Thomas Jeier
Hinter den Sternen wartet die Freiheit
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Thomas Jeier
Hinter den Sternen wartet die Freiheit
UEBERREUTER
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Jeier, Thomas: Hinter den Sternen wartet die Freiheit / Thomas Jeier. Wien: Ueberreuter, 2002 ISBN 3-8000-2966-9
Für Ingeborg Castell – die immer an mich geglaubt hat Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten. Umschlaggestaltung von Zembsch’ Werkstatt, München, unter Verwendung einer Illustration von Marek Zawadzki Karte Vor- und Nachsatz: Gestaltung und Reinzeichnung von AG Media GmbH, www.agmedia.at Copyright © 2002 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien Druck: Ueberreuter Print Ueberreuter im Internet: www.ueberreuter.at
Afrika, 1829: Skrupellose Sklavenjäger bringen die junge Bensua und den Krieger Ottobah nach Amerika. Dort angekommen müssen sie auf Baumwollplantagen arbeiten, den Grausamkeiten der Aufseher ausgeliefert. Da hört Bensua von Menschen, die Sklaven zur Flucht verhelfen. Bensua fasst neuen Mut und folgt den Sternen in eine ungewisse Zukunft. Durch ihr ungebrochenes Vertrauen in die Zukunft meistert die junge Frau in den düsteren Zeiten des Sklavenhandels ihr Schicksal. Ein dramatischer Roman und zugleich ein Aufruf gegen jede Art von Unterdrückung.
Es ist besser, tot zu sein, als zu leben und nicht respektiert zu werden. Sprichwort der Asante
Wir halten diese Wahrheiten für grundlegend, dass alle Menschen gleich geboren sind… Aus der amerikanischen Verfassung
AFRIKA
O meine Mutter! Meine Mutter, meine Schwestern, meine Brüder! Werde ich euch niemals wieder sehen? Mary Prince, ehemalige Sklavin
1
Am siebten Tag des September erlosch die Sonne. Sie wurde von den dunklen Wolken verdrängt, die den Beginn der Regenzeit ankündigten, und ertrank in einem goldenen Meer hinter dem Urwald. Der Himmel verfinsterte sich und faustgroße Hagelkörner fielen aus dem grauen Dunst herab. Sie trommelten auf die Palmdächer der Lehmhütten und gegen die massiven Wände des Königspalastes, der sich wie eine mächtige Festung im Zentrum von Kumase erhob. Die hundert Meter breite Hauptstraße verwandelte sich in einen morastigen Sumpf. Die Menschen verkrochen sich in ihren Hütten und beteten zu den Göttern, und Osei Yaw, der greise König der Asante, ließ die Türen seines Palastes verriegeln und rief nach seinen beiden Lieblingsfrauen. Das Gebrüll eines einsamen Leoparden, der sich in die Nähe der Hauptstadt verirrt hatte, wurde vom dunklen Prasseln der Hagelkörner verschluckt. Es war wie jedes Jahr im September und doch empfand Bensua große Furcht. Sie war die jüngste Tochter eines erfolgreichen Jägers, der im Sommer einen gefürchteten Löwen getötet hatte und dafür vom König mit einer goldenen Kette ausgezeichnet worden war. Eine Schönheit, von schlankem Wuchs, die selbst die bewundernden Blicke erwachsener Krieger auf sich zog. Ihre Stirn war hoch, der Mund schmal, beides Schönheitsideale bei den Asante, und ihre Haut leuchtete in einem tiefen Schwarz, wie man es auch bei ihrem Volk nur selten sah. Ihre braunen Augen waren groß und ausdrucksvoll und ein Spiegel ihrer Seele, die von einer geheimnisvollen Kraft gespeist wurde.
Im Schein der Kerzen, die auf dem Tisch im Wohnraum brannten, wirkte Bensua noch stattlicher und schöner. Ihre Gestalt war von einer Anmut, wie sie nur den beiden Lieblingsfrauen des Königs nachgesagt wurde, und selbst ohne goldene Halsketten und Armreifen erweckte sie den Eindruck einer edlen Prinzessin, auch wenn sie nicht aus einer vornehmen Familie stammte und bei ihren Eltern in einem einfachen Lehmhaus wohnte. Der Kerzenschein zauberte flackernde Schatten auf ihre weiche Haut. Weder ihre Großmutter, die am Tisch saß und an einem neuen Baumwollkleid nähte, noch ihre Brüder und Schwestern spürten, wie angespannt sie war. Nur ihre Mutter bemerkte, wie sich ihre Schultern verkrampften und ein leichtes Beben durch ihren Körper lief. Sie brauchte nicht zu fragen um zu wissen, was ihre Tochter bewegte. Sie fühlte die Unruhe selbst, die leise Warnung, die im Prasseln des Regens zu hören war, und den Hilferuf, der mit dem Wind aus der Hitze des Urwalds zu kommen schien. Die feuchte Luft zog wie eine Drohung zum Fenster herein und schien Bensua ersticken zu wollen. Selbst als die Hagelkörner ausblieben und nur noch heftiger Regen auf das Land prasselte, blieb dieses erdrückende Gefühl. Sie schob es auf die Angst um ihren Vater und ihren Onkel, die mit den anderen Kriegern in den Kampf gezogen waren, und ahnte doch, dass die bösen Geister nach ihrer Seele griffen. »Ich sehe nach den Ziegen«, sagte sie zu ihrer Mutter und verließ das schützende Lehmhaus. Sie blieb unter dem hervorstehenden Palmdach stehen und atmete die schwüle Luft, die aus dem Urwald herüberwehte. Während der zweimonatigen Regenzeit litten selbst die Asante unter der Hitze, die in den endlosen Regenwäldern der Goldküste das Land peinigte. Die Menschen hatten sich mit der mächtigen Natur arrangiert, zogen sich ähnlich wie die Tiere in ihre Behausungen zurück und lauschten den
Geschichten, die Männer wie ihr Großvater erzählten. Sie berichteten vom mächtigen Volk der Asante, das in den Wäldern des westlichen Afrika lebte und seinen Herrschaftsbereich bis zur Küste ausgedehnt hatte. Osei Yaw war vom Schöpfer selbst zum ersten Asantehene erklärt worden. So nannten die Asante ihren König. Er hatte die mächtigen Denkyira besiegt und die ersten Pfade zur Küste geschlagen. Dort gingen die Engländer, Schweden, Dänen und Holländer mit ihren Segelschiffen vor Anker und brachten wertvolle Handelswaren aus dem fernen Europa: Musketen, Werkzeuge, Kleidung und Haushaltswaren, aber auch Kupfer und Messing und Salz, das bei den afrikanischen Völkern besonders begehrt war. Die Asante bezahlten mit Gold, schöpften aus den unermesslichen Vorräten, die in ihren Minen verborgen lagen und von Sklaven gefördert wurden. Die weißen Männer hatten vergeblich versucht ins Landesinnere vorzudringen, waren an der übermächtigen Natur und der riesigen Streitmacht der Asante gescheitert und hatten sich darauf beschränkt, steinerne Forts an der Küste zu errichten. Sie waren auf das Gold der Asante aus, kauften und stahlen aber auch Sklaven, obwohl die Engländer und Dänen den Sklavenhandel zu Beginn des 19. Jahrhunderts als »unmenschlich« verurteilt und verboten hatten. Bensua hatte die weißen Männer nie gemocht. Sie ekelte sich vor ihrer blassen Hautfarbe und verurteilte das arrogante Gehabe ihrer Anführer. Sie hielten sich für etwas Besseres. Die englischen Offiziere, die vor einigen Wochen in Kumase gewesen waren, hatten Geschenke gebracht und den König mit schönen Worten umworben, aber in ihren Augen hatte blanke Gier gestanden. Sie dürsteten danach, die Asante zu töten und in den prächtigen Palast zu ziehen, der sich innerhalb der Hauptstadt erhob.
Vor einigen Jahr hatten die Baumeister den letzten Stein gelegt. Wie das größte Fort der weißen Männer überragte er alle anderen Häuser, ein traumhaftes Schloss aus fest gefügten Felsbrocken, das von den besten Kriegern und einer eigenen Polizeitruppe bewacht wurde. Die Fenster und Türen waren mit goldenen Beschlägen verziert und blitzten in der Sonne. Hinter seinen Mauern lagen weitläufige Gemächer, die sich mit den üppig ausgestatteten Räumen europäischer und arabischer Herrscher messen konnten. Es gab eine Bibliothek, die von einem arabischen Gelehrten betreut wurde, einen Ballsaal, der für das königliche Orchester reserviert war, und einen Weinkeller mit erlesenen Weinen und edlem Champagner, auf den selbst der französische König neidisch gewesen wäre, wenn er ihn jemals zu Gesicht bekommen hätte. In den mehrfach gesicherten Kellergewölben lagerten die unermesslichen Goldvorräte der Asante. Es gab so viel Gold, dass der König seinen Körper zu offiziellen Anlässen mit feinem Goldstaub puderte. Ein Zeichen seines Reichtums, der auch die englischen Offiziere beeindruckt hatte. Bensua ahnte, dass die Überlegenheit der Asante nicht ewig dauern werde. Bisher genügte es den weißen Männern, ihre Handelswaren gegen Goldbarren und schwarze Sklaven zu tauschen, und solange es genug Gold gab und die Asante die Gefangenen unterjochter Stämme verkaufen konnten, waren beide Seiten zufrieden. Doch was geschieht, wenn das Gold knapp wird? Wenn es keine Gefangenen mehr gibt? Verbünden sich die Engländer dann mit den anderen Europäern? Rücken sie mit ihren mächtigen Kanonen in den Urwald vor? Rauben und versklaven sie dann die Männer, Frauen und Kinder der Asante? Die junge Frau spürte, dass ihre Bedrücktheit etwas mit diesen Gedanken zu tun hatte, und trat in den Regen hinaus. Vielleicht wusch das Wasser, das aus dem Himmel kam, ihre
Sorgen hinweg. Sie grübelte länger als ihre Brüder und Schwestern, das hatte ihr Onkel schon erkannt, als sie noch ein Kind gewesen war. Sie dachte länger über Probleme nach als andere Kinder, hielt sich von lauten Spielen fern und mochte am liebsten, wenn ihr Onkel die Geschichten ihres Volkes erzählte. Als Bruder ihrer Mutter war er mit für die Erziehung verantwortlich. Die Familie der Asante orientiert sich nach der Mutter, der leibliche Vater hat weniger zu sagen als alle männlichen Verwandten der Mutter. Bensua trug keine Kopfbedeckung. Der Regen prasselte auf ihre kurzen Haare, durchdrang ihr dünnes Baumwollkleid und hinterließ helle Striemen auf ihrer Haut. Sie war allein. Nicht einmal die Ziegen und Hühner waren draußen. Die breite Straße schien durch eine verlassene Stadt zu fuhren und in dem milchigen Dunst zu enden, den der Regen über die Häuser legte. Sie genoss den Regen, obwohl er schmerzte, rieb mit beiden Händen über ihr Gesicht und blickte Hilfe suchend in den verhangenen Himmel. Wo waren die Antworten auf die vielen Fragen, die sie bedrückten? Ohne es zu wollen verließ Bensua das Stadtviertel, in dem ihre Angehörigen wohnten. Ziellos irrte sie durch den Regen, über die breite Hauptstraße und die engen Gassen des Stadtteils, in dem die ärmeren Asante lebten. Auch hier war keine Spur von Leben. Nur der Rauch, der aus den Schornsteinen drang, und der herbe Geruch von gekochtem Wurzelgemüse erinnerten daran, dass Menschen in den armseligen Hütten lebten. Bensua gehörte der Mittelschicht an. Ihre Familie wohnte in einem der Stadtviertel, die zwischen der vornehmen Gegend um den Königspalast und den Armenvierteln lagen. Auch in Kumase gab es deutliche Grenzen zwischen Arm und Reich, vielleicht noch stärkere als in den fernen Städten der weißen Europäer.
Als der Regen etwas nachließ, bereute Bensua, diesen Weg eingeschlagen zu haben. Jetzt waren die notdürftigen Hütten klarer zu erkennen und sie sah auch den Schmutz, der in den besseren Vierteln undenkbar gewesen wäre. Kumase war eine saubere Stadt. Die breiten Hauptstraßen wurden täglich gereinigt, auch an einem Tag wie diesem, wenn der Regen sie in eine Schlammwüste verwandelt hatte, und der Abfall wurde außerhalb der Stadt verbrannt. Auch das hatte die englischen Offiziere, die den König besucht hatten, stark verwundert. Sie hatten wohl erwartet ein schmutziges Eingeborenendorf vorzufinden. Bensua beschleunigte ihre Schritte. Sie sank bis zu den Knöcheln in den tiefen Schlamm und brauchte viel Kraft, um vorwärts zu kommen. Das Kleid klebte an ihrem Körper. Sie spürte die verwunderten Blicke einiger Männer, die unter einem Palmdach standen und rauchten, und erinnerte sich daran, dass einige der jungen Frauen in diesem Viertel ihren Körper verkauften. Mit ihnen wollte sie auf keinen Fall verwechselt werden. Sie überquerte eine Kreuzung und erreichte die breite Straße, die zum Stadtrand und weiter nach Norden führte. Aber sie wandte sich in die andere Richtung. Es war keinem Bewohner von Kumase gestattet, die Stadt ohne Erlaubnis zu verlassen, und sie wollte nicht Gefahr laufen, von der Polizei aufgehalten zu werden. Als sie an einer Kreuzung stehen blieb um sich zu orientieren, entdeckte sie eine weißhaarige Frau, die geduckt durch den Regen schlich. Die Alte stapfte an den Lehmhäusern entlang, sorgsam darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden, und blieb alle paar Meter stehen und blickte sich um. Bensua versteckte sich nicht. Verwundert beobachtete sie, wie die Frau bei ihrem Anblick zusammenzuckte und in einer Seitengasse verschwand.
Bensua spürte, wie sich ihre Neugier regte. Sie folgte der Alten in die enge Gasse, sah gerade noch, wie sie um eine Hausecke bog. Es war einfach, ihrer frischen Spur nachzugehen. Ihre schmächtige Gestalt hob sich wie ein Schatten gegen den Regen ab und verschwand im Hof eines reichen Farmers. Bensua versteckte sich hinter einem Holzstapel und beobachtete verwundert, wie die Alte eine Ziege stahl und sie in die Gasse zog. An einem einfachen Strick zerrte sie das störrische Tier zurück auf die Hauptstraße. Niemand beachtete sie – außer Bensua, deren Neugier jetzt erst recht geweckt war. Sie folgte der weißhaarigen Frau bis zu der einfachen Hütte, in der sie wohnte, und schlich am Zaun entlang, bis ihr ein paar verschobene Latten auffielen. Dort kniete sie sich auf den Boden und spähte durch den Spalt. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Die Alte hatte die Ziege an einen Holzpflock gebunden und stand mit erhobenem Messer vor dem zitternden Tier. Ihr Gesicht war dem Himmel zugewandt und zuckte unter dem heftigen Regen. Sie schien ein Gebet zu sprechen, von dem Bensua nur wenig verstand, und murmelte eine Beschwörungsformel, wie sie nur Hexen anwandten. Die Worte erinnerten Bensua an eine junge Sklavin der Fante, die während der Odwira im letzten Jahr geopfert worden war und noch in ihrem Todeskampf die bösen Geister angerufen hatte. Das prunkvolle Fest, das zur Ernte der Jamswurzeln im späten August gefeiert wurde und die Begeisterung der Asante für ihren Staat stärken sollte, war eine willkommene Gelegenheit gewesen, die feindliche Hexe in ihre Schranken zu weisen und den Asante zu zeigen, dass ihre Götter stärker als die verderblichen Kräfte der Hexe waren. Aber auch bei ihrem Volk gab es Hexen. Sie wirkten hinter verschlossenen Türen. Der Zufall schien sie auf die Spur einer solchen Frau gebracht zu haben.
Bensua beobachtete, wie die weißhaarige Frau die Geister beschwor. Ihre knochigen Hände mit dem Messer ragten in den Regen und krümmten sich, als die letzten Worte der Beschwörung im Regen verklungen waren. Bensua unterdrückte mühsam einen Schrei, als die Alte der Ziege mit einem schnellen Schnitt die Halsschlagader durchtrennte und ihre Hände in das spritzende Blut hielt. Das Tier sank röchelnd zu Boden und verendete. Der Blutstrom wurde schwächer und endete in einem Rinnsal. Die Hexe verschmierte das Blut auf ihrem Gesicht und wiederholte einige der Beschwörungsformeln. Erschöpft ging sie in die Knie. Sie verharrte stumm und verschmolz mit ihren Gedanken. Bensua stahl sich leise davon. Sie wollte nichts mit der weißhaarigen Frau zu tun haben. Hexen wurden getötet. Sie brachten Unglück über das Volk und trieben es den bösen Geistern in die Arme. Wo sie waren, breiteten sich tödliche Krankheiten aus. Die Priester der Asante ließen Hexen töten, wenn sie das Haus eines Kranken betraten, und manchmal opferten sie auch junge Frauen, die sich in der Nähe einer Hexe aufgehalten hatten. Ängstlich kroch Bensua an dem Zaun entlang. Als sie die Gasse erreicht hatte, wurde sie von erstaunlich kräftigen Armen gepackt und in den Hof gezogen. Sie spürte ein Messer an ihrer Kehle. Der Regen wusch das frische Blut von der Klinge und trieb es über die Haut der jungen Frau. »Wer bist du?«, hörte sie die heisere Stimme der Alten. »Ich habe dich nie hier gesehen.« »Bensua«, nannte sie rasch ihren Namen, »die Tochter des tapferen Jägers, der im letzten Sommer einen Löwen getötet hat!« Die Antwort schien keinen Eindruck auf die Hexe zu machen. »Warum folgst du mir?«
Bensua war den Tränen nahe. »Ich weiß nicht. Ich wollte wissen, warum du die Ziege gestohlen hast. Ich habe es gesehen. Aber ich werde dich nicht verraten! Es ist mir egal, was du tust!« »Wenn du zur Polizei gehst, werde ich dich töten! Selbst wenn ich in Ketten liege, besitze ich die Kraft, dein Leben zu beenden!« »Ich sage nichts!«, beschwor Bensua die Hexe. Die Frau lockerte ihren Griff und nahm das Messer von ihrer Kehle. Bensua stolperte einige Schritte zurück. Sie griff sich an den Hals und atmete erleichtert auf, als sie keine Wunde spürte. Das wenige Blut, das an ihr klebte, stammte von der Ziege. Ungläubig starrte sie die Hexe an. Ihr faltiges Gesicht war mit Blut verschmiert und erinnerte Bensua an ein Ungeheuer, das in einer unheimlichen Geschichte ihres Großvaters vorgekommen war. Auch auf dem schäbigen Kleid der Hexe war Blut. Und doch wirkte sie verletzlich und gar nicht wie eine Frau, die mit den bösen Geistern spricht und Macht über andere Menschen hat. »Warum hast du das getan?«, fragte Bensua leise. Sie hatte keine Angst mehr, wollte nur wissen, warum es geschehen war. »Unserem Volk droht großes Unheil«, antwortete die Alte. »Es reicht nicht mehr, die Geister unserer Vorfahren anzurufen und zu Onyankopon Kwame zu beten. Sie sind hilflos, wenn es um die weißen Männer geht.« Sie ging einen Schritt auf Bensua zu und blickte sie beschwörend an. »Du darfst ihnen nicht glauben, mein Kind! Versprichst du mir das? Die Europäer lügen! Sie wollen unser Gold! Sie wollen unsere Menschen! Sie wollen starke Frauen wie dich, die sie an die reichen Farmer in den fernen Ländern verkaufen können! Ich habe von diesen Ländern gehört! Ich weiß, wie sehr unsere Brüder und Schwestern, die auf die großen Schiffe gestiegen
sind, in der Ferne leiden! Hüte dich vor den weißen Männern, mein Kind! Hüte dich vor ihnen!« Bensua wich einen Schritt zurück und hielt sich mit beiden Händen an dem Zaun fest. Die Worte der alten Frau wühlten sie mehr auf, als sie zugeben wollte. Auch ihre Unruhe ging auf die Furcht vor den weißen Männern zurück. Und sie spürte tief in ihrem Herzen, dass ihr Volk von einem großen Unheil bedroht wurde. War sie eine Hexe? Würde man sie während der nächsten Odwira töten und ihr Blut in die Löcher schütten, die nach der Ernte der Jamswurzeln in der Erde geblieben waren? »Du lügst!«, rief sie. Ihre Worte sollten die bösen Gedanken vertreiben. »Du bist eine Hexe! Du bist mit den bösen Geistern im Bunde! Unsere Krieger sind stark genug um es mit jedem Gegner aufzunehmen! Sie werden es nicht zulassen, dass unsere Männer und Frauen von den Sklavenhändlern verschleppt werden!« »Du wirst es sehen«, antwortete die Hexe betrübt. »Meine Kräfte reichen nicht mehr aus, das Unheil zu verhindern.« Sie wandte ihr Gesicht der toten Ziege zu. »Unser Volk wird im Blut liegen!« Bensua schüttelte den Kopf und ging rückwärts aus dem Hof. Die Alte hielt sie nicht zurück. »Das ist nicht wahr«, flüsterte das Mädchen entsetzt. »Du lügst! Du lügst!« Sie begann zu weinen und lief davon, zuerst langsam, dann immer schneller. Als sie zu Hause ankam, hatte der Regen die Tränen von ihrem Gesicht gewaschen.
2
Während der folgenden Tage blieb Bensua zu Hause. Sie versteckte sich im Halbdunkel der Hütte, erledigte Handarbeiten und setzte sich nur zu den Mahlzeiten an den Tisch. Ihre Großmutter nahm an, dass sie sich um Vater und Onkel sorgte, die mit den Kriegern gegen einen aufständischen Häuptling der Fante gezogen waren. Vor ihrem Aufbruch hatten sie geschworen, bis zum Beginn der Regenzeit zurück zu sein. Sie gehörten zu den tapfersten Männern des Landes, doch der Urwald war voller Gefahren. Die Geister konnten sie in eine Falle der Fante oder Engländer getrieben haben. Einige Häuptlinge des Küstenvolkes lehnten sich noch immer gegen die Asante auf und von den Engländern wusste man, dass sie jede Gelegenheit nützten, die Asante zu schwächen. Bald würde es zu einem großen Krieg kommen, das behauptete ihr Onkel seit vielen Monaten. Ihre Verwandten ahnten nichts von der weißhaarigen Hexe. Und Bensua hielt ihr Versprechen und hütete sich, die alte Frau zu verraten. Sie wollte nicht, dass die Hexe bestraft wurde. Stattdessen betete sie vor dem Einschlafen zu ihren Ahnen, die in einer anderen und besseren Welt lebten und täglich in das Angesicht des Schöpfers blickten. Sie sollten Onyankopon Kwame bitten, seine schützende Hand über ihr Volk zu halten. Die Weissagung der Hexe durfte nicht in Erfüllung gehen. Wenn die weißen Männer kämen und sie als Sklaven verkauften, wären sie dem Untergang geweiht und sie würde als eine der Ersten an Bord eines Schiffes gehen. Die Sklavenhändler bevorzugten kräftige Frauen, mit denen sie sich unterwegs vergnügen konnten.
Bensua hatte nichts gegen die Sklaverei. Alle Völker der Goldküste versklavten ihre Gefangenen und ließen sie die schweren Arbeiten verrichten. Und wenn der Schöpfer ein Menschenopfer verlangte, wurde immer einem Sklaven der Kopf abgeschlagen. Aber die meisten Gefangenen wurden aufgenommen und durften beinahe gleichberechtigt neben den Asante leben. Die Weißen meinten etwas anderes mit Sklaverei. Sie verschifften Gefangene über das große Wasser, zu grausamen Herrschern in fremde Länder, und demütigten und quälten sie während der langen Überfahrt. Einige Krieger behaupteten sogar, die Europäer würden einige Gefangene schlachten und aufessen. Ein schreckliche Gedanke, der sie selbst in der Hitze frösteln ließ. Bisher waren die Asante sicher vor den weißen Eindringlingen gewesen. Nur einige Krieger, die in die Gefangenschaft der Fante geraten und an einen Kaufmann verkauft worden waren, hatten die qualvolle Reise in eine ungewisse Zukunft angetreten. Ihr Volk war zu mächtig. Wenn ein Europäer mit wertvollen Handelsgütern gekommen war um Sklaven zu kaufen, hatte der König einen Kriegertrupp zu verfeindeten Völkern geschickt, um dort Gefangene zu machen. Der Mann, der behauptet hatte, der König der Asante würde auch Angehörige seines eigenen Volkes als Sklaven verkaufen, war auf dem Marktplatz hingerichtet worden. »Du bist still, mein Kind«, sagte ihre Mutter, während sie das Abendessen zubereitete. Es gab einen schmackhaften Eintopf aus Ziegenfleisch, den sie mit arabischen Gewürzen verfeinerte. »Ich weiß«, antwortete Bensua. »Du sorgst dich um die Krieger, nicht wahr? Um deinen Vater und deinen Onkel.« Es klang mehr wie eine Feststellung. »Auch wir haben Angst um sie.« Ihr Blick ging zu den anderen Verwandten, die auf ihren Nachtlagern saßen und auf das
Abendessen warteten. Während der Regenzeit gab es wenig zu tun. »Sie werden die Fante besiegen«, erwiderte Bensua. Sie verriet ihrer Mutter nicht, welche Gedanken sie wirklich beschäftigten. »Sie haben sie immer besiegt. Die Fante sind schwach und feige! Sie werden Gefangene bringen und sie den Göttern opfern!« »So wird es sein«, sagte ihre Mutter. Die Fante gehörten zu den Erzfeinden der Asante. Sie lebten an der Küste, hatten vor allen anderen Völkern mit den Europäern gehandelt und waren zuerst in den Besitz von Feuerwaffen gekommen. Erst vor knapp dreißig Jahren, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, hatten die Asante gesiegt. Ihre Streitmacht war zu groß für das kleine Küstenvolk, und der unbedingte Wille einen Zugang zur Küste zu haben um am lukrativen Handel mit den Europäern teilzuhaben, hatte den Asante zusätzliche Kräfte verliehen. Nur noch wenige Häuptlinge lehnten sich gegen den König der Asante auf. Auch sie würden früher oder später ihre Waffen niederlegen. »Sie kommen wieder«, sagte die Großmutter während des Essens. »Der Schöpfer will nicht, dass ich beide Söhne verliere.« Ihr anderer Sohn war vor einigen Jahren im Kampf gegen die Fante gefallen, ein Unglück, von dem sie sich niemals erholt hatte. Sie schwieg meistens und hatte seitdem nicht mehr gelacht, nicht einmal während der ausgelassenen Feste zur Trockenzeit. Sie war zu einer verbitterten Frau geworden, die nur noch in ihren Träumen lebte. »Sie spricht mit den Geistern«, behauptete der Großvater. Doch diesmal schien sie sich geirrt zu haben. Zwei Monate später waren die Krieger noch immer nicht aufgetaucht und kaum jemand glaubte noch an ihre Rückkehr. Die heiligen Männer beteten und sangen den ganzen Tag und nachts dröhnte die Trommel eines Greises, der im Palast wohnte und
das Vorrecht genoss, für den König zu beten. Der Schöpfer gab keine Antwort. Auch als Osei Yaw einen Sklaven enthaupten ließ und das Blut des Toten vor dem Palast verteilte, geschah nichts. Bensua hätte gern gewusst, ob das Ausbleiben der Krieger etwas mit der Warnung der weißhaarigen Hexe zu tun hatte, wagte aber nicht zu der alten Frau zurückzukehren. Sie rief die Ahnen ihres Vaters und ihres Onkels an und bat sie, die Männer aufzuspüren und sicher nach Kumase zurückzugeleiten. Sie sang ein heiliges Lied, das sie von ihrem Onkel gelernt hatte, und trat jeden Morgen auf die Straße um nach den Kriegern Ausschau zu halten. Wenige Tage nach der Regenzeit wurden die Gebete der Asante erhört. Bensua gehörte zu den Frauen und Kindern, die an diesem schwülen Morgen auf der Straße standen und in den wabernden Dunst spähten, der von dem tiefen Morast aufstieg. Sie sah die dunklen Schatten in den Dunstwolken, blickte genauer hin und erkannte die Umrisse einiger Krieger. Stolze Männer, den Blick nach vorn gerichtet, die Speere in den Händen. »Die Krieger kommen! Die Krieger kommen!«, rief eine Frau und die frohe Kunde wanderte in Windeseile durch die ganze Stadt. Bensua brauchte ihre Verwandten nicht zu holen. Auch sie hatten die freudigen Rufe gehört und kamen auf die Straße geeilt. »Sie kommen wieder«, sagte ihre Großmutter. Ihre Brüder und Schwestern liefen die Hauptstraße hinunter, ihrem Vater und ihrem Onkel entgegen. Bensua ging nur ein paar Schritte. Über ihr Gesicht rannen Tränen, als die Männer mit ihren Waffen und Schilden an ihr vorbeikamen. »Wir haben gesiegt! Wir haben gesiegt!«, stimmte sie in den Jubel ein. Sie winkte ihrem Vater und ihrem Onkel zu, die beide unverletzt waren, und griff sich mit beiden Händen an die Brust. Onyankopon Kwame hatte ihre heiligen Lieder gehört. Die Männer waren nach Hause gekommen.
Tausende von Menschen begleiteten die Krieger zum Palast. Sie ließen die Männer hochleben und bespuckten die Gefangenen, die sie mitgebracht hatten. Armselige Gestalten, die Hände hinter dem Rücken gefesselt und kaum noch fähig, sich auf den Beinen zu halten. Die Fante waren nie zimperlich mit ihren Gefangenen umgegangen, die Asante zahlten es ihnen hundertfach zurück. Einige dieser Sklaven würden den Geistern geopfert werden, die anderen würden auf dem Marktplatz in der Sonne schmoren, bis sich die Asante ihrer erbarmten und sie als Sklaven annahmen. Sie würden in den Goldminen vor der Stadt arbeiten oder auf den Feldern schuften. Und wenn der König neue Waren von den Weißen kaufte, würde er mit Sklaven bezahlen. Bensua erreichte den Palast mit den Kriegern und drängelte sich ganz nach vorn. Sie wollte dabei sein, wenn der Asantehene die heimgekehrten Männer begrüßte. Der König ließ sich Zeit. Es war noch früh und er schlief immer sehr lange. Das erzählten die Frauen, die für ihn kochten. Er würde ungefähr zwei Stunden brauchen um zu baden, seinen Körper mit Goldstaub einzureiben und seine besten Kleider mit dem kostbaren Goldschmuck anzulegen. Doch die vielen Schaulustigen warteten gern. Sie schwitzten in der feuchten Hitze, die dem Regen gefolgt war, und feierten die Krieger. Die Männer hatten kaum Verluste erlitten, waren auf dem Rückweg von der Regenzeit überrascht worden und hatten am Ufer eines überschwemmten Flusses gelagert, bis er wieder passierbar gewesen war. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, die Bewohner von Kumase zu informieren. Ein wütender Schrei lenkte die Aufmerksamkeit der Menschen auf einen der Gefangenen. Er war ungefähr so alt wie Bensua und in seinen dunklen Augen loderte der Zorn. »Die Fante werden niemals untergehen!«, rief er in seiner Sprache, die von allen Asante verstanden wurde. »Wir sind die
wahren Herren der Goldküste!« Obwohl seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren, griff er die Krieger an, mit gesenktem Kopf und fest entschlossen, sein Leben für das Ansehen seines Volkes zu opfern. Ein Asante schlug ihn mit dem Gewehrkolben bewusstlos. Schadenfrohes Gelächter begleitete den jungen Mann, der taumelte und der Länge nach in den Morast fiel. Der Vorfall war schnell vergessen. Es gab Wichtigeres als einen aufsässigen Gefangenen der Fante. Nur Bensua interessierte sich für den jungen Krieger. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge und blieb vor dem Bewusstlosen stehen. Sie scheuchte einige Kinder davon, die ihn mit Steinen bewarfen, und blickte in das leblose Gesicht des Fante-Kriegers. Es war etwas Besonderes an diesem Gefangenen. Er war so unansehnlich wie alle anderen Fante, die Stirn viel zu niedrig, die Lippen voll, der Körper eher gedrungen, und wirkte in seinem schmutzigen Lendenschurz wie ein Bettler aus dem ärmsten Viertel von Kumase. Aber sie hatte seine Augen gesehen, bevor er bewusstlos geworden war. Den ungebrochenen Stolz und den Mut, der eines tapferen AsanteKriegers würdig war. Der junge Fante hatte sein Leben riskiert und wäre lieber gestorben als gefesselt vor seinen Feinden zu knien. Selbst wenn der König ihn köpfen ließe, würde er als wagemutiger Krieger vor seinen Schöpfer treten. »Du bist ein mutiger Mann«, sagte Bensua leise. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht merkte, wie einer der älteren Krieger an ihre Seite trat. »Hast du dein Herz an diesen räudigen Hund verloren?«, fragte er spöttisch. »Er ist ein Fante, vergiss das nicht! Er wird uns als Sklave dienen oder einen langsamen und qualvollen Martertod sterben! Verschwende dein Mitleid nicht an diesen Bastard!« Bensua riss sich vom Anblick des bewusstlosen Mannes los und versuchte gleichgültig dreinzublicken. »Er war sehr
mutig«, sagte sie. »Ich dachte, die Fante sind feige und verstecken sich.« »Er war aufsässig und dumm«, widersprach der Asante, »sonst hätte er sich in sein Schicksal gefügt. Nur ein Narr widersetzt sich den mächtigen Asante!« Er spuckte auf den regungslosen Gefangenen. »Wenn er wirklich tapfer ist, verflucht er meinen Namen, wenn ich ihm mein Messer durch die Wangen ramme!« Bensua wollte keinen Streit mit dem Krieger und ging zu den Frauen und Kindern zurück. Das spöttische Lachen des Kriegers verfolgte sie. Einige Asante, die gesehen hatten, wie mitleidig sie den Fante angeschaut hatte, fielen in das Lachen ein oder blickten sie verständnislos an. Sie zeigten kein Mitleid für die Gefangenen. Während des Krieges hatten die Fante ein Dorf mit Frauen und Kindern niedergebrannt und es gab keinen Grund, sie zu verschonen. Ihnen blieb nur die Unterwerfung oder ein grausamer Tod. Sie verdienten ihn, sie waren die Hauptfeinde der Asante. Nur den stärksten Gefangenen war es vergönnt, den Asante als Sklaven zu dienen und in den Goldminen zu arbeiten. Die Musiker des königlichen Palastes traten aus dem Tor. Stattliche Männer in farbenprächtigen Uniformen und blanken Schuhen. Elfenbeinhörner und die goldenen Blasinstrumente, die sie von den Holländern bekommen hatten, glänzten in der Sonne. Dumpfer Trommelrhythmus begleitete ihr Schritte. Sie traten auf den freien Platz vor dem Palast und stellten sich in Reih und Glied auf, wie die Soldaten, die vor einigen Wochen mit den englischen Besuchern gekommen waren. Der Kapellmeister hob den Taktstock und die Flötenspieler begannen mit dem Vorspiel zu einer feierlichen Hymne, die man ebenfalls von den Holländern übernommen hatte. Zum Rhythmus der Trommeln drang der schmetternde Klang der
europäischen Hörner über den Platz. Die Mauern des Palastes warfen ihn als Echo zurück. Bensua war ebenso beeindruckt wie die anderen Zuhörer und vergaß den jungen Krieger der Fante. Ihre Augen glänzten beim Anblick des feierlichen Prunks, den das königliche Orchester ausstrahlte. Im Auftreten ihres Königs zeigte sich die überlegene Macht der Asante. Kein anderes Volk der westafrikanischen Goldküste verfügt über ein so großes Reich und so viele Krieger. In keinem anderen Gebiet gibt es so viel Gold. Die Asante sind die Herren des Urwalds und selbst die Europäer verneigten sich vor dem mächtigen Asantehene. Viele Jahre später würde Bensua in einem Buch lesen, wie beeindruckt die englischen Besucher gewesen waren. Vom prunkvollen Auftreten des Königs, dem vielen Gold und Silber, den künstlerischen Darbietungen am Hofe und den erlesenen Speisen, die ihnen von arabischen Bediensteten im Ballsaal des Palastes serviert wurden. Vier kräftige Männer trugen Osei Yaw in einer Sänfte auf den Platz. Ein Sklave hielt den violetten Schirm mit den goldenen Fransen, der sein Gesicht beschattete. Unter den Fanfarenklängen des Orchesters stellten sie die Sänfte auf einem Podest ab, das für die öffentlichen Auftritte des Königs gebaut worden war. Überall funkelte Gold, und als der Akondwa gebracht wurde, ging ein ehrfürchtiges Raunen durch die Zuschauer. Der goldene Stuhl war das Symbol der politischen Macht, stand für die Überlegenheit der Asante und die Einheit ihres Reiches, für die Liebe seiner Menschen und den Sieg über alle Feinde. Okomfo Anokye, der legendäre Priester des Volkes, hatte ihn während eines heftigen Gewitters aus dem Himmel empfangen. Jeder Asante kannte die Geschichte dieses großen Wunders, das sich während der Herrschaft von Osei-Tutu um 1700 ereignet hatte.
»Geliebtes Volk«, begann der König mit seiner Ansprache, »tapfere Krieger der Asante, die ihr wieder einmal einen großen Sieg errungen habt! Wir haben den letzten Aufstand der Fante niedergeschlagen!« Osei Yaw war ein alter Mann. Wenn er seine Sänfte verließ, benutzte er einen mit goldenen Ornamenten verzierten Krückstock. Er trug einen Umhang aus feinster chinesischer Seide und einen Kopfschmuck aus den gefärbten Federn eines großen Vogels. Um seinen Hals hing eine schwere Kette aus reinem Gold und auch auf seiner Brust, seinen Armen und an den Ohren leuchteten goldene Schmuckstücke. In sein Gesicht hatten sich tiefe Falten gegraben. Er war dem Tode nahe und doch wirkten seine Augen erstaunlich wach und lebhaft. Seine Stimme hatte einen entschlossenen Klang. »Der Weg zur Küste ist frei und niemand wird uns daran hindern, unser Reich bis zu den steinernen Forts der Europäer auszudehnen!« Bensua interessierte sich nicht für Politik. Sie hatte keine Ahnung, welche Ränkespiele der König der Asante benutzte, um an der Macht zu bleiben, und mit welchen Tricks er arbeitete, um das Reich der Asante zu vergrößern. Politik war Männersache. Sie bewunderte den König, weil er es verstand, ihrem Volk einen großen Wohlstand zu erhalten, und sie berauschte sich an dem geheimnisvollen Prunk, der seine Herrschaft umgab. Die Menschenopfer und sein unerbittliches Verhalten gegenüber allen Feinden zweifelte sie nicht an. Sie war eine Asante, die niemals an der Küste gewesen war und nie vom christlichen Glauben der weißen Männer gehört hatte. Die Härte war ein Teil ihres Lebens, so unerbittlich wie die Natur im unendlichen Regenwald. Auch an diesem Morgen zeigte Osei Yaw, dass er nicht gewillt war dem Aufbegehren der Fante tatenlos zuzusehen. Nachdem er über eine Stunde geredet, die eigenen Krieger gelobt und seine Feinde verdammt hatte, entschied er, einen
der Fante-Krieger zu opfern. Sein Tod sollte die Geister versöhnen. Er ließ sich von seinen Bediensteten aus der Sänfte helfen, bedeutete dem Sklaven ihm mit dem Schirm zu folgen und verscheuchte zwei Kinder, die seine flachen Schuhe mit Elefantenschwänzen säubern wollten. Sein Blick streifte über die entkräfteten Gefangenen. »Nimm diesen hier!«, rief der Asante, der Bensua verspottet hatte. Er deutete auf den jungen Fante, der gerade aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte. »Er hat seinen Tod am ehesten verdient!« Bensua hielt den Atem an. Aus einem unerklärlichen Grund fühlte sie sich dem jungen Krieger verbunden. Er hatte einen Teil ihrer Seele berührt. Sie unterdrückte den Drang, um das Leben des Gefangenen zu betteln, und blickte rasch zur Seite um nicht in seine Augen sehen zu müssen. Es war gefährlich und manchmal sogar tödlich, sich gegen eine Entscheidung des Königs aufzulehnen. Das Blut des Kriegers, der vorgeschlagen hatte mit den Fante zu verhandeln, war längst in der Erde versickert. Auch Frauen und Mädchen wurden den Geistern geopfert. Als der Gefangene merkte, was die Asante mit ihm vorhatten, sprang er wütend auf. Er trat einem der Leibwächter des Königs gegen das Schienbein und rammte einem anderen den Kopf in die Magengrube. Erst der Knüppelschlag eines Polizisten brachte ihn zur Besinnung. Einer der Schwertmänner wollte ihm den Kopf abschlagen, aber Osei Yaw hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Auf seinem faltigen Gesicht stand ein Grinsen. »Nein, er soll leben!«, entschied der König zum Erstaunen aller Anwesenden. »Er ist mutiger als die Schwächlinge, die dort im Schlamm liegen!« Er deutete verächtlich auf die anderen Gefangenen. »Die weißen Kaufleute werden teuer für ihn bezahlen!«
Sein Blick wanderte zu einem älteren Krieger, der vor Schwäche kaum noch atmen konnte. »Nehmt den da! Er soll sterben!« Bensua atmete erleichtert auf und barg ihr Gesicht in den Händen um ihre Gefühle nicht zu zeigen. Niemand sah die Tränen, die über ihre Wangen liefen, und niemand hörte ihr leises Dankgebet.
3
Der König befahl, die Gefangenen auf dem Marktplatz in der Sonne schmoren zu lassen. Mit den eisernen Ketten, die er von einem holländischen Kaufmann erworben hatte, ließ er die zwanzig Männer an hölzerne Pflöcke fesseln. Abseits des heiligen Kuma-Baumes mit seinen weit verzweigten Ästen waren sie der Hitze hilflos ausgeliefert. Der mächtige Baum markierte das Zentrum der Stadt und erinnerte die Asante daran, zum Himmel zu blicken und Onyankopon Kwame zu ehren. Sein Schatten wurde als kostbares Geschenk des Schöpfers betrachtet. Es war verboten, dort einen Verkaufsstand zu errichten, und nur dem Asantehene war es gestattet, an seinem Stamm längere Zeit zu verweilen. Der riesige Markt in Kumase versetzte sogar die arabischen Händler in anerkennendes Staunen. Er stand den Basaren im Norden des Kontinents in keiner Weise nach und überwältigte die Besucher mit einer Vielzahl von Verkaufsständen und Theaterbühnen. Die Händler saßen im Schatten von Palmendächern und bunten Schirmen, breiteten ihre Ware auf Tischen und bunt gemusterten Decken aus und lockten zahlungskräftige Kunden in runde Lehmhütten dahinter. Dort lagen die teuren Waren: goldene und silberne Schmuckstücke, farbenprächtige Textilien und kupfernen Haushaltswaren, die man bei einer gemeinsamen Tasse Tee oder einem Becher Rum anpries. Es gab Fleisch, Geflügel, Gemüse, arabische Gewürze, eine verwirrende Vielzahl von Früchten, europäische Stoffe, bunte Perlen, Lederwaren, Haarnadeln aus Elfenbein, Werkzeuge und Waffen. Es wurde getauscht oder mit
Goldstaub und Kauri-Muscheln bezahlt, einem weit verbreiteten Zahlungsmittel in West-Afrika. Unter den vielen Schaulustigen, die mit neugierigen Blicken verfolgten, wie die Gefangenen angekettet wurden, befand sich auch Bensua. Sie beobachtete den jungen Krieger, der sich gegen die Asante aufgelehnt hatte, und stellte bewundernd fest, dass er noch immer gegen sein Schicksal aufbegehrte. Er wehrte sich mit Händen und Füßen, als ihn die Asante an den Pflock ketteten, und verhöhnte sie mit derben Worten. Die Peitschenhiebe, die er dafür bekam, ertrug er mit einem spöttischen Lächeln. Als einziger Gefangener blieb er aufrecht in der Hitze sitzen, das Gesicht trotzig der Sonne zugewandt. In seinen dunklen Augen stand der ungebrochene Stolz, der ihn selbst dem drohenden Tod mit Verachtung entgegensehen ließ. »Er ist ein Fante, aber er ist sehr tapfer«, hörte Bensua einen Händler sagen. Sie wusste selbst nicht, warum sie sich zu dem aufsässigen Krieger hingezogen fühlte. Es schien eine seltsame Verwandtschaft zwischen ihnen zu bestehen, als wären sie sich in einem früheren Leben begegnet. Es war keine Zuneigung, auch kein Mitleid, eher ein unsichtbares Band, das der Schöpfer zwischen ihnen gespannt hatte. Es zwang die junge Frau, den Schatten eines Schirms zu verlassen und auf den Gefangenen zuzugehen. Sie war nicht allein. Zahlreiche Kinder waren bei den unglückseligen Männern und warfen mit Steinen und faulem Obst nach ihnen. Zwei beleibte Frauen, die schwere Lasten auf ihren Köpfen trugen, spuckten verächtlich aus, als sie an den Angeketteten vorbeikamen. Ein Händler, der unter seinem Schirm saß und aus einer Kokosnuss trank, verfluchte die gefangenen Männer. Bensua verscheuchte die Kinder und blieb vor dem Fante stehen. Sie wunderte sich selbst über ihren Mut. Auch wenn der Mann an einen Pflock gekettet war, konnte er sie
anspucken oder mit den Füßen nach ihr treten. »Wie heißt du?«, fragte sie. Der Krieger blickte sie verwundert an und hatte bereits einen derben Fluch auf den Lippen, als er den seltsamen Ausdruck in ihren Augen sah. Ihr sanfter Blick machte ihn unsicher und ließ ihn für einen Augenblick seinen Hass und seine Verzweiflung vergessen. Er deutete das Gefühl als Schwäche und schüttelte verächtlich den Kopf. »Was kümmert ein Mädchen der Asante mein Schicksal? Willst du dich über mich lustig machen?« »Ich habe gesehen, wie du dich gegen die Krieger unseres Volkes gewehrt hast«, antwortete sie. »Das war sehr mutig! Nur wenige Gefangene haben das jemals gewagt! Der letzte Sklave, der einen Asante angriff, starb unter dem Hieb unseres Scharfrichters! Du hast dein Leben riskiert!« »Eher sterbe ich als tapferer Krieger, als von euren Männern gedemütigt zu werden!«, erwiderte er mürrisch. »Alle Fante, die im Kampf sterben, leben als erfolgreiche Krieger in der Welt, die nach dem Tod kommt.« Er blickte an Bensua vorbei, seine Lippen wurden schmal und in seine Augen trat ein entschlossener Ausdruck. »Wären eure Männer nicht wie heimtückische Wildschweine über unser Dorf hergefallen, hätten wir gesiegt! Das nächste Mal werden die Götter auf unserer Seite sein! Unsere Verwandten werden uns rächen!« Bensua fühlte sich in ihrer Ehre gekränkt. »Die Asante sind ein mächtiges Volk«, widersprach sie. »Wir haben alle Krieger besiegt, die jemals den Boden unseres Landes betreten haben! Wenn du an der Ehre unserer Männer zweifelst, werde ich meinen Vater oder meinen Onkel bitten, dich zu einem Kampf auf Leben und Tod herauszufordern! Dann wirst du sehen, wie mutig sie sind!« »Du sprichst wie eine tapfere Frau«, sagte der Krieger. »Wenn du sie wirklich fragst, werde ich bereit sein! Kein
Fante hat sich jemals vor einem Asante versteckt! Euer Reich ist größer und ihr habt mehr Krieger, aber ihr seid deshalb keine besseren Menschen!« »Wir werden sehen«, erwiderte Bensua wütend. Sie ärgerte sich darüber, auf die Herausforderung des Kriegers eingegangen zu sein. Ein Fante verdiente es nicht, sich in einem Zweikampf mit den Asante zu messen. Einen solchen Kampf würde der König niemals zulassen. »Die Fante sind räudige Tiere«, würde er sagen, »sie sind geboren, vor uns im Staub zu kriechen!« Bensua bemerkte, wie einer der Krieger, die zur Bewachung der Gefangenen auf dem Marktplatz geblieben waren, auf sie aufmerksam wurde und langsam näher kam. »Ich muss gehen«, erwiderte sie rasch. »Ich komme später wieder«, fügte sie hinzu. Sie drehte sich um und ging davon. Schon nach ein paar Schritten holte sie die Stimme des Gefangenen ein: »Ich heiße Ottobah!«, rief er, ohne auf die neugierigen Blicke seiner Leidensgenossen und die misstrauischen Krieger der Asante zu achten. »Ottobah«, wiederholte sie leise, als sie sich einen Weg durch die Menge bahnte. Auf dem Marktplatz wimmelte es von Menschen und zwischen den Ständen liefen Schweine, Ziegen und Hühner herum. Ein Hund kam bellend hinter ihr her und ließ erst von ihr ab, als sein Besitzer einen Stein nach ihm warf. »Ich habe feinen Stoff aus Europa!«, pries ein Händler seine Waren an. Bensua beachtete ihn kaum und beeilte sich, den Marktplatz zu verlassen. In einer Seitenstraße lehnte sie sich gegen eine Mauer und weinte. Einige Kinder betrachteten sie verwundert. Sie rieb die Tränen aus ihren Augen und lief weiter. Ihre Schritte wurden langsamer und ihre Panik wich einem verwirrenden Gefühl, das sie nicht zu deuten wusste. Warum
war sie zu dem Krieger gegangen? Warum hatte sie ihm versprochen wiederzukommen? Der Mann war ein Fante. Er gehörte zu dem Volk, das die Dörfer der Asante überfallen und Frauen und Kinder getötet hatte. Manche Häuptlinge behaupteten, dass sie mit den bösen Geistern im Bunde waren. Wie konnte sie mit einem solchen Menschen reden? Sie wusste es nicht. Noch ahnte sie nicht, dass Onyankopon Kwame beschlossen hatte, sie beide auf einen gemeinsamen Weg zu schicken. Einem holprigen Pfad voller Hindernisse, der durch gefährliches Feindesland und in eine ungewisse Zukunft führte. Bensua lief ziellos durch die Straßen, bis sie wieder klar denken konnte, und kehrte dann nach Hause zurück. Sie umarmte ihren Vater und ihren Onkel und rief: »Ich freue mich, dass ihr gesund zurückgekommen seid. Die Asante sind tapferer als alle anderen Völker auf der Erde!« Während sie diese Worte sagte, musste sie an den gefangenen Fante denken, an seinen stolzen Blick und seinen unerschütterlichen Mut. Es gab auf beiden Seiten tapfere Männer, das vermutete sie schon seit langer Zeit, auch wenn der König das Gegenteil behauptete. Wollten die Götter, dass ein Volk das andere unterdrückte? Hatten Asante und Fante nicht dieselbe Hautfarbe? Wie wollte man gegen die Europäer siegen, wenn es wirklich zu einem großen Krieg käme? »Du kommst spät«, sagte ihre Mutter. In ihrer Stimme klang ein leichter Vorwurf mit. »Ich musste das Essen allein zubereiten.« »Entschuldige, Mutter«, erwiderte Bensua schuldbewusst. »Ich habe eine Freundin auf dem Markt getroffen. Ihr Onkel wurde von den Fante erschossen und ich habe sie getröstet!« Sie schämte sich ihrer Lüge, wagte aber nicht die Wahrheit zu sagen. Niemand in ihrer Familie hätte verstanden, dass sie mit
einem Gefangenen gesprochen hatte und seinetwegen zu spät kam. »Wir haben fünf Krieger verloren«, bestätigte ihr Onkel wehmütig. Er war ein stolzer Krieger mit kantigen Gesichtszügen und einem stechenden Blick. »Ich musste zehn Feinde erschlagen, um ihren Seelen den Weg in die andere Welt zu ebnen!« Er bedauerte sein Vorgehen nicht und empfand auch kein Mitleid mit dem Jungen, den er vor den Augen seiner Mutter erschlagen hatte. Sein Leben war der Krieg und das Töten gehörte zum Alltag. Der Krieg war das Mittel um die Familien der Asante zu schützen. »Ich bin froh, dass wir zurück sind«, sagte ihr Vater während des Essens. Er war ein einfacher Mann, der den Kampf als notwendiges Übel betrachtete und dessen Gedanken auch in der Ferne um Jagd und Ernte kreisten. Obwohl er zu den wenigen Männern gehörte, die nur eine Frau genommen hatten, war er auf den guten Willen der Götter angewiesen. Nur wenn ihm das Jagdglück treu blieb, war das Überleben der Familie gesichert. Als Jäger war er für die Fleischvorräte verantwortlich. »Sobald der Boden wieder trocken ist, gehen wir auf Antilopenjagd«, entschied er. Bensua sprach wenig und war froh, dass niemand ihre Gedanken lesen konnte. Wie unter einem Zwang kehrten sie immer wieder zu dem gefangenen Krieger zurück. Ottobah hatte sie stärker beeindruckt, als sie wahrhaben wollte. Sie musste sich die Hänseleien ihrer jüngeren Brüder und Schwestern anhören, weil sie während des Essens in die Luft starrte und dreimal von ihrer Mutter gebeten werden musste, die schmutzigen Töpfe zu säubern. Als sie in den Hof ging um Wasser aus der Zisterne zu holen, stolperte sie über eine Ziege und musste sich mit beiden Händen am Brunnen festhalten. »Bensua ist dumm! Bensua ist dumm!«, sang einer ihrer Brüder. »Bensua fällt in den Brunnen!«
Ihrer Mutter machte sie weis, dass sie ihre Tage hatte und deshalb so abwesend war. Ihr Vater und ihr Onkel waren unterwegs, besprachen mit einigen Männern, wann sie auf die Jagd gehen sollten. Einige der älteren Jäger, die während des Kriegszugs in Kumase geblieben waren, hatten von einem Leoparden berichtet, der bis in die Nähe der Stadt gekommen war und mehrere Antilopen gerissen hatte, und sie wollten ihn unbedingt töten. Wer einen Leoparden erlegte, gewann großes Ansehen und war berechtigt den Schwanz des erlegten Tieres am Oberarm zu tragen, wenn er das nächste Mal in den Krieg zog. Nach dem Abendessen erzählte der Großvater von einer gefährlichen Raubkatze, die vor etlichen Jahren zwei Kinder getötet hatte, und Bensua träumte davon, bis sie schweißüberströmt aufwachte. Sie brauchte einige Zeit um sich von dem Traum zu erholen. Sie starrte in die Dunkelheit und lauschte den regelmäßigen Atemzügen ihrer Mütter und ihrer drei Schwestern, die im selben Raum schliefen. Aus dem Nachbarzimmer drang das Schnarchen der Männer. Sie waren spät nach Hause gekommen und hatten beim Aufschlagen ihres Nachtlagers gescherzt und gelallt. Bensuas Mutter hatte ihnen vorgeworfen, den Schnaps des weißen Mannes getrunken zu haben. Aber sie hatten nur gelacht. Bensua kannte das scharfe Wasser der Europäer. Sie hatte von der braunen Flüssigkeit gekostet, die sie »Rum« nannten, und sich beinahe übergeben. Der Schnaps brannte wie Feuer. Sie verstand nicht, warum einige Männer so begierig darauf waren, in den Besitz des Alkohols zu kommen. Sogar der König hatte einen Krug in seinem Schlafgemach stehen. So erzählten es die schwatzhaften Frauen des Palastes. Zum Essen trank er kostbare Weine aus Portugal und Frankreich, aber vor dem Schlafengehen gönnte er sich einen Schluck von dem Schnaps.
So leise, dass ihre Mutter und ihre Schwestern nicht aufwachten, verließ Bensua das Zimmer. Sie trat in den Hof, schöpfte eine Kelle aus dem Wassereimer und blickte nachdenklich zu den Sternen empor. Wie silberne Schmuckstücke funkelten sie am schwarzen Himmel. Der Mond war nur als schmale Sichel zu erkennen. Manchmal fragte sie sich, ob der Mond und die Sterne ziellos über den Himmel wanderten oder ein bestimmtes Ziel verfolgten. Forderten sie die Menschen auf ihnen zu folgen? Ihr Großvater war während des großen Krieges gegen die Fante an der Küste gewesen und erzählte, dass die europäischen Seefahrer ihre Schiffe nach den Sternen ausrichteten. Während eines Gewitters und wenn sich der Mond und die Sterne versteckten, irrten sie ziellos auf dem großen Wasser herum. Auch die weißen Männer waren nicht so klug, wie sie immer vorgaben. Obwohl es schon nach Mitternacht war, lag drückende Schwüle über der Stadt. Der Lehmboden speicherte die Hitze des Tages und gab sie nun ab. Einige Hühner gackerten. In der Luft summten Fliegen. Bensua goss sich Wasser über den Kopf und genoss die angenehme Kühle. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu Ottobah und sie fühlte sich auf einmal schuldig, weil er den ganzen Tag ohne einen Schluck Wasser in der Hitze geschmort hatte und bestimmt am Ende seiner Kräfte war. »Wer die Hitze nicht ertragen kann, hat es nicht verdient, ein Sklave der Asante zu sein«, behauptete der König. »Ihn lassen wir sterben!« Bensua wollte nicht, dass Ottobah starb. Ohne darüber nachzudenken, dass sie im Begriff war, einem gefangenen Todfeind zu helfen, goss sie frisches Wasser in einen Behälter. Sie zog ihr Kleid an und verließ das Haus. Indem sie die Hauptstraße umging und einen Umweg durch die schmalen Seitengassen nahm, vermied sie eine Begegnung mit den Polizisten. Die Männer in den bunten Uniformen, die als
Zeichen ihres Rangs lange Haare trugen, sorgten dafür, dass es ruhig in Kumase blieb. Sie brauchte eine halbe Stunde bis zum Marktplatz, verlor durch die Umwege viel Zeit. Schon nach wenigen Schritten erkannte sie, wie gefährlich es war, ein Gesetz der Asante zu brechen. Sie wäre am liebsten umgekehrt, doch eine geheimnisvolle Macht trieb sie vorwärts. Wer einem Gefangenen half oder einen Feind begünstigte, lief Gefahr, selbst versklavt zu werden, und wenn der König besonders wütend war, entschied er sogar einen solchen Verräter enthaupten zu lassen. Er machte keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, wenn es um das Wohl seines Volkes ging. Das wusste Bensua und dennoch ging sie weiter. Das Wasser schwappte unruhig in dem Messingkrug. Der Behälter gehörte ihrem Onkel und sie wagte gar nicht daran zu denken, was geschah, wenn er erfuhr, dass ein feindlicher Krieger daraus getrunken hatte. Er brächte es fertig und verriete seine eigene Nichte an die Polizei. Als überzeugter Krieger, der seine Feinde mit aller Macht bekämpfte, stellte er die Gesetze der Asante über das Wohl seiner Familie. Er würde sich selbst opfern, wenn er seinem Volk dadurch helfen könnte. Bensua dachte an seine strengen Gesichtszüge und begann zu zittern. Sie verharrte einige Zeit neben einer Mauer und huschte weiter durch die Nacht. Wenige Meter vor ihr öffnete sich die Straße zum Marktplatz. An den Mauern hingen Fackeln und verbreiteten flackerndes Licht. Sie schlich zu einem der leeren Verkaufsstände und blickte zu den Gefangenen hinüber. Die meisten schliefen, lagen auf der Seite und röchelten leise. Nur Ottobah war wach. Sie erkannte ihn selbst in dem unruhigen Halbdunkel. Der Feuerschein leuchtete in seinen dunklen Augen und ließ Schatten über seinen muskulösen Körper
tanzen. Er war nicht hässlich. Er war ein stolzer Krieger, der es verdient hatte, zu leben. Zwei gelangweilte Männer bewachten die Gefangenen. Sie besaßen Gewehre und hatten lange Schwerter an ihren Gürteln hängen. Kumase war sicher vor feindlichen Eindringlingen und kannte kaum Verbrechen. Die gefangenen Krieger waren mit Eisenketten an die Holzpflöcke gebunden. Es war ausgeschlossen, dass einer der Männer es schaffte, sich zu befreien, und entsprechend nachlässig benahmen sich die Asante-Krieger. Um nicht einzuschlafen, liefen sie über den Marktplatz und unterhielten sich flüsternd. Bensua konnte nicht verstehen, was sie sagten. Sie wartete, bis sie zwischen einigen Hütten verschwunden waren, und rannte zu Ottobah. Der junge Krieger verstand sofort und trank gierig, als Bensua ihm den Krug an die Lippen setzte. »Ich heiße Bensua«, sagte sie leise. »Du bist ein tapferer Mann. Du sollst nicht sterben!« Sie schüttete das restliche Wasser über seinen Kopf und schenkte ihm ein schüchternes Lächeln, bevor sie davoneilte. »Bensua«, wiederholte er flüsternd. Und seine Augen leuchteten wie bei einem Jäger, der einen starken Löwen besiegt hatte.
4
Ottobah gehörte zu den Sklaven, die in den Goldminen arbeiten mussten. Jeden Morgen zogen die Fante unter strenger Aufsicht aus der Stadt, stiegen in die Erdlöcher hinab und schufteten in der sengenden Hitze, bis sie vor Erschöpfung beinahe zusammenbrachen. Nur mittags, wenn die Sonne am höchsten stand und ihre Strahlen bis tief unter die Erde schickte, wurde eine Pause eingelegt. Die Männer bekamen etwas zu essen und durften sich mit dem Wasser aus der Zisterne erfrischen. Die Arbeit war anstrengend. In den Minen staute sich die Hitze und der Staub legte sich auf die Lungen und machte das Atmen schwer. Doch Ottobah war stark und ließ sich nicht unterkriegen. Schon während des erniedrigenden Marsches nach Kumase hatte ihn der Gedanke an eine baldige Flucht am Leben erhalten. Die Hoffnung, den Kriegern der Asante zu entkommen, ließ ihn gefesselt durch den Sumpf kriechen und das Ungeziefer essen, das ihnen die Asante vorwarfen. Wie ein Fels hatte er den tosenden Unwettern der Regenzeit getrotzt. Die feindlichen Krieger waren in der Überzahl und es hatte keine Möglichkeit zur Flucht gegeben. Aber er hatte nicht verzagt und wollte die erste Gelegenheit nutzen, in die Heimat zurückzukehren. Auch wenn die Asante viele Gefangene in ihr Volk aufnahmen – er würde sich den Feinden niemals unterwerfen. Eher würde er sterben. Bensua hatte seine Pläne durchkreuzt. Die Asante hatte seine Seele berührt und ein Gefühl in ihm geweckt, das er bisher nicht gekannt hatte. Er mochte die junge Frau. Als sie mit dem Wasserkrug auf den Marktplatz gekommen war, hatte ihn ein
seltsames Gefühl der Wärme durchströmt, und der Wunsch, die Ketten abzustreifen und sie in die Arme zu nehmen, war beinahe übermächtig gewesen. In ihren Augen hatte er denselben Wunsch gesehen. Nachdem sie gegangen war, hatte er kein Auge zugetan und darüber nachgedacht, ob es eine Zukunft für sie geben konnte. Er wusste nicht, ob es einer Asante gestattet war, einen Sklaven zu heiraten. Bei den Fante wäre eine solche Ehe unmöglich gewesen. Man hätte die beiden den Göttern geopfert. Mit der morgendlichen Hitze kehrte die Ernüchterung zurück. Er machte sich etwas vor. Er hatte sich die Zuneigung der schönen Asante nur eingebildet. Die junge Frau hatte Mitleid mit ihm. Sie hatte ein Gesetz gebrochen und einem Gefangenen geholfen, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie sich ihn verliebt hatte. Die Krieger des Clans bestimmten, welchen Mann eine Frau heiraten durfte. So war es bei den Fante und so würde es wohl auch bei den Asante sein. Selbst wenn sie ihn mochte, gab es keine Zukunft für sie. Er tat gut daran, an seinem ursprünglichen Plan festzuhalten. Entweder entkam er den Feinden und kehrte in die Heimat zurück oder er starb in einem heldenhaften Kampf. Bensua empfand die verwirrenden Gefühle, die fast jeden ihrer Gedanken bestimmten, als schwere Bürde. Ihr Leben hatte sich von einem Tag auf den anderen verändert. Sie war gezwungen einer Bestimmung zu folgen, die sie nicht verstand, und musste ihrer Familie etwas vormachen. Unter dem Vorwand, eine Freundin zu besuchen, ging sie fast jeden Abend aus dem Haus und schlich zu den schäbigen Hütten, in denen die Sklaven wohnten. Hinter einer Lehmmauer wartete sie auf die Rückkehr des Fante. In diesem Stadtteil waren besonders viele Polizisten unterwegs und sie wollte nicht entdeckt werden. Sobald die Gefangenen zu ihrem Volk gehörten, würde es leichter sein, Ottobah zu treffen.
Noch waren ihre Gefühle so widersprüchlich, dass sie nicht einmal an eine Heirat dachte. Sie hatte nie einen Mann geliebt und sich wie alle jungen Frauen der Asante darauf verlassen, dass die Krieger der Abusua, der mütterlichen Familie, einen Mann für sie aussuchten. So war es Brauch bei ihrem Volk. Die Zuneigung zu einem Mann entwickelte sich während einer Ehe, so war es schon bei ihren Eltern gewesen. »Hab Geduld«, antwortete ihre Mutter lachend, wenn Bensua nach ihrer Zukunft fragte, »auch für dich wird es einen Mann geben, der dich versorgt.« Für eine Frau war es am wichtigsten, dass sie ihr Leben lang versorgt war. Deshalb ehelichten die meisten Krieger mehrere Frauen. Es gab mehr Frauen als Männer bei den Asante. Während ihrer heimlichen Treffen sprachen Bensua und Ottobah nicht über solche heiklen Themen. Sie begegneten einander schüchtern und vorsichtig, vermieden es, den anderen zu berühren, und ergaben sich den vielfältigen Gedanken. Vorsichtig wägten sie jedes ihrer Worte ab. Ottobah fürchtete sich davor, dass die junge Asante nur vom Mitleid geleitet wurde, und Bensua wollte gar nicht verstehen, warum sie jeden Abend das Haus verließ und den Krieger besuchte. Sie genossen den Augenblick und das Gefühl, im silbernen Schein des Mondes und der Sterne zu sitzen und der Welt entrückt zu sein. Es war beruhigend mit einem Menschen zu sprechen, den man mochte, und mehr über seine Heimat und seine Gedanken zu erfahren. »Du hast den Markt gesehen«, begann Bensua. »Ich habe diese Stadt nie verlassen, aber ich weiß, dass wir den größten Markt des ganzen Landes haben! Das sagen sogar die Araber, die durch die große Sandwüste zu uns kommen! Hast du von den Taschendieben des Königs gehört? Sie versuchen den Menschen ihre Waren oder die Muscheln zu entwenden, und wer sie dabei ertappt, darf sie so lange schlagen, wie er will!
Aber sie sind sehr gerissen und lassen sich kaum einmal erwischen.« Ottobah erzählte von seiner Ausbildung als Jäger und wie er zum ersten Mal vor einem mächtigen Löwen gestanden hatte. Er hatte die Raubkatze mit seinem Speer getötet und noch viele Tage später von dem Augenblick geträumt, als sie losgesprungen war. Urplötzlich hatte sich der Löwe aus seiner Erstarrung gelöst und war mit ein paar Sätzen bei ihm gewesen. Er hatte den bedrohlichen Schatten der Raubkatze gespürt und ihre mächtigen Reißzähne gesehen. »Wenn meine Freunde nicht gekommen wären und mich gewarnt hätten, wäre ich verloren gewesen! Erst als ich ihre Schreie hörte, habe ich den Speer geworfen.« Er lächelte schwach. »Sein Fell hing in unserer Hütte.« Bensua fragte nicht nach den Verwandten des jungen Kriegers. Sie hatte Angst, dass die Asante sie getötet hatten, und wollte nicht, dass er daran erinnert wurde. Die magischen Augenblicke, die sie im Schatten der Lehmmauer erlebten, durften nicht gestört werden. Die Gegenwart des Fante war so angenehm, seine feste Stimme und der entschlossene Blick, die Fähigkeit, ihr zuzuhören, selbst wenn sie über belanglose Dinge sprach. Nach zwei Wochen waren sie so vertraut miteinander, dass sie unbewusst eine Hand auf seinen Arm legte und zufrieden lächelte, als er die Berührung erwiderte und ihre Wange streichelte. »Du bist zu einem Teil meines Lebens geworden«, sagte er. Jetzt ahnten sie, dass aus der Zuneigung aufrichtige Liebe werden konnte. Ein übermächtiges Gefühl, das jeden ihrer Gedanken bestimmte. Sie tauschten die ersten Zärtlichkeiten aus. Vorsichtige Berührungen und andere Zärtlichkeiten, die bald in leidenschaftliche Umarmungen übergingen und sie an den Rand der Leidenschaft trieben. Noch hatten sie Angst, über eine gemeinsame Zukunft zu reden, weil jeder von ihnen
wusste, wie abwegig eine Ehe zwischen einer Asante und einem Sklaven war, aber wenn sie in ihre Decken gehüllt nebeneinander lagen, träumten sie von einer besseren Welt, in der Asante und Fante gleichberechtigt und friedlich nebeneinander leben. Ein Traum, der niemals in Erfüllung gehen würde. Doch sie wollten so lange wie möglich daran festhalten und nur aufgeben, wenn die Götter sie im Stich ließen. Ihr Traum endete im Dezember, ausgerechnet dann, als die angenehme Jahreszeit begann und die ersten trockenen Winde aus der Wüste kamen und für ein besseres Klima sorgten. Ihr Onkel erwartete sie vor dem Haus und sagte: »Das Wetter hat umgeschlagen. Wir wollen ein paar Schritte gehen, mein Kind.« Seine Stimme klang ernst und die Art, wie er sie ansah, machte sie nervös. Sie ahnte, dass er ihr etwas Wichtiges mitteilen wollte. Nur mühsam unterdrückte sie ihre Angst. Wenn er herausbekommen hatte, dass sie sich heimlich mit einem Sklaven traf, würde sie eine empfindliche Strafe erhalten. Sie folgte ihm auf die Hauptstraße und ging langsam neben ihm her. Dabei vermied sie es, ihm in die Augen zu blicken. Obwohl es während der Nacht merklich abgekühlt hatte, waren ihre Hände schweißnass. »Ich erinnere mich an die Zeit, als du ein kleines Mädchen warst«, begann er. »Damals sind wir oft spazieren gegangen. Ich habe dir Geschichten erzählt und du bist mir weggelaufen und hast dich mit den Jungen im Schlamm gewälzt!« Er griff schmunzelnd nach ihrer Hand. »Seitdem sind viele Jahre vergangen. Unser Reich ist größer geworden. Unsere Krieger haben viele Siege errungen. Unsere Jäger haben starke Tiere erlegt.« Er ließ die Worte auf sie wirken und fügte hinzu: »Du bist erwachsen.« »Was willst du mir sagen, Onkel?«, fragte sie ungeduldig.
Er blieb unter einem Palmendach stehen und nahm lächelnd ihre andere Hand. »Du bist in dem Alter, in dem Mädchen heiraten. Wir haben einen Mann für dich gefunden, mein Kind!« Sie verstand die Worte nicht sofort. Erst als ihr Onkel den bedeutungsschweren Satz wiederholte, kapierte sie. Blankes Entsetzen lähmte ihre Gedanken. Sie starrte ihn mit leeren Augen an, als hätte er behauptet, die Welt würde in einer riesigen Feuersbrunst versinken und alle Asante mit sich reißen. Irgendwie war es auch so. Ihre Welt ging unter. Mit einem Satz hatte ihr Onkel die Zukunft vernichtet und ihr Leben bedeutungslos gemacht. »Hast du mich verstanden, mein Kind? Ich weiß, so eine Nachricht kommt immer etwas plötzlich. Das war bei deiner Mutter nicht anders. Als man ihr sagte, dass dein Vater sie heiraten werde, war sie sprachlos. Es dauerte lange, bis sie ihr Glück fasste. Dein Vater ist ein tapferer Krieger und ein großer Jäger.« »Ich weiß, Onkel. Ich weiß.« Sein Lächeln blieb. Er ahnte nicht, welchen Traum er zerstört hatte, und glaubte, dass der entsetzte Ausdruck in ihren Augen an der Aufregung lag, die jedes Mädchen empfand, wenn man ihr die baldige Heirat in Aussicht stellte. »Nun, willst du denn gar nicht wissen, wie der Mann heißt, der dich zur Frau bekommt?« »Wie heißt der Mann, Onkel?«, fragte sie tonlos. »Kwaku«, antwortete er, »ein junger Krieger des OyokoClans. Du hast ihn bei der Odurira gesehen. Er war einer der besten Tänzer und er ist im Begriff, ein großer Jäger zu werden. Er wird dir ein guter Ehemann sein, das hat er bei seiner Ehre versprochen! Du bist seine erste Frau. Er wird dich beschützen, mein Kind.«
»Kwaku«, wiederholte sie seinen Namen. Eigentlich hätte sie sich glücklich schätzen müssen. Aus dem Oyoko-Clan waren zahlreiche Könige hervorgegangen und seine Mitglieder gehörten zu den edelsten Kriegern der Asante. Es hatte sicherlich viel Überzeugungskraft gekostet, die Angehörigen eines königlichen Clans zur Ehe mit der Tochter eines einfachen Jägers und Farmers zu überreden. Auch wenn ihr Vater einen riesigen Löwen getötet und erfolgreich gegen die Fante gekämpft hatte, gab es angesehenere Männer bei den Asante. In ihr floss das Blut einer einfachen Frau, die den königlichen Palast niemals von innen gesehen hatte. Kwaku war der Nachfahre legendärer Herrscher und Krieger und würde einmal zur königlichen Wache gehören. »Kwaku«, sagte sie noch einmal. Sie bekämpfte das lähmende Gefühl, das ihren Körper ergriffen hatte, und versuchte sich gegen das drohende Schicksal aufzulehnen. »Ich bin eine einfache Frau. Wie kann ich einen Krieger des Oyoko-Clans heiraten?« Ihr Onkel lächelte stolz. »Kwaku hat dich gesehen und besteht darauf, dich zu seiner Frau zu nehmen. Er sagt, dass dich deine sanftmütigen Augen und deine schlanke Gestalt zu einer Prinzessin machen. Er wird dich mit Gold überschütten, mein Kind!« »Das hat er gesagt?« »Ist das nicht wunderbar?« Bensua löste sich von ihrem Onkel und ging einige Schritte. Verzweifelt kämpfte sie gegen ihre Tränen an. Noch vor wenigen Wochen wäre sie tief beeindruckt und geehrt gewesen, ein solches Angebot zu bekommen, doch jetzt waren ihre Gedanken bei Ottobah und sie zitterte beinahe vor Verzweiflung. Sie verschmähte einen königlichen Krieger und sehnte sich nach einem Sklaven, der jeden Morgen mit dem Tod rechnen musste.
