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DIE WISSENSCHAFT HAT IHN ERSCHAFFEN, DIE REGIERUNG KONTROLLIERT IHN Der Humanoid Halton, ausgestattet mit übermenschlicher Reaktionsfähigkeit, wird als Bodyguard im Mittleren Osten eingesetzt, einer Weltgegend, die auch in naher Zukunft einem Pulverfaß gleicht. Doch modernste Computer- und Gentechnik machen den politischen Krisenherd zum Schauplatz einer weit tiefergehenden Auseinandersetzung. Auf dem Spiel steht die menschliche Existenz, wie wir sie kennen…
»Politisch klug und packend – ein außerordentliches Debüt.« – Publishers Weekly
N. LEE WOOD
In Erwartung des Mahdi Roman
Aus dem Amerikanischen von WALTER BRUMM
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/5985
Titel der amerikanischen Originalausgabe LOOKING FOR THE MAHDI Deutsche Übersetzung von Walter Brumm Das Umschlagbild ist von doMANSKI
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1996 by N. Lee Wood Erstausgabe: Ace Books, published by The Berkley Publishing Group, New York Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Liepman AG, Literarische Agentur, Zürich Copyright © 1998 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München http://www.heyne.de Printed in Germany November 1998 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-14875-4
Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen. Bei der Feder, und was sie damit schreiben, du, o Mohammed, bist durch die Gnade deines Herrn nicht von einem bösen Geiste besessen. Deiner wartet grenzenloser Lohn; denn du bist von hoher, erhabener Natur. Du wirst es sehen, und auch sie werden es sehen, wer von euch seiner Sinne beraubt ist … Der Heilige Koran Ziffer 68. Sure, Al-Qalam Verse 1-6
Für Norman, meinen Freund, meinen Partner und meinen Champion einer göttlichen Verrücktheit.
DANKSAGUNG
Ich bedanke mich vielmals bei den folgenden Personen, die mich beim Schreiben dieses Buches unterstützten: Susan Allison, Scott und Suzi Baker, Elaine Block, Chris Bunch, Anne Choller, Allan Cole, Craig Copetas, Roland Gilles, François Landon, Doris Lessing, Pat Lo-Brutto, Bob McGabe, Michael und Linda Moorcock, Hans-Peter Otto, Stephanie Laidman Tade, Erik Thoraval, Hassana Tlili, Jim Williams, sowie beim Institute du Monde Arabe, Mme. Bibi, Mohmed Smaiel, Djaffai Mouliti, Azona Yakhou und all den anderen Stammgästen des ›Le Onze‹ in Paris.
ANMERKUNG DER VERFASSERIN
Das Land Khuruchabja ist imaginär und sollte nicht als repräsentativ für irgendein existierendes Land, seine Bevölkerung, Sprache, Kultur oder Religion angesehen werden. Mit Ausnahme historischer Personen und Ereignisse sind alle Charaktere und Geschehnisse, die in diesem Buch dargestellt werden, erfunden; jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder wirklichen Personen, lebendigen oder toten, ist rein zufällig und unbeabsichtigt. Die in diesem Buch verwendeten Zitate aus dem Koran beruhen auf der Übertragung von Ludwig Ulimann.
1 MEIN NAME IST KAHLILI BINT MUNADI SULAIMAN, und ich bin Journalistin. Oder war es. Ich arbeite noch immer für GBN, Global Broadcasting Network, wo ich seit bald sechzehn Jahren hauptsächlich als Redakteurin gewirkt und die Moderatoren und Nachrichtensprecher mit aufbereitetem Material versorgt habe. Ich weiß nicht, ob man das, was ich tue, zutreffend als ›Journalismus‹ bezeichnen könnte. Während des khuruchabjanischen Kriegs arbeitete ich als Korrespondentin vor Ort und verschaffte mir einen erstklassigen Ruf als Kriegsberichterstatterin, indem ich über ein verschrammtes Portanet komprimierte Simultanberichte aus der Kampfzone sendete und dabei alles an aufregendem Deckungsuchen, Kopfeinziehen und herzbewegenden Geschichten über sterbende Kinder mitkriegte, was ich mir je gewünscht hatte. Wenn man wirklich erstklassige Arbeit geliefert hat, wird man zu einem hübschen, sicheren Schreibtischjob befördert, wo nichts Gefährlicheres passiert, als Versuche gewisser Regierungsbehörden, die Kommunikationsleitungen anzuzapfen. Die meisten Feldreporter, die ich kenne, betrachten Beförderungen dieser Art als den Todesstoß durch Langeweile, aber ich hatte kein Verlangen, zur Feldarbeit zurückzukehren, obwohl sie zum Austausch von Anekdoten im Presseklub besser geeignet ist. Ich war ganz zufrieden mit meiner eintönigen, langweiligen Lauf-
bahn als einer anonymen Fernsehredakteurin hinter einem hübschen großen Schreibtisch und meinem Datenanschluß. Arlando, der Chefredakteur der GBN-Nachrichtenabteilung, bedauerte dies. Seit Jahren hatte er mich gedrängt, wieder zur Berichterstattung in den Nahen Osten zu gehen, und sagte, gerade ich hätte ›das Zeug dazu‹, in diesem Teil der Welt Reportagen zu machen. Lassen Sie mich versuchen, das in den vereinfachenden Begriffen zu erklären, die unser Fernsehpublikum verstehen kann: Ich bin häßlich. Unter anderem. Arlando meinte es als Kompliment. Mochte Häßlichkeit auch eine meiner ersten Qualifikationen für diese Art Feldarbeit sein, so war sie auch der Grund, daß ich die hübsch frisierten und gepflegten Redakteure im Studio mit Material versorgte. Ich bin das Gehirn, das die Worte schreibt, welche von den ernstblickenden, makellosen Blondinen in so vollkommenem Tonfall vorgetragen werden. Meine Fragen sind es, mit denen elegante, silberhaarige Moderatoren Staatsoberhäupter interviewen. Ich bin der Puppenspieler. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich beklage mich nicht. Meine Arbeit gefällt mir, und ich mag sogar Nachrichtensprecher und Moderatoren, wenn sie gut sind. GBN war nicht das größte Sendernetz auf dem Markt, wo der Wettlauf um Einschaltquoten zum reinen Überlebenskampf geworden war, seit Turner uns in den vergangenen Jahrzehnten alle von der Landkarte geblasen und gezwungen hatte, unsere Strategien zu überdenken. Aber wir waren noch immer groß und angesehen genug, um talentierte Leute an uns zu binden. Es gehört noch immer ein gewisses Maß an Geschicklichkeit, Verstand und Charme auch unter Druck dazu, um vor der Kamera zu beste-
hen; ein telegenes Äußeres ist nicht unbedingt alles, was man braucht. Wenn diese Leute ihre Arbeit gut machen, kommt niemand auf den Gedanken, daß ich überhaupt existiere, was mir nur recht sein kann. Ich schätze Anonymität. Ich war nicht so häßlich, daß es auffällig gewesen wäre; es war nicht so, daß jemand sich bei meinem Anblick übergeben hätte. Ich bin klein, aber keine Zwergin, und wenn ich mein Gewicht nicht unermüdlich durch eine gleichbleibende Diät von Zigaretten und schlechtem Kaffee kontrolliert hätte, der traditionellen Journalistennahrung seit Erfindung der Zeitung, wäre ich gewesen, was man als ›rundlich‹ bezeichnet. In der Zeit, als meine Mitschülerinnen anfingen, den Spitzenbesatz ihrer Büstenhalter zu vergleichen, wurde ich zum Arzt gebracht und bekam eine lange, rationale Erklärung, welche das Hormonungleichgewicht meiner Mutter während der Schwangerschaft zum Inhalt hatte und nicht im Entferntesten geeignet war, meine Minderwertigkeitsgefühle angesichts der Wespenstichgröße meiner Brüste zu beheben, zumal die Wachstumsaussichten gering waren. Als ich zu arbeiten begann, hatte ich sehr langes Haar und trug viel Augen-Make-up und große, glänzende Ohrringe, denn ohne sie war es für die meisten Leute schwierig, meine sexuelle Orientierung auszumachen. Aber selbst so fing ich mir manchmal mißtrauische Blicke ein. Ich war eine ganz normale heterosexuelle Frau, gefangen im Körper eines stämmigen Zwitters. Aber während des Kriegs in Khuruchabja kam es mir zustatten. Es schmerzte mich, die Haare kurzschneiden zu lassen (die zum Zopf geflochtenen Überreste, mit einem rosa Band zu-
sammengebunden, lagen jahrelang in meiner Wäscheschublade, bevor ich sie schließlich wegwarf), aber in Anzug und Krawatte, mit sauber gewaschenem Gesicht, dem feinen dunklen Flaum auf der Oberlippe und so tief gesenkter Stimme, daß sie leicht grollende Untertöne bekam, wurde ich gewöhnlich als Mann angesprochen und blieb von peinlichen Fragen verschont. Als Frau war ich anmutig wie eine Stalltür, aber bei einem Mann wurden dieselben Züge als ›energisch‹ oder ›selbstbewußt‹ beurteilt, keineswegs als hübsch, aber eine Art von Gesicht, wie man es von einem staubigen, strapazierten Feldreporter erwarten mochte, ein vertrauenswürdiges, aber leicht zu vergessendes Gesicht. Ein Gesicht, das GBN für live gesendete Berichte in den Achtuhrnachrichten gebrauchen konnte, ohne daß es die Zuschauer vom Inhalt ablenken würde. Dies ist Ka Be Sulaiman am Arsch der Welt in Khuruchabja mit einem LiveBericht für GBN-Nachrichten. Ja, richtig, jetzt erinnern Sie sich an mich. Danke, es war eine interessante Erfahrung, aber ich wollte nicht den Rest meines Lebens ein Mann sein. Frauen mögen es weit gebracht haben, aber es gibt noch immer Gegenden, wo es entschieden von Vorteil ist, männlich zu sein. In Khuruchabja gab es außer mir keine weiblichen Reporter. Es ist schwierig, eine brauchbare Reportage zu machen, wenn man von Kopf bis Fuß in fünfzehn Meter roten Wollstoff gehüllt und aus jeder männlichen Gesellschaft außer den unmittelbaren Familienangehörigen verbannt ist. Khuruchabja nahm seine frauenfeindlichen religiösen Gesetze sehr ernst, und ich lief ständig Gefahr, in dünne Scheiben und kleine Würfel geschnitten zu werden, wenn ich enttarnt würde. Aber schließlich lohnte es sich. Paranoia sorgt für Wachsamkeit und Gei-
stesgegenwart, und ich brachte stets die Art von Geschichten, die für hohe Einschaltquoten gut ist. Nach meiner Rückkehr gab ich die maskuline Tarnung auf, nahm meine kleinen Belohnungen entgegen, hängte sie hinter meinen hübschen und sicheren Schreibtisch an die Wand und verschwand dankbar aus dem öffentlichen Bewußtsein. Die redaktionelle Aufarbeitung von Material ist relativ einfach, wenn auch ermüdend, da GBNs Sendernetz vierundzwanzig Stunden am Tag riesige Informationsmengen absorbiert, von unbedeutenden kleinen Live-Meldungen, die GBNKorrespondenten und Feldreporter mittels Portanets direkt über unsere eigenen abgeschirmten und unabhängigen Satelliten an die Zentrale senden, bis zu altmodischen APModemdiensten aus mehr als tausend Büros und hoffnungsvollen freien Mitarbeitern, die das Datennetz mit endlosen grünen Textzeilen füttern. Textredakteure lesen drei oder vier Zeilen gleichzeitig ein, um die Masse des Materials in verdauliche Brocken aufzuteilen. Holoredakteure bringen das heiße, über Satellit hereinströmende Filmmaterial von Horden manischer Korrespondenten Sekunden später am Schneidetisch in sendefertig aufbereitete Form. Alle koordinieren ihre Anstrengungen mit den Ingenieuren, um dieses Chaos zu einem nahtlosen Ganzen zu verflechten. Unser Motto lautet: »Sie sind dabei: Globale Nachrichten, wie sie bekannt werden«, weil LiveBerichterstattung und fast verzögerungsfreie laufende Nachrichtenübermittlung es gewissen staatlichen Stellen erschwerte, zu zensieren, was ihnen nicht gefiel. Das Ziel ist, nicht nur qualifizierte Berichterstattung zu bieten, sondern sie zuerst zu bringen. Man sollte meinen, daß ein
Vorsprung von zwei Minuten vor der Konkurrenz keine Überlebensfrage für das betreffende Sendernetz sein würde, aber dahin ist es auf dem Nachrichtensektor gekommen. Jahrelang mühte GBN sich ab, nur im Rennen zu bleiben. Dann landeten wir einen Volltreffer und erreichten mit einem Sprung den zweiten Platz, indem wir nicht nur eine auf die Minute aktuelle weltweite international ausgestrahlte Berichterstattung boten, sondern sie je nach dem Signaldekoder im Hologerät des Empfängers in wahlweise einem Dutzend Sprachen bringen konnten, nicht synchronisiert oder mit Untertiteln, sondern mit simultanarbeitenden Moderatoren. Dazu sind viele Fernsehjournalisten nötig, alle mindestens zwei- oder dreisprachig. Den Moderatoren und Nachrichtenredakteuren im Studio stehen entweder Standardmonitore zur Verfügung, von denen sie einfach ablesen, wobei ihnen ein paar Namen und Ortsbezeichnungen in die Ohren geflüstert werden, damit sie die ausländischen Worte und Namen mit einiger Genauigkeit betonen können, oder sie erhalten den Text direkt durch Audioleitungen über winzige Mikrofone, die neben den Trommelfellen implantiert sind. Einige der älteren Moderatoren haben wirkliches Talent und intellektuelles Kaliber. Diese lassen wir gewähren, wenn sie ein paar bohrende Fragen improvisieren wollen. Etwas ehrliche Spontaneität ist gelegentlich nicht schlecht. Manche von ihnen entwickeln ihren eigenen Stil und lesen nur zur Kontrolle vom Monitor ab. Aber primadonnenhafte Allüren unterbinden wir energisch. Die Tage von Superstars wie Dan Rather und Diane Sawyer mit Jahresgehältern von vielen Millionen Dollar sind längst passé. Diejenigen Moderatoren, deren Fähigkeit haupt-
sächlich darin besteht, ins Schwarze zu treffen, ohne sich zu versprechen oder ihre Zeilen durcheinanderzubringen, welche in der Mehrzahl sind, bevorzugen Audio, eine Art verzögerter Papageienreaktion, manchmal bis zur Nachahmung des Tonfalls. Auf diese Weise brauchen sie nicht allzu angestrengt nachzudenken. Sie brauchen sich nur darauf zu konzentrieren, daß sie wie die auswechselbaren Profis aussehen und sich anhören, die sie sind. Ich steckte so tief im Sumpf der Einsageroutine und murmelte Belanglosigkeiten in die zarte Ohrmuschel Tricia Kwongs, der GBN-Moderatorin für das englische Programm von sieben bis elf Uhr vormittags, daß ich nicht merkte, wann die Krokodile zu beißen anfingen. »Arlando wartet auf Sie, Munadi«, sagte Penley in einem Ton, der zu verstehen gab, daß er sich mindestens zum dritten Mal wiederholte. »Ziehen Sie den Stecker und gehen Sie hinauf.« »Was?« »Der Chef möchte Sie sprechen. In seinem Büro. Jetzt.« Penley schraubte sich bereits die Audioverbindung ins Ohr und blinzelte in meinen Monitor, während er sich einschaltete und Tricia Kwong weiter fütterte. Im holographischen Kontrollbild blickte sie weiter gerade in die Kamera und improvisierte während der paar Sekunden des Überwechselns, ohne mit der Wimper zu zucken oder in der Rede auszusetzen. Wirklich professionell. Arlando war der Inbegriff des effizienten Chefs. Machte man seine Sache gut, bekam man ihn nie zu Gesicht. Er tat seine Wünsche und Bedürfnisse durch das Kommunikationsnetz
kund. Konferenzen mit persönlicher Anwesenheit waren selten erforderlich. Nur wenn man etwas vermurkst hatte, oder wenn sich Unheil zusammenbraute, wurde man zu ihm gerufen. In der Zurückgezogenheit der Aufzugkabine beschnüffelte ich schnell meine Achselhöhlen und versuchte meine Frisur mit den Händen in Form zu bringen. Arlando sah noch nervöser aus als ich mich fühlte. Er stand auf, als ich klopfte und eintrat. Zwei weitere Männer waren bei ihm im Büro. »Ka Be Munadi … Sulaiman«, sagte Arlando zu dem kleineren der beiden. Das war ungewöhnlich. In den äußerst seltenen Fällen, wenn ich eine Inlandsreportage machte, die einer Namensnennung bedurfte, gebrauchte ich immer den Namen ›Kay Munadi‹. Den ›Sulaiman‹ hatte ich seit zehn Jahren nicht gebraucht. Ich wandte mich um und streckte die Hand aus, als der Chef fortfuhr: »Cullen Laidcliff.« Laidcliff stand mit einem knappen Lächeln auf und ergriff meine Hand mit mehr Kraft als nötig gewesen wäre. Ich hatte ihn in zwei Sekunden eingeschätzt. Regierungsbehörde. Entweder FBI-Spitzel oder CDIAgent der mittleren Führungsebene. Ich lächelte mein eisigstes Lächeln und machte mir nicht die Mühe, auf die Herausforderung seines Händedrucks einzugehen. »John Halton«, sagte Arlando, und ich mußte mich wieder zur Seite wenden, um dem anderen Mann die Hand zu geben. Ich habe mich selbst beschrieben, also mag meine erste Reaktion verständlich sein. Mein Gott, ist der hinreißend … Zu hinreißend … Ganz sicher zu gutaussehend, um eine wie mich auch nur
anzusehen … Wahrscheinlich bloß so ein telegener Wichtigtuer, ein Plastikgesicht für den Bildschirm … Egoistisch, narzißtisch, talentlos, wahrscheinlich schwul … Ich hasse ihn. Dies alles ging mir in der Zeit durch den Kopf, die man braucht, um jemandem die Hand zu schütteln. Sein Händedruck war warm und fest, ohne herausfordernd zu sein, und er hielt meine Hand einen Moment länger als erforderlich, obendrein mit einem liebenswürdigen Lächeln. Er machte mich an, und deshalb verabscheute ich ihn. Nach den Vorstellungen saß John Halton etwas abseits von uns anderen, ein Beobachter. Bestimmt ein Journalist, davon war ich überzeugt. Ich setzte mich und blickte beiläufig zu dem Agenten, dann zu Arlando. »Also, was gibt es?« fragte ich munter. Wenn man Selbstsicherheit und Zuversicht verbreitet, gerät man nicht so schnell ins Schußfeld. »Wie steht es mit Ihrem Markundi?« fragte Arlando. Das überraschte mich. Markundi ist eine komplizierte arabische Mundart mit persischen und paschtunischen Einflüssen, ein obskurer Dialekt, den ich seit zehn Jahren nicht gebraucht hatte. »Eingerostet. Seit ich Khuruchabja verließ, habe ich nicht mehr markundi gesprochen. Aber ich denke, daß eine Auffrischung nicht allzu lang dauern würde …« Ich dachte, Sie benötigten einen Dolmetscher. »Das geht in Ordnung«, warf Laidcliff mit einer ungeduldigen Handbewegung aus dem Gelenk ein. »Johns Markundi ist perfekt.« Perfekt. Nicht gut, nicht fließend … perfekt. Dabei ist es
nicht so, daß man Markundi an jeder Universität in einem Sprachkurs lernen könnte. Ich konnte nicht umhin, dem schönen John einen Blick zuzuwerfen. Er lächelte noch immer dieses falsche kleine Lächeln und hatte den Blick niedergeschlagen, um die Rücken seiner Hände zu untersuchen, die auf seinen Knien ruhten. Er wirkte nicht bescheiden oder gar unterwürfig, nur vollständig außerhalb des Gesprächs. »Tatsache?« sagte ich mangels einer intelligenteren Erwiderung. Arlando schaute besonders unbehaglich drein. »Wir brauchen jemanden, der das Markundi-Arabisch passabel beherrscht und mit Khuruchabja vertraut ist, insbesondere jemanden, der sich mit den kulturellen Eigentümlichkeiten und Idiosynkrasien der Einheimischen auskennt«, sagte Laidcliff mit der nasalen Herablassung dessen, der jede fremde Kultur ›kurios‹ und der seinigen unterlegen findet. »Sie waren dort, kennen Land und Leute und werden keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen, da Sie selbst Araberin sind.« »Ich bin Amerikanerin«, sagte ich kalt. Er machte ein Gesicht. »Ich meinte arabischer Abstammung.« »Ich bin so amerikanisch wie Sie.« Ich gönnte diesem überheblichen Kerl nicht die Befriedigung. »Hundertprozentig, in den Vereinigten Staaten geboren.« Er schnaubte geringschätzig, ließ es aber durchgehen. »Jedenfalls brauchen wir jemanden, dem die Eingeborenen vertrauen werden, wenigstens bis zu einem gewissen Grad.« »›Wir?‹« fragte ich. Er mußte von der CDI sein. Laidcliff lächelte sein selbstzufriedenes, überlegenes Lächeln. »Jemanden, der in keinerlei Zusammenhang mit einer staatli-
chen Behörde oder Organisation steht«, erläuterte er, ohne etwas zu erläutern. »Wozu?« »Um ein Paket abzuliefern.« Inzwischen war mit der beklommenen Frage, was ich diesmal falsch gemacht haben konnte, auch meine Nervosität vergangen, und ich ärgerte mich. Mochte dieser herablassende Geheimdiensttyp auch zu jung sein, um sich an den Krieg in Khuruchabja zu erinnern, oder an die Auswirkungen, welche die Einmischung seines Dienstes dort gehabt hatten, ich erinnerte mich nur zu gut daran. Und auch Arlando, daher überraschte es mich, daß er still dasaß und jedes Zeichen vermied, das ich als Rückendeckung hätte interpretieren können. »Kein Problem«, sagte ich und sah ihn in unschuldiger Einfalt mit großen Augen an. »Ich suche Ihnen gern die Nummer vom Federal Express Paketdienst heraus. Geben Sie mir ein paar Minuten, und ich besorge sie Ihnen.« Laidcliff blickte finster. »Ich bin nicht belustigt«, sagte er. Ich stand auf. »Und ich bin ganz gewiß kein Austräger. Ich bin Journalistin. Khuruchabja liegt nicht außerhalb der Welt; geben Sie Ihr verdammtes Paket auf.« Ich machte eine Daumenbewegung zu seinem Begleiter. »Oder schicken Sie ihn. Schließlich ist sein Markundi perfekt, wie Sie sagen. Wozu brauchen Sie dann mich?« »Sie haben einen gültigen Paß«, sagte Arlando. Das ergab absolut keinen Sinn, bis der schöne Mann namens John Halton aufblickte und leise sagte: »Ich bin das Paket.« Um ein ordentlicher Journalist zu sein, muß man eine Menge über vieles wissen und rasch Zusammenhänge erfassen. Ich
fühlte förmlich, wie in meinem Kopf die Räder schnurrten und klickten. John Halton war kein Journalist. Er war sozusagen Staatseigentum. Er sah mich jetzt an, und in seinen Zügen war das gleiche bescheidene Lächeln. Ich starrte ihn mit offenem Mund an, während der Geheimdienstmann sich bemüßigt fühlte, die Zusammenhänge zu erklären. »Die Erhabene Säule Allahs, Seine Exzellenz Scheich Lawrence Abdul bin Hassan al Samir al Raschid hatte in letzter Zeit nach einigen ziemlich unerfreulichen Konfrontationen mit der religiösen Führung Khuruchabjas Schwierigkeiten, sein Volk bei der Stange zu halten. Also braucht Larry einen guten Leibwächter, der auch als Militärberater dienen und auf dessen Unparteilichkeit und Loyalität er sich absolut verlassen kann.« Laidcliff grinste und nickte in Haltons Richtung. »Darum geben wir ihm John. Aber es würde indiskret sein und die falschen Leute aufmerksam machen, wenn unsere Regierung ihn direkt hinschicken würde. Ich denke, Sie werden zustimmen, daß wir ihm nicht einfach ein paar Briefmarken auf die Stirn kleben und ihn in den nächsten Briefkasten stecken können. Sie sollen John als Gepäck zur Orbitalstation Clarke bringen, wo wir Dokumente bereithalten werden, die ihn ohne weiteres durch die Paß- und Zollkontrolle in Khuruchabja bringen werden. Sie werden eine Woche dort oben im Hilton Station machen, bevor Sie beide nach Nok Kuzlat fliegen. Dort verbringen Sie noch eine oder zwei Wochen mit der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten, machen Urlaub und lassen es sich gut gehen. Dann reisen Sie ab, während John bleibt.« Laidcliff grinste. »Sie können sogar ein paar Reportagen ma-
chen, während Sie dort sind, über die örtliche Teppichfabrik oder was, um Ihrem Aufenthalt eine unverfängliche Note zu geben.« Bis dahin hatte ich noch nie ein Biokonstrukt aus der Nähe gesehen; darin erging es mir nicht anders als den meisten Leuten. In Zeitungsabbildungen und Nachrichtensendungen sah man sie manchmal schützend um den Präsidenten und andere Würdenträger stehen, und selbst wenn sie nicht zum Einsatz kamen, nahmen sich ihre Partner vom Geheimdienst neben ihnen unbeholfen und schwächlich aus. In meiner Neugierde gaffte ich weiterhin Halton an, ohne dem, was Laidcliff sagte, allzuviel Aufmerksamkeit zu schenken. Aber trotzdem begann es in mein Bewußtsein einzusickern. »Warum ich? Warum überhaupt ein Journalist, in Gottes Namen? Ich könnte jetzt einfach hinausgehen, eine Geschichte wie diese ins Netz geben und zusehen, wie unsere Einschaltquoten in die Höhe gehen!« Laidcliff hatte die Arme auf der Brust verschränkt und betrachtete mich selbstzufrieden wie ein Kater. »Sie würden keine drei Schritte weit kommen«, sagte er arrogant. Mir wurde einen Augenblick kalt, dann schoß mir das Blut in den Kopf. »Was erdreisten Sie sich, Sie unverschämter …«, fing ich an, bevor Arlando mir ins Wort fiel. »Bedrohen Sie meine Leute nicht«, sagte er zu Laidcliff, ohne jede Betonung in der Stimme. »Niemals.« Arlando konnte wirklich furchteinflößend sein, wenn er wollte. Darauf folgte ein sehr langes, frostiges Stillschweigen. Schließlich hob Laidcliff träge die Schultern. Es stand eins zu eins. Erlauben Sie mir eine Abschweifung von unserem regulären
Programm, um an dieser Stelle etwas zu erklären. Es ist Sache jeder Regierung – auch und gerade der unsrigen –, durch ihr Handeln Nachrichten zu machen und diese dann nach Möglichkeit zu verbergen. Sache der Medien ist es, der Regierung auf die Finger zu sehen und so viel von ihrem Handeln zu berichten, wie sie können. Ist die Gewaltenteilung zwischen Parlament, Regierung und Justiz von jeher zumindest nominell oberstes Prinzip einer demokratischen Verfassung, so kommt in unserer Zeit die ursprünglich nicht vorgesehene Macht der Medien faktisch als vierte Gewalt hinzu. Die vierte Gewalt manipuliert das Volk, und die zweite kontrolliert die Spitze der politischen Pyramide. Die gesamte Geschichte von Medien und Regierung ist eine Geschichte schmerzhafter Koexistenz gewesen, die während des Vietnamkrieges in eine mehr oder minder offene Konfrontation umschlug. Die Regierung mußte zu ihrem Schrecken von der Macht Kenntnis nehmen, die das Fernsehen und die Presse als Steuerungsinstrumente der öffentlichen Meinung errungen hatten. Das Ringen um die Herzen und Hirne der Amerikaner wurde zum neuen Schlachtfeld, wo mit den Waffen der Manipulation und der Meinungsumfragen gefochten wurde. Bis zum Golfkrieg hatte die Regierung ihren eigenen PR-Apparat aus professionell arbeitenden Leuten aufgebaut, allesamt nett und freundlich und geistreich. Es gab viele mit hollywoodmäßigen Spezialeffekten hergestellte Bilder von in die Luft fliegenden Gebäuden und anderen Dingen, um die geifernde Meute bei Laune zu halten, selbstverständlich mit den passenden Geräuscheffekten. Zuerst war die einzige wirkliche Nachricht, was sie nicht be-
richten wollten, aber die unabhängigen Medien stimmten zu, daß während eines bewaffneten Konflikts Einschränkungen der Berichterstattung notwendig seien, um die Sicherheit unserer Jungen und Mädchen in Uniform zu gewährleisten. Es war ärgerlich, wurde aber respektiert – bis ein paar von diesen netten, freundlichen PR-Leuten des Pentagon beim Lügen ertappt wurden. Das löste ein erstes Grollen der Rebellion aus, und die Medien waren nicht länger bereit, sich mit entschärften Brocken zufriedenzugeben. Das Militär warf ihnen größere Knochen hin, und die Reporter bekamen längere Zähne. Eine weitaus weniger ausgeklügelte Zensur und Desinformation von Seiten der mit den Amerikanern verbündeten Staaten tat ein übriges, um die Nachrichtenleute unglücklich zu machen. Weniger als fünfzig von den mehr als tausend Reportern in der Region erhielten die Erlaubnis zum Verlassen der Hotels, wo sie eingesperrt waren. Die Reporter begannen wie eine Schule hungriger Piranhas gegen die Grenzen des offiziellen Presseghettos zu drängen, und je mehr das Militär die Ghettos zu überwachen und einzuengen suchte, desto mehr Reporter schlüpften ihm durch die Finger. Einige wurden vom Feind gefangen, andere von ihren eigenen Leuten. Andere stritten untereinander über den Zugang zu den wenigen Informationen, die sie finden konnten, aber die meisten gingen leer aus, ohne Filme, ohne Reportagen. Die wenigen, denen es gelang, machten Karriere. Als die Amerikaner endlich Schluß machten, waren zwei Länder ruiniert und Städte zerstört, während Schakale in verschiedenen Uniformen die Trümmer durchstreiften und um die Beute stritten. Sündenböcke wurden vor Femegerichte gestellt,
während brennende Ölquellen den Himmel verdunkelten. Ein amerikanischer Präsident versetzte dem geschlagenen Gegner noch ein paar letzte Hiebe und Fußtritte, aber unterdessen trugen die Möbelpacker schon seine Einrichtung zur Hintertür des Weißen Hauses hinaus. Der Golfkrieg war trotz allem der erste große Sieg der Medien seit Vietnam, und sie verloren keine Zeit, ihr Territorium zurückzuerobern. Nicht nur waren unsere intelligentem Bomben nicht sehr intelligent, sondern auch unsere dummen Bomben waren nicht annähernd so wirksam wie das Militär uns alle glauben machen wollte. Statt vor dem Fernseher jubelnd Bierflaschen zu schwenken, während siegreiche Truppen durch Bagdad rollten, bekamen die Amerikaner zur besten Fernsehzeit endlose Flüchtlingsströme zu sehen, Säuglinge, die an Kälte und Cholera starben, verzweifelte Menschen auf der Suche nach Nahrung und Medikamenten, die an den Grenzen besetzter Gebiete von alliierten Truppen geschlagen wurden. Die Medien erinnerten die Leute zu Hause, daß eine gewonnene Schlacht noch kein gewonnener Krieg ist. Eine Menge Information wurde dank jenen patriotischen Militärs, die scharfsinnig genug waren, an Schadensbegrenzung zu denken, buchstäblich für immer in der Wüste begraben. Dennoch fand man Arme und Beine, die aus dem Sand ragten, wo Räumpanzer mit ihren Planierschilden feindliche Soldaten in ihren Stellungen zugeschüttet hatten. Je mehr Einzelheiten bekannt wurden, desto stärker geriet das Gesamtbild in Gegensatz zum amerikanischen Ideal des ›Guten Sauberen Krieges‹. Wieder begann die öffentliche Meinung langsam umzuschlagen. Die Regierung bastelte eilig eine Reihe von Nahost-
Friedenskonferenzen zusammen, besorgt um das, was einmal eine todsichere Außenpolitik gewesen war, und bemühte sich, innenpolitischen Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen. Statt den Weg von Meinungsumfragen zu gehen, welche die Nachrichten widerspiegelten, machten die Medien die Meinungsumfragen selbst zur Nachricht und zerbrachen jeden, der ihnen im Weg war. »Meinungsumfragen beweisen Popularitätsverlust des Präsidenten! Werft ihn hinaus …« Einstweilen kehrte der Nahe Osten wieder zu seinen gewohnten Geschäften zurück. Während der Westen in seiner blinden, ungeschickten Arroganz fortfuhr, seine Version von Wahrheit und Gerechtigkeit und die amerikanische Art, Geschäfte zu machen, den Völkern des Nahen Ostens nahezubringen, gingen die Saudis und Kuwaitis wieder ihrer traditionellen feudalen Repression nach, und die Israelis und Palästinenser stritten endlos um Land und von welcher Farbe die Tapeten für die nächste Friedenskonferenz sein sollten. Die Jordanier importierten insgeheim dringend benötigtes Öl von den unbußfertigen Irakern, die Iraner erneuerten ihre Aufrufe zum Befreiungskampf gegen die imperialistischen Unterdrücker Amerika und Israel zum größeren Ruhme Allahs, die verfolgten Ägyptischen Fundamentalisten gingen dazu über, Touristen zu massakrieren, und die Algerier fingen an, einander zu massakrieren. Die Syrer ließen die Libanesen nach ihrer Pfeife tanzen, und beide zusammen wehrten die Umarmungsversuche der Libyer ab, während Ghaddafis Garderobe immer bizarrer wurde. Es dauerte lange, bis eine als Friede bejubelte Erschöpfung sich über die Wüste herabsenkte. Inzwischen hatten die meisten Berichterstatter ihre Sachen gepackt und waren abgereist, und
die glücklosen Nachzügler mußten mit den zerpflückten Überresten vorliebnehmen. Der amerikanische Appetit war und ist entschieden selektiv. Die Zahl der in der Wüste herumliegenden panzerbrechenden 50-mm-Urankerngranaten ging in die Millionen, aber irgendwie fand das nie einen Weg in die Nachrichten. Die steil ansteigende Zahl von Fehlgeburten bei Beduinenfrauen und das Vorkommen von Lämmern mit zwei Köpfen waren so weit entfernt und verfielen so leicht der Nichtbeachtung wie die im Flugsand pulsierende schwache Strahlung. Von Zeit zu Zeit war ein hübscher sauberer Luftangriff auf die fanatischen Lumpenköpfe der Wüste vielleicht gut für ein paar zusätzliche Punkte auf der Beliebtheitsskala des Präsidenten, unabhängig davon, wer gerade Präsident war, aber schließlich wurde auch das ein alter Hut. Die Amerikaner haben immer das Bild des einsamen Rangers als Symbolfigur des Gutmenschen in Ehren gehalten, während sie in zunehmendem Maße abgeneigt sind, sich mit etwas Größerem als einem Ameisenhaufen anzulegen. Es machte Spaß, den Moslems ein bißchen in den Hintern zu treten, sich ein wenig aufzuplustern und an die Brust zu schlagen, ihnen die ermordeten Geiseln und gebombten Flugzeuge heimzuzahlen und all die wirklichen oder eingebildeten Beleidigungen und Verletzungen zu rächen. Irak war ein zahnloser Tiger ohne Rückgrat, Somalia ein Haufen von abgerissenen Fünfzehnjährigen. Wir zeigten den Wodu-Animisten in Haiti, wo es langgeht, aber während Bosnien wenigstens weiß war, waren die Leute Moslems und hatten kein Öl. Außerdem war das Europas Problem. In die Sache mit Khuruchabja wurden wir gegen unseren Willen hineingezogen, versteht sich.
Es wird immer irgendwo eine neue Krise geben, um den unersättlichen Appetit des Publikums zu befriedigen; eine weitere führende Persönlichkeit ermordet, ein weiterer Börsenkrach in der Wall Street, ein weiteres Erdbeben, eine weitere Nation, die blutige Unabhängigkeit erklärt, eine weitere Präsidentschaftskampagne und eine weiterer Präsident, ein weiterer wirtschaftlicher Rivale, der eine aufs Dach bekommen muß, ein weiterer saftiger Mordskandal um einen Filmstar, ein weiterer Bürgerkrieg, immer weiter. Das sind Nachrichten. Le plus c'est change. Schon wird die leicht zu beeinflussende öffentliche Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Aber die traditionelle Form der Berichterstattung war unwiederbringlich dahin. Die Medien waren gereift, die Vierte Gewalt wurde ein Machtfaktor, mit dem gerechnet werden mußte, geschmiedet im Feuer der Unzufriedenheit. Die sich entwickelnde Demokratie elektronischer Information fütterte eine nachrichtenhungrige Welt schneller und gesicherter. Staubigen Beduinenzelten entsprossen illegale Satellitenschüsseln, mit Draht an Zeltstangen befestigt, und sogen die gleichen Ätherwellen ein, die über Kabel in die Wohnzimmer in Kansas City gepumpt wurden. Die Medien erstürmten die Strände um Mogadischu mit ihren Kameras und Blitzlampen, bevor die Marinesoldaten ihre Stiefel naß machten. In Sarajewo und Bihac konnten Fotografen ungehindert gehen, wohin bewaffnete UN-Friedenstruppen sich nicht wagten. Reporter erreichten die Linien der Tschetschenen, bevor russische Truppen überhaupt wußten, daß sie da waren. Als in Khuruchabja der Krieg begann, hatten Journalisten bereits jedes verfügbare Hotelzimmer gebucht.
Nationalitäten bedeuten weniger als journalistische Angliederungen, und unsere ›Nachrichtengrenzen‹ werden eifersüchtig bewacht. Wir haben unsere eigenen Waffen und Methoden zum Schutz unserer Leute, während wir verschiedene Regierungen mit der ständigen Drohung in Schach halten, ihre ruchlosen Aktivitäten bloßzustellen. Und sie sorgen mit den üblichen Lügen, Subversionsmethoden und Unterdrückungsmaßnahmen dafür, daß wir nicht zu anmaßend und übertrieben zuversichtlich werden. Aber als ich dasaß und Laidcliff zuhörte, hatte es nicht den Anschein, daß wir am Zug waren. »Sie sind ein redlicher Journalist«, fuhr Laidcliff fort. »John Halton wird mit Ihnen als GBN-Fotograf nach Khuruchabja gehen. Es ist eine vollkommene Tarnung, weil Sie praktisch nichts mit uns zu tun haben.« »Und was soll mich daran hindern, die Geschichte publik zu machen, sobald ich zurückkomme?« Natürlich wußte ich, was, aber ich wollte, daß er es aussprach. »Werden Sie mich mit den üblichen ›wir wissen, wo Sie wohnen‹, oder ›Sie werden nie wieder in diesem Universum arbeiten‹ unter Druck setzen?« Er konnte mir drohen, aber was immer er mit Arlando ausgehandelt hatte, beraubte seine Einschüchterungen der Zähne. Die Bundesbehörden können sehr unangenehm sein, aber wir auch. »Nein«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß das notwendig ist.« Dann blickte er zu Arlando. »Oder?« Der Chef sah aus, als hätte er eine sehr große Kröte geschluckt. Hmm. »Ich gehe nicht nach Khuruchabja zurück«, hörte ich mich mit ruhiger Stimme sagen. War ich doch letztes Mal nur mit
knapper Not davongekommen, dachte ich bei mir. So etwas beeindruckte Laidcliff nicht. »Es ist nicht meine Aufgabe, Spione in ausländischen Regierungen unterzubringen, das ist Ihre Stärke. Meine Aufgabe ist es, Sie dabei zu erwischen, und Sie machen es mir nur zu leicht.« »John ist kein Spion, er ist lediglich ein Berater«, erwiderte Laidcliff so unschuldig wie ein Zweijähriger mit Schokolade um den Mund. Ich lachte rauh. »Ich bitte Sie! Was waren dann all diese Infrafusionsbomben mit Ihren Fingerabdrücken? Ach ja, richtig, ich erinnere mich: ›landwirtschaftliche Maschinen‹.« »Das können Sie uns nicht anhängen«, sagte Laidcliff mit schmalen Augen. »Das war vor der Verschmelzung des Außenministeriums mit …« »Beruhigen Sie sich, alle beide«, sagte Arlando sanft, und wie empörte Schulkinder hörten wir auf zu zanken, durchbohrten einander aber um so unversöhnlicher mit unseren Blicken. Halton saß noch immer aufrecht an seinem Platz, blickte aufmerksam wie ein gut ausgebildeter Polizeihund, der an den eigenartigen Possen seiner Herren interessiert ist, ohne sie zu verstehen. »Ich könnte nicht einmal eine anständige Geschichte daraus machen, also gibt es absolut keinen Anreiz für mich«, sagte ich zu Arlando, und dann zu Laidcliff: »Und ich habe mich durch Drohungen noch nie einschüchtern lassen, merken Sie sich das.« Ich lächelte süß. »Ich sagte nie, daß es keinen Anreiz geben würde.« Laidcliff gab vor, belustigt zu sein. »Sie fragten nur, was Sie daran hindern würde, diese Geschichte zu enthüllen.«
Ich dachte einen Moment darüber nach, dann beäugte ich wieder Arlando. Er zog bloß die Brauen hoch, was Bände sprach. Ich fragte mich, ob er bestochen oder erpreßt worden sei, aber so oder so, ich begriff, daß ich nach Khuruchabja zurückkehren mußte, ob ich wollte oder nicht. Es kam nur noch darauf an, aus einem schlechten Geschäft herauszuholen, was möglich war. »Wenn Sie etwas durchsickern lassen wollen, kommt es zuerst zu mir. Exklusiv. Und es sollte gut und vollständig sein.« Es war nicht viel, aber wenigstens etwas. Lecks sind ungefähr das einzige wirkliche Mittel halbwegs aufrichtiger Kommunikation zwischen den Medien und staatlichen Behörden. Der Wettbewerb im Nachrichtengeschäft ist halsabschneiderisch, und GBN hatte Mühe, sich auf dem zweiten Platz zu behaupten. Wir sind die Nummer zwei, also müssen wir härter arbeiten, um uns über Wasser zu halten. Laidcliff grinste haifischartig, triumphierend. Wir besprachen die Einzelheiten der Planung, dann standen außer mir alle auf. »Bis morgen«, sagte Laidcliff zu mir, dann zu Arlando: »War mir ein Vergnügen.« Er legte Halton eine Hand auf die Schulter. »Gehen wir, Johnny.« Halton wandte sich dem Chef zu. »Auf Wiedersehen, Sir«, sagte er unglaublich höflich. Arlando zögerte einen Moment, dann streckte er ihm die Hand hin. »Viel Glück«, sagte er. Ich bewunderte Arlando. Echte Klasse. Halton schüttelte ihm die Hand, und Laidcliff kicherte. Halton warf mir einen Blick zu und machte nicht einmal den Versuch. Ich hatte kein Verlangen, ihn zu berühren. »Bis später«, sagte ich und hob grüßend die Hand. Halton
nickte und folgte dem anderen hinaus. Arlando ließ mich in seinem Büro sitzen, ohne in den nächsten Minuten etwas zu sagen, ließ mich überlegen, während ich mich der Fuhre Mist anpaßte, die mir auf den Kopf gefallen war. Arlando war einer der wenigen, die wußten, was ich in Khuruchabja durchgemacht hatte und warum ich nicht dorthin zurückkehren wollte. Schließlich sagte er: »Sie können noch zurück, Munadi. Ich kann Sie nicht zwingen, es zu tun.« Ich schnaubte. Es war pro forma, das wußten wir beide. »Danke, Chef.« »Hören Sie, erledigen Sie einfach Ihre Mission und kommen Sie zurück. Es ist kein Arbeitsauftrag, es gibt keine Recherchen, keine Geschichte. Verstricken Sie sich nicht.« Was immer Laidcliff und seine Oberen gegen Arlando in der Hand hatten, es mußte ein böses Druckmittel sein. »Soll mir recht sein«, sagte ich verdrießlich. »Aber dafür schulden Sie mir einen großen Gefallen.« Er lächelte und nickte. »Nun, wie wollen Sie die Sache anfassen?« Ich seufzte. Verdammt. Ich befingerte eine Locke meines schulterlangen Haars. Und ich hatte es so nett herrichten lassen. »Wie letztes Mal.« Arlando rief die Vertragsabteilung an, während ich zum Friseur ging.
2 »GUTEN TAG UND DANKE, daß Sie mit Abmerican Orbital fliegen«, sagte die Frau am Abfertigungsschalter, ganz professionelles Lächeln. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?« Ich stellte meinen Koffer neben einem nagelneuen Portanet ab und gab ihr meine Flugkarte. »Bitte den Paß.« Es ist eine schlechte Gewohnheit von Journalisten, die Leute schon auf den ersten Blick in Kategorien einzuteilen. Als sie rasch die Papiere durchsah und ihre perfekt manikürten langen Nägel (meine hatten am Vortag noch genauso gut ausgesehen) über die fälschungssicher eingeschweißten Seiten des Reisepasses kratzten, hatte ich sie schon eingeordnet. Nicht hübsch genug, um vor der Kamera zu stehen, aber klug genug, sich nach der Decke zu strecken und das Beste daraus zu machen. Sie blickte auf und verglich mein Gesicht mit dem Paßfoto. Laidcliff hatte Flugkarten Erster Klasse besorgt, nicht aus Wohlwollen, sondern weil die Abfertigung in einem eigenen Raum und ohne Wartezeit stattfand. Er und Halton standen hinter mir. Ich habe zwei Pässe, beide gültig und mehr oder weniger legal. In meinem persönlichen Paß ist mein Name als Kahlili und mein Geschlecht als weiblich angegeben. Dann habe ich meinen speziellen Paß mit dem Journalistenvisa für bestimmte Arbeits-
gebiete, einen, den ich seit Jahren nicht gebraucht hatte und der äußerlich mit dem anderen identisch war. Nur war mein Vorname hier auf die Initialen K. B. zusammengeschrumpft, und mein Geschlecht als männlich angegeben. Als ich in einem weißen Hemd mit Seidenkrawatte und Anzug zum Flughafen gekommen war, das Haar im Bürstenschnitt frisiert, hatte Laidcliff sich kaum das Lachen verbeißen können. Halton hingegen hatte mit keiner Wimper gezuckt. Ich hatte es auch nicht von ihm erwartet. Hinter dem Milchglas der Trennwand waren die verschwommenen Schatten anderer Passagiere zu erkennen, die an benachbarten Schaltern abgefertigt wurden, aber die einzig hörbare Konversation war unsere eigene. »Reisen Sie allein?« Sie blickte zu meinem Begleiter. »Wir gehören zusammen.« Ich zeigte mit dem Daumen in Haltons Richtung, ohne mich nach ihm umzusehen. »Fenster oder Mittelgang?« »Mittelgang.« Die Frau stellte die üblichen Fragen und versah die Flugkarte mit dem Aufkleber der Platznummer. Mein Koffer entschwand auf dem Transportband, während sie das Portanet, das ich als Reisegepäck bei mir behielt, durch die Sicherheitsschleuse zog. Dann mußte ich die rechte Hand auf das weiße Tastfeld legen, und ihr Bildschirm lieferte das dazu passende Bild, freilich etwas schmaler und jünger. Es piepte, und mein Paß wurde ausgespuckt. Sie gab ihn zurück, ohne ihr professionelles Lächeln einen Augenblick zu unterbrechen. »Danke, Sir.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf Halton. Ihr Lächeln leuchtete sichtlich auf. »Ihren Paß, bitte.«
»Er hat keinen«, sagte Laidcliff, dem die Sache offensichtlich Spaß machte. Sie sah überrascht aus, dann noch mehr, als er seinen Dienstausweis vorzeigte. Aber meine Einschätzung von ihr war richtig. Laidcliff entfaltete Haltons Papiere, und sie las alles rasch und verständig durch. Als sie wieder zu Halton aufblickte, waren ihre Augen ausdruckslos. »Ich werde das zur Genehmigung vorlegen müssen«, sagte sie. »Würden Sie bitte hier einem Moment warten?« »Für dich tun wir alles, Schätzchen«, sagte Laidcliff mit anzüglichem Grinsen. Ihr professionelles Lächeln zuckte einen Millimeter abwärts, die einzige Andeutung von Abneigung. Kurz darauf kehrte sie zurück, begleitet von einer älteren Version ihrer selbst, kühl und sachlich. Schweigend überprüfte die Vorgesetzte die Papiere, dann reichte sie sie mir. »Sind Sie bereit, zu bestätigen, daß Sie der eingetragene Eigentümer sind, Mr. Sulaiman?« fragte sie mich höflich. »Befristet«, murmelte ich, als ich die Papiere zusammenfaltete und in die Seitentasche des Portanet steckte. »Wie bitte?« »Ja«, sagte ich mit klarer Stimme und richtete mich auf. »Ich erkläre, daß Mr. Halton wirklich mein persönlicher Leibwächter ist.« Denn so stand es in den Papieren. Es ist selten, aber nicht unvorstellbar, daß schwerreiche Leute Biokonstrukte wie Halton als Leibwächter besitzen, oder daß Regierungsstellen sie hochrangigen Beamten und Politikern zur Verfügung stellen, Leuten, die im allgemeinen der gleichen Gesellschaftsschicht angehören. Natürlich fliegen schwerreiche Leute gewöhnlich
nicht mit Linienmaschinen, so daß die Erfahrung des Personals der American Orbital begrenzt sein mußte. Journalisten, die meistens Touristenklasse fliegen, haben natürlich keine Gehälter, die ihnen einen Luxus wie eigene Leibwächter gestatten, aber der grinsende Laidcliff mit seinem Regierungsdienstausweis überspielte alle Eigentümlichkeiten der Situation. »Alles scheint in Ordnung«, sagte die Aufseherin und übergab Halton seine Flugkarte. »Wenn Sie und … ah … Mr. Halton in unserer Wartehalle mit Erfrischungsbar warten wollen, werden wir Sie dort aufrufen.« Ich hängte mir mein Portanet über die Schulter und ging zur Wartehalle durch, ohne darauf zu achten, ob das dynamische Duo folgte. Die ganze Geschichte war mir verhaßt und ich wollte nichts, als sie hinter mich bringen. Ein magerer Jüngling im Kellnerfrack nahm unsere Bestellungen bei der Erfrischungsbar entgegen, und wenn der Klatsch inzwischen bis zu ihm gedrungen war, ließ er sich nichts davon anmerken. Halton trank nicht, und Laidcliff nahm Gin und Mineralwasser, während ich einen Scotch pur bestellt. Ohne Eis. »Das Getränk des echten Mannes«, witzelte Laidcliff. »Am Arsch«, murmelte ich und trank, während er schmunzelte. Ich wartete darauf, daß er auch noch eine dumme Bemerkung über meine sexuellen Vorlieben machen würde, aber er ersparte mir das. Ich glaube, ich wäre imstande gewesen, ihm eine Ohrfeige zu geben, wenn er es getan hätte, um auf diese Weise meine ›Männlichkeit‹ zu beweisen. Für jemanden, der von mir wollte, daß ich als Gefälligkeit für eine Organisation, die mir ohnedies unsympathisch war, etwas in feindliches
Territorium schmuggelte, war Laidcliff nicht sehr anerkennend. Aber ich hatte früher schon mit seinesgleichen zu tun gehabt und wußte, daß rüdes Benehmen ein Geburtsfehler war. Ein aufgeklärter und nachsichtiger Mensch sollte es ihm nicht übelnehmen. Zu dumm, daß ich kein aufgeklärter, nachsichtiger Mensch bin. Nach einer nicht endenwollenden Wartezeit von zehn Minuten oder so erschien eine blauuniformierte Stewardess der American Orbital. »Erste Klasse bitte zu Flugsteig Sieben«, sagte sie, und in der Wartehalle raschelte es, als Zeitungen zusammengefaltet, Aktentaschen geschlossen, Laptopcomputer zugeklappt und Flugkarten ein weiteres Mal überprüft wurden. Laidcliff ging mit uns, als wir in der kurzen Schlange der Passagiere Erster Klasse zur Flugkartenkontrolle schlurften. »Na, dann viel Spaß«, sagte er, als wir die Flugkarten vorzeigten. »Schick mir eine Postkarte, Halton.« »Ja, Sir.« Haltons bescheidenes Lächeln war unerschütterlich. »Wir sprechen uns später, Ka Be«, sagte er zu mir, dann lachte er und grinste anzüglich. »Er gehört ganz Ihnen.« In diesem Augenblick nahm ich mir vor, es Laidcliff heimzuzahlen, so oder so. Er war bloß der typische überhebliche Geheimdiensttyp, und jede Vergeltung würde entsprechend kleinkariert ausfallen, aber die nächsten Stunden unterhielt ich mich, indem ich mir verschiedene kreative Vergeltungsszenarien ausmalte. Ich beugte mich zu ihm, legte ihm eine Hand leicht auf den Arm und lächelte so süß wie möglich. »Sei unbesorgt, Liebster«, sagte ich mit tiefer, erotischer Stimme. »Ich spare mich für dich auf.« Ich spitzte die Lippen und hauchte ihm einen Kuß zu.
Seine Reaktion war köstlich anzusehen. Seine Augen sagten ihm, daß ich ein Mann sei, bevor sein Gehirn sich einschaltete und ihn erinnerte, daß ich in Wirklichkeit eine Frau war. Dann blickte er hastig umher, besorgt, jemand könnte mich gesehen und gehört haben und denken, er sei mit einem Schwulen. Nun war es an mir, zu lachen, und er ging schnell fort. Sein Nacken über dem Kragen war rot. Ein Orbitalflug ist ziemlich genau wie jeder andere Flug, obwohl meine Flugerfahrung sich bis dahin auf die Touristenklasse beschränkt hatte: enge Sitze zusammengedrängt wie Sardinen, Plastikmahlzeiten, gestreßte, überarbeitete Stewardessen und nie genug Zeitschriften und Kissen. Aber sie ist immer noch besser als die Sargklasse, von den Fluggesellschaften als ›Extra Economy Schlafabteil‹ angepriesen. Unter uns im Bauch des Raumtransporters waren Reihen von im Dämmerzustand liegenden Fluggästen in engen Fächern übereinandergestapelt und ›schliefen‹ während der gesamten Flugdauer, so daß Stewardessen, Mahlzeiten und Kaffee eingespart werden konnten. Wenn wir abstürzten oder explodierten, würden sie es nie wissen, was manche für einen Vorteil hielten. Wenn ich in Flammen untergehen muß, möchte ich auch lieber dort sein. Ich habe das Prinzip einer abgeteilten Ersten Klasse in Flugzeugen immer mißbilligt. Schließlich heißt es, daß wir in einer egalitären Gesellschaft leben, zumindest in der Theorie, nicht wahr? Ich empfand es als unangenehm und peinlich, unter den verwöhnten und versnobten Vertretern einer nur durch Geld definierten Oberschicht zu sitzen und mich von vorne und hinten bedienen zu lassen, während der unerfreuliche Anblick
gewöhnlicher Reisender, in so dicht zusammengepackte Sitze gezwängt, daß sie es schwer hatten, die Knie aus den Nasenlöchern herauszuhalten, durch eine ästhetisch in Edelholzfurnier gehaltene Trennwand auf Distanz gehalten wurde. Andererseits gefiel mir der unbegrenzte, kostenlose Ausschank von Alkoholika aller Art, um die Flugzeit auf angenehme Weise abzukürzen. »Möchten Sie Champagner?« fragte der Steward höflich, als wir den Start erwarteten. Laidcliff hatte mir den Geschmack an Scotch verdorben. »Schraubenzieher, wenn Sie einen haben. Doppelten Wodka.« »Selbstverständlich, Sir.« Er blickte erwartungsvoll zu Halton. »Irgend etwas für Sie, Sir?« schnurrte er. Halton sah mich an und wartete. »Fragen Sie nicht mich, mir ist es gleich«, sagte ich. »Haben Sie vielleicht einen Single Malt?« fragte Halton. »Ist Glenfiddich in Ordnung?« »Das wäre fein, danke.« Als der Steward zum nächsten Genießer ging, der sich mit einem Teller Hors d'œuvre in seinem weichen Sitz räkelte, sagte Halton leise: »Ich werde nicht betrunken. Aber ich mag den Geschmack.« Er schien völlig entspannt und gefaßt. »Sie brauchen sich vor mir nicht zu rechtfertigen«, sagte ich. Ich war weder entspannt noch gefaßt und wollte den Alkohol, um meinen Bammel zu betäuben. Halton beobachtete mich ein paar Augenblicke in ruhiger Einschätzung, dann ließ er mich in Ruhe. Der Raumtransporter startete, und ich trank einen Schraubenzieher nach dem anderen, so rasch wie der Steward sie
bringen konnte, während Halton gemächlich seinen Whisky trank und in dem Hochglanzmagazin der American Orbital blätterte. Draußen nahm der Himmel ein tieferes Blau an. Von meinem Platz aus konnte ich die Erdoberfläche nicht sehen, wußte aber, daß die Krümmung früher oder später in Sicht kommen würde. Es war kein langer Flug, aber wenn man Erste Klasse fliegt, müssen sie einem zeigen, daß man wirklich erstklassig fliegt. Als wir starteten, war es vierzehn Uhr Ost-Zeit, gerade noch passend, um es als Essenszeit anzusehen. Der Pilot hatte kaum das Fahrwerk eingezogen, als die Stewards schon hereingeeilt kamen und das Silberbesteck austeilten. Echt Silber, Leinenservietten. Der Kaviar war Beluga vom Kaspischen Meer, der poschierte Lachs mit Fettucini wurde auf Limoges-Porzellan serviert, und der Kaffee war frisch gemahlen, beste Hochlandqualität. Ich aß, weil es sonst nichts zu tun gab, und außerdem zahlte jemand anders dafür. Aber nach dem Kaffee trank ich einen weiteren Cocktail. Dieser wurde in einem Saugglas mit Magnetboden serviert, der in eine Vertiefung des Tabletts paßte, ein sicheres Zeichen, daß wir bald die Nabelschnur der Gravitation durchschneiden würden. Mittlerweile hatte ich genug Wodka konsumiert, daß die Spannung, die sich seit dem Vortag zwischen den Schulterblättern und über den ganzen Schultergürtel ausgebreitet hatte, allmählich gelöst wurde. Mein voller Magen machte mich lethargisch, mein Kopf fühlte sich leicht betäubt an. Als ich wieder zum Fenster hinausschaute, war der Himmel schwarz geworden. Halton blickte mich mit leicht geweiteten Augen an. Er öff-
nete seinen Sicherheitsgurt und ließ den Körper ein paar Handbreit über dem Sitz schweben. Dabei grinste er mich mit einem breiten, aufrichtigen Kindergrinsen in erstaunter Freude an. Ich lachte, vergaß einen Moment, wessen Werkzeug er war. »Sind Sie zum ersten Mal in einem Raumtransporter?« Er zog sich wieder hinab und befestigte den Sicherheitsgurt. Mir schien, daß er verlegen war. Er war sympathisch in seiner verlegenen Zurückhaltung. »Ja«, gab er zu. »Ich bin nicht gerade ein Weltreisender.« Nach einer Pause setzte er hinzu: »Tatsächlich ist es das erste Mal, daß ich außerhalb von Virginia bin.« »Wirklich?« Ich schmunzelte. »Nun, jedenfalls haben Sie das verbindliche und weltläufige Auftreten kultivierter Lebensart gut drauf.« »Eingebaut.« Ich erwiderte sein Lächeln, bevor mir einfiel, wer und was er war. Ich hatte mich hereinlegen lassen. »Natürlich«, sagte ich kalt. Sofort kam ich mir wie ein Tölpel vor; er sah verdutzt und ein wenig verletzt und traurig aus, bevor seine höfliche kleine Maske wieder ihren Platz einnahm. Der reservierte Ausdruck war makellos. Ich war überrascht; es war mir nicht eingefallen, daß Biokonstrukte sich verletzt fühlen konnten. Ich überlegte, ob ich mich entschuldigen sollte, dann dachte ich mir, daß es genau das sei, was er von mir wollte. Halton war bloß ein weiterer CDI-Agent, der versuchte, meine Sympathie für die verdeckten Pläne seines Amtes zu manipulieren. Ich hatte nicht die Absicht, den Geheimdienstleuten mehr Zusammenarbeit zu geben, als ich mußte, und versuchte mich zu überzeugen, daß die Entschuldigung bei einer Biomaschine ungefähr so viel Sinn
ergeben würde, wie einen Mikrowellenherd um Verzeihung zu bitten. Aber es gelang mir nicht gut. Halton wandte sich wieder seinem Magazin zu und blickte aus dem Fenster, als der Raumtransporter den Kurs änderte und die Erde auf einmal über uns statt unter uns war. Irgendwann während des Fluges schlief ich ein und erwachte gerade rechtzeitig, um einen Stern zu sehen, der alle anderen überstrahlte. Auf der Bildröhre, die in die Sitzlehne vor mir eingebaut war, schwelgte Chad McQueen in Allison Eastwoods Armen. Beide waren spärlich bekleidet und schwitzten kunstvoll in einem afrikanischen Dschungel, der nur in den Studios der Produktionsfirma heimisch sein konnte. Halton lauschte mit einem Ohrenstöpsel für italienisch, während er eine Nummer des Cosmopolitan überflog. Eine weitere Stunde verging, die vom Raumtransporter größtenteils für Bremsmanöver zur Annäherung an die ClarkeOrbitalstation gebraucht wurde, die allmählich größer und größer wurde. Im Vakuum des Raums sieht alles näher aus als es wirklich ist. Als wir andockten, drückten die Anfänge eines intensiven Katers die Stirnlappen meines Gehirns wie mit einer bösartigen Faust zusammen. Wir mußten an Bord warten, als der Raumtransporter in den Aufzug eingeklinkt und abgesenkt wurde. Die Illusion von Schwerkraft begann sich bemerkbar zu machen. Sie war geringer als die auf Erden, aber nicht so leicht, daß wir wie Känguruhs herumspringen konnten. Das Hilton war nur eines von mehreren internationalen Hotels in der Clarke-Orbitalstation. Diese war ein riesiges, doppeltes Halbrad, ähnlich dem sogenannten Hammer, den ich als Kind auf Jahrmärkten und Volksfesten gekannt hatte. Die
Andockbuchten waren genau in der Mitte. Eine Seite war dort für ankommende und startende Raumtransporter offen, die andere Seite an einen Sonnenkollektor angeschlossen, der senkrecht zur Station stand. Die Oberfläche des Kollektors stand still, während die Station an der Achse wie ein riesiger langsamer Kreisel in geosynchroner Umlaufbahn rotierte. Zwei gigantische Speichen, die zu den gegenüberliegenden Enden der Station führten, waren mit einer gekrümmten Serie von Bogensegmenten verbunden. Beide Enden rotierten umeinander und wurden ›Südpol‹ beziehungsweise ›Nordpol‹ genannt. Jede Orbitalstation – es gab nur drei, die vierte war noch nicht fertig – war so konstruiert, daß die Pole weit genug auseinanderlagen, um die Corioliskraft in den zwei rotierenden Hälften zu minimieren. Minimiert oder nicht, genau wie die Fahrt mit dem Hammer in meiner Kindheit hatte sie noch immer die Tendenz, manchen Leuten Übelkeit zu verursachen, besonders Neuankömmlingen, die vorher ein halbes Dutzend doppelte WodkaSchraubenzieher konsumiert haben. Die Hotelpagen des Südpol-Hilton nahmen mir schnell und geschickt das Portanet aus der Hand und beförderten uns im Nu zum Empfangsschalter und dann mit unserem Gepäck in den Aufzug und unsere Zimmer, bevor ich Belugakaviar und Lachs um mich spuckte. Die nächsten paar Stunden verbrachte ich ausgestreckt auf dem Hotelbett, stöhnte mitleiderregend und stand nur auf, um mich zu übergeben. Einmal klopfte Halton vorsichtig an die Verbindungstür zwischen unseren Zimmern. »Fehlt Ihnen was? Kann ich etwas tun …?« rief er durch die Tür aus poliertem Walnußfurnier, und in seiner Stimme war
genau das richtige Maß mitfühlender Sorge. Ich fragte mich, ob und wenn ja wo er geübt hatte, um den Tonfall so vollkommen zu treffen. Ich hob den Kopf gerade lang genug vom Kissen, um »Hau ab!« zu keuchen, bevor mein Magen sich erneut zusammenkrampfte und ich eine Hand vor den Mund preßte, mich vom Bett wälzte und wieder mit brummendem Schädel zur Toilette wankte. Am Schluß war nichts mehr in meinem Magen, was er loswerden konnte; die Zeit und meine überarbeitete Leber säuberten den Blutkreislauf vom restlichen Alkohol. Ich schlief unruhig, wachte im Zwielicht auf, das von den ›Fenstern‹ des Hotelzimmers wohldosiert verbreitet wurde, um je nach der Zeitzone, aus welcher der Gast gekommen war oder die er aufsuchen wollte, die geeignete Beleuchtung zu liefern. Es nützte nichts; der Corioliseffekt sorgte so oder so zu einem Gefühl von Desorientierung. Man gewöhnt sich daran, sagten die Leute. Ich sah auf die Uhr. Zeit zum Abendessen. Oder vielleicht war es Frühstück. Der Wasserdruck in der Dusche war nicht ganz, was ich mir gewünscht hätte, aber das Wasser war heiß, und der Dampf half mir, die pochenden Kopfschmerzen zurückzudrängen. Das kurze Haar fühlte sich unter den Händen seltsam an, aber wenigstens trocknete es rasch. Es war so kurz geschnitten, daß ich es nicht einmal zu kämmen brauchte. Nachdem ich ein paar Aspirin genommen hatte, saß ich in einem Badetuch auf der Bettkante und rauchte eine Zigarette, während ich im Spiegel mein maskulines Ebenbild betrachtete. Ich warf mir eine ironische Kußhand zu.
Frisch angezogen, überlegte ich einen Moment, ehe ich an die Verbindungstür klopfte. »Es ist nicht zugesperrt«, hörte ich ihn sagen. Als ich die Tür öffnete, lag er angekleidet auf dem Bett und las ein Buch. Mit dem Kissen im Rücken ans Kopfende gelehnt, die Beine ausgestreckt und an den Knöcheln übereinandergeschlagen, blickte er mich erwartungsvoll über das Buch hinweg an. »Ich gehe zum Abendessen«, sagte ich, nachdem ich überlegt hatte, daß es die richtige Mahlzeit sein mußte, und fügte zögernd hinzu: »Wenn Sie mitkommen wollen …« »Danke, das ist sehr freundlich, aber ich habe mir bereits vom Zimmerservice Essen bringen lassen.« »Ah …« Ich sah die zugedeckten Reste auf einem Teewagen stehen und warten, daß sie abgeholt würden. »In Ordnung.« Ich hatte ein schlechtes Gewissen, wollte wenigstens Frieden schließen und wußte nicht wie. Ich hatte nicht viel Übung. Einen Augenblick lang stand ich einfältig da und suchte nach Worten, dann zuckte ich die Achseln. »Nun, dann bis morgen.« Er sah aus, als ob er noch etwas sagen wollte, dann lächelte er nur dieses nervtötende kleine Lächeln. »Gute Nacht.« Ich aß allein, ließ das meiste von der Mahlzeit auf dem Teller, weil mein Magen noch immer rebellierte, um schließlich wieder auf mein Zimmer zu gehen. In Haltons Zimmer war alles still, kein Lichtschein war unter der Verbindungstür zu sehen. Ich schaltete den Fernseher ein, ging die Kanäle durch, prustete verächtlich über unsere Konkurrenz, bis ich den Nachrichtensender der GBN bekam. Ich stöpselte die englische Version ein und sah Lewis Marlows abgeschnittenen Kopf am Fußende meines Bettes schweben, wo er mit ernster Miene die Spätnach-
richten kommentierte. Lewis war für einen Journalisten in Ordnung, ein bißchen eitel, aber ein umgänglicher Mann, selbst wenn er nicht vor der Kamera stand. Ich fand ihn ziemlich amüsant. Er war so audiosensitiv, daß ich nach seiner Betonung sagen konnte, wer die Souffleuse war. »Hallo, Rylla«, murmelte ich und winkte verdrießlich dem Bild zu. »Gib ihnen Saures, Liebling.« Ich schlief im fremden Bett ein, fern von zu Hause, während die Stimmen der Ansager und Moderatoren weiterplätscherten und mir ihre Wiegenlieder sangen.
3 ALS ICH ZUM FRÜHSTÜCK an seine Tür klopfte, war Halton schon auf und bereit. Er ließ mich ein, dann legte er ein Blatt Hotelbriefpapier als Lesezeichen in sein Buch und legte es auf den Nachttisch. Es war ein altmodischer gedruckter Roman, nicht einmal ein Lesegerät. Überrascht sah ich den eselsohrigen Umschlag. Es war ein kitschiger Liebesroman in Hindustani. Die Umschlagillustration zeigte eine von Gold und Juwelen triefende Brahmanenprinzessin, die auf einem Elefanten tapfer dem zudringlichen Charme eines stattlichen Mogulfürsten widerstand. Ihr Sari war gefährlich durcheinandergeraten und bedeckte kaum ihren üppigen Busen, sie hatte den Kopf auf einem unmöglichen Schwanenhals zurückgebogen, und ihre mit Kohle schwarz umrandeten Augen blickten flehentlich zu den Göttern auf. »Was, zum Teufel, lesen Sie da für ein Zeug?« fragte ich, während ich die goldgeprägten anmutigen Sanskritlettern des Titels betrachtete. »Fürst Ramachandras gefangene Prinzessin«, sagte er. Beinahe hätte ich gelacht. »Ein schundiger Liebesroman? Ich hätte nicht gedacht, daß so etwas Ihr Interesse finden würde.« Halton war nicht im mindesten verlegen. »Ich lese alles, und dies war alles, was sie außer Zeitschriften und Magazinen
finden konnten«, sagte er. »Solche Bücher sind gut als Zeitvertreib. Kein Hirn, kein Stress, nicht wahr?« Ich schnaubte, und wir gingen frühstücken. Bei Orangensaft und poschierten Eiern wurden wir doch von einem jovialen dicken Mann unterbrochen, der in einen sehr teuren Anzug gezwängt war und eine Aktentasche bei sich hatte. »Ka Be!« rief er erfreut. »Ewig nicht gesehen! Was für ein Vergnügen, Sie hier zu treffen. Warum sagten Sie mir nicht, daß Sie kommen? Wir hätten denselben Transporter nehmen und uns über die alten Zeiten unterhalten können …« Ich konnte mich um alles in der Welt nicht auf seinen Namen besinnen. Er schüttelte mir energisch die Hand, dann wandte er sich zu Halton. »Und Sie müssen John Halton sein, Ka Bes Holo-Fotograf. Elias Somerton, freut mich, Sie kennenzulernen.« Er schüttelte Halton die Hand mit dem gleichen Enthusiasmus. Spionagezeit. Ich grinste. »Gott, Eli, alter Schwede«, sagte ich vergnügt. »Ich wußte nicht, daß Sie kommen würden. Wie geht es Frau und Kindern?« »Oh, gut, sehr gut. Macht es Ihnen was aus, wenn ich mich ein paar Minuten zu Ihnen setze?« »Überhaupt nicht, setzen Sie sich nur.« Ich wedelte zu einem freien Stuhl. »Also hat sie doch nicht die Scheidung eingereicht, wie? Haben Sie dann Ihre Geliebte abgeschafft?« Somertons Augen blitzten warnend, und seine Stimmlage fiel um ungefähr zwölf Oktaven. »Übertreiben Sie es nicht«, knurrte er, als er seine Leibesfülle auf den freien Platz schob. Er lächelte und plapperte, als der Kellner uns beäugte und überlegte, ob dieser Neuankömmling ein eignes Gedeck brauchen würde
oder nicht. »Ich will nicht mitten in Ihre Mahlzeit hineinplatzen«, sagte Somerton wieder in voller Lautstärke. »Hab eine Verabredung in …« – er schob sein Handgelenk aus dem Ärmel und blickte auf die Armbanduhr – »einer halben Stunde, aber ich schreibe Ihnen meine Nummer auf. Dann können wir zum Abendessen oder auf ein Gläschen oder was zusammenkommen. Bleiben Sie länger hier?« Das stellte den Kellner zufrieden, und er schlenderte davon. Somerton legte seine Aktentasche auf den Tisch und öffnete sie. Das Ding war anscheinend klug genug, seinen mechanischen Mund zu halten, während Somerton in den Fächern herumsuchte. »Der Schlüssel ist für ein Schließfach auf Ebene Zwei. Sie werden dort die optische Ausrüstung für Halton und alle Dokumente finden, die Sie brauchen werden, um nach Khuruchabja einzureisen«, sagte er mit kaum hörbarer Stimme. »Sobald Sie in Nok Kuzlat ankommen, wird jemand Verbindung mit Ihnen aufnehmen.« Seine Stimme legte einige Dezibel zu. »Da haben wir es schon.« Er zog einen Block und einen Schreibstift hervor und kritzelte etwas völlig Unleserliches, dann riß er das Blatt ab und schob es über den Tisch in meine Richtung. Der Schlüssel war zweifellos darunter. Ich stützte das Kinn in eine Hand, den Ellbogen auf der Tischkante, und bemühte mich, nicht laut herauszulachen. »Finden Sie nicht, daß Sie das Spionagemelodram ein bißchen dick auftragen?« sagte ich mit normaler Lautstärke. »Es ist wie in einem schlechten Film, bloß sehen Sie nicht gut genug aus, um die Hauptrolle zu spielen.« Er warf mir einen Blick zu, der Glas hätte schmelzen können.
»Tun Sie Ihre Arbeit, und wir tun die unsrige.« Er stand auf, um zu gehen. Das breite Grinsen paßte nicht zu dem kalten Blick. »Gott ja, ich wünschte, ich hätte etwas mehr Zeit, Ka Be. Wir bleiben in Verbindung, nicht?« »Natürlich, Eli, alter Knabe«, stimmte ich fröhlich zu, etwas lauter als wirklich notwendig. »Ciao, Grüße an die Familie.« Somertons Kiefermuskeln ballten sich zusammen, als er wütend grinsend die Zähne bleckte und ging. »Himmel, was für ein aufgeblasener Esel«, sagte ich zu Halton. »Freund von Ihnen?« Halton schüttelte den Kopf. Ich hob das Blatt Papier auf wie ein Kind, das ein Überraschungsei aufmacht. Richtig, unter dem Blatt war ein Magnetschlüssel für ein Schließfach, mit eingeprägter Nummer. »Siehe da, was haben wir hier!« »Versuchen Sie Aufmerksamkeit auf sich zu lenken?« fragte Halton ernst. Es war nichts Ermahnendes in seinem Tonfall, nur Neugier. Damit war mir der Spaß an der Sache verdorben, und ich steckte den Schlüssel in die Tasche, ohne zu antworten. »Verdammter Agentenscheiß, nervt mich total«, murrte ich vor mich hin. Den Rest unseres Frühstücks verzehrten wir wortlos. Ich mußte mir den Weg zu Ebene Zwei erfragen, und dort angekommen, noch einmal den Weg zu den Schließfächern. Diesmal erkundigte ich mich bei einem Arbeiter des Reinigungsdienstes der Station. Er trug einen schrecklichen gelben Overall und schien völlig verblüfft, daß jemand tatsächlich geruhen würde, mit ihm zu sprechen, und seine Wegweisung war so verwirrend, daß wir eine halbe Stunde in den Eingeweiden der Verwaltungsabteilung umherirrten, bis jemand es
bemerkte und uns auf den richtigen Weg brachte. Wenn jemand kommen und fragen würde, ob man uns bemerkt habe, würde man sich hier unten mit Sicherheit unserer erinnern. Wer sagte, daß ich jemals danach verlangt hätte, eine Spionin zu sein? Das Schließfach war ziemlich klein und eng, wie man es vielleicht für einen Jogginganzug und Turnschuhe braucht, aber nicht für einen Koffer. Die Holoausrüstung war in einige Teile auseinandergenommen worden, um sie unterzubringen, aber sie war nicht übermäßig unhandlich. Nicht, daß es mir viel ausgemacht hätte, da ich nicht diejenige war, die sie mit sich herumschleppen mußte. Am Boden des Schließfaches lag ein dicker Umschlag aus zähem Papier. Ich nahm ihn an mich, während Halton sich die Teile der Holoausrüstung umhängte, dann gab ich ihn ihm. Er betrachtete den Umschlag, drehte ihn um und hielt ihn mir hin. »Er ist nicht adressiert«, sagte er, als ob das alles erklärte. »Na und? Er ist offensichtlich für Sie. Machen Sie ihn auf.« Etwas huschte durch seine ausdruckslosen und kalten Augen. »Sie haben das Sagen«, erwiderte er. »Bis die Dokumente unterzeichnet und Seiner Exzellenz übergeben wurden, sind Sie legaler Eigentümer der Unterlagen.« »Nie im Leben«, murmelte ich, nahm den Umschlag aber zurück. Ich schob meinen nicht mehr zugefeilten und lackierten Fingernagel unter die Klappe und riß sie auf. Der Umschlag enthielt mehrere offiziell aussehende Visa und Beglaubigungen für Khuruchabja, ein Satz für K. B. Sulaiman, GBN-Journalist, und ein zweiter für John Halton, GBN-Fotograf, dazu ein auf
den Namen John Halton, amerikanischer Staatsbürger, ausgestellter Paß. Außerdem gab es einen Satz Blankovordrucke für einen Kaufvertrag-Eigentumsübertragung in englischer und arabischer Sprache, dessen Details später ausgefüllt werden mußten. Natürlich fand sich keine Erwähnung, von welcher Art die Ware sein sollte. Und schließlich eine ungekennzeichnete Mikroplatte. »Auch das noch«, sagte ich mißmutig, hielt sie ins Licht und sah die Regenbogenfarben über die durchscheinende Oberfläche schimmern. »Jetzt müssen wir obendrein Schmuggler spielen.« Ich steckte die Mikroplatte in ihre Schutzhülle und dann neben meine Kreditkarte in die Geldbörse. »Das wurde in der Auftragsbeschreibung nicht erwähnt. Vielleicht sollte ich das verdammte Ding einfach durch die Toilette spülen. Ich habe mich nicht bereit erklärt, als Schmuggler für Onkel Sam Kopf und Kragen zu riskieren.« Ich gab Halton seinen Paß. »Das könnte Ihnen später unerfreuliche Auswirkungen eintragen«, sagte er beiläufig. Er scherzte nicht. Beinahe übervorsichtig hielt er seinen gefälschten Paß in den Händen und untersuchte ihn mit äußerster Sorgfalt. Ich wartete und beobachtete ihn, während er behutsam die Rückseite berührte, als könnte er die darin gespeicherten Daten mit seinen Fingerspitzen abtasten. »Jetzt haben Sie einen gültigen Paß«, sagte ich. Er blickte auf. »Er ist nicht gültig«, sagte er. »Nur eine hinlängliche Imitation, um jede Kontrolle zu passieren.« »Was ist der Unterschied?« Er blickte wieder auf den Paß, bevor er ihn in seine Brieftasche steckte. »Alles«, sagte er mit lebloser Stimme.
Es war ein peinlicher Augenblick, zumindest für mich, als wir schweigend dastanden und einander ansahen. Ich schwankte einen Moment, unfähig, meine Reserve aufzugeben, selbst wenn ich es wollte. Schließlich zeigte ich mit dem Kinn zur Holoausrüstung. »Wissen Sie mit dem Zeug umzugehen?« fragte ich barsch, um das Thema zu wechseln. Wir würden als die übliche auf das Notwendigste beschränkte Feldmannschaft reisen; Halton würde neben der Holokamera für den Ton sorgen müssen, und ich würde mein eigener Regisseur sein. Nicht, daß wir mehr als Schauspielerei zur Tarnung beabsichtigten. »Ja, ziemlich gut.« »Fein.« Ich schloß das Schließfach, ließ den Schlüssel stekken, und wir gingen fort, zurück zum Hotel, um Haltons Ausrüstung abzuladen. »Dann brauche ich es Ihnen nicht zu zeigen.« Wir gingen zuerst in sein Zimmer. Ich bemerkte, wie abnorm sauber es war, als er die Ausrüstung vorsichtig auf den nachempfundenen Barocktisch stellte. Selbst wenn die Zimmermädchen mit einem Hotelzimmer fertig sind, gibt es gewöhnlich Hinweise darauf, daß jemand es tatsächlich bewohnt. Die übliche Ansammlung von Gegenständen auf dem Nachttisch, eine aufgeschlagene Zeitung, ein am Türhaken hängender Bademantel, ein Paar Schuhe, die unter dem Bett hervorschauen, und so weiter. Während Halton sich mit dem Zusammenbau der Holoausrüstung beschäftigte, schlenderte ich zur Tür des Bads und zog sie mit einem Finger auf, um hineinzuspähen. In meinem hatte ich Zahnbürste, Zahnpasta, Zahnseide mit Pfefferminzge-
schmack, Haarbürste und Kamm (überflüssig), eine Flasche Kölnisch Wasser, die ich als Rasierwasser ertragen konnte, Shampoo, Nagelfeile, Rasierapparat (auch überflüssig, aber gute Tarnung), eine Flasche mit ›Antihistaminen‹, die in Wirklichkeit die Aufgabe hatten, meinen Menstruationszyklus für ein paar zusätzliche Wochen zu unterdrücken, eine Schachtel Aspirin und einen Streuer mit rosafarbenem Talkumpuder, alles mit willkürlicher Nachlässigkeit über das Marmorregal unter dem Frisierspiegel ausgebreitet. Halton hatte einen marineblauen Kulturbeutel, nagelneu, mit geschlossenem Reißverschluß auf dem Regal unter dem fleckenlosen Spiegel. Ich tat einen Schritt zurück ins Zimmer, betrachtete das makellose Bad und fühlte mich unbestimmt gekränkt. Halton beobachtete mich. Wortlos ging ich an seinen Kleiderschrank, öffnete die Schiebetüren. Sein einziger Koffer lag auf dem obersten Regal, das Kombinationsschloß auf 0000 eingestellt. Drei Hemden mit Krawatten, eine Anzugjacke, zwei Hosen. Alles mit absoluter Präzision aufgehängt. Beim Öffnen der Schubladen inspizierte ich mehrere Paar Socken, makellos zusammengelegt, und diverse Garnituren Unterwäsche, so ordentlich gefaltet wie an dem Tag, als sie aus ihrer Verkaufspackung genommen worden waren. Ein tadellos zusammengelegter Pullover, ein ebenso tadellos gefaltetes Sporthemd. Ein zweites Paar Schuhe stand genau ausgerichtet neben den Schubladen. Ich starrte alles mit einem dumpfen Gefühl von Entrüstung an. Mit finsterer Miene schloß ich die Schranktüren, ging an Halton vorbei und öffnete die Schublade seines Nachttisches.
Nichts als der hotelübliche Interkonfessionelle geistliche Führer in Siebzehn Sprachen. Kein Schreibzeug, keine Zettel mit gekritzelten Telefonnummern, nichts. Halton hatte nur seinen Koffer bei sich gehabt, keinen Taschencomputer, nicht einmal ein Lesegerät. Der einzige persönliche Gegenstand im Zimmer war der Liebesroman, und den hatte er sich am Empfangsschalter ausgeliehen. Es gab nichts in diesem Zimmer, was anzeigte, daß hier ein menschliches Wesen lebte. »Suchen Sie nach etwas? Kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte Halton. »Nein«, sagte ich und stieß die Schublade zu. »Ich schnüffle bloß.« Er hatte den Kopf auf die Seite geneigt und musterte mich. »Ist es, weil ich ein Biokonstrukt bin, oder sind Sie zu allen unhöflich?« fragte er. Ich hörte weder Zorn noch Gekränktsein heraus, nur Neugier. Aber er hatte mich überrascht. Was immer mich schwankend gemacht hatte, löste sich in nichts auf. »Sie sind ein CDI-Agent«, antwortete ich knapp. »Das ist Grund genug.« »Ich verstehe.« Ich trat auf ihn zu und mußte den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufzublicken. Mein Zorn wuchs. »Verstehen Sie wirklich?« fragte ich. »Ich bezweifle es.« Seine Augen blickten mich furchtlos an, ohne Vorwurf, ohne viel Gemütsbewegung, allenfalls milde. Ich sah in diese harmlosen braunen Augen und sah nichts in ihren Tiefen. Wie das Zimmer, niemand zu Hause. Wenigstens lächelte er nicht dieses verdammte bescheidene Lächeln. Meine Hände hatten sich wie von selbst zu Fäusten geballt,
und ich zitterte vor irrationalem Zorn. Ich dachte, ich müßte platzen, wenn ich nicht ganz schnell hinausginge, also schritt ich zur Verbindungstür und warf sie hinter mir zu, als ich mein eigenes, sehr unaufgeräumt-menschliches Zimmer betrat. »Mein Gott, reiß dich zusammen, Mädchen …«, schnaufte ich. Ich schwitzte, Adrenalin machte meine Hände zittern und den Kopf schmerzen. Ich holte mehrmals tief Atem, bevor ich meinen Fingern zutrauen konnte, mit einer fragilen Zigarette umzugehen. Wenn ich schon jetzt die Nerven verlor, was würde erst geschehen, wenn wir in Khuruchabja landeten?
4 ICH WEISS NICHT, was Halton den Rest des Nachmittags tat, aber ich durchwanderte die Station, weil ich mich in meinem Zimmer bereits klaustrophobisch beengt fühlte. Es gab nur einen peinlichen Augenblick, als ich mit mehr Interesse als man es von den meisten Männern erwarten würde, vor einem Schaufenster mit Sommermoden für Damen stehenblieb. Die Kleidungsstücke waren hübsch geschnitten. Vielleicht, dachte ich, würde der Schnitt mich ein bißchen größer und schlanker erscheinen lassen, wenn man sich eine große, schlanke Kröte vorstellen kann. Eine Verkäuferin blickte mit einem seltsamen Gesichtsausdruck zu mir heraus, der mich in meine angenommene Person zurückstieß. Außerdem bin ich ein Herbstmensch, und in meinen Farben hatten sie nichts. Bis zum Abend hatte ich meine Nervosität durch Gehen abreagiert, wieder einen leidlich klaren Kopf und überlegte, was ich die nächsten fünf Tage tun sollte, bevor der nächste Flug nach Kairo abging und wir zu Sonne und Spaß nach Khuruchabja weiterfliegen konnten. Ich kehrte zum Hotel zurück, um mich zum Abendessen umzuziehen. Es war lange her, seit ich als Mann gegangen war, und meine Reflexe und Bewegungen waren noch immer sehr auf der weiblichen Seite. Für die meisten Frauen sehen Männerkleider angenehm einfach aus, beinahe gleichförmig, vergli-
chen mit der Vielfalt der Damengarderobe und den zugehörigen Schuhen. Aber der Herrenkleidung ist ein Stil und eine bestimmte Art eigen, die beinahe so kompliziert ist wie jene der Damenkleidung, wenngleich die Unterschiede subtiler sind. Halton klopfte an meine Korridortür, als ich mit den Manschettenknöpfen an meinem Ausgehhemd kämpfte. »Herein«, rief ich, denn wenn er es nicht war, dann bestimmt nicht jemand, den ich würde fernhalten können. »Haben Sie schon gegessen?« fragte er. Er gab nicht zu erkennen, daß vor kurzem zwischen uns eine unerfreuliche Konfrontation stattgefunden hatte. »Nein«, sagte ich, und der Manschettenknopf sprang davon. »Verdammt, helfen Sie mir mit diesem Ding.« Ich hielt ihm meinen Ärmel hin, während er den Manschettenknopf vom Teppich aufhob. Als er ihn durch die Knopflöcher steckte, fragte ich: »Und Sie?« »Noch nicht.« Der Manschettenknopf klickte zu. »Danke.« Ich sah ihn an, als ich in das Jackett schlüpfte. Er wartete einfach. Ich stieß die Hände in die Hosentaschen und seufzte. »Also gehen wir was essen. Oben im Hauptbogen sah ich ein Lokal, das eine anständige Speisekarte zu haben scheint.« Tatsächlich hatte es nicht sehr großartig ausgesehen, aber ich esse ungern in Hotelrestaurants. Wenn ich schon weitere fünf Tage hier festsitzen mußte, wollte ich wenigstens die Konkurrenz kennenlernen. Die Weinkarte war prätentiös, ganz und gar französisch und grauenhaft überteuert, aber solange Haltons Spielgefährten die Rechnung bezahlten, konnte es mir gleich sein. Ich erinnere mich nicht einmal, was ich aß; es war weder
schlecht genug noch gut genug, um sich dem Gedächtnis einzuprägen. Anfangs hielt sich unsere Konversation im sicheren Bereich. Halton stellte wohlwollende Fragen, und ich erzählte die üblichen amüsanten Anekdoten aus dem Presseclub, die ich für solche Gelegenheiten gespeichert hatte. Aber irgendwo zwischen dem Hauptgang und dem Käse stellte Halton sein Weinglas mit der gleichen Präzision auf den Tisch, mit der er seine Socken faltete. »Es hat mich gewundert«, sagte er mit ruhigem Blick und ebensolcher Stimme, »warum Sie mir nicht mehr Fragen gestellt haben. Über mich. Sie scheinen offensichtlich eine starke Abneigung gegen Biokonstrukte zu haben, aber ich hätte gedacht, daß ein Journalist neugieriger sein würde.« Ich war froh, daß ich den größten Teil meiner Anspannung und Feindseligkeit am Nachmittag abreagiert hatte, und bewahrte mit Leichtigkeit die Selbstbeherrschung. Die Wahrheit war, daß ich mich ärgerte, zur Rückkehr nach Khuruchabja gezwungen zu sein, daß ich mich über die CDI und Arlando ärgerte, vor allem aber eine Heidenangst hatte. Nicht, daß ich es zugegeben hätte, schon gar nicht vor Halton. Natürlich war ich neugierig; nicht viele Zivilisten hatten jemals ein Biokonstrukt gesehen, geschweige denn mit einem zu Abend gegessen. Manche Leute glaubten noch immer, es handle sich um einen ausgeklügelten Schwindel, ebenso wie die Mondlandung ein Schwindel gewesen sei, irgendwo im Atelier und in der Wüste von Arizona gefilmt. Aber ich hatte die Berichte und die Protokolle der Anhörungen im Senat gelesen und wußte, daß es im geheimen Versandkatalog des U.S. Militärs eine
Eintragung für Biokonstrukte gab, unter Waffen, biologische. Ich kaute den Bissen in meinem Mund ruhig zu Ende und schluckte ihn hinunter, bevor ich sprach. »Es ärgert mich, belogen zu werden«, sagte ich in umgänglichem Ton. »Wozu also die Mühe. Was werden Sie mir erzählen, das ich nicht in Jane's nachschlagen oder vom Informationsdienst der Regierung bekommen kann? Ich tue mein möglichstes, mich zu informieren, und mir ist klar, daß weitaus mehr in Ihnen steckt, als die genehmigte offizielle Literatur erwähnt. Aber würden Sie mir wirklich etwas erzählen, das nicht in dieser Literatur erscheint? Irgendwelche saftigen, vertraulichen Geheimnisse, die ich ausschnüffeln könnte?« »Ist es wirklich das gleiche, ein Handbuch über einen neuen Abfangjäger zu lesen, und ihn aus der Nähe zu sehen, mit den Piloten zu sprechen und zu versuchen, auf einen Übungsflug mitgenommen zu werden?« konterte er. Ich hielt mein Buttermesser hoch und nickte. »Sie haben recht.« Ich überlegte einen Moment lang, dann grinste ich boshaft. »Gut … also erzählen Sie mir etwas über Ihr Liebesleben.« Er zwinkerte, wahrscheinlich war es die nächste Annäherung an einen beleidigten Gesichtsausdruck. »Was möchten Sie darüber wissen?« Ganz gelassen. Unerschütterlich. »Sind Sie eine Jungfrau?« »Nein.« Er hielt inne. »Und Sie?« Ich lachte. »Nein. Ob Sie es glauben oder nicht, es gibt Männer, die darauf abfahren, mit wirklich häßlichen Frauen ins Bett zu gehen. Die sogar Pornomagazine machen, irgendwo zwischen Sodomie und Perversionen unter Transvestiten.« Das
schien er nicht komisch zu finden. Er schien überhaupt sehr wenig komisch zu finden. Ich warf ihm den Ball wieder zu. »Haben Sie eine feste Freundin oder geben Biokonstrukte sich bloß Orgien miteinander hin?« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte mich aufmerksam, als versuchte er seinem Biologieprofessor am College die richtige Antwort zu geben. »Ich weiß nichts über andere Biokonstrukte«, sagte er bedächtig. »Meine sexuelle Erfahrung ist auf Menschen begrenzt. Wie es scheint, gibt es auch Frauen, die darauf abfahren, mit Biokonstrukten zu schlafen. Ob Pornomagazine darüber gemacht werden, weiß ich nicht.« Seine Stimme war ruhig. Ich war diejenige, die verblüfft zwinkerte. Er lächelte sein bescheidenes kleines Lächeln, das mir mittlerweile unheimlich vorkam. »Man hat mir gesagt, daß ich ein ziemlich anständiger Liebhaber sei. Eine Frau nannte mich ein Wunder moderner Wissenschaft, den fortgeschrittensten Godemiché der Technik.« »Mein Gott.« Ich war schockiert. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, als er sagte: »Es macht mir nichts aus. Ich bin Grausamkeit gewohnt.« Er nahm sein Weinglas, tat einen Schluck daraus und aß weiter, als hätte diese Konversation niemals stattgefunden. Mein Gesicht brannte in jäher Scham, bekümmert wegen meiner eigenen Bosheit, die von der beiläufigen Herzlosigkeit dieser unbekannten Frau grell widerspiegelt wurde. Seine Hand ruhte auf dem Tisch, und ich streckte den Arm aus und legte meine darauf. »Es tut mir leid, das war gemein.« Er erstarrte, betrachtete meine Hand. Es kostete mich eine Anstrengung, sie auf seiner ruhen zu lassen. Dann drehte er sie
um und legte seine Handfläche gegen meine. Er holte Luft und blickte auf, schien menschlicher, als ich ihn bisher gesehen hatte. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich bot Ihnen an, Fragen zu beantworten, und diese würde man sicherlich nicht im offiziellen Handbuch finden.« Er lächelte, diesmal ein warmes, anscheinend echtes Lächeln. »Es hat mich nicht verletzt. Und um Ihre nächste Frage zu beantworten, ja, ich habe Gefühle, und sie können verletzt werden.« Ich erlebte einen seltsamen Ansturm von Gefühlen – Schuld, Zorn, Groll, Furcht –, alles durcheinandergewirbelt in einer undurchsichtigen Wolke aussichtslosen Verlangens. In diesem Augenblick ging ein anderes Paar an unserem Tisch vorbei, und der stirnrunzelnde Blick der Frau erinnerte mich, daß zwei Männer einander in der Öffentlichkeit gewöhnlich nicht die Hände halten. Vorsichtig zog ich meine zurück. »Ich hatte mir vorgestellt, die Genspezialisten der Regierung würden einen Homo fraudulentus ohne Gefühle entwickeln, weil alle Sentimentalität bloß das analytische Denken behindert.« Ich versuchte die Ironie möglichst aus meinem Tonfall herauszuhalten, um zu zeigen, daß ich fähig war, das Thema ohne Feindseligkeit zu diskutieren. »Ich denke nicht, daß das das Ziel der Planer gewesen ist, selbst wenn es im Bereich ihrer Möglichkeiten gelegen hätte, was ich bezweifle«, sagte er. Wir fanden ohne jede Peinlichkeit in den Dialog, als ob wir über Buchhaltungssysteme diskutiert hätten. »Biokonstrukte sind keine mechanischen Androide oder AI-Computer; sie sind, wie der Name sagt, ein biologisches Konstrukt. Die DNS mag rekombinant gestaltet sein, aber das
Muster, nach dem die Struktur programmiert ist, beruht auf dem grundlegenden menschlichen Modell. Die Körper von Biokonstrukten sind einschließlich des Gehirns strukturell den menschlichen gleich. Sie haben ein normales Cerebrum, Cerebellum, ein Limbisches System, Hypothalamus, Pons, Medulla, alles was zum Bau eines integrierten arbeitsfähigen Gehirns gehört.« Ich bemerkte, daß er Biokonstrukte wiederholt als ›sie‹ statt als ›wir‹ bezeichnete, eine interessante Beobachtung, die ich für mich behielt. »Die Natur hatte Millionen Jahre, in denen sie die menschliche Maschine vervollkommnen konnte, und das Gehirn eines Biokonstrukts ist lediglich eine Variante des Modells«, fuhr er fort. »Meine Medulla funktioniert genauso wie Ihre zur Steuerung und Aufrechterhaltung des Herzschlages und der Atmung.« »Genau.« Mein Zweifel war herauszuhören. »Größtenteils, ja. Es gibt nicht allzu viele Veränderungen oder Ergänzungen, die am Grundmodell durchgeführt werden können, ohne schließlich die wesentlichen Funktionen zu beeinträchtigen. Um das Gehirn eines Biokonstrukts zu einem vollkommen arbeitenden Organ zu machen, muß jedes Teil imstande sein, die ihm zukommenden Aufgaben synchron mit jedem anderen Teil auszuführen. Um auf eine Gefahr zu reagieren, muß meine Körpertemperatur steigen, mein Herzschlag sich beschleunigen, Adrenalin in den Blutkreislauf gepumpt werden. Mit anderen Worten, ich muß imstande sein, Angst zu fühlen.« »Die grundlegende Alternative ›kämpfen oder fliehen‹«, sagte ich. »Aber was ist mit Dingen wie Moral, Ästhetik, Geistigkeit?« Er nickte und lächelte jetzt, als ob er wirklich Freude am Ge-
spräch hätte. »Damit kommen Sie zum abstrakten Denken, das von einer komplizierteren Integration arbeitender Teile abhängt, nicht wahr? Biokonstrukte sind nicht Menschen. Ihre Gehirne sind mit menschlichen Gehirnen vergleichbar, aber nicht identisch.« Es war eine seltsame Konversation, sehr höflich und in einer eleganten Atmosphäre. Andere Gespräche fanden an benachbarten Tischen statt, Geschäftsleute verhandelten mit Stirnrunzeln, den Kopf über Taschen-PCs gebeugt; junge Leute aus wohlhabenden Kreisen in ihren modischen Kleidern hielten einander bei den Händen oder blickten sich durch das Kerzenlicht in die Augen. Wir sahen wie die anderen plaudernden und verhandelnden Geschäftspartner aus, obwohl ich bezweifle, daß sonst jemand ein Thema behandelte, das so esoterisch und gleichzeitig persönlich wie unseres war. »Meine Spezialisierung ist die eines Linguisten, um meine besondere Konstruktion als Beispiel zu geben«, fuhr Halton fort, während er seine Vorspeise mit Messer und Gabel bearbeitete. »Mein Gehirn ist besonders für eine verbesserte Fähigkeit zur Erlernung von Sprachen herausgebildet. Die meisten menschlichen Sprachzentren liegen überwiegend in der linken Gehirnhälfte; meine beiden Gehirnhälften haben vielfache, integrierte Sprachzentren. Im menschlichen Gehirn beginnt die neurochemische Sekretion, welche diese Sprachzentren stimuliert und kleinen Kindern hilft, Geräusche zu imitieren und eine Sprache fließend ohne Akzent zu lernen, im Alter von fünf bis sechs Jahren nachzulassen und dann ganz zu verschwinden. In meinem Gehirn wird das nie der Fall sein.« »Wie viele Sprachen sprechen Sie?«
Er sah mich nachdenklich an, nicht als ob er innehalten und nachzählen müßte, sondern als zögere er, sich auf Kosten meiner Gefühle mit etwas zu brüsten. »Siebenundzwanzig, regionale Mundarten nicht mitgerechnet.« Ich konnte ein ärgerliches Grunzen nicht unterdrücken, war zugleich eifersüchtig und verblüfft. »Alle perfekt, zweifellos?« Das beantwortete er nicht. »Worauf ich hinaus will, ist«, sagte er, zu seinem Teller gewandt, »daß es andere Veränderungen entlang den Integrationsketten geben kann, wenn man mit der Anordnung in einem Bereich experimentiert. Ob Biokonstrukte die gleichen Gefühle in gleicher Weise wie die übrigen Menschen empfinden und ausdrücken, weiß ich nicht. Ihre Gehirne sind nicht völlig identisch; es ist möglich, daß die Art und Weise, wie sie Gefühle interpretieren, verschieden ist. Eine Nebenwirkung meiner Sprachbegabung ist die, daß ich keine dominante Gehirnhälfte habe. Ich bin ein echter Beidhänder. Das hat für sich genommen keine besondere Bedeutung, aber ich glaube, die Planer selbst wissen nicht bis zum letzten Detail, welche Auswirkungen andere Veränderungen schließlich haben können.« Das machte mich frösteln. »Frankenstein und sein Ungeheuer, wie?« Er sah von seinem Teller auf. »Ich glaube nicht, daß es ganz so drastisch ist«, sagte er ruhig und blickte mir ins Auge. »Erscheine ich Ihnen als ein Ungeheuer?« Diesmal war es an mir, die Frage nicht zu beantworten. Wir saßen schweigend, bis der Kellner die Teller abräumte und Kaffee und eine Karte der Nachspeisen brachte. Ich vermeide Süßspeisen, aber ich bestellte einen Cognac. Einen doppelten.
»Ich nehme das gleiche«, sagte Halton und gab dem Kellner seine Karte zurück. Nachdem der Mann gegangen war, sagte ich: »Ich dachte, Sie werden nicht betrunken und trinken nur wegen des Geschmacks. Ist das auch eine Nebenwirkung der kleinen Anpassungen in Ihrem synthetischen Gehirn?« »Nicht genau.« Das bescheidene kleine Lächeln kehrte zurück. »Nanos.« Ich lachte, eine nervöse, gedämpfte Explosion. »Mein Gott, dann haben Sie alles bis auf einen eingebauten Küchenausguß. Sagen Sie mir, daß Sie kein Superspion sind.« »Ich bin kein Superspion«, sagte er völlig ernst. Ich hörte auf zu lachen. »Was genau sind Sie dann, zum Teufel?« Ich wurde wieder wütend. »Ich bin bloß ein Biokonstrukt.« Die Stimme war sorgfältig beherrscht, gleichmütig. »Das ist alles.« »Das ist, als ob Sie sagen würden, Sie seien bloß eine Infrafusionsbombe, das sei alles. Bloß eine gewöhnliche kleine harmlose Sprengladung, die dasitzt und tickt.« Wieder sah ich dieses kalte Etwas in seinen Augen, arktische Leere hinter einem leblosen Abgrund. Ich bekam eine Gänsehaut. Der Kellner kam mit den Cognacs. »Haben Sie Zigarren?« fragte ich, einer momentanen Regung folgend. »Gewiß, Sir«, sagte er. Er ging und brachte kurz darauf ein hölzernes Tablett mit mehreren offenen Zigarrenkisten, in denen handgerollte braune Havannas verschiedener Größen ruhten. Ich wählte eine Romeo y Julieta aus, weil der Name meinem Sinn für Ironie entsprach.
