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Das Buch Das rechte Wort zur rechten Zeit hätte Louise North das Leben gerettet. Aber ihre Nachbarin Susan ist zu reserviert dazu. Bis sie eines Tages doch das geheimnisvolle Nachbarhaus betreten muß. Von da an bereut sie bitter ihre Kühle. Zumal ihr Bob, Louises Ehemann, immer sympathischer wird. Aber ihre Liebe steht im Schatten eines Doppelmordes, und Susan verirrt sich hoffnungslos im Haus der tausend Lügen …
Die Autorin
Geboren am 17. 2. 1930 in London. Die unglückliche Ehe ihrer Eltern warf einen Schatten auf die Kindheit von Ruth Rendell, die immer den Verlust eines Elternteils befürchten mußte. Sie wurde Journalistin, jedoch eine »miserable an einer winzigen Wochenzeitung«, und konnte dem Vergleich mit ihrem Mann, einem Wirtschaftsjournalisten, nicht standhalten. Nach der Geburt ihres einzigen Sohns war sie zehn Jahre lang Hausfrau und unveröffentlichte Schriftstellerin, bis ein Verleger ihr den Tip gab, Krimis zu schreiben. Von ihrem ersten Erfolg kaufte sie sich einen ›Jaguar‹, dem sie ihren bislang einzigen Kontakt mit Gesetzeshütern verdankt, als sie wegen überhöhter Geschwindigkeit angehalten wurde.
Ullstein Buch Nr. 1669 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der englischen Originalausgabe: The Secret House of Death Übersetzt von Sigrid Kellner Erstmals in deutscher Sprache im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien © 1968 by Ruth Rendell Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3 548 01669 3
Ruth Rendell Haus der tausend Lügen Kriminalroman
ein Ullstein Buch
Für Dagmar Blass
1 Der Mann war untersetzt gebaut und fuhr einen großen Wagen, einen grünen Ford Zephyr. Es war dies bereits sein dritter Besuch in dem »Braeside« genannten Haus am Orchard Drive, Matchdown Park, und jedesmal stellte er das Fahrzeug auf dem Grünstreifen vor dem Bürgersteig ab. Er mochte Anfang Dreißig sein, sah ganz passabel aus und hatte eine Aktentasche bei sich. Er blieb nie lange, aber Louise North, die »Braeside« mit ihrem Mann Bob bewohnte, war stets sehr angetan, wenn er erschien, und ließ ihn mit einem Lächeln eintreten. Dies waren Tatsachen, die mittlerweile von sämtlichen Nachbarn zur Kenntnis genommen worden waren. Pollux, der Airedale, der den Winters gegenüber gehörte, hielt jedermann über die Besuche des kräftigen Mannes auf dem laufenden. Während er die Bewohner von Orchard Park schweigend passieren ließ, pflegte er alle Fremden wild zu verbellen. Auch jetzt legte er wutentbrannt los, als der Mann auf die Haustür der Norths zusteuerte, klopfte und gleich darauf eingelassen wurde. Nachdem Pollux seine Pflicht erfüllt hatte, widmete er sich wieder einem großen, sandverschmierten Knochen. Die Frauen, die sein Gebell an die Fenster gelockt hatte, zogen sich eine nach der anderen zurück, um das Gesehene zu verarbeiten. Als einzige war Susan Townsend an dieser Art von Ernte uninteressiert. Sie saß zwar jeden Nachmittag an ihrer Schreibmaschine vor dem Fenster und wunderte sich über die Besuche des Mannes, doch im Gegensatz zu den übrigen Anwohnern empfand sie keine lüsterne Neugier. Ihr eigener Mann hatte sie erst vor einem Jahr verlassen, und diese Besuche bei Louise North rührten schmerzliche Empfindungen auf, die sie bereits überwunden geglaubt 7
hatte. Mochten die Nachbarn sich den Kopf zerbrechen, warum der Mann kam, was Louise wollte, was Bob dachte, was dabei herauskommen würde. Sie hatte nicht die Absicht, sich da mit hineinziehen zu lassen. Vierzig Minuten später ging der Mann weg. Der Hund schlug erneut an, verstummte jedoch abrupt, weil seine Herrin mit zwei kleinen Jungen näherkam, die sie von der Schule abgeholt hatte. Der Airedale sprang am Drahtzaun hoch und begrüßte die Kinder schwanzwedelnd. »Tut mir leid, daß wir so spät kommen, Susan«, sagte Doris Winter, während sie sich die Handschuhe abstreifte und an den Heizkörper trat. »Aber dein Paul konnte seine Mütze nicht finden. Wir haben mindestens fünfzig Fächer durchwühlt.« »Roger Gibbs hatte sie auf den Schulhof geschmissen«, erklärte Susans Sohn diplomatisch. »Kann ich einen Keks haben?« »Nein, es gibt gleich Tee.« »Darf Richard hierbleiben?« Es ist unmöglich, eine derartige Frage abschlägig zu beantworten, wenn die Mutter des potentiellen Gastes direkt neben einem steht. »Natürlich«, erwiderte Susan. »Geh und wasch dich.« »Ich bin halb erstarrt«, sagte Doris. »Den Namen Winter trage ich weiß Gott zu Recht.« Es war März und verhältnismäßig mild, aber Doris fror ständig. Sie drückte sich eng gegen den Heizkörper. »Du ahnst nicht, wie ich dich um deine Zentralheizung beneide. Apropos Zentralheizung – hast du auch gesehen, was ich gesehen habe? Louises Freund war wieder da.« »Du weißt doch gar nicht, ob er ihr Freund ist, Doris.« »Sie behauptet, er wolle ihr eine Zentralheizung verkaufen – ich habe sie nämlich direkt gefragt –, aber als ich das 8
Bob gegenüber erwähnte, schien er nicht die geringste Ahnung zu haben. ›Wir lassen uns keine Zentralheizung legen‹, sagte er. ›Das kann ich mir nicht leisten.‹ Also bitte. Was hältst du davon?« »Das geht nur Bob und Louise an. Damit müssen sie selber fertig werden.« »Da gebe ich dir völlig recht. Ich bin bestimmt nicht an dem schmutzigen Privatleben anderer Leute interessiert. Ich frage mich nur, was sie ausgerechnet an diesem Kerl findet. Er sieht doch wirklich nicht besonders aus, wohingegen Bob geradezu hinreißend ist. Ich habe ihn immer für den attraktivsten Mann der ganzen Gegend gehalten, mit seinem unterkühlten, distanzierten Charme.« Susan mußte wider Willen lächeln. »Wollen wir nicht hineingehen?« Doris riß sich zögernd von der warmen Heizung los, um Susan ins Wohnzimmer zu folgen. »Aber stell dir einmal vor, du schenkst jemandem dein rückhaltloses Vertrauen und entdeckst plötzlich, daß er dich schon lange betrügt. Daß er einen Narren aus dir gemacht hat. Ach Gott, Susan, verzeih mir! Was habe ich da bloß gesagt … Selbstverständlich habe ich nicht dich gemeint … Ich sprach nur ganz allgemein …« »Ist schon gut«, unterbrach Susan. Sie war an Taktlosigkeiten gewöhnt und fand es eigentlich am schlimmsten, wenn die Leute, so wie jetzt Doris, noch ellenlang darauf herumritten. »Das heißt, natürlich hat Julian dich auch hintergangen, als er sich heimlich mit dieser, wie heißt sie doch gleich – Elizabeth traf, aber er hat es doch wenigstens nicht hier im Haus getan. Er hat sie wirklich niemals mit hierhergebracht«, bekräftigte sie. »Es wäre mir bestimmt nicht entgangen.« »Das glaube ich dir gern«, sagte Susan. 9
