Hütet euch vor Harry
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 129 von Jason Dark, erschienen am 02.01.1992, Titelbild: Olivi...
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Hütet euch vor Harry
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 129 von Jason Dark, erschienen am 02.01.1992, Titelbild: Oliviero Berni
Harry war plötzlich da! Niemand wußte, woher er gekommen war, aber er wollte seine blutigen Spuren in London hinterlassen, so wie es ihm der alte Fluch befahl. Und Harry griff an. Raffiniert, hinterlistig, mit der List des Teufels ausgestattet. Wir kamen ihm viel zu spät auf der Spur. Da wußten wir bereits, daß Harry ein Kindermörder war und aus der tiefen Vergangenheit gekommen war. Sein neuestes Opfer hatte er sich bereits ausgesucht. Es war Johnny Conolly!
Damals Harry mußte in den Keller. Harry haßte den Keller. Er haßte die Dunkelheit, in der sich nichts bewegte, die aber wie ein Mantel war, der den Schrecken nur für kurze Zeit verbarg. Denn zwischen den feuchten Mauern versammelte sich alles, was sonst nur in seinen Träumen sichtbar wurde. All die fürchterlichen Gestalten, die Geister, die Monster, die Wesen aus einer Mischung zwischen Tier und Mensch, die fressenden Ungeheuer, die immer hungrig waren und die Knochen der Opfer mit ihren langen Reißzähnen zermalmten. Ja, sie lauerten dort. Und Harry wußte es. Deshalb hatte er Angst. Er hatte nie weiter darüber nachgedacht. Es konnte auch sein, daß er vor etwas anderem Angst hatte, vor sich selbst, vor der eigenen Furcht und vor seiner Phantasie, die diese Schreckensbilder schuf. Er war wie immer barfuß, wie immer trug er die Lumpen. Er stank nach Keller und Abfall. Er war einer, den man trat, den man scheuchte, dessen Willen man brach. »Geh endlich, Harry!« Er hörte die keifende Stimme seiner Mutter. Er haßte sie. Nicht nur die Stimme, die so schrill klang. Er konnte seiner Mutter keine Liebe entgegenbringen, denn sie war es schließlich, die ihm diese fürchterlichen Träume brachte, wenn sie wie ein Moloch aus der Tiefe hochstieg und sich als schauriges Wesen mit langen Krakenarmen präsentierte, die alles umfingen – auch ihn. Sie hatte den Befehl nur einmal gegeben und sich dann abgedreht. Er hörte ihre Schritte verklingen und blieb an der Kellertür stehen. Harry wußte nicht, ob die Stufen der Treppe aus Lehm oder Steinen bestanden, wahrscheinlich aus beidem. Sein Blick glitt nach unten. Dort schwamm in der tiefen Dunkelheit ein heller Fleck. Abgegeben wurde er von einem einsamen Öllicht, das aber nur die wenigsten der tiefen Schatten vertreiben konnte. Sie hatten sich dort unten eingenistet, waren immer da, lauerten auf die, die in den Keller gingen. So wie Harry. Es gab keinen besonderen Grund, weshalb ihn die Mutter losgeschickt hatte. Er hatte aufräumen sollen, mehr nicht. Nichts holen, nichts anstreichen, nur aufräumen. Er kannte auch den Grund. Sein Gesicht verzog sich, als er daran dachte. Sie wollte ihn nicht sehen, sie wollte, daß er ihr aus den Augen ging. Vielleicht kam wieder einer der Männer zu ihr. Seine Mutter kannte viele davon, sehr viele.
Sie brachten oft Wein und Schnaps mit, aber auch Geld, und er hatte sie mit den Männern zusammen lachen hören, während er vor die Tür oder in den Keller geschickt wurde. Seine Mutter haßte ihn. Sie hatte ihn nie gewollt. Sie hatte auch davon gesprochen, daß er nicht mehr lange bei ihr bleiben würde, daß er einmal weg müßte. Für immer weg… Harry zog die Nase hoch. Das Gefühl, weinen zu müssen, war sehr stark. Es schuf einen Druck in seiner Kehle, ebenso wie der Druck hinter den Augen, die sich allmählich mit Feuchtigkeit füllten. Harry war nicht verhärtet, er konnte weinen, und manchmal brach es aus ihm hervor. Aber nicht jetzt, er wollte sich zusammenreißen und ging die breiten Stufen hinab. »Bist du im Keller?« Auf halbem Weg erreichte ihn die Stimme seiner Mutter, und Harry zuckte zusammen. »Bist du im Keller?« »Ja…« »Gut, Harry, gut!« hörte er nach einer kleinen Pause. »Dann bleibe auch dort, hast du gehört? Du mußt dort bleiben, bis ich dich rufe, Harry!« »Ja, Mutter!« »Das ist schön, das ist sehr schön!« Er hörte sie lachen. Diesmal klang es nicht gemein, sondern fröhlich und heiter. Sie schien gute Laune zu haben. Wahrscheinlich wartete sie wieder auf einen der Männer, denn das kam immer öfter vor. Er konnte genau sehen, wo die Treppe endete, denn genau dort hörte auch der bläuliche Schein des Öllichts auf. Er bildete praktisch eine Grenze mit der letzten Stufe. Harry hatte sie bald erreicht. Er hörte seine eigenen Schritte, wie sie über die Stufen kratzten. Er wußte auch, daß hier unten zahlreiche Tiere lebten. Käfer, Würmer und Insekten. Sie verkrochen sich in den Spalten und Rissen, und oft fühlte er sich auch wie ein solches Tier, denn er mußte sich ebenfalls immer verkriechen und den Menschen aus dem Weg gehen, besonders seiner Mutter. Aber vor den Ratten konnte er sich nicht verkriechen. Sie lebten nicht nur im Keller. Er hatte sie schon im Haus gesehen, und in der Nacht hörte er oft genug das Trappeln ihrer Füße, wenn sie durch ein Zimmer huschten oder mal an den Wänden kratzten und nagten. Sie waren immer da, besonders aber im Keller. Harry ließ die Treppe hinter sich. Das Licht hätte nicht zu brennen brauchen, er fand sich hier im Dunkeln zurecht. Er wußte nicht, was er aufräumen, wo er anfangen sollte. Es war einfach zu schlimm, denn im Keller lag alles durcheinander. Alte Lumpen, Holzstücke, es lagen dort Scherben, Papier und Stroh, und die Ratten hatten sich in dem Wust zahlreiche Verstecke geschaffen.
Auch jetzt hörte er sie rascheln, das Tappen ihrer Füße, das leise Fiepen. Sie ärgerten sich über ihn. Das Licht kannten sie, aber sie haßten es, daß er gekommen war. Einfach so war er gekommen, hatte sie in ihrer Ruhe gestört. Es war ihm egal. Er ging weiter. Seine Schritte schleiften über den schmutzigen Boden, als sollten diese Geräusche die Ratten verscheuchen. Er passierte das Öllicht. Es sah aus wie eine zuckende Lache, über die blasse Flämmchen hinwegtanzten. Für einen Moment blieb Harry stehen, schaute nach unten, als könnte er in einen Spiegel sehen. Aber da war nur die glatte, hellblaue Fläche mit den tanzenden, dünnen Flammen darauf, die sich hin- und herbewegten wie ein Vorhang, der manchmal über den Rand hinweggriff, als wollte er den Boden entzünden. Aufräumen sollte er. Harry verzog das Gesicht. Da gab es nichts aufzuräumen. Wenn er wirklich anfangen sollte, dann mußte der ganze Mist weggeworfen werden. Einfach aus dem Keller nach draußen, das wäre einem Aufräumen gleichgekommen, aber nicht das, was seine Mutter wollte. Sie hatte ihn nur nicht mehr sehen können, diesen verdreckten, verlumpten Halbwüchsigen, den sie geboren hatte und der nichts als eine Last für sie war. Manchmal wünschte er sich ihren Tod herbei, und er wunderte sich nicht einmal darüber, daß ihn dieser Gedanke nicht erschreckte. So gleichgültig war ihm seine Mutter geworden. Plötzlich haßte er das Öllicht. Er hätte die Schüssel mit der Flüssigkeit am liebsten umgetreten, aber er war auch schlau. Es war nicht gut, die Mutter so offen zu ärgern, er wußte ja, daß es andere Möglichkeiten gab. Ganz andere… Wenn er an den Keller dachte, dann fielen ihm seine Alpträume ein, in denen all die fürchterlichen Gestalten erschienen, vor denen er sich während des Schlafs fürchtete. In seinen Träumen verließen sie die Gestade der Finsternis, in die sie sich sonst zurückgezogen hatten. Da lebten sie, da ging es ihnen gut, da fühlten sie sich wohl. Aber Harry wußte auch, daß es sie nicht nur in seinen Träumen gab, denn sie waren wirklich vorhanden. Sie gehörten zu denen, die die Dunkelheit liebten und sich auch tagsüber dort verborgen hielten. Und wo war es immer dunkel? »Im Keller!« Er lächelte, als er daran dachte, einige kleine Schritte in die linke Richtung ging, bis er an einer Wand landete, die in der Finsternis nicht zu sehen gewesen war, denn bis zu dieser Stelle reichte der Schein des Öllichts nicht.
Harry blieb dort stehen. In den ersten Sekunden klopfte sein Herz noch lauter als gewöhnlich, dann aber hatte er sich daran gewöhnt und wartete ab. Er konzentrierte sich auf die Dunkelheit, hielt die Augen weit offen und starrte in die Schwärze, die ihm nicht leer vorkam, denn dort lauerte jemand. Es waren nicht sichtbare Wesen, es waren die anderen, die Stimmen, es waren die, die auch flüstern konnten und die ihn eigentlich erwartet hatten, so wie sie ihn immer erwarteten, wenn er in den Keller kam. Aber heute würde es endgültig werden, das wußte er auch. Da fiel der Vorhang, da war er dann für immer verschwunden. Die entscheidende Minute stand für Harry dicht bevor. Und so wartete er. Die Hände hatte er ineinander verkrallt. Er gab sich der Stille hin, die er so mochte. Und doch hörte er etwas. Es waren nicht die Geräusche, auf die er gewartet hatte. Die Laute drangen durch die noch offene Kellertür an seine Ohren. Er erkannte die Stimme seiner Mutter und hörte auch die eines Mannes, der sehr tief und sonor sprach. Damit konnte er nichts anfangen. Harry kam in den Sinn, daß er diese Stimme noch nie gehört hatte. Wieder ein Fremder… Egal, er wollte ihn vergessen. Das war Sache seiner Mutter. Er hatte andere Freunde. Sie waren hier, hier im Keller. Sie hockten in der Dunkelheit, sie lauerten im Schatten, sie hatten bestimmt schon auf ihn gewartet, weil heute ein entscheidender Tag für ihn war. Heute und nicht an einem anderen Tag. Und sie enttäuschten ihn nicht. Plötzlich waren sie da, und sie erreichten ihn überfallartig. Sie sprachen auf ihn ein, sie wisperten, sie redeten flüsternd und zischend, und sie drangen aus der Dunkelheit, ohne daß sich die dazugehörenden Gestalten gezeigt hätten. Es waren eben nur die Stimmen, die aber zählten für ihn, und Harry preßte sich noch härter gegen die Wand. Sein Gesicht war bisher unbeweglich gewesen, nun aber verzogen sich seine Lippen zu einem breiten Lächeln, als hätte er allein eine wundersame Botschaft erhalten. Nur für ihn waren sie da. Und er war froh darüber, denn sie waren die einzigen, die ihm trauten, die sich über ihn freuten. Er hatte sich niemals die Frage gestellt, wo sie wohl hergekommen sein konnten. Sie waren da, und er hatte sie akzeptiert. Geisterstimmen… Aus der tiefen Finsternis an die Oberfläche gestiegen, unheimlich, nie laut, nur flüsternd und wispernd, so daß er Mühe hatte, ihre Worte zu verstehen.
Anderen hätten die Stimmen Angst eingejagt, ihm aber nicht. Er mochte sie, weil er wußte, daß sie untrennbar mit ihm verbunden waren. Und niemals hatte er sie so laut gehört wie an diesem Tag, da er allein in der Dunkelheit stand und sich auf die Stimmen konzentrierte. Harry hielt die Augen weit offen. Er konnte nichts sehen. Das Licht erschien ihm so weit entfernt wie eine Insel im Meer. Es existierte für ihn nicht, nur die Stimmen waren wichtig. Sie lockten, aber sie erklärten ihm auch, daß jetzt die Phase erreicht war und er sich bestimmt darauf eingerichtet hatte, denn schon vorher war er gewarnt worden. Die Phase war nahe, sehr nahe… Er konzentrierte sich auch weiterhin auf das geheimnisvolle Wispern und lauschte jedem Wort nach. Da mußte ihm einfach die Botschaft immer und immer wieder übermittelt werden. Er konnte sie hören, er wartete auf ihre Befehle, und mit seinen Händen strich er über die Lumpen hinweg, die seinen Körper bedeckten. Ein altes, schmutziges Hemd, eine Hose, deren Stoff nur bis zu den Knien reichte. Schuhe trug er keine… Er konnte plötzlich seine Hände nicht mehr ruhig halten. Immer schneller bewegten sie sich über den Körper, die Finger krümmten sich, und die Nägel drangen plötzlich durch den Stoff. Er spürte sie auf seiner Haut. Sie waren so scharf geworden wie Messerspitzen. Sie hatten sich verändert… Krallen! Er atmete heftiger, während die Stimmen auf ihn einpeitschten. Obwohl sie flüsterten und zischelten, hörten sie sich laut an. Sie hatten ihn überfallen, er befand sich in ihrem Bann, sie waren einfach beherrschend, und sie sorgten dafür, daß sein Blut sich erwärmte und wie heiße Lava durch seine Adern rann. Es strömte in den Kopf hinein, breitete sich dort aus, so daß er Stiche und Explosionen spürte. Und seine Nägel wuchsen. Er konnte sie nicht mehr über seinen Körper gleiten lassen, sonst hätte er sich tiefe Wunden zugefügt. Er winkelte die Arme vom Körper ab, sie stießen gegen die Wand. Da er die Finger gekrümmt hielt, kratzten die Nägel darüber hinweg. Aber es blieb nicht bei der Veränderung seiner Hände. Auch im Mund tat sich etwas. Die Zähne schössen hoch, blieben aber im Kiefer stecken. Sie drückten nach vorn und wuchsen zu mehr als der dreifachen Länge an. Seine Haut brannte, als würden kleine Flammen innen und außen darüber hinwegstreichen.
Als dies alles eingetreten war, da wußte Harry, daß ihn das Schicksal wieder eingeholt hatte. Sein Mund stand offen, die weit aufgerissenen Augen glänzten wie im Fieber. Er würde es schaffen. Er würde diesen Tag, diese Stunde genießen. Nichts konnte ihn davon abhalten. Er war nicht mehr er, er stand dicht davor, von dieser Welt zu verschwinden. Selbst die Ratten fürchteten sich nun vor ihm. Sie huschten in Deckung und trauten sich nicht mehr hervor. Von all dem ahnten weder Harrys Mutter noch deren Besucher etwas. In den letzten Minuten hatten sie leise miteinander gesprochen, denn Harry sollte nichts von dem brutalen, gemeinen und tödlichen Plan erfahren. Wie eine Klette hing die Frau am Hals des Mannes und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Sie hatte ihn zurück auf den primitiven Tisch gedrückt und fragte immer wieder: »Würdest du es tun? Wirst du es mir zu Gefallen tun, mein Lieber?« »Ja, ja…«, stöhnte der Mann, der schrecklich erregt war und mit seinen Händen schon das Kleid der Frau aufgerissen hatte, so daß ihre schweren, weißen Brüste wie Kugeln aus dem Ausschnitt sprangen. Sie entzog sich ihm mit einer hastigen Bewegung, ordnete ihr Kleid, lachte ihn an und sagte: »Geh, William, geh hinunter! Geh zu ihm. Und dann töte ihn…« William richtete sich auf. Er sah aus, als wäre er aus einem Traum erwacht. Aber die Frau mit den struppigen Haaren, dem sündigen Körper und den wilden Augen, die er vor sich stehen sah, war leibhaftig und weder eine Traumgestalt noch eine Einbildung. Er dachte an ihren Körper mit den schwellenden Formen und erinnerte sich, noch nie eine solche Frau besessen zu haben. Getötet hatte William schon oft, sowohl Tiere als auch Menschen. Und jetzt hetzte sie ihn wieder auf. »Wie willst du ihn umbringen? Ich kann dir ein Messer geben, aber du kannst ihn auch erschlagen, das ist mir egal.« Sie ballte die rechte Hand zur Faust und stieß sie in die Luft. »Für mich ist nur wichtig, daß er nicht mehr lebt und uns stören kann.« William nickte. Er schwitzte, er stank. Er strich sein verklebtes 1 laar zurück, atmete heftig und brauchte erst einmal eine Zeit der Besinnung, um seine Gedanken zu ordnen. Die gab ihm die Frau nicht. »Hast du dich entschieden, wie du ihn töten willst?« »Gib mir das Messer!« Ein triumphierendes Lächeln umspielte ihre Lippen. Es zeigte, wie zufrieden sie war. »Ja«, lobte sie ihn, »das ist gut. Damit bin ich voll und ganz einverstanden. Wenn du dann aus dem Keller zurückkehrst, gehöre ich dir.« »Danke.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du brauchst dich noch nicht zu bedanken. Das regeln wir später. Erst werde ich dir etwas geben.« Sie drehte sich um und zerrte eine Schublade auf, die klemmte. Aus ihr holte sie ein Messer. Sie nahm es für alles. Um Fleisch und Geflügel zu schneiden, aber auch, um Pflanzen zu kappen, und sie lächelte das Messer mit der breiten Klinge an. Als sie damit herumfuhr und es William präsentierte, schreckte dieser zusammen. »He, was ist? Hast du Angst?« fragte sie. »Nein, ich…« »Er ist doch nur ein Junge von vierzehn Jahren. Denk daran, welch eine Belohnung dir zusteht, wenn du es getan hast. Dann hat die Spielerei ein Ende, dann ist alles anders geworden, dann werden wir beide den Spaß unseres Lebens haben. Klar?« »J… ja…« Sie reichte ihm das Messer. William bewegte die Lippen, ohne etwas zu sagen. Er schluckte, er holte tief Luft. Die Klinge verschwamm vor seinen Augen, aber er dachte auch an die Worte der Frau, die ihm den Himmel auf Erden versprochen hatte. Endlich würden sich seine Träume erfüllen. Alles andere war für ihn unwichtig. Er nahm das Messer entgegen. »Gefällt es dir?« William nickte. An seinem Hals rannen kleine Schweißperlen hinab. Sie hinterließen auf der dünnen Haut feuchte Bahnen. Die Frau trat vor. Eine Hand legte sie auf seine Schulter. Das Haar stand ihr struppig vom Kopf ab, ihre Haut war gerötet, die Augen schienen in einem unheimlichen Feuer zu brennen. »Bald gehöre ich dir, William, sehr bald schon. Räum dieses letzte Hindernis aus dem Weg, und ich werde dir den Himmel auf Erden bereiten.« »Ich mache es, Liebste.« Sie hatte nichts dagegen, von ihm Liebste genannt zu werden, und lächelte sogar. »Geh jetzt. Du kennst den Weg. Ich habe ihn dir oft genug gezeigt, nun weißt du auch den Grund.« »Was wird er sagen?« »Nichts.« Unwillig schüttelte sie den Kopf. »Er hat nichts zu sagen. Ich habe ihm erklärt, daß er den Keller aufräumen soll. Ich schicke ihn oft weg, und du brauchst auch keine Furcht davor zu haben, daß du ihn nicht findest, denn im Keller brennt ein Öllicht. Es reicht aus, daß du dich orientieren kannst. Du siehst also, ich habe für alles gesorgt, ich habe alles gut geplant.« Das hatte sie. Und wäre William intelligenter gewesen, hätte er auch mißtrauisch werden und darüber nachdenken müssen, daß ihm eventuell
das gleiche Schicksal bevorstand wie dem Jungen. Noch einmal wagte er einen Einwand. »Er ist dein Sohn.« »Das ist er nicht!« »Aber…« »Kein aber, William, ich habe ihn aufgesammelt. Ich habe ihn zu mir ins Haus genommen, das ist alles. Er war ein Straßenkind, wie es viele davon gibt. Er heißt Harry, mehr nicht. Einfach Harry. Du brauchst dich vor ihm nicht zu fürchten.« »Das tue ich auch nicht.« »Wo ist dann das Problem?« Sie breitete die Arme aus und lachte ihn breit an. »Ich meinte nur.« »Nichts meinen, William, nur etwas tun. Alles andere kannst du vergessen.« Sie hauchte ihm einen Kuß zu. »Denk daran, der Keller wartet auf dich.« »Das weiß ich.« Er drehte sich um, er tat es schwerfällig, als müßte er zunächst noch nachdenken. In seiner Kehle saß ein Würgen, aber das sagte er der Frau nicht. Sie hätte in ihm sonst noch einen Schwächling gesehen, was er nicht wollte. So dachte er nur an ihren Körper, den er endlich ohne Kleidung sehen wollte. Bisher hatte sie sich nur streicheln lassen, war ihm immer wieder ausgewichen, aber es würden andere Zeiten kommen, darauf konnte sie sich verlassen. Und an diese Zeiten würde er denken, wenn er in den Keller ging und es tat. Zustechen. Immer wieder zustechen! Sie führte ihn bis an die Kellertür, die nicht mehr war als ein alter Verschlag, zudem sehr niedrig, so daß er seinen Kopf einziehen mußte. Vor ihm lag die Treppe. Dahinter schwamm das Licht wie ein kleiner Teig in der Dunkelheit zwischen den feuchten, muffig riechenden Wänden. Er hatte plötzlich ein wenig gutes Gefühl. William wußte den Grund nicht, aber dieser Keller strahlte etwas ab, das ihm Furcht einflößte. Der schien anders zu sein als ein normaler Keller. Er beherbergte das Grauen… »Geh endlich!« »Ja, ja.« Die Stimme lockte ihn, und er dachte daran, daß diese Frau bald unter ihm stöhnen würde. William zog den Kopf ein und trat auf die erste Stufe. Er ging weiter und hatte dabei den Eindruck, als würde er einen Vorhof zur Hölle betreten. Unter ihm verborgen in den Schatten der lichtlosen Umgebung, war etwas, das er als schleichendes Gift bezeichnete. Es kam immer näher, es drängte auf ihn zu, es machte ihn verrückt und raubte ihm beinahe den Atem. Aber er ging.
Das Licht war unruhig, die dünnen Flammen waren wie durchsichtige Wellen, als sie über die Flüssigkeit tanzten. Er sah den Jungen nicht, aber er war da, er glaubte sogar, ihn zu hören. William umklammerte den Messergriff fester. Er war aufgerauht, nicht so glatt, damit er gut gehalten werden konnte. Das brauchte er auch, denn der Schweiß drang ihm jetzt aus allen Poren. Wo steckte der Junge? Den Rest der Treppe hatte er ziemlich schnell hinter sich gelassen. Er blieb für eine Weile stehen und drehte den Kopf. Die Frau wartete in der offenen Tür. Sie winkte ihm noch einmal zu und verschwand. William blieb zurück. Töter und Opfer. William hatte bisher nichts von dem Jungen gesehen. Das änderte sich auch nicht, aber dafür hörte er ihn. Es waren unerklärbare Geräusche, die durch den Keller drangen, keine Stimmen, kein Lachen und auch kein Weinen. Etwas anderes… Er kam nicht damit zurecht. Fest stand, daß ihm diese Geräusche, die sich noch verstärkten, eine unerklärliche Furcht einjagten. Ein Schmatzen, ein Knacken und Gurgeln, vermischt mit klatschenden Lauten, als würden feuchte Lappen auf den Kellerboden geschlagen. Hin und wieder vernahm er ein Würgen, dann wiederum hörte es sich an, als würden scharfe Zähne irgend etwas zerreißen, womit sie große Mühen hatten, als würden irgendwelche Sehnen ihnen mächtigen Widerstand entgegensetzen. Die Geräusche blieben. Sie drangen aus dem Dunkeln. Und plötzlich konnte er etwas sehen. Dort bewegte sich ein Schatten. Weder hoch noch breit, mehr ein Klumpen, der über den Boden rollte und sich dabei doch nicht von der Stelle bewegte. Er blieb auf einem Fleck. Dort ruckte er zur Seite, nach vorn, nach hinten, erfüllt von einem Knacken, Reißen und Schmatzen, als wäre ein Monster dabei, ein Opfer mit Haut und Haaren zu verschlingen. Williams Magen rebellierte. Die Aufregung produzierte Säure, er bekam Sodbrennen und spürte den scharfen Geschmack des Magensafts im Mund. Was war das nur? Er schaute genauer hin, sah aber nichts. Nur eben diese schattenhaften Bewegungen, die er sich noch immer nicht erklären konnte. Das Messer kam ihm plötzlich lächerlich vor. Was war die Waffe schon gegen das, das sich in der Finsternis des Kellers abspielte? Plötzlich wollte er es nicht, mehr hören. Er dachte auch nicht mehr an den Mord, seine Gedanken waren einzig und allein auf das nicht sichtbare Unheil fixiert.
Etwas kratzte heftig über das Gestein. Ein scharfer Geruch erreichte seine Nase, heftig zuckende Bewegungen ließen seine Aufmerksamkeit noch weiter ansteigen, dann aber war alles vorbei. Er sah nichts mehr, er hörte auch nichts. Es war still… Sein eigener Körpergeruch widerte ihn an. Er stand leicht vorgebeugt da, hielt den Mund offen. Daß dabei Speichel über seine Unterlippe tropfte, merkte er nicht. Er hörte nur die leisen Geräusche, mit denen die Tropfen aufschlugen. William hatte den Jungen nicht getötet. Er war auf einmal sicher, daß er es auch nicht zu tun brauchte. Es war unnötig geworden. In der Finsternis des Kellers mußte sich etwas Furchtbares abgespielt haben, das mit dem Verstand nicht zu begreifen war. Es verstrich einige Zeit, in der sich William vorkam wie in einem Gefängnis eingesperrt, dessen Mauern aus einer kompakten Dunkelheit bestanden, in denen sich etwas bewegte. Diese Finsternis hier unten war nicht normal. Sie enthielt etwas, möglicherweise eine Botschaft, die er leider nicht verstehen konnte. Da war eine andere Welt hinter der unsichtbaren Mauer, und Williams Verstand reichte einfach nicht aus, um sie zu begreifen. Endlich traute er sich, den Namen des Jungen zu rufen. »Harry…?« Zuerst nur flüsternd. Dann, als er keine Antwort erhielt, etwas lauter. »Harry, was ist?« Stille… Er holte tief Luft. Mit der Zungenspitze leckte er über seine spröde und trocken gewordenen Lippen. Auch wenn er nicht eben eine Geistesleuchte war, so leicht gab er nicht auf, und er versuchte es immer wieder, ohne einen Erfolg zu erzielen. William hätte auch dort hingehen können, wo die Geräusche aufgeklungen waren, dazu fand er nicht den Mut, deshalb blieb er auf dem Fleck stehen, darauf hoffend, daß sich irgend etwas ereignete, was ihn weiterbrachte. Bei Harry tat sich nichts, aber hinter und über ihm, wo die Treppe an der Kellertür auslief. Sie wurde aufgerissen, und er drehte sich hastig herum. Eine Gestalt erschien dort. Harrys Mutter schaute in den Keller. »Na?« fragte sie. »Hast du ihn erledigt?« William holte tief Luft. »Ich – ich weiß es einfach nicht, Brenda. Ehrlich.« »Wieso?« Ihre Stimme klang wie ein Bellen. »Ja, ich weiß es nicht.« »Das ist doch Quatsch.« »Doch!« flüsterte er. »Doch, Brenda. Ich habe ihn nicht getötet, aber er lebt nicht mehr, glaube ich.«
Er hörte Brenda scharf lachen und empfand diese Antwort wie Messerstiche. »Du bist ein Versager, William, ein richtiger Versager. Ich habe mich in dir geirrt.« »Nein, das hast du nicht.« »Doch!« Er holte schmatzend Luft. »Komm doch her!« schrie er. »Los, komm her! Komm endlich!« »Und dann?« »Bringe Licht mit, Brenda«, hechelte William. »Ja, komm her und bringe Licht mit. Dann kannst du es sehen. Ich will auch, daß du es siehst. Ich will es.« »Wir brauchen kein Licht. Es ist Licht genug da. Geh hin und nimm die Schale hoch. Trage sie dorthin, wo du meinst, daß es passiert ist. Mehr kann ich dir nicht sagen.« Daran hatte er nicht gedacht. Brenda war doch klüger als er. Ja, die Schale. Er drehte sich mit müde wirkenden Bewegungen um. Ebenso müde ging er auf die Schale zu. Als er sich bückte und die Treppe hochschaute, da sah er, daß sich Brenda in Bewegung gesetzt hatte. Sehr gerade und hochaufgerichtet schritt sie die Stufen herab, als wäre sie eine Königin, die sich entschlossen hatte, durch ihr Reich zu gehen. Er nahm die Schale noch nicht. Sie war schwer. Er hoffte, daß sie nicht zu heiß geworden war. Erst als Brenda neben ihm stand und ihm zunickte, da faßte er zu. Sehr vorsichtig legte er seine Hände gegen den Rand, fühlte nach und war zufrieden, daß er die Schale mit dem brennenden Öl anfassen konnte. Er würde vor Brenda bestehen können. Das Öl war schon ziemlich weit herunter gebrannt. Als er die Schale anhob, streifte die Hitze sein Gesicht, als wollte sie ihm die Haut ablösen. Er zuckte zusammen. Dann ging er weiter. Mit kleinen vorsichtigen Schritten. Die Flammen bewegten sich auf dem Öl, und es sah so aus, als würden sie immer wieder ein Stück Finsternis zurückschieben oder einen breiten Tunnel erhellen. William hielt seinen Blick nach vorn gerichtet. Der Keller war nicht groß, die Decke sehr niedrig. Sie bestand aus Balken und festem, mit Stroh gemischtem Lehm. »Nun?« Die fragende Stimme der Frau ließ ihn zusammenzucken. »Ich weiß es noch nicht«, flüsterte er. »Wir – wir müßten ihn eigentlich schon sehen, findest du nicht auch?« »Ja, das müßten wir«, murmelte Brenda. Ihre Stimme klang auf einmal sehr nachdenklich. Sie fühlte, daß einiges nicht stimmte. Hier ging etwas
nicht mit rechten Dingen zu. Es hatte ein völlig normaler Mord werden sollen, aber… »Hier müßte er eigentlich sein«, sagte William, als er stehenblieb und die Schale ein wenig anhob. »Ich sehe nichts.« »Doch – etwas weiter vor.« »Warte, ich gehe hin.« William atmete auf, daß ihm die Verantwortung abgenommen wurde. Er traute Brenda mehr zu als sich selbst. Daß er die Schale mit dem brennenden Öl halten konnte, reichte ihm aus. Er schaute auf Brendas Rücken. Sie ging normal, nichts wies darauf hin, daß sie Furcht hätte. William bewunderte sie dafür, die Courage hatte er nicht. Dann blieb sie so plötzlich stehen, daß er erschrak und ihm die Schale beinahe aus den Händen gerutscht wäre. Er selbst hatte den Grund nicht sehen können, weil ihm der Umriß ihres Körpers die Sicht verdeckte, aber er wußte jetzt, daß sie das entdeckt haben mußte, von dem er vorher nur gehört hatte. Wie schlimm war es? Diese Frage brannte ihm auf den Lippen. Er traute sich nicht, sie zu stellen. Was war da in der Finsternis des Kellers vor ihm abgelaufen? Er wollte nicht an kalten Horror denken, an Tod und Vernichtung, aber darauf würde es hinauslaufen. Brenda ging wieder zurück. Mit kleinen, tapsigen Schritten. William trat zur Seite. Er fürchtete sich davor, daß sie gegen die Schale stoßen könnte. Brendas Holzsohlen schleiften hart über den Boden. Zudem gab sie Geräusche von sich, die mit denen zu vergleichen waren, die er in der Finsternis gehört hatte. Ein wildes Atmen oder Keuchen. Laute, die von einer bohrenden Angst sprachen, als würde etwas in ihr hochsteigen und alles in ihr überschwemmen. Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Sehr langsam drehte sie den Kopf. Ihr Blick glitt ins Leere. Auf dem Gesicht sah William einen Ausdruck, den er sich nicht erklären konnte. Dazu fehlten ihm einfach die Worte. Die Frau hob den Arm an und ließ ihn wieder sinken. »Was ist denn?« »Geh hin!« krächzte sie. »Sieh es dir selbst an!« So wie sie das gesagt hatte, gefiel es William überhaupt nicht. Er mußte sich überwinden, denn er wollte vor ihr nicht als Feigling darstehen, obwohl er am liebsten die Schale mit dem brennenden Öl gegen die Wand geschmettert und den Keller fluchtartig verlassen hätte. Dann sah er – und dachte nichts. Irgend etwas blockierte sein Gehirn. Er hörte sich atmen, schaute gegen den Boden und überlegte, was der
schwarze, fettig wirkende Klumpen bedeuten konnte, der dort lag wie ein übergroßer Ball. Er kam zu keinem Ergebnis, es war alles anders. Längst nicht mehr so wie noch vor Minuten. Er keuchte, spürte die Hitze der Flammen nicht mehr, sondern fühlte die Hände der Frau auf seiner Schulter, die ihm den nötigen Druck verliehen, damit er in die Knie ging und sich das Etwas aus der Nähe anschauen konnte. Es war der reine Wahnsinn. William schaffte es einfach nicht, dies geistig zu verarbeiten. Ein Klumpen, mehr nicht. Aber nicht nur das, denn an den Seiten sah er Blut, kleine Fleischfetzen, auch helle Stellen, wo Knochenstücke oder irgendwelche Splitter durchschimmerten. Er sah kein Gesicht, keine Augen, keine Nase oder Ohren. Es mußte alles in der Masse verborgen sein, und er entdeckte auch kein Blut, das aus der Kugel hervorgeronnen wäre. Nichts… »Was ist das?« keuchte er. Brenda stand noch immer hinter ihm. Sie schaute über seinen Kopf hinweg. Ihre Lippen zuckten, bevor sie eine flüsternde Antwort gab. »Harry hat sich selbst vernichtet, William. Er hat sich aufgefressen, verstehst du? Aufgefressen…!« William verstand und begriff nichts. Er spürte nur die kalte, grausame Furcht, die ihn in den Krallen hielt… *** Lady Sarah Goldwyn, für mich Freundin und Goldstück zugleich, erwartete mich in der Tür stehend mit einem Gesicht, als wäre alles über ihr zusammengebrochen. Ich blieb stehen und lächelte. »He, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?« »Komm erst mal rein.« Ich ging noch nicht. »Jane?« Sie nickte und sah so aus, als hätte sie Mühe, die Tränen zu unterdrücken. Auch mein Gesicht verschloß sich. Um Jane Collins ging es. Lady Sarah hatte mich angerufen und alarmiert, denn es war etwas für sie Ungeheures geschehen. Jane Collins, die Detektivin und ehemalige Hexe, lag bereits seit einem Tag und einer Nacht völlig apathisch in ihrem Bett und war kaum ansprechbar. Das wäre noch kein Grund zu großer Besorgnis gewesen, aber Jane war nicht krank, wie ein bekannter Arzt festgestellt hatte. Körperlich fehlte ihr nichts.
