danke Ihnen beiden, daß Sie heute abend hergekommen sind. Coven wird ab sofort beschattet, und sobald er sich verdächtig macht, nehmen wir ihn fest. Wir werden uns auch für sein Arbeitszimmer interessieren, in das er sich so häufig zurückzieht.« »Halten Sie's für möglich, daß die Atombombe – falls Coven wirklich eine gebaut hat – schon in einem Tunnel versteckt ist?« fragte Mike noch. »Wir wissen schließlich, daß er schon zweimal mit Lynne unterwegs gewesen ist.« »Wenn ja, finden wir sie, darauf können Sie sich verlassen!« erwiderte Stafford grimmig. »Morgen früh durchsuchen wir als erstes die Union Station und das gesamte Tunnelsystem.« Draußen hielt Mike Janet die Beifahrertür des Porsches auf und stieg dann selbst ein. »Du hast bestimmt noch kein Abendessen bekommen«, sagte er, als er den Motor anließ. »Sollen wir in irgendein kleines Restaurant fahren?« »Nein, ich will nur nach Hause, Mike.« Sie schüttelte sich unwillkürlich. »Wenn ich daran denke, wie ich plötzlich in dem Tunnel gestanden habe und die ganze Aufregung danach, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.« »Hoffentlich ist das alles bald überstanden. Was hältst du davon, wenn wir übers Labor-Day-Wochenende in mein Haus fahren? Dort sind wir weit genug von allem entfernt, um Ruhe zu finden.« »Wie weit, Mike? Luftlinie, meine ich.« »Etwas über zwanzig Meilen«, antwortete er erstaunt. »Warum?« »Lynne hat sich fünfzehn Meilen notiert – das muß der Wirkungsradius der Bombe sein.« »Das könnte bedeuten, daß Coven sich bei uns am Fluß bereits sicher fühlt.« »Was ist mit der Million Menschen, die sich am Dienstagmorgen in diesem Fünfzehnmeilenbereich aufhalten werden, weil sie entweder 249
in Washington wohnen oder wieder zur Arbeit fahren?« »Darüber kannst du dir nächste Woche Sorgen machen«, wehrte Mike ab. »Denk lieber daran, welchen Dienst du ihnen allen durch deine Aussage von vorhin erwiesen hast.« Janet nickte zweifelnd. Dann legte sie Mike plötzlich eine Hand auf den Arm. »Ich will nicht in dein Haus. Warum kannst du nicht bei mir bleiben, Liebling? Ich fürchte mich vor dem, was Lynne noch tun könnte.« »Keine Angst, ich lasse dich nicht mehr allein«, versprach er. »Wir fahren zu dir und packen einen kleinen Koffer, damit du bei mir wohnen kannst, bis die ganze Sache ausgestanden ist. Aber in meiner Gegend sind Parkplätze Mangelware, deshalb lassen wir deinen Wagen am besten hier stehen.«
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ike hatte ohnehin beabsichtigt, seine Praxis am Freitag vor dem langen Labor-Day-Wochenende zu schließen, weil Washington dann wie ausgestorben war. Er brauchte die Wohnung also nur am Donnerstag und wegen der Morgenvisite am Freitag zu verlassen. Auf Janets Wunsch sperrte er sie an beiden Tagen in seinem Appartement ein, und als er am Freitagmittag zurückkam, erwartete sie ihn mit einem wunderbaren Mittagessen, zu dem sogar eine gutgekühlte Flasche Rosé gehörte. Nachmittags machten sie einen langen Spaziergang durch die Anlagen am Tidal Basin. »Weißt du, was ich am liebsten täte, Mike?« fragte Janet plötzlich, als sie wieder im Auto saßen, um nach Hause zurückzufahren. »Wahrscheinlich schon«, antwortete Mike grinsend. »Aber du kannst's mir trotzdem sagen.« »Ich habe vor langer Zeit einmal ein Buch gelesen, in dem ge250
schildert wurde, wie man als ganzer Mensch leben und die eigene Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellen sollte. Die Verfasserin hat auch einen Trick beschrieben, mit dessen Hilfe man sich dem Alltagstrott entziehen kann.« »Was in den letzten Tagen passiert ist, würde ich nicht gerade als Alltagstrott bezeichnen«, widersprach er. »Seitdem ich dieses Buch gelesen habe, wollte ich ihre Methode irgendwann ausprobieren. Sie fängt damit an, daß man sich einen Platz mit Kreisverkehr sucht.« »Die gibt's in Washington reichlich.« »Ja, ich weiß – das hat mich eben an das Buch erinnert. Man fährt im Kreis herum, bis man eine Eingebung hat, welche der abzweigenden Straßen man nehmen soll. Und auf dieser Straße fährt man weiter, bis man etwas Neues, Interessantes oder sogar Erregendes entdeckt.« »Warum versuchen wir's nicht selbst?« schlug Mike vor. »Würdest du das tun? Nur mir zu Gefallen?« »Natürlich. Aber ich schlage doch vor, daß wir zuerst noch nach Hause fahren und die paar Kleinigkeiten holen, die wir brauchen, falls wir irgendwo übernachten wollen.« Eine Viertelstunde später bog Mike auf den Dupont Circle ab, während Janet sich mit geschlossenen Augen in den Beifahrersitz zurücklehnte. »Blinzeln gilt nicht!« warnte er. »Schwindeln auch nicht. Ich warte auf eine Inspiration und möchte nicht feststellen müssen, daß du mit mir in ein Motel fährst, in dem sie dich bestimmt nicht kennen.« »Ehrenwort!« versprach Mike lachend. Sie waren bei der zweiten Runde, als Janet plötzlich sagte: »Die nächste Straße rechts.« Er bog gehorsam ab und stellte fest, daß sie sich auf einer breiten Schnellstraße befanden, die in Richtung Südwesten nach Virginia führte. »Wo sind wir?« wollte Janet eine halbe Stunde später verträumt 251
wissen. »Wir fahren in Richtung Warrenton«, antwortete Mike. »Wie weit ist's noch bis dorthin?« »Ungefähr zehn Meilen.« »Gut.« Sie schloß die Augen. »Ich sage dir, wo du abbiegen mußt.« »Du bist schon einmal hier gewesen«, meinte er skeptisch. »Sag mir einfach, wenn wir in Warrenton sind«, forderte Janet. »Wir sind da!« erklärte Mike zehn Minuten später. »An der nächsten Ampel links.« Mike gehorchte und befand sich wenig später auf einer einsamen Staatsstraße. »Hoffentlich weiß wenigstens einer von uns, was wir hier tun und wohin wir fahren«, sagte er. »Du mußt mir vertrauen, Mike«, bedeutete Janet geheimnisvoll. Nach einer knappen Viertelstunde wurden vor ihnen die Lichter einer Kleinstadt sichtbar; als Mike auf Janets Anweisung langsamer fuhr, sah er ein Schild, das die Zufahrt zum ›Old Mill Motel‹ bezeichnete. Unter den Bäumen am Ufer eines idyllisch gelegenen Mühlteichs war ein kleines ländliches Motel neben dem zweistöckigen Bau einer typischen alten Getreidemühle zu erkennen. »Hier sind wir richtig«, sagte Janet. »Na, wie gefällt's dir?« »Hoffentlich haben sie noch ein Zimmer frei«, meinte Mike zweifelnd. »Keine Angst, wir bekommen eines«, versicherte Janet gelassen. »Ich habe es telefonisch bestellt, während du vor der Abfahrt auf der Toilette gewesen bist. Die Stadt heißt Bristersburg.« »Ich verstehe noch immer nicht, wie du wissen konntest, daß es hier ein Motel gibt – es sei denn, du hättest bei Randall McCarthy hellsehen gelernt.« »Nein, leider nicht«, antwortete sie bedauernd. »Aber ich bin vor einigen Wochen zu University of Virginia in Charlottesville gefahren, weil ich Informationen für meinen Artikel brauchte. Und da ich am liebsten Nebenstraßen benütze, wenn es meine Zeit erlaubt, bin ich 252
hier vorbeigekommen und habe in dem hübschen kleinen Restaurant in der Mühle zu Mittag gegessen.« »Dann ist die Rundfahrt auf dem Dupont Circle also nur ein Schwindel gewesen?« »Kein richtiger Schwindel, Liebling. Nur habe ich mir beim Anblick dieses hübschen Motels gleich vorgestellt, wie schön es wäre, mit dir hierher zu kommen, sobald die Sache mit meiner Doppelpersönlichkeit ausgestanden ist.« »Wir können nur hoffen, daß es sich so verhält und daß Roger Coven bei deiner Verhaftung getürmt ist.« »Ich habe mir außerdem überlegt, daß Roger vielleicht doch auf Lynne angewiesen ist, um seinen Anschlag ausführen zu können. Wenn ich hierbleibe, kann sie nicht in Washington sein – deshalb wollen wir in den nächsten Tagen einfach nicht mehr an sie denken.« Nachdem sie sich als Mr. und Mrs. Kerns eingetragen hatten, fuhren sie zu einem der kleinen Blockhäuser am Mühlenteich weiter. Das Wohn- und Schlafzimmer war makellos sauber und mit Antiquitäten eingerichtet. Janet gefiel es auf Anhieb. »Sieh dir bloß dieses Himmelbett an, Mike!« rief sie aus. »Und draußen auf der Veranda steht ein richtiger alter Bostoner Schaukelstuhl.« »Mich interessiert eigentlich mehr das Angelzeug auf der Veranda«, stellte er fest. »Ich möchte wetten, daß der Teich ein prima Fischwasser ist.« »Ohne Fernsehen können wir die Außenwelt vergessen. Solange wir hier sind, lese ich nicht einmal Zeitung.« Keiner von ihnen erwähnte die wichtigste Tatsache: Das ›Old Mill Motel‹ lag etwa fünfunddreißig Meilen von Washington entfernt.
