EIN MD-TASCHENBUCH
C.H.GUENTER
Heißer Tod im kühlen Sarg
ERICH PABEL VERLAG KG RASTATT/BADEN
MD-Erfolgsnachdruc...
78 downloads
638 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
EIN MD-TASCHENBUCH
C.H.GUENTER
Heißer Tod im kühlen Sarg
ERICH PABEL VERLAG KG RASTATT/BADEN
MD-Erfolgsnachdrucke erscheinen im 14täglichen Wechsel
mit MD-Originalromanen
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Copyright © 1980 by Erich Fabel Verlag KG. Rastatt
Titelillustration: Firuz Askin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzt. Mehrwertsteuer
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300
A-5081 Anif
Abonnements- und Einzelbestellungen an
PABEL VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 RASTATT,
Telefon (0 72 22) 13 - 2 41
Printed in Germany
Januar 1980
1.
Fort Bragg, North Carolina, USA, im Herbst. Was für ein Ort. Zwischen den Kasernen und Baracken lag die stumpfe Stille des Nebels. Von den Bäumen fielen schwere Tropfen in die Mor gendämmerung. Der General, von dem sie behaupteten, er wäre ein Menschenschinder und gegen ihn sei der römische Kai ser Nero der Vertreter einer caritativen Organisation gewesen, stand am Fenster seines Büros und wartete. Ein Jeep tastete sich mit aufgeblendeten Scheinwerfern durch den Waschküchendunst. In der Ferne bei den Hangars heulten Panzermotoren im Probelauf. Der General wandte sich um, blickte auf die Uhr und dann zu Colonel Horthon hin. Der hagere Oberst verbarg seine Boshaftigkeit meistens hinter einem freundlichen Lächeln. So auch jetzt, als er sagte: „Wie sich die Zeiten ändern, Sir. Heute warten die Vorgesetzten auf ihre Untergebenen. Wenn dieser Mann wenigstens Offizier wäre. So aber ist er nur Sergeant." „Edwards war und ist pünktlich", sagte der General. „Noch zwei Minuten bis zum Rapport." Der Colonel stand auf und trat neben den General ans Fenster. Er war als Zeuge für diese wichtige Unterredung geladen. Immerhin besaß er einige Erfahrungen als Vorsitzender von Militärgerichten. „Ich glaube", sagte der Colonel, „daß Sie den Mann überschätzen, Sir." Der General schaute Horthon, diesen hageren nervösen Karriereoffizier, an und nickte langsam.
„Daraus", räumte der General ein, „mache ich kein Hehl. Sergeant Roan Edwards ist ein Mann wie eine Eins. Von der Sorte kenne ich in der ganzen Armee nur drei oder vier. Schade um ihn. Echt schade." „Warum wurde er dann nicht Offizier? Mit Dreißig könnte er leicht Captain sein." „Er wollte nicht." „Er schlug einfach zu oft über die Stränge", erklärte Horthon, der Edwards' Personalien studiert hatte. „Er konnte gar nicht Offizier werden bei diesem Mangel an Disziplin." „Bisweilen gleichen Fähigkeiten und Mut mangelnde Disziplin im gewissen Maße aus", murmelte der General. „Eine gute Armee besteht aus 99 Prozent Marionetten und einem Prozent genialer Könner. Das stammt nicht von Napoleon und nicht von Clausewitz, sondern von mir." Der Uhrzeiger stand jetzt auf dem Sprung zur letzten Minute vor acht Uhr Dienstbeginn. Auf der langen Betongeraden vom Haupttor her blitzten vier grelle Lichter durch den Nebel. Die Halo genscheinwerfer eines sehr niedrigen Sportwagens. Bald hörte man auch den Motor bullern. Er hatte einen Leerlauf für Taubstumme. Aus dem Auspuff röhrten 250 PS. Als der Wagen vor der Gene ralsbaracke bremste, schien der Boden zu zittern. „Ein Lamborghini Countach", sagte der Colonel nicht ohne Neid. „Sie kennen sich aber aus", bemerkte der General trocken. „In Schwarz mit Gold abgesetzt. Na, wer hat's denn. Die Herren Feldwebel natürlich." „Unser Mister Edwards", sagte der General kopf schüttelnd. „Wissen Sie, was so ein Spielzeug kostet, Sir?" fragte
der Colonel. „Ich will es Ihnen sagen. Fünfzigtausend
Dollar in dieser Ausführung. Das richtige Fahrzeug für
einen Sergeant der US-Pioneers."
Der General wich den Blicken des Colonels aus.
„Wir werden ihm Fragen stellen", sagte der General.
„Erst fragen, bevor wir unser Urteil fällen. Ich schieße
einen erstklassigen Mann nicht grundlos ab. Ich schlage
jede Trantüte ungespritzt in den Betonboden, aber Leute
wie Edwards wachsen nicht auf den Bäumen."
„Ich weiß, Sie mögen ihn", stichelte der Colonel.
„Deshalb fällt es mir um so schwerer", gestand der
General.
*
Die Flügeltüren des schwarzen Boliden schwangen hoch. Aus dem superflachen Renner, der sogar im Stillstand noch Tempo hatte, schälte sich ein genau 191 Zentimeter großer Mann. Er war weder gutaussehend noch häßlich, kein Olympiakämpfer, aber auch nicht Marke Gelehrter, nicht besonders elegant, nur sauber gebadet, anständig rasiert und korrekt gekämmt. Ein äußerst normaler Durchschnittsamerikaner mit rundem Gesicht, aschblondem Haar und wasserblauen Augen. Nur in der Art, wie er sich bewegte, lag etwas Besonderes. Er flankte aus dem Countach, daß man ihm zutraute, er könne auch fliegen. Ein Blick auf die Uhr ließ ihn losspurten. In den zwanzig Sekunden, die ihm noch blieben, gelang es ihm, die Schwingtür der Generalsbaracke aufzutreten, das Foyer mit den Kübelpflanzen zu durchqueren, auf dem roten Sisalläufer einen Haken nach rechts zu schlagen und nach kurzem Anklopfen durch die zweite Tür zu treten. Dort meldete er sich völlig unmilitärisch beim Adju tanten.
„Sergeant Roan Edwards zur Enthauptung zur Stelle."
Der Captain musterte Edwards vom Haarschnitt bis zu
den gewienerten Dienstschuhen.
„Ziehen Sie die Krawatte fester, Sergeant."
„Wollen Sie mein sauberes Taschentuch sehen, Sir?"
„Edwards" - der Captain sprach jetzt mit vertraulich
gesenkter Stimme -, „Sie gehen einen schweren Gang.
Da ist was im Karton."
„Okay, Sir", sagte Edwards. „Ich höre es donnern."
Ihm macht so schnell keiner Angst.
„Bin neugierig, wie Sie sich diesmal rauswühlen",
meinte der Captain.
„Mit allen vieren, Sir."
Der Captain telefonierte und meldete den Sergeant beim
General an.
Sie werden dich zusammenschießen, daß du in ein
Golfloch paßt, dachte Edwards. Hör' einfach nicht hin,
bloß nicht zermürben lassen, alles nur Worte.
Edwards litt nicht an Nervosität, eher an einem zu
großen Selbstvertrauen. Bisher hatte er immer alles
gekonnt, was er können wollte.
Rasch ging er hinein, Ehrenbezeigung, Hand an die
Schläfe.
„Sergeant Roan F. Edwards zur Stelle", schmetterte er.
Die Sesselbeine schurrten, als der General aufstand.
Zwischen den Stars und Stripes und der Divisionsfahne
nahm der General die Meldung entgegen.
„Sergeant Edwards", begann der General ohne Um
schweife. „Sie werden beschuldigt, aus dem Safe des
Zahlmeisters der 22. Division, nachdem Sie denselben
gewaltsam geöffnet hatten, vierundneunzigtausend
zweihundertelf Dollar und sechzig Cents entnommen zu
haben. Was haben Sie dazu zu sagen?"
„Das ist richtig, Sir", antwortete der Sergeant.
Der General ließ den markanten Gladiatorenkopf geradeausgerichtet stehen und gab nur den Augen einen anderen Winkel. „Colonel", schnarrte er, „Sie sind dran!" Er setzte sich schwer hin. Horthon nahm den Sergeant gleich hart in die Zange. „Wo sind die vierundneunzigtausend Dollar, Sergeant!" „Das weiß ich nicht." „Sir, bitte", betonte der Oberst und fuhr fort. „Aber Sie haben den Safe aufgebrochen." „Ja, auf Befehl, Sir." „Auf wessen Befehl?" „Des Zahlmeisters", erklärte der Sergeant. „Er mußte wohl an wichtige Papiere, aber der Safe ließ sich nicht öffnen. Lag am Schließmechanismus. Und weil ich als Experte gelte, auch für Tresore, Stahlschränke und Alarmanlagen, ließ er mich kommen und gab mir den Befehl, den Schrank zu öffnen, was ich auch tat." Bis hierher schien der Colonel die Angaben des Ser geants nicht zu bezweifeln. „Wie öffneten Sie den Safe?" fragte er. „Das ist kompliziert, Sir. Es ist ein Alabama-Steel mit doppeltem Stern-Quart." „Dann fassen Sie sich verständlich", unterbrach der General das Verhör. „Nun gut, Sir, ich versuchte es erst auf die herkömmliche Art, aber im Schloß war wohl ein mechanischer Defekt aufgetreten. Nun fräste ich zwei Öffnungen und setzte Pollos an." „Pollos, was ist das?" „Genau dosierte Sprengstoffeinheiten, Sir, die den Safe öffnen, ohne den Inhalt zu zerstören." „Und weiter?" „Vor der Zündung ließ ich alles in Deckung gehen und sprengte dann. Laut Vorschrift war ich als erster
zur Stelle, um mich zu überzeugen, daß keine Blind
gänger vorlagen. Alles war okay, der Safe war auf. Ich
rief den Zahlmeister. Der kam und räumte den Safe aus."
„Und eine Stunde später, als das Fehlen des Soldgeldes
festgestellt wurde, hat man Sie verhaftet", ließ sich der
Colonel vernehmen.
Der Sergeant hob beide Schultern.
„Ich war es aber nicht, Sir."
„Können Sie das beweisen?"
„Ich war nur eine Minute allein am Safe."
„Genügend Zeit, um die paar Scheine an sich zu neh
men."
Jetzt grinste der Sergeant übers ganze Gesicht.
„Möglich, Sir", sagte er, „aber wer würde denn so be
scheuert sein und auch noch die sechzig Cents einsak
ken."
„Sie", zischte der Colonel, „solange das Geld nicht
wieder auftaucht, waren Sie es."
„War es denn überhaupt drin?" fragte Edwards re
spektlos.
Colonel Horthon genoß es sichtlich, den Sergeant fer
tigzumachen.
„Die Bücher weisen es aus, und der Zahlmeister bestätigt
es."
„Na ja, dann", sagte der Sergeant.
*
Er war mit allen Wassern gewaschen, aalglatt und schlau wie ein Fuchs mit seinen hellblauen, unruhigen Augen. Er war clever und gerissen und nicht auf den Kopf gefallen. Er hatte eine Reaktionsgabe wie ein Ma gnetschalter, aber gegen Fakten kam er einfach nicht auf. Da fehlten eine Masse Kohlen, und nur er konnte sie geklaut haben. Außerdem galt er laut Führungsbogen
als Randalierer, Meckerer, Trunkenbold und Bes serwisser, der schon einen Major aus dem Hörsaal ge schmissen hatte, weil der ihm die Vorlesung über Tret minen gestört hatte. Mit so einem Disziplinstrafenregi ster war ein Mann nicht mehr viel wert. „Woher haben Sie dieses Auto?" fragte der Colonel scharf. „Gekauft, Sir. Bei meinem letzten Italienurlaub im Werk in Modena." „Und wie haben Sie es bezahlt?" „Mit Scheck, Sir, im voraus. Anders bekommt man einen Countach gar nicht, Sir." „Was verdienen Sie, Sergeant?" „Elfhundert, Sir. Brutto." „Und woher hatten Sie das Geld für den teuren Wagen?" „Meine Privatsache, Sir, oder?" „Noch", schrie der Colonel wütend, „sind Sie in der Armee, Mann!" „Kleine Erbschaft", sagte der Sergeant daraufhin. „Tante gestorben." Nun begann sich der General einzumischen. Ihm wurde die Sache ein wenig zu würdelos. „Bei der Carolina-Bank", sagte der General, „haben Sie Schulden, Sergeant. Man kürzte Ihnen den Kredit rahmen. Sie pumpten häufig Kameraden an. Das spricht doch alles gegen Sie. Und da Sie den Verdacht, das Armeegeld gestohlen zu haben, nicht ausräumen können, gibt es nur zwei Möglichkeiten: ein legales Verfahren oder den kurzen Weg." „Wie darf ich das verstehen, Sir?" fragte Sergeant Edwards zum ersten Mal etwas unsicher. „Entweder ich eröffne ein Militärgerichtsverfahren", erklärte ihm der Colonel, „oder Sie nehmen sofort und unwiderruflich Ihren Abschied unter Verzicht auf jede Abfindung und alle Pensionsansprüche."
Der Sergeant hielt sich mit Mühe gerade.
Er sah aus wie einer, dem man ein Brett vor den Kopf
schlug, und zwar mit den Nägeln nach innen.
Er bat darum, sich eine Zigarette anstecken zu dürfen. In
der Frist, die ihm blieb, in der Minute, die sie ihm für die
Entscheidung ließen, rauchte er die Camel halb durch
und warf sie dann in den Sandkübel.
„Ich verlasse die Armee", erklärte er fast tonlos.
„Sie geben also zu, daß ..."
Sofort unterbrach der General den Colonel.
,,Sergeant Edwards fügt sich einer unserer Bedin
gungen", sagte der General. „Keine weiteren Statements
mehr, Colonel Horthon, bitte."
Von diesem Augenblick an war Roan F. Edwards Zi
vilist.
Noch einmal grüßte er militärisch, machte eine
Kehrtwendung und verließ das Generalsoffice.
Draußen im Vorzimmer blickte der Adjutant auf.
„Hat er Sie geschlachtet?" fragte der Captain.
„Unbetäubt", sagte Sergeant Edwards.
Wortlos reichte ihm der Captain die Hand.
„Ich bedauere es", sagte er bestürzt. „In der freien
Wirtschaft genießen Experten Ihres Formats gewöhnlich
Narrenfreiheit."
„Ich war aber in der Army, Sir."
Der Captain versuchte es mit trockenem Humor.
„Denken Sie darüber, was Sie wollen, aber vergessen Sie
eines nicht, Sergeant, daß die Verpflegung stets gut war."
„Ja", sagte Roan F. Edwards, „sie war immer fabelhaft."
*
Binnen einer Stunde war Roan F. Edwards Zivilist. Statt Uniform trug er Jeans und eine alte abgewetzte
Lederjacke. Innerhalb von zwei Stunden hatte er sein Barvermögen zusammengekratzt. Die paar Scheine, knapp vierhundert Dollar, paßten eingerollt in die Hemdtasche. Das ist zu wenig, rechnete er, für das, was du vorhast. Also tankte er den schwarzen Countach noch einmal voll und brauste damit auf der 378er nach Fayetteville. Mit Genuß überschritt er das Geschwindigkeitslimit von 55 Meilen. Ein Polizist von der Highwaypatrol, der in einem Gebüsch lauerte, trat seine Harley-Davidson an und jagte mit heulender Sirene hinter ihm her. Roan kitzelte das Gaspedal nur ein wenig. Der Countach legte Tempo zu. Bei hundertzehn Meilen beschleunigte er immer noch. Der Cop blieb immer weiter zurück, bis Roan ihn im Spiegel nicht mehr sah. Der hat jetzt eine Sauwut, dachte er. Aber das machte ihn glücklich. Er brauchte ein wenig Glück, denn bald würde er sehr traurig sein, das wußte er. Die Stunde der Trauer kam, als er in der City mit dem Autohändler einig wurde. Da Roan Edwards nichts von Kommission wissen wollte, sondern Bares brauchte, mußte er sein Lieb lingsspielzeug für elf tausend Dollar losschlagen. „Dabei verliere ich glatt vierzigtausend", stöhnte er. „Und ich habe ihn rumstehen." „Das ist ein Wertverlust von achtzig Prozent in drei Monaten." „So ein Auto fährt man auch nicht ohne genug Mäuse", spottete der Händler. „Das verstehen Sie nicht, Mann." „O doch", sagte der Händler. „Wenn ich es nicht ver stehe, wer dann. Wenn ich es nicht verstünde, würde ich ihn nicht kaufen. Ich hoffe nur, daß bald so ein Idiot daherkommt, wie Sie einer sind und sich in den Don
nerbolzen verknallt. Auf so ein Auto muß man eben stehen wie auf eine Frau." Mit insgesamt zwölftausend Dollar Kapital startete Roan Edwards an diesem frühen Abend seine Karriere als Zivilist. Er begann sie damit, daß er sich einen uralten Volkswagen zulegte, einen 63er, mit Rostfraß hinten und vorn und oben und unten. Aber der Motor lief prima. Der Motor sei das Beste am ganzen Auto, hatte ihm der Verkäufer versichert. Roan Edwards schob sich auf die zerschlissenen Polster. Einen Augenblick war es ihm, als sei er sozial bis in den Keller, bis in die Slums von Harlem abgerutscht. Dann ließ er an und überlegte, welcher Gang diesem alten Vehikel wohl recht sein könnte.
*
An der Straße von White Lake nach Elizabethtown, wo der Cap Fear River mächtig breit wurde, stand ein Häuschen. Edwards hatte es vom Vater mütterlicherseits geerbt. Die Bude war ein wenig heruntergekommen und der Garten verwildert. Auch die Einrichtung des Hauses hatte wenig Aussichten, in einer Architekturzeitschrift als Ausdruck eleganten Wohnstils veröffentlicht zu werden. Es war eingerichtet wie in der Zeit, als die USA noch ihre Pioniertage erlebte. Auf den verstaubten Dielen stand ein Schrank, ein Bett, ein Tisch und ein Schaukelstuhl. Zuerst machte Edwards im Kamin Feuer, dann packte er seinen Koffer. Plötzlich hörte er Motorbrummen. Ein Boot konnte es nicht sein. Die Boote fuhren nicht ganz so dicht am Haus vorbei. Außerdem knirschten sie beim Bremsen nicht im Kies.
Roan legte heute keinen Wert auf Besuch. Aber um das
Licht zu löschen, dafür war es zu spät. Er hörte schon
Schritte auf der Veranda. Deshalb nahm er einen tiefen
Schluck aus der Bourbonpulle und legte eine Art Grinsen
in sein Gesicht.
Die Tür schliff auf. In der Öffnung stand eine Frau.
Sie war achtundzwanzig und sah keinen Tag jünger aus.
Eine gut durchblutete ländliche Schönheit. „Hallo,
Serafine", rief er ein wenig verlegen. „Du?" „Ich sah
Licht", sagte sie deutlich verärgert.
„Da mußt du aber mit dem Fernglas lange über den Fluß
..."
Sie unterbrach ihn heftig und laut. Dabei stützte sie die
Arme in die schmale Taille.
„Wenn der Herr nach Wochen mal wieder im Haus ist,
das fällt auf. Du hast mich wohl ganz vergessen, he. Bin
wohl schon abgeschrieben. Hast ganz verschwitzt, daß
du eine Braut hast. Willst dich dünne machen, wie?"
Er trat auf sie zu, nahm sie in die Arme und hielt sie fest.
Aber sie wehrte sich und rang sich frei.
„Wo hast du den Wagen?" fuhr sie ihn an.
„Draußen."
„Den Schrotthaufen meine ich nicht."
Er ging in den Nebenraum, packte seelenruhig weiter
und verstaute seine paar Zivilsachen in den uralten
Lederkoffer.
„Verkauft", sagte er schließlich.
„Er war doch noch gar nicht bezahlt."
„Na und?"
Serafine lehnte sich mit einer Schulter gegen den
grüngestrichenen Türrahmen und schüttelte fassungslos
den Kopf.
„Ich wußte ja, daß das mal schiefgeht.“
„Was?" „Pah, was? Das mit dir. Du bist so anders seit ein paar Monaten." „Dann hast du vorher nicht genau aufgepaßt", ent gegnete er trocken. „Ich war schon immer so." Auf dem Fluß tutete ein Dampfer. Deshalb wartete sie mit der Antwort, um sie danach noch heftiger her auszustoßen: „Sie haben dich gefeuert aus der Army. Bill rief an." „So so, Bill", sagte Roan. „Aber damit du es weißt, ich bin gegangen." „Du, von deiner lieben Mutter, der US-Army", höhnte das Mädchen, „das glaubt, wer will." Er lachte sie an. „Du bist doch meine Mutter, Baby. So wie du mit mir umspringst." Sie atmete ein und weitete dabei die Nasenflügel. Er wußte, was jetzt kommen würde. Um allem vor zubeugen, schloß er den Koffer und stellte ihn auf den Boden. Jetzt war zumindest das Bett frei. „Ja, wie deine Mutter komme ich mir bald vor", fügte sie hinzu. Er lachte wieder in der Art, die sie nicht ausstehen konnte. „Los, dann zieh dich aus, Mutter." „Fällt mir nicht ein." So wie sie gerade dastand, so mochte er sie, so reizte sie ihn. So hatte sie ihn damals kleingekriegt, mit ihren langen schlanken Beinen in den dunklen Nylon strümpfen, in den hochhackigen Schuhen, wenn die Schenkel sich deutlich unter dem engen Rock abzeich neten. Wem gehört sie wohl, hatte er sich damals in dem Beat schuppen gefragt. Sie war mit einem Kerl aus Wil mington gekommen, aber mit ihm, Roan Edwards, war sie weggefahren. Drei Stunden lang hatte er es im Wa
gen versucht. Sie war hart geblieben. Bis zum Slip und
nicht weiter. Aber am Sonntag war sie gekommen und
hatte sich einfach zu ihm ins Bett gelegt.
Roan näherte sich ihr, faßte um sie herum, öffnete den
Reißverschluß, berührte ihren Busen. Da wurden ihr die
Knie weich. Immer wenn er sie so angefaßt hatte, war sie
weich geworden.
Er zog sie aus, riß ihr den Pullover herunter, den Slip.
Mehr hatte sie nicht an.
Er grub sein Gesicht in das Tal zwischen ihren hoch
stehenden Brüsten.
Dann hob er sie hoch und warf sie aufs Bett.
*
„Ich weiß", sagte Serafine später, „so würdest du gern
sein."
„Wie zum Beispiel?"
„Harter Bursche, hart leben, hart sterben, harter Säufer,
harter Kämpfer, hart im Bett, knallhart mit den
Weibern."
„Dabei bin ich eine Mimose", log er und steckte sich
eine Camel an.
Er rauchte, nahm ab und zu einen Schluck Bourbon. Die
Petroleumlampe rußte.
„Und jetzt?" fragte das Mädchen mit den schwarz
braunen Haaren.
„Faulenzen."
„Du mit deinen Kenntnissen im Umgang mit Zündern,
mit Alarmanlagen und Sprengstoffen, mit Safes, mit
Bomben, du findest doch jeden Tag einen Job."
„Zehn", sagte er, die Finger abspreizend.
„Na also."
„Ich möchte aber mal nach Nizza", gestand er.
„Meinst du Nizza in Europa?" fragte sie entsetzt.
„Kennst du ein anderes?"
„Was, zum Teufel...", setzte sie an.
„Ich habe mir's geschworen", sagte er, „in Vietnam, in
einer ganz beschissenen Situation. Wenn du da raus
kommst, schwor ich mir, und du hast genug Zeit, dann
gehst du nach Nizza."
„Du spinnst, Roan", erwiderte das praktisch veranlagte
Mädchen vom Fluß. „Womit willst du nach Nizza?"
„Die Hütte da wird verkauft. Hab schon ein Angebot."
„Von Jack aus dem Drugstore in Clarkton?"
„Nein, nicht von dem."
Sie schwieg und gleich kam, was er erwartete und
befürchtete.
,„Nimm mich mit", bat sie und kuschelte sich an ihn. Sie
war danach immer ganz heiß, wie ein kleiner Ofen.
„Geht nicht Baby."
„Hast's mit anderen Weibern, he?" reizte sie ihn.
Da sprang er aus dem Bett und goß sich einen Kübel
kalten Wassers über den Schädel.
Mit einem steifen Handtuch rubbelte er sich ab.
„Du sollst mich aber mitnehmen", rief sie so laut und
fordernd, daß es in seinen Ohren gellte.
„Unmöglich."
Sie richtete sich auf, ihre Brüste vibrierten heftig, als sie
sagte: „Und mein Geld, was ist damit?"
„Bekommst du schon mal zurück."
„Wann? Bei der Hochzeit, die du mir versprochen hast?"
Er wieherte beinah' vor Vergnügen, als er antwortete:
„Ja, bei meiner Hochzeit mit einer reichen Puppe."
Serafine war einen Moment sprachlos.
„Das - das ist ja die allerhöchste Höhe, ist das!"
Roan Edwards, seit vierzehn Stunden Ex-Sergeant der
US-Army, stand jetzt nackt vor dem Spiegel und
beobachtete sich kritisch darin.
„Was glaubst du", fragte er seine Ex-Braut, „was ich wert bin?" „Das Zuchthaus", giftete sie vom Bett her. „Wie teuer kann ich mich wohl verkaufen? Und an wen? Soll ich mir eine Italienerin fischen, eine Französin schnappen, eine Deutsche angeln, eine Schweizerin? Welche sind die besten? Die Italienerinnen sind hübsch, aber dumm. Die Französin ist anspruchsvoll, die Schweizerin bieder. Von den deutschen Girls hört man nur Gutes. Aber sie neigen zur Emanzipation, und davon haben wir in diesem Land genug. Also eine So phisticated-Lady kommt nicht in die Tüte." In diesem Augenblick traf den Sergeant etwas am Kopf. Es war aus Blech und schepperte. Es schmerzte nicht sonderlich - sein Schädel war einer von der elastischen Sorte -, aber was ihn störte, war Serafines Gezeter. Sie zog sich an und schimpfte in einem fort, schrie von Betrug und Heiratsschwindel und davon, daß sie zum Staatsanwalt gehen würde, zur Polizei. „Klar", sagte er, „warst du nicht mal dick mit dem Sheriff befreundet?" Sie ging und haute die Tür zu. Was sie mit ihrem Wagen machte, wie sie den Motor hochjagte und anfuhr, das hätte ... so wäre nicht einmal ein Araber mit einem Israeli umgesprungen.
*
Roan F. Edwards saß in dem alten Schaukelstuhl, in dem angeblich sein Großvater eingeschlummert war, um nie wieder aufzuwachen. Er dachte über sich und all die Dinge nach, die er vorhatte. Er fand das alles äußerst interessant. Das also, dachte er, ist der Anfang der Geschichte eines Sergeanten, der die Army trocken aufs Kreuz legte. Mal sehen, wie es weitergeht.
Er trank noch einen letzten Schluck, rauchte noch eine Camel und drehte dann den Lampendocht herunter. Im Dunkeln verließ er mit dem Koffer das Haus. Der VW sprang an, wie es seinem Alter entsprach, be tulich. Roan wollte nach New York hinauf und dort mit einem günstigen Tarif nach Europa fliegen, erst mal nach Paris. Um nach New York zu kommen, mußte er über den Fluß. Es gab auf hundert Meilen nur eine Brücke, auf deren Nordseite Serafine wohnte. Ihr Alter war der Brückenmeister. Serafine, dachte Roan, wirst dir wohl den Sheriff angeln. Er ist zwar ein bißchen fett und ein bißchen bescheuert, aber bestimmt ein treuer Ehemann. Na, hoffentlich taugt er auch was im Bett, der liebe Cop, das ist wichtig für dich, auch wenn du es abstreitest. Er gab Gas. Up up and away, dachte Roan. Was Besseres als 'ne prima Syphillis kriegst du überall auf der weiten Welt.
2.
Über den Tannenwäldern und Bergen leuchtete der Himmel bayrisch-blau. Auf einem Hügel lag ein Bauernhof, das große Wohnhaus breit und wuchtig mit tief heruntergezogenem Dach und rundumlaufenden Balkonen. In den Kästen blühten Geranien. Alles war mit Girlanden geschmückt, sogar das Vieh. Denn man feierte die größte Bauernhochzeit im Te gernseer Land. Die Blaskapelle schmetterte ihre Lieder weit ins Tal hinaus. Es klang nicht sehr gleichmäßig, denn die Musikanten waren schon betrunken und gaben sich keine Mühe mehr.
Das Fest ging jetzt schon sechs Stunden. Spanferkel drehten sich am Spieß, Koteletts grillten auf meterlangen Rosten. In Schüsseln dampften Würste. Immer neue Fässer wurden angestochen. Als die Dunkelheit kam, zündeten sie Windlichter an. Ein Feuerwerk knallte in die Nacht hinaus, und der Brautwerber verkündete, bis oben hin voll Obstschnaps: „Meine Damen und Herren, liebe Festgäste! Nun zu einer bayrischen Sitte. Ein Kuß auf den Mund der Braut, zwanzig Mark, ein Griff unter den Rock der Braut, zehn Mark." Alles wieherte vor Vergnügen, nur nicht die Leute aus der Sippe der Braut. Die Schöne kam aus Italien, aus dem Etschland. Die Italiener lachten nicht, weil sie den Scherz entweder nicht verstanden hatten, oder weil sie ihn übelnahmen. Inmitten des Treibens lehnte am Stamm einer Linde ein Mann, um die Dreißig, einsachtzig groß, drahtig, athletisch, aber ohne den gequälten Gesichtsausdruck müdetrainierter Sportler. Sein Haar wucherte rundum dick braun, seine grauen Augen wirkten lebhaft, als entginge ihnen wenig. Er trug einen taillierten Trachtenanzug: dunkle Hose, das Jackett mit leichten Glencheckstreifen, der Kragen aus Samt, die Knöpfe talergroßes Silber. Extra für seinen Freund, den Bauerngrafen, hatte sich Bob Urban den Anzug maßbauen lassen, obwohl er wußte, daß er ihn nur einmal tragen würde. So stand er da, das Sektglas in der Hand, und vergnügte sich still, bis ihn von hinten jemand ansprach. „Gleich gibt's eine Schlägerei." „Sie gehört dazu.‘‘ „Wenn Bayern raufen, fliegen die Maßkrüge", sagte eine dunkle Frauenstimme neben Bob Urban. „Und wenn Italiener streiten, fliegen die Spaghetti."
„Dann sollte man in Deckung gehen", schlug die Dame
vor. .
Bob Urban drehte sich nach rechts, um sie näher an
zusehen. Die Bezeichnung Dame stimmte wohl nicht
ganz. In ihrer kostbaren Aufmachung wirkte sie dezent
wie eine Reklamesäule. Das Kleid hatte oben zu wenig
Stoff. Außerdem war in dem Brokat zuviel Gold
verwebt. Ganz abgesehen von dem Schmuck, den sie
trug. Was da glitzerte, war ein dreiteiliges Kollier aus
Brillanten, Smaragden und Saphiren, dazu das gleiche
Armband und Ohrringe mit viel zu großen Solitären.
Allein bis zum Brustansatz trug sie mindestens eine
Viertelmillion spazieren.
Weil Wind aufkam, gab sie Urban ihr Sektglas zu halten.
Rasch hängte sie sich den hellen Nerz, den sie lässig
nachgeschleift hatte, über die Schultern.
„Danke", sagte sie. „Damit sich meine Säuferleber nicht
verkühlt. Ach, übrigens, sind Sie nicht dieser
Schriftsteller, der hier anwesend sein soll."
Er hob beide Hände.
„Sehe ich so aus, Gnädigste? Für einen Mann kann
Dichten doch nur Freizeitbeschäftigung sein."
„Also haben Sie einen richtigen Beruf."
„Allerdings."
Sie war Mitte Dreißig, leidlich hübsch und aufgeweckt,
aber wie es ihm vorkam, ein wenig anstrengend. Sie war
der Typ von Frau, die Männer sogleich einspannten,
wenn man ihnen Aufmerksamkeit zeigte.
„Was machen Sie? Sie sind so schön braun, Höhenson
ne?"
„Natursonne, Madame."
„Bergsteiger?"
„Nein, Sinologe", log er.
„Sino ... Aha", sagte sie. „Und damit kann man Geld
verdienen?"
„Nein, Gnädigste", erklärte Bob Urban, „es kostet Geld.
Man muß welches mitbringen."
Jemand kam mit einer Magnumflasche Champagner
vorbei. Sie ließ sich einschenken, trank, hielt den Be
diensteten am Arm fest und bat, den leeren Kelch gleich
noch einmal zu füllen. Dabei kam sie immer mehr in
Stimmung. Sie wiegte die Hüften im Rhythmus der
Musik und trällerte etwas mit ihren feuchten
Perlmuttlippen.
„Das ist nicht nur in", bemerkte sie, „das ist super-in.
Meine erste Bauernhochzeit." „Ja, ganz oberdufte",
stimmte er ihr bei. Da er nicht annahm, daß sie zur
gräflichen Familie gehörte, fragte Urban: „Woher kennen
Sie Graf Joppi?"
Sie lachte etwas zu laut.
„Ich bin seine Cousine, die verrückte Lützenberg."
„Pardon", sagte er.
„Keine Ursache."
Sie schien Spaß zu verstehen, die Gräfin Lützenberg.
Urban überlegte. War sie nicht vor ihrer Ehe sogar eine
geborene Prinzessin Hohensoundso, und ihr Mann, der
ihr diese Spielwarenfabrik hinterlassen hatte, war der
nicht im letzten Jahr gestorben?
Er fühlte sich am Arm gezupft.
„Jetzt geht's los", jubelte die Gräfin und zog ihn ins
Dunkel.
Tatsächlich fing die Rauferei an. Bob Urban, der in
seinem Leben genug Händel hatte austragen müssen, fast
alle im Dienste des Staates, spürte keine Lust, da
mitzumischen. In seiner Freizeit schon gar nicht.
Im Licht der bunten Laternen, die ringsum brannten,
blieb die Lützenberg stehen.
„Sie haben ein Profil wie eine Cäsarenmünze", bemerkte
sie.
„Danke", sagte er, „kann ich aber gar nicht finden. Cäsar
war feist, glatzköpfig und hatte eine krumme Nase."
„Eitel auch noch", rief sie entzückt.
Was gibst du dich mit dieser Plinse ab, dachte er, was
geht dich diese dumme Kuh an. Obwohl Bewegung nach
zu viel Essen gut war, folgte er ihr nicht weiter.
