BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
HINTER DEM SCHATTENSCHIRM
von Manfred Weinland Die irdischen Astronauten ...
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BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
HINTER DEM SCHATTENSCHIRM
von Manfred Weinland Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden. Die Gestrandeten geraten zwischen alle Fronten, schließen sich mit dem Außerirdischen Darnok zusammen und entkommen, als sie von Erinjij-Raumschiffen gejagt werden, nur mit knapper Not in den Aqua-Kubus. Dort finden sie ein rachenförmiges Raumschiff, das auf die ominösen Sieben Hirten zurückgeht und taufen es RUBIKON II. Kurz darauf gehen die beiden GenTecs Jarvis und Resnick an Bord verloren. Wenig später stößt das Rochenschiff auf die Schiffbrüchigen Cy und Algorian, Botschafter der Allianz CLARON. Sie berichten vom völkerbedrohenden Komplott der Jay’nac. Darnok erklärt sich bereit, die Botschafter mit seinem Karnut zur Zentralwelt der Allianz zu bringen. Beim Abschied übergibt er Cloud überraschend die Koordinaten des irdischen Sonnensystems, wo er sich auch wieder mit den Menschen treffen will. Aber als die RUBIKON II nach dramatischen Ereignissen in der Oortschen Wolke die RendezvousKoordinaten erreicht, gibt es von Darnok keine Spur. Das nervenaufreibende Warten auf den Keelon beginnt - mitten im Herzen des Erinjij-Reiches... Prolog Ein unglaubliches Bild...
Natürlich, er hatte davon gehört. Aber es zu sehen, sich mit eigenen Augen davon überzeugen zu
können, dass es existierte... war noch einmal etwas völlig anderes.
»Das also ist Crysral...«
»Ja«, antwortete Algorian. »Das ist Crysral.« Es klang andächtig.
Darnok ruhte in seinem Becken, das ihm Ruhestätte, Kommandostelle und Schutz in einem war.
Soeben war das Karnut aus dem Zwischenraum ausgetreten, hatte die letzte Etappe der Hinreise
abgeschlossen. Die Antimateriemeiler veränderten ihren Arbeitston, aus sattem Brummen wurde
ein schwaches Wispern.
»Crysral«, wiederholte Darnok. »Sollte ich jemals Zweifel daran gehegt haben, dass dies eine
bedeutsame Welt für die Allianz ist, so wären sie spätestens jetzt verflogen.«
»Es ist die Welt des CLARON«, versicherte Algorian. »Das geistige und kulturelle Zentrum. Das
Herz. Brächte man es zum Verstummen, würde das Band der Völker augenblicklich reißen.«
Darnok hörte zu, ohne den Blick von dem Bildschirm zu wenden, den er an einer Innenwandseite
des Karnuts geschaltet hatte - und über den auch Algorian und Cy das Wunder schauten.
Das Wunder: Ein Planet, mehr als doppelt so groß wie Roogal, die zerstörte Heimatwelt des
Keelon. Dennoch wiesen ihm die Instrumente eine vergleichbare Schwerkraft zu. Demnach war
sein spezifisches Gewicht sehr viel geringer als das Roogals, seine Masse in etwa identisch, nur bei
größerer Ausdehnung.
Der Planet folgte einer stark elliptischen Bahn um einen Weißen Zwerg, der kaum Wärme
spendete. Eine Atmosphäre besaß er nicht. All dies schien jedoch kein Kriterium gewesen zu sein,
um ihn nicht zur Zentralwelt des CLARON zu machen.
Und das Wunder... Nun, das sichtbare »Wunder«, das Darnok bestaunte, war auch nicht auf der
Planetenoberfläche zu finden - sondern darüber.
Es war so Respekt einflößend, dass der Keelon sich unwillkürlich wünschte, Roogal hätte
wenigstens einen dieser Verteidigungswälle besessen, von denen insgesamt sechs diesen Planeten
hier wie die Schalen einer Ya-Frucht umgaben. Vielleicht hätte es sein Volk dann noch gegeben. Vielleicht wären an seiner statt die elenden Erinjij in ihrem Blut ersoffen. »Das eigentliche Zentrum CLARONs«, sagte Algorian, »wird nur für den erkennbar, dem es erlaubt ist, Crysral zu betreten. Der Planet ist in Kavernen aufgeteilt. Sechs riesige und zahllose kleine. Die sechs Hauptkavernen sind den Heimatwelten der Gründungsvölker nachempfunden. Dort herrschen die Umweltbedingungen, die ihre Abgesandten gewohnt sind. Und von ihnen aus führen Wege zum Mittelpunkt Crysrals, wo die Versammlungen abgehalten werden. Wo alle politischen Beschlüsse der Allianz ihren Ausgang haben.« Cy gab einen Laut von sich, der wohl bewundernd gemeint war. »Was ihr sehen könnt«, fuhr Algorian fort, »sind die so genannten >Schalendemütig< versteht.«
Die Gestalt blieb einen knappen Meter von ihnen entfernt stehen.
»Demütig? Du sagtest: Jeskko!«
Er blickte sie verständnislos an. Nichts anderes hatte er gerade zu ihr gesagt. Jeskko. Demütig.
»Ich fürchte... «
Ihre Augen weiteten sich, änderten spontan die Farbe. Aus dem üblichen Jadegrün wurde tiefes
Schwarz. Cloud hatte das Gefühl, in zwei Löcher zu starren, deren Grund weit hinter den
Beschränkungen von Scobees Schädel lag.
Ihn fröstelte.
Weniger der veränderten Augen wegen als vielmehr unter der Erkenntnis, was sie ihm gerade
klarzumachen versuchte.
Für einen Moment schien der Boden unter seinen Füßen aufzuweichen. Er machte einen
instinktiven Schritt zur Seite, bis er sich wieder in der Gewalt hatte.
»Du meinst: Du verstehst nicht, was er sagt?«
»Ich höre nur eine Aneinanderreihung von hart akzentuierten Lauten... Die du auch gerade benutzt
hast.«
»Das ist verrückt.«
»Das müsste wohl eher ich sagen...«
Er ballte die Hände zu Fäusten und wandte sich dem Wesen zu. Dem Riesen.
»Wer bist du?«, fragte Cloud.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich Scobee abermals versteifte.
Ich habe es wieder getan, dachte er. Ich spreche seine... Sprache. Zur Hölle, wie kann das sein? Und wieso merke ich es nicht einmal? Der Fremde wandte sich jetzt ausschließlich Cloud zu. Und obwohl er keine Augen darin erkennen konnte, wusste er, dass er von der ganzen Fläche dieses »Gesichts« angestarrt wurde. Es besaß Einbuchtungen und Erhebungen, die entfernt - sehr entfernt! - an einen Menschenschädel erinnerten, der komplett mit einer dünnen, knochenfarbenen Haut überzogen war. Die einzige farbliche Abweichung war ein fast kreisrunder, etwa untertellergroßer Fleck in der unteren Kopfhälfte, aus dem die Stimme des Wesens drang. Dieser Fleck wiederum sah aus wie ein über einen Resonanzkörper gespanntes Trommelfell. War es so? Und wenn ja, wie ernährte sich ein solches, mundloses Geschöpf? Diese und andere Fragen schossen Cloud durch den Sinn, als der Fremde antwortete: »Ich bin Sobek.« Das war der Name eines der Hirten!
Cloud war dennoch keineswegs so erstaunt, wie er es eigentlich hätte sein müssen. Was ist los mit
mir? Vor uns steht eines der Wesen, die von den Vaaren vergöttert wurden, und ich...
»Das glaube ich nicht.« In dem Moment, da er es sagte, wurde ihm bewusst, welche Gefahr er
durch sein ihm selbst unverständliches Verhalten heraufbeschwor:
Sekundenlang stand das Schweigen wie eine Wand zwischen ihnen.
Endlich drang etwas aus der Membran des Wesens, das alles bedeuten konnte: Belustigung, Ärger,
Unbekümmertheit... Cloud sah sich mit den Grenzen seines Verstehens konfrontiert.
»Geht jetzt!«, sagte es.
»Was sagt er?«, fragte Scobee.
»Wir sollen gehen.«
»Rede verständlich mit mir! «
Er schloss kurz die Augen, konzentrierte sich, bemühte sich - und wiederholte den Satz.
»Danke.« Scobee nickte ihm zu, signalisierte Verständnis für sein Problem. »Warum schickt er uns
weg? Wäre das nicht die Gelegenheit, uns in ungezwungener Atmosphäre locker miteinander
bekannt zu machen?«
Er bewunderte sie für ihre Fähigkeit, in dieser Lage ironisch zu sein.
»Er behauptet, Sobek zu sein.«
»Sobek...« Scobees tätowierte Augenbrauen hoben sich und zogen sich im nächsten Moment über
der Nasenwurzel zusammen. »Das ist derjenige der Hirten, auf dessen Sitz ich schon mal Platz
genommen habe...«
Obwohl sich Cloud an die Situation, die Scobee ansprach, schwach erinnerte, erschien es ihm nicht
der Erwähnung wert. Nicht jetzt, nicht hier.
»Du sagtest: >Er behauptet...< Heißt das...?«
»Ja. Das heißt, dass ich ihm nicht glaube.«
»Warum nicht?«
»Darum!«
Noch ehe Scobee, noch ehe »Sobek« reagieren konnte, warf sich Cloud einem plötzlichen Impuls
folgend nach vorne gegen die Gestalt. Die Arme ausgestreckt, musste die Wucht ausreichen, den
vermeintlichen Hirten entweder umzuwerfen oder...
Cloud prallte gegen ein Hindernis, das keinen Millimeter nachgab.
Aber erst an der Wand hinter »Sobek«, der weiterhin ungerührt dastand, unerschütterlich.
»Eine Illusion«, stieß Scobee hervor. »Nur eine... Projektion... Ein Hologramm - oder irgendetwas
in der Art...«
»Dennoch werdet ihr gehen!«, sagte die Erscheinung in diesem Augenblick und zunächst nur für
Cloud verständlich. »Ihr müsst, denn ich habe entschieden. Du hast deinen Zweck erfüllt. Ihr seid
nicht länger willkommen!«
Erst in diesem Moment dämmerte Cloud, dass der »Hirte« sie nicht einfach nur wieder den Weg
zurückschicken wollte, den sie gekommen waren. Sie sollten nicht zurück in den zentralen Bereich
der RUBIKON gehen, sondern...
»O mein Gott...« Er rieb sich die Handgelenke, die den Aufprall gegen die Wand nicht schmerzlos
weggesteckt hatten.
»Tut es so weh?«, fragte Scobee.
Sie dachte, sein Ausruf beziehe sich auf die Schmerzen. Sie war noch völlig ahnungslos.
Langsam ging er zu ihr. Dabei umrundete er »Sobek«, obwohl dieser erwiesenermaßen nicht real
vor ihnen stand.
»Er sagt, wir müssen gehen. « Er fasste sie am Arm. »Komm!«
»Aber... «
Kopfschüttelnd unterbrach er sie. »Wenn ich ihn richtig verstanden habe, haben wir ein Problem.
Eins, das unter Umständen unseren Tod bedeutet.«
Sie sah ihn nur an.
Und dann wiederholte er, was der Hirte gesagt hatte. »Wir sind hier nicht länger willkommen... Wenn ich das richtig verstehe, will man uns von Bord haben. Oder drastischer formuliert: uns rausschmeißen.« 4. »Dahinter kann nur diese verdammte KI stecken«, fauchte Scobee. »Du hast behauptet, du hättest
sie unter Kontrolle. Das dürfte nun wohl hinfällig sein...«
Cloud schwieg. Sein Blick glitt zu dem Pseudowesen, das sich nur eine Armlänge von ihnen
entfernt manifestiert hatte. Es machte keinen Sinn, darauf loszugehen. Es war nicht real. Nicht in
einem Maß jedenfalls, das es greifbar gemacht hätte. Was Cloud schmerzhaft zu spüren bekommen
hatte...
»Vielleicht hast du es missverstanden.«
Er lachte unterdrückt. Dann schüttelte er den Kopf, wandte sich dem vorgeblichen Hirten zu.
»Habe ich das? Habe ich dich missverstanden? Ist es kein Rauswurf?«
Auch wenn es ihm nicht bewusst wurde, ging er davon aus, dass er auch jetzt wieder jene Sprache
benutzte, die er niemals erlernt hatte. Die Sprache, deren bloßer Klang Scobee erneut neben ihm
zusammenzucken ließ.
Statt einer unmissverständlichen Antwort, sagte das Hologramm: »Kehrt zurück in die Zentrale.«
»Was sagt er? Frag ihn, ob er nicht unsere Sprache benutzen kann. Er...«
Sie verstummte, als die Erscheinung verschwand. Übergangslos. Das Hologramm war einfach weg
- so wie er kurz vorher noch einfach da gewesen war.
Ohne zu wissen warum, ging Cloud zu der Stelle, an der »Sobek« gestanden hatte. Was immer er
dort zu finden erwartet hatte - es gab nichts. Keine Spur.
»Was hat er gesagt?«, wiederholte Scobee ihre Frage. »Spann mich nicht auf die Folter! Wie hast
du ihn dazu gebracht, zu verschwinden?«
Cloud drehte sich ihr zu. »Er ging von ganz allein«, sagte er. »Nachdem er uns aufgefordert hatte,
in die Zentrale zurückzukehren.«
»Dann war alles nur ein Irrtum. Du hattest ihn falsch verstanden. Wir...«
»Davon hat er nichts gesagt. Ich glaube nicht, dass Grund zur Erleichterung besteht.« Er schüttelte
den Kopf. »Nein, ich bin sicher, ihn richtig verstanden zu haben. Lass uns gehen, wir sollten seiner
Anweisung folgen!« »Sonst...?«
»Ich weiß es nicht.«
»Er ist ein Hologramm. Was kann er tun, wenn wir ihn einfach ignorieren?« Cloud lächelte bitter.
»Uns umbringen?«
»Wie?«
»Wenn er mit der Schiffs-KI gekoppelt ist - beziehungsweise eine Manifestation von ihr ist, was
ich stark vermute -, dürfte er etliche Möglichkeiten haben. Wenn er großzügig ist, dürfen wir uns
unsere Todesart vielleicht sogar aussuchen. Wie wär's mit ersticken, erfrieren, verhungern,
verdursten?«
»Wir haben Vorräte. Wir haben Luft. «
»Aber bestimmt nicht mehr sehr lange, wenn das Schiff es nicht will«, sagte Cloud. »Du hattest
Recht, mein Gefühl hat mich getrogen. Die KI hat sich mir niemals wirklich untergeordnet. Ich
habe mich maßlos überschätzt. Mich und meine Möglichkeiten...«
Als sie in die Zentrale zurückkehrten, war es keine wirkliche Überraschung, dort »Sobek«
anzutreffen.
Er saß auf einem der sieben Kommandositze, ohne dass sich der Panzer um ihn geschlossen hätte.
Die Reglosigkeit erinnerte an eine Skulptur, die der Phantasie eines kranken Künstlers entsprungen
war.
