REN DHARK Drakhon Band 19 Heerzug der Heimatlosen l. Der Zorn fraß ihn auf. Da waren keine menschlichen Gefühle mehr, ni...
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REN DHARK Drakhon Band 19 Heerzug der Heimatlosen l. Der Zorn fraß ihn auf. Da waren keine menschlichen Gefühle mehr, nicht einmal Bedauern - Simon wußte nur, daß er helfen mußte. Andernfalls würden die letzten Fanjuur mit ihrer Welt sterben. Wo eben noch fester Boden gewesen war, brodelte stinkender Morast. Eine der letzten Städte versank, und mit ihr die Erinnerung an ein Volk, dem das Schicksal übel mitgespielt hatte. Alles geschah unglaublich schnell. Die Waffenenergie komprimierte sich in seinem Leib. Vielleicht hätte Simon in diesem Moment den tödlichen Ausbruch noch verhindern können. Aber er wollte es nicht. Warum? schrien seine Gedanken. Warum immer nur Leid und Tod? Simon achtete nicht mehr darauf, was sein Gegenüber sagte. Herausfordernd starrte er die wurmartige Kreatur an, und zum ersten Mal genoß er die Macht, die seinem Körper aus Tofirit inne-wohnte. Seine Hände verformten sich. Die Finger, eben noch menschlich wirkend, wurden zu tropfenförmigen Klumpen. Heißer und drängender tobte die Energie durch seinen Brustkorb, dann winkelte er die Unterarme an. Sie waren zu rötlich glänzenden Waffenläufen geworden, den Armen eines Kampfroboters. Ich bin nur noch ein Roboter! Der Gedanke quälte ihn. Sein Geist war eingesperrt in diesen Klumpen flexiblen Metalls, der eigene Körper längst tot und verbrannt. Er lebte in einem Gefängnis, das ihn am Leben erhielt, ihm aber zugleich verwehrte, jemals wieder ein Mensch zu sein. »... ihr seid eine Gefahr für jede Spezies!«, hörte Simon sich sagen. »Es sei denn...« Flieh! tobten seine Gedanken. Das hier ist der falsche Ort für dich. Du -warst immer nur Diener, nie Richter. Es steht dir nicht W, über Leben und Tod w entscheiden... Zu spät! Er konnte das Programm nicht beeinflussen, das die Vernichtung eingeleitet hatte. Aber wollte er das überhaupt? Ein Feuersturm brach aus seinen Armstümpfen hervor. Ich helfe deinem Volk, Vonnock. Die Fanjuur werden endlich Frieden finden und nie wieder um ihr Leben bangen müssen. Sonnenhelle Glut ringsum. Sie verschluckte den wurmartigen Qoom und pflanzte sich fort wie die Wellen, die ein ins Wasser geworfener Stein erzeugt. Das Programm verwandelte ihn in ein Tod und Verderben speiendes Monstrum. Gewaltige Energiemengen brachen aus den Armstümpfen hervor... ... sie fluteten von den Felshängen des Tales zurück und türmten sich höher, wie eine Brandungswelle, die alles innerhalb von Sekundenbruchteilen unter sich begraben würde. Auch ihren Urheber. Unmöglich! Nur dieser eine Gedanke beherrschte Simon noch. Er vermochte nicht einmal zu erkennen, ob es sein eigener Gedanke war oder eine Eingebung des Programms. Etwas reflektierte die Energien - etwas, das stärker war als er selbst. Zu spät aktivierte er die Schutzvorrichtungen. Den Schmerz, als das sich aufbauende Schirmfeld zerfledderte, spürte er beinahe körperlich. Temperaturen wie in der Korona einer Sonne schlugen über ihm zusammen, aber die Waffenarme feuerten unaufhörlich. Wie lange schon? Sekunden erst, erkannte Simon, obwohl sie ihm wie eine kleine Ewigkeit erschienen. Er gestand sich ein, daß er jedes Zeitgefühl verloren hatte. Schluß! brüllten seine Gedanken. Feuer einstellen! Sein Wächterkörper reagierte nicht darauf. Die Hitze wurde unerträglich. Bei Temperaturen, die wahnwitzig anmuteten, fielen die Sensoren aus. Er spürte, daß immer noch Energien durch seinen Leib pochten wie einst das Blut in den Adern. Für den Bruchteil eines Augenblicks drohte ihn die Erinnerung zu überwältigen. Wie hatte er ausgesehen, sein Körper aus Fleisch und Blut? Aber das war vorbei. Was er einmal gewesen war, existierte nicht mehr. Das Schicksal hatte ihm eine Hülle aus Tofirit gegeben... doch er wußte bis heute nicht, ob er dafür dankbar sein oder gerade deshalb das Schicksal hassen sollte. Die Energie pulsierte. Immer heißer tobte sie. Simon ballte die Fäuste. Das heißt, er hatte das tun wollen, aber das Programm gehorchte ihm nicht. Unaufhörlich brachen die sonnenheißen Waffenstrahlen aus seinen Armstümpfen hervor. Ich will das nicht! Irgendwo tief in ihm formte sich dieser eine Impuls. Er wurde intensiver.
Ich war immer nur ein Diener und habe nie gelernt w zerstören. Ich will nicht töten! Er war zu schwach, um das aufzuhalten, was er selbst in Gang gesetzt hatte. Die Programmierung des Wächters der Mysterious folgte einer unheimlichen, sturen Konsequenz. Simon versuchte sich vorzustellen, wie er in diesem Moment von außen wirkte: ein Vernichtung speiendes übergroßes metallenes Monstrum, nahezu menschenähnlich, aber nackt und vor allem gesichtslos, nichts anderes als eine perfekte Kampfmaschine. Er spürte die beginnende Kettenreaktion; die Sensoren übertrugen sie auf sein Bewußtsein. Erste Explosionen rissen die von Nanomaschinen der Qoom verkrusteten Berghänge auf. Zähflüssiges Gestein regnete nach heftigen Explosionen ab, und immer neue Glutnester vereinten sich mit den aus seinen Waffen-armen zuckenden Nadelstrahlen und breiteten sich gedankenschnell aus. Brodelnd wälzte sich die Lava ins Tal. Weitere Explosionen... eine Vernichtungsorgie war in Gang gekommen, die keinen Stein auf dem anderen ließ. Zu Myriaden wurden die Nanomaschinen zerfetzt, und es sah aus, als platze eine schwarze Kruste von den Felsen ab, während unter ihnen längst die Hölle tobte. Inmitten des Chaos stand die rötlichfarbene gesichtslose Gestalt und wurde ebenfalls von den atomaren Gluten umflossen. Simon schrie. Er glaubte zu schreien, und es war sein Geist, sein »Ich«, das auf diese Weise Erleichterung suchte - doch der Roboterkörper blieb stumm. Er starrte auf die Flammen, die wie irrlichtemde Entladungen über das Tofirit huschten. Sie verursachten Schmerzen, schlimmer als jemals zuvor. Das Metall schmolz und wallte blasenwerfend auf, von den Armen und vom Brustkorb tropfte es bereits zähflüssig ab. Umformen! Simons Befehl blieb unbeantwortet, der Wächterkörper reagierte nicht darauf. Aber die Tropfen wurden größer, schon lösten sie sich von seinen Ellenbogen und platzten am Boden auseinander. Was da geschah, erinnerte an das Aufweichen einer Wachskerze in großer Hitze. Aufhören! Der Vorgang hatte längst eine beängstigende Dynamik entwickelt. Simon starrte an sich hinab, ohne zu begreifen, daß das nahezu unzerstörbare Tofirit... Seine Siegesgewißheit schlug in Panik um. Irgendwoher kam die Erkenntnis, daß alles noch nicht einmal zwei Minuten dauerte. Er würde sterben, das wurde ihm erschreckend deutlich bewußt. Unaufhörlich feuerten die Waffenarme. Wenn es ihm wenigstens möglich gewesen wäre, das zu beenden. Statt dessen schürten seine Waffen das Chaos weiter an. Großflächig verglühten die Nanomaschinen. Seine Arme schmolzen. Simon registrierte, daß der Energiefluß zu den Waffen dennoch nicht abbrach. Nur wenige Sekunden blieben ihm, dann würde er selbst von innen heraus verglühen. Fehlfunktion! Die Nanopartikel haben mich... haben den Wächter befallen. Aber sie werden meinen Tod nicht überstehen. Das war seine ein 10 zige Genugtuung; wenn er starb, würde die unheimliche Bedrohung mit ihm untergehen. Simon wußte nicht mehr, was er wirklich wollte. Die Angst schnürte ihm den Atem ab. Er glaubte, ersticken zu müssen und rang gequält nach Luft - obwohl das, was seine Existenz noch ausmachte, die Seele, der Geist oder wie immer Menschen dieses Sich-selbst-bewußt-Sein nannten, weder Luft noch Nahrung brauchte, um zu leben. Vergessen geglaubte Erinnerungen brachen in ihm auf... seine Kindheit und Jugend auf der Erde... die durchzechte Nacht nach dem Ende der Giant-Herrschaft... dann seine Arbeit an der Seite der Hochkommissarin Noreen Welean auf dem Planeten Hope... Ich will nicht sterben! dröhnte es in seinen Gedanken. Ich will leben und die Wunder zwischen den Sternen erfahren! Dabei lag es noch gar nicht so lange zurück, daß er seinen Zustand verflucht und lieber den Tod gewählt hätte, als in dem stählernen Gefängnis eine Ewigkeit zu überdauern. Doch er hatte sich nicht selbst getötet - das wäre ihm wahrscheinlich auch unmöglich gewesen. Eine Zeitlang hatten sich Neugierde und Entsetzen die Waage gehalten, hatte er ein Wechselbad der Gefühle durchlebt, an das er lieber nicht zurückdachte. Er hatte sein Schicksal gehaßt und sich treiben lassen, ohne überhaupt zu ahnen, wohin sein Weg führte. Inzwischen dachte er anders. Er hatte eine MeTarnorphose durchlebt, die Verwandlung der starren Raupe zum Schmetterling, der durch eine laue Sommernacht taumelte. Aus dem unscheinbaren Diener Simon war ein neues Geschöpf geworden, stark und unbesiegbar - ein Wesen mit einem Körper, wie er ihn sich früher manchmal gewünscht hatte. Immer dann, wenn er von Insekten zerstochen und mit schmerzenden Gliedern nachts keinen Schlaf gefunden, sich unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt hatte. Dann hatte er von einer besseren Zeit geträumt. Aber hatte es ihm wirklich jemals behagt, naßgeschwitzt und am Ende seiner Kräfte Noreen Weleans Ausrüstung durch dampfende Dschungel zu schleppen?
Nein! Der lautlose Aufschrei tief in ihm verstärkte sich und schien nicht enden zu wollen. Ich will nicht sterben! Ich habe noch w langes Leben vor mir... 11 Ich habe ein Recht darauf... Sein Körper löste sich auf, schmolz wirklich dahin wie Kerzenwachs. Simon spürte die zähflüssigen Tropfen über den Rücken rinnen, und zwischen seinen Füßen hatte sich eine rostrote, größer werdende Lache gebildet. Er sank in den flammenden Boden ein, in die aufbrechende dunkle Kruste der Nanopartikel. Die Risse weiteten sich aus. Auch sein Körper brach auf. Ungläubig starrte Simon auf das bizarre Netz der auseinanderbrechenden Struktur. Hilf mir! schrie er. Das Programm antwortete nicht. Ich "will nicht sterben, nicht auf dieser verdammten Welt - und nicht ohne noch einmal Menschen gesehen zu haben... Das Schicksal fragte nicht, was er wollte. Niemand hatte ihn je danach gefragt, stets hatte er sich nach den Wünschen anderer richten müssen. Er hatte sich zum ersten Mal richtig frei gefühlt, als er den Wächterkörper nicht mehr mit dem Cerash-Bewußtsein hatte teilen müssen. Simon starb in diesem Augenblick zum zweitenmal. Wieder verbrannte sein Körper. Er schrie und brüllte seine Panik mit aller Kraft hinaus. Es half nichts. Entsetzlich war es, den eigenen Tod mit ansehen zu müssen. Wie sehr sehnte er sich danach, daß der Schmerz ihm die Besinnung raubte - er spürte die expandierenden Energien, die das Tofi-rit zerrissen, und schloß die Augen - doch seine Wahrnehmung veränderte sich nicht. In aller Deutlichkeit sah er den Roboterleib zersplittern und Tausende Fragmente wie Sternschnuppen verglühen. Dann schwand sein Bewußtsein. Im Weltraum verweht. Wenigstens dieser Gedanke barg etwas Versöhnliches. Irgendwo da draußen, zwischen den ungezählten Sonnen der Milchstraße... ... werde ich... ... Ruhe finden. Schwärze umfing ihn. Mit dem Ende des Wächterkörpers erloschen seine Wahrnehmungen. Noreen, war Simons letzter, verwehender Gedanke. Es wäre
12 schön gewesen, sie jetzt in den Armen zu halten, einmal ihre Nähe zu spüren und ihr zu sagen... Etwas Warmes, Weiches umschloß Simons Geist, ein Gefühl unglaublicher Geborgenheit. Dann war da nichts mehr.
Ihm war schwindlig. Schlaftrunken fuhr er in die Höhe, stützte sich auf den Unterarmen ab und lauschte mit angehaltenem Atem in die Nacht hinaus. Er vermochte nicht zu sagen, was ihn aufgeschreckt hatte, ein Geräusch vielleicht, eine Vorahnung oder einfach nur ein böser Traum. Wind schien aufgekommen zu sein. Aus weiter Feme erklang Donnergrollen; er hörte das dumpfe Rumoren aber nur, wenn er sich darauf konzentrierte. Die Leuchtziffem der Uhr verrieten ihm, daß seit Mittemacht erst eineinhalb Stunden vergangen waren. Die Morgendämmerung ließ noch lange auf sich warten. Sein Blick huschte durch die Dunkelheit. Außer dem Glimmen der Uhr herrschte undurchdringliche Schwärze. Bis auf den Waldboden drang der Schein der Sterne selten vor. Sogar tagsüber herrschte in dieser Region ein trübes grünes Dämmerlicht, und falls sich wirklich einmal Sonnenstrahlen bis ins feuchte Moos verirrten, erfüllten sofort Myriaden tanzender Sporen die Luft. Sich immer noch abstützend, verharrte er eine Weile wie erstarrt. Die Luft im Zelt war stickig. Viel Platz stand ihm ohnehin nicht zur Verfügung. Sobald er sich ausstreckte oder herumwälzte, stieß er gegen die hermetisch abdichtende Folie. Andererseits konnte nicht einmal eine Mikrobe die Plane durchdringen. Unmittelbar angrenzend stand Noreens Zelt. Es war größer und fast schon komfortabel. Vergeblich lauschte Simon auf eine Regung. Das Rascheln, wenn sie sich im Schlaf herumwälzte, elektrisierte ihn. Dann versuchte er, sich vorzustellen, wie ihr Haar den Kopf umfloß und ein Lächeln ihre Mundwinkel umspielte. »Simon«, flüsterten ihre Lippen. Wie gerne hätte er seinen Namen vernommen, wenn sie
13 manchmal im Schlaf redete, doch er hatte sich als Diener verdingt, und mehr durfte nicht sein. Nach der Herrschaft der Giants waren viele Menschen auf der Erde nur noch Beziehungskrüppel. Irgend etwas hakte im Zusammenleben. In der ersten Nacht hatte Simon geglaubt, alles auf einmal nachholen zu
müssen, was ihm monatelang verwehrt gewesen war, doch die sachliche Kälte seiner Zufallsbekanntschaft hatte ihn nur abgestoßen. Er war keine Maschine, die ein Programm abspulte, er hatte menschliche Nähe gesucht, aber neben Begierde nur Gleichgültigkeit gefunden und sein Entsetzen darüber in Alkohol ertränkt. Das Gewitter kam näher. Ein peitschender Donnerschlag zerriß die Stille der Nacht. Der Blitz hatte nur wenige Kilometer entfernt eingeschlagen. Augenblicke später prasselte der Regen herab. Ein Wolkenbruch, heftiger als alles, was er auf Deluge, dem kleinsten Kontinent des Planeten Hope, schon erlebt hatte. Ein Irrlicht geisterte durch die Finsternis, der fahle, von zwei Zeltplanen gedämpfte Schein einer Handlampe. Noreen Welean war wach. Simon glaubte, ihre Silhouette zu sehen, als der Lichtschein intensiver wurde. In Gedanken gingen seine Hände auf Wanderschaft, glitten über ihr Haar, ihren Nacken entlang und streiften die Träger von ihren Schultern. Eine aberwitzige Vorstellung war das, von der die Hochkommissarin für Agrarfragen niemals erfahren durfte. Schließlich war er nur ein Diener, der sich und seine Gefühle zurückzuhalten hatte. Eine alles durchdringende Helligkeit fegte Simons selbstquälerische Überlegungen beiseite. In diesem Moment schien über dem Dschungel von Deluge eine neue Sonne aufzugehen. Die jähe Lichtflut trieb ihm das Wasser in die Augen. Der ohrenbetäubende Knall einer Explosion folgte. Fast gleichzeitig spürte Simon den Boden erzittern. Eine zweite, heftigere Bebenwelle ließ ihn taumeln. Die Angst vor einem Raumschiffsabsturz wich nur zögernd der Erkenntnis, daß in allernächster Nähe ein Blitz eingeschlagen hatte. In der Luft hing ein Hauch von Elektrizität, es roch nach Ozon und schwerem Qualm. Aber jedes Feuer wurde von dem
14 sintflutartigen Regen sofort erstickt. Jemand rief seinen Namen. Simon brauchte die Dauer einiger Atemzüge, bis er sich dessen wirklich bewußt wurde. Das Dröhnen des Blutes in den Schläfen überlagerte alles andere. Jemand? Niemand außer Noreen Welean befand sich in seiner Nähe. Da war es wieder. Das Prasseln des Wolkenbruchs verschluckte den Ruf fast, aber Simon zögerte nicht länger. Er stieß sich den Kopf an einer der Zeltstangen, aus der Platzwunde sickerte es warm über die Stirn, aber schon im nächsten Moment hatte er den Einstieg geöffnet und stürmte nach draußen. Der Regen raubte ihm den Atem. Simon tauchte ein in eine Wand aus Wasser, in der die Sicht nur noch wenige Meter betrug. Der Dschungelboden hatte sich in einen riesigen See verwandelt; gut eine Handspanne hoch stand das dampfende Naß, in dem kleineres Getier bereits ums Überleben kämpfte. Das Gewitter zog mit aberwitziger Geschwindigkeit weiter. Der Donner klang längst nicht mehr so nahe wie noch vor einer oder zwei Minuten. Noreen Weleans Zelt war beschädigt. Herabbrechende Äste hatten die Seitenwand aufgeschlitzt und sich teilweise in den Boden gebohrt. Das Gestrüpp war so meinander verflochten, daß es hier kein Durchkommen gab. »Miß Welean!« Keine Antwort. Falls die Äste sie unter sich begraben hatten... schon der Gedanke war erschreckend. Simon achtete nicht darauf, daß ihm die Kleidung längst klatschnaß und wie eine zweite Haut am Körper klebte. Ein wahrer Wasserfall schoß ihm den Nacken hinab, und das mit Blütenstaub und Pflanzensäften vermischte Wasser brannte wie Feuer in den Augen. Nur wenige Meter... zeitweise bis zu den Knien versank er in der Flut, die sich schäumend und brodelnd einen Weg suchte. Noreen! Er hatte den Vornamen auf der Zunge, aber er sprach ihn nicht aus und wahrte selbst jetzt die Form. »Miß Welean...!« Er riß den Eingang zu ihrem Zelt auf. Auch hier war das Wasser ün Steigen begriffen, wenngleich es den Boden erst wenige Zen-
15 timeter hoch bedeckte. Vergeblich versuchte Simon, alles mit einem einzigen Blick zu erfassen. Der Handscheinwerfer brannte noch, wenngleich der Lichtkegel auf die andere Seite gerichtet war und schräg in die Höhe stach. Das reflektierte Streulicht genügte, mehr erkennen zu lassen. Verglichen mit seinem Zelt war das der Bioprospektorin riesig. Entlang der Längsseite hatte die Frau Versuchsanordnungen aufgebaut; die herabstürzenden Äste hatten vieles davon zerschlagen und ein heilloses Durcheinander angerichtet. Wie Elmsfeuer züngelten elektrische Entladungen auf. Einer der schenkeldicken Äste qualmte bereits; nicht mehr lange, dann würde er trotz der Nässe in Flammen aufgehen.
Noreen stand in halb gebückter Haltung an der Rückwand des Zeltes und starrte ihm entgegen. Im ersten Moment verstand Simon nicht, weshalb sie nicht selbst die Energiezufuhr unterbrach und das Aufflackern eines Feuers verhinderte. Er wollte es selbst erledigen, doch ein scharfer Ausruf ließ ihn innehalten. »Nicht bewegen!« Er verstand nicht. Aber er war gewohnt zu gehorchen. Noreen Weleans Haltung hatte etwas Skurriles, mitten in der Bewegung erstarrt. Simon folgte ihrem Blick - und endlich sah er die Kreatur: ein giftgrün schimmerndes, schlangenartiges Reptil. Es kauerte halb zwischen den Trümmern einer Versuchseinrichtung, und nur der messerscharf gezackte Rückenkamm und der flache Schädel ragten daraus hervor. Die sechs kräftigen, klauenbewehrten Beine und den zuckenden Stummelschwanz ahnte Simon mehr, als daß er sie wirklich wahrnehmen konnte. Das Biest schien seine Nähe zu spüren und zuckte herum. Zwei eisige Augen starrten ihn an, eine gespaltene Zunge wurde sichtbar. Es riecht mich! dachte Simon entsetzt. Im nächsten Moment ein Zuschnappen, ein gräßlich mahlendes Geräusch, als das kantige Maul fingerdicke Metallverstrebungen durchbiß. Simon fror und schwitzte gleichzeitig, alles in ihm schrie danach, sich herumzuwerfen und zu fliehen. Er unterdrückte seine Furcht und fragte sich, ob er schnell genug sein würde, den Blaster aus dem Holster zu ziehen, die Waffe zu entsichern und
16 auch noch mit dem ersten Schuß zu treffen. Das Reptil erweckte nicht den Eindruck, daß es lange genug stillhalten würde. Und was Zähne, die Metallrohre durchtrennten, mit seinen Knochen machen würden, wagte Simon sich besser nicht vorzustellen. Außerdem, registrierte er entsetzt, hing der Blaster nicht an seiner Hüfte. Die Waffe lag im Zelt. Unerreichbar. Das Biest schob sich näher. Lauernd. Gierig nach Beute. Der Schweiß brach Simon aus allen Poren. Er zitterte. Und gerade das schien das Reptil anzustacheln. Alles in ihm drängte danach, die Augen zu schließen, um den Tod nicht sehen zu müssen. Allerdings würde er spüren, wie das Biest ihn zerfleischte. Auch davor hatte er erbärmliche Angst. Wenn wenigstens Noreen fliehen konnte. »Lauft!«, wollte er schreien. »Bringt Euch in Sicherheit!« Er brachte nicht einen Laut über die Lippen. Das Reptil fixierte ihn. Drei Meter, schätzte Simon die Distanz. Das Muskelspiel unter der Schuppenhaut verriet Geschmeidigkeit und Kraft. Er hatte dem nichts entgegenzusetzen. »Verschwindet, Miß Noreen!« Nur ein Röcheln drang aus seiner Kehle. Weil sie ihn keines Blickes würdigte? War ich kein guter Diener? Habe ich mich nicht bemüht. Euch alle Arbeit abzunehmen? Sie blickte an ihm vorbei, unverwandt auf einen Punkt zu seiner Rechten. Erst als das Reptil heranschnellte, begriff Simon: Noreen We-lean fürchtete sich nicht davor, ihm in die Augen zu schauen, sie hatte ihn auf etwas aufmerksam machen wollen. Im allerletzten Sekundenbruchteil warf er sich zur Seite. Das kantige Maul verfehlte ihn, aber die Beine des Tieres schrammten über seine Schulter und den Oberarm, und die scharfen Klauen schnitten wie Dolche durch seine Kleidung. Neben ihm klatschte das Vieh auf den Boden. Simon achtete nicht mehr darauf, denn gleichzeitig schlug er schwer auf und walzte sich herum, schrie gellend auf, als der verletzte Arm mit seinem Gewicht belastet wurde. Er schluckte Wasser, schoß prustend wieder hoch und sah vor sich eines der Steckregale.
17 »Der Blaster... über dir!« Noreen Weleans Stimme überschlug sich in seinen Ohren. Simon handelte ohne zu überlegen. Sein Arm zuckte hoch, die Finger tasteten suchend über das Brett, das er noch nicht einsehen konnte, und hinter sich hörte er die Geräusche der Echse. Viel zu lange brauchte er, um die Waffe zu finden. Als seine Finger den kühlen Lauf berührten, griff das Tier erneut an. Mit aller Kraft trat Simon zu. Seine Stiefelabsätze krachten gegen den Reptilienschädel und verschafften ihm die Sekundenbruchteile, die er brauchte, um den Blaster an sich zu reißen. Er zitterte und hatte Mühe, die Sicherung auszuschalten, dann stach der erste Glutstrahl durch das Zelt und setzte die Folie in Brand. Flammen züngelten auf und erstarben in dem imprägnierten Material ebenso schnell wieder. Der zweite Schuß traf die Echse im Sprung und verbrannte ihren Schädel. Trotzdem prallte der Kadaver gegen Simons Oberkörper. Gurgelnd, mit hastigen Bewegungen versuchte er, sich von der zuckenden Last zu befreien. Es gelang ihm nicht schnell genug. Quer über den Brustkorb zerfetzten die Klauen seine Kombination und fügten ihm weitere blutende Wunden zu. Der Blaster rutschte aus seiner Hand. Das war der Moment, in dem sich Simon rückwärts gegen das Regal lehnte und halb ohnmächtig die Augen schloß. Hart und stoßweise ging sein Atem, viel zu hastig. Er verkrampfte sich, während eine Hitzewelle seinen Körper durchflutete. Erst als eine sanfte Hand ihm den Schweiß von der Stirn tupfte und nach seiner Schulter tastete, schaute er
auf. »Du bist verletzt, Simon. Wir müssen die Wunden desinfizieren und...« »Halb so schlimm«, brachte er hervor. Er spürte, daß sein Lächeln verunglückte, aber nie zuvor war Noreen ihm so nahe gewesen. Er blickte in ihre Augen - und glaubte, Verwunderung zu erkennen. Die Frau atmete ebenso gepreßt wie er. Erstickend hing der Gestank der verbrannten Hornchuppen und des schwelenden Fleisches in der Luft. »Ohne dich, Simon, wäre ich jetzt wahrscheinlich tot.«
18 »Unsinn, ich...« Er verstummte abrupt, als Noreen an seiner blutigen Kombination zerrte. »Das müssen wir aufschneiden. Und wir brauchen Antibiotika. Ich will nicht wissen, wieviel Bakterien das Biest unter seinen Klauen hatte.« »Danke für die Aufmunterung«, murmelte Simon. Die Hochkommissarin ging nicht darauf ein. »Schaffst du es, aufzustehen?«, wollte sie wissen. »Wir müssen in dein Zelt; der erste Schuß hat mein medizinisches Notfallpack zerstört.« »Wenn Ihr mich stützt...« Simon hätte sich für diese Unverfrorenheit auf die Zunge beißen können, doch da hatte er sie schon ausgesprochen. Zu seiner Überraschung griff Noreen ihm wirklich unter die Achseln und half ihm auf die Beine. Er schwankte leicht und schüttelte sich. »Es geht schon wieder. Nur eine leichte Schwäche...« So besorgt hatte die Frau ihn nie zuvor angesehen. Eigentlich, dachte Simon, hat sie mich nie richtig wahrgenommen. Der Regen prasselte noch wie ein Sturzbach herab. Minuten später hatte Noreen Welean ihm den Ärmel aufgeschnitten und geholfen, das Oberteil der Kombination abzustreifen. Das Desinfektionsmittel tobte in den Wunden wie ein Höllenfeuer; Simon biß die Zähne aufeinander, bis er glaubte, die Kiefergelenke müßten splittern. Tränen quollen aus seinen Augen. Natürlich sah Noreen, wie es um ihn stand, doch sie schwieg. Ihre Berührung tat gut. Ein wenig länger als unbedingt nötig ließ sie ihre Hand auf seinem Nacken liegen, zumindest bildete Simon sich das ein. Das Wundplasma, das sie aufsprühte, kühlte nicht nur, es bildete innerhalb kurzer Zeit einen festen Schutz und stoppte zugleich die Blutung. Noreen Welean widmete sich seinem zerkratzten Oberkörper. Hier waren die Fleischwunden eher oberflächlich. »Das Biest hat dich bös erwischt, Simon.« »Halb so schlimm«, wehrte er ab. »Deluge ist und bleibt eben kein angenehmer Ort. Das wußte ich vorher.« »Das wußten wir beide«, ergänzte die Frau. »Fertig. Das sollte genügen, bis wir wieder in der Zivilisation sind. Danke übrigens.« Sie hauchte ihm einen flüchtigen Kuß auf die Stirn.