Ihr Onkel deutete ihre Unruhe falsch und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Du bist bewegt, das verstehe ich. Ich gebe dir besser Zeit, dich von dieser Überraschung zu erholen. Lauf, mein Kind! Wir sehen uns heute Abend und dann wollen wir darauf anstoßen. So feiern die Europäer eine freudige Nachricht. Ich habe noch etwas Rum und werde auf deine Zukunft trinken.« Bensua war froh, ihm auf diese Weise zu entkommen, und rannte hastig davon. Erst als ihr Herzschlag raste und sie kaum noch Luft bekam, blieb sie stehen. Sie sank gegen eine Hauswand und rutschte weinend daran hinunter. Tränen der Verzweiflung flossen über ihr Gesicht. Sie schluchzte, bis keine Tränen mehr kommen wollten, und beschimpfte die Götter, die sie im Stich gelassen hatten. Über eine Stunde blieb sie auf dem harten Boden sitzen. Der Wind, der aus der Wüste kam, trocknete ihre Tränen und brachte sie schließlich dazu, sich zu erheben und trotzig die Straße hinaufzublicken. Sie würde niemals auf Ottobah verzichten! Eher würde sie sterben, als den Krieger des Oyoko-Clans zu heiraten. Am Abend desselben Tages traf Bensua den Sklaven und berichtete zögernd von der Entscheidung ihres Onkels. Ottobah hörte mit steinernem Gesicht zu. Er hatte mit einer solchen Nachricht gerechnet, aber nicht erwartet, dass sie so bald kam. »Ich werde es nicht tun!«, entschied sie. »Ich werde ihn nicht heiraten! Wie kann ich ihm eine gute Frau sein, wenn ich ständig an dich denken muss? Lass uns fliehen, Ottobah! Irgendwo muss es doch ein Land geben, in dem wir zusammen leben können!« Ottobah dachte über ihren Vorschlag nach. Er wollte ihr nicht wehtun und zögerte die Antwort so lange wie möglich hinaus. Selbst wenn er allein floh, waren die Chancen gering, die Heimat der Fante zu erreichen. Mit einer Frau war es beinahe unmöglich. Die Asante würden nicht zulassen, dass ein
minderwertiger Sklave sie bloßstellte. Und sie würden auf keinen Fall hinnehmen, dass eine ihrer Frauen sich ihren Regeln widersetzte. Sie würden ihre erfahrensten Krieger losschicken um sie einzufangen und selbst ihr Onkel und ihr Vater würden an dieser Jagd teilnehmen. Wenn sie ihrer habhaft wurden, würde man sie auf den Marktplatz schleifen und öffentlich hinrichten. »Das ist gefährlich«, versuchte er Bensua umzustimmen. »Sie würden schon nach wenigen Stunden merken, dass wir geflohen sind. Wenn wir es überhaupt schaffen, an den Polizisten vorbei aus der Stadt zu kommen! Wir werden streng bewacht!« »Das weiß ich, Ottobah! Aber wir müssen es versuchen!« »Ich will nicht, dass du geköpft wirst!« »Und ich will nicht, dass sie dich hinrichten!«, flüsterte Bensua. »Ein gemeinsamer Tod ist mir lieber als ein leeres Leben!« »Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte er. »Das ist gut«, stimmte sie zu. Sie umarmte ihn länger als sonst und blickte ihm tief in die Augen, bevor sie in die Dunkelheit verschwand. Sie war überzeugt davon, dass er sich auf eine gemeinsame Flucht einließ, wenn er länger darüber nachdachte, und beschloss die ganze Nacht zu ihren Vorfahren zu beten und sie zu bitten die Götter milde zu stimmen. Nur wenn sie auf ihrer Seite waren, konnten sie es schaffen. Sie zwang sich, nicht an die Risiken zu denken, und hielt einige Minuten in einer dunklen Gasse inne und reinigte ihre Gedanken, bevor sie zu ihrer Familie zurückkehrte. Sie durfte sich nichts anmerken lassen. Vor dem Haus blieb sie stehen. Die Stimme eines fremden Mannes drang aus der offenen Tür. Er sagte: »Ich freue mich, dass wir uns so schnell einig geworden sind, mein Freund! Ich weiß, dass es keine Krankheiten in eurer Familie gibt, und ihr
wisst, von welchem Blut wir sind. Bensua wird meinem Neffen gesunde Kinder gebären! Ich werde sie schon in wenigen Tagen in das Haus meiner Schwester holen, um sie an die Aufgaben in unserer Familie zu gewöhnen. Ihr habt doch nichts dagegen?« »Es ist uns eine große Ehre«, antwortete ihr Onkel für die ganze Abusua. Wenn es um die Zukunft eines Kindes ging, hatten die Brüder der Mutter mehr zu sagen als der Vater. »Wenn du willst, kannst du es ihr selbst mitteilen. Sie wird bald wieder hier sein.« »Dein Wort ist mir genug«, meinte der Besucher. »Sobald wir den Hochzeitstermin festgesetzt haben, sind wir für deine Tochter bereit. Es war mir eine Ehre, bei euch zu Gast zu sein!« Der königliche Besucher verabschiedete sich und verließ das Haus. Bensua schaffte es gerade noch, sich hinter einem Zaun zu verstecken. Sie beobachtete zitternd, wie der stattliche Krieger die Straße überquerte. Er trug einen Umhang aus kostbarem Stoff und eine Kopfbedeckung aus Leopardenfell. An seinem Gürtel hing ein goldverziertes Schwert. Zweifellos gehörte er zu den tapfersten und stattlichsten Kriegern des Königreichs. Er würde keinen Widerspruch dulden und bestimmt keine Gnade walten lassen, wenn er herausbekam, mit wem Bensua sich eingelassen hatte. »Onyankopon Kwame, hilf mir«, flüsterte sie.
5
Am Mittag des nächsten Tages herrschte große Unruhe in Kumase. Die Trommler eines benachbarten Dorfes meldeten die Ankunft eines bekannten Sklavenhändlers, der mit einer ganzen Karawane voller Handelswaren in die Hauptstadt unterwegs war. Willem van der Meyde war Holländer, ein gewichtiger Kaufmann, der vor über zwanzig Jahren nach Afrika gekommen war und in einem Fort an der Küste wohnte. Er scheite sich nicht um das Sklavenverbot, das Engländer und Dänen ausgesprochen hatten, tauschte minderwertige Handelswaren aus Europa gegen Schwarze ein und verkaufte sie an holländische und amerikanische Schiffseigentümer. Die Engländer und Dänen kassierten eine unrechtmäßige Steuer für jede Ladung und ließen ihn gewähren. Bensua hatte die Trommeln gehört und machte sich große Sorgen. Der Besuch des holländischen Händlers konnte nur bedeuten, dass er neue Sklaven kaufen wollte, und dann war Ottobah in großer Gefahr. Der Asantehene würde nicht zögern die gefangenen Fante an den Holländer zu verkaufen. Sie waren kräftig und gesund und würden einen guten Preis bringen. Und wenn den Asante die Arbeiter in den Goldminen ausgingen, würden sie noch einmal losziehen und ein Dorf überfallen. Es war einfach, ein solches Unternehmen als Strafaktion zu verkaufen. Es gab zahlreiche Häuptlinge, die ihre Leute gegen die Asante aufbrachten. Der Eintopf stand auf dem schweren Herd, den sie von einem englischen Händler bekommen hatten, und ihre Mutter hatte nichts dagegen, dass sie zum Palast ging. Bensua war nicht allein. Aus allen Teilen der Stadt kamen Schaulustige, um die
Ankunft des holländischen Händlers zu beobachten. Er war ein bedeutender Mann und sie hatten ihm viel zu verdanken. Im Laufe der Jahre hatte er sie mit begehrten Waren aus Europa versorgt, sogar Salzfässer durch den Urwald schaffen lassen. Etliche Krieger, darunter auch ihr Onkel und ihr Vater, waren begierig darauf, etwas von dem Rum zu erwischen, der nach seiner Ankunft verkauft wurde. Das größte Fass der Lieferung landete in den Gewölben des Palastes. Der Preis, den der König für die europäischen Waren zahlte, kümmerte die Asante nicht. Ihre Goldvorräte waren unerschöpflich, so glaubten sie, und als Sklaven wurden nur gefangene Krieger verfeindeter Völker verkauft. Die Trommeln wurden lauter und ließen auch den Herzschlag der jungen Asante schneller werden. Voller Furcht blickte sie dem holländischen Kaufmann entgegen, der mit seinem Gefolge die Hauptstraße heraufkam. Wie ein König thronte er in der Sänfte, die von vier kräftigen Sklaven getragen wurde. Zu Fuß schaffte es kaum ein Weißer durch den Urwald, auch nicht im Dezember und Januar, wenn die trockenen Winde aus der Sahara für ein angenehmeres Klima sorgten. Seine weißen Begleiter, ein Buchhalter und Sekretär und zwei erfahrene Jäger mit schweren Gewehren, saßen auf einfachen Tragbahren. Ihnen folgten die Schwarzen mit den Handelskisten und Rumfässern. Willem van der Meyde kletterte aus seiner Sänfte und wischte sich mit einem weißen Tuch den Schweiß von der Stirn. Seit seinem letzten Besuch war er noch schwerer geworden. Er schnaufte bei jeder Bewegung und griff gierig nach der Wasserflasche, die ein Sklave für ihn bereithielt. Seine Augen waren kaum zu sehen, dazu war sein Gesicht viel zu aufgedunsen, und die Hängebacken konnte auch sein Vollbart nicht verdecken. Seine untersetzte Gestalt und die langsamen Bewegungen täuschten darüber hinweg, wie
grausam und unnachgiebig er sein konnte, wenn es um seinen Profit ging. Er behandelte die Sklaven, die er als »Ware« bezeichnete, wie ungeliebte Tiere und ließ seine Jäger mit äußerster Härte vorgehen. Ihm waren alle Mittel, auch Mord und Totschlag, recht, um immer sein Ziel zu erreichen. Die Asante kümmerten sich nicht darum, welches Leid die Sklaven ertragen mussten. Sie waren ein starkes Volk und hielten sich für unbesiegbar. Die wenigen Krieger, die auf die Schiffe der Sklavenhändler gebracht wurden, waren selbst schuld gewesen. Solange die Asante nicht persönlich betroffen waren, hörten sie nicht auf die Gerüchte, die von der Küste in den Urwald drangen. Was kümmerte es sie, wenn die verhassten Fante geschlagen und ausgepeitscht wurden? Wen interessierte, dass unzählige Männer und Frauen der Nzima, Adangbe und Ga gebrandet und auf die Segelschiffe der Europäer gebracht worden waren? Den Asante konnte niemand etwas anhaben. Ihre Stärke, ihr Kampfgeist und der Urwald schützten sie gegen die weißen Männer. Auch Bensua hatte so gedacht. Sie war eine stolze Frau und hatte bisher fest daran geglaubt, dass die Asante allen anderen Völkern überlegen waren. Aber seit ihrer Begegnung mit der weißhaarigen Hexe dachte sie anders. Irgendwann würden auch die Asante zu schwach sein, um sich gegen die Übermacht der Europäer zu wehren. Dann würden sie einen Mann wie den holländischen Sklavenhändler nicht mehr willkommen heißen. Sie würden vor seinen Jägern in die Büsche fliehen, um der Sklaverei in einem fernen Land zu entgehen. Bensua konnte nicht ahnen, dass alles noch viel schlimmer kommen würde, und bereits der nächste Morgen ein neues Zeitalter einleitete. Sie fürchtete um den geliebten Fante, und wie sich schon bald herausstellte, war ihre Angst nur zu begründet. Nachdem Willem van der Meyde im Palast verschwunden war, erschien ein Schwertträger des Königs und
verkündete dem wartenden Volk, dass die Fante-Sklaven an den Holländer verkauft würden. Man werde den Handel mit einem großen Fest feiern. Nach Sonnenaufgang sollte einer der Sklaven den Göttern geopfert werden. Diese Ankündigung ließ Bensua noch niedergeschlagener werden. Um sich nicht zu verraten täuschte sie eine leichte Übelkeit vor und verzichtete auf den Eintopf, den sie selbst gewürzt hatte. »Ich brauche frische Luft«, sagte sie. »Ich glaube, dir haben die guten Nachrichten auf den Magen geschlagen«, antwortete ihr Onkel ahnungslos. Bensua ging nach draußen, blieb eine Weile im Schatten des hervorstehenden Palmendaches stehen und atmete die trockene Luft ein. Es tat gut, nach der langen Regenzeit die Wüste zu spüren. Sie arbeitete im Hof, säuberte die Ställe und blickte alle paar Minuten zum Himmel empor. Ungeduldig wartete sie auf den Abend. Sie musste Ottobah warnen. Auch wenn der König ihn ein Mal verschont hatte, war es möglich, dass er nun geopfert wurde. Dem Holländer sollte ein grausames Schauspiel geboten werden. Er sah gern bei Hinrichtungen zu. Die Dunkelheit schien an diesem Tag besonders lange auf sich warten zu lassen. Der Himmel wölbte sich leuchtend blau über der Stadt. Bensua blickte wütend zur Sonne empor. Sie hatte das Gefühl, von ihr verhöhnt zu werden, empfand das strahlende Wetter als boshaftes Grinsen der bösen Geister, die nur darauf warteten, sie ins Unglück zu schicken. Sie verließ den heimatlichen Hof und wanderte ziellos durch die Stadt. Die anderen Menschen beachtete sie kaum. Sie übersah sogar eine Freundin ihrer Mutter, die mit einem großen Gefäß auf dem Kopf von der Zisterne kam und ihr freundlich zulächelte. Bensua ging weiter ohne sie anzusehen, ließ sich auf dem Markt treiben, bis die Sonne unterging und dunkle Schatten auf die Häuser fielen. Bald würden die Sklaven aus den Minen kommen.
Bei den runden Lehmhütten, in denen die Sklaven untergebracht waren, erwartete sie eine unangenehme Überraschung. Der König hatte die Wachen vervierfacht und ließ alle Gefangenen in Ketten legen. Sie musste zusehen, wie die Fante von den Kriegern ihres Volkes unsanft zu Boden gestoßen und misshandelt wurden. Der Asante, der sie ausgelacht hatte, schlug mit seiner Muskete auf einen jungen Sklaven ein und hätte ihn wohl umgebracht, wenn ihn ein anderer Asante nicht zurückgehalten hätte. Ottobah war nicht zu sehen. Im düsteren Schein der Fackeln waren die geschundenen Männer kaum zu erkennen. »Ottobah!«, flüsterte Bensua verzweifelt. »Wie sollen wir jetzt fliehen?« Ohne den Versuch gemacht zu haben, mit Ottobah zu sprechen, kehrte sie nach Hause zurück. Es wäre selbst für einen erfahrenen Krieger unmöglich gewesen, die Wachen zu überlisten. Betrübt rollte sie sich in ihre Decken. Ihre Verwandten glaubten immer noch, dass ihr übel war, und ließen sie gewähren. Ihr Onkel machte eine Bemerkung, die sie nicht verstand, und sie hörte, wie ihr Vater und ihre Mutter lachten. Anscheinend hatte er wiederholt, was er zu ihr gesagt hatte: dass ihr die guten Nachrichten schlecht bekommen waren. Sie wusste von jungen Frauen, die vor ihrer Hochzeit ohnmächtig geworden waren. Sie hatten die Aufregung nicht ertragen. Die Eheschließung war ein Fest, das selbst von einfachen Familien groß gefeiert wurde. Sie schlief schlecht und träumte von dem holländischen Sklavenhändler, wie er mit verzerrtem Gesicht über dem blutenden Ottobah stand und ihn mit seiner Peitsche marterte. Ottobah war an Armen und Beinen gefesselt. Er gab keinen Laut von sich, aber das machte den Holländer nur noch wütender und er schlug noch heftiger auf den Krieger ein. Sie erwachte schweißüberströmt und starrte in die Dunkelheit. Es war mitten in der Nacht. Sie stieg von ihrem Nachtlager,
schlich auf den Hof hinaus und schöpfte frisches Wasser aus dem Brunnen. Es vertrieb die bösen Geister und verlangsamte ihren Herzschlag. Sie wartete, bis sich ihr Atem beruhigt hatte, und kehrte zu ihrem Lager zurück. Vergeblich versuchte sie wieder einzuschlafen. Mit weit geöffneten Augen lag sie stumm auf dem Rücken, bis die ersten hellen Streifen zum Fenster hereinfielen und die Sonne aufging. Noch vor ihrer Mutter stand sie auf. Sie wusch sich, bereitete heißen Tee und versuchte sich so normal wie möglich zu benehmen. Zusammen mit ihren Verwandten ging sie zum Palast. Der König hatte seine Untertanen gerufen und die Familien kamen geschlossen, um dem feierlichen Handel beizuwohnen. Erst vor dem Palast gelang es Bensua, sich von ihren Verwandten zu lösen und allein in der Menge unterzutauchen. Mit klopfendem Herzen bahnte sie sich einen Weg nach vorn. Ihre Augen flackerten vor Angst und ihre Beine drohten nachzugeben. Flüsternd betete sie zu den Ahnen und allen Göttern, die sie kannte. Die salbungsvollen Worte des Asantehene, der in seiner königlichen Sänfte aus dem Palast getragen und von den Schwertträgern begleitet wurde, hörte sie kaum. Auch den holländischen Kaufmann, der unter einem goldverzierten Baldachin Platz nehmen durfte, beachtete sie nicht. Sie suchte verzweifelt nach den Kriegern, die Willem van der Meyde gekauft hatte und an die Küste mitnehmen würde. Und sie wartete auf den entscheidenden Augenblick, wenn einige Krieger ihres Volkes einen der Gefangenen über die Hauptstraße treiben und dem Henker übergeben würden. Welchen Mann hatte der König ausgesucht? Oder hatte er es dem Holländer überlassen ein Opfer auszuwählen? Dumpfes Trommeln und ein heftiger Fanfarenstoß der königlichen Trompeter kündigten den feierlichen Augenblick an. »Mein Freund!«, wandte sich der Asantehene an den
Holländer. »Du bist von weither gekommen, um mit dem mächtigen Herrscher der Asante zu speisen! Du hast uns die Waren gebracht, die du uns versprochen hattest! Du hast dich vor dem Akondwa verneigt und die Übermacht unseres Volkes anerkannt! Dafür wollen wir die Götter loben! Wir werden ihnen ein Opfer bringen, das sie günstig stimmt und dazu bringt, dich auf deinem langen Weg zu beschützen! Blicke nach Osten, mein Freund, und erfreue dich am Anblick des heimtückischen Fante, der für dich sterben wird!« Bensua kniff die Augen gegen das grelle Sonnenlicht zusammen und atmete erleichtert auf. Der unglückselige Gefangene, der von zwei Asante an Lederseilen über die Hauptstraße gezogen wurde, war älter als Ottobah. Sie wusste seinen Namen nicht, erinnerte sich aber, in seine Augen geblickt zu haben. Er stolperte wie ein tödlich getroffenes Wild. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Durch seine Wangen war ein Jagdmesser gestoßen worden, damit er den König nicht verfluchen konnte. In seinem Rücken steckten kleinere Messer. Unter den Klängen des königlichen Orchesters trieben ihn die Asante vor den König, der ihn verächtlich musterte und vor den Augen seiner Untertanen und des Holländers an den Henker weitergab. Mit einem kräftigen Schwerthieb köpfte der Asante den verurteilten Sklaven. Der Fante ertrug sein Schicksal, ohne zu wimmern und um sein Leben zu flehen. Er starb lautlos. Die Asante zeigten kein Mitleid, jubelten sogar, als das Urteil vollstreckt war, und verneigten sich vor dem König und seinem hohen Gast. Sie empfanden eine Hinrichtung nicht als Mord, es war bloß eine Notwendigkeit, die Götter mit dem Blut unwürdiger Menschen zu versöhnen. Der grausame Tod der Gefangenen und manchmal sogar unschuldiger Asante war der Preis, den sie an Onyankopon Kwame und seine Götter zu
zahlen hatten. Ohne die Menschenopfer würde sie der geballte Zorn der Götter vernichten. Die Überreste des geopferten Fante wurden weggebracht und das königliche Orchester sorgte mit einem heiteren Marsch für gelöste Stimmung. Der Asantehene wusste, was er seinem Volk schuldig war. Willem van der Meyde hatte keine Miene verzogen, als der Sklave gebracht worden war, und lächelte sogar, als der Scharfrichter seine blutige Arbeit erledigte. Ihm war der Tod eines Schwarzen gleichgültig und er machte kaum einen Unterschied zwischen einem Asante oder Fante. Für ihn waren die Schwarzen nichts weiter als primitive Tiere, minderwertige Wesen, die nur den einen Vorteil hatten, dass man sie Gewinn bringend in ferne Länder verkaufen konnte. Er hütete sich jedoch diese Gedanken einem anderen Menschen mitzuteilen. Er hofierte den Asantehene und verwöhnte ihn mit europäischen Handelswaren, weil er keinen anderen Mann kannte, der so viel Gold besaß. Und der es verstand, so viele Sklaven aufzutreiben. Vierzig Männer und Frauen und zwanzig Goldbarren hatte Willem van der Meyde für seine Waren verlangt. Sie hatten sich auf dreißig Sklaven und fünfzehn Goldbarren geeinigt und der Händler hatte versprochen bei seinem nächsten Besuch noch mehr Rum mitzubringen. Den scharfen Rum von den Westindischen Inseln trank der König am liebsten. Weil der Asantehene nur neunzehn gefangene Fante besaß, ließ er einige weibliche Sklaven und zwei Asante von seinen Schwertmännern festnehmen. Die Asante, zwei erwachsene Krieger, kamen aus dem Armenviertel und protestierten wütend gegen ihre Festnahme. Sie mussten gefesselt und geknebelt werden, sonst wären sie mit den bloßen Händen auf die Schwertmänner losgegangen. Unter den Schaulustigen entstand Unruhe, als die gefesselten Sklaven auf den Platz getrieben wurden. Die beiden Jäger, die
mit dem Holländer gekommen waren, hielten sie mit ihren Gewehren in Schach. Auch die Schwertmänner hatten ihre Waffen gezogen. Vielen Zuschauern gefiel nicht, dass zwei Asante an den Holländer verkauft werden sollten. Es gab genug Fremde in der Stadt, die sie eher geopfert hätten. Sie ahnten nicht, dass Osei Yaw eine eigene Strategie verfolgte. Er wollte die Bewohner der Hauptstadt früh genug daran gewöhnen, eigene Opfer zu bringen. Wenn es zu einem Krieg gegen die Engländer kam, konnte er es sich nicht leisten, weiter gegen die Fante zu kämpfen, und war gezwungen, dem Holländer eigene Untertanen auszuliefern. Mit Gold allein gab sich der Händler nicht zufrieden und Osei Yaw wollte auch nicht auf den Rum und die kostbaren Waren verzichten. »Mein Volk«, rief er in die aufkommende Unruhe, »ich weiß, was eure Herzen bewegt! Warum sollen wir zwei Krieger der Asante opfern, wenn es noch genug Sklaven in unserer Stadt gibt? Ich sage euch warum, meine Freunde!« Seine Miene wurde grimmig und er deutete mit dem ausgestreckten Finger auf die beiden Unglücklichen. »Diese Krieger haben gegen unsere Gesetze verstoßen! Sie haben von dem Wasser getrunken, das für die Schwertmänner des Palastes bestimmt war, und was noch viel schlimmer ist, sie haben die Stadt verlassen und die Götter beschimpft! Eigentlich hätten sie einen grausamen Tod verdient, aber ich habe in meiner unermesslichen Güte beschlossen, sie meinem holländischen Freund zu verkaufen! Sie werden ihm viel Gold bringen! Ihr Verkauf wird die zornigen Götter versöhnen!« Jedes seiner Worte war gelogen. Wenn die beiden Krieger wirklich diese Verbrechen begangen hätten, wären sie auf der Stelle hingerichtet worden. Dann hätte sich der König auch nicht durch einen goldgierigen Händler umstimmen lassen. Aber außer wenigen Königstreuen wusste niemand, dass die Männer ihr Haus gar nicht verlassen hatten. Nun waren sie
geknebelt und konnten sich nicht wehren. »Ich bin der Asentehene«, beendete der König seine Ansprache, »ich bin der Herrscher eines Volkes, das niemals ein Unrecht dulden wird! Und jetzt lasst uns feiern! Wir wollen dem Palmwein zusprechen, während unser holländischer Freund mit seiner Beute an die Küste zurückkehrt! Dies ist ein großer Tag für die Asante, denn wir haben ein Unrecht gesühnt und einen Menschen glücklich gemacht!« Kein Asante spürte die Verlogenheit dieser Worte. Am wenigsten Bensua, die tatenlos zusehen musste, wie die mit Ketten gefesselten Sklaven über den Marktplatz und aus der Stadt getrieben wurden. Selbst ein entschlossener Krieger wie Ottobah war machtlos gegen diese Behandlung. Fluchend folgte er dem Sklavenhändler, ein Schicksal vor Augen, das grausamer als der Tod war. Sein verzweifelter Schrei tönte durch die Stadt und erreichte Bensua, die neben einer Hütte stehen blieb und weinend der Karawane nachblickte. Würde sie ihn jemals wieder sehen?
6
In ihrer Verzweiflung beschloss Bensua der Sklavenkarawane zu folgen. Ohne weiter zu überlegen rannte sie nach Hause zurück. Sie stopfte Lebensmittel in eine Umhängetasche und füllte eine Wasserflasche. Zögernd griff sie nach einem der Jagdmesser, das ihr Onkel geschliffen und auf den Tisch gelegt hatte. Sie fuhr mit dem Daumen über die scharfe Klinge und erschrak, als die Haut aufplatzte und Blut hervorsickerte. Sie verstaute das Messer in der Tasche und schlich aus dem Haus. Mit einem raschen Blick überzeugte sie sich davon, dass ihre Verwandten noch nicht zurückkamen. Sie durfte ihnen auf keinen Fall begegnen. Geduckt tauchte sie in einer schmalen Gasse unter. Die meisten Bewohner waren noch beim Palast und jubelten dem König zu und sie begegnete kaum einem Menschen. Selbst Polizisten waren nicht zu sehen. Der ausgetretene Pfad, der von der Hauptstraße abzweigte und aus der Stadt führte, lag verlassen vor ihr. So schnell sie konnte, rannte sie davon. Wie eine Antilope, die vor einem Löwen flieht, sprang sie durch das hüfthohe Gras. Erst als sie den Waldrand erreicht hatte und ungefähr zwei Kilometer von der Stadt entfernt war, wurde ihr klar, was sie getan hatte. Sie blieb keuchend stehen und blickte zurück. Ihre Heimatstadt war hinter einem Hügel verschwunden. Es gab kein Zurück mehr. Niemals würde sie Kumase wieder sehen. Ihre Familie, ihre Freunde, es gab sie nicht mehr. Sobald sie herausfanden, was sie getan hatte, würde großes Wehklagen einsetzen, gefolgt von der unerträglichen Scham, eine Verräterin aufgezogen zu haben. Der königliche Krieger, der um sie geworben hatte, würde sein Schwert ziehen und sie
öffentlich verfluchen. Ihr Onkel würde der Familie verbieten ihren Namen auszusprechen. Und der König würde seine Schwertmänner losschicken um sie zurückzuholen. Nur ihre Hinrichtung würde die Götter versöhnen. Entschlossen rannte sie weiter. Wenige hundert Meter vor ihr bewegte sich die Sklavenkarawane durch den Urwald. Bensua war beweglicher als die Coffle, wie eine solche Karawane von den Weißen genannt wurde, und würde sie bald eingeholt haben. Was sie dann unternehmen sollte, wusste sie nicht. Ihr Verstand sagte ihr, dass es selbst für einen erfahrenen Krieger unmöglich gewesen wäre, einen Gefangenen zu befreien. Immer fünf Sklaven, darunter auch zwei Frauen, waren mit Ketten aneinander gefesselt und trugen schwere Balken auf den Schultern, die man mit Lederschnüren an ihren Hals gebunden hatte. Stabile Eisenringe umschlossen die Fußgelenke der Unglücklichen. Den Schlüssel zu den Vorhängeschlössern hatte Willem van der Meyde in seiner Tasche stecken. Seine Jäger waren mit Gewehren und Peitschen bewaffnet und auch die schwarzen Träger würden nicht zögern eine Befreiung der Sklaven zu verhindern. Sie wussten, dass sie selbst verkauft würden, wenn ein solcher Angriff gelang. Es musste einen anderen Weg für Bensua geben, Ottobah aus den Händen des Händlers zu befreien. Der holländische Händler würde ungefähr einen Monat brauchen um die Küste zu erreichen. Mehr als fünf Meilen an einem Tag schaffte eine Coffle nicht durch den Regenwald. Wie ein unüberwindbares Hindernis stemmte sich der Dschungel gegen die Eindringlinge. Über hundert Meter ragten die mächtigen Bäume empor, bildeten ein grünes Dach, das kaum Sonnenstrahlen durchließ. Das wenige Licht brach sich auf den feuchten Blättern und Blumen, ließ geheimnisvolle Schatten durch das Unterholz geistern und spiegelte sich auf dem silbernen Fell kleiner Affen. Farbenprächtige Blumen
rankten sich an dem Buschwerk empor, dürsteten nach den Regentropfen, die von den riesigen Farnen fielen. Bunte Schmetterlinge leuchteten in dem dichten Grün. Papageien krächzten, Vögel zwitscherten, Insekten summten. Das vielstimmige Konzert der vierbeinigen Bewohner begleitete die Menschen über den kaum sichtbaren Trampelpfad, ließ die weißen Männer nach wilden Tieren Ausschau halten und nervös zu den Waffen greifen. Ein Leopard fauchte. Sein geflecktes Fell blitzte zwischen den Bäumen auf. Für die weißen Männer war der Urwald eine grüne Hölle, ein undurchdringliches Hindernis, das jeden Eindringling mit seinen Schlingpflanzen umfing und nicht mehr losließ. An der Küste wurde die Geschichte eines Mannes erzählt, der sich ein paar Meter von seiner Karawane entfernt hatte und von einem Augenblick auf den anderen zu einem Gefangenen der Wildnis geworden war. Er wurde nie mehr gesehen. Nur ein paar hundert Meter von der rettenden Küste entfernt verirrte er sich in dem Gewirr aus Bäumen, Büschen und Schlingpflanzen, starb einsam im Dunkel des Waldes oder endete als Beute eines wilden Tieres, das ihn in sein Versteck schleifte. Im tropischen Regenwald warteten tödliche Geheimnisse, die jedem Weißen zum Verhängnis wurden, wenn er auf die Hilfe eines Schwarzen verzichtete. Nur die Bewohner des Dschungels kannten sich darin aus. Bensua hatte keine Angst. Obwohl sie in der größten Stadt des Asante-Reiches aufgewachsen war, hatte sie ihren Onkel und ihren Vater oft in den Urwald begleitet und war mit seinen Geheimnissen vertraut. Sie kannte die Tiere und Pflanzen, wusste die essbaren von den giftigen Früchten zu unterscheiden. Sie hatte gelernt, mit welchen Kräutern man eine Krankheit heilen konnte. Ihr Respekt vor den wilden Tieren und der mächtigen Pythonschlange war groß, aber sie ließ sich nicht einschüchtern und verließ sich auf ihren
angeborenen Instinkt, der sie sicher über den einsamen Pfad führte. Die Hitze, die sich auch unter dem grünen Dach des Regenwaldes staute, machte ihr kaum etwas aus. Und wenn es gefährlich wurde, hatte sie immer noch das Jagdmesser ihres Onkels um sich zu wehren. Sie blieb neben einem mächtigen Baumstamm stehen und lauschte angestrengt. Ihr Blick reichte keine fünf Meter weit, verlor sich in dem verwirrenden Grün des Waldes. Ihr blieb nur das Gehör um einen Feind auszumachen. Eine Raubkatze, eine Schlange, einen Krieger der Asante, der aus einem benachbarten Dorf kam und zufällig auf sie stieß. Sobald sie ihre Flucht bemerkten, würden auch die Schwertmänner auf ihrer Spur sein um sie nach Kumase zurückzuholen. Viel Zeit blieb ihr nicht. Die Krieger waren es gewohnt einen Feind durch den Dschungel zu verfolgen und würden sie einholen. Auch wenn es noch einige Zeit dauern würde, bis sie ihr Verschwinden bemerkten. Und gegen die besten Krieger des Königs war sie selbst mit einem Messer machtlos. Nur eine List konnte ihr helfen, den unerbittlichen Verfolgern zu entkommen. Und der Beistand der Götter, die sich vielleicht erweichen ließen und ihrer Liebe zu dem gefangenen Fante eine Chance gaben. Was sie unternehmen würde, falls es ihr wirklich gelang den Verfolgern zu entkommen, wusste sie nicht. Sie hatte keinen festen Plan, nicht mal eine vage Idee, wie sie Ottobah befreien konnte. An den Schlüssel würde sie niemals herankommen, nicht einmal nachts. Das schaffte nur ein Krieger wie ihr Onkel, der sich auch einem schlafenden Löwen bis auf wenige Schritte nähern konnte. Das Gold, das der Holländer für den Sklaven verlangen würde, besaß sie nicht. Wenn er ihn überhaupt verkaufte. Blieb nur die Möglichkeit, ihren Körper für die Freilassung anzubieten. Sie hatte von einer jungen Frau gehört, die ihren Körper an einen Sklavenhändler verkauft
hatte und für ihre Dienste mit Geschenken überhäuft wurde. Würde Ottobah sie zur Frau nehmen, wenn sie mit dem Holländer schlief? Sie konnte nicht ahnen, dass die junge Frau, von der sie gehört hatte, wenige Wochen später als Sklavin auf ein Segelschiff nach Brasilien verfrachtet worden war. Sie blieb am Rande eines ausgedehnten Mangrovensumpfes stehen und starrte in den nebligen Dunst, der wie feine Watte über dem dunklen Wasser hing. Ein Schwarm von Insekten bewegte sich in der feuchten Luft. Die weißen Männer fürchteten Gegenden wie diese. Sie wurden krank in der Hitze, bekamen hohes Fieber und starben. Es gab Schiffskapitäne, die sich nicht von Bord trauten und ungeduldig auf ihre Ladung warteten, weil sie fürchteten sich anzustecken. Willem van der Meyde war einer der wenigen Europäer, die viele Jahre an der westafrikanischen Küste lebten und nicht ein einziges Mal krank gewesen waren. Er besaß natürliche Abwehrkräfte gegen die verseuchte Luft. Bensua nahm an, dass die bösen Geister auf seiner Seite waren und ihn gegen das Fieber schützten. Er hatte sich mit ihnen verbündet. Das Mädchen ging zügig weiter. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als nach Süden weiterzulaufen. Mit einem Gebet auf den Lippen marschierte sie durch den Urwald. Sie musste den Göttern vertrauen. Wenn sie auf ihrer Seite waren, würden sie eine Möglichkeit finden, Ottobah zu befreien. In Gedanken sah sie einen feurigen Blitz, der aus dem Reich der Götter herabfuhr und den Sklavenhändler wie eine Fackel brennen ließ. Ein gewaltiger Donnerschlag löste die eisernen Fesseln von den Gefangenen und trieb Ottobah in ihre Arme. Sie würden zur Küste fliehen und weiter nach Norden, bis sie ein Land erreichten, in dem sie sicher vor den Schwertmännern des Asantehene waren. Sie würden ein Haus bauen und ein neues Volk gründen.
Hinter ihr ertönte ein ungewöhnliches Geräusch. Sie griff blitzschnell nach ihrem Messer und fuhr herum. Nur ein Stachelschwein, das im Gebüsch verschwand. Erleichtert ließ sie die Hand mit dem Messer sinken. Die ständige Gefahr, in der sie seit ihrer Flucht schwebte, hatte sie nervös gemacht. Sie rieb sich den Schweiß von der Stirn und marschierte weiter. Es würden noch einige Stunden vergehen, bis man Alarm schlug. Auch die Polizisten feierten auf dem Marktplatz, tranken Palmwein und scharfen Rum, und wenn sie Glück hatte, tanzten und tranken auch ihre Verwandten bis in die späte Nacht. Dann würde es früher Morgen werden, bis sich die Schwertmänner an eine Verfolgung machten. Sie schickte ein Gebet zum Himmel, bat Onyankopon Kwame die Krieger so lange aufzuhalten, bis sie einen ausreichenden Vorsprung hatte. Die Schwertmänner hatten bestimmt keine Lust, ihr bis zur Küste zu folgen. Wenn sie großes Glück hatte, brachen sie die Verfolgung ab und kehrten unverrichteter Dinge nach Kumase zurück. Sie konnten den König anlügen, ihm erzählen, dass sie von einem Leoparden getötet worden war. Aber sie vermutete vielmehr, dass sie nicht eher ruhen würden, bis sie für ihr Verbrechen bestraft worden wäre. Auf einer Lichtung holte Bensua die Coffle ein. Sie blieb im Dunkel des Waldes stehen und beobachtete, wie die Sklavenkarawane über einen sumpfigen Hang zog. Durch die Öffnung in dem grünen Dach strahlte die Sonne herein, als wollte sie das Leid der bedauernswerten Sklaven durch ihr Licht besonders hervorheben. Von der Last der hölzernen Balken, die auf ihren Schultern lagen, nach unten gedrückt, stolperten sie durch das feuchte Gras. Die Spitze der Karawane bildete die Sänfte des holländischen Händlers, gefolgt von den schwarzen Lastenträgern und den gefesselten Sklaven. Die weißen Jäger trieben die Gefangenen mit Peitschenschlägen an. Das Gewimmer einiger Männer, die diese grausame
Marterung kaum noch aushielten, drang wie ein dumpfes Echo über die Lichtung. Bensua unterdrückte einen Schrei und suchte nach Ottobah. Er war leicht zu finden. Als einziger Sklave wehrte er sich lautstark gegen die unwürdige Behandlung. Er verfluchte seine Peiniger mit derben Flüchen, spuckte vor ihnen auf den Boden und schimpfte nur noch lauter, wenn ihm einer der Jäger die Peitsche über den nackten Rücken zog. Der Schmerz schien ihm nichts auszumachen. Das Blut, das aus seinen Wunden sickerte, beachtete er kaum. »Schlagt mich, ihr räudigen Hunde!«, fauchte er die Männer an. »Ihr könnt mir das Fleisch zerfetzen und die Knochen brechen! Aber meine Seele könnt ihr niemals töten! Sie wird immer leben! Ich bin stark! Ich bin ein Krieger der Fante! Die bösen Geister werden euch holen und ins Verderben stürzen! Das Königreich, das uns nach dem Tod erwartet, werdet ihr niemals sehen. Ihr werdet an dem finsteren Ort schmoren, den ihr Hölle nennt! Dort werdet ihr eure gerechte Strafe finden!« Willem van der Meyde verstand als einziger Weißer, was der Krieger sagte. »Schlagt ihn!«, rief er seinen Männern auf Holländisch zu. »Schlagt ihn, bis er nicht mehr gerade stehen kann! Wenn ihn die anderen mitschleppen müssen, werden sie sich dreimal überlegen, ob sie dieses Geschrei noch länger dulden!« Bensua beobachtete mit wachsendem Entsetzen, wie die beiden Jäger den Befehl des Holländers ausführten. Sie hatte die Worte nicht verstanden, konnte sich aber denken, was er gemeint hatte. Über ihr Gesicht liefen Tränen, als die weißen Männer mit ihren Peitschen auf den armen Fante eindroschen und erst zufrieden waren, als er stöhnend zu Boden sank. »Du hast die längste Zeit auf unseren Herrn geschimpft«, triumphierte einer der Peiniger, »noch ein Wort und wir lassen dich für die wilden Tiere liegen!« Er wandte sich an die
Gefangenen, die an denselben Balken gefesselt waren, und herrschte sie an: »Tragt den verdammten Kerl! Habt ihr euch selber zuzuschreiben, wenn ihr ihn schleppen müsst!« Er ließ die Peitsche knallen und grinste schadenfroh, als er sah, wie sich die Gefangenen mit Ottobah abmühten. Wie zu Stein erstarrt blieb Bensua am Rand der Lichtung stehen. Minutenlang war sie zu keiner Regung fähig. Ihre Tränen waren längst versiegt. Sie spürte ein Würgen im Hals, übergab sich in dem dichten Laubwerk und musste sich an einem Baumstamm festhalten. Mühsam rang sie nach Luft. Sie griff nach ihrer Wasserflasche, trank einen großen Schluck und verschloss sie wieder. »Ottobah!«, wollte sie flüstern, aber es wurde nur ein heiseres Krächzen daraus. Sie fühlte mit dem Krieger, weil ihn die Weißen beinahe zu Tode gepeitscht hatten, und sie bewunderte ihn für seinen Mut, sich gegen diese Sklavenhändler zu wehren. Er war tapferer als alle anderen Krieger, die sie kannte. Bensua verstaute die Wasserflasche in ihrer Umhängetasche und folgte der Karawane. Sie blieb ungefähr zweihundert Schritte hinter der Coffle zurück, überlegte krampfhaft, wie sie Ottobah befreien konnte. Konnte sie es wagen, dem Holländer ihren Körper anzubieten? Waren die Götter damit einverstanden, wenn sie ein Tabu ihres Volkes verletzte um den geliebten Krieger zu retten? Oder würde der Holländer sie betrügen, sich nehmen, was sie ihm darbot, und sie ohne Proviant im Urwald zurücklassen? Sie beschloss die nächste Nacht im Dschungel abzuwarten und zu Onyankopon Kwame zu beten. Er würde eine Antwort wissen. Er würde ihr verraten, ob es eine gemeinsame Zukunft für sie gab. Sie marschierte, bis der Holländer das Nachtlager aufschlagen ließ, und suchte sich ein geschütztes Versteck zwischen einigen Büschen. Sie befanden sich auf einer weiten Lichtung, am Ufer eines größeren Sees, der rotgolden im Licht
der untergehenden Sonne schimmerte. Einige Elefanten standen im Wasser und suchten mit ihren Rüsseln nach Mineralien. Ein Bulle trompetete unwirsch, als er die Witterung der Menschen aufnahm, unternahm aber nichts. Ein Kranich schwebte über dem Ufer und ließ sich auf einem Baumstumpf nieder. Die Luft war frisch und würzig und auch Bensua war froh, dem schwülen Regenwald zumindest für eine Zeit entfliehen zu können. Aus ihrem Versteck beobachtete sie, wie die Gefangenen zu Boden gestoßen und mit etwas Brei und Wasser abgespeist wurden. Ottobah bekam gar nichts. Er war aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht und saß trotzig zwischen den anderen Sklaven. In den Augen einiger Krieger erkannte Bensua Unwillen über den Widerstand ihres jungen Freundes. Sie hatten ihn den ganzen Nachmittag schleppen müssen. Für sie hatte es mehr Peitschenhiebe gegeben als für die anderen Männer. Sein Nachbar flüsterte ihm etwas zu, ermahnte ihn wohl, sich in sein Schicksal zu ergeben, und wurde von Ottobah mit einem wütenden Fluch zurechtgewiesen. Sofort knallte ein Peitschenhieb auf ihn nieder. Bevor er gegen den Jäger aufbegehren und etwas erwidern konnte, spürte er die Hand seines Nachbarn auf seinem Mund. Bensua blickte zu den beiden Frauen hinüber, die bei der Gruppe waren, und stellte erstaunt fest, dass man ihre Fesseln gelöst hatte. Einer der Jäger scherzte mit ihnen. Sie gingen auf das Spiel ein, hofften wohl, sich auf diese Weise einen Vorteil verschaffen zu können. »Lass den Unsinn!«, wies Willem van der Meyde den Mann zurecht. »Sagt ihnen lieber, dass sie was zu essen kochen sollen! Ich habe Hunger, verdammt! Sie kochen bestimmt besser als ihr!« Er strafte die beiden Jäger und seinen Buchhalter mit einem wütenden Blick. »Was ist?«, schrie er seine schwarzen Diener an. »Stellt endlich das Zelt auf! Wie lange dauert das denn noch?« Der Sklavenhändler
verbrachte die Nacht in einem weißen Zelt, ließ sich das Essen, das die Sklavinnen über einem offenen Feuer zubereiteten, auf einem silbernen Tablett bringen und blieb lange mit den Frauen allein. Die weißen Jäger rollten ihre Decken unter freiem Himmel aus. Sie teilten mehrere schwarze Träger als Wachen ein und wechselten sich selbst mir der Beaufsichtigung der Sklaven ab. Nachts knallten die Peitschen seltener, man ließ die übermüdeten Schwarzen zu Kräften kommen. Nur gesunde Sklaven wurden auf die Schiffe gelassen. »Fasst sie hart an!«, hatte Willem van der Meyde seinen Männern gesagt. »Sie müssen lernen sich einem weißen Herrn unterzuordnen! Aber schlagt sie nicht tot! Für einen toten Sklaven bekomme ich nichts! Bevor wir die Küste erreichen, will ich, dass ihr sie anständig füttert! Der Captain der Hannibal ist sehr wählerisch! Er zahlt nur für kräftige Sklaven!« »Aber vorher prügeln wir sie ordentlich durch!«, hatte der Jäger versprochen, der Ottobah geschlagen hatte. »Das schwarze Ungeziefer hat es nicht anders verdient! Diese Neger sind schlimmer als Affen! Ich bin froh, wenn ich dieses Pack nicht mehr sehe!« Bensua ahnte nichts von dieser Unterhaltung. Sie lag in ihrem Versteck, blickte zu den Sternen empor und bat die Götter in einem langen Gebet um Hilfe. Mit Tränen in den Augen schlief sie ein. In ihrer rechten Hand lag das Jagdmesser ihres Onkels.
7
Mitten in der Nacht schreckte Bensua aus dem Schlaf. Ein Geräusch, das nicht zum Konzert des nächtlichen Regenwalds gehörte, hatte sie geweckt. Ein Weißer hätte das leise Knacken der Zweige und das Rascheln der Schlingpflanzen niemals bemerkt. Der Urwald war voller Geräusche. Insekten zirpten, Papageien krächzten und die Pottos, den Faultieren ähnliche Halbaffen, ließen ihr nervöses Kreischen ertönen, das einen Weißen, der diese Geräuschkulisse nicht gewohnt war, kaum Schlaf finden ließ. Aus der Dunkelheit drang das Fauchen eines Leoparden, der eine Beute gerissen hatte und einen Nebenbuhler vertrieb. Vertraute Geräusche für eine junge Asante, die selbst im Schlaf merkte, wenn sich ein ungewohntes Geräusch darunter mischte. Ihre Verfolger waren in der Nähe. Die Schwertmänner des Königs hatten sie eingeholt und näherten sich dem Feuer der Sklavenkarawane. Vier oder fünf Männer, schätzte sie, mehr waren nicht nötig um eine junge Verräterin einzufangen. Sie waren keine hundert Schritte entfernt und mussten jeden Augenblick auf der Lichtung auftauchen. Auch Ottobah und einige andere Sklaven hatten ihre Schritte gehört und lauschten in die Dunkelheit. Der weiße Jäger, der mit dem Gewehr über den Knien auf einem umgestürzten Baumstamm saß, hörte nichts und sprang erschrocken auf, als die Asante-Krieger in den Feuerschein traten. Er riss sein Gewehr hoch und ließ es erleichtert wieder sinken. Die goldverzierten Schwerter der Asante waren einzigartig im Regenwald der Goldküste. Mit gedämpfter Stimme rief er nach dem Holländer und dem anderen weißen
Jäger. »Asante«, erklärte er, als sein Kumpan hochschreckte und Willem van der Meyde verschlafen aus seinem Zelt kroch. »Die Asante sind hier!« Der Holländer rieb sich die Augen und befahl seinem Buchhalter mit einer unwirschen Handbewegung ihm einen Becher Tee zu bringen. »Pfui Teufel, das Zeug ist ja eiskalt!«, schimpfte er, als er einen Schluck getrunken hatte. Er warf den Becher ins Gras und wandte sich an die Schwertmänner. »Was wollt ihr?« »Wir suchen eine junge Frau«, antwortete der Anführer in dem Kauderwelsch aus Englisch, Holländisch und Asante, in dem man sich an der Goldküste verständigte. »Ihr Name ist Bensua! Sie ist aus Kumase geflohen! Wir glauben, dass sie einen Sklaven befreien will! Ein Krieger hat gesehen, wie sie mit ihm gesprochen hat!« »Hier ist keine Frau, die so heißt«, erwiderte der Holländer unwirsch. Er mochte nicht, wenn man ihn in seiner Nachtruhe störte. »Und wenn es so wäre, hätten wir sie längst entdeckt.« Er bot den Kriegern nichts zu essen an, gönnte ihnen nicht mal den kalten Tee. »Seit wann verfolgen die Asante hilflose Frauen?« Der Anführer zuckte zusammen. Einen Krieger hätte er für diese Beleidigung geschlagen. »Diese Frau ist eine Verräterin«, sagte er stattdessen. Der König hatte ihm streng verboten sich mit dem Sklavenhändler anzulegen. Er war mächtiger als die weißen Häuptlinge, die in den steinernen Palästen regierten, und die Asante brauchten ihn. »Sie hat unsere Gesetze gebrochen! Sie hat sich mit einem Gefangenen getroffen! Dafür muss sie sterben! Vielleicht weiß der verdammte Fante, wo sie ist!« Ohne auf das Einverständnis des Holländers zu warten trat der Anführer vor Ottobah, der hilflos auf dem Boden lag. Ein heftiger Fußtritt des Asante ließ ihn nicht einmal mit den
Wimpern zucken. »Wo ist die Frau, die du mit deiner Berührung beschmutzt hast?«, fuhr er den Gefangenen an. »Wo steckt die feige Verräterin, die einen unserer angesehensten Krieger verlässt, um sich mit einem Stück Dreck wie dir zu vereinen? Sag es mir, niederträchtiger Sklave! Sag es mir oder ich bringe dich um!« Bensua griff nach ihrem Messer und war versucht, aus ihrem Versteck zu springen und dem Krieger zu Hilfe zu eilen. Gerade noch rechtzeitig erkannte sie ihren Leichtsinn. Wenn sie auf die Lichtung stürmte, würden die Schwertmänner sie töten. Sie erreichte mehr, wenn sie die Unaufmerksamkeit der Asante nützte und in den Urwald floh. Solange sie abgelenkt waren, entkam sie ihnen vielleicht. Sie war eine geschickte Jägerin, das hatte sogar ihr Onkel erkannt, und bewegte sich leiser als mancher Krieger. Abseits des Pfades gab es zahlreiche Verstecke. Dort konnte sie warten, bis die Männer nach Kumase zurückkehrten. Noch bevor der Holländer den Anführer zurechtwies und ihm befahl sich von seinen Sklaven fern zu halten, verließ Bensua ihr Versteck. Beinahe lautlos teilte sie die Büsche und verschwand im dichten Laubwerk. Schon nach wenigen Metern verblasste der Feuerschein und es wurde stockdunkel. Sie wand sich wie eine Raubkatze durch das Unterholz, wich instinktiv den gefährlichen Schlingpflanzen aus und erreichte einen schmalen Pfad, den ein größeres Tier durch den Urwald geschlagen hatte. Er endete nach wenigen Schritten und ließ ihr nur die Möglichkeit, sich einen Weg durch das Grün des Dschungels zu bahnen. Alle paar Meter blieb sie stehen und blickte sich nach den Verfolgern um. Sie waren nicht zu hören. Anscheinend waren sie in eine Auseinandersetzung mit dem Holländer verwickelt und hatten es versäumt auf ihre Umgebung zu achten. Erleichtert blieb sie stehen und atmete tief durch. Ein
zufriedenes Lächeln entspannte ihr Gesicht, als sie an Ottobah dachte. Der Fante hatte sich seinen Stolz bewahrt und selbst in seiner ausweglosen Lage gegen die weißen Jäger aufbegehrt. Und als die Asante erschienen waren und ihren Namen genannt hatten, war ein stolzes Glimmen in seine Augen getreten. Das hatte Bensua sogar aus der Ferne erkannt. Sie hatte den Fante gespürt! Sein Lächeln, seine sanften Hände, die Berührung seiner Lippen. Auch wenn er gefesselt auf dem Boden lag, war er ihr ganz nahe. Die Götter hatten ihre Seelen verbunden und es gab noch Hoffnung. Bensua verdrängte die Gedanken und besann sich auf ihre Flucht. Sie drang weiter durch den Urwald, war jetzt weit genug vom Lagerplatz entfernt, um sich nicht mehr durch ein Geräusch zu verraten. Den Kopf gesenkt, die Arme ausgestreckt kämpfte sie sich durch das Laubwerk. Das Kreischen der Pottos stand in der warmen Luft. Insekten schwirrten um ihren Kopf. Sie lief in westlicher Richtung, das wusste sie, auch ohne die Sterne und den Mond sehen zu können, behielt die Richtung bei, um am übernächsten Morgen wieder die Verfolgung aufnehmen zu können. So lange wollte sie in ihrem Versteck aushalten. Sie durfte sich nicht zu früh auf dem Pfad zeigen, wenn sie den Schwertmännern entkommen wollte. Notfalls musste sie nachts laufen. Der Urwald wurde lichter. Sie betrat einen weiteren Pfad, folgte ihm durch widerspenstiges Gestrüpp, das sie vermuten ließ, einen längst vergessenen Jagdweg entdeckt zu haben, und erreichte eine kleine Lichtung. Erleichtert blieb sie stehen. Hundert Meter über ihr klaffte eine Öffnung in dem dichten Dschungel und ließ das blasse Licht des Mondes und der Sterne herein. Eine Nachricht der Götter, die ihr zeigen wollten, dass es noch Hoffnung gab? Sie sprach ein Dankgebet und trat in den Lichtschein. Der Anblick der funkelnden Sterne war ihr immer ein Trost gewesen, hatte ihr neue Kraft gegeben,
wenn sie von Problemen erdrückt wurde. Auch in dieser Nacht empfand sie ihren Anblick als wohltuend. Der Mond schien ihr sanft zuzulächeln. Es war ein falsches Lächeln, das merkte sie schon nach wenigen Schritten. Denn erst als sich ihre Augen an das ungewohnte Licht gewöhnt hatten, erkannte sie die Überreste eines kleinen Dorfes, das einige Familien vor langer Zeit errichtet hatten. Von den runden Lehmhütten waren nur noch die eingestürzten Wände zu sehen. Hüfthohe Farne wuchsen aus den Ruinen und hatten sie teilweise unter sich begraben. Die einzige Straße der Siedlung war kaum noch zu erkennen. Die schweren Unwetter, die während der Regenzeit niedergegangen waren, hatten sie überschwemmt und neues Gras wachsen lassen. An einigen Werkzeugen, die in den Trümmern lagen, erkannte Bensua, dass sie sich in einem verwüsteten Dorf der Asante befand. Verkohlte Balken versperrten ihren Weg. Sie kletterte über eine eingebrochene Mauer und fand sich in der Überresten einer Hütte wieder. Sie riss einige Pflanzen von dem eisernen Bettgestell, das wie ein Gerippe aus dem wuchernden Grün ragte, das Vermächtnis eines englischen Händlers, der auch nach Kumase gekommen war und seine Möbel verkauft hatte. Die weißen Männer hatten seltsame Dinge in den Urwald gebracht. Sie setzte sich auf den Bettrand und schloss die Augen. Vor kurzer Zeit hätte sie noch gelacht, wenn ihr jemand verraten hätte, dass sie ihre Heimat und ihre Familie verlassen würde, um einem Sklaven in eine ungewisse Zukunft zu folgen. Wie stark musste ein Gefühl sein, wenn es sogar die Bindung zur Abusua zerschnitt, der Familie der Mutter! Sie hatte instinktiv gehandelt, war diesem neuen Gefühl gefolgt, ohne lange über die Folgen nachzudenken. Ihre Verwandten würden diesen Schritt niemals verstehen. Sie
verstand ihn selbst nicht ganz. Sie wusste nur, dass sie sich keinen Vorwurf zu machen brauchte. Sie war den Stimmen der Götter gefolgt, die ein unsichtbares Band zwischen Ottobah und ihr gespannt hatten. Dieses Band konnten nicht einmal die Schwertmänner des Königs zertrennen. Bensua öffnete die Augen und sah einen menschlichen Schädel im Mondlicht liegen. Sie bückte sich und hob ihn auf. Mit wachsendem Erschrecken betrachtete sie die menschlichen Überreste. Sie suchte weiter und fand die Knochen einer Ziege. In den anderen Hütten sah sie zwei weitere Schädel. Drei Tote in einem Dorf, das hundert Asante beherbergt haben musste! Vielleicht ein paar mehr, wenn sie im Tageslicht suchte. Ein ungeheurer Verdacht beschlich sie. Die Fante waren niemals so weit nach Norden vorgedrungen. Während des Krieges hatten sie einige Dörfer im Süden überfallen, aber weiter waren sie nie gekommen. Auch die anderen Feinde der Asante hatten es niemals geschafft, bis auf wenige Meilen an die Hauptstadt heranzukommen. Doch wo waren die anderen Männer, Frauen und Kinder geblieben, wenn dieses Dorf dem Zorn der Götter zum Opfer gefallen war? Hatten sie Zeit gehabt zu fliehen? Sie konnte sich nicht daran erinnern, Flüchtlinge in Kumase gesehen zu haben. Und ein solches Unglück war niemals erwähnt worden. Sie setzte sich auf einen Mauerrest und versuchte die ungeheuerlichen Gedanken von sich zu schieben. So grausam war der Asantehene nicht. Niemals würde der König eines seiner Dörfer überfallen lassen um die Bewohner in die Sklaverei zu verkaufen. Oder doch? Sie zermarterte ihr Hirn, suchte nach einer anderen Möglichkeit, das Verschwinden der Bewohner zu erklären. Es gab keine. Der Asantehene und seine Schwertmänner führten einen Krieg, der sich gegen das eigene Volk richtete. Sie überfielen ihre eigenen Leute und schickten sie in die Sklaverei um noch mehr Reichtum anzuhäufen. Der
Rum und die Waren, die sie aus Europa bekamen, waren ihnen nicht genug. Sie waren genauso habgierig wie die weißen Sklavenhändler. Es gab keine andere Erklärung. Sonst hätten die Götter sie nicht in dieses zerstörte Dorf geführt. Sie wollten, dass sie die Niedertracht mit eigenen Augen sah. Sie begann zu weinen und war so in ihrem Schmerz gefangen, dass sie die nahenden Verfolger überhörte. Erst als sie aus dem Urwald traten, erkannte sie, dass sie ihre Spur nicht verloren hatten und ihr weiter gefolgt waren. Sie griff nach ihrem Messer und duckte sich hinter die Mauerreste. Das Gras raschelte unter ihren Knien. Sie hörte, wie einer der Krieger etwas sagte und der Anführer antwortete. Fünf Männer betraten das niedergebrannte Dorf. Wie dunkle Todesboten hoben sie sich gegen das blasse Licht des Himmels ab. Bensua duckte sich noch tiefer. Es blieb keine Zeit mehr, sich nach einem besseren Versteck umzusehen. Ihre Trauer und Verzweiflung hatten sie in eine lebensbedrohliche Lage gebracht. Wenn die Schwertmänner die Hütten absuchten, würde sie ihnen nicht entkommen. Allein und nur mit einem Messer bewaffnet würde sie den Kriegern nicht lange standhalten können. Die Schwertmänner gehörten zu den besten Kriegern des Königs und waren wütend, weil sie ihre Nachtruhe für die Verfolgung einer Verräterin opfern mussten. Mit klopfendem Herzen wartete sie darauf, dass die Krieger sie entdeckten. Sie konnte bereits ihre Stimmen hören. Die Männer wussten, dass sie nur mit einem Jagdmesser bewaffnet war, und hatten keine Angst vor ihr. Sie war eine ungezogene Hexe, die einem räudigen Hund in den Dschungel gefolgt war und den Tod verdiente. »Du bist hier!«, hörte sie den Anführer rufen. »Ich spüre, dass du hier bist! Komm aus deinem Versteck und geh mit uns nach Kumase zurück! Sei eine
Asante und empfange das Urteil, das der mächtige Asantehene über dich verhängt!« Sie gab keine Antwort, blieb in ihrem Versteck und wagte nicht einmal zu atmen. Noch hatte sie diesen Kampf nicht verloren. »Oder bist du feige? Bist du eine Hexe, die so sterben will, wie die Asante in diesem Dorf gestorben sind? Sollen wir ein Feuer anzünden und deine Seele zu den bösen Geistern schicken?« Bensua ließ sich nicht herausfordern. Niemals würde sie mit den Schwertmännern nach Kumase zurückkehren! Sie wusste, welches Urteil sie erwartete. Eher würde sie in diesem verlassenen Dorf sterben, als gefesselt und mit einem Messer in den Wangen über die Hauptstraße zu wanken. Ihre Verwandten sollten diese Schande nicht erleben. Sie würde kämpfen. Auch wenn sie gegen die Schwertmänner keine Chance hatte. Sie würde sich so lange wehren, bis sie einen ehrenvollen Tod fand. »Sie weiß, was hier geschehen ist«, hörte sie einen der Männer flüstern. Er war besorgt. »Wir dürfen sie nicht nach Kumase bringen! Wir müssen sie töten, sonst verrät sie unser Geheimnis!« »Ich schneide ihr die Zunge ab«, erwiderte der Anführer. Bensua beobachtete, wie die Männer in eine andere Hütte kletterten und laut fluchten, als sie niemand entdeckten. »Komm endlich raus, du Hexe!«, rief der Anführer wütend. »Es hat keinen Zweck, sich zu verstecken! Du entkommst uns sowieso nicht!« Sie sah, dass die Männer in eine andere Richtung blickten, und ergriff ihre letzte Chance. So leise sie konnte, schlich sie aus ihrem Versteck. Wenn sie es bis in den Urwald schaffte, bestand die Möglichkeit, im dichten Dschungel unterzutauchen. Geduckt stieg sie über die Trümmer hinweg.
Sie wagte nicht sich zu den Kriegern umzudrehen. Jeden Augenblick erwartete sie eine Muskete krachen zu hören. Die Kugel würde in ihren Körper schlagen und ihr Leben beenden, bevor es richtig begonnen hatte. Oder ein tödlicher Pfeil schwirrte heran und bohrte sich in ihren Hals. Die Schwertmänner kannten kein Erbarmen. Sie schaffte es bis zu den Büschen neben der Hauptstraße. Sie war immer noch fünfzig Schritte vom rettenden Urwald entfernt, als die Krieger sie entdeckten. »Da ist sie!«, schrie einer der Männer. Bensua blickte sich um, stolperte über einen Lehmbrocken und fiel der Länge nach in den getrockneten Schlamm. Das Messer entglitt ihrer Hand. Sie sprang auf, stürzte erneut und griff nach der blitzenden Waffe. Verzweifelt kämpfte sie sich vom Boden hoch. Die Krieger waren bis auf wenige Meter heran. Todesmutig stellte sie sich den Männern entgegen. Mit einem verzweifelten Schrei warf sie sich auf den Angreifer. Die Klinge ihres Messers blitzte im Mondlicht. Sie holte aus und lief in einen wuchtigen Faustschlag des Mannes, der sie bewusstlos zu Boden sinken ließ, noch bevor ihr Messer seine Haut berührt hatte. Das verächtliche Lachen und den Spott der Schwertmänner hörte sie nicht mehr. Sie versank in tiefer Dunkelheit und glaubte sich bereits in einer anderen Welt, als sie erwachte und in die Augen des holländischen Sklavenhändlers blickte. Sie spürte einen heftigen Schmerz am Kopf und wollte sich an die Stirn greifen, aber sie war an Armen und Beinen gefesselt und zu kaum einer Bewegung fähig. Auf ihren Lippen klebte getrocknetes Blut. Dies war nicht das Jenseits. In der anderen Welt gab es keine Sklavenhändler und keine Schwertmänner und Schmerz existierte nur in der Erinnerung an das gefährliche Leben, das vor der Ewigkeit lag. Sie wandte stöhnend ihren Kopf, sah das Gesicht Ottobahs im flackernden Schein des Feuers und fühlte,
wie ihre Kraft zurückkehrte. Sie war nicht tot. Und solange sie nicht tot war, gab es Hoffnung. Eine sehr geringe Hoffnung, wie sich bald darauf herausstellte. »Sie ist ein kräftiges Mädchen«, hörte sie den Holländer sagen, »fast schon eine Frau! Ich hielte es für eine Vergeudung, sie nach Kumase zu bringen und ihren schönen Kopf vom Rumpf zu schlagen!« Er schmatzte mit den Lippen und lächelte hintergründig. »Ich glaube, ich habe eine bessere Verwendung für das hübsche Kind!« Er zwinkerte verschwörerisch. »Der König braucht ja nicht zu erfahren, dass ich sie mitgenommen habe. Sagt ihm, dass sie tot ist! Ein Leopard hat sie erwischt und in sein Versteck gezogen, nicht wahr?« »Sie hat gegen die Gesetze unseres Volkes verstoßen«, meinte der Anführer. »Sie ist eine Hexe! Eine Verräterin! Wir bringen sie zurück nach Kumase! Dort wird sie ihr gerechtes Urteil finden!« Doch das spöttische Lächeln des Holländers blieb. Er schnippte mit den Fingern und ließ seine Männer zwei große Fässer mit Rum und einen Beutel voller Kauri-Muscheln bringen. »Ich glaube nicht, dass ihr sie zurückbringt«, meinte er spöttisch. »Ich denke, ihr werdet meine großzügige Bezahlung annehmen und ohne sie nach Kumase zurückkehren! Oder wollt ihr, dass ich dem König erzähle, ihr hättet mir nachspioniert? Wollt ihr das wirklich?« »Wir gehen«, erwiderte der Anführer. Die Schwertmänner verschwanden mit den Fässern und den Muscheln und ließen Bensua bei dem Sklavenhändler zurück. »Das war ein guter Tausch«, sagte der Holländer und rieb sich zufrieden die Hände.
8
Bensua erlebte einen Albtraum. Die bösen Geister hatten sich mit den weißen Männern verbündet und trieben sie einem ungewissen Schicksal entgegen. Aus der jungen Asante, die von einem königlichen Krieger umworben wurde, war eine rechtlose Sklavin geworden. Eine Gefangene, die mit gefesselten Händen durch den Urwald gestoßen und von den weißen Jägern mit derben Flüchen angetrieben wurde. Das Rasseln der Ketten, Stöhnen der Männer und Knallen der Peitschen, wenn die weißen Jäger die Geduld verloren, hingen wie eine ständige Drohung in der schwülen Luft und begleiteten sie auf dem langen Marsch durch den Regenwald. Aus der Erleichterung, ihr Leben gerettet zu haben und in der Nähe des geliebten Ottobah zu sein, war nackte Angst geworden. Für eine Sklavin der weißen Männer gab es kaum Hoffnung. Sie hatte genug über die Sklaventransporte gehört um zu wissen, welches Schicksal sie am großen Wasser erwartete. Die Küstenvölker berichteten von skrupellosen Weißen, die ihre schwarzen Gefangenen wie Vieh behandelten und mit knallenden Peitschen auf ihre Schiffe trieben. Sie hatte Bilder dieser riesigen Boote bei den arabischen Händlern gesehen. Wie gewaltige Vögel schwebten sie über das Meer, die weißen Tücher im Wind, den Bug von stürmischen Wellen umgeben. Wohin die unfreiwillige Reise ging, wusste niemand zu sagen. Es wurde von mächtigen Herrschern mit blasser Haut erzählt, wohlhabender und einflussreicher als der mächtige König der Asante. Sie herrschten über riesengroße Reiche und nutzten die Sklaven als kostenlose Arbeitskräfte aus. Skrupellose Aufseher
hinderten die unglückseligen Schwarzen daran, das fremde Land zu verlassen. Ein Krieger der Fante, der auf einem der Schiffe gewesen und den Weißen im letzten Augenblick entkommen war, beschrieb einen dunklen Ort, an dem die bösen Geister regierten. Von dort gab es keine Rückkehr. Ottobah gab ihr die Kraft, dieses Schicksal zu ertragen. Wenn sie lagerten, trafen sich ihre Blicke und sie spürte, wie sich seine wilde Entschlossenheit auf sie übertrug. Das unsichtbare Band, das die Götter zwischen ihnen geknüpft hatten, war noch nicht zerrissen. Solange sie in seine Augen sehen konnte, gab es noch Hoffnung. »Onyankopon Kwame«, betete sie leise, wenn sie im feuchten Gras schlief, »hilf mir diese schwere Zeit zu überstehen! Beschütze den Krieger, der meine Seele berührt hat! Sei bei den Männern und Frauen, die mit mir in die Gefangenschaft wandern! Bleib in meiner Nähe, weil ohne dich werde ich in dem Land, das den weißen Männern gehört, nicht überleben! Halte das Band, das mich mit Ottobah verbindet, denn nur er ist stark genug, sich gegen die Herrschaft der Weißen zu wehren!« Über einen Monat brauchte die Sklavenkarawane bis zur Atlantikküste und jeder Tag brachte neue Schrecken und Gefahren. Die beiden Jäger des Holländers gingen hart und rücksichtslos gegen die Gefangenen vor. Sie ließen ihre Peitschen auf die nackten Rücken der gefesselten Männer knallen, schlugen ihnen die Gewehrkolben in die Kniekehlen und lachten schadenfroh, wenn ein Krieger stolperte und die Gefangenen, die an denselben Balken gebunden waren, mit zu Boden riss. »Steht auf, ihr verdammten Heiden!«, brüllte der Jäger. »Ich hab keine Lust, das ganze Jahr in diesem Dschungel zu verbringen!« Die Augen der Weißen waren kalt und gnadenlos und ließen erkennen, wie sehr sie die schwarzen Krieger verachteten. »Elendes Pack!«, meinte ein Jäger zum anderen. »Ein Rinderherde wär mir lieber! Die stinkt nicht so!«
Und obwohl die weißen Jäger viel stärker unter der Hitze litten und sich am abendlichen Feuer wie Schweine benahmen, dem Rum zusprachen und schmutzige Witze über die Frauen machten, sagte einer: »Wenn es für die Bewachung dieses Heidenpacks kein Gold gäbe, würde ich die Dreckskerle abknallen und in den Sumpf werfen!« Er trat einem Krieger gegen die Knie. »Hab ich Recht, du schwarzer Teufel?« Willem van der Meyde ließ seine Männer gewähren, schritt nur ein, wenn sie dabei waren, einen Krieger bewusstlos zu schlagen. »Aufhören!«, rief er dann. »Oder wollt ihr, dass der Kerl stirbt? Für tote Neger bekommen wir nichts!« Sein Buchhalter, ein eher furchtsamer Mann, versteckte sich im Zelt, und tagsüber, wenn er auf seiner Tragbahre saß und die Peitschenschläge und das Rasseln der Ketten zu laut wurden, hielt er sich die Ohren zu. »Wir müssen sie hart anfassen«, erklärte ihm der Holländer, »in unserem Beruf kommt man nur mit eiserner Disziplin weiter! Sobald man die Zügel locker lässt, tanzen einem die Neger auf der Nase herum! Wenn Sie länger in Afrika sind, lernen Sie das noch. Aufsässige Neger können wir uns nicht leisten! Wir haben die Aufgabe, unsere Ware sicher zur Küste zu bringen und zu verladen. Jede Störung würde den Ablauf durcheinander bringen.« Die wenigen Frauen in der Sklavenkarawane hatten es etwas besser. Sie waren nur an den Händen gefesselt und durften sich frei bewegen. Die weißen Jäger hatten zu große Angst, sich mit einer unbekannten Krankheit anzustecken, um sich an ihnen zu vergreifen. Und der Holländer, der lange genug an der afrikanischen Küste lebte, um immun gegen das gefürchtete Fieber und andere Infektionen zu sein, interessierte sich nur für Bensua. Wenn er nach dem Essen vor sein Zelt trat und sich die fettigen Finger durch den Mund zog, wanderte sein Blick zu der jungen Frau und blieb an ihrem schlanken Körper hängen. Mit ihren sechzehn Jahren war die Asante bereits eine
erwachsene Frau. Andere Mädchen in ihrem Alter waren längst verheiratet und hatten Kinder geboren. Nur ihr träumerisches Wesen und ihr nachdenklicher Blick hatten viele Krieger davon abgehalten, ihr den Hof zu machen. Eine Frau, die träumte, arbeitete zu wenig. Dem Holländer war es egal, was in ihrem Kopf vorging. Für ihn war Bensua eine Frau, an der man sich abreagieren konnte. Ein schöner Körper, für den er bezahlt hatte. So wie er es mit den weißen Freudenmädchen im Hafen von Rotterdam getan hatte, bevor er nach Afrika gegangen war. »Komm zu mir!«, forderte er sie auf. In seinem selbstgefälligen Tonfall, der so falsch wie das Züngeln einer Schlange war, lag mehr Verachtung als in den lauten Beschimpfungen der Jäger. »Ich möchte dir was zeigen, schwarzer Engel!« Er blickte sie an und schmatzte mit den Lippen, eine Angewohnheit aus den Tagen, als er die Prostituierten im Hafen von Rotterdam aufgesucht hatte. Bensua ekelte sich vor dem Holländer und hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt. Von allen Weißen, die sie jemals gesehen hatte, war er der Schlimmste. Doch sie brauchte nur die beiden Jäger anzublicken um zu wissen, was ihr bei einer Weigerung drohte. Zögernd stemmte sie sich vom Boden hoch. Ein leichtes Zittern lief durch ihren Körper, als sie den spöttischen Blick des Holländers bemerkte. Allein der Gedanke, von seinen blassen Händen berührt zu werden, seine feuchten Lippen auf ihren Wangen zu spüren, trieben ihr den Ekel hoch. Ihr Gesicht verkrampfte sich. »Ich kann nicht«, flüsterte sie, »ich kann nicht!« Willem van der Meyde tat so, als hätte er sie nicht verstanden. Sein spöttisches Lächeln blieb. »Hast du gesagt, dass du dich auf mich freust? Habe ich richtig gehört, mein schwarzer Engel?« »Ich… ich…«, brachte sie hervor.