Aber es gab eine Überraschung.
Im Raum, den die sieben Sitze umgaben, über dem Rund, das sie säumten, erhob sich etwas, das
vorher nicht da gewesen war.
Dort schwebte die RUBIKON.
Eine RUBIKON, wie er sie selbst während seiner früheren Verschmelzungen mit dem Schiff nie
gesehen hatte.
Sie war verändert.
Sobek kehrte dem dreidimensionalen Bild den Rücken zu.
»Kommt!«, drang die dunkle Stimme aus der Kopfmembran. »Setzt euch - rechts und links von
mir!«
»Und wenn nicht?«
»Sterbt ihr.«
»Du würdest uns eiskalt umbringen? Warum?«
»Sei demütig. Ihr lebt schon länger, als ihr es erwarten durftet.«
Cloud bezähmte sich mühsam. »Wir wurden von dir an Bord geholt. Wir sind nicht eingebrochen.
Wir haben uns nicht...«
»Sei demütig. Setzt euch! Ihr werdet sterben, wenn ihr nicht gehorcht. Ich habe die Macht.
Bezweifelst du es? Soll ich es dir an ihr demonstrieren?« Für einen Moment stockte die Stimme,
und obwohl es für Cloud nicht wirklich erkennbar war, gab es für ihn keinen Zweifel, dass das
Holowesen seinen Blick in diesem Moment auf Scobee richtete - die allerdings völlig ahnungslos
war.
»Nein! «, beeilte sich Cloud zu sagen.
»Dann seid demütig! Setzt euch! Ich warte nicht länger.«
Cloud wusste, dass es sich um keine leere Drohung handelte. Er spürte es.
»Komm!«, wandte er sich an die Frau, die weit und breit das einzig Menschliche war.
»Wohin?«
Er sagte es ihr.
Und machte ihr deutlich, dass ihr Leben vom Gehorsam abhing.
Von ihrer bedingungslosen Unterwerfung.
Und ihrer Demut...
Sie traten auf die Sitze zu, die herum schwangen, kaum dass Cloud und Scobee Platz genommen
hatten. Sie drehten sich dem inneren Kreis zu, über dem das Modell des Schiffes schwebte.
»Eine kleine Demonstration«, sagte Sobek. »Ihr sollt wissen, was ihr verliert.«
Mit diesen Worten zog er in die Schlacht.
Es wurde immer unwirklicher.
Scobee hielt den Atem an. Sie hatten die Zentrale betreten, hatten die Holofigur vorgefunden, wie sie auf einem der Sitze förmlich thronte. John hatte ihr den Willen dieses Wesens übersetzt.
Und nun saß sie selbst auf einem der Sarkophag-Kommandoplätze des Rochenschiffes. Jäh drehte er sich mit ihr herum und rückte damit das dreidimensionale Bild der RUBIKON in ihr Blickfeld, das wie eine Säule den Kreis ausfüllte, den die insgesamt sieben Sitze bildeten.
Auch dies war ein Hologramm.
Es zeigte den äußeren Weltraum und darin eingebettet ein Gebilde, bei dem es sich nur um die RUBIKON handeln konnte - obwohl es ein ins Auge stechendes Detail gab, das sich von der Konstruktion unterschied, wie sie sie im Aqua-Kubus vorgefunden hatten.
Dieser Rochen hatte einen Schwanz.
Einen Schweif, dem Anschein nach aus demselben Material bestehend, wie der Rest des Schiffes. Dadurch wurde es beinahe doppelt so lang.
Umwabert wurde der Fortsatz von energetischen Effekten, die entfernt an das erinnerten, was die Äskulap-Raumer umzüngelt hatte. Aber das war nur eine vage Ähnlichkeit. Diese Energieausbrüche leuchteten rot... Tiefrot und düster, als blicke man ins Magmaherz eines Planeten. »Was hat das nun schon wieder zu bedeuten?«, rann es Scobee über die Lippen. Und Cloud, dessen Sitz ebenfalls herum geschwungen war, antwortete: »Ich weiß es nicht. Sobek spricht von einer - Demonstration.« »Eine Demonstration?« Scobee riss ihren Blick von der RUBIKON los, sah erst zu Cloud, der ihr rechter Hand am nächsten saß, dann zu Sobek, der immer noch statuenhaft unbewegt neben Cloud thronte. Eine Furcht einflößende Erscheinung. Hatten so die Hirten ausgesehen? Oder projizierte die Schiffs-KI ein reines Phantasiebild? Daran glaubte Scobee nicht, keine Sekunde. Sie wartete auf Clouds Erwiderung. Doch schon vorher kam Bewegung in das eben noch statische Bild, das sich vor ihnen bis unter die hohe Decke schraubte. Der Weltraum, der die RUBIKON in dieser holografischen Säule umgab, wirkte so real, als hätte sich inmitten des Artefakts ein Loch aufgetan. Pluto wurde sichtbar, auch sein Mond Charon, und dahinter sich bewegende Sterne, Lichtpunkte, die ein Muster bildeten, dabei größer wurden, näher kamen - und sich als Raumschiffe entpuppten. Kriegsschiffe der Erinjij...
Die fliegende Festungen der Menschen traten aus dem Ortungsschatten des Pluto, und es war nicht
zu erkennen, ob sie von dort im Orbit gelauert oder von seiner der RUBIKON abgewandten
Oberfläche aufgestiegen waren.
Cloud saß auf dem Platz, der ihm so vertraut geworden war, dem Platz von dem aus er in den
vergangenen Tagen das Rochenschiff immer wieder gelenkt hatte. Gemeinsam mit der KI war es
ihm sogar gelungen, es durch den Kometenwall der Oortschen Wolke zu manövrieren.
Seither lag ein Laurinschirm um das Schiff, ein Tarnfeld, das es gegnerischen Sensoren unmöglich
machte, ihre Position ausfindig zu machen.
Wir sind auch optisch unsichtbar, dachte er. Sonst wären wir längst entdeckt worden.
Dass die RUBIKON klar erkennbar im Hologramm prangte, machte ihn zunächst nicht
misstrauisch, kam ihm nicht verdächtig vor.
Doch dann eröffneten die Erdraumer warnungslos das Feuer.
Hoch konzentrierte violettfarbene Strahlbahnen rasten im Hologramm auf die RUBIKON zu und
schlugen in den Schmiegschirm ein.
Offenbar lichtschnell und aus kürzester Distanz.
Die Erschütterung lief wie ein Beben von immenser Stärke durch das Schiff. Cloud war überzeugt,
aus dem Sitz geschleudert zu werden. Aber unsichtbare Kräfte hielten ihn fest. Er rutschte nicht
einmal andeutungsweise in eine andere Position.
Ebenso wenig Scobee.
Ebenso wenig - der Hirte!
Clouds Fingerspitzen waren plötzlich von Elektrizität umflort. Die Stimme der KI klang in ihm auf.
»Notmanöver. Entfernen uns vom Planeten. Gehen auf Mindestdistanz. Kontinuumwaffe lädt.«
Kontinuumwaffe?
»Sobek! «
Der Hirte reagierte nicht auf Clouds Zuruf. Machte es überhaupt Sinn, sich an ihn zu wenden?
Wenn er tatsächlich nur eine Projektion der KI war...?
In diesem Moment hätte Cloud geschworen, dass der Hirte mehr als nur ein perfektes Hologramm
war. Aber er hätte nicht sagen können, woher er diese Überzeugung zog.
Ihm blieb auch keine Zeit, nach Indizien für seine These zu suchen. Die RUBIKON, die ebenso wie
die Erinjij-Schiffe und der gesamte sie umgebende Weltraum im Hologramm dargestellt wurde,
vollführte ein aberwitziges Manöver. Sie nahm Fahrt auf und...
Clouds Gedanken stockten, als würden sie dem Permafrost des Weltraums ausgesetzt.
Er sah es, aber er war außerstande es zu glauben.
Zu glauben, wie sich die RUBIKON bei diesem Radikalmanöver fortbewegte.
Links von ihm keuchte Scobee. Er schaute nicht hin. Sein Blick schien an der Holodarstellung des
Weltraums und der RUBIKON zu kleben.
Der Rochen hatte nicht einfach nur Fahrt aufgenommen, um sich von seiner bisherigen Position
abzusetzen, er bewegte sich auch in sich. Bewegte seine Schwingen...
Als würde er die Weiten des Aqua-Kubus durchpflügen, dachte Cloud. Als gleite er durch Wasser.
Als böte ihm das Vakuum Widerstand.
Es war ein ebenso majestätischer wie abstruser Anblick. Und gleichzeitig züngelte immer mehr
rubinfarbenes Licht um den Schweif, den der Rochen nachzog. Blitze umzuckten zunächst nur ihn,
dann stießen sie in immer rascherer Folge immer tiefer in den Raum vor.
War das die Kontinuumwaffe, von der die KI gesprochen hatte? Und wenn ja, wie wirkte sie?
Baute sie immer mehr Energie auf, um diese schließlich in einem ungeheuren Schlag gegen eines
der feindlichen Schiffe zu schleudern?
Feindliche Schiffe, dachte Cloud und war erschüttert über das eigene Denken. Es sind Menschen.
Da drin sind Menschen!
Aber diese Menschen jagten sie, seit er und Scobee in der Zukunft angelangt waren.
Seit wir unseren Hilferuf aus dem Äskulap-Raumer abgesetzt und uns ebenfalls als Menschen zu
erkennen gegeben haben, geisterte es durch sein Hirn. ( siehe Bad Earth Heft 02 „Phantomjagd“ )
Der Schmiegschirm wehrte die auftreffenden Schüsse so spielerisch leicht ab wie Regentropfen, die
von einem Wachstuch perlen.
Doch plötzlich raste von einem der Erdschiffe etwas Neues, Gewaltigeres heran.
Es sah aus wie ein Kugelblitz, der im Heranflug Substanz verlor.
Dennoch war noch genug übrig, als es zur Kollision mit der RUBIKON kam.
Der Stoß schien das Schiff auseinander reißen zu wollen. Für Sekunden war nur flüssiges Rot
innerhalb der Holosäule. Ein gefräßiges, vorzeitliches Glühen, das harte Schatten auf Scobees
Gesicht zauberte, Poren und winzigste Furchen hervortreten ließ, als altere die in vitro Geborene
binnen weniger Herzschläge um Jahre.
Clouds Blick zuckte zu Sobek - und in seinem Bauch bildete sich ein harter Knoten. Selbst die
Illusion eines Wesens, selbst das Hologramm des Hirten erlangte im glutenden Licht der Erinjij-
Waffe eine neue Qualität, enthüllte Feinheiten, die noch tiefere Beklemmung schürten als ohnehin
schon.
Endlich erlosch das Leuchten, und das normale All kehrte in die Zentrale zurück: ewige Nacht und
Sterne und Planeten, die darin eingebettet waren wie Diamanten.
»Plasmawaffe«, analysierte die KI kühl. »Schildbeanspruchung im unteren Toleranzbereich.
Kritischer Moment, falls zehn dieser Projektile gleichzeitig auf Schirm treffen. Maßnahme zur
Vermeidung eingeleitet. Mindestabstand zum nächsten Umläufer erreicht. Ladevorgang
Kontinuumwaffe abgeschlossen. Kontinuumwaffe einsatzbereit.«
»Dann«, meldete sich erstmals wieder Sobek zu Wort, und seine dunkle Stimme schien wie etwas
Lebendiges in Cloud hineinzukriechen, »befehle ich die Aktivierung. Jetzt.«
Cloud und Scobee wurden Zeugen eines Aktes beispielloser Lebensverachtung und Perversion...
Der Pulk der Erdschiffe umfasste 13 Einheiten. Sie flogen T-Formation. Sieben Schiffe,
hintereinander aufgereiht wie Perlen einer Kette - und am hintersten Punkt jeweils drei Raumer
abzweigend.
Nur das vorderste Schiff hatte bislang seine Waffen sprechen lassen, als gelte es, die Stärke des
Gegners zu testen.
Eine Taktik mit Folgen.
Eine Taktik, die geradewegs ins Verderben führte.
Die RUBIKON ließ dem Pulk keine Zeit, eine andere Variante auszutesten - oder sich einfach nur
darauf zu besinnen, den Rochen unter das gleichzeitige Sperrfeuer aus 13 Raumern zu nehmen.
Die RUBIKON gab ihre Passivität auf, die vom Gegner als Schwäche ausgelegt worden sein
mochte.
»John! «
Cloud hörte Scobees Stimme, aber er war unfähig, auf sie einzugehen. Oder auch nur den Blick von
dem unheimlichen, unheilvollen Glosen zu wenden, das sich plötzlich um die RUBIKON aufbaute,
ohne dass Feindeinwirkung bestand.
Der Rochen erzeugte das abseitige, das All durchströmende Leuchten selbst.
Der Schweif, dessen Spitze sich wie ein Stachel ins umgebende All bohrte - als wäre es Fleisch.
Als wäre es verwundbar...
Es war verwundbar!
Vergingen Sekunden, Minuten - oder nur ein Lidschlag?
Cloud wusste es später nicht mehr zu sagen, aber Scobee würde behaupten: Sekunden. Zwei, drei
Sekunden. Mehr habe das Spektakel nicht beansprucht.
Der Akt, der sämtliche Schiffe des Feindes - der Menschen - aus diesem Universum bannte.
Es sah aus wie die Art von Sprüngen, die sich nach der Kollision mit einem Fremdkörper auf einer
Glasscheibe bilden.
Nur war die Scheibe das luftleere All.
Und die Sprünge waren Risse. Spinnwebenfeine Risse, die sich rasend schnell in klaffende Spalte
verwandelten, die sich schließlich zu einem einzigen, gewaltigen Schlund vereinten.
Einem alles verschlingenden Moloch.
Einem Monstrum, das mit seinen unsichtbaren Gravitationsarmen, mit Tentakeln aus rotierender
Anziehungskraft nach allem griff, an allem zerrte, was sich in seinem Einflussbereich befand.
Auch an der RUBIKON!
Doch die RUBIKON leistete erfolgreich Widerstand.
Sie ächzte wie etwas Lebendiges, fauchte, heulte, wisperte und schüttelte sich...
Aber sie veränderte nicht ihre Position. Es war, als hätte sie eine Million Anker ausgeworfen. Eine
Million Anker, die verhinderten, dass mit ihr dasselbe geschah, was den Erdschiffen passierte.
Die hatten aufgehört zu feuern, weil sie alle Energie in ihre Antriebe leiteten.
Weil sie verzweifelt aufboten, was sie an Schub nur aufbieten konnten, um der Falle zu
entkommen.
Das fremde Kontinuum leuchtete aus dem Riss nicht nur in die Zentrale der RUBIKON. Auch an
Bord all der anderen Schiffe musste es sichtbar sein. Fahles, die Konturen auflösendes Licht, das
weder Kälte noch Hitze ausstrahlte, nur absolute negierend war, das Leben verhöhnend, auf das es
fiel.
»Wir müssen das stoppen!«, presste Scobee hervor.