Sie lag nur da. Sie siechte hin. Sie war völlig aus dem normalen Leben gerissen. Dieser Zustand, davon ging Lady Sarah aus, mußte einen anderen Grund gehabt haben. Einen Grund, der tiefer lag, vielleicht sogar einen magischen. Ich schloß die Für. »Hat es sich nicht gebessert?« erkundigte ich mich. »Leider nein.« »Was macht sie?« »Nichts, John, nichts«, erwiderte die Horror-Oma flüsternd. »Sie liegt in ihrem Bett, ist so bleich wie eine Leiche, und wenn sie spricht, dann redet sie von einer unheimlichen Gefahr, die noch nicht sieht, aber spürbar ist und die sich über unseren Köpfen zusammenbraut, wobei wir sie nicht sehen können. Wir wissen also nicht, wie wir ihr begegnen sollen, das ist das Problem.« »Und sie leidet darunter.« »Du kannst dir nicht vorstellen, John, wie sehr sie leidet. Sie bekommt hin und wieder regelrechte Anfälle, dann stöhnt oder schreit sie. Andererseits verfällt sie ihn Apathie und erklärt, daß wir dagegen sowieso nichts machen können. Ich habe Jane noch niemals so erlebt, John. Das erschreckt mich schon.« »Ja, kann ich mir denken.« Die Horror-Oma strich über ihr eisgraues Haar. »Und es hat auch keinen für mich erkennbaren oder ersichtlichen Grund gegeben, der sie in diesen Zustand hätte versetzen können. Das ist alles so unerklärlich, so völlig anders und aus der Reihe. Ich komme da nicht mit. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.« Sie bewegte sich so heftig, daß die von ihrer Brust baumelnden Ketten klirrten. Die waren so etwas wie ein Markenzeichen der Sarah Goldwyn. Ich wußte, daß Janes kleines Reich in der ersten Etage lag, und schaute die schmale Treppe hinauf. »Sie liegt in ihrem Zimmer, denke ich.« »Ja.« »Dann laß uns hochgehen.« Ich wollte vorgehen, aber Lady Sarah hielt mich fest. »Bitte, John, sei rücksichtsvoll.« »Natürlich.« »Sie kann recht haben. Es ist möglich, daß sich ein schleichendes Grauen auf uns zubewegt und daß gerade sie es merkt, weil tief in ihr noch alte Hexenkräfte schlummern und sie doch sehr sensibilisiert ist. Aber das weißt du ja.« Ich lächelte Sarah Goldwyn zu. Sie trug ein buntes Sommerkleid. Die Farben waren zwar gedeckt, aber nicht jede Frau in ihrem Alter hätte sich so gekleidet. Sie war eben etwas Besonderes. Nicht nur, was ihr Hobby anging, denn sie beschäftigte sich mit allem, was zu den Begriffen Grusel, Fantasy, Okkultismus paßte. Ihre Bibliothek war
ebenso ungewöhnlich wie ihre Videothek, und sie war mir schon mehr als einmal bei meinen Fällen eine große Hilfe gewesen, wobei dann noch hinzukam, daß sie zu den Personen zählte, die ihre Nase immer in andere Dinge steckten und die schon mehr als einmal in Lebensgefahr geraten waren. Vor ihr ging ich die Stufen hoch, wo der Läufer meine Schritte dämpfte. Das Haus war alt, aber sehr gepflegt, ein richtiges Kleinod, und die Treppe bestand noch aus Holz. Die große Hitze hatte sich für ein paar Tage verabschiedet. Draußen war es kühler geworden, und diese Kühle hatte sich auch innerhalb des Hauses ausgebreitet, so daß ich von angenehmen Temperaturen sprechen konnte. Ganz oben, unter dem Dach, hatte die Horror-Oma ihr Archiv ausgebaut, eine wahre Fundgrube war es geworden, so hoch aber brauchte ich nicht zu gehen, denn Jane lebte in der ersten Etage, wo sie auch ein Bad und eine Dusche ihr eigen nannte. Ich blieb vor der hell gestrichenen Holztür stehen, klopfte zweimal an, erhielt aber keine Antwort. »Schläft sie?« Sarah Goldwyn, die neben mir stand, hob die Schultern. »Ich – ich weiß es nicht. Für mich befindet sie sich jetzt im Zustand der Ruhe, den ich aber auch nicht mag. Bei ihr ist alles zu einem Extrem geworden, das finde ich furchtbar.« Da Jane auf mein Klopfen nicht reagiert hatte, öffnete ich die Tür und schob mich über die Schwelle. Ein helles, freundliches Zimmer, das momentan ein wenig von dieser Atmosphäre verloren hatte, denn vor die beiden Fenster waren die Stores vorgezogen worden, und es sickerte nur wenig Tageslicht in den Raum, das aber das Bett erreichte. Jane Collins lag auf dem Rücken. Sie sah so aus, als wäre sie schon gestorben. Im ersten Moment erschreckte mich ihr Anblick so stark, daß ich mich innerlich verkrampfte. Da ich stehengeblieben war, drückte Sarah ihre Hand gegen meinen Rücken und schob mich vor. »Geh ruhig hinein, John. Ich habe es auch getan und mich an ihren Zustand gewöhnt.« Ich trat über die Schwelle. Sarah folgte mir. Sie schloß leise die Tür, während ich auf Janes Bett zuging, davor stehenblieb und mich dann niedersetzte. Ich nahm auf dem Stuhl Platz, der neben dem Bett stand. Schräg konnte ich in das bleiche Gesicht der Detektivin schauen, das für mich etwas Schlimmes an sich hatte, denn so kannte ich Jane Collins nicht. Das blonde Haar hatte sie sommerlich kurz schneiden lassen, und es stand etwas struppig von ihrem Kopf ab. Jane hielt die Augen geschlossen, die Hände lagen auf der Decke. Ihre Finger kamen mir lang und dünn vor, die Nägel zeigten einen blassen Glanz. Ich drehte den Kopf.
Sarah saß vor dem kleinen Tisch neben einem mit Büchern vollgestopften hellen Regal. Als sie meinen Blick auf sich gerichtet sah, hob sie die Schultern. »Keine Erklärung, John, so leid es mir tut. Ich kann dir nichts sagen.« »Passierte es einfach so?« »Ja. Praktisch von einem Augenblick zum anderen. Da sprach sie von der ungeheuren Gefahr, von einer grauenvollen Rückkehr eines Monstrums, aber ich wurde daraus nicht schlau. Zudem fiel sie immer öfter in den Zustand der Katatonie.« Ich schrak zusammen. »So schlimm wird es wohl nicht sein.« Katatonie ist eine Art von Geisteskrankheit. »Ich will nicht hoffen, daß so etwas passiert ist.« »Ich schließe nichts mehr aus.« Bisher hatte ich Jane noch nicht berührt. Sich weiter mit der Horror-Oma zu unterhalten, brachte nicht viel. Wenn ich Auskunft erhalten wollte, dann nur über Jane. Ich beugte mich vor, sprach leise und mit sanfter Stimme ihren Namen aus und hoffte auf eine Reaktion ihrerseits. Es kam nichts. Blaß, mit dünner Haut und eingefallenen Wangen, lag sie vor mir. Völlig in sich vergraben, denn sie war einfach nicht fähig, eine Antwort zu geben. Für mich war das auch kein Schlaf mehr, das kam schon einer tiefen Bewußtlosigkeit gleich. Aber sie atmete. Und solange ein Mensch atmet, ist immer noch Hoffnung da. Ich fragte Lady Sarah wieder. »Irgendein äußeres Ereignis gab es nicht, das sie…?« »Nein, John, ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber ich muß dir sagen, daß dies nicht der Fall gewesen ist. Für mich grundlos tauchte sie in diesen Zustand ein, aus dem sie bisher nicht erwacht ist, obwohl ich es versucht habe.« »Aber sie sprach doch.« »Da war sie abwesend, John. Sie erwähnte dann die schreckliche Gefahr, ohne konkret zu werden.« Ich wußte auch nicht, was ich dagegen unternehmen sollte, aber mir kam dann eine Idee. Vielleicht konnte ich es mit dem Kreuz versuchen. Wenn sie dessen Kraft spürte, war es möglich, daß sie aus ihrer Lethargie erwachte. Es kam mir vor, als hätte sie meine Gedanken gelesen, denn plötzlich bewegte sich die Haut an ihren Wangen, und einen Moment später schlug Jane die Augen auf. Wir schauten uns an.
Keiner sprach, ein jeder versuchte, im Blick des anderen zu lesen. Mir kam Janes Blick fremd vor, da lag weder Erkennen noch Wissen darin, ich empfand ihn als neutral. »Jane…« Nicht sie gab Antwort, sondern Lady Sarah, die hastig fragte: »Ist sie erwacht?« »Ja.« Die Horror-Oma stand auf, setzte sich aber gleich wieder hin. Sie hatte eingesehen, daß es besser war, wenn nur Jane und ich redeten. Die Detektivin bewegte ihre rechte Hand. Sie glitt auf der dünnen Decke hin und her, als hätte sie einen besonderen Grund dafür, gerade über diese Stelle zu reiben. Ihre Augenlider bewegten sich, und ich traute mich endlich, ihre Wange anzufassen. Mit den Kuppen der Finger strich ich über die Haut und stellte fest, daß sie weder kalt noch warm war, sondern sich sehr neutral anfühlte. Jedenfalls hatte sie kein Fieber, und sie stand offenbar auch sonst nicht unter Schock. Ihre Augen sahen klar aus, und sie schien nachzudenken. Ich lächelte sie an. »Kannst du mir sagen, was du da für Sachen machst, Jane?« »Wieso?« Diesmal setzte ich vor meine Antwort ein Lachen. »Na, du bist gut, Jane. Kippst hier einfach weg, als wäre nichts geschehen. Ziehst dich zurück, bist nicht mehr ansprechbar, dein Zustand wechselt extrem. Bist einmal tief deprimiert, dann wieder genau das Gegenteil davon. Überaus aufgeregt, und Lady Sarah…« »Ihr habt keine Ahnung«, unterbrach sie mich. »Ja, Jane, das glaube ich dir sogar. Du hast völlig recht, denn wir wissen nicht, was mit dir los ist. Wir haben keine Ahnung, das hast du sehr richtig festgestellt. Und da wirkeine Ahnung haben, möchte ich dich bitten, uns zu erklären, weshalb du in diese ungewöhnliche Lage hineingeraten bist.« Sie wich meinem Blick aus, indem sie ihren Kopf ein wenig zur Seite drehte. Sehr schwer holte sie Luft, blies dann den Atem durch die Nasenlöcher wieder aus. »Keine Ahnung«, wiederholte sie monoton. »Es ist schlimm, wenn man keine Ahnung hat.« Ich schüttelte den Kopf. »Wovon haben wir denn keine Ahnung? Was wissen wir nicht?« Sie überlegte einen Moment. Dann flüsterte sie: »Die Gefahr ist da, John. Sie ist da, aber sie ist nicht sichtbar, wenn du verstehst. Ich weiß sehr genau, wovon ich rede. Die Gefahr umgibt uns, sie krallt sich in uns fest, sie ist einfach nicht zu fassen, aber es gibt sie, und ich habe herausgefunden, daß sie sogar einen Namen hat.«
»Einen Namen? Schön, das ist schon etwas. Damit kommen wir bestimmt weiter. Wie heißt sie denn?« »Sie ist ein er.« »Und weiter?« »Sie heißt Harry, und ich kann nur sagen: Hütet euch vor Harry! Hütet euch vor Harry…« Das war ein Ding! Nur gut, daß ich schon saß, sonst hätte ich mich bestimmt hingesetzt. Jedenfalls stand für mich fest, daß ich mit dem Begriff Harry nichts anfangen konnte. Er war zwar konkret, in meinem Fall aber viel zu schwammig, und ich mußte mich zunächst einmal räuspern, um einen Teil der Überraschung zu verdauen. Als ich dann zu Sarah Goldwyn schaute, sah ich sie ebenso erstaunt wie mich selbst. Auch die Horror-Oma konnte mit dem Namen Harry nichts anfangen. »Jetzt weißt du es«, sagte Jane. »Ja, dafür bin ich dir auch dankbar. Aber ich weiß noch immer nicht, was ich mit Harry anfangen soll.« »Er wird kommen!« versprach sie flüsternd. »Wohin?« »Nach London.« »Und wann?« Jane sah aus, als wollte sie ihren Kopf in die Höhe recken, überlegte es sich anders und blieb liegen. »Ich kann nicht sagen, wann er kommt. Ich weiß aber, daß er kommt.« »Woran können wir ihn erkennen?« »Er bringt den Schrecken.« »Das ist mir zu wenig.« Sie sprach weiter, ohne auf meine Bemerkung eingegangen zu sein. »Noch ist er eine Wolke, ein fernes Gebilde, aber er ist bereit, zu uns zu kommen. Unsere Zeit erwartet ihn, er wird sich hier auskennen, er wird nach schwachen Stellen suchen, denn er kennt immer den richtigen Weg. Es ist ein Wesen, das du nicht stoppen kannst. Hütet euch vor Harry, mehr kann ich nicht sagen.« Es lag auf der Hand, daß ich mich damit nicht zufrieden geben konnte. Das sagte ich ihr auch. »Aber woher weißt du über Harry Bescheid? Warum nur du, weshalb wir nicht?« »Weil ich ihn spürte«, erfolgte die prompte Antwort. »Ja, ich spürte das Böse in ihm, ich spürte seine Ausstrahlung. Sie kommt über, versteht ihr?« »Das glaube ich schon.« Ich nahm ihre Hand, sie ließ es geschehen. »Aber Sarah und ich können es nicht realisieren, verstehst du? Wir fassen oder begreifen es nicht.« »Dann müßt ihr auf ihn warten.« »Und was geschieht?« Jane Collins verzog den Mund, aber nicht, weil sie lächeln wollte, denn es entstand auf ihrem Gesicht ein verzerrter Ausdruck. Sie schaute
gegen das Fenster, als würde Harry dort erscheinen, aber sie holte nur tief Luft. »Kannst du es nicht sagen, oder willst du es nicht sagen, Jane?« »Es ist einfach schrecklich. Er hat sich etwas ausgesucht, John, das sich in unserem Dunstkreis befindet. Harry ist eine Bedrohung. Er ist das Böse. Er ist brutal, er liebt den Tod, er liebt es, mit dem Grauen zu spielen.« »Das kenne ich auch von anderen«, gab ich zu. »Aber was ist an Harry so neu, so anders, so besonders? Ich kann da wirklich keine Erklärung finden. Oder ist er der Teufel?« Ich hatte die Frage nicht grundlos gestellt, weil ich wußte, daß sich Asmodis oft in verschiedenen Verkleidungen zeigte, wenn er sich unter die Menschen wagte. »Er ist nicht der Teufel.« »Das freut mich.« Ich war etwas beruhigter. »Wenn er nicht der Teufel ist, was ist er dann für ein Dämon?« »Er ist einfach Harry!« »Kein Dämon?« »Er ist alles und nichts, John. Er ist ein Wesen. Er ist ein Alptraum, er ist das Böse, er ist mir erschienen…« »Was?« rief ich. »Du hast ihn gesehen?« Jane Collins amüsierte sich über meine Aufregung. »Nicht hier habe ich ihn gesehen. Er ist nicht in unser Haus gekommen, das darfst du nicht denken. Ich sah ihn in meinen Träumen.« »Dann kannst du ihn ja beschreiben – oder nicht?« Jane überlegte und krauste ihre Stirn. Sie sah aus, als wollte sie scharf nachdenken. Das tat sie nicht lange, denn sehr schnell erfolgte ihre Antwort, auch wenn sie für mich unverständlich war. »Harry ist Harry«, sagte sie. »Einfach Harry. Er ist eine Person, er ist ein Alptraum, er ist einfach ein Gebilde, ein Wesen. Harry ist alles in einem, du verstehst?« »Kein Wort.« »Und ich auch nicht«, meldete sich die Horror-Oma. »Er kam einfach über mich«, sagte sie. »Ich erlebte ihn wie einen Schatten. Ich schlief, aber er schaffte es, mich aus den Tiefen des Schlafs zu reißen und mir das Grauen zu schicken. Ich bin sehr sensibel, was ihn angeht, und er hat auch gespürt, daß da jemand ist, der auf sein Kommen reagiert. Es sind die Reste, die in meinem Innern stecken. Die alten Erblasten, die von früher in die Höhe gestiegen sind und mich dann überschwemmt haben.« »Und weiter?« »Nichts mehr. Ich muß warten. Er hat mir Angst gemacht. Ich sah kein Gesicht, keinen Körper, ich sah das Böse. Er hat Schlimmes getan in all der Zeit, und jetzt ist er auf dem Weg zu uns, weil er uns mit dem Bösen überschwemmen will. Es ist seine neue Existenz, verstehst du?« »Nicht ganz, aber rede weiter.«
Im Liegen schüttelte Jane Collins den Kopf. »Es gibt nichts mehr zu sagen, John. Es ist vorbei, verstehst du? Ich habe keine Antworten mehr, nur noch Gefühle.« »Auch die können etwas aussagen.« »Ja, das weiß ich«, flüsterte sie. »Doch ich will nicht darüber sprechen, denn sie…« Jane hörte mitten im Satz auf. Sie starrte mich an, ich sah, wie sich ihr Gesicht veränderte. Scharfe Falten gruben sich in die Haut. Ihre Augen nahmen einen Ausdruck an, der mir gar nicht gefiel. Der Blick war in die Ferne gerichtet, wo sie etwas sah, das nur für sie bestimmt war. Und dann verzerrte sich ihr Gesicht in einem panischen Schrecken. Sie riß die Arme hoch. Die Bewegung geschah so plötzlich und so heftig, daß ich nicht mehr ausweichen konnte und von ihrem Handrücken am Kinn gestreift wurde. »O nein!« brüllte sie los. Gleichzeitig fing sie an, mit den Beinen zu strampeln. »O nein, bitte nicht, bitte nicht!« »Jane, was ist los? Was hast du?« Sie gab mir keine vernünftige Antwort. Sie schrie nur noch und wollte nicht aufhören… *** Damals Als es hart gegen die Tür klopfte, stand Frau Bärmann auf und wunderte sich nicht einmal darüber, daß sie unter dem Klopfen nicht zusammengeschreckt war, denn es hatte sich so bestimmt angehört, und sie konnte sich denken, wer da Einlaß begehrte. In der alten Küche roch es nach gebratener Blutwurst und Kohl. Zu mehr reichte das Geld nicht. Der Mann war im Krieg, und wer konnte wissen, wie lange dieser Zweite Weltkrieg noch andauern würde? »Machen Sie auf, Frau Bärmann. Wir wissen, daß Sie zu Hause sind. Öffnen Sie, aber sofort!« »Ja, ja, meine Herren. Keine Sorge. Ich bin gleich da. Schlagen Sie nicht die Tür ein.« Sie hatte mit einer monotonen Stimme gesprochen, die schrecklich hoffnungslos klang, denn sie wußte, weshalb sie gekommen waren. Bestimmt ging es um ihren Untermieter, der das zweite Zimmer bewohnte. Ein junger Mann, der kein Soldat geworden war. Aber danach hatte sie ihn nicht gefragt, es interessierte sie nicht. Wichtig war, daß sie durch seine Miete ihr karges Einkommen etwas aufbessern konnte. Jetzt konnte sie sich das wohl abschminken, und sie hoffte nur, daß sie nicht auch noch in die Polizeimühlen hineingeriet. Wie immer hatte sie die Tür innen abgeschlossen. Es wohnten einige Typen im Haus, die sich häufig betranken und krakelten. Hin und wieder drangen sie dann in fremde Wohnungen ein.
Sie waren zu zweit gekommen, wie sie es vermutet hatte. Die richtigen Typen, die lange Mäntel aus Leder trugen, aber sie gehörten nicht zur Geheimen Staatspolizei, was ihre Ausweise auch dokumentierten. Wahrscheinlich waren sie von der Kripo. »Kommen Sie herein, meine Herren.« »Ja, danke.« Sie betraten die Küche und sahen sich blitzschnell um, was auf eine große Routine in ihrem Job schließen ließ. Viel war nicht zu sehen. Die schlichte Einrichtung, der Vorhang, der von einer harten Hand zur Seite gerissen wurde und den Blick auf Frau Bärmanns Schlafstelle freigab, einem alten Bett aus Metall. Aber da gab es noch eine zweite Tür, die in den Nebenraum führte, und vor ihr blieb der größere der beiden Männer stehen. »Ist er da?« fragte er. Frau Bärmann wischte ihre Hände an der bunten Kittelschürze ab. »Ich glaube schon.« »Was heißt das?« »Heute in der Früh war er noch da«, erklärte sie. »Ich war zwischendurch einkaufen. Kann sein, daß er über Mittag wieder gegangen ist. Ich habe noch nicht nachgeschaut.« »Gut.« Der Mantelträger zog eine Waffe hervor. Es war eine Pistole mit einem langen Lauf. Frau Bärmann bekam eine Gänsehaut, als sie die Waffe sah. Der zweite Mann schob sich an ihr vorbei und ging ebenfalls auf die Tür zu. Sein Kollege hatte eine Hand auf die Klinke gelegt, sie aber noch nicht nach unten gedrückt, weil ihn irgend etwas davon abzuhalten schien. »Was ist denn, Rudolf?« »Ich weiß es nicht genau. Aber ich habe komische Geräusche gehört.« »Wo?« »Hinter der Tür.« Frau Bärmann mischte sich ein. »Hören Sie, was wollen Sie eigentlich von Harry?« Beide Männer schauten sie erstaunt an. Der kleinere trug eine Brille ohne Rand und zwinkerte hinter den Gläsern. »Wollen Sie uns auf den Arm nehmen, oder wissen Sie das tatsächlich nicht?« »Ich weiß es nicht.« Rudolf, der Größere, antwortete. »Das ist ganz einfach. Ihr Untermieter Harry ist ein mehrfacher Frauenmörder. Er ist das Phantom, das wir schon lange suchen.« Frau Bärmann wurde so bleich, daß es ihr die beiden Beamten abnahmen, nichts gewußt zu haben. So gut konnte niemand ohne Ausbildung schauspielern. Und als Wäscherin besuchte man keine Schauspielschule. Sie mußte sich setzen und fing an zu zittern. Sie
wunderte sich darüber, daß sie noch sprechen konnte, als sie mit leiser Stimme sagte: »Da hab’ ich ja riesiges Glück gehabt.« »Kann man wohl sagen, Frau Bärmann.« »Dabei war er immer so nett.« Der Brillenträger lachte. »Das sind die Mörder oft. Oder glauben Sie, man liest es ihnen an den Gesichtern ab? Er ist auch nicht an der Front, wo er eigentlich hingehört hätte.« »Das sind Sie ja auch nicht«, erwiderte sie spontan. Für diese Antwort hätte sie sich am liebsten selbst in den Hintern getreten. Typen wie diese beiden Männer verstanden keinen Spaß. Der Brillenträger ging einen Schritt auf sie zu, blieb aber dann stehen. »Das ist doch wohl bei uns etwas anderes – oder nicht?« »Ja, entschuldigen Sie bitte. Ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Tut mir leid.« »Schon gut.« »Soll ich?« fragte Rudolf. »Ja.« Auch der Brillenträger zog eine Waffe. Beide Männer rechneten mit dem Schlimmsten. »Kann ich hier in der Wohnung bleiben?« fragte Frau Bärmann, deren Angst gestiegen war. »Das überlassen wir Ihnen.« Rudolf, der noch immer die Klinke hielt, drückte sie langsam nach unten. Ein Geräusch entstand kaum, er bekam die Tür auch auf, stieß sie aber nicht nach innen, denn ebenso wie Frau Bärmann und sein Kollege hörte er aus dem Nebenraum Laute, die widerlich, grauenhaft und einfach furchtbar waren. Die drei Menschen in der Küche wirkten plötzlich wie Puppen, die sich nicht mehr bewegen konnten. Sie schienen vereist zu sein, die Kälte kroch in ihre Glieder, und sie zuckten auch gemeinsam zusammen, als sie das Knacken hörten, als wäre jemand dabei, alte Knochen zu zerbrechen oder zu zermalmen. Es war furchtbar… Frau Bärmann stand auf. Blaß im Gesicht, fahrig, zitternd. »Das – das ist ein Tier – oder?« Rudolf wollte Bescheid wissen. Er stieß die Tür auf, drehte sich, richtete die Waffe in das Zimmer, schoß aber nicht, sondern fuhr mit einem Schrei auf den Lippen zurück, wobei er aus Versehen die Tür wieder ins Schloß drückte. Er wich steifbeinig zurück, wie jemand, der unter einem fremden Bann steht. Sein Mund stand offen, die Augen wirkten gläsern, und dann flüsterte er die ersten Worte. »Ich – ich kann es nicht fassen. Nein, verdammt, ich fasse es nicht!« »Was ist denn?« fragte sein Kollege.
»Daaa«, röchelte er. »Im… im Zimmer… es ist einfach nicht zu fassen. Es ist furchtbar…« »Was?« »Er…« »Harry?« Rudolf konnte nur nicken. Dann ging er zum Waschbecken, beugte sich darüber und würgte. Frau Bärmann schaute den Brillenträger an. Dabei hob sie die Schultern. »Ich weiß es auch nicht«, sagte sie leise, »am besten ist es, wenn Sie mal nachschauen.« »Das werde ich auch.« Entschlossen klang die Stimme nicht, aber der Beamte wollte sich nicht einschüchtern lassen. Er mußte jetzt Mut zeigen, besonders vor den Augen der Frau. Deshalb ging er mit festen Schritten auf die Tür zu, umfaßte die Klinke und zögerte für einen Moment, die Tür nach innen zu drücken. Er biß sich auf die Lippe. Vom Waschbecken her meldete sich Rudolf. Er war schwer zu verstehen, weil er sich seine Lippen mit einem Taschentuch abwischte. »Auf dem Bett – es ist auf dem Bett.« »Wieso es?« »Schau nach.« Der Brillenträger öffnete die Tür. Sehr schnell und mit einem kurzen Ruck. Dann stand er im Zimmer – und schrie! Es war kein lauter Schrei, sondern mehr ein Krächzen des Entsetzens, das aus seinem Mund drang und das Frau Bärmann alarmierte. Sie war neugierig genug, um ebenfalls nachzuschauen. Zudem hatte der Mann seine Waffe gesenkt, eine Gefahr schien demnach nicht zu bestehen. Im Zimmer standen ein Holzbett und ein alter wurmstichiger Kleiderschrank. Es gab nicht einmal ein Waschbecken, und der Fußboden war aus unebenen Brettern zusammengenagelt. Frau Bärmann hatte diese karge Einrichtung noch nie zuvor als so nebensächlich empfunden wie in diesem schrecklichen und alles entscheidenden Augenblick. Weder der Schrank noch das Bett waren wichtig. Es zählte nur das, was auf dem Bett lag. Ein Klumpen, schwarz, blutig und leicht glänzend. Ein Klumpen, der noch zuckte, sich bewegte, der einfach nicht ruhig liegenbleiben konnte, der schmatzende Geräusche von sich gab, der sich verkleinerte, weil in seinem Innern etwas geschah, was dafür sorgte, für das aber keiner eine Erklärung hatte. Der Geruch von altem Fleisch und vermoderter Haut durchwehte die Luft, und Frau Bärmann konnte keine Sekunde länger stehenbleiben. Sie
machte auf dem Absatz kehrt und lief zum Waschbecken, wo sie sich übergeben mußte. Das Rauschen des Wassers übertönte die Schritte des Brillenträgers, der das Zimmer ebenfalls wieder verlassen hatte und aussah, als hätte er in den letzten Sekunden alles verloren, was in seinem Leben einmal wichtig gewesen war. Er konnte nicht mehr, ging einfach weiter, und es sah so aus, als würde er im nächsten Augenblick einfach gegen die Wand laufen. Er konnte gerade noch abstoppen, beugte sich dann vor und ließ sich gegen die Wand fallen, einen Arm angewinkelt und gegen die Wand gestützt. Er preßte seine Stirn gegen das Leder des Mantels, holte keuchend Luft und schüttelte dabei den Kopf. Aus dem Zimmer klangen die Geräusche bis in die Küche. Das Knacken, Reißen, das Schlürfen und Schmatzen. Irgendwann hörte es auf, und irgendwann kamen auch die beiden Kriminalbeamten wieder zur Besinnung. Fast gleichzeitig mit Frau Bärmann, die sah, daß sich alle wie in Trance bewegten und sich keiner so recht traute, auf die offene Tür zu schauen. Sie fand dann Mut, sah hin, wollte wieder wegsehen, aber schaute noch einmal. Das war doch nicht möglich, das konnte nicht sein! So etwas gab es einfach nicht! Das Bett war leer. Frau Bärmann faßte sich an den Kopf. Diese hektische Bewegung ließ auch die beiden Männer aufmerksam werden, und es war der Brillenträger, der eine Frage stellen wollte. Frau Bärmann aber deutete nur auf die Tür. Reden konnte sie nicht mehr, die Überraschung hatte ihr die Sprache verschlagen. Was über ihre Lippen drang, war nicht mehr als ein leises Keuchen. »Was ist denn?« Ihre hin- und herzuckende Hand deutete auf den Durchgang zum Nebenzimmer. Der Brillenträger drehte sich. Er zwinkerte, ging vor, sein Mund öffnete sich. »Weg!« sagte er mit einer schrill klingenden Kieksstimme. »Verdammt, der ist weg…« »Was?« schrie Rudolf. »Ja, schau selbst!« Wenig später standen sie im Zimmer, und Frau Bärmann gesellte sich zu ihnen. Sie bekam gerade noch mit, wie Rudolf einen Kommentar abgab und mit seinen Worten wohl den Nagel auf den Kopf traf.