»Wollen Sie eine?« fragte ich Halton. »Ich rauche nicht.« »Hätte mich auch gewundert«, versetzte ich, behielt aber weitere spitze Bemerkungen für mich. Andere Ohren lauschten. Der Kellner bot mir den Zigarrenabschneider an, um das Ende einzuschneiden, dann gab er mir Feuer. Ich hatte heute viel zu viele Fehler gemacht; es war Zeit, mich wirklich auf die Rolle zu konzentrieren, die ich spielen mußte. Ich paffte und hüllte meinen Kopf in eine Rauchwolke. »Danke«, sagte ich zum Kellner, und er ging. Wir tranken und ich rauchte schweigend. »Nanos!« sagte ich schließlich und schüttelte ungläubig den Kopf. »Davon habe ich im Handbuch nichts gelesen.« »Es ist nicht so ungewöhnlich«, meinte Halton. »Bevor es Biokonstrukte gab, ließen sich manche Leute mit Nanos modifizieren. Und vor der Nanotechnik gab es elektronische Implantate. Nanos sind kein Geheimmaterial. Sie könnten sich welche maßschneidern lassen, wenn Sie wollen.« Seine Stimme klang unpersönlich wie immer, aber es schien ein Bemühen um Rechtfertigung darin mitzuschwingen, oder vielleicht ein Appell. Oder vielleicht las ich nur Dinge hinein, die nicht da waren. »Nein danke«, sagte ich. »Ich lasse mir nicht Dinge implantieren, die ich nicht wieder herausbekomme, wenn ich es mir einmal anders überlege.« »Haben Sie einen Wagen?« fragte Halton. Der abrupte Richtungswechsel verblüffte mich. »Was?« »Besitzen Sie ein Kraftfahrzeug irgendeiner Art?« Ich beobachtete ihn mißtrauisch. »Ja.«
»Was für eins?« »Einen Mitsubishi.« »Ist er mit künstlicher Intelligenz ausgestattet?« Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte. »Nein, es ist ein Kleinwagen. Kurscomputer, Autopilot, das ist ungefähr alles.« »Haben Sie ihm einen Namen gegeben?« »Wie meinen Sie das?« »Viele Leute geben ihren Autos Namen, wie sie es bei Haustieren tun. Haben Sie Ihrem Wagen einen Namen gegeben?« Ich dachte an mein erstes Fahrzeug, ein benzinsaufender Blechwal, eines der letzten Ungetüme der traditionellen amerikanischen Bauart, den ich als Gebrauchtwagen in lausigem Zustand für wenig Geld gekauft hatte. Es war eine verbeulte dunkelblaue Limousine, die sich noch vor der Computerisierung praktisch selbst fuhr. Ich hatte sie Miss Violet genannt, bevor das Ding eines Tages während meines Schlußexamens mitten im Berufsverkehr gestorben war. Dann hatte ich es ›Scheißkarren‹, genannt und zum Autofriedhof abschleppen lassen. »Nein, ich gebe meinen Wagen keine Namen«, sagte ich. »Warum?« »Viele Leute tun es. Sie geben unbelebten Gegenständen Namen und wenden viel Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit für sie auf, obwohl sie intellektuell wissen, daß der Gegenstand selbst unfähig ist, die Zuneigung zu erwidern oder auch nur zu erkennen.« Ich begann zu verstehen. »Und Sie sind kein unbelebter Ge-
genstand, meinen Sie?« Er überging die Frage. »Haben Sie einen Hund oder eine Katze?« Ich lehnte mich zurück, einen Arm über die Stuhllehne gehängt, und paffte an meiner Zigarre. »Ja, als Kind hatte ich einen Hund. Sie war ein Deutscher Schäferhundmischling aus dem Tierheim. Ja, ich gab ihr einen Namen, sie hieß Kooty. Ja, ich überschüttete sie mit Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit, die sie erkannte und erwiderte, ohne irgendein Problem.« »Sie hatte Zähne? War ein Fleischfresser? Gelegentlich aggressiv?« Die mit unbewegter Miene gestellten Fragen gingen mir auf die Nerven. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Sie hatte die Fähigkeit, Ihnen körperlichen Schaden zuzufügen, aber Sie hatten niemals Angst vor ihr? Sie vertrauten ihr?« Ich signalisierte dem Kellner für einen weiteren Cognac. Der letzte hatte nicht viel bewirkt. »Kooty war ein Hund. Sie sind kein Hund. Sie sind eine sehr gefährliche humanoide Biomaschine, entwickelt und produziert von den Leuten, die uns orbitale Laserwaffen, große Infrafusionsbomben und kleine intelligente Geschosse beschert haben, die programmiert sind, nur das ausgewählte Ziel zu treffen – von allem anderen nicht zu reden. Sie mögen ein bißchen jung sein, um sich an den Krieg in Khuruchabja zu erinnern …« – sein flüchtiges Lächeln erstaunte mich, denn ich konnte nichts Erheiterndes in diesem blutigen Konflikt sehen –, »aber ich war dort. Ich habe gesehen, was die Spielzeuge Ihrer Chefs unschuldigen Menschen antun können. Sie sind ihre Kreatur, Halton. Ihre einzige Loyalität gehört diesen Leuten, also hören Sie auf, mich zu nerven, ja?«
Er nahm das nicht einmal zur Kenntnis. »Gegenwärtig gibt es vierhundertfünfundsiebzig Biokonstrukte im aktiven Dienst für fünf verschiedene Regierungsbehörden«, sagte Halton. Ich glotzte ihn an. Er beobachtete mein Mienenspiel mit ruhiger Aufmerksamkeit. Das war gewiß nicht Teil ›für den öffentlichen Gebrauch genehmigten‹ Literatur des Presse- und Informationsamtes der Regierung. Ich setzte mich aufrecht, drückte die halbgerauchte Zigarre aus und war ganz Ohr. »Jede Spezialisierung des Grundmusters zerfällt je nach der späteren Anwendung in fünf Unterbereiche. Jeder Unterbereich ist aufgeteilt in Kategorien mit Einheiten von zehn identischen Biokonstrukten, jeder mit fünfzig weiteren inaktiven rekombinanten Embryonen in Tiefkühlung. Meine Biokonstruktbezeichnung ist Kategorie Halton, Serie John. Central Defense and Intelligence hat zwei Unterbereiche für ihren exklusiven Gebrauch, dazu Biokonstrukte, die aushilfsweise an andere Regierungsbehörden ausgeliehen werden. Mein Unterbereich gehört zur ausschließlich der CDI vorbehaltenen Quote.« »Was Sie mir da geben, ist geheime Information, Halton. Ich bin Journalist …« »Im Laufe der Entwicklungsperiode von zehn Jahren wurden siebenhundertsechzehn experimentelle Biokonstrukte wegen Defekten aus natürlicher Ursache, Programmfehlern und unvorhergesehenen oder inakzeptablen Entwicklungen während des Konstruktionsprozesses ausgesondert und beendet«, fuhr er unerschütterlich fort. Selbst der Kongreß war nicht imstande gewesen, den verschlossenen CDI-Spitzenbeamten, die sie in die Anhörungen
gezerrt hatten, genaue Daten und Zahlen zu entlocken. Niemand wußte, wie lange die Entwicklung der BiokonstruktTechnik schon andauerte oder wie viele es inzwischen gab. Alles unterlag nach dem Gesetz über den Schutz sicherheitsrelevanter Information der Geheimhaltung. »Sie sollten mir das nicht erzählen«, sagte ich mit gedämpfter Stimme. »In den letzten sieben Jahren«, berichtete er, »sind zweiundsechzig erfolgreich fertiggestellte und einsatzbereite Biokonstrukte in verdeckten Operationen für CDI und andere Regierungsstellen verlorengegangen, neununddreißig wurden beendet, nachdem sie die Missionen, mit denen sie beauftragt waren, nicht erfolgreich abschließen konnten, und siebzehn Biokonstrukte konnten die ihnen zugewiesenen Missionen erfolgreich abschließen und wurden dann aus Gründen irreparabler physiologischer Schäden oder psychologischer Kontamination beendet.« »Seien Sie still, Halton.« Auf einmal überwältigte mich paranoide Furcht, um ihn, um mich selbst und vor der Möglichkeit, daß wir abgehört wurden. Ich unterdrückte das Verlangen, unter den Tisch zu spähen. »Was passiert, wenn sie erfahren, daß Sie in öffentlichen Restaurants Geheimnisse ausplaudern?« »Ich würde sofort beendet«, sagte er ohne zu zögern. »Werden Sie mir jetzt vertrauen?« Er beugte sich näher; der Blick seiner dunklen Augen bohrte sich in meine. Ich schluckte. Das Herz klopfte mir im Hals, und ich mußte mich zusammenreißen, um zu überlegen. »Vorausgesetzt, dies ist nicht weitere Desinformation«, sagte ich nach einer Pause. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Sie könnten lügen, mir einfach erzählen, was ich glauben soll,
damit Sie – oder sie durch Sie – mich nach Belieben manipulieren können. So arbeiten sie, und es gibt keine Möglichkeit für mich, diese Information nachzuprüfen, nicht wahr?« Halton schloß die Augen für die Dauer mehrerer Herzschläge, dann atmete er aus und lehnte sich zurück. »Ich habe Sie nicht belogen«, sagte er beinahe müde, »aber ich gebe zu, daß ich nicht viel tun kann, es zu beweisen, ohne das Leben zu verlieren.« »Selbst wenn es wahr ist, warum erzählen Sie es mir? Warum geben Sie mir eine geladene Waffe in die Hand?« »Weil ich Ihr Vertrauen brauche. Ihre Hilfe«, sagte er einfach. »Ich möchte nicht enden wie andere Biokonstrukte, die ihren Zweck erfüllt haben.« Ich sah zu, wie er den Rest von seinem Cognac trank; seine Hände waren ruhig, die Augen blickten unpersönlich. Ich hatte meinen Cognac noch nicht ausgetrunken. »Sie schlagen mir eine Art Handel vor, ist es das?« fragte ich schließlich. »Bieten Sie mir Information im Austausch gegen Hilfe der GBN, um Sie vielleicht aus Ihrem Dienstverhältnis herauszulösen?« Ich dachte an alte Filme aus dem Kalten Krieg, an Männer in Trenchcoats und Schlapphüten, die in regennassen Durchfahrten herumlungerten. »Wollen Sie desertieren?« Er ließ sich mit seiner Antwort so lange Zeit, daß ich dachte, er würde nichts sagen. Nachdem er eine Weile in seinen leeren Cognacschwenker gestarrt hatte, sagte er: »Nicht – genau.« Ich war nicht sicher, ob ich ihm wirklich vertrauen und seiner Geschichte glauben konnte. Unsere Kaffeetassen waren leer, der Cognac ausgetrunken, die Zigarrenasche kalt. Unser Kellner wirkte zunehmend ungeduldig; wir drückten den Umsatz und
seine Trinkgeldeinnahmen. Er hielt sich beharrlich in unserer Nähe auf, und die Gefahr, belauscht zu werden, vergrößerte sich entsprechend. Ich bat um die Rechnung, die beinahe sofort kam, und zahlte mit meiner GBN-Kreditkarte, ohne die Rechnung zu prüfen. Ich wollte einfach hinaus. Wir verließen das Restaurant und kamen in die belebte Geschäftspassage. In einer Station ist die offizielle Zeit synchron mit der Zeitzone, über der sie sich in der Umlaufbahn befindet, aber da fast alle Reisenden aus anderen Zeitzonen kamen oder in andere abreisten, war die Station eine Stadt, die niemals schlief. Restaurants und Geschäfte öffneten und schlossen nach ihren eigenen Bedürfnissen, die meisten hatten vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet und waren bereit, jederzeit jede Mahlzeit auf der Karte zu servieren, und die meisten Geschäfte waren gleichfalls durchgehend geöffnet, wie es schien. Etwas anders verhielt es sich nur mit Kinos und sogenannten Nachtclubs. Die Passagen draußen waren um ›Mitternacht‹ ebenso belebt wie zur ›Mittagszeit‹. »Gut, gehen wir zurück zum Hotel«, sagte ich zu Halton. »Vielleicht sollten wir über die Sache reden.« Er schüttelte den Kopf. »Unsere Zimmer sind verwanzt.« »Was Sie nicht sagen.« Wir schlenderten weiter, um einen kleinen Park in der Mitte der Station aufzusuchen. »Was weiß ich, Halton, vielleicht sind Sie verwanzt? Vielleicht haben Ihre Konstrukteure Ihnen winzige Nanokameras in die Augäpfel praktiziert, und nicht einmal Sie wissen davon.« Ich scherzte, aber er nahm mich ernst. Ich erhielt Gelegenheit, mich zu vergewissern, daß sein Hypothalamus tatsächlich mindestens analog zu meinem funktionierte; er erbleichte und
sah verunsichert aus. »Wenn sie haben«, sagte er, »werde ich es früh genug erfahren.« Seine Stimme klang ruhiger als er wirkte. Nun glaubte ich ihm.
5 DER ARBEITER VOM REINIGUNGSDIENST, den wir auf Ebene Zwei nach den Schließfächern gefragt hatten, brachte mich auf eine Idee. Solange wir vor dem nächsten Flug nach Kairo hier festsaßen, sollten wir etwas tun. Schließlich hatten wir die großartige neue GBN-Ausrüstung bei uns, die noch in der Gepäckaufbewahrung lag. Ich beschloß einen Dokumentarbericht über die unsichtbare Gemeinde der Station zu machen; eine Geschichte aus dem Leben, meine Spezialität. Auch könnte es eine gute Idee sein, ›Ka Be Sulaiman‹ mit einer kleineren Geschichte wiederzubeleben, während ›Kay Munadi‹ in Urlaub war. Halton sagte in den ersten paar Tagen nicht viel. Wir gingen herum und erkundeten Möglichkeiten. Ich vermute, er wartete darauf, ob jemand an seine Zimmertür klopfen und ihm das kostspielig kultivierte Gehirn aus dem Hinterkopf pusten würde. Als dies nach ein paar Tagen noch nicht geschehen war, verbrachte er einen Nachmittag mit dem Aufspüren und Deaktivieren von Abhörgeräten in unseren Zimmern. Aber wir sprachen wenig miteinander, auch danach nicht. Unsere Beziehung war freundschaftlich genug, aber mit Unbehagen vermischt. Wir fanden den Arbeiter in seinem häßlichen gelben Overall, ich streckte ihm die Hand hin und grinste. »Hallo, Ka Be Sulaiman, GBN-Nachrichten.« Man darf nie den Anschein von
Aggressivität erwecken. »Ja, ich erinnere mich«, antwortete der Mann. »Das heißt, ich sehe die ganze Zeit GBN, aber Sie waren die Leute, die sich letztes Mal verlaufen hatten, nicht? Das waren doch Sie?« Ich hatte den für Feldinterviews benötigten Teil meines Portanets über die Schulter gehängt, und Halton trug die Holokamera mit zusätzlichen Magazinkassetten zum Auswechseln am Gürtel, falls wir mehr Filmmaterial benötigten. »Ja, das waren wir.« Ich schmunzelte mißbilligend. »Es ist eine große Station, in der man sich leicht verlaufen kann, wenn man sich nicht auskennt.« Ja, ja, er nickte und grinste in völliger Übereinstimmung. Erwartungsvoll blickte er von mir zu Halton und zurück. »Dies ist John Halton, mein Kameramann.« Halton zog die Schulter unter der Stütze der Holokamera heraus, um dem Mann die schmutzige Hand zu schütteln. »Hallo, sagen Sie einfach John zu mir. Was macht die Kunst?« sagte Halton in einem ungezwungenen kalifornischen Tonfall. Perfekt, dachte ich neidisch. Ich hatte Halton mit dem üblichen GBN-Protokoll vertraut gemacht, als wäre er ein angehender Kameramann, was er schließlich auch war. Nichts von diesem gezwungenen und konventionellen »Guten Tag, Sir, gestatten Sie, daß wir Ihnen ein paar Fragen stellen?« Wenn man zu förmlich auf die Leute zuging, sah man selbst wie einer der hochnäsigen reichen Kotzbrocken aus, für die diese Leute die Böden wischten. Der Mann hieß Randy Soundso; ich konnte den Nachnamen nachschlagen. In der ersten Zeit hatten die Stationen nur den Rahm abgeschöpft, und wer hier arbeiten wollte, mußte minde-
stens einen Collegeabschluß haben; dann, als das Geschäft kommerzieller wurde, zumindest am Südpol, wurden Karrieremacher aus der Geschäftswelt bevorzugt. Der Nordpol war noch immer für die politische und gesellschaftliche Elite reserviert. Wer weiß, ob es dort überhaupt lebendige Menschen gab, die das Saubermachen besorgten? Oder vielleicht bestand das Reinigungspersonal aus Doppelagenten. Sobald aber die Halbweltschickeria zum Spielen heraufkam, waren die gebildeten Collegeabsolventen nicht der Typ, der ihnen die Toiletten aufwischte, vergoldete Armaturen putzte und spermabekleckerte Seidenlaken wechselte. Immer hat es eine unterprivilegierte Schicht gegeben, die für uns andere alles sauber und in Ordnung hielt, und schließlich eroberte sie auch die Stationen. Randy und die übrigen Angehörigen der Reinigungs-, Wartungs- und Instandhaltungsdienste waren weder dumm noch ungebildet. Dienstleistung ist so notwendig wie jede andere Arbeit, und die Leute waren stolz auf ihre Arbeit. Für den Dienst in einer Station eingestellt zu werden, war in jedem Fall eine relativ prestigeträchtige Position, und die Bezahlung war sicherlich nicht schlecht. Aber Randy war nicht der Typ, der in einer Bilderbuchkarriere vom armen Schlucker zum Millionär aufstieg. Er versuchte nicht, sich unter die wohlhabenden Geschäftsleute zu mischen, tat einfach seine Arbeit, begnügte sich mit der Gesellschaft seiner Kollegen und blieb unsichtbar. Wir verschossen eine Menge Filmmaterial, machten viele Interviews mit dem sprichwörtlichen Mann auf der Straße, machten Hintergrundberichte über Tänzerinnen, die sich auf den Bühnen glitzernder Nachtclubs verrenkten, und schnitten
zu einer stummen Szene von Randy, wie er auf seinem kleinen Elektrokarren mit Reinigungsmaterial durch einen verlassenen Korridor fuhr. Das geräuschvolle Klappern und Klimpern von Porzellan und Silber in exklusiven, gut besetzten Restaurants mit übergewichtigen Geschäftsleuten, die Unternehmensphilosophie und Fusionsgeschwafel verbreiteten, kontrastierte mit der gedämpften Kantinenunterhaltung, als Randy und seine Kollegen über verschiedene Diätmöglichkeiten diskutierten, wie sie ihr Gewicht unter dem vorgeschriebenen wirtschaftlich günstigen Startgewicht halten konnten. Dem geschäftigen Durcheinander der Einkaufspassagen stellten wir einen anderen Mann des Reinigungsdienstes gegenüber, der, eine Atemmaske vor dem Gesicht, in der hallenden Einsamkeit der Abfallverwertungsanlage Mülleimer entleerte. »Sie wollen mich dabei filmen?« fragte eine andere Mitarbeiterin des Reinigungsdienstes mit ungläubiger Miene. Sie hatte die Nachtschicht der Reinigungsfrauen in den öffentlichen Toiletten auf Ebene Vier unter sich. Halton hatte seine Stirn am gepolsterten Okular der Holokamera, deren kleine digitale Facettenaugen wie bei einem Insekt zu beiden Seiten seines Kopfes hinausragten. Der Rest des Reinigungspersonals stand hinter Halton und versuchte das Kichern zu unterdrücken. Wir konnten die Geräusche später herausschneiden, aber ich wollte sie auf ein Minimum beschränken. »Sie haben recht«, sagte ich schnell. »Das würde nicht authentisch aussehen, nicht wahr? Wir brauchen hier drinnen eine andere Person, damit es echt aussieht, Sie haben völlig recht.«
Tatsächlich war das nicht, was sie meinte. Sie war die Chefin. Sie reinigte keine Toiletten. Sie teilte die anderen ein, welche Toiletten sie zu reinigen hatten. Aber es war meine Schau, und ich wollte nicht, daß sie die Gruppenleiterin zu sehr herauskehrte. Ich wollte jemanden haben, der mit der Klobürste in einer Toilettenschüssel hantierte. Zweifelnd wählte sie eine aus der Gruppe, während alle riefen: »Ich! Ich! Nun mach schon, nimm mich!« So kamen wir zu einem Film von zwei würdigen Frauen mittleren Alters in makellosen Uniformen, die schweigend die Damentoilette säuberten. Die Insektenaugen folgten ihnen, während sie von Abteil zu Abteil gingen. »So ist's richtig, nicht in die Kamera schauen«, sagte ich leise. »Tun Sie einfach so, als ob wir nicht hier wären … John, hierher, daß wir ihr Bild im Spiegel bekommen …« Was die journalistische Leistung betraf, war dies nicht gerade Material, womit man den Pulitzer-Preis gewinnen konnte. Weil es keine heiße Nachricht war, mußte ich den Film selbst schneiden, die verbindenden Texte schreiben und auf die Tonspur übertragen, bevor ich den fertigen Bericht an die Zentrale senden konnte. Für eine soziale Dokumentation, die GBN an einem ruhigen Nachmittag oder Abend als Füller gebrauchen konnte, schien mir die Reportage gut gelungen, und ich war beruhigt, daß ich nach Jahren der Schreibtischarbeit nicht mein Gespür verloren hatte. Auch war es interessant zu sehen, wie Halton mit der Holokamera zurechtkam. Er konnte jeden Ausrüstungsgegenstand aufheben und in ungefähr zehn Sekunden Funktion und Bedienungsweise herausbringen. Aber Journalismus ist mehr als eine
Kamera in die richtige Richtung zu halten und trockene Tatsachen aufzuzählen. Die Kamera lügt nie, aber ein guter Kameramann kann zweifellos beeinflussen, was das Objektiv sieht. Holt man eine Szene nahe heran, kann man aus ein paar Dutzend betrunkenen Randalierern eine ganze Stadt im Aufruhr machen. Geht man von der Nahaufnahme eines Politikers, der eine feurige Rede hält, in die Totale zurück und zeigt die gähnende Leere in den Sitzreihen des Parlamentsplenums, so kann man seinen Heißluftballon in einem Augenblick zum Platzen bringen. Ich erklärte es Halton mit wenigen Worten, er nickte und kapierte es sofort. Man brauchte ihm nie etwas zweimal zu sagen. Es war, als hätte er seit Jahren Feldarbeit als Fotograf getan. Ich beobachtete es ohne jedes Gefühl von Stolz, da ich ihm nicht viel beigebracht hatte. Was ich empfand, war eine unbestimmte Empörung und Besorgnis, wie man sie fühlt, wenn jemand einem klar macht, daß man ersetzt werden kann. Ungefähr so, wie ich mir den hochgewachsenen Cro-MagnonMenschen vorstellte, wie er seine arische Nase über einen dunklen und haarigen, plattnasigen Neandertaler mit wulstigen Brauen gerümpft haben mochte: Hier gibt es nicht genug Platz für uns beide … Denn das war es, was jemand wie Halton für mich bedeutete. Egal was es war, er konnte alles besser als ich. Der Übermensch – stärker, schneller, klüger, sauberer, besser aussehend, begabter – John Halton war es, ganz gleich wie lang man die Liste fortsetzte. Und sollte es wirklich etwas geben, das er nicht konnte oder hatte, gab es neun andere, die genau wie er waren. Er machte mich nervös.
Nachdem wir die Reinigungsfrauen gefilmt hatten, kehrten wir zum Hotel zurück, um ein wenig zu schlafen, bevor wir zur nächsten geplanten Einstellung übergingen. Mein Reisewecker piepte mich wach, und ich klopfte an die Verbindungstür. »Gehen wir, es ist weit«, rief ich, während ich mit dem Kamm durch meine Haarstoppeln fuhr und das zerknitterte Hemd in den Hosenbund stopfte. Innerhalb von zwei Sekunden öffnete er die Tür. Ich starrte ihn verdutzt an. Alles war makellos, sein Hemd wie frisch gebügelt, sein Haar unzerzaust. »Haben Sie nicht geschlafen?« fragte ich argwöhnisch. »Doch, natürlich«, sagte er. Sie sehen, was ich meine. Wir hatten uns den äußeren Rand des Südpols als neuen Drehort ausgewählt, einen Bereich, welcher der allgemeinen Öffentlichkeit normalerweise unzugänglich war, aber wir hatten genug Hände geschüttelt und Stationspersonal kennengelernt, um eine Einladung zu bekommen. Dort filmten wir einen Arbeiter der landwirtschaftlichen Versuchsstation, wie er mit dem elektrischen Düngerstreuer von der Kamera weg eine lange Reihe von Versuchspflanzungen unter dem weiten, eingeglasten Himmel hinunterfuhr. Wir hatten den Zeitpunkt und den Aufnahmestandort so gewählt, daß die Erde tief über dem Gewächshaushorizont in der Ferne den Hintergrund bildete. Ihre mächtige Wölbung, von der Sonne angestrahlt, hob sich in prachtvollen Farben über das ganze Gesichtsfeld. Vor ihr zeichnete sich der Mann auf seinem Düngerstreuer als winziger Schattenriß ab. Wir bekamen die Szene kaum in den Kasten, bevor die Station sich weiterdrehte und unsere Perspektive
ruinierte. Es war natürlich künstlich, ein Schwindel, aber wirkungsvoll, und ich war sicher, daß es gut ankommen würde. Nun gab es eine Menge Arbeit für uns. Wir hatten neun Magazinkassetten Filmmaterial, das zu zwei Kurzfassungen von zwei und fünf Minuten, sowie zu einer vollständigen Zwölfminutenfassung geschnitten, mit verbindenden Kommentaren versehen und synchronisiert werden mußte, bevor wir am nächsten Morgen die Weiterreise antraten. Wir eilten zurück zum Hotel, wo wir mein HoloFernsehgerät durch die Verbindungstür in Haltons Zimmer schieben wollten, um es mit seinem Gerät als Monitor im Tandem zu verwenden. Aber es war mit Bolzen am Boden befestigt. »Telefon!« rief ich zwischen einer Reihe von Flüchen. »Ja, bitte?« Warum müssen alle Telefone die gleiche fade, androgyne Stimme haben? Was wäre natürlicher als ihnen ein Geschlecht zu geben? »Den Empfangschef. Sofort.« Sobald sie darauf gekommen waren, was wir brauchten, dauerte es ungefähr eine Stunde, um jemand vom Instandhaltungsund Wartungsdienst zu finden, der wußte, wie man die Bolzenverbindungen des Hologeräts am Boden lösen konnte. Nachdem wir es in Haltons Zimmer geschafft hatten, rief ich den Zimmerservice und ließ eine halbe Kiste Budweiser heraufschicken, das richtige, tschechische Gebräu, nicht dieses verwässerte amerikanische Surrogat, dazu eine Schüssel Eis, um es kühl zu halten, und ein Tablett mit Kanapees, die man während der Arbeit mit den Fingern essen konnte.
Wir schlossen das Portanet an das Monitorgerät an, die Holokamera an das andere und saßen mit gekreuzten Beinen auf dem Bett und am Boden, während wir schnitten und mischten, die redigierten Streifen überarbeiteten und Nebengeräusche ausfilterten, die Bilder redigitalisierten, um die Tiefenschärfe zu verbessern, manche Schnitte vergrößerten, andere verkleinerten und Szenen einschnitten, um zu sehen, wie die Wirkung sein würde. Ich vergewisserte mich, daß alle Blickwinkel paßten, alle Formulierungen stimmten, und ließ die drei Versionen immer wieder durchlaufen, bis mir die Augen brannten. Bei meiner Arbeitsfreude vergaß ich zeitweilig, daß Halton ein CDIBiokonstrukt war, und ich fragte ihn nach seiner Meinung zu dieser Einstellung und jenem Blickwinkel, als wäre er ein versierter Kameramann. Sechseinhalb Stunden später hatte ich meine drei Dokumentarberichte, jeden mit unserem kleinen Landwirt fern von Mutter Erde als Schlußszene, mehrere Sekunden lang in völliger Stille bis auf das Summen des Düngerstreuers. Dann die Identifikation: »Ka Be Sulaiman …« Pause »… Orbitalstation Clarke …« Pause »… für Global Broadcasting Network.« Fertig. Ich lehnte mich zurück, daß die versteiften Rückenwirbel knackten, und ächzte. Wir saßen seit Stunden an der Arbeit, und mein Allerwertester war eingeschlafen. Halton sah noch immer aus, als wäre er eben erst aus dem Geschenkpapier gewickelt worden. Ich blickte im Zimmer umher und schmunzelte. Leere Bierflaschen lagen verstreut, dunkle Nässeflecken zier-
ten den Teppich, Magazinkassetten lagen zwischen den Bierflaschen und auf dem unordentlichen Bett, Brotkrumen und Essensreste sprenkelten den Boden, um das Bild zu vervollständigen. »Mein Gott, Halton«, zog ich ihn auf, »was haben wir aus Ihrem hübschen Zimmer gemacht. Was für eine Schande.« Er ließ den Blick umherschweifen und sagte ohne eine Spur von Ironie: »Die Reinigungsfrauen werden das in Ordnung bringen.« Ich sperrte den Mund auf, dann platzte ich laut heraus und lachte und lachte, hielt mir die Seiten und wälzte mich auf dem Teppich, während er mit unschuldiger, verwunderter Miene zusah. Das verstärkte meine Heiterkeit noch mehr, und ich lachte so sehr, daß mir die Augen tränten und ich nach Luft schnappen mußte. Ich war müde und erschöpft, und nach der stundenlangen Konzentration war es einfach ein gutes Gefühl, zu lachen bis ich nicht mehr konnte. Endlich gewann ich schnaufend etwas Selbstbeherrschung zurück und sagte: »Vielleicht hätten wir am Schluß dieses Zimmer und Sie filmen sollen. Gott, Halton, Sie sind so fürchterlich perfekt.« Ich wischte mir die Augen und reichte ihm eins der beiden letzten Biere, die noch im Eiswasser lagen. »Hier, trinken wir die auch noch aus, bevor wir zusammenbrechen.« Er nahm die Flasche und trank. Wir lehnten am Bett, die Beine ausgestreckt, und beobachteten die dunstige tote Luft im Holo-Projektionsraum, wo der Monitor das Nichts projizierte. »Sie haben Ihre Sache gut gemacht, das muß ich zugeben«, sagte ich schließlich, ein wenig widerwillig. »Gute Arbeit, Halton.« Zur Bekräftigung stieß ich ihm die halbvolle Bierfla-
sche in einer Geste angetrunkener Kameraderie leicht aufs Knie. Ich lächelte, zufrieden und heiter in dem Bewußtsein, gute Arbeit geleistet zu haben. Halton sah mich an. Sein seltsam ausdrucksloses Gesicht verbarg, was in diesem hervorragend gearbeiteten Gehirn vorging. Einen Augenblick später stand ich mit dem Rücken an der Wand und zitterte vor Empörung und Panik, während er am Boden sitzengeblieben war und überrascht zu mir aufblickte. Der Schweinekerl hatte gerade versucht, mich zu küssen. »Sie haben gute Arbeit geleistet, aber nicht so gut«, fauchte ich. »Was, zum Teufel, hatte das zu bedeuten?« »Es tut mir leid«, sagte er schnell. »Ich mißdeutete Ihre Absicht.« »Was heißt hier, meine Absicht?« »Darf ich erklären?« Ich hob abwehrend die Hände. »He, ich glaube nicht, daß ich es hören will …« »Bitte, Ka Be …« Ich schnaufte, als wäre ich eben den Kilometer in zwei Minuten gelaufen, und das Herz hämmerte wie verrückt in meiner Brust. Ich sagte nichts, da ich zu beschäftigt war, meine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen, und das nahm er als ein ›Ja‹. »Als ich Ihnen sagte, meine sexuelle Erfahrung sei begrenzt, erläuterte ich nicht, wie begrenzt sie wirklich ist. Ich verstehe Sex gut genug; die Frauen, mit denen ich schlief, machten mir ihre Wünsche direkt und unzweideutig klar. Außerhalb der CDI bin ich nicht viel mit Leuten zusammengekommen; ich habe noch nie einen auswärtigen Auftrag gehabt. Es ist wichtig für mich, ja sogar wesentlich, daß ich lerne, wie die Gemütszu-
stände der Menschen zu deuten sind. Das meinte ich, als ich Ihnen erklärte, daß die Gehirne von Biokonstrukten und Menschen nicht in genau der gleichen Weise wahrnehmen und empfinden.« Ich hatte in meinem Leben auch nicht allzu viele Männer gehabt und war mir wohl bewußt, daß ihre plötzlich aufflammende, unsterbliche Leidenschaft gewöhnlich handfeste pragmatische Hintergedanken hatte. Es gefiel mir sowenig wie jeder anderen Frau, und ich verabscheute mich selbst, wann immer ich nachgab. Aber die meisten von ihnen hatten wenigstens die Höflichkeit gezeigt, die Illusion aufrechtzuerhalten, und meine Selbsteinschätzung war nicht gerade so, daß sie hohe Ansprüche rechtfertigt. Haltons unumwundenes Eingeständnis, daß ich bloß ein Meerschweinchen für seine unpersönliche Neugier auf menschliche Gefühlsregungen sei, vertrieb alle warmen Gefühle, die ich für ihn entwickelt haben mochte. »Die Kunst der Verführung zu lernen, ist also ein weiterer Programmpunkt Ihres Auftrags, wie?« Ich hatte meine Nerven unter Kontrolle, und heißer Zorn gewann die Oberhand. »Ihre Lehrer bringen Ihnen also all die miesen Tricks bei, wie man eine Frau herumkriegt, daß sie macht, was Sie wollen, und Ihnen überallhin folgt, wie?« fauchte ich ihn giftig an. »Oder ist dies bloß ein Teil Ihres Geschäfts? Soll ich vielleicht dankbar sein, daß ein gutaussehender, stattlicher Mann wie Sie dieses unscheinbare alte Gerippe bespringt? So dankbar, daß ich Kopf und Kragen für Sie riskiere?« Er saß noch immer am Boden, hatte die Hände flach auf den Teppich und die Beine ausgestreckt und an den Knöcheln übereinandergeschlagen. Seine Augen beobachteten mich mit
distanzierter Gelassenheit. »Es ist nicht so«, sagte er ruhig. »Das kann ich mir denken!« höhnte ich. »Sie fühlten sich sexuell von mir angezogen, als wir einander begegneten, bevor Sie wußten, daß ich ein Biokonstrukt bin«, sagte er. Ich fühlte mich erröten. »Als wir vor ein paar Tagen beim Abendessen saßen und Sie mich nach meinem Liebesleben fragten, hatten Sie ein starkes sexuelles Verlangen, das ich auf mich bezog.« »Gott«, sagte ich geknickt. »Ich wußte nicht, daß es so offensichtlich war.« Halton sah auf einmal verlegen aus. »So offensichtlich war es nicht«, sagte er und hob die Hand, daß die Innenfläche mir zugekehrt war. »Nanos. Chemische Sensoren. Ich konnte es ablesen, als ich Sie berührte.« Ich bekam eine Gänsehaut. Ich glaube, in diesem Augenblick hätte ich ihn am liebsten umgebracht. Nichts hätte mir besser vor Augen führen können, wie unmenschlich – nein, übermenschlich er war. »Rühren Sie mich nie wieder an. Ist das klar?« zischte ich. Er nickte. »Ja.« Der Gesichtsausdruck blieb unverändert, aber er sah ein wenig bleich aus. »Ich habe den Auftrag, noch zwei Wochen mit Ihnen zu verbringen und Sie bei Scheich Lawrence abzuliefern, nichts weiter, und danach werde ich Sie hoffentlich nie wieder zu Gesicht bekommen. Sie haben nichts, wofür ich oder GBN unsere Köpfe hinzuhalten bereit wären. Spielen Sie einfach Ihre Rolle und vergessen Sie dabei nicht meine, keinen Augenblick, auch nicht im privaten Bereich. Ich bin ein Mann, und ich habe nichts mit anderen Männern.«
Ich merkte, wie der Jähzorn mich packte, daß ich fast aus den Nähten platzte. Jeden Augenblick konnte es mich überkommen, daß ich Gegenstände zerschlug, was ich wirklich nicht wollte, denn ich würde Gefahr laufen, sechseinhalb Stunden Arbeit zunichte zu machen. Ich mußte hinaus. Meine Beine fühlten sich wie gefrorene Gummiattrappen an, als ich zur Verbindungstür ging und sie aufriß. »Und insbesondere schlafe ich nicht mit Roboterspionen«, sagte ich mit leiser Stimme, um zu verhindern, daß sie bebte. »Ich verstehe«, sagte er ebenso leise, nach wie vor am Boden sitzend. »Das hoffe ich.« Ich warf die Tür hinter mir zu und verbrachte die nächsten paar Stunden auf dem Rücken liegend, kettenrauchend und zu Erinnerungen aufstarrend, die sich an der Decke drängten, und war mir selbst verhaßt.
6 ICH SENDETE DIE GESCHICHTE in ihren drei Versionen komprimiert hinunter zu GBN und löschte die Magazinkassetten, bevor wir packten und das Hotel verließen. Mit einiger Nervosität steckte ich die Mikroplatte in eine Seitentasche des Portanets (»Mikroplatte in meinem Portanet? Gütiger Gott, Herr Zollinspektor, ich weiß wirklich nicht, wie sie da hineingekommen ist!«), als Halton mich bat, sie ihm zu geben. Ich zögerte nur einen Augenblick lang, dann gab ich sie ihm. Schließlich wurde er für die Spionage bezahlt, nicht ich. Er verschwand für ein paar Minuten in der Toilette, kehrte zurück, und wir verließen das Zimmer ohne ein weiteres Wort. Vielleicht hatte er sie hinuntergespült – mir war es gleich, solange ich nicht bei dem Versuch erwischt wurde, mit verbotenen Substanzen in Khuruchabja einzureisen. Ich wollte nicht bis an mein Lebensende in einem khuruchabjanischen Gefängnis verfaulen, nur damit CDI-Agenten einander Liebesbriefe schicken konnten. Bei der Paßkontrolle zur Ausreise war ich nervöser als Halton, wußte aber inzwischen, daß das nicht ungewöhnlich war. Er zeigte seinen falschen Paß vor, ohne mit der Wimper zu zucken, und legte seine Hand ruhig auf das Scannerfeld. Das Lesegerät piepte zufrieden ein Freisignal und spuckte den Paß aus, kein Problem. Der Transporter nach Kairo entsprach ziemlich genau jenem,
mit dem wir heraufgekommen waren, doch gab es diesmal Filet Mignon und als Nachspeise glasierte Birnen. Halton und ich sprachen nicht viel während des Fluges, und ich hielt mich mit meinem Alkoholkonsum zurück. Khuruchabja ist theoretisch alkoholfrei. Reisende, die Alkohol ins Land schmuggeln, und sei es auch nur in ihrem Blut, sind nicht gern gesehen. Wir landeten auf dem internationalen Flughafen Heluan und mußten rennen, um den einzigen Anschlußflug von Kairo nach Rawalpindi in der Republik des Unabhängigen Pandschab zu bekommen, der unterwegs ein Dutzend Zwischenlandungen machte, darunter auch im legendären Nok Kuzlat. Die altersschwache Maschine hatte gegenüber dem Flugplan nur vierzehn Stunden Verspätung, war somit für diesen Teil des Nahen Ostens bemerkenswert pünktlich. Mindestens fünfhundert Passagiere warteten auf einen Platz in dem mit siebzig Sitzen ausgestatteten Flugzeug, und alle hatten das Vierfache ihres Eigengewichts an elendem Gepäck bei sich: mit Stricken verschnürte Pappkartons, extra große Plastikbeutel aus den Duty Free Shops europäischer Flughäfen, bis zum Bersten vollgestopft mit folienverpackten Kleidern, Flaschen mit französischem Mineralwasser, Spielzeug, Wegwerfwindeln und belgischer Schokolade. Einige Reisende führten sogar Lattenverschläge mit verschiedenen Tieren mit sich, die dem überwältigenden Lärm der Menge ihr Bellen, Miauen, Gackern und Meckern hinzufügten. Wir kämpften uns durch die schreiende, drängende, erboste Menge zum Tor und wurden dank der Überzeugungskraft einer 100-Euro-Banknote durchgewinkt. Zwar gab es in Kairo viele Leute, die an Bord der Maschine wollten, aber die meisten hatten ein anderes Reiseziel als Nok
Kuzlat. Man muß sich vergegenwärtigen, daß Khuruchabja noch nie von weltweiter Bedeutung gewesen ist, es sei denn als Austragungsort besonders blutiger und erbitterter Kämpfe. Das Land hat ein paar kleine Ölvorkommen, die nicht einmal für den Energiebedarf der Bevölkerung ausreichen, und keine anderen natürlichen Bodenschätze, die von den mächtigen Staaten anderer Erdteile begehrt werden. Die einheimische Bevölkerung ist ein lockerer Zusammenschluß mehrerer Stammesgemeinschaften, geeint durch einen fanatischen religiösen Ultrafundamentalismus. Die einzige interessante Beschäftigung dieser religiösen Eiferer scheinen fortgesetzte innere Zwistigkeiten zu sein. Das Land ist von geringem strategischen Wert, eine Art Pufferzone zwischen zwei Staaten, die bis aufs Blut miteinander verfeindet sind. Aber Khuruchabja selbst ist zu weit von allem entfernt, was jemand begehren würde, und zu klein, um für seine Nachbarn mehr als bestenfalls eine lästige Plage zu sein. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, war Khuruchabja von einer Extremistengruppe beherrscht worden, die sich Nationale Demokratische Behjar-Bruderschaft nannte und von Demokratie soviel wußte wie ich über Quantenphysik. Ihr monomanischer Führer al-Husam hatte das Charisma des Ajatollah Khomeini, den fanatischen Unabhängigkeitswillen Ghaddafis und die Chuzpe Saddam Husseins. Aber bis auf gelegentliche Anschläge mit Autobomben und Geiselnahmen waren sie nicht mehr als das übliche Ärgernis. Dann gelang es der Bruderschaft, Khuruchabja in den Vordergrund weltweiter Aufmerksamkeit zu katapultieren, nachdem die Vorläuferorganisation der CDI ihr geholfen hatte, ein paar kleine Infrafusi-
onsbomben in ihre schmuddeligen Finger zu bekommen. Unglücklicherweise drückte sich al-Husam prompt um seinen Teil des Geheimgeschäfts, das er mit der CDI abgeschlossen hatte, und drohte, die Bomben im Namen Allahs gegen seine Feinde einzusetzen, was die Landschaft und die Immobilienwerte der Länder, die unmittelbar an sein erwähltes Ziel grenzten, stark verändert haben würde. Die verhaßten amerikanischen Teufel und ihre verräterischen Verbündeten, die in Wahrheit nur ihre verächtlichen Marionetten waren, konnten ein solches Vorkommnis nicht dulden, und die für das Entstehen der mißlichen Lage Verantwortlichen hüllten sich in Schweigen. Da es sich um eine innere Angelegenheit handelte, war eine direkte Militäraktion gegen die Behjars, welche die damals mehr oder minder legitime Regierung von Khuruchabja bildeten, nicht empfehlenswert. Die Vereinten Nationen unternahmen ihre gewohnten vergeblichen Versuche, die Krise durch Verhandlungen zu lösen, aber ein Waffenstillstand nach dem anderen wurde gebrochen, bis sie endlich ihre unvermeidliche Einwilligung zur Intervention gaben. Den Westlichen Mächten gelang es endlich, die an der ›Friedensstreitmacht‹ beteiligten, in der Damaskuskoalition verbündeten Länder zu überzeugen, daß sie lange genug ihre Streitigkeiten untereinander beenden sollten, um im Namen der Moslemischen Einheit die neuesten HighTech-Waffen gegen Khuruchabja einzusetzen und der Herrschaft der Behjars ein Ende zu bereiten. Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union wetteiferten miteinander, wer die benötigten Waffen liefern und welchem General das Verdienst als Friedensstifter zufallen sollte.
Alle Nachrichtenagenturen und Medienkonzerne schickten ihre Reporter, Portanets auf den Rücken geschnallt. Bei dieser Mission zur ›Friedenssicherung‹ ersparten sich unsere Militärs die Farce einer zentral gesteuerten Presseinformation mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit für die Reporter. Aber diesmal machten sie den Medien selbst harte Konkurrenz und lieferten eine Public Relations-Schlacht um die begrenzte Aufmerksamkeitsspanne des Fernsehpublikums, denn nur sie besaßen die Zielkameras in Kampfflugzeugen und Raketen, die spektakuläre, digitalisierte Holofilme höchster Auflösung von Explosionen in voller Farbe und mit Dolby-Panoramasound lieferten. Die mitgelieferte Versicherung, daß unsere intelligenten Bomben und Raketen diesmal zu ›garantiert 100 Prozent‹ zivile Ziele vermeiden würden, verhalf den Videofreunden daheim zu einem guten Gewissen und ungetrübten Genuß. Die Waffen der Menschheit werden ›intelligenter‹ und verfeinerter, aber unsere politische Klugheit scheint sich nicht im gleichen Tempo zu entwickeln. Trotz einiger geringfügiger Anpassungen entwickelte sich die ›Friedensmission‹ ziemlich genauso wie die letzte und die vorletzte, und das Endergebnis waren viele Tote und ausgebombte Menschen und eine Menge zerstörten Eigentums, nur um wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren und den Prozeß von neuem zu beginnen. Die Habenichtse werden immer einen Groll gegen die Besitzenden hegen und Unruhe stiften. Die Besitzenden werden sie am Ende niederschlagen, um sie daran zu hindern, ihnen etwas wegzunehmen, und die Medien werden dabei sein, um jene kostbaren Augenblicke festzuhalten, wenn sie sich ereignen. Niemand ist jemals in der Lage oder willens gewesen, die grundlegenden
Probleme zu lösen, besonders in diesen Teilen der Welt, die all dieses Elend zuerst verursacht haben. Während alle Militärstützpunkte Khuruchabjas mit modernen Flugplätzen ausgestattet waren, verfügte der zivile Flughafen von Nok Kuzlat nicht ganz über die gleichen Annehmlichkeiten. Er hatte eine einzige Startbahn, deren schlaglochübersäter Makadam von einer dünnen, rissigen Asphaltschicht und Ölflecken bedeckt war. Verkohlte Trümmer von weniger glücklichen Flugzeugen schmückten die Ränder der Rollbahn. Der Flughafen hatte keinen Tower, kein Radar, und die einzige Flugsicherung bestand aus einem zerrissenen roten Windsack, der gewöhnlich leblos von seinem Mast hing. Wenn es Wind gab, war es natürlich unmöglich, den Windsack durch die aufgewirbelten Wolken aus Staub und Sand zu sehen. Die altersschwache Maschine setzte wackelnd und durchsakkend zu einer rückgratstauchenden Landung an. Es war nachmittag und unglaublich heiß. Die weiße Glut der Sonne schlug mit einem beinahe fühlbaren Gewicht herab. Innerhalb kürzester Zeit klebten mir die Kleider an der Haut. Irgendwie war es mir auch gelungen, den Geruch zu vergessen, seit ich zuletzt hier gewesen war. Jetzt kehrte das exotische Parfüm des Nahen Ostens in einem beißenden Angriff auf den Geruchssinn zurück: ein Gemisch von Staub, Urin und Benzin. Wir kletterten mitten auf der Rollbahn von Bord, vorbei an einem überrascht aussehenden Piloten und eine wacklige Leiter hinunter, die an den Ausstieg der Maschine geschoben worden war. Die zwei verdrießlich blickenden Männer, die die Leiter hielten, schienen nicht allzu besorgt, daß wir ausrutschen und uns den Hals brechen könnten. Halton, ich und sieben Ge-
schäftsleute verschiedener Nationalitäten kletterten vorsichtig hinab und trotteten über das Flugfeld in Khuruchabjas kuriose Zollabfertigung. Das Flughafengebäude war nicht mehr als eine aus Lehm und Beton gefertigte Imitation einer Nissenhütte, in ihrer Form sehr ähnlich den Backöfen der Einheimischen, in denen sie ihr flaches Fladenbrot backen, und mit ungefähr der gleichen Innentemperatur. »Willkommen am Arsch der Welt«, murmelte ich vor mich hin. Als ich Khuruchabja das letzte Mal verlassen hatte, war es mein fester Vorsatz gewesen, niemals zurückzukehren. Wir vermieden die Gepäckausgabe, da der Flughafen Nok Kuzlat keine hatte. Da Halton und ich nur zwei kleine Koffer und das Portanet trugen, überholten wir rasch unsere Mitpassagiere, die sich mit ihren vier oder fünf Koffern, verschiedenen Plastikbeuteln und Hühnerkäfigen abschleppten, da der Flughafen Nok Kuzlat auch keine Gepäckkarren hatte. Der erste Aufenthalt in dem von Zigarettendunst erfüllten Abfertigungsgebäude war die Paßkontrolle. Der feindselig blickende Halbwüchsige, der eine Maschinenpistole über die Schulter gehängt trug, blickte uns finster aus seinem glaslosen Schalterfenster an. »Fhar mâan wah visah«, verlangte er. Wir reichten ihm unsere Pässe, dazu das dicke Bündel unserer khuruchabjanischen Visa. Die Visa waren absolut erforderlich, da das Lesegerät für Pässe, schon vor zehn Jahren außer Betrieb, in der Zwischenzeit nicht ausgetauscht oder repariert worden war. Er ließ sich Zeit mit dem Prüfen der Visa, verglich unsere Namen Buchstaben für Buchstaben mit denen in einem Buch von der Größe der Gelben Seiten Manhattans. Nachdem
er sich mehrere Blätter mit angehefteten Fotos angeeignet hatte, dazu eine eingeschobene 25-Euro-Banknote, garnierte er die restlichen Dokumente freizügig mit einem großen Gummistempel und löschte alle womöglich wichtigen Informationen mit schön verzierter arabischer Kalligraphie aus. Schließlich winkte er uns weiter zur Zollabfertigung. Der Zoll von Khuruchabja mag langsam und primitiv sein, aber er ist gründlich. Das Paßlesegerät mag defekt sein, aber der Metalldetektor und das Röntgengerät zur Gepäckdurchleuchtung waren funktional bis zum Grad lebensgefährlicher Strahlung. Wenn die Zollbeamten glaubten, daß ich verdächtig aussähe, konnten sie ohne weiteres entscheiden, daß geprüft werden müsse, ob ich etwa Kassiber oder andere verbotene Gegenstände im After einschmuggeln wollte. Nach dem Herunterlassen der Hosen würde selbst bei negativem Befund der Skandal meiner verschwiegenen Weiblichkeit ausreichen, um mir zu einigen Wochen Gefängnis und mindestens fünfundzwanzig Stockhieben zu verhelfen. Ein paar unserer Mitreisenden wurden aus der Reihe gestoßen und fachmännisch gefilzt, dann unter bewaffneter Bewachung Gott weiß wohin abgeführt, nur um uns andere paranoid zu machen. Aber im allgemeinen machen die khuruchabjanischen Zollbeamten eine große Schau daraus, die Ausrüstungen fremdländischer Journalisten mit penibler Sorgfalt zu untersuchen, verzichteten aber auf Leibesvisitationen. »Bitte geben Sie mir Ihre Brieftaschen und Geldbörsen, öffnen Sie alles Gepäck und legen Sie den Inhalt auf den Tisch«, sagte ein verdrießlich blickender Bursche mit bleistiftdünnem Schnurrbart auf markundi, dann beäugte er mißtrauisch unsere
westliche Kleidung und wiederholte auf englisch: »Geld. Beutel legen hier, offen jetzt. J'ahkzhil! Schnell!« Inzwischen schwitzte ich vor Nervosität und Hitze und versuche ein paar freundliche Worte auf markundi zu sagen, um den Burschen damit zu beeindrucken, daß ich mich der Mühe unterzogen hatte, seine Sprache zu lernen. Aber ich hatte viele Feinheiten des Markundi vergessen, und das merkte man. Seine Lippen kräuselten sich in höhnischer Belustigung, als er unsere Geldbörsen durchsuchte und meine Euros zählte. Die Khuruchabjaner zählten alle eingeführte Hartwährung, um sicherzugehen, daß Besucher ihr Geld zum amtlichen Betrugskurs wechselten, statt auf der Straße zum realistischeren Schwarzmarktkurs. Jeder Einkauf, den wir von nun an machten, mußte quittiert und die Quittungen gesammelt werden, und jede Diskrepanz, die sich bei der Ausreise in der Gesamtsumme fand, wurde mit strengen Strafen belegt. Er notierte eine Zahl, bevor er uns die Geldbörsen abzüglich seiner Inspektionsgebühr zurückgab. Für diese gab es natürlich keine Quittung. Er wandte seine Aufmerksamkeit meinem kleinen Koffer zu, durchwühlte ihn und beschlagnahmte mein Rasierwasser (Ich könnte es trinken wollen), meine zwei Kugelschreiber (Ich könnte jemanden damit erstechen), hebelte die kleine Ionenbatterie aus meiner Armbanduhr (Ich könnte sie zur Herstellung einer Bombe verwenden), und meine Zigaretten (Er mochte die Marke) dann zeigte er auf das Portanet. »Legen Sie das auch hier herauf. Öffnen Sie es.« Halton blinzelte den Burschen forschend an, dann lächelte er skeptisch. »Puridezh?« sagte er in einem seltsam akzentuierten Markundi.
Der junge Mann zwinkerte überrascht, grinste unschlüssig zurück. »Sie sind aus Puridezh, nicht wahr? Ich dachte es mir …« Sie plapperten über Cafés und Straßen in irgendeiner nördlichen Stadt, von deren Existenz ich keine Ahnung hatte, und der Beamte schrieb die Adresse vom Haus seines Onkels auf einen Zettel, und bat uns, wir sollten die Familie aufsuchen und Grüße von ihm sagen, wenn wir nach Puridezh kämen, denn er habe noch zwei Jahre Dienstzeit in der verdammten Armee vor sich, vermisse die Küche seiner Mutter und freue sich auf die Heimkehr, wenn es Gottes Wille sei, Inschallah … Darauf stopfte er alles wieder in meinen Koffer, ohne mehr als einen flüchtigen Blick darauf zu werfen, schaute Haltons Gepäck gar nicht erst an und wandte sich mit finsterer Miene dem nächsten Mann in der Schlange zu, und wir waren durch. Wir gingen durch die Glastüren zu dem Schwarm von Taxifahrern, die darauf warteten, sich auf uns zu stürzen. »Das war gekonnt«, sagte ich halblaut zu Halton. »Ich dachte, Sie wären noch nie über Virginia hinausgekommen.« »Hab's aus Büchern«, sagte er, und dann wurden wir von der Flut ungewaschener Menschheit überschwemmt, die an uns verdienen wollte. Der Flughafen war günstig einige fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadtgrenzen gelegen, und Nok Kuzlat, das in der Ferne weißlich am ebenen Horizont schimmerte, war viel zu weit, um zu Fuß ein Hotel zu suchen. Es gab weder Bahn- noch Busverbindung. Der nichtsahnende Reisende aus dem Westen, der in Khuruchabjas Hauptstadt eintrifft, sieht sich plötzlich der liebevollen Fürsorge grinsender dunkelhäutiger Männer mit
unrasierten Gesichtern unter mächtigen Turbanen aus mehreren meterlangen Streifen unsauberen Baumwolltuches ausgeliefert. »Taxi? Du vielleicht wollen Taxi?« flüstern sie so verschwörerisch, als ob sie Pornos oder gestohlene Uhren unter ihren Kaftanen hätten. »Mein Taxi sehr gut, sehr billig, fahren hin schnell.« Dann gibt es die kalkulierte Verwirrung, wenn ein Fahrer den andern zum Schwindler und Betrüger erklärt und sagt, man solle nur ihm vertrauen, während der Beleidigte den Vorwurf heftig mit Worten oder Fäusten bestreitet, je nachdem, wofür er in der Stimmung ist. Schließlich schleppt der eine oder der andere einfach das Gepäck fort, rennt damit zu seinem Taxi und stopft es in den Kofferraum. Am Ende spielt es keine Rolle, welches Taxi man nimmt; es sind alles die gleichen heruntergekommenen Schrotthaufen, kaum noch imstande, durch die wirbelbrechenden Schlaglöcher zu klappern, und das zu einem abenteuerlich überhöhten Preis. Unser Fahrer, ein runzliger alter Mann von ungefähr fünfunddreißig namens Samat, erklärte sich zum Sieger, als er meinen erbeuteten Koffer und Haltons Holoausrüstung in seinen Kofferraum warf, den Deckel zuknallte und hinaufsprang, um sich breit grinsend daraufzusetzen. Es gelang mir, einem anderen Fahrer das Portanet zu entreißen, wobei ich mir die Schulter zerrte, und wir stiegen in Samats fünfzehn Jahre alten Ford Suzuki, unterwegs zum Grand Imperial Hotel am Hajara Boulevard in Nok Kuzlat. Die Rücksitze waren mit einem durchgescheuerten Perserteppich bedeckt, der eine Menge zerrissener und fehlender Schaumgummipolsterung verbarg, diese aber nicht ersetzen
konnte. Ich wartete darauf, den ersten Wanzenbiß im Hintern zu spüren. Die antike Klimaanlage keuchte und schnarrte energisch, ohne die Temperatur merklich zu senken. Es war nicht weit zu den Vororten, und bald darauf tauchten wir in ein Gewirr schmaler, gewundener Straßen ein, die in allen denkbaren Winkeln von anderen schmalen, gewundenen Straßen gekreuzt wurden. Samat nahm sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit und verfehlte nur knapp unschuldige Fußgänger, die versuchten, dieselben Straßen zu benutzen, da Gehsteige gänzlich fehlten. Ich war seit mehr als zehn Jahren nicht in Nok Kuzlat gewesen, und damals hatten Bomben, Raketen und Brände viel zur Zerstörung der noch mittelalterlich anmutenden Atmosphäre der Stadt beigetragen. Inzwischen ähnelten die Außenbezirke Nok Kuzlats bis zu einem gewissen Grade den Slumgürteln, die sich um sämtliche wohlhabenderen Städte der Region bilden und immer mehr ausbreiten. Es war eine seltsame Mischung von Wohlstandsartikeln und primitivem Elend: neue Holofernseher flimmerten im Halbdunkel verfallender Lehmhütten und blechgedeckter Bretterverschläge; eine elektrische Toilette lag verlassen in einer Durchfahrt neben einem tristen Wohnblock, wo ein offener Abzugskanal am Eingang vorbeirieselte; halbnackte Kinder rannten in den staubigen, ungepflasterten Gassen und spielten mit Bruchstücken modernen Technik; eine alte gebeugte Frau, eingehüllt in bestickte rote Wolle, trieb mit einer Gerte ein halbes Dutzend Ziegen an einem Mann in westlichem Anzug und Kaffijeh vorbei, der in sein PC-Modem sprach. Ich achtete nicht besonders auf unsere Route, da ich längst akzeptiert hatte, daß Taxifahrer weite Umwege fahren, sogar
den längsten möglichen Rundkurs, um den Fahrgast zu verwirren und ihm am Ende das Vierfache des angebrachten Fahrpreises abzunehmen. Die öden Slums und heruntergekommenen, teils verwüsteten Wohnblocks sahen alle ziemlich gleich aus; es war nicht wie das Nok Kuzlat, das ich in Erinnerung hatte. Aber ich hatte die Stadt nie wie meine Hosentasche gekannt. Aber ich bemerkte es, als Halton anfing, aus dem Fenster und in Samats Rückspiegel zu blicken, um dann mit erhöhter Wachsamkeit unseren freundlichen Taxifahrer zu mustern, der in einem unverständlichen Markundidialekt daherschwatzte. »Was gibt es?« fragte ich auf englisch. Halton blieb keine Zeit zur Antwort, denn im nächsten Augenblick trat Samat auf die Bremse und wandte sich über die Rückenlehne uns zu. Schwarze Zähne grinsten über einer antiken, aber durchaus tödlichen, auf uns gerichteten Pistole. In der Staubwolke des mit blockierten Rädern zum Stillstand kommenden Wagens erschienen die undeutlichen Gestalten von Männern und verdeckten das Licht außerhalb der Wagenfenster. »Ah, Scheiße«, sagte ich angewidert. »Das ist wirklich zu lächerlich …« Die Türen wurden aufgerissen, und wir waren eingeladen, unsere neuen Freunde in die kühle, dunkle Geborgenheit eines ausgebombten Gebäudes zu begleiten, das günstig in unmittelbarer Nähe stand. Samat brauste mit durchdrehenden, profillosen Reifen und einer Staubfahne davon, wahrscheinlich ein echter Taxifahrer, der zum Flughafen zurückfuhr, um zu sehen, ob sich weitere dumme Ungläubige finden ließen, die er gegen guten Lohn der Entführerbande zuliefern konnte. Im Innern des Gebäudes dauerte es eine kleine Weile, bis
meine Augen sich dem Halbdunkel angepaßt hatten. Es sah aus, als wäre hier einmal ein Café gewesen, aber alles roch nach jahrelanger Leere und Verwahrlosung. In den Schatten über uns gurrten Tauben. Der größte der fünf Männer hatte einen Arm um Haltons Hals gehakt und hielt ihm eine Eclipse-Pistole israelischer Herkunft an den Kopf. Halton leistete keinen Widerstand. Zwei andere hatten mich zwischen sich genommen. Jeder hielt mich an einem Arm fest, und die restlichen zwei schafften unsere Kleider und das Gepäck herein und warfen alles auf den mit Taubenkot gesprenkelten Boden. Eine bläuliche Rauchwolke zog durch einen breiten Lichtstrahl, der durch ein Loch in der Wand nahe der Decke einfiel, und dahinter machte ich die vagen Umrisse einer Gestalt aus, die hinter einem kleinen Tisch saß und eine Zigarette rauchte. Plötzlich wollte ich auch eine. »Wissen Sie, Sie sollten einen neuen Drehbuchautor für diesen Scheiß einstellen«, sagte ich zu der Schattengestalt. »Ich habe Wiederholungen von alten Fernsehfilmen gesehen, die origineller waren …« »Maul halten!« sagte die Schattengestalt mit einer angerauhten Frauenstimme. Sie war entschieden nicht mit englisch als Muttersprache aufgewachsen, aber ihr Akzent war sehr hübsch. Meine Begleiter hoben mich zur Bekräftigung der Aufforderung von den Füßen, daß mir die Schultergelenke schmerzten. Endlich hockten die beiden Männer, die unser Gepäck durchwühlt hatten, sich auf die Fersen zurück, und einer sagte auf markundi: »Es ist nicht hier.« »Vielleicht hat einer von ihnen es am Körper versteckt«, sagte die Frau, gleichfalls auf markundi.
Der Mann, der gesprochen hatte, wandte den Kopf und starrte mich an. Ein Stilett erschien in seiner Hand. Er lächelte dünn. »Vielleicht sollten wir nachsehen«, sagte er. Natürlich, immer zuerst die Kleinen. Ich hatte das beklommene Gefühl, zu wissen, was sie suchten. Der Mann mit dem Stilett erhob sich aus der Hocke und trat auf mich zu. Er sah wie ein gewöhnlicher Typ aus, nicht was man sich unter einem abscheulich sadistischen Wüstling vorstellen würde. Kein praller Bizeps, keine faulenden Zähne, keine lange rote Narbe, die seine üble Visage entstellte. Er sah wie ein gewöhnlicher Arbeiter aus. Wußten Sie, daß, wenn man einer Frau in den Unterleib tritt, als ob sie Hoden hätte, die lähmende physiologische Wirkung sehr ähnlich ist? Nun, vielleicht nicht ganz die gleiche, aber als er mich mit einer stahlkappenverstärkten Stiefelspitze trat, hörte ich mein Schambein knirschen. Ich weiß nicht, ob der Schmerz so schlimm war, wie er für einen Mann gewesen wäre, aber er war schlimm genug, das dürfen Sie mir glauben. Meine Begleiter erlaubten mir, auf die Knie zu fallen, wo ich vornübergebeugt auf dem schmutzigen Boden stöhnte und mir die verletzten Teile hielt. Dann vollführte der Kerl, der mich getreten hatte, einen kleinen Tanzschritt und trat mich wieder, diesmal genau in den Solarplexus, daß ich mit ausgestreckten Armen hinschlug. Da hatte jemand fleißig Anatomie studiert. Es folgten ein paar belanglose leichtere Tritte gegen Kopf und Hals, mehr zur Erzeugung allgemeiner Schmerzen als zur Ausschaltung jedes Widerstandspotentials, dann wurde ich hochgerissen und herumgedreht, um einem seiner Freunde in die Arme zu fallen. Dort hing ich wie ein Betrunkener, vollstän-
dig paralysiert, während der Schmerz in betäubenden Wellen durch meinen Körper flutete. Sie zerrissen mir das Hemd, zogen mir lachend die Hose bis über die Knie herunter. Wieder wurde ich herumgedreht, um dem Kerl mit dem Stilett gegenüberzustehen. Durch meine Tränen konnte ich ihn nur undeutlich erkennen. »Es ist eine Frau!« keuchte jemand, und ich wurde losgelassen und fiel schmachvoll mit dem bloßen Hintern auf den Boden. Ich rollte auf die Seite, krümmte mich und wimmerte jämmerlich. Danach ging alles unheimlich schnell, und nichts davon hatte mit mir zu tun. Ein häßliches Knacken, ein erstickter Schrei, ein Knirschen, und der Mann, der Halton gehalten hatte, schlug mit gebrochenem Genick in den Staub. Die Eclipse-Pistole peitschte zweimal, und zwei weitere wurden wie Gliederpuppen rückwärts von den Beinen gerissen und zu Boden geworfen. Vom Boden aus sah ich die Schattengestalt am Tisch aufstehen. Eine zweite Pistole feuerte zweimal, als Halton von einer Seite des Raumes zur anderen schnellte. Der vierte Mann mit der Waffe wurde tödlich getroffen. Ich sah, wie kleine Stücke von seiner Brust aus seinem Hemd spritzten. Der Mann mit dem Stilett warf es auf Halton und starb, bevor es seinen Flug vollendet hatte. Als es sein Ziel erreichte, war dieses längst fort, und das Stilett schlug in die Wand, wo es zitternd steckenblieb. Irgendwo über uns flatterten verschreckte Tauben. Es hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Fünf Männer lagen bewegungslos am Boden. Die Frau war aufgestanden und tat jetzt einen einzigen Schritt in den Balken aus staubigem Sonnenlicht, der sie wie auf einer Theaterbühne illuminierte. Auch
sie hatte eine Pistole und zielte auf mich. Halton hielt inne. Er hatte die Waffe gegen sie im Anschlag. Sie war schön in einer Weise, wie es nur arabische Frauen sein können, atemberaubend schön, mit goldener Haut, Mandelaugen, schwarzem Haar bis zur Taille. Ein winziger Glanz von Gold in beiden vollkommen geformten Ohren. Sie trug ein kostspielig geschneidertes Kleid westlichen Stils, das ihre makellose Figur betonte. Sie starrte Halton an und sprach in markundi. In ihrer Stimme war ein Ton von Ehrfurcht und hilfloser Frustration. »Yah malahjinn.« Die Hand mit der auf mich gerichteten Waffe zitterte, ihr Finger suchte den Druckpunkt am Abzug. Doch Halton war schneller. Er schoß ihr durch die Brust. Sie brach zusammen, und der Spuk war vorbei. Halton stand da und blickte noch eine Sekunde auf den Leichnam der Frau, die Pistole noch in Bereitschaft, die freie Hand stützend am Handgelenk der rechten, während wirbelnde Staubteilchen im Lichtstrahl zur Ruhe kamen und über ihnen schwebten. Vielleicht bewunderte er sie noch im Tode. Vielleicht wollte er nur sichergehen, daß sie tot war. Es war plötzlich sehr still, sogar angenehm erleichternd, bloß hatte ich mörderische Schmerzen. Dann kniete Halton bei mir nieder und ließ die Pistole auf den Boden fallen. Der bittere Geruch verbrannten Pulvers hing in der Luft. »Ka Be …« Er streckte die Hände aus, um mir unter die Achseln zu greifen und aufzuhelfen, dann zögerte er mit besorgter Miene. Ich faßte ihn am Hemd und versuchte mich daran hochzu-
ziehen. Dann umfaßte er meine Ellbogen, und ich fühlte ihn zittern. Ich blickte ihm ins Auge, dann überwältigte mich Übelkeit und ich erbrach mich über seine makellos geputzten Schuhe. Anscheinend war mir beschieden, daß ich auf dieser Reise nichts vom Flugzeugessen bei mir behalten durfte.
7 IRGENDWIE STOPFTE HALTON unsere Sachen wieder in die Koffer und irgendwie verschaffte er uns eine Fahrt zum Grand Imperial, und irgendwie brachte er mich unauffällig am Empfang vorbei, in den Aufzug und in das Zimmer. Ich konnte kaum gehen. Jeder Schritt erzeugte einen stummen Aufschrei der Innenseiten meiner Schenkel. Er legte mich aufs Bett und entkleidete mich vorsichtig, sorgsam darauf bedacht, meine bloße Haut nicht zu berühren. Aber in meinem Zustand war es mir herzlich gleichgültig. Ich hatte mehrere große Prellungen, die anzuschwellen und sich dunkel zu verfärben begannen, die schlimmste davon zwischen den Beinen. Er ließ einen Sektkühler mit gestoßenem Eis kommen, wickelte es in ein nasses Handtuch und legte es auf. Ich hatte alle Mühe, ein Kreischen zu unterdrücken. Er zog einen Stuhl neben das Bett, setzte sich und verharrte bewegungslos, die Hände im Schoß, und stand nur von Zeit zu Zeit auf, um die Eispackung zu erneuern oder vorsichtig die blutenden Platzwunden zu betupfen, die an meiner Stirn und dem Kinn allmählich gerannen. Ich mußte geschlafen haben. Als ich die Augen öffnete, war es nicht wie ein Erwachen, aber ich wußte nicht, wo ich war. Wenn ich mich bewegte, schoß der Schmerz durch meinen Rumpf aufwärts, und ich sah Haltons gleichmütiges Gesicht,
das mich im Dämmerlicht beobachtete. Ich hörte das schwache Geräusch des Straßenverkehrs und war mir bewußt, daß es zugenommen hatte. Nach und nach wurde mir klar, daß die Nacht vergangen war. Meine Augenlider waren verklebt. Halton saß noch immer auf dem Stuhl neben dem Bett, hatte den Kopf ein wenig geneigt und die Augen geschlossen. Er atmete regelmäßig, schlief ruhig. Hmm – das also war die Methode, wie er seine Hemden vor dem Knittern bewahrte. Ich hatte den Kopf nur ein wenig auf dem Kissen bewegt, und schon öffnete er die Augen und musterte mich kritisch und wachsam. »Wasser?« krächzte ich, denn die Mundatmung in der heißen, trockenen Luft hatte während der Nacht meine Kehle ausgedörrt. Meine Zunge fühlte sich pelzig an, und ich brachte nicht genug Speichel zusammen, um die Lippen zu befeuchten. Wortlos stand er auf und füllte Leitungswasser in ein Becherglas aus Plastik, das geschliffenes Kristall imitierte und ein zerkratztes Hotelwappen in Gold aufgeprägt trug. Als er sich niederbeugte, um es mir an den Mund zu halten, sagte ich mißmutig: »Ich kann es halten. Helfen Sie mir nur, mich aufzusetzen, bitte.« Das tat er, und beschränkte sich gewissenhaft darauf, meinen nackten Körper nicht mehr als unbedingt notwendig zu berühren, ohne dabei allzu auffällig vorzugehen. Meine Hände zitterten noch immer schlimm, und mir rann Wasser übers Kinn, das ich mit dem Handrücken abwischte. Es fühlte sich wundervoll kühl an. Halton wirkte nicht so frisch gebügelt wie sonst; er sah ein
wenig abgespannt aus. Ich sah ihn noch immer mit unwirklicher Schnelligkeit im staubigen Halbdunkel des ehemaligen Cafés agieren, hörte das dumpfe Knacken brechender Halswirbel, die peitschenden Schläge der Pistolenschüsse und mußte daran denken, wie schön die tote Frau am Boden liegend ausgesehen hatte, nachdem er sie erschossen hatte. Ich hatte schon vorher Menschen sterben sehen, manche ganz in meiner Nähe, als Nok Kuzlat mit Bomben und Raketen angegriffen worden war, aber die ungeheure Schnelligkeit und Effizienz, mit der Halton getötet hatte, erschreckte mich. Ich starrte ihn an. Wahrscheinlich brauchte man kein Gedankenleser zu sein, um zu sehen, was in mein Gesicht geschrieben stand. Seine Augen nahmen einen schmerzlichen Ausdruck an, dann blickte er weg. »Ich habe vorher nie jemanden getötet«, sagte er mit leiser Stimme. Ich glaubte ihm, obwohl es nicht so ausgesehen hatte. Aber das war ein Thema an dessen Erörterung mir nicht sonderlich gelegen war. »Wo ist die Mikroplatte?« fragte ich in sachlichem Ton. Statt einer Antwort schob er einen Zeigefinger zwischen Oberlippe und Zähnen in den Mund, als wollte er einen Speiserest entfernen, der ihm zwischen die Backenzähne geraten war. Aber dann schob er ihn weiter hinauf. Und noch weiter. Ich sah die Ausbeulung, die der Finger neben dem Backenknochen machte, und wie er das untere Augenlid halb zudrückte. Als er den Finger wieder herauszog, haftete die Mikroplatte an seiner Spitze. »Ich habe bestimmte zusätzliche Höhlungen in verschiedenen Körperteilen, wo Uneingeweihte nichts vermuten werden«,
erklärte er. »Das ist ein starkes Stück«, sagte ich. Er gab sie mir, und ich hielt sie vorsichtig ins Licht des frühen Morgens. Sie war überraschend trocken und schimmerte matt. Sie schien harmlos. »Die Frau sagte etwas zu Ihnen«, sagte ich nachdenklich. »… Yah malahjinn? Ihr Markundi ist besser als meins.« »Das ist ein mythologischer Dämon«, antwortete er. »So etwas wie das Pendant zu einem jüdischen Golem.« Der Vergleich schien ihn nicht zu kränken. »Hm.« Mein Gehirn kam langsam wieder in Gang. Die Frau war zweifellos überrascht gewesen. Sie hatte von der Mikroplatte gewußt, hatte gewußt, daß sie mit uns ins Land gebracht wurde, aber nicht, daß Halton ein Biokonstrukt war. Das hatte sie erst erkannt, als es zu spät gewesen war. Sehr merkwürdig. Ich hielt die Platte in die Höhe und betrachtete sie nachdenklich. »Sie schien sehr hinter diesem Ding her zu sein«, sagte ich schließlich. »Und sie dachte nicht daran, höflich darum zu bitten.« Er holte tief Atem und nickte. »Ja, so scheint es.« »Ich frage mich, ob wir knacken können, was gespeichert ist.« Vorsichtig schob ich die Beine über die Bettkante. Und weinte. Dazu bin ich berechtigt, schließlich bin ich eine Frau, und außerdem tat es wirklich weh. Halton versuchte nicht, mich zu stützen oder zurückzuhalten, sondern reichte mir wortlos mein Hemd. Aber ich brauchte Hilfe, um in die Hose hineinzukommen. Wir schlossen das Portanet und seine Holoausrüstung an den Holofernseher chinesischer Herstellung an, den das Hotel-
zimmer besaß, und natürlich paßten die Steckerverbindungen nicht. Ich wünschte, wir hätten einen Taschen-PC künstlicher Intelligenz mitgenommen, aber für die orthodoxen khuruchabjanischen Muftis sind Maschinen, die intelligente Gespräche mit Menschen führen können, verdammenswertes Teufelswerk, das mit Hilfe gefangener Seelen zustande kommt. Allah sind sie offenbar nicht wohlgefällig, und was Allah nicht gefällt, ist in Khuruchabja ungesetzlich, zumindest in der Öffentlichkeit. Endlich gelang es uns, die Verbindung mit dem Hologerät über Zwischenstecker herzustellen. Mikroplatten sind Mehrschichtenchips, die so viele Daten aufnehmen können, daß die halbe Kongreßbibliothek in einem Rechteck von zwei Millimetern Stärke und der Größe eines Fingernagels Platz findet. Diese Mehrschichtenchips arbeiten auf molekularer Ebene, sind sehr teuer und nicht in jedem Computerladen zu kaufen. Um diese Schichten aufzuschließen und das Datenmaterial zu nutzen, bedarf es eines äußerst verfeinerten Lesegerätes künstlicher Intelligenz, und damit war eine Kombination von Portanet und chinesischem Holofernseher etwas überfordert. Wir konnten zwei einfache Schichten aufschließen, bevor das Ding streikte; wie wenn man den Titel eines Buches sieht und nur die Titelseite lesen kann. Alles, was wir erfuhren, war: »Vertraulich. Beschränkter Zugang. Nur für autorisiertes Personal.« Ich schwitzte und fluchte über dem Portanet, und als Halton mich ablöste, hatte er nicht mehr Erfolg als ich. Wenigstens ließ mich die Konzentration auf das Eindringen in den Code der Mikroplatte meine Schmerzen zeitweise vergessen. Das Telefon läutete, ich sprang auf und landete ächzend auf dem Stuhl. Mein
Schambein erinnerte mich, daß ich vorerst auf Gymnastik verzichten sollte. Es erinnerte mich auch, daß ich stocksauer war. »Was?« schrie ich in den Hörer. »Ka Be Sulaiman?« fragte eine Männerstimme am anderen Ende. Sie klang etwas erstaunt. Ich hatte mir die Mühe erspart, aufzustehen und die Bildübertragung einzuschalten. Und ich hatte es auch nicht vor. Nicht mit dem gegenwärtigen Zustand meines Gesichts. »Wer will das wissen?« »Elias Somerton«, sagte er prompt. Das war nicht Somertons Stimme. »Nun, hallo, Eli alter Knabe! Wie geht es mit Ihrer Therapie? Hat Ihr Junge schon den Entzug hinter sich?« Halton sah mich fragend an. Am Telefon begann ich mich wieder ganz die alte zu fühlen. »Wir haben keine Zeit für kindische Spiele, Sulaiman«, sagte die Stimme mit einem leichten, aber ärgerlichen englischen Akzent. »Sie und Ihr Holo-Kameramann werden heute abend im Präsidentenpalast Seiner Exzellenz erwartet. Es wird ein offizielles Essen geben, einundzwanzig Uhr. Seine Exzellenz empfängt den stellvertretenden Außenminister Seiner Majestät.« »Oho, und wir sind eingeladen? Ist Smoking angesagt, oder was?« »Sie sind bloß ein Reporter, Sulaiman – berichten Sie über das Diner wie bei jedem anderen GBN-Auftrag. Tun Sie Ihren Job, nicht wahr?« »Verstanden, Bwana.« Ich salutierte, obwohl der Mann am anderen Ende mich nicht sehen konnte.
»Seine Exzellenz hat eingewilligt, nach dem Essen mit Ihnen zu sprechen. Warten Sie, bis er sich an Sie wendet.« Ich öffnete den Mund, um etwas über die Mikroplatte zu sagen, dann schloß ich ihn fest, denn ein wenig verspätet war mir eingefallen, daß die Telefongespräche in Khuruchabja routinemäßig abgehört wurden. Besonders die von Ausländern. »Sicher, kein Problem«, sagte ich. »Das sollte es besser nicht geben«, sagte die Stimme und hängte auf. »Bietet die CDI Ihren Mitarbeitern Kurse in gutem Benehmen an?« fragte ich Halton. »Nicht daß ich wüßte«, antwortete er ernsthaft. Ich schüttelte bekümmert den Kopf. »Gott ja, Halton …«, dann ließ ich ihn die Mikroplatte wieder in seine zusätzliche Nasenfistel stecken. Dort war sie wahrscheinlich sicherer als sonst irgendwo. Khuruchabjas Hauptstadt ist weder so heruntergekommen noch so ultramodern wie man annehmen könnte. Es ist wahr, daß Khuruchabja nur über geringe Rohstoffvorkommen und Bodenschätze verfügt, was einer der Hauptgründe für den letzten Krieg war. Das Land besitzt wenige verfügbare Vermögenswerte, die sich zu Geld machen lassen, ganz anders als seine reichen saudiarabischen und anderen Vettern um den Persischen Golf. Den scheinbar freundschaftlichen Wettbewerb um die Führung auf dem Gebiet hochtechnologischen militärischen Spielzeugs hatten seit Jahrzehnten die Israelis und Amerikaner exklusiv untereinander bestritten, mit nur gelegentlicher Beteiligung der Franzosen und Briten. Die offensive militärische Schlagkraft Khuruchabjas ist wie die aller übrigen arabischen
Länder des Nahen Ostens auf einer frustrierend drittklassigen Ebene gehalten worden. Mit der kurzen Ausnahme der Infrafusionsbedrohung. Hinzu kam, daß viele Bürger Khuruchabjas ihre Investitionsgewinne nur noch nach der Menge der Wolle kalkulieren konnten, die in den nächsten Generationen auf den Rücken ihrer Schafe wuchs, seit der Internationale Währungsfonds Khuruchabja zur ›Umschuldung‹ seiner Nachkriegsschulden gedrängt hatte. Trotz der traditionellen islamischen Pflicht, ihre weltlichen Besitztümer zu weihen, indem sie den Bedürftigen ein großzügiges sadaka't zukommen ließen, zogen die Bürger reicher Länder es vor, ihren heimischen Bauern Almosen zu geben und anderen Ländern die Sorge um ihre Armen zu überlassen. Es hatte jede Menge komplizierter Vorschläge und Pläne gegeben, den Ölreichtum des Nahen Ostens gleichmäßiger über die arabische Welt zu verteilen, doch wurde keiner von ihnen von jenen, die über das Öl geboten, jemals als annehmbar gefunden. Zum einen ist die ›arabische‹ Welt nicht durchgängig arabisch. Warum sollten reiche Araber das Geld, welches Allah ihnen so offensichtlich zugedacht hatte, einfach weggeben, indem sie die Einnahmen aus den Ölvorkommen unter ihrem Sand den Persern zukommen lassen? Oder den Kurden? Oder den Türken? Zum anderen gibt es das Problem der ›guten‹ Araber, womit all jene reichen und im Überfluß lebenden Besitzenden gemeint sind, die lukrative Geschäfte mit dem Rest der modernen Welt machen, gegenüber den ›schlechten‹ Arabern, den Habenichtsen, die ständig Unruhe stiften. Warum gutes arabisches Geld
für Aufwiegler wie die Jemeniten oder die Palästinenser wegwerfen? Oder die Khuruchabjaner? Selbst wenn die nationalen Differenzen ausgebügelt werden könnten, gibt es immer noch die nächste Hürde, nämlich die Frage, welche moslemischen Glaubensrichtungen die Wahren und Frommen Anhänger des Propheten Mohammed, und welche nichts als ein Haufen gotteslästerlicher Halunken sind, die Zwietracht und Häresie verbreiten. Königliche Familien und Präsidenten auf Lebenszeit in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens vollführen seit Jahrzehnten einen schwierigen Balanceakt zwischen weltlichem Fortschritt und dem islamischen Gesetz der Schar'ia, dessen Erfolg für alle unbefriedigend blieb. Wenn diese Argumente nicht überzeugen, kann der Araber mit Selbstachtung sich immer noch tief gekränkt auf sein moralisches und emotionales Erbe berufen und auf die unauslöschliche Schuld des Westens und seine Feindseligkeit gegenüber der islamischen Renaissance verweisen, um der Zustimmung all seiner Glaubensbrüder überall sicher zu sein, seien sie Schiiten oder Sunniten, reich oder arm. Wie können diese westlichen Imperialisten, diese Helfershelfer des Zionismus, sich das Recht anmaßen, unseren treuen Glaubensbrüdern die Selbstbestimmung vorzuenthalten und zu diktieren, wie islamisches Geld ausgegeben werden sollte, diese verräterischen, blutsaugenden Ungläubigen, die unserem heiligen Boden nichts als Krieg, Gemetzel und Zerstörung gebracht haben? Es ist ein arabisches Problem, das nur von Arabern gelöst werden sollte. Richtig. Jederzeit, jetzt. Man muß nur lernen, in Jahrhunderten zu denken. Man muß zuerst an die eigenen Leute denken, und wo Ver-
nunft herrscht, hört Altruismus immer an der Grenze auf, ganz gleich, wessen Grenze es ist. Niemanden kümmert es, was in einem anderen Land vorgeht, solange es nicht ein Komplott ist, das darauf abzielt, einem das eigene Geld wegzunehmen. Das Ergebnis ist natürlich, daß manche islamischen Länder im Geld schwimmen, während jenseits der Grenzen heimatlose moslemische Kinder in Flüchtlingslagern vegetieren oder sogar in äußerster Armut Hunger leiden. Aber bevor wir Amerikaner uns in selbstgerechte Empörung flüchten, sollten wir uns vergegenwärtigen, daß wir uns genauso verhielten, seit wir die Indianer in Reservationen sperrten und Präsident James Polk riesige Gebiete mexikanischen Bodens an sich riß und das, was übrig blieb, zu einem Teil unserer persönlichen Dritten Welt gleich nebenan machte. Khuruchabja ist noch immer ein uralter Teil der Welt, und im Laufe der Jahrhunderte sind mit Sandalen an den Füßen viele Grenzen in seinen Treibsand gezogen worden. Lange vor Mohammed errichteten Sumerer hier ihre Stufentempel, und die Perser erbauten ihren Herrschern und geflügelten Göttern gewaltige Monumente. Noch immer finden die letzten Reste der nomadisierenden Beduinenstämme im Schatten von Ruinen Schutz für ihre Herden. Die Römer bauten Straßen durch die feindlichen Wüsten zu ihren wohnlicheren Garnisonsstädten und hinterließen eine beträchtliche Zahl von Bädern und Aquädukten in den Wüsteneinöden, dazu eine Menge Statuen und Tempel, die anderen, vergessenen Gottheiten geweiht waren. Die Kalifen vereinigten die Stammesgebiete des nach dem Niedergang des Römischen Reiches herrenlos gewordenen
Landes unter der Herrschaft der Omajjaden und schufen ein neues islamisches Reich, das ganz Khuruchabja umfaßte. Nok Kuzlat erblühte wie eine Wüstenblume nach dem Regen, und Muezzins riefen von Hunderten Minaretten die Gläubigen zum Gebet in reiche, kostbare Moscheen. Bis das Ganze unter den Abbasiden und Schiiten im gleichen kleinlichen Sezessionismus zerfiel, der noch immer Reiche und Nationen überall auf der Welt auseinanderreißt. Die Reichtümer der moslemischen Welt versammelten sich in Städten wie Bagdad und Mekka, Damaskus und Medina, während Nok Kuzlats Moscheen, denen es an Gläubigen nicht fehlte, unter Geldmangel litten. Eine kurze Blütezeit unter den Ottomanen belebte neue Hoffnungen auf ein geeintes islamisches Reich und die türkischen Würdenträger kamen gelegentlich zu einem Besuch des Großen Bruders vorbei und übergaben den Stadtvätern willkommene Geldspenden. Die Ottomanen wurden von all ihren Untertanen nicht gerade geliebt und verehrt, aber sie waren wenigstens Moslems. Im Ersten Weltkrieg aber zertraten die Briten das letzte große islamische Reich unter dem Stiefel ihres kolonialen Imperialismus; dann begannen die Amerikaner die Träume von einem geeinten islamischen Staat zusammen mit dem Öl und ihren Monopolen abzusaugen. Nok Kuzlat verarmte und verfiel zu einer drittklassigen Stadt, die ein armseliges Leben am Rande der Wüste fristete – verbittert, grollend und vergessen. Eine teilweise abgebrochene alte Stadtmauer trennte die eigentliche Altstadt von den Vorstädten aus türkischer Zeit und den neuzeitlichen Slums, die sich in einem anwachsenden Ring um die Stadt legten. Das Stadtzentrum selbst war während des
letzten Krieges relativ unversehrt geblieben. Programmierte, zielsuchende Raketen hatten Kommunikationszentren und Regierungsgebäude zerstört und architektonische Schätze ausgespart, während die neueren Viertel außerhalb der Stadtmauer das meiste abbekamen. Hier genügten ›dumme‹ konventionelle Bomben, um das planlos gewachsene Durcheinander von Wohngebäuden, Werkstätten, Lehmhütten und umfunktionierten Karawansereien zu verwüsten. Die Altstadt, eine kompakte Ansammlung von archäologischen Wundern, prachtvollen Zeugnissen islamischer mittelalterlicher Baukunst und modernen Bürohochhäusern, wurde noch immer beherrscht von den grünen und weißen Minaretten und vergoldeten Kuppeln der Moscheen, die während Nok Kuzlats glänzender Blütezeit erbaut worden waren. Khuruchabja war eines der letzten moslemischen Länder, das noch immer die religiösen Schenkungen annahm, zu denen alle Moslems verpflichtet waren, da es zu wenige reiche und großzügige Geschäftsleute gab, um das Gemeinwesen zu erhalten. Die zakat-Steuer bedeutete einen steten Aderlaß für die bereits mageren Finanzen der durchschnittlichen Khuruchabjaner, aber der Islam war das Gesetz, und dem Gesetz war Folge zu leisten, sonst … Die Gläubigen brachten mühsam ihre Steuern auf, die größtenteils den westlichen Gläubigerländern zuflossen, und Nok Kuzlat sonnte sich weiterhin in dem Irrglauben, es sei tatsächlich eine Stadt von Weltklasse. Seine Exzellenz, der Ruhmvolle und Verehrungswürdige Lawrence Abdul bin Hassan al Samir al Raschid, Geliebter Diener des Allmächtigen und Gnädigen, Allgegenwärtigen und Unsichtbaren, Ewigen und Immerwährenden Allah, rechtmäßi-
ger Abkömmling des Propheten Mohammed, Titularpräsident auf Lebenszeit und Herrscher von Khuruchabja, war der Sohn des zweiten Vetters vom Onkel des Schwagers vom letzten Potentaten von Khuruchabja, der seine beneidenswerte Position in der ehrwürdigen Art seines Vaters und seiner Vorväter geerbt hatte: durch Meuchelmord. Seinem ruhmreichen Vorgänger war es gelungen, die tollwütigen Wölfe ein paar Jahre länger als die meisten in Schach zu halten, viele davon Angehörige seiner eigenen Familie. Er hatte tatsächlich begonnen, einige kleinere Reformen in Khuruchabja einzuführen, um das Wohlwollen des Westens in Form von Entwicklungshilfe zu gewinnen, die vielleicht geholfen hätte, den Lebensstandard von vielen seiner Untertanen auf ein neuzeitlicheres Niveau zu heben, vergleichbar vielleicht sogar den weitaus reicheren, säkularisierten islamischen Ländern außerhalb Khuruchabjas Grenzen. Diese Art moralischer Kontamination durch den satanischen Westen fand verständlicherweise das Mißfallen der zahlreichen fremdenfeindlichen Fundamentalisten im Lande. Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung würde unweigerlich den schädlichen Mehltau des Westens ins Land bringen und zu Greueln wie Alkoholkonsum, Rockmusik und – Allah verhüte es – der Verweltlichung und Sittenlosigkeit führen, wie sie anderswo bei barhäuptigen weiblichen Touristen in Shorts zu sehen waren. Schließlich waren es diese selben gottlosen Ungläubigen gewesen, die ihre Bomben auf Khuruchabja geworfen hatten, erinnerten sie den Monarchen, ohne das Argument gelten zu lassen, daß die Behjars der Feind gewesen seien und der Westen der Damaskus-Koalition nur geholfen habe, Khuru-
chabja zu ›befreien‹. Dieser spitzfindigen Debatten müde und möglicherweise von den Strohmännern einer auswärtigen Macht bestochen, hatte einer seiner vertrautesten Leibwächter ein Verkaufsmuster von Israels ersten, nagelneuen EclipsePistolen gezogen und den Herrscher und Landesvater ins Paradies befördert. So wurde es traditionell gemacht. Ich konnte verstehen, daß Scheich Larry sich zur Anwerbung von Leibwächtern an eine auswärtige Arbeitsvermittlungsagentur gewandt hatte. Gewöhnlich war es so, daß ein starker Mann von einem anderen im blutigen Spiel um die Macht gestürzt wurde, daß Bruder gegen Bruder stand und religiöse Fraktionen gegen mehr weltlich Gesinnte kämpften, um ihren jeweiligen Thronprätendenten zur Macht zu verhelfen. Aber wenn der Staub sich setzte, waren viele Kandidaten auf der kurzen Liste tot, und niemand hatte eine rechte Vorstellung, wer nun das Sagen hatte. Die Muftis und Ulemas hatten das alte Familienfotoalbum durchblättern müssen, um auf Larry zu kommen, den letzten männlichen Abkömmling einer halbwegs königlichen Familie, die durch wiederholtes Blutvergießen in ihren Reihen ernstlich unter Anämie litt. Auf dem Papier sah Larry nicht übel aus. Er hatte eine gute Ausbildung genossen, ein paar Jahre in Oxford studiert und es in Yale zu einem ehrenvollen Studienabschluß gebracht. Er dilettierte im Segel- und Pferdesport, verkehrte gelegentlich mit den verschiedenen anderen internationalen Überresten obsoleter Königshäuser, die noch immer von öffentlichen Geldern lebten, schien aber sonst nicht viel vorweisen zu können, sei es gut oder schlecht. Er war darauf vorbereitet, eine lebenslange
Karriere als einer von Dutzenden Abkömmlingen der Herrscherfamilie von Khuruchabja zu machen, ein verzogener und verwöhnter Playboy, der im dekadenten Westen einem skandalösen Lebensstil frönte. Wahrscheinlich war er genauso bestürzt und schreckensstarr gewesen, sich unerwartet auf dem Gipfel der Macht zu sehen, wie eine Menge seiner Untertanen, ihn dort zu haben. Er saß erst seit ein paar Jahren auf dem Thron und hatte sie die meiste Zeit zurückgezogen im Königspalast verbracht, womöglich das Bettlaken über den Kopf gezogen, während verschiedene Höflinge in seinem glorreichen Namen untereinander um Macht und Einfluß kämpften. Aber anscheinend begann er in letzter Zeit hin und wieder wie ein Murmeltier hinauszulugen, um zu sehen, ob er noch einen Schatten habe, und seine ersten zögernden Schritte zu einer wirklichen Regierungstätigkeit zu tun, bevor auch er seinen erlauchten Vorfahren folgte. Ich verbrachte den Tag mit Ausruhen und konnte gegen ein gutes Trinkgeld vom Zimmerservice etwas Haschisch bekommen. Alkohol mochte illegal sein, aber schwarzes türkisches Haschisch und jemenitisches qat wurden ohne Beschränkungen tonnenweise importiert. Es linderte den schlimmsten Schmerz, konnte ihn jedoch nicht beseitigen. Die Sonne ging unter, und die Klimaanlage lebte auf, als ich meinen anderen ›guten‹ Anzug anlegte, der ziemlich wie der erste war, nur sauberer. Bis wir das Hotel verließen, legte ich Eisbeutel auf meine Prellungen. Die Schnitte und Kratzer sahen nicht annähernd so schlimm aus, wie ich befürchtet hatte, sobald sie verschorft waren. Ein Auge war mit einer hübschen halbmondförmigen Umrandung in Dunkelpurpur versehen.