Die beiden kleinen Jungen kamen mit Miniatur-Autos beladen die Treppe herunter. Susan rückte den Kindern Stühle an den Tisch. »Nun hört euch doch bloß meinen Hund an«, sagte Doris eine Spur zu lebhaft. »Ein Wunder, daß sich die Nachbarn nicht beschweren.« Sie trat ans Fenster und drohte mit der Faust zu dem Airedale hinunter, der sich darauf nur noch toller gebärdete. »Es ist der neue Bäckerjunge, der ihn so auf die Palme bringt«, stellte Doris fest. »Bei uns und dir, bei den Gibbs und den Norths gibt er keinen Laut von sich. Was beweist, daß er im Grund nur Angst hat, aber nicht aggressiv ist. Egal, was manche Leute auch behaupten mögen.« Sie wandte sich an ihren Sohn: »Ich muß mich jetzt um Daddys Essen kümmern.« Susan setzte sich zu den Kindern an den Tisch und aß mit ihnen zusammen ein Butterbrot. Da bei den Townsends kein Daddy vorhanden war, für dessen Essen gesorgt werden mußte, wurde ausgiebig Tee getrunken. Nachdem Paul sich einen letzten Schokoladenkeks in den Mund gestopft hatte, legten sich beide Jungen auf die Erde und ließen den ganzen Fuhrpark unter realistisch klingenden Begleitgeräuschen über den Teppich rollen. Sie robbten bäuchlings auf Susans Schreibtisch zu, ein viktorianisches MahagoniUngetüm mit herrlich vielen Nischen und Fächern. Susan besaß genug Einfühlungsvermögen, um zu verstehen, welche Faszination dieses Möbel auf einen autobesessenen Fünfjährigen haben mußte, und bemühte sich zu übersehen, wenn Paul die Fächer als Garagen, ihre Papierkartons als Rampen und die Farbbanddose als Drehscheibe benutzte. Als sie gerade dabei war, sich eine zweite Tasse Tee einzuschenken, zuckte sie jedoch so heftig zusammen, daß sich der größte Teil des Tees in die Untertasse ergoß. Die Schachtel mit den Heftklammern war heruntergefallen und hatte ihren Inhalt im ganzen Zimmer verstreut. 10
»Nun reicht es aber«, sagte Susan entschieden. »Spielt beide bis zum Schlafengehen noch ein bißchen draußen.« Sie wusch das Teegeschirr ab und ging hinauf. Die Kinder hatten die Straße überquert und standen bei Pollux am Zaun. Susan öffnete das Fenster. »Ihr müßt auf dieser Seite bleiben«, rief sie. »Gleich kommen all die Autos nach Hause.« Obwohl Susan in letzter Zeit gar nicht mehr so oft an Julian hatte denken müssen, fiel ihr plötzlich ein, daß Julian immer der erste der heimkehrenden Ehemänner gewesen war. Er hatte Matchdown Park von Anfang an gehaßt – »dieser abscheuliche Schlafsaal«, war seine Bezeichnung gewesen. Jetzt bewohnte Julian ein Apartment in der New Bridge Street, zehn Minuten von seinem Büro entfernt. Hör auf damit, befahl Susan sich, hör auf. Sie begann, ihr helles, glänzendes Haar zu bürsten. Seit der Scheidung war es dünner geworden. Manchmal fragte sie sich, wozu sie sich darum überhaupt Gedanken machte. Es gab doch niemanden, der sie ansah, außer einem kleinen Jungen. Alte Bekannte ließen sich so gut wie überhaupt nicht mehr blicken. Ehepaare pflegen mit Ehepaaren zu verkehren, nicht mit einer geschiedenen Frau, die nicht einmal schuldig und somit der interessantere Teil ist. Vielleicht hatte Julian noch mit der Clique Kontakt, aber er war ja auch Julian Townsend, der Herausgeber von Certainty und eine gefragte Persönlichkeit. Als erster war inzwischen Martin Gibbs eingetroffen, mit einem Blumenstrauß für Betty in der Hand. Dieser Anblick zumindest erweckte keine schmerzlichen Erinnerungen. Susan hatte von Glück sagen können, wenn Julian wenigstens zu ihrem Geburtstag mit ein paar Blumen aufgetaucht war. Und dann kam, pünktlich wie immer, Bob North.
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Er war hochgewachsen, brünett und außerordentlich gutaussehend, aber kein mediterraner Typ, sondern ganz keltisch, mit klaren, offenen Gesichtszügen. Die Norths wohnten schon zwei Jahre in »Braeside«, aber Julian hatte seine Nachbarn verabscheut und alle miteinander spießig gefunden. Nur Doris war ausdauernd und dickfellig genug gewesen, die Townsends mit ihrer Freundschaft zu beglücken. Susan kannte Bob gerade gut genug, um das kleine Winken zu rechtfertigen, mit dem sie ihn vom Fenster aus begrüßte. Er winkte mit der gleichen liebenswürdigen Unverbindlichkeit zurück, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Sekundenlang blieb er auf dem Bürgersteig stehen und starrte auf die Furchen, die die Reifen des grünen Zephyr in dem Grünstreifen hinterlassen hatten. Seine Miene hatte sich leicht verdüstert, und als er hochschaute, trat Susan zurück, um seinem Blick auszuweichen. Gerade weil sie selbst betrogen worden war, wußte sie, wie schnell sich ein Gefühl der Solidarität mit Bob North entwickeln konnte. Doch sie wollte auf keinen Fall in die Probleme der Norths mit hineingezogen werden. Sie ging hinunter und rief Paul herein. Als er im Bett lag, las sie ihm das abendliche Kapitel von Beatrix Potter vor. Mit seinen ausdrucksvollen Gesichtszügen und dem blonden Haar war Paul ganz und gar der Sohn seiner Mutter, Julian so unähnlich wie nur möglich. »Ich habe deinen ganzen Schreibtisch aufgeräumt«, sagte er, ein Auge öffnend. »Wenn ich aufräume, darf ich doch meine Autos in den Fächern parken lassen, nicht wahr?« »Ich denke schon. Aber im Garten hast du ganz bestimmt nicht aufgeräumt.« Er simulierte sofort völlige Erschöpfung und zog sich die Decke über den Kopf. 12