19 Simon konnte nicht verhindern, daß ihm das Blut ins Gesicht schoß. Noreen stand klatschnaß vor ihm, ihre Kleidung klebte wie eine zweite Haut am Körper und verbarg herzlich wenig. Dicht vor sich sah Simon ihre Brüste, er hätte nur den Kopf ein wenig nach vorne beugen müssen, um sie sanft mit den Lippen zu berühren. Krampfhaft schloß er die Augen. Als er die Lider wieder öffnete, hatte Noreen ihre Position nicht um einen Zentimeter verändert. Wartete sie darauf, daß er endlich seine Zurückhaltung aufgab und vergaß, daß sie in der Hierarchie der PostGiant-Ära über ihm stand? Simon wußte plötzlich nicht, wohin mit seinen Händen, er war aufgeregt wie ein Teenager vor der ersten Verabredung. »Warum hebst du die Arme nicht hoch?«, fragte Noreen leise. »Dann sehen wir, ob der Sprühverband wirklich hält.« Sie griff nach seinen Händen und half ihm dabei, aber sie ließ ihn auch nicht los, als er nickte. »Alles bestens. Miß Welean.« »Ist das alles, Simon?« »Was...?« Er schluckte schwer, als seine geheimsten Träume Wahrheit wurden. Noreen legte seine Hände auf ihre Brüste. Schweigend und darauf hoffend, daß er... Simon griff zu. Sanft und fordernd zugleich. Er spürte ihre Erregung, wie die Frau sich ihm entgegendrückte, und dann glitten seine Hände höher, umfaßten ihr Gesicht, und er zog sie zu sich herab und küßte sie, zaghaft erst und übervorsichtig, als fürchte er, im nächsten Moment aus diesem schönen Traum aufzuwachen. Noreen erwiderte den Kuß, ihre Lippen öffneten sich für ihn, gleichzeitig wanderten seine Hände unter den Stoff ihrer Jacke. Mit zitternden Fingern löste er die Magnetverschlüsse, und Noreen half ihm dabei, den Stoff abzustreifen. »Ich...« Sie legte ihm zwei Finger auf die Lippen. »Sag jetzt nichts, Simon.« Seine Lippen wanderten über ihre Schultern, verharrten eine Zeitlang auf ihren Brüsten und glitten tiefer,
während sie an seinem Gürtel zerrte. Ein Traum. Das kann nicht Wirklichkeit sein. Aber wenn dem so 20 war, wollte Simon niemals wieder aufwachen. Er konnte sich nicht erinnern, ob er je so viel Glück empfunden hatte, wie in diesen Minuten. Noreen Welean, seine strenge Chefin, gab sich ihm hin. Weich und warm schmiegte sie sich an ihn und genoß jeden Augenblick ebenso sehr wie er. Sie waren wie Ertrinkende, die sich aneinander festkrallten, bis sie schließlich gemeinsam die Erlösung hinausbrüllten und sich immer noch zögernd voneinander lösten. Sanft strich Noreen über seinen Arm und den Brustkorb. »Schmerzen?«, wollte sie wissen. »Jetzt nicht mehr«, antwortete der Diener. »Ich habe mich nie so wohl gefühlt...« Mit den eigenen Händen fuhr er die Linien nach, die sie auf seine Haut malte, die Wunden, an denen sein Körper... ... aufgerissen? Ein seltsamer Gedanke. ... explodiert? Er reagierte verwirrt, starrte seine Hände an und den nackten Leib. Die Haut war rot vom Blut. Überhaupt war es eine eigenartig straffe Haut. Glatt und ohne Poren. Tofirit! Ungläubig hob Simon den Blick. Das war nicht sein Zelt. Und Noreen - im ersten Ansturm der Gefühle war er versucht, nach ihr zu rufen - war verschwunden. Er befand sich inmitten einer weitläufigen, von künstlichem Licht spärlich erhellten Halle. Sie war angefüllt mit teils gewaltigen Aggregatblöcken, vieles davon fremdartig, anderes seltsam vertraut wirkend. Mysterioustechnik? Wer bist du? dachte Simon betroffen. Der Körper, in dem er sich befand, war der eines Wächters. Doch es konnte unmöglich sein eigener sein. Mein eigener Körper war der, den ich auf Hope für immer verlor, berichtigte er sich spontan. Alles andere war aufgezwungen, obwohl er sich längst an die Hülle aus Tofirit gewöhnt und eine Vielzahl von Funktionen herausgefunden hatte. Der Leib, in dem er jetzt steckte, wirkte hingegen fremd und kalt. Das Programm schwieg. Falls es ein Programm gab. Vergeblich versuchte Simon, Einfluß zu nehmen. Er schaffte es 21 nicht einmal, die Molekülgruppierungen zu verändern. Stumm starrte er auf die Hand mit den Metallfingem, die sich seinem Willen nicht unterwerfen wollte. Nicht einmal diese Hand... 22
2. Wallis Industries war das größte Industriekonglomerat der Erde, mit Firmen rund um den ganzen Globus. Von der Schwerindustrie bis zur Hyperraumtechnologie war alles vertreten. Sitz der Firmenzentrale war ein rund achtzig Quadratkilometer umfassendes Gelände bei Pittsburgh, Pennsylvania. An einem lauen Abend in der ersten Maihälfte des Jahres 2059 kamen dort neun Personen zu einer Geheimsitzung zusammen. Das konspirative Treffen fand in einem kleinen Konferenzzimmer im dreistöckigen Verwaltungsgebäude statt. Keiner der neun Verschwörer trug eine Maske, so daß ein heimlicher Beobachter von jedem Anwesenden problemlos einen Steckbrief hätte anfertigen können. Jahrgang 2072. Groß, schlank, sportlich. Langes, leicht schütteres Haar, zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz. Eleganter Anzug mit grellbunter Weste. Ehemaliger Basketballer, mittlerweile Golfer. So hätte der Steckbrief von Terence Wallis lauten müssen, dem Besitzer von Wallis Industries und Wallis Star Mining sowie Biotechnologique und zahlreicher anderer Tochtergesellschaften auf Terra und einer ganzen Reihe von Planeten. Würde man zudem seine Charaktereigenschaften auflisten, müßte auf dem fiktiven Steckbrief noch folgendes stehen: unkonventioneller Mann mit Visionen und einem Hang zu praktischen Lösungen. Ehrlich bis ins Mark, weshalb er nichts von der klassischen Politik und ihren undurchschaubaren Beziehungsgeflechten hält. Seine größte Begabung liegt darin, die Begabungen anderer Menschen zu erkennen, zu fördern, entsprechend einzusetzen — und Geld damit zu verdienen. Auf diese Weise \vurde er der vermutlich reichste Mann der Erde. 23 Terence Wallis hatte die acht übrigen Sitzungsteilnehmer zu sich gebeten. Genaugenommen hatte er ihr Erscheinen angeordnet, aber dank der ihm angeborenen guten Manieren
schaffte er es immer wieder, seine Anweisungen wie höfliche Bitten aussehen zu lassen. Das war auch angebracht, schließlich waren nicht alle Anwesenden bei ihm angestellt. Die Hookers beispielsweise waren Anteilseigner. Ihnen gehörten 2,5 Prozent von Wallis Star Mining (WSM). Dadurch besaßen sie auch 2^ Prozent eines Planeten im noch weitgehend unerforschten Kugelsternhaufen NGC 5024 im Sternbild Coma, besser bekannt als M 53. Der Rest des Planeten, den sie Eden getauft hatten, gehörte dem Besitzer der übrigen 97,5 Prozent Anteile von WSM: Terence Wallis. Als Erstentdecker hatten sich Art und Jane Hooker das schönste Stück des Kuchens ausgesucht: Aloha ein kleiner Inselkontinent am Rande der Tropen, mitsamt der ihn umgebenden Wasserstreifen und Eilande. Der Hookersche Steckbrief hätte folgendermaßen ausgesehen: Prospektorenehepaar mittleren Alters. Beide von schlanker Gestalt, beide recht eigenwillig, beide zumeist lässig gekleidet. Ehemals freiberufliche Weltallvagabunden, die es mit Hilfe von Terence Wallis zu einem bescheidenen Vermögen gebracht haben. Ihre größte Stärke ist ihr unverbrüchlicher Zusammenhalt - zwei gegen den Rest der Welt. Die letzte Anmerkung traf auch auf den siebenundzwanzigjährigen Wissenschaftler Robert Saam zu, allerdings in leicht veränderter Weise: Ein Genie gegen den Rest der Welt, die ihn einfach nicht verstehen will. Denkt in Bahnen, die die meisten Menschen nicht begreifen. Abgebrochenes Studium, da ihm seine Professoren geistig nicht mehr folgen konnten. Lebt in einem kleinen Apartment auf dem Firmengelände von Wallis Industries, in unmittelbarer Nähe seiner Labore und Werkstätten, in denen er als hochbezahlter Forscher ohne direkten Auftrag tätig ist. Hagerer Norweger mit dichtem, blondem Haar, das ihm immer wirr vom Kopf absteht, insbesondere nach dem Kämmen. Arbeitet am liebsten mit 24 seinem festen Assistententrio zusammen. Dieses Trio bestand aus Regina Lindenberg (einunddreißigjäh-rige Schweizer Biologin mit Unmengen von Auszeichnungen und einem Faible für fast schon zu tiefe Ausschnitte), Saram Ramoya (Jahrgang 2020, indonesischer Funk- und Ortungsspezialist. Verfügt über männliche Ausstrahlung und hat einen entsprechenden Frauenverschleiß) sowie George Lautrec (kräftig gebauter, bärtiger Kanadier von z^eiundsechzig Jahren. Profilierte sich als erfahrener Wissenschaftler auf den unterschiedlichsten Gebieten). Da es in dem abhörsicheren Konferenzraum, in welchem Wallis, Saam, Lindenberg, Ramoya, Lautrec und die Hookers zusammensaßen, keine versteckten Kameras gab, fertigte selbstverständlich niemand heimlich Steckbriefe über die Konferenzteilnehmer an. Spione hatten auf dem Gelände von Wallis Industries ohnehin keine Chance - dank der stets wachsamen Sicherheitschefin Liao Morei, die ebenfalls an der geheimen Sitzung teilnahm. Chinesin. Jahrgang 2028. Größe 1,60 Meter. Messerscharfer Verstand. Zierliches Äußeres. - So in etwa hätte ihr Steckbrief ausgesehen, wobei noch eine kleine Warnung angebracht gewesen wäre: Vorsicht, nicht von der zerbrechlich wirkenden Gestalt täuschen lassen! Sie beherrscht elf Nahkampfsportarten plus eine wölfte, die sie selbst entwickelt hat und unterrichtet! Einen Steckbrief vom neunten und letzten Sitzungsteilnehmer anzufertigen, hätte jeden Spion vor ein unlösbares Problem gestellt. Wie sollte man einen Menschen beschreiben, dessen Persönlichkeit in erster Linie darin bestand, über gar keine Persönlichkeit zu verfügen? Der siebzigjährige Rechtsanwalt und Notar Alexander Basil Christian David Edward Fortrose arbeitete derzeit fast ausschließlich für Wallis Industries. Er war Träger von farbloser Kleidung, eines kümmerlichen Schnurrbarts und irgendeines unbedeutenden Ordens, der ihm vor vielen Jahren von einem Kaninchenzüchterverein verliehen worden war. Das war lange her, inzwischen züchtete Fortrose keine Karnickel mehr, es war ihm zu anstrengend geworden. Sein in Ehren ergrautes Haar befand sich auf der Flucht und bedeckte nur noch die hintere Kopfhälfte. Kulinarische Ge25 misse aller Art, dazu zählten vor allem Alkohol und Tabak, versagte er sich eisern. Er lebte allein, ging nie aus... es gab schlichtweg nichts von ihm zu erzählen. Aber gerade dieses Nichts war vor Gericht seine höchste Trumpfkarte. Einen unscheinbaren Menschen wie Fortrose konnte man nur schwer durchschauen, und ein schwer durchschaubarer Anwalt war schon der halbe Sieg in einem Prozeß. Für die andere Hälfte benötigte er seine anstudierten juristischen Kenntnisse. Neun Personen waren hier zu einer Verschwörung zusammengekommen. Auslöser für das Geheimtreffen waren Querelen mit der terrani-schen Regierung - und ein Privatgespräch mit einem abgefeimten Politiker, der von Enteignung gesprochen hatte. Dennoch schmiedeten die sechs Männer und drei Frauen keine umstürzlerischen Pläne. Ganz im Gegenteil. Sinn und Zweck dieser Zusammenkunft war nicht der Sturz der derzeitigen Machthaber, sondern die Gründung eines neuen Staates.
»Zugegeben, anfangs war es nur eine fixe Idee«, räumte Terence Wallis freimütig ein. »Im Zorn sagt man so vieles, was man hinterher wieder verwirft. Selbst als mir Carborit die Möglichkeit eröffnete, die Zentrale meiner Firma wie eine schwebende Riesenstadt durchs Weltall fliegen zu lassen - von Terra nach Eden -glaubte ich noch nicht so recht an die Verwirklichung meiner Idee, obwohl sie immer mehr und mehr Gestalt annahm.« Der Verbundwerkstoff Carborit war die neueste Erfindung des Forscherteams Saam und Co. Carborit war belastbarer als Tofirit und um ein Vielfaches leichter, weil es nur wenige Tofiritatome enthielt. »Irgendwie hänge ich an der guten Mutter Erde und den Menschen, die hier leben. Aber dann brachte er das Faß zum Überlau 26 fen: Dave Paley, Generalsekretär der Fortschrittspartei. Unverhohlen drohte er mir mit dem Paragraphen vierzehn der terranischen Verfassung, Absatz drei.« Die Fortschrittspartei wollte Ren Dhark, den amtierenden Com-xnander der Planeten, bei den Wahlen im Herbst durch ihren eigenen Spitzenkandidaten Antoine Dreyfuß ersetzen. Bei diesem demokratischen Ansinnen wurden Paley, Dreyfuß und ihre Anhänger nach Kräften vom Medienkonzem Intermedia unterstützt. Dharks einzige Chance war ein Sieg der Partei für Demokratie (PfD), deren Ehrenvorsitzender er war. Geleitet wurde die Partei von Dharks Stellvertreter Henner Tra-wisheim, der auf der Erde sämtliche Regierungsgeschäfte für ihn erledigte - während sich der Commander selbst fast unentwegt im Weltall aufhielt, um Kontakte zu anderen Völkern zu knüpfen, fremde Welten zu erkunden und das Geheimnis der Mysterious zu lüften, deren technischen Errungenschaften die Menschheit unsagbar viel verdankte. Ren Dhark war das, was man einen Helden nannte. Weil er aber nur selten auf seinem Heimatplaneten anzutreffen war, wurde der Ruf nach politischen Veränderungen immer lauter. Die von Wirtschafts- und sonstigen Krisen gebeutelte Bevölkerung fühlte sich von ihm im Stich gelassen. Dabei hätte seine ständige Anwesenheit schlichtweg gar nichts bewirkt, denn auch ein Held konnte keine Wunder bewirken. »Was ist das für ein Paragraph?« fragte Jane Hooker den Multi-milliardär. »Er regelt die Möglichkeit des Staates, Privatbesitz zu enteignen«, antwortete ihr Wallis. Art Hooker schüttelte verständnislos den Kopf. Mit Politik hatte er nicht viel am Hut, doch sein Vertrauen in Recht und Gerechtigkeit war ungebrochen. Am Ende, dessen war er sich bei jedem Abenteuer sicher, siegte immer das Gute. »So einfach geht das nicht«, meinte er. »Die Regierung kann nicht mir nichts, dir nichts daherkommen und unbescholtenen Menschen ihren Besitz wegnehmen.« »Nicht ohne zwingenden Grund«, bestätigte A. B. C. D. E. Fortrose. »Aber der läßt sich finden, wenn man es darauf anlegt. Recht 27 haben und recht bekommen ist bekanntlich zweierlei. Die Regierung kann unter bestimmten Umständen staatliches Interesse an einer Privatfirma anmelden, ohne daß sich der Firmeninhaber dagegen wehren kann. Außerdem verfügt der Staat über die Handhabe, Großkonzeme mit den Mitteln des Kartellrechts zu zerschlagen. Zu solchen rigorosen Maßnahmen greifen Politiker immer dann, wenn ihnen ein Konzern zu mächtig zu werden droht.« »So etwas würde Trawisheim nie tun«, war Lautrec überzeugt. »Das sehe ich genauso«, pflichtete Liao Morei ihm bei. »Meine Ermittlungen haben ergeben, daß es bei der derzeit amtierenden Regierung keinerlei Pläne gibt, Wallis Industries ins Abseits zu stellen - trotz der zurückliegenden Auseinandersetzungen zwischen Ihnen, Mister Wallis, und Henner Trawisheim. Dharks Stellvertreter hat es nicht nötig, zu unfairen Mitteln zu greifen. Bei einem Wahlsieg der Fortschrittspartei sähe das schon anders aus. Pa-ley würde sich regelrecht auf Sie einschießen.« Im Konferenzraum gab es einen in die Wand eingelassenen Suprasensor. Fortrose legte eine Mikro-CD ein und präsentierte den Sitzungsteilnehmern auf dem Wandbildschirm ein ausführliches Gutachten, das Terence Wallis bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Anhand von Gesetzestexten, Zahlenkolonnen und praktischen Beispielen referierte der Anwalt über die verschiedenen Möglichkeiten, einen eigenen Staat zu gründen. Wer auf einen kurzweiligen Bericht gehofft hatte, wurde bitter enttäuscht. Fortroses langatmige Erläuterungen ließen bei einigen Zuhörern den Verdacht aufkommen, er sei gar kein Mensch, sondern ein Mutant aus Bürokrat und Mathematiker. »Prinzipiell sind Staatsgründungen immer möglich«, faßte er abschließend zusammen. »Letzten Endes kommt es nur auf die militärische Stärke an, wie ich Ihnen am Beispiel der USA anschaulich erklärt habe. Im achtzehnten Jahrhundert mußten sich die Amerikaner ihre Unabhängigkeit teuer erkämpfen. Und hätte sich die Menschheit nicht mit Waffengewalt gegen die Giant-Invasion zur Wehr gesetzt, wären wir heute alle versklavt.« »Gegen feindselige Außerirdische zu kämpfen ist eine Sache«, merkte Wallis dazu an. »Es ist eine andere, wenn Menschen gegen Menschen kämpfen. Ich beanspruche Eden für mich, abgesehen
28 natürlich vom Anteil der Hookers, doch ich will zur Durchsetzung meines Anspruchs keinen Bürgerkrieg im Weltall entfachen.« »Das müssen Sie auch nicht«, entgegnete der Anwalt. »Amerika war damals eine Kolonie, so wie heute viele Planeten in der Milchstraße offizielle Kolonien Terras sind. Eden gehört jedoch nicht dazu. Der Planet im Kugelhaufen M 53 ist unbestritten Eigentum von Wallis Star Mining. Die terranische Regierung hat keinen rechtlichen Anspruch darauf.« Bis vor einiger Zeit war das noch anders gewesen. Als fünfund-zwanzigprozentigem Miteigentümer von WSM hatte dem Staat Terra nicht nur ein Viertel des über die Firma erwirtschafteten Gewinns aus dem Tofiritabbau, sondern auch ein Viertel von Eden zugestanden. Aber die Regierung war aus der Gesellschaft ausgestiegen. »Ausgestiegen worden«, denn Terence Wallis hatte deren Anteil durch einen geschickten geschäftlichen Schachzug an sich gerissen. Trawisheim verweigerte seither den Arbeitern, Ingenieuren und Wissenschaftlern von WSM, die im Achmed-System den Tofirit-Asteroidengürtel abbauten, jeglichen Regierungsschutz, es sei denn, Wallis würde dafür tief in die Tasche greifen. Zwar hätte der Multimilliardär ohne weiteres eine eigene Flotte auf die Beine stellen können, doch laut terranischem Gesetz durfte er sie nur mit leichter Bewaffnung ausrüsten. Das kam einem Todesurteil gleich. Gegen Überfälle im All benötigte man mehr als nur »Steinschleudern und Zwillen«, wie man beim Militär abwertend die harmlosen Waffen nannte, welche auf zivilen Raumschiffen installiert werden durften. Bisher hatte Terence Wallis nicht nachgegeben. Statt dessen suchte er nach einer vorteilhafteren Lösung. Als Gründer eines eigenen Staates konnte er Einfluß auf dessen Gesetzgebung nehmen - und die terranischen Gesetze hätten für ihn keine Gültigkeit mehr. Wallis wollte mit sich und der Welt in Frieden leben. Aber ein Staat ohne Verteidigungsfähigkeit war immer eine leichte Beute... Vor kurzem hatte er deshalb den Bau von zwölf Ikosader-Raum29 schiffen aus Carborit in Auftrag gegeben. Sie sollten die Schutzflotte für die WSM-Truppe bilden. Über die Bewaffnung hatte er noch nicht entschieden. Hier und jetzt machte Wallis Nägel mit Köpfen. »Es werden noch mehr Carboritschiffe gebaut«, ordnete er an, wobei er Robert Saam anschaute. »Sämtliche Schiffe, auch die zwölf bereits im Bau befindlichen, werden für den Einbau schwerer Waffen vorbereitet. Sorge dafür, daß die Arbeiten sofort in Angriff genommen werden, Robbie. Aber bitte so unauffällig wie möglich. Weder Informationen über das Carborit noch über den Schiffsbau dürfen nach außen dringen.« Er blickte Lautrec an. »Sie stellen ebenfalls eine Mannschaft zusammen, zur Vorbereitung unseres STarnmwerks für den Transport nach Eden, dessen Gesamtleitung ich Ihnen hiermit übertrage. Auch dieser Auftrag muß streng geheim bleiben, wie die gesamte geplante Umsiedlung und Staatsgründung überhaupt. Es werden nur die verschwiegensten Mitarbeiter eingesetzt, und selbst die erfahren nur das, was für ihre jeweilige Tätigkeit unbedingt vonnöten ist. Wo es möglich ist, übernehmen Roboter die Arbeit; Maschinen tratschen nicht. Wir neun werden vorerst die einzigen sein, die über das komplette Ausmaß des Projekts Bescheid wissen.« »Früher oder später werden Sie alle Mitarbeiter einweihen müssen«, gab Liao Morei zu bedenken. »Oder wie stellen Sie sich die Weiterarbeit auf Eden vor, so ganz ohne Menschen? Mit Robotern allein können Sie dort keine großen Erfolge erzielen.« »Das ist mir durchaus klar«, erwiderte Wallis. »Ich werde mich persönlich darum kümmern, daß jeder, der bei mir in Lohn und Brot steht, schonend auf die Umsiedlung vorbereitet wird. Das wird keine leichte Aufgabe, schließlich müssen nicht nur die Mitarbeiter selbst, sondern auch deren Familien von der Notwendigkeit der Maßnahme überzeugt werden. Doch das kriege ich schon hin. Wenn es sein muß, setze ich ein Heer von Psychologen ein. Wer trotzdem partout nicht mitwill, erhält eine anständige Abfindung und einen feuchten Händedruck zum Abschied. - Dies alles soll nicht Ihr Problem sein, Liao. Sie haften mir mit Ihrem Kopf für die Geheimhaltung und Sicherheit des Umsiedlungsprojektes. Nichts darf durchsickern. Ich will die Welt vor vollendete Tatsa 30 chen stellen!« »Und falls doch einer redet?« fragte ihn die Chinesin. »Habe ich dann die Lizenz zum Töten?« Die Frage war nicht ernstgemeint, aber Wallis beantwortete sie, als hätte er sie emstgenommen. »Lassen Sie es wie einen Unfall aussehen.« Erst als Art Hooker erstaunt aufsah, entdeckte er das spitzbübische Grinsen um Wallis9 Mundwinkel.
3.
Lange Zeit blickte er nur an sich hinab und versuchte, sich zu konzentrieren, aber selbst das wollte ihm nicht gelingen. Zu viele Gedanken jagten wild durcheinander, und nicht einen vermochte er wirklich festzuhalten. Nicht einmal in das Schneckenhaus seiner Verwirrtheit konnte er sich zurückziehen. Einfach nur dastehen und sich verkriechen, das paßte nicht zusammen. Inmitten der Halle stand er wie auf dem Präsentierteller... Er fröstelte, empfand seine Unsicherheit wie einen eisigen Schauder. Das war ein Fragment seines Menschseins, das er nicht abschütteln konnte. Das und die Unsicherheit, die ihn in unregelmäßigen Abständen überfiel wie ein Schreckgespenst der Vergangenheit. Jahre waren vergangen, seit... Wo bin ich? Die Frage quälte ihn noch mehr als die Erkenntnis der verstrichenen Zeit. Vor allem konnte er keinen klaren Gedanken fassen, solange er sich selbst im Weg stand. Unbewußt fürchtete er das Neue, das Ungewisse und flüchtete in die Vergangenheit, zurück nach Hope und zu Noreen Welean. Sie hatte angeordnet, was zu tun war, und er hatte ihre Anweisungen ausgeführt. Ohne über gestern oder morgen nachdenken zu müssen. Auch diese Vergangenheit war nicht mehr seine Welt. Sie verklärte sich in der Erinnerung. Niemals hätte er es gewagt, die Hochkommissarin anzufassen, obwohl ihr Altersunterschied nicht der Rede wert gewesen war. Tief in ihm — in seinem Geist -schlummerten menschliche Bedürfnisse, die er in dem Roboterkörper niemals ausleben konnte. War ich nicht längst soweit, mein Schicksal anzunehmen? Ich, Simon, Wächter der Mysterious... 32 Er fröstelte. Aber das kam tief aus seinem Innern und hatte nichts mit der Umgebungstemperatur zu tun. Die Tofirithaut zeigte plötzlich eine feine Struktur. Als richteten sich feine Härchen in der Kälte auf. Der Körper reagierte! Also mußte er es auch schaffen, die Finger zu bewegen. Und die Beine. Einen Fuß vor den anderen setzen und von hier verschwinden. Die Ungeduld war wieder da. Simon starrte seine Hände an - die Hände eines menschlich geformten Roboters - und versuchte, alle anderen Gedanken zu verdrängen. Sie behinderten ihn nur. Beweg dich! Worauf wartest du? Du bist nicht aus Stein, nicht einmal nur aus Tofirit - in dir steckt zugleich eine biologische Komponente. Beweg dich, oder du wirst verrückt... Zwei Finger der linken Hand knickten ein, krümmten sich nach innen. Gleich darauf ein dritter. Nur noch der Mittelfinger widersetzte sich. Minuten später hatte Simon es geschafft und die Faust geballt. Dann die rechte Hand... Weiter! Ich kann den Körper nach meinem Willen formen. Ich weiß, daß ich es kann. Aber keine Waffenmündung, nein, ich will nicht töten. Ich bin Simon, ein Mensch, kein Mörder. Neue Bilder überschwemmten sein Bewußtsein. Da war Von-nock, der andere Wächter, ein Amphi - nein, Fanjuur hatte er sich genannt - auf der Suche nach den letzten seines Volks. Auf Sedak hatte er sie gefunden, dem Tod näher als dem Leben, von Nano-partikeln der Qoom bedroht. Simon wußte nicht, ob er sich noch auf Sedak befand. Da war die noch allzu frische Erinnerung, daß Energierückschläge seinen Tofiritkörper zerstört hatten. Eine Bewegung im Hintergrund der Halle weckte seine Aufmerksamkeit. Zwischen haushohen Aggregaten glaubte er, ein Lebewesen zu sehen, so flüchtig indes, daß er sich der Wahrnehmung nicht sicher war. Was er entdeckt zu haben glaubte, war schwer einzuschätzen, weil ihm jede Vergleichsmöglichkeit fehlte. Weit mehr als mannsgroß, vermutete er, humanoid auf jeden Fall. Der Schädel, so flüchtig er ihn gesehen hatte, mochte eher einem Raubtier gehören als einem Menschen. Ein Giant! dröhnte es in seinen Gedanken. Unbeherrscht und voll Zorn. Acht Jahre lag es zurück, daß Giants die Erde überfallen und die Menschen versklavt hatten. Auch sein Leben hatten sie zerstört, hatten ihn verändert und letztlich zu dem werden lassen, was er heute war: ein Sklave seiner selbst, zerrissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung, von Selbstvorwürfen gequält. Ohne diese Kreaturen wäre sein Leben anders verlaufen, er hätte geheiratet und ein oder zwei Kinder gezeugt, die aufwachsen zu sehen ihn mit Zufriedenheit erfüllt haben würde. Vielleicht würde er in einem Büro arbeiten, wahrscheinlich sogar bei der Raumfahrtbehörde. Er würde die Siedler beneiden, die das heimische Sonnensystem verließen, um Hunderte oder gar Tausende Lichtjahre entfernt ein neues Leben zu beginnen. Den Mut, ebenfalls auszuwandern, hätte er wohl nicht aufgebracht. Der Weltraum, das bedeutete Entbehrungen und Gefahren und den unbeugsamen Willen, um eine neue Existenz zu kämpfen, ungeachtet dessen, wieviel Schweiß, Blut und Tränen dem Einzelnen abverlangt wurden. Giants... Simon wußte nicht, ob er sie hassen oder nur verachten sollte. Verwirrt blickte er um sich. Er hatte seinen Standort verändert, ohne daß es ihm aufgefallen wäre, mußte mindestens fünfzig Meter zurückgelegt haben, denn zu seiner Linken ragte jetzt ein eiförmiges Gebilde auf, das eben noch ein Aggregat unter vielen gewesen war. Simon konzentrierte sich. Stockend setzte er jetzt einen Fuß vor den anderen.
Der Gedanke an die Giants, die All-Hüter, hatte ihm neue Kräfte verliehen. Der Haß war immer schon die stärkste Triebfeder der Menschen gewesen. Neben der Liebe. Er eilte weiter bis zu der Stelle, an der er den All-Hüter gesehen zu haben glaubte. Aber da war niemand, nichts deutete darauf hin, daß sich überhaupt jemand außer ihm selbst in der Halle aufgehalten hatte. Simons Versuch, eine Infrarotspur wahrzunehmen, blieb vergeblich.
34 »Du hast lange gebraucht, um dich zurechtzufinden. Beinahe zu lange.« Die Stimme erschreckte Simon. Sie schien von überallher zu kommen und sie war auch in ihm. Sekundenlang lauschte er - vergeblich. Erst als auch der Nachhall verklungen war, fragte er: »Wer bist du?« Endlich nahm er die Stille ringsum wahr. Falls die riesigen Aggregate in der Halle arbeiteten - daran hatte er seltsamerweise noch keinen Gedanken verschwendet - geschah dies in völliger Lautlosigkeit. Nicht einmal Vibrationen waren zu spüren. »Wer bist du?«, wiederholte Simon drängender. »Wie komme ich hierher, und was ist das für eine Station? Ist das überhaupt noch Sedak?« Einmal drehte er sich um die eigene Achse und versuchte herauszufinden, von wo die Stimme erklungen war. Es war vergebliche Mühe. Vielleicht, sobald er den neuen Körper besser beherrschte... Er hatte den Tod des »alten« Wächters gespürt. Auch, daß sich etwas wie eine undurchdringliche Hülle um ihn geschlossen hatte, eine Kapsel oder wie immer er es bezeichnen mochte. Dieses Etwas - vielleicht ein Energiefeld - hatte seinen Geist davor bewahrt, mit dem Tofirit zu verglühen. Es hatte ihn blind und taub gemacht, von allen Wahrnehmungen abgeschnitten... ... und an diesen Ort gebracht, ihn in den neuen Körper versetzt. So etwas wie eine Rettungskapsel, durchzuckte ihn ein makabrer Gedanke. Konnte er daraus schließen, daß er immer überleben würde, egal welcher Katastrophe der Wächterkörper zum Opfer fiel? Dann war er wirklich unsterblich geworden. »Mir ist der Name Sedak unbekannt«, erklärte die Stimme. Ausgerechnet in dem Moment empfand Simon sie als störend. Unsterblich? Unbesiegbar! Oft hatte er als Jugendlicher davon geträumt, wie die Helden zu sein, mit denen sich Generationen von Menschen identifiziert hatten. Und wenn das nicht möglich war, einige Ersatzteile ließen sich immer im Körper anbringen: künstliche Sehnen und Muskeln, Knochen aus Hochleistungsstahl oder gar ein zweites Herz zur 35 Leistungssteigerung. Über alles das hatte er nicht mehr nachgedacht, seit er im Untergrund von Hope auf den humanoiden Roboter gestoßen war. Im Beisein von Noreen Welean hatte er den stählernen Körper berührt und war von ihm aufgesogen worden. Er hörte sich noch röcheln, glaubte den grellen Blitz zu spüren, der ihn durchzuckt und zum Gefangenen einer perfekten Maschinerie gemacht hatte. Und er erinnerte sich an seine Begeisterung und Zuversicht im ersten Überschwang. Wieviel Zeit ist vergangen, seit ich die Nanopartikel der Qoorn vernichtete und sie mich? »Du bist verwirrt.« Weil ich nicht weiß, wie ich an diesen Ort gelangt bin. »Das Innerste, tief im Körper eines Wächters verborgen, hat dich beschützt und nach ARKAN-12 versetzt. Wie kommt es, daß dir dieses Wissen fehlt?« Simon schwieg. Weil er urplötzlich fürchtete, den Anforderungen nicht zu genügen. Er war nicht das, was der unbekannte Sprecher erwartete. Er war kein Mensch mehr, aber auch kein wirklicher Wächter der Mysterious. Ich gehöre niemandem, daöhte er bitter. Nicht einmal mir selbst. »Ich spüre deine Verwirrung«, sagte die Stimme. »Du brauchst Zeit für dich selbst - Simon.« Er zuckte zusammen, weil er sicher war, seinen Namen nicht genannt zu haben. Kannte der Sprecher seine Gedanken? Bist du die Gedankensteuerung dieser Station? »Sieh dich um und versuche, zu dir selbst zu finden, damit du deiner Aufgabe nachkommen kannst. ARKAN-12 steht dir offen.«
Zweifellos hatte der Unbekannte recht, er mußte zu sich selbst finden. Simon ahnte, daß ein neuer Lebensabschnitt begonnen hatte - zumindest war ihm ein neues Leben geschenkt worden. Frag nicht, womit du das verdient hast! redete er sich ein und schaffte es, damit seine Neugierde zu
besänftigen. Ein guter Diener fragte nicht, er tat, was die Herrschaft von ihm erwartete. Die Stimme hatte es gesagt: »ARKAN-12 steht dir offen.« 36 Seit einer Stunde war er unterwegs und hatte nicht nur die Halle längst hinter sich gelassen, sondern mehrere solcher Hallen durchquert, in denen die unterschiedlichsten Maschinen arbeiteten -Blöcke wie aus einem Guß, unter deren Verkleidungen enorme Energien umgesetzt wurden. Mittlerweile war er soweit, die Sensoren des Wächterkörpers einsetzen zu können. Die Meßwerte verrieten ihm, daß er Speicherbänke und Projektoren eines Schutzschirmsystems vor sich hatte. Aber die Werte waren zu groß für ein einfaches Raumschiff. Nicht einmal eine planetare Station benötigte derart extreme Energien. Was Simon anmaß, hätte ausgereicht, Hunderte Ringraumer wie die POINT OF unter Vollast zu betreiben. Die Einsamkeit und die Stille taten ihm gut. Obwohl er manchmal glaubte, die Spuren von Lebewesen zu erkennen, die vielleicht nur Minuten vor ihm die betreffenden Räume verlassen hatten. Gingen sie ihm absichtlich aus dem Weg? Er war es gewohnt, allein zu sein. Simon erreichte einen kleineren Raum, eine Art Schaltzentrale. Die Schirme ringsum ließen im Zusammenspiel eine perfekte Rundsicht erwarten. Aktivieren! dachte Simon. Ich will endlich sehen, wo ich mich befinde. Nichts geschah. Zögernd widmete er sich den ersten Geräten. Manches glaubte er zu kennen, anderes war ihm so fremd, als hätte er die Technik eines exotischen Volks vor sich. Farbfelder glommen auf, sobald er die Hände über einzelne Konsolen bewegte, sie veränderten ihre Intensität, formten sich zu holographischen Mustern. Endlich war da ein lautloses Wispern, das Empfinden einer mentalen Rückkopplung. Die Außenbeobachtung! drängte Simon. Ich muß wissen, was ringsum ist. Die ersten Schirme leuchteten auf. Wenngleich sie nur Schwärze zeigten, der Vorgang wurde zur Kettenreaktion, die in Sekundenschnelle eine perfekte Illusion schuf. Simon glaubte zu schweben. Inmitten einer endlos anmutenden 37 Sphäre aus Finsternis. Da war kein noch so schwacher Lichtschein, kein femer Stern am Nachthimmel einer namenlosen Welt. Nicht einmal der intergalaktische Weltraum konnte so lichtlos sein. Nirgendwo zeichnete sich der yerwaschene Schimmer einer fernen Galaxis ab. Fehlfunktion! konstatierte Simon ungläubig. Eine Überprüfung ist erforderlich. Nichts veränderte sich. Die Schwärze blieb. Simon aktivierte Zusatzprogramme. Schriftzüge und Zahlenkolonnen der Mysterious entstanden vor ihm aus dem Nichts heraus und zeigten ihm, daß die Rundumbeobachtung sehr wohl Daten lieferte. Die Meßwerte waren Irrsinn. Nie zuvor hatte er ähnliche Diagramme gesehen. »Was ist das?« stieß er hervor. Der Gedanke an ein Schwarzes Loch lag nahe. Ein kollabierter Stern, dessen Schwerkraft so extrem hoch war, daß ihr nicht einmal das Licht entweichen konnte. Ausgeschlossen. Die Schwärze würde nur einen eng begrenzten Sektor umfassen, aber alle anderen Sterne wären noch sichtbar. Er dachte daran, daß ein Schwarzes Loch mit seiner unglaublichen Schwerkraft eine Gravitationslinse bildete. Das Licht der dahinter-liegenden Sterne wurde abgelenkt und erschien als verzerrtes Abbild wie eine Korona. Aber nicht einmal dieses Phänomen zeichnete sich ab. Simon schwebte inmitten der Wiedergabe aus hunderten Hologrammen wie im Weltraum. Die Illusion war perfekt und nicht einmal mit den Sinnen des Wächters zu durchschauen. Langsam drehte er sich um die eigene Achse. Endlose Schwärze, wohin er auch blickte. Begriffe wie oben oder unten, rechts oder links verwischten zur Bedeutungslosigkeit. Simon sträubte sich gegen die Kräfte, die ihn in der Schwebe hielten, er ließ sich absinken, aber er fand keinen Boden. Die Skalen verrieten ein unglaubliches Energiepotential ringsum. Er sank tiefer... Immer schneller stürzte er ins Nichts... 38 Er versuchte, sich auf die Meßdaten zu konzentrieren - aber da war nichts Verwertbares. Wie weit trieb er ab? Selbst wenn er nur eine geringe Eigenbeschleunigung unterstellte, mußte er sich schon kilometerweit entfernt haben. Kurz darauf schob sich ein gewaltiges Rund in sein Blickfeld. Es wuchs ins Gigantische an - eine Dunkelwelt, unsichtbar in der Lichtlosigkeit, wären da nicht die erleuchteten Fensterfronten gewesen, deren Widerschein wenigstens fahle Umrisse erkennen ließ. Mit offenem Mund starrte Simon den Koloß an, den er immer noch nicht in seiner gesamten Ausdehnung überblickte. Ein kleiner Mond trieb lautlos durch den Weltraum. Er war nicht natürlich entstanden, sondern von intelligenten Wesen erschaffen worden. So imposant das Schauspiel wirkte, so bedrohlich
war es. Simon spürte die Panik in sich aufsteigen. Warte! Nimm mich mit! Die Einsamkeit in diesem Weltraum ohne Sterne würde er nicht ertragen. Warte...! Die Station verlor sich in der Ewigkeit. Viel zu schnell verblaßte ihr fahler Schimmer. Dann war da nichts mehr, nur noch Leere.
Schwer zu glauben, daß es einmal eine Zeit der Bedürfnisse gegeben hatte. Ohne sie hätte er als Mensch nicht lange überlebt. Jetzt brauchte er keine Luft mehr, weder Nahrung noch Flüssigkeit. Er trieb durch das Nichts, durch einen Weltraum, der keiner war, weil Bezugspunkte fehlten, die ihm Entfernung oder Geschwindigkeit vermittelt hätten. Ein Weltraum, dessen Sterne längst erloschen sind? fragte er sich. Oder werden sie erst in Jahrmillionen geboren? Auch die Zeit war ein Begriff, der ohne Bezugspunkte nicht funktionierte. Sie konnte Freund sein oder Feind, auf jeden Fall spürte Simon ihre Krallen. War da ein leises Lachen? 39 Er stutzte. Die Station war längst in der Unendlichkeit verschwunden, hatte diesen Raum verlassen und war in heimische Gefilde zurückgefallen. Ganz im Gegenteil - hier ist die Heimat von ARKAN-12! Eine kleine Ewigkeit verging, bis Simon registrierte, daß die Worte nicht nur aus seinem eigenen Ich heraus entstanden waren. Ich habe dich beobachtet. »Warum?« brachte er gepreßt hervor. »Warum tust du mir das an?« Im Vakuum des Weltraums blieben seine Fragen lautlos, aber das war kein Hindernis. Erneut vernahm Simon jenes ferne Lachen. Diesmal glaubte er, eine Nuance von Spott darin wahrzunehmen. Niemand kann einem Wächter der Worgun etwas antun, antwortete die Stimme. Es sei denn, er läßt es zu. »Warum?« wiederholte Simon drängender. »Was ist Besonderes an mir?« Nichts. Die Antwort erschreckte ihn und holte ihn unsanft auf den Boden der Tatsachen zurück. Er war ein Diener, taugte zu nichts anderem mehr, seit die Giants ihn aus ihrer Herrschaft entlassen hatten. Er war wie Millionen andere Menschen innerlich zerbrochen und um viele Hoffnungen betrogen. Eine Zeitlang hatte ihn die Furcht beherrscht, die All-Hüter würden wiederkommen, und wenn nicht sie, dann ein anderes Volk, das den Planeten Erde und seine Bewohner als Beute ansah. Du bist nur der letzte! fügte die Stimme bedeutungsvoll hinzu. »Ich verstehe nicht.« Du scheinst vieles nicht zu verstehen. Das ist bedauerlich. »Warum erklärst du es mir nicht?« Weil... es wäre wohl vergebliche Mühe. Die Gedankenstimme schwieg geraume Zeit. Du bist anders, fuhr sie urplötzlich fort. Ich war zu lange allein und habe verlernt, mich auf deinesgleichen einzustellen. »Wer bist du?« drängte Simon. Schweigen.