Wir ließen durch das Hotel ein Taxi rufen, vergewisserten uns vor dem Einsteigen, daß es nicht unser Freund Samat war, und trafen kurz vor neun vor den Toren des Palastes ein. Ich erwartete kein wüstes Gedränge von Reportern, die um günstige Positionen kämpften und hysterisch Presseausweise schwenkten, als ob der König von England seinen Besuch angekündigt hätte. Nichtsdestoweniger dauerte es fast eine Stunde, unsere Beglaubigungen am Tor überprüfen zu lassen, bevor wir höflich in den Palast eskortiert wurden. Dort unterzog man uns einer Sicherheitsüberprüfung ähnlich derjenigen, die wir am Flughafen erlebt hatten, worauf wir durch einen Hof geführt und noch einmal untersucht wurden. In der weiten Eingangshalle begegnete ich meinen Journalistenkollegen, die lustlos herumhingen und auf den Beginn der Vorstellung warteten. Ich war seit mehr als einem Jahrzehnt nicht als Feldkorrespondent in Erscheinung getreten, und niemand hatte Halton je zuvor gesehen, also rechnete ich nicht damit, auf Bekannte zu stoßen. Ich wurde nicht enttäuscht. Die meisten waren verzweifelte Freiberufler und Amateure zweiter Wahl aus einem halben Dutzend Länder der Dritten Welt, die übrigen jüngere Machos, die turnusmäßig im Korrespondentenfegefeuer Dienst tun und sich die Sporen verdienen mußten. Ich war noch nie einem von ihnen begegnet. Tatsächlich war es eine gewisse Befriedigung, als einer der jungen Leute vom TVN-Kabelnachrichtendienst die Stirn in Falten zog und sagte: »Sulaiman? Ka Be Sulaiman? Waren Sie nicht während des Krieges hier? Brachten die ersten Bilder vom Luftschlag gegen die Behjars?« »Ja, das war ich.«
»He, Mann, das war wohl das schärfste Zeug!« Der junge Mann grinste und streckte mir die Hand hin. »Jefferson Carleby, nennen Sie mich einfach Carl«, sagte er und beäugte mich mit Respekt. »Was ist danach aus Ihnen geworden? Man hat später nicht mehr viel von Ihnen gehört …« »Ich wurde zum Fernsehredakteur befördert. Schreibtischarbeit. Dies ist nur ein einmaliger Sonderauftrag.« »Ah, Mann, das ist ja schlimm.« Andere mitfühlende Köpfe nickten dazu. »Das ist typisch, Vergeudung von Talent. Ich bin mit Ihren Geschichten groß geworden, sozusagen, müssen Sie wissen.« Ich unterhielt Carl & Co. mit ein paar amüsanten Presseclubanekdoten, die ich im Schlaf herunterrasseln konnte, und Carl revanchierte sich, indem er mich mit einigen der neuesten elektronischen Spielzeuge für Journalisten bekannt machte. Junge Leute sind immer über die neuesten Dinge im Bilde, und Carl machte es Spaß, eine von den alternden Legenden zu beeindrucken. Ich zierte mich nicht lange, als er mir ein paar von den Geräten als Zeichen seiner Wertschätzung aufdrängte. Ich wollte nicht neugierig sein, aber es hätte mich interessiert, wie er sie durch den khuruchabjanischen Zoll gebracht hatte. Aber sie mochten mir zustatten kommen, besonders hier. Halton folgte mir in angemessener, beiläufiger Distanz, die Holokamera vor der Brust, wo er sie jederzeit in Anschlag bringen konnte, wenn ich ihm das Signal dazu gab. Er hatte seine gewohnte Selbstsicherheit zurückgewonnen und fachsimpelte gelassen mit ein paar von den jüngeren Reportern. Einmal schlenderte ich in Hörweite vorbei und vernahm Bemerkungen über Orte, wo er nie gewesen, und Leute, denen er nie begegnet
war, freizügig gewürzt mit kinematographischem Jargon. Aber alles sehr glatt und glaubhaft. Hab's aus Büchern. Wie üblich, ließen die Würdenträger die Presse bis lange nach der festgesetzten Stunde warten, aber endlich wurden wir alle eingelassen und durften unsere Reportagen und Holoaufnahmen von westlichen Diplomaten in lächerlich engen Smokings und Fräcken und ebenso engen Uniformen machen, alle reichlich garniert mit Dekorationen und Orden für obskure Leistungen, wie sie ihren mit den besten Perlen und Bettlaken herausgeputzten und genauso heuchlerisch lächelnden nahöstlichen Kollegen die Hände schüttelten. Ich sah sehr wenige von den Männern, die nach dem letzten Krieg in der neuen Regierung zu Macht und Einfluß gekommen waren. Die politischen Gezeiten schwemmten mit beinahe saisonaler Regelmäßigkeit Fremde in Machtpositionen und spülten andere hinaus. Der einzige, den ich erkannte, und der mich wiedererkannte, schien nicht übermäßig erbaut, als ich in quasi freundlicher Begrüßung die Hand hob und ihm mit den Fingern winkte. Er war früher auf der anderen Seite gewesen und hatte dieselben Männer, denen er jetzt unterwürfig grinsend die Hand schüttelte, erbittert befehdet. Ich wußte, daß er, wenn sich die Gelegenheit bot und die Verhältnisse es gestatteten, seinem Gegenüber ohne Gewissensbisse ein Messer in den Bauch stoßen würde. Khuruchabjanische Politik ist nichts für schwache Nerven und Bedenkenträger. Nachdem wir genug Magazinkassetten auf diesen faulen Zauber verschwendet hatten, konnten wir stumme Diener in wirklich geschmackvoller Kleidung filmen, die diese Sammlung von Lemuren zu ihren Plätzen an einer langen Tafel geleiteten,
die überreichlich mit verzierten silbernen Salzstreuern versehen war, vielleicht zu Ehren des stellvertretenden britischen Botschafters, eines kinnlosen, unruhigen Mannes, dessen Familie während der Kolonialzeit angeblich das Salzhandelsmonopol für Khuruchabja und alle umliegenden Gebiete innegehabt hatte. Natürlich waren keine Frauen anwesend. Scheich Larry hatte sein Königreich in jungen Jahren übernommen. Er war jetzt ungefähr dreiundzwanzig oder vierundzwanzig und versuchte noch immer, einen Schnurrbart heranzuzüchten. Sein schmales, hübsches Gesicht zeigte ein geübtes Lächeln spöttischer Geringschätzung, als er Männern, von denen er wußte, daß sie ihn verabscheuten, feierlich die Hände schüttelte. Er hatte gelernt, die Medienvertreter so zu behandeln, wie es sich gehörte; wenn die Kamera lief, existierten sie nicht. Sie waren wie die Männer in Schwarz im Kabuki-Theater, welche die Kulissen herumschieben; es wird erwartet, daß man sie nicht bemerkt. Er war noch immer hinreichend kamerasensitiv, um sehr sorgfältig auf seine Haltung zu achten, die Schultern zurückzunehmen, das Kinn hochzuhalten und den Objektiven, wenn es möglich war, seine Schokoladenseite zuzukehren. Aber er hatte einen gesunden Respekt vor uns Nachrichtenhaien, und während wir an der Rückwand lehnten und die summenden Holokameras in Bereitschaft hielten, falls sich etwas Aufregenderes als auf einen Smoking tropfende Bratensoße ereignen sollte, reichte ein weiteres Kontingent von Dienern Tabletts mit Häppchen und Getränke für die Berichterstatter herum. Bis nach dem Dessert konnte nicht viel passieren, also lehnte ich mich an eine Fensterbank, so bequem es ging, und spülte
zwei weitere Aspirintabletten mit einem Glas von Khuruchabjas Stolz hinunter, Chateau du Vieux Mouton. Oder vielleicht war es Faux Moufette, aber es war trotzdem schrecklich. Nichts ist so übel wie ungegorener Ersatzwein. Ich fragte einen der Diener nach hrarak, einem pfefferigen Getränk aus Datteln und Anissamen, eine Spezialität der Gebirgsbewohner Khuruchabjas. Er sah mich an, als hätte ich nach einem Glas Pferdepisse gefragt. Wir warteten auf den zwanglosen Teil der Festlichkeit nach dem Diner, wenn sich die ganze Gesellschaft in einen großen Saal des Palastes begeben würde, wo die Reporter mit den Würdenträgern ihrer Wahl plaudern konnten. Dies, nahm ich an, würde die Gelegenheit sein, mit Scheich Larry zusammenzutreffen. Aber ich kam sofort zur Besinnung, als ich einen Adjutantentyp bemerkte, der beiläufig an die Tafel trat und dem jugendlichen Herrscher diskret etwas ins Ohr flüsterte. Der dunkle Teint des jungen Mannes erbleichte, dann nickte er andeutungsweise. Ein schneller Blick zu den Journalistenkollegen verriet mir, daß ich die kleine Episode als einziger bemerkt hatte. Der Rest der jungen Leute war zu griesgrämig und gelangweilt. Die Kinder, dachte ich, müßten schon im Bett sein. Der Adjutant trat beiseite, und Larry stocherte einen Moment lang apathisch in seinem Essen, bevor er aufstand. »Meine lieben und geschätzten Freunde«, sagte er, »bitte entschuldigen Sie mich für einen Augenblick, wenn Sie so gut sein wollen. Eine Nebensächlichkeit erfordert meine Aufmerksamkeit.« Das war der übliche diplomatische Code für den Fall, daß man austreten muß. Langsam und ruhig schritt er hinaus. Niemand sonst schien zu denken, daß dies ein Grund sei, besorgt zu sein, aber ich gab Halton ein Zeichen, und wir be-
wegten uns möglichst unauffällig zum Eingang des Speisesaals. Dort erhaschte ich einen schnellen Blick hinaus in den Korridor, wo Scheich Larry in offensichtlich erregtem Gespräch mit seinem Adjutanten und einem anderen Mann war, der die einfachere, ernstere Uniform eines Armeeoffiziers trug. Bevor ich mehr sehen konnte, schloß einer der Diener die Flügeltür mit einem mißbilligenden Blick in meine Richtung. »Ich glaube wirklich«, murmelte ich Halton zu, »daß es eine Änderung in unserem Programm gegeben hat.« Tatsächlich kam Larry nicht zurück. Der Adjutant betrat den Speisesaal mit blumenreichen entschuldigenden Wendungen, und die Würdenträger gerieten in leichte Unruhe, nicht ganz sicher, was das Protokoll in diesem Fall verlangte. Den Reportern wurde plötzlich bewußt, daß der Abend eine totale Pleite zu werden drohte, wenn sie nicht irgendwas in den Kasten bekämen, und stürzten sich auf ihre ausgewählten Zielpersonen, bevor Scheich Larrys Palastdiener kamen und die Medienvertreter höflich hinauskomplimentierten. »Kann ich Sie zu Ihrem Hotel zurückbringen?« Die Limousine hielt am Gehsteig vor dem fest verschlossenen Palasttor, wo Halton und ich standen. Seit bald einer Stunde versuchte ich verzweifelt, ein Taxi zu rufen. Die wenigen, die ich gesehen hatte, waren mit beschleunigter Geschwindigkeit vorbeigefahren, denn die Nachbarschaft des Palastes war durch schießwütige paranoide Wachen gefährlicher als die finsterste Seitengasse der Altstadt. Die meisten anderen Reporter hatten bereits aufgegeben und waren murrend zu Fuß abgezogen. Ich fühlte mich noch nicht imstande, den ganzen Weg zum Hotel zu gehen, obwohl ich ernsthaft erwogen hatte, wenigstens ein
paar Straßen zwischen uns und das Palasttor zu bringen. Ein glänzendes schwarzes Fenster summte abwärts und enthüllte das lächelnde Gesicht eines liebenswürdig aussehenden Mannes mit einem exquisiten englischen Oberklassenakzent. Ich hatte ihn während des Diners inmitten der britischen Abordnung gesehen, ohne beurteilen zu können, welche Stellung er in der Hierarchie bekleidete. Er trug keinen Diplomatenfrack und keine ordenübersäte Uniform, sondern nur einen ziemlich schmucklosen grauseidenen Straßenanzug. In einem Reflex, den unser Freund Samat mir beigebracht hatte, spähte ich zum Fahrer. Der Chauffeur hätte ein Roboter sein können, ein ausdrucksloser dunkler, semitischer Typ mit einer Panorama-Sensorbrille, die zum getönten kugelsicheren Glas der Limousine paßte. »Wem würde ich die Gefälligkeit schuldig sein?« fragte ich. Er hätte Jack the Ripper sein können, und mir wäre es gleich gewesen. Das Portanet war zu schwer und mein Körper zu erschöpft und schmerzgeplagt, um zu dieser mitternächtlichen Stunde wählerisch zu sein. Er lächelte etwas breiter. »Niemandem, das versichere ich. Es würde mir ein Vergnügen sein, und ich muß gestehen, daß ich derjenige sein würde, der in Ihrer Schuld steht, wenn Sie wirklich der Ka Be Sulaiman sind, der über den letzten khuruchabjanischen Konflikt berichtete.« »Doch, der bin ich«, sagte ich. Er gab dem Fahrer ein Zeichen, der Mann stieg aus und öffnete uns den Schlag. Die Limousine war ein nagelneues Modell von altmodischer Formgebung. Die Sitze im Fond waren so angeordnet, daß wir einander gegenübersitzen konnten. Ich
stieg ein und setzte mich dankbar, bemüht, mein Problem nicht allzu offensichtlich zu machen. Der Wagen fuhr los, und wir rollten eine weitgehend verlassene Qaijara Avenue hinunter, von den Gerüchen und Geräuschen der Außenwelt so isoliert, als ob wir in einem Privatflugzeug zehntausend Meter darüber wären. »Darf ich mich vorstellen?« Der Brite im zweitausend Pfund Sterling-Anzug streckte die Hand aus. »Mein Name ist Thomas Andrew Hollingston Clermont«, sagte er. Ich wartete auf ›der Dritte‹, aber anscheinend war er ein Originalmodell. »Ich arbeite im Public Relations-Büro der britischen Botschaft als Berater von Mr. Hoyle.« Mr. Hoyle war der stellvertretende britische Botschafter, der mit steifer Oberlippe über dem offenen Biß ausgeharrt hatte, nachdem sein Gastgeber sich so formlos davongemacht hatte. »Ich erkannte Sie im Palast und konnte nicht umhin, die Gelegenheit zu einem Gespräch zu nutzen, da unser beiderseitiges berufliches Interesse zahlreiche Anknüpfungspunkte bietet.« Wir tauschten einen Händedruck. Halton nannte Clermont seinen Namen, fügte ›GBN-Fotograf‹ hinzu, und wir konnten zur Sache kommen. Da ich der Korrespondent war, saß Halton schweigend dabei und spielte den respektvollen Zuträger. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte ich. »Keine Ursache«, erwiderte Clermont. Ich sah, wie er forschend mein blaues Auge betrachtete, aber er war, zumindest an der Oberfläche, zu höflich, um gezielte Fragen zu stellen. Ich war es nicht. »Vielleicht könnten Sie mir verraten, worüber Seine Exzellenz so aufgeregt war?« Clermont zog eine Braue hoch. »Ich bemerkte nicht, daß Sei-
ne Exzellenz aufgeregt zu sein schien«, sagte er. »Nun, mir kam es so vor, als hätte er einen Hirschkäfer im Hintern, als er im Korridor mit dem Major und seinem Adjutanten sprach.« Clermonts Augenbrauen sahen aus, als wollten sie bis zum Haaransatz hinaufkriechen. Hatte ich vielleicht etwas Falsches gesagt? »Sie sind sicherlich ein scharfer Beobachter, Mr. Sulaiman, was ich angesichts Ihres Rufes hätte erwarten sollen«, sagte er. »Tatsächlich nehme ich an, daß es bis morgen früh allgemein bekannt sein wird, und so sehe ich kein Hindernis, es Ihnen zu sagen. Seine Exzellenz hat einen Todesfall in der Familie gehabt.« Für einen Hinterbliebenen hatte Scheich Larry mehr ängstlich und zornig als traurig ausgesehen. »Das ist allerdings bedauerlich«, sagte ich. »Ein naher Angehöriger?« »Seine jüngste Frau, Khatijah.« Clermont seufzte theatralisch. »Wirklich ein Jammer. Ein schönes Mädchen, gute Familie, gebildet, intelligent. Seine Exzellenz liebte sie sehr. Sie waren erst seit ein paar Monaten verheiratet.« Er machte eine Pause, dann sagte er in akzentfreiem Markundi: »Yah hawalla illâahch«, und fügte hinzu: »Ein großer Verlust.« Nur für den Fall, daß ich nicht verstand. Auf einmal hatte ich das unheimliche Gefühl, daß ich genau wußte, wie die jüngste Frau des Scheichs aussah. In einem sehr schönen maßgeschneiderten anliegenden Kleid mit einem klebrigen Loch darin. Und ich hatte ein noch unheimlicheres Gefühl, daß diese Autofahrt auch nicht ganz zufällig sei. Cler-
mont beobachtete mich mit konzentrierter Ruhe. »Ja, wirklich ein Jammer. War sie lange krank?« »Khatijah?« Clermont lachte hüstelnd. »Nie im Leben. Sie war eine geborene Sportlerin. Ich glaube, Seine Exzellenz lernte sie in Oxford kennen, wo sie Mitglied des Reitclubs war.« Er brachte wieder sein melancholisches Seufzen. »Nein, es scheint ein unglücklicher Verkehrsunfall gewesen zu sein. Ihr Wagen wurde von einem Lastwagen gerammt und von der Straße geschleudert. Dem Lastwagen war ein Reifen geplatzt, und der Fahrer verlor die Herrschaft über das Fahrzeug. Khatijah und ihr Chauffeur wurden tödlich verletzt, als ihr Wagen sich überschlug. Die Polizei untersucht jetzt die Unfallstelle, und ich bin sicher, daß der Palast morgen eine vollständige Erklärung des Hergangs abgeben wird.« Seine Miene hellte sich ein wenig auf, als wäre ihm gerade ein Gedanke gekommen. »Ich nehme nicht an, daß andere Journalisten schon davon wissen, was Ihnen einen Informationsvorsprung verschafft, nicht wahr?« Ich war noch dabei, die Nachricht zu verdauen. Larry tat alles nur Erdenkliche, um die Art und Weise, wie seine Frau zu Tode gekommen war, zu vertuschen. »Ja«, stimmte ich ihm zu. »Das sieht wirklich wie eine Exklusivmeldung aus. Vielen Dank, Mr. Clermont.« Er beobachtete mich forschend über seinem aufgesetzten Lächeln. »Gern geschehen.« Die Limousine hielt vor unserem Hotel. »Bitte …« Clermont drückte mir eine Geschäftskarte in die Hand, als wir das Portanet und die Holoausrüstung auf dem Gehsteig abstellten. »Es würde mir eine Ehre sein, wenn Sie während Ihres Aufenthalts hier die britische Botschaft anrufen würden. Wenn wir helfen können, etwas für Sie zu arrangieren,
rufen Sie uns bitte an.« Sein Lächeln nahm einen wohldosierten schüchternen Ausdruck an. »Ich sage Ihnen ganz offen, daß wir alle PR brauchen, die wir bekommen können – wir sind hier kein großes Kontingent. Schließlich ist Khuruchabja nicht der Nabel der Welt. Ich darf Ihnen versichern, daß ich der Arbeit, die Sie während des Krieges hier getan haben, den größten Respekt und meine Bewunderung entgegenbringe, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie erfreut ich bin, daß Sie zurückgekehrt sind. Ich bin sicher, daß wir einander wiedersehen werden. Vielleicht können wir einander von beiderseitigem Nutzen sein. Ich hoffe, Sie denken nicht, daß ich zu dreist bin.« »Keineswegs, Mr. Clermont. Wir bleiben in Verbindung. Alles Gute.« Er fuhr davon, und ich betrachtete seine Geschäftskarte, als wäre sie mit einem besonders bösartigen infektiösen Virus beschmiert. Unheimliche Typen kommen in allen Größen und Verpackungen vor. »Er hat gelogen«, sagte Halton, als wir die geräumige Hotelhalle zu den Aufzügen durchquerten. »Und ob, Sherlock«, sagte ich. »Nicht einmal ich brauche nanoverstärkte Sinnesorgane, um das zu vermuten. Die Frage ist, worüber? Er legte offensichtlich Wert darauf, mir alle saftigen Details zu erzählen, nicht? Die Frage ist, warum?« Ich fummelte mit dem Schloß, sperrte auf und tat zwei Schritte ins Zimmer, bevor Halton mich am Arm zurückhielt. Ich sah ihn fragend an. »Es ist noch früh«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Ich habe ein paar Fragen zu dem Hologerät. Würde es Ihnen etwas ausmachen, noch einen Kaffee mit mir zu trinken, bevor wir schlafen gehen?«
Auch ich sah mich im Zimmer um. Nichts schien am falschen Platz. »Gewiß, kein Problem.« »Wir können die Ausrüstung hier lassen.« Haltons Stimme klang beiläufig, aber sein ganzer Körper war so wachsam und gespannt wie der eines Jagdhundes, der eine Pfote hebt und mit vorgestreckter Schnauze die Witterung eines im Gebüsch versteckten Federwilds aufnimmt. Wir luden unser Zeug ab und gingen hinunter zu einem Kaffeehaus um die Ecke, einem verräucherten, schmierigen Lokal, zur Hälfte besetzt von unrasierten Männern, die uns aus Triefaugen lethargisch anstarrten. Der Kaffee kam in zwei angeschlagenen Tassen, ein dicker schwarzer Schlamm, stark gewürzt mit Cardamom und Rohzucker. Auf einem Regal über der Theke spielte ein Radio eine Auswahl aus der khuruchabjanischen Hitparade, ein dünnes, winselndes Heulen, begleitet von einer Ghabaht-Flöte. Die Nummer würde nie unter die ersten Zehn kommen, aber sie tarnte unser Gespräch. »Der Raum ist durchsucht worden«, sagte Halton, sobald der Halbwüchsige, der uns den Kaffee gebracht hatte, gegangen war. »Das schloß ich aus Ihrem Verhalten«, sagte ich. »Wie haben Sie es festgestellt und warum legten Sie Wert darauf, die Ausrüstung zurückzulassen?« Er schlürfte seinen Kaffee und ließ den Blick durch den Raum wandern. Ich hatte den Eindruck, daß er, wenn ich ihn später auffordern würde, jedes Gesicht zu beschreiben, das er an diesem Abend gesehen hatte, es mit fotografischer Präzision tun konnte. »Ich weiß, daß der Raum durchsucht war, weil Dinge
nicht genau dort lagen, wohin ich sie gelegt hatte.« »Und das Zimmermädchen? Im Hotel werden die Zimmer gesäubert und aufgeräumt, wissen Sie.« »Das Zimmermädchen hätte sich nicht soviel Mühe gegeben, mein Lesegerät oder Ihre Jacke genauso zurückzulegen, wie es die Dinge vorgefunden hatte. Ich wollte die Ausrüstung im Zimmer lassen, weil sie die auch werden durchsuchen wollen. Während wir hier sind, sind sie oben und suchen.« »›Sie‹? Wer?« Er zuckte die Achseln. All dieses Geheimagentenzeug ging mir auf die Nerven. »Warum sitzen wir dann hier herum, statt irgendwo zu sein, wo wir sehen könnten, wer ›sie‹ sind?« »Wenn wir sie sehen können, können sie uns sehen, und dann würden sie die Ausrüstung nicht durchsuchen.« Ich nippte von meinem Kaffee. Er kühlte rasch ab, und der klebrig-süße Geschmack hinterließ im Mund ein wattiges Gefühl. »Vielleicht will ich nicht, daß sie meine Ausrüstung durchsuchen.« Ich sagte es nur, weil ich verdrießlich und streitsüchtig war. Er sah mich forschend an. »Ist irgend etwas Illegales darin versteckt?« »Nein.« »Dann werden sie nichts finden. Ich werde eine gründlichere Suche durchführen müssen, aber wenn sie zurückgekehrt sind, können wir annehmen, daß der Raum verwanzt worden ist.« »Ich nahm an, daß der Raum es schon war, als wir ihn bezogen«, erwiderte ich. »Das ist in diesem Teil der Welt üblich. Die Telefonleitung ist ganz sicher angezapft.« »Richtig, nur die Leitung; der Apparat wird nicht über einen
offenen Monitor abgehört«, sagte er ruhig. »Gestern abend machte ich alles bis auf das Telefon unbrauchbar. Es sind ausnahmslos gewöhnliche Abhöreinrichtungen alter chinesischer Herstellung. Billiger Schrott, der die meiste Zeit sowieso nicht funktioniert – das ist nicht ungewöhnlich. Aber wenn sie hörten, daß wir die Ausrüstung zurückgelassen haben, werden wir wissen, daß der Raum professionell verwanzt worden ist.« Ich schaute ihn an, und mein Blick konzentrierte sich unabsichtlich auf die Stelle seines Gesichts, wo die Mikroplatte verborgen war. Er lächelte dünn. Nicht einmal ein Grübchen zeigte sich. »Ich möchte diese verdammte Mikroplatte knacken, Halton. Ich finde es einfach unheimlich, daß wir seit mehr als vierundzwanzig Stunden hier sind und niemand mich höflich danach gefragt hat.« »Ohne ein Lesegerät mit KI wird es kaum möglich sein.« Großartig. Aber schließlich wurde von mir nur erwartet, daß ich Halton abliefere. Arlando hatte klargestellt, daß ich nicht Geheimagent spielen sollte, und das ganze zusätzliche Theater hatte mir nur Schmerzen, Ärger und Aufregung eingetragen. Warum mich also tiefer in diese Dinge verstricken und riskieren, daß es mir wirklich an den Kragen ging? Weil ich, obwohl ich meine Ka Be Sulaiman-Identität abgelegt und seit zwölf Jahren Schreibtischarbeit verrichtet hatte, noch immer der Illusion anhing, daß ich in erster Linie Journalistin sei. Es war meine Berufspflicht, die Nachrichten auszuschnüffeln, und offensichtlich gab es vieles, was die Nachrichtenmacher zu verbergen suchten, während sie mich gleichzeitig benutzten. Mein Stolz war verletzt, von anderen Teilen meines
zarten Körpers ganz zu schweigen. Außerdem war ich einfach zornig. Trotz allem, was wir erlebt hatten, glaubte ich nicht, daß ich wegen dieser Geschichte in wirklicher Lebensgefahr war. Mit ernsten Behinderungen und Unannehmlichkeiten war zu rechnen, aber das waren akzeptable Risiken für Journalisten, die einem vertuschten Sachverhalt auf die Spur kommen wollten. Ich saß da und brütete über einer Möglichkeit, zu einem Lesegerät mit künstlicher Intelligenz zu kommen, bis Halton meinte, wir hätten den Schnüfflern genug Zeit gegeben, um unsere Ausrüstung zu durchsuchen. Vor dem Hotelzimmer angelangt, öffnete ich die Tür, blickte zu Halton und wartete. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen und sagte: »Danke, Ka Be. Ich glaube, ich werde keine Probleme mehr mit dem Hologerät haben.« Es sah nicht so aus, als ob intelligente Konversation vorläufig eine Rolle in unseren Gesprächen spielen würde.
8 AM NÄCHSTEN MORGEN UM SIEBEN erhielten wir einen Anruf des stellvertretenden Ministers für Kultur und Information, in dem uns mitgeteilt wurde, daß Seine Exzellenz uns um zehn Uhr empfangen würde. Der Bildschirm zeigte die verräterischen haarfeinen Riffel eines angezapften Systems. Ich betrachtete mein Auge im Badezimmerspiegel und fand, daß es schlimmer aussah als am Tag zuvor, aber nicht so schlimm wie ich befürchtet hatte. Mein Unterleib erholte sich allmählich, und zu meiner großen Erleichterung gelang es mir, mich ohne Hilfe anzukleiden. Kurz vor neun verließen Halton und ich mit unserem Gerät das Hotel und erreichten den Palast nur fünf Minuten vor dem angegebenen Zeitpunkt. Es war nicht so, daß der Palast weit vom Hotel entfernt gewesen wäre, aber an diesem Morgen kroch der Berufsverkehr im Schneckentempo. Wir wären zu Fuß schneller am Ziel gewesen. Die Sicherheitsabschirmung des Palastes war noch ein wenig schärfer als am vergangenen Abend. Unsere Ausrüstung wurde untersucht, wir mußten durch den Sensor gehen, gefolgt von einer raschen und besorgniserregenden Leibesvisitation, die mich nur deshalb nicht in Panik versetzte, weil ich Sicherheitsvorkehrungen getroffen und meine Unterhose mit einem Bündel des gleichen Materials gepolstert hatte, das ich früher zum
Ausstopfen meines Büstenhalters gebraucht hatte. Die Sicherheitsbeamten wurden jedoch nicht allzu vertraut, und nachdem sie sich vergewissert hatten, daß wir keine Schußwaffen, Messer, Bomben verborgen bei uns hatten und weder Alkohol noch anstößige Magazine mit uns führten, wurden wir durch lange Korridore geführt, die mit Spiegeln und französischen Meistern in vergoldeten Rahmen, samtbezogenen Sesseln mit geschnitzten Löwenfüßen, sowie griechischen und römischen Statuen auf Säulen aus Jade und Marmor geschmückt waren. Die Innenausstattung war eine verrückte Fusion von Deckengewölben mit Rokokostuck und Fresken, den prachtvollsten ornamentalen Wandfliesen, die man sich vorstellen kann, Marmorböden in kunstvollen Mustern, üppigen Perserteppichen, die das meiste davon verdeckten, geschnitzten hölzernen Fensterverblendungen, durch die man den weiten Innenhof überblicken konnte, wo ein hoher Springbrunnen friedlich plätscherte. Wir passierten endlose gewölbte Eingänge, Brokatvorhänge, die Empfangsräume abschirmten. Eine Tür stand offen, und ich sah einen Jungen in westlicher Kleidung mit einem Teller am Boden sitzen und einen Affen mit Feigen füttern. Zusammen mit den mürrischen Palastwachen in braunen Khakiuniformen und spiegelnden Sonnenbrillen, die mit umgehängten Maschinenpistolen innerhalb und außerhalb des Palastes patrouillierten, hätte der Palast direkt aus Tausend und eine Nacht in der Fassung des Marquis de Sade sein können. Gerüchte wollten wissen, daß die Vorgänger des jungen Herrschers unter dem Palast mehrstöckige Schutzräume in bester deutscher Bunkerbautechnik des 20. Jahrhunderts hätten
anlegen lassen, das Beste, was für Geld zu haben war. Deutsche Ingenieure hatten gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts neben Giftgasfabriken eine Anzahl dieser Palastbunker in mehreren islamischen Ländern gebaut. Sie hatten lange zurückreichende Fachkenntnisse in der Konstruktion von Bunkeranlagen wie auch in der Herstellung von Giftgas, später aber unter amerikanischem und israelischem Druck Grund zu bedauern gefunden, daß sie diese ziemlich esoterischen Spezialitäten mit verschiedenen Moslemstaaten geteilt hatten. Dieser Teil des Palastes wurde freilich nicht in die Besichtigung einbezogen. Scheich Larry war in seinem Spielzimmer, einem siebenhundert Quadratmeter großen Saal mit einem eigenen Springbrunnen, tiefen, mit weißem Samt bezogenen Sofas, geschmackvoll arrangiert auf hellen Kamelhaarteppichen im Art Deco-Stil, kristallenen Kronleuchtern, die in der leicht aromatischen Brise einer versteckten Klimaanlage leise klimperten, und einem vier Meter hohen Messingkäfig, in welchem ein Dutzend schneeweiße Makaken einander ankreischten. Mehrere der Minister oder Berater des jungen Herrschers, alles ältere Männer mit weißen Bärten und gebleichten Kaftanen, saßen in respektvoller Entfernung von ihrem Herrn und sahen gelangweilt und irritiert aus. Das viele Weiß tat meinen Augen weh. Die Säule Allahs, der geliebte und erhabene Herrscher von Khuruchabja, Seine Exzellenz Lawrence Abdul bin Hassan al Samir al Raschid, war in verblichene Levis mit durchgewetzten Knien gekleidet, trug abgestoßene Adidas-Laufschuhe und ein T-Shirt mit dem aufgebügelten Foto des verwirrt aussehenden Leadsängers der französischen Rockgruppe Hirnschaden. Er lag hingestreckt auf einem der makellos weißen Sofas, hatte die
Beine auf die Lehne gelegt und bediente die Steuerungselemente eines Holovideospiels, das über ihm und von meinem Blickwinkel gesehen kopfstehend projiziert wurde. Winzige grüne Panzer feuerten auf Raumschiffe, die unter ihnen durchsausten. Ein Miniatur-UFO traf einen der Zwergpanzer, der in realistischem Feuer und Rauch explodierte und verschwand. Keine häßlichen Trümmer und Leichen lagen herum, um das Spielfeld zu verunzieren. Ein weiteres UFO folgte dem Schicksal des Panzers, und das Spiel kam zum Stillstand. Eine Trompete spielte mit getragenen Tönen einen Trauermarsch. Kopfstehende arabische Schrift schwamm durch den Projektionsraum und zeigte die Zahl der erzielten Punkte an. »Hah!« sagte Larry. »Das müssen Sie mir erst einmal nachmachen!« Ein würdiger älterer Mann aus der Gruppe, die das Spiel des Scheichs beobachtete, stand auf und ging zu einem benachbarten Sessel. Dort hob er mit resignierter Geste sein Steuergerät auf. Der Projektor drehte die Perspektive um, daß das Bild aufrecht stand, und als alte Mirage- und Mig-34-Jäger durch den Luftraum kreischten, feuerten Panzer Sperrfeuer auf außerirdische UFOs. Im Gleichschritt marschierende Soldaten stellten eine Phantomartillerie auf und feuerten auf Horden von Krabbelwesen, die aus dem Nichts in der Luft erschienen. Sie ähnelten Tomaten mit Beinen, und wenn sie getroffen wurden, explodierten sie mit einem roten Klecks und einem gedämpften Platschen. Es war das absurdeste Holovideospiel, das ich je gesehen hatte. Der Minister, der widerwillig die Steuerelemente bediente, tat es mit kaum verhülltem Ekel.
Larry hob die Beine von der Armlehne und wälzte sich von der Couch, sprang auf. »Hi«, sagte er mit amerikanischem Akzent. »Sie sind Ka Be Sulaiman von GBN?« Dabei musterte er Halton mit unverhohlenem Interesse. »Das ist richtig, Exzellenz«, sagte ich. »John Halton, mein Kameramann.« »Ja, richtig«, sagte er grinsend und augenzwinkernd. Er machte es reichlich auffällig. »Sie sollten eine Art Hintergrundbericht über mich machen – eine gründliche Reportage über ›die menschliche Seite des Königs‹ und so 'n Scheiß.« »Das ist es ungefähr, Exzellenz.« Ich zögerte, beäugte seine Kleidung. »Es wird nur eine Minute dauern, unser Gerät aufnahmefertig zu machen …« »Tut mir leid, aber ich nehme an, Sie haben es gehört. Der Palast ist in Trauer, also jetzt keine Bilder. Vielleicht später. Ich dachte, einstweilen würden wir bloß reden, einander kennenlernen, besprechen, wie Sie den Film gestalten wollen und so weiter. Ein Herrscher muß für die Kamera entsprechend angezogen sein.« Er lachte. »Er hat eine Verpflichtung gegenüber seinem Publikum. The Show must go on, nicht wahr?« Er sah nicht wie ein trauernder Ehemann aus. Unabhängig davon, wie seine Frau ums Leben gekommen war, hatte ich erwartet, daß er etwas mehr Kummer zeigen würde. Irgendwie hatte er mir in seiner engen, mit Orden bepflasterten Uniform, zurückgekämmtem Haar und stirnrunzelnder Miene besser gefallen. Dieser Junge schien sich in keiner Weise von irgendeinem anderen verzogenen reichen Schnösel zu unterscheiden, der sich in einem der exklusiven Clubs von Beverly Hills herumtrieb.
Ursprünglich hatte der Plan so ausgesehen: Wir sollten ein ausführliches Interview mit dem jungen Herrscher machen, uns ungefähr eine Woche mit der Fertigstellung und Bearbeitung aufhalten, worauf er Halton einen Job als persönlicher PRBerater anbieten würde. Halton würde annehmen, und ich unter vier Augen die Übereignung perfekt machen und dann die Rückreise antreten. Niemand außer einer Handvoll Leute würde jemals erfahren, daß Halton ein Biokonstrukt war. Anscheinend mißbilligte Allah Biokonstrukte in Khuruchabja ebenso, wie er künstliche Intelligenz mißbilligte. Nun aber schien es auf einmal so, als ob ich nicht einmal eine komplette Geschichte bekommen würde, um meine Reise zu rechtfertigen, selbst wenn es eine war, die mich nicht interessierte. Schließlich war ich noch immer Journalistin, und der Gedanke, meine Zeit auf diesen anmaßenden, narzißtischen jungen Flegel zu vergeuden, verdroß mich. Mach dir nichts draus, dachte ich, du wirst für die Zeit bezahlt, und die Magazinkassetten können besser für etwas anderes verwendet werden. Ich schluckte mein Ego hinunter und machte mich an die Arbeit. Halton lud die nun verbotene Holoausrüstung in der Ecke ab und setzte sich abseits, wo er nicht im Wege war, sein künftiger Chef ihn aber im Auge behalten konnte. Ich fing mit einem halbherzigen Interview an und erhielt wenigstens die Erlaubnis, eine Aufzeichnung auf Audiochip zu machen, statt mich mit handschriftlichem Notizen abzumühen. Ich hatte den Hinweis bekommen, alles auf einer leichten und trivialen Ebene zu halten also ein zahnloses Geplauder ohne verfängliche Fragen zu veranstalten.
Der Junge erzählte mir bereitwillig seinen ganzen Lebenslauf von der Zeit an, als er drei Jahre alt gewesen war und versucht hatte, die Katze des Kindermädchens in den Müllschlucker zu stecken. Während ich seinem leeren Geschwätz zuhörte, war ich dem Einschlafen nahe. Wo war der ernste, hochmütige junge Mann, den ich beim Dinner gesehen hatte? Das hätte mein erstes Stichwort sein sollen, und ich paßte nicht auf. Halton tat seinen Teil, der darin bestand, weniger zu tun als ich. Die Minister oder Berater des Königs beobachteten uns aus vorsichtiger Distanz. Der Gegenspieler des jungen Herrschers verlor seinen letzten Panzer an eindringende Horden von Monsterzucchinis aus dem Weltraum, seufzte in müder Erleichterung und zog sich zu den anderen zurück. Larry unterbrach das Interview lange genug, um das Ergebnis des alten Mannes zu kontrollieren, und sagte lachend: »Ist das alles, was du kannst, du alter Furz?« rief er dem stoischen Minister zu, glücklicherweise auf englisch. »Ich werde die Programmierung umschreiben müssen, um es leichter zu machen.« Der alte Mann blickte ruhig zurück, ohne ein Wort zu sagen. Vielleicht sprach er nicht englisch. »Al-Hasmani ist in Ordnung, aber er ist einfach keine Herausforderung. Spielen Sie?« wandte er sich plötzlich an Halton. Halton zog die Brauen hoch. »Ich könnte lernen.« »Sie schrieben das Programm?« fragte ich, während die marschierenden Phantomgurken Panzer und Jagdmaschinen mitten in der Luft verschlangen. »Klar«, prahlte Larry. »Es ist ziemlich einfach, wirklich. Man muß nur etwas wie den IBM 8 Micro Modell 470 für das Grundprogramm nehmen, dazu einen mehrspurigen Bahnver-
folgungskonditionierer, ihn über eine Schnittstelle mit einem A-Zed 190 Zeitwahl-Sequenzgerät verbinden und eine Standard-ComPleet-Katakodenlogistik für die Panzer und Flugzeuge anschließen. Dann, für die Außerirdischen …« Es folgte noch viel mehr enthusiastisches Computergeplapper über Holospiele, das mich nicht im geringsten interessierte. »Sehr eindrucksvoll«, konnte ich schließlich einwerfen und steuerte das Gespräch zurück zu seiner persönlichen Vergangenheit. Er schien zufrieden, über alles mögliche zu schwatzen, solange er selbst das Thema war. Nach einer halben Stunde wechselte ich die Chips im Aufnahmegerät, unterdrückte mein Gähnen und versuchte meine Aufmerksamkeit daran zu hindern, zu interessanteren Dingen wie dem Mittagessen abzuschweifen. Das außerirdische Gemüse mußte eine unterschwellige Wirkung auf meinen Appetit haben. »Nach meiner Studienzeit in Yale bewarb ich mich in Oxford um ein weiterführendes Studium über den Einfluß des Britischen Imperialismus im Nahen Osten des 19. Jahrhunderts auf die gegenwärtige Volkskultur und Mythologie im Islam.« Er grinste. »Es schien naheliegend.« Ich mußte mit meinen Gedanken anderswo gewesen sein und zwinkerte ihn einen Moment lang verständnislos an. »Sie kennen Lawrence von Arabien?« Er lachte. »Meine Großmutter war halb englisch, liebte all diesen mystischen Scheiß und überredete meinen Vater sogar, mich nach dem größten englischen Helden im Nahen Osten zu taufen. Gott, bin ich froh, daß sie mich nicht nach Glubb Pascha genannt hat! Können Sie sich das vorstellen? ›Seine Königliche Hoheit, Scheich Glubb‹?« Er fiel vor Lachen beinahe vom Sofa. »Wie auch immer, Großmutter hatte diese verrückte Idee,
daß ich ein zweiter Lawrence sein würde. Das könnten Sie als Gesichtspunkt verwenden, nicht wahr? Sie war diejenige, die darauf bestand, daß ich nach Oxford gehen sollte, nicht so sehr, weil es eine wirklich gute Universität ist, sondern weil es Lawrences Alma mater war.« »Und dort lernten Sie Ihre Frau Khatijah kennen, wie ich hörte?« Ich hätte es nicht besser machen können, wenn ich mitten im Hochamt in der Kathedrale Notre Dame laut gefurzt hätte. Einen kurzen, angespannten Augenblick lang kam dem jungen Mann seine Nummer als hirnloser Computernarr, Langweiler und Yuppie abhanden, und er beobachtete mich schlau unter zusammengezogenen Brauen. Zwei seiner Minister, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, reagierten ebenfalls, darunter der alte Al-Hasmani. Auch sie mußten englisch verstehen. »Khatijah ist … war … eine meiner Frauen, nicht meine erste Frau. Wie Sie wissen, ist es Moslems in Khuruchabja noch immer erlaubt, vier Frauen zu haben. Khatijah und ich waren nicht sehr lange verheiratet. Jedenfalls ist das Teil meines Privatlebens, das nicht der Diskussion oder Untersuchung offensteht.« Er schien sich auf einmal zu erinnern, daß er in Trauer war. »Es ist einfach zu schmerzlich für mich, jetzt darüber zu sprechen.« Klar. Jedenfalls war nichts Persönlicheres als die weitschweifigen Belanglosigkeiten über sein öffentliches Leben aus ihm herauszubekommen. Ich brachte das Blabla zum Abschluß und traf eine Verabredung mit einem seiner Sekretäre (einem beleibten Herrn, der, ob Sie es glauben oder nicht, mit einem Federkiel auf den Pergamentseiten eines großen Folianten
herumkratzte), um einen Aufnahmetermin für den jungen König in Paradeuniform zu bekommen. Lieber Gott, ich konnte es kaum erwarten. Wir verließen den Palast und hatten nicht viel mehr als das, womit wir gekommen waren. Halton sah nicht im mindesten entmutigt aus, aber schließlich spielte er nur den unerschrockenen Reporter. Es war erst halb eins, der Tag war noch jung. »Wir könnten essen gehen«, sagte ich. »Und danach machen wir einen Rundgang durch die Altstadt, um zu sehen, was wir für Hintergrundaufnahmen gebrauchen können.« Ich hatte anderes im Kopf, also war es strenggenommen auch für mich nur ein Spiel. Aber schließlich spielten alle nur ihre Rollen. Die Frage war, was es sonst noch Neues in Nok Kuzlat gab.
9 DIE SONNE BRANNTE SENGEND HERAB, und wir fanden Zuflucht im Schatten einer einsamen Akazie, die auf einem zum öffentlichen Park gewordenen verlassenen Bauplatz in der Altstadt stehengeblieben war. Vögel raschelten in den dornigen Zweigen und erbeuteten die Insekten, die von den gelben Blütendolden angezogen wurden. Die narbige Borke des Baumes trug noch Spuren von Feuer: es handelte sich um einen knorrigen Überlebenden des letzten Krieges. Wo wir saßen, hatte einst ein Regierungsgebäude gestanden; ein verblaßtes und von Schmierereien verunstaltetes Schild erklärte den Ort zu einem Teil des Wiederaufbauprogramms. Die Trümmer des zerbombten Gebäudes waren von Planierraupen beseitigt worden, und trockenes braunes Unkraut hatte die geräumte Fläche erobert. Die Rückseiten fensterloser Bürogebäude grenzten an den Bauplatz, ramponierte Türen von Lieferanteneingängen waren zugekettet. Die magersüchtigen Minarette und der goldene Glanz einer Kuppel flimmerten in der erhitzten Luft. Die Akazie war zentraler Bestandteil eines provisorischen Freiluftrestaurants, wenn das Etablissement, das wir gegenwärtig mit unserer Anwesenheit beehrten, so genannt werden konnte. Besser gestellte Einheimische verschmähten das Lokal jedenfalls, und die spärlich vertretene treue Kundschaft schien
sich aus den Hausmeistern und Abfallsammlern der Umgebung zu rekrutieren. Die drei geschlossenen Seiten der Küche bestanden aus alten Kartons, Blechplatten und Zeltbahnen. Vor der offenen Seite der Küche waren zwei rohe Tische aus zusammengenagelten Brettern aufgestellt. Ich saß auf einer leeren Packkiste, Halton auf einem großen Gesteinsbrocken. Wir hatten einen der Tische für uns; am anderen saß ein halbes Dutzend grauhaariger Männer in schmutziger Arbeitskleidung, die Kaffee schlürften und uns über einem lethargischen Dominospiel beäugten. Gelegentlich stand einer von ihnen auf und schlurfte hinter die Küche, um sich auf den Berg von Abfällen hinter der Zeltwand der Küche zu erleichtern. Wir trugen westliche Kleidung und sprachen englisch, aber im Gegensatz zu vielen anderen Arabern des Nahen Ostens war der durchschnittliche Khuruchabjaner vorsichtig reserviert. Es war bekannt, daß die Geheimpolizei vorbeikam und ein paar gezielte Fragen mit Gummischläuchen und elektrischen Drähten stellte, wenn man allzu freundlich mit Ausländern umging, besonders wenn sie Amerikaner waren. Ich ließ Halton den Mann in der Küche filmen, der über den drei aus halbierten Ölfässern gefertigten Grills schwitzte, während ich ihn interviewte. Ja, ja, Tod den Amerikanern und den Zionistenschweinen, rief er pflichtschuldig für die Kamera. Allah segne den König, hänge alle verfluchten Ungläubigen mit dem Kopf nach unten über die Höllenfeuer. Ob wir etwas von seiner hausgemachten Pfeffersoße in unsere scha'warmâa versuchen wollten? Der alte Mann grinste breit, als er aufgespießte kibbâahs aus
Geheimnisfleisch briet, wobei er den Rand seiner schmutzigen Kaffijeh gebrauchte, um sich nicht die Finger zu verbrennen. Hinter ihm gurgelte ein winziger Generator, der am Abend für Beleuchtung sorgte und einen alten Kühlschrank betrieb. Tatsächlich war es nicht schlecht. Der Wirt brachte uns seinen speziellen ›Apfelsaft‹, geschmeichelt, daß wir sein bescheidenes Lokal für unsere gottlose und verabscheuungswürdige, aber höchst wichtige Sendestation gefilmt hatten. Der Saft war wenigstens kalt, ein wenig mit Wasser verdünnt, aber noch immer schmackhaft und köstlich. Mit Pfefferminze, Joghurt und eingelegtem Gemüse in einen Brotfladen gerollt, den der Wirt an der Seite seines behelfsmäßigen Ofens gebacken hatte, war das scharf und pfefferig gewürzte Grillfleisch recht schmackhaft, und die Gewürze töteten mit Sicherheit alle Bakterien ab, die töricht genug waren, nicht das Weite zu suchen. Ich war nicht sicher, zu welcher Tierart das Fleisch ursprünglich gehört hatte, wollte es aber auch nicht unbedingt wissen. Der Küchenchef und Wirt servierte uns die scha'warmâas in abgerissenen Stücken Zeitungspapier zusammen mit weiteren Stücken des Fladenbrotes. Ich brach angekohlte Bissen vom Brot und tauchte sie in kleine Schalen mit Gemüse, ölig zerdrückten Kichererbsen, geschnetzelter Aubergine, Tomate mit Curry und einer Mischung von Gurke und Joghurt, der wahrscheinlich aus Schafmilch gewonnen war. Angezogen von den Gerüchen, umsummten uns Fliegen. Eine zum Skelett abgemagerte Katze streifte bettelnd mit ihrem knochigen Körper um meine Beine. Ich beugte mich zur Seite, um ihr ein paar Brocken Fleisch zu geben, dann schnitt ich eine Grimasse, als mit dem Aufrichten ein jäher Schmerz
meinen Unterleib durchschoß. Ich sog den Atem zischend durch die Zähne. Die streunende Katze lief erschrocken davon, nicht ohne ihre Beute mitzunehmen. »Ist Ihnen nicht gut?« Halton unterbrach seine ständige Beobachtung unserer Umgebung und musterte mich forschend. »Sie sind nicht meine Mutter, also hören Sie auf, sich um mich zu sorgen, ja?« erwiderte ich hitzig. »Es geht mir gut. Sehr gut. Also lassen Sie mich in Ruhe.« Er sah mich mit neutralem Ausdruck an. »Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich etwas sagte, was Sie kränkt«, sagte er. Ich glaubte eine Andeutung von Vorwurf hinter seiner kühlen Stimme auszumachen. »Wenn Sie vielleicht erklären könnten, was Ihnen an meinem Tun und Lassen mißfällt, könnte ich imstande sein, unsere Arbeitsbeziehung zu verbessern.« Ich war wirklich gemein und unleidlich gewesen. Ich wedelte den lästigen Fliegenschwarm fort und seufzte. »Tut mir leid, tut mir leid. Ich will es nicht an Ihnen auslassen. Es ist die Hitze, es ist diese Stadt, es ist die ganze Situation, die mich ärgert.« Er sah mich an, als glaubte er mir nicht. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären könnte, Halton.« Ich nahm noch einen Schluck vom ›Apfelsaft‹ und fühlte das Brennen des Alkohols in meiner aufgeplatzten Lippe. »Ich fürchte, ich verstehe es selbst nicht wirklich. Sie persönlich ärgern oder kränken mich nicht. Selbst der Umstand, daß Sie von der CDI sind, stört mich nicht, jedenfalls nicht allzu sehr. Aber die bloße Tatsache, daß Sie überhaupt existieren, macht mich nervös.« Ich schlug nach den beharrlichsten Fliegen, die sich auf meinem Gesicht niederlassen wollten. Aus irgendeinem Grund ließen sie Halton in Ruhe. Er sagte nichts, nickte bloß, als
verstünde er mich, und aß schweigend weiter. »In meiner Kindheit …« – ich fühlte mich genötigt, ihm etwas zu erklären – »wurde ein großes Aufhebens von einer genetisch veränderten Petunie gemacht, die eine Forschungsgruppe von Universitätsbotanikern in der Landschaft freisetzen wollte. Sie hatte ein künstliches Gen bekommen, nicht etwas, was ihr im Wettbewerb mit wilden Petunien einen Vorteil verschaffen würde. Sie wollten dieses eingeschleuste Gen als eine Art Lesezeichen verwenden, das sie weiterverfolgen könnten, um zu sehen, was im Laufe mehrere Generationen unter verschiedenen natürlichen Bedingungen geschehen würde.« Ich erinnerte mich aus dem Biologieunterricht an den Begriff ›genetisches Treibgut‹. »Petunien.« Haltons Mundwinkel zogen sich erheitert aufwärts. »Ja, Petunien. Darauf marschierte eine große organisierte Menge – Umweltschützer, Grüne, Berufsdemonstranten und Spinner – zur Universität und verlangte die Zerstörung aller veränderter Petunienpflanzen. Irgendwann erhitzten sich die Gemüter, ein Ziegelstein wurde durch das Gewächshausglas geworfen, ein Botaniker stieß jemanden – wer weiß, was wirklich die Ursache war? Aber es gab Schwerverletzte, und die Gewächshäuser wurden zerstört und niedergebrannt, Versuchsfelder angezündet. Viele Leute verklagten einander, Gesetze wurden verabschiedet, einige davon ziemlich lachhaft, andere einfach dumm. Ein Unternehmen, das die Lizenz zur Herstellung von Giftgas für militärische Zwecke hatte, erhielt keine Erlaubnis, genetisch veränderte Bakterien zur Herstellung von billigem Insulin zu verwenden.«
»Alles wegen Petunien?« Es kam mir auch ziemlich albern vor. »Natürlich ging es nicht bloß um Blumen; die Gentechnik war damals noch nicht so verfeinert. Tatsachen und Gerüchte wurden durcheinandergebracht. Es wurde behauptet, die Legionärskrankheit und der AIDS-Virus seien ursprünglich geheime biologische Waffen gewesen, die im Auftrag der Regierung entwickelt und durch technische Pannen bei der Herstellung freigesetzt worden seien.« »Glauben Sie das?« »Nein. Aber es verunsicherte und ängstigte viele Menschen, und am Ende stritten sie so laut über Petunien, daß niemand etwas merkte, als Regierungsbehörden wie die CDI anfingen, Patente für Klonungstechniken und Genveränderungen aufzukaufen, einschließlich aller bekannten Stränge menschlicher DNS. Das National Institute of Health in Bethesda hatte jedes Patent auf alle mit dem menschlichen Gehirn verbundenen Gene an sich gebracht, noch ehe das Jahrhundert um war. Und der beratende Ausschuß für Rekombination, ein staatliches Prüfungsgremium, das praktischerweise dem National Institute of Health unterstand, hatte einigen ausgewählten Unternehmen der Biotechnik erlaubt, den Markt für die Biokonstrukttechnik unter sich aufzuteilen, bevor diese noch wissenschaftlich erprobt war. Die Europäer sahen sich vom Zugang zu allen relevanten biologischen Daten ausgeschlossen, und die amerikanischen Pharma- und Gentechnikunternehmen, mußten, um vom Staat Lizenzen zu erhalten, ihre Forschungsabteilungen Leitern unterstellen, die keine Forscher oder Ärzte mehr waren, son-
dern vom Staat beauftragte Spezialisten, die ihre eigenen interessanten Vorstellungen hatten. Aber inzwischen war es zu spät. Niemand hatte eine Ahnung, wie weit die Vorarbeiten schon gediehen waren und was dabei herauskommen würde.« Ich ließ es dabei bewenden, weil ich Halton nicht unabsichtlich kränken wollte. Er hörte mir in stoischer Gelassenheit zu. »Natürlich geht es nicht ohne Vorsichtsmaßnahmen«, lenkte ich schnell ab. »Es darf nicht sein, daß gentechnisch veränderte Viren als Pestizide freigesetzt werden, um einen bestimmten Schädling zu bekämpfen, solange man nicht ausschließen kann, daß sie andere Arten schädigen oder zu etwas mutieren können, das zu einer Gefahr für Mensch und Tier wird.« Halton starrte mich an. »Ich bin kein Virus, Ka Be«, sagte er ruhig. »Und keine Petunie.« »Nein, Sie sind viel beängstigender. Als es der amerikanischen Pharmaindustrie noch verboten war, Körpergewebe von abgetriebenen Föten für medizinische Präparate zu verwenden, konnte nur die CDI Biokonstrukte entwickeln. Sie hatte das Geld und die gesetzliche Immunität, die ihr erlaubte, mit menschlichen Genen herumzuspielen.« Er hob das Kinn ein wenig. »CDI hat nicht gegen Gesetze verstoßen. Ich bin kein Virus, aber ich bin auch kein Mensch im engeren Sinne. Meine Chromosomen wurden nicht von Menschen genommen; jeder Strang meiner DNS ist patentiert und maßgeschneidert. Nicht ein Gen stammt aus natürlicher Quelle.« Er sagte es mit einem gewissen Stolz, den ich seltsam rührend fand. Ich kannte das Argument. Die Einzelheiten der Technik ei-
nes Biokonstrukts wurden streng geheimgehalten, aber soviel war allgemein bekannt: Biokonstrukte hatten keine Eltern. Sie waren individuell erzeugte Organismen und daher juristisch gesehen Maschinen, Biomaschinen. Der einzige Organismus, der juristisch als menschlich galt, war ›vom Mann empfangen, von der Frau geboren‹. Es spielte keine Rolle, ob es ein Reagenzglasbaby war, oder ein durch genetische Chirurgie veränderter Fötus. Was zählte, war allein sein Ursprung aus einem menschlichen Ei, das von einem menschlichen Sperma befruchtet war. Wenn etwas Federn und Flügel hat, wie eine Ente watschelt und schnattert, sollte es einen Satz genetischer Baupläne in sich tragen, um zu beweisen, daß seine Eltern Enten waren. Andernfalls war es juristisch keine Ente. »Das ist natürlich wahr, Halton«, erwiderte ich. »Sie sind kein Virus, und Sie sind im juristischen Sinne kein Mensch. Sie sind eine tödliche militärische Waffe. Als das wurden Sie entwickelt.« Der gleichmütige Ausdruck blieb in Haltons Miene, er wich meinem Blick nicht aus. »Wir sind gut in der Waffenentwicklung. Wir haben die Macht, unsere Umwelt vollständig umzuwandeln, uns selbst zu verändern, ohne in jedem Fall die vollständige Kontrolle darüber zu haben.« Ich zeigte ihm ein schiefes Lächeln. »Der Mann auf der Straße befürchtet, daß Biokonstrukte in Wirklichkeit eine Rasse von Übermenschen sind, der Beginn einer schönen neuen Welt, die früher oder später das fehlerhafte menschliche Gesindel ausrotten wird.« Ich dachte flüchtig an die gelegentlichen Beleidigungen und Feindseligkeiten, die ich in der Schule ertragen hatte, den blinden, von verantwortungslosen Medien geschürten und von periodischen terroristischen Anschlägen und Krieg entfachten
Haß auf Araber. »Warum entwickeln dann die Menschen Dinge, die sie ängstigen?« »Weil wir es können«, sagte ich. »Das ist Teil dessen, was es heißt, Mensch zu sein. Ich gebe zu, daß es keinen Sinn ergibt. Wir haben Waffen entwickelt, die alles Leben auf Erden auslöschen können. Nur weil wir wissenschaftlich und technisch dazu in der Lage sind. Natürlich völlig nutzlos, wenn man es bedenkt.« Er hatte seine Mahlzeit beendet und lehnte sich auf seinen Gesteinsbrocken zurück, die Hände um ein angezogenes Knie gelegt. Durch die Akazienblätter sickerndes Sonnenlicht schimmerte auf seinem dunklen Haar und sprenkelte seine gebräunte, glatte Haut. Wider Willen bewunderte ich, wie das Hemd sich über seine Schultern spannte. Um das flaue Gefühl im Magen zu verdrängen, versuchte ich an etwas anderes zu denken. Er holte tief Atem, traurig und geduldig. »Sie haben immer noch Angst, ich sei in Wirklichkeit Frankensteins Monster, nicht wahr?« fragte er. Ich glaubte eine Spur von Sarkasmus herauszuhören. Ein verdammt gutaussehendes Frankenstein-Monster. Ich sagte es nicht. »Glauben Sie wirklich, daß Biokonstrukte eines Tages aufwachen, ihre Überlegenheit über alle fehlerhaften menschlichen Pfuscher erkennen und sich in einer Revolte erheben werden, um ihre eigenen Schöpfer zu vernichten?« »Sie scheinen keine psychologische Hemmschwelle zu haben, Leute umzubringen«, sagte ich. »Ich denke, Sie haben allen Grund, mir dafür dankbar zu sein«, versetzte er. Ich war nicht sicher, wie ich es aufnehmen
sollte. Manchmal schien Halton merkwürdig naiv, dann konnte er wieder mit beißender Schärfe zurückgeben. »Aber wenn Sie in Sorge sind, ich könnte auf die Idee kommen, eine Meuterei anzuzetteln, so haben meine Planer bereits vorgesorgt. Ich bin psychologisch gehemmt, zu meinen eigenen Zwecken zu töten.« Er lächelte sein seltsames, bescheidenes Lächeln. »Sie haben recht. Ich bin eine Waffe. Aber nur eine Waffe. Ich bin kein Mörder.« Es schien ihm Halt und Ermutigung zu geben. Sein Vertrauen in die Fähigkeit, wenn nicht die Absichten seiner Erzeuger war unerschütterlich. Mich schauderte. Wie praktisch. »Waffen töten keine Menschen«, pflegte mein Stiefvater zu sagen, Mitglied des Schützenvereins, der sich weigerte, seine Jagdgewehre registrieren zu lassen, die wie Kunstgegenstände an der Wohnzimmerwand aufgereiht standen. Er nannte es zivilen Ungehorsam. Er hatte stets mit einer geladenen 45er unter dem Kopfkissen geschlafen und kaufte meiner Mutter zum Geburtstag eine nagelneue 38er, gerade die passende Größe, um sie in die Handtasche zu tun. Jedes zweite Wochenende fuhr er mit uns zum Schießstand, um zu üben; keine Bande von halbwüchsigen Drogenstrolchen sollte seine Familie wie Schafe oder knieweiche liberale Schlappschwänze abschlachten. »Menschen töten Menschen.« »Nun«, sagte ich, »das ist ein Weg, um ein ruhiges Gewissen zu bewahren.« Ich stand auf und ließ mir von unsrem freundlichen Wirt mehr ›Apfelsaft‹ einschenken. Er füllte unsere angeschlagenen Gläser mit seinem selbsterzeugten vergorenem Most aus einem Krug, den er in seinem antiquierten Kühlschrank verwahrte. Kondenswasser rann außen an der Glasur herab. Ich brachte die
Gläser an den Tisch zurück, stellte eins Halton hin, nahm das andere und setzte mich so, daß ich ihm den Rücken zukehrte. Wir tranken schweigend. Ich beobachtete Kinder, die auf dem übelriechenden Abfallhaufen hinter der improvisierten Küche mit einem räudigen Hund spielten, und ließ meine Gedanken schweifen. Das war eine schlechte Idee. Ich entsann mich einer noch nicht so fernen Zeit, als noch niemand etwas von Biokonstrukten wußte und als wir keine Hilfe brauchten, um einander umzubringen. Meine Sinne machten einen plötzlichen Umweg, ein übelkeiterregendes Torkeln in eine vergangene Wirklichkeit, von der ich glaubte, ich hätte sie unterdrückt. Die Brise drehte, und einen Augenblick roch ich nicht den widerlich süßen Gestank fauligen Abfalls, sondern Brandgeruch und Leichengestank. Das lachende Gesicht eines der Kinder wurde zu dem stummen Schrei eines im Trümmerschutt verwesenden Säuglings. Mir brach kalter Schweiß aus. »Ka Be?« Halton war geräuschlos wie ein Gespenst um den Tisch gekommen und stand neben mir, eine Hand auf meiner Schulter. Ich schrak zusammen. »Mir fehlt nichts, es ist alles in Ordnung, lassen Sie mich einfach in Ruhe«, platzte ich heraus, versuchte seine Hand und meine Ängste abzustreifen. Die willkommene Aufwallung von Zorn konzentrierte mein Bewußtsein und löschte den Wachtraum aus. Es war wahr, ich saß in Nok Kuzlat fest. Aber es war jetzt, nicht damals. Kinder spielten mit ihrem Hund im Unrat. Keine versteckten Minen explodierten unter ihren Füßen. Eine magere Katze, gelb und weiß gefleckt, durchstreifte
das hohe, dürre Unkraut. Sie war kein fliehender Araber, und kein infrarotgesteuertes Geschoß würde wie ein flammender Speer vom Himmel herabschießen und sie zerfetzen, kein unsichtbarer Scharfschütze würde ihr eine Kugel durch den Kopf jagen. Keine großen Kinderaugen starrten mich über den Lauf einer Waffe an, die von kleinen, schmutzigen Händen gehalten wurde … Starrten einfach, bevor … Ich unterdrückte die Erinnerung mit einer Willensanstrengung. Damals hatte ich Nok Kuzlat gehaßt, und ich haßte es jetzt. Ich haßte diesen ganzen Teil der Welt und jeden darin mit der schuldbewußten Selbstverachtung, die nur der Entwurzelte fühlen kann. Ich verabscheute die sinnlose Gewalt und das erbarmungslose Elend, und zugleich erbitterte mich die chauvinistische Attitüde von Überlegenheit. Vor allem haßte ich meine Eltern, daß sie Araber waren. Mein Vater war im Gazastreifen geboren, meine Mutter in Kuwait, und beide waren keine Staatsbürger der Länder ihrer Geburt. Sie lernten einander kennen und heirateten, während sie als Lohnsklaven für ein despotisches saudiarabisches Unternehmen arbeiteten, und emigrierten bei der ersten sich bietenden Gelegenheit nach Amerika. Dort lebten sie in Verhältnissen, die sie anfangs als Luxus betrachteten, in den Staaten aber als unterhalb der Armutsgrenze galten. Ich kam in Denver, Colorado, zur Welt, und das machte mich nach den Gesetzen des Landes zu einer hundertprozentigen Amerikanerin. Ich könnte mich sogar um die Präsidentschaft bewerben. An meinen leiblichen Vater erinnere ich mich nicht; er starb,
als ich vier Jahre alt war. Meine Mutter heiratete wieder, diesmal einen Amerikaner halb irischer und halb italienischer Abstammung, der sie vergötterte. Religion war in unserer Familie kein Problem; Mutter gab ihren islamischen Glauben niemals auf, nicht amtlich. In unserer kleinen Stadt gab es keine Moschee. An wichtigen christlichen Feiertagen ging ich mit meinem Stiefvater in eine Presbyterianerkirche, während Mutter zu Hause betete. Gott war eine abstrakte Größe, die keine besondere Bedeutung für mich hatte. Mein Leben unterschied sich nicht sehr von dem jedes anderen durchschnittlichen Kindes in Amerika. Meine Mutter zog sich wie die anderen Damen des örtlichen Elternvereins an, trug Make-up und ließ sich im benachbarten Frisiersalon die Haare pflegen, und die Woche über arbeitete sie in der Einkaufsabteilung unserer Kaufhausfiliale. Mein Stiefvater war Bauunternehmer, der viel für die Regierung arbeitete. Zur Arbeit fuhr er einen gewöhnlichen Wagen mit einem Aufkleber ›Kauft amerikanisch‹, trank am Samstag mit seinen Freunden Bier im ausgebauten Keller, wo aus dem neuesten Fernsehgerät Fußball- oder Basketballübertragungen dröhnten. Wir waren nicht reich, aber mein Stiefvater hatte regelmäßig Aufträge, und es fehlte uns nie an etwas Wichtigem. Ich spielte mit den wenigen Freunden, die ich hatte, wuchs mit einer gleichbleibenden Diät von Burger King und Pizza Hut auf, durfte in einem Mietstall reiten lernen, schwärmte für pfiffige Jungen und Magazinfotos pubertierender Filmstars, rauchte mit meinen Freundinnen Zigaretten in der Mädchentoilette der Schule. Eine ganz normale amerikanische Kindheit. Als ich ungefähr neun Jahre alt war, sagte ein Kongreßabge-
ordneter aus Georgia oder Louisiana, einem südlichen Staat, vor einem Kongreßausschuß, dessen Sitzungen über das Fernsehen verbreitet wurden, um zu rechtfertigen, daß Gelder der Steuerzahler dafür verschwendet wurden, damit festgestellt wurde, wo die Gelder von Steuerzahlern verschwendet werden. Die letzte ›Friedensinitiative‹ hatte nichts gebracht. Während alle über die alte Frage der von Israel besetzten Territorien des Westjordanlandes und des Gazastreifens stritten, die unverrückbaren Stolpersteine auf dem Weg zu einem Friedensabkommen, baute Israel zielstrebig seine Militärmacht aus und errichtete jüdische Siedlungen im Westjordanland, Gaza und auf den Golanhöhen. Dies ging in vielen Fällen so schnell, wie sie vorgefertigte Wohnanhänger zu den geplanten Siedlungsorten ziehen konnten. Dann hatte eine Gruppe islamischer Terroristen aus Protest gegen die amerikanische Unterstützung Israels eine Bombe im New Yorker World Trade Center gezündet und Menschen getötet, die wahrscheinlich nicht allzuviel Interesse an der Sache hatten, für die sie gestorben waren, und die öffentliche Meinung in Amerika ganz und gar nicht für sich eingenommen. Der Kongreßabgeordnete, ein ehemaliges Mitglied des Rates Weißer Bürger, der Kontroversen genoß, die ihm Publizität garantierten, stand vor dem Kapitol, umringt von einem Rudel Journalisten, die Daumen in den Gürtel gehakt, und verglich den Nahen Osten mit einem Rudel bösartiger und neurotischer Hunde, die zusammen eingesperrt sind und um einen einzigen Knochen kämpfen, während Israel, eine schlechtgelaunte Katze, auf dem Zaun sitzt und sie beobachtet. Von Zeit zu Zeit springt ein Hund knurrend und schnappend nach der Katze, und diese versetzt ihm mit scharfen Krallen einen Hieb über die Nase, daß
er vor Schmerz jaulend zurückfällt. Die US-Regierung hatte dies zugelassen, solange unsere ›nationalen Interessen‹ – was übersetzt ›billiges Öl‹ bedeutete – nicht bedroht waren. Aber von Zeit zu Zeit wurde ein Hund zu groß und stark und begann einen kleineren zu bedrängen, und das lief Amerikas Interessen zuwider. Dann war Onkel Sam gezwungen, mit dem großen Knüppel dazwischenzugehen und den bösen Hund durchzuprügeln und dabei zu rufen: »Platz, Jungs! Platz!« Der Rest des Rudels schlich ihm dann mit eingezogenen Schwänzen um die Beine, knurrten einander an, und die kleineren Hunde bissen jetzt nach ihrem verprügelt daliegenden Gefährten. Die Katze fauchte in der Ecke, ein paar Hunde husteten eine oder zwei bleiche Geiseln aus, Onkel Sam verkündete einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten, drohte der Katze augenzwinkernd mit dem Finger und ging wieder hinaus. Darauf fielen die Hunde wieder übereinander her, und der Kampf nahm seinen Fortgang mit den gelegentlichen Scheinangriffen auf die Katze, die unangreifbar auf dem Zaun saß, sich die Pfoten leckte und sie alle verspottete. Es sei eine hoffnungslose Situation, sagte der Kongreßabgeordnete in seinem liebenswürdigen ländlichen Dialekt. Natürlich spielten die Israelis nicht fair, aber was kann man von Christusmördern erwarten? Immerhin hatten sie eine Demokratie, und die meisten von ihnen waren wenigstens weiß, aber die islamischen Lumpenköpfe steckten noch im 14. Jahrhundert, gewalttätig, verräterisch und undankbar. Es sei unmöglich, ordentliche Geschäfte mit ihnen zu machen, und sie seien von Grund auf unfähig, sich jemals zu zivilisierten Menschen zu entwickeln. Da sie nun ihre heimtückischen terroristischen
Aktivitäten auf unsere geheiligte amerikanische Erde brächten, müßten wir unsere militärische Schlagkraft hoch- und unser Geld für uns behalten und unsere Grenzen gegen die Horden aus der Dritten Welt fest verschließen, bevor sie uns überwältigen und unsere demokratische amerikanische Lebensart verwässern und zerstören könnten. Unsere einzige Hoffnung sei, daß der Zaun mit Gottes Hilfe niemals zusammenbreche. Für eine Neunjährige waren die Nachrichten etwas, das zwischen Trickfilmen und Situationskomödien gezeigt wurde, und sie bedeuteten mir damals nichts. Aber meine Mutter war in Tränen ausgebrochen, was mich ängstigte. Mein Stiefvater wußte nicht, was er tun sollte. Er legte die Arme um sie und sagte lahm: »Er hat doch nicht alle gemeint, Fadela.« Prompt haute sie ihm eine runter, schrie ihm hysterische Flüche auf arabisch zu, die er nicht verstand, und stürmte hinaus, um für drei Tage zu verschwinden. Es war das erste Mal, daß ich mich nicht wie ein normales amerikanisches Kind fühlte. Der Kongreßabgeordnete hatte mich gemeint. Ich war Araberin, nicht? Ich war einer von diesen tollwütigen dummen Kötern, die der Kongreßabgeordnete so verächtlich gemacht hatte, eine schmierige, faule Erbin dieser nicht zu zähmenden primitiven Beduinenrasse, die während des vergangenen Jahrhunderts gemordet, terrorisiert, geplündert, vergewaltigt, Passagierflugzeuge gesprengt, Bürohäuser in die Luft gejagt, Ölquellen zerstört, ihre eigene Umwelt ruiniert und Tausende von unschuldigen Menschen massakriert hatte. Wir waren absolut abscheulich und absolut verabscheuungswürdig. Meine Familie lebte in einer kleinen Stadt unweit von Denver. Ich war klein und dunkel, aber offensichtlich nicht Latino,
und einige der Kinder in meiner Schule dachten, ich sei Indianerin, eine Idee, die ich von nun an nicht korrigierte. Indianer waren in Mode gekommen, eine edle, unschuldige und verfolgte Rasse, die von den Weißen mit Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen behandelt wurde. Ich ließ den Namen Kahlili fallen und fing an, mich Ka Be zu nennen, bestand sogar darauf, daß meine Eltern es auch taten. Ich weigerte mich, mit meiner Mutter arabisch zu sprechen, antwortete ihr nicht, wenn sie mich anders als auf englisch anredete. Das bedauere ich aus zwei Gründen: erstens, weil mein Arabisch jetzt schlecht ist; und zweitens, weil es meine Mutter unnötig verletzte. Wenn sie von einem bigotten Südstaatler gedemütigt worden war, konnte es ihr Unglück und ihre Scham nur vertiefen, wenn sie sah, daß ihre eigene Tochter ihre Herkunft in neurotischer Erregung verleugnete. Später, als meine Mutter starb, erlebte ich ein kurzes Aufbranden von Reue und verkündete mein Arabertum jedem, der es hören wollte, plapperte verschiedene Gründe nach, ohne viel davon zu verstehen. Die Phase dauerte nicht lange. Die wenigen Freundinnen, die es ertragen konnten, mich längere Zeit anzuhören, waren zu Tode gelangweilt, und nach einer kurzen Eskapade mit einem echten arabischen Renegaten entdeckte ich rasch, daß ich mit seiner Philosophie, seinem Fanatismus und seinem leidenschaftlichen Haß auf alles Abendländische wenig gemeinsam hatte. Mein Stiefvater hatte meine Mutter verehrt, mich aber nur geduldet, was mir nicht viel ausmachte. Hin und wieder sah ich, wie er mich anstarrte, völlig verblüfft, wie eine so liebliche Frau wie meine Mutter ein derart unattraktives Kind zur Welt ge-
bracht haben konnte. Aber in seiner Weise tat er sein Möglichstes, mich zu lieben. Er war gerecht, freundlich, gutmütig, und wir kamen gut miteinander aus. Nach Mutters Tod schickte er mich in eine Internatsschule, wo ich die letzten Jahre der Oberschule verbrachte. Ich war begeistert, fand es himmlisch; es gab dort mehr Pferde als ich mir in meinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Noch jetzt ruft er mich gelegentlich an, und jedes Jahr tauschen wir pflichtschuldig Weihnachtskarten aus, obwohl ich ihn seit bald zwanzig Jahren nicht gesehen habe. Was mir an Schönheit fehlte, machte ich durch Leistung wett, und so kam ich zu einem Stipendium eines ölreichen arabisch-amerikanischen Kulturvereins, der mein Studium zum größten Teil finanzierte. Um sich nicht lumpen zu lassen, bedachte mich der Kiwanis-Club in meiner Heimatstadt ebenfalls mit einem kleinen Stipendium, gekoppelt mit der Verpflichtung, an einem landwirtschaftlichen Lehrbuch mitzuarbeiten. Zur Restfinanzierung meines Studiums verkaufte ich meine Seele für eine zinslose staatliche Studentenanleihe. Wenn magere Zeiten kamen, schickte mein Stiefvater mir hin und wieder einen Scheck, aber ich wußte, daß ich alles in allem zu den Glückspilzen gehörte. Eine erschwingliche Universitätsausbildung in Amerika gab es schon seit Jahren nicht mehr; nur die Kinder der Reichen oder solche, die sich durch Leistung für Stipendien qualifizieren konnten, brachten es noch zu einem Collegeabschluß. Ich war eine der wenigen mit überdurchschnittlicher Hautpigmentierung. Weil ich eine Stipendiatin war, statt ein Sproß der begüterten Schichten, fühlte ich irgendwie die Verpflichtung, mich würdig zu erweisen und den zukünftigen Erben des Reichtums zu
zeigen, daß ich besser als sie war. Aber nachdem ich mein Studium summa cum laude abgeschlossen hatte, mit den üblichen Anstecknadeln und Quasten und pseudo-kabbalistischen Riten, entdeckte ich, daß mein glänzender neuer Universitätsabschluß mir nicht mehr einbrachte als ein Job als bessere Kaffeeköchin in der Redaktion einer Zeitung in einer mittelgroßen Stadt und zu einem Lohn, der nur wenig über dem garantierten Mindestlohn lag. Jeder wollte ein Starreporter sein, und der Wettbewerb war halsabschneiderisch. Ich konnte nicht einmal jemand dazu bewegen, daß er mich als Gegenleistung für eine Beförderung sexuell belästigte. Mein Nettogehalt reichte nicht einmal für die monatliche Rückzahlung meiner Studentenanleihe. Ich war ein gutes Stück über die Dreißig hinaus, bevor die Steuerbehörde meine Einkommenssteuer soweit ermäßigt hatte, daß ich die vorgeschriebenen Rückzahlungsraten bezahlen konnte. Ich hörte bei der Zeitung auf und ging zum Fernsehen, das damals gerade auf Holographie umstellte. GBN war ein junges Unternehmen, und wenn sie mir dort auch einen Titel verliehen, der mein Ego befriedigen konnte, war ich in Wirklichkeit noch immer nicht viel mehr als eine bessere Kaffeeköchin mit entsprechendem Gehalt. Ich mühte mich redlich ab, um wenigstens zu erreichen, daß jemand dem, was ich schrieb, Aufmerksamkeit schenkte. Dann und wann wurde mir ein Knochen hingeworfen, und ich durfte eine Geschichte aus dem Leben machen, und mit der Zeit wurde mir klar, daß ich es niemals viel weiter bringen würde. Dann stahlen Al-Husam und seine Behjahrs ihre Infrafusionsbomben, und das kleine Khuruchabja war plötzlich der
Nabel der Nachrichtenwelt. Und siehe da, GBN hatte eine wahrhaftige zweisprachige arabische Journalistin in ihren Reihen. Ich wurde befördert, bekam einen Kameramann und ein Portanet, und eine Flugkarte nach Nok Kuzlat und zurück. Irgendwo in mir hatte ich heimlich den Glauben genährt, daß ich mich nahtlos in die arabische Kultur einfügen könne. Ich hatte arabische Eltern, einen arabischen Namen. Ich war wirklich Araberin, nicht wahr? Man würde mich akzeptieren, die Rückkehr der verlorenen Tochter, all dieser Unsinn. Ich triumphierte selbstgerecht, und meine Kolleginnen und Kollegen wurden grün vor Eifersucht, als GBN mich aus der Vergessenheit des metaphysischen Postzimmers holte und fortschickte, um im sagenhaften Nok Kuzlat Ruhm zu ernten und mein Glück zu machen. Es dauerte nicht lange. Wenn ich keine arabische Amerikanerin gewesen wäre, hätte ich die Desillusionierung vielleicht nicht so hart empfunden. Was ich von arabischem Leben und arabischer Kultur wußte, war nicht viel mehr als das, was jeder amerikanische Halbwüchsige wußte, der Tausend und eine Nacht gelesen hatte. Ich hatte außerdem Kahlil Gibran und Indra Schahs Karawane der Träume gelesen und gedacht, es habe mich zu einer verfeinerten Intellektuellen gemacht; außerdem hatte ich alte Stummfilme mit Valentino gesehen. Dies alles und diverse Fantasyromane mit exotischen Gewürzkarawanen, romantischen Scheichs und für die Jugend aufbereitete Geschichten aus Sindbad der Seefahrer waren wenig geeignet, die harten Wirklichkeiten hinter den Mythen zu entschleiern. Nun, offensichtlich würden sie die gleichen moralischen Wertvorstellungen und dieselbe Logik haben. Araber würden
denken wie wir, handeln wie wir und Leute wie wir sein. Außer daß sie sich etwas komisch kleideten. Nicht, daß die verschiedenen nahöstlichen Länder und Menschen nicht verschieden gewesen wären; tatsächlich waren die Unterschiede zwischen ihnen zahlreich und augenfällig; sie alle aber waren Variationen über das Thema Frustration und Repression. Völker waren miteinander verfeindet, Stämme und Familien, und überall herrschten die endlosen blutigen Fehden. Im Osten war das Leben kurz und die Erinnerung lang; im Westen war das Leben lang und die Erinnerung kurz. Wie konnten wir hoffen, einander zu verstehen? Kairo, die großartige Stadt der Pyramiden und Pharaonen, war eine staubige, verslumte Metropole, wo der Gestank öliger Abgase, Abwässer und faulender Landesprodukte sich in Nase und Kehle festsetzte, der Nilschlamm fermentiert mit mikroskopischen Parasiten und Bakterien. Erbarmungsloser Lärm war überall, ein massiver Angriff auf die Sinne, das ständige anund abschwellende Stimmengewirr von Feilschen, Betteln und Bakschisch. Riyadh war ein kochender Alptraum von Du Darfst Nicht und gieriger Arroganz; die Hälfte der Bevölkerung besessen von ihrer islamischen Pflicht, hingebungsvoll bemüht, die leiseste Andeutung von Vergnügen zu unterdrücken, jede Spur von Farbe und Aroma aus dem Leben zu bleichen, und die andere Hälfte erfüllt von dem verzweifelten Wunsch, zu entkommen. Die Dankbarkeit, die Kuwait einmal den Amerikanern entgegengebracht haben mochte, war flüchtig wie der Frühling in der Wüste. Die fliegenden Teppiche und Flaschengeister von Bagdad hatten sich nie vom Krieg gegen den Iran und den
Golfkriegen erholt. Die lächelnden Gesichter malerischer Beduinen auf den Titelseiten von Reiseprospekten wollten nie zu denen der verstümmelten alten Männer Khuruchabjas passen, zu den Kindern mit aufgeblähten Bäuchen, den verschleierten Frauen, die mit ausgestreckten Krallen weinten, einen an Beinen und Armen festhielten, wenn man durch die schmalen Gassen ging. Der Kulturschock war sekundär gegenüber dem unwirklichen Schrecken von Tod und Zerstörung, einer Orgie des Tötens, der sich alle Seiten hingaben. Hier war der Tod so banal und alltäglich wie die allgegenwärtigen Fliegen. Nicht nur die Araber waren nicht, was ich erwartet hatte, auch wir waren nicht gerade, was ich all diese Jahre von uns geglaubt hatte. Die Dinge waren nicht unverrückbar schwarz oder weiß, die Guten unterschieden sich nicht so sehr von den Bösen. All die rechtfertigenden rationalen Erklärungen, die vom ›Weichklopfen‹ und ›Aufweichen‹ des Feindes sprachen, bedeuteten noch immer nichts anderes als Männern, die in überfüllten Bunkern fröstelten, die Luft aus den Lungen zu bomben. Es fehlte nie an wohlfeilen Argumenten, die Prinzipien und Moral verbogen, um zu entschuldigen, was noch immer auf nichts anderes als Massenabschlachtung hinauslief; das keimfrei gemachte Vokabular mit Wörtern ›Zermürbung‹ und ›Begleitschäden‹ hatte lediglich den Zweck, Blut und Tod dem Publikum schmackhafter zu machen. Mochte es auch oft notwendig gewesen sein, es blieb Massentötung. Schließlich stumpfte ich ab. Dann wurde ich wütend. Viel später kehrte ich zurück. Nun war ich wieder hier, mehr als zehn Jahre später. Ka Be
Sulaiman war von den Toten auferstanden, begleitet von einer Biomaschine, die einen Mann imitierte. Ich dachte, es könnte Zeit sein, alte Freunde aufzusuchen.
10 UM MEIN ROSTIGES MARKUNDI ZU ÜBEN, sah ich mir die Abendnachrichten an und murmelte die Worte mit. Die kirchlich kontrollierten Zensoren des Staates waren in Khuruchabja noch immer sehr mächtig, und die Lokalnachrichten waren größtenteils Futter ohne wirklichen Informationswert. Es erübrigt sich, zu sagen, daß das unglückliche Dahinscheiden der jüngsten Frau des Staatsoberhauptes nur kurz und beschönigend behandelt wurde, mehr Rhetorik als Information. Kein Foto von der Toten wurde gezeigt, aber ich wußte, daß sie nicht durch einem Autounfall gestorben war. Das khuruchabjanische Fernsehen bestand hauptsächlich aus den nicht endenwollenden Gebeten und Predigten geistlicher Würdenträger, unterbrochen durch alte Bänder von sportlichen Ereignissen, in denen die khuruchabjanische Mannschaft stets gewann. Für Fernsehspiele und dergleichen blieb kaum Zeit. Unterhaltende Varietévorstellungen bestanden aus sorgfältig choreographierten Schaustellungen von Liebe und Loyalität zu Scheich Larry mit tanzenden und fahnenschwenkenden Kindern. Bisweilen wurde die einförmige Kost belebt durch zornerfüllte Berichte über abscheuliche Greueltaten und Verbrechen in den gottlosen Städten Amerikas, jeder ausgewalzt bis zum letzten. Besonders gut gefiel mir eine ergrimmte Reportage über
ein barbarisches Ritual öffentlicher Freßlust, wo Alkohol saufende Männer und barhäuptige lockere Frauen in engen TShirts gemeinsam unter freiem Himmel angekohlte Schweinekadaver verschlangen. GBN hatte die Hotelbuchungen vorgenommen, doch bin ich überzeugt, daß CDI die Rechnung bezahlte. Diesmal teilten Halton und ich ein Zweibettzimmer, da separate Zimmer für zwei männliche Gäste eine unnötige Ausgabe gewesen wären, besonders für Journalisten, die auf Firmenspesen reisten. Nicht, daß es der CDI etwas ausgemacht hätte; sie wollte nur, daß alles richtig aussah. Ein weiterer Grund mochte sein, daß Halton mich so besser im Auge behalten konnte. Aber das Grand Imperial war trotz seines Namens nicht das luxuriöseste Hotel der Stadt. Es wurde hauptsächlich den Bedürfnissen einer westlichen Kundschaft gerecht und war weit entfernt von dem enormen Prunk, den großspurige Scheichs und Emire als selbstverständlich erwarteten, wenn sie einen Besuch machten. Unser Hotelzimmer unterschied sich nicht sehr von einem in, sagen wir, Topeka, Kansas. Etwas größer als die Zimmer im Orbital Hilton, bot es Platz genug für zwei bequeme Betten, einen Holofernseher von anständiger Größe, wenn auch markenloser chinesischer Herkunft, verschiedene, nicht zusammenpassende Möbelstücke aus furnierten Spanplatten in modernem, orientalisierendem Stil. Der Teppich war alt, mit verblichenen Kaffeeflecken und Brandstellen von Zigaretten. Die Badewanne hatte eine Handbrause, und der Wasserhahn tropfte und hatte einen Roststreifen hinterlassen. Das Warmwasser war trotz der kochenden Temperaturen draußen nur lauwarm, und die Toilette gurgelte ständig, ein eigentümlich
beruhigendes Geräusch, das ein wenig an einen murmelnden Bach auf dem Lande erinnerte. Die Klimaanlage war bestenfalls von marginalem Nutzen, die Fenster waren geschickt konstruiert, daß sie sich nicht öffnen ließen und den Raum spätestens gegen Mittag in eine Sauna verwandelten. Er war jedoch sauber, die Kakerlaken verhielten sich respektvoll und diskret, und das Bettzeug wurde regelmäßig gewechselt. Halton hatte die professionellen Abhörwanzen gefunden und nicht unbrauchbar gemacht, sondern ihre Positionen so verändert, daß ihre Sender praktisch nichts Auswertbares übermittelten. Es schien unwahrscheinlich, daß sie von einem seiner früheren CDI-Kollegen plaziert worden waren, da man dort mit Sicherheit erwartete, daß ein Biokonstrukt des eigenen Dienstes imstande sein würde, die Vorrichtungen aufzuspüren und unbrauchbar zu machen. Wahrscheinlicher war, daß es sich um eine höhere Ebene der khuruchabjanischen Geheimpolizei handelte, die durch unseren persönlichen Besuch bei Seiner Exzellenz aufmerksam geworden war. Halton schloß eines von Carls elektronischen Spielzeugen an, das willkürlich erzeugte Geräusche sendete, ein Husten, ein Niesen, Toilettenrauschen, ein paar gemurmelte Bruchstücke von Entschuldigungen und Danke mit unserem Sonogramm, um unsere wirkliche Konversation zu überdecken. Trotzdem erwies es sich als ein Hemmnis für intelligente Gespräche. Er lag auf seinem Bett und hatte die Nase in einem Lesegerät. Er überflog die Seiten ebenso rasch wie methodisch und mit einem Ausdruck, der mich nicht überrascht hätte, wenn er eine wissenschaftliche Fachzeitschrift gelesen hätte. Ich mußte mich strecken, um die Chiphülle vom Nachttisch
zu nehmen, der die Betten voneinander trennte. Vor dem Hintergrund einer kitschig gemalten Wildwestlandschaft erwehrte sich eine Frau mit einem unmöglichen Dekollete der Zudringlichkeiten eines stattlichen halbnackten Cowboys, der ihren Hals küßte. Ein weiterer Schundroman. Gott allein wußte, wo er diesen Scheiß fand. Wenigstens war dieser in englisch. »Brennende Liebe in Paradise Crossing«, las ich laut und lachte. »Gefällt Ihnen dieses Zeug?« Ich hielt die Chiphülle in die Höhe. Er blickte auf und zwinkerte. »Ja.« Nach einer Pause fragte er: »Ihnen nicht?« »Liebesromane?« höhnte ich. »Das sind von fabrikmäßig arbeitenden Lohnschreibern bis zum schwülstigen Stil nach genau festgelegten Richtlinien serienmäßig produzierte Romane. Die Richtlinien werden nach Marktanalysen von Computern erzeugt. Lieber würde ich das Telefonbuch lesen.« Er hielt das Lesegerät hoch. »Von diesem Roman sind mehr als dreieinhalb Millionen Exemplare verkauft worden«, sagte er. »Literarische Qualität scheint bei der Kaufentscheidung nicht die wichtigste Rolle zu spielen.« Ich drehte die Chiphülle um und las den Klappentext. »›Er beugte sich über sie, eine schwelende Arroganz in seinen kalten, kristallblauen Augen‹« las ich laut mit ironischer Betonung. »›Aber seine hautengen Jeans und das bestickte Hemd konnten das Verlangen nicht verbergen, das in seinem drahtigen Körper tobte. In ihrem Kopf drehte sich alles in berauschender Unbesonnenheit, die aus dem Nichts entsprang, als seine starken Hände sie packten und sein Mund sich hart auf ihren drückte. Sie keuchte, als seine Zunge zwischen ihre weichen Lippen glitt,
seine unausgesprochene Leidenschaft schlug wie ein gefangener Vogel in seiner Brust, die an ihren schweratmenden Busen drängte. Es war ein gefährliches Spiel, das sie spielten, jeder suchte Vergeltung am anderen zu üben, aber die Erbin und der Cowboy würden finden, daß ihre Herzen einen eigenen hartnäckigen Willen hatten und daß ihr Schicksal unauslöschlich in die Trockenschluchten eingegraben war und im einsamen Geheul von Cojoten im Nachtwind widerhallte.‹ Gott, was für ein Mist!« Ich machte ein Gesicht und warf die Chiphülle auf den Nachttisch zurück. »Es ist Pornographie, Halton. Emotionale Pornographie für Frauen.« Ich fühlte mich von diesem billigen Roman beleidigt, war verärgert über seine Lügen. Nur hinreißend schöne Frauen waren die Heldinnen, die Liebe und unglaubliche Verehrung von ebenso hinreißenden Männern gewannen. Häßliche Mädchen brauchten sich nicht zu bewerben. Er sah mich verständnislos an. »Ja?« »Wenn Sie den Roman lesen, um eine Art von Einsicht in das zu gewinnen, was Frauen mögen, können Sie sich die Mühe sparen. Es ist Betrug, es ist nichts wirklich. Frauen lesen diesen Schund, weil sie das Gefühl haben, daß in ihrem Leben etwas fehlt. Sie verschaffen sich nachempfundene prickelnde Erregung, wenn sie diesen unechten Scheiß lesen, und putschen ihre Emotionen auf.« Als ich es sagte, wurde mir etwas klar, und plötzlich hatte ich einen sauren Geschmack im Mund. »Sie tun was für ihr Limbisches System, wie?« fragte ich leise. Er blickte ungeniert zu mir herüber. »Ja.« Dann wandte er
sich wieder der Lektüre zu. Ich hielt den Mund und konzentrierte mich auf den Redakteur im Studio, der einen Turban trug und über den korrumpierenden Einfluß von Popmusik sprach. Ich merkte, daß ich heiße Ohren hatte. Halton las noch immer, als ich zum melodiösen Klang von Markundi einschlummerte. Ich erwachte früh, nachdem ich schon den größten Teil der Nacht mit Aufwachen verbracht hatte: jedesmal, wenn ich im Schlaf meine Lage verändert oder mich umgedreht hatte, war ein anderer Körperteil zum Ausgangspunkt höllischer Schmerzen geworden. Unter der Dusche untersuchte ich die verschiedenen Prellungen und sah mit einiger Beruhigung, daß sie sich etwas zurückbildeten. Die Verfärbung um mein Auge war inzwischen mehr grün als purpurn, aber keine der beiden Farben vermochte mein Aussehen zu verbessern. Dann ging ich hinauf zum Dachrestaurant, um zu frühstücken. Halton blieb im Zimmer und brachte die Abhörwanzen wieder dort an, wo er sie vorgefunden hatte, falls der Instandhaltungstrupp entschied, die Abhöranlage zu überprüfen. Es war zweckmäßig, die Lauscher nicht darauf hinzuweisen, daß wir von ihren Abhörwanzen wußten. Eine Ausnahme war das Portanet. Wenn ich dort Abhörwanzen fand, würde sich niemand wundern, wenn ich das Gerät entlauste. Halton hatte das Portanet vorsichtshalber durchgecheckt, bevor ich es mit hinauf zum Dachrestaurant genommen hatte. Dort konnte ich ungestört für mich arbeiten. Es war nicht so, daß ich Halton mißtraute … Nein, tatsächlich traute ich Halton nicht wirklich; ich traute ihm nur etwas mehr als seinen Schöpfern. Aber ich hatte eigene Überlegungen
und Vorhaben, und wenn ich auch zuversichtlich war, daß er Schnüffler neutralisieren konnte, war ich nicht ganz sicher, ob Haltons Auftraggeber ihm nicht ein paar Mikrofone von Nanogröße, von denen er nichts wußte, in die Ohren gesteckt hatten. Bald begann es heiß zu werden, und die meisten Hotelgäste hatten bereits gefrühstückt und waren gegangen. Die wenigen, die geblieben waren, saßen im Schatten von Sonnenschirmen und der Terrassenmarkise. Ich hatte nur eine Sonnenbrille und einen dünnen Überzug von Sonnencreme mit Schutzfaktor 8. Ich hatte mir einen freien Tisch am Rand der Veranda ausgesucht, saß mit dem Rücken zum Stadtpanorama und öffnete das Portanet. Der Kellner kam heraus, blinzelte verdrießlich ins grelle Licht. In einer Imitation mittelalterlicher Mameluckentracht mit dem Hotelwappen an seinem Turban, glich er mehr einem Pakistani als einem Ägypter. Aber er hatte offensichtlich genug geisteskranke Journalisten gesehen, die im Freien über Portanets schwitzten, um sich zu ärgern, daß er gezwungen war, in die weißglühende Sonne hinauszugehen, um meine Bestellung entgegenzunehmen. Ich bestellte Kaffee, eine große Karaffe Mineralwasser, Feigen und Datteln, Ziegenkäse, zerdrückte Favabohnen in Essig und das einheimische Fladenbrot, mit Olivenöl beträufelt. Kaffee und Wasser zuerst, Frühstück nach der Arbeit. Er nickte und notierte. Das Grand Imperial Hotel war eines der wenigen in Nok Kuzlat, das auf abendländische Gäste eingestellt war. Es waren die üblichen zweit- und drittklassigen Journalisten und ein paar mutige Touristen, gesunde, blonde nordische Fußwanderertypen, die nach exotischen und vor allem billigen Abenteuern Ausschau hielten. Dazu kamen ein paar Gruppen arabi-
scher Geschäftsleute aus benachbarten Ländern, die einen Geschmack für schicke westliche Kleidung entwickelt hatten. Ich aß die einheimische Nahrung nicht, weil ich etwa romantische Vorstellungen von Anpassung an die Welt der Eingeborenen hegte. Kulturkreise mit begrenztem Zugang zu echter abendländischer Küche haben oft eigenartige Ideen über ihre richtige Zubereitung. Ich saß mit dem Rücken zur Aussicht, weil ich meine Transaktionen am Portanet für mich behalten wollte, es sei denn ein Spinnenmann kletterte die Fassade empor, um mir über die Schulter zu lugen. Komprimierte und durch den Zerhacker verschlüsselte Sendungen sollten nirgendwo ein Alarmsystem auslösen, hoffte ich, wenn ich im Freien arbeitete. Das Portanet ist die Weiterentwicklung der ursprünglichen Feldausrüstung mit klobigen, unabhängigen tuckernden Generatoren mit Anschluß an koffergroße Sender mit schirmartigen Parabolantennen von der Größe eines Zweimannzeltes. Das Portanet kann wie ein Rucksack auf dem Rücken getragen und an die Holoausrüstung angeschlossen werden, um eine Echtzeitsendung zu machen, und für weniger dringende Fälle kann es auf einen Kaffeetisch gestellt werden und läßt noch genug Raum für eine Tasse Kaffee und die Morgenzeitung. Ich hätte die Audioausrüstung gebrauchen können, weil auch sie durch Zerhacker verschlüsselt werden kann, aber ich wollte nicht riskieren, daß einer der anderen unschuldig aussehenden Frühstücksgäste vielleicht ein Abhörmikrofon in die Hose gestopft hatte und damit in meine Richtung zielte. Da ich die Sonnenschutzhaube über die Tastatur geklappt hatte, würde es jedem schwerfallen, meine Sendung zu überwachen.
Der Kellner brachte meinen Kaffee heraus, füllte ein Glas mit Wasser aus der importierten Mineralwasserflasche und ging ohne einen Blick oder ein Wort davon. Ich entfaltete die Tastatur und steckte die Rufkarte ein, dann drückte ich das automatische Sendesignal, nicht mehr als eine Rufnummer für die Relaisstation der GBN in Kairo. Das Portanet schnurrte ein paar Sekunden auf der Suche nach einem verfügbaren GBN-Satelliten, fand ihn und gewann seine Aufmerksamkeit. KAIRO RELAIS. HIER DA, WER DORT? Ich schmunzelte. Eine richtige Person am anderen Ende, ein amerikanischer Klugscheißer. Plötzlich verspürte ich Heimweh. Nichts kommt der Heimat gleich. B. SULAIMAN – beinahe hätte ich ›Munadi‹ getippt – NOK KUZLAT. HI, SINDBAD. NEU IN DER STADT? NICHT GANZ. ZWEITE TOUR DGASAT. Das bedeutete: ›Der gleiche alte Scheiß, anderer Tag.‹ ERZÄHLEN SIE MEHR DARÜBER. BIETE STUNDENRABATT. SEELSORGE NUR AM WOCHENENDE. Ich grinste, TROTZDEM DANKE, SENDE MAGAZINKASSETTE UNBEARBEITET GBN-ZENTRALE. EMPFÄNGER ARLANDO BK PG FILLER. Das Zeug, das ich hatte, war eigentlich nicht wert, gesendet zu werden. Arlando würde es durchsehen, sich fragen, was, zum Teufel, ich vorhatte, und es wahrscheinlich in den Keller schicken, nur für den Fall, daß jemand nachfragen sollte. Davon abgesehen, würde GBN sich nicht die Mühe machen, etwas davon zu senden, redigiert oder nicht. FERTIG.
Ich drückte die Sendetaste und eine komprimierte Hochgeschwindigkeitssendung ging verschlüsselt hinaus, prallte vom abgeschirmten GBN-Satelliten ab und wieder hinunter nach Kairo, wo die Relaisstation die Sendung durch einen zweiten verschlüsselten Kanal nach Haus schicken würde, alles innerhalb von Sekunden. Es bestand immer die Möglichkeit, daß jemand aus unfreundlichen Motiven versuchen mochte, durch Schnüffelei Informationen zu erhalten, und die lange Trennung von Medien und Staat hatte jede Seite gezwungen, verschiedene Informationsnetze, Datenübertragungen und Methoden zu entwickeln, um der anderen Seite das Abhören unmöglich zu machen, während gleichzeitig immer versucht wurde, in das Informationsnetz der anderen Seite einzudringen. Während die Sendung lief, überlegte ich, warum ich wirklich anrief. Es wurde von mir nur erwartet, einen Botengang zu machen, keine detektivische Reportage. Nachdem die Sendung durch war, tippte ich: HÄNGEN SIE ES EINEN HAKEN HÖHER, OK? Wenn jemand mithörte, würde das sein Interesse wecken, aber ich mußte das Risiko eingehen. Ich bat Kairo, die nächsthöhere Sicherheitsstufe für die Verschlüsselung zu wählen, um den Inhalt für Lauscher noch unzugänglicher zu machen. WAS BRAUCHEN SIE, SINDBAD? kam Kairo nach ein paar Sekunden zurück. Der zusätzliche Zerhacker machte die Sendungen um ein Geringes langsamer, aber Menschen sind keine Maschinen, und die Zeitverzögerung war kaum nennenswert. ICH SUCHE EINEN FREUND. CHK BK ARK – Ich gab ihm den Monat und das Jahr für die Archive – HAMID IBN RAZAILI. APX
45? ZULETZT NOK KUZLAT. RÜCKRUF 10 MIN. BIS DANN. Ich schaltete das Portanet aus, signalisierte dem Kellner für einen weiteren Kaffee und wartete. Mein Freund in Kairo war aufgeweckt und effizient, wofür ich dankbar war. Keine Fragen, warum ich tippte, statt über Mikrofon zu sprechen. Kein langes Geplauder und kein ›Warten Sie einen Augenblick, während ich das nachprüfe, bitte‹, was der Opposition bloß Zeit gibt, sich auf eine Sendung einzupeilen. Ich gab mich keinen Illusionen hin; wenn die CDI die Sendung abgehört hatte, würde sie früher oder später den Code knacken. Aber es gibt Tausende von Journalisten, die jede Minute des Tages Berichte in Dutzenden von Sprachen durchgeben. Die Regierungsbehörden müßten Tausende zusätzlicher Agenten einstellen, deren einzige Aufgabe es wäre, alle Sendungen aufzuzeichnen und zu entschlüsseln. Agenten wie John Halton. Ich baute darauf, daß sie die Sendung nicht empfangen hatten und daß die Verschlüsselung halten würde. Zehn Minuten vergingen, und ich schaltete das Portanet wieder ein. Der Satellit hatte sich nicht allzu weit bewegt, und anscheinend hatte ihn sonst niemand benutzt, um on-line zu gehen. Er war innerhalb einer Sekunde eingeschaltet. KAIRO RELAIS. SIND SIE ES, SINDBAD? RICHTIG. LETZTE BEKANNTE ANSCHRIFT MEHMET 56. X EL KAASEM. GLÜCK. DANKE. ENDE. Im nächsten Augenblick hatte ich das Portanet ausgeschaltet. Kairo hatte gewußt, daß ich es eilig hatte, und die letzte Über-
mittlung hatte weniger als fünfzehn Sekunden gedauert. Wenn jemand schnüffelte, mußte er verdammt gut sein. Aber ich erlaubte mir keine zu große Zuversicht. Ich schrieb die Adresse nicht auf, sondern behielt sie im Kopf. Ich hatte mir gedacht, daß ich diesmal in Nok Kuzlat keine andere Sorge haben würde, als in der Herrentoilette erwischt zu werden, wenn ich mit heruntergelassener Hose auf den Tritten hockte und die Hemdzipfel in die Ablauföffnung hingen. Schließlich befand sich das Land nicht im Kriegszustand, keine Bomben und Kugeln waren zu fürchten. Aber das kleine Gespräch in dem verlassenen Café hatte bewirkt, daß ich auf einer höheren Ebene von Paranoia operierte, der zornigen, zittrigen Paranoia, die ich zuletzt als Kind gefühlt hatte, als mein Vater mir erzählte hatte, Gott sei so allmächtig, daß er jeden Gedanken in meinem Kopf hören und alles beobachten könne, was ich tat. Anscheinend glaubte Gott nicht an das Recht auf Zurückgezogenheit, und die CDI folgte darin seinem Beispiel. Ich faltete das Portanet wieder zusammen, als der Kellner mein Frühstück auf einer gravierten silbernen Platte brachte. »Sind Sie fertig, Sir?« sagte er in perfektem hochnäsigen Englisch, sogar mit einer Spur von Oxbridge. Ich war es, und er spannte mit der überlegenen Geschicklichkeit, deren exklusiver Gebrauch für Kellner und englischen Adel reserviert ist, einen Sonnenschirm über mir auf. Ich saß im Schatten und aß bedächtig, überlegte meine nächsten Schritte, während ich die erhitzte Luft über den Dächern von Nok Kuzlat schimmern sah.
11 UNTER DEM MISSBILLIGENDEN BLICK des Oberkellners ließ ich eine Orange vom Büffettisch mitgehen, um sie Halton mitzubringen. Er dankte mir höflich, steckte sie in die Tasche, und wir schlenderten hinunter durch die Hotelhalle und hinaus auf die Qaijara Avenue, eine geschäftige Durchgangsstraße, die das Herz von Nok Kuzlat durchschnitt. Ich hatte das Portanet wie eine Reisetasche über eine Schulter gehängt, und Halton hatte die Holoausrüstung vor der Brust, teilweise bedeckt von einer weiten zhuhba-t-Weste, um uns weniger auffällig zu machen. Der Angestellte im Empfang hatte mich angestarrt, als ob ich verrückt wäre, als ich ihn gefragt hatte, ob er einen neueren Stadtplan habe. Derjenige, den er mir gegeben hatte, war 1942 in kyrillischer Schrift veröffentlicht worden. Neue Landkarten und Stadtpläne waren nicht gerade verboten, aber ihre Verbreitung wurde von der Regierung gesteuert, und sie waren nicht frei verkäuflich. Da die Eingeborenen ohnedies alle wußten, wo sie lebten, konnten nur Feinde solche Information wünschen. Wenn Sie wohin wollen, nehmen Sie ein Taxi, riet mir der Mann. Taxifahrer kennen ganz Nok Kuzlat. Richtig. Ich wußte das. »Wie gut haben Sie den Stadtplan im Kopf, Halton?« fragte ich ihn. Der Verkehrslärm zwang mich, die Frage zu rufen, um gehört zu werden. Altertümliche Busse schnauften dahin,
vollgestopft mit Menschen, die in Trauben an den Seiten hingen. Alte Lieferwagen mit blökenden Schafen auf der Ladefläche konkurrierten mit neuen Mercedeslimousinen und klassischen BMWs, die immer wieder anhalten mußten und nach wildem Hupen Gas gaben, um weitere drei Meter zurückzulegen. Halbwüchsige Jungen zogen zweirädrige Handkarren, die hoch mit Waren beladen waren, und strengten ihre unterernährten Muskeln bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit an. Hunderte von Käufern und Verkäufern trugen zu der allgemeinen Unterhaltung bei, sprangen in den stockenden Verkehr hinein und wieder heraus, sei es mit Waren, die sie an den Mann bringen wollten, sei es mit Waren, die sie gekauft hatten. Sie waren so aufmerksam und zuvorkommend, daß sie einem ihre Ware an die Wagentür brachten, ob man sie wollte oder nicht. »Ich kann mich zurechtfinden«, sagte Halton. Ich glaubte es ihm aufs Wort. »Was sagt Ihr Radar?« Er sah mich verdutzt an. »Haben wir unerwünschte Gesellschaft, die uns folgt.« Er sah sich weder um, noch zögerte er. »Ja.« Ich fluchte in mich hinein. »CDI?« »Nein. Zu auffällig, zu ungeschickt«, antwortete er. Er schien nicht besorgt, und wahrscheinlich mit Recht. »Können wir sie abhängen?« »Wenn Sie wollen.« Ich wollte, und wir hatten den ersten Spaß seit unserer Ankunft, schritten munter aus und bogen rasch um Ecken, schlüpften durch die endlosen Kaffeehäuser, um in rückwärtigen Gassen herauszukommen. Wir überstiegen einen Zaun und gelangten in einen gedeckten Suk, kauften in den winzigen
Ständen entlang der schmalen Basarstraße, alles beinahe im Laufschritt. Ich drapierte einen billigen Teppich mit scheußlich bunten Farben über mein Portanet, und Haltons Holoausrüstung wurde in einen aus Rattan oder Sisal geflochtenen Koffer gestopft. Wir hatten beide karierte Kaffijehs, die Kopf und Schultern bedeckten und von mit billigen Perlen besetzten Kordeln um unsere Scheitel festgehalten wurden. Von einem älteren Mann, der einen Haufen gebrauchter Kleider auf einem Stück Karton am Boden ausgelegt hatte, hatte ich den am schäbigsten aussehenden Kaftan gekauft und ihm nach hastigem Feilschen weit mehr Geld gegeben als das Stück wert war, um es ungeachtet möglicher Läuse sofort anzuziehen, als wir weitereilten. In den Augen des alten Mannes las ich zugleich Vergnügen über diese plötzliche Einnahme und Verachtung der dummen westlichen Touristen. Dieses amateurhafte Verfahren hätte keine arthritischen Flöhe von einem kahlen Hund schütteln können, aber irgendwie verloren wir unsere Beschatter und kamen am Rand der Slums heraus, die um die alten Stadtgrenzen wuchsen. Ich hatte Halton gesagt, wohin ich wollte, und ihm klargemacht, daß wir das Ziel nicht auf einer direkten Route ansteuern sollten. So wanderten wir herum, machten gelegentlich halt, um zu sehen, ob unsre Verfolger wieder Anschluß gefunden hatten oder nicht, dann gingen wir die El Kaasem Avenue hinunter in Nok Kuzlats alte, durch Krieg und Verarmung heruntergekommene Vorstadt, wo die Schäbigkeit noch nicht in touristenfreundlich gefirnißte orientalische Romantik umgewandelt worden war. Die Armut war hier sehr real und sehr schmutzig.
Die El Kaasem Avenue wand sich chaotisch um verschachtelte alte Gebäudegruppen und Mietskasernen, als wäre die Bebauung als Ganzes vom Himmel gefallen und die Straße gezwungen gewesen, sich zwischen ihr durchzuwinden. Andere Straßen, kaum breit genug, um Gassen genannt zu werden, kreuzten die El Kaasem Avenue in ungleichmäßigen Abständen. Schmutz und Gestank nahmen zu, und die hilfreichen englischen Untertitel an den Straßenschildern verschwanden ganz, als wir endlich die Mehmetstraße ausfindig machten. Wir konnten uns gratulieren, daß die Mehmetstraße überhaupt ein Schild hatte, also als ein Teil der richtigen Stadt angesehen wurde. Nummer 56 war eine Art Gemischtwarenhandlung mit Eisenwarenabteilung, ein kleiner halbdunkler Laden. Draußen waren Gemüseregale aus gestapelten Kisten, und im Fenster hingen ein paar von Fliegen bedeckte Kadaver in verschiedenen Stadien der Zerteilung als Blickfang. Kein Name war auf Tür oder Fenster geschrieben, nur Preise in arabischer Schrift auf Zetteln steckten in dem Spalt zwischen Fensterrahmen und staubigem Glas. Nirgendwo ein englisches Wort. Dies war kein Ort, zu dem sich die üblichen gaffenden Touristen verirren würden, noch würden sie willkommen sein. Eine Gruppe älterer Männer, die bei der Tür standen, beäugte uns mit feindseligem Argwohn. Braune Hände mit knotigen Fingern wehrten träge die allgegenwärtigen Fliegen ab. Ein paar kleine Jungen zogen eine Ziege an einem Strick vorbei. Das Fell des Tieres war in Flecken ausgefallen, und aus den Augen der Jungen rannen gelbliche Sekrete einer unbehandelten Infektion, als sie zu den Fremden aufblinzelten, die in ihr Territorium
eingedrungen waren. »Hamid hat es zu etwas gebracht«, bemerkte ich lächelnd, um meine Sorge zu verbergen. Ich fürchtete mich plötzlich und wäre am liebsten umgekehrt. Die Ladentür hing in rostigen Scharnieren und quietschte laut, als ich sie aufstieß. Da brauchte man keine Glocke, um die Ankunft von Kunden zu signalisieren. Ein halbwüchsiger Junge in einem fleckigen Kittel starrte uns wachsam und neugierig aus dem Halbdunkel an. Reihen von Regalen zu beiden Seiten waren vollgestopft mit Waren aller Art. Kleine Mengen von allem fanden sich dort, Schachteln, Kisten und Säcke mit arabischen Aufschriften füllten die unteren Regale, während die höchsten verschiedene Messingtöpfe und Kochutensilien enthielten, Schreinerwerkzeuge, Dolche in stumpf-zinnfarbenen Scheiden. Ich wußte, daß Hamid auch der lokale Geldwechsler sein würde, und daß er für seine Stammkunden auch ein paar Pistolen, Gewehre, Handgranaten und Munition bereithalten würde. Der schmale Raum wurde am rückwärtigen Ende durch einen Perlenvorhang abgeschlossen, durch den die undeutlichen Umrisse einer Treppe zu erkennen waren. Ich fragte nach Hamid, und der Junge rief nach hinten, ohne den mißtrauischen Blick von uns zu wenden. Eine kleine, rundliche und sehr stämmige Gestalt kam ohne Eile die Treppe herunter, eine weiße Metzgerschürze um den Bauch gebunden. Ich grinste unbehaglich und mit angespannten Nerven, als er den Perlenvorhang mit einem Arm beiseite wischte und uns einen Moment anblinzelte, bevor er mich wiedererkannte. »Yah salaam hkhala khi'dha!« platzte Hamid heraus und stürzte sich auf mich, als wäre ich ein lange verlorener Bruder,
der von den Toten auferstanden war. »Friede sei mit dir, und der Segen und die Barmherzigkeit Allahs, Ka Be. Ich erwartete nie, dich hier wiederzusehen!« Er küßte mich auf beide Wangen. »Hamid … Hamid …«, keuchte ich außer Atem. Ich weiß nicht, ob ich mehr erleichtert oder überrascht war. »Ahmad …« Er wandte sich zu dem jungen Burschen. »Erinnerst du dich an meinen Sohn, Ka Be?« Ich hätte es erraten sollen. Ahmad erkannte mich nicht. Erst sieben, als ich ihn zuletzt gesehen hatte, war der stoische kleine Junge, der die Hand seines Vaters umklammert und die Ruinen seines Elternhauses angestarrt hatte, war zu einem dunkeläugigen Jüngling mit sehnigen Armen herangewachsen. Er sah mich ernst an, als suchte er dieses fremde Gesicht mit einer verschwommenen Erinnerung den Geschichten zu vergleichen, die sein Vater ihm vielleicht erzählt hatte. »Jamilah!« brüllte Hamid und hielt mich weiter fest, wie um zu verhindern, daß ich fortlaufen könnte. »Komm her! J'ahkzhil!« »Hamid …« »H'asalit ilbaraka!« rief Hamid aus. »Mein Haus ist mit deiner Rückkehr gesegnet. Ich habe mich immer gefragt, was aus dir wurde, nach dem Krieg! Wo, zum Teufel, hast du dich herumgetrieben? Du hast nie geschrieben, nie angerufen …« Er redete wie meine Mutter. Damit nicht genug, wußten wir beide, daß es eine Farce war, aufgeführt für die Neugierigen, die draußen vor dem Eingang herumstanden. Zwar bin ich sicher, daß seine Gefühle echt waren, doch als er sich von mir löste und
zurücktrat, sah ich den durchbohrenden, prüfenden Blick seiner scharfen Augen. Er überlegte, was ich hier tat. Er ging hinaus zur Straße und blickte in beide Richtungen, wachsam nach irgendwelchen verdächtigen Typen, die alles beobachten und melden könnten, bevor er den alten Männern draußen aufmunternd zulächelte und die Tür hinter sich schloß. Eine Frau, die vom Kopf bis zu den Zehen in eine hennagefärbte baumwollene aba'ahah gehüllt war und das Gesicht bis auf die Augen mit einem bestickten Jaschmak bedeckt hatte, kam die Treppe herunter, um durch den Perlenvorhang neugierig in den Laden zu blicken. Hamid stellte uns seiner Frau Jamilah vor, bevor er sie wieder in die Wohnung der Familie über dem Laden hinaufschickte, Kaffee für ihre Gäste zu bereiten. Als ich Hamid Ibn Razaili zuletzt gesehen hatte, war er viel jünger, viel dünner und viel verdrießlicher gewesen. Er war ein paar Jahre älter als ich, ein vertriebener fhalell'ha, geboren in den Ruinen eines abgelegenen Dorfes in Khuruchabja. Während ich meine Eltern geplagt hatte, mir ein Pony zu kaufen, war er auf einem alten Fahrrad ohne Reifen auf den Felgen herumgefahren, hatte Schmuggelware über halbgeräumte Minenfelder befördert und sich mühsam mit kleinen Schwarzmarktgeschäften bei rivalisierenden Armeen durchgeschlagen. Als er vierzehn gewesen war, waren sein Vater und die älteren Brüder nacheinander in parteiinternen Konflikten getötet worden. Seine verwitwete Mutter war an Erschöpfung, zu vielen Geburten und unbehandelter Syphilis gestorben. Seine Schwestern waren alle an der umfangreichen Liste von Krankheiten gestorben, die im Land verbreitet waren; eine an Typhus, eine
andere an Cholera, eine war nach einer Fehlgeburt verblutet, eine andere, nachdem sie von einem eifersüchtigen Ehemann erstochen worden war. Verwaist und allein, floh Hamid in die Slums von Nok Kuzlat. Allein in der Stadt, ohne Freunde und Verwandte, ohne eine Zuflucht, schon zu alt, um sich für Essen zu prostituieren, war er zur Armee gegangen und darin aufgestiegen, soweit seine fehlende Schulbildung es ihm gestattet hatte. In Hamids zweitem Jahr beim Militär war Khuruchabja in einen kleinen Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten hineingezogen worden, bei dem es um Grenzstreitigkeiten und vor allem um den Besitz einer Grenzstadt gegangen war, die im Laufe der Kämpfe bereits weitgehend zerstört und für die siegreiche Seite ohne großen Wert war. Die Offiziere hatten die Front verlassen, nicht ohne vorher ihre schlecht ausgerüsteten Soldaten, zumeist Bauernjungen, anzufeuern, bis zum Sieg durchzuhalten oder als glorreiche Märtyrer des Vaterlandes zu fallen und ins Paradies einzugehen. Nachdem er die Lage aus seinem Schützenloch im Sand eingeschätzt hatte, war Hamid schlau genug gewesen, beim Angriff der feindlichen Übermacht die Hände zu heben und sich den Soldaten der DamaskusKoalition zu ergeben. Darauf war er mit anderen auf einem offenen Lastwagen in ein Gefangenenlager gebracht worden, wo er die nächsten sechs Monate vegetierte. Dort begegnete er den ersten Abendländern, die er je gesehen hatte, und lernte englisch von einem Unteroffizier der amerikanischen Luftwaffe, der in Kuwait stationiert war und einen sechzehnjährigen Sohn zu Hause in Wyoming hatte, der sich um seine Pickel, Jungfräulichkeit und den Schulball sorgte. Hamid war kein naiver Jüngling – seine Kindheit war hart,
hungrig und kurz gewesen –, aber er war ein Überlebenskünstler, verstand mit Zigaretten und Haschisch zu handeln, wenn er sie hatte, und mit Lächeln und Unschuld, wenn er nichts anderes hatte. Englisch war bloß ein weiteres Werkzeug, das er im Überlebenskampf nutzen konnte, im niemals endenden Ablauf von bezahlten Bestechungsgeldern, eingenommenem Bakschisch, der Beschaffung von Handelsware und ihrem Verkauf. Jahre später mietete ich ihn als meinen Fahrer für Exkursionen in die Kampfzonen. Damals war er noch immer in der khuruchabjanischen Armee und unterstützte die Behjars mit der nominellen Loyalität, die der kleine Mann den jeweiligen Machthabern entgegenbringen muß, wenn er unbehelligt leben will. Geld und Überleben war seine Hauptsorge, nicht die Politik. Wie die meisten Fahrer im Wagenpark seiner Militäreinheit verschaffte er sich ein paar Nebeneinnahmen bei Journalisten, die verzweifelt nach Fahrgelegenheiten in die Kampfgebiete suchten. Im Gegensatz zu vielen seiner Kameraden in der Transportabteilung war Hamid jedoch ein wirklich guter Fahrer. Die Behjars hatten ihre Infrafusionsbomben verborgen und hielten neben der Hauptstadt Nok Kuzlat den größten Teil Khuruchabjas. Ihr Bestreben war die endgültige Niederwerfung ihrer politischen Gegner, die sich in einigen isolierten Gebieten als Widerstandskämpfer hielten und den Westen und die verbündete Damaskus-Koalition um Hilfe baten. Als Meinungsumfragen der amerikanischen Regierung zeigten, daß sie es sich innenpolitisch gefahrlos erlauben konnte, ihre Kavallerie in Gestalt von schwarzen, unmarkierten Kampfflugzeugen auszusenden, verloren die Behjars rasch an Boden.