»Du kannst es gar nicht erwarten, stimmts? Mir kannst du nichts vormachen! Du bist gar nicht dem Nigger nachgelaufen! Du wolltest mich sehen! Du hast die ganze Zeit davon geträumt, das Lager mit mir zu teilen! Du willst, dass ich dir die Fesseln abnehme und dich mit den Köstlichkeiten verwöhne, die in meinem Zelt stehen. Gebratenes Antilopenfleisch, heißer Kakao, süßer Wein! Komm zu mir, schwarzer Engel! Ich warte auf dich!« Seine Jäger hüteten sich über seine Worte zu lachen. Der Holländer sagte seltsame Dinge, wenn er sich an einer Sklavin verging. Er war ein hässlicher Mann. Als Sklavenjäger wurde er sogar von den Menschen verachtet, die mit ihm Geschäfte machten. Alle weißen Frauen, denen er nachgestiegen war, hatten ihn abgewiesen. Sogar die bettelarme Tochter eines Hufschmieds, die er in Rotterdam aufgelesen hatte. Er musste sich die Zuneigung einer Frau erkaufen, bei den Weißen und bei den Schwarzen. Tief in seinem Inneren wusste er, dass keine Frau freiwillig zu ihm kommen und lustvoll in seine Arme sinken würde. Ihm blieb nur die Illusion, die er in Gedanken und durch Worte schuf. »Soll ich ein bisschen nachhelfen?«, fragte einer der Jäger. Er rollte seine Peitsche auf und zog sie durch das feuchte Gras. »Ich glaube, sie schämt sich vor den anderen Negern! Will nicht zugeben, dass sie es die ganze Zeit auf dich abgesehen hat!« Auch der andere Jäger war aufgestanden. Er ließ seine Peitsche knallen und sagte in dem Kauderwelsch, das auch die Sklaven verstanden: »Höchste Zeit, dass der Neger merkt, auf wen sie es wirklich abgesehen hat!« Dabei blickte er Ottobah an. Der Fante beherrschte seine Gefühle nicht länger. Voller Zorn sprang er auf, riss die vier anderen Sklaven mit, die an denselben Balken gekettet waren. Er tat ein paar Schritte,
wollte mit den gefesselten Händen auf den Jäger losgehen und lief in einen heftigen Peitschenhieb, der ihn und seine Leidensgenossen zu Boden fegte. Gezielte Schläge mit einem Knüppel trieben sie auf ihren Platz zurück. »Lasst sie in Ruhe!«, schrie Ottobah in seiner Sprache. »Sie hat euch nichts getan! Lasst sie in Ruhe!« Der Jäger lachte nur und schlug ihn bewusstlos. Zum Holländer sagte er: »Der bildet sich wohl ein, was Besseres zu sein! Wir sollten ihn den Löwen vorwerfen! Dann ist endlich Frieden!« »Und wer ersetzt mir den Profit?« Willem van der Meyde blickte seinen Angestellten vorwurfsvoll an. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Er vergaß die zitternde Asante, ging zu dem Jäger und dem regungslos daliegenden Ottobah und blickte ohne die geringste Spur von Mitgefühl auf den blutenden Sklaven hinab. »Er ist der stärkste von allen! Er bringt hundert Gallonen besten Rum! Lasst ihn am Leben! Wenn er stirbt, streiche ich euch den Lohn für die nächsten drei Monate!« Ohne die schluchzende Asante eines Blickes zu würdigen, kehrte er in sein Zelt zurück. Bensua sank erleichtert zu Boden. Ottobah hatte sie gerettet, zumindest für den Augenblick. Sie blickte dankbar in seine Richtung, nahm ihn durch die Regenschleier nur schemenhaft wahr. Aus Angst vor den weißen Jägern, die beim Feuer standen und sich unterhielten, bewegte sie sich kaum. Wäre sie zu dem Fante gegangen, hätte sie die Peitsche zu spüren bekommen. Sie legte sich in das hüfthohe Gras und rollte sich wie ein Baby zusammen. Mit geschlossenen Augen dankte sie den Göttern, dass sie ihr geholfen hatten. Die Jäger würden Ottobah nicht töten, so viel hatte sie verstanden. Aber sie würden ihn weiter quälen und sich lustig über ihn machen, und sobald der Holländer wieder in Stimmung war, würde er sich nicht mehr daran hindern lassen, ihr Gewalt anzutun. Sie
würde viel Kraft brauchen um diese Erniedrigung zu überstehen. Die Küstenvölker wussten von jungen Frauen, die sich ins Meer gestürzt hatten, nachdem sie einem Mann wie Willem van der Meyde in die Hände gefallen waren. Sie würde sich nicht das Leben nehmen. Solange Ottobah in ihrer Nähe war, durfte sie nicht aufgeben. Die Hoffnung, eines Tages mit dem geliebten Krieger in Freiheit zu leben, war ein starker Lebensfunke, den selbst der holländische Sklavenhändler nicht auslöschen konnte. Hätte sie gewusst, wie lange und schrecklich die Zeit der Sklaverei sein würde, wären ihre Gedanken in eine andere Richtung gegangen. Dann hätte ihr nicht einmal der Glaube an eine gemeinsame Zukunft mit Ottobah mehr einen Halt gegeben. Onyankopon Kwame ersparte ihr diese Bilder. Denn die Wahrheit hätte selbst den tapfersten Krieger der Asante entmutigt. Bensua wäre beim Anblick dieses Schreckens zerbrochen. Die Gegenwart war schlimm genug. Wenn Bensua sich später an den vierwöchigen Marsch zur Küste erinnerte, hatte sie immer das Knallen der Peitschen und das Rasseln der Ketten in den Ohren. Das verzweifelte Stöhnen der Männer, die schwächer als Ottobah waren und ihre Ehefrauen und Kinder in den Dörfern zurücklassen mussten. Die stumme Verzweiflung der Frauen, die beide ihre Männer und Kinder verloren hatten. Es gab keine Tränen mehr. Sie hatten mit ihrem Leben abgeschlossen und fügten sich stumm und hätten auch eine Vergewaltigung willenlos über sich ergehen lassen. Sie hatten keinen Ottobah, der ihnen Kraft geben konnte. Die Asante hatten sie ihrer Heimat und ihrer Familie beraubt und der Sklavenhändler trieb sie dem endgültigen Untergang entgegen. Sie ließen sich auch von Bensua nicht aufmuntern, die unterwegs versuchte ihnen neuen Lebensmut zu geben. »Die Asante haben unsere Familien getötet«, sagte eine Frau, »und jetzt töten die Weißen unsere Seelen.«
Bensua fühlte sich schuldig. Bis vor wenigen Wochen hatte sie geglaubt, dass die Fante keine Menschen, sondern »räudige Hunde« und »gemeine Diebe und Betrüger« waren. So hatte der Asantehene behauptet. Jetzt hatte sie erkannt, wie falsch diese Aussage war. Ottobah war genauso stattlich und tapfer wie ihr Onkel oder Vater, auch wenn er etwas kleiner gewachsen war, und die gefangenen Frauen waren nicht anders als die Frauen der Asante. Zum ersten Mal, seitdem sie Kumase verlassen hatte, dachte sie darüber nach, dass ihr Volk ein ähnliches Unrecht wie die weißen Männer begangen hatte. Ein Gedanke, der sie noch im hohen Alter quälen würde. Auch die Asante hatten schwächere Völker überfallen und sie versklavt. Doch selbst der grausamste König, so räumte sie ein, war nicht so rücksichtslos und niederträchtig wie die Weißen gewesen. Die meisten Sklaven wurden von Familien aufgenommen und waren nach einiger Zeit genauso angesehen wie ein Asante. Das Reich des Bösen begann auf den Schiffen der Sklavenhändler, vor der Küste von Afrika. Noch einige Male versuchte Willem van der Meyde die junge Asante während des Marsches zur Küste auf sein Nachtlager zu zwingen und jedes Mal stand ihr das Glück zur Seite. Einmal war ihr so übel, dass dem Händler bereits bei ihrem Anblick die Lust verging, ein anderes Mal sank sie schlafend zu Boden, weil sie besonders weit marschiert waren und sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Am Ende eines ungewöhnlich heißen Tages, in einem Tal des Pra-Flusses, der durch den Urwald nach Südwesten floss, ließen die Götter besonders lange auf sich warten. Der Holländer hatte seinen Jägern den Auftrag gegeben, ihm die Asante zu bringen, und ihr war nichts anderes übrig geblieben als zu gehorchen. Mit schadenfroher Miene stieß sie der größere der weißen Jäger ins Zelt des Sklavenhändlers.
Bensua stürzte zu Boden und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen. Am liebsten hätte sie sich in die Erde gegraben, nur weg von diesem schwitzenden Europäer mit seiner blassen Haut und den schmatzenden Lippen. Zum Weinen hatte sie keine Kraft mehr und die Angst war der stummen Mutlosigkeit gewichen, dem Holländer nicht ewig entkommen zu können. Wie aus weiter Ferne hörte sie das wütende Stöhnen von Ottobah, der verzweifelt an seinen Ketten zog und versuchte ihr zu helfen. Die Jäger knüppelten ihn auf den Boden zurück. Seine unterdrückten Schmerzensschreie legten sich schwer auf ihre Seele. »Steh auf, mein schwarzer Engel!«, forderte Willem van der Meyde die junge Asante auf. »Mach es dir bequem! Wenn du mir versprichst keine Dummheiten zu machen, schneide ich dich los!« Bensua erhob sich und setzte sich mit eisiger Miene auf einen Klappstuhl. Sie verzog keine Miene, als der Holländer ihre Fesseln durchschnitt. Ihr Kopf blieb gesenkt und sie beobachtete nur aus den Augenwinkeln, wie er den Docht der Öllampe nach unten drehte. Er saß auf dem Rand seines Bettes, dessen Gestell vier Sklaven durch den Urwald schleppten. »Möchtest du was trinken?«, fragte er und goss ihr ohne eine Antwort abzuwarten ein Glas des süßen Weins ein. »Trink, meine Süße! Das macht es dir etwas leichter, dich dem Vergnügen hinzugeben! Ich kann mir denken, wie aufgeregt du sein musst, zum ersten Mal in deinem Leben mit einem weißen Mann zu nächtigen.« Er grinste sie scheinbar mitfühlend an. »Ich werde dir helfen deine Scheu zu überwinden! Glaube mir, du wirst diese Nacht nie vergessen!« Ihr blieb nichts anderes übrig als nach dem Weinglas zu greifen. Zitternd hielt sie sich daran fest. Als der Holländer mit ihr anstieß und sein Gesicht abermals zu seinem widerlichen Lächeln verzog, wurde ihr beinahe übel. Sie ließ das Glas
fallen und begann zu weinen. Auf einmal waren wieder Tränen da, verschleierten ihre Augen und rannen ihre Wangen hinunter. »Du musst nicht weinen!«, meinte der Holländer mit seiner verlogenen Stimme. »Komm in meine Arme, schwarzer Engel, dann tröste ich dich!« Bensua wusste, dass der entscheidende Augenblick gekommen war. Gleich würde der Händler nach ihr greifen und ihre Haut berühren. Voller Ekel sprang sie auf. Sie ging mit beiden Fäusten auf den Mann los und prügelte wütend auf ihn ein. Die Schläge prallten wirkungslos an seinem aufgedunsenen Körper ab. Sie ging in die Knie und blieb erschöpft auf den Fersen sitzen. Einen Augenblick dachte sie, der Sklavenhändler würde sie erschlagen. Dann lachte er plötzlich und rief: »Nun seht euch dieses Biest an! Wehrt sich mit Händen und Füßen gegen mich! Dafür sollte ich dir den Kopf abschlagen, schwarze Hexe! Das hätten deine Leute mit dir getan, weißt du das?« Sein Lachen wurde zu einem breiten Grinsen. »Aber ich will Gnade vor Recht ergehen lassen! Für eine widerspenstige Hexe wie dich bekomme ich vierzig Gallonen, vielleicht sogar fünfzig! Die setze ich nicht aufs Spiel.« Sein Gesicht wurde ernst und er rief nach einem seiner Männer. »Schafft die Hexe fort! Ich hab keine Lust, mir von diesem Biest die Augen auskratzen zu lassen! Legt sie in Ketten und schafft sie zu den Männern! Das wird sie lehren, sich gegen einen Master aufzulehnen! Beeilt euch, verdammt!« Der Jäger brachte sie nach draußen und sie war froh, die Ketten an ihren Handgelenken zu spüren. Alles war besser, als mit diesem weißen Ungeheuer das Nachtlager teilen zu müssen!
9
Am Ende des Urwalds wartete das Meer. Endlos wie die große Sahara im Norden und genauso trostlos und abweisend. Eine Wasserwüste mit wogenden Dünen, dunkel und schwer wie Regenwolken, die bis zum fernen Horizont reichte und sich in der leuchtenden Sonne verlor. Die Brandung bildete weiße Kämme und ergoss sich schäumend auf den weiten Sandstrand. Ein vertrauter Anblick für die weißen Männer und einige der Fante, eine Bedrohung für Bensua und die beiden Asante-Krieger, die im Regenwald aufgewachsen waren und das Meer noch niemals gesehen hatten. Sie blieben erschrocken stehen und starrten ungläubig auf das große Wasser. So hieß das Meer in den Geschichten und Liedern der Asante. Eine Untertreibung, wie sich jetzt herausstellte, denn dieses Wasser hatte kein jenseitiges Ufer und wälzte sich wie ein gewaltiges Lebewesen im Sand. Das Knallen der Peitschen trieb die Sklaven über den ausgetretenen Pfad zum Ufer hinab. Staunend blickte Bensua zu dem steinernen Fort empor, das sich wie eine mittelalterliche Burg auf einer steil ansteigenden Anhöhe erhob. Wuchtige Wachttürme und eine meterhohe Mauer umgaben den Stützpunkt. Die Holländer hatten ihn vor zwei Jahrhunderten den Portugiesen geraubt. Er war größer als der Palast des Asantehene, wirkte wie die Heimat eines unheimlichen Riesen, der nur darauf wartete, seine Opfer zu verschleppen und in den Verliesen des Forts verrotten zu lassen. Über einem der Türme wehte eine bunte Fahne. Unterhalb des Forts lag die Faktorei. Eine Handelsstation, die aus mehreren Lehmhäusern und einem großen Gehege bestand,
das von einem stabilen Holzzaun umgeben war. In diesem Barracoon waren die Sklaven untergebracht. Über zweihundert Männer, Frauen und Kinder warteten in dem Pferch, als Bensua und ihre Leidensgenossen die Faktorei erreichten. Dunkle Gesichter am Zaun, von Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit geprägt, von der Angst gepeinigt, in einem Segelschiff über das große Wasser gebracht zu werden. Die helle Baumwollkleidung der Aufseher strahlte in der heißen Sonne. Einige Palmen rauschten in der leichten Brise und spendeten etwas Schatten. Als sie am Zaun entlanggingen, erkannte Bensua die Umrisse eines langen Lehmhauses, das mitten in der Palisadenfestung stand und die Sklaven vor Unwettern schützen sollte. Einige Weiße traten aus den Häusern und begrüßten den Holländer. In der Art, wie sie sich verneigten, erkannte Bensua, wie viel Respekt sie vor dem Sklavenjäger hatten. Willem van der Meyde war ein angesehener Mann. Und ein rücksichtsloser Befehlshaber, der seine Angestellten wie lästige Anhängsel behandelte. »Bringt mir Wasser und süßen Wein«, herrschte er einen seiner Männer an, »und schafft dieses Lumpenpack in den Barracoon! Ich habe mich lange genug damit herumgeschlagen!« Den Schwarzen, die seine Sänfte getragen hatten, befahl er vor seinem Büro zu warten. Sie sollten ihn zum Fort tragen, sobald er den neuen Frachtbrief ausgefüllt hatte. Er wollte sofort informiert werden, wenn die Hannibal sich der Küste näherte. Er hatte eine Abmachung mit dem Kapitän des amerikanischen Schiffes getroffen und hoffte, dass er pünktlich eintreffen werde. Bensua war froh, dem Holländer zu entkommen. Nachdem sie mit den Fäusten auf ihn losgegangen war, hatte sie befürchtet, dass er sie am nächsten Abend mit Gewalt nehmen würde. Aber er schien die Lust an ihr verloren zu haben. Während der letzten Tage hatte er sie kaum beachtet und sich
wie zum Trotz mit einer der älteren Frauen vergnügt. Die Fante hatte sich dem Sklavenjäger willenlos ergeben und nicht einmal geschrien. Fernab der Heimat und ohne ihren Mann und ihre Kinder brachte sie nicht die Kraft auf, sich gegen den Holländer aufzulehnen. Es war besser, sich seinem Willen zu unterwerfen. Er war ein skrupelloser König, der sich von keinem Menschen etwas sagen ließ. Vielleicht gelang es ihr, sich auf diese Weise einen Vorteil zu verschaffen. Sie hatte gehört, dass einige Sklaven in Afrika bleiben und den weißen Männern in den Faktoreien helfen durften. Dort bestand eine größere Chance, in ihr Dorf zurückzukehren. Die versteinerte Miene der Fante machte Bensua zu schaffen. Sie fühlte sich schuldig, machte ihre Auseinandersetzung mit dem Holländer für das Unglück dieser Frau verantwortlich. »Es kommt, wie es kommen muss«, sagte die Frau, als Bensua ihr eine Hand auf die Schultern legte. »Allein die Götter wissen, welches Schicksal auf uns wartet! Ich habe meinen Mann und meine Kinder verloren! Was macht es für einen Unterschied, wenn der weiße Mann mich berührt? Vielleicht lässt er mich im Fort arbeiten! Lieber sterbe ich in der Heimat als auf dem Wasser, das kein Ufer hat!« Die weißen Jäger öffneten ein Gatter und stießen die Gefangenen in den Pferch. Sie scherzten mit den anderen Aufsehern und ließen ihre Peitschen knallen. Nachdem sie das Gatter mit einer Kette und einem großen Vorhängeschloss gesichert hatten, nahmen sie den Männern die Balken und die Handfesseln ab. Nur die Ketten an den Fußgelenken blieben. Damit wurden sie jeden Abend an die eisernen Ringe in dem langen Lehmhaus gefesselt. Den Frauen wurden alle Fesseln abgenommen. Sie durften sich frei bewegen, bekamen aber die Peitschen der Aufseher zu spüren, wenn sie den Männern zu nahe kamen. Vier Weiße, die mit Gewehren, Peitschen,
Schlagstöcken und Messern bewaffnet waren, bewachten die Sklaven in dem Barracoon. Bensua setzte sich in den Schatten einiger Palmen, die im südlichen Teil des Pferchs wuchsen. Voll Sehnsucht blickte sie zu Ottobah hinüber. Der Fante saß unter dem Palmendach des Lehmhauses und starrte mit leeren Augen in die Nachmittagssonne. Als sich ihre Blicke begegneten, huschte die Andeutung eines Lächelns über sein Gesicht. Er wirkte noch härter und unnachgiebiger als auf dem langen Marsch zur Küste und schien an dem Gedanken zu verzweifeln, dass es kein Entkommen gab. Die Sklavenjäger hatten an alles gedacht. Gegen ihre Gewehre gab es kein Mittel. Und in diesem Pferch, mitten auf dem Strand und in Sichtweite des Forts, würde ihm nicht einmal eine List helfen. Sie wurden gezwungen die Nacht in dem langen Lehmhaus zu verbringen, und das hatte keine Fenster und nur eine Tür. Vor der einzigen Öffnung standen zwei bewaffnete Männer. »Ottobah«, sagte Bensua, obwohl er sie nicht verstehen konnte. »Wir dürfen nicht aufgeben! Wenn wir beten und die alten Lieder singen, wird es eine gemeinsame Zukunft für uns geben! Unser Glaube ist stärker als die Gewehre der weißen Männer!« Sie stimmte ein Lied an, das während der Odwira gesungen wurde, und ließ sich auch durch einen Aufseher nicht einschüchtern, der drohend seine Peitsche erhob. Jetzt sangen auch die anderen Asante mit, ungefähr fünfzig Männer, Frauen und Kinder aus einem Dorf, das Bensua niemals gesehen hatte. Ihre Lieder schallten wie eine hoffnungsvolle Botschaft über den Strand. Auch Ottobah sang mit, lauter als die anderen, und Bensua erkannte an seiner Miene, dass er neuen Mut geschöpft hatte. Sie erwiderte sein entschlossenes Lächeln und ballte die Hände zu Fäusten. Der Aufseher, der die Peitsche erhoben hatte, nahm sie herunter und entfernte sich achselzuckend. »Sollen sie doch
singen«, meinte er abfällig zu einem der anderen Weißen. »Immer noch besser als den ganzen Tag ihr Gejammer zu hören! Wird höchste Zeit, dass das verdammte Schiff kommt! Ich will endlich mal wieder in der Sonne liegen und mich ordentlich besaufen!« Das Lied verklang in dem frischen Wind, der vom Meer herüberwehte. Es vertrieb die Schmerzen, die Bensua und die anderen Neuankömmlinge plagten, und gab ihnen wieder Kraft. Wenn der Glaube stark genug war, konnte selbst ein weißer Mann ihn nicht brechen. Nach dem Tod wartete eine neue und bessere Welt auf die Asante, ein Königreich, in dem es keine Weißen gab und das ein endloses Leben voller Glück und Frieden für sie bereithielt. Wer den Prüfungen, die diesseits des unsichtbaren Flusses auf die Menschen warteten, standgehalten hatte, würde sicher das andere Ufer erreichen. Wenn Bensua die Augen schloss, konnte sie deutlich sehen, wie Ottobah sie in die Arme nahm und ihre Stirn liebkoste. »Du bist meine Frau«, flüsterte er. »Es wird niemals eine andere für mich geben!« Sie öffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mädchens. Eine Asante, ungefähr zwei Jahre jünger als sie und von mehreren Brandwunden im Gesicht und an den Armen gezeichnet. Sie trug ein einfaches Baumwollkleid und ein Kopftuch. »Ich bin Manu«, begann sie leise, »ich möchte deine Freundin sein.« Bensua zog die junge Asante zu sich herunter und blickte sie prüfend an. Ihr Gesicht war schmal und knochig, als hätte sie lange nichts mehr gegessen. In ihren Augen war eine erschreckende Leere. »Ich heiße Bensua. Ich komme aus Kumase. Die weißen Männer haben mich mitgenommen, weil ich Ottobah befreien wollte. So heißt der Krieger, mit dem ich leben möchte.«
Manu folgte ihrem Blick und zog die Augenbrauen hoch. »Er ist ein Fante. Du bist eine Asante. Wie kannst du ihm versprochen sein? Ist es in der Hauptstadt üblich, Gefangene zu heiraten?« »Ich war ihm nicht versprochen«, erwiderte Bensua. Sie berichtete, was vorgefallen war, und wich ihrem Blick aus. »Du wirst sagen, dass es dumm war, die Stadt wegen eines feindlichen Kriegers zu verlassen. Du wirst mir vorwerfen, dass ich die Gesetze der Asante gebrochen habe.« Sie schüttelte den Kopf und zwang sich, das Mädchen wieder anzusehen. »Ottobah hat meine Seele berührt! Die Götter wollen, dass ich diesen Weg gehe!« Manu starrte sie lange an. Sie verzog keine Miene und ließ nicht erkennen, was sie von Bensuas Entscheidung hielt. Ihr Gesicht war ausdruckslos, wirkte durch die Brandwunden auf ihrer linken Wange wie die Maske eines Tänzers, der die bösen Geister vertreiben wollte. »Ich komme aus Edwesu«, sagte sie. »Am Ofin-Fluss?«, fragte Bensua verwundert. »Das Dorf, das von den Mmoatia überfallen wurde?« Vor einigen Wochen hatte der Asantehene verbreiten lassen, dass die pfeifenden Zwerge des Waldes in die kleine Stadt im Norden des Königreiches eingedrungen wären und alle Einwohner mit einer unheilbaren Krankheit angesteckt hätten. »Ich verbiete euch diese Stadt zu besuchen!«, hatte er gesagt. »Die Zwerge wollen uns alle töten!« Nach dem Glauben der Asante lebten die Mmoatia im Regenwald. Seltsame Wesen, die sich pfeifend verständigten und deren Füße in die andere Richtung zeigten. Bisher hatte sie diese Waldgeister immer für eigenwillige Kobolde gehalten, die einem Menschen etwas Böses antun, ihn aber niemals töten konnten. »Das hat der König behauptet?«, fragte Manu. Zum ersten Mal zeigte ihr Gesicht eine Regung, blitzte Unverständnis und
dann Zorn in ihren Augen auf. »Uns haben keine Zwerge überfallen«, sagte sie, »die Mmoatia habe ich nie gesehen. Die Schwertmänner des Königs waren in unserem Dorf! Sie haben die aufsässigen Krieger getötet und ungefähr hundert Männer, Frauen und Kinder mitgenommen! Alle Asante, die mit dir gesungen haben, kommen aus Edwesu! Der König hat uns an die weißen Sklavenhändler verkauft! Seine Schwertmänner haben uns weggetrieben und an die weißen Männer ausgeliefert!« Die Leere kehrte in ihre Augen zurück. »Sie haben meine Eltern umgebracht!« Die Worte des Mädchens waren so ungeheuerlich, dass Bensua einige Zeit brauchte um ihren Sinn zu verstehen. Sie erinnerte sich an die Schädel, die sie in dem niedergebrannten Dorf im Urwald gefunden hatte, und musterte die Brandwunden im Gesicht des Mädchens. »Ich wollte es nicht glauben«, sagte sie. »Ich wollte nicht wahrhaben, dass unser König zu so etwas fähig ist! Aber es ist wahr! Er lässt die Menschen seines eigenen Volkes töten! Er verkauft sie an die weißen Sklavenhändler! Was ist geschehen, Manu? Warum haben die Götter uns verlassen?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte das Mädchen, »meine Welt ist dunkel und leer! Die Verwandten, die ich geliebt habe, sind tot! Das Dorf, in dem ich zu Hause war, wurde niedergebrannt! Wem soll ich noch glauben? Mit wem soll ich reden? Die Menschen aus Edwesu sind mir fremd geworden. Ich habe keine Freunde mehr.« »Du hast mich«, meinte Bensua entschlossen. Sie blickte das Mädchen an und bekräftigte ihre Worte durch einen Händedruck. »Ich werde bei dir sein, wenn wir auf das Segelschiff gehen und über das große Wasser fahren! Ottobah und ich werden dich beschützen, wenn dir jemand wehtun will! Du bist nicht allein, Manu! Wir werden die bösen Geister gemeinsam vertreiben!«
Bensua hatte keine Ahnung, wie sie ihr Versprechen halten sollte. Sie wusste nicht einmal, ob Ottobah und sie diese Prüfung durchstehen würden. Die Hoffnung war eine schwache Flamme und ein Lied reichte nicht aus um die Götter umzustimmen. Sie würden viel Kraft brauchen um die nächsten Monate oder Jahre zu überleben. Sie legte einen Arm um Manu und zog sie liebevoll zu sich heran. »Zusammen sind wir stark«, sagte sie. »Wenn wir unsere Kräfte vereinen, können uns die Weißen nichts anhaben! Wir müssen an eine bessere Zukunft glauben! Wir müssen den Göttern vertrauen! Dann spüren wir nicht einmal die Peitschenhiebe der weißen Männer!« Sie hielt Manu fest umschlungen und fühlte, wie sich ihr Körper entspannte. Sie war eingeschlafen. »Ich bleibe bei dir«, versprach sie. Die Verantwortung für die jüngere Freundin und das Wissen, in der Nähe von Ottobah zu sein, stärkten die Widerstandskraft der Asante und nährten die Hoffnung, die nach dem überstandenen Marsch an die Küste von ihr Besitz ergriffen hatte. Ohne einen Menschen, zu dem sie sich hingezogen fühlte, wäre sie verloren gewesen. So wie die Frau, die ihr Kind erstickt und sich anschließend selbst umgebracht hatte. Ohne dass die weißen Männer es merkten, hatte sie ihr Baby erwürgt und sich dann eine Hand voll Sand in den Mund gestopft. Als die Männer ihr Röcheln gehört hatten, war es schon zu spät gewesen. »Verdammt!«, fluchte einer der weißen Aufseher und drehte den Docht der Öllampe höher. »Sie sind beide tot!« Er brachte sein Gewehr in Anschlag und drehte sich nach den anderen Weißen um. »Kommt her, verdammt! Die Negerin hat sich umgebracht!« Sie trugen die beiden Leichen nach draußen und begruben sie im Sand. Als Willem van der Meyde am nächsten Morgen von dem Zwischenfall erfuhr, verurteilte er die Aufseher zu einem Strafdienst und strich ihnen einen Teil des Lohns. Seine
Angestellten hatten die strenge Anweisung, die Sklaven bis zur Ankunft des Schiffes besonders gut zu behandeln und sie ausreichend mit Nahrung und Wasser zu versorgen. Auspeitschungen und ähnlich drastische Strafmaßnahmen waren zu vermeiden. Die Schwarzen sollten im bestmöglichen Zustand an den Kapitän der Hannibal übergeben werden. Captain Alexander Whitcomb war bekannt dafür, dass er kranke und schwache Sklaven abwies und einen Rabatt für ausgepeitschte »Ware« verlangte. Die verzweifelte Tat der Mutter war kein Einzelfall. Auch auf dem langen Marsch von Edwesu zur Küste hatten sich einige Asante umgebracht. Das erfuhr Bensua von ihrer jungen Freundin, die nicht einmal geweint hatte, als die Leichen der Frau und des Kindes aus dem Pferch getragen worden waren. Dazu hatte sie zu viel erlebt: erst den heimtückischen Überfall auf ihr Heimatdorf und dann den langen Marsch zur Küste. »Ich kannte die Frau«, sagte sie nur, »vor der Regenzeit hat sie gesungen und getanzt. Sie war mit einem tapferen Krieger verheiratet. Er wurde unterwegs von einem Löwen getötet. Er war gefesselt und konnte sich nicht wehren! Die weißen Männer wollten, dass er am Leben bleibe, weil er viel Geld gebracht hätte, aber sie konnten nichts tun. Sie haben viel zu spät geschossen!« Und dann erzählte sie von der Frau, die in den Ofin-Fluss gesprungen und nicht mehr aufgetaucht war. Sie hatte sich selbst ertränkt. Ein Krieger hatte sich nachts mit seinen eigenen Fesseln erstickt und eine Mutter hatte ihr Kind mit einem Stein erschlagen und war schreiend auf einen Elefanten zugelaufen, der am frühen Morgen vor ihrem Lager aufgetaucht war. Manus Augen waren ausdruckslos, als sie von dem schrecklichen Vorfall berichtete. »Ein einsamer Bulle. Er war sehr gereizt! Die Frau rannte, bis der Bulle auf sie aufmerksam wurde, und ließ sich von ihm niedertrampeln! Sie
wollte sterben! Die Weißen haben den Elefanten erschossen und seine Zähne mitgenommen! Sie lachten laut, als sie ihm das Elfenbein vom Körper schnitten!« Die wenigen Tage, die Bensua und ihre Leidensgenossen in dem Barracoon verbrachten, verliefen ohne einen weiteren Zwischenfall. Nach dem Selbstmord der jungen Mutter waren die weißen Aufseher besonders gewissenhaft und hielten sich streng an die Befehle des Holländers. Sie ließen die Peitschen stecken, brachten den Gefangenen ausreichend Nahrung und Wasser und holten sogar einen Arzt, als eine der Fante-Frauen an Fieber erkrankte. Dr. John Meredith Stanton, ein amerikanischer Arzt, der seit einem Jahr in dem holländischen Fort arbeitete und es gar nicht erwarten konnte, wieder in seine Heimat zurückzukehren, nutzte die Gelegenheit, um einen Befehl von Willem van der Meyde auszuführen und alle Sklaven einer strengen Untersuchung zu unterziehen. »Seien Sie gründlich!«, schärfte ihm der Holländer ein. »Ich kann es mir nicht leisten, Ihre Landsleute mit schlechter Ware zu versorgen! Dieser Captain Whitcomb bringt es fertig und lässt den ganzen Handel platzen!« Dr. Stanton ließ einen Tisch in das lange Lehmhaus bringen und legte seine Instrumente darauf. »Die Leute sollen sich anstellen«, sagte er zu einem Aufseher. »Und sorgen Sie für Ruhe! Ich kann das Kindergeschrei nicht ertragen! Haben Sie gehört?« »Aye, Sir«, meinte der Mann lachend. Er ließ seine Peitsche knallen und wandte sich an die Sklaven. In dem Kauderwelsch, das alle verstanden, rief er: »Ihr habt es gehört! Einer nach dem anderen! Und haltet eure Kinder ruhig! Der Doktor verträgt kein Geschrei! Wenn ihr nicht gehorcht, bekommt ihr die Peitsche zu spüren!«
10
Dr. Stanton hielt sich an den Befehl und untersuchte die Gefangenen sorgfältiger als die meisten seiner Kollegen. Er betrachtete den Wuchs jedes Einzelnen, seinen Gesichtsausdruck, schob ihre Lippen auseinander und begutachtete die Zähne, berührte ihre Glieder und Gelenke. Wie ein Viehdoktor schätzte er die verunsicherten Menschen ab. Er musterte ihre nackten Körper ohne jede Gefühlsregung, griff ihnen zwischen die Beine und brummte ungeduldig, wenn er mit seiner Untersuchung zufrieden war. Die Männer waren zuerst an der Reihe. Von den Aufsehern bewacht standen sie vor dem langen Lehmhaus und wurden einzeln zu dem Arzt gerufen. Ihre Handgelenke blieben gefesselt. Die meisten Krieger machten sich nicht viel aus der Untersuchung, ließen die Prozedur wortlos über sich ergehen und kehrten ohne eine sichtbare Regung auf ihre Plätze zurück. Nur Ottobah und zwei andere Männer, ein erfahrener Krieger und ein Jüngling, begehrten auf. Sie empfanden das Vorgehen des Arztes als Demütigung und fühlten sich in ihrem Stolz verletzt. Der Junge ging mit erhobenen Fäusten auf den Arzt los und wurde von einem Aufseher mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Der Krieger, ein Verwandter des Häuptlings, gab nach einem Wortgefecht und einem Schluck aus der Rumflasche klein bei. Ottobah sah, wie die Männer vor ihm berührt wurden, und explodierte wie ein Krieger, den man öffentlich beleidigt hatte. »Die weißen Männer behandeln uns wie Tiere!«, schrie er so laut, dass einige Kinder zu weinen anfingen. »Sie erniedrigen uns vor unseren Frauen und Kindern! Wehrt euch, meine
Brüder! Zeigt den Weißen, dass wir uns nicht alles gefallen lassen! Wir sind Krieger! Wir sind keine Rinder, die auf den Markt getrieben werden!« Er zog einem Aufseher blitzschnell das Messer aus dem Gürtel und holte damit aus. Bevor er zustechen konnte, war ein anderer Weißer heran und schlug ihn mit einem Knüppel nieder. »Halt!«, schallte es durch den Pferch, als er weiter auf den benommenen Sklaven einschlagen wollte. Willem van der Meyde war aus dem Fort gekommen, um sich vom Zustand der Sklaven zu überzeugen, und hielt den Aufseher zurück. »Das genügt! Er ist einer der kräftigsten Männer! Ich will den Höchstpreis für ihn!« »Er ist gefährlich«, wehrte sich der Mann. »Wenn wir nicht aufpassen, wiegelt er den ganzen Haufen auf! Er braucht Schläge!« »Lasst ihn am Leben!«, erwiderte der Sklavenhändler. Er blickte durch die offene Tür des Lehmhauses und lächelte falsch. »Den brauchen Sie nicht zu untersuchen, Doktor! Der ist gesünder als alle anderen zusammen!« Ohne eine Antwort abzuwarten wandte er sich an den Aufseher. Jetzt war seine Miene ungewöhnlich streng. »Legt ihm die Fußketten an! Das wird ihn lehren, sich zu benehmen! Und ruft mich, wenn ihr mit dem Bränden beginnt! Wir nehmen uns diesen Burschen zuerst vor. Bevor er merkt, was gespielt wird, ist es vorbei! Ich will keinen Ärger, kapiert?« Bensua verstand die Worte des Holländers nicht, erkannte aber am Tonfall, dass er seinen Aufseher zurechtgewiesen hatte. Erleichtert beobachtete sie, wie man Ottobah die Fußfesseln anlegte und ihn hinter das Lehmhaus stieß. An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit hätte der Aufseher ihm den Schädel eingeschlagen. Ihre Verschiffung musste unmittelbar bevorstehen, sonst hätte er ihn bestimmt nicht verschont. Die Sklaven waren eine wertvolle Ware und
mussten in einem tadellosen Zustand sein, wenn der Holländer die volle Bezahlung erhalten wollte, das hatte sie längst erkannt. So wie man ein Schwein füttert, bevor man es auf den Markt bringt. Sie waren keine Menschen mehr. Sie waren Tiere, die man zum Schlachten führte. Einige Frauen glaubten tatsächlich, dass die weißen Männer sie auf dem Schiff schlachten wollten. Sie schrien erbärmlich und steckten sogar einige Männer mit ihrem Geschrei an, verstummten erst, als die Aufseher ihre Peitschen knallen ließen und ein älterer Krieger rief: »Sie wollen uns nicht aufessen! Ich weiß es! Sie bringen uns in ein fernes Land! Dort sollen wir für die Weißen arbeiten! Wir sind Sklaven des weißen Mannes!« »Stimmt das?«, fragte Manu ängstlich. Sie saß neben Bensua und hielt sich mit beiden Händen an ihr fest. Ihre Brandwunden leuchteten in der Sonne. »Müssen wir alle mit den Weißen gehen? Gibt es ein Land auf der anderen Seite des großen Wassers? Wie sieht dieses Land aus? Gibt es dort einen Urwald?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Bensua ehrlich. Sie verriet ihrer jungen Freundin nicht, was einige Asante erzählten, dass an dem fernen Ort die bösen Geister wohnten. Sie drückte eine Hand des Mädchens. »Du musst stark sein, Manu! Ich weiß, was du durchgemacht hast. Die Schwertmänner haben deine Eltern getötet und dein Dorf niedergebrannt! Auch ich habe großes Leid erfahren und meine Verwandten verloren. Selbst wenn ich nach Kumase zurückginge, würden sie mich nicht mehr ansehen! Aber wir dürfen nicht vor den Weißen in die Knie gehen! Die Götter werden uns beistehen, wenn wir über das große Wasser fahren! Wenn wir beten und singen, lassen sie uns nicht im Stich! Du musst an eine bessere Zukunft glauben, meine Freundin!«
Bensua zweifelte selbst an ihren Worten. Sie wusste, dass an den bösen Ahnungen vieler Gefangener, ihr Aufenthalt in dem Barracoon sei nur die Ruhe vor einem schweren Sturm, etwas Wahres dran sein musste. Die Schwarzen, die in der Faktorei arbeiteten und jeden Abend zum Saubermachen in den Pferch kamen, wollten von skrupellosen Kapitänen gehört haben, die jeden kranken Sklaven über Bord warfen und Ruhestörer gnadenlos auspeitschten. Ein Schwarzer behauptete sogar, nur die Hälfte aller Schwarzen würde das ferne Land erreichen. Er hatte etwas Holländisch gelernt und zwei weiße Männer belauscht. »Er lügt«, beruhigte ein Asante die aufgebrachten Gefangenen. »Warum sollten sie uns über Bord werfen? Tot sind wir nichts wert! Seht doch, wie sie uns in diesem Pferch behandeln! Wir leben hinter einem Zaun und viele von uns sind gefesselt. Das stimmt. Aber wir bekommen genug zu essen und zu trinken! Die Kinder weinen nicht mehr! Sie werden uns nicht töten!« »Der Asante hat Recht«, sagte Bensua zu ihrer jungen Freundin. Sie bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. »Sie werden uns nichts tun! Und wenn wir für die weißen Männer gearbeitet haben, bauen wir ein neues Dorf und gründen einen neuen Clan. Ottobah wird unser Häuptling sein! Halte durch, Manu!« Einer der Aufseher forderte die Frauen und Kinder auf, sich vor dem Lehmhaus anzustellen. Bensua stellte sich so, dass sie Ottobah sehen konnte, und suchte den Blickkontakt. »Ich bewundere dich, mein tapferer Krieger!«, sagten ihre Augen. Und er antwortete: »Wir sind stark! Wir werden uns niemals unterwerfen!« Bensua gehörte zu den ersten Frauen, die von dem Arzt untersucht wurden. Scheinbar gleichgültig ertrug sie die Prozedur. Es war demütigend, sich von dem weißen Mann
zwischen die Beine greifen zu lassen, und es fiel ihr schwer, die Ruhe zu bewahren. Sie verstand die Frauen, die unter der Berührung zu zittern begannen oder weinend aus dem Lehmhaus liefen. Kein schwarzer Krieger beschämte seine Gefangenen auf diese Weise. Die weißen Männer mussten ihre Peitschen einsetzen um für Ruhe zu sorgen. »Ich bleibe bei ihr«, sagte Bensua zu dem Doktor, als Manu an der Reihe war. »Sie hat große Angst!« Dr. Stanton war froh ihre Unterstützung zu bekommen und nickte. »Meinetwegen.« Schon bald erkannte Bensua, wie klug es gewesen war, bei ihrer Freundin zu bleiben. Als der Doktor eine Salbe auf ihre Brandwunden schmierte, begann sie zu weinen, und als er ihr zwischen die Beine griff, schrie sie in panischer Angst auf. Bensua nahm sie schnell in die Arme und drückte sie fest. »Es ist nur zu deinem Besten!«, hörte sie den Arzt sagen. »Du musst gesund sein, wenn du an Bord gehst! Oder willst du das Schiffsfieber bekommen?« Er nahm einen Schluck von dem heißen Tee, den ihm ein Aufseher gebracht hatte, und blickte zur Tür. »Die Nächste! Und beeil dich ein bisschen! Ich habe keine Lust, die ganze Nacht in diesem Loch zu verbringen!« Das hatte er in seiner Sprache gesagt, einer hässlichen und aufdringlichen Sprache, wie Bensua fand, obwohl sie kein Wort verstanden hatte. In der folgenden Nacht schlief sie sehr unruhig. Sie träumte von einem weißen Aufseher, der Manu das Baumwollkleid vom Körper riss und mit der Peitsche auf sie einschlug, bis sie blutete. Sie befanden sich auf einem Segelschiff. Rundherum war nur Wasser. Schäumende Wellen schlugen gegen das Schiff und spritzten bis zu ihnen herauf. Plötzlich tauchte ein hässliches Ungeheuer mit scharfen Zähnen aus dem Meer, schnappte sich die blutende Manu und zog sie in die Tiefe. Bensua schreckte aus dem Schlaf, sah Manu in ihren Armen liegen und beruhigte sich langsam. Auf ihrer Stirn stand kalter
Schweiß. Sie sah sich um und fing den Blick einer jungen Frau auf, die einen kleinen Jungen hielt und verzweifelt in die Dunkelheit starrte. Von der Stelle, wo die Männer nächtigten, drang lautes Schnarchen herüber.
Der Morgen weckte sie mit den ersten Strahlen der Sonne und einer ungewohnten Unruhe. Aus der Festung kamen weiße Männer und schwarze Sklaven zum Strand gelaufen. Mehrere Ochsenwagen hielten auf dem felsigen Platz am Ufer. Die Hannibal war gekommen und in der Bucht vor Anker gegangen. Eine zweimastige Brigg mit leuchtenden Segeln und der amerikanischen Flagge am Hauptmast. Willem van der Meyde wartete am Strand, einen modischen Hut mit einer bunten Straußenfeder auf dem Kopf, und begrüßte den Kapitän, der von einigen Matrosen in einem Hafenboot an Land gerudert wurde. »Einen schönen guten Morgen, Captain Whitcomb«, wünschte der Holländer mit einer übertriebenen Verbeugung. »Ich freue mich, Euch in meinem kleinen Reich begrüßen zu dürfen! Ihr seid pünktlich, Captain!« Captain Alexander Whitcomb trug seine beste Uniform. Er war schlank und drahtig und hatte ein kantiges Gesicht mit ausgeprägten Backenknochen. Seine Großmutter war eine Indianerin gewesen. Kalt und nüchtern war der Blick seiner blauen Augen. Er nahm seinen Dreispitz ab und nickte kurz. »Guten Morgen, van der Meyde! Ganz meinerseits! Aber halten wir uns nicht zu lange mit überflüssigen Floskeln auf. Ich will heute noch meine Ladung löschen und diese Küste sobald wie möglich verlassen! Nicht jeder Weiße ist so widerstandsfähig wie Ihr! Ich habe keine Lust, mich mit dem Fieber anzustecken! Und meine Männer auch nicht!« Er blickte zum Pferch hinüber. »Die Sklaven sind alle gesund,
oder? Ich darf nur Ware mit einer ärztlichen Bescheinigung mitnehmen!« »Das weiß ich doch«, erwiderte der Holländer mit einem spöttischen Lächeln. »Dr. John Meredith Stanton, übrigens ein Amerikaner wie Ihr, hat die Untersuchung gestern abgeschlossen. Aber wollen Sie nicht ins Haus kommen und einen Schluck trinken? Ich habe einen erstklassigen Tropfen in meinem Keller…« »Ich habe leider wenig Zeit«, winkte der Captain ab. »Versteht mich nicht falsch! Ich möchte auf keinen Fall unhöflich sein! Aber meine Auftraggeber sind sehr gewissenhaft und dulden keinen Aufschub! Mir wäre es lieb, wenn wir gleich zur Sache kämen.« »Also gut«, lenkte der Holländer ein, »aber Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich mir ein Gläschen gönne, während ich mir Eure Frachtpapiere ansehe? Ihr habt doch die Gewehre und den Rum dabei? Wir haben großen Bedarf an Feuerwaffen und diesem Getränk von den Westindischen Inseln…« Er schmatzte mit den Lippen. »Nun, ich habe schon Schlimmeres getrunken!« Whitcomb zog die Frachtliste aus seiner Jackentasche und strich sie glatt, bevor er darauf einging. Er war ein sehr korrekter und gewissenhafter Mann und hatte einige Jahre in der Schreibstube einer Werft gearbeitet, bevor er zur See gefahren war. »Musketen, Glasperlen, Eisenstangen, Rum, Brandy… alles da!« »Und ich habe zweihundertsechzig Sklaven für Euch«, meinte der Holländer. »Hundertfünfzig Männer, zweiundachtzig Frauen und achtundzwanzig Kinder. Alle bei bester Gesundheit und im Vollbesitz ihrer Kräfte! So gute Ware hatte ich lange nicht mehr!« Der Captain zeigte sich amüsiert. »Ich weiß, dass Ihr die armen Teufel mit Hirsebrei mästet und ihre Haut mit Palmöl
einschmiert, damit sie gesünder aussehen! Ich mache es genauso, bevor wir einen Hafen anlaufen! Und Ihr wisst, dass ich meinem Rum eine große Portion Rattengift beigemischt habe! Also machen wir uns nichts vor! Bringen wir den Handel hinter uns!« Die Verhandlung dauerte keine Stunde. Der Holländer und der Amerikaner kannten sich zu lange, um auf eine List des anderen hereinzufallen. Sie unterschrieben die Papiere und gaben ihren Männern den Befehl, die Ladung der Hannibal zu löschen. Die Gefangenen bekamen von den Verhandlungen nichts mit, sahen aber, wie Kisten und Fässer vom Segelschiff gebracht und auf die Ochsenwagen geladen wurden. Jetzt würde es nur noch einen oder zwei Tage dauern, bis sie ihre Heimat verlassen mussten. Die weißen Männer würden sie in die kleinen Boote treiben und durch die schäumenden Wellen zu dem großen Schiff rudern. Ein Gedanke, der vor allem den Schwarzen zu schaffen machte, die das Meer noch nicht kannten und panische Angst vor der Brandung hatten. Einige Frauen und Kinder hielten das Zischen für den Atem der bösen Geister, wichen in die hinterste Ecke des Pferchs zurück und weinten und schrien. Eine Frau schnitt sich die Pulsadern mit einem scharfen Stein auf. »Hab keine Angst!«, sagte Bensua zu ihrer Freundin, obwohl sie selbst nur mühsam ein Zittern unterdrückte. »Du hast gesehen, wie die weißen Männer an Land gekommen sind. Uns wird nichts passieren!« Sie blickte Ottobah an und sah das entschlossene Funkeln in seinen Augen. »Wir sind stark!«, rief er ohne die mürrischen Gesichter der Aufseher zu beachten. »Wir werden diese schwere Prüfung bestehen! Die Götter werden bei uns sein, wenn wir uns gegen die weißen Männer erheben!« Einige der Schwarzen, die für die Weißen in der Faktorei arbeiteten, verstanden seine Worte und sahen ihn
erschrocken an. Wenige Sklaven begehrten in diesem kritischen Augenblick gegen die Weißen auf. »Sei stark, Bensua! Meine Gedanken sind bei dir!« Keiner der Gefangenen ahnte, dass sie eine weitere Demütigung und großen Schmerz erdulden mussten, bevor sie an Bord gebracht wurden. Auch nicht Ottobah, der noch vor dem Morgengrauen mit einem Fußtritt geweckt und in Ketten gefesselt vor das Lehmhaus gezerrt wurde. Er war viel zu verwirrt, um sich erfolgreich gegen die Aufseher wehren zu können. Zwei Männer drückten ihn zu Boden und ein weiterer schob seinen Kopf nach unten. Aus den Augenwinkeln beobachtete Ottobah, wie ein kräftiger Weißer ein Brandeisen ins Feuer hielt. »Nein!«, schrie er so laut, dass alle Gefangenen aus dem Schlaf schreckten. »Nein!« Ein Mann schmierte Talg auf seinen Rücken. Nachdem er gefettetes Papier darüber gelegt hatte, gab er dem Mann am Feuer ein Zeichen und der drückte das glühende Brandeisen auf das Papier. Es zischte laut. Der Gestank verbrannter Haut stieg in die Luft. Ottobah schrie mehr aus verzweifelter Wut als vor Schmerz und zerrte gewaltsam an seinen Ketten, als ihn die Männer in den Sand stießen. Auf seinem geschundenen Rücken war das Zeichen der amerikanischen Handelsfirma zu erkennen, die Captain Whitcomb mit dem Transport der Sklaven beauftragt hatte. Sobald die anderen Gefangenen erkannten, dass alle Sklaven gebrandmarkt würden, setzte großes Wehklagen ein. Einige Frauen und Kinder wurden hysterisch und wieder konnte eine junge Fante nicht daran gehindert werden, sich umzubringen. Manu klammerte sich wie eine Ertrinkende an Bensua, weinte heftig in ihr Baumwollkleid und rief die Götter um Hilfe an. Bensua brach es beinahe das Herz, als sie mit ansehen musste, wie Manu gebrandet wurde. Ihr geschwächter Körper bäumte sich unter dem heißen Eisen auf und sackte zu Boden.
Dr. Stanton warf einen flüchtigen Blick auf die Wunde und nickte schwach. »Sie übersteht es. Ich schmiere etwas Salbe darauf.« »Manu!«, rief Bensua schluchzend. Sie wollte der weinenden Freundin zu Hilfe eilen und lief in die Arme eines Aufsehers. Der Mann drückte sie gefühllos nach unten und hielt sie fest, bis die dunklen Buchstaben auf ihrem Rücken brannten. Der Schmerz war so stark, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Sie stolperte ein paar Schritte, hielt sich an der Hauswand fest und kämpfte wütend gegen eine drohende Ohnmacht an. Kaum hatte sie sich einigermaßen gefangen, kroch sie zu Manu und legte einen Arm auf ihre Schultern. Sie hatte das Bewusstsein verloren. »Du darfst nicht aufgeben«, sagte sie zu dem Mädchen. »Hörst du? Du darfst nicht aufgeben!« Sie zog Manu in den Schatten und nahm sie in den Arm, sorgsam darum bemüht, die Wunde nicht zu berühren. Ihren eigenen Schmerz verdrängte sie. Es war wichtiger, ihrer jungen Freundin zu helfen, sonst würde sie an der schweren Last, die ihnen die Götter aufbürdeten, zerbrechen. Ihre Augen suchten Ottobah und fanden ihn nicht. Er hatte sich vor lauter Scham hinter dem Haus versteckt. Die anderen Gefangenen lagen stöhnend im Sand, weinten, jammerten und fluchten. Der Arzt verteilte Wundsalbe und verzog angewidert das Gesicht, als ihm der Gestank der verbrannten Haut in die Nase stieg. »Ekelhafter Geruch!« Willem van der Meyde und der amerikanische Kapitän saßen im Büro, als ein Aufseher hereinkam und meldete, dass alle Sklaven gebrandet waren. »Dann kann es ja losgehen«, meinte Whitcomb geschäftig. »Bringt die Ware an Bord!« Er stand auf und blickte aus dem Fenster. »Dieses Gejammer kann einem ganz schön auf die Nerven gehen, mein Freund. Beeilt Euch, ja?«
ATLANTIK
Ich dachte, ich müsste unter den Peitschenhieben des verfluchten Rohlings sterben. Ich kann meine Leiden nur mit den Qualen der Hölle vergleichen. Solomon Northup, ehemaliger Sklave
11
Die Einschiffung der Sklaven dauerte den ganzen Tag. Unter den Peitschenschlägen und Knüppelhieben der Aufseher liefen sie zum Strand. Zitternd vor Angst bestiegen sie die Ruderboote. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, dass der Abschied von ihrer Heimat endgültig war. Sie verließen die Goldküste für immer. Die Männer und Frauen, die lebende Verwandte zurücklassen mussten, begannen laut zu wehklagen. Einige Frauen warfen sich schreiend zu Boden. Die Aufseher trieben sie mit Schlägen in die Boote. Auch die wenigen Männer, die aufbegehrten, bekamen ihren Zorn zu spüren. Ottobah ging brüllend auf die weißen Männer los und wurde erbarmungslos niedergeknüppelt. Zwei Aufseher zogen den Bewusstlosen an den Füßen zum Meer und warfen ihn wie ein Schlachtvieh ins kleine Boot. Nur weil der holländische Sklavenhändler seinen Männern eingeschärft hatte, aufsässige Sklaven auf keinen Fall zu töten, verzichteten sie darauf, ihm eine Kugel in den Schädel zu jagen. Bensua und Manu waren bei den letzten Frauen und Kindern, die aus dem Barracoon geholt wurden. Die Aufseher hatten längst die Geduld verloren und setzten ihre Peitschen noch rücksichtsloser ein. Sie hatten den Auftrag, das Schiff bis zum frühen Abend zu beladen, und mussten einen Lohnabzug in Kauf nehmen, wenn sie es nicht schafften. Die »Verladung der Ware«, wie die Verschiffung der Sklaven in den Büchern genannt wurde, gehörte zu ihren unangenehmsten Aufgaben. Wären sie nicht so gut bezahlt worden, hätten sie sich wohl längst nach einer anderen Arbeit umgesehen. Der Handel mit Elfenbein solle wesentlich einträglicher und einfacher sein.
»Höchste Zeit, dass wir das Pack in die Boote bringen!«, stöhnte ein Aufseher. »Ich kann dieses Gejammer nicht mehr hören! Die sollten froh sein, dass sie diese verdammte Küste endlich verlassen dürfen! Ich würde sonst was dafür geben, wenn ich endlich hier weg könnte!« Manu schrie laut auf, als die Peitsche einen blutigen Striemen über ihren Rücken zog. Sie stürzte in den Sand und sprang hastig auf, bevor sie ein zweites Mal getroffen werden konnte. In ihren Augen stand panische Angst. Sie torkelte blindlings nach vorn und wäre in den Peitschenhieb eines anderen Aufsehers geraten, wenn Bensua nicht ihre Hand ergriffen und sie zurückgezogen hätte. Weinend lief sie weiter. »Ich bin bei dir«, rief Bensua, »ich lasse nicht zu, dass dir diese Männer wehtun! Hast du gehört, Manu? Ich passe auf dich auf! Du brauchst keine Angst zu haben! Es wird alles gut! Die Götter wachen über uns!« Am Strand warteten einige Matrosen mit den Booten. »Vorwärts! Vorwärts!«, trieb der Zweite Maat die Sklaven an. Er hieß O’Reilly und war ein stämmiger Ire, der von einem englischen Sträflingsschiff geflohen und als Pirat vor den Westindischen Inseln gesegelt war. Seinen Vornamen verschwieg er beharrlich. Er schwang eine neunschwänzige Peitsche und wirkte noch ungeduldiger als die Aufseher. Das Knallen seiner Peitsche übertönte sogar das Rauschen der Brandung. »Macht, dass ihr in die Boote kommt, verdammt, oder ich werfe euch den Haien vor!« Bensua brauchte den untersetzten Mann in seiner zerschlissenen Leinenhose nicht zu verstehen. Seine aufgeregte Stimme und sein hochroter Kopf verrieten ihr genug. Eine falsche Bewegung, ein falsches Wort, schon ein kaum merkliches Zögern würde genügen, um diesen Mann in Rage zu bringen. Er schlug mit sichtlicher Freude auf die Frauen ein und schreckte auch nicht davor zurück, kleine Kinder mit
seiner Peitsche zu ängstigen. So stellte sie sich einen bösen Geist vor. Sein Grinsen ähnelte einer hässlichen Maske und in seiner Stimme schwang tiefe Verachtung für die Sklaven mit. Bensua konnte nicht wissen, dass auch O’Reilly ein Gefangener gewesen war und selbst unter der Willkür seiner Bewacher gelitten hatte. Er zahlte den Sklaven heim, was ihm die Engländer angetan hatten. In den Booten saßen die Schwarzen dicht gedrängt. Wie hilflose Tiere kauerten sie auf dem feuchten Boden. Einige Frauen und Kindern schrien, als die Matrosen durch die Brandung ruderten, sprangen in panischer Angst auf und wollten ins Meer springen und an Land schwimmen. Die Matrosen hielten sie mit ihren schussbereiten Pistolen zurück oder schlugen sie nieder. Ein Mann schloss die Augen und stöhnte verzweifelt. Die meisten Asante waren noch niemals auf dem Meer gewesen und fürchteten sich vor den Wellen. Sie blickten starr vor Entsetzen in die schäumende Gischt. Wasser schwappte über die Reling. Die Boote trieben scheinbar hilflos in der tosenden Brandung, stürzten von hohen Wellenkämmen in dunkle Täler und tauchten mit dem Bug in das brodelnde Wasser. Die Befehle des Zweiten Maats, der breitbeinig in einem der Boote stand und niemals das Gleichgewicht verlor, vermischten sich mit dem Rauschen der Wellen und den panischen Schreien der Gefangenen. Einer jungen Frau gelang es den Hieben der Matrosen zu entgehen und über Bord zu springen. Sie hielt ein Baby in den Armen. Bensua würde ihren Anblick niemals vergessen, ihre weit aufgerissenen Augen und das Schreien des Babys, das verstummte, als sie untertauchten, und zu einem verzweifelten Husten wurde, als sie von der Strömung noch einmal an die Oberfläche gezerrt wurden. Dann verschwanden sie endgültig. Eine andere Frau wollte ihr folgen und wurde im letzten Augenblick an ihrem Todessprung gehindert. Hysterisch rief
sie: »Die weißen Männer essen uns auf! Sie nehmen uns mit und dann essen sie uns auf! Seht ihr nicht? Sie wollen uns töten!« Sie versuchte sich aus dem Griff ihrer Schwester zu befreien, aber die hielt sie fest umklammert, bis sie die Kraft verlor und erschöpft aufgab. Unwillkürlich verstärkte Bensua ihren Griff. Sie hatte den rechten Arm um die Schultern ihrer jungen Freundin gelegt und spürte ihr heftiges Zittern. Sie fasste nach ihren Händen und sagte: »Beruhige dich! Sie wollen uns nicht aufessen! Das weiß ich von einem Krieger, der auf einem ihrer Schiffe war! Sie wollen, dass wir arbeiten! Sonst hätten sie uns schon längst getötet!« Sie drückte die Hände des furchtsamen Mädchens und versuchte ihr neuen Mut zu geben, obwohl sie selbst um ihr Leben fürchtete und ihre ganze Kraft aufbieten musste um ihre Angst nicht zu zeigen. Der unbedingte Wille, der jungen Manu eine Zukunft zu zeigen, gab ihr den Mut, den Gefahren zu trotzen. Beinahe aufsässig hielt sie ihr Gesicht in die schäumende Gischt und den Wind. Nachdem sie die Brandung überwunden hatten, wurde das Meer ruhiger. Der Lärm ließ nach und die Boote schaukelten kaum noch. Doch hinter den tosenden Wellen verschwand auch die Küste, und die Angst vieler Sklaven wurde noch größer. Sie hatten den festen Boden ihrer Heimat unter den Füßen verloren und befanden sich auf dem schwankenden Untergrund des großen Wassers, das bis zum fernen Horizont reichte. Und sie hatten keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis sie wieder an Land gehen durften. Einige Sklaven befürchteten sogar, den Rest ihres Lebens auf dem Meer verbringen zu müssen. Mit leeren Augen starrten sie auf das große Schiff, das sich dunkel und mächtig aus dem Meer erhob und bedrohlicher als die steinerne Festung wirkte. Die Matrosen ruderten dicht an das Schiff heran.
»Hoch mit euch!«, befahl O’Reilly, als sie längsseits anlegten. Er ließ die Neunschwänzige knallen und trieb die verängstigten Gefangenen auf die Fallreepe. Unter den wüsten Beschimpfungen des Zweiten Maats und dem schadenfrohen Gelächter der Matrosen stiegen sie über die schwankenden Strickleitern zur Reling hinauf. Dort wurden sie von kräftigen Händen an Deck gezogen. Wer zögerte oder sich umdrehte, bekam die lange Peitsche zu spüren. »Sieh nach oben!«, ermahnte Bensua ihre junge Freundin. »Dreh dich nicht um!« Manu kletterte dicht über ihr, zog sich unsicher von einer Sprosse zur nächsten und war nahe daran, die Nerven zu verlieren. »Halte durch, Manu!«, rief Bensua ihr aufmunternd zu, obwohl sie selbst Angst hatte und sich über einem tiefen Abgrund glaubte, der geradewegs ins Reich der bösen Geister führte. »Wir haben es gleich geschafft!« Captain Alex Whitcomb stand unberührt von allem auf dem Achterdeck und gab seinem Bootsmann und einigen anderen Weißen die Anweisung, auch die »Weiber« und die »schreienden Kinder« unter Deck zu verstauen. Einige Matrosen stießen sie mit Gewehrkolben und Knüppeln über einen steilen Niedergang unter Deck, von der hellen Nachmittagssonne in ein dunkles Zwischendeck, das von den Zimmerleuten in Amerika eingebaut worden war um möglichst viele Sklaven unterbringen zu können. Gerade mal anderthalb Meter war das Deck hoch, sodass die meisten Männer und Frauen nur gebückt gehen konnten, und die Luft war schwüler und stickiger als in einem Urwald nach der Regenzeit. Im Gegensatz zu den Männern wurden die Frauen und Kinder nicht gefesselt. Sie durften sich in einem geschlossenen Raum im Bug des Schiffes frei bewegen. Man befahl ihnen, sich auf die gescheuerten Planken zu legen und sich still zu verhalten. Eingeschüchtert folgten sie der Aufforderung. Unter Deck war so wenig Platz, dass ein Körper den anderen berührte, wenn sie
sich niederlegten, und die Eimer für die Notdurft zwischen ihren Füßen standen. Ein Luftgitter mit breiten Streben, das in die Decke eingelassen war, war die einzige Verbindung zur Außenweit und ließ etwas Licht und Luft herein. Ein Durchlass in der zusätzlich eingezogenen Holzwand, die das Quartier der Frauen und Kinder von dem größeren Zwischendeck für die Männer trennte, führte zum Niedergang. Dort erschien der Bootsmann, eine Peitsche in der Hand, und rief: »Jetzt seid ihr endlich da, wo ihr hingehört! Ein falsches Wort und ihr bekommt meine Peitsche zu spüren, verstanden?« Er blickte in die starren Gesichter und schüttelte angewidert den Kopf, als einige der Kinder zu weinen anfingen. »Anscheinend muss ich noch deutlicher werden!«, hob er seine Stimme. Er ließ die Peitsche über den Köpfen der erschrockenen Frauen und Kinder knallen und lachte gehässig, als sie sich ängstlich duckten und vor ihm zurückwichen. Eingeschüchtert verzogen sich Bensua und Manu in den hintersten Teil des Raumes. Der Bootsmann, ein kräftiger Bursche mit dicken Armen und einer behaarten Brust, behandelte sie noch schlechter als der Zweite Maat und hatte nicht einmal Mitleid mit den Kindern. Während der ganzen Reise machte er sich einen Spaß daraus, sie zu erschrecke oder mit erhobener Peitsche über das Deck zu jagen. Er hieß Johnny Graham und hatte unter demselben Piratenkapitän wie der Zweite Maat gedient. Auf den Westindischen Inseln erzählten sich die Leute, dass er selbst weiblichen Gefangenen den Kopf abgeschlagen hatte. Auch wenn diese Schilderungen übertrieben waren, blieb noch genug Grausamkeit übrig, um ihn zu einem der gefährlichsten Männer auf der Hannibal zu machen. Nur Männer, die jegliches Mitgefühl verloren hatten, heuerten auf einem Sklavenschiff an. Am Abend ließ Captain Whitcomb den Anker lichten. Seine knappen Befehle hallten über das Deck und die Gefangenen
hörten die raschen Fußtritte der Matrosen, die seine Anweisungen ausführten. Die Geräusche, die durch die Dunkelheit nach unten drangen, waren unheimlich. Heisere Schreie, das Pfeifen eines Offiziers, die Rufe der Matrosen, die in die Masten aufstiegen, das Knarren des Segeltuchs, wenn sich die festen Leinensegel entfalteten. Ungeduldig wie ein Tier, das den Winter in einer Höhle verbracht hatte, erwachte die Hannibal zum Leben. Die Marssegel blähten sich geräuschvoll, die hölzernen Planken ächzten und die Wanten dehnten sich widerwillig unter der plötzlichen Anspannung. Das Schiff drehte sich gegen den Wind und segelte langsam auf das offene Meer hinaus. Unter den Frauen und Kindern, die gerade damit begonnen hatten, sich in ihr neues Schicksal zu fügen, entstand Unruhe. In der Dunkelheit wirkten die Geräusche des Schiffes doppelt unheimlich und Angst einflößend. Bensua blickte unruhig durch die Luftluke zum Himmel empor. Die massiven Streben teilten den halben Mond und ließen die Sterne noch ferner erscheinen. Für wenige Augenblicke waren die dunklen Umrisse einiger Matrosen zu erkennen. Ein kleines Licht flammte auf. Eine Laterne, wie sie annahm, die an einen der Masten gehängt wurde. Sie hörte einen knappen Befehl und erkannte die scharfe Stimme des Zweiten Maats. »Aye, Sir!«, riefen einige Matrosen. Wenige Augenblicke später war zu vernehmen, wie sich ein Segel entfaltete. Einige Frauen und Kinder weinten und Bensua tastete nach der Hand ihrer jungen Freundin. Es tat gut, ihre Nähe zu spüren. Sie hatten sich auf die Seite gedreht, um mehr Platz zu haben und nicht auf der schmerzenden Brandwunde liegen zu müssen, und blickten einander an. Manus Augen wirkten größer als sonst und leuchteten weiß. Das schwache Mondlicht, das durch die Luftluke ins Zwischendeck fiel, ließ ihr Gesicht noch verletzlicher erscheinen. Ihre Tränen waren
versiegt. Ihr Blick war starr und sie zuckte mit keinem Muskel, als ein verzweifelter Schrei von der anderen Seite des Raums zu ihnen herüberdrang. Sofort entstand Unruhe unter den Gefangenen. »Wer war das? Was ist passiert?«, riefen die Frauen wild durcheinander. Der Schrei hallte wie ein Echo durch den engen Raum, hing viel zu lange in der stickigen Luft. Alle anderen Laute auf dem Zwischendeck erstarben. Selbst das Knarren der Wanten und Planken schien für einen Augenblick aufzuhören. Die Anwesenheit des Todes war beinahe körperlich zu spüren. In die plötzliche Stille drang das Schluchzen der Frau. Sie weinte so heftig, dass sich ihre Stimme überschlug und zu einem hilflosen Würgen wurde. Bensua stützte sich auf die Ellbogen und blickte in die Richtung, aus der das Würgen kam. Sie erkannte die schattenhaften Umrisse der weinenden Frau und beobachtete, wie zwei andere Sklavinnen sich um sie kümmerten. »Ihr Baby ist erstickt!«, hörte Bensua eine Stimme flüstern. »Sie hat es selbst getötet! Sie wollte das arme Kind vor den bösen Geistern retten!« Das laute Schnalzen der neunschwänzigen Peitsche fegte jegliches Mitleid vom Zwischendeck. Die mächtige Gestalt des Zweiten Maats tauchte über der Luftluke auf. Sein Schatten fiel über die entsetzten Frauen und Kinder. »Ruhe!«, brüllte er so laut, dass sich einige Frauen die Ohren zuhielten. »Euer Gejammer ist ja nicht auszuhalten! Noch einmal und ich lasse eine von euch an den Mast binden und auspeitschen!« Die bedrohliche Stimme des Mannes ließ keinen Zweifel an der Bedeutung seiner Worte. »Seid still!«, flehte eine Frau leise. »Sonst tötet er uns!« Bensua folgte dem Rat der älteren Sklavin und wagte kaum zu atmen. Erst als der Schatten des weißen Mannes mit der Nacht verschmolz, holte sie tief Luft. Einige Tränen rannen
über ihre Wangen. Die Nähe ihrer jungen Freundin hielt sie davon ab, ihrem Schmerz freien Lauf zu lassen. Sie hatte die Verantwortung für Manu übernommen. Sie hatte ihr versprochen, sie in eine bessere Zukunft zu führen. Und auch wenn sie nicht wusste, woher sie ihre Zuversicht nahm, würde sie versuchen dieses Versprechen zu erfüllen. Jedes Eingeständnis ihrer eigenen Verzweiflung hätte Manu entmutigt. »Die Mütter haben es schwerer«, flüsterte Bensua nach einer Weile. »Sie sorgen sich um ihre Kinder. Wir beide sind stark genug um diese Prüfung zu bestehen!« Manu seufzte leise und schob sich näher an sie heran. Der Mond war gewandert und von ihrem Gesicht war nur noch das Weiße in ihren Augen zu sehen. Langsam fielen ihr die Augen zu. Ihr Körper entspannte sich und ihr Atem wurde regelmäßig. »Schlaf«, flüsterte Bensua. Sie tastete nach der Wange ihrer Freundin und streichelte sie sanft. Im flackernden Licht einer Laterne, die ein Matrose über Deck trug, sah sie die roten Brandwunden. Der weiße Doktor hatte sie mit einer übel riechenden Salbe beschmiert und sie hoffte, dass diese Medizin half. Die Wunde durfte sich nicht entzünden. Wenn sie in diesem Verlies krank wurden, gab es wenig Hoffnung für sie. Ihr Onkel hatte von einem Krieger der Asante erzählt, der in einem Gefängnis der Engländer gewesen war und keine drei Tage überlebt hatte. Er hatte sich mit einer Krankheit der Weißen angesteckt. Bensua schloss die Augen. »Ich brauche den Schlaf!«, schärfte sie sich ein, auch wenn sie versucht war am Nachtlager ihrer Freundin zu wachen. Selbst die Krieger schliefen lange, bevor sie in eine Schlacht zogen! »Nur im Schlaf finde ich die Kraft, die ich für den Kampf gegen die weißen Männer brauche!« Denn es würde ein Kampf werden. Jede Gefangenschaft war ein Kampf. Sobald man nicht mehr
aufbegehrte, war man verloren. Die Sklaven, die sich willenlos in ihr Schicksal ergaben, kannten keine Vergangenheit und keine Zukunft, lebten gedankenlos wie Ziegen, bis sie geschlachtet wurden. Dann blieb der Selbstmord als einziger Ausweg. Sie durfte niemals aufgeben. Sie war kein Mann, der mit den Fäusten zuschlagen konnte, sobald er seine Fesseln los war. Sie war eine junge Frau, die es nur einer glücklichen Fügung des Schicksals zu verdanken hatte, dass der Holländer sich nicht an ihr vergriffen hatte. Jetzt war sie einem Mann wie O’Reilly hilflos ausgeliefert. Aber ihre Gedanken waren stark. Sie würde ihre Heimat niemals vergessen und immer an eine bessere Zukunft glauben. Das war sie Manu, Ottobah und sich selbst schuldig.