40 Die Einsamkeit quälte ihn. Ausgerechnet ihn, der die vermeintliche Stille einer Welt wie Hope dem pulsierenden Leben jeder irdischen Metropole vorzog. Das war einer der Gründe gewesen, weshalb er sich Noreen Welean als Diener geradezu aufgedrängt hatte. Längst erschien es ihm, als wäre das in einer anderen Welt und einer anderen Zeit gewesen. Vergeblich wartete er darauf, daß die Stimme wieder zu ihm sprach. Er vermutete, daß sie der Gedankensteuerung der Station gehörte. Aber vielleicht war ARKAN-12 für einen telepathischen Kontakt schon zu weit entfernt. Die Aussicht, für lange Zeit hilflos durch den Sternenlosen Raum zu treiben, entsetzte Simon. Er fragte sich, wie es wohl sein würde, allmählich den Verstand zu verlieren. Der Wächterkörper übermittelte ihm eine Fülle von Meßdaten: hohe Energiepotentiale, ein gigantischer Strom, der ihn mit sich spülte, ohne Herkunft und Ziel. Zumindest war das etwas, was sich seinen Sinnen entzog. Ansonsten verhielt sich das energetische Gefälle kaum anders als jeder große Fluß: Es gab Stromschnellen und Strudel - Zonen, in denen das Niveau
langsamer driftete und solche, in denen extrem hohe Werte meßbar waren, als wolle das Gefüge des Raumes in diesen Bereichen aufbrechen. Dazwischen unerklärliche Flecken wie Felsen in aufschäumender Brandung. Dunkle Materie, vermutete Simon, ohne eine Bestätigung zu erhalten. Erst weit entfernt ein einzelner Ortungsreflex, an der Grenze der Reichweite und in seiner Winzigkeit verloren wirkend, nicht mehr als ein Staubkorn in diesem leblosen Universum: ARKAN-12. Die Ortung verwischte, während Simon sich darauf konzentrierte. Und ob ich schon wanderte im finstren Tal... Ein seltsamer Gedanke schreckte ihn aus der beginnenden Lethargie auf.. fürchte ich kein Unglück... Er hatte seinen Glauben schon wenige Wochen nach dem Beginn der Giant-Invasion verloren. Anfangs hatte er noch gebetet und gehofft, daß der Kelch an den Menschen vorüberging. Dann hatten ihn die Toten das Fürchten gelehrt. Und den Haß. Er hatte
41 sich von seinem Gott abgewandt wie viele andere auch in ihrem Schmerz. ... denn du bist bei mir... Er reagierte verwirrt. Längst waren die Menschen weit in den Weltraum vorgestoßen - aber Gott war ihnen nicht begegnet. Zumindest nicht das, was sie sich in ihrer Naivität vorstellten. Vielleicht, dachte Simon, haben wir nur am falschen Ort gesucht. Weil wir das Vertrauen erst mühsam zurückgewinnen müssen. Er starrte in die Schwärze. Verloren war er erst, sobald er sich selbst aufgab. Das hatte er auf Hope nicht getan, als sein Geist von dem Roboterkörper aufgesogen worden war, und nicht bei den Cerash. Er würde auch jetzt nicht aufgeben. Es war mutiger, sich dem Leben zu stellen, als dem Tod entgegenzudämmem. Ich muß zurück! Es muß einen Weg geben, ARKAN-12 wieder zu erreichen! Er hatte Kontakt mit dem Programm, die erste wirklich umfassende Berührung, seit er sich selbst wieder bewußt geworden war. Simon drang ungestüm weiter vor und ergriff endgültig Besitz von dem Polymetall und der integrierten organischen Komponente. Ich bin unsterblich! dachte er. Egal was geschieht, ich werde immer wieder einen neuen Körper erhalten. Und du... Es fiel ihm schwer, den Gedanken zu Ende zu bringen. ... du wirst mir dienen, so gut du kannst. Ich hoffe, daß deine Fähigkeiten denen meines ersten Wächterkörpers nicht nachstehen. Er schwebte schutzlos im Weltraum - doch das machte ihm nichts aus. Er versuchte, den Körper zu verändern - tatsächlich überzog sich sein linker Arm mit Schuppenhaut, und ein sechster Finger wuchs. Doch das Abbild eines Amphis blieb auf den Arm beschränkt. Zugleich fragte sich Simon, ob Angehörige von Vonnocks Volk überlebt hatten. Andernfalls wäre sein Opfergang vergebens gewesen. Opfer gang? Ohne die Vernichtung des Wächterkörpers hätte er niemals herausgefunden, daß er keine Furcht vor der Zerstörung zu haben brauchte. Er würde jedesmal in einem neuen Leib aufwachen. 42 Ich habe viele Leben... Alles in ihm drängte danach, das hinauszuschreien, es wenigstens die Menschen wissen zu lassen, die er zu seinen Freunden zählte. Das waren nicht viele. Eigentlich kam ihm nur Noreen in den Sinn. Zugleich war da ein verwegener Gedanke. Wenn er versuchte, den Wächterkörper zu zerstören, durch eine Manipulation des Programms die spontane Freisetzung aller Energie erreichte, würde er sich von neuem in ARKAN-12 wiederfinden. Oder in einer anderen Station der Hohen. Nur einen Bruchteil des gigantischen künstlichen Mondes hatte er bislang gesehen. Um das Gebilde wirklich zu erkunden, würde er Monate benötigen. Simons Gedanken schaukelten sich auf und griffen nach der Energieversorgung. Vor seinem inneren Auge sah er ein Aufglühen. Sonnenhell. Es entstand im Mittelpunkt seines künstlichen Leibes und dehnte sich gedankenschnell aus - ein Feuerball, der nicht einmal verwehende Atome übrig ließ, ein Sekunden währendes Aufflammen. Der winzige Lichtpunkt würde das einzige Zeichen von Leben in der ewigen Schwärze sein. Simon verkrampfte sich. Er spürte, daß der Körper reagierte. Ein grauenvoller Schmerz durchzuckte ihn, verbunden mit dem Empfinden, in der Unendlichkeit zu verwehen. Hätte es einen Beobachter gegeben, für ihn wäre der Wächter Simon innerhalb eines unmeßbaren Augenblicks spurlos verschwunden.
Simon blickte um sich. Nicht einen Augenblick lang zweifelte er daran, daß er sich wieder auf ARKAN12 befand. Allerdings fragte er sich, wie es ihm gelungen war...
»Dein Wissen über viele Vorgänge ist höchst lückenhaft.« Woher... ? Simon brachte den Gedanken nicht zu Ende, weil die Stimme ihn jäh unterbrach. »Ich wäre eine schlechte Instanz, würde ich meine nächste Umgebung unbeachtet lassen. Ich beobachte dich und deine Zweifel, die seltsam sind für einen Wächter. Ich schreibe sie besonderen 43 Umständen zu, die dich zu dem gemacht haben, was du heute bist.« »Und was bin ich?« Simon sprach die Frage laut aus. Ein verzerrtes Echo hallte aus vielen Richtungen zurück. Erst jetzt achtete er auf seine Umgebung. Sie war riesig - und begrenzt zugleich, ein Raum, den zu definieren ihm schwerfiel, der sich stets veränderte. Im einen Moment glaubte er, weiträumige Hallen zu sehen - vermutlich Hangars für Beiboote oder kleinere Raumschiffe - im nächsten wuchsen vor ihm massive Maschinenparks auf, Energieanlagen und Triebwerksblöcke, soweit er erkennen konnte. Und sobald er sich drehte, sah er endlos anmutende Korridore, Transportschächte und Röhrensysteme, in denen tropfenförmige Fahrzeuge verkehrten. Er glaubte, einen Transmitterring zu erkennen und Roboter, deren äußere Gestalt ihren Aufgaben angepaßt war. Cerash? brach ein mißtrauischer Gedanke auf, als er ein spinnenartiges Etwas entdeckte, aber die Erscheinung verschwand ebenso schnell wieder. »Ich kann dir nur sagen, was du nicht sein solltest.« Die Stimme der Instanz drängte seine Überlegungen zurück. »Du kannst nicht jedermanns Diener sein. Ein Wächter ist Herr über Leben und Tod, Zweifel sind ihm fremd.« Alles veränderte sich. Jeder neue Blickwinkel zeigte Simon eine andere Perspektive, als könnte er von seinem Standort aus die Station in ihrer gesamten Ausdehnung überblicken. Hier waren riesige Tanksysteme, dort hydroponische Gärten, in denen Roboter arbeiteten und... wieder sah er die humanoiden Wesen nur vage. Giants? fragte er sich. Sein Blick fiel auf eine transparente Halbkugel. Sie ruhte auf einem roten Sockel und schien das einzig Unveränderliche zu sein. Simon schritt darauf zu. Ein Geflecht von Schläuchen quoll aus dem Sockel empor und mündete in die Kuppel, in der ein grauweißes, zerfurchtes Gebilde in trüber Flüssigkeit schwamm. Ein Gehirn. Nicht menschlich! registrierte Simon, ohne jedoch erklären zu können, worauf er diese Feststellung bezog. Er spürte, wie sich etwas unglaublich Fremdartiges manifestierte - etwas, von dem er nicht zu sagen vermochte, was es wirklich 44 war: Mann oder Frau, welche Art von Lebewesen, Nachkomme tierischer Vorfahren oder gar ein pflanzlicher Organismus? Das Gehirn an sich implizierte eine aufrechtgehende, große Kreatur, größer als ein Mensch auf jeden Fall, und die vielfältigen Nervenstränge ließen ein mehrgliedriges Wesen vermuten. Simon assoziierte eine krakenartige Intelligenz. Tief in ihm entstand ein bedrückendes Lachen. Mentale Bilder überschwemmten ihn, eine ungeheure Vielfalt von Leben, wie er sie noch vor Jahren für unmöglich gehalten hätte, zu einem Zeitpunkt, als die Menschen geglaubt hatten, das einzige raumfahrende Volk in der Milchstraße zu sein. Hunderte Physiognomien waren es, so unterschiedlich, daß es schwerfiel, auch nur einen Teil davon mit knappen Begriffen zu beschreiben. Schillernde Blasen schwebten inmitten dichter Wolkenbänke, so ätherisch filigran, daß sie überaus verletzlich erschienen; ganz anders die plumpen, vielbeinigen Kolosse mit den dicht behaarten Sinnesrüsseln; dazwischen bleichhäutige Zwerge mit einem einzigen Auge auf der Stim und zwei übereinander liegenden Mündern. Deutlich spürte Simon die Wehmut in den fremden Gedanken. Jenes Wesen war im Grunde seiner Seele noch sehr viel einsamer als er selbst. Er verstand. »Du bist die Instanz«, brachte er stockend hervor. »Du bist es schon so lange, daß du dein eigenes Aussehen vergessen hast?« Die Feststellung erschreckte ihn. Wann würde er sein eigenes Aussehen eines Tages nicht mehr kennen? »Wie lange lebst... existierst du schon in dieser Station?«, fragte er bitter. »Ich weiß es nicht«, lautete die Antwort. »In einer Welt ohne Zeit ist vieles anders.« Simon starrte das Gehirn an. Welche Qual mußte es empfinden, körperlos und in seiner Existenz auf diese transparente Halbkugel beschränkt... Die Stimme klang amüsiert: »Du mußt mich nicht bedauern; ich habe viel mehr Freiheit, als du glaubst.« Simon spürte die Nähe eines sehr starken Geistes. Etwas davon sprang auf ihn über... 45 Du fürchtest dich. Nein: Du fürchtest die Instanz. Dabei hast du keinen Grund, argwöhnisch zu sein. Falls die Instanz dich vernichten wollte, hätte sie dir keinen neuen Körper zu geben brauchen.
Hat wirklich sie das getan? Ein beruhigender Impuls trifft dich. In ARKAN-12 droht dir keine Gefahr. Nach und nach wirst du die Zusammenhänge verstehen, das ist es, was die Instanz dir erklären will. Die Station, die um ein Mehrfaches größer und imposanter ist als vergleichbare Erron-Stationen, "wurde vor langer Zeit in ein Paralleluniversum versetzt, das nie über das Stadium der Knospung hinausgekommen ist. Hier gibt es keine Sonnen und Planeten, nichts von dem, was einen Weltraum definiert; die Energie ist in einem ewigen Kreislauf gefangen und wird sich nie stabilisieren. Du hast dieses andere Universum durch den Beobachtungsraum betreten und selbst erlebt. Es ist ein Ort grenzenloser Einsamkeit, dessen räumliche Dimension jeder nach seinen eigenen Vorstellungen erkennt. Du hast diesen Raum als unendlich empfunden, andere würden das genaue Gegenteil behaupten. »Wie bin ich zurückgekommen?« Aus eigener Kraft - eine Transition aus dem Stand heraus. Eine Transition oder Teleportation oder wie immer du den Vorgang nennen willst. Für mich war wichtig, herauszufinden, ob dein Wächterkörper voll funktionsfähig ist. Du verstehst, was die Instanz sagt, aber du kannst ihre Worte nicht nachvollziehen. Vielleicht, wenn du lange genug gelebt hast und mehr verstehst als nur ein Diener... Nein, hallen die Gedanken des fremden Gehirns in dir nach. »Wann hätte ich mir solches Wissen aneignen sollen?« Nicht darum geht es. »Sondern?«, fragst du interessierter als zuvor. Um deine Lebensspanne, antwortet die Instanz. Als Wächter bin ich unsterblich. Du sprichst den Satz schon 46 nicht mehr aus, denn da ist ein ungutes Gefühl, das dir plötzlich wie ein Alpdruck im Nacken sitzt. Das ist richtig. Aber? Die Frage drängt sich auf, du kannst sie nicht verhindern. Zugleich fragst du dich, was du übersehen hast. Waren deine Vorstellungen falsch, ist ein Wächterkörper sehr wohl sterblich? Du glaubst das nicht, weil du ihn nach deinem Willen formen kannst. Und falls er wieder zerstört wird... Hüte diesen Körper, als wäre er dein eigener! Die Gedanken der Instanz lassen dein Innerstes vibrieren. Du, der unscheinbare Mensch, dem ein Zufall zur Vollkommenheit verholten hat, bist in deiner Seele zaghaft geblieben. Du wirst an dir arbeiten müssen, wenn du wirkliche Größe erreichen willst. »Was ist... mit diesem Körper?« Stockend bringst du die Worte hervor, deine Gedanken überschlagen sich. Da ist all das Negative wieder, das du zu verdrängen versucht hast, deine Furcht und dein Zögern. Weil du es nie anders gelernt hast. Ist dieser neue Körper beschädigt, gibt es Bakterien, Viren oder bestimmte Stoffe, die das Tofirit angreifen? Vonnock hat dir erzählt, daß die Nanopartikel der Qoom ihn und sein Ringraumschiff beinahe zerstört hätten -daran denkst du. Du, sagt die Instanz, bist der letzte Wächter, den ich einsetzen kann. »Ich verstehe nicht.« Achte auf deinen Körper, Simon. Ich erhalte schon seit langem kein Ala-Metall mehr, mit dem ich eine neue Hülle erschaffen könnte. Ala-Metall. Natürlich kennst du den Namen, den die Mysterious diesem extremen Stoff gegeben haben. Für die Menschen... für uns Menschen ist es Tofirit, und sein spezifisches Gewicht beträgt annähernd 500 Kilogramm pro Kubikzentimeter. In das Ala-Metall ist eine Biokomponente eingearbeitet, die es geschmeidiger, aber keineswegs angreifbarer macht. Die Gegenstation im Normaluniversum, über die von den Wo-gun der Kontakt mit ARKAN-12 aufrechterhalten wurde, ist verstummt, fährt die Instanz fort. Ich zweifle nicht mehr daran, daß sie vernichtet wurde. Wenn dem wirklich so ist, wird es nie wieder 47 neue Wächter geben. »Aber du weißt das nicht genau?« Du erhältst keine Antwort, hast den Eindruck, daß die Instanz alles gesagt hat, was sie dir preisgeben wollte. »Was kann ich tun?«, platzt du heraus. »Soll ich für dich die Wahrheit über die Gegenstation herauszufinden?« Du bist kein Diener mehr! Sind das deine eigenen Gedanken oder die der Instand Du kannst es nicht erkennen. Dann bist du wieder allein, die Wände von ARKAN-12 haben ihre feste Konsistenz zurück, du kannst die Station nicht mehr überblicken. Und das Gehirn ist mit seinem Sockel so spurlos verschwunden, als hätte es nie existiert. Aber du weißt: Es beobachtet dich. »Warum?« willst du rufen, doch du schweigst. Weil es sich anders nicht geziemt.
4. Hin und wieder »spürte« er die Allgegenwart der Instanz. Sie beobachtete ihn, aber sie ließ ihn gewähren. Vielleicht, dachte Si-mon, ist der Test noch nicht beendet. Das Gehirn mll wissen, was ich kann. Seine Verunsicherung zu verdrängen fiel ihm schwer. Gerade weil er den letzten Wächterkörper erhalten hatte und es nach ihm wohl keinen weiteren geben würde. Zugleich fragte er sich, wie lange das Rohmaterial in der Station gelagert worden war. War das Ala-Metall überaltert? Er wußte nicht, wie lange die Biokomponente ohne einen beseelenden Geist funktionsfähig blieb. Vielleicht betrachtete ihn die Instanz als Experiment. Das Hochgefühl der letzten Jahre war zu schön gewesen, es hatte nicht ewig so bleiben können. Die Höhen und Tiefen des Lebens wechselten rasch. Simon hielt abrupt inne. Seine Wanderung durch ARKAN-12 hatte ihn in einen Bereich geführt, der nur noch wenig mit den Maschinenparks der Energieerzeugung, Antriebseinheiten und Schutzschirmsysteme gemeinsam hatte. Auch hier ließ sich die Handschrift der Mysterious nicht leugnen, aber die Atmosphäre war eine andere geworden. Simon benötigte einige Sekunden, um herauszufinden, daß es wärmer geworden war. Um wenige Zehntel Grad nur, aber er registrierte die Veränderung. Vor ihm waren lebende Wesen den Korridor entlanggegangen. Ihre Infrarotspur hing noch in der Luft, verwehte jedoch überraschend schnell. Sie waren groß, reichten dem Wächterkörper aber dennoch nur bis zur Schulter. 49 Wiederholt war er auf die Fährte dieser Unbekannten gestoßen, ihnen aber nie nahe genug für eine Kontaktaufnahme gekommen. Simon schüttelte sich. Er wollte nicht daran glauben, daß ausgerechnet Giants auf der Station Arbeiten verrichteten. Er war verwirrt und unsicher gewesen und hatte vielleicht nur deshalb eine vage Ähnlichkeit zu sehen geglaubt. Die All-Hüter hatten den Menschen übel mitgespielt. Deshalb hatte er sich geschworen, ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen. Das waren die Gedanken, die ein Mensch brauchte, um sich selbst zu beruhigen, ein Ausdruck ohnmächtigen Zorns, kaum mehr. Nie wäre ihm zu dem Zeitpunkt der Gedanke gekommen, jemals in eine solche Situation geraten zu können. Die alten und schlecht vernarbten Wunden brachen nun wieder auf- Simon spürte, daß der Wächterkörper sich veränderte. Hände und Unterarme bildeten sich zu den Abstrahlpolen von Energiewaffen um, und es schien nichts zu geben, was den Vorgang stoppen konnte. Er war selbst daran schuld. Vor allem wollte er den Verwandlungsprozeß nicht wirklich aufhalten. Daß er das versuchte, redete er sich nur ein. Im Unterbewußtsein saß der Wunsch nach Vergeltung viel zu tief. Die Infrarotspuren wurden bereits undeutlicher. Simon begann zu laufen. Seine Schritte dröhnten durch die Korridore, ein dumpfes Stakkato, das ihn anspornte. Die Wärmespur faserte auf. Erst an einer Abzweigung fand er sie wieder. Er spürte die pulsierende Stärke des Wächterkörpers, die verhaltene Energie, die für seine Waffen bereitgestellt wurde. Wenn er wirklich auf Giants traf, würde er sie töten. Er erschrak über die eigenen rachsüchtigen Gedanken. War das noch er selbst - oder beeinflußte ihn das Programm? Zugleich kroch die Furcht in ihm empor. Das energetische Pulsieren hatte er erst vor kurzem erlebt, und es hatte mit der Vernichtung seines Körpers geendet. Aber diesmal würde er keinen neuen Körper erhalten... Sein Zwiespalt wuchs. 50 Und dann, nahezu übergangslos, fand er sich inmitten einer alptraumhaft bedrückenden Umgebung wieder. Die Sensoren verrieten, daß er lediglich einen sterilisierenden Energievorhang durchbrochen hatte. Der Raum war ein Labyrinth, eine Ansammlung von Nischen und Kammern, die sich weiter erstreckten als sein Blickfeld reichte. Und die Luft war schwer und stickig. Diesen Eindruck hätte Simon als Mensch empfunden. Jetzt begnügte er sich mit der Erinnerung - er mußte sich damit zufriedengeben. Energiefelder gliederten den Raum in ein Sammelsurium unterschiedlicher Bedingungen. Die Infrarotspur war in diesem Chaos längst verweht. Simon ließ den Blick schweifen, aber nirgendwo zeichnete sich eine Bewegung ab. Er war allein in diesem... ... Kabinett.
Eine andere Bezeichnung kam ihm nicht in den Sinn. Vor ihm erhob sich ein mächtiges Aquarium, ein transparenter Kubus von mindestens zehn Metern Länge. Eine trübe, ölige Flüssigkeit brodelte darin. Oben war der Behälter offen, von dort wogte dichter Nebel herab wie bei einer chemischen Reaktion. Allerdings verflüchtigte er sich lange bevor er den Boden erreichte. Simon registrierte nur einen starken Kältereiz, der im krassen Gegensatz zur Umgebungstemperatur stand. Dann erst widmete er sich dem Schemen, der das halbe Aquarium ausfüllte. Auf den ersten Blick ließ die Lichtbrechung nicht erkennen, was da schwamm, doch Simon paßte seine Wahrnehmung den Gegebenheiten an. Der Körper war massiger als der eines irdischen Flußpferds, erinnerte aber zugleich an die filigrane Schönheit einer Qualle. Zwischen schweren Hautlappen hingen in der Strömung treibende, armdicke Sinnesfäden, und zeitweise glaubte Simon, eine Art Vogelschnabel erkennen zu können, der sich zwischen all dem verbarg. Die Gestalt reagierte nicht auf seine Anwesenheit. Er vermochte nicht zu erkennen, ob sie lebte oder tot war. Vielleicht hatte ihn der Zufall in ein experimentelles Labor geführt. Wie auf der Erde Tiere in Formalin oder anderen Flüssigkeiten konserviert wurden, mochten die Vorbereitungen hier einer späteren Sektion dienen.
51 Er ging weiter. Die zweite Kammer war kleiner. Sie barg ein rundes Bassin, das an die Kuppel mit dem Gehirn erinnerte. Die Rüssigkeit in dem Behälter schimmerte silbern und ließ jede Schuppe der konservierten Kreatur erkennen, die kaum größer war als eine Unterarmlänge. Und ebenso dick. Zwei Kränze fingerlanger Fortsätze umliefen den »STarnm«, der am oberen Ende ein Büschel feingliedriger Fasern ausbildete. Der untere Abschnitt war dagegen knollenförmig verdickt. Aus diesen Knollen sprossen Hunderte von Wurzelfäden. Kleine, zylinderförmige Roboter schwammen zwischen den Wurzeln. Mehrmals registrierte Simon schwache Lichtblitze, aber erst eine genaue Beobachtung zeigte ihm, daß die Roboter das Wurzelgeflecht mit Energieschüssen zurückschnitten. Was auf den ersten Blick einer Pflanze ähnelte, konnte ebensogut ein Tier sein. Und dieses Etwas lebte, andernfalls wäre der Einsatz der kleinen Robotmaschinen nicht nötig gewesen. Ein Panoptikum bot sich Simon dar, wie es bizarrer kaum sein konnte. Er verzichtete darauf, die konservierten Körper zu zählen. Ihr Anblick hinterließ einen schalen Beigeschmack. Hatte er sich anfangs noch mit Einzelheiten aufgehalten, warf Simon bald nur noch knappe Blicke in die einzelnen Nischen. Eine eigenartige Erregung hatte ihn ergriffen. Er suchte nach etwas, was er eigentlich nicht finden wollte -nach dem konservierten Körper eines Menschen.
Simon zuckte jäh zusammen. Er hatte eine Kreatur entdeckt, deren Äußeres er wiederzuerkennen glaubte. Spontan verformte sich sein Wächterkörper und bildete zusätzliche Gliedmaßen aus: acht kräftige, mehrgelenkige Beine. Dazu kräftig vorspringende Kieferzangen und eine Vielzahl unterschiedlich großer Augen. Wieder versuchte Simon, die Veränderung aufzuhalten; erneut gelang es ihm nur mit großer Mühe. Sein erster Roboterleib war ihm von Anfang an vertrauter gewesen - vielleicht, weil darin seit 52 mindestens tausend Jahren schon ein anderes Ego existiert hatte, der Geist eines Cerash, dessen Volk sich einst heftige Auseinandersetzungen mit den Mysterious geliefert hatte und das nach dem Verschwinden der Hohen mit erbeuteten Ringraumem gegen andere Völker vorgegangen war.* Simons neuer Körper hatte möglicherweise ebenso lange Zeit brachgelegen und auf einen beseelenden Geist gewartet. Das war der Unterschied, der dem Terraner nicht gefiel. Endlich schaffte er es, sich abzuwenden. Auf acht Beinen huschte er davon; er hatte nicht verlernt, sich wie ein Cerash zu bewegen. Für einen Menschen konnte es nur verwirrend sein, eine so große Zahl von Gliedmaßen koordinieren zu müssen. Ohne das Programm des Wächters wäre es wohl auch unmöglich gewesen. Damit hast du recht, erklang die mentale Stimme der Instanz. Sie erinnerte Simon daran, daß er nichts unbeobachtet tat. Er vollführte eine umfassende Handbewegung, wie er es auch als Mensch getan hätte, und entsann sich erst danach, daß es dessen bestimmt nicht bedurfte, um der Instanz zu zeigen, was ihn bewegte. »Was ist das hier?«, wollte er wissen. »Ein Zoo, in dem alle galaktischen Intelligenzen... ?« Nicht alle, antwortete das Gehirn. »Aber die Auswahl...« Simon sprach nicht weiter. Das Bedürfnis, tief Luft zu holen und die Augen zu schließen wurde übermächtig. Doch das war etwas, wofür er seines menschlichen Körpers bedurft hätte.
»Wozu dienen diese...«, er stockte erneut, hatte das Gefühl, daß sich alles um ihn herum zu drehen begann. »... diese Ausstellungsstücke?« Du "weißt es. »Nein.« Du -willst die Wahrheit nur nicht akzeptieren. Simons Wächterkörper vollführte eine entschieden ablehnende, schroffe Bewegung. Siehe REN DHARK-Sonderband »Wächter der Mysterious« von Hubert Haensel
53 Du bist innerlich zerrissen, behauptete die Instanz, vor allem widersprüchlicher als die anderen Wächter, mit denen ich zu tun hatte. Simon schwieg zu dem Vorwurf. Geh weiter! forderte ihn die gedankliche Stimme auf. Suche die Wahrheit oder vergiß deine Fragen, aber gib dich nicht mit Halb' heilen zufrieden. Du kennst die Antwort bereits, doch du scheust davor zurück, sie zu akzeptieren. Weil du zu sehr in deiner Vergangenheit verwurzelt bist. - Nein, nicht stehenbleiben. Du wirst erkennen, was ich dir zeigen will, und du wirst Schmerzen dabei empfinden. Aber du mußt lernen, damit umzugehen. Die Zahl der »Aquarien« nahm kein Ende. Simon schritt zwischen ihnen hindurch und ließ den Blick schweifen. Mehr und mehr gewann er den Eindruck, in eine ultramodeme Alchimistenküche geraten zu sein. Die Körper, so bizarr sie auch sein mochten, strahlten eine eigenartige Ruhe aus, einen Hauch von Zeitlo-sigkeit. Dennoch wirkten sie, als könnten sie sich jede Sekunde aus ihrer Starre lösen und zu neuem Leben erwachen. Simon mußte sich zurückhalten, um nicht unbeherrscht die Flucht zu ergreifen. Alles in dieser bizarren Halle war abstoßend und anziehend zugleich und von einer eigenartigen Faszination. In dem Moment sah er, was die Instanz, meinte. In einem großen Bassin hing der Körper eines Fischartigen, von unsichtbaren Energiefeldern in der Schwebe gehalten. Längst hatte diese Kreatur das nasse Element verlassen und war an Land seßhaft geworden. Nur die grüne Schuppenhaut und der rudimentäre Schwanz bewiesen noch die AbsTarnmung von Wasserlebewesen. Beide Arme endeten in sechsfingrigen Händen, zwischen den Fingern spannten sich unübersehbar Schwimmhäute. Ein Amphi! stellte Simon fest. Dann erst registrierte er die vielen kleinen Unterschiede. Dieses Geschöpf war nicht wirklich ein Amphi, wie die Menschen um Ren Dhark sie auf dem Nachbarplaneten von Hope entdeckt hatten - es stand in der Evolution zeitlich vor ihnen. Ein Fanjuur? Vonnock mußte einst so ausgesehen haben, bevor er zum Wächterkörper geworden war. 54 Vonnock, dachte Simon betroffen. Das ist Vonnocks Körper? -Ausgeschlossen. Zugleich wußte er, daß es gar nicht anders sein konnte. Alle hier konservierten Körper gehörten zu den Bewußtsemen von Wächtern der Mysterious. Eine unbändige Hoffnung flammte in ihm auf. Dann war... irgendwo in diesen Räumen... vielleicht auch sein eigener Körper zu finden? Ich will ihn sehen! Ich muß! Ich... Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, das war in dem Moment die treffendste Umschreibung seiner Gefühle. Endlich wieder Mensch sein, aus dem Gefängnis des Roboters zurück in den eigenen Körper wechseln, das war Simons spontaner Wunsch. Die Vernunft riet ihm etwas anderes. Warum sollte er sich mit Unvollkommenheit belasten, mit Krankheit und Tod, solange ihm der Wächterkörper Perfektion bot? Simon starrte den Fanjuur an. Das war der Schmerz, den die Instanz vorhergesagt hatte. Er wußte, daß er seinen eigenen Körper nie wiedersehen würde, denn im Gegensatz zu den sterblichen Hüllen in ARKAN12 war sein Körper auf Hope vernichtet worden. Für immer würde er heimatlos bleiben, ein Getriebener ohne Hoffnung, und am besten ging er sehr weit weg, fort von allen Erinnerungen, die ihn doch nur quälten. Ein Wächter hatte keine Tränen. Ich muß verrückt sein. Ich hoffe auf die Unsterblichkeit und sehne mich zugleich nach meinem sterblichen Körper. Simon wandte sich ab, weil er den Anblick des Fanjuur nicht mehr ertrug. Du bist traurig, meldete sich die Instanz. »Was würdest du...?« Simon entsann sich gerade noch, daß auch die Instanz ihren Körper verloren hatte. Das Gehirn war bemitleidenswerter als er selbst; er verfügte immerhin über eine neue bewegliche Hülle. Ich könnte mir ebenfalls einen Körper erschaffen. Aber wozu? Meine Aufgabe ist eine andere.
Simon horchte auf. »Du könntest...?« Eine aberwitzige Hoffnung flackerte in ihm auf. Warum nicht? Er hatte nicht gewußt, daß es eine Möglichkeit geben könnte. Alles, was ich benötige, ist eine Probe deiner DNS. Willst du se 56 hen, wie dein Körper heranwächst? Willst du, daß er wie alle anderen konserviert wird, bis du in ihn zurückkehrst? »Nur eine DNS?« Simon lachte bitter, dabei war ihm nach Tränen zumute. »Ich habe nichts mehr! Mein Körper wurde auf Hope vernichtet, es gibt keine sterblichen Überreste, die wir ausgraben könnten.«
»Warte!« Simons Stimme klang schrill und spiegelte seine Erregung wieder. »Vielleicht ist es doch nicht unmöglich. Ich entsinne mich: Meine ehemalige Arbeitgeberin, Noreen Welean, hat DNS-Proben von allen ihren Mitarbeitern auf Terra deponiert. Auch von mir! Sie waren für medizinische Notfälle gedacht.« Und wenn das kein Notfall ist, fügte er in Gedanken hinzu, was dann? Da war eine Bewegung am Rand seines Wahrnehmungsbereichs. Jemand näherte sich aus einer der Wandnischen. Umschalten auf Teleskoperfassung. Die Gestalten waren groß und gelbhäutig und verfügten über zwei Armpaare, von denen eines verkrüppelt wirkte. Doch vor allem der Raubtierschädel ließ keinen Irrtum zu. Giants! Also hatte er sich nicht getäuscht. Die All-Hüter waren in mehr oder weniger großer Zahl in ARKAN-12 anzutreffen, und bislang hatten sie es stets verstanden, ihm auszuweichen. Vielleicht hatte die Instanz damit zu tun. Was wird hier wirklich gespielt? fragte sich Simon. Sein Mißtrauen wuchs. Giants hatten ihm mehr genommen als nur ein Jahr seines Lebens. Fünf Gelbhäutige kamen näher. Simon sah das Funkeln in ihren Augen, an das er sich erinnerte, als wäre alles erst gestern geschehen. Das war ein verschwindend kleiner Bruchteil seiner Erinnerung, vieles war durch mentale Beeinflussung ausgelöscht worden. Um so mehr Raum blieb für die schlimmsten Phantasien. Simon haßte die Giants. Nur noch wenige Augenblicke, dann war die Veränderung des Wächters abgeschlossen. Die tödlichen Waffen würden ihr Ziel finden. Im Geist sah Simon die Giants 57 schon verglühen. Dir Tod würde ihm Genugtuung bereiten - aber er machte sein Dasein nicht leichter. Er zögerte. Jetzt mußte er feuern. »Ich bin ein Mensch von Terra!« wollte er ihnen entgegenrufen. »Erinnert ihr euch?« Er tat es nicht - und er schoß auch nicht. Weil weder sein Haß noch der Schrei nach Vergeltung die Zeit zurückdrehen konnten. Vor allem hatten die Gi-nts von ARKAN-12 kaum etwas mit der Erde zu tun. Vielleicht wußten sie nicht einmal, was geschehen war. Simon schloß die Augen, das heißt, er grenzte sich von der Wahrnehmung des Wächterkörpers ab. Als er mehrere Sekunden später wieder sehen wollte, was geschah, verschwanden die Gelbhäutigen soeben in einem Seitenkorridor. Simon verzichtete darauf, ihnen zu folgen. Auf gewisse Weise erschien es ihm, als falle eine schwere Last von ihm ab. Wer oder was immer die Giants waren - Spekulationen hatten ebenso von biomechanischen Robotern geredet wie von gezüchteten Lebewesen - er war froh, sie nicht ohne zwingenden Grund getötet zu haben. Mit seinem Haß würde er leben müssen, bis er ihn eines Tages zu vergessen lernte.