„Verirren Sie sich nicht", rief er ins Dunkel hinein.
„Kommen Sie doch!"
Der Lärm der Rauferei wurde lauter. Die Blaskapelle
spielte einen Tusch, der abbrach, weil die Musiker
ebenfalls die Ärmel hochrollten.
Urban wurde einfach bei der Hand gepackt und wei
tergezerrt.
Na schön, dachte er und ging mit.
Eine große Wiese kam, ein Wald und mittendrin ein See.
Der Mond schien durch die Tannen. Das Wasser war so
klar, daß man bis auf den Grund sehen konnte.
Die Lützenberg machte kurzen Prozeß.
Sie warf den Nerz von der Schultern, riß den Rük
kenverschluß auf und stand im Nu nur in Höschen und
Strapshalter da. BH trug sie keinen. Im nächsten Au
genblick war sie ganz nackt. Ihre Brüste hatten Walkü
renformat. Das goldene Schamhaar war im Silberlicht
nur schwach zu erkennen.
Ihre Ungeniertheit erregte Urban.
„Los, zieh dich aus, sei nicht krötig", sagte sie und stand
schon bis zu den Knien im Wasser.
Er brauchte keine halbe Minute, dann watete er neben
ihr. Sie tauchten ein. Der See war kalt und erfrischte.
Schon nach kurzer Zeit packte ihn die Erregung aufs
neue.
Urban schwamm auf sie zu und umarmte sie mit dem
ganzen Körper.
„Ich mag's zwar frisch gebadet", gestand sie, „aber nicht
ganz so hastig."
„Ich schon", erklärte er. „Machst du auch Ausnahmen?"
„Nein, nie - das heißt" - sie zögerte sehr - „ja - vielleicht
doch."
Sie standen bis zum Hals im Wasser und liebten sich,
und die Gräfin hatte noch immer die Brillanten am Hals.
Bald war das Wasser nicht mehr klar, so sehr hatten sie
den Grund aufgewühlt.
*
Es hatte nach einem langen heißen Wochenende ausgesehen, und nichts war daraus geworden. Urban saß in seinem BMW-Coupe, allein, und tele fonierte. Schuld daran war, daß er sich das Rauchen nicht ab gewöhnen konnte, diese verdammten weißen Stäbchen. Nach dem Bad im Waldsee waren sie zur Festgesell schaft zurückgekehrt. Die Schlägerei war beendet. Einige Burschen aus dem Dorf lagen mit blutigen Köpfen herum. Von der Kapelle waren noch zwei Bläser spiel fähig. Urban beschloß, sich zu empfehlen. „Mein Chauffeur wartet mit dem Rolls", sagte die Lützenberg, deren Vornamen Bob noch immer nicht kannte. „Wir nehmen meinen", schlug er vor. Dann fuhren sie nach München zurück. In Bogenhausen hatte die Lützenberg eine recht ordentliche Villa. Urban parkte das Coupe vor der Haustür und ließ den Motor laufen. Das schien sie zu stören. Sie tastete nach dem Zündschlüssel, drehte ihn um, daß der Motor abrupt stand und zog den Schlüssel ab.
„Bleib hier", flüsterte sie. „Wer A sagt, sagt B, und nach
der Ouvertüre fängt die Oper erst richtig an."
„Ich bin aber ein Wildling", warnte er sie.
„In meinem Haus darfst du alles machen, nur keine
Brandstiftung."
Sie gingen hinein. In der Halle schleuderte sie schon die
Schuhe weg, auf der Treppe nach oben verlor sie den
Mantel und vor dem Schlafzimmer das Kleid. Dann lag
sie betrunken auf ihrem Bett und sah trotzdem be
zaubernd aus mit ihren zerrissenen umbrafarbenen
Nylonstrümpfen.
„Komm!" sagte sie.
In dieser Phase war das mit den Zigaretten passiert.
Einen Augenblick lang hatte er mehr Verlangen nach
einer Monte-Christo, als nach ihr, und er hatte dem
Verlangen nachgegeben.
„Moment", hatte er gerufen. „Bin gleich wieder da."
Die Packung lag im Handschuhfach des BMW. Noch im
Wagen hatte er sich eine angesteckt, und dann hatte das
verdammte Autotelefon gesummt und geblinkt. Er wollte
wirklich nicht abheben, tat es dann aber doch, ganz
automatisch.
„Wo stecken Sie, in welchem Sumpf?" fragte sein Chef,
der Oberst.
„Wenn Sie das wüßten."
„Ich habe in Tegernsee angeläutet, beim Grafen, aber die
sind ja rundum besoffen."
„Probieren Sie es morgen noch mal", riet ihm Urban.
„Vielleicht erwischen Sie mich dann."
„Ich rate Ihnen, nehmen Sie verdammt schnell ein kaltes
Bad", fluchte der Chef.
„Das habe ich bereits hinter mir."
„Dann kommen Sie bitte gleich raus ins Hauptquartier."
„Jetzt um .. .Überstunden auch noch?"
„Wir haben Alarmstufe rot." Urban hängte ein. Seufzend zwängte er sich hinter das Lenkrad. „Denk ich an Germany in der Nacht", murmelte er vor sich hin, „dann bin ich um den Sleep gebracht." Mit der ersten Motordrehung fuhr er los. Und die Lützenberg würde vergebens warten. Tat ihm leid. Schönen Dank und frohes Fest.
*
Urban bewegte das 200-PS-Coupe zügig, aber nicht zu schnell. Dem Chef dauerte das wohl zu lange. Am Mitt leren Ring summte das Bordtelefon schon wieder. Der Alte schien eine schlimme Stunde durchzumachen. „Wollen Sie die Schule schwänzen?" polterte er leh rerhaft. „Merken Sie sich eines, Großmeister", antwortete Urban. „Einmal im Leben eine Woche lang die Schule zu schwänzen, ist für die charakterliche Entwicklung eines Mannes positiver als drei Jahre Klassenprimus." „Um Sie geht es überhaupt nicht", entgegnete der Chef der Operationsabteilung mürrisch, „sondern um einen gewissen Dr. Matthäus Mathes." Alarmstufe rot, hatte der Oberst gesagt, also war dieser M.M. mindestens ein Juwel.
„Was ist mit ihm? Führte er den Pudel Gassi und kam
nicht wieder?"
„Er hat sein Haus nicht verlassen und ist trotzdem
verschwunden", übermittelte der Chef. „Dann sollte man
Luftproben machen. Vielleicht hat er sich in Rauch
aufgelöst."
„Der Fall hat zu ernstes Format für solche Scherze."
„Für Vermißte ist doch die Kripo zuständig."
„Der Mann ist staatswichtig."
„Dann sollte man den Verfassungsschutz ansetzen." „Mathes hält sich aber nicht im Bundesgebiet auf." „Für solche Fälle gibt es eine Firma namens Interpol." Oberst im Generalstab außer Diensten Wolf Sebastian zeigte eine erstaunliche Menge Geduld. „Dr. Mathes ist Geheimnisträger." Das letzte Argument stach. Dagegen kam Urban nicht mehr auf. Wenn es um einen Mann ging, der Ge heimnisträger und Bundesbürger war, sich im Ausland aufhielt, aber als verschwunden galt, dann gab es kein Entrinnen. Dann fehlte meistens nicht mehr viel, und er wurde ein Fall für den BND. „Und warum ist er so wichtig?" Der Oberst umschrieb es zunächst. „Warum durchqueren Forscher den Amazonas, warum andere die Antarktis, warum Grönland, warum den Weltraum? Ganz einfach, weil sie da sind." Der Chef vertraute dem Telefon keine weiteren Ein zelheiten an. Urban erfuhr sie zwanzig Minuten später in der Ope rationsabteilung. „Dr. Matthäus Mathes", erklärte der Oberst grauge sichtig, „ist der hervorragendste Experte für Bomben zünder. Er war maßgeblich an der Entwicklung der neuen Flächenbomben gegen Panzer beteiligt, an Ku gelbomben und den 75er Torpedos. Mathes hat im zwei ten Weltkrieg die Vierkreiszünder für Magnetminen entwickelt und auch jene Luftminen, die noch heute detonationsbereit in englischer Erde liegen, weil sie selbst mit modernsten Mitteln nicht zu entschärfen sind." Urban pfiff kurz und zog Stirnfalten. „Dann müßte ich ihn kennen. Ich kenne den Herrn aber nur unter dem Namen Häusler."
„So nannte er sich früher. Aus Sicherheitsgründen bekam er eine andere Identität." „Und woran bastelt er gerade?" Der Oberst hob die Schultern. Er wußte es nicht. Der kurzbeinige alte Herr mit der Igelfrisur über dem Dackelgesicht stand ruckartig auf und ging voraus in die Operationsabteilung. Vor der Spezialkarte Europa/Süd blieb er stehen und deutete auf einige Luftaufnahmen, die im Kartenrahmen steckten. „Hier wohnt er. Toscana. Das ist sein Haus von oben und schräg von den Seiten. Vor drei Tagen bekam er Besuch. Einige Rüstungsexperten der NATO. Sie trafen ihn nicht an. Aber die Köchin behauptet steif und fest, der Doktor habe sein Haus nicht verlassen. Türen, Schlösser und Fenster sind unbeschädigt. Spuren nicht vorhanden. Die Wagen stehen in der Garage, nichts fehlt, und in den Brunnen ist er auch nicht gefallen. Wo Ist also Dr. Matthäus Mathes?" „Ja, wo ist Doktor Mathes", wiederholte Urban. „Kann eine Frau im Spiel sein?" „Bei einem fast siebzigjährigen Herrn?" „Pardon", sagte Urban, „aber warum nicht?" Der Oberst gab ihm ein paar Ratschläge mit auf den Weg. „Sie bringen ihn schon zurück, Nummer 18", sagte er. „Nehmen Sie die Fäuste von Schmeling, das Hirn von Schopenhauer und den Erfolg von Kuhlenkampf. „Und Beethovens scharfes Gehör", fügte Urban hinzu. So war das leider nicht zu machen. Der Alte hatte vielleicht eine Ahnung. „Und die Axt von Bob Urban", fügte Sebastian noch hinzu. „Ja und ein bißchen Dynamit." Mit diesem Nachmaulen verließ der Agent mit der Dienstnummer 18 das Büro.
Er hatte das letzte Wort gehabt. Wenn er nicht das letzte Wort hatte, war er nicht glücklich - und wenn er es hatte, auch nicht.
3.
Nachdem er sich an dem Vierminutenei im Bistro fast einen Zahn ausgebissen hatte, machte sich Roan Ed wards sein Frühstück lieber selber. Wo er auch stand, ging oder saß, sei es in der Küche des kleinen Sommerhauses, bei Tisch oder draußen auf der Terrasse, immer hatte er seine Netzpläne bei sich, den elektronischen Taschenrechner und den Ringblock voller Notizen. Links den Kaffee umrührend, mit der Rechten den zerbrutzelten Schinkenspeck aus der Pfanne gabelnd, überflog er die Zeitung. Es war eine zwei Tage alte „Daily Worker". So lang brauchte das Blatt, bis es aus London zu seinem Kiosk unten am Hafen von Antibes kam. Mit Pariser Zeitungen konnte er leider wenig anfangen. Zwar hatte er an der Columbia Universität einen Abendkurs in Französisch besucht, er konnte sich auch einigermaßen verständigen, aber mit dem Lesen haperte es. Er brachte einfach den Nerv nicht auf, aus dieser Sprache, die so völlig anders gesprochen wurde, als man sie schrieb, auch noch Artikel zu übersetzen. Außerdem interessierten ihn stets nur die gleichen Spalten mit den Meldungen aus Genf. Dort schien alles glatt zu verlaufen. Inzwischen waren die Burschen in der Schweiz eingetroffen. El-Said, Ali Adschman, Boris Schuwareck und wie sie alle hießen. Edwards leerte das Glas mit dem Pampelmusensaft, steckte sich eine Camel an und trug das Tablett voll Geschirr in die Küche.
Damit nichts festklebte, wusch er Teller und Tassen unter dem Heißwasserstrahl - er nannte das chemisch reinigen - und ließ das Geschirr im Ständer abtropfen. Dann machte er am Wandkalender das rote Kreuz. 22 Tage hatte er auf diese Weise schon durchgestrichen, etwa zwei Wochen blieben ihm noch. Wenn er daran dachte, wie die Tage immer weniger wurden, daß man bald schon die Stunden ausrechnen konnte, dann wurde ihm ein wenig mulmig. Ihm wurde ungefähr so, wie einem Mann, der zum täglichen Leben zehn Dollar brauchte, aber nur noch hundertvierzig Dollar auf dem Konto hatte und nicht wußte, wie es weiterging, wenn diese Summe aufgefressen war. Ein klein wenig so fühlte er sich innerlich, sobald sein Blick auf den Kalender fiel. Aber dann donnerte unterhalb des Hauses, zwischen der Straße und dem Meer, der Expreß vorbei. Es war der Bleu-Train Paris-Marseille-Genua. Da ging es Roan Edwards rasch wieder besser. Das Schlagen der D-ZugRäder auf den Schienenstößen wirkte wie eine Adrenalinspritze. Ein Blick auf die Uhr. Der Expreß hatte achtzig Se kunden Verspätung. Früher hatte Edwards mit Eisenbahnen gespielt, neuerdings liebte er sie sogar.
*
Im Laufe des Tages ergänzte Roan Edwards seine Sammlung europäischer Eisenbahnfahrpläne. Die Be schaffung von Gleisnetzkarten der Schweiz, Frank reichs, Italiens, Österreichs und Deutschlands machte schon erheblich mehr Schwierigkeiten. Wie die Hauptdurchgangsstrecken verliefen, ließ sich aus den lzu-100 000-Meßtischblättern entnehmen. Edwards wollte aber mehr darüber wissen. Ihn inter
essierte jeder Bahnübergang, jede Schranke, jeder Tunnel, jede Brücke, jede Kurve und ihre Krümmung. Steigungen wie Gefälle. Die Plazierung der einzelnen Blockabschnitte wollte er ebenso wissen wie die Vorund Hauptsignale. Die Lage der Bahnhöfe, eben alles, was mit dem technischen Betrieb zusammenhing. Daten, die aus erreichbaren Unterlagen nicht zu erfassen waren, besorgte er sich anders. Er besuchte - unter dem Vorwand für ein schwedisches Magazin Reportagen zu schreiben - Eisenbahnverwaltungen. Dort fotografierte er dann, was ihm vor die Linse kam. An einer kleinen Station vor St. Raphael entwendete er ein Betriebshandbuch für Streckensicherung, und in Marseille konnte er sich von einem Beamten die Fahr dienstvorschriften für Lokalpersonal beschaffen, und zwar für die Strecken Genf-Lyon-Marseille und Mar seille-Genua-Mailand. In diesen Herbstwochen in Europa reiste Roan Edwards fast ständig umher. In vier Tagen brachte er mehr Kilometer zusammen, als ein Lokomotivführer in einem Monat. Während der Fahrt, sei es im Auto oder per Bahn, fotografierte und filmte er. Hauptsächlich konzentrierte er sich auf die Schweiz und in der Schweiz auf den Bahnhof Genf mit seinen LokAusbesserungs- und Bahnbetriebswerkstätten. Auch besorgte er sich Unterlagen über Lok- und Wagentypen. Bald besaß er eine lückenlose Datensammlung aller DZuglokomotiven, sei es in Dampf-, Turbinen-, Diesel-, dieselelektrischer oder elektrischer Ausführung, die zur Zeit in Betrieb waren. Er kannte die Werte der deutschen Super E-103 TEE-Maschine und die der alten italienischen Dampf-S3/8. Von einer schnellen Reise nach Innsbruck zurückge kehrt, entwickelte er das Filmmaterial, wertete es aus
und arbeitete die Daten in den großen, fast zwei Qua dratmeter Fläche umfassenden Plan ein. Schon nach wenigen Stunden Schlaf und einer kalten Dusche ging er in den Keller des kleinen Hauses. Dort hatte er sich eine provisorische Werkstatt eingerichtet. In mühsamer Uhrmacherarbeit stellte er jene Dinge her, ohne die seine generalstabsmäßigen Vorarbeiten sinnlos gewesen wären. In diesen Nächten vertilgte er den Kaffee gleich kan nenweise.
*
Auf Pertina-Platten zeichnete Edwards erst die Schalt pläne vor. Dann brachte er die Bohrungen an. Später folgte die Anordnung der Drahtbrücken, das Einsetzen der Bauteile, dann die endgültige Verlötung. In einer ausgetüftelten Konstruktion baute er Transistoren, Widerstände und Kondensatoren zusam men. Ein Multivibrator gab Takte in Sekundenrhyth mus. Vom Emitter eines Vortransistors wurde der Lei tungstransistor gesteuert. In der Kollektorleitung dieses Transistors befand sich ein Relais. Bekam es nicht pünktlich seinen Impuls, schnappte es, schloß eine Leitung kurz und gab Strom auf einen der Zünder. Das Ganze war nur einer von vielen Schaltkreisen. Insgesamt gab es deren neun. Sie wurden magnetisch gesteuert, photooptisch, infrarot, aerodynamisch, ballistisch und durch ein Pendelsystem. Das Ganze war eine Geniekonstruktion. Sie stammte nicht von Roan Edwards. Er hatte sie von einem Mann, der noch ein wenig mehr von den Dingen wußte als er, weil er sich ein Leben lang damit befaßt hatte und auf diesem Gebiet der Technik der Beste auf der Welt war. Die Lötpunkte l bis 136 waren inzwischen erledigt. Die Abstände stimmten, für Kühlung sorgten Leitbleche.
Roan Edwards hatte jetzt den Prototyp soweit fertig, daß er ihn an die Batterie anschließen konnte. Sechs Volt flossen aus dem Akku in das System. Nun kam das Ganze auf einen kleinen Rüttelstand. Es mußte härtesten Beanstandungen gewachsen sein. Erst wenn es 48 Stunden im verschärften Dauertest durchhielt und nichts brach oder sich lockerte, konnte er das Ding in Serie gehen lassen. Insgesamt brauchte er zehn Stück davon. Am Schluß würden sie dann als Seele des Ganzen, als Gehirn gewissermaßen, in die handkoffergroßen Metallbehälter eingesetzt. Sieben Stunden später bekam Roan Edwards seinen ersten Denkzettel verpaßt. Der Taktgeber hielt das Rütteln nicht durch. Verdammt, dachte er, du mußt diesen Klapperatismus über Quarze steuern, über Festfrequenzen. Das hatte der Meister, von dem die Pläne stammten, auch erkannt. Roan hatte gehofft, es würde mit dem Multivibrator auch hinhausen. Aber es ging nicht. Woher jetzt die Quarze nehmen, überlegte er. In seiner Zeitnot meldete er ein Ferngespräch nach Amerika an. Der Teilnehmer in Washington war erst am Vormittag zu erreichen. Schon wieder eine Verzögerung. Roan Edwards, der Mann ohne Nerven, kam pro Tag jetzt schon auf zwei Packungen Camel. Für das, was er hier leistete, hätte ein Facharbeiter pro Stunde 30 Dollar verlangt. Und bekommen, dachte er. Er steckte sich eine neue Zigarette an der alten an. Für dreißig Dollar hätte er es nicht getan. Nicht einmal für dreihundert pro Stunde.
„Haben Sie Zinnpulverfarbe?" fragte er den Mann in der Drogerie, nachdem er den Namen im Wörterbuch zusammengesetzt hatte. Der Händler glotzte mit den runden Augen ein wenig einfältig. „Wozu brauchen Sie die, Monsieur?" Stell dich dumm, das ist klüger, dachte Roan Edwards. Er deutete hinüber, wo unter den Platanen sein Wagen stand, ein leicht angegrauter Peugeot 404 mit Anhängerkupplung. Unter dem Vorsatz, bloß nicht aufzufallen, hatte er sich diese zehn Jahre alte Limousine gekauft. Technisch war sie okay und gut für eine Fahrt bis Südafrika. Oben nagte allerdings der Gilb. „Der Auspuff macht's nicht mehr lange." „Ist Zinnpulverfarbe gut dafür?" „Und wie. Das Kotflügelblech schätzt sie auch." „Bis heute abend kann ich Ihnen das besorgen, Mon sieur. Wieviel?" „Drei Kilo." „Schöne Menge. Ist ziemlich teuer, die Farbe." „Bis später", sagte Roan und verließ den Laden in der Altstadt von Nizza. Beim Vorbeibummeln musterte er sich im Schaufen sterglas. Nichts Soldatisches war mehr an dem Ex-Ser geant. Gegen seine langen Locken hatte Jesus direkt einen militärischen Haarschnitt gehabt. Gut so, dachte er, Tarnung ist die Lebensversicherung des Kriegers. In einem Bistro nahm er ein Sandwich und ein Glas Rotwein. Dann kaufte er noch Kleinmaterial. Moos gummi, winzige Kugellager für die Aufhängung der Pendel und ein Dutzend Auto-Unterbrecher wegen der Platinkontakte. Außerdem erstand er Drähte, Isolier bänder, Lötzinn und ein paar Chemikalien. Der Freund in Washington hatte ihm geraten, die Quarze aus
elektrischen Uhren auszubauen. Darauf wäre er auch allein gekommen. Am Nachmittag graste er Läden und Kaufhäuser ab und besorgte sich ein Dutzend Uhren. Er kaufte überall nur zwei, jeweils mit verschiedenen Gehäusen. Hauptsache, die Quarzwerke waren die gleichen. Rasch wurde es Abend. Roan holte noch die Farbe ab, ehe er wieder nach Hause fuhr. In der Zeitung stand nichts Neues. Deshalb nahm er das Kofferradio mit in die Werkstatt und holte, BBC London herein. Um 19 Uhr brachten sie immer politische Kommentare. Der Sprecher hatte schon angefangen. „ .. .um was geht es also", sagte der mit der näselnden Oxford-Stimme, „wenn diese Männer gleichzeitig nach Genf reisen? Meiden sie sich, oder sind die versteckten Konferenzorte schon längst ausgewählt? Und was vor allem will dieser unheimliche Mister Ali Adschman? Wem ist schon bekannt, daß er einer der reichsten Männer der Welt ist? Einer der großen Drahtzieher, die geheimnisvollste, interessanteste und umstrittenste Figur des Nahen Ostens. Der Mann, der es gelassen hinnimmt, als die Schlüsselfigur aller Spannungsherde zwischen Beirut und Teheran angesprochen zu werden. Was hat er jetzt vor? Auf zwei Milliarden Pfund Sterling schätzt man hierzulande sein Vermögen. Ohne eine einzige politische Funktion, ist sein Einfluß außerordentlich zu nennen. Sein Lebenslauf ist so schillernd wie der von Aristoteles Onassis. Aber über Macht und Kapital des Griechen würde Mister Adschman wohl nur lächeln. Was ein Onassis mit dem Einsatz aller Mittel vermag, macht Mister Adschman mit der Hand in der linken Tasche. Was wir über ihn wissen, ist wenig. Er begann als be scheidener Hafenbeamter am Golf mit einigen hundert
Rupien Gehalt im Monat. Bald war er Chef der Behörde und steckte seine Finger ins Big Business. Man sagt, organisierte einst den sagenhaften Goldschmuggel nach Indien. Heute macht er alle Ölkontrakte der Vereinigten Emirate. Doch auch dies sind nur Nebenbeigeschäfte. Damit verbringt er nicht ein Viertel seiner Zeit. Ihm gehören Wolkenkratzer in New York, ein Schloß in Frankreich, eine Hazienda in Brasilien und Grundbesitz im Ruhrgebiet. Sein Immobilienbesitz umfaßt mehr als einhundert Riesenobjekte. In Mittelamerika betreibt er Bergbau, er schmiedet Stahl in England und baut Dämme in Afrika. Man nennt ihn .Mister ‚Elektron', weil er so schnell ist und so präzise. In der weiten Welt östlich des 30. Län gengrades findet nichts statt, was Mister Adschman flicht weiß. Nichts, wo er seine Finger nicht drin hat. Sein erstes Auftreten in Genf war eher bescheiden. Er trug nicht einen einzigen seiner riesigen Brillantringe, nur einen dezenten dunkelblauen Anzug, passend im Ton zu seinem dunkelblauen Rolls-Royce ..." Der Kommentator von BBC London schwärmte unentwegt weiter über diesen Mister Adschman, der in Genf angekommen sei. Roan Edwards schaltete ab. Er war nicht Mister Adschman und wollte auch für nichts auf der Welt Mister Adschman. sein. Auch wenn sich Mister Adschman um 35 Millionen Dollar einen Palast bauen ließ, und wenn er ein Schwimmbad aus Glas hätte, in dem sich immer nackte Mädchen tummelten, und eine Bar, in der es jeden Drink dieser Welt gab - nein, für nichts wollte er Mister Adschman sein. Jeder andere, aber bloß nicht Mister Ali Adschman. Denn vielleicht ging es diesem Mister Adschman bald gar nicht mehr so gut.
Fünf Tage später, eines Nachmittags gegen 16 Uhr, wa ren alle Windungen im Gehirn von Roan Edwards wie blockiert. Da hatte er sich wie ein Atom-U-Boot verhalten, war nach dem Auslaufen weggetaucht und erst in einem anderen Erdteil wieder ans Licht gekommen, und jetzt das. Wie ein Wurm hatte er sich von den USA nach Eu ropa gebohrt, keine Spur hinterlassen, falsche Fährten gezogen - und alles für die Katz. Drüben vor dem Cafe unter der gelben Markise saß jemand, den er kannte. Zwei dunkle Sonnenbrillengläser folgten ihm wie Radaraugen. Das Mädchen vor dem Fruchteisbecher war niemand anderes als Serafine Campbell. Kaum zu fassen. Aber so leicht ließ sich Edwards seine Nummer, diesen grandios aufgebauten dreifachen Salto mortale ohne Netz, nicht kaputtmachen. Zum Glück herrschte um diese Stunde in Cannes Hochbetrieb. Er mischte sich unter die Straßenpassanten, wo sie am dichtesten gingen. Im Schatten der Arkaden des Boulevard Hugo steckte er sich erst mal eine Camel an. Die Hirnblockade lockerte sich allmählich. Ist sie es, ist sie es nicht, überlegte er. Wenn ja, hat sie dich gesehen? Hat sie dich erkannt, oder schaute sie nur zufällig so hin, wie man einem Mann nachschaut, der mit einem gewissen anderen Ähnlichkeit hat. Ähnlichkeit in Größe, Gang und Figur? War es Serafine überhaupt zuzutrauen, daß sie ihm nach Europa folgte und ihn suchte? Vielleicht mochte sie ihn wirklich sehr gern. Aber tat eine Frau so etwas aus Liebe? Nach seiner Erfahrung reagierten Frauen nur dann so ungewöhnlich, wenn sie haßten. Daß Serafine ihn haßte, war eher drin als alles andere. Auch wenn sein Eheversprechen wirklich nur in ihrer Einbildung exi
tierte. Wenn ich mal ein Mädchen heirate, hatte er ge sagt, dann keine Schönheitskönigin, sondern eine simple Durchschnittsfrau für den Hausgebrauch. Genau das bin ich, hatte sie behauptet. Wenn sie daraus einen Heiratsantrag ableitete, war es ihre eigene Schuld. Was jetzt, überlegte Edwards. Er befand sich in einer Phase, wo er keine Störung mehr brauchen konnte. Alles lief, alles war gut, alles ging wie geschmiert. Einen Moment dachte er daran hinzugehen, sie zu beg rüßen, verliebt zu tun und sie zu Hause einfach zu er würgen. Ein totes Girl aus South Carolina war im Preis enthalten. Schließlich stand mehr auf dem Spiel. Mord hätte sein Konto auch nicht mehr fett gemacht. Aber Mord ist als Lösung immer schlecht, dachte Roan. Ein Toter genügte ihm. Also brachte er sie nur in Gedanken um, eilte um den Block zum Parkplatz bei der Kirche, wo sein Peugeot stand und fuhr rasch weg. Zu Hause bereitete er seinen Ortswechsel vor. Dabei ging er zu Werke wie bei allem, was er tat. Er machte es mit fixer Gründlichkeit. Er vernichtete, was er nicht mehr brauchte, das übrige verstaute er im Wohnwagen. Wäre mir ein Vergnügen gewesen, dachte er, dich mal wieder zu vernaschen, Serafine-Baby. Leider habe ich heute morgen erst gebeichtet. In der Nacht stellte er die letzten Printplatten fertig, montierte sie mit den Kleincomputern und der Mechanik zu einem funktionsfähigen Ganzen, setzte sie in die Behälter und verlötete diese. Nachdem er sie mit der Spezialfarbe isoliert und dann noch mattgrau gespritzt hatte, verstaute er alles im Trailer. Dann fuhr er los.
Von dieser Stunde an hätte in seinem Paß unter der Rubrik Wohnsitz stehen müssen: Überall und nirgend wo.
4.
„Sie sind unsere letzte Rettung", sagte der Signore, der am Flughafen von Genua unauffällig zu Bob Urban stieß. Während sie zum Parkplatz hinausgingen, drehte er sich immer wieder um. Das wunderte Urban. „Fühlen Sie sich beobachtet?" Der kahlköpfige kleine Italiener im dunkelblauen Trenchcoat lächelte verlegen. „Seitdem ich für die NATO tätig bin, baut sich in mir eine Art Verfolgungswahn auf", gestand er. „Ich fühle mich zu dieser Tätigkeit leider gar nicht berufen. Aber unglücklicherweise treffen in mir zwei Eigenschaften perfekt zusammen. Nämlich die Fähigkeit, technische Zusammenhänge zu durchblicken, und die verbissene Ausdauer, mit der ein Buchhalter eine halbe Lira sucht, die in der Schlußbilanz fehlt. Diese Eigenschaften haben bei einem Eignungstest eine außerordentlich seltene Punktzahl ergeben. Und ausgerechnet einen solchen Mann suchte man bei der NATO." „Was machen Sie eigentlich genau?" wollte Urban wissen. Der Italiener sprach mit leiser Stimme: „Ich habe aufzupassen, daß das viele Geld, das für Rüstungspro jekte ausgegeben wird, auch gut angelegt ist. Speziell bin ich für S bis Z zuständig. Von Sprengmitteln bis zu Zündern. Ich heiße übrigens Alfredo Prevedi." Prevedi blieb neben einem weißen Fiat 230 stehen, sperrte auf und schaute sich noch einmal um, ob auch niemand im Busch lauerte und alles mitstenografierte. Aber die Befürchtung war unangebracht. Es gab nir gendwo ein Gebüsch.
Urban rutschte rechts neben ihn.
„Wer ich bin, das wissen Sie ja", sagte er.
Der Italiener ließ an.
„Ja, und was Sie tun auch, Roberto."
*
Der Italiener fuhr Richtung Küstenautobahn. Er bewegte und behandelte den Fiat so, wie es seinem Charakter entsprach, absolut uhrmacherhaft. Inwiefern bin ich Ihre letzte Rettung?" fragte Urban, obwohl er sich die Antwort denken konnte. „Es gibt noch immer keine Spur von Dottore Mathes." „Auch die Hunde fanden nichts?" „Weder im Haus noch im Park." „Kann man ihn nicht außerhalb seines Anwesens überwältigt und entführt haben?" Der Italiener versicherte, auf Grund seiner Rekonstruktion sei dies auszuschließen. „Die Köchin", berichtete er, „übrigens eine zuverlässige Person, wohnt in Prapallo. Jeden Abend verläßt sie gegen 21 Uhr das Haus des Dottore, nachdem sie das Geschirr aus der Spülmaschine genommen hat. Sie sah den Dottore als letzte. Sie verabschiedete sich von ihm und hörte, wie er hinter ihr die Schließkette vorlegte und die Alarmanlage einschaltete. Ich habe sie über alle Einzelheiten seiner Lebens- und Arbeitsgewohnheiten befragt. Sie fürchtet, daß der Dottore nicht mehr im Leben ist.". „Mit welcher Begründung?" „Sein Cognacglas war unbenutzt." Urban lächelte ein wenig. „Ein zuverlässiges Indiz", sagte er, „fürwahr." „Wenn er abends keinen Cognac trank, so behauptet die Köchin, dann muß ihn der Tod ereilt haben."
„Na schön, aber es gibt keine Leiche."
„Aber auch keine Unterlagen über das Zündermodell, an
dem er derzeit arbeitet", fügte der NATO-Beamte hinzu.
Urban verwünschte die Geheimniskrämerei, derent-
wegen er keinen Erkennungsdienstexperten der Kripo
hinzuziehen durfte. Beim BKA kannte er ein paar sehr
tüchtige Leute, die gewiß Hinweise entdeckt hätten. Das
alles schlug auf seine Stimmung.
Der Italiener hingegen wirkte richtig aufgekratzt, als sie
durch die Tunnel hoch über der Levante-Riviere
dahinfuhren.
„Was freuen Sie sich so, Alfredo?" fragte Urban.
„Daß Sie endlich da sind."
„Ich bin ja nicht mal von der Bayrischen Landpolizei",
sagte Urban.
„Macht nichts, ich weiß, woher Sie kommen, was Sie
können und was für unmögliche Fälle Sie schon aus dem
Feuer gerissen haben."
Urban schmerzte es fast körperlich, wenn man ihn so
überschätzte.
*
Das Haus von Dr. Mathes lag landeinwärts, hoch in den Bergen. Der alte Bau hatte früher eine Privatschule beherbergt und war entsprechend geräumig. Im Erdgeschoß lagen Konstruktionsbüro, Labor und die Werkstatt, wo der Dottore eigenhändig die Prototypen seiner Modelle herstellte. Im ersten Stock wohnte er. Links gab es noch einen Turm. Im Haus war es kühl, aber es stank ein wenig nach ranzigem Fett. Aus der Küche kam das nicht. Sie war blitzblank. Urban ging durch alle Räume und kehrte wieder ins Labor zurück.