12
Es war tief in der Nacht, als Bensua aufstand. Sie stieg geduckt über die schlafenden Gefangenen hinweg und benutzte einen der Eimer, die für ihre Notdurft bereitstanden. In dem schwachen Licht, das durch die Luftluke hereinfiel, nahm sie die halb nackten Körper ihrer Leidensgenossinnen als unheimliche Schatten wahr. Sie lagen wie Mehlsäcke auf den harten Schiffsplanken, eine neben der anderen und so dicht, dass man kaum den Boden sehen konnte. Selbst Rinder und Schweine wurden von den weißen Männern besser behandelt. Einige Frauen seufzten im Schlaf, wälzten sich nervös von einer Seite auf die andere und kämpften gegen ihre bösen Träume an. Ein kleiner Junge weinte leise und verstummte, als seine Mutter beruhigend auf ihn einredete. Bensua versuchte mühsam das Gleichgewicht zu halten. Das Schiff schwankte so stark, dass sie immer wieder den Boden unter den Füßen verlor. Der Eimer wackelte bedrohlich. Einige Behälter waren bereits umgefallen und der Inhalt hatte sich auf dem halben Deck ausgebreitet. Der Gestank war unerträglich. Nur weil sie direkt unter der Luftluke lag, hatte sie es einigermaßen ausgehalten. Die Sklavinnen und vor allem die Kinder, die weit vorn im Bug lagen, wagten kaum zu atmen. Ihr Jammern und Stöhnen vermischte sich mit dem Knarren der Planken und dem Klatschen des Hauptsegels, das sich über der Luftluke erhob. Die unheimlichen Geräusche ließen sie erschaudern. Vom Quartier der Männer drangen wütende Stimmen und das Rasseln schwerer Ketten über die Zwischenwand. Irgendwo hinter diesen Brettern lag Otttobah. Sie entfernte sich von dem
stinkenden Eimer und kroch auf allen vieren zwischen den Gefangenen hindurch. Am Niedergang, der mit einer massiven Holztür und einem eisernen Vorhängeschloss versperrt war, hing eine Öllampe. Ihr flackerndes Licht strahlte bis auf die Wand, die der Zimmermann zwischen den Quartieren der Männer und Frauen errichtet hatte. Sie war mit rostigen Eisennägeln gespickt um die Sklaven daran zu hindern, die Wand mit den Füßen zu treten. Bensua ließ sich nicht abschrecken. Sie bat zwei Frauen, die ihre Ehemänner auf der anderen Seite der Trennwand wussten, sie festzuhalten und spähte vorsichtig durch den Spalt zwischen Wand und Decke. Was sie im unruhigen Licht der wenigen Laternen sah, erschreckte sie so sehr, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Eisige Kälte breitete sich in ihrem Körper aus. Die Männer lagen noch dichter beisammen auf dem Boden als die Kinder und Frauen. Viele Monate später erfuhr sie, dass jedem Sklaven auf einem Schiff ein Platz von nur 1,64 Meter Länge und 88 Zentimeter Breite gewährt wurde. So hatten es die Europäer in den Schreibstuben festgelegt. Die Männer wurden jeweils zu zweit angekettet und konnten sich nur gemeinsam bewegen, wenn sie einen Eimer für die Notdurft benutzen wollten. Weil die Bewegungen auf dem schwankenden Schiff viel zu umständlich und schmerzhaft waren, erleichterten sich die meisten auf ihren Pritschen. Im Quartier der Männer stank es noch erbärmlicher als bei den Frauen. Kaum einer der Sklaven schlief. Als Bensua ihren Kopf über die Trennwand schob, sah sie, wie sich die Männer bewegten, unter Schmerzen aufstöhnten, wenn sie auf ihre Wunden zu liegen kamen, oder wütend auf die Matrosen schimpften. Ein Bild des Jammers, das sich tief in ihr Bewusstsein brannte. »Was siehst du?«, rief eine der beiden Frauen von unten. »Geht es ihnen gut?« Bensua antwortete nicht. Sie hatte
Ottobah entdeckt. Er lag dicht an der Wand, die gelben Flecken des zitternden Laternenscheins auf dem Kopf und dem Rücken. Das Licht zeigte die blutigen Striemen, die sich bis zu dem Leinentuch zogen, das er um seine Hüften gewickelt hatte. Sein Gesicht glich einer steinernen Maske. »Ottobah!«, wollte sie rufen, doch kaum hatte sie die erste Silbe ausgesprochen, ging die Holztür auf und der Bootsmann betrat das Zwischendeck. Er schlug mit der Neunschwänzigen quer über die liegenden Männer und schimpfte: »Gebt endlich Ruhe, verdammte Nigger! Wenn ich noch einen Laut höre, lass ich euch mit den Haien um die Wette schwimmen!« Er hielt seine Worte für einen guten Witz und lachte heiser. Noch dreimal knallte die Peitsche und jedes Mal hallten verzweifelte Schmerzensschreie über das Deck. Bensua bedeutete den beiden Frauen sie loszulassen und ließ sich auf alle viere nieder. Mit Tränen in den Augen versuchte sie das Gesehene zu verdauen. Die beiden Frauen, die sie mit Fragen bedrängten, beachtete sie nicht. Erst als eine zu schluchzen anfing und laut nach ihrem Mann rief, suchte sie ihre Gesichter in dem Halbdunkel und sagte: »Sie sind Krieger! Sie werden den Schmerz ertragen, den ihnen die weißen Männer zufügen! Seid tapfer, meine Schwestern! Wir müssen stark sein, wenn wir leben wollen!« Sie ließ die weinenden Frauen allein und kroch zu ihrer schlafenden Freundin zurück. Manu hatte sich breit gemacht und ließ ihr kaum noch Platz. Um sie nicht aufwecken zu müssen, blieb sie mit dem Rücken an die Schiffswand gelehnt sitzen. So unbequem hatte sie noch niemals geschlafen. Sie versank in einen quälenden Traum, der sie mehrmals aufstöhnen ließ, und erwachte mit den ersten Strahlen der Sonne, die durch die Luftluke hereinfielen. Sie öffnete die Augen und blickte Manu an. »Ich habe die Götter im Traum
gesehen«, log sie mit einem erzwungenen Lächeln. »Sie werden über uns wachen! Hab keine Angst!« In dem schweren Vorhängeschloss, das die Holztür zum Niedergang versperrte, drehte sich ein Schlüssel. Die Tür sprang auf und der Zweite Maat trat geduckt auf das Zwischendeck. Er knallte mit der Neunschwänzigen und rief: »Aufstehen, ihr verdammten Weiber! Kommt an Deck und zeigt uns, was ihr zu bieten habt! Die Frau mit den größten Brüsten darf in meiner Koje schlafen!« Er lachte schallend und trat der am nächsten liegenden Frau in die Rippen. »Worauf wartest du noch? Oder willst du den ganzen Tag in diesem Dreck hier liegen? Steh auf!« Er schwang erneut die Peitsche und scheuchte die verängstigten Frauen und Kinder den Niedergang hinauf. »Und spart euch das Gejammer für nachher auf, wenn Johnny Graham seinen Dienst antritt!« Er lachte wieder und stieß eine Frau auf die Treppe. Bensua erkannte am Lachen von O’Reilly, mit welchen Worten er die Frauen beleidigte, und hatte sich nur mühsam in der Gewalt. Am liebsten hätte sie sich schreiend auf den Zweiten Maat gestürzt. Das niedrige Zwischendeck und die Gewissheit, von dem Mann auf grausame Weise bestraft zu werden, vielleicht sogar das Nachtlager mit ihm teilen zu müssen, hielten sie davon ab. Man brauchte nicht die Fantasie der weißen Männer um sich vorzustellen, was die Matrosen mit den jungen Gefangenen im Sinn hatten. Dennoch konnte sie nicht anders, als vor O’Reilly stehen zu bleiben und ihm verächtlich in die Augen zu blicken. Nur ihr Lebenswille hinderte sie daran, vor dem Mann auszuspucken. O’Reilly erwiderte den Blick und grinste unverhohlen. »He, du willst dich wohl mit mir anlegen?« Er griff ihr an die Brust und zeigte ihr mit seinem gierigen Blick, dass er schon lange keine Frau mehr gehabt hatte. Als sie sich wehrte, drückte er so fest zu, dass sie stöhnend in die Knie ging. Er lachte
schallend. »Bei den Piraten haben wir schwarze Luder wie dich an den Mast gebunden und so lange geprügelt, bis sie gewinselt haben! Eine sprang freiwillig über Bord! Wollte lieber bei den Haien sein als mit den Männern in die Hängematte steigen! Dummes Ding!« Bensua verstand kein Wort und kletterte rasch den Niedergang hinauf. Oben angekommen zog sie ihre Freundin an Deck. Manu zitterte vor Angst und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sie schien erst jetzt zu erkennen, in welch bedrohlicher Lage sie sich befanden. »Was haben sie mit uns vor?«, fragte sie nervös. »Ich weiß es nicht«, antwortete Bensua ehrlich. Auch sie hatte plötzlich Angst und schloss nicht mehr aus, dass die weißen Männer vorhatten sie umzubringen. Vielleicht brachten sie nur die Männer in das fremde Land und warfen die Frauen ins Meer! Das vermuteten auch die meisten anderen Sklavinnen. Kaum waren sie an Deck, drängten sie sich wie verängstigte Schafe während eines Gewitters zusammen und blickten furchtsam auf die weißen Männer, die fast alle Peitschen in den Händen hielten. Ein Mädchen stieß einen hysterischen Schrei aus, rief immer wieder »Sie wollen uns umbringen! Sie wollen uns umbringen!« und steckte die anderen Gefangenen mit ihrer Panik an. Bensua stand zwischen den klagenden Frauen und schaffte es kaum noch, ihre Freundin mit einem Händedruck zu ermutigen. Und das Vorgehen der weißen Männer war nicht dazu angetan, die Gefangenen zu beruhigen. Ein Matrose hielt einen brennenden Span an die Lunte des großen Feuerrohrs, das an der Reling stand, und hielt sich beide Ohren zu, als sich die Kanone mit einem ohrenbetäubenden Krachen entlud. Die Kugel klatschte in das aufgewühlte Meer. Ein verzweifelter Aufschrei ging durch die Frauen und Kinder. Einige Kinder
schrien vor Entsetzen. Die Matrosen lachten über den Schrecken, den sie ihren Gefangenen eingejagt hatten, und wuchteten das mächtige Feuerrohr herum. Jetzt zeigte die Mündung auf die Frauen und Kinder. Ihr Entsetzen verwandelte sich in wilde Panik und eine Frau wollte tatsächlich über die Reling springen, wurde aber von einem der Matrosen zurückgehalten. Sie wand sich schreiend in seinem festen Griff, bis Bensua rief: »Beruhigt euch doch! Sie wollen uns nur erschrecken! Seht doch! Sie zünden das große Feuerrohr nicht an!« Ein knallender Peitschenhieb brachte die ängstlichen Frauen endgültig zur Besinnung. »Wollt ihr wohl still sein, ihr elenden Weiber!«, brüllte O’Reilly sie an. »Wir wollen euch nicht töten! Ganz im Gegenteil! Wir werden noch viel Vergnügen zusammen haben, wenn ihr euch benehmt!« Er unterstrich seine Worte mit einem Schmatzen, wie er es bei dem Holländer gesehen hatte. »Mister O’Reilly«, wies Captain Alex Whitcomb seinen Zweiten Maat zurecht. Er stand auf dem Achterdeck, die Hände auf dem Rücken, den blauen Dreispitz auf den spärlichen Haaren. »Das genügt! Wir sollten unsere Fracht pfleglich behandeln um einen größtmöglichen Gewinn in Charleston zu erzielen! Wenn wir die Neger in Panik versetzen, bekommen wir nur Ärger! Sie erinnern sich doch daran, was auf unserer letzten Fahrt geschehen ist?« »Aye, Captain! Ein halbes Dutzend der verdammten Weiber ist über Bord gesprungen und wir mussten den Rest mit Ketten an die Reling binden! Und in dem Sturm vor der kubanischen Küste sind uns nochmal welche verreckt! Aber das lag an diesem schwarzen Teufel, der sie gegen uns aufgehetzt hat! Wäre es nach mir gegangen, hätten wir uns mit den Weibern vergnügt und sie hätten uns bis Charleston aus der Hand gefressen!«
Der Kapitän bedachte ihn mit einem missbilligenden Blick. Er hatte keinen Sinn für Humor, schon gar nicht für die derben Späße, die O’Reilly bevorzugte. »Ich habe nichts dagegen, wenn sie die Frauen für sich tanzen lassen«, erwiderte er streng. »Aber ich muss Sie noch einmal eindringlich daran erinnern, wie gefährlich es ist, in körperlichen Kontakt mit diesen Wesen zu treten! Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, welche Krankheiten in den Körpern unserer Ware lauern.« Er blickte den langhaarigen Mann an, der neben ihm auf dem Achterdeck stand und mürrisch auf die ängstlichen Frauen blickte. »Doktor Atkins! Berichten Sie der Mannschaft, was Sie auf Ihrem letzten Schiff erlebt haben!« Der Schiffsarzt, ein junger Mann, der ständig schwitzte, hatte zwei Jahre in einer Klinik in Savannah gearbeitet. Er war einem Geldanleger auf den Leim gegangen und vor seinen Gläubigern auf ein Sklavenschiff geflüchtet. Sein aufgeschwemmtes Gesicht verriet, dass er dem Alkohol nicht abgeneigt war. »Das war auf der Voyager«, sagte er. »Unter den Frauen, die wir an der Elfenbeinküste geladen hatten, waren einige Schönheiten, die es darauf angelegt hatten, das Lager mit unseren Offizieren zu teilen. Wir wussten nicht, dass sie unter einer seltenen Krankheit litten. Einer gefährlichen Hautkrankheit, die wir damals noch nicht kannten. Bevor ich der Krankheit auf die Spur kam, hatten sich fünf Männer angesteckt, darunter auch der Erste Maat. Der Captain ließ die Männer und alle kranken Frauen ins Meer werfen! Er musste es tun, sonst hätte die Versicherung seinen Verlust niemals ersetzt! Wir wissen nicht, ob es noch andere Krankheiten dieser Art gibt, und ich möchte Ihnen dringend raten, sich nicht mit den Negerinnen einzulassen! Das ist viel zu gefährlich!« »Ich bin immun gegen Schiffsfieber und dieses ganze Zeug«, erwiderte O’Reilly lachend. »Bei den Piraten haben wir es mit viel gefährlicheren Weibern zu tun gehabt und mir ist nie was
passiert!« Wie zur Bestätigung ließ er seine Muskeln spielen. Er warf den Frauen einen herausfordernden Blick zu und zog die neunschwänzige Peitsche über den Boden. »Und jetzt gebt ihnen endlich was zu essen«, trieb er die Matrosen an, »sonst brechen sie uns noch zusammen! Tot nützen sie uns noch viel weniger!« »Halten Sie sich zurück!«, warnte Captain Alex Whitcomb den Zweiten Maat noch einmal. »Auf meinem Schiff herrscht Ordnung! Wenn wir eine Ware übernehmen, liefern wir sie ordentlich und fristgerecht an ihrem Bestimmungshafen ab. Ich kann mir keine Verluste erlauben, sonst muss ich Ihnen den Lohn kürzen!« Er nahm die Hände hinter dem Rücken hervor und warf einen strengen Blick auf den Arzt, der eine Rumflasche aus der Jackentasche zog und einen tiefen Schluck nahm. »Und lassen Sie die Neger ordentlich tanzen! Bewegung hält unsere Ware frisch!« Die Frauen hatten gesehen, wie der Kapitän seinen Zweiten Maat zurechtwies, und verloren allmählich ihre Todesangst. Und als einige Matrosen einen großen Topf mit Hirsebrei brachten und O’Reilly den Sklavinnen befahl eine Hand voll zu nehmen, waren sie endgültig überzeugt, dass sie am Leben bleiben durften. Sie waren sich aber auch im Klaren darüber, dass die geringste Kleinigkeit genügen konnte um die Absicht der weißen Männer zu ändern. Die Kanone blieb auf sie gerichtet und daneben stand ein Matrose, der sofort die Lunte anzünden würde, wenn ein Vorgesetzter es befahl. Dann würde die Eisenkugel sie vom Schiff schleudern und ins Meer zu den Raubfischen werfen. Bensua schöpfte eine Hand voll Hirsebrei aus dem Topf und ermahnte Manu möglichst viel zu essen. »Ich weiß nicht, wie lange wir auf diesem Schiff sein werden. Du musst bei Kräften bleiben«, sagte sie eindringlich. Sie setzten sich an die Reling und aßen stumm. Manu brachte den zähen Brei kaum hinunter.
Die Furcht, von den weißen Männern erschossen oder über Bord geworfen zu werden, hatte sich tief in ihren Körper gegraben. Sie weinte leise und blickte immer wieder auf das Feuerrohr, das am Bug des Schiffes stand und mit seiner dunklen Öffnung auf sie zeigte. »Du musst alles aufessen!«, ermahnte Bensua das Mädchen noch einmal. Nach einer Weile beruhigte Manu sich und Bensua fand endlich Zeit, ihren Blick über das Schiff wandern zu lassen. Wie die riesigen Bäume im Regenwald ragten die beiden Masten aus dem Deck empor. Die weißen Segel knarrten in dem leichten Wind, der während des ersten Teils der Reise aus Südosten kam. »Südostpassat« nannten ihn die weißen Männer. Schwierig wurde es erst am Äquator, auf der Fahrt vom Südostpassat in den Nordostpassat, der sie nach Amerika bringen würde. Dort warteten gefährliche Flauten, die ein Schiff wochenlang festhalten konnten. Dann wurde es so heiß auf den Zwischendecks, dass viele Sklaven krank wurden und starben. Auf einem Schiff waren über hundert Gefangene gestorben, aber das wusste Bensua nicht. Sie freute sich über die frische Luft und den Wind, der den Gestank aus ihren Kleidern trieb und sie ein wenig belebte. Ihr Blick wanderte über die Reling und ging auf das weite Meer hinaus. Es war beängstigend, die scheinbar endlose Wasserfläche um sich zu sehen. Selbst in der Richtung, aus der sie kamen, war kein Land mehr auszumachen. Als hätte ein riesiges Ungeheuer alles Land verschluckt. Hier draußen sah man, wie mächtig Onyankopon Kwame war. Das weite Meer und der Himmel, der wie eine mächtige Glocke über dem silbernen Wasser hing, zeugten von der gewaltigen Macht, über die der Schöpfer verfügte. Auf den großen Versammlungen hatte der Asantehene betont, dass der Gott der Asante mächtiger war als alle anderen Götter. Selbst dem Gott der Weißen sollte er überlegen sein. Bensua vermutete, dass es
nur einen Gott gibt, dem die weißen und die schwarzen Männer unterschiedliche Namen gegeben hatten. Die Ruhe währte nicht lange. Kaum hatten sie ihr Essen beendet, erinnerte sie der Zweite Maat mit einigen Peitschenhieben daran, dass sie unter seinem Befehl standen und von seiner Gnade abhängig waren. Auch wenn die Lederriemen seiner Neunschwänzigen nur die Planken berührten, war allen Frauen und selbst den Kindern klar, wie schnell sich die Behandlung durch die weißen Männer ändern konnte. Eine winzige Laune würde den Zweiten Maat und den Bootsmann dazu verleiten, die halb nackten Gefangenen mit ihrer Peitsche zu quälen, und welche Wunden eine solche Behandlung hinterließ, hatte Bensua auf dem langen Marsch zur Küste und bei Ottobah gesehen. Sie durften einen Becher von dem Wasser trinken, das aus den hölzernen Fässern kam, und wurden angehalten ihre Körper mit Salzwasser zu waschen, das mit Zitronensaft versetzt war, damit sich ihre Haut nicht entzündete. Die weißen Männer lachten, als die Frauen zögernd ihre Kleider auszogen, und machten keine Anstalten, sie allein zu lassen. Sie tauschten derbe Witze aus und zeigten den Sklavinnen mit obszönen Bewegungen, was sie beim Anblick ihrer Nacktheit empfanden. Auf der Hannibal war der Ton noch rauer als auf einem Piratenschiff. Bensua ermahnte ihre Freundin sich nicht um die Matrosen zu kümmern und bemühte sich jeden Blickkontakt mit ihnen zu meiden. Sie waren beide froh, als sie ihre Kleider wieder angezogen hatten und nach unten gehen durften.
13
Der Zweite Maat trieb die Frauen und Kinder in den hinteren Teil des Schiffes und bedeutete ihnen mit der erhobenen Peitsche sich auf die Planken zu setzen. Die Gefangenen bemühten sich, nicht in die Nähe des großen Feuerrohres zu kommen, und zuckten unwillkürlich zusammen, als O’Reilly die neunschwänzige Peitsche knallen ließ. Seit mehreren Wochen hörten sie kaum etwas anderes als dieses Knallen und doch hatte sich kein einziger Sklave an dieses hässliche Geräusch gewöhnt. So sprachen die bösen Geister. Ein bösartiges Fauchen, wenn die weißen Männer ausholten, wie von einer aufgebrachten Wildkatze und dann dieses laute und eindringliche Knallen, wenn die Lederriemen den Boden oder die nackte Haut berührten. Selbst heftige Faustschläge waren leichter zu ertragen. Die Lautstärke der Peitschenhiebe schwoll an und ließ die Gefangenen erschrocken zum Niedergang blicken. Staunend beobachteten sie, wie O’Reilly und einige Matrosen die männlichen Sklaven nach oben trieben. Von derben Flüchen und harten Schlägen begleitet kletterten die Krieger an Deck. Ihr Anblick war so schrecklich, dass lautes Wehklagen unter den Frauen und Kindern ausbrach. Einige Männer hatten bereits aufgegeben, erduldeten die Demütigungen wie willenlose Tiere und schrien kaum noch, wenn ein Peitschenhieb sie traf. Aufgeplatzte Wunden und blutige Striemen leuchteten in der Morgensonne. Die schweren Ketten, mit denen sie wie Sträflinge aneinander gekettet waren, klirrten bei jeder Bewegung. Die wenigen Krieger, die sich noch vor der Einschiffung gegen die Matrosen aufgelehnt
hatten, waren still geworden und man erkannte nur noch an ihren Blicken, dass sie an ein Überleben glaubten. Einige Frauen schrien auf und wollten sich den Männern nähern, wurden jedoch von den Matrosen zurückgehalten. Aufgelöst und voller Panik drängten sie sich vor den entsicherten Musketen und den erhobenen Entermessern. Bensua stand in vorderster Reihe, den Blick auf Ottobah gerichtet, der einen Schritt auf sie zu gelaufen und über seine eisernen Fesseln gestürzt war. »Ottobah!«, rief sie laut. »Du darfst dich nicht gegen sie auflehnen! Sie haben große Feuerrohre und Gewehre! Wir haben keine Chance gegen sie! Ich will nicht, dass sie dich töten!« »Ich bin ein Fante!«, antwortete Ottobah. »Ich bin ein tapferer Krieger! Ich muss mich gegen diese Männer wehren, wenn ich vor den Nachkommen unseres Volkes bestehen will!« Bensua widerstand dem Drang, an den bewaffneten Matrosen vorbei zu Ottobah zu laufen, und ihren eigenen Tod zu riskieren. Ihr war plötzlich klar, dass der Fante auch gegen ihr eigenes Volk rebelliert hätte. Er wäre niemals ein Sklave der Asante geworden! Er hätte immer wieder versucht den Todfeinden seines Volkes zu entkommen und wäre lieber enthauptet worden, als im Haus einer Familie der Asante zu wohnen. Vor ein paar Monaten hätte sie es noch für undenkbar gehalten, ein Gefühl für einen solchen Krieger zu entwickeln. Doch jetzt konnte sie sich nicht mehr vorstellen ohne ihn zu leben. Selbst in diesem Augenblick war ihr klar, dass eine Zukunft nur mit ihm möglich war. Sie spürte, wie Manu an ihrem rechten Arm zog, und gab dem Drängen nach. Ihre junge Freundin hatte Recht. Es wäre Selbstmord gewesen, sich den weißen Männern zu widersetzen. Die wahre Kunst des Widerstands bestand darin, sich seinen Glauben und seine geistige Stärke zu bewahren. Es
machte keinen Sinn, dem starken Gefühl der Sehnsucht nachzugeben und eine Dummheit zu begehen. O’Reilly wartete nur darauf, dass eine Frau die Nerven verlor. Dann besaß er endlich einen Grund, mit Gewalt gegen sie vorzugehen, und nicht einmal der Kapitän würde etwas dagegen haben, wenn er sie züchtigte. Der Zweite Maat war ein brutaler Mann, viel gefährlicher als der Bootsmann, den sie »Johnny« oder »Graham« nannten. Er hatte Freude daran, hilflose Frauen und Kinder zu peitschen. Er wollte Blut sehen, wie der Asantehene, wenn er seinen Feinden beweisen wollte, dass es kein mächtigeres Volk als die Asante gäbe. Was für ein Trugschluss! Bald würde auch er erkennen müssen, wie überlegen die weißen Männer den schwarzen Kriegern waren. Bensua schloss die Augen und sammelte neue Kraft. Sie konnte nicht ahnen, wie schlecht es den Männern auf dem Zwischendeck ergangen war. Die schweren Ketten, die sie gesehen hatte, waren an eisernen Ringen in der Schiffswand befestigt, die ihnen so wenig Spielraum gaben, dass sie kaum die Eimer für die Notdurft erreichten. Das Liegen wurde zur Qual, jede Bewegung verursachte höllischen Schmerz. Die kaum verheilten Brandzeichen und die offenen Wunden, die unter den Hieben der neunschwänzigen Peitsche aufgeplatzt waren, brannten wie das Gift, das die Asante aus einem Baum des Regenwaldes gewannen. Graham und O’Reilly behandelten die Männer grausamer als die Frauen und Kinder, fast jeder der Sklaven hatte bereits unter der Peitsche gelitten. Derbe Fußtritte und heftige Schläge mit Holzknüppeln waren an der Tagesordnung. Die meisten Matrosen hatten Spaß daran die Männer zu quälen. Sie wussten, wie man Menschen schlug ohne bleibende Schäden zu hinterlassen. Bis sie die amerikanische Küste erreichten, würden noch einige Wochen vergehen, da blieb genug Zeit, die »Ware« für den Verkauf
herauszuputzen und zu mästen. So wie es Bauern mit Rindern oder Schweinen taten, die sie zum Markt trieben. Beim Anblick der Kanone und der vielen Musketen, die jetzt auf die Männer gerichtet waren, zügelte sogar Ottobah seinen Zorn. Manchmal bedeutete Widerstand auch, den Geist und den Körper zu stärken und den richtigen Augenblick abzuwarten. Erst wenn der Feind eine Schwäche erkennen ließ, durfte man zuschlagen. Der Fante war entschlossen sich gegen die weißen Männer aufzulehnen, und schmiedete bereits Pläne, wie man den Matrosen am besten beikommen konnte. Es sah ganz so aus, als ob man sie täglich an Deck bringen würde. Sie durften nicht krank werden, wenn sie einen guten Preis bringen sollten, und brauchten frische Luft und Bewegung. An Deck musste es geschehen, hier hatten sie am meisten Platz. Sie würden sich Waffen beschaffen und die weißen Männer töten! Doch der Zweite Maat hatte es auf ihn abgesehen und verpasste keine Gelegenheit, ihn zu provozieren. O’Reilly fuhr seit einigen Jahren auf Sklavenschiffen und wusste schon nach der Verladung, welcher Schwarze ihm gefährlich werden konnte. Bei jeder Fracht war ein Mann dabei, der sich mit seinem Schicksal nicht abfinden wollte und nur darauf wartete, einen Aufstand anzuzetteln. Solche Unruhestifter musste man in ihre Schranken weisen, bevor ein Unglück geschah. Sobald sie nähere Bekanntschaft mit seiner neunschwänzigen Peitsche geschlossen hatten, wurden sie meist gefügig. Und wenn eine solche Bestrafung nicht ausreichte, gab es andere Mittel, sie zur Vernunft zu bringen! »Morgen knöpfe ich mir diesen kräftigen Nigger vor«, sagte O’Reilly, nachdem sie einige Tage auf See waren. Er hatte den Bootsmann geweckt, der die Nachtwache übernehmen sollte. »Ich weiß, wen du meinst«, antwortete Graham grinsend. »Hast du gesehen, wie er das schlanke Mädchen ansieht? Die mit den festen Brüsten? Die nehme ich mir mal vor! Wenn ich
der zwischen die Beine greife, dreht er durch, darauf kannst du wetten! Dann hat der Captain nichts mehr dagegen, dass ich ihn an den Mast binde und ihm eine ordentliche Abreibung verpasse!« »Schade, dass ich nicht zusehen kann«, meinte Graham. Bensua wusste nichts von dieser Unterhaltung, sonst wäre sie wohl mit bloßen Händen auf den Zweiten Maat losgegangen. Sie hatte beschlossen möglichst wenig aufzufallen und ihre ganze Energie darauf zu verwenden, ihrer jungen Freundin während der beschwerlichen Seereise beizustehen. Die Aufgabe lenkte sie von ihrer Sehnsucht nach Ottobah ab und half ihr die eigene Angst zu überwinden. Manu neigte zur Schwermut, weinte häufig und ihr Körper war so schwach, dass sie eine Krankheit des weißen Mannes niemals überleben würde. Es war ihre Pflicht, sie in der Hoffnung zu bestärken, dass sich die Götter bald an sie erinnern würden. Mehrmals am Tag beteten sie zusammen, und wenn kein Aufseher in der Nähe war, sangen sie leise die heiligen Lieder ihres Volkes. Es half, sich auf den Glauben der Asante zu besinnen, wenn die Zukunft dunkel und ungewiss schien. Doch gegen die Grausamkeit und Willkür der weißen Männer war auch Bensua machtlos. Jeden Morgen und jeden Abend, wenn die Sonne nicht so stark brannte, wurden sie von den Matrosen an Deck getrieben, um dort zu essen, sich die Beine zu vertreten und frische Luft zu atmen, eine Unterbrechung der qualvollen Tage und Nächte auf dem Zwischendeck, die Bensua wie ein Geschenk empfand. Natürlich ahnte sie, dass die weißen Männer ihnen damit keinen Gefallen erweisen wollten. Sie waren eine »Ware«, die bei der Ablieferung im besten Zustand sein musste. Das erfuhr sie spätestens in Charleston, wo sie an die Pflanzer der näheren Umgebung verkauft wurden. Einen Menschen, den man verkaufen wollte, ließ man nicht in der Dunkelheit sterben und den schlug man
nicht tot – auch wenn der Zweite Maat sich Mühe gab, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Es geschah so plötzlich, dass Bensua keine Möglichkeit blieb sich zur Wehr zu setzen. Ihr Grauen war so groß, dass sie nicht einmal schrie. O’Reilly schien aus dem Nichts aufzutauchen und zerrte sie so heftig vom Boden hoch, dass ihr der lauwarme Hirsebrei aus der Hand fiel und auf die Planken klatschte. »Na, ist sie nicht ein Prachtstück?«, rief er den Matrosen zu. Alle außer dem Schiffsarzt, der mit betretener Miene auf dem Achterdeck stand, lachten schadenfroh. Einige der Männer waren schon mit dem Zweiten Maat gefahren und wussten, was jetzt kam. »Seht sie euch an! Schlank, kräftig und die weißesten Zähne, die ich jemals bei einem Weib gesehen habe!« Er griff Bensua lachend in den Mund. »Was meint ihr, wie viel wir für sie bekommen? Zwei Säcke Zucker? Drei? Vier? Einen Wagen voll Tabak?« Er warf einen Blick auf Ottobah und grinste zufrieden, als er bemerkte, dass sich der »Nigger« kaum noch beherrschen konnte. In wenigen Augenblicken würde er vollkommen die Nerven verlieren. »Oder sollen wir sie in ein Bordell stecken? Na, was meint ihr? Genug zu bieten hat die verdammte Niggerin ja!« Er fasste ihr an die Brüste und zwischen die Beine und wirbelte lachend herum, als Ottobah einen verzweifelten Schrei ausstieß, nach vorn stürmte und von den Ketten zu Boden gerissen wurde. Er versetzte dem Fante einen Tritt und befahl den Matrosen ihn loszumachen. Bensua stieß er achtlos wie eine Puppe zu Boden. Zwei weiße Männer befreiten den Schwarzen von seiner eisernen Fessel und schleiften ihn zu O’Reilly. Es waren genug Musketen auf Ottobah gerichtet, um ihn nicht auf dumme Gedanken kommen zu lassen. Die wütenden Schreie der anderen Schwarzen und das verzweifelte Schluchzen der Frauen und Kinder erstarben im Knallen der Peitschen. Bensua
klammerte sich an ihre Freundin, weinte hemmungslos und musste von mehreren Frauen festgehalten werden. Wäre sie aufgesprungen und auf den Zweiten Maat losgegangen, hätte es ein noch größeres Unglück gegeben. »Du hast gesagt, dass wir stark sein müssen!«, flüsterte Manu atemlos. »Jetzt musst du das auch tun! Du darfst dich nicht wehren, sonst töten sie dich! Das sehe ich in ihren Augen!« Bensua erkannte, wie aussichtslos ihre Lage war, und versuchte sich zu beruhigen. Es gelang ihr nicht. Sie schnappte wie eine Ertrinkende nach Luft und grub ihre Hände in die Oberschenkel zweier Frauen, die sie festhielten. Ihr Körper wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt. Durch die Tränenschleier vor ihren Augen konnte sie beobachten, wie Captain Alex Whitcomb an Deck erschien und seine nüchterne Stimme erhob: »Zweiter Maat! Was ist geschehen? Was hat dieser Neger verbrochen?« »Er wollte mich töten, Sir! Er fiel mich von hinten an und wollte mir die Gurgel zudrücken!« Er blickte abfällig auf den Fante hinab. »Wenn es nach mir ginge, würde ich ihn ins Meer werfen!« Der Kapitän kam näher und schüttelte den Kopf. Der Anblick des gepeinigten Schwarzen schien ihn nicht zu berühren. »Er ist ein wertvoller Teil unserer Ware, O’Reilly. Das wissen Sie doch! Genauso gut könnten Sie einen Beutel voller Gold über Bord werfen!« Er gestattete sich ein leichtes Grinsen. »Aber ich sehe ein, dass wir eine solche Disziplinlosigkeit nicht durchgehen lassen dürfen. Geben Sie ihm zehn kräftige Hiebe und streuen Sie etwas Salz und Zitronensaft in die Wunden! Das wird ihn und die anderen lehren sich künftig an unsere Befehle zu halten.« »Aye, Captain.« »Schlagen Sie kräftig zu, Mister O’Reilly! Bis wir Charleston erreichen, hat er sich wieder erholt. Er ist ein Unruhestifter,
nicht wahr? Ich kenne diesen Typ. Auf der letzten Fahrt hatten wir einen ähnlichen Fall. Ein Neger wollte nicht einsehen, dass es nur zu seinem Besten war, wenn wir ihn nach Amerika brachten. Er stahl eine Muskete und erschoss einen Matrosen, bevor wir ihn dingfest machen konnten. Mein damaliger Maat wollte ihn über Bord werfen. Ich habe ihn an den Mast binden und auspeitschen lassen. Das half. Er brachte einen Spitzenpreis in Charleston!« »Aye, Sir.« »Tun sie Ihre Pflicht, O’Reilly! Und Sie…«Er wandte sich an den Schiffsarzt, der näher gekommen und sichtlich blass geworden war. »… und Sie achten darauf, dass der Neger am Leben bleibt!« »Captain! Ist es denn wirklich nötig…« »Ja, Doktor!«, schnitt Whitcomb ihm das Wort ab. »Ich habe den Auftrag, die Ware möglichst vollständig und gesund nach Charleston zu bringen. Und das geht nur, wenn wir uns an die Gesetze halten!« Er deutete auf Ottobah. »Worauf warten Sie noch, Mister O’Reilly? Zeigen Sie diesem Neger, was Disziplin heißt!« Auch ohne die Worte des Captains zu verstehen ahnte Bensua, welches schreckliche Schauspiel sie erwartete. Der Zweite Maat wollte seine Macht beweisen und dem gefährlichsten Sklaven zeigen, dass jeder Widerstand zwecklos war. Er ließ den armen Ottobah bäuchlings an den Mast binden und wies die Matrosen an mit ihren Musketen auf die anderen Sklaven zu zielen. »Schießt in die Luft, wenn sie Ärger machen«, sagte er. »Keiner vergreift sich ohne meinen Befehl an den Gefangenen!« Bensua kämpfte tapfer gegen den Schmerz und lächelte die Frauen, die sie hielten, an. Zu Manu meinte sie: »Sorg dich nicht um mich. Wenn Ottobah stark genug ist, die Schläge zu ertragen, will ich tapfer sein und nicht weinen!«
Doch schon der erste Schlag stellte sie auf eine harte Probe. O’Reilly, der ungefähr fünf Schritte vor dem hilflosen Krieger stand, holte weit aus und ließ die Lederschnüre der neunschwänzigen Peitsche mit voller Wucht auf seinen Rücken klatschen. Die Gefangenen schrien entsetzt auf. Bensua griff nach den Händen ihrer Freundinnen und drückte sie verzweifelt. Ein Kind lief schreiend seiner Mutter davon und wurde von einem Matrosen zurückgejagt. Die Frau riss es hastig in ihre Arme. Ein junges Mädchen übergab sich und begann hysterisch zu wimmern. Nur Ottobah beherrschte seinen Schmerz. Obwohl die Lederschnüre tief in seine Haut geschnitten hatten, kam lediglich ein unterdrücktes Stöhnen über seine Lippen. Auch beim zweiten und dritten Schlag schrie er nicht. Den vierten Schlag führte O’Reilly noch heftiger aus, aber wieder brachte Ottobah es fertig, den Zweiten Maat mit seiner Tapferkeit zu demütigen. Die harten Schläge trieben glühende Flammen durch seinen Körper und hätten jeden anderen Krieger schreiend zusammenbrechen lassen, doch sein Zorn auf den selbstgerechten Maat und seine lachenden Kumpane war genug, um ihn auch diesen Schmerz ertragen zu lassen. Ich bin stark!, flüsterte er in Gedanken. Ich werde überleben! Ich bin stärker als die Weißen! Bensua wagte kaum zu atmen, als ein Schlag nach dem anderen auf den Rücken des geliebten Mannes prasselte. Sie musste hinsehen, obwohl sie nicht wollte, und den Schmerz, ihn leiden zu sehen, hielt sie nur in den Armen der anderen Sklavinnen aus. Ihre Tränen waren versiegt und ihre Miene wurde hart und unnahbar. Warum taten diese Menschen so etwas? Jeder Sklave, der bei den Asante starb, bekam die Chance, sich zu wehren oder unter den Gebeten eines heiligen Mannes zu sterben. Diese Männer kannten keine Gnade und demütigten Ottobah. Er wehrte sich gegen eine drohende
Ohnmacht, weil er auch diese als Niederlage gesehen hätte, und ertrug den Schmerz wie ein Krieger, der unzählige Schlachten gegen tapfere Feinde geschlagen hatte. Seine Augen waren rot und aus seiner Nase und den tiefen Wunden auf seinem Rücken floss Blut, aber seine Gedanken waren stark und ließen ihn den unmenschlichen Schmerz ertragen. Ich bin stärker als die Weißen, wehrte er sich innerlich. Unter dem zehnten Schlag, der härter und gemeiner als die anderen war, sackte er benommen zusammen. Er brauchte seine ganze Kraft um bei Sinnen zu bleiben. Lediglich ein leises Seufzen kam aus seinem Mund, als ihn die Matrosen losbanden und auf die Planken warfen. Sie drehten ihn auf den Bauch und hielten ihn an Händen und Füßen fest. »Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob er wirklich so hart ist, wie er tut«, meinte O’Reilly. Er schob die Peitsche hinter den Gürtel und befahl einem anderen Matrosen, eine Mischung aus Salzlake, Zitronensaft und gestoßenem Pfeffer in die offenen Wunden zu streuen. »Geh nicht zu sparsam damit um!« Grinsend führte der Mann den Befehl aus. Und so kapitulierte Ottobah doch noch vor den weißen Männern. Der Schmerz war so unerträglich, dass er sich wie ein angeschossenes Tier aufbäumte und verzweifelt mit dem Kopf auf die Planken schlug. Seine Schreie hatten nichts Menschliches an sich und ließen den anderen Gefangenen das Blut in den Adern gefrieren. Sie hallten weit über den grauen Ozean und verklangen in dem schwachen Dunst, der von Westen heraufzog.
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Ottobah erschien drei Tage nicht an Deck. Einige Männer gaben Bensua durch Zeichen zu verstehen, dass er auf seiner Pritsche lag und verzweifelt gegen das Fieber ankämpfte. Der Mann, der an ihn gekettet war, musste bei ihm bleiben und war dazu verdammt, dieselbe stickige Luft wie er zu atmen. Während der ganzen Zeit bekamen Ottobah und sein Leidensgenosse nichts zu essen. Sie mussten sich einen Becher des brackigen Wassers teilen, das einer der Matrosen ihnen reichte. »Es tut mir Leid«, sagte Ottobah zu dem Krieger, der seine Fesseln teilte. »Ich hätte ins Wasser springen und dir diesen Schmerz ersparen sollen!« »Du bist sehr tapfer«, meinte der Mann. Auch er war ein Fante, nur älter und ruhiger und nicht so ungestüm wie Ottobah. Sein letzter Kampf lag zwanzig Jahre zurück. Damals hatte er sich vergeblich gegen die Asante gewehrt. Gegen die Weißen hatten die Fante niemals gekämpft. »Du bist der Einzige, der es gewagt hat, gegen die Weißen vorzugehen! Du bist ein großer Krieger!« »Ein großer Krieger hätte auf eine günstige Gelegenheit gewartet«, erwiderte Ottobah. »Ich habe mich vom Zorn leiten lassen! Ich wollte nicht, dass der weiße Mann die Asante berührt!« »Du setzt dich für eine Asante ein?« »Sie ist die Frau, von der ich schon vor langer Zeit geträumt habe. Ich weiß, dass wir zusammengehören. Auf diesem Schiff gibt es keine Asante und keine Fante mehr. Wir sind ein Volk! Wir sind schwarz und unsere Feinde sind weiß! Wir werden
die weißen Männer nur besiegen, wenn wir eine Sprache sprechen!« »Du willst nicht aufgeben?« »Niemals«, erwiderte Ottobah entschlossen, »ich lasse mich nicht versklaven! Sobald sich eine Gelegenheit bietet, werden wir dieses Schiff in unsere Gewalt bringen! Dann werden wir die weißen Männer besiegen! Ich werde den Mann, der mich geschlagen hat, in kleine Stücke schneiden und ins Meer werfen!« »Aus dir spricht der Zorn. Hast du vergessen, dass wir schwere Ketten an den Füßen tragen? Wie sollen wir die Männer besiegen, wenn wir angebunden sind? Sie haben große Feuerrohre und Gewehre. Wir besitzen nicht mal ein Messer, mein Freund!« »Das wird sich ändern, alter Mann! Sobald der Tag gekommen ist, werde ich eine Waffe haben! Die Götter werden auf meiner Seite sein, wenn ich die Krieger in den großen Kampf führe!« »Und wie willst du das Schiff steuern, wenn alle Weißen tot sind? Willst du dich selber ans Steuer stellen? Wir wissen nicht, wo wir sind! Hier gibt es kein Land. Wo ist das nächste Ufer?« »Am Tag der Entscheidung werden wir Antworten auf alle Fragen haben«, sagte Ottobah. »Wir werden den Rat der Götter erbitten und kühl und überlegt handeln. Auch die weißen Männer sind verwundbar! Ich weiß von Kriegern eines anderen Volkes, die auf einem ihrer Schiffe waren und ihnen entkommen sind!« »Zwei von vielen tausend. Wenn du auf einen alten Mann wie mich hörst, vergisst du diese kühnen Träume und ergibst dich in dein Schicksal! Die weißen Männer sind in der Überzahl. Selbst wenn dein Plan gelingen sollte, wirst du
anderen Weißen in die Hände fallen und ein noch schlimmeres Los erleiden!« »Ich werde immer an eine bessere Zukunft glauben«, sagte Ottobah. Er verdrängte den Schmerz, der sich in seinem Körper ausgebreitet hatte, und schloss die Augen, um etwas anderes als die Planken des Schiffes und das düstere Licht zu sehen. Bensua wartete jeden Morgen und jeden Abend, wenn sie das Zwischendeck verlassen durfte und mit den anderen Frauen an der Reling saß, geduldig, bis die Männer kamen. Verstohlen suchte sie nach Ottobah oder einem Zeichen der Männer, die wussten, wie es um ihn stand. Sie musste unauffällig bleiben. Wenn sie sich ihre Verzweiflung anmerken ließ, machte sie den Zweiten Maat auf sich aufmerksam und der würde vielleicht noch einmal versuchen sie vor allen anderen Gefangenen zu demütigen. Sie hielt sich abseits, blieb an der Reling sitzen und sprach mit ihrer jungen Freundin. Manu war etwas selbstsicherer geworden und stolz darauf, einer beinahe Erwachsenen geholfen zu haben. Bensua hatte ein besonderes Gebet für sie gesprochen, weil sie ihr während der Auspeitschung beigestanden hatte. Ihr Händedruck hatte sie vor einem großen Unglück bewahrt. Sie waren seit über einer Woche auf dem Meer und hatten sich an den Rhythmus an Bord gewöhnt. Die langen Stunden auf dem Zwischendeck waren eine einzige Qual, besonders für die älteren Frauen und die Kinder, und wäre ihnen nicht erlaubt worden, den frühen Morgen und späten Nachmittag an Deck zu verbringen, hätten viele aufgegeben. Sie bekamen erträgliche Kost, meist Hirsebrei, Maisbrei oder Süßkartoffeln, und durften Wasser mit Zitronensaft trinken, um gegen gefährliche Krankheiten wie den Skorbut gewappnet zu sein. Der Schiffsarzt untersuchte sie jeden zweiten Tag, auch die Männer, die mehr Schläge und härtere Strafen ertragen
mussten, wenn sie den oft sinnlosen Befehlen der Matrosen nicht gehorchten. Jeden Morgen verlangten die Aufseher, dass sie die Hände falteten und zum Gott des weißen Mannes beteten, obwohl sie kein Wort verstanden und nicht getauft waren, wie es die Missionare verlangt hatten. Am achten Tag ihrer langen Reise geschah etwas, das selbst den nüchternen Kapitän der Hannibal aus dem Gleichgewicht brachte. Am Horizont tauchte ein fremdes Segelschiff auf und kam stetig näher. Bensua spähte über die Reling und erkannte die gleiche Flagge, die über dem Quartier der englischen Abordnung befestigt war, die Kumase besucht hatte. »Ein englisches Schiff«, sagte sie zu Manu. »Vielleicht befreien sie uns! Die Engländer haben den Sklavenhandel verboten!« Sie verschwieg ihrer Freundin, dass auch die Weißen mit der Sternenflagge offiziell keinen Sklavenhandel mehr betrieben. Das hatte sie von ihrem Onkel erfahren, der sich damit auskannte. Aber kaum ein Amerikaner oder Engländer hielt sich an das Verbot! Captain Alex Whitcomb blickte durch sein Fernrohr und rief einige Befehle. Sofort machte O’Reilly sich daran, alle Gefangenen unter Deck zu treiben. Er ließ die Neunschwänzige knallen und rief: »Beeilt euch, verdammtes Pack! Ich hab keine Lust, mir von einem Nigger die Suppe versalzen zu lassen!« Bensua verstand den Zweiten Maat nicht, erkannte aber, dass er sie nicht auf dem Hauptdeck haben wollte, wenn das andere Schiff näher kam. Hastig floh sie mit den anderen Frauen auf das Zwischendeck und entging dabei den ungeduldigen Peitschenhieben von O’Reilly nur um Haaresbreite. Die Luke klappte zu und ließ das Geschrei des Zweiten Maats zu einem dumpfen Echo werden. Seine Schritte entfernten sich polternd. Wie verängstigte Tiere blieben die Gefangenen auf dem Boden sitzen. Das einzige Tageslicht fiel
durch die Gitterstäbe der Luftluke herein und zeichnete ein rechteckiges Muster auf ihre schwarzen Körper. Von oben waren die Befehle des Kapitäns zu hören. »Die weißen Männer haben Angst«, flüsterte Bensua. Sie legte einen Arm um die zitternden Schultern ihrer Freundin und achtete darauf, dass sie die Brandwunden nicht berührte. Sie vernarbten allmählich und schmerzten nur noch, wenn sie mit einem anderen Körper oder den Schiffsplanken in Berührung kamen. Nachts stöhnten zahlreiche Frauen und Kinder, weil sie unruhig schliefen und sich auf ihre Narben rollten. Bensua blickte durch die Gitterstäbe der Luftluke zum Himmel empor und lauschte den Stimmen der weißen Männer. Sie verstand kein Wort und war auch nicht in der Lage, den Sinn ihrer Worte zu erahnen. Außer den Beinen einiger Matrosen und tanzenden Schatten sah sie nichts. Sie nahm sich vor die seltsame Sprache der Männer zu lernen, falls sie länger in der Gewalt der Weißen bleiben würden. Wenn es stimmte, was sie gehört hatte, und sie auf den Feldern der Fremden arbeiten mussten, blieb ihr gar nichts anderes übrig. Es war besser, die Sprache des Feindes zu sprechen und seine Absichten genau zu kennen, bevor man daran ging, ihn zu bekämpfen und an Flucht zu denken. Viele Krieger der Asante verstanden, was die Fante und andere Nachbarn sagten, auch sie selbst, und mancher Angriff war nur geglückt, weil die Asante ihre Feinde am Feuer belauscht hatten. Captain Alex Whitcomb blickte durch sein Fernrohr und beobachtete, wie der Kapitän des englischen Schiffes ihm zuwinkte. Auch er hielt ein Fernglas. Whitcomb grüßte zurück und atmete erleichtert auf, als er bemerkte, wie der Engländer den Kurs änderte. Der Dreimaster segelte in angemessener Entfernung an ihnen vorbei und verschwand in dem nebligen Dunst, der an diesem Morgen über dem Atlantik hing. »Jagen Sie die Männer in die Wanten!«, rief er dem Zweiten Maat zu.
»Ich habe keine Lust, diesem Burschen noch einmal zu begegnen!« Er schob das Fernrohr zusammen und beobachtete zufrieden, wie die Matrosen zu den Rahen emporstiegen und die letzten Segel setzten. Die Hannibal war ein schnelles Schiff, wenn man mit ihr vertraut war und wusste, welche Segel man bei welchem Seegang setzen musste. Sie würden Charleston in vier oder fünf Wochen erreichen, falls sie die Flauten am Äquator unbeschadet überstanden. Der Captain wollte seine Fracht so bald wie möglich loswerden. Seine Fahrt war illegal und er hatte keine Lust, von einem übereifrigen Kapitän des Sklavenhandels überführt zu werden. Nicht alle Kapitäne waren so großzügig wie der Engländer, der sie vor wenigen Minuten passiert hatte. Denn er war beinahe sicher, dass der Engländer erkannt hatte, mit welcher Fracht er nach Norden fuhr. Es wurde berichtet, dass man ein Sklavenschiff am Gestank erkannte. Wenn über hundert Menschen wie Tiere in niedrigen Pferchen gehalten wurden und sich auf die Planken entleerten, konnte man das riechen. Das wusste Whitcomb am besten. Auf jeder Fahrt beschloss er dem Sklavenhandel abzuschwören und jedes Mal widerrief er seine Absicht. Auf keine andere Weise ließ sich mehr Geld verdienen, nicht für einen Captain. Und der Gedanke, die lebende Fracht über Bord werfen zu müssen, nur weil man in Gefahr lief, von einem anderen Captain angezeigt zu werden, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Whitcomb spürte, wie die Hannibal schneller wurde, und nickte dem Zweiten Maat und dem Steuermann zu. Er hatte eine gute Mannschaft, wenn man in Betracht zog, dass nicht jeder auf einem Sklavenschiff mitfahren wollte. Er war dagegen, seine Männer zu schanghaien. Wer mit Alkohol betäubt wurde und auf offener See an Bord eines Sklavenschiffes aufwachte, konnte niemals ein guter Matrose
werden. Er brauchte tüchtige Männer, die freiwillig anmusterten. Deshalb bezahlte er einen besseren Lohn als die meisten anderen Captains. Für ihn blieb immer noch genug übrig, solange die Geschäfte so gut liefen. Den Übereifer seines Zweiten Maats und des Bootsmanns nahm er widerwillig in Kauf. In ihrem Bemühen, die Schwarzen zu züchtigen, schossen sie oft über das Ziel hinaus, aber andererseits sorgten sie auch dafür, dass es unterwegs kaum Ärger gab. Sie waren seit einigen Jahren bei ihm und noch niemals war eine Meuterei an Bord der Hannibal erfolgreich gewesen. Und solange er die Befehlsgewalt besaß, würde es auch so bleiben. Er stieg vom Achterdeck und trat neben das Luftgitter, das über dem Zwischendeck der Frauen und Kinder hing. Ungerührt blickte er in das Halbdunkel hinab. »Die Neger brauchen Bewegung«, sagte er zum Zweiten Maat. »Mit der Neunschwänzigen allein halten wir sie nicht bei Laune.« Er gestattete sich ein spöttisches Lächeln. »Heute Abend will ich sie tanzen sehen! Das wird auch den Männern gefallen! Sorgen Sie dafür, dass die beiden Franzosen ihre Geigen mitbringen und halten Sie die Neunschwänzige ein wenig im Zaum! Ich kann nicht schlafen, wenn Sie die ganze Nacht damit herumknallen! Verstanden, O’Reilly?« »Aye, Sir!«, antwortete der Zweite Maat missmutig. Und brummte einen leisen Fluch, als der Kapitän zum Achterdeck zurückkehrte. Bensua sah, wie sich die Stiefel des Kapitäns entfernten, und legte ihren Kopf auf die harten Planken. Sie drückte sanft ihre Freundin. Das Meer war ruhig und die leichten Bewegungen des Schiffes machten ihr nichts aus. »Wir sind dem anderen Schiff davongefahren«, sagte sie. »Merkst du, wie schnell wir geworden sind? Sie haben neue Tücher an die langen Stämme gehängt.« In der Sprache der Asante gab es keine Wörter für
»Segel« und »Mast«. »Jetzt sind wir bald am Ziel! Dann arbeiten wir für die weißen Männer in dem fernen Land. Vielleicht behandeln sie uns besser als die Männer auf diesem Schiff. Du wirst sehen, die Götter werden uns beschützen!« Natürlich war, es nur die Hoffnung und der Wunsch, Manu mehr Selbstvertrauen zu geben, die Bensua diese Worte sagen ließ. Tatsächlich glaubte sie nicht daran, dass die Weißen in dem fremden Land besser waren. Alle Menschen mit blasser Hautfarbe waren gleich. Sie wollten den Schwarzen das Land und den Besitz wegnehmen und einen Teil der Menschen an andere Weiße verkaufen und irgendwo für sich arbeiten lassen. Daran gab es keinen Zweifel. Jeder Engländer und jeder Holländer, den sie getroffen hatte, war schlecht gewesen und die Männer, die unter der Flagge mit den Sternen fuhren, hatten alles getan um ihre Gefangenen zu peinigen und zu demütigen. Obwohl es heller Tag war, herrschte eine beinahe quälende Stille auf dem Zwischendeck. Das Gemurmel einiger Frauen und das Knarren der Planken waren die einzigen Geräusche, die zu hören waren. Der Zweite Maat hatte auf dem Hauptdeck zu tun und der Bootsmann schlief in seiner Koje. Und doch war diese Stille unheimlicher und Angst einflößender als das laute Knallen der Peitschen, wenn die Aufseher unter Deck waren und auf die Männer einschlugen. Aus den Quartieren der Krieger drang kaum ein Laut zu den Frauen herüber. Nach der Vertreibung vom Hauptdeck war jeder Gefangene mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Der Hoffnungsfunke, der mit der Ankunft des englischen Schiffes aufgeflackert war, hatte sich verflüchtigt und nur düstere Leere hinterlassen. Die meisten Gefangenen erkannten erst jetzt, wie endlos das große Wasser war und wie viele Wellentäler sich zwischen das Schiff und ihre Heimat geschoben hatten.
»Vermisst du deine Verwandten?«, fragte Manu vorsichtig. Ihr Kopf lag auf dem Arm der älteren Freundin und sie fühlte eine Wärme, wie sie seit der Ermordung ihrer Eltern nicht mehr durch ihre Adern geflossen war. »Fiel es dir schwer, sie zu verlassen?« Bensua ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ich vermisse sie sehr. Besonders meine Mutter.« Sie spürte Tränen in den Augen, als sie sich an das Gesicht der Frau erinnerte, die bis zu ihrer überstürzten Flucht immer an ihrer Seite gewesen war. »Und ich weiß, dass sie mich vermissen. Auch wenn sie mich sofort an den Asantehene verraten würden, falls ich in Kumase auftauchen würde. Nach dem Gesetz unseres Volkes habe ich ein Unrecht begangen. Ich habe den Mann abgelehnt, den mein Onkel für mich ausgesucht hat. Und ich fühle für einen Krieger, der gegen meinen Onkel und meinen Vater gekämpft hat. Ein heiliger Mann würde mir den Kopf abschlagen, wenn ich nach Hause ginge!« »Dann kannst du nicht mehr zurück«, sagte Manu. Ihre dunklen Augen waren feucht. »Willst du in dem fremden Land bleiben, wenn Onyankopon Kwame die bösen Geister vertreibt?« »Ich will dort sein, wo Ottobah ist«, erwiderte sie. »Er wird mir die Wärme geben, die ich brauche! Zusammen sind wir stark genug um eine neues Leben zu beginnen!« Sie blickte der Freundin in die Augen. »Auch du wirst einen Mann finden!« Manu schloss die Augen und versank in einer Gedankenwelt voller Zweifel, bevor sie antwortete: »Ich weiß nicht, ob Onyankopon Kwame stark genug ist, die bösen Geister zu verjagen. Ich glaube, die weißen Männer sind zu mächtig. Sie haben Gewehre und große Feuerrohre. Damit können sie auch die Götter töten!« »Die Götter sind unsterblich«, widersprach Bensua. »Sie sind mächtiger als alle Menschen, die auf der Erde leben. Sie sind
stärker als alle Tiere und Pflanzen! Onyankopon Kwame würde einen Löwen mit den bloßen Händen besiegen! Er würde sogar einen Elefanten in die Knie zwingen! Wenn er auf unserer Seite ist, kann uns nichts passieren! Dafür musst du beten, Manu!« Sie beteten den ganzen Nachmittag und sangen leise die heiligen Lieder, bis erneut die Neunschwänzige knallte und die gefürchtete Stimme des Zweiten Maats erklang: »Hoch mit euch, ihr müden Weiber! Kommt an Deck! Die Männer warten schon! Wir wollen euch tanzen sehen! Verstanden? Wir möchten sehen, wie ihr eure fetten Hintern bewegt!« Er schwang lachend die Peitsche und trieb die verängstigten Frauen und Kinder an Deck. »Holt euch was zu essen und zu trinken und beeilt euch ein bisschen!« Alles war wie an den vergangenen Nachmittagen und Bensua war nicht darauf vorbereitet, was die weißen Männer als Nächstes für sie geplant hatten. Mit offenem Mund beobachtete sie, wie zwei Matrosen mit Musikinstrumenten aus ihren Quartieren kamen und sich im Schatten des großen Segels aufbauten. Sie entlockten ihren seltsamen Instrumenten sonderbare Töne, zu denen die anderen Weißen den Takt klatschten. Die fröhliche Melodie passte nicht zu ihrer schlimmen Lage und erschreckte die Frauen und Kinder, die an der Reling saßen und Hirsebrei aßen. Sie klang wie das höhnische Lachen eines bösen Geistes, der sich über sie lustig machte. So empfand Bensua, die nicht wissen konnte, dass der Kapitän den Befehl ausgegeben hatte, die Gefangenen »körperlich zu ertüchtigen«. So hatte er sich ausgedrückt und so würde er es in sein Logbuch schreiben. Nur wenn die Sklaven bei Kräften und körperlich gesund blieben, war mit ihnen ein anständiger Gewinn zu erzielen. »Tanzt nur, ihr Weiber! Tanzt!«, rief O’Reilly lachend. Und weil ihn die Frauen nicht verstanden, zerrte er ein Mädchen
vom Boden hoch und wirbelte mit ihr über das Deck. Er ließ sie los und tanzte allein weiter, und als er seine Peitsche knallen ließ, standen auch die anderen Frauen langsam auf und bewegten sich zögernd zur Musik.
15
Am Äquator warteten die bösen Geister. Das vermutete Bensua noch viele Jahre später, als sie längst den christlichen Glauben angenommen hatte. Sie vertrieben den Wind und lähmten die Bewegung jedes Schiffes, das diese unsichtbare Grenze überfuhr. Wie auf ein geheimes Signal verstummten alle Geräusche, das Rauschen des Windes, das Knistern der Segel und das Knarren der Planken, und eine unmenschliche Hitze kroch auf die Zwischendecks und breitete sich wie eine ansteckende Krankheit aus. Jeder Luftzug erstarb und die Quartiere der Sklaven wurden zu einem Backofen, der kaum noch Luft zum Atmen ließ. Die Gefangenen griffen verzweifelt nach den Sonnenstrahlen, die durch die Luftluke hereinfielen, und verlangten stöhnend nach Wasser. Wie eine schwere Decke hielt die Hitze sie umfangen, eine feuchte und quälende Hitze, die tief in den Körper drang und jedes Leben zu zerstören drohte. Das unterdrückte Stöhnen der gepeinigten Menschen hing in der heißen Luft. Bensua wehrte sich mit ihrer ganzen Kraft gegen den heimtückischen Angriff der bösen Geister. Mit langen Gebeten und eindringlichen Gesängen, die nur als heiseres Flüstern über ihre aufgesprungenen Lippen kamen, versuchte sie die bedrohliche Hitze zu vertreiben. Sie verdrängte das Schreien der Kinder und Jammern der Frauen aus ihrem Bewusstsein, konzentrierte ihre Energie auf Manu, die in der feuchten Luft zu schrumpfen schien und kaum noch die Kraft besaß, ihren Händedruck zu erwidern. Sie war schwach, trotz ihrer Jugend, und hatte während der letzten Wochen viel von ihrem Lebensmut verloren. Wäre Bensua nicht gewesen, hätte sie
ihrem Leben vielleicht ein Ende gesetzt. So wie die arme Frau, die aus dem Ruderboot gesprungen war. »Warum fahren wir nicht mehr?«, fragte Manu. Ihre Haut glänzte vor Schweiß und hatte eine seltsame Färbung angenommen, die Bensua erschreckte. Sie litt mehr unter der Hitze als alle anderen Frauen in ihrer Nähe. »Warum weht der Wind nicht mehr?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Bensua. Sie hatte niemals vom Äquator gehört und wusste auch nicht, dass die Windstille in dieser Gegend bei allen Seefahrern berüchtigt war. Manche Schiffe hingen wochenlang in der Flaute fest. Erst sehr viel später, auf der Plantage in Amerika, erfuhr sie von einem anderen Sklaven, dass es in den Kalmen des Äquators zu unbeschreiblichen Tragödien gekommen war. Zahlreiche Gefangene, besonders Frauen und Kinder, wurden in der Hitze krank und starben. »Wir müssen zu den Göttern beten, damit sie den Wind zurückbringen!« Manu atmete schwer. »Ich habe schon den ganzen Morgen gebetet und es hat sich nichts getan! Die Götter hören mich nicht!« »Wir müssen es weiter versuchen«, sagte Bensua. Auch sie wartete ungeduldig darauf, dass Onyankopon Kwame die bösen Geister vertrieb und neuen Wind über das große Wasser blies. Aber ihre Gebete verklangen ungehört in der drückenden Hitze. Die Flaute blieb und hielt das Schiff auf dem spiegelglatten Ozean fest. Scheinbar reglos lag es im Wasser. Die Segel hingen schlaff von den Rahen und nicht der leiseste Windhauch fing sich in dem schweren Tuch. Das Meer schien aus einer zähen Masse zu bestehen, die die Hannibal fest umklammert hielt. Glühend heiß brannte die Sonne vom Himmel. Die Hitze lag wie eine schwere Last auf dem Deck und erstickte alles Leben.