Es ist gut, Simon, daß du dich gegen den Waffeneinsatz entschieden hast, ich habe mich also nicht in dir getäuscht. »Und wenn ich es getan hätte?« Die Instanz, wirkte amüsiert. Versuche es! Nichts geschieht in ARKAN-12, das ich nicht will. Deine Waffensysteme sind in der Station funktionsunfähig. Ich lasse nicht zu, daß die Biostrukte, die für mich wertvolle Arbeit verrichten, geschädigt werden. »Biostrukte?«, fragte Simon verwirrt. Du nennst sie Giants. Aber egal - seit der Krieg gegen die Zyzzkt begonnen hat, entspricht vieles nicht mehr dem gewohnten Bild. Dazu gehört auch, daß die Instanzen anderer Stationen sich offenbar zur Zwangsrekrutierung vieler Wächter gezwungen sahen. Bedingt durch ihre extrem hohe Vermehrungsrate haben sich die Zyzzkt schnell und unkontrolliert ausgebreitet und den Worgun 58 allen Lebensraum streitig gemacht. Rund neunhundert Jahre deiner Zeitrechnung sind vergangen, seit sie
eine Waffe gegen das Intervallfeld fanden und die Worgun, die du auch Mysterious nennst, versklavten. »Was ist mit den Wächtern?« Simons Blick wanderte noch einmal die endlos scheinenden Reihen der Konservierungstanks entlang. »Wurden sie in den Kampf gegen die Insektoiden geschickt? Gibt es deshalb kein Ala-Metall mehr? Haben Zyzzkt die Gegenstation vernichtet?« Ich "weiß es nicht. »Du wirst mich ebenfalls in den Kampf schicken?« Simon erhielt keine Antwort darauf. Vielmehr setzte die Instanz zu einer für ihn überraschenden Erklärung an: Das Leben als Wächter -war ursprünglich eine hohe Auszeichnung für die Angehörigen vieler Völker. Wächter zu sein bedeutete, das höchste Ansehen in vier Galaxien zu erlangen. »Warum haben die Worgun ihre Roboter nicht selbst übernommen?« Die Bewußtseine der Hohen eignen sich nicht dafür, einen Wächterkörper zu steuern. Das war in der Vergangenheit für viele junge Leute anderer Völker Grund genug, sich für einen Einsatz als Wächter zu verpflichten. Üblicherweise für einen Zeitraum von achtundneunzig Jahren deiner Zeitrechnung. Viele verlängerten aber ihre »Dienstzeit« um weitere Perioden. »Weil sie die Unsterblichkeit wollten?« sinnierte Simon. So ist es. Alle diese Wesen genossen die Unsterblichkeit ebenso "wie die Machtfülle eines Wächters. Sie wußten ihre biologischen Körper während der Ruhephase in ARKAN-12 in Sicherheit. Erst nach ihrer Rückkehr setzte der normale Alterungsprozeß wieder ein, der nach der arteigenen Lebensspanne zum Tod führte. Ich weiß, was du einwenden willst, Simon, aber die Transformation zum Wächter kann nur einmal durchlaufen werden. Deshalb wollten viele nicht mehr zurück, sie fürchteten die Aussicht auf den sicheren natürlichen Tod. Die wenigen, die nach einer oder mehreren »Dienstzeiten« wirklich ihren Körper wieder aufsuchten und auf ihre Heimatwelt zurückkehrten, wurden stets zu hochgeachteten Persönlichkeiten. Der Ruhm und die Verehrung, die den 59 Wächtern entgegengebracht wurden, blieb ihnen nicht verwehrt, »Achtundneunzig Jahre.« Simon seufzte gequält; ein solcher Laut aus dem Mund des massigen Roboters klang zumindest ungewöhnlich. »Ich...« Er stockte und suchte nach den passenden Worten. »Ich wurde nie gefragt, ob ich wirklich ein Wächter sein will«, sprudelte es dann aus ihm hervor. »Und Ruhm? Ich kann mir nicht vorstellen, daß mich das eines Tages glücklich machen würde. Das ist nicht meine Welt, glaube ich.« Glaubst du das nur - oder bist du dir dessen sicher? Der Wächterroboter hob die Schultern und ließ sie langsam wieder sinken. »Ich weiß nicht. Achtundneunzig Jahre sind verdammt lang, ein Menschenleben.« Du willst wieder Mensch werden? Vergiß nicht, es gibt danach keine zweite Chance... »Ich sehne mich nach dem Gefühl, wieder wirklich zu atmen«, platzte Simon heraus. »Ich will wieder den Geschmack guten Essens auf der Zunge spüren und die Sonne auf der Haut.« Das alles hast du jetzt ebenfalls. »Das ist... nicht das Gleiche. Irgendwie künstlich.« Ich wußte, daß du anders bist als alle vor dir. Du scheinst jedoch ebenso unsicher wie verwirrt zu sein und weißt nicht, was du tun sollst,.. »Kannst du wirklich meinen menschlichen Körper neu erschaffen, wenn ich eine DNS-Probe besorge?« Mit allen seinen Fehlern und Gebrechen. Aber warum so ungeduldig, mein Freund? Du hast sehr viel Zeit. »Über neunzig Jahre.« Simon nickte zögernd. »Verstehst du meine Befürchtungen? Daß ich für die Menschen ein Fremder sein werde, wenn ich dann erst zurückkehre. Keiner, der mich gekannt hat, würde dann noch am Leben sein.« Was willst du wirklich, Simon? Der Wächter schwieg. Er wußte es selbst nicht genau. Weil es niemanden gab, der ihm sagte, was zu tun war. Er hatte sich verleiten lassen, das Neue als erstrebenswert zu empfinden, hatte sich stark und unbesiegbar gefühlt - aber gerade der Nimbus der Unbesiegbarkeit war verflogen. Du mußt dich entscheiden! 60 Warum nicht beides? Nur weil die Instanz behauptete, die Transformation zum Wächter könne nur einmal durchlaufen werden? Vielleicht war es bei ihm anders, und er erhielt eine zweite Chance. Schließlich war er nicht freiwillig zum Wächter geworden. Ein Unfall, ja, es war ein Unfall gewesen. Der Roboter hatte ihn dem Menschsein entrissen. »Niemand hat mich aufHope gefragt...« Das ist nicht der Grund für deinen Sinneswandel. »Ich kenne keinen anderen.« Das klang schroff und endgültig. Simon wollte nicht länger darüber nachdenken. Du hast geglaubt, keine andere Wahl zu haben, weil dein ursprünglicher Körper nicht mehr existiert. Ist
es nicht so? Simon schwieg betroffen. Jetzt hoffst du zum erstenmal wieder. Ziehst du nicht in Erwägung, ein aus deiner DNS geklönter neuer Körper könnte deine Erwartungen enttäuschen? »Ich will wieder Mensch sein!«, sagte Simon trotzig. »Ist das zuviel verlangt?« Ich habe mich entschlossen, dir zu helfen, antwortete die Instanz. Die Dienstzeit wird für dich verkürzt. Allerdings erbitte ich als Gegenleistung deine Hilfe. »Was soll ich tun?« Du wirst mir die verlorene Verbindung nach Orn ersetzen. Ich brauche Informationen über das Schicksal der Worgun und die Situation in ihrer Heimatgalaxis. Seit der Kontakt abbrach, bin ich in Sorge. »Das kann ich nachvollziehen. Aber eine Galaxis zu erkunden...« Orn durchmißt rund 270.000 deiner Lichtjahre. Simon lachte hell auf. »Das wäre eine Lebensaufgabe«, stellte er unumwunden fest. »Sogar für einen Wächter.« Du erhältst Hilfsmittel. Einen Ringraumer des Standardtyps. »Wie mein neuer Körper ebenfalls der letzte, auf den du Zugriff hast?« Simon erschrak selbst über den zynischen Klang seiner Frage. Das hatte er nicht gewollt. Aber die Instanz achtete nicht darauf, oder sie ignorierte solche Regungen. Es ist in der Tat das letzte Raumschiff, auf das ich Zugriff habe. Der Krieg gegen die Zyzzkt zeigt erschreckende Folgen.
61 »Wie komme ich nach ARKAN-12 zurück, sobald ich meine DNS-Probe habe?« Du stimmst also zu...? »Bleibt mir eine andere Wahl? Ich bin es gewohnt, immer erst dann gefragt zu werden, wenn die Entscheidung längst gefallen ist.« Du kannst noch ablehnen, Simon, und gehen, -wohin du willst. Schleichende Schritte näherten sich. Ein Mensch hätte sie nicht vernommen, aber die Sinne des Wächters waren ein Vielfaches schärfer. Als Simon sich umwandte, kam ein Giant auf ihn zu. Der Gelbhäutige reichte ihm ein banal wirkendes Gerät. Es hatte die Größe eines Schuhkartons und wies kaum äußere Merkmale auf. Das ist ein Arkan-Sender, erklärte die Instanz. Mit Hilfe dieses Apparates kannst du jederzeit nach ARKAN-12 zurückkehren. Aber nur du allein. Ich wußte es doch, dachte Simon betroffen. Ich kann nicht allein entscheiden, selbst wenn dieser Eindruck erweckt werden soll. Traurig war er nicht darüber - weil ihm die Entscheidung in gewissem Sinn abgenommen wurde. Andere Personen, auch einen zweiten Wächter, kannst du nicht nach ARKAN-12 mitbringen, fuhr die Instanz fort. Ebensowenig ein Raumschiff. Dafür wäre ein großer Sender nötig, ähnlich dem auf Zwitt, der aber nicht mehr bedient wird oder nicht mehr funktioniert. Was im Bereich der Sternenbrücke geschehen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Unschlüssig drehte Simon den kleinen Kasten in den Händen. Es gab kaum sichtbare Schaltelemente. Was blieb ihm anderes übrig, als dem Angebot der Instanz zuzustimmen? Das Schicksal der Mysterious zu ergründen mit der Aussicht, bald wieder er selbst zu sein - was wollte er mehr? »Ich bin einverstanden«, sagte er leise.
Die Zweifel ließen sich nicht vertreiben. Obwohl Simon krampfhaft versuchte, sie zu ignorieren, drängten sie sich immer 62 von neuem in den Vordergrund seines Denkens. Sie fragten, ob er der Aufgabe wirklich gewachsen sein würde. Informationen sammeln - das hatte einfach geklungen, verführerisch leicht geradezu, aber je länger er darüber nachdachte, desto unsicherer fühlte er sich dabei. Anschließend von Om zurück in die heimische Milchstraße, über einen Abgrund von rund zehn Millionen Lichtjahren hinweg? Wie leicht mutete es dagegen an, die eigene DNS von Terra zu holen, aus Noreens medizinischer Datenbank. Mit einer unwilligen Kopfbewegung wischte Simon alle irritierenden Gedanken beiseite. Nur noch ein leichter Schwindel beeinträchtigte ihn. Fünf Minuten, hatte die Instanz gesagt, länger würde die Nachwirkung des Transports nicht anhalten. Simon ertappte sich dabei, daß er die Sekunden zählte. Zugleich wuchs der Ärger auf sich selbst, denn er verlor sich in Banalitäten, anstatt das Große und wirklich Bedeutende in Angriff zu nehmen. Wie ihn die Instanz von ARKAN-12 nach Om versetzt hatte, wußte er nicht. Er vermutete eine erneute Spontanteleportation. Auf jeden Fall befand er sich an Bord eines Ringraumers - ein Schiff mit 180
Metern Außendurchmesser und 35 Metern Ringstärke, vergleichbar Ren Dharks POINT OF. Jedoch war er allein an Bord, während Dharks Mitarbeiter alle Stationen besetzten, angefangen von der Brücke über die Funkzentrale und die Ortungsabteilung bis hin zum Maschinenraum und der Astronomischen Abteilung. Gedankensteuerung! Simon erhielt keine Antwort. Sein zweiter Versuch, das Schiff zu aktivieren, scheiterte ebenso kläglich. Völlige Dunkelheit herrschte. Nicht einmal die Notbeleuchtung war bei seinem Erscheinen aufgeflammt. Doch das Wahrnehmungsvermögen des Wächterkörpers hatte sich in den nichtoptischen Bereich verlagert. Als Mensch hatte sich Simon nie an Bord eines Ringraumers aufgehalten. Das war sein Traum gewesen, so wie viele nach der Befreiung davon geträumt hatten; aber zwischen Traum und Wirklichkeit klaffte ein riesiger Abgrund. 63 Vorübergehend gab er sich seiner Erinnerung hin. Kurz nach seiner Versetzung in den Wächterkörper war er an Bord eines abgestürzten Ringraumers gelangt. Von den Cerash abgeschossen und abgestürzt, berichtigte er sich. Augenblicklich hatte er sich an Bord des Wracks zurechtgefunden, hatte die Pläne aller Decks vor seinem geistigen Auge ausgebreitet gesehen. Die Lage der Maschinenräume war ihm ebenso bekannt gewesen wie die der Beiboothangars. Er hatte von den Flächenprojektoren des Sublichtef-fekts gewußt und die Feinheiten des überlichtschnellen Sternen-sogs erkannt. Wirklich erfahren hatte er es nie, gleichwohl vermutet, daß das Bordgehim des wracken Ringraumers ihm diese Details gedanklich übermittelt hatte. Die Männer und Frauen um Ren Dhark nannten die Gedankensteuerung Checkmaster. Ob sie das heute noch tun? sinnierte Simon. Bald würde er einer von ihnen sein, wieder ein Mensch aus Heisch und Blut. Er freute sich darauf. Endlich hatte er ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnte. Simon, der Mensch, der ein Roboter gewesen war - in Gedanken sah er die Schlagzeilen der Medien. Sie würden sich überstürzen, seine Geschichte zu veröffentlichen. Simon lauschte der Stille des Ringraumers. Mit einem Mal erschien sie ihm gar nicht mehr bedrohlich. Er würde die Stille vermissen, sobald er auf die Erde zurückkehrte. Terra war immer noch ein brodelnder Wurmtopf, verglichen mit den Weiten des Alls. Zögernd setzte er sich in Bewegung. Die Schritte des massigen Wächters hallten dumpf durch den Korridor. Er würde sich entscheiden müssen, was er wirklich wollte. Wieder Mensch sein... ? Oder Wächter bleiben, trotz aller Bedrohungen ein übermächtiges Geschöpf...? Simon verwünschte seine Zweifel, die ihm wenig dienlich waren. Mit ihnen drehte er sich im Kreis, und genau das wollte er nicht. Er wollte endlich wissen, wo er hingehörte.
64 Warum antwortest du nicht? Die Gedankensteuerung schwieg. Vielleicht war das Schiff ein Wrack und die Instanz, ging von falschen Voraussetzungen aus. Dann saß Simon in Om fest, der Heimatgalaxis der Mysterious. Auf einem für ihn namenlosen Planeten und ohne Aussicht, die Milchstraße zu erreichen. Simon ballte die Fäuste. Schon spielte er mit dem Gedanken, den Arkan-Sender zu aktivieren, um zur Instanz zurückzukehren. Wenn er nicht länger hierbleiben wollte - niemand zwang ihn dazu. Nur er selbst. Tausend Augen starrten ihn aus der Dunkelheit heraus an. Er glaubte ein Raunen und Wispern zu hören, als steckten die Wände des Schiffes voll lebender Wesen. Das Unheimliche ängstigte ihn und erfüllte ihn mit Besorgnis. Was würde er vorfinden, wenn er zur Erde heimkehrte? Wie sehr hatte sich die Heimat in der Zeit seiner Abwesenheit verändert? Vergeblich versuchte er, alle negativen Gedanken zu unterdrücken, aber seine Phantasie malte ein düsteres Szenario aus: die Erde, nur noch eine Trümmerwüste... hilflos umherirrende Überlebende auf der Jagd nach Nahrung... dazwischen die ausgeglühten Wracks einst stolzer Raumschiffe... Ich will das nicht sehen! wimmerte Simon. Fremde Raumschiffe im Sonnensystem, über allen Planeten... als hätten sich die Pforten der Hölle aufgetan und diese Schiffe ausgespien. Das ist nicht wahr, ächzte er. Verheerende Gewitterstürme fegten über die Erde hinweg. Lavaströme teilten die Kontinente, die sich schamhaft unter dichtem Qualm verbargen. Amerika war zur Trümmerwüste geworden; die großen Städte waren ausradiert. Simon spürte Panik aufkommen. Der ehemalige Regierungsbereich - Schutt und Asche. Die wissenschaftlichen Einrichtungen, die Labors, der Trakt, in dem Noreen Welean gearbeitet und alle wichtigen Proben hinterlegt hatte:
zerstört. Aussichtslos, in diesem Chaos nach genetischen Fragmenten suchen zu wollen; das Ende einer Hoffnung. Simon glaubte zu schreien. Jäh schreckte er hoch. 65 Fremde, unbekannte Laute kamen über seine Lippen. Ein Code, registrierte er. Vor allem war es nicht er selbst, der sich dieser Worte bediente, sondern der Wächterkörper. Habe ich keine Macht mehr über ihn? Noch sträubte sich Simon gegen das Gefühl der Hilflosigkeit. Er fragte sich, welche Modifikation die Instanz, am Programm vorgenommen hatte. Das war nur ein Verdacht, keineswegs Gewißheit, aber er wühlte ihn auf. Ein Schott öffnete sich. Vor ihm lag die Zentrale des Raumers, in schattenlose Helligkeit getaucht. Du bist willkommen, Wächter! wisperte eine lautlose Stimme. Simon lachte zynisch auf. Meinst du mich oder den Roboter? Ist das nicht das gleiche? Das sollte es sein - oder auch nicht. Ich weiß nicht - nicht so genau jedenfalls, fügte Simon hinzu. Er betrat den imposanten Kontrollraum. Die Leere hatte etwas Ernüchterndes, beinahe Zeitloses. Das ist mein Schiff? dachte Simon. Es steht dir zur Verfügung. Für wie lange? Ohne Einschränkung. Solange es für deinen Auftrag wichtig ist. Simon nickte zögernd. Bis er sich bewußt wurde, daß niemand die Geste des gesichtslosen roten Hünen sah. Er ließ den Blick schweifen, nahm alle neuen Eindrücke begierig in sich auf. Wie alt ist das Schiff? Die Antwort nannte eine Zahl, die Simon mit ungefähr tausend irdischen Jahren interpretierte. Hat es einen Namen? Du kannst den Ringraumer nach deinen Wünschen benennen. Alle Funktionen einwandfrei? Der Raumer ist voll einsatzfähig. Noch einmal nickte Simon. Nicht mehr so zögernd wie zuvor, eher schon zuversichtlich. Es tat gut, nach allem, was geschehen war, die eigene Stärke aufgewertet zu wissen. Mit raumgreifenden Schritten ging er zur Kommandosteuerung, dem Instrumentenpult mit Piloten- und Kopilotensitz. Das Schiff war also nicht nur für den automatischen Betrieb konstruiert worden. 66 »WELEAN«, murmelte er und lauschte dem Klang des Namens, den er prompt laut ausgesprochen hatte. »NOREEN WELEAN. -Ja, so nenne ich dich.« Vielleicht war seine Spontaneität ein gutes Omen. Er hoffte es.
5. Eylers' Agenten agierten nicht nur auf terranischem Terrain, sie wurden auch auf fremden Planeten tätig, falls es erforderlich war. Seine beiden besten Männer waren der Türke Ömer Giray und der Niederländer Jos Aachten van Haag. Im Dienste der Organisation und der Menschheit scheuten beide kein Risiko. Insbesondere Jos war Agent aus Leidenschaft. Der vierzigjährige, große, schlanke Mann mit den braunen Haaren gehörte der GSO seit deren Gründung an. Er verfügte über einen unerklärlichen Instinkt, der ihn unmittelbare Gefahren spüren ließ, was ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Seine feine Kleidung und seine exzellenten Manieren verliehen ihm stets einen leisen Hauch von Adel. Allerdings konnte er auch aus der Rolle fallen, wenn es sein Auftrag von ihm erforderte. Wo ihm seine Intelligenz nicht weiterhalf, ließ er Fäuste und Waffen sprechen. Gegen Alkohol war er nahezu resistent; selbst nach durchzechter Nacht wirkte er nie betrunken. Eylers hatte van Haag in sein Büro bestellt. Der Spezialagent, der es gewohnt war, mit den kniffligsten, riskantesten Aufgaben betraut zu werden, staunte nicht schlecht, als ihm der GSO-Leiter den neuen Auftrag erteilte. »Es sind Gerüchte aufgetaucht, Terence Wallis wolle seinen FirmensTarnmsitz verlegen - von Pittsburgh nach Australien. Finden Sie heraus, ob das zutrifft, Jos, und was er damit bezweckt. Die Werksverlegung erscheint mir total unsinnig und würde nur unnötige Kosten verursachen.« »Na und?« entgegnete van Haag. »Was geht's uns an? Wallis kann sein Geld ausgeben, wofür es ihm beliebt. Meinethalben kann er es verbrennen.« 68 »Die Regierung hätte mit enormen Steuerausfällen zu rechnen, schließlich sind Firmenumzugskosten steuerlich absetzbar.«
»Wollen Sie mich verscheißem, Bernd? Ich soll allen Ernstes bei Wallis Industries spionieren, weil die Regierung ein paar Steuerausfälle befürchtet? Daß ich mein Leben lang fürs Finanzamt arbeite, habe ich längst begriffen, aber daß ich neuerdings beim Finanzamt tätig bin, muß mir wohl irgendwie entgangen sein. Warum beauftragen Sie nicht irgendeinen überbezahlten Finanzbeamten mit diesen läppischen Nachforschungen? Haben Sie vergessen, wie hoch mein Gehalt ist und wie teuer meine Ausbildung war? Einen Spitzenagenten wie mich setzt man sparsam ein, man verschwendet seine Fähigkeiten nicht für Kleinkram.« Jos Aachten van Haag erhob sich aus seinem Sessel. Er reichte Bernd Eylers, der ihm gegenübersaß, die Hand. »Nichts für ungut, doch daheim wartet auf mich ein scharfes Chili, zubereitet von einer noch schärferen Mexikanerin. Geben Sie mir Bescheid, wenn es etwas wirklich Wichtiges zu tun gibt.« Eylers ignorierte die ihm entgegengestreckte Hand und blickte seinem Agenten fest in die Augen. Daraufhin ließ Jos den Arm sinken. »Ich habe keine andere Wahl, wie?« Der wortkarge GSO-Leiter bestätigte ihm die Frage mit einem kurzen Kopfnicken und fügte hinzu: »Nicht, wenn Sie Ihr hohes Gehalt auch weiterhin beziehen wollen.« »Warum?« hakte van Haag nach. »Was ist so besonders an einem harmlosen Firmenumzug?« »Wenn der reichste Mann Terras überraschend aktiv wird, ohne daß es einen Sinn ergibt, ist das alles andere als harmlos«, antwortete ihm sein Chef. »Wallis ist ein ausgebuffter Hund, dem man nicht weiter trauen darf, als man eine schwangere Elefantenkuh werfen kann. Er plant irgend etwas Weltbewegendes, Bedeutsames, und ich will wissen, was es ist.« »Befürchten Sie denn, er könnte zu einer Bedrohung für die Regierung werden?« »Es gibt keine begründeten Verdachtsmomente, und trotzdem... Terra steht vor einer wichtigen politischen Entscheidung, vielleicht sogar vor einer krassen politischen Wende, das wird der Ausgang 69 der Wahl zeigen. Wallis könnte die Unsicherheit in der Bevölkerung ausnutzen, um eigene Ziele durchzusetzen. Ziele, die möglicherweise mit unserer Verfassung nicht vereinbar sind.« »Sie sehen Gespenster«, meinte Jos. »Wallis ist reich, er besitzt Macht, er hat alles, was man sich nur wünschen kann. Auf was sollte er es abgesehen haben?« Eylers zuckte mit den Schultern. »Auf noch mehr Macht? Ich weiß es nicht, doch ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. In letzter Zeit gab es einige Querelen zwischen ihm und Trawisheim. Später schloß Wallis mit Marschall Bulton ein Riesengeschäft ab, wobei er sich verdächtig großzügig verhielt. Er verkaufte ihm zwölf Ikosaederraumer für den Preis von elf.« Van Haag sah darin noch immer nichts Verdächtiges. »Freie Marktwirtschaft«, bemerkte er nur. »Na schön, ich nehme den Auftrag an, es bleibt mir eh nichts anderes übrig.« Dem gab es nichts mehr hinzuzufügen.
Pittsburgh, Pennsylvania - schon Bing Crosby und Guy Mitchell hatten diese Stadt besungen, obwohl sie alles andere als romantisch oder anheimelnd war. Der auf einer Halbinsel zwischen den Quellflüssen des Ohio gelegene Ort zählte zu den größten Schwerindustriegebieten der Erde und war ein bedeutender Binnenhafen. Hier lag der Endpunkt der Schiffahrt auf dem Ohio, hier gab es Forschungszentren und Universitäten, hier wurden wissenschaftliche Kongresse abgehalten, sprich: Pittsburgh war in erster Linie nach praktischen Gesichtspunkten errichtet worden und nicht nach ästhetischen. Dennoch hatte diese Stadt, deren erste Universität bereits 1787 gegründet worden war, etwas Faszinierendes an sich. Besucher konnten sich gar nicht genug an ihr satt sehen. Hier gab es so viel zu sehen und zu erleben, daß man immer wieder gern zurückkam. Kulturstätten, Luxushotels, Seemannskneipen... Pittsburgh vereinte die unterschiedlichsten Gebäudestile perfekt zu einem Ganzen. Der Gasthof »The Big Mamas and the Papas« - von den Ein 70 heimischen kurz »The Big« genannt - lag im östlichen Teil der Stadt. »Montag geschlossen« stand auf einem Schild an der Tür. An den übrigen sechs Tagen hatte das Lokal von zwölf bis Mitternacht geöffnet. Rein äußerlich machte der triste, große Flachdachbau nicht viel her. Nach dem Eintreten fühlte man sich jedoch wie in eine andere Welt versetzt. Eine Welt, die sich zweifelsohne dem Motto verschrieben hatte: Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen. In der voluminösen Gaststube reihte sich Tisch an Tisch, und meist waren fast alle besetzt. Zahlreiche Kellner und Kellnerinnen balancierten geschickt ihre vollen Tabletts durch die Reihen. Kein Gast mußte lange warten. Kaum stand der Teller auf dem Tisch, war er auch schon halbleer, so gut schmeckte es. In den Servierschüsseln häuften sich Berge von dampfendem Fleisch - gekocht, gebraten, gegrillt, geschmort.... die leibhaftige Provokation für jeden Vegetarier, weshalb das Lokal von Kömer-fressem aller
Art gemieden wurde. (Von Vögeln insbesonders -die landeten gleich in der Bratpfanne.) Auch der Anblick des Personals wirkte provozierend. Kein Bediensteter wog unter neunzig Kilo, und ein jeder von ihnen strotzte nur so vor Lebensenergie, den erhobenen Zeigefingern selbsternannter Gesundheitsapostel zum Trotz. An der hinteren Wand erstreckte sich eine lange Theke. Obwohl dort mehrere dicke Männer und Frauen im Eiltempo die Zapfhähne bedienten, kamen sie mit dem Bierausschank kaum nach. Wem es zu lange dauerte, konnte auch Flaschenbier bestellen. Vor allem Starkbier war der Renner, weil das schneller ins Blut schoß als die handelsübliche Diätbrühe, die in den Supermärkten angeboten wurde. Im »Big« wurde niemand bis aufs Hemd ausgezogen. Die Mahlzeiten und Getränke waren auch für die Träger kleinerer Geldbeutel erschwinglich. Niemand mußte das Lokal hungrig verlassen, kostenfreien Nachschlag gab es bis zum Abwinken. Je mehr ein Gast in sich hineinschaufelte, um so breiter wurde das Lächeln der Bedienung, denn gute Esser waren zumeist auch gute Trinkgeldgeber.
71 Zu empfindlich durfte man allerdings nicht sein, denn eine Rückgabe der Speisen wurde nicht gern gesehen. Entdeckte man eine ausgedrückte Zigarettenkippe dort, wo sie nicht hingehörte -beispielsweise in der Frikadelle statt im Aschenbecher - machte man besser kein großes Aufheben davon. Es war ratsam, das Corpus delicti diskret zu entfemen und weiterzuessen als sei nichts geschehen. Andernfalls legte man sich mit dem Koch an, einem bulligen Rotschopf irischer AbsTarnmung. Iron McLetter verstand keinen Spaß, wenn man seine Kochkunst anzweifelte. Der notorische Kettenraucher war mit der Besitzerin des Lokals verheiratet, einer enorm vollbusigen Mexikanerin namens Marita Concha. Marita hatte ihr Personal und ihre Gäste stets fest im Griff und war immer für Neuerungen aufgeschlossen. Vor Jahren hatte ihr ein übereifriger Restaurantkritiker vorgehalten, ihr Lokal sei nichts weiter als ein »niveauloser Sauf- und Freßtempel ohne kulturellen Anspruch«. Daraufhin hatte sie sofort reagiert und sich Kultur en masse ins Haus geholt. In den Nebenräumen konnte man inzwischen Billard, Tischfußball und Dart spielen oder sich an verschiedenen Spielautomaten vergnügen. Außerdem stellte sie ein verstecktes Hinterzimmer für illegale Pokerpartien zur Verfügung. Gnadenlos sackte sie zehn Prozent des Gewinns ein, die sie beim Ausfüllen ihrer jährlichen Steuererklärung schlichtweg zu vergessen pflegte. Ein außergewöhnliches Lokal wie »The Big« brauchte keine außergewöhnlichen Gäste, um existieren zu können. Im Gegenteil, es war jede Gesellschaftsschicht vertreten. Der Geschäftsmann, der seinen Kunden Pittsburghs Attraktionen zeigte, ließ sich hier Steaks und Schnitzel genauso munden wie der Familienvater, der Frau und Kinder mal so richtig satt bekommen wollte. Hauptklientel waren Arbeiter, denn wer den ganzen Tag über in den Werkshallen tüchtig zupackte, war nach Feierabend hungrig wie ein Stier. »Davon habe ich seit heute morgen geträumt«, stöhnte Lern Shagg, der als Ingenieur für Wallis Industries tätig war, und klopfte sich auf den Bauch. »Den Magen voller Kraut und Gulasch, die Füße unter dem Pokertisch ausgestreckt, ein volles 72 Bierglas in der Hand... fehlt nur noch eine fesche Mieze auf dem Schoß.« »Das könnte dir so passen«, bemerkte Jacques Movelier, seines Zeichens Textilhändler und STarnmgast in diesen Räumlichkeiten. »Du sollst nicht fummeln, sondern Karten spielen.« »Manche Mitmenschen gönnen einem nicht das kleinste Vergnügen«, erwiderte Shagg grinsend. »Dabei gibt es nach einem arbeitsreichen Tag nichts Entspannenderes als eine dralle Dame -natürlich erst im Anschluß an unseren Pokerabend.« »Nach einem arbeitsreichen Tag«, äffte Movelier ihn nach. »Daß ich nicht lache! Die meiste Arbeit in den Fabriken erledigen heutzutage doch die Roboter.« »Da irrst du dich aber gewaltig«, widersprach der Ingenieur beleidigt. »Gerade in letzter Zeit wird uns allen eine Menge abverlangt.« »Tatsächlich?« warf der Schriftsteller Arthur Conan ein, der mit den beiden am Pokertisch saß und mit starrer Miene auf seine Karten blickte. »Arbeitet man bei Wallis schon wieder an einer neuen Erfindung?« Shagg hatte den elegant gekleideten Buchautor an diesem Abend an der Bierbar kennengelernt und ihn später mit ins Hinterzimmer genommen. Normalerweise hockten dort im Schnitt sechs bis zehn Pokerspieler zusammen, doch heute schien außer Movelier niemand Lust auf eine Partie zu haben. »Über Firmenintema darf ich nicht reden«, wich Shagg Conans Frage aus. »Das dürfte dir nicht sonderlich schwerfallen - da du nicht das geringste darüber weißt, stimmt's?« stichelte Conan. »Nicht sonderlich viel«, räumte Shagg ein und nahm einen kräftigen Schluck Starkbier. »Mir und den übrigen Mitarbeitern wurde lediglich mitgeteilt, daß demnächst einige einschneidende Veränderungen ins Haus stehen. Genug jetzt, ich darf wirklich nichts darüber sagen. Drüben in der Schankstube sitzt Mark
Löwe; er gehört zum Sicherheitsteam von Wallis Industries. Würde er herausbekommen, worüber wir gerade sprechen, könnte ich mir morgen früh im Personalbüro meine Papiere abholen.« »Befürchtest du, dieser Raum ist verwanzt?« entgegnete Move73 Her. »Keine Sorge, das würde Marita niemals zulassen. So, und nun laßt uns endlich weiterspielen, ihr lahmen Enten. Meine Oma zockt ja schneller als ihr. Ich denke, du hast nachher noch was vor, Lern.« »Für eine willige Dame wird er kein Geld mehr haben, wenn ich mit ihm fertig bin«, bemerkte Conan abfällig und legte ein paar Scheine auf den Stapel in der Tischmitte. »Gleich ziehe ich ihm das Fell über die Ohren.« Die Bedienung brachte neue Biere. Der Alkohol löste allmählich Shaggs Zunge. »Du bluffst doch nur«, hielt er dem großspurigen Schriftsteller vor. »Im übrigen kann ich es mir locker leisten, ein bißchen was zu verlieren. Demnächst erwartet mich nämlich eine Gehaltsanhe-bung von sage und schreibe zwanzig Prozent.« »Hängt das mit den angekündigten einschneidenden Veränderungen zusammen?« hakte Conan rasch nach. »Laß mich raten: Wallis expandiert und eröffnet in absehbarer Zeit eine weitere Filiale, in die du versetzt wirst. Kriegst du einen leitenden Posten?« »Geht das schon wieder los?« beschwerte sich der Textilkauf-mann. »Pokern wir, oder halten wir Volksreden?« Im weiteren Verlauf des Abends schlug auch bei ihm das starke Gebräu zu. Laufend klappten ihm die Augenlider herunter. Lediglich bei Arthur Conan schien das Bier nicht anzuschlagen. Er verfiel weder in Geschwätzigkeit noch wurde er müde. »Ihr Schreiberlinge könnt wirklich einen ordentlichen Stiefel vertragen«, murmelte Movelier beim endgültig letzten Kartendurchgang. »Logisch«, meinte Conan. »Nicht wenige berühmte Schriftsteller soffen sich zu Tode. Denken Sie nur an Edgar Allan Poe. Die Nachwelt fragt sich noch heute, in welchen Kneipen und Etablissements er die Tage kurz vor seinem Ableben verbracht hat. Leider konnte er selbst nichts mehr darüber erzählen. Es heißt, er soll auf seiner letzten Sauftour Schreckliches erlebt haben.« Bald darauf verließ Conan als erster den hinteren Trakt. Aufrechten Schrittes durchquerte er die Schankstube und ging aus dem Lokal. Movelier folgte ihm wenige Minuten später, müde wie Hund. 74 Auch ihn zog es an die frische Luft. Lern Shagg kam als letzter. Er schwankte schon ein wenig, fühlte sich aber noch munter genug für ein abschließendes Bierchen an der langen Theke. Der Wallis-Sicherheitsmann Mark Löwe hatte geduldig auf ihn gewartet. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und forderte ihn zum Mitkommen auf.