Diesmal hörte er sie. Diesmal schnitt ihre Stimme förmlich in die ohrenbetäubende Lautlosigkeit,
in der sich das Verderben außerhalb der RUBIKON-Hülle entfaltete.
Sie hatte Recht.
Clouds Finger tauchten in die Sensorfelder, über die er mit der KI verbunden war. Normalerweise.
Er hatte gelernt, den Rochen auf diese Weise zu lenken und ihm seinen Willen aufzuzwingen. .
Aber das war vor Sobeks Erscheinen gewesen.
Die KI reagierte auf keinen seiner Im
pulse, auf keinen seiner Rufe. 5.
Dröhnendes Gelächter hallte plötzlich durch den Raum, durchdrang die betäubende Stille und das
grausame Licht.
Sobek lachte. Seine knöcherne Miene blieb unbewegt, aber die Membran pumpte in
gespenstischem Stakkato, als würde sie dem Puls des Lichts folgen, das aus dem Kontinuumriss zu
ihnen drang.
Näher und näher wurden die Erinjij-Schiffe auf den Spalt zugezogen. Ihre Formation hatte sich
aufgelöst. Antriebe spieen nutzlose Energien in einen, Raum, der sich vom normalen Kosmos
abgespalten zu haben schien. In dem Bedingungen herrschten, wie vielleicht an keinem anderen Ort
des Universums.
Dieses Universums.
Und all dies spielte sich innerhalb der Grenzen des Sonnensystems ab.
Gewalten wurden entfesselt, die anmuteten, als könnten sie Planeten aus ihrer Bahn werfen. Und in
einer apokalyptischen Vision sah Cloud brennende, aus ihren Jahrmilliarden alten Bahnen
geschleuderte Welten in die Sonne stürzen...
Dann war es vorbei.
Das lautlose Tosen erstarb.
Die Spitze des Schweifs erlosch.
Und die Wunde, die sie in den Kosmos geschlagen hatte, heilte, schloss sich hinter dem letzten
Körper, den der Spalt in sich aufgesogen hatte.
Alles wurde ruhig, alles wurde still, als würden Raum und Zeit gefrieren, und statt Sobeks Lachen
glaubte Cloud die Schreie der verlorenen Seelen zu hören, die ein Schicksal erlitten hatten wie noch
kein Mensch vor ihnen.
5. Sie wurden Zeuge, wie sich der Schweif der RUBIKON zurückbildete, wie er immer kürzer wurde - und schließlich ganz verschwunden war. Cloud war sicher, dass er jederzeit neu entstehen konnte. Wann immer die KI oder »Sobek« dies
befahlen.
Er wusste immer noch nicht, ob der vermeintliche Hirte nur eine Erfindung der Schiffs-KI war –
oder ob eine autarke Stelle an Bord ihn erzeugte.
Was Darnoks Sonde aufnahm, diesen Schläfer im Block, kann kein simples Hologramm gewesen und damit nicht mit dem hier..., er blickte neben sich, ...identisch sein. Welchen Sinn sollte das haben? Aber wenn dieser Sobek nicht identisch mit dem in der Aufnahme festgehaltenen ist - wo ist dieser dann geblieben? Hat man ihn weggeschafft, als wir uns näherten? Macht das Sinn? Er konnte nicht länger darüber nachdenken. Der Schock des gerade Erlebten wirkte in ihm nach.
Die RUBIKON hatte soeben dreizehn irdische Schlachtschiffe in den Untergang geschleudert
dreizehn irdische Besatzungen!
Und wenn Clouds ins geheimer Verdacht zutraf, dann war dieses Manöver von Sobek oder der KI
provoziert worden. Die RUBIKON hatte den bislang fehlerlos arbeitenden Tarnschirm einfach
abgeschaltet und so das Interesse des Gegners erst auf sich gelenkt. Hatte ihn dann von Pluto
weggelotst, um eine Waffe einzusetzen, die - diesen Eindruck hatte Cloud zumindest gewonnen selbst einen Planeten hätte zerstören können.
»Hast du das gesehen?«
Die Frage war von einem hörbaren Luftholen begleitet.
Scobee war mindestens ebenso erschüttert wie Cloud selbst.
Er nickte. Dann wandte er sich an das Holowesen. »Das war kaltblütiger Mord.«
Sobek machte nicht einmal den Versuch, den Vorwurf zu widerlegen. »Ich weiß«, sagte er ruhig.
»Du wusstest um die Wirkung dieser Waffe. Hast du sie tatsächlich nur zum Einsatz gebracht, um
uns zu beeindrucken?« Er konnte - nein, das war falsch - er wollte es immer noch nicht glauben.
»Ich gebe zu, das war nicht die vordergründige Intension.«
»Sondern?«
»Es war nötig, sich nach all der Zeit ein Bild von der Unversehrtheit, von der vollen
Einsatzbereitschaft SESHAs zu machen.«
Cloud war sich bewusst, dass Scobee keine Silbe ihres Wortwechsels verstand. Er warf ihr einen
schnellen, sie um Geduld bittenden Blick zu. Dann widmete er sich wieder dem Ungeheuer.
Nichts anderes war es.
Ein Monstrum.
Ob von der KI oder welcher Instanz auch immer generiert.
»In welcher Beziehung stehst du zu den Hirten?«, fragte er. »Du selbst bist bestenfalls ein Abbild
von Sobek. Existiert der reale Sobek noch? Hier an Bord? Warum zeigt er sich nicht selbst?«
Das Holowesen ging nicht darauf ein. Einmal mehr demonstrierte es, dass es - es allein - den
Informationsfluss bestimmte.
Aus den Augenwinkeln nahm Cloud Bewegung wahr, und als er in die Bildsäule blickte, bemerkte
er, dass die RUBIKON beschleunigte.
In ähnlicher Weise wie vorhin.
Sie schwamm in einem Medium, das gar nicht da war. Majestätisch hoben und senkten sich die
Schwingen des Rochens.
»Du hast während deiner Verschmelzungen nicht mehr als einen Bruchteil von SESHAs
Möglichkeiten und Geheimnissen erfahren«, erklärte das Holowesen, als erriete - oder lese? - es
seine Gedanken. »Dieses Defizit an Wissen wird dir niemand mehr nehmen. Du hast deinen Zweck
erfüllt. Du wirst jetzt gehen! «
»Zweck?«, begehrte er auf. »Welchen Zweck?«
Ohne dass er etwas dazu beitrug, schwenkten die Sitze gleichzeitig wieder um 180 Grad herum,
zeigten jetzt wieder in den offenen Raum der Zentrale.
Unsichtbare Fesseln fielen von Cloud ab. Neben ihm erhob sich Scobee und demonstrierte, dass es
ihr ebenso erging.
Cloud stemmte sich aus dem Sitz, und das Gefühl, zum letzten Mal in seinem Leben darin Platz
genommen zu haben, überkam ihn mit der Eindringlichkeit eines Déjà-vu.
Als er sich umwandte, sah er, dass Sobeks Sitz leer war.
»Wo ist er hin?« Auch Scobee hatte
das Verschwinden bemerkt. Cloud zuckte mit den Achseln. »Was hat er gesagt?«
Fast hätte er wieder einfach nur die Schultern gehoben. Aber ihm war klar, dass Scobee schon viel
zu viel Geduld bewiesen hatte.
»Er hat noch einmal bekräftigt, dass wir nicht länger an Bord geduldet werden.«
Ihr Blick schien zu flackern. »Das bedeutet was? Dass wir kaltblütig beseitigt werden? Wie die
Menschen, die gerade vor unseren Augen gestorben sind?«
Was sollte er darauf antworten? Ein leiser Gedanke keimte in ihm. Er brachte ihn fast nicht über die
Lippen, weil es ihm vorkam, als würde er die Augen vor der Wahrheit verschließen wollen.
Dennoch sagte er: »Vielleicht wurden wir getäuscht.«
»Was meinst du?«
»Denk an >Sobekwürdigem Abgang< ihm für uns vorschwebt...«
Schulter an Schulter setzten sie und Cloud sich in Bewegung, folgten dem Hirten wie zwei Schafe,
die sehenden Auges zur Schlachtbank geführt wurden.
6. Sie kannten den Raum. Hier waren Resnick und Jarvis verschwunden - falls das Ergebnis von Darnoks Fährtensuche stimmte. Hier waren auch Cloud und Scobee beinahe einer Kraft zum Opfer gefallen, der sie kaum hatten widerstehen können. Und selbst Darnok, aus dem hoch entwickelten, von den Menschen vernichteten Volk der Keelon hervorgegangen, hatte hier auf einer seiner Erkundungen seine Grenzen aufgezeigt bekommen. Der Raum, in den Sobek sie führte, war voller Kapseln, Hülsen, deren Bedeutung noch immer nicht restlos geklärt war. Darnok hielt sie für Transportmittel, da zwei von ihnen fehlten, eine seit die beiden GenTecs verschwunden waren, und eine seit... Cloud blieb abrupt stehen und stieß Scobee mit dem Ellbogen an. Härter als gewollt, so verblüfft war er. Aber die Frau an seiner Seite konnte es wegstecken. Sie war ihm physisch weit überlegen. In ihren Genen war vieles verankert, wovon ein Normalgeborener nur träumen konnte. Worum Cloud sie aber nicht beneidete. »Sieh dir das an!«, raunte er ihr zu. Und sie sah die Kapseln, die sich zu beiden Seiten des Raumes in ununterbrochener Kette erstreckten. Es gab keine einzige Lücke. »Ja«, sagte Scobee. »Sie sind wieder da.«
Cloud machte drei Schritte tiefer in den Raum und auf das Holowesen zu, das vor genau der Kapsel inne hielt, die als Erste verschwunden war. Die Zweite hatte versucht, Cloud und Scobee an sich zu
ziehen... und möglicherweise war bis vor kurzem sogar noch eine Dritte dort gewesen, die, an der
beinahe Darnok gescheitert wäre. ( siehe Bad Earth Heft 13 „Das Komplott der Jay’nac“ )
»Sobek!« Diesmal merkte Cloud, wie er in das fremde Idiom wechselte, das zwar die KI, nicht aber
Scobee beherrschte. Worum handelte es sich? Um die Sprache der Hirten, von denen sie annahmen,
dass sie die Erbauer des Artefakts waren? Und wieso beherrschte er sie? Unwillkürlich musste er
an die Protoreste denken, die in ihm kreisten. Hatten sie etwas mit seiner neu entdeckten Fähigkeit
zu tun? Der von Darnok transplantierte Sprachchip konnte es nicht sein, über den verfügte auch
Scobee.
»Sei demütig!«
Cloud schüttelte den Kopf. Mehr und mehr betrachtete er das Holowesen als Manifestation der
Schiffs-KI - womit er sich selbst beruhigte. Denn die Vorstellung, die Projektion eines Hirten
könnte von einem Hirten selbst gesteuert werden, der sich irgendwo in den Tiefen der RUBIKON
verborgen hielt, war noch unerträglicher.
»Du hast hier alles unter Kontrolle, alles im Blick«, sagte Cloud, »oder?«
»Was soll diese Frage? Sei...«
»Dann weißt du auch, was aus unseren beiden Gefährten geworden ist, aus Resnick und Jarvis!«,
fiel ihm Cloud ins Wort - um im nächsten Moment auf die Kapsel zu deuten, die die frühere Lücke
ausfüllte. »Sind sie... da drin? Und falls dem so ist, wo waren sie die ganze Zeit? Leben sie noch?«
Scobee war ihm gefolgt, stellte sich mit verschränkten Armen neben ihn. Sobek indes, die Schiffs-
KI, ließ sich zu keiner Antwort herab.
In der Kapsel, auf die Cloud gezeigt hatte, entstand ein Spalt, ohne dass einer von ihnen sie berührt
hätte. Offenbar ließ sich der Mechanismus auch fernsteuern.
Ein Blickwechsel mit Scobee zeigte Cloud, dass sie so gut wie er wüsste und sich
vergegenwärtigte, was das bedeutete. Noch war der Sog schwach, ein laues Lüftchen, aber das
würde sich schnell ändern...
»So will es uns also loswerden! «, sagte Scobee gepresst. »Einmal sind wir der Kapsel entkommen,
doch jetzt...«
Jetzt sind wir ihr ausgeliefert, vollendete Cloud im Stillen den Satz. Die Anziehung wurde stärker.
Das Holowesen ragte davon völlig unbeeindruckt neben der Kapsel auf.
»Geht jetzt! «,sagte es. »Ergebt euch in euer Schicksal!«
»Das wie lautet?«, keuchte Cloud, der bereits Mühe hatte, sich gegen den Einfluss zu stemmen, der
aus der Öffnung der Kapsel nach ihm griff.
Cloud sah sich noch einmal im Raum um, versuchte, jedes Detail für sich zu speichern. Doch
schließlich gab er dem Druck nach und leistete keinen Widerstand mehr. An Sobek vorbei glitt er,
ohne einen Fuß vor den anderen setzen zu müssen, ins Kapselinnere.
Als er den Kopf wandte, stand Scobee immer noch da.
Was ihm nicht geringe Sorge bereitete. Würde sie entgegen alle Vernunft doch noch versuchen,
sich dem Willen des Schiffes zu widersetzen? Cloud zweifelte keine Sekunde, dass dies ihren
sicheren Tod bedeutet hätte.
»Komm!«, rief er. »Komm endlich!«
Er hörte die eigene Stimme nicht, kam sich vor wie ein Fisch, dessen Maul sich auf dem Trockenen
öffnete und schloss, ohne dass der geringste Laut hervordrang. Schluckte der Sog auch jeden
Schall? Oder war dies eine Eigenschaft der Kapsel, in die er bereits eingetaucht war?
Sobek geriet aus seinem Blickfeld, dann auch Scobee. Cloud starrte auf den Spalt und fürchtete den
Moment, in dem er begann, sich zu schließen. Er hatte kaum Augen für das eigentliche, in grelle
Helligkeit gebadete Innere.
Als er schon nicht mehr damit rechnete, tauchte ein Schatten mit menschlicher Kontur in der
Öffnung auf. Im nächsten Moment erlosch die Lichtflut, und Scobee war bei ihm. Sekundenlang
sprach niemand ein Wort.
Schließlich sagte Cloud gefasster, als er es selbst von sich erwartet hätte: »Ich bin froh, dass du
keine Dummheiten gemacht hast.«
»Wie hätten die auch aussehen können?«, erwiderte sie, während sie sich umwandte, der Stelle zu, durch die sie gekommen war und wo sich der Durchlass inzwischen lückenlos, geschlossen hatte. Noch in der Bewegung, hielt sie inne wie erstarrt. Cloud folgte ihrem Blick und las dasselbe wie sie. Auf eine Wandstelle war etwas in zittriger, dunkelroter Handschrift geschrieben: G.T.
»Blut«, sagte Scobee. »Die Initialen sind mit Blut auf die Wand geschmiert!«
Cloud war überzeugt, dass dies stimmte. Sein Blick ging weiter. Er sah fremdartige, kristallartige
Strukturen. Doch da war nichts, was eindeutigen Aufschluss über den Zweck der Kapsel gab.