Captain Whitcomb achtete streng darauf, dass die Süßwasservorräte nicht geplündert wurden. Sein Zweiter Maat stand mit der Peitsche neben den Fässern und hätte auch auf einen Weißen eingeschlagen, wenn er sich näher als drei Schritte an sie herangewagt hätte. Dabei hätte er selber gern einen Schluck genommen. Obwohl er die Mittagssonne mied, hatte ihn die Hitze ausgelaugt und er musste sich alle zwei Stunden mit dem Bootsmann abwechseln, um sich im Schatten der Segel auf dem Achterdeck auszuruhen. Halb schlief, halb döste er in den Nachmittag hinein, die Mütze über den Augen, um nicht in die glühende Sonne sehen zu müssen. Seine Laune wurde immer schlechter. Als ihn ein Matrose ansprach, herrschte er ihn unsanft an und schrie: »Lass mich in Ruhe, du verdammter Trottel!« Nur dem Kapitän war es zu verdanken, dass die Sklaven auch in dieser unerträglichen Hitze an Deck geholt wurden. Ohne ihn hätten Männer wie O’Reilly und Graham niemals daran gedacht, die Gefangenen aus ihrem stinkenden Backofen zu holen. »Sollen sie doch verrecken, diese schwarzen Teufel!«, fluchte O’Reilly, wenn der Kapitän nicht in der Nähe war. Und Graham gebrauchte noch ganz andere Worte, die selbst den hartgesottenen Matrosen das Blut in die Wangen trieben. Die Männer hatten nichts zu tun und lagen schwitzend auf dem Deck herum. »Holen Sie die Sklaven, Mister O’Reilly!«, befahl Captain Whitcomb, als die Sonne weit im Westen stand. »Die Männer, die Frauen und die Kinder! Wir lassen sie gleichzeitig an Deck. In dieser Hitze kommen sie sowieso nicht auf dumme Gedanken!« »Alle zusammen, Captain? Aber…« »Tun Sie, was ich Ihnen sage!«, erwiderte Whitcomb nüchtern. Er hatte lediglich den Dreispitz abgenommen und schien in seiner Uniform kaum zu schwitzen. Die Matrosen
schoben diesen Umstand auf die doppelte Süßwasserration, die er jeden Morgen bekam. »Geben Sie ihnen zu essen und zu trinken und sorgen Sie dafür, dass sie ihre Körper mit Salzwasser abwaschen! Drücken Sie ein paar Zitronen ins Trinkwasser, damit sie uns nicht krank werden! Sie wissen, wie sich eine solche Flaute auf Sklaven auswirken kann! Eine kranke Fracht bringt kein Geld!« »Aye, Sir!«, gehorchte der Zweite Maat. Er war nicht gerade begeistert vom Befehl seines Captains, hütete sich aber Whitcomb zu widersprechen. Er wusste, wie sehr dem Kapitän an dem Geschäft mit den Negersklaven gelegen war. Und wenn er ehrlich war, musste er ihm dankbar dafür sein. Die Höhe seines Lohns hing von dem Ertrag ab, den Whitcomb mit der Niggerfracht erwirtschaftete. Dennoch fügte er hinzu: »Ich lasse die Männer mit Musketen und Pistolen auf die Nigger zielen. Man weiß nie, was diese schwarzen Teufel im Schilde fuhren. Auf der vorletzten Fahrt haben sie eine Meuterei angezettelt und zwei Matrosen getötet, nur weil wir nicht genug Pistolen hatten…« »Das weiß ich, O’Reilly!«, unterbrach Whitcomb seinen Zweiten Maat scharf. »Ich war damals dabei, haben Sie das schon vergessen? Sie erinnern sich bestimmt, dass ich seinerzeit den Befehl gab, die Männer auch an Deck gefesselt zu lassen, oder?« »Natürlich, Sir! Ich wollte nicht – « »Führen Sie meine Befehle aus und wir kommen klar, Mister O’Reilly!«, sagte Whitcomb ohne eine Miene zu verziehen. »Ich mag diese Neger genauso wenig wie Sie. Wenn es nach mir ginge, könnten Sie einen nach dem anderen den Haien vorwerfen! Aber diese Schwarzen sind unsere Fracht! Sie müssen gesund bleiben, damit wir sie Gewinn bringend verkaufen können.«
»Aye, Sir!«, erwiderte O’Reilly folgsam. Er hatte keine Lust, sich mit dem Kapitän anzulegen, und ließ seinen Ärger an zwei Matrosen aus, die er unsanft in den Niedergang zu den Zwischendecks stieß. »Voran, ihr faulen Säcke! Holt die Nigger an Deck! Wenn die schwarzen Teufel in der Hitze verrecken, mache ich euch persönlich dafür verantwortlich! Dann werfe ich euch mit den toten Niggern ins Meer, verstanden?« Er schüttelte sich, als ob er sich dadurch von der Hitze befreien könnte, und trieb seine Männer mit der Peitsche in den Niedergang. Beim Knall der Peitsche klammerte sich Manu zitternd an ihre ältere Freundin. Mit der Hitze war die Angst zurückgekommen und sie fürchtete nichts so sehr wie die neunschwänzige Katze des Zweiten Maats. »Er soll mich nicht schlagen, Bensua!«, flehte die junge Asante. »Sag ihm, dass er mich nicht schlagen soll!« »Hab keine Angst!«, beruhigte Bensua ihre Freundin. »Sie holen uns an Deck und dann bekommen wir zu trinken! Die weißen Männer wollen, dass wir gesund bleiben! Wir sollen auf ihren Feldern arbeiten, hast du das vergessen? Sie lassen uns nicht sterben!« »Mir… ist… so… schwindlig«, stammelte Manu, als Bensua ihr vom Boden aufhalf. »Du musst… mich… festhalten…« Sie klammerte sich mit beiden Händen an den linken Arm ihrer Freundin und blieb stehen, bis die schwärzen Schleier vor ihren Augen verschwanden. Ihre Beine drohten nachzugeben. Bensua stützte sie und schob sie hinter den anderen Sklaven zum Niedergang. Die Lederriemen der neunschwänzigen Peitsche zischten über ihre Köpfe hinweg. »Gleich ist es vorbei!«, flüsterte Bensua ihrer Freundin zu. »Er will uns nur erschrecken! Gleich sind wir an der frischen Luft, dann geht es dir besser! Im Urwald ist es heißer!«
Das war natürlich gelogen und sollte Manu nur beruhigen. Hoffnungsvoll kletterte sie vor ihrer Freundin den Niedergang hinauf. O’Reilly schwitzte viel zu sehr um ständig mit der Peitsche zu knallen und sie erreichten unbeschadet das Deck. Bensua fand sogar Zeit, einer jungen Asante und ihrem Kind zu helfen. Die Frau tat ihr Leid. In ihren Augen war eine aufkeimende Krankheit zu erkennen und auch ihre Tochter machte einen schwachen Eindruck. Sie würden nicht mehr lange durchhalten. Auf dem Hauptdeck war die Hitze weniger drückend und es stank nicht so fürchterlich wie im Sklavenquartier. Die Frauen und Kinder konnten wieder durchatmen. Benommen schlichen sie zu dem Matrosen, der das Wasser verteilte. Zitternd tranken sie aus dem Becher, eine nach der anderen, dann nahmen sie etwas von dem Hirsebrei und sanken im Schatten der Segel auf die Planken. Die Frauen lehnten sich erschöpft gegen die Reling und atmeten gierig die stickige Luft. Sie waren kaum noch fähig, den Kopf zu heben und über das Meer zu blicken. Nach der Backofenhitze auf den Zwischendecks war selbst die brennende Sonne eine Erholung, aber nach einer Weile wurde auch sie zur Qual und sie sehnten sich nach dem heimatlichen Regenwald. An diese Umgebung waren sie gewöhnt, dort litten nur Weiße. Bensua bettete den Kopf der erschöpften Freundin in ihren Schoß und redete beruhigend auf sie ein. »Ich spüre, dass die bösen Geister nicht mehr lange bleiben werden«, log sie. Manu schloss lächelnd die Augen. Sie schlief so fest, dass sie nicht einmal bemerkte, wie die männlichen Sklaven an Deck kamen und gierig nach den Wasserbechern griffen. O’Reilly ließ dreimal die Peitsche knallen ohne die erschöpften Männer zu berühren und beschränkte sich dann darauf, sie fluchend aus seinem Blickfeld zu verjagen. »Die Nigger stinken erbärmlich!«, stöhnte er. »So was hab ich nicht mal bei den
Piraten erlebt und da gab es einige Burschen, die haben sich nie gewaschen!« Er rief einige Matrosen herbei und befahl ihnen, Salzwasser über die erschöpften Sklaven zu gießen, auch über die Frauen und Kinder. Keiner der Gefangenen wehrte sich gegen diese Behandlung. Das Salzwasser brannte in den Augen und den offenen Wunden, aber diese Schmerzen waren immer noch besser als der quälende Schweiß und der Gestank, der sie wie dicker Nebel einhüllte. Bensua schüttelte sich und bemühte sich den Matrosen nicht in die Augen zu blicken. Sie hatte längst bemerkt, dass ihre hoch gewachsene Gestalt und ihre vollen Lippen manchen Männer nur zu sehr gefielen. Die Matrosen hatten seit vielen Wochen keine Frau mehr gehabt und waren gierig danach, eine junge Frau wie sie in die Arme zu nehmen. Es war ihnen egal, ob sie schwarz oder weiß war. Sie wollten ihr Verlangen stillen und verschonten sie nur, weil sie Angst hatten, krank zu werden, und der Kapitän sie mit eiserner Gewalt davon abhielt. Sie wollte ihnen keinen Grund geben, sich zu vergessen. Unter dem Wasserschwall schreckte Manu aus dem Schlaf. Bensua wischte ihr das brennende Salz von den Wunden und nahm sie in den Arm, als sie weinte. »Wir müssen uns bewegen«, sagte Bensua, »sonst werden wir krank!« Sie stand auf und zog die Freundin hoch. Zusammen gingen sie an der Reling entlang, immer darum bemüht, den weißen Männern nicht in die Quere zu kommen. Vor dem Achterdeck, das sie nicht betreten durften, blieben sie stehen und blickten über das große Wasser. Das Meer war so still und glatt, als hätten geheimnisvolle Geister es mit einem Zauberfluch belegt. Wie funkelndes Metall glänzte es in der Sonne. Es gab keine Ufer und keine anderen Schiffe, nur die Hannibal im weiten und unendlichen Ozean. Die Zeit schien stillzustehen. Sie waren Gefangene
einer überirdischen Macht, die sie aus dem Leben vertrieben und im einsamen Niemandsland eingefroren hatte. Das Schiff lag so ruhig, als hätte man es an Land gezogen, und die Stille war so vollkommen, dass jedes Murmeln und jedes noch so leise Geräusch unnatürlich laut wirkte. Es sah nicht so aus, als würde sich der Wind jemals wieder in den Segeln fangen. Sie schienen dazu verdammt zu sein, für immer an diesem Ort zu verweilen. Das laute Knallen der Peitsche zerstörte die unheimliche Stille und ließ die Sklaven zusammenzucken. O’Reilly lachte dröhnend. »Bewegt euch, ihr verdammten Nigger!«, rief er. »Faulenzen könnt ihr auf dem Zwischendeck!« Er scheuchte die Schwarzen über das Deck und wandte sich an den langhaarigen Schiffsarzt. Dr. Atkins stand neben dem Besanmast, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und schien sich nicht besonders wohl zu fühlen. »Was ist, Doktor? Ist Ihnen der Rum ausgegangen oder warum machen Sie so ein Gesicht? Sie haben doch selbst gesagt, dass die Nigger viel Bewegung brauchen!« »Das stimmt«, antwortete Dr. Atkins heiser. Auch er litt unter der unmenschlichen Hitze. »Ich mache mir Sorgen wegen der Unterbringung dieser Geschöpfe. Wenn die Flaute anhält, sterben sie uns alle weg! Sehen Sie sie sich doch genauer an! Einige sind schon krank und in der Hitze werden es bestimmt mehr! Ich befürchte, dass wir bald einige von ihnen über Bord werfen müssen!« O’Reilly zog eine Grimasse. »Gewissensbisse?« »Nein«, antwortete der Arzt unbeeindruckt. »Aber meine Sorge ist, dass sich das Schiffsfieber ausbreitet! Ich bin an dem Erlös beteiligt, den wir mit dieser Fracht erzielen! Es wäre mir gar nicht recht, wenn wir Sklaven verlieren würden.« Er zuckte die Achseln. »Doch wenn die Flaute anhält, wird es wohl so kommen.«
Bensua merkte nicht, dass O’Reilly und der Schiffsarzt miteinander sprachen. Ihre Augen waren auf Ottobah gerichtet, der wieder aufrecht stand und die Schmerzen, die er immer noch haben musste, wie ein Mann ertrug. Sein Blick war härter geworden, und nur als er Bensua ansah, erschien ein sanftes Lächeln auf seinem Gesicht. In seinem Blick lag eine Zuneigung, die auch schwere Prüfungen überstehen würde, aber auch Entschlossenheit, sich den Weißen nicht kampflos zu ergeben. »Vertrau mir«, hörte Bensua ihn sagen. »Ich kämpfe für unsere gemeinsame Zukunft. Ich liebe dich, meine Freundin!« Unter Deck dachte sie lange über die Worte von Ottobah nach. Für ihn war eine Zukunft nur mit ihr denkbar. Er wollte mit ihr zusammenleben, so wie sie mit ihm. Und sie hatte große Angst, dass er etwas Unüberlegtes tun könnte und von den weißen Männern getötet werden würde. Bisher hatte er Glück gehabt, aber irgendwann würden ihn die Götter verlassen und er müsste mit dem Leben für seinen Rachedurst bezahlen. Bensua war geduldiger, hielt es für besser, auf einen günstigen Augenblick zu warten um den Weißen zu entkommen. Vielleicht erst in dem fremden Land, denn auf dem offenen Meer war ihre Chance, die weißen Männer zu besiegen, äußerst gering. Die Krieger würden es niemals schaffen, ihre Ketten abzustreifen, und die Frauen wurden zu streng bewacht um ihnen zu helfen. Sie sprach ein langes Gebet und weinte, wenn Manu sie nicht beobachtete. Zum Leidwesen der Besatzung und der Gefangenen hielt die Flaute an. Wie ein Fluch hing sie über der Hannibal. Ein Tag nach dem anderen verging, ohne dass sich ein Windhauch regte oder eine gnädige Wolke die Sonne verdeckte. Die Hitze staute sich auf den Zwischendecks und klang selbst nachts kaum ab. Die Lage in den Sklavenquartieren wurde immer bedrohlicher. Die Männer stöhnten, viele Frauen jammerten
und die Kinder weinten, bis keine Tränen mehr kamen. Tagsüber durften die Sklaven jetzt länger an Deck bleiben, aber auch dort war die Hitze kaum auszuhalten. Die weißen Männer wurden immer gereizter und nur ihre Erschöpfung hielt sie davon ab, ihre Verbitterung und ihre Verzweiflung an den Sklaven auszulassen. »Wenn diese verdammte Flaute noch länger anhält, lasse ich die Nigger ins Meer werfen und suche mir eine andere Arbeit«, fluchte O’Reilly. Bensua widerstand der mörderischen Hitze. Ihre Angst galt den Frauen und Kindern, die am Fieber erkrankt waren und die ganze Nacht um Hilfe riefen. Auch Manu wirkte sehr schwach. Sie würde nicht mehr lange durchhalten. Bensua ließ sie von ihrem Wasser trinken und teilte ihren Hirsebrei mit der Freundin um sie bei Kräften zu halten, doch auch sie konnte den bösen Geistern nicht ewig widerstehen. Die Götter mussten siegen und den kühlen Wind zurückbringen, wenn sie eine Katastrophe vermeiden wollten. Noch zwei oder drei Tage und es würde die ersten Toten geben. Daran konnte auch der Schiffsarzt nichts ändern, der sie jeden Tag widerwillig untersuchte. Er hatte ein weißes Tuch über seine Nase und seinen Mund gebunden, um die Krankheit nicht riechen zu müssen und sich nicht anzustecken. Als die Sklaven am Nachmittag des sechsten Tages auf die Zwischendecks getrieben wurden, deutete der Schiffsarzt auf die junge Frau und ihr Kind, denen Bensua im Niedergang geholfen hatte. Beide hatten starkes Fieber und waren kaum noch fähig Wasser und Nahrung aufzunehmen. Er wandte sich an den Kapitän. »Den beiden ist nicht mehr zu helfen«, sagte er. »Wir müssen sie loswerden, sonst stecken sie die anderen Sklaven an!«
Captain Whitcomb verzog mürrisch die Lippen, dachte wohl an seinen finanziellen Verlust, als er anordnete: »Werft sie ins Meer!« Dann wischte er sich den Schweiß vom Gesicht und wandte sich zum Gehen.
16
Die Todesschreie der jungen Frau und ihrer Tochter zerrissen die drückende Hitze und hallten wie der verzweifelte Aufschrei einer sterbenden Wildkatze durch das Schiff. Eisiges Entsetzen ließ die Gefangenen auf den Zwischendecks vor Schreck erstarren. Auch ohne die arme Frau und ihr Kind zu sehen, wussten sie, was geschehen war. Die weißen Männer hatten sie ins Meer geworfen und sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie vorher zu töten. Sie standen an der Reling und beobachteten mit reglosen Gesichtern, wie die dreieckigen Flossen einiger Haie aus dem Wasser stachen und sich die Raubfische auf die todgeweihten Sklaven stürzten. Ihre Schreie verstummten und ihre zerfetzten Körper verschwanden in einem blutroten Strudel. Die Stille kehrte zurück und wurde zum unsichtbaren Leichentuch für die ermordete Frau und ihre Tochter. Nur das lähmende Entsetzen hinderte die Gefangenen daran, zu schreien und die weißen Männer zu verdammen. Selbst die Krieger weinten, eine Frau klammerte sich schluchzend an einen Balken, und durch das Heulen und Wimmern schnitt der erschütternde Schrei einer Frau, die mit der Ermordeten verwandt gewesen war. Sie schlug mit beiden Fäusten gegen die Planken, hatte Schaum vor den Lippen und lallte wirr, dann brach sie wie eine tödlich getroffene Antilope zusammen und lag bewusstlos auf ihrem Lager. Bensua hielt ihre junge Freundin verzweifelt fest und flüsterte ein langes Gebet, das Manu davon abhielt, über den schrecklichen Mord nachzudenken. Dann sang sie ein heiliges Lied, das sie von ihrem Onkel gelernt hatte, ein rhythmisches
Gebet der Asante, das die Krieger in die Schlacht begleitete und ihnen die Kraft geben sollte ihre Feinde zu besiegen. Sie sang leise, dann immer lauter, und forderte die anderen Gefangenen auf ihren Gesang durch rhythmisches Klatschen zu unterstützen. Selbst die Fante und die schwachen Frauen, die ihr Wasser den Kindern gegeben hatten, machten mit. »Gib uns die Kraft, gib uns die Kraft!«, sangen die Frauen und Kinder und dann fielen auch die Männer ein und das ganze Schiff erbebte unter dem lauten Gesang der Sklaven. Das Lied wurde zum neuen Quell der Hoffnung und die weißen Männer waren klug genug, nichts gegen den Gesang zu unternehmen. Wenn die Sklaven sangen, waren sie beschäftigt und kamen nicht auf dumme Gedanken. Doch die Flaute blieb und die Lage der Gefangenen wurde immer verzweifelter. Am Morgen des nächsten Tages stieg der Schiffsarzt in die Sklavenquartiere hinab, begleitet vom Bootsmann, der seine Wache mit dem Zweiten Maat getauscht hatte, und stolperte mit verzerrtem Gesicht über die jammernden Frauen und Kinder hinweg. Johnny Graham hielt drohend die Peitsche erhoben und ließ seinen Frust über die lange Flaute und den fürchterlichen Gestank unter Deck an den hilflosen Schwarzen aus. Er stieg auf stöhnende Frauen, quälte sie mit harten Tritten und lachte höhnisch, wenn sie vor Schmerzen aufschrien. Er war noch rücksichtsloser als O’Reilly und fand einen großen Gefallen daran, die schwachen Gefangenen zu quälen. »Machen Sie schneller, Doktor!«, trieb er den Schiffsarzt an. »Sonst verrecken wir hier unten noch! Die verdammten Nigger stecken uns noch an!« Als der Doktor auf eine kranke Asante deutete und der Bootsmann die röchelnde Frau vom Boden hochzog und zum Niedergang trieb, wusste Bensua, was die Weißen vorhatten. Am verzweifelten Aufschrei der anderen Frauen erkannte sie,
dass auch sie den Doktor durchschauten. Er sortierte die Schwerkranken aus, damit Graham sie an Deck trieb und ins Meer warf. »Eine Vorsichtsmaßnahme«, wie Dr. Atkins dem Kapitän erklärte, damit der wertvolle Teil der Fracht nicht angesteckt werde. Captain Whitcomb würde die Ermordung der kranken Sklaven als »Ballastabwurf« in seinen Papieren deklarieren und von der Versicherungsgesellschaft entschädigt werden. Blieben die Kranken an Bord, müsste er auf eine hohe Entschädigung verzichten. Den meisten Gefangenen fehlte die Kraft, gegen das Vorgehen der weißen Männer zu protestieren. Und sie hatten viel zu große Angst, selbst ein Opfer des Arztes und des Bootsmanns zu werden. Johnny Graham brachte es fertig, willkürlich eine Frau oder ein Kind nach oben zu zwingen und ins Meer zu werfen. Er war der einzige Weiße, der lauthals lachte, wenn die Haie kamen und sich auf ihre schwachen Opfer stürzten. »Wir dürfen den Glauben an die Götter nicht verlieren!«, flüsterte Bensua ihrer Freundin zu. »Ohne unseren Glauben bleibt uns nichts mehr!« Ottobah war der einzige Krieger, der sich gegen die Weißen wandte. Aber auch er war klug genug, nicht an seinen Ketten zu zerren und den Doktor und den Bootsmann zu verfluchen, als der einen jungen Asante in den Niedergang trieb. Erst nachdem die weißen Männer das Zwischendeck verlassen hatten, schimpfte er laut. Er wusste selbst, dass der Mann mit der Peitsche ihn sofort getötet hätte, wenn er aufgesprungen wäre. Es kostete ihn beinahe übermenschliche Kraft zu beobachten, wie der junge Krieger den Niedergang hinaufgestoßen wurde und wenige Augenblicke später sein Todesschrei durch die stickige Luft drang. Kaum war die Stille wieder zurückgekehrt, wandte Ottobah sich an die anderen Krieger. »Hört mich an!«, rief er. »Ich bin Ottobah, ein Krieger der Fante! Ich weiß, dass viele von euch
zu den Asante gehören, aber wenn wir diese schwere Prüfung überstehen wollen, darf es keine Unterschiede mehr geben! Wir sind schwarz! Wir gehören zu einem Volk! Nur wenn wir zusammenhalten, schaffen wir es, die Weißen zu besiegen!« »Du willst gegen die Weißen kämpfen?«, erwiderte ein kräftiger Asante. Die Narben auf seinem Oberkörper stammten von einem Fante, den er im Zweikampf besiegt hatte. »Wie willst du gegen die mächtigen Weißen bestehen, wenn du den Kampf gegen die Asante verloren hast? Du warst unser Sklave, nicht wahr? Der Holländer hat dich gekauft, sonst wärst du längst tot!« »Ihr habt uns wie feige Hyänen aufgelauert«, sagte Ottobah. Es fiel ihm schwer, die Ruhe zu bewahren. »Ein Fante wäre seinen Feinden offen gegenübergetreten!« Er schlug mit der flachen Hand auf die Planken. »Aber selbst dieser Überfall darf jetzt nicht mehr zwischen uns stehen! Wir sind schwarz! Wir sind stark! Und wenn wir den alten Hass vergessen, sind wir mächtig genug die Weißen zu vertreiben!« Ein erwachsener Krieger, der unter der Öllampe am Niedergang lag, stimmte Ottobah zu. »Auch ich bin ein Asante und ich glaube dir.« Er hob die Hände, mit denen er an seinen Nachbarn gekettet war, und blickte den Fante fragend an. »Aber willst du so gegen die Weißen kämpfen? Mit gefesselten Händen und Füßen? Wir haben keine Waffen! Nicht mal Messer! Die Weißen besitzen Gewehre, Messer und große Feuerrohre! Sie werden uns zerfetzen, bevor wir den ersten weißen Mann berührt haben!« »Es gibt einen Weg«, überraschte Ottobah den Asante. »Und wenn wir schnell genug sind, kann gelingen, was die meisten von euch für unmöglich halten! Es muss im Freien geschehen, wenn sie uns Essen und Wasser geben. Habt ihr bemerkt, wie sorglos die Weißen dann sind? Wir nehmen ihnen die Pistolen und die Messer ab und haben die Hälfte der
Männer getötet, bevor sie das große Feuerrohr auf uns abschießen! Einige von uns werden sterben, das ist wahr. Aber wie viele Krieger werden sterben, wenn wir uns kampflos unserem Schicksal ergeben?« Unter den Kriegern entstand Unruhe. Einige Männer, die sich erfolgreich gegen die Hitze gewehrt hatten und nicht erkrankt waren, stimmten begeistert zu. Die Kranken und Schwachen äußerten ihren Unmut. »Wir werden alle sterben«, sagte ein älterer Mann. Er musste den Satz zweimal sagen um gehört zu werden. »Versteht mich nicht falsch! Ich habe keine Angst zu sterben. Ich würde es als Gnade empfinden, dieses Schiff verlassen zu können. Im Jenseits treffe ich meine Verwandten wieder. Warum sollte ich Angst vor dem Tod haben? Aber was ist mit den Männern, die jung und stark genug sind um noch eine Zukunft zu haben? Was ist mit dir, Ottobah? Selbst wenn wir den Mann mit der Peitsche und einige andere Weiße töten könnten, gäbe es noch genug andere Männer um uns alle umzubringen!« »Das stimmt«, meldete sich ein anderer Krieger zu Wort. »Warum überlassen wir unser Schicksal nicht den Göttern? Warum lassen wir sie nicht entscheiden, wer stark genug ist, in dem fremden Land für eine Zukunft zu kämpfen? Auf diesem Schiff haben wir keine Chance gegen die weißen Männer!« Er sank keuchend auf sein Lager zurück. »Du bist tapfer, Ottobah«, fügte er leise hinzu. »Aber diesen Kampf kannst du nicht gewinnen!« Ottobah richtete sich auf, bis er mit dem Kopf gegen die niedrige Decke stieß. In seinen Augen stand wilde Entschlossenheit. »Wir müssen uns wehren, falls wir vor den Göttern bestehen wollen!«, sagte er. »Nur wenn wir wie Krieger handeln, haben wir ein Recht, unseren Verwandten im Jenseits zu begegnen. Was sollen die Frauen und Kinder denken, wenn wir hilflos zusehen, wie die Kranken und
Schwachen ins Meer geworfen werden? Nein, meine Brüder! Lasst uns kämpfen! Ich habe von Kriegern gehört, die den weißen Männern entkommen und an Land geschwommen sind! Die Götter werden uns beistehen, wenn wir zu den Waffen greifen! Zieht mit mir in den Kampf, meine Brüder!« Die Zustimmung unter den Kriegern wurde stärker und Ottobah und der Asante, der sich zunächst gegen ihn gewandt hatte, schmiedeten einen Plan. Zusammen mit den zehn stärksten und gesündesten Männern wollten sie die Matrosen, die ihnen das Essen gaben, entwaffnen und umbringen, um dann auf den Zweiten Maat oder Bootsmann und den Kapitän loszugehen. Die anderen Krieger würden die Verwirrung nutzen und sich auf die restlichen Weißen stürzen. Mit dem kleinen Schlüssel, den sowohl O’Reilly als auch Johnny Graham in der Tasche trugen, würden sie die Schlösser an den Ketten öffnen und sich dann auf die Männer unter Deck stürzen. Ein kühner Plan, der nur aufgehen konnte, wenn die Frauen, die nahe bei dem großen Feuerrohr standen, den Matrosen an der Lunte hinderten abzufeuern. »Bensua«, flüsterte Ottobah. Die Männer verstanden ihn nicht. »Ich kenne die Frau, die uns helfen wird«, fügte er lauter hinzu. »Heute Abend weihe ich sie in unseren Plan ein. Morgen früh schlagen wir zu!« Er blickte in die Gesichter der anderen Krieger und versuchte sie mit seiner Zuversicht anzustecken. Nicht alle Männer waren so selbstsicher wie er. Er hob eine geballte Faust. »Keine Angst, meine Brüder! Die Götter kämpfen mit uns!« Der scharfe Knall der neunschwänzigen Peitsche ließ selbst die Gesichter der tapfersten Krieger erstarren. »Was soll das Geschwätz?«, fragte der Bootsmann grimmig und ließ die Peitsche gleich wieder knallen. »Habt ihr noch nicht genug? Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass ich einen von euch schwarzen Teufeln an den Mast binde!« Er leckte mit der
Zunge über seine Lippen und trat einen Krieger unsanft zwischen die Beine. Als der Mann aufschrie, lachte er höhnisch. »Haltet den Mund, verstanden? Wer das nächste Wort sagt, fliegt ins Meer!« Am frühen Abend wurden zuerst die Frauen und Kinder und dann die Männer auf das Hauptdeck geholt. Johnny Graham hatte vorgehabt die Männer auf dem Zwischendeck zu lassen und auch die Matrosen, die den Hirsebrei und das Wasser ausgaben, waren nicht begierig darauf, die Sklaven zu bedienen. »Sollen sie doch unter Deck verrecken!«, rief einer gehässig. »Die stecken uns noch alle an mit ihren verdammten Krankheiten!« Nur dem Captain und dem Arzt hatten es die Schwarzen zu verdanken, dass sie auf das Hauptdeck durften. »Wenn wir sie unten lassen, wird alles nur noch viel schlimmer«, erklärte Dr. Atkins. »Sie brauchen frische Luft, Nahrung und Wasser, sonst werden sie erst recht krank! Es ist nur zu eurem Besten, Leute!« Die Frauen und Kinder standen bereits an der Reling, als die Männer nach oben kamen. Bensua fiel sofort auf, wie verändert Ottobah war. In seinen Augen war ein neues Feuer, als hätten die Götter frischen Wind geschickt, und sein Körper wirkte straffer und gesünder als beim letzten Mal. Die Windstille schien bei ihm das Gegenteil bewirkt zu haben, hatte ihn stärker und widerstandsfähiger gemacht. Auch einige der anderen Krieger waren von neuem Mut beseelt. »Sie haben etwas vor«, flüsterte Bensua so leise, dass Manu es nicht hörte. »Sie wollen kämpfen!« Sie aß ihren Hirsebrei auf und wusch sich mit dem Salzwasser, das in Kübeln bereitstand. Die Brandwunden waren verheilt und das Salz brannte nicht mehr. Sie ging ein paar Schritte, bis sie neben Ottobah stand, und sagte: »Ich denke an dich, mein Freund!« Die Matrosen hatten nichts mehr dagegen, dass Männer und Frauen miteinander sprachen,
befolgten den Befehl des Kapitäns, der zu O’Reilly und Graham gemeint hatte: »Die Männer sollen mit den Frauen reden! Das hebt ihre Stimmung! Unzufriedene Sklaven machen Ärger, das sollten Sie langsam wissen.« »Sie wollen, dass sich die Nigger mit den Weibern vergnügen?«, fragte der Bootsmann entsetzt. Er strich über seine Peitsche. »Ich würde ihnen lieber die Neunschwänzige überziehen!« Captain Whitcomb verabscheute die derbe Sprache des Bootsmanns und blickte ihn missbilligend an. »Von Vergnügen habe ich nichts gesagt! Oder wollen Sie ihnen die Ketten abnehmen?« »Natürlich nicht, Sir!« »Befolgen Sie meine Befehle, Mister Graham, oder ich kürze Ihren Lohn! Ihr Hass gegen diese Schwarzen bringt uns nicht weiter. Wollen Sie die ganze Fracht ins Meer werfen und ohne einen einzigen Neger in Charleston ankommen? Ich habe keine Lust, diese Reise mit Verlust abzuschließen! Ist das klar?« »Aye, Sir!« Bensua wusste nichts vom Befehl des Kapitäns, hatte aber herausgefunden, dass die weißen Männer nicht mehr einschritten, wenn Männer und Frauen miteinander sprachen und ein Lächeln oder eine sanfte Berührung austauschten. An die obszönen Gesten und das hämische Lachen einiger Matrosen hatte sie sich längst gewöhnt. Dennoch rechnete sie jeden Augenblick damit, das Zischen der neunschwänzigen Peitsche zu hören, als sie mit Ottobah sprach. »Du hast etwas vor!«, sagte sie zu dem geliebten Krieger. »Du willst kämpfen. Ist es nicht so?« »Ja«, antwortete Ottobah leise, »und du musst mir helfen!« In wenigen Worten schilderte er Bensua, wie sein Plan aussah und was sie dabei zu tun hatte. »Sobald du meinen Schrei hörst, stößt du den Matrosen an dem großen Feuerrohr zur
Seite! Er darf auf keinen Fall die Lunte anzünden! Schaffst du das?« Bensua nickte. »Wenn du meinst, dass wir siegen werden, will ich es tun. Aber es ist gefährlich die Männer anzugreifen! Sie haben sich mit den bösen Geistern verbündet! Sie besitzen Gewehre und Pistolen! Wenn ihr es nicht schafft die Ketten zu öffnen, werdet ihr alle sterben! Warum warten wir nicht, Ottobah?« »Willst du zusehen, wie sie alle kranken Frauen und Kinder ins Meer werfen?«, fragte er. »Es bleibt uns keine Zeit mehr, Bensua! Morgen früh, wenn wir an Deck kommen, schlagen wir zu! Halte dich bereit! Und bete zu den Göttern, dass sie uns beistehen!« Bensua betete die ganze Nacht. Sie lag auf dem Rücken, hielt die Hand ihrer jungen Freundin und schickte Gebet nach Gebet zu dem Ort empor, an dem Onyankopon Kwame und die anderen Götter wohnten. Den anderen Frauen verriet sie nichts. Auch Manu ließ sie im Unklaren. Wenn alle Frauen von dem Plan der Männer erfuhren, bestand die Gefahr, dass einige in Panik gerieten und laut schrien oder weinten. Dann bekamen die weißen Männer vielleicht heraus, was die Krieger vorhatten. An Schlaf war in der drückenden Hitze kaum zu denken. Der Gestank war inzwischen unerträglich geworden und es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der Doktor die nächsten Frauen und Kinder abholte. Zu ihrem Entsetzen erkannte Bensua, dass auch Manu erkrankt war. Ihre Freundin lag erschöpft wie jemand, der von einem Giftpfeil getroffen worden war, auf den Planken und rang japsend nach Luft. Ihr Gesicht war eingefallen und ihre Augen lagen tief in den Höhlen. »Manu!«, flüsterte Bensua besorgt. »Warum sagst du nicht, dass du krank bist?«
Sie machte sich Vorwürfe. Vor lauter Beten und in der verzweifelten Angst vor dem Aufstand der Männer hatte sie übersehen, dass Manu an dem gefährlichen Schiffsfieber erkrankt war. So nannten die Weißen die Krankheit, die viele Sklaven und sogar Weiße auf der langen Reise befiel. In einer Flaute war die Gefahr, sich anzustecken, besonders groß. Nur frische Luft, feste Nahrung und frisches Wasser konnten den Kranken helfen. Aber durch den ungewollten Aufenthalt am Äquator waren die Vorräte knapp geworden und Captain Whitcomb hatte die Rationen verkleinert. Wenn der Wind nicht bald zurückkehrte, war Manu verloren. Dann würde sie zu den bedauernswerten Frauen und Kindern gehören, die über Bord zu den Haien geworfen wurden. Bei dem Gedanken erschrak Bensua. Sie nahm einen Zipfel ihres Kleides und wischte ihrer Freundin den Schweiß vom Gesicht. »Halte durch!«, flüsterte sie. »Morgen bekommst du mein Wasser, dann schaffst du es! Du wirst wieder gesund, das verspreche ich dir!« »Ich… ich bin so… schwach…«, brachte Manu mühsam hervor. »Ich glaube… ich muss… sterben… Lass mich sterben, Bensua!« »Niemals!«, schwor Bensua. Jetzt sehnte auch sie den Augenblick herbei, da Ottobah und seine Krieger die Weißen töten würden. Dann würde es genug Wasser für ihre Freundin geben.
17
Polternde Schritte weckten Bensua und ihre Freundin, die beide kurz vor dem Morgengrauen eingeschlafen waren und von wirren Albträumen gequält wurden. Sie schreckten hoch und sahen Johnny Graham und den Doktor durch den Niedergang kommen. Die Peitsche knallte und der Bootsmann rief: »Aufwachen, ihr faulen Weiber! Wir brauchen neues Futter für die Haie!« Er lachte über seine Worte und trat einer Frau, die ihm im Weg lag, mit voller Wucht in die Hüfte. Die Sklavin stöhnte unterdrückt. Wenn der Kapitän nicht hinsah, ließ der Bootsmann seinem Hass auf die Gefangenen freien Lauf. »Wie wärs mit der alten Hexe hier?«, fragte er und deutete auf eine weißhaarige Frau. »Für die kriegen wir sowieso keinen Penny!« Doktor Atkins achtete nicht auf den Bootsmann und nahm die Öllampe vom Balken neben dem Niedergang. Gebückt stieg er über die schwitzenden Frauen und Kinder. Der Schein der Lampe geisterte über verzweifelte Gesichter und ließ panische Angst in den dunklen Augen aufleuchten. Einige Kranke hatten es nur der Abscheu des Doktors zu verdanken, dass sie an diesem Morgen nicht über Bord geworfen wurden. Um einen umgestürzten Eimer machte er einen weiten Bogen. »Lange halte ich das nicht mehr aus«, sagte er mehr zu sich selbst. »Wenn das so weitergeht, müssen wir die ganze Ladung ins Meer werfen!« Er wandte sich an den Bootsmann. »Lassen Sie uns umkehren, Mister Graham! Die Neger benötigen dringend frische Luft und etwas zu trinken, sonst brauchen wir gar nicht weiterzufahren!«
Bensua sah, wie der Bootsmann zögerte, und bat die Götter in einem stummen Gebet, die weißen Männer umkehren zu lassen. Doch Graham ließ sich nicht beirren. Seine Schritte wurden lauter, und obwohl die Sklavinnen längst wieder auf dem Rücken lagen um bloß nicht aufzufallen, spürten sie, wie sein bedrohlicher Schatten über sie fiel. Bensua presste die Hand ihrer Freundin in stummer Verzweiflung, hoffte inständig, dass der Bootsmann sie nicht auf das Hauptdeck mitnahm. Sie hatte ihrer Freundin den Schweiß vom Gesicht gerieben und ihr eingeschärft, sich die Schmerzen so wenig wie möglich anmerken zu lassen. Aber sie wusste, dass das Schiffsfieber in ihren Augen klar zu erkennen war. Der fiebrige Glanz brandmarkte sie genauso wie das Brandmal auf ihrem Rücken. Die Schritte verstummten und Bensua schloss die Augen, um die weißen Männer nicht ansehen zu müssen. Am Tonfall des Bootsmannes hörte sie, dass ihre Gebete vergeblich gewesen waren. »Und was ist mit der hier?«, fragte Johnny Graham. Er deutete mit der Peitsche auf die zitternde Manu. »Die ist fällig, wenn Sie mich fragen! Die hält doch keinen Tag mehr durch!« Bensua verstand den Bootsmann und schickte ein letztes Gebet zu den Göttern empor. Sie durfte nichts unversucht lassen, um ihre Freundin vor einem grausamen Tod zu retten. Der Gedanke, dass Manu von den Raubfischen zerrissen werden sollte, war zu schrecklich. Manu darf nicht sterben!, rief sie stumm. Sie ist jung und unschuldig! Lasst sie am Leben! Bitte! Diesmal wurde ihr Gebet erhört. Gerade als der Doktor antworten wollte, ging ein Knarren und Ächzen durch das Schiff und die Planken bewegten sich unter den Körpern der Sklaven. »Alle Mann an Deck!«, ertönte die schneidende Stimme des Captains. »Die Flaute ist vorbei! Mister Graham,
kommen Sie sofort herauf! Und wecken Sie Mister O’Reilly! Ich brauche jetzt jeden Mann!« Bensua öffnete vorsichtig die Augen und beobachtete, wie der Bootsmann und der Doktor im Niedergang verschwanden. Erleichtert beugte sie sich zu ihrer Freundin hinüber. »Jetzt ist es vorüber«, sagte sie. »Du wirst wieder gesund! Die Götter haben den Wind zurückgebracht! Du wirst sehen, er wird das Schiffsfieber vertreiben!« Manu lächelte zaghaft, zum ersten Mal seit vielen Stunden. Zum Sprechen war sie zu schwach. In ihren Augen war immer noch das Entsetzen zu sehen, das sie beim Anblick der weißen Männer empfunden hatte. Sie hatte bereits mit dem Leben abgeschlossen und sich auf einen grausamen Tod vorbereitet. »Die Götter werden mich im Jenseits wie eine Königin empfangen«, hatte sie sich einzureden versucht. »Ich werde meine Eltern wieder sehen und der Schmerz wird mich nicht mehr quälen!« Das Lächeln erstarb und Tränen quollen aus ihren Augen. Ungehemmt flossen sie über ihr Gesicht. Bensua nahm Manu fest in den Arm und sagte belanglose Worte wie »Es wird alles wieder gut!« und »Du brauchst keine Angst zu haben!«, obwohl sie genau wusste, dass sie nur einen Aufschub bekommen hatten. Wenn Manu nicht gesund wurde, musste sie sterben. Die Hannibal regte sich wie ein mächtiges Tier nach einem langen Winterschlaf. Stöhnend und beinahe widerwillig streckte sie sich in dem auffrischenden Wind. Plötzlich war wieder Leben in dem Schiff und die Segel blähten sich unter einem heftigen Windstoß, der aus dem Nichts zu kommen schien und rauschend über das Meer fegte. Die spiegelglatte Fläche bewegte sich und zerfiel in unruhige Wellen. »Na, endlich!«, rief O’Reilly, von dem jegliche Müdigkeit abgefallen war, nachdem Johnny Graham ihn aus dem Schlaf
gerissen hatte. »Viel länger hätte ich die verdammte Flaute auch nicht ausgehalten!« Er zog die Neunschwänzige über das Hauptdeck und brüllte die Männer an: »In die Wanten mit euch, ihr faulen Säcke! Setzt die Segel!« Mit einem leichten Lächeln beobachtete Captain Whitcomb, wie sich die Segel mit Wind füllten und die Hannibal auf Kurs ging. Endlich war die Flaute vorbei! Wenn er mit vollen Segeln fuhr, konnte er die amerikanische Küste in fünf bis sechs Wochen erreichen. Seine Brigg war nicht so schnell wie die wendigen Schoner mancher Sklavenhändler, doch wenn der Nordostpassat seine normale Stärke erreichte, war das Ziel nicht mehr fern. Jeder Tag bedeutete bares Geld. Er wollte die Sklaven so schnell wie möglich loswerden und sich dann in seinem kleinen Haus an der Küste erholen, bevor er zu einer weiteren Tour aufbrach. Der Sklavenhandel war ein schmutziges Geschäft und die meisten anderen Schiffe machten nicht umsonst einen großen Bogen um ihn. Der Gestank der Schwarzen war kaum zu ertragen. Doch kein anderes Unternehmen brachte so viel Geld. Noch zwei oder drei Fahrten und er konnte sich zur Ruhe setzen. Er wandte sich an den Schiffsarzt, der würgend an der Reling stand und sich mit beiden Händen daran festhielt. »Was ist, Doktor? Vertragen Sie den Wind nicht mehr?« Seine Lächeln wurde spöttisch. »Die Flaute hat Ihnen wohl zugesetzt?« »Es ist… der Gestank!«, antwortete Doktor Atkins heiser. Er deutete auf die Luftluke, die zum Zwischendeck der Frauen und Kinder führte. »Da unten ist es kaum auszuhalten! Wenn die Neger nicht bald frische Luft bekommen, müssen wir alle töten!« »Das möchte Mister Graham wohl gern«, meinte Whitcomb. »Ich denke nicht daran, die Ladung weiter zu dezimieren! Holen Sie die Sklaven nach oben! Heute bleiben sie den
ganzen Tag auf dem Hauptdeck! Pflegen Sie die Kranken gesund, verstanden? Bis Charleston will ich keinen einzigen Sklaven mehr verlieren! Das Geld der Versicherung deckt nicht mal den halben Verlust!« »Eine Extra-Ration Süßwasser würde helfen, Sir! Da unten staut sich die Hitze wie in einem Backofen! Die LatrinenEimer sind umgefallen! Nicht mal ein Neger überlebt in diesem Dreck! Lassen Sie die Zwischendecks mit Salzwasser durchspülen! Ich habe weiß Gott kein Mitleid mit diesen Heiden, aber wenn wir nichts unternehmen, werden alle Neger krank und es bleibt für uns keine Zeit mehr, sich vor einer Krankheit zu schützen! Ich kann es nicht mehr verantworten, auf die Zwischendecks zu steigen!« »Sie wollen sich den Gestank wohl nicht mehr zumuten?« Whitcomb nickte widerwillig. »Also meinetwegen. Geben Sie ihnen das Wasser! Und drücken Sie ein paar Zitronen hinein! Skorbut ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können! Auf meiner vorigen Reise fielen zwanzig Negern die Zähne aus, nur weil wir nicht genug Zitronen an Bord hatten! Einen solchen Verlust kann ich mir nicht wieder leisten! Ich habe Verpflichtungen, Doktor!« »Aye, Sir«, erwiderte der Schiffsarzt erleichtert. Natürlich hatte er nur an sich gedacht, als er den Kapitän um Hilfe gebeten hatte. Die Schwarzen rührten ihn nicht, waren »primitive Heiden«, die sowieso alle gleich aussahen, und der Verdienst des Kapitäns war ihm genauso egal. Aber er kam täglich mit den Sklaven in Berührung und hatte keine Lust, so grausam wie sie zu enden. Die Befehle des Kapitäns hallten über das Deck. Bensua hatte sich einige Wörter gemerkt und ahnte, was sie bedeuteten. Gleich würde sich die Luke öffnen und O’Reilly oder der Bootsmann würden nach unten kommen und sie holen. »Fürchte dich nicht«, beruhigte sie ihre zitternde Freundin, als
die Luke geöffnet wurde, »sie bringen uns nach oben! Gleich bekommst du etwas zu essen und zu trinken! Du wirst wieder gesund, Manu!« Der frische Wind, der durch den offenen Niedergang auf das Zwischendeck fiel, weckte die Lebensgeister der erschöpften Frauen und Kinder. Als O’Reilly die Peitsche schwang und sie auf das Hauptdeck trieb verflog ihre Angst. Selbst die Frauen, die getroffen wurden, schrien nicht. Im Vergleich zu dem grausamen Schicksal, im Maul eines gierigen Raubfisches zu enden, war ein Hieb mit der Neunschwänzigen das geringfügigere Übel. Die Aussicht, nach mehr als einer Woche wieder frische Luft zu schnappen, linderte selbst die größten Schmerzen. Mit hoffnungsvollen Mienen kletterten die Gefangenen auf das Hauptdeck, den Blick auf die Matrosen beim Wasserfass gerichtet. Zu ihrer großen Überraschung durften sie diesmal zwei Becher trinken. Bensua gab ihren zweiten der Freundin und achtete nicht auf die Matrosen, die sich über ihre Großzügigkeit lustig machten. Als sie zur Reling gingen und ihr Blick auf das große Feuerrohr fuhr, wurde sie von Angst gepackt. In wenigen Augenblicken würden die Krieger an Deck kommen und sich auf die Matrosen stürzen. Ausgerechnet jetzt, da die weißen Männer begonnen hatten sie etwas besser zu behandeln. War es klug, ein so großes Risiko einzugehen? Wenn der Aufstand fehlschlug, würden sich die weißen Männer auf blutige Weise rächen. Dann landeten noch mehr Sklaven bei den Haien. Sie blickte nervös zum Niedergang, wusste nicht, wie sie den Kriegern begegnen sollte. »Ich muss… mich… setzen…«, drang Manu in ihre Gedanken. Der Aufstieg zum Deck hatte ihr stark zugesetzt. »Ich fühle mich… so leer…« Sie rutschte an der Reling zu Boden und blieb erschöpft sitzen. Ihre Hand mit dem Hirsebrei sank in den Schoß.
Bensua beugte sich zu ihr hinunter. Sie schämte sich die Freundin vernachlässigt zu haben. »Manu!«, redete sie auf das Mädchen ein. »Du musst den Brei essen! Hast du gesehen? Sie haben den Saft der gelben Früchte in das Wasser gedrückt! Er wird dich gesund machen! Der Saft von frischen Früchten hilft, das weiß ich von einer Frau, die sich mit Krankheiten auskennt! Du musst essen und trinken, damit du wieder zu Kräften kommst! In ein paar Tagen bist du wieder so stark wie ich! Sieh doch, wie heftig der Wind jetzt wieder bläst!« Manu blickte zu den Segeln empor und lächelte schwach. Das weiße Leinentuch wölbte sich unter den Böen. Die hatte mächtig Fahrt aufgenommen und rauschte pfeilschnell durch das schäumende Wasser. Onyankopon Kwame hatte die bösen Geister vertrieben und blies seinen heilenden Atem über das Deck, drang sogar in die Zwischendecks und verscheuchte den Gestank und die brütende Hitze. Das Höllentor, das sich vor den Gefangenen aufgetan hatte, schloss sich langsam, und unter den Frauen und Kindern machte sich neue Hoffnung breit. Die Krieger wussten nichts von der angeblichen Sinneswandlung der weißen Männer. Ottobah und seine Anhänger waren entschlossen so viele Feinde wie möglich zu töten, sobald sie an Deck geklettert waren. Die Peitschenhiebe des Bootsmanns, die wie Flammen auf ihren Rücken brannten, bestärkten sie nur in ihrer Absicht. »Wir warten, bis alle oben sind«, sagte Ottobah zu dem Asante, der ihn gestern noch beleidigt hatte. Jetzt war er sein bester Verbündeter. Auch er hatte erkannt, dass sie die Weißen nur gemeinsam besiegen konnten. »Du übernimmst den Mann beim Wasserfass! Ich töte den Mann mit der Peitsche!« Er drehte sich zu den anderen Männern um und nickte ihnen aufmunternd zu. Gleich würde sich ihr Schicksal entscheiden! Sie würden siegen oder als Helden untergehen!
Bensua sah, dass die Männer an Deck kamen, und rannte zu ihnen. Es war ihr egal, dass die Matrosen dachten, sie würde nach ihrem Liebsten rufen. »Ihr dürft es nicht tun!«, rief sie Ottobah zu. Sie hoffte, dass keiner der Matrosen ihre Sprache verstand. »Die weißen Männer geben uns mehr Wasser! Der Doktor kümmert sich um die Kranken! Sie wollen, dass wir gesund werden! Ihr dürft sie nicht umbringen! Tut es nicht, Ottobah!« Ottobah sah, dass Bensua die Wahrheit sprach. Der erste Krieger hatte bereits einen Becher geleert und durfte ihn noch einmal mit Wasser füllen. Obwohl der Hass auf die weißen Männer ihm fast den Verstand raubte und seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren, sagte er: »Ihr hört, was sie erzählt hat. Die Weißen haben sich besonnen! Es wäre dumm, sie jetzt anzugreifen! Wir warten auf eine bessere Gelegenheit!« Er blickte den Asante an. »Der Doktor kümmert sich um die kranken Frauen und Kinder! Er gibt ihnen Wasser und Hirsebrei! Wir dürfen ihnen nicht die Zukunft verbauen!« Tatsächlich war der Schiffsarzt zu einer kranken Frau gegangen und hatte ihr Wasser gereicht. Der Asante wollte nicht glauben, dass die Weißen anders dachten. Er hatte die ganze Nacht neben seinem sterbenden Jungen gelegen und war voller Zorn. »Die Weißen ändern sich nicht!«, erwiderte er. »Wir müssen sie töten, wenn es eine Zukunft für unsere Völker geben soll! Gestern hast du ähnlich gesprochen!« »Ich weiß«, räumte Ottobah ein, »auch mein Hass hat sich nicht gelegt! Aber ich denke an die Frauen und Kinder! Wenn die Weißen für sie sorgen, macht es keinen Sinn, sie anzugreifen!« Der Asante war nicht in der Lage, seinen Zorn zu bezähmen. Der Schmerz über den Verlust des Jungen war zu groß. Und er schien während der Flaute kaum Kraft verloren zu haben. »Ich
kann nicht anders!« So schnell, dass Ottobah nicht mehr eingreifen konnte, stürzte er sich auf den Bootsmann. Mit einem wütenden Aufschrei, der Weiße und Schwarze gleichermaßen entsetzte, ging er dem Bootsmann an die Gurgel. Der Krieger, der an ihn gekettet war, stürzte zu Boden und schrie um Hilfe. Der Zorn verlieh ihm übermenschliche Kräfte. Mit dem freien Arm nahm er den Bootsmann in den Schwitzkasten und brach ihm das Genick. Er stieß einen triumphierenden Siegesschrei aus, wollte sich auf den nächsten Weißen stürzen und blieb an seinen eisernen Fesseln hängen. Ein Matrose schlug ihm den Kolben seiner Muskete auf den Kopf. »Bleibt, wo ihr seid, sonst müssen wir alle sterben!«, warnte Ottobah die anderen Krieger. Er hielt einen jungen Mann fest, der auf einen Weißen losgehen wollte. »Wir kämpfen, wenn die Götter auf unserer Seite sind!« Nur seine beherzte Warnung verhinderte ein Blutbad. »Nicht schießen!«, drang die schneidende Stimme des Kapitäns durch den Wind. Die Matrosen senkten die Waffen. »Mister O’Reilly! Erteilen Sie den Männern eine Lektion! Sie sollen wissen, dass es sich nicht lohnt, meine Mannschaft anzugreifen! Lassen Sie die Nigger die Peitsche spüren und dann sollen sie zusehen, wie wir den Mörder an der Rahe aufknüpfen! Aber keine weiteren Toten, haben Sie mich verstanden? Denken Sie an die Kosten!« Bensua legte ihrer schwachen Freundin einen Arm um die Schultern und verdeckte ihr mit einer Hand die Augen. Sie sollte das blutige Schauspiel nicht sehen. Auch Bensua ekelte davor, aber die Auspeitschung war besser als das Blutbad, das sonst gedroht hätte. Sie war Ottobah dankbar. Er hatte seinen Zorn unterdrückt und war dem Weg der Vernunft gefolgt. So wie die Weißen, die anscheinend nicht wollten, dass noch mehr Schwarze starben. Den Grund für diesen Sinneswandel
konnte sie nur ahnen, denn sie merkte, dass sich die Verachtung der Weißen nicht gelegt hatte. Das bewies auch die Gemeinheit, mit der O’Reilly auf die gefesselten Krieger losging. Der Zweite Maat war kein besonderer Freund des Bootsmanns gewesen und doch schlug er mit solcher Heftigkeit auf die Männer ein, dass sie schreiend zusammenbrachen und sich stöhnend auf den Planken wälzten. Einige jüngere Krieger übergaben sich. Ottobah blieb aufrecht stehen und ließ die Peitschenschläge wie die Hiebe eines Kindes an sich abprallen. Sein Blick war auf Bensua gerichtet, die ihn unverwandt anblickte und ihn mit ihrer Zuneigung stärkte. »Das ist genug!«, befahl der Kapitän nach einer Weile. »Schütten Sie einen Eimer Wasser über die Männer und lassen Sie sie zusehen, wie wir den Mörder ins Jenseits schicken!« Er rief die Namen einiger Matrosen und befahl ihnen, den bewusstlosen Asante in die Wanten zu zerren und an einer Rahe aufzuhängen. Begeistert kamen die Männer dem Befehl nach. Sie hatten genug vom »sanften Kurs« ihres Kapitäns und waren froh, ihre Abscheu an einem der Sklaven auslassen zu können. Sie warfen eine Schlinge über die unterste Rahe und legten sie dem Krieger um den Hals. Als sie zuzogen, öffnete der Asante die Augen. »Fahr zur Hölle!«, rief ein Matrose und ließ ihn nach unten fallen. Noch während der Asante gegen das Ersticken kämpfte und die Frauen und Kinder an Deck sein Schicksal beweinten, trennte der Matrose den Strick mit seinem Entermesser durch und ließ den Krieger ins Meer stürzen. Die Haie kamen von allen Seiten.
18
Der Nordostpassat trieb die Hannibal über den Atlantik und an den Westindischen Inseln vorbei. Nach der tödlichen Flaute am Äquator blähten sich die Segel unter stetigen Böen, wich die zermürbende Stille den vertrauten Geräuschen der »Middle Passage« zwischen Afrika und Amerika. Die Stimmung der Mannschaft besserte sich und selbst der Kapitän gestattete sich ein zuversichtliches Lächeln, wenn er auf dem Achterdeck stand und den frischen Wind spürte. Über dem Meer wölbte sich ein blauer Himmel und Captain Whitcomb dankte dem lieben Gott dafür, dass sie vor den gefürchteten Herbststürmen verschont blieben. Auch auf den Zwischendecks wuchs wieder die Zuversicht. Die Matrosen reinigten die Quartiere täglich mit Salzwasser und jeden Morgen, wenn die Sklaven an Deck kamen, verteilte Doktor Atkins ein stärkendes Pulver und beschmierte die offenen Wunden der Kranken mit Salbe. Die Schwarzen verstanden nicht, weshalb die Weißen sie plötzlich besser behandelten, hüteten sich aber sie durch unüberlegte Handlungen herauszufordern. Sogar Ottobah verhielt sich ruhig. Er hatte gesehen, wie schnell die Matrosen zu den Waffen griffen und wie schlecht es dem aufsässigen Asante ergangen war. Bensua hatte Recht. Es machte keinen Sinn die Weißen während der Überfahrt anzugreifen. In dem fremden Land, das sie bald sehen würden, bliebe genug Zeit, sich an ihnen zu rächen. Auf dem Schiff gefährdete er das Leben der Frauen und Kinder. »Haltet durch, meine Brüder!«, rief er seinen Mitgefangenen zu. »Die Weißen behandeln uns jetzt gut. Ich weiß nicht, ob sie uns nur in Sicherheit wiegen wollen
und was sie vorhaben, wenn wir das fremde Land erreichen. Aber es ist klüger, mit unserer Rache zu warten! Ihr kennt mich! Ihr wisst, wie sehr ich darauf brenne, mich an den weißen Männern zu rächen! Und ich verspreche euch, dieser Tag wird kommen!« Es fiel Ottobah schwer, sich ruhig zu verhalten. O’Reilly setzte immer noch seine neunschwänzige Peitsche ein und stieß zwei gefesselte Sklaven unsanft zu Boden, weil ihm ihre Gesichter nicht gefielen. Einem Jungen, der zu laut weinte, versetzte er eine schallende Ohrfeige, deren Spuren noch Tage später zu sehen waren. »Stinkendes Pack!«, brüllte er, wenn er den Kapitän nicht in der Nähe wusste. Aber das war eher die Wut über die doppelte Wache, die er seit der Ermordung des Bootsmanns schieben musste. Wenn er allein in seiner Koje lag, dachte er an den Lohn, den er nach dem Verkauf der Sklaven erhalten, und die Frauen, die er für das viele Geld kaufen würde. Junge Weiber mit blauen Augen und blasser Haut, die Champagner mit ihm trinken und ihm alle Wünsche erfüllen würden. Bensua setzte ihre Gebete fort. Sie dankte den Göttern für das Ende der Windstille und die Behandlung durch den weißen Arzt. Und sie sang alle heiligen Lieder, die sie kannte, um die Gesundung ihrer Freundin zu beschleunigen. Manu ging es jeden Morgen besser. Der fiebrige Glanz verschwand aus ihren Augen und ihre Haut nahm wieder eine normale Farbe an. Die langen Aufenthalte an Deck halfen ihr freier zu atmen. Doch die Angst blieb. Jede Nacht, wenn sie die Augen schloss, sah sie ihre toten Verwandten, erlebte sie die demütigende Behandlung durch die weißen Männer, dachte sie daran, wie die kranke Frau und ihr Kind im Meer versanken und von den Haien zerrissen wurden. »Ich verstehe die weißen Männer nicht«, meinte sie, als sie an der Reling standen und über das endlose Meer blickten.
»Zuerst werfen sie kranke Frauen und Kinder ins Meer und jetzt geben sie uns zu essen und zu trinken und der Doktor versorgt unsere Wunden mit Wundersalbe. Warum tun sie das, Bensua?« Die ältere Freundin erinnerte sich an die lauten Befehle des Kapitäns und antwortete: »Der Mann mit dem dreieckigen Hut hat es befohlen. Ich glaube, er will uns an andere Weiße verkaufen. Wenn wir arbeiten sollen, müssen wir stark und gesund sein. Er will möglichst viel Gold für uns bekommen.« Sie blickte ihre Freundin an und bemerkte, dass die Brandwunden kaum noch zu sehen waren. Nur das Brandmal leuchtete auf ihrem nackten Rücken. »Du bist wieder gesund! Das ist alles, was zählt! Du bist stark genug, um unserer neuen Zukunft in die Augen zu sehen!« »Ich kann wieder atmen, doch ich habe immer noch Angst«, erwiderte Manu unsicher. »Die Weißen schlagen und beschimpfen uns! Niemand weiß, was uns in dem fremden Land erwartet!« »Nein, das weiß keiner«, musste Bensua einräumen. »Aber unsere Gebete sind stark genug um die bösen Geister zu vertreiben! Onyankopon Kwame hat den Wind gebracht und die weißen Männer gezwungen keine Gefangenen mehr zu töten. Auf dieser Fahrt stirbt niemand mehr! Wir werden leben, Manu!« Ihr Weissagung ging nicht in Erfüllung. Eine Frau starb, als sie ihr totes Kind gebar. Ein Mädchen träumte von den bösen Geistern und stürzte sich über die Reling. Zwei Jungen wurden von einem schweren Vorratsfass erschlagen, das sich aus seiner Verankerung gelöst hatte und auf sie gerollt war. Aber es gab keine gefährlichen Krankheiten mehr und der Schiffsarzt kümmerte sich sogar um die blutigen Striemen der Männer, die unter den Lederriemen der Peitsche gelitten hatten. Einer schwangeren Frau half er bei der Geburt – ein
sinnloses Unterfangen, weil das Baby bereits nach wenigen Minuten starb. Captain Whitcomb hielt sich von den Westindischen Inseln fern um möglichst wenigen Schiffen zu begegnen. Es gab immer noch Piraten, die Sklavenschiffe kaperten und die Fracht auf eigene Rechnung verkauften, und weltfremde Fanatiker, die sich gegen die Sklaverei wandten und nur darauf warteten, die Gefangenen eines Schiffes zu befreien. Selbst mit einer amerikanischen Flagge war man in diesen Gewässern nicht sicher. Offiziell hatte auch die amerikanische Regierung die Einfuhr neuer Sklaven aus Afrika verboten und unter dem Einfluss mancher religiöser Gruppen war der Präsident gezwungen regierungseigene Schiffe an der Küste patrouillieren zu lassen, um mögliche Sklaventransporte aufzuhalten. In den amerikanischen Häfen der Ostküste wurden die Papiere streng überprüft. Nur Sklaven aus den Vereinigten Staaten durften verschifft und verkauft werden. Natürlich gab es Mittel und Wege um dieses Verbot zu umgehen. Captain Alex Whitcomb verfügte über ausgezeichnete Verbindungen zu politischen Gruppen in den Südstaaten und hatte ein Abkommen mit dem Sohn eines einflussreichen Beamten getroffen, der ihm entsprechende Papiere ausstellte und dafür einen stattlichen Geldbetrag erhielt. Ein Fischer, der hoch verschuldet und von dem Beamten abhängig war, wartete vor der Küste von South Carolina auf die Hannibal und überbrachte Whitcomb ein unterschriebenes Formular, das er nach eigenem Gutdünken ausfüllen konnte. Die Sklaven mussten vor der Küste in ihren Quartieren bleiben, damit niemand sie sah, und bekamen nicht mit, wie der Fischer mit seinem Schoner längsseits ging und dem Kapitän den Umschlag übergab. Wortlos nahm Whitcomb die Papiere entgegen. »Jagen Sie die Männer in die Wanten!«, rief er O’Reilly zu. »Bringen Sie uns nach Charleston!«
Nördlich der Westindischen Inseln war es kühler geworden und die Sklaven froren auf den nackten Planken. Die meisten trugen lediglich ein Tuch, das sie um ihre Lenden gewickelt hatten, nur einige Frauen wie Bensua und Manu hatten ein Kopftuch über ihre Haare gebunden. Die Erkenntnis, dass sie jetzt den ganzen Tag unter Deck bleiben mussten, erschreckte sie. Umso erstaunter waren sie, als die Matrosen neue Kleidung verteilten, einfache Hosen für die Männer und sackleinene Kleider für die Frauen, und der Doktor noch einmal von einem zum anderen ging und eine genaue Untersuchung vornahm. Die Sklaven wurden mit Hirsebrei und Reis regelrecht gemästet und bekamen frisches Wasser zu trinken, das der Fischer von der Küste mitgebracht hatte. Es schmeckte angenehm und verlieh den Sklaven neuen Lebensmut. »Wir haben unser Ziel erreicht«, erkannte Bensua den Grund für diese Fürsorge. »Sie putzen uns für den Verkauf heraus! Jetzt kann es nicht mehr lange dauern!« Nur die aufgeregten Befehle des Zweiten Maats und das leiser werdende Knattern der Segel verriet den Gefangenen, dass sie sich dem fremden Hafen näherten. Durch die Luftluke war der wolkenverhangene Himmel zu sehen. Die Hannibal erreichte ruhiges Wasser und verlangsamte ihre Fahrt. Das Geräusch der rasselnden Ankerkette ließ auch die Männer zusammenzucken und trieb einige Sklaven zu Angstschreien, weil sie glaubten das Schiff würde auseinander brechen. Durch die Luke drangen fremde Geräusche nach unten, das Wiehern von Pferden und das Rattern eines Wagens, der über Kopfsteinpflaster polterte. Seltsame Laute, die keiner der Schwarzen jemals gehört hatte. Bensua unterdrückte ihre Angst und flüsterte ihrer Freundin zu, dass jetzt für sie vielleicht bessere Tage kämen. Manu drückte dankbar ihre Hand. Sie saßen aufrecht auf dem harten Boden, warteten darauf, dass die Luke zum Niedergang
aufgestoßen wurde und der Mann mit der Peitsche erschien. Diesmal lächelte der Zweite Maat und er verzichtete sogar darauf, die Neunschwänzige einzusetzen. Die Zufriedenheit, endlich Charleston erreicht zu haben, und die Vorfreude auf den Lohn und die sinnlichen Genüsse, die er sich im Hafen leisten würde, ließen ihn kaum noch an die Sklaven denken. »Raus mit euch!«, brüllte er. »Ihr habt lange genug auf der faulen Haut gelegen! Jetzt wird gearbeitet, verdammt!« Die Gefangenen verstanden kein Wort und kletterten einer hinter dem anderen an Deck. Einige blieben erstaunt stehen, als sie den geschäftigen Hafen und die vielen Häuser erblickten, doch die Matrosen trieben sie unbarmherzig an. In Hafenbooten, die zwischen den Segelschiffen verschwindend klein aussahen, wurden sie an Land gebracht. Bensua und Manu drückten sich, überwältigt vom Anblick der Stadt, die aus einem endlosen Gewirr von Straßen und Gassen zu bestehen schien, eng aneinander. Kirchtürme ragten wie Speerspitzen aus dem Häusermeer. Kumase, die Hauptstadt des Asante-Reiches, war größer, aber es gab nicht so viele Menschen und Wagen wie in der Stadt der weißen Männer und die Straßen waren breiter und großzügiger. Über eine steinerne Treppe stiegen die Sklaven zum Hafen empor. Dort wurden sie von einigen Aufsehern erwartet, treuen Bediensteten des Beamten, der gemeinsame Sache mit Captain Whitcomb machte. Sie trugen Pistolen und knallten mit ihren Peitschen, ließen die Schwarzen auf diese Weise wissen, dass ihre Leidenszeit erst begonnen hatte und die einigermaßen gute Behandlung während des letzten Teils der Schiffsreise nur eine seltene Ausnahme gewesen war. »Stellt euch dort drüben auf! In Zweierreihen, verdammt!«, rief einer der Aufseher. Er benutzte dieselbe Sprache wie die Männer auf dem Schiff und unterstrich jedes seiner derben Worte mit einer eindringlichen Geste.
Bensua und ihre Freundin reihten sich ein, erschauderten unter den Blicken einiger Hafenarbeiter, die sie mit unverhohlener Gier anstarrten. Noch wussten sie nicht, dass ein weißer Mann, der ein schwarzes Mädchen vergewaltigte, straffrei ausging. Zögernd folgten sie den Aufsehern durch die Stadt. Über die mit Steinen bepflasterten Straßen zogen sie an bunten Häusern mit schmiedeeisernen Zäunen vorbei zu einem schmucklosen Gebäude, das hinter einer der zahlreichen Kirchen emporragte. Sie wurden durch ein gewölbtes Tor in einen geräumigen Hof getrieben und von den Aufsehern in willkürliche Gruppen zu je zwanzig oder dreißig Sklaven eingeteilt. Bensua hielt ihre junge Freundin fest umschlungen und schaffte es, sie bei sich zu behalten. Auf der anderen Seite des Hofes stand Ottobah, von seinem Mitgefangenen getrennt, aber immer noch gefesselt und so weit entfernt, dass Bensua nicht in seine Augen sehen konnte. Sie erkannte ihn an seiner stolzen Haltung und den geballten Fäusten. Keiner der Sklaven wusste, aus welchem Grund sie in dem Hof bleiben mussten. Das Tor war verschlossen worden und die Fenster in den Wänden, die sie an vier Seiten bedrängten, blieben dunkel und leer. Eine nervöse Stille breitete sich aus, verfing sich wie unsichtbarer Nebel zwischen den Hauswänden. Die meisten Sklaven wähnten sich in einem Gefängnis, hatten sie doch schon an der Goldküste von Schwarzen gehört, die in den Forts der Holländer und Engländer eingesperrt gewesen waren. Dort musste es ähnlich ausgesehen haben. In die Stille drangen das Weinen einiger Kinder und die beruhigenden Stimmen ihrer Mütter, die ihre Angst unterdrückten und versuchten, sie mit falschen Worten zu trösten. »Hört mir zu!«, rief Ottobah so laut über den Hof, dass es alle mitbekamen. »Sie haben uns nicht in dieses weit entfernte Land gebracht, um uns zu töten. Vielleicht wird es jetzt besser für uns!«
Seine Worte hingen noch als Echo zwischen den Wänden, als das Tor geöffnet wurde und Captain Alex Whitcomb erschien, gefolgt von den Aufsehern und einer ganzen Reihe von vornehm gekleideten Männern, die vor ein hölzernes Podium drängten, das in der Mitte des Hofes aufgebaut war. Die Aufseher trieben die erste Gruppe der Sklaven auf das Podium, Männer und Frauen, und der Kapitän der Hannibal hielt eine kurze Rede, deren Sinn die Sklaven erst errieten, als einer der Aufseher, ein kräftiger Mann mit einem kantigen Schädel, einen Schwarzen herbeizog. Er griff mit Mittelfinger und Daumen in seinen Mund und zeigte den vornehmen Männern die leuchtenden Zähne. »Sehen Sie ihn an!«, rief er wie ein Marktschreier. »Ist er nicht ein prächtiger Bursche? Der bringt Ihre Ernte ganz allein nach Hause, da gehe ich jede Wette ein, und ich würde sagen, dafür kann man schon mal vierhundert Dollar hinlegen, habe ich Recht?« »Vierhundert Dollar? Sind Sie verrückt? Dafür bekomme ich woanders zwei Männer!«, protestierte einer der vornehmen Kunden. »Dreihundertfünfzig«, rief ein anderer. »Dreihundertsechzig!«, trieb jemand den Preis nach oben. Bensua brauchte nicht lange, um das seltsame Gefeilsche der weißen Männer zu durchschauen. Sie stritten um den Preis, den sie für einen Sklaven bezahlen sollten, und wer am meisten bot, bekam den Zuschlag. Sie zog ihre Freundin enger zu sich heran. Mit großer Abscheu verfolgte sie, wie der Krieger vom Podium gestoßen und von einem der Aufseher zum Wagen des Käufers getrieben wurde. Die Pferdewagen parkten direkt vor dem Tor. »Und sehen Sie sich diesen kräftigen Kerl an«, tönte der Auktionator, »ein harter Arbeiter, möchte ich wetten, wenn ich mir seine schwieligen Hände ansehe. Wer bietet dreihundert Dollar? Höre ich dreihundert Dollar? Ah, der Herr dort
drüben!« Er blickte auf einen schlanken Mann mit Zylinder. »Mister Stockton, wenn ich mich nicht irre! Dreihundert Dollar! Dreihundertzehn? Höre ich dreihundertzehn? Treten Sie näher und berühren Sie seine Muskeln! Mit diesen Armen hat er wilde Löwen erwürgt!« So ging es den ganzen Nachmittag. Ein Sklave nach dem anderen wurde angepriesen, verkauft und zu einem der Wagen gebracht. Und als es dunkel wurde, flammten Laternen und Fackeln auf und das unwürdige Schauspiel ging weiter. Mit jedem Mann und jeder Frau, die wie Schlachtvieh auf das Podium gescheucht wurden, wurde Bensua unruhiger. Sie erkannte, wie groß die Gefahr war, dass sie von Manu und Ottobah getrennt wurde und beide niemals wieder sah. Nur bei kleinen Kindern machte Captain Whitcomb eine Ausnahme. Durch eine großzügige Geste gab er dem Auktionator zu verstehen, dass er nur einen geringen Aufpreis für einen Sohn oder eine Tochter verlangte, sofern sie noch Kinder und bedingt arbeitsfähig waren. Ehepaare durften zusammenbleiben, wenn der Käufer einverstanden war, aber es gab auch Härtefälle, die Mann und Frau für ewige Zeiten auseinander rissen. Bensua zersprang beinahe das Herz, als eine junge Fante verzweifelt den Namen ihres Mannes rief, der von zwei Aufsehern nach draußen gebracht wurde und wütend an seinen Ketten riss. Die Frau warf sich zu Boden, schrie und brach heulend zusammen, als er nach draußen verschwand. »Bleiben wir zusammen?«, fragte Manu leise. Bensua wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie war selbst den Tränen nahe. Nicht nur weil sie Angst hatte, Manu zu verlieren. Aber was war mit Ottobah? Ein Aufseher stieß sie auf das Podium. Sie zog ihre Freundin mit hinauf und blieb zitternd vor dem Auktionator stehen. »Na, wen haben wir denn da?«, machte sich der weiße Mann über sie lustig. »Ihr beiden seid wohl unzertrennlich?« Er wandte
sich lachend an die Pflanzer. »Dreihundert Dollar für diese stattliche Negerin!«, rief er, nachdem er sich bei Captain Whitcomb über den Preis informiert hatte. »Und nur fünfzig Dollar für dieses hübsche Mädchen, das Ihnen unschätzbare Dienste im Haushalt leisten wird! Schlagen Sie ein, meine Herren! So billig kommen Sie nirgendwo an kräftige Sklaven! Entscheiden Sie sich! Wer bietet mehr als dreihundertfünfzig Dollar für diese Negerinnen?« »Dreihundertsechzig«, rief Robert F. Stockton, einer der reichsten Pflanzer am Ashley River. Und als ein anderer Plantagenbesitzer um zehn Dollar erhöhte, hob er die rechte Hand und sagte laut: »Vierhundert! Und das ist mein letztes Gebot, werter Herr!« Bensua und Manu erkannten, dass sie zusammenbleiben würden, und stiegen erleichtert vom Podium. Es machte ihnen nichts aus, dass der Aufseher seine Peitsche einsetzte, um sie möglichst schnell in den Wagen zu verfrachten. Doch als Bensua sah, wie der Pflanzer ihnen folgte, wurde sie von Panik erfasst. »Ottobah!«, schrie sie mit verzerrtem Gesicht. »Ich will bei dir bleiben, Ottobah!« Sie riss sich los und rannte in einen schmerzhaften Peitschenhieb des Aufsehers, der sie zum Wagen trieb. Weinend stürzte sie zu Boden. Der Mann packte sie am Arm und stieß sie durch den Torbogen. »Auf den Wagen, schwarze Hexe!« Während sie zu den anderen Sklaven auf den Pritschenwagen kletterte, hörte sie Ottobah rufen: »Ich vergesse dich nicht, Bensua! Eines Tages werden wir frei sein! Wir werden uns finden und dann beginnen wir ein neues Leben!«
AMERIKA
Die Sklaverei war die Hölle! Es ist schlimm, anderen Menschen zu gehören, die deine Seele und deinen Körper besitzen. Deilia Garlic, ehemalige Sklavin
19
»Magnolia Hall« stand oberhalb des Flusses, ein eindrucksvolles Haus aus roten Backsteinen, umgeben von einem blühenden Garten und gepflegten Rasenflächen. Eine breite Eichenallee führte zum prachtvollen Eingangsportal, das von vier weißen Säulen getragen wurde und an einen griechischen Tempel erinnerte. Eine niedrige Ziegelmauer umfasste die kunstvoll angelegten Gartenanlagen und den Brunnen mit der Marmorstatue eines kindlichen Engels. Der rückwärtige Eingang führte durch einen Rosengarten zum Ashley River hinunter, an dessen Ufer sich auch das Küchenhaus und die Ställe und Schuppen befanden. Robert Frederick Stockton, ein englischer Arzt, war nach dem Unabhängigkeitskrieg mit seinen Eltern aus London nach South Carolina gekommen. Er betrieb eine Praxis in Savannah und hatte nach dem überraschenden Tod seiner Eltern, sie waren an Malaria gestorben, die Plantage übernommen. Die langen Sommer verbrachte er mit seiner Familie in einem herrschaftlichen Haus in Charleston. Elizabeth, seine Frau, war zehn Jahre jünger als er und stammte aus Boston. Edward, sein zwanzigjähriger Sohn, hatte sein Jurastudium abgebrochen und begnügte sich damit, seinen Vater auf »Magnolia Hall« zu vertreten und sich um die Rennpferde zu kümmern, die auf einem Gestüt außerhalb der Plantage untergebracht waren. In der High Society von Charleston munkelte man, dass er dem Glücksspiel verfallen war. Auch seine Vorliebe für Sklavinnen und leichte Mädchen trug nicht dazu bei, seinen Ruf in der Gesellschaft zu festigen.
Die Sklavenhäuser, fünf schmucklose Giebelhäuser aus verwitterten Ziegelsteinen, standen abseits der Eichenallee im Schatten einiger Zypressen. Der Sklave, der den Pferdewagen lenkte, hielt vor einem der Häuser und der Aufseher, der mitgefahren war, scheuchte die gekauften Schwarzen von der Pritsche: Bensua und Manu und zwei erwachsene Männer. Er hieß Jonathan Kelly, ein robuster Weißer mit einem wettergegerbten Gesicht, einer breiten Nase und zahlreichen Narben, die den ehemaligen Straßenkämpfer verrieten. Er war in Manchester aufgewachsen, der Bergwerksstadt im alten England, und war auf ein Auswandererschiff geflohen, als er wegen eines Diebstahls ins Gefängnis gebracht werden sollte. In New York hatte er sich als Straßenkämpfer über Wasser gehalten, bis er Robert F. Stockton begegnet war und aus kühler Berechnung einen Bettler bewusstlos geschlagen hatte, der dem Pflanzer zu nahe gekommen war. Die Schlagkraft hatte den Gentleman aus dem Süden beeindruckt und das Angebot, auf das Kelly gehofft hatte, war sofort gekommen. Er war nach »Magnolia Hall« gegangen und hatte einen heißblütigen Deutschen als Oberaufseher abgelöst. Bensua brauchte nur in seine unnachgiebigen Augen zu sehen um zu wissen, was sie auf der Plantage erwartete. Der Mann, der sich Kelly nannte, war aus demselben Holz wie O’Reilly und Johnny Graham geschnitzt und der Lederriemen seiner schwarzen Peitsche hinterließ genauso schmerzhafte Striemen wie die Neunschwänzige der Männer auf dem Schiff. »Steht gefälligst gerade!«, fuhr er die neuen Sklaven an. Er zog die Peitsche über den Boden und lachte gehässig, als einer der Männer vor Schreck das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. Er gehörte zu den Kriegern, die auf der Hannibal am meisten geschlagen worden waren. »Noch einmal und du verbringst die Nacht am Pfahl!«, herrschte Kelly ihn an und deutete auf den mächtigen Eichenstamm, der vor ihnen aus
dem Boden ragte. Ein eiserner Ring hing in Kopfhöhe an dem Holz. Die Kutsche des Pflanzers hielt auf der Eichenallee und Robert F. Stockton und seine Frau kamen in der Dämmerung über einen ausgetretenen Pfad zu den Sklavenhäusern. Kelly schlug mit der Peitsche zu und trieb den gefallenen Sklaven vom Boden hoch. »Da kommen eure neuen Herren! Master Robert F. Stockton und Mistress Elizabeth Stockton! Der Master und die Mistress«, betonte er die Anreden, die alle Sklaven auf der Plantage benutzen mussten. »Verbeugt euch gefälligst, ihr Taugenichtse!« Er unterstrich seine Worte mit einem Peitschenhieb, der die Schwarzen in die Knie gehen ließ. »Ich stecke sie zu Henry und Sarah in die Hütte«, sagte er zu dem Pflanzer. »Dort lebt sonst niemand!« Robert F. Stockton war selten auf der Plantage, weil er seine Praxis in Charleston nicht aufgeben wollte, und wartete das Einverständnis seiner Frau ab, bevor er erwiderte: »In Ordnung, Mister Kelly. Henry soll ihnen beibringen, was sie zu tun haben.« »Das Mädchen hätte ich gern im Haus«, meinte Elizabeth Stockton zu ihrem Mann. Sie hatte ihr blasses Gesicht stark gepudert und man sah ihr die vierzig Jahre nur an, wenn man direkt vor ihr stand. Ihr langer Mantel und der breitkrempige Hut entsprachen der neusten Mode. Ihre Stimme wirkte energischer, als man es ihr auf den ersten Blick zugemutet hätte. »Ich brauche ein Dienstmädchen, wenn ich den Haushalt schaffen soll. Wir wollen doch dieses Jahr eine große Neujahrsparty geben!« Ihr Mann legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Ich weiß, meine Liebe! Und du meinst, dass dieses Mädchen das richtige ist? Sie ist sehr dünn und spricht noch kein Englisch.« »Die paar Wörter, die sie für den Haushalt braucht, bringt Harriet ihr bei«, meinte die Mistress. Sie lächelte fröhlich.