»Shagg hat zugegeben, daß der angebliche Schriftsteller während des Pokerspiels laufend versucht hat, ihn über den geplanten Firmenumzug auszuhorchen«, informierte Mark Löwe am nächsten Morgen die Leiterin des WI-Sicherheitsdienstes in deren Büro. »Ob er etwas in Erfahrung gebracht hat, kann ich nicht sagen. Shagg behauptet, er habe eisern geschwiegen, doch ich traue ihm nicht über den Weg. Er ist ein feiner Kerl, wenn allerdings der Alkohol bei ihm zuschlägt...« Liao Morei winkte ab. »Shagg ist nur ein winziges Zahnrädchen in einem großen Getriebe. Was er über Wallis' Pläne weiß, paßt auf einen Stecknadelkopf. Konnten Sie die Identität seines trinkfesten Mitspielers in Erfahrung bringen?« Löwe nickte. »Daß der Kerl kein Schriftsteller ist, war mir von Anfang an klar. Den ganzen Abend über stellte er den Gästen im Big merkwürdige Fragen, und zwar ausschließlich denen, die für Wallis Industries arbeiten. Daher hielt ich ihn zunächst für einen verkappten Journalisten. Später gab ich dann seine Beschreibung in den Computer ein, mit positivem Ergebnis. Wissen Sie, für wen der Mann spioniert? Halten Sie sich fest...«
»Bis in die Nacht hinein war ich unter dem Decknamen Arthur Conan in diversen Kneipen unterwegs, auf der Suche nach WI-Mitarbeitem«, berichtete zur selben Zeit Jos Aachten van Haag seinem Vorgesetzten in dessen Büro. »Vor allem im Big traf ich auf gesprächsfreudige Gäste. Mehrfach wurde mir bestätigt, daß Terence Wallis beabsichtigt, seinen Hauptsitz an einen neuen Firmenstandort zu verlegen. Er übernimmt
sämtliche Umzugskosten seiner Mitarbeiter und deren Familien. Außerdem kann sich jeder, der mitzieht, auf eine Gehaltsanhebung von 20 Prozent freuen.« »Machen Sie es nicht so spannend«, erwiderte Bernd Eylers. »Zieht Wallis Industries wirklich nach Australien? Und was wird aus dem leerstehenden Werksgelände in Pittsburgh?« »Unter den Mitarbeitern kursieren nur Gerüchte. Es heißt, Terence Wallis wolle die Werkshallen abreißen lassen und das Gelände verkaufen. In Australien läßt er dann neue Gebäude errichten.« »Australien steht somit als neuer Standort endgültig fest?« »Einen definitiven Beweis dafür gibt es bisher nicht. Oftmals war nur von wärmeren Gefilden die Rede, ohne Ortsangabe.« »Mit derlei Halbinformationen kann ich nur wenig anfangen«, knurrte Eylers ungehalten. »Machen Sie weiter, bis Sie Genaueres herausgefunden haben. Am besten, Sie schlagen Ihre Zelte dauerhaft im Big auf, das erscheint mir am vielversprechendsten.« »Ist das ein Ratschlag oder ein Befehl?« fragte van Haag. Der GSO-Leiter widmete sich einigen Unterlagen auf seinem Schreibtisch, als habe er die Frage nicht gehört. Also ein Befehl, dachte Jos Aachten und ging hinaus.
»Was ist eigentlich dran an den Gerüchten über Australien?« erkundigte sich Mark Löwe, kurz bevor er Liaos Büro verließ. Er erhielt nur eine ausweichende Antwort. »Die Sache steckt noch in der Planungsphase. Sobald ich mehr darüber weiß, gehören Sie zu den ersten, die alles erfahren. Sie haben gute Arbeit geleistet, Mark. Halten Sie sich von nun an bitte fern von van Haag, den knöpfe ich mir persönlich vor. Bei nächstbester Gelegenheit statte ich >Arthur Conan< im Big einen kleinen Besuch ab. Ich war schon immer ein Fan von hochgeistiger Literatur und habe bereits als kleines Kind davon geträumt, mal einem waschechten Schriftsteller mein zartes Händchen reichen zu dürfen.« 76 Kein Planet. Auf gewisse Weise reagierte Simon enttäuscht, als sich die Bildwiedergabe aufbaute. Unbewußt hatte er gehofft, blühende Wiesen, grüne Wälder, blauen Himmel und in großer Höhe treibende Wolkenbänke zu sehen - statt dessen nackte, nur roh bearbeitete Felsen. An einigen Stellen schimmerte Metall im Scheinwerferlicht. Die Höhle wirkte auf ihn wie ein Flickenteppich, den Unbekannte begonnen, aber nicht zu Ende gebracht hatten. Sie war ein Hangar, groß genug für mehrere Ringraumer, ohne erkennbare Schleusen. Doch das bedeutete kein echtes Hindernis; die Schiffe der Mysterious durchflogen den gewachsenen Fels im Schutz ihres künstlichen Zwischenraums, des Intervallfelds. Die NOREEN WELEAN war das einzige Schiff. »Vergessen«, murmelte Simon im Selbstgespräch. »Es sieht aus, als hätte man den Ringraumer hier vergessen.« Im Hintergrund der Höhle gab es technische Anlagen. Möglicherweise dienten sie zur Überholung und Wartung; eine Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser erschien hingegen keineswegs gewährleistet. Die Außenbeobachtung zeigte einen schroffen und unregelmäßig geformten öden Felsbrocken - einen langsam rotierenden Asteroiden in der Unendlichkeit. Nur vage zeichneten sich seine Umrisse gegen den Hintergrund eines Sternenbandes ab. Es gab keine nahe Sonne, die Krater und schroffe Grate in ein Meer aus Licht und scharf abgegrenzten Schatten getaucht hätte. Vielmehr gähnte in der Wiedergabe ein dunkles Nichts, ein Bereich, in dem kein einziger Stern zu sehen war, als hätte ein hungriges Ungetüm alle Sonnen verschluckt. Eine sehr nahe Dunkelwolke. Der Asteroid würde in den nächsten Jahrzehnten ihre Ausläufer durchqueren und mit großer Wahrscheinlichkeit abgebremst werden. Die Ortung verriet Simon, daß der Stützpunkt tief in den gewachsenen Fels hineinreichte. Früher mochte der Asteroid strategische Bedeutung besessen haben, heute waren alle Anlagen abgeschaltet. Der Status der NOREEN WELEAN ging nach wie vor nicht über 77 die Wartebereitschaft hinaus. Für den Wächter bedeutete es jedoch keine Mühe, das Schiff in den nächsthöheren Betriebsmodus zu versetzen. Wie steht es mit dem Treibstoffvorrat? fragte Simon lautlos. Die Toßrittanks sind gefüllt. Das gewährleistet eine Betriebsdauer von einem Jahr im Vollbetriebsmodus. Zu wenig, entschied Simon spontan und fügte ebenso rasch hinzu: Wir wissen nicht, was uns erwartet. Eine zweite Tankfüllung lagerte in einem Randbereich des Hangars. Simon reagierte verblüfft auf die Aussage der Gedankensteuerung, daß ein Kubikmeter des hochkomprimierten Treibstoffs einer Masse von 481.000 Tonnen entsprach. Nie hätte er versucht, einen solchen Wert überhaupt zu berechnen. Er nutzte die Technik der Mysterious, soweit sie für ihn von Vorteil war, aber er hinterfragte sie nicht; das sollten andere tun, die mehr von der Materie verstanden. Immerhin erteilte er die Anordnung, auch die zweite
Tankbefüllung an Bord zu nehmen. Geraume Zeit verging, bis die Arbeitsroboter des Ringraumers den Treibstoff an Bord geholt hatten. Anfangs beobachtete Simon den Verladevorgang noch mit Interesse, später wandte er sich den Sternkarten zu. Die Instanz hatte von einem großen Arkan-Sender gesprochen, über den sogar Raumschiffe versetzt werden konnten. Mit Hilfe der Gedankensteuerung fand Simon sehr schnell die Koordinaten des Senders. Wo sollte er sonst ansetzen? Er wußte es nicht. Aber gerade ein solcher Stützpunkt, der von Gegnern möglicherweise zerstört worden war, erschien ihm interessant. »Irgendwo«, sagte Simon im Selbstgespräch, »muß ich anfangen, wenn ich Erfolg haben will.« Sein Weiterleben als Mensch hing davon ab, in seinem alten Körper, dessen Behäbigkeit er manchmal verwünscht hatte, der ihm heute jedoch wieder erstrebenswert erschien. Vielleicht sollte er sich von der Instanz zudem ein weibliches Gegenstück erschaffen lassen. Ein verlockender Gedanke war das, blasphemisch und aufreizend zugleich. Simon ließ prompt eine Verwünschung folgen. Er war bis heute Mensch 78 geblieben, das erkannte er deutlich. Wäre sonst immer nur das interessant gewesen, was er gerade nicht haben konnte?
Sekundenlang schwebte der Ringraumer nur wenige Meter über dem glasiert wirkenden Untergrund, dann wurde das Intervallfeld aktiv. Gleichzeitig mit dem Hochfahren der Hauptfunktionen hatte sich die Bildkugel aktiviert. Simon versank beinahe in der perfekten optischen Wiedergabe; der Eindruck, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um die Felswand zu berühren, in die das Schiff langsam einflog, war überwältigend. Für das Auge hörte der Asteroid in diesem Bereich zu existieren auf. Zwei jeweils drei Kilometer durchmessende Kugelsphären, die einander zu einem Fünftel durchdrangen, das war der äußere Eindruck des Intervallfelds, in dessen Überlappungsbereich die NOREEN WELEAN als blauviolett schimmernder Ring schwebte. Der Hangar verschwand aus dem Erfassungsbereich. Sekundenlang war das Schiff in massivem Fels eingeschlossen und Simon versuchte sich vorzustellen, wie der Jungfernflug der POINT OF begonnen haben mußte, die auf Deluge unter einem vier Kilometer hohen Bergmassiv gelegen hatte. Kein Mensch hätte sich anfangs träumen lassen, daß es so einfach war, ein Raumschiff durch feste Materie hindurchzufliegen. Wir verlassen den geschützten Bereich! meldete die Gedankensteuerung. Simon fragte nicht nach, der Asteroid bedeutete ihm nichts. Ihn faszinierten die Sterne und die Dunkelwolke. Om war bedeutend größer als die Milchstraße, entsprechend imposant erschien die fremde Galaxis aus einer Perspektive, die einen guten Überblick ermöglichte. Die Zentrumsballung, ein Meer von Sternen und Farben, wurde zur Hälfte von der Dunkelwolke verdeckt. Die NOREEN WELEAN beschleunigte mit Höchstwerten. Der Sublichteffekt würde den Ringraumer innerhalb kurzer Zeit Lichtgeschwindigkeit erreichen lassen. Weit griffen die Ortungen in den Raum hinaus. Sie erfaßten kein 79 anderes Raumschiff. Dann schaltete die Steuemng von SLE auf Sternensog um. Die NOREEN WELEAN überschritt die Lichtgeschwindigkeit und wurde weiter beschleunigt. Die ersten Sonnen zogen vorbei, Sterne ohne Planeten oder mit Asteroidenschwärmen auf Umlaufbahnen, die einst von größeren Welten eingenommen worden waren. Zerbrochene Planeten. Ob veränderte Gravitationskräfte daran schuld waren, die Kollision mit kosmischen Irrläufern oder intelligente Wesen, ließ sich nicht feststellen. Simon hätte den rasenden Flug unterbrechen müssen, aber genau das wollte er nicht. Mit jeder Stunde, in der die NOREEN WELEAN Hunderte Lichtjahre zurücklegte, wuchs sein Wissen über das Schiff. Die Distanzortung gab Alarm. Eine Flotte plumper Raumer lag plötzlich auf Kollisionskurs. Aber die aufgefangenen Energiewerte waren zu schwach für eine potentielle Gefahr. Und nach wenigen Minuten verschwanden die Schiffe wieder aus der Ortung. Offensichtlich waren sie in Transition gegangen. Immer wieder schweiften Simons Gedanken ab. Er war erregt und unruhig und stellte seine eigene Entscheidung in Frage. Er war ein Mensch und würde immer ein Mensch bleiben, aber ebensogut würde er sich schon bald an den neuen Wächterkörper gewöhnt haben - ein Teufelskreis, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien. Er mußte sich ablenken, wenn er nicht verrückt werden wollte. Den Sternensog beenden, ich übernehme das Schiff! Die Gedankensteuerung befolgte den Befehl. Der Weltraum wurde wieder zu dem, was er war, nämlich eine Ansammlung fixer Sterne, von denen nur wenige eine Färb Verschiebung erkennen ließen. Noch lag
die Geschwindigkeit des Ringraumers nahe am kritischen Bereich der Zeitdilatation. Intervallfeld abschalten! Das künstliche Raum-Zeitgefüge erlaubte den überlichtschnellen Flug ohne Entmaterialisation, behinderte aber eine Transition. Simon hoffte, möglichst schnell ans Ziel zu kommen. Der zeitlose Sprung über große Distanzen hinweg erschien ihm dafür weitaus geeigneter. Ich übernehme die Steuerung und die Waffensysteme. Deine Be 80 reiche sind bis auf Widerruf nur die peripheren Systeme. Die Gedankensteuerung bestätigte. Simon lachte leise. Wenn das nicht der Weg war, das Angenehmen mit dem Nützlichen zu verbinden... Bis er wieder Mensch sein durfte, würde er die Technik der Mysterious perfekt beherrschen. Mit diesem Wissen in die Raumflotte aufgenommen zu werden, konnte keine Probleme bereiten. Dann hatte er den Weltraum wieder und die Einsamkeit - und das Gefühl, den Geheimnissen der Schöpfung näher zu sein als jeder andere Mensch.
»Halten Sie es für möglich, daß die GSO ebenfalls ein Dossier über mich abgespeichert hat?« fragte Liao Morei ihren Chef im Verlauf eines vertraulichen Vieraugengesprächs. »Schließlich besitzen wir zahlreiche Informationen über Jos Aachten van Haag; das könnte doch umgekehrt ebenso der Fall sein.« Terence Wallis winkte ab. »Vergessen Sie's. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Liao, aber für Bernd Eylers und seine Leute sind Sie ein viel zu kleines Licht. Daß wir über Leute wie van Haag oder Giray Informationen gesammelt haben, liegt in der Wichtigkeit ihrer Person begründet. Wo und wann immer es auf der Welt brennt, schickt man die beiden zum Löschen, gemeinsam oder getrennt. Die Jungs zählen zweifelsohne zu Terras Geheimagentenelite - im Gegensatz zu Ihnen, Liao.« »Danke für die Blumen«, entgegnete die Chinesin mit leichter Ironie. »Ihre Fähigkeiten auf dem Gebiet der Mitarbeitermotivation erstaunen mich immer wieder aufs neue. Ist dieses Talent angeboren, oder mußten Sie dafür hart an sich arbeiten?« »Ich schenke meinen Mitarbeitern keine Blumen, sondern bezahle sie lieber anständig - das ist Motivation genug«, erwiderte der Milliardär. »Sie zählen zu den Besten in Ihrer Branche, Liao, und das wissen Sie. Doch die Regierung hätte viel zu tun, würde sie von jedem Sicherheitsdienstleiter auf der Welt Dossiers anfertigen und abspeichem. Dafür gibt es viel zu viele von euch. Spezialagenten wie van Haag und Giray muß man hingegen mit der Lupe suchen.« 81 »Nun übertreiben Sie mal nicht. Auf Terra wimmelt es nur so von Agenten aller Couleur. Zugegeben, die Menschheit hat den beiden viel zu verdanken, dennoch sollten wir sie nicht allzusehr mit Lob überhäufen. Nebenbei bemerkt: Giray scheint mir der Sympathischere zu sein. Van Haag macht auf mich einen ziemlich abgehobenen Eindruck. Wahrscheinlich steigen ihm seine Erfolge allmählich zu Kopf.« »Finden Sie ihn eigentlich attraktiv?« »In gewisser Weise schon«, gab Liao Morei offen zu, ohne bei dieser sehr direkten Frage zu erröten. »Zumindest würde ich ihn nicht sofort von der Bettkante stoßen.« »Nicht sofort?« wunderte sich Wallis. »Wann dann?« Liao blieb ihm die Antwort nicht schuldig. »Gleich morgens nach dem Aufstehen.« Wallis mußte unwillkürlich lachen. »Heißt das, er bekäme kein Flühstück?« »Van Haag ist kein Mann, mit dem ich gerne frühstücken würde. Er dürfte sich noch duschen und rasieren, und anschließend würde ich ihn heimschicken, vorausgesetzt, wir hätten uns in meiner Wohnung vergnügt. Würde ich mich am Morgen in seinem Schlafzimmer wiederfinden, könnte ich mich klammheimlich verdrücken, während er noch im Bad beschäftigt ist. Was soll die intime Fragerei? Erteilen Sie mir den Auftrag, mich privat mit dem GSO-Agenten einzulassen?« »Sie sollen Jos Achten van Haag aushorchen und herausfinden, was er weiß - wie Sie es ohnehin vorhatten«, stellte Terence Wallis klar. »Zudem werden Sie ihn auf eine falsche Fährte locken. Wie Sie Ihren Auftrag erledigen und wie weit Sie dabei gehen, bleibt einzig und allein Ihnen überlassen.« »Falsche Fährte?« Die Frau von der Sicherheit horchte auf. »Hört sich an, als hätten Sie einen Plan.« »Den habe ich, und ich würde es lieben, wenn er funktioniert«, bestätigte Wallis grinsend und zündete sich eine Zigarre an. »Ich beabsichtige, eine verdeckte Kauf anfrage für ein großes Küstenareal in Australien herauszulassen. Offiziell steckt eine Immobilienfirma dahinter, doch die GSO wird rasch ermitteln, daß Wallis Industries die Fäden in der Hand hält. Ihre Aufgabe ist es, van 82 Haag auf die Anfrage aufmerksam zu machen. Dezent, versteht sich; er muß das Gefühl haben, von allein auf die Zusammenhänge zwischen dem geplanten Grundstückskauf und dem Umzug von WI gestoßen zu
sein.« »Kein Problem«, meinte Liao. »Allerdings müßte ich dann das Geheimnis um meine Person zu gegebener Stunde lüften.« »Nicht Sie, Liao«, widersprach Wallis. »Van Haag wird derjenige sein, der Sie enttarnt - zumindest soll er das glauben. Werfen Sie ihm nur einen winzigen Hinweis vor die Füße, und schon stellt er von sich aus weitere Ermittlungen an. Die Agenten der GSO sind oftmals undurchschaubar, aber eine Berufskrankheit haben sie alle gemeinsam: die Neugier.«
Jos Aachten van Haag fiel die attraktive Chinesin sofort auf, kaum daß sie die Schankstube des »The Big Mamas and the Papas« betreten hatte. Er saß an der langen Theke, mit Blickrichtung zur Eingangstür, und musterte unauffällig jeden neuen Gast. Eine faszinierende Erscheinung wie Liao Morei konnte seinem Kennerblick gar nicht entgehen. Die zierliche Frau kam sich irgendwie fehl am Platze vor. Wohin sie auch schaute, sah sie rundliche, wohlgenährte Körper. Das Lieblingswort aller Politiker - Diäten - kannten Gäste und Bedienung offenbar nur vom Hörensagen. Bestenfalls eine Handvoll der Anwesenden verfügte über eine halbwegs akzeptable Figur. Zu ihnen zählte Jos Aachten van Haag. Als sich ihre Augen trafen, musterte Liao ihn kurz, verzog geringschätzig ihre Mundwinkel und nahm dann an einem freien Zweipersonentisch in Thekennähe Platz. Ihr provozierendes Benehmen schreckte den Agenten nicht ab. Im Gegenteil, es brachte ihn erst richtig auf Touren. Der erfolgsgewohnte Frauenheld fühlte sich herausgefordert. Ein wohlbeleibter schwarzer Kellner trat an Liaos Tisch und erkundigte sich nach ihren Wünschen. »Ich hätte gern einen Salat«, gab sie ihre Bestellung auf. »Und ein Mineralwasser.« 83 »Salat gibt es bei uns gratis«, erwiderte der Ober augenzwin-kemd. »Als Dekoration zu unseren TBonesteaks. Und Wasser benutzen wir nur zum Händewaschen. Mal im Ernst: Was möchten Sie wirklich? Kein Mensch kommt ins Big, um sich nichts weiter als Salat zu bestellen. Was an Deko-Grünzeug auf den Tellern liegenbleibt, verfüttern wir üblicherweise an die Kaninchen, das verleiht ihnen eine ganz besondere Würze.« »Dann bringen Sie mir halt irgendeine Gemüseauswahl«, entgegnete die Chinesin ungehalten. »Blumenkohl, Paprika, Auberginen, Zucchini... und dazu nehme ich einen kühlen Fruchtsaft. Oder benutzen Sie den zum Füßewaschen?« »Das war doch nur ein Scherz«, beschwichtigte sie der Kellner. »Natürlich bekommen Sie bei uns, was Sie wollen, auch Mineralwasser und Salat. Ich serviere Ihnen beides sofort - zusammen mit einer warmen Gemüseplatte und Orangensaft, wie bestellt.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, entschwand er in die Küche. Ganz schön geschäftstüchtig, dachte Liao schmunzelnd. Sie ernährte sich weitgehend vegetarisch, aber nicht ausschließlich. An manchen Tagen konnte sie ordentlich was verdrücken. Heute hatte sie allerdings Appetit auf etwas Leichtes, was vermutlich mit dem Anblick der vielen Reischberge zusammenhing - auf den Tellern und auf den Stühlen. Jos Aachten van Haag stand auf und gesellte sich zu ihr. »Darf ich?« fragte er höflich und setzte sich unaufgefordert an ihren Tisch. »Meinethalben, wenn sonst nichts frei ist«, antwortete Liao, während sie desinteressiert in der Speisekarte blätterte. »Ich habe Ihr Gespräch zufällig mit angehört«, sagte er, räumte aber sogleich ein: »Nein, das ist nicht wahr. Ich gebe ehrlich zu, daß ich Sie absichtlich belauscht habe. Fremde Leute zu bespitzeln ist sozusagen mein Beruf.« »Demnach sind Sie ein Spion«, bemerkte Liao trocken, ohne ihn anzusehen. Jos lachte. »Falsch geraten. Ich bin Schriftsteller. Romanautor, um genau zu sein. Aus beruflichen Gründen interessiere ich mich für zwischenmenschliche Dialogführung aller Art, selbst wenn es sich nur um eine profane Kommunikation wie eben handelt. Wer 84 der schreibenden Zunft angehört, kann viel von solchen Alltagsgesprächen lernen, weshalb ich gern und oft unter Menschen gehe.« Jetzt endlich schaute Liao ihn an. Ein scheues Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen. »Sind Sie wirklich ein echter Schriftsteller?« fragte sie ihr Gegenüber. »Ich habe mir Romanautoren immer ganz anders vorgestellt. Alt, runzlig, weißbärdg, die brennende Pfeife im zahnlosen Mund...« »Klingt nach dem typischen Heimatromanschreiber«, meinte Jos. »Ich hingegen verfasse Abenteuerromane.« »Ich hatte gleich den Eindruck, daß Sie irgendwas Verwegenes an sich haben«, erwiderte Liao und dachte im stillen: Vorsicht! Nicht zu dick auftragen, sonst riecht er den Braten gleich.
Der Mann an ihrem Tisch merkte offenbar nicht, daß ihre Bewunderung nur gespielt war. Dir plumpes Kompliment schien ihm runterzugehen wie Öl. »Mein Name ist Arthur Conan«, stellte er sich ihr vor. »Verraten Sie mir Ihren?« »Liao Morei«, antwortete sie wahrheitsgemäß. Sie hielt es nicht für notwendig, einen Decknamen zu wählen. Van Haag konnte mit ihrem richtigen sowieso nichts anfangen, zumindest nicht im Augenblick. Außerdem lag es durchaus in ihrer Absicht, als Mitarbeiterin von Wallis Industries »entlarvt« zu werden. »Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade in Steakhäusem herumsitzen und verwelkte Blätter bestellen?« fragte Jos sie scherzhaft. »Damit wir uns nicht mißverstehen: Auch ich halte nicht viel von der Todsünde Vollere!. Anstatt undefinierbaren Gulasch zu vertilgen und hinterher mit literweise Starkbier nachzuspülen, würde ich jetzt lieber in einer gemütlichen kleinen Nachtbar sitzen und an einem Whisky on the rocks nippen. Doch mein nächster Roman spielt in einem Lokal wie diesem hier.« »Verstehe, Sie betreiben hier geheime Recherchen.« »Könnte man so sagen. Ich schaue dem Volk aufs Maul und mache mir meine Notizen. Was sagten Sie doch gleich, welchem Beruf Sie nachgehen?« »Ich sagte gar nichts«, antwortete Liao. »Arthur Conan - gab es 85 in einem früheren Jahrhundert nicht einen Schriftsteller ähnlichen Namens?« »Ist mir nicht bekannt«, entgegnete Jos. »Allerdings soll mal ein Barbar so geheißen haben. Wollen Sie mir wirklich nicht verraten, was Sie arbeiten?« »Ich bin nur eine kleine Angestellte in einem großen Unternehmen«, wich Liao erneut aus - um seine Neugier noch zu steigern. »Mein beruflicher Alltag ist kaum der Rede wert. Sprechen wir lieber über Sie. Ich möchte alles von Ihnen wissen. Wie viele Bücher haben Sie schon veröffentlicht? Veranstalten Sie regelmäßig Lesungen? Welche Literaturpreise haben Sie gewonnen?« Jos stieß einen leisen Seufzer aus. »Viele Fragen bedeuten viele Antworten. Vielleicht sollten wir uns an einem angenehmeren Ort in diese Themen vertiefen. Für heute habe ich eh genug recherchiert.« Liao war einverstanden. »Gern, Arthur. Aber vorher möchte ich noch meinen Salat verzehren. Dort kommt der Kellner mit meiner Bestellung.« Jos erhob sich von seinem Stuhl. »Lassen Sie sich ruhig Zeit, Liao. Und entschuldigen Sie mich bitte für ein paar Minuten, ich muß dringend ein wichtiges Viphonat führen.« Liao nickte ihm mit unergründlichem Lächeln zu. Sie ahnte, wen er jetzt anrufen würde: die GSO. Ihr war nicht entgangen, daß van Haags Armbandchrono mit einer hochmodernen Minikamera ausgestattet war - sie kannte das Serienmodell, weil sie es vor ein paar Monaten selbst bei einem Einsatz benutzt hatte. Vermutlich hatte Jos sie heimlich fotografiert, und nun wollte er die Aufnahmen mitsamt ihrem Namen an die GSO weiterleiten. Es dauerte bestimmt nur wenige Minuten, bis man dort ihre verfügbaren Daten aus dem Netz gezogen hatte. Wenn Jos an ihren Tisch zurückkam, würde er über ihre Tätigkeit als Leiterin des Sicherheitsteams von Wallis Industries garantiert Bescheid wissen - wie sie es beabsichtigt hatte. Natürlich würde er weiterhin so tun, als wüßte er von nichts. Darauf, daß sie umgekehrt seine Tarnung von vornherein durchschaut hatte, kam er mit Sicherheit nicht, dafür hielt er sich für viel zu perfekt. 86 »Halten Sie sich fest, Eylers, ich habe einen ganz dicken Fisch an der Angel. Raten Sie mal, wer gerade ins Big hereinspaziert kam? Darauf kommen Sie nie, deshalb gebe ich Ihnen die Antwort gleich selbst: Liao Morei, die oberste Chefin des WI-Sicherheitsteams... Natürlich habe ich Sie gleich erkannt! In unserem zentralen Suprasensor sind mehrere Aufnahmen von ihr abgespeichert, nebst einem ausführlichen Dossier. Wann immer Terence Wallis seine berühmtberüchtigten eigenwilligen Pfade einschlägt, steht sie an vorderster Front an seiner Seite. Deshalb habe ich mir ihr Gesicht ganz besonders eingeprägt. Und nicht nur das Gesicht... Nein, sie weiß nicht, wen sie vor sich hat. Ganz bestimmt nicht, das hätte ich gemerkt. Ich besitze eine gute Menschenkenntnis, Bernd, das wissen Sie doch. Im übrigen hat Wallis keinen Grund, seine beste Sicherheitsfrau auf mich anzusetzen. Was sollte er von mir wollen? Ich verfüge über keine bedeutsamen Informationen, die für seine Firma von Interesse sein könnten. Umgekehrt hat Miß Morei vielleicht einige Neuigkeiten für mich, den Firmenumzug betreffend. Jedenfalls werde ich ihr mal näher auf den Zahn fühlen. Was sie im Big verloren hat? Nichts Bestimmtes, sie scheint rein privat hierzusein. Offensichtlich besucht sie das Lokal zum ersten Mal - und zum letzten Mal, ich habe nämlich nicht den Eindruck, daß es ihr gefällt. Deshalb ziehen wir uns gleich in eine anheimelnde kleine Bar zurück... Übertreiben Sie es nicht mit Ihrem Hang zur Vorsicht? Ich betone nochmals: Die Kleine hat keinen Anlaß, mich auszuhorchen. Außerdem hat sie nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, wer ich bin. Meine Tarnung als erfolgsverwöhnter Schriftsteller ist perfekt. Liao steht offenbar auf Literaten. Um was wollen
wir wetten, daß ich sie heute nacht abschleppe...? Nein, nicht zu mir, zu ihr ist es näher. Sie besitzt eine Eigentumswohnung in Pittsburgh. Falls Sie mit Ihrem Mißtrauen tatsächlich recht haben, Bernd, wäre es ohnehin mehr als leichtsinnig, Liao in meine geheiligten vier Wände mitzunehmen. Sie 87 könnte auf den Gedanken kommen, mich gewaltsam außer Gefecht zu setzen und mein Arbeitszimmer mitsamt Suprasensor zu filzen - aus welchem fiktiven Grund auch immer... Stimmt, normalerweise lasse ich mich nicht so leicht auf die Bretter schicken, schon gar nicht von einer Frau. Doch laut unserem Dossier ist Liao Morei die reinste Kampfsportgranate. Im fairen Zweikampf hätte ich vermutlich keine Chance gegen sie -darum bediene ich mich anderer Waffen. Erliegt sie erst einmal dem mir angeborenen Charme, schnurrt sie in meinen Armen wie ein Kätzchen... Ich und ein Angeber? Nehmen Sie das eventuell zurück, Bernd? Na so was, bricht er doch glatt die Verbindung ab!«
Jos Aachten van Haag betrachtete die Frau, die an seiner Seite lag, einige Minuten lang. Wie friedlich sie doch aussah, wenn sie schlief... Am vergangenen Abend war er mit ihr von einer Nachtbar zur nächsten gezogen, und beide hatten sich prächtig amüsiert. Zumeist hatte er das Wort geführt, während Liao ihm schweigend zugehört hatte. Anfangs hatten sie sich vor allem über seine »schriftstellerischen Erfolge« unterhalten. Mit fortgeschrittener Stunde waren die Gespräche immer intimer geworden; sie hatten sogar offen über ihre sexuellen Vorlieben geredet. In Liaos Wohnung hatten sie es dann nicht mehr beim Reden belassen. Die schöne Chinesin war in den Armen des GSO-Agen-ten förmlich explodiert. Schon nach kurzer Zeit hatte sie die Führung übernommen. Jos, der es gewohnt war, den Frauen im Bett zu zeigen, wo es langging, hatte sich ihren Wünschen völlig untergeordnet - ein neues, unheimlich erregendes Gefühl für ihn. In dieser Nacht waren beide voll auf ihre Kosten gekommen. Van Haag liebte es, Arbeit und Vergnügen miteinander zu verbinden. Meistens erledigte er erst seinen Auftrag und widmete sich anschließend den Genüssen des Lebens. Diesmal war es umgekehrt. Seinen Spaß hatte er gehabt - jetzt rief ihn die Pflicht. Lautlos erhob er sich aus dem Bett. Liao Morei wurde leicht un 88 ruhig. Sie stieß im Schlaf einen leisen Seufzer aus und strich mit der Hand über das große, breite Kopfkissen. Jos reagierte blitzschnell, ergriff einen flauschigen Teddybären, der auf ihrem Nachttisch saß, und legte ihn behutsam aufs Kissen. Kaum hatte Liao den Bären ertastet, atmete sie wieder ruhig und gleichmäßig. Eine Bombe könnte neben ihrem Bett einschlagen, ohne daß sie aufwachen würde, dachte er amüsiert. Es wunderte ihn nicht, daß sie total erschöpft war, auch er fühlte sich etwas wacklig in den Knien. Dennoch stand er auf und schaute sich im Zimmer um. Die Schlafzimmertapete war dunkelrot und mit phantasievollen »chinesischen« Schriftzeichen versehen, welche wohl ausschließlich der Kreativität des Designers entsprungen waren und nichts Tiefsinniges bedeuteten. Die Wand- und Deckenbeleuchtung war mit verschiedenfarbigen Papierschirmen ausgestattet worden, so daß dieser Raum nie richtig erhellt werden konnte. Augenblicklich brannte nur das Lämpchen auf dem Nachtschrank. Jos kleidete sich fix an, öffnete leise die Schlafzimmertür und betrat die schmale, dunkle Diele. Wie ein Schatten huschte er ins gegenüberliegende Zimmer und zog dort die Tür hinter sich zu. Erst jetzt riskierte er es. Licht zu machen. Er fand sich in einem modern eingerichteten Arbeitszimmer wieder. Auf Kitsch und Firlefanz aller Art hatte der Innenarchitekt hier ganz und gar verzichtet. Sofort schaltete der Agent Liaos Suprasensor ein. Auf dem Bildschirm wurde er aufgefordert, den für die Inbetriebnahme erforderlichen Buchstaben-Zahlengeheimcode einzugeben. Daraufhin stellte er seine Bemühungen gleich wieder ein. Zum Knacken des Codes fehlte ihm die Zeit. Auch die Durchsuchung von Liaos Schreibtisch führte ins Leere. Sämtliche vorhandenen Datenträger waren fein säuberlich beschriftet und für Jos völlig bedeutungslos. Auf versteckte Mini-Disks oder MikroCDs stieß er nicht. Die Masche, Datenträger mit Geheiminformationen absichtlich falsch zu beschriften, um sie zwischen den anderen ganz offen zu »verbergen«, war ihm natürlich bekannt. Aber für derart leichtsinnig hielt er Liao Morei nicht. Gewiefte Einbrecher stahlen gleich 89
das komplette Datenmaterial, um es zu einem späteren Zeitpunkt ungestört zu sichten. Manchmal wurde auch kurzerhand der Suprasensor aufgebrochen, um an die Speichereinrichtung zu gelangen, und einige Diebe schreckten nicht einmal davor zurück, das komplette Gerät abzutransportieren, selbst dann, wenn es in die Wand eingelassen war. Van Haag sah von derartigen Maßnahmen ab. Mit dem Diebstahl des gesamten Datenmaterials wäre unwillkürlich seine Tarnung aufgeflogen, und das wollte er unter allen Umständen vermeiden. Bis er seine Ermittlungen vollständig abgeschlossen hatte, durfte Liao seine wahre Identität nicht erfahren. Möglicherweise würde er noch mehrere Tage an ihr dranbleiben müssen - ein Gedanke, der ihm nicht unangenehm war. Vom Arbeitszimmer aus führte eine Zwischentür in eine kleine Bibliothek. Die antike Einrichtung empfand Jos als überaus geschmackvoll. Er begann umgehend mit einer gründlichen Durchsuchung, wobei er achtgab, daß er nichts durcheinanderbrachte. Aufgeschlagene oder zugeklappte Bücher und sonstige Gegenstände wurden exakt wieder dort plaziert, wo sie gelegen hatten, ohne die geringste sichtbare Veränderung. Mehr durch Zufall entdeckte er einen verborgenen Sensorschalter. Als er ihn betätigte, setzte sich auf lautlos-gespenstische Weise eine Bücherregalwand in Bewegung und gab den Blick auf ein dahinterliegendes, kärgliches Zimmer frei. Mit gemischten Gefühlen betrat Jos den Raum. Kaum hatte er die Schwelle überschritten, schaltete sich eine fahle Fußbodenbeleuchtung ein. Möbel gab es hier nur eine Handvoll. Und eine Art Altar - ein unebener, naturgewachsener Felsstein, auf dem eine seltsame Statue stand. Vor dem nicht sonderlich großen Felsbrocken lag ein dicker Teppichläufer in Form eines gleichschenkligen Dreiecks, mit ungefähr zwei Metern Kantenlänge. Die Spitze des Dreiecks zeigte in Richtung des Steins. Die etwa fünfzig Zentimeter lange Statue sah aus wie eine Mischung zwischen Riesentermite und Skorpion, weshalb Jos ihr spontan die Bezeichnung »Skermite« verlieh. Das Untier sah 90 schaurig aus, in gewisser Weise aber auch faszinierend. So stellte er sich die zukünftigen Bewohner der Milchstraße vor - in ein paar Milliard611 Jahren. An den kahlen Steinwänden rundum befanden sich fremdartige Schriftzeichen von einer Sorte, wie van Haag sie noch nie zuvor gesehen hatte - nicht auf Terra und auch auf keinem ihm bekannten Planeten. Sie waren ganz anders als das Phantasiegekritzel im Schlafzimmer und nur bedingt als asiatisch einzustufen. Obwohl Jos weiß Gott kein ängstlicher Typ war, flößten ihm die Zeichen irgendwie Respekt ein, vielleicht sogar ein bißchen Furcht... Von der Decke hingen verschiedenartige Lederriemen und -stricke herab, die zum Teil miteinander verschlungen waren. Obenherum waren manche Riemen dicker, wie bei einem Griffstück. Eine Auswahl merkwürdig geformter Peitschen? Oder nur ein außergewöhnlicher Zimmerschmuck? Jos stellte sich vor, wie Liao nackt vor dem Altar kniete, den seltsamen Götzen anbetete und sich dabei mit einer der Lederpeitschen kasteite. Zunächst mußte er darüber schmunzeln, dann aber hielt er diesen Gedankengang gar nicht mal für so abwegig. Wer wußte schon, was in einem anderen Menschen vorging? In einer Zimmerecke, schräg gegenüber dem Altar, war eine kleine Sitzgruppe aufgestellt worden, aus losen Polstern, die man bei Bedarf zu einem Schlafplatz zusammenschieben konnte. Zu dem Ensemble gehörten auch ein Tischchen und eine Stehlampe. Auf dem Tisch lag ein Buch, gleich daneben eine zugeklappte Schreibmappe ohne Aufschrift. An der rechten Wand stand ein alter Münzschrank. Er war unverschlossen und enthielt eine ansehnliche Münzsammlung, wie van Haag bei Durchsicht der Schubladen feststellte. Offenbar legte die Chinesin einen Teil ihrer Ersparnisse in Wertgegenständen an. Jos verstaute wieder alles so, wie er es vorgefunden hatte. Anschließend begab er sich erneut zur Sitzgruppe und nahm das Buch zur Hand. »Domstadt-Blues« lautete der Titel. Der Untertitel »Tatort Köln« deutete auf einen Krimmalroman hin. Hörte sich spannend an, aber... . ...aber -wo, zum Teufel, liegt dieses Köln? dachte der Agent und
91 legte das Buch beiseite. Der Inhalt der Schreibmappe überraschte ihn. Jos hatte erwartet, darin private Korrespondenz vorzufinden. Statt dessen enthielt die Mappe Dokumente über den geplanten Umzug von Wallis Indu-stries nach Australien. Offenbar hatte Liao Morei die Dokumente kürzlich durchgesehen und hier liegenlassen. Van Haags Mißtrauen meldete sich. Hatte die clevere Sicherheitsexpertin die Mappe hier absichtlich für ihn plaziert? Wollte sie ihn damit auf eine falsche Spur locken? Andererseits: Hätte er nicht durch Zufall den verborgenen Gebetsraum entdeckt, hätte er die Mappe niemals gefunden. Im übrigen war ein harmloser Firmenumzug keine geheime Verschlußsache.