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ike angelte von der Veranda aus, als Janet am nächsten Morgen in ihrem weißen Bikini ins Freie kam. »Woher weißt du, daß man hier baden darf?« fragte er. »Hinten an der Schleuse habe ich ein Sprungbrett gesehen. Hast du schon was gefangen?« »Den Fischen geht's hier zu gut, deshalb beißt keiner an. Wenn du noch einen Augenblick wartest, ziehe ich meine Badehose an und komme mit.« Nach dem Schwimmen frühstückten sie in dem hübschen kleinen Restaurant im Erdgeschoß der Mühle, die noch aus der Kolonialzeit stammte, wie die Bedienung ihnen erzählte. Es gab Buchweizenpfannkuchen mit Ahornsirup, frische Landeier und Schinken aus Virginia. Das ›Old Mill Motel‹ war ein idyllischer Zufluchtsort, und Mike und Janet verbrachten dort ein traumhaftes Wochenende. Sie aßen riesige Portionen, liebten sich, wenn ihnen danach zumute war, lasen alte Taschenbücher, die sie im Nachttisch gefunden hatten, oder dösten einfach nur. Auf diese Weise gelang es ihnen, die Erinnerung an die Außenwelt und ihre eigene Verantwortung zu verdrängen – zumindest bis Montagmorgen. Als Mike aufwachte, duschte Janet bereits. Er sah ihr entgegen, als sie aus dem Bad kam, und stellte fest, daß sie ungewohnt entschlossen wirkte. Das konnte nur bedeuten, daß Janet die gleichen Überlegungen in der Nacht angestellt hatte wie auch schon er. »Wir haben wohl beide gewußt, daß diese Idylle nicht lange dauern würde«, stellte Mike fest. »Solange du hier draußen auf dem Land sitzt, kann Lynne nicht Washington in die Luft jagen, aber wenn wir jetzt nach Washington zurückfahren, taucht sie vielleicht auf und führt Inspektor Stafford zu Roger und der Bombe. Falls wir gleich nach dem Frühstück aufbrechen, können wir vormittags wieder in Washington sein. Stafford ist garantiert in seinem Büro zu erreichen, und ich kann ihn anrufen, um zu fragen, wie die Dinge stehen.« 254
»Ich mag nicht einmal daran denken, was alles passiert sein kann«, sagte Janet. »Aber ich weiß jetzt wenigstens, wie glücklich wir miteinander hätten werden können.« »Nein, Liebling – wie glücklich wir miteinander sein werden.« »Ich hoffe natürlich, daß du recht hast. Irgendwie kann ich mir jedoch nicht recht vorstellen, daß Roger oder Lynne aufgegeben haben sollen.« »Falls doch, ist das dein Verdienst.« »Und falls nicht?« »Dann müssen wir improvisieren, fürchte ich.« Washington war, wie erwartet, geradezu ausgestorben. Selbst die Zahl der Touristenbusse hatte sich auffällig verringert. »Kaum zu glauben, daß es hier in weniger als vierundzwanzig Stunden wieder wie im Irrenhaus zugehen wird«, stellte Mike fest. »Wenn die Stadt dann nicht ein rauchender, radioaktiver Trümmerhaufen ist!« »Dem können wir noch immer entgehen, indem wir zum Potomac hinausfahren.« »Wir dürfen nicht einfach weglaufen, Mike. Wäre ich damals nicht mit Lynne an Bord der Unglücksmaschine gewesen, hätte ihr Dämon sich nicht in meinen Körper flüchten können. Deshalb bin ich in gewisser Beziehung dafür verantwortlich, was sie tut. Wir können nur beten, daß der Dämon verschwunden ist – aber das stellt sich erst kommenden Samstag heraus, nicht wahr?« »Ich glaube, daß wir's schon früher erfahren«, sagte er, als sie in der Tiefgarage parkten. »Wenn morgen früh um zehn Uhr kein Atompilz über Washington steht, können wir mit Gewißheit annehmen, daß Roger Coven und Lynne Tallmans Dämon geflüchtet sind.« Von seiner Wohnung aus rief Mike Stafford an. »Miß Burke und ich sind zwei Tage auswärts gewesen, Inspektor«, berichtete er. »Haben Sie schon eine Spur von Roger Coven?« »Nein«, antwortete der FBI-Mann. »Als er Miß Burke stehenge255
lassen hat und in einem Verbindungsgang untergetaucht ist, scheint er sich in Luft aufgelöst zu haben.« »Sie haben natürlich den ganzen Bahnhof durchsuchen lassen?« »Worauf Sie sich verlassen können!« sagte Stafford. »Und wie steht's mit Miß Burke?« »Die andere ist nicht wieder aufgetreten, falls Sie das meinen. Wir hoffen, daß sie ebenfalls ausgeflogen ist.« »Inzwischen wissen wir übrigens auch, warum Coven sich mit Terroristen eingelassen hat«, berichtete der Inspektor. »Er scheint trotz seiner raschen Beförderungen unzufrieden gewesen zu sein, weil seine Verdienste als Entdecker von Plutoniumdiebstählen nicht öffentlich gewürdigt worden sind. Außerdem ist offenbar nur der erste Mann in Oak Ridge wirklich schuldig gewesen. Coven hat schon damals begonnen, spaltbares Material für seine eigenen Zwecke beiseite zu schaffen und den Verdacht auf andere zu lenken.« »Was kann er damit beabsichtigt haben? Oder ist er etwa auch ein kompromißloser Terrorist?« »Ich habe mich mit George Stanfield, der beim Angeln in Kanada war, in Verbindung gesetzt und erfahren, daß einer der gerissensten Reporter der ›Star-News‹, ein gewisser Jensen, sich mit Coven befaßt hat. Wie ich Ihnen erzählt habe, sind wir bei unseren Ermittlungen durch Covens gute Beziehungen zu hochgestellten Persönlichkeiten behindert worden, aber Jensen hat einen Freund, der in der AEC mit Senator Magnes zusammenarbeitet. Die beiden wollen aufdecken, was zwischen Coven, Magnes und Mrs. Coven, die allerdings nur die Geliebte des Senators gewesen zu sein scheint, gespielt worden ist. Ich vermute, daß Coven von diesen Nachforschungen erfahren und vor Wut beschlossen hat, das gesamte Establishment in die Luft zu jagen.« »Glauben Sie, daß er das noch immer vorhat?« »Das ist natürlich möglich, aber er dürfte sich seine geringen Chancen ausrechnen können, weil wir ihm auf den Fersen sind. Wir haben eine Großfahndung nach ihm eingeleitet, und sobald er auftaucht, wird er geschnappt. Ich habe übrigens auch Dr. McCarthy 256
angerufen und ihn gebeten, das Wochenende bei Rita Coven zu verbringen. Er soll mich anrufen, falls Coven dort aufkreuzt.« »Ansonsten warten Sie nur?« »Was denn sonst?« »Könnten Sie nicht eine Warnung hinausgehen lassen?« »Sollen wir ganz Amerika in Panik versetzen, ohne zu wissen, ob die Warnung überhaupt berechtigt ist? Unser Chef würde den Rest seiner Tage vor Kongreßausschüssen verbringen, um diese Panne zu erklären – oder zumindest bis zu dem Tag, an dem er vom Präsidenten entlassen würde.« »Wahrscheinlich haben Sie recht«, stimmte Mike zu. »Miß Burke und ich bleiben jedenfalls hier in meiner Wohnung, bis alles vorüber ist.« »In Ihrem Haus am Potomac wären Sie auf alle Fälle sicherer.« »Das wäre unserer Meinung nach ein feiger Ausweg.« »Ich hab mir gedacht, daß Sie die Sache so sehen würden, aber ich wollte Ihnen diese Chance geben. Unsere Kommandostelle hier in meinem Büro ist jetzt Tag und Nacht besetzt. Ich halte Sie auf dem laufenden, und Sie können mich jederzeit erreichen.« »Das gefällt mir nicht, Mike«, sagte Janet, als er aufgelegt hatte. »Wenn ich daran denke, wieviele Menschen morgen früh ahnungslos nach Washington kommen werden, ohne zu wissen, welche Gefahr ihnen droht…« »Mir geht's ähnlich, aber Polizei und FBI sind die Hände gebunden, solange Roger nicht versucht, die Bombe irgendwo zu installieren, so daß sie ihn schnappen können.« »Was wollen wir tun, falls Lynne wiederauftauchen sollte?« »Für diesen Fall habe ich mir bereits einen Katastrophenplan zurechtgelegt.« Janet starrte aus dem Fenster. »Draußen im Motel ist die Warterei nicht so schlimm gewesen«, meinte sie. »Seitdem ich jedoch die Stadt um uns herum sehe und weiß, was passieren könnte, wünsche ich mir fast, ich hätte dich nicht dazu überredet, hierher zurückzukommen.« 257
»Dann hätte wahrscheinlich ich dich dazu überredet. Wir spielen jetzt den letzten Akt des Dramas, das damit begonnen hat, daß ich dein Flugzeug vor der Landung auf dem Dulles International Airport beobachtet habe. Und wir müssen auf der Bühne bleiben, bis der Vorhang fällt.« Inspektor Stafford war noch auf seinem Posten im FBI-Gebäude, als Mike ihn anrief, um zu fragen, ob es etwas Neues gäbe. Aber der FBI-Mann konnte nur berichten, Randall McCarthy habe angerufen und gemeldet, Rita Coven scheine nicht zu wissen, wo Roger sich aufhalte und was er vorhabe. Auf Staffords Rat hin wollte der Psychiater jedoch bis Dienstagnachmittag am Potomac bleiben. McCarthy hatte jedoch zumindest einen Teilerfolg erzielt. Er war in Rogers Arbeitszimmer gewesen, während Rita einkaufte, und hatte mit dem Geigerzähler, den Stafford ihm mitgegeben hatte, deutliche Radioaktivität gemessen. Diese Tatsache bestätigte den Verdacht, Coven habe dort mit Plutonium gearbeitet, um eine kleine Atombombe zu bauen. Kurz nach fünf Uhr klingelte Mikes Telefon. Unerwarteterweise war Dr. Elmo Sebastian vom University Hospital am Apparat. »Gott sei Dank, daß ich Sie aufgetrieben habe, Mike!« sprudelte er erleichtert hervor. »Wie schnell können Sie herkommen? Auf der Annapolis Road hat's eine Massenkarambolage gegeben, bei der eine junge Frau schwere Gesichtsverletzungen erlitten hat – die Tochter eines Senators.« »Ich habe keinen Notdienst, Elmo. Außerdem…« »Sie dürfen mich nicht im Stich lassen, Mike. Ich rufe von der Notaufnahme aus an, weil ich mir das Handgelenk gebrochen habe. Vor einer Stunde erst bin ich auf meinem eigenen Tennisplatz gestürzt und habe den schönsten Handwurzelbruch, den Sie sich vorstellen können.« »Ich bin aber…« »Hier liegt ein echter Notfall vor, Mike! Oder wollen Sie, daß die 258
Tochter eines einflußreichen Senators von einem Assistenzarzt operiert wird?« »Augenblick, Elmo.« Mike hielt die Sprechmuschel mit einer Hand zu und wandte sich an Janet. »Dr. Sebastian, mein Chef – die Tochter eines Senators ist nach einem Verkehrsunfall mit schweren Gesichtsverletzungen eingeliefert worden, und er hat sich vorhin beim Tennisspielen das Handgelenk gebrochen.« »Du sollst also kommen?« »Ja. Ich bin der einzige Facharzt, der momentan verfügbar ist…« »Dann mußt du sofort hin!« entschied Janet. »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich komme allein zurecht.« »Ganz bestimmt?« »Natürlich. Wenn du mich hier einsperrst, kann ich nicht fort – und sie auch nicht.« »Okay, ich komme, Elmo«, erklärte er Sebastian. »In einer Viertelstunde bin ich da.« »Danke, Mike – ich werde dafür sorgen, daß Ihre Einsatzbereitschaft auch finanziell honoriert wird. Da Sie Janet Burke so erfolgreich operiert haben, dürfte der Senator vermutlich glauben, Sie könnten seiner Tochter besser helfen als ich – womit er übrigens recht hätte.« »Ich bin in ein paar Stunden wieder zurück«, versprach Mike Janet. »Was hältst du davon, wenn ich uns eine große Pizza und eine Flasche Chianti mitbringe?« »Wunderbar!« sagte Janet, als sie ihn zum Abschied küßte. »Aber vergiß nicht, hinter dir abzusperren!« Die Gesichtsverletzungen der bereits auf dem Operationstisch liegenden jungen Frau waren nicht so schwer wie die Janets von damals, trotzdem hatte Mike drei Stunden lang damit zu tun, Nasenbein und Kiefer einzurichten, Schnittverletzungen zu säubern und Platzwunden mit später praktisch unsichtbaren Nähten zu schließen. Nach der Operation zog Mike sich hastig um, fuhr durch men259
schenleere Straßen zu der Pizzeria und wartete ungeduldig, bis die bestellte Pizza verpackt war. Zehn Minuten später stand er mit dem Karton und einer Flasche Chianti im Aufzug, der ihn aus der Tiefgarage nach oben brachte. Vor seiner Tür angekommen, setzte er den Karton ab, holte freudig den Schlüssel aus der Tasche und sperrte auf. Zu seinem Entsetzen mußte er feststellen, daß die Wohnung leer war. Janet – oder vielmehr Lynne – war verschwunden.
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ike brauchte nicht lange, um den Brief zu finden, der auf dem Couchtisch im Wohnzimmer lag:
»Liebster Mike, glaub mir, ich hab Dir das nicht gern angetan. Wenn ich wirklich ein Mensch werden und jemanden lieben könnte, wärst du es – aber Du weißt ja, wie wir Helfershelfer des Teufels sind. Außerdem hasse ich das Feuer, und Washington wird morgen vormittag in Flammen stehen. Wenn Du Deine Janet wirklich liebst und ihren Körper – und Deinen! – retten möchtest, mußt Du heute abend in Dein Wochenendhaus kommen. Aber bilde Dir ja nicht ein, mich oder die anderen dazu überreden zu können, unseren Plan aufzugeben! Du darfst nur kommen, wenn Du Dich selbst und Janet retten willst. Ich verspreche Dir, daß ich ihren Körper möglichst bald gegen einen vertausche, der etwas weniger auffällig ist. Das sind meine Bedingungen; solltest Du mit ihnen einverstanden sein, sehen wir uns heute abend. Andernfalls gehst Du mit Washington unter, und ich müßte diese Vergeudung Deiner 260