»Na, eine Liebe ist die andere wert«, sagte Susan und ging hinaus in den Garten, um die verstreuten Autos einzusammeln. »Ich glaube, das gehört Ihrem Sohn«, hörte sie hinter der Hecke eine Stimme. Sie richtete sich auf und nahm aus Bob Norths Händen einen kleinen Abschlepper entgegen. »Vielen Dank«, sagte sie, »den hätte er morgen bestimmt schmerzlich vermißt.« »Dann ist es ja gut, daß ich ihn gefunden habe.« »Ja, wirklich.« Sie trat vom Zaun zurück. Dies war die längste Unterhaltung, die sie je mit Bob North geführt hatte, und sie konnte sich nicht des Gefühls erwehren, daß er ganz bewußt einen Vorwand gesucht hatte, um sie anzusprechen. Er starrte wieder auf den zerfahrenen Grünstreifen. Susan tastete nach einem Anhänger unter dem Fliederbusch. »Mrs. Townsend … Äh, Susan?« Sie seufzte innerlich. Es störte sie weniger, daß er sie beim Vornamen nannte, als vielmehr die Vorstellung, er könne damit eine gewisse Vertraulichkeit herstellen wollen. Ich bin genauso schlimm wie Julian, dachte sie. »Ja, bitte?« fragte sie zurück. »Ich überlege gerade …« Er hatte dunkelblaue, etwas graustichige Augen, die er jetzt abwandte, um Susans Blick zu vermeiden. »Sie sitzen, wenn Sie Maschineschreiben, am Fenster, nicht wahr?« »Ja, ich schreibe Roman-Manuskripte ab. Aber nur für eine bestimmte Autorin.« Natürlich hatte er nicht aus Interesse an ihrer Arbeit gefragt, aber ihr war jedes Mittel recht, um ihn abzulenken. »Ich würde niemals …« »Ich möchte Sie fragen«, unterbrach er sie, »ob Ihnen … Nun, ob heute …« Er sprach nicht weiter. »Nein, reden wir nicht davon.« »Ich sehe nicht oft aus dem Fenster«, log Susan. Sie war 13
ungeheuer verlegen. Etwa eine halbe Minute lang blieben sie schweigend, den Blick gesenkt, voreinander stehen. Susan spielte mit dem kleinen Wagen herum, den sie in der Hand hielt. Dann sagte Bob North plötzlich: »Sie sind zu beneiden, daß Sie Ihren Jungen haben. Wenn wir, meine Frau und ich …« Auch Kinder halten keine Ehe zusammen, hätte Susan am liebsten laut hinausgeschrien. »Ich muß jetzt hinein«, stammelte sie statt dessen. »Gute Nacht.« Sie lächelte ihm unbehaglich zu. »Gute Nacht, Bob.« »Gute Nacht, Susan.« Doris hatte also recht, dachte Susan. Louise hatte ein Verhältnis mit diesem Mann, und Bob begann, Lunte zu riechen. Er war genau an jenem Punkt, an dem sie sich vor achtzehn Monaten befunden hatte, als Julian, der sonst streng auf geregelte Bürozeiten achtete, damit anfing, Ausreden wegen seines langen Ausbleibens zu erfinden. Susan steckte sich eine Zigarette an, trat in die Diele und betrachtete sich im Spiegel. Sie war erst sechsundzwanzig Jahre alt, war dünner geworden, hatte aber noch immer eine gute Figur. Und sie wußte, daß sie hübsch war. Braune Augen und blonde Haare waren eine ungewöhnliche Kombination. Julian hatte immer gesagt, sie erinnere ihn an ein Mädchen auf einem Bild von Millais. Aber das hatte nichts geändert. Susan hatte ihr Bestes getan, um eine gute Ehefrau zu sein, aber auch das war vergeblich gewesen.
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2 Susan hatte gerade Paul und Richard am Schultor abgeliefert, als Bob North mit seinem Wagen an ihr vorüberfuhr. Es geschah dies fast jeden Morgen, heute fädelte er sich jedoch nicht in den Verkehrsstrom ein, sondern hielt einige Meter vor Susan am Bordstein, um ihr einladend zuzuwinken. Sie ging zu dem Auto, etwas befremdet von der plötzlich zur Schau gestellten Freundschaft. »Ich will zum Einkaufen nach Harrow«, sagte sie, völlig sicher, daß das bestimmt nicht an seiner Strecke lag. Doch er lächelte verbindlich. »Wunderbar. Ich muß auch nach Harrow. Der Wagen soll in die große Inspektion. Morgen muß ich mit dem Zug in die Stadt fahren. Hoffentlich wird das Wetter besser.« Susan stieg zu ihm ein. Obwohl sie sonst Verlegenheitsthemen haßte, war sie erleichtert, ebenfalls über das Wetter reden zu können. Ob er bedauerte, am Vorabend ein bißchen zuviel gesagt zu haben? Auf keinen Fall durfte sie Louise erwähnen. »Ich will für Paul ein Geschenk kaufen. So eine elektrische Autobahn. Er hat Donnerstag Geburtstag.« »Ach, Donnerstag?« sagte er zu ihrer Überraschung und warf ihr einen kurzen, undefinierbaren Blick zu. »Also Donnerstag«, wiederholte er, aber diesmal nicht mehr in fragendem Ton. Seine Hände packten das Lenkrad fester. »Er wird sechs.« Der Bus nach Harrow näherte sich einer Haltestelle, und Susan war drauf und dran zu sagen, daß sie hier gut in den Bus umsteigen könne, als er mit einer Abruptheit, die nicht zu seinen Worten paßte, fragte: »Sind Sie sehr einsam gewesen?« 15
»Nun, ich …« Ihre Wangen brannten, und sie starrte angestrengt die schwarzen Lederhandschuhe auf ihrem Schoß an. »Ich habe es jetzt überwunden«, sagte sie kurz. »Aber in der ersten Zeit danach«, insistierte er. Die erste Nacht war am schlimmsten gewesen. Nicht die erste Nacht, in der sie getrennt von Julian geschlafen hatte, sondern die Nacht, nachdem er endgültig fortgegangen war. Sie hatte stundenlang am Fenster gestanden und die Leute draußen beobachtet. Niemand, so hatte sie die Empfindung gehabt, war so allein gewesen wie sie. Sie würde ihm nichts davon sagen. »Natürlich habe ich mich sehr umstellen müssen«, erklärte sie. »Aber viele Frauen werden von ihren Männern verlassen. Ich bin da kein Einzelfall.« Offenkundig hatte er nicht die Absicht, sie zu bemitleiden. »Und Männer von ihren Frauen«, ergänzte er. Womit wir beim Thema wären, dachte Susan. Es konnten nur noch zehn Minuten bis Harrow sein. »Wir sitzen im selben Boot, Susan.« »Tatsächlich?« Sie hob nicht einmal die Augenbrauen, gab ihm keinerlei Stichwort. »Louise liebt einen anderen Mann.« Seine Worte klangen kalt, ruhig, sachlich. Als Susan jedoch nichts erwiderte, brach es plötzlich wild aus ihm heraus: »Sie sind wohl eine ganz Verschwiegene, Vorsichtige, wie? Louise sollte Ihnen dankbar sein. Vielleicht stehen Sie sogar auf ihrer Seite. Ja, so wird es wohl sein. Sie haben etwas gegen Männer, nach dem, was Ihnen widerfahren ist. Vermutlich würden Sie anders reagieren, wenn ich es wäre, der heimlich Freundinnen empfängt.« Obwohl ihr die Hände zitterten, sagte Susan ganz ruhig: »Es war sehr freundlich von Ihnen, mich mitzunehmen. Ich wußte nicht, daß ich Ihnen zum Dank dafür Bericht erstatten sollte, was Ihre Frau während Ihrer Abwesenheit treibt.« 16