»Er hat sich selbst aufgefressen, verdammt. Hany hat sich aufgefressen…« Dies geschah im Jahre 1941 in einer deutschen Stadt an der Elbe. *** Lady Sarah und ich wußten nicht, was wir tun sollten und ob wir überhaupt das Richtige taten. Janes Anfall hatte uns zu sehr überrascht, sie bewegte sich hektisch, verlor jede Beherrschung und schleuderte mit einer wilden Bewegung die dünne Decke zur Seite, die wie eine große Fahne durch den Raum flatterte. Lady Sarah, die aufgesprungen war, geriet genau in die Flugbahn der Decke, so daß sie sich erst von ihr befreien mußte, um mir dann zu Hilfe eilen zu können. Ich hatte mich auf das Bett und auf Jane Collins geworfen, als sie in die Höhe schnellen wollte. Mit meinem Gewicht preßte ich mich gegen sie und wollte ihre Handgelenke umklammern, was leichter gesagt als getan war, denn sie schlug mit den Armen wild und zuckend um sich. Dabei schrie sie auch weiterhin, und in ihre Schreie mischten sich grell klingende Sätze, die sie immer wiederholte. »Er ist da! Harry ist da! Harry ist da!« Lady Sarah eilte mir zu Hilfe, damit wir gemeinsam die Tobende bändigen konnten. Sie versuchte, Janes Beine zu umklammern, denn die Detektivin fing wieder an zu strampeln. »Das habe ich bei ihr noch nicht erlebt!« keuchte die Horror-Oma. »So schlimm war es noch nie.« Sie schaffte es nicht, die Beine zu halten. Jane entwickelte plötzlich übermenschliche Kräfte, und die Hände der alten Frau rutschten ab. Sarah torkelte zurück. Ich hatte es besser. Mit meinem Gewicht preßte ich Jane nieder. Zudem war es mir gelungen, ihre Handgelenke zu erwischen, und da wurden meine Hände zu Schraubstöcken. Ich lag halb auf ihr und preßte ihren Oberkörper gegen die Matratze. Sie strampelte nur noch mit den Beinen. Dabei warf sie den Kopf von einer Seite zur anderen, ihre Augen waren verdreht, sie fauchte mich an, aber sie beschimpfte nicht mich, sondern warnte mich immer wieder vor Harry. Jane Collins war leider sehr gelenkig, und sie versuchte alles, um sich aus meinem Griff zu befreien. Sie strampelte nicht nur, sie zog die Beine auch an und riß die Knie ruckartig zurück, so daß sie in meinen Rücken hämmerten. Die dumpf klingenden Treffer schüttelten mich durch. Das konnte Sarah nicht mit ansehen. Was ihr an Kraft fehlte, mußte sie durch Schläue ausgleichen, und so griff sie zu einer List. Mit beiden Händen faßte sie nach der weggeschleuderten Bettdecke, rollte den Stoff zusammen, so daß er eine Wurst bildete, und huschte auf das
Fußende des Bettes zu. Beim ersten Versuch verfehlte sie die Beine, beim zweiten klappte es besser. Es gelang ihr, in Höhe der Waden eine Schlinge um die Beine zu drehen und sie dann festzuzurren. Auch jetzt strampelte Jane, aber der Gegendruck war einfach zu groß. Die Treffer verloren an Wucht, und ich hielt noch immer die Handgelenke umfaßt, so daß ihr meine Griffe allmählich Schmerzen bereiteten und sie gezwungen war, loszulassen. Urplötzlich sackte sie zusammen. Weder die Beine noch die Arme bewegte sie. Hinter mir hörte ich die keuchende, abgehackte Stimme der Horror-Oma. »Ich glaube, wir haben es geschafft, John.« »Abwarten.« Ich traute ihr nicht so recht, lockerte die Handgriffe ein wenig und rechnete damit, daß Jane aufspringen oder mir die Fäuste ins Gesicht stoßen würde. Ich täuschte mich. Still blieb sie liegen. Doch schwer atmend und mit leicht verdrehten Augen. Ich richtete mich wieder auf. Die Anstrengung hatte mein Gesicht gerötet und mir den Schweiß aus den Poren getrieben. »Mein lieber Mann«, flüsterte ich, mich dabei der Horror-Oma zudrehend, »das war ziemlich knapp.« Lady Sarah nickte nur. Sprechen konnte sie noch nicht, weil sie der Kampf zu sehr angestrengt hatte. »Meine Güte«, keuchte sie dann, »was ist nur in sie gefahren? Welcher Teufel steckte…?« »Keiner, Sarah«, sagte ich und streichelte Janes Gesicht, die pumpend atmete. »Diese Warnung vor dem Bösen, vor Harry, die kam von innen. Sie muß verdammt tief in ihrer Seele gesteckt haben. Aber frage mich nicht, wer Harry ist.« »Keine Sorge.« Sie setzte sich auf einen Stuhl und wischte mit einer müden Bewegung über ihre Stirn. Ich blieb auf der Bettkante sitzen, wartete darauf, daß Jane etwas sagte, aber vorerst tat sie mir den Gefallen nicht. Schließlich bat sie um ein Glas Wasser. »Ich hole es.« Sarah stand auf. Sie verschwand in der kleinen Anbauküche. Kurze Zeit später kehrte sie zurück, in der rechten Hand ein mit Mineralwasser gefülltes Glas haltend. Jane konnte selbst trinken, auch wenn ihre Hände noch zitterten. Danach klärte sich ihr Blick, sie schaute mich an und lächelte verlegen. »Ich weiß zwar nicht genau, was passiert ist, John, aber einfach ist es nicht gewesen.« »Das kannst du laut sagen.« »Was habe ich denn getan?« »Du bist durchgedreht.«
Sie zwinkerte mit den Augen. »Und warum? Was ist denn in mich gefahren?« Ich war skeptisch. »Weißt du das wirklich nicht?« Mit der gespreizten Hand fuhr sie durchs Haar. »Ja und nein. Ich habe da eine Erinnerung, aber sie ist zu tief vergraben, um sie jetzt hervorholen zu können.« »Harry«, sagte ich nur. Jane wiederholte den Namen flüsternd. Dann noch einmal. Plötzlich versteifte sie, als wäre ihr genau in diesem Augenblick die Erinnerung gekommen. »Ja, Harry, das ist es gewesen. Meine Güte, das ist furchtbar! Ich erinnere mich.« »Woran genau, Jane?« »An nichts Genaues, John, aber ich weiß sehr gut, daß es da ist. Ja, Harry ist da.« »Und wo, bitte?« »In der Stadt!« hauchte sie. »Er ist in der Stadt.« Sie weinte auf einmal laut und schluchzend, als wäre ihr etwas Fürchterliches widerfahren. »Jetzt kann uns nichts mehr retten, nichts mehr…« Ich blickte Lady Sarah an, sie schaute mir ins Gesicht. Beide wußten wir nicht, was wir sagen sollten. Lady Sarah tat das, wonach auch mir zumute war. Sie hob die Schultern… *** Der Reifen war platt. Johnny Conolly ärgerte sich, weil er sein Fahrrad aus den Augen gelassen hatte und eben zur Bude eines fahrenden Eishändlers gegangen war, um sich ein Eis zu kaufen. Der Reifen war nicht nur platt, er war regelrecht zerschnitten worden. Da hatte jemand mit Methode gearbeitet, und Johnny dachte daran, daß dies ausgerechnet bei seinem Mountain Bike passiert war, das er erst vor drei Wochen geschenkt bekommen hatte. Das Zerschneiden des Reifens war kein einfacher Streich, da steckte Methode dahinter. Irgend jemand wollte, daß er nicht weiterfahren sollte, und der Junge spürte plötzlich ein kaltes Gefühl im Nacken. Er blieb wachsam stehen und sah sich um. Das Eis schmolz, und an der Außenhaut der Waffel rann eine rote Spur entlang, die als klebrige Masse an seinem Daumen haften blieb. Der Eiswagen stand gegenüber, geduckt unter Baumästen, nicht weit von einer Haltestelle entfernt. Hinter Johnny befand sich eine Baustelle. Auf einer großen Informationswand stand zu lesen, daß hier mehr als vierzig neue Wohnungen entstehen sollten. »Schmeckt es dir?«
Johnny Conolly hörte die Stimme in dem Augenblick, als seine Zungenspitze über die Eiskugel glitt. Der Sprecher stand hinter ihm, und Johnny ahnte Böses, denn ein Arbeiter war es nicht, der ihn angesprochen hatte. Die Baustelle lag verlassen im Schein der Sonne. Er drehte sich um. Cool bleiben, hämmerte er sich ein. Sich nur nicht provozieren lassen. Die Nerven bewahren und weiterhin das Eis essen. Das war leichter gedacht als getan, und Johnny wußte das auch. Sie waren zu dritt. Einer hielt ein Stilett in der Hand. Wahrscheinlich hatte er damit den Reifen aufgeschlitzt. Gekleidet waren sie wie Skinheads. Auf ihren haarlosen Schädeln spiegelte sich die Sonne. Ihre Gesichter zeigten einen dümmlichprovozierenden Ausdruck. Sie trugen graue, ärmellose Hemden und Hosen aus Leder. Auf ihre Arme waren bestimmte Insignien tätowiert, die in die unselige Zeit eines Hitler-Deutschlands gepaßt hätten, aber nicht mehr hierher. Doch die Unverbesserlichen starben nicht aus. Das war leider ein weltweites Problem. Durch die haarlosen Köpfe sahen sie irgendwie alle gleich aus. Sie wollten Zoff, Ärger, sie brauchten ein Opfer, und das hatten sie in Johnny gefunden. »Schönes Bike«, sagte der mit dem Messer. »Stimmt.« Johnny leckte weiter an seinem Eis. »Kannst aber nicht mehr fahren.« »Ich werde es schieben.« Der Typ lachte, glotzte seine beiden Freunde an und wieherte los. »Er will es schieben, der Kleine. Schaut mal an, er will es schieben. Das gibt es doch nicht.« »Warum nicht?« »Weil wir das nicht wollen.« Der Sprecher spie vor Johnnys Füße. »Wir wollen es nicht. Hast du das gehört? Wir hassen Typen wie dich. Und wir werden uns dein Bike nehmen, konfiszieren…« »Wißt ihr überhaupt, was das heißt?« Der Sprecher schluckte. Er wurde noch wütender. »Sag mal, bist du irre? Hältst du uns für dämlich?« »Ja.« Johnny rechnete mit einem Angriff. Er schaute kurz über die Schulter, aber da war niemand, der ihm hätte zu Hilfe eilen können. Es konnte kritisch werden. Und es wurde kritisch. Der Messertyp hatte sich das Bike ausgesucht, um auch den zweiten Reifen zu zerschlitzen. Er ging in die Knie, lachte dabei, wollte die Klinge ansetzen, als Johnny handelte. Er drehte seine Waffel um und klatschte dem Knaben das Eis auf die Glatze.
Eine Szene zum Lachen, Johnny konnte es auch nicht unterdrücken, aber dem Glatzkopf war nicht nach Lachen zumute. Er heulte plötzlich auf und fuhr hoch. Das Eis schmolz auf seiner Birne, es rann über die Stirn in seine Augen. Er wischte mit der Hand darüber, und Johnny hörte sein Schreien. Die anderen beiden waren längst alarmiert und jagten auf den Jungen zu. Johnny wehrte sich. Er kassierte einen harten Schlag in den Rücken, stolperte nach vorn und hatte insofern Glück, als daß der Anführer noch genug mit sich selbst zu tun hatte, um die klebrige Masse aus dem Gesicht zu wischen. Die beiden Skins waren verflucht stark. Johnny war nicht schnell genug, um ihrem Klammergriff zu entwischen. Sie hielten ihn eisern fest, zerrten ihn zurück, und ihre Versprechungen, die sie ihm zuflüsterten, hörten sich verdammt böse an. Der Eismann hatte sein Gesicht freigewischt. »Dich mach’ ich fertig!« keuchte er und hatte bereits die rechte Hand zur Faust geballt. Er wollte sie in Johnnys Leib hämmern. Der Junge wehrte sich. Da ihn die beiden Hundesöhne an den Armen festhielten, blieben ihm nur die Beine. Mit dem rechten Fuß trat er zu. Der Skinhead stand günstig. Plötzlich brüllte er und hielt sich den Unterleib. Er taumelte zurück, warf das Bike um, holte keuchend Luft, und Tränen schössen aus seinen Augen. Von diesem ersten Erfolg beflügelt, kämpfte Johnny weiter. Er wußte genau, daß er gegen die drei auf die Dauer nicht ankam. Wenn die wollten, machten sie ihn platt. Seine Arme steckten noch immer wie in Zwingen. Johnny benutzte seine Beine. Er trat wütend um sich, blieb dabei nicht stehen, bewegte seinen Körper hektisch hin und her, rammte Knie gegen Hüften, zerrte, riß und wußte, daß ihm nur wenige Sekunden blieben. Wenn der Anführer den Tritt erst verdaut hatte, war es vorbei. Die Skins versuchten alles, ihn festzuhalten, aber Johnny gab nicht nach. Er traf Knie und Schienbeine, er stieß mit dem Kopf, schaffte es, die harten Griffe zu lockern, und riß sich schließlich los. Dabei taumelte er zurück, konnte sich noch auf dem Gehsteig fangen und gab Fersengeld. »Holt ihn!« Das war der Messerheld, der hinter ihm herschrie, aber Johnny wußte, daß seine Chancen gewachsen waren. Er gehörte zu den guten Sportlern auf seiner Schule. In der Fußballmannschaft war er einer der Schnellsten, und er glaubte nicht, daß die Skins ihn so leicht einholen würden.
Aber er rechnete nicht mit ihren bösen Tricks. Es war der Anführer, der sich gebückt und einen unterarmlangen Holzklotz erwischt hatte, der auf der Baustelle lag. Den schleuderte er Johnny nach. In den Rücken traf er ihn nicht, der Klotz sackte vorher ab, aber er hatte noch genügend Wucht, um über den Boden zu tanzen und Johnny zu erreichen. Durch einen unglücklichen Zufall kantete das Holzstück so auf, daß es zwischen Johnnys Füße geriet. Er kam ins Stolpern, dann ging alles blitzschnell. Noch einmal riß er die Hände hoch, als wollte er sich irgendwo festhalten, dann mußte er sie vorstrecken, um wenigstens einen Teil der Aufprallwucht abzufangen. Er stürzte zu Boden, hörte hinter sich die Jubelschreie und spürte ein scharfes Brennen an seiner Stirn, auf der rechten Wange, ebenfalls am Kinn. An diesen Stellen hatte er sich die Haut aufgeschürft. Er hätte heulen können vor Wut. Hinter sich hörte er die hämmernden Schritte der verdammten Skins. Sie würden ihn in wenigen Sekunden erreicht haben, so schnell konnte er nicht wieder auf den Beinen sein. Die Typen erwischten ihn, als er sich fast aufgerappelt hatte. Eine Faust knallte in seinen Nacken. Der Schlag war gemein, hart und trieb ihn wieder auf den Boden. Johnny sah zunächst nichts, nur Sterne, die vor seinen Augen tanzten. Etwas Warmes strömte aus seiner Nase, und sehr bald schmeckte er das Blut auf seinen Lippen. Jetzt würden sie ihn fertigmachen. Er hatte genug darüber gesehen, wie brutal diese Irren waren. Sie kannten nur die Gewalt und auch den Haß gegen Andersdenkende und gegen Ausländer. Sie johlten. Harte Fäuste schleuderten Johnny, der seine Augen geöffnet hielt, auf den Rücken. Sie standen neben ihm, glotzten auf ihn nieder. Die Gesichter wirkten wie aus Granit gehauen. Kein Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen, und auch die Augen waren kalt wie Eis. Der Anführer spielte mit dem Messer. Er hatte das geschmolzene Eis von seiner Stirn entfernt, aber Reste klebten noch auf den Wangen und in den Augenbrauen. Eigentlich bot sein Anblick einen Grund zum Lachen, aber Johnny hütete sich davor. Außerdem hatte er genug mit sich selbst zu tun. Wo ihm überall etwas weh tat, konnte er kaum feststellen. Sein ganzer Körper schien ein einziger Schmerzherd zu sein. »Bist du schon mal zertreten worden, Arschloch?« fragte der Anführer. Johnny schwieg.
»Wenn nicht, dann wirst du das erleben, darauf kannst du dich verlassen. Wir werden dich in die Mangel nehmen und danach in einen Eimer stopfen. Erst dein Kadaver, dann deine komische Fresse und…« Johnny kassierte den ersten Tritt. Es traf ihn an der Hüfte. Er wüßte nicht, wer ihn getreten hatte, aber es tat verdammt weh, so daß er leise aufschrie. Die Skins lachten. Sie waren richtig in Form gekommen, sie wollten weitermachen, sie wollten… »Darf ich mitspielen?« fragte plötzlich jemand. Die Skins erstarrten. Keiner hatte den Sprecher gesehen. Er war erschienen wie ein Geist, und die drei Typen drehten sich gleichzeitig um. Vor ihnen stand ein junger Mann, dessen Alter so um achtzehn Jahre liegen musste. Er trug eine schwarze Hose, ein helles Hemd und hatte Turnschuhe an. Die dunklen Augen in dem braungebrannten Gesicht hatten dieselbe Farbe wie sein halblanges, weiches Haar, das hinter die Ohren zurückgekämmt war. Der Anführer höhnte ihn an. »Wer bist du denn, verdammt? He, wer bist du?« »Einer, der mithelfen will, euch in den Eimer zu stopfen, Freunde.« Der Fremde hob beide Hände an und winkte ihnen zu. »Na, kommt schon, wenn ihr Mut habt…« Und sie kamen. Sie sprachen sich nicht ab, sie waren darauf trainiert, blitzschnell zu handeln. Von drei Richtungen stürmten sie auf den Jungen zu, der keinen allzu kräftigen Eindruck machte und nach leichter Beute aussah. Nie zuvor hatten sich die Skins so geirrt wie an diesem Tag. Es erwischte sie wie ein Dampfhammer, als sie den Jungen angriffen, der aus heiterem Himmel aufgetaucht war. Der Neue kämpfte nicht allein mit seinen Händen, er setzte auch seine Beine ein und bewies damit, daß er einige Kampfsportarten beherrschte und gut mitmischen konnte. Der Messerheld war als erster dran. Der hatte sich zwar geduckt, aber ein wirbelnder Tritt mit dem rechten Fuß riß ihm den Kopf weit in den Nacken. Sein Gesicht war plötzlich rot von Blut. Zugleich hämmerte der Fremde seine linke Faust gegen den zweiten Skinhead, der das Gefühl haben mußte, seine Glatze wäre gespalten worden. Schreiend sackte er in die Knie, die Hände hielt er dabei auf den Kopf gepreßt. Der dritte wurde von dem Fremden über die Schulter gehebelt. Er knallte so hart auf den Boden, daß er brüllte und nicht mehr in der Lage war, sich zu rühren. Zwar versuchten es die anderen beiden noch einmal, aber der Junge erteilte ihnen eine Lektion, die sie nie im Leben vergessen würden.
Johnny Conolly hatte die Gunst des Augenblicks genutzt und war außer Reichweite gekrochen. Aus sicherer Distanz schaute er dem Kampf zu, den die Skins nur verlieren konnten. Sie kamen nicht einmal dazu, irgendwelche Waffen zu ziehen. Es dauerte nicht lange, bis sie alle drei bewegungslos auf dem Pflaster lagen. Erst jetzt entdeckte Johnny die Neugierigen, die in respektabler Entfernung standen und zugeschaut hatten. Sie klatschten Beifall, als der fremde Junge fertig war. Der kümmerte sich aber nicht um die Gaffer und ging auf Johnny zu. Johnny war dabei, sich auf die Beine zu rappeln. Es gab einige Stellen an seinem Körper, die brannten und schmerzten. Blut sickerte noch immer aus seiner Nase, aber gebrochen war glücklicherweise nichts. In einigen Tagen würden die blauen Flecken oder leichten Prellungen wieder vergessen sein. »Komm, ich helfe dir!« Der fremde Junge lächelte Johnny zu und zerrte ihn hoch. Johnny bog seinen Rücken durch und holte tief Luft. Er wollte sich bedanken, aber sein Helfer winkte ab. »Wieso danken? Ich hasse es, wenn drei gegen einen stehen. Ich denke, da sollte man eingreifen. Findest du nicht auch?« »Trotzdem, das hätte nicht jeder getan.« »Ich bin auch nicht jeder.« Johnny grinste. »Du bist gut, wie?« »Ja, ich habe einiges gelernt.« Der Retter holte aus seiner Hosentasche ein gelbes Stirnband und umwickelte sein Haar damit. Er deutete anschließend auf die Skins. »Die haben in der nächsten Stunde genug mit sich selbst zu tun. Wir sollten diese ungastliche Gegend verlassen, meine ich.« »Nichts dagegen, ich hole nur mein Rad.« Der Retter ging mit, schaute sich den Reifen an und meinte: »Damit kannst du wirklich nicht fahren.« »Ja, ich weiß. Ich werde es schieben.« »Okay.« Der Helfer wischte seine Rechte am Hosenbein ab und reichte Johnny die Hand. »Was ist?« »Ich will verschwinden.« »Jetzt?« »Warum nicht?« Johnny schüttelte den Kopf. »Kommt gar nicht in die Tüte. Hast du ein wenig Zeit?« »Na ja, wie man’s nimmt…« »Dann komm mit zu mir. Ich werde meinen Eltern sagen, daß du mir das Leben gerettet hast.«
Lachen schallte Johnny entgegen, als der Fremde seinen Rücken durchbog. »Du dramatisierst das, mein Lieber.« »Nein, das glaube ich nicht. Die hätten mich wirklich fertiggemacht, das weiß ich.« »Nun ja, ich…« »Willst du nun?« »Gut.« »Puh.« Johnny wirkte erleichtert und schaute zum Himmel, wo die Sonne zwischen zwei Wolken hervorgekommen war. »Ich werde zu Hause die Prellungen einreiben, nachdem ich mich heiß geduscht habe. Dann können wir weitersehen.« »Wie weit ist es denn?« »Nicht länger als eine Viertelstunde.« »Kannst du denn gehen?« Johnny grinste schief. »Wenn ich die Zähne zusammenbeiße, klappt es schon.« »Was wollten die eigentlich von dir?« »Keine Ahnung. Wahrscheinlich einfach nur Zoff machen. Mich niederwalzen, so zum Spaß. Das sind welche, die nicht richtig ticken, aber sie werden immer schlimmer, verdammt.« »Okay, dann laß uns gehen.« »Moment noch. Ich weiß nicht einmal, wie du heißt. Ich bin Johnny Conolly.« Diesmal nahm der Retter die hingestreckte Hand und stellte sich ebenfalls vor. »Du kannst Harry zu mir sagen, Johnny. Einfach Harry, mehr nicht…« *** Für Sheila Conolly brach im ersten Moment eine Welt zusammen, als sie ihren Sohn sah. Verschmutzt, das Blut auf seinem Gesicht, die müden Augen, das verzerrte Grinsen, und sie sah einen fremden, etwas älteren Jungen, der neben Johnny stand, ihn sogar noch stützte, als wäre er sein Helfer. »Wie siehst du denn aus? Lieber Himmel, Johnny, was ist mit dir passiert?« »Erstens kann ich mit meinem Bike nicht mehr fahren, und zweitens hat man mich zusammengeschlagen. Es waren drei Skins, aber ich habe Glück gehabt, denn Harry kam und mischte sie auf.« Das war in Kurzfassung der Bericht, den Sheila Conolly erst einmal verdauen mußte. »Willst du uns nicht hineinlassen, Mumm?« »Aber sicher doch, kommt schnell – bitte.« Sie redete hastig und trat ebenso hastig zur Seite.
Die beiden Jungen betraten das Haus. Harry schaute sich um, sagte aber nichts, während Johnny seiner Mutter klarmachte, daß er eine Dusche nehmen wollte, um sich anschließend mit diesem Branntwein einzureiben, den auch sein Vater benutzte. »Steht alles im Bad.« »Bis gleich dann, Harry.« »Ich warte.« Sheila nickte dem fremden jungen Mann zu. »Kommen Sie, ich werde Ihnen etwas zu…« »Bitte, Mrs. Conolly. Ich heiße Harry. Sie brauchen mich nicht zu siezen.« »Okay, Harry. Ist mir auch lieber so. Komm ins Wohnzimmer, oder willst du lieber auf der Terrasse sitzen?« »Das ist mir gleich.« Sie gingen auf die Terrasse. Zwar versteckte sich die Sonne wieder hinter Wolken, aber es war warm genug, um sich draußen aufhalten zu können. Auf den Gartenstühlen machten sie es sich bequem und streckten die Beine aus. Ein Kühlwagen mit Getränken stand bereit, und Harry entschied sich für ein Glas mit Bitter Lemon. »So, und nun berichte mal.« Der junge Mann nahm den ersten Schluck und erzählte. Er ließ nichts aus, Sheila hörte gespannt zu. Ihr Gesicht verlor dabei an Farbe, als sie erfuhr, in welch eine schlimme Gefahr ihr Sohn Johnny geraten war. Der hätte wirklich für sein Leben gezeichnet werden können, und diesmal waren es keine schwarzmagischen Wesen, die ihn attackiert hatten, sondern brutale Schläger. »Und die drei Kerle hast du geschafft?« flüsterte sie. Harry hob die Schultern und wiegelte ab. »So schwer war das nicht. Ich bin ganz gut ausgebildet. Ich habe oft trainiert und bin auch ziemlich fit.« »Ja, das war gut.« »Aber Ihr Sohn hatte auch keine Angst. Wenn ich daran denke, wie er dem Anführer das Eis auf den Glatzkopf geklatscht hat, das ist schon erste Sahne gewesen.« Sheila lachte auf. »Ja, da hast du recht. Angst kennt er nicht. Er würde sich auch immer für schwächere Personen einsetzen. Mein Mann und ich haben ihn dazu erzogen.« »Kann ich Johnnys Vater mal kennenlernen?« Sie nickte. »Das hätte ich mir auch gewünscht. Aber leider ist er nicht da. Ich weiß auch nicht, wann er kommt. Bei seinem Job kann das erst morgen sein.« »Ah so.« Harry fragte nicht weiter. Er lächelte still vor sich hin, was Sheila aber nicht auffiel. Sie war zu sehr mit den eigenen Gedanken beschäftigt.
Für eine Weile entstand zwischen den beiden eine Schweigepause. Im Garten war es angenehm. Der Sommerwind strich über die Terrasse hinweg, die Vögel hatten ein kleines Paradies gefunden, sie zwitscherten und trällerten, als gehörte die ganze Welt ausschließlich ihnen. Sheila gehörte zu den Frauen, die immer mehr wissen wollten. »Ich habe dich hier in der Gegend nie gesehen, Harry. Kommst du nicht von hier?« »So ist es.« Er schaute auf sein Glas, das er zwischen den Händen hielt. »Ich bin mit der Schule fertig, habe jetzt Ferien und dachte mir, daß ich mir die Welt ein wenig anschaue, wobei ich mich auf Großbritannien beschränke. Hier in London fange ich an, denn ich selbst komme aus Cardiff.« »Aha. Wie bist du denn unterwegs? Per Autostopp?« »Ja.« »Und das klappt immer?« »Wenn nicht, nehme ich den Zug. Aber das kommt nur selten vor. Ich werde oft mitgenommen.« Sheila lächelte. Ihre Gedanken beschäftigten sich schon mit anderen Dingen. »Wenn du also Zeit hast, Harry, dann könntest du ja für einige Tage bleiben. Ich meine, du wirst London noch nicht kennen. Oder habe ich mich da geirrt?« »So ist es.« Sie räusperte sich. »Dann könnte dir Johnny London zeigen. Er kennt sich einigermaßen aus. Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht, denn ich will mich nicht in deine Angelegenheiten mischen.« Harry beugte sich vor. Plötzlich ging auf seinem Gesicht die Sonne auf. »Ehrlich? Haben Sie das ehrlich gemeint?« »Ja.« »Das ist Wahnsinn, Mrs. Conolly. Das hätte ich nie gedacht. Irre finde ich das.« »Dann bist du also einverstanden?« »Ich ja«, sagte Harry, und das Strahlen lag noch immer auf seinem Gesicht. »Aber ich weiß nicht, was Johnny dazu sagen wird. Er hat bestimmt andere Pläne und…« »Wozu soll ich etwas sagen?« Johnny hatte die letzten Worte gehört. Er ging über die Terrasse und hinkte dabei etwas, was aber nicht an seinen Beinen lag, denn er hatte am Körper einige leichte Prellungen abbekommen. Er trug einen bunten Jogging-Anzug, sein Haar war noch naß vom Duschwasser, und Sheila sprang auf, um ihn zu fragen, ob es ihm gutging. Als sie ihren Sohn in die Arme nehmen wollte, wehrte dieser hastig ab. »Mum, ich bin kein kleines Kind mehr.« »Entschuldige.« »Was war denn?« Sheila erklärte es ihm. Bereits nach den ersten Worten leuchteten Johnnys Augen auf. »Mum, das ist echt super. Tierisch gut. Klar, ich
werde Harry die Stadt zeigen. Mit einem so guten Leibwächter an meiner Seite kann mir nichts passieren. Wann soll es denn losgehen?« »Ich weiß ja nicht, wie lange Harry bei uns bleiben möchte.« »Mir ist das egal. Ich will Ihnen nur nicht zur Last fallen, Mrs. Conolly.« »Das fällst du auf keinen Fall.« »Drei Tage vielleicht…« »Gut, einverstanden, wunderbar. Und du Johnny?« »Meinetwegen auch länger.« Harry lachte. »Nein, nein, so einfach ist das nicht. Ich will ja noch weiter.« Er berichtete Johnny von seinen Plänen, die dieser ausgezeichnet fand. »Das werde ich im nächsten Jahr auch machen, Mum.« »Okay.« Sheila schaute auf die Uhr. »Himmel, ich werde erst mal was zu essen machen.« Sie wandte sich an Harry. »Was ißt du denn gern?« »Alles.« »Auch Pizza?« Er lächelte breit und strich über seinen Bauch. »Gehört zu meinen Lieblingsgerichten.« »Okay, dann belege ich den Teig und schiebe einige Pizzen in den Ofen.« »Nur nicht zu viel, Mrs. Conolly.« Die blondhaarige Frau in den gelben Sommerjeans und der auberginefarbenen Seidenbluse lachte, als sie auf das Haus zuging. »Keine Sorge, ich weiß schon, was ich mache.« Johnny nahm auch Bitter Lemon. Als er das Glas einschenkte und sich anschließend stöhnend setzte, hörte er Harry sagen: »Du hast aber eine tolle Mutter.« Er nickte. »Sie ist auch stark. Ich komme gut mit ihr aus. Ebenso wie mit meinem Vater. Nur manchmal ist meine Mutter zu besorgt, da denkt sie noch, ich wäre ein Kleinkind.« »Das denken sie immer, die Mütter.« »Ja, kann sein.« Harry lehnte sich zurück. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und fragte: »Und du kennst London?« »Recht gut.« »Wo gehen wir denn hin?« Johnny lachte. »Fragen wir mal so: Was willst du alles sehen, Harry? Wir können Wochen unterwegs sein, und du wirst immer wieder etwas Neues entdecken.« »Ja, das glaube ich auch.« »Interessieren dich Museen?« Harry verzog das Gesicht. »Dich etwa?« »Kaum, aber ich kenne die meisten. Wir haben sie von der Schule aus besichtigt.«
»Ich brauche das nicht. Ich trampe durch England, bin mit der Schule fertig und werde bald anfangen zu studieren.« »Wo denn?« »Oxford.« Johnny nickte und zeigte sich beeindruckt. »Eine starke Uni. Kommt auch nicht jeder hin.« »Ich habe ein Stipendium bekommen.« »Dann warst du aber gut.« »Es geht so.« Johnny fragte weiter. »Was willst du denn studieren?« »Was Technisches. Physik und Geologie mit Blick auf den Umweltschutz. Das liegt mir.« »Okay.« »Findest du das gut?« »Echt stark.« »Meine ich auch.« »Noch mal zu London«, sagte Johnny und beugte sich vor, verzog aber das Gesicht, weil die Bewegung doch zu heftig gewesen war. »Wenn wir mal die Museen außer acht lassen, hast du da bestimmte Wünsche? Das Wachsfigurenkabinett zum Beispiel oder…« »Nein, ich überlasse alles dir.« Harry grinste. »Das ist meine kleine Belohnung für den Einsatz.« Johnny klatschte in die Hände. »Einverstanden. Gleich morgen geht es los. Da mußt du früh aufstehen und…« Er brach mitten im Satz ab und machte ein Gesicht, als wäre ihm soeben etwas eingefallen. »Hast du was?« fragte Harry, dem Johnnys Reaktion natürlich nicht entgangen war. »Ja, mir ist gerade eingefallen, daß du kein Gepäck hast, Harry. Du trampst durch England ohne…« »Nicht ohne. Man hat es mir gestohlen.« »Ehrlich?« Johnny schluckte, er war sprachlos geworden und schaute Harry bedauernd an. »Leider. Es war in der Nähe von London. Ich hatte mich hingelegt, die Sonne schien, es war herrlich warm, und da bin ich eingeschlafen. Als ich wieder erwachte, war mein Seesack weg mit allem, was ich bei mir hatte. Nur das Geld haben sie nicht gefunden. Das trage ich immer am Körper, verstehst du?« »Klar, ist auch gut so.« Harry lächelte. »Jetzt weißt du Bescheid, daß du einen Tramp vor dir hast.« Johnny winkte ab. »So schlimm ist das nicht. Wir haben dieselbe Größe. Ich gebe dir Klamotten von mir.« Er wollte aufstehen und seine Mutter informieren, aber Harry hatte einen Einwand.