»Erkennst du seine Handschrift?«, fragte Cloud. »Könnte G.T. das geschrieben haben?«
»Wer sonst?«
»Ich frage, weil ich mir den Kopf darüber zerbreche, warum wir eigentlich davon ausgehen, dieses
Ding hier müsste ein Transportmittel sein.«
»Vielleicht dient es dem Zweck der Beseitigung, ohne dass es dazu überhaupt das Schiff verlassen
muss.«
»Der Beseitigung?« Scobees Tonfall war anzuhören, dass sie verstand, was er meinte.
»Unliebsamer Passagiere«, sagte Cloud dennoch. »Kann sein, dass wir einen verdammten Fehler
gemacht haben. Kann sein, dass das hier bereits der Ort ist, an dem es uns an den Kragen gehen
soll...«
Er biss sich auf die Lippe. Sein Blick flackerte. Er erwartete jeden Augenblick, etwas Tödliches aus
den Wänden hervorbrechen zu sehen. Doch schon zwei, drei Minuten später öffnete sich die Kapsel
wieder.
»Offenbar hat man es sich anders überlegt«, sagte Scobee.
Sie mussten ihre eigenen Kräfte bemühen, sich in Bewegung setzen. Nicht der Anflug eines anders
gepolten Sogs trug sie hinaus.
Sie traten vor die Kapsel und begriffen, dass sie die RUBIKON längst verlassen hatten.
Vor ihnen lag eine völlig andere Welt.
»Wie kann das sein? Wir waren doch höchstens... «
Cloud brachte Scobee zum Schweigen, indem er nach ihrem Arm fasste und fragte: »Was siehst
du? Sag mir, was du siehst!«
Um sie herum herrschte Dunkelheit, nur in unmittelbarer Kapselnähe aufgehellt durch das Licht,
das aus ihr hervorbrach. Aber das Wenige, was Cloud sah, genügte ihm schon, um zu wissen, dass
sie sich nicht mehr auf der RUBIKON befanden.
Was er nicht wusste, nicht einmal ahnte, war, wo sie nun stattdessen waren.
Die Luft roch modrig, als wäre lange nicht gelüftet worden. Eine lähmende Stille lag über der
Umgebung. Kein Laut drang zu ihnen vor.
Im nächsten Moment, noch ehe Scobee antwortete, wurde es völlig finster um sie herum. Der
Kapseldurchlass schloss sich. Cloud spürte einen Luftzug
»Nein!«, stieß Scobee hervor. »Verdammt! «
»Was ist?«
Sie hatte auf Infrarotsicht umgeschaltet und war klar im Vorteil. »Die Kapsel ist gerade ohne uns
abgerauscht.«
»Abgerauscht?«
»Verschwunden. Wie auch immer du es nennen magst. Aber...«
Er fühlte sich hilflos, wie einzementiert von der Schwärze. »Aber?«
»Da ist noch eine Zweite...«
Noch eine Zweite? War ihnen Sobek gefolgt?
Er ist ein Hologramm!, rief sich Cloud in Erinnerung - und musste sich eingestehen, dass er die
Erscheinung tief im Herzen und wider alle Vernunft für sich selbst realer verbucht hatte, als sie es
gewesen war.
»Sie öffnet sich«, sagte Scobee.
Das herausströmende Licht half Cloud sich dorthin zu orientieren, wo die andere Kapsel stand.
Etwa zehn Schritte entfernt, schräg links von ihm.
Tatsächlich floss etwas aus ihr hervor - eine silbrige, formlose, schillernde Masse, die sich
außerhalb der Kapsel in viele kleine Kügelchen aufspaltete - und nach allen Seiten davon stob.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Scobee.
»Greift es uns an?«, fragte Cloud, dessen Sicht die Kügelchen schon wieder entrückt waren.
Der Spalt auch dieser Kapsel schloss sich. Es wurde wieder stockfinster.
»Nein«, sagte Scobee, die sich neben ihm bewegte. Stammte der neuerliche Luftzug von ihr oder
von der Kapsel.
»Sie ist verschwunden wie unsere«, hielt ihn Scobee auf dem Laufenden.
»Ich wünschte, wir wären ein wenig besser vorbereitet. Ich beneide dich um deine...« Das Wort
Augen verschluckte er.
. Plötzlich wurde es hell. Ringsum flammte Licht auf.
Und wenig später war der Bahnhof fast schattenlos ausgeleuchtet...
Der Bahnhof?
Die Assoziation war einfach da, bedurfte keines Nachdenkens.
Natürlich ist es kein Bahnhof im irdischen Sinn, überdachte Cloud seinen Gedanken selbst. Aber er
erfüllt offenbar eine vergleichbare Funktion.
Tat er das?
Wo lag der Ort, an dem sie der Hülse entstiegen waren? War es nicht möglich, dass sie sich immer
noch an Bord des Rochenschiffs befanden - nur an einer bislang unerforschten Stelle? War es nicht
denkbar, dass sie mit einer groß angelegten Farce konfrontiert wurden? Spielte die KI der
RUBIKON mit ihnen?
Künstliche Intelligenz schloss »Kreativität« nicht aus, nicht einmal einen eigenen Charakter. War
die KI des Artefakts also mehr als pures Programm, das in den engen Bahnen seiner
Programmierung dachte und handelte? Besaß es... Persönlichkeit?
Und war das Holowesen, das es auf Cloud und Scobee losgelassen hatte, nur ein Instrument, um
ihre Reaktion auf eine veränderte Lage zu testen?
Der Testgedanke war schon einmal zur Sprache gekommen. Aber Cloud glaubte nicht daran. Nicht
mehr.
Die Luft, die Temperatur, die Schwerkraft... Es gab keine erkennbaren Unterschiede zu vorher,
aber nicht einmal das musste etwas zu bedeuten haben.
»Jetzt siehst du es selbst.« Scobee trat zu ihm und lächelte zaghaft.
Trotz ihrer ungewissen Lage schien sie weder Mut noch Hoffnung verloren zu haben. Im Gegenteil,
Cloud hatte fast den Eindruck als blühe sie auf, nachdem sich die primäre Befürchtung, von
»Sobek« in den Tod geführt zu werden, als falsch herausgestellt hatte.
»Was glaubst du, wo wir sind?«, fragte er.
Schulterzucken. »Keine Ahnung. Ich habe nicht den leisesten Schimmer.«
»Immer noch an Bord?«
»Eher nicht.«
»Obwohl es so schnell gegangen ist?«
»So lange wir nichts über die Fortbewegungsart wissen, der sich die Kapseln bedienen, sagt das absolut nichts aus. Nach allem bisher Erlebten können wir ebenso gut Kilometer zurückgelegt haben wie Lichtjahre.« Dieser Meinung schloss sich Cloud an. »So kommen wir nicht weiter. Hast du besser erkennen können, was das war? Ich meine das, was der anderen Kapsel entwichen ist.« »Nein. Es entfernte sich blitzartig und war verschwunden. Ich konnte nicht sehen, wohin.« Cloud schaute sich um. Der Ort, an dem sie sich befanden, war verlassen. Die Wände waren von erloschenen Monitoren bedeckt. Davor gab es terminalähnliche Konsolen. All das erinnerte entfernt an die RUBIKON, was nur logisch war, wenn es sich dabei um eine Art »Gegenstation« handelte. Der Raum maß etwa 25 mal 25 Meter und war gut sieben, acht Meter hoch. Das bedeutete, die Kapseln hatten die Decke fast berührt. Weder in den umliegenden Wänden noch in Boden oder Decke gab es eine Öffnung, von der man hätte annehmen können, dass sie genügte, um größere Körper passieren zu lassen. Aber genau so sah es auch auf der RUBIKON aus. Auch dort schienen sich die Gebilde durch feste Wände zu bewegen. Cloud und Scobee konnten das nicht. »Wir müssen zusehen, dass wir hier rauskommen«, sagte Scobee. »Vielleicht treffen wir sogar auf G.T und Resnick.«
Nebeneinander gingen sie auf eine der Wände zu - und bereits bei ihrer Annäherung bildete sich
eine Türöffnung. Dahinter lag ein schwach erhellter Gang.
»Man könnte fast meinen, wir würden erwartet«, sagte Cloud. »Nehmen wir die Einladung an?«
»Haben wir denn eine Wahl?«, fragte Scobee.
Zwischenspiel Erde Nigel Forge atmete tief ein und wieder aus. Er war umgeben von Blau. Vor ihm stand das Zuchthirn, das zeitverlustfrei Daten aus dem Großraum Pluto empfing. Ein Modul übersetzte sie in Sprache, ein anderes speicherte sie ab, leitete eine Kopie zum Master und eine ans Archiv. Nigel Forge war nur ein winziges Rädchen im Getriebe. Er war nicht für die eingehenden Nachrichten zuständig, sondern einzig und allein für das Befinden des Hirns. Vor Jahren, als er diese Aufgabe übernommen hatte, hatte er die Fabrik besuchen dürfen, in der Klumpen wie der vor ihm schwimmende hergestellt wurden. Es war einer der nachhaltigsten Momente seines Lebens geworden - er hatte sich fast übergeben müssen. Ein nacktes, bloß gelegtes Gehirn sah an sich schon nicht sonderlich appetitlich aus. Die einzelnen Phasen des Klonverfahrens waren es umso weniger. Auf einer Station der damaligen Führung hatte er einen der Organklumpen, die aufgrund von Fehlerhaftigkeit ausgemustert worden waren, sogar berühren müssen. Der Ekel verfolgte ihn bis heute. Manchmal war es für ihn selbst nicht begreiflich, dass er diese Verantwortung dennoch zugewiesen bekommen hatte. Er war überzeugt, dass man seine Abscheu bemerkt hatte. Aber offenbar hatten die, die darüber entschieden, objektiver als er selbst vorausgesehen, dass er diese Gefühle im späteren Umgang mit einem fertigen, mängelfreien Zuchthirn unterdrücken konnte oder sogar abbauen würde. Das war geschehen. Inzwischen galt er als einer der besten Pfleger überhaupt. Er fand mühelos Zugang zur hochsensiblen Psyche eines jeden organischen Kommunikators. Dies ging so weit, dass er Sympathien für die Klumpen entwickelte, für die er zuständig war. Umso schmerzhafter traf es ihn jedes Mal, wenn eines der Hirne der Belastungen nicht mehr länger stand hielt und kollabierte. Es wurde dann sofort ausgetauscht, und obwohl Forge es nie nach außen hin zeigte, verarbeitete er diese Verluste keineswegs so problemlos, wie man es von ihm erwartete.
Die Zuchthirne waren auf eine einzige Funktion abgestimmt: Sie besaßen einen ausgeprägten telepathischen Sektor und waren nicht nur erdweit im Dauereinsatz, sondern auf allen von Menschen besiedelten Welten sowie auf jedem interstellar operierenden Raumschiff. Forge war nur einer von vielen Pflegern, und ihm unterstanden knapp drei Dutzend Hirne, die er hegte und pflegte. Und zu denen er Verbindungen aufbaute, die es ihm im dienstfreien Alltag erschwerten - nein, regelrecht unmöglich machten-, Beziehungen zu echten Menschen aufzubauen. Er war ein Einzelgänger. Er war eine Scheinehe (für ihn war es Schein, für sie unglücklicherweise nicht) mit einer Frau eingegangen und hatte auf ihr Drängen hin sogar ein Kind gezeugt. Er hatte alles getan, um nicht aufzufallen. Aber er litt unter dem Gespinst von Lügen, das er um sich herum aufgebaut hatte, nur um in Ruhe gelassen zu werden. Erreicht hatte er das Gegenteil. Ruhe? Er litt, wenn er bei seinen Gehirnen war, und er litt noch mehr, wenn er ihnen fern sein musste, wenn Rafter, sein Stellvertreter und Kollege die Schicht übernahm... Ich bin ein unglücklicher Mensch, dachte Forge. Wie lange will ich das noch durchhalten? Es war einer der Standardgedanken, die ihn jeden Tag verfolgten. Aber heute war es anders. Heute
rückte er in den Hintergrund. Die aktuellen Geschehnisse degradierten sein eigenes Leiden, seine
Zerrissenheit, zu etwas wenig Bedeutungsvollem angesichts dessen, was draußen, abseits der Erde
geschah.
Geschehen war.
Die eingehenden Meldungen überschlugen sich. Der Sprachvokoder des Gehirns arbeitete
pausenlos, und Nigel Forge war noch nie so bewusst geworden wie in diesem Moment, dass er ein
Geheimnisträger war. Nichts von dem, was er jemals aus dem Techno-Mund der Zuchthirne hörte,
erreichte die Außenwelt. Es sollte Pfleger gegeben haben, die sich nicht an dieses Verbot, nicht an
diese dringlichste aller Regeln gehalten hatten.
Aber sie waren von heute auf morgen wie ein defektes Hirn ausgemustert worden. Man hatte sie
nicht nur von ihrer Aufgabe enthoben, sondern auch aus ihrem sozialen Umfeld beseitigt.
Forge versuchte, nicht daran zu denken. Es war keine angenehme Vorstellung, aus Vorsatz oder
einfach nur Unbedachtheit selbst einmal in eine Lage zu geraten, die ihn aus der mühevoll
aufrechterhaltenen Normalität seines Alltags herausgerissen hätte.
Es gab viele Gerüchte über das weitere Schicksal ehemaliger Pfleger...
Forge schüttelte den Kopf, um diese unangenehmen Gedanken zu verdrängen. Dafür drangen nun
wieder die Berichte vom Rand des Sonnensystems auf ihn ein.
»...verschwunden«, klang es aus dem Sprachvokoder. »Alle dreizehn Schiffe gelten als zerstört.
Das beobachtete Phänomen wird zurzeit noch analysiert. Spezialeinheiten sind unterwegs zu den
Koordinaten, wo es zur Kontinuumverletzung kam. Im ganzen Sonnensystem herrscht höchste
Alarmstufe. Nachdem fremden Schiff wird gefahndet. Es scheint identisch mit dem zu sein, dass
bereits in der Oortschen Wolke für Aufruhr gesorgt hat. Momentan ist es von sämtlichen
Tasterschirmen verschwunden. Aber...«
Forge spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.
Er wusste, wie einzigartig dieser Vorfall war. Es ging nicht nur um dreizehn verlorene Schiffe,
dreizehn wahrscheinlich ums Leben gekommene Besatzungen...
Was ihn - und mit Sicherheit auch die Master - sehr viel stärker beunruhigte, war die Tatsache, dass
überhaupt ein fremdes, nicht identifiziertes Raumschiff ins Sonnensystem gelangt war.
Eigentlich sollte das ein Ding der Unmöglichkeit sein.
Forge war beunruhigt.
Aber auch - was das anging - voller Vertrauen.
Niemand, der sich in die geschützte Sphäre der Menschen, ins versteckte Herz ihres
expandierenden Großreichs wagte, würde lange genug existieren, um die geheimen Koordinaten
weiterverbreiten zu können!
Forge holte noch einmal tief Atem und merkte, dass er schwitzte.