»Harriet ist eine Perle, weißt du das? Ohne sie würde ich die Arbeit niemals schaffen! Sie hilft mir sogar im Garten, ist das nicht wunderbar?« »Natürlich, meine Liebe«, beendete Stockton die Unterhaltung, »aber jetzt müssen wir wirklich gehen!« Er wandte sich an den Aufseher. »Also gut, Mister Kelly! Bringen Sie die Kleine ins Haus! Sie kann heute Nacht bei Harriet schlafen!« Harriet war das Hausmädchen, eine fällige Frau mit fröhlichem Gesicht, die schon seit acht Jahren auf »Magnolia Hall« lebte. Robert F. Stockton hatte sie von einem befreundeten Pflanzer an der Küste von Virginia gekauft. »Der beste Kauf deines Lebens«, wie seine Frau immer betonte. »Sie ist die großartigste Köchin, die ich jemals hatte!« Bensua wehrte sich mit Händen und Füßen, als Kelly nach ihrer Freundin griff. Woher sollte sie auch wissen, dass Manu nur ein paar hundert Schritte von ihr entfernt im Haus arbeiten würde? Sie sah nur, dass der Aufseher sie von ihrer Freundin trennen wollte, und ging mit erhobenen Händen auf ihn los. Sie schrie vor lauter Wut, biss und kratzte, bis er sie mit seiner Faust niederschlug und sie benommen auf die Erde fiel. Wie aus weiter Ferne hörte sie das Schluchzen und die verzweifelten Hilferufe der Freundin. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Manu!«, rief sie. »Du darfst nicht gehen, Manu!« Eine starke Hand berührte sie an der Schulter. »Nicht weinen, Missy! Sie bringen deine Freundin nicht weg! Im Gegenteil! Sie wird im Haus arbeiten! Das ist eine große Ehre, Missy! Sie bekommt bessere Kleider und darf in der Küche essen!« Der Schwarze, ein stämmiger Bursche mit einem bulligen Schädel und einem silbernen Ohrring in seinem rechten Ohr, stammte von der Elfenbeinküste und benutzte ein Kauderwelsch aus Englisch und mehreren Dialekten. Er unterstrich seine Worte mit übertriebenen Gesten, um sich noch besser verständlich zu
machen. »Komm ins Haus, Missy! Wir haben noch Haferbrei übrig!« »Wer bist du?«, fragte Bensua. Sie rieb die Tränen aus ihren Augen und blinzelte in das Licht der Öllampe, die der Schwarze hielt. Er trug einen Zylinder mit einer Eulenfeder. Später erfuhr sie, dass er ihn nur zum Schlafen abnahm. »Ich bin Bensua.« »Und ich bin Henry«, sagte der Schwarze. Er half der jungen Frau auf und führte sie ins Haus. »Du wohnst jetzt bei uns. Das ist Sarah, meine Frau.« Er stellte sie der Frau an der offenen Feuerstelle vor, einer kräftigen Schwarzen mit wachen Augen. Sie trug ein einfaches Kleid aus Sackleinen und hatte ein blaues Kopftuch über ihre Haare gebunden. »Hast du noch Haferbrei übrig, Sarah? Unsere Neuen haben sicher Hunger!« »Schon dabei«, antwortet die Frau in ihrer Sprache. »Die beiden Männer sind sehr stark! Sie werden uns bei der Arbeit gut helfen können!« Bensua setzte sich zu den beiden anderen Neuankömmlingen, beide Fante von der Goldküste, und nahm sich eine Hand voll von dem Haferbrei, den Sarah auf den Tisch stellte. Erst jetzt merkte sie, wie groß ihr Hunger war. Sie aß und trank und zum ersten Mal seit langer Zeit wurde sie richtig satt. »Du schläfst da drüben«, sagte Henry. Er zeigte ihr das notdürftige Lager, das Sarah unter einem der kleinen Fenster ausgebreitet hatte. Ein einfacher Strohsack und eine zerschlissene Wolldecke, mehr als auf der langen Überfahrt. »Wir sind jetzt deine Verwandten, Bensua! Willst du deinen Namen behalten?« Sie blickte ihn fragend an. »Die meisten Feldarbeiter nehmen einen neuen Namen an, wenn sie getauft sind«, erklärte er. Er vermied das Wort »Sklaven«. »Einen amerikanischen Namen. So wie Henry oder
Sarah. Den können sich der Massah und die Mistress besser merken.« »Ich behalte meinen Namen«, erwiderte Bensua. »Und wenn ich getauft werde, tue ich nur so, als würde ich ihren Glauben annehmen!« Sie hatte von den heiligen Männern der Weißen gehört und dachte nicht daran, ihrem Gott zu dienen. Er hatte den weißen Männern geholfen die Schwarzen zu versklaven, sonst hätten sie bestimmt keine Häuser mit Kreuzen an der Küste gebaut. Bereits am nächsten Tag kam ein Mann in einer schwarzen Kutte und tauchte ihren Kopf in den kalten Fluss. Er legte ihr eine Hand auf den Kopf und sprach Worte, die sie nicht verstand. Von den Fante-Kriegern, die mit ihr gekommen waren, erfuhr sie, dass sie jetzt eine Christin war und vor dem Abbild des weißen Gottes niederknien musste. »Niemals werde ich unsere Götter vergessen«, gelobte sie heimlich. »Sie mögen jetzt schweigen, aber der Tag wird kommen, an dem sie uns befreien und in eine neue Zukunft führen werden!« Sie betete jeden Abend zu Onyankopon Kwame und beschwor ihn, seine schwarzen Kinder nicht zu vergessen. Und sie bat ihn aus tiefstem Herzen ihren geliebten Ottobah zu beschützen. »Ottobah darf nichts geschehen!«, flehte sie verzweifelt. »Ich will gerne sterben, wenn es eine Zukunft für ihn gibt, aber noch lieber möchte ich ihn zurückhaben!« Die ersten Tage auf »Magnolia Hall« ließen Bensua kaum Zeit zum Nachdenken. Sie wurden mit den ersten Sonnenstrahlen durch ein Hornsignal des Aufsehers geweckt, arbeiteten bis Sonnenuntergang und durften nur in der Arbeit innehalten, wenn der Aufseher es gestattete. Kelly prügelte gern, fand großen Gefallen daran, seine schwarze Peitsche zu schwingen und die Leute anzutreiben. Er arbeitete nicht als Aufseher um viel Geld zu verdienen – er wollte Macht ausüben und schwächeren Menschen seinen Willen aufzwingen. Er
machte keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, ließ beide dieselbe Arbeit verrichten und bestrafte sie gleich brutal. Einer Frau, die einen Eimer mit Abfällen umgestoßen hatte, schlug er so hart ins Gesicht, dass sie blutend liegen blieb und längere Zeit benommen war. Bensua bekam ihre erste Strafe, als sie den Stall ausmistete und Elizabeth Stockton sie dabei erwischte, wie sie sich auf die Mistgabel stützte und ausruhte. Die Lady saß im Damensattel eines tänzelndes Reitpferdes, die Gerte in der linken Hand, und blickte hochmütig auf sie herab: »Was fällt dir ein? Hat man dir nicht gesagt, dass du arbeiten sollst?« Sie schlug mit der Gerte nach ihr und verfehlte sie, als ihre Stute unruhig nach vorn sprang. Sie verlor beinahe das Gleichgewicht und wurde wütend. »Kelly! Kommen Sie sofort her!«, rief sie schrill. »Kelly! Wo stecken Sie denn? Diese Sklavin macht sich lustig über mich!« Der Aufseher war am Fluss gewesen, um die Männer beim Errichten eines neuen Damms zu beaufsichtigen, und kam hastig über einen Hügel gerannt. »Sie haben mich gerufen, Mistress?« »Geben Sie diesem ungezogenen Mädchen einen Hieb auf die Beine!«, verlangte sie aufgebracht. »Sie hat gefaulenzt und dann hat sie mich ausgelacht, weil… weil… nun machen Sie schon!« Kelly holte aus und schlug der Asante zwischen die Beine. Die Lederschnur ringelte sich um ihren rechten Oberschenkel und hinterließ einen blutigen Striemen. Bensua schrie auf und sank zu Boden. Ihre Haut war aufgeplatzt und Blut rann an ihrem Bein hinab. Die Wunde brannte, als ob man Salz hineingestreut hätte. »Das wird dich lehren, keine Pausen mehr einzulegen und dich nicht mehr über deine Herrin lustig zu machen«, sagte Elizabeth Stockton streng. Für sie war die Prügelstrafe ein
legitimes Mittel, auch junge Sklavinnen zur Ordnung zu rufen. Als Frau eines reichen Pflanzers und angesehenen Arztes konnte sie es nicht zulassen, dass man ihr auf der Nase herumtanzte. So drückte sie sich aus, wenn sie mit den anderen Damen der oberen Schicht über dieses Thema sprach. »Wenn ich dich noch einmal erwische, lasse ich dich eine Nacht im Schuppen einsperren!« Ihr Pferd hatte sich inzwischen beruhigt und sie trabte ohne ein weiteres Wort davon. Bensua spürte die Wunde noch Tage später. Jeden Abend schmierte Sarah eine fettige Salbe darauf, die sie von Harriet bekommen hatte, aber tagsüber platzte die Kruste wieder auf und die Wunde scheuerte bei jeder Bewegung. Erst nach einer Woche ließ der Schmerz nach. Kelly war ein starker Mann, viel kräftiger als die Aufseher auf dem langen Marsch zur Küste oder auf dem Schiff, und seine Schläge waren schmerzhafter. Sie nahm sich fest vor, ihm keinen Grund mehr zu geben sie zu züchtigen. Mit unbewegter Miene verrichtete Bensua ihre Arbeit. Der Anblick der schwarzen Peitsche war eine ständige Drohung, verfolgte sie bis in den Schlaf und in ihre Träume. Die meisten Schwarzen waren unter dieser Peitsche zerbrochen, wurden zu willenlosen Arbeitern, die schon zufrieden waren, wenn sie einen Tag ohne Züchtigung überstanden und von dem Aufseher nicht angebrüllt wurden. Sie schleppten sich von einem Tag zum anderen, lebten wie in einem Gefängnis, das an der Mauer, die »Magnolia Hall« an allen Seiten umgab, zu Ende war. Dahinter lag die verbotene Welt der Weißen, in der es keinen Platz für die Schwarzen gab. Nur ihrem unerschütterlichen Glauben an die Götter ihres Volkes und der Hoffnung auf ein Wiedersehen hatte Bensua es zu verdanken, dass sie nicht aufgab. Sie war stärker als die beiden Fante-Krieger, die mit ihr gekommen waren und schon nach wenigen Tagen an den Pfahl gebunden wurden. Kelly
peitschte sie gnadenlos aus und ließ sie die ganze Nacht an dem eisernen Ring hängen. Sie wurden zu willenlosen Befehlsempfängern, verrichteten ihre Arbeit wie Ochsen, die man vor einen Wagen gespannt hatte. »Nur wenn ihr euch den Weißen fügt, habt ihr eine Chance!«, erklärte Henry. Er hatte schon vor vielen Jahren aufgegeben und sich eine eigene Welt geschaffen. Er war zufrieden, solange seine geliebte Sarah bei ihm bleiben durfte. Die Arbeit war für Bensua ein willkommenes Mittel, ihre Ängste und Sehnsüchte zu verdrängen. Abends halfen ihr die Gebete und Lieder ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu bewahren. Henry beobachtete mit wachsender Sorge, wie sie in der Dunkelheit die Hütte verließ und irgendwo zwischen den Bäumen zu den Göttern sprach. Aber er sagte nichts. Sie braucht Zeit, um sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen, dachte er. Auch er hatte erst nach einigen Monaten seine innere Ruhe gefunden. Die Götter hatten entschieden, dass die Schwarzen den Weißen dienten, aus welchem Grund auch immer, und ihm blieb nichts anderes übrig, als diese Entscheidung zu erdulden. Als Vorarbeiter hatte er sich gewisse Vorrechte verdient, bessere Kleidung, mehr Lebensmittel, und ein gütiges Schicksal hatte ihm gestattet mit seiner Frau in einer Hütte zu leben. Bei seinem Volk hatte er ein schlechteres Leben geführt. Die Gefahr, von seinen Feinden versklavt oder umgebracht zu werden, war wesentlich größer gewesen. Er würde auf dieser Plantage bis zum Ende seines Lebens bleiben. Jeden Abend, bevor sie die Lampen löschten, brachte Henry seinen neuen Mitbewohnern englische Wörter und Sätze bei. Die Sprache der Weißen war kompliziert, weil sie eine ganz andere Aussprache verlangte, und nur weil die älteren Sklaven einige Wörter verändert hatten, kamen Bensua und die beiden Fante schnell voran. »Die Weißen machen sich über unsere
Aussprache lustig«, sagte Henry. »Sie nennen es ›NiggerEnglisch‹, aber sie verstehen uns und das ist das Wichtigste. Also nochmal: Vielen Dank, Master!« heißt »Thank you very much, Master!« Er sprach das »Thank you« wie »Dank you« aus und lachte dabei. Der Winter verging und das Frühjahr meldete sich mit den ersten heißen Tagen. Dies war die Zeit, die Baumwolle zu pflanzen, und alle Sklaven arbeiteten von morgens bis abends auf den Feldern. Von dem Ertrag, den die Baumwolle einbrachte, hing das Wohl von »Magnolia Hall« ab. Bis zum Waldrand jenseits der Hügel erstreckten sich die Felder und Bensua dachte mit Schrecken daran, wie anstrengend die Ernte im späten Sommer sein werde, wenn die Hitze wie eine schwere Last auf das Land drücke. Die Sklaven, die bereits seit einigen Jahren auf »Magnolia Hall« arbeiteten, wussten von Tagen zu erzählen, die den Lebenswillen so manches Schwarzen gebrochen hatten. Schon beim Säen schmerzte der Rücken und Bensua konnte sich gut vorstellen, wie es sein würde, wenn sie die Früchte der seltsamen Pflanze ernteten. Henry erzählte, dass die Fasern der Baumwolle aus den Pflanzen wucherten und zu Kleidungsstücken und Decken verarbeitet wurden. Er griff an den Kragen seiner braunen Weste. »Dies ist Baumwolle, mein Kind! Dein Kleid ist aus Baumwolle! Die Weißen verdienen viel Geld mit der Baumwolle!« Von Manu hatte sie seit ihrer Ankunft nichts mehr gehört, aber sie hatte ihre Freundin mehrere Male aus der Ferne gesehen. Meistens war sie bei Harriet gewesen, der dicken Haushälterin, die sie wie eine Glucke zu bemuttern schien. Manu trug ein sauberes Kleid und lachte, als sie durch den Garten ging. Bensua hütete sich sie zu rufen. Das hätte unweigerlich einen Peitschenhieb zur Folge gehabt. Es genügte ihr, die Freundin in guten Händen zu wissen. Was Henry
gesagt hatte, schien wahr zu sein. Sie hatte es besser getroffen als die anderen Sklaven und in Harriet eine neue Mutter gefunden. »Ob ich jemals wieder mit ihr sprechen kann?«, flüsterte sie auf dem Weg zu den Feldern.
20
Der Sommer begann mit einem mörderischen Gewitter, das wie ein Fluch der Götter über »Magnolia Hall« tobte und den Ashley River über die Ufer treten ließ. Ein Damm brach und das Wasser stieg bis zu der Anhöhe, die das Kutschenhaus und die Schuppen schützten. Grelle Blitze schossen vom dunklen Himmel. Von heftigem Donnerschlag begleitet stürzte eine der moosbehangenen Eichen in den Uferschlamm. Die Pferde wieherten und schlugen mit den Hinterhufen gegen die Stallwand, im Zwinger bellten die Hunde und im Herrenhaus schrie Lady Stockton nach Harriet, sie möge die Fenster schließen und dafür sorgen, dass kein Wasser über die Schwelle dringe. Das Alleinsein hatte sie nervös gemacht und sie tobte beim geringsten Anlass, machte die Sklaven für jegliches Unheil verantwortlich, das ihr oder der Plantage widerfuhr. Harriet brachte ihr heißen Kräutertee und zuckte nicht einmal, als die Mistress sie als »schwarze Hexe« beschimpfte. Sie war die Launen ihrer Herrin gewöhnt. Als ein Donnerschlag an den Fensterläden rüttelte, klammerte sich Elizabeth Stockton ängstlich an die Haushälterin und flehte sie an, bis zum Ende des Unwetters bei ihr zu verweilen. An diesem Tag durften sogar die Sklaven in ihren Häusern bleiben. Doch sie waren die Regenzeit aus dem Urwald gewohnt und hatten keine Angst vor dem Unwetter: Sie zuckten nur zusammen, wenn die Blitze vom Himmel flackerten und der Donner ein Geräusch verursachte, das sie an eine durchgehende Elefantenherde erinnerte. Bensua stand am Fenster und starrte in den strömenden Regen hinaus. Sie dachte an den Tag, an dem sie der angeblichen Hexe begegnet war.
Die Alte hatte eine Ziege getötet und sich mit dem frischen Blut beschmiert. Sie hatte vor dem Unglück gewarnt, das über Kumase kommen werde. Sie hatte gewusst, was die Asante den Asante und die weißen Männer den Schwarzen antun würden. Das Blut, das sie gesehen hatte, war aus den Adern ihres Volkes geflossen. Damals war Bensua allein gewesen und ihre Angst hatte dem ganzen Volk gegolten. Jetzt war sie persönlich betroffen. Ottobah war ihre Zukunft und ihr Leben bekam nur einen Sinn, wenn sie mit ihm vereint war. In Kumase war ihre Zukunft vorgezeichnet gewesen, sie hätte niemals davon erfahren, dass der Asantehene kleine Dörfer von seinen Schwertmännern überfallen ließ und Angehörige seines eigenen Volkes an den holländischen Sklavenhändler verkaufte. Sie hätte den Krieger aus dem königlichen Viertel geheiratet und es wäre ihr kein Leid geschehen. Doch selbst jetzt hätte sie die Sicherheit einer ungewollten Ehe nicht gegen ihre Leidenszeit auf »Magnolia Hall« eingetauscht. Solange die Sterne am Himmel leuchteten, gab es noch Hoffnung. Immer wenn sie unter der alten Eiche saß und betete, blickte sie zu den Sternen empor und stellte sich vor, wie grenzenlos die Freiheit in der Unendlichkeit des dunklen Himmels sein musste. Bei den Göttern gab es die Freiheit, von der die Menschen nur träumten. Dem Regen folgte eine beinahe unerträgliche Schwüle, die tief aus der Erde zu kommen schien und feucht und schwer über der Plantage hing. Moskitos schwirrten über den Wasserlachen und am Flussufer. Der Wind war kaum noch zu spüren. Das Spanische Moos, das in silbernen Fäden von den Eichen hing, erstarrte und glänzte in der grellen Sonne. Die Felder dampften, hüllten die arbeitenden Sklaven in einen gläsernen Nebel, der sich schwer auf ihre Lungen legte und ihnen jede Bewegung zur Qual machte. Der Hochsommer hatte begonnen, die Jahreszeit, die man im Süden am meisten
fürchtete, denn die Natur machte keinen Unterschied zwischen Weiß und Schwarz. Selbst die Tiere kapitulierten vor der Hitze, die Pferde in den Ställen, die Hunde, die träge im Schatten lagen und die Nacht herbeisehnten. Der Master und die Mistress flohen in ihr Sommerhaus nach Charleston, wo die Gefahr, sich an gefährlichen Krankheiten wie der Malaria anzustecken, geringer war. Die Verantwortung über »Magnolia Hall« übertrugen sie ihrem Sohn, der widerwillig gehorchte, weil er seine finanziellen Zuwendungen nicht verlieren wollte. Edward Stockton wohnte während der Woche im Herrenhaus, terrorisierte Harriet mit seinen ausgefallenen Wünschen und fluchte laut, wenn er eine Entscheidung treffen musste oder von Kelly und seinen Helfern auf die Felder gerufen wurde. Wie ein ungelenker Städter saß er im Sattel seiner weißen Stute, die Zügel in der linken und die Reitgerte in der rechten Hand. Er war ständig schlecht gelaunt, schimpfte, tobte und ließ seinen Unmut über die ungeliebte Arbeit an den Sklaven aus. Jeden Freitag verschwand er nach Savannah, wo er seinen Eltern nicht über den Weg laufen konnte, und vergnügte sich in den Spielsalons und Bordellen. Montags kehrte er verkatert auf »Magnolia Hall« zurück, den Puder eines leichten Mädchens in den Kleidern. Bensua bekam den jungen Master nur zu sehen, wenn er auf die Felder gerufen wurde und die Sklaven zu größerer Eile antrieb. Manchmal ließ er sich von Kelly die Peitsche reichen und schlug wahllos auf die arbeitenden Schwarzen ein. Seine Augen waren vom Alkohol und der Sonne gerötet und seine Hände zitterten, wenn er die Peitsche an den Aufseher zurückgab. Er war unberechenbar und deshalb gefährlicher als alle anderen weißen Männer auf der Plantage. Nicht einmal sein Vater hatte gemerkt, dass er eine Flasche mit Laudanum aus dem Medizinschrank entwendet hatte und alle paar
Stunden davon trank. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er nach dem weißen Pulver griff, das ihm der Sohn eines Werftbesitzers in Savannah angeboten hatte. »Wenn du das nimmst, vergisst du den ganzen Ärger!«, hatte der junge Mann gesagt. »Ein wunderbares Zeug!« Im August ließ sich Robert F. Stockton nur einmal kurz auf der Plantage blicken. Zwei Stunden erduldete er die Nachmittagshitze, um auf den Feldern nach dem Rechten zu schauen. Er traute seinem Sohn nicht über den Weg und wollte sichergehen, dass die Sklaven mit der Baumwollernte begonnen hatten. »Die Neger sind seit einer Woche auf den Feldern«, meldete Jonathan Kelly, »und sie bekommen meine Peitsche zu spüren, wenn sie nicht rechtzeitig fertig werden!« Der Pflanzer wischte sich den Schweiß von der Stirn und nickte zufrieden. »Weiter so, Mister Kelly!« Er verschwand in seiner Kutsche und kehrte erst wieder nach »Magnolia Hall« zurück, als die letzte Baumwolle entkernt und in festen Ballen auf die am Ufer liegenden Schoner verladen war. Die Arbeit auf den Feldern war schwer und in der mörderischen Hitze kaum zu schaffen. Doch Kelly bestand darauf, dass die Männer und Frauen und alle Kinder über zehn Jahre bis zum Abend pflückten. Er ließ erbarmungslos seine Peitsche sprechen, wenn einer der Sklaven nicht gehorchen wollte oder vor Erschöpfung zusammenbrach. Die Sklaven arbeiteten in zwei Reihen, auf jeder Seite der Sträucher, und warfen die gepflückte Baumwolle in die Leinensäcke, die sie über den Schultern hängen hatten. Im Rhythmus des Liedes, das Henry angestimmt hatte, zupften sie die wertvolle Baumwolle. Der Mann mit dem Zylinder lachte, während er sang, wiegte sich im Rhythmus der fröhlichen Melodie, obwohl der Text von der verlorenen Heimat erzählte, die sie im fernen Afrika zurückgelassen hatten und niemals wieder sehen würden. Alle Lieder, die Bensua in ihrer neuen Heimat
lernte, waren so: Wer die Worte nicht verstand, glaubte sich in einem fröhlichen Singspiel. Wer den Text kannte, weinte vor Rührung und Mitgefühl. Kelly ließ die Schwarzen gewähren. Sie schienen schneller zu arbeiten, wenn sie sangen. Bensua gewöhnte sich an die harte Arbeit. Die Gebete, die sie auch nach einem anstrengenden Tag noch sprach, gaben ihr die Kraft, die Qualen zu ertragen. Die Arbeit war eintönig und ermüdend, und wer nicht schnell genug pflückte oder an die oberen Blüten nicht herankam, wurde dafür sofort vom Aufseher bestraft. Kelly saß im Sattel eines stämmigen Braunen, ritt hinter den arbeitenden Sklaven durch die tiefen Furchen und schlug fluchend mit seiner Peitsche zu, wenn einer der Schwarzen zauderte oder sich an den schmerzenden Rücken griff. Nur zwei Pausen zu jeweils einer Viertelstunde wurden den Pflückern gestattet und der Reis und das brackige Wasser, das sie bekamen, waren schlechter als die Verpflegung auf der Hannibal. Moskitos summten über den weißen Blüten und peinigten die Arbeiter, saugten ihnen die letzte Energie aus den schwachen Körpern. Bensua schien natürliche Abwehrkräfte gegen die Insekten zu besitzen und litt stärker unter dem Staub, der wie feiner Nebel über den Feldern hing und ihren Mund austrocknete. Waren die Tragetaschen voll, schütteten die Sklaven die gepflückte Baumwolle in große Körbe. Jeden Abend schleppten sie ihre Ernte zu dem Ziegelhaus, in dem die Baumwolle von einer Maschine entkernt wurde. Wer keine hundert Pfund auf die Waage brachte, musste mit einer empfindlichen Strafe rechnen. Bensua beobachtete, wie ein kräftiger Fante einen Teil seiner Ernte hinter dem Rücken des Aufsehers in den Korb einer älteren Frau kippte. Er wollte ihr die Peitschenhiebe ersparen. Wie Bensua erst nach einigen Monaten erfuhr, litt die weißhaarige Frau an einer geheimnisvollen Krankheit, die ihre Knochen immer
schwächer werden ließ. Der Fante, ihr einziger Sohn, der die lange Überfahrt überlebt hatte, wollte ihr die wenigen Jahre, die sie noch zu leben hatte, so angenehm wie möglich machen. Er hatte seinen kriegerischen Stolz aufgegeben um sie zu schützen. Bensua hatte nicht aufgegeben. Der Gedanke an eine Flucht war ihr schon nach wenigen Tagen gekommen, aber sie war klug genug, nicht denselben Fehler wie zwei junge Krieger zu begehen, die Hals über Kopf geflohen waren und wenige Stunden später von zwei Sklavenjägern zurückgebracht wurden. Auf diese Weise erfuhr Bensua, dass es Männer wie diese beiden gab. Sie hatten Bluthunde dabei, die auf Sklaven abgerichtet waren, und lebten von der Belohnung, die sie von den Pflanzern bekamen, wenn sie einen flüchtigen Sklaven einfingen. Sie gingen nicht nur wegen des Geldes auf Sklavenjagd. Ihre gemeinen Gesichter ließen erkennen, dass sie Freude daran hatten, die flüchtigen Sklaven zu jagen und zurückzubringen. Bensua würde diese Gesichter niemals vergessen, die kalten Augen und das höhnische Lächeln um die Lippen. Einer der Männer trug einen schmalen Schnurrbart, der andere hatte lange Haare, die wohl die Narbe unter seinem rechten Ohr verdecken sollten. Bensua bekam sie kurz zu sehen, als er sich nach seinem Hund bückte. Das nervöse Bellen der Bluthunde und das Geschrei, das die Sklavenjäger veranstalteten, hatte alle Sklaven geweckt und auch den Aufseher aus dem Haus gelockt. Jonathan Kelly hatte sich einen Mantel über den Schlafanzug geworfen und seine Stiefel über die nackten Füße gezogen. Seinen breitkrempigen Hut und die schwarze Peitsche hatte er nicht vergessen. »Da sind die beiden ja«, triumphierte er, »ich wusste, dass sie nicht weit kommen würden! Wo habt ihr sie erwischt? Am Flussufer?«
»Eine Meile weiter«, antwortete einer der beiden Sklavenjäger. »Sie hatten sich wie zwei Karnickel in den Büschen versteckt! Die Hunde hätten sie in Stücke gerissen, wenn wir sie nicht zurückgehalten hätten! Aber ihr bezahlt ja nur für lebendige Nigger…« Kelly betrachtete die zerfetzten Hosen der Sklaven und ihre aufgeplatzten Gesichter. »Na, sanft seid ihr nicht gerade mit ihnen umgesprungen! Bindet sie an den Stamm, dann könnt ihr zusehen, wie ich ihnen den Rest gebe! Den Lohn bekommt ihr später!« Er wartete, bis die Sklaven mit gefesselten Händen und Füßen an dem Eisenring hingen und erhob seine Stimme: »Raus mit euch, ihr dreckigen Nigger! Ihr sollt sehen, was mit euch passiert, wenn ihr weglauft! Wo bleibt ihr denn, verdammt?« Widerwillig folgte Bensua den anderen Schwarzen vor die Tür. Obwohl sie schon einige Male gesehen hatte, wie Sklaven ausgepeitscht wurden, hatte sie noch immer Angst davor. Ihr machten nicht nur die Schläge und die Schreie der Männer zu schaffen. Eine Auspeitschung war demütigend. Einen verletzten Krieger zu schlagen, der am Ende seiner Kräfte war und hilflos an einem eisernen Ring hing, war so gemein, dass sie ihren Zorn am liebsten laut herausgeschrien hätte. Nur die Gewissheit, dass ihr dann dieselbe Strafe drohte, hielt sie zurück. Mit geballten Fäusten verfolgte sie, wie Kelly seine Peitsche schwang und laut mitzählte, wenn die Lederriemen auf die blutigen Rücken der Sklaven klatschten. Ihren Stolz hatten die Männer längst verloren. Sie schrien so laut, dass einige Kinder zu weinen begannen, und sanken bewusstlos zu Boden, als der Aufseher fertig war und sie von dem Eisenring befreite. »Die machen uns keinen Ärger mehr!«, meinte Kelly zufrieden. Er wandte sich an die Sklavenjäger. »Und jetzt kommt mit und holt euren Lohn! Ich habe keine Lust, die ganze Nacht bei dem Gesindel zu verbringen!«
Kaum einer der Schwarzen schlief in dieser Nacht. Es war grausam genug, das Knallen der Peitsche während der Arbeit zu hören, aber es war noch viel schlimmer, einer Auspeitschung beizuwohnen, wenn Kelly mit voller Wucht ausholte und die Lederriemen unbarmherzig auf die nackten Rücken knallen ließ. Bensua glaubte nicht, dass sie das hässliche Geräusch jemals vergessen würde. Selbst wenn dieser Albtraum vorüberging und sie ein normales Leben führen konnte, würde es in ihren Gedanken bleiben. Sie betete lange in dieser Nacht und war todmüde, als Kelly sie am frühen Morgen aus den Decken holte und die geschundenen Sklaven mit derben Fußtritten auf die Beine brachte. »In Zweierreihen antreten!«, brüllte er, ein Befehl, den alle Sklaven verstanden, und dann ging es im Gleichschritt auf die Baumwollfelder hinaus. Manchmal fragte Bensua sich, wie der Aufseher es schaffte, jeden Morgen so ausgeruht zu sein. Augenblicke der Besinnung und Muße waren selten. Die meisten Schwarzen schliefen sofort nach dem kargen Abendessen ein und am Sonntag mussten die Frauen und Mädchen kochen und waschen und den Küchengarten bestellen, den sie hinter den Sklavenhäusern angelegt hatten. Das Gemüse und die Kräuter halfen ihnen den eintönigen Speiseplan etwas aufzubessern. Die Weißen gaben ihnen Hirsebrei, Reis und zerkochte Rüben, und seit Edward Stockton die Geschäfte auf der Plantage führte, waren die Rationen so knapp, dass sie kaum satt wurden. Einige Schwarze wurden krank, weil sie zu wenig Obst und Gemüse bekamen, und hätte Sarah keine Heilkräuter gepflanzt, wären einige von ihnen sogar gestorben. Die stämmige Frau von der Elfenbeinküste kannte sich mit Kräutern und Salben aus. Einmal im Monat kam ein Prediger zu den Sklaven und las aus dem Buch vor, das er »Bibel« nannte. Die Geschichten, die er erzählte, spielten in einem fernen Land und waren seltsam
anzuhören. Wenn er das Buch zugeklappt hatte, ereiferte er sich über die »Heiden« unter den »ungläubigen Negern«, die immer noch zu ihren eigenen Göttern beteten, und wenn einer der Sklaven sich weigerte, dem Gott der Weißen zu huldigen oder sich abwandte, bevor der Gottesdienst vorüber war, drohte er, den Aufseher zu rufen und dem »Ungläubigen« eine tödliche Strafe zu verpassen. »Gott will, dass ihr den weißen Herren dient!«, rief er salbungsvoll. »Er will, dass ihr betet und arbeitet und euch das ewige Himmelreich verdient!« Und Bensua fragte sich, ob ein Gott wirklich so grausam sein konnte, auf die schwarzen Menschen herabzublicken, nur weil sie eine andere Hautfarbe hatten. Wenn der Gott der Weißen das wirklich tat, war er ungerecht! An einem Sonntag im August, als der Prediger seine Bibel zuschlug und erschöpft auf seinen Wagen stieg, entdeckte Bensua ihre Freundin zwischen den Bäumen. Sie erkannte das Mädchen nicht sofort. Manu trug die sauberen Kleider eines weißen Dienstmädchens und schien sich auch sonst verändert zu haben. Ihr Blick war irgendwie anders, das war selbst aus der Ferne zu erkennen. Sie stand neben Harriet, der freundlichen Haushälterin. Beiden war die Erleichterung anzusehen, den herrischen Sohn des Pflanzers für einige Zeit los zu sein. »Manu!«, flüsterte Bensua erfreut. Sie ging auf die Freundin zu um sie zu umarmen und blieb erschrocken stehen, als sie den seltsamen Ausdruck in ihren Augen erkannte. Eine Mischung aus Wiedersehensfreude und Verachtung. Als wäre sie ein weißes Mädchen, das durch Zufall bei den Sklaven gelandet war. »Manu! Erkennst du mich nicht mehr? Ich bin Bensua, deine Freundin! Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?« Manus Lächeln wirkte gezwungen. Sie schien die Umarmung der Freundin nur widerwillig zu ertragen. Anscheinend hatte
sie Angst, sich an dem einfachen Kleid schmutzig zu machen. »Bensua!«, sagte sie. »Natürlich erkenne ich dich! Wie geht es dir?« Bensua tauschte einen raschen Blick mit Harriet. Die Haushälterin schien sie für das eigenartige Verhalten des Mädchens um Verständnis zu bitten. »Ich bin am Leben«, antwortete Bensua. »Die Arbeit ist anstrengend. Aber ich bete jeden Abend zu den Göttern. Das gibt mir Kraft!« Sie ließ die Freundin los und trat einen Schritt zurück. »Und du? Henry sagt, dass du Glück gehabt hast.« Manus Gesicht veränderte sich und zeigte jetzt ein aufrichtiges Lächeln. »Oh, es ist wundervoll, Bensua! Ich weiß gar nicht, warum wir solche Angst hatten! Ich darf schöne Kleider tragen und das Haus für die Herrschaften putzen! Es ist prächtiger als der Palast des Königs! Stell dir vor, der Boden ist aus Marmor, das ist ein kostbarer Stein, und auf den Schränken stehen Figuren aus weißem Porzellan! Harriet hat mir beigebracht, wie man kocht, und Massa Edward sagt, dass ich sehr hübsch bin…« »Wir müssen jetzt gehen, Manu«, unterbrach Harriet das Mädchen. Ihre Miene ließ nicht erkennen, was sie über den plötzlichen Gefühlsausbruch des Mädchens dachte. »Massa Edward wird bald zurück sein! Er will sicher was zu essen, wenn er kommt!« Während sie zwischen den Bäumen verschwanden, drehte sich Harriet noch einmal um, als wollte sie etwas sagen, dann ging sie weiter. Bensua blickte ihr verständnislos nach.
21
Jeden Morgen, wenn sie zur Arbeit gingen, staunte Bensua über die riesigen Baumwollfelder. Bis zu den Hügeln an der südlichen Flussbiegung zog sich das wogende Meer aus weißen Blüten. Ein unermesslicher Reichtum, der Robert F. Stockton zu einem wohlhabenden König gemacht hatte. »Weißes Gold« nannte er die Baumwolle. Selbst die Goldschätze des Asantehene waren nicht so wertvoll wie die Ernte, die der Pflanzer jeden Herbst im Hafen von Charleston verladen ließ. Der Kaufpreis eines Sklaven machte sich schon nach wenigen Wochen bezahlt und der Lohn seiner Aufseher fiel kaum ins Gewicht. Und sein Reichtum wurde jedes Jahr größer. Die Schwarzen, die auf der Plantage geboren wurden, wuchsen zu arbeitsfähigen Feldarbeitern heran und kosteten keinen Penny. Die Kleidung und die karge Verpflegung der Sklaven waren billiger als das Schweinefutter, das Harriet jeden Morgen in den Stall am Flussufer brachte. Schon am Vormittag brannte die Sonne unbarmherzig auf die Felder herab. Das Land wurde zu einen glühenden Backofen, aus dem es kein Entrinnen gab. Auf den Feldern wuchsen keine Bäume und die Kopfbedeckungen, zerschlissene Hüte und Lumpen, die einige Frauen wie Kopftücher gebunden hatten, schützten die Sklaven kaum vor den sengenden Strahlen. In den Ackerfurchen war es besonders schlimm. So heiß war es selbst im afrikanischen Urwald nicht gewesen. Die Hitze schien alles Leben aus den Schwarzen herauspressen zu wollen. Das lauwarme Wasser, das sie zu trinken bekamen, stillte den Durst nur für wenige Augenblicke.
Eine andere Plage waren die grünen Würmer, die aus den Pflanzen hervorkrochen und unvorsichtige Pflücker mit ihren haarigen Körpern berührten. Sie hinterließen einen brennenden Ausschlag, der erst einige Tage später verschwand und besonders den jungen Schwarzen zu schaffen machte. Sarah behandelte die Wunden mit zerkautem Fenchel, den sie abends auf den Ausschlag schmierte und mit einem Gebet des weißen Mannes beschwor. Sie glaubte, dass der Gott der Weißen in diesem Land mehr zu sagen hatte. Aber sie hatte nichts dagegen, wenn ihre Patienten die Götter ihres Volkes anriefen. Während der viertelstündigen Pause, die Kelly zur Mittagszeit gestattete, hörte Bensua zum ersten Mal von der »Underground Railroad«. Sie stand neben zwei Frauen, die sich leise unterhielten und auf einen jungen Mann deuteten, der ohne Kopfbedeckung neben einem Baumwollkorb saß und warmes Wasser aus einer Schale trank. Sein Blick erinnerte Bensua an Ottobah, wie er während seiner Gefangenschaft bei den Asante auf sie gewirkt hatte. Unerschrocken und mutig, jederzeit bereit, sich auf die Feinde zu stürzen und als Held zu sterben. Wie sie von den Frauen erfuhr, stammte er ebenfalls von der Goldküste, zwei Tagesmärsche von der Stelle entfernt, an der Bensua auf die Hannibal gegangen war. Die Weißen hatten ihn Abraham getauft. »Abraham will fliehen«, flüsterte die jüngere Frau, nach ihrem Aussehen die Schwester des Mannes. »Und ich soll mit ihm gehen! Wenn wir dem Nordstern folgen, erreichen wir ein Land, in dem wir frei sein dürfen! Dort gibt es keine Sklaverei! Dort leben wir wie die Weißen, und wenn wir arbeiten, werden wir bezahlt!« »Ein solches Land gibt es?«, fragte die ältere Frau. Kelly war zum Wagen gegangen um Wasser zu holen und konnte sie nicht hören. »Und was wollt ihr tun um nicht entdeckt zu werden? Hast du nicht gesehen, was mit den beiden Fante
geschehen ist? Die Sklavenjäger haben Hunde! Sie bringen jeden Flüchtling zurück! Ihre Hunde können uns riechen, hast du das gewusst?« »Abraham sagt, es gibt Menschen, die gegen die Sklaverei sind und uns helfen werden! Es sind sogar Weiße darunter! Sie verstecken uns, wenn wir den Fluss überquert haben! Jenseits des Flusses gibt es viele Menschen, die so denken! Sie geben uns zu essen und zu trinken und verstecken uns, wenn die Sklavenjäger kommen! Ihre Verstecke sind so dicht, dass uns nicht mal die Hunde riechen können! Wir dürfen in ihren Häusern schlafen! Wenn du bei einem dieser Menschen bist, sagt er dir, wie die nächste Station heißt. Sie sagen »Stationen« zu den Häusern. Und den Fluchtweg nennen sie »Underground Railroad«, obwohl es gar keine unterirdische Eisenbahn gibt. Es ist ein Deckname. Die Menschen helfen uns, bis wir das freie Land erreicht haben!« Die ältere Frau zweifelte an ihren Worten. »Woher weiß Abraham das alles? Glaubt er tatsächlich, es gibt Weiße, die gegen die Sklaverei sind? Warum sollten sie euch helfen? Wenn es solche Weiße gäbe, hätten die anderen sie längst umgebracht!« »Es gibt sie, Mutter! Seit einigen Jahren schon! Abraham weiß es von den Schwarzen, die vor zwei Sommern gekommen sind, und ich habe Harriet gefragt, als ich sie bei den Ställen getroffen habe. Sie hat genickt. Nicht alle Weißen sind schlecht! Im Norden gibt es Leute, die sich »Quäker« nennen, die wollen keinen Krieg und glauben, dass alle Menschen zu Brüdern werden können, egal welche Hautfarbe sie haben! Ist das nicht wunderbar?« »Underground Railroad«, wiederholte die ältere Frau ungläubig. »Ein seltsamer Name. Harriet hat mir erzählt, wie eine Eisenbahn, eine schnaubende Maschine, die Wagen über
Schienen zieht. Von einer unterirdischen Eisenbahn habe ich nie gehört.« »Das ist nur ein Deckname«, wiederholte ihre Tochter. »Und die Männer und Frauen, die auf den Stationen warten, heißen Stationsmeister. Es heißt, dass sie auf dich warten, wenn du den Sklavenjägern entkommen bist und den Fluss überquert hast!« »Aber zuerst musst du über den Fluss schwimmen«, gab die ältere Frau zu bedenken. »Wenn sie dich erwischen, wirst du ausgepeitscht oder getötet! Willst du es wirklich wagen, mein Kind?« »Ich bleibe bei Abraham«, sagte die andere entschieden. Bensua dachte lange über die Worte der beiden Frauen nach. Sie bewunderte den jungen Mann und seine Schwester, die nach Norden in eine ungewisse Zukunft fliehen wollten. Es gehörte viel Mut dazu, sich nach der brutalen Auspeitschung der beiden Fante auf das Wagnis einer Flucht einzulassen. Wenn sie erwischt wurden und Kelly mit derselben Wucht auf die junge Frau einschlug, würde sie sterben. Dann konnte auch Sarah mit ihrer Medizin nicht mehr helfen. Gegen die tiefen Wunden, die eine Peitsche verursachte, war kein Kraut gewachsen. Wenn Kelly die Nerven verlor, vergaß er die Worte des Pflanzers, der befohlen hatte die Arbeitskraft seiner Sklaven möglichst zu erhalten. Dieses »möglichst« ließ dem Aufseher den Spielraum, den er brauchte. Er konnte einen Schwarzen zu Tode quälen, ohne dass er eine Strafe befürchten musste. Und mit jedem Tag, den die Hitze anhielt, wurde er nervöser und wütender. In der folgenden Zeit weilte Bensua in Gedanken oft auf der anderen Seite des Flusses, während sie die Baumwollblüten von den Sträuchern zupfte. Bei den freundlichen Menschen, die den Flüchtlingen halfen das freie Land zu erreichen, das irgendwo im Norden lag. Wenn sie für einen Augenblick die
Augen schloss, sah sie sich in einem kleinen Haus. Sie hütete die Ziegen und Schweine und Ottobah war auf dem Feld und erntete Gemüse. Ein Traumbild, das wusste sie, und doch erreichbar, wenn die Worte der jungen Frau stimmten. Wenn es diese Underground Railroad gab, würde sie eines Tages zu den Passagieren gehören. Aber ihre Stunde war noch nicht gekommen. Sie musste wissen, was mit Ottobah geschehen war, bevor sie ernsthaft an Flucht denken konnte. Und sie brauchte einen festen Plan und zumindest eine Chance, den Sklavenjägern zu entkommen. Ob sie herausbekommen konnte, wo Ottobah war und wie es ihm ging, wusste sie nicht. Die Schwarzen, mit denen sie gesprochen hatte, konnten es ihr nicht sagen. Sie musste warten, bis der Schwarze, der den Pferdewagen fuhr, etwas über ihn erfuhr. Er hatte ihr versprochen, sich in Charleston nach Ottobah zu erkundigen. Am Abend dieses Tages blieb Bensua länger als gewöhnlich an ihrem Lieblingsplatz zwischen den Bäumen. Sie brauchte die Stille und den Anblick des sternenübersäten Himmels, um ihr Gleichgewicht und Kraft für den nächsten Tag zu finden. Ihre Gespräche mit den Göttern und die heiligen Lieder, die sie leise sang, entrückten sie dem eintönigen und harten Alltag, der nur aus Arbeit und Peitschenhieben bestand. Sie genoss das silberne Licht der Sterne wie eine Zaubergabe, die in ihren Körper floss und sie gegen die weißen Männer schützte. Wie ein Lebenselixier legte sich das funkelnde Licht auf ihre Seele, ließ sie Traumbilder sehen und weiter an eine gemeinsame Zukunft mit Otto bah glauben. »Warum sagst du mir nicht, wo er sich befindet?«, flehte sie verzweifelt. »Ist er am Leben? Denkt er noch an mich? Muss er genauso hart arbeiten wie wir?« Auch die Götter wussten keine Antwort auf diese Fragen und sie musste ihrer inneren Stimme vertrauen, die ihr sagte, dass Ottobah am Leben war und sie immer noch liebte. Er war ein
tapferer Krieger, der alles tun würde um wieder mit Bensua vereint zu sein. Sie brauchte nur zu warten. Wenn sie es nicht schaffte, ihm auf die Spur zu kommen, würde er einen Weg finden, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Sie durfte nicht die Geduld verlieren. Eine überstürzte Flucht brachte die Gefahr, ein ähnliches Schicksal wie die beiden Fante zu erleiden. Ihre Wunden würden lange brauchen um zu verheilen und auch dann wären die Striemen noch sehen. Wenn sie einen Fluchtversuch wagte und er ging schief, würde man sie in Ketten legen wie manche Männer und sie könnte Ottobah nie wieder sehen. Sie lächelte, als sie an Ottobah dachte. Sie fand es selbst erstaunlich, in welch kurzer Zeit er zu einem unverzichtbaren Teil ihres Lebens geworden war. Ihr ganzer Körper bebte, wenn sie sich vorstellte in seinen starken Armen zu liegen. Selbst in ihrer Fantasie war dieses Gefühl so stark, dass es ihr unmöglich schien jemals einen anderen Mann zu lieben. Es war richtig gewesen, das Haus ihrer Familie zu verlassen. Sie wäre mit dem Krieger, den ihr Onkel ausgesucht hatte, niemals glücklich geworden. Manchmal verlangten die Götter, dass man Opfer brachte um das große Glück zu erlangen. Ihr Opfer war besonders groß, doch wenn am Ende eine gemeinsame Zukunft mit Ottobah stand, wollte sie diese Bürde gern auf sich nehmen. Ein leises Geräusch störte ihre Gedanken. Sie sprang auf und blickte in das Halbdunkel. Im Mondlicht, das wie Nebel zwischen den Bäumen hing, erkannte sie zwei dunkle Schatten. Ein Mann und eine Frau. Auch ohne ihre Gesichter zu erkennen ahnte sie, um wen es sich handelte. Der junge Krieger und seine Schwester! Sie hatten ihre Hütte verlassen und waren auf der Flucht. Der Mann hatte einen Beutel mit Vorräten dabei. Sie kamen auf die Lichtung gerannt und
erstarrten, als sie ihre dunkle Gestalt sahen. »Bensua!«, flüsterte der Mann erschrocken. »Und ich dachte schon…« »Ich bin jeden Abend hier«, beruhigte Bensua die Flüchtenden. »Hier bete ich zu unseren Göttern.« Sie blickte zu den Sklavenhäusern zurück, die sich dunkel gegen das Licht einiger Öllampen abhoben. »Es ist sehr gefährlich, heute Nacht zu fliehen!« »Es ist immer gefährlich«, erwiderte Abraham. »Warum kommst du nicht mit uns? Du siehst stark aus! Ich habe dich niemals weinen sehen. Wenn wir den Fluss überquert haben, sind wir gerettet! Dort warten Leute, die uns helfen wollen! Komm mit!« Bensua schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nicht bereit. Aber ich werde die Götter bitten, euch zu helfen und die Sklavenjäger mit ihren Hunden von euch abzuhalten! Viel Glück, meine Freunde!« Sie umarmten einander und Bensua beobachtete mit gerunzelter Stirn, wie sie in der Dunkelheit verschwanden. Ihre Schritte wurden von dem dicken Moosteppich gedämpft, der sich zwischen den Eichen ausbreitete. Nachdenklich kehrte Bensua in ihre Hütte zurück. Sie blieb am Fenster stehen und blickte in die Nacht hinaus. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben und auch die Sterne schienen nicht mehr so hell wie vor ihrer Begegnung mit dem Mann und seiner Schwester zu leuchten. »Was hast du, Missy?«, fragte Henry. Er sprach leise, um seine Frau und die beiden Fante nicht zu wecken. »Du warst länger weg als sonst! Warum siehst du aus dem Fenster?« Er stand auf und trat hinter die Asante. »Du hast etwas gesehen, nicht wahr?« »Abraham und seine Schwester sind geflohen«, antwortete sie flüsternd. »Sie wollen über den Fluss!« Sie drehte sich um und blickte den großen Schwarzen an. Ohne seinen Zylinder
sah er viel ernster und älter aus. »Ich habe ein schlechtes Gefühl, Henry! Ich habe sie gewarnt! Heute ist kein guter Tag um wegzulaufen!« »Sie werden es nicht schaffen«, meinte Henry grimmig. »Ich habe noch keinen gekannt, der es geschafft hat, und ich bin schon lange hier. Die Sklavenjäger sind überall! Ihre Hunde merken sofort, wenn jemand flieht. Du wirst sehen, sie sind bald zurück!« Sie blieben am Fenster stehen und blickten in die Dunkelheit, als wüssten sie, was als Nächstes geschehen würde. Ein innerer Zwang schien sie dazu zu bringen, jede Szene des grausamen Geschehens zu verfolgen. Sie brauchten nicht lange zu warten. Die nächtliche Stille wurde von aufgeregtem Hundegebell zerrissen, dann waren schrille Schreie zu hören und der Knall eines Schusses hallte wie ein bedrohliches Echo zu ihnen herüber. Wieder Schreie und noch ein Schuss und dann wieder Stille, eine tödliche und vollkommene Stille, wie Bensua sie nur während der Flaute auf hoher See erlebt hatte, und damals waren die bösen Geister auf dem Schiff gewesen. »Was war das?«, schrie Sarah in panischer Angst. »Ein Schuss! Ein Schuss!«, stieß einer der Fante hervor. Auch in den anderen Sklavenhütten schreckten die Schwarzen aus dem Schlaf. Sie öffneten die Türen und blickten angsterfüllt zur Straße hinüber. Henry griff nach seinem Zylinder und ging nach draußen. Bensua folgte ihm müde. Sie hatte Tränen in den Augen. Sie ahnten beide, was geschehen war. Ihre Ahnung wurde zur bitteren Gewissheit, als Kelly zehn Minuten später mit einem Wagen vorfuhr und sie die beiden reglosen Gestalten auf der Pritsche liegen sahen. Abraham war tot, das erkannte sie auf den ersten Blick. Die Kugel hatte seine Kehle zerfetzt. Seine Schwester lebte noch. Sie blutete aus einer Wunde an der
Hüfte und war bewusstlos. Der Aufseher zog die Körper wie Mehlsäcke von der Ladefläche und ließ sie zu Boden fallen. Die Mutter des toten Mannes stieß einen verzweifelten Schrei aus. Sie rannte zu ihrem Sohn und brach weinend über ihm zusammen. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Blut, das aus dem Hals des jungen Kriegers floss, und sickerte in den feuchten Boden. Zwei andere Frauen eilten herbei und hielten sie fest, bevor sie eine Dummheit begehen konnte. Der Aufseher kümmerte sich nicht um sie. »Der verdammte Nigger ist tot!«, teilte er den Schwarzen mit. In seiner Stimme war kein Bedauern. »Die Frau lebt noch! Aber die macht es auch nicht mehr lange!« Er spuckte angewidert zu Boden und schlug mit der flachen Hand auf seine Peitsche. »Ich hätte gute Lust, ihr damit den Rest zu geben, doch ich denke, die spürt nichts mehr!« Er kletterte auf den Kutschbock zurück. »Wenn ich noch einen erwische, zünde ich euch die verdammten Häuser über den Köpfen an!« Bensua wartete, bis der Aufseher zwischen den Bäumen verschwunden war, und rannte zu der verletzten Frau. Der Anblick der blutenden Wunde erschreckte sie. »Sie lebt, Sarah!«, rief sie Henrys Frau zu. »Hilf ihr! Es muss doch eine Medizin geben, die sie wieder gesund macht!« Zu den beiden Fante aus ihrer Hütte sagte sie: »Worauf wartet ihr noch? Bringt sie rein!« Henry wandte sich an die anderen Sklaven. »Begrabt den Mann! Und kümmert euch um seine Mutter! Sobald wir ihre Tochter versorgt haben, erweisen wir dem Mann die letzte Ehre!« Sarah konnte nicht viel tun. Sie hielt die Blutung mit einigen Kräutern auf und band einen Lumpen, den sie im Flusswasser gewaschen hatte, um die Wunde. Ihre Beine umwickelte sie mit nassen Umschlägen um das Fieber zu senken. »Sie hat viel Blut verloren«, sagte sie zu ihrem Mann. »Jetzt können ihr nur
noch die Götter helfen! Oder der Gott des weißen Mannes! Ich werde für sie beten!« Sie kniete nieder und sprach das Gebet, das sie von dem Prediger gelernt hatte. Wenn ihr ein Wort nicht einfiel, erfand sie ein anderes. Bensua setzte sich neben sie und stimmte ein heiliges Lied der Asante an. Manchmal war es besser, alle Götter anzurufen, wenn man Unmögliches erreichen wollte. Nachdem einige Männer den toten Mann begraben hatten, versammelten sich die Schwarzen um sein Grab und beteten für ihn. Die beiden Frauen, die sich um die verzweifelte Mutter kümmerten, mussten sie an beiden Armen halten. Henry sprach ein Gebet und bat einen der Fante, ein heiliges Lied seines Volkes für den ermordeten Mann zu singen. Einer der Männer, die getauft waren und sich voll zum Christentum bekannten, sprach das Vaterunser und schlug ein Kreuz über dem frischen Grab. »Es hat keinen Sinn, sich den Weißen zu widersetzen«, meinte Henry zu den Schwarzen. »Diese Plantage ist unsere Welt. Wir wollen versuchen sie zu einer guten Welt zu machen. Wenn wir gehorchen, schlagen uns die weißen Männer nicht. Lasst uns arbeiten und ihnen zeigen, dass es auch ohne Gewalt geht!« Bensua war anderer Meinung, sagte aber nichts. Dies war nicht der Augenblick, um mit Henry zu streiten. Sie ging ins Haus zurück und wechselte sich mit Sarah am Krankenlager der jungen Frau ab. Ihr Zustand war unverändert. Sie war immer noch in Lebensgefahr und es sah nicht so aus, als würde sie den Tag überleben. »Sie ist schwer verletzt«, sagte Bensua, als Kelly auftauchte. »Sie kann nicht arbeiten. Sie muss im Haus bleiben!« Der Aufseher sah ein, dass er die schwer kranke Frau nicht auf die Felder treiben konnte, und zuckte die Achseln. »Meinetwegen! Aber nur wenn ihr die Arbeit mitmacht!
Hundert Pfund mehr oder ihr bekommt alle meine Peitsche zu spüren, verstanden?« Die Sklaven fügten sich und stellten sich in Zweierreihen auf, noch bevor Kelly den Befehl gegeben hatte. Niedergeschlagen folgten sie dem Aufseher auf die Baumwollfelder. Über den Hügeln stieg das lodernde Feuer der morgendlichen Sonne empor.
22
Sarah vertrieb die bösen Geister und rettete die kranke Frau vor dem drohenden Tod. Die Wunde war ein glatter Durchschuss und die Kugel der Sklavenjäger hatte keine lebenswichtigen Organe verletzt. Die Heilkräuter, die Sarah ihr täglich auf die Wunde strich, und ein geheimnisvoller Kräutertee ließen die Frau noch vor dem Ende der Baumwollernte gesund werden. Sie würde ihr Leben lang hinken und niemand konnte den Schmerz lindern, den der grausame Tod ihres Bruders verursacht hatte. Doch sie lebte und war wieder mit ihrer Mutter zusammen, die schon befürchtet hatte auch ihr zweites Kind zu verlieren. Jeden Abend standen sie gemeinsam am Grab des ermordeten Kriegers und baten die Götter seine Seele im Jenseits zu trösten. Ohne es zu merken hatten sie den Glauben ihres Volkes mit der christlichen Lehre vermischt. Sie stellten sich das Jenseits als blühenden Garten vor, in dem ihre Seelen von der Last der Sünde befreit waren. Jonathan Kelly kümmerte sich nicht um den Schmerz der Sklaven. Für ihn zählte nur die Baumwollernte. Sie musste so schnell wie möglich eingebracht werden, wenn er seinen Posten als Oberaufseher behalten wollte. Robert F. Stockton hatte eine gesellschaftliche Stellung zu verteidigen und konnte es sich nicht leisten, seine Baumwolle zu spät auf den Markt zu bringen. Er brauchte den Höchstpreis, wenn er seinen Lebensstandard beibehalten wollte. Die Gesellschaften in Charleston, die Investitionen in anderen Wirtschaftszweigen und die Spekulationen an der Börse verschlangen Riesensummen, ganz zu schweigen von den Zuwendungen, die
sein Sohn bekam. Und seine Frau verbrachte den größten Teil ihrer Freizeit damit, in den teuren Modegeschäften von Charleston und Savannah neue Kleider zu kaufen. Auf »Magnolia Hall« wollten sie Ergebnisse sehen. Der Pflanzer war wegen des Geldes im Baumwollgeschäft, nicht weil das Anpflanzen des »weißen Goldes« seine Berufung war. Und die Aufseher, allen voran Jonathan Kelly, waren dafür verantwortlich, dass die Sklaven so hart arbeiteten, wie es nötig war, um die Termine der Kaufleute einzuhalten. Die Männer verfolgten diese Aufgabe mit einer Verbissenheit, die keinen Raum für Gefühle ließ. Sie trieben die Sklaven mit äußerster Härte an, ließen immer häufiger die Peitschen knallen und waren nur zufrieden, wenn die Schwarzen nach Sonnenuntergang erschöpft und dem Zusammenbruch nahe in ihre Hütten zurückkehrten. Besonders ungerecht behandelten sie die Frau, die gerade dem Tod entronnen war. Sie durfte sich keine Pause erlauben und musste für ihren toten Bruder mitarbeiten. Alle Schwarzen halfen ihr dabei. Am Sonntag ruhte die Feldarbeit. Der »Tag des Herrn«, wie die Weißen ihn nannten, war den Besuchen des Predigers und der Hausarbeit vorbehalten. Besonders die Wäsche machte viel Arbeit. Die Kleider mussten gesäubert und geflickt werden, damit man in der Baumwolle gegen die sengende Hitze und die Insekten geschützt war. Einige Männer halfen ihren Frauen im Küchengarten, reparierten das Haus oder beschäftigten die Kinder. Abends wurde ein Feuer entzündet und gefeiert. Robert F. Stockton hatte seinen Oberaufseher angewiesen, nicht gegen die musizierenden und tanzenden Schwarzen vorzugehen, um sie bei Laune zu halten. Die wöchentliche Feier, die manchmal auch am Samstagabend stattfand, lenkte von der Anstrengung ab, der sie unter der Woche ausgesetzt waren, und brachte sie zumindest für einen Abend auf andere Gedanken. Wenn Henry auf seinem Banjo spielte, einer
umgebauten Mbanza aus Afrika, zeigte sich auch auf den Gesichtern der Schwarzen ein fröhliches Lächeln. Zu einem dieser Feste, ungefähr eine Woche vor Beendigung der Baumwollernte, erschienen Harriet und Manu im Sklavencamp. Die rundliche Haushälterin war überall beliebt und tanzte ausgelassen mit den anderen Schwarzen. Manu trug ein sauberes Kleid mit weißem Kragen und ein dunkelrotes Kopftuch, das sie wie einen Turban gebunden hatte. Sie blieb abseits zwischen den Bäumen stehen und schüttelte den Kopf, als einer der Jungen sie auf den Tanzplatz ziehen wollte. Anscheinend bereute sie längst, auf Harriet gehört und sie auf das Fest begleitet zu haben. Die Banjo-Klänge beeindruckten sie nicht. Bensua erinnerte sich an ihr erstes Wiedersehen und zögerte Manu zu begrüßen. Sie spürte, dass sie ihr fremd geworden war. Dennoch ging sie auf ihre Freundin zu und zwang sich zu einem Lächeln. »Manu!«, rief sie in der Hoffnung, sich getäuscht zu haben. »Es tut gut, dich zu sehen! Endlich besuchst du uns wieder!« »Bensua«, erwiderte Manu. Ihre Freundlichkeit wirkte aufgesetzt, als wäre sie eine Weiße, die aus Versehen ins Schwarzenviertel geraten war und einer »Negerin« die Hand schüttelte. »Ich habe oft an dich gedacht! Massa Edward sagt, dass ihr auf den Feldern arbeitet und Baumwolle erntet. Also, ich könnte das nicht! Da draußen wäre es mir viel zu heiß! Ich muss nur in die Hitze, wenn ich die Eier aus dem Hühnerstall hole oder Wasser besorge oder zum Küchenhaus gehe. Wie haltet ihr das bloß aus?« Bensua wollte nicht wahrhaben, wie sehr sich ihre Freundin verändert hatte. Am liebsten hätte sie das Mädchen angefahren, ihr von den Peitschenhieben berichtet, die selbst Frauen und Kinder erleiden mussten. »Siehst du die Frau mit dem Verband?«, wollte sie ihr vorhalten. »Ein Sklavenjäger hat auf
sie geschossen, weil sie weggelaufen ist! Sie wäre beinahe gestorben! Ihr Bruder liegt unter dem Erdhügel da drüben! Sie haben ihn kaltblütig ermordet!« Aber sie bezwang ihren Zorn und meinte: »Die Aufseher gönne uns keine Pause! Sie prügeln auf uns ein, damit wir schneller arbeiten oder wenn wir einen Fehler machen!« Es klang wie eine nüchterne Feststellung, als würde sie etwas Selbstverständliches sagen. Manu schien keine Ahnung von den Quälereien zu haben. »Aber Massa Edward sagt, dass es euch gut geht! Mister Kelly würde nur die Schwarzen schlagen, die gegen seine Befehle verstoßen. Massa Edward ist ein freundlicher Mann, Bensua! Ich weiß, er hat manchmal schlechte Laune und schreit im ganzen Haus herum. Harriet hat er mal eine Ohrfeige gegeben. Sie war selbst schuld! Sie hat das Essen anbrennen lassen.« Ihre ungläubige Miene wich einem Lächeln. »Aber zu mir ist er immer freundlich, Bensua! Er sagt, dass ich meine Arbeit gut mache und mir eine Belohnung verdient habe! Letzte Woche hat er mir eine Zuckerstange mitgebracht und dann hat er mich gestreichelt! Er hat auch gemeint, dass ich wie ein schwarzer Engel aussehe.« »Ein schwarzer Engel?« Bensua dehnte jede Silbe der seltsamen Bemerkung. Ihr Misstrauen war geweckt. Willem van der Meyde der holländische Sklavenhändler hatte ihr denselben Namen gegeben. »Das hat er gesagt?« »Massa Edward ist anders als die anderen Weißen!«, erwiderte Manu. »Er hat mich noch nie geschlagen und meint, dass ich hübscher als die weißen Mädchen bin!« Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Stell dir vor, ich darf ihn in seinem Zimmer besuchen, wenn ich meine Arbeit gut mache! Was meinst du? Ob er mir süßen Tee anbietet wie den weißen Damen in der Stadt?« »Hat er noch was anderes gesagt?«, forschte Bensua. Sie hatte einen fürchterlichen Verdacht. »Hat er dich berührt?« Sie
zögerte einen Augenblick. »An Stellen, die sonst nur dir gehören? Sei ehrlich, Manu! Hat er etwas getan, das dir nicht gefallen hat?« Noch bevor ihre Freundin antwortete, fügte sie wütend hinzu: »Ich bringe ihn um, Manu! Wenn er das getan hat, bringe ich ihn um!« Manu blickte sie entsetzt an. »Wie kommst du denn darauf? So etwas würde er nie tun! Massa Edward ist ein guter Mann! Er würde mich nie an diesen Stellen berühren! Er ist doch viel älter als ich! Er hat mich nur gestreichelt… so wie früher mein Vater!« »Wo hat er dich gestreichelt?« Bensua sah ihr Misstrauen bestätigt. »Du darfst nicht zulassen, dass er dich streichelt! Das ist viel zu gefährlich! Weißt du denn nicht, dass es weiße Herren gibt, die ihre Sklavinnen so berühren, wie ich sage? Sie tun ihnen Gewalt an! Manchmal bekommen die Schwarzen sogar Kinder, halb weiß und halb schwarz! Das weiß ich von Sarah. Du darfst Massa Edward nicht nachgeben! Er ist ein schlechter Mann! Neulich war er auf dem Feld und hat ein Kind geschlagen!« »Du lügst!«, widersprach Manu so heftig, dass Bensua erschrocken zurückwich. »Massa Edward würde niemals ein Kind prügeln! Er ist besser als die anderen Weißen! Du bist nur neidisch! Du willst nicht, dass Massa Edward freundlich zu mir ist!« Bensua schüttelte den Kopf. »Ich will, dass es dir gut geht, Manu! Ich freue mich, dass du im Haus wohnst und nicht so schwer arbeiten musst wie wir, das kannst du mir glauben! Aber den Weißen darfst du nicht trauen! Sie behandeln uns wie Tiere, auch der Sohn des Pflanzers! Ich habe selbst erlebt, wie er mit der Peitsche auf uns eingeschlagen hat! Er ist genauso schlecht wie Kelly und die Aufseher, die uns jeden Tag zur Arbeit treiben!«
»Du lügst!«, wiederholte Manu aufgeregt. »Das sagst du nur, weil du hier draußen leben musst! Du bist nicht mehr meine Freundin! Ich hasse dich!« Sie rannte zum Haus zurück, ohne sich um die verwunderten Blicke der anderen Schwarzen zu kümmern. Harriet verließ die Tanzfläche und folgte ihr, so schnell es ihre Körperfülle und der lange Rock erlaubten. Bensua ging ins Haus zurück und warf sich auf ihr Nachtlager. Sie vergrub den Kopf in den Decken und weinte lange. Es tat weh, ihre junge Freundin auf diese Weise zu verlieren. Die bessere Behandlung, die allen Haussklaven zuteil wurde, und die leichtere Arbeit hatten Manu in den Glauben versetzt, ein wertvollerer Mensch zu sein. Und die Komplimente des weißen Mannes hatten ihr den Kopf verdreht. Er konnte es nicht ehrlich gemeint haben. Ein Mann wie Edward Stockton lobte ein schwarzes Mädchen nur, wenn er ihren Körper besitzen wollte. Warum kam er sonst auf die absurde Idee, sie in sein Zimmer einzuladen? Hatte man jemals von einem wohlhabenden Weißen gehört, der eine Schwarze wie einen gleichwertigen Menschen behandelte? Die weißen Männer respektierten nicht mal ihre eigenen Frauen. Von dem schwarzen Kutscher wusste sie, dass Edward Stockton eine weiße Frau mehrmals geschlagen hatte! Während der nächsten Woche sah und hörte Bensua nichts von ihrer Freundin. Ein Tag war wie der andere. Morgens gingen sie in die Baumwolle und abends kehrten sie zurück. Jonathan Kelly war nervös, weil die entkernte Baumwolle in spätestens zehn Tagen bei einem Händler in Charleston liegen musste, und sorgte mit seiner schwarzen Peitsche dafür, dass die Arbeit noch schneller voranging als sonst. Jeden Mittag ließ sich Edward Stockton auf den Feldern blicken, wenn auch nur für eine halbe Stunde, weil ihm die Hitze zu stark zusetzte, und überzeugte sich persönlich vom Arbeitswillen der Sklaven. Auch er gebrauchte die Peitsche. Bensua duckte sich unter den
knallenden Lederschnüren und dachte sorgenvoll daran, wie sehr Manu sich in dem weißen Mann irrte. Er war genauso böse und grausam wie die anderen Weißen, die sie kennen gelernt hatte. Aber Manu sah den Sohn des Pflanzers nicht, wenn er auf die Schwarzen einschlug. Sie arbeitete hinter den festen Mauern des Hauses, das zu einer neuen Heimat für sie geworden war. Wenn Bensua von ihren nächtlichen Gebeten zurückkehrte und noch Licht im fernen Herrenhaus sah, musste sie unwillkürlich an ihre Freundin denken. Sie hatte Angst um Manu. Edward Stockton war als Frauenheld bekannt und schreckte bestimmt nicht davor zurück, eine junge Schwarze zu vergewaltigen. Von den Gerichten drohte ihm keine Strafe. Die Sklavinnen waren sein Eigentum und er durfte mit ihnen anstellen, was er wollte. Niemand schrieb einem erwachsenen Mann vor, wie er mit seinem Besitz umzugehen hatte. Wenn es ihm gefiel, konnte er sein Haus zerfallen und seine Ernte verrotten lassen, sein Geld am Spieltisch oder in Bordellen verjubeln, seine männlichen Sklaven zu Tode prügeln und eine junge Sklavin dazu zwingen, das Nachtlager mit ihm zu teilen. So geschah es auf vielen Plantagen im amerikanischen Süden und kaum einer kümmerte sich darum. Nicht einmal die Ehefrau eines Pflanzers wagte es, aufzubegehren, wenn ihr Mann eine Sklavin in Besitz nahm und ein Kind mit ihr zeugte. Liebte ein Schwarzer ein weißes Mädchen, wurde er aufgehängt, selbst wenn die Weiße freiwillig zu ihm gegangen war. »Ich bete für dich, Manu!«, flüsterte Bensua. Doch weder die Götter aus dem fernen Afrika noch der Gott des weißen Mannes erhörten ihr Flehen. Eine Woche nachdem die Baumwolle in fest verschnürten Ballen nach Charleston geliefert worden war, drang ein verzweifelter Hilferuf durch das Herrenhaus und durch die offenen Fenster in den Garten hinaus. Aus den »liebevollen« Komplimenten und
»väterlichen« Berührungen von Edward Stockton war tatsächlich Ernst geworden und Manu wand sich schreiend unter seinem brutalen Griff. Sie schrie und stieß und biss und kratzte, bis der Sohn des Pflanzers fluchend zurückwich und sie freikam. Heulend und mit zerfetztem Kleid rannte sie aus dem Zimmer. »Na, warte, du verdammtes Biest!«, schrie Edward Stockton ihr nach. »Das hast du nicht umsonst getan! Ab sofort wohnst du bei den Feldsklaven und wehe, du arbeitest nicht doppelt so viel wie die anderen Nigger! Wenn ich dich beim Faulenzen erwische, setzt es zehn Peitschenhiebe und dann wollen wir doch mal sehen, ob du dich noch wehrst!« Bensua stand unter dem glitzernden Sternenhimmel und träumte von einer sorgenfreien und glücklichen Zukunft, als die panischen Schreie ihrer Freundin vom Herrenhaus herüberdrangen. Sie erstarrte. Sie brauchte keine große Fantasie um sich vorzustellen, was geschehen war. »Manu!«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. Sie lief ein paar Schritte, blieb stehen und starrte in das bleiche Mondlicht, das wie bedrohlicher Nebel zwischen den Eichen hing und von dem Spanischen Moos zu tropfen schien. »Was ist denn passiert, Missy?«, hörte sie Henry rufen. Der Schwarze war ohne seinen Zylinder aus dem Haus gekommen und hielt einen Knüppel in der Hand. Hinter ihm erschienen Sarah und einige andere Schwarze. Der Schrei eines schwarzen Mädchens bedeutete großes Unglück, riss selbst Sklaven aus dem Schlaf, die schon jahrelang auf der Plantage arbeiteten und sich an die Grausamkeiten der weißen Männer gewöhnt hatten. »Das war doch Manu! Das war deine Freundin! Massa Edward hat sie…« Bensua nickte stumm. Sie hatte dem Schwarzen von ihrer Auseinandersetzung mit Manu berichtet. Der Schrei des Mädchens konnte nur bedeuten, dass Edward Stockton sich an
ihr vergriffen hatte. Sie trat zwischen die Bäume um mit ihrem Schmerz allein zu sein. Nach der Gluthitze des Tages war es immer noch schwül. Selbst der frische Wind brachte kaum Linderung. Sie lehnte sich gegen einen knorrigen Baumstamm und atmete die schwüle Nachtluft ein. Erschöpft rieb sie sich den Schweiß vom Gesicht. Sie machte sich Vorwürfe, nichts gegen das drohende Unglück unternommen zu haben. Doch sie war hilflos. Nicht einmal ein Mann hätte das Unglück verhindern können. Man hätte ihn zu Tode geprügelt oder am nächsten Ast aufgehängt, wenn er gegen den Sohn des Pflanzers vorgegangen wäre. Es war sinnlos. Sie verdrängte die quälenden Gedanken und wartete ängstlich darauf, dass etwas geschah. Sie wollte Gewissheit, auch wenn sie längst wusste, was passiert war. Sie brauchte nicht lange zu warten. Wenige Minuten, nachdem der Schrei ihrer Freundin die nächtliche Stille zerrissen hatte, tauchte Manu weinend zwischen den Bäumen auf. Ihr Gesicht war verheult und über ihre Lippen kam ein unverständliches Gestammel. Ihr Kleid hing in Fetzen vom Körper. In ihren Augen stand dasselbe Entsetzen, das Bensua bei der Frau gesehen hatte, die mit ihrem Baby ins Meer gesprungen war. Wie eine Betrunkene torkelte Manu zwischen den Bäumen hervor, sah Bensua im Mondlicht stehen und stammelte: »Bensua! Bensua! Massa… Massa Edward… hat mich…« Sie brach weinend zusammen. »Du … Du hattest… Recht, Bensua… Er wollte… er wollte mich… mit… mit Gewalt nehmen…« Bensua rief die anderen Schwarzen um Hilfe. Gemeinsam trugen sie das Mädchen ins Haus. Sarah stellte erleichtert fest, dass Edward Stockton sein Ziel nicht erreicht und Manu außer ein paar Schürfwunden nichts abbekommen hatte. Sie kochte einen beruhigenden Kräutertee und versicherte den anderen, dass Manu schon am nächsten Morgen wieder gesund sein werde. Zumindest ihr Körper, denn niemand konnte sagen, was
der heimtückische Angriff in ihrem Kopf ausgelöst hatte. »Ich bin ihre Freundin! Ich kümmere mich um sie!«, erklärte Bensua. Sie trug ihr nichts nach. Nicht einmal sie konnte sagen, wie sie auf die gute Behandlung im Herrenhaus und die Komplimente des weißen Mannes reagiert hätte. Die Versuchung, nach einem rettenden Strohhalm zu greifen, war groß, und wenn einem Sklaven die Gelegenheit geboten wurde, das Leid hinter sich zu lassen, dachte er eben nur an sich. »Ich bin deine Freundin!«, sagte Bensua noch einmal, als Manu erwachte und sich tränenreich bei ihr entschuldigte. »Ich passe auf dich auf! Das habe ich dir in der alten Heimat versprochen, weißt du noch? Du wirst auch hier draußen überleben! So wie wir alle! Hab keine Angst!« Bereits nach wenigen Tagen erkannte Bensua, dass Manu nicht durchhalten würde. Sie war zu schwach. Nicht nur körperlich. Das schreckliche Erlebnis im Zimmer des weißen Mannes hatte Spuren hinterlassen. Sie träumte schlecht, weinte oft und zitterte, wenn sie dem Herrenhaus zu nahe kamen. Jedes Mal, wenn die Peitsche knallte, zuckte sie ängstlich zusammen. Sie wurde von der schweren Arbeit erdrückt, auf den Feldern, am Flussufer und in den Ställen, und Bensua musste doppelt so schwer schuften, damit keiner der Aufseher etwas merkte. Ihr graute vor dem Augenblick, wenn Edward Stockton aus dem Haus kommen und seine Wut an ihrer jungen Freundin auslassen würde. »Wir werden fliehen«, entschied sie an einem kühlen Herbstabend, als sie allein unter dem nächtlichen Sternenhimmel stand und betete. »Es ist besser, auf der Flucht zu sterben, als zu sehen, wie meine Freundin stirbt! Wir werden weglaufen!« Sie schickte ein Gebet zu den Göttern empor.