Van Haag blätterte in den Papieren, überflog die wichtigsten Stellen und entschloß sich dann, die gesamten Dokumente mit seinem hochmodernen Spezialchrono zu fotografieren. Zwar war die Folie, die für den Ausdruck des Textes verwendet worden war, von einer fast unsichtbaren Schicht überzogen, die jede handelsübliche Fotolinse außer Gefecht setzte, doch die neuartige Armbandkamera war für solche Fälle gerüstet. Erst kürzlich hatte die GSO ihre Agenten mit diesen kostenintensiven Geräten ausgestattet. Jos war überzeugt, daß man beim WI-Sicherheitsdienst noch nie davon gehört hatte. Nachdem er seinen Job erledigt hatte, legte er die Mappe wieder auf den Tisch, verließ das Geheimzimmer und betätigte den Sensorschalter, der das Bücherregal vor die Eingangsöffnung schob. Zurück im Schlafzimmer stellte er zufrieden fest, daß Liao noch tief und fest schlief. Zärtlich hauchte er ihr ein Küßchen auf die Wange. Wir sehen uns weder, verabschiedete er sich in Gedanken von ihr. Bisher hatte noch jede Frau nach einer Nacht mit mir Verlangen nach mehr.
»Für mich ist die Sache sonnenklar. Wenn die Kleine Weisheit sieben Mitglieder aufweist, die Große Weisheit achtzehn und die 92 Weisheit vierundfünfzig - dann ergibt das zusammen neunund-siebzig weise utarische Ratsmitglieder.« »Eben nicht. Das höchste Gremium, die Weisheit, setzt sich nämlich aus den drei Großen Weisheiten zusammen, von denen jede achtzehn Personen stark ist. Dreimal achtzehn ergibt vierundfünfzig. Hinzu kommen die sieben Delegierten der Kleinen Weisheit, womit die Gesamtmitgliederzahl einundsechzig beträgt.« »Einundsechzig? Und was ist mit den achtzehn Mitgliedern der Großen Weisheit? Willst du die einfach unterschlagen, mitsamt ihrem Sprecher Ya Yaki?« »Kapierst du es immer noch nicht? Die Große Weisheit besteht aus vierundfünfzig Ratsmitgliedern, einschließlich ihrer drei Sprecher Ja Jagan, Ti Tira und Ga Gasogu. Diese vierundfünfzig Personen bilden die Weisheit. Große Weisheit und Weisheit sind also quasi dasselbe.« »Dasselbe? Und wieso tragen sie dann unterschiedliche Kleidung? Die Große Weisheit kleidet sich leuchtend schwarz, die Weisheit indigoblau.« »Äh, weiß auch nicht. Vielleicht ziehen sie sich jedes Mal um, dem jeweiligen Sitzungsanlaß entsprechend.« »Wozu gibt es überhaupt eine Große Weisheit, wenn dieselben Personen als Weisheit ihre eigenen Entscheidungen überstimmen können? Und was ist mit Ya Yaki?« »Soweit ich informiert bin, ist er Sprecher der Kleinen Weisheit.« »Nein, die Kleine Weisheit verfügt über eine Sprecherin: Bö Bora. Aufgrund ihres Sprecheramts gehört sie zu den achtzehn Mitgliedern der Großen Weisheit -- jenen achtzehn Mitgliedern, von denen du behauptest, es gäbe sie gar nicht. Dabei weiß jeder gebildete Mensch, daß sich die Große Weisheit aus achtzehn Delegierten der Kleinen Weisheit zusammensetzt.« »Wie denn das? Die Kleine Weisheit verfügt doch nur über sieben Mitglieder, die Sprecherin mitgezählt. Am besten, wir geben sämtliche Zahlen und Namen nochmals in den Suprasensor zur Auswertung ein. Hoffentlich stürzt er nicht wieder ab.« Die beiden jungen Agenten, die sich über das komplizierte politische System der Utaren den Kopf zerbrachen, hielten sich in der 93 Hauptzentrale der Galaktischen Sicherheitsorganisation auf. Um die diplomatischen Beziehungen zu den Utaren zu vertiefen, sollten sie sich demnächst nach Esmaladan begeben, zwecks Erfahrungsaustausch mit den dortigen Sicherheitsbehörden. Vorher mußten sie allerdings noch einiges über die Gepflogenheiten der Utaren lernen, damit sie nicht von einem Fettnäpfchen ins andere traten. Bernd Eylers hatte ihnen einen modern ausgestatteten Ausbildungsraum in der Zentrale zur Verfügung gestellt. Er wollte die Fortschritte seiner beiden Mitarbeiter persönlich überprüfen, denn er wußte, wie empfindlich die Utaren mitunter auf diplomatisches Fehlverhalten ihrer Gäste reagierten. Von der Mission selbst versprach sich der GSO-Chef freilich nicht viel - es war nur eine von vielen Kontaktaufnahmen zu fremden Völkern, beziehungsweise fremden Sicherheitsdiensten. Üblicherweise begnügte man sich auf solchen Treffen mit dem Austausch von Höflichkeiten und unverbindlichen Ratschlägen. Geheiminformationen wurden weder von der einen noch der anderen Seite preisgegeben. Schließlich wußte man nie, ob gute Freunde nicht eines Tages zu erbitterten Feinden wurden. Die Tür zum Lemzimmer stand offen. Auf dem Flur ging Jos Aachten van Haag vorbei. Er grüßte die beiden ihm bekannten Kollegen mit einem kurzen Kopfnicken. »Offensichtlich befindet er sich auf dem Weg zu Eylers9 Büro«, bemerkte einer der jungen Agenten. »Ich möchte zu gern wissen, was er ihm zu berichten hat. Bestimmt kehrt er gerade von einer gefährlichen
Mission zurück.« »Darauf kannst du wetten!«, erwiderte der andere. »Während wir letzte Nacht selig geschlafen haben, hat er die Feinde Terras garantiert gleich reihenweise flachgelegt. Männer wie er halten für die Menschheit den Kopf hin - und uns schickt man zu einem Zwergenvolk ins All, um zu demonstrieren, daß wir terranischen Geheimdienstler im Grunde genommen nette Kerle sind. Deswegen bin ich eigentlich nicht zur GSO gegangen.« »Was soll's? Jeder hat mal klein angefangen. Machen wir weiter. Wie war das doch gleich? Die Weisheit ist die niedrigste Kaste der Utaren, gefolgt von der Kleinen Weisheit und der Großen 94 Weisheit. Oder war es andersherum?« Bernd Eylers konnte den Bericht seines besten Geheimagenten kaum erwarten. Er rechnete mit einem Paukenschlag, einer Sensation, einem Skandal... Die nüchterne Wirklichkeit enttäuschte ihn. »Wallis Industries will tatsächlich nach Australien umziehen -und sonst nichts? Dahinter steckt doch mehr!« Van Haag legte ihm die Kopien der Dokumente auf den Tisch. »Terence Wallis plant weder eine Verschwörung noch einen Regierungsumsturz oder sonstwas, überzeugen Sie sich selbst. Er will lediglich seine Hauptzentrale auf einen anderen Kontinent verlegen, fertig und aus. Über einen Strohmann hat er bereits eine verdeckte Kaufanfrage für ein bestimmtes Areal gestellt. Sonderlich große Eile legt er übrigens nicht an den Tag. Die Aktion startet, wenn überhaupt, frühestens in zwei Jahren - falls die bis dahin projektierte Steuerlast von WI wirklich so hoch ausfällt wie prognostiziert.« »Er organisiert den Umzug wirklich nur, um keine Steuern zahlen zu müssen?« fragte Eylers ungläubig. Der Agent nickte. »Sie sagten doch selbst, daß er alles steuerlich absetzen kann. Auf die Regierung werden somit seitens WI hohe Steuerausfälle zukommen. Glücklicherweise hat Trawisheim zwei Jahre Zeit, sich darauf einzustellen - beziehungsweise Antoine Dreyfuß, sollte die Fortschrittspartei die Wahl gewinnen.« »Was uns hoffentlich erspart bleibt«, ergänzte der GSO-Leiter. »Ich werde mit Trawisheim darüber reden. Obwohl...« »Obwohl?« »Obwohl ich weiterhin das Gefühl nicht loswerde, daß uns Wallis nur verarscht. Der alte Fuchs plant was ganz Großes, das spüre ich. Er blufft uns irgendwie aus. Den angeblichen Umzug schiebt er nur vor, um uns zu beschäftigen und von seinen wahren Absichten abzulenken. Die Werks Verlegung rechnet sich für ihn doch überhaupt nicht. Jede Wette, daß die WI-Hauptzentrale noch in hundert Jahren auf demselben Fleck steht.« »Wallis ist ein Finanzgenie sondergleichen«, erwiderte Jos Aachten van Haag. »Wäre der Umzug nach Australien insgesamt gesehen ein schlechtes Geschäft, würde er ihn erst gar nicht in Er95 wägung ziehen. Was stört Sie eigentlich am Ergebnis unserer Ermittlungen, Bernd? Es entspricht genau Ihren ursprünglichen Vermutungen. Wallis beabsichtigt, den Finanzbehörden ein völlig legales Schnippchen zu schlagen, nicht mehr und nicht weniger. Ein mittelklassiger Steuerinspektor hätte genügt, um das herauszufinden. Einen hochkarätigen Mitarbeiter wie mich dafür einzusetzen, war reine Verschwendung. Na ja, ich bin Ihnen nicht böse darum. Hinter mir liegt die schärfste Nacht meines Lebens.« »Sind Sie sicher, daß Miß Morei Sie nicht aufs Kreuz gelegt hat?« hakte Eylers nach. Jos grinste wie ein Schuljunge. »Und wie sie mich aufs Kreuz gelegt hat - nach allen Regeln der Kunst. Ich kann es kaum erwarten, daß sie sich bei mir meldet und wir dort weitermachen, wo wir letzte Nacht aufgehört haben. Damit sie sich mit mir jederzeit in Verbindung setzen kann, habe ich ihr auf dem Kopfkissen einen Notizzettel hinterlassen, mit einem ganz speziellen Viphocode. Dadurch erkenne ich bereits am Signal, wenn sie in der Leitung ist. Natürlich melde ich mich dann mit meinem Decknamen. Sie ist ganz vernarrt in Arthur Conan, weshalb ich meine Tarnung noch eine Weile aufrecht erhalten werde. Nicht, daß ich als van Haag keine Chance bei ihr hätte...« Bernd Eylers hatte genug von dem eitlen Geschwätz. Mit einer harschen Handbewegung gab er seinem Spezialagenten zu verstehen, daß es höchste Zeit war, zu gehen.
Liao Morei öffnete ein Geheimfach an ihrem Münzschrank und holte ein handtellergroßes Gerät hervor. Das Fach war gut versteckt; selbst wenn man wußte, daß es in diesem Schrank eins gab, konnte man es nur schwer ausmachen, und ohne die nötigen Kenntnisse über den komplizierten Öffnungsmechanismus blieb es verschlossen. Liao hatte es persönlich eingebaut. Auch die nebenan im Bücherzimmer befindliche Minitastatur, über die man den Zugang zum Gebetsraum freilegte, hatte sie nahezu perfekt verborgen. Zudem benötigte man den richtigen Code, ansonsten bewegte
sich das Bücherregal um keinen Millimeter. 96 Den Sensorschalter, auf den van Haag bei Durchsuchung der kleinen Bibliothek gestoßen war, würde Liao noch heute wieder abmontieren - sie hatte den Schalter speziell für »Arthur Conan« angebracht, um es ihm nicht zu schwierig zu machen. Die schöne Chinesin ließ sich auf eines der Sitzpolster fallen und betätigte das Gerät in ihrer Hand. Daraufhin erschien van Haags Hologramm im Zimmer. Es bewegte sich zum Altarstein, zur Sitzecke, zum Münzschrank, wieder zurück zur Sitzecke... alles, was der GSO-Agent in diesen vier Wänden getan hatte, war mit Holokameras aufgezeichnet worden - vom Betreten des Zimmers bis zum Fotografieren der Dokumente in der Schreibmappe. Die Aufzeichnungs- und Wiedergabegeräte waren zwischen den wild herabhängenden Lederschlingen kaum auszumachen. Auch mehrere in die Decke eingelassene bewegliche Strahlenwaffen, welche bei Bedarf ebenfalls mit der kleinen Fembedienung aktiviert werden konnten, waren mit bloßem Auge nicht zu sehen. Bei dem »Leder-Urwald« handelte es sich um ein etwas bizarres Kunstwerk koreanischer Herkunft, das zudem zwei sinnvollen Zwecken diente. Erstens verbargen die Schlingen die unter der Decke befindlichen Waffen und Geräte - und zweitens vertrieben sie böse Geister. Zumindest hatte das der greise Koreaner behauptet, der Liao beim Einrichten dieses Raums behilflich gewesen war. Er hatte ihr auch den Altarstein und den dreieckigen Gebetsteppich besorgt. Außerdem hatte er rundum die seltsamen Schriftzeichen angebracht. »Wer die Totenrunen zu deuten weiß, kann mit Verstorbenen in Kontakt treten«, hatte er behauptet - den Beweis dafür aber nie erbracht. Der weißhaarige Mann betrieb in Pittsburgh ein Einpersonenun-temehmen für Innenarchitektur und war auf außergewöhnliche Kunden spezialisiert. Liao nutzte das versteckte Zimmer zum Beten und Meditieren. Manchmal genügte es schon, sich eine halbe Stunde nach hierher zurückzuziehen, um den Streß, den ihr gefahrvoller Beruf unweigerlich mit sich brachte, abzuschütteln. Beim Verlassen des Gebetsraums fühlte sie sich jedesmal wie ein neuer Mensch. 97 Normalerweise durfte niemand ihr Allerheiligstes betreten. Bei Jos Aachten van Haag hatte sie eine Ausnahme gemacht. Hätte er die Schreibmappe mitsamt Inhalt auf ihrem Schreibtisch im Arbeitszimmer vorgefunden, wäre er sofort mißtrauisch geworden. Da er die Dokumente aber erst nach intensiver Suche entdeckt hatte, in einem Geheimzimmer hinter den Regalen, hielt er sie garantiert für echt. Mit seinem Spezialchrono (ein alter Hut für Liao) war es ihm ein Leichtes gewesen, sämtliche Unterlagen zu fotografieren. Hätte Jos den Raum gründlicher in Augenschein genommen, wäre er vielleicht auch noch auf die Automatik zum Öffnen der Fußbodenklappe gestoßen. Liao Moreis Wohnung lag im Erdgeschoß. Durch die verborgene Klappe gelangte man in den Keller -ein Fluchtweg, den sie sich für Notfälle angelegt hatte. In ihrem Beruf war es wichtig, jederzeit gegen Übergriffe aller Art gewappnet zu sein. Die WI-Sicherheitschefin erhob sich von ihrem Platz und legte die Fembedienung zurück ins Geheimfach des Schranks. Die wertvollen Münzen darin dienten ebenfalls der Gefahrenabwehr -für den Fall eines finanziellen Einbruchs. Derzeit ging es ihr in dieser Hinsicht blendend. Aber wer garantierte ihr, daß es auch so blieb? Münzen waren in jedem Jahrtausend eine sichere Geldanlage und ideale Altersversorgung. Lediglich ein Gegenstand in diesem Zimmer war so überflüssig wie ein Kröpf. Liao nahm die »Skermite« vom Altarstein und ging damit hinaus. Wenig später landete der vermeintliche Götze im Müllschlucker. Liao hatte das Kinderspielzeug vor kurzem auf dem Flohmarkt entdeckt und spontan erworben. Es gehörte zum Alltag der GSO-Agenten, mit rätselhaften Dingen konfrontiert zu werden - und sie hatte van Haag nicht enttäuschen wollen. Morei setzte sich per Vipho mit Terence Wallis in Verbindung und erstattete ihm Bericht. »Und er hat wirklich nichts gemerkt?« fragte der Multimilliardär skeptisch. »Immerhin zählt van Haag zu den Spitzenkräften seiner Branche.« »Auch Spitzenkräfte haben mal einen schlechten Tag«, entgegnete Liao schmunzelnd. »Ich habe es ihm schwer, aber nicht allzu 98 schwer gemacht, die Mappe mit den getürkten Dokumenten zu finden. Meiner Meinung nach hat er den Trick nicht durchschaut.« »Ob das auch bei Eylers der Fall ist, wage ich anzuzweifeln«, erwiderte Wallis. »Der GSO-Chef läßt sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. Bestimmt traut er mir nicht über den Weg.« »Solange er nichts Genaues über Ihre Pläne weiß, kann er auch nichts dagegen unternehmen. Ich betrachte meinen Job jedenfalls als erledigt. Hoffentlich verschont mich van Haag mit weiteren Besuchen. Sein schriftstellerisches Gehabe war unerträglich. Er hat seine Rolle als Arthur Conan genutzt, um mir eine
dicke Unwahrheit nach der nächsten aufzutischen. Angeblich hat er schon als Zwölfjähriger zahllose literarische Auszeichnungen verliehen bekommen. Einige seiner Werke hätten längst die Millionenauflage überschritten, sagte er.« Als sich Liao kurz darauf im Schlafzimmer umzog, gingen ihre Gedanken zurück an die vergangene zügellose Nacht. Dieser Teil des Jobs hatte ihr ungeheuer gefallen, und es gab keinen Grund, sich dafür zu schämen. Schließlich war sie ein lebendes Wesen aus Heisch und Blut, und als ein solches hatte sie ein Recht darauf, sich ab und zu mal gehenzulassen. Ihr Blick fiel auf den Zettel mit van Haags Vipho Verbindung. Sie nahm das Stück Papier zwischen Daumen und Zeigefinger, zerrollte es zu einem winzigen Kügelchen und schnippte es geschickt aus dem geöffneten Fenster.
Terence Wallis fackelte nicht lange. Zeit war für ihn Geld, und Geld konnte man seiner Meinung nach nie genug haben. »Die Verlegung des Werkes Pittsburgh nach Eden findet am Abend des 30. November 2059 statt«, teilte er George Lautrec, den er direkt nach seinem Gespräch mit Liao Morei zu sich ins Büro bestellt hatte, ohne Wenn und Aber mit. »Informieren Sie bitte die anderen über diesen Termin, an dem es nichts mehr zu rütteln gibt.« »In einem halben Jahr?« staunte der Kanadier. »Das wird verdammt knapp. Wieso eigentlich ausgerechnet abends? Wollen Sie 99 sich im Dunkeln still und leise aus dem Staub machen?« »Von Stille dürfte kaum die Rede sein, wenn sich das riesige Gelände aus dem Erdreich erhebt und ins Weltall entschwebt«, erwiderte Wallis. »Ich möchte mit meiner spektakulären Aktion nicht das Wahlergebnis beeinflussen, deshalb brechen wir erst nach Schließung des letzten Wahllokals auf. Länger warte ich nicht. Der Staat Eden soll noch in diesem Jahr gegründet werden.« »Verdammt knapp«, wiederholte Lautrec. »Trotzdem könnte es zu schaffen sein.« »Könnte? Dieses Wort habe ich aus meinem Sprachschatz gestrichen. Es ist zu schaffen, verstanden? Was auch immer Sie dafür brauchen, George, Sie kriegen es! Finanzielle Mittel stehen Ihnen unbegrenzt zur Verfügung.« »In erster Linie benötige ich Roboter, Roboter und nochmals Roboter. Kegel, Blechmänner... auch Arbeitsmaschinen mit eingeschränkten Funktionen, wenn ich das Werksgelände bis Ende November in ein monströses Riesenraumschiff verwandeln soll.« Der vermögende Unternehmer stellte ihm sämtliche benötigten Vollmachten aus, damit Lautrec selbständig agieren konnte, ohne ihn wegen jeder Kleinigkeit um Erlaubnis fragen zu müssen. Als George wenig später das schlichte Verwaltungsgebäude verließ, hatte er so viele Ermächtigungsschreiben bei sich, daß er sich vorkam wie der oberste Chef von Wallis Industries höchstpersönlich.
6. Den Terra-Press-Sensationsreporter Bert Stranger - neunund-zwanzigjährig, rothaarig, kugelrund und gesund - packte allmählich die Wut. Noch riß er sich zusammen, doch es kochte immer mehr in ihm hoch. Ein etwa fünfzigjähriger, schlanker Mann, der einen Hochenergieschocker in der Hand hielt, kam mit ausdrucksloser Miene auf ihn zu. Der Unbekannte hatte soeben Strangers Wachroboter Clint außer Gefecht gesetzt, indem er mit dem Schocker eine hochsensible Stelle des Kegelroboters berührt hatte. Nun sollte Bert an die Reihe kommen. Der Journalist wußte, daß eine einzige Berührung mit jener gefährlichen Nahkampfwaffe genügte, um einen Menschen zu töten. Trotzdem ergriff er nicht die Flucht, sondern blieb auf seinem Platz in der Magnetbahn nach Lyon sitzen. Mit ruhiger Hand nahm er seinen Kopfhörer ab und klinkte ihn in die Halterung ein, die sich an der Sitzlehne vor ihm befand. Der Fremde trug ebenfalls etwas auf dem Kopf: einen brillenähnlichen Bügel ohne Gläser, das Sensorium. Mit Sensorien konnte man Bild- und Tonaufzeichnungen vornehmen und über einen kleinen, auswechselbaren Speicherchip im Bügel wieder abspielen. Im Gegensatz zu den handelsüblichen Holowiedergaben drangen die Bilder und Laute direkt ins Gehirn vor, was dem Betrachter das Gefühl vermittelte, sich als heimlicher Beobachter mitten im Geschehen zu befinden. Wer keine eigenen Aufzeichnungen erstellen wollte, konnte fertige Filmchips kaufen und sich daran ergötzen - keine billige
101 Angelegenheit; auch das Sensorium selbst kostete ein kleines Vermögen. Trotz der hohen Kosten erfreute sich das Gerät wachsender Beliebtheit in der Bevölkerung. Auch die Medien hatten bereits damit begonnen, ihre bisherige Sendetechnik nach und nach auf Sensoriumstechnik umzustellen -allen voran der Intermedia-Konzem unter Leitung von Joseph Randolph Gordon Skittleman. Strangers Arbeitgeber Terra-Press war ebenfalls mit dabei, allerdings zögerte Konzemboß Sam Patterson das Ganze noch etwas hinaus. Er wollte erst das Endergebnis von Berts Ermittlungen in Sachen »Sensorium Inc.« abwarten. Jene Ermittlungen, mit denen die Misere des Sensationsreporters begonnen hatte... Auf der Suche nach den anonymen Kapitalgebem von Sensorium Incorporated hatte Bert herausbekommen, daß noch eine zweite Sorte Chips existierte. Diese Intensivchips drangen wesentlich tiefer ins Innerste der Sensoriumsnutzer ein und suggerierten ihnen, leibhaftig am Filmgeschehen teilzunehmen - nicht als neutrale Zuschauer, sondern als aktive Darsteller. Und weil der Mensch nun mal vom Tier absTarnmte, weckten die Chips durch gezielte Sinnesreize seine primitivsten Urinstinkte, insbesondere im sexuellen Bereich. Die Betrachter verfielen dabei in regelrechte Rauschzustände. Die konnten sie auch erlangen, indem sie mittels eines Sen-soriums den Drogenrausch eines anderen nacherlebten. Auf diese Weise konnte jede illegale Droge konsumiert werden, ohne daß ihre Spuren bei den heutzutage üblichen Tests im Blut nachweisbar gewesen wären. Erst wenn es zu spät für eine Umkehr war, wurde den Betroffenen bewußt, daß sie süchtig nach den Intensivchips waren. Ausgelöst wurde die Sucht durch chemische Stoffe, die während der Verwendung des Sensoriums im Gehirn produziert wurden. Ein Sensoriumssüchtiger tat alles für den nächsten Chip, wirklich alles... Stranger war zum ersten Mal in einem kleinen Landgasthof im
102 Bourbonnais mit den Suchtchips konfrontiert worden. Zwei Kerle hatte ihn überfallen und ihn zum Abspielen eines Chips gezwungen. Danach war alles Schlag auf Schlag gegangen: Erbarmungswürdiger Verfall in die Sucht, Erpressung durch unbekannte Anhänger der Fortschrittspartei, Entlassung bei Terra-Press, Entzug auf des Messers Schneide, Wiedereinstellung nach Genesung. Überfall auf dem Alamo-Gordo-Jettport mit zwei Toten, süchtige Stewardeß in der Linienmaschine nach Lyon, durchgebrannte Suprasensoren während riskanter Chiptests bei Biotech-noiogique. Gemeinsam mit Veronique de Brun auf Ermittlungstour in den Hafenkneipen von Marseiile, nächtliche Verfolgungsjagd am Kai, ein ermordeter Chipdealer, zwei tote Verfolger, ein explodierter Roboter. Pakt zwischen Bert Stranger und seinem Erzfeind Osman Mülyz, blutige Dealer-Revierkämpfe mit zahlreichen Opfern im Hafen. Sturz aus dem Bürofenster einer Fluggesellschaft, Lebensrettung in letzter Sekunde durch Clint, Flugsicherheitschef zerschmettert auf dem Asphalt, Beinahe-Festnahme durch die GSO. Zusammenarbeit mit Eylers bei der Durchsuchung der Geschäftsräume und Chipfabriken von Sensorium Incorporated in Big Bear City und Addis Abeba, harte Kämpfe mit Telrobotem, zwei tote Agenten, gefangener Tel gesteht Verwicklungen der Rebellenorganisation auf Cromar mit Sensorium Inc., Erstürmung eines bizarren Filmstudios in Beverly Hills durch die GSO. Das gab Stoff für viele Stunden Holoprogramm, ganze Artikelserien und zwei oder drei Bücher. All die abenteuerlichen Ereignisse am Rande zwischen Leben und Tod hatten Bert Stranger jedoch mehr mitgenommen, als er sich eingestehen wollte. Angst und Schrecken steckten ihm tief in den Knochen, und es würde lange Zeit dauern, bis er jedes einzelne Erlebnis seelisch verarbeitet hatte. GSO-Leiter Bernd Eylers hatte ihm versichert, alles Nötige in die Wege zu leiten, um die Sensoriumstechnik auf Terra ganz und gar zu verbieten. Bert war heilfroh, daß dieser Spuk nun bald ein Ende finden würde... Und jetzt stand da dieser ungepflegte Typ vor ihm, das Sensorium auf dem Kopf, den Hochenergieschocker in der Hand.
103 Allein der hohle Gesichtsausdruck des Fremden reizte den Reporter bis aufs Blut, vermutlich, weil ihn diese tumbe Fratze an seine eigenen Suchtleiden erinnerte, die glücklicherweise hinter ihm lagen. Bert hatte die Schnauze voll vom Sensorium, von den Chipherstellern, von den Benutzem des Gerätes von allem, was damit zusammenhing! Dieses suchtkranke, völlig verblödete Individuum sollte ihn gefälligst in Frieden lassen! Warum ging der Kerl nicht einfach weg und setzte sich wieder hin? Der Mann tat ihm den Gefallen nicht. Er beugte sich zu Bert herab, um ihm den Schocker gegen die Brust zu drücken, genau dorthin, wo sich das Herz befand.