Schwitzte wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Sein Herz hämmerte, und der kalte Schweiß lief ihm hinter dem Ohr hinab bis in den hohen Kragen
seines Hemdes, das sofort den Tragekomfort erhöhte und das Internklima zu regulieren versuchte.
Aber Forges Nervosität erwies sich als stärker.
Und wenn nicht?, dachte er.
Von klein auf wurde ihnen eingetrichtert, dass keine andere Spezies der Milchstraße die Lage des
Sonnensystems kannte. Sämtliche Flottenbewegungen fanden über das Jupiter-Portal statt. Und
außer den Menschen beherrschte niemand den Wurmlochtransfer.
Als zusätzliche Sicherung existierte der Wall, zu dem die Oortsche Wolke ausgebaut worden war.
Aber genau dort schien die Schwachstelle zu liegen. Das fremde Schiff war dort zum ersten Mal
aufgefallen, hatte aber nicht gestoppt werden können.
Es muss über eine fast perfekte Tarntechnologie verfügen, dachte Forge, obwohl er absoluter Laie
auf diesem Gebiet war.
Er schüttelte den Kopf, gab sich einen Ruck.
Ich sollte mich nicht darum kümmern. Ich sollte meine Arbeit erledigen, nur meine Arbeit.
Aber er konnte nicht verhindern, dass er weiter zuhörte, dass er die eingehenden Meldungen mit
einem »Heißhunger« verfolgte und in sich aufnahm wie kaum eine Nachricht in den
zurückliegenden Jahren. -
Er spürte, dass etwas in Gang gekommen war, dass eine Gefahr darstellte.
Eine Gefahr, die nicht unbedingt fern der Erde, an der äußersten Grenze des Sonnensystems bleiben
musste.
Vielleicht kommt es zu uns, dachte er. Vielleicht ist es bereits da.
Hätte ein Master seine Gedanken erfahren, hätte das weit reichende Folgen gehabt, davon war er
überzeugt.
Dennoch konnte er nichts dagegen tun.
Während er die Nahrungszufuhr der Gehirne kontrollierte, dachte er an seine Frau - und an die 150
Millionen (Dies ist kein Druckfehler. Anm. der Redaktion) anderen Menschen auf der Erde.
Niemand, machte er sich bewusst, niemand von denen da draußen ahnte in diesem Moment auch
nur, welche Bedrohung aufgetaucht war.
Nur die Master-Ebene war zum gegenwärtigen Zeitpunkt informiert.
Und er.
Als er seine Schicht beendete, wollte er den Turm verlassen und zu seiner Wohnung fahren. Aber
auf dem Weg zu seinem Gleiter wurde er aufgehalten.
Zwei Männer versperrten ihm den Weg und führten ihn in einen Bereich des Turms, in dem er noch
niemals zuvor gewesen war.
Wo er einem Wesen begegnete, das er noch niemals zuvor gesehen hatte - auch wenn jeder von
ihnen sprach.
»Wir haben ein Problem«, sagte der Master.
Forge war kaum in der Lage zu sprechen. Er war fast ohnmächtig vor Entsetzen. »W-womit?«
»Mit dir. «
An diesem Abend kehrte Nigel Forge nicht nach Hause zurück.
Und auch nicht an den Tagen danach...
7. Es war nicht wirklich hell, aber es genügte. Immerhin war Cloud in der Lage, sich zurechtzufinden;
Scobee ohnehin. Das matte Licht strömte aus der Decke, aus ihrer ganzen Fläche. Einzelne
Leuchtkörper waren nicht zu erkennen.
Der Korridor, in den sie traten, war nur kurz, etwa fünf oder sechs Meter lang. Zu beiden Seiten
gab es jeweils zwei offene Türen. Am Ende des Ganges war eine Wand.
Oder etwas, das wie eine Wand aussah. Cloud schloss nicht aus, dass es eine Möglichkeit gab, sie
zu öffnen. Aber sein vorrangiges Interesse galt zunächst den Türen und den Räumen dahinter.
»Totenstill«, sagte Scobee. Sie ging langsam neben ihm. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, fast katzenartig. Schönheit, Kraft und Eleganz vereinten sich in ihr - und Klugheit. Die perfekte Frau, spöttelte Cloud. Doch noch während er es dachte, wurde ihm bewusst, wie viel Wahrheit darin steckte. In den letzten Tagen hatte sie ihm einiges aus ihrer Vergangenheit eröffnet, was ihn im ersten Moment regelrecht geschockt hatte. Sie hatte von Cronenberg erzählt - und den NCIA-Chef dabei als das personifizierte Böse geschildert, der einen Regierungsumsturz vorbereitet hatte. Das Schockierende war dabei weniger die Rolle gewesen, die sie in Cronenbergs Plänen eingenommen hatte, als vielmehr ihr Verhältnis zu ihm. Ihre Eröffnung, mit ihm über Jahre liiert gewesen zu sein, machte ihm auch jetzt noch zu schaff en - zu seiner eigenen Verwunderung mehr als die Dinge, die sie ihm in diesem Gespräch noch offenbart hatte. Was ist sie für mich? Ein Freund, ein Schicksalsgefährte - oder eine attraktive Frau, für die ich bereit wäre mehr zu empfinden als nur...? Ihre Stimme lenkte ihn ab. Sie war jetzt laut und drängend. »John! John, träumst du? Geht es dir gut? Hast du Probleme?« Er merkte, dass er stehen geblieben war, und wusste, worauf sie anspielte. Aber die Gespenster, die Splitter fremder Bewusstseine, die ihm auf der Erde nebst dem Wissen mehrerer Koryphäen auf unterschiedlichsten Wissensgebieten eingepflanzt worden waren, schwiegen seit geraumer Zeit. Seit er sich - es klang verrückt, aber genau so war es passiert - auf sie eingelassen hatte. Seit er sie akzeptiert hatte, verfolgten sie ihn nicht mehr wie Wachträume, von denen er in den unmöglichsten Situationen überrumpelt wurde. Sie waren noch immer in ihm, aber sie schwiegen. Sie waren ein Teil von ihm - wie auch er von ihnen. Er war ein Allrounder. Die beiden anderen Astronauten, die in vergleichbarer Weise »aufgerüstet« worden waren und die Marsmission begleitet hatten - Seymor und Darcy -, lebten nicht mehr. Seymor war von seinen »Gespenstern« in den Wahnsinn getrieben worden und hatte Selbstmord begangen. Darcy war nach Betreten des Äskulap-Raumers, der sie vom Mars entführt hatte, von einer Art »Steinwesen« oder Roboter umgebracht worden. Im Gegenzug hatten die GenTecs Darcys Mörder ausgeschaltet... Cloud hatte sich seither mehr als einmal gefragt, ob es sich dabei um einen so genannten Anorganischen gehandelt haben könnte. Keinen hochwertigen Roboter, sondern eine andere Form von Leben als sie es von der Erde her kannten. Dies wiederum hätte bedeutet, dass Anorganische die Erde im Jahr 2041 angeflogen und erobert hätten. War es so? Aber wie hatte die Erde sich ihrer erwehren können? Wir wissen nicht, ob ihnen das gelungen ist. Sie wussten gar nichts. Zwar hatten sie kurz davor gestanden, es vielleicht zu erfahren, aber dann hatte sich Sobek entschlossen, sie hinauszuwerfen, und jetzt - waren sie hier und mussten herausfinden, wo dieses Hier lag. Auf welcher von zahllosen möglichen Welten der Milchstraße, auf denen sich diese Station befand - die aber ebenso gut im freien Raum liegen konnte, in irgendeinem Orbit oder zwischen den
Sternen dahindriftend...
Alles war möglich, aber eines schien sicher: Sie waren der Erde wieder weit entrückt. Und
vielleicht hatten sie damit ihre letzte Chance vertan, sie überhaupt jemals wieder zu sehen.
Immer gesetzt den Fall, dass sie überhaupt noch existierte, wofür es zum gegenwärtigen Zeitpunkt
nicht den kleinsten Beweis gab...
»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte er.
Scobee, obwohl nichts in Ordnung war. Nichts.
Wo, zur Hölle, sind wir gelandet? Gab es wirklich eine Chance, hier auf Resnick und Jarvis zu
treffen? Oder nur noch auf Resnick? War Jarvis tot? Sein Blut an der Kapselwand, diese zwei
simplen Buchstaben, wollten Cloud nicht aus dem Kopf gehen.
»Dann komm weiter!«, drängte Scobee.
Zum ersten Mal, seit sie die Kapsel verlassen hatten, spürte er, dass auch sie wesentlich
angeschlagener war, als sie nach außen hin zu vermitteln versuchte.
Er unterdrückte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen - sie einfach nur kurz in den Arm zu
nehmen.
»Ich wünschte, wir hätten eine Waffe. Irgendetwas, mit dem wir uns notfalls zur Wehr setzen
könnten«, sagte er, während er sich an ihr vorbei durch die erste der beiden Türen zu ihrer Rechten
schob.
»Das haben wir«, antwortete sie zu seiner Verblüffung und schob die Erklärung sofort hinterher:
»Immerhin hast du mich.«
Das Lächeln tat gut.
Der Raum, in den sie traten, war voller Geschichten.
Geschichten, die sie zwar nicht auf Anhieb verstanden. Aber den offenkundigen Unterschied zum
sterilen, detailarmen Bahnhof, wo sie der Kapsel entstiegen waren - und wo alles klinisch sauber
und nichts sagend gewesen war - registrierten sie auf Anhieb.
Wände, Decke und Boden waren voller Bilder. Malereien. So fremdartig, dass das Auge im ersten
Moment gar keinen Ruhepunkt fand, um zu begreifen, was hier dargestellt und für die Nachwelt
festgehalten worden war. Aber wenn es sich erst einmal daran gewöhnt hatte...
»Sie können nicht schlecht gewesen sein«, flüsterte Scobee unvermittelt.
Dass sie ihre Stimme senkte, entsprach auch Clouds eigenem Empfinden, dass hier laute Worte
nicht angebracht waren.
Der Raum an sich war, wie schon der Bereich, in dem sie angekommen waren, fast leer. Es gab
nichts, was an Mobiliar erinnerte, nur in der Mitte erhob sich ein Quader von etwa anderthalb
Meter Kantenlänge.
Das Material, aus dem er geschaffen war, unterschied sich vom Baustoff der übrigen Umgebung.
Es war kein Metall, sondern Stein, tippte Cloud. Eine Art Marmor. Vollkommen glatt, opalartig
durchmustert.
»Ich komme mir vor wie in einem Andachtsraum«, sagte er, ebenfalls leise, verhalten. Ihre
Stimmen schienen von den Oberflächen des Raumes aufgesogen zu werden. Es gab nicht den
geringsten Hall, wie sonst in fast leeren Räumen üblich.
»Ob die Station den Hirten gehörte?«
»Dem Volk, dem sie angehörten - bestimmt«, erwiderte Cloud. »Alles andere würde keinen Sinn
ergeben, oder?«
»Ich weiß es nicht...« Sie verstummte, obwohl Cloud den Eindruck hatte, dass sie noch mehr sagen
wollte. Doch dann wies sie auf eine Wandstelle. »Sieht das nicht aus wie...?«
Er folgte ihrem ausgestreckten Arm, musste sich aber erst auf das Bild einstellen, ehe sein Gehirn
Details herauszulösen und zu erkennen vermochte. Der oder die unbekannten Künstler hatten einen
in dieser Form noch nie gesehenen Hang dazu, jedes Detail ins andere überzuleiten, miteinander zu
verschmelzen...
Aber schließlich entdeckte er doch die Gestalt, die Scobee schon vor ihm isoliert hatte.
»Sieht aus wie Sobek.« Er nickte. »Wie das Hologramm, das uns der RUBIKON verwiesen hat.«
»Wie ein Hirte also«, unterstrich sie.
Die Ähnlichkeit konnte kein Zufall sein. Sie hatten also hier gelebt.
Aber die eigentliche Frage, wo dieses Hier lag, war immer noch unbeantwortet.
Scobee trat zu dem altarartigen Stein und berührte ihn. Sie strich mit beiden Händen über seine vielfarbige Oberfläche, die im schwachen Licht kaum zur Geltung kam. Aber die Berührung löste etwas aus. Von einem Atemzug zum nächsten veränderte sich nicht nur der Stein, sondern der ganze Raum. »Grundgütiger, was...?«, entfuhr es Cloud - als sich um sie herum Galaxien formten und zu drehen begannen.
Die Wände schienen zurückzuweichen.
Die Farben des Altarsteins explodierten, brachen gleißend nach allen Seiten und durchfluteten
selbst Scobee, ließen ihren Körper fast durchscheinend wirken.
Als Cloud an sich herabblickte, entdeckte er ein ähnliches Phänomen auch an sich. Wie ein Geist
schwebte er plötzlich mitten im Weltraum.
Natürlich war es nur ein Trick, eine Simulation, aber sie war so grandios detailfreudig, dass es
ebenso gut hätte echt sein können.
Aber dann wäre ich jetzt tot, genau wie Scob, dachte er.
»Was hast du getan?« Seine Stimme schien das ganze Universum auszufüllen.
Scobee drehte sich zu ihm um. »Ich weiß es nicht. Sagt man Kindern nicht immer, sie sollen nicht
anfassen, was ihnen nicht gehört? Ich wünschte, ich hätte mich darauf früher besonnen...«
»Ich glaube nicht, dass uns Gefahr droht«, sagte er.
»Du hoffst, dass uns keine droht«, korrigierte sie ihn.
Er schwieg und ließ das veränderte, jetzt lebendig und dreidimensional gewordene »Gemälde« auf
sich wirken. Von irgendwoher drangen Töne, keine Musik im vertrauten Sinn, aber spürbar im
Einklang mit den Bildern stehend.
Gesänge des Alls.
Natürliche Geräusche, für menschliche Sinne normalerweise ohne technische Hilfen nicht
wahrnehmbar, hier aber hörbar gemacht.
Cloud fühlte sich unbehaglich und tief berührt in einem. Er wünschte sich weit, weit fort - und
konnte sich zugleich der Anziehungskraft dieses Ortes nicht entziehen.
Beschäftigten Scobee ähnlich widerstreitende Gefühle?
»Da!«, rief sie. »Ist das unsere... Milchstraße?«
Die Spiralgalaxie hing genau über dem Altar und bildete, auch was ihre Größe anging, offenbar das
Zentrum der Darstellung. Darüber hinaus gab es jedoch noch etliche andere Sterneninseln.
»Wunderschön«, hörte sich Cloud sagen.
. Ihm wurde gar nicht bewusst, dass sein Blick zwischen Scobee und der imposant über dem
Quader schwebenden Galaxie hin und her pendelte.
Und dass diese Aussage auf beides zutraf...
»Die lokale Gruppe«, sagte Scobee, von Sternenlicht durchwoben. »Wenn mich nicht alles täuscht,
ist das die komplette lokale Gruppe.«
Sie hatte Recht. Cloud erkannte es nun ebenfalls.