»Später, das hat doch Zeit. Reden wir lieber über London und was wir ab morgen machen.« Johnny schnickte mit den Fingern. »Eine Bootsfahrt auf der Themse vielleicht?« Harry verzog das Gesicht. »Nicht?« »Nein, dazu habe ich keine Lust.« »Hm.« Johnny runzelte die Stirn und strengte seinen Geist an. Er hatte noch Kopfschmerzen, die Gedanken wollten nicht so laufen, wie er es sonst gewohnt war. »Fällt dir denn nichts ein, das außergewöhnlich ist, Johnny? Das andere Touristen nicht machen?« »Ist natürlich schwer.« »Ich will mir wirklich nicht die Hacken an irgendwelchen Orten und Plätzen ablaufen, die von unzähligen Touristen besucht werden. Es muß doch Stellen geben, wo die meisten nicht hinkommen. Was praktisch für uns privat ist.« »Ja«, murmelte Johnny, »die gibt es sicherlich.« »Kennst du sie denn?« Johnny wollte schon eine negative Antwort geben, als ihm etwas einfiel. Er wäre fast in die Höhe gesprungen, aber das wollte er seinen Gelenken nicht zumuten, deshalb blieb er sitzen. »Doch, Harry, ich kenne etwas. Mir ist es eben eingefallen.« »Mach’s nicht so spannend.« »Wir besuchen meinen Patenonkel und den besten Freund meines Vaters. Ich weiß, daß er in London ist. Wir werden ihn in seinem Büro überraschen. Morgen früh gleich.« Harry lächelte etwas spöttisch. »Und wer ist dieser Onkel, den du hier so anpreist?« »John Sinclair.« »Kenne ich nicht.« Johnny sprach schnell weiter. Er war jetzt aufgeregt. »Aber du wirst ihn kennenlernen, das verspreche ich dir. John Sinclair ist bei Scotland Yard. Er wird uns bestimmt führen, wenn er Zeit hat. Das sieht nicht jeder. Ich meine ja nicht die offizielle Führung, die es auch gibt, sondern eine ganz private. Na, Harry, was hältst du von dem Vorschlag?« »Hört sich nicht schlecht an.« »Das ist auch nicht schlecht, Harry. Das ist sogar super, wenn du verstehst.« Harry lächelte. »Wenn du meinst, ich bin nicht dagegen.« Johnny schlug auf seinen rechten Oberschenkel und zuckte zusammen, weil er einen malträtierten Muskel getroffen hatte. »Stark«, sagte er, »das finde ich echt stark…« »Ich auch«, murmelte Harry und lächelte…
Es war schon gegen Abend, als Lady Sarah die Schritte auf der Treppe hörte. Sie saß in ihrem Wohnraum, schaute sich einen alten Film an und stand auf. Jane Collins kam die Treppe hinunter. Sie hatte sich umgezogen, trug jetzt normale Kleidung, Jeans und einen dünnen Nicki-Pullover mit einer Kapuze auf dem Rücken. Ihr Gesicht war noch immer bleich, und sie kam der Horror-Oma vor wie eine Schlafwandlerin, die sich in einer fremden Umgebung bewegte. »Was ist los, Jane?« Die Detektivin blieb stehen. Sie schaute einige Sekunden ins Leere, bis sie sagte: »Ich konnte es im Bett nicht mehr aushalten. Außerdem habe ich Hunger und Durst. Ist John schon weg?« »Ja, schon länger.« Sie ging auf die Bemerkung nicht ein, sondern ging die restlichen Stufen hinab. Wortlos betrat sie die Küche, wo sie ein Sandwich mit kaltem Fleisch belegte. Sarah Goldwyn stand hinter ihr und schaute auf ihren Rücken. Sie kannte Jane Collins lange genug, um zu wissen, daß sie etwas au f dem Herzen hatte. Aber sie wollte sie nicht drängen. Wenn Jane etwas zu sagen hatte, würde sie es freiwillig tun. Noch aß sie, trank dazu Mineralwasser und schaute nach draußen in den schmalen Vorgarten, an den sich der Gehsteig und die schmale Straße anschlossen, an deren Rändern zahlreiche Bäume standen. Ihr dichtbelaubtes Geäst warf Schatten und filterte an heißen Tagen das grelle Sonnenlicht. Sie aß ihren Sandwich auf und atmete tief durch. Sarah war besorgt, räusperte sich und fragte: »Was ist los, Jane? Spürst du diesen Drang wieder in dir?« Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ich weiß es nicht genau, Sarah. Es ist nicht einfach, glaube mir. Ich – ich spüre etwas und weiß, daß es gefährlich ist. Aber ich komme nicht darüber hinweg. Ich kann es nicht fassen. Es bedrückt mich, es quält mich, denn ich weiß, daß es London erreicht hat.« »Harry.« »Ja, Sarah, so heißt die Gefahr. Sie ist so konkret, daß sie sogar einen Namen hat.« »Dann müssen wir Harry finden.« Jane sah aus, als wollte sie lachen. Sie unterließ es, als sie das ernste Gesicht ihres Gegenübers sah. »Harry finden, Sarah? Das ist beinahe unmöglich in einer Riesenstadt wie London.« »Hinterläßt er keine Spuren?« Jane dachte nach. »Ich weiß es nicht. Jedenfalls werden es keine Spuren sein, die für die Allgemeinheit sichtbar sind. Ich möchte sie mit
einem anderen Ausdruck bezeichnen und würde sie als Strömungen ansehen. Ja, genau, es sind Strömungen, die du kaum spüren kannst, die mich allerdings berührt haben. Deshalb weiß ich ja Bescheid. Es ist nicht nur in den Träumen gewesen, ich habe den Druck auch am Tage gespürt. Die Strömungen sind da, und sie sind böse, wenn du verstehst. Sie sind magisch, sie sind gefährlich. Es ist etwas Uraltes, etwas Geheimnisvolles, das sich angekündigt hat.« »Und es heißt Harry, nicht?« »Stimmt genau.« »Dann ist es ein Mann«, sagte die Horror-Oma. »Oder würdest du es immer noch als Wesen bezeichnen?« »Ein Neutrum.« Sarah Goldwyn räusperte sich und faßte noch einmal zusammen. »Die Gefahr heißt Harry. Er ist erschienen, woher auch immer, und er will das Böse bringen.« »Ja, aber nicht allgemein. Ich habe eher das Gefühl, daß er gekommen ist, um eine spezielle Aufgabe zu erfüllen. Daß ich den Sinn nicht begreife, das macht mich verrückt. Da bin ich einfach überfragt, ich drehe bald noch durch. Es war ein furchtbarer Schock, als ich zum erstenmal spürte, daß sich Harry näherte.« »Woher weißt du denn seinen Namen?« Jane hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Er war einfach da. Urplötzlich.« »Und Harry besitzt außergewöhnliche Kräfte?« »So ist es.« Lady Sarah legte die Stirn in Falten. »Daß John Sinclair noch nichts von ihm gehört hat, muß nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben. Es gibt ja unzählige Dämonen, die einen sind bekannt, die anderen nicht so. Und sie sind auch von der Stärke her verschieden. Aber Harry muß dann schon etwas Besonderes sein.« »Das ist er auch.« »Und du hast gespürt, daß er kommt?« »Ja«, flüsterte Jane, »ja.« Sie räusperte sich. »Ich merkte, daß er kommen will. Er tauchte plötzlich auf. Es wehte wie ein böser Hauch aus der Unendlichkeit zwischen Zeit und Raum heran. Er hat es geschafft, beides zu überwinden.« Die Horror-Oma hatte genau zugehört. »Kann es dann sein, daß Harry schon alt ist? Sehr alt, meine ich.« »Das ist möglich.« »Und er hat überlebt.« Jane Collins nickte. »Davon gehe ich eigentlich aus, aber ich weiß nicht, wie er überlebt hat. Das liegt noch alles im Dunkel begraben. Ich spüre nur, daß er hier ist.«
Sarah Goldwyn schüttelte den Kopf. »Ich begreife das nicht. Wenn du also spürst, daß er in London ist, dann mußt du wirklich sehr sensitiv veranlagt und besser als manches Medium sein. London ist riesig, es ist…« »Rede nicht weiter«, sagte Jane, »sonst gerätst du in ein falsches Fahrwasser. Es geht nur sekundär darum, daß er sich in London befindet. Ich habe seine Anwesenheit wahrscheinlich nur deshalb gespürt, weil er sich an Personen herangemacht hat oder sich in deren Nähe aufhält, die uns nicht ganz unbekannt sind.« »Meinst du Freunde?« Jane nickte. Zwar zögernd, aber immerhin. »Ich habe einfach das Gefühl, daß es Harry besonders auf uns abgesehen hat. Wobei ich dich mit einschließe. All die Menschen, die unmittelbar mit John Sinclair und Suko zu tun haben, die also das Böse bekämpfen. Sie sollten auf der Hut sein. Wir stehen in einer engen Verbindung zueinander, und meine Hexenkräfte sind nicht ganz verschwunden, aber ich will dir ehrlich sagen, daß ich Angst um uns habe. Ich habe sogar Furcht vor der folgenden Nacht, denn ich glaube fest daran, daß es wieder zu einem Kontakt kommen wird. Sogar zu einem ziemlich engen, denn ich weiß, daß Harry in mir eine Feindin sieht. Er muß gespürt haben, daß ich informiert bin und es ihm auch nicht einfach machen werde. Ich rechne sogar damit, daß ich ihm sehr bald gegenüberstehen werde und es zu einem Kampf zwischen uns kommen wird. Harry haßt Widerstand. Er will seinen geraden Weg gehen, und er muß in mir einfach seine große Feindin sehen.« Lady Sarah konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Wenn man dich so hört, dann muß man annehmen, daß du von einem guten Bekannten sprichst.« »Ja, Sarah, irgendwo ist er das auch. Ein Bekannter und gleichzeitig ein Feind, der mich aus dem Weg räumen will.« Sarah Goldwyn nahm die Worte nicht auf die leichte Schulter. »Sollen wir John Bescheid geben, daß er zu uns kommt und die Nacht über bleibt, um deinen Schlaf zu bewachen?« Zum erstenmal lachte Jane. »Nein, Sarah, nein, soweit ist es noch nicht.« »Aber ich könnte…« »Du nicht, meine Liebe…« »Laß mich doch ausreden, Jane. Ich könnte in meinem Archiv nachschauen, ob wir etwas über einen Harry haben. Vielleicht in einem der alten Bücher, in denen ja eine Menge über mächtige Dämonen niedergeschrieben worden ist. Nicht umsonst habe ich mir eine so große Bibliothek zugelegt.« Jane hatte die Stirn gekraust. »Das ist natürlich eine Idee«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ob wir Erfolg haben werden, weiß ich nicht.«
»Wir würden zumindest nicht untätig hier herumsitzen.« »Da hast du auch recht.« »Dann komm.« Die beiden Frauen mußten hoch bis unter das Dach, wo sich das große Archiv befand. Hier standen nicht nur die Bücher, hier schaute sich Lady Sarah auch ihre Videofilme an, die nicht nur aus einer Sammlung der neuesten Gruselfilme bestanden, nein, sie hatte auch Berichte über ungewöhnliche Ereignisse gehortet, die irgendwann in den TVProgrammen gelaufen waren. Draußen war es noch hell. Das letzte Licht füllte die schrägstehenden Quadrate der Glasfenster aus und sickerte in das große Zimmer herein. Dennoch brauchten die beiden Frauen Licht. Die Strahler leuchteten auch die letzte Ecke aus und schufen praktisch eine schattenlose Helligkeit. Lady Sarah hatte ihre Bücher nach Sachgebieten geordnet und jeweils in der Unterabteilung in alphabetischer Reihenfolge. Um nicht lange auf den Buchrücken nachschauen zu müssen und dann zu suchen, wo ein bestimmtes Buch stand, hatte sie sich einen Computer zugelegt, den sie ebenso gut bedienen konnte wie Jane. Nur überließ sie an diesem Abend der Detektivin den Vortritt. »Dann wollen wir mal«, sagte Jane, als sie den Computer eingeschaltet hatte und die ersten Eingaben machte. Sie ging dabei nach bestimmten Stichwörtern vor. Sie berücksichtigte die Zeit, das Aussehen des Gesuchten. Menschlich oder nicht menschlich. Dem Tierreich zugehörend oder dem Gebiet der Monsterwesen. Gemeinsam starrten sie auf den Monitor, damit er ihnen eine Lösung oder zumindest einen Hinweis zeigte. Nichts. Jane Collins sagte ein hartes Wort für eine weiche Masse, und Lady Sarah widersprach ihr nicht. »Das war ein Schuß in den Ofen, Sarah.« »Willst du aufgeben?« »Weiß nicht.« Jane räusperte sich. »Nicht daß du denkst, daß es Harry nicht gibt. Den Zahn muß ich dir ziehen. Es gibt ihn, darauf kannst du dich verlassen, und ich weiß auch, daß er wieder einmal mit mir in Kontakt treten wird.« »Wenn das auf einem Weg der telepathischen Kräfte geschieht, so würde ich an deiner Stelle versuchen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Vielleicht auf astraler Ebene.« Jane zeigte ein verloren wirkendes Lächeln. »Wenn das so einfach wäre«, murmelte sie. »Bisher habe ich ihn nur als eine reine Drohung erlebt. Es gab in dem Sinne keinen Kontakt, bei dem wir uns gegenseitig etwas übermittelt hätten. Er war derjenige, der das Sagen hatte. Er wollte, daß ich ihn fürchtete, daß ich Angst bekam. Er sorgte eben für
dieses kalte Grauen.« Jane stand auf und ging zum Fenster, um in die Dämmerung zu schauen. »Er präsentierte sich einfach. Er war wie eine böse Strömung, die alles mitreißt. Er sorgte dafür, daß mich die Furcht überfiel, und sie hat mich überfallen. Ich habe selten in der letzten Zeit eine derartige Angst empfunden. Ich weiß nicht, wer er ist. Ich weiß nur, daß er sich hinter einem harmlosen Namen versteckt. Harry, das klingt völlig neutral und normal.« »Da gebe ich dir recht.« Jane drehte den Kopf. Ihr Blick schweifte rechts und links über den grau gewordenen Himmel. »Er ist ein Monstrum, er ist ein grausames Wesen. Er kennt keine Gnade, und ich weiß wirklich nicht, wie ich ihm entgegentreten soll.« »Ist er denn so gefährlich?« »Ja, er kann Angst machen. Er ist alt, er hat oder er muß Wissen angesammelt haben. Er ist einfach anders als die Dämonen oder Wesen, die wir bisher kennengelernt haben. Ich kann ihn auch nicht in Worte fassen. Er ist da und trotzdem weg.« Jane hob die Schultern, drehte sich wieder um und lächelte Sarah Goldwyn an. »Würde ich das einem anderen Menschen erzählen als dir, würde mich dieser für verrückt halten, glaube ich.« Sarah streichelte über Janes Wange. »Keine Sorge, das werde ich nicht tun.« »Ja, ich weiß«, murmelte Jane. »Ob du es glaubst oder nicht, ich bin müde geworden.« »Dann geh zu Bett.« Jane lachte. »Weißt du auch, was das bedeutet?« »Ich fürchte schon. Nur – was willst du machen? Die Nacht über am Fenster hocken und in die Dunkelheit starren?« »Nein, das auf keinen Fall.« Sie legte Sarah eine Hand auf die Schulter. »Ich werde schon in mein Zimmer gehen und mich hinlegen.« »Aber versprich mir, daß du dich nicht einschließt.« »Keine Sorge, das mache ich schon nicht.« »Dann wünsche ich dir jetzt eine besonders gute Nacht«, sagte die Horror-Oma, bevor sie Jane auf beide Wangen küßte und ihr noch einen Trost zusprach. »Keine Sorge, wir haben viel geschafft und werden auch das hinter uns bringen.« »Ja«, murmelte die Detektivin. »Das hoffe ich…« Zwei Stunden waren vergangen. Jane Collins lag in ihrem Bett und hatte sich umgezogen. Nach dem Duschen war sie in einen Jogging-Anzug geschlüpft. Sie hatte einfach das Gefühl gehabt, immer bereit sein zu müssen, da kam ihr ein normales Nachthemd deplaziert vor. Die Stores hatte sie bewußt nicht vor das Fenster gezogen, denn sie wollte, falls es nötig sein sollte, hinausschauen können, weil sie damit
rechnete, daß dieser Harry, wenn er ihr erschien und sich offenbarte, verschiedene Wege nehmen konnte. Und da kam das Fenster auch in Betracht. Trotz seines harmlosen Namens hatte sich Jane Gedanken über ihn gemacht, über seine Gestalt, über sein Aussehen, aber sie hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, so blieb alles die reine Spekulation. Sie konnte nur darauf hoffen, daß er sich ihr auf eine bestimmte Art und Weise offenbarte oder sich materialisierte. Was war Harry? War er ein Monster, war er eine amorphe Gestalt wie der Spuk? Oder war er nur einfach ein Geist, angefüllt mit bösen Gedanken, die er weitertrug? Wichtige und starke Fragen, auf die Jane noch keine Antwort finden konnte. Sie mußte einfach mehr über Harry wissen, und sie hoffte, daß diese vor ihr liegende Nacht sie einen entscheidenden Schritt weiterbrachte. Noch blieb es ruhig… Trotzdem war es anders als sonst. Jane lag wach, sie steckte voller Spannung, ihre Sinne achteten auf jedes Geräusch, mochte es nun normal oder fremd sein. In diesem Zustand sah sie jedes Geräusch anders und brachte es immer wieder mit Harry in Verbindung. Auch Sarah Goldwyn schlief auf ihrer Etage. Da beide Zimmertüren nicht geschlossen waren, hörte sie die Horror-Oma, die ebenfalls nicht schlafen konnte und sich unruhig in ihrem Bett hin und her wälzte. Die dabei entstehenden Laute drangen auch an Janes Ohren. Es war zwar dunkel im Zimmer, dennoch herrschte ein ungewöhnliches Licht. Als breiter, grauer Streifen drang es durch das Fenster und füllte das Zimmer aus wie ein großes Zelt. Es beleuchtete das Bett, verteilte sich aber auf der unteren Hälfte, so daß Janes Gesicht davon nicht gestreift wurde. Wenn sie ihren Blick nach vorn richtete, sah sie auf die offenstehende Tür und über die Schwelle hinweg in den Flur hinein, wo aus Lady Sarahs Zimmer ein matter Lichtschein fiel, der sich zwischen den Wänden verteilte. Die Zeit verging. Sehr träge floß sie dahin. Es kam Jane vor, als wäre jede Sekunde ein zäher Teertropfen, der aus einer großen Zeitmaschine fiel und in einem Sammelbecken landete. Sie versuchte, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken und dachte an ihr Leben, das von mehreren Schicksalsschlägen gezeichnet worden war, die sie sogar einmal in die unmittelbare Nähe des Teufels gebracht hatten, deren Dienerin sie geworden war. Dienerin und Hexe!
Nach Jahren war sie von dem furchtbaren Schicksal erlöst worden, aber da war noch etwas zurückgeblieben, das sie zu Beginn nur widerwillig akzeptieren konnte. Jetzt hatte sie sich daran gewöhnt, daß sie gewisse Hexenkräfte besaß, die wie eine schwache Kerzenflamme in ihr schlummerten und geweckt werden konnten, falls bestimmte Ereignisse eintraten, die bis an die Grenze ihrer psychischen Kraft gingen. Jane hoffte sehr stark, daß sie diese alten Hexenkräfte aktivieren konnte, sollte sie Harry irgendwann gegenüberstehen, denn sie war der Meinung, daß es allein nur ihr gelingen konnte, dieses Wesen zu stoppen. Im Augenblick hatte sie Pech. Zwar konzentrierte sie sich auf die Kräfte, aber die blieben weiterhin in einem tiefen Schlummer. Sie konnte damit noch nichts anfangen. Kam er, kam er nicht? Es war eigentlich kein direktes Kommen, es war dieser böse, gefährliche Hauch, den die Gestalt namens Harry mitbrachte. Einige Male schloß sie die Augen, erschrak dann über sich selbst und öffnete sie wieder. Sie wollte wachbleiben, sie wollte auf keinen Fall einschlafen. Sie mußte sich seinem Einfluß stellen, falls er über sie kommen sollte. Die Zeiger der Uhr bewegten sich bereits auf Mitternacht zu, als die Natur ihr Recht forderte und Jane Collins auch nicht dagegen ankämpfen konnte. Sie schlief ein. So übergangslos, daß es ihr vorkam wie ein Wegtauchen in einen tiefen Schlund. Es war vorbei. Kein Harry, keine Gefahr, nur der Schlaf… Aber der dauerte nicht lange. Zudem war er ziemlich unruhig. Ein im Zimmer stehender Beobachter hätte genau mitbekommen, wie sich Jane Collins unruhig auf dem Bett hin und her bewegte. Sie konnte einfach nicht auf dem Rücken liegen bleiben und warf sich von einer Seite auf die andere. Im Schlaf schwitzte sie, obgleich sie keine bewußten und nachvollziehbaren Alpträuem erlebte. Doch es war ein fremder Zwang, der in sie hineinkroch und von ihrem Körper Besitz ergriff. Plötzlich schlug Jane die Augen auf! Ein feiner Streifen Mondlicht hatte seinen Weg durch das Fenster gefunden. Er versilberte einen Teil des Zimmers und auch das Bett der Detektivin in Kopfhöhe. In ihren offenen Augen ließ er sich nieder und gab ihnen einen schwachen Silberglanz. Sie war wach, aber sie bekam es selbst nicht mit, schaffte es nicht, diese Tatsache zu realisieren, denn sie fühlte sich noch immer so, als würde sie schlafen. Das stimmte nicht. Jane bewegte die Augen, öffnete den Mund, und ein langer Atemzug drang über ihre Lippen. Dann richtete sie sich auf.
Sehr abrupt, blieb aber sitzen, stemmte die Hände rechts und links des Körpers auf das Bett und wartete ab. Nichts war passiert. Aus dem anderen Zimmer hörte sie keinen Laut. Dort war die Stille wie Blei, und es kam ihr fast so vor, als hätte Lady Sarah Goldwyn den Raum dort verlassen. Jane blieb in der sitzenden Haltung, weil sie sich so besser umschauen konnte. Sie lebte mittlerweile schon ziemlich lange bei Sarah Goldwyn. Es war ihr alles so vertraut geworden, sie fand sich selbst in der dunkelsten Finsternis zurecht, aber in diesen Augenblicken kam ihr das Zimmer fremd vor. So als würde es in einer anderen Welt stehen, in der zahlreiche Gefahren lauerten. Sehen konnte sie nichts. Dafür fühlen. Es fing an mit ihrem Zittern, gegen das sie nichts tun konnte. Gleichzeitig bildete sich auf den Armen, dem Gesicht und eigentlich überall am Körper eine Gänsehaut, die wie eine kalte Decke über alles hinwegkroch. Sie atmete mit offenem Mund. Kälte durchströmte ihren Körper, sie spürte auch die Hitze, und dann kam die Angst. Sie war kaum zu beschreiben, sie war einfach schrecklich, sie hatte tausend lange, gefährliche Arme, die in ihren Körper krochen und ihn bis in den letzten Winkel ausfüllten. Angst und Panik… Beide bildeten eine Gemeinsamkeit, beide überschatteten ihren eigenen Willen… Jane zitterte noch stärker. Sie schwitzte unter dem doch recht dicken Stoff des Jogging-Anzuges. Auf ihrer Stirn lag der Schweiß wie ein glänzender Spiegel. In den Augen flackerte es, als würde sich das Mondlicht dort zuckend bewegen. Wo steckten sie? Wo lauerten die Gefahren, und wo verbarg sich der Unheimliche, der sie leitete? Harry! Es war wie ein Gongschlag, der in ihrem Gehirn aufdröhnte, als sie an diesen Namen dachte. Er hatte sie hart getroffen, und sie wußte plötzlich, wem sie diese Angst zu verdanken hatte. Und weil sie es so genau wußte, fühlte sie sich auf einmal besser. Sie flüsterte den Namen. Einmal, zweimal… Dann schaute sie zum Fenster, dessen Rechteck in der Wand stand wie gezeichnet. Nichts bewegte sich hinter der Scheibe. Da lag die Dunkelheit einer normalen Sommernacht. Keine Spur von Harry. Und doch war er da.
Jane spürte dies mit jeder Faser ihres Körpers. Sie hatte das Gefühl, in einem Gefängnis zu sitzen, das einzig und allein aus Harry bestand, einem Kraken wesen, das mit seinen Fangarmen überall hinlangte und sich die Beute holte. Jane war zu einer solchen Beute geworden. Die Angst nahm zu. Sie zeigte sich auch körperlich, denn Jane begann zu zittern und zu fiebern. Ein Schüttelfrost überfiel sie und ließ sie mit den Zähnen klappern. Unter dem Stoff des Jogging-Anzugs spürte sie das durchgeschwitzte Laken. Mein Gott, was war da nur? Wo steckte Harry? Würde er sich zum erstenmal zeigen, oder blieb er auch weiterhin nur ein furchtbarer, bedrückender Alptraum? Sie war jetzt soweit, daß sie ihn sehen wollte. Sie wußte, daß es ihn gab, daß er nicht nur ein Hirngespinst oder ein Alptraum war. Harry existierte, und er hatte es geschafft, nach London zu kommen. Er mußte sich sogar in ihrer Nähe befinden, denn nie hatte sie seine Anwesenheit dermaßen intensiv gespürt wie jetzt. Es hatte keinen Sinn mehr für Jane, noch länger auf das Fenster zu starren. Dort ließ er sich sowieso nicht blicken. Das war nur eine Ablenkung, denn es gab noch eine andere Möglichkeit. Der Flur war für Jane einsehbar. Noch schwamm dort der blasse Lichtschein aus Lady Sarahs Zimmertür. Die beiden Räume lagen sich nicht direkt gegenüber, so konnte Jane nicht in den anderen hineinschauen. Aber sie hörte das leise Schnarchen der Horror-Oma. Sie hatte es nicht geschafft, wach zu bleiben, war eingeschlafen und würde ihr kaum zu Hilfe eilen können. Freie Bahn für Harry? Jane ging einfach davon aus, daß er diesen Weg wählen würde. Sie verließ sich da auf ihr Gefühl, das die Angst noch nicht hatte begraben können. Der bleiche Lichtschein lag dort wie hingegossen. Nichts regte sich, kein Schatten durchwanderte ihn, und trotzdem glaubte Jane daran, daß er schon im Haus war. Für Harry gab es keine Mauern, keine Wände, keine Hindernisse. Er war anders, er war besser, viel besser. Da Jane zu lange auf einen bestimmten Punkt gestarrt hatte, war es anstrengend für ihre Augen geworden. Sie mußte sie reiben, sie wollte ihre Sicht verbessern und auch ihre Konzentration. Und sie hatte Glück! Etwas passierte mit dem Licht. Es sah so aus, als würde eine Wolke hinduchgleiten, die für einen winzigen Moment aufflimmerte und dann wieder verlöschte. Nichts mehr…
Sie schluckte. Hatte sie sich getäuscht? Jane spürte die Unruhe und die Angst. Beides klebte an ihr, wollte nicht mehr weichen, und sie dachte an ihre Träume. Da hatte sie Harry gesehen. Da war er ein schwarzer, drückender Alp gewesen, ein schreckliches Gebilde, das die Furcht in ihren Körper hineingepreßt hatte. Aber da war er noch weiter entfernt gewesen. Im Gegensatz zu dieser Nacht, und Jane wußte, daß er da war. Ja, er war gekommen! Zu ihr, in ihr Zimmer! Sie hörte ihn. Und es war ein schrecklicher Laut, der an ihre Ohren klang. Im ersten Augenblick versteifte sie sich, als sie dieses hechelnde und gleichzeitig keuchende Geräusch vernahm, als wäre ein gewaltiges Monster dabei, tief Luft zu holen. Es saugte die Luft ein, die Jane umgab, und es nahm ihr die Luft zum Atmen. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet. Sie würgte, sie wollte etwas tun, aber sie konnte nicht. Es war wie ein Zwang, der ihr befahl, sich nur auf das schreckliche Atmen zu konzentrieren. Nichts ging mehr… Harry war da. Und Jane spürte ihn. Es war eine Berührung, eine klebrige Kälte, die über ihr Gesicht strich, die den Ekel in ihr hochsteigen ließ. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, weil sie ihn sehen wollte, doch sie hörte ihn nur. Das Keuchen war verstummt, doch die Stimme, mit der er sprach, hatte fast den gleichen Klang. »Du hast mich gespürt, Jane Collins. Du hast bemerkt, daß ich komme. Keiner sonst, nur du…« Jane schwieg. Er sprach weiter. »Weil du es gespürt hast, mußt du etwas Besonderes sein, und ich habe dich als gefährlich eingestuft. Ich bin aus weiter Ferne gekommen, aber jetzt habe ich mein Ziel erreicht. Ich bin bei euch, ich bin in London. Ich bin euch schon sehr nahe, ich weiß über vieles Bescheid, und ich werde nicht von meinem Plan lassen. Niemand kann mich stoppen, selbst du schaffst es nicht, Jane.« Er lachte widerlich, und Jane kam sich vor wie von Klammern umfangen. Sie wollte aus diesem verdammten Gefängnis ausbrechen, aber sie schaffte es nicht. Harry war stärker. Er hielt sie fest. Er gab ihr keine Chance. Er war wie das Grauen, war wie ein Tuch, das über alles hinwegflatterte, was in seine unmittelbare Nähe geriet. Schlimm… Noch immer war die Kälte da. Aber sie brachte nicht allein die niedrigen Temperaturen mit, es war noch etwas anderes, das Jane so malträtierte.