23
Manu würde das nächste Frühjahr nicht überleben, davon waren alle Sklaven auf der Plantage überzeugt. Sie war zu schwach für die anstrengende Arbeit und brach fast jeden Tag zusammen. Bensua unterstützte sie, so gut es ging. Sie half ihr beim Tragen der schweren Lasten und nahm die Schuld auf sich, wenn sie einen Fehler beging. Wenn sie hungrig war, gab sie ihr etwas von ihren Rationen ab, obwohl jeder Sklavin der gleiche Anteil an Lebensmitteln zustand. Nach dem Abendessen betete sie mit ihr im Wald, versuchte ihr neue Hoffnung zu geben. Jonathan Kelly kannte kein Mitleid mit ihr. Er beschimpfte sie laut und versetzte ihr derbe Hiebe und Tritte. Seine schwarze Peitsche benutzte er nur zur Abschreckung. Er erkannte wohl selbst, dass die junge Schwarze eine solche Züchtigung nicht überleben würde. Edward Stockton war weniger zimperlich, er schlug mit seiner Reitgerte auf das Mädchen ein, als er ihr beim Stall begegnete. Nur weil sein Pferd scheute und er beide Hände brauchte, um sich im Sattel zu halten, ließ er von der Sklavin ab. Bensua zögerte mit der Flucht. Solange sie keinen festen Plan hatte, wollte sie das Risiko nicht eingehen. Wenn sie von den Sklavenjägern erwischt und zu Edward Stockton gebracht wurden, würde er sie so lange auspeitschen lassen, bis sie tot war. Da war sie beinahe sicher. Als er ihre Freundin das letzte Mal geschlagen hatte, war ein Ausdruck in seinen Augen gewesen, der sie erschreckt hatte. Der Sohn des Pflanzers hasste das Mädchen. Er würde niemals verwinden, dass sie ihn zurückgewiesen hatte. Anscheinend war er zu stolz, sie mit
Gewalt zu nehmen. Die meisten weißen Männer verstanden nicht, dass es schwarze Frauen gab, die sich weigerten, sich ihnen freiwillig hinzugeben und die Füße zu küssen. »Massa Edward bringt mich um«, jammerte Manu beinahe jeden Abend. »Das nächste Mal schlägt er mich tot! Hast du gesehen, wie er mich angeschaut hat? Er bindet mich an den Pfahl und peitscht mich so lange aus, bis ich nicht mehr atmen kann!« »Nein«, widersprach Bensua, »das wird nicht geschehen! Die Götter beschützen dich! Wenn der Tag kommt, werden wir fliehen! Wir werden weglaufen und eine bessere Zukunft finden!« »Wann ist dieser Tag? Wann?«, fragte Manu ungeduldig. Bensua wusste es selbst nicht. Sie vertraute ihren Gebeten und Liedern und hoffte darauf, dass die Götter ihr Hilfe schicken würden. An einem warmen Frühlingsabend war es so weit. Sie stand mit ihrer Freundin unter den Bäumen und betete, als einige Zweige raschelten und ein schmächtiger Schwarzer zwischen den Bäumen hervortrat. Er hatte ein kantiges Gesicht mit knochigen Wangen und trug eine dunkle Schirmmütze auf seinem kahl geschorenen Kopf. »Ich bin Hansen«, sagte er leise. Die Mädchen blickten den Schwarzen überrascht an. Bei näherem Hinsehen wirkte er stärker und muskulöser, als seine schmächtige Gestalt es glauben machte. Er schien nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen. »Was tust du hier?«, fragte Bensua. »Du bist kein Sklave! Ich habe dich hier noch nie gesehen!« »Ich bin ein freier Neger«, antwortete Hansen. »So nennen die Weißen einen Schwarzen, der kein Sklave mehr ist. Ich habe im Krieg für die Amerikaner gekämpft und meinem Herrn das Leben gerettet. Deshalb hat er mir die Freiheit geschenkt! Seht ihr?« Er zog ein Papier aus der Tasche und
zeigte es ihnen. »Das ist mein Ausweis. Darauf steht, dass ich frei bin.« Er steckte das Papier wieder ein und lächelte bitter. »Aber das heißt noch lange nicht, dass es mir gut geht! Wenn ein Weißer mich schlagen will, kann er das tun, und wenn ich einer weißen Frau zu nahe komme oder einen Apfel stehle, hängen sie mich auf! Wir werden niemals so frei sein wie die Weißen! Niemals! Nicht in Amerika!« »Warum kommst du zu uns?«, wollte Bensua wissen. »Wenn sie dich auf der Plantage erwischen, machen sie dich wieder zum Sklaven!« Er lächelte. »Du bist Bensua, nicht wahr?« »Ja, aber woher weißt du das?« »Du bist groß und schön und hast einen starken Willen! Und du hast den Glauben an die alten Götter nicht verloren!« Er deutete zu den hellen Sternen empor. »So hat dich Ottobah beschrieben!« »Ottobah!«, rief sie aufgeregt. »Du kommst von Ottobah?« Hansen legte einen Finger auf seine Lippen und blickte sich aufmerksam um. Dann lächelte er. »Ottobah hat mich geschickt. Ich sollte dich suchen. Ein Freund, der für einen Kaufmann im Hafen arbeitet, konnte sich an dich erinnern.« Sein Lächeln wurde stärker. »Ottobah hat viel Schönes über dich erzählt, weißt du?« »Wo ist er? Wie geht es ihm?«, fragte Bensua ungeduldig. »Leise!«, warnte Hansen. »Sonst hören uns die Aufseher!« Er ging in die Knie und forderte Bensua und Manu auf, dasselbe zu tun. »Ottobah ist auf einer Plantage in Virginia. Es geht ihm gut!« Bensua schloss die Augen und dankte den Göttern. »Warum habe ich das nie erfahren? Unser Kutscher hat in Charleston nach ihm gefragt. Niemand wusste, wohin sie Ottobah gebracht haben.«
»Er war bei einem Kaufmann an der Küste«, erklärte Hansen. »Ein gemeiner Bursche, der ihn in Ketten schlafen ließ und ihm kaum etwas zu essen gab. Selbst einige Weiße können diesen Mann nicht leiden. Seine Frau war noch schlimmer, drosch jeden Abend mit der Peitsche auf ihn ein, bis er am ganzen Körper blutete! Ottobah wollte fliehen, aber das war nicht möglich. Der Laden des Kaufmanns lag mitten in der Stadt und man hätte ihn sofort erwischt. Zum Glück gingen die Kaufleute Bankrott. Sie mussten Ottobah verkaufen und er landete auf einer Plantage in Clarksville. Das ist ein kleiner Ort in dem Land, das Virginia heißt. Dort arbeitet Ottobah als Feldsklave. Er ist fest entschlossen mit dir nach Norden zu fliehen. Nach Philadelphia, einer Stadt in Pennsylvania. In diesem Land gibt es keine Sklaven.« Er schwieg einen Augenblick und lauschte dem Wind. »Ich habe keine Zeit, dir mehr darüber zu erzählen. Unterwegs wirst du alles erfahren.« Bensua brauchte eine Weile, um die vielen Informationen zu verarbeiten. Ottobah lebt! Er liebt mich immer noch! Und er will mit mir nach Norden fliehen! Die Nachrichten, die Hansen brachte, wirkten wie ein Zaubertrank, gaben ihr neue Kraft und neuen Lebensmut. »Hast du gehört?«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Wir gehen mit Ottobah nach Norden! Bald sind wir frei! Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben! Dieser Mann wird uns helfen!« Sie blickte Hansen ängstlich an. »Du hilfst uns doch, Hansen?« Der Schwarze nickte. Er musterte aufmerksam seine Umgebung, bevor er fragte: »Du kennst die Underground Railroad?« »Ich habe davon gehört. Gehörst du dazu?« »Ich bin ein Schaffner«, erklärte er. »So nennen sie die Leute, die flüchtige Sklaven nach Norden führen. Ich bringe euch über den Fluss und zeige euch ein Versteck in den Sümpfen. Dort müsst ihr bleiben, bis die Sklavenjäger keine Lust mehr
haben, nach euch zu suchen! Es ist ein sicherer Ort vor den Bluthunden!« »Wie lange wird das sein?«, fragte Manu. In ihren Augen standen Angst und Verzweiflung. »Ein Junge hat gesagt, dass es dort Krokodile und Giftschlangen gibt! Wie können wir uns vor ihnen schützen?« Hansen berührte das Mädchen am linken Arm. »Ich habe ein Boot«, beruhigte er sie, »da können die Schlangen nicht rein! Und die Alligatoren haben mit den Krokodilen, wie es sie in unserer Heimat gibt, wenig zu tun! Sie sind viel kleiner und nicht so gefährlich! Ich kenne ein Versteck in den Sümpfen, einen ausgehöhlten Baumstamm. Da findet euch niemand! Ich nehme Vorräte und frisches Wasser mit. Eine Woche, zwei Wochen, dann könnt ihr weiterziehen! Ich sage euch, wohin ihr gehen müsst.« »Wann sollen wir fliehen?«, fragte Bensua nach einer Weile. »Am Samstag«, antwortete der Schwarze. »Ich habe gehört, dass euer Master ein großes Fest veranstalten will. Ihr wisst, wie die reichen Weißen feiern. Sie laden alle vornehmen Nachbarn ein, sogar aus Charleston und Savannah, es gibt zu essen und zu trinken und in dem großen Zimmer, das sie Ballsaal nennen, drehen sie sich zur Musik. Sie haben viel zu tun und sind nur mit sich selbst beschäftigt! Das ist die beste Zeit, um zu fliehen! Nicht mal die Aufseher kümmern sich um die Sklaven! Sie verstecken sich, rauchen Zigarren und trinken vom besten Wein, und wenn sie genug haben, stellen sie den weißen Mädchen nach!« »Wir haben von dem Fest gehört«, erinnerte sich Bensua, »der Kutscher hat es uns gesagt. Der Geburtstag der Mistress wird gefeiert. Sie wird ein langes grünes Kleid aus Seide tragen, das viele Dollar gekostet hat. Der Kutscher musste es vom Schneider in Charleston abholen!«
Hansen lächelte flüchtig. »Die Weißen geben viel Geld für unnütze Dinge aus. Aber es ist gut, dass sie feiern. Geht, wenn der Mond über dem Herrenhaus steht! Erzählt keinem Menschen von eurer Flucht, nicht einmal den Schwarzen, die im selben Haus mit euch wohnen! Wir müssen jedes Risiko vermeiden. Wartet, bis eure Freunde auf dem Banjo spielen und tanzen, und stehlt euch heimlich davon! Ich warte am Flussufer auf euch! Abgemacht?« »Abgemacht!«, versicherte Bensua ohne ihre Freundin zu fragen. »Wir werden pünktlich sein! Du wartest bestimmt auf uns?« »Ich lasse euch nicht im Stich«, versprach Hansen feierlich. »Ich arbeite für die Underground Railroad! Ich habe geschworen jedem Schwarzen zu helfen, der aus der Sklaverei fliehen will!« Hansen verschwand und Bensua und Manu blieben noch eine ganze Weile auf der kleinen Lichtung sitzen. Sehnsüchtig blickten beide zum sternenübersäten Himmel empor. Dort oben leuchtete der Nordstern, er würde sie in die Freiheit führen. Manu klammerte sich ängstlich an ihre Freundin. Sie fürchtete sich vor der gefährlichen Flucht. Bensua lächelte. Sie würde kein Risiko scheuen, um ihren geliebten Ottobah wieder zu sehen. Er lebte! Und er würde fliehen um irgendwo auf sie zu warten! Sie dankte den Göttern mit einem leisen Gebet. Sie waren auf ihrer Seite! Die wenigen Tage bis zum Wochenende vergingen quälend langsam. Bensua und Manu mussten beim Säen auf den Feldern helfen und versuchten so wenig wie möglich aufzufallen. Als die Mistress auf einem ihrer stolzen Reitpferde erschien, um vier weitere Sklavinnen für den Hausdienst während des Festes auszuwählen, beteten sie stumm. Sie waren dankbar, nicht zu den Auserwählten zu gehören. Jede andere Sklavin wäre froh gewesen, die
anstrengende Feldarbeit mit dem Hausdienst tauschen zu dürfen, wenn auch nur für kurze Zeit. Wer während eines solchen Festes im Haus arbeitete, ließ die Sorgen in der heißen Luft zurück und konnte heimlich von den leckeren Sachen naschen, die im Küchenhaus zubereitet wurden. Für Bensua und Manu wäre es nur schwerer gewesen, von der Plantage zu entkommen. Mehrmals war Bensua versucht, sich Henry oder Sarah anzuvertrauen. Während der langen Zeit, die sie bei ihnen war, hatte sie Freundschaft mit ihnen geschlossen. Doch es war zu gefährlich, ihr Geheimnis zu verraten. Auch unter den Schwarzen gab es Verräter, die flüchtende Sklaven an die Aufseher verrieten, um dadurch Vorteile zu gewinnen. Es war besser, den Gedanken an die bevorstehende Flucht für sich zu behalten. Die Schwarzen, die mit ihnen im selben Haus wohnten, würden bestraft werden, sobald ihre Flucht entdeckt wurde, und vielleicht würde man sie sogar auspeitschen um herauszubekommen, wohin sie geflohen waren, auch wenn sie es nicht wussten. Aber diese Schuld mussten sie auf sich nehmen. Wenn sie das freie Land im Norden erreichen wollten, mussten sie die Vergangenheit hinter sich lassen. »Kein Wort!«, warnte Bensua ihre Freundin. »Wenn du etwas sagst, werfen sie uns ins Gefängnis!« Am Samstagnachmittag begannen die letzten Vorbereitungen für das Fest. Über die lange Eichenallee rollten Pferdewagen mit Vorräten, und Robert F. Stockton erschien in seiner vornehmen Kutsche. Seine Frau und sein Sohn waren die ganze Woche auf »Magnolia Hall« gewesen. Es duftete nach den frischen Speisen, die im Küchenhaus zubereitet wurden, und aus dem Haus drangen die ersten Melodien der probenden Musiker herüber. Als die Dunkelheit hereinbrach, blitzten überall im Haus und sogar im Garten Fackeln und Lichter auf. Die ersten Kutschen mit Gästen rollten über die lange
Kiesanfahrt und parkten vor dem Haus. Auf der anderen Seite legten die Boote an, die über den Ashley River gekommen waren. »Der Massa und die Mistress haben allen Grund zum Feiern«, sagte Henry, der überraschend hinter den Mädchen aufgetaucht war. Sie standen vor den Sklavenhütten und blickten durch die Bäume zum erleuchteten Herrenhaus hinüber. »Ihre Plantage gehört zu den reichsten am Ashley River.« Bensua hatte den Schwarzen nicht bemerkt und erschrak. »Weil sie genug Sklaven haben, die für sie arbeiten«, erklärte sie. »Das ist wahr«, erwiderte er. Sein Blick schien ihr zu sagen, dass er von der bevorstehenden Flucht wusste. Aber das war unmöglich. Sie hatten mit niemandem darüber gesprochen. »Irgendwann werden wir alle frei sein, Missy! Dann ziehen wir in das gelobte Land, von dem der Prediger der Weißen spricht. Dort leben alle Menschen in Frieden miteinander, ganz egal welche Hautfarbe sie haben.« Henry vertraute dem Gott der weißen Männer. Seitdem er halbwegs lesen konnte, hatte er immer öfter in dem Heiligen Buch geblättert, das er von dem Prediger bekommen hatte. Dort stand, dass ein gewisser Moses das auserwählte Volk in die Freiheit geführt hatte. War Hansen ihr Moses? Würde er das große Wasser teilen, um sie in das freie Land im Norden zu führen? Der Mond wanderte über das Herrenhaus und spiegelte sich auf den weißen Säulen vor dem Eingang. Das Signal für Bensua und Manu, das Sklavencamp zu verlassen. Jetzt kam ihnen zugute, dass sie jeden Abend zum Beten in den Wald gingen. Niemand wurde misstrauisch, als sie die Hütte verließen. Sarah stand an der Feuerstelle und kochte, die beiden Fante klimperten abwechselnd auf einem Banjo herum und Henry stand vor der Tür und rauchte. Bensua spürte seinen
forschenden Blick bis tief in den Wald. Selbst wenn er etwas weiß, verrät er uns nicht, glaubte sie sicher zu sein. Sie hatten keinen Proviant mitgenommen, besaßen nur die einfachen Kleider, die sie am Körper trugen. Sie wollten kein Aufsehen erregen. Ohne Proviant konnten sie sich herausreden, wenn sie auf der Plantage erwischt wurden. »Wir wollten sehen, wie die Weißen feiern«, würde sie sagen. Man würde sie bestrafen, aber nicht zu Tode peitschen. Durch den lichten Wald schlichen sie zu der Eichenallee. Sie mussten ganz sicher sein, dass keine verspätete Kutsche über den Kies gefahren kam. Als nichts zu hören war, rannten sie auf die andere Seite. Sie blieben zwischen den Bäumen stehen und blickten einander an. Manu zitterte vor Angst. Bensua drückte ihren Arm und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, weiterzugehen. Sie wussten, welche Stelle am Flussufer der Schwarze meinte. Ungefähr eine Meile westlich vom Herrenhaus machte der Ashley River eine scharfe Biegung, dort war man relativ sicher. Hohes Schilf und moosbehangene Eichen versperrten die Sicht. Sie kamen rasch voran. Der weiche Waldboden dämpfte ihre Schritte und das Spanische Moos, das bis auf die Wurzeln hing, und die Dunkelheit schützten sie vor einer Entdeckung. An die Aufseher wagten sie nicht zu denken. Wer sagte ihnen, dass Kelly so war, wie Hansen es beschrieben hatte? Er sprach gerne dem Alkohol zu, das war allgemein bekannt, aber niemand wusste, ob er nur weißen Mädchen den Hof machte. Vielleicht wartete er nur darauf, dass ihm zwei flüchtige Sklavinnen ins Netz gingen. Nichts geschah. Bensua und Manu schlugen einen weiten Bogen um das Herrenhaus und schafften es, unbemerkt an den Ställen vorbeizukommen. Einige Schweine quiekten, als sie im Schatten eines Baumes verharrten. Sie wollten gerade weiterlaufen, als sie ein Geräusch hörten. Bensua drückte ihrer
Freundin eine Hand auf den Mund und beobachtete nervös, wie ein Mann und eine Frau hinter der Scheune auftauchten. Edward Stockton und eine junge Frau in einem blauen Kleid und mit einem verrutschten Strohhut. Er umarmte sie und küsste sie auf den Mund und sie kicherte unterdrückt, wehrte sich aber, als er sie gegen die Wand drücken wollte. »Nein, Edward! Bitte nicht!«, flehte sie und rannte davon. Bensua wartete, bis auch Edward verschwunden war, und zog ihre Freundin zum Fluss hinunter. Am Ufer entlang schlichen sie zu der Biegung. Sie bahnten sich einen Weg durch das hohe Schilf und atmeten erleichtert auf, als Hansen erschien. Er schob ein Boot ins Wasser und winkte Bensua und Manu heran. »Beeilt euch!«, raunte er. »Wir müssen über den Fluss, solange der Mond hinter den Wolken bleibt!« Er deutete zum Himmel. Sie kletterten ins Boot und kauerten sich auf den feuchten Boden. Hansen ergriff die Ruder. Im Schutz der Dunkelheit überquerten sie den ruhigen Fluss. In der Ferne waren die erleuchteten Fenster und die bunten Laternen im Garten zu sehen. Einige Fetzen der fröhlichen Musik klangen über das Wasser zu ihnen herüber. Jeder Ruderschlag brachte sie weiter von der Plantage weg, trieb sie dem nördlichen Ufer entgegen. Aber bis dahin hatten es Abraham und seine Schwester auch geschafft. Sicher waren sie erst, wenn sie das Land erreichten, das Pennsylvania genannt wurde. Sie sprangen an Land und versteckten das Boot im Schilf. Ein letztes Mal blickten Bensua und Manu zum Herrenhaus von »Magnolia Hall« hinüber, dann folgten sie Hansen. »Mir nach!«, flüsterte er. »Wir müssen so schnell wie möglich in die Sümpfe!«
24
Erst als sie im Wald waren und vom anderen Ufer nicht mehr gesehen werden konnten, zündete Hansen die mitgebrachte Öllampe an. Im schwachen Lichtschein liefen sie über den unsichtbaren Pfad, den der Schwarze vor einigen Tagen ausgekundschaftet hatte. Zur Not hätte er sich auch im Dunkeln zurechtgefunden. Bensua trug den Proviantbeutel, den Hansen im Boot versteckt hatte. Zwei Scheiben Brot, etwas Schinken, einen zerbeulten Behälter mit Wasser, mehr hatte er nicht auftreiben können. Sie drehten sich nicht um, wollten so weit wie möglich von der Plantage entfernt sein, wenn ihr Verschwinden entdeckt wurde. Die meisten Flüchtlinge wurden noch auf der Plantage oder in der näheren Umgebung gestellt, so wie Abraham und seine Schwester. Wer unentdeckt blieb und die ersten drei Tage überlebte, hatte eine gute Chance, den Weißen zu entkommen. Bensua folgte dem flackernden Lichtschein ohne nachzudenken. Die Vergangenheit blieb wie ein bedrohliches Unwetter hinter ihr zurück. Noch war es finster, hingen die schweren Wolken der Sklaverei über ihr, rollte der Donner und zuckten Blitze. Nur wenn sie dicht hinter Hansen blieben und so schnell wie möglich liefen, würden sie die bösen Geister hinter sich lassen. Wie in einem Traum folgten sie der unruhigen Flamme der Öllampe, von der Angst gelähmt und unfähig, etwas zu sagen oder den Schwarzen zu bitten langsamer zu laufen. Keuchend hielten sie Schritt, rannten sie vor den Weißen davon, die bald merken würden, dass sie geflohen waren. Wie eine Drohung tauchte das verzerrte Gesicht von Edward Stockton in ihren Gedanken auf, hörten
sie seine wilden Flüche und den wütenden Befehl, der Jonathan Kelly und die anderen Aufseher auf ihre Spur setzte. Und sahen die beiden Sklavenjäger, den mit dem schmalen Schnurrbart und den mit den langen Haaren und der Narbe unter dem rechten Ohr, die Abraham und seine Schwester gefangen hatten. Auf einer Lichtung legten sie eine kurze Verschnaufpause ein. Sie starrten in die unheimlichen Schatten, die hinter ihnen lagen, und warteten, bis sich ihr Atem beruhigte. Hansen schien die Anstrengung nichts auszumachen. Sein Körperbau täuschte darüber hinweg, wie ausdauernd und zäh er war. Er hatte zu den besten Kämpfern seines Volkes gehört und verdankte es seiner Kampfkraft und seinem tollkühnen Mut, dass er die Papiere eines freien Negers bekommen hatte. Nur ein Mann wie er brachte es fertig, sich auf eine Plantage zu schleichen und anderen Sklaven zur Flucht zu verhelfen. Bensua und Manu waren nicht die ersten. Über zwanzig Schwarze hatte er bereits in die Freiheit geführt. Sie lauschten angestrengt. Außer dem Rauschen des frischen Nachtwinds war nichts zu hören. Die Stille war unheimlich, schien die bösen Geister zu schützen, die sich jeden Augenblick auf sie stürzen konnten. Im heimischen Regenwald war es laut, fauchten Raubkatzen, grunzten Wildschweine, lärmten Papageien und andere Vögel. Selbst wenn der Mond am höchsten stand, kam der Dschungel nicht zur Ruhe. Hier regte sich kein Ast, schwiegen die Tiere, wenn es welche gab, als fürchteten auch sie, von den Weißen entdeckt zu werden. Wie der Atem eines lauernden Ungeheuers strich der Wind über die Lichtung. Hansen zeigte zum Himmel hinauf. Ein Meer von leuchtenden Sternen scharte sich um den halben Mond. Am Ende des Sternbilds, das die Weißen den »Großen Bären« nannten, leuchtete ein besonders heller Stern. »Der Nordstern«,
erklärte der Schwarze. »Ihm müsst ihr folgen, wenn ihr in die Freiheit wollt! Er strahlt über dem Land, in dem es keine Sklaverei gibt und wir wie freie Menschen neben den Weißen leben dürfen!« »Wie lange werden wir unterwegs sein?«, fragte Bensua. Hansen blickte sie ernst an. »Das kann niemand sagen. Die Weißen sind so zahlreich wie das Laub an den Bäumen und viele warten nur darauf, dass ihr ihnen in die Falle geht. Ihr werdet euch oft verstecken müssen!« Er sah die erschrockene Miene des jüngeren Mädchens und fügte rasch hinzu: »Habt keine Angst! Es gibt andere Männer und Frauen wie mich, schwarze und weiße, die sich um euch kümmern werden! Ihr werdet es schaffen, Manu! So wie die anderen Schwarzen, die mit der Underground Railroad in die Freiheit gefahren sind!« Er lächelte amüsiert. »Seltsam, dass sie unsere Fluchtwege nach einer Eisenbahn benannt haben. Die meisten Schwarzen, die ich kenne, haben Angst vor der Eisenbahn! Und die meisten Weißen auch!« Bensua dachte an den Krieger, der dieselben Sterne wie sie sah. »Wo werde ich Ottobah treffen? Ist er schon geflohen? Wartet er in dem freien Land auf mich? Sag mir, was du weißt!« »Ich weiß wenig«, antwortete Hansen. »Ottobah wollte fliehen, sobald die Weißen auf seiner Plantage ein großes Fest feiern. So wie ihr. Und ich bin sicher, dass er sich nicht einfangen lässt! Er ist der tapferste Krieger, den ich jemals getroffen habe! Er hat gesagt, dass er dich finden wird, egal wo du auch bist!« Sie liefen weiter durch den Wald. Zielsicher führte Hansen sie über den dunklen Pfad. Er war ein ausdauernder Läufer und legte ein schnelles Tempo vor. Die Mädchen konnten nicht wissen, dass er sonst doppelt so schnell war. Sein Atem war kaum zu hören. Er schien jeden Baum in dem unheimlichen
Wald zu kennen und flüsterte leise »Duckt euch!« oder »Dort entlang!«, wenn sie an ein Hindernis oder eine Kreuzung kamen. Als hätte er sein ganzes Leben in diesem Wald verbracht. Wie ein Krieger, der einem Wild im heimatlichen Urwald nachstellte. Hansen war schon lange von Afrika weg, aber seine Instinkte waren noch lebendig. Auch in diesem Land würde er immer ein Jäger bleiben. Nach drei Stunden erreichten sie die andere Seite des Waldes. Sie blieben zwischen den Bäumen stehen und rangen nach Atem. Hansen nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und reichte sie an die Mädchen weiter. Sein Blick glitt forschend über die hügelige Wiese, die zu einem schmalen Fluss abfiel, der wie ein silbernes Band in der Ferne verschwand. Rechts von ihnen, jenseits der Hügel, waren die schattenhafte Umrisse eines Hauses zu erkennen. »Dort wohnen weiße Farmer«, warnte Hansen, »ein Mann und eine Frau! Aber wir müssen hier entlang! Die anderen Wege sind zu gefährlich! Im Westen liegt eine Plantage, im Osten gibt es ein Dorf und eine breite Straße, auf der viele Pferdewagen fahren! Dort würden sie uns entdecken!« Bensua ließ das kühle Wasser lange in ihrem Mund, bevor sie schluckte. So hielt die Erfrischung länger an. Das hatte sie auf der qualvollen Überfahrt gelernt. Sie blickte zu dem Fluss hinunter. »Müssen wir über den Fluss, Hansen? Wo ist der Sumpf?« »Wir schwimmen den Fluss hinab«, erklärte der Schwarze zur Überraschung der Mädchen. »Das Wasser ist kalt, aber es geht nicht anders. Im Wasser können uns die Hunde nicht riechen. Dann müssen die Sklavenjäger umkehren! Auch wenn sie wissen sollten, dass wir in den Sumpf gehen, werden sie aufgeben! In den Sumpf gehen die Weißen nicht gern! Zu viele Alligatoren und Schlangen! Die Weißen haben niemals im Urwald gelebt.«
Hansen versteckte die Öllampe, die er bereits im Wald gelöscht hatte, im Unterholz. »Bleibt dicht hinter mir!«, schärfte er den Mädchen ein. »Wir dürfen kein Risiko eingehen! Hier hab ich noch nie einen Weißen gesehen, aber man kann nie wissen!« »Was ist, wenn der Farmer aufwacht?«, fragte Manu nervös. »Wenn wir unterhalb der Hügel bleiben, sieht er uns nicht«, beruhigte Hansen das Mädchen. »Außerdem schlafen die beiden fest! Einen Hund besitzen sie nicht. Nur eine altersschwache Katze und die würde ihn nicht mal wecken wenn das ganze Haus einstürzt!« Er blickte zum Himmel empor. »Wir warten, bis der Mond hinter der großen Wolke verschwindet! Seid ihr bereit?« Die Mädchen nickten schwach. Beide hatten große Angst, auch Bensua, und allein der Gedanke, von Sklavenjägern gefangen und zurück auf die Plantage gebracht zu werden, ließ sie erschaudern. Bensua erinnerte sich an ihre eigenen Worte. Sie würde niemals aufgeben, bis sie mit Ottobah vereint war und an eine neue Zukunft glauben durfte. Und sie hatte Manu versprochen wie eine Schwester auf sie aufzupassen. Die Freundin vertraute ihr und irgendwo im Norden wartete Ottobah. Wenn die Götter sie schützten, würde sie ihn bald in die Arme schließen. Sie schlichen geduckt über die Wiese. Wie drei Jäger, die ein Wild einkreisten. Nur dass sie die Gejagten waren. Irgendwann würde ein Aufseher ihre Flucht bemerken und dann würde man sie hetzen, solange eine Möglichkeit bestand, sie einzufangen. Sie mussten den Fluss erreichen. Besser konnte man seine Spuren nicht verwischen, wenn man von blutgierigen Hunden verfolgt wurde. Das hatte Hansen schon vor langer Zeit gelernt. Wenn er die Mädchen unbemerkt bis zu dem hohlen Baum im Sumpf brachte, hatten sie einen wertvollen
Vorsprung, und die Chance, dass die Sklavenjäger sie fanden, war gering. Am Flussufer blieb Hansen stehen. Er bedeutete den Mädchen, sich so still wie möglich zu verhalten, und lauschte in die Dunkelheit. Der Mond war nicht zu sehen. Die Sterne über dem Fluss verbreiteten das einzige Licht. Es war so still, dass selbst das leise Rauschen des Wassers zu hören war. »Binde dir den Vorratsbeutel auf den Rücken!«, forderte er Bensua leise auf. Er kramte eine Lederschnur aus seiner Tasche und reichte sie ihr. Schweigend stiegen sie in das Wasser. Der Grund fiel steil ab und sie mussten sofort schwimmen. Die Kälte ließ sie erschaudern. Erst als sie einige Meter zurückgelegt hatten, wurde es besser. Die Mädchen folgten Hansen auf die andere Seite und hielten sich dicht am Ufer, während sie sich von der Strömung nach Südosten treiben ließen. Gegen das dunkle Ufer und das dichte Schilf würde man sie nur erkennen, wenn man sie im Fluss vermutete und angestrengt nach ihnen suchte. Sie waren gute Schwimmer und glitten wie Treibholz den Fluss hinab. Nur Manu bewegte sich manchmal zu heftig. Die Sterne spiegelten sich wie flüssiges Silber in den schwachen Wellen und verschwanden in dem unruhigen Wasser, das über Felsbrocken schäumte. Hinter einer Biegung, ungefähr zwei Meilen flussabwärts, hielten sie sich an einem umgestürzten Baumstamm fest, der mit der verzweigten Wurzel ins Wasser ragte. Wie jedes Mal, wenn sie anhielten, blickten sie sich nach möglichen Verfolgern um. Außer dem Mond und den Sternen, die zitternd im Wasser schwammen, war nichts zu sehen. Wie stumme Wächter ragten einige Bäume am Ufer empor. Sie waren allein auf dem Fluss, meilenweit von jeder weißen Siedlung entfernt. In einer abgelegenen Wildnis, die selbst von weißen Jägern gemieden wurde.
Bensua schloss die Augen um besser hören zu können und strengte ihre Sinne an. Aus weiter Entfernung drangen bedrohliche Laute zu ihr. Das Bellen von Hunden, ganz leise nur, aber deutlich genug, um ihr einen Schauder über den Rücken zu treiben. Die Bluthunde der Sklavenjäger! »Niggerhunde«, wie die Weißen sie nannten. Speziell abgerichtete Bestien, die auf entlaufene Sklaven dressiert waren und so lange an einem hilflosen Schwarzen zerrten, bis die Sklavenjäger ihnen befahlen von ihrem Opfer abzulassen. Das taten die Männer aber nicht immer. Auch Hansen hörte das Bellen. »Wir müssen weiter!«, mahnte er. »Durch das Schilf, da finden sie unsere Spuren nicht! Bis zum Sumpf ist es nicht mehr weit! Dort habe ich ein Boot versteckt!« Der Schwarze watete durch das Schilf und stieg aus dem Wasser. Er half den Mädchen ans Ufer und deutete nach Norden. Im bleichen Mondlicht waren ein Acker und einige Bäume zu erkennen. Ungefähr hundert Schritte weiter lag der Sumpf. »Zu den Bäumen und dann am Acker entlang!«, flüsterte Hansen. »Im Sumpf sind wir sicher! Dorthin werden sie uns nicht folgen!« Sie rannten vom Ufer weg, spürten vor lauter Aufregung die Kälte nicht, die sich in ihrem ganzen Körper ausgebreitet hatte. Das Bellen der Bluthunde, das mit dem Wind über den Fluss trieb, verlieh ihnen neue Kräfte. Sie blieben nur kurz unter den Bäumen stehen, blickten sich um und hetzten weiter. Bis zum Sumpf war es weiter, als Hansen in Erinnerung hatte. Sie atmeten schwer, als sie den Rand der feuchten Wildnis erreicht hatten. Selbst im schwachen Licht des Mondes und der Sterne war zu erkennen, dass eine schmale Wasserstraße in den Sumpf führte und sich zwischen dunklen Bäumen und dichtem Buschwerk verlor. Spanisches Moos hing bis auf das Wasser herab. Nachdem sie zum Ufer hinabgestiegen waren, zog
Hansen ein Kanu aus dem Schilf, viel kleiner als das Boot, in dem sie über den Ashley River gerudert waren, und lange nicht so stabil. Er hielt es fest, während die Mädchen hineinkletterten, und griff nach dem Paddel. Das Bellen der Hunde war bedrohlich nahe, als Hansen in das Kanu stieg und sich mit dem Paddel abstieß. Mit kräftigen Schlägen bewegte er das Boot in den Sumpf hinein. Der Mond und die Sterne blieben am Ufer zurück. Es wurde beinahe stockdunkel, und wäre der Schwarze während der vergangenen Monate nicht so oft über die verzweigten Wasserwege gefahren, hätte er sich unweigerlich verirrt. Doch jetzt zog er das Paddel sicher durch das schwarze Wasser. Niemand sprach ein Wort. Es roch nach verfaultem Holz und verwesten Tieren und das Glucksen des Wassers und das Zirpen einiger Insekten waren die einzigen Geräusche in einer Wildnis, die Bensua und Manu an den Regenwald in Afrika erinnerte. Wollten ihnen die Götter sagen, dass sie den weißen Männern entkommen waren? Spiegelten sie ihnen ein Stück der alten Heimat vor, um in ihnen neue Hoffnung zu wecken? Die lauten Stimmen der Verfolger und das Bellen der Bluthunde zeigten ihnen, dass sie noch lange nicht in Sicherheit waren. In der Dunkelheit, die wie zäher Nebel über dem sumpfigen Wasser lastete, hallten die Laute wie ein unheimliches Echo. Sie hatten sich nicht in die Irre führen lassen, hatten wohl vermutet, dass Hansen und die Mädchen in den Sumpf fliehen würden. »Irgendein Nigger muss ihnen geholfen haben!«, sagte der Mann mit dem Schnurrbart. »Auf den Trick mit dem Wasser wären sie bestimmt nicht selber gekommen!« Und der Mann mit der Narbe und den langen Haaren erwiderte: »Sie haben ein Boot! Anders kommen sie in diesem verdammten Sumpf nicht vom Fleck!« »Scott und Ballard!«, flüsterte Hansen. »Die haben uns gerade noch gefehlt! Schlimmere Sklavenjäger gibt es nicht!
Wir müssen ganz vorsichtig sein, wenn wir ihnen entkommen wollen!« »Ich habe Angst!«, jammerte Manu leise. »Sei ruhig, sonst hören sie uns«, ermahnte Bensua ihre Freundin. »Solange Hansen bei uns ist, kann uns nichts passieren!« »Und wenn er uns verlässt?« Hansen bedeutete den Mädchen, sich still zu verhalten. Er steuerte das Boot mit beinahe lautlosen Paddelschlägen in einen Seitenarm und erreichte einen schmalen Wasserlauf, der sich scheinbar in dem dichten Buschwerk verlor. Doch nachdem er die Zweige geteilt hatte, erreichten sie einen weiteren Fluss und glitten über zahlreiche Seitenarme wie durch ein endloses Labyrinth. An einer Stelle war das Wasser so schmal, dass Hansen das Paddel senkrecht halten musste. Wie ein dunkles Dach ragten die Büsche über das Boot. Sie sahen den Schatten eines Fisches, der aus dem Wasser sprang und zappelnd durch die Luft wirbelte, und fuhren an einem schlafenden Alligator vorbei, ohne ihn zu bemerken. Die Insekten schwirrten von allen Seiten heran. Als die Büsche immer weiter zurückwichen, hielten sie an. Die Stimmen der Verfolger waren nicht mehr zu hören. Das Bellen der Hunde war verstummt. »Wir sind ihnen entkommen«, flüsterte Manu erleichtert. Hansen blieb ernst. »Lasst euch nicht täuschen«, warnte er die Mädchen. »Die haben bestimmt ein Boot gefunden! So leicht lassen sich Scott und Ballard nicht abhängen! Die geben erst auf, wenn ihr in Pennsylvania seid! Dazu sind sie viel zu geldgierig! Sie hassen alle Schwarzen! Am liebsten würden sie uns alle umbringen!« Als er die entsetzten Gesichter der Mädchen sah, meinte er: »Aber ich werde sie ablenken! Ich führe sie in die Irre, und wenn sie mich erwischen, sage ich ihnen, dass ihr zur Küste geflohen seid! Bis sie die Wahrheit
herausfinden, seid ihr in Sicherheit!« Er grinste. »Ich kann mit diesen Burschen umgehen!« Er lenkte das Kanu in einen breiten Wasserlauf und ließ die Mädchen zwischen einigen Mangroven aussteigen. Hier war der Boden fester und bei den großen Bäumen, die sich abseits des Wassers aus dem Boden erhoben, war der sumpfige Grund kaum noch zu spüren. Hansen führte sie zu einer mächtigen Eiche und deutete auf den Spalt, der auf der Rückseite klaffte. Er war in der Dunkelheit kaum zu sehen. »Hier finden euch die Sklavenjäger nicht!«, sagte er. »Der Baum ist hohl! Er ist groß genug für euch beide. Das letzte Mal habe ich eine Frau und zwei Kinder darin versteckt!« Er verriet ihnen nicht, was aus den Flüchtlingen geworden war, und drängte sie in das Versteck. Zögernd krochen Bensua und Manu in den hohlen Baum hinein. »Ich nehme das Kanu mit«, flüsterte Hansen. »Ihr müsst den Rest des Weges schwimmen! Bis zum Rand des Sumpfes ist es höchstens eine Meile! Wartet drei Tage! Dann nehmt den breiten Wasserlauf und schwimmt nach Norden! Richtet euch nach dem Nordstern! Wenn ihr aus dem Sumpf kommt, seht ihr ein Dorf. Das Haus neben der Kirche hat zwei Kamine. Einer hat einen Ring aus weißen Backsteinen. Dort wohnt James Fairfield, der Reverend. Er wird euch helfen. Wartet, bis in allen Häusern die Lichter ausgehen, dann klopft dreimal und nach einer kurzen Pause noch zweimal an die weiße Holztür! Vertraut dem weißen Reverend! Er ist gegen die Sklaverei und kümmert sich um alle Flüchtlinge.« Bensua reichte dem Schwarzen die Hand. »Vielen Dank«, erwiderte sie leise. »Du hast uns sehr geholfen. Wir werden dich niemals vergessen!« Auch Manu bedankte sich. »Pass auf dich auf, Hansen! Lass dich nicht von den Sklavenjägern erwischen!«
»Unkraut vergeht nicht«, meinte der Schwarze grinsend und ging zum Kanu zurück. Die Mädchen blickten ihm besorgt nach.
25
Die Mädchen krochen in den hohlen Baum. Sie tasteten den moosbedeckten Boden ab und fanden zwei Decken, die Hansen für die »Passagiere« der Underground Railroad zurückgelassen hatte. Das Versteck war groß genug für sie beide, hatte schon einigen Familien als Unterschlupf gedient und war durch herabhängende Äste und verfaulte Moosfetzen getarnt. Einen Meter vom Eingang entfernt wuchs dichtes Gestrüpp. Nur ein erfahrener Spurenleser hätte sie bis zu dem Baum verfolgen können. Und die »Niggerhunde«, wenn sie die Mädchen witterten. Selbst Bensua konnte in dem hohlen Baum aufrecht stehen. Sie legte einen Arm um ihre Freundin und sagte: »Hier sind wir sicher! Hier kann uns nichts passieren!« Manu zitterte vor Angst. Der Sumpf mit seinen unbekannten Gefahren und die beinahe vollkommene Dunkelheit erinnerten sie an die bösen Träume, die sie nach ihrer Verbannung aus dem Herrenhaus gehabt hatte, und schnürten ihr die Kehle zu. Allein im heimatlichen Regenwald hätte sie keine Angst gehabt. Aber in dieser unwirklichen Umgebung glaubte sie sich im Reich der bösen Geister, die nur darauf warteten, sie umzubringen. »Hier finden uns die weißen Männer nicht!«, bekräftigte Bensua, als sie merkte, wie ängstlich ihre Freundin war. »Du wirst sehen, bald sind wir in Sicherheit!« Ihren Worten folgte das Krachen eines Schusses. Unerträglich laut und viel zu nahe hatten die bösen Geister zugeschlagen. Manu klammerte sich in panischer Angst an die ältere Freundin und begann leise zu weinen. Bensua starrte in die Dunkelheit hinaus ohne etwas zu sehen. Dann drangen die
Worte der Sklavenjäger an ihre Ohren. In der nächtlichen Stille waren sie deutlich zu verstehen. »Hast du ihn erwischt?«, fragte Scott. »Verdammt, der Kerl wäre uns beinahe durch die Lappen gegangen!« Und Ballard antwortete: »Ich habe ihn! Schau dir den Bastard an! Ich hab ihm das Hirn weggeblasen!« Einen Augenblick war nur das Plätschern des Wassers zu hören. »He, weißt du, wer das ist? Das ist dieser Hansen, der freie Nigger, den du neulich auf der Hauptstraße angehalten hast! Hab ich mir gleich gedacht, dass der ein Fluchthelfer ist! Wir hätten den Dreckskerl gleich umlegen sollen, dann hätten wir jetzt nicht solchen Ärger!« Bensua drückte ihre Freundin fest an sich; damit niemand ihr leises Schluchzen hörte, und hielt sich mit der freien Hand an dem knorrigen Baumstamm fest. »Sie haben Hansen erschossen!«, flüsterte sie entsetzt. »Sie haben ihn… umgebracht!« Jetzt musste auch sie weinen. Die Tränen rollten über ihre Wangen und tropften auf ihr schmutziges Leinenkleid. Obwohl sie den »freien Neger« kaum gekannt hatte, fühlte sie einen Schmerz, als ob sie einen nahen Verwandten verloren hätte. Sie kämpfte gegen die Tränen an und versuchte ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Wenn sie die Nerven verlor, drohte ihnen dasselbe Schicksal wie Hansen. Ein tapferer Krieger bewahrte immer die Ruhe. »Wir müssen ganz still sein«, flüsterte sie ihrer Freundin zu. »Die Weißen wissen, dass wir in der Nähe sind! Hier hört man jeden Laut! Vielleicht haben wir Glück und sie ziehen weiter!« Aber sie glaubte nicht daran. Hansen hatte selbst gesagt, dass Scott und Ballard nur schwer von einer Verfolgung abzubringen waren. Sie würden erst verschwinden, wenn sie ganz sicher sein konnten, dass ihre Opfer nicht in der Nähe waren. Bensua erschauderte, als sie an die gefühllosen Gesichter der Männer dachte. Für sie war jeder Schwarze minderwertiges Ungeziefer, das man vernichten musste. Ein
Nigger oder eine Niggerin, die es nicht wert waren, am Leben zu bleiben. Sie würden nicht eher ruhen, bis der letzte Schwarze in Ketten lag oder für die Weißen arbeitete. Dabei waren sie selbst Sklaven. Sie verrichteten die Schmutzarbeit. So wie Kelly und die anderen Aufseher, die nicht einmal im Herrenhaus wohnen und essen durften. In den Augen des Masters und der Mistress waren sie fast so minderwertig wie Sklaven. Warum glaubten manche Menschen besser als andere zu sein? Auch bei ihrem Volk hatte es solche Unterschiede gegeben. Die Vertrauten des Königs und die Schwertmänner hatten sich den anderen Asante überlegen gefühlt. Wollten die Götter wirklich, dass ein Mensch wertvoller als ein anderer war? »Was machen wir mit dem Nigger?«, fragte Ballard. »Für den bekommen wir keinen einzigen Dollar! Ich hätte den Bastard am Leben lassen sollen, dann hätten wir ihn verkaufen können!« »Tot ist er mir lieber«, erwiderte Scott. »Ohne ihn erwischen wir die flüchtigen Nigger leichter!« Bensua hörte Wasser platschen, anscheinend tauchte einer der beiden Männer sein Paddel hinein. »Lass ihn liegen! Um den kümmern sich die Alligatoren! Lass uns lieber nach den Mädchen suchen! Auf die ist eine hohe Belohnung ausgesetzt, schon vergessen? Möchte wissen, warum der junge Stockton so versessen darauf ist, die Niggermädchen wieder einzufangen! Meinst du, er hat einen Narren an ihnen gefressen? Ich weiß, dass Edward keinen Rock auslässt! Aber diese halben Portionen? Eher lasse ich mich mit einer verdammten Rothaut ein!« »Er mag schwarzes Fleisch«, meinte Ballard abfällig. »Das hab ich von einem Hafenarbeiter in Savannah, der ihm mal eine junge Sklavin besorgt hat. Mann, die war noch ein halbes Kind! Zwölf oder dreizehn. Angeblich sollen sie früh erwachsen werden, diese Schwarzen! In Afrika heiraten sie als
Kinder, hast du das gewusst? Hab ich auch von dem Mann in Hafen, der kennt sich mit so was aus! Mit zwölf kriegen manche schon Kinder!« »Mir egal«, erwiderte der Mann mit dem schmalen Schnurrbart. »Hauptsache, wir finden sie! Ich kann mir was Schöneres vorstellen als die ganze Nacht im Sumpf herumzupaddeln. Weit können sie nicht sein! Der Nigger kam von links. Los, paddle endlich! Da hinten war ‘ne Insel, da könnten sie sein! Wir lassen die Hunde los, die werden die Niggermädchen schon finden!« Den letzten Teil ihres Wortwechsels hatten die Mädchen kaum verstanden, dazu waren ihre Worte zu undeutlich gewesen. Aber sie konnten sich vorstellen, was die Sklavenjäger unternehmen würden. Sie ahnten, dass ihre Opfer in der Nähe waren, gingen irgendwo an Land und ließen die Hunde los. Es gab zahlreiche Landzungen und Inseln in den Sümpfen, dort war der Boden fest genug um einen Menschen zu tragen. Auf dem trockenen Land wuchsen Bäume wie die Eiche, in der sie sich versteckt hatten. Das Platschen der Paddel kam näher. Bensua war sicher, dass sie die weißen Männer sehen würde, wenn sie zum Wasser hinunterging. Sie waren nur ein paar hundert Schritte von ihrem Versteck entfernt. »Da drüben! Da gehen wir an Land!«, befahl Scott. »Zieh das Boot in den Sand, sonst sitzen wir fest!« Die Stimmen waren so nahe, dass Bensua ängstlich zusammenzuckte. Als ständen die Sklavenjäger direkt vor ihrem Versteck. »Geh nach hinten!«, flüsterte sie ihrer Freundin zu. »Roll dich in die Decken! Wenn sie uns finden, lenke ich sie ab!« Ihr war klar, wie aussichtslos dieses Unterfangen war. Immerhin wussten die Verfolger, dass sie zu zweit waren, und auf Manu war bestimmt eine höhere Belohnung ausgesetzt. Aber sie wollte ihr einen kleinen Hoffnungsschimmer lassen. Sie würde
sich den Sklavenjägern nicht kampflos ergeben und lieber bei dem Versuch, ihnen zu entkommen, sterben. Das war sicher. Sie würde niemals nach »Magnolia Hall« zurückgehen! Vielleicht konnte Manu entkommen, wenn sie die Männer in einen Kampf verwickelte. »Lauf weg und verstecke dich, falls es zu einer Schießerei kommt! Achte nicht auf mich! Nimm ihr Boot und fliehe!« »Ich gehe nicht ohne dich, Bensua!«, widersprach Manu jammernd. »Ich weiß doch gar nicht, was ich tun sollte! Ohne dich…« »Still! Kein Wort!«, flüsterte Bensua. Die Männer paddelten nicht mehr. Sie mussten aus dem Boot gestiegen und an Land gegangen sein. »Lass die Hunde los!«, hörte Bensua den Mann mit dem Schnurrbart sagen. »Mach schon! Die riechen einen Nigger im Umkreis von vielen Meilen!« Bensua stellte sich vor, wie der Mann mit den langen Haaren die Leinen löste und die Hunde in die Dunkelheit scheuchte. Wenige Sekunden später war lautes Gebell zu hören. Jetzt ist alles aus, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hörte, wie das Strauchwerk vor ihrem Versteck knackte. Ihre Muskeln spannten sich. Sie würde sich bis zum letzten Atemzug gegen die Bluthunde verteidigen. Mit erhobenen Fäusten wartete sie. Vor der Baumöffnung tauchten Schatten auf. Die Hunde hatten sie entdeckt! Sie bahnten sich einen Weg durch das Gestrüpp und Bensua glaubte bereits ihren Atem riechen zu können. Da fiel ihr eine Geschichte ein, die ein weißhaariger Sklave auf der Plantage erzählt hatte. An einem Samstagabend hatte er von einem jungen Schwarzen berichtet, der den gefürchteten Bluthunden entkommen war, indem er ihnen seine letzten Vorräte gegeben hatte. Seine Zuhörer hatten ihn ausgelacht. »Woher willst du das wissen, wenn er entkommen
ist?«, fragte ein Mann. Und eine Frau spottete: »Ich glaube, das hast du erfunden, alter Mann!« Bensua griff hastig nach dem Vorratsbeutel. Mit zitternden Fingern kramte sie das Brot und den Schinken heraus. »Kein Laut!«, zischte sie ihre Freundin so heftig an, dass diese zusammenzuckte und sich die Decke über den Kopf zog. Bensua wartete, bis die Hunde heran waren, und warf ihnen die Vorräte hin. Mit einem stummen Stoßgebet bat sie die Götter ihr zu helfen. Sie wagte kaum den Blick zu senken und die Hunde anzusehen. Erstaunt stellte sie fest, dass die Geschichte des alten Mannes wahr gewesen sein musste. Die Bestien senkten die Köpfe und verschlangen die unerwartete Mahlzeit. Es war zu dunkel, um ihre funkelnden Augen und ihre scharfen Zähne zu sehen, und sie war froh darüber. Es reichte schon, dass sie ihr Schmatzen hörte. Kaum hatten sie den letzte Bissen hintergeschluckt, suchten sie das Weite. »Wir haben Glück! Sie sind weg!«, teilte sie ihrer Freundin mit. Mit angehaltenem Atem wartete Bensua, bis die Hunde verschwunden waren, dann atmete sie leise auf. Sie sah kurz den flackernden Lichtschein einer Laterne und hörte Ballard rufen: »Die Hunde kommen zurück! Sieht ganz so aus, als wären die Mädchen nicht hier!« Scott erwiderte: »Vielleicht hat er sie früher abgesetzt, der Bastard! Am besten, wir kehren um und suchen morgen weiter! In dem verdammten Sumpf finden wir sie nicht! Aber sie laufen uns nicht davon! Wir fangen sie morgen!« Die Stimmen entfernten sich und das Platschen des Wassers drang leise durch die Nacht. Die Sklavenjäger zogen sich zurück. »Sie sind weg«, sagte Bensua erleichtert, als sie ganz sicher war. »Es ist vorbei! Wir sind in Sicherheit!« Sie beugte sich zur Freundin hinab und schloss sie fest in die Arme. »Hast
du gehört? Sie sind weggefahren! Du brauchst keine Angst mehr zu haben!« Manu schien ihr nicht zu glauben. Sie weinte leise und ihr ganzer Körper war verkrampft. »Aber… aber die… Hunde!«, stammelte sie in panischer Angst. »Ich habe… die Hunde… gesehen!« »Sie sind weg, Manu! Sie können dir nichts mehr tun! Du brauchst nicht zu weinen, Manu! Die Männer sind zurück gefahren! Wir sind in Sicherheit!« Nur ganz allmählich beruhigte sich Manu. Bensua gab ihr von dem frischen Wasser, das Hansen ihnen gelassen hatte, und nahm selbst einen Schluck. Seltsamerweise hatte sie kaum noch Angst. Der Sieg über die »Niggerhunde« hatte sie stark gemacht. Sie war eine Kriegerin. Sie war mutig genug, um es mit den weißen Sklavenjägern aufzunehmen, und würde alles daran setzen, Ottobah und das freie Land im Norden zu erreichen. Manu würde bei ihr bleiben. Aus der hochmütigen Haussklavin, die glaubte etwas Besseres zu sein, war längst wieder ein hilfloses Mädchen geworden. Manu war zu schwach, um sich in dieser feindlichen Welt zu behaupten. Bensua hängte sich die Flasche über die Schultern. »Wir müssen weiter!«, entschied sie. »Wenn die Sonne aufgeht, müssen wir aus dem Sumpf draußen sein! Untertags finden uns die weißen Männer! Noch mal kann ich die Hunde nicht aufhalten!« »Aber es ist dunkel«, gab Manu zu bedenken. Sie war aufgestanden und blickte in die Nacht hinaus. Es roch nach vermodertem Holz. »Da draußen gibt es wilde Tiere und Schlangen!« »Die hat es in unserer Heimat auch gegeben«, erwiderte Bensua. »Du hast doch gehört, was Hansen gesagt hat. Bis zum Rand des Sumpfs ist es höchstens eine Meile! Das ist nicht weit! So weit sind wir schon als Kinder geschwommen!«
»Aber Hansen hat auch gesagt, dass wir drei Tage warten sollen«, zögerte Manu noch immer. »Warum willst du jetzt schon gehen? In dem Baum sind wir sicher. Hier finden sie uns nicht!« »Die Bluthunde haben uns schon gefunden«, widersprach Bensua ungeduldig. »Komm endlich! Wir dürfen nicht mehr warten!« Sie verließen das Versteck und bahnten sich einen Weg durch das dichte Gestrüpp. Ein Waschbär huschte dicht vor ihren Füßen vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Am Ufer zögerten sie beide. Schwarz und feindselig lag das Wasser vor ihnen, wie eine zähe Masse, die sie bei der ersten Berührung verschlingen würde. Zwischen den Bäumen floss das Mondlicht hindurch und schmolz wie auf einem Spiegel. Auch in ihrer Heimat hatte es solche Gewässer gegeben. »Da wohnen die bösen Geister!«, hatten die Erwachsenen gesagt. Doch Bensua hatte Krieger gesehen, die ins Wasser gestiegen und geschwommen waren. »Onyankopon Kwame, beschütze uns!«, schickte Bensua ein leises Gebet zum Himmel. Sie badete ihr Gesicht im Glanz des halben Mondes und entdeckte den Nordstern, der wie ein Wegweiser am Himmel stand. Er leuchtete stärker als die anderen Himmelskörper und schien ihr zuzurufen: »Hab keine Angst, Bensua! Folge meinem Licht und du wirst die Freiheit erreichen!« Entschlossen stieg Bensua in das kühle Wasser. Nach einigen Schwimmstößen hatte sie sich an die niedrige Temperatur gewöhnt. Die Flüsse in ihrer Heimat waren wesentlich wärmer. »So kalt ist es nicht!«, rief sie der Freundin aufmunternd zu. Manu folgte ihr und klapperte mit den Zähnen, aber das lag wohl mehr an der Angst vor der ungewohnten Umgebung und den geheimnisvollen Tieren, die irgendwo in der Dunkelheit lauern mussten.
Sie folgten dem breiten Fluss nach Norden, zogen ihre Arme durch das schmutzige Wasser. Im schwachen Mondlicht sahen sie silberne Fische springen. Dicht vor Bensua wand sich eine Schlange durch das Wasser, machte aber keine Anstalten, sie anzugreifen. Vor der Uferböschung waren die dunklen Schatten einiger Alligatoren zu erkennen. Einige dösten mit offenen Augen, schienen die Mädchen mit ihren Blicken zu verfolgen. Aber sie bewegten sich nicht vom Fleck. Als hätten die Götter allen Wesen im Sumpf befohlen die Mädchen unbehelligt zu lassen. Die Angst folgte ihnen dennoch, besonders Manu, die alle paar Meter auf der Stelle schwamm und sich nervös nach den leuchtenden Augen umsah. Bensua versuchte nicht daran zu denken, dass die Bestien sie angreifen könnten. Sie erinnerte sich an die Europäer, die durch den heimatlichen Urwald gekommen waren und große Angst vor Löwen und Elefanten hatten. Sie war überzeugt davon, dass selbst wilde Tiere nur einen Menschen angriffen, wenn sie sich bedroht fühlten. »Wir haben keine Musketen dabei«, sagte sie zu den Alligatoren, »wir wollen euch nichts tun!« Die Alligatoren schienen sie zu verstehen und blieben ruhig. Der Weg war länger, als sie gedacht hatten. In dem zähen Wasser kamen sie nur langsam voran und mussten immer wieder treibenden Schlingpflanzen oder Ästen ausweichen. Vor ihnen spiegelte sich der Nordstern im Wasser, wies ihnen mit seinem Licht den Weg nach Norden. Sie waren ganz allein in dem Sumpf, umgeben von dunklen Bäumen und Büschen und den forschenden Blicken seiner unsichtbaren Bewohner. »Wann sind wir da?«, fragte Manu alle paar Meter. »Siehst du schon was?« Nach zwei Stunden erreichten sie den Rand des Sumpfes. Sie stiegen aus dem Wasser und fielen erschöpft ins Gras. Die nassen Kleider klebten an ihren Körpern. Der Wind war
unangenehm kühl, aber sie waren zu müde und mussten erst mal wieder zu Kräften kommen, bevor sie wieder klar denken konnten. Bensua nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, reichte sie an ihre Freundin weiter und blickte auf das Dorf, von dem Hansen erzählt hatte. Die ersten Häuser lagen keine halbe Meile vom Sumpf entfernt an einem schmalen Fluss. Im Mondlicht erkannten sie die Hauptstraße, die über eine Brücke ins Dorf führte. Die Kirche war eines der ersten Gebäude. Der schlanke Giebelturm überragte alle anderen Häuser. Daneben erhob sich das Haus, das Hansen erwähnt hatte. Auch im schwachen Schein des halben Mondes war der Ring aus weißen Backsteinen an einem der beiden Kamine zu erkennen. Eine Besonderheit, die viele Einwohner des Dorfes noch gar nicht beachtet hatten oder für eine eigenwillige Zierde hielten. Die Eingangstür war dunkelbraun, aber eine schmale Tür an der Stirnseite leuchtete weiß und zeigte den Mädchen, wo sie klopfen mussten. »Da ist das Haus!«, erklärte Bensua. Vor Aufregung spürte sie die Nässe und die Kälte kaum. Manu dagegen zitterte am ganzen Körper. »Alles ist genau so, wie Hansen es uns gesagt hat. Gleich darfst du dich an einem Ofen wärmen!« Manu war viel zu erschöpft und müde um sich darüber freuen zu können. Ohne die ältere Freundin wäre sie in dem hohlen Baum geblieben oder ans Ufer geschwommen und auf dem weichen Moos eingeschlafen. »Mir ist so kalt!«, jammerte sie leise. Sie warteten, bis sie sicher waren, dass niemand mehr wach war und sie beobachten konnte, dann liefen sie in das Dorf hinab. Vor der weißen Tür des Hauses, das sich neben der Kirche erhob, blieben sie stehen. Bensua klopfte dreimal und nach einer kurzen Pause zweimal. Als sich nichts rührte, wiederholte sie das Klopfen, nur lauter. Bald darauf erklangen
Schritte und die Tür wurde geöffnet. Ein weißer Mann in einem karierten Nachthemd erschien. Er streckte beide Hände aus und zog die Mädchen rasch ins Haus. »Jetzt seid ihr unter Freunden!«, empfing er sie leise und drückte die Tür vorsichtig wieder zu.
26
Reverend James Fairfield gehörte zu den wenigen Männern, die in einem Nachthemd nicht albern wirkten. Wer ihn ansah, dessen Blick blieb ohnehin an seinem kantigen Schädel und dem weißen Bart hängen, der einen Großteil seines Gesichtes verbarg. Über seinen Augen hingen buschige Brauen. Sein dichtes Haar war kaum zu bändigen und passte irgendwie zu seiner direkten und überschwänglichen Art. »Ihr habt sicher Hunger und Durst!«, sagte er zu den Mädchen und rief gedämpft: »Margaret! Wir haben Besuch! Gib unseren Gästen was von der guten Suppe und heißen Tee!« Er führte die Mädchen in die Küche, verschloss die Fensterläden und zündete eine Öllampe an. »Ich muss vorsichtig sein«, erklärte er lächelnd, »nicht alle Dorfbewohner denken so wie ich!« Die Frau des Predigers war so dick wie Harrtet und hatte einen Morgenmantel über ihr Nachthemd gezogen. Ihre weißen Haare waren sorgfältig nach hinten gekämmt, als wäre sie noch gar nicht im Bett gewesen, und ihre grauen Augen leuchteten voller Mitgefühl. »Gelobt sei der Name des Herrn!«, begrüßte sie die Mädchen. »Hansen hat schon erzählt, dass ihr kommt.« Sie erschrak, als sie die schmutzigen Kleider sah. »Aber wie seht ihr denn aus? James! Hol zwei von den Kleidern, die ich in meinem Schrank hängen habe! Und bring einen Eimer mit Wasser! Die Mädchen brauchen eine gründliche Wäsche, bevor wir ihnen ihr Nachtlager zeigen! Und sei leise, wenn du zum Brunnen gehst!« Außer einem zaghaften »Danke!« brachte Bensua kein Wort hervor. Nicht einmal im Traum hatte sie gedacht, dass es solche Weißen gab, freundliche und mitfühlende Menschen,
die nur das Wohl ihrer unbekannten Gäste im Kopf zu haben schienen. Erst als sie gebadet und die sauberen Kleider angezogen hatten, sagte sie: »Wir sind Ihnen sehr dankbar, Mr und Mrs Fairfield!« Und als sie vor der dampfenden Suppe saßen: »So gutes Essen haben wir schon lange nicht mehr gehabt, Mrs Fairfield! Auf der Plantage gab es nur Hirsebrei und Reis und alle paar Wochen eine fette Fleischbrühe. Jetzt habe ich wieder Hoffnung, dass wir es schaffen werden!« Natürlich wollten die Fairfields wissen, wie die bisherige Flucht der Mädchen verlaufen war, und Bensua berichtete von der Nacht im Sumpf und der Begegnung mit den Hunden. Als sie erzählte, wie Hansen ums Leben gekommen war, schüttelte Mrs Fairfield traurig den Kopf. Sie nickte ihrem Mann zu, dann falteten beide die Hände und der Reverend betete: »Herr, wir bitten dich, nimm den armen Hansen in deine Obhut! Er war ein guter Mensch! Er hat sein Leben für diese beiden Gotteskinder geopfert und verdient es, das ewige Himmelreich zu erleben! Kümmere dich um ihn, Herr, und strafe die Abgesandten des Teufels, die ihn ermordet haben!« Er räusperte sich. »Und wo wir schon dabei sind, Herr! Bereite der Sklaverei endlich ein Ende! Schütte deinen Zorn über die Menschen aus, die hilflose Schwarze in Ketten legen und wie Ochsen vor ihren Karren spannen!« Seine Augenbrauen sträubten sich und auf seiner Stirn erschienen rote Flecken. »Gehe mit feurigen Schwertern gegen diese Unholde vor und treibe sie von ihrem Land, wie dein Sohn es mit den Pharisäern im Tempel getan hat! Diese Schurken leben nur für den Profit, und wenn du keine Zeit hast, werde ich zum Schwert…« »James!«, ermahnte Margaret Fairfield ihren Mann. »Amen!«, sagte der Reverend widerwillig. Nachdem die Mädchen gegessen hatten, führte Mrs Fairfield sie in ein kleines Zimmer. Im Licht des Mondes, der durch das Fenster schien und einen hellen Streifen auf den Boden warf,
sahen sie einen Schrank, eine Kommode aus dunklem Holz und ein einfaches Bett. Es war frisch bezogen. Die weiße Frau wartete, bis die Mädchen unter der Decke lagen, dann schloss sie die Fensterläden und sagte: »Ihr werdet bis morgen Abend bei uns bleiben! Ihr braucht Ruhe und müsst euch erholen! Wenn ihr vor den Sklavenjägern sicher sein wollt, dürft ihr nur nachts reisen! Morgen Abend holt euch ein guter Freund aus Virginia ab! Aber jetzt schlaft erst mal! Bei uns seid ihr sicher! Gute Nacht, ihr beiden!« »Gute Nacht«, wünschte Bensua müde. »Mrs Fairfield?« »Ja, mein Kind?« »Warum tun Sie das alles? Warum helfen Sie uns?« »Wir sind Kinder desselben Gottes«, antwortete sie leise, »auch wenn ihr einen anderen Namen für diesen Gott habt. Es gibt nur einen Herrn und vor seinem Angesicht sind wir alle gleich! Aber genug damit! Ihr seid müde und braucht dringend euren Schlaf!« Margaret Fairfield ging und sie blieben allein in dem dunklen Zimmer zurück. Manu war bereits eingeschlafen, als Bensua einen Arm um sie legte und ebenfalls die Augen schloss. Es war ein herrliches Gefühl, in einem weichen Bett zu liegen und keine Angst mehr haben zu müssen. Fast schien es, als hätten sich die Götter ihres Volkes mit dem Gott der Weißen verbündet um ihnen zu helfen. Oder hatten die Fairfields einen eigenen Gott? Früh am nächsten Morgen wurden Bensua und Manu durch lautes Hundegebell geweckt. »Nun gedulden Sie sich doch! Ich komme ja schon!«, hörten sie Mrs Fairfields Stimme. Im nächsten Augenblick ging die Tür ihres Zimmers auf und der Reverend erschien. »Ihr müsst sofort weg!«, sagte er leise zu den Mädchen. »Draußen stehen die Sklavenjäger Scott und Ballard! Sie müssen uns auf die Spur gekommen sein! Schnell! Zieht euch an!«
Die Namen der gefürchteten Männer vertrieben die letzte Müdigkeit aus den Körpern der Mädchen. Sofort sprangen sie aus dem Bett. Der Reverend schloss die Augen, als sie hastig ihre Kleider überzogen. Dann reichte er Bensua einen Beutel. »Meine Frau hat euch einige Vorräte eingepackt! Und die Wasserflasche habe ich auch gefüllt!« »Wo bleiben Sie denn?«, rief Scott von draußen. »Wir haben eine gerichtliche Verfügung, Ihr Haus durchsuchen zu dürfen!« Das war natürlich gelogen, aber wer kümmerte sich später schon darum? »Machen Sie auf, Mrs Fairfield! Wir wissen, dass Sie zwei Sklavinnen verstecken! Machen Sie sofort die Tür auf oder wir schlagen die Fenster ein! Die Polizei ist auf unserer Seite!« Der Reverend strich das Bett glatt und schob die Mädchen in den Gang. »Beeilt euch!«, flüsterte er. »Hier rein!« Er öffnete die Tür zum Kartoffelkeller und führte sie eine steile Treppe hinunter. Im Keller war es stockdunkel. Fairfield tastete sich zur Wand vor, rückte einen Schrank zur Seite und öffnete eine verborgene Tür. Aus dem dunklen Gang dahinter wehte ihnen kühle Luft entgegen. »Der Gang führt zur Kirche!«, erklärte er den verängstigten Mädchen. »Lauft nach Norden! Nach ungefähr drei Stunden erreicht ihr einen See! Aber seid vorsichtig und bleibt abseits der Straße, damit euch niemand sieht! Am Ufer des Sees gibt es eine Menge großer Felsen! Auf einem von ihnen wächst ein einzelner Baum. Versteckt euch in der Höhle, die nahe diesem Felsen liegt! Wartet dort, bis ein Weißer kommt und nach seinem Sohn Benjamin ruft! Wenn ihr diesen Namen hört, wisst ihr, dass Ripley in der Nähe ist! Ein kräftiger Mann, der immer einen Strohhut trägt. Er wird euch nach Virginia bringen! Aber es kann zwei oder drei Tage dauern, bis er kommt! Zuerst müssen wir jemanden schicken, der ihm Bescheid sagt! Habt ihr verstanden?« Fairfield schob die Mädchen in den Gang. »So, und jetzt lauft!