Neben der heimatlichen Milchstraße waren auch die sie unkreisenden Magellanschen Wolken, die
Nachbargalaxie Andromeda und M 31, eine Spiralgalaxie wie die Milchstraße, identifizierbar.
Es gab noch eine Anzahl anderer, kleinerer Sternballungen, die allesamt zu der von Scobee
erwähnten lokalen Gruppe zählten, die einen ungefähren Raum von fünf Millionen Lichtjahren
umspannte. Weiter reichte der hier gezeigte Ausschnitt des Kosmos nicht. Und von den gezeigten
Galaxien waren die Milchstraße und die Große Magellansche Wolke die einzigen Gebilde mit
Markierungen. »Siehst du das?«, fragte Cloud. »Was meinst du?«
»Einer der Seitenarme unserer Milchstraße ist mit einem rötlichen Schleier hinterlegt. Wenn mich
nicht alles täuscht, ist es der Orionarm, in dem sich auch unsere Sonne befindet.«
»Woran erkennst du das?«, fragte Scobee.
Ich weiß es, weil... Himmel, ich weiß es einfach! Es erschütterte ihn selbst, dass er nicht sagen konnte, woher er seine Überzeugung nahm. Der
Maßstab war so klein, dass Einzelsterne kaum auszumachen waren, geschweige denn vertraute
Sternbilder, anhand derer sich eine Orientierung hätte ableiten lassen.
»Eine Vermutung«, schwächte er ab. »Aber die Große Magellansche Wolke ist ebenso eingefärbt -
von den anderen Sternhaufen keiner.«
»Und das bedeutet deiner Meinung nach?«
»Auf jeden Fall eins: beide Gebiete hatten eine besondere Bedeutung für die Stationserbauer.«
»Die Hirten.«
»Die Hirten, du sagst es.«
Scobee zog ihre Hände vom Stein zurück - und sofort erlosch das Planetarium.
Sie legte ihre Hände darauf... und es entstand neu.
»Gehen wir weiter?«
»Du wärst für Museumsbesuche absolut ungeeignet«, hielt sie ihm vor.
»Warum?«
»Du hast nicht die notwendige Geduld und Muße, dich auf Werke einzulassen.«
Er legte den Kopf schief. »Vielleicht liegt es daran«, sagte er, »dass wir in Kürze ein Problem
bekommen werden, das ich nach Möglichkeit vermeiden möchte. Wir haben es schon einmal
durchgemacht. Es ist nicht unbedingt erstrebenswert.«
»Wovon redest du?«
»Von Verdursten und Verhungern. Momentan dürfen wir wenigstens atmen - aber auf Dauer ist mir
das zu wenig. Sobek hätte uns wenigstens etwas Proviant einpacken können.«
»Er scheint nicht wirklich um unser Wohl besorgt gewesen zu sein.«
»Nein. Und falls doch, hat er es meisterlich verborgen.«
Sie verließen den Raum, traten auf den Gang hinaus und wählten als Nächstes die offene Tür auf
der anderen Seite.
Wo etwas auf sie wartete, womit sie weder in dieser Form noch zu diesem Zeitpunkt gerechnet
hätten.
Menschen!
Im Moment ihres Eintretens wurde das Licht automatisch heller und enthüllte den Inhalt des Raumes bis in den entferntesten Winkel. Cloud blieb stehen wie gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Scobee stieß fast mit ihm zusammen. »Heh! « Bevor sie zu weiterem Protest ansetzen konnte, erfasste ihr Blick, weshalb Clouds Bewegung ins Stocken geraten war. Der Raum war voller Behälter - und voller Menschen. Die Ähnlichkeit der durchscheinenden Särge mit den Stasetanks, in denen Cloud an Bord der ersten RUBIKON weite Strecken der Reise zum Mars zurückgelegt hatte, war unverkennbar. Hier wie dort ruhten Menschen in den Konstruktionen. Ihre Augen waren geschlossen. Sie sahen aus wie schlafend. Schweigend gingen Scobee und Cloud tiefer in den Raum. Ihre Schritte verursachten lautere Geräusch als erwartet. Als wäre der Metallboden unter ihnen hauchdünn, und es wäre ein gewaltiger Resonanzkörper darunter, der den Schall verstärkte.
Tatsächlich hatte Scobee das Gefühl, über eine hauchdünne Eisschicht zu laufen, die jeden Moment unter ihr weg brechen konnte. Allzu schmerzhaft war die Erinnerung an ihre toten »Kinder«; an all die GenTec-Kopien, die aus ihrer Vorlage geklont worden waren und mit an Bord der ersten RUBIKON gegangen waren... Wo sie im Zuge der Schwarzen Flut im Staseschlaf liegend ums Leben gekommen waren. Sie hatte den Verlust bis heute nicht verkraftet. Es waren ihre Ebenbilder gewesen. Sie hatten nicht ihre Erinnerungen und prägenden Erlebnisse besessen, aber die Anlage war identisch gewesen. Sie waren mindestens wie Geschwister für sie gewesen, hatten in identischen Bahnen gedacht und gefühlt und nie die Chance erhalten, ein normales Leben zu führen. Erst im Nachhinein war ihr bewusst geworden, wofür sie sich hergegeben und wozu sie gezwungen worden war. Verflucht seiest du, Reuben Cronenberg, verflucht! Sie hatte sich innerlich längst von ihm losgesagt, aber in Momenten wie diesen - in Momenten, da die Erinnerungen in ihr hochgespült wurden - lief ihr eigener Werdegang manchmal wie im Zeitraffer vor ihrem geistigen Auge ab. Sie hasste sich für vieles, was in den zwanzig Jahren ihres Lebens geschehen war. Sie hatte sich entschieden, nur noch nach vorn zu blicken, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Aber nun zeigte sich, dass es leichter war, den Vorsatz zu fassen, als ihn allen Widrigkeiten zum Trotz auch in jeder Lebenslage zu realisieren. »Sie haben Menschen umgebracht, entführt - was wein ich nicht alles!«, platzte es aus Cloud hervor. »Himmel! Wir waren nicht die Ersten, die mit ihnen in Berührung kamen! Sieh dir das nur an...« Sie verstand, was er meinte. Es waren Menschen. Aber Menschen, die lange vor ihnen gelebt hatten. Ihrer Kleidung nach Chinesen der Han-Dynastie. Implantiertes Wissen in Cloud erkannte es anhand der Kleidung, die sie trugen...
Sie waren nicht nackt, sondern vollständig bekleidet in die transparenten Blöcke »eingeschweißt«
worden.
»Sie schlafen nicht, sie sind tot«, behauptete Scobee. »Sie wurden hier zur Schau gestellt, mehr
nicht.«
»Vielleicht«, sagte er.
»Vielleicht? Hast du eine bessere Idee?«
Er trat an einen der Blöcke heran.
Aus der Nähe schienen sie Bernstein noch ähnlicher zu sein. Das durchsichtige Material hatte einen
Goldschimmer. Jeder Block ruhte auf einem knöchelhohen Metallsockel, an dem sich Zeichen und
Erhebungen befanden.
Cloud spürte, wie ihm die Kehle eng wurde, als er die Symbole zu lesen verstand.
Ich beherrsche diese Schrift? Wenn ich das Scobee sage, wird sie mich endgültig wie ein wunderliches Tier betrachten. Er hatte ihr schon häufiger Anlass dazu gegeben. Die vorübergehende Akzeptanz, die ihm die
RUBIKON II entgegengebracht hatte, war nur ein Beispiel dafür.
Die Rollen hatten sich radikal verändert. Früher hatte er sie als Exotin betrachtet - ein Klon, dem er
nicht allzu viel Menschlichkeit hatte zubilligen wollen.
Es war ein Verhalten gewesen, das aus Vorurteilen und Unwissenheit resultiert hatte. Und nun war
es so, dass sie ihm den Spiegel vorhielt, wie er sich damals ihr gegenüber verhalten hatte. Nur dass
sie noch nicht so weit gegangen war, tatsächliche Distanz zu ihm aufzubauen.
Sie hätte allen Grund dazu gehabt, ihn unheimlich zu finden, ihm mit Misstrauen zu begegnen.
Stattdessen bemühte sie sich mehr als er selbst, keine neuen Gräben aufzureißen.
Cloud empfand ein diffuses Schuldgefühl, das ihn daran hinderte, von sich aus offener auf sie
zuzugehen. Momente wie diese - Momente, da er einmal mehr erkannte, dass er sich selbst fremd
geworden war - trugen nicht dazu bei, solche Klüfte zu überbrücken.
Er gab sich einen Ruck.
»Sie sind nicht tot«, behauptete er. »Zumindest waren sie es nicht, als sie eingefroren wurden.
Definitiv nicht.«
»Was heißt das?«, fragte Scobee. »Woran erkennst du das? Willst du sagen, sie schlafen nur? Sie
leben?«
»Ich weiß es nicht. Diese Station ist allem Anschein nach verlassen. Und wenn sie so alt sind, wie
ihr Äußeres vorgaukelt - mehrere hundert Jahre selbst zu unserer Zeit -, dann kann es natürlich sein,
dass sie inzwischen tot sind. Aber damals, als sie in diese Blöcke hineingepackt wurden, lebten sie
noch - und es geschah definitiv nicht, um sie auf diese Weise umzubringen.«
»Sondern?«
»Zu konservieren.«
»Lebendig?«
»Du tust, als wäre dir Stase ein völlig neuer Begriff.«
»Das hier ist etwas anderes als Stase.«
»Mag sein, aber es erfüllt denselben Zweck.«
»Sagt wer?«
»Sagt die Schrift auf den Sockeln.«
Sie sah ihn mit großen Augen an, setzte zu einer Bemerkung an - unterdrückte sie dann aber.
»Ich weiß, was du sagen willst, und es belastet mich bestimmt ebenso wie dich, dass ich...«
Sie schüttelte den Kopf, trat auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Tut mir Leid. Ich
weiß, dass du am allerwenigsten etwas dafür kannst. Irgendetwas steckt in dir. Es kann... muss aber
nicht mit den Protoresten aus dem Kubus zu tun haben. Aber egal, was es ist: Machen wir das Beste
draus! «
»Und das wäre?« Die Berührung war ihm alles andere als unangenehm.
Sie zog ihre Hand zurück. »Lies vor! Lies mir alles vor. Ich will alles wissen, was auch du weißt.
Was steht da?«
»Es sind lediglich Anweisungen, die die Konservierung betreffen.«
»Soll das heißen...?«
Cloud nickte. »Es ist eine Anleitung, wie man Lebewesen einschläfert...«, sein Blick blieb an dem
vollbärtigen Mann haften, der sich in dem Block befand, vor dem sie standen, »... und wieder
unbeschadet aufweckt.«
»Ist das dein Ernst?«
»Würde ich über so etwas Scherze machen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nicht.«
Er warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. »Was mich wundert«, sagte er, »ist, dass sich hier
ausschließlich Chinesen befinden.« Er machte eine ausholende Bewegung. »Es gibt nur
Angehörige dieses einen Kulturkreises und offenbar auch einer einzigen Epoche.«
»Du verstehst etwas davon? Ich meine, dass es Chinesen sind, sehe ich selbst, aber die Kleidung,
der Schmuck... Ich wüsste nicht...«
»Han-Dynastie«, sagte er. »Etwa 200 vor Christi bis 10 nach Christi. Eine verdammt lange Zeit...«
»Irrtum ausgeschlossen?«
»Bei all dem, was wir seit Wochen erleben, sind Irrtümer nie auszuschließen.«
Sie nickte. »Falls du Recht hast, sind nicht nur sie, sondern ist auch diese Station uralt.«
»Vielleicht ein Anhaltspunkt, seit wann die RUBIKON in der Vakuumkugel steckte.«
»Ein erster Hinweis vielleicht...«
»Ich möchte es tun«, sagte Cloud unvermittelt, nachdem er vor dem Block in die Hocke gegangen
war und seine Augen fast auf Höhe des Schläfers gebracht hatte.
»Was möchtest du tun?«, fragte sie.
»Versuchen, ihn aufzuwecken.«
8. Einen Moment lang war sie baff.
»Wenn ich nicht wüsste, dass du gerade noch erklärt hast, nicht zu Scherzen aufgelegt zu sein... «
»Was riskieren wir schon dabei?«
»Sein Leben? Falls er noch lebt?« Sie nickte zu dem Mann unbestimmbaren Alters hinab. Er sah
aus wie ein Mittvierziger der Zeit, der sie entstammten. Aber auf seine Epoche übertragen, konnte
es ebenso gut ein früh gealterter, an Jahren tatsächlich aber noch junger Mensch sein.
»Er hat keine Chance, je wiederbelebt zu werden, wenn wir es nicht tun«, hielt Cloud dagegen.
»Oder bist du anderer Meinung als ich, dass dieser Ort seit langer, langer Zeit verlassen und
aufgegeben ist?«
»Nein, aber es kann sich ändern.«
»Was heißt das?«
»Wir haben damit, dass wir uns SESHA angeeignet haben, etwas ins Rollen gebracht, was
möglicherweise nicht ohne Folgen bleibt. Schwer wiegende Folgen.«
»Pure Spekulation«, wehrte Cloud ab, obwohl er tief in sich wusste, dass sie Recht hatte. Seit sie
dem Holowesen begegnet waren, nistete die dumpfe Furcht in ihm, mit der Entführung der
RUBIKON aus dem Aqua-Kubus etwas in Gang gesetzt zu haben, über dessen Folgen sie sich auch
jetzt noch nicht klar waren.
Nur darüber, dass es nicht folgenlos bleiben würde.
Eine der Konsequenzen hatten sie bereits begriffen: Der Kubus hatte sich in ein Amok laufendes
Gebilde verwandelt, das bereits dabei war, Königin Lovrenas Drohung in die Tat umzusetzen. Ein
erster bewohnter Planet war dem zum Opfer gefallen, und wenn man es nüchtern betrachtete, waren
sie - er, Scobee, Resnick, Jarvis und Darnok - daran nicht unschuldig.
»Das glaubst du selbst nicht«, warf Scobee ihm vor.
»Nein.« Cloud schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Zweck, den Kopf in den Sand zu stecken. Aber
wir haben die RUBIKON verloren, nur du und ich sind noch von unserer ehemaligen Crew übrig -
und alles, was uns jetzt noch bleibt, nachdem wir von Bord verwiesen wurden, ist, unser Überleben
zu sichern. Dazu müssen wir Wissen anhäufen, wo immer sich die Möglichkeit dazu ergibt. Also
auch hier.«
»Was könnte ein Chinese aus der Han-Dynastie uns verraten, was uns hier und jetzt weiterhilft?
Selbst wenn er erwachen würde, selbst wenn wir ihn verstünden - was beim Wandel der
chinesischen Sprache und ihren unzähligen Dialekten fast aussichtslos ist.«
Sie beide beherrschten das Geschäfts-Chinesisch. Sadakos Reich war, so sehr es sich in ihrer Zeit
auch abgeschottet hatte, ein beträchtlicher Macht- und Wirtschaftsfaktor gewesen.