Doktor Mathes arbeitet an einem neuen Zündermodell fragte er. „An einer Weiterentwicklung seines M-73. Weiterenwicklung bedeutet in diesem Fall Verkleinerung." „Beruht es in der Grundkonstruktion auf dem M 42? Der Italiener nickte. Damit wußte Urban Bescheid. Mathes hatte auf dem Gebiet der Konstruktion von Zündern einmal im Leben eine geniale Idee gehabt. Von da an war er verfahren wie fast alle Menschen. Jeder ritt seine einmal bewährte Masche so lange, bis der Gaul tot war. „Was wissen Sie über den M-73?" fragte Urban. Der Italiener faßte es in wenige Sätze. „Der M-73 ist ein kombinierter PendelFliehkraftzünder. Er wird durch Bewegung scharf und löst aus, sobald die Bewegung aufhört. Zünder dieser Art werden in Bomben, Torpedos und auch in Granaten ver wendet. Sie sind weltweit gebräuchlich. Der Witz an den Mathes-Zündern ist jedoch ihre extrem hohe Zu verlässigkeit auf Grund ihrer Robustheit, und daß man die Zünder nicht entschärfen kann. Das ist durch keinen Trick, weder magnetisch noch durch Hitze oder einfrieren oder wer weiß was möglich. Neuerdings baut er sie winzigklein für Kugelbomben zur Flächen bestreuung aus der Luft gegen Panzerangriffe." Urban steckte sich eine MC an. „Wenn man nur lange genug an einer Sache rumdenkt", bemerkte er. „kommt man zu den entzückendsten Ergebnissen." Der Italiener pflichtete Urban bei, ohne dessen Zynismus zu bemerken. „Si", sagte er, „der Dottore wußte mehr über Spreng stoffe und Zünder als alle anderen Experten zusammen." „Es gibt ohnehin nicht sehr viele.“
„Höchstens sechs oder sieben." Urban schritt langsam durch die Räume. Es war ihm, als verstärkte sich der Geruch von ranzigem Fett.
*
Seine Augen folgten dem Rand eines stählernen Vierecks
von zwei Metern Kantenlänge. Höhe und Breite waren
fast gleich.
„Ein italienischer Safe", erklärte Alfredo Prevedi. „ein
Ferro-Durante."
Urban tastete das mattsilbrig schimmernde Material , ab.
Die Türen des Tresors fühlten sich wie die Frontseiten
eines Kampfpanzers an.
„Stabiler Apparat", sagte Urban. „Wurde er geöffnet?"
„Bis jetzt nicht."
„Und warum nicht?"
„Dazu fühlte ich mich nicht befugt", antwortete der
NATO-Beamte. „Außerdem ist auch kein Schlüssel
auffindbar."
„War dies der ausschließliche Grund?"
„No", gestand der Italiener. „Ich rief beim Hersteller in
Triest an. Man hat dort die Seriennummer registriert.
Aber Nachschlüssel müssen erst anhand der
Typenunterlagen gefräst werden. Das dauert zirka zehn
Tage."
Urban warf dem Italiener einen schrägen Blick zu. So
betulich und penibel wie er sich darstellte, war Prevedi
also gar nicht.
„Sie sagten", fuhr Urban fort, „Sie würden Unterlagen
und Modelle des neuen M-75 Zünders vermissen. Wie
können Sie das, wenn Sie den Safeinhalt nicht kennen?
Geheime Entwicklungen schließt man abends ja wohl
weg, oder?" Der Italiener nickte.
„Mein Verdacht war rein gefühlsmäßig. Da bin ich sicher
ein wenig übers Ziel hinausgeschossen. Aber wir haben
auf diesem Gebiet unsere Erfahrungen. Hinter solchen
Neukonstruktionen ist immer Gott und die Welt her.
Agenten östlicher Großmächte, Werkspione,
konkurrierende Rüstungsunternehmen und so weiter."
Urban bremste den Redefluß des Italieners durch eine
Handbewegung.
„Schön", entschied er. „Jetzt machen wir das Näh
kästchen mal auf."
*
Er hatte es hingesagt, als ginge es darum, eine Streich holzschachtel zu öffnen. Seiner Reisetasche entnahm Urban ein schwarzes Lederetui. Der Italiener bekam runde Augen. „Da drin haben Sie gewiß Ihren geheimnisvollen Kombidietrich." „Sie lieben wohl Agentenfilme", spottete Urban. „Da werden Safes meistens mit solchen Apparaten aufge macht. Mit Plastikstreifen oder mit verstellbaren Sternschlüsseln. Dazu klemmt man sich dann noch ein Stethoskop ins Ohr und lauscht auf das Fallen der Sperrklinken in der Drehkombination. Ganz feine Leute arbeiten auch schon mit Kleincomputern oder sogar mit Röntgenapparaten. Nur bohren, fräsen und sprengen, das mag keiner mehr. Das kostet Schweiß, kracht und stinkt außerdem. Glauben Sie mir eines, Prevedi, wie man mit einem Elektrorechner schnell eine Nummernkombination finden will, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Der einzige brauchbare Dietrich ist so teuer, daß in einem Safe schon eine Million Dollar Bargeld liegen muß, damit sich die Anschaffung lohnt." „Und eines dieser wenigen Exemplare besitzen Sie, Roberto?" „Nein", sagte Urban und ließ das Etui aufspringen,
„ich habe nur die Reserveschlüssel zu dem Ferro-Durante mitgebracht. Doktor Mathes hatte sie in seinem Bankschließfach in München liegen." Urban schob die langhalsigen Sternschlüssel in die dafür vorgesehenen ausziehbaren Schubhülser drückte sie hinein, drehte sie zweimal herum und stellte noch die Kombination ein. Dann packte er die Zuggriffe. „Gleich wird die Alarmanlage losheulen", sagte er, „Die Schaltpläne dafür konnte ich in der Eile nicht auch noch beschaffen. Halten Sie sich die Ohren zu, wenn es zu laut wird." Damit zog er die schwere Panzerschranktür auf. Sie saugte Luft ab. Nachdem der Druckausgleich hergestellt war, glitt sie leicht, wie auf Kugeln gelagert. Aber der Gestank von ranzigem Fett wurde penetrant. Urban glaubte, im Safe etwas zu sehen, kippte aber erst die Tischlampe ein wenig höher. In diesem Moment, als er das Fürchterliche begriff, begannen die Alarmklingeln loszuschrillen. Urban tastete den Saferahmen ab, fand die Kontakte und befestigte sie mit Lassoband in Nullstellung. Dann preßte er das Taschentuch gegen Mund und Nase. Der Verwesungsgeruch kam von dem Mann, der im Safe Hockstellung einnahm. Er war tot. Sein schmerz verzerrtes Gesicht und seine verkrümmte Haltung ließen darauf schließen, daß er erstickt war. Urban machte eine Kopfbewegung. „Ist er es?" Der Italiener nickte. „Dottore Mathes. Ich kannte ihn persönlich", kam es gedämpft unter der Tuchmaske hervor. Rasch suchte Urban den Safe ab. Die Fächer waren leer bis auf ein Fotoalbum und einige notarielle Kauf urkunden, Grundbesitz betreffend.
Dann schloß Urban den Safe wieder und lehnte sich erleichtert mit dem Rücken gegen die Tür. „Mord?" fragte der Italiener. Urban hob die Schultern. „Mord, was ist Mord? Der Weg, der zu einem gewalt samen Ende führt, hat meistens Nuancen. Ein Kampf fand statt, das ist aus der Arm- und Stirnwunde ersichtlich. Aber er starb wohl erst in seinem Panzer schrank endgültig." »Aber wo sind die Pläne?" „Wo", fragte Urban, „sind die fünfundzwanzigtausend Mark, die er bei seinem letzten Aufenthalt in München von seinem Konto abhob?" „Raubmord etwa?" Urban dachte lange nach und schüttelte sich dann, als fröstle er. „Es soll nur wie Raubmord aussehen, um uns von der eigentlichen Fährte weg in die Irre zu führen. Wer die Pläne wollte, nahm kein Geld. Wer Geld nahm, wollte die Pläne nicht. Doch der Täter war schlauer. Er nahm das Geld und die Pläne." „Aber worauf kam es ihm an?" „Nicht auf das, was man annehmen soll, nicht auf das Geld. Ein Dieb hätte das Geld genommen und das Opfer einfach liegenlassen. Dem Unbekannten ging es um mehr. Inwieweit überhaupt Pläne existierten, ist nicht mehr nachzuweisen. Und daß er den Toten wegsperrte nun, das mag er getan haben, um seinen Vorsprung zu Verlängern. Alles ziemlich undurchsichtig. Aber eines Wird immer deutlicher: Kein Dieb steigt in ein so einsa mes Haus ein, um irgend etwas zu klauen. Der Täter ging absolut gezielt vor. Außerdem überlistet er die Alarmanlage. Er wußte also, daß es eine gab. Selbst wenn man so etwas weiß, gehört eine Masse Sach kenntnis dazu, um eine moderne Dreikreisanlage aus zuschalten. Unbemerkt, wohl verstanden."
„Ein Profi also", folgerte der NATO-Beamte mit rauher Stimme. „Der genau wußte, was er wollte." „Der nicht wegen der fünfundzwanzigtausend Mark kam." „Profis arbeiten nicht für Trinkgelder." „Und Spuren hinterließ er auch keine." Ein Grinsen überspielte Urbans Ernsthaftigkeit, aller sagte: „Damit hätten wir alles beisammen. Zumindest was die Fragen betrifft. Jetzt fehlen uns nur noch die Antworten. Wer war es, was machte diesen Mann so wild auf den Mathes-Zünder M-75 und was hat er damit vor?" „Bravissimo", applaudierte der NATO-Beamte, „ nenne ich eine kurze und prägnante Formel." Für Bob Urban, BND-Agent mit der Codenummer 18, war sie viel zu lang. Aber genau genommen wäre das gar nicht sein Problem gewesen. Er sollte Dr. Mathes suchen und er hatte ihn gefunden. Weil er aber wußte wie der Hase lief, sah er einen Schwanz von Anschlußaufträgen auf sich zukommen. „Vielleicht ein Racheakt?" fragte der Italiener. „Irgendeine Sache, die schon lange zurückliegt. Dr. Mathes war schon im letzten Krieg ein bedeutender Konstrukteur von Bomben und Minen." „Er war ein Nazi", sagte Urban, „der Frühstückseier nur zu sich nahm, wenn sie mit dem Hakenkreuz deutscher Hühner gestempelt waren. Aber wer kümmert sich heute schon noch um diese Kameraden. Kein Mensch. Nein, die Sache ist hochaktuell und basiert in der Gegenwart. Sie müssen mir jetzt alles über die MathesKonstruktionen erzählen, Alfredo, alles was Sie wissen." „Gern", sagte der Italiener bereitwillig. „Aber erst rufen wir die Kripo an", schlug Urban vor.
Um der Tätergruppe näher zu kommen, formulierte
Urban eine Standardfrage. Unter der Voraussetzung, daß
es dem Täter um den neuen Mathes-Zünder gegangen
war, lautete sie: Was kann man mit diesem M-75
machen, was man mit herkömmlichen Zündern nicht
machen kann?
„Wenn wir das wissen", erklärte Bob Urban seinem im
BND-Hauptquartier, „engt sich der Interessentenkreis
schon stark ein."
„Und die Antwort?"
„Die habe ich noch nicht."
„Woher können wir sie bekommen?"
„Von der Handvoll Bombenexperten, die es außer Dr.
Mathes auf dieser Erde noch gibt."
„Vielleicht ist der Unbekannte an diese Leute mit seinem
Problem herangetreten, hatte aber keinen Erfolg."
„Darauf spekuliere ich."
„Spekulieren Sie nur, oder tun Sie auch etwas?" im
Augenblick laufen Telexe, Funksprüche und
Fernsprechanmeldungen in alle Welt. Nach Australien,
die UdSSR, nach Japan und Amerika."
Der Oberst klemmte sein Monokel vor Aufregung ins
falsche Auge.
„Und worauf warten Sie noch?"
„Ein paar Dinge kann ich leider nicht aus mir machen",
sagte Bob Urban bescheiden, „zum Beispiel einen
Vollidioten oder ein kleines Mädchen. Ich arbeite daran,
aber es klappt noch nicht." „Keiner kann gegen seine
Natur." „Einen Hellseher und einen Blitz", zählte Urban
weiter auf, „habe ich auch noch nicht geschafft. Würden
Sie mir also freundlichst mitteilen, wie es weitergeht.
Wer führt die nächsten Ermittlungen durch? Wer be
arbeitet den Fall?"
Der Oberst machte sein allerunschuldigstes Gesicht.
„Wer hat, der hat", sagte er.
Kleine Fische, dachte Urban. Da steckt nicht mehr dahinter als ein paar verquaste Terroristenaktionen gegen ein "Ministerium, gegen ein Flugzeug oder ein Schiff. Seinem Gefühl nach hatte das Ganze mit der Bundesrepublik Deutschland wenig zu tun. Außerdem war der Umgang mit diesem neuen Zündsystem äußerst kompliziert. Nach Meinung des BNDObertechnikers Professor Stralman würden die Akteure damit hundertprozentig auf die Schnauze fallen. „Diese M-Zünderreihe", sagte Stralman am Telefon, „und den Umgang damit beherrschen noch nicht einmal unsere ausgebildeten Feuerwerker. Diese Dinge sind so kompliziert, daß man sie als Hohe Mathematik der Sprengkunst bezeichnen kann. Wer sich damit nicht profund auskennt, dem fliegen sie schneller um die Ohren, als er bis drei zählt. Für einen laienhaften Bom benbastler bedeutet das den sicheren Selbstmord." „Und wenn sich ein Profi das Ding beschafft?" „Ein Profi baut sich seine Zünder selbst. Der weiß, wo er die nötigen Teile dazu bekommt. Sei es nun für Magnet-, Elektro-, Uhrwerk- oder Säurezünder." „Mal angenommen, ein Profi brauchte diesen M-75 J für einen ganz bestimmten Zweck, für den es noch keine herkömmlichen Zünder gibt?" Der Professor räumte ein, daß dies natürlich möglich sei, aber die Chance stünde wohl eins zu tausend. „Das habe ich mir auch gedacht", erklärte Urban, be dankte sich und legte auf. Die Meinung dieser anerkannten Kapazität beruhigte ihn so sehr, daß er daran dachte, die Gräfin anzurufen. Vielleicht brachte er ein paar Stündchen für sie heraus. Wie war doch ihr Name? Zwei Fernschreiber wurden hereingebracht. Das eine kam aus Brisbane, das längere aus Tokio. Der Australier und der Japaner bedauerten das Ableben ihres
deutschen Kollegen Dr. Mathes. Übereinstimmend drückten sie aus, daß damit ihr Fachgebiet seinen größten Konstrukteur verloren habe. Gleichzeitig bestätigten sie, daß ihre eigenen Entwicklungsarbeiten in eine andere Richtung als der von Mathes bevorzugten zielten und daß die Befürchtungen der NATO gegenstandslos seien. Sie arbeiteten unter strengster Geheimhaltung. Von privater Seite sei niemand jemals an sie herangetreten, was auch schon deshalb unmöglich sei, da sie im stillen und unter Ausschuß der Öffentlichkeit tätig seien. Auf dem grauen Apparat kam die Anmeldung London. Warner Wolfe, den Urban für den größten Bomben experten der MI-6 hielt, war leider nicht erreichbar. Urban sprach mit seinem Assistenten. „Ja, wir haben mit Dr. Mathes zusammengearbeitet", erklärte dieser, nachdem Urban ihn eingeweiht hatte. „Mal war die Zusammenarbeit gut, mal weniger. Ganz wie der große Meister gelaunt war. Aber wenn man unter Druck stand und seinen Rat brauchte, dann ließ er einen nicht hängen. Das war auch so, als dieser Verrückte eine Comet entführte und dann mit dem Fallschirm absprang, weil niemand auf seine Erpressung einging. Die Bombe tickte, und wir wußten nicht, wie man dem Ding beikommen sollte. Damals schaltete sich Dr. Mathes über Funk ein. Dank seiner präzisen Anweisungen gelang es dem Copiloten tatsächlich, den Zünder zu entschärfen. Ja, er war ein großer Künstler, und wenn er wollte, war er sogar ein Genie. Jetzt ist er tot. Nun, sterben müssen wir alle mal. Kontakte in der befürchteten Art hatten wir in letzter Zeit nicht, obwohl natürlich immer Versuche gemacht werden, sei es aus Kreisen anderer Großmächte wie aus Kreisen der Unterwelt, an unsere Geheimnisse ranzukommen. Kann ich sonst etwas für Sie tun, Bob?"
Weil der britische Bombenexperte schon so ergiebig war,
forschte Urban ihn weiter aus. „Sie kennen die Mathes-
Zünder?"
„Ich habe zumindest eine leise Ahnung von ihrem
Prinzip."
„Was kann man damit machen?"
„Alles", kam es durch den langen Draht, „aber natürlich
nur, wenn man den nötigen Durchblick hat. Wie man
hört, traten bei der Miniaturisierung der neuen
Pendelzünder aber Probleme auf, die nicht einmal Ma-
thes voll in den Griff bekam. Ist ja auch kein Wunder.
Ein hängender Stecknadelkopf reagiert auf Lagever-
änderungen träger als ein Bleigewicht von einem Kilo,
wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber um was geht's
denn eigentlich?"
Urban umschrieb es.
„Pläne oder Prototypen vom neuen Mathes-Zünder
gerieten in unbefugte Hände. Da es keine Spuren des
Täters gibt, wir aber Vorkehrungen gegen den Miß-
brauch des Zünders treffen müssen, fragen wir bei allen
Experten herum, ob man eventuell an sie herangetreten
ist."
„Für uns melde ich eine Fehlanzeige", sagte der Eng-
länder. „Fragen Sie doch mal bei den Amis nach."
„Das läuft", versicherte Urban.
„Und im Ostblock. KGB-Moskau verfügt über einige
ganz hervorragende Leute auf diesem Gebiet."
„Moskau hat abgewinkt", sagte Urban.
„Na dann, viel Glück."
Urban löste schon den Hörer vom Ohr, als ihm noch eine
Frage einfiel.
„Wen würden Sie denn in den USA als den kompe
tentesten Mann bezeichnen?"
Der Engländer überlegte kurz.
„Na, diesen irren Burschen, der damals die Höllen
maschine im Pentagon entschärfte. Wie heißt er
doch..."
„Keine Ahnung. Man kann nicht jeden kennen."
„Ich glaube, er ist Sergeant bei den Siebten US-
Pionieren."
„Die liegen in Nordcarolina."
„Na ja, wenn eure Anfrage über die CIA läuft", sagte der
Engländer, „dann drücken die nur rasch mal ihren
Computer, und der spuckt die Antwort schon aus."
„Gewiß", sagte Bob Urban, „hoffentlich."
Bis zum späten Abend fehlte die Stellungnahme der
Amerikaner noch immer. Alle hatten Urbans Anfrage
beantwortet, nur die CIA nicht.
Er jagte seinem ersten Fernschreiben nach Langley noch
ein zweites hinterher.
Gerade als er gehen wollte, rief der Chef an.
„Lage?"
„Es ist ruhig, Großmeister."
„Stille vor dem Sturm."
„Ich würde eher sagen, eine ganz normale Ruhe. Auf
dem Terroristensektor rührt sich gar nichts."
„Vielleicht ging es dem Mörder von Dr. Mathes doch nur
um die fünfundzwanzigtausend D-Mark, und den Zünder
hat er weggeschmissen."
„Schön war's."
„Dann gute Nacht."
Urban verließ die Operationsabteilung, holte seinen
Wagen vom Parkplatz und fuhr nach München hinein.
*
Jetzt, um 22 Uhr, herrschte auffallend wenig Verkehr. Oder kam ihm das nach der Hetze der letzten Tage nur so vor?
Als er die Wolfratshausener Straße hereinkam, fuhr er nicht geradeaus nach Schwabing hinüber, sondern bog ab, überquerte das Isartal und befand sich plötzlich in Bogenhausen. Sein BMW verhielt sich wie ein guter Gaul, der genau wußte, wo es den Reiter hinzog. Unter der Ampel vor der Lützenberg-Villa stellte Urban den Motor ab, ging die Stufen hinauf und läutete. Die Dame des Hauses öffnete persönlich. Sie trug einen sehr engen Hausanzug aus schwarzer Chinaseide, freute sich angeblich, ihn zu sehen und machte ihm einen Drink. „Anstatt", sagte sie, als sie ihm das eiskalte beschlagene Glas reichte. „Anstatt was?" fragte er vorsichtig. „Ich habe leider Kopfschmerzen." „Schade", sagte er. „Zahnschmerzen pflegen bei der Liebe zu vergehen, aber Kopfschmerzen ..." Sie nahm ihn beim Arm und führte ihn in den Keller. Im Basement des weiträumigen Hauses öffnete sie eine Stahltür. In einem hundert Quadratmeter großen Raum flammten Neonröhren an und beleuchteten ihn taghell. „Als Ersatz", sagte sie und deutete auf die allergrößte Spielzeugeisenbahn, die Urban je gesehen hatte. Mit Ausnahme eines schmalen Ganges zum Schaltpult bestand der ganze Raum nur aus Schienensträngen, Städten, Land, Gebirge, Seen und Meer, aus Auto straßen, Rangierbahnhöfen, Brücken und Tunnels. Der Atem stockte ihm. „Das ist ja die phantastischste naturgetreue Eisenbahn der Welt", bemerkte er. „Nur Europas", schränkte die Gräfin ein. „In Texas gibt es eine, die ist dreimal so groß. Mein Mann, der
Spielzeugfabrikant, Gott hab ihn selig, wollte sie noch
erweitern, aber der Infarkt raffte ihn dahin." Urban zählte
die Züge. Beim zweiten Dutzend hörte er auf und nahm
im Drehsessel Platz. Die Gräfin schob sich auf die
Lehne.
„Das ist der Hauptschalter."
Er zögerte.
„Ich muß erst noch mal telefonieren." Sie hob den Hörer
ab und reichte ihn herum.
Urban drückte die Hauptquartiernummer in die Tastatur,
„Bin zu erreichen unter ...", sagte er und nannte die
Nummer des Anschlusses. „Hat sich Washington ge
meldet?"
„Sie haben gerade was durchgetickert. Kein Kontakt.
Fehlanzeige."
Erleichtert legte Urban auf.
Es sah wirklich aus, als ziehe der Tod von Dr. Mathes
keine schlimmen Folgen nach sich.
Zufrieden nahm er einen Schluck Whisky-Tonic, schlang
seinen rechten Arm um die schmale Taille der
Lützenberg und drückte links die Knöpfe. Der Rhein
gold-Expreß begann loszurauschen, raste von Frankfurt
nach Köln.
Gleichzeitig setzten sich noch zehn andere Züge in Fahrt.
Urban kam ins Schwitzen.
Irgendwann fühlte er die kühle Hand der Gräfin an
seinem Nacken. „Bob", sagte sie.
„Ja."
„Ich heiße übrigens Mary-Antoinette."
„Ich weiß, Mary-Antoinette", log er. Ihre Hand begann
seinen Schlips zu lockern. Sie öffnete den obersten
Hemdknopf. Erst den, dann den nächsten und glitt
hinein.
„Bob", flüsterte sie und duftete, und ihr Busen schim-
merte rosa aus der Seide.
„Was ist Mary-Antoinette?"
„Ich habe eine Kopfschmerztablette genommen", sagte
sie.
5.
Offiziell weilte Mister Ali Adschman zwecks Generalinspektion seines Körpers in der Schweiz. Da ihm vor Jahren in Genf der Blindarm erfolgreich entfernt worden war, fand es alle Welt ganz natürlich, daß er wieder Professor Bergmann aufsuchte. Der Termin für die Untersuchung war ein Donnerstag. Ab zehn Uhr morgens stand das Ärzteteam bereit. Der mächtige Araber hatte zwei Bedingungen gestellt. Auf seine Leibwächter wollte er nicht verziehten, und in der Nähe der Untersuchungsräume mußte eine abhörsichere Telefonzelle für ihn bereitgehalten werden. Da Pünktlichkeit zum ersten von Adschmans Ge schäftsprinzipien gehörte, rollte der blaue Rolls, ein nagelneuer Camargue, auf die Minute bei der Klinik vor. Um 10 Uhr 15 begann der erste Spezialist mit der Untersuchung an Kopf und Hals. Er leuchtete mit einer kleinen Lampe in Adschmans Mundhöhle und drückte mit dem Spatel auf die Zunge, damit sie ihm nicht die Sicht versperrte. So prüfte er Form und Farbe der Mandeln, die Mundschleimhaut, Zunge, Zahnfleisch und Zähne. Danach kamen Augen und Ohren an die Reihe. Eine trichterförmige Lampe wurde in den Gehörgang Adsch mans eingeführt. Jetzt sah der Arzt das Trommelfell und beobachtete eine beginnende Verhärtung. Als nächstes stellte er mit dem Augenspiegel fest, ob sich
Augenhintergrund krankhafte Veränderungen zeigten,
die auf zu hohen Blutdruck oder Diabetes hindeuteten.
„Ohne Befund", notierte er.
Hier wurde Ali Adschman zum erstenmal abberufen. Ein
Leibwächter flüsterte ihm im Vorzimmer zu, daß der
Mann, um den es ging, binnen kurzem melden würde.
*
Der Arzt horchte mit dem Stethoskop Adschmans Herz ab, ehe er ihn an den Elektrokardiographen anschloß. Die Aufzeichnungen des Gerätes ließen auf den Zustand der Herzklappen und des Herzmuskels schließen. Außerdem konnte man erkennen, ob das Herz in regelmäßigem Rhythmus arbeitete. Nun war der Kreislauf an der Reihe. Der Puls des Arabers wurde gefühlt, der Blutdruck gemessen. Erst in Ruhe, dann unter Belastung. Nur so war zu erkennen, wie der Kreislauf bei Beanspruchung reagierte, und wie schnell sich der Normalzustand einstellte. Der Blutdruck war leicht erhöht, aber nicht bedenklich. Durchleuchtungsraum. Die Lunge erschien im Rönt genbild. Festgestellte Atemgeräusche zeigten jedoch keine Veränderungen im Brustraum. Ein Leibwächter erschien. Adschman ging, den schwarzbehaarten Körper nur mit einem Handtuch bedeckt, in die Telefonkabine. „Ja", meldete er sich. „Hier Boris Schuwareck", wurde ihm englisch geant wortet. „Ich habe alles arrangiert, Exzellenz. Das Ge spräch kann stattfinden. Der Partner wartet abrufbe freit." „Wann und wo?" fragte Adschman.
„Dies macht noch erhebliche Schwierigkeiten", erklärte
der Russe. „Unser Geheimdienst hat festgestellt, daß die
Observation äußerst stark ist. Sie werden beschattet, ich
werde beschattet. Und natürlich auch unser geheimer
Partner."
„Kann man das nicht abstellen?"
Der Russe bedauerte.
„Wir sind leider nicht in Moskau, Exzellenz, und auch
nicht in Riad. Wir sind in Genf und verfügen hier über
keinerlei Vorrechte. Haben Sie spezielle Wünsche in
Bezug auf den Konferenzort, Exzellenz?"
„Nein", erklärte Adschman, mit einer Hand das Tuch um
die Hüfte haltend.
„Wie wäre es in Ihrem Privatjet?"
„Unmöglich, den kennt jeder Reporter."
„Wir dachten schon an eine Jachtreise auf dem See. Aber
der See ist nicht groß genug. Die Ufer sind so nahe, daß
jederzeit mit Teleobjektiven fotografiert werden kann.
Auch läßt sich der Motorbootverkehr nicht einstellen.
Wir würden also belauscht werden."
„Sie werden schon einen Einfall haben", sagte der
Araber. „Wann höre ich wieder von Ihnen?"
„Ich weiß, wie ich Sie erreichen kann, Exzellenz", sagte
der Russe. „Es wird wohl bei der ursprünglich von uns
ins Auge gefaßten Lösung bleiben müssen."
„Wenn es nicht anders geht, meinetwegen."
In der Zelle war es heiß. Adschman atmete auf, als er sie
verließ.
*
Magen, Darm und die anderen Organe in Bauchhöhle und Unterleib wurden auf Größe und Schmerzemp findlichkeit abgetastet. So ließ sich feststellen, ob etwa die Galle oder der Darm entzündet, ob die Leber zu groß oder zu hart war.
Die Nerven wurden getestet. Ein Schlag mit dem Gummihammer löste den Kniereflex aus. Aus diesen und anderen Reaktionen erkannte der Arzt, daß sich im Nervensystem des Arabers nichts zu dessen Nachteil verändert hatte. Ähnliche Reflexe am Fuß, am Oberschenkel, Bauch und Arm bestätigen die Diagnose. Gleichzeitig erfolgte eine Untersuchung von Muskeln und Gelenken. Mitten in der Blutuntersuchung rief der Russe wieder an. Der Arzt entnahm der Vene des Arabers noch etwas Blut und füllte es in ein Reagenzglas. Während im Labor beobachtet wurde, wie die festen Bestandteile des Blutes absanken, was auf Infektionen im Körper oder entzündliche Veränderungen hindeute, telefonierte Adschman schon wieder. „Ein Salonwagen steht bereit", meldete Boris Schuwareck. „Die Schweizerische Staatsbahn stellt ihn zur Verfügung. Der Wagen hat Salon, Bar, Schlafräume, Küche und Bäder. Alles vollklimatisiert. Außerdem hat er gepanzerte Wände, kugelfeste Glasscheiben und alle nur denkbaren Sicherheitsanlagen." „Ich fahre gern mit der Eisenbahn", erklärte Adschman. „Außerdem lassen sich Salonwagen hervorragend abschirmen, Exzellenz." „Dann bleibt es also dabei." „Die ersten Ideen sind immer die besten Ideen, Exzel lenz." „Aber wie läßt sich unsere Reisekonferenz unauffällig arrangieren?" „Ganz einfach, Exzellenz", sagte der Russe. „Wir be steigen den Waggon außerhalb des Bahnhofsgeländes in der Halle des Bahnbetriebswerks. Beim Lokwechsel wird er einfach mit der Lok vor den Expreß gehängt." „Und die Reiseroute?" wollte Adschman wissen.
„Lyon-Marseille-Cote d'Azur, dann Genua-Mailand-
München zurück nach Genf."
„Hört sich gut an. Dauer der Fahrt?"
„Rund sechsunddreißig Stunden."
„In dieser Zeit kann man viel besprechen. Da kann man
sich zusammenraufen und auseinanderreden."
„Unser Partner ist mit dem Arrangement ebenfalls
einverstanden", fügte der Sonderbeauftragte UdSSR
noch hinzu.
„Und wann soll das Ganze stattfinden?"
„Wann paßt es Ihnen, Exzellenz?"
„Bringen wir es hinter uns", meinte der Araber „gleich
nächste Woche."
„Ich melde mich wieder", sagte der Russe.
*
Mit Hilfe des sogenannten Blutbildes errechnete man die
Zahl der roten und weißen Blutkörperchen, woraus sich
die Menge des Blutfarbstoffes ergab.
Nach weiteren Untersuchungen nahm der Arzt den
Araber beiseite und machte ihm eine betrübliche
Eröffnung.
„Die Wassermannsche Reaktion war leider positiv
Exzellenz", sagte er.
„Was bedeutet das?"
„Hatten Sie jemals eine venerische Krankheit?"
„Was ist das schon wieder?"
Der Arzt formulierte es jetzt brutal.
„Lues", sagte er, „Syphilis."
Den Araber ließ das kalt.
„Kann schon sein. Wissen Sie, woher ich komme? Aus
den Slums von Abadan. Kennen Sie arabische Armen-
viertel? Sind Sie je dort gewesen?"
„Nein, Exzellenz", erklärte der Arzt, „aber die Sache ist
kein Problem. Sie bekommen Tabletten. Mit ein
paar Millionen Einheiten Penicillin ist alles ausgestan den." Adschman fragte nur, ob Syphilis Auswirkungen auf den Geschlechtstrieb habe. Der Arzt verneinte. „Dann bin ich beruhigt", sagte der Mann, der zu Hause den bestbestückten Harem des Orients unterhielt. Der Urin wurde auf die Bestandteile, besonders auf Zucker und Eiweiß untersucht. Da kein Verdacht bestand, daß ein bestimmtes Organ erkrankt war, verzichtete das Labor auf weitere Untersuchungen. Bis 14 Uhr war die Testperson durch fast alle Mühlen gedreht worden. Wieder unterbrach Adschmans Sekretär die Unter suchung. „Die Botschaft der Sowjetunion, Exzellenz." „Was ist denn schon wieder?" „Ob Ihnen Dienstag nächster Woche genehm ist." „Okay, genehm", knurrte Adschman kurz. „Zum Teufel, ich möchte jetzt meine Ruhe haben. Rufen Sie den Wagen. Ich bin fertig hier." Mister Ali Adschman schluckte die erste von vielen Peninicillintabletten gegen seine Lues mit lauwarmem Wasser. Seine Leibwächter halfen ihm in die Panzerweste. Er trug sie stets, wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigte. Dann erfolgten einige Kontrollgespräche über die Handfunkgeräte. Die Luft war rein, der Wagen stand unten am Portal. Einer der reichsten Männer der Welt verließ die Klinik von Professor Bergmann. Seine Leibwächter deckten ihn mit ihren Körpern ab. Ihre Hände hatten sie in der Nähe der Smith-&- Wesson-Revolver. Wer auch immer in diese 9-Millimeter-Rohre schaute, bei dem lief sowieso nichts mehr, ehe er auch nur einen Finger gegen Ali Adschman krümmte.
6.
Schon oft hatte man den Zement angerührt, um ihn darin einzugießen. Immer wieder war Bob Urban dem Tod entwischt. Aber diesmal sah es ganz und gar nicht aus, als lauere irgendwo auch nur ein Hauch von Gefahr. Immer noch war alles ruhig und friedlich. Selbst den Grund, weshalb er heute seinen BMW nach Süden drosch, nahm Urban nicht ganz ernst. Er hielt den Hinweis für ein Gerücht und folgte ihm lediglich deshalb, weil es außer ihm so gut wie gar keine Spuren gab. Auf der italienischen Autobahn, halbwegs zwischen Verona und Mailand, wurde er schläfrig. Die Hitze war daran schuld und auch der Umstand, daß er nur vier Stunden geschlafen hatte. Nahe der Ausfahrt Brescia überspannte ein Restaurant in brückenartigem Bogen die Autostrada. Urban hielt an und genehmigte sich einen doppelten Espresso. Zur Erhöhung der Wirkung kippte er einen Grappa dazu. Der Duft des Alkohols, der sich über dem Kaffee entwickelte, erinnerte ihn an das Casino im BNDHauptquartier, wo sie immer Mokka mit Cognac tranken, wenn sie an einem toten Punkt angelangt waren.
*
So einen toten Punkt hatte er heute morgen gehabt, als ihn dieser Anruf erreichte. Er kam aus den USA, aber nicht von der Central In telligence Agency, sondern von einem Mann, der beim Aussprechen seines Namens ein wenig gestottert, zu mindest aber gezögert hatte. Der Name war bestimmt falsch gewesen. Trotzdem wußte dieser Mann über Ge heimdienstangelegenheiten erstaunlich gut Bescheid.