wunderbaren Talente beweinen, wenn ich zu menschlichen Gefühlsregungen imstande wäre. Deine (wenn ich will!) L. PS. Ich habe als Lynne Tallman schon mit fünf Jahren gelernt, Schlösser zu knacken. Deine Wohnungstür habe ich in einer knappen Minute aufgekriegt.« Draußen war es bereits fast dunkel, und Mike verlor keine Zeit mit langen Vorbereitungen für den Katastrophenplan, den er sich zurechtgelegt hatte für den Fall, daß Lynne erneut die Oberhand gewinnen sollte. Seine einzige Vorbereitung bestand darin, daß er unterwegs bei einer Apotheke haltmachte, die Feiertagsdienst hatte. Er überlegte, ob er Inspektor Stafford anrufen sollte, ließ diesen Gedanken jedoch wieder fallen. Das FBI würde vielleicht versuchen, Lynne festzunehmen. Nach Mikes Überzeugung konnte das nur zu Janets Verhaftung führen – und er wollte ihr die dann unvermeidlichen endlosen Verhöre ersparen. Lynne erschien an der Tür des Wochenendhauses, als Mike seinen Wagen parkte und den Motor abstellte. Sie trug nur knappe Shorts und das Bikinioberteil, denn die Nacht war ungewöhnlich warm und schwül. »Liebling!« rief sie, ohne erst zu versuchen, Janets Stimme zu imitieren. »Ich habe so gehofft, daß du aufgeben würdest, gegen mich anzukämpfen!« »Wie hätte ich nach deiner Einladung in Washington bleiben können?« Er küßte sie lange und leidenschaftlich. »Ich bin nicht so dumm, mich freiwillig mit in die Luft sprengen zu lassen.« »Es knallt bestimmt ganz schön«, meinte sie zufrieden. »Der Atompilz müßte von hier aus zu sehen sein, aber Roger hat mir erklärt, hier draußen seien wir in Sicherheit. Die Wirkung reicht nur fünfzehn Meilen weit. Ich wollte mir eben einen Drink einschenken«, fuhr Lynne fort, als sie das Wohnzimmer betraten. »Aber da du der 261
Hausherr bist, kannst du die Drinks servieren.« »Heute abend gibt's doch hoffentlich nicht wieder Holunderwein?« »Nein, keine Sorge!« versicherte sie lachend. »Ich will dich nicht wieder mit einer Spritze wecken müssen – obwohl du danach ganz schön in Fahrt gewesen bist.« »Freut mich, daß es dir gefallen hat«, sagte Mike von der Küchentür aus. »Was hältst du von Bourbon?« »Bourbon ist mein Lieblingsgetränk. Du kannst mir gleich einen Doppelten einschenken.« »Okay, wird gemacht. Und du kannst inzwischen den Fernseher einschalten, damit wir sehen, ob sie Roger schon gefaßt haben.« »Das dürfte ihnen nie und nimmer gelingen. Roger kennt die Tunnels unter der Union Station wie seine Hosentasche.« In der Küche brach Mike rasch den Hals einer Ampulle des starken Beruhigungsmittels Chlorpromazin ab, die er in der Apotheke gekauft hatte, und kippte den Inhalt in Lynnes Glas. In so hoher Dosis wirkte das Mittel betäubend – und hatte noch dazu den Vorteil, fast geschmacklos zu sein. »Wie bist du darauf gekommen, Armand Descaux durch Roger zu ersetzen?« erkundigte Mike sich, als er aus der Küche zurückkam und Lynne das Glas mit dem Chlorpromazin gab. »Das ist ein glücklicher Zufall gewesen«, gab sie zu und trank einen großen Schluck. »Armand hat mich verpfiffen und dann versucht, mich zu ermorden, deshalb habe ich ihn beseitigen lassen müssen.« Lynne sah lachend zu Mike auf. »Geschickt eingefädelt, nicht wahr?« »Allerdings!« bestätigte er, um sie bei guter Laune zu halten. »Eigentlich hätte ich gedacht, daß Roger Coven viel schwerer zu kontrollieren wäre.« »Ich habe nicht versucht, ihn zu kontrollieren. Als ich Roger vorgeschlagen habe, Washington und die amerikanische Regierung mit einem Streich zu vernichten, hatte er gerade erfahren, daß eine Untersuchung gegen ihn läuft – auf Veranlassung von Ritas Liebhaber.« »Senator Magnes?« 262
»Richtig! Nachdem Roger von Magnes Bereitschaft, ihn zu opfern, um seinen eigenen Kopf zu retten, erfahren hat, ist er zu jeglichem Racheakt bereit gewesen.« »Und du hast seinen Zorn für deine Zwecke ausgenützt?« »Selbstverständlich! Warum begreifen Leute wie Janet und du eigentlich so schwer, daß wir Diener Luzifers vor nichts zurückschrecken, um seine Macht über die Menschheit zu demonstrieren?« Mike ging nicht auf ihre Frage ein. »Wie hat dein Dämon ursprünglich Lynne Tallman in seine Gewalt bekommen?« wollte er wissen. »Das ist ganz leicht gewesen – wie bei allen vorigen Körpern auch. Eure Geistlichen schwatzen immer von Unsterblichkeit, aber sie vergessen dabei, daß wir aus der Unterwelt die wahren Unsterblichen sind.« »Und du kannst nicht vernichtet werden?« Lynne warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Spielst du etwa mit diesem Gedanken?« Er schüttelte den Kopf. »Dabei würde ich nur Janet vernichten.« »Und den Körper, den du so liebst.« Sie war wieder guter Laune, trank aus und gab Mike ihr Glas. »Noch einen Doppelten, Schätzchen – auch für dich. Du kannst mich nicht betrunken machen, aber wir haben vielleicht mehr Spaß miteinander, wenn du ein bißchen enthemmt bist.« Diesmal schenkte Mike sich nur einen kleinen Bourbon ein. Er zögerte kurz, bevor er eine weitere Ampulle Chlorpromazin in Lynnes Glas kippte und gut verrührte. »He, warum brauchst du so lange?« rief die leicht heisere Stimme aus dem Wohnzimmer. »Dabei spüre ich den ersten Drink noch fast gar nicht.« »Aber den hier bestimmt!« versprach Mike beim Zurückkommen. »Ich gehe jede Wette ein, daß du dich danach kaum noch auf den Beinen halten kannst.« »Unsinn, ich könnte dich jederzeit unter den Tisch trinken«, behauptete sie lachend. »Aber vielleicht will ich mich gar nicht auf den Beinen halten, Schätzchen.« 263
»Hoffentlich nicht«, stimmte Mike zu. Er hob sein Glas. »Auf eine schöne Nacht.« »Weißt du, was ich mir vorgenommen habe?« fragte Lynne, nachdem sie ihr Glas mit einem Zug halb geleert hatte. »Wenn ich wie versprochen in einen anderen Körper weitergewandert bin, rufe ich dich irgendwann an und sage dir, wo ich bin. Du bist ein zu guter Liebhaber, als daß ich auf dich verzichten möchte, Mike. Deshalb habe ich den Brief geschrieben, weil ich damit gerechnet habe, daß du prompt herkommen würdest.« »Mir ist klar gewesen, daß ich nichts zu verlieren hatte«, antwortete Mike so nonchalant wie möglich. »Wäre ich in Washington geblieben, würde ich bei der Explosion verglühen – und hätte noch dazu dich und Janet aufgegeben.« Die Kaminuhr schlug, und Lynne sah auf die goldene Armbanduhr, die Mike Janet Anfang August zum Geburtstag geschenkt hatte. »Jetzt müßte Roger gerade dabei sein, den Zeitzünder einzustellen…« »Ich verstehe noch immer nicht, wie du ihn dazu gebracht hast, bei dieser Sache mitzumachen.« »Er hätte bestimmt gekniffen, wenn Senator Magnes nicht versucht hätte, ihn wegen Rita endgültig kaltzustellen.« »Gehört sie nicht zu euch?« »Rita?« Lynne lachte verächtlich. »Sie hat nicht einmal genug Grips, um eines unbedeutenden Dämons wert zu sein. Die Gute taugt nur an der Schreibmaschine oder im Bett etwas.« Mike hatte immerhin schon etwas Wichtiges erfahren: Roger Coven war keineswegs geflüchtet – und der Bombenanschlag auf Washington lief offenbar planmäßig ab. Das Dumme war nur, daß Mike Stafford nicht warnen konnte, solange das Chlorpromazin in Lynnes Drink nicht endlich zu wirken begann. Lynne stellte ihr leeres Glas ab. »Du bist dir wohl darüber im klaren, daß Inspektor Stafford deine geliebte Janet verhaften wird, wenn ich weitergezogen bin?« »Kannst du sie nicht davor bewahren?« fragte er scheinbar besorgt zurück. »Du könntest einen Brief hinterlassen, in dem du deine Be264
teiligung an dem Bombenanschlag schilderst und betonst, daß Janet nichts damit zu tun hatte. Außerdem wüßte die Menschheit dann, wie mächtig du bist.« Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als könne sie dadurch wieder klar denken. »Auf diese Weise hättest du auch sie…« »Wie du's versprochen hast«, warf Mike ein, was mit einem hämischen Lachen quittiert wurde. »Das Versprechen eines Dämons? Was soll das wert sein?« »Du kannst die Sache auch anders sehen«, gab er zu bedenken. »Was wäre aus dir geworden, wenn ich Janet nicht das Leben gerettet hätte?« »Kein Problem«, meinte Lynne schulterzuckend. »Ich hätte mir einen anderen Körper gesucht. Die ganze Halle ist voller Leute gewesen.« »Aber ich habe eine Göttin aus dir gemacht! Und wenn ich Janet – und dich – nicht hierher gebracht hätte, wärst du bestimmt nicht mit Roger zusammengekommen. Dann hättest du der Menschheit nie beweisen können, wie mächtig dein Herr und Meister Luzifer ist.« »Ja, ja, schon gut!« wehrte Lynne ab. »Vielleicht laß ich morgen mit mir reden, wenn du heute nacht gut bist.« Sie stand auf und zeigte auf ihr Glas. »Du kannst mir noch mal einschenken, während ich auf dem Klo bin, aber trink lieber nichts mehr. Du siehst betrunken aus.« Sie schwankte leicht. »Irgend was is' nich'n Ordnung – das is' mir noch nie passiert.« »Du hast zu schnell getrunken. Am besten legst du dich ein bißchen hin.« »Ja, das is' 'ne gu'e Idee.« Ihre Stimme war kaum noch verständlich, als Lynne sich auf Mike stürzte. Aber im nächsten Augenblick richtete sie sich auf, stand ohne zu schwanken da und starrte ihn haßerfüllt an. »Dreckskerl!« kreischte sie. »Du hast mir irgendwas mit dem Whisky eingeflößt, stimmt's?« Mike nickte. »Die Wirkung klingt in ein paar Stunden ab. Bis da265
hin wirst du mir verraten, wo Roger die Bombe versteckt hat.« »Ich denke gar nicht daran!« Lynnes Knie gaben plötzlich nach, so daß sie zusammengebrochen wäre, wenn Mike sie nicht aufgefangen hätte. Trotzdem besaß sie noch Kraft genug, um ihm mit der flachen Hand einen Schlag zu versetzen, der Mike benommen gegen die Wand taumeln ließ. Aber das war ihr letztes Aufbegehren: Als Mike sich aufrappelte, fiel Lynne gegen ihn und hätte ihn beinahe zu Boden gerissen. Mike trug die Bewußtlose zur Couch, die er in die Mitte des Wohnzimmers zog. Lynne schlief jetzt fest und schnarchte dabei laut. Er konnte nur hoffen, daß ihre Angst vor Feuer, die nach Pater Julians Darstellung ein Charakteristikum aller Dämonen war, sie dazu bringen würde, ihm das Bombenversteck zu verraten, bevor sie beide in den Flammen umkamen. Er lief zum Bootsschuppen hinaus und kam mit einem vollen Benzinkanister zurück. Als Vorsichtsmaßnahme öffnete Mike alle Fenster, damit es keine Explosion gab, wenn er das Benzin anzündete. Und um für alle Fälle gewappnet zu sein, holte er noch den großen Feuerlöscher aus der Küche und stellte ihn neben die Couch, auf der Lynne Tallman in Janets Körper schlief. Nachdem diese Vorbereitungen getroffen waren, goß Mike aus dem Kanister Benzin auf den Teppich, bis der Kreis um die Couch geschlossen war. Dann schickte er ein Stoßgebet gen Himmel, bevor er ein Streichholz anzündete und fallen ließ. Der benzingetränkte Teppich stand sofort in Flammen. Obwohl Mike von Pater Julian wußte, wie mächtig Dämonen sein konnten, war er nicht ganz auf Lynnes Reaktion vorbereitet. Als sie die Hitze an ihrem Körper spürte, schlug sie die Augen auf, schrie gellend und stellte sich auf die Couch, als könne sie den nach ihr greifenden Flammenzungen dadurch entkommen. Mike griff nach dem Feuerlöscher und hielt ihn hoch, daß ihre angstvoll aufgerissenen Augen ihn sehen mußten. »Wo ist die Bombe, Lynne?« fragte er. »Sag's mir, dann lösche ich das Feuer.« 266
»Die findet ihr nie!« kreischte sie dämonisch lachend, um im nächsten Augenblick entsetzt aufzuschreien, als eine bläuliche Flamme nach ihr leckte. Er sah, daß sie sich zum Sprung duckte, und begriff, daß sie versuchen wollte, den Feuerkreis zu überspringen. Deshalb ließ er den Feuerlöscher fallen und umklammerte statt dessen Lynnes Unterkörper. Als sie daraufhin gemeinsam zu Boden gingen und in die Nähe der Flammen rollten, spürte Mike, daß seine Hosenbeine in Brand gerieten. Gleichzeitig kämpfte Lynne mit solcher Kraft gegen seine Umklammerung an, daß er sich fragte, wie lange er sie noch werde halten können. »Wo ist die Bombe?« fragte er keuchend. »Sag's mir, dann lösche ich das Feuer.« »In einem Werk…« Der Rest des Wortes, das ihm vielleicht das Bombenversteck verraten hätte, ging in einem Schreckensschrei unter, der von außerhalb des Hauses kam. Im nächsten Augenblick sah Mike einen Mann hereinstürmen: Randall McCarthy, der einen Vorhang herunterriß und damit offenbar das Feuer ausschlagen wollte. »Nein, Randall! Nein!« rief Mike erschrocken – aber seine Warnung kam zu spät. Als der Psychiater an einer Stelle, wo das Feuer schwächer brannte, auf die Flammen einschlug, entstand sekundenlang eine größere Lücke. Lynne hatte sich auf Händen und Knien aufgerichtet, während Mike durch Randalls Anblick abgelenkt worden war. Jetzt stürzte sie sich auf die Lücke in dem Flammenring, aber Mike reagierte instinktiv auf ihre Muskelanspannung und umklammerte sie noch fester. Sie gingen beide erneut zu Boden, wobei Lynnes ausgestreckte linke Hand den bereits in Flammen aufgehenden Vorhang berührte. Eine Sekunde lang bäumte sie sich mit dämonischer Kraft auf, während Mike sie weiterhin verzweifelt umklammerte. Dann hörte er einen gellenden Schrei wie damals, als das Flugzeug in die Glaswand des Empfangsgebäudes gerast war. Im gleichen Augenblick blies ein kalter Luftzug beinahe die Flammen aus, die jetzt den Vorhang ver267
zehrten, mit dem Randall McCarthy eine Bresche in den feurigen Belagerungsring geschlagen hatte. Eine unsichtbare Kraft stieß McCarthy beiseite, so daß er rückwärts gegen die offenstehende Tür taumelte. Gleichzeitig nahm Mike wieder den Verwesungsgeruch wahr, den er aus Pater Julians Studierzimmer kannte – diesmal jedoch so stark, daß er gegen Brechreiz ankämpfen mußte. Er war sich sofort darüber im klaren, was geschehen sein mußte, denn als der Schrei verklungen war, hatte Janet plötzlich wie leblos in seinen Armen gelegen. Aus Angst vor dem drohenden Feuertod hatte Lynne Janets Körper verlassen, um hoffentlich nie wieder zurückzukehren.