Er hielt kurz den Atem an. »Vielleicht habe ich das wirklich erwartet.« »Ich bin weder an Ihrem noch an dem Privatleben Ihrer Frau interessiert. Und jetzt würde ich gern aussteigen, bitte.« Er stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus. »Sie sind ein nettes Mädchen, Susan. Warum habe ich nicht genug Verstand gehabt, jemanden wie Sie zu heiraten?« Er verlangsamte das Tempo, biß sich auf die Lippen. »Ich bin so verdammt unglücklich. Vermutlich ist er jetzt wieder bei ihr und hat den Wagen draußen abgestellt, so daß alle ihn sehen können. Ich kann es mir deutlich vorstellen. Dieser schreckliche Hund bellt, und alle stürzen an die Fenster. So ist es doch, nicht wahr?« »Schon möglich«, antwortete Susan. »Dort ist der Laden, in den ich will, Bob. Wenn Sie bitte anhalten würden …« »Da drüben ist auch meine Werkstatt.« Er stieg aus, um ihr höflich die Tür aufzuhalten. Julian hatte so etwas niemals getan. Bob sah bedeutend besser aus als Julian, offener, leicht zu durchschauen. Dennoch hatte er kein freundliches Gesicht, überlegte Susan. Sein Ausdruck ließ vielmehr auf starke Egozentrik schließen. »Das müßten wir viel öfter tun«, sagte er mit einem Anflug von Ironie. Susan konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß er nur eine Rolle spielte und es dabei bewußt darauf anlegte, den Bemitleidenswerten darzustellen. Er behauptete zwar, unglücklich zu sein, sah aber keineswegs unglücklich aus. Wo waren die abgehärmten Züge, die stille, deprimierte Zurückhaltung? Ihre Blicke trafen sich für Sekunden, und Susan hätte schwören können, daß er bewußt ihretwegen die Mundwinkel sinken ließ. Er hob die Hand zu einem kurzen Gruß, stieg in den Wagen und rollte davon. 17
Susan verließ den Bus und nahm die Abkürzung über den Friedhof, um nach Hause zu gelangen. Sie konnte schon von weitem die Rückfronten der Orchard-Drive-Häuser erkennen. Ihr eigenes Haus und das der Norths’ waren völlig gleich gebaut, und der Gedanke, daß den Bewohnern offenbar auch ein gleiches Schicksal bestimmt zu sein schien, erfüllte sie mit Resignation. Zwei Männer kamen den Weg von Louises Hintertür zurück. Sie hielten beide dampfende Teetassen in den Händen. Vermutlich gehörten sie zu dem Bautrupp, der schon seit Wochen direkt unter Susans Nase die Straße aufriß, um irgendwelche Leitungen zu verlegen. Ihr war noch niemals die Idee gekommen, diesen Leuten Tee anzubieten. Sie hatte die Arbeiter lediglich als ärgerliche Ursache dafür betrachtet, daß Paul ständig Lehm ins Haus schleppte und sie von dem ohrenbetäubenden Gedröhn der Preßluftbohrer gestört wurde. Susan trat durch das Friedhofstor und überquerte die Straße. Aus den Augenwinkeln konnte sie beobachten, wie der dritte Mann ebenfalls Louises Weg entlangmarschierte, um sich seinen Tee zu holen. Der Zaun zwischen den Hintertüren der beiden Häuser war etwa einen Meter achtzig hoch. Wenn Susan auch nichts sehen konnte, so hörte sie doch Louises Lachen und das scherzende Wortgeplänkel, das dem Lachen folgte. Susan durchquerte das Haus und trat durch die Vordertür, um die Milch hereinzuholen. Entgegen Bobs Voraussage stand kein grüner Zephyr auf dem Grünstreifen, dafür entdeckte sie jedoch am vorderen Gartenrand eines von Pauls Miniaturfahrzeugen, das die ganze Nacht draußen gelegen hatte. Als sie sich bückte, um das Spielzeug aufzuheben, erschien Doris in Betty Gibbs’ Haustür, gefolgt von Betty, die ihren Besuch noch bis zur Gartenpforte geleiten wollte. 18
»Es nimmt überhaupt kein Ende mehr«, hörte Susan Bettys Stimme. »Dauernd hin und her zur Tür. Warum können sich die Kerle denn ihren Tee nicht selber aufbrühen? Sie haben doch einen Ofen. Oh, hallo.« Susan war entdeckt worden. Sie trat zögernd näher. »Doris und ich haben gerade den Kantinenbetrieb beobachtet, den deine Nachbarin unterhält.« »Ihr Freund ist heute nicht gekommen«, erklärte Doris. »Das ist der Grund.« »Louise macht den Leuten doch schon seit Wochen Tee«, protestierte Susan. »Glaubt ihr etwa wirklich, daß sie sich für einen dieser Arbeiter interessiert?« »Na, du bist vielleicht naiv.« Aus dem Garten von »Braeside« klang das harte Klicken der hohen Metallabsätze herüber, die Louise zu tragen pflegte. Susan hatte »Braeside« den Rücken zugewandt, aber es war für sie komisch und abstoßend zugleich zu beobachten, wie sich die beiden anderen Frauen bei Louises Anblick in Positur stellten, bis schließlich Betty, die schwächere von beiden, ein knappes Lächeln und ein kaum wahrnehmbares Nicken zustande brachte. Susan kehrte demonstrativ in ihren eigenen Garten zurück und bedachte Louise mit einem strahlenden Lächeln sowie einem herzlichen, ganz untypischen: »Hallo, wie geht’s denn?« Ihre Nachbarin war ebenfalls in den Garten gekommen, um die Milch hereinzuholen. Sie hielt in jeder Hand eine Halbliterflasche. »Hallo«, sagte Louise mit ihrer Kleinmädchenstimme, die immer leicht greinend klang. »Bob hat mich heute früh nach Harrow mitgenommen.« »Ach ja?« Obwohl sie diese Mitteilung nicht sonderlich zu interessieren schien, kam Louise an den Zaun gestelzt, wobei ihre hohen Absätze in dem nassen Gras einsanken. 19