„Ich spreche mit Mister Dynamit?" fragte er, nachdem die Telefonzentrale durchgesteckt hatte. „Mein Name ist Robert Urban." „Das ist wohl ein und dasselbe", lautete die Erwiderung. „Ich möchte Ihnen einen Tip geben. Falls Sie der Mann sind, der diesen Bombenexperten sucht, werden Sie etwas damit anzufangen wissen. Wenn nicht, dann Vergessen Sie es." „Was?" fragte Urban. „Daß man Sie belog." Bei diesem Punkt war sein innerer Prozeßrechner »gesprungen. Wer hatte ihn belogen? Der Unbekannte telefonierte aus Washington. Vermutlich wußte er, daß Urban wegen eines Bombenexperten bei der CIA nachgefragt hatte. Die CIA hatte „Fehlanzeige" gemeldet, außer dieser Antwort war keine aus den USA eingelaufen. Wenn der Anrufer also von einer Lüge sprach, konnte er sich damit nur auf die amtliche Auskunft der CIA beziehen. „Und wie lautet die Wahrheit?" fragte Urban, sämtliche Zwischenstufen überspringend. „Es gibt einen Mann, der in Frage kommt." „Wofür?" Hierauf erhielt Urban keine befriedigende Antwort. Leider mußte er mit dem, was ihm aus freien Stücken mitgeteilt wurde, zufrieden sein. Er konnte keine For derungen stellen. „Bei den 7. Pionieren der US-Army in Fort Bragg, North Carolina", fuhr der Anrufer fort, „diente ein Sergeant namens Roan F. Edwards. Gegen Edwards wurde im vergangenen Monat wegen undurchsichtiger Machenschaften mit Army-Eigentum ein Verfahren eröffnet. Auf Grund seiner Verdienste schlug man das Verfahren nieder. Roan F. Edwards schied freiwillig aus der Army aus. Er verließ die USA und begab sich nach Europa."
„Keine außergewöhnliche Geschichte", sagte Urban „Das kommt doch alle Tage vor, daß einer seinen Dienst quittiert." Die Stimme klang jetzt ein wenig gereizt, als sie fort fuhr: „Roan F. Edwards ist nicht irgendeiner. Mit ihr verliert die US-Army ihren Spitzenfeuerwerker. Es gibt überhaupt nichts auf dem Gebiet von Bombenzündern, der Entschärfung und Konstruktion, wie der Anwendung von Sprengstoffen überhaupt, was Edwards nicht beherrscht. Auf diesem Sektor kann ihm keiner das Wasser reichen. Er war sogar Gastdozent an Offiziersakademie in West Point. Das will was heißen, für einen Sergeant. So einen Mann läßt man doch nicht einfach gehen." „Es gibt Grenzen", antwortete Urban und versuchte mehr aus dem Anrufer herauszuholen. „Was warf man ihm denn vor?" „Ein dubiose Sache mit Soldgeldern. Ich möchte nicht darüber sprechen, Sir." „Was vermuten Sie?" „Gar nichts. Ich weiß nur, daß der Fall nie restlos aufgeklärt wurde. Das Geld war einfach verschwunden. Es sieht aus, als hätte man Edwards absichtlich etwas in die Schuhe geschoben." „Um ihn loszuwerden", fragte Urban, „wenn man ihr gar nicht loswerden wollte?" „Das ist ja das Rätselhafte daran. Die Sache hat Hin tergründe, Sir. Da hat jemand heimlich an bestimmten Schrauben gedreht." Statt Klarheit zu bekommen, wurde die Geschichte immer undurchsichtiger. Urban versuchte es nun anders herum. „Woher beziehen Sie diese Information, Mister ..." „Es kostete mich Mühe, an sie heranzukommen. Aber ich habe Gründe, gewissen Vorgänge im Keim zu ersticken."
„Die im Zusammenhang mit Roan Edwards Reise nach Europa stehen", tippte Urban. „Richtig. Vergessen wir nicht, daß er einer der her vorragendsten Experten für Bomben ist. Oder verstehen Sie das Wort Höllenmaschinen besser?" „Was glauben Sie, daß er vorhaben könnte?" „Wo Edwards ist, da macht es irgendwo einmal bumm." Urban fiel ein, was der Engländer von MI-6 angedeutet hatte und versuchte es in das Puzzle einzusetzen. Angenommen, Edwards hatte sich den allerneuesten Dreh auf diesem Gebiet bei Dr. Mathes besorgt, was führte er damit im Schilde? Was konnte ein Mann, der aus der Army ausgeschieden war, vorhaben? Ging es ihm um Erpressung mit Bomben, um Geld? Oder war das Motiv Rache? Und gegen wen richtete sich sein An chlag? Das alles konnte ebensogut eine heiße Spur wie pures Casinogeschwätz sein. „Na schön", antwortete er dem Informanten, „und wo finde ich Roan F. Edwards?" „Wo gehen solche Schweinehunde schon hin", lautete die recht gehässige Antwort. „Die finden Sie immer nur an den schönsten Plätzen der Welt. Suchen Sie mal an der Riviera, Sir." „Die ist groß." „Kennen Sie Antibes? Notieren Sie sich folgende Telefonnummer ..." Der Mann in Washington sprach rasch fünf Ziffern durch, wiederholte und verbesserte sich. „Haben Sie?" „Ja, danke", sagte Urban. „Noch eine Frage. Kennen Sie Edwards? Wenn ja, bitte ich um eine kurze Be schreibung.“ Da lachte der Anrufer.
„Nein, ich kenne ihn nicht. Es sind auch keine persönlichen Gründe, aus denen heraus ich Sie gegen ihn hetzte. Ich bin auch gar nicht sicher, ob er einen großer Coup vorhat. Vielleicht liegt er nur im Sand, läßt sich die Sonne auf den Bauch scheinen und qualmt dicke Zigarren zu kühlen Drinks. Wie gesagt, das wäre möglich. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß er aktiv wird, ist erheblich größer. Und wenn er aktiv wird, kennen wir die Richtung. Ich betone, wir kennen die Richtung aber nicht Ort, Zeit und Art. Doch wenn er zuschlägt; wird es tödlich sein. Das erfordert schon das Interesse der Weltpolitik." „Mister", bemerkte Urban, überrascht von der Dimension, zu der sich die Sache aufschaukelte, „über treiben Sie da auch nicht?" „Ich bin kein Irrer", versicherte der Amerikaner. „Alles, aber kein Irrer, mein Freund." Damit hängte er auf. An dieses Gespräch im BND-Hauptquartier vor zehn Stunden mußte Bob Urban denken, als er den Espresso mit Grappa schlürfte. Das Zeug war heiß und belebte schon mit dem ersten Schluck.. * Trotz septemberlich leerer Autobahnen erreichte Urban Antibes an der französischen Riviera erst in den Abendstunden. Die Adresse hatte er. Dank der Hinweise des Amerikaners war es nicht schwer gewesen, das Haus, in der das Telefon stand, zu ermitteln. Nur an einem Punkt grübelte Urban immer noch herum, während er die Autobahn verließ, um auf der engen Serpentinen zur Küste hinabzufahren. Warum hatte der Mann in Washington ausgerechnet ihn angerufen?
Wenn er, oder seine Gruppe Interesse daran hatte, Roan F. Edwards an der Ausführung gewisser Pläne zu hindern, lag doch viel näher, daß sie das selbst in die Hände nahmen. Die Antwort konnte also nur lauten: Roan F. Edwards war gar nicht mehr in Antibes. Um ihn in Europa ausfindig zu machen, brauchte man einen schlagkräftigen Apparat, über den nur Polizei oder Geheimdienste verfügten. Weiter: Der Mann aus Washington hatte sich an den gewandt. Also wußte er, daß der deutsche Geheimdienst an dem Fall Dr. Mathes arbeitete. Solche Informationen konnten sich Zivilisten gewöhnlich nicht beschaffen. Der Anrufer gehörte also mindestens CIA- oder Pentagonkreisen an. In Antibes bemerkte Urban, daß er sich verfahren hatte. Er wendete den BMW, unterquerte wieder die Bahnlinie und rollte bergwärts in ein Viertel mit vereinzelt stehenden, älteren Landhäusern. An vielen Türen hingen Schilder: Zu vermieten. Er kam an eine Mauer, von der der Putz bröckelte. Mit weißer Farbe war die Nummer neben das Tor gepinselt. Das Tor stand handbreit offen. Urban drückte den BMW so nahe an die Mauer heran, daß er rechts aussteigen mußte. Im Garten hinter der Mauer wucherte Gras und Unkraut zu einem dicken grünbraunen Filz. Vor dem Haus standen ein paar Apfelbäume und ein paar Olivenbäume. Die Äpfel glänzten rot. Niemand pflückte sie. Die Oliven waren noch nicht ganz reif. Er blieb stehen, steckte sich eine MC an. Der Rauch verwehte in der Abendbrise, die von den Bergen ins Tal fiel. Drunten donnerte ein Zug vorbei. Der Länge nach zu urteilen ein Güterzug. Mittlerweile stand die Sonne schon so tief, daß sie keinen Schatten mehr warf. Urban hatte genug gesehen, gerochen und gehört. Er
trat die Kippe in den Kies und ging auf das Haus zu. Die seitliche Tür, die er anvisierte, eine schmale französische, doppelflügelig und verglast, war unversperrt. Im Haus drinnen war es dunkel. Die Jalousien ließen nicht einmal Dämmerlicht herein. Seine Hand tastete zum Lichtschalter und knipst ihn an. Aber das Ergebnis war gleich Null. Deshalb riß er ein Streichholz an. Er hielt es hoch, um Überblick zu bekommen und etwas von sich weg, um kein Ziel zu bieten. Im Kamin lag frische Asche, davor zusammengeknülltes Papier. „Hallo", rief er, „Madame, Monsieur!" Niemand gab Antwort, nichts rührte sich. Urban ging um den Tisch herum zum Kamin. Vielleicht läßt sich ein Feuer machen, dachte er, wenn die Stromrechnung schon nicht bezahlt wurde. Im Schein des nächsten Streichholzes suchte er Papier zusammen. Es war gelbes festes Papier. Blätter aus einem Buch. Kein Roman. Was er las, sah nach einem Fahrplan aus. Nach einem Eisenbahnfahrplan. Er näherte die Streichholzflamme dem Papier. Da vernahm er das schlurfende Geräusch. Es war nicht nah, aber auch nicht allzu fern. Bei der Tür zur Nebenraum bewegte sich etwas. Und schon fiel der Schuß. Er sah den züngelnden Mündungsblitz und duckte instinktiv weg, obwohl es dafür immer zu spät war. So eine Kugel flog fast schallschnell. Während er sich zu Boden warf, löschte er das Streichholz. Vielleicht gingen deshalb die nächsten Kugeln zu hoch. Er rollte nach links unter den Tisch. So eine Tischplatte als Schild war immer besser als nichts. Doch der Gegner war einer der mitdenken konnte. Der Tisch wurde umgestoßen. Etwas warf sich auf Urban,
saß auf seinem Rücken und krallte sich an ihm fest. Er versuchte, sich dem Griff zu entziehen. Es gelang ihm auch, aber dann erwischte es ihn voll. Der Gegner hatte seine Kräfte durch die rohe Härte eines Knüppels vervielfacht. Urban taumelte durch den Fußboden in den Keller, in die Erde und jenseits der Erdkruste in die tiefschwarze Weite des Weltraums. Verdammt, das saß, dachte er, das hat man davon, wenn man ungeladen abends fremde Leute besucht.
*
Er erwachte von einem nassen Lappen, den ihm jemand ins Gesicht schlug. Die Lampe brannte jetzt. Der Lappen wurde wieder genäßt und ihm tropfend auf die Stirn geknallt. „Sorry", sagte eine Frauenstimme. Er öffnete die Augen. Über die Wellen von abflauendem Kopfschmerz hinweg sah er das Gesicht. Es wurde deutlich, als stelle sich eine Linse langsam auf Nah schärfe. „Hallo", murmelte er. „Du bist der Falsche", sagte das dunkelhaarige Mädchen. „Du auch", antwortete er noch mühsam. „Dachte, ich kriege den Sergeant." „Dachte ich auch mal. Aber der Hund ist längst um die Ecke. Sorry, nachts sind eben alle Katzen grau. Mein Name ist Serafine Campbell." „Schon gut. Hast du einen Schnaps?" Er bekam ein Glas Fundador. Er trank in kleinen Schlucken, richtete sich auf, steckte sich eine Zigarette an, drückte sie aber rasch wieder aus. „Erzähl", sagte er zurücksinkend.
„Zuerst du." „Da gibt es nicht viel. German-Geheimdienst, Madam. Wir suchen ihn." „Bei mir gibt's auch nicht viel", verfiel sie in seine Tonart, „American-Girl, ich suche ihn auch. Hat mir die Ehe versprochen, der Hundesohn. Wird nichts draus. Aber Sühne muß sein." Ihr Mitteilungsbedürfnis war so groß wie ihr Haß. Sie erzählte Urban, was vorgefallen war, daß sie Roan nachgereist war, daß sie ihn in Cannes gesehen hatte, und daß sie ihm gefolgt war. Leider brach die Spur ab. Als sie sie nach Tagen zusammengeknüpft hatte, war er verduftet. Dabei ging sie hin und her, biß von einer Stange Weißbrot herunter und schnitt sich von einer Wurst dicke Scheiben. In ihrer Wut auf Roan Edwards wirkte sie hübsch und gut durchblutet wie eine gesunde junge Bäuerin. „Erzähl‘ mir mehr von ihm", bat Urban, als sie Wein eingoß und trank. „Ach, zum Teufel, warum? Er ist wie alle Männer. Erst versprechen sie einem 'nen grünen Affen, um ans Ziel zu kommen, und dann ab nach Timbuktu. Ich habe zusammengekratzt, was ich bekommen konnte. Vor schuß genommen. Sparbuch und Oma ausgeplündert. Jetzt bin ich hier, und dieser Idiot ist wieder weg. Nur ein halber Yard fehlte. Ich schwör's, es war nicht mehr als ein halber Yard." „Und warum verließ Roan die Armee?" „Da war angeblich was mit einem Safe, den er auf machen mußte, weil das Schloß nicht mehr ging. Er sprengte ihn, und als der Rauch verflogen war, fehlten hunderttausend Dollar. Ich freß 'nen Besen, Edwards hat auch vorher am Schlüssel rumgefeilt." „Ein fixer Junge, dein Roan", bemerkte Urban. „Ist nicht mehr mein Roan", sprudelte es aus ihr wie
aus einem kochenden Wassertopf, „aber fix, das stimmt.
Es gibt keinen, der sich so rücksichtslos nach oben
prügelt, wie er. Als er bei der Army anfing, war er ein
guter Feinmechaniker. Im übrigen aber ein kleines Licht.
In seiner Laufbahn zahlte er für miese Erfahrungen mehr
Lehrgeld, als ein Minister im Jahr verdient. Aber er
vergaß nie einen Fehler, den er mal machte. Und wer
kriegt das schon fertig. Das ist seine Größe und seine
Stärke."
„Man hört, er hat allerhand auf dem Kasten", sagte
Urban und feuerte sie damit nur noch an.
„Und das in jeder Beziehung", höhnte das Girl mit den
hübschen langen Beinen. „Von Kunst versteht er zwar
nichts, da würde er einer Picasso-Grafik 'nen Tizian
vorziehen, nur weil der aus Öl ist und 'nen besseren
Heizwert hat, aber sonst ist er Klasse, einsame Spitze.
Ein richtiger Lump - und was für einer. Jeder fällt auf ihn
rein. Du glaubst ihm alles, du läßt ihn ran, und dann tritt
er dir aus Freundlichkeit noch in den Hintern."
„Manche mögen das."
„Aber nicht, wenn du vor lauter Schwung 'nen Abhang
runtersegelst, und den Hals dabei brichst, Mann."
„Oder das Herz", ergänzte Urban.
Sie stand vor ihm, kauend, ein Stück Käse in der Hand,
und tat abgebrüht.
„Herz, pah! Das ist vorbei. Ich will nur noch eins, ich
will ihn am Boden sehen."
„Das kannst du haben", sagte Urban. „Ich will ihn auch."
Da fing sie ganz unerwartet zu lachen an, gellend wie
eine Sonntagskirchenglocke.
„Den schaffst du nie, Sonnyboy."
„Mal sehen. Vielleicht, wenn du mir hilfst."
„Ich bin dabei. Trotzdem kriegst du Roan nie." Sie
schnippte mit den Fingern. „Der hat das Glück am Hals,
verstehst du, so wie an anderen das Pech klebt. Der fällt
immer auf die Füße. Der tritt in 'nen Haufen Scheiße,
macht zwei Schritte und hat Gold am Absatz. Gegen den
kommst du nicht auf, Junge."
„Ich muß es trotzdem versuchen. Ist mein Job."
„Was wirft man ihm vor?"
„Spielerei mit feuergefährlichen Stoffen", deutete er an.
„Das alte Lied", sagte Serafine. „In dem Punkt ist er
jedem über, Babyface, auch dir."
Jetzt wußte er endlich, woran es lag, daß sie ihm nicht
zutraute, mit Roan fertig zu werden. Es war sein
ebenmäßiges Gesicht, das sanfte Clark-Gable-Grinsen in
seinen Zügen, die Tatsache, daß er noch zwei Augen,
sein gerades Nasenbein und keine Blumenkohlohren
hatte.
Er hätte das Hemd aufknöpfen und ihr ein paar Narben
zeigen können, aber vielleicht hätte sie das falsch
verstanden.
„Er fuhr 'nen alten Peugeot", sagte sie, „und hinterm
Haus muß ein Trailer gestanden haben."
„Ich sah die Spuren, Breiter Radstand, eine Achse."
„Und was ganz neu ist an Roan, er befaßte sich mit
Eisenbahnen."
„Richtig. Im Kamin fand ich Fetzen eines Fahrplanes."
Sie runzelte deutlich die Stirn.
„In der Sekunde, die ich dir Zeit ließ, hast du das ge
sehen?"
Er nickte und brach sich auch einen Kanten von dem
Käse ab.
„Vor dir muß man sich ja hüten."
Wenn sie wütend war, wurde ihr Kinn spitz, und der
Mund zog sich verächtlich herab.
Urban stand auf. Taumelig kam er auf die Füße, hielt
sich am Stuhl fest und gab sich einen Ruck.
„Für jeden von uns", sagte er, „springt etwas dabei raus.
Jeder bekommt seinen Teil von ihm ab. Also machen wir
uns auf die Socken, Madam."
„He, jetzt trennen sich die Männer von den Boys", rief
Serafine. „Aber merk' dir eines, German, mit Bumsen ist
bei mir nix drin. Mit Liebe und so."
,Klar", sagte er, „Liebe buchstabiert sich mit R wie Roan
und E wie Edwards."
7.
In der Mittagszeit lag der Golfplatz von St. Julien am Genfer See recht verlassen da. Am Swimmingpool, oben beim Clubhaus rekelten sich ein paar Damen, und im Schatten der Kastanien faulenzte ein arbeitsloser Caddie. Punkt 13 Uhr schlenderten zwei Herren über den Rasen. Der eine trug eine viel zu weite Hose. Das hervor stechende Merkmal des anderen war sein schwarzer Bart und die dicke Hornbrille. Da der Russe nicht arabisch sprach und der Araber kein Wort russisch, verständigten sie sich englisch. Ihre breiten Stimmen trug der Wind weit. Am vierten Loch blieben sie stehen und schauten sich erst einmal um. Die Luft war rein. Jetzt konnten sie endlich offen miteinander sprechen. Sie taten dies in stark gemäßigter Lautstärke. „Alles schön und gut", sagte der Araber. „Ich bin im Praktischen ein Optimist, vom Intellekt her aber Pessi mist. Ich glaube nicht recht an Wunder." Der Russe stützte sich auf seinen Golfschläger und nickte mehrmals. „Ich weiß, El-Said", sagte er. „Sie haben eine Reihe schlechter Erfahrungen gemacht. Es lag daran, daß Sie es immer mit inkompetenten Leuten zu tun hatten, die
Sie und Ihre Organisation letzten Endes im Stich ließen. Aber glauben Sie mir, auch uns beschäftigt Ihr Problem sehr. Deshalb versuchen wir das Treffen mit Adschman zu arrangieren. Adschman ist Finanzberater der VAR. Wenn Sie sich mit ihm einigen, fließen die Gelder, die Sie brauchen, um Ihren Kampf zu Ende zu führen. Diese leidige Palästinenserfrage muß endlich gelöst werden." „So oder so", sagte der Mann mit dem Bart, der so dicht war, daß er keinen zusammenhängenden Eindruck über die Züge des Gesichts entstehen ließ. Unter Bart und Brille verstand sich El-Said prächtig zu tarnen. Der Russe puttete den Ball, der Araber folgte ihm. „An welche Summe hatten Sie denn gedacht?" fragte der Russe. „Was ist eine Milliarde Dollar", erklärte der Araber „Im Krieg ist das nichts. Das ballert die israelische Armee in drei Tagen durch die Rohre." „Das wissen wir, und das weiß auch Adschman." „Na großartig, dann erspart mir das stundenlange Referate über Kosten, Preise, Finanzierung et cetera." „Ein Referat über Strategie und Taktik wird Adschman allerdings von Ihnen verlangen." „Das", sagte der Araber und legte sich nun ebenfalls seinen Ball zurecht, „das kann er haben." Er holte aus, aber der Russe unterbrach ihn mitten im Schwung. „Es bleibt also dabei." „Von mir aus ja." „Dienstag." „Ich werde zur Stelle sein." „Die Schweizer Staatsbahnen kuppeln einen Salon wagen an den Basel-Lyon-Expreß", sagte der Russe „Wir werden schon im Wagen sein, wenn er bei Lokwechsel auf den Expreß rangiert wird. Das Ganze läuft
absolut unauffällig ab. Die Schweizer sind auf solche
Arrangements eingerichtet."
„Ich verlasse mich ganz auf Sie", betonte der Araber.
„Ich hole Sie kurz vor 15 Uhr in Ihrem Hotel ab. Jeder
beschränkt sich auf die Mitnahme von drei Begleitern.
Adschman kommt mit seinem Sekretär und zwei Leib
wächtern."
„Dann komme ich auch mit einem Sekretär und zwei
Leibwächtern."
„Das Personal für den Fernschreiber, Zugtelefon, Küche
und Bedienung stellen die Schweizer."
„Damit bleibt ja alles, wie ursprünglich besprochen",
sagte El-Said und schlug in einer weichen, federnden
Bewegung seinen Ball zu Loch fünf hinüber.
Sein Ball lag besser als der des Russen.
„Man soll gute Pläne nicht ohne Grund ändern",
bemerkte Boris Schuwareck. „Für Sicherheit sorgt meine
Abteilung vier. Obwohl das Gespräch streng geheim ist
sind bis jetzt nur eine Handvoll Leute davon wissen,
werden wir alle Maßnahmen treffen, damit keine un
liebsamen Überraschungen ... Nun, Sie wissen, was ich
meine."
Der Araber steckte sich eine Zigarette an. Der Rauch
wehte mit dem Wind seewärts.
„Der Agaf Modin", murmelte er, „hat überall seine
Späher."
Der Russe winkte ab.
„Diesmal", versicherte Boris Schuwareck überzeugend,
„hat der israelische Geheimdienst absolut keine
Ahnung."
Wenig später wechselten sie das Thema. Während sie
weiter über den Golfrasen schlenderten, sprachen sie
über Autos und Rennpferden, und ihre Stimmen wurden
wieder laut und fröhlich. Der Caddie, der abseits
Schatten der Kastanie gelegen hatte, nahm den
Kunststoffknopf aus dem Ohr.
Den Schläger, dessen Griffende er immer in Richtung
auf die beiden einsamen Golfspieler gerichtet hatte,
schob er in den Ledersack und zog seinen zweirädigen
Karren hinauf zum Clubhaus.
Dort saß ein ziemlich großgewachsener Mann bei ei-
nem Gin-Tonic. Als er den Caddie kommen sah, stand er
auf und folgte ihm.
Am Parkplatz hatte der Caddie den Schlägersack schon
in den Kofferraum eines Chevrolet gewuchtet.
„Alles okay, Fredy?" fragte der Großgewachsen Caddie.
„War kein Problem, Sir."
„Und der Ton?"
„Gestochen scharf, Sir."
„Hast deinen Job immer gut gemacht."
„So wird es auch bleiben, Sir."
„Zigarette?"
„Warum nicht, Sir."
Der Lange holte eine Packung Chesterfield aus der
Jackettasche, nahm für sich ein Stäbchen und überließ
den Rest dem Caddie. Der steckte sich auch eine an und
behielt die Packung.
Es ging nicht um die Zigarette, es ging um die fünf-
hundert Dollar, die in der Packung enthalten waren.
Nach wenigen Zügen deutete der Lange einen Gruß an
und fuhr weg.
Zwanzig Minuten später, in seinem Citybüro, holte er
den Schläger Nummer vier aus dem Ledersack
schraubte den Griff vom Eisen und entnahm dem Mi-|
nirecorder die Tonträgerspule.
Sie kam in ein Wiedergabegerät, und während der Mann
das Band abhörte, stenografierte er den Text mit.
Das nun vorliegende Gespräch des Russen mit der
Palästinenserführer El-Said entkleidete er aller Ne
bensächlichkeiten, bis nur noch die nackten Fakten übrig
bleiben.
Ein Vergleich mit anderen Aufzeichnungen ergab, daß
alle seine Informationen stimmten.
Aber nun hielt er die endgültige Bestätigung in der Hand
und die letzten Zahlen, auf die es ankam.
*
Das Motorboot legte bei Dunkelheit vom Steg in Mon
treux ab. Mit hoher Fahrt preschte es auf den See hinaus.
Erst in der Nähe des französischen Ufers verlangsamte
das Boot seine Fahrt und lief nun am Ufer entlang,
Richtung St. Gingolph.
Der Motor drehte fast unhörbar im Leerlauf.
Der Campingplatz wanderte vorbei. Zwischen den
Bäumen standen noch einige Zelte und Wohnwagen,
Blaue, rote, grüne und gelbe Punkte, je nach Farbe der
Vorhänge, hinter denen die Lampen brannten, schim
merten durchs Geäst. Hier und dort flackerte ein offenes
Lagerfeuer.
Das Motorboot stoppte am westlichen Ende des Cam
pingplatzes, etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt. Jede
Minute einmal schaltete der Mann im Boot die Posi
tionslampen ein.
Gegen 22 Uhr 30 vernahm er in der Nähe ein Geräusch,
als nähere sich ein Schwimmer.
Eine Hand schlug gegen die Badeleiter.
„Edwards?" fragte der Mann im Boot.
„Talalas?"
„Okay, kommen Sie an Bord." Die dunklen Umrisse
eines nackten Mannes wurden am Heck sichtbar. Der
Schwimmer ließ sich auf die Polsterbank fallen.
„Zigarette?"
„Besser kein Licht."
Sie saßen so nahe beisammen, daß sie sich flüsternd
unterhalten konnten. Der Mann mit dem Boot übergab
Edwards ein zusammengefaltetes Blatt Papier.
„Darauf finden sie alles, Roan."
„Bleibt es dabei?"
„Im wesentlichen schon. Die Notizen bitte anschließend
vernichten."
„Ich werde sie essen und verdauen."
„Verbrennen ist besser."
„Habt Ihr Schiß?"
„Wir wissen in jedem Fall von nichts."
„Aber man könnte mich schnappen, den Papierbrei aus
meinem Gedärm pumpen und zusammensetzen."
„Möglich wäre alles. Das Risiko ist zu groß. Wenn die
volle Wahrheit je ans Licht käme - eine verheerende
Katastrophe. Nicht vorstellbar."
„Sind wir Anfänger?"
„Die anderen sind es auch nicht."
„Nein, aber diesmal sind sie ahnungslos. Unser Vor-
teil."
„Sie können den Vorteil rasch aufholen, wenn es los-
geht."
„Dienstag?"
„Ja. Dienstag nach 15 Uhr."
Roan Edwards streckte die Füße weg und streifte mit den
Händen die Nässe von der behaarten Brust.
„Diesen Vorsprung holen sie niemals auf. Allein bis sie
den nötigen Durchblick haben, das dauert. Das dauert zu
lange. Sie haben keine Chance."
„Um so größer ist unsere."
Roan Edwards war so felsenfest von seiner Überle-
genheit überzeugt, daß er den Mund tüchtig voll nahm
„Das will ich gar nicht gehört haben", sagte er. „Wer,
spricht hier von Chancen. Wir haben keine Chancen, wir
brauchen keine Chancen, denn wir haben schon gesiegt.
Die Zünder sind unknackbar."
„Natürlich", sagte Talalas, „wir sind der liebe Gott. Aber auch der liebe Gott hat einen Boß." „Der mischt sich da nicht ein. Also, von mir aus kann's losgehen. Ich bin startklar. Aber ob die Wirkung durchschlägt, ist nicht meine Sache. Ich bin weder Politiker noch Psychologe." „Was den Effekt betrifft, da sind wir ganz sicher", murmelte Talalas. „Es geht nur so und nicht anders. Wo die Diplomatie versagt, greift man zur Sprache der Ge walt. Wir haben wirklich alles versucht, die letzten Mittel wurden ausgeschöpft. Sie wollen nicht hören." „Mich interessiert nur meine Ebene", sagte Edwards. „Ich schiebe die Wolken, daß die Blitze zünden. Wohin sie gehen, geht mich nichts an." „Der Blitz muß so zünden, daß sie den Schock niemals überwinden, daß sie es nie vergessen, daß ..." „Was?" fragte Roan Edwards, nun doch neugierig ge worden. Aber Talalas hob die muskulösen Schultern. „Ich weiß es nicht genau. Jeder weiß so viel, wie er wissen muß, um seinen Job zu machen." „Sie wissen es schon", entgegnete Roan, „aber sie halten die Schnauze, weil sie befürchten müssen, daß man mich vielleicht kriegt. Und wenn ich dann zu tief drin stecke, könnte ich zuviel singen. Damit haben Sie völlig recht. Ich frage nicht mehr und will auch gar nichts erklärt bekommen. Okay." „Okay", sagte Talalas. „Wir kennen uns nicht, haben uns nie gesehen." „Ich hab Sie tatsächlich nie gesehen", sagte Roan Ed wards. „Ich bin der Fahrdienstleiter beim Eisenbahn gedächtnisrennen rund um Europa und sonst nichts." „Es geht um den großen Pokal mit der weißen Taube obendrauf." „Irrtum", sagte Edwards, „für mich geht's um hun
derttausend Dollar, weil man sich für die Ehre nicht mal
'ne Cola kaufen kann."
Lässig und elastisch wie ein Zwölfkämpfer mit riesi-
gem Punktvorsprung schwang er sich über Bord und
tauchte fast lautlos ein.
Talalas hörte ihn nicht wegschwimmen. Er sah nur noch,
daß Edwards seinen rechten Arm hoch heraus streckte
und mit Zeige- und Mittelfinger das V-Zeichen machte.
V wie Viktoria. Viktoria wie Sieg.
*
Am Morgen packte Roan F. Edwards die zehn schmalen Stahlbehälter, von denen einige aussahen wie Verbandskästen und andere wie Thunfischkonserven, zwei große Reisekoffer. Die Koffer verstaute er hinten im Peugeot. Den Wohnwagen kuppelte er ab und ließ ihn auf dem Campingplatz von St. Gingolph zurück. Eine halbe Stunde später hatte er die Grenze zur Schweiz passiert und umrundete den See auf der Küstenstraße. Was er jetzt noch zu machen hatte, bot keine Schwierigkeiten mehr. Der Job in Genf, wenn er als Wagen wäscher verkleidet das Bahnbetriebswerk betrat, würde noch einige Nerven kosten. Aber mit Sicherheit würde das Objekt auf dem Nebengleis abgestellt sein, dort, wo die Sondergarnituren standen. Bewacht wurden sie nicht. Sie ständig zu überwachen, war einfach undurchführbar. Nur die Salonwagen wurden kurz vor dem Einsatz routinemäßig gewartet und überprüft. Man würde das Innere des Wagens durchsuchen: die Küche, den Salon, die Bar, die Bäder und die Schlafräume. Man würde in den Toiletten nachsehen, die Tanks für Frischwasser und Abwasser und auch den Vorratsraum zwischen Küche und Pantry. Aber selbst wenn sie die Wagen zerlegten, konnten sie nichts finden.
Die Sache in Genf würde Edwards bis zum Abend be schäftigen. Dann würde er weiterfahren und zwar nach Basel. In Basel würde er am nächsten Mittag auf den Expreß Köln-Marseille warten, mit seinen Koffern zusteigen, seine Arbeit verrichten und ihn schon in Bern, wo er eine Minute Aufenthalt hatte, wieder verlassen. Sofort würde er mit dem nächsten Zug nach Basel zurückfahren, dort seinen Peugeot vom Parkplatz holen und auf den Campingplatz an den Lac Leman zu rückkehren. Bis er dort ankam, lief schon alles. Dann war die Ope ration nicht mehr aufzuhalten. Er würde eine Flasche Champagner öffnen, oder zwei, sie mit Genuß leeren, eine gute Zigarre dazu rauchen, daliegen und im übrigen Radio hören. Die Abendnachrichten würden es wohl schon bringen. Spätestens die um Mitternacht. Am meisten würde er es genießen, daß er, der Außenseiter, diesen arroganten Pinseln so eine Pest auf den Hals hetzte, diesen Armleuchtern von den Geheimdiensten, von der Kripo und von Interpol. Ein bißchen mitmischen in der Weltgeschichte, das war schon was. Edwards wußte es in dieser Minute, er war der größte seinem Gebiet, der Allergrößte. Im Radio spielten sie eine Dixie-Nummer, „When the Saints go marching in." Das paßte gut. Roan fühlte sich selbst wie einer der aufmarschierten Heiligen. Danach spielten sie: „I wanna be loved by you." Aber das paßte schon weniger.
8.