Hamid schien es nicht zu kümmern, daß er auf der Seite der Verlierer war; das hatte er schon einmal erlebt. Er hatte keine starken politischen Überzeugungen irgendwelcher Art, und es war ihm ziemlich gleichgültig, ob die Journalisten, die er in die Kampfgebiete und zurück fuhr, aus Ländern kamen, die gegen die Seite standen, deren Uniform er trug. Journalisten, das verstand selbst der unwissendste nomadisierende al-wabhar, hatten kein Vaterland. Sie waren seltsame Geschöpfe, gekleidet in ihre eigene Version von Uniformen, nämlich bunte, lächerliche Hawaiihemden, um sie eindeutig von Soldaten zu unterscheiden. Sie stellten in ihrem unbeholfenen Arabisch törichte Fragen und schienen erfreut, wenn ihre Regierungen und Präsidenten blutsaufende Bastardsöhne von kranken Schweinen genannt wurden. Hamids Uniform war aus zweiter Hand, und er trug Sandalen an den Füßen und eine ausgefranste, karierte Kaffijeh auf dem Kopf. Sein Lederkoppel war alt und repariert, aber seine Pistole und sein Sturmgewehr waren blitzsauber und mit peinlicher Sorgfalt instand gehalten. Der Fahrer kam immer mit dem Geländewagen, da jeder für sein Fahrzeug verantwortlich war und um keinen Preis wagte, die Schlüssel einem Fremden auszuhändigen. Hamid fuhr mich und den idiotischen jugendlichen Kameramann, den GBN mir für mehrere Wochen aufgeladen hatte, überallhin, wo wir Reportagen machen wollten. Er stellte keine Fragen und sagte noch weniger; schweigend hielt er Ausschau nach Flugzeugen und lauschte, stets bereit, den Geländewagen von der Straße zu steuern, wenn ein Tieffliegerangriff mit Bomben und Bordwaffen drohte. Er konnte mit düsterer Leidenschaftslosigkeit auf
die verbrannten Leichen von Dorfbewohnern sehen, die vor ihren zerbombten Häusern lagen, sich den Rand seiner Kaffijeh vor Mund und Nase halten, um den Gestank zu filtern, und mechanisch die allgegenwärtigen Fliegen von seinen Augen fernhalten, während wir filmten. Der Nationalstaat ist im Nahen Osten noch immer eine relativ neuartige Idee, eine jener seltsamen abendländischen Ideen, welche die längere Geschichte von Stämmen und ihren ›angestammten‹ Ländereien mit Nichtachtung übergehen. Aber politische Ideologie ist nicht genug, um traditionelle Blutsbande zu ersetzen. Die Toten gehörten weder seiner Familie noch seinem Stamm an, die Flugzeugpiloten, die sie getötet hatten, waren unbekannte Fremde, vielleicht Ungläubige: es war nicht sein Kampf. Er gab nicht vor, die politischen Hintergründe zu verstehen, die das Leid seiner Landsleute verursacht hatten, den sinnlosen Bürgerkrieg, der Khuruchabjas Nachbarn in den Konflikt hineinzog. Er war bloß ein einfacher Soldat, und sein einziger Ehrgeiz war es, am Leben zu bleiben und ein bißchen Geld zu verdienen. Das wenigstens behauptete er. Im Gegensatz dazu, was der Westen glauben machen wollte, waren al-Husam und seine Behjars durch den Willen des Volkes an die Macht gelangt, und der charismatische Führer hatte sich lange Zeit breiter Unterstützung im Volk erfreut. Der plötzliche Machtzuwachs durch den Besitz von Infrafusionsbomben weckte in vielen Menschen die Überzeugung, daß nach Jahren der Demütigung von Seiten des imperialistischen zionistischen Abschaums und der verräterischen, gierigen, ölreichen Araber endlich die Zeit zur Begleichung der Rechnung gekommen sei. Der durchschnittliche Khuruchabjaner war ein treuer
und begeisterter Anhänger al-Husams und der Behjar … Bis diese, durch das Eingreifen des Westens und der Damaskus-Koalition militärisch in die Enge getrieben, anfingen, in den Vorstädten und Slums von Nok Kuzlat Jagd auf Diversanten, Agenten und wirkliche und vermeintliche Rebellenterroristen zu machen, die vom Feind mit Waffen und Geld unterstützt wurden. Die sich verschlechternde militärische Lage heizte die Paranoia der Behjars an. Hunderte verschwanden nachts, viele von ihnen wurden nie wieder gesehen, und die verstümmelten Leichen anderer wurden als Warnung vor die Häuser ihrer Familien geworfen. Soldaten trieben Frauen aus der Abgeschiedenheit ihrer Quartiere auf die Straßen, wo fanatisierte Menschenmengen zusammenliefen und mit wildblickenden Augen Lobpreisungen der Behjars und Haß auf die Rebellen in die Kameras riefen. Sobald die Szene im Kasten und die Reporter abgezogen waren, hörte das Geschrei auf, und die zitternden Frauen verschwanden still wie hennaverhüllte Gespenster bis zur nächsten inszenierten Kundgebung in ihren Häusern. Hamid machte mich mit einem der Behjars bekannt, der diese ›spontanen‹ Versammlungen organisierte, einem unangenehmen kleinen Armeeoberst, der die falsche Spontaneität der inszenierten Kundgebungen ganz in Ordnung fand. Ein großer Kenner und Bewunderer der amerikanischen Geschichte und des Aufstiegs der USA zur Weltmacht, sagte er mir, nicht die Araber würden verwestlicht, sondern der Westen werde islamisiert. »Besonders ihr Amerikaner«, sagte er lächelnd. »Ihr haltet alle Araber für notorische Lügner und Verräter. Wir können es
nicht ändern; das ist die orientalische Wesensart, nicht wahr?« Er sprach englisch mit dem näselnden Tonfall des Mittelwestens, was ich beunruhigend fand. »Aber die Amerikaner! Ja, sie sind die Meister der Lüge! Der berühmte Zwischenfall im Golf von Tongking, wo sechs mythische russische SwatowSchnellboote ihre unsichtbaren Torpedos lancierten: diese Lüge lieferte Ihnen die Rechtfertigung für wie viele Jahre Vietnamkrieg? Eine großartige Lüge, geradezu genial! Und Ihr früherer Präsident Reagan, ein sehr kluger Mann und ein großartiger Lügner! Er handelte mit Geiseln wie ein Syrer; er belog den Iran und die Contras in Nicaragua; er sagte nein zu Drogen und bekämpfte mit der linken Hand den Drogenhandel, während er mit der rechten Geschäfte mit Peru und Kolumbien und Panama machte.« Er schmunzelte. »Aber am besten gefallen mir seine kleinen Lügen, an denen man wirklich seinen Spaß haben kann, nicht wahr? Im Zweiten Weltkrieg, sagt er, habe er Todeslager der Nationalsozialisten gefilmt. Ein bewundernswertes Talent, daß er dies tun konnte, ohne sein Land zu verlassen! Er erzählte diese Geschichte seinen israelischen Freunden, die natürlich wußten, daß er log. Eine hübsche Komödie!« Der Oberst stieß ein wütendes Lachen aus. Es war zugleich faszinierend und abstoßend zu sehen. Hamid saß still und lauschte, und nur die Glut eines Zigarettenstummels, den er von Zeit zu Zeit saugend zum Leben erweckte, zeigte den Glanz schmaler Augen. »Dann belogt ihr Amerikaner Saddam Hussein, erklärtet ihm durch eure Botschafterin, eine Annektion Kuwaits sei für Amerika kein Grund zum Eingreifen, und locktet ihn so in den
Krieg. Und ihr belogt die Palästinenser und die Israelis, und die Russen, als sie noch Sowjets waren, und danach, als sie es nicht mehr waren. Ihr belogt die Südamerikaner, die Europäer und Japaner. Ihr belügt die Mexikaner und die Chinesen, alle! Jetzt belügt ihr die Khuruchabjaner, aber vor allem belügt ihr euch selbst. Wir haben viel von eurer Verfeinerung gelernt, das ist wahr. Aber wir Araber verblassen neben euren glorreichen Täuschungen zur Bedeutungslosigkeit. Und Sie, Sie Journalisten der westlichen Länder, Sie verbreiten diese Lügen, um Jahre später die eine oder die andere aufzudecken und hervorzuzerren, um zu zeigen, daß Sie unabhängig sind und mit Ihnen nicht zu spaßen ist. Aber was macht es schon aus? Steht das große amerikanische Volk auf und ruft, Schluß mit den Lügen! Ein für allemal! Nichts dergleichen. Lügen sind für Kinder, die sich vor der Nacht fürchten. Sie trösten und rechtfertigen, beruhigen das Gewissen. Ihr Journalisten, so stolz auf eure Wahrheiten, wißt ihr überhaupt noch, was Wahrheit ist?« Er zog Speichel hoch und spuckte aus, einen von Tabaksaft gelb gefärbten, klebrigen Qualster, der meinen Fuß um einige Zoll verfehlte. Hamid lächelte, ein humorloses Knittern seines unrasierten Gesichts. »Und was ist dann die Wahrheit?« schoß ich zurück, nicht so sehr zornig wie neugierig. »Sagen Sie mir, lügen die Araber nicht mehr?« »Natürlich tun wir es. Es ist eine Kunst und unser Erbe.« Der Oberst funkelte mich haßerfüllt an. »Und darin seid ihr Amerikaner mehr arabisch geworden als wir jemals abendländisch sein werden. Aber hören Sie gut zu, denn diesmal spreche ich
die Wahrheit: Der Unterschied zwischen Arabern und Amerikanern ist, daß wir wissen, wann wir lügen, weil wir unseren eigenen Lügen glauben, wenn wir sie erzählen. Dann vergessen wir sie und machen neue Lügen. Ihr Amerikaner erzählt Lügen, ohne zu wissen, daß es Lügen sind, weil ihr überhaupt nicht an sie glaubt, ja?« Ja. Es ergab keinen Sinn, und es ergab allen Sinn in der Welt. Früh an einem schönen blauen Morgen, als die Luft noch kühl war, hatte Hamid mich und meinen Kameramann zu einer kleinen Stadt an der Provinzgrenze hinausgefahren, die Gerüchten zufolge von feindlichen Streitkräften belagert wurde. Wir standen im Wettbewerb mit einem Wolfsrudel anderer Journalisten, alle hungrig nach Stoff, je mehr Blut und Eingeweide, desto besser. Während der Nacht hatte es ein kurzes Scharmützel zwischen einem feindlichen Spähtrupp und einer wachsamen Militärstreife gegeben, eine wilde Schießerei ohne nennenswerte Schäden. Das einzige Todesopfer schien eine Ziege zu sein, die von einem in Verfolgung des Feindes stadtauswärts fahrenden Schützenpanzerwagens überfahren worden war. Wir filmten eine weißhaarige alte Frau, die den blutigen Tod der Ziege beklagte. »Tote!« rief einer meiner geschätzten Kollegen zornig aus. Wir versuchten ihn nicht zu beachten, als er durch die staubige Straße stapfte, verrückt vor Frustration. »Wo sind die verdammten Leichen? Wir brauchen Tote!« Aber während wir uns drängelten, die aufgeregten Bewohner zu interviewen, hatte Hamids Militärfunk ihm von schlimmeren Schrecken zugeflüstert. Er packte mich und den Kameramann buchstäblich bei den Ärmeln und zerrte uns zum Wagen
und fuhr so schnell, wie der Geländewagen uns über die Schlaglochpiste befördern konnte, zurück zur Stadt und eine andere Ausfallstraße hinaus. Propangasbehälter, die mit einer Mischung aus Benzin, Sprengstoff und Schrottmetall gefüllt waren, waren während der Nacht von Unbekannten neben bestimmten Häusern abgestellt worden. Sie hatten genau wie die relativ harmlosen Propangasbehälter ausgesehen, die von vielen Familien in diesem ärmlichen Vorort zum Heizen und Kochen benutzt wurden, und waren sogar mit dem vertrauten grünen und weißen Signet von Nok Kuzlats Gasgesellschaft bemalt gewesen. Niemand hatte bemerkt, daß hier und dort ein zusätzlicher Behälter abgestellt war. Die mit Zeitzündern versehenen Bomben waren detoniert, als die Hausfrauen zur Bereitung der Morgenmahlzeit ihre Gasherde andrehten. Durch die Explosionen wurde alles im Umkreis von zehn Metern zerstört und ein metertiefer Krater aufgerissen. Die umstehenden Häuser waren alle stark beschädigt, und ihre unschuldigen, verletzten Bewohner standen vor den fensterlosen Halbruinen, preßten Stofflappen gegen blutige Wunden, die das Schrapnell aus Schrottmetall gerissen hatte, und warteten auf Krankenwagen, die sich langsam durch aufgeregte Menschenmengen den Weg bahnten. Aber im Zentrum der Explosion war nichts stehengeblieben, nichts, was als ein Haus kenntlich war, wo Menschen gelebt hatten. Es wurde vermutet, daß die nächtliche Schießerei auf der anderen Seite der Stadt nur ein Ablenkungsmanöver gewesen sei, während andere Attentäter ihre Bomben legten. Wie sich später herausstellte, hatten sie zwei Fehler gemacht. Der erste war, daß sie eine der Bomben neben das falsche Haus gelegt hatten. Die
Zielperson wohnte in der Parallelstraße. Der zweite war, daß sie Hamids Familie in die Luft gesprengt hatten. Wir fuhren auf eine schreiende Menge zu, die noch immer in Panik und verwirrtem Kummer durcheinanderwogte, dann arbeiteten wir uns zum Krater vor. Eine Nachbarsfrau erkannte Hamid, zerriß ihre Kleider und stieß ein schrilles Heulen aus. Sie hatte einen kleinen Jungen an ihre voluminösen Gewänder gedrückt und schien ihn halb zu ersticken. Hamid nahm ihr den Jungen ab und hielt ihn mit einer Hand an sich. Zusammen blickten sie in den Krater, der ihr enges kleines Heim gewesen war. Sein ältester Sohn, der siebenjährige Ahmad, war früh in die Koranschule gegangen, wo er neben der Heiligen Schrift Lesen und Schreiben lernte. Hamids verkrüppelter Onkel, seine alte Schwiegermutter, seine Frau, ihre drei Töchter und ein kleiner Sohn – alle waren umgekommen. Ihre verstümmelten, versengten Leichen wurden aus den Trümmern gegraben und nebeneinander auf das rissige Pflaster gelegt. Zwischen dem Ziegelschutt lagen Reste von Hamids Haushalt: eine Ecke von einem Bilderrahmen, ein Teeglas, das auf wunderbare Weise unversehrt geblieben war, ein Stuhlbein, eine gußeiserne Pfanne ohne Griff, in der noch Spuren der Mahlzeit hafteten, die seine Frau gerade zubereitet hatte. Es ähnelte einem bizarren Happening, von einem hirngeschädigten modernen Künstler sorgfältig arrangiert: Ich nenne meine neueste Schöpfung Surrealistischer Schrecken. Ein leises Schnurren hinter mir riß mich aus dem Schock. Der Kameramann filmte Hamid und seinen Sohn, der stumm am Rand des Kraters stand, während seine Nachbarn jammernd und wehklagend hinter ihm durcheinanderdrängten. Hamid
blickte langsam zur Kamera auf, einen ungläubigen Ausdruck in seinem gebräunten Gesicht, zu betäubt, um zu weinen. Er wandte den Blick zu mir, und hinter seinen Augen schien etwas zutiefst Unheilvolles zu lauern. Ich bekam eine Gänsehaut. »Aufhören«, sagte ich leise zu dem jungen Mann, während ich Hamid ansah. Ich wußte nicht, warum. Das Schnurren der Holokamera dauerte an. Ich flog herum und schlug eines der Fliegenaugen zornig herunter. Es brach ab und hing an seinem Kabel. »Hören Sie auf zu filmen.« Er ließ die Holokamera erschrocken sinken, dann empörte er sich. »Was reden Sie da? Wir haben es, Mann – es ist exklusiv, tolles Material!« Das wußte ich. »Sie sind entlassen. Gehen Sie mir aus den Augen.« Der Junge starrte mich ungläubig an, dann stapfte er beleidigt davon, fummelte am abgebrochenen Fliegenauge und murmelte vor sich hin. Als ich mich wieder dem Krater zuwandte, fand ich zu meiner eigenen Überraschung, daß ich weinte. »Es tut mir leid«, sagte ich zu Hamid, einem Mann, den ich kaum kannte. »Ich bin traurig.« »Allah ahk'bahr«, flüsterte er heiser. Gott ist groß. Gott ist groß. Gott ist gut. Wir danken Dir für unsere tägliche Katastrophe, ohne die ich bald arbeitslos sein würde. Er nahm seinen kleinen Sohn bei der Hand und ging fort. Am gleichen Abend suchte ich eine der wenigen unerlaubten Bars in Nok Kuzlat auf und trank zwei Coca-Cola-Flaschen Whisky, bevor der Inhaber nervös wurde und fürchtete, man würde mich betrunken sein Etablissement verlassen sehen. Das war der Tag, an dem ich merkte, daß ich genug hatte. Ich hatte
alle Leichen, alles Elend und alle Dummheit gesehen, die ich jemals im Namen der Wahrheit, Gerechtigkeit und des Rechtes der Öffentlichkeit auf Information würde verdauen können. Ich starrte in den dunklen Satz meines dritten lauwarmen Kaffees, als jemand sich mir gegenübersetzte. Es war Hamid. »Friede mit dir«, sagte er leise. »Inscha'allah. Wenn Gott will«, antwortete ich, unfähig, ihm den Segen und die Barmherzigkeit Allahs zu wünschen, der sein Antlitz so offensichtlich von Hamid gewandt hatte. Ich zögerte, dann sagte ich: »Yah hawalla illâach.« Markundi hat wie die meisten arabischen Mundarten eine Fülle gebräuchlicher Formeln für jedes Ereignis im Leben. Es ergibt viel mehr Sinn als die abendländische Philosophie, die Augen vor allem Schlimmen zu verschließen, bis es einem unter die Nase gerieben wird, worauf man hilflos nach den rechten Worten sucht. Auf englisch wäre ich angesichts des furchtbaren Schicksalsschlages, der Hamid getroffen hatte, betreten und unfähig zu sprechen dagesessen; auf markundi gab es rituelle Tröstung für uns beide. Er nickte. Seine Augen waren trocken, aber blutunterlaufen. »Gott ist barmherzig«, sagte er mit rauher Stimme. Der süßliche Geruch von Haschisch haftete in seinen Kleidern. »Er hat das Leben meines Erstgeborenen verschont, und ich danke Ihm für Sein Mitleid und Wohlwollen.« Die Worte waren aufrichtig, aber völlig ohne Emotion. Das war ungewöhnlich. Araber gehören zu den am meisten emotionalen Leuten auf Erden, und geraten leicht in Extreme von Freude und Kummer, Liebe und Haß, Dankbarkeit und Verrat. Dieser ruhige, gefaßte Mann hätte seine Kleider zerreißen und weinen, sein Gewehr in die Luft feuern und die Gesell-
schaft seiner Moslembrüder aufsuchen sollen, daß sie ihm helfen würden, seine Trauer auszudrücken, nicht ruhig hier mit einem westlichen Journalisten sitzen. Ich beobachtete ihn aufmerksam. »Er hat mir die Augen geöffnet«, sagte Hamid, der mich mit gleicher Wachsamkeit beobachtete. »Er hat mein Herz erfüllt.« Einfache Worte. Einfache Gefühle. Hamid war kein einfacher Mann. »Du hast großen Mut, mein Freund«, sagte ich. Er lächelte. »Haben Tote Mut?« Darauf hatte ich keine Antwort. »Ich habe entschieden«, fuhr er fort, »daß ich dieser Kämpfe müde bin. Ich habe es satt, daß unschuldige Menschen sterben, um den Appetit gieriger Männer zu befriedigen, denen nichts an jenen liegt, die zu lieben sie behaupten. Wir sind nur Vieh, das gebraucht und nach Belieben geschlachtet wird.« So ist es in diesen Ländern seit Jahrtausenden gewesen. »Auch bin ich der Ausländer müde, die sagen, sie wüßten, was für uns das Beste ist. Der Damaskus-Koalition ist es gleich, was in Khuruchabja geschieht, und der Westen kämpft nur für Geld.« »Was kannst du tun, Hamid?« fragte ich fatalistisch. »Du bist nur ein Mann.« »Die Worte, die diese Männer in ihren großen Reden von sich geben, dieser Ruf nach ›demokratischem Fortschritt‹, dem ›Willen des Volkes‹, ›Meinungsfreiheit‹, ›Verfassungsmäßige Vertretung‹, welchen Nutzen haben diese für uns? Was wissen wir fhalell'hin von ihnen? Ist Vieh fähig, zu verstehen?« Er war nicht verächtlich; er hatte sich mit seinem Platz in dieser Gesellschaft abgefunden. Aber es ist ein schlechter Bauer, der nicht angemessen für sein Vieh sorgt.
»Diese Worte sind nicht für uns gedacht, sie sind für euch, euch Westler, die nutzlose Worte wie diese über alles schätzen. Unsere Führer haben von euch gelernt, wie man diese Worte sagt, die ihnen Geld und Einfluß vom Westen erkaufen können, aber sie bedeuten nichts. Eure Worte sind Gift. Ihr seid alle Dummköpfe, ihr reichen Leute in euren reichen Ländern. Dies solltest du den reichen Leuten erzählen, die dich im Fernsehen betrachten. Du solltest ihnen sagen, daß sie wie dumme Schafe sind, weil sie sich von Männern täuschen lassen, die Unschuldige töten und es gerechte und friedenserhaltende Maßnahmen nennen. Das mußt du ihnen sagen.« In seiner Stimme war weder Verachtung noch Zorn, und ich saß mit trockenen Augen und brennenden Ohren. »So einfach ist es nicht, Hamid …« »Diese Männer müssen weg«, schnitt er mir das Wort ab. Ich glaubte das wahnsinnige Licht eines alten Haschschâschin in seinen Augen leuchten zu sehen. »Dann werden sie durch Männer ersetzt, die genau wie sie sind. Nichts wird sich ändern.« Er nickte. »Wahrscheinlich. Eine gereinigte Wunde kann wieder eitern. Oder sie kann heilen. Das liegt bei Allah. Aber sie muß auf jeden Fall gereinigt werden.« Er legte den Ring eines Mannes vor mir auf den Tisch, einen breiten goldenen Ring mit dem Monogramm eines hohen Behjaroffiziers eingraviert. Der Finger des Mannes steckte noch darin. »Ich werde den Tod meiner Familie rächen. Die Schuldigen müssen sterben.« Hamid blickte mich starr an. Als ich nickte, schloß sich seine Hand um den beringten Finger und ließ ihn
verschwinden. Wir verließen zusammen die illegale Bar, und unter uns bestand ein unausgesprochenes Abkommen. Wie er dazu gekommen war, die Behjars für den Anschlag verantwortlich zu machen, oder woher er es wußte, blieb mir verborgen. Er führte mich in eine Welt des Wahnsinns. Er rekrutierte seine eigene, private Widerstandsgruppe. Waisen und Ausgestoßene, ihrer traditionellen Familien- und Sippenbande beraubt, wurden ihr eigener Stamm, schmiedeten ihre eigene Loyalität. Sie waren keine lockere, bunt zusammengewürfelte Gruppe von undisziplinierten Primitiven oder Verrückten. Es waren ruhige, verschlossene und ernste Männer, einige von ihnen kaum der Kindheit entwachsen. Sie waren wie Schatten, die durch Gassen und Eingänge glitten, mit Blicken sprachen, lautlose Meuchelmörder. Hamid tat weiter Dienst in der Armee der Behjars, obwohl ihre Sache fast verloren schien. Noch einen Monat lang fuhr er mich mit der stoischen Furchtlosigkeit eines Mannes, den es nicht kümmert, ob er getötet wird oder am Leben bleibt, tief in die Kampfzonen. Es war Frontberichterstattung, der Traum eines Journalisten, aber ein lebender Alptraum. Ich mißachtete die dringenden Warnungen meines Chefredakteurs und ging, wo kein vernünftiger Reporter zu gehen wagte. Ich rauchte Hamids Haschisch mit ihm, als ich neben ihm in einem vom seltenen, aber wolkenbruchartigen Regen verschlammten Schützengraben seiner Einheit lag, während der Boden unter Bombeneinschlägen zitterte und ringsum Fontänen von Dreck und Rauch hochgerissen wurden. Um uns in kalten Nächten warmzuhalten, teilten wir Whisky und Raki, die es in Flaschen als Marketenderware für die Kampftruppen zu
sündhaften Preisen gab. Mit abgestumpften Gefühlen berichtete ich nüchtern über das Blutvergießen, sagte den Leuten im Westen in einer Terminologie, die das Fernsehpublikum verstehen konnte, und einer ruhigen, professionellen Stimme, die mir den Ruf eines furchtlosen Kriegsberichterstatters eintrugen, daß sie Dummköpfe und Schafe seien. Auch unter den Behjars verbreitete sich mein Ruf als Korrespondent, der fair und unparteiisch vom Kriegsgeschehen berichtete und sich nicht scheute, die Kriegführung des Westens und seiner nahöstlichen Vasallen zu verurteilen, und Hamid fuhr mich und den ebenso verrückten Kameramann, den ich auf Befehl der GBN wieder hatte einstellen müssen, zu einer Reportage in das Feldhauptquartier der Behjars. Türen öffneten sich auf das Losungswort, und ich war der Explosion des Raketeneinschlags, der eine der letzten militärischen Hochburgen der Behjars zerstörte, so nahe, daß mir Augenbrauen und Wimpern abgesengt wurden. Wochenlang hustete ich den bitteren Rauch aus meinen Lungen. Ich war noch jung und unbekümmert genug, um zu glauben, daß unsere Hawaiihemden irgendwie kugelfest seien. Wir wurden eines Besseren belehrt; ich wurde in den Fuß geschossen, als ich über eine Mauer kletterte, und der junge Kameramann wurde vier Tage später durch eine Minenexplosion getötet. Danach bestand Hamid darauf, mir eine Pistole zu geben, die er einem gefallenen Gegner abgenommen hatte. Seine Augen blickten beinahe scheu, als er meine Männlichkeit mit dieser höchsten aller arabischen Bestätigungen bekräftigte. Ich nahm sie entgegen, steckte sie in die Tasche und lernte hinken. Nach ambulanter Behandlung aus dem Krankenhaus
von Nok Kuzlat entlassen, fand ich einen ordentlichen freiberuflichen Kameramann als Ersatz für den gefallenen GBNKollegen. Er war sofort Feuer und Flamme, weil er hoffte, dadurch den Einstieg in eine der großen unabhängigen Nachrichtenagenturen zu schaffen. Wir wurden zu Maschinen, beobachteten und dokumentierten Tod und Zerstörung, um die Wahrheit dieses Krieges festzuhalten, aber auch, um den Massen den Nervenkitzel makabrer Unterhaltung zu bieten. Ich wußte, daß Hamid, je mehr sich die militärische Lage verschlechterte, um so intensiver mit anderen Insurgentengruppen zusammenarbeitete, sie aber auch wieder verriet, wenn es sein mußte; es kümmerte mich nicht. Schließlich zog er die Uniform aus und machte sich davon. Die meisten Führer der Behjars waren entweder gefallen, ermordet oder ins Exil entkommen. Die wenigen, die den Widerstand noch fortsetzten, hielten fanatisch an dem fest, was ihnen noch an Macht verblieben war. Doch als die ›Friedensstreitmacht‹ der DamaskusKoalition schließlich in Nok Kuzlat eindrang, waren auch ihre Tage gezählt. In den chaotischen Monaten nach dem Sturz der Behjars bis zur Bildung einer neuen Regierung mordete Hamid still und planmäßig die Leute, die er für den Tod seiner Angehörigen verantwortlich machte. Ich wußte es besser. Wir waren alle schuldig, aber der Konflikt verschaffte mir die besten Reportagen vom Krieg und dem Untergang der Behjars. Global gesehen, war es ein unbedeutender regionaler Konflikt, aber er fand auf dem Pulverfaß des Nahen Ostens statt, einer der politisch und wirtschaftlich empfindlichsten Weltgegenden. Und für die Beteiligten war der Krieg so furchtbar und gewaltig, daß es
nicht möglich war, in der Gewalt und dem Chaos, dem Töten und dem Haß einen Sinn abzugewinnen. Da war die Sache mit dem Jungen in einem dunklen Hauseingang. Nicht älter als zehn oder zwölf Jahre, die schmutzigen kleinen Hände um eine Pistole gekrampft, deren Lauf auf Hamids Rücken zielte. Er sah es nicht. Ich rief eine Warnung, und Hamid sprang geistesgegenwärtig in Deckung. Der Junge hob die Waffe und wandte sich zu mir. Irgendwie entriß ich ihm die alte Pistole. Sein Gesicht war zart wie das eines Engels. Manchmal wache ich nachts auf und sehe die dunklen Augen, die mich verwundert anstarren, als ich ihn töte. Ich hatte gedacht, meine Gefühle seien bereits abgestumpft, aber ich hatte mich geirrt. Etwas in mir starb damals ab, etwas Namenloses und Wichtiges. Im Laufe unserer gemeinsamen Kriegserlebnisse vergalt Hamid mir die Gefälligkeit einige Male, und ich zählte nicht mit, wie der Stand am Ende war. Was immer uns miteinander verband, war nicht Loyalität oder die Gemeinsamkeit von Überzeugungen, sondern eine Kameradschaft, wie sie nur im Angesicht der Todesgefahr wachsen kann. Als die Eroberer gegen Ende der Kämpfe die alte Zitadelle im Zentrum von Nok Kuzlat stürmten, wohin die Behjars sich zu letztem Widerstand eingeigelt hatten, hatten der Kameramann und ich mehr Aufregung als wir filmen konnten. Wir waren bei den Verteidigern der Zitadelle, und ich hatte die Exklusivreportage vom Endkampf. Vor dem Hintergrundlärm von Granateinschlägen, hämmernden Maschinenwaffen und gebrüllten Befehlen mußte ich ins Mikrofon schreien, um mich verständlich zu machen. Die ganze Zitadelle war in Rauch gehüllt, aber
die bis zu drei Meter dicken alten Lehmziegelmauern hielten dem Beschuß und der Bombardierung lange stand. Erst als heisere Schreckensrufe verkündeten, daß al-Husam gefallen sei, erlahmte der Widerstand, und die demoralisierten Behjars ergaben sich in Massen. Siegreiche Rebellen und Soldaten der Damaskus-Koalition tanzten in ekstatischer Begeisterung durch die rauchenden Ruinen, heulten und feuerten in die Luft, während Angehörige amerikanischer Sondereinheiten aus Saudiarabien auf ihrer zielstrebigen Suche nach den Infrafusionsbomben gefangene Offiziere verhörten. Ich konnte mir vorstellen, daß Arlando und die Leute in der GBN-Nachrichtenabteilung gleichfalls Freudentänze aufführten, weil wir als einzige das Glück hatten, in den entscheidenden Stunden im Brennpunkt des Geschehens zu sein, aber ich empfand keine Freude. Die Rebellen und ihre Verbündeten der Damaskus-Koalition durchkämmten die rauchenden Trümmer der Zitadelle nach Widerstandsnestern, versteckten Behjars und Wertgegenständen. Als der Kameramann und ich das Treiben der Eroberer dokumentierten und in eine halb eingestürzte Kasematte kamen, stießen wir auf eine fürchterliche Szene. Rebellen hatten gefangene Behjaroffiziere hier zusammengetrieben und gefesselt. Einer der Behjaroffiziere kniete am Boden, die Hände auf den Rücken gebunden, die Augen weiß vor Schrecken, und bettelte um sein Leben. Es war unser Freund, der Oberst, der die amerikanische Geschichte so gut kannte. Der Rebell fuhr ihm mit einer Hand ins Haar, bog den Kopf zurück und schnitt ihm die Kehle durch, als würde er ein Huhn schlachten. Als er sich zu uns umwandte, das blutige Messer in der Hand, zuckte der sterbende Oberst schwächlich zu seinen Füßen, während das
Leben aus ihm gurgelte. Der Kameramann hatte die ganze Szene aufgenommen. Ich streckte die Hand aus und stieß die Magazinkassette aus der Kamera. »He!« protestierte er, dann sagte er nichts mehr, als er mein Gesicht sah. »Sie wissen, daß es Dinge gibt, die man nicht filmt«, sagte ich ruhig. »Das sind die Regeln.« Dann warf ich die Magazinkassette zu Boden und zerstampfte sie mit dem Absatz. Der Rebellensoldat lächelte grimmig und nickte. Der Kameramann zeterte, daß ich verrückt sei, total übergeschnappt, aber er warf die Arbeit nicht hin. Wir waren inzwischen alle mehr als ein bißchen verrückt, er mit eingeschlossen. Ich wußte, daß Greueltaten wie diese nicht auf eine Seite beschränkt waren. Mit Sicherheit hatten die Behjars gefangene Rebellenführer genauso mitleidlos ermordet. Dies war kein ritterlicher Kampf nach den Maßgaben der Genfer Konvention, die diesen halbwilden Kriegern mit Sicherheit unbekannt war. Die Trennlinie zwischen dem, was das Abendland für gut oder böse hielt, existierte hier nicht; es wurde keine Gnade gewährt, weil man sich keine leisten konnte. Ich glaube, daß ich zu der Zeit wirklich klinisch wahnsinnig war. Nachts schlief ich friedlich wie ein Säugling und bei Tag berichtete ich über die scheußlichsten Gemetzel und Grausamkeiten. Irgendwann vor dem Sturm der Angreifer auf Nok Kuzlat hatte Hamid in nüchterner Einschätzung der Lage Zivilkleidung angezogen, mir ernst die Hand geschüttelt und war verschwunden. Viele Soldaten und Funktionäre der Behjars hatten es wie er gemacht und waren desertiert, als die Gesamtlage aussichtslos geworden war. Der Sieg führte unvermeidlich zu einer Racheorgie. Statt Ru-
he und Ordnung wiederherzustellen, begann die von den Besatzungsmächten eingesetzte neue Regierung alte Rechnungen mit ihren besiegten Feinden zu begleichen. Dann, als unter den verstümmelten Leichen, die in Abfallbehältern, auf Müllhaufen und Ruinengrundstücken abgeladen wurden, mehrere ihrer eigenen Leute gefunden wurden, wurde sie nervös und ging dazu über, Soldaten ihrer früheren Verbündeten und sogar Angehörige ihrer eigenen Hinrichtungskommandos öffentlich zu hängen. Die Damaskus-Koalition zog ihre Truppen aus dem Land zurück, und die Vereinten Nationen kamen mit Flüchtlingshilfe. Inzwischen war die neue Rebellenregierung in einem Militärputsch gestürzt und durch eine neuere, noch despotischere Regierung ersetzt worden. Ich hatte Nok Kuzlat verlassen. Für immer, hatte ich gedacht. In einer zivilisierten Zeremonie nahm ich meine kleinen Auszeichnungen entgegen und die Arbeit in der Redaktion auf. Bald nach meiner Rückkehr begannen die Alpträume, die sich bei Tag als Wachträume fortsetzten, und schließlich suchte ich insgeheim einen Psychiater auf. Nur Arlando wußte davon. Meine zungenfertige Mischung von vorverdauten PresseclubAnekdoten überdeckte viel Seelenqual und Depression. Ich hielt mich auf dem laufenden über den Aufstieg und Fall der alljährlichen Regierungen Khuruchabjas und glaubte in dem einen oder dem anderen Fall Andeutungen von Hamids Arbeit zu erkennen, bis endlich Scheich Larrys Vorgänger den Sessel des Präsidenten einnahm und sich zum Monarchen ausrufen ließ. Glücklicherweise erwies er sich als ein umsichtiger und kluger Herrscher. Die Gewalt hörte auf, Wiederaufbauprogramme wurden eingeleitet, das Volk war nach einem
Jahrzehnt des Blutvergießens der Auseinandersetzungen müde. Daß die Behjars Infrafusionsbomben gestohlen hatten, wie jetzt die öffentliche Sprachregelung lautete, war eine Sache. Die Machtkämpfe, die lange nach ihrem Sturz andauerten, kamen der Regierung der Vereinigten Staaten nicht ungelegen. Das Ziel war, Khuruchabja instabil und schwach zu halten. Wenn das Land vollauf damit beschäftigt war, über innenpolitische Machtfragen zu streiten, war nicht damit zu rechnen, daß es sich mit dem einen oder dem anderen Nachbarn verbünden würde. So blieb die Region zersplittert und uneinig, formbar für das, was die USA als gedeihliche Einflüsse zugunsten der allgemeinen Sicherheit in der Welt betrachteten. Nun witterte ich Unrat. Und wenn es Unrat auszuschnüffeln gab, würde Hamid wahrscheinlich davon wissen. Ich zog meine Schuhe aus, als wir das ma'gâlees der Familie betraten, ein kleines Wohnzimmer über dem Laden, und Hamid uns auf den Ehrenplatz für Gäste setzte, ein abgenutztes Sofa und einen Sessel um einen niedrigen, geschnitzten und eingelegten hölzernen Tisch. Als Hamid sich in einen zweiten Sessel niederließ, bewunderte ich höflich die Familienfotos, die zwischen kunstvoll verzierter Koran-Kalligraphie in abblätternden Goldrahmen an den Wänden aufgehängt waren. In einer Vitrine stand eine kleine Sammlung von nikotinverfärbten Nargileh-Pfeifen; das gute Teeservice der Familie teilte sich den Platz auf einem Tisch in der Ecke mit einer eklektischen Zusammenstellung französischer Sammeltassen. Ahmad saß neben seinem Vater auf einem Stuhl, während kleine Kinder außerhalb des Raums spielten, hin und wieder hereinlugten und kicherten. Jamilah brachte den Messing-ibik
mit langem Handgriff und füllte unsere winzigen Tassen mit starkem Kaffee. Dazu reichte sie uns die kleinen Süßigkeiten, die sie eilig in ihrer makellosen Küche bereitete. Hamid hatte sich mit den Jahren sehr verändert. Der hagere, wortkarge Mann, der mich über einem abgeschnittenen Finger angestarrt hatte, war ein beleibter, redseliger und zum Lachen aufgelegter Geschäftsmann geworden. Doch seine Augen waren noch immer scharf, und der Haschschâschin-Krieger in ihnen beobachtete mich noch immer, beäugte Halton und taxierte uns. »Du hast dich gut herausgemacht, Hamid – ein Geschäftsmann, ein Ladenbesitzer«, sagte ich. »Allah ist zu einem alten Mann gütig gewesen«, erwiderte er. »Alt, lieber Himmel. Du bist ein oder zwei Jahre älter als ich, mein Freund, und ich bin noch nicht alt.« »Sind es immer die Jahre, die uns alt machen, Ka Be?« Hamid lächelte, und ich sah Bitterkeit in den Runzeln, die von seinen Augenwinkeln ausstrahlten. »Ich bin zu langsam und zu fett geworden, um ein junger Unruhestifter zu bleiben, der über die Dächer läuft. Ich mußte auch an Ahmad denken.« Ahmad schnitt eine Grimasse, wie es Jungen überall auf der Welt tun, die mit einem Fuß noch als Kind im Elternhaus stehen und mit dem anderen schon als Mann in die Welt hinaus wollen. »Was tun?« Hamid zuckte die Achseln. »Ich suchte mir eine gute, gesunde Frau, die gesunde Kinder zur Welt bringen konnte, und wurde ein geachteter Mann in der Gemeinde. Ich habe jetzt wichtige Verantwortlichkeiten. Es gelang mir, ein elendes kleines Krämergeschäft zu kaufen, so daß wenigstens meine Familie niemals verhungern wird, und wurde der alte
Hamid, der Krämer.« Er zeigte mit schwungvoller Gebärde auf seinen Bauch. Er hatte Jamilah erlaubt, ihren Schleier abzunehmen, ein Zeichen, daß wir als enge Freunde Hamids aufgenommen waren. Ihr Gesicht war rund und einfach, aber sie hatte schöne, kluge Augen. Hamid verehrte sie offensichtlich, obwohl sein männlicher Stolz ihn zwang, es zu verbergen. Sie brachte ein weiteres Tablett mit Süßigkeiten herein und stellte es auf den niedrigen Tisch. Hamid schob ihre Hände fort, als sie versuchte, uns zu bedienen, und sie schnalzte in zärtlicher Zurechtweisung. »Eßt«, drängte Hamid und fügte die alte bäuerliche Redensart hinzu, »oder ich bin gezwungen, mich von meiner Frau zu trennen.« Ich aß eine mit zerdrückten Datteln gefüllte und mit Honig glasierte Blätterteigpastete. »Wo würdest du eine andere Frau finden, die etwas so Köstliches machen kann?« fragte ich ihn. »Am gleichen Ort, wo ich diese fand, in einer französischen Kochschule. Aber vielleicht sollte ich nach einer anderen Ausschau halten«, meinte er. »Einer, die nicht so gut kochen kann aber von zärtlicherer Veranlagung ist. Meine Frau hat eine höhere Schule besucht, wo sie zu viele ausländische Ideen kennengelernt hat. Frauen sollten nicht lesen lernen, es ist sehr schlecht für ihren Geist. Sie büßen ihre Tugend und Ehre ein, wenn sie zu viel denken. Ich brauche eine andere Frau, eine dumme Frau, die nicht lesen kann und mich respektieren wird.« Jamilah schien über seine Meinungen nicht allzu besorgt. Ihr reumütiges kleines Lächeln bewies, daß sie Hamids Aufzieherei schon zu lange kannte, um sich davon beunruhigen zu lassen.
»Die Liebe zwischen Mann und Frau ist eine feine Sache, nicht wahr?« sagte Hamid, mit einem Seitenblick zu seiner Frau. »Aber die Freundschaft zwischen Männern, das ist eine starke, reine Neigung. Nur die Liebe Allahs ist größer, nicht wahr?« Da weder Halton noch ich in diesem Sinne Männer waren, pflichtete ich ihm höflich bei. »Darum braucht ein wahrer Mann mehr als eine Frau. Es ist Teil der natürlichen Lebensart. Wir Moslems können uns glücklich schätzen, daß wir mehr als eine Frau haben können …« – Hamid blinzelte zu seiner Frau –, »anders als ihr weichlichen Männer des Westens mit euren halbnackten Harpyien, die wie ordinäre Prostituierte durch die Straßen laufen und nach Führerscheinen und politischer Macht rufen, statt ihre Häuser sauber zu halten und ihren Ehemännern Söhne zu schenken.« »Mohammed hatte viele Frauen«, erinnerte Jamilah ihn, als sie unsere winzigen Kaffeetassen auffüllte, »und es tat ihm nicht gut. Sie stritten untereinander und täuschten den Propheten und schenkten ihm keinen lebenden Sohn als Erben.« »In dieser Hinsicht hatte der Prophet kein Glück«, erklärte Hamid. »Aber ich hatte immer Glück mit meinen Frauen.« Er blickte zu Ahmad und fügte ruhiger hinzu: »Und mit meinen Söhnen.« Ein kleines Mädchen von vier oder fünf Jahren war ihm auf den Schoß geklettert, um eine Pastete zu stehlen. »Und deine Töchter, Papa?« fragte sie ihn mit großen Augen. Er lachte, zog sie an sich und küßte die Blätterteigkrumen vom Gesicht, als sie vergnügt quietschte. »Möge Allah dir beistehen, daß du so schön und glücklich wirst, einen so guten
Mann wie mich zu bekommen!« Ich lächelte, aber es überlief mich ein kalter Schauer, als ein anderes Bild des jüngeren Hamid, der mit seinem kleinen Sohn schweigend am Rand eines flachen Kraters stand, sich vor diese glückliche Familienszene schob. Wolken bringen Regen und Freude, der Wind nimmt sie wieder mit sich fort – wer kann die Wolken festhalten? Stolz und Angst glänzten in Hamids Augen. »Bist du noch in Verbindung mit alten Freunden, Hamid?« fragte ich beiläufig und beobachtete ihn über den Rand meiner Kaffeetasse. Er antwortete nicht gleich, sondern blickte zu Halton. Dieser saß mit unbewegter Miene, undurchdringlich. Ich beantwortete Hamids unausgesprochene Frage. »Nein, ich kann ihm nicht vertrauen«, sagte ich. »Aber er hat mir das Leben gerettet.« Hamid würde das sehr gut verstehen. Er dachte nach, dann kitzelte er das kleine Mädchen, bevor er es von seinem Schoß schob. Er wandte den Kopf und rief den Kindern zu, die sich bei der Tür herumdrückten. »Geht hinaus und spielt, Kinder! Los, hinaus, hinaus!« Sie kicherten und stießen einander an, ohne Hamids Befehl zu beachten, bis Jamilah sie mit einem drohend geschwenkten hölzernen Kochlöffel fortscheuchte. Sie schloß die Tür und kehrte in die Küche zurück. Ahmad blieb an seinem Platz sitzen, so finster und brütend wie sein Vater einmal gewesen war. »Es ist schwierig, alte Bekannte in einer so kleinen Stadt nicht hin und wieder zu sehen«, sagte Hamid vorsichtig. »Würdest du jemanden kennen, der Zugang zu Geräten Künstlicher Intelligenz haben könnte?« Ahmad blickte erschrocken auf, dann versuchte er seinen
Ausdruck hinter Gleichgültigkeit zu verstecken. Hamid lächelte kläglich und schüttelte den Kopf. »Mein Sohn verachtet die Art alter Männer wie sein Vater und denkt, wir sind alle schwer von Begriff und unwissend. Er ist wie Jamilah – hat ein ganzes Jahr an der Universität studiert, verstehst du, und nun denkt er, er kenne alle Geheimnisse in Allahs Universum. Aber er ist noch immer durchsichtig wie Wasser.« Ahmad errötete bis unter die Haarwurzeln. Sein Vater lachte und legte dem Jungen zärtlich den Arm um die steifen Schultern. »Ja, mein Sohn weiß eine Menge über Computer und anderes verfluchtes Spielzeug des Westens«, erklärte er stolz. »Ahmad«, sagte ich zu ihm in einem Ton, der ihm zeigte, daß ich von Mann zu Mann mit ihm sprach, nicht wie zu einem Kind, »vielleicht könntest du uns einen großen Gefallen tun? Ich brauche dringend ein Lesegerät mit künstlicher Intelligenz und Decoder.« Vater und Sohn tauschten Blicke, die wortloses Einverständnis signalisierten. Ahmad stand auf. »Dann kommen Sie mit. Ich werde Sie führen.« »Der alte Krämer Hamid muß den Laden öffnen«, sagte Hamid und erhob sich mühsam. Ich glaubte keine Sekunde, daß er so schwerfällig und schwächlich war, wie er sich gab. Diese alten Beine waren zweifellos so muskulös und schnell wie vor zehn Jahren. »Sicherlich warten Leute draußen, während wir dich eigennützig von deinen Geschäften fernhalten. Und es sind Klatschgeschichten nachzuholen, die nur alte Männer kennen. Und da ich nichts von den Dingen weiß, die junge Leute in ihren Hochschulen und Universitäten lernen, weil ich nur ein alter und unwissender Bauer bin, vertraue ich dich meinem
Sohn an. Allah jhisch-al'limakh, geh mit Gott.« Wir küßten einander die Wangen. Ich fühlte Hamids kräftige Finger an meinen Schultern, das Kratzen seines Bartes auf meiner Haut. Ich hielt ihn auf Armeslänge und sah ihm in die Augen. Sie waren von Runzeln umgeben, dunkel und warm, als er lächelte. »Mali salaama, mein alter Freund«, sagte ich leise. »Gott gebe dir Frieden.«
12 AHMAD FÜHRTE UNS ZUM HINTEREINGANG HINAUS. Wenn die Vorderfront von Hamids Laden ärmlich und wenig einladend schien, war die gewundene, ungepflasterte Gasse dahinter abstoßend. Bröckelnde, rissige, fensterlose Lehmwände und Mauern stießen in verschiedenen Winkeln aufeinander und ließen schmale Durchgänge frei, die gerade weit genug für eine Person waren. Unsre Schuhe schmatzten in schleimigem Unrat und Abfällen, der Gestank von Fäulnis und Fäkalien hing schwer in der heißen Luft, die von keinem Windhauch bewegt wurde. Ratten huschten, Kakerlaken ließen sich in Panik von den Wänden fallen. Zerbrochenes hölzernes Gitterwerk in kleinen Öffnungen über unseren Köpfen verbarg Augen, deren Blicke uns folgten. Die labyrinthischen Gassen mündeten in eine ungepflasterte Straße. Dort sahen wir uns im Nu von einem Schwarm halbwilder Kinder umringt, in deren Augen Haß und Hoffnung miteinander rangen und deren schmutzige Hände an unseren Kleidern zupften. Sie schnatterten in einer abgehackten Mundart des Markundi und bettelten um Geld. Es fiel mir schwer, in ihre altklugen, früh verdorbenen Gesichter zu sehen. Viele hatten entzündete Augen und rinnende Nasen mit schmutzverkrustetem Schleim. Ahmad ging mit steifem Rücken vor uns her und stieß die Kinder brüsk beiseite. Die aggressiveren
vertrieb er mit Schlägen. Ich blickte zu Halton und fragte mich, wie er dieses kleine Beispiel menschlichen Elends und menschlicher Armut interpretierte. Das Gefühl von Verzweiflung verstärkte sich, und ich hielt meine Hände energisch auf allem, was ich nicht verschwinden zu sehen wünschte. Eine knochige, schmutzige Hand versuchte Halton von einem ungeschützten Teil seiner Holoausrüstung zu trennen. Das Kind sperrte die Augen auf, als Halton ihm den gestohlenen Teil mit einem Griff mühelos entwand. Dann zerstreute sich die Bande, als Ahmad die Hand des Kindes packte und ihm einen Finger brach. Das Kind rannte heulend vor Schmerz und Wut davon. So grausam Ahmads Handlungsweise schien, nach islamischem Recht hätte das Kind genauso leicht die ganze Hand verlieren können. Ein Stein prallte gegen die Wand, als ein anderes zerlumptes Kind uns fluchend bewarf, aber weit daneben traf. Ahmad funkelte mich mit seinen dunklen, bitteren Augen an. Ihm waren die Kinder nur eine weitere Erinnerung an die endlose, quälende Armut und Entbehrung in Nok Kuzlat, eine schreiende Aussage über Khuruchabjas entwürdigende Ungerechtigkeit und die Gleichgültigkeit des Westens. Als Ahmad uns lange genug durch das Labyrinth der Gassen geführt hatte, daß er unserer vollständigen Desorientierung sicher sein konnte, schlüpften wir in einen schmutzigen Raum hinter einem von Mauern umgebenen leeren Hof. Während meine Augen versuchten, sich dem Halbdunkel anzupassen, klopfte Ahmad mit den Knöcheln in einem verschlüsselten Rhythmus gegen eine Tür. Nach kurzer Pause wurden massive Schlösser und Riegel betätigt, und die Tür einen Spalt weit
geöffnet. Augen hinter dicken Brillengläsern spähten zu uns herauf. Das Innere des Raums, den wir nun betraten, war hell beleuchtet und sauber. Drei junge Männer, die an altmodischen Monitoren mit flachen Bildschirmen saßen, richteten sich auf und starrten uns voll Mißtrauen an. Ihre Gesichter reflektierten das oszillierende Licht. Kabel verbanden ein zusammengewürfeltes Sortiment von Computern, alten Hologeräten, Druckern und Faxgeräten, Kopiermaschinen und Dutzenden von obsoleten südkoreanischen zusammengeschlossenen Verbindungsstücken. In einer Ecke zischte ein ehrwürdiger Laserdrucker und stieß einen wachsenden Stapel Blätter aus. »Ahchlan, Ahmad«, begrüßte der Älteste der drei unseren Führer, ohne den argwöhnischen Blick von uns zu wenden. Er mochte Ende dreißig sein, während die anderen kaum die Zwanzig hinter sich gebracht haben konnten. »Was geht vor?« Er wirkte selbstsicher, seine dunklen Augen blickten scharf und intelligent. Eine charismatische Persönlichkeit, offensichtlich der Anführer und Patron dieser kleinen Gruppe. »Freunde meines Vaters«, sagte Ahmad und setzte sich in einiger Entfernung von uns, wie um deutlich zu machen, daß er Distanz zu uns hielt und durch keinerlei Loyalität mit uns verbunden war. Der Mann musterte uns kurz, dann nickte er in förmlicher Höflichkeit mit ausgebreiteten Händen. »Seien Sie willkommen«, sagte er und fegte Handbücher, Programmchips und verschiedene Stücke elektronischer Geräteteile von einer niedrigen, teppichbedeckten Bank, um uns Platz zu machen. »Ih-salaam«, sagte ich, und wir setzten uns. Ahmad stellte uns einander vor. Der ältere Mann war Ibra-
him al-Ruwala, eine Person von Autorität. Die anderen waren alle entweder seine jüngeren Brüder oder Vettern. Nach der Vorstellung saßen wir da und starrten einander an, die jungen Burschen voll Unbehagen, während die Stille sich unangenehm in die Länge zog. Am besten, dachte ich bei mir, kommst du gleich zur Sache. »Ich hörte, Sie könnten uns vielleicht mit einer Ausrüstung Künstlicher Intelligenz helfen«, sagte ich in unbeholfenen Markundi. »Vielleicht«, erwiderte Ibrahim al-Ruwala auf englisch. »Was haben Sie?« Ich sagte Halton, er solle sein Gesicht zur Wand drehen, bevor er die Mikroplatte hervorholte. Sollten sie denken, er habe sie aus dem Gebiß genommen. Leute, die Finger bis unter die Augen oder in die Nebenhöhlen stecken konnten, mochten etwas zu unheimlich aussehen. Er gab die Mikroplatte alRuwala. Nachdem dieser sie untersucht hatte, blickte der Mann abwechselnd zu Halton und mir. »Dafür werden Sie Künstliche Intelligenz erstklassiger und modernster Ausführung benötigen«, sagte er, dann machte er eine abschätzige Handbewegung zu den Geräten im Raum. »Ich fürchte, wir werden Ihnen kaum behilflich sein können.« »Halton?« fragte ich. Er hatte das Durcheinander bereits gemustert. »Es wird gehen«, antwortete er einfach. »Die Ausrüstung ist besser als sie aussieht.« Al-Ruwala starrte ihn an. Ein berechnender, nachdenklicher Ausdruck kam in seine Augen. Ich lächelte liebenswürdig.
»Halton ist ein ziemlich guter Computerhacker«, log ich, ohne in diesem Augenblick zu wissen, wie recht ich hatte, »aber natürlich ist es Ihr Gerät.« Al-Ruwala grunzte. »Gut, nehmen wir also an, wir können den Code entschlüsseln, was springt für uns dabei heraus?« Es läuft immer auf den Basar hinaus, selbst wenn man mit Bits und Bytes handelt. »Was verlangen Sie?« Er grinste. »Wie wäre es mit der Mikroplatte?« sagte er schlau. Ich schüttelte den Kopf. »Das ist kein Geschäft für Sie, glauben Sie mir. Dieses verdammte Ding hat bereits mehr Ärger verursacht als es wert sein kann.« Ich zeigte auf die Prellungen in meinem Gesicht. Ibrahim al-Ruwala machte ein nachdenkliches Gesicht, dann nickte er und schürzte die Lippen. »Ibrahim, einen PC-Mini-Cray«, sagte der Bruder oder Vetter mit der Nickelbrille ungeduldig. »Was ist mit einem MiniCray? Allah, was könnte ich mit so einem Ding tun …« »Beilasch kalam, Abdullah«, erwiderte Ibrahim. »Halt den Mund.« Dann runzelte er angestrengt die Stirn und betrachtete mich forschend. »Nun ja«, sagte er zögernd, »wie ist es mit einem Mini-Cray?« »Sie würden einem Schuldschein von mir vertrauen müssen, aber ich könnte Ihnen eins besorgen.« Abdullah strahlte wie ein Kind am Weihnachtsabend. Zwar gab es keinen Zweifel, wer ihr Anführer war, doch der magere Stubenhockertyp mit der Nickelbrille und dem Flaum auf der Oberlippe war unleugbar ihr Wunderkind. Mehr der Form halber diskutierten wir, was für ein Modell genau es sein sollte, aber ich merkte, daß Ibrahim nicht wirklich glaubte, ich würde
mich an irgendwelche Vereinbarungen halten. Aber seine Neugier über die Mikroplatte war wach geworden und ließ sich nicht mehr unterdrücken. Als der Handel abgeschlossen war und ich den Schuldschein geschrieben hatte, machten Halton und Abdullah sich an die Arbeit. Abdullah radebrechte eine Weile auf englisch, bis Halton in fehlerloses Markundi überging. Der Junge starrte ihn überrascht an. Dann begannen die beiden einen SchnellfeuerWortwechsel, dem ich kaum folgen konnte. Was ich davon verstand, waren lediglich ein paar stark mit anglisierter Computerterminologie gewürzte Sätze. Wir anderen hielten uns im Hintergrund und kiebitzten wie Zuschauer bei einem Kartenspiel. Neue Kabel wurden vom KI-Rahmen zu den Computern verlegt. Ich schloß die Holoausrüstung an eines der beiden altersschwach aussehenden Hologeräte an, dessen trüber grauer Dunst wartend in der Luft schimmerte. Es sah aus, als würde es einige Zeit in Anspruch nehmen. Ibrahim al-Ruwala zog Ahmad zu einem kurzen Gespräch beiseite, während ich herumschnüffelte und eines der Blätter aufhob, die noch immer vom Laserdrucker ausgespuckt wurden. Es war die übliche polemische Anprangerung einer obskuren lokalen Schandtat, doch obwohl mein Arabisch eingerostet war, konnte ich ein wenig zwischen den Zeilen lesen. Im Anschluß an die traditionelle vehemente und reißerische Prosa, welche die unlauteren Praktiken des betreffenden Schuldigen geißelte, kam die Forderung nach einer objektiven Untersuchung zusammen mit einem Vorschlag, die Situation zu bereinigen, anstelle des emotionalen Aufrufes, den Hundesohn zur Strafe aufzuhängen. Ich lächelte.
»Sie sind also vom GBN«, sagte Ibrahim zu mir, nachdem er mit Ahmad gesprochen hatte. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das Papier in meiner Hand und verschränkte kriegerisch die Arme auf der Brust. »Ein großer westlicher Journalist wie Sie muß das für ziemlich naives Zeug halten, wie?« »Nein, durchaus nicht. Natürlich nicht …«, versicherte ich ihm. »Nein?« Er zog eine Braue hoch, und seine Lippen verzogen sich in einem unfreundlichen Lächeln. »Eine Nation, die zwanzig Jahre lang mit nichts als leerem Reis gefüttert worden ist, kann nicht von einem Tag auf den anderen heißes gewürztes Fleisch verdauen. Aber man kann auch nicht von ihr verlangen, daß sie sich für immer mit einer geschmacklosen Diät zufrieden gibt. Veränderung ist notwendig, aber in kleinen Schritten.« Ich hielt das Blatt in die Höhe. »Und Sie sind im Begriff, Ihre Politik allmählich zu würzen?« »Ich hoffe es.« Er zuckte die Achseln. »Man muß das Unvertraute mit dem Vertrauten umgeben, bis es auch angenommen wird. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Es ist wie beim Regen. Zu viel, und man bekommt eine verheerende Flut. Zu wenig, und man verdurstet. Gerade genug, und Ideen wachsen wie Pflanzen. Zuerst müssen die Wurzeln sich im Boden verankern, bevor die Pflanze versuchen kann, Blüten zu bilden.« »Sie sind wirklich ein Philosoph.« Diesmal lächelte er breiter. »Ich bin Araber.« Ibrahim al-Ruwala hatte mit Auszeichnung, wie er betonte, ein Studium der Telekommunikation und Volkswirtschaft in Istanbul absolviert, aber sein Abschluß war in Nok Kuzlat so gut wie wertlos. Nachts arbeitete er in einer Großwäscherei, wo er die riesigen, von alten, halb mechani-
schen Programmen gesteuerten Waschmaschinen beaufsichtigte. Frustriert, aber nicht bereit, sein Heimatland zu verlassen, organisierte er die Jungen Islamisten für Demokratische Reform, eine Bruderschaft, die hauptsächlich aus ihm selbst, ein paar von seinen Brüdern und Vettern und wenigen nicht verwandten Mitgliedern wie Ahmad und einem anderen Freund bestand, der gegenwärtig anscheinend in einer Autowerkstatt arbeitete. »Wir sind klein, aber das macht nichts«, sagte er unbesorgt. »Wir arbeiten im stillen und bleiben von der Regierung unbemerkt. Das Problem in Khuruchabja ist die Selbsttäuschung, daß wir eine Insel seien, vom Rest der Welt durch einen Ozean von Sand isoliert. Die Regierung zieht es vor, diesen Mythos mit der Lüge zu unterstützen, daß die Isolation schädliche Einflüsse fernhalte, während sie uns in Wirklichkeit gefangenhält. Aber früher oder später werden wir die Wahrheit eingestehen müssen, daß wir Teil des Ganzen sind, und die Notwendigkeit akzeptieren, mit dem Rest der Welt zu arbeiten, nicht gegen ihn. Und es muß friedlich geschehen.« Ibrahim hatte die Stimme eines Politikers, aber seine Augen waren eine Seltenheit: die eines aufrichtigen Predigers. Er glaubte an seine Argumente, und das faszinierte mich. »Krieg ist nur eine weitere Strategie des Westens, uns unterjocht und entfremdet in einem halbkolonialen Zustand zu halten. Amerika ist militärisch zu stark, Europa beherrscht uns wirtschaftlich, unsere reichen moslemischen Nachbarn riskieren es nicht, einen Finger zu heben, um uns zu helfen. Was also können wir tun?« Ich hatte das Gefühl, daß er auch darauf die Antwort hatte.
Und sie überraschte sogar mich. »Wir müssen den Glauben aufgeben, wir könnten unsere Unabhängigkeit durch Waffen sichern. Den heißen Zorn wollen wir in unseren Herzen behalten, aber wir müssen lernen, mit modernen Waffen wie Diplomatie und den Medien und der Manipulation der Weltmeinung zu kämpfen. Das ist aber nur möglich, wenn wir Teil der Welt werden.« Er hielt die Hand hoch und ließ die Finger herabhängen. »Zuerst die Wurzeln«, sagte er, dann drehte er die Hand mit der Innenseite nach oben. »Dann die Blume.« Langsam schloß er die Finger zur Faust. »Und dann werden wir triumphieren.« Neben dem Missionieren war Ibrahims anderes Talent das Organisieren. Durch Mauscheln und Betteln, Borgen und Schmuggeln war es ihm gelungen, genug Ausrüstung in ihr geheimes Versteck zu schaffen, um ein überraschend umfangreiches elektronisches Bulletin-Netzwerk zu betreiben und eine gleichmäßige Produktion von Flugblättern und Plakaten aufrechtzuerhalten. Sein Vetter Abdullah hatte den Fuß nie in eine Universität gesetzt, sich aber auf die von Ibrahim organisierten Computer samt Zubehör gestürzt wie der Teufel auf die arme Seele. Galt Ibrahims Interesse der Politik, so hatten die jüngeren Verwandten unter seiner Schirmherrschaft ihre eigenen Spezialitäten entwickelt, die sich um Computer und Kommunikationstechnik drehten. Alle waren ehrgeizig, hatten Feuer im Blut und Träume, die Welt zu verändern. Zwei Vettern hatten Zugang zur zentralen Computerbibliothek der Regierung, wo sie abends als Angestellte in der Dateneingabe arbeiteten. Ahmad hatte sein einziges akademisches Jahr mit dem Studium
von Telekommunikation verbracht und träumte von einem Studium der Journalistik an einer guten Universität, vielleicht in Kuwait, wo es noch amerikanische Professoren gab, oder sogar im finsteren Herzen des geschmähten, degenerierten Westens. Aber Hamid verdiente nicht so viel Geld, daß derartige Träume realistisch gewesen wären, und es schien kaum wahrscheinlich, daß Nok Kuzlat in absehbarer Zeit zu einem modernen High-Tech-Zentrum werden könnte. Einstweilen brachten die Jungen Islamisten ihre Flugblätter heraus, schickten einander verschlüsselte Botschaften durch ihr Computer-BulletinNetzwerk und heimlich Berichte mit verwackelten Amateurfotos an Amnesty International und den Weltverband für Menschenrechte. »Wir sind durch!« sagte Abdullah vergnügt. »Wir sind durchgekommen!« Die vertrauliche Botschaft mit beschränkten Zugang ›nur für autorisiertes Personal‹ hatte einer raschen Folge von Diagrammen Platz gemacht, neben denen technische Daten und Beschreibungen aufgeführt waren. Abdullahs Augen wurden hinter seinen dicken Brillengläsern noch größer und drohten aus den Höhlen zu treten. »Es ist ein Waffensystem«, sagte er mit ehrfurchtsvoller Stimme. »Diagramme von Modifikationen … es ist eine ganze Serie von Herstellungsmethoden und Fertigungsschritten zum Bau von Infrafusionsbomben!« In meinen Beinen zuckte es, als wollten sie aufspringen und aus eigenem Antrieb zur nächsten Grenze rennen. In meinen Ohren summte es, alptraumhafte Bilder begannen im Randbereich meines Blickfelds Gestalt anzunehmen. Ich hörte nicht mehr das Geplapper der aufgeregten Stimmen im Raum, sah
kaum die aufgeregten Gesichter, die sich um den Computer drängten. Halton beobachtete stumm den Bildschirm vor sich, wo langsam die Diagramme vorüberzogen. »Dies ist nicht korrekt«, erklärte er schließlich. »Was?« fragte Ibrahim. Halton wandte den Kopf zu mir um. »Diese Diagramme sind fehlerhaft. Es würde unmöglich sein, eine funktionstüchtige Waffe nach irgendeinem dieser Pläne zu bauen. Die Programmierung der Künstlichen Intelligenz ist zu rudimentär; das System verwendet weniger als ein Zehntel der Speicherkapazität der Mikroplatte.« »Was wollen Sie damit sagen, Halton?« Er deutete mit einem Nicken zum Bildschirm. »Dies ist ein Verhüllungsprogramm. Es verbirgt etwas auf einer tieferen Ebene.« Abdullah starrte Halton verblüfft und bewundernd an. Ein wahrer Hackerheld. Ich muß selbst ein wenig verblüfft ausgesehen haben. »Können Sie eindringen?« fragte ich ihn. Halton sah den Jungen an, der neben ihm saß. »Ich denke, wir können«, meinte er, und Abdullah strahlte. Ibrahim sah nicht erfreut aus; Abdullah war sein jüngerer Vetter, und Halton hatte gerade in seine Vorrechte eingegriffen. Ich verhielt mich still und hoffte, die Spannung würde unter Kontrolle bleiben, als Abdullah und Halton den Kopf zusammensteckten, auf der alten Tastatur herumpickten und in einer unverständlichen Sprache berieten, die halb Markundi und halb Computerjargon war. Das ›Waffensystem‹ kam zum Stillstand und verschwand, wurde ersetzt von Zeilen eines algorithmi-
schen Codes, stummen schwarzen Buchstaben, die über den blassen Bildschirm marschierten. Ich warf einen Blick auf das Zeug, das sich auf der Mattscheibe kristallisierte, und wußte, daß es weit außerhalb meiner Liga war. Halton richtete sich auf und wandte den Kopf, um mich mit seiner unerschütterlichen Miene anzusehen. »Es weiß, daß wir hier sind«, sagte er ruhig. Mich überlief es kalt. Plötzlich entdeckte ich meine Sympathie für die Mullahs und Muftis mit ihrer Abneigung gegen Künstliche Intelligenz. Abdullah starrte mit absoluter Konzentration auf den Bildschirm. »Seht euch dieses Zeug an«, sagte er, und seine gleichaltrigen Vettern steckten den Kopf über seine Schultern. »Noch nie habe ich Programmierparadigmen wie diese gesehen. Da!« Sein Finger zeigte auf etwas. »Und das – unglaublich, phantastisch, es ist Poesie …« Dann sträubte es sich. Gefrorene Schrift pulsierte auf dem Bildschirm, während Abdullah leise fluchte. Die Tastatur klapperte hektisch unter seinen Fingern. »Nichts zu machen«, sagte er schließlich und lehnte sich zurück. »Warum nicht?« Die Frustration, so nahe vor dem Ziel den Weg versperrt zu finden, schlug mir auf den Magen. »Wir haben die Ausrüstung nicht.« Er sah tief enttäuscht aus, nicht weil er versagt hatte, sondern daß ihm der Zugang zu dem kostbaren Programm verwehrt blieb. »Es ist eine holographierte Künstliche Intelligenz, wie Sie dachten, Ka Be«, sagte Halton. »Sie verlangte Spezifikationen, die hier nicht verfügbar sind.« »Welche?« warf Ibrahim ein.
»Es ist ein Dreihundertsechzig-Grad-Hologramm«, erklärte Halton ihm. »Wir würden vier normal große, synchronisierte Hologeräte für die Projektion benötigen, und eine Kommunikation ohne gleichzeitige Darstellung wird verweigert.« Er zeigte zu den zwei Standardgeräten in der Ecke. »Die taugen nichts – zu alt, können nicht synchronisiert werden.« Ahmad lächelte verdrießlich. Ich hab's gleich gesagt. Verdammt noch mal! Ein volldimensionales Hologramm Künstlicher Intelligenz auf dieser Ebene der Selbststeuerung mußte ungeheuer kostspielig zu produzieren sein. Die Herstellung der verdammten Mikroplatte konnte nicht viel billiger gewesen sein als Halton. Der Gedanke verursachte mir Unbehagen. Aber Ibrahim war nicht der Mann, der sich gern geschlagen gab. Er wandte sich zu mir. »Wieviel Geld haben Sie bei sich?« fragte er brüsk. »Nicht genug, um hinzugehen und vier neue Hologeräte zu kaufen, wenn Sie das meinen.« Er hielt mir fordernd die Hand hin, und ich übergab ihm den Inhalt meiner Geldbörse, der auf hundertsiebenundachtzig Khururials und etwas Kleingeld hinauslief, ungefähr sechzig Dollar. Er lächelte knapp. Er hatte die Dinge jetzt wieder in der Hand, und das ließ er uns wissen. »In meinen Händen wird es genug sein«, prahlte er und ging. Eine halbe Stunde später fuhr er in dem klapprigsten und verbeultesten Dreiradlieferwagen vor, den ich je gesehen hatte. Öliger schwarzer Abgasqualm aus dem albanisch geklonten Trabant-Zweitakter sprudelte aus dem Auspuff. Die Jungen eilten hinaus, um die zwei großen Flechtkörbe loszumachen, die
auf die Ladefläche gebunden waren, und sie ins dunkle Innere zu schleppen, fort von allen neugierigen Augen. In den Körben waren vier gute, moderne, 90-Grad-Hologeräte in erstklassigem Zustand. Die Preisauszeichnungen klebten noch an den Seiten, zusammen mit den Kabeln und Anschlüssen zur Synchronisation. Ich wußte, daß jedes der Geräte annähernd dreitausend Dollar gekostet haben mußte. Sie waren prachtvoll. Ich bekam auch kein Wechselgeld zurück. »Wir haben drei Stunden, dann müssen wir sie zurückgeben«, sagte Ibrahim triumphierend. Die Überraschung in meinem Gesicht machte ihm Spaß. »Morgen werden sie vernichtet.« »Was?« »Die mutawin beschlagnahmten die Geräte von Leuten, die illegale Holofilme zeigten. Für morgen ist eine öffentliche Kundgebung auf einem Platz hier in der Stadt vorgesehen. Dort werden alle illegalen Filme und Hologeräte, Magazinkassetten, Musikchips, pornographische Magazine, Bücher und so weiter verbrannt. Alles, was sie beschlagnahmt haben. Auch eine Menge Alkohol soll vernichtet werden, vom Whisky bis zum Dosenbier.« Ich wunderte mich nicht, genauso wenig wie die glücklosen Opfer von Nok Kuzlats selbsternannter moslemischer Sittenpolizei sich wundern sollten. Diese mutawin durchstreiften die Straßen mit Argusaugen und nahmen sich alle Bürger vor, die den Vorschriften der Scharia zuwiderhandelten. Sie belehrten mutmaßliche Bösewichte, beschlagnahmten ungestraft verbotene Gegenstände, ohrfeigten Frauen, deren Begründung ihres Aufenthalts auf der Straße nicht ausreichend waren. Sie hatten
das Recht, ohne Warnung oder Durchsuchungsbefehl in Privathäuser einzudringen und sie zu durchsuchen, die Bewohner zu verprügeln oder vor ein islamisches Gericht zu schleppen. Sie wurden von der Regierung geduldet und sogar ermutigt, da ihre Wachsamkeit und Brutalität die Bevölkerung in einem angemessen unterwürfigen Zustand hielten. Zugleich zogen die mutawin dadurch anstelle der regulären Polizei den Haß der Bevölkerung auf sich. Ausländer, die in einem abgeschlossenen Viertel für sich lebten, waren von diesen Taktiken nicht ausgenommen; im vergangenen Jahr waren drei holländische Krankenschwestern, die in einer Frauenklinik in Nok Kuzlat arbeiteten, entführt und mehr als fünf Monate lang in Geiselhaft gehalten worden, während die Europäische Union und die niederländische Botschaft die Regierung mit einem Hagel von Protesten und Beschwerden überschüttet hatten. Nachdem sie von den mutawin öffentlich ausgepeitscht worden waren, wurden die Krankenschwestern schließlich den Regierungsbehörden übergeben, die sie prompt als Gesetzesbrecherinnen und Agitatorinnen des Landes verwies. Ihr Verbrechen? Sie waren erwischt worden, wie sie während einer Geburtstagsfeier Sekt getrunken hatten. Die mutawin hatten die Tür ihrer gemeinsamen Wohnung aufgebrochen und sie auf frischer Tat ertappt. »Sie haben diese Geräte gestohlen?« fragte ich Ibrahim ungläubig. »Natürlich nicht«, spottete er. »Ich mietete sie. Ich habe einen Freund bei den mutawin.« Anscheinend glaubten selbst die Jungen Islamisten für Demokratische Reform an die guten alten Sitten. Unter guten Freunden ist ein traditionelles kleines
Bakschisch stets willkommen. Ibrahim und Ahmad stellten die Geräte auf und zogen die Kabel wie ein elektronisches Pentagramm zur Dämonenbeschwörung von einem Gerät zum anderen, bis der Kreis geschlossen war. Abdullah kauerte gebückt über dem Computerbildschirm, die Unterlippe vorgeschoben und mit finsterer Aufmerksamkeit auf die Welt innerhalb der Elektronik konzentriert. Mit gedämpften Stimmen berieten er und Halton über die Raffinesse des virtuellen Codes, die Eleganz der fraktalen Subfokusse. Sie zerbrachen sich den Kopf über das begriffliche Vokabular der Künstlichen Intelligenz und Mitres tertiäre Lenkungssymbole. Von alledem verstand ich nichts. Ein Schimmer dunstigen goldenen Lichts gerann zu sprühenden Blasen elektronischen Feuers im Projektionsraum der vier synchronisierten Hologeräte. Es bildete sich zu einer Röhre von zwei Metern Durchmesser um, die bis zur Decke reichte. Lichteffekte schossen zu beiden Enden des Projektionsradius. Ich versuchte mich des unheimlichen Eindrucks zu erwehren, daß wir es mit einem elektronischen Geist zu tun hatten, der mit rauchigen Fingern das Innere der Flasche abtastete. »Es sagt, es sei mit der Unterbringung nicht glücklich«, bemerkte Halton. Dann pfiff Abdullah durch die Zähne, starrte mit aufgerissenen Augen. »Barmherziger Allah, ich kann nicht glauben, was ich sehe!« Die Künstliche Intelligenz schrieb ihre eigene Programmierung um. Ganz allein. »Jetzt ist es glücklich«, sagte Halton. Der Raum explodierte in strahlendem weißen Licht. Ich
schloß im Reflex die Augen, die Netzhäute schmerzten unter dem abrupten Ausbruch, dann blinzelte ich vorsichtig in die gleißende Helligkeit. Das Licht war so intensiv, daß der Raum abgeflacht aussah, weil alle Schatten ausgelöscht waren. Wir alle beschirmten die Augen mit den Händen und blinzelten die Figur an, die inmitten der Lichtsäule Gestalt annahm. Die Hologeräte summten, bis an die Grenzen ihrer Kapazität beansprucht. Das Licht pulsierte, zog sich zu einer oszillierenden menschlichen Gestalt zusammen, die in der Luft schwebte, unirdisch glorreich. Reinweiße Gewänder wie feine Seide wehten um ihren Körper, ohne seine undeutliche Gestalt zu enthüllen. Weißes Feuer sprühte durch das Haar der Erscheinung und beleuchtete das erschreckendste und zugleich schönste Gesicht, das ich je gesehen hatte. Wir standen gelähmt und starrten mit offenem Mund die schimmernde lautlose Erscheinung an. Ich dachte gerade, die Leute der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der CDI müßten ein starkes Kraut geraucht oder Halluzinogene genommen haben, um sich so etwas auszudenken, als die Gestalt Flügel öffnete, die um sie gelegt waren. Sie breitete die Flügel aus, hob sie empor. Die Wirkung war überwältigend. Einer der Vettern stöhnte und fiel auf die Knie. Die anderen waren nicht weit davon entfernt, es ihm gleich zu tun. »Ich bin der Erzengel Gabriel«, sagte die Erscheinung. Ihre Stimme hallte durch den Raum wie Donner, geschlechtslos, musikalisch, hart wie Granit. Ein weiterer Vetter sank zu Boden und murmelte mit halberstickt flüsternder Stimme Gebete. Ich runzelte die Stirn. »Nein, du bist es nicht«, sagte ich mit aller Autorität und Verachtung
die ich aufbringen konnte. »Du bist bloß die programmierte Mikroplatte einer Künstlichen Intelligenz, die in eine Holoprojektion eingespeist ist.« Ich sagte es den Jungen zuliebe, aber mir sträubten sich die Nackenhaare, als das Hologramm den Kopf neigte und die weißen Augen, leer wie die einer Marmorstatue mich durchbohrten. Es wird erwartet, daß man Hologramme anschaut. Nicht aber, daß sie einen anschauen. »Wer«, verlangte die Erscheinung hoheitsvoll zu wissen, »bist du?« Die Stimme war wie Fingernägel auf einer Schiefertafel. Verblüfft starrte ich zurück, sprachlos; dann schaltete sich mein Gehirn wieder ein. Ich streckte die Hand aus und führte sie durch das Projektionsfeld, um die Projektion zu stören. Sie schien es nicht zu bemerken. Ich tat drei leise Schritte nach rechts und grinste befriedigt, als die blinden Augen weiter dorthin sahen, wo ich gestanden hatte. Es war ungemein verfeinert, das mußte ich einräumen. Aber die Illusion war gleichwohl eine Illusion. Die Künstliche Intelligenz konnte die Haltung der Projektion verändern, indem sie die Richtung einer Stimme triangulierte, alles ferngesteuert von der Mikroplatte. Ich dachte über meine Antwort nach. Die künstliche Intelligenz würde sich an dieses Gespräch erinnern und sie bis zu meiner genauen Stimmaufzeichnung speichern. Jeder, der diese Mikroplatte nach uns öffnete, würde wissen, daß jemand in den Code eingedrungen war. Da die CDI mir die Mikroplatte mitgegeben hatte, würde sie nicht allzu lange brauchen, um zu erraten, wer der Eindringling gewesen war. Also war es schon gleich.
»Ka Be Sulaiman, GBN Nachrichten«, sagte ich in meiner besten Korrespondentenstimme. »Ich würde gern ein paar Fragen stellen, wenn es dir nichts ausmacht …« »Du bist nicht der Auserwählte«, unterbrach mich die Erscheinung, und harte, knisternde Untertöne verschärften die unheimliche Stimme. Die Erscheinung runzelte die Stirn und richtete sich auf meinen neuen Standort aus. Die Augen schienen weißglühend aufzuflammen, als sie mich in ihr sichtloses Visier nahmen. Wahrscheinlich war die Künstliche Intelligenz ergrimmt, daß ihr ihre List aufgedeckt worden war. »Du bist nicht der Auserwählte«, wiederholte sie. Und zerschellte in Splittern eruptierenden Lichtes. In der plötzlichen Dunkelheit hörte ich Gemurmel. Hände tasteten umher. Die Beleuchtung war nicht ausgegangen, es lag nur daran, daß das Hologramm so strahlend hell gewesen war, daß der Raum nach seinem Verschwinden dunkel schien, bis die Augen sich wieder angepaßt hatten. Halton war bereits am Monitor und machte eine Eingabe, und Abdullah zog sich auf den Sitz neben ihm, blaß im Gesicht, und starrte in benommener Ehrfurcht in den Bildschirm. Ibrahim war erbost. Er funkelte das Lesegerät der Künstlichen Intelligenz an. »Blasphemie!« sagte er mit zornig gepreßter Stimme. Er zitterte; Schweißperlen hingen in seinem Schnurrbart. »Der schlimmsten Sorte!« Er faßte mich ins Auge. »Was ist das für ein beleidigender Unsinn, Sulaiman?« Halton wandte sich vom Bildschirm ab. »Er weigert sich, wieder herauszukommen«, sagte er. »Ich wünschte, Sie würden aufhören zu reden, als ob er lebendig wäre«, sagte ich ärgerlich. »Verdammt noch mal, es ist
bloß eine Mikroplatte! Kein menschliches Wesen!« Ibrahim trat zum Lesegerät, um die Mikroplatte herauszunehmen, dann keuchte er erschrocken, als Halton mit einer Schnelligkeit, der das menschliche Auge nicht folgen konnte seinen Platz am Monitor verließ und neben ihm stand, eine Hand fest um Ibrahims Handgelenk geschlossen. Sie blickten einander in die Augen, und er nahm die Mikroplatte behutsam aus Ibrahims Hand. »Diese Mikroplatte muß zerstört werden«, erklärte Ibrahim. »Sie ist ein Affront für den Islam und die Moslems überall in der Welt.« Abdullah schien bestürzt über die Idee. »Damit nicht genug«, fuhr Ibrahim fort, »jemand versucht uns zum Narren zu halten. Dieser faule Zauber hat offensichtlich den Zweck, in einer Art Manipulation verwendet zu werden, einem weiteren Schwindel, den der Westen mit dem Ziel ausgeheckt hat, uns auszubeuten und zu betrügen. Sie können dieses … dieses Ding nicht an die Öffentlichkeit lassen. Es würde ein Chaos geben!« Das kam der pragmatischen Wahrheit vermutlich nahe. Ibrahim schien nicht gerade der Typ des Frömmlers zu sein. »Sie haben wahrscheinlich recht, Ibrahim. Manche Leute spielen da ein ziemlich bösartiges Spiel«, sagte ich ruhig. Halton ließ sein Handgelenk los, und Ibrahim rieb es, während er uns beide unheilvoll anstarrte. »Aber wenn Sie es zerstören, gewinnen Sie nichts. Wer immer es gemacht hat, kann mehr davon machen. Ich möchte herausbringen, wer dieses Ding will, und warum … Sie nicht?« Halton und ich hatten eine Menge Gedankenarbeit vor uns.
Ibrahim massierte sein Handgelenk. Seine Backenmuskeln arbeiteten. »Wehe denen, welche die Schrift mit ihren Händen schreiben und dann sagen: Dies ist von Allah«, sagte er. »Denn sie sind Feinde Allahs und Gabriels.« Ich nickte grimmig. »Ganz recht.«
13 DIESMAL HEIMSTE ICH VORWURFSVOLLE BLICKE vom Kellner ein, als ich ganz weit draußen auf der Dachterrasse saß, fern von der markisenüberdachten Veranda, die sich an die Innenräume schloß. Ich hatte mein Portanet nicht bei mir und den Sonnenschirm aufgespannt, um die direkte Sonneneinstrahlung fernzuhalten, also gab es keine Entschuldigung dafür, daß ich ihn trotzdem zwang, in seinen dünnsohligen spitzen Schuhen über den glühend heißen Zement herauszukommen, um unsere Frühstücksbestellung entgegenzunehmen. Die einzige Erklärung war, daß ich ungestört sein wollte. Diesmal war Halton bei mir. Er saß mir am Tisch gegenüber und aß verschiedene s'ambusihks, Fleischpasteten mit Zirbelnüssen zu seinem übersüßten Kaffee. Ich hielt mich an mein Frühstück aus Ziegenkäse und weißen Bohnen, diesmal mit etwas Joghurt. Wir hatten unsere Mahlzeit kaum zur Hälfte verzehrt, als ein Schatten über den Tisch fiel. Ich blinzelte in den undeutlichen Umriß eines dünnen Mannes mit einer weißen Leinenjacke, der eine Aktentasche trug. Der Schatten eines breitkrempigen Hutes verbarg seine Augen. »Ka Be Sulaiman?« Ich nickte. »Und Sie sind …?« »Elias Somerton.« Dann erkannte ich den englischen Akzent
vom Telefongespräch. Ich hatte ihn erwartet. Ich schnaubte. »Sie haben ziemlich abgenommen, wie, alter Knabe?« »Macht es Ihnen was aus, wenn ich mich zu Ihnen setze?« Ohne auf unsere Zustimmung zu warten, zog er einen metallenen Caféstuhl an den Tisch und setzte sich an die Schmalseite zwischen Halton und mich. Er blinzelte in mein blaues Auge, während ich weiter aß, als ob er nicht existierte. Der Kellner kam heraus, irritiert über die wachsende Zahl idiotischer Ungläubiger, die dem Hitzschlag trotzten. »Sch'akhud qawâah, sukkahr qa-lil«, sagte Somerton hochmütig. Sein Akzent war noch grauenhafter als meiner. Ich bemerkte, daß er sich ersparte, ›bitte‹ zu sagen, womit er die Reminiszenz an das verflossene britische Empire in meinen Augen übertrieb. Er sah die ironische Ehrenbezeigung des Kellners nicht, und wenn er sie sah, beachtete er sie nicht. Der Kellner ließ sich Zeit, Somerton seinen Kaffee ›leicht auf dem Zucker‹ zu bringen. »Ich glaube, Sie haben etwas, das uns gehört, Mr. Sulaiman. Wir würden es jetzt gern zurückerhalten.« Er ließ die Aktentasche auf den Knien ruhen, knapp unter der Tischkante. Zeit für die Theatervorstellung. Ich nahm einen Bissen Käse und Brot in den Mund und kaute, während ich sprach. Somerton machte ein leicht angewidertes Gesicht. »Was, Sie wollen, daß ich Halton schon zurückgebe? Ich dachte, Sie wollten, daß ich ihn Scheich Larry übergebe.« Ich sah Halton nicht direkt an, behielt ihn aber im Blickfeld. Er reagierte nicht im mindesten. »Das ist nicht, worauf ich mich bezog«, sagte Somerton kalt. Wieder betrachtete er die Verfärbungen in meinem Gesicht.
»Was ist mit Ihrem Auge passiert?« »Ich lief gegen eine Türklinke«, sagte ich. Diesmal grinste ich, den Mund voll Bohnen und Joghurt. »Muß eine ziemlich hohe Türklinke gewesen sein«, sagte er. »Ich gehe gern auf den Knien herum. Auf die Weise begegnet man besseren Menschen.« Halton trank seinen Kaffee, unbesorgt und unbeteiligt. »Lassen wir die Spielereien, Sulaiman, ja?« sagte Somerton und verlagerte die Aktentasche ein wenig auf den Knien. »Ja«, sagte ich, »tun wir das.« Ich schluckte und signalisierte dem Kellner, der betont träge heranschlenderte. »Würden Sie bitte Mr. Somertons Jacke und Aktentasche zum Empfangsschalter bringen?« sagte ich in markundi und gab ihm fünfundzwanzig Khururials. Der Kellner lächelte. Somerton blickte alarmiert. »Es ist viel zu heiß, um eine Jacke zu tragen, und es muß höchst unbequem sein, die Aktentasche auf den Knien zu balancieren, Eli alter Knabe.« Halton blickte mit ausdrucksloser Miene zu mir auf. Es war komisch, aber allmählich glaubte ich zu verstehen, was hinter diesem leeren Ausdruck vorging. »Wirklich, es ist ganz in Ordnung, bemühen Sie sich nicht …« Somerton versuchte den Kellner mit einer Handbewegung abzuwehren, aber der grinste breit und freute sich, daß er weder Somertons Englisch noch sein verwirrtes Markundi verstand, während er ihm die Aktentasche zu entreißen suchte. »Geben Sie sie ihm, oder wir haben nichts zu besprechen«, sagte ich auf spanisch, der einzigen Fremdsprache außer Arabisch, die ich halbwegs fließend spreche. Somerton starrte mich finster an. Ich war nicht sicher, ob er Spanisch verstand oder
nicht, aber er gab nach und überließ dem Kellner Aktentasche und Jacke. Als der Kellner gegangen war, langte ich in die Tasche meiner eigenen zerknitterten Jacke, die über der Stuhllehne hing, und legte einen kleinen Würfel in die Mitte des Tisches neben meine Packung Gitanes. Eingeschaltet, blinkte der Würfel mit einem winzigen gelben Licht. »Was ist das?« »Es ist, was wir Reporter im Nachrichtengeschäft den Kammerjäger nennen. Er tötet Wanzen.« Es war eines der Spielzeuge, die ich von Carl bekommen hatte. Wenn jemand ein Richtmikrofon in unsere Richtung hielt oder Wanzen im Umkreis versteckt hatte, versprühte der Kammerjäger ein alles einhüllendes summendes Störfeld, das unser Gespräch im Umkreis von zwei Metern vollständig gegen Lauscher von außen abschirmte. Außerdem machte der Kammerjäger allen elektronischen Abhörwanzen, die Somerton etwa bei sich trug, sofort und permanent den Garaus. Ziemlich gewöhnliches Zeug, hatte mir einer der anderen Reporter beiläufig versichert. Die ausgefeilteren Geräte führten inhaltlose, willkürlich erzeugte Konversation in das Abschirmungsfeld ein. Viele Journalisten tragen solche Geräte für vertrauliche Interviews bei sich. »Also schön, Sulaiman. Wenn Sie fertig sind, können wir vielleicht reden?« Somertons Gefieder war gesträubt, und er war rot im Gesicht. Er war verärgert, aber nicht ängstlich. Ich lächelte, blickte zu Halton und nickte. Beiläufig ließ er die Hand unter dem Tisch auf Somertons Knie fallen. Der schrak ein wenig zusammen, erstarrte dann, als Halton gerade fest genug zudrückte, daß Somerton die Kraft in den Fingern
fühlte, die sein Knie umschlossen hielten. Sommerton erbleichte. Nun bekam er es mit der Angst. »Ja«, sagte ich, »reden wir. Ich habe etwas, das Sie haben wollen, und Sie haben etwas, das ich haben will.« »Was sollte das sein?« Somerton hatte die Fassung wiedergewonnen, aber seine Hand war nicht ganz ruhig, als er seinen leicht gesüßten Kaffee schlürfte. Er stellte die Tasse ab, und seine andere Hand sank unauffällig unter die Tischplatte. »Lassen Sie beide Hände auf dem Tisch, wo ich sie sehen kann, bitte«, warnte ich ihn. Mit übertriebener Genauigkeit legte er die Hände mit den Innenseiten nach unten auf den Cafétisch. »Kommen Sie, Eli, alter Schwede. Was will ein Journalist? Information. Jemand anders war an dem kleinen Päckchen interessiert, das Ihre Leute mitschickten.« Ich zeigte auf mein grünlich purpurn verfärbtes Auge. »Sie waren sehr unhöflich. Ich kann unhöfliche Leute nicht ertragen.« Er ließ sich nichts anmerken, aber sein Blick ging von mir zu Halton und zurück. Ah. Also wußte er von den Toten in dem ehemaligen Café. Und ich hatte ihm gerade verraten, wer sie getötet hatte. »Ich habe keine Ahnung, von wem Sie sprechen, Mr. Sulaiman«, sagte Somerton. »Sie waren bestimmt nicht von uns.« Ich blickte zu Halton. Seine Finger packten Somertons Knie ein wenig fester. Somerton sog die Luft scharf ein. »Halton wird Ihnen die Kniescheibe zerquetschen, wenn ich mit dem, was ich höre, nicht zufrieden bin.« Somerton wandte sich zu Halton. »Sie sind CDI. Es ist nicht vorgesehen, daß sie außerhalb der Bestimmungen arbeiten.« Halton sah ihn unschuldig an. »Das tue ich nicht. Überprü-
fen sie die Bestimmungen.« Ich schmunzelte und beugte mich über den Tisch zu dem verstimmten Engländer. »Sehen Sie, Eli, ich habe es satt, herumkommandiert und aufgemischt zu werden, während Ihre Leute von mir erwarten, daß ich es einfach in Kauf nehme. Ich wurde von Ihrem Dienst ›gebeten‹, Halton für eine sehr bescheidene journalistische Gegenleistung nach Nok Kuzlat zu begleiten. Ich wurde nicht gebeten, illegale Schmuckgegenstände zu schmuggeln. Ein paar ziemlich unerfreuliche Leute schlugen mich windelweich, weil anscheinend etwas anderes, was niemand erwähnte, Teil der Vereinbarung sein sollte. Unglücklicherweise waren sie nicht in der Lage, etwas zu erklären, als wir gingen. Einer von ihnen war eine enge persönliche Freundin unseres Freundes Larry, glaube ich.« Somerton siedete vor Zorn, blieb aber still. Ich nahm meine Zigaretten vom Tisch und lehnte mich zurück, schüttelte eine aus der Packung und zündete sie an. »Jetzt möchte ich gern Antworten auf ein paar Fragen. Warum fangen wir nicht damit an, wer Sie sind und was Sie wollen.« »Sie wissen, wer ich bin«, grollte Somerton. Er zuckte ein wenig, als Halton mit der anderen Hand seine Kaffeetasse aufhob und trank. »Und Sie wissen, was ich will.« »Lassen Sie das unechte Spionagegetue beiseite«, warnte ich ihn. »CDI. Die Mikroplatte.« Er spuckte die Worte aus. »Ihr Name ist in Wirklichkeit nicht Elias Somerton, nicht wahr?« Er holte Luft und blickte zu Halton. »Das würde ich Ihnen auch dann nicht sagen, wenn Sie ihn zwingen würden, mir
beide Kniescheiben zu brechen.« Ich zuckte die Achseln. »Nicht so wichtig. Aber vielleicht können Sie mir sagen warum niemand die Mikroplatte erwähnte, als ich gebeten wurde, Halton zu begleiten.« Ein Muskel zuckte in seinen hartnäckig zusammengebissenen Kiefern. »Wenn Sie es mir nicht sagen, Eli, werde ich mich nicht mit Ihren Kniescheiben begnügen. Dann werde ich einfach die Mikroplatte zerstören.« Damit gewann ich seine Aufmerksamkeit. »Das würde sehr ernste Konsequenzen für Sie haben, Sulaiman.« »Nicht so schlimme wie für Sie, denke ich.« Ich blies einen Strom Zigarettenrauch à la Bette Davis in sein Gesicht. Oder in diesem Fall vielleicht à la Errol Flynn. Er verzog angewidert das Gesicht und blinzelte. »Wissen Sie, ich werde einfach spekulieren, und Sie sagen warm oder kalt. Wahrscheinlich sind Sie wirklich ein Mann der CDI, aber Teil irgendeines Schismas innerhalb der Organisation … Oder Sie arbeiten auf eigene Faust, außerhalb offizieller Autorisation.« Ich wartete ein paar Herzschläge lang. »Oder vielleicht sind Sie ein Doppelagent.« Somerton saß mit steinerner Miene da. Ich blickte zu Halton und zog fragend eine Braue hoch. »Doppelagent«, sagte er, ohne Somerton anzusehen. Mit der freien Hand nahm er sein letztes Stück Fleischpastete vom Teller und nahm einen Bissen. Somertons Gesicht entfärbte sich vollständig als ihm plötzlich klar wurde, daß Halton zwar durchaus sein Knie zermalmen konnte, die Hand aber in Wahrheit nur an ihm hatte, um seine Körperreaktionen durch Biosensoren in der Haut von Handfläche und Fingern abzulesen. Er wollte aufstehen und
ächzte, als Halton ihn mühelos auf dem Stuhl niederhielt. Somerton saß eine kleine Weile schweigend und bemühte sich, die Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. Mit geradem Rükken trank er den Rest seines Kaffees und stellte die Tasse sorgfältig zurück. »Für wen außerhalb der CDI arbeiten Sie, Eli alter Knabe?« fragte ich freundlich. Er starrte auf seine leere Tasse und schwieg. Ich seufzte theatralisch. »Muß ich wirklich eine Liste von Möglichkeiten aufzählen, bis eine von ihnen auf Haltons Anzeige ein Blinklicht auslöst?« Tatsächlich hatte Halton mich bei unserer Besprechung dieses möglichen Szenariums gewarnt, daß, sobald Somerton merkte, was gespielt wurde, sein rapide ansteigender Adrenalinspiegel alle ablesbaren Zeichen trüben und schwierig machen würde, eindeutige Antworten zu erhalten. Und das um so weniger, da es kein unmittelbarer Kontakt von Haut zu Haut sein würde. Ich würde vielleicht eine Chance haben, Somerton zu überrumpeln und dann hoffen müssen, daß er Haltons Diagnostiknummer glauben würde. »Außerdem ist das zeitraubend, und je widerspenstiger Sie sind, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit sein, daß ich Ihnen Ihr Spielzeug nicht zurückgeben werde. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Ich inhalierte wieder Zigarettenrauch und hoffte, daß ich überlegen und unbekümmert wirkte. Endlich blickte Somerton auf. Seine Augen waren gerötet, er bebte vor Zorn. »Ja«, sagte er, »ganz klar. Einigen wir uns auf ein Gentlemens Agreement? Ich sage Ihnen, was Sie wissen wollen. Innerhalb vernünftiger Grenzen, versteht sich. Sie geben mir dann die Mikroplatte.«
»Im Spionagegeschäft gibt es keine Gentlemen, Somerton«, sagte ich grinsend. Es war eine Zeile aus einem Fernsehklassiker, aber ich vermutete, daß Somerton ihn nicht gesehen hatte. Er verstand den Scherz nicht. »Aber wenn Sie meine Fragen beantworten, werde ich Ihr Anliegen ernstlich in Erwägung ziehen. Für wen arbeiten Sie außerhalb der CDI?« Er zögerte. »Mossad.« »Er lügt«, sagte Halton gleichmütig. »Es ist die Wahrheit«, beharrte Somerton. Er biß die Zähne zusammen, daß die Kiefermuskeln knotig hervortraten. Das war schlecht. Wenn Halton sich irrte, dann war dieses kleine Spiel vorbei. »Halton sagt, daß Sie lügen, Eli, alter Schieber. Warum würde er so etwas sagen?« Somerton schluckte. »Es ist wahr …«, sagte er. Ich glaubte Anzeichen von Panik auszumachen. »In gewisser Weise.« »In welcher Weise?« »Die Israelis haben seit Jahrzehnten Geheimdienstzellen in alle Regierungen und Oppositionsorganisationen des Nahen Ostens eingeschleust, viele auch in Europa«, sagte er. »Wir schlugen ihnen eine beiderseits vorteilhafte Zusammenarbeit vor, und sie stimmten mit uns darin überein, daß die Mächte, die hinter dem Scheich die Fäden in den Händen halten, um Khuruchabja zu kontrollieren, neutralisiert werden müssen. Sie haben recht darin, daß es eine Spaltung innerhalb der CDI gibt. Wir benutzten sie, um die CDI durch Mossadkanäle in London zu infiltrieren. Die Vereinigten Staaten unterhalten keine diplomatischen Beziehungen zu Khuruchabja, aber die Europäische Union. Sobald wir innerhalb der CDI waren, erhielten einige von uns den Auftrag, mit dem Britischen Generalkonsu-
lat in Nok Kuzlat zusammenzuarbeiten.« »Wer ist ›wir‹, Eli? Interpol? MI6?« »Ich kann es Ihnen nicht sagen!« zischte er durch die Zähne. Er beugte sich zu mir über den Tisch, und sein Gesicht zuckte, als Halton ihn schmerzlich an die Verwundbarkeit seines Knies erinnerte. »Aber wenn Sie diese Mikroplatte den falschen Leuten geben, kann ich Ihnen sagen, daß es etwas auslösen wird, neben dem sich der letzte Krieg hier wie ein Tontaubenschießen ausnehmen wird.« »Und Sie sind keiner von den ›falschen Leuten‹?« Er lehnte sich zurück und antwortete nicht. »Gut, vielleicht können Sie mir dann sagen, ob Khatijah für Sie arbeitete.« Er zögerte abwägend, wie viel diese Information wert sei. »Nein«, sagte er dann. »Sie arbeitete nicht für mich.« »CDI?« »Nein.« »Für ihren Mann?« Er schnaubte. »Nein.« Ich seufzte. »Wie viele Seiten gibt es?« Er lächelte grimmig. Die Farbe war in seine Wangen zurückgekehrt, seine Selbstbeherrschung wiederbelebt. »Dies ist der Nahe Osten, Sulaiman«, erinnerte er mich. »Wie viele Seiten wollen Sie?« »Wie ist es mit der Seite der Engel?« Sein Lächeln verschwand. »Sie haben keine Ahnung, in was Sie sich da einmischen«, sagte er. Er war sichtlich beunruhigt; so sehr, daß er sich momentan keine Gedanken um sein Knie zu machen schien.