So wie die Wagenreifen ihres Liebhabers in den Grünstreifen eingesunken waren. Ohne die Absätze war Louise nicht einmal ein Meter fünfzig groß, ungefähr wie ein zwölfjähriges Mädchen. Wie die meisten kleinwüchsigen Frauen lief sie ständig auf Stelzen herum und trug die Haare hoch aufgetürmt. Unter der wuchtigen Frisur wirkte ihr Gesicht welk und eingeschrumpft. Allerdings war es heute vormittag besonders kalt, und wie üblich hatte Doris schon wieder begonnen, lauthals über die niedrige Temperatur zu schimpfen. »So ein Wetter habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Weiß der Himmel, warum wir nicht alles zusammenpakken und nach Australien auswandern.« »So kalt ist es nun aber auch wieder nicht«, flüsterte Louise, die sich über den Zaun gelehnt hatte und wehmütig Susan anstarrte. »Es gibt schlimmere Dinge als ein bißchen Kälte.« »Na, ich gehe jetzt jedenfalls hinein«, verkündete Susan entschlossen und drückte hinter sich die Haustür zu. Einen Moment lang hatte sie die unbehagliche Empfindung, daß Louise sich ihr ebenfalls anvertrauen wollte, nur war das unmöglich. Sie kannte diese Frau schließlich kaum. Susan setzte sich an die Schreibmaschine und bemühte sich, nur noch an ihre Arbeit zu denken. Um halb vier ging sie in die Küche. Die Preßluftbohrer hinter dem rückwärtigen Zaun dröhnten. Susan setzte den Kessel auf. Der Himmel war jetzt gletscherblau, und die Wolken sahen wie Eisschollen aus. Der Kessel begann zu summen, die Bohrer ratterten, und dann hörte Susan klar und deutlich durch die lauteren Geräusche hindurch ein zaghaftes Klopfen an der Haustür. Pollux hatte nicht gebellt. Es mußte also jemand aus der Nachbarschaft sein. Für Doris, die Paul brachte, war es aber noch zu früh. Außerdem kam Doris immer rufend durch die Hintertür. 20
Während Susan die Diele durchquerte, verstummten die Bohrer, das zaghafte Klopfen wiederholte sich. Sie öffnete die Tür, und als sie sah, wer draußen stand, spürte sie tatsächlich ihr Herz sinken: Louise North hatte sich ihren Mantel nur um die mageren Schultern gelegt. »Haben Sie fünf Minuten für mich übrig, Susan? Fünf Minuten, um mit Ihnen zu reden?« Sie hob den Kopf und blickte Susan ins Gesicht. Die blaßblauen Augen tränten vor Kälte. Oder weinte sie etwa? »Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen, wenn ich Sie Susan nenne? Sie müssen zu mir Louise sagen.« Zwei Tränen liefen ihr über das schmale Gesicht. Sie wischte sie fort und trippelte auf das Wohnzimmer zu. »Ich kenne den Weg«, murmelte sie. »Es ist hier genauso wie in meinem Haus.« Susan folgte ihr hilflos. Louises Gesicht war von aufgeweichtem Make-up verschmiert. Jetzt in dem warmen, stillen Wohnraum ließ sie den Kopf in ihre Hände sinken. Durch ihre Finger rannen Tränen.
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3 Susan stand am Fenster und wartete, daß Louise sich beruhigte. »Es tut mir so entsetzlich leid«, schluckte Louise. Ihr kindliches Gesicht war von den Tränen rosa aufgequollen. Sie tastete nach ihrer Frisur und stopfte ein paar Strähnen in den aufgetürmten Haarberg zurück. »Sie müssen mich für schrecklich unbeherrscht halten, so hereinzukommen und loszuheulen, obwohl wir uns doch kaum kennen.« Sie biß sich auf die Lippen und fuhr unglücklich fort: »Aber meine Freunde sind alle Katholiken, mit denen möchte ich nicht darüber sprechen. Ich meine Pater O’Hara und Eileen und die anderen. Ich weiß schon, was die sagen würden.« Susan hatte vergessen, daß Louise katholisch war. Jetzt fiel ihr wieder ein, daß sie ihre Nachbarin manchmal mit Eileen O’Donnell zusammen hatte in die Kirche gehen sehen, schwarze Spitzenschals in den Händen, um damit während der Messe den Kopf zu bedecken. »Natürlich kann ich mich nicht scheiden lassen«, sagte Louise, »aber ich dachte … Ach, ich kann es nicht in Worte fassen. Erst habe ich Ihre Zeit in Anspruch genommen und nun kann ich mich nicht ausdrücken.« Sie sah Susan von der Seite her an. »Ich bin nämlich sehr ähnlich wie Sie. Ziemlich zurückhaltend.« Susan legte auf diesen Vergleich wenig Wert. Zurückhaltung trieb einen nicht in Nachbarhäuser, um dort zu weinen. »Nun, vielleicht bleiben Sie hier ein bißchen sitzen und beruhigen sich, während ich Tee aufgieße.« »Sie sind so freundlich, Susan.« Die Bohrer begannen wieder mit ihrem ohrenbetäubenden Lärm. Susan konnte sich unschwer vorstellen, was 22
Louise ihr zu sagen haben mochte. Es würde eine trotzige Rede darüber sein, daß Liebe einem das Recht gab, eine andere Wahl zu treffen; daß es besser sei, jetzt ein Leben zu zerstören, als das von zwei Menschen auf ewig zu ruinieren; daß man, solange man jung war, nehmen mußte, was man kriegen konnte. Julian hatte das alles sehr viel besser formuliert, als Louise es je zustande bringen würde. Sie kehrte mit dem Geschirr ins Wohnzimmer zurück. Louise war aufgestanden und starrte zum Fenster hinaus. »Fühlen Sie sich ein bißchen besser?« fragte Susan, um gleich darauf dämpfend hinzuzufügen: »Paul wird jeden Augenblick kommen.« Sie hoffte, mit ihrer Miene deutlich zu machen, daß sie keinen Wert darauf legte, das Kind Zeuge einer solchen Unterhaltung werden zu lassen. Aber Louise hatte, ebenso wie ihr Ehemann, wenig Interesse für die Probleme anderer. »Ach je«, sagte sie kläglich, »und sicherlich mit Doris Winter. Susan, ich habe den ganzen Nachmittag gebraucht, um mir Mut für diesen Besuch bei Ihnen zu machen. Aber Sie waren im Garten so nett und freundlich zu mir, und ich … Hören Sie, Bob kommt heute erst spät nach Hause, und ich bin allein. Würden Sie zu mir hinüberkommen? Nur für eine Stunde?« Die Seitentür klickte und wurde zugeschlagen. Die Blikke der beiden Frauen trafen sich sekundenlang, und Susan dachte, wie unschuldig Louise aussah. Als ob sie keiner Fliege etwas zuleide tun könne. »Hallo, da sind wir!« rief Doris von der Hintertür. »Wieder einmal zu spät. Ich lechze nach einer Tasse Tee.« »Wollen Sie bleiben und eine Tasse mittrinken?« Louise schüttelte den Kopf und nahm ihren Mantel vom Stuhl. Ihr Gesicht war noch immer geschwollen und tränenverschmiert. Als Doris eintrat, blickte Louise auf und lächelte mit zitternden Lippen. 23