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ie Flammen breiteten sich bereits aus und erfaßten die übrigen Räume des Wochenendhauses. Sie züngelten schon nach Mikes Beinen, als er dem Feuerlöscher einen Tritt gab, der diesen zu Randall McCarthy hinüberrollen ließ. »Sieh zu, daß du uns einen Weg bahnst«, forderte er den Psychiater auf, während er sich bückte und Janet aufhob. »Am besten gehen wir durch die Küche raus.« McCarthy nickte zustimmend. Er hob den Feuerlöscher auf, zog den Sicherungsbolzen heraus, drückte den Handgriff zusammen und richtete den kurzen Schlauch auf den brennenden Teppich vor Mike. Das Kohlendioxidgas erstickte die Flammen lange genug, daß die beiden Männer mit Janet die Küche erreichen und durch den Hinterausgang ins Freie flüchten konnten. Mit dem letzten Rest löschte McCarthy Mikes angesengte Hosenbeine. »Wieso bist du zufällig vorbeigekommen?« wollte Mike wissen, als 268
sie Janet vom Haus wegtrugen. »Ich bin mit Rita zum Abendessen ausgegangen«, antwortete McCarthy. »Auf der Rückfahrt haben wir hier Licht gesehen und wollten kurz vorbeischauen.« Während sie über den Rasen stolperten, erklang hinter ihnen eine dumpfe Explosion, nach der die Flammen schlagartig lauter prasselten. »Der Kanister…!« Mike schwieg verblüfft, als er einen Autoanlasser surren und einen Motor anspringen hörte. Im nächsten Augenblick fuhr ein Wagen mit laut quietschenden Reifen an. »Was soll das, verdammt noch mal?« »Rita muß es mit der Angst zu tun bekommen haben«, meinte Randall. »Sie ist draußen im Wagen sitzengeblieben. Als sie jetzt den Brand gesehen hat, hat sie anscheinend durchgedreht und ist weggefahren.« »Ganz so einfach ist die Sache nicht«, widersprach Mike. »Ich vermute, daß deine Freundin inzwischen von Lynne Tallmans Dämon besessen ist.« »Großer Gott!« rief McCarthy aus. »Was hast du angestellt? Hast du dich etwa als Exorzist versucht?« »Nein, ich versuchte Lynne zu zwingen, mir zu verraten, wo Roger Coven die Atombombe versteckt hat, die er in den letzten vier bis fünf Wochen gebaut hat. Lynne und ihr Teufelskult aus Chicago wollen ihm helfen, Washington in die Luft zu sprengen.« Während Randall McCarthy verständnislos den Kopf schüttelte, konnten sie beobachten, wie der Wagen mit Rita Coven auf den Indian Head Highway abbog. Im nächsten Augenblick verschwanden die Schlußleuchten hinter einer Kurve. »Komm, wir tragen Janet ein Stück weiter und sehen nach, ob ihr etwas fehlt«, schlug der Psychiater vor. »Aber danach will ich die ganze Story hören!« »Ich habe Lynne mit Chlorpromazin in Bourbon betäuben müssen, bevor ich den Brand legen konnte, und Janet ist natürlich auch bewußtlos. Dämonen fürchten sich nur vor Feuer, deshalb habe ich 269
versucht, Lynne auf diese Weise zur Preisgabe des Bombenverstecks zu veranlassen.« »Das verstehe ich noch immer nicht ganz«, meinte McCarthy kopfschüttelnd. Sie betteten Janet etwa hundert Meter von dem brennenden Haus entfernt ins Gras, während hinter ihnen die Flammen aus dem Dach schlugen. Eine kurze Untersuchung zeigte Mike, daß Janet lediglich von der starken Dosis Chlorpromazin betäubt war. »Rita und Lynne sind anscheinend ausgerissen«, meinte Randall McCarthy. »Wir haben's jetzt mit Lynne-Rita zu tun«, verbesserte Mike ihn. »Als du den Flammenring einen Augenblick unterbrochen hast, hat Lynnes Dämon die Gelegenheit genützt, Janets Körper zu verlassen und sich Ritas Körper zu bemächtigen.« »Und was wird jetzt aus Rita?« »Das hängt einzig und allein von Lynne ab. Deine frühere Geliebte ist jetzt von dem schlimmsten Weibsteufel besessen, den die Welt je gesehen hat.« »Kannst du mir das nicht in etwas kleineren Dosen beibringen?« ächzte McCarthy. »Es ist schlimm genug, wenn man erfährt, daß man durch seine Hilfeleistung alles nur verschlechtert hat, aber wenn man noch dazu eine Frau wie Rita verliert…« Mike berichtete rasch, was seit seiner Rückkehr nach Washington geschehen war. »Das heißt also, daß du das Bombenversteck jetzt ebensowenig wie früher kennst?« faßte McCarthy zusammen, als Mike fertig war. »Ich habe nur rausgekriegt, daß Roger vermutlich im Augenblick dabei ist, die Bombe irgendwo in dem Labyrinth unter der Union Station zu verstecken.« »Glaubst du, daß Lynne dir das Versteck verraten hätte, wenn ich nicht dazwischengeplatzt wäre?« »Ich weiß gar nicht, ob ihr das eigentliche Versteck bekannt war«, sagte Mike. »Aber ich kann jetzt immerhin Stafford anrufen, damit er die Tunnels nochmals durchsuchen läßt. Um sich selbst in Si270
cherheit zu bringen, muß Coven mindestens fünfzehn Meilen vom Explosionsherd entfernt sein. Dadurch hat die Polizei eine Chance, ihn zu schnappen.« »Sollte also Stafford die Bombe nicht finden, wird ganz Washington in Trümmer gelegt«, stellte McCarthy nüchtern fest. »Na, immerhin hat jemand inzwischen den Brand bemerkt«, fügte er hinzu, als aus Richtung Indian Head die erste Sirene heranheulte. »Sobald Polizei und Feuerwehr da sind, müssen wir nach Washington zurück«, sagte Mike. »Die Stadt hat nur noch eine Chance, wenn Roger Coven gefaßt und zur Preisgabe des Bombenverstecks gezwungen wird.« »Du könntest ihn auf die Feuerprobe stellen«, schlug McCarthy vor. »Aber wenn er nicht redseliger als dein Lynne-Dämon ist, nützt das nicht sonderlich viel.« »Lynne ist ein Dämon und hat sich deshalb in einen anderen Körper flüchten können«, erklärte Mike ihm. »Roger Coven dürfte ein gewöhnlicher Mensch geblieben sein. Sollte er also geschnappt und nach Washington zurückgebracht werden, kann ihm die Gewißheit, ein Opfer seiner eigenen Bombe zu werden, nur unheimlich sein. Vielleicht wird er noch weich, bevor sie morgen früh um zehn hochgeht.« »Die Aussichten sind nicht gerade überzeugend«, wandte McCarthy ein. »Das Ganze gefällt mir nicht, Mike.« »Bildest du dir etwa ein, ich hätte Spaß daran?« Ein Streifenwagen kam mit Blaulicht und Sirene herangerast; dahinter tauchte ein Löschfahrzeug auf. Sheriff Knott sprang aus dem Wagen und lief auf Mike und Randall zu, während die Feuerwehrleute näher an das brennende Haus heranfuhren und eine Schlauchleitung zum Fluß auszulegen begannen. »Pech, Dr. Kerns«, meinte der Sheriff bedauernd. »Sieht so aus, als wäre nicht mehr viel zu retten.« »Ja, ich weiß, Sheriff«, antwortete Mike. »Aber ich wollte mir sowieso ein Hausboot kaufen und einen Liegeplatz pachten, der nicht so weit von der Stadt entfernt ist.« 271
»Wissen Sie, wodurch der Brand ausgebrochen ist?« »Ich wollte die Fußböden dieses Wochenende mit Benzin reinigen«, log Mike. »Leider habe ich den Kanister im Haus gelassen, und er scheint nicht ganz dicht gewesen zu sein. Jedenfalls haben die Benzindämpfe sich explosionsartig entzündet und das ganze Haus in Brand gesetzt. Wenn Dr. McCarthy nicht zufällig vorbeigekommen wäre, wären Miß Burke und ich wahrscheinlich in den Flammen umgekommen. Er hat uns mit dem Feuerlöscher einen Weg ins Freie gebahnt.« »Und was ist mit ihr?« fragte Knott mit einem Blick auf die bewußtlose Janet. »Sie hat etwas zuviel Bourbon getrunken, fürchte ich«, antwortete Mike rasch. »Wahrscheinlich wird sie sich später an nichts mehr erinnern können.« »Sie werden vermutlich Schwierigkeiten bekommen, Dr. Kerns«, meinte der Sheriff. »Die Sache mit dem Benzinkanister im Haus dürfte Ihnen als grobe Fahrlässigkeit angelastet werden.« »Ja, ich weiß«, stimmte Mike schuldbewußt zu. »Ich melde den Schaden wahrscheinlich gar nicht erst. Zum Glück ist allein der Boden heute zehnmal mehr wert, als mein Vater damals für Haus und Grundstück gezahlt hat.« »Sind Sie mit Ihrem Auto hier, Dr. McCarthy?« fragte Sheriff Knott. »Ja. Mrs. Coven ist mitgekommen, aber sie hat schreckliche Angst vor Feuer. Deshalb ist sie weggefahren, während ich Dr. Kerns und Miß Burke geholfen habe.« »Aha, dann muß sie uns entgegengekommen sein«, stellte der Sheriff fest. »Sie ist gerast, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.« Kein schlechter Vergleich! dachte Mike, ohne sich jedoch dazu zu äußern. »Sie hat wie gesagt panische Angst vor Feuer«, wiederholte McCarthy. »Ich nehme an, daß sie nach Hause zurückkommt, sobald sie sich etwas beruhigt hat.« »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich dann anrufen würden«, sagte Knott. »Das FBI hat eine Großfahndung nach ihrem Mann 272
ausgelöst, und ich wüßte gern, ob sie eine Ahnung hat, wo er stecken könnte.« »Ich bin übers Wochenende hiergewesen, aber weder Rita noch ich haben seit Freitagabend etwas von Roger gehört.« »Weswegen wird denn nach ihm gefahndet?« erkundigte Mike sich. »Das weiß ich nicht«, gab Knott zu. »Aber das FBI hat alle Hebel in Bewegung gesetzt.« Der Motor des Löschfahrzeugs arbeitete jetzt lauter, weil er die Pumpe anzutreiben hatte, die Wasser aus dem Fluß ansaugte. »Kommt die Feuerwehr nun allein zurecht, Sheriff?« fragte Mike. »Ich möchte Miß Burke nach Hause bringen und mir vorher meine Brandwunden an den Beinen verbinden lassen.« »Okay, fahren Sie nur«, stimmte Sheriff Knott zu. »Ihre Aussage können Sie irgendwann in den nächsten Tagen machen. Brauchen Sie noch Hilfe?« »Nein, vielen Dank. Dr. McCarthy kann meinen Wagen steuern, während ich mich um Miß Burke kümmere. Wir kommen schon zurecht.«
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laubst du, daß Stafford und seine Leute Roger schnappen?« fragte McCarthy, als sie aus der zum Potomac hinunterführenden Sackgasse auf die Hauptstraße hinausfuhren. »Ich fürchte, daß er ihnen durch die Lappen geht«, erwiderte Mike. »Polizei und FBI fahnden seit Mittwoch, als er mit Lynne in dem Tunnel unter der Union Station gewesen ist, erfolglos nach ihm. Er kennt wahrscheinlich das gesamte Tunnelsystem und kann sich mühelos darin versteckt halten.« »Als Psychiater habe ich in diesem Fall eine ziemlich klägliche Rol273
le gespielt«, gestand McCarthy ein. »Aber ich habe einfach nicht an Dämonen und Besessenheit durch böse Geister glauben können.« »Glaubst du jetzt daran?« »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig.« McCarthy warf einen Blick in den Rückspiegel, als Janet leise stöhnte. »Fehlt ihr wirklich nichts?« »Das Chlorpromazin wirkt noch immer. Ihr Puls ist kräftig, und sie atmet so regelmäßig wie…« Mike sprach nicht weiter, denn Janets Atem kam plötzlich nicht mehr regelmäßig. Sie schlief auch nicht mehr, sondern richtete sich auf dem Rücksitz hoch und wehrte sich mit ungeahnter Kraft, die Mike an Lynnes Fluchtversuch erinnerte, als er sie zurückzudrücken versuchte. »Die Flammen!« kreischte sie mit einer Stimme, die ihn ebenfalls an Lynne erinnerte. »Ich kann nicht raus! Ich kann nicht raus!« Während McCarthy bremste und am Straßenrand stoppte, mußte Mike seine gesamte Kraft aufwenden, um Janet zurückzuhalten, die sich offenbar einen Weg ins Freie bahnen wollte. Ihre Augen waren offen, und als McCarthy ausstieg, um ihm zu helfen und dabei die Innenbeleuchtung einschaltete, sah Mike in Janets Augen das gleiche Entsetzen, das er zuvor bei Lynne beobachtet hatte. Dann wehrte Janet sich plötzlich nicht mehr, sondern sackte erneut bewußtlos zusammen. »Was war das, verdammt noch mal?« fragte McCarthy betroffen beim Anfahren. »Ich weiß es nicht bestimmt, aber ich kann's mir denken«, antwortete Mike. »Wie spät haben wir jetzt?« »Kurz nach halb elf. Warum?« »Das erkläre ich dir später. Hältst du bitte an der nächsten Telefonzelle? Ich muß Stafford anrufen.« »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich das Radio einschalte?« fragte McCarthy. »Ich mache mir Sorgen um Rita, falls sie tatsächlich von diesem Dämon besessen ist.« »Mich interessiert selbst, was aus ihr geworden ist. Hat sie beim 274