Viel Glück, ihr beiden!« Er schloss die Tür und schob den schweren Schrank davor. Eilig stieg er die Kellertreppe wieder hinauf. Oben angekommen klopfte er sich den Staub aus den Kleidern und gab seiner Frau ein Zeichen. Margaret Fairfield öffnete die Haustür und ließ die wütenden Sklavenjäger herein. Die Bluthunde stürmten bellend an ihr vorbei. »Was fällt Ihnen ein, meine Herren?«, rief sie entrüstet. »Es ist Sonntagmorgen! Wie kommen Sie dazu, uns um diese Zeit zu stören? Ich war noch im Morgenmantel und mein Mann saß in seinem Arbeitszimmer und bereitete sich auf den Gottesdienst vor!« Sie schnaubte vor Wut. »Und was sollen diese lächerlichen Anklagen!« Die beiden Männer kümmerten sich nicht um die Proteste der Frau und schoben sie wie ein lästiges Hindernis zur Seite. »Sie sind doch vollständig angekleidet, Mr Reverend!«, forderte Scott ihren Mann heraus. »Warum haben Sie nicht aufgemacht? Wollten wohl erst den verdammten Niggermädchen zur Flucht verhelfen, was?« Er wandte sich an Ballard. »Sieh dich draußen um! Vielleicht sind sie aus dem Fenster gesprungen! Knall sie ab, wenn es nicht anders geht! Es hat niemand gesagt, dass wir sie lebend bringen sollen! Ich durchsuche das Haus. Mach schon, Ballard!« Der Mann mit der Narbe verschwand und Scott marschierte wie ein Polizist, der sicher ist, das Versteck eines gesuchten Verbrechers zu kennen, in die Küche. Er öffnete den Geschirrschrank und sah unter dem Tisch nach. »Wir haben Sie schon seit ein paar Tagen in Verdacht«, meinte er. »Die Hunde werden immer ganz nervös, wenn wir an Ihrem Haus vorbeikommen!« »Und deshalb haben Sie eine richterliche Verfügung bekommen?«, fragte Fairfield spöttisch. »Den Richter möchte ich sehen! Ich glaube fast, Sie leiden unter Verfolgungswahn!
Was treibt Sie dazu, wie die Wahnsinnigen hinter ein paar Sklaven herzulaufen? Ist es das Geld? Haben Sie keinen Beruf? Warum hüten Sie kein Vieh? Warum bestellen Sie keine Felder, Mr Scott?« »Sie kennen meinen Namen?« Der Sklavenjäger blickte Fairfield herausfordernd an. »Sie haben Angst vor mir, nicht wahr?« Der Reverend blieb ruhig. »Ich habe keine Angst vor Ihnen, Mr Scott. Eher Mitleid! Jawohl, ich habe Mitleid mit Ihnen! Mitleid mit einer irregeführten Kreatur, die ihren ganzen Lebensinhalt darin sieht, unschuldige Menschen zu quälen und einer ungerechten Strafe zuzuführen! Gott wird Sie für diese Sünde bestrafen, Mr Scott!« »Sie geben also zu, dass Sie auf der Seite dieser elenden Nigger stehen? Wir handeln nach dem Gesetz, Mr Reverend! Und das Gesetz sagt, dass jeder Sklave, der sich unerlaubt vom Besitz seines Herrn entfernt, unverzüglich zurückzubringen ist und eine empfindliche Strafe zu erwarten hat! Sklaven sind eine wertvolle Handelsware, Mr Reverend! Unsere Auftraggeber haben teuer dafür bezahlt und denken gar nicht daran, diese ungezogenen Nigger einfach laufen zu lassen! Jeder Weiße, der einen Sklaven besitzt, hat das verdammte Recht, ihn zurückzuholen!« »Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht in diesem Haus zu fluchen, Mr Scott!«, erwiderte Fairfield. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können, und verschwinden Sie wieder! Und achten Sie darauf, dass die Hunde nichts schmutzig machen! Verstanden?« Scott verschob seinen Mund zu einem gefährlichen Lächeln. »Sie fühlen sich wohl mächtig stark, Mr Reverend? Wollen mal sehen, was Sie sagen, wenn wir die Niggermädchen bei Ihnen finden! Dann nützt Ihnen Ihr Gott auch nicht mehr viel! Sie bekommen eine empfindliche Strafe und man wird Sie aus
dieser Gegend vertreiben! Für Sklavenfreunde ist im Süden kein Platz!« Er drückte den Reverend zur Seite und ging in das kleine Zimmer, in dem Bensua und Manu geschlafen hatten. Die Hunde blieben bellend vor dem Bett stehen. Scott grinste siegessicher. »Und wer hat in diesem Bett geschlafen?« Er legte eine Hand auf das Laken und spürte die Wärme der Mädchen. »Ein Gespenst?« »Das war ich«, sagte Margaret Fairfield schnell. »Mir war heute Morgen nicht gut, deshalb hab ich mich noch mal hingelegt. Unsere Betten hatte ich schon gemacht.« Sie strich das Laken glatt und schob die Decke über die Stelle, die Scott berührt hatte. »Aber ich wüsste nicht, was Sie das angeht! Verlassen Sie unser Haus, Mr Scott! Sie haben kein Recht, hier herumzuschnüffeln!« Scott ließ sich nicht beeindrucken. Sein Grinsen blieb, und nachdem er einen misstrauischen Blick auf das verschlossene Fenster geworfen hatte, ging er in den Flur und blieb vor der Kellertür stehen. »Wohin führt diese Tür, Mr Reverend?«, fragte er. »In den Kartoffelkeller. Warum?« »Geben Sie mir eine Lampe, Mr Reverend!« Er wartete ungeduldig, bis Fairfield seiner Aufforderung nachkam, und stieg dann in den Keller hinab. Nachdem er einen flüchtigen Blick auf die Kartoffeln und die Regale mit den Vorräten und der eingemachten Marmelade geworfen hatte, ging er zu dem Schrank. Er riss die Tür mit einem Ruck auf und konnte seine Enttäuschung kaum verbergen. In den Fächern des Schrankes lagen Gesangbücher und Bibeln. »Also gut, Mr Reverend! Heute haben Sie noch mal Glück gehabt! Aber dieses Glück hält nicht ewig! Beim nächsten Mal erwischen wir Sie und dann hilft Ihnen auch Gott nicht mehr!« »Amen«, sagte der Reverend.
Die Mädchen hatten bereits das Ende des unterirdischen Ganges erreicht, als der Sklavenjäger die Schranktür wieder schloss und vor dem Reverend und seiner Frau nach oben stieg. Sie hörten nur das Bellen der Hunde, als er das Haus verließ und nach Ballard rief. »He, Ballard! Hier ist nichts! Schon was gefunden?« »Das verdammte Dorf ist wie ausgestorben«, kam die Antwort. »Vielleicht sind sie im Schulhaus!« »Ich komme, Scott!«
Bensua öffnete die Holztür am Ende des Geheimgangs und fand sich in einem fensterlosen Abstellraum wieder. Sie bedeutete der Freundin, ihr zu folgen und verschloss die Tür. Beide Mädchen erschraken, als sie die Stimmen der Sklavenjäger hörten. Die eine war gefährlich nahe. »Wo sind wir?«, fragte Manu. »Im Haus des weißen Gottes«, antwortete Bensua. Sie öffneten die andere Tür und betraten den großen Raum, in dem die Weißen beteten. Am Kopfende stand ein gedeckter Tisch mit Blumen, an der Wand darüber hing ein Kreuz. Die Geschichte vom Sohn des weißen Gottes, der für alle Weißen am Kreuz gestorben war, hatten sie schon von den Missionaren in der Heimat gehört. Ob die Weißen deshalb so grausam waren? Weil sie wussten, dass der Sohn ihres Gottes für ihre Sünden gebüßt hatte? Angeblich war er nach seinem Tod wieder auferstanden. »Ein seltsamer Gott, der seinen eigenen Sohn an ein Kreuz nageln lässt«, sagte Bensua leise. Und doch beschlich sie das eigenartige Gefühl, dass dieser Gott auch auf ihrer Seite war. Der Reverend und seine Frau waren vom Geist ihres Gottes beseelt und hatten ihnen geholfen! Sie setzten ihr Leben ein
um ihnen zu helfen und lockten die Sklavenjäger auf eine falsche Spur. Es fiel den Mädchen schwer, den Blick von dem Kreuz zu nehmen. Wie ein mächtiges Zeichen hing es an der Wand. Mahnend und tröstend zugleich. Der weiße Gott verlangte keine Opfer, weder von Tieren noch von Menschen. Er schien nachsichtiger zu sein als ihre eigenen Götter. Und doch ließ er zu, dass seine Gläubigen über Menschen mit anderer Hautfarbe bestimmten. »Weiter!«, drängte Bensua. Sie lief zur Stirnseite des Raumes und öffnete die Hintertür. Mit einem raschen Blick erkannte sie, dass niemand in der Nähe war. »Hinter das Gebüsch!« Sie rannten einen Hügel hinauf und versteckten sich. Durch die Zweige beobachteten sie die Hauptstraße, die unterhalb des Hügels nach Norden führte. Die Sklavenjäger waren am anderen Ende des Dorfes und klopften an die Tür des Schulhauses. Die Bluthunde bellten nervös. »Schnell! Zum Fluss!«, sagte Bensua. Sie überquerten den Hügel und rannten zu dem schmalen Fluss hinab. »Diesmal muss der Trick klappen«, hoffte Bensua. »Wir laufen durch den Fluss, bis zu der Biegung hinter den Bäumen! Dort wittern uns die Hunde nicht! Wir bleiben im Schatten!« Ohne zu zögern stiegen sie in das kühle Wasser. Gegen die Strömung und dicht am anderen Ufer entlang, wo die Strahlen der Morgensonne nicht hinkamen, wateten sie nach Westen. Das Dorf entschwand ihren Blicken. Es war gefährlich, am Tag durch den Fluss zu laufen, denn selbst an einem Sonntagmorgen konnten sich Weiße an das Ufer verirren. Ungezogene Jungen, die sich vor dem Kirchgang drückten, ein Farmer und seine Frau, die auf dem Weg ins Dorf waren und eine kurze Rast einlegten. Oder ein Kanu mit jungen Männern, die angeln wollten.
Die Mädchen hatten Glück. Sie erreichten die Biegung ohne einem Menschen zu begegnen und stiegen hastig die Uferböschung empor. Sie tauchten in einem nahen Wald unter und wandten sich nach Westen, um die Sklavenjäger in die Irre zu führen. Dort suchten sie bestimmt nicht nach ihnen. Sie liefen, bis ihnen der Atem ausging, und ruhten sich auf einem umgestürzten Baumstamm aus. Bensua trank aus der Wasserflasche und gab sie an die Freundin weiter. Ohne ein Wort zu wechseln rannten sie weiter. Die Angst, von den Sklavenjägern und ihren »Niggerhunden« eingeholt zu werden, trieb sie zu größter Eile an. Nach einer Stunde erreichten sie eine kleine Lichtung. Sie sanken erschöpft ins Gras und rangen nach Luft. »Essen können wir später«, sagte Bensua, als Manu nach dem Vorratsbeutel griff. Sie blickte zur Sonne empor und wandte sich nach Norden. »Weiter, Manu! Weiter! In der Höhle können wir uns ausruhen!« Aber die Höhle lag über zwei Stunden von der Lichtung entfernt und es wurde ein anstrengenden Marsch für sie. Durch den Wald kamen sie schnell vorwärts, hier brauchten sie auch keine Angst zu haben, auf eine Siedlung zu treffen oder von einem Weißen entdeckt zu werden. Doch als sie den Waldrand erreicht hatten und über freies Farmland fliehen mussten, wurde es schwieriger. Zwischen den Feldern bestand immer die Möglichkeit, einem Weißen in die Arme zu laufen und von ihm gefangen und ins nächste Dorf gebracht zu werden. Aber sie hielten sich von den Straßen fern, liefen quer über die Felder und nützten jede Deckung aus, die sich ihnen bot: Bäume, Büsche und Felsen. Sie richteten sich nach der Sonne, die viel zu schnell am Himmel emporstieg, und erreichten den See um die Mittagszeit. Vor ihnen türmten sich die Felsen, von denen der Reverend gesprochen hatte. Auf einem der Steine wuchs ein
einzelner Baum. Sie suchten das Gebiet rings um den Felsen ab und fanden eine versteckte Höhle, deren Eingang zwischen einigen Büschen lag. Ohne den Hinweis des Reverends hätten sie das Versteck niemals gefunden. »Endlich!«, rief Bensua erleichtert. Sie verwischten ihre Spuren und betraten die Höhle. »Hier findet uns sicher keiner!«
27
Zwei Tage verbrachten Bensua und Manu in der Höhle. Sie waren allein mit dem Wind, der immer stärker durch die Felsen blies und sich in dem Gestrüpp vor dem Eingang verfing. Die Wirklichkeit lag jenseits der Hügel. Sie hörten keinen menschlichen Laut, keine wütenden Stimmen, und das Gebell der Bluthunde erklang nur in ihren bösen Träumen. Die Höhle führte ungefähr zehn Schritte in die Felsen hinein. Durch eine versteckte Öffnung im hinteren Teil zog kalte Luft und ließ sie erzittern. Sie schliefen eng umschlungen und wärmten einander mit ihren Körpern, wagten auch tagsüber nicht, ein Feuer zu entzünden. In dem Vorratsbeutel, den der Reverend ihnen mitgegeben hatte, lag eine Schachtel mit Schwefelhölzern. Sie hatten Angst, dass der Rauch aus der Höhle zog und sie verriet. Scott und Ballard waren erfahrene Jäger, die seit vielen Jahren flüchtige Sklaven einfingen, und sie durften nicht das geringste Risiko eingehen. Am ersten Morgen trat Bensua zögernd aus der Höhle und ließ ihren Blick über die Felsen und den großen See schweifen. Am Himmel waren dunkle Regenwolken aufgezogen und spiegelten sich in dem unruhigen Wasser. Das Wetter wurde schlechter. Der Wind blies noch stärker, strich über das dunkle Gras und bog die wenigen Bäume am Ufer. Es begann zu regnen. Bensua kehrte in die Höhle zurück und setzte sich zu der Freundin, die in einer Vertiefung der Felswand kauerte und mit beiden Armen ihren Körper umschlang. »Mir ist so kalt«, klagte sie. Bensua kniete nieder und massierte die Oberarme ihrer Freundin. »Der Regen verwischt unsere Spuren«, sagte sie,
»jetzt können uns die Hunde nicht mehr wittern! Etwas Besseres konnte uns nicht passieren!« Sie nahm Manu in den Arm und streichelte sie. Manu zitterte. »Bewege dich!«, mahnte Bensua. »Hüpf auf der Stelle und lauf in der Höhle herum, das treibt die Kälte aus deinem Körper! Wenn du ruhig bleibst, wirst du krank! Wir dürfen nicht krank werden! Hörst du?« »Ich kann nicht«, erwiderte Manu erschöpft, »ich bin so müde!« »Du musst aber«, widersprach Bensua. »Komm, wir laufen um die Wette! Bis zur Wand und zurück! Dann frierst du nicht mehr!« Sie bewegten sich den ganzen Tag, liefen in der Höhle auf und ab und erzählten einander die alten Geschichten, um von der Kälte abgelenkt zu werden. Wenn Manu aufgeben wollte und zu Boden sank, zog Bensua sie hoch und redete auf sie ein: »Der Mann, der sich Ripley nennt, wird bald hier sein! Zwei oder drei Tage, hat der Reverend gesagt! Jetzt kann es nicht mehr lange dauern!« Abends kauerten die Mädchen an einer windgeschützten Stelle und wärmten sich gegenseitig. Bensua war froh, dass Manu zu ihr zurückgefunden hatte und jetzt an ihrer Seite war. Sie hatte von Sklaven gehört, die allein nach Norden geflohen waren. Wie einsam mussten sie sich gefühlt haben! Ohne einen vertrauten Menschen in einem einsamen Versteck, von bösen Geistern in dunklen Träumen verfolgt, konnte man den Verstand verloren. Der weißhaarige Schwarze aus dem Nachbarhaus hatte von einem Sklaven erzählt, der sein Versteck verlassen und freiwillig auf die Plantage zurückgekommen war. Er hatte die Hoffnung auf baldige Freiheit gegen zwanzig Peitschenhiebe eingetauscht und war einen Monat später an Verzweiflung gestorben.
In der zweiten Nacht wurde Bensua durch ein leises Geräusch geweckt. Sie schreckte aus dem Schlaf, löste sich vorsichtig von ihrer schlummernden Freundin und ging zum Höhleneingang. Es regnete in Strömen. Schwere Tropfen prasselten auf das Gebüsch und den felsigen Boden vor der Höhle. Ein schwacher Blitz erhellte den Himmel und ließ das Strauchwerk in einem geheimnisvollen Licht erscheinen. In der Ferne grollte Donner. Das musste das Geräusch gewesen sein, das sie geweckt hatte. Sie atmete erleichtert auf und wollte zu ihrem Nachtlager zurückgehen, als ein anderes Geräusch an ihr Ohr klang. Hundegebell! Zuerst glaubte Bensua sich getäuscht zu haben, aber dann war das Bellen wieder zu hören und sie fluchte leise. Die Sklavenjäger hatten nicht aufgegeben! Sie ließen sich nicht einmal durch den Regen abschrecken und lagerten wohl irgendwo in der Nähe. Sie nahm an, dass die Hunde sich vor dem Gewitter ängstigten und den hellen Blitz angebellt hatten. Die Entfernung war schwer zu schätzen, auch für eine Schwarze, die in der Wildnis aufgewachsen war. Eine Meile, vielleicht zwei. In dem Unwetter war nicht zu erkennen, aus welcher Richtung das Bellen kam. Am nächsten Morgen wusste Bensua nicht zu sagen, ob sie das Bellen wirklich gehört oder nur geträumt hatte. Der Freundin verriet sie nichts. Aber sie redete so wenig wie möglich und versuchte so lautlos wie möglich zu sein. Keine Wettläufe und keine Geschichten mehr. Sie blieb neben Manu in der Felsvertiefung sitzen, wärmte den zitternden Körper ihrer Freundin und meinte: »Wir dürfen kein Risiko eingehen! Es ist zu gefährlich!« Am späten Vormittag ließ der Regen nach und der Wind war nicht mehr so kalt wie während des Unwetters. Bensua trat langsam aus der Höhle und atmete die würzige Luft ein. Von dem einsamen Baum auf dem Felsen und dem Büschen tropfte Wasser. Die Felsen glänzten im blassen Licht. Über dem See
lag eine feine Nebelschicht. Bensua spähte aufmerksam in die Ferne, voller Angst, die Sklavenjäger mit ihren Hunden zu entdecken, und duckte sich rasch, als ein Pferdewagen über einen der Hügel kam. Sie ging in die Höhle zurück und legte einen Finger auf den Mund. »Da kommt jemand!«, sagte sie. Sie blieben stehen und hörten mit klopfendem Herzen, wie der Wagen zwischen die Felsen gerollt kam. Dann verstummte das Mahlen der Räder und eine männliche Stimme rief: »Benjamin! Wo bist du, mein Sohn? Ich bin leider spät dran. Zeige dich, Benjamin! Wir haben einen weiten Weg vor uns! Komm raus, Benji!« Das verabredete Zeichen! Die Mädchen entspannten sich und verließen die Höhle. Zögernd näherten sie sich dem weißen Mann, der auf dem Kutschbock eines mit schweren Werkzeugen beladenen Wagens saß. Er war dürr wie eine Bohnenstange, trug einen dunkelblauen Overall und den zerfransten Strohhut, den der Reverend erwähnt hatte. Das Gesicht mit den kleinen Äuglein war von Wind und Wetter zerfurcht. »Gott sei Dank!«, rief er, als er die schwarzen Mädchen erblickte. »Ich hab schon gedacht, ich bin zu spät dran! Mit diesem Scott ist nicht zu spaßen!« Die Mädchen begrüßten den weißen Mann und nannten ihre Namen. »Ich heiße Ripley«, antwortete er, »meinen Vornamen hab ich vergessen!« Er kicherte heiser und sprang vom Kutschbock. Mit einem geübten Handgriff zog er an einem versteckten Hebel unter dem Wagen. Auf der Ladefläche zwischen den Werkzeugen öffnete sich eine Klappe. »Das sicherste Versteck, das man sich vorstellen kann«, meinte er fröhlich. »Etwas unbequem, das geb ich gerne zu, aber besser, als von diesen Sklavenjägern erwischt zu werden! Ich hab euch Decken reingelegt.« Bensua half ihrer Freundin in das geheime Versteck und kletterte hinterher. Unter dem doppelten Boden hatten sie
kaum Platz. Sie mussten flach liegen, wenn sie nicht mit dem Kopf anstoßen wollten, und schafften es nur mit großer Mühe, sich von einer Seite auf die andere zu wälzen. Noch schlimmer war es, als Ripley die Klappe verschlossen hatte und sie über die holprige Straße fuhren. Der Wagen war kaum gefedert und sie spürten jede noch so kleine Erschütterung. Als sie am selben Abend aus dem Wagen kletterten um in der Scheune eines Farmers zu übernachten, spürten sie jeden Körperteil. Sie ließen sich ins Stroh fallen und bedankten sich schüchtern, als die Frau des Farmers ihnen Brot, Schinken und Käse brachte und für jede ein Glas warme Milch. »Sie sind sehr gütig«, sagte Bensua, »ich wusste nicht, dass es so viele gute Weiße gibt!« »Wir glauben nicht, dass unser Herrgott einen Unterschied zwischen weißen und schwarzen Menschen macht!«, antwortete die Frau lächelnd. »Wusstet ihr, dass ein schwarzer Mann an seiner Wiege war und ihm ein Geschenk zu seiner Geburt brachte? Ich möchte wissen, was die Sklavenhalter sagen würden, wenn Jesus als schwarzer Mann auf die Erde zurückkäme!« Der Gedanke schien sie zu belustigen. »Gott segne euch, meine Kinder! In der Scheune seid ihr vor den Sklavenjägern sicher! Wir haben schon vielen Flüchtlingen geholfen!« Im Stroh war es angenehm warm und die Mädchen schliefen bis in den Morgen hinein. Nicht einmal der Hahn konnte sie wecken. Sie erwachten erst, als die Farmersfrau in den Hof kam um die Schweine zu futtern, und spritzten sich frisches Wasser aus dem Ziehbrunnen ins Gesicht. Da weit und breit kein Sklavenjäger zu sehen war, konnten sie im Haus frühstücken. Es gab frisch gebackenes Brot mit Spiegeleiern und heiße Milch. Ripley verschlang einen Teller mit Bratkartoffeln und Speck. Er hatte riesigen Appetit. Auch auf den anderen Farmen, die sie auf ihrem Weg nach Virginia
besuchten, schaufelte er mächtige Portionen in sich hinein. »Warum bist du so dünn, wenn du so viel isst?«, wollte Manu wissen. Und Ripley antwortete grinsend: »Weil ich den ganzen Tag auf dem Wagen durchgeschüttelt werde! Da kannst du nicht dick werden! Sollte meine Schwester auch mal versuchen!« »Du hast eine Schwester?«, fragte Manu. Ripley nickte. »Sie wohnt in Kanada, schon seit ein paar Jahren. Früher lebte sie in Virginia. Die Leute haben sie weggejagt, weil sie einem Schwarzen helfen wollte, einem entflohenen Sklaven! Er hatte ein paar Äpfel gestohlen und sollte aufgehängt werden!« »Und?«, erkundigte sich Manu. »Sie knüpften ihn an der Eiche vor dem Schulhaus auf! Vor den Kindern! Meine Schwester schlug mit einem Knüppel auf die Männer ein, aber sie konnte das Verbrechen nicht verhindern.« »Und seitdem bist du Schaffner?« »Das war ich schon früher«, antwortete er. Die nächsten Tage verliefen ohne einen Zwischenfall. Sie fuhren über Nebenstraßen nach Norden, begegneten einigen Weißen, die aber keinen Verdacht schöpften. Der Wagen bot eine perfekte Tarnung. Ripley wurde für einen Farmer gehalten, der mit defekten Werkzeugen und Geräten in die Stadt unterwegs war um sie dort reparieren zu lassen. In seinem Overall und dem zerfransten Strohhut sah er wie die meisten Männer aus, an denen sie vorbeifuhren. Die Mädchen konnten durch den schmalen Spalt zwischen den Wagenbrettern nach draußen blicken. Sie sahen blühende Wiesen und glitzernde Seen und atmeten tief die frische Luft des Frühlings ein. Es wurde immer wärmer. Nach dem Unwetter in den Felsen regnete es kaum noch und die Sonne strahlte von einem tiefblauen Himmel. Jetzt fuhren sie
tagsüber, weil ein Weißer, der nachts einen Wagen lenkte, Verdacht erregt hätte. Die Nächte verbrachten sie auf den »Stationen« der Underground Railroad, abgelegenen Farmen, Kirchen und Stadthäusern. Wie ein unsichtbares Netz überzogen diese »Stationen« das Land. Ripley hatte versprochen sie bis nach Virginia zu bringen. Seit seine Schwester nach Kanada gezogen war, lebte er allein. »Ich hab genug Zeit«, erzählte er. »Das bisschen Geld, das ich zum Leben brauche, verdiene ich mir zwischen den Fahrten.« Er lenkte den Wagen im Zickzackkurs durch North Carolina, schien jeden Schlupfwinkel zu kennen und fand immer wieder einen freundlichen Farmer, der ihm etwas Fleisch, ein Huhn oder einige Kartoffeln schenkte. Die Underground Railroad hatte mehr Mitarbeiter, als die Mädchen vermuteten. Jeden Abend, bevor sie einschliefen, dankten sie ihren Göttern dafür, dass es Weiße gab, die ein Herz für die schwarzen Sklaven hatten. Auch einige Schwarze waren unter den Helfern. Freie Neger mit gültigen Papieren oder Flüchtlinge, die zurückgekommen waren und im Verborgenen arbeiteten. Es gab keine feste Organisation, einer half dem anderen und keiner machte ein Geschäft mit der Flucht. Die Mädchen gewöhnten sich an ihr unbequemes Versteck und waren sogar froh, unter dem doppelten Boden des Wagens liegen zu dürfen. Das hatten sie Hansen und dem Reverend zu verdanken, die sich beide darum bemüht hatten, dass Ripley sie nach Virginia brachten. Hansen hatte sofort gesehen, dass Manu viel zu schwach war, um auf einem anderen Weg in die Freiheit zu gelangen. Die Flucht durch den Sumpf war anstrengend genug gewesen. Männliche Sklaven und sogar einige Frauen und Kinder mussten zu Fuß nach Norden fliehen, liefen von einer »Station« zur nächsten und waren nur nachts unterwegs. Gegen diese Strapazen hatten es die Mädchen noch gut. Aus Dankbarkeit nannten sie auch die
Namen von Hansen und dem Reverend, wenn sie beteten. Und Bensua fügte ein schüchternes »Amen!« hinzu, damit auch der Gott der Weißen ihre Worte hörte. Jetzt tauchte auch Ottobah wieder in Bensuas Träumen auf. Die Sehnsucht nach dem geliebten Mann hatte niemals nachgelassen, auch wenn die Angst vor den Sklavenjägern und die Sorge um die schwache Freundin ihre Liebe in den Hintergrund gerückt hatten. Wenn sie in Gefahr waren, brauchten sie ihre ganze Energie, um den Verfolgern zu entkommen. Selbst mutige Krieger starben im Kampf, wenn sie an ihre Frauen und Kinder dachten. Jede Ablenkung brachte Gefahr, darüber hatten die Männer in der alten Heimat oft gesprochen. Doch unter dem doppelten Boden war sie sicher und ihre Gedanken wanderten immer öfter zu dem Krieger, der irgendwo in Virginia zu ihnen stoßen sollte. Ottobah würde sie finden, da war sie ganz sicher. Sie zitterte vor Vorfreude, wenn sie daran dachte, den Krieger zum ersten Mal nach langer Zeit zu umarmen, doch in ihre Vorfreude mischte sich die Sorge, es könnte etwas dazwischenkommen. Auch Ottobah musste fliehen und schwebte in ständiger Gefahr, von Sklavenjägern aufgegriffen und bestraft zu werden. Auf einer einsamen Straße nördlich von Salem, am Ufer eines lang gestreckten Sees, verwandelte sich die Vorfreude der Mädchen in eisige Furcht. Wie aus dem Nichts tauchten drei Reiter auf, drei Weiße auf wendigen Pferden, die nervös wieherten, als die Männer sie zügelten. »Kein Wort!«, zischte Bensua. Die Reiter waren auf ihrer Seite und sie konnte sie deutlich sehen. Scott und Ballard waren nicht dabei. Die Männer sahen aus, als wären sie schon einige Zeit unterwegs. Sie trugen lange Regenmäntel, obwohl seit Tagen die Sonne schien. Ihre Gesichter waren hart und wurden von kalten Augen beherrscht.
»Wen haben wir denn da?«, fragte einer der Männer, anscheinend der Anführer. Er trug einen Kinnbart. »Was tut ein Farmer in dieser gottverlassenen Gegend? Wollten Sie zu Hostetter?« »Hostetter? Kenne ich nicht«, antwortete Ripley gelangweilt. »Ich will nach Salem, die verdammten Geräte reparieren lassen.« »Salem liegt da hinten«, sagte der Mann und deutete nach Süden. »Scheinen sich nicht besonders gut auszukeimen in dieser Gegend. Sind Sie sicher, dass Sie nicht zur Miller Farm wollten?« Ripley ließ sich nicht einschüchtern. »Ich fahr um den See rum und dann erst nach Süden. Da ist die Straße nicht so holprig und ich kann in der Taverne vom alten Bill Zachary übernachten. Der brennt den besten Whiskey östlich der Smoky Mountains…« »Das stimmt«, rief einer der anderen Männer. »Einen besseren Whiskey gibts nicht mal in Tennessee und da brennen sie einen verdammt guten Stoff! Da sollten wir auch vorbeireiten, Ed!« »Halt die Klappe!«, befahl der Anführer. Er lenkte sein Pferd um den Wagen und schob einige Geräte zur Seite. Den Mädchen trat der Angstschweiß auf die Stirn. Sie waren nur durch ein paar Latten von dem Sklavenjäger getrennt. Seine Hände waren wenige Zentimeter von ihnen entfernt. Aber er fand die Klappe nicht und ritt zum Kutschbock zurück. »Und ich dachte, Sie sind einer dieser elenden Niggerfreunde, die Sklaven nach Norden karren! Miller hatte eine Station, haben Sie das gewusst?« »Eine Station?«, fragte Ripley. »Ein Bahnhof?« Der Anführer grinste wieder. »So was Ähnliches. Underground Railroad, schon mal gehört? Ein Netz von verdammten Niggerfreunden, die Sklaven von einem Versteck
zum anderen bringen. Miller gehörte zu ihnen! Wir haben ihn gestern zum Sheriff gebracht! Jenkins, der Dicke auf dem weißen Pferd, wollte ihn aufhängen, aber es gab eine hübsche Belohnung für Miller und die wollte ich mir nicht entgehen lassen!« Er blickte Ripley forschend an. »Und Sie sind ganz sicher, dass Sie Miller nicht kennen?« »Ich kenn keinen Miller und mit Niggern will ich nichts zu tun haben!«, erwiderte Ripley scheinbar entrüstet. »Ich will meinen Kram nach Salem bringen, weiter nichts! Darf ich weiterfahren?« »Natürlich«, antwortete der Anführer. Er machte den Weg frei und wandte sich an seine Männer. »Hier ist nichts zu holen, Leute! Kommt, wir reiten nach Norden! Vielleicht fangen wir die beiden Niggermädchen ab, nach denen Scott und Ballard suchen. Auf die ist eine hohe Belohnung ausgesetzt!« Sie ritten in einer dichten Staubwolke davon und verschwanden hinter den Hügeln. Ripley wischte sich den Schweiß von der Stirn und wandte sich zu den Mädchen, die wie versteinert in ihrem Versteck lagen. »Zu Miller können wir nicht mehr«, seufzte er. »Ist wohl besser, wir fahren die Nacht durch! Ich kenne einen Schleichweg durch die Berge!« Er schnalzte mit der Zunge und fuhr weiter an dem See entlang. Jenseits der Hügel bog er in eine schmale Seitenstraße ab. »Morgen sind wir in Virginia!«, versprach er den Mädchen. »Ich bringe euch zu einem Farmer, da könnt ihr euch ausruhen! Die letzten Meilen bis zur Küste werdet ihr dann zu Fuß zurücklegen! Der Farmer sagt euch alles, was ihr wissen müsst.« Die Mädchen antworteten nicht. Der Schrecken saß ihnen immer noch in allen Gliedern. Erst als sie in den Bergen waren und es wagen konnten, kurz aus ihrem Versteck aufzutauchen, rief Bensua dankbar: »Du
hast uns das Leben gerettet, Ripley! Du bist ein wahrer Freund!« Ripley zwinkerte den Mädchen zu und ließ die Zügel schnalzen. Noch lag ein weiter Weg vor ihnen.
28
Die Farm der Weinheimers lag an einem kleinen Fluss, ungefähr zwanzig Meilen von der Grenze zu Delaware entfernt. So hieß der winzige Staat, der zwischen Virginia und dem freien Pennsylvania lag. Hans und Luise Weinheimer waren deutsche Einwanderer, die aus Ulm nach Amerika gekommen waren und zur »Gesellschaft der Freunde« gehörten, einer religiösen Gemeinschaft, die für die Gleichheit der Menschen eintraten. Der überwiegende Teil der Quäker, wie sie auch genannt wurden, war gegen die Sklaverei und versuchte sogar vor Gericht gegen das Unrecht im Süden vorzugehen. Immerhin stand in der amerikanischen Verfassung, dass alle Menschen gleich waren. Ein Grundsatz, an den sich kaum ein Bürger hielt. William Penn, einer der bekanntesten Quäker, hatte Philadelphia gegründet, die »Stadt der Bruderliebe«. Sie war das Ziel von Bensua und Manu. Sie warteten abseits der Straße, bis die Sonne unterging. Im Schutz der Dunkelheit lenkte Ripley den Wagen auf den schmalen Weg, der zum Farmhaus führte, und hielt in sicherer Entfernung an. Er ließ fünfmal die Peitsche knallen. Nach einer Weile ging im Haus ein Licht an, erlosch und ging wieder an. Das verabredete Zeichen dieser Station. Ripley schnaufte erleichtert und fuhr den Wagen hinter einen Schuppen. Dort konnte er vom Hof nicht gesehen werden. Er kletterte vom Kutschbock, holte die Mädchen aus dem Versteck und lief mit ihnen zum Haus. Hans Weinheimer stand in der Tür und ließ sie ein. Er legte den Riegel vor und führte die Besucher in die Küche. Seine Frau war bereits damit beschäftigt, kalten Braten auf den Tisch zu stellen und einige
Scheiben von einem riesigen Brotlaib abzuschneiden. Sie begrüßte die Neuankömmlinge herzlich und nahm eine Kanne vom warmen Herd. »Der Tee wird euch gut tun«, meinte sie. »Sie haben Miller geschnappt, unten in den Carolinas«, sagte Ripley nach dem ersten Schluck. »Wir sind einigen Sklavenjägern begegnet, die ihm eine Falle gestellt haben. Einer von ihnen hieß Ed.« Der Farmer nickte. »Edward Garnett. Von dem haben wir auch schon gehört. Ein geldgieriger Bursche, der seine Mutter verkaufen würde, wenn sie eine Schwarze wäre! Hier haben sie sich noch nicht blicken lassen. Wir sind sehr vorsichtig, Bruder.« »Ich weiß«, erwiderte Ripley. »Aber ich glaube, es wäre besser für die Mädchen, schon heute Nacht aufzubrechen. Natürlich nur wenn sie sich stark genug fühlen.« Er warf einen Blick auf Manu. »Ich weiß nicht, ob die Kerle meine Geschichte geglaubt haben.« »Wie seid ihr den Männern entkommen?«, fragte Weinheimer. »Sie haben uns laufen lassen. Ich hab den Umweg über die Berge genommen, da haben sie uns bestimmt nicht gesucht. Aber es sieht ganz so aus, als wären sie einigen Stationsmeistern auf die Schliche gekommen! Hinter den Mädchen sind sie auch her! Auf die beiden ist eine hohe Belohnung ausgesetzt!« Weinheimer wandte sich Bensua und Manu zu und lächelte verständnisvoll. Er war ein untersetzter Mann mit einer Halbglatze und einem breiten Gesicht. »Ihr habt sicher eine Menge mitgemacht! Wir haben von den Qualen gehört, die unsere schwarzen Brüder und Schwestern auf den Plantagen erleiden müssen. Leider erkennen viele Amerikaner nicht, dass Gottes inneres Licht in jedem Menschen wohnt. Gott macht keinen Unterschied zwischen einem König und einem Bettler.
Er liebt alle Menschen, egal welche Hautfarbe sie haben. Auch die Indianer. Aber habt keine Angst, auf unserer Farm seid ihr in Sicherheit! Wenn ihr wollt, könnt ihr bis morgen Abend bleiben, dann seid ihr ausgeruhter. Ich kann euch leider nicht fahren. Mit dem Wagen muss ich die Hauptstraße nehmen, das ist zu gefährlich! Ich habe keinen doppelten Boden und euch unter eine Decke zu verbergen ist zu riskant. Da werdet ihr bestimmt entdeckt!« Ripley hatte sein Brot dick mit Butter bestrichen und biss hungrig hinein. Auch nach der Begegnung mit den Sklavenjägern hatte er seinen Appetit nicht verloren. »Ich hab den Mädchen schon gesagt, dass Sie den Rest des Weges laufen müssen.« Er hob die linke Hand. »Wenns nach mir ginge, würde ich euch bis zur Küste fahren, aber ich muss zurück! Ich bin schon viel zu lange unterwegs! Es gibt noch andere Flüchtlinge!« »Du hast mehr für uns getan, als wir gehofft haben«, erwiderte Bensua dankbar. »Den Rest des Weges schaffen wir allein!« Sie schluckte den Bissen hinunter und trank von ihrem Tee. »Jetzt sind wir in Virginia, nicht wahr?«, fragte sie. »Meinst du, Ottobah findet uns? Er weiß doch gar nicht, welchen Weg wir nehmen. Sollen wir hier auf ihn warten?« Ripley schüttelte den Kopf. »Kümmere dich nicht um ihn, auch wenn es dir schwer fällt! Sonst bringst du dich und deine Freundin noch in Gefahr! Ottobah ist ein tapferer Mann. Entweder er findet euch oder du siehst ihn in Philadelphia. Dort treffen sich alle Sklaven.« »Ex-Sklaven«, verbesserte der Farmer. »Die Stadt der Bruderliebe ist ein Treffpunkt für alle Menschen, die in Frieden miteinander leben wollen! Sklaven sind dort keine Sklaven mehr!« Er legte Bensua eine Hand auf den Arm. »Ihr werdet den Mann, den ihr Ottobah nennt, in Philadelphia finden. Da bin ich ganz sicher!«
Nach dem Essen verabschiedete sich Ripley. Auch er musste vorsichtig sein und wollte auf keinen Fall mit den Weinheimers gesehen werden. Die Underground Railroad funktionierte nur, wenn alles im Geheimen ablief. Er umarmte die Mädchen und wünschte ihnen viel Glück. »Irgendwann werden alle Menschen zur Vernunft kommen«, meinte er wehmütig. »Aber ich befürchte, das wird noch eine ganze Weile dauern.« Er stieg auf den Kutschbock, winkte noch einmal und lenkte den Wagen vom Hof. Luise Weinheimer zeigte den Mädchen, wo sie schlafen würden. Sie hatten sich entschieden, bis Mitternacht zu ruhen und dann die Farm zu verlassen. Am nächsten Morgen würden sie sich im Wald verstecken. Die Farmersfrau hatte ihnen einen Beutel mit Vorräten gefüllt und stellte eine Kanne mit heißem Tee daneben. »Seid vorsichtig!«, bat sie. »Versprecht ihr mir das, ja?« Die Mädchen gaben ihr Wort und legten sich auf die Matratze, die in einer ehemaligen Vorratskammer neben der Küche auf dem Boden lag. Manu war bald eingeschlafen, doch Bensua dachte in der Dunkelheit an Ottobah. Sie sehnte sie sich danach, den Krieger endlich in die Arme zu schließen. Auch wenn sie lange Zeit nichts von ihm gehört hatte, wusste sie, dass seine Liebe unverändert war. Die Götter hatten ein Feuer entzündet und ihre Seelen verschmolzen und nicht einmal die weißen Männer konnten sie auseinander bringen. Sie waren füreinander bestimmt und würden eine gemeinsame Zukunft erleben. Und Manu sollte in ihrer Nähe bleiben. Bensua würde alles daran setzen, um den Sklavenjägern auf den letzten Meilen nicht in die Hände zu fallen. Doch die Götter hielten eine schwere Prüfung für sie bereit. Ungefähr eine Stunde vor Mitternacht krachte ein Schuss und riss die Mädchen unsanft aus dem Schlaf. Glas splitterte. Sie sprangen von der Matratze und öffneten vorsichtig die Tür.
Hans Weinheimer und seine Frau kamen in Nachthemden aus dem ersten Stock herunter. Luise Weinheimer stieß einen verzweifelten Schrei aus, als ein zweiter Schuss krachte, die Kugel das Küchenfenster durchschlug und sie in die Schulter traf. »Luise!«, stieß ihr Mann in panischer Angst hervor. Er sank neben ihr auf die Knie. »Mein Gott! Luise! Was ist passiert? Bist du getroffen?« »Nichts Ernstes! Nur ein Kratzer!«, antwortete sie keuchend. »Kümmere dich nicht um mich, Hans! Sag ihnen, sie sollen aufhören! Dieses Haus steht unter dem Schutz des Herrn! Wir tun… wir tun nichts… Unrechtes! Du… du musst… sie aufhalten, Hans!« Der Farmer erhob sich und rannte in die Küche. »Was wollt ihr?«, rief er durch das zersplitterte Fenster. »Warum schießt ihr auf uns? Wir haben niemandem etwas getan!« »Hörst du das?«, erklang eine Stimme, die Bensua bekannt vorkam. »Der Niggerfreund sagt, dass sie nichts getan haben!« Er lachte höhnisch. »Ihr habt verdammten Niggern zur Flucht verholfen! Würde mich nicht wundern, wenn ihr auch jetzt wieder einen von diesem Pack unter eurem Dach habt! Na, was ist, Weinheimer?« »Scott! Das ist Scott!«, flüsterte Bensua. Manu starrte sie fassungslos an. »Wir haben nichts Unrechtes getan!«, rief der Farmer verzweifelt. »Was fällt euch ein, auf uns zu schießen? Meine Frau ist verletzt! Wo ist der Sheriff? Warum holt ihr nicht den Sheriff, wenn ihr uns was vorzuwerfen habt? Ihr seid Sklavenjäger, nicht wahr?« Scott lachte wieder. »Wir sind Männer, die auf der Seite des Rechts stehen, Weinheimer! Und wir dulden nicht, dass ausländische Niggerfreunde wie du mit einer Geldstrafe davonkommen! Komm raus, Weinheimer, damit wir dein Haus
anzünden können! Du sollst sehen, wie deine Niggerbleibe niederbrennt!« »Das dürft Ihr nicht!«, unternahm der Farmer den vergeblichen Versuch, die Männer von ihrem Vorhaben abzubringen. »Denkt an meine Frau! Sie ist verletzt! Sie kann nicht rauskommen!« »Dann müssen wir sie holen, Weinheimer!« »Nein! Nein! Wir… Wir kommen schon!« Der Farmer hastete zu seiner Frau zurück und beugte sich über sie. »Luise! Was ist mit dir? Sag doch was, Luise! Du… bist… doch nicht…« »Nur ein Streifschuss!«, beruhigte Bensua den Mann leise. Sie hatte die Frau hastig untersucht. »Aber sie ist bewusstlos.« Weinheimer zwang sich zur Ruhe. Er schob beide Arme unter den leblosen Körper seiner Frau und blickte Bensua mit Tränen in den Augen an. »Ihr müsst hier weg!«, flüsterte er heiser. »Durch die Hintertür! Versteckt euch im Wald! Ihr dürft den Sklavenjägern nicht in die Hände fallen! Das sind Scott und Ballard, die fackeln nicht lange! Die bringen euch nach Süden zurück!« »Was ist mit Ihnen?«, fragte Bensua ängstlich. »Macht euch um uns keine Sorgen!«, antwortete der Farmer leise. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Alten Leuten wie uns tun sie nichts! Wenn sie unser Haus niederbrennen, bauen wir ein neues! In Europa haben sie unser Haus auch niedergebrannt!« »Sie kommen ins Gefängnis!« »Wir bekommen eine Geldstrafe«, versicherte der Farmer. »Wir haben genug Geld! Ich hab es an einer geheimen Stelle vergraben! Das Haus ist wertlos! Sollen sie es doch niederbrennen!« »Was ist?«, erklang die ungeduldige Stimme des Sklavenjägers. »Kommt endlich raus oder wir zünden euch das
Dach über dem Kopf an! Ich hab keine Lust, ewig zu warten! Wo seid ihr?« »Wir kommen!«, rief der Farmer rasch. Bensua hängte sich den Vorratsbeutel um die Schultern und griff nach der Hand ihrer Freundin. So leise wie möglich liefen sie zur Hintertür. Als sie sich noch einmal umdrehten, sahen sie, wie eine Fackel durch das zersplitterte Küchenfenster fiel und die Vorhänge in Brand steckte. Im Schein der aufflackernden Flammen stolperte Weinheimer mit seiner Frau nach draußen. »Wurde auch Zeit!«, ließ sich Scott vernehmen, »sonst wärs verdammt heiß geworden!« Er wandte sich an Ballard und die anderen Männer, die mit ihm gekommen waren. »Fesselt die Niggerfreunde und werft sie auf den Wagen! Der Sheriff wird Augen machen, wenn wir ihm die verdammten Ausländer bringen!« Die Mädchen schlichen aus dem Haus und hetzten im Schutz der Hauswand und des aufsteigenden Rauches vom Hof und über die nächsten Hügel. Der Hund der Weinheimers, ein zottiger Jagdhund, bellte das Feuer an und verriet sie nicht. Sie rannten, bis sie keine Luft mehr bekamen, blieben erschöpft stehen und versuchten sich im schwachen Mondlicht zurechtzufinden. Der Himmel war bewölkt und die Sterne waren kaum zu sehen. »Hier entlang!«, rief eine Stimme gedämpft. »Ich habe ein Pferd! Und ich kenne den Weg durch den Wald! Da findet uns niemand!« Bensua blieb erschrocken stehen und nahm Manu in den Arm. Keine zehn Schritte vor ihr stand ein junger Schwarzer. Anscheinend hatte er beobachtet, wie sie geflohen waren. Ein »Schaffner« der Underground Railroad? Ein freier Neger? Ein Freund der Weinheimers, der im richtigen Augenblick gekommen war?
Ihr blieb keine Zeit zum Überlegen. »Ich bin ein Freund! Ich habe gesehen, wie ihr geflohen seid! Schnell! Zu meinem Pferd!« Sie folgten dem Schwarzen zum Waldrand, wo er ihnen auf den Rücken eines dunklen Ackergauls half. »Ottobah!«, rief Bensua überrascht, als sie das Gesicht des Schwarzen so nahe vor sich sah. »Ottobah! Du bist gekommen!« Sie umarmte den geliebten Mann, berührte seine Wangen und blickte ihm in die Augen und lachte und weinte vor Glück. »Ottobah! Ich bin so froh, dass ich endlich wieder bei dir bin!« Der Krieger legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Bensua!«, flüsterte er und erwiderte ihre Umarmung. »Ich wusste, dass ich dich finden würde!« Er blickte Manu an und legte einen Arm um sie. »Bensua! Manu! Wir haben es fast geschafft! Ich weiß, wie wir nach Philadelphia kommen! Aber wir müssen sehr aufpassen! Die Sklavenjäger sind überall! Beinahe hätten sie mich erwischt!« Sie setzten sich zu dritt auf den Ackergaul und Ottobah lenkte ihn in den dunklen Wald hinein. Der Krieger war aus dieser Richtung gekommen und kannte einen Weg, der quer durch den Wald und nach Nordosten führte. Bensua saß vor Ottobah und genoss seine Nähe und die Wärme, die von seinem Körper ausging. Jetzt würden sie es schaffen! Sie würden die letzten Hindernisse überwinden und die »Stadt der Bruderliebe« erreichen. Obwohl sie in dieser Nacht nicht schliefen, spürten sie keine Müdigkeit. Die Rettung war nahe und sie kamen schnell voran. Unterwegs verriet Ottobah ihnen, dass sie auf ein Schiff gehen und über den Delaware River nach Philadelphia fahren würden, die sicherste Art, die Grenze nach Pennsylvania zu überschreiten. Ein »Schaffner« der Underground Railroad würde bei dem Schiff sein, ein vornehm gekleideter Mann, der sie als seine Diener ausgeben wollte. Sie würden ihn an seinem
Spazierstock mit dem silbernen Knauf erkennen. »Auf dem Stock sitzt ein silberner Adler«, sagte Ottobah. »Dieser Mann wird uns nach Philadelphia bringen!« Sie erreichten New Castle in Delaware am frühen Morgen. Nachdem sie das Pferd unter einigen Bäumen zurückgelassen hatten, liefen sie am Flussufer entlang. Dort fielen sie am wenigsten auf. Zahlreiche Schwarze waren damit beschäftigt, ein Segelboot zu beladen, und auch auf dem Gelände einer nahen Werft arbeiteten vor allem Schwarze. Wie sie später erfuhren, meist »freie Neger«, die sich auf diese Weise ihren Lebensunterhalt verdienten. Sie mischten sich unter die Arbeiter und suchten nach dem Schiff, das sie in die »Stadt der Bruderliebe« bringen würde. Ottobah hatte Schreiben und Lesen gelernt und konnte den Schriftzug auf dem Bug eines stattlichen Schoners entziffern. »Freedom«, las er. »Das heißt »Freiheit«, habt ihr das gewusst?« Auf einer Tafel stand, dass das Schiff um neun Uhr ablegen würde. »Jetzt ist es sechs Uhr«, sagte Ottobah. Er deutete auf die große Uhr, die über dem Eingang eines Ladens hing. Zu früh, um tatenlos im Hafen herumzustehen. Wenn ein weißer Mann auf sie aufmerksam wurde, liefen sie Gefahr, kurz vor dem Ziel entdeckt zu werden. Sie fanden einen Schuppen, in dem ein verwittertes Ruderboot lag, und versteckten sich darin. Ottobah umarmte Bensua und blickte ihr in die Augen. »Ich bin froh, dass ich dich habe«, meinte er. »Ohne den Glauben, dich wieder zu sehen, hätte ich es nicht geschafft!« Sie berührte seine Wange. »Ich auch nicht, Ottobah! Manu und ich haben jede Nacht gebetet, dass uns die Götter schützen und uns wieder zusammenführen!« »Manu«, sagte Ottobah und umarmte das Mädchen, um ihm zu zeigen, dass es zu ihnen gehörte. Als er die Tür des Schuppens einen Spalt öffnete um auf die Uhr zu sehen, durchfuhr ihn ein eisiger Schreck. »Die
Sklavenjäger!«, flüsterte er. »Das sind die Männer, die bei dem Farmer waren!« Bensua drängte sich neben ihn und spürte, wie ihre Beine schwach wurden. »Scott und Ballard! Sie verfolgen uns, seitdem wir weggelaufen sind! Sie sind sehr gefährlich! Sie wollen sich das Lösegeld verdienen, das der Pflanzer auf uns ausgesetzt hat!« Die Männer waren zu Fuß unterwegs, schlenderten scheinbar gelangweilt durch den Hafen und blieben bei einem Weißen stehen, der einige Schwarze anschrie, weil sie zu langsam arbeiteten. Die weißen Männer sprachen miteinander und lachten. »Sie suchen uns!«, flüsterte Bensua nervös. »Halb neun«, sagte Ottobah. Er ließ die Tür einen Spalt geöffnet und behielt die Sklavenjäger im Auge, bis sie in eine Seitenstraße einbogen. Die weißen Männer sprachen laut miteinander und waren wohl auch nach New Castle gekommen, um sich zu amüsieren. In der schmalen Gasse, in der sie verschwunden waren, gab es zahlreiche Kneipen und Spelunken. Ottobah blickte zum Schiff und sah, dass der Mann mit dem Spazierstock gekommen war. »Da ist der Mann, der uns helfen wird!«, raunte er den Mädchen zu. »Kommt, wir gehen! Lasst euch nichts anmerken!« Er öffnete die Tür und forderte sie mit einem Kopfnicken auf, ihm zu folgen. Mit klopfendem Herzen gingen sie über das Kopfsteinpflaster. Sie mussten sich zwingen nicht zu rennen. Als sie den Mann erreichten, sagte Ottobah: »Ich sehe den Adler! Wir sind Ihre Diener!« Die vereinbarte Losung. Flüsternd fügte er hinzu: »Bringen Sie uns auf das Schiff! Wir haben zwei Sklavenjäger gesehen!« Der Mann mit dem Spazierstock, ein älterer Herr mit grauen Schläfen, arbeitete seit vielen Jahren für die Underground Railroad. Er besaß vorgefertigte Papiere für »freie Neger« und
ein Dokument, das eine unbestimmte Zahl von Schwarzen als seine Diener auswies. Unbehelligt brachte er die drei Schwarzen an Bord. Ottobah, Bensua und Manu blieben in seiner Nähe, benahmen sich wie unterwürfige Sklaven, die ihrem weißen Master zu Diensten waren. Auch die anderen Passagiere kamen an Bord. Die Matrosen kletterten in die Wanten und setzten die Segel. Es schien unendlich lange zu dauern, bis die »Freedom« ablegte. Ottobah, Bensua und Manu standen an der Reling und hielten den Atem an, während die letzten Leinen von den Männern auf dem Kai an Bord geworfen wurden und das Segelschiff aus dem Hafen fuhr. Die Sklavenjäger waren nicht zu sehen. Noch konnten sie nicht glauben, dass sie wirklich in Sicherheit waren. Als der Hafen hinter ihnen immer kleiner wurde, griff Bensua nach der Hand ihrer Freundin und lächelte ihren Krieger an. »Endlich frei!«, sagte sie leise. Und Ottobah legte seine Arme um die beiden Mädchen und wiederholte: »Endlich frei.«
Nachwort
Der vorliegende Roman hat einen historischen Hintergrund. Bensua erlebt ihre Abenteuer in einer Welt, die es tatsächlich gegeben hat. Die Asante in Afrika haben so gelebt, wie ich es geschildert habe. Die Sklavenkarawanen zur Küste und die berüchtigten Fahrten über die »Middle Passage« sind eine historische Tatsache. Die Bedingungen in der Gefangenschaft und auf dem Sklavenschiff habe ich nicht übertrieben. Dafür gibt es historische Belege und zahlreiche Aufzeichnungen. Bensua und Manu und die meisten anderen Personen in meinem Roman sind fiktiv, aber es hat Menschen wie sie gegeben. Es gab eine Plantage wie »Magnolia Hall«, und einige Häuser der »Underground Railroad« kann man heute noch besichtigen. Die historischen Herrenhäuser am Ashley River in South Carolina und die Ruinen der »Stationen« kann man noch heute besichtigen. In zahlreichen Museen, z. B. in Macon, Georgia, bleibt die Underground Railroad lebendig. Mehr über die Geschichte der Sklaverei in den nachfolgenden »Fakten«. Auch für diesen Roman habe ich wieder gründlich recherchiert. Ich war in Afrika und habe das neue Selbstbewusstsein der Afrikaner kennen gelernt und bin monatelang durch die amerikanischen Südstaaten gereist. Ich habe die Plantagen am Ashley River besucht, war auf dem ehemaligen Sklavenmarkt in Charleston und bin den Spuren der Underground Railroad nach Norden gefolgt. Ich recherchiere immer vor Ort, will den Schauplatz eines Romans mit allen Sinnen erfassen. Ich habe in historischen Archiven gestöbert, alte Tagebücher und Zeitungsberichte studiert und
zahlreiche Fachbücher gelesen, u. a. folgende Werke: »Bound for the North Star« von Dennis Brindell Fradin, »Get on Board – The Story of the Underground Railroad« von Jim Haskens, »Sklavenschiffe« von Eigel Wiese, »Geschichte der Sklaverei« von Susanne Everett, »Underground Railroad«, ein Handbuch des National Park Service, »The Underground Railroad« von Raymond Bial, »Vom Sklavenhandel zur Kolonialisierung« von Basil Davidson, »The Fall of the Asante Empire« von Robert B. Edgerton, »Asante« von Faustine Ama Boateng, »The Asante Kingdom« von Carol Thompson, »If You Travelled on the Underground Railroad« von Larry Johnson, »Life and Times of Frederick Douglass« von Frederick Douglass, »The Underground Railroad« von William Still, »Harriet Tubman, The Moses of Her People« von Sarah Bradford, »Family Life Among the Ashanti of West Africa« von Peter Herndon und »Ashanti« von R. S. Rattray.
Wer mehr über meine Person und meine Arbeit wissen möchte, schreibt an: Thomas Jeier c/o Verlag Ueberreuter Alser Straße 24 A 1091 Wien, Österreich oder schlägt meine Website im Internet auf: www.jeier.de Ich bitte um Verständnis, wenn meine Antwort etwas auf sich warten lässt. Ich bin oft unterwegs um für neue Bücher zu recherchieren. Thomas Jeier
Fakten
Die Geschichte der Sklaverei beginnt im Altertum. Bereits Aristoteles, einer der bekanntesten Philosophen im antiken Griechenland, schrieb: »Zur Stunde ihrer Geburt sind die einen zu Untertanen bestimmt, die anderen zu Herrschern.« Das Christentum des Mittelalters duldete die Sklaverei, berief sich auf ein Bibelzitat des Apostels Paulus, setzte sich allerdings für eine bessere Behandlung der Sklaven ein. Im 15. Jahrhundert begann der Handel mit afrikanischen Sklaven. Die Portugiesen handelten mit arabischen Sklavenhändlern, die schwarze Afrikaner aus dem Inneren des Kontinents entführten und durch die Sahara nach Norden brachten. Eine Gesellschaft, die den »Handel mit Negern« betrieb, verkaufte Sklaven auf dem Markt in Lissabon. In Afrika war die Sklaverei nicht unbekannt. In Algier, im Sudan und bei Volksgruppen wie den Asante und Fante wurden Angehörige verfeindeter Stämme versklavt, auf grausame Weise gefoltert und während religiöser Zeremonien den Göttern geopfert. Und doch kann man die Sklaverei, wie sie von den Afrikanern praktiziert wurde, nicht mit dem grausamen Menschenhandel der Weißen vergleichen. Die afrikanischen Könige, die ihre Sklaven oder sogar Angehörige ihres eigenes Volkes an die Europäer verkauften, um an begehrte Handelsgüter und Alkohol zu kommen, waren eher die Ausnahme. Afrikanische Sklaven gerieten meist nach einer verlorenen Schlacht in die Gewalt des Feindes, waren Kriegsgefangene und wurden nach den Gesetzen des jeweiligen Volkes abgeurteilt. Einige wurden sogar in den Clan aufgenommen und zu vollwertigen Mitgliedern des
Stammes. Anders als bei den Amerikanern war es Sklavenhaltern verboten, sexuell mit ihren weiblichen Sklaven zu verkehren. Die (Wieder-)Entdeckung Amerikas (1492) stand am Anfang einer neuen Epoche. Europäische Seemächte wie England, Spanien, Portugal, Frankreich und Holland dehnten ihre Besitztümer nach Afrika aus und gründeten die ersten Kolonien auf dem schwarzen Kontinent. Schwarze Sklaven wurden zu einem begehrten Handelsgut. Zwischen Europa, Afrika und Amerika entstand ein berüchtigter Dreieckshandel, der den europäischen Herrschern einen unvorstellbaren Reichtum einbrachte. Die portugiesischen Sklavenhändler mussten sich verpflichten, den fünften Teil ihres Erlöses an die Krone abzuführen! Die Sklavenschiffe brachten Feuerwaffen, Alkohol und andere »Segnungen« der Zivilisation nach Afrika, tauschten die »Reichtümer« gegen Gold und Sklaven ein, brachten die Schwarzen über das mittlere Teilstück, deshalb auch »Middle Passage« genannt, auf die Westindischen Inseln (Karibik) und nach Amerika, und erhielten dort Baumwolle, Kaffee, Tabak und Zucker. Vor Beginn des industriellen Zeitalters war z. B. die europäische Textilindustrie nicht überlebensfähig, ein Grund dafür, dass auch die Regierungen den Sklavenhandel unterstützten und sogar finanzierten. Für Afrika bedeutete dieser frevelhafte Handel den Ruin. Über 50 Millionen Menschen wurden zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert über den Atlantik verschifft oder während der Todesmärsche zur Küste und auf den Schiffen auf grausame Weise getötet. Von diesem Verlust hat sich der Kontinent bis heute nicht erholt. Die Europäer hatten schnell erkannt, dass sich die Indianer nur bedingt für die harte Arbeit in den Goldminen und auf den Plantagen eigneten. Der Sklavenhandel wurde zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit. Denn nur mit einem gewaltigen Heer an widerstandsfähigen
Arbeitskräften waren die Anforderungen in den europäischen Kolonien zu bewältigen. Auch zahlreiche Gesetze zur Abschaffung des Sklavenhandels, die von den europäischen Großmächten im 19. Jahrhundert erlassen wurden, konnten den Handel nicht aufhalten. Humanisten wie der englische Abgeordnete William Wilberforce und der deutsche Gelehrte Samuel Freiherr von Pufendorf, der die Sklaverei »als Übel, dem der Tod vorzuziehen sei« bezeichnete, waren einsame Mahner, die sich erst durchsetzen konnten, als die zunehmende Industrialisierung den Einsatz von Sklaven überflüssig machte. Die afrikanischen Männer, Frauen und Kinder, die nach Amerika und auf die Westindischen Inseln gebracht werden sollten, wurden in Ketten zur Küste getrieben und dort in umzäunte Gehege gesperrt, so genannte Baracoons. Bereits während des langen und beschwerlichen Marschs kamen zahlreiche Gefangene ums Leben. An der Küste wurden die Sklaven vom Schiffsarzt untersucht und mit glühenden Eisen gebrandet. Weil zahlreiche Schwarze befürchteten, dass sie als »Nahrung« mitgenommen würden, oder ihre Heimat und ihre Verwandten nicht verlassen wollten, begingen sie Selbstmord. Es wird von Müttern mit kleinen Kindern berichtet, die aus den Ruderbooten ins Meer sprangen und so lange unter Wasser blieben, bis sie ertrunken waren! »Ich hatte das Gefühl, in eine Welt der bösen Geister geraten zu sein«, schrieb der ehemalige Sklave Olauda Equiano später, »und ich hatte Angst, dass sie uns alle umbringen würden! Ihr Aussehen, das sich so sehr von unserem unterschied, die langen Haare und ihre Sprache bestärkten mich in dieser Ansicht.« Die »Middle Passage« zwischen der afrikanischen Küste und dem amerikanischen Kontinent wurde zum traumatischen Erlebnis für die bedauernswerten Sklaven. Zwischen drei Wochen und drei Monaten dauerte die Überfahrt. Die Gefangenen lagen auf den Zwischendecks,
zusammengepfercht wie Schlachtvieh und kaum fähig, aufrecht zu sitzen oder sich umzudrehen. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Ein Chronist schrieb: »Die Decks waren mit dem Blut und dem Schleim der Menschen bedeckt und ähnelten einem Schlachthaus.« Die Männer waren zu zweit gefesselt und von den Frauen und Wänden durch stabile Holzwände getrennt, siechten in der fast vollkommenen Dunkelheit dahin und wurden von den Matrosen mit Peitschenhieben diszipliniert. Auf den meisten Schiffen durften die Gefangenen tagsüber an Deck, wurden gezwungen, zu tanzen und zu singen, »damit die Moral der Sklaven nicht nachließe«, und bekamen Nahrung und frisches Wasser. Der Kapitän musste interessiert daran sein, eine möglichst gesunde »Ware« abzuliefern. Dennoch war die Willkür groß: Die Matrosen gingen mit äußerster Härte gegen die Sklaven vor, peitschten sie aus und streuten Salz und Pfeffer in die offenen Wunden. Wer zu schwach für die Überfahrt war, wurde über Bord zu den Haien geworfen. Auf manchen Schiffen wehrten sich die Sklaven gegen diese unmenschliche Behandlung. Über 200 Meutereien sind in den Geschichtsbüchern dokumentiert. Am bekanntesten wurde die Meuterei auf dem spanischen Sklavenschiff »Amistad« (1839), die Steven Spielberg in seinem gleichnamigen Film dokumentierte. Das Schiff befand sich vor der Küste von Kuba, als 53 Afrikaner freikamen und blutige Rache an der Besatzung nahmen. Die Überlebenden sollten das Schiff zurück nach Afrika segeln. Stattdessen fuhren sie zur amerikanischen Küste. Die Schwarzen wurden in Connecticut vor Gericht gestellt und bekamen das Recht zugesprochen, in ihre afrikanische Heimat zurückzukehren – ein einmaliger Vorgang in der amerikanischen Geschichte. In Amerika wurden die Schwarzen wie Vieh auf einem Markt versteigert. Olauda Equiano berichtete: »Nach einem Signal
rennen die Käufer in den Hof, auf dem die Sklaven eingesperrt sind, und suchen die aus, die ihnen am besten gefallen. Der Lärm, der dies begleitet, und der sichtbare Eifer im Angesicht der Käufer tragen dazu bei, die Schwarzen zu verängstigen.« Die Käufer tasteten die Muskeln der angepriesenen »Neger« ab, untersuchten ihre Zähne und ließen sich vom Auktionator die Vorzüge der »Ware« erläutern. Auf familiäre Bande nahm man kaum Rücksicht. Männer wurden von ihren Frauen und Mütter von ihren Kindern getrennt. Oft kam es zu herzergreifenden Abschiedsszenen. Die Pflanzer des amerikanischen Südens waren auf die Arbeitskräfte aus Afrika angewiesen. Zwischen 1815 und 1861 stieg die Ausfuhr von Baumwolle von 160 auf über 2.300 Millionen Pfund, und die Arbeit wäre ohne die Sklaven gar nicht zu bewältigen gewesen. Um 1850 gab es 3,2 Millionen Sklaven im amerikanischen Süden. »Cotton was king«, war »weißes Gold«. Den Tabakpflanzern und Reisfarmern ging es ähnlich. Nur mit den billigen Arbeitskräften aus Afrika war der gigantische Profit »zum Wohle des amerikanischen Südens« zu erwirtschaften. Die Plantagenbesitzer betrachteten die Sklaverei als notwendiges Übel und wandten sich gegen »Yankees« wie Harriet Beecher Stowe, die in ihrem Bestseller »Uncle Tom’s Cabin« (Onkel Toms Hütte) die Sklaverei verurteilt hatte. Mary Chestnut, die Schwiegertochter eines reichen Pflanzers, schrieb: »Mrs Stowe und ihresgleichen leben in netten Anwesen in New England. Doch wir sind im Süden dazu verdammt, in Negerdörfern zu leben, deren Einwohner von Natur aus schlampig, schmutzig, faul und stinkend sind. Wir müssen wie die Missionare in Afrika inmitten von Schwarzen leben, dabei hassen wir die Sklaverei nicht weniger als Mrs Stowe.« Sie vergaß zu erwähnen, dass sie kaum mit den Schwarzen in Berührung kam, wie Scarlett O’Hara (»Vom Winde verweht«) in der künstlichen Welt ihres
Herrenhauses lebte, aufwändige Partys feierte und es den Aufsehern überließ, sich mit den Schwarzen abzugeben. Wie viele andere Südstaatler versteckte sie sich hinter der Fassade eines gesellschaftlichen Lebens, das christlichen Glauben, Ritterlichkeit und Gastfreundschaft als höchste Güter anerkannte, aber nur die herrschende Klasse der Weißen als wirkliche Menschen ansah. Das Leben der Sklaven war hart. Sie lebten in hölzernen Baracken und arbeiteten jeden Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf den Feldern. Wenn sie nicht genug Baumwolle pflückten oder unerlaubt eine Pause einlegten, wurden sie von den Aufsehern gnadenlos ausgepeitscht. Selbst sechsjährige Kinder blieben nicht von der Feldarbeit verschont. Besser hatten es die »Haussklaven«, die als Kindermädchen oder Köchinnen im Haus arbeiten durften. Sklaven waren der Willkür ihres Masters und ihrer Mistress hilflos ausgesetzt, waren »materieller Besitz«, mit dem man anstellen durfte, was man wollte. Nicht einmal für Mord oder die Vergewaltigung einer Schwarzen musste sich ein Weißer verantworten. Schlimmstenfalls kam er mit einer geringen Geldstrafe davon. Sonntags bekamen die Sklaven von einem Prediger zu hören, dass sie in der Hölle schmoren würden, wenn sie ihrem Master davonliefen, und die Tanzfeste vor den Sklavenhütten wurden nur gestattet, weil man sich danach eine bessere Arbeitsmoral von den Schwarzen erhoffte. Die Underground Railroad wurde 1787 von Isaac T. Hopper gegründet, einem liberalen Quäker, der flüchtenden Sklaven half und ein System erdachte, das es möglich machte, die Schwarzen sicher in die freien Staaten oder nach Kanada zu geleiten. Überzeugte Gegner der Sklaverei, so genannte Abolitionisten, liberale Bürger, freie Schwarze und Quäker stellten ihre Häuser als Verstecke zur Verfügung und versorgten die Flüchtlinge mit Proviant und Geld. Die Quäker,
auch »Gesellschaft der Freunde« genannt, sind eine religiöse Vereinigung, die keine Unterschiede zwischen Königen und Bettlern macht und alle Menschen gleich behandelt. Das Routennetz der Underground Railroad, wie sie in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts genannt wurde, obwohl es gar keine Untergrundbahn gab, erstreckte sich über vierzehn Bundesstaaten der USA und Kanada. Auch die anderen Bezeichnungen waren der Eisenbahnersprache entlehnt: Die Häuser wurden als »Stationen«, ihre Besitzer als »Stationsmeister«, die Begleiter der Sklaven als »Schaffner« und die Flüchtlinge als »Fracht« bezeichnet. Geheime Signale halfen den Flüchtlingen eine »Station« zu erkennen. Die bekannteste Schaffnerin war Harriet Tubman, eine Schwarze, die neunzehn Reisen in den Süden unternahm und mindestens 300 Menschen zur Freiheit verhalf. Auch das »Fugitive Slave Law« (1793), ein Gesetz, das eingefangene Sklaven als materiellen »Besitz« einstufte, konnte die Arbeit der Underground Railroad nicht verhindern. In den Geschichtsbüchern wird die Underground Railroad nur am Rande erwähnt. Erst im November 1990 ordnete das amerikanische Innenministerium eine ausführliche Studie über die tapferen Männer und Frauen an, die für die Underground Railroad gearbeitet hatten, und erst seit wenigen Jahren stehen historische »Stationen« wie der »Milton House Inn« in Milton, Wisconsin, unter Denkmalschutz. Denn auch Abraham Lincoln, der während des amerikanischen Bürgerkriegs (18611865) die Freiheit der Sklaven als militärisches Ziel proklamierte, konnte die Diskriminierung der Schwarzen nicht beenden. »Ich habe einen Traum!«, rief Martin Luther King, der legendäre Anführer der Bürgerrechtsbewegung, noch in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Und selbst heute noch werden Schwarze in den amerikanischen Südstaaten benachteiligt. Es bleibt die Hoffnung auf Freiheit
für alle Menschen und die Erinnerung an den Satz, den Harriet Tubman gesagt haben soll, nachdem sie ihrem Master entkommen war: »Ich betrachtete meine Hände, um zu sehen, ob ich als freier Mensch noch dieselbe Person war. Ich fühlte eine solche Freude… als wäre ich im Himmel!«