»Oh, ich wußte nicht, daß du Besuch hast«, sagte Doris, »sonst wäre ich nicht so hereingeplatzt.« Sie zog die wollenen Handschuhe von ihren roten steifen Fingern. »Jetzt wärme ich mich erst einmal auf. Ich habe den ganzen Tag gefroren.« Und dann sprach Louise es aus. Später dachte Susan oft, die ganze nachfolgende Tragödie hätte einen anderen Verlauf nehmen oder womöglich vermieden werden können, wenn Louise geschwiegen oder sich auf ein paar unverbindliche Bemerkungen beschränkt hätte. Trotz ihrer Entschlossenheit, sich zurückzuhalten, hätte sie Louises Einladung für den Abend aus Schwäche oder Mitleid doch akzeptiert. Sie hätte mehr erfahren und verstanden und wäre vielleicht in der Lage gewesen, irgendwie einzugreifen. Statt dessen hantierte Louise mit ihrem Mantel herum, unschlüssig, ob sie Susans Taschentuch einstecken oder auf dem Sessel liegen lassen solle, richtete ihre wasserblauen Augen auf Doris und sagte: »Ich bekomme meine Zentralheizung nächsten Winter. Es wird bald mit dem Einbau angefangen.« Ein kleiner Funke Begeisterung brachte etwas Farbe in ihre Wangen. »Wahrscheinlich haben Sie den Mann hier schon gesehen.« Doris’ Augenbrauen schossen in die Höhe, so daß sie fast unter ihrer Ponyfrisur verschwanden. »Ich bringe Sie noch zur Tür«, sagte Susan kalt. Der Ärger schnitt ihr den Vornamen von den Lippen, den sie eigentlich hatte nennen wollen, um die Verabschiedung zu mildern. Daß Louise zu ihr kam, um sich wegen ihrer Liebesaffären auszuweinen und dann auch noch dreist dieselbe Ausrede benützte, mit der sie die ganze Nachbarschaft zu täuschen versucht hatte, erfüllte Susan mit kochendem Zorn. Diese Unaufrichtigkeit und Parallele zu Julians Heimlichtuerei war nicht zu ertragen. 24
Louise stolperte, als sie die Diele durchquerte, doch Susan streckte nicht die Hand aus, um sie zu stützen. Der Metallabsatz hinterließ einen tiefen Kratzer in dem Parkett, das Susan und ihre Putzfrau, Mrs. Dring, immer so sorgfältig blankgebohnert hielten. An der Tür blieb Louise stehen und flüsterte: »Kommen Sie also heute abend?« »Leider kann ich Paul nicht allein lassen.« »Dann kommen Sie bitte morgen früh, zum Kaffee«, bat Louise. »Kommen Sie gleich, wenn Sie Paul zur Schule gebracht haben.« Susan seufzte. Nur weil sie selbst verlassen worden und geschieden war, betrachteten die Norths sie als geeigneten Ratgeber. »Louise …«, begann sie hilflos und öffnete die Tür, so daß ihr die feucht-kalte Luft über das heiße Gesicht strich. »Bitte, Susan. Ich weiß, es ist häßlich und gemein, aber ich kann nun einmal nicht dagegen an. Bitte sagen Sie, daß Sie kommen.« »Na schön, dann um elf Uhr«, sagte Susan. Sie konnte dem gequälten, flehenden Blick nicht länger widerstehen. Noch immer verärgert, aber schicksalsergeben folgte sie Louise nach draußen, um die Jungen zum Tee hereinzurufen. Sekundenlang schweifte ihr Blick über »Braeside«. Von allen Häusern in der Straße war es das einzige, dessen Bewohner sich nie bemüht hatten, sein Äußeres zu verschönen. Es stand noch immer genauso da, wie es vor zehn Jahren erbaut worden war. Nie hatte es einen neuen Anstrich bekommen, und die ständig geschlossenen Fenster wirkten, als würden sie niemals geöffnet werden. Obwohl das Haus den Norths gehörte, machte es eher den Eindruck einer vorübergehenden Bleibe, nicht eines echten Heimes. Im Vorgarten standen die Blumen in Reih und Glied wie zum Verkauf gezüchtet, aber Louise schnitt sie nie ab. Su25
san hatte ihre Nachbarin manchmal im Frühling beobachtet, wie sie behutsam zwischen den Blumenreihen hindurchging, um die steifen grünen Blätter zu berühren oder sich niederzubeugen und an den Blüten zu riechen. Die Anstrengung, Doris’ Neugier zu besänftigen und Paul eine einleuchtende, wenn auch notwendigerweise unwahre Erklärung auf seine Frage zu geben, warum Mrs. North wohl geweint haben mochte, hatte Susans Stimmung auf den Nullpunkt sinken lassen. Sie hätte dringend jemanden gebraucht, um mit ihm die Krise im Leben der Norths zu bereden. Als um halb acht Uhr das Telefon klingelte, wußte sie, daß es Julian sein mußte. Einen Augenblick erwog sie ernsthaft, ihm ihre Sorgen anzuvertrauen. Wenn Julian nur etwas menschlicher und nicht so ironisch gewesen wäre … Seit seiner neuen Heirat hatten seine Beredsamkeit und seine Wortspielereien sogar noch zugenommen. Julian um Rat zu bitten, würde nur eine kalte Dusche zur Folge haben. »Du sagtest, diese Uhrzeit sei dir am genehmsten«, hörte sie seine gedehnte, pedantische Stimme, »deshalb habe ich sogar meinen Hummercocktail im Stich gelassen.« »Hallo, Julian.« Es irritierte sie immer wieder, wenn er so ohne jede Begrüßung oder Nennung des Namens mitten in ein Gespräch hineinsprang. Bei einer Ex-Ehefrau mochte ja noch vorauszusetzen sein, daß sie die Stimme ihres Verflossenen erkannte, aber bei anderen Leuten hielt er es ebenso. »Wie geht es in Matchdown Park?« »Wie üblich«, erwiderte Susan, auf eine ironische Bemerkung gefaßt. »Das habe ich befürchtet. Jetzt hör mir mal zu, meine Liebe. Am Sonntag klappt es leider nicht mit Paul. Eliza26
beths Mama will uns zum Wochenende bei sich haben, und dem kann ich mich natürlich nicht entziehen.« »Du könntest Paul doch mitnehmen.« »Lady Maskell ist nicht gerade erpicht darauf, kleine Jungen um sich zu haben.« Es war Susan immer merkwürdig erschienen, daß Julian, der Herausgeber einer linksgerichteten Zeitschrift, erstens die Tochter eines Barons geheiratet hatte und zweitens so großen Wert auf den Landadel legte, zu dem seine Schwiegereltern gehörten. »Du läßt ihn jetzt seit Weihnachten schon zum zweitenmal aufsitzen«, sagte sie. »Er hatte sich so darauf gefreut.« »Nun, du kannst doch etwas mit ihm unternehmen. Fahr mit ihm in den Zoo.« »Übermorgen hat er Geburtstag. Ich möchte dich nur daran erinnern.« »Durchaus nicht nötig, meine Liebe. Elizabeth hat es bereits auf ihrem Einkaufszettel notiert, damit wir es nicht vergessen.« »Na, dann ist ja alles bestens in Ordnung.« Susans Stimme zitterte vor Empörung. »Geh lieber schnell zu deinem Steak zurück«, sagte sie in dem spitzen Ton, den er haßte, jedoch ständig provozierte. »Oder was sonst als nächstes auf der Speisekarte steht.« Elizabeth hatte es auf ihrem Einkaufszettel notiert! Sie konnte sich vorstellen, was sonst noch darauf stand: Garnelen, Paprikaschoten, Cocktailgebäck, gefüllte Steaks, Konfekt für Mama … Wie aufreizend Julian war! Eigenartig, daß Worte und Sätze von ihm, deren sie sich erinnerte, sie traurig stimmen und schmerzliche Gefühle erwecken konnten, während diese wöchentlichen Telefonate genau das Gegenteil bewirkten. Susan ging durch das Haus, um die Türen zur Nacht zu verriegeln. Gewöhnlich pflegte sie bei dieser abendlichen 27
Runde nicht nach »Braeside« hinüberzuschauen, heute aber tat sie es, und es beunruhigte sie, das Haus so ganz in Dunkel gehüllt zu sehen.