Abendessen viel getrunken?« »Nicht so viel, daß sie nicht mehr fahren könnte – und sie ist eine verdammt gute Autofahrerin.« McCarthy bremste. »Dort vorn steht übrigens die nächste Telefonzelle.« Mike wählte die Nummer von Staffords Büro. Der Inspektor meldete sich sofort. »Wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt, Doktor?« erkundigte er sich irritiert. »Miß Burke ist verschwunden!« »Sie ist hier bei mir.« Mike schilderte ihm in gedrängter Form, was passiert war, seitdem er Lynnes Brief vorgefunden hatte. »Eine verdammt riskante Sache«, meinte Stafford, als Mike erzählte, wie er das Haus angezündet hatte. »Warum haben Sie geglaubt, sie dadurch zum Reden bringen zu können?« »Von Pater Julian O'Meara weiß ich, daß Dämonen sich nur vor Feuer fürchten – weil es sie vernichten kann, wenn sie keinen Ausweg finden. Ich habe gehofft, Lynne so zu ängstigen, daß sie mir das Bombenversteck verraten würde. Aber der Dämon ist entkommen, bevor ich ihn festnageln konnte.« »Bevor Sie beide in den Flammen umgekommen sind, meinen Sie«, korrigierte Stafford. »Sie haben also überhaupt nichts erfahren?« »Ich bezweifle, daß sie das Versteck gekannt hat. Schließlich hat sie Coven zum letztenmal gesehen, als Miß Burke im Tunnel festgenommen worden ist. Gibt es schon Anhaltspunkte, wo er sein könnte?« »Wir wissen, wo er gewesen ist!« antwortete Stafford aufgebracht. »Praktisch vor unserer Nase.« »Er hat also Gelegenheit gehabt, die Bombe zu verstecken?« »Davon bin ich ebenso überzeugt, wie ich glaube, daß Coven uns wieder reingelegt hat, obwohl ich den Bahnhof und die Tunnel jetzt zum zweitenmal durchsuchen lasse.« »Sheriff Knott hat mir erzählt, daß Sie eine Großfahndung ausgelöst haben. Warum erst so spät?« »Die Fahndung ist angelaufen, sobald wir wußten, wo Coven sich 275
in den letzten Tagen aufgehalten hat – und als klar war, daß meine Leute sich auf die Suche nach der Bombe konzentrieren mußten. Halten Sies für möglich, daß Miß Burke sich an irgend etwas erinnern kann, das uns weiterhilft?« »Im Augenblick ist sie noch nicht ansprechbar. Das dürfte sich jedoch ändern, sobald wir im University Hospital sind und ich ihr Methylphenidathydrochlorid injizieren kann, damit sie wieder aufwacht. Aber sie kann sich vermutlich an nichts erinnern, zumal der Dämon, von dem sie besessen gewesen ist, sich inzwischen einen anderen Körper gesucht hat.« »Okay, ich schlage vor, daß Sie vom Krankenhaus aus zu mir kommen und Miß Burke und Dr. McCarthy mitbringen«, sagte der Inspektor. »Vielleicht fällt uns gemeinsam etwas Brauchbares ein, wenn wir die Köpfe zusammenstecken.« »Wir sind in einer knappen Stunde bei Ihnen«, versprach Mike. »Wo hat Roger Coven sich übrigens versteckt gehalten?« »In einem Appartement, daß Senator Magnes sich in Alexandria als Liebesnest eingerichtet hat. Wir haben den Tip von einer Nachbarin bekommen, der aufgefallen ist, daß Coven, den sie von früher her kannte, sich diesmal mit einer Perücke zu tarnen versucht hat. Leider sind wir eine halbe Stunde zu spät gekommen.« »Er hat also Zeit gefunden, mit seiner Bombe in dem Tunnellabyrinth unter der Union Station zu verschwinden?« »Wo sonst? Nachdem Miß Burke neulich dort verhaftet worden ist, habe ich mir einen Plan der gesamten Anlage besorgt. Sie ist so riesig und verwirrend, daß wir noch vierundzwanzig Stunden nach der verdammten Bombe suchen können!« Inspektor Stafford legte auf. Mike hängte ebenfalls ein und ging nachdenklich zu seinem Wagen zurück. McCarthy hatte das Autoradio angestellt und hörte Rockmusik. »Ist das nicht typisch für Washington?« meinte er. »In weniger als zwölf Stunden kann die ganze Stadt vom Erdboden verschwinden. Aber im Rundfunk wird weiter Rock 'n' Roll gespielt. Verrückt, was?« »Durchaus nicht«, widersprach Mike und stieg ein. »Hast du ver276
gessen, daß die Öffentlichkeit noch gar nichts von der Bombendrohung weiß? Warum soll das Radio also Trauermärsche bringen?« Er sah sich nach Janet um. »Hat sie sich zwischendurch bewegt?« »Nein, überhaupt nicht. Wenn du jemanden betäubst, leistest du anscheinend gleich ganze Arbeit, Freund.« McCarthy wollte eben anfahren, als die Musik abbrach und ein Nachrichtensprecher sagte: »Wir unterbrechen unser Programm mit einer Meldung über den letzten spektakulären Unfall, der sich dieses Wochenende in Washington und Umgebung ereignet hat. Ausflügler, die auf der State Road zwo-zwo-fünf aus Süden zurückkamen, berichteten, bei La Plata im Charles County sei ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig von der Straße abgekommen, in eine Schlucht gestürzt und in Flammen aufgegangen. Unfallzeugen und Polizei haben sich vergeblich bemüht, die Fahrerin des brennenden Wagens zu retten. Inzwischen ist die Feuerwehr aus La Plata am Unfallort und löscht den Brand. Man hofft, die Tote danach identifizieren zu können.« Randall McCarthy war kreidebleich geworden. »Arme Rita!« Er schüttelte den Kopf. »Ein grausames Ende…« »Aber nur so hat Lynne Tallmans Dämon vernichtet werden können«, stellte Mike fest. »Um welche Zeit ist das passiert?« »Ungefähr gegen halb elf, als Janet versucht hat, ins Freie zu gelangen. Ich vermute, daß sie trotz ihrer Bewußtlosigkeit von Lynnes letztem verzweifeltem Kampf beeinflußt worden ist, obwohl ich mir nicht zutraue, eine Erklärung für diesen Vorgang zu finden.« »Können wir jetzt weiterfahren, damit ich endlich einen Verband kriege?« schlug Mike vor. »Mein Bein tut allmählich verdammt weh. Außerdem erwartet Stafford uns zu einer Besprechung, sobald wir im University Hospital gewesen sind.« McCarthy nickte und startete wortlos. »Hat man schon was von Roger gehört?« erkundigte er sich einige Minuten später. »Er hat sich übers Wochenende in einem Appartement versteckt, das Senator Magnes in Alexandria gemietet hat, aber eine Nachbarin hat ihn beobachtet.« 277
»Ja, das Appartement kenne ich«, bestätigte McCarthy. »Dort wohnen oft die verrücktesten Leute, und die Nachbarin beobachtet sie von ihrer Wohnung aus mit dem Fernglas. Wenn er ihr nicht aufgefallen wäre, hätte er ungestört einen Monat dort wohnen können. Steht übrigens fest, daß er die Bombe bereits versteckt hat?« »Stafford ist so davon überzeugt, daß er die Tunnels von allen verfügbaren Polizeibeamten und FBI-Leuten durchsuchen läßt.« »Mit den wenigen Leuten, die er an einem Feiertag zur Verfügung hat, kann das lange dauern«, meinte McCarthy skeptisch. »Roger kennt den Süden von Maryland übrigens wie seine Hosentasche und dürfte auf Nebenstraßen das Weite suchen.« »Wohin kann er wollen?« »Mit einem falschen Paß, einer Perücke und einem Anklebebart könnte er sich in drei bis vier Tagen nach Miami durchschlagen und von dort aus nach Südamerika fliegen«, antwortete der Psychiater. »Ein Mann, der Washington in die Luft gejagt hat, um seine Macht zu demonstrieren, und mit heiler Haut davongekommen ist, könnte von jeder Großstadt der Welt Millionen erpressen.« »Du hältst Coven also nicht für einen fanatischen Terroristen?« »Jedenfalls für keinen Wirrkopf, der nur Unruhe stiften will«, antwortete McCarthy spontan. »Ich vermute, daß er beschlossen hat, Lynne und ihre Gruppe für seine Zwecke auszunützen, um an Washington ein Exempel statuieren zu können, nachdem er gemerkt hat, daß man ihn wegen seiner Plutoniumdiebstähle verdächtigt – und daß Magnes ihn opfern würde, um sich selbst zu retten.« »Gut, nehmen wir einmal an, Coven gelänge die Flucht: Woher würde er dann das Plutonium für weitere Eigenbaubomben nehmen?« »Roger hat durch seine Arbeit Einblick in den Export von Kernbrennstoffen und die in anderen Staaten üblichen Wiederaufbereitungsverfahren bekommen«, antwortete McCarthy. »Ich vermute, daß es ihm nicht schwerfallen würde, an genügend Plutonium für eine weitere kleine Bombe heranzukommen. Und ein Wissenschaftler mit seinen Fachkenntnissen könnte damit rechnen, in Libyen oder ähnlich orientierten Staaten mit offenen Armen aufgenommen zu 278
werden – vor allem dann, wenn er zuvor Washington in die Luft gejagt hat.« »Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß die Russen sich logischerweise zu einem Atomschlag entschließen könnten, wenn sie erfahren, daß die gesamte amerikanische Regierung tot ist, so daß niemand mehr auf den roten Knopf drücken kann.« »Richtig, daran habe ich noch gar nicht gedacht«, antwortete McCarthy. Er hielt am Eingang zur Notaufnahme des University Hospitals. »Wenn man sich das überlegt, möchte man am liebsten möglichst weit wegfahren, nicht wahr?« Mike warf ihm einen forschenden Blick zu. »Am besten kommst du mit rein, während ich mir das Bein verbinden lasse und Janet eine Spritze gebe, damit sie aufwacht. Stafford will, daß ich dich mitbringe.« »Warum gerade mich?« fragte der Psychiater, als er aus dem Wagen stieg, um Mike zu helfen, Janet hineinzutragen. »Du kennst Coven besser als jeder andere. Außerdem bist du ein Experte für extrasensorische Perzeption und kannst Stafford helfen, wenn er Roger eine telepathische Botschaft übermitteln lassen will. Vielleicht sollst du ihm die Verhandlungsbereitschaft des FBI signalisieren.« »In welcher Beziehung?« »An Staffords Stelle würde ich Coven ein Tauschgeschäft vorschlagen: einen Koffer voll Geld und einen Freiflug in ein Land seiner Wahl gegen seine Eigenbombe.« »Du würdest einen Handel mit einem menschlichen Agenten Luzifers abschließen? Wie könntest du ihm trauen?« »Richtig, niemand hätte ihm trauen dürfen, solange Lynne noch existiert hat. Aber von ihr geht jetzt keine Gefahr mehr aus, weil sie durch Ritas Unfall unschädlich gemacht worden ist – hoffentlich!« Janet wachte allmählich auf, als McCarthy wieder anfuhr, nachdem 279
Mikes Brandverletzung verbunden worden war und er ihr ein starkes Anregungsmittel injiziert hatte, um die Wirkung des Chlorpromazins aufzuheben. »Was ist passiert?« lautete verständlicherweise ihre erste Frage. »Und warum habe ich nur Shorts und ein Bikinioberteil an?« »Erzähl mir zuerst, woran du dich noch erinnerst«, forderte Mike sie auf, während McCarthy durch menschenleere Straßen zu ihrer Wohnung fuhr. »Du bist angerufen worden und solltest ins University Hospital kommen, um die Tochter eines Senators zu operieren«, antwortete Janet prompt. »Da hast du mich eingesperrt, damit Lynne nicht flüchten konnte, während…« Sie runzelte die Stirn. »Aber sie ist trotzdem fort!« »Für immer, Liebling«, versicherte ihr Mike. »Ich spüre sie nicht mehr in mir – aber woher weiß ich, daß sie nicht zurückkommt?« »Damit brauchst du nicht mehr zu rechnen.« Mike erklärte in raschen Worten das Geschehene, seitdem er aus dem Krankenhaus zurückgekommen war und Janets Wohnung leer vorgefunden hatte. »Arme Lynne«, sagte Janet, als er fertig war. »Obwohl sie ein böser Geist gewesen ist, muß sie als Persönlichkeit interessanter gewesen sein, als ich je sein könnte.« »Ja, provokant und sogar erregend«, gab Mike zu. »Aber den gleichen Effekt kann man auch mit Drogen erzielen – nur würde ich das nie wollen.« »Es ist oft merkwürdig gewesen, gleichzeitig ich und Lynne zu sein«, sagte Janet nachdenklich. »Ich kann mich nicht an alles erinnern – manchmal habe ich jedoch den Eindruck gehabt, Lynne hätte lieber mit mir getauscht, um dich für sich haben zu können.« »Das hat sie mir gegenüber auch zugegeben«, bestätigte Mike nüchtern. »Aber die Macht, die sie als Dämon besessen hat, hätte dir und der Welt trotzdem gefährlich werden können. Deshalb ist es bestimmt besser, daß sie unschädlich gemacht worden ist.« 280
Sie runzelte die Stirn. »Glaubst du, daß sie dir das Bombenversteck verraten hätte, wenn sie meinen Körper weiterhin als Lynne beherrscht hätte?« »Das werden wir wahrscheinlich nie erfahren – sowenig wie wir erfahren werden, warum du aufgeschrien und aus dem Auto zu entkommen versucht hast, als Lynne offenbar in dem brennenden Wagen umgekommen ist…« »Mir erscheint das Ganze wie ein Traum, aber ich habe das Auto gesehen, wie du's mir aufgrund der Rundfunkmeldung beschrieben hast.« Janet fuhr zusammen. »Es ist in Flammen eingehüllt gewesen, und jemand hat versucht, ins Freie zu gelangen.« »Die Sache wird immer unwahrscheinlicher«, sagte Mike schulterzuckend. »Diesmal nicht«, widersprach Randall McCarthy. »Janet hat lediglich ihre hellseherischen Fähigkeiten bewiesen, indem sie diesen Unfall wahrgenommen hat.« »Ja, das kann die Erklärung dafür sein!« rief Janet aus. »Obwohl ich von dem Chlorpromazin betäubt gewesen bin, hat mein Unterbewußtsein die von Lynne ausgesandten ELF-Wellen aufgenommen und…« »Was sind ELF-Wellen, verdammt noch mal?« wollte Mike wissen. »Das ist die Abkürzung für ›Extremely-low-frequency‹-Wellen im Bereich zwischen dreihundert und tausend Kilometer«, erläuterte McCarthy. »Manche Forscher glauben, daß sie Informationen übermitteln können. Andere gehen von einem abweichenden Übermittlungsprinzip aus – aber wer die Experimente in Kalifornien und anderswo kennt, wird bestätigen müssen, daß fast jeder Mensch imstande ist, ohne große Anstrengung Informationen aufzunehmen. Das Stafford Research Institute hat überdies festgestellt, daß dabei irgendwelche elektromagnetischen Wellen im Spiel sind: Versuchspersonen haben weit entfernt stattfindende Ereignisse in dem Augenblick schildern können, in dem sie passiert sind.« »Klingt ziemlich verrückt, finde ich«, murmelte Mike. »Nicht so verrückt wie spätere Experimente, bei denen der jeweilige 281