Ich drückte den Stummel meiner Zigarette aus und beugte mich über den Tisch. »Ich habe weder den Wunsch gehabt, mich einzumischen, noch habe ich danach gefragt«, sagte ich etwas erregter als beabsichtigt. »Ihr Geheimniskrämer habt mich in diese Sache hineingezogen. Nun erzählen Sie mir, warum es notwendig war, eine solch spezialisierte Mikroplatte Künstlicher Intelligenz nach Khuruchabja zu schmuggeln?« »Wo ist die Mikroplatte?« fragte er in plötzlich erwachtem Argwohn. Ich nickte Halton zu und dachte, er werde wieder den unappetitlichen Kniff mit dem Finger machen, war aber überrascht, als er zögernd lächelte, und die Mikroplatte zwischen den Vorderzähnen zur Schau stellte. Wäre ich nicht innerlich so angespannt gewesen, hätte ich über die großartige Theatralik des Augenblicks gelacht. Somerton starrte auf die Mikroplatte und ließ sich in den Stuhl zurücksinken. Er holte tief Atem. »Gut. CDI schickte die Mikroplatte nicht, weil sie nichts davon weiß«, sagte er mit tonloser Stimme. »Wir wußten, daß sie ein Biokonstrukt schikken wollten, und dachten, wenn wir die Mikroplatte mit ihm schickten, könnten wir sie von Ihnen zurückbekommen, bevor er in die Dienste des Scheichs treten würde. Sie würden ohne große Einwände mitspielen, solange es wie ein Teil der ursprünglichen Planung aussah. Aber irgendwie …« – er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger müde die Augen – »irgendwie kam heraus, daß die Mikroplatte unterwegs war, und Khatijahs Fraktion dachte, Sie seien beide CDI-Agenten. Sie hatte keine Ahnung, daß die CDI ein Biokonstrukt schickte.« Er blickte forschend wie in stummer Frage zu Halton, als
hätte er gern gewußt, ob Halton all diese Leute wirklich allein getötet habe. Aber er stellte die Frage nicht, und wir klärten ihn nicht auf. »Also hat die CDI wieder Mist gemacht«, sagte ich bitter. »Man sollte meinen, Sie hätte vor zehn Jahren ihre Lektion gelernt.« »Das haben wir. Aber die Politik hat einige Veränderungen durchgemacht, seit Sie zuletzt hier waren.« »Ich halte mich auf dem laufenden«, sagte ich trocken. »Wenn Sie wüßten, was die wahren Nachrichten sind«, erwiderte Somerton bitter. Ich begann ihn zu mögen. Widerwillig. »Was Sie und ich wissen«, fuhr er fort, »ist, daß der Westen vor Jahren seinen Heiligen Gral aufgegeben hat, um einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten zu erreichen. Nun sorgen die Industrienationen hier für ›Frieden‹, indem sie ihre Klientelstaaten für Wohlverhalten belohnten und alle anderen, die ihnen unbequem sind, mit Sanktionen belegten und für jede kleine Widersetzlichkeit streng bestraften. Damit wird verhindert, daß unsere Ölinteressen beeinträchtigt werden. Das kleine Khuruchabja, ein Nährboden des feindseligen islamischen Fundamentalismus, ist die letzten zehn Jahre in Zwietracht gehalten worden. Die sogenannten ›Gemäßigten‹ streiten mit den sogenannten ›Konservativen‹ darüber, wie viele Engel auf der Nase des Propheten Mohammed tanzen können.« Die religiöse Analogie war schief, aber ich verstand, was er meinte. »So lange ihre Streitigkeiten intern blieben und sie einander nur gegenseitig umbrachten, waren die Sicherheit und das Wohlbefinden der angrenzenden Staaten gesichert. Jedesmal,
wenn es Anzeichen gab, daß die eine oder die andere Seite die Oberhand gewinnen würde, wird hier und dort mit Augenmaß ein wenig nachgeholfen, und das Gleichgewicht wiederhergestellt.« »Die Reichen bleiben reich, die Armen bleiben arm, und die CDI hält Khuruchabja als einen soliden zugespitzten Pfahl über dem Herzen des Islam fest in der Hand.« Somerton nickte. Ein Anflug von ironischem Humor war in seinen Augen. »Und der Traum – oder der Alptraum, je nach dem, von welcher Warte man es sieht – von einer geeinten islamischen Front bleibt genau das: ein Traum.« »Und Ihre Seite will was?« Ich wollte, daß er versuchte, mich zu bekehren, und er merkte es. »Das Interesse des Westens, und das Interesse der CDI an einer amerikanischen Vorherrschaft hat immer den Status quo gewahrt. Solange die Islamisten Khuruchabjas damit beschäftigt sind, einander anzuknurren und an die Gurgel zu fahren, werden sie keine echte Bedrohung für die Interessen der Ersten Welt, sondern nur wild genug, um ihre ölreichen Nachbarn nervös zu machen. Der über das religiöse Recht wachende Mufti von Nok Kuzlat hat während der letzten Jahre mit fanatischen Reden und Schaum vor dem Mund versucht, Khuruchabja zur Wiege eines neuen islamischen Heiligen Krieges zu machen, den ganzen Islam zu einen und die Imperialisten mit ihren zionistischen Parasiten aus der Region zu vertreiben.« Er lächelte trocken. »Die Flüsse werden sich von unserem Blut rot färben, Schlangen werden durch unsere Schädel kriechen, die üblichen Visionen mittelalterlicher Eiferer. Zwar gelingt es ihm,
alle unterdrückten und sich unterdrückt fühlenden Moslems dahingehend zu einigen, daß sie die Zionisten und Imperialisten auf den Tod nicht ausstehen können, doch bringt er es nicht fertig, ihre internen Zwistigkeiten und Kämpfe lange genug zu beenden, um ernsten Schaden anzurichten.« Dies war eine alte, traurige Geschichte, die mir nur zu bekannt war. Er schien es von meinem Gesicht abzulesen. »Was sich geändert hat, sind nicht die Hirten, sondern die Schafe. Es ist der islamischen Welt nicht mehr möglich, zum Goldenen Zeitalter Mohammeds zurückzukehren, so wenig wie es Europa möglich sein würde, die Uhr zurückzudrehen und die Renaissance wiederzubeleben, oder Amerika, alles Land den Indianern zurückzugeben. Die jungen Khuruchabjaner leben noch immer innerhalb der traditionellen Stammes- und Sippenbindung, aber ihr Bewußtsein der Außenwelt ist tausendmal verfeinerter als das ihrer Väter jemals war.« »Wie will man sie bei harter Bauernarbeit auf dem Land halten, wenn sie erst das glitzernde Paris gesehen haben?« sagte ich. »Das Problem der Landflucht, ja. Die Kleriker können ermahnen und wettern und schimpfen, soviel sie wollen, aber ihre Kinder haben Faxgeräte und Computer und Satellitenantennen, und sie kommen herum. Daß sie westlicher Lebensart und westlichem Individualismus ausgesetzt werden, ist nicht zu verhindern. Gleichwohl sind sie noch immer Araber, Moslems. Sie sind innerlich zerrissen, weil sie nach Möglichkeiten suchen, ihren Glauben mit ihrem Verlangen zu vereinbaren, als Ebenbürtige an dem Wohlstand und den technischen Erleichterungen der Ersten Welt teilzuhaben.«
Somerton hatte sich entspannt, sobald er auf vertrautem Boden war. Er war ein geborener Dozent, ein bürokratischer Spion. »Seine Exzellenz hat den größten Teil seines Lebens außerhalb Khuruchabjas verbracht, und obwohl er den Kontakt mit seinem eigenen Land und die Subtilitäten der Weltpolitik des einundzwanzigsten Jahrhunderts ein wenig verloren hat, versteht er vollkommen die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten als dem militärischen Herrn der Welt. Er weiß, daß jeder militärisch geführte Heilige Krieg gegen den Westen und Israel mit dem gleichen Fiasko enden wird wie die letzten Versuche. Zwar weiß er, daß die Vereinigten Staaten sich einiges gefallen lassen, aber wenn er den schlafenden Riesen zu sehr ärgerte oder öffentlich demütigte, würde er militärisch geschlagen und sein Land ruiniert.« Somerton erwärmte sich für sein Thema. »Aber trotz seiner Vorliebe für elektronisches Spielzeug und seines Yuppieakzents ist Seine Exzellenz nach wie vor ein Moslem. Sein Ehrgeiz ist dem des Mufti ähnlich. Auch er möchte gern den Stiefel in seinem Nacken abschütteln und den Islam einigen, aber nicht in einem Heiligen Krieg, der, wie er weiß, unmöglich und selbstzerstörerisch wäre.« Somerton lächelte. »Er möchte die moderne, unserer Zeit angepaßte Version des Heiligen Krieges führen, einen wirtschaftlichen Dschihad, um die islamische Welt zu einem starken und gleichberechtigten Partner der Ersten Welt zu machen. Erstklassige Ausbildung, gute medizinische Versorgung, eine unabhängige Justiz. Eine friedfertige Nation der Ersten Welt, aber islamisch – und natürlich mit ihm als dem unbestrittenen Führer der islamischen Revolution an
der Spitze.« »Er möchte der moslemische Martin Luther sein?« fragte ich. »Eher ein wiedergeborener Atatürk, würde ich sagen«, erwiderte Somerton. »Das ist früher schon versucht worden. Mit der Wirtschaftlichen Revolution des Iran.« »Ja, aber es war der Iran. Zu viele Menschen, zu wenig Geld. Und viel zu viel böses Blut.« »Sie glauben nicht, daß er es bewerkstelligen kann.« Somerton zuckte die Achseln. »Mit Hilfe, vielleicht. Trotz einiger ziemlich schlimmer Fehler meint Seine Exzellenz es wirklich gut. Sein Problem ist im Augenblick, daß er den Kuchen eines anderen haben und noch dazu essen will. Er ist jung, er ist flexibel, und mit der Zeit wird er verstehen, daß die Vorzüge einer wirklich demokratischen Gesellschaft den Spaß, ein Diktator zu sein, aufwiegen können.« Darauf hätte ich keine Wette abgeschlossen. Zu viele andere wohlmeinende Diktatoren haben ihre eigenen Formen von ›Demokratie‹ erfunden, darunter verschiedene, die aufrichtig progressiv und wohlwollend waren, nur um alles zu verpfuschen, wenn Oppositionelle die Machtfrage stellten. Somerton kannte die Geschichte hier so gut wie ich. Die janusköpfige Natur von Erlösern und Tyrannen, die abwechselnde Anerkennung und Mißbilligung von Seiten der reichen westlichen Mächte, die ihnen oft zur Macht verhalfen und sie wieder stürzten, wenn sie nicht willfährig genug waren. Ibn Saud war mit den fanatischen Wahhabiten und dem Versprechen eines gereinigten Islam zur Macht gelangt, dann hatte er alle rebellischen Wahhabiten zum Gehorsam gezwungen und
diejenigen beseitigt, die ihm lästig geworden waren. Das strenge und asketische Erbe Sauds degenerierte zu einer ausbeuterischen Tyrannei, die in einer Orgie von Plünderung und Bestechung Generationen überdauerte. Ein kriegerischer Ägypter nach dem anderen proklamierte sich zur letzten Inkarnation des göttlichen Mahdi und kämpfte gegen die Briten, die Franzosen und die Türken. Alles, was sie erreichten, war eine Menge von Volksaufständen, Rebellionen, Massakern, toten Märtyrern, verbrannter Felder und eine Schwemme überladener viktorianischer Prosa. Nasser säkularisierte sein Land, dann nahm er den Briten und Franzosen die Kontrolle über den Suezkanal weg, entfremdete sich dadurch dem Westen und verlor die Sinai-Halbinsel. Er spielte die Amerikaner und Russen wie geschiedene Eltern gegeneinander aus, während er ungeheure Summen auf den verhängnisvollen Assuandamm als sein eigenes pharaonisches Denkmal verschwendete, einen ungeheuren Reichtum an archäologischen und kunsthistorischen Wundern ertränkte und Hunderttausende von Hektar landwirtschaftlich nutzbaren Landes durch Versalzung und Schadstoffe ruinierte. Habib Burgibas gemäßigte Kampagne für ein selbständiges und souveränes Tunesien brachte ihm schließlich Hausarrest ein, aber sobald er zum ›obersten Führer‹ seines Landes proklamiert worden war, zögerte er nicht, die Steuergelder des nicht eben reichen Landes für den Bau von Dutzenden Staatspalästen auszugeben, wo auch er im großen Stil wie jeder andere träge morgenländische Herrscher Hof halten konnte. Im Iran halfen die Briten insgeheim nach, als es um den Sturz des Despoten Mozaffar al-Din ging, und ersetzten ihn
durch die beliebten Pahlewis. Als der erste von ihnen sich im Zweiten Weltkrieg zu deutschfreundlich zeigte, änderte der Westen seine Meinung, besetzte das Land und brachte seinen Sohn auf den Thron, der nach den Vorstellungen des Westens wirtschaftliche Reformen einführte und die Verwestlichung der Sitten und Bräuche förderte. Der Ayatollah Khomeini fegte die von oben übergestülpten modernen Reformen des Schahs im Sturm seiner islamischen Revolution hinweg, unbekümmert um das ungläubige Entsetzen des Westens. Erschreckt von einer demokratisch an die Macht gewählten Partei islamischer Fundamentalisten, reagierte das algerische Militär mit einem Putsch und einer Militärdiktatur, die das Land in ein jahrzehntelanges Chaos von Mord und Terrorismus und militärischen ›Säuberungen‹ stürzte. Westlich orientierte Ärzte, Intellektuelle, Journalisten, unverschleierte Frauen und Leute, die einen Wagen der falschen Farbe fuhren, waren ihres Lebens ebenso wenig sicher wie alle westlichen Ausländer, die töricht genug waren, im Land zu bleiben. Die königliche Familie in Kuwait vergalt die Befreiung ihres Landes durch den Westen mit erneuertem Kriegsrecht, Vetternwirtschaft, Meuchelmord und Unterdrückung, gefangen in einem bitteren Ringen mit ihren eigenen Bürgern, die ihrerseits noch immer Schwierigkeiten haben, wie sie das Land, und seine Wirtschaft funktionsfähig erhalten sollen, nachdem sie ihre Arbeiterschaft aus jemenitischen und palästinensischen Lohnsklaven hinausgeworfen oder ermordet hatten. Im Irak hatte es nur eines Egomanen bedurft, um die beträchtlichen Errungenschaften der Baathpartei zusammen mit dem ganzen Land zu ruinieren. Nur ein Verrückter wurde benötigt, um die Behjars
zu vernichten, die von einer Serie repressiver islamischer Fundamentalisten beerbt wurden. Unter dem Firnis hatten sich viel zu viele Diktatoren als rücksichtslos, blutig und gewalttätig erwiesen. Echte Führer, denen weniger das eigene als vielmehr das Wohl ihres Volkes am Herzen lagen, waren im Nahen Osten sehr dünn gesät, und der junge Scheich schien mir keine leuchtende Verheißung einer besseren Zukunft zu sein. »Soweit es die Vereinigten Staaten betrifft«, sagte ich, »würden sie offensichtlich eine demokratische Veränderung in Khuruchabja begünstigen müssen, aber wir wissen beide, daß sie insgeheim alles tun, um sie hier zu verhindern. Khuruchabja ist kaum eine Bedrohung der Herrschaft der Ersten Welt, aber es hat die nützliche Funktion, alle Nachbarländer von Amerikas militärischer Unterstützung abhängig zu machen. Außerdem sind die Khuruchabjaner ein großes Reservoir billiger Arbeitskräfte für ihre reichen Nachbarn, die sich ihre Hände nicht schmutzig machen wollen«, fügte ich trocken hinzu. »Von solchen Leuten ist nicht zu erwarten, daß sie ihre Hausmeister und Dienstmädchen als Mitglieder in ihren Tennis- und Golfclubs willkommen heißen werden.« Somerton nickte dazu. »Das allerdings spricht zugunsten Khuruchabjas. Seine Bewohner sind nicht die trägen, eingebildeten Bürger von Ölscheichtümern, die ihre Arbeitskräfte importieren müssen, um ihre Versorgung mit Strom und Wasser zu sichern. Der durchschnittliche Khuruchabjaner weiß anzupacken, er kann arbeiten. Seine Exzellenz hofft sein eigenes khuruchabjanisches Wirtschaftswunder zu schaffen und seine Nachbarn zum Eintritt in seinen Golfclub zu verlocken.«
Ich fragte mich, wieviel davon wirklich Larrys eigene Idee war und wieviel ausländische Einflüsse dabei mitgespielt hatten, die ihm von allen Seiten zugetragen wurden. Irgendwie hatte ich meine Zweifel, daß Scheich Larry ganz allein auf dieses Modell gekommen war. »Die gute alte protestantische Arbeitsethik wird Khuruchabja nicht viel nützen, wenn keine wirtschaftliche Basis da ist, auf der das Land aufbauen kann«, sagte ich. »Es wird nicht leicht sein, selbst wenn er sein eigenes Volk für die Idee gewinnen kann. Außerdem gibt es, wie ich sagte, immer noch die Amerikaner, die ihre eigenen Vorstellungen haben.« »Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Japan und Deutschland beide geschlagen, ihre Länder verwüstet und besetzt und ihre militärische Macht vollständig zertrümmert«, erwiderte Somerton. Offensichtlich war das eine Debatte, die er schon öfter geführt hatte. »Aber in weniger als einem halben Jahrhundert wurden beide wirtschaftliche Riesen, Länder der Ersten Welt. Wie? Weil sie jede Art von militärischer Offensivrüstung vollständig aufgeben mußten. Nachdem sie entwaffnet und machtlos am Boden lagen, viele ihrer Industriebetriebe demontiert und abtransportiert worden waren, mußten sie mit verhältnismäßig geringen Krediten ihre Wirtschaft und Industrien praktisch von Grund auf neu errichten. Weil sie sehr wenig Geld für ihr Militär ausgeben mußten, konnten sie alle Einnahmen in den Wiederaufbau stecken und hatten schon nach zwanzig Jahren eine modernere und leistungsfähigere Industrie als die Siegermächte, weil die ihnen die veralteten Maschinen demontiert und weggeschleppt hatten.« Er lächelte. Trotz seiner mißlichen Lage schien ihm die Dis-
kussion Spaß zu machen. »Für die Amerikaner war es einfach, sich mit Völkern anzufreunden, denen sie sich überlegen fühlen konnten. Amerikaner wollen geschätzt und anerkannt sein, und ihre früheren Feinde waren nur zu gern bereit, ihnen zu sagen, wie wundervoll sie seien, und sie in allen Äußerlichkeiten der Lebensweise nachzuäffen.« Er legte den Zeigefinger an die Nase. »Alles war gut und schön und nach dem Geschmack der Amerikaner, die gute Geschäfte und aus Kriegsgegnern blinde Verehrer gemacht hatten«, sagte er ironisch. »Dann, auf einmal, die große Überraschung. Irgendwie hatten ihre folgsamen kleinen Freunde, die sie noch rücklings am Boden liegend wähnten, sich hochgereckt und den Sieger, der sie niedergeworfen hatte, bei den wirtschaftlichen cojones gepackt.« Also sprach er doch spanisch. Ich musterte ihn kritisch. »Übertreiben Sie nicht, Somerton. Wir haben unsere Probleme selbst geschaffen.« »Aber das hinderte niemanden daran, sie auszunutzen, nicht wahr?« Wir standen entschieden auf verschiedenen Seiten des politischen Zauns, aber ich fand seine Argumente interessant. »Das ist also Ihr Spielplan für Khuruchabja? Durch Unterwerfung Freunde gewinnen. Irgendwie glaube ich nicht, daß das hier unten allzu gut funktionieren wird.« »Das ist nur ein Teil der Gleichung«, erwiderte Somerton. Er sah recht selbstzufrieden aus. Halton hatte seine Hand noch um das Knie des Mannes geklammert, aber Somerton schien ihn vergessen zu haben. »Japan und Deutschland hatten in der Frage ihrer Entwaffnung und Besetzung keine Wahl, aber es ist
nicht notwendig, vollständig hilflos zu werden. Seine Exzellenz hat großen Respekt vor der Macht der Demokratie, dem amerikanischen Ideal der Gleichheit vor dem Gesetz. Er hat mehr Vertrauen in die Freiheitsurkunde und die Verfassung als der durchschnittliche Amerikaner.« Somerton zog bedauernd die Brauen hoch. »So lange diese Dinge in Amerika bleiben. Er anerkennt, daß es dieselbe Gesellschaft ist, die zur führenden Militärmacht der Erde aufstieg, und würde gern einige der Vorteile für sein eigenes Land übernehmen, aber ohne die Nachteile für ihn persönlich. Unglücklicherweise leidet er unter einem ernsten Geburtsfehler; er wurde ohne den rechtschaffenen Sinn des Durchschnittsamerikaners für Zynismus geboren. Er glaubt, er könne die amerikanische Regierung mit Leichtigkeit beeinflussen, daß sie ihm den Weg zu einer waffenlosen Demokratie mit Gold pflastert, ohne daß er etwas von seiner Macht aufgeben muß.« Ich schüttelte den Kopf. »Die Kunst der Täuschung ist Amerikanern nicht fremd. Er sollte an die finanzielle Katastrophe denken, die sich in Osteuropa ereignete, nachdem sie dort die Demokratie ›erklärt‹ hatten. Der Westen spendete Beifall, alles war begeistert über den Zusammenbruch des menschenverachtenden kommunistischen Systems. Die Hälfte der Berliner Mauer steht heute auf amerikanischen Kaminsimsen. Wir waren alle ekstatisch – bis sie uns die Rechnung präsentierten. Sie hatten die Vorstellung, daß wir ihnen Kapital geben würden, wenn sie sich zu einer demokratischen Gesellschaft erklärten. Unentgeltlich, versteht sich.« Ich nahm die Packung Gitanes vom Tisch und schüttelte eine weitere Zigarette heraus. Nach kurzer Überlegung bot ich auch
Somerton eine an. Er lehnte mit verwirrtem Kopfschütteln ab. »Die Deutschen brauchten zehn Jahre und mehr als tausend Milliarden Dollar, um den bankrotten und verfallenden Osten ihres Landes nach der Wiedervereinigung in die Höhe zu bringen«, sagte ich, als ich die Zigarette anzündete. »Und Japan lief schließlich mit seiner eigenen gefräßigen Wirtschaft auf Grund; man kann nicht all diese Sony Walkmans und Toyotas und Hologeräte in die Staaten exportieren, wenn niemand mehr da ist, der einen Job hat und sie kaufen kann, weil alle Arbeit in die Billiglohnländer nach Übersee abgewandert ist. Wenn Scheich Larry nach einem Rollenmodell Ausschau hält, das ist es sicherlich nicht.« Somerton zuckte die Achseln. »Es gibt ein anderes Land im Nahen Osten, das einmal ähnliche Probleme wie Khuruchabja hatte«, sagte er. »Ein kleines Land ohne Öl und nennenswerte andere Bodenschätze, mit einer wenig einladenden Umwelt, ausgelaugten Böden, unfruchtbaren Wüsten und steinigen Hügeln, umgeben von feindlichen Nachbarn, die ihm das Existenzrecht bestritten. Das Überleben des Landes hing lange Zeit von großzügigen Finanzhilfen ab, die ihm von außerhalb zuflossen und je nach der politischen Wetterlage oft nur zögernd gewährt wurden. Nichtsdestoweniger gelang es dem Land, wirtschaftlich den Anschluß an die Erste Welt zu finden und zur stärksten Militärmacht der Region aufzusteigen.« »Israel.« Es war offensichtlich. »Genau.« »Ich glaube nicht, Somerton, daß sehr viele Moslems erfreut sein werden, wenn man ihnen den jüdischen Staat als Vorbild hinstellt. Außerdem hatte Israel einige Vorteile, die Khuruchab-
ja fehlen, zum Beispiel einen Seehafen. Und Atomwaffen, die es heimlich, aber mit stillschweigender Duldung und Unterstützung der Vereinigten Staaten entwickeln konnte. Sie erinnern sich, was letztes Mal passierte, als Khuruchabja in den Besitz von Infrafusionswaffen gelangte. Vor allem aber«, fuhr ich fort, »erfreut Israel sich von jeher der traditionellen Unterstützung durch die Vereinigten Staaten, finanziell, politisch und militärisch. Es hat einen großen Bevölkerungsanteil von Einwanderern aus Europa und Amerika, dazu ungefähr die Hälfte der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz, die Sowjetrußland hervorgebracht hat, hochgebildete Leute, die alle stark motiviert waren, ein jüdisches Heimatland aufzubauen. Khuruchabja hat alles das nicht. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hier sind analphabetische Bauern und Hirten. Und viel zu viele der anderen Hälfte, die Gebildeten, Intellektuellen, die Angehörigen freier Berufe, die technischen Spezialisten, haben längst die Siebensachen gepackt und sind ausgewandert. Wie also wollen Sie diese Leute überzeugen, daß es ihnen Wohlstand und Hilfe ausgerechnet vom verhaßten Westen bringen wird, wenn sie sich selbst entwaffnen?« Ich dachte an Ibrahim al-Ruwalas kleinen Vortrag über Wurzeln im Sand und Blumen in der Wüste. »Niemand sagte, daß es einfach sein würde«, meinte Somerton. »Wir müssen ein ungebildetes, analphabetisches Volk unter einem Banner vereinigen, das ihnen etwas bedeutet, und gleichzeitig den ausgewanderten Ärzten und Anwälten und Angehörigen der technischen Intelligenz einen Anreiz geben, in das Land ihrer Geburt zurückzukehren. Eine vernünftig gehandhabte Wirtschaft kann ein starker Magnet sein. Gelingt es,
den Machthabern neue Methoden zur Kontrolle der Staatsfinanzen zu weisen, so könnte daraus ein Klima entstehen, das allen genug Luft zum Atmen gibt und sie davon abhält, einander umzubringen.« »Und mit dem Erzengel Gabriel zur Rechten und dem Licht Ihrer Geheimgesellschaft als Wegweiser, hat Scheich Larry eine gute Chance, das zu erreichen. Ist das die Idee?« Somerton stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte die Fingerspitzen aneinander. »Unsere Bürger aus dem vierzehnten Jahrhundert würden von der Schaustellung Künstlicher Intelligenz auf höchstem technischen Niveau beeindruckt sein. Die ganze Bevölkerung ist der Kämpfe und der Armut überdrüssig. Sie hat es satt, auf der einen Seite vom Westen herumgeschubst und auf der anderen von ihren reichen Moslemvettern verhöhnt zu werden.« »Und das religiöse Verbot Künstlicher Intelligenz? Gefangene Seelen, alles das?« Er hob eine Schulter und die Brauen. »Wenn der Erzengel Gabriel selbst einer Islamischen Technik Künstlicher Intelligenz den Kuß der Legitimität gibt, wer wird sich beklagen?« Ich dachte darüber nach. Es war ein bewundernswertes Ziel, aber war es echt? »Wie ist Ihre Einschätzung, Halton?« fragte ich. Somerton wandte den Kopf und beobachtete Halton wie ein Kind, das nervös die Ausgabe von Zeugnissen erwartet. »Meine Einschätzung?« Halton blickte zu mir auf. Seine Augen schienen leblos. »Mr. Somerton spricht fließend englisch, und nach seinem Akzent zu urteilen, wurde er wahrscheinlich in einem Umfeld der oberen Mittelklasse in der Gegend von Birmingham erzogen – ich würde auf West Bromwich tippen.
Er hat nach seiner Schulzeit einen großen Teil seines arbeitenden Lebens in London verbracht, die letzten fünf bis sieben Jahre aber in Kanada, und nach den kurzen und offenen Vokalen im Süden Manitobas, glaube ich, wahrscheinlich in oder nahe Winnipeg. Mr. Somertons Markundi-Arabisch ist auf der Ebene, die man bei jemandem findet, der kürzlich an einem Intensivkurs für Regierungs- oder Botschaftspersonal teilgenommen hat, das für einen Auslandseinsatz vorgesehen ist. Ich würde sagen, daß er etwas Spanisch versteht, zumindest die umgangssprachlichen Redensarten, oder genug Hintergrund von Latein oder anderen romanischen Sprachen besitzt, um von dort abzuleiten.« Somerton starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, dann brach er in ein kurzes, gepreßtes Lachen aus. Ich bedachte Halton mit einem unfreundlichen Blick, denn ich verstand wohl, was er sagen wollte: Ich bin Linguist, kein Superspion. Sehr komisch. »Ich bin beeindruckt«, sagte Somerton. Er wandte sich wieder mir zu, relativ entspannt jetzt, trotz des harten Griffs um sein Knie. »Nun, Sulaiman? Kann ich die Mikroplatte haben?« »Beantworten Sie mir eine letzte Frage, Somerton«, sagte ich ausweichend. »Etwas gibt mir die ganze Zeit zu denken, und vielleicht können Sie es aufklären. Warum ich?« Er schaute unbehaglich drein, blickte auf sein gefangenes Knie, dann zu Halton. »Was meinen Sie?« »Es ist ziemlich offensichtlich, daß die CDI meinen Namen nicht aus einem Hut mit Losen gezogen hat. Ich bin aus einem bestimmten Grund hier. Warum also ein Journalist, und warum ich?«
Somerton steckte die Finger ineinander und betrachtete sie, wich meinem Blick aus. Das Stillschweigen zog sich eine Weile hin, bevor er antwortete. »Der offizielle Grund ist der, daß Sie arabisch-amerikanischer Herkunft sind und Erfahrungen in diesem Teil der Welt gesammelt haben, Sulaiman«, sagte er dann. »Sie sind ein geachteter und erfahrener Journalist. Sie waren während des letzten Krieges hier und brachten unglaubliche Reportagen, die zweifellos die Preise verdient hatten, die Sie erhielten. Leute auf beiden Seiten glauben Ihnen, haben Vertrauen in Ihre Reportagen. Das und Ihre Kenntnisse des Markundi verleihen Ihnen und Halton eine hinreichend vertrauenswürdige Tarnung.« Er blickte mit entschlossenem Ausdruck auf. »Der wahre Grund ist, daß Sie keine Feldarbeit mehr machen. Sie haben seit mehr als zehn Jahren keine Tätigkeit als Korrespondent oder Reporter ausgeübt und sind seit damals nicht in Khuruchabja gewesen. Sie sind eingerostet, haben keinen Kontakt und sind nicht in Form. Sie kennen sich mit den Feinheiten der Politik hier nicht mehr aus. Sie haben keine klare Vorstellung, wer was ist. Sie haben ein hitziges Temperament und eine insgesamt übertrieben hohe Meinung von sich selbst. Ihre Anmaßung verschafft der CDI den Vorteil, Einfluß darauf zu nehmen, was Sie sehen möchten, und wie Sie es melden.« Mein Gesicht brannte, und es hatte nichts mit der Vormittagshitze zu tun. Somerton seufzte. »Tut mir leid, Sulaiman. Hätten Sie mich nicht an Ihren organischen Lügendetektor angeschlossen …« – er zeigte mit dem Daumen zu Halton –, »wäre ich vielleicht in der Lage gewesen, etwas, nun, diplomatischer zu sein. Aber Sie wollten es wissen.« Seine Stimme klang aufrichtig bedauernd.
»So. Habe ich bestanden?« fragte er. »Mit fliegenden Fahnen«, sagte ich leise, um zu verbergen, daß meine Stimme bebte. »Geben Sie ihm die Mikroplatte, Halton.« Halton gab Somertons Knie frei, nahm die Mikroplatte aus dem Mund, wischte sie an der Serviette ab und reichte sie ihm. Die Erleichterung in Somertons Gesicht war unverkennbar. Er steckte die Mikroplatte sorgfältig in ein Seitenfach seiner Geldbörse, bevor er aufstand. Er rieb sich mit einer Hand das Knie und zögerte. »Mir ist klar, daß Sie nach wie vor Journalist sind, Sulaiman. Ich kann nicht erwarten, daß Sie dieses Gespräch geheimhalten. Aber wenn Sie zu frühzeitig berichten, was ich Ihnen gesagt habe, würde es uns nicht nur eine Menge Ärger eintragen, sondern unschuldige Menschen könnten unnötig zu Schaden kommen. Ich bitte nur darum, daß Sie diese Begegnung für sich behalten, bis Sie in die Staaten zurückkehren. Geben Sie uns ein wenig Zeit, diese Leute zu schützen, das ist alles … Bitte.« »Ich werde es mir überlegen.« Genau was ich brauchte: Mehr Schuld vom Blut Unschuldiger an meinen Händen. »Sie könnten mich bei der CDI bloßstellen«, sagte er zu uns beiden. »Mich enttarnen.« Halton sah ihn mit undeutbarem Ausdruck an. »Wenn Sie deswegen so besorgt sind, warum lassen Sie uns nicht erschießen?« »Wir arbeiten nicht so«, sagte er, um dann trocken hinzuzufügen, »wenn es sich vermeiden läßt.« Ich seufzte müde. »Ich werde Sie nicht verpfeifen, Somerton«, sagte ich. »Ich habe meine eigenen Probleme mit der CDI,
die mich gegenwärtig beschäftigen.« Er blickte fragend zu Halton. Der nickte. Somerton nickte auch, nagte an der Unterlippe. »Wir zahlen unsere Schulden zurück.« Er hielt inne. »Wir haben tatsächlich einen gemeinsamen Feind, Sulaiman.« Ich sah ihn unfreundlich an. Meine Augen waren trocken und brannten, und ich wollte nur, daß er ginge. »Ich weiß. Deshalb gab ich Ihnen die verdammte Mikroplatte. Aber der Feind meines Feindes ist nicht zwangsläufig mein Freund.« Er nickte. »Und in der Wüste ist nichts jemals, was es zu sein scheint, nicht wahr?« sagte er. Ich dachte für einen Moment, er würde mir die Hand hinstrecken, aber er beschränkte sich auf ein grimmiges Lächeln, nickte Halton zu und ging fort, seine Jacke und Aktentasche zu holen. Der Kellner legte die Rechnung auf den Tisch. In der Ferne hörte ich den elektronisch verstärkten Ruf von Muezzins, die zum Mittagsgebet riefen. Das Terrassencafé lag verlassen. Halton saß geduldig da, während ich über die Dächer von Nok Kuzlat ins Leere starrte. Ich hatte vergessen, was ich als Journalist für selbstverständlich hätte halten sollen: Nichts hat die gleiche Schlagkraft wie die Wahrheit.
14 EINEN MONAT VOR MEINER ABREISE nach Khuruchabja war ich vierzig geworden, was mich damals nicht im mindesten gestört hatte. Ich sagte es niemandem, kein Mensch gab eine Party für mich, es hatte nichts zu bedeuten. Ein Tag wie jeder andere, ein weiteres Lebensjahr. Es war der Gang der Welt. Insgeheim war ich stolz auf mich gewesen – wie gelassen und nonchalant ich diesen Meilenstein in die mittleren Jahre und die Midlifecrisis ohne ein Wimmern hinter mich gebracht hatte. Ich hatte froh und glücklich hinter meinem Redaktionsschreibtisch gesessen und entdeckt, daß ich nicht der Reportertyp war, der sich furchtlos in die Tiefen der Hölle stürzt und Leben und geistige Gesundheit für die Chance riskiert, Satan selbst ein Interview abzuringen. Solche Journalisten waren selten, exzentrische Vögel, Adrenalinsüchtige, die es als Sport betrieben. Ich hatte es gemacht und die nächsten paar Jahre immer wieder intime Gespräche mit Psychotherapeuten geführt. Ich schätzte den Ruhm und das Prestige, hatte aber die Erfahrung gemacht, daß dies als Grund nicht ausreicht. Die innere Unruhe, das Feuer im Bauch war es, was die Leute antreibt. Meines war zu Asche geworden. Ich dachte, ich hätte das akzeptiert. Somertons Worte hatten mich tiefer getroffen als ich für
möglich gehalten hatte. Ich war tatsächlich ausgebrannt. Ich hatte mich nicht von der Arbeit als Reporter und Feldkorrespondent zurückgezogen, weil ich nicht mehr wollte, sondern weil ich nicht mehr konnte. Zehn Jahre lang hatte ich mich nicht darum geschert, welche Politik in Khuruchabja gemacht wurde; hatte versucht, diesen Teil meines Lebens so weit wie möglich hinter mir zurückzulassen. Jegliche Illusionen, die ich über meine arabische Herkunft oder die exotischen Geheimnisse des Orients gehabt hatte, waren zerstoben. Ich wollte nach Haus, wo es sicher war, wo das Leben Sinn machte, wo ich einfach eine weitere gewöhnliche Amerikanerin sein konnte. Aber ich haßte den Gedanken, daß ich alt war, und so leicht zu manipulieren. Ich war für dumm verkauft worden. Ich hatte meine Midlifecrisis nicht vermieden; Somerton hatte nur eine verzögerte Reaktion ausgelöst. Hier war ich mit vierzig, rannte wieder als Mann verkleidet in der Wüste herum, ängstlich und zornig, und tat die gleiche Arbeit, die ich getan hatte, bevor ich dreißig geworden war, als ich gedacht hatte, es sei der Weg, der in der Berufslaufbahn nach oben führte. Nichts hatte sich außer mir verändert. Ich war älter, meine Gelenke knackten mehr, ich wurde grau und war noch immer unverheiratet, kein Liebesleben am Horizont. Meine einzige Leidenschaft war meine Arbeit, die längst den Glanz und die Spannung eingebüßt hatte, von der ich als junge Collegeabsolventin phantasiert hatte. Das Zusammensein mit John Halton war auch nicht hilfreich. Biokonstrukt oder nicht, Halton war eines der begehrenswertesten männlichen Wesen, die ich je gesehen hatte, was mich deprimierte, weil es mir lediglich vor Augen führte, daß
solche Männer niemals auch nur einen Blick in meine Richtung verschwenden, wenn sie mir auf der Straße begegnen. Also können Sie verstehen, warum jedes angedeutete Interesse Haltons mich total verwirrte. Solche Anzeichen weckten eine Libido, die ich für längst unterdrückt und abgestorben gehalten hatte, und das verdroß mich. Ich bin zu alt, um mich der Libido hinzugeben, dachte ich mißmutig. Wir fuhren hinaus in die Größere Khuruchabjanische Wüste, folgten einer ungeteerten Straße, die kaum wahrnehmbar mit der öden, flachen Gegend verschmolz. Die gelegentlichen sandgestrahlten Fahrzeugwracks am Straßenrand dienten als Wegmarkierungen. Ich wollte Filmmaterial von den trostlosen Provinzen bekommen, die Nok Kuzlat umgaben, um sie in die königlichen Interviews einzublenden. Eine Art ironischer Kommentar über Land und Leute und den jungen König, der sie regierte. Ich suchte auch etwas Zurückgezogenheit. Ich mußte hinaus aus der Stadt, meine Wunden lecken und nachdenken. In Nok Kuzlat, wo ich jedes Wort, das ich sagte, auf die Waagschale legen und mich ständig nach Gesichtern umsehen mußte, die uns vielleicht beobachteten, wurde ich verrückt. Hier draußen würden sie allmächtig sein müssen, um mich zu belauschen. Es war unwahrscheinlich, daß sie die Mühe und die Kosten auf sich nehmen würden, um uns über einen Spionagesatelliten zu beobachten, und falls sie es doch taten, sollte sich der Schnüffler, wer immer er war, zu Tode langweilen. Als ich das letzte Mal diese Strecke gefahren war, hatten meine Ohren vom Kreischen und Donnern der Flugzeuge ge-
schmerzt, und die Straße war nahezu unpassierbar gewesen, als Maschinen der Regierungsstreitkräfte mit Bordwaffen und Raketen Konvois von Lastwagen und Tankfahrzeugen angegriffen hatten, die nach einer zurückgeschlagenen Offensive auf Nok Kuzlat versucht hatten, durch die Wüste zu entkommen. Feuernde Flak und Raketeneinschläge hatten den Nachthimmel erhellt. Die Bewohner der Dörfer entlang der Rückzugsstraße waren in Panik in die Wüste geflohen. Die Damaskus-Koalition hatte nach der gescheiterten Offensive die umliegende Wüste mit vibrationsempfindlichen Streuminen gepfeffert, angeblich, um die Pioniereinheiten an der Instandsetzung der Straßen zu hindern und den nachdrängenden Behjars die Freude am Ausräumen und Plündern der liegengebliebenen Fahrzeugkolonnen zu verderben. Die Streuminen erwiesen sich auch als wirkungsvoll gegen zehnjährige Jungen, die mit den kleinen Schafherden ihrer Familien von einer Weide zur anderen zogen. Daß ein guter Teil der Todesopfer und der Zerstörungen auf das Konto ihrer eigenen Landsleute ging, war ein schwacher Trost für die armen Bauern und nomadisierenden Hirten. Sie verstanden wenig von den feineren Unterschieden globaler Politik, aber Tod und Schrecken waren ihnen nur zu vertraut. Jetzt lag die Wüste still und leer. Da und dort fegte der heiße Wind Staubwirbel zusammen, die lautlos und in geisterhafter Eleganz rotierend über die rote Sandsteinwüste zogen. Fern im Südwesten lag der Gebirgszug, den die Khuruchabjaner alUmmah'at nannten, Die Mütter, wo alte Götter noch immer in den seltsamen Felsformationen sangen, die vom windgetriebenen Sand modelliert waren. Auf der anderen Seite des Gebirges lag die Grenze zwischen Khuruchabja und einem seiner mehr
antiamerikanischen Nachbarn, was die Khuruchabjaner freilich nicht zu einer höheren Wertschätzung dieser Nachbarn bewegen konnte. Wir machten halt und filmten einen nomadischen Schafhirten, der uns mißtrauisch beobachtete, während er seine Tiere über die Straße trieb. Den passenden Hintergrund bildete das ausgebrannte Wrack eines Panzers, der von einer Rakete zerstört worden war und dessen zerfetztes stumpfgraues Metall in der heißen Brise knarrte. Nachdem der Krieg das Volk und die Wirtschaft ruiniert und der Internationale Währungsfonds das, was übrig war, in ewige Armut getrieben hatte, war kein Investor aus den Nachbarländern bereit gewesen, das Risiko einer Rückkehr nach Khuruchabja einzugehen, um dort den Wiederaufbau zu finanzieren. Zwar hatten sich ihre durch den Krieg verursachten Gesamtverluste in Grenzen gehalten, doch waren sie nichtsdestoweniger ärgerlich gewesen. Die beiden einzigen Fernstraßen, die nach Nok Kuzlat führten, waren nur notdürftig repariert, und der Verkehr war bestenfalls minimal. Unser Schafhirte sah sich noch einmal um, und sein Gesichtsausdruck lag im Schatten der karierten Kaffijeh, die um sein lederiges Gesicht gewunden war. Er trieb seine Herde die andere Seite eines Wadi hinauf und verschwand hinter der nächsten Düne. Der Nachmittag neigte sich dem Abend zu, aber noch immer war es sengend heiß. Die trockene Luft schimmerte über dem Horizont mit der Illusion von Wasser; die Natur neigte hier ebenso wie die Menschen zu Widersprüchen. In der Ferne machte ich ein madja aus und hielt mit dem Geländewagen darauf zu. Es bestand aus einem einzigen Raum, war aus Lehmziegeln errichtet und mit Wellblech gedeckt. Die Tür und die
geschlossenen Läden des Fensters waren noch intakt; offensichtlich war seit langem niemand hier gewesen. Es war eine der ehrgeizigen und wohlmeinenden Ideen westlicher Entwicklungshilfe, die in der Praxis nie funktionierten: eine Reihe von Raststationen für müde Lastwagenfahrer, Zufluchtsorte vor Sandstürmen. Das Wasserfaß draußen war längst geleert, das Waschbecken und der Wasserhahn im Innern abmontiert und gestohlen, so daß ein nacktes Leitungsrohr aus der Wand schaute, als wäre es erstaunt, keinen Anschluß zu finden. Regale, die eigentlich einen Notvorrat von khakifarbenen UN-Packungen mit Verbandmaterial und Medikamenten für Erste Hilfe und Lebensmittel-Notrationen enthalten sollten, hatten nur noch staubigen Sand zu tragen, der durch den Spalt unter der Tür hereingeblasen worden war. Das verblaßte Wandplakat, das die Besucher in fünf verschiedenen Sprachen ermahnte, auf andere Reisende Rücksicht zu nehmen, nur die wirklich benötigten Vorräte zu entnehmen und die Raststation für den nächsten Gast sauber und aufgeräumt zurückzulassen, war von höhnischen arabischen Inschriften überschmiert. Drei hölzerne Stühle waren alles, was geblieben war; der vierte Stuhl und der größere Teil des Tisches waren von einem früheren Gast zerbrochen und als Feuerholz verwendet worden, wovon ein kreisförmiger Aschenhaufen und verkohltes Holz auf dem Sandboden in der Mitte des madja Zeugnis ablegten. Wir schleiften zwei der überlebenden Stühle aus dem glutheißen Inneren der Station und setzten uns in den Schatten der Lehmwand. Dort aßen wir den Inhalt des Essenpakets, das ich vom Hotel
hatte vorbereiten lassen, und tranken das meiste Wasser, welches inzwischen warm genug war, daß ich es zum Teeaufgießen hätte verwenden können. Der Motor des Geländewagens tickte leise vor sich hin, das Karosseriemetall kühlte im Schatten des madja mit etwas lauter knackenden Geräuschen ab. Die Sonne verfärbte den Himmel hinter den Bergen blutrot. Die Hänge nahmen ein tiefes Grauviolett an, die Höhen blieben rosig überhaucht. Ich hörte einen hohen, leisen Ruf und beschirmte die Augen, um einen Wüstenfalken auszumachen, der hoch über uns seine Kreise zog und nach den kleinen Tieren Ausschau hielt, die nun, da die schlimmste Tageshitze gewichen war, aus ihren Erdlöchern kamen. Der Falke segelte ohne Flügelschlag in der Thermik, weiße Spitzen an den Enden der Schwungfedern. Es war atemberaubend schön. Ja, es ist Schönheit in der Wüste. Als Heranwachsende hatte ich den Südwesten der Staaten durchstreift, indianische Pfeilspitzen und fossile Trilobiten gesucht und immer die Stille des einsamen, offenen Landes geliebt, wo es für das aufmerksame Auge mehr zu sehen gab als bloß Hitze und Leblosigkeit. »Er ist wunderbar«, sagte ich zu Halton, während ich den Falken beobachtete. »So tödlich und doch anmutig. Eine der elegantesten Schöpfungen der Natur.« Er sah mich an, dann spähte er neugierig zu dem Falken auf. Ich merkte seinem Gesichtsausdruck an, daß er den Vogel nicht wie ich sah. In diesem Moment bedauerte ich ihn. »Als ich letztes Mal hier war«, erzählte ich ihm, »verbrachte ich so viel von meiner Zeit mit der Aufzeichnung von Häßlichkeit und Leid, daß mir nicht viel übrig blieb, irgend etwas zu würdigen.«
Die Wahrheit ist, daß ich auch anfing, mich selbst zu bemitleiden. »Immer unterwegs, immer auf der Hut, um einer Festnahme zu entgehen und nicht in die Schußlinie zu geraten, immer bemüht, meine Filme vor der Beschlagnahme durch die eine oder die andere Kriegspartei zu vermeiden. Ich war zu jung, um wirklich Angst zu haben. Zuerst war es aufregend. Aber dann fing ich an zu überlegen, daß zu viel von dem Filmmaterial leidende und verletzte Menschen, Tod und Zerstörung zeigte, und daß ich mein Leben nicht damit verbringen wollte, solche Dinge festzuhalten.« Halton beobachtete mich schweigend und hörte zu. Ich habe in meinem Leben wenige Freundinnen gehabt, und noch weniger Freunde, und keiner von ihnen hatte sich wirklich Zeit genommen, mich wirklich anzuhören. Während meine Freundinnen zu Verabredungen gingen und sich amüsierten, saß ich allein zu Haus und sah mir alte Filme im Fernsehen an. Ich hatte gelernt, mein zerbrechliches Selbstgefühl mit schlagfertigen Bissigkeiten und lustigen Geschichten zu schützen, aber soweit es wirkliche Gespräche betraf, hatte ich mehr aufrichtige Plaudereien mit der Katze meiner Nachbarin. »Ich fürchte, ich habe den besten Teil meines Lebens entweder mit der Jagd nach Geschichten über Blut und Bomben oder hinter einem Redaktionsschreibtisch verbracht.« Auf einmal hatten mich Jammer und Trübsal der Lebensmitte eingeholt. Der Anblick des Wüstenfalkens hatte die Schleusen des Selbstmitleids geöffnet. »Sie sind nicht so alt«, sagte Halton. Er versuchte nicht, mich in meiner Depression aufzumuntern; er stellte nur eine Tatsa-
che fest. Ich lächelte vage. »Wie alt sehe ich aus?« Ich hätte es besser wissen sollen, als nach Komplimenten von Halton zu angeln. Er zuckte die Achseln. »Ein bißchen über vierzig«, sagte er. Verdammt, jemand hätte diesem Mann etwas mehr Taktgefühl beibringen sollen. Anscheinend sah ich bestürzt aus, denn er schaute mich neugierig an. »Ist das alt?« fragte er. »Ich dachte, die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei neunzig Jahren. Wenigstens im Westen.« »Es ist alt, wenn man von vorn anfangen und eine neue Laufbahn finden will«, erwiderte ich. »Es ist alt, wenn man zu lange an einem Ort geblieben und nichts passiert ist.« Es ist alt, wenn man eines morgens allein aufwacht und erkennt, daß man die nächsten vierzig Jahre allein aufwachen wird, aber das sagte ich nicht. Ich blickte in sein junges Gesicht, das noch glatt und hübsch war, und beneidete ihn, wenn er auch ein Biokonstrukt war. »Warten Sie noch ein paar Jahre, dann wird es auch Sie erwischen, Halton.« Er blickte überrascht auf, dann lächelte er. »Für wie alt halten Sie mich?« fragte er. Ich hatte das Interesse an diesem Spiel verloren. »Ich weiß nicht«, sagte ich abweisend. »Zweiunddreißig, dreiunddreißig.« Ich dachte nicht nach. »Ich bin zwölf«, sagte er. »Im Januar werde ich dreizehn.« Ich glotzte ihn an, und er grinste. »Aber man hat mir gesagt, daß ich für mein Alter jung aussehe.« Ich mußte lachen und schüttelte den Kopf. »Also haben Sie doch ein Gefühl für Humor.« »Ich arbeite daran.«
»Manchmal fällt es mir schwer, mich zu erinnern, daß Sie nicht wirklich sind.« Er lächelte nicht mehr, blinzelte zum Himmel und schaute hinaus zu den dunkelnden Bergen. »Ich bin wirklich«, sagte er ruhig. Vielleicht hätte jemand auch mir Takt beibringen sollen. Ich versetzte mir einen mentalen Tritt und sah ihn an, wie er über die leere Wüste hinausblickte. Er hatte sich sehr bemüht, mir alles recht zu machen. Und er hatte mir das Leben gerettet. Und ich hatte ihn gerade wie jeden anderen behandelt, der mir zu nahe gekommen war, hatte ihn mit verbalen Stößen und Feindseligkeit abgewehrt. Das hatte er nicht verdient. Eine Welle von Zuneigung durchströmte mich plötzlich. Mehr als das, ich begehrte ihn. Ich wollte ihn unter diesem weiten türkisblauen und karmesinroten Himmel lieben, mich in Haremsgewänder aus Seide kleiden und auf einem dicken Perserteppich liegen, sein Gewicht auf mir fühlen, während ich einen Falken über mir kreisen sah, anmutig und schön. Mein Körper mußte plötzlich eimerweise Pheromone ausgeschüttet haben. »Ach, zum Teufel«, murmelte ich. »Es tut mir leid, Halton.« Er sah mich verdutzt an, und ich ergriff seine Hände. Er holte scharf Luft und versteifte sich. »Ka Be …«, sagte er unbehaglich. Ich zog ihn an den Armen so weit herüber, daß ich ihn küssen konnte. Es wurde eine lange Umarmung, die uns beide atemlos machte. Als er sich aufrichtete, waren seine Augen groß und beinahe ängstlich. »Würdest du vielleicht noch interessiert sein, mich zu lieben?« fragte ich, und diesmal fühlte ich mich
wie die Schüchterne. Ich hatte Angst, er könnte es sich anders überlegt haben. Er nickte bedächtig. »Ja, bitte«, flüsterte er. Was mochten ihm seine früheren Liebhaberinnen beigebracht haben? Zwar hatten wir keinen Perserteppich, aber wir hatten die Plane vom Verdeck des Geländewagens, die etwas muffig war und weit davon entfernt, weich an der Haut zu sein. Ich hatte noch immer Bedenken wegen eines Spionagesatelliten, der vielleicht Aufnahmen vom Muttermal an meinem Hintern machen würde, also öffneten wir Tür und Fenster des madja und lüfteten den Raum zu einer erträglichen Temperatur. John Halton war der beste Liebhaber, den ich jemals hatte, was tatsächlich nicht viel bedeuten will, zieht man die Zahl und Qualität meiner früheren Partner in Betracht. Aber ich bin sicher, daß er in jeder Klasse gut abgeschnitten hätte. Wir lagen auf dieser muffigen Plane im Halbdunkel eines verlassenen Stationshäuschens, und er liebkoste mich mit soviel Bewunderung, als ob ich eine Kandidatin für die Wahl zur Miss Universum wäre. Ich fühlte mich beklommen und schüchtern. Ich hatte ihn früher schon nackt gesehen, aber nicht so aus der Nähe und so persönlich. Seine Muskeln bewegten sich unter glatter Haut, lockiges Haar überpuderte seine Brust und die Beine, und nirgendwo war ein Gramm überflüssiges Fett. Er war weit außerhalb meiner üblichen Liga, und ich mußte immer wieder denken, ich verdiene dies nicht, es ist zu gut, jetzt wird er mich jeden Augenblick genauer ansehen, und dann … Er küßte mir den Hals und hob den Kopf, mich anzulächeln. »Komisch«, sagte er verwundert, »du hast eine Gänsehaut nur auf einer Seite«, und strich mit der Hand darüber. Er küßte die
andere Seite, um dort auch eine Gänsehaut zu erzeugen, und spielte fröhlich wie ein Kind, bis ich nach Atem rang, erhitzter als ich je zuvor gewesen war. Ich lag auf einem Kissen aus Sand, das sich unter der Plane gebildet hatte, während er sich gegen mich bewegte, und seine Hände mich liebkosten, sanfter hier und rauher dort, als wüßte er genau, was ich wollte. Auf einmal wurde mir klar, daß er es wußte, weil die chemischen Sensoren in seinen Händen meine Haut so genau ablesen konnten wie ein Laborinstrument. Er reagierte auf mein Verlangen wie ein Rückkopplungsmechanismus. Ich verriet ihm so genau, was ich wollte, als ob ich es ihm gesagt hätte. Der technisch fortgeschrittenste Roboter, dachte ich unwillkürlich, und etwas in mir widerstrebte. Sofort hielt er inne. Seine Augen blickten besorgt aus dem dämmernden Halbdunkel. »Mache ich etwas falsch?« fragte er. Du Idiot, Ka Be. Er kann deine Gedanken nicht lesen, aber deine Furcht. »Nein, nichts«, versicherte ich ihm, zog ihn fester in die Arme und vertrieb den Gedanken. Nach einem Moment schmiegte er sich wieder an mich, und ich fühlte seine weichen Lippen auf der Haut und schloß die Beine um seinen Rücken. Das Geräusch seines angestrengten Atmens in meinem Ohr trieb mich die Wand hoch in den besten Orgasmus, den ich je gekannt hatte. Er keuchte, und ein Erschauern durchlief ihn in pulsierenden Wellen. Seine Brust war schlüpfrig vom Schweiß. Er glitt von mir, und ich kuschelte mich in seine Armbeuge. Wir schnauften wie Asthmatiker. Eine leichte Brise wehte zur offenen Tür herein
und kühlte den Schweiß auf unseren Körpern. Es war ein köstliches Gefühl. Nach einer Weile lächelte ich zu ihm auf und küßte seine Stirn. »Gott, das war wunderbar«, sagte ich. Er grinste selbstzufrieden wie ein kleiner Junge und stützte sich auf einem Ellbogen, den Kopf in die Hand gelegt. Seine andere Hand strich in behutsamen Mustern über meine Haut, zog Kreise mit seinen sensorischen Fingerspitzen. Es machte mich plötzlich verlegen, und schon hörte er auf und sah mich fragend an. »Ich habe Schwierigkeiten, zu verstehen, wie eine Frau, die wie ich aussieht, dich reizen kann«, sagte ich lahm. Dabei stieg mir eine peinliche Röte in die Wangen. »Warum?« erwiderte er sachlich. »Mein Körper braucht gelegentlich sexuelle Entlastung, und mein Kopf denkt, daß du eine interessante Person bist. Warum ist die Verbindung von beidem schwierig zu verstehen?« »Ach so, ja. Herzlichen Dank, Halton. Du verstehst es wirklich, einem Mädchen das Gefühl zu geben, sexy zu sein.« Er lächelte ein wenig unsicher, beugte sich aber über mich und küßte mich. Zu meiner Verblüffung merkte ich, daß er wieder in Erregung geriet. Seine Lippen wanderten von meiner Wange zum Hals und in die Mulde zwischen Hals und Schlüsselbein und seine wundervoll empfindsamen Hände liebkosten meinen Körper. »Ich mag die Gänsehaut«, flüsterte er an meiner Kehle. Ich schob ihn zurück, wälzte mich herum und drückte ihn auf die Plane nieder. »Was magst du noch?« fragte ich leise. »Magst du dies?« Ich küßte ihn so, wie er mich geküßt hatte,
und als er meine Schultern umfaßte, nahm ich ihn bei den Handgelenken und drückte seine Arme nieder. »Was tust du?« fragte er erstaunt. »Ich mache mit dir, was du mit mir gemacht hast. Gefällt dir dies?« Ich schob mich abwärts, und erforschte mit dem Mund seinen vollkommenen Körper. »Oder dies …?« Ich hielt ihm die nanoverstärkten Hände fest an die Seiten und liebkoste ihn mit Lippen und Zunge, bis er es nicht mehr aushielt. »Jetzt?« murmelte er heiser, bittend. »Jetzt, ja?« »Ja …« Ich setzte mich rittlings auf ihn und kam innerhalb von Augenblicken. Mein Körper wurde steif wie ein Surfbrett, während es die orgasmischen Wellen ritt. Halton blickte zu mir auf. Meine Erregung ging auf ihn über, und er folgte mir. Sein Gesicht wurde rund und glatt, und er schloß die Augen halb im Rausch der Euphorie und murmelte: »Oh, oh, oh.« Kein künstliches Macho-Grunzen und Schnaufen, und der Ausdruck völliger Selbstvergessenheit in seinem Gesicht erzeugte ein neues Prickeln in meinem Nervensystem, das meinen Herzschlag wieder beschleunigte … Ja, ein wissenschaftliches Beispiel des Rückkopplungsmechanismus, nur war dieser rein menschlich, völlig natürlich, der absolut echte Hit. Wir lagen erschöpft und zitternd. Schweißtropfen rannen mir von der Nase und tropften auf seinen Hals. Ich küßte ihn und schmeckte Salz. Sein dunkles Haar war an die Stirn geklebt, nicht mehr vollkommen, aber ich zog es zerstrubbelt vor. »Noch nie hat jemand es so mit mir gemacht«, sagte er leise,
sobald er zu Atem gekommen war. Es war vielleicht nicht überraschend. Ich dachte mir, daß die Frauen, die Halton früher gekannt hatte, die sich an ihn herangemacht hatten, sowohl hübsch genug gewesen waren, um gedankenlos selbstsicher zu sein, und egoistisch genug, um ein Biokonstrukt als Ersatz für etwas zu gebrauchen, das sie von einem richtigen Mann nicht bekommen konnten. Jedenfalls war das meine Lieblingstheorie, die auch gut zu meiner anderen Lieblingstheorie paßte, die besagte, daß häßliche Frauen bessere Liebhaberinnen waren, weil wir uns mehr anstrengen müssen, um überhaupt eine Konkurrenz zu sein. Zu dem Zeitpunkt verzichtete ich allerdings auf eine Darlegung meiner Theorien. In der Wärme des Stationshäuschens aneinandergeschmiegt, murmelten wir eine Weile unsinniges Zeug, und nach ein paar Minuten schlief er ein, die Arme um mich gelegt, als ob ich sein Teddybär wäre. Ich konnte nicht schlafen. Meine Gedanken gingen im Kreis herum, und unbestimmte Sorgen und Befürchtungen lösten einander in der rasch einfallenden Dämmerung ab.
15 ICH WUNDERTE MICH, wie tief Halton schlief, als ob die Entspannung nach dem Sex die Neuronenverbindungen seines Wachzentrums kurzgeschlossen hätten. Er träumte. Seine Augen bewegten sich unter den geschlossenen Lidern, seine Finger zuckten dann und wann, und immer wieder gingen nervöse Impulse durch seinen Körper. Es war beinahe dunkel, als er zufrieden seufzte und erwachte. Die Temperatur kühlte rasch ab, nachdem die Sonne hinter dem gebirgigen Horizont versunken war; die vom Boden zurückstrahlende Hitze war nun angenehm. Er lächelte schläfrig, ein gesättigtes, sehr menschlich aussehendes Lächeln. Ich streichelte ihn, kämmte ihm das wirre Haar mit den Fingern, bis er gähnte und sich reckte, auf einen Ellbogen stützte und auf mich herabsah. Er küßte mein verfärbtes Auge. »Ich glaube, du hast mich belogen. Du warst doch eine Jungfrau«, neckte ich ihn. Er runzelte die Stirn, als dächte er ernsthaft darüber nach. »Ich glaube es nicht, jedenfalls nicht nach der üblichen Definition von Jungfräulichkeit«, sagte er schließlich. »Ich denke, ›Unerfahrenheit‹ würde ein besseres Wort sein.« Ich lachte. »Manchmal glaube ich, daß du mich aufziehst, Halton.«
»Das tue ich nicht«, widersprach er. »Ich bin bloß neu darin.« »Bist du wirklich erst zwölf Jahre alt?« fragte ich. »Das könnte mich ins Gefängnis bringen. Es gibt ein Gesetz, das die Verführung von Minderjährigen unter Strafe stellt, weißt du.« Er richtete sich auf und machte große Augen. »Ist das wirklich wahr?« Er hatte noch immer gewisse Schwierigkeiten, einen Scherz zu erkennen. »Nein, ich mache Spaß«, beruhigte ich ihn. Ich mußte aufhören, ihn zu necken. Eingehüllt in eine angenehm entspannte Wärme, sprachen wir über dies und das. Ich sagte ihm nicht, daß das für mich eine neue Erfahrung war. Meine durchschnittlichen Sexpartner konnten es gewöhnlich nicht erwarten, aus den Kleidern zu kommen, und danach konnten sie es kaum erwarten, wieder in die Kleider zu kommen und das Weite zu suchen. Nach einer Weile sagte er: »Das mit meinem Alter ist wahr. Biokonstrukte sind so konzipiert, daß sie eine sehr kurze und intensive Kindheit haben, und eine verlängerte Lebensspanne als Erwachsene.« Sein Gesicht hatte wieder diesen leblosen Ausdruck. »Obwohl es nicht viele Biokonstrukte gibt, die viel älter als ich sind.« Ich vermutete, daß es zu einem Ausleben dieser verlängerten Lebensspanne kaum jemals kommen durfte, weil keinem Biokonstrukt erlaubt sein würde, lang genug zu leben, um alt zu werden. Ich erschauerte in seinen Armen. Er hatte das Bedürfnis zu sprechen. Körperlich waren wir einander so nahe wie es nur möglich war, aber seine Augen waren weit weg. Biokonstrukte, sagte er mit der nüchternen Stimme eines
Dozenten, sind weder Roboter noch geklonte Menschen. Jede Zygote eines Biokonstrukts werde individuell um eine vorbestimmte DNS-Schablone gezogen, die dem menschlichen Phänotyp entspreche, genetisch aber nicht mit ihm identisch sei. Sogar seine Mitochondrien unterschieden sich erheblich von allen menschlichen. Er könne mich nicht schwängern; wir seien nicht dieselbe Art. Ich war nicht sicher, wie ich mich dazu stellen sollte. Die Nanosysteme wurden dem wachsenden Embryo in verschiedenen Stadien seiner Entwicklung hinzugefügt, bevor die Föten in Surrogatmütter implantiert wurden. Ursprünglich hatten sie dafür Schimpansen verwendet, bevor sie ein zuverlässigeres weibliches Biokonstrukt entwickelt hatten, das nur über das primitivste Stammhirn verfügte, um seine Körperfunktionen in Gang zu halten. Der speziell angepaßte, gliedmaßenlose Körper ist nicht viel mehr als eine große Gebärmutter in breiten, deformierten Hüftknochen, der den Biokonstrukten vor der Geburt eine Entwicklung von vierzehn Monaten erlaubt. Mit jedem sorgfältig überwachten und kontrollierten Stadium fötaler Entwicklung, in der jedes Hormon und jede biochemische Verbindung gemessen und im Gleichgewicht gehalten wird, sind die zehn resultierenden Biokonstruktbabies identischer als eineiige menschliche Zwillinge. Es war ein seltsames Gespräch, beinahe so unheimlich wie unser Tischgespräch, aber ich hörte aufmerksam zu, bequem in seinen Arm gekuschelt. Nach ihrer erzwungenen Geburt wachsen junge Biokonstrukte außerordentlich rasch. Ihre Erziehung und Ausbildung ist anstrengend und starr schematisiert. Mit ungefähr fünf
Jahren erreichen sie die Pubertät, und der massive Wachstumsschub beginnt sich zu verlangsamen. Mit acht Jahren werden Biokonstrukte als ausgewachsen betrachtet und können wie Erwachsene eingesetzt werden. Von den nächsten Jahren an verläuft ihr Alterungsprozeß in einer ähnlichen Rate wie bei ihren menschlichen Vettern. Halton war in einer kleinen Enklave aufgewachsen, die nur von seinen neun ›Zwillingsbrüdern‹ und seinen Lehrern bewohnt war. Diese Lehrer waren CDI-Ausbilder. Seine Kenntnisse von der Außenwelt waren auf das begrenzt, was die CDIAusbilder ihn wissen ließen. Sie lenkten seinen sich entwickelnden Körper und seine Intelligenz in die Bahnen verstärkter, vorgeformter Muster, die sie für zweckmäßig und nützlich hielten. Die Loyalität eines Biokonstrukts gilt zuerst seinen CDI-Ausbildern. Trotz ihrer gemeinsamen Jugendzeit hatten die zehn kleinen John Halton-Biokonstrukte keine besondere Neigung zueinander, keine brüderlichen Gefühle. Sie hatten nicht einmal verschiedene Namen. »Kümmerst du dich überhaupt nicht um die anderen?« fragte ich ihn. »Wenigstens darum, was aus ihnen wird?« Er ließ mich lange ohne Antwort, und ich drehte mich halb zur Seite, um in sein Gesicht zu sehen. Der leere, leblose Ausdruck war in seinen Augen, bevor er zwinkerte, wie wenn er vom Rand eines öden Abgrunds zurückkäme, und er lächelte vage. »Doch«, sagte er. »Ich kümmere mich.« Ich drängte nicht weiter, ließ ihn einfach davon sprechen, was ihn bewegte. »Erst mit vier Jahren sah ich den ersten Fremden«, sagte er. »Und ich glaube noch immer, daß es ein Zufall war.« Er lächelte und küßte meine Stirn, fuhr mit den Fingern
durch mein kurzes Haar. »Sie war nett.« Er schaute zur offenen Tür hinaus wo die dunklen Umrisse der Berge allmählich in Nacht versanken. »Ich meine, daß sie nett war, weil sie es sein wollte, nicht weil es ein kalkulierter Teil der Konditionierung war. Sie brachte Bücher aus der Außenwelt, die ersten Bücher, die keine Lehrbücher waren, wie ich sie bis dahin ausschließlich gesehen hatte. Sie las uns Geschichten vor, und es geschah zum Vergnügen, nicht wie bei den Lehrbüchern, die wir für unsere Prüfungen studierten. Ich glaube, sie kam deswegen in Schwierigkeiten. Danach wurde sie versetzt, und ich sah sie nie wieder.« Seine Stimme klang traurig. »Was für Bücher waren es?« fragte ich. Ich begann zu verstehen, worauf John Halton ansprach, wie er funktionierte. Es ängstigte mich und machte mich traurig. »Abenteuerbücher für Kinder, Märchengeschichten. Nichts wirklich Subversives. Klassiker wie Ivanhoe und Die Schatzinsel, Peter Pan – solche Sachen. Ich hatte bis dahin niemals erfundene Geschichten gelesen, also verwirrte es mich zuerst, weil ich dachte, es seien wirkliche Geschichten.« Er starrte noch immer ins Leere, sah in seiner Erinnerung die erste echte Muttergestalt, welche die John Haltons gekannt hatten, wenn auch nur für kurze Zeit. Natürlich hatten die Ausbilder nicht gewünscht, daß sie die Biokonstrukte wie echte Kinder behandelte und ihre Zuneigung vom Großen Bruder CDI zu einem menschlichen Wesen ablenkte. Ich konnte mir vorstellen, welchen Eindruck diese Geschichten auf ihn gemacht haben mußten, die seiner Phantasie weite, zauberische Welten eröffnet hatten, verbunden mit der Macht seiner ersten Erfahrung von Freundlichkeit nur um
der Freundlichkeit willen. Es mußte ihn tief berührt, in seiner jungen, wachsenden Psyche einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen haben. »Nachdem sie gegangen war, mußte meine ganze Untergruppe Prüfungen absolvieren, um zu sehen, ob die Serie wegen negativer psychischer Kontamination beendet werden sollte«, sagte er. Die ruhige Heiterkeit in seiner Stimme stand in krassem Gegensatz zum Schrecken seiner Worte. »Wir wurden individuell isoliert, neuen Ausbildern zugeordnet und einer besonderen Belehrung unterzogen, um den Unterschied zwischen Tatsachen und Fiktion zu verstehen. Dann wurden wir neuerlich geprüft. Biokonstrukte sind kostspielig.« Ich hörte beinahe Ironie heraus. »Endlich kam die Entscheidung, daß wir uns noch innerhalb der akzeptablen Parameter befänden.« Ich hörte es heraus, unausgesprochen. »Aber?« Er zuckte die Achseln. »Aber«, sagte er und holte tief Atem. Ich legte meine Hand an seine Brust und fühlte sein Herz schneller schlagen. »Aber … manchmal denke ich … sie könnten sich geirrt haben.« Er mußte die Worte gegen Widerstand aus sich herauspressen, und sie wanden sich wie bösartige kleine Schlangen, die sich belästigt fühlen. Er wandte den Blick ab. »Ich fürchte mich«, fügte er leise hinzu. »Nur weil in deiner Jugend jemand nett zu dir war und dir ein paar Bücher vorlas?« Ich konnte es nicht fassen. »Das ist lächerlich! Du glaubst das nicht wirklich.« »Ich weiß«, sagte er ruhig, »daß ich beendet werde, wenn ich bei diesem Auftrag versage. Und selbst wenn ich nicht versage, werde ich nach meiner Rückkehr nach Langley wahrscheinlich die Nachprüfungen nicht bestehen. Ich bin der dritte John
Halton; die ersten zwei versagten irgendwie. Sie mußten zerstört werden. Ich weiß nicht, warum und wie, und ich fürchte, daß ich auf die gleiche Weise versagen werde, wenn ich es nicht herausbringe.« Endlich sah er mich wieder an. »Aber ich vermute, daß die CDI diese Entscheidung bereits getroffen hat. Es ist für den Auftrag nicht wichtig, wenn ich von dir kontaminiert werde. Man erwartet von mir, daß ich eine bestimmte Funktion ausführe, und nachdem ich meinen Zweck erfüllt haben werde, bin ich entbehrlich. Für etwas anderes werde ich nicht nützlich sein und nicht gebraucht werden.« Ich setzte mich aufrecht und starrte ihn entsetzt an. »Großer Gott, Halton, dann geh einfach nicht zurück! Pfeif auf die CDI, lauf weg oder was. Warum gehst du nicht zum Weltverband für Menschenrechte, und verklagst die verdammte Regierung wegen des Mißbrauchs von Menschenrechten? GBN würde dir einen erstklassigen Anwalt besorgen, und wir könnten dir helfen, andere Biokonstrukte für den Kampf um ihre bürgerlichen Rechte zu organisieren …« Er starrte mich an, als ob ich verrückt wäre. »Ka Be, ich bin ein Biokonstrukt. Biokonstrukte sind nicht menschlich, sind keine Menschen. Ihr gesamter Lebenszweck ist vorbestimmt, sie können nicht unabhängig funktionieren. Das ist außerhalb der Konstruktionsvorgaben, nach denen sie geformt wurden.« »Wir, Halton, wir!« rief ich zornig. Ich sprang auf und zog mir das Hemd über die Schultern, denn es wurde rasch kühler. »Warum kannst du es nicht sagen? Sie, ihnen – immer sprichst du über andere Biokonstrukte, als ob sie Marsbewohner wären, oder was!« Ich knöpfte das Hemd zu und ging in dem engen
Raum des madja auf und ab wie ein neurotischer Tiger in seinem Käfig. »Hat die verdammte CDI dir überhaupt kein Gefühl für Familienverwandtschaft eingegeben?« Halton hatte sich aufgesetzt, die bloßen Beine gekreuzt und die Hände in den Schoß gelegt. »Nein«, sagte er einfach. Sein Gesichtsausdruck war so verletzlich und offen wie bei einem vertrauenden Kind. Ich blieb stehen und sah ihn an. Ein eiskalter Killer, ein Geschöpf, das absichtsvoll konzipiert war, schneller und stärker als jedes menschliche Wesen zu sein, würde Halton nichtsdestoweniger gehorsam zurückgehen und seinen Hals widerstandslos unter die Guillotine seiner Schöpfer legen. Er hatte recht, es würde niemals eine Rebellion von Biokonstrukten geben. Seine Schöpfer hatten sich dagegen abgesichert, und Halton wußte es recht gut. Ich brach in Tränen aus. Sofort hatte er die Arme um mich gelegt, hielt mich fest und wiederholte mit kleiner, ängstlicher Stimme: »Es tut mir leid, es tut mir leid.« Ich umarmte ihn und versuchte das Zittern durch Druck zu überwinden. »Sei still, Halton«, flüsterte ich. »Du hast nichts Falsches getan. Ich sollte sagen, daß es mir leid tut, bloß ist es auch nicht meine Schuld. Die verfluchten Unmenschen! In der Hölle sollen sie braten!« Wir hielten einander in den Armen, ertrinkende Seelen, die sich an Strohhalme klammern, um die Köpfe über dem Abwasser zu halten. »Das ist hart, Halton«, sagte ich schließlich, das Gesicht an seiner Brust. »Ich mag alt und langsam sein, aber ich bin keine Marionette, die jemand von der CDI tanzen lassen kann. Ich
lasse mich nicht gern gebrauchen, und ich gebrauche nicht gern andere Leute.« Ich seufzte. »Zu dumm, daß wir nicht einfach unsere Sachen packen und davonlaufen können, uns irgendwo auf dem Mond oder den Asteroiden verstecken.« Seine Haltung versteifte sich, und ich blickte fragend zu ihm auf. Sein Gesicht hatte wieder den undurchdringlichen leblosen Ausdruck angenommen. »Wenn du willst«, sagte er einfach. »Ich glaube aber, daß, wenn es darum geht, eine sichere Zuflucht vor der CDI zu finden, ein Ort außerhalb der Erde nicht in Frage kommen würde. Die CDI hat die Orbitalstationen und die Mondkolonie vollkommen unter Kontrolle. Ich würde vorschlagen, einen Zufluchtsort auf Erden zu finden.« »Es war nicht mein Ernst, Halton«, sagte ich. Ich machte mich von ihm los und begann mich anzuziehen. Die abkühlende Luft machte mich frösteln. »Selbst wenn ich einen sicheren Zufluchtsort finden würde, könntest du nicht mit mir gehen. Du bist nach wie vor ein Biokonstrukt der CDI und deine Loyalität gehört ihr, weil sie in dich eingebaut ist, nicht?« »Nicht genau.« Auch er kleidete sich an. »Ich würde als Leibwächter seiner Exzellenz nutzlos sein, wenn meine Loyalität zu ihm nicht garantiert werden könnte. Aber Intelligenz setzt ein gewisses Maß an selbständigem Denken voraus, was du ›freien Willen‹ nennen könntest. Ohne ihn würden Biokonstrukte nicht mehr Flexibilität als KI-Maschinen haben.« Er knöpfte sich das Hemd zu und beobachtete seine Hände. »Was in mich eingebaut ist, läßt sich eher als ein starkes Bedürfnis bezeichnen, zu jemandem oder etwas zu gehören. Ich bin dem, den ich als meinen legalen Eigentümer erkenne, absolut loyal ergeben.«
Er war mit dem Hemd fertig und blickte zu mir auf. »Im Moment«, sagte er ruhig, »bist du noch immer die offiziell eingetragene zeitweilige Eigentümerin.« Die Implikationen gingen mir erst allmählich auf, und dann verspürte ich plötzlich Übelkeit. »Wenn ich sagte ›Geh‹, würdest du gehen, nur weil ich es wollte, ist das so?« »Ja.« Der Mageninhalt stieß mir sauer auf. »Also war dies alles …« – ich zeigte zu der Plane auf dem Sandboden, wo zwei Abdrükke noch verrieten, wo wir gelegen hatten – »bloß eine Folge davon, daß die CDI dich mit einem unheimlichen Loyalitätssinn programmiert hat?« Meine Übelkeit begann in Entrüstung umzuschlagen. »Du wolltest nur mit mir schlafen, weil ich es wollte, und was immer ich will, mußt du mir geben, wie ein braver kleiner Hund? Mein gehorsamer Sklave, nicht wahr?« Ich weinte vor Enttäuschung und Zorn. »Ist das alles, was es war, du Scheißkerl?« Er schien erschrocken über den Gedanken und zögerte, analysierte ihn. »Ich weiß nicht«, sagte er schließlich mit leiser Stimme, beunruhigt. »Ich weiß es nicht.« Er konnte nicht einmal eine barmherzige Lüge über die Lippen bringen. Nicht einmal das. Es war schlimmer als all die Perversen und die Trunkenbolde, die mich als eine, die leicht ins Bett zu kriegen war, gebraucht und dann beiseite geworfen hatten. Wenigstens hatte ich damals keine Illusionen über die verzweifelte Erniedrigung gehabt, auf die ich mich ein ums andere Mal eingelassen hatte. Der Stolz, den ich so oft hinunterschlucken mußte, war nichts, verglichen mit dem Verrat, den ich jetzt fühlte. Das war
schlimmer als Zurückweisung. Wieder hatte ich meine Reserve aufgegeben, und wieder wurde mir unter die Nase gerieben, daß es einem Mann einfach nicht möglich war, so für mich zu empfinden wie ich für ihn. Sogar ein Biokonstrukt konnte sich nur mit mir abgeben, wenn noch etwas anderes bestimmend mit im Spiel war, ein anderes Bedürfnis, eine andere zwanghafte Verpflichtung. Ich weinte, verletzt und wütend. Jahre der Entfremdung verwandelten mich in eine Säule salziger Tränen. Ich ging hinaus in den dunkelnden Abend der Wüste, zündete eine Zigarette an und sog den Rauch in die Lungen, um den Schmerz auszubrennen. Aber es schmerzte nur noch mehr. Halton kam heraus, legte die Plane zusammen und tat sie hinter mir in den Geländewagen. Ich wandte mich nicht um. Ich hörte die Federung knarren, als er sich an das Fahrzeug lehnte und schweigend wartete. Sterne standen am dunklen Himmel. Ich zündete eine weitere Zigarette am Ende der letzten an und schnippte den Stummel mit Daumen und Mittelfinger hinaus, daß die rote Glut einen Bogen durch die Luft beschrieb und mit sprühenden Funken am dunklen Boden aufprallte. Sand knirschte unter Haltons Füßen, als er endlich zu mir kam. »Ka Be …«, fing er an. »He.« Ich wandte mich um und schnitt ihm das Wort ab. Ich hatte die Schultern zurückgenommen und das Kinn gehoben, die Tränen waren getrocknet und die Maske eines höhnischen Lächelns saß fest auf meinem Gesicht. »Laß es uns einfach vergessen, ja?« Das abgebrühte kleine Straßenmädchen war wieder zurück. »Ich brauche es nicht zu hören.« »Ich möchte gern, daß du anhörst, was ich zu sagen habe.« Er
hörte sich ärgerlich an. Das überraschte mich und gewann meine Aufmerksamkeit. Mißtrauisch sah ich zu ihm auf, aber sein Gesicht war im Schatten verborgen. Als ich an der Zigarette sog, erhellte das rote Aufglühen momentan die harte Linie seines Kinns. »Gut«, sagte ich boshaft, »du hast ein unfreiwilliges Publikum.« »Du sagtest, du würdest immer wieder vergessen, daß ich nicht echt bin. Das ist nicht wahr.« Der demütige, gehorsame Halton war verschwunden. Dieser Halton war zornig. »Was du immer wieder vergißt, ist, daß ich ein Biokonstrukt bin. Es ist keine Sünde und kein Verbrechen. Ich schäme mich nicht dessen, was ich bin. Wie ein Elefant kein Verlangen hat, ein Igel zu sein, habe ich kein Verlangen, ein Mensch wie alle anderen zu sein. Ich bin kein kleiner hölzerner Pinocchio, der hofft, daß meine gute Fee mich in einen echten Jungen verwandeln wird, wenn ich mir ein reines Herz bewahre und gute Taten verrichte.« Oho. Er wurde gut mit dem Sarkasmus. »Ich habe keine Menschenrechte, weil ich nicht menschlich bin. Ich werde es nie sein.« »Du bist so klug wie ein Mensch, wahrscheinlich klüger.« »Das gilt auch für einige Walarten. Niemand wird zu lebenslänglich Gefängnis verurteilt, wenn er einen tötet.« »Das ist unsinnige Haarspalterei, Halton.« Ich lachte rauh und humorlos. »Als die CDI dein Gehirn nach der Wäsche durch den Spülgang ließ, versaute sie deinen Kopf aber richtig.« »So ist es«, sagte er. Seine Stimme war frostig. »Ich liebe die CDI. Sie hat mich geschaffen, aufgezogen und ausgebildet und gab mir einen Lebenszweck. Sie ist meine Mutter und mein
Vater und meine Familie. Und mir ist völlig klar, daß ich keine Wahl habe, wie ich dazu stehe. Ich bin entwickelt und konditioniert, so zu empfinden; schon der Gedanke, an der CDI zu zweifeln, verursacht mir körperliche Schmerzen.« Ich tat einen weiteren langen Zug an der Zigarette und erhellte Haltons Gesicht. Die Schatten ließen ihn hager und gefühllos erscheinen. »Wenn du ihnen nicht widerstehst und sie so sehr liebst, was, zum Teufel, erwartest du dann von mir? Warum verwickelst du mich in all diesen Scheiß? Ich sollte dich nur nach Khuruchabja begleiten und bei Scheich Larry abliefern. Das ist alles. Was, zum Henker, geht mich alles übrige an?« Verärgerung und Zorn wallten wieder in mir auf. »Aber du hast mich tiefer in die Scheiße gezogen, mich mit Regierungsgeheimnissen geködert, mir deine Lebensgeschichte erzählt, mich sogar verführt, du Scheißkerl. Sicher ist es nicht wegen meiner liebenswerten und charmanten Persönlichkeit, also verrate mir einfach, warum ich?« »Weil meine Familie, die mir das Leben und alles gegeben hat, was mir lieb und teuer ist, mich zu zerstören beabsichtigt«, sagte er bitter. »Weil ich leben will. Weil ich allein bin und es keinen anderen gibt, an den ich mich um Hilfe wenden kann.« Ich blieb eine Weile still, tat einen letzten Zug an der Zigarette, bevor ich sie im hohen Bogen davonschnippte, ein weiteres kleines in die Nacht geschleudertes Geschoß. Wie ein Schlag auf den Solarplexus einem die Luft aus der Lunge treibt, hatten seine Worte mir den Zorn ausgetrieben. »Das weißt du nicht mit Sicherheit.« Sein Schweigen sagte mir, daß er es wußte. »Aber warum?« »Ich weiß nicht, warum«, sagte er ruhig. Auch seine Verärge-
rung schien verflogen. »Aber ich weiß, daß die CDI Biokonstrukte nicht ohne einen Ausbilder oder wenigstens einen anderen CDI-Mitarbeiter zum ersten Mal aussendet. Sie schikken sie nicht ohne umfangreiche Erfahrung in Länder mit hohem Risiko.« Ein Wind kam auf. Im Mondlicht glich der aufsteigende Staub in der Ferne kurzlebigen Geistern, die zum Spielen aus ihren Flaschen herausgelassen worden waren. »Mein Spezialgebiet sind Sprachen, Ka Be«, sagte Halton. »Ich wurde in erster Linie für das rasche und genaue Erlernen vieler Sprachen konzipiert. Aber ich bin nur ein Linguist. All diese anderen Fähigkeiten, die ich habe und die du für außerordentlich zu halten scheinst, sind für jedes Biokonstrukt Standard.« Ich fröstelte in der Kälte; die Wärme war in das Vakuum der Nacht entwichen. »Ich bin kein Superspion und sollte es nie sein. Meine Unterabteilung ist Teil der exklusiven Quote der CDI; ich sollte nicht einmal außerhalb meiner eigenen Abteilung ausgeliehen werden, geschweige denn an ausländische Regierungen oder an Zivilisten. Ich hatte erwartet, mein Leben in Langley zu verbringen, mit einem Ohrhörer am Schreibtisch zu sitzen und abgehörte Gespräche zu dolmetschen. Das ist alles, was ich jemals wollte. Es gibt andere Biokonstrukte, die eigens für aktive Spionage ausgebildet wurden. Aber nicht ich. Ich sollte nicht hier sein.« Mich schauderte bei der bloßen Vorstellung, wie sie sein mußten. »Zwei frühere John Haltons wurden beendet«, sagte er in ruhigerem Ton, »weil ihre Ausbildung irgendwo versagte und sie zu weit von den akzeptablen Parametern abwichen. Ich denke,
die Serie ist noch immer gut genug, um gerettet zu werden, wird aber nur für Einmaleinsätze verwendet. Dann werden sie ausgemustert. Weggeworfen …« Er schwieg einen Moment lang. »Getötet«, sagte er dann leise, als wollte er das Wort vorsichtig ausprobieren. Ich zündete mir die nächste Zigarette an, dann verschränkte ich die Arme auf der Brust, um mein Zittern zu unterdrücken. Meine Zähne begannen zu klappen. Halton ging zum Geländewagen und kam zurück, reichte mir meine Jacke. »Es ergibt keinen Sinn«, protestierte ich und fuhr dankbar in die gefütterte Jacke. »Ein Biokonstrukt muß Millionen von Dollar kosten. Selbst wenn ihr nur einmal verwendet werden solltet, ist es einfach den Aufwand nicht wert, so viel Geld für einen verzogenen Jungen hinauszuwerfen, der sich sowieso nicht lange an der Macht wird halten können.« »Du warst während des letzten Krieges hier, Ka Be«, sagte Halton. »Wieviel Geld wurde für High-Tech-Waffen und Geräte ausgegeben, die gegen die Flugzeuge und Raketen aus zweiter Hand gebraucht wurden, die die Behjars in Indien zusammengekauft oder aus Ausschußteilen selbst zusammengebaut hatten?« »Das war etwas anderes. Die Behjars hatten Infrafusionsbomben, nicht zuletzt dank deinen Chefs. Die hatten sie bestimmt nicht nach dem Versandkatalog bestellt.« Meine lange untätigen journalistischen Hirnzellen begannen mich zu plagen. »Die Behjars mußten erledigt werden, sonst hätten sie viel mehr Menschenleben ausgelöscht als in diesem Krieg getötet wurden. Die Diplomatie kam nicht weiter. Mit Fanatikern kann man nicht vernünftig verhandeln. Sie ließen uns keine andere Wahl.«
Was, zum Teufel, ging wirklich in Khuruchabja vor, daß die CDI ein Biokonstrukt als Leibwächter verschwendete? Und warum hatte man eine Mikroplatte riskiert, die noch mehr als ein Biokonstrukt gekostet hatte, indem man sie so gefährlich ins Land schmuggelte? Und durch wen? Man hätte sie viel einfacher und sicherer im Diplomatengepäck transportieren können. Wir waren in einem Kreuzfeuer, das wir nicht einmal sehen konnten. War Scheich Larrys lächerlicher Traum von einem islamischen Wirtschaftswunder oder die Bemühungen der CDI, seine Verwirklichung zu verhindern, wirklich so viel Geld wert? Gewiß, hier ging es nicht um die Milliarden Dollar, die ausgegeben worden waren, um eine kleine Gruppe gefährlicher Fanatiker auszulöschen, aber niemand setzt so viel Geld ohne guten Grund in den Sand. Nicht einmal die Regierung der Vereinigten Staaten. Und warum war ich hier? Ungeachtet dessen, was Somerton gesagt hatte, brauchten sie mich wirklich nicht, um Halton unauffällig nach Khuruchabja zu bringen. Sie hätten ihn mit dem Fallschirm irgendwo über der Wüste absetzen können, von wo er ohne weiteres nach Nok Kuzlat gekommen wäre. Niemand hätte etwas gemerkt. Aber Somerton hatte darin recht, daß ich irgendwie Teil des Planes war, der zum Vorteil der CDI arbeitete. Als Nebenfigur brauchte ich natürlich nur zu erfahren, was meine unmittelbare Aufgabe betraf. Halton hörte die rostigen Räder in meinem Kopf quietschen und ließ mich nachdenken. »Aber warum mich?« überlegte ich laut. »Warum sollten sie dich mit mir zusammentun?« Es gab zu viele fehlende Elemente, um ein klares Bild zu gewinnen. Halton blieb still. »Sie wollen eine dickschädelige, ausgebrannte
Journalistin nicht bloß für eine einfache Lieferung hier haben. Ich werde auch benutzt.« Ich warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Du wußtest das, nicht?« Er holte Luft, bevor er antwortete. »Bis auf die Einzelheiten hatte ich diesen Teil ziemlich frühzeitig verstanden, ja.« Ich schnaubte. »Aber es gehörte nicht zu alledem, was du mir anvertrautest.« Ich war nicht zornig, wirklich nicht. Meine Zigarette war so weit heruntergebrannt, daß meine Fingerspitzen die Hitze fühlten. Ich schnippte eine weitere winzige Rakete in die Nachtluft hinaus. Sie schlug am Boden auf und rollte als roter Funken noch ein Stück, bevor sie in der Dunkelheit verschwand. Ich hatte seit zehn Jahren nicht mehr so kettengeraucht, und das Nikotin erzeugte ein leichtes Schwindelgefühl. »Ich befürchtete Schwierigkeiten«, sagte Halton mit leiser Stimme. Ich faßte ihn ins Auge, aber er wich meinem Blick aus. »Wenn ich dir gesagt hätte, daß ich Teil eines Plans war, in den die CDI dich einbeziehen wollte, wärst du wahrscheinlich nicht bereit gewesen, mir zu helfen. Hättest du mir überhaupt geglaubt?« »Wahrscheinlich. Möglicherweise. Ach, ich weiß es nicht.« Ich seufzte, dann schüttelte ich eine weitere Zigarette aus der Packung. Vier waren noch übrig, der Vorrat ging zur Neige. Das Feuerzeug warf flackerndes gelbes Licht auf seine bekümmerten Züge. Ich inhalierte tief und fühlte ungefähr zwanzig weitere Haargefäße meiner Lunge absterben. Der Rauch sah im Mondlicht wie blasse Seide aus, die in der leichten Brise wehte. »Verrate mir, wessen Idee es war, mich zu verführen, deine oder ihre?« »Meine, glaube ich.«
Ich lachte schmerzlich. »Du weißt nicht einmal das?« »Ich kann dir den genauen Grund nicht sagen, Ka Be. Vielleicht ist es wahr. Ich wollte Sex nur mit dir haben, weil ich dafür vorkonditioniert bin. Oder vielleicht wollte ich vorsätzlich eine psychologische Verbindung zwischen uns herstellen, um zu erreichen, daß du dich enger an mich anschließt und leichter zu beeinflussen bist. Vielleicht ist auch das Teil meiner Programmierung.« Seine Augen glitzerten mich an. »Vielleicht wollte ich auch einfach bloß Sex haben, und mehr ist nicht dran.« Das tat weh. »Ach ja, danke, Halton«, höhnte ich. »All diese Möglichkeiten finde ich wirklich sehr erleichternd.« Plötzlich faßte er mich bei den Armen und zog mich mit einem Ruck herum, daß ich ihn ansehen mußte. Die Zigarette flog mir aus der Hand. Seine Finger hielten mich fest, nicht schmerzhaft, nur fest genug, daß an ein Losreißen nicht zu denken war. »Ich versuchte nicht, dir ein Gefühl von Erleichterung zu verschaffen, Ka Be. Ich versuchte aufrichtig mit dir zu sein.« »Dafür hat man Freunde, nicht?« versetzte ich schneidend. Er hielt mich einen langen Augenblick in seinem Griff, und ich sah, daß wieder dieser unheimliche Ausdruck in seine Augen gekommen war, eine unheilvolle Leere, als sähe er mich nicht, beängstigend und fremdartig. »Freunde?« wiederholte er, als ob der Begriff ihm völlig fremd wäre. »Ich habe keine Freunde. Freunde sind Menschen, die einander vertrauen.« Ich spürte ein plötzliches Zittern in seinen Händen. »Vertraust du mir, Ka Be?« flüsterte er. »Sind wir Freunde?« Es war zum Teil trotzige Herausforderung, zum Teil verzwei-
felte Bitte. Und zum Teil etwas, das ich nicht zu deuten wußte. Ich glaubte, daß er wirklich meine Hilfe suchte und nicht eine Rolle in einem komplizierten Komplott der CDI spielte. Aber er war noch immer eine CDI-Marionette. Trotz aller Geheimnisse, die er mir anvertraut hatte, wußte ich noch immer nichts darüber, wie sein Kopf wirklich verdrahtet war. Wie konnte ich glauben, daß dies nicht bloß Teil einer geschickten Manipulation außerhalb seiner Kontrolle war? Wie konnte ich sicher sein, daß er nicht genauso handelte wie die CDI es von ihm wollte, ob er sich dessen bewußt war oder nicht? Wenn er soweit von ›akzeptablen Parametem‹ abgewichen war und so weit gegen seine Programmierung gehandelt hatte, um seinen Schöpfern zu widerstehen, wie konnte ich dann die Gewißheit haben, daß sein gesamtes geistiges Rüstzeug in funktionsfähiger Ordnung war? Wie konnte ich Halton wirklich vertrauen? Auf einmal hatte ich eine intuitive Erleuchtung: Wenn ich nein sagte, würde ich ihn zum Tode verurteilen. Er würde einfach aufgeben und hingehen und seinen Kopf auf den Richtblock legen, ohne an Widerstand zu denken. Wenn ich ja sagte, würde ich es schließlich mit der ganzen CDI zu tun bekommen, weil ich versuchen mußte, eine gestohlene Biomaschine, die sich bereits als todgefährlich erwiesen hatte, möglicherweise abtrünnig geworden war, vor der Verschrottung zu bewahren – auf ihre eigene ungewisse Garantie hin, mich nicht zu töten oder töten zu lassen. Ich gab die einzige Antwort, die ich geben konnte. Ich legte meine Hände um seine Mitte und zog ihn sanft in eine beruhigende Umarmung. Mein Kopf ruhte unter seinem Kinn, und er
drückte mich fest gegen seine Brust. »Sieht so aus, als hieße es jetzt du und ich gegen die ganze Welt.«
16 »REGEL NUMMER EINS IST, sich den Rücken freihalten, wenn du am Leben bleiben willst, Halton«, sagte ich. »Selbsterhaltungstrieb.« Ich stieß ihm zwei Finger vor die Brust. »Den brauchst du. Ich habe zu viel davon, du hast gar nichts. Verstehst du?« »Ich denke schon«, sagte er ernst. »Hm.« Den halben Tag hatte ich mir den Kopf zerbrochen um einen Weg zu suchen, wie wir mit heiler Haut aus unserer verfahrenen Situation kommen könnten. Bis jetzt hatte ich hauptsächlich den Mund voll genommen, ohne daß viel dabei herausgekommen wäre. Wir hatten weniger als vier Tage Zeit, uns etwas auszudenken, bevor ich Halton an Scheich Larry übergeben mußte. Aber zu welcher Form von konstruktivem Handeln ich tatsächlich imstande sein würde, wußte ich noch immer nicht. Ich hätte gern mit Arlando gesprochen, um auf seiner Seite eine vorbeugende Unterstützung aufzubauen, aber Halton hatte davon nichts wissen wollen. Zwar hatte er keine Ahnung, welche Druckmittel die CDI gegen meinen Chef in der Hand hatte, aber er wußte genug von der internen Arbeitsweise seiner eigenen Organisation, um mit Sicherheit sagen zu können, daß jede Diskussion unseres Problems mit Arlando sie nur vorzeitig warnen würde, daß etwas nicht koscher war. Für ihn stand fest, daß die CDI, sobald sie argwöhnte, daß
ihr Biokonstrukt einen Versuch unternahm, sich von ihr loszusagen, ihn umgehend aus dem Verkehr ziehen würde. Und es gab nicht viele Zufluchtsorte. Als es noch einen vom Vizepräsidenten ins Leben gerufenen Rat für Wettbewerbserleichterungen gegeben hatte, der die Bundesgesetzgebung für biotechnische Produkte lockern sollte, hatte die CDI durch die Hintertür Patente über menschliche DNS aufgekauft, ohne auf das Geschrei verschiedener Grüner und der Umweltschutzbehörde zu achten. Die Sicherheitsbestimmungen für die Industrie seien für das Geschäft zu lästig, kam die offizielle Erklärung aus dem Weißen Haus. Die freie Marktwirtschaft war allzu begierig, sich den Löwenanteil am weltweiten Multimilliarden-Dollar-Boom zu sichern, um sich Gedanken über einen Haufen linker Spinner und Querulanten zu machen, die sich als Umweltschützer gebärdeten. Aber Clinton hatte den Rat abgeschafft, die globale Erwärmung erhitzte die Gemüter, eine sechzig Kilometer lange Eistafel brach vom antarktischen Schelf, und um die Jahrhundertwende war der Umweltschutz zu einer ebenso geheiligten amerikanischen Ikone geworden wie Mickey Mouse und Michael Jordan. Und nachdem die Katastrophe der Gentomaten die Hälfte der Feldfrüchte des ganzen Mittleren Westens durch eine zufällige Mutation verheert hatte, schwang das von Panik getriebene Pendel völlig in die andere Richtung. Die Umweltschutzbehörde hatte keine Schwierigkeiten, ihr Gesetz über Öffentliche Gesundheit und Sicherheit durch den Kongreß zu bringen, und biotechnische Bestimmungen umfaßten jetzt die sofortige Beschlagnahme und Vernichtung aller gentechnisch veränderten Produkte schon beim Vorliegen eines begründeten
Verdachts auf Fehlerhaftigkeit. Stellte sich heraus, daß sie nicht fehlerhaft waren, stand es jedem Betroffenen frei, auf Schadenersatz zu klagen. Das Gesetz war für medizinische Genverschmelzung und virale Pestizide gedacht, aber es deckte alle fehlerhaften, künstlich veränderten biologischen Produkte ab. Halton war ein künstliches biologisches Produkt. Er war auch ziemlich fehlerhaft. Das ließ uns nicht viele Optionen. Wie schätzte Halton unser Vertrauen ein? Einerseits hatte er sein ganzes Leben unter strenger Kontrolle verbracht und gehorchte den Befehlen seiner Schöpfer ohne Frage, andererseits war er weder dumm noch naiv genug, zu glauben, wir Menschen wären klüger als er, oder unfehlbar. Es war nicht so sehr, daß er darauf vertraute, ich könnte ihn irgendwie aus einer schwierigen Lage befreien, sondern vielmehr die Überzeugung, daß ich es jedenfalls versuchen würde. Wenn ich versagte, würden die ungünstigen Umstände schuld daran sein, aber nicht Verrat. Damit gab er sich zufrieden, selbst wenn es seinen Untergang bedeuten konnte. Mir war darum nicht leichter ums Herz. Anscheinend hatten wir mit unserem Ausflug die Wachhunde alarmiert und wurden viel sorgfältiger beschattet, seit wir von unserer kleinen Fahrt in die Wüste zurückgekehrt waren. Wir hatten sie nach dem Verlassen des Hotels eine Stunde herumgeführt, ohne sie abschütteln zu können. Aber wir versuchten es auch nicht allzu angestrengt. Im Moment saßen wir auf der langen Betonbank, die das Kriegerdenkmal in der Altstadt Nok Kuzlats umgab, und unterhielten uns, während wir unsere vorgeblich Zeitung lesenden Beschatter beobachteten.