Serafine Campbell saß neben Urban, in den BMW-Sitz geschnallt. „Zuerst", plapperte sie munter, „also zuerst glaubte
ich, ich sei ihm zu dick und es liege an meiner Figur, daß er sich immer weniger aus mir machte. Ein Mann der erst täglich zweimal mit dir schläft und nicht genug davon kriegen kann, dem muß doch was über die Leber gelaufen sein, wenn er es plötzlich nicht mehr haben will, dachte ich. Natürlich habe ich ihn gefragt. Er gab aber keine Antwort. Der Knabe wich mir aus, wo es ging. Ich rief ihn an, in Fort Bragg, bei der Kompanie! Es hieß, er sei nicht da. Roan sagte, er hätte dienstlich in Washington zu tun gehabt. War natürlich 'ne faule Ausrede. Was soll ein Master-Sergeant dienstlich in Washington zu tun haben, im Pentagon? Da lassen sie dich unter 'nem Colonel gar nicht erst durch die Drehtür, lassen sie dich da. Oder etwa nicht?" „Sicher", sagte Urban. Er hielt sich zurück, um ihren Redefluß nicht zu unterbrechen. Je mehr sie sich erleichterte, um so besser rundete sich sein Bild von Roan Edwards. „Es liegt also an meiner Figur, dachte ich. Schön, machst 'ne Schlankheitskur, Mädchen, beschließe ich. Die Spinat-Eier-Diät. Am ersten Tag neun hartgekochte Eier und ein Pfund Spinat. Am letzten Tag ein Ei und neun Pfund Spinat. Mann, war das ein Zirkus. Ich war ganz grün, aber wieder auf achtundneunzig Pfünder. Alles okay mit Busen und Hintern. Ich lade den Herrn Edwards zum Abendessen ein. Er kommt. Ich trage auf. Sein Lieblingsessen. Erst Speck mit Linsen, dann Schweinelendchen naturell, dann Reispudding, dann - na ja, dann Serafine in Essig und Öl. Oben! und unten ohne. Und was macht der Blödmann? Steht auf, sagte Dankeschön, geht, sagt, es sei dienstlich. Zum Teufel, ich kenne den Dienstplan von 'nem Serg der Pioniere genau. Da kapierte ich endlich. Der Schweinehund hatte 'ne andere." Urban, der ein Zusatzgerät im Autotelefon hatte, das es ihm erlaubte, den Anschluß auch in Frankreich und
Italien zu benutzen, versuchte abermals ein Funkfern-
amt zu bekommen.
Es meldete sich aber niemand. Wahrscheinlich fuhr er
gerade im Bereich zwischen zwei Kanälen. Er schaltete
also um und schaltete alle Kanäle der Reihe nach durch.
Ohne Ergebnis.
„Was fummelst du denn dauernd?" fragte Serafine.
„Komisches Radio. Du fummelst und raus kommt kein
Ton."
„Nur Geduld", sagte er, „erzähl' weiter."
*
Aus den Lüftungsgittern drang Morgenkühle in das Coupe. Urban fuhr mit geschlossenen Fenstern. Bei Tempo hundertachtzig pfiff der Fahrtwind so stark, war das Abrollgeräusch der Reifen so laut und das Brummen des Motors so satt, daß er Serafines Carolina-Dialekt kaum mehr verstand. Also drosselte er das Tempo und nahm die weiten Kurven der Riviera-Autobahn nur noch mit hundert fünfzig. „Als Roan wieder mal angeblich in Washington weilte", fuhr Serafine fort, „denke ich, okay, mein Zinnsol dat, dir komme ich schon auf die Schliche. Jede böse Tat hinterläßt Spuren. In diesem Besinne rauf auf seine Bude und durchsucht das Ganze. Wollte verdammt sein, wenn er sich nicht irgend so einen Busenstar extra aus New York importiert hatte für seinen Puff." „Und?" fragte Urban. Sie lächelte ihn mit ihrem beneidenswert gesunden Gebiß an und lachte und schlug sich auf die nackten schenke!. „Was glaubst du, was ich finde, German?" „Keine Ahnung."
„Na, so 'n Eisenbahnzug", sagte sie, „ein Buch voll Lokomotiven und eine Eisenbahnkarte von Europa. Weiß nicht, ob du je so was gesehen hast. Da sind nicht Flüsse, Straßen oder Gebirge drauf, sondern nur die Eisenbahnlinien und zwischendrin so Punkte. Das sind dann die Orte, die die Gleise verbinden." „Kenne ich", sagte er. „War die Karte wirklich von Europa." „Ich denke", fuhr sie fort, „mich tritt ein Pferd. Will der in Frankreich Lokomotivführer werden, wenn seine Dienstzeit um ist, oder was? Na ja, war vielleicht ein neues Hobby von ihm. Männer müssen Hobbies haben, sagt man." „Was hatte er sonst für welche?" „Autos, Sportwagen, ausländische. Dafür ging alles drauf, was er verdiente. Jeder Cent. Wenn wir ausgingen, reichte es gerade für 'ne Cuba-Libre und ein Cheeseburger. Ich mag vielleicht nicht die Allerklügste sein, aber diese zwei Hobbies passen doch nicht zusammen, Mann. Autos und Eisenbahnen - nö, das beißt sich ir gendwie." Da mochte sie recht haben. „Auf der Streckenkarte", fragte Urban, einem spontanen Einfall folgend, „war da etwas eingezeichnet?" Sie dachte angestrengt nach. „Ja, mit Grün und Rot." Also zwei Strecken, überlegte er. „Was mit Grün?" „Eine Art Kreis, natürlich kein egaler runder. Aber er berührte eine Reihe von großen Städten. Ich war sogar mal in der Schule und ganz gut in Geographie. Ich hab mir die Namen gemerkt. Ich nehme an, daß er seine eu ropäische Studienreise in Lyon beginnen wollte, dann runter nach Marseille, rüber nach Genua, rauf nach Mailand, nach München über Basel und Genf zurück nach Lyon."
„Wie kommt er auf Lyon? Jeder Amerikaner fängt doch in Paris an", fragte Urban. „Roan ist nicht jeder", erwiderte Serafine. „der ist Wohl ein bißchen jederer als die anderen. Genau genommen spinnt er sogar. Aber alle Leute, die auf 'nem gewissen Gebiet unheimlich viel auf dem Kasten halben, die spinnen eben." Wem sagst du das, dachte er und bohrte die ergiebige Quelle tiefer an. „Und die rote Linie?" „Was für 'ne rote Linie?" fragte sie und schlug sich dann mit der Hand gegen die Stirn. „Ach ja, die auf der Karte. Na ja, die führte ins Land seiner Träume. Roan wollte doch immer mal nach Spanien. Die rote Linie zog sich runter bis zur Grenze. Parpignan heißt der Ort oder so." Ein leidenschaftlicher Autofahrer hat die Eisenbahn entdeckt, kombinierte Urban, das ist so wahrscheinlich, als ginge ein passionierter Reiter plötzlich mit einer 500er BMW ins Gelände. Für ihn stand fest, daß Roan Edwards mit dieser Karte etwas anderes beabsichtigte als eine Rundreise durch Europa zwecks Vervollständigung seiner Bildung. „Hast du ihn", fragte Urban die resolute Amerikanerin, „hast du ihn gefragt, was er mit der Karte vorhat?" „Nein. Ich vergaß es darauf." „Hast du ihn gefragt, ob er vielleicht Sorgen hätte, ein Problem, Ärger in der Army?" „Der hatte keinen Ärger in der Army", entgegnete Serafine überzeugt, „der war doch der King dort. Er hatte den Super-Job, den besten, den je ein Unteroffizier kriegen kann. Der tauschte doch mit keinem General. Klar fragte ich ihn, woher sein Sinneswandel mir gegenüber käme. Montag warst du anders zu mir, sagte ich zu ihm. Heute ist aber Freitag, Baby, antwortete er.
Was ist denn inzwischen gewesen, wollte ich von ihm wissen. Und was antwortet mir das Aas? Dienstag Mittwoch, Donnerstag ist gewesen, sagt er und läßt mich stehen." „Dienstag, Mittwoch, Donnerstag", murmelte Urban. Er versuchte wieder zu telefonieren. Langsam bekam er bei all dem ein schlechtes Gefühl. Da lief etwas. Da lief mehr als die Polizei erlaubte. Und weil er fürchtete, daß er der einzige war, der einigermaßen hineinblickte, begann die Verantwortung schwer auf ihm zu lasten. Aber zum Teufel, was sollte er dagegen unternehmen. Da lief etwas an, aber er wußte nicht wie, nicht wann und nicht wo. Die Autobahn ging in eine weite Linkskurve über. Noch in der Kurve begann eine Brücke. Unter der Brücke wurde eine gewaltige Schlucht sichtbar. Wenigstens achtzig Meter tief. Fahr geradeaus weiter, Junge, dachte Urban, und du hast den Schietkram ein für allemal hinter dir.
*
Immer mehr brannte das Bedürfnis, die gesammelten Erkenntnisse über Roan F. Edwards loszuwerden, auf Robert Urbans Nägeln. Weil das Funktelefon nicht arbeitete, verließ er gegen Mittag in Aix-en-Provence die Autobahn steuerte das erstbeste Hotel an. Ihm ging es nur um ein Telefon. Daß das Hotel ungemein romantisch an der Flanke eines Hügels lag, mit weitem Blick in die Eben das realisierte er überhaupt nicht. „Doppelzimmer?" fragte Serafine. „Einzelzimmer gibt's hier gar keine." „Grand-lit?" „Klar, großes Bett." Noch bevor sie aufs Zimmer gingen, meldete er Mün chen an.
Serafine war vor ihm oben. Als er das Zimmer betrat,
prasselte schon die Dusche.
,Ist es nicht zauberhaft hier", rief sie. Er warf sich aufs
Bett und versuchte einen Extrakt aus dem herzustellen,
was er bisher erfahren hatte, einen Extrakt für das
Hauptquartier. Dabei war er so in Gedanken, daß er
Serafine erst sah, als sie naß und nackt vor ihm stand.
„Was meinst du, hat die Spinatkur gewirkt?" fragte sie,
„sehe ich gut aus?"
„Einfach Klasse", sagte er aus halb geschlossenen Li
edern.
Die Sonne stach durch die Jalousien herein und legte
über ihren reizvollen braunen Körper ein Streifenmuster,
hell-dunkel-hell. Der linke Busen war noch im Hellen,
der rechte mit der aufgerichteten Spitze schon im
Schatten. Über den Nabel lief ein heller Balken, über den
Venushügel ein schräger wie auf einem Park
verbotsschild. Urban mußte lachen.
„Was ist?"
Er deutete auf das Dreieck im oberen Schenkelende.
„Parkverbot"
Sie schaute an sich herab und trat einen Schritt näher.
„Und jetzt?"
„Einbahnstraße?" fragte er.
„Ohne Gegenverkehr", erklärte sie und setzte sich neben
ihn auf die Bettkante, die Schenkel leicht gespreizt.
„He, Country-Girl", sagte er, „ich dachte, da läuft nichts
zwischen uns, verkehrsmäßig."
„Ich mache die Regeln, wenn's recht ist", flüsterte sie.
Das war die Masche, die ihm nicht paßte. Er war nicht
zickig, bei Gott nicht. Für ihn war jede Form der Liebe,
die kurze flüchtige, wie die lange tiefere ein
Spiel auf Gegenseitigkeit. Aber er ließ sich nicht her
umkommandieren, nicht reglementieren, nicht in ein
System von Angebot und Nachfrage zwingen, das nur
einer von beiden nach Belieben handhaben konnte. In
dem Punkt war er verdammt altmodisch.
Serafine saß da und wartete, daß er das grüne Licht
endlich sah und losging.
Weil er nicht startete, wurde sie heftig.
„He, bist du impotent?"
„Klar."
„Das muß ausgerechnet mir passieren."
Er lachte, und sie glaubte es ihm nicht.
„Ein Mann wie du."
„Ich kannte mal 'nen Kerl wie Herkules, der war gar
keiner."
Die Situation wurde so, daß er sich darin versacken sah
wie in einem Sumpf. Da näherten sich Schritte. Jemand
klopfte an die Tür.
„München, Monsieur."
„Ich komme", rief er, richtete sich auf und stieg über
Serafine hinweg.
*
Bob Urban sparte sich jede Einleitung. Er sagte nicht einmal: Folgende Lage, sondern begann mitten im Thema. „Bitte, Recorder mitlaufen lassen. Der Ex-Sergeant der US-Armee, Roan F. Edwards, Sprengstoff- und Bombenexperte der ersten Garnitur, hält sich in Europa auf. Aus noch unbekannten Gründen plant er ein Attentat. Dazu hat er sich mit großer Wahrscheinlichkeit Kenntnisse über ein neues Zündsystem, entwickelt von Dr. Mathes, beschafft. Gelingt es Edwards, die Bomben zu legen, besteht wenig Hoffnung, das Atten-, tat zu verhindern. Also muß vorgebeugt werden."
„Und Ihre diesbezüglichen Ratschläge?" fragte Oberst
Sebastian. „Wie lauten die?"
„Erstens", sagte Urban, „sucht einen weißgrauen
Peugeot, Typ vierhundertvier, schlechter Allgemein
zustand. Die viertürige Limousine rollt vermutlich mit
einachsigem Wohnanhänger irgendwo auf den Stra-ßen
Europas. Sie führt französisches Kennzeichen."
„Weiter!" drängte der Oberst.
Nun gab Urban eine Beschreibung von Roan Edwards,
so wie er sie von Serafine hatte, und wie er sie anhand
eigener Erfahrungen und Vorstellungen ergänzte.
„Drittens?" fragte der Oberst.
„Sucht einen Gefahrenpunkt in Europa, der für ein
Eisenbahnattentat in Frage kommt. Aber nicht kleinlich
sein, bitte, es muß sich lohnen. Also nicht Größe vier,
sondern Größe eins-A."
Dazu gab er Einzelheiten wie in Frage kommende Städte
und Strecken durch.
Bei diesem Punkt meldete Sebastian jedoch Zweifel an.
„Das ist ja überterritorial."
„Deshalb muß sofort ein inter-europäischer Krisenstab
gebildet werden."
„Den kriegen wir erst zusammen, wenn es gebumst hat."
„Dann ist es zu spät."
„Mal sehen", sagte der Oberst. „Noch was?"
„Letzter Punkt", gab Urban durch. „Versuchen Sie alle in
den EWG-Ländern, sowie in Österreich und der Schweiz
erreichbaren Bombenkommandos vorzuwarnen. Die
besten Entschärfer-Teams sollen sich klarhalten. Schlage
vor, in jeder Hauptstadt ein Kommando in
Hubschrauberbereitschaft zu versetzen."
„Das sieht ja nach einem mittleren Weltuntergang aus."
„Vielleicht steckt sich einer eine Zigarette an, mitten in der Pulverfabrik." „Und wenn alles nur Vermutung ist?" „Dann war's eine gute Übung", entgegnete Urban trocken. Natürlich wußte er, was es Zeit, Organisation, Überredungskünste und Geduld kostete, so was auf die Beine zu stellen, aber er mußte vorbeugen. Die Vorah nung kommender Dinge begann sich schon wie ein schmerzender Ring um seine Brust zu legen. „Schaffen Sie das?" fragte er den Boß. „Es gibt Sachen, die wir auch ohne Ihr Zutun falsch machen", erwiderte der Oberst. „Wann können Sie da sein?" „Bis morgen." Sie hängten beide gleichzeitig auf. Urban schaute auf die Rolex. Der grünschimmernde Kleinzeiger näherte sich der dritten Nachmittagsstunde. Wann geht es los, überlegte er, wann schlägt er zu? Oder hat er gar schon ...
*
Oben lag Serafine auf dem Grand-lit, links ein Glas
Wein, rechts eine Zigarette, über dem Bauch nur ein
Handtuch.
Noch verbarg sie ihren Ärger hinter einem freundlichen
Gesicht.
„Hast du jetzt Zeit für Baby?"
„Ja."
„Und jetzt mag ich nicht."
Brüsk drehte sie sich auf den Bauch, verschüttete Wein
und brachte Asche auf das Laken.
„Auch recht", sagte Urban und trat auf den Balkon
hinaus. Er war schmal, aber lang und man hatte den
prächtigsten aller Blicke über Aix.
Wie Eva mit dem Apfel erschien Serafine in der Tür.
„Was war das für eine komische Sprache, in der du
telefoniert hast?"
„Die, in der Goethe gedichtet hat. Hochdeutsch."
„Man hörte es durch Mark und Knochen. Schreist du
immer so."
„Nur wenn ich in Rage bin."
„Sei es noch mal."
„Auf wen", fragte er „auf dich?"
„Dabei hätte ich mehr Grund als du."
„Dann sei wütend", sagte er, „oder nicht. Mach was du
willst."
Sie stand da wie die leibhaftige Verführung. Er sah sie
und sah sie doch nicht. Er dachte an sie und dachte auf
derselben Ebene an ganz andere Dinge.
„Dich bringt wohl gar nichts aus der Ruhe."
„Nein", sagte er.
„Mich schon. Noch mal, wenn du mich so kalt abfahren
läßt, dann kenne ich mich nicht mehr."
„Dann wirst du ein wildes Tier, he", sagte er.
Sie lockte ihn mit wellenförmig bewegten Fingern der
ausgestreckten Hand.
„Komm jetzt."
Er stand auf, folgte ihr ins Zimmer, steckte eine MC an
und blies runde Ringe.
„Monsieur", schrie es von draußen. „Telefone!"
„Wenn du jetzt gehst...", drohte Serafine.
„Was dann?"
„Dann wage nicht mehr, dich hier blicken zu lassen.
Dann hau ab und sieh dich vor."
„Vor wem?" fragte er und angelte mit der Zehe nach dem
Slipper.
„Wird schon jemand kommen. Wart's nur ab."
Er ging hinunter.
Das Hauptquartier war noch einmal in der Leitung. Man
habe einige Gefahrenpunkte ausgemacht, hieß es.
Er solle alles liegen und stehen lassen, nach Marseille
fahren und sich dort mit dem Büro des SDECE des
französischen Geheimdienstes in Verbindung setzen.
Paris, Rom, London, Amsterdam, Bern und Wien seien
informiert.
Nach dem Gespräch suchte Urban die Hotelwirtin. Er
fand sie in der Küche.
Er ließ sich eine gutgekühlte Flasche und zwei Gläser
geben. Um Serafine beizubringen, daß er weg mußte,
brauchte er mindestens Champagner.
Als er oben ins Zimmer kam, war es leer. Sofort sah er,
daß sie gegangen war. Ihr Koffer fehlte und die Beauty-
Case auch.
Am Spiegel im Bad stand etwas mit ihrem hellen
perlmuttfarbenen Lippenstift hingekritzelt.
Einer wie der andere. Auch du wirst noch an mich denken. Serafine. Er war froh, daß er sie loshatte.
Daß er irgendwann noch einmal an sie denken würde,
bezweifelte er lebhaft.
9.
Bis 13 Uhr 30 hatte es geregnet. Dann kam von den Sa voyer Alpen her Südwind auf. Er schob die tiefhängende Wolkendecke weg wie einen Vorhang. Über Genf bekam der Himmel blaue Löcher. Reise wetter. Das Tor zum Garagenhof der sowjetischen Botschaft öffnete sich Punkt 14 Uhr. Eine schwarze Limousine, Typ SIL 117, hergestellt in den Moskauer Fahrzeugwerken, bewegte ihre üppige Chromverzierung stadtauswärts. Hinter dem Fahrer im Fond des Repräsentationswa
gens saß ein korpulenter Glatzkopf. Boris Schuwareck,
Sonderbeauftragter der UdSSR.
„Neues Ziel", rief der Regierungsbeamte nach vorn.
Hotel Richmond, Seeuferstraße."
„Hotel Richmond", wiederholte der Fahrer und fuhr bei
der Pont du Mont Blanc nach rechts ab.
Der Araber El-Said, den der Russe pünktlich abzuholen
beabsichtigte, wohnte zwar nicht in diesem teueren
Luxushotel, sondern draußen im Cornavon, aber wenn
Schuwareck dort mit dem V-8 vorfuhr, wußte gleich alle
Welt, daß Sowjets und Palästinenser die Köpfe
zusammensteckten. Für die internationalen Ge
heimdienste war Genf ohnehin durchsichtig wie
Fensterglas. Um hier etwas zu verbergen, mußte man
sich immer etwas Neues einfallen lassen.
Nahe der Rue des Alpes rollte der schwarze SIL vor den
Hoteleingang.
Der Sonderbeauftragte stieg aus und betrat das Hotel.
Der Fahrer parkte den SIL und richtete sich mit einer
Zeitung auf längeres Warten ein.
Inzwischen hatte Boris Schuwareck das Foyer betreten,
steuerte den Lift an und ließ sich in die Tiefgarage
fahren.
Dort wartete schon ein beiges Mercedes-Taxi. Schu
wareck wechselte die Brille, nahm neben dem Fahrer
platz und sagte: „Los!"
Der Fahrer wußte Bescheid. Er war Schweizer, arbeitete
aber seit Jahren schon für den KGB.
Wenige Minuten später umrundete das Taxi den
Bahnhofsplatz. Vor dem Hotel Cornavon stiegen zwei
unauffällig gekleidete Südländer zu.
„Ist Ihnen jemand gefolgt?" fragte El-Said. „Auf der
ersten Teilstrecke ja", sagte der Russe. „Jetzt nicht mehr.
Und Ihnen?"
„Mein zweiter Leibwächter zieht eine falsche Spur."
„Zum Bahnbetriebswerk", befahl Schuwareck nun
dem Fahrer und wandte sich wieder zu den Araber um. „Vom Taxi bis zum Salonwagen müssen wir neunzig Meter gehen. Erst durch einen Tunnel, dann die Treppe hinauf. Unser Freund vom Persischen Golf wird einen anderen Weg nehmen. Die Peinlichkeit, wer wem den Vortritt läßt, bleibt Ihnen damit erspart. Wir betreten den Salonwagen vom linken, Mister Adschman vom rechten Ende. Sie können mit Ihrem Leibwächter sogleich Ihr Abteil aufsuchen. Das Zusammentreffen findet dann später im Salon statt, sobald der Expreß Genf in Richtung Frankreich verläßt. und Grenzübertrittsformalitäten finden nicht statt. Ich bitte die Herren nur darum, mir ihre Diplomatenpässe zu überlassen. Sind Sie mit allem einverstanden?" „Einverstanden", sagte El-Said und blickte gelangweilt zum Fenster hinaus. Daß er unter Hochspannung stand, verriet nur das Spiel seiner Hände. Alle vier Finger der Rechten berührten immer wieder abwechselnd den Daumen, bis El-Said auch dies abstellte. Jetzt stand nur noch eine beherrschte Unruhe in seinen Augen. Und sein Leibwächter hatte die Hand im Jackett. Die Fingerspitzen berührten den Kolben des Trommeilrevolvers.
*
In der Waschhalle nahm ein Spezialkommando der Schweizer Staatsbahnen den Salonwagen ab. Zuerst erfolgte die Sichtkontrolle. Der Wagen wurde auf die Grube gezogen und mit dem fahrbaren Scheinwerfer von unten zentimetergenau überprüft. Nichts entging dem Blick des Experten. Nichts an den Drehgestellen, Rädern, Bremsen. Batterien, den Zylindern für die Druckluft, wie den vielen Kabeln und Rohrleitungen.
Ein zweiter Mann erkletterte das Waggondach, schritt es langsam ab und warf einen Blick in die Füllstutzen und in jede Abluft- und Zuluftstutze und in das Gitter überdem Wasenabzug der Küche. Im Inneren des Salonwagens war die Sicherheitspro zedur perfekt. Nachdem der eine Beamte lediglich die Einrichtung überprüft hatte, kam eine Angestellte mit einem Plastikköfferchen, dem sie eine Art Injektions spritze entnahm. „Was wird das denn?" fragte der Wagenmeister, der die Laborantin begleitete. Erstaunt verfolgte er, wie sie den Nickelkolben im Glaszylinder hochzog. Der Zylinder, ein mächtiges Ding, hatte das Fassungsvermögen einer Literflasche. Leise zischte die Luft in den Zylinder. Als er voll war, drückte die Laborantin die Luft in einen seifendosenartigen Behälter und holte sich nun aus allen Ecken der Salonwagenräume neue Luftportionen. „Macht ihr hier Duftproben?" fragte der Wagenmeister. „Ich finde, es riecht gut, nach Lavendel und Mahagoni." Die Laborantin drückte mehrmals den Luftinhalt der Spritze in das Kästchen, öffnete es schließlich und entnahm ihm eine gefaltete Lage Fließpapier. „Ja, Duftproben", erklärte die Angestellte bereitwillig. „Wir sammeln sie im Wagen ein und blasen sie über chemisch vorbehandeltes Papier. Das ist alles." „Und das Papier?" fragte der Eisenbahner. „Blieb unverändert." „Was beweist das?" „Daß die Luft okay ist. Das Filterpapier ist mit Che mikalien imprägniert, die auf winzige Partikel von Sprengstoffen reagieren. Wenn ein Bösewicht irgendwo in diesem Raum einen Koffer mit einer Bombe un tergebracht hätte, die den Wagen in Stücke reißen soll, dann hat er damit leider Pech. Durch jede Verpackung,
sei es Stoff, Leder, Gummi oder Metall, gelangen Moleküle des Sprengstoffes in die Luft und somit auch in meinen ‚Schnüffler'. Das Papier würde dies sofort durch Verfärbung anzeigen. Aber die Luft ist sauber. „Ja, aber", wandte der Eisenbahner ein, „ich habe mal gelesen, daß man Sprengstoff absolut luftdicht in Plastik einschweißen kann. Da dringt doch nichts raus." „Aber es muß etwas hinein", klärte die Laborantin den Wagenmeister auf, „mindestens ein Zündkabel. Und dieser kleine Kasten dort sendet so starke elektromagnetische Schwingungen aus, daß er jede Zündvor richtung vorher zur Explosion bringt." Der Wagenmeister bewunderte den Mut des Mädchens, wie es mit der Miniatursendestation durch die Wagen ging, von vorn nach hinten und von hinten wie der nach vorn. „Okay", sagte sie abermals, „jetzt den Gastest. Mai kann Menschen ja anders umbringen als mit Dynamit. Durch geruchlose Giftgase zum Beispiel. Nehmen wir Kohlenoxyde." Sie schwenkte das Gaswarngerät in der Hand und wanderte damit ebenfalls umher. Aber der Spektograph blieb ruhig. Die Nadel zeichnete eine gleichmäßige Wellenlinie auf. „Nur ein bißchen Propan", stellte die Laborantin fest. „Das kommt aus den Kochgasflaschen im Küchenherd. Ganz minimale Spuren, absolut unbedenklich." Sie wickelte den Tragriemen um das Gerät, verstaute es und sagte, als sie ging: „Ende der Vorstellung." Schließlich kam noch einer und suchte den Wagen nach Wanzen ab. Nicht nach lebendem Ungeziefer, sondern nach Miniabhörgeräten. Er fand nichts, und auch sonst war alles in bester Ordnung. Der Funkfernschreiber, die Sprechverbindung zur Lokomotive und das Zugtelefon arbeiteten störungsfrei. Der Salonwagen konnte auf Fahrt gehen. Eingeplant
war eine Reise von rund zweitausend Schienenkilome
tern.
Niemand ahnte, daß einer davon das bittere Ende bringen
würde.
*
Der Köln-Basel-Marseille-Expreß, der planmäßig 15 Uhr 02 in Genf einlaufen sollte, wurde von einer deutschen E-Lok gezogen. Und zwar von einer 103, dem Rennpferd der Deutschen Bundesbahn. Bei rund zwanzig Meter Länge und 117 Tonnen Gewicht entwickelte die Lok vierzehntausend PS. Damit war sie in der Lage, einen Trans-Europa-Expreßzug von dreihundert Tonnen Gewicht in zweieinhalb Minuten auf 200 km/h zu beschleunigen. So schnell wurde allerdings nie gefahren. Hundert sechzig mit der Spezialübersetzung war das Maximum für den vorhandenen Gleisunterbau. Die deutsche 103 mußte allerdings in Genf wegen der unterschiedlichen Fahrdrahtspannung gewechselt werden. In Deutschland, der Schweiz und Österreich wurden die E-Loks mit 15 000 Volt Wechselstrom betrieben, in Frankreich mit 25 000 Volt, oder mit 1500 Volt Gleich strom. Der Einfachheit halber wurde deshalb bis zum nächsten Lokwechsel in Lyon eine dieselelektrische DE-2500 vorgespannt. Sie hatte zwar nur 2500 PS, aber sie war stromunab hängig, weil sie sich den Strom selbst herstellte. Dem Schweizer Lokführer, der um 14 Uhr 40 den Sa lonwagen ankuppelte, um dann zum Hauptbahnhof zu rollen und dort den Expreß zu übernehmen, war dies alles bekannt. Er hieß Ernest Delagy, war 48 Jahre alt und tat seit neunzehn Jahren Dienst auf Schnellzügen.
Den letzten Köln-Marseille-Expreß hatte er vor drei Tagen gefahren, also am Samstag. Delagy kannte seine Teilstrecke Genf-Lyon auswendig. Jede Langsamfahrtstelle, jede Kurve, jedes Signal jeder Bahnübergang war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Zwar leistete seine Henschel-Lok nur ein Viertel von dem, was eine große E-Lok brachte, aber der Expreß bestand meistens nur aus vier Wagen. Heute waren es fünf. Damit wurde die DE-2500 auch in den Steigungen des Jura mühelos fertig. Wie immer, nachdem er den Fahrstand bestiegen hatte, richtete sich der Lokführer dort häuslich ein. Seine Tasche mit den Vesperbroten und der kaffeegefüllten Thermosflasche hängte er an die Federgabel hinter der Drehsessellehne. So kam er mit einer Hand leicht an den Proviant. Die Zigarettenpackung legte er neben das Streckenhandbuch, und das Feuerzeug behielt er in der in Jackettasche. Die Diesel liefen warm. Mit Anfahrstrom von 0,4 Hertz auf den Drehstrommotoren stieß die Lok rückwärts auf den Salonwagen. Die Kupplung schnappt, mit deutlichem Ruck ein. Die Anschlüsse wurden hergestellt. Der Lokführer schaltete nun um. Thyristorgesteuert rollte die Lok zügig den halben Kilometer bis zum Hauptbahnhof. Dort ging sie auf dem Nebengleis in Wartestellung. Warum er auf dieser Fahrt einen Salonwagen mitnehmen mußte, das interessierte Ernest Delagy wenig. Um 17 Uhr 30 würde für ihn in Lyon die Hälfte seines Dienstes beendet sein. Dann übernahm er den Gegenzug nach Feng, und um 23 Uhr lag er wieder bei sein Frau im Bett. Das Sprechfunkgerät sprang an.
„Der Expreß aus Bern läuft pünktlich ein. Sobald die
deutsche Hundertdrei abgehängt hat, gehst du über die
Weiche, Delagy."
„Verstanden", sagte Ernest Delagy.
Noch vier Minuten, bis der Expreß in den Bahnhof
donnerte. Zeit für eine halbe Zigarette.
*
Den Lokwechsel registrierten die 322 Passagiere des vollbesetzten Expreßzuges auf Grund eines Stoßes, der sich immer mehr abschwächend bis zum letzten Wagen fortsetzte. Im zweiten Wagen saß ein spanisches Ehepaar. Der Mann - er gab sich technisch sehr kompetent - wandte sich erneut an seine Gemahlin. „Bei Maschinenwechsel", sagte er, „läßt sich das Können des Lokführers daran erkennen, wie sanft er gegen die Puffer fährt. Manchmal spürst du überhaupt nichts, da kommen sie samtweich auf wie mit Katzenpfoten, und dann wieder gibt es einen Rumms, daß es dich umhaut. Das sind die Holzhacker. Sie fahren auch ohne Gefühl an und ohne jede Spur von Kultiviertheit. In der Türkei habe ich das schon erlebt. Überhaupt auf dem Balkan, da scheinen diese Leute mit Gesäßen aus Stahl gesegnet zu sein." Ein Mitreisender, ein junger Mann mit Nickelbrille, vermutlich Student, mischte sich unaufgefordert in das Gespräch ein. „Heute", sagte er, „bei diesen automatisch gesteuerten Loks, ist das gar kein Problem. Ob sie kriechen wie eine Schnecke oder mit Hundertfünfzig dahinpreschen, alles wird von pfenniggroßen Siliziumhalbleitern geregelt. Der Lokführer hat nur noch ein Rädchen zu drehen, so groß wie ein VW-Lenkrad." „Na ja, es kommt darauf an, wie er es dreht", entgeg-
nete der Spanier, der sich vor seiner Frau keine Blöße geben wollte, „ruckartig, oder weich." „Ein gewisser Ruck", beeilte sich der Student zu er läutern, „wird immer sein müssen. Heute mehr als früher. Die neuen automatischen Kupplungen greifen sonst nicht." „Ja, natürlich", pflichtete ihm der Spanier bei, bestellte beim Kellner, der gerade mit dem Gong durch den Seitenkorridor ging, Sandwiches und Bier. Dabei schielte er ständig auf die Uhr. Als der Expreß um 15 Uhr 04 noch immer in Genf stand, und an dieser Tatsache nichts zu rütteln war sagte er: „Ich dachte, die Schweizer seien mindestens so pünktlich wie die Deutschen. Wir haben schon Verspätung." Der Student, der aus den Augen der Senora deutliches Interesse an seiner Person ablas, konterte: „Die Zeit holen wir leicht ein." „Im Gebirge?" „Die Berge, sind durch Tunnel entschärft." Der Spanier stand auf und schaute aus dem Fenster. „Diavolo, warum geht es denn nicht weiter?" „Wegen der Paßkontrolle", sagte der junge Mann trocken. Ein Zollbeamter blickte ins Abteil, nickte und ging weiter. Ein anderer Beamter folgte ihm, ließ sich die Pässe zeigen, betrachtete sie oberflächlich und verschwand ebenfalls. Der Spanier setzte sich wieder und wandte sich erneut an den Studenten. Er fragte ihn etwas in der Hoffnung, ihn damit aufs Glatteis zu führen. „Frankreich hat doch ein anderes Fahrstromsystem sagte er. „Beginnt das an der Grenze?" „Genau, Monsieur." „Warum findet dann der Lokwechsel hier und nicht an der Grenze statt?"
„Die Lok ist unabhängig von der Spannung im Draht.
Wir fahren nämlich dieselelektrisch bis Lyon. Dort
übernimmt eine E-Lok der Franzosen den Expreß."
Der Spanier sah seine Frau an, dann zum Fenster hinaus.
Von jetzt ab fragte er nichts mehr und machte auch keine
Bemerkung mehr. Der junge Mann war ihm einfach
überlegen.
Mit drei Minuten Verspätung verließ der Expreß den
Bahnhof von Genf. Über der ganzen Stadt und über dem
See lag jetzt Sonnenschein.