Empfänger einen Ort beschreiben sollte, an dem sich ein Beobachterteam aufhielt, das diesen Ort erst eine halbe Stunde nach dem Verlassen des Laboratoriums ausgewählt hatte. In einigen dieser Fälle haben Wissenschaftler mit besonderen Fähigkeiten…« »Wie zum Beispiel du?« »Richtig«, bestätigte McCarthy gelassen, »ich bin auf diesem Gebiet besonders talentiert.« »Bitte weiter!« »In einigen dieser Fälle haben die Versuchspersonen die jeweiligen Orte vor dem Eintreffen des Beobachtungsteams gezeichnet – manchmal sogar detaillierter als die Kontrollpersonen an Ort und Stelle. Na, was hältst du davon?« »Lauter unmögliche Dinge! Aber vielleicht lasse ich mich doch noch überzeugen.« »Falls du morgen noch immer zweifelst – und falls wir dann nicht schon zu radioaktiver Asche verglüht sind –, schicke ich dir einen Nachdruck über die Arbeit im Stanford Research Institute aus den ›Berichten des Instituts für Elektro- und Elektronikingenieure‹.« Kurz nach Mitternacht parkte Mike seinen Porsche vor der majestätischen FBI-Zentrale. Sie wurden erwartet, und ein FBI-Beamter führte sie sofort in Inspektor Staffords Büro, in dem hektische Betriebsamkeit herrschte. Stafford übernahm es, Janet – die sich zu Hause umgezogen und Notizblock und Kugelschreiber mitgebracht hatte –, Mike und McCarthy den übrigen Mitgliedern des Krisenstabs vorzustellen. Die anderen waren der Justizminister, Andrew Carter, der FBI-Chef, und ein Mr. Horner von der AEC, der die Bombe entschärfen sollte, falls sie rechtzeitig gefunden wurde. »Gibt es schon eine Spur von Roger Coven?« erkundigte Mike sich bei Stafford. Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Wir haben die Polizei in Virginia und Maryland alarmiert, aber er hat leider einen Vorsprung. Ich vermute, daß Coven schon längst aus dem eigentlichen Gefahrenbereich heraus ist.« 282
»Wie groß setzen Sie den an?« »Wir gehen von fünfzehn Meilen Radius aus«, sagte der AEC-Experte. »Bei starkem Wind wäre der verseuchte Bereich erheblich größer, aber nach Auskunft des Wetterdienstes soll es morgen schwach windig sein.« »An diesem Fall ist mir vieles rätselhaft, wenn ich ganz ehrlich sein soll, Doktor«, warf der stämmige FBI-Chef ein. »Miß Burke erinnert sich angeblich an nichts, was ihr Alter ego – falls das die exakte Bezeichnung ist – gesagt oder getan hat?« »Richtig«, bestätigte Mike. »In manchen Ländern gibt's Methoden, mit denen man Leuten mit schlechtem Gedächtnis nachhelfen kann«, knurrte der AECMann. »Und ich würde nicht davor zurückschrecken, sie hier anzuwenden.« »Auch damit kämen Sie nicht weiter«, stellte Mike nachdrücklich fest. »Ich habe Miß Burke hypnotisiert und ihr außerdem Natriumpentothal – was Sie als ›Wahrheitsserum‹ bezeichnen – injiziert, um festzustellen, ob sie sich an Aktivitäten ihrer anderen Persönlichkeit erinnern kann«, fügte McCarthy hinzu. »Leider ohne jeden Erfolg.« »Sollen wir einfach hier sitzen und Däumchen drehen, bis die ganze Stadt in nicht einmal zehn Stunden dem Erdboden gleichgemacht wird?« fragte Carter mit einem Blick auf die Uhr über der Tür von Staffords Büro. »Vielleicht gibt's doch eine Möglichkeit, Roger Coven bis dahin zu fassen und herzubringen«, sagte Janet zur allgemeinen Verblüffung. »Soll das etwa heißen, daß Sie sich doch an irgendwas erinnern können?« fragte der FBI-Chef scharf. »Nein, aber Professor McCarthy kennt Roger Coven gut und besitzt erstaunliche Psi-Kräfte, die er schon oft unter Beweis gestellt hat.« Carter schüttelte irritiert den Kopf. »Hören Sie, wir drehen hier keinen Science-fiction-Film über das Okkulte, junge Frau«, wehrte er ab. 283
»Aber Sie wollen diesen Mann fassen, nicht wahr, Mr. Carter?« warf Mike ein. »Natürlich, das schon…« »Dann hören Sie sich lieber an, was sie zu sagen hat!« »Er hat recht, Andy«, stimmte der Justizminister zu. »Zuhören schadet nichts.« »Was wolltest du sagen, Janet?« fragte Mike ruhig. »Ich schlage vor, daß Dr. McCarthy uns als erstes über Roger Coven informiert. Schließlich kennt er ihn besser als jeder von uns.« »Richtig!« bestätigte Stafford. »Sie haben im Rahmen einer Versuchsreihe an der Duke University mit Coven zusammengearbeitet, nicht wahr, Professor?« »Ein knappes Jahr lang«, antwortete McCarthy. »Wir haben versucht, die Wellenbereiche zu analysieren, mit denen Informationen über Psi-Kanäle weitergeleitet werden.« »Jetzt höre ich das Wort ›Psi‹ schon zum zweitenmal«, unterbrach der FBI-Chef. »Was verstehen Sie darunter, Doktor?« »Telepathie, die rein geistige Übermittlung von Nachrichten und Botschaften – Hellseherei, das Wissen über verborgene Dinge oder zukünftige Ereignisse – Psychokinese, die Bewegung von Gegenständen durch reine Willenskraft, ohne sie dabei zu berühren – psychische Heilung, die nicht definiert zu werden braucht… Alle diese Dinge werden von Parapsychologen als Psi-Ereignisse eingestuft«, erklärte McCarthy. »Menschen mit diesen Fähigkeiten gelten als psychisch begabt, aber die wissenschaftlich genauere Definition lautet, daß sie Psi-Kräfte besitzen.« »In der guten alten Zeit hat man solche Eigenschaften Besessenen zugeschrieben«, meinte Carter sarkastisch. »Wollen Sie uns etwa weismachen, der Teufel beherrsche auch dieses Gebiet, wie er Miß Burke unter dem Daumen hat?« »Der Dämon, von dem Miß Burke in den letzten Monaten besessen gewesen ist, ist ausgetrieben und durch Feuer vernichtet worden«, sagte Mike scharf, aber Carter zuckte nur mit den Schultern. »Vielleicht sind Sie in einem früheren Leben ein Spitzel der In284
quisition gewesen, Dr. Kerns«, meinte er, bevor er sich wieder an McCarthy wandte. »Bitte erzählen Sie Ihr Märchen weiter, Professor.« McCarthy war sichtlich verärgert. »Ich habe in wissenschaftlichen Journalen die Ergebnisse zahlreicher Experimente veröffentlicht, die mich als begabtes Medium ausweisen«, fuhr er mühsam beherrscht fort, »aber Psi-Kräfte sind keineswegs auf einige wenige Menschen beschränkt. Wir Parapsychologen glauben, daß jeder sie in unterschiedlichem Ausmaß besitzt, und manche Physiker sind der Überzeugung, daß die mit Psi-Kräften verknüpften Phänomene sich eines Tages auf die Grundlagen der Quantenmechanik zurückführen lassen.« »Jetzt reicht's aber!« Carter sprang auf und wollte nach nebenan gehen. »Eine ganze Stadt ist in Gefahr, und wir vergeuden unsere Zeit mit akademischen Spinnern und ihren hirnverbrannten Theorien!« »Ich glaube, daß Miß Burke an etwas denkt, über das wir drei auf der Herfahrt gesprochen haben«, wandte Mike sich an den Justizminister als den ranghöchsten Anwesenden. »Das könnte bedeuten, daß der Mann, den Mr. Carter eben als akademischen Spinner bezeichnet hat, der einzige ist, der die Zerstörung Washingtons verhindern kann.« »Wir sind alle nervös und reizbar, Doktor«, antwortete der Minister. »Vor allem Mr. Carter und seine Leute, denen man es anlasten wird, falls es wirklich zu dieser Tragödie kommen sollte. Mich interessiert jedenfalls, was Miß Burke und Dr. McCarthy vorschlagen wollen, und ich möchte mich bei ihnen für diese Unfreundlichkeit entschuldigen.« »Schon gut, Sir.« McCarthy wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl es in Staffords vollklimatisiertem Büro eigentlich eher kühl war. »Ich habe sowenig Lust wie jeder andere, morgen in einer Atomexplosion zu verglühen.« »Wie wärst du an Roger Covens Stelle entkommen, nachdem du die Bombe versteckt hättest?« fragte Janet ihn. 285
»Das ist ganz einfach«, antwortete der Psychiater. »Weil ich nicht wüßte, ob ich beim Verlassen des Appartements erkannt worden bin oder nicht, würde ich sicherheitshalber annehmen, ich sei erkannt und die Polizei sei verständigt worden. Aber ich würde außerdem aus Erfahrung wissen, daß der Washingtoner Dienstweg ziemlich lang ist…« »Viel zu lang«, bestätigte Inspektor Stafford. »Wir haben erst eine Stunde später erfahren, daß eine Nachbarin wegen eines verdächtig aussehenden Mannes die Polizei angerufen hat. Und davor hat sie zwanzig Minuten herumtelefonieren müssen, bis sie jemand gefunden hat, der ihr überhaupt zuhören wollte!« »Ich würde also damit rechnen, daß das FBI eine Großfahndung nach mir einleitet«, fuhr McCarthy fort. »Das würde mich jedoch nicht weiter stören, weil ich mein Aussehen mit Bräunungscreme, Perücke und falschem Bart verändern könnte. Meinen Wagen müßte ich natürlich stehenlassen, aber ich hätte mir bereits vor einigen Tagen einen Leihwagen gemietet und irgendwo in der Stadt abgestellt.« »Okay, das klingt alles ziemlich vernünftig«, bestätigte Carter widerstrebend. Er kam von der Tür an seinen Platz zurück. »Bloß, wie geht's nun weiter?« »An Rogers Stelle würde ich eine Richtung einschlagen, in der Polizei und FBI mich nicht vermuten«, sagte Randall McCarthy. »Er könnte beispielsweise den Baltimore-Washington Beltway benützen und nach Süden in die Prince George und Charles Counties gelangen. Roger kennt dieses Gebiet wie seine Hosentasche und könnte auf Nebenstraßen nach Süden weiterfahren, ohne in Polizeikontrollen zu geraten.« »Und mit welchem Fahrtziel?« erkundigte Mike sich. »Vielleicht Tennessee und dort die Umgebung von Oak Ridge, die ihm ebenfalls wohlvertraut ist. An einem der vielen Seen könnte er sich ein Blockhaus mieten und wäre damit vorerst in Sicherheit, bis er sich einen falschen Paß besorgt hätte. Ich vermute allerdings eher, daß er längst einen in der Tasche hat.« McCarthy machte eine Pau286
se. »Damit könnte er sich auf irgendeinem Flughafen – beispielsweise Miami, Tampa oder New Orleans – eine Flugkarte ins Ausland kaufen.« »Ja natürlich«, meinte Carter resigniert. »Halten Sie Coven für einen echten Terroristen, Doktor?« wollte der Justizminister wissen. »Während seiner Studienzeit hat er als Radikaler gegolten, weil er Positionen, die an sich ganz vernünftig waren, mit radikalen Mitteln vertreten hat«, antwortete McCarthy. »Ob er in den letzten Jahren wieder Verbindung zu Lynne Tallman aufgenommen hat, kann ich nicht beurteilen, aber ich weiß von einer früheren Affäre zwischen den beiden, bevor er nach Oak Ridge gegangen ist. Und falls er wirklich kleinere Plutoniummengen an sich gebracht hat…« »Das ist leider der Fall«, bestätigte Stafford. »Wir hätten schon zugreifen können, aber wir wollten abwarten, wem er das Plutonium anbieten würde.« »Haben seine politischen Freunde davon erfahren?« »Ja.« »Dann hat Coven bereits gewußt, daß er den Löwen zum Fraß vorgeworfen werden sollte, und muß deshalb beschlossen haben, auf eigene Faust vorzugehen.« »Als Terrorist?« »Als Geschäftsmann – als berufsmäßiger Erpresser, wenn Sie so wollen«, sagte McCarthy. »Wodurch könnte er seine Fähigkeiten besser beweisen als durch die Bedrohung Washingtons – oder dessen Vernichtung, wenn sein ursprünglicher Plan fehlschlägt?« »Das wird ihm vermutlich gelingen«, stellte Carter resigniert fest. »Wir wissen nicht, wie er verkleidet aussieht, was für einen Wagen er fährt und wohin er unterwegs ist.« »Das kann Dr. McCarthy Ihnen vielleicht sagen«, warf Janet überraschend ein. »Heraus mit der Sprache!« polterte Carter. »Produzieren können Sie sich bei anderer Gelegenheit.« »Ich wollte nur darauf hinweisen«, sagte Janet rasch, »daß Dr. 287