Das Wissen um das Böse, ein Wissen, daß sie es in dieser Nacht nicht besiegen konnte. Und Harry bewies ihr, wie grausam er war, wie sehr er mit ihr spielte und wie leicht es ihm gefallen war, ihre alten Hexenkräfte zu unterdrücken. Etwas berührte ihr Gesicht! Zuerst so weich wie eine Feder, und sie empfand es nicht einmal als unangenehm. Das aber blieb nicht so, denn der Druck nahm zu. Er verteilte sich auf den Wangen, strich über die Stirn hinweg, den Nasenrücken, erreichte das Kinn, glitt wieder zu den Wangen hin und nahm eine messerartige Schärfe an. Die Begriffe Messer und Feder faßte Jane Collins zu einem einzigen zusammen. Es war ein verrückter Gedanke, den sie jedoch nicht fortschieben konnte. Federmesser! Genau das war es. Dieser Angriff aus dem Nirgendwo, dem Geisterreich, war wie von einem Federmesser geführt worden. Erst sanft, streichelnd, dann nahezu scharf und brutal. Jane hatte das Gefühl zu vereisen, als plötzlich ihre Haut aufriß. Ein scharfer Schnitt trennte das Fleisch an der Wange auf, und es entstand eine Wunde, aus der Blut quoll. An der linken Wange war die Haut eingerissen worden. Jane konzentrierte sich darauf und vergaß, auf die andere Gesichtshälfte zu achten. Und dort erwischte es sie auch. Wieder dieser scharfe Schnitt, dieser zuckende, brutale Schmerz und das aus der Wunde rinnende warme Blut, das sich auf ihrem Gesicht verteilte. Eigentlich wollte sie schreien und sich gegen die Attacken wehren, doch dazu kam es nicht. Jane Collins war nicht mehr sie selbst. Sie fühlte sich wie in einem Gefängnis, dessen Gitterstäbe immer näher zusammenrückten, als sollte sie zerquetscht werden. Und der dritte Schmerz erreichte sie. Scharf und brennend auf ihrer Stirn. Wieder hatte sie nichts gesehen, kein Messer, vielleicht einen scharfen Schatten, aber ohne Waffen, ohne irgendwelche Federmesser oder Rasierklingen, denn nur solche Messer hinterließen diese Wunden. Harry kicherte. Ein Nichts, das kichern konnte, das eine böse Botschaft überbracht hatte. Es war wieder ein Geräusch, das Jane die Angst durch den Körper jagte, denn es hörte sich so kalt, so siegessicher und gleichzeitig auch furchtbar an.
Sie wollte die Hände anheben und gegen ihre Wunden pressen, doch dazu fand sie nicht die Kraft. Statt dessen rann das Blut weiterhin an ihrer Haut entlang und tropfte auf die Bettdecke, die schon sehr bald von einem schaurigen Muster gesprenkelt war. Noch ein letztes schrilles Lachen, dann verschwand Harry wieder. Jane, die ihren Blick auf die Tür gerichtet hatte, sah innerhalb des Lichtscheins im Flur noch einmal dieses Zittern. Dann war sie allein… Es gab keinen Harry mehr. Für diese Nacht war er Erinnerung. Doch eine, die länger bleiben würde, denn in ihrem Gesicht spürte Jane die Schmerzen, als hätte man ihr Säure auf die Haut gekippt. Sie schaffte es endlich, sich herumzudrehen und aufzustehen. Ihre Knie zitterten und standen dicht vor dem Nachgeben, als sie auf das Bad zuschritt. Was sie erlebt hatte, war Irrsinn, aber sie konnte nicht anders und mußte sich einfach im Spiegel anschauen. Das grelle Licht schmerzte in ihren Augen. Sie hielt sich am Waschbecken fest, sah das Blut, die Wunden und war plötzlich erleichtert darüber, daß sie nicht größer waren. Nur sehr schmale, kleine Einschnitte, die schnell verheilen würden. Jane suchte im Schrank nach, fand die blutstillende Watte und wusch zunächst ihr Gesicht ab, bevor sie das Zeug auf die drei Wunden im Gesicht drückte. Etwas später suchte sie die kleinen Pflasterstücke aus einer Dose und verklebte die Wunden. Jetzt ging es ihr besser. Allerdings nur äußerlich, im Innern sah es ganz anders aus. Da regierte noch immer die Angst – auch davor, daß dieses Wesen irgendwann zurückkehren konnte. Hütet euch vor Harry! Jane fiel ein, daß sie es ihren Freunden gesagt hatte. Dabei hätte sie selbst achtgeben müssen. Sie überlegte, ob sie Sarah wecken sollte, entschied sich jedoch anders. Sie wollte die alte Frau schlafen lassen, Lady Sarah wäre sonst die Nacht über auf den Beinen geblieben, und das war für sie bestimmt nicht gut. Wieder ging sie zu ihrem Bett, legte sich hin, starrte gegen die Decke. An Schlaf war nicht zu denken, denn sie wußte nicht, was der nächste Tag noch bringen würde. Bisher hatte Harry nur gespielt. Sehr bald aber würde er richtig zuschlagen. Und das würde schlimm werden, davon war Jane überzeugt… ***
Harry, immer nur Harry! Verdammt noch mal, dieser Name spukte mir im Kopf herum, als wäre er etwas so Außergewöhnliches, das man einfach nicht mehr vergessen konnte. Wer war Harry? Weshalb sollte ich mich vor ihm fürchten? Nachdem ich Jane und Lady Sarah verlassen hatte, war ich wieder ins Büro gefahren, hatte mit Suko und Glenda über Harry gesprochen, die allerdings auch keinen Rat wußten. Mit Sir James konnte ich nicht reden. Der hatte sich für eine Woche verabschiedet. Er wollte Urlaub machen, was bei ihm ebenfalls sehr selten vorkam, denn da konnten wir uns die Hand reichen. Ich hatte schlecht geschlafen. Auch in der Nacht war mir immer wieder dieser eine Name durch den Kopf gegangen, wenn es mich aus den kurzen Schlaf intervallen gerissen hatte. Allmählich wurde Harry zum Alptraum, der mich bis in den Schlaf verfolgte. Dementsprechend brummig stand ich am anderen Morgen auf, schaute aus dem Fenster und stellte fest, daß es ein schwüler Tag werden würde. Sicherlich durchmischt von Regenschauern und Gewittern. Im Gegensatz zum gestrigen Tag war der Wind aufgefrischt. Er trieb trübe Wolken über den Himmel, dennoch drückte die Luft. Da würden viele Menschen Kopfschmerzen bekommen, und auch ich hatte mich schon besser in Form gefühlt. Harry! Ein verdammter Name, eine Bedrohung, die mich auch noch unter der Dusche malträtierte. Janes Aussage nach mußte er etwas Schlimmes sein, aber sie hatte nicht sagen können, was sie bedrohte. Harry war eben da. Er hatte einen Namen bekommen. Irgendein Synonym für eine schreckliche Bedrohung, die wie die blaue Festung des Shimada durch die Zeiten gewandert sein mußte. Beim Abtrocknen verfluchte ich Harry schon wieder und beim Frühstück ebenfalls. Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, das Telefon auf den Tisch zu stellen, wenn ich allein war und aß. Da brauchte ich nicht weit zu laufen, wenn es sich meldete. Und es summte. Noch als meine Hand über dem Hörer schwebte, dachte ich wieder an Harry. Er war es nicht, dafür Jane Collins, die Mühe hatte, ihrer Stimme einen normalen Klang zu geben. Denn so gut kannte ich sie, um herauszuhören, ob sie unter Druck stand oder nicht. »John, ich…« »Harry?« fragte ich nur. »Ja.«
Ich ließ erst mal nichts von mir hören, atmete tief durch und verdrehte die Augen. Es war zum Haareausraufen. Diese Unperson entwickelte sich allmählich zu einem Alptraum. »War er da?« »Bestimmt john. Aber ich kann es nicht genau sagen. Jedenfalls war es schlimmer als sonst. Er griff mich auch an, verstehst du?« »Nein, nicht direkt.« Es dauerte eine Weile, bis ich Jane CoIIins begriffen und erfahren hatte, daß er als Schatten gekommen war und sie aus diesem Schattendasein hervor attackiert hatte. »Also ist Harry so etwas wie ein böser Geist«, hielt ich fest. »So ungefähr. Oder sowohl als auch. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Abwarten?« »Und ob. Aber mit mir zusammen. Wie sieht es am Tage aus? Hat er dich da auch besucht?« »Denk an gestern.« »So meine ich das nicht. Da hattest du ja nur die große Angst vor ihm gehabt.« »Es könnte sich ändern, John.« »Das befürchte ich auch. Ich fahre sofort zu dir, sobald ich die Dinge im Büro erledigt habe. Kann zwei oder drei Stunden dauern. Mir geht nicht aus dem Kopf, daß er sich eine bestimmte Personengruppe aussuchte, wie du vermutest. Rechnest du damit, daß auch andere außer dir in Gefahr schweben?« »Natürlich. Ich würde mich an deiner Stelle ebenfalls vorsehen. Du kannst ihn nicht berechnen. Du kannst seine Taten nicht voraussehen. Er ist einfach anders als die normalen Dämonen. Wir werden kaum an ihn herankommen können.« »Ich dachte an eine Beschwörung.« »Kannst du etwas beschwören, das du nicht kennst? Sarah und ich haben Bücher gewälzt, um einen Hinweis auf ihn zu finden. Ich muß dir gestehen, daß wir nichts gefunden haben. Harry ist ein dämonisches Novum, John.« »Toll ausgedrückt, wirklich.« »Wie denkst du denn darüber?« »Wahrscheinlich auch so. Jedenfalls werde ich die Augen offenhalten, und das soll auch für Suko gelten. Bevor wir zu dir kommen, rufe ich dich noch an.« »Das wäre gut.« »Halt dich tapfer, Mädchen.« »Klar, das ist eine meiner leichtesten Übungen. Bis dann, mein Lieber.« Jane legte auf, ich hatte noch den Klang ihrer Stimme in den Ohren und dachte daran, daß es wohl keine so leichte Übung für sie und uns alle werden würde. Harry würde uns alles abverlangen.
Per Telefon gab ich Suko Bescheid, der sich nicht begeistert zeigte. Auch er hatte viel zu oft für seinen Geschmack an diese Dämonenfigur gedacht. »Und dabei wissen wir nicht, wie wir ihn packen können!« sagte er voller Wut. »Doch, Alter. Über Jane CoIIins. Sie ist so etwas wie ein Köder für uns. Er wird sich an sie halten, weil sie allein bemerkt hat, daß er unterwegs war. Sie steht nicht gerade auf seiner Seite, er wird sie für sich einspannen wollen, trotz allem.« »Möglicherweise wird er versuchen, über sie an uns heranzukommen.« »Gut geraten, Suko. Auf den Empfang freue ich mich schon. Wir haben bisher jeden gestoppt. Warum sollte uns das nicht auch bei Freund Harry gelingen?« »Holst du mich ab?« Suko wechselte das Thema. »In fünf Minuten. Wir nehmen den Rover, denn ich muß einfach beweglich sein.« »Okay.« Ich räumte noch den Tisch ab. Heute kam die Putzfrau. Sie sollte nicht unbedingt den schlechtesten Eindruck von mir bekommen, sonst schimpfte sie mich wieder aus. Suko war schneller. Er klingelte und erwartete mich mit einem Grinsen auf den Lippen. »Scharf auf Harry?« fragte er. »Nicht einmal, wenn er eine Frau wäre und Harriet hieße«, erwiderte ich und verließ die Wohnung. *** Wie empfing uns Glenda Perkins an diesem Morgen? Dreimal darf geraten werden. Natürlich mit dem Satz: »Was gibt es Neues von Harry?« Ich war drauf und dran, ihr die Hand auf den Mund zu pressen oder ihr an die Kehle zu gehen, riß mich aber zusammen und sah, wie Suko vor sich hin grinste. »Was habe ich denn gesagt?« fragte Glenda. Ich tätschelte ihre Wange. Sie schlug meine Hand weg. »Nichts, Miß Perkins, Sie haben gar nichts gesagt.« »Himmel, bist du komisch.« »Das liegt an Harry«, sagte Suko, der auf der Schwelle zu unserem Büro stand. Glenda vergaß alles andere. »Habt ihr ihn? Wißt ihr endlich, was mit ihm ist?« »Leider nein.« Unsere Sekretärin schaute zu Boden und nagte an ihrer Unterlippe. »Vielleicht gibt es ihn doch nicht«, vermutete sie. »Harry kann auch ein reines Hirngespinst sein.«
Ich seufzte wie ein junger Mann, der Liebeskummer hatte. »Das wäre schön, aber Jane Collins ist da anderer Meinung. Sie rief mich heute morgen schon an und erklärte mir, was sie in der letzten Nacht alles erlebt hat. Harry hat sie bedroht. Er ist gewissermaßen zu ihr gekommen. Sie hat ihn gespürt, aber er war nicht existent, verstehst du? Er war mehr ein Geist, der Angst und Kälte verströmte, der in ihre Seele kroch. Ich kann es anders nicht erklären.« Glendas Augen waren groß geworden. Sie hatten dieselbe Farbe wie ihr dunkler Sommerpulli. »Gut, John, Harry ist zu ihr gekommen. Das akzeptiere ich ja alles. Aber weshalb gerade zu ihr? Was hat sie getan, daß er ausgerechnet sie besuchte?« »Sie hat ihn schon länger gespürt. Denk an ihre latenten Hexenkräfte, die tief in ihr schlummern. Das spielt alles eine Rolle. Da hat sie genau gespürt, daß etwas Böses unterwegs ist, und Harry muß es auch bemerkt haben.« Glenda schaute auf die Kaffeekanne, die zur Hälfte gefüllt war. »Ohne Grund ist er doch nicht gekommen – oder?« »Das kannst du wohl sagen.« »Kennst du die Gründe? Will er sich an Jane rächen? Ist Harry ein Rest aus der Zeit, als sie noch anders gewesen ist? Als Jane Collins dem Satan gehorchte?« »Damit müßte man zwar rechnen. Genau wissen wir es aber nicht.« Ich zündete mir eine Zigarette an und nutzte die Sprechpause, um weiter nachzudenken. Janes Worte ließ ich mir noch einmal durch den Kopf gehen. »Weißt du, Glenda, ich habe den Eindruck, daß dieser Harry nicht allein auf Jane Collins fixiert ist. Er meint nicht nur sie, er denkt auch an uns. Er will etwas erreichen. Er ist extra nach London gekommen, um bei gewissen Menschen zu sein. Er muß eine weite Reise hinter sich haben, die man entfernungsmäßig wohl kaum einschätzen kann. Er war oder ist also in London und wird weitermachen.« »Gegen wen?« »Ich nehme an, daß auch wir auf seiner Liste stehen. Wie ich Jane verstanden habe, ist er mit ihren Freunden ebenfalls nicht einverstanden, und dazu gehören wir schließlich.« »Also seid ihr auch auf seiner Liste.« »Richtig.« »Und ich?« »Keine Ahnung, Glenda. Wir werden auf jeden Fall versuchen, ihn zu stoppen, denn daß er sich materialisieren kann, hat er längst bewiesen, indem er Jane Verletzungen im Gesicht zufügte. Er hat drei Wunden zurückgelassen. Als dies geschah, hatte Jane das Gefühl, von einem Rasiermesser berührt zu werden.«
Glenda schüttelte sich, als hätte jemand einen Eimer mit Wasser über sie ausgegossen. »Dann kann ich davon ausgehen, daß es doch keine Traumgestalt ist.« »Das kannst du ohne weiteres.« Sie stand auf. Wie in Trance ging sie zu der Kaffeemaschine, füllte die braune Brühe aber noch nicht ab. »Und was wollt ihr tun?« fragte sie statt dessen. »Ich habe ihr versprochen, bei ihr zu bleiben. Den nächsten Angriff unseres unbekannten Freundes möchte ich nämlich live miterleben. Darauf kannst du dich verlassen.« »Ist er denn nur ein Geist?« »Das wissen wir leider nicht.« »Wie sieht er denn aus?« Ich hob die Schultern. »Jane hat ihn kaum beschreiben können. Als er sie berührte, wurde ihr heiß und kalt. Er ist ein dunkles, düsteres, drohendes Wesen. Er ist wie eine Wolke, die von Eiseskälte erfüllt ist. Er hat sich regelrecht an sie herangemacht, aber ich weiß trotzdem nicht, ob wir nur einen Geist zu bekämpfen haben oder auch ein Wesen, das sich in zwei Zustandsformen zeigen kann. Das alles wissen wir nicht. Ich werde noch etwas aufräumen und dann zu Jane Collins fahren.« »Ja, tu das«, murmelte sie und fragte ebenso leise. »Willst du Kaffee haben?« »Ich nehme die Tasse mit.« Als Glenda einschenkte, war sie sehr nachdenklich geworden. Ich lächelte ihr zu. »Du brauchst keine Angst zu haben, das kriegen wir schon hin.« »Ja – vielleicht. Aber er ist so ganz anders, verstehst du?« »Nein.« »Er ist anders als die sonstigen Dämonen, mit denen ihr es zu tun habt. Oder irre ich mich da?« »Im Prinzip hast du schon recht.« »Na also.« Ich bedankte mich für den Kaffee und ging ins Büro, wo Suko mit düsterem Blick auf das Telefon starrte, als wollte er es auffordern, sich endlich zu melden. »Hast du was?« Der Inspektor grinste schief. »Wie könnte ich denn etwas haben, John? Es ist ja alles wunderbar.« Ich trank die ersten Schlucke und drückte den Rest der Zigarette aus. »Was stört dich genau?« »Dasselbe wie dich wahrscheinlich. Daß wir hier einen Gegner haben, der wie Schleim ist und uns immer durch die Finger gleitet. Allmählich fange ich an, mich zu ärgern.« »Ich auch.«
»Dann tu was.« »Keine Sorge, ich werde gleich verschwinden. Ich will nur noch ein paar Stichworte für Glenda aufschreiben. Sir James ist ja für eine Woche weg. Er hat Glenda gebeten, die wichtigen Dinge schriftlich zu fixieren. Die kann aus den Stichworten einen Bericht schreiben. Alles andere wird sich dann ergeben.« »Hast du große Hoffnungen?« »Kaum, ich…« Es klopfte an der Bürotür. Das war nicht alltäglich. Wenn Glenda unser Office betrat, brauchte sie nicht vorher zu klopfen. Sie tat es nur dann, wenn irgend etwas Außergewöhnliches geschehen war, und das schien jetzt der Fall zu sein, denn sie kam zwar in das Zimmer, hielt die Klinke aber noch fest. Wir schauten sie erstaunt an. Glenda lächelte. »Es ist Ferienzeit, nicht wahr?« Ich schüttelte den Kopf, und Suko tat es mir nach. Wir begriffen sie beide nicht. »Was hat das denn zu bedeuten?« erkundigte sich mein Freund schließlich. Ihr Lächeln blieb und wurde fast spitzbübisch. »Ihr habt Besuch bekommen.« »Tatsächlich?« »Ja, von zwei jungen Herrn.« Ich war nicht in der Stimmung für lange Spaße. »Komm, rück schon raus mit der Sprache. Wer ist es? Wer…« »Moment, John.« Sie drückte die Tür wieder auf und sagte: »Ihr könnt reingehen. Dein Patenonkel freut sich wahnsinnig darauf…« Patenonkel? Ich begriff nicht sofort. Im Gegensatz zu Suko, der mir locker und grinsend gegenübersaß. Und dann sah ich ihn. Er war nicht so forsch wie sonst, weil er sich in einer fremden Umgebung bewegte. Etwas vorsichtig trat er näher, schaute sich um, aber es gab keinen Zweifel, daß er es war. Johnny Conolly, der Sohn meiner Freunde Sheila und Bill, und gleichzeitig mein Patenkind… *** »Das darf doch nicht wahr sein!« rief ich und rieb mir die Augen. »Du besuchst mich?« »Ja, und ich habe einen Freund mitgebracht.« »Das sehe ich.« Neben Johnny stand ein dunkelhaariger Junge, der ein Stirnband um sein Haar geschlungen hatte und sich ebenso unsicher umschaute wie auch Johnny.
Wir gaben beiden die Hand, und ich fragte, während Glenda gut gekühlten Saft brachte: »Was wollt ihr denn hier?« »Dich besuchen, Onkel John.« »Das sehe ich. Und?« »Mein Freund ist fremd in London. Ich habe ihm versprochen, ihm die Stadt zu zeigen, und zwar die Flecken, wo normalerweise keine Touristen hinkommen. Er fand das einfach irre, daß ich jemanden von Scotland Yard kenne. Außerdem hat er mir fast das Leben gerettet.« Glenda hatte uns >Männer< allein gelassen, deshalb konnte sie auch nicht die überraschten Blicke sehen, die wir uns zuwarfen. Das war wie ein Schlag in den Magen. »Sag mal, habe ich richtig gehört?« »Ja, Suko. Er hat mir das Leben gerettet. Skinheads hatten mich aufgemischt, da kam er dazwischen. Er ist unterwegs, um England kennenzulernen. Meine Eltern haben ihn eingeladen, für einige Tage bei uns zu wohnen. Wir werden London erkunden und fangen bei dir an, Onkel John.« Was sollte ich dazu sagen? Die Überraschungen rissen eben nicht ab. Mir saß die Zeit zwar im Nacken, aber so ohne weiteres wollte ich die beiden auch nicht wegschicken. Ich befand mich in einer Zwickmühle. »Habt ihr denn einen Plan zurechtgelegt, wie diese Besichtigung vonstatten gehen soll?« Johnny überlegte und hob die Schultern. »Was soll ich dazu sagen? Hier in eurem Büro gibt es nichts zu besichtigen, das riecht ja nach Arbeit.« »Da hast du recht«, stimmte ich lachend zu. »Wir haben uns da etwas anderes ausgedacht.« »Und was?« »Ich weiß von Dad, daß ihr eine wissenschaftliche Abteilung habt. Die ist doch toll eingerichtet, sehr modern. Wenn du uns da durchführen könntest, Onkel John…?« Er war etwas verlegen. »Es ist ja auch nicht immer und nur, weil ich Besuch habe, der zugleich mein Lebensretter ist. Da sollte ich schon…« Ich unterbrach ihn lachend. »Mir ist klar, was dir vorschwebt, Johnny. Das würde ich auch gern tun, aber ich habe keine Zeit, ich muß leider weg.« »Schade.« »Aber«, so fuhr ich fort. »Es gibt noch eine Möglichkeit. Ich fahre nämlich allein. Suko wird hierbleiben. Der kann euch ebenso führen wie ich. Er kennt die Kollegen auch.« »Stark!« Johnny freute sich. »Okay, Suko, bist du dabei?« »Konnte ich dir schon jemals etwas abschlagen?« Johnny stieß seinen Freund an. »Was habe ich dir gesagt? Die beiden sind super.« »Und was sagen deine Eltern dazu?« erkundigte ich mich.
»Mum ist das egal. Außerdem weiß sie nichts davon. Ich habe ihr gesagt, daß wir in die City fahren.« »Aha. Und dein Dad?« »Der ist nicht da. Er kommt erst heute abend wieder. Er rief gestern noch an.« Ich schaute über den Schreibtisch hinweg auf Suko. Begeistert war er nicht gerade, doch er fügte sich und nickte. Die beiden Jungen tranken den Saft. Johnnys Freund schaute uns dabei über den Rand des Glases hinweg sehr prüfend und irgendwo mißtrauisch an, was ich mir aber auch einbilden konnte. »Etwas möchte ich trotzdem noch gern von dir wissen, Johnny.« »Bitte.« »Wie heißt dein neuer Freund eigentlich? Bisher hast du uns seinen Namen nicht genannt.« »Wie er heißt?« Johnny lächelte. »Das ist ganz einfach, Onkel John. Er heißt Harry, nur Harry…« *** Zufall, Fügung, Absicht? Ich hatte mich inzwischen wieder gesetzt und wäre fast von meinem Stuhl in die Höhe geschnellt. An der anderen Seite des Schreibtisches stieß Suko zischend die Luft aus. Johnny hatte unsere Reaktion bemerkt. Er schüttelte den Kopf und fragte: »Stimmt etwas nicht?« »Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich wollte nur noch einmal fragen, wie er heißt.« »Harry.« »Und wie weiter?« »Einfach Harry, Mr. Sinclair«, antwortete der Junge mit dem Stirnband, der ungefähr in Johnnys Alter war. »Ich heiße nur Harry, das muß reichen, finde ich.« »Jeder hat einen Nachnamen.« Harry hob die Schultern und strich sein Haar hinter dem Stirnband zurück. »Sie können mich auch Smith oder Miller nennen. Ich habe meinen Namen für die Dauer der Ferien vergessen, wissen Sie?« »Das ist ja toll.« Ich lächelte und schauspielerte dabei. »Trotzdem möchte ich dich bitten, bei uns eine Ausnahme zu machen. Wie du weißt, sind wir Polizisten, und die sind nun mal sehr mißtrauisch.« »Himmel, Onkel John, was ist los mit dir? Du stellst dich vielleicht an. Schlimmer als meine Eltern manchmal. Harry hat mir das Leben gerettet. Die Skins hätten mich erschlagen. Da kennen die keine Gnade, das weißt du auch.«
»Kann alles sein. Nur begreife ich nicht, daß Harry mir seinen Nachnamen nicht sagen will.« »Das ist doch egal.« »Nicht für uns.« Ich blieb freundlich, obwohl bei Suko und mir längst die Alarmglocken angeschlagen hatten. Wir glaubten beide nicht daran, daß Harrys Besuch ein Zufall war. Da steckte ein gewaltiger Plan dahinter, ein gefährlicher. Johnny winkte ab und stieß seinen Freund an. »Okay, tu ihm den Gefallen, Harry, sage ihm deinen Nachnahmen, damit sie gut schlafen können. Komisch finde ich es schon.« »Laß ihn doch«, sagte der fremde Junge. »Ich heiße Harry Eisin. Zufrieden, Mister?« Ich antwortete nicht sofort, sondern dachte über den Namen nach. Auch Suko tat dies. Er hob als erster die Schultern, denn der Name sagte ihm nichts. Auch mir war er noch nicht untergekommen, denn an ihn hätte ich mich sicherlich erinnert. »Zufrieden?« »Ja, Johnny.« »Dann kann uns Suko jetzt…« »Nein!« Harry unterbrach Johnny mitten im Satz. »Ich – ich will jetzt nicht mehr.« Johnny trat einen Schritt zurück. Er war überrascht. »Warum willst du nicht mehr?« »Weil die beiden so komisch gewesen sind.« Johnny stand seinem neuen Freund bei. »Das finde ich auch, Onkel John. So habe ich dich noch nie erlebt. Ich weiß überhaupt nicht, was du hast. Ehrlich nicht.« »Kann es nicht sein, daß ich meine Gründe habe?« »Aber doch nicht gegen Harry.« »Auch gegen ihn. Es ist alles zu deiner Sicherheit. In der letzten Zeit ist uns der Name Harry schon zu oft begegnet. Wir sind ein wenig allergisch geworden.« »Doch nicht gegen ihn.« »Das muß sich noch herausstellen.« »Aber ihr kennt ihn doch gar nicht. Er – er ist zum ersten Mal in London. Und ich bin mit ihm gekommen.« Johnny verteidigte seinen Freund sehr emotional, das war auch gut so, wenn man sich für seine Freunde einsetzte, aber in diesem Fall wußten wir mehr als er. »Johnny«, sagte ich. »Es ist natürlich schwer, und ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, aber wir haben unsere Gründe, wenn wir so reagieren.« »Was wollt ihr denn noch?« rief er laut. »Alles madig machen?«
»Ich glaube, wir gehen, Johnny.« Harry drehte sich schon ab, aber mein scharfer Ruf stoppte ihn. »Einen Augenblick noch, mein Freund. Ich habe im Prinzip nichts gegen dich, ich möchte nur, daß du noch einige Minuten hier im Büro bleibst. Dann sehen wir weiter.« »Was denn?« »Ein kleiner Test, mehr nicht.« Harry lief rot an. Die Härchen auf seinen Armen sträubten sich. Er stand unter Druck, die Wut kochte in ihm wie heißes Wasser. Sein Gesicht hatte sich verzerrt. Er sah so aus, als würde er sich gegen alles sträuben, was wir wollten. »Das sehe ich überhaupt nicht ein!« keuchte er. »Ich bin doch hier nicht in einem Knast. Scheiß Bullen, verdammt.« Er wollte zur Tür, aber Suko war schneller. Harry hatte die Klinke noch nicht berührt, als der Inspektor ihn packte und zurückschleuderte. »Du bleibst hier, mein Freund. Wenn nichts ist, werden wir uns entschuldigen.« Johnny mischte sich ein. Er stand kurz davor, mich anzuspringen. »Was erlaubst du dir eigentlich? Er hat mir das Leben gerettet! Er ist mein Freund, verdammt!« »Das bestreite ich nicht, Junge. Ich möchte nur etwas herausfinden, das ist alles.« »Und was?« Ich antwortete ihm nicht. Statt dessen holte ich mein Kreuz hervor, hielt es allerdings so, daß meine Hand den Talisman verdeckte. Suko sicherte den Weg zur Tür ab. Harry bewegte sich, er huschte auf das Fenster zu, dem er den Rücken zudrehte, und er hatte allein Augen für mich. Ich war sein Feind. Und er war der meine! Wir wußten es. Wir spürten es. Es war, als wäre zwischen uns etwas zerrissen und gleichzeitig etwas Neues entstanden. Eine gefährliche Verbindung, die etwas übermittelte, und zwar das Wissen des anderen vom anderen. »Harry?« Ich fragte ihn leise, ich lächelte dabei, ich streckte meinen rechten Arm vor, dessen Hand noch immer zur Faust geschlossen war. Vielleicht spürte er schon etwas, möglicherweise strömte die Kraft des Kreuzes durch meine Hand gegen ihn. »Was ist denn?« Ich konzentrierte mich auf seine Augen. Sie hatten sich verändert, waren von einer tiefen, unheimlichen Schwärze und erinnerten mich an kleine Seen von einer nahezu tödlichen Tiefe. Ich sah sein Gesicht, dessen Haut ebenfalls von dunklen Schatten bedeckt war, so, als wäre diese
Dunkelheit von unten her in die Höhe gestiegen, hätte seine Seele verlassen und sich außen auf der Haut festgesetzt – wie ein Gruß aus dem Jenseits. Er hatte sich nicht mehr in der Gewalt. Er war nicht mehr derselbe wie vorher. Er war anders geworden! Schrecklich anders… Hinter mir sprach niemand ein Wort. Suko und auch mein Patenkind Johnny schwiegen. Beide spürten, daß sich etwas verändert hatte. Nichts war mehr wie vor einigen Minuten. »Nun, Harry?« Er schüttelte den Kopf. Ich hielt meine Hand noch immer zur Faust geballt. Meine Augen verzogen sich zu Schlitzen. Ich wollte mehr aus ihm herauskitzeln, viel mehr… »Geh weg!« »Nein, Harry, ich gehe nicht.« »Geh weg!« Seine Stimme war anders geworden. Der Klang war unmenschlich, es kam mir vor, als hätte ein Tier versucht, einen Menschen zu imitieren. »Du sollst mir etwas sagen, Harry. Ja, ich will von dir etwas wissen. Kennst du Jane Collins?« Hinter mir flüsterte Johnny meinem Freund Suko etwas zu. Auch er hatte meine Frage gehört, aber er würde sie nicht begreifen, das stand fest. »Ich warte, Harry!« »Nein, kenne ich nicht!« Wieder sprach er abgehackt und rauh. Er spie mir die Antwort förmlich entgegen. »Ich glaube dir nicht, Harry! Nein, ich glaube dir nicht. Du bist dabei, mich zu…« Er flüsterte in meinen Satz hinein. Es waren Worte, die ich nicht verstand. Sie hörten sich böse und gefährlich an. Sie sollten wie scharfe Klingen sein, die mich verletzten. Sie klangen wie ein Fluch, den er über mich ausgeschüttet hatte. Und sie waren dunkel. Ich weiß nicht, ob man das erklären kann, aber diese ungewöhnlichen Worte schienen aus dem dunkelsten Pandämonium zu stammen, das irgendwo im Nirgendwo verborgen lag. Eine grauenhafte Welt, angefüllt mit dem Bösen, mit allen Untaten, die man sich nur vorstellen konnte. »Harry, schau her!« Er stoppte seinen Redefluß und wußte genau, wo er hinzuschauen hatte, denn ich streckte ihm meine Hand noch weiter entgegen und hatte sie so gedreht, daß die Finger der Faust oben lagen. »Was willst du?« »Das!« Einen Herzschlag später öffnete ich meine Faust, so daß meine Hand offen vor ihm lag. Und mit ihr das Kreuz! Er sah es, schrie und drehte durch!