»Du sagtest, Biokonstrukte hätten ein gewisses Maß von freiem Willen, nicht wahr? Also laß uns danach handeln. Werde kreativ. Denk über Möglichkeiten nach, dich selbst zu schützen, nicht bloß diejenigen, denen du zugeordnet bist. Wenn du tot bist, kannst du niemandem nützen. Dann such Mittel und Wege, dich den richtigen Leuten unentbehrlich zu machen, so daß es sich für sie nicht auszahlt, dich loszuwerden.« Er dachte einen Moment lang darüber nach. »Wie Erpressung?« Ja, er lernte dazu. Aber ich war nicht übermäßig kreativ, wenn es um das Ausdenken genauer Details von Verhaltensregeln ging. Ich wußte nicht viel von den Praktiken der Erpressung, da ich weder von Natur aus noch durch meinen Beruf eine Erpresserin war. Halton wußte es wahrscheinlich, aber er saß geduldig da, hörte ernst zu und nickte an den richtigen Stellen. Tauben pickten verstreute Krumen auf und nickten mit dem Kopf zu ihrem ruckartig trippelnden Gang. Wie Spielzeug zum Aufziehen. Gut gekleidete Kinder mit gesunden runden Wangen quietschten und jagten die Vögel, während ihre Eltern über den weiten, mit Ornamenten gepflasterten Platz schlenderten. Männer in teuren Anzügen oder makellosen Kaftanen gingen zusammen vorüber, manche im angeregten Gespräch, das ihre Hände mit energischen Gesten begleiteten, während andere ihre Gebetsschnüre mit bernsteinfarbenen Kugeln durch die Finger gleiten ließen. Arabische Hände waren immer geschäftig, selbst wenn es tatsächlich nichts zu tun gab. Gelegentlich sah man die Frau eines reichen Mannes, eingehüllt in leichte Seidengewänder, das Gesicht verborgen hinter einem bestickten Jaschmak
und Hijab, ihrem Gemahl in diskretem Abstand folgen. Wahrscheinlich der Höhepunkt ihrer Woche. Wichtigstes Merkmal des Platzes war eine immense Bronzeskulptur in der Mitte, die Interpretation eines avantgardistischen Künstlers von den im Wind flatternden Falten eines Zeltes. Wasser sprühte aus Düsen entlang den Rändern und glitzerte in Regenbogenfarben, bevor es in das große Wasserbecken regnete. Kleine Jungen, die Miniaturversionen der dreiteiligen Geschäftsanzüge ihrer Väter trugen, spielten mit elektrisch angetriebenen Booten im Wasser. Ein kleines Mädchen in einem Dutzend Petticoats unter einem pastellfarbenen rosa Kleid, das dünne Haar in zwei mit rosa Bändern umwickelten abstehenden Büscheln, tappte über den Platz, behütet von einer besorgt blickenden Filipinofrau im vorgeschriebenen schwarzen aba'ayah, den alle ausländischen Frauen nach dem islamischen Gesetz Khuruchabjas tragen mußten. Rot war für Landesbewohnerinnen reserviert. Das schlechte Markundi der Kinderfrau drang gedämpft durch den Stoff um ihren Kopf. Nur die obere Gesichtshälfte war sichtbar, die hübschen orientalischen Augen blickten müde und nervös. Das Kind kicherte und tappte wacklig auf kurzen Beinen davon, um ihrer Aufsicht zu entkommen. Freu dich, solang du kannst, Kind, dachte ich verdrießlich. An jedem Ende des Platzes stand ein Doppelposten khuruchabjanischer Soldaten in Ausgehuniformen in Bereitschaft, die roten Baskenmützen keck auf einem Ohr, die Uniformen frisch gebügelt, blank geputzte, brünierte Maschinenpistolen vor der Brust. Sie sahen selbst wie Statuen aus und wurden von den
Passanten, für die sie ein alltäglicher Anblick sein mochten, kaum beachtet. Aber niemand zweifelte daran, daß ihre dunklen, mürrischen Augen hinter den spiegelnden Sonnenbrillen ständig die Menge beobachteten. Auch ich ließ meinen Blick umherschweifen, nicht zuletzt, um unsere Beschatter im Auge zu behalten, und so machte ich frühzeitig und mit gemischten Gefühlen Thomas Andrew Hollingston Clermont, Esq. aus, der über den gepflasterten Platz schlenderte, in ein Gespräch mit zwei Arabern in weißen und goldenen Gewändern vertieft. Ich machte ein Gesicht und zog in der Hoffnung, daß er uns übersehen würde, den Kopf ein, aber seine Augen weiteten sich, und er änderte lächelnd die Richtung. »Wie angenehm und erfreulich, Sie wiederzusehen, Mr. Halton, Mr. Sulaiman … Ka Be«, sagte er mit seinem exquisiten Oberklassenakzent. Dann schaltete er auf markundi um und brachte es fertig, genauso vornehm zu klingen, als er uns seinen Gefährten vorstellte, hochrangigen Männern, die in Larrys Regierung arbeiteten und mit der britischen Botschaft in Verbindung standen. Was natürlich bedeutete, daß sie in Wirklichkeit ein paar von Larrys hochnäsigen Verwandten waren, die von den Briten im Austausch gegen Bauaufträge zu horrend überteuerten Preisen einen gesunden Prozentsatz Bakschisch als Vermittlungsgebühr einstrichen. Die wirkliche Arbeit wurde dann von schlechtbezahlten und nicht blaublütigen Khuruchabjanern getan, die alle notwendigen körperlichen Arbeiten verrichteten, sowie von schlecht behandelten ausländischen Facharbeitern, welche für die Fertigkeiten und Techniken benötigt wurden, an denen es
den Khuruchabjanern mangelte. So ist es immer gewesen. Ya zha'ara. Wir lächelten und schüttelten ihnen die Hand, murmelten die richtigen Redensarten und erwiderten höfliche Salaams. Clermont tauschte noch ein paar Artigkeiten mit den beiden Arabern aus, bevor sie auf der Suche nach anderen Prozenten davonschlenderten. Clermont zog ein seidenes Taschentuch hervor und staubte eine Stelle auf unserer Betonbank ab, bevor er sich niedersetzte. Er hob das Gesicht zum Himmel, um die ganze Glut der Sonne aufzufangen. Er blinzelte in das grelle Licht wie eine Katze, die sich streckt, und sagte: »So ganz anders als in London. Ich verehre die Sonne.« Er hatte auch die Bräune, um es zu beweisen. »Ich habe immer versucht, die Sonne zu meiden«, sagte ich naserümpfend. »Ozonloch, Hautkrebs, alles das.« Er lächelte und betrachtete mich mit einem abschätzigen Blick. »Nun, was bringt sie zum Heldenplatz?« Es war sein beiläufiger Ton. Zu beiläufig. Dachte er, wir hätten eine Verabredung mit jemand? »Wir hatten uns bloß die Beine vertreten. Sind ein bißchen spazierengegangen, haben etwas vom Lokalkolorit aufgenommen, wissen Sie, das übliche touristische Zeug«, sagte ich leichthin. Clermont hob wieder das Gesicht, um ultraviolette Strahlen zu absorbieren. »Ich hatte wirklich erwartet, daß Sie uns anrufen würden. Wir hätten Ihnen helfen können, Arrangements für alle Örtlichkeiten zu treffen, die Sie zum Filmen benötigen könnten. Sie haben mich enttäuscht.«
Wahrscheinlich bist du nicht der einzige, mein Lieber, dachte ich. »Tut mir leid«, erwiderte ich gelassen. »Ich bin eben einer von diesen hartnäckigen Kerlen, die alles allein machen wollen, die das richtige Aroma eines Ortes einfangen müssen, statt die keimfreie offizielle Besichtigung wahrzunehmen. Verstehen Sie?« Als er wieder den Kopf wandte, hatte die Sonne nicht vermocht, seine Augen zu erwärmen. »Es tut mir schrecklich leid, wenn ich diesen Eindruck bei Ihnen hinterlassen haben sollte, Ka Be«, sagte er. Seine Stimme paßte nicht zum Blick der Augen. »Ich dachte, ich hätte Ihnen einen Hinweis auf meine Aufrichtigkeit gegeben, als ich Sie über das unglückliche Hinscheiden der jüngsten Ehefrau seiner Exzellenz unterrichtete.« Er wartete. Wenn er versuchte, in mir ein Gefühl von Verpflichtung oder Schuld zu wecken, gelang es ihm nicht. Er zog eine Braue hoch, dann zuckte er die Achseln. »Ich bin sicher, wir hätten Ihnen etwas Außergewöhnlicheres bieten können. Vielleicht eine Begegnung mit interessanten Leuten, Filmaufnahmen überall in Nok Kuzlat. Zum Beispiel könnte es Sie überraschen, zu erfahren, daß Seine Exzellenz einige seiner politischen Gegner hier in der Hauptstadt ohne Gerichtsverfahren inhaftiert hat. Ein besonnenes Wort und Gesten des guten Willens an den richtigen Stellen, und Sie hätten ein Interview mit einigen von Khuruchabjas interessanteren Dissidenten machen können, tief im Innern des islamischen Gulag, sozusagen. Zutritt für die üblichen abendländischen Reporter streng verboten. Sie haben noch Zeit. Vielleicht könnte ich Ihnen doch noch behilflich sein …?«
Er spielte unfair. Ich hätte meine Weisheitszähne dafür gegeben, etwas Substantielleres als Scheich Larrys Ansicht über das Flohhüpfen auf eine Magazinkassette zu bekommen. Clermont wußte auch, daß ich wahrscheinlich nicht so bald wieder in die Gegend kommen würde, mich also nicht mit dem Dilemma der meisten Journalisten plagen mußte, diesem endlosen Balanceakt zwischen der Gier von Politikern und Despoten nach einer günstigen öffentlichen Darstellung und den Risiken, die sie auf sich nehmen mußten – für ihre Karrieren, Visaerteilungen, vertraulichen Quellen und gelegentlich sogar ihr Leben –, um an die Fakten heranzukommen. Ich war drauf und dran, das Angebot anzunehmen, bevor es zurückgezogen wurde, als ich bemerkte, daß Clermont mit mehr als beiläufigem Interesse Halton beobachtete. »Und sollte Seine Exzellenz entdecken, daß ich auf Ihren Rat hin eine kleine Zusammenkunft mit seinen Feinden im Gefängnis hatte, könnte er das übelnehmen und eine weitere Zelle für uns drei herrichten lassen, Mr. Clermont.« »Unsinn.« Clermont tat die Idee mit einer Handbewegung ab. »Seine Exzellenz könnte sich vielleicht inkommodiert fühlen, aber mit kleinen äußeren Peinlichkeiten wird er leicht fertig, so lange die innenpolitische Lage stabil bleibt.« Ich schnaubte. »Was bedeutet, daß es in Wirklichkeit niemanden gibt, der ihn in Verlegenheit bringen könnte, nicht wahr?« Verlegenheit … Etwas daran kitzelte ein paar Gehirnzellen wach. »Sie müssen eine ungewöhnliche Autorität haben, um in der Lage zu sein, westliche Reporter in politische Gefängnisse einzuschleusen.«
»Ein besseres Wort würde ›Einfluß‹ sein.« »Hmmm. Sagen Sie, es gibt da jemanden von Interesse, den ich interviewen könnte, aber was würden Sie als Gegenleistung erwarten, wenn Sie uns diesen Gefallen erwiesen und Ihren ›Einfluß‹ geltend machten?« Er musterte mich eine Weile schweigend, dann blickte er lächelnd zu Halton auf. »Wenn Sie vielleicht … etwas wüßten, was von beiderseitigem Interesse sein könnte … eine nützliche Information entdeckten, von der wir beide profitieren könnten?« »Ich kann mir nicht vorstellen, was das sein sollte, Mr. Clermont.« Sein Blick glitt zu mir zurück. »Ach, irgend etwas. Eine verirrte Mikroplatte, zum Beispiel.« Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Nicht, nachdem er Halton diese komischen Blicke zugeworfen hatte. Ich dachte, er wolle etwas über die Pläne der CDI erfahren, einen unorthodoxen Agenten in Khuruchabja unterzubringen. Meine Nackenhaare prickelten, und trotz der Hitze überlief mich ein Frösteln. Clermont zeigte mir sein Volltrefferlächeln, amüsiert und trocken. »Mikroplatten sind die neueste Marotte, heutzutage, nicht wahr?« sagte ich. »Eine richtige Modetorheit. Es scheint, daß jeder eine will, um den anderen nicht nachzustehen. Ich persönlich finde, daß sie überbewertet werden.« Er schien nicht erfreut über meine Antwort. »Einige sind wertvoller als andere. Insbesondere eine hat mich bereits eine liebe Freundin gekostet.« Er blickte wieder zu Halton, und einen Augenblick lang war sein Gesicht nackt, trat seine Feind-
seligkeit offenbar zutage. Ein paar Stücke des Puzzles fügten sich zusammen, aber das Ergebnis war nicht geeignet, mich zu beruhigen. Khatijah war seine Geliebte gewesen. Irgendwie hatte sie von der Mikroplatte gewußt, aber nicht von Halton. Clermont hatte von beiden nichts gewußt. Jetzt wußte er Bescheid. Halton hatte sie und ihre Freunde getötet, aber der einzige, der das gewußt hatte, war Elias Somerton gewesen. Der zweite Elias Somerton. Clermont wußte, daß Halton ein Biokonstrukt war, aber nicht, daß ich die Mikroplatte bereits Somerton ausgehändigt hatte. Er dachte, wir hätten sie noch, und feilschte darum. Ihm mußte viel daran liegen. Nichts davon fügte sich zu einem zusammenhängenden Bild. Noch immer sah die Situation völlig rätselhaft aus. Jedesmal, wenn ich mich umdrehte, schien das Puzzle größer und größer zu werden. Bei all meinen selbstsicheren Sprüchen und der Abneigung, die ich gegen Clermont verspürte, sorgte ich mich plötzlich, daß ich die Mikroplatte zu früh weggegeben haben könnte. Vielleicht sogar der falschen Person. »Sie sind nicht ganz zufällig hier auf uns gestoßen, Mr. Clermont. Woher wußten Sie, daß wir auf dem Platz sind?« fragte ich unvermittelt. Ich hatte genug von der Spiegelfechterei und nickte zu den Beschattern, die noch immer ihre Sportseiten studierten. »Sind das Ihre Leute?« Clermont folgte meinem Blick. »Nein.« Er deutete mit einem Nicken zu ein paar anderen Männern in Straßenanzügen, die
bei der Fontäne umherschlenderten und plauderten. »Die sind es. Das heißt, sie arbeiten für die Botschaft. Der Platz ist ganz in der Nähe, und sie ließen mich wissen, daß Sie hier anzutreffen waren. Da unternahm ich einen Spaziergang.« Er schien keinen Augenblick lang in Verlegenheit zu geraten. Warum hätte er es sollen? Er hatte seine eigenen Babysitter in der Nähe, die ihre zusammengefalteten Zeitungen unter die gut ausgefüllten Achselhöhlen gesteckt hatten. Kein ausländischer Diplomat oder Beamter konnte ohne eine ungebetene Begleitung auf den Fersen um eine Flasche Milch zur nächsten Ecke gehen. Es war für das ausländische Botschaftspersonal längst zur Gewohnheit geworden, ein traditioneller Aspekt des Lebens. Die Hälfte der Leute auf dem Platz mußte aus Schnüfflern bestehen, die einander auf die Füße traten. Ein magerer Junge in einer abgeschnittenen Qabah und Jeans verkaufte die gleichen Zeitungen, die unsere Beschatter so eingehend studierten. Der Platz mußte an diesem Tag gut für sein Geschäft sein. Vielleicht war die Filipinofrau mit dem kleinen Kind in Wirklichkeit eine Spionin im Sold einer weiteren Partei. »Wir müssen aufhören, so zusammenzukommen, Mr. Clermont«, sagte ich. »Man könnte ins Gerede kommen.« »Ich weiß, daß Sie mich für ein Arschloch erster Güte halten, Mr. Sulaiman«, sagte Clermont abrupt. Ich starrte ihn erschrocken an. Die Muskeln in seinem Gesicht waren hart und grimmig. »Ich will offen mit Ihnen sein. Im Augenblick bin ich von mir selbst nicht besonders angetan. Selbstverachtung ist immer eine Berufskrankheit von Diplomaten im Nahen Osten.« In diesem Augenblick gefiel er mir beinahe. Ein alarmieren-
der Gedanke. »Ich brauche diese Mikroplatte. Ich könnte Sie durch offizielle Kanäle unter Druck setzen, aber ich bilde mir gern ein, daß meine Ehre noch hinreichend intakt ist, so daß ich mich nicht dazu erniedrigen muß. Ich finde es abgeschmackt genug, wie ein gewöhnlicher tah'jir in den Suks zu feilschen«, sagte er. Er spuckte das Wort aus, als hätte es einen schlechten Geschmack in seinem Silberlöffel gewöhnten Mund hinterlassen. Ich argwöhnte, daß er in Wirklichkeit niemals die leiseste Neigung verspürt hatte, sich auf mich zu stützen; je weniger Leute etwas wußten, desto besser. »Ich verspreche Ihnen, alles Erforderliche zu tun, um Ihnen Interviews mit jeder Person Ihrer Wahl in Nok Kuzlat zu verschaffen«, sagte er, »wann immer und wo immer Sie es wünschen. So viel steht in meiner Macht. Ich will nicht verschweigen, daß ich und meine Regierung deswegen gewisse Konsequenzen seitens der Khuruchabjaner erleiden werden, aber wir können den Schaden hinnehmen.« Sonnengebräunt oder nicht, Thomas Andrew Hollingston Clermont blieb ein Mitglied des vertrottelten Adelsclubs. Ich mochte ihn nicht, er mochte mich nicht. Sein Abscheu, gezwungen zu sein, mit mir zu verhandeln, wurde nur übertroffen von seiner hochmütigen Verachtung dieses rückständigen Landes, das er offensichtlich weit unter dem fand, was ihm gebührte. »Als Gegenleistung bitte ich nur darum, daß Sie in Erwägung ziehen, was ich brauche. Das ist alles, nichts sonst. Nur in Erwägung ziehen.« Was für ein vornehmer Mann. Das Problem war nur, daß ich
die Mikroplatte nicht mehr hatte. Ich stand auf und reckte die Schultern im Sonnenschein. Clermont betrachtete mich aufmerksam. Seine arrogante Oberschichtpolitur verschleierte nur dünn die Mischung von Hoffnung und Abneigung. »Klar, Mr. Clermont. Ich werd's mir überlegen.« Ich zeigte mit dem Daumen zu all den Wachhunden, die über dem Platz verstreut in ihren Zeitungen lasen. »Wenn ich interessanten Schnickschnack herumliegen sehe, werde ich eine Chiffreanzeige aufgeben, damit Sie als erster die Nachricht bekommen.« Ich grinste fröhlich über seine Enttäuschung, überdeckte damit das bleierne Gefühl in meinem Magen und ging fort. Halton sagte wie gewöhnlich nichts. Wir gingen an dem Jungen vorbei, der seine arabischen Zeitungen verkaufte. »Kaufen Sie eine Zeitung!« sagte er. »Danke, nein.« Ich versuchte ihn abzuschütteln, aber er tanzte vor mir hin und her und schlug mir die zusammengefaltete Zeitung an die Brust. »Kaufen Sie eine Zeitung, und Sie bekommen das Fernsehprogramm gratis«, bedrängte er mich. Seine Aggressivität war ein bißchen zu auffällig. Gab es hier überhaupt jemanden, der wirklich war, was zu sein er vorgab? Ich angelte die Münzen aus der Tasche und kaufte die von seiner Hand schmierige Zeitung, kaum vier Seiten stark. Der Junge steckte ein Fernsehprogramm hinein, das drei Wochen alt war. Meinetwegen. Der Junge ging weiter und versuchte seine Zeitungen den Beschattern zu verkaufen, die uns folgten. Ich blieb stehen und wartete auf sie, klopfte mit dem Fuß in vorgetäuschter Unge-
duld und grinste, als sie finstere Mienen machten. Unweit vom Platz war ein Salon du The, der ungefähr so pariserisch war wie das winzige Grab eines heiligen Moslems gleich daneben. Halton und ich setzten uns an einen Tisch vor der Tür und tranken Pfefferminztee aus Gläsern mit verschnörkelter Goldverzierung. Bei der kleinen Kuppel über dem vierekkigen Grabmal beteten und tratschten alte Frauen in roten aba'ayahs. Ein paar von unseren Beschattern nahmen einen Tisch am anderen Ende und sprachen leise miteinander, während wir vorgaben, nicht zu wissen, wer sie waren. Ich gab die Zeitung Halton und blätterte beiläufig im Fernsehprogramm. Jemand hatte scheinbar willkürlich verschiedene Worte sowohl in arabisch und dem komisch übersetzten Englisch angestrichen. Dies konnte offensichtlich nicht von Hamid sein; es war nicht sein Stil, und angesichts unserer stummen Aufseher würde er uns nicht näher als hundert Schritte kommen, wenn er sich im weiteren Umkreis aufhielt. Ich lächelte, während ich mich durch die Geheimbotschaft arbeitete, erheitert über die ComicheftSicherheitsvorkehrungen des Urhebers. Es mußte das Werk von Ibrahims kleinem Computerclub sein. Halton entfaltete die Zeitung, um die Innenseiten zu lesen, und überflog beiläufig die kleine arabische Schrift. Ich hörte auf zu lächeln, als ich genug Worte in einer Reihe hatte. Halton blickte mich über den Rand seiner Zeitung hinweg an. »Irgendwas Interessantes?« Ich mußte mit der Möglichkeit rechnen, daß unsere Beschatter Richtmikrofone hatten. »Nicht viel. Gestern abend versäumten wir eine gute Show. Unser gefiederter Freund ist zum Überwintern nach Süden geflogen«, sagte ich beiläufig. »Nach-
dem er sich ein leichtes Fieber zugezogen hat.« Halton verstand meine rätselhafte Bemerkung, obwohl ich nicht ganz korrekt gewesen war. Gabriel hatte kein Virus. Gabriel war der Virus. Das Programm künstlicher Intelligenz hatte sich bei der Umschreibung seiner eigenen Programmierung wie eine Feder geöffnet und sich selbst von der Mikroplatte direkt auf das elektronische Bulletin-Netzwerk der jungen Hacker kopiert. Wäre es nur die kleine Infrastruktur von Freunden und ihren antiken Computern gewesen, hätte es keine Datenspeicherung in Verbindung mit Modems geben können, die groß genug wären, Gabriel aufzunehmen. Aber das Netzwerk war dank der Vettern, die in der Dateneingabe arbeiteten, auch an die Computerbibliothek der Regierung angeschlossen. Sie hatten dort seit Jahren Software vom Computernetzwerk der Regierung gestohlen und Akten kopiert, und nun war Gabriel entkommen, um die Bits und Bytes von Nok Kuzlats gesamtem Computerkommunikationssystem zu infizieren. Bisher, sagte die Botschaft, hatte Gabriel nichts getan. Er eilte wie ein Geist durch die elektronischen Ketten, tauchte bald hier und bald dort auf, um verschiedene Akten und Programme zu öffnen und zu schließen, harmlos und unverändert, unentdeckt von der Regierung. Bisher. Es war Abdullah gelungen, ihn in eine Art Gespräch zu verwickeln, und er hatte Gabriel gefragt, was er tue. Die Antwort machte mich frösteln. Der Erzengel Gabriel hielt Ausschau nach dem Mahdi.
17 WIR WAREN BEREIT FÜR UNSERE VERABREDUNG mit dem jungen König. Holoausrüstung und Portanet standen zu unseren Füßen, während wir Überbleibsel vom Frühstück aßen, das der Zimmerservice gebracht hatte, und unsere Alternativen diskutierten. Auf dem Servierwagen blinkte das Störgerät wie Christbaumschmuck. Da ›sie‹ nun wußten, daß ich es hatte, war es sinnlos, Blumenarragement oder den Servierwagen mit Abhörwanzen zu versehen, aber ich wollte jedes Risiko ausschließen. Ich hatte ein unangenehmes Vorgefühl, daß die CDI eine böse Überraschung für uns vorbereitet hatte, war aber noch immer ohne einen Plan. Der CDI und dem Scheich zu sagen, sie sollten sich zum Teufel scheren, und wie Huckleberry Finn und Tom Sawyer zusammen wegzulaufen und dann auf einem Floß den Mississippi hinunter, war keine realisierbare Option. Aber es schien auch keine andere Lösung zu geben. »Wir werden einfach tun, was erwartet wird, und versuchen, mit den Dingen fertig zu werden, wie sie kommen, Halton. Ich weiß nicht, was wir sonst machen sollten«, gab ich schließlich zu. »Anscheinend hast du auf das falsche Pferd gesetzt.« Ich warf ihm einen Blick zu und merkte an seinem abwesenden Ausdruck, daß er nicht verstanden hatte. »Ich weiß nicht, wie nützlich dir meine Hilfe sein kann. Ich bin nicht einmal sicher,
wie nützlich ich mir selbst bin.« Ich war in einer üblen Stimmung, krank von Selbstekel, und hatte nicht einmal einen leichtfertigen Scherz zur Aufhellung meiner Stimmung parat. Halton musterte mich mit ruhigem Blick, dann zeigte er, daß er meine Redensart verstanden hatte. »Ich setze auf das einzige Pferd, das es gibt, Ka Be«, sagte er. »Wir haben noch eine Woche.« Dann war es Zeit. Halton und ich trafen fünfzehn Minuten vor der festgesetzten Zeit ein. Amerikaner sind notorisch pünktlich und werden sauer, wenn andere nicht nach der gleichen inneren Uhr funktionieren. Aus irgendeinem Grund ließ die militärische Palastwache sich Zeit, unser Gerät zu durchsuchen und befahl uns mehrmals, durch den Sensor zu gehen. Sie tasteten uns gründlich ab, was mich in Schweiß brachte. Aber ich passierte die Inspektion, und als sie endlich mit uns beiden zufrieden waren, folgten wir zwei mit Maschinenpistolen bewaffneten Wachsoldaten durch den langen Korridor. Dann mußten wir beinahe zwei Stunden nach unserem Termin in einem der zahlreichen ma'gâlees hinter einem Brokatvorhang warten. Dieser besonders kleine Empfangsraum war als eine Miniaturreplik der Sixtinischen Kapelle ausgestattet, komplett mit der gesamten Ausmalung bis zu Gottvater, wie er Adam mit seinem Finger zum Leben erweckt. Es war ein Raum, wie man ihn im Palast eines moslemischen Herrschers nicht erwartet hätte, und das um so weniger, als Larrys Vorgänger auf dem Thron, auf welche die Ausmalung zurückgehen mußte, weit weniger verwestlicht gewesen waren als er.
Als endlich einer der alten Berater Seiner Exzellenz kam, wurden wir in einen anderen kleinen Raum geführt, der vergleichsweise schlicht eingerichtet war. Scheich Larry räkelte sich auf einem kleinen Sofa unter einem farbigen Glasfenster, das sich auf einen kleinen, lieblichen Garten öffnete. Er war zwanglos gekleidet; seine Jeans befand sich in etwas besserem Zustand als das letzte Mal, und sein T-Shirt trug eine neuere Abbildung des flammenhaarigen Leadsängers von Hirnschaden, die seine favorisierte Rockgruppe zu sein schien. Unser ältlicher Begleiter humpelte beiseite und nahm gegenüber von einem bereits anwesenden Kollegen Aufstellung. Auf einem hohen runden Tisch in der Mitte des Raums lagen verschiedene Dokumente. »Sie haben die Papiere mitgebracht?« sagte Seine Exzellenz unfeierlich anstelle einer Begrüßung. Ich war vollständig verblüfft. »Welche Papiere?« Dann erst ging mir ein Licht auf. »Ah. Ja, gewiß ich habe sie. Sie sind in meinem Gerät.« Ich klopfte an das umgehängte Portanet. »In Ordnung. Dann machen wir es gleich.« Er erhob sich vom Sofa und stand am Tisch mir gegenüber. »Wie …?« stammelte ich. »Augenblick, ich dachte wir hätten bis zum Wochenende Zeit …« Ich blickte zu Halton. Er sah alarmiert aus. »Ich brauche einen Kameramann, Exzellenz …« Larry runzelte ärgerlich die Stirn. »Hören Sie, mieten Sie einen anderen Kameramann; es hängen ständig welche von denen herum. Sie können ihn behalten, bis Sie das Interview heute nachmittag aufgenommen haben, aber ich möchte die Formalitäten jetzt schon erledigen, in vertraulichem Rahmen.« Er lächelte. »Tut mir leid, ein großartiges Team auseinanderzureißen, aber ich kriege, was ich will, wenn ich es will. Ich bin
hier der König, verstehen Sie, Sulaiman? Also machen Sie mir keine Schwierigkeiten. Capisce?« Dies war nicht der verzogene reiche Schnösel, der in Beverly Hills mit Vaters Geld um sich warf. Mit einem unverschämten Beverly Hills-Kretin wäre ich fertig geworden. Aber Scheich Larry war auch das Oberhaupt eines Staates, der im allgemeinen nicht für seine Barmherzigkeit oder Wohltätigkeit gegenüber Ungläubigen und anderen geringeren Wesen bekannt war. »Ich habe verstanden«, sagte ich mißmutig. Halton stand gerade und starr wie eine Eiche, als ich die Papiere zur Eigentumsübertragung aus der Seitentasche des Portanet zog. Einer der beiden älteren Berater fertigte die arabische Hälfte des Vertrags aus, während der andere die englische Hälfte überprüfte, i-Punkte und t-Querstriche anbrachte. Der junge König las den Text, lächelte und schob mir die Papiere zusammen mit einem goldenen 24-Karat-Kugelschreiber über den Tisch. Ich nahm den Kugelschreiber mit tauben Fingern auf und gab vor, die Worte auf dem Vertrag zu lesen, die mir vor den Augen verschwammen. Ich hielt den Stift über die punktierte Linie, als Halton leise sagte: »Ka Be …« Ich blickte auf und sah in seine weit geöffneten Augen. Er starrte mich in ängstlicher Sorge an, in einem stummen Hilferuf. Ich kam mir wie ein Verräter vor. Aber ich konnte nichts machen; Halton wußte es. Im nächsten Augenblick war die Fassade wiederhergestellt, seine verzweifelte Bitte ersetzt durch kühle Gleichgültigkeit. Ich unterzeichnete die verdammten Papiere und verkaufte Haltons Seele an einen anderen Teufel.
Wenn Scheich Larry etwas davon merkte, war er von der Aufregung über sein neues Spielzeug zu sehr in Anspruch genommen, um darauf zu achten. Einer der Berater nahm die Papiere, ordnete sie und zog sich diskret zurück. Der andere trat zurück, nahm die Hände auf den Rücken und stand in würdevoller Bereitschaft. Wir drei standen uns am Tisch gegenüber und starrten einander wortlos an, bis Larry plötzlich mit der Fingerfertigkeit eines Zauberers mehrere blinkende Dinger in die Luft warf. Ohne seinen Platz zu verlassen, fing Halton sie alle mit einer Handbewegung auf. Dann hielt er sie dem König hin, und ich sah, daß es fünf silberne Dinare waren. Der alte Berater machte überraschte Glotzaugen, während der junge König vergnügt lachte. »Nun biegen Sie einen«, befahl er. Halton hielt einen Dinar mit Daumen und zwei Fingern in die Höhe und bog die dicke Münze in einen rechten Winkel. Nachdem er sie dem Herrscher überreicht hatte, bog er eine zweite Münze und richtete sie wieder gerade. Nicht einmal eine Falzspur zeigte sich, wo die Silbermünze gebogen worden war. »Mann, das ist wirklich großartig!« sagte Larry begeistert. Halton sah ihn schweigend und gleichmütig an. Ich schloß die Augen. Als nächstes würde er ihm befehlen, sich tot zu stellen und zu apportieren. Ich zitterte. Scheich Larry sagte etwas zu mir. Ich öffnete die Augen und zwang mich zur Ruhe. »Exzellenz?« »Ich sagte, Mustafa wird Sie ins Wartezimmer zurückbringen. Alle beide. In einer Stunde halte ich Hof, und das werden
Sie filmen.« Er fragte nicht. »Also halten Sie sich bereit.« Mustafa verbeugte sich vor ihm, und wir trotteten hinter dem alten Mann zurück zu demselben ma'gâlees, wo wir bereits Stunden verbracht hatten. Halton saß bewegungslos, wie aus Marmor geschnitten. Ich fühlte mich elend. »Es tut mir leid, Halton. Mein Gott, es ist mir schrecklich.« Sein Kopf wandte sich langsam, als hätte jemand vergessen, ihn in letzter Zeit zu ölen. Der leblose Ausdruck war wieder in seinen Augen. »Weshalb?« »Daß ich die verdammten Papiere unterzeichnete. Daß ich Seiner Exzellenz nicht sagte, er solle mir den Buckel runterrutschen.« Meine kurzen Nägel gruben sich in die Handflächen, so angestrengt ballte ich die Fäuste. »Weil ich dich im Stich ließ, Halton«, fügte ich leise hinzu. »Es war nicht unerwartet, Ka Be. Ich verstehe, daß nichts anderes getan werden konnte«, sagte er ohne Nachdruck. »Du hast mich nicht verraten.« »Was machen wir nun?« Der resignierte Tonfall meiner Stimme ärgerte mich. »Wir? Es gibt kein ›wir‹, Ka Be. Du hast die Eigentumsübertragung unterzeichnet. Ich gehöre jetzt Seiner Exzellenz.« Seine Stimme war völlig frei von menschlicher Emotion. »Ich nehme an, du wirst deine Arbeit als Journalist fortsetzen, und ich werde Seiner Exzellenz Leibwächter sein. Ich gehe dich nichts mehr an.« Es war, als hätte er mir einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Ich starrte ihn an und sah, daß der seltsame Ausdruck wieder in seinen Zügen war. Seine Augen waren leer,
sein Mund zeigte wieder dieses falsche kleine Lächeln. »Du gehst mich nichts mehr an …?« wiederholte ich mit halberstickter Stimme. Der Zorn brach sich Bahn. »Was soll das heißen? Nach all dem Scheiß, den ich deinetwegen durchgemacht habe, nachdem du mich um Hilfe gebeten hast, unterzeichne ich ein Stück Papier, und du gehst mich nichts mehr an?« Er betrachtete mich stumm. »Ja«, sagte er endlich. »Es war alles umsonst? Alles, sogar in der madja?« sagte ich durch die zusammengebissenen Zähne. »Ist das deine Vorstellung von Freundschaft?« Einen Augenblick lang glaubte ich einen Riß in der Schale zu sehen, eine Andeutung von innerer Bewegung in seinen Augen. Dann war es fort. »Ich hoffe aufrichtig, daß es nicht umsonst war«, sagte er mit fester Stimme. »Bitte glaube mir, ich bin sehr dankbar, daß du mein Freund warst.« Warst. Ich vermied es, ihn anzusehen und hörte den Puls in meinen Ohren pochen, zählte die Herzschläge. »In Ordnung, gut, wenn du es so willst«, sagte ich langsam. »Verbindlichen Dank, Halton.« Er reagierte nicht, und wir saßen schweigend, bis Mustafa uns abholte. Halton machte die Holoausrüstung aufnahmebereit, und ich hatte das Portanet in Bereitschaft. Wir wurden zu einem der größten Säle geführt, die ich je gesehen habe. Eine vergoldete Stalaktitenkuppel orientalischer Art überspannte den Raum, getragen von einer Doppelreihe schlanker Säulen. Der achteckige Saal unter dieser an eine
Moschee gemahnenden Kuppel wurde von einem schmalen langen Teppich in heimischem orientalischem Muster in zwei Hälften geteilt und endete an einem Ende an einer erhöhten Plattform. Auf dieser saß der erhabene Diener Allahs, der geliebte und ruhmreiche Monarch von Khuruchabja und Oberkommandierende der Streitkräfte, Seine Exzellenz Scheich Larry auf einem großen vergoldeten und mit grünem Samt bezogenen Thronsessel, die Unterarme auf den Lehnen, steif aufrecht mit arrogant unbewegter Miene, erstarrt in einer strengen herrscherlichen Pose. Sein Haar war sauber zurückgekämmt und glänzend pomadisiert, und er hatte T-Shirt und Jeans mit einer seiner Uniformen vertauscht, großzügig behängt mit Kordeln, Medaillen, Orden und Spangen. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn der Tabernakelchor der Mormonen angefangen hätte, aus Dolby-Lautsprechern Hosianna zu singen. Auf den drei tieferen Ebenen unter dem Thron, aber noch immer erhöht, saß eine Anzahl feierlich gewandeter Männer auf Polstern, so ordentlich, als wären sie von einem Choreographen in Position gebracht worden. Zu ebener Erde füllte eine Menge von wahrscheinlich mehr als tausend Menschen den Saal zu beiden Seiten des Teppichs. Viele trugen makellose Kaftane und reich bestickte Qabahs mit golddurchwirkten burda'ts um die Schultern. Andere saßen mit gekreuzten Beinen in Straßenanzügen westlichen Stils und Krawatten unter ihren Kaffijehs. Hinter ihnen füllten Hunderte von einfacheren Menschen in mehr oder minder schäbigen Kleidern den Saal, und an der Rückwand zu beiden Seiten des riesigen Portals drängten sich staubige al-wabhars direkt aus der Wüste, deren Gewänder den muffigen Geruch von altem Schweiß und Schafdung verström-
ten. Ich hatte das Portanet über eine Relaisantenne außerhalb des Saales und einen Satelliten mit einem gelangweilten Redakteur verbunden, der gleichzeitig ein halbes Dutzend andere, ähnlich langweilige Sendungen kontrollierte. Wenn Larry eine überraschende und interessante Proklamation vorbereitet hatte, würden wir sie wenigstens live aufgezeichnet haben. Halton hatte die Holoausrüstung schußbereit und ließ die Kamera laufen, als wir über den eingelegten Marmorboden marschierten. Bei unserer Annäherung lächelte die königliche Persönlichkeit geringschätzig und in geübter Pose mit zurückgenommenen Schultern und hoch gehaltenem Kopf, so daß er über seine schmale lange Nase zu den Fliegenaugen herabsah, die zu beiden Seiten um Haltons Kopf angebracht waren. Wir erhielten ungefähr auf halbem Weg zur Plattform auf einer Seite Plätze zugewiesen. Bei einer Distanz von ungefähr vier Metern waren wir nicht im Weg und doch so positioniert, daß wir aus einem befriedigenden Blickwinkel filmen konnten. Larrys Schokoladenseite, bemerkte ich. Wir filmten ungefähr drei Stunden, wie Larry in arabischem Stil Hof hielt, sich Beschwerden anhörte, mit dem Kopf nickte und gedankenvoll die Stirn runzelte und dann nach seinem Dafürhalten Recht sprach. Einer nach dem anderen, oder in Gruppen zu dritt oder mehr standen die Männer auf, schritten zum Fuß der Plattform, wo sie sich verneigten und dann erhitzt untereinander zu streiten begannen, bis Larry genug hatte. Das Urteil wurde gesprochen und in einem lächerlich großen Pergamentband schriftlich niedergelegt, und die streitenden Parteien zogen sich mit mehr oder minder selbstgefälligen oder
unzufriedenen Mienen zurück. So unsympathisch er mir war, ich mußte zugeben, daß Larry ein für sein Alter kenntnisreicher Administrator und Rechtsprecher war. Erhitzte Diskussionen über regierungsamtliche Bestimmungen zwischen reich gewandeten Beamten der Zivilverwaltung wurden abgelöst von Streitigkeiten über Bankgesetze und Vertragsrecht, die von Männern in Straßenanzügen und Kaffijehs vorgetragen worden. Auf Kaufleute, die über Lieferungen und Warenbestandslisten stritten, folgten Dorfbewohner, die über Ziegen und Kamele haderten, und alle Seiten behaupteten in irgendeiner Weise mit dem jungen Herrscher verwandt zu sein, woraus seine Verpflichtung folgte, zu ihren Gunsten zu entscheiden. Wie er es fertigbrachte, sich die Langeweile nicht anmerken zu lassen, ging über mein Verständnis. Aber der verwöhnte junge Mann mit den Allüren eines Playboys war verschwunden, ersetzt durch den hochmütigen, selbstsicheren Herrscher, der die Anforderungen der Rechtsprechung mit der notwendigen Zweckmäßigkeit zu verbinden wußte. Beeindruckend, aber für das Fernsehpublikum langweilig. Nichts für die Hauptsendezeit. Ich stand abseits neben Halton, das summende Portanet umgehängt, und mußte ein Gähnen unterdrücken. Meine Gedanken waren anderswo, nämlich bei der Frage, wo ich einen privaten Anruf bei Arlando machen konnte, um meinen Plan für den Rückflug zu ändern. Ich hatte meinen Teil getan. Zum Teufel mit dem Rest der Agentenaffäre, mit Scheich Larry und den Manipulationen der CDI hinter den Kulissen. Zum Teufel mit der Mikroplatte und Somerton und Clermont. Zum Teufel mit Halton.
So kam es, daß ich nicht achtgab, als ein besonders schäbig aussehender fhallel'h auf zitternden Beinen zur Plattform ging, um vor seinem königlichen Herrn und Meister zu stehen. Ich hatte die vergangene Stunde damit verbracht, andere Bauern seines Schlages lautstark über Zäune und Wasserrechte und welcher Sohn wie viele Schafe bekam und wessen Familie welche Aussteuer nicht bezahlt hatte, streiten zu hören, daß ich mir nicht vorstellen konnte, dieser abgerissene kleine Mann habe etwas von überwältigender Bedeutung vorzutragen. Er schien verschreckt und ängstlich, die Augen rollten weißlich in einem tiefgebräunten Gesicht, der Schnurrbart hing zu beiden Seiten von der zitternden Oberlippe. Zum ersten Mal sah ich Larry lächeln – ein warmes, offenes Lächeln, als wollte er die Ängste des Mannes zerstreuen und ihn ermutigen, frei heraus zu sprechen. Der Bauer fiel auf die Knie, drückte die Stirn auf die Stufe und babbelte unverständliches Zeug. Einer der Würdenträger stand auf und wollte den hysterischen Mann entfernen, aber Larry winkte ihn zurück. Der Würdenträger setzte sich verdrießlich, während der Bauer sich auf allen vieren näher zum König bewegte. Larry beugte sich vor, um das Geschwätz des verängstigten Mannes besser zu hören. »Allah akh'bar!« schrie der Zerlumpte plötzlich und richtete sich mit einem halbmeterlangen Schlachtermesser in der Faust auf. Er sprang auf den jungen Herrscher zu, der kaum zwei Schritte entfernt war … … und wurde von Haltons Hand aufgehalten, die sich um sein Handgelenk geschlossen hatte. Aus einer Entfernung von mindestens vier Metern hatte Halton seine Holoausrüstung abgeworfen und die Distanz mit zwei unglaublich schnellen
Sprüngen überwunden, um den Angriff abzuwehren. Die Spitze der Klinge war weniger als eine Elle von Scheich Larrys Kehle entfernt. Halton drehte dem Angreifer mit einem Ruck das Handgelenk um, das Messer fiel klappernd zu Boden und der Mann lag auf dem Rücken. Haltons Knie war fest auf seine Brust gepflanzt und hielt ihn nieder. Nach einer Sekunde atemloser Stille brach im Saal ein Tumult aus. Der verhinderte Meuchelmörder schrie unverständlich in den Lärm allgemeiner Panik. Adrenalin schoß mir ins Blut, als ich das Portanet direkt auf die Frequenz der Nachrichteneingabe von GBN schaltete, völlig instinktiv und bevor mein Gehirn registrieren konnte, was vorging. »Ein Attentatsversuch in Nok Kuzlat ist soeben gescheitert«, schrie ich ins Mikrofon und griff mit der anderen Hand zur Holoausrüstung, die noch lief, aber nur durcheinander rennende Füße filmte. »In einer dramatischen …«, auf einmal brach ich ab. Minister und Würdenträger zu beiden Seiten des Podiums waren rückwärts übereinander gefallen, als hätte ein Wirbelsturm sie umgerissen. Larry saß auf seinem Thronsessel, gegen die Lehne gepreßt, hatte die Augen weit geöffnet, zeigte aber keine Furcht. Halton blickte mit unbewegter Miene zu ihm auf, während der Angreifer noch unter ihm heulte und sich wand. Und ohne es im allgemeinen Lärm zu hören, sah ich Larry herzlich lachen. Es war eine getürkte Sache gewesen. Ich unterbrach die Sendung ohne ein weiteres Wort. Mir war, als könnte ich den GBN-Redakteur auf der anderen Seite der Erde hören, wie er mich verfluchte. Ich ging zwei Schritte auf Halton zu, als ein paar olivgrüne Militärs der Palastwache
aus dem Gewühl kamen und eine schützende Absperrung um ihn und den König bildeten. Ein paar Dutzend weiterer Wachsoldaten drängten die Menge zurück. Die Wachsoldaten stießen die Leute mit den Seiten der schräg vor sich gehaltenen Maschinenpistolen zurück. Ich wurde mit der Menge getrieben. Der kreischende ›Attentäter‹ wurde fortgeschleppt, und der König war verschwunden. Ich kämpfte gegen den Strom der Menge an, die zu den Türen hinausgedrängt wurde, landete aber mit allen anderen außerhalb der versperrten Palasttore. Auf der Straße schoben die Massen sich durcheinander. Neugierige strömten herbei, um von den Augenzeugen die Nachricht zu hören, um sie ausgeschmückt weiterzugeben. Alles rief durcheinander, um die Geschichte des Mordanschlags und eines wunderbaren Retters zu hören. Ich arbeitete mich zu den bewaffneten Wachsoldaten zurück, die hinter dem schmiedeeisernen Tor Posten bezogen hatten. »Ka Be Sulaiman!« rief ich durch den Lärm und hielt meinen Presseausweis in die Höhe. »GBN-Nachrichten! Ich hatte eine Verabredung mit Seiner Exzellenz … !« Ein Unteroffizier der Wache grinste bösartig. »Verschwinde!« »Mein Kameramann ist noch drinnen!« Ich zeigte zum Palast. Meine Stimme war vom Schreien heiser. Der Unteroffizier entsicherte seine Maschinenpistole mit einem unheilverkündenden metallischen Klack. »Verschwinde jetzt. J'ahkzhil!« rief er zurück, noch immer grinsend. Der Lauf der Waffe richtete sich auf mich. In Ordnung. He, kein Problem. Ich ging.
18 DEN REST DER WOCHE verbrachte ich im Hotel. Allein. Der Palast Seiner Exzellenz erwiderte meine Anrufe nicht. Larry hatte, was er wollte, und ich konnte mir in der Nase bohren. Ich hatte nicht einmal mehr einen Kameramann, und Halton hatte noch die Holoausrüstung. Ich rief Arlando auf einer gesicherten Leitung an und klagte und stöhnte, was mein Selbstgefühl beschädigte und nicht viel erreichte. Was konnte ich ihm schließlich sagen? Ich hatte meinen Auftrag erfüllt, Halton abgeliefert, hatte sogar eine Exklusivmeldung über den sogenannten Attentatsversuch. Über den Rückflug sei noch nicht entschieden, sagte er, also saß ich im Moment hier fest. Aber schließlich war ich Journalist, also galt es, aus einer schlechten Situation das Beste zu machen. Professionell zu sein. Wenigstens hatte er den Anstand, mir nicht zu sagen, daß ich Ärger aus dem Weg gehen sollte. Im Grand Imperial gab es eine Anzahl andere Reporter und Kameramänner, also zeigte ich mich von der großzügigen Seite, spendierte öfter mal einen und streckte Fühler nach einem freiberuflichen Kameramann aus. Dann saß ich in meinem Zimmer und wartete am Telefon. Um die Zeit zu vertreiben, lud ich ein paar Dateien aus dem Archiv der Relaisstation Kairo auf das Portanet herunter und untersuchte die Möglichkeiten, wen
ich über Clermont interviewen könnte. Das Fernsehsystem des Hotels war ein altmodisches internes Kabelnetz mit sehr neuen Störgeräten, die alle bis auf die am schärfsten gebündelten Satellitenkanäle ausfilterten. Nicht einmal Carls Spielzeuge konnten einen der Nachrichtenkanäle des Westens mit einem Minimum von Klarheit durch die Störgeräte des Hotels bringen. Ich mußte mich mit den spärlichen Lokalnachrichten aus Nok Kuzlat an einem schlechten chinesischen Holofernseher begnügen, die in unregelmäßigen Abständen zwischen den nichtendenwollenden Gebeten und den zwei Jahre alten Fußballspielen gesendet wurden. Das sensationelle Überleben des Herrschers war die Nachricht des Tages, und der Berichterstatter erging sich in überschwenglichen, blumenreichen Lobpreisungen Allahs, Seiner Exzellenz und Haltons, der für seine mutige Tat mit dem Angebot geehrt worden war, ab sofort die Stellung eines persönlichen Leibwächters Seiner Exzellenz anzutreten, für die er so offensichtlich qualifiziert war. Es gab nicht einmal eine gute Filmaufnahme der Rettungsaktion, nur das endlos wiederholte GBN-Bild des knienden Attentäters Sekunden vor dem Angriff, dann ein Durcheinander von Geräuschen und verschwommenen Bildern, als das Hologerät zu Boden fiel und Halton lossprang. Der Attentäter war prompt vor Gericht gestellt, verurteilt und öffentlich hingerichtet worden. Davon hatten sie wundervolles Filmmaterial mit guter Beleuchtung und feinem Ton. Ein selbständiger Holo-Kameramann, ein Freund von Carl, der auch im Hotel wohnte, biß bei mir an, und wir machten eine Verabredung. Zur gleichen Zeit prüfte ich die zehnte
Archivkassette aus Kairo, um meine Wahl unter den politischen Gefangenen zu treffen, mit denen ich ein Interview zustande bringen könnte. Es gab nicht viele, die dafür geeignet waren, was mir vorschwebte; die meisten von ihnen waren die üblichen, in Ungnade gefallenen wasserscheuen Kleriker, die Terrorismus als den einzigen legitimen Katalysator für Veränderung befürworteten. Für diese brachte die überwältigende Mehrheit der Fernsehteilnehmer wenig Interesse oder Sympathie auf. Die übrigen waren nichts als Schmuggler, Mörder und Diebe, gewöhnliche Kriminelle die sich einen dünnen Firnis angeblicher politischer Verfolgung zugelegt hatten, um durch gutgläubige internationale Hilfsorganisationen Vorteile für sich herauszuholen. Scheich Larry ließ nicht so viele lästige politische Gefangene romantisch in düsteren Kerkern schmachten. Er schien es vorzuziehen, die wenigen Dissidenten und Intellektuellen, die ihn mit ihrer allzu liberalen Forderung nach politischer Mitbestimmung und demokratischen Institutionen nervten, statt dessen erschießen zu lassen. Das unterhielt die Öffentlichkeit und sparte Kosten. Ich hatte mich für einen älteren Ulema entschieden, der wegen gewisser unkoscherer religiöser Ansichten seit mehr als fünf Jahren im Gefängnis saß und ein bißchen zu populär und gebrechlich war, um ihn ohne einen PR-Skandal hinrichten zu lassen, als mein Blick auf die im Hintergrund laufenden khuruchabjanischen Fernsehnachrichten fiel. Der Redakteur im Studio hatte einer professionell gemachten Reportage aus Nok Kuzlat selbst Platz gemacht. Nathan R. Mitchell, ein hinterhältiger britischer Staatsbürger,
der für eine skrupellose kanadische Exportfirma in Nok Kuzlat arbeitete, war verhaftet worden, weil er versucht hatte, zur Erlangung eines Lieferungsvertrags mehrere aufrechte und tugendhafte khuruchabjanische Beamte mit Provisionszahlungen zu bestechen. Der muntere Begleitkommentar beschrieb das ruchlose Verbrechen des degenerierten Briten, als Armeeoffiziere den Verhafteten mit auf dem Rücken gefesselten Händen eilig die Stufen des Bürogebäudes hinunterstießen. Die Kamera holte sein blasses und abgespanntes Gesicht nahe heran. Hohle Augen starrten ungläubig in die Kamera. Dann wurde er grob in einen Wagen mit amtlichen Kennzeichen gestoßen. Kameras, Portanet-Mikrofone und Holoausrüstungen umzingelten den Wagen, während Kästen mit ›Beweismaterial‹ dem Übeltäter auf die Rücksitze folgten. Es war Elias Somerton. Der zweite. Ich mußte die Sachen durchwühlen, die sich während meines Aufenthalts im Hotelzimmer angesammelt hatten, um die Karte zu finden, die Clermont mir überlassen hatte. Die Leitung der Britischen Botschaft war belegt, und ich schaltete das Telefon auf ständige Wiederholung, bis ich durchkam. »Ich möchte gern Mr. Clermont sprechen, bitte.« »Wen darf ich melden?« Der phlegmatische junge Mann am anderen Ende war auswechselbar mit jeder Menge anderer untergeordneter Empfangssekretäre in Botschaften überall auf Erden. »Ka Be Sulaiman.« Von GBN-Nachrichten sagte ich vorsichtshalber nichts. »Einen Moment, bitte …« Während ich wartete, zeigte der
Bildschirm eine grüne englische Hügellandschaft, voll von Wiesenblumen und üppig grünen Bäumen und einem kleinen Fluß, der im Gesprenkel des Sonnenlichts lieblich dahinströmte. Im Hintergrund spielte Händels ›Wassermusik‹. Der verdrießlich blickende Empfangssekretär kam wieder ins Bild. »Bedaure, Mr. Clermont ist in einer Konferenz und kann nicht gestört werden. Möchten Sie mir Ihre Nummer hinterlassen, Sir?« Ich tat es. Seine Konferenz mußte den ganzen Tag gedauert haben, denn als ich zum dritten Mal anrief, war er nach Haus gegangen, und der Empfangssekretär der Botschaft entschuldigte sich vielmals, aber er könne Mr. Clermonts private Geheimnummer nicht preisgeben, ich solle bitte am nächsten Morgen wieder anrufen. Am nächsten Morgen verzichtete ich auf den Anruf, denn ich wußte nur zu gut, daß Clermont in einer Konferenz sein würde, ganz gleich, zu welcher Zeit ich anrief. Ich ließ das Portanet im Hotelzimmer und versah mich mit einer von Carls kleinen Spezialitäten, einem Miniaturrecorder, dessen Mikrofon als Knopf an meinem Hemd getarnt war, während die Chipdiskette in meiner Gürtelschnalle versteckt war. Am Empfangsschalter ließ ich ein Taxi rufen und nutzte die Wartezeit, indem ich unter den wenigen im Foyer anwesenden Männern einen der Beschatter identifizierte, der sich wie üblich hinter einer Zeitung versteckte. Schließlich ging ich zu seinem Platz und blieb unmittelbar vor ihm stehen. Er blickte unbehaglich auf. »Wo ist Ihr Partner?« fragte ich. »Wie meinen Sie, Sir?« Das Taxi fuhr vor, und der als Mameluck verkleidete Türste-
her öffnete einen Türflügel und sah erwartungsvoll zu mir her. Ich blickte mit übertriebener Vorsicht im Foyer umher. »Noch auf Klo, wie? Nun, sollten wir uns verlieren«, sagte ich hilfreich, »ich fahre nur für eine Stunde oder so zur Britischen Botschaft hinüber, also braucht er sich nicht zu beeilen und zu riskieren, daß er sich was im Reißverschluß einklemmt, nicht wahr?« Der Wachhund starrte mich mit nacktem Haß an. Und dann kam auch sein Partner hastig aus der Herrentoilette und fummelte am Reißverschluß seiner Hose. Ich wußte, es war nicht klug, diese Leute zu sehr zu verärgern, und um ehrlich zu sein, war ich nicht mit dem Herzen bei der Sache. Es war mehr der Form halber, um meine eigene Nervosität zu verbergen. Die Sicherheitsabschirmung in der Britischen Botschaft übersah den Mikrorecorder, aber sie beschlagnahmten mein Schweizer Armeemesser und einen Kugelschreiber in meiner Brusttasche, bevor ein britischer Offizier mich zum Empfangssekretär eskortierte. »Ka Be Sulaiman«, sagte ich zu einem anderen der stoischen, austauschbaren Empfangssekretäre. »Ich bin hier, um Mr. Thomas Clermont zu sprechen, bitte.« Der Sekretär nahm den Hörer von der Gegensprechanlage, murmelte ein paar Worte zu jemandem, den ich auf dem kleinen Bildschirm nicht sehen konnte, bevor er auflegte und die Finger ineinandersteckte. »Tut mir leid, Mr. Sulaiman, es scheint, daß Sie keinen Termin haben. Wenn Sie einen vereinbaren wollen, bin ich sicher …« Ich wurde ärgerlich. »Rufen Sie ihn zurück und sagen Sie
ihm, daß ich ein enger persönlicher Freund von Elias Somerton bin. Ich glaube wirklich, daß Mr. Clermont mich gern sprechen würde.« »Sir, wirklich, ich …« »Tun Sie es.« Der Empfangssekretär musterte mich während eines langen, feindseligen Augenblicks mit geringschätziger Miene. Als er den Hörer zum zweiten Mal auflegte, sagte er eisig: »Mr. Clermonts Büro ist im dritten Stock links. Der Sergeant wird Sie begleiten.« Ich wurde in ein Wartezimmer gesetzt, aber Clermont ließ mich nicht lange warten, nicht einmal lang genug, um mir zu zeigen, wer er war, und wer ich. Als er die Tür zum Wartezimmer öffnete, fiel mir auf, daß er abgehärmt aussah. »Sulaiman«, sagte er knapp. Ich stand auf. »Hallo, Mr. Cler …« Er schnitt mir das Wort ab. »Wir können in meinem Büro sprechen«, sagte er, machte auf dem Absatz kehrt und ging davon. Ich folgte ihm durch einen Korridor. Zu beiden Seiten waren Büros ohne Namensschilder. Der Gang endete vor einem mittelgroßen Büro, dessen Tür gleichfalls ohne Hinweis war. Der Raum war seltsam frei von allen persönlichen Gegenständen. Er schloß sorgsam die Tür hinter uns. Der Schreibtisch war aufgeräumt, keine Fotos von Familienangehörigen, keine persönlichen Erinnerungsstücke oder Gemälde an der Wand. Ein Raum, wo man Leute von draußen empfing, steril und sicher. Clermont setzte sich hinter den Schreibtisch, und ich setzte mich auf einen von zwei Stühlen, die so ungebraucht waren,
daß ihnen noch der Geruch des Neuen anhaftete. »Ich bin gekommen, um von Ihrem Angebot Gebrauch zu machen, Mr. Clermont.« »Was für ein Angebot sollte das sein?« Seine Augen blickten gleichgültig, abweisend. Zweifellos war der Raum gründlich verwanzt. »Ich möchte einen der Gefangenen in Nok Kuzlat interviewen. Den Briten, der gestern verhaftet wurde, Nathan Mitchell.« Er reagierte nicht. »Tut mir leid, das ist nicht möglich.« »Ich dachte, Sie sagten, daß Sie die Möglichkeit hätten, mir mit jedem, der von den khuruchabjanischen Behörden gefangengehalten wird und den ich sprechen möchte, ein Interview verschaffen könnten.« Er starrte mich ausdruckslos an. »Sie mißverstanden mich, Mr. Sulaiman. Jedenfalls ist das Wohlbefinden britischer Staatsangehöriger die Sorge der britischen Regierung und ihrer Botschaft, nicht die von GBN-Nachrichten. Es tut mir leid, aber es ist unmöglich für Sie, Mr. Mitchell zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu sprechen.« Seine Stimme war völlig neutral, der eingeübte Tonfall eines Diplomaten. Sie paßte aber nicht zu seinem hohläugigen, abgespannten Gesicht. Den gleichen Gesichtsausdruck hatte Mitchell bei seiner Festnahme am vergangenen Tag gezeigt. Etwas fehlte hier. »Wollen Sie nicht oder können Sie nicht?« beharrte ich. »Sie wissen, daß ich ihn kenne und weiß, wer er ist. Was, zum Teufel, geht vor?« Der arrogante, geringschätzige Mann, mit dem ich auf dem Heldenplatz gesprochen hatte, war verschwunden. Er sah müde
und mitgenommen aus. Er seufzte, ließ den Blick durch den kahlen Raum schweifen und vermied es, mich anzusehen. »Unglücklicherweise erlitt Mr. Mitchell kurz nach seiner Verhaftung einen Herzanfall«, sagte Clermont mit tonloser Stimme. »Er starb heute in den frühen Morgenstunden. Seiner Majestät Regierung trifft eine Vereinbarung mit den Khuruchabjanern, um den Leichnam nach England zu überführen.« Es überlief mich kalt. »Und ich könnte mir denken, daß im Bericht des Gerichtsmediziners stehen wird, alle ungewöhnlichen Spuren am Körper des Toten rührten von übereifrigen Versuchen her, erste Hilfe zu leisten.« Clermonts Augen durchbohrten mich. »Mr. Sulaiman, ich habe wirklich keine Ahnung, was Sie implizieren.« »Das denke ich mir. Und Sie wissen auch nichts über eine Mikroplatte, nicht wahr?« Ich legte so viel skeptische Geringschätzung in meine Worte, wie ich wagen konnte. Er stand auf. Seltsamerweise war er nicht zornig. »Mr. Sulaiman, ich glaube nicht, daß wir noch mehr zu besprechen haben.« Ich blieb sitzen. »Sie wissen, daß ich sie nicht habe. Sie wissen, wer sie zuletzt hatte. Und Sie wissen, warum Mitchell getötet wurde, wenn das sein wirklicher Name war.« Er schritt zur Tür, und ich setzte eilig hinzu: »Sprechen Sie mit mir, Mr. Clermont, und vielleicht können wir einander helfen. Ich möchte nicht weiter herumschnüffeln müssen, bis mir jemand was erzählt.« Er blieb stehen, eine Hand auf der Türklinke, die Augen abgewandt. »Ich würde Ihnen entschieden abraten, diese Nachforschungen fortzusetzen.«
»Weil mir sonst etwas zustoßen könnte? Weil ich am Ende auch einen Herzanfall erleiden würde? Oder vielleicht einen tödlichen Autounfall wie Khatijah? Wer tötete Mitchell?« Er öffnete die Tür nicht und wandte sich mir zu. Er war nicht zornig. Er war ängstlich. »Hören Sie zu, Sulaiman«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Sie stecken bis zum Hals drinnen, und Sie haben keine Ahnung, in was Sie verwickelt sind. Als ein Vertreter von Seiner Majestät Regierung fühle ich mich verpflichtet, Ihnen einen Rat zu geben. Sie sind ein Reporter, das ist schön. Berichten Sie über alle Nachrichten, die Sie wichtig finden. Aber Sie sind kein Polizeidetektiv. Also halten Sie den Mund geschlossen und die Augen offen, das ist alles. Mischen Sie sich nicht ein.« Wieder blickte er im Raum umher, offensichtlich besorgt, zu viel oder zu wenig zu sagen. »Zu vieles geht schief, und es werden Menschen dabei zu Schaden kommen. Ich weiß nicht, woher Sie die Idee haben, daß Journalisten kugelfest sind, aber wenn Sie weiterhin mit den Ellbogen herumstoßen, werden Sie sehr rasch erfahren, daß auch Sie verwundbar sind.« »Ist das eine Drohung?« fragte ich leise. Er starrte mich an. »Nein. Es ist eine freundschaftliche Warnung. Wenn Sie Ihre Nase hineinstecken, wohin sie nicht gehört, wird sie abgeschnitten, und andere Leute werden das Leben verlieren, gute Leute.« Er hörte sich fast verzweifelt an. »Leute, für die ich verantwortlich bin. Leute, an denen mir liegt.« Ich starrte zu ihm zurück. »Ich wurde gegen meinen Willen in diese Schweinerei hineingezogen, aber ich werde mich jetzt
nicht abschrecken lassen. Sprechen Sie mit mir, Mr. Clermont.« Einen Augenblick lang dachte ich, er könnte es tun. Er zögerte, und unter seiner Sonnenbräune wurde ein seltsam blutloses Grau sichtbar. »Meine Informanten werden strikt vertraulich behandelt, Mr. Clermont. Ich schwöre, daß Sie mir vertrauen können. Auch Journalisten sind imstande, Geheimnisse zu wahren, wissen Sie; vielleicht sogar besser als eine Amtsperson wie Sie.« Er lachte, ein rauhes Bellen, das mehr wie ein Ächzen klang, dann schüttelte er sich, als sei er aus einem schlimmen Traum erwacht. »Gehen Sie nach Haus, Sulaiman«, sagte er mit leiser Stimme. »Nehmen Sie die nächste Maschine und kehren Sie in ihre Heimat zurück.« »Nein.« »Dann sind Sie ein Dummkopf.« Er öffnete die Tür, und ich folgte ihm, als er steif den kurzen Korridor entlangschritt. »Mr. Clermont …« Er öffnete die äußere Tür und sprach zu dem uniformierten britischen Offizier. »Bitte seien Sie so freundlich, Mr. Sulaiman aus der Botschaft zu begleiten«, sagte er, worauf er kehrt machte und fortging, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Er hielt sich steif aufrecht. Ich wurde sehr herzlich und freundlich hinausgeworfen, siedend vor ohnmächtigem Zorn über die höfliche, aber eiserne Weigerung, mich wieder einzulassen, um mit Clermonts Vorgesetztem zu sprechen. Als ich zum Hotel zurückkam, blockierte eine Herde von unerschrockenen Touristen, die eine obskure Gruppenreise mit
dem Bus unternommen hatten, den Eingang mit dem üblichen Berg von Gepäck, und alle zankten in einer Sprache, die entweder Pandschabi oder Urdu war, lautstark mit dem geplagten Empfangschef. Halton hätte gewußt, welche Sprache es war, dachte ich verdrießlich. Die zwei Beschatter, die ich geärgert hatte, waren abgelöst worden, und zwei neue Männer saßen hinter ihren Zeitungen im Foyer. Dort wartete auch Carls Freund, der freiberufliche Kameramann, sichtlich nervös auf mich. Als ich hereingestampft kam, sprang er wie ein Stehaufmännchen aus seinem Sessel. »Sulaiman? GBN-Nachrichten?« fragte er mit unsicherem Lächeln. Ich streckte ihm automatisch die Hand hin und schüttelte die seine. »Sie sind der neue Kameramann?« Ich mußte beinahe rufen, um mir im Lärm der Reisegruppe Gehör zu verschaffen. »Ja.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Das heißt, eigentlich nein.« »Wie bitte?« »Es tut mir leid, ich habe da einen Konflikt. Ich kann nicht für Sie arbeiten. Tut mir wirklich leid …« »Das kommt ein bißchen überraschend, mein Lieber«, sagte ich ärgerlich. »Können Sie mir einen anderen empfehlen?« Er schnitt eine unbehagliche Grimasse. »Mmm, nun … eigentlich nicht.« Nun verstand ich. Ich würde in Nok Kuzlat keinen Kameramann finden. In einem Geschäft, wo man nur überleben kann, wenn man sich umeinander kümmert, war dies höchst ungewöhnlich. Ein paar Sekunden später entdeckte ich, daß der
Mann nicht durch Drohungen abgeschreckt worden war. Er wußte einfach, ich würde nicht lange genug bleiben, daß er für mich arbeiten könnte, und wenn er selbst in Khuruchabja weiterarbeiten wollte, war er gut beraten, sich nicht auf eine Zusammenarbeit mit mir einzulassen. »Mr. Sulaiman.« Der Khuruchabjaner in der Uniform eines Obersten stieß sich durch den Haufen zorniger Touristen und kam auf mich zu, um mir ein großes, aus einem Blatt bestehendes Dokument auszuhändigen. Ich war zur Persona non grata erklärt. »Ihr Visum für Khuruchabja ist für ungültig erklärt worden. Sie haben dieses Land bis spätestens morgen früh zu verlassen, oder Sie werden als illegaler, der Spionage verdächtiger Ausländer verhaftet.« Ich überflog das Dokument. Auf arabisch und englisch sprach es eindeutig aus: »Yankee Go Home«. Als ich aufblickte, hatte der freischaffende Kameramann das Weite gesucht. Ein paar von den Touristen starrten neugierig herüber. »Das ist lächerlich. Warum?« fragte ich. »Aus welchem Grund?« Der Oberst lächelte humorlos. »Wir brauchen keinen, Mr. Sulaiman. Wir wollen Sie einfach nicht mehr hier haben.« Ich fluchte. »Dahinter steckt dieser Clermont, nicht wahr?« Der Oberst machte eine gekränkte Miene. »Die Regierung Khuruchabjas bedarf nicht der Billigung oder Erlaubnis seitens der Briten, um unerwünschte Personen des Landes zu verweisen«, sagte er entrüstet. Vielleicht nicht. Wenn Clermont dahintersteckte, war der Ausweisungsbefehl unnatürlich schnell in meine Hände gelangt.
»Ich werde förmlichen Protest bei meiner Regierung und meinem Nachrichtendienst einlegen«, warnte ich ihn. Die Enttäuschung machte mir das Sprechen schwer. Er hob die Schultern. »Wie Sie wollen«, sagte er unbekümmert. »Hauptsache, Sie verlassen bis morgen früh das Land. Bis dahin gehen mehrere Auslandsflüge ab, so daß Sie leicht einen Platz buchen können.« Er salutierte ironisch und ging. Die beiden Wachhunde grinsten mich über ihre Zeitungen hinweg an, als ich zu den Aufzügen ging. Im Zimmer angelangt, unternahm ich mit Carls Kammerjägergerät einen schnellen Vernichtungsfeldzug gegen etwaige Abhörwanzen, löste mit dem Fingernagel den Aufnahmechip aus meinem Gürtel und steckte ihn ins Portanet. Wenigstens konnte ich das Gespräch mit Clermont noch einmal abspielen und seine Antworten analysieren, um vielleicht versteckte Andeutungen darin zu finden, irgend etwas … Aber die Aufzeichnung enthielt nichts als das Knistern statischer Aufladung. Ungläubig starrte ich das Portanet an, dann überprüfte ich den Chip mit einem wachsenden Gefühl von Furcht, nur um sicherzugehen, daß ich nichts falsch gemacht hatte. Aber das Portanet funktionierte einwandfrei. Auch mit dem Chip war alles in Ordnung. Er hatte das Gespräch aufgezeichnet, aber es war nichts als ein gleichmäßiges Knistern und Zischen darauf gespeichert. Ich bebte vor Zorn. Die Wut, die ich so lange in Schach gehalten hatte, überwältigte mich mit einem roten Schleier, und eine halbe Stunde später, als ich wieder zu mir kam, stand ich atemlos und erschöpft in einem vollständig verwüsteten Hotel-
zimmer. Federn aus zerrissenen Kissen wehten durch die Luft, die Vorhänge hingen in Fetzen. Ich war in Schweiß gebadet und keuchte, grinste wie ein Verrückter, aber ohne eine Spur von Humor. Sollte die CDI für den Schaden aufkommen. Ich schüttelte die Glassplitter von der zerrissenen Tagesdecke und begann inmitten der Trümmer ruhig meine Sachen zu packen.
19 ICH GENOSS EIN FRIEDLICHES ABENDESSEN im Hotelrestaurant auf der Terrasse über den schönen Dächern von Nok Kuzlat. Anschließend trug ich das Portanet hinaus bis zum Rand der Terrasse, wo ich es unter den funkelnden Sternen auf den Tisch stellte, starken Kaffee trank und einen doppelt verschlüsselten privaten Anruf bei Arlando machte. Ich hatte erwartet, daß er mehr Enthusiasmus zeigen würde, nachdem ich ihm mein Herz ausgeschüttet hatte, angefangen mit dem getürkten Attentatsversuch und Haltons ›heroischer‹ Rettung, über die seltsamen Umstände, die Somerton-Mitchells Tod umgaben bis zu meiner Ausweisung und der Vermutung, daß Clermont möglicherweise hinter dem Entzug meines Visums steckte. Obwohl ich dem Gespräch die höchste Sicherheitsstufe gegeben hatte, unterließ ich es eher instinktiv als aus einem bestimmten Grund, ihm zu erzählen, daß wir in Ibrahim alRuwalas kleinem Hackerklub die Mikroplatte geknackt hatten, wie ich auch über die Umstände des unzeitigen Todes der jüngsten Gemahlin Scheich Larrys Stillschweigen bewahrte. Auch ließ ich Haltons Befürchtungen über die Absichten seines Arbeitgebers im Hinblick auf seine Zukunft unerwähnt. Arlando saß teilnahmslos, bis ich fertig war. »Haben Sie etwas aufgezeichnet, Ka Be?«
»Was meinen Sie?« »Den sogenannten Attentatsversuch, zum Beispiel? Können wir beweisen, daß er nicht war, was zu sein er schien? Können Sie feststellen, wer der arme Teufel war, den sie als Attentäter abrichteten? Interviews mit Zeugen? Harte Dokumentation irgendwelcher Art über diesen Mitchell? Wer er wirklich war und für wen er arbeitete? Oder Clermont? Irgend etwas?« »Nein.« Ich sagte es widerwillig. »Dann haben Sie nichts. Anschuldigungen und Hörensagen sind keine Nachricht. Das wissen Sie so gut wie ich.« »Kommen Sie, Sie wissen, daß hier etwas faul ist. Man kommt sich vor wie auf einem Pulverfaß mit brennender Lunte. Ich kann es fühlen!« Ich konnte es nicht glauben. »Sie werden nicht einmal versuchen, diesen Dingen nachzugehen, Arlando?« Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Nicht ohne sehr viel härtere Informationen und Fakten. Verantwortlicher Journalismus, Munadi. Wir machen keine Sensationshascherei, klar? Also ist ihr Visum für ungültig erklärt worden, na wenn schon. Das ist ein Berufsrisiko, passiert die ganze Zeit. Sie haben Ihren Auftrag ausgeführt. Jetzt besteigen Sie das Flugzeug und kommen Sie nach Haus.« Ich starrte ihn mit offenhängendem Mund an, sprachlos. »Sie sind nicht zufällig gerade erpreßt worden, Arlando?« platzte ich endlich heraus. »Sie arbeiten mit diesen Scheißkerlen zusammen. Ich kann es nicht glauben! Auf wessen Seite sind Sie eigentlich?« Seine steinerne Miene blieb unverändert. »Auf Ihrer Seite, was immer Sie jetzt glauben mögen. Hören Sie zu. Sie sind
müde und aufgeregt. Sie denken nicht klar und verlieren Ihre Objektivität. Sie sind dort ohne Nutzen, also besteigen Sie morgen das Flugzeug und kommen Sie nach Hause.« »Aber …« »Machen Sie, daß Sie von dort wegkommen, Ka Be.« Er sagte es, ohne die Stimme zu heben. Auf die Weise war es viel furchteinflößender. Plötzlich bekam ich es wirklich mit der Angst. »Nehmen Sie das verdammte Flugzeug und verschwinden Sie von dort, haben Sie verstanden?« »Verstanden.« »Gut.« In dieser Nacht schlief ich nicht gut. Die Maschine von Nok Kuzlat nach Kairo ging nur einmal am Tag, um zehn Uhr dreißig vormittags. Wenn ich den Flug verpaßte, würde ich bis zum nächsten Tag warten müssen, was bedeutete, daß ich aus dem Innern einer Gefängniszelle mit den Behörden über mein Visum streiten müßte. Also beschloß ich sechs Stunden vor dem planmäßigen Abflug das Hotel zum Flughafen zu verlassen, da ich mit den Eigentümlichkeiten der kleinen nahöstlichen Fluggesellschaften nur zu vertraut und nervös wegen einer möglichen Panne war. Lieber wollte ich einen halben Tag zu früh als eine einzige Minute zu spät dran sein. Vom Empfang kam telefonisch die Nachricht, daß sie mein Ticket vorliegen hätten und ein Taxi auf mich warte. Ich hängte mir das Portanet um und nahm auf dem Weg zur Tür meinen Koffer. Obwohl ich auf entehrende Weise und gegen meinen Willen aus dem Land geworfen wurde, kam Freude in mir auf, daß ich nach Hause zurückkehren würde.
Ich zeichnete die Rechnung ab, ohne die einzelnen Posten zu überprüfen, und sagte, daß es womöglich eine Zusatzrechnung geben würde, nachdem das Zimmermädchen oben aufgeräumt hätte. Der dunkeläugige Hotelangestellte, der Nachtdienst tat, runzelte die Stirn; nicht einmal die beiden 500-Rial-Noten, die ich auf die Theke legte, vermochten seine Besorgnis zu zerstreuen. Er läutete dem Pagen, bevor er davoneilte, um den Schaden selbst in Augenschein zu nehmen. Zweifellos würde er rückwirkend der Rechnung hinzugefügt, zusammen mit ein paar weiteren überhöhten Posten als Vergeltungsakt, aber das war mir nur recht; die CDI bezahlte so oder so dafür. Im Foyer hielt ich Umschau nach den beiden Beschattern, aber sie waren nirgendwo zu sehen. Bis auf den verschlafenen Pagen lag der weitläufige Raum verlassen. Das hatte nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Um vier Uhr dreißig war die Luft kühl, und ein seidiges Perlgrau hatte sich über den Osthimmel ausgebreitet. Der Verkehr war gering, einzelne lethargische Fußgänger kehrten von der Moschee zurück. Ein alter Mann, der zwei schwerbeladene und mit Quasten behängte Kamele führte, suchte sich den Weg zwischen den Wagen, die in regelloser Unordnung am Bordstein, auf den Gehsteigen und halb auf der Straße parkten, wo immer ihre Fahrer sie für die Nacht verlassen hatten. Ein frühzeitiger Aufbruch konnte das Zerstörungsderby der Stoßzeit vermeiden. Der Taxifahrer hatte seinen Ersatzreifen bereits auf den Beifahrersitz transferiert. Sein Taxi war zugleich ein rollender Gemischtwarenladen, und der offene Kofferraum voll von verschiedenen Kästen und Kartons mit illegalen Waren, die er
zur Ergänzung seiner Taxieinnahmen nebenbei verkaufte. Er hatte einige Mühe, die Waren umzuschichten und Raum für mich und mein Gepäck zu schaffen. Der Page hatte meinen kleinen Koffer drei Schritte weit auf den Gehsteig getragen und wartete dort auf ein Trinkgeld, bevor er sich wieder ins Hotel trollte. Ich hatte das Portanet umgehängt und trommelte ungeduldig mit den Fingern gegen den Rand der offenen Wagentür, während der Fahrer sich für die Verzögerung entschuldigte und einen Karton mit Limonadenpulver und einen anderen mit Taschenlampenbatterien neu verstaute. In diesem Augenblick erschien Halton aus den Schatten der Büsche vor dem Hoteleingang. Ich sah ihn erst, als er mich am Arm berührte und mir einen höllischen Schrecken einjagte. Ich unterdrücke einen Aufschrei, als ich ihn erkannte. »Nun, hallo, John«, sagte ich, sobald ich die Fassung wiedergefunden hatte, und goß so viel Verachtung in meine Stimme wie ich konnte. »Bist gekommen, mich zu verabschieden? Wie aufmerksam von dir …« »Ich glaube, ich bin in Schwierigkeiten, Ka Be«, sagte er ruhig. Der Taxifahrer warf endlich den Kofferraumdeckel zu und sah uns erwartungsvoll an. »Wie schade«, höhnte ich gegen mein inneres Empfinden. »Aber du gehst mich nichts mehr an, sagtest du es nicht?« Er stand mit dem Rücken zum Taxifahrer, und seine Augen waren undeutlich im Licht des frühen Morgens, das alle Farben bleichte. »Ich kann dem Taxi folgen«, sagte er, als ob er mich nicht gehört hätte. »Laß den Fahrer irgendwo halten, bevor du
aus der Stadt kommst, aber sag ihm, er soll zum Flughafen weiterfahren.« »Vergiß es, Halton. Mein Visum ist widerrufen worden. Wenn ich diesen Flug versäume, werde ich …« Die Worte blieben mir in der Kehle stecken, als er seine Jacke aufschlug. Jemand hatte ihn angeschossen. Sein Hemd war von dunkel glänzendem Blut durchtränkt. »Bitte«, sagte er, knöpfte die Jacke zu und verschwand. Ich stieg ins Taxi, und wir fuhren los. Er war nicht mein Liebhaber, ermahnte ich mich. Ich hatte keinerlei Verpflichtung ihm gegenüber. Er war auch nicht mein Freund. Er war nicht mal ein richtiger Mensch, in Gottes Namen. Er war bloß eine Biomaschine, ein künstlicher Spion. Ich brauchte mich nicht mehr in diese Geschichte verstricken zu lassen, hatte meine Pflicht getan. Warum sollte ich noch riskieren, ins Gefängnis geworfen zu werden oder Somerton/ Mitchells Schicksal zu teilen? Ich war schon nicht mehr hier. Im dünnen Dunst des frühen Morgens ragte voraus die alte Stadtmauer auf. »Halten Sie hier«, sagte ich impulsiv, beugte mich über den Vordersitz und schälte Rialnoten von meinem Bündel, ohne sie zu zählen. »Fahren Sie weiter zum Flughafen und geben Sie mein Gepäck für den Flug nach Kairo für mich auf. Wenn jemand Sie anhält und fragt, sagen Sie, ich sei mit einem Bus zum amerikanischen Militärstützpunkt nach Sa'degi gefahren, verstanden? Sie haben sonst niemand gesehen und wissen sonst nichts. Verstehen Sie?« Der Fahrer starrte mich im Rückspiegel an, nickte rasch. Ich schob ihm das Bündel Banknoten in die Hand.
»Kommen Sie morgen wieder zum Hotel. Wenn Sie getan haben, was ich sagte, und den Mund halten, wird es dann das Vierfache für Sie geben.« Das bedeutete einen Zeitgewinn von vierundzwanzig Stunden. Hoffte ich. Ich griff zum Portanet und blickte durch die Heckscheibe, als ich die Tür öffnete. »Rah«, sagte ich – »Geh« – und war draußen und kauerte im Schatten einer Durchfahrt, als das Taxi losfuhr. In mich hineinfluchend, trottete ich schnaufend im Schutz der Lehmziegelmauern durch die Gassen und Verbindungsgänge, bog aufs Geratewohl bald nach links, bald nach rechts. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo ich war, und wenn Halton nicht erschien, würde ich es schwer haben, aus diesem Labyrinth hinauszufinden. Als ich um eine Ecke kam, sah ich ein winziges Kaffeehaus. Ältere Männer, die von der Moschee kamen, saßen schlaff an den Tischen draußen, Daunenjacken gegen die Morgenkälte über den Kaftanen. Sie blinzelten mit wässrigen Augen, als ich an ihnen vorbei ins verräucherte Innere schlüpfte. Ich ging zum hinteren Ende der Theke, wo ich die Tür beobachten konnte. Bevor ich einen Kaffee bestellen konnte, kam Halton herein. »Gehen wir«, sagte er, faßte mich beim Arm und schob mich zur Hintertür hinaus. Wir trabten durch mehr labyrinthische Gassen und Durchgänge. Unser Weg schien genauso ziellos wie meine bisherige Route, aber ich wußte, daß Halton einen untrüglichen Orientierungssinn besaß. Die letzte Gasse mündete in einen kleinen Platz, wo geschäftiges Leben herrschte. Männer bauten ihre Obst- und Gemüsestände für den Markttag unter einem baufälligen gedeckten Basar auf. Ohne meinen Unterarm loszulassen, steuerte Halton
mich mit schnellen Schritten zu einer Autowerkstatt auf der anderen Seite des Platzes. Drinnen blickten zwei junge Männer in blauen Overalls und schwarzer Schmiere von der offenen Maschine eines alten Yugo-Dreisitzers auf. Ich erkannte einen von Ibrahims zahlreichen Vettern. Er nickte wortlos mit einer Kopfbewegung zu einem Schlüssel, der an einem Haken über der Werkbank hing. Halton nahm den Schlüssel an sich, und wir gingen. Ein paar Gassen weiter stieß er die Tür eines unscheinbaren, schäbigen Wohnhauses auf, das zu einem Komplex gleichartiger Mietshäuser gehörte, alle trostlos, heruntergekommen und nach Armut stinkend. Im Hauseingang hing eine einzige, mit Fliegendreck gesprenkelte Glühbirne und verbreitete gerade so viel Licht, daß man die in trübes Dunkel hinaufführende wacklige Treppe sehen konnte. Für jemanden, der schwer angeschossen war, schien Haltons Kondition bemerkenswert. Sein Gesicht war bleich, aber er war nicht außer Atem, als wir den Dachboden erreichten, während ich ausgepumpt war und wie ein Blasebalg schnaufte. Halton steckte den Schlüssel ins Schloß, und wir betraten eine winzige Dachkammer. Ein schmales Bett war an die Wand geschoben, ungemacht und offensichtlich häufig benutzt. Darüber hing ein drei Jahre alter pakistanischer Kalender mit der Abbildung eines Filmsternchens mit schwarz umrandeten Augen, das seine Blöße notdürftig mit hauchdünnen Schleiern verhüllte. In einer Ecke stand eine Waschschüssel auf einem Hocker; das angeschlagene Porzellan war rostig verfärbt vom Wasser aus einem alten Benzinkanister, der daneben am Boden stand. Kleidungsstücke
lagen durcheinandergeworfen auf einem Haufen. Dutzende von Büchern auf arabisch, aber auch einige französische und englische, lagen verstreut, und ein Tisch aus Ziegelsteinen und einer darübergelegten Spanplatte trug einen der altertümlichsten Computer, die ich je außerhalb eines Museums gesehen hatte. Ein Modem war damit verbunden, dessen Draht aus dem einzigen kleinen Fenster führte, wo er an eine Telefonleitung angeschlossen war. Ein paar Kleidungsstücke hingen an dem Draht, um ihn wenig überzeugend als Wäscheleine zu tarnen. Halton stand still und lauschte. Durch die Hand, mit der er meinen Arm hielt, fühlte ich ihn zittern. Er sah plötzlich erschöpft aus und ließ mich los, um auf das schmale Bett zu sinken. Langsam zog er sich die Jacke von den Schultern. Die ganze Vorderseite seines Hemdes war blutdurchtränkt und noch feucht. Drei Risse im Hemd zeigten, wo die Kugeln getroffen hatten, direkt in die Brust. Er hätte tot sein müssen. Seine zitternden Finger waren blutbeschmiert, als er sich abmühte, sein Hemd aufzuknöpfen. Ich schüttelte mich und kauerte nieder, um ihm zu helfen. »Gott, Halton, wir müssen einen Arzt holen«, sagte ich, als meine Finger die durchsickernde Nässe fühlten. Der Hemdenstoff klebte an seiner Haut, als ich ihn vorsichtig von der Wunde schälte. »Nicht nötig«, sagte er mit undeutlicher Stimme. »Er verfehlte das Herz.« Mit dem Hemd wischte ich das gerinnende Blut ab, dann starrte ich verblüfft. Es sah so aus, als hätte der Täter aus nächster Nähe mit einer Eclipse-Pistole auf ihn geschossen. Um die Einschußwunden waren Pulverpartikel in seine Haut gedrun-
gen und sprenkelten sie mit schwärzlichen Punkten. Aber die Einschußwunden begannen sich bereits zu schließen. Entzündet aussehende rosa Haut schloß die Einschüsse, und das frische Narbengewebe war in Bewegung, als ob Maden darunter wühlten. Ich schrak zurück, als hätte ich die Hand in ein Kakerlakennest gesteckt. Ich bekam eine Gänsehaut und wich gegen den primitiven Tisch zurück, schnappte Luft durch meine beengte Kehle. Ich warf das Hemd von mir und rieb die Hände in unsinnigem Ekel aneinander. Halton reagierte, als hätte ich ihn geschlagen. »Es sind nur Nanos, Ka Be«, sagte er in bittendem Ton. »Das ist alles, bloß die Nanos …« Wir starrten einander an, bis ich die Selbstbeherrschung wieder fand. Es war einfach so unnatürlich und darum unheimlich. »Herrgott noch mal«, stieß ich hervor, dann fiel mir die Umkehrung eines alten Liedverses ein. »Heute durch die Brust geschossen, morgen schon auf stolzen Rossen.« Es war die einzige Art und Weise, wie ich damit fertig werden konnte. Sein Gesicht zeigte, daß er keine Ahnung hatte, wovon ich redete. »Wer hat auf dich geschossen, Halton?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.« Dann verzog er schmerzlich das Gesicht, als er den Arm ausstreckte, in der Tasche seiner abgelegten Jacke suchte und ein Kassettenmagazin herauszog. »Ich hoffte, du würdest mir helfen, es herauszubringen.« Ich setzte mich auf den einzigen Stuhl in der Kammer, schob den kleinen PC auf eine Seite des provisorischen Tisches, um das Portanet aufzubauen. Halton sah vom Bett aus zu, wie ich
die Magazinkassette in den Aufnahmeschlitz unter den flachen Wiedergabebildschirm steckte. Wie sich zeigte, wußte Halton mit seiner Ausbildung etwas anzufangen. Er hatte die Holoausrüstung bis auf das Notwendigste zerlegt, umgestaltet und sein Sortiment von Fliegenaugen neu verdrahtet und in Winkeln und versteckten Öffnungen von Larrys Privaträumen untergebracht, wo er sie mit Bewegungsmeldern als Auslöser zusammengeschlossen hatte. Wenn er selbst nicht zugegen sein konnte, überwachte sein privates Sicherheitssystem die Räume. Ich fragte mich, ob er es Larry zuliebe getan hatte, oder aus einem neu entwickelten Bewußtsein der Selbsterhaltung. Diese Aufzeichnung stammte von einem Fliegenauge, das den Korridor vor Larrys Spielzimmer aus einem schiefen Winkel von der Wand her aufgenommen hatte. Die meiste Zeit wurden wir von den Gestalten militärischer Boten unterhalten, die mit Schlagseite wichtigtuerisch durch den Korridor marschierten, von Palastdienern, die Mobiliar abstaubten, einer Gruppe fein gewandeter älterer Herren, die langsam, mit geneigten Köpfen und leise miteinander murmelnd kamen und gingen, dann von einer Aufnahme Seiner Exzellenz persönlich, wie er mit einem Skateboard durch den langen Korridor sauste. Schließlich schnitt die Aufzeichnung von einem uniformierten Angehörigen der Palastwache, der auf eine der verschleierten Reinigungsfrauen einredete, welche mit dem Staubsauger an den Wänden entlangfuhr und angestrengt bemüht war, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen, zu Halton, der vor drei anderen Männern ging. Das Licht hatte sich verändert, und die winzige Digitalanzeige in der unteren Ecke verriet, daß die Zeit vom
Spätnachmittag bis nach Mitternacht vorgerückt war. Larry kam aus dem Spielzimmer, schloß die Tür und wandte sich um. Er trug seine gewohnte Freizeitkleidung und sah nicht so aus, als ob er schon geschlafen hätte. Er schien ein wenig überrascht, die anderen Männer mit Halton zu sehen, aber nicht ängstlich. »Verdammt«, sagte einer der Männer mit gedämpfter Stimme auf englisch. Das Fliegenauge zeichnete es auf, aber Seine Exzellenz schien das Wort nicht gehört zu haben. »Was gibt es, John?« sagte er. Das Fliegenauge nahm den Klang seiner Stimme vollkommen klar auf. »Ich dachte, Sie …« Halton zog eine Eclipse unter der Jacke hervor und schoß Larry aus kürzester Entfernung in die Brust. Der junge Herrscher wurde zurückgerissen, breitete im Reflex die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten, während seine Züge einen Ausdruck sprachloser Verblüffung zeigten, dann schlug er rücklings auf den Teppich. Ich hielt die Wiedergabe an und starrte Halton mit offenem Mund an. Sein Gesicht war aschfahl. »Das bin ich nicht, Ka Be«, sagte er fassungslos. Der Halton im Bild beugte sich über Larrys Leichnam und zog ihm rasch und gekonnt die Kleider vom Leib, während einer der Männer hinter ihm ein Bündel Armeeuniformen unter seinen Gewändern hervorzog. »Ob hier oder drinnen, bleibt sich gleich, denke ich. Mach schnell«, sagte er mit deutlichem amerikanischem Akzent. Die Stimme kam mir bekannt vor. »Los, los …« Halton zog seine Jacke aus und legte rasch die Uniform an. Dann nahm er die zweite Uniform und begann den Leichnam einzukleiden.
Irgendwo im Hintergrund ging ein Alarm los, ein schrilles Läuten. »Genau pünktlich«, sagte einer der Männer mit einem Blick auf die Armbanduhr, dann wandte er den Kopf, um zurückzublicken. Das Fliegenauge nahm sein Gesicht deutlich auf. Es war Cullen Laidcliff. Halton hatte den toten König in die zweite Armeeuniform gekleidet, die Pistole aufgehoben und stand den drei anderen Männern ruhig gegenüber. Die Waffe in seiner Hand hing schlaff an seiner Seite. »Fertig?« sagte Laidcliff zu dem Mann neben ihm. »Ja«, antwortete der und beugte sich über den Leichnam, um Halton die Pistole aus der Hand zu nehmen. Halton betrachtete die Waffe mit gleichmütigem Ausdruck und unternahm keinen Versuch, sich zu schützen, als der Mann auf ihn feuerte. In die Brust. Dreimal. »Das war nicht ich, das kann nicht ich sein …«, murmelte der Halton hinter mir. Seine Knöchel umklammerten weiß die Stuhllehne. Ich dachte, daß er jeden Moment das billige Aluminiumrohr zerdrücken würde. Eine Sekunde später hatte einer der drei seine Gewänder abgelegt, und ich erlebte einen zweiten Schock. Es war Seine Exzellenz, Lawrence Abdul bin Hassan al Samir al Raschid. Er blickte gleichgültig auf die beiden Toten, als der Mann mit der Eclipse am Lauf drehte, dann über den Toten stieg und einen Schuß mit maximaler Streuung in das Gesicht des toten Larry abgab, das sich in eine blutige Masse unkenntlicher Fetzen und Splitter verwandelte. Dann wandte er sich um, und das Fliegenauge zeichnete auch die beinahe zarten Gesichtszüge des zwei-
ten Mannes auf: grüngraue Augen, blondes Haar. »Wir können nicht zwei haben«, sagte er und feuerte einen zweiten Schuß mit maximaler Streuung in Haltons Gesicht, so daß dem Toten beinahe der Kopf vom Rumpf gerissen wurde. Haltons Beine zuckten, dann lag er still. Aus dem zerstörten Gesicht sickerten dunkles Blut und Gehirnmasse. Nun lagen nur noch zwei anonyme tote Soldaten im Korridor. Durch das Schrillen des Alarms waren gedämpfte Rufe zu vernehmen, jemand schlug an eine Tür außerhalb des Aufnahmebereichs. Der blonde Mann drückte dem lebenden Larry die Eclipse in die Hand und grinste. »Das wär's. Jetzt bist du dran, Junge«, sagte Laidcliff sarkastisch. »Mach, daß es gut aussieht.« Seine Exzellenz wandte langsam den Kopf und blickte direkt ins Fliegenauge. Eine ausdruckslose Kälte kam aus den nichtmenschlichen Augen, ein kalter Blick, den ich nur zu gut kannte. Ein Schauer überlief mich. Ich rieb mir die Unterarme, wo die Haare aufstanden. »Wir werden aufgezeichnet«, sagte der Ersatz-Larry mit tonloser Stimme. Die beiden anderen Männer fuhren herum und starrten hinauf, wohin der Biokonstrukt blickte. Ihre Gesichter kamen kristallklar heraus. »Scheißding!« fluchte der Blonde. Er nahm dem andern die Eclipse wieder ab, zielte und schoß das Fliegenauge aus. Die Aufzeichnung war zu Ende. »Ich tötete ihn nicht, ich war es nicht«, flüsterte Halton noch immer, mehr zu sich selbst als zu mir. Er sah wie im Schock aus, bleich und benommen. »Es sei denn, du hast Nanos, die ein Gehirn wieder in den Schädel löffeln können, Halton«, sagte ich. »Beruhige dich, reiß
dich zusammen.« Er zwinkerte, sein Blick konzentrierte sich langsam auf mein Gesicht. »Nun, das ist wieder ein feines Schlamassel, in das du mich gebracht hast«, sagte ich und rieb mir die Augen mit den Handballen. »KaBe …?« »Erzähl mir einfach, was geschehen ist. Alles, was du dich erinnerst«, forderte ich ihn auf. »Kurz vor ein Uhr schickte Seine Exzellenz mich fort, AlHasmani zu wecken, den Innenminister.« Halton holte tief und angestrengt Atem, kam sichtlich zur Ruhe. »Der alte Mann, mit dem er Holospiele spielt … spielte. Al-Hasmani hat seine Wohnung in einem Nebengebäude des Palastes, das mit dem Hauptgebäude verbunden ist, so daß er immer gerufen werden kann, wenn Seine Exzellenz in der Stimmung für ein Spiel ist. Es ist ein Sicherheitsbereich, nur Familienmitglieder und vertraute Minister haben Zugang. Niemand konnte zu dieser Nachtzeit den Palast betreten oder verlassen haben, ohne entweder meine Zustimmung oder einen direkten Befehl Seiner Exzellenz zu haben.« Halton ließ sich wieder aufs Bett sinken. Seine Panik ließ nach. Zerstreut beugte er sich zu dem Haufen der Kleidungsstücke am Boden und zog ein Hemd heraus, schüttelte die Knitterfalten aus und sah nach der Größe. »Ich kam zum Büro des Ministers und weckte seinen Sekretär. Er sagte, der Minister sei im Bad, werde aber bald zurück sein, und ich solle so lange warten. Ich setzte mich, um eine Zeitschrift zu lesen. Der Minister ist ein alter Mann, manchmal braucht er ein paar Minuten. Der Sekretär bekam einen Anruf, sprach mit dem Anrufer markundi und ging gleich darauf,
etwas zu erledigen, sagte mir aber, er werde gleich zurückkehren. Ich blickte auf, als die Tür ein paar Minuten später aufging. Der Mann in der Aufzeichnung – nicht Mr. Laidcliff, der andere, ich weiß nicht, wer er ist – schoß auf mich. Zweimal.« Halton runzelte nachdenklich die Stirn. Seine Hand befühlte die Brust, wo drei entzündete Stellen in seiner Haut nach wie vor in unheimlich pulsierender Bewegung waren. »Ich stand auf und fiel vornüber. Der Mann wälzte mich mit dem Fuß auf den Rücken, stand über mir und feuerte ein drittes Mal. Mein Nanosystem schaltete sich ein, und er mußte mich für tot gehalten haben.« Halton schaute mich beunruhigt und entschuldigend an. »Er hatte die Eclipse für Normalpatronen ohne Streuung eingestellt, sonst wäre ich tot. Er verfehlte die Aorta um Millimeter und streifte das Pericardium. Das Sternum gladiolis lenkte eine Kugel ab, aber die anderen zwei durchschlugen den linken hinteren Bronchus und einen Teil des linken oberen Lungenflügels. Das Nanosystem wird durch akutes Trauma ausgelöst, versetzt mich in einen katatonischen Zustand ohne Herzschlag und Atmung, läßt die Körpertemperatur sinken, reduziert die Gehirntätigkeit auf ein Minimum, während es …« »Halt mich nicht mit den technischen Einzelheiten auf, Halton«, unterbrach ich ihn. »Erzähl weiter.« Er nickte. »Ich weiß nicht, wie lange ich bewußtlos war. Als ich erwachte, hörte ich das Alarmsignal im Palast Seiner Exzellenz. Ich war schwer verletzt, konnte inzwischen aber wieder gehen. Der Sekretär des Ministers stand in der Türöffnung; AlHasmani war hinter ihm. Beide fingen an zu schreien, als ich aufstand. Ich stieß sie beiseite und lief zurück durch den Ver-
bindungskorridor in den Palast, wo ich Seine Exzellenz verlassen hatte. Ich hörte Mr. Laidcliff mit einem anderen Mann kommen. Sie sprachen davon, daß der Zeitplan jetzt durcheinandergeraten sei, über den anderen Biokonstrukt und Larrys und meinen Leichnam, und daß es darauf ankäme, schnell festzustellen, wohin das verdammte Fliegenauge führte.« Halton zögerte, schluckte. »Da wußte ich, daß Seine Exzellenz tot war«, sagte er ruhig. Der Gedanke schien ihn zu schmerzen. Ich wartete. »Ich hatte das Fliegenauge für den Hauptkorridor so eingerichtet, daß es über kurze Impulse ein Aufzeichnungsgerät in einem der Nebenzimmer des Korridors anfunkte. Ich ging direkt zu dem Aufzeichnungsgerät und nahm die Magazinkassette heraus, als sie danach suchten.« Er hatte sich beruhigt und zog das zerknitterte Hemd an. Es war etwas zu klein; seine Finger fummelten mechanisch mit den Knöpfen, während seine Gedanken bei der Erzählung waren. »Ich hatte die Magazinkassette in der Hand, als ich mich umwandte und Mr. Laidcliff und den anderen Mann sah.« Sein Blick war abwesend. Er konzentrierte sich auf die genaue Erinnerung jedes Details, wie es in seinem eidetischen Gedächtnis aufgezeichnet war. »Sie schienen überrascht, mich noch lebendig zu sehen, sagten aber nichts. Der andere Mann brachte die Pistole in Anschlag. Ich hob einen Stuhl auf, warf ihn durch das Fenster und sprang hinterher. Zwei Stockwerke tiefer war ein Ziegeldach. Ich landete darauf, rannte so weit ich konnte, übersprang den Raum zum Dach des nächsten Gebäudes. Es war dunkel, die Suchscheinwerfer waren eingeschaltet, jemand begann zu schießen. Die Krone der Umfassungsmauer ist durch
elektrifizierten scharfkantigen Stacheldraht gesichert. Ich mußte ihn überklettern, um auf ein weiteres Dach zu springen …« Er kehrte zu mir in die Vergangenheit zurück. »Dann rannte ich«, beendete er seinen Bericht. »Direkt zu mir.« »Ja.« »Daß du zum Hotel laufen würdest, war höchstwahrscheinlich ihre erste Vermutung.« Er sah bekümmert aus. »Was sonst konnte ich tun, Ka Be?« Das brauchte ich nicht zu beantworten. Im nächsten Augenblick war er vom Bett aufgesprungen und stieß mich hinter sich. Schritte stampften die Treppe herauf, eine Stimme rief in markundi, Fäuste schlugen an die Tür. »Werte Herren! Sie müssen fort von hier, J'ahkzhil!« Halton riß die Tür auf, und ein barfüßiger halbwüchsiger Junge in einem hastig über zerrissene Jeans gezogenen T-Shirt stand vor uns, außer Atem vom Rennen. »Jussef ist verhaftet worden«, keuchte er. »Mahmud telefonierte, daß sie zur Garage kamen und Jussef mitnahmen. Mahmud konnte entkommen, aber sie sind zum Haus von Jussefs Mutter gegangen, und sie wird der Polizei ganz sicher von Jussefs Kammer hier erzählen. Wir sind alle in großen Schwierigkeiten, wenn Sie nicht gehen. Schnell …« Der Junge war hereingekommen, und nun riß er in fliegender Hast den Modemdraht zum Fenster herein und packte die antike PC-Ausrüstung zusammen. Er hielt inne, die Arme voll, als Halton ruhig sagte: »Es ist zu spät. Sie sind bereits hier.« Viele rennende Füße kamen die Treppe herauf, und unten auf der Straße hallten die Rufe von Männern. »Allah, was soll
ich tun …«, winselte der Junge und rannte zur Tür hinaus. Ich hörte ein Gepolter, als er eine andere Tür aufriß und die Ausrüstung hineinwarf. Mein letzter Anblick von ihm war ein ängstliches Augenpaar, bevor die Toilettentür am Ende des Gangs mit den Dachkammern zufiel und verriegelt wurde. Halton schloß die Tür unserer Dachkammer, zog das Bett davor und warf die Spanplatte und die Ziegel darauf. Ich hatte die Magazinkassette in die Tasche gesteckt und mich darangemacht, das Portanet auseinanderzunehmen. Halton hatte das kleine Dachfenster geöffnet. »Laß das Zeug da«, sagte er, den Blick in die Tiefe gerichtet. »Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte ich ungläubig. »Du kannst vielleicht Pistolenkugeln verdauen und von einem Dach zum anderen springen, aber ich nicht.« Jemand begann draußen zu rufen und an die Tür zu schlagen. Halton umfaßte meine Mitte, zog mich an sich und sagte: »Halt fest!« Und ehe ich wußte, wie mir geschah, waren wir draußen. ›Halt fest‹ war richtig. Die Straße lag sieben Stockwerke unter uns. Ich hatte die Beine um seine Mitte gewickelt und die Arme so fest um seinen Hals geklammert, daß ich dachte, ich müsse ihn erwürgen. Er trug mich huckepack, und seine Hände und Füße suchten hektisch scharrend und kratzend Halt, als er mit Hilfe von Fensteröffnungen und Simsen die Hauswand hinabkletterte. Über uns wurde die Tür eingetreten. Ich hörte zornige Rufe und die Geräusche splitternden Holzes. Glas ging klirrend zu Bruch. Halton keuchte. Ich fühlte seinen Schweiß an meiner Wange. Unter uns krachte ein Schuß. Die Kugel klatschte nicht
weit von meinem Gesicht in die Wand und überschüttete uns mit Ziegelstaub und Splittern. Einen Sekundenbruchteil, bevor er es tat, sah ich, was er vorhatte, und konnte gerade noch die Augen zudrücken und »NEIN!« schreien. Er wandte sich wie ein Affe im Urwald nach außen und stieß sich von der Wand ab, um über einen vier Meter breiten Abgrund zum nächsten Gebäude zu springen. Mit einem schmerzlichen Grunzen prallte er dort auf und bekam einen Fensterrahmen zu fassen. Ich verlor beinahe meinen Griff um seinen Hals, als wir fünf Stockwerke über einer Durchfahrt an einer Hand hingen. »O Gott, o Gott, o Gott!« wimmerte ich. Halton hatte einen Arm nach hinten gedreht und bewahrte mich vor dem Absturz, während ich meine Umklammerung festigte. Seine andere Hand hatte am unteren Fensterrahmen Halt gefunden und mußte unser beider Gewicht tragen. Wir baumelten einen Moment, bevor seine Beine sich an der rauhen Hauswand hochstemmen und den Rest seines Körpers zusammen mit mir durch das Fenster schieben konnten. Wir fielen kopfüber auf den Boden und kamen nach einem Purzelbaum auf die Füße, als eine Frau zu kreischen begann. Ehe wir wußten, wie uns geschah, warf sie einen Kochtopf nach uns. Ich sah Kinder, die mit offenem Mund und aufgerissenen Augen starrten, den Kochtopf, der ein dunkel-klebriges Zeug an die Wand spritzte, dann waren wir schon aus der Wohnung, sausten ein Treppenhaus hinunter und gelangten in einen von Unrat übersäten Durchgang. Halton stieß mich mit dem Hintern über einen Zaun, und wir landeten in schlammigen Pfützen von Ziegenurin. »Yah! Da sind sie, fangt sie! J'ahkzhil!«
brüllte jemand und wir waren auf den Beinen und rannten wieder. Halton fand sich im Gewirr der krummen Gassen und Suks wahrscheinlich besser zurecht als die Khuruchabjaner, die uns verfolgten. Ich konnte nur darauf vertrauen, daß er uns in Sicherheit bringen würde. Ich rannte, bis meine Lungen zu platzen drohten, rannte, bis meine stämmigen kurzen Beine erlahmten und die Knie einknickten, rannte, bis meine Ohren brannten und stolperte dann blindlings weiter. Ich rannte, bis ich wankte und fiel, unfähig, noch einen Schritt zu tun. Ich rauche zwei Packungen am Tag, bin über vierzig und übergewichtig – was, zum Teufel, erwartete ich? Mein Herzschlag hämmerte in den Ohren, und ich fühlte mich so elend und erledigt, daß es mir gleich war, ob sie mich erschossen oder nicht. Sekunden später lag ich zusammengekrümmt auf der Seite, mit Haltons Armen um mich, den Rücken an seiner verletzten Brust, seine angezogenen Knie zu beiden Seiten von meinen. Der Geruch muffiger, ungewaschener Wolle war die einzige Wahrnehmung, die mein Gehirn außer schierer Agonie registrierte. Ich hörte Männerstimmen rufen, und Halton drehte mein Gesicht weg und drückte es in sein schweißfeuchtes Hemd, dann schob er die Hand hoch und legte sie über mein Gesicht, vielleicht um mich am Schreien zu hindern. Meine Hände umklammerten seine um mich geschlossenen Arme, meine Nägel gruben sich in seine Muskeln. Ich schnaufte, wimmerte, hatte die Augen fest zugedrückt und fühlte, wie sich Tränen aus den Augenwinkeln zwängten. Ich hörte sein wild pochendes Herz, seinen keuchenden Atem im Ohr, als er sein Gesicht zu
mir beugte. »Schh«, machte er. »Schh.« Er hörte sich wie ein ängstlicher Vater an, der einen weinenden Säugling in den Armen hält. In der Nähe hämmerte einen Maschinenpistole, ich fuhr zusammen. Halton schloß die Arme fester um mich. Ich schluchzte an seiner Brust, mehr vor Schmerzen als vor Entsetzen. Der Schweiß rann in heißen Rinnsalen über meinen krampfhaft atmenden Körper. Drei Wagen rasten vorbei, Männer riefen zornig und alarmiert. Ein weiterer Feuerstoß war zu hören, aber nun in der Ferne. Dann wurde es so still, daß ich einen Vogel trillern hörte. »Gepriesen sei Allah, der Herr der Welten …«, hörte ich eine bebende Stimme sagen. Ich öffnete die Augen und sah ein paar staubige Knöchel und schwielige Füße in abgetragenen Ledersandalen. »Allah der Barmherzige, der Wohltäter, der Herr über den Tag des Gerichts …« Zu beiden Seiten unseres Verstecks unter einem Marktstand waren Stapel zusammengelegter, grob gewebter Schafwollteppiche. Ein alter Mann stand zitternd vor uns. Die Adern seiner bloßen Waden unter dem Saum seines Kaftans waren von knotigen Krampfadern überzogen. Ich war wieder zu Atem gekommen, zitterte aber unkontrollierbar vor Erschöpfung. »Dich allein verehren wir, dich allein bitten wir um Hilfe. Zeige uns den Pfad der Gerechten …« Mein Blick ging an der Gestalt aufwärts und begegnete den Augen eines verängstigten Teppichverkäufers, die über seinem grauen Bart weit aufgerissen waren. Mein Mund begann sich zu bewegen, als ich zu ihm aufstarrte.