*
Mit der rechten Hand am Totmann-Schalter, der alle dreißig Sekunden betätigt werden mußte, damit die Lok keine automatische Notbremsung durchführte, fuhr Ernest Delagy an. Zügig beschleunigte die DE-2500. Der Diesel der Hen schel-Lok lief gleichmäßig. Der Generator, den er an trieb, lieferte über einen komplizierten GleichstromPuffkreis einen Strom von genau dosierter Frequenz an die Fahrmotoren zwischen den Rädern. Die Geschwindigkeit nahm zu. Binnen weniger Se kunden betrug sie vierzig Stundenkilometer. Außerhalb des Gleis- und Weichengewirrs von Genf legte der Expreß Tempo zu. Bei der Durchfahrt durch Peugny zeigte der Tacho im übersichtlich geordneten Fahrstand schon 80 km/h an. Laut Buchfahrplan, der zwischen zwei Federnasen klemmte, kam in der weiten Kurve, auf Collonges zu, eine LA-Stelle mit siebzig. Schneller durfte kein Zug in die Kurve hinein, ohne durch die Fliehkräfte aus den Gleisen gerissen zu werden. Plötzlich vernahm der Lokführer eine Stimme im Lautsprecher des Funkgerätes. Normalerweise wurde die Ikw-Anlage nur zur Ver-
ständigung beim Rangieren innerhalb der Bahnhofs benutzt. Es mußte also etwas Besonderes vorgefallen sein. Der Lokführer schaltete das Mikro ein und bog es am Panzerschlauch herüber. „Kann Sie nicht verstehen", sagte er, „bitte um Wiederholung." Die Durchsage wurde noch einmal gegeben. „Umschalten auf Kanal vier", lautete sie immer noch stark gestört. „In wenigen Minuten erfolgt eine Anweisung, Geschwindigkeit nicht unter 65 km/h. Ich wiederhole: Nicht unter sechzigfünf drosseln. Ende." „Verstanden", bestätigte Ernest Delagy und dachte dabei nichts Schlimmes.
*
Im Konferenzraum des Salonwagens saßen Ali Adschman, der Russe Boris Schuwareck und der General den sie nur El-Said nannten. Die drei Männer blickten sich voller Unruhe, aber beherrscht an. Der Russe gab das Fernschreiben an den Palästinänser weiter. „Was hat das zu bedeuten, Exzellenz?" Adschman, von Natur absoluter Realist, schien die Situation als erster in voller Tragweite zu erfassen. Noch einmal las er das englisch abgefaßte Fernschreiben. „Im Expreß Köln-Genf-Marseille befinden sich insgesamt zehn Bomben. Der darin verbaute PlastikSprengstoff hat eine Stärke, die ausreicht, um Waggons und Fahrgäste zu atomisieren. Die Pendelzünder wurden bei einer Geschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern automatisch geschärft. Das Unterschreiten von Tempo 60 bedeutet das Ende für Zug und Passagiere."
„Was sagt man dazu?" fragte der Russe tonlos.
„Ein Bluff?"
„Unmöglich. Alles wurde doch bis in die letzte Ritze
durchsucht, behauptete der Sicherheitsdienst."
„Weiß nicht", meinte Adschman, „das muß man wohl
erst herausfinden."
„Sollen wir etwa langsamer fahren, um es deutlich zu
spüren?"
„Allah bewahre uns vor solchem Wahnsinn."
Sie saßen da, sprachen wenig und warteten ab, was von
der Bahndirektion Genf, der man den Inhalt dieses FS
durchtelefoniert hatte, entschieden würde.
Der Zug rollte fahrplanmäßig weiter. Jetzt durch die
Vorberge auf Bellegarde zu. Er donnerte über ein Via
dukt, tauchte in einen Tunnel hinein. Es wurde dunkel,
das Licht im Salonwagen flammte an.
„Der Witz eines Verrückten", sagte der Russe.
Es wurde wieder hell. Gleißendes Sonnenlicht fiel,
nachdem der Expreß den Tunnel hinter sich hatte, wieder
in den Salonwagen.
Einer von Adschmans Leibwächtern betrat den
Raum.
„Ans Telefon, bitte."
„Wer?"
„Einer der Exzellenzen."
Der Russe stand auf und ging nach vorn in die Zelle.
Eine Minute später kam er wachsbleich zurück.
„Die Direktion Genf bekam das gleiche Fernschreiben
wie wir", sagte er, „und auch die Staatsbahnverwaltung
in Bern. Jetzt fragen sie bei den Franzosen nach. Der
Lokführer erhielt Anweisung, nicht unter Sechzig zu
gehen."
„Die glauben also dran", murmelte El-Said.
„Das muß man zunächst ja wohl."
„Aber wie lange dauert dieses Zunächst?" fragte der
Russe in die Stille.
„Höchst einfach", sagte Adschman kühl, „bis wir an eine Steilstrecke kommen, oder bis uns ein Güterzug einen Stopp aufzwingt, oder bis die Lok keinen Sprit mehr hat, solange dauert es." El-Said war ans Fenster getreten und starrte hinaus. „Abspringen?" fragte er. „Machen Sie sich nicht lächerlich", sagte der „Bei dem Tempo bedeutet das für einen ungeübten Mann Genickbruch." „Und außerdem", fügte Adschman hinzu, „ist noch gar nichts bewiesen. Ich glaube die Dinge erst, wenn ich etwas weiß. So etwas ist mir noch nie begegnet." „Den Tod", sagte der Russe, „gibt es auch, und man erlebt ihn nur einmal." Im Nebenraum ratterte der Fernschreiber los. Was die Typen auf das Papier druckten, klang beruhigend. „Der Krisenstab der europäischen Eisenbahnen tritt um 16 Uhr zusammen", las der Russe ab. „Bitte halten Sie Stillschweigen über die Drohung. Möglichst keine Panik im Zug. Alles wird veranlaßt, um Sie aus dieser mißlichen Lage zu befreien. Gezeichnet Dr. ClaudeEmmery, Vizepräsident der Schweizer Staatsbahnen. „Da bin ich ja beruhigt", sagte Adschman. „Wie wär's mit drei doppelten Whisky, Gentlemen?" Das entrüstete Gesicht von General El-Said sagte ihm, daß dieser als frommer Mohammedaner eher verdursten würde, als Alkohol zu sich zu nehmen. „Dann nur zwei Whisky", rief Adschman zur Bar hinüber, „und einen Orangensaft. Aber für mich einen dreifachen Scotch, weil der Arzt es verboten hat." Das abweisende Gesicht des Guerilla-Generals bestätigte ihm, daß er abermals ins Fettnäpfchen getreten war. Aber wer das Geld hatte, der konnte sich so etwas er lauben. Wer soviel Macht besaß wie Ali Adschman, der
fühlte sich überhaupt unangreifbar. Diese Sache mit den Bomben hielt er für reinen Humbug. Außerdem begannen seine Leibwächter schon hinter den Holzpa neelen des Salonwagens zu suchen. „Jemand hat sich einen Scherz erlaubt", sagte er, „vergessen wir doch den Unsinn und kommen wir zur Sache, meine Freunde." 15 Uhr 54 mitteleuropäischer Zeit. Der Expreß durch fuhr mit geringer Verspätung den Bahnhof der Station Nantua.
10.
Eine Handvoll Eingeweihter hatten die Katastrophe erwartet und Vorkehrungen getroffen. Aber als der Blitz dann einschlug und es lichterloh brannte, war die Feuerwehr meilenweit entfernt. „Eine Zusammenarbeit ist das", schimpfte Bob Urban im Marseiller SDECE-Büro, „mit soviel Löchern wie ein Emmentaler Käse." „Niemand wußte, was auf uns zukommt", sagte Gil Quatembre, hinter dessen Pennälergesicht keiner den besten Mann des französischen Geheimdienstes ver mutete. Gil nahm gerade einen Anruf ab. „Sie geben durch, daß die Standleitung zum Präsidenten der Staatsbahnen jetzt geschaltet ist." Bob Urban, der seine Nerven gewöhnlich in der Gar derobe abzugeben pflegte, wirkte erleichtert. Sie standen jetzt im Dauerkontakt mit Paris, München und Bern. Der Fall konnte frontal angepackt werden. „Sechzehn Uhr zwanzig", sagte Quatembre mit einem Blick zur Wanduhr. „Der Expreß muß jetzt Bourg-enBresse erreicht haben." Auf der Karte nahm Urban die Distanz zwischen die Zirkelspitzen.
„Noch 65 Kilometer bis Lyon."
„Eine Stunde Freizeit."
„Hat sich der Bombenleger noch einmal gemeldet?"
Der Verbindungsmann zur Polizei, ein Surete-Beamter,
schüttelte den Kopf.
„Bis jetzt noch nicht."
„Dann gilt weiter, daß Tempo sechzig nicht unter
schritten werden darf", sagte Urban.
„Wenn man nur einen Sprengmeister in den Zug brächte,
der sich mit Bomben auskennt."
„Im Salonwagen fanden die Schweizer Kontrolleure
nichts. Die Bomben müssen also gut getarnt sein."
„Vorausgesetzt, der Täter blufft nicht."
Sie traten an die große Übersichtskarte, auf der die
Strecke, die der gefährdete Expreß zurückzulegen hatte,
rot eingezeichnet war.
„Ob man es mit Hubschraubern versuchen solltet fragte
der hagere Polizist.
„Was?" fragte Urban. „Experten absetzen oder die Leute
evakuieren?"
„Irgendwas, zum Teufel."
Ein Eisenbahnbeamter, der inzwischen zu dem Team
gestoßen war, schüttelte nur den Kopf.
„Auf der ganzen Stecke gibt es kein einziges gerades
Stück, wo ein Hubschrauber am Zug bleiben könnte
Messieurs. Ich bezweifle, daß das überhaupt geht, ein
fach einen Mann vom Helikopter auf den fahrender Zug
herabzulassen. Im Kino ist es vielleicht möglich aber
echt, ausgeschlossen. Irgend etwas ist so einem
Hubschrauber doch immer im Wege. Mal sind es Bäu-
me, dann Telegrafenmasten, die Oberleitung, eine Un
terführung oder die Böschung."
Urban, der selbst Hubschrauber flog, sagte: „Das Stück
müßte wenigstens fünf Kilometer lang sein möglichst
gerade, bretteben und ohne Hindernisse an den Seiten."
„So was haben wir hier nicht." „Und wenn doch alles nur Bluff ist?" fragte der Beamte von der Surete. Sein Einwand fand kaum Beachtung. „Wer sitzt denn in diesem Salonwagen drin?" fragte Gil Quatembre. Diese Frage wurde über die Konferenzschaltung von den Schweizern mitgehört. „Drei der wichtigsten Persönlichkeiten", antwortete Genf. „Näheres dürfen wir dazu nicht sagen. Wir sind zur Geheimhaltung verpflichtet. Außerdem wurde der Salonwagen über eine Agentur gemietet." „Natürlich fahren da nicht drei mittelprächtige Ganoven spazieren", bemerkte Quatembre, „so ein Attentat muß sich schließlich rentieren." „Dies alles ist sekundär", sagte Urban. „Ganz vorn steht, wie lange wir Zeit haben, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen, oder anders: Wie lange kann der Zug das Tempo durchhalten?"
*
16 Uhr 55. Die Antwort auf Urbans Frage gab die EisenbahnSubdirektion Paris. „Messieurs", sagte der zuständige Ingenieur, „wir veranlassen alles, daß die Strecke frei ist. Zwar blok kiert bei Meximieux ein langsamer Güterzug die Strecke, und wir wissen im Moment noch nicht, wie wir ihn runterkriegen, aber wir tun alles, daß der Expreß freie Fahrt hat. Der Güterzug wird notfalls auf das An schlußgleis einer Zementfabrik geleitet. Vorausgesetzt, er paßt rein. In Lyon bekommt der Expreß ab 17 Uhr 15 freie Durchfahrt. Mehr können wir im Moment nicht tun."
„Und wie steht es mit der Lok?" fragte Marseille. „Das, Messieurs, ist der Punkt", referierte der Sachverständige in Paris jetzt schon weniger ruhig, „wo die echten Probleme beginnen. Wie Ihnen bekannt ist wird der Expreß von Genf bis Lyon wegen der unter schiedlichen Fahrdrahtspannungen in der Schweiz und bei uns dieselelektrisch bewegt. Eine DE-2500 kann aber nur fahren, wenn sie Dieseltreibstoff in den Tanks hat. Ich rufe Genf... Wie lange reicht der Gasölvorrat in Ihrer Maschine, Messieurs?" In Genf hatten sie schon alles durchgerechnet. „Siebzig Stundenkilometer Geschwindigkeit", sagte der Schweizer betulich, „sind ein durchaus ökonomisches Tempo. Bei der Abfahrt in Genf waren die Kraftstoffbehälter gefüllt, denn die Lok sollte in Lyon den Gegenzug übernehmen. Der Treibstoff reicht für rund dreihundert Kilometer über Lyon hinaus." „Also bis Mitternacht." „Bis dahin müssen wir uns etwas einfallen lassen." Paris erklärte, man würde den Expreß auf die Südroute, also Lyon-Avignon leiten. Die Strecke würde bereits freigemacht. Lokwechsel bei fahrendem Zug sei allerdings etwas, was nicht erprobt sei, weil es praktisch niemals vorkomme. Urban fragte Paris: „Wollen Sie den Expreß schieben lassen, Messieurs, oder lassen Sie ihn auf eine vorausfahrende Lok allmählich auflaufen?" „Das wird entschieden, wenn das Problem der Ankupplung gelöst ist, und wenn wir wissen, wie es sich wirklich mit diesen Bomben verhält. Können Sie uns schon Näheres sagen?" Urban versuchte, sich kurz zu fassen. „Der in Frage kommende Bombenleger ist leider ein sehr tüchtiger Experte. Wenn er sagt, seine Bomben sind mit Pendelzündern ausgerüstet und explodieren bei jedem Tempo unter sechzig, dann ist zu befürchten,
daß er die Wahrheit sagt. Um die Rettung für die Fahrgäste - es sind, wie ich höre, dreihundert Menschen vorzubereiten, brauchen wir Zeit. Möglicherweise viele Tage Zeit. In dieser Zeit darf der Zug niemals die kri tische Grenze von sechzig Stundenkilometern unter schreiten. Ich schlage deshalb vor, ihn von vornherein in einen Rundkurs zu bringen. Auch sollte das Problem mit der Lok dauerhaft gelöst werden. Man muß versuchen, eine Lokomotive vor die Wagen zu spannen, die den Zug wartungsfrei über lange Dinstanz ziehen kann." „Das ist nur mit einer E-Lok möglich", sagte Paris. „Scheitert das nicht an den unterschiedlichen Strom spannungen und Schienenbreiten in Europa?" „Nur Spanien hat eine andere Spur", sagte Paris. „Wir werden uns hüten, ihn dorthin zu dirigieren." Urban fiel etwas ein. „Da gibt es doch diese neue Europa-Lok, die den Lok wechsel auf Grenzbahnhöfen unnötig macht." Der Ingenieur in Paris besprach sich erst mit seinem Vorgesetzten.
*
Um 17 Uhr 10 war Paris wieder im Draht und ging sofort
auf Urbans Anregung ein.
„Sie meinen die neue Viersystem-Lokomotive. Es ist
richtig, daß die E-410 alle elektrifizierten regelspurigen
Fernstrecken auf dem Kontinent unabhängig von den
verschiedenartigen Stromsystemen befahren kann."
„Aber?" fragte Urban.
Statt einer Antwort kamen technische Details durch:
Gewicht 84 Tonnen, Länge 17 Meter, Leistung 6800 PS,
Höchstgeschwindigkeit 150 Stundenkilometer."
Urban drängte: „Können wir eine solche Lok einsetzen?"
„Technisch ja, auch wenn der zulässige Achsdruck an
der Obergrenze liegt. Also technisch geht es schon, wir haben nur keine E-410 verfügbar." Jetzt schaltete sich zum ersten Mal München ein. Im BND-Hauptquartier saß ein Mann der Deutschen Bundesbahn. „Die neue Europa-Lok von Krupp-AEG", erklärte er, „läuft vorerst nur im Städte-Schnellverkehr von Köln Richtung Holland und Belgien. Genaugenommen findet sich die E-410 in Dauererprobung. Bis vor kurzem gab es noch Probleme mit der Schaltung. Es handelt sich immerhin um eine Wechselstromlokomotive die mit Gleichstrom fahren kann und umgekehrt." „Lassen wir mal Einzelheiten beiseite", schlug Urban vor. „Kann die Bundesbahn so eine Lok zur Verfügung stellen?" „Es muß gehen." „Und sofort auf die Strecke Lyon-Marseille bringen?" „Ich rufe in zehn Minuten zurück", versprach München.
*
„Wie steht es mit der Unterrichtung der Öffentlichkeit?" wollte der Surete-Inspektor endlich wissen. Seine Frage erübrigte sich. Vor wenigen Minuten hatte eine Nachrichtenagentur Wind von dem Attentat bekommen und in Genf angefragt. Die Schweizer, froh darüber, daß der Expreß jetzt außerhalb ihrer Zuständigkeit rollte, hatten vorsichtig, aber bereitwillig Auskunft erteilt. „Es steht spätestens in den Abendzeitungen", fügte Quatembre seiner Erklärung hinzu. „Geheimhaltung wäre besser gewesen." „Aber undurchführbar", sagte Urban. „Auch die Menschen im Zug werden spätestens in Lyon etwas
merken. Dann nämlich, wenn der Expreß nicht hält,
sondern durchjagt." „Dann ist eine Panik nicht weit."
„Richtig", pflichtete Urban dem Kriminalbeamten bei.
„Deshalb müssen wir endlich wissen, woran wir sind."
Quatembre steckte sich eine schwarze filterlose Gitanes
an, lehnte sich zurück, trommelte mit dem Kugel
schreiber auf ein Blatt Papier und wartete. „Was schlägst
du vor?"
„Drei Maßnahmen sind vordringlich", sagte Urban.
Erstens müssen wir alle Verantwortlichen bei Behörden,
Polizei, Innenministerium, Eisenbahnverwaltung sind so
weiter davon überzeugen, daß die Sache kein Bluff ist,
sondern eine todernste Angelegenheit. Ich habe das
Gefühl, daß man allenthalben noch etwas unwillig mit
angezogenen Bremsen und mit halber Kraft reagiert."
„Ist das ein Wunder", meinte Quatembre, „die Sensation
ist keine zwei Stunden alt. Du hingegen kennst den Fall
seit Wochen, für uns ist er nagelneu."
„Ich weiß", sagte Urban, „ihr braucht Beweise, daß
Edwards nicht blufft. Ich schlage deshalb vor, wir liefern
der Öffentlichkeit den Beweis."
Im Konfirmandengesicht von Gil Quatembre verlängerte
sich deutlich die Kinnpartie.
„Willst du den Expreß anhalten und hochgehen lassen?"
Urban winkte ab.
„Nicht den ganzen Expreß."
„Nur den halben etwa? Also nur hundertfünfzig
Menschen."
Urban blieb ganz ruhig, als er erklärte: „Die Verant
wortlichen brauchen Fakten, und wir brauchen auch eine
Bestätigung, daß Edwards' Sprengkörper so ar
beiten, wie er behauptet, daß sie es tun. Wie erfahren wir das? Ganz einfach, durch einen Test." „Du redest ja irre, Mann." „Kein Menschenleben wird gefährdet werden", versprach Urban, „wenn man sich an meine Anweisungen hält. Besteht Funkkontakt mit dem Expreß?" Quatembre hängte sich ans Telefon und sprach mit der Nachrichtenabteilung. „Telefon und Fernschreibverbindung sind okay.“ sagte er. Urban nahm einen Bogen Papier zur Hand und malte den Expreß auf: die Lok, den Salonwagen und die normalen D-Zugwagen. An der Stelle, wo der letzte Wagen am vorletzten hing, machte er einen senkrechten Strich. „Alle Leute im letzten Wagen müssen raus, bis er ganz leer ist. Sie sollen sich auf die übrigen Wagen verteilen. Das geht ohne weiteres. Dann wird der letzte Wagen abgekuppelt. Man wird schon ein paar handfeste Männer im Zug finden, die das mit Hilfe technischer Anweisungen schaffen. Der abgekuppelte Wagen wird nicht mehr gezogen, bleibt zurück, verringert seine Geschwindigkeit auf sechzig, fünfzig, vierzig - ja, und dann wird man sehen, wie der Pendelzünder arbeitet. Geht er hoch, hat Edwards nicht geblufft. Ich fürchte aber, der Wagen wird in tausend Fetzen zerrissen werden." Gil ließ sich den Plan noch einmal durch den Kopf gehen und entschloß sich dann, den Vorschlag weiter zuleiten. Als alles lief, wandte er sich wieder an Urban. „Und Maßnahme Nummer drei?" Urban nahm einen Schluck Kaffee. „Ich muß Roan Edwards kriegen", sagte Urban. Er sagte es wie ein Mann, der ohne einen Cent in der
Tasche in die Kneipe ging, um Schnaps zu kaufen und dem nichts blieb als die Zuversicht, daß ihm der liebe Gott schon zu Hilfe kommen würde.
*
Noch bevor der Expreß Lyon erreicht hatte, sprach Bob
Urban mit dem BND-Hauptquartier.
„Sie haben recht behalten", sagte der Oberst, „Dr.
Mathes war nur der Anfang. Aber was hat Ihr Sergeant
Edwards gegen den Köln-Marseille-Expreß, daß er
zuschlägt wie mit einem Bügeleisen?"
„Wer ist im Salonwagen?" fragte Urban.
„Darüber gibt es nur Gerüchte."
„Kein Arzt ist besser als ein schlechter Arzt", meinte
Urban. „Aber ein Gerücht ist besser als gar keine Ah
nung."
„Den Salonwagen soll jemand von der Sowjetbotschaft
gemietet haben."
„Die Russen fahren nicht allein damit durch die Gegend,
denke ich."
„Der Sonderbotschafter der UdSSR bei der Abrü
stungskonferenz ist ein gewisser Boris Schuwareck. Er
wurde mal mit Ali Adschman gesehen, und vorgestern
spielte er mit El-Said Golf."
„Mit dem Palästinenser-General?"
Sebastian äußerte nichts, was nach Bestätigung klang.
Aber wenn diese drei sich zusammensetzten, dann wußte
Urban, um was es ging. Dann ging es um Geld für neue
Aktivitäten gegen Israel.
Urban pfiff tonlos, wie Wind, der durch eine Fensterritze
heult.
„Und wer hat Interesse", sagte Urban, „daß so etwas
nicht zustande kommt?"
„Ihr Sergeant Edwards", lautete die simple Antwort.
„Ein entlassener US-Feldwebel", zweifelte Urban,
„wohl kaum. Da steckt mehr dahinter. Das hat doch
Drähte bis zur hohen Politik."
„Oder zur verkorksten Nahost-Diplomatie gewisser
Leute."
Hier Vermutungen anzustellen, war nur Zeitver-
schwendung.
„Was macht die Fahndung nach dem Peugeot
Wohnanhänger?" fragte Urban weiter.
„Läuft", hieß es. „Natürlich läuft sie nur mäßig, weil der
Wagen nicht gestohlen ist und der Gesuchte keinen
umgebracht hat."
„Noch nicht. Von Dr. Mathes mal abgesehen, was man
ihm nicht beweisen kann. Verdammte Sauerei das
ganze", fluchte Urban. „Technische Maßnahmen, die
Menschen im Expreß zu retten, genügen aber nicht. Man
muß den Fall mit der Zange nehmen, von zwei Seiten.
Diese andere Flanke ist Edwards."
„Ich halte Sie auf dem Laufenden", versprach Sebastian.
„Was würden Sie mit Edwards denn machen, wenn Sie
ihn hätten?"
„Zerlegen", sagte Urban.
„Urban, immer mit der Axt in der Hand, wie?"
„Man kann auch anders zerlegen, Großmeister, mit dem
Schraubenzieher, mit der Pinzette, und mit feinem
Skalpell."
Urban wollte schon auflegen, weil im Marseiller Büro
immer neue Meldungen einliefen, aber der Boß hat noch
etwas für ihn.
„Übrigens, da wollte Sie jemand sprechen."
„Hieß der Jemand Mary-Antoinette?"
„Nein, es war mehr eine männliche Stimme. Amerikaner.
Namen nannte er keinen. Er sagte, es sei wichtig. Wir
gaben ihm Ihre Marseiller Nummer."
Urban murmelte etwas vor sich hin.
„Etwa der Bursche, der mich anrief und behauptete die
CIA hätte mich belogen?"
„Keine Ahnung."
„Von dem war der Tip mit Edwards' Adresse in Antibes.
Ich kam leider zu spät."
„Vielleicht hat er einen neuen Tip." Urban glaubte nicht
daran. „Mal sehen", sagte er und hängte auf. Aber weil
alles möglich war in diesem Geschäft, und weil es jetzt
auf jeden Hinweis ankam, ließ er immer seine Leitung
freihalten. Aber der Amerikaner meldete sich nicht.
* Von Lyon kam eine Hiobsbotschaft. Ein Sprengstoff experte der französischen Armee war bei dem freiwil ligen Versuch, von einer Brücke auf den fahrenden Ex preß zu springen, vom Dach des letzten Wagens abge glitten und auf den zweiten Schienenstrang gefallen. Der Schwerverletzte wurde mit Schädel- und Genickfraktur ins Krankenhaus gebracht. Der Expreß hatte ein Signal überfahren, das verse hentlich auf Halt stand. An der nächsten Schranke war ein Schulbus gerade noch über den Bahnkörper ge kommen. In Lyon mit seinen Sackbahnhöfen und Baustellen, erforderte die Nonstop-Umleitung des Expreß Stell werkschaltungen, die in den Steuercomputern nicht vorgesehen waren. Nur brutale Eingriffe in den Si cherheitscode der Prozeßrechner machten es möglich, daß der Expreß das Schienengewirr der Bahnhöfe mit seiner Minimalgeschwindigkeit durchfahren konnte. Fest programmierte automatische Weichen mußten handgeschaltet werden. Auf einer Länge von elf Kilo metern benutzte der Expreß sogar den linken Fahr strang, was nach den Sicherheitsnormen der Eisen
bahn ein Verstoß war, bei dem gewöhnlich die Köpfe
rollten.
In der Viertelstunde, bis der Expreß endlich wieder auf
freier Strecke war, sah es rundherum schlimm aus. Und
im Sackbahnhof Marseille würde alles noch schlimmer
und komplizierter werden.
Ein Telefon schrillte und riß Urban aus der Erstarrung
mit der er die Streckenkarte betrachtet hatte.
„Ja", meldete er sich.
„Mister Urban?"
Ein Stromstoß durchfuhr ihn. Er erkannte die Stimme. Es
war der Amerikaner ohne Namen.
„Sie erinnern sich an mich?"
„Klar. Ihr Tip mit Antibes war gut. Leider war ich zu
langsam. Der Vogel war ausgeflogen."
„Sie wären also bereit, nochmals einen Tip von mir zu
akzeptieren?"
„Wenn er mich zu Sergeant Edwards führt, immer dann
wickle ich Sie sogar noch in Goldpapier."
„Danke, ich tu's ganz umsonst."
„So sehr hassen Sie ihn?"
„Nicht Edwards persönlich", erklärte der Anrufer nur
seine politischen Interessen sind nicht die meinen. Gegen
ihn habe ich nichts, aber sehr viel gegen die Ziele, die er
verfolgt. Inzwischen weiß ich darüber noch ein bißchen
mehr. Ich möchte verhindern, daß Edwards die
Geheimkonferenz im Salonwagen stört."
„Die ist wohl schon so gut wie geplatzt."
„Täuschen Sie sich nicht", erwiderte der Unbekannte.
„Diese Männer sind hart im Nehmen. Wenn man
psychischen Druck von ihnen nimmt, die Todesängste,
die sie jetzt ausstehen müssen, dann kommen schnell
wieder zur Sache."
„Mir gehts nur darum, Menschenleben zu retten",
betonte Urban. „Dazu muß ich wissen, wie die Bomben
funktionieren. Doch das erfahre ich nur von Edwards
Also muß ich ihn kriegen. Können Sie mir dabei helfen?"
„Vielleicht", deutete der Anrufer vorsichtig an. „Wie ich
hörte, war er gestern noch am Lac Leman."
„Da sucht man gerade."
„Ja, aber wohl auf der falschen Seite. Probieren Sie es
doch südlich vom See. Da gibt es ein paar
Campingplätze zwischen Evian und der Grenze."
„Merci", sagte Urban.
Er brachte seinen Dank nicht los. Der andere war schon
aus der Leitung.
Danach saß Urban eine Minute da und rechnete. Wenn er
Alarm schlug, würden rings um den Genfer See ganze
Hundertschaften von der Polizei losstürmen und Wirbel
machen. Aber gerade das war gefährlich. Wirbel
kündigten sich an. Ein guter Mann spürte sie im voraus
und entging ihnen, ehe sie zur Wirkung kamen. Roan
Edwards war ihm als guter Mann geschildert worden.
Mit einem Massenauf lauf von Polizei war dem nicht
beizukommen. Im Gegenteil.
„Ich brauche einen Hubschrauber", wandte er sich an Gil
Quatembre.
„Du machst es nicht billig diesmal", bemerkte der
Franzose.
„Was hat der US-Außenminister Kissinger mal gesagt",
erwiderte Urban. „Der nächste Krieg in Nahost wird die
Welt in Brand setzen. Was kostet so ein Tag ‚mittlerer
Krieg' im Durchschnitt?"
„Eine Milliarde vielleicht."
„Und was kostet ein Hubschrauber, eine Aluette zwo?"
„Sechshundert die Stunde."
„Und da behauptest du, ich sei teuer."
Mit saurem Lächeln zog Gil das Telefon heran und
wählte die Nummer der Flugbereitschaft der Armee de
l'Air.
11.
Der letzte Wagen des Köln-Marseille-Expreß war
geräumt worden. Die 322 Fahrgäste verteilten sich je auf
die drei verbleibenden Wagen. Die waren jetzt voll
besetzt, ohne daß es zu eng wurde.
Aber mit tausend Fragen bestürmten die Menschen das
Zugpersonal, den Schaffner und den Kellner, der Kaffee,
Bier und Sandwiches ausgab.
„Warum halten wir nicht in Lyon?"
„Warum fährt der Zug so schnell?"
„Warum fährt der Zug so langsam?"
„Warum mußte der letzte Wagen geräumt werden?‘‘
Der Schaffner war verzweifelt.
„Ich weiß es nicht, Mesdames, Messieurs", beteuerte er.
„Aber das hängt wohl alles mit dem letzten Waggon
zusammen, den wir jetzt abkuppeln."
„Läuft er heiß?"
„Ja, kann schon sein."
„Woher wissen Sie das?"
„Wir haben Zugtelefon."
„Ja, aber warum halten wir nicht?"
Der Schaffner arbeitete sich mit dem Kellner nach hinten
durch.
Zunächst lösten sie die Balgverbindung der Waggons.
Fahrtwind pfiff sofort durch die Öffnungen.
Der Kellner leuchtete, und der Schaffner kletterte hinab
auf die Puffer des Waggons. Unter ihm rasten die
Schwellen vorbei. Die Drehgestelle schwangen und her,
die Radkränze ratterten über die Schienenstöße.
Der Schaffner löste die Kabelverbindungen. Zuerst die
für Strom, dann die für die Druckluftbremsen.
„Verdammt", fluchte er, „warum kann nur die
automatisch kuppeln."
„Ist was?" fragte der Kellner. „Kommst du klar?"
Der Schaffner drehte zunächst die Kupplungs schrauben, die dafür sorgten, daß stets die Puffer eng standen, lockerer. Als das geschehen war, versuchte er den schweren eisernen Zugbügel aus dem Zughaken zu ziehen. Es mißlang. Ratlos stand er auf den Puffern, von Wind und Lärm umtost und triefte vor Schweiß. Da drängte sich ein junger Mann mit Bart und Drahtbrille vor und versuchte ihm einen Rat zu geben. „So kriegen Sie den Bügel nicht aus dem Haken", sagte er, „erst müssen Sie die Kupplungsschraube wieder anziehen." „So, und woher wissen Sie das?" fragte der Zugschaffner wütend. „Ich habe in den Semesterferien als Rangierer gear beitet", erklärte der Student. „In Brüssel." „Schön, dann helfen Sie mir mal." Gemeinsam schafften sie es dann. Schließlich hing der Zugbügel frei, und mit der letzten Drehung an der Kupplungsschraube löste sich der Wagen und ent schwand in der Dunkelheit. Der Student zog den Schaffner herauf. Der schlug die hintere Tür zu und steckte sich erschöpft eine Zigarette an. „Das gehört normalerweise nicht zu meinen Dienst aufgaben", sagte der Schaffner. Der Kellner leuchtete ins Dunkel hinaus. Der Strahl seines Handscheinwerfers erfaßte noch den abgekup pelten Waggon. Der Abstand vergrößerte sich zusehends, denn der Expreß behielt sein Tempo sechzig bei, während der letzte Wagen auf der langen Geraden immer langsamer wurde. Als er etwa dreihundert Meter entfernt war, geriet er in einer Kurve außer Sicht. Der Student wandte sich wieder an den Zugschaffner: „Was ist eigentlich los, Herr Kollege?"
„Keine Ahnung, Monsieur. Wirklich, Ihnen würde ich es sagen." Der Schaffner arbeitete sich durch die gaffende Menge nach vorn, und der Spanier aus dem Abteil des Studenten nahm seinen Platz ein. „Da ist doch was faul", sagte er, „die können uns doch nichts erzählen von wegen Heißläufer und so." In diesem Augenblick wurde der Waggon wie von einer Faust gepackt und geschüttelt. Einen halben Kilometer entfernt, hinter der Gleiskurve, blühte ein gelbroter Feuerball auf. Kurz darauf platzte eine zweite noch größere Glutblase in den Nachthimmel. Mit der Detonation fegte die Druckwelle heran und riß den letzten Wagen fast aus den Achseln. In den Gängen fielen die Menschen übereinander. Eine Frau schrie, ein Kind wimmerte, Panik drohte zu entstehen. Aber dann war alles vorbei, und der Zug rattert weiter nach Süden. „Kein Heißläufer", sagte der Spanier schwer atmend „das war eine Bombe im Waggon. Mindestens zehn Kilo Gelatine-Donarit." Der Student rieb sich die Augen unter der hochge schobenen Brille. „Zwei Bomben", erwiderte er, „und mit Donarit können Sie vielleicht in einem Steinbruch sprengen, das war TNT. Trinitrotoluol." Der Spanier wurde aggressiv. Jetzt, wo seine Frau nicht dabei war, konnte er es dem Burschen endlich geben. „Sie wissen alles besser, he", fuhr er den jungen Mann an. „Sie Klugscheißer, Sie." „Leider", sagte dieser, „leider, Senor."