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4 David Chadwick hatte Bernard Heller monatelang nicht gesehen, und dann lief er ihm Dienstag abend am Berkeley Square ganz zufällig über den Weg. Heller hatte die Arme voll Pappkartons. Wahrscheinlich Heizungs-Zubehörteile, dachte David, die er in Hay Hill abzuliefern hatte, wo sich die Geschäftsstelle von Equatair befand. Heller schien über die Begegnung nicht sonderlich begeistert zu sein, obwohl er sich ein etwas verunglücktes Lächeln abrang. David dagegen war über das Treffen ausgesprochen froh. Vergangenen Sommer hatte er Heller in einer großzügigen Aufwallung seinen Projektor geliehen, und nun fand er es eigentlich an der Zeit, den Apparat zurückzubekommen. »Wie steht’s denn?« »Na, so lala.« Heller hielt den obersten Karton mit dem Kinn festgeklemmt, vielleicht hatte sein Gesicht deshalb so einen verkniffenen Ausdruck. »Wie wäre es mit einem Bier?« »Ich habe noch mehr Kartons auszuladen.« »Dann werde ich Ihnen schnell helfen«, sagte David entschieden. Er wollte Heller nicht wieder aus den Augen verlieren. »Dann kommen Sie mit zum Wagen.« Er hatte immer noch denselben grünen Zephyr, registrierte David, während er die letzten drei Kartons aus dem Kofferraum hob. »Danke«, sagte Heller, um dann in dem Bemühen um Liebenswürdigkeit noch einmal zu wiederholen: »Vielen Dank, David.« Equatairs Flügeltüren waren noch offen. Heller stellte seine Kartons in einer kleinen Vorhalle ab, und David 29
folgte seinem Beispiel. Fotos von Heizkörpern und Kesseln, auch eins von einem luxuriösen Wohnraum, waren an den Wänden befestigt. Sie erinnerten David an seine eigenen Entwürfe für Fernsehfilm-Dekorationen. So hatte er Heller überhaupt kennengelernt, über seine Tätigkeit. Equatair stellte auch Kamine her, und David hatte sich einen davon für eine Fernsehserie ausgeliehen. »Wie wäre es jetzt mit einem Schluck?« »Einverstanden. Ich habe keine Eile, nach Hause zu kommen.« Heller hatte den Kopf abgewandt und fügte murmelnd noch etwas hinzu, das David als ein »weiß Gott nicht« verstand. Er war sich allerdings nicht ganz sicher. Der Heizungsingenieur war ein großer, kräftiger Mann mit rundem Kopf und kurzgeschnittenem, krausem Haar, normalerweise ein Typ von fast penetranter Munterkeit, der Leuten auf die Schulter zu klopfen und ständig harmlose Witzchen zu erzählen pflegte. An diesem Abend trug er jedoch eine ausgesprochen deprimierte Miene zur Schau, und David hatte sogar den Eindruck, daß er dünner geworden war. Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen, offenbar nicht nur weil Heller, sonst sehr auf sein Äußeres bedacht, dringend einer Rasur bedurfte. »Es gibt da eine nette kleine Pinte in der Berwick Street, in die ich manchmal gehe«, sagte David. Er hatte keinen Wagen dabei, so daß sie in Hellers Zephyr fuhren. Es war das erstemal, daß er mit Heller im Auto saß. Sonst hatten sie sich immer nur in Lokalen getroffen. Was den Kamin anging, war Heller die Freundlichkeit in Person gewesen und fast erdrückend großzügig. Es hatte Anstrengung gekostet, ihn daran zu hindern, stets die gesamte Zeche zu zahlen. Im Juli hatte Heller dann einmal berichtet, sein Zwillingsbruder sei mit Verwandten in der Schweiz gewesen – die Familie stammte aus der Schweiz –, könne jedoch seine Dias nicht zeigen, weil er keinen Projektor besitze. 30
Für David, der schon längst auf eine Möglichkeit gewartet hatte, seine Dankbarkeit zu beweisen, war das eine Gelegenheit gewesen, sich zu revanchieren. Er lieh Heller seinen Projektor. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, daß Heller sich acht Monate lang nicht mehr melden würde. »Könnte ich übrigens irgendwann meinen Projektor zurückhaben?« fragte David, als sie die Regent Street kreuzten. »Der Sommer steht vor der Tür und die Ferien …« »Ja, sicher«, sagte Heller gleichmütig. »Ich werde ihn im Studio abgeben.« »Gut.« Es wäre ihm kein Stein aus der Krone gefallen, wenn er sich bedankt hätte. Er schien jedoch etwas anderes im Kopf zu haben. »Da ist die Kneipe. ›Der Mann mit der eisernen Maske‹.« David ging voran. In dem Lokal war es überheizt und gemütlich. Die schwarz-weißen Bodenfliesen und die Holztäfelung erinnerten an holländische Interieurs. »Was trinken Sie?« fragte David, auf den üblichen Einwand: »Nein, lassen Sie mich bestellen«, gefaßt. »Ein Bier mit Schuß«, sagte Heller jedoch nur. »Sie gehen ja gewaltig ran«, frotzelte David. »Was feiern wir denn?« »Es ist nur, weil ich fahren muß.« David ging an die Bar und bestellte: »Einen doppelten Scotch und ein Bier mit Schuß.« Heller rieb sich die breite Stirn, als ob er Kopfschmerzen habe. »Kommen Sie oft hierher?« »Hin und wieder. Es ist angenehm ruhig, und man sieht ganz originelle Leute.« David sprach noch, als mit einem Ruck die Tür aufgerissen wurde und zwei bärtige Männer hereinkamen. Der kleinere der beiden klopfte heftig auf die Theke, da der Barmann einen Augenblick verschwunden war, während der andere ein unterbrochenes Gespräch wieder aufnahm. 31