In dieser Sekunde explodierte Stranger förmlich. Blitzschnell wich er dem Schockerangriff aus, sprang auf und schlug mit solcher Wucht zu, daß es seinem Gegner den Kopf von den Schultern hätte reißen müssen. Allerdings traf Bert nur das Sensorium. Es wurde dem Fremden regelrecht »aus dem Gehirn gerissen«, flog ein Stück durch die Luft und landete auf dem leeren Nachbarsitz. Kaum hatte der Träger keine Verbindung mehr zu dem Gerät, knickte er in den Knien ein und sank bewußtlos zu Boden. Der Schocker glitt ihm aus der Hand. Bert hatte seinen Wutanfall noch nicht unter Kontrolle. Er machte Anstalten, dem Bewußtlosen in die Rippen zu treten und ihn mit den Fäusten zu traktieren. Anschließend, so nahm er sich vor, würde er das Sensorium in sämtliche Einzelteile zerschlagen und aus der fahrenden Bahn schmeißen... ... und diesen Vollidioten gleich hinterher! Gott sei Dank wurde auch in Joumalistenkreisen nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wurde. Stranger atmete ein paarmal tief durch und bekam sich wieder in den Griff. Für wenige Sekunden hatte er sein Umfeld wie durch einen roten Nebel gesehen, nun verzogen sich die Schleier allmählich. »Stellt der Mann eine bleibende Gefahr für Sie dar?« schnarrte eine Metallstimme. »Soll ich ihn dauerhaft ausschalten?« Bert erkannte die Stimme sofort. Zweifelsohne hatte Wachrobo 104 ter Clint seine Systeme nach der Attacke sofort wieder hochgefahren und war jetzt wieder voll einsatzbereit. »Ich dachte, du wärst hinüber«, sagte Bert zu seinem Beschützer. »Ich wurde bei meiner Herstellung mit einer Uberlastsicherung ausgestattet«, erklärte ihm der Metallkegel. »Sie hat verhindert, daß ich beschädigt wurde oder Daten verlorengingen. Soll ich Ihren Angreifer eliminieren?« »Nein, das sollst du nicht. Heb ihn auf meinen Sitz, damit ich seine Kleidung durchsuchen kann.« Clint kam dem Befehl nach. Bert fand in den Taschen des Bewußtlosen lediglich ein Päckchen Wegwerftücher und eine Ausweiskarte. Den Namen seines Angreifers kannte er nicht. Es schien sich um einen ganz normalen Bürger unter Bürgern zu handeln. »Warum soll ich ihn am Leben lassen?« erkundigte sich der Roboter. »Für wenige Sekunden hatte ich den Eindruck, Sie wollten ihn totschlagen.« »Gut beobachtet«, entgegnete Stranger. »Es gibt für uns Menschen gewisse Augenblicke, in denen einem alles egal ist. Solch einen Moment habe ich gerade durchlebt. Kein Wunder, nach allem, was ich in letzter Zeit auszustehen hatte. Aber jetzt fühle ich mich wieder etwas besser und... wieso erzähle ich dir das eigentlich? Du lebloser Metallbehälter kapierst doch sowieso nicht, wovon ich rede.« »Korrekt, aber ich versuche es. Je besser ich Ihre Verhaltensweisen begreife, um so intensiver kann ich meinen Personenschutz gestalten.« Zu seinem Erstaunen stellte Bert fest, daß niemand in der Bahn von dem fast tödlich verlaufenen Zwischenfall etwas mitbekommen hatte. Die Fahrgäste unterhielten sich, verschickten Grüße übers Vi-pho, lasen Zeitschriften oder hörten Musik aus den Kopfhörern, ^vie er es selbst gerade noch getan hatte. Er wies Clint an, den weiterhin bewußtlosen Fremden zurück auf seinen Platz zu bringen und dort auf ihn aufzupassen. Anschließend rief er mittels Vipho Veronique de Brun an, die
105 sich auf dem Firmengelände von Biotechnologique in Le Puy aufhielt. Die einunddreißigjährige, gutgewachsene Standortleiterin galt allgemein als spröde und scharfzüngig. Letzteres konnte Bert nur bestätigen. Aber spröde? Da hatte er andere Erfahrungen mit ihr gemacht. Obwohl die beiden von ihren Charakteren und vom Aussehen her wie Feuer und Wasser waren, pflegten sie neuerdings ein leidenschaftliches Liebesverhältnis. Wie lange das gutgehen würde, danach fragten sie nicht. Sie nahmen ihr Glück, wie es kam und lebten es in vollen Zügen aus. Veronique freute sich über Berts Anruf. Sie konnte es kaum erwarten, daß er zu ihr kam. Im Kurzstil informierte er sie über den Vorfall in der Magnetbahn und beendete seinen Bericht mit den Worten: »Entweder hat der Bursche einen Chip abgespielt, der ihm nicht bekommen ist -oder jemand gab ihm den Befehl, mich zu töten.« »Du meinst, er wurde über das Sensorium ferngesteuert?« fragte de Brun ungläubig. »Ist nur so ein Verdacht. Schick bitte ein Sicherheitsteam nach Lyon, das mich, Clint und uilseren Gefangenen abholt. Auf eurer Krankenstation könnt ihr ihn dann näher untersuchen.«
Erst auf der Bahnstation kam der Bewußtlose langsam wieder zu sich. Die Sicherheitsleute verfrachteten
ihn in ihren Schweber und ließen dann Bert und seinen Wachroboter einsteigen. Erste Versuche, dem verhinderten Attentäter Fragen zu stellen, schlugen fehl; er reagierte auf nichts und niemanden und wirkte völlig apathisch. »Der arme Kerl scheint total geistesabwesend zu sein«, bemerkte einer der Sicherheitsleute und blickte Stranger vorwurfsvoll an. »Was haben Sie bloß mit ihm angestellt?« »Er wollte ihn totschlagen«, antwortete Clint an Berts Stelle -ohne sich dabei etwas zu denken, was er als Maschine nicht konnte. »Das wäre ihm auch fast gelungen«, erwiderte der Sicherheits
106 mann. »Ich bin zwar kein Arzt, doch ich vermute, daß das Opfer einen schweren Gehirnschaden erlitten hat.« Ich bin das Opfer, nicht er! lag es Stranger auf der Zunge - doch er verkniff sich jedwede Erwiderung.
Der sechsundvierzigjährige Joe Skittleman war Geschäftsführer des Medienkonglomerats Intermedia. Obwohl der dünne Mann mit den straßenköterblonden, dauergewellten Haaren in dem Unternehmen als wichtige Persönlichkeit galt, legte er immer eine leicht geduckte, unsicher-kuschende Körperhaltung an den Tag. Diese negative Gesamterscheinung versuchte er durch protzige Auftritte zu kaschieren. Nicht selten sah man ihn in Gegenwart von billigen Mädchen - mit richtigen Frauen konnte er nichts anfangen. Daß ihn seine Mitmenschen mitunter mild belächelten, machte ihm nichts aus, er hatte für andere ohnehin nichts als Verachtung übrig. Der achtunddreißigjährige Henner Trawisheim wurde von seinen engsten Vertrauten manchmal als »Cyborg auf geistiger Basis« bezeichnet, weil er über Weitblick, unbestechliches logisches Denken und ein nahezu fotografisches Gedächtnis verfügte. Für einen echten Cyborg fehlte ihm allerdings die Fähigkeit, zu phanten, um dadurch ins Zweite System zu gelangen. Trawisheim verfügte lediglich über ein Memory-Implantat, das ihm einen Intelligenzquotienten von 276 verlieh. Wenn zwei derart verschiedene Männer am Vipho lange miteinander sprachen, mußte schon etwas Wichtiges geschehen sein, zumal Trawisheim seit 2056 stellvertretender Regierungschef war und geistige Tiefflieger wie Skittleman normalerweise keine Chance hatten, zu ihm durchgestellt zu werden. Das Thema ihrer heftigen Vipho-Diskussion lautete »Schadensbegrenzung«. Skittleman hatte einen dreistelligen Millionenbetrag in die Sensoriumstechnik investiert - und dieses Geld verlangte er nun vom Staat zurück. »Wieso habe ich eigentlich erst bei der morgendlichen Redaktionskonferenz erfahren, daß die Sensoriumstechnik von der Regienung verboten wurde?« zeterte der Intermedia-Geschäftsführer.
107 »Sie wären verpflichtet gewesen, mir diese bedeutsame Entscheidung persönlich mitzuteilen, und zwar unverzüglich, ohne jede Verzögerung!« »Das nächste Mal schicke ich umgehend einen berittenen Boten zu Ihnen, wenn ich mitten in der Nacht einen Regierungsbeschluß gefaßt habe«, spöttelte Henner Trawisheim. »Denken Sie wirklich, ich hätte das Ganze absichtlich hinausgezögert? Zunächst einmal mußte ich den vollständigen Bericht der Galaktischen Sicherheitsorganisation abwarten und alles gründlich überprüfen. Glauben Sie mir, ich habe es mir nicht leichtgemacht, doch ich hatte keine andere Wahl. Die Bevölkerung muß vor den Suchtauswirkungen der illegalen Chips geschützt werden.« »Das mit den angeblich süchtig machenden Chips wird von der GSO doch nur hochgespielt. Das Volk ist mündig und kann selbst entscheiden, auf welche Weise es sich vergnügen möchte. Sie haben kein Recht, die Bürger des Staates Terra zu bevormunden.« »Ich rede von Schutz, nicht von Bevormundung. Die nach wie vor gültigen Notstandsgesetze berechtigen mich durchaus zu diesem Erlaß, weil durch die unkontrollierte Verbreitung der Suchtchips auch der Staat selbst gefährdet ist.« »Kein Mensch wird gezwungen, sich derartige Chips zu beschaffen, was, wenn ich Sie recht verstanden habe, ohnehin nur auf illegalem Weg möglich wäre. Der Großteil der Käufer bestückt das Sensorium mit normalen Chips, und wenn Intermedia erst einmal vollständig auf Sensoriumstechnik umgestellt...« »Weder Intermedia noch Terra-Press noch sonst wer wird diese Technik jemals wieder verwenden!« fuhr Trawisheim dem Verlagsleiter scharf ins Wort. »Andernfalls lasse ich Ihre Redaktionsräume durchsuchen und alles beschlagnahmen.« »Wieso behandeln Sie mich wie einen Verbrecher?« erwiderte Skittleman, und seine Stimme klang beinahe weinerlich. »Ich habe die Technik ganz legal eingeführt. Hätte der Staat rechtzeitig eingegriffen, wäre es erst gar nicht soweit gekommen.« »Das ist mir bewußt«, räumte Trawisheim ein. »Deshalb kann ich Ihnen hier und jetzt versichern, daß die Regierung für sämtliche schuldlos erlittenen Verluste geradestehen wird. Stellen Sie einen entsprechenden
Antrag, listen Sie alle bisherigen Investitio 108 nen auf, fügen Sie die nötigen Nachweise bei, und meine Mitarbeiter prüfen dann, ob und in welcher Höhe Intermedia Schadenersatzzahlungen zustehen.« »Wirklich?« staunte sein Gesprächspartner. »Und die Regierung hakt die Millionen einfach so ab?« »Natürlich nicht. Wir werden Mittel und Wege finden, uns an den Verursachen! schadlos zu halten.« »Und wer genau sind die Verursacher?« fragte Skittleman lauernd. »Gibt es bereits konkrete Hinweise?« »Ich gebe keine Auskünfte über laufende Ermittlungen«, ließ Trawisheim ihn abblitzen. »Nebenbei bemerkt: Vielleicht wissen Sie mehr darüber als ich.« »Wie bitte?« entrüstete sich Skittleman. »Wollen Sie etwa unseren seriösen Medienkonzem mit irgendwelchen unlauteren Machenschaften in Verbindung bringen? Das ist Verleumdung und wird Sie teuer zu stehen kommen, sollten Sie diese Äußerung in der Öffentlichkeit wiederholen! Apropos teuer. Außer den bereits entstandenen Unkosten klagen wir selbstverständlich noch unsere entgangenen Gewinne beim Staat ein. Unsere Anwälte werden...« »Vergessen Sie's!« unterbrach ihn der Regierungschef erneut. »Wenn Sie zu habgierig werden, bekommen Sie gar nichts, klar?« Skittleman knickte überraschend ein. »Schon gut, war ja nur ein Versuch.«
Auch bei Terra-Press schlug die Nachricht vom Verbot der Sensoriumstechnik ein wie eine Megabombe. Glücklicherweise hatte sich Sam Patterson nicht zu übereilten Handlungen hinreißen lassen. Somit konnte er die Vertragsabschlüsse für die Umstellung der Sendetechnik rechtzeitig stoppen - noch bevor er seinen Morgenkaffee ausgetrunken hatte. Allerdings zog Patterson in Erwägung, die zuletzt mit der GSO getroffenen Vereinbarungen zu brechen und Strangers Bericht über die illegalen Machenschaften mit dem Sensorium noch am selben Tag zu veröffentlichen. »Damit wieder Geld in die Kasse kommt«, merkte er an.
109 Maik Caroon, der Ressortleiter für Aktuelles, Sensationelles und Innenpolitik, setzte sich daraufhin mit Stranger in Verbindung. Bert zog sofort die Notbremse. Über eine Viphokonferenzschal-tung sprach er mit seinen beiden Chefs gleichzeitig und machte ihnen deutlich, daß er von der GSO nie wieder auch nur die kleinste Information bekommen würde, sollte Terra-Press wortbrüchig werden. »Halten Sie meinen Bericht unbedingt bis zum vereinbarten Zeitpunkt zurück, meine Herren, und Sie werden es nicht bereuen. Im übrigen ist die Reportage noch nicht vollständig. Ich hatte gestern eine unliebsame Begegnung mit einem Unbekannten, der ein Sensorium trug, durch das er möglicherweise femgesteuert wurde.« »Das ist ein ganz neuer Aspekt«, entgegnete Patterson nachdenklich. »Na schön, wir verhalten uns ruhig auch wenn mir das sehr schwerfällt. Einige Sendeanstalten von Intermedia berichten bereits über das Verbot der Sensoriumstechnik und die illegalen Chips.« »Na und?« meinte Stranger. »Die stochern doch nur im Dunkeln und können nur das bringen, was Trawisheim ihnen mitgeteilt hat. Die komplette Wahrheit mit sämtlichen Hintergrundinformationen präsentiert ausschließlich Terra-Press - morgen in den Abendnachrichten. Bis dahin hat Intermedia längst sein gesamtes Pulver verschossen.« »Ja, das gefällt mir!« ließ sich Caroon zu einer euphorischen Bemerkung hinreißen. »Während die Konkurrenz noch ein paar letzte müde Schüsse abgibt, die in der Luft verpuffen, wird sie von unserer schwerbewaffneten Nachrichtenarmee mit aller Macht überrollt! Skittleman wird nichts anderes übrig bleiben als zu kapitulieren.« »Der kapituliert nie«, widersprach Sam Patterson seinem Chefredakteur. »Wenn man ein Hausschwein wie Skittleman in die Enge treibt, wirft es mit Dreck um sich. Er wird mit einer wüsten Schmutzkampagne reagieren.« »Soll er doch«, erwiderte Stranger gelassen. »Niemand wird sich sein Geifern anhören - weil alle längst auf unsere Sender umgeschaltet haben.«
110 Bert Stranger hatte sich seine freien Stunden ganz anders vorgestellt. Bevor er in die Magnetbahn gestiegen war, hatte er von einer wilden Liebesnacht mit Veronique geträumt. Statt dessen war daraus eine Arbeitsnacht geworden, die er nicht allein mit ihr im Bett, sondern mit Biotechnologique-Wissenschaftlem im Firmenlabor verbracht hatte. Auch nachdem es draußen wieder hellgeworden war, war die Arbeit kontinuierlich weitergegangen. Den
»morgendlichen« Anruf seiner Redaktion hatte Bert am Nachmittag entgegengenommen - der globale Zeitunterschied betrug sieben Stunden. Medizinische Untersuchungen hatten inzwischen ergeben, daß der Fremde aus dem Zug lobotomisiert war. Ob sein Geisteszustand heilbar war, vermochten die Ärzte nicht zu sagen, weil... »... weil wir die genaue Ursache nicht kennen«, erklärte einer der Mediziner. »Möglicherweise steht der geistige Defekt des Patienten in direktem Zusammenhang mit dem Einsatz des Fernsteuersensoriums. Je länger er das Gerät trug, um so mehr verschlimmerte sich sein Zustand. Sein Gehim könnte aber auch schon im Vorfeld manipuliert worden sein, beispielsweise durch gezielte Bestrahlung. Das abrupte Herunterreißen des Gerätes gab dem armen Kerl schließlich den Rest.« Stranger schnaufte unwillig. Schon wieder fiel der Begriff »armer Kerl«, wodurch der Täter zum Opfer gemacht wurde. Nicht er hatte den Unbekannten angegriffen, sondern der Unbekannte ihn. Hätte er sich etwa nicht wehren sollen? Wenn mich noch mal jemand mit einem Sensorium auf dem Kopf wgreift, kriegt er einen kräftigen Tritt in die Eier! nahm sich der Reporter vor. Soll er mich doch verklagen, wenn er hinterher keine Kinder mehr zeugen kann! Nicht nur die ärztlichen Untersuchungen wurden in den darauffolgenden Stunden weitergeführt, auch die Techniker hatten jede Menge zu tun. Am Fernsteuersensorium bissen sie sich jedoch die Zähne aus. Über die genaue Funktionsweise konnten sie nur wenig herausfinden, und es ließ sich auch nicht feststellen, von wo aus
111 das Gerät gesteuert wurde. »Wieso befassen wir uns eigentlich mit diesem ganzen Mist?« sprach de Brun gegen Abend das aus, was Stranger und ihre total überarbeiteten Mitarbeiter dachten. »Schließlich geht es hier um die Aufklärung krimineller, staatsfeindlicher Machenschaften, dafür sind wir überhaupt nicht zuständig. Soll sich doch Eylers damit herumschlagen.« Von keiner Seite kam ein Widerspruch. Bert Stranger setzte sich über eine Direktverbindung mit dem GSO-Leiter in Verbindung. »Warum haben Sie mich nicht gleich informiert?« fragte Eylers, der gerade seine verspätete Mittagspause einlegte, ärgerlich. »Weil ich mir dachte, Sie haben mit der Durchsetzung des Sen-soriumverbots erst einmal genug am Hals«, blieb Bert ihm die Antwort nicht schuldig. »Veronique und ihre Leute wollten Sie daher ein wenig entlasten. Biotechnologique hat gute Vorarbeit geleistet, den Rest muß nun die GSO erledigen.« Eylers konnte man nicht so leicht täuschen. »Sie kommen nicht mehr weiter, stimmt's?« fragte er geradeheraus. »Stimmt«, gestand Stranger ein. »Wann können Sie hier sein?« Zwanzig Minuten später landete ein Transportgleiter der französischen GSO-Filiale auf dem Firmengelände von Biotechnologique. Ein Spezialistenteam stieg aus und stellte einen mobilen Transmitter auf. Bald darauf entstiegen der GSO-Chef und einige seiner Agenten dem Gerät. Sie kamen direkt aus Alamo Gordo und wurden von Bert, Clint und Veronique in Empfang genommen. Das Sicherheitsteam von Biotechnologique war ebenfalls anwesend, hielt sich aber zurück - schließlich wollte man keinen Krieg gegen die Galaktische Sicherheitsorganisation führen, die 2052 von Bernd Eylers zum Schutz der Menschheit ins Leben gerufen worden war. Der dreiunddreißigjährige Leiter der Organisation wirkte manchmal etwas unbeholfen - aber das war eine gefährliche Fehleinschätzung. Wenn seine Gegner merkten, was wirklich in ihm steckte, war es meist schon zu spät. Ohne viel Federlesens beschlagnahmte Eylers das Fernsteuer112 sensorium, um es in den GSO-Labors untersuchen zu lassen. Niemand hinderte ihn daran - im Gegenteil, die Beschlagnahme war ja gewollt. Als die GSO wieder abzog, nahm Eylers auch den lobotomisierten Attentäter mit. »Problem gelöst«, sagte de Brun erleichtert. »Höchste Zeit, daß wir beide ins Bett gehen.« »Darauf habe ich mich schon auf der Herfahrt gefreut«, bekannte Stranger. Beide übernachteten in Veroniques Zimmer auf dem Werksgelände. Erschöpft schliefen sie ein, kaum daß ihre Körper mit der Matratze in Berührung kamen.
Am nächsten Morgen mußte sich Bert Stranger sputen. In Alamo Gordo wartete man darauf, daß er endlich seinen Bericht abschloß und für die Abendnachrichten freigab. »Laß mich bloß da raus«, bat Veronique ihn. »Mir steckt noch der Schock von unserem nächtlichen Hafenabenteuer in den Gliedern. Zwar traue ich mich inzwischen wieder in mein Apartment zurück - ich
kann mich schließlich nicht ewig auf dem bewachten Firmengelände verstecken - aber die Öffentlichkeit braucht nicht zu erfahren, wie tief ich in der Sache mit drinstecke. Ein paar Hafendealer könnten sonst doch noch auf den Gedanken kommen, ihre getöteten Komplizen zu rächen. Oder man kidnappt mich und benutzt mich als Köder, um an dich heranzukommen. Was für ein scheußlicher Gedanke! Wie hältst du dieses gefährliche Leben überhaupt aus? Bist du dir darüber im klaren, daß Männer deines Schlages nur selten wegen Altersschwäche das Zeitliche segnen?« »Besser, der Tod ereilt mich mitten im Einsatz, kurz und präzise, als daß ich an tödlicher Langeweile erkranke und langsam dahinsieche«, meinte Stranger grinsend, wodurch er den Eindruck erweckte, das Leben sei für ihn ein einziger Spaß. »Keine Sorge, ich halte dich aus meiner Reportage gänzlich heraus, versprochen.« Er besiegelte sein Versprechen mit einem langen Kuß. Als Bert und Roboter Clint einige Zeit später im Linienjett sa113 ßen, fragte sich der Journalist, ob es vielleicht ein Abschied für immer war. Veronique und er waren so grundverschieden, daß ihre Beziehung auf Dauer unmöglich gutgehen konnte. Andererseits zogen sich Gegensätze ja bekanntlich an...
Bert Strangers Bericht über die »Affäre Sensorium« wurde weltweit ausgestrahlt und abgedruckt. Als Begleitmaterial wurden faszinierende Filme und Fotos hinzugefügt, die so manchem Betrachter die Haare zu Berge stehen ließen. Vor allem der Sturz aus dem mehrere hundert Meter hohen Stielbau der Fluggesellschaft sorgte bei vielen Lesern und Zuschauem für Aufregung. Tausende von Leserbriefen und Anrufen bei den Terra-Press-Sendem und -Redaktionen waren die (gewünschte) Folge. Natürlich brachte der geschäftstüchtige Sam Patterson das komplette Informationspaket nicht auf einen Schlag heraus. Vielmehr warf er seiner sensationshungrigen Konsumentenklientel täglich aufs neue frische Nahrung vor, Bröckchen für Bröckchen, um soviel wie möglich daran zu verdienen. Seine Taktik trug Früchte. Die Auflagen der Zeitungen und Zeitschriften schnellten raketenartig in die Höhe, ebenso die Einschaltquoten der hauseigenen Magazine. Intermedia hatte das Nachsehen. Für die wenig informativen, sich immer wiederholenden Berichte des Konkurrenzsenders interessierte sich bald kein Mensch mehr. Terras wißbegierige Bürger wollten keine Nachrichten aus zweiter, dritter Hand, sondern brisante Informationen von dem Mann, der überall live mit dabeigewesen war. Bert Stranger erlangte in diesen Tagen regelrechten Heldenstatus. Spätestens jetzt war er Terras bekanntester Reporter - die Meßlatte, die künftig bei allen anderen nach Erfolg strebenden Journalisten angelegt werden würde. Keiner konnte ihm mehr das Wasserreichen... ... und Skittleman stand es sowieso bis zum Hals. »Wofür bezahle ich Sie eigentlich, Sie Vollidiot?« brüllte er im Büro der Chefredaktion seinen Sicherheitsberater Beaver an. »Ihr
114 Auftrag war. Stranger für Intermedia beziehungsweise für die Fortschrittspartei zu gewinnen. Das haben Sie gründlich versiebt, Sie Versager! Der Kerl macht derzeit jede Menge Werbung für sich selbst und für seinen Brötchengeber Terra-Press. Hätten Sie die Sache mit dem Sensorium nicht verpatzt, hätten wir ihn jetzt im Sack, Sie Null! Lassen Sie sich gefälligst etwas Besseres einfallen, Beaver!« Null - Versager - Vollidiot. Wer aussah wie der im vorigen Jahrhundert erfolgreiche Filmschauspieler Lee van Cleef- groß, schlank, schmaler Schnurrbart, hinterlistige Gesichtszüge - und vom Charakter her ähnlich skrupellos-intelligentbrutal war, wie die von van Cleef verkörperten Leinwandschurken, brauchte sich derartige Anfeindungen normalerweise nicht gefallen zu lassen. Jeden anderen hätte der vierzigjährige Amateurboxer Beaver mit dem Spitznamen »Sabata« auf der Stelle zur Rechenschaft gezogen. Aber »jeder andere« bezahlte ihn nicht so gut wie der Geschäftsführer von Intermedia. Hinzu kam, daß Beaver erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden war und ihm niemand sonst hatte Arbeit geben wollen. Darum schluckte er die Beschimpfungen tapfer herunter. Beaver nahm kurz seinen schwarzen Hut ab, den er auch drinnen zu tragen pflegte, und tupfte sich ein paar Schweißperlen von der Stim. »Wir kriegen Stranger«, versprach er seinem Brötchengeber. »Fürs erste sollten wir eine Schmutzkampagne...« »Ich weiß selbst, was ich zu tun habe!« fuhr Skittleman ihm ins Wort. »Ich werde Terra-Press mit so viel Dreck bewerfen, daß sich Patterson und Konsorten vorkommen werden wie auf einer stinkenden Müllhalde!« »Das ist genau die falsche Taktik«, machte Beaver ihm klar. »Schüsse, die man auf unliebsame
Konkurrenten abgibt, gehen meist nach hinten los. Nicht auf Patterson und Stranger müssen sie zielen sondern auf die terranische Regierung. Nehmen Sie Dhark und Trawisheim unter Beschuß. Beide haben den Menschen schlimmen Schaden zugefügt.« »Tatsächlich?« horchte Skittleman auf. »Ja, Sie haben völlig
115 recht. Ich ahne, worauf Sie hinauswollen.« Beaver grinste und setzte den Hut wieder auf. »Na bitte, wußte ich doch, daß Ihnen meine Idee gefällt. Zu meinem weitläufigen Bekanntenkreis zählt übrigens ein gewisser Diplompsychologe, der mir noch einen Gefallen schuldet. Er tut alles für Geld und hat weder Berufsehre noch Gewissen - also genau der richtige Mann für unser Vorhaben.«
7. Schrill heulte der Alarm durchs Schiff: Kollisionswamung! Simon benötigte nur Sekundenbruchteile, um aus allen eintreffenden Informationen den richtigen Überblick zu gewinnen. Die NOREEN WELEAN war am Rand eines Doppelstemsystems aus dem Hyperraum gefallen, der nächste Planet, eine atmosphärelose Eiswelt, stand knapp zehn Millionen Kilometer querab. Aus dieser Richtung näherte sich eine Rotte von mindestens dreißig Ring-raumem. Mysterious? durchzuckte es den Terraner. Zusammentreffen in weniger als zwei Minuten. Einfallende Ortungsimpulse wurden angezeigt, die Besatzungen der fremden Flotte hatten die NOREEN WELEAN ebenfalls bemerkt. Die Schiffe fächerten auf, eindeutig eine Abfangbewegung, die aber nicht zwangsläufig auf kriegerische Absichten schließen ließ. Möglicherweise war die andere Seite nur übervorsichtig. Die NOREEN WELEAN würde jedenfalls nicht mehr vor dem Zusammentreffen ^ur nächsten Transition ansetzen können, ganz davon abgesehen, daß Simon eine übereilte Flucht denkbar ungeeignet erschien, um mehr über die Verhältnisse in Om herauszufinden. Auch eine Beschleunigung mit Sternensog und im Schutz des Intervallfelds hätte die Begegnung nur hinausgezögert. Die Anfangsgeschwindigkeit der fremden Ringraumer lag zu hoch. Simon behielt dennoch den Kurs bei. In der Situation abzudrehen hätte möglicherweise bedeutet, die Meute zum Angriff zu animieren. Sonderlich wohl war ihm ohnehin nicht beim Anblick der Übermacht. Unglaublich träge tropften die Sekunden dahin. Die Formation der Flotte zog sich weiter auseinander, als wollten die Schiffe die NOREEN WELEAN umschließen.
117 Nach wie vor kein Funkempfang. Erst dreißig Sekunden waren vergangen. Simon dachte nicht daran, die Kontrolle über das Schiff wieder der Gedankensteuerung zu übertragen. Aberwitzig schnell flimmerten die Ortungsdaten durch die holographische Wiedergabe; einem Menschen wäre es unmöglich gewesen, nur einen Bruchteil davon zu erkennen, geschweige denn zu verstehen. Der Roboter war jedem Lebewesen auch in dieser Hinsicht überlegen. Die Energieemission der Rotte stieg sprunghaft an, offensichtlich wurden die Waffensysteme hochgefahren. Die Bildkugel zeigte in einer Simulation, daß die Ringraumer in Kürze auf schließen würden. Ihre Formation mußte dann zwangsläufig zur Halbkugel werden, mit der NOREEN WELEAN im Zentrum. Die Bedrohung zu erkennen, bedurfte es keiner navigatorischen Erfahrung. Sobald die unbekannten Schiffe ihr Feuer konzentrierten, konnten sie sogar das Intervallfeld überwinden. Simon änderte den Kurs um wenige Bogengrade. Augenblicklich verschob sich die Simulation in der Bildkugel. Die Formation der anderen wurde in die Länge gezerrt und riß auf, und genau das war der Schwachpunkt, den Simon zu nutzen versuchte. Eine weitere leichte Kurskorrektur folgte. Das war der Moment, in dem der Funkempfang ansprach. Ein undefinierbares Zischen und Zirpen hallte durch die Zentrale, doch rasch wurden die Lautfolgen deutlicher. Eine harte Stimme schälte sich heraus. »Sofort stoppen!« Unbewegt beobachtete Simon die Farbschleier der Bildübertragung. Mehrmals glaubte er, in dem wirbelnden Durcheinander die verzerrten Konturen eines Lebewesens zu erkennen. Die Formation der 32 Ringraumer - die Zahl stand mittlerweile fest - riß auf. Simon beschleunigte weiter. Sie ließen ihm keine Zeit für eine Antwort, die Hyperfünkver-bindung brach in einem aufstiebenden Funkenregen zusammen. Gleichzeitig schlugen Dutzende Dust- und Nadelstrahlen in das Intervall der NOREEN WELEAN ein. Die Belastungsanzeigen schnellten in die Höhe. Distanz schrumpft weiterhin! meldete die Gedankensteuerung. Ein Pulk von zehn Schiffen sondert sich ab.
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Simon sah die Bewegung in der Bildkugel. Die Ringraumer strebten seitlich davon und fielen zurück. Unmittelbar eingreifen konnten sie auf diese Weise nicht mehr. Sofort sank die Belastung des Intervalls ab und pendelte sich bei nur noch 85 Prozent ein. Auf diese Weise konnte die Flotte die NOREEN WELEAN tagelang hetzen. Der Dauerbeschuß verhinderte eine Flucht in den Hyperraum. Das Abschalten des Intervallfelds, um eine Transition einleiten zu können, hätte den Anfang vom Ende bedeutet. Um die Gefährdung abzuwenden, ist ein gezielter Gegenschlag nötig. Simon reagierte nicht. Erst wollte er wissen, wer sich an Bord der anderen Schiffe befand. Im Zusammenhang mit den Myste-rious, das war ihm noch auf Terra erzählt worden, hatte es immer wieder Mißverständnisse gegeben. Vielleicht... Die zehn Ringraumer verschwanden innerhalb von Sekundenbruchteilen aus der Ortung... Sie sind in Transition gegangen/meldete die Gedankensteuerung. ... und materialisierten nahezu gleichzeitig im Kurs der NOREEN WELEAN.
Die Belastungsanzeigen schnellten wieder in die Höhe, erreichten neunzig Prozent und kletterten zitternd darüber hinaus. Vor allem überlichtschnelle Nadelstrahlsalven trafen die NOREEN WELEAN. 92 Prozent... Simon beobachtete die Anzeigen. Mit gut drei Viertel der Lichtgeschwindigkeit raste sein Schiff dem kleinen Pulk entgegen. Kollisionskurs! 95 Prozent Belastung des Intervalls. Ein dumpfes Rumoren hallte durch die Ringröhre, ausgehend von den auf Vollast laufenden Energieerzeugem. Lodernde Entladungen verschleierten die Wiedergabe in der Bildkugel. Das Bild erweckte den Eindruck, daß der Weltraum
119 rings um die NOREEN WELEAN aufbrach und extreme Protuberanzen ausspie. Achtung: kritische Phase! dröhnte die mentale Stimme der Gedankensteuerung. Das Schiff läuft Gefahr, vernichtet w werden. Umgehendes Handeln ist geboten! Weitere der verfolgenden Ringraumer gingen in Transition. Das war der Moment, in dem Simon endlich reagierte. Er konnte sich ausrechnen, daß die nächsten Schiffe im Kurs der NOREEN WELEAN materialisieren würden ~ ein Spießrutenlauf erwartete ihn. Die Distanz zu den zehn Räumern schrumpfte rasend schnell. 97 Prozent Belastung... 98... 99... Simon löste die eigenen Waffensysteme aus. Dust- und Nadelstrahl im Punktfeuer auf den gegnerischen Ringraumer links voraus. Die Sensoren zeigten, daß das Schiff nur im Energiesparbetrieb flog. Auf einer Fläche von wenigen Quadratmetern traf die Salve der NOREEN WELEAN. Ausgehend von diesem zentralen Punkt wurde das Ortungsbild unscharf, als hätte jemand einen Stein in ein ruhiges Gewässer geworfen. Ebenso konzentrisch floß die Energie auseinander. Zusammenbruch des gegnerischen Intervalls... ein Aufflammen im Zentrum der Einschläge; Energieeruptionen, optisch nicht sichtbar, doch von den Ortungen erfaßt... die Ringröhre brach auf. Weitere Eruptionen griffen gedankenschnell um sich, angeheizt von den explodierenden Speicherbänken und Energieerzeugem. Eine neue Sonne schien aufzuflammen, und die NOREEN WELEAN stieß mitten hinein in den tödlichen Glutball. Feuerschein tauchte die Zentrale in ein unheimliches Zwielicht. Dann war das Schiff hindurch. Keine Schäden. Simon registrierte aber sehr genau, daß das Intervall kurzzeitig dem Zusammenbruch nahe gewesen war. Sein Ringraumer war der Vernichtung nur um Haaresbreite entgangen.