*** Ich hatte eigentlich damit gerechnet, daß er angreifen würde, und hatte auch eine Attacke auf mich erwartet, aber er tat das genaue Gegenteil. Er drehte sich auf dem Absatz um, breitete dabei seine Arme aus, und ich erlebte den Vorgang wie in einem verlangsamten Tempo, als wäre etwas zwischen uns geschaltet worden, das alles verzögerte. Ob mir die Erleuchtung nach ein, zwei oder gar erst nach drei Sekunden kam, das wußte ich nicht. Jedenfalls kam sie zu spät, zudem hatte ich nicht mit einer derartigen Reaktion des Jungen gerechnet, die man schon als selbstmörderisch bezeichnen mußte, denn er wuchtete seinen Körper vor. Aber das war keine Wand oder Mauer, die ihm hätte Halt bieten können. Es gab nur die Scheibe! Und die rammte er. Er hatte seine Arme in die Höhe gerissen, sie vor seinem Gesicht gekreuzt, um sich zu schützen. Dennoch es war Irrsinn, sich aus dieser Höhe aus dem Fenster zu stürzen. Es lagen immerhin zehn Stockwerke dazwischen. Harry aber tat es. Er flog gegen die Scheibe, die sich für eine winzige Zeitspanne nach außen bog und dann mit einem häßlich klingenden Klirren zerplatzte. Große Splitter wurden aus dem Verbund gerissen, sie segelten in die Tiefe. Aber nicht nur sie, denn Harry hatte genügend Schwung, um seinen Körper durch das zerstörte Fenster zu katapultieren und in die Tiefe zu stürzen. Er fiel zusammen mit den Scherben, die aber von ihm wegspritzten und ihren eigenen Weg nach unten nahmen. Es war wie verrückt. Ich sah es, ich setzte mich auch in Bewegung, ich hörte hinter mir Johnnys entsetzte Schreie, aber ich schaffte es nicht mehr, diesen irren Selbstmörder aufzuhalten. Er rauschte bereits der Tiefe entgegen. Nicht einmal seinen Schuh berührte ich. Dafür war ich dann sehr schnell am Fenster und schaute hinaus. Hinter mir knallte die Tür zu. Sukos und Glendas Stimmen waren zu hören, aber das störte mich jetzt nicht. Wo war Harry? Ich hätte ihn sehen müssen, ich… Ich sah ihn. Er raste in die Tiefe, dicht an der Hauswand entlang, aber er hatte sich verändert. Ich hätte eigentlich von oben auf seinen Körper schauen müssen, und normalerweise wäre er auch unten auf dem Pflaster aufgeschlagen, doch in diesen wenigen Sekunden der Fallzeit geschah etwas ganz anderes. Er hatte sich verändert.
Harry war nicht mehr der Harry, wie ich ihn kennengelernt hatte. Er war ein anderer geworden, und mir schössen plötzlich Janes Berichte durch den Kopf. Sie hatte davon gesprochen, daß er so etwas wie ein Geist oder eine schwarze Wolke gewesen war, die sie besucht hatte. Und in ein derartiges Wesen hatte sich Harry verwandelt. Er war kein Mensch mehr, er war kein Tier, er war so etwas wie ein amorphes Monstrum geworden, das in diesem kritischen Moment keine andere Wahl hatte, als sich in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Da schwebte etwas nach unten, das wie eine Wolke aussah, aber es eigentlich nicht war, denn ich kannte keine Wolken, aus denen Arme oder Hände hervorschauten wie die Zähne bei einem Zahnrad. Ich glaubte auch, ein Gesicht in der Wolke zu sehen, das Harrys Züge aufwies, doch es blieb nicht lange genug, um es deutlich zu erkennen. Die Wolke verschwand, und Harry verschwand auch. Beide waren weg! Ich trat vom Fenster zurück, drehte mich um. Glenda stand in der Tür mit kreidebleichem Gesicht. Auch Johnny sah ich. Er hatte sich gesetzt, seine Wangen zuckten, und auf seinem Gesicht lag ein dicker Film aus Schweiß. Da Suko bereits auf dem Weg nach unten war, konnte ich mich um Johnny kümmern. Der Junge brauchte jetzt einfach meinen Trost, denn durch Harrys Verwandlung hatte gerade er eine sehr tiefe Enttäuschung erlitten. Als ich ihn berührte, wischte er über seine Augen. Gleichzeitig riß er sich zusammen, denn er wollte nicht losheulen wie ein Kleinkind. »Bist du okay, Johnny?« »Fast.« »Das glaube ich dir gern. Aber es hat einfach so sein müssen. Dein Harry war nicht dein Freund. Er ist jemand gewesen, der nicht zu den Menschen gehört, wobei ich dir nicht erst erzählen muß, um was es sich handelt.« »Nein, Onkel John, das brauchst du nicht.« »Es ist wirklich nicht einfach. Auch nicht für mich. Ich kenne Harry nicht, ich habe nur von ihm gehört, und ich glaube, daß es jetzt auf dich ankommt, uns zu helfen.« »Wie denn? Ich kann doch nicht.« »Darüber werden wir noch reden. Warte hier auf mich. Glenda wird sich um dich kümmern.« Ich hatte sie dabei angeschaut und war froh, als sie nickte. Dann ging ich hinaus. Auch im Vorzimmer stand die Tür offen. Im Flur war es still. Keine Schreie, keine Stimmen, keine Fragen. Aber ich wußte, daß es welche geben würde. Suko war noch nicht zurückgekehrt, und so entschloß ich mich, nach unten zu fahren. Natürlich mußte ich ausgerechnet jetzt auf den Lift
warten, doch die Zeit ging auch vorbei, und in der Halle sah ich dann die erste Veränderung. Dort hatten sich einige Kollegen versammelt. Jemand telefonierte mit einem Notarzt, ich wurde fragend angeschaut, kümmerte mich darum nicht und suchte Suko, der sich nicht mehr in der Halle aufhielt. Ich fand ihn draußen. Und da sah ich auch, weshalb nach einem Arzt gerufen worden war. Die in die Tiefe gefallenen Glasscherben hatten leider Ziele getroffen. Ausgerechnet Menschen. Drei lagen am Boden. Eine Frau, ein Mann und ein Kind. Wahrscheinlich eine Familie, die am Gebäude vorbeigegangen war, als das Schreckliche geschah. Sie waren von einigen Kollegen umringt, unter anderem auch von Suko, der mich sah und sich aus seiner gebückten Haltung erhob. Blut bildete Lachen auf dem Pflaster, das Kind wimmerte leise, die Frau schrie immer wieder auf. Sie war von einer Scherbe am Bein getroffen worden. Ihre rechte Wade war aufgeschlitzt wie von einem gewaltigen Messerstich. Bei ihrem Mann strömte das Blut aus Kopfwunden. »Leben sie?« fragte ich. »Ja, alle drei.« Suko wiegte den Kopf. »Aber es sieht böse aus. Sie befanden sich genau im Zentrum der verfluchten Scherben. Das Kind hat am wenigsten abbekommen.« Ich schaute mich um. Die Reste der Glasscheibe verteilten sich auf dem Boden. Einige Stücke wiesen rote Flecken auf. An ihnen klebte noch das Blut der Verletzten. Auf der Straße war der Verkehr zum Erliegen gekommen, es hatte sich eine lange Autoschlange gebildet. Durch die Wucht des Aufpralls waren Scherbenreste sogar bis auf die Fahrbahn gespritzt, wo sie an einigen Stellen wie dünne, glänzende Eiskristalle lagen. Ich spürte im Mund einen Geschmack nach bitterer Galle. Dann erschienen die ersten Helfer in weißen Kitteln. Um sie nicht zu behindern, schufen wir Platz. Ich lehnte mich gegen die Gebäudewand. Unter meinem rechten Fuß knirschten Glasscherben. Mein Blick war zu Boden gerichtet. Ich machte mir Vorwürfe, die Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, und ich kam zu dem Ergebnis, daß ich einen Teil der Schuld trug. Ich hätte schneller reagieren und nicht erst noch warten sollen. Jetzt war es zu spät. Auf drei Tragen wurden die Verletzten abtransportiert. Ich drückte ihnen beide Daumen, daß sie es schafften. Aus den Gesprächen der Kollegen erfuhr ich, daß es Feriengäste aus Germany gewesen waren, die einen Trip nach London unternommen hatten. Daß er so enden würde, hätte wohl niemand von ihnen gedacht. Suko sprach mich an. »Bist du einigermaßen okay?«
»Wie man’s nimmt.« »Uns trifft keine Schuld.« »Ich weiß es nicht, Alter. Zumindest haben wir Harry unterschätzt. Das mußt du mir zugestehen.« »Da hast du recht.« Er kickte eine kleine Scherbe weg. »Aber wer hätte damit rechnen können, daß er auf diese Art und Weise reagiert? Keiner von uns.« »Stimmt.« »Weißt du, John, ich will dich ja nicht beeinflussen, aber ich könnte mir vorstellen, daß du den Weg unseres Freundes verfolgt hast. Ich hätte mich zumindest aus dem Fenster gelehnt. Als ich hier unten ankam, war von ihm nichts mehr zu sehen. Ich habe auch mit Zeugen gesprochen, aber keiner hat ihn weglaufen sehen, obwohl dies auch unwahrscheinlich gewesen wäre, denn einen Sturz aus dieser Höhe überlebt niemand.« »Kein Mensch«, sagte ich. »War Harry ein Mensch?« »Ja und nein.« Suko räusperte sich. »Eine Zeugenaussage habe ich doch gehört und eigentlich darüber gelächelt. Man sagte, daß sich ein fallender Körper in eine Wolke verwandelt hätte. Ein Körper, der aus großer Höhe gefallen war und sich…« Ich ließ meinen Freund nicht ausreden. »Ja, es stimmt. Ich schaute ihm nach. Er verwandelte sich, er wurde zu einer Wolke.« Meine Stimme vibrierte. »Dabei dachte ich an Janes Erzählungen. Sie hatte mir berichtet, daß sie beim Eintreffen dieses Alps namens Harry das Gefühl gehabt hatte, von einer klebrigen Kälte berührt zu werden. So etwas deutet auf eine magische Wolke hin.« »Dann haben wir es bei ihm mit einer Doppelexistenz zu tun«, erklärte Suko. »Keine Einwände.« »Aber jetzt ist er verschwunden. Wohin, John? Wo kann er sich verkrochen haben?« »Er wird sich kaum verkriechen. Er hat noch immer Jane Collins im Visier. Ich müßte hin, ich will aber auch mit Johnny reden und ihn nicht aus den Augen lassen.« »Dann bleibe ich bei Johnny.« »Ja, das ist gut. Trotzdem muß ich mit ihm noch sprechen.« »Dann rufe vorher Jane Collins an.« Das erledigte ich von der Halle aus. Inzwischen waren Helfer dabei, die Scherben zusammenzufegen. Das Telefon hatte erst einmal geläutet, da hob Jane bereits ab. »Ich bin es.« »Gut, John.« Sie klang erleichtert. »Aber wolltest du nicht kommen? Sarah und ich warten.«
»Kann ich mir denken. Aber uns ist etwas dazwischengekommen. Ich möchte dir sagen, daß du nicht allein auf Harrys Liste stehst, Jane. Johnny Conolly auch.« »Was? Du bist verrückt.« Ich lachte kratzig. »In diesem Fall wäre es mir sogar lieber. Aber leider stimmt es.« »Wieso denn das?« »Ich kenne noch keine Zusammenhänge. Jedenfalls hat er sich bei Johnny eingeschlichen und ihm sogar das Leben gerettet, um ein perfektes Entree zu bekommen. Johnny brachte ihn zu uns ins Büro, angeblich, weil Harry Scotland Yard besichtigen wollte.« Ich erging mich dann in Einzelheiten und erzählte Jane alles. Sie war so perplex, daß sie nicht antworten konnte, wollte aber von mir über meine nächsten Pläne Bescheid wissen. Ich beschrieb ihr Harry zunächst, erklärte ihr aber, daß ich auf jeden Fall bei ihr erscheinen würde. »Willst du Johnny…?« »Um ihn kümmert sich Suko.« »Das ist gut.« »Ich mache jetzt Schluß, weil ich mich noch mit Johnny unterhalten will. Vielleicht kann er uns noch den einen oder anderen Hinweis geben. Halte auf jeden Fall die Augen offen.« »Darauf kannst du dich verlassen.« Suko und ich fuhren wieder hoch. Es hatte sich mittlerweile herumgesprochen, welches Fenster zu Bruch gegangen war. Im Lift wurden wir von Kollegen angesprochen, gaben aber keinen Kommentar ab. Harry war allein unsere Sache. Glenda und Johnny saßen zusammen im Vorzimmer. Der Junge hockte wie ein armer Sünder auf einem Stuhl und sprach davon, daß er seine Mutter anrufen wollte. »Das werde ich erledigen, Johnny.« »Danke, Onkel John.« Ich holte mir auch einen Stuhl und erzählte, daß drei Menschen durch die Scherben verletzt worden waren, sie aber gute Chancen hatten, durchzukommen. Glenda sah erleichtert aus, Johnny hatte das nicht mitbekommen. Er war zu sehr in seine eigenen Gedanken verstrickt, aus denen ich ihn hervorriß. »Bist du so weit in Ordnung, daß du meine Fragen beantworten kannst, Johnny?« »Vielleicht.« »Wird schon klappen. Die erste Frage hört sich dumm an, aber ich muß sie einfach stellen. Ist dir an Harry irgend etwas aufgefallen? Etwas Außergewöhnliches?«
»Er hatte kein Gepäck.« Johnny sprach gegen den Boden. Mich schaute er dabei nicht an. »Er sagte mir, daß man es ihm gestohlen hätte. Aber das war nicht so schlimm. Meine Sachen paßten ihm auch. Hat auch meine Mutter gesagt.« »Sonst fiel dir nichts auf?« »Nein oder ja. Er hat mich gerettet. Er hat die drei Skins plattgemacht. Die hatten mir meine Reifen zerschnitten. Ich konnte nicht mehr fahren. Als ich dann wegwollte, da kamen sie.« »Weißt du was über ihn?« fragte Suko. »Er sagte, er käme aus Bristol oder Cardiff. Er war jedenfalls unterwegs und wollte das Land kennenlernen.« »Und du hast dich in seiner Gesellschaft wohl gefühlt?« »Klar, er war toll.« »Über was habt ihr gesprochen?« Johnny hob die Schultern. »Über alles mögliche. Fußball, Musik, er ist Madonna-Fan. Über Michael Jackson und die neuesten Filme. Aber nicht über Mädchen.« Ich mußte lächeln, als Johnny den letzten Satz sagte, und fragte ihn weiter. »Er hat aber mit keinem Wort über Dinge gesprochen, die außerhalb der Norm liegen. Du weißt, was ich meine, denn du hast ja einiges erlebt, dabei denke ich auch an die Zeiten mit der Wölfin Nadine.« »Nein, Onkel John, nein«, erwiderte der Junge voller Überzeugung. »Nichts über Magie.« »Hattest du denn den Eindruck, daß er anders war als deine übrigen Freunde?« »Das ist schwer zu sagen.« Johnny rutschte auf der Sitzfläche hin und her. »Irgendwie schon. Ja, er war anders. Er wußte mehr als meine Freunde. Er wußte auch mehr als ich. Unsere Lehrer hätten an ihm bestimmt ihre Freude gehabt.« »Du meinst das allgemeine Wissen?« »Klar, da war er mir über.« Johnny fuhr mit dem Finger an seiner Stirn entlang, als wollte er noch etwas aus seinem Gedächtnis kramen, wozu er die Hilfe der Hand brauchte. »Eines war allerdings komisch, aber das sage ich nur jetzt, wo ich mehr weiß.« »Was denn?« Johnny bewegte fahrig seine Hände. »Ich weiß auch nicht, wie ich das sagen soll. Jedenfalls wollten wir in London so einiges besichtigen, deshalb sind wir auch zu dir gekommen, Onkel John. Er war mit allem einverstanden, bis auf einen Punkt.« »Und welcher war das?« »Er wollte in keine Kirche gehen. Da würde er streiken, hat er gesagt. Und er sagte es so, als würde er die Kirchen hassen, als würde er sich vor ihnen ekeln.« »Hast du darüber nicht näher nachgedacht?«
»Nein, wieso auch? Wenn er doch nicht wollte. Es gibt ja noch genügend andere Dinge, finde ich.« »Klar, da hast du recht.« »Harry mag keine Kirchen, und er mag keine Kreuze«, zählte Suko auf. »Er wird sich also von diesen Plätzen fernhalten. Uns ist er entwischt. Wo sollen wir ihn suchen, und wie ist er überhaupt entstanden?« Johnny wunderte sich über die letzte Frage. »Was meinst du damit, Suko?« »So, wie ich es sagte. Wir wissen nicht, wo Harry hergekommen ist, wer er überhaupt ist, was sich hinter ihm verbirgt. Wir wissen einfach gar nichts.« »Harry ist ein Mensch.« »Er sieht so aus wie ein Mensch«, verbesserte ich den Jungen. »Er kann durchaus etwas anderes sein.« »Und was?« »Ein Wesen«, erklärte ich lächelnd und begann mit meiner Wanderung durch das Vorzimmer. »Irgendein Wesen, irgend etwas Dämonisches, das geboren wurde, um Grauen zu verbreiten. Das ist Harry. Wir sollten uns vor ihm hüten, denn ich glaube fest daran, daß uns noch einige Überraschungen bevorstehen.« »Kannst du konkreter werden?« »Nein, Suko. Wie auch. Jedenfalls müssen wir uns trennen. Ich bleibe dabei und fahre zu Jane.« »Okay«, sagte Suko und wandte sich an mein Patenkind. »Dann werde ich dich zu deiner Mutter bringen.« »Ja. Bleibst du dann bei uns?« »Kann ich dir beim besten Willen nicht sagen, Johnny. Ich weiß nicht, wie sich der Fall entwickeln wird. Es kann alles gutgehen, braucht es aber nicht. Es kommt immer darauf an, welche Überraschungen dein Freund Harry noch in der Hinterhand hält.« Johnny ging auf Suko zu. Hart schaute er ihn an. »Er ist nicht mehr mein Freund, Suko. Nicht mehr.« »Okay, Johnny, alles klar.« Er strich dem Jungen über das Haar. »Ich hätte auch nichts anderes von dir erwartet…« *** Jane Collins saß am Fenster ihres Zimmers und schaute auf die Pistole, die sie in der Hand hielt. Sie wartete auf Harry. John Sinclair hatte ihr die letzten Neuigkeiten berichtet, und sie mußte zugeben, daß sie davon tief getroffen worden war. Dieser Harry war kein Mensch, das hatte auch der Geisterjäger erfahren müssen. Er war auch kein häßlicher, alter Dämon. Jane konnte trotz ihrer Erfahrungen nicht sagen, was er war.
Er war einfach Harry! Er hatte sich aus seiner Welt förmlich herausgeschmuggelt, aus seiner Zeit den Weg in eine andere gefunden. Er liebte es, den Schrecken zu bringen, er war nicht faßbar, er konnte ein Geist sein, aber auch ein Mensch, und er konnte sein Menschsein verlassen, indem er sich auflöste, wie es John erlebt hatte. Alles war seltsam… Es war einfach nicht zu begreifen. Klar, man konnte das Böse nicht richtig fassen. Es nicht in irgendwelche Schubladen einordnen, das klappte alles nicht. Aber Harry war trotzdem anders. Er schien zwischen den Welten zu schweben. Und er würde kommen. Als die Detektivin daran dachte, tastete sie mit den Fingern durch ihr Gesicht, wo noch immer die kleinen Pflasterstücke klebten. Das hatte sie Harry zu verdanken. Er hatte sich dabei in den anderen Zustand verwandelt, hatte sie verletzt und sein Zeichen gesetzt. Plötzlich kam ihr die Pistole lächerlich vor, auch wenn sie mit geweihten Silberkugeln geladen war. Damit würde sie Harry nicht stoppen können, niemals. Er war ihr einfach überlegen, und er schien alle Tricks und Schliche zu kennen. Er hatte gelernt. Möglicherweise in Reichen und Welten, die dem Auge eines Menschen bisher verschlossen geblieben waren. Und sie dachte auch daran, welch ein Glück Johnny Conolly gehabt hatte. Aber sie bewunderte gleichzeitig Harrys Mut, daß er sich in die Höhle des Löwen gewagt hatte. Er und John hatten sich gegenübergestanden. Und es war das Kreuz gewesen, das ihn in die Flucht geschlagen hatte. Eine Flucht wohlgemerkt, aber keine Rettung. Harry wußte jetzt besser Bescheid. Er wußte, daß er gejagt wurde. Es war ihm nicht gelungen, seine Gegner zu vernichten, was er sicherlich vorgehabt hatte. Jetzt würde er nach neuen Möglichkeiten suchen und diese bestimmt auch finden. Jane Collins hörte Schritte auf der Treppe. Sie lächelte, denn sie wußte genau, wer sie da besuchen wollte. Lady Sarah, die einfach nach ihr sehen mußte, deren Sorgen um sie immer größer wurden, die mit Harry natürlich auch nicht zurechtkam und dabei verzweifelt nach Möglichkeiten suchte, um ihr zu helfen, indem sie herausfand, wer oder was Harry war. Sie würden beide keine Chance haben. Harry war nicht zu fassen. Er war derjenige, der die Initiative hatte. Die Tür stand offen. Jane drehte den Kopf und lächelte die Horror-Oma an, die ein Tablett trug, auf dem ein Kaffeegedeck stand.
Sie stellte es auf den Tisch und räumte um. Dabei sagte sie nichts, auch dann nicht, als sie Kaffee aus der Warmhaltekanne in die Tassen einschenkte. »Das war doch richtig – oder?« »Klar, danke.« Jane stand auf und wechselte ihren Platz. Sie setzte sich der HorrorOma gegenüber. Zuerst sprachen sie nicht, tranken den Kaffee, aber irgendwann brach Sarah das Schweigen. »Ich frage mich noch immer, was dieser Harry will.« Jane mußte lachen. »Das möchte ich auch gern wissen, Sarah, aber ich kann es dir nicht sagen. Es tut mir leid. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, ich habe meine Vergangenheit Revue passieren lassen und festgestellt, daß ich wissentlich mit einem Wesen namens Harry nie Kontakt gehabt habe. Weder in meiner Zeit als Hexe, noch zuvor. Mir ist nie ein Harry untergekommen.« »Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Gedanken machen, Jane.« »Das sagst du so.« Sarah seufzte. Sie wies auf die Kanne. »Noch Kaffee, Jane?« »Nein, du denn?« »Auch nicht.« »Dann räume ich ab.« Jane stellte das Geschirr wieder aufs Tablett und trug es in ihre Küche, die klein, aber sehr fein eingerichtet war. Durch ein kleines Fenster über der Arbeitsplatte konnte Jane hinaussehen in das Geviert eines ziemlich weitläufigen Hinterhofes, in dem die Bewohner der umliegenden Häuser ein kleines Paradies geschaffen hatten. Da spendeten Bäume Schatten vor den heißen Strahlen der Sonne, und Bänke luden zum Verweilen ein. Die Nachbarschaft fand sich manchmal zu Grillabenden zusammen. Man hatte gemeinsam Spaß miteinander, man genoß das Leben, und auch Jane freute sich darüber, daß sie sich auf diese Art und Weise hin und wieder entspannen konnte. Sie und Lady Sarah wirkten in dieser Umgebung sowieso wie Exoten, aber das machte ihnen nichts aus, und die Nachbarn hatten sich schließlich auch an sie gewöhnt. Fragen wurden kaum noch gestellt. Mit der Zeit war die Neugierde der Nachbarn eingeschlafen. Jane stellte das Geschirr auf die Spüle. Fs waren völlig normale Bewegungen, Hunderte von Malen schon durchgeführt. Und doch war es heute anders. Jane Collins wollte sich schon umdrehen, als ihr bewußt wurde, daß sie etwas vernommen hatte. Einen Laut. Einen fernen Schrei…
Sie stand plötzlich still. Bewegte nicht einmal mehr ihre Augenwimpern. Dieses andere Geräusch, das aus einer nicht feststellbaren Ferne zu ihr drang, glich einer finsteren Botschaft, die ihr jemand zusenden wollte. Aber warum dann dieses Schreien? Befand sich jemand in Gefahr? Sollte sie einen Menschen retten? Sollte sie jemanden warnen? Ihr Unbehagen verstärkte sich. Etwas kroch wie eine böse Vorahnung in sie hinein und löste bei ihr eine Beklemmung aus, die sie schwer atmen ließ. Was war das nur? Wieder hörte sie die fernen Schreie, diese schreckliche Botschaft. Da mußte etwas passiert sein. Aber wo? Jane versuchte mit aller Kraft, sich auf die Schreie zu konzentrieren. Ihre eigene Welt nahm sie kaum mehr wahr. Sie befand sich noch immer in der Küche, ohne darüber nachzudenken, was sie tat. Sie stand einfach da und wartete ab. Allmählich verschwamm die reale Welt. Nur die Schreie zählten… Dünne Rufe, mehr ein Wimmern und auch nicht von erwachsenen Menschen abgegeben, sondern von… Zuerst wollte sie den Gedanken nicht vollenden, weil er ihr einfach zu schrecklich erschien. Sie dachte an Tiere und hoffte, sich damit selbst zu beruhigen. Aber das konnte sie glatt vergessen, denn es waren keine Tiere. Es waren… Sie hörte sich heftig keuchen, doch die Schreie waren trotzdem noch intensiver als dieses Geräusch. Und Jane blieb auch bei ihrer Meinung, was die Schreie betraf. Kinder hatten sie ausgestoßen! Jawohl, es waren die fernen Schreie irgendwelcher Kinder, die sich in einer furchtbaren Gefahr befanden, mehr sogar noch, sie schauten dem Tod ins Auge. Wer dermaßen schrie, bei dem gab es einfach keine andere Möglichkeit. Kinderschreie und dann die Existenz dieses unheimlichen Wesens namens Harry. Zwei völlig verschiedene Dinge, aber Jane glaubte fest daran, daß sie die Schreie nicht grundlos gehört hatte. Sie mußten einfach eine Bedeutung haben. Sie blieben. Schrill, grell, dann wimmernd und voller Angst. So schlimm und leidvoll, daß Jane Collins die Tränen kamen und sie losheulte wie ein Schloßhund. Sie merkte nicht, daß Lady Sarah die Küche betrat. Die Horror-Oma war durch Janes Weinen aufgeschreckt worden und schaute auf den vorgebeugten Rücken der Detektivin, als sie die schmale Küche betrat.