»Also sagte ich zu diesem Bankmenschen, ist ja schön und gut, daß Sie über mein überzogenes Konto jammern, aber wo wären denn Leute wie Sie, wenn es niemand gäbe, der sein Konto überzieht. Arbeitslos wären Sie, mein Bester.« »Genau«, sagte der andere Mann. Heller verzog keine Miene. »Was macht die Arbeit?« fragte David mit verzweifelter Anstrengung. »Das übliche.« »Haben Sie noch immer das Gebiet Wembley-Matchdown Park?« Heller nickte und murmelte in sein Glas: »Aber nicht mehr lange.« David hob fragend die Augenbrauen. »Ich gehe ins Ausland. In die Schweiz.« »Dann feiern wir ja tatsächlich. Soviel ich mich erinnere, war das doch immer Ihr Wunsch. Hat Equatair nicht eine Niederlassung dort?« »In Zürich.« »Und wann ist es soweit?« »Im Mai.« Hellers Wortkargheit war schon fast als unhöflich zu bezeichnen. Wenn er sich bei seinen Kunden genauso benahm, würde er wohl kaum Umsätze machen. David kam unvermittelt zu Bewußtsein, daß es bis Mai nur noch zwei Monate waren. Falls er seinen Projektor noch einmal wiedersehen wollte, mußte er am Ball bleiben. »Sie sprechen fließend deutsch, nicht wahr?« »Ich bin in der Schweiz zur Schule gegangen.« »Da müssen Sie ja ziemlich aufgeregt sein.« Davids Bemerkung war einigermaßen töricht, so als frage man einen schlotternden Mann, ob er schwitze. »Ach, ich weiß nicht«, sagte Heller. »Früher wäre ich es vielleicht gewesen.« Er leerte sein Glas, und einen Mo32
ment lang blitzte so etwas wie Wildheit in seinen dunklen Augen auf. »Die Menschen ändern sich, man wird älter.« Er stand auf. »Es hat im Grunde alles keinen Sinn.« Ohne David anzubieten, die nächste Runde zu spendieren, fuhr er fort: »Kann ich Sie irgendwo absetzen? Sie müssen zur U-Bahn, nicht wahr?« David bewohnte seine Junggesellenbude allein. Er hatte für den Abend nichts Besonderes vor und beabsichtigte, auswärts zu essen. »Hören Sie, ich will Ihnen damit nicht auf die Nerven gehen«, sagte er verlegen, »aber wenn Sie direkt nach Hause fahren, würde ich ganz gern mitkommen und den Projektor abholen.« »Wenn Sie meinen?« »Na ja, bis zum Mai ist nicht mehr lange hin, und Sie werden noch allerhand anderes im Kopf haben.« »Also gut«, sagte Heller unliebenswürdig. Sie stiegen in den Wagen, und Davids Stimmung hob sich etwas, als Heller mit einem Schatten seines alten Grinsens sagte: »Haben Sie Nachsicht mit mir, alter Junge. Mit mir ist im Augenblick nicht viel los. Es war nett von Ihnen, uns den Projektor zu leihen. Ich hatte nicht die Absicht, ihn zu behalten.« »Das weiß ich«, erwiderte David und fühlte sich gleich merklich besser. Heller fuhr einen verschlungenen Schleichpfad durch allerhand Seitenstraßen, war aber unkonzentriert am Steuer und überrollte einen Zebrastreifen, obwohl sich Fußgänger darauf befanden. Er hatte sich wieder in Schweigen gehüllt, das er nur einmal mit der Bemerkung unterbrach: »Jetzt sind wir gleich da.« Heller wohnte in Hengist House, einem recht anständigen, etwa zehn Jahre alten Häuserblock. Er stellte den Wagen in einer weiß markierten Parkfläche ab. »Wir wohnen im Erdgeschoß«, sagte er. »Nummer drei.« 33
Der Hausflur wirkte ein wenig verwahrlost. Heller schloß auf. Durch die Wohnung lief ein langer Flur, der an einer geöffneten Badezimmertür endete. Heller rief nicht nach seiner Frau, und als sie auf der Bildfläche erschien, nahm er kaum Notiz von ihr. David durchfuhr bei ihrem Anblick ein Ruck. Heller war zwar erst Anfang dreißig, sah jedoch wesentlich älter aus. Dies Mädchen dagegen schien noch sehr jung zu sein. Ihre Augen verrieten David, daß sie seine Überraschung genoß. Sie trug Blue jeans, einen enganliegenden Pullover und hatte schulterlanges schwarzes Haar. »Ich glaube, Sie kennen meine Frau noch nicht«, murmelte Heller, das war die ganze Vorstellung. Mrs. Heller löste sich von der Wand, an der sie malerisch gelehnt hatte, und ließ den Blick gleichmütig über David schweifen. »Machen Sie es sich bequem«, sagte Heller. »Es dauert höchstens eine Minute, bis ich den Projektor herausgesucht habe.« Er wandte sich an seine Frau. »Das Ding für die Dia-Positive, wo hast du es hingepackt?« »In den Schlafzimmerschrank wahrscheinlich.« Heller ließ David in das Wohnzimmer treten und verschwand. Das Zimmer hatte drei weiße Wände und eine rote Wand, an der über einem Heizkörper von Equatair ein Saiteninstrument hing. Mrs. Heller kam herein und deckte ziemlich demonstrativ für zwei Personen den Abendbrottisch. »Tut mir leid, daß ich hier so hereingeplatzt bin«, sagte David. »Ich habe Bernard ganz zufällig getroffen, und da fiel mir mein Projektor ein.« Sie wandte sich um und reckte das Kinn in die Höhe. »Ganz zufällig, sagen Sie?« Sie hatte einen leichten Dialekt, den David nicht unterzubringen wußte. »Würden Sie mir verraten, wo?« »Am Berkeley Square«, erwiderte er überrascht. 34
»Sind Sie sicher, daß es nicht in Matchdown Park war?« »Völlig sicher.« Was sollte das? Ihr Mann war schließlich ganz offiziell für Matchdown Park zuständig. Er betrachtete sie, während sie den Tisch fertig deckte. Ein orchideenhaftes Gesicht, dachte er. Schreckliches Wort, aber es beschrieb in etwa die samtige Haut, die kleine Nase und den vollen, hellroten Mund. Ihre Augen waren grün, mit kleinen goldenen Pünktchen darin. »Ich habe gehört, Sie gehen in die Schweiz. Freuen Sie sich schon?« Sie zuckte die Achseln. »Es steht noch nicht endgültig fest.« »Aber Bernard sagte doch …« »Sie brauchen nicht alles zu glauben, was er sagt.« David folgte ihr hinaus in die Küche. Die Blue jeans waren provozierend, als sie sich vorbeugte, um sich am Gas eine Zigarette anzuzünden. Er versuchte, ihr Alter zu schätzen. Höchstens vierundzwanzig oder fünfundzwanzig. Im Nebenzimmer hörte er Bernard rumoren. Auf dem Herd stand ein Topf mit heißem Wasser. Zwei angebrannte Koteletts lagen bereits auf einer Platte. Als das Wasser im Topf kochte, nahm ihn das Mädchen vom Herd und schüttete das Wasser auf den Inhalt eines Beutels Kartoffelbrei-Pulver. David bedauerte nicht, daß sie ihn nicht aufgefordert hatten, ihre Mahlzeit zu teilen. »Magdalene!« Hellers Stimme klang verdrossen und müde. Also Magdalene hieß sie. Als er schwerfällig hereinkam, blickte sie widerspenstig auf. »Mir fällt nicht ein, wo ich ihn hingepackt haben könnte«, sagte Heller bekümmert, wobei er peinlich berührt auf seine staubigen Hände starrte. »Dann lassen Sie es«, sagte David. »Ich halte Sie vom