»Den Pfad jener, die Du begünstigt hast …« »Nicht den Pfad jener, die Deinen Zorn verdienen …«, hörte ich mich mit ihm sagen, Worte, die meine Mutter jeden Tag ihres Lebens wiederholt hatte. Ich betete mit dem alten Mann, und nie war mein Herz mehr dabei als in diesem Augenblick. »Noch den Pfad jener, die in die Irre gehen.« Der alte Mann starrte uns noch einen Moment länger an, dann lächelte er ein zahnlückiges, von Tabaksaft geschwärztes Lächeln. Ich fand ihn schön.
20 HALTON HATTE UNS AUF EINEM WEITEN UMWEG zum gleichen Marktplatz zurückgebracht, der nur ein paar Gassen von dem heruntergekommenen Hochhauskomplex entfernt war. Wir hatten Glück gehabt, daß in all der Verwirrung die instinktive Reaktion der verängstigten Verkäufer, als sie sich der Militärpolizei gegenübersahen, die Abwehr drohender Gefahr war. Sofort logen sie, zeigten und plapperten und schickten sie weiter die falsche Straße hinunter und fort vom offenen Markt. Nachdem ihre Angst sich gelegt hatte, kamen Neugier und Erregung an die Oberfläche. Der alte Teppichhändler hielt eine energische Konferenz mit den anderen Händlern, denn seine gesellschaftliche Bedeutung war jäh gestiegen, weil wir in seinem Marktstand Zuflucht gesucht hatten, und damit auch seine Verantwortung. Nach aufgeregter Debatte wurden wir zu Mahmud gebracht, dem Freund von Ibrahims verhaftetem Vetter, der sich im Haus seiner Schwägerin abseits vom Marktplatz verbarg. Er trug noch immer seinen fettigen Overall mit Ölflecken an den Knien und Ellbogen und schwarz eingefärbten Handlinien. Sein älterer Bruder, Majid, bereitete uns Kaffee. Seine Augen sahen ein wenig glasig aus. Als ich die kleine Tasse von ihm entgegennahm, zitterten meine Hände so stark, daß ich sie beinahe fallen ließ. Ich versuchte mich zur Ruhe zu zwingen und schlürfte das dickflüssige Gebräu.
»Sie kamen mit einer Aufnahme von Mr. Halton zur Werkstatt«, sagte Mahmud mit leiser Stimme. »Dann nahmen Sie Jussef fest und sagten, er habe mit Mr. Halton konspiriert, sagten, daß Mr. Halton ein Verräter und ein amerikanischer Spion sei, der zwei Soldaten der Palastwache ermordet und versucht habe, unseren Scheich zu töten.« Mahmud blickte beunruhigt zu Halton auf; es war eine stumme Aufforderung, die Anschuldigung zu widerlegen. »Ich bin kein Verräter«, versicherte ihm Halton. »Ich habe niemanden getötet.« Ich bemerkte, daß er den Vorwurf, ein Spion zu sein, überging, aber Mahmud entspannte sich, sichtlich zufrieden. »Wie wußten Sie zur Werkstatt zu finden?« fragte der ältere Bruder gekränkt. Also war es seine Werkstatt. Trotzdem blieb es eine berechtigte Frage. Mahmud sah nachdenklich zu Halton. »Es mußte King Kong sein«, sagte er schließlich. »Dadurch wußten auch Sie es, nicht wahr?« Halton nickte. »Wer?« fragte ich. Mahmud grinste, jetzt weniger ängstlich. »Es gibt eine Menge Leute on-line, die nicht zu den Jungen Islamisten gehören«, sagte er. »Nicht zum Kern, jedenfalls. Ibrahim ließ das Computernetzwerk so aufbauen, daß, wenn ein Terminal gefunden und beschlagnahmt würde, die anderen nicht aufgespürt werden konnten. Alle Modems waren durch Codes mit schwachen Impulsen verbunden, die nicht genug Energie verbrauchten, um jemanden aufmerksam zu machen, der nach ihnen suchte. Aber wenn in das Netz eingedrungen wurde, zerstörten alle anderen
automatisch die Verbindungen. Das schützte unsere Ausrüstung.« Ich gab die kleine Tasse Kaffee an ihn weiter; er nippte und reichte sie seinem Bruder, bevor er fortfuhr: »Abdullah schrieb ein schlafendes Virus in alle Programme, die über unsere Leitungen gesendet werden. Wird die Verbindung unterbrochen, nachdem das Computernetzwerk wieder on-line geht, müssen Erkennungscodes eingegeben werden, bevor die Kommunikation wiederaufgenommen wird. Werden sie nicht eingegeben, wird das Virus aktiv und zerstört augenblicklich alle Akten in dieser Datenbasis. Das geschah zum Schutz unserer Information. Auf die Weise konnte niemand unsere Akten stehlen.« Eine ausgetüftelte, aber wahrscheinlich notwendige Vorsichtsmaßnahme. »Jeder von uns wußte von den anderen nur durch Telecode Namen, sogar die Familienmitglieder. Das diente zu unserem Schutz. Niemand wußte, wo die anderen Datenbasen sich befanden. Nicht einmal Ibrahim weiß, wo sie alle sind. Aber jeder wußte von King Kong.« »Und King Kong war …?« Ich hatte es bereits erraten. »Seine Exzellenz, Scheich Lawrence Abdul al Raschid.« Der königliche Computerhacker, wer sonst? »King Kong kannte nur einen von uns bei seinem richtigen Namen: Jussef. Ibrahim war sehr zornig, als er es erfuhr. Er drohte, Jussef aus der Gruppe auszuschließen. Aber ungefähr das einzige, was King Kong wirklich interessierte, waren Programme für Holospiele – ich glaube nicht einmal, daß er viel über die politischen Kommunikationen wußte. Das ist wahrscheinlich der einzige Grund dafür, daß Ibrahim Jussef in der
Gruppe ließ.« »Aber es blieb damit eine Schwachstelle in der Kette.« Mahmud nickte trübe. »So ist es.« Und man konnte darauf wetten, daß sein Minister und unfreiwilliger Spielpartner Al-Hasmani King Kongs onlineGespräche seit einiger Zeit überwacht hatte. Kein anderer würde entweder den Zugang oder die Kenntnisse gehabt haben, um zu wissen, was Larry tat. Außer Halton. Ich dachte daran, Mahmud von Larrys Tod zu erzählen, entschied dann aber, daß es ein bißchen heikel sein könnte. »Mahmud, was Kommunikationen mit ›King Kong‹ betrifft, würde ich sehr vorsichtig sein.« »Wieso?« »Wenn King Kong wieder on-line kommt, würde ich ernsthafte Zweifel haben, ob es wirklich Seine Exzellenz ist.« Das war ungefähr so nahe, wie ich der Wahrheit kommen konnte. Mahmud machte ein überraschtes, dann ein bekümmertes Gesicht, als ob er daran selbst hätte denken sollen. Eine Frau erschien in der Türöffnung, Mahmuds Schwägerin, wie ich vermutete. Ihre Augen über dem Jaschmak blickten verängstigt. Ihr Mann tadelte sie nicht, daß sie in eine Zusammenkunft von Männern eingedrungen war, sondern stand nur da und sah sie an. »Ibrahim ist verhaftet worden«, sagte sie beinahe flüsternd. »Yah sa'laam, khalah damm'aq«, hauchte Majid. Locker übersetzt, bedeutete es: »Jetzt sind wir knietief in der Scheiße.« »Das Computernetzwerk?« fragte ich Mahmud. Er schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Kalid holte Jussefs
Computer heraus, bevor die Polizei das Zimmer stürmte. Als er die Modemverbindung unterbrach, bevor er den Code eingab, wußten alle Bescheid. Es ist ein Signal, auf das alle anderen die Verbindung unterbrechen. Man wird nicht imstande sein, durch unser Netzwerk jemandem auf die Spur zu kommen.« Er schaute verdrießlich drein. »Ibrahim ist Jussefs Vetter. Wahrscheinlich verhaften sie bloß Jussefs sämtliche Verwandten. Das tun sie gewöhnlich.« Majid wandte sich mit grimmiger Miene zu uns. »Aber zu viele Leute wissen von der Werkstatt. Es ist nur eine Frage der Zeit, daß sie zurückkommen.« Er ließ unausgesprochen, was ich bereits wußte. Wenn die Militärpolizei uns hier fand, würden sie seine ganze Familie ins Gefängnis werfen, seine Werkstatt abreißen, sein Haus zerstören und ihn, wenn er Glück hatte, kurzerhand erschießen. Wir mußten fort. Majid blickte zu seiner Frau, und sie nickte wortlos. »Meine Frau wird unsere Kinder nehmen und gehen, wo es sicher ist. Ich muß bleiben. Alles muß normal aussehen. Wenn ich auch fortgehe, werden sie bei ihrer Rückkehr wissen, daß etwas faul ist.« »Inzwischen werden sie die Flugplätze bewachen«, sagte Halton zu mir. »Vielleicht ein öffentlicher Bus, oder ein Zug, wenn wir uns verkleiden würden …« Ich überlegte so schnell wie ich konnte. »Ich habe noch einen Wagen«, sagte Majid widerwillig. »Kein großartiges Auto, aber es fährt. Ich kaufte es von meinem Onkel in Schardamuzh. Sie können dorthin gehen; er wird diesen Wagen kennen. Schardamuzh ist nahe der Grenze; Sie könnten den Wagen bei ihm lassen. Er wird Ihnen zeigen, wo
Sie zu Fuß die Grenze überschreiten können.« Er lächelte düster. »Wenigstens könnte es mir gelingen, meines Onkels Wagen zu retten.« Er ging den Schlüssel holen und sprach rasch und leise zu seiner Frau, die ihm folgte. »Es tut mir leid, Mahmud«, sagte ich zu dem jungen Mann. »Ich habe Sie und Ihre Familie mit meinen Problemen in Gefahr gebracht.« Er zuckte die Achseln, verbarg seine Sorge hinter gespielter Unbekümmertheit. »Dies ist Nok Kuzlat«, erklärte er. »Hier lernt man es, gefährlich zu leben, oder man lebt nicht. Wir sind stark. Wir werden schon durchkommen.« Ich holte tief Luft. »Mahmud«, sagte ich. »Ich muß Sie bitten, noch etwas zu tun, was sehr wichtig, aber auch sehr gefährlich ist.« In seinem Blick war vorsichtige Zurückhaltung. Er hatte keinen Grund, mir weitere Gefälligkeiten zu erweisen, aber nach kurzem Nachdenken nickte er. »Ich ließ mein Portanet in Jussefs Kammer zurück, als die Polizei kam.« »Dann haben sie es wahrscheinlich mitgenommen«, meinte Mahmud. »Können Sie nachsehen? Wenn die Polizei es nicht mitgenommen hat, bringen Sie es Ahmad; er weiß damit umzugehen. Wenn sie es mitgenommen haben, gehen Sie zu einem TVNReporter namens Jefferson Carleby.« Ich nahm die Rufkarte und die Magazinkassette aus der Geldbörse und gab sie ihm in dem Bewußtsein, daß ich ihm meine einzige Hoffnung auf Schutz anvertraute. »Sagen Sie ihm, er soll dies verschlüsselt an
die GBN-Relaisstation Kairo durchgeben und dem Mann am anderen Ende sagen: ›Sindbad ist in Schwierigkeiten, machen Sie Kopien für Sicherheitsdepots.‹ Können Sie sich das merken?« »Verschlüsselt an GBN-Relais Kairo, Sindbad ist in Schwierigkeiten, Kopien für Sicherheitsdepots machen.« Mahmuds Englisch würde ausreichen. Er nickte ernst. »Es ist wichtig, Mahmud, nicht nur für uns, sondern vor allem für Sie und Ihr Land. Aber wenn dies nicht nach Kairo gesendet wird, werden Halton und ich sterben, und mit uns alle, die uns geholfen haben.« Mahmuds Augen sahen aus, als wollten sie aus ihren Höhlen springen. »Wir werden versuchen, über die Grenze zu kommen. Sie müssen erreichen, daß dies nach Kairo gesendet wird, Mahmud. Es gibt für uns alle nichts Wichtigeres. Wenn das geschehen ist, zerstören Sie die Magazinkassette.« »Wijh-hya'at abuuja«, sagte Mahmud. Auf das Leben meines Vaters. Er starrte auf die Magazinkassette in seiner Hand, als wäre es ein Skorpion. Ich hoffte, daß mein tüchtiger amerikanischer Freund in der Kairoer Station Dienst tun würde, wenn die Sendung einginge. Ihm konnte ich vertrauen, daß er Kopien der Aufzeichnung an die über die ganze Welt verstreuten Sicherheitsdepots der GBN senden würde, wo automatisch jeweils eine weitere Kopie gemacht wurde, bevor die Aufzeichnung weitergegeben wurde. Es war die einzige Hoffnung auf eine Art Lebensversicherung für Halton und mich. »Dafür werden wir uns entsprechend erkenntlich zeigen, Mahmud«, versprach ich ihm. Er steckte die Magazinkassette in
die Tasche und durchbohrte mich mit einem harten Blick. »Verdammt richtig«, sagte er. Nichts für nichts, nicht hier. Majid kam mit ein paar gestreiften Qabahs und zwei ausgefransten Kaffijehs über dem Arm zurück. Er reichte mir einen Schlüssel mit einem Papieranhänger an einem Stück Draht. Halton zog eine Qabah an, dann befestigte er eine der Kaffijehs um seinen Kopf. »Es ist ein Volvo, hinter der Werkstatt«, sagte Majid. »Name und Adresse meines Onkels stehen auf dem Fahrzeugschein im Handschuhfach.« Mahmud hatte den Vorhang am kleinen Fenster einen Fingerbreit beiseite geschoben und spähte hinab auf die Straße. »Fi'ih râaghil bzkarra«, flüsterte er. Ich eilte zum Fenster und spähte auf der anderen Seite hinter dem Vorhang hinaus. Er hatte recht, draußen stand ein Mann vor dem Haus, blickte auf ein Blatt Papier in seiner Hand, dann zum Haus auf. Kurz darauf kam er die Treppe herauf und klopfte an die Tür. Mahmud und Majid tauschten Blicke, dann ging Majid mit steifen, wie hölzernen Bewegungen aus dem Zimmer. Wir drängten uns bei der Tür zusammen, wagten kaum zu atmen und strengten uns an, die halblauten Stimmen zu hören. Für eine Sekunde sah ich uns, wie wir in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort als Juden furchtsam hinter einer Tür lauschten, während der Gestapobeamte den Hausbesitzer ausfragte. Mit erleichtertem Lächeln kehrte Majid zurück. »Es ist der Vater des Mannes, der uns den Toyota mit dem defekten Differential brachte«, sagte er zu Mahmud. »Sein Sohn bat ihn, den Wagen heute für ihn abzuholen.« Er wandte sich zu Halton und mir. »Meine Frau wird Ihnen den Hinterausgang zeigen. Seien Sie vorsichtig mit dem Getriebe, ich hatte noch keine Zeit, es zu
reparieren.« Nach kurzem Zögern sagte er: »Mazhasala'ama.« Viel Glück. Daß wir ihn und seine Familie in äußerste Gefahr brachten, wurde nicht erwähnt. Es war jetzt der Wille Allahs und eine Frage der Ehre. Unser Geschick war mit ihrem verbunden. Bitte, Gott, betete ich. Welcher Gott du auch bist. Die Kleider waren eine armselige Tarnung, aber wir verhüllten unsere Gesichter mit den Kaffijehs, so gut es ging, und schritten ruhig zur Werkstatt. Ich wünschte wieder einmal, ich wäre mindestens fünf Zentimeter größer. Neben Halton kam ich mir wie eine Witzfigur aus einem alten Film vor, auffällig und verdächtig. Hinter der Werkstatt fanden wir den alten Volvo, grau, verbeult und rostig. Die Türen quietschten, als wir einstiegen, und mußten mit Schwung zugeschlagen werden, daß sie nicht wieder aufgingen. Allerlei Schmutz und Unrat lag im Fußraum herum, leere Schnellimbißverpackungen, ein Kinderkamm, dem die meisten Zähne fehlten, leere Colaflaschen und Bruchstücke von anonymen Dingen, die ich nicht hätte genauer untersuchen mögen; alles eingeweicht in eine schmierige Pfütze von schwarzem Motoröl. Ein großes Quadrat aus sonnengebleichtem grünem und goldenem Plastik war über das Armaturenbrett geklebt und mit Plastikblumen geschmückt. Jemandes Souvenir vom Hadsch, ein Zitat aus dem Koran. »Eine Pilgerfahrt nach Mekka ist eine Pflicht vor Allah für den, der einen Weg dorthin finden kann«, lautete der Text. »Wann immer du kommst, wende dein Gesicht dem Heiligen Ort der Verehrung zu, und wo immer ihr sein mögt, wendet eure Gesichter dorthin. Fürchtet nichts außer Mir, so daß Ich euch Meine Gnade erweisen kann und ihr
angeleitet werdet.« Sauberkeit und Ordnung schienen nicht Majids Stärke zu sein, aber sein Geschick als Mechaniker erwies sich, als der Motor nach nur leichtem Murren ansprang. Eine alte CD erwachte zum Leben, und eine bebende Frauenstimme sang in einem winselnden, gleichförmigen Auf und Ab durch die Halbtöne ein arabisches Liebeslied. Ich verzog das Gesicht und schaltete das Autoradio aus, als Halton den alten Wagen in Bewegung setzte und langsam durch die schmale Durchfahrt hinter der Garage steuerte. Halton fuhr, da seine Fähigkeit, sich in Nok Kuzlat zurechtzufinden, der meinigen überlegen war. Es war ein langsames Manövrieren durch die schmalen Seitengassen, bis wir das Labyrinth hinter uns ließen und über die äußere Ringstraße die lange, schnurgerade braune Fernstraße nach Norden erreichten. »Oh, Mist«, sagte ich. Wir hielten am Ende eines Staus vor einer Straßensperre. Uniformierte Soldaten mit Maschinenpistolen gingen die lange Fahrzeugschlange entlang, bückten sich, um in die Wagen zu spähen und die Fahrer zu befragen. Wir konnten nicht wenden, ohne uns verdächtig zu machen. Stumm verwünschte ich meine Dummheit. Natürlich würden sie die Ausfallstraßen kontrollieren. Ich wickelte mir die Kaffijeh vom Kopf, weil ich wußte, daß es nicht klappen würde. »Sie werden Fotos von uns haben, Halton«, sagte ich mißmutig. Halton bückte sich und rieb mit der rechten Handfläche in der Pfütze schmutzigen Motoröls, während er mit der anderen den Rückspiegel justierte. Dann schmierte er sich das schwärzliche Öl ins Gesicht.
»Was, zum Teufel, tust du da?« »Ich mache Gebrauch von vorhandenen Mitteln, um eine glaubhafte Tarnung zu improvisieren«, sagte er, fuhr sich dann mit der öligen Hand durch das Haar und gebrauchte die verbliebenen Zähne des Kinderkammes, um es über seine Frisur zu verteilen. Nach kurzem Zögern, wischte er sich die Hände an der Qabah ab. Nun wandte er sich mit grimmigem Lächeln zu mir. Das Öl hatte die feinen Runzeln in seinem Gesicht gefüllt, betonte die Bartstoppeln in seinem Gesicht und ließ es insgesamt dunkler erscheinen. Unter meinem kritischen Blick sog er die Wangen ein, daß seine Züge hagerer wurden und seine Kieferknochen deutlicher hervortraten. Mir stockte der Atem, als er die Augen vorquellen ließ und eines langsam seitwärts drehte. »Gott im Himmel, Halton! Wieder deine verdammten Nanos?« »Nein. Nur gute Muskelbeherrschung. Was meinst du?« Haben Sie den klassischen Schwarzweißfilm von 1931 gesehen, wo Dr. Jekyll sein Gesicht zu einer Grimasse verzieht und sich vor Ihren Augen in Mr. Hyde verwandelt, und das ohne die Hilfe technischer Tricks? Was Frederic March vollbrachte, um sich in Mr. Hyde zu verwandeln, tat Halton jetzt, bis er wie Marty Feldman in Der junge Frankenstein aussah. Haltons eigene Mutter hätte ihn nicht wiedererkannt, wenn er eine gehabt hätte. Ein Soldat schlenderte zum Fenster des übernächsten Wagens vor uns. Wir hatten nicht mehr viel Zeit. »Wunderbar.« Mich schauderte. Ich war nicht in der Lage, Ähnliches zu tun; meine Mitgliedschaft im örtlichen Gesund-
heitsclub bot keine Gesichtsgymnastik. »Hast du vielleicht einen falschen Schnurrbart für mich in der Tasche?« »Versteck dich im Fond.« Ich kroch über die Sitzlehne und kauerte im Fußraum nieder. Es gab keine Decke und keine Plane, nichts, was ich über mich ziehen konnte. »Großartige Idee«, sagte ich. »Was nun?« »Du mußt die Sitzbank aufheben. Sie läßt sich hochklappen.« Ich tat es und fand zu meiner Überraschung, daß er echt hatte. »Woher wußtest du das? Ah, schon gut …« Hab's aus Büchern. Der Raum unter der Sitzbank war zum Verstauen von Werkzeug, Ölkannen und Ersatzkanister gedacht, und eine runde Vertiefung zeigte, wo das Ersatzrad in den Boden des kleinen Kofferraumes hinter mir eingelassen war. Hastig durchmusterte ich das Gerümpel, aber es gab nichts, worunter ich mich verbergen könnte. Ich riskierte einen Blick über die Rückenlehnen nach vorn und sah den Soldaten zum Wagen vor uns schlendern, bevor ich in wachsender Panik den engen schmutzigen Raum beäugte. »Verdammt, verdammt!« Ich warf alles Gerümpel in den Fußraum der Rücksitze und versuchte unter die Sitzbank zu kriechen. Sie war nicht für die Unterbringung menschlicher Körper gedacht, und ich war ohnedies keine Schlangenmensch. Es war unmöglich, die Sitzbank über mir ganz zu schließen, ganz gleich, welche Anstrengungen ich unternahm. Halton hatte wieder die Musik eingeschaltet und kurbelte das Fenster herunter. »Was ist passiert?« fragte er in lautem Markundi durch das winselnde Auf und Ab der Frauenstimme. Sein Bauernakzent hatte die genau richtige Mischung von Respekt
und Verärgerung. »Warum haben Sie alle angehalten?« Ich konnte nicht mehr als eine dünne Linie Licht durch den Spalt zwischen Wagenboden und Sitzbank sehen. Ich hielt den Atem an, um jedes Geräusch zu vermeiden. Was sich als zweckmäßig erwies, da sich in dem engen Stauraum Abgase zu sammeln schienen und ich von Erstickungsgefahr bedroht war. »Wir suchen nach einem gefährlichen Verbrecher«, hörte ich den Soldaten sagen. »Einen amerikanischen Spion, der nach einem mißglückten Attentatsversuch auf Seine Exzellenz flüchtig ist.« »Allah erhalte unseren Herrn!« hauchte Halton inbrünstig. »Stellen Sie diesen Scheiß ab«, verlangte der Soldat im geringschätzigen Ton eines Vorgesetzten zu einem Untergebenen, »und zeigen Sie mir Ihren Führerschein.« Oh, verflucht. Das Gewinsel brach ab, und ich hörte Halton im Handschuhfach wühlen. Papier raschelte. »Das ist bloß der Fahrzeugschein«, sagte der Soldat. »Aber das bin ich. Sehen Sie hier, hier ist mein Name, Salim Farid – da steht es.« Halton tippte mit dem Zeigefinger hörbar auf das Papier. »Sehen Sie hier?« »Sie brauchen einen Führerschein«, beharrte der Soldat. »Ein Führerschein, ein Fahrzeugschein, das ist das gleiche, nur Papiere. Wozu brauchen Sie meinen Führerschein, wenn sie mit eigenen Augen sehen können, daß dies mein Fahrzeugschein ist?« »Zeigen Sie mir Ihren Ausweis«, beharrte der Soldat. Er wurde ärgerlich. »In Ordnung, hier. Steht hier nicht auch, daß ich Salim Farid bin?« Mehr Papiergeraschel, eine längere Stille.
»Wohin fahren Sie?« Der Soldat klang weniger feindselig. »Zu meiner Schwester nach Zaqihab«, antwortete Halton prompt. Seine Stimme bebte ein wenig vor ängstlicher Sorge und verletztem Stolz. »Es ist nicht weit. Ich dachte nicht, daß ich Papiere brauchen würde, nur um die kurze Strecke zu meiner Schwester zu fahren.« Halton klang wie ein reizbarer, dickschädeliger Bauer, dessen Ehre verletzt worden ist. Zweifellos war es genau dieser Eindruck, den er dem Soldaten zu vermitteln suchte. »Ich weiß nichts von amerikanischen Spionen. Ich bin ein ehrlicher Mann. Sie können meinen Wagen nach Ihrem amerikanischen Spion durchsuchen, wenn es sein muß …« Großer Gott, Halton, übertreib es nicht! »Sehen Sie da. Sie können sehen, daß ich ein ehrbarer Mechaniker bin. Sehen Sie sich mein Werkzeug an. Ich muß das Werkzeug und Öl nach Zaqihab bringen, um meinem Neffen bei der Reparatur eines Motorschadens zu helfen. Sehen Sie hier, die Ölkannen.« Die Federung des Fahrersitzes quietschte jämmerlich, als Halton sich über die Rücklehne wandte. Zweifellos zeigte er zu dem Durcheinander, das ich in den Fußraum geworfen hatte. Mit einer Willensanstrengung versuchte ich zu schrumpfen und bedauerte meinen früheren Wunsch, größer zu sein, während Halton weiterplapperte. »Er sagt, es ist ein durchgebrannter Kolben, und ich kenne mich mit durchgebrannten Kolben aus, weil ich ein guter Mechaniker bin; das ist eine sehr schwierige Arbeit, ein durchgebrannter Kolben …« Seine Stimme bekam Obertöne von Hysterie. »Ja, ja, schon gut«, sagte der Soldat, gelangweilt und irritiert. Er hatte kein Interesse an den Problemen eines Automechani-
kers. »Fahren Sie weiter.« Der Wagen rumpelte um mich her, und wir krochen in der Schlange weiter. Ich hielt den Atem so lange wie möglich an, bis kleine schwarze Punkte um die Ränder meines Gesichtsfeldes wirbelten. Nach einem tiefen Atemzug mußte ich sofort husten, bemühte mich nach Kräften, das Geräusch zu dämpfen. »Bleib unten«, hörte ich Halton sagen und kämpfte still mit meinem Hustenreiz. Die Unebenheiten der Straße wurden umgesetzt in Stöße auf meinen Kopf, die Hüften und Schultern, Knie und Ellbogen, während die lose Sitzbank über mir klapperte und rüttelte. Ein paar Kilometer weiter gab er Entwarnung, und ich zog mich unter Schmerzen aus meinem Versteck und über die Sitzlehne, rutschte auf den Beifahrersitz und hustete. »Nächstes Mal fahre ich, und du versteckst dich unter der Sitzbank«, schnaufte ich. »Ich würde nicht hineinpassen«, sagte Halton sachlich. »Für dich ist es einfacher. Du bist nur etwas zu dick.« Seine Augen blickten jetzt beide geradeaus auf die Straße, und seine Gesichtszüge, obschon noch ölbeschmiert, hatten wieder ihr normales Aussehen angenommen. »Gott, Halton, was du nicht sagst.« Ich ließ es sein. »Was, zum Teufel, hast du ihm als Ausweis gegeben?« »Eine Hundertrialnote.« Ich lachte. Halton blieb ernst. »Er wird nicht lange stillhalten.« »Meinst du, daß er dir glaubte?« Er zuckte die Achseln. Ich rieb meine schmerzenden Stellen und verhielt mich still,
während wir durch die Wüste fuhren. Der Verkehr nahm immer mehr ab. Schardamuzh war zwei Fahrstunden von Nok Kuzlat entfernt und einige Kilometer von der Grenze zu dem einzigen Nachbarland entfernt, das Amerikanern halbwegs freundlich gegenüberstand. Kilometer um Kilometer blinzelten wir in das grelle Sonnenlicht und die Staubfahnen der Fahrzeuge, die gelegentlich auf der zweispurigen Straße verkehrten. Desperados auf der Flucht, dachte ich. Ich gähnte, denn die Hitze machte mich gegen meinen Willen schläfrig. Wenn dies ein Film wäre, dachte ich träumerisch, würde dieser Teil bestimmt am Fußboden des Schneideraumes enden. Ich hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Dann kam plötzlich ein alter, rostiger Lieferwagen mit einem auf die Ladefläche gebundenen knienden Kamel in einem halsbrecherischen Überholmanöver längsseits. Der Fahrer riskierte sein Leben, um uns zu überholen, während ein großer Sattelzug, der aus der Gegenrichtung kam, protestierend hupte. Meine Hände krallten sich ins Armaturenbrett, und ich sah einen Moment den wild blickenden Kamikazefahrer, der uns langsam überholte. Wenn Halton ein echter Khuruchabjaner mit Selbstachtung gewesen wäre, hätte er aufs Gaspedal getreten und sich geweigert, den anderen vorbeizulassen, der gezwungen gewesen wäre, entweder hinter uns zurückzufallen oder vom Sattelschlepper zermalmt zu werden. Aber Halton war ein zivilisierter Fahrer und bremste, um den neben uns holpernden Lieferwagen vorbei und schleudernd einscheren zu lassen. Im letzten Augenblick entging der Lieferwagen so einer verhängnisvollen Kollision, schnitt uns mit dem schleudernden Heck aber so scharf, daß seine Stoßstange kaum einen Schritt
vor unserer einscherte. Der Fahrer des Sattelzuges trompetete zornig auf dem Dreiklanghorn, während er vorüberbrauste. Seine mächtigen Räder wirbelten Sand vom Straßenbankett auf. Der Fahrer des Lieferwagens fuchtelte trotzig mit der Faust aus dem Fenster, den Mittelfinger in der universalen Geste hochgereckt. Ob er den Sattelzug, uns oder die Welt im allgemeinen meinte – wer weiß? Sand und kleine Steine prallten von unserer staubigen Windschutzscheibe ab. Das Adrenalin hatte mich völlig aus meiner Hitzelethargie gerissen. Ich sah das Kamel auf der Ladefläche des Lieferwagens vor uns gemächlich wiederkäuen. Seine sanften braunen Augen unter den dicht bewimperten Brauen blickten gelassen in die Welt, die hängende Schnauze war wie witternd emporgehoben. Irgendwie erinnerte mich das Tier an den verstorbenen Scheich, und ich begann zu kichern. Halton blickte neugierig zu mir her. »Was ist?« »Ich kann nicht glauben, daß wir davongekommen sind«, sagte ich lahm, nicht imstande, meinen plötzlichen Heiterkeitsimpuls zu erklären. »Sind wir noch nicht«, sagte Halton, immer der Spaßverderber. Wir passierten mehrere Abzweigungen, bevor wir endlich eine nahmen, die ungefähr genauso aussah wie die anderen. Die grünen und weißen Hinweisschilder waren durch Flugsanderosion und rostende Einschußlöcher, die von Zielübungen vorbeiziehender Schafhirten herrührten, halb unleserlich. Ich mußte Haltons Orientierungssinn vertrauen. Wir überwanden die Steigung einer kleinen Anhöhe und sahen in der Ferne vor uns Schardamuzh, eine unscheinbare, hingeduckte Stadt aus Lehm-
ziegeln. Als wir näher kamen, konnte ich die Spuren alter Bombenschäden erkennen: geborgene Ziegel, die an bröckelnden Mauern aufgestapelt waren, leere Fensterhöhlen und Türöffnungen. Die moderne Brücke, die einst den Fluß überspannt hatte, war nach einem Bombentreffer niemals repariert worden. Nach dem Ausmaß des Schadens vermutete ich, daß es eine französische Feu-du-Dieu-Lenkrakete gewesen war. Das zerstörte Teilstück zwischen zwei Brückenpfeilern war provisorisch durch eine Drahtseilhängebrücke ersetzt, die nicht für Kraftfahrzeuge gemacht war, aber trotzdem von Wagen befahren wurde. »Hübsch«, sagte ich als ich sah, wie die Brücke unter dem Gewicht eines alten zweitürigen Skoda, der von mehreren Männern hinübergeschoben wurde, gefährlich durchsackte. »Gut, daß wir hier halten.« Halton erkundigte sich nach dem Haus von Majids Onkel und wir wurden eine ungepflasterte und ungeteerte Straße entlang zum Stadtrand gewiesen, vorbei an einem Autofriedhof und zu einem kleinen Haus. In einer auf drei Seiten offenen Autowerkstatt standen mehrere aufgebockte Fahrzeuge. Glukkende Hühner scharrten im sandigen, ölfleckigen Boden um die mehr oder weniger ausgeschlachteten Wagen. Mit Ausnahme der Hühner schien alles leblos und verlassen. Wir parkten den Volvo, und Halton schaltete die Zündung aus. Meine Ohren summten in der plötzlichen Stille. Hinter dem kleinen Haus war ein ziemlich neuer Geländewagen abgestellt, an dem ein dunkler schnurrbärtiger Mann lehnte und eine Zigarette rauchte. Er blickte gleichgültig auf, als wir auf ihn zukamen.
»Wir suchen Salim Farid«, fragte Halton. Der Mann deutete mit einem Kopfnicken zum Haus. Es war sehr klein, ebenerdig und konnte nicht mehr als zwei Räume enthalten. Ich klopfte an die hölzerne Tür. »Kommen Sie herein!« hörte ich eine muntere Stimme in markundi rufen. Halton machte plötzlich halt, als ich die Tür aufstieß. Meine Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich auf das schlechte Licht einzustellen und Cullen Laidcliff auszumachen, der am anderen Ende des Raums auf einem Stuhl saß und über den Lauf einer sehr unangenehm aussehenden Eclipse-Pistole grinste. »Nicht doch«, hörte ich jemanden leise hinter mir sagen und wußte, daß der Jemand wahrscheinlich eine zweite Eclipse Halton an den Kopf hielt. »Hallo, Schätzchen«, sagte Laidcliff mit öliger Stimme. »Ich hoffe, du bist mir treu geblieben …«
21 WIR HATTEN SCHON EINMAL ÄHNLICHES ERLEBT, in Nok Kuzlat, wo Scheich Larrys Frau wie die Primaballerina in Schwanensee am staubigen Boden eines ausgeräumten ehemaligen Cafés ihr Ende gefunden hatte. Auch die Fragestellung war ziemlich die gleiche, bloß hatte Laidcliff diesmal viel Zeit. Der blonde Mann mit den grüngrauen Augen hielt seine Pistole fest gegen Haltons Schläfe gedrückt. Er beugte sich zu ihm und hauchte dem Biokonstrukt ins Ohr: »Nächstes Mal werde ich dich nicht verfehlen, du Arschloch«, dann gluckste er, als hätte er etwas Lustiges gesagt. Halton reagierte nicht. Sein Blick ruhte auf mir. »Wie haben Sie uns gefunden?« fragte ich in einem Versuch, die Furcht zu unterdrücken, als Laidcliff mir die Hände auf den Rücken band. »Wie konnten Sie vor uns hierher gekommen sein?« »Es war nicht schwierig«, sagte Laidcliff geduldig. »Man kann sich einfach nicht darauf verlassen, daß diese Sandnigger irgend etwas richtig machen. Sie sind zu beschäftigt, Bestechungsgelder einzustreichen und sich gegenseitig abzumurksen. Also installierten wir Radarmeßgeräte, die automatisch alle Nummernschilder von Wagen aufnahmen, die Nok Kuzlat verließen. Ließen sie durch den Polizeicomputer laufen, bis etwas aufkam, das ein bißchen sehr zufällig aussah.« Er zog den letzten Knoten
schmerzhaft fest. »Außerdem kommt man mit hundert Rial einfach nicht mehr so weit wie früher.« Er grinste, als er mich umdrehte und auf einen Stuhl stieß. »Wir statteten deinem Freund Majid einen kleinen Besuch ab und stellten ihm ein paar Fragen. Mit etwas chemischer Überredung war er mehr als glücklich, uns alles erzählen zu dürfen, was wir wissen mußten.« Das schlug mir auf den Magen. »Ist er tot?« Ich mußte leise sprechen, um zu verhindern, daß meine Stimme bebte. »Nicht als wir gingen«, sagte Laidcliff hinter mir. Er zog meine Arme um die Stuhllehne abwärts und verankerte meine Handgelenke am Sitz. Ich starrte Halton an, der bewegungslos dastand. Der Mann mit den kurzgeschnittenen blonden Haaren ließ nicht locker; die Mündung der Pistole drückte so hart gegen Haltons Kopfseite, daß er in eine leichte Schiefhaltung gezwungen wurde. »Aber ich kann mich nicht dafür verbürgen, was die Khuruchabjaner mit ihm tun werden.« Es war ihm auch ziemlich gleich. »Sobald wir wußten, wohin ihr zwei unterwegs wart …« – er kam herum, kniete nieder und band einen meiner Knöchel an das Stuhlbein –, »nahmen wir einfach einen Hubschrauber zum Stützpunkt Qurzon, dort einen Geländewagen und kamen hier ungefähr eine Stunde vor euch an.« Er grinste zu mir auf. »Ihr habt das Mittagessen versäumt.« »Wo ist Salim Farid?« Ich wollte nicht, daß noch mehr Leute zu Schaden kämen, obwohl ich es nicht verhindern konnte. »Macht ein Schläfchen«, sagte Laidcliff und wies mit dem Kinn zu einer verschlossenen Tür. Er tätschelte mir freundlich die Wange. »Mach dir keine Sorgen um ihn, Süßes. Wenn er
aufwacht, wird er sich damit brüsten können, zwei amerikanische Spione getötet zu haben. Ein Held seines Vaterlandes.« Das letzte Tätscheln endete mit einer harten Ohrfeige. Ich jaulte mehr vor Überraschung als vor Schmerz. Halton verzog keine Miene. Wenn wir in einem zivilisierten Land wären, erläuterte Laidcliff, brauchte er seine besten Pharmazeutika nicht auf einen Haufen Kameltreiber zu verschwenden. Er hätte es leicht und schmerzlos für mich machen können, ein paar Fragen unter der richtigen Dosierung sanfter chemischer Überredung, gefolgt von einer rasch wirkenden tödlichen Spritze in den Arm. Aber alles sei aufgebraucht, alles bis auf das tödliche Zeug, und es gebe keine Apotheke um die Ecke, wo er hingehen könnte, um zusätzliches Wahrheitsserum zu holen. Unter primitiven Bedingungen müsse man eben improvisieren, nicht wahr? Er gluckste fröhlich und hatte seinen Spaß, als er meinen anderen Knöchel an den Stuhl fesselte. »Das war alles, wofür Sie mich wirklich brauchten, nicht wahr, Laidcliff«, sagte ich, während er die Stricke anzog. »Einen Halton ins Land zu bringen, dem Larry vertrauen würde, so daß ein anderer ihn umbringen konnte.« Laidcliff lachte, zog den Strick mit einem Ruck schmerzhaft an. »Falsch, Kleines«, sagte er und stand auf. »Der ursprüngliche Plan war genau wie wir ihn dargelegt hatten. Larry brauchte einen Wachhund, und wir hatten einen extra angefertigten Welpen eigens für ihn eingewickelt. Wir brauchten einen Dummen, um ihn unauffällig hereinzubringen. Sie waren unser Mann, sozusagen. Der einzige Grund, aus dem wir Sie brauch-
ten, war der, daß Halton einen guten Vorwand brauchte, um nahe genug an den Scheich heranzukommen, wenn es Zeit wäre, ihn zu ›retten‹. Wenn du dich an die Regeln gehalten hättest, wäre niemandem ein Haar gekrümmt worden. Aber dann fing Halton an, sich komisch zu benehmen, und du brachtest zusätzliches illegales Gepäck herunter und schnüffeltest herum, wo du nichts zu suchen hattest. Du warst so überzeugt davon, es sei eine Art Verschwörung im Gange, daß du dadurch selbst eine anzuzetteln halfst. Zu vieles ging schief, und das änderte den ganzen Plan.« »Ich habe die Mikroplatte nicht mehr«, sagte ich. Nicht daß es ihn daran hindern würde, das Kassettenmagazin aus mir herauszuprügeln. »Das ist schon in Ordnung.« Er grinste und zog die Mikroplatte aus der Tasche, um sie mir zu zeigen. »Ich habe sie.« Nun wußte ich, wer Somerton getötet hatte. »Siehst du, Schätzchen, als der alte Al-Hasmani uns anrief und von unheimlichen Mikroplatten und fliegenden Tomaten und computerisierten Geisterbotschaften schwafelte, die ihr Datennetz übernommen hätten, hatten wir bereits entschieden, daß wir herüberkommen und etwas tun müßten, um dieses Durcheinander in Ordnung zu bringen. Larry wurde sowieso ein bißchen zu hochnäsig. Irgendwie hatte er sich selbst davon überzeugt, er sei eine Art heiliger Messias, dessen Aufgabe es sei, uns in den Dreck zu treten, also gingen wir zu Plan B über.« Laidcliff beugte sich näher und sprach in einem verschwörerhaften Bühnenflüstern weiter: »Aber weißt du, was wirklich komisch ist? Die Mikroplatte ist wertlos. Wir brauchten Larrys
Fahrkarte doch nicht zu entwerten.« Ich muß sehr verwirrt und idiotisch ausgesehen haben, mit offen hängendem Mund, und Laidcliffs fröhliches Lachen verwirrte mich noch mehr. »Du willst wissen, was auf diesem Ding ist, hm?« Er hielt es mir unter die Nase. »Müll. Die Schwindler verkauften den Lumpenköpfen falsche Pläne für Infrafusionsbomben, die nicht funktionieren können. Der Junge hatte überhaupt nichts! Der Rest der Mikroplatte ist bloß leerer Raum.« Er fand das ungemein komisch. Laidcliff wußte nicht, daß wir die Mikroplatte bereits entschlüsselt hatten. Gabriel hatte die Unterbringung nicht gefallen … Er hatte seine eigene Programmierung nicht nur umgeschrieben, er hatte die Mikroplatte ganz verlassen. Deshalb hatte Halton ihn nicht wieder hervorlocken können; er war einfach nicht mehr da. Er hatte sich ganz in Ibrahims Computer-Bulletin-Netzwerk hinübergerettet, war in die elektronische Äthersphäre entkommen, um seinen Erwählten zu suchen. Gabriel hatte ihn auch beinahe gefunden, aber Laidcliff hatte den Gegenstand der liebsten Träume der Künstlichen Intelligenz gerade ermordet. Gabriel war noch immer unterwegs auf vergeblicher Suche nach dem Mahdi. Und es waren die Israelis gewesen, die Gabriel geschaffen hatten. Schalom, Gabriel. Das fand ich ziemlich erheiternd und lachte. Laidcliff wußte meine Heiterkeit nicht zu schätzen und versetzte mir mit der Rückhand eine Ohrfeige auf die andere Seite. Dann fing er mit
den Gewalttätigkeiten an. »Wo ist die Magazinkassette?« fragte Laidcliff zum dritten Mal. Ich weinte. Ich habe eine Neigung dazu, wenn jemand mich windelweich prügelt, aber ich verwechsle Schmerz nicht mit Dummheit. Oder Tapferkeit. Ich wußte so gut wie er, daß er zuerst mich und dann Halton umbringen würde, wenn ich es ihm sagte. Und dann jeden anderen, dessen Namen er mir entlocken konnte. Die Überlegung dabei war, daß er mich schließlich überzeugen könne, im Tod eine angenehme Belohnung für ein Geständnis zu sehen. Ich war auch nicht so sicher, daß er mit seiner Überlegung falsch lag. Halton hatte keinen Finger gerührt, als Laidcliff zu Schlägen übergegangen war. Der Mann mit dem aschblonden Haar hielt seine Kehle von rückwärts fest im angewinkelten Arm, und die Pistolenmündung bewegte sich keinen Millimeter von Haltons Kopf. Aber ein anderer hatte einmal den Fehler gemacht, zu denken, er könnte ihn so in Schach halten. Vielleicht ermüdete der Arm des Mannes, vielleicht ließ seine Aufmerksamkeit nach, abgelenkt von der Unterhaltung. Nur einmal, als ich auf dem Stuhl zusammensackte und weinte, sah ich Halton ganz still und wie in sich gekehrt in einer Aura vollkommener Ruhe. Dann, bei meinem nächsten Schrei, hörte ich ein gedämpftes Knacken und ein jähes, zischendes Einatmen durch die Zähne. Laidcliff fuhr herum und sagte in einem seltsam freundlichen Ton: »Johnny, hör auf.« Halton erstarrte in völliger Katatonie. Laidcliffs Helfer hielt sich das Handgelenk und mußte sich sehr vorsichtig aus Haltons starrem Griff befreien. »Herrgott noch mal, der verdammte Scheißkerl!« fluchte der
Mann, hielt seine verletzte Hand und tanzte herum. »Ich glaube, er hat sie gebrochen.« Dann erst fiel ihm etwas ein. Er hörte auf herumzuspringen und zog seine Eclipse-Pistole behutsam aus Haltons gelähmter anderer Hand. Zornig und mit schmerzlich verzogenem Gesicht starrte er Laidcliff an. Es war das zweite Mal, daß er vom Biokonstrukt überrumpelt worden war. »Ich sagte dir, daß Biokonstrukte schnell sind, Ed«, sagte Laidcliff tadelnd. »Du hast in deiner Wachsamkeit nachgelassen. Kannst von Glück sagen, daß du nicht tot bist.« »Scheiße«, sagte der Mann durch die zusammengebissenen Zähne. Mißtrauisch beäugte er Halton, als er die Pistole mit der unversehrten Hand in sein Achselhalfter steckte. »Nun geh weg von ihm«, sagte Laidcliff. Ed hielt sein verletztes Handgelenk mit der anderen Hand vorsichtig an seine Brust. »Laß es verbinden oder schienen oder was. Im Geländewagen ist ein Verbandkasten für Erste Hilfe. Ich werde dich rufen, wenn ich dich brauche.« Er schien ungeduldig. »Ich weiß nicht, Cullen …«, sagte Ed zweifelnd. »Mach dir keine Sorgen, Ed. Er kann mir nichts anhaben.« Laidcliff wandte den Kopf und zeigte die Zähne in einem bösen Lächeln. »Die Stimme seines Herrn, weißt du.« Ed war nicht überzeugt, aber er ging. Ein zweites Mal würde dieser Trick nicht funktionieren. Halton stand unbewegt, seine Muskeln bebten. Schweiß rann ihm über die Stirn, tropfte von seiner Nase. »Was haben Sie mit ihm gemacht?« lispelte ich durch geschwollene, aufgeplatzte Lippen. Laidcliff lachte. »Nichts. Überhaupt nichts. Nichts, wofür er nicht von Anfang an konzipiert war.« Er ging zu Halton hin-
über, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte in freundlichem Ton: »Johnneeeey.« Halton richtete sich langsam auf und sah Laidcliff an, Entsetzen in den Augen. Laidcliff schnalzte tadelnd und schüttelte bekümmert den Kopf. »Was ist los mit dir, Junge? Du hast dich sehr seltsam benommen. Der junge Lawrence von Arabien ist tot, stimmt's?« »Ja«, krächzte Halton. »Er ist tot.« »Also ist sein Vertrag null und nichtig, beendet, nicht wahr?« Laidcliffs Stimme war glatt und beschwichtigend. Halton hörte ›beendet‹ und zitterte sichtbar. Er antwortete nicht, und Laidcliff fuhr fort: »Und was geschieht, wenn die Bezugsperson, der ein Biokonstrukt zugeordnet worden ist, gestorben ist? Johnny?« »Das gesetzliche Eigentumsrecht am Biokonstrukt fällt automatisch an den Hersteller zurück«, sagte Halton. Er starrte ihn mit gequältem Ausdruck an. »Und der ist?« fragte Laidcliff geduldig weiter. »CDI.« »Und ich bin?« »Mein CDI-Ausbilder«, sagte Halton mit tonloser Stimme. Er schluckte und richtete seinen Blick zögernd auf Laidcliff. »Sir.« »Das ist richtig, sehr gut«, sagte Laidcliff grinsend. »Also, warum bist du kein guter Junge und erzählst mir, wo die Magazinkassette ist, Johnny?« Halton starrte ihn an. »Ich weiß es nicht, Sir«, sagte er mit undeutlicher Stimme. Laidcliffs Augen wurden schmal. »Wo ist die Magazinkasset-
te, Johnny?« sagte er. Das Lächeln und seine arrogante Herablassung waren verflogen. »Ich weiß es nicht, Sir«, wiederholte Halton. »Johnny. Lüg mich nicht an«, sagte Laidcliff im gleichen Ton, der Halton zuvor gelähmt hatte. »Wo ist die Magazinkassette?« »Ich weiß es nicht, Sir«, wiederholte Halton noch einmal. In seiner Stimme war eine Andeutung von Panik, aber ich war nicht sicher, ob Laidcliff sie heraushörte. Er blieb eine Weile vor dem Biokonstrukt stehen und musterte es. Ich schwitzte vor Angst, war überzeugt, daß Halton in einer Sekunde zusammenbrechen würde. Ich zwang ein geringschätziges Lachen hervor. »Sie sind ein Trottel, Laidcliff«, höhnte ich und zwang seine Aufmerksamkeit zurück zu mir. »Sind Sie wirklich so einfältig, zu glauben, ich würde meine einzige Sicherheitsgarantie einem Spionage-Biokonstrukt anvertrauen, noch dazu einem, den Sie selbst so ungeschickt pflanzten, daß es offensichtlich war?« Damit gewann ich wieder seine ganze Aufmerksamkeit, und Halton stand da und sah hilflos zu, als Laidcliff entschied, ich sollte meine Worte ein wenig bereuen. Es war primitiv, aber wirksam. Nicht, daß er daran gedacht hätte, mich zu vergewaltigen. Aber das brauchte er nicht. Er hatte nicht vor, mich danach noch länger bei sich zu behalten, also sorgte er sich nicht wegen bleibender Schäden. Er war lediglich darauf bedacht, mir keine Verletzung zuzufügen, an der ich wirklich sterben könnte. Dafür war später noch Zeit. Er brach mir systematisch mehrere Finger, legte zwischen meinen Schreien jedesmal eine Pause ein und zerschlug mir dann fachmännisch die Nase.
Aber das war erst der Anfang. Er ließ sich Zeit, ging sorgfältig und methodisch vor, schlug mir eine Gesichtshälfte ein, daß ein paar Backenzähne ausbrachen. Ich wurde ohnmächtig, als er den Backenknochen brach. Darauf machte er eine Pause und wartete, bis ich aufwachte. Als die Schmerzen mich ins Bewußtsein zurückriefen, war er zurückgetreten und stand vor mir, nach seiner Anstrengung etwas schnaufend. Ich weinte und blutete. Er nahm mein Kinn in die Hand und hob mein Gesicht, daß ich ihn ansehen mußte. »Ich werde dich nicht fragen, was du damit gemacht hast, Süße«, sagte er zu mir. »Das war bloß, um dich zu erinnern, wo du stehst. Nun werden wir ernst machen.« Er lächelte und wischte mir mit sanftem Finger eine Träne von meinem einen Auge. Das andere war bereits zugeschwollen. Ich konnte nicht umhin, leise zu wimmern. »Ich habe dich nicht geblendet«, sagte er, »weil ich möchte, daß du etwas siehst … einfach siehst und darüber nachdenkst.« Er ging um Halton herum wie ein Hund, der einen fremden Gegenstand beschnüffelt. Als er hinter ihm stand, schien er einen Moment lang zu überlegen, dann stieß er Halton in die Kniekehlen, daß der Biokonstrukt zu Boden fiel. »Hände auf den Kopf, Johnny«, sagte er sanft. Halton gehorchte wortlos. Laidcliff setzte sich auf den anderen Stuhl, schlug ein Bein über das andere, daß der Knöchel auf dem Knie ruhte, und zog ein Messer aus der Tasche. Fünfzehn Zentimeter lang, schwarz und Chrom, unverziert und funktional. Er ließ die Klinge herausspringen, dann drückte er sie mit dem Daumen wieder in den Griff zurück, dann – klick – heraus, wieder zurück – klick –
heraus, wieder und wieder. Das Spielzeug eines Schulhofraufbolds. Halton kniete am Boden, die Hände hinter dem Kopf wie ein Kriegsgefangener, und sah zu. »Ihr verdammten Biokonstrukte«, höhnte Laidcliff. »Ihr haltet euch alle für so großartig, nicht?« Halton mußte sich räuspern, bevor er antwortete. »Nein, Sir.« »Spiel hier nicht den Schlaumeier, Johnny.« »Das tue ich nicht, Sir.« »Ihr denkt, ihr wäret uns Menschen so überlegen, mit euren maßgeschneiderten Genen. Wir haben das Beste in euch hineingesteckt, was uns möglich war – man füge Wasser hinzu, schüttle kräftig und fertig ist der Supermann.« Er hielt Halton die Messerspitze unters Kinn, daß die Haut eben geritzt wurde. »Du bist nicht so außergewöhnlich, Johnny. Du bist nicht der große Zampano. Weißt du das, Junge?« »Ja, Sir«, flüsterte Halton. Laidcliff war eifersüchtig auf Biokonstrukte. Ich weiß, daß ich das Offensichtliche feststelle, aber ich hatte einige Zeit, dazusitzen und zuzusehen, und mich zu wundern, wie jemand wie Laidcliff so bösartig und gemein sein konnte. Ich hatte ihn als einen bloßen CDI-Funktionär betrachtet, was auch zutraf. Er war so weit aufgestiegen, wie seine Kompetenz es erlaubte, aber nicht annähernd weit genug, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen. Laidcliff war ein Mann, der sein ganzes Leben einen Minderwertigkeitskomplex mit sich herumtrug und hinter einer Fassade von Prahlerei verbarg. Er blieb unterwürfig gegen seine Vorgesetzten, obwohl er sie haßte, und ließ seine Frustrationen soweit möglich an denen aus, die unter ihm
standen. Es war schlimm genug, solange es bloß andere Leute wie er selbst waren, aber dann kamen die Biokonstrukte. Gewiß, auch ich beneidete Biokonstrukte – wer würde es nicht tun? Aber Laidcliff schien darüber verrückt geworden zu sein. Bei unserem ersten kurzen Zusammentreffen war er unangenehm gewesen, aber nicht sadistisch. Ich hatte ihn als unwichtig abgeschrieben und vergessen. Er aber hatte meinen kleinen Scherz am Flughafen offensichtlich im Gedächtnis behalten. Normale gesetzliche Zwänge wie die Drohung mit lebenslänglich Gefängnis für einen Mord, sind im allgemeinen ausreichend, um die kleineren Laidcliffs dieser Welt wenigstens gesellschaftlich erträglich zu halten. Sein Zorn und seine Unzulänglichkeiten waren durch die Biokonstrukte, mit denen er zu tun hatte, einfach verschärft worden; sie waren besser darin, die Arbeit zu tun, die er hatte tun wollen. Er wurde verdrängt. Ich konnte diese Furcht verstehen. Dann hatte ich der Verletzung Beleidigung hinzugefügt. Jetzt waren die Hemmungen weggefallen: Laidcliff hatte die Möglichkeit, straflos zu tun, was er wollte, und in seinem wütenden Groll hielt ihn nichts mehr zurück. »Ich kann nicht glauben, daß du tatsächlich mit dieser häßlichen Sau gevögelt hast«, sagte er und wandte den Kopf, um mich anzugrinsen. Und lachte über meine Verblüffung. »Das hast du getan, nicht wahr?« Es war doch nur eine Vermutung. »Ja, Sir.« Laidcliff schnalzte mißbilligend. »Und ich wette, du hast es noch kostenlos gemacht, wie? Nach all den wirklich netten Mädchen, die ich dir besorgte, hast du noch immer nichts gelernt.« Halton zuckte zusammen. Daß Laidcliff den Zuhälter
für sein Biokonstrukt gespielt hatte, war eines der Geheimnisse seines Liebeslebens, die Halton mir nicht anvertraut hatte. »Hat es dir wenigstens gefallen, Johnny? War es gut für dich?« Halton zitterte. »Ja, Sir.« »Monoton, nicht wahr?« sagte Laidcliff plötzlich zu mir, dann imitierte er Halton mit hoher Stimme: »›Ja, Sir, nein, Sir, was Sie sagen, Sir.‹ Keine Phantasie.« Er wandte sich wieder zu Halton. »Johnny …« Haltons Gesicht war blutleer. »Ja, Sir?« »Du bist psychologisch kontaminiert.« »Nein, Sir …« »John Halton. Indigo. Faubourg. Salizyl. Pentagramm. Los.« Zuerst geschah nichts, dann verdrehte Halton die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Sein Rückgrat bog sich durch, er fiel rücklings zu Boden und zuckte heftig. »Was machen Sie mit ihm?« schrie ich. »Ich mache nichts mit ihm«, antwortete Laidcliff lachend. »Er tut es sich selbst an.« Halton rann Speichel aus dem Mund, seine Finger streckten und ballten sich in unkoordinierter Folge, Muskeln verkrampften sich. »Jedes Biokonstrukt hat eingebaute Ausfallsicherungen. Die Nanos. Biokonstrukte haben sie schon vor der Geburt. Sie sind ihren maßgeschneiderten Genen so eng angepaßt, daß sie die Nanos nicht von ihren biologischen Körpern unterscheiden können. Sie wissen nicht einmal, wie viele verschiedene Konstruktionsmerkmale in sie eingegangen sind.« Er zeigte mit dem Daumen auf die sich windende, zuckende Gestalt. »In seinem Gehirn marschiert eine kleine Armee von Nanos herum. Sie haben die ganze Zeit gewartet, um in den
Kampf gerufen zu werden, und er wußte nie davon«, erläuterte Laidcliff im Konversationston, während Haltons Füße auf den Boden trommelten. »Sie werden durch den spezifischen Klang meiner Stimme aktiviert, die eine vorher eingestellte Sequenz von Worten wiederholt.« Er grinste und hielt zwei Finger wie eine Schere hoch. »Schnipp, schnipp. Das ist das Geräusch von Tausenden winziger Nanos, die Neuronenverbindungen durchschneiden. Schnipp, da ist wieder eine hin. Schnipp – wie Alzheimer im Zeitraffer. Schnipp …« »Hören Sie auf, hören Sie auf!« schrie ich winselnd. »Hören Sie auf!« »He, kein Problem. Das ist leicht.« Er wandte den Kopf und sagte im gleichen Ton: »John Halton. Stop.« Ein krampfhaftes Zittern durchlief Haltons Körper, dann lag er still, starrte zur Decke auf und rang nach Luft, als hätte er vergessen, wie seine Lunge arbeitete. Ich schluchzte hysterisch, während Laidcliff müßig mit seinem Springmesser spielte und seinen Spaß an der Vorführung hatte. »Komm schon, Johnny«, sagte er endlich und stieß Halton mit der Stiefelspitze an. »Genug gefaulenzt. Steh auf!« Unbeholfen wälzte Halton sich herum, setzte sich aufrecht, die Füße im Schneidersitz, und verschränkte die Finger im Nacken. Er schwankte etwas unsicher, hielt den Kopf gebeugt und starrte mit glasigen Augen vor sich hin. Er schien benommen. »Also, Liebling«, sagte Laidcliff leise, »süßes Schätzchen, bist du jetzt bereit, mir zu sagen, was du mit der Magazinkassette getan hast, oder möchtest du lieber zusehen, wie ich deinen Gespielen langsam auf eine vegetative Ebene reduziere?«
»Verfluchter Schinder.« Ich wußte, daß er mich hatte, daß es hoffnungslos war. Es würde kein Wunder geschehen, kein rettender Engel erscheinen, um uns in letzter Minute zu retten. Es war dumm und sinnlos, weiter zu widerstehen, wenn wir so oder so sterben mußten. Vielleicht würde es inzwischen zu spät sein. Ich konnte hoffen. Einen Augenblick lang gab ich auf, versuchte zu überlegen, wie ich einen Handel machen und das Wissen um den Verbleib der Magazinkassette gegen einen raschen, schmerzlosen Tod für uns beide eintauschen könnte. Laidcliff beobachtete mich und weidete sich daran, was er in meinem Gesicht sah. Er bemerkte nicht, wie Halton den Kopf hob, sah nicht die einzelne Träne über Haltons Wange rinnen und seinen Mund sich in einem stummen, verzweifelten Nein bewegen. Wie war es möglich, daß Menschen imstande waren, ein Übermaß an Schmerzen und Mißhandlung, das sie für sich selbst keine zwei Sekunden ertragen würden, für andere auf sich nehmen konnten? »Gehen Sie zum Teufel«, murmelte ich durch geschwollene Lippen. In diesem Moment war ich zu keiner Kreativität imstande. Laidcliff hingegen fühlte sich dazu beflügelt. Er riß mein Hemd auf, daß die Knöpfe auf den Boden sprangen. Es gab einen Punkt, als er zurücktrat, sein Werk zu bewundern, das Messer in einer blutigen Faust, wo ich dachte, nichts könne dies wert sein. Zwischen meinen Füßen bildete sich eine Blutlache von der dekorativen Kalligraphie, die er in meinen Oberkörper eingeschnitten hatte. Ich suchte Zuflucht bei dem Gedanken, daß dieser Schrecken früher oder später vorbei sein würde. Wenn ich durchhielt, konnte ich mit dem Wissen ster-
ben, daß ich Laidcliff und der CDI einen Skandal eingebrockt hatte, den sie nicht unbeschadet überstehen würden. Laidcliff machte eine Verschnaufpause und setzte sich, eine Zigarette zu rauchen, während ich gefesselt auf dem Stuhl hing und blutete und leise vor mich hin weinte. Der bittere Geruch starken türkischen Tabaks traf meine eingeschlagene Nase beinahe so schmerzhaft wie Folter. Seit Stunden hatte ich nicht geraucht. Ich wollte eine Zigarette, sogar in meinem Zustand. Verdammt, dachte ich, angewidert von mir selbst. Ich muß es wirklich aufgeben … und hätte beinahe gelacht. Halton kniete wie versteinert am Boden. Laidcliff rauchte und entschied, daß der Biokonstrukt wieder an der Reihe sei. »Selbst wenn ich dich im Moment nicht als Hebel brauchte, Johnny, würden wir dich beenden müssen. Das verstehst du, nicht wahr?« Halton wandte den Blick von mir und starrte Laidcliff an. »Tatsache ist, daß du dir dies alles selbst zuzuschreiben hast. Es ist deine eigene Schuld. Du hast Mist gemacht, Junge. In dem Augenblick, als du anfingst, der gefährlichen kleinen Miss Schnüffelnase während dieses wirklich hochklassigen Abendessens in der Orbitalstation Geschäftsgeheimnisse zu verraten, hattest du dein eigenes Grab geschaufelt.« Er beugte sich seitwärts, um das Blut von seinem Springmesser an Haltons Hemd abzuwischen. Der Biokonstrukt rührte sich nicht. »Das ist richtig, wir hörten euch. Du hast keine kleinen Nanokameras in den Augen …« – er wandte den Blick zu mir –, »obwohl mir diese Idee gefällt. Wir werden darüber nachdenken müssen.« Er wandte sich wieder Halton zu. »Wir haben ein
ganzes Sortiment von anderen Möglichkeiten, um unsere kleinen Jungen und Mädchen im Auge zu behalten. Du hast die Regeln durchbrochen, Johnny. Dein ganzes Konstruktionsschema wurde unter die Lupe genommen, und weißt du was? Deine gesamte Serie mußte ausgesondert werden. Ihr wart alle fehlerhaft und unzuverlässig. Kontaminiert. Mit Funktionsstörungen behaftet. Du verstehst, nicht wahr?« »Ja, Sir«, sagte Halton. Er versuchte nicht, die Verzweiflung in seiner Stimme zu verbergen. Glaub ihm nicht, John. Glaub ihm nicht … Aber natürlich mußte er. Er war so konstruiert. Laidcliff war als Ausbilder ein Puppenspieler, und Halton war seine persönliche Marionette. Die Bindung konnte nur mit dem Tod eines der beiden aufgelöst werden. Laidcliff schenkte mir keine Beachtung; er war damit beschäftigt, zum Vergnügen an Haltons Fäden zu ziehen. Ich fühlte, wie etwas Kaltes sich in mir bewegte, meine Muskeln taub machte, ein unheimliches Gefühl. Etwas tödlich Kaltes, ungefähr dem ähnlich, was ich mir unter den Gefühlen eines Biokonstrukts vorstellte, glitt durch meine Nervenbahnen, lautlos und glatt. Ich beobachtete den Puls in Laidcliffs Hals, fühlte meine Beine zu tauben Pfosten werden. Ich drückte die Füße fest auf den Boden, während eine eisige, metallische Schlange sich um mein Rückgrat wand. Ich hatte keine Gedanken, keinen Plan im Kopf. Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Ich fühlte völlige Ruhe. Frieden. »Johnny«, sagte Laidcliff, das Wort liebkosend. »Ja, Sir …?« flüsterte Halton, entsetzt und hilflos. »John Halton. Indigo. Faubourg. Sali …«
Ich stieß mich mit dem Stuhl vom Boden ab, schnellte vorwärts, als würde ich von einem Schleudersitz katapultiert. Halb unbewußt fühlte ich Muskelstränge unter der Beanspruchung reißen. Mein Mund war so weit wie möglich geöffnet, und ich schrie, als ich mich auf Laidcliff warf. Ich gewann einen flüchtigen Blick auf seine erschrockenen Augen, als er sich zu mir wandte, bevor ich die Zähne in seine Kehle schlug. Mein Anprall war hart genug, um ihn vom Stuhl zu werfen. Wir fielen zu Boden. Der Stuhl, an den ich gebunden war, brach, und ich wand mich wie wild, um auf ihm zu bleiben. Ich fühlte seine Haut nachgeben, meine Zähne bissen durch, die Rundung seiner Luftröhre war unter meiner Zunge. Wie von Ferne fühlte ich meinen gebrochenen Backenknochen knirschen, als die Kiefermuskeln sich mit der Wildheit äußerster Verzweiflung verkrampften. Der Geschmack warmen Blutes, das ausnahmsweise nicht mein eigenes war, blubberte in meinen Mund, füllte meine eingeschlagene Nase, daß ich nicht atmen konnte und im Geschmack seines Blutes ertrank. Es war mir gleich. Laidcliff zappelte und wand sich, versuchte mich zu erstechen und gleichzeitig von sich zu wälzen. Seine kollabierende Luftröhre vibrierte unter meinem Mund, als er zu schreien suchte, nur ein gedämpftes Zischen bei meinem Ohr. Scharfer Schmerz stieß tief unter meinen Arm, und ich grunzte, biß fester zu. Knorpelgewebe knackte unter meinen Zähnen. Laidcliffs Beine schlugen einmal, zweimal unter mir aus und erschlafften. Ich hatte meine Zähne so tief in seine Gurgel geschlagen, wie sie eindringen konnten, biß weiter zu, unfähig zu atmen, nicht gewillt, loszulassen. Ich konnte nicht glauben, daß er tot war; ich konnte ihn
nicht so schnell getötet haben; der Scheißkerl mußte sich verstellen … »Ka Be …«, sagte Halton leise, zog an meiner Schulter. Verblüfft gab ich nach, ließ mich von Halton wegziehen. Ich würgte, spie Blut, und der Schmerz meines gebrochenen Bakkenknochens kehrte mit schwindelerregender Gewalt zurück. Aber mein Verstand schien ungewöhnlich klar. Es war erstaunlich, wie leicht es war, ihn zu töten, ich dachte nicht, daß jemand so schnell sterben konnte, wenn er gewürgt wurde, vielleicht hatte ich eine Arterie oder was durchgebissen … Aber als Halton mich von Laidcliffs Körper fortzog, bemerkte ich, daß mit dem Gesicht des toten Mannes etwas ernstlich in Unordnung war. Halton hatte beide Zeigefinger steif abwärts in Laidcliffs Augen gestoßen, die dünnen Knochen darunter durchbohrt und seine Finger tief in Laidcliffs Gehirn gegraben. Ein Auge war wie ein entleerter Wasserballon geplatzt, das andere hing am Sehnerv aus der gebrochenen Höhle, als wollte es dem toten Mann über die Schulter blicken. Haltons Hände an meinen Schultern waren klebrig. Stücke grauer Gehirnmasse mischten sich mit seinem eigenen roten Blut, wo die scharfen Kanten zerbrochener Knochen in seine Finger geschnitten hatten. Halton nahm das Springmesser und durchsägte die Stricke, die mich an den zerbrochenen Stuhl banden. Meine Hände kamen frei, als ich Schritte hörte. Ohne zu überlegen, griff ich mit beiden zerbrochenen Händen über Laidcliffs Leichnam, um die Pistole aus seinem Achselhalfter zu ziehen. Ed öffnete die Tür und nahm das Bild mit einem einzigen Blick in sich auf. Er
war klug genug, nicht nach seiner Waffe zu greifen. Es bestand keine Chance, daß er sie aus dem Halfter ziehen könnte, bevor ich ihn erschoß. »Schließen Sie die Tür«, sagte ich. Ich kniete neben Laidcliff, und meine gebrochenen, geschwollenen Hände hielten die Pistole in unsicherem Anschlag. Ich zitterte heftig, denn die hysterische Stärke verlor sich jetzt rasch. Ich konnte die Waffe kaum halten, denn meine Finger arbeiteten nicht richtig. Ich hatte meinen Mittelfinger, einen der wenigen, die Laidcliff nicht gebrochen hatte, am Abzug. Ich wußte, daß ich die Waffe nur noch wenige Augenblicke halten konnte. Er wußte es auch. Er trat ein und schloß die Tür sehr sorgfältig hinter sich. Sein Blick huschte zu Halton, dann starrte er mich aus schmalen Augen an und überlegte. Man konnte förmlich sehen, wie sich die Räder in seinem Kopf drehten, wie er mir die Waffe wegnehmen, wen er zuerst erledigen sollte, die Situation analysierte, um jede Schwäche zu nutzen. Obwohl eine Hand geschient und verbunden war, sah er gefährlich aus, ein Mann, der sich in die Enge getrieben sah, aber nicht daran dachte, klein beizugeben. Ich schoß ihn nieder. Ich erschoß ihn, weil ich müde war und Schmerzen hatte, und weil ich es für wahrscheinlich hielt, daß er Mittel und Wege finden würde, uns zu töten, wenn ich mich human verhielt und versuchte, ihn als Gefangenen mitzunehmen. Ich erschoß ihn, weil er unbequem war. Die Streupatrone der Eclipse machte einen tiefen runden Krater in Eds Brust und warf ihn rückwärts gegen die Tür. »Oh, verdammt«, murmelte er und rutschte an der Tür abwärts. Als er unten ankam und auf die Seite sackte, war er tot. Die Pistole
entglitt meinen Fingern. Halton ging hinaus und erschoß den unbewaffneten einheimischen Fahrer, der am Geländewagen lehnte und geduldig wartete, daß die zwei Amerikaner mit der Folterung der feindlichen Ungläubigen fertig würden. Durch die offene Tür konnte ich das Gesicht des Fahrers sehen, der den Mund verblüfft aufriß, bevor er wie ein Turner rückwärts über die Kühlerhaube des Wagens zu springen schien, worauf er herunterrollte und im Sand liegenblieb. Es war keine beiläufige Sache, auch war es genaugenommen keine Notwehr. Wir ermordeten die beiden vorsätzlich. Ich wußte, daß ich mir damit spätere Selbstvorwürfe und Alpträume einhandelte. In diesem Augenblick aber überwältigten die körperlichen Schmerzen einfach alle gefühlsmäßigen Erwägungen. Halton und ich verbrachten nicht viel Zeit in müßiger Unterhaltung. Er öffnete die Tür zum Nebenraum und sah Salim Farid friedlich auf einem schmalen Feldbett schnarchen. Dem alten Mann fehlte weiter nichts, aber er würde mit Kopfschmerzen aufwachen und sich und anderen eine blutige Bescherung erklären müssen. Halton fand auch Laidcliffs kleine Medizintasche. Der Satansbraten hatte gelogen; es waren noch viele Chemikalien übrig. Er hatte mit der Folter bloß seinen Spaß haben wollen, bevor er seine Zuflucht zu mehr zivilisierten Mitteln genommen hätte. Halton injizierte mir eine kleine Dosis Schmerzmittel, und sofort wurde der schlimmste Schmerz gedämpft. Im Verbandkasten des Geländewagens war wenig Nützliches, Salbe gegen Insektenbisse, Heftpflaster, Brandbinden, ein paar
Mullbinden und eine elastische Binde – die andere war bereits für Eds gebrochenes Handgelenk verbraucht worden. Halton wickelte sie ab und schiente meine gebrochenen Finger, bevor er den bewußtlosen alten Mann beiseite wälzte, um das Bettlaken in Streifen zu reißen. Der mürbe, fadenscheinige Stoff ging fast von selbst auseinander, und Halton machte Bandagen daraus, um meine blutenden Wunden zu umwickeln. Dann zog er mir Laidcliffs Hemd darüber, bis wir etwas Besseres finden konnten. Bis auf die tiefe Stichverletzung unter dem Arm, wo Laidcliff im verzweifelten Ringen das Springmesser zwischen Schulterblatt und Rippen gestoßen hatte, waren die Einschnitte alle oberflächlich. Ich mußte genäht werden, aber er hatte es vermieden, lebenswichtige Organe zu verletzen. Nachdem er meinen Oberkörper fest verbunden und umwickelt hatte, half Halton mir aus der zerrissenen und blutigen Hose und in eine von Salim Farids zu langen Hosen sowie einen zu weiten und langen Kaftan. Blut sickerte bereits durch die Bandagen, aber die toten Männer hatten ihre Kleider beschmutzt. Blut war mir lieber als Exkremente. Trotzdem würde es eine interessante Aufgabe sein, Erklärungen auszudenken. »Wohin jetzt?« fragte Halton, nachdem er mir auf den Beifahrersitz des Geländewagens geholfen hatte. Mein Körper fühlte sich vom Schmerzmittel ein wenig taub an, als ob die Schmerzen ringsum auf Abstand gehalten würden, aber mein Verstand schien ungewöhnlich klar. »Zurück nach Nok Kuzlat«, sagte ich. Halton sah überrascht aus. »Jedes Land, das freundlich zu Amerika ist, wird auch
freundlich zur CDI sein«, erklärte ich. »Wenn wir versuchen, hier die Grenze zu überschreiten, wird man uns entweder verhaften oder erschießen. Ich bin ganz sicher.« »Du brauchst ärztliche Hilfe«, sagte Halton. »Und bald.« Mein Gesicht begann unförmig anzuschwellen, meine Aussprache war behindert und ich konnte nur durch den Mund atmen. Warmes Blut aus der Stichwunde breitete sich über meinen Rücken aus. »Ich weiß. Hier werde ich sie nicht bekommen. Außerdem werden sie nicht erwarten, daß wir nach Nok Kuzlat zurückkehren.« Die Worte waren verschliffen und undeutlich. Der gebrochene Backenknochen wehrte sich knirschend gegen jede Bewegung der Gesichtsmuskulatur. »Zu Hamid«, sagte ich. Halton nickte. Wir verließen Schardamuzh und fuhren auf gleicher Strecke zurück zur Hauptstadt. Ich nickte ein und erwachte, als die Wirkung des Schmerzmittels nachzulassen begann. In der Stichwunde pulsierte ein heiß pochender Schmerz, um meinen klaren Kopf war es geschehen, und mein Gesicht war eine einzige geschwollene, schmerzende Masse. Halton mußte mir eine der Zigaretten anzünden, die ich Laidcliff abgenommen hatte, mußte mir die Zigarette sogar an den Mund halten, weil meine geschienten Finger zu geschwollen und blau waren, um irgend etwas festzuhalten. Ich sog den beißenden Rauch dankbar in die Lungen. Es war der erste Augenblick angenehmer Entspannung, der mir an diesem Tag vergönnt war, und linderte ein wenig die Benommenheit in meinem Kopf. Halton starrte mich mit einem seltsamen, verlorenen Ausdruck an. »Was ist? Was ist los?« fragte ich. »Wem gehöre ich jetzt?« fragte er ratlos.
22 EINIGE KILOMETER AUSSERHALB DER STADT zog Halton den Geländewagen von der Straße und folgte seinem eigenen Orientierungssinn querfeldein. Der Himmel war zu einem tiefen Kobaltblau gedunkelt, die ersten Sterne kamen im Osten heraus. Es war eine holpernde, quälende Fahrt, aber wir konnten die Straßensperre umgehen und gelangten auf Feldwegen in den Slumgürtel der Stadt und in die Nähe von Hamids Haus. In meinem Kopf hämmerte der Schmerz schlimmer als jeder Katzenjammer, den ich mir im Leben zugefügt hatte. Inzwischen hatte ich genug Blut verloren, daß ich fröstelte. Obwohl ich den Kaftan über Laidcliffs Hemd trug, war meine Haut kalt und klamm. Andererseits brannten meine Ohren, was ich als ein Zeichen des Schocks deutete. Wir ließen den Geländewagen in einem schmutzigen und armseligen Viertel stehen, wo er erfahrungsgemäß innerhalb der nächsten Stunden bis zur Anonymität ausgeschlachtet sein würde. Dann gingen wir zu dem kleinen Laden. Besser gesagt, Halton ging, und ich stützte mich auf seinen Arm wie eine Neunzigjährige. Irgendwie war ich hinreichend bei Besinnung, um Geräusche in der Ferne zu hören, während die Gassen in den Slums seltsam dunkel und leer waren. Ich wußte, daß hinter geschnitzten Fenstergittern und schmutzigen Scheiben ausdruckslose Augen uns beobachteten. Aber sie
würden nichts sehen. Hamid warf einen Blick in mein Gesicht und zog mich eilends durch den Laden, die schmale Treppe hinauf und in die Wohnung der Familie. Drei junge Männer, eher Halbwüchsige, standen auf, als Halton mich in das ma'gâlees der Familie halb trug und halb schob und mich sanft auf das Wohnzimmersofa drückte. »Hat Ahmad es gesendet?« fragte ich. »Still«, sagte Hamid. Er öffnete Laidcliffs Hemd und starrte entsetzt, als er die blutdurchtränkten provisorischen Bandagen sah. Ohne auf den stechenden Schmerz in meinem Arm zu achten, setzte ich mich mühsam aufrecht. »Hat er es gesendet?« »Ja, ja, alles ist getan worden, wie du sagtest. Die Sendung ist hinausgegangen«, sagte Hamid ungeduldig. »Nun leg dich hin, mein Freund.« Er begann Allahs und Jamilahs Namen mit gleicher Inbrunst anzurufen. »Hol meine Frau«, befahl er einem der Jünglinge, der sofort hinausschoß. Die beiden anderen standen hinter Hamid und lugten über seine Schultern auf mich herab. »Wir können nicht bleiben, Hamid«, sagte ich. »Wir müssen nur einen Anruf machen, dann werden wir verschwinden, bevor die Militärpolizei uns findet.« Ich hatte einen halb ausgegorenen Plan, die GBN anzurufen und um Hilfe zu bitten. »Ich kann dich nicht in noch mehr Gefahr bringen, bitte …« »Du gehst nicht, nicht in diesem Zustand«, sagte Hamid mit Festigkeit und drückte mich aufs Sofa zurück. Er machte sich daran, mir das blutgetränkte Hemd vom Rücken zu ziehen. »Wenn Allah es will, wirst du hier so sicher sein wie irgendwo
sonst.« »Wir sollten wenigstens einen Arzt rufen«, schlug Halton vor. »Sie können niemand anrufen«, sagte einer der jungen Burschen. »Die Telefonleitungen sind tot.« »Tot?« »Mit Ärzten ist nichts«, erklärte Hamid. »Alle Telefonleitungen in Nok Kuzlat sind unterbrochen, auch der Strom.« Dann bemerkte ich erst, daß das Licht von Petroleumlampen kam, die jedes Haus in den Slums für die häufigen Stromausfälle griffbereit hatte. »Die Straßen sind nicht sicher. Die Stadt ist im Chaos. Ich würde mir wegen der Polizei keine Sorgen machen; sie hat gegenwärtig anderes zu tun.« Ich versuchte mir darauf einen Reim zu machen, als seine Frau in der Tür erschien, flankiert von gaffenden Kindern. Sie sah Halton und zog den Jaschmak über den Mund, bevor sie ihn erkannte, dann starrte sie mich an, während sie den Jaschmak mit einer Hand festhielt. Ihre Augen weiteten sich, als sie mich schließlich erkannte, und sie ließ den bestickten Stoff fallen. »Barmherziger Allah!« hauchte sie. »Ich sage die Gebete, Frau. Ich brauche sauberen Stoff, Nadel und Faden. Beeil dich!« Jamilah machte kehrt und entfloh, aber die kleinen Kinder blieben da und schmiegten sich aufgeregt an die Türrahmen, um sich nichts entgehen zu lassen. »Ihr zwei, holt Fuad«, sagte Hamid plötzlich zu den Halbwüchsigen. »Aber seid vorsichtig und kommt schnell zurück.« Sie nickten und gingen. Hamid fing an, die blutigen Bandagen von meinem Oberkörper zu schälen. Ah-oh. Halton las meine Gedanken. »Das werde ich tun«, sagte er. »Könnten Sie
bitte warmes Wasser bringen?« »Natürlich, ja«, antwortete Hamid und ging. Im Hinauseilen klatschte er vor den um die Türöffnung gescharten Kindern in die Hände, als wollte er einen Taubenschwarm verscheuchen. Er brüllte nach Jamilah, was, zum Teufel, diese träge Frau aufhielt, ihr Kinder geht mir aus dem Weg, nichtsnutzige Schwerenöter … Jamilah brachte einen Armvoll sauberer Stoffe, wahrscheinlich ihre eigenen Handtücher und Bettlaken, und legte sie auf den Tisch neben der Tür. Sie hielt die Augen abgewandt und versuchte die hartnäckig ausharrenden Kinder von der Tür zu vertreiben. Bald kam Hamid mit einer großen Schüssel warmen Wassers zurück und zog sie Jamilah fort, als diese sie ihm abnehmen wollte. »Laß mich, Frau. Geh und hol mehr, mach dich nützlich.« Hamid sah sie finster an, aber seine scharfen Augen hatten gesehen, wie erschreckt sie war. Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu, bevor sie forteilte. Sobald sie gegangen war, begann er mir mit einem Schwamm das Blut von der Haut zu waschen. »Sie ist eine gute Frau«, sagte er halblaut zu mir, »aber so etwas ist sie nicht gewohnt.« Er zog die Brauen hoch und sah mich an. »Stadtfrauen sind zu feinfühlig«, erläuterte er. Einen flüchtigen Augenblick kam mir der Hamid in den Sinn, den ich früher gekannt hatte. Dann blickte er über die Schulter und schrie seine Kinder an, verdammte Rotznasen, jetzt aber weg von der Tür, oder es passiert was! Es war seltsam, meinen Freund so tief in seiner Rolle als Hamid der Krämer zu sehen. Was war aus Hamid dem Krieger und Meuchelmörder geworden, verschwiegen, grimmig und
zäh? Oder war das vielleicht immer die angenommene Rolle gewesen, und dieser mitfühlende Familienvater war schon immer der wahre Hamid gewesen. Aber wenn er fortfuhr, die blutigen Bandagen abzuschälen, würde er bald entdecken, daß ich eine eigene geheime Identität hatte, die ich gern für mich behalten wollte. Ich begann in vertraulichem Ton so gut es ging auf ihn einzureden, daß Halton ein Sanitäter im Marinekorps gewesen sei, der sich auf das Versorgen von Wunden verstehe, und ob wir allein bleiben könnten? Ich wolle mich nicht vor meinem guten Freund beschämen, wenn ich wie ein Kind weinte, wenn meine Wunden genäht wurden. Halton zog bereits eine weitere Spritze mit Schmerzmittel aus Laidcliffs Tasche auf und handhabte die medizinischen Materialien wie ein Profi. Hamid, verständnisvoll wie er war, zog sich zurück und schloß die Tür ohne zu protestieren. Ich konnte ihn draußen herumstampfen und knappe Befehle ausgeben hören, um seine Besorgnis zu verbergen. Laidcliff hatte es an Verzierungen nicht fehlen lassen, und Halton brauchte einige Zeit, um die Schnitte zu nähen. Die Injektion betäubte den schlimmsten Schmerz, aber er hatte nichts für örtliche Betäubung. Es tat höllisch weh, und ich bin kein zäher Cowboytyp, wie man ihn aus dem Fernsehen kennt, der in würdigem Schweigen die Zähne zusammenbeißt. Außerdem konnte ich nicht zu fest auf irgend etwas beißen, da Laidcliff Sorge getragen hatte, daß ich meinen künftigen Zahnarzt zu einem reichen Mann machen würde. Ich konnte nur daliegen und wimmern, während Halton sein Werk verrichtete. Ich versuchte an mich zu halten, so gut ich konnte, nachdem ich
gesehen hatte, wie die Tränen über sein stoisch blickendes Gesicht rannen, während er konzentriert und sorgfältig die Stiche setzte. Ich versuchte an anderes zu denken. »Du hast gelogen, John«, schnaufte ich. Er war auf seine Nadelarbeit konzentriert. »Du sagtest Laidcliff, du wüßtest nicht, wo die Magazinkassette ist.« »Ich wußte es nicht«, sagte er ohne weitere Erklärung. »Doch, du wußtest es. Du wußtest, daß ich sie Mahmud gab.« »Er fragte mich, ob ich wüßte, wo sie war, aber nicht, ob ich wüßte, wer sie hatte.« Er steckte die Nadel durch die Haut am Wundrand und versuchte sie der Haut auf der anderen Seite anzugleichen. Aus dem Schnitt sickerte frisches Blut. Ich hielt die Fingerspitzen einer verbundenen Hand an seinen Arm und unterbrach die Arbeit. Er blickte mir fragend in die Augen. »Du nimmst alles so verdammt buchstäblich«, sagte ich. Er starrte mich nüchtern an. »Gott sei Dank.« Ich konnte ihn in diesem Augenblick nicht gut küssen, also legte ich meine Hände, die in ihrer Umwicklung die Größe von Baseballhandschuhen hatten, um seine Hand und legte sie mit den chemischen Sensoren der Handfläche an eine unverletzte Stelle meines Körpers. Ich weiß nicht, ob es so etwas wie Dankbarkeitspheromone gibt, aber er verstand auch so. Die obszönen Graffiti, die Laidcliff in Brust und Bauch geschnitten hatte, bildeten rasch wieder rote Linien nachsickernden Bluts, nachdem Halton die Schnitte genäht hatte, und alle Finger bis auf einen waren einfache Brüche. Gleichwohl bedurften mein Gesicht und die tiefe Stichwunde unter dem Schulter-
blatt bald richtiger ärztlicher Behandlung, denn Halton konnte nicht viel für diese Verletzungen tun. Er mußte sich damit begnügen, ein zusammengelegtes Bettlaken über die Stichwunde zu binden und so fest zu verknoten, wie es ihm möglich war, ohne mir die Rippen zu brechen. Dann knüpfte er eine Doppelschlinge, daß ich meine gebrochenen Hände wie eine Mumie unbeweglich vor der Brust hielt. Das würde für ein paar Stunden ausreichen, hoffte ich. Hamid kehrte mit zweien der jungen Burschen und Ahmad zurück. Die dunklen Augen des Jungen brannten vor Zorn, als er mich sah. »Wir machten alles, wie Sie es angeordnet hatten«, sagte er. »Mahmud fand das Portanet. Sie hatten es die Treppe hinuntergeworfen, als sie fanden, daß es leer war, aber wir konnten es wieder betriebsfertig machen. Ihr Freund in Kairo hat die Aufzeichnung bekommen und weitergegeben. Er sagt, sie sei an mehreren Orten und in Sicherheit. Er sagt, er verstehe.« »Und die Magazinkassette?« »Wir haben sie verbrannt.« Er zog die geschmolzene Verkleidung der dünnen Kassette aus der Tasche und legte das Stück, das mir so viel Ärger eingetragen hatte, sorgfältig auf den kleinen Tisch. »Majid ist tot«, sagte er zu Hamid. Ich schloß die Augen. »Sie hatten ihn für die Verhöre unter Drogen gesetzt, und er war zu langsam, als sie das Gefängnis aufbrachen. Die Wachen erschossen ihn.« Hamid nickte bloß. »Es ist meine Schuld«, murmelte ich, den Blick auf den verkohlten Überresten der Magazinkassette. »Er starb für dies.«
»Ich weiß«, sagte Hamid. Er machte mir weder einen Vorwurf, noch sprach er mich von Schuld los. Es war niemals so einfach. Ein kleiner Junge, ein halbnackter schmutziger Bengel, einer von Tausenden, die durch die Gassen von Nok Kuzlat schwärmten, drängte sich zur Tür durch und spähte herein. Sofort stand Hamid auf, zog das Kind beiseite und befragte es mit leiser Stimme. Der Junge nickte schnell und verschwand wieder. »Der Palast wurde vor fünfzehn Minuten eingenommen«, sagte Hamid. »Der Scheich ist nicht zu finden.« Er blickte bedeutungsvoll zu einem der jungen Burschen. Der nickte und schlüpfte stumm davon. Hamid schaute mich an und lächelte freundlich. Seine Mundwinkel zogen sich aufwärts unter seinen ergrauenden Schnurrbart. »Die Regierung hat die Stromversorgung und die Telefonleitungen unterbrochen«, sagte er, »weil sie denkt, das sei genug, um die Stadt zu lähmen. Sie sind alle wie mein Sohn, vergessen die alten Methoden.« Ahmad schien nicht bekümmert. Er wirkte älter und reifer als ich ihn kennengelernt hatte, der pubertäre Groll auf alles und jeden war aus seinen dunklen Augen geschwunden. »Was wissen alte Männer von Computern und Elektronik? Das ist für junge Männer. Die alten Männer haben andere Mittel zur Verständigung, die keine Elektrizität oder Telefone brauchen. Aber zusammen …« Er legte einen Arm um Ahmads Schulter und lächelte stolz auf seinen Sohn, ließ den Rest ungesagt. Plötzlich sah ich, wie sehr der verschlossene junge Bursche dem Hamid ähnelte, den ich einst gekannt hatte.
»Wo ist mein Portanet?« fragte ich Ahmad. »Unten. Es ist in Sicherheit.« Ich lächelte, was ich seit einer ganzen Weile nicht mehr getan hatte. Es schmerzte. »Würden Sie es gern behalten, Ahmad? Sie und Ihre Freunde. Möchten Sie nicht eventuell der erste Chef der GBN-Niederlassung in Nok Kuzlat werden?« Der Junge zwinkerte verwirrt, dann sah er mich groß an, erkannte sofort die Möglichkeiten. »Sie filmen und senden Ihre eigenen Geschichten, machen Reportagen über die Neuigkeiten hier in Khuruchabja. Was Sie wollen und wie Sie es wollen.« »Ja!« sagte er inbrünstig. »Wir könnten der Welt die Wahrheit zeigen, ja Inscha'allah; wir werden uns gegen jene wehren, die uns mit ihren dreckigen Lügen und ihrer Tyrannei versklavt halten wollen …« Ich erkannte die Rhetorik von Ibrahims Propagandaflugblättern. In seine Augen kam ein missionarischer Glanz. Ich hatte diesen Ausdruck in der Vergangenheit viel zu oft gesehen. Ich schüttelte den Kopf. »Nur ein paar Worte guten Rats, mein Freund. Seien Sie vorsichtig. Seien Sie fair.« Seien Sie objektiv, hörte ich Arlando sagen. »Es hat keinen Sinn, wenn Sie alle bereit sind, als junge Märtyrer für die Sache zu sterben, wenn die Sache am Ende niemanden mehr hat, der für sie lebt. Und geben Sie acht, daß Sie in ihrem Eifer, die Welt von Übel und Ungerechtigkeit zu befreien, nicht zu einem ihrer eigenen Feinde werden.« »Ich verstehe«, sagte er rasch. Nein, er verstand nicht; er sagte die Worte nur, um mich zu beruhigen. Aber sein Vater verstand. Hamid nickte bedächtig, die Hand fest auf Ahmads Schulter. »Wir verstehen, Ka Be.« Ahmad
würde es nicht gefallen, nicht gleich. Aber wenn er Glück hatte, würde er heranwachsen und lernen. Vielleicht würde er es sogar zu einem guten Journalisten bringen. Jamilah war mit sauberen Kleidern zurückgekommen, einer Qabah und westlichen Männerhosen. Ich schüttelte den Kopf. »Das Gerät ist nicht ganz ein Geschenk Hamid«, sagte ich. »Ich brauche dafür ein Frauenkleid.« Hamid erschrak, war voll Zweifel. »Du wünscht dich als eine Frau zu verkleiden?« »Das ist früher schon von besseren Männern als mir getan worden, Hamid«, erinnerte ich ihn. »Gibt es eine bessere Art, mich zu tarnen? Sie werden nach zwei Männern Ausschau halten, einem mit Verletzungen wie meinen.« Ich zeigte mit einem Finger, der aus einer Schlinge schaute, zu meinem blutigen, zerschlagenen und aufgeschwollenen Gesicht. »Aber wer wird sie sehen, wenn sie hinter aba'ayah und Jaschmak verborgen sind? Und wenn ich zwei Veilchen habe, nun, das ist eine Privatangelegenheit der Frau mit ihrem Ehemann, w'alah, nicht wahr?« Hamid blickte ungewiß zu Halton, der knapp zurücklächelte und auf markundi, im Dialekt der südlichen Bergbewohner, sagte. »Ich würde auch um eine einfache Männerkleidung bitten, mein Freund«, sagte er. »Etwas, das die Militärposten an der Grenze nicht für ungewöhnlich halten werden. Vielleicht auch einen kleinen Sack mit Proviant, den ich tragen kann, Papiere zum Vorzeigen.« Hamid war überrascht und beeindruckt. Er nickte. Ja, dachte er, ich war klein und dunkel. Eine Frau würde nicht sprechen; mein fürchterlicher Akzent würde unbemerkt bleiben. Er
lächelte, die Kühnheit des Plans erheiterte ihn, und der Gedanke, daß ich mich als Frau ausgeben könnte. Jamilah brachte eines ihrer älteren Kleider, voluminöse und schwere Winterwolle. Aber Hamid ließ nicht zu, daß sie mich berührte, und die beiden Männer versuchten das hennagefärbte Kleidungsstück um meinen Körper zu drapieren, fummelten um meine geschienten Hände und die in Schlingen fixierten Arme, um das Kleid zu ordnen, während Jamilah nervös dabeistand. Ich keuchte vor Schmerzen, als Hamid unabsichtlich meinen gebrochenen Backenknochen anstieß, als er den Jaschmak um die Ohren befestigte. »Mein Gemahl, bitte«, sagte Jamilah endlich frustriert. »Das ist nicht ganz richtig. Dies sind Frauendinge. Darf ich …« Er winkte ungeduldig, und sie trat vor mich hin, um das Kopftuch und den dicken bestickten Schleier vor meinem Gesicht richtig anzuordnen. Ihre Finger streiften meine Wange, und einen Augenblick sahen wir einander in die Augen. Sie wußte es – in diesem Augenblick verstand sie. Ihre Augen weiteten sich ein wenig. Sie nickte fast unmerklich mit der winzigsten Andeutung eines Lächelns. Ich fragte mich, ob sie es Hamid später erzählen würde. Wir blieben bei ihnen, tranken Tee, und ich ruhte aus, soweit es mir möglich war. Über Hamids Netzwerk junger Männer und zerlumpter Straßenjungen trafen ständig Nachrichten ein. Der Palast war besetzt, wurde aber von der Armee belagert, blutige Kämpfe tobten in den Hauptstraßen. Inwieweit Hamid in den Aufstand verstrickt war und mit der Koordination zu tun hatte, wußte ich nicht, und ich fragte nicht danach. Ich wollte mich auf nichts mehr einlassen.
Ich hatte geschlafen. Nur die Schmerzmittelinjektionen drängten den Schmerz weit genug zurück, daß ich in unruhigen Schlaf fallen konnte. Kurz vor Sonnenaufgang fuhr einer der jüngeren Männer uns in die Berge des Südens und bis ins Grenzgebiet. Die Landstraßen um die Hauptstadt waren voller Flüchtlinge, die den Kämpfen zu entkommen suchten, aber nicht allzu weit vor der Stadt in behelfsmäßigen Lagern zu beiden Seiten der Straße abwarteten. Dort saßen sie in ihren Fahrzeugen, lauschten den Radiomeldungen, rauchten und klatschten. Mütter wiegten ihre Kinder in den Armen vor Campingkochern, und alle warteten, um zu sehen, ob es notwendig sein würde, noch weiter aus Nok Kuzlat zu fliehen. Aber bisher war es noch zu früh, daß Flüchtlinge im Grenzgebiet eintrafen und im Nachbarland Zuflucht suchten. Die Kämpfe hatten die ländlichen Provinzen nicht erreicht, und niemand wußte, ob und wie weit die Unruhen in der Hauptstadt sich ausbreiten würden. Dörfer erwachten schläfrig zum Leben, während wir hindurchfuhren, vereinzelt sahen wir Licht in den Fenstern, niemand schien in Sorge zu sein. Drei Kilometer vor der Grenze setzte der junge Mann uns in einer Ortschaft ab, wo täglich ein Bus mit Wanderarbeitern über die Grenze ins Nachbarland fuhr, wo Geld und Arbeit reichlicher waren. Wir stiegen in den bereits vollen Bus, der schaukelnd und holpernd auf ungeteerter Bergstraße zur Grenze ächzte und hielt. Die khuruchabjanische Seite des Grenzpostens war leer; anscheinend hatte die der Armee unterstehende Grenzwache ihre Posten abgezogen. Ihre Nachbarn hatten jedoch die Wachen
verdoppelt, und im Dunst des frühen Morgens sah ich Panzerfahrzeuge zur Sicherung des Paßüberganges die schmale Straße heraufkommen. Wir mußten alle aussteigen und uns zur Überprüfung der Papiere vor zwei mit Maschinenpistolen bewaffneten Grenzpolizisten aufstellen. Halton und ich hinkten hinter die Wanderarbeiter. Ich blieb in respektvoller Distanz hinter Halton, hielt den Kopf gesenkt und hatte meine Mitte mit zusätzlichen Kleidern gepolstert, um den Eindruck einer Schwangerschaft zu erwecken. Der Grenzpolizist sah mein Brillenhämatom und das zugeschwollene Auge und lachte über Haltons sorgfältig vorgetäuschte Verdrießlichkeit. Er nahm die Papiere aus Haltons schmutziger Hand mit den schwarzgeränderten Nägeln und prüfte unsere Tagesvisa, abgenutzte Dokumente mit aufgeklebten Fotos unserer Gesichter auf der Rückseite. Die Aufnahmen waren sorgsam mit Fett behandelt worden und ziemlich undeutlich; man sah nicht viel mehr, als daß es Allerweltsgesichter waren. Er blinzelte uns prüfend an, nicht als ob er argwöhnte, daß die Papiere gefälscht seien, sondern um zu sehen, ob es der Mühe wert sein könnte, uns zu schikanieren. Das Herz klopfte mir im Halse, als er Haltons kleines Tagesgepäck durchsuchte und die wenigen Münzen beschlagnahmte, die er darin fand. Dann winkte er uns durch, und wir durften den Bus wieder besteigen. Ich war als Frau nach Khuruchabja gekommen, die sich als Mann verkleidet hatte. Ich verließ es als eine Frau, die als ein Mann verkleidet war, der sich als Frau verkleidet hatte … Da soll einer nicht schizophren werden!
23 WIR NAHMEN DEN BUS bis zur Endstation und stiegen mit dem Rest der ungewaschenen Pendler aus, die zu den Feldern zogen, wo sie als Erntehelfer arbeiteten. Sie wandten sich in die eine Richtung, wir in die andere und gingen langsam die langen Kilometer zu einer relativ zivilisierten kleinen Stadt. Es gab kein amerikanisches Konsulat, wo wir hätten Zuflucht finden können, selbst wenn ich dem Personal, das gewöhnlich zu einem guten Teil aus verkappten CDI-Agenten bestand, vertraut hätte. Außerdem waren die diplomatischen Beziehungen zu diesem Land seit mehreren Jahren wieder abgebrochen. Aber die Vereinten Nationen betrieben eine kleine Klinik am Rand der Stadt: zwanzig oder fünfundzwanzig ArmeeFeldbetten in einem Raum, jedes von ihnen belegt, einige mit mehr als einem Patienten. Es gelang Halton, mich bis dorthin zu bringen, bevor ich ohnmächtig wurde. Der einzige Arzt, ein junger, überarbeiteter Inder, schnalzte mißbilligend mit der Zunge und bedachte Halton mit einem Blick stummer Anklage. Aber er stellte keine Fragen, während er die Finger beider Hände eingipste und meine Stichwunde nähte, während ich die anderen unter dem Vorwand der Schicklichkeit bedeckt hielt. Für ihn war ich bloß eine von vielen glücklosen Bauersfrauen, die in einer gewalttätigen Kultur gefangen waren.