Gleichzeitig aber stimmte, was Scobee sagte: Die zur Han-Dynastie geläufige Verkehrssprache
unterschied sich zweifellos beträchtlich von dem Idiom, den sie während ihrer Schulzeit und
Ausbildung erlernt hatten.
Moderne traf auf finsterste Antike.
Es konnte nicht gut gehen.
»Er könnte uns verraten, warum er und die anderen hier konserviert wurden - mit welcher genauen
Absicht und von wem. Vielleicht erfahren wir von ihm erstmals Näheres über die Spezies der
Hirten. Woher sie kommen, was sie beabsichtigen. Und wo diese Station hier liegt.«
»Das ist reines Wunschdenken.«
»Mag sein. Aber ich versuche es trotzdem«, sagte er und widmete sich der Sockelapparatur...
Der Block öffnete sich nicht einfach, er schmolz. Er löste sich auf wie bernsteinfarbenes Eis unter tropischer Sonne. Die schwindende Substanz verflüchtigte sich einfach - zumindest wurde nicht erkennbar, wohin sie verschwand. Schließlich lag der bärtige Asiate, dessen Haar zu einem Zopf geflochten war, nur noch auf der Oberfläche des Sockels, die ebenfalls bernsteinfarben aussah. Bis das Licht erlosch, das ihr die Färbung verliehen hatte. Danach war sie dunkel, anthrazitfarben wie die übrige Umgebung. Cloud wartete noch ein paar Momente, dann bat er Scobee: »Sieh ihn dir bitte an. Du bist in medizinischen Belangen geschulter.« »Versuch's einfach mit Puls-Fühlen. Das kriegst du hin.« Er hatte sie in den Prozess einbeziehen wollen, aber offenbar lehnte sie das ab. Er beugte sich vor und presste Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand gegen die Halsschlagader des freigelegten Mannes. Das Fleisch war wider Erwarten warm, hatte normale Temperatur. Die Suche nach dem Puls gestaltete sich etwas langwieriger als diese Erkenntnis. Cloud dachte schon, er würde gar nicht mehr fündig, als er das schwache Klopfen unter den Fingerkuppen verspürte. »Er lebt«, sagte er im Aufrichten. »Wenn du mir nicht glaubst...« »Ich glaube dir. Aber das ändert nichts an dem, was ich gesagt habe.« Die Lider des Mannes begannen zu zittern. Erkennbare Atemzüge hoben und senkten jetzt seinen Brustkorb. Schneller als erwartet öffnete er die Augen, die sich erst mit den Lichtverhältnissen anfreunden mussten. Er blinzelte. Dann weiteten sich seine Augen, als er Cloud und Scobee entdeckte, und er versuchte, sich aufzurichten. Ein paar Zentimeter schaffte er, dann zwang ihn die Schwäche wieder nach unten. Sein Atem ging plötzlich rasselnd. Seine blasse Gesichtshaut färbte sich bläulich, die Pupillen wurden noch größer. »Verdammt - habe ich's nicht gesagt?« Scobee gab ihre Zurückhaltung auf und kniete sich rasch neben dem Asiaten hin. Routiniert tastete sie seinen Puls und rief dann, ohne aufzusehen: »Wir verlieren ihn! « Cloud wollte es nicht wahrhaben. »Ich habe mich genau an die im Sockel eingravierten Abläufe gehalten. Ich... « »Du musst keinen Fehler gemacht haben. Trotzdem läuft es schief. Die Apparatur ist uralt. Sie kann einen Defekt haben. Oder es liegt daran, dass keine begleitenden Maßnahmen eingeleitet wurden. Medikamentenverabreichung... Du weißt, was du für Probleme hattest, aus einer nur einmonatigen Stase zurückzukommen. Ohne die Medikamente...« Während sie sprach, hatte sie den Chinesen in die stabile Seitenlage gedreht, aber es fruchtete nicht. Sein Zittern mündete in konvulsivische Zuckungen, die spasmische Ausmaße annahmen. Plötzlich richtete er sich unter Aufbietung aller ihm verbliebenen Kräfte doch noch ruckartig auf. Er stieß einen unmenschlichen Schrei aus - einen Laut, in dem so viel Entsetzen mitschwang, dass es Cloud eiskalt über den Rücken lief. Was habe ich getan? Im nächsten Moment sackte der Mann in sich zusammen, verstummte und atmete mit einem
Seufzer aus.
Scobee erhob sich. »Er ist tot«, sagte sie.
Und dann wurden sie und Cloud Zeuge, wie der Körper des ehemaligen Schläfers fleckig wurde,
die Haut trocken, fahl und spröde. Verwesungsgestank füllte den Raum. Und der Körper des
Menschen, der gerade noch geatmet hatte, zerfiel in gespenstischem Tempo wie altes, brüchiges
Pergament zu Staub.
»Es wäre unverantwortlich, es ein zweites Mal zu versuchen!«
Cloud blickte Scobee an, suchte nach Vorwurf in ihrem Gesicht, fand aber nichts dergleichen. Das
rechnete er ihr hoch an. Zugleich ging er selbst hart mit sich ins Gericht. Wenn er auf sie gehört
hätte und sich nicht stur über ihre Einwände hinweggesetzt hätte, wäre der Mann noch am Leben.
Was für ein Leben?, hielt eine leise Stimme in ihm dagegen. Vielleicht hast du ihn erlöst. Vielleicht
solltest du alle erlösen.
Er misstraute der Stimme, die ihm Zuspruch gab. Nein, noch einmal würde er keine der
Apparaturen in Gang setzen.
»Was hältst du von dem Gedanken«, wandte er sich an Scobee, »dass uns die KI vielleicht einen
letzten Streich gespielt hat?«
»Wenn du dich etwas genauer ausdrücken könntest...«
Er überlegte, setzte an - und entschied dann, seinen Verdacht für sich zu behalten. Es war noch zu
früh.
»Später«, sagte er. »Sehen wir uns erst weiter um und suchen nach einem Ausgang. «
»Und wenn hinter diesem Ausgang Weltraum liegt?«
»Dann sterben wir.«
»Ach?« Sie schüttelte den Kopf. »Du entwickelst Züge, John, die mir nicht gefallen. Wollten wir
nicht ursprünglich überleben?«
»Nach Möglichkeit schon.«
»Dann denk dir was anderes aus. Öffne keine einzige Tür mehr, ohne dir sicher zu sein, dass
dahinter noch Luft zum Atmen ist. Versprichst du mir das?«
»Du entwickelst ebenfalls Züge, die mir nicht gefallen. Wo ist meine alte Scob geblieben? Glaubst
du ernsthaft, hier steht an jeder Tür eine Beschreibung, was uns dahinter erwartet? Wo ist deine
Risikobereitschaft?«
Scobee nagte an ihrer Unterlippe. »Okay, gehen wir.«
Sie verließen den Raum, blieben auf der Schwelle aber wie auf ein geheimes. Kommando noch
einmal stehen und blickten über die Schulter - so als wollten sie das Bild der Blöcke mit Menschen
die vor über zweitausend Jahren gelebt haben mussten, noch einmal in sich aufnehmen und wirken
lassen.
Schließlich wandten sie sich dem Korridor und der nächsten Tür zu.
Plötzlich hörten sie ein Geräusch, das sie noch einmal in den gerade verlassenen Raum
zurückkehren ließ.
»0 nein!«, stöhnte Scobee.
»Wie kann...?« Clouds Stimme versagte.
Sämtliche Blöcke im Raum hatten wie in einer unseligen Kettenreaktion zu schmelzen begonnen -
die darin eingegossenen Körper wurden freigelegt.
Cloud stürzte zum nächstliegenden Sockel und versuchte, den Prozess aufzuhalten. Aber die
Sensoren reagierten nicht auf seine Eingriffe.
Wenige Minuten später waren alle Schläfer erwacht.
Cloud zählte insgesamt 27 Opfer. Sie alle erwachten nur, um Minuten später wie brüchige,
Jahrtausende alte Mumien zu Staub zu zerfallen. Sie alle atmeten im einen Augenblick und waren
im nächsten tot.
Scobee und er konnten nichts anderes tun, als hilflos zuzusehen, wie sie starben.
»Wie konnte es dazu kommen?« Scobee schüttelte sich.
Sie war hierhin und dorthin geeilt, er selbst hatte nach diesem und nach jenem Erwachenden
geschaut - Frauen und Kinder waren darunter, nicht nur Männer.
Aber es blieb überall wirkungslos. Der Tod war nicht aufzuhalten. Eine Weile war der Raum von
Schreien erfüllt, dann nur noch von rasselndem Atem.
Am Ende war einzig die Stille geblieben...
»Ich weiß es nicht«, antwortete Cloud. »Vielleicht waren sie miteinander gekoppelt. Dann war es
meine Schuld. Ich hätte nie...«
In diesem Moment bemerkte Cloud die Bewegung.
Am gegenüberliegenden Ende des Raumes. In einer Ecke. Ein fliehender Schatten. Ein huschender
Schemen...
»Da! « Cloud rannte ohne zu überlegen los.
Scobee rief ihm etwas nach, aber er hörte es kaum.
Der Raum war etwa dreißig Meter tief. Und noch bevor Cloud die Hälfte der Strecke hinter sich
gebracht hatte, schien sich die komplette gegenüberliegende Wand aufzublähen und sich ihm
entgegenzuwölben.
Es sah unheimlich aus. So unheimlich, dass er stoppte und wartete, bis Scobee zu ihm
aufgeschlossen hatte.
In dieser kurzen Zeit löste sich die Struktur von der Wand, die nicht wirklicher Bestandteil von ihr
war.
Mimikry, schoss es Cloud durch den Sinn. Was immer es ist, es kann sich perfekt seiner Umgebung
anpassen wie ein Chamäleon.
Es...
Mit einem schmatzenden Geräusch löste sich auch noch der Rest von der Wandoberfläche, floss
aber nicht wie erwartet zu Boden, sondern richtete sich auf und bildete eine neue Form aus.
Die eines Humanoiden.
Größer als Cloud, größer als Scobee... etwa zweieinhalb Meter hoch.
»Lass uns verschwinden!«, raunte Scobee Cloud zu und packte ihn am Arm. Er wehrte sich nicht.
Und während das Wesen auf sie zukam - mit stampfendem Schritt, der den Boden erbeben ließ -,
drehten sie sich um und rannten auf den Ausgang zu.
»Hölle, was ist das? Wo kommt es her?«, keuchte Cloud.
Sie passierten die Tür.
Der Gang bot keine Rettung. Drei von vier Türen hatten sie probiert, in einen der dahinter
liegenden Räume zurückzukehren, war nicht ratsam. Und der Bahnhof?
Nein, dachte Cloud, während sich das Wesen näherte. Die vierte Tür. Die Kapseln sind weg. Der
Bahnhof ist eine Sackgasse. Wenn die vierte Tür nicht nach draußen führt, sind wir erledigt.
Scobee schien zum selben Schluss gelangt zu sein. Sie protestierte nicht einmal ansatzweise, als
Cloud auf Tür Nummer vier zurannte.
Hinter ihnen trat der Koloss auf den Gang - und plötzlich wurde es still.
So still, dass Cloud und Scobee inne hielten und zurückschauten.
In diesem Moment stampfte das Geschöpf abermals auf. Die Erschütterung lief wie eine
Schockwelle durch seinen eigenen Körper und ließ ihn in unzählige Teilchen zerspringen, die zu
Boden regneten und quirlig quecksilbrig auf die beiden Menschen zukugelten.
In diesem Moment begriffen sie es beide.
»Es ist das Ding, , das aus der zweiten Kapsel geströmt ist...«
Cloud verschleppte das Tempo nicht länger, sondern rannte, wie er noch nie gerannt war. Kurz
darauf warf er sich durch die offene Tür - hinter der völlige Dunkelheit gähnte.
Als Scobee ihm folgte, rief sie: »Gibt es eine Möglichkeit, diesen Durchgang zu verschließen?
Denk nach! «
Cloud bemühte sich herauszufinden, was dieser neuerliche Ort an Überraschungen für sie
bereithielt.
»Negativ«, antwortete er. »Ich weiß nicht, was du erwartest. Ich war hier auch noch nie und...«
»In dir steckt mehr, als du dir selbst zutraust«, entgegnete Scobee und zerrte ihn tiefer in den Raum.
Im Gegensatz zu ihm konnte sie im Dunkeln sehen.
Clouds Blick hing am beleuchteten Türviereck. Er erwartete jeden Moment, die auf gesplittete
Substanz des Wesens durch die Tür quellen zu sehen.
»Was erkennst du?«, wandte er sich an Scobee.
»Ich weiß es nicht. Eine Art Fahrzeug.«
»Eine Kapsel?«
»Nein, völlig anders. Es erinnert mehr
an ein rundum geschlossenes Vehikel
von der ungefähren Form eines Jeeps... « Cloud versuchte, dieser Beschreibung
etwas abzugewinnen - vergeblich. »Wie weit?«
»Wir sind gleich da.«
In diesem Augenblick schwappte die amorphe Masse in den Raum.
»Wir schaffen es nicht! «, stieß Cloud hervor. »Verdämmt, am liebsten würde ich diesem
verdammten Hirten den Hals umdrehen!«
Er wusste, dass er niemals mehr in die Verlegenheit kommen würde, diesen Drang auszuleben.
Jetzt wusste er, dass Sobek sie nicht nur der RUBIKON verwiesen hatte, sondern ihnen auch noch
»etwas« nachgeschickt hatte, um ihnen ein für alle Mal den Rückweg abzuschneiden.
Um uns zu beseitigen. War es so?
Er fand keine andere Erklärung.
»Verdammt«, keuchte Scobee, ohne stehen zu bleiben. Sie zog ihn weiter ins Dunkel hinein. Der
Boden war eben, doch zum Glück lagen nirgends Hindernisse. »Es hat uns gleich! Schneller! Wir
müssen...«
Etwas berührte Clouds Bein. Er schlug einen Haken, der aber nicht mehr als ein taumelnder
Seitwärtsschritt wurde, da Scobee nicht daran dachte, seinen Arm loszulassen. Sie rannte plötzlich
so schnell, dass er das Gefühl hatte, hinter ihr hergezogen zu werden, wie von einem fahrenden
Auto.
Plötzlich wurde er regelrecht durch die Luft gewirbelt. Scobee sprang und riss ihn mit. Gemeinsam
landeten sie, Cloud wusste nicht, worauf.
Er hörte ein patschendes Geräusch, dann ein Fauchen.
Da wurde es hell.
Im selben Moment, als draußen etwas gegen das Gehäuse klatschte, in das sie sich geflüchtet
hatten.
Die Hülle dröhnte ohrenbetäubend.
»Wo sind wir?« Cloud sah sich um.
»In dem Fahrzeug. Zumindest denke ich, es handelt sich um ein solches.«
»Wie hast du es schließen können?«
»Da ist ein Symbol neben der Tür. Ich habe einfach draufgehauen und die Tür glitt zu.«
Cloud las das Zeichen und konnte es kaum fassen, dass Scobee instinktiv das einzig Richtige getan
hatte.
Draußen schlug das fremde Wesen erneut gegen die Wandung, die wie eine Glocke zu dröhnen
begann.