Im Salonwagen hatten sie die Vorhänge geschlossen. Die Klimaanlage war abgestellt, und die Lampen brannten mit Sparschaltung. Die Amperemeter zeigten an, daß sich die Batterien bis auf 30 Prozent ihrer Kapazität geleert hatten. „Bis Lyon hätten die Akkus anstandslos durchgehalten", erklärte der Salonwagen-Steward einem von Adschmans Leibwächtern, „und ab Lyon fährt der Ex preß normalerweise wieder elektrisch und bezieht die Energie aus der Oberleitung." Der Leibwächter übermittelte dies den Herren in der Bar. Adschman erfaßte als erster die Lage. „Auch wenn wir im Dunkeln sitzen müssen, Hauptsache, das Zugtelefon arbeitet und der Fernschreiber." Eine Zugsekretärin kam herein und brachte ein FS der französischen Eisenbahnverwaltung. In Valence-sur-Rhone, hieß es, fahre eine E-Lok von hinten auf, um den Expreß bis Marseille zu schieben, wo er dann von einer Europa-Lok übernommen würde. Adschman las das Fernschreiben vor, zerknüllte es und warf es zielgenau in den Ascher. „Sie sollen endlich die Bomben entschärfen", keuchte der Russe, „oder wollen die uns ewig mit Tempo sechzig durch Europa karren. Immer im Kreis rum, bis in alle Ewigkeit." „Sind Sie Experte?" fragte Adschman spöttisch, Können Sie Bomben auffinden und kastrieren? Nein? , bitte!" „Dafür gibt es geschulte Fachkräfte." „Ja, in Paris, in Moskau und in London. Aber nicht hier im Zug." „Dann soll man sie, verdammt noch mal", keuchte ElSaid vom Sofa her, wo er der Länge nach ausgestreckt lag, „herbeischaffen."
„Bitte, wie denn?" antwortete Adschman. Äußerlich zumindest wirkte er ruhig und beherrscht, fast heiter sogar. Es schien ihn zu amüsieren, daß einem Mann wie ihm so etwas widerfahren konnte. „Ist kein Arzt im Zug?" fragte der Leibwächter des Palästinenser-Generals leise. „Exzellenz braucht einen Arzt." „Damit brechen Sie ja unsere mühsam bewahrte Geheimhaltung", protestierte Adschman. „Noch weiß niemand, daß wir hier sind." „Und wenn der General stirbt?" „Ist er denn so krank?" „Das Herz, die Leber - er darf keinerlei Aufregung..." Adschman rutschte noch tiefer in den Clubsess schloß die Augen und dachte sich seinen Teil. Er dachte über seinen neuen Partner nach, dieser El-Said aus Bagdad, diesen Israelifresser, der eine Milliarde Dollar von ihm haben wollte, um richtig loslegen zu können. Adschman stellte sich allen Ernstes die Frage, ob es geschäftlich zu verantworten sei, einem kranken Mann, der in der erstbesten Gefahrensituation abschlaffte, soviel Geld anzuvertrauen. „Haben Sie denn keine Medikamente?" fragte er. „Nur von den Nitroglyzerintropfen, die er alle zwei Stunden einnimmt." Soviel hatte Adschman bei seinen Ärzten aufgeschnappt, daß ein Herz schon ziemlich hinüber sein mußte, wenn man es mit Nitro am Pumpen hielt. „Was ist mit seiner Leber?" erkundigte er sich scheinbar besorgt.‘‘ Der Leibwächter sagte nichts, legte aber die Handfläche auf den Bartresen und streckte und krümmte die Finger abwechselnd. Adschman verstand. Der Mann deutete die Bewegungen eines Krebses an.
Leberkrebs also. Dagegen waren sein Bluthochdruck und seine Lues geradezu lächerliche Kinderkrankheiten. Adschman stand auf und nahm den Russen beiseite. „Hören Sie, Boris", sagte er, „wußten Sie, daß es El-Said so hat?" „Nur ein Anfall", beschwichtigte der Russe. „Seine Nerven sind ziemlich strapaziert. Was hat er nicht alles mitgemacht." Adschman durchschaute die Taktik des Russen jetzt. E1 Said war der Mann Moskaus in Nahost. Wenn sie ihn zum Sieg führten, war das eine Garantie, daß er oder seine Nachfolger am Strang der Russen ziehen würden. „Aus der Konferenz, fürchte ich, wird nichts mehr", sagte Adschman. „Warum denn nicht?" „Aber ich bitte Sie, Boris, schauen Sie sich doch mal um." Der reiche Mann vom Persischen Golf ließ eine Flasche Champagner und Erdbeeren bringen und goß den Wein über die Früchte, bevor er trank. Dazu rauchte er eine dicke Zigarre. Draußen huschten die Lichter einer Stadt vorbei. „Das war St. Valie", sagte jemand. Adschman trank genüßlich und kaute die Beeren, dabei wurden seine Gedanken immer klarer. Daß dieser Palästinenser-General ein Schwuler war, das hätte er ihm noch verziehen. Er kannte eine Reihe ganz her vorragender Persönlichkeiten unter den Homosexuellen. Aber daß El-Said auch noch todkrank war, das gab ihm doch sehr zu denken. Über dem Expreß entstand ein Geräusch. Durch die Fenster konnte man nichts erkennen. Das Heulen kam von einem Düsentriebwerk und das harte flattern vom Rotor eines Hubschraubers.
„Na", meinte Adschman lächelnd, „sie scheinen für uns was tun zu wollen." „Endlich", sagte der Russe erleichtert. * Der Lokführer auf der DE-2500 machte mit den Augen immer dieselbe Kreisbewegung. Vom Tachometer blickte er hinaus durch die Frontscheibe, dann nach links zur Treibstoffanzeige und wieder zum Geschwindigkeitsmesser. Die Nadel hing konstant bei 70 km/h. Über Sprechfunk hatte er den Befehl bekommen, zehn Kilometer Mindestdifferenz einzuhalten. Außerdem hatten die Diesel bei diesem Tempo den günstigsten Teillastverbrauch. Der schnurgerade Schienenstrang auf dem der BleuTrain gewöhnlich mit hundertsechzig nach Marseille donnerte, lag verlassen vor ihm. Alle Schranken waren zu, alle Signale standen auf Grün. Freie Fahrt seit Stunden schon kam kein einziger Gegenzug mehr. Beiderseits der Strecke schien das Land verödet zu sein. Man hatte Ernest Delagy unterrichtet. Es seien Bomben im Zug, hieß es. Sie lösten bei Tempo fünfzig oder sechzig aus. Aber was geschah, wenn die Kraftstoffpumpen den letzten Tropfen Gasöl aus den Tanks gesaugt hatten. Darüber hatte man ihm nichts gesagt. Zwanzig Minuten später bekam Delagy endlich neue Anweisungen. Auf einem Nebengleis bei Valence wartete eine ELok. Sobald der Expreß durch war, würde sie ihm nachfahren und ankuppeln, dann ging's im Schiebebetrieb weiter. Bomben an Bord, dachte der Schweizer Lokführer Ernest Delagy. Wenn nun eine Schranke nicht zu
wenn ein Fremdkörper auf den Gleisen liegt, was dann? Bremsen bedeutete den Tod. Wenige Kilometer vor dem Vorsignal Valence hörte den Hubschrauber. Erst hörte er ihn, dann sah er ihn. Der Helikopter hatte die Landescheinwerfer eingeschaltet und überholte die Lok. Jetzt hing er schräg vor ihr, etwa zehn Meter darüber. Allmählich kam er näher und tiefer. Acht Meter blieben fünf ... Die verdammte Oberleitung war im Wege. Droben ging eine Bodenluke auf. In der Luke erschien ein Gesicht. Sie schwenkten etwas heraus, das aussah wie ein stählerner Arm. Daran baumelte etwas, ein Seil mit Schlaufe. Und dann trat tatsächlich einer in diese Schlaufe und hing plötzlich frei. Sein Körper pendelte stark hin und her. Der Fahrtwind riß an seinem Overall. Er kam herunter, links vom Hochspannungsfahrdraht, spreizte einen Fuß weg und suchte Halt. Plötzlich war er weg und zog himmelwärts davon. Der Lokführer begriff erst nach fünfzig Metern warum. Der Expreß donnerte durch eine kleine Bauernbrücke. Wieder gaben sie ihm von oben Signal. Der Helikopter steuerte sich erneut ein. Der Mann versuchte den zweiten Anlauf. Er mißlang abermals. Diesmal wegen der Fahrdrahtverspannung. Erst beim vierten Versuch kam er auf dem Dach auf. Der Lokführer sah den Hubschrauber wegziehen, ohne den Mann am Seil. Dann vergingen Minuten, ehe ein Gesicht an der Fahrstandtür auftauchte. Es war der Mann aus dem Helikopter. Kopf nach unten hing er vor dem Fenster. Der Lokführer drehte sich um und kurbelte die
Scheibe ab. Der schlanke Bursche turnte herein und blieb
erst einmal auf dem Boden sitzen.
„Mann", keuchte er, „einmal und nie wieder. Das ist was
für Zirkusleute."
Auf dem Rücken trug er einen flachen Ledertornister.
„Bist du Artist?"
„Nein, Sprengmeister."
„Wir sitzen auf dem Pulverfaß", sagte der Lokführer „als
wär's ein Faß Burgunder."
„Ich soll das Faß anzapfen", sagte der Bombenent-
schärfer. „Wo geht's hier in den Keller?"
Die Lichter von Valence tauchten in der Dunkelheit auf.
Der Bombenspezialist steckte sich eine Zigarette an.
„Na ja, anzapfen ist zuviel gesagt", meinte er ein-
schränkend, „erst muß ich die Biester finden, dann ab-
horchen wie ein krankes Kind. Herz- und Lungentöne
feststellen und überlegen, was man tun kann. Fürchte
nur, daß man da verdammt wenig tun kann. Da war
nämlich ein Könner am Werk."
Das Hauptsignal von Valence stand auf Freie Fahrt. Als
der Expreß durchfuhr, standen eine Menge Leute auf
dem Bahnsteig. Aber sie winkten nicht. Sie hatten
allesamt betretene Gesichter.
Die Reporter hielten ihre Kameras hoch, die Elektro
nenblitze und die Filmleuchten flammten grellweiß auf.
Jetzt bist du auch noch der Held im Fernsehen, dachte
der Lokführer. Aber er machte sich nichts aus so was.
Sein Leben war ihm mehr wert.
* Die wartende E-Lok setzte sich in Bewegung, als der Expreß den Bahnhof von Valence verlassen hatte. Die Weiche schnappte. Die schwere elektrische
Schnellzuglokomotive kam rasch auf Tempo und bog auf
das Hauptgleis ein, auf dem der Bomben-Expreß soeben
Richtung Süden durchgerollt war.
Der Führer der E-Lok, ein erfahrener Beamter von 56
Jahren, erklärte den Herren hinter ihm im Fahrstand, um
was es ging.
„Er fährt siebzig, und ich habe jetzt hundert drauf.
Sobald ihn mein Kopfscheinwerfer erfaßt hat, drossle ich
und komme so sanft ran, daß ich den hinteren Wa
genpuffer berühre wie Marmelade die Butter. Da können
Sie ein Ei zwischenlegen, Messieurs, und es bricht nicht
entzwei."
Die vier Männer hinter dem E-Lokführer, ein Arzt, ein
Eisenbahningenieur, ein weiterer Sprengstoffexperte der
Armee und ein Kriminalbeamter, sprachen leise
miteinander.
„Wenn wir die Bomben nicht entschärfen können, gäbe
es da nicht eine Möglichkeit?"
„Welche?"
„Die Menschen auf die Lok klettern zu lassen."
„Die Frauen, die Kinder und die alten Leute?"
„Oder in einen Waggon, den wir heranbringen."
„Und wer hält solange den Zug auf Tempo siebzig?"
„Kann man das Tempo nicht irgendwie simulieren, ich
meine für die Bomben."
„Gern", erklärte der Fachmann, „wenn Sie mir sagen
wie."
„Man muß die Leute evakuieren", schlug jemand vor.
„Während der Fahrt? Wollen Sie links und rechts vom
Bahndamm Matratzen auslegen, auf zehn Kilometer
Länge? Oder Stroh, und dann springt mal schön? Das
gibt doch nur eine Panik."
„Warum ausgerechnet dieser Zug?"
„Da sollen wichtige Leute drin sein."
„Und ausgerechnet Bomben. Fand man denn nichts
Humaneres?"
Der Arzt sagte: „Und wenn man die Bomben einfach aus dem letzten Fenster wirft? Bis sie aufkommen, ist der Zug davon. Oder wenn man alle die Bomben in den letzten Wagen bringt und diesen dann abkuppelt?" „Sie haben soviel Ahnung von Bomben", sagte der Armeeoffizier, „wie ich von einer Kropfoperation Doktor. Diese Bomben, fürchte ich, sind eine Teufels konstruktion. Wenn sie nicht schon die Berührung einer Mücke hochjagt, dann gewiß eine Lageveränderung um ein bis zwei Grad. Ein Ring an Ihrem Finger, der Magnetismus eines Feuerzeugs in Ihrer Hosentasche genügt schon, um die Zünder auszulösen." „Pardon, ich glaube, ich habe wirklich keine Ahnung", sagte der Arzt betreten. „Der Zug!" rief der Lokführer plötzlich und nahm Fahrt weg. Ganz langsam, Meter um Meter, näherte er sich der letzten Wagen. Die Distanz schrumpfte. Der Lokführer bremste ein wenig mehr, weil er zu schnell war. Die letzten Meter, die letzten Zentimeter kamen. Ein kleiner Anlauf, damit die Kupplung in die andere einrastete. Ein Ruck, metallisches Scheppern. Geschafft! Alles atmete auf. Der Eisenbahningenieur nahm das Sprechfunkgerät und rief den Schweizer auf der DE-2500. „Sie können abkuppeln, Delagy. Haben Sie noch Treibstoff?" „Für rund zwanzig Kilometer." „Dann machen Sie, daß Sie wegkommen. Volldampf voraus. In Livrol leitet man Sie auf ein Nebengleis. Gute Fahrt!" Am veränderten Druck, den der Zug auf die Schiebelok ausübte, merkten sie, daß die Schweizer Maschine sich gelöst hatte. „Ich steige jetzt nach vorn in den Salonwagen", sagte der Eisenbahningenieur zu dem E-Lokführer, „und
halte die Augen auf. Sie sind ja so gut wie blind. Ich bin
zwar sicher, daß die Strecke so frei ist wie nie zuvor,
aber man weiß ja nie."
„Und ich halte Tempo siebzig", sagte der Lokführer, „bis
auf weiteres. Komme was da will."
* Der Schweizer Lokführer der DE-2500 fühlte sich bei nahe glücklich, als die Automatikkupplung schnappte und er sich Meter für Meter vom Todes-Expreß löste. Aber das Gefühl hielt nicht lange an. Noch war der Expreß wie eine Faust im Nacken hinter ihm. Delagy schaltete die Fahrstufen hinauf, trieb die Lok auf Tempo 120. Und wenn es die letzten Tropfen Diesel kostete, er wollte Abstand gewinnen. Das Vorsignal von Livrol-Nord kam. Wenig später das Hauptsignal. Der Bahnhof tauchte auf, taghell erleuchtet. Delagy sah das Zeichen des Fahrdienstleiters, sah gleich darauf die Weiche. Sie befreite ihn aus der eisernen Umklammerung der Hauptspur und brachte seine Lok auf ein Nebengleis. Hinter ihm schnappte die Weiche wieder zurück. Er bemerkte den Wechsel der Leuchtanzeige im Rück spiegel. Die dirigierten ihn weit hinaus, irgendwohin ins In dustriegelände. Der Schweizer Lokführer atmete er leichtert durch. Das hast du hinter dir, dachte er und leitete die Bremsung ein. Die Tachonadel zitterte gegen den Uhrzeigersinn. Tempo 80 - 70 - 60 - 55 ... Geschafft, dachte er. Den Bruchteil eines Herzschlags später war er nur noch inmitten einer Hölle von zerfetzten Maschinen
teilen. Seinen Körper schleuderte der Druck durch die Signal-Scheibe. Die zwei Sprengkörper unter den Henschel-Lok - die Bremsung hatte sie ausgelöst - machten mit den 80 Tonnen Stahl kurzen Prozeß. Die Urgewalt der Detonation kippte den Koloß aus den Schienen und verwandelte ihn binnen weniger Sekunden zu Schrott. 12. Der Exsergeant Roan Edwards lag auf dem Klappbett seines Wohnwagens und spielte die Frequenzen aller erreichbaren Sender durch. Im Ohr eingeklemmt hatte er den knopfgroßen Hörer. Die Pistole, eine Magnum 357, lag griffbereit zwischen seinen Beinen. Was er hereinbekam, befriedigte ihn. Jetzt, bei den 22-Uhr-Nachrichten, brachte es sogar schon BBC London. Der Köln-Marseille-Expreß, so hieß es übereinstimmend, sei mit hochbrisanten Automat-Bomben bespickt. Über dreihundert Menschen und einige nicht näher bekannte Männer aus der Politik schwebten in höchster Lebens gefahr. Der Zug könne sein Tempo nicht unter vierzig Stundenmeilen verringern, sonst würde er atomisiert. Spezialisten aus ganz Europa seien an der Arbeit, um eine Katastrophe zu verhindernd „Zu verhindern", murmelte Edwards, „wie denn. Wollt ihr den ganzen Zug unter Wasser setzen und warten, bis die Behälter aufrosten und das TNT naß wird?" Er lachte stillvergnügt vor sich hin. Doch plötzlich lachte er nicht mehr. Er war konzentrierte Aufmerksamkeit. Sein anderes Ohr hatte etwas aufgefaßt. Das freie
Ohr hatte wieder dieses Geräusch registriert, dieses Kratzen, als sei ein Hund an der Tür. Es gab eine Menge Hunde auf dem Campingplatz. Aber jetzt, um diese Zeit? Da war es wieder. Er löschte das Licht, nahm die Waffe und lud sie durch. Dann schlich er zur Wohnwagentür und ließ sie aufschwingen. Nichts. Natürlich nichts. Seine Nerven waren eben ein bißchen strapaziert. Draußen blieb Edwards einen Moment stehen. Da knirschte hinter dem Wagen etwas verhalten, wie langsame Schritte. Egal wie rum du gehst, sagte er sich und schwang sich über den Balken, der den Stellplatz abgrenzte. Er landete in einem Abfallhaufen und fluchte. Da waren sie wieder, die Schritte. Diesmal auf Kies. Es kam vom Wasser her, nur dort gab es Kies. Jetzt kam es darauf an, daß er ein Versteck fand und daß er den anderen gegen den Mond hatte. Edwards kroch auf das Buschwerk zu, kletterte über die niedergebrochene Mauer und wartete. Seine Augen hatten sich mittlerweile ans Dunkel ge wöhnt. Tatsächlich, da sah er etwas. Einen Mann. Seine Figur so groß wie er, so breit wie er. Schon war die Sil houette wieder weg. Wer kann er sein, was kann er wollen, durchfuhr es Roan. Noch fühlte er sich in seiner Tarnung als Cam pingtourist absolut sicher. Aber zweifellos gab es bei der Kripo und bei den Geheimdiensten Bluthunde von großartigen Fähigkeiten. Lächerlich. Wie sollten sie jetzt schon seine Spur ... Kaum sieben Stunden, nachdem der Expreß Genf verlassen hatte. Roan schob sich auf den Strand hinaus, trat auf ein Stück Blech und brachte es zum Scheppern. Krachend schlug er hin. In dieser Sekunde blitzte eine starke Handlampe auf.
Wie ein aufgescheuchtes Tier versuchte er sich ir gendwohin zu verkriechen. Doch der Lichtkegel folgte ihm und blendete ihn. „Waffe weg!" rief jemand. Roan hatte das Gefühl, eine Schießscheibe zu bilden.! Verzweifelt sprang er auf, versuchte im Zickzack dem Lichtkegel zu entkommen. Statt dessen kam der Verfolger immer näher. Noch einmal versuchte Edwards einen Haken zu schlagen. Bis zum Wasser hatte er höchstens zwanzig Meter. Weniger vielleicht. Er rannte darauf zu. Doch es war wie eine Sackgasse. Er prallte gegen eine Wand, gegen einen Mann, der sich anfühlte wie Zement. Edwards schlug zu. Sein Boxhieb verfehlte das Ziel. Dafür bekam er eine Faust zu spüren, und auch diese Faust war wie Zement. Er taumelte. Und dann war es ihm, als schlängen sich eiserne Bänder um seinen Oberkörper. „Gib auf, Edwards", keuchte jemand hinter ihm. „Du hast doch gar keine Chance mehr, Sergeant." * Der Exsergeant kauerte im hinteren Winkel seines
Klappbettes. Noch schwer atmend von der Anstrengung
preßte er die Hand gegen seine Leberseite.
„Wer bist du, Menschenskind?"
„Robert Urban", sagte der Bursche, dem man nicht die
geringste Anstrengung oder Unordnung ansah.
„Bundesnachrichtendienst Deutschland."
„Was willst du?"
„Dich. Weil du Roan F. Edwards bist."
„Wie kommst du auf meine Spur, verdammt?"
Der Mann, der ihn überwältigt hatte, steckte sich aus
einer blaugoldenen Soft-Packung eine Zigarette an und
grinste, als könne er nicht anders als grinsen.
„Serafine", sagte er. „Laß die Frau, die dich liebt, nie
mals weinen." Von den Anrufen dieses Unbekannten
sagte er noch nichts.
„Serafine", murmelte Edwards, „dieses Biest. Nicht klug,
aber superschlau. Sie durchschaut einen und läßt es sich
nicht anmerken. Warum kann diese Frau so hassen?"
„Ein Mann mit deinem Job", sagte Urban, „sollte nichts
mit Frauen anfangen."
„Ich hab Schluß gemacht."
„Zu spät."
„Wo trafst du sie?"
„In Antibes."
„Hüte dich vor ihr, German."
Urban vertiefte sein Grinsen zu einem Lächeln.
„Ich bin immer auf der Hut. Wäre ich es nicht, säße ich
jetzt da, wo du sitzt. Und nun zum Thema, großer
Bombenmeister."
Jetzt, wo er wußte, wer dieser Mann war und warum er
ihn gefunden hatte, schien Roan F. Edwards den ersten
Schock überwunden zu haben. Mit Serafines Hilfe
konnte ihn schließlich jeder aufspüren. Dafür brauchte
man kein Übermensch zu sein. Und außerdem kam der
Junge vom BND. Polizei, Kripo, hätte ihn vielleicht
aufgeregt, aber ein BND-Mann, der war fast wie ein
Kamerad.
„Frag mich", sagte Edwards, „deinen Fragen kann man ja
doch nicht entgehen."
Urban ließ sich nicht zweimal auffordern.
„Was hast du mit dieser Knallerei im Expreß vor?"
Edwards hob eine Braue.
„Ich mach' ein bißchen heißen Tod im kühlen Sarg -im
vollklimatisierten Sarg", setzte er höhnisch hinzu.
„Und dein Motiv? Kein Mensch krümmt auch nur einen
Finger ohne Grund."
Edwards steckte sich eine Camel an, lehnte sich zu
rück und blickte zur Wohnwagendecke hinauf. Dabei zog er ein Gesicht, als käme jetzt wer weiß welche verquaste Mischung aus Philosophie, Politologie und Weltanschauung zutage. Aber der Bursche konnte sich verstellen. „Ich kriege hunderttausend Dollar", sagte er schlicht und einfach. „Von wem?" „Nennen wir sie meine Freunde", fuhr Edwards fort. „Meine Freunde haben einen großen Computer. In diesem Rechner wurde alles durchgespielt, jede Phase, jede Aktion und Reaktion. Sogar die technischen Anforderungen hat er uns vorgegeben, die an die Bomben zu stellen sind. Der Computer nannte uns auch die Gegen maßnahmen des Krisenstabes, der Kripo und der Ge heimdienste zwecks Abwendung der Katastrophe. Alles wußten wir schon lange im voraus." „Auch, daß ich dich heute nacht hier finden würde Serg?" Edwards machte eine, wegwerfende Handbewegung. „Mir kann keiner was anhaben, denn beweisen läßt sich nichts. Im übrigen geht es mir und meinen Freunden darum, diese drei Männer an den Schalthebeln der Macht voll und trocken zu erwischen. Ich meine die Burschen im Salonwagen. Boris Schuwareck, Ali Adsch man und El-Said. Said ist Führer der PLO und Adsch man der große Geldsack der VAR. Ihnen und dem Russen, der sie zusammenbrachte, wollen wir ein kleines Israel bereiten. Verstehst du, was ich damit meine? Sie sollen einmal im Leben fühlen, was die Israelis spüren. Millionen Menschen auf kleinstem Raum zusammengedrängt, rings umgeben von Feinden - Libanesen, Irakis, Ägyptern, Saudis, Libyern. Die entscheidenden Männer im Salonwagen sollen nur einmal in jene Angstzustände, in jene Panik geraten, die dieses tapfere, um seine Freiheit ringende Volk Israel ständig er-|
duldet. Wenn die drei Fettsäcke einmal am eigenen Leib diese ausweglose Situation spüren, wird das ein heilsamer Schock in Richtung auf ihre Vernunft und Friedensbereitschaft sein. Und vielleicht erreichen wir das damit." „Okay", sagte Urban, „das betrifft die Gentlemen im Salonwagen. Es mag funktionieren oder nicht. Ich fürchte, daß es eher nicht klappt. Menschen vergessen schnell. Vor allem Dinge, die sie vergessen wollen. Aber was wird aus den dreihundert Fahrgästen im Expreß?" Jetzt begann Roan F. Edwards wieder zu lächeln. „Ein Problem würde wirklich nur entstehen, wenn der Krisenstab so idiotisch wäre und den Expreß in Richtung Spanien umleiten würde. Spanien hat andere Schienenbreiten. Das Umspuren an der Grenzstation La Plaine auf spanische Breitspur hätte die Bomben ausgelöst." „In der Umspuranlage kann der Zug nur fünfzehn Kilometer schnell sein", sagte Urban. „Spanien hat im merhin 23 Zentimeter Spurdifferenz. Und außerdem sind die Wagen aus Köln gar nicht mit den variablen Fahrgestellen ausgerüstet." „Das wäre allerdings eine Katastrophe gewesen", gab Edwards unumwunden zu. „Hättet ihr dann eingegriffen?" Der Amerikaner zuckte wieder mit der Braue. „Es geht letzten Endes um mehr, oder?" Urban hatte noch Edwards Ausführungen im Ohr. „Ich dachte, es geht nur um Schuwareck, El-Said und Adschman." „Treib' mich nicht in die Enge", bat ihn Edwards. „Ich bin doch nur die Hand, der ausführende Finger, der am Arm dieses großen Körpers hängt, der für euch alle un sichtbar bleiben wird." Wenn Bob Urban je den Eindruck gehabt hätte, daß
einem Mann bis zu einem gewissen Punkt beizukommen war und nicht weiter, dann hatte er diesen Eindruck bei Roan Edwards. * „Bleib mir vom Hals mit Humanität, mit Nächstenliebe mit Barmherzigkeit, mit Ehre", sagte Roan, nachdem Urban versucht hatte, ihm ins Gewissen zu reden. „Ich mag dieses falsche Getue nicht." „Eines Tages werden sie dich kriegen und zur Rechenschaft ziehen. Wie einen miesen Ganoven wird man dich hinstellen, und dann adieu du schöne Welt. Das kostet dich lebenslang Zuchthaus, so ein Verstoß gegen Ordnung und Recht." „Recht ist nicht Gerechtigkeit", sagte Roan und war fortan in diesem Punkt unansprechbar. Urban versuchte ihn über die Technik zu kriegen. „Als Konstrukteur von Mehrkreiszündern war dir nur Dr. Mathes über, und der ist tot." „Jetzt bin ich der Größte", sagte Roan ganz unemoti onell. „Faßt meine Bomben besser gar nicht erst an. Ein falscher Hauch und keiner atmet mehr." „Gibt es eine Möglichkeit, sie zu entschärfen?" fragte Urban. Edwards schüttelte den Kopf. „Es sind insgesamt zehn Bomben", sagte er, „zehn' Stück und einander so gleich wie Zwillinge, wie eineiige Zehnlinge. In jedem Wagen sitzen zwei. Sie reagieren auf Berührung, Lageveränderung, Magnetismus, Hitze, Kälte und Verzögerung. Dazu kommen noch ein paar Spezialitäten, die ganz neu sind und die keiner kennt, eben ein paar Edwards-Tricks. Nein, man kann sie nicht entschärfen. Nicht einmal ich könnte das." „Das glaube ich nicht", antwortete Urban. „Du hast ihnen die Giftzähne gesetzt, und du weißt, wie man sie zieht."
„Aber ich sag's dir nicht", antwortete Roan unerbittlich
hart. „Warum auch."
Dann eben anders, beschloß Bob Urban. Er überlegte,
wie er Edwards erwischen, ihn packen könnte, so, daß er
keinen Ausweg mehr sah, und daß es ihn so schmerzte,
daß er aufgab und sei es unter Tränen.
Er war bitter entschlossen, diesen Burschen fertigzu
machen.
„Ganz egal", sagte Urban, „wer deine Hintermänner sind.
Aber es gibt einen Mann unter ihnen, der ein Verräter ist,
der die Interessen der Gegenseite verfolgt. Nicht Serafine
allein brachte mich auf deine Spur. Auch er half mir."
„Wie heißt er?"
„Keine Namen, bitte."
„Aha, der große Unbekannte", feixte Roan und lachte
hell auf.
Urban fürchtete, mit der Zermürbungsaktion auch nicht
viel Erfolg zu haben. Diese Mauer war so nicht
aufzubrechen.
„Roan", drohte er, „vorhin sprachst du vom heißen Tod
im kühlen Sarg. Entweder du lieferst jetzt Fakten, wie
die Katastrophe abzuwenden ist, oder dir blüht etwas
Besseres: Ein langsamer Tod im heißen Sarg."
„Fang schon an, Mann", antwortete Roan Edwards mit
abschätzendem Blick. Gegen dich komme ich noch klar,
schien er auszudrücken, wenn die Waffen stimmen.
Jetzt, wo die Dunkelheit nicht mehr Urbans Verbündete
und der Überraschungseffekt nicht mehr sein Partner
war, blieben ihm nur noch die Fäuste. Mit der Waffe
töten wollte Urban den Amerikaner nicht, also blieb nur
brutale Knochenarbeit.
Blitzschnell sprang er auf und stürzte sich auf diesen
hartgesottenen Gegner. Roan schien damit gerechnet zu
haben.
Ebenso rasch wie Urban kam, zog er die Beine bis zum Bauch. Urban prallte gegen Edwards' Fußsohlen und wurde wegkatapultiert. Er machte einen Satz nach hinten, schlug gegen den Spind, daß das Holz krachte. Im gleichen Moment flog etwas gegen die Decke, daß die Leuchtstoffröhre zerbarst. Urban war angekratzt, aber nicht angeschlagen. Im Dunkeln sprang er in die Richtung, wo er Edwards vermutete, aber Edwards kannte den Wohnwagen inzwischen wie seine Hosentasche. Zwei, drei Schritte, ein Poltern, und er war draußen. Urban stieß mit dem Hüftknochen gegen den Kühlschrank, rammte gegen den Herd. Er tastete um sich, bis er das Loch fand, und als er im Freien war, sah er den Amerikaner gerade noch rennen. Er lief mit rudernden Armbewegungen, wie ein spastisch Gelähmter, der mit großer Mühe wieder laufen gelernt hatte. Aber dann wußte Urban, daß Edwards wie ein anderer lief, nämlich wie Emil Zatopek. Der ExSergeant hatte ein guttrainiertes Tempo drauf. Plötzlich blieb er stehen und schoß. Wußte der Teufel, wo er die Waffe erkrapscht hatte, aber er schoß. Und Urban mußte in Deckung. Wenig später sprang weiter droben ein Motor an. Jetzt erst kam Urban zum Bewußtsein, daß der Peugeot weder neben noch vor dem Trailer stand. Reifen schliffen im Sand. Der Wagen fuhr weg. Ohne Licht raste er Richtung Hauptstraße, Richtung Evian. Keuchend stand Urban gegen den Stamm einer Ulme gelehnt. Den kriegst du nicht mehr, dachte er, der fährt bis Genf, läßt die Karre stehen, knackt einen anderen Wagen und verduftet. Europa war groß genug für einen cleveren Mann, um sich darin zu verstecken. „Scheiße", fluchte er. Aber was hätte es schon genützt, ihn zu haben. Der
Bursche war durch die Schule der US-Pioneers gegan gen. Der schwieg eisern. Vielleicht hätte man ihn ir gendwann einmal zum Reden gebracht, aber bestimmt nicht in den nächsten 24 Stunden. Und auf die kam es jetzt an. 13. Verbrechen zogen immer neue Verbrechen nach sich. Die Kripo sprach von Anschlußtätern. Vielleicht lag es daran, daß die Öffentlichkeit von Presse, Rundfunk und Fernsehen zu ausführlich un terrichtet wurde. Der Krisenstab registrierte jedenfalls auf der Strecke Lyon-Marseille ungewöhnliche Vorgänge. Seitdem weltweit bekannt geworden war, daß der Expreß mit dreihundertzwanzig Menschen in Atome zerrissen wurde, sobald er seine Geschwindigkeit unter 60 km/h verringerte, ging die Sabotiererei los. In der Rhone-Ebene, südlich der Nougatstadt Mont ellimar, hatte ein Unbekannter das Freifahrsignal auf Rot geschaltet. Aber der Expreß war durchgefahren. „Jetzt steht ein alter Lastwagen beim unbeschrankten Übergang Pierrelatte", hieß es in der Zentrale des Krisenstabes. Der Mann von der Bahn tobte. „Ja sind die denn alle verrückt! Wegräumen, sofort wegräumen! Notfalls sprengen und ab sofort keine Ra diomeldungen mehr über den Kurs, den der Zug nimmt." „Wie wollen Sie das machen", sagte einer. „Die Reporter sind gewiefter als wir." „Was sind das für Menschen", fragte jemand, „die sich am Unglück anderer weiden."