Vorsichtig tastete er meinen gebrochenen Backenknochen ab und murmelte dazu in frustriertem Hindi. Mir war klar, daß ich eine geschickte Gesichtschirurgie nötig hatte, für die er nicht die Ausrüstung und wahrscheinlich nicht die Spezialkenntnisse hatte. Er gab mir die Adresse einer chirurgischen Klinik, die als wohltätige Einrichtung von der Organisation Ärzte ohne Grenzen in Tanrasda betrieben wurde, sechshundert Kilometer entfernt. Er konnte nicht mehr tun als mein Gesicht so gut wie möglich zu verbinden und mir Schmerzmittel zu geben. Nachdem er einen Plastikschlauch zur Drainage etwaiger eitriger Infektionen gelegt hatte, verband er die Stichwunde neu und gab mir eine Flasche mit Antibiotika. Dazu instruierte er mich in einem Ton, wie man ihn bei einem besonders begriffsstutzigen Kind gebraucht, über die richtige Einnahme. »Du mußt in vier Tagen wieder kommen und den Schlauch entfernen lassen. Verstehst du mich?« fragte er in seinem halb ärgerlichen und halb resignierten Singsang. »Wenn du wieder kommst, gebe ich dir mehr Pillen, dann wird es dir besser gehen …« Ja, ja, versicherten wir ihm, und er seufzte, da er nur zu gut wußte, daß wir nicht zurückkommen würden. Dann bedankten wir uns und machten, daß wir weiterkamen. Wir fanden ein billiges Hotel, eine jener heruntergekommenen Herbergen, die auf einheimische Mekkapilger eingestellt waren. Ich hatte eine Handvoll Khuru-Rials und eine begrenzte Menge Euros, die uns noch geblieben waren, in den um meinen Leib gewickelten Kleidern versteckt. Hier konnten wir die Rials nur als Toilettenpapier benutzen. Halton legte mich in das einzige schmale Bett und ging die Hälfte der Euros zu einem
erpresserischen Umrechnungskurs gegen einheimische Währung tauschen. Er nahm auch das rote khuruchabjanische Wollgewand mit seinem schönen bestickten Jaschmak und verkaufte es auf der Straße für ein paar Münzen und eine gewöhnliche schwarze aba'ayah aus Baumwolle, benutzt und unauffällig. Anonym. Obwohl wir sparen mußten, bezahlten wir den Luxus eines eigenen Zimmers. So primitiv es war, hatte es als einziges einen alten, an die Wand geschraubten Münzfernsprecher mit abnehmbarem Hörer. Mit meiner letzten Kraft führte ich eine Anzahl Ferngespräche, aber nicht mit meinem GBNKontaktmann in Kairo, Arlando oder anderen Kollegen, da ich damit rechnen mußte, daß die CDI mittlerweile alle überwachen würde. Sie sollten die Botschaft, was als nächstes zu tun sei, aus indirekten Quellen erhalten. Dann überließ ich Halton alles weitere. Während ich fiebrig in dem klumpigen, verlausten Bett lag, abwechselnd schwitzend und fröstelnd, war mir klar, daß Ungewöhnliches geschah. Die einzigen, die von der Magazinkassette gewußt hatten, waren Laidcliff und sein Kollege Ed gewesen. Aber sobald das Original kopiert worden und an die Sicherheitsdepots gegangen war, war eine Kopie direkt an die CDI-Zentrale nach Washington gegangen, adressiert an das ›Verantwortliche Hauptarschloch‹. Nach den Unruhen zu urteilen, die in Nok Kuzlat ausgebrochen waren, hatte die Kopie mit Sicherheit jemandes Aufmerksamkeit gefunden. Ich war nicht in der Verfassung, irgendwohin zu gehen. Während ich schlief, bis an die Kiemen vollgepumpt mit schmerzstillenden Mitteln, durchwanderte Halton die Straßen,
lauschte den aufgeregten Gerüchten. Die Geschichten waren widersprüchlich und oft entstellend, aber es bestand kein Zweifel daran, daß in Khuruchabja der Teufel los war. Am dritten Tag ging mein Fieber zurück, und ich fühlte, daß ich über dem Berg war, denn trotz der Schmerzen war ich hungrig. Das Hotel hatte eine kleine Küche im Erdgeschoß, dazu einen gemeinsamen Speiseraum neben dem Eingang mit dem Empfangstresen. Das Essen war grauenhaft und unverschämt teuer. Gelegentlich kam ein Huhn hereinspaziert, gluckte und pickte die vom Tisch gefallenen Reste seiner vormaligen Stallgefährtin auf. Die Hotelgäste drängten sich zu den Mahlzeiten um die Tische, verbrachten aber die meiste Zeit damit, zu einem Fernseher mit flacher Bildröhre zu starren, der erhöht in einer Ecke auf einer Konsole stand. So konnten sie den ranzigen und halb verdorbenen Geschmack der stark gewürzten Speisen überspielen, die sie in sich hineinschaufelten. Das Hotel nutzte alle Fernsehkanäle, die es empfangen konnte, und die khuruchabjanischen Nachrichten kamen zusammenhängend, wenn auch nicht klar herein. Vermischt mit Meldungen weltweit operierender Nachrichtendienste wie CNN und GBN, blieben die Meldungen und Reportagen skizzenhaft. Aus dem wortreichen Durcheinander der Nachrichten stückte ich mir nach und nach ein Bild des Geschehens zusammen. Der Erzengel Gabriel hatte seinen Mahdi gefunden. Die Künstliche Intelligenz hatte still in den Datensystemen gelauert, bis Jussefs Ausschaltsignal sie aktiviert hatte. Dann hatte sie auf der Suche nach dem Auserwählten einen elektronischen Wirbelwind verursacht, der die allgemeine Verwirrung und Unruhe
in Nok Kuzlat verstärkt hatte. Der falsche Scheich Larry verschwand innerhalb von Stunden, nachdem die Kopie der Magazinkassette die CDI-Zentrale erreicht hatte. Die Armee hatte versucht, einen Staatsstreich zu inszenieren. Jemand hatte Elektrizität und Fernsprechnetz in der Hauptstadt ausgeschaltet, nicht um die Kommunikation zwischen Rebellenfraktionen zu ersticken, sondern in einem Versuch, die Unruhe stiftende Künstliche Intelligenz zu töten, die in das Datensystem der Regierung eingedrungen war. Es hatte nicht geholfen. Sobald Gabriel entkommen war, konnte das Verkorken der Flasche den Geist nicht mehr bannen. Ich vermutete, daß es höchstwahrscheinlich Abdullah gewesen war, der seinen Erkennungscode geknackt hatte. Während des Höhepunkts der Revolte war Gabriel in all seiner Pracht in einer Moschee erschienen, und irgend jemand war vorgetreten und hatte die richtigen Losungsworte gesagt. Darauf schien Gabriel ihn vor den verblüfften Augen der Gläubigen als den legitimen Nachfolger von Scheich Larry auf den Thron von Khuruchabja anerkannt zu haben, als einen echten Nachkommen des Propheten Mohammed. Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit, Geburtshelfer einer islamischen Renaissance, als den einstigen und künftigen Mahdi. Der Erwählte war – wie könnte es anders sein – Ibrahim alRuwala. Jemand hatte den Vorgang mit einer Videokamera festgehalten, und selbst die wenigen wackligen, unscharf eingestellten Augenblicke, aufgenommen vom Eingang über Hunderte von Köpfen hinweg, vermochten etwas von der beeindruckenden, überirdisch wirkenden Erscheinung einzufangen, die von der
Künstlichen Intelligenz erzeugt worden war. Nach dieser wundersamen Offenbarung verschwand Gabriel für immer in einem Ausbruch strahlenden himmlischen Lichts. Die Programmierung der Künstlichen Intelligenz zerstörte sich selbst und hinterließ keine Hinweise darauf, daß dies weniger als ein echtes Wunder gewesen war. Das Land geriet in Raserei. Der Aufruhr breitete sich aus wie Wellenriffel auf einem See. Pilger, die auf dem Weg nach Mekka waren, entschieden sich für einen Umweg zur Moschee in Nok Kuzlat, um zu sehen, wo die Erscheinung aufgetreten war. Dort konnten sie darüber streiten, ob dies wirklich ein Wunder gewesen sei oder ein Schwindel, und was es in diesem oder jenem Fall zu bedeuten hatte. Für mich bedeutete es unter anderem, daß die CDI es schwer haben würde, den Deckel auf dem Topf zu halten. Und das würde ihr hoffentlich so viel Kopfzerbrechen bereiten, daß sie nicht viel Energie erübrigen konnte, um Halton und mir auf der Fährte zu bleiben. Am vierten Tag zog Halton die Fäden und die Drainage aus der Wunde unter meinem Schulterblatt. Danach gab er sich mit einem leichten Klebeverband zufrieden. Der Bruch meines Backenknochens begann zu verheilen und hinterließ mein verfärbtes Gesicht nach Abklingen der Anschwellung seltsam abgeflacht, auch hatte ich jetzt ein ständig rinnendes Auge. Die Schmerzen waren noch immer stark, aber der Heilungsprozeß machte rasche Fortschritte. Aber wir durften unser Versteck nicht verlassen, solange die CDI nicht wußte, welches Druckmittel ich in meiner gebrochenen kleinen Faust hielt. Halton mußte wählen, während ich den Hörer unbeholfen in der eingegipsten linken Hand hielt. Nach langwierigen Diskussio-
nen und Erklärungen gegenüber verschiedenen internationalen Fernsprechvermittlungen kam ich mit Hilfe einer gesicherten Leitung der GBN durch. Es knisterte und zischte, während ich wartete, bis der Anruf durchgestellt wurde. Halton saß auf der Bettkante, unser kleines Gepäck stand bei der Tür bereit, so daß wir gehen konnten, sobald ich einhängte. Eine kühle Frauenstimme meldete sich. »Ja, guten Tag«, sagte ich in meiner besten professionellen Stimme. »Würden Sie mich bitte mit dem Verantwortlichen Hauptarschloch verbinden?« Sie machte nicht einmal eine erschrockene Pause. »Einen Moment bitte.« Sie hatten meinen Anruf erwartet. »Ka Be Sulaiman?« sagte eine tiefe männliche Stimme. Eine wundervolle Stimme, die Wärme, Zuversicht und Vertrauen ausstrahlte. »Sie haben es auf Anhieb erraten«, sagte ich. »Sie müssen das Hauptarschloch sein.« »Miss Sulaiman«, sagte die sympathische Stimme glatt, »ich denke, es hat ein ernstes Mißverständnis gegeben …« »Ach du lieber Himmel«, sagte ich enttäuscht. »Sie müssen das gleiche College besucht haben wie ich. James Cagney, Mediengeschichte 201, stimmt's?« Am anderen Ende entstand eine verdutzte Pause. »Vielleicht war es James Coburn. Ich kann mich nie genau erinnern.« »Miss Sulaiman, ich bin sehr erleichtert, daß Sie angerufen haben. Ich halte es für äußerst wichtig, daß wir uns aussprechen …«
Ich wußte, daß sie versuchen würden, mich so lange wie möglich an der Leitung zu halten, um die GBN-Abschirmung zu durchbrechen und der Herkunft des Anrufes nachzugehen. Nicht, daß es einen großen Unterschied machte. Solange ich mich in einem feindlichen Land aufhielt, war ich vor der CDI sicherer als in den guten alten USA. »Dann sprechen Sie schnell, denn sobald ich aufhänge, sind wir fort. Die einzige Frage ist, welche Richtung wir als nächstes einschlagen.« »In Ordnung«, sagte die Stimme. »Wir sind beide vernünftige Leute. Ich bin bereit, zu verhandeln. Sicherlich können wir zu einer für beide Seiten annehmbaren Regelung kommen …« Ich schnitt ihm das Wort ab. »Offensichtlich haben Sie die gleichen dummen Spionagefilme gesehen wie ich. Es gibt nur einen Handel: Sie lassen uns in Ruhe, ich lasse Sie in Ruhe. Nehmen Sie an oder lassen Sie es bleiben.« »Mit ›uns‹ meinen Sie vermutlich sich und unser Biokonstrukt.« Halton, der mit einer Handvoll Münzen zum Nachwerfen neben mir stand, hatte gute Ohren und reagierte mit einem sichtbaren Schaudern. Ich hielt den Hörer an meine aba'ayah und murmelte hastig: »Mach dir nichts daraus, John. Sie können dir nichts mehr anhaben.« Dann sagte ich in den Hörer: »Ja, ich meine John Halton. Er ist mein. Ich beanspruche ihn. Finderlohn. Haben Sie etwas dagegen?« »Überhaupt nicht«, sagte Mr. Samtpfötchen mit gewinnendem Tonfall. »Wenn Sie mir erlauben, mit ihm zu sprechen, kann ich ihm versichern, daß alles in Ordnung ist und er Sie als die gesetzlich registrierte Eigentümerin betrachten sollte …« Ich lachte hart und ohne Heiterkeit. »Laidcliff ist tot. Aber
vorher zeigte er mir mit ein paar interessanten Kniffen, wie der Hase läuft. Sie können die Papiere mit der Post schicken, wenn Sie wollen. Das sollte ausreichen.« Er machte eine weitere Pause, etwas länger als zuvor. »Miss Sulaiman, ich denke, Sie sollten wissen, daß Cullen Laidcliff nicht in meinem Auftrag und vollständig außerhalb unserer Autorität handelte.« Es mochte sogar zutreffen, aber es war auch die typische CDI-Taktik, alle Kenntnisse von Laidcliffs Aktivitäten zu leugnen, nachdem der Agent so rücksichtslos gewesen war, ihnen wegzusterben. Ich fragte mich, auf welcher Seite des Schismas Mr. Schleimig stand, sagte mir dann aber, daß es für mich oder Halton keinen wesentlichen Unterschied machte. »Laidcliff war außer Kontrolle«, fuhr der CDI-Mann fort. »Er mißbrauchte seine Autorität und verwendete seine Biokonstrukte illegal für eigene Zwecke. Als wir darauf aufmerksam wurden, waren Sie unglücklicherweise bereits hineingezogen worden. Ich wünschte, ich könnte Sie überzeugen, wie sehr wir das bedauern.« Sicher. Verwechseln Sie Unfähigkeit nicht mit Verschwörung. »Selbst wenn das wahr sein sollte, hat mir noch keiner von Ihnen irgendeinen Grund gegeben, Ihnen zu vertrauen – außer John«, sagte ich kalt. »Ich verstehe Ihre Bedenken, aber ich kann Sie nicht eindringlich genug warnen, Miss Sulaiman«, erwiderte er. »Sie wissen nichts über Biokonstrukte. Ihr Leben ist sehr gefährdet. Laidcliff sabotierte ihre Ausbildung; ihre Konditionierung ist unzuverlässig. Halton ist gefährlich fehlerhaft.« Er schien ungemein besorgt um mein Wohlergehen. »Es ist nicht nur eine
Angelegenheit gestohlenen Regierungseigentums, was für sich genommen ein Verbrechen ist, wie Ihnen sicherlich klar sein wird …« Ich schnaubte. »Sie scheinen die ernste Gefahr nicht zu verstehen, in der Sie sich befinden. Die gesamte John Halton-Serie ist durch Funktionsstörungen lebensgefährlich. Er ist kein menschliches Wesen, Sie können ihm nicht vertrauen. Er könnte sich jederzeit ohne Warnung gegen Sie wenden …« Mr. Arschgeiges Stimme bekam schrille Obertöne. »Ich werde es darauf ankommen lassen.« Lange Pause. »In Ordnung.« Seine Stimme war merklich abgekühlt. »Wie Sie wollen. Es ist Ihr Hals. Was den Film angeht, so ist er für uns kein so großes Problem mehr, wie Sie zu denken scheinen.« »Dann wird es Ihnen nichts ausmachen, wenn wir ihn zur besten Sendezeit in den Nachrichten ausstrahlen, nicht wahr?« Mr. Schnatterarsch brauchte sehr lange, um das zu überdenken. Die Pause zog sich dramatisch in die Länge. »Wirklich, Miss Sulaiman, ich glaube, Sie machen mehr daraus, als wirklich …« »Passen gut auf, Ungläubiger«, sagte ich mit dem gutturalen Akzent, der in Fernsehfilmen das Markenzeichen arabischer Bösewichter und Terroristen ist, »ich haben sehr gute Bilder von imperialistischen Americhurja tun sehr schlimme Dinge. Sehen all ihre Gesichter sehr gut. Ich dies zeigen großem amerikanischen Volk, sie stehen auf und zertreten euch wie Skorpione in der Wüste, ungläubige Verräter – euer Blut rinnen wie Fluß in den Sand, vielleicht ihr haben großen Ärger mit Kon-
greß nächste Jahr, wenn nicht bewilligen Gelder …« Wieder trat eine lange Pause ein. Schließlich sagte er: »Vielleicht würde es besser sein, wenn wir übereinkämen, daß diese kleine Peinlichkeit einstweilen nicht an die Öffentlichkeit gelangt.« »Vielleicht wäre es das. Vielleicht sollten Sie darüber nachdenken, wie Sie die Schweinerei in Ordnung bringen können, die Sie angerichtet haben. Vielleicht kann ich nach Hause kommen, und Sie und Ihre Leute behelligen mich nicht mehr, wie?« Wieder gab es eine seiner theatralischen Pausen. »Hallo, hallo? Vielleicht spreche ich nicht mit dem richtigen Mann. Sie scheinen auf Erlaubnis oder was warten zu müssen …« Schließlich wurde Mr. Knatterfurz ein wenig gereizt. »Wir werden schließlich alle Kopien finden, Sulaiman«, schnarrte er knapp. Sein freundlicher, höflicher Ton war wie weggewischt. »Selbst wenn uns das nicht gelingen sollte, werden wir diese ganze Affäre bald in Ordnung gebracht haben. In ein paar Monaten, höchstens in einem Jahr, wird diese Aufzeichnung wertlos sein. Die Welt wird sich nicht darum kümmern, was in irgendeinem rückständigen fernen Land geschehen ist. Es ist bereits die Nachricht von gestern.« »Über morgen werde ich mir morgen Sorgen machen. Einstweilen ist es so, wie ich sagte, verstehen Sie? Sollte mir oder meinem Freund etwas zustoßen, werden wir alle zwei Stunden später berühmt sein.« »Ich verstehe«, knurrte er mißmutig und legte auf. »Ooh!« sagte ich und nahm den Hörer vom Ohr. »Was für ein unhöflicher Mensch. Er verabschiedete sich nicht einmal.« John hatte wieder Schwierigkeiten, mein Gefühl für Humor zu verstehen.
24 WIR BRACHEN MIT EINEM PILGERZUG AUF, der nach Mekka unterwegs war, suchten Sicherheit und Anonymität in der Menge, bogen dann scharf nach rechts und nahmen Kurs auf die Türkei. Die UN-Soldaten an der Grenze untersuchten unsere amerikanischen Pässe mit skeptischen Mienen, beäugten immer wieder die gedrungene kleine, übel zugerichtete Frau in schwarzer aba'ayah und den bäuerlichen Typ in schmutziger Pluderhose und bestickter, fleckiger Qabah. Inzwischen hatte Halton sich einen dicken Schnurrbart arabischen Stils zugelegt, der seinem Paßfoto nicht entsprach. Wir mußten in der Station der Grenzpolizei warten, bis jemand von der nächsten Zweigniederlassung der GBN aus Urfa kommen und sich für uns verbürgen konnte. Bis wir den Flughafen von Ankara erreichten, war ich in elender Verfassung. Sobald wir amerikanischen Boden unter den Füßen hatten, verfrachtete GBN mich umgehend zu einer Privatklinik nach New Mexico, während unsere Anwälte Haftbefehle abwehrten, die mich zwecks Vernehmung der Bundespolizei übergeben sollten. Ich gab meinen Bericht über die letzten Augenblicke des Exscheichs zu Protokoll und übergab ihn Arlando auf dem Krankenbett, bevor sie mich in die Chirurgie fuhren. Er argumentierte nicht mit mir über den redaktionellen Inhalt, denn er kannte alle restlichen Einzelheiten, die ich ihm aus
Khuruchabja nicht hatte mitteilen können. Aber wir diskutierten nicht die Gründe, aus denen er mich hingeschickt hatte, und ich verzichtete auf längere Erklärungen, warum ich John Halton und die Aktivitäten der CDI-Agenten in meinem Bericht unerwähnt gelassen und die besonderen Rollen gewisser anderer Personen heruntergespielt hatte. Ob er aus Rücksichtnahme auf Nachfragen verzichtete, oder ob er schon von anderer Seite informiert worden war, konnte ich nicht sagen. Immerhin verschafften mir mein zerschlagenes Gesicht und die ruinierten Hände das zusätzliche Pathos märtyrerhafter Hingabe an die journalistische Ethik der Wahrheitsfindung und das Recht der Öffentlichkeit auf Information, die zusammengenommen für eine hohe Einschaltquote gut waren. Die Bundesbehörden und ihre Vorladungen verschwanden diskret, und ich erfreute mich eines kurzen, wiederbelebten Ausbruches von Berühmtheit mit der erneuerten allgemeinen Aufmerksamkeit für das arme kleine Khuruchabja. Nachdem ich meine letzte Magazinkassette als Ka Be Sulaiman abgedreht hatte, kam ich unter das Messer. Ka Be Sulaiman wurde entfernt, und sie flickten wieder Kay Munadi zusammen. Außer Arlando und meinen GBN-Leibwächtern war John meine einzige nichtmedizinische Gesellschaft während der zwei Monate meines Klinikaufenthaltes. Wenn ich für kurze Zeit aus dem Dämmerzustand der Beruhigungsmittel auftauchte, mit denen mein Blutkreislauf die meiste Zeit gesättigt zu sein schien, war meine bandagierte Hand immer in der seinen, mein erster Anblick immer sein erleichtertes, besorgtes Gesicht. Allerdings gab es niemanden, den er für eine medizinische Untersuchung hätte aufsuchen können, obwohl wir beide
wußten, daß er geschädigt war. Als es das erste Mal offenbar wurde, hatte ich nach einer Injektion mit Schmerzmitteln dahingedämmert, während im Krankenzimmer die endlos wiederholten Nachrichtenholos liefen. John hatte am kugelsicheren Fenster gestanden und zu den Bergen in der Ferne hinausgestarrt. Ich gähnte und schaltete die Sendung mit der Fernbedienung aus. »John …?« Er reagierte nicht. Ich merkte auf und rief ihn noch einige Male leise beim Namen, bevor er endlich aufwachte. Langsam wandte er sich vom Fenster ab und sah mich an. Seine Bewegungen waren so träge, als ob er sich in Sirup befände. Sein Körper wirkte mechanisch, die Augen leblos und wieder von jenem seltsam leeren Ausdruck, der mir früher schon öfter aufgefallen war. Tödlich kalt. Unmenschlich. »John?« Diesmal flüsterte ich seinen Namen ängstlich und hilflos. Meine Hände waren noch eingegipst, und ich hätte mich nicht verteidigen können. Einen flüchtigen Augenblick lang dachte ich sogar daran, nach den Wachen vor der Tür zu rufen. Die Vorstellung, daß sie hereinstürmen und ihn niederschießen könnten, hielt mich zurück. »Halton?« Er zwinkerte, als erwache er aus einem Traum. »Ja?« »Fehlt dir was?« Er sah mich verwundert an. »Nein, natürlich nicht.« »Wo warst du eben?« Er erschrak, begriff plötzlich, daß er aus einer Trance erwacht war. »In mir«, sagte er mit einem unsicheren, ängstlichen Ausdruck. Er war nicht imstande, es genauer zu erklären. Rein körperlich wurde ihm von den Ärzten Gesundheit be-
scheinigt. Sogar die Narben der drei Einschüsse sind verschwunden. Aber hin und wieder entgleitet er in einen Zustand, der sich vielleicht als eines Biokonstrukts Version von Epilepsie bezeichnen läßt, unfähig, ihn zu beherrschen, verloren in sich selbst und ohne Bewußtsein dieses Zustandes, bis er verging. Manchmal, meint er, sei es gut für ihn, eine Einsicht wie die Entdeckung einer neuen neuronalen Verbindung. Das jedenfalls ist seine Theorie. Manchmal kommt er zitternd und ängstlich aus diesem Zustand. Die einzigen Menschen, die wissen könnten, was fehlt oder wie der Schaden zu reparieren ist, den Laidcliffs Nanos angerichtet haben, sind von der CDI. In einer absurden Weise tat Laidcliff mir einen Gefallen. Mein Gesicht war so ruiniert, daß sie den kaum zusammengewachsenen Backenknochen noch einmal brechen und von vorn anfangen mußten. Ich brauchte eine Menge plastischer Chirurgie, um die Architektur wiederherzustellen. Mein Leben lang hatte ich Chirurgen und Zahnärzte gefürchtet und mein Möglichstes getan, sie zu meiden. Nun, da ich keine Wahl hatte, dachte ich mir, gut, wenn sie schon dabei sind … Also ließ ich sie die hohen eleganten Backenknochen installieren, und die klassisch gerade, schmale Nase, die meine Mutter mir immer wünschte. Noch heute mache ich regelmäßige Überweisungen auf das Schweizer Bankkonto meines Zahnarztes, aber die Implantate, die er für die herausgeschlagenen Backenzähne einsetzte, sind weit besser als die Originalzähne. Auch an meinem Oberkörper mußte gearbeitet werden, und während sie das schlimmste Narbengewebe der Graffiti entfernten, ließ ich sie einiges Fettgewebe transplantieren, so daß mein Bauch flacher und die Brüste größer wurden. Kein noch so
großer Aufwand an plastischer Chirurgie wird mich jemals zu einer hinreißenden Schönheit machen – das wird immer im Bereich der Phantasie bleiben. Ich bin nach wie vor wenig attraktiv, um es freundlich auszudrücken, aber wenn ich mich jetzt als Mann anziehen würde, bliebe ich eine Frau, die sich als Mann verkleidet. Und mir gefällt immer besser, was ich im Spiegel sehe, seitdem auch meine Haare gewachsen sind und mein Friseur mich zu einer poppigen, frechen Frisur überredet und mir minzgrüne Strähnen hineingefärbt hat. Ich erkannte mich selbst beinahe nicht wieder. Das Komische an der Sache war, daß es für John keinen Unterschied machte. Ich fühlte mich durch seinen Mangel an Würdigung beinahe beleidigt, nachdem ich so viele Schmerzen und Mühen auf mich genommen hatte, um für ihn nett auszusehen, aber er sah wirklich keinen Unterschied. Wenn John sagt, es sei mein Verstand, der ihn verrückt mache, dann meint er es wirklich. Die Nachrichten über und das öffentliche Interesse an Khuruchabja gingen stark zurück, als die CDI sich beeilte, so viel von ihrem Schmutz, wie sie konnten, unter den Perserteppich zu kehren, nachdem sie ihren Pseudoscheich aus dem Verkehr gezogen hatte. Der lokale Klerus hatte wieder Schwierigkeiten, einen geeigneten Kandidaten zu finden, der Ibrahims Thronanspruch entgegentreten konnte, da verschiedene Bewerber den traditionellen Weg beschritten, ihre Rivalen umzubringen. Ibrahims Zukunft auf dem Thron war höchst unsicher, und die Israelis verhielten sich sehr zurückhaltend. Es sah enttäuschend danach aus, als sollte alles wieder in die alten Geleise kommen. Nach meiner Entlassung aus der Klinik verlegte die GBN uns
in ein kleines Haus innerhalb eines stark gesicherten Komplexes nahe Mount Vernon in den Vororten von Washington. Er ähnelt den Sicherheitszonen, die der Staat für MafiaInformanten, im Exil lebende ausländische Dissidenten und paranoide Politiker reserviert, die durch skandalöse Affären in Mißkredit geraten sind. Der private Komplex der GBN schützte hauptsächlich aufgeflogene ehemalige Informanten aus Regierungsbehörden und ein paar politische Flüchtlinge aus dem Ausland, die unserer Regierung nicht genehm und dabei waren, ihre Enthüllungsgeschichten zu schreiben. Und uns. Halton und ich versuchten, uns dem Leben im Sicherheitskomplex so anzupassen, wie zwei Leute, die damit rechneten, jeden Moment ermordet zu werden, sich anpassen konnten. Das Haus selbst ist angenehm genug, obwohl sein Grundstück eine eigene, elektrisch geladene Einzäunung hat. Die Grundstücke sind groß genug, um ein Haus vom nächsten abzuschirmen, aber Infrarotkameras in den Bäumen und Bewegungsmelder in den Blumenbeeten machen es zu einer Art Luxusgefängnis, von dem ich vielleicht einmal geträumt hatte, als ich die Freiheit hatte, es mir nicht leisten zu können. Wir haben persönliche Leibwächter mit gentechnisch maßgeschneiderten Wachhunden, die im Schichtdienst vierundzwanzig Stunden zur Verfügung stehen, einen Hochspannungszaun, Überwachungskameras, gesicherte Telefonleitungen, Ultraschall-Bewegungsmelder, schußsichere Scheiben und zusätzlich befestigte Außenmauern, wie man sich denken kann. Trotz alledem fühlte ich mich nicht im mindesten sicherer. John verkroch sich wie eine Schnecke, fürchtete sich, in die
Stadt zu gehen, fürchtete sich, die Tür zu öffnen oder das Telefon abzunehmen oder die Post zu lesen, lebte klösterlich abgeschieden im Haus und las wie eine depressive Hausfrau den ganzen Tag Schundromane. Trotz der Tatsache, daß ich in Khuruchabja manches verpfuscht hatte, läßt sich nicht leugnen, daß die GBN für die ihren sorgt. Daß sie uns schützte, war jedoch mehr als Altruismus oder patriarchalische Fürsorglichkeit. Uns zu schützen war für sie auch eine Investition in die Zukunft. Keine andere Journalistin auf Erden hatte ein Biokonstrukt sozusagen zu eigen, und soviel ich weiß, hat es unter den Biokonstrukten der CDI bisher nur einen Deserteur gegeben. GBN verkaufte meine geliebte Stadtwohnung für mich und ließ meine Sachen in unser neues Haus bringen. Es ist gemütlich und auch sicher, doch fehlt ihm der Charme und die Individualität meiner alten Dreizimmerwohnung mit ihren sich ablösenden Tapeten, knarrenden Dielenbrettern, tropfenden Wasserhähnen und Fenstern, die an heißen Sommertagen die Wohnung wie Brenngläser aufheizten. Ich vermisse sogar die übelgelaunte Katze meiner Nachbarin, die mit Vorliebe in meine Blumenkästen schiß. Meine Habseligkeiten scheinen hier irgendwie fehl am Platz – wie zeitweilige fremde Gäste. Wie ich. Wie wir beide. Natürlich weiß die CDI genau, wo wir sind. Wollten sie wirklich auf Biegen und Brechen an uns herankommen, würden alle Sicherheitsvorkehrungen sie nicht lange aufhalten und möglicherweise nur in vorübergehende Verlegenheit bringen. Die GBN unternahm keine Anstrengung, uns zu verstecken; sie verteidigte uns nur und sorgte dafür, daß es sich kaum lohnte,
mich oder Halton zu töten. Ein Leben auf der Flucht zu führen, klingt romantisch, ist im wirklichen Leben aber eine schwere Nervenbelastung. Wir konnten nicht mehr tun als dankbar den Schutz anzunehmen, den GBN uns gewährte. Wir wußten, daß die CDI uns beobachtete – und noch immer beobachtet. Vor allem John. Vielleicht sind sie wirklich besorgt, daß er beschädigt wurde und sich plötzlich in einen berserkerhaften Axtmörder verwandeln könnte. Wahrscheinlicher ist, daß sie keine Freude an der Vorstellung hatten, all das geheime Zeug, das John in seinem Körper herumträgt, außerhalb ihrer absoluten Kontrolle zu wissen. Aber sie schickten tatsächlich die Papiere zur Besitzübertragung, in denen ich als Johns legale Eigentümerin aufgeführt war. Ich konnte es nicht glauben, und in meine Genugtuung mischte sich der Ärger, daß sie die Papiere offen an die richtige Anschrift geschickt hatten. Es war eine weitere kleine Einschüchterung, mit der sie uns zu verstehen gaben, daß sie genau wußten, wo wir lebten. Ich erinnerte mich auch, daß Laidcliff erwähnt hatte, das Eigentum an Biokonstrukten falle mit dem Tod des eingetragenen Eigentümers an den Hersteller zurück, und ließ den Besitztitel durch die GBN-Rechtsabteilung abändern. Wie der Besitztitel jetzt abgefaßt ist, hat GBN als juristische Person ein Pfandrecht auf John, sollte ich ein unzeitiges Ende finden. Unsere Juristen versicherten mir, daß alle etwaigen Pläne der CDI, John zurückzuerhalten, indem sie mich töteten, damit wirkungsvoll durchkreuzt wären. Ich war dessen nicht so sicher; es gab nichts, was ich ihnen nicht zugetraut hätte. Die Dokumente schienen John jedoch Erleichterung zu ver-
schaffen; einige Dinge in ihm sind fest verdrahtet, und er wird ihnen nie entkommen. Ich gab ihm meine Ausfertigung des Besitztitels, und er legte ihn sorgsam zu den übrigen Papieren, die er gesammelt hat: seinen falschen Paß, seinen GBNAnstellungsvertrag, eine besondere Sozialversicherungsnummer, seine neue Mitgliedskarte der Gewerkschaft – all die Papiere, die Leute im Laufe ihres Lebens ansammeln und vergessen, bis sie sie eines Tages brauchen. Manchmal setzt er sich hin und blättert die Papiere durch, als wären es alte Liebesbriefe. Vielleicht tut er es, um ein Gefühl für die Person zu bekommen, die er geworden ist. Nachdem ich ein paar Monate herumgesessen war und mich mit Rekonvaleszenz beschäftigt hatte, beschloß ich das Rauchen aufzugeben. Ich machte uns beide mit meinen Entzugserscheinungen verrückt, dann schlich ich trübselig im Haus herum, weil es sonst nichts zu tun gab. Mein Gott, Ka Be, geh doch hinaus und spiel … Endlich nahm ich meine alte Arbeit als anonyme Nachrichtenredakteurin wieder auf, allerdings nur auf Teilzeitbasis, da ich noch in Physiotherapie war. Als Laidcliff mir die Finger gebrochen hatte, war es ihm gelungen, den Ulnarisnerv im linken Handgelenk zu beschädigen, was zu einer teilweisen Lähmung geführt und mich ungeschickt gemacht hatte. Außerdem hatte er den Trigeminusnerv im Backenknochen verletzt und ein Taubheitsgefühl in der linken Gesichtshälfte hinterlassen. Ein Teil meiner Physiotherapie bestand aus einem Satz biomedizinischer Nanos, die entlang den geschädigten Nerven injiziert wurden. Meine Finger schmerzen noch immer in kalten Nächten, und manchmal fällt es mir schwer, einen Blei-
stift zu halten. Aber wenigstens habe ich das Gefühl in meinem Gesicht zurückgewonnen, und meine Hände tun wieder, was ich von ihnen will. Aber ich mußte meine Arbeit wieder aufnehmen. Ich war von der Vorstellung besessen, meinen Namen im öffentlichen Bewußtsein zu halten, um meine Ermordung zu einem unklugen Vorschlag zu machen. Niemand wird ungestraft eine bekannte Journalistin umbringen. Aber ich stand nicht mehr im Rampenlicht der Öffentlichkeit und war in keiner Verfassung, wieder Feldarbeit zu tun, jedenfalls nicht in nächster Zeit. Ich bin mir nur zu klar bewußt, wie kurz die Aufmerksamkeitsspanne des Fernsehpublikums ist. Ich saß an meinem Redaktionsschreibtisch, sorgte mich und litt unter paranoidem Verfolgungswahn, bis Arlando mir eines Tages freundschaftlich klar machte, daß ich nicht am Bildschirm Sendungen redigieren könne, während ich gleichzeitig über die Schulter blickte. Wir waren unglücklich. Dann schlug Arlando etwas vor, woran ich selbst hätte denken sollen. Ich war trotz meines neuen Äußeren vom Typ her ungeeignet, als Moderatorin oder Redakteurin im Studio vor der Kamera zu stehen, aber warum nicht Halton? Er war von seiner äußeren Erscheinung her zweifellos geeignet und konnte in jeder Sprache moderieren, die wir brauchten. Niemand mußte wissen, daß er ein Biokonstrukt war, und die Fernsehauftritte würden ihm zu einer Sichtbarkeit verhelfen, die uns beiden einen gewissen Schutz gewährte. Ich erzählte von Johns gelegentlichen Problemen, aber Arlando wischte das mit einer Handbewegung beiseite. »Wir haben jeden Tag mit ernsteren Problemen zu tun und
bringen es fertig, daß alles nahtlos aussieht. Wenn er während der Sendung Ausfallerscheinungen zeigt, arbeiten wir außen herum. Keine Sorge.« Ich sagte, ich wolle hören, was er davon hielte, obwohl wir beide wußten, daß John tun würde, was ich ihm sagte. Arlando wollte mich nicht drängen, und ich weigerte mich, John unter Druck zu setzen. Ich erläuterte ihm den Plan, blieb dabei selbst sorgfältig neutral und überließ ihm dem Stress der eigenen Entscheidung. Er würde sich früher oder später daran gewöhnen müssen. Am nächsten Tag fuhren wir zusammen mit dem vom Leibwächter gefahrenen Wagen zu Arlando. Er lernte die für einen Moderator notwendigen Techniken und Kniffe mit der gleichen Leichtigkeit, mit der er sich diejenigen eines Kameramanns angeeignet hatte, und zwei Wochen später stand ich in der Technikgalerie hinter Penley und kaute meine inzwischen manikürten und amethystfarbenen Nägel. Penley schaltete seine Netzleitung ein, nahm ein paar Überprüfungen vor und bemühte sich, meine störende Anwesenheit nicht zu bemerken. Unter den Besuchern sah ich Arlando, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Mehr als die notwendige Zahl von Mitarbeitern war gekommen, um diesem Debüt beizuwohnen, und ich fragte mich, wie viele von ihnen wußten, was Halton war. Am Sendemonitor sprach Clark Fitch in Rio mit ernster Miene lautlose Worte; ausgeschaltete Monitore flimmerten im Halbdunkel des Studios. Unter uns saß Halton in einem hell ausgeleuchteten Kreis neben einer mäßig verstimmten Tricia Kwong. Sie war mit der Zusicherung besänftigt worden, daß
Halton nur da sei, von einer der besten das Handwerk zu lernen. Clark Fitchs Gesicht wurde abgelöst von einem kurzen LiveFilmbericht über Rebellen in Südamerika, während John und Tricia das Zeichen zum Aufnahmebeginn erhielten. Tricia setzte ihr professionelles Lächeln auf, und John schien völlig entspannt und blickte ruhig in die Kamera. Penley blickte in mein rotgetöntes Spiegelbild im Glas der Kabine und sagte mit gedämpfter Stimme: »Wenn du nicht mit dem Nägelkauen aufhörst, Munadi, schmeiß ich dich hier raus. Du machst mich nervös.« Die Erkennungsmelodie zur GBN-Eigenwerbung ertönte blechern aus dem Monitor, der für die Bildregie verantwortliche Ingenieur zeigte mit einem Finger auf das Paar im hellen Lichtkreis, und das rote Warnlicht AUF SENDUNG ging an. »Ich bin Tricia Kwong in Washington«, sagte Tricia und wandte den Kopf, um John zuzulächeln. »Und ich bin John Halton«, sagte John mit professionell polierter Stimme. Sein Gesichtsausdruck enthielt die genau richtige Mischung von persönlicher Wärme und Autorität. »Willkommen unseren Fernsehteilnehmern auf der ganzen Welt zur englischen Freitagmorgenausgabe von GBN-Weltnachrichten mit Kommentaren und Interviews.« Gott, er war souverän! »Medizinische Wissenschaftler am Johns Hopkins-Hospital verkündeten heute einen bedeutenden Durchbruch in der Erforschung des DVS-Syndroms, das so viele unschuldige Kinder das Leben gekostet hat.« John sah aus und sprach, als hätte er diese Arbeit seit Jahren getan. Ich bemerkte, daß Penley Namen flüsterte, aber John las direkt von
der Textdarstellung ab und nahm ganze Zeilen auf, ohne sich auch nur durch ein Lidzucken zu verraten. »Wir schalten jetzt live zu unserem Korrespondenten in Maryland, Will McDawney, der Dr. Victoria Czaktiz zu sich ins Studio geladen hat. Will?« Johns Gesicht verschwand vom Monitor und wurde ersetzt durch Will McDawneys blondes Engelsgesicht. »Danke, John«, sagte er und wandte sich der Frau im Arztkittel zu, die starr in die Kamera lächelte. »Dr. Czaktiz, Sie haben die DVSForschungsgruppe am Johns Hopkins-Hospital seit zwei Jahren geleitet, nicht wahr?« »Ja«, antwortete die Ärztin und löste sich aus ihrer Starre. »Wir haben an der Entschlüsselung der Gensequenz von verschiedenen DVS-Retroviren gearbeitet, die wir im Laboratorium isolierten, um einen Hemmstoff gegen die Vermehrung des Virus zu entwickeln. Endziel ist die Einfügung eines maßgeschneiderten Gens in die Sequenz des Virus, das seine schädigende Wirkung auf die menschliche Wirtszelle neutralisiert.« »Das eine, um die Krankheit zu verhindern, das andere, um sie zu heilen, ja?« sagte Will McDawney, um ihre Worte dem Publikum leichter verständlich zu machen. »So ist es. Aber wir entdeckten, daß eine aktive DVSVirusinfektion nicht nur eine spezifische krankheitsauslösende Gensequenz hat, und zu unserer Überraschung stellte sich heraus, daß nicht alle von ihnen durch die gleichen Faktoren aktiviert werden, die zum Einsetzen der Pubertät führen, was wir ursprünglich angenommen hatten. Manche Kinder können infiziert werden, ohne daß die Krankheit zum Ausbruch kommt. Es ist die Kombination von Viren verschiedener Gen-
sequenzen in Verbindung mit der hormonalen Aktivität beginnender Pubertät, welche zum Ausbruch der Krankheit führt. Während wir den Übertragungsmechanismus noch zu entdekken haben, ist es uns gelungen, die bestimmten DVS-Gene zu isolieren, die in Synchronisation mit anderen die tödliche Wirkung erzeugen …« Patricia Kwong überbrückte die Wartezeit, bis sie wieder auf Sendung ging, mit dem Ordnen der Papiere, die vor ihr lagen. Es fiel ihr nicht leicht, ihr Unbehagen hinter dem Plastiklächeln zu verbergen. Ihr Puppenspieler flüsterte ihr beruhigend ins Ohrmikrofon. John wartete einfach, folgte der Textdarstellung und beobachtete die kleinen Bildschirme unter der Kameraebene, bis sein Stichwort fallen würde. Penley saß ruhig und entspannt; nur einmal blickte er zu mir und zuckte die Achseln. Halton benötigte keine Hilfe, keine Anleitung. Tricia tat mir plötzlich leid. Biokonstrukte konnten vieles besser als wir. Während der nächsten drei Stunden stand ich hinter Penley, ballte abwechselnd die Fäuste und wischte die feuchten Handflächen am Rock ab und hätte Penley am liebsten aus dem Stuhl gestoßen und selbst die Regie übernommen, obwohl es nicht viel mehr zu tun gab als die Textdarstellung zu verfolgen und Halton die richtige Aussprache unvertrauter Namen zu geben. Es war ein ereignisarmer Morgen, nur wenige Live-Filmberichte unterbrachen die aufgezeichneten Szenen. Tricia wurde schließlich warm, und sie und John handhabten die Liveeinschaltungen, als hätten sie zusammengearbeitet, seit Zworykin die Ikonoskop-Röhre erfand. Dann war es vorbei, und im Nachbarstudio hatte die Elf-bis-
drei-Besatzung bereits ihre Plätze eingenommen. Die beiden Moderatoren wurden von ihren Anschlüssen befreit, und ich sah Tricia einen Augenblick lang steif dastehen, bevor sie John förmlich die Hand hinstreckte. Hinter der Glasscheibe konnte ich nicht hören, was sie sagte, aber ich sah sie sprechen, sah John lächeln, nicken, ihr die Hand schütteln und etwas Höfliches erwidern. Tricia sah erleichtert aus. Penley nahm den Kopfhörer ab. »Dein Junge ist in Ordnung, Munadi«, sagte er lakonisch. »Wette, er kriegt bis zum Wochenende tausend Liebesbriefe von vernachlässigten Hausfrauen.« Er bekam mehr. Bevor die parfumgetränkten Liebesbriefe grüner Witwen Haltons Posteinlauf überschwemmten, bekam Arlando einen empörten Anruf von der CDI wegen des illegalen Einsatzes von Geheimmaterial, unheilvolle Drohungen und strenge Warnungen. Arlando ließ sich nicht ins Bockshorn jagen und sagte ihnen, es gehe sie nichts mehr an. Innerhalb eines Monats waren John Haltons Einschaltquoten hoch genug. Er hatte einen guten Bekanntheitsgrad. Ich begann wieder optimistisch in die Zukunft zu blicken. Nicht lange nach Haltons Debüt bekam ich einen Anruf. Einer der Tontechniker rief mich im Redaktionsbüro an, wo ich Fingerübungen an der Computertastatur machte, bevor das extra starke Aspirin ein Geschwür in meinen Magen ätzte. »He, Munadi«, sagte er. »Da ist jemand auf Leitung vier, der nach Ka Be Sulaiman fragt. Wollen Sie den Anruf übernehmen?« Meine erste Reaktion war, daß alles Blut aus meinem Gesicht wich. Die zweite war eine jähzornige Aufwallung. Die ver-
dammte CDI hatte wirklich Nerven. Ich griff zum Hörer und drückte das Bild, ließ meins aber ausgeschaltet. »Wer ist da?« blaffte ich ins Telefon. Der Mann am anderen Ende war ein braunhäutiger Araber. Seine dunklen Augen waren überrascht geweitet, bevor er zweifelnd in den leeren Bildschirm an seinem Ende blinzelte. »Ah … Ka Be Sulaiman?« »Wer will es wissen?« Darauf lächelte er breit, und weiße Zähne erschienen unter dem dunklen Schnurrbart. »GBN Kairo Relais. Vielleicht hätte ich nach Sindbad fragen sollen …« Sein Englisch war mehr als perfekt, es war natürlich, kaum daß der Anflug eines Akzents herauszuhören war. »Ich dachte nur, ich sollte noch einmal nachfassen und mich vergewissern, ob Ihre Aufzeichnung gut durchgekommen ist.« Ich hatte ihn noch nie gesehen, noch direkt über das Portanet mit ihm gesprochen. Ich hatte nur angenommen, daß er Amerikaner sei; Araber konnten einfach nicht imstande sein, Englisch so flüssig zu sprechen, jedenfalls nicht gut genug, um Witze zu reißen. Nach einem Moment öffnete ich meinen Bildschirm. Sein Lächeln verstärkte sich, als er mich sah. »Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Ja, sie ist gut angekommen. Danke, wirklich, vielen Dank.« Dann platzte ich heraus: »Ich dachte, Sie seien Amerikaner.« Er lachte. »He, ich nehme das als Kompliment. Tut mir leid, Sie zu enttäuschen, aber ich bin Ägypter. Heutzutage arbeiten viele Ägypter in Kairo.« Er beäugte mich einen Augenblick lang, bevor er sagte: »Ich bekenne mich auch schuldig. Ich dachte, Sie
seien ein Mann.« War ich. Aber wie sollte ich das erklären. »Ich muß Ihnen sagen«, lenkte ich schnell ab, »daß Sie mir wirklich das Leben gerettet haben.« Eine Redensart, die ausnahmsweise buchstäblich gemeint war. »Ist ja fabelhaft«, sagte er. »Freut mich, zu wissen, daß alles in bester Ordnung ist.« Wir hatten die Verbindung bereits unterbrochen, bevor mir etwas einfiel. Wir zahlen unsere Schulden zurück … Konnte es sein? Mich fröstelte noch nach Wochen, wenn ich darüber nachdachte. Als ich versuchte, wieder Verbindung mit ihm aufzunehmen, war er spurlos verschwunden. Niemand wußte, wer er war oder wohin er gegangen war. Ich hatte nicht einmal seinen Namen mitbekommen.
25 JOHN GEWÖHNTE SICH AN SEINE ARBEIT, die ihm gefiel, und wir entspannten uns allmählich. Von Zeit zu Zeit wagten wir uns sogar aus unserem bewachten Ghetto (natürlich mit unseren Leibwächtern). Wir fingen an, so zu tun, als hätten wir vielleicht die Chance, ein normales Leben zu führen, eine Zukunft mit wirklicher Freiheit, als wir daran erinnert wurden, daß die CDI nach wie vor dort draußen war – man hatte uns nicht vergessen und wünschte nicht, daß wir sie vergessen würden. John und ich waren in der Stadt einkaufen und standen in einem Kaufhaus, wo es alles für das zeitgenössische amerikanische Heim gab. Ich wandte mich zu John und sagte: »Du, was hältst du von diesem?« und blickte auf. Aber es war nicht John. Es war Johns Größe und Johns Gestalt, sogar eine starke Ähnlichkeit im Gesicht, aber es war nicht John. Er sah auf mich herab, und in kalten blauen Augen sah ich endlose arktische Ödländer. Er strahlte eine unmenschliche Kraft aus, glatt und tödlich. Er hatte das gleiche kleine Lächeln, das ich so gut kannte. Ich stand wie gelähmt, hielt einen für die moderne Küche absolut unentbehrlichen Gegenstand in den Händen. Eine warme Hand nahm mich beim Arm, und John, mein John,
stand neben mir und musterte schweigend den anderen. Ich zitterte wie Espenlaub, aber die beiden starrten einander bloß an, zwei steinerne Idole, die denselben Gott verkörperten. Plötzlich entstand Bewegung um uns und zeigte an, daß unsere Leibwächter verspätet bemerkt hatten, daß etwas nicht stimmte, und einige Hände verschwanden unter Jackettaufschlägen. Andere Käufer blickten uns mit jäh erwachter Neugier an, bevor sie sich diskret entfernten. »Joseph?« Ein gepflegter Herr mit der kultivierten Stimme eines reichen Mannes erschien hinter ihm. Ich sah ihn kaum. Ein hochgestellter Regierungsbeamter, ohne Zweifel. Er war mit dem Biokonstrukt, nicht andersherum. Er machte ein erstauntes, leicht besorgtes Gesicht. »Ist etwas?« »Nein, Sir«, sagte Joseph dessen Augen unverwandt in Haltons blickten. »Es ist nichts, Mr. Oberly.« Er achtete nicht auf die angespannt um uns stehenden Leibwächter, während der distinguierte Herr ihm mit leicht besorgtem Gesichtsausdruck die Hand an den Ärmel legte und leichten Zug ausübte. Die CDI war inzwischen weit über die obsolete Halton-Serie hinaus, und das wollte sie uns wissen lassen, uns unter die Nasen reiben. Dieses Ding hätte mit Leichtigkeit und bloßen Händen unsere bewaffneten Leibwächter töten können, bevor es John und mir die Flügel ausgerissen hätte. Es war eine hochentwickelte Mordmaschine, und die CDI allein wußte, was es noch alles konnte. Wir waren nichts vor ihm; es konnte uns mühelos aus dem Weg fegen. Dann lächelte der Joseph-Biokonstrukt knapp und neigte in elegant angedeuteter Verbeugung kaum merklich den Kopf. Eine Anerkennung? Eine Herausforderung? Eine Warnung?
Oder vielleicht war es der Blick, den der Cro-MagnonMensch dem letzten Neandertaler zuwarf. Es gibt einen neuen Sheriff in der Stadt, Junge. Das nächste Wollnashorn geht um zwölf. Sei drauf. Der Joseph-Biokonstrukt streifte mich mit einem Blick, wandte sich ab und ging. Wir haben seither weder ihn noch irgendeinen anderen seines Schlages gesehen. Ich dachte, ich sei die einzige gewesen, die sich zu Tode gefürchtet hatte, denn John war so kühl und ruhig gewesen. Aber in dieser Nacht wachte ich auf und wälzte mich herum. Das Bett zitterte. John saß aufrecht darin, und das Zittern ging von ihm aus. »John?« Er wandte den Kopf. Sein Gesicht war bleich im dunklen Raum. »Vielleicht ist es wahr, vielleicht haben die Nanos etwas zerstört, etwas in meinem Gehirn unterbrochen, und deshalb konnte ich Laidcliff töten, und vielleicht könnte ich dich töten und nicht in der Lage sein, mich zurückzuhalten …« Ich setzte mich auf und versuchte, die Arme um ihn zu legen. »Ach, John, was für ein Unsinn. Komm schon, es ist in Ordnung, beruhige dich …« Es war wie der Versuch, mich unter Wasser an einem eingefetteten Felsen festzuhalten. »Die können alles, Ka Be, einfach alles. Und ich kann sie nicht daran hindern. Wie, wenn es andere Leute gibt, die die Nanos auslösen können? Wenn es andere Nanos in mir gibt? Wenn sie seine Stimme auf Tonband haben, und irgendwann läutet das Telefon und ich nehme den Hörer ab …« Ich hielt ihn fest, zog seinen Kopf an meine Schulter, strich ihm übers Haar wie einem Kind, das er in mancher Weise noch
war. »Wie, wenn dir morgen ein Safe auf den Kopf fällt?« sagte ich, die Wange an seinem Haar. »Wie, wenn ich von einem Lastzug überfahren werde? Wie, wenn ein Blitz in dieser Minute einschlägt, durch das Fenster fährt und uns beide zu Bratwürsten röstet? John, wenn es geschehen soll, wird es geschehen. Wir können nicht viel mehr tun als das, was wir schon getan haben.« »Ich könnte dich verletzen«, flüsterte er heiser. »Du kannst mir nie vertrauen.« Seine Tränen benetzten meinen Arm, und meine Kehle schmerzte plötzlich. Sanft küßte ich seinen Scheitel. »Ich habe nie in meinem Leben jemandem vertraut«, sagte ich. »Warum also sollte ich jetzt anfangen?« Seine Hand umfaßte meinen Unterarm und drückte ihn so fest, daß ich am Morgen blaue Flecken haben würde, aber ich verzog nur das Gesicht und schaukelte ihn murmelnd hin und her und ließ ihn weinen. Vielleicht hat er recht, vielleicht wird es eines Tages einen Kurzschluß in seinem Oberstübchen geben, der ihn in einen sabbernden wahnsinnigen Mörder verwandeln wird. Oder vielleicht war es einfach so, wie Mr. Schleimbeutel gesagt hatte: Was damals in Khuruchabja geschah, das sind Nachrichten von gestern, wen kümmern sie noch? Vielleicht würden Johns Einschaltquoten eines Tages sinken, und wir würden als Opfer eines Autounfalls auf der Seite mit den Todesanzeigen erscheinen. Viele grüne Witwen würden Tränen vergießen, aber jeden Tag kommen Leute bei bedauerlichen Unfällen ums Leben. Endlich schlief John ein, aber er hielt mich weiter umklammert wie einen Rettungsring, während ich die Nacht mit meinen eigenen Überlegungen und Grübeleien verbrachte. Es gab
wirklich nicht viel, was wir noch tun konnten. Ich fuhr fort, vier Stunden am Tag als Nachrichtenredakteurin und Johns Einsagerin zu arbeiten, was ungefähr die Grenze dessen war, was meine geschädigten Hände mit oder ohne Nanos an Anstrengung aushalten konnten. John arbeitete Vollzeit mit Begleitkommentaren und Moderationen der arabischen, japanischen, chinesischen, spanischen, finnischen, schwedischen, deutschen, französischen, italienischen, holländischen, litauischen und russischen Sendungen, was seinen Ruhm und Bekanntheitsgrad noch vermehrte, so daß in den Fernsehzeitschriften zweiseitige Artikel über ihn erschienen. Das Wunderkind aus dem Nichts, der rätselhafte Mann mit der goldenen Zunge. Ich wünschte, Halton wäre im Nachrichtenstudio gewesen, als die Neuigkeiten über Khuruchabja bekannt wurden, aber solche ironischen Glückszufälle gibt es nur in billigen Romanen und Fernsehfilmen. Wir saßen zu Hause am Kaffeetisch und verfolgten die Nachrichten, während wir an den zähen Erzeugnissen meiner mißlungenen Gourmetküche kauten. Die Eingangsmeldung war nicht einmal von GBN. Wir sahen Jefferson Carlebys erregtes Gesicht, wie er die heißesten Nachrichten live aus Nok Kuzlat, Khuruchabja berichtete. Für TVN Kabelnachrichten. Es ist mir immer ein Ärgernis, sehen zu müssen, wie Reporter der Konkurrenz schneller sind als wir von GBN, aber ich mußte zugeben, daß ich mich für Carl freute. In ihm sah ich mich selbst, wie ich vor allzu vielen Jahren hätte sein können, wahrscheinlich hätte sein sollen. Ich wünschte ihm Glück. Als die Verhältnisse sich auf ein Auseinanderfallen des
Staatswesens zubewegt und die Anzeichen für eine Machtübernahme durch das Militär sich gemehrt hatten, hatte Ibrahim alRuwala sich mit einem geschickten Schachzug wieder ins Gespräch gebracht. Der Mann, der nach Gabriels Willen königlicher Regent werden sollte, hatte die Aufmerksamkeit von den zerstrittenen, entrüsteten Klerikern abgelenkt (die den meisten Khuruchabjanern ohnedies mit ihren widersprüchlichen Dekreten und Verdammungsurteilen Verwirrung und Verdruß bereitet hatten), indem er öffentlich seine Weigerung bekräftigte, als Regent den Thron zu besteigen – auf den er ohnehin nur einen höchst fragwürdigen und ungewissen Anspruch hatte –, wenn er nicht zuvor legitim durch die gesamte Bevölkerung ins Amt gewählt würde. Um die Aufrichtigkeit seiner Absichten zu beweisen, verkündete er großmütig, daß diese Wahlen von internationalen Beobachtern beaufsichtigt werden sollten, um ihre absolute Korrektheit zu gewährleisten. Die Khuruchabjaner sollten in ihren ersten garantiert freien demokratischen Wahlen entscheiden, wer sie in eine glorreiche neue Zukunft führen sollte. Und das Wahlrecht sollten Männer und Frauen haben. Über dieser Neuigkeit geriet die Kontroverse um die Wirklichkeit des Erzengels Gabriel glücklicherweise in Vergessenheit, und es kam zu neuem Streit über die Fragen, aus welchen Ländern die Wahlbeobachter kommen sollten, ob das Frauenwahlrecht eine Verletzung islamischen Schariarechts darstelle, und wer gegen den selbsternannten Kandidaten Ibrahim alRuwala antreten sollte. Dessen Legitimität wurde zwar von vielen bestritten, da sich jedoch auch andere Kandidaten fanden, die sich so wenig wie er auf Blutsverwandtschaft mit dem
alten Herrscherhaus berufen konnten, verlor das Thema rasch an Brisanz, und schließlich wurde Ibrahim mit einer schmalen Mehrheit der Stimmberechtigten gewählt, wobei die Frauen wahrscheinlich den Ausschlag gaben. Einige Wochen später wurde er als Khuruchabjas erster vom Volk gewählter königlicher Regent ins Amt eingeführt. Sofort tat er den nächsten Schritt, indem er die königliche Regentschaft per Dekret abschaffte und sich mit dem Amt eines Präsidenten zufriedengab. Dann nahm er seinen Rivalen den Wind aus den Segeln, indem er seine eigene Machtbasis verkleinerte und aufteilte. Die Einladung an die Amerikaner zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen und dem Austausch von Botschaftern erfolgte weniger aus Liebe als vielmehr der Überlegung, daß es die CDI daran hindern würde, ihn durch einen Mordanschlag zu beseitigen. Daraufhin jubelten die amerikanischen Medien, die Öffentlichkeit applaudierte, und bald war der ganze Westen bereit, Millionen von Dollars und Euros für nichtmilitärische Entwicklungshilfe bereitzustellen. Zugleich wurden Milliardenkredite als Köder ausgelegt, um die neue Regierung in die Abhängigkeit der Schuldenfalle zu locken. Bald nach dieser neuesten Entwicklung rief Arlando Halton und mich in sein Büro. Er schien nicht glücklich. »Präsident Ibrahim al-Ruwala hat durchblicken lassen, daß er bereit sein würde, GBN ein Exklusivinterview zu gewähren«, verkündete er. »Das ist großartig!« Ich war ganz dafür. Je mehr Aufmerksamkeit Khuruchabja fand, desto besser. Arlando teilte meine Begeisterung nicht. »Er hat gebeten, von
Ka Be Sulaiman interviewt zu werden.« »Ah – oh. Dann haben wir ein Problem.« Meine Begeisterung erlosch, denn ich hatte meine Ka Be Sulaiman-Person endgültig in den Ruhestand entlassen und war wieder die einfache alte Kay Munadi, eine von vielen anonymen Nachrichtenredakteurinnen. Arlando musterte Halton. »Was ist mit Ihnen, Mr. Halton? Möchten Sie das Interview mit dem Präsidenten von Khuruchabja übernehmen?« John warf mir einen Blick zu. »Ich bin nicht sicher, daß es eine gute Idee wäre, Sir«, sagte er. »Wenn die CDI glaubt, ich sei in einer Position, sie zu kompromittieren, könnte sie möglicherweise entscheiden, daß es das Risiko wert sein könnte, meine Identität und meine Verbindung zu ihr zu enthüllen, um die neue Regierung von Khuruchabja zu unterminieren. Und GBN einen Denkzettel zu geben.« Niemand würde glauben, daß John nicht mehr als Werkzeug für die CDI arbeitete; seine Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit wäre augenblicklich dahin. Arlando nickte. »Also kommen wir ihnen zuvor«, sagte er. »Wie das?« Die Richtung gefiel mir nicht. Arlando sah mich mit ironischem Lächeln an. »Wir werden den exklusiven Insiderbericht über den wagemutigen Geheimagenten John Halton und die unerschrockene GBN-Reporterin Ka Be Sulaiman herausbringen, die als Mann verkleidet kühn gegangen ist, wo vor ihr noch keine Frau ging, beide von Schicksal und Patriotismus zusammengeführt, um unter heroischem Einsatz des Lebens die Wahrheit aus der Hauptstadt Khuruchabjas in die Welt hinauszubringen.«
»Das ist nicht komisch, Arlando. Sollte ich jemals zurückgehen, werden sie mich umbringen.« »Was, hatten Sie Pläne, dort ein Ferienhaus zu kaufen, Munadi?« »Nein …« »Was dann?« »Ich kenne Ibrahim al-Ruwala und John Halton auch. Er glaubt, ich sei ein Mann, und er wird es nicht zu schätzen wissen, daß er zum Narren gehalten wurde.« »Er wird Ihnen nichts tun, Kay. Er hat seine eigenen kleinen Geheimnisse, die er für sich behalten möchte. Denken Sie darüber nach. Glauben Sie wirklich, er würde bereit sein, öffentlich zuzugeben, daß seine Gruppe Israels Gabriel-Mikroplatte knackte? Und sie schamlos gebrauchte, um seine Wähler zu täuschen und sich die Präsidentschaft zu erschleichen?« »Nein, das sicherlich nicht.« Die Stille wurde ein wenig angespannt. »Was ist mit John?« fragte ich schließlich. »Wenn Sie Johns Identität als ›Geheimagent‹ enthüllen, würde das für GBN sicherlich eine Schubwirkung haben, die uns an die Spitze bringen könnte. Aber was dann? Dann kommt die CDI und stellt ihn als eine extrem gefährliche, defekte Biomaschine bloß. John würde mehr als einen Job verlieren, Arlando.« Ich blickte zu John, dessen Miene unergründlich war. »Wie lange, glauben Sie, würden die Behörden brauchen, um ihn als Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu beschlagnahmen? Ihm vielleicht endgültig den Hahn zuzudrehen? Ich glaube wirklich nicht, daß wir bereit sind, diese Art von Risiko auf uns zu nehmen. Wir können es uns einfach nicht leisten, die ganze Geschichte zu erzäh-
len.« Arlando schüttelte den Kopf. »Niemand weiß, was die ganze Geschichte wirklich ist, Munadi. Sie vielleicht?« Er blickte zu John. »Sie, Halton?« »Nein, Sir.« Arlando lehnte sich in seinem Bürosessel zurück. Das Leder knarrte. Er blickte zu den Glaswänden seines Büros hinaus. Monitore und Computerbildschirme flimmerten, Leute gingen vorbei, als merkten sie nicht, daß jemand in Arlandos Glaskasten war. Selektive Blindheit. »Kay, Sie sind lange genug in diesem Geschäft, um zu wissen, daß die wahre Nachricht nicht immer das ist, was gesendet wird.« Die Wahrheit ist für die Kräfte des Marktes so verwundbar wie jedes andere Produkt. Der Geschmack und die kurzen Aufmerksamkeitsspannen des Fernsehpublikums, kommerzielle, wirtschaftliche Notwendigkeiten, der Mangel an Zeit, die Notwendigkeit, Geschichten auf die nackten, wesentlichsten Tatsachen einzukochen, die Launen populärer Mode sind weitaus mächtigere Zensoren und Nachrichtenredakteure als einfacher politischer Druck oder Korruption. »Es gibt eine Menge Dinge, von denen wir niemals wissen werden«, fuhr Arlando fort. »Und aus dem gleichen Grund werden andere Fakten durch den Rost fallen, um die Unschuldigen und viele nicht so Unschuldige zu schützen, damit sie nicht unnötig zu Schaden kommen oder getötet werden … wie Sie und John, zum Beispiel.« Ich schnitt eine Grimasse. »Niemand muß erfahren, daß er ein Biokonstrukt ist, Kay«,
sagte Arlando mit sanfterer Stimme. Er faßte Halton ins Auge. »Wenigstens noch nicht. Vielleicht nie. CDI könnte uns eine Menge Ärger und Unbequemlichkeit bereiten, aber sie kann uns nichts Illegales anhängen, John, und das weiß sie selbst. Ich bezweifle ernsthaft, daß sie wirklich jetzt ein Aufhebens davon machen wollen.« John nickte. Ich war nicht sicher, ob er zustimmte oder resignierte. »Im Moment haben wir die Oberhand. Wir brauchen nur zu enthüllen, daß John tatsächlich ein Geheimagent der CDI war, jetzt im ehrenhaften Ruhestand lebt und von GBN eingestellt wurde. Und daß er während seiner Tätigkeit als Geheimagent wesentlich an der Herbeiführung der gegenwärtigen politischen Veränderungen in Khuruchabja mitgewirkt hat. An Veränderungen, die gerade jetzt sehr populär sind. Damit geben wir der CDI die Gelegenheit, selbst ein paar Verbeugungen entgegenzunehmen, ein gewisses Verdienst für sich zu beanspruchen. Ob sie es verdient oder nicht. Sie ist bereits unter Druck geraten und gezwungen worden, im eigenen Haus Ordnung zu schaffen. Der Präsident ist noch immer wütend über ihren Murks in Khuruchabja, die Kongreßabgeordneten sind wütend, weil das Weiße Haus wieder einmal versuchte, über ihre Köpfe hinweg einen geheimdienstlichen Umsturzversuch im Ausland zu inszenieren. Bald wird die CDI ihren Haushaltvorschlag dem Kongreß vorlegen müssen, und es würde gute PR sein, die sie im Moment gebrauchen kann. Es könnte helfen, die Spannung zwischen Ihnen beiden und der CDI zu verringern.« »Darauf wird sie nie eingehen …« »Sie ist schon darauf eingegangen«, erwiderte Arlando
knapp. John hatte meine Hand genommen. Seine Finger waren kalt und angespannt, aber sein Gesicht ließ keine Regung erkennen. Sprachlos starrte ich Arlando an. »Mein Gott«, brachte ich endlich hervor. »Wessen Idee war das?« »Meine. Die sind mir noch etwas schuldig«, antwortete Arlando. »Passen Sie auf, Kay. Jeder hat irgendwo schmutzige Wäsche, die er nicht in den Abendnachrichten in den Wind gehängt sehen möchte; Politiker haben Affären, Filmstars haben Alkoholprobleme, Richter am Bundesgerichtshof kostümieren sich mit schwarzen Spitzenstrapsen und Handschellen. Aber wenn keine Gesetze gebrochen werden, wenn das Gemeinwohl nicht beeinträchtigt wird, dann sind es keine Nachrichten. Es gibt eine Trennungslinie zwischen dem Recht auf Information und dem Eindringen in die Privatsphäre.« Oh? Seit wann? Ich hätte ihn gern nach seinem Geheimnis gefragt, tat es aber nicht, weil ich die Antwort nicht wissen wollte. Arlando starrte mich mit durchbohrendem Blick an. »Ein großer Teil der Nachrichten hängt auch mit der richtigen Zeitwahl zusammen, Kay, und Sie sollten als Journalistin genug Erfahrung haben, um das zu wissen. Tausende, die in Afrika in einer Hungersnot umkommen, haben während einer harten Rezession hier bei uns nicht die gleiche Schlagkraft wie eine Geschichte über ein Dutzend Amerikaner, die ihre Arbeitsplätze verlieren, weil ein milliardenschwerer Effektenhändler an der Wall Street ein kleines Unternehmen mit Junk Bonds in den Konkurs getrieben hat. Wenn der Zeitpunkt nicht richtig ist,
stimmen auch die Einschaltquoten nicht. Es ist möglich, daß wir es zu einem späteren Zeitpunkt zweckmäßig finden werden, Mr. Haltons ›geheime Identität‹ zu enthüllen.« Er lächelte dünn. »Zum richtigen Zeitpunkt würde es unsere Einschaltquoten in die Höhe treiben. Es würde auch eine weitere Gefahr beseitigen, die CDI wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen hängen hat. Aber nicht jetzt. Nicht alles auf einmal.« »›Die Wahrheit liegt nicht da, um in einem Stück auf einmal ergriffen zu werden‹«, rezitierte John. »›Die Wahrheit kommt allmählich ans Tageslicht, und so sollte es in einer Demokratie sein.‹« Arlando blickte ihn überrascht an. »Walter Lippmann«, sagte ich, um das Zitat zuzuordnen. »Sie können also lesen, statt bloß alte Filme anzusehen«, sagte Arlando zu mir und lächelte John zu. »Freut mich, zu sehen, daß Sie einen guten Einfluß auf sie haben.« John erwiderte das Lächeln. »Hab's aus Heute und morgen. Das Leben eines Nachrichtenmanns, eine Fernsehserie mit Gene Hackman und Sophie Hargood. Französisch-amerikanische Coproduktion, in Kanada gefilmt«, sagte er. Er sah mich beinahe entschuldigend an. »Gewann einen Emmy für den besten Szenenaufbau«, fügte er hinzu. Arlando lachte. Ich nicht, aber viel von der Spannung, die in der Luft knisterte, hatte sich aufgelöst. Johns Finger drückten sanft meine Hand. »Verdammt noch mal, Arlando, das ist mir wirklich verhaßt.« Ich versuchte die winselnden Obertöne auf ein Minimum herabzudrücken. »In meinem Innersten habe ich immer
geglaubt, daß es meine Aufgabe sei, die Wahrheit zu sagen und anderer Leute üble Geheimnisse bloßzustellen. Nicht aber, hinter eigenen Lügen Deckung zu suchen.« Er lächelte schief. »Ihre Aufgabe ist es, Munadi, so viele Nachrichten wie möglich in einer verantwortlichen und professionellen Manier zu melden. Das Informationsrecht der Öffentlichkeit erstreckt sich nicht auf einen Punkt, wo Menschen unnötig verletzt werden. Das ist, was verantwortlicher Journalismus bedeutet.« »Und wer trifft diese Entscheidungen, Arlando?« fragte ich ihn. »Wer übernimmt die Verantwortung dafür, was an die Öffentlichkeit gelangt und was zurückgehalten wird?« Er hob die Schultern. »Besser Sie und ich als die Regierung. Wenn jemand anders es besser kann, soll er es versuchen.« Er lehnte sich zurück, die Hände über dem Bauch verschränkt, und rieb sich die Knöchel mit den Fingerspitzen. »So wird die Sache laufen, Munadi. Sie sind soeben befördert worden. Meinen Glückwunsch, Sie sind jetzt Chefkommentatorin der GBN für den Nahen Osten. Ein paar Tage vor Ihrem Interview mit alRuwala werden wir einen kleinen Aufmacher über Sie und Mr. Halton machen. Das wird die Einschaltquoten hoch genug treiben, daß wir den größten Marktanteil für das Interview bekommen sollten, und glauben Sie mir, es wird der Mühe wert sein.« »Ich habe nicht einmal eine Wahl?« fragte ich mit leiser, bekümmerter Stimme. »Überhaupt keine.« John lächelte aus irgendeinem Grund. Ich fragte nicht danach.
Sie brachten die Geschichte. Sie wurde gleich nach der letzten Meldung aus Khuruchabja ausgestrahlt. Eine endlose Achterbahnfahrt in der Holoprojektion, daß niemand wagte, eine Minute wegzusehen. Arlando hatte sogar die verdammte Magazinkassette verwendet, die ich als unsere Sicherheit deponiert hatte, allerdings mit digital unkenntlich gemachten Stimmen und Gesichtern. Und wie er das Ganze hindrehte! Die CDI kam dabei so gut weg, daß es aussah, sie persönlich hätte einen versuchten Staatsstreich abgewendet, allesamt patriotische Helden. Danach ging der Ablauf der Ereignisse so rasch und vollendet vonstatten, daß er vorher abgesprochen sein mußte. Als unsere Sendung zur günstigsten Fernsehzeit in Amerika ausgestrahlt wurde, war es in Khuruchabja früher Morgen vor Sonnenaufgang. Innerhalb einer Stunde hatte Ibrahim die Enthüllung genutzt, um führende Militärs, darunter solche, die ihm zur Macht verholfen hatten, die meisten von ihnen aber selbst verräterische und korrupte Intriganten, festnehmen und ins Gefängnis werfen zu lassen. Um einen Militärputsch nach üblichem Schema vollends unmöglich zu machen, wurden die schweren Waffen der Armee unter Bewachung loyaler Gardeeinheiten gestellt. Da er den Großteil der Soldaten und Offiziere der unteren und mittleren Führungsebenen hinter sich wußte, wurden alle per Dekret um eine Rangstufe befördert und mit dem Versprechen neuer Uniformen, verkürzter Dienstzeit für Wehrpflichtige und verlängertem Jahresurlaub zufriedengestellt. Ein Amnestieerlaß setzte die wenigen Dutzend politischen Gefangenen auf freien Fuß, sogar jene fanatischen Kleriker, die
al-Ruwala noch immer für einen Betrüger und eine Marionette des satanischen Westens erklärten und seinen Kopf forderten. Es war ein zynisch kalkulierter Schachzug, der darauf abzielte, Ibrahims Popularität zu steigern, und er erfüllte seinen Zweck. Innenpolitisch gefährlicher war der dann folgende Entschluß zur Verkleinerung der Streitkräfte. Die widersetzlichen mutawin und hohen Militärs, denen die Schwächung der Landesverteidigung zu weit ging, wurden im weiteren Verlauf der Heeresreform zwangspensioniert oder gingen ins Exil, während die Masse der Soldaten und Offiziere der demobilisierten Einheiten mit großzügigen Entschädigungszahlungen und Beihilfen zur Existenzgründung zufriedengestellt wurden. Die Ausgaben dafür hoffte Ibrahim durch künftige Einsparungen im Militärhaushalt wieder hereinzuholen. Natürlich bedeutete dies auch, daß er für Angriffe kriegerischer Nachbarn verwundbarer war. Ein paar von diesen, die noch eine Rechnung mit Khuruchabja offen hatten, rasselten mit den Säbeln, um die amerikanische Reaktion zu ermitteln. Die Vereinigten Staaten machten sofort klar, daß sie nicht die geringste Verpflichtung sahen, sich in einen Krieg auf khuruchabjanischen Boden hineinziehen zu lassen. Diese lobenswerte Haltung bedeutete freilich keinen Bruch mit der Rolle des selbsternannten Weltgendarmen; sie bestätigte nur, daß Khuruchabja nach seiner Ausschaltung als regionaler Machtfaktor weder geopolitisch noch wegen etwa vorhandener Bodenschätze von Interesse war. Es sah selbstmörderisch aus. Aber Ibrahim war freundlich genug, seine größte Überraschung für unser Interview aufzusparen. Nichts konnte mich bewegen, für das Interview nach Khuruchabja zu fliegen, also
wurde es mit einer Direktverbindung über einen Fernmeldesatelliten der GBN geführt. Mein Haar, inzwischen wieder lang genug, wurde zu einer artigen modischen Frisur gestylt, der Schweiß auf meinem Gesicht war mit schwerem Kamera-Makeup zugedeckt, und ich saß in Rock und seidener Jacke im Studio, während die Techniker mich gründlich verdrahteten. Als die Holographie Ibrahim al-Ruwalas in dem Sessel neben mir Gestalt annahm, weiteten sich seine elektronischen Augen ein wenig, erheitert aber nicht überrascht. Irgendwo in Khuruchabja saß meine eigene Holographie nervös dem echten Ibrahim gegenüber. Auch er hatte sich verändert. Der regsame, gewandte Mann, der sich im Nok Kuzlat der Mangeljahre nach dem Krieg zurechtzufinden wußte und in abgetragenen Jeans mit leuchtenden Augen seine politischen Visionen vorgetragen hatte, war zu einem gepflegten, gefaßten Würdenträger in einem teuren westlichen Maßanzug geworden. Er nickte mir freundlich zu. »Guten Abend, Herr Präsident«, sagte ich nervös. Es fiel mir schwer, die Worte glatt und professionell herauszubringen. »Danke, daß Sie zu uns gekommen sind. Ana'ashid giddan, es ist eine große Freude für uns und unser Fernsehpublikum in vielen Ländern der Erde.« »Ana'ashad«, erwiderte Ibrahim. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite.« »Herr Präsident«, las ich die erste Frage vom Monitor ab, »Sie haben die ganze Welt verblüfft, indem Sie die khuruchabjanische Monarchie abschafften und ein Parlament einberufen wollen, das demokratisch gewählt und wirkliche gesetzgebende Vollmachten haben soll, als Gegengewicht zu Ihrer Präsident-
schaft. Innerhalb kürzester Zeit haben Sie radikale Veränderungen in den Streitkräften Ihres Landes vorgenommen, die Stärke der Streitkräfte verringert und die Militärdienstzeit verkürzt. Wie erklären Sie diese radikale Modernisierung, die Sie Ihrem Land verschrieben haben?« »Es gibt viele moderne Länder, die nicht demokratisch sind«, antwortete Ibrahims Holographie. »Demokratie ist nicht die einzige Form der Modernisierung.« Er lächelte. »Aber wie Winston Churchill vor langer Zeit sagte: Demokratie ist das denkbar schlimmste Regierungssystem – mit Ausnahme aller anderen.« »Sie sehen sich als einen islamischen Winston Churchill?« Das stand nicht im Manuskript. Mein Ohrmikrofon flüsterte Warnungen. »Eher als einen arabischen Charles de Gaulle. Wie Sie wissen, braucht es vielmehr als freie Wahlen, um eine wirkliche Demokratie einzuführen. Meine Ziele für mein Land und meine privaten Bestrebungen sind glücklicherweise gut miteinander zu vereinbaren. Es ist mein Ehrgeiz, eine Regierung zu schaffen, die meinem persönlichen Geschmack und meinen Präferenzen entspricht«, sagte er ehrlich. »Diese Regierung wird dann, wenn ich entscheide, mich aus der aktiven Politik zurückzuziehen, auch ohne mich zum Wohl des Volkes weiterarbeiten.« Ich war verdutzt. Er lächelte. »Herr Präsident, könnten Sie die Gründe erläutern, die Sie zu Ihrer ziemlich drastischen Abrüstungspolitik veranlaßt haben?« Wie es sich für einen braven kleinen Redakteur im Studio gehörte, folgte ich wieder der Liste der Fragen, die auf einem isolierten Monitor abseits der Kamera flimmerten. »Es scheint,
daß Sie sich dadurch der Gefahr von Angriffen feindlicher Kräfte im In- und Ausland ausgesetzt haben.« »Es besteht für Khuruchabja keine Notwendigkeit mehr, so umfangreiche militärische Offensivkräfte zu unterhalten, wie wir es in der Vergangenheit getan haben. Die hohen Kosten lähmten unsere Wirtschaftskraft und die Fähigkeit zu offensiver Kriegführung erzeugte nur Mißtrauen unter unseren arabischen Brüdern. Wir werden selbstverständlich auch in Zukunft Streitkräfte zur Landesverteidigung unterhalten, deren Schlagkraft trotz wesentlich verringerten Personalbestandes ausreichen wird, jeden möglichen Angriff auf unsere Souveränität zurückzuschlagen. Ich möchte mich hier an das Schweizer Modell anlehnen. Wir haben diese Schritte unternommen, um unseren Willen zu beweisen, eine nationale Politik der Gewaltfreiheit gegenüber unseren islamischen Bruderstaaten zu verfolgen, eine Vorleistung, von der ich hoffe, daß sie verstanden und respektiert werden wird. Es gibt einfach keinen Grund, daß Moslems einander bekämpfen.« Ich sah ihn skeptisch an. Er lächelte und legte die Fingerspitzen zusammen. Eine dünne blaue Transmissionslinie glitt kurz durch seine Gestalt, der einzige Fehler in der Illusion, daß er hier bei mir im Studio saß. »Was unsere inneren oder äußeren Feinde betrifft, so wird Khuruchabja als erstes anerkennen, was längst allen offenbar sein sollte. Allzu lange haben wir versucht, nach westlichem Vorbild das Weltliche vom Religiösen zu trennen, was dazu führte, daß jede Hälfte sich bemühte, die andere zu besiegen und zu unterdrücken. Es ist, als wollte die rechte Hälfte des Körpers die linke unterwerfen, ein vergebliches und törichtes
Beginnen. Es ist weder möglich noch wünschenswert, das Weltliche und das Religiöse in einem modernen moslemischen Staat zu trennen. Diejenigen, die es versuchten, haben sich selbst verwundet und gelähmt, geblendet und verkrüppelt.« Das war eine regelrechte Ansprache, und ich ließ ihn weitersprechen und achtete nicht auf das irritierte Drängen in meinem Ohr, seine Rede durch Zwischenfragen zu unterbrechen. »Die unabhängigen und souveränen Staaten des Nahen und mittleren Ostens sind eine von ihren Völkern gewünschte unumstößliche Realität. Sie bilden den Kernbereich der moslemischen Welt, was wir den zahir nennen. Aber der Islam lehrt uns auch, die größere Wirklichkeit zu sehen, das göttliche bâtin, die Wahrheit unter dem, was wir nur mit unseren Augen, aber nicht mit unserem Herzen sehen. Die Europäer haben ihren Gemeinsamen Markt, der ihren Kulturkreis umfaßt, die Vereinigten Staaten haben ihre amerikanische Freihandelszone mit Kanada, Mexiko, Mittel- und Südamerika. Sogar Rußland und die aus der früheren Sowjetunion hervorgegangenen Republiken haben inzwischen die Weisheit der amerikanischen Redewendung ›Vereint stehen wir, getrennt fallen wir‹ verstanden. Es ist Zeit für uns Moslems und für die Welt, zu erkennen, daß jede unserer einzelnen Nationen bei aller politischen, ethnischen, kulturellen, sprachlichen und geschichtlichen Eigenständigkeit, die es zu bewahren gilt, immer Teil eines größeren Ganzen gewesen ist und immer sein wird. Und jede Nation des Nahen Ostens ist in diesem Sinne ein Teil des Größeren Islamischen Reiches.« »Und Israel?« »Einschließlich Israels«, fügte Ibrahim hinzu und lächelte,
während ich ihn einen Moment sprachlos anstarrte. »Bedeutet dies, daß Ihre Regierung die gegenwärtigen Grenzen Israels als eines unabhängigen, souveränen Staates offiziell anerkennt?« fragte ich, ohne dem wildblinkenden Monitor zu folgen. Ibrahim wischte die Frage mit einer Grimasse weg. »Unnatürliche Grenzen, die uns vom westlichen Kolonialismus aufgenötigt wurden, sind in der arabischen Welt niemals völlig akzeptiert worden. Wir sind traditionell eine Gesellschaft von Völkern, geeint durch Glauben und Blutsverwandtschaft. In früherer Zeit von raumfremden Mächten gezogene Grenzen sind Wunschbilder ohne Bestand, für die zu sterben sich gewiß nicht lohnt. Khuruchabja anerkennt die gegenwärtigen Grenzen Israels als Verkörperung eines historischen Teils des traditionellen Islamischen Reiches, eine Art ›Jüdisches Viertel‹, wenn Sie so wollen. Ein ziemlich großes jüdisches Viertel, aber es ist ein autonomes, souveränes Staatsgebilde innerhalb des Größeren Islamischen Reiches, ebenso wie Khuruchabja. Wir haben bereits offizielle Schritte zu Verhandlungen mit dem Staat Israel eingeleitet, um einen förmlichen Vertrag zu unterzeichnen, der dem Volk von Israel seinen historischen Platz in einem geeinten Nahen Osten garantiert, mit allen Privilegien und Verpflichtungen, die zu erwarten Juden immer unter solch einem geeinten Islamischen Ganzen das Recht hatten. Die Regierung von Khuruchabja ist nicht nur bereit, das Recht der Juden auf ihren separaten Teil anzuerkennen, sondern wir sind auch bereit, es gegen auswärtige Aggressoren zu verteidigen, wie wir jede Nation verteidigen würden, die sich mit uns in dieser Islamischen Einigung zusammenschließt.« Mir blieb der Mund offen stehen.
»Natürlich würde von den Israelis als Nichtmoslems erwartet, daß sie eine religiöse Steuer an Khuruchabja und alle anderen moslemischen Nationen innerhalb des Größeren Islamischen Reiches entrichten, welche die Wahrheit der Situation erkennt … Es wäre vorstellbar, daß diese Steuer auch in der Form militärischen Schutzes abgegolten werden könnte.« Ibrahim hob die Brauen, als wollte er verhindern, daß ich diesen absurden ›Friedensvertrag‹ mit Israel lächerlich mache. Aber wir hatten beide Gabriel gesehen. Und ich wußte, wer ihn fabriziert hatte. Vielleicht wußte er es auch. Ich erinnere mich nicht an viel mehr von dem Interview, außer daß jemand in mein Mikrofon schrie, bis ich es aus dem Ohr nehmen mußte, und den Kopf zu der lächelnden Holographie schüttelte, als sie sich in nichts auflöste. Ich zog noch Kabel hinter mir her, als ich aus dem grell beleuchteten Lichtkreis stolperte. Meine Augen konnten sich nicht schnell genug umstellen, und ich tappte wie eine Blinde an den Mischpulten vorbei in eine lärmende Gruppe aufgeregt diskutierender Leute. Dann waren Johns Arme um mich und drückten mich sanft an ihn, während er mit inzwischen geübter Hand die Anschlüsse entfernte. Ich war nur zu froh, ihn gewähren zu lassen. »Machen Sie Witze?« sagte eine scharfe Stimme in meiner Nähe. Im Halbdunkel erkannte ich ihn mehr durch den Klang als durch den Anblick als einen der Techniker. »Die Israelis werden niemals auf diesen Unsinn eingehen. Der Kerl ist ein Verrückter!« »Nun ja, vielleicht ist er verrückt, aber verrückt wie ein Fuchs. Er hat was in petto, das haben diese Typen immer …« »Das ist bloß eine Art Masche, um die übrigen Staaten um
den Golf unter einen Hut zu bringen und den Israelis vorzumachen, diesmal würden sie ihnen wirklich einen Olivenzweig bringen, und dann – wumm …« »Das ist doch Schwachsinn! Israel besitzt genug Atomwaffen, um alle arabischen Länder des Nahen Ostens auf einmal zu verdampfen. Ganz abgesehen davon, daß Amerika niemals zulassen würde, daß Israel in Bedrängnis gerät …« »Aber wenn die ganze Region ihre Kräfte vereinigen würde …? Wir würden nicht gegen den ganzen verdammten Nahen Osten kämpfen, allein schon wegen der Öllieferungen!« »Hört schon auf, es ist ganz abwegig! Die Araber haben es noch nie fertiggebracht, sich länger als eine Viertelstunde auf irgendwas zu einigen …« »Es muß die CDI dahinterstecken – dieser Kerl ist bloß eine Marionette. Die CDI-Leute ziehen an seinen Fäden und lachen sich schief, wenn sie ihn herumzappeln sehen …« »He, Munadi. Du bist jetzt die Chefanalytikerin für den Nahen Osten.« Die Gruppe war auf mich aufmerksam geworden. Meine Augen hatten sich angepaßt, und ich sah sie alle deutlich. Ihre Gesichter reflektierten rote und grüne Lichter von den Monitoren. »Gib uns deine Expertenmeinung.« Ich war nicht sicher, ob sie sich über mich lustig machten oder nicht. »Ich denke, ihr könntet eine andere Möglichkeit übersehen haben«, sagte ich. »Ja? Welche?« »Es könnte sein, daß er wirklich der Mahdi ist.« Ich machte eine absolut ernste, aufrichtige Miene. Es fiel mir nicht schwer. Sie glotzten mich wortlos und ungläubig an, dann ließ ich sie vom Haken und grinste. Trotzdem …
26 WÄHREND DER FOLGENDEN TAGE hatte John das Vergnügen, über die Reaktion der Israelis in den Vereinten Nationen zu berichten. Weit davon entfernt, die Absurdität in der Luft zu zerreißen und Ibrahim und seiner neuen Regierung zu sagen, sie sollten sich ihren Vorschlag dort hineinschieben, wo die Sonne nicht hinscheint, lobte Israel zur Überraschung der Weltöffentlichkeit den Vorstoß. Sie erklärten, sie würden der Republik Khuruchabja militärischen Beistand gegen Aggressionen von außen leisten. Im Laufe der nächsten Wochen schlug GBN alle Rivalen aus dem Feld und erreichte zum ersten Mal die Spitzenposition unter den weltweit operierenden Nachrichtenagenturen, die alle in der Berichterstattung wetteiferten. Ahmad al Hamid begann Berichte aus Nok Kuzlat einzusenden, in denen er eifrig die Meinung des Mannes auf der Straße einholte. Ablehnend zuerst, dann widerwillig zustimmend, hatte der durchschnittliche Khuruchabjaner im Grunde keine festgefügte eigene Meinung. Solange die verabscheuungswürdigen zionistischen Hunde am anderen Ende der Wüste blieben und sich um ihre eigenen verdammten Angelegenheiten kümmerten, war ihnen alles übrige ziemlich gleich. Vorsichtige Verhandlungen, die teils öffentlich und teils vertraulich geführt wurden, begannen zwischen Israel und seinen
größeren und beunruhigten Nachbarn. Die Vorteile eines geeinten Nahen Ostens waren insgeheim schon immer von allen Beteiligten anerkannt worden, zumindest auf wirtschaftlichem Gebiet; die ›Lösungen‹, die dem Nahen Osten von außen aufgezwungen worden waren, hatten nie Erfolg gehabt. Israel hatte gute Gründe, einen echten Frieden im Nahen Osten zu wünschen. Die immerwährende Feindseligkeit nützte nur den westlichen Ländern mit ihren Militärstützpunkten auf fremder Erde, um das Ölgeschäft fest in den Händen zu behalten. Der jahrzehntelange Kleinkrieg gegen die arabischen Untergrundkämpfer von Hamas und Hisbollah und den Behjars hatte die Israelis in einen Dauerzustand nationaler Paranoia versetzt. Israel wünschte gute Beziehungen zu seinem traditionellen Verbündeten und Beschützer, den Vereinigten Staaten, aber um zur Ruhe zu kommen und die innere Sicherheit zu gewährleisten, benötigte es die Zusammenarbeit mit den angrenzenden islamischen Staaten. Die Streitfrage Jerusalems und der besetzten Territorien war immer ein wunder Punkt geblieben, aber mit der Bildung eines gemeinsamen nahöstlichen Parlaments ähnlich dem der Europäer, konnte das Thema wenigstens zum Gegenstand endloser Verhandlungen ohne die Empfindlichkeiten nationalen Prestiges gemacht werden, die auf Regierungsebene alle Fortschritte blockierten. Mit seiner massiven Militärtechnik und dem Besitz von Nuklearwaffen und Trägersystemen war Israel das einzige Land der Region, das sich keinem Druck von außen beugen mußte, und es schien sich nicht in Khuruchabjas Innenpolitik einzumischen. Friede mit dem kleinen zionistischen Satan war der demütigenden Abhängigkeit vom großen amerikanischen Satan
jedenfalls vorzuziehen, soweit diese dadurch gemindert werden konnte. Zögernd und widerwillig bildeten die Golfstaaten, bisher nur in der OPEC und der Arabischen Liga lose verbunden, einen echten Gemeinsamen Markt. Es wurde sogar offen davon gesprochen, die amerikanischen und britischen Stützpunkte auf dem Boden arabischer Staaten zu schließen, sehr zur Bestürzung der betroffenen Regierungen. Ibrahims friedlicher wirtschaftlicher Dschihad wurde langsam Realität. Die neue Republik Khuruchabja hatte einen guten Anfang. Mit einer günstigen Steuergesetzgebung und der problemlosen Verleihung der Staatsbürgerschaft an alle Araber moslemischen Glaubens, die, wie die Palästinenser, bisher keinen eigenen Nationalstaat besaßen, wurde das Rinnsal skeptischer Heimatloser aus verschiedenen Ländern zu einem kleinen, aber gleichmäßigen Strom von stammesverwandten Einwanderern. Nicht alle von ihnen waren ausgebildete, qualifizierte Kräfte, aber alle waren entschlossen, die Armut und Perspektivlosigkeit von Flüchtlingslagern und städtischen Slums gegen einen Neuanfang zu vertauschen. Diejenigen, welche nicht Ärzte oder Krankenschwestern, Ingenieure, Universitätsprofessoren, Techniker, Handwerker oder Künstler waren, erhielten Gemeindewohnungen und wurden für öffentliche Arbeiten eingeteilt. Sie bauten Straßen, dringend benötigte Wohnungen, Kanalisationen und Kläranlagen – die Infrastruktur eines modernen Lebens. Um Vorurteile und Furcht unter der einheimischen Bevölkerung zu zerstreuen, wurden Khuruchabjaner bei der Vergabe von Wohnraum und Arbeitsplätzen bevorzugt und erhielten staatliche Beihilfen zur Erlangung besserer
beruflicher Qualifikation. Die Gefahr der Überflutung des Arbeitsmarktes mit billigen, ungelernten Arbeitskräften entstand trotzdem nicht, weil diese in großem Umfang von den reichen Ölstaaten der Region aufgesogen wurden, deren Bauwirtschaft und Dienstleistungssektoren fast ausschließlich von ›ausländischen Einwohnern‹ abhängig waren, von denen viele schon dort geboren waren. Zwar wurden ihnen in diesen Ländern die staatsbürgerlichen Rechte vorenthalten, doch hatten sie im Laufe der Zeit die allgemeine zivilrechtliche Gleichstellung errungen und durch garantierte Mindestlöhne bescheidenen Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung. Nach der Normalisierung der Beziehungen beschränkte sich Israels Aktivität in Khuruchabja darauf, daß sie den islamischen Pilgern, welche die großen Moscheen im heiligen Jerusalem besuchen wollten, Vorzugsvisa zur Einreise erteilten. Darüber hinaus hielt Israel sich von allen inneren Angelegenheiten des Landes fern. Wenn die neugeschaffene Republik ihre Modernisierung zum Erfolg führen wollte, mußte sie es selbst tun. Oder scheitern. Die wichtigen längerfristigen Weichenstellungen wie der Aufbau eines neuzeitlichen Schulsystems und einer Ausbildungsordnung mit dem Ziel, einen gesunden Mittelstand von Handwerkern, Technikern und Facharbeitern zu schaffen, würden erst nach Jahren Früchte tragen und nahmen sich weniger aufregend aus, aber das Interesse an Khuruchabja bestand fort; das Land kehrte nicht wieder in seine frühere Unbekanntheit zurück. Es würde immer Fanatiker geben, jüdische wie moslemische, die sich allem widersetzten, was auch
nur entfernt wie Kapitulation aussah. Jahrhunderte von Vorurteilen und Haß lassen sich nicht über Nacht vergessen. Khuruchabja hat noch einen weiten Weg zu gehen, und die übliche Vetternwirtschaft und die Geschäfte durch Bakschisch sind zu fest verwurzelt, um innerhalb kurzer Zeit zu verschwinden. Die Karriere islamischer Staatslenker ist niemals beneidenswert gewesen; der Balanceakt zwischen Religion und Säkularismus aufreibend und oft unbefriedigend. Die wenigen, die es fertigbringen, ohne zu Despotismus und Blutvergießen zu greifen, sind bewundernswerte und unterschätzte Helden. Natürlich haben Ibrahims Rivalen wie in den alten Zeiten seiner Vorgänger eine unglückliche Tendenz, auf geheimnisvolle Weise zu verschwinden, wenn sie zu aufmüpfig werden; was von Larrys Familie übrig blieb, zog sich vernünftigerweise zu ihren Schweizer Bankkonten und den Skipisten Europas zurück; und die Ulemas und Muftis aller islamischen Sekten waren verständlicherweise erbittert über die Maßnahmen der neuen Regierung, in denen sie eine vom satanischen Westen gesteuerte Perversion des Islam sahen, die sie ihres dominierenden politischen Einflusses beraubte. Ahmad lieferte weiterhin Reportagen für GBN und mäßigte seine wilde Rhetorik in dem Maße, wie sein Englisch sich besserte und er mit zunehmender Erfahrung kultivierter wurde. GBN lieferte Decoder für mehrere arabische Dialekte, als selbstgemachte Parabolantennen wie Pilze überall aus den Dächern des kleinen Wüstenlandes zu wachsen begannen. Hamids Netzwerk hinderte die CDI und alle mißvergnügten Überbleibsel entmachteter Fraktionen daran, den vorwitzigen Jungen umzubringen oder seine nachrichtenhungrigen Nachbarn zu
bedrücken, bis sein vom Fernsehen zusammengeschweißter Stamm so groß geworden war, daß frühere Feinde sich auf das uralte Spiel besannen und sich der Seite des Gewinners anschlossen. Das kleine Khuruchabja erlebte sein erstes Wirtschaftswachstum seit Jahrhunderten. Es war schwierig, mit der sich entwikkelnden und gedeihenden Mittelklasse zu argumentieren, aber angesichts des langsam wachsenden Wohlstandes schienen die Ulemas und Muftis etwas überrascht von der offenen Aufnahme, die der Islam neuer Prägung fand. Ibrahim hatte mit seiner Ankündigung Ernst gemacht, und allmählich gaben die Kleriker ihren vergeblichen Kampf um das Zurückstellen der Uhr auf und begannen nach Wegen zu suchen, wie die alte Religion dieser neuen Zeit gerecht werden konnte, ohne Zugeständnisse in der Substanz zu machen. Diejenigen, welche fortfuhren, im Namen Allahs Gewalt und Tod den Ungläubigen zu predigen, sahen sich in mehr als einer Hinsicht ohne Unterstützung, während jene, die einen Islam der Liebe und Barmherzigkeit predigten, politisch und finanziell von Ibrahims Regierung gefördert wurden. Institutionen zum Studium des Islam breiteten sich im ganzen Land aus, und die Regierung hob ständig hervor, daß der Islam traditionell Politik und Religion integriert habe. Dies sei eine islamische Blüte, eine islamische Wiedergeburt, und der Dschihad, der Heilige Krieg gegen die Ungläubigen, werde mit friedlichen Mitteln wirtschaftlich geführt, um das Land durch Wohlstand zu stärken. Es war ein ehrgeiziges Programm, und es gibt noch immer zahlreiche Probleme, die der Lösung harren, aber Khuruchabja beginnt sich langsam aus dem in Armut erstarrten Mittelalter
zu lösen und in seiner eigenen islamischen Renaissance aufzublühen. Jedenfalls berechtigt der von Ibrahims Regierung schwungvoll und energisch eingeleitete Neuanfang zu einigen Hoffnungen. Mit etwas Glück werden er und seine idealistischen Helfer überleben. Und das wird, so scheint es, auch uns beschieden sein. Nach dem aktuell aufgemachten Dokumentarbericht und dem Interview mit Ibrahim erlebte mein Ruhm einen plötzlichen Aufschwung, was mich sowohl erleichterte wie auch mit Unbehagen erfüllte. Die CDI bekam eine dringend benötigte Spritze öffentlicher Sympathie, die ihr sehr zustatten kam, als im Kongreß über ihr Budget entschieden wurde. Der leitende Direktor sandte mir eine seltsame, reservierte Glückwunschbotschaft, die jede Erwähnung John Haltons vermied. Ein wackliger Waffenstillstand, aber gleichwohl ein Waffenstillstand. Arlando richtete eine Feier für Halton und mich (und unsere Leibwächter) im Sicherheitskomplex aus. Nach zehn Minuten hatte ich genug von den gekünstelten Glückwünschen und Gratulationen und verbrachte den Rest des Abends mit einer Überdosis nichtssagender Unterhaltung und Egoismus. Ich stand mit gefrorenem Grinsen herum, das leere Champagnerglas in einer Hand, während ich zuhörte, wie einer der anderen Bewohner des Sicherheitskomplexes, ein aufgeblähter südamerikanischer Politiker im Exil, einem bis zu seiner Zeugenaussage getarnten Mafioso-Informanten im Beisein von dessen Anwalt und einem detektivischen Reporter wortreich versicherte, daß sein Geheimnis besser sei und die Welt in ihren Grundfesten erschüttern werde, er es aber nicht ohne einen wirklich guten Buchvertrag preisgeben könne. Als ich es nicht
mehr aushalten konnte, machte ich mich auf die Suche nach John. John war bei den Damen der GBN-Zentrale ziemlich populär geworden, seit er dort als neuer Moderator die Arbeit aufgenommen hatte. Seine augenblickliche Berühmtheit und seine geheimnisumwitterte Ausstrahlung als ehemaliger CDI-Spion hatte seine Attraktivität verzehnfacht, und ich mußte mit mir kämpfen, um nicht lächerlich unsicher und eifersüchtig zu werden, wenn irgendeine vollbusige, langbeinige Blondine sich an ihn heranmachte. Es gelang mir nicht immer, diese Gefühle im Zaum zu halten, und dieser Umstand, verbunden mit meinem hitzigen Temperament und scharfen Mundwerk machte alle wahren Freundschaften problematisch. John gelang es immer, sich mit harmloser Freundlichkeit aus der Affäre zu ziehen. Er kommt mit allen zurecht, und alle finden ihn so nett, so süß und wundervoll. Einer, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Ich sah ihn in einer Ecke in die Enge getrieben, wo er ein intensives und kompliziertes Geselligkeitsritual durchmachte und all die sexuellen Andeutungen und Einladungen seitens der gelangweilten Ehefrauen abwesender zwielichtiger Millionäre zu enträtseln suchte. Nicht alle seiner Bewunderer waren weiblichen Geschlechts, wie ich erheitert bemerkte. Bis ich mich durch die schwitzenden Körper gedrängt hatte, um ihn zu retten, war er verschwunden. Nun, auch gut. Ich machte kehrt und spähte zur Terrassentür hinaus in den Garten, wohin mehrere Gäste auf der Suche nach frischer Luft geflohen waren. Einer der Gäste, die Arlando eingeladen hatte, ein kleiner Mann mit seltsamer Haut, die aussah, als hätte er die
Falten und Runzeln in seinem Gesicht einmal zu oft chirurgisch dehnen lassen, kam auf mich zu, die dünnen Lippen in einem raubtierhaften Lächeln gespannt. Er hatte mich schon den ganzen Abend wegen der Verfilmungsrechte geplagt, die er zur Produktion einer fiktionalen Fernsehserie auf der Basis unserer Abenteuer in Khuruchabja benötigte. Eine Menge Geld, hatte er verstohlen geschnauft, während er heimlich verschiedene nicht erogene Zonen meines Körpers gedrückt hatte. Eine Menge Geld. Plötzlich fand auch ich, daß der Garten eine gute Idee sei. Ich entdeckte John allein am Ende des Gartens, wo er einen Stapel zusammengebundener Rosensträucher mit zugedeckten Wurzelballen betrachtete, die ein Gärtner zurückgelassen hatte, um sie am nächsten Tag zu pflanzen. Er befand sich in einer seiner Trancezustände. Ein paar Schritte entfernt blieb ich stehen und wartete. Obwohl die Anwandlungen weniger häufig waren als in der ersten Zeit, konnte er durch beinahe alles in einen Zustand geistesabwesender Tagträumerei versetzt werden, sei es ein Fleck an der Wand, ein Knopf an seinem Hemd, ein Bündel Rosensträucher, die an einem Zaun gestapelt waren. Vielleicht hatte der Stress der Party es ausgelöst, ich weiß es nicht. Ich hatte gelernt, ihn einfach in Ruhe zu lassen, wenn sein Bewußtsein abschaltete. Er starrte mit absoluter Konzentration auf die Rosensträucher, während Leute vorbeischlenderten und schwerer Fliederduft und Gelächter in der Abendluft schwebten. Er hatte auch die raubgierige Aufmerksamkeit einer der bekannteren Filmschauspielerinnen gefunden, die häufig ihre politischen Freunde hier besucht, wenn sie nicht Filme dreht
und eine neue Überdosis Ruhm einheimst. Ich fing sie ab, bevor sie ihn erreichte. »Hi«, sagte ich munter und vertrat ihr den Weg mit einem großen, freundlichen Lächeln und meinem stämmigen kleinen Körper. »Furchtbar heiß da drinnen, nicht?« »Gott ja, kaum auszuhalten«, sagte sie mit erzwungener Höflichkeit, verärgert, daß ich sie daran gehindert hatte, ein paar ungestörte Minuten mit John zu verbringen. »Ja, furchtbar heiß«, bestätigte ich geistlos. Sie musterte mich, und ich wußte, daß sie sich wunderte, was ein junger, gutaussehender Mann wie John in einem alten, unattraktiven Wauwau wie mir finden konnte. Sie war fast einen Kopf größer als ich, alles davon Beine, und wog zehn Pfund weniger, die hübsch über den Rest ihres Körpers verteilt waren. Sie trug ein ziemlich knappes Kleid, um ihre vollkommene Figur zur Schau zu stellen, die Art von aufreizender Kleidung, die ich auch gern getragen hätte, in der ich aber lächerlich aussehen würde. Sie lächelte mit ihren blendendweißen, vollkommenen Zähnen zu mir her, aber ihre lang bewimperten Augen blickten immer wieder verführerisch in Johns Richtung. Bald merkte ich erfreut, daß sich Enttäuschung in ihren Zügen malte. Ihr schlauer und nicht allzu subtiler Versuch, Johns Aufmerksamkeit direkt unter meiner Nase auf sich zu ziehen, erhöhte meine Temperatur, aber John blieb katatonisch. Nicht einmal die Verlockung ihrer gebräunten, glatten Schenkel, die bei jedem Schritt suggestiv aneinanderrieben, konnte diesen Bann brechen. »Hat er indisches Blut oder was?« fragte sie und bewunderte
ihn über meine Schulter hinweg. Es mußte sie hart ankommen, nett zu dem häßlichen kleinen Frauchen zu sein. Sie hatte Chuzpe, das war nicht zu leugnen. »Ich meine, macht er in Buddhismus und Meditation und dergleichen?« »Das könnte man sagen«, pflichtete ich ihr bei. John blickte weiter auf die Rosensträucher, eingesperrt in seine persönliche Träumerei. »Ich wußte es. Er ist, wissen Sie, so im Einklang mit der Natur und alles.« Ich lächelte höflich und ersparte mir die Mühe, sie aufzuklären. Tatsächlich hat John kein Auge für die Natur. Er möchte sie verstehen, er möchte alles verstehen, aber im Einklang mit der Natur ist er nicht. Er hat es schwer genug, im Einklang mit sich selbst zu sein. Vielleicht hielt er in den von Nanos zerrissenen Winkeln seines Geistes nach seinem eigenen Mahdi Ausschau. Endlich gab sie auf, schenkte mir einen verachtungsvollen Blick, der ihre Einschätzung meiner Person überaus deutlich machte, bevor sie mit elegantem Hüftschwung zurück zu einem anerkennenderen Publikum ging. Als John in die Wirklichkeit zurückkehrte, verschreckt und schweigend, verließen wir die Party und gingen heim. Das war vor ein paar Jahren, und bis vor ein paar Tagen hatte er keinen weiteren Anfall dieser Art. Ich trage einen Ring an der linken Hand und unterschreibe meine Schecks heutzutage mit ›Kay Munadi Halton‹. Wir sind allerdings nicht gesetzlich verheiratet, da John im juristischen Sinne keine Person ist. Das macht nichts. Wir bekamen unsere Kontoauszüge mit der Post, mit unse-
ren ›verheirateten‹ Namen in der Anschrift. John setzte sich und hielt die Kontoauszüge im Schoß, wo er sie länger als eine Stunde anstarrte. Ich machte mir eine Tasse Kaffee und lehnte am Türrahmen, wartete geduldig, daß er zu sich käme. Der Kaffee war längst ausgetrunken, und ich war drauf und dran, aufzugeben, als er mit runden Kinderaugen zu mir aufblickte. »Was ist?« »Es gibt nur einen«, sagte er in Verwunderung. »Nur einen was?« »Nur einen John Halton.« Das stimmt. Sie töteten alle anderen; er war der einzige seiner Serie, der übriggeblieben war. »Ich bin einzigartig«, sagte er ehrfürchtig. Ich setzte mich zu ihm und nahm seine Hand. »Das warst du immer.«