Simon wollte nicht töten, doch die Angreifer ließen ihm keine Wahl. Sie reagierten nicht auf seine erneuten Versuche, Funkkon
120 takt aufzunehmen. Statt dessen materialisierten weitere Ringrau-mer im Kurs der NOREEN WELEAN und eröffneten augenblicklich das Wirkungsfeuer. Ein unglaublicher Vemichtungsdrang schien die Fremden zu treiben. Zugleich ignorierten sie jede Bemühung, dem ein Ende zu setzen. Sie jagten die NOREEN WELEAN wie eine Meute Hunde einen aufgescheuchten Hasen und ließen ihr keine Gelegenheit zur Flucht. Die Raumschlacht hatte sich in den Überlichtbereich verlagert. Unter diesen Umständen normal lichtschnelle Waffensysteme wie Duststrahl oder Strich-Punkt-Strahl einzusetzen, wurde zum schwer kalkulierbaren Risiko, das die Gefahr eines Energierückschlags heraufbeschwor. Die Angreifer verstanden
es perfekt, die NOREEN WELEAN am Abschalten des Intervalls zu hindern, versperrten ihr also weiterhin den Fluchtweg durch den Hyperraum, während sie selbst immer wieder Einheiten aus dem Gefecht abzogen und transitieren ließen. Noch 29 Einheiten jagten ein einzelnes Schiff. Simon hatte zwei weitere Abschüsse zu verzeichnen. Er fühlte kein Nachlassen seiner Konzentration, obwohl seit dem ersten Schlagabtausch mehr als vierzig Minuten vergangen waren. Das nahe Sonnensystem stand immer noch deutlich erkennbar in der Erfassung. Eine Rückrechnung des Kurses hatte ergeben, daß die Ringraumer aus diesem System gekommen waren; Simon fragte sich, ob es die Heimat der Fremden war. Die Angriffe wurden heftiger. Er konnte sich ihnen nicht entziehen. Simon ballte die Fäuste. Die Vorstellung, daß sich an Bord jedes Ringraumers Hunderte intelligenter Wesen befanden, deren Tod Frauen und Kinder ins Chaos stürzte, quälte ihn. Ein absonderlicher Gedanke: Vielleicht kannten die Angreifer Frauen und Kinder nicht. Vielleicht töteten sie um des Tötens Willen und waren wie eine Heuschreckenplage, die ganze Landstriche leerfraß ^d sich danach einer anderen fruchtbaren Region zuwandte. Zu-riick blieb verwüstetes Land. Ein grauer Strahl tastete nach der NOREEN WELEAN. Mix-4! Der Name war plötzlich da, obwohl Simon ihn nie zuvor gehört hatte. Offenbar gab das Programm des Wächterroboters die Infor-
121 mation preis. Simon registrierte die Verwunderung des Programms über das Vorhandensein dieser Waffe auf Seiten der Gegner. Der Kampfstrahl jagte der NOREEN WELEAN entgegen, und Simon reagierte instinktiv. Bremsmanöver. Das Schiff kippte über die Ostseite ab und wurde in einen aberwitzig engen Ausweichkurs gezwungen, der die Absorber bis zum Äußersten beanspruchte. Ein Knistern schien die Ringröhre zu durchlaufen. Unterlichtflug. Gegenkurs. Unvermittelt raste die NOREEN WELEAN dem Gros der Angreifer entgegen. Ein Schiff scherte aus dem Verband aus und folgte ihr auf genauem Kurs. Von neuem schrillte der Kollisionsalarm durch die Zentrale. Dem Zusammenprall zweier Ringraumer würde auch das Intervall kaum standhalten. Simon griff in die Steuerung ein, wollte die NOREEN WELEAN hochziehen... ... er tat es nicht. Vielmehr korrigierte er den Kurs nur um einen winzigen Bruchteil. Nein! brüllte er in Gedanken. Das nicht! Er hatte die Kontrolle über den Körper verloren - sie war ihm abgenommen worden. Ein eiskaltes, logisches Programm beherrschte jetzt den Wächterroboter. Simon schauderte. Er wollte sich abwenden, sich irgendwie zurückziehen, aber das war unmöglich. Die NOREEN WELEAN flog nun auf exaktem Kollisionskurs. Jeder Versuch des anderen Ringraumers, dem Zusammenstoß noch zu entgehen, wurde sofort kompensiert. Es gab kein Ausweichen mehr. Die Panik lahmte ihn. Er würde sterben. Dabei gab es so viel, was er noch hatte tun wollen - als Mensch, nicht als Wächter. Noch acht Sekunden... 250.000 Kilometer in jeder Sekunde. Simon interessierte das nicht mehr. Er spürte Trauer und eine unglaubliche Beklemmung und ließ sich treiben. Nur einmal noch die Sonne sehen, eine salzige Meeresbrise auf der Haut spüren ... Der Wächterkörper beherrschte ihn. Hilflos mußte Simon ertragen, daß der Roboter neue Schaltungen vornahm. Nun verschoß auch die NOREEN WELEAN Mix-4 - und zwar sowohl auf das
122 Schiff» dem sie entgegenraste, als auch auf den Verfolger. Riesengroß erschien in der Bildkugel der andere Ringraumer, dann... das Ausweichmanöver kam abrupt; nur um wenige hundert Meter verfehlten sich die beiden Intervalle. Eine solche Präzision konnten nur Maschinen erzielen, kein menschliches Gehim wäre dazu in der Lage gewesen. Bis Simon überhaupt begriff, zeigte die optische Erfassung schon die Vernichtung der anderen beiden Ringraumer. Das Verfolgerschiff hatte den jähen Wechsel nicht nachvollzogen und war mit dem wartenden Schiff kollidiert. Die beiden geschwächten Intervalle waren nicht in der Lage, die Ringraumer einander durchgleiten zu lassen. Die beiden Schiffe vergingen in einer Hölle aus Feuer und Zerstörung. Wenn die NOREEN WELEAN jetzt mit Höchstwerten beschleunigte, hatte sie eine Chance, sich den Angreifem zu entziehen. Hilflos mußte Simon mit ansehen, daß das Programm seines Wächterkörpers das Gegenteil tat. Dabei gewann er den Eindruck, daß die Gedankensteuerung des Schiffs einen nicht unerheblichen Anteil daran hatte. Die NOREEN WELEAN wurde vom Gejagten zum Jäger.
Neue Bildsequenzen. Sieh hin! wurde Simon aufgefordert. Deshalb müssen wir kämpfen!
Er schwieg. Aus Enttäuschung, aus Furcht - er wußte es selbst nicht. Die Bildkugel zeigte ihm eine Projektion des nahen Doppelsternsy stems. Vier Planeten. Drei und vier Eiswelten, Nummer eins merkurähnlich, von den Sonnen verbrannt, lebensfeindlich. Nur der zweite Planet, auf einer bizarren Umlaufbahn um beide Sonnen mit extremen Jahreszeiten geplagt, lag innerhalb der Ökosphäre. Das Bild vergrößerte sich, wurde mit Ortungsdaten vermischt. Verstreute Masseansammlungen auf instabilen Bahnen rings um diese Welt: Raumschiffswracks. Der Planet selbst von dichten schwarzen Wolkenbänken verhüllt, zwischen denen hin und wie-
123 der ein rotes Glühen sichtbar wurde. Auf dieser Welt tobten verheerende Feuerstürme. Unvermittelt Eruptionen, heftige Ausbrüche, die Magma bis hoch in die Atmosphäre katapultierten. Der Planet -wird auseinanderbrechen. Wahrscheinlich trug er eine Zivilisation, die zu schwach war, einem Angriff'zu widerstehen. Die Ringraumer? Simon kannte die Antwort, noch ehe er seine Frage stellte. Die ganze Palette menschlicher Empfindungen brach in ihm auf. Er wollte den Untergang eines Volkes nicht sehen, wollte keine Einzelheiten erfahren. Das Leben war zeitweise schrecklich. Nur das Warum? fraß sich in ihm fest. Es ließ ihn nicht mehr los. Diese Ringraumer gehören den Zyzzkt, vernahm er. Aufgefangene Funksprüche bestätigen das. Sie breiten sich aus, vermehren sich unkontrolliert. Neue Bilder. Sie entstanden in ihm und zeigten ihm insektoide Wesen. Markante Facettenaugen, kräftige Kieferzangen, ein natürlicher Körperharnisch aus Chitinplatten. Dabei wirkten sie nicht einmal besonders kräftig, wogen längst nicht so viel wie ein erwachsener Mensch. Wenig mehr als die Hälfte, schätzte Simon. Die NOREEN WELEAN feuerte wieder. Fünf Zyzzkt-Raumer wurden nacheinander zu expandierenden Glutwolken, dann fiel die Leistung des Intervalls sprunghaft ab. Die Zyzzkt setzten erneut Mix-4 ein. Nur der Tatsache, daß das Schiff im Vollbetriebsmodus lief, war es zu verdanken, daß der Schutz nicht völlig zusammenbrach. Endlos lange Minuten vergingen, bis das Intervall der NOREEN WELEAN regeneriert war. Während dieser Spanne setzte das Schiff alles ein, was es aufzubieten hatte, um die Zyzzkt auf Distanz zu halten. Nur noch 24 gegnerische Ringraumer. Zwei weitere Schiffe der Zyzzkt wurden durch Mix-4 der NOREEN WELEAN entscheidend geschwächt. Zurück blieben expandierende Glutwolken. Die Taktik der Zyzzkt verkehrte sich für sie selbst allmählich ins
124 Gegenteil. Ihre geringer werdende Zahl konnte den im Vollbe-triebsmodus laufenden Raumer nicht mehr aufhalten.
In düsterem Rosa flammte das Intervall des Zyzzkt-Raumers auf. Seine Gegenwehr war vor wenigen Augenblicken zusammengebrochen, die nächste Salve würde ihn vernichten. Simon wollte das nicht, er sträubte sich bereits gegen diese Jagd. Vor allem hatte er sich nicht von ARKAN-12 aus versetzen lassen, um einen Privatkrieg zu führen, sondern um mehr über die Verhältnisse in Om herauszufinden. Nie war davon die Rede gewesen, daß er diese Verhältnisse verändern sollte. Du bist ein Wächter! erinnerte ihn die Gedankenstimme. Du hast eine Aufgabe zu erfüllen. Meine Aufgabe ist ausschließlich, Informationen zu beschaffen, antwortete Simon bitter. Das Intervall des Zyzzkt-Raumers stand vor dem Zusammenbruch. Trotz seines Unmuts konnte Simon den Blick nicht abwenden. Um so überraschter war er, daß die expandierende Glutwolke ausblieb. Das gegnerische Schiff hat kurzfristig auf volle Leistung hochgefahren, meldete die Gedankensteuerung. Belastungsanzeige 400 Prozent. Von ähnlich extremen Werten hatte er schon vor geraumer Zeit gehört. Simon entsann sich. Im Zusammenhang mit der POINT OF war davon die Rede gewesen. Demnach hatte Ren Dhark sein Flaggschiff auch nur kurzfristig auf Höchstleistung gebracht. Ein interessanter Aspekt. Was die Zyzzkt anbelangte... Simon brachte den Gedanken nicht zu Ende, denn urplötzlich brach der Schutzschirm des Gegners doch zusammen. Offenbar waren die Meiler ertobit geworden und hatten die Energieabgabe eingestellt. Die Nadelstrahlgeschütze der NOREEN WELEAN ließen den In-sektoiden keine Chance - so wenig, wie sie den Bewohnern der auseinanderbrechenden Welt eine Gelegenheit zur Flucht gegeben hatten. Egal, was geschehen sein mochte, der sinnlose Tod von in-
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telligenten Wesen ließ sich damit nicht entschuldigen. Aufhören! schrien Simons Gedanken. Ich ertrage das nicht mehr. Stille umfing ihn. Für einen Augenblick wirkte sie bedrohlicher als der Tod. Simon wünschte sich, endlich aus diesem Alptraum aufzuwachen. Ich dulde dieses Morden nicht! fügte er hinzu und registrierte überrascht, daß die Waffen des Ringraumers schwiegen. Die NOREEN WELEAN setzte zur Transition an.
Daß der Zwischenfall seine Schuld war und er ihn aus Unachtsamkeit provoziert hatte, entnahm Simon der Aussage der Gedankensteuerung. Er hatte schlicht übersehen, den Tarnschutz aufzubauen. Unsere Tarnung ist denen der anderen Raumer überlegen. Weil die NOREEN WELEAN eines der letzten Ringschiffe ist, die von den freien Worgun gebaut wurden. Das klang, als wäre damit alles gesagt -- für Simon warf es nur neue Fragen auf. Dennoch schwieg er betreten. Sollte er aufgeben? Die Schiffsführung nur der Gedankensteuerung überlassen? Wieso hoffte er dann, eines nicht mehr fernen Tages ein terranisches Raumschiff zu fliegen, sobald er seinen eigenen Körper zurück hatte? Ohne Erfahrung konnte er sich das aus dem Kopf schlagen, dann würde er auch künftig nur das sein, was er immer gewesen war: ein Diener der anderen. Simon aktivierte die Tarnvorrichtung. Ein zweites Mal würde ihm der Fehler nicht unterlaufen. 250 Lichtjahre hatte das Schiff mit der ersten Transition überwunden. Ringsum blieb alles ruhig. Simon reagierte erleichtert. Die nächste Transition würde den Kursvektor geradlinig fortsetzen. Der große Arkan-Sender lag noch weit entfernt. Für den Flug kamen nur mehrere Etappen in Betracht, jeweils von längeren Orientierungsphasen unterbrochen. Simon wollte jede weitere unangenehme Überraschung vermeiden.
126 Zwanzig Minuten später verschwand die NOREEN WELEAN erneut im Hyperraum.
Eineinhalb Tage waren seit der Raumschlacht gegen die Zyzzkt vergangen. Insgesamt vierzehn Transitionen über unterschiedlich große Distanzen hinweg lagen hinter dem Schiff. Es hatte keinen weiteren Zwischenfall gegeben, obwohl zweimal unbekannte Raumer angemessen worden waren. Sie hatten Simons Schiff nicht bemerkt. Die Vorbereitung für den letzten Hypersprung war abgeschlossen. In wenigen Minuten würde der Wächter sein erstes Ziel erreichen. Er fragte sich, was er vorfinden würde. Der Angriff der Zyzzkt hatte ihn nachdenklich werden lassen. Der Ausfall des großen Arkan-Senders mochte weit weniger mit technischem Versagen oder Naturkatastrophen zu tun haben als mit kriegerischen Auseinandersetzungen. Möglicherweise existierte der Sender nicht mehr. Aber vielleicht sah Simon auch nur zu schwarz. Er leitete die letzte Etappe ein. Der Ringraumer verschwand aus dem normalen Raumzeitkontinuum, überwand im Hyperraum in Nullzeit die Distanz von knapp achthundert Lichtjahren und materialisierte in einer Region, in der die Sterne sehr dicht beieinanderstanden. Die Menge der Ortungsdaten wurde schon innerhalb der ersten Minuten Legion. Mit halber Lichtgeschwindigkeit näherte sich die NOREEN WELEAN den Endkoordinaten. Die Bildkugel zeigte eine Ballung von acht Sonnen. Zum Teil standen sie nur Lichttage weit auseinander. Ein kleiner Sternhaufen, in dem ungewöhnliche physikalische Bedingungen herrschen, dachte Simon. Zweifellos erschwerten Gravitationsfelder, Sonnenwind und Hyperstrahlung ein normales Manövrieren. Inwieweit Planeten dieser Sonnen eigenes Leben hervorgebracht hatten und vor allem, wie dieses Leben beschaffen sein mochte, fragte er sich nur beiläufig. Das herauszufinden war nicht seine Aufgabe.
127 Funkempfang? wollte er wissen. Alle Kanäle sind offen, aber wir registrieren nur ein starkes Hintergrundrauschen. Der Arkan-Sender... ? Kein Kontakt. Simon nickte grimmig. Er spielte mit dem Gedanken, die Zielkoordinaten anzufunken, verwarf das Vorhaben aber ebenso schnell wieder. Falls sich Gegner in dem Mysterious-Stützpunkt festgesetzt hatten, wären sie frühzeitig gewarnt worden. Die ersten Auswertungen... Simon registrierte überrascht, daß die Sonnen auseinanderstrebten. Fast
schien es, als hätte sich im Zentrum des Haufens vor langer Zeit eine Explosion ereignet, deren Druckwelle die Sterne vor sich her trieb. Ein absurder Gedanke, fand der Terraner. Selbst eine Hypernova hätte kaum solche Gewalt ausgeübt. Vor allem hätten die Überreste einer gigantischen Stemexplosion noch heute erkennbar sein müssen. Doch weder die Ortungen noch die optische Erfassung zeigten einen der farbigen Nebel, die den Sonnentod überdauerten. Ein mühsames und zeitraubendes Unterfangen wäre es gewesen, die Konstellationen zurückzuverfolgen und rechnerisch den Ursprung der Stemgruppe zu erfassen. Ob sich daraus dann auf die Ursache schließen ließ... Simon wußte es nicht. Er fragte auch nicht mehr, denn die Ortung lenkte ihn ab. Die holographische Wiedergabe veränderte sich von einer Sekunde zur anderen, als würden seine Überlegungen Wirklichkeit. Der Eindruck, daß die eben noch auseinanderstrebenden Sonnen wieder aufeinander zu stürzten, um sich im Zentrum ihrer Schwerkraft zu einem gewaltigen Himmelskörper zu vereinen, wurde übermächtig. Eine optische Täuschung, stellte Simon fest. Tatsächlich war die Mehrzahl der Sterne aus der Erfassung ausgeblendet worden. Geblieben waren wenige Lichtpunkte, die schnell auseinanderstrebten. Zwischen ihnen ein düsterer, verwaschen wirkender Fleck, noch an der Grenze des Erfassungsbereichs. Aus vielen winzigen Facetten setzte er sich zusammen: Einzelortungen, die fortlaufend modifiziert und verfeinert wurden - ein nicht allzu 128 großer Himmelskörper. Was ist das? Die Leiche eines Sterns, eine Dunkelsonne? Ein Planet, antwortete die Gedankensteuerung. Unser Ziel! Unzählige Fragen bedrängten ihn. Simon stellte nicht eine davon. Er fixierte die optische Wiedergabe. Während die NOREEN WELEAN im Schutz ihres Intervalls beschleunigte und schließlich mit mehrhundertfacher Überlichtgeschwindigkeit der einsamen Welt entgegenraste, starrte er stumm auf ihre Darstellung in der Bildkugel. Hatte sie einst zu einer der fliehenden Sonnen gehört? Dann war ihre Oberfläche warm gewesen und wohl auch von Tageszeiten geprägt. Jetzt herrschte auf ihr Dunkelheit, nur spärlich erhellt vom Sternenschein einer ewigen Nacht. In der Kälte des Weltraums hatte sich die Atmosphäre niedergeschlagen, ein Panzer aus Eis, unter dem vielleicht alles Leben begraben lag. Simon ballte die Fäuste. Er wartete, stumm und ohne zu wissen, worauf. Auf eine Reaktion, die erklärte, was geschehen war. Fliehende Sonnen - der Name gefiel ihm. Das Bremsmanöver begann, als die letzten Sterne am Ringrau-mer vorbeizogen. Das Schiff unterschritt die Lichtgeschwindigkeit. Düster hing der Planet in der Bildkugel, optisch ohne Hilfsmittel nur zu erkennen, weil er sich gegen das Band der fremden Galaxis abhob. Dark. Oder noch besser: Dark Mystery. So werde ich dich nennen. Flüchtig der Gedanke, daß diese Welt mit der eigentümlichen Drift der Sonnen zu tun haben mochte. Als einziger Himmelskörper unterlag sie kaum der Fluchtbewegung. Simon konzentrierte sich auf die Meßdaten. Keine Raumschiffe im weiten Umkreis. Energieortung negativ. Dark Mystery war so groß wie der heimische Mars. Ein wenig gedrungener allerdings und von Fliehkräften verformt. Die Polregionen zeigten sich stark abgeflacht, im Äquatorbereich ragten ausgedehnte Gebirgsmassive im Durchschnitt bis zu zwanzig Kilometer hoch auf. Eine schmutziggraue Oberfläche bestimmte das Bild. Bis auf die
129 Bergketten zeigte sich der Planet unnatürlich glatt, wirkliche Strukturen fanden sich erst in einigen hundert Metern Tiefe. Dort lagen die kontinentalen Umrisse. Wasser und Land schienen sich auf Dark Mystery einst die Waage gehalten zu haben. Die Reliefdarstellung zeigte zwei große Kontinente und eine Vielzahl von Inseln, die vor langer Zeit eine Brücke zwischen den Landmassen gebildet hatten. Den einstigen Meeresboden zu erfassen war nur teilweise möglich; einzelne Grabenbrüche verschwanden in großer Tiefe. Ruinen wurden erkennbar, als die NOREEN WELEAN in einen Orbit einschwenkte. Ausgedehnte, zerstörte Städte, im Eis eingeschlossen. Eine unwirtliche, beinahe bizarre Welt war es, die im dreidimensionalen Raster erschien. Aber nirgendwo gab es noch Anzeichen von Leben. Simon zögerte lange. Erst als er schon glaubte, ein Drängen der Gedankensteuerung wahrzunehmen, entschied er sich für eine geostationäre Position über dem Nordpol. Im Schutz der Tarnung und des Intervalls blieb der Ringraumer weitgehend unangreifbar. Ich fliege mit einem Flash nach unten, verkündete der Wächter.
8.
Das Telin-Imperium umfaßte rund 13 250 Planeten. Nicht alle waren bewohnbar, längst nicht jeder war kolonisiert. Kon Azir sTarnmte von einem der Kolonialplaneten. Richtig zu Hause gefühlt hatte er sich dort nie. Immer hatte er sich gewünscht, auf Cromar zu leben, dem Hauptsitz des Telin-Imperi-ums und Standort des allwissenden Kluis. Mittlerweile hatte sich sein Wunsch erfüllt. Mehr noch: Kon Azir gehörte der Raumflotte des Imperiums an. Zwar nur als einfacher Soldat (andere Männer mittleren Alters waren bereits höher aufgestiegen), aber das genügte ihm. Schließlich konnten nicht alle Bewohner des Planeten mit den drei Monden Wer, Vankko oder gar Vank werden; es mußte auch einfache Tel wie ihn geben, die in den unteren Rängen ihre Pflicht erfüllten. Für einen Tel war Azir verhältnismäßig klein und auch ein wenig zu übergewichtig. Die meisten Angehörigen seines Volkes legten großen Wert auf körperliche Ästhetik und hielten sich entsprechend in Form. Bei ihren regelmäßigen sportlichen Betätigungen kam ihnen zugute, daß sie über zwei Kreisläufe und zwei Herzen sowie über zwei Nervensysteme verfügten. Auch Kon betrieb hin und wieder Sport, allerdings durfte er ihn nicht zu sehr anstrengen. Es genügte ihm, sich fit für den Dienst zu halten. Der Vierhundertmeterraumer, auf dem er diente, wurde überwiegend zu Erkundungsflügen innerhalb der Imperiumsgrenzen eingesetzt. Gern wäre Kon Azir mal auf einem größeren Schiff mitgeflogen, doch bisher waren seine Versetzungsgesuche stets abschlägig beantwortet worden. Lediglich eine Antwort stand noch aus, doch er
131 machte sich nur wenig Hoffnung, seine militärische Laufbahn künftig auf einem der neuesten Achthundertmeterdoppelkugelrau-mer fortsetzen zu dürfen. Das Volk der Tel, das vor zirka 300 Jahren damit begonnen hatte, Teile des Erbes der Mysterious für sich zu erschließen, verfügte über eine beachtliche Raumflotte. Zwar hatte man in vergangenen Raumschlachten hohe Verluste hinnehmen müssen, doch mit jedem neuen Schiff, das die Werften verließ, wurden die Lücken in den Reihen kleiner. Der hochmoderne Kampfraumer DRAKHON war vor ein paar Tagen von seinem erfolgreichen ersten Testflug aus dem All zurückgekehrt. Nun wurden stapelweise Bewerbungen geprüft, um die künftige Mannschaft zusammenzustellen. Auch Kon Azir hatte sich beworben. Obwohl Geduld zu den Tugenden seines Volkes gehörte, konnte er die Antwort kaum erwarten. Man überreichte sie ihm eines Morgens beim Appell auf dem Raumflughafen - in Form eines geschlossenen Umschlags. »Na, die nächste Ablehnung?« feixte ein Kamerad, der neben ihm stand. Azir steckte den Umschlag weg. Er würde die Benachrichtigung später lesen. Der morgendliche Dienstantritt war kein guter Zeitpunkt für Enttäuschungen. »Diesmal werden wir sieben Tage im All bleiben«, teilte der Kommandant seiner Mannschaft mit. »Wir rücken nicht nur zu Erkundungszwecken aus, es steht auch eine Notfallübung auf dem Programm. Ich erwarte von jedem einzelnen, daß er sein Bestes gibt!« Er räusperte sich. »Einer von euch wird nicht mit uns fliegen. Er bleibt hier und setzt in Zukunft voraussichtlich keinen Fuß mehr in unser Schiff.« Ein Raunen ging durch die Reihen. Nur bei schweren Dienstvergehen war es üblich, Mannschaftsmitglieder von Flügen auszuschließen. Es gab nichts Entehrenderes für einen Raumsoldaten. Langsamen Schrittes kam der Kommandant auf Kon Azir zu. Kon wurde etwas blaß - was kaum auffiel, da die humanoiden Tel äußerlich schwarzhäutigen Nordeuropäem glichen. Deshalb hatten 132 die Menschen ihnen die Bezeichnung »Schwarze Weiße« gegeben, was in keiner Weise abwertend gemeint war. Der Kommandant blickte Azir fest in die Augen. »Wenn Sie das nächste Mal eine schriftliche Nachricht von unserer Militärverwaltung erhalten, Soldat, dann lesen Sie sie gefälligst sofort, verstanden? Ansonsten wünsche ich Ihnen viel Erfolg - als Maat auf dem neuen Raumkreuzer DRAKHON.«
Der Planet Cromar sah aus wie eine einzige Stadt. Hier lebten 48 Milliarden Tel auf sieben Kontinenten. Obwohl auf den Kolonialplaneten des Telin-Imperiums weitaus mehr Platz war, zog Cromar die Angehörigen dieses stolzen Volkes wie magisch an. Kon Azir betrachtete den Hauptsitz des Telin-Imperiums, der auch als Telin II bezeichnet wurde, längst als sein wirkliches Zuhause. An seinen Geburtsplaneten verschwendete er kaum noch einen Gedanken.
Dort vermißte ihn niemand, und er vermißte niemanden dort. Genaugenommen war die wahre Heimat eines Raumsoldaten das Schiff, auf dem er diente, schließlich verbrachte er den Großteil seines Lebens an Bord - zusammen mit seinen Vorgesetzten und Kameraden, die für ihn wie eine zweite Familie waren. Es war Azir nicht leichtgefallen, sich von seiner bisherigen »Familie« zu trennen. Aber die Aussicht, in Zukunft auf dem Achthundertmetergiganten DRAKHON mitfliegen zu dürfen, tröstete ihn über alles hinweg. Er empfand die Versetzung als große Ehre. Bislang hatte die DRAKHON lediglich einige Testflüge hinter sich gebracht. Ihr erster offizieller Start mit der auserwählten neuen Mannschaft stand noch bevor. Die Offiziere und Soldaten hatten das Schiff bereits besichtigen dürfen, aber bisher waren nur wenige von ihnen in ihren künftigen Aufgabenkreis eingewiesen worden. Auch Kon Azir hatte noch nicht die geringste Ahnung, in welchem Bereich man ihn einsetzen würde. Auf dem vorigen Schiff hatte er zum Maschinenraumpersonal gehört; zudem hatte er re133 gelmäßig an Kampf Übungen teilgenommen. Obwohl er alles andere als eine Sportskanone war, hatte er beim Manöver stets eine gute Figur gemacht. Seine sportlichen Mängel glich er durch besondere Raffinesse aus - Kon war klein, aber gemein. Außerdem verfügte er über gute technische Kenntnisse. Derzeit wurde die zukünftige Mannschaft der DRAKHON einem hartem Drill unterzogen. Den Soldaten wurde nichts geschenkt. Wer nicht durchhielt, konnte seinen Einsatz im All auf diesem Eliteschiff vergessen. Kon Azir biß die Zähne zusammen. Er war fest entschlossen, allen zu zeigen, was in ihm steckte. An Aufgabe dachte er nicht eine Nanosekunde. Die Schande, als Versager auf sein früheres Schiff zurückkehren zu müssen, hätte er nicht überlebt.
»Schau, da kommt unser Saubermann.« »Ich hätte ihn beinahe nicht erkannt.« »Das liegt daran, daß er eine Uniform trägt - und eine Waffe anstelle des Putzlappens.« Kon Azir entgingen die Spötteleien seiner Kameraden nicht, doch er tat so, als habe er nichts gehört. Es war jetzt nicht die Zeit für Streitigkeiten - kurz vor dem Morgenappell auf dem militärischen Raumflughafen von Cromar. Heute sollte es endlich soweit sein. Die DRAKHON würde zu ihrem ersten regulären Rüg ins All starten. Mit der STarnmannschaft, die in wochenlangen Vorbereitungen sorgsam ausgewählt und auf ihre diversen Aufgaben vorbereitet worden war. Mittlerweile hatten die Offiziere und Soldaten zahlreiche »Trok-kenübungen« hinter sich. Der Ernstfall war immer und immer wieder geprobt worden, damit jedes Mannschaftsmitglied wußte, wo beim Kampfeinsatz sein Platz war. Sobald der Alarm ertönte, mußte alles präzise und schnell funktionieren. Jeder Fehler konnte der letzte sein. Damit im Einsatz erst gar keine Fehler passierten, waren regel
134 mäßige Flottenübungen vorgesehen. Außerhalb der Manöver hatten die Soldaten andere Aufgaben auf dem Schiff zu bewältigen. Kon Azir hatte man den Auftrag erteilt, sich um Wartung und Sauberkeit in den Maschinenräumen und Filteranlagen zu kümmern. Da es sich dabei um die unangenehmste Arbeit an Bord handelte, hatte man ihm in Aussicht gestellt, nach einem Cromarjahr abgelöst zu werden, vorausgesetzt, es würde sich ein Freiwilliger fmden, der diese schmutzige, aber unbedingt notwendige Aufgabe übernahm. Als »Freiwilliger« kam auch jemand in Frage, der im Laufe des kommenden Jahres aufgrund von Unfähigkeit bei seinen Vorgesetzten in Ungnade fallen würde. Schon deshalb würde sich jeder Soldat mächtig anstrengen und im Manöver stets das Äußerste geben. Azirs Aussicht, die ungeliebte Arbeit irgendwann an einen Kameraden abzugeben, war somit äußerst gering. Glücklicherweise wurden einige Teilbereiche seiner Tätigkeit von Maschinen erledigt, so daß er nicht alles von Hand bewältigen mußte. Allerdings gehörte es wiederum zu seinem Job, sich um die Wartung jener Maschinen zu kümmern - und sie sauberzuhalten. Ein ewiger »Putzkreislauf«, der nie zu enden schien. Während des Morgenappells wurden die Soldaten zum wiederholten Male darauf hingewiesen, daß es
sich bei der DRAKHON um eines der modernsten Raumschiffe der Flotte handelte. »Das gesamte Telin-Imperium blickt auf uns. Wer auf der DRAKHON mitfliegen darf, gehört zur Elite von Cromar. Noch Fragen?« Kon Azir meldete sich zu Wort. Er wollte wissen, ob an Bord tatsächlich die neueste Tarntechnologie der Tel installiert war. Niemand wußte Näheres darüber, unter den Soldaten kursierten lediglich einige sich widersprechende Gerüchte - ausgelöst durch das strenge Verbot, bestimmte Bereiche des Raumschiffs zu betreten. Wer Gal Trenk, Kommandant der DRAKHON, sah Kon durch-
135 dringend an. »Alles zu seiner Zeit, Soldat. Dieses Schiff birgt viele Geheimnisse. Erst wenn wir bei den Sternen sind, wird das eine oder andere gelüftet. In diesem Zusammenhang weise ich nochmals auf die Geheimhaltungspflicht eines jeden einzelnen hin! Ich gelte allgemein als tolerant - aber bei Verrat kenne ich keine Gnade!« »Wieso interessiert es dich, wo sich die Tarnvorrichtung befindet?« flüsterte ein Soldat Azir zu. »Willst du sie putzen?« Ein unauffälliger, aber schmerzhafter Tritt auf den Fuß brachte ihn zum Schweigen. Kon Azir haßte es, wenn man sich über ihn lustigmachte. Der Start der DRAKHON verlief ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Cromars neuester Kampfraumer verschwand am Himmel und tauchte ein ins unendliche Weltall. Jeder an Bord war sich bewußt, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis der Alarm ertönen und damit überall hektische Aktivitäten auslösen würde. Bis es soweit war, beschäftigte sich jeder in seinem ihm zugeteilten Aufgabenbereich. Kon Azir wurde der Befehl erteilt. Wartungsarbeiten in der Filteranlage der Luftversorgung vorzunehmen. Dafür benötigte er einen Druckanzug, moderne Geräte und technisches Fachwissen, über das er aufgrund seiner Ausbildung verfügte. Nicht zuletzt deswegen hatte man ihn an Bord geholt. Zur Wartung gehörte auch die gründliche Reinigung bestimmter Bereiche innerhalb der Anlage. Zwar wurde diese Tätigkeit weitgehend mit Spezialgeräten erledigt, doch für den »letzten Schliff« gab es nichts Besseres als einen einfachen Putzlappen. Kon war fest überzeugt, mitten in der Arbeit vom Übungsalarm unterbrochen zu werden. Leider erfüllte sich diese Hoffnung nicht. Lange Zeit kam er nicht aus der Anlage heraus - bis er seine Arbeit komplett erledigt hatte. Als er schließlich den Filterbereich verließ und den Druckanzug öffnete, wurde ihm ein wenig schwindelig. Dieses Gefühl konnte er sich nicht näher erklären, denn normalerweise war er kerngesund. 136 Zu seiner Verwunderung war im Maschinenraum kein Tel mehr anwesend, auch kein Roboter. Die Aggregate waren hochgefahren, das Schiff befand sich demnach weiterhin auf dem Flug durchs AU. Aber wo war das Maschinenraumpersonal abgeblieben? Eine überraschende Sicherheitsübung? Hatte Kon den Alarm überhört? Nein, im Übungsfall hätte erst recht jemand hier unten sein müssen. Die Maschinen blieben nie unbeaufsichtigt. Kon Azir hatte ein merkwürdiges Gefühl. Etwas stimmte nicht auf dem Schiff, das spürte er mit allen Fasern seines Körpers. Was war geschehen? War er der letzte Tel an Bord der DRAKHON? Hatte man das Schiff aufgrund einer Gefahr evakuiert und ihn in der Filteranlage - vergessen?
»Das langt!« Henner Trawisheim verfügte über einen sehr, sehr langen Geduldsfaden. Den brauchte er auch, als zweiter Mann im Staate, der vom ersten Mann - dem Commander der Planeten - mit den Regierungsgeschäften zumeist allein gelassen wurde. Sein Geduldsfaden war dehnbar wie ein Bungee-Seil, doch selbst das konnte reißen, wenn es einen gewissen Punkt überschritten hatte. Trawisheim hatte zwar nicht wirklich daran geglaubt, daß Skittleman das Sensoriums verbot einfach so runterschlucken würde, trotz der Aussicht, seine Unkosten ersetzt zu bekommen, aber er hatte zumindest gehofft, daß sich der Geschäftsführer von Intermedia auf die üblichen Gehässigkeiten und Spitzfindigkeiten beschränken würde. Das war jedoch nicht der Fall. »Diesmal ist er zu weit gegangen!« schimpfte Henner an seinem Schreibtisch, als seine Sekretärin hereinkam und ihm einen starken Kaffee servierte. »Viel zu weit! Der soll mich kennenlernen!« »Soll ich den Kaffee wieder mitnehmen?« fragte die Sekretärin fürsorglich. »Das Koffein könnte Sie
noch mehr aufregen.« »Na und?« erwiderte ihr Chef. »Vielleicht will ich mich ja auf
138 regen! Muß man denn seinen Alltag immer ruhig und gelassen bewältigen? In manchen Streßsituationen ist es sogar gesund, mal richtig in die Luft zu gehen - da können Sie die Ärzte fragen!« »Aber so kenne ich Sie gar nicht.« »Ich bin halt ein vielseitiger Mensch«, entgegnete Trawisheim, senkte die Stimme und atmete langsam aus. »Seit Tagen überzieht Intermedia die Regierung mit einer niederträchtigen Schmutzkampagne«, sagte er, nachdem er einen Schluck Bohnenkaffee genommen hatte. »Haben Sie die vielen gemeinen Schlagzeilen über Ren Dhark und mich gelesen?« Er wühlte in einem ungeordneten Stapel Tageszeitungen, die er über seinen Schreibtisch verstreut hatte. Seit geraumer Weile gab es auf den Titelseiten nur ein Thema. Die Schlagzeilen sprachen für sich. Sensorium-Affäre: Regierung läßt gefährliche Technologie auf die Menschheit los! Trawisheims Unfähigkeit treibt terranische Firmen in den Ruin! Regierung schaut tatenlos w, wie unschuldige Menschen der Sensoriumssucht verfallen! Terra in der Hand von gewissenlosen Dealern — und Commander Dhark bereist das Weltall! »Wenn man das liest, könnte man meinen, Ren Dhark sei zu einer Urlaubsreise zu den Sternen aufgebrochen«, kommentierte Trawisheim die feigen Anschuldigungen. »Dabei hält der Commander mal wieder irgendwo in der Feme den Kopf für die gesamte Menschheit hin. Wen meinen diese Schmieranten eigentlich mit >terranische Firmen