Cloud hatte das Gefühl, dass etwas aus ihm hervorzubrechen versuchte. Für ein paar Herzschläge
schien sein Körper zu klein geworden zu sein für das, was in ihm steckte.
Er sah die Umgebung mit anderen Augen - und handelte.
Es war beinahe wie beim ersten Erwachen auf der RUBIKON II - als er intuitiv Bedeutung und
Handhabung des dortigen Artefakts erkannte.
Hier handelte es sich ebenfalls um ein Artefakt, um das Relikt eines möglicherweise
ausgestorbenen Volkes - der Hirten.
Das Fährzeug, in das Scobee ihn gelotst hatte, war Cloud plötzlich vertraut wie der Sarkophag-Sitz
an Bord der RUBIKON.
Ein planetengebundes Fahrzeug, wisperte es in seinem Hirn.
Im nächsten Moment saß er im Steuersitz. Stakkatoartig hämmerte und patschte es draußen gegen
die Hülle.
Warum weiß ich, was das hier ist... aber nicht, was uns verfolgt?
Der Gedanke war flüchtiger als Gas. Im nächsten Moment versenkte sich Clouds Geist in die
Steuerinstrumente des Warrikk.
»Halt dich fest!«, rief er Scobee zu.
Er aktivierte das Triebwerk und startete durch.
Scobee spürte, wie die mühsam zwischen ihr und Cloud gewachsene Vertrautheit zerbröckelte wie
morsches Holz.
Von einem Moment zum anderen war er ihr wieder so fremd wie damals beim Start der
Marsmission.
Sie fand keine Bindung mehr zu ihm, litt unter der fast abstoßenden Fremdheit, die er ausströmte,
während er hinter der Steuersensorik des Fahrzeugs saß und es beschleunigte.
Sie hielt sich nicht fest, es war nicht nötig. Im Innern des Fahrzeugs wurden Andruckabsorber
aktiv, die nicht einmal einen Hauch von zusätzlicher Gravitation ins Innere durchkommen ließen.
Jäh endete das Schlagen gegen die Hülle. Es wurde still bis auf das sanfte Summen unbekannter
Aggregate.
Mit dem Start hatte sich das Cockpit verändert. Es gewährte plötzlich freie Sicht nach draußen.
Noch bevor Cloud die Scheinwerfer aktivierte, hatte sie bereits erkannt, wo sie sich befanden.
Unter Wasser.
Klamm und knöchern legte sich die Sorge um ihr Herz.
Nicht!, dachte sie. Bitte nicht noch einmal!
Sie fürchtete zu wissen, wohin die Kapsel sie getragen hatte.
Draußen fiel die Station hinter ihnen zurück. Die Station, die nicht im freien All trieb, nicht auf der
Oberfläche einer fremden Welt errichtet war, sondern umgeben war von Wasser, so weit das Auge
reichte.
Der Kubus, dachte Scobee. Wir sind wieder dort gelandet, von wo wir eben erst entkommen waren!
Ein Gedanke, der auch Cloud beschlich, ihn aber nicht daran hinderte, das Fahrzeug immer weiter
im schrägen Winkel nach oben von der Station der Hirten weg zu lenken.
»John? John!«
Er reagierte nicht auf ihre Rufe. Minuten vergingen.
Plötzlich durchstieß das flache Gefährt die Wasseroberfläche.
Und Scobee traute ihren Augen nicht, als sie die Landmasse sah, der sie entgegenrasten.
Nicht der Kubus. Dem Himmel sei Dank, nicht der Kubus. Aber - wo sind wir dann?
Draußen herrschte vollkommenes Dunkel. Nur wo die Scheinwerfer hinreichten, wurde die Umgebung aufgehellt. Der Himmel war vollkommen schwarz.
»Was sagen die Instrumente?«, fragte Scobee. »Du verstehst sie doch? Du kannst sie doch lesen?«
»Ja.«
»Und?«
»Atembare Atmosphäre«, fing er an herunterzuleiern. »1 g Schwerkraft. Mildes Klima. Erdwerte.
Für Menschen wie geschaffen.«
»Dann lass uns aussteigen.«
»Wir wissen nicht, was uns erwartet. Es könnte gefährlich werden. Luft zum Atmen ist nicht alles.«
»Dann bleib du hier, und ich sehe mich zuerst alleine um.«
Er maß sie mit einem prüfenden Blick. »Nein, wir bleiben zusammen. Ich komme mit.« Er öffnete
die Luke. Sie hatten eine enorme Strecke unter Wasser zurückgelegt. Die Station der Hirten befand
sich in mehreren tausend Metern Tiefe auf dem Grund eines unbekannten Ozeans.
»Gibt es Ausrüstung an Bord, Waffen, mit denen wir uns versorgen könnten?«, erkundigte sich
Scobee.
»Ich weiß es nicht.«
»Nein?«
»Du tust, als würde es mir Spaß machen«, fauchte er. »Dabei bin ich selbst wohl am
unglücklichsten darüber, dass ich Dinge weiß und tue, die ich normalerweise nicht wissen und
schon gar nicht können dürfte.«
»Ich mache dir keinen Vorwurf. Aller Voraussicht nach hast du uns gerettet...«
»... und Dutzende andere umgebracht.« Er senkte den Blick.
Sanfter Wind trug eine salzige Brise von draußen herein. Und Geräusche.
»Du konntest nicht wissen, was geschehen würde. Und jetzt hör auf, dich selbst zu bemitleiden.
Finden wir heraus, was uns da draußen erwartet. Viel leicht gibt es Möglichkeiten, den Planeten zu
verlassen. Vielleicht ist er bewohnt... «
Ihr Blick schweifte durch das Cockpit und blieb an einer Wand hängen. Sie ging darauf zu, tastete
sie ab - und wich zur Seite, als Cloud neben sie trat und wie selbstverständlich die Verkleidung
öffnete.
Dahinter waren Faustwaffen unbekannter Bauart, aber wie für die Hände eines Menschen gemacht.
Oder für die eines Hirten.
Cloud nahm eine an sich und reichte Scobee eine zweite. »Das dürfte reichen. Es muss reichen.«
Gemeinsam verließen sie das Fahrzeug, dessen Außenscheinwerfer nach wie vor aktiviert waren
und breit gefächert eine Strecke von etwa fünfzig Metern Länge und dreißig Meter Breite erhellten.
Vor ihnen lag sandiger Boden bar jeder Vegetation. Aber jenseits der Lichtinsel türmten sich
Silhouetten, die wie Bäume aussahen. Ein Wald.
Als sie sich etwa fünf Schritte von ihrem Fahrzeug entfernt hatten, geschah etwas, womit sie nicht
gerechnet hatten: Hinter ihnen entstand Bewegung.
Scobee bemerkte es zuerst, alarmierte Cloud durch einen Ruf. Beide wirbelten herum.
Sie sahen gerade noch im Widerschein, wie sich etwas von der Außenhülle löste, förmlich davon
abplatzte, herabregnete... und sich im Sand zu neuer, kompakterer Form vereinigte. Diese neue
Form schlängelte sich blitzschnell auf die offene Luke zu.
Scobee feuerte die ihr unbekannte Waffe ab. Ein Strahl schlug in den Sand und verflüssigte ihn
unter Gluthitze.
Doch die Stelle war bereits leer gewesen. Das amorphe Wesen verschwand im Innern des
Fahrzeugs, und im nächsten Moment schon schloss sich die Luke.
Scobee wollte die Waffe auf das Fahrzeug richten, aber Cloud schlug ihr den Arm nach unten.
»Nicht! Du würdest es vernichten!«
»Vielleicht will ich das ja? Dann können wir wenigstens sicher sein, dass es auch dieses Biest
hinweggerafft hat!«
»Nein. Wenn es uns hätte angreifen oder töten wollen, wäre ihm das ohne Zweifel gelungen, als
wir ausgestiegen sind. Wir haben nicht mit ihm, gerechnet, und nun...«
Er verstummte. Summend erhob sich das Fahrzeug der Hirten vom sandigen Boden, beschleunigte
und raste Richtung Ozean. Die Scheinwerfer erloschen. Das Geräusch entfernte sich.
»Ich hätte es tun sollen.« Scobee fluchte. »Jetzt haben wir auch kein Fahrzeug mehr. Was haben
wir deiner Meinung nach gewonnen?«
Bevor er antworten konnte, näherte sich ein stetig anschwellendes Geräusch.
»Es kommt zurück!« Scobee starrte mit ihrer Restlicht- und Infrarotsicht in die Dunkelheit hinaus.
Cloud blieb skeptisch. Er legte den Kopf weit in den Nacken. Das Geräusch kam von hoch oben am
Himmel, und der Gleiter war eben viel tiefer geflogen.
»Klingt wie Donnergrollen ... « Auch Scobee spähte jetzt nach oben.
Im nächsten Moment stöhnte sie geblendet auf. »Was, zum Teufel, ist das?«
Auch Cloud wurde überrascht, aber seine weniger empfindlichen Augen bewältigten die
Umstellung schneller.
Am sternenlosen, pechschwarzen Himmel hatte sich ein Fenster geöffnet.
Ein Fenster, durch das sie ein All voller Sterne sahen, die im nächsten Moment von einem
gewaltigen Körper verdeckt wurden, der ihnen mit flammenden Triebwerken entgegensank.
Hinter dem Raumschiff schloss sich die Lücke sofort wieder.
Cloud und Scobee wechselten minutenlang kein einziges Wort.
Aber sie wussten nun beide, wohin die Kapsel sie getragen hatte. Kein Zweifel, sie waren dort,
wohin sie von Anfang an gewollt hatten. Auf einer fremden, hinter Finsternis verborgenen Welt
namens - Erde...
Epilog Er erwachte.
Die Angst hatte sich wie eine dünne Schicht aus schmutzigem Eis um seinen Körper gelegt und
durchdrang auch jede Zelle. Sämtliche Augen waren geschlossen - mehr noch: verschlossen.
Es war, als wäre eine schnell härtende Masse darüber gegossen worden. Und für lange Momente
bezweifelte Darnok, sie jemals wieder aus eigener Kraft öffnen zu können.
»Lockert das Eindämmungsfeld«, sagte eine Stimme, »aber nur leicht.«
Der Keelon fühlte sich innerlich wie ausgehöhlt. Schwächeperioden waren ihm nicht fremd, und
gerade die Phasen, in denen sein Magoo fast ausgebrannt gewesen war von den unglaublichen
Anstrengungen einer Zeitreise, waren unvergesslich.
Aber hier und jetzt war es anders.
Hier und jetzt war es, als existierte sein Magoo gar nicht mehr. Als wäre es aus ihm herausgerissen,
herausoperiert worden.
Amputiert.
Er fühlte sich amputiert.
Dieselbe Stimme wie zuvor erklang.
»Die vorbereitete Injektion...« Darnok spürte einen Einstich. Wärme folgte.
Hitze. Feuer!
Ich brenne.
Ich verbrenne!
Sein nächster Gedanke war: Wo bin ich? Wieso bin ich nicht tot?
Das Karnut hatte sich aufgelöst. Und mit ihm hätte er selbst sterben müssen - war es nicht so?
Seltsamerweise hatte die Aussicht auf den unausweichlichen Tod ihn weit weniger erschreckt, als
es nun die Aussicht auf ein unerwartetes Weiterleben tat.
Was war dort draußen in der Oortschen Wolke geschehen? Und befand er sich immer noch dort?
Hatte ihn ein fremdes Schiff geborgen und gerettet?
An eine Bergung, wie auch immer sie sich ereignet haben mochte, war er bereit zu glauben. Aber
an eine Rettung...?
Die Stimme, die er gehört hatte, war ihm fremd. Sie gehörte nicht John Cloud, sie gehörte nicht
GT-Scobee - und auch nicht Resnick oder Jarvis, die von wo auch immer zurückgekehrt sein
konnten.
Er öffnete die Augen.
Sämtliche Augen, die über seinen schwarzen Leib verteilt waren.
Ein Ruck durchlief ihn, und er sprengte mit seinem Willen die Fesseln, die ihn immer noch
behinderten, wenigstens so weit, dass er die Häute vor den Augen heben konnte.
Das Licht war im ersten Moment hell und blendend. Doch nur wenige Atemzüge später hatte er
sich daran gewöhnt, und ihm fiel auf, dass er die ihn umgebende Luft zwar atmen konnte, sie sich
in ihrer Zusammensetzung aber dennoch von der gewohnten unterschied.
Zusätze von Edelgasen, die sonst gar nicht oder nur in winzigen Spuren vorkamen?
»Wenn du mich verstehst, sag ein Wort!«
Darnoks Blicke suchten die Gestalt, zu der die Stimme gehörte.
Er fand sie - und andere.
Die letzten Zweifel wichen.
Erinjij!
Darnok verharrte schweigend und regungslos.
Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er den Menschen nicht verstanden hatte, weil Technik ihm
ihre Sprache übersetzte, sondern weil sie sich seiner Sprache bedienten.
Nahezu perfekt.
Sie müssen mich also identifiziert haben. Und sie müssen mein Volk sehr genau studiert haben,
bevor sie es auslöschten.
Aber ergab das Sinn? Warum sollte eine Spezies, die eine andere ausrottete, deren Sprache
erlernen?
Darnok wusste, dass er nur dann eine Chance hatte, es zu erfahren, wenn in den Dialog einwilligte.
»Ich verstehe«, tönte es aus dem verborgenen Organ unter seinem Bauchfell.
»Wie ist dein Name?« »Darnok.«
Der Erinjij lachte.
»Ist mein Fahrzeug zerstört?«, fragte der Keelon.
Der Mann, der bislang als Einziger von insgesamt fünf Personen, die Darnok zählte, gesprochen
hatte, ging nicht auf die Frage ein. Stattdessen sagte er: »Du bist nicht der Erste, den wir gefangen
haben.«
Nicht der Erste?
Unwillkürlich dachte Darnok an die RUBIKON. Bezog sich die Aussage auf sie? »Ich verstehe
nicht.«
»Das wirst du, das wirst du - bald. Es gibt jemanden, der dich kennen lernen will.«
»Wer?«
»Das wirst du erfahren, wenn er es wünscht.«
Darnok sah sich um. Der Raum war voller Technik und voller seltsamer, unangenehmer Gerüche.
»Wo bin ich?«, fragte er. Die vorübergehende Hitze, die ihn durchströmt hatte, war restlos
verflogen. Da war wieder das Eis. Dreckiges, anekelndes Eis, das ihn wie eine zweite Haut umgab.
»Wo?« Der Erinjij sah ihn an, als würde ihn die Frage mehr als alles andere erstaunen.
»Du bist auf der Erde«, sagte er dann und wies in einen fernen, düsteren Winkel des Raumes, wo
sich ein weiterer Gefangener befand, den Darnok erst jetzt bemerkte.
Eine Gestalt, die ähnlich aussah, wie er selbst.
Eine Gestalt, deren Anblick sein Blut zum Kochen brachte.
Nein, dachte er, unmöglich!
»Lisee...?«
ENDE
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