McCarthy bei Experimenten am Stanford Research Institute die Fähigkeit demonstriert hat, Orte zu sehen, noch bevor sie von den Kontrollpersonen erreicht wurden.« »Ich weiß nicht, ob Roger Coven sich auf diese Weise finden läßt«, meinte McCarthy zweifelnd. »Bewegliche Objekte sind normalerweise sehr schwer auszumachen.« »Er muß aber irgendwann halten«, stellte Mike fest. »Warum versuchst du nicht, den nächsten Halt zu sehen? Vielleicht können wir ihn identifizieren.« »Dann wüßten wir endlich, wo wir nach ihm fahnden müssen!« Staffords Interesse nahm spürbar zu. »Was tun wir also jetzt?« wollte Carter wissen. »Fassen wir uns im Kreis sitzend bei den Händen, während wir darauf warten, daß ein Geist zu uns spricht?« »Halten Sie die Klappe, Andy«, rügte der Justizminister. »Sie sind ein verdammt guter Polizeibeamter, aber von dieser Sache verstehen Sie nichts. Lassen Sie Dr. McCarthy und Miß Burke erzählen, was sie vorhaben.« »Dr. McCarthy kann in der feindseligen Atmosphäre, die Mr. Carter verbreitet, auf keinen Fall arbeiten«, sagte Janet zu Inspektor Stafford. »Können wir das Büro nebenan benützen?« »Selbstverständlich. Was benötigen Sie für Ihr Experiment?« »Ein Tonbandgerät, Papier und Bleistift – und vor allem Ruhe«, antwortete sie entschlossen. »Okay Randall?« McCarthy zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen können wir einen Versuch machen. Schließlich haben wir nichts zu verlieren.« »Nebenan finden Sie alles, was Sie brauchen«, beschied Stafford. »Viel Erfolg!« Janet und Mike gingen mit Randall McCarthy in das andere Büro hinüber. Der Psychiater setzte sich an den Schreibtisch, und Janet nahm davor Platz, während Mike am Fenster blieb. McCarthy nahm das Mikrophon des Kassettenrecorders in die linke Hand; in der rechten Hand hielt er einen Bleistift, um auf das vor ihm liegende Blatt Papier zeichnen zu können. 288
»Wahrscheinlich dauert es eine Zeitlang, bis ich die ELF-Wellen empfangen kann«, warnte er die anderen. »Nach der feindseligen Atmosphäre dort draußen ist es schwer, sich zu konzentrieren.« »Carter versucht nur, ein zweiter J. Edgar Hoover zu sein«, stellte Mike fest. »An deiner Stelle würde ich ihn gar nicht ernst nehmen.« Janet legte warnend ihren Zeigefinger an die Lippen. Mike verstand, was sie meinte, und beschränkte sich darauf, schweigend McCarthy zu beobachten. Der Psychiater konzentrierte sich einige Minuten lang, bevor er halblaut sagte: »Ich sehe etwas, aber die Störungen sind ziemlich stark.« »Ruhig, ganz ruhig«, mahnte Janet. »Das ist bei den Stanforter Experimenten anfangs immer so gewesen. Was siehst du bisher?« »Eine Straße und ein Stück Himmel, vor dem eine Art Fachwerk aufragt.« »Ein Gebäude?« fragte sie. »Nein. Es führt gleichmäßig ansteigend in die Höhe.« Randalls Stimme klang plötzlich aufgeregt: »Ich sehe eine Straße zwischen Eisenträgern in die Höhe führen.« Er zeichnete mit der rechten Hand, während er in das Mikrophon sprach. »Ich sehe eine Brücke – eine hohe Brücke.« »Kannst du sagen, wo sie steht?« warf Mike ein, aber McCarthy schüttelte den Kopf. »Das Bild wird wieder schwächer«, klagte er. »Vielleicht kannst du dich auf das Ende der Brücke konzentrieren«, schlug Janet vor. »Wie sieht es dort aus?« »Ich erkenne etwas in der Straßenmitte – eine Art Häuschen, zwei Anbauten auf beiden Seiten.« McCarthy zeichnete erneut. »Im Vordergrund der Brücke befindet sich ein großes Schild mit einer Zahl, von der ich nur die Ziffern Null und Eins lesen kann.« »Aus wie vielen Ziffern besteht die Zahl insgesamt?« fragte Janet gespannt. »Es sind drei Ziffern, aber ich kann nur zwei erkennen«, antwortete McCarthy. »Es müssen drei sein, weil…« »Die Mautbrücke südlich von Indian Head, auf der die US drei289
null-eins über den Potomac führt!« rief Mike aus. »Das ist die einzige Route, auf der Coven den Süden Marylands verlassen kann, wenn er nicht mindestens hundertzwanzig Meilen Umweg machen will. Die einzige andere Möglichkeit wäre eine Autofähre, aber die verkehren um diese Zeit nicht mehr. Du hast's geschafft, Randall! Meinen Glückwunsch!« Dann verflog seine Hochstimmung plötzlich wieder. »Kannst du sagen, ob er die Brücke schon überquert hat oder nicht?« McCarthy zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, daß Roger sich dort in der Nähe aufhält – das ist im Moment alles. Ich schlage vor, daß wir jetzt die anderen informieren.« Inspektor Stafford erkannte die von Randall McCarthy gezeichnete Brücke auf den ersten Blick. »Das ist die Governor Nice Memorial Bridge knapp westlich von Aliens Fresh«, meinte er verblüfft. »Einfach unglaublich, Doktor!« »Wollen Sie auch seine Beschreibung hören?« fragte Janet. Sie legte die Kassette in Staffords Gerät ein, aber der FBI-Mann winkte ab. »Am besten schnappen wir uns Coven, wenn er in Virginia von der Brücke runterkommt«, entschied er. »Dort können wir zwei Streifenwagen stationieren, die ihn abfangen.« »Wär's nicht besser, gleich eine Straßensperre zu errichten?« fragte Mike. »Die bauen wir ungefähr an der Stelle auf, wo das zum Marinestützpunkt führende Gleis die Straße überquert«, antwortete der Inspektor. Er griff nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer der Zentrale. »Verbinden Sie mich mit Colonel Thorndyke, dem Chef der Virginia Highway Patrol in Richmond. Wahrscheinlich müssen Sie ihn zu Hause anrufen.« Es dauerte einige Minuten, bis Thorndyke am Apparat war. »Jim, hier ist Frank Stafford in Washington«, meldete der Inspektor sich. »Es handelt sich um die Großfahndung, die wir gestern abend ausgelöst haben. Wir sind davon überzeugt, daß unser Mann auf der 290
Drei-null-eins nach Süden unterwegs ist und den Potomac auf der Mautbrücke überqueren will. Schicken Sie zwei Streifenwagen los, die ihn schnappen, wenn er die Brücke verläßt, und lassen Sie sicherheitshalber eine Straßensperre errichten.« Colonel Thorndyke schien schnell zu schalten, denn Stafford nickte zufrieden. »Okay, dann fordern wir von der Marine einen Hubschrauber aus Quantico an, der den Festgenommenen herbringt«, fuhr der FBI-Mann fort. »Ich sorge dafür, daß der Pilot über Fredericksburg anfliegt, damit Coven nicht vorzeitig gewarnt wird. Andererseits brauchen wir ihn so schnell wie möglich hier in Washington.« Er machte eine Pause, um zuzuhören. »Ja, vielen Dank – und viel Erfolg, Jim!« Stafford legte auf und wandte sich an den Justizminister. »Können Sie anordnen, daß die Marine einen Hubschrauber aus Quantico schickt, Sir? Der Pilot kann auf der Uferpromenade landen, und wir veranlassen, daß der Festgenommene dorthin gebracht wird.« »Augenblick!« protestierte Carter. »Wollen wir wirklich riskieren, daß die Marine uns für Idioten hält, nur weil jemand irgendeine Brükke aus dem Gedächtnis gezeichnet hat?« Er wandte sich an McCarthy, der sichtlich erschöpft in einem Sessel hockte. »Sind Sie schon einmal über diese Brücke gefahren, Professor?« »Natürlich.« Carter schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Da haben wir's! Ich…« »Das ist der einzig logische Fluchtweg für Coven«, unterbrach ihn der Justizminister, der an die große Wandkarte in Staffords Büro getreten war. »Auf der Eins-neun-fünf wäre er vermutlich bald geschnappt worden. Aber so ist er eine Zeitlang kreuz und quer durch Südmaryland gefahren und wahrscheinlich erst in der Nähe der Brükke auf die US drei-null-eins gekommen. Dadurch hätte er uns völlig in die Irre führen können.« »Na, ich bin ja gespannt!« murmelte der FBI-Chef skeptisch.
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Zwanzig Minuten später klingelte das Telefon auf Staffords Schreibtisch. Der Inspektor griff hastig danach, hörte kurz zu und legte triumphierend lächelnd auf. »Roger Coven ist von der Virginia State Police festgenommen worden, als er versucht hat, die Straßensperre jenseits der Brücke zu durchbrechen«, verkündete er. »Der Hubschrauber ist eben mit ihm gestartet.« Carter stemmte sich hoch, ging zu Randall McCarthy hinüber und streckte ihm seine Pranke hin. »Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, Professor«, gab er zu. »Als Sheriff in Michigan hab ich's oft mit sogenannten Gedankenlesern zu tun gehabt, wissen Sie. Die meisten von ihnen sind Taschendiebe und Betrüger gewesen, und aus dieser Zeit hab ich ein paar Vorurteile zurückbehalten. Aber ich sehe ein, daß an Ihrer Hellseherei anscheinend doch was dran ist.« Er grinste breit. »Wenn Sie uns vor Banküberfällen warnen könnten, bevor sie tatsächlich verübt werden, würden Sie uns einen Haufen Arbeit sparen.« »So weit ist die Parapsychologie noch nicht«, wehrte McCarthy ab. »Aber ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, wenn Sie mich brauchen.« »Kommen wir lieber zur nächsten Frage«, schlug der Justizminister vor. »Was tun wir mit Coven?« »Wir bringen ihn dazu, die Bombe zu entschärfen, bevor wir alle hochgehen«, sagte Carter. »Was denn sonst?« »Aber wenn er ein überzeugter Terrorist ist…« »Das ist er nicht!« erklärte McCarthy. »Roger ist ein genialer Wissenschaftler und zugleich ein großer Opportunist. Im Augenblick ist er wütend, weil Sie ihm sein geplantes einträgliches Geschäft verdorben haben. Aber ich vermute, daß er mit sich handeln lassen wird, um…« »Unsinn, hier wird nicht gehandelt!« widersprach der FBI-Chef. »Wir haben ihn geschnappt und…« Er zuckte mit den Schultern und sprach nicht weiter. »Was wollten Sie noch sagen, Dr. McCarthy?« fragte der Justiz292
minister. »Ich bin davon überzeugt, daß Roger mit sich handeln läßt«, antwortete der Psychiater. »Und ich schlage vor, daß Sie auf seine Bedingungen eingehen.« »Glauben Sie nicht, daß er in letzter Minute weich wird und uns das Bombenversteck doch noch verrät?« »Möglich – aber wollen Sie das wirklich riskieren?« Die anderen schwiegen nachdenklich, bis Janet das Wort ergriff. »Roger Coven will uns unter Druck setzen«, stellte sie fest. »Warum setzen wir nicht ihn unter Druck, indem wir ihn zur Union Station bringen lassen und dort mit ihm verhandeln? Er weiß dann genau, daß er die Bombe unter sich hat.« »Richtig!« stimmte Carter zu. »Für ihn dürfte das fast so unangenehm wie der elektrische Stuhl sein.«
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er Mond schien über einer in tiefem Frieden liegenden Stadt, als Mike, Janet und Randall durch leere Straßen zur Union Station fuhren, deren riesiger Marmorbau noch immer zu den imposantesten Gebäuden des Regierungsviertels gehörte. »Eigentlich unheimlich, wenn man daran denkt, daß hier irgendwo eine Bombe versteckt ist, die unser aller Ende bedeuten kann«, meinte Janet, als sie ausstiegen und an dem Gedenkbrunnen vor dem Gebäude vorbeigingen. »Ich bekomme weiche Knie bei der Vorstellung«, gab Mike zu. »Und wie steht's mit dir, Randall?« fragte Janet den Psychiater. »Wie bitte?« McCarthy schrak aus seinen Gedanken auf. »Wir haben darüber gesprochen, wie unheimlich das Bewußtsein ist, daß hier eine Bombe tickt. Oder hast du etwa keine Angst?« 293
»Natürlich, was denkt ihr denn?« McCarthy strich sich fahrig über die Stirn. »Aber ich habe keine Zeit, daran zu denken, weil ich mich darauf konzentriere, die Bombe in ihrem Versteck zu sehen.« »Du hast bereits mehr als jeder andere dazu beigetragen, Coven zu fassen«, versicherte Mike. »Das wäre natürlich die Krönung deiner Bemühungen!« Der Justizminister, Andrew Carter, Inspektor Stafford und mehrere FBI-Männer warteten bereits im Büro des Bahnhofsvorstehers, als Janet, Mike und Randall hereinkamen. Kurze Zeit später wurde Roger Coven in Handschellen von zwei uniformierten Polizeibeamten vorgeführt. Mike sah bei Eintritt des Trios auf die Uhr und stellte zu seiner Überraschung fest, daß es kurz vor drei Uhr morgens war. Der Festgenommene wirkte seltsam gelassen. »Guten Morgen, Gentlemen«, sagte er spöttisch. »Ich wundere mich über Ihren Mut, hierher zu kommen, aber ich kann Ihnen versichern, daß Sie vor zehn Uhr nichts zu befürchten haben.« »Sie sind ein ganz Eiskalter, was?« fragte Carter aufgebracht. »Solche Leute bringen wir besonders gern hinter Gitter, Freundchen!« Coven zuckte mit den Schultern. »Ich bin schon manchmal nur mit knapper Not entkommen. Vor ein paar Tagen wäre ich beinahe von der Bahnpolizei erwischt worden, als ich mit Miß Burke im Tunnel…« »Nicht mit Miß Burke – mit Lynne«, unterbrach Mike ihn. »Richtig, Dr. Kerns«, bestätigte der andere gelassen. »Da beide Persönlichkeiten abwechselnd den gleichen Körper kontrolliert haben, ist nicht immer genau zu unterscheiden gewesen, wann dieser Wechsel von einer zur anderen eingetreten ist. Der Uniformierte hat uns überrascht, als ich mit Lynne im Tunnel über das beste Versteck für die Bombe gesprochen habe. Ich bin davon überzeugt gewesen, daß Lynne sich augenblicklich in Janet zurückverwandeln würde, aber ich habe befürchtet, daß Janet mich noch erkennen würde – und offensichtlich zu Recht.« »Zwar habe ich Sie nicht genau erkannt, aber eine deutliche Ähnlichkeit festgestellt«, sagte Janet. »Deshalb ist Mike mit mir zu In294