Janes Schultern bewegten sich zuckend, sie stützte sich auf der Arbeitsplatte ab, schüttelte hin und wieder den Kopf, als könnte sie selbst nicht begreifen, weshalb sie weinte. Sarah mußte Jane Collins mehrere Male ansprechen, bevor diese überhaupt eine Reaktion zeigte. Auch dann redete Jane noch nicht, sie drehte sich nur um. »Kind, was ist los?« Tränen rannen über Janes Gesicht. Sie wollte reden, konnte nicht, ihre Nase saß zu. Von einer Küchenrolle riß die Horror-Oma zwei Streifen ab und gab sie Jane. Die Detektivin putzte sich die Nase, aber das Weinen stoppte erst, als Sarah sie aus der Küche geführt hatte und ihr einen Brandy gab, der in ihrem Zustand so etwas wie Medizin für sie war. Jane trank das Glas in zwei Schlucken leer, stellte es auf den Tisch und wischte ihre Augen trocken. »War er wieder da, Jane? Hat Harry sich gemeldet?« Sarahs Hand kroch über den Tisch und legte sich auf die Finger der Detektivin, die leicht den Kopf schüttelte. »Habe ich das recht verstanden, Jane? Nicht Harry?« »So ist es.« »Aber wer dann?« Jane überlegte sich ihre Antwort genau, was einige Zeit in Anspruch nahm. »Das kann ich dir im einzelnen nicht sagen, aber es waren furchtbare Geräusche, die ich hörte. Ein schreckliches Schreien, das so herzzerreißend klang, wie ich es noch niemals zuvor gehört habe. Es war einfach nicht zu ertragen, es war…« »Wer schrie?« »Ein Kind«, flüsterte Jane. »Ja, es schrie ein Kind. Oder auch mehrere Kinder…« Lady Sarah holte scharf Luft. »Bist du sicher?« fragte sie. »Ja…« »Kinder«, murmelte die Horror-Oma, zog ihre Hand zurück und drehte sich auf dem Stuhl. »Mein Gott, wie ist das möglich? Was haben die Kinder denn mit Harry zu tun, Jane? Sag es mir.« »Ich weiß es nicht. Sie schrien, sie weinten. Und dann will ich noch etwas sagen«, flüsterte sie. »Ich wollte, es wäre nicht wahr, aber es entspricht leider den Tatsachen. Das Weinen der Kinder hörte sich so an, als würden sie in einer unheimlichen Gefahr schweben. Als würden sie Todesängste ausstehen. Es war das Schreien eines Menschen, der genau weiß, daß er sterben wird, und zwar gewaltsam sterben, Sarah.« »Mein Gott, das ist ja schrecklich.« Jane preßte die Hände gegen ihr Gesicht. »Ja, Sarah, es ist schrecklich. Ich weiß auch nicht, warum ich diese Schreie hören mußte. Sollten sie
eine Warnung sein? Sollten sie uns klarmachen, daß es bald einen Menschen gibt, der so schreien wird?« »Ein Kind?« »Möglich.« »Johnny Conolly?« Jane ließ die Hände sinken. Eine Gänsehaut kroch über ihre Arme. »Himmel, nur das nicht. Johnny ist kein Kind mehr. Andererseits glaube ich, daß…« »Du sollst nicht zuviel glauben, Jane. Ich bin der Meinung, daß wir nicht nur hier herumsitzen und warten, sondern etwas unternehmen sollten. Unser Platz sollte jetzt eigentlich bei den Conollys sein.« Jane Collins nickte. »Ja, ich glaube, daß sogar John dem zustimmen wird. Harry hat seine Zeichen gesetzt. Er machte sich an mich heran und auch an Johnny. Ich glaube, daß er systematisch vorgeht, daß er die Welle der Vernichtung ins Rollen gebracht hat. Wenn wir nicht achtgeben, wird sie uns überschwemmen.« »Gut«, sagte die Horror-Oma, »warten wir auf John Sinclair.« Sie schaute auf die Uhr. »Ich geb’ ihm noch zehn Minuten. Wenn er dann nicht hier ist, forschen wir nach.« Das war nicht mehr nötig. Lady Sarah hatte den Satz kaum ausgesprochen, als es schellte. »Das muß er sein«, sagte Sarah und stand auf, um die Treppe nach unten zu eilen… *** Sheila Conolly stand in der offenen Tür zu Johnnys Zimmer und schüttelte den Kopf. Sie konnte einfach nicht fassen, daß ein Mensch eine derartige Unordnung hinterließ wie ihr Sohn, der mittlerweile alt genug war, um sein Zimmer selbst aufzuräumen. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Da lag einfach alles kreuz und quer. Die Turnschuhe lagen in verschiedenen Ecken, die Kleidungsstücke waren zusammengeknüllt und sahen aus, als wären sie für eine Lumpensammlung auf einen Haufen geworfen worden. Auf seinem Schreibtisch herrschte das absolute Chaos, und daß der Papierkorb umgefallen war, setzte allem die Krone auf. Sie war ordentlich, aber ihr Mann Bill hatte auch diesen Hang zur Unordnung, und Johnny war nun mal ein Kind beider Eltern. Besonders schlimm war es nach dem Verschwinden der Wölfin Nadine Berger gewesen. Sie hatte die Verwandlung zum Menschen ja wieder geschafft und war dann untergetaucht. Keiner ihrer Freunde und Bekannten wußte, wo sie sich aufhielt. Unter dem Verschwinden hatte Johnny stark gelitten, denn er und Nadine waren ein Herz und eine Seele gewesen. Es hatte ziemlich lange
gedauert, bis er sich wieder gefangen und in den normalen Kreislauf seiner Umgebung eingefügt hatte. Er hatte wieder Kontakt bekommen, andere Jungen besuchten ihn, erging auch zu anderen. Daß ihm Harry beigestanden hatte, sah Sheila als sehr wichtig für Johnnys Entwicklung an, denn Harry war ein Junge in seinem Alter und kein Erwachsener. Johnny war wieder in das normale Leben integriert, auch wenn es gewisse Mächte gab, die nie aufhören würden, ihn zu jagen oder zumindest zu beobachten. Das war eben ein Schicksal, dem keiner der Conollys entrinnen konnte, auch wenn sie es immer versuchten und Bill seinem Job als freier Reporter nachging. Er war jetzt einige wenige Tage unterwegs, aber Sheila kam es vor wie Wochen, und sie hoffte, daß Bill am heutigen Abend nicht zu spät zurückkehrte. Das Telefon läutete und unterbrach ihre Gedanken. Sie ging in die Diele, hob ab und hörte ein Lachen. »Du bist es, Bill.« »Ja, wer sonst? Wie geht es dir?« »So einigermaßen. Ich vermisse dich. Ehrlich, Bill. Wann kommst du zurück?« Sheila hörte keine normale Antwort, dafür ein Räuspern der Verlegenheit. Sie kannte ihren Mann und sagte nur: »Bitte, Bill…« Bill sprach. »Ich finde es ja toll, Sheila, daß du dich nach mir sehnst, doch…« »Komm zur Sache, Bill!« »Ja, Sheila! Es kann später werden.« »Wie spät?« »Das weiß ich noch nicht.« Sheila, aus Erfahrung klug geworden, fragte: »Könnte es auch für heute zu spät werden?« »So ist es.« »Dann sehen wir uns morgen früh.« »Eher gegen Nachmittag. Du hast ja von Johnny berichtet. Ich hoffe, euch geht es gut, Sheila. Es tut mir ja selbst leid, aber ich kann hier nicht absagen.« Sheila war ein wenig enttäuscht, und sie ließ es Bill auch merken. »Dann werde ich Johnny einen schönen Gruß von dir bestellen.« »Mach das. Noch etwas. Kommt er mit seinem neuen Freund zurecht?« »Ja, sie sind unterwegs, aber das sagte ich dir schon.« »Okay, bis morgen, Liebes.« »Mach’s gut, Bill.« Sheila lächelte bitter, als sie auflegte. Sie mochte es nicht, wenn Bill seine Zeiten überschritt. Überhaupt gehörte sie zu den Menschen, die
immer mißtrauischer wurden. Es lag an dem Leben, das die Conollys führten. Sie hatten das Gefühl, von einer permanenten Gefahr umgeben zu sein, die sie wie ein Kreis umschloß und beobachtete. In der letzten Zeit war zwar nicht viel passiert, und Nadine hatte sich auch nicht mehr gemeldet, seit sie rückverwandelt war, dennoch war die Angst vorhanden, daß das Unheil jederzeit wieder über sie hereinbrechen könnte. Sie, Bill und Johnny versuchten stets, den Eindruck einer normalen Familie aufrechtzuerhalten. Das jedoch fiel ihnen sehr schwer, auf allen dreien lastete eine starke Bürde. Mehr als einmal hatten Schwarzblütler versucht, sie zu töten. Wer einen John Sinclair seinen Freund nannte, der lebte eben gefährlich. Mit etwas müden Schritten ging sie durch das Haus. Wenn sie aus dem Fenster schaute, sah sie einen trüben Sommertag. Kühl war es nicht geworden, eher drückend. Es schellte. Sheila war derart in Gedanken versunken, daß sie sich erschreckte. Sie schaute kurz auf die Uhr, dann kehrte sie zurück in den Flur und blickte auf den kleinen Monitor, der neben der Tür angebracht war. Eine Kamera überwachte den Eingang vordem großen Vorgarten. Sie übertrug das Bild des Besuchers auf den Monitor. Im ersten Moment runzelte Sheila die Stirn, weil sie niemanden sah. Wieder schellte es. Sheila ging zur Tür, hörte das Klopfen und wenig später die Stimme von Harry. »Bitte, Mrs. Conolly, ich…« »Ja, schon gut, Harry.« Sheila wunderte sich, daß die Jungen bereits zurück waren. Sie hatten sich eigentlich vorgenommen, bis zum Abend zu bleiben. Möglicherweise hatte John Sinclair keine Zeit für sie gehabt. Sheila öffnete die Tür. Überraschung malte sich auf ihrem Gesicht, denn sie sah nur einen jungen Mann. Harry lächelte sie an. Sie schaffte es nicht, zurückzulächeln, sondern schüttelte den Kopf. »Wo ist Johnny?« »Darf ich reinkommen?« »Bitte.« Sie gab den Weg frei. »Ist denn etwas passiert, Harry?« Eine böse Ahnung beschlich sie. Die Vergangenheit hatte Sheila sehr sensibel gemacht. Harry schloß die Tür. Er lockerte sein Stirnband und lehnte sich gegen die Wand. »Passiert ist nichts, aber Johnny hat einige Freunde aus seiner Klasse getroffen. Sie wollten noch irgendwohin, ich hatte aber keine Lust mehr.« »Wo wollten sie denn hin?« »Ich glaube, daß sie ins Kino…«
Sheila ließ Harry nicht ausreden. »Seltsam«, sagte sie leise. »Das ist so gar nicht seine Art. Nein, so kenne ich Johnny nicht. Er hat nie so reagiert.« »Ja, aber ich konnte ihn nicht halten.« »Ich mache dir auch keinen Vorwurf, Harry. Aber es ist nun einmal so. Johnny…«, sie wechselte das Thema. »Hat er denn gesagt, wann er wiederkommen wollte?« »Ja, noch am Nachmittag.« »Und weshalb bist du nicht mitgegangen?« »Ich wollte nicht.« Das akzeptierte Sheila nicht. »Du bist fremd hier in London, Harry. Du hättest sicherlich noch etwas sehen können. In der Gruppe hat man oft die besten Ideen.« »Das mag schon stimmen, Mrs. Conolly, aber ich gehöre mehr zu den Einzelgängern. Ich brauche die Masse nicht, wenn Sie verstehen. Außerdem gefielen mir einige Typen nicht.« »Kennst du denn Namen?« Er überlegte. »Die habe ich vergessen, glaube ich. Ja, die habe ich tatsächlich vergessen. Außerdem redeten sie sich mit Spitznamen an, die kann man sowieso schlecht behalten.« »Da hast du allerdings recht.« Harry lächelte sie an. »Ich hätte bei Ihrem Sohn bleiben sollen, nicht wahr?« Sheila winkte ab. »Ist nicht so tragisch. Etwas eigenartig finde ich es schon.« Harry hob die Schultern. »Ich hatte ihn ja gebeten, anzurufen. Hat er das getan?« Sheila übersah den lauernden Blick des Jungen, als sie den Kopf schüttelte. »Das hat er nicht.« Für einen Moment huschte ein Lächeln über Harrys Lippen. »Dabei hat er es versprochen.« »Das kenne ich. Wenn Johnny in seiner Clique ist und er zu Hause anruft, wird er bestimmt nur gehänselt. Da hat er es am besten gleich bleiben lassen.« »Hätte ich auch gemacht.« »Ihr jungen Leute seid alle gleich.« Sheila lachte. »Jetzt habe ich durch das ganze Reden vergessen, dir etwas zu Trinken anzubieten. Was möchtest du, Harry?« »Nichts.« »Hast du keinen Durst?« Harry gab sich verlegen. »Ich hätte eine andere Bitte oder einen Wunsch, Mrs. Conolly.« »Na, raus damit!«
»Es ist draußen ziemlich warm. Wir sind viel herumgelaufen. Könnte ich wohl eine Dusche nehmen?« »Aber sicher doch.« Sie schüttelte den Kopf. »Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Komm, ich hole dir ein frisches Handtuch.« Sheila verschwand in einem Wäschezimmer, suchte das Gewünschte hervor und drückte es dann dem Besucher in die Hand. »Wo sich die Dusche befindet, weißt du ja.« »Danke, Mrs. Conolly.« »Ich könnte uns einen Kaffee machen.« »Nichts dagegen, wenn Sie wollen.« Er grüßte knapp und verschwand. Sheila ging in die Küche. Sie war sehr nachdenklich geworden, wußte auch nicht, woran es lag, doch im Prinzip ging es um Harry. Okay, sie wollte über den Jungen nicht den Stab brechen, dazu kannte sie ihn einfach zu wenig, aber wenn sie genauer nachdachte und einmal beiseite ließ, daß Harry ihren Sohn vor den Skins gerettet hatte, dann benahm er sich eigentlich recht seltsam. Er war nicht so wie die anderen Jungen in seinem Alter, längst nicht so spontan und locker. Wenn er etwas sagte, dann hatte sie den Eindruck, als hätte er sich die Antwort sehr genau überlegt. Der Begriff Berechnung kam ihr in den Sinn. Ja, das war möglich. Es konnte durchaus von ihm berechnend gemeint sein. Andererseits wollte sie ihm gegenüber keine negativen Gefühle aufbauen und erst einmal alles so laufen lassen. Daß Johnny sich aber von ihm getrennt hatte oder getrennt haben sollte, kam ihr zumindest sehr ungewöhnlich vor. So kannte sie ihren Sohn nicht. Da stimmte etwas nicht… Das Mißtrauen hatte in Sheilas Gefühlswelt eine tiefe Kerbe hinterlassen. Dieses Gefühl, stets von anderen Mächten beobachtet zu werden, hatte einfach dazu beigetragen. Es fiel ihr oftmals schwer, Menschen, die sie kennenlernte, völlig neutral gegenüberzutreten. So war es auch bei Johnnys neuem Freund. Warum war ihr Sohn nicht weiterhin mit ihm gegangen? Weshalb hatte er sich zurückgezogen? Das war sonst nicht seine Art. Sie wandte sich der Kaffeemaschine zu, häufte das braune Pulver in die Filtertüte und spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief. Nicht daß sie von einem Kältehauch gestreift worden wäre, dieses Gefühl kam von innen. Es war eine Warnung, vorsichtig zu sein und niemandem zu trauen. Bill würde erst morgen zurückkommen. Ihr Haus stand ziemlich einsam, sie und Harry waren allein. Wer sich gegen eine Überzahl von Skins behaupten konnte, für den war eine Frau kein Problem. Möglicherweise lief sein Plan darauf hinaus.
Vielleicht hatte Johnny keine Klassenkameraden getroffen. Vielleicht war er aus anderen Gründen verhindert gewesen, nach Hause zu kommen? Der Kloß in ihrem Hals wurde größer. Erste gefährliche Vorstellungen verdichteten sich zu Bildern, die ihr überhaupt nicht gefielen und ihr Furcht einjagten. Sie sah Johnny irgenwo liegen. Einsam, verletzt oder tot. Ausgeblutet… Sie schluckte. Sheila dachte an John Sinclair. Harry und Johnny hatten ihn besuchen wollen. Sheila konnte nicht anders, sie mußte einfach wissen, ob es ihnen gelungen war. Das Telefon stand in Griffweite. Eine Drehung reichte, um den Hörer aufzunehmen. Wenn sie eine Nummer auswendig wußte, dann die des Geisterjägers, doch der Apparat war tot. Es kam kein Freizeichen durch. Sheila wunderte sich nicht einmal darüber, sie bekam Angst. Allerdings überfiel sie nicht die Panik, sie wußte noch immer, was sie zu tun hatte. Sie verließ die Küche, um zu einem anderen Apparat zu gehen, der jedoch ebenfalls tot war. Eine Störung? So etwas gab es zwar noch in der hochtechnisierten Welt, aber daran wollte sie nicht glauben. Diese Störung war kein Zufall. Harry? Sheila wußte es nicht. Sie würde Harry aber nicht mehr so gegenübertreten wie zuvor, und sie würde ihm einige Fragen stellen, die er ihr beantworten mußte. Eigentlich dachte sie dabei mehr an Johnny. Sie ging davon aus, daß Harry sie belogen hatte. Er hatte sich an Johnny herangemacht und fing nun an, die anderen Fäden seines Netzes zu spinnen. Die Vorstellung, daß ihrem Sohn etwas passiert war, trieb Sheila den Schweiß auf die Stirn. Ausgerechnet jetzt war Bill nicht da, und John konnte sie nicht erreichen. Sie saß in einer Falle! Sheila dachte aber darüber nach, ob diese verdammte Falle allein ihr galt und sich nur auf das Haus beschränkte – oder ob sie auch weiter gesteckt war, wobei sie auch ihren Mann Bill mit einschloß und dieser nicht freiwillig verhindert war, nach Hause zu kommen. Sie mußte etwas tun. Sie konnte es nicht ohne weiteres hinnehmen. Sie dachte daran, was man ihr immer wieder eingetrichtert hatte. Keine Panik, kein überstürztes Handeln, die Nerven behalten und dabei eiskalt abwarten. Leichter gesagt, als getan… Auf ihrem Gesicht lag ein dünner Schweißfilm. Die blauen Augen der Frau blickten mißtrauisch. Die Stille im Haus rührte sie seltsam an. Sheila empfand sie als ungewöhnlich. Wenn sie ging, bewegte sie sich
nicht mehr in ihren eigenen vier Wänden, sondern schritt durch eine andere, gefährliche Welt. Das Haus schien ihr nicht mehr zu gehören. Sie kam sich vor wie eine Gefangene. Ohne daß sie es bewußt gesteuert hätte, gelangte sie in den Bereich, wo auch die Gästedusche lag. Sie blieb etwa zwei Schritte vor der geschlossenen Tür stehen. Eine völlig normale Tür. Sheila hatte sie zusammen mit ihrem Mann vor Beginn des Hausbaus ausgesucht, jetzt aber machte ihr die Tür einfach Angst. Es kam ihr vor, als würde sie dahinter etwas Schreckliches sehen können. Auch hörte sie das Rauschen der Dusche nicht mehr. Harry schien sein Bad beendet zu haben. Nein, sie hörte gar nichts. Es war einfach nur still. Doch eine Stille, die ihr nicht zusagte. Beklemmend, bedrückend… Scharf atmete sie ein. Dann ging sie einen Schritt vor. Noch einen. Sie streckte den Arm aus, die Hand schwebte über der Klinke, ohne sie zu berühren. Sheila war versucht, sich zu bücken und durch das Schlüselloch zu schauen. Darauf verzichtete sie, denn sie kam sich einfach lächerlich dabei vor. Doch hineinschauen wollte sie schon… Plötzlich drückte sie die Klinke nach unten. Sehr schnell sogar. Es war ihr egal, was da geschah, ob sie einen nackten jungen Mann sah oder nicht, sie wollte endlich Gewißheit haben. Die bekam sie. Die Dusche war leer! Kein Harry, aber auch keine Spur von Feuchtigkeit. Kein Anzeichen dafür, daß er geduscht hatte. Sie hätte es gerochen. Harry hatte die Dusche überhaupt nicht betreten. Ihre Angst steigerte sich! *** Sheila stand in der Tür, ohne sich zu rühren. Im Hals spürte sie ein hartes Kratzen, als hätte man Sand hineingestreut. Das Schwitzen war vorbei, dafür kroch ein kalter Schauer über ihren Rücken, als würde eine Leichenhand über ihn hinwegstreichen. Das Gefühl hatte sie nicht getrogen. Harry war nicht derjenige, für den er sich ausgegeben hatte. Von Beginn an hatte sein Plan festgestanden, und er war verdammt
geschickt vorgegangen. Vielleicht hatte er sogar die Skins engagiert, um Johnny zu überfallen, damit er im nachhinein als der große Retter auftreten und sich bei den Conollys einschleichen konnte. Eine verfluchte Situation! Sheila trat zurück und schloß die Tür so leise wie möglich. Nur keine unnötigen Geräusche verursachen. Sie ging davon aus, daß sich Harry noch im Haus befand und irgendwo auf sie lauerte. Zwar besaßen die Conollys keine Riesenvilla, aber doch ein sehr geräumiges Haus mit zahlreichen Zimmern. Der Gedanke daran, daß Harry sich in einem davon versteckt hielt, wollte ihr überhaupt nicht gefallen. Im eigenen Haus war Sheila eine Gefangene. Sie dachte an eine Waffe. Bill bewahrte sie in seinem Arbeitszimmer auf. Dort befand sich ein Tresor, in dem die goldene Pistole lag, die gefährlichste Waffe, die man sich überhaupt vorstellen konnte. Sie war mit einer Flüssigkeit gefüllt, die einen Menschen völlig auflöste, wenn er von ihr getroffen wurde. Bill setzte sie nur selten ein, weil er sie einfach als zu ultimativ einstufte. Doch in ihrem Zustand war Sheila bereit dazu, diese Waffe zu benutzen. Sie nickte, als sie sich entschlossen hatte, und ging den Weg zurück. Das nächste Ziel war das Arbeitszimmer ihres Mannes. Die Strecke kam ihr lang vor. Nichts rührte sich. Niemand kam. Sie lauschte den eigenen Schritten nach, blieb dann aber im Flur stehen und schaute die Treppe hinab, die in den Keller führte, wo noch einmal zahlreiche Räume lagen. Auch dort war es still. Schatten und Licht wechselten sich ab. Sie suchte auf den Stufen nach Spuren, fand aber keine. War er nicht im Keller? Sheila wollte nicht nachsehen. Nicht ohne Waffe, denn so mutig war sie nicht. Sie wollte erst die goldene Pistole holen. Bisher war alles gutgegangen. Sheila hoffte, daß sie auch in den nächsten Minuten durchhielt und sie keine Panik überkam. Wenn sie die Nerven verlor, war alles verloren. Es waren nur wenige Schritte, die sie noch hinter sich bringen mußte. Eine lächerliche Distanz, doch plötzlich kam alles anders. Es war nicht nur das Gefühl der Angst, das sie überschwemmte, etwas anderes war viel realer. Sie sah die Tür, und sie sah, daß sie offen war. Sheila aber wußte sehr genau, daß sie geschlossen gewesen war. Sie hatte das Zimmer zudem in den letzten Stunden nicht betreten.
Es gab nur eine Lösung, und die erschreckte sie. Außerdem wußte sie jetzt, daß es nicht mehr einfach sein würde, an die Waffe heranzukommen. Sie kam sich vor, als hätte man sie allein in der Finsternis einer anderer Welt ausgesetzt, ohne jede Hilfe, ohne daß sich jemand um sie gekümmert hätte. Nur allein… Sehr allein sogar! Aber nicht ganz, denn Sheila ahnte mehr, als sie es sah, daß sich hinter dem Türspalt etwas bewegte. Harry? Bei Gott, er war es nicht, denn über dem Schloß schob sich aus der Düsternis des Arbeitszimmers etwas hervor, das sie zunächst nicht identifizieren konnte, sie aber an braune, abgefaulte, getrocknete Zweige erinnerte. Nur waren es keine Zweige, die sich gebogen hatten, sondern etwas anderes, etwas viel Schaurigeres. Eine braune Knochenklaue… *** Lady Sarah legte ihre Hand auf die Brust, als ich mit großen Schritten den Vorgarten durcheilte. »Gut, daß du kommst, John.« Ich blieb vor ihr stehen. »Was ist denn? Was hast du? Ist etwas passiert?« »Ja, mit Jane. Sie – sie ist wieder so komisch. Sie hat Kontakt oder was weiß ich.« »Wo ist sie?« »Oben in ihrem Zimmer.« »Okay, dann laß uns gehen.« Ich war schneller als Lady Sarah, zudem kannte ich mich in diesem Haus aus, als wäre es mein eigenes. Immer zwei bis drei Stufen auf einmal nehmend, hetzte ich die Stufen hoch, erreichte den ersten Stock und wandte mich scharf nach rechts, wo das Zimmer der Detektivin lag. Ich sah sie nicht, ich hörte sie. Ihre Stimme drang durch die offene Tür. Es waren schlimme Geräusche. Eine Mischung aus Stöhnen und Flüstern, als hätte sie etwas Furchtbares zu sehen bekommen, als würde sie malträtiert werden von unsichtbaren, mörderischen Kräften. Ich blieb auf der Schwelle stehen. Wieder lag Jane auf dem Bett. Die Arme hielt sie vom Körper gespreizt. Ihre Hände schlossen sich zu Fäusten, öffneten sich wieder, schlossen sich erneut, und so ging das Spiel immer weiter. Jane war völlig von der Rolle. Ihr Mund stand offen, sie atmete japsend. Die Augen waren nicht mehr als leblose Kugeln ohne Glanz.
Sie kam mir vor, als würde sie sich jeden Augenblick übergeben müssen, aber noch hielt sie sich. Noch hatte die andere Kraft nicht die Überhand gewonnen. Sie ächzte. Ihre Arme schwangen hoch und wieder zurück. Im gleichen Rhythmus atmete sie ein und stieß die Luft wieder aus. Manchmal schnellte ihre Zunge aus dem Mund, bewegte sich hektisch im Kreis und fuhr wieder zurück. Ich schaute nicht mehr hin, sondern suchte die Gefahr. Sie war nicht vorhanden. Es gab keinen äußerlichen Grund, der Jane in diese Lage gebracht haben könnte. »Was ist, Jane? Rede doch…« Sie hatte meine Frage gehört, gab auch Antwort, allerdings ohne mich dabei anzuschauen. »Er – er ist da. Harry ist gekommen. Hüte dich – hüte dich vor Harry.« »Siehst du ihn?« »Nein – nein, ich höre ihn. Ich höre das Schreien und Wimmern. Es sind die Kinder, John. Ich kann sie hören. Sie brüllen ihre Angst heraus. Sie werden getötet, sie werden alle getötet. Harry kennt keine Gnade. Er ist furchtbar. Ich kann ihn spüren, er ist des Teufels, er ist ein grausamer Killer. Er kennt keine Gnade, er hat sie umgebracht – alle…« »Wann war das? Wo war das?« Jane gab die Antwort nicht sofort. Sie bewegte sich weiter von einer Seite auf die andere, und sie schlug dabei um sich, als wollte sie alles vernichten, was sich ihr in den Weg stellte. Sie war einfach nicht mehr zu halten. Ich dachte an einen Anfall von Epilepsie und ging davon aus, daß ich ihr helfen mußte. Vielleicht konnte ich es schaffen, wenn ich ruhig auf sie einredete, daß sie sich nicht verrückt machen lassen sollte. Daß sie Nerven behielt, nicht durchdrehte, wieder cool wurde und das Schreckliche vergaß. Ich faßte sie an. Beide Hände legte ich um ihre Handgelenke und spürte den dünnen Schweißfilm auf ihrer Haut. Jane stand unter einem ungeheuren Streß. Er war wie ein Druck, der alles in ihr zusammenpreßte und ihr keine Chance gab. Ich schaute auf sie hinab. Ihr Gesicht war verzerrt. Die Augen begannen plötzlich zu glänzen. Sie schien etwas zu sehen, das nur ihr allein sichtbar war und womöglich tief in der Vergangenheit oder einer anderen Dimension lag. So etwas gab es, das wußte ich genau. Jane nahm mich kaum wahr. Jedenfalls ging sie nicht darauf ein, daß ich mich bei ihr befand. Immer wieder blies sie mir ihren Atem entgegen und sprach in abgehackten Sätzen von den fürchterlichen Schreien der Kinder, die sie malträtierten. »Wo sind die Kinder? Wo, Jane?«
»Nicht hier, nicht hier!« Ich war schon froh, daß sie meine Frage verstanden und mir überhaupt geantwortet hatte. Sie wurde ruhiger, dafür wechselte der Ausdruck auf ihrem Gesicht. Die Panik verschwand, ihr Gesicht wirkte plötzlich gequält, als wollte sie jeden Augenblick anfangen zu weinen. Was sie auch tat, denn auf einmal rannen Tränen an ihren Wangen entlang. Aus ihrem Mund sprudelten Worte hervor. Sie sprach von einem grausamen Schicksal, das über sie gekommen war. Aus der Vergangenheit hatte es zugeschlagen. »Wer denn, Jane?« »Harry!« »Wer ist Harry?« »Ein Mörder! Ein tierischer Mörder! Ein grausamer. Er ist bestraft worden. Er ist bestraft worden«, wiederholte sie, »aber er wurde nur deshalb bestraft, weil er – weil er – immer wieder zurückkehren kann. Er vernichtet sich selbst, aber reinkarniert. Er ist der Schrecken der Wiedergeburt. Harry ist nicht zu fassen, er ist verflucht, zu leben, verstehst du? Verflucht zum Leben. Er kehrt immer wieder zurück, bis zu dem Zeitpunkt, wo er abtreten muß. Dann geht er in den Tod, und es ist furchtbar, wenn du mit ansehen mußt, wie er sich umbringt. Es – es kommt über ihn, es ist nicht zu stoppen, es ist…« »Wo finde ich ihn?« Jane sackte zusammen. Ihr Körper erschlaffte. Sie war nicht mehr verkrampft. Die Widerstandskraft ließ nach, aber das Stöhnen blieb, unterbrochen von einer geflüsterten Antwort. »Es wird alles anders, alles, John, wirklich…« »Und was ist jetzt?« »Wir müssen ihn stellen. Wir müssen ihm ein Ende bereiten. Ich spüre, daß er dicht davorsteht, sich wieder zu verabschieden. Er wird eine Blutspur hinterlassen, es werden Leichen zurückbleiben, aber er hat bereits den Ruf empfangen, daß es kein Zurück mehr gibt. Es wird fürchterlich werden.« »Was wollte er von uns?« »Vernichten, alle vernichten. Man hat ihn gelenkt. Andere Mächte haben sich seiner bedient, denn er ist der Verfluchte, er kann manipuliert werden. Sie machen mit ihm, was sie wollen. Harry ist das Grauen, Harry ist unbesiegbar, wenn wir nicht sehr klug sind, John.« Da ich meine Griffe um ihre Gelenke gelockert hatte, schaffte Jane es, sich zu erheben. Ich richtete mich auf. Sie starrte mich keuchend an, der Speichel floß über ihre Lippen.
»So geht das schon seit einer halben Stunde«, sagte Lady Sarah von der Tür her. »Aber ich habe mitgehört, John. Ich weiß jetzt, was passieren wird.« »Wir müssen ihn finden«, sagte ich und schaute Jane Collins dabei an. »Du hast ihn gespürt, du hast ihn sogar sehr genau gespürt. Kannst du mir sagen, wo er jetzt ist?« »Ja,ja…« »Dann los!« »In London, John. Er ist in London. Er wird sich nicht abschütteln lassen. Sein blutiges Finale beginnt. Der Kinderfresser wird weiter morden, bis er sich selbst vernichtet und sich seine Seele wieder einen neuen Körper sucht.« Wenn alles stimmte, was Jane da sagte, hatten wir es mit einem Fall von Reinkarnation der schrecklichsten Art und Weise zu tun, die vernichtet werden mußte. »Es gibt eigentlich nur einen Ort, wo er sich auskennt und sich jetzt aufhalten kann«, sagte ich. »Das sind die Conollys. Nur dort kann er sein.« Jane nickte. »Stimmt es?« »Ich – ich glaube…« »Ja, warum zögert ihr dann noch?« rief Lady Sarah. »Los, ihr müßt zu ihnen!« »Suko und Johnny sind bereits unterwegs.« Die Horror-Oma stieß scharf die Luft aus. »Haben die beiden euer Wissen?« »Leider nein.« »Dann würde ich an eurer Stelle mich nicht nur beeilen, sondern fliegen, John.« Ich zerrte Jane vom Bett hoch. »Worauf du dich verlassen kannst, meine Liebe…« *** Die braune Totenklaue hatte sich so stark um die Tür geklemmt, als wollte sie das Holz zerdrücken. Sheila starrte auf die spitzen Nägel, die sich zuckend bewegten, über den Lack hinwegkratzten und dort ihre Spuren hinterließen. Helle Streifen… Sheila schauderte. Sie hatte das Gefühl, als würden die Klauen über ihren Körper hinwegfahren und auf der Haut blutige Striemen hinterlassen. Was tun?
Harry war ihr überlegen, er war stärker, und an die goldene Pistole kam sie nicht heran. Dann schrak sie zusammen, als sie das leise Knarren vernahm. Es entstand deshalb, weil Harry von innen die Tür weiter aufdrückte. Er wollte eine so große Öffnung schaffen, um sich hindurchschieben zu können. Dann war es nur mehr eine Kleinigkeit, an die Frau heranzukommen, die wie gebannt auf der Stelle stand. Harry drückte die Tür weiter auf. Sheila ging einfach davon aus, daß nur er es sein konnte, der hinter der Tür lauerte, auch wenn er mit seinem eigentlichen Aussehen nichts mehr gemein hatte. Jetzt wäre noch die Chance gewesen, zu fliehen, aber Sheila konnte nicht. Es war der gefährliche, einengende Zwang, der sie auf der Stelle festhielt. Wie sah Harry aus? War nur eine Hand zu einer Knochenklaue verändert worden, oder hatte die Verwandlung auch seinen Körper in Mitleidenschaft gezogen? Der Schrei erstickte in ihrer Kehle. Er wollte einfach nicht hinaus, etwas hielt sie im Bann. Mein Gott… Er schob sich jetzt vor, er zeigte sich ganz, und Sheila starrte auf ein braunes, schon in einem Stadium der Verfaulung befindliches Skelett, auf dem ein ziemlich groß wirkender Kopf mit leeren Augenhöhlen, zerrissener Nasenöffnung und einem sehr breiten Maul saß. Die Tür stoppte. Sie stand jetzt weit offen, und Harry nahm die gesamte Breite der Öffnung ein. Sheila ließ ihren Blick über die Gestalt hinwegwandern. Sie wunderte sich über sich selbst, daß sie noch in der Lage war, klar und nüchtern zu denken, und diesen unheimlichen Widerling anschauen konnte. Sein Anblick war schlimm genug, aber etwas anderes empfand sie noch als viel schlimmer. Mit der einen Klaue hatte Harry die Tür aufgedrückt. Mit der anderen war er dazu nicht in der Lage gewesen, denn diese Knochenfinger hielten eine Waffe umklammert, die er überhaupt nicht haben durfte. Mochte der Teufel wissen, wie er an sie herangekommen war, aber Sheila kannte sie genau. Es war Bills goldene Pistole! *** Zuerst weigerte sich ihr Hirn zu glauben, was sie sah. Ein Unding, eine Einbildung, ein Duplikat, aber sie wußte sehr genau, daß dies nicht stimmte.
Die goldene Pistole war einmalig, und Bill Conolly hielt sie unter Verschluß. Nein, er hatte sie unter Verschluß gehalten, aber jetzt war es Harry gelungen, an sie heranzukommen. Die Waffe war absolut tödlich, noch tödlicher als er. Aber man mußte sie kennen, um zu wissen, wie sie funktionierte. Noch machte Harry nicht den Eindruck, als wüßte er dies, aber er würde bestimmt nicht lange brauchen, um es herauszufinden. Dann sah es bitter aus. Sehr bitter sogar… Er hielt die goldene Pistole in der rechten Hand. Die Mündung zeigte noch zu Boden. Der Schädel mit den leeren Augenhöhlen war Sheila Conolly zugewandt, und die hatte den Eindruck, als würde sie von dieser Horror-Gestalt angeschaut werden. Sie wich zurück. Es war der Punkt, an dem sie zum erstenmal aufatmete, denn endlich hatte sie die Starre überwunden. Mit schleifenden Schritten wich sie zurück. Sie kannte sich aus, sie wußte, daß dort wieder der Flur begann, durch den sie laufen mußte, um in die Nähe der Haustür zu gelangen. Nur dort konnte sie weg. Das braune Skelett hob den rechten Arm. Im krassen farblichen Gegensatz dazu stand die goldene Pistole, geladen mit einer schleimigen Flüssigkeit, aus dem See, der auf dem Planet der Magier lag und dessen Inhalt den Menschen Haut und Fleisch von den Knochen löste und selbst die letzten Reste dann noch vernichtete. Sheila bewegte sich schneller. Sie rannte plötzlich, es war ihr egal, ob der Unheimliche hinter ihr herkam oder nicht. Sie wollte das Haus nur so rasch wie möglich verlassen. Er blieb ihr auf den Fersen. Harry kümmerte sich auch nicht um die Geräusche, die seine Schritte hinterließen. Gleichzeitig mit dem Aufsetzen ertönte ein hohl klingendes Klappern, denn es gab nichts, das das Aneinanderstoßen der Knochen gebremst hätte. Er ging weiter… Und Harry wußte genau, wo Sheila hin verschwunden war. Er blieb ihr auf den Fersen. Er fühlte sich so verdammt sicher, er war derjenige, der herrschte. Sheila erreichte die Tür. Sie war stabil gebaut, es gab auch Sicherungen, aber die wurden nur dann eingeschaltet, wenn die Nacht über… Die Frau schrie! Es war ein Schrei der Enttäuschung. Sie hatte die Klinke nach unten gedrückt und wollte die Tür aufziehen, aber das gelang ihr nicht. Sie war abgeschlossen. Und der Schlüssel steckte nicht!