„Es sind die, die Häuser anzünden und dann beim Löschen helfen, oder die, die von Straßenbrücken Steine auf Autos werfen und dann den Notarztwagen rufen, wenn es geknallt hat." „Weiß nicht", meinte ein Beamter von der Polizei, „das sieht mehr nach gezielter Sabotage aus. Ob wir es noch mit einer weiteren Gruppe von Attentätern zu tun haben? Gruppe eins praktiziert die Bomben in den Zug, Gruppe zwei versucht ihn zu stoppen." „Ist da noch Logik drin?" „Perverse sind nie logisch." ' „Auf ihre Art schon." Der Lkw auf dem Bahnkörper konnte abgeschleppt werden, kurz bevor der Zug durchkam. Mit der Zeit be kam der Krisenstab die Situation in den Griff. Alles wurde getan, um eine Katastrophe zu verhindern. Der Innenminister in Paris stellte Polizeikommandos frei, und das Verteidigungsministerium alarmierte die Ar meestützpunkte längs der Strecke. Um 23 Uhr rückten die ersten Kompanien aus, um die Bahnlinie vor weiteren Sabotageaktionen zu schützen. Alle zweihundert Meter wurde ein Soldat mit Ma schinenpistole postiert, um seinen Abschnitt zu sichern. Und die besten Köpfe im Krisenstab brüteten Notpläne aus. Noch zwei Stunden, und der Expreß würde bei Tempo siebzig Marseille erreichen. * Die einzige Europa-Lok, die verfügbar war, stand um 23 Uhr noch in Genua auf der Schmiergrube. „Es ist zum Verzweifeln mit den Italienern", sagte der Präsident der Eisenbahndirektion Süd zu seinem Assi stenten, „die wissen doch, was da unterwegs ist. Wir ha
ben keine andere Möglichkeit, als den Zug von Marseille an der Küste entlang nach Genua zu leiten." „Vorausgesetzt, es gelingt, die Bomben zu entschärfen." Der hohe Eisenbahnbeamte nahm seine Hornbrille ab und blickte schräg nach oben zu seinem stehenden Mitarbeiter. „Glauben Sie daran, nach dem, was man hört? Los, verbinden Sie mich mit meinem Kollegen in Genua. Wir müssen denen Dampf machen. Die Viersystemlok muß spätestens um vier Uhr in Monte Carlo sein, um den Expreß zu übernehmen. Sonst ist es aus und fini." Bis der zuständige Mann aus Genua am Telefon war, wurde der Zeitplan diskutiert. „Kurz vor Mitternacht läuft der Zug Marseille an. Wir leiten ihn über den Oststrang und setzen vorn eine E-Lok vor." „Eine Güterzuglok", entschied er Präsident. „Schneller als siebzig fährt der Zug nicht, aber eine G-Lok hat mehr Reserven für die Bergstrecke. Ich meine, die kürzere Getriebeübersetzung." „Ein Uhr Toulon", sagte der Mann mit dem Rechen schieber. „Zwei Uhr Le Luc." , „Dann ist er um drei Uhr in St. Raphael, vier Uhr in Antibes." „Fünf Uhr in Monte Carlo. Da muß dann die Europa-Lok für das italienische Stromsystem bereitstehen. Steht sie nicht da, weiß der liebe Gott, wie wir den Zug weiterbringen." „Von Genua ab müssen dann die Italiener die Ver antwortung tragen", murmelte jemand, als das Telefon summte. Die Direktion Genua war am Apparat. Der Italiener versicherte seinem französischen Kollegen, daß die E-Lok bereits nach Monte Carlo abgefer
tigt sei. Zwar gebe es noch einige Schwierigkeiten un tergeordneter Natur, aber die hoffe man zu meistern. „Schwierigkeiten welcher Art?" fragte der Franzose drängend. Der Italiener sagte, er würde sich wieder melden. Wenig später erfuhr der französische Krisenstab, daß die Europa-Lok aus Genua bereits nach fünfzig Kilometern in Savona gestellt worden war. Sie erfuhren auch, warum sich die Abfertigung der Maschine in Genua so lange verzögert hatte. Der Sender Monaco brachte es mit den Spätnachrichten. Der Sprecher sagte: „... deshalb hat die Leitung der italienischen Gewerkschaften in letzter Minute beschlossen, daß ab Mitternacht, also heute, Mittwoch, null Uhr, das gesamte Personal der italienischen Eisenbahnen in den Streik tritt." „Mein Gott", murmelte der französische Bahnpräsident und tupfte sich den Schweiß von der Stirn, „dann ist das italienische Schienennetz ja gar nicht befahrbar. Die armen Menschen im Zug. Das ist ihr Todesurteil." Beklemmende Stille senkte sich auf die versammelte Krisen-Mannschaft. Ein Bleistift fiel zu Boden, nebenan schrillte ein Telefon, eine Uhr tickte überlaut. Jemand öffnete das Fenster. Straßenlärm drang herauf. „Was jetzt?" fragte ein Polizeibeamter. Der Oberst, der die Sicherung der Viadukte und Tunnels durch Militäreinheiten vorbereitete, hängte sich sofort ans Telefon. „Ich bin gut befreundet mit General Giuseppe Marradi", erklärte er. „Jetzt muß man versuchen, auf der Ebene der Armee eine Lösung zu finden." „Na, dann viel Glück", wünschte der Surete-Chef von Marseille.
Bei all der Hektik fiel den Beamten erst reichlich spät auf, daß zwischen Toulon und Le Luc im Gebirge einige Langsamfahrstrecken verzeichnet waren. „Das auch noch", klagte der Präsident. „Geben Sie mir den Direktor des Gleisbaureferates." „Danke", sagte der Präsident und rief seine Mitarbeiter zusammen. Die Schnellkonferenz entschied, daß nur eine Chance blieb, die dreihundert Menschen im Bombenexpreß wenigstens bis an die Küste zu bringen. Die Entscheidung lautete: Die drei D-Zugwagen müssen abgehängt werden. „Also räumen." „Das bedeutet, dreihundertzwanzig Menschen im Sa lonwagen zusammenpferchen." „Es geht nicht anders." „Dreihundertzwanzig Menschen - wissen Sie, wieviel das sind und wie groß der Salonwagen ist? Die müssen ja in Schichten aufeinander liegen wie Heringe in der Dose." „Es geht aber nicht anders, Monsieur Präsident", betonte einer der verantwortlichen Beamten. Der alte weißhaarige Herr, der ein Jahr vor der Pen sionierung stand, gab sich einen Ruck. „Verbinden Sie mich mit dem Zugpersonal. Wir haben noch siebzig Minuten Zeit. Mal sehen, was die Bombenkommandos ausrichten. Vielleicht schaffen sie es." * Bob Urban, der um 0 Uhr 55 aus Genf kommend mit dem Hubschrauber landete, zerstörte alle ihre Hoff nungen. „Die Bomben sind nicht entschärfbar", erklärte er. „Ich habe den Mann gesprochen, der sie baute."
Erschöpft, grau im eingefallenen Gesicht und dreckig,
fiel er in einen Sessel.
„Wie viele sind es?"
Er hob beide Hände und streckte alle Finger weg.
„Zehn."
„Zwei gingen mit dem ersten Wagen hoch, zwei mit der
Schweizer Lok, bleiben noch sechs. Na ja, und das
genügt."
Urban ließ sich über den Stand der Ereignisse unter
richten. Er wußte auch keine bessere Lösung, als vor der
Langsamfahrstrecke im Gebirge alle Wagen bis auf den
letzten abzuhängen.
„Nur so gewinnen wir Zeit."
„Aber dreihundert Personen in einem Wagen. Die treten
sich ja tot", bemerkte jemand.
„Ganz abgesehen von der Panik."
„Es hätte eine Lösung gegeben", sagte Urban, „beim
Lokwechsel in Marseille. Warum hat niemand daran
gedacht?"
„Welche?"
„Warum hat man an die Lok, die in Marseille den fah
renden Zug übernahm, nicht zwei Wagen drangehängt?
Die Fahrgäste hätten durch den Salonwagen in die neuen
Wagen übersteigen können. Sobald der letzte Mann an
Bord war, hätte man abgekuppelt, die Lok wäre ohne den
Bombenexpreß losgebraust und hätte ihn seinem
Schicksal überlassen."
„Hätte", sagte jemand. „Genau das wollten wir ja mit der
Europa-Lok exerzieren. Um so etwas durchzuführen,
braucht man Tageslicht. Ab 4 Uhr 45 hätten wir Licht
gehabt. Aber die Italiener streiken."
„Das auch noch."
Urban kombinierte rasch alles durch.
„Streik", wiederholte er, „das bedeutet ja, daß der Zug in
Italien keine befahrbare Strecke antrifft."
„Ja, es ist das Ende der Reise."
Urban stand auf, trat an die Karte, steckte sich mit nervösen Bewegungen eine Monte-Christo an. Er war ziemlich fertig. Die Ereignisse der letzten Stunden schlugen einfach durch. Was konnte man jetzt noch tun? Mit jeder Sekunde näherte sich der Bombenexpreß um fünfzehn Meter jenem Punkt, wo es nicht mehr weiterging, wo er bremsen mußte und die Zünder in den Bomben schalteten. Dreihundertzwanzig Menschen ... Wie es aussah, würde es gegen fünf Uhr soweit sein. Noch vier Stunden also. „Noch vier Stunden", murmelte Bob Urban. „Wenn nicht vorher neue Sabotageakte verübt werden." Urban erfuhr, was inzwischen alles passiert war. „Der Lastwagen, der bei Pierrelatte auf den Schienen stand, war noch gar nichts. Der dickste Hund lag kurz vor Miramas. Jemand hatte einen Güterwagenbrems schuh auf die Schienen geklemmt. So ein Ding, nicht groß, aber aus Eisen, kippte glatt eine Lok aus den Pan tinen. Der Streckengeher konnte den Bremsschuh gerade noch entfernen. Und jetzt haben wir schon wieder eine Meldung vorliegen, daß ein Baum gefällt wurde und zwar in einer Schlucht auf La Ciotat zu. Die Pioniere mußten den Stamm wegsprengen. Anders ging es nicht." Urban mißfiel das mit den Sabotageakten sehr. „Wie viele solche Zwischenfälle registriert man an normalen Tagen?" fragte er. „Im Jahr mal einen oder zwei." „Dann steckt da ein System dahinter." „Der Psychologe erklärt das anders. Er nennt es die Reaktion von Anschlußtätern." „Daran zweifle ich", wandte Urban ein. „Angeknackste Typen machen so etwas vielleicht in Gedanken, wie
sie auch mal einen im Gedanken umbringen, aber um nachts rauszugehen und zu sabotieren, sind die doch viel zu faul. Nein, da ist etwas anderes im Gange." „Noch so eine Terroristengruppe?" „Wer weiß", bemerkte Urban und sonst nichts. Er dachte über all die Dinge nach und hatte plötzlich eine schreckliche Befürchtung. Deshalb entschied er sich spontan zu handeln. Er nahm Quatembre vom SDECE beiseite und sagte: „Wo ich schon mal völlig derangiert bin, kommt es darauf auch nicht mehr an." „Was hast du vor?" „Ich muß auf den Zug." „Da kommt keiner raus und keiner rein." „Doch", sagte Urban und fuhr mit dem Zeigefinger die Strecke Toulon-St. Raphael ab. „Hier ist die Lösung. Der Streckenmeister der Station Le Muy verfügt über eine Motordrasine. Ich warte, bis der Zug durch ist und fahre hinterher. Die Drasine macht zwar nur fünfzig, aber es geht bergab. So hole ich ihn ein." „Ein Mann mehr oder weniger bei dreihundert spielt keine Rolle." „Eh bien. Und was hast du vor?" Urban hob die Schultern als Zeichen seiner Unsicherheit. „Ich kenne eine Dame", sagte er dann, „die hat im Keller ihres Hauses die größte Modelleisenbahn der Welt. Nein, Pardon, es ist nur die zweitgrößte. Aber ich bin seit einiger Zeit ein überaus geübter Modelleisenbahner. Mir kommt da eine Idee. Frag mich nicht, Gil, ich weiß nicht genau, ob es hinhaut. Könnte aber sein. Es wäre unsere einzige Rettung." „Dann bist du der erste, der sich freiwillig auf so ein Pulverfaß setzt." „Mir fällt schon das Richtige ein." „Ja, du weißt es immer ganz genau, und dann hast du eine Trefferquote wie die Wettervorhersage."
„Stop", protestierte Urban. „Die Meteorologen arbeiten
mit fünfzig Prozent Genauigkeit. Wenn man nur
hundertfünfzig Menschen von dreihundert retten könnte,
wäre das nicht schon was?"
Der immer konfirmandenhaft wirkende Quatembre
schluckte.
„Klar wäre das schon was", sagte er.
14. Die Bombenexperten der Armee hatten einige der Höl lenmaschinen entdeckt, waren aber erfahren genug, sie nicht anzutasten. Der neue Befehl der Eisenbahnverwaltung, die letzten drei Wagen vor der LA-Fahrstrecke zu räumen und abzukuppeln, leuchtete ihnen zwar ein, aber letzten Endes wurde die Todesstunde dadurch nur hinausge schoben. Die Experten im Zug machten eine einfache Rechnung auf. „Was ist besser", sagte der Pionierleutnant zu seinem Kollegen von der Luftwaffe, „der Zug geht kopfüber die Brücke runter, oder er fliegt in die Luft?" „Die Frage stellt sich aber anders", sagte der Ange sprochene. „Wie hat man mehr Chancen, mit dem Zug hundert Meter in ein felsiges Tal zu stürzen oder wenn zwischen dreihundert Menschen auf achtzig Quadrat meter Fläche zwei Sprengkörper detonieren?" „Die Chancen sind gleich", meinte der Offizier. „Beim Absturz kann der eine oder andere schwerverletzt überleben. Und wenn die Dinger im vollgeschichteten Salonwagen hochgehen, überlebt ebenfalls der eine oder andere, der weit genug von den Bomben entfernt ist. Zumindest kriegen ein paar Glückliche keine Splitter ab. Menschliche Körper wirken bekanntlich wie Sandsäcke."
Gleich hinter Toulon begannen sie mit der Räumung der drei D-Zugwagen. Gegen den Protest der Prominenten im Salon wurden alle Fahrgäste von hinten nach vorn bewegt, gedrückt und geschoben. Für die Verantwortlichen im Zug stellte sich dabei eine wesentliche Frage. Was war raumökonomischer: aufstellen oder hinschichten? Da dies mathematisch nicht so schnell zu bestimmen war, wurden die Fahrgäste aufgefordert, sich stehend, Körper dicht an Körper, in den Salonwagen zu pressen. Möbel, die im Weg standen, wurden durch die Fenster geworfen. Wo sie sich sperrten, wurden sie zerkleinert. Ein Sessel weniger bedeutete Raum für sechs Mann. Das einzige Zugeständnis, das Adschman herausholte, war, daß er für sich, für El-Said und den Russen die zwei Quadratmeter große Küche allein bekam. Das Raummanöver dauerte jedoch länger als vorgesehen, denn jeder wollte Gepäck mitnehmen, wertvolle Souveniers et cetera. Die Verantwortlichen duldeten nur Schmuck, Ausweispapiere und Bargeld, notfalls Medikamente, aber nur, wer sie unbedingt brauchte. Die Menschen wurden nach vorn getrieben. Zuerst die aus dem letzten Wagen, dann die aus dem vorletzten. Der Rest mußte sich geradezu in den Salonwagen hineinwürgen. Vorsichtshalber sonderte der Arzt die Alten und Hinfälligen aus und wies ihnen einen der Schlafräume zu. „Da habe ich sie besser unter Kontrolle", sagte er, „das ist dann die Krankenstation." Jeder hatte tausend Fragen. „Wie lange noch?" lautete die häufigste. „Rettung ist unterwegs, Herrschaften", wurde immer wieder geantwortet und getröstet. „Was hat man nicht schon alles probiert."
„Ein paar Leute wollten abspringen", sagte der Offizier.
„Na ja, kein Wunder. Was für ein Gefühl, auf 'ner
rollenden Bombe zu sitzen."
Urban warf einen Blick in den Salonwagen hinein. Den
Anblick, der sich ihm bot, würde er nie vergessen.
Schlimmer konnte es in den Gefangenentransporten nach
Sibirien auch nicht gewesen sein.
Er sah nur Gesichter, blasse, verzweifelte, hoffnungslose
Gesichter.
„Wo sind hier die Bomben?" fragte er.
„Vielleicht im Wassertank, vielleicht unter dem Wa
genboden. Keine Ahnung."
„Helfen Sie mir aufs Dach", sagte Urban.
„Dort sind sie bestimmt nicht."
„Es ist der einzige gangbare Weg zur Lok."
„Da sind die Bomben bestimmt auch nicht. Die Lok kam
erst in Marseille drauf."
„Weiß ich", sagte Urban und verschwieg den Männern,
was er in Marseille noch erfahren hatte. Eigentlich waren
sie mit dem Polizei-Citroen schon unterwegs gewesen,
als es im Radio durchkam.
Eine anonyme Frauenstimme hatte beim Sender
Marseille angerufen und erklärt, sie sollten schon mal
dreihundert Särge bestellen. Sie würde den großen
Zampanos mit Genuß ins Handwerk pfuschen und einen
der Tunnels nach Menton sprengen.
Genau das war der Wortlaut gewesen: Sie würde den
großen Zampanos ins Handwerk pfuschen - mit Genuß -
und einen der Tunnels sprengen.
Wen hat sie damit gemeint, fragte sich Urban, als er auf
dem Salonwagendach zur Lok balancierte, wen hat sie
mit den großen Zampanons gemeint?
Wortlos postierte sich Bob Urban neben dem E-Lok
führer. Er tippte nur einen kurzen Gruß an die Stirnseite.
Der Tacho zeigte präzise 65 km/h an. Der Schienen
strang zog sich in weiten Kurven meerwärts hinab.
Der Lokführer warf einen Blick auf seinen Buchfahrplan.
„Gleich kommt St. Raphael."
Urban nickte nur.
„Eine Stunde vierzig bis zur Grenze. Wie geht es dann
weiter, Monsieur?"
„Drüben streiken sie", sagte Urban.
„Die armen Schweine da hinten im Wagen."
Das Vorsignal kam und einen halben Kilometer weiter
das Hauptsignal. Es stand auf Grün. Sie passierten einen
abseits stehenden Benzinzug.
„Wie stark sind die Bomben?" fragte der Franzose.
„Sehr stark", antwortete Urban.
„Also ich kupple ab. Von mir kann das keiner verlangen,
daß ich mich aufopfere."
„Verlangt ja auch niemand", sagte Urban und verschwieg
dem Lokführer das Problem mit dem Tunnel.
Weiter unten tauchten Lichter auf. Die Stadt. Rechts
davon lag dunkelblau eine glatte schimmernde Fläche.
Das Meer.
Urban hielt das Sprechfunkgerät eingeschaltet in
Ohrhöhe. Es summte und rauschte, aber es blieb stumm.
„Hier Urban, bitte kommen!"
Keine Antwort.
Sie wissen noch nichts, dachte er. Sie suchen fieberhaft
alle Tunnels vor uns ab, bis zur Grenze. Aber es sind
lange Tunnels dabei. Man muß sie zu Fuß angehen.
Und Gil Quatembre meldete sich nicht. Es war zum
Verzweifeln.
„Hinter Le Trayas", sagte der Lokführer, „fangen die
Tunnels an."
„Komisches Gefühl wie, in so 'nen Tunnel reinzustoßen."
Der Lokführer nickte.
„Ich werde mich nie daran gewöhnen", sagte er.
* Leise summten die E-Motoren in den Drehgestellen und die Lüfter. Auf der Lok stank es nach Lack, nach Isoliermaterial und ein wenig nach ozonhaltiger Luft, wie überall, wo mit hoher elektrischer Energie umgegangen wurde. Bob Urban hatte eine angerauchte Zigarette im Mundwinkel. Sie war ihm ausgegangen. Am Ohr spürte er den beinharten Kunststoff des Sprechfunkgerätes. Es fühlte sich an wie ein abgefleischter Knochen. Das wurde ihm in dem Augenblick bewußt, als das To desurteil durchkam. „Hier Gil", schepperte es im winzigen Lautsprecher. „Tut mir leid für euch alle, aber es ist Tatsache. Unab änderlich. Der Le-Trayas-Tunnel ist unpassierbar." „Sprengung?" „Ich weiß es noch nicht. Der Pioniertrupp versucht von der Ostseite her ranzukommen. Kann dir nichts anderes wünschen, Junge, als Gott mit euch." „Verstanden, Ende", sagte Urban. Er schaltete das Gerät ab, legte es weg und starrte nach vorn. Im Licht der Scheinwerfer konnte man etwa achtzig Meter weit blicken. Aber man sah nur die glänzenden Stränge der Schienen, das Vorbeiflimmern der Schwellen und ab und zu einen Mast. Dem Lokführer sagte er nichts. Um Gelassenheit bemüht, fragte er: „Wie weit noch bis zum Tunnel?" „Zwei Kilometer, Monsieur."
„Und Ihr Bremsweg?"
„Bremsweg", lachte der Lokführer gepreßt, „Bremsweg
wohin? Ins Jenseits?"
„Mal im Ernst, bitte."
Der Lokführer behielt die Hand auf dem Totmannhebel
und bewegte nur das Kinn nach links.
„Bei siebzig und hundertzwanzig Tonnen Gewicht
vierhundert Meter."
„Nach vierhundert Metern bringen Sie den Zug also zum
Stehen."
Damit wußte Urban, daß er noch eine Minute Gna
denfrist hatte. Noch einmal ging er sämtliche Fakten
durch, die er hatte. Er rechnete, überlegte, kombinierte
und kalkulierte alles ein, was man überhaupt einkal
kulieren konnte. Ein tüchtiges Stück Ungewißheit blieb
immer noch, breit wie ein Burggraben. Auf der anderen
Seite war er auch überzeugt davon, jetzt alle
Zusammenhänge zu kennen. Und er mußte es wagen.
Es gab nur drei Möglichkeiten: Durch die TNT-Ex
plosion zerrissen, im engen Rohr des Tunnels zermalmt
zu werden oder es zu überstehen.
Dann gab er den Befehl.
„Halten Sie den Zug an", sagte er ganz ruhig.
„Nein, Monsieur", kam es zurück.
„Das ist ein Befehl."
„Sie haben mir nichts zu befehlen, Monsieur, Sie sind
nicht mein Dienstvorgesetzter."
Meter um Meter näherte sich der Zug der Tunneleinfahrt.
In dreißig Sekunden war es zu spät.
„Bremsen Sie, Mann!"
„Nein, das ist Mord und Selbstmord."
„Das können Sie gar nicht beurteilen", rief Bob Urban,
und weil der Beamte keine Anstalten machte, seiner
Aufforderung nachzukommen, deshalb tat er es. Er hob
die Hand, machte die Kante steif und schlug zu.
Pickelhart.
Der Lokführer ließ seine Fahrhebel los, sackte zu
sammen, bäumte sich noch einmal auf und kippte aus
seinem Sessel.
Urban, der mitbekommen hatte, was man tun mußte, um
eine Lok zu stoppen, riß den Fahrstufenschalter auf Null
und haute die Luftbremse voll hinein.
Die Bremsen griffen sofort, kreischten und jammerten.
Urban wurde durch die Vollverzögerung nach vorn
gepreßt. Die Tachonadel zitterte linksherum.
Sechzig - fünfzig ...
Urban stockte der Atem.
Vierzig - zwanzig ...
Er schloß die Augen.
... Null...
Und nichts war passiert.
Der Zug stand. Keine achtzig Meter vor ihnen gähnte das
ummauerte Rund in der Felswand. Die Einfahrt zum
Tunnel.
Nicht, daß er sich deshalb auf die Brust schlug, aber
gewußt hatte er es doch.
Zehn Bomben insgesamt hatte Roan F. Edwards gebaut.
Wenn fünf mal zwei Bomben detoniert waren, zwei auf
der Schweizer Lok und je zwei in vier Wagen, dann
waren sie aufgebraucht und es blieb kein Stück mehr
übrig. Deshalb hatten die Spezialisten im Salonwagen
auch nichts gefunden.
Edwards und seine Hintermänner hatten ja angeblich
nicht töten, sondern nur Angst und Schrecken verbreiten
wollen.
Urban fürchtete, daß ihnen dies gelungen war.
Er sprang von der Maschine, rannte nach hinten und
schrie durch die offenen Fenster des Salonwagens zu den
wie erstarrt wartenden Menschen: „Alles aussteigen,
Herrschaften! Endstation!"
Er riß die Türen auf und sagte es ihnen noch einmal.
„Bitte verlassen Sie zügig, aber ohne Hast den Wagen.
Sie sind alle in Sicherheit."
Rufe der Erleichterung gingen durch die Menge.
Urban machte kehrt, holte aus der Lok eine Lampe und
eilte in den Tunnel hinein.
Als er zurückblickte, sah er wie ein Mann, unterstützt
von zwei anderen, den Salonwagen durch das Küchen
fenster verließ. Urban leuchtete kurz hin und glaubte,
daß es Mister Ali Adschman war, der auf diese Weise
unter das Abenteuer seinen Schlußstrich zog.
Dann lief er sturheil in den Tunnel hinein.
* Im hinteren Drittel der etwa fünfhundert Meter langen Röhre blockierte ein umgestürzter Lastwagen mit Kiesladung alle zwei Gleisstränge. Urban leuchtete ihn ab und stellte sich die Frage, wie der Wagen wohl in den Tunnel gelangt sei. Die Frage, wer diese Wahnsinnstat verübt hatte, konnte ihm vielleicht der Mann beantworten, der ausgemergelt und erschöpft an der feuchten Felswand lehnte. Er war gut einsachtzig groß, kräftig und um die Fünfzig. Die Hand hing ihm herunter, in der Hand hatte er einen Trommelrevolver. Er ließ es geschehen, daß Urban ihn anleuchtete, daß Urban auf ihn zutrat und ihm die Waffe wegnahm. Trotz des kühlen Luftzugs im Tunnel konnte Urban riechen, daß vor kurzem aus dem Smith & Wessen Schüsse abgefeuert worden waren. Mehr seinem Instinkt folgend, einer Ahnung, als einer logischen Voraussetzung, sprach er diesen Mann englisch an. „Wir kennen uns", sagte er. Der andere nickte.
„Vorausgesetzt, daß Sie Bob Urban vom BND sind." „Gesehen haben wir uns nie." „Nur telefoniert haben wir", sagte der andere, faßte sich an den Arm, preßte die Wunde zusammen, bis Blut durch seine Finger quoll. Von der anderen Seite des Lkw her vernahm man Baggergeräusche. „Kommen Sie", rief Urban, „kommen Sie mit mir." „Einen Moment noch", zögerte der Unbekannte, „ich möchte Ihnen etwas zeigen. Ich muß es Ihnen zeigen, damit Sie nicht glauben, ich hätte diesen Lastwagen hergebracht. Ganz das Gegenteil ist der Fall. Ich hatte jedes Interesse daran, daß der Expreß freie Fahrt hatte. Das habe ich Ihnen doch wiederholt erklärt. Ich stehe auf der anderen, Seite. Ich wollte, daß es zu dem Gespräch zwischen Adschman und dem Palästinenser kam und zu einem Erfolg. Ich tat alles, um dies zu erreichen. Es war leider vergebens, fürchte ich. Aber den Kipper da, den brachte ein anderer hierher." „Ich weiß", sagte Urban. Der Amerikaner blickte ihn überrascht an. „Sie können es gar nicht wissen, was Haß aus einem Menschen machen kann." „Doch", sagte Urban, „es wurde sogar schon über Rundfunk verbreitet.‘‘ „Ja, über Marseille. Dadurch erfuhr ich Näheres. Ich kannte aber auch den Täter, sonst wäre ich wohl nicht hier." Der Amerikaner löste sich von der Tunnelwand und sagte: „Leuchten Sie bitte nach links." Urban ließ den Kegel wandern, von der Wand über den Lkw zum Boden hin. Zwischen den Gleisen lag ein Mensch. Er lag auf dem Boden. Gesicht im Kies der Gleisbettung. Er trug Jeans und eine Lederjacke und hatte eine Eisenstange in der
Hand. Nur am Haar erkannte Urban, daß es sich um eine
Frau handelte.
Er bückte sich und drehte die Tote um.
Es war Serafine Campbell, das Mädchen, das erst Roan
F. Edwards nachgejagt war, um sich an ihm zu rächen, und das sich dann auch von ihm im Stich gelassen fühlte. Deshalb hatte sie versucht, ihnen beiden einen Strich durch die Rechnung zu machen. „Was ging wohl in dieser Frau vor?" fragte der Ame rikaner. „Ich weiß, sie war mal mit Roan Edwards ver lobt. Aber was ging in ihr vor? Sie hat all diese Sabota geakte gegen den Expreß verübt. Ich bin seit Tagen hinter ihr her. Als sie den Zehntonner unten im Kieswerk klaute und herauf fuhr, war ich nahe dran. Leider zu spät. Als ich kam, hatte sie den Dreck schon abgekippt. Und weil sie sich ertappt fühlte, griff sie an. Mit dem Brecheisen da. Da mußte ich schießen. Leider. Aber was ging wohl vor in dieser Frau?" Urban richtete sich auf und löschte die Lampe. „Herztreffer", sagte er. „Tot. Sie sind ein guter Schütze." „Nun, wenn man es jahrelang übt", erklärte der Ame rikaner und stolperte neben Urban her auf den Tun nelausgang zu. „Schließlich bin ich seit zwanzig Jahren in der Armee. Mein Name ist Warner Horthon. Colonel Horthon von den 7. US-Pioneers in Fort Bragg, North Carolina." „Erzählen Sie mir den Rest, Colonel Horthon", bat ihn Bob Urban und entnahm seiner MC-Packung die zwei letzten Zigaretten. * Was Bob Urban von Colonel Horthon erfuhr, war so brisant, daß man es am besten nicht schriftlich auf zeichnete, denn selbst in einem Safe war es noch nicht sicher genug aufgehoben. Am besten, man vergaß es.
„Die ganze Operation TNT-Expreß", berichtete der Colonel, „wurde im großen Prozeßrechner des ameri kanischen Geheimdienstes CIA ausgeheckt. Und warum? Als sich immer mehr herausstellte, daß auch ein Mann wie der Außenminister mit seinem Eiertanz in Nahost keinen Erfolg in Richtung dauerhafter Frieden für Israel haben würde, sagten sich die alten Draufgänger in Langley, daß man den Burschen, gemeint sind die Palästinenser, tüchtig einen vor den Bug knallen muß. Man erfuhr von dem geplanten Geheimtreff Adschmans mit El-Said und dem Russen in Genf, und daß sie vorhatten, einen Salonwagen am fahrenden MarseilleExpreß als abhörsicheren Konferenzraum zu benutzen. Den Rest können Sie sich denken. Man hoffte, die drei würden durch den Anschlag so in Panik geraten, daß sie ein für allemal, zumindest aber doch für lange Zeit, jede Lust daran verlören, gegen Israel zu konspirieren. Niemand kann da drüben etwas ohne El-Said, aber ElSaid kann auch nichts ohne Adschman, der die Milliarden verteilt. Nur eines hat der CIA-Computer nicht berechnet, daß es Leute gibt, die das alles anders sehen, und daß einer auftauchen könnte wie Mister Dynamit. Ja, so und nicht anders ist es." „Und Sie, Colonel, wollten die Sache verhindern." Horthon zog an der Zigarette. Die Glut rötete sein schweißglitzerndes Gesicht. „Ich gehöre einer Gruppe an, die für tabula rasa ist. Wir wissen, daß so unmögliche Konstruktionen wie meinetwegen Berlin oder Israel früher oder später immer barbarische Großkriege auslösen. Und wir erfuhren durch Freunde im Pentagon, was da in Genf lief. Außerdem kannte ich Sergeant Edwards und seine Fä higkeiten. Ich war ja dabei, als der General das klägliche Schauspiel seines Rauswurfs aus der Armee abzog. Alles nur Theater, Schwindel, Bluff, um den Mann, der
als einziger die Bombensache durchziehen konnte, of fiziell von den Institutionen der USA abzutrennen." „Und das alles ist wirklich wahr?" fragte Urban ver blüfft. Der Colonel nickte. „So wahr ich hier stehe. Edwards wird unter anderem Namen wieder in die Army zurückkehren, behängt mit Orden, mit Sonderlöhnung auf dem Konto und dem Dienstgrad eines Captain. Das war alles von Anfang an so abgemacht. Nur für den Fall des Mißlingens mußte Edwards schweigen und den Kopf hinhalten. Der Colonel verschnaufte einen Moment und fragte dann: „Was nun? Wollen wir ihn auffliegen lassen? Seinen Kopf und andere rollen lassen?" „Und damit diesen ganzen dreckigen Dreck aufwühlen?" fragte Urban. „Glauben Sie etwa, die andere Seite geht weniger brutal vor? Denken Sie nur an die Flug zeugentführungen durch Terroristen. Wir sollten froh sein, Horthon, daß alles so glimpflich abging. Am besten wir vergessen es. Es wird mir leichtfallen. Mein Gewissen ist ja einigermaßen sauber. Alles andere überlasse ich den Geheimdienstbossen." Der Colonel nickte, warf die Zigarette weg, nickte abermals und blieb in der dunklen Felsröhre zurück, denn vor dem Tunnel in der Dämmerung war jetzt eine Menge los. Es wimmelte von Polizei, Soldaten und Sa nitätern. * Gil Quatembre eilte auf Bob Urban zu.
Er umarmte ihn stumm und brachte kein Wort zustande.
„Meine Rechnung ging auf", sagte Urban.
Gil knipste die Lampe an, sah einen Schatten vorbei
wandern.
„Wer ist der Mensch im Tunnel?"
„Keine Ahnung", log Urban, „er kam ganz zufällig
vorbei, um mit anzupacken. Laßt ihn durch."
„Verarzten den Mann und durchlassen", befahl Gil.
„Ein Risiko war es doch", sagte Urban, „ein tödliches
Risiko."
„Deine Rechnung ging auf. Fünf mal zwei gibt immer
zehn. Es war haarscharf, aber so was muß man eben
manchmal machen."
„Ja, manchmal ist es nicht zu umgehen", pflichtete ihm
Urban bei. Er war hundemüde.
„Sei froh, du hast doch alles erreicht", sagte Gil und
schlug ihm auf die Schulter.
„Ja, allerdings", antwortete Bob Urban, „aber nur fast."
ENDE