spektor Stafford gefahren.« »So etwas Ähnliches hat mir bereits geschwant«, fuhr Coven fort. »Als ich gemerkt habe, daß die Tunnels systematisch durchsucht wurden, habe ich mich abgesetzt und in das Appartement in Alexandria zurückgezogen.« »Hat Senator Magnes gewußt, daß Sie dort Zuflucht gesucht haben?« wollte der Justizminister wissen. »Der Senator ist zu Hause bei seinen Hinterwäldlern, um zerschlagenes Porzellan zu kitten, Sir. Meines Wissens dürfte er mindestens eine Woche fortbleiben, deshalb hatte ich nichts zu befürchten. Ich habe dort recht komfortabel gelebt.« »Bis eine Nachbarin Sie erkannt hat, als Sie aufgebrochen sind, um die Bombe zu verstecken.« »Mein Pech«, gab Coven gelassen zu. »Noch mehr Pech haben Sie gehabt, als Dr. McCarthy die Governor Nice Memorial Bridge über den Potomac gesehen hat, bevor Sie sie erreicht haben«, warf der FBI-Chef ein. »Wäre ihm das nicht gelungen, hätten wir Sie wahrscheinlich nicht mehr erwischt – zumindest vorläufig nicht.« »Sie hätten mich nie mehr erwischt!« versicherte Roger Coven. »Das dürfen Sie mir glauben!« »Er hat einen gefälschten Paß und sogar gefälschte Kreditkarten in der Tasche gehabt, Chef«, berichtete einer der Coven begleitenden Polizeibeamten. »Außerdem hat er einen falschen Bart getragen, mit dem er wie ein Araber ausgesehen hat.« »Da ich wahrscheinlich in einem arabischen Land Exil suchen werde, habe ich mich gleich entsprechend maskiert«, sagte Coven ruhig. Er hob abwehrend die Hand, als Carter sprechen wollte. »Ich schlage vor, daß Sie sich jetzt meine Bedingungen anhören, Gentlemen.« »Uns interessiert nur, wo die Bombe versteckt ist!« fauchte Carter. »Nein, Sie hören sich gefälligst an, was ich zu sagen habe!« antwortete der Verhaftete ebenso scharf. »Gut, schießen Sie los, Coven«, mischte sich der Justizminister 295
ein. »Was verlangen Sie dafür, daß Sie die Bombe entschärfen, bevor sie in einigen Stunden detoniert – wobei Sie übrigens ebenfalls umkommen würden, weil Sie hier so lange festgehalten werden.« »Ich stelle folgende Bedingungen«, erklärte Roger Coven prompt. »Erstens fünf Millionen Dollar auf mein Nummernkonto in der Schweiz. Sie bekommen die Kontonummer, sobald wir uns einig sind, und die Botschaft in Bern kann das Geld überweisen.« »Sie sind nicht gerade billig, was?« fragte Carter verächtlich. Roger Coven tat, als hätte er nichts gehört. »Außerdem verlange ich eine für Langstrecken aufgetankte Verkehrsmaschine, deren Besatzung ich das Flugziel eine halbe Stunde nach dem Start mitteile, dazu einen Diplomatenpaß für meine Frau, die…« »Rita ist tot, Roger«, unterbrach McCarthy ihn. »Mike hat sein Wochenendhaus angezündet, um Lynne Tallmans Dämon aus Janet zu vertreiben, und Lynne hat sich daraufhin Ritas Körper bemächtigt. Der Wagen, in dem sie gefahren ist … sind, ist letzte Nacht bei La Plata von der Straße abgekommen und in Flammen aufgegangen. Weder Rita noch der Dämon haben sich retten können.« Coven war sichtlich erschüttert. »Das ist gelogen!« schnaubte er. »Nein«, widersprach Mike. »Lynne hat mir noch verraten, daß Sie die Bombe in einem der Tunnels verstecken würden, und wir haben auf der Rückfahrt nach Washington gehört, daß der Wagen, mit dem Rita gefahren ist, verbrannt ist.« »Sie hätte nach São Paulo nachkommen sollen«, murmelte Coven trübselig. Dann wandte er sich an Janet. »Sie sind an ihrem Tod schuld! Sie und dieser Dämon…« »Der Dämon ist ebenfalls tot – er ist in den Flammen umgekommen«, stellte Mike fest. »Durch Ihre Komplicenschaft mit Lynne haben Sie nur Ritas Tod bewirkt, Roger. Warum geben Sie nicht auf und nennen uns das Versteck der Bombe.« »Falls Sie's überhaupt kennen!« warf Carter spöttisch ein. »Natürlich kenne ich das Versteck«, knurrte Coven. »Ich habe sie selbst hingebracht, nicht wahr? Und ich habe den Zünder mit Werk296
zeug aus meinem Werkzeugkasten montiert, den ihre Leute bei der Durchsuchung meines Arbeitszimmers gefunden haben müssen.« »Werkzeugkasten!« rief Mike laut aus, als das Wort wie ein Feuerwerkskörper in seinem Gehirn explodierte. Er dachte daran, daß Lynne zuletzt »In einem Werk…« gesagt hatte, als sie durch McCarthys Eintreffen unterbrochen worden war. Jetzt begriff er plötzlich, was sie hatte sagen wollen – und es paßte glänzend zu etwas, das Stafford ihm nach der ersten Durchsuchung der Tunnels mitgeteilt hatte. »Wissen Sie noch, was Sie mir im Zusammenhang mit der ersten Durchsuchung des Tunnelsystems erzählt haben, Inspektor?« fragte Mike drängend. Stafford runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?« Dann nickte er heftig. »Richtig, jetzt fällt's mir wieder ein: Ich habe erwähnt, daß sogar der Werkzeugkasten einer kleinen Draisine, die früher von Gleisbauarbeitern benützt worden ist, durchsucht worden ist.« Er starrte Mike an. »Glauben Sie etwa, daß…« »Bevor der Dämon Miß Burkes Körper verlassen hat, habe ich Lynne nach dem Bombenversteck gefragt. Sie hat ›In einem Werk…‹ geantwortet – und dieses letzte Wort hat bestimmt ›Werkzeugkasten‹ heißen sollen. Wenn die zweite Durchsuchung von denselben Leuten wie die erste vorgenommen worden ist…« »Ja, das sind dieselben Leute gewesen«, bestätigte der ebenfalls anwesende Chef der Bahnpolizei. »Ist der Werkzeugkasten heute nacht nochmals durchsucht worden?« fragte Inspektor Stafford scharf. »Ja, ganz bestimmt.« »Wie bestimmt? Sind Sie dabeigewesen?« »Nein, aber…« Der besorgte Gesichtsausdruck des anderen hellte sich auf. »Alf Porter hat die Suche geleitet, aber er ist nach Hause gefahren – er hat sich nicht ganz wohl gefühlt.« »Rufen Sie ihn an. Fragen Sie ihn, ob der Werkzeugkasten zum zweitenmal kontrolliert worden ist.« 297
Der Uniformierte ging ans Telefon, schlug eine Nummer im Verzeichnis nach und wählte. »Alf«, fragte er, als der andere Teilnehmer sich nach längerer Zeit meldete, »kannst du dich daran erinnern, ob deine Leute auch diesmal den Werkzeugkasten der alten Draisine in Abschnitt dreizehn durchsucht haben?« Er hörte kurz zu und bedeckte dann die Sprechmuschel mit der anderen Hand. »Der Werkzeugkasten ist nicht nochmals kontrolliert worden, weil er beim erstenmal leer gewesen ist«, berichtete er. »Danke, das genügt!« stellte Carter fest. »Wissen Sie, wo der Abschnitt dreizehn liegt?« »Natürlich – fast genau unter dem Capitol.« Der andere begriff erst jetzt, was er gesagt hatte. »Die Bombe liegt unter dem Capitol!« »Richtig«, bestätigte der FBI-Chef. Er wandte sich an den Bombenfachmann. »Los, kommen Sie, Horner! Unser Freund hier zeigt uns, wo die Draisine mit der Bombe steht.« »Augenblick!« sagte Roger Coven, als sie den Raum verlassen wollten. »Der Zünder ist hochempfindlich und kann nur von mir ausgebaut werden.« »Okay, worauf warten Sie noch?« fragte Carter. »Wir haben's eilig!« »Als Honorar verlange ich mein Leben«, erklärte Coven dem Justizminister, der als einziger auf diesen Handel eingehen konnte. »Abgemacht?« Der Minister zögerte nicht lange. »Wir könnten Sie wegen mehrerer Verbrechen anklagen, auf die die Todesstrafe steht«, stellte er fest. »Aber ich verspreche Ihnen, daß Sie mit einer lebenslänglichen Haftstrafe davonkommen, wenn Sie uns helfen, die Bombe zu entschärfen.« »Einverstanden!« bestätigte Coven. »Kommen Sie, Horner, Sie können mir assistieren.« Der Justizminister fuhr sich mit seinem Taschentuch über die Stirn, als Coven, der FBI-Chef, Horner und der Chef der Bahnpolizei den Raum verlassen hatten. 298
»Puh! Das war eine knappe Sache, Dr. Kerns«, sagte er aufatmend. »Wenn Sie sich nicht daran erinnert hätten, was diese…« »Lynne«, warf Janet ein. »…was diese Lynne gesagt hat, stünde es jetzt schlecht um Washington.« »Die beste Tat ihres Lebens ist also gewesen, daß sie aus dem Leben geschieden ist«, stellte Janet fest. »Das werde ich auch in meinem Artikel für die ›Star-News‹ aufnehmen.« »Sie schreiben keinen Artikel darüber, Miß Burke«, erklärte der Minister. »Soll das etwa heißen, daß die ganze Geschichte geheimgehalten werden soll?« fragte Janet ungläubig. »Damit kann ich den Pulitzerpreis gewinnen!« »Ich ordne strengstes Stillschweigen an!« sagte der Justizminister energisch. »Können Sie sich vorstellen, wie die Öffentlichkeit reagieren würde, wenn bekannt würde, daß es einem einzelnen Mann beinahe gelungen wäre, Washington zu zerstören? Wollen Sie daran schuld sein, daß es noch nachträglich zu einer Panik kommt?« »Nein, nein, natürlich nicht«, murmelte Janet betroffen. »Was haben Sie mit Coven vor, Sir?« erkundigte Mike sich. »Mein gegebenes Wort werde ich natürlich halten. Aber ein von zwei Ärzten ausgestelltes Attest genügt, um ihn in eine Nervenheilanstalt zu bringen. Wer versucht, was Coven versucht hat, muß geistesgestört sein, deshalb setze ich voraus, daß Sie und Dr. McCarthy nicht zögern werden, dieses Attest auszustellen.« »Und dann?« »Ich sorge dafür, daß Coven noch heute vormittag einem Richter am Obersten Bundesgericht vorgeführt wird. Heute nachmittag ist er dann in einer Militärmaschine zum Flughafen Raleigh-Durham unterwegs. Dort ist vor kurzem eine absolut ausbruchsichere Haftanstalt für geisteskranke Schwerverbrecher fertiggestellt worden. Sobald ihre Tore sich hinter Roger Coven geschlossen haben, bleibt er für immer dann in Gewahrsam.« »Unter der Voraussetzung, daß wir beiden Ärzte ihn einweisen«, 299
stellte McCarthy fest. »Aber wie lautet die Diagnose?« »Paranoide Megalomanie«, sagte der Minister. »Oder sind Sie anderer Meinung?« »Nein, da stimme ich Ihnen zu«, erwiderte McCarthy. »Wer ganz Washington in die Luft sprengen wollte, muß wohl größenwahnsinnig sein.« »Allerdings!« pflichtete Mike bei.
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ie Morgensonne stand hinter dem Kuppelbau des Capitols und warf lange Baumschatten über den Reflecting Pool, in dessen Wasser sich das Washington-Monument als gigantische Steinnadel spiegelte, als Janet, Mike und Randall aus dem Justizministerium kamen und zu Mikes Porsche gingen. Janet atmete tief ein und genoß die frische Herbstluft, die bald wieder die Abgase von Tausenden und Tausenden Autos verpesten würden, wenn die Straßen sich nach dem langen Labor-Day-Wochenende wieder mit dem Berufsverkehr füllten. »Ich kann noch immer kaum glauben, daß alles, was wir erlebt haben, wirklich passiert ist«, sagte sie nachdenklich. »Warum tun wir nicht einfach so, als hätten wir nur geträumt, und verdrängen unsere Erlebnisse ins Unterbewußtsein?« »Daraus können sie dann als Alpträume auftauchen«, warnte Randall McCarthy und trat einen Schritt auf die Straße, um eines der wenigen um diese Zeit bereits fahrenden Taxis anzuhalten. »Ich will nach Hause, zwei Nembutal schlucken und bis heute abend durchschlafen«, fügte er hinzu. »Und wie sieht euer Programm aus?« »›Sambo's Restaurant‹ ist Tag und Nacht geöffnet«, antwortete Mike. »Ich fahre mit meiner hungrigen Verlobten hin, damit sie ein Steak 300
mit Spiegeleiern bekommt, bevor wir gemeinsam den Bootshafen abklappern.« »Mit dem Essen bin ich einverstanden«, sagte Janet, als McCarthys Taxi abfuhr. »Aber was willst du im Bootshafen?« »Wir kaufen ein Hausboot«, erklärte er. »Hab ich dir das nicht erzählt – oder ist das Lynne gewesen?« Janet fuhr zusammen. »Ich kann diesen Namen nicht mehr hören! Weißt du, was ich glaube? Sie hat dich geliebt, soweit das einem Dämon überhaupt möglich war.« Mike äußerte sich nicht dazu: Als zukünftigem Ehemann war es ihm lieber, wenn diese alte Flamme – selbst wenn es sich um einen Dämon handelte – erloschen blieb.
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