Harry, dieser Unhold, hatte an alles gedacht. Sein Plan war nahezu perfekt gewesen, und er mußte den Schrei der Enttäuschung gehört haben, denn er kam schnell näher. Sheila hörte ihn. Sie drehte den Kopf nach links. Im Halbdunkel des Flurs malte sich Harrys schreckliche Gestalt ab. Sie bewegte sich auf Sheila zu, und ihre Knochen klapperten dabei ununterbrochen. Auch der Kopf bewegte sich bei jedem Schritt. Er sah so aus, als wollte er Sheila zunicken und ihr mit jeder Bewegung bestätigen, daß sie keine Chance mehr hatte. Sie schwitzte vor Furcht, denn sie dachte auch an die goldene Pistole. Harry hielt sie noch immer fest. Die Mündung zeigte glücklicherweise nicht auf sie. Weg, du mußt weg! Ihre Beine waren schwer. Die Enttäuschung über die verschlossene Tür steckte ihr buchstäblich in den Knochen. Harry kam näher. Und während er ging, hörte Sheila noch ein anderes Geräusch. Es war zu vergleichen mit einem häßlichen Schmatzen und Schlürfen, das aus seinem Mund drang. Aber wie war das möglich? Sheila wich zurück. Sie ging jetzt dorthin, wo sich eine schmale Außentür befand, durch die sie in den Garten laufen konnte. Der Weg ins Wohnzimmer erschien ihr zu weit, denn das Skelett hatte bereits aufgeholt. Sheila war schnell. Sie erreichte die Tür, warf noch einen Blick auf die Kellertreppe, als würde von dort noch ein Feind auftauchen, rüttelte an der Klinke und schrie abermals auf. Auch diese Tür war versperrt. Sie fuhr herum, ging einen Schritt vor – und mußte erkennen, daß sie sich völlig falsch verhalten hatte und lieber den längeren Weg ins Wohnzimmer genommen hätte. Harry war schon da. Er stand da und versperrte ihr den Rückweg. Sein Schädel sah aus, als läge ein diabolisches Grinsen auf seiner wie zerrissen wirkenden Maulöffnung. Keine Hoffnung mehr. Er ließ sie nicht vorbei. Und er hob die Waffe an. Sheila Conolly erschrak durch diese Bewegung so sehr, daß sie reagierte. Sie warf sich nach links, obwohl noch nicht klar war, daß sich Harry mit der Funktion der goldenen Pistole auskannte. Aber sie hatte einfach etwas tun müssen. In diesem Fall das Falsche!
Sheila merkte es, als sie mit dem linken Fuß absackte und erst Gegendruck spürte, als ihre Sohle eine Treppenstufe berührte. Das war zu wenig, um ihr den nötigen Halt zu geben, sie rutschte zudem an der Kante ab, und dann gab es nichts mehr, was ihr noch half. Sie stürzte die Kellertreppe hinab. Sheila schlug mehrere Male auf, drehte sich zum Glück, so daß sie sich über die Schultern abrollte. Dennoch schützte sie ihren Kopf zu wenig. Der letzte Aufprall war einfach zu stark. Sie sah Sterne vor ihren Augen, die sich zu einem sprühenden Feuerwerk vereinigten, und dann spürte sie nichts mehr. Die Schwärze hatte Hunderte von Händen, die an ihr zerrten und sie in die Tiefe rissen. Oben an der Treppe aber stand Harry, schaute auf den leblosen Körper, als würde er darüber nachdenken, was er nun unternehmen sollte. Dann bewegte er den rechten Arm mit der goldenen Pistole. Er richtete sie über die Stufen hinweg nach unten. Ein Knochenfinger zuckte, er war bereit, den Stecher zurückzuziehen und den endgültigen Tod zu schicken. Da hörte er das Geräusch an der Haustür! *** »Endlich«, sagte Suko und lächelte Johnny zu. »Bist du auch froh, wieder zu Hause zu sein?« Johnny sah nachdenklich aus, als sie durch das offene Tor fuhren, das der Junge aufgeschoben hatte. Es ließ sich außerdem automatisch bewegen, doch das entsprechende Gerät befand sich nicht in Johnnys Besitz. Dafür trug er den Hausschlüssel bei sich. »Ich kann es dir nicht sagen, Suko.« »Warum nicht?« »Es ist so ein Gefühl. Eigentlich müßte ich mich ja wohl fühlen, aber so ist das auch nicht. Das Haus hier kommt mir so fremd vor, als würde es mich abstoßen.« Suko lächelte. »So solltest du nicht denken. Außerdem bin ich bei dir, und ich werde dich so lange schützen, bis dieser Harry gefunden ist. Darauf kannst du dich verlassen.« Sie rollten über den breiten Zufahrtsweg, der mit Kies bestreut war, leicht bergauf führte und einige Kurven beschrieb. Der große Garten war ein buntes, sommerliches Blumenmeer. Die große Doppelgarage befand sich links neben dem Wohnhaus. Auf dem Platz vor ihr stand kein Wagen, und Suko stellte den Dienst-Rover vor der Garage ab.
Sein eigener BMW stand in der Tiefgarage. Er wäre mit der Rakete auch nicht schneller vorangekommen. Sie stiegen aus. Johnny ging nicht direkt auf die Tür zu, was dem Inspektor sehr recht war, denn zunächst wollte er sehen, ob die Luft rein war. Das schien nicht der Fall zu sein, denn Johnny sagte mit brüchig klingender Stimme: »Ich wundere mich, daß meine Mutter nicht kommt, Suko. Sie hätte uns hören und sehen müssen.« »Richtig, mein Freund.« Johnny schaute Suko fragend an. »Was willst du jetzt tun?« Er bewegte seine Finger. »Gib mir mal den Schlüssel. Ich betrete das Haus zuerst und schaue mich um.« Johnny ließ den Schlüssel auf Sukos Handfläche fallen. »Sagst du mir dann Bescheid?« »Worauf du dich verlassen kannst.« Der Inspektor schaute sich in der Umgebung um. Es war nichts zu sehen. Die Luft war drückend, zahlreiche Insekten tanzten in dichten Schwärmen. Suko scheuchte sie weg, während er aufs Haus zuging. Vor der Tür blieb er stehen. Zuerst hatte er mit dem Gedanken gespielt, hinter das Haus zu gehen und durch das große Terrassenfenster ins Wohnzimmer zu spähen, doch das hätte noch mehr Zeit gekostet. Möglicherweise kam es auf jede Sekunde an. Wenn Harry tatsächlich hier war und Sheila sich allein im Haus aufhielt, schwebte sie in tödlicher Gefahr. Suko schloß auf. Er war mißtrauisch und zog seine Beretta, was Johnny bemerkte, der sich nur wenige Yards entfernt befand. Mit der linken Hand winkte Suko beruhigend ab, bevor er die Tür endgültig aufdrückte. Er schaute in den schmalen Flur, horchte hinein in die bedrückende Stille, konnte nichts Verdächtiges erkennen und betrat das Haus. Im Flur blieb er stehen. Mit schußbereiter Waffe schaute er sich um, wollte nach Sheila rufen, aber sein Gefühl hielt ihn davon ab. Etwas war hier nicht in Ordnung. Das Haus atmete Stille aus – und Gefahr… Suko merkte, daß sich die Haut in seinem Nacken zusammenzog. Für ihn das untrügliche Zeichen einer unmittelbaren Bedrohung, und in seine Augen trat ein harter Glanz. Was verbarg sich hier? Was hatte sich verändert? Äußerlich nichts, aber zwischen den Mauern lauerte das Böse wie ein gefährlicher Hauch, der alles umfaßte. Er ging einige Schritte vor. Suchte nach Spuren, nach Hinweisen auf eine schreckliche Tat oder ein furchtbares Verbrechen. Nichts zu sehen… Er schritt weiter.
So leise wie möglich, immerdaraufgefaßt, der Gefahr zu begegnen. Suko kannte sich bei den Conollys aus. Wenn er weiterging, gelangte er ins Wohnzimmer. Zuvor zweigte rechter Hand noch ein Stück Flur ab. In diesem Trakt des Hauses lagen das Schlafzimmer der Eltern, ein großes Bad und die Dusche für Gäste. Die Treppe zum Keller führte auch von dort aus hinab. Der Keller… Sukos Gesicht verhärtete sich noch mehr, als er daran dachte. Im Keller konnte sich die Gefahr zusammengebraut haben, also würde er dort nachschauen müssen. Er hatte die Einmündung des kleineren Flurs fast erreicht, als ihn Harry überraschte. Suko hörte nicht einmal mehr das Klappern der braunen Knochen, als Harry um die Ecke wischte. Er schlug zu. Es war ein Schlag wie mit einem Hammer geführt. Suko glaubte noch, eine braune Knochenfratze vor seinen Augen tanzen zu sehen, das konnte aber auch eine Täuschung sein. Jedenfalls fiel für ihn der Vorhang. Er stürzte schwer zu Boden, und Harry schaute auf ihn. Die goldene Pistole hielt er nach wie vor in der Hand. Er hatte noch nicht geschossen, aber das würde er bald tun. Die Frau und der Mann waren ihm sicher. Sie waren auch nicht so interessant, denn Harry war erpicht auf den Jungen. Und daß dieber sich nicht weit von ihm entfernt befand, das spürte er genau. Harry setzte sich in Bewegung… *** Johnny Conolly hatte Suko im Haus verschwinden sehen. Obwohl erst wenige Sekunden vergangen waren, kam ihm die Zeit unheimlich lang vor. Er spürte ebenfalls, daß etwas nicht in Ordnung war, aber noch traute er sich nicht, nachzuschauen, ob dies auch stimmte. Etwas hielt ihn ab. Zeit verging. Stille umgab ihn. Wenn er Geräusche hörte, dann waren sie weiter entfernt. Mal hörte er den Motor eines zu lauten Fahrzeugs, mal wehte der Klang einer Hupe durch die Stille. Ansonsten blieb es ruhig. Er konnte nicht mehr auf der Stelle stehenbleiben. Johnny spürte das Kribbeln in den Beinen. Zudem hatte er einen Zustand erreicht, wo die Neugier allmählich anfing, die Furcht zu besiegen. Er setzte sich in Bewegung.
Er hätte ja an eines der kleinen Fenster gehen und hindurchschauen können, da aber war sein Blickwinkel einfach nicht gut genug. Er konnte nur einen kleinen Ausschnitt überblicken. Johnny wollte mehr. Also ging er auf die Haustür zu. Noch niemals hatte er sich so gefühlt wie an diesem schwülwarmen Nachmittag. In Gefahr hatte er schon oft genug geschwebt, nur waren es andere Situationen gewesen. Hier war alles anders, hier war sein Zuhause, das ihm oft genug Schutz gewesen war, doch jetzt stieß es ihn ab. Alles hing mit Harry zusammen. Harry haßte ihn. Harry hatte ihn zwar vor den Skins gerettet, aber nur, um ihn zu töten. Ja, Harry wollte sein Leben! Und Suko? Er hatte vorgehabt, das Haus zu durchsuchen. Wollte nachsehen, ob die Luft rein war. Aber Suko meldete sich nicht. Er war verschwunden, einfach so, eingetaucht in dieses Haus, das für Johnny nicht mehr normal war, sondern ihm erschien wie eine schreckliche, von Monstern bewohnte Insel. Die Furcht davor steigerte seinen Herzschlag. Er hörte sich viel lauter atmen als sonst. Manchmal drehte sich alles vor seinen Augen, dann hatte er das Gefühl, als würde er bald umfallen und nie mehr wieder aufstehen. Daß er immer weiterging, merkte er kaum. Plötzlich stand er vor der Tür. Sie stand einen Spaltbreit offen. Durch die schmale Öffnung konnte Johnny in den Flur hineinschauen, in dem ein düsteres Zwielicht herrschte. Sollte er, sollte er nicht? Wo war Suko? Johnny wollte nach ihm rufen, was ihn Überwindung kostete, aber der Ruf blieb ihm in der Kehle stecken, weil er ein anderes Geräusch hörte. Es war eigentlich undefinierbar, aber Johnny hörte trotzdem genauer nach. Ein Klappern, vermischt mit schleifenden Lauten, die durch dieses Geräusch klangen. Es blieb zwar gleich, nahm aber an Stärke zu, was ihn noch mehr beunruhigte. Wer kam da auf die Haustür zu? Dem Klappern nach zu urteilen vielleicht ein ferngelenktes Spielzeug. Daran dachte Johnny zuerst, obwohl er aus diesem Alter längst herausgewachsen war. Oder aber… Er wollte den Gedanken nicht mehr weiterführen, weigerte sich, denn ihm kam ein Begriff in den Sinn. Ein Skelett!
War es möglich, daß sich ein Skelett in das Haus verirrt hatte? Wenn das stimmte, wo steckte dann Harry? Oder waren er und das Skelett identisch? Johnny hatte noch nichts gesehen, aber die Warnung überhörte er nicht. Sein Verstand signalisierte ihm die große Gefahr, und er sagte sich, daß er nicht vor der Tür stehenbleiben durfte, denn irgendwann in der nächsten Zeit würde das Unheil über die Schwelle treten und ihn töten wollen. Niemals! Einen flüchtigen Gedanken verschwendete er noch an Suko, dann ging er einige Schritte zurück. Und das war gut so. Er stand kaum richtig, als die Tür von innen her bewegt und aufgezogen wurde. Auf der Schwelle stand Harry! Nein, er war es nicht, sondern ein braunes, fauliges Skelett, das eine goldene Pistole in der rechten Hand hielt… *** Zuerst dachte Johnny an einen bösen Traum. Aber was er da sah, war kein Traum, es war die Realität. Er wußte auch instinktiv, daß es nur Harry sein konnte, auch wenn dieser sich auf eine dermaßen schreckliche Art und Weise verändert hatte. Johnny schaffte es kaum, Atem zu holen. Der Schock und der Schreck hatten seine Körperfunktionen gelähmt. Die nächsten Sekunden kamen ihm so lang wie nie vor, aber er war auch alt genug, um die Funktion der Pistole zu kennen, denn sein Vater hatte ihn in viele Dinge eingeweiht und mit ihm gesprochen wie mit einem Erwachsenen. In der rechten Klaue hielt Harry die Waffe. Und diese Knochenhand ruckte in dem Moment, als er sagte: »Ich hole dich, Johnny…« Es war eine Stimme, die dem Jungen einen Schauer aus Eis und Hagel über den Rücken trieb. Sie schien aus einer tiefen Gruft an die Oberfläche gedrungen zu sein. Geboren in den unendlichen Tiefen einer höllischen Welt, dann hochgetrieben in die normalen Dimensionen, um dort ein tödliches Versprechen abzugeben. Johnny rechnete fest damit, daß Harry es ernst meinte, daß er ihn töten würde, und er wich zurück. Harry hob den Arm noch weiter! Genau da, im Scheitelpunkt der tödlichen Gefahr, bewegte sich Johnny zur Seite. Er warf sich nach rechts, er war verflucht schnell. Er wußte, daß es für ihn nur die eine Chance gab. Er mußte schneller als Harry sein. Zwei Möglichkeiten standen ihm zur Verfügung.
Er konnte hinter das Haus eilen und sich dort im Garten verstecken oder in den Vorgarten rennen, der ebenfalls dicht genug bewachsen war, um sich verbergen zu können. Die zweite Alternative war besser. Zudem war es der kürzere Weg. Johnny rannte los, ohne dabei auf irgendwelche Wege zu achten. Er hechtete förmlich in eine dichte Hecke vor der Blumenfläche, auf der Sheila Sonnenblumen gezüchtet hatte, die schon eine beträchtliche Höhe erreicht hatten. Er rollte durch die fast schulterhohen Blumen, hörte, wie die Stiele brachen, raffte sich wieder auf, schaute zurück und sah über dem Rand der Hecke den braunen Schädel des Skeletts, das natürlich die Verfolgung aufgenommen hatte. Johnny mußte eine zweite Hecke überwinden. Er hatte sie in dem Augenblick erreicht, als der braune Schädel hinter ihm über die andere Hecke glotzte. Blätter, Spinnengewebe und irgendein anderes Zeug drangen in Johnnys Mund, als er sich durch die Hecke wühlte. Für einen Moment spürte er Gras zwischen den Lippen, als er sich über ein kleines Rasenstück wälzte und in die Nähe eines Teiches geriet, eines kleinen Biotops, in dem sich Fische und Frösche ebenso wohl fühlten wie Algen und eine einzelne Seerose. Die Oberfläche sah dunkel aus. Sie erinnerte Johnny an einen grünen Spiegel. Für einen Augenblick sah er sein Gesicht dort wie einen schattenhaften Umriß, der sich aus Spiegelscherben zusammensetzte, dann hetzte er rechts an dem Teich vorbei und wollte die Kurve kriegen, um auf den normalen Kiesweg zu gelangen, der vom Haus zum Tor führte. Er glaubte, jetzt weit genug entfernt zu sein, um dies auch riskieren zu können. Johnny lief geduckt. Er hatte schreckliche Angst vor dieser Waffe, die einem Gegner nicht die geringste Spur einer Chance ließ. Zudem glaubte er plötzlich daran, daß Harry sie schon eingesetzt hatte. Zwei Ziele hatte es ja gegeben. Suko und seine Mutter! Johnny fing an zu weinen, als er daran dachte. Seine Mutter hatte im Haus zurückbleiben wollen, und er konnte sich nicht vorstellen, daß sie ihr Vorhaben geändert hatte. Johnny paßte nicht auf, stolperte über einen Kantstein, fiel hin, raffte sich wieder hoch und hörte die Stimme. »Ich kriege dich, Junge…« Noch immer klang sie so furchtbar dumpf, aber Johnny hatte trotzdem den Eindruck, als würde sie ihn wie ein Eisguß erreichen. Erreichen aber mußte er das Tor, denn nur diese eine Chance hatte er. Zunächst stolperte auf den Weg. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. So gut er auch aussah und so toll er sich anhörte, wenn die Reifen eines
Autos über ihn hinwegglitten, er hatte jedoch einen großen Nachteil. Es war nicht ungefährlich, schnell über ihn zu laufen, denn die kleinen Steine waren manchmal wie Kugeln auf einem glatten Untergrund, auf denen man keinen Halt mehr fand, wenn man erst einmal ins Rutschen gekommen war. Johnny dachte nicht daran. Er lief um sein Leben. Über die Schulter schaute er zurück, aber Harry war noch nicht zu sehen. Wahrscheinlich deckte ihn die Kurve. Johnnys Hoffnung stieg. Er rannte, und im selben Moment, als er mit dem rechten Fuß auf dem Kies ausglitt, sah er das breite Hindernis, das wie ein grinsendes Maul auf ihn zufuhr. Es war die Kühlerschnauze eines Rovers! *** Ich bremste! Im letzten Augenblick hatte ich Johnny gesehen, gerade als ich die erste Kurve nach der Einfahrt nehmen wollte. Der Junge verlor das Gleichgewicht. Er ruderte mit den Armen, schrie und versuchte noch, dem Zusammenstoß zu entgehen. »Himmel, das ist Johnny!« rief Jane. Der Wagen rutschte auf dem glatten Kiesboden weiter. Er kam nicht dort zum Stehen, wo ich es gern gehabt hätte, und Johnny, der nun endgültig die Balance verlor, prallte gegen den Kühlergrill, erhielt einen Stoß und rutschte auf die Haube, wo er sich noch drehte, dann aber zur Seite rollte. Jane war bereits aus dem Fahrzeug geflitzt. Sie huschte an die linke Seite und fing den Jungen ab. Johnny schrie plötzlich auf, dabei brüllte er den Namen Harry, was bei mir eine Alarmglocke anschlagen ließ. Jane hatte Johnny auf die Füße gestellt und schüttelte ihn durch. »Es ist nicht Harry!« fuhr sie ihn an. »Ich bin es, ich! Jane Collins! Hörst du?« Johnny verstummte. Entsetzen stieg in mir hoch, als ich sein Gesicht sah, denn es strahlte eine fürchterliche Angst ab. »Harry ist da. Er will mich holen!« »Wo ist er, Johnny?« Jane hatte ihre eigene Angst überwunden. Sie war zu einer unheimlich starken Frau geworden, die sich durch nichts mehr von ihrem Ziel abbringen ließ. »Hier – hier…« Ich rekapitulierte sehr rasch. Johnny war vom Haus her gekommen. Er hatte von einer Verfolgung gesprochen. Demnach konnte es sein, daß Harry dicht hinter ihm war.
Sicherlich würde er aus dieser Richtung erscheinen, falls er sich nicht durch die Büsche schlug. Ich drehte mich. Vor mir lag der Weg, aber auch der Beginn der Kurve, in die ich nicht hineinschauen konnte. Es war nicht mehr nötig. Zuerst hörten wir das leise Knirschen von Kies, dann irgendwelche Tritte, und einen Moment später tauchte er auf. Es war nicht der Harry, wie ich ihn kannte. Vor uns stand ein braunes Skelett und hatte sich mit der goldenen Pistole bewaffnet, die eigentlich Bill Conolly gehörte. Himmel, mir blieb fast das Herz stehen. Ich zog die Beretta, aber Jane schlug meinen Arm zur Seite, damit ich auch nicht nach dem Kreuz greifen konnte. »Ich hole ihn mir, John!« »Verdammt, er hat Bills Pistole!« »Das sehe ich. Ich habe ihn gespürt, er hat sich bei mir gemeldet, und ich werde ihn vernichten.« Ihre Stimme hatte einen derartig harten Klang angenommen, daß ich zurücktrat, mich um Johnny kümmerte und ihn in die Deckung des Rovers zerrte. Auch ich duckte mich dahinter, denn gemeinsam wollten wir abwarten, was geschah. Jane spielte mit ihrem Leben. Ich gab ihr Rückendeckung und war bereit, sofort eine geweihte Silberkugel auf das Knochengestell zu schießen und es gleichzeitig mit dem Kreuz zu attackieren. Johnny hatte sich wieder etwas gefangen. Mit Zitterstimme fragte er: »Ist Jane lebensmüde?« »Hoffentlich nicht, mein Junge«, murmelte ich, »hoffentlich ist sie das nicht…« *** »Hallo, Harry!« sagte Jane ganz cool und ging direkt auf ihn zu. »Endlich sehen wir uns. Hat ja lange genug gedauert, aber du hast dich bei mir immer wieder gemeldet. Ich weiß jetzt, wer du bist, Harry. Ich habe deine Botschaft sehr gut empfangen können. Du bist ein verfluchter Kindermörder, den die Schreie seiner Opfer immer und für alle Zeiten verfolgen werden. Du kannst nicht mehr anders. In welcher Gestalt du auch wiedergeboren wirst, du mußt den Weg der Hölle gehen. Du mußt töten. Immer wieder töten, denn das ist dein Fluch!« Harry sagte nichts. »Stimmt es?« »Ja!« »Gut, Harry, danke. Und jetzt bist du geboren worden, um abermals zu töten. Johnny ist zwar kein Kind mehr, aber du hast ihn dir ausgesucht, weil der Teufel es dir befohlen hat. Er hat dich zu seinem Werkzeug
gemacht. Du bist ihm in die Falle gelaufen, er hat dich geschickt, Johnny zu töten, um uns damit zu treffen, denn der Junge ist das Patenkind des Geisterjägers, und dieser wiedrum gehört zu den absoluten Topfeinden der Hölle. Ein guter Plan, aber nicht gut genug für uns, Harry, denn wir sind besser.« »Du bist doch dem Teufel…« »Ich war dem Teufel zugeneigt«, sprach Jane in den dumpfen Stimmenklang hinein. »Nein, du hast es in dir. Ich spürte es genau. Du kannst dich nicht verstellen.« »Ja, es sind noch die alten Kräfte. Aber soll ich dir etwas sagen, Harry? Trotz der alten Kräfte oder gerade deretwegen ist es mir gelungen, wieder ein Kreuz anfassen zu können. Ich kann es wieder, ich brauche mich nicht davor zu fürchten, und ich fürchte mich auch nicht vor dir, Harry, denn dein Weg ist hier zu Ende.« Ich hatte alles gehört. Einerseits bewunderte ich Janes Mut, andererseits war es Wahnsinn, ihm ohne Waffen gegenüberzutreten und ihn noch zu provozieren. »Wieviel Kinder hast du umgebracht, Harry? Sag es, ich will die Zahl wissen! Du hörst doch ihre Schreie, die auch ich gehört habe. Und ich muß dir sagen, daß sie furchtbar waren…« »Immer, wenn ich lebte.« »Wie oft war das?« »Sechs- oder siebenmal…« Jane nickte. »Und dann mußten die Kinder sterben, nicht wahr? Von dir getötet werden.« »Ja.« »Mehrere…?« »Immer.« Jane ging vor. Dieses Geständnis hatte den letzten Rest an Furcht bei ihr hinweggewischt. Auch Harry reagierte. Sein rechter Knochenarm ruckte hoch. Damit aber aber auch die goldene Pistole, so daß die Mündung auf Jane zeigte. Wir konnten dagegen nichts unternehmen, auch wenn es so aussah, als wäre der Knochenarm an einem Band in die Höhe gezogen worden. Wenn er jetzt schoß, dann… Ich hatte die Hand schon auf das Roverheck gelegt, um mich abstützen zu können. Doch ich brauchte nicht zu schießen, denn Jane war tatsächlich stärker, als ich angenommen hatte. Es mußten ihre latenten Hexenkräfte gewesen sein, die sie wieder aktiviert hatte und die auch stärker geworden waren, denn sie griff Harry nicht an, sie redete statt dessen auf ihn ein. Allerdings mit Worten, die ich nicht verstand, denn sie stammten aus einer geheimen Sprache, einer Hexensprache.
Jane beschwor Harry! Einen derartigen Stimmenklang hatte ich bei Jane noch nie gehört. Sie schien sich innerlich verändert zu haben und zu einem Monstrum geworden zu sein, das es kaum schaffte, sich deutlich zu artikulieren, und das die Worte in Fetzen hervorstieß. Doch wie dem auch war, ich mußte ihr volle Abbitte leisten, denn Jane Collins hatte damit Erfolg. Kaum waren die ersten Worte gesprochen, als Harry einen klappernden Schritt zurückging. Wieder sah es so aus, als hingen seine Gelenke an hauchdünnen Fäden. Er knickte ein, erholte sich aber wieder, doch Jane sprach weiter, hob den rechten Arm an und streckte ihren Finger vor, dessen Spitze auf das Monstrum wies. Harry röhrte fürchterlich! Sein Maul klaffte dabei weit auf. Er konnte die Waffe nicht mehr halten, weil ein Zucken durch seinen rechten Knochenarm lief, und sie rutschte ihm aus der Hand. Es schepperte, als sie auf den Kies fiel. Harry ging weiter. Ich erlebte das Ende einer fürchterlichen Gestalt, die allein durch Worte vernichtet wurde. Wieder zeigte es sich, daß Worte oft die besseren Waffen waren. Harry brach zusammen. Er fiel auf die Knie, rutschte noch mit den Knochen über den Kies, breitete die skelettierten Beine aber nicht aus, sondern verbeugte den Oberkörper nach vorn, als wollte er sich vor Jane Collins verneigen. Kein Knochen brach, kein Knochen spaltete sich, Harry war gelenkig wie ein Artist, denn schon bald berührte seine braune, blanke Schädelplatte den Kies. Und Jane sprach weiter. Sie ging dabei näher an ihn heran. Ihre Stimme war sehr laut geworden. Sie wollte jetzt alles oder nichts, unternahm aber nichts, als sich Harry noch weiter krümmte, so daß sein Skelett die Form einer Kugel annahm. Jeder Knochen bei ihm schien weich wie Gummi geworden zu sein. Er war dehnbar, er konnte sich formen, und er begann sich schwarz zu verfärben. Über jeden Teil seines rund gewordenen Körpers legte sich ein schwarzer Schatten wie ein Tuch, das sich von Sekunde zu Sekunde verdichtete. Harry war nicht mehr Harry. Er war auch kein Skelett mehr, er hatte sich in einen schwarzen, stinkenden Klumpen verwandelt, der von einer teerartigen Masse überzogen war, aus deren Poren ein widerlicher Qualm hervordrang. Jane redete nicht mehr.
Ich hatte mich hinter meiner Deckung erhoben. Mit Johnny zusammen ging ich näher und bückte mich nach der goldenen Pistole. Dann blieben wir links und rechts neben Jane stehen. Die goldene Pistole hatte ich eingesteckt. Ich hielt das Kreuz und die Beretta in den Händen. Jane sah es und schüttelte den Kopf. »Das brauchst du nicht mehr, John.« »Ich weiß, aber sicher ist sicher.« Vor uns bewegte sich der Klumpen. Wir hörten schreckliche Laute, wir sahen plötzlich Krallen und Hände aus ihm hervorzucken, Mäuler ebenfalls, und ich wurde wieder an das Bild erinnert, als Harry aus dem Fenster gesprungen war und sich verwandelt hatte. Er fraß sich auf. Hatte er das auch während des Falls getan und war dann wieder von neuem entstanden? Jane Collins konnte sagen, was sie wollte. Ich mußte einfach auf Nummer Sicher gehen. Noch näher ging ich an ihn heran. Augen, Gesichter, Krallen rissen die Sehnen und Knochen auseinander, schlürften und schmatzten sorgten dafür, daß der Klumpen immer kleiner wurde. Er wollte sich uns entziehen und irgendwann in einem anderen Körper zurückkehren. Nein, diesmal nicht. Ich mußte mich überwinden, um das Kreuz in die stinkende und zuckende Masse zu stemmen, und drückte die Faust in ein breites Maul, durch dessen Zahnreihen Knochen und Sehnen gezerrt wurden. Es klappte. Der dumpfe, unheimliche Schrei. Das Zischen, der Dampf, dazwischen der helle Abdruck des Kreuzes, dann nichts mehr. Harry war weg! Und nicht einmal ein Rest war von ihm zurückgeblieben. Wir hatten den Fluch ausgelöscht. Vom Knirschen des Kieses begleitet, kamen Jane und Johnny näher. Der Junge weinte lautlos, sein Gesicht war gerötet, die Augen verquollen. Auch Jane schaute mich sehr ernst an. Sie schien Bescheid zu wissen. »Was ist denn geschehen?« fragte ich. Janes Stimme kratzte bei der Antwort. »Harry war im Haus, John. Verstehst du?« »Noch nicht.« »Aber Sheila und Suko auch.« Jetzt begriff ich – und wurde aschfahl… ***
Wir rannten los und hofften darauf, daß das Allerschlimmste nicht eingetreten war. Wir hatten Glück. Kaum lag die letzte Kehre hinter und die Breitseite des Hauses vor uns, da sahen wir in der offenen Haustür eine Bewegung. Jemand stand dort schwankend und stützte sich mit einer Hand an der Türecke ab. Es war Suko, aber von Sheila sahen wir nichts. Johnny war nicht zu halten. Wie ein Irrwisch rannte er ins Haus. Seine Stimme hallte nach draußen, als er nach seiner Mutter rief, aber keine Antwort bekam. Es war nicht so schlimm, wie wir befürchteten. Wir fanden Sheila bewußtlos am Fuß der Kellertreppe. Gebrochen hatte sie sich nichts, nur eine große Beule am Kopf und einige Prellungen. Ansonsten konnte sie von Glück reden, daß sie noch lebte. Und Glück hatten wir diesmal alle gehabt. Was nicht bei jedem Fall so war. Aber irgendwann muß man ja auch mal gewinnen, dachte ich und gönnte mir einen gewaltigen Schluck Bier aus der Dose. Denn Bier ist immer noch der beste Durstlöscher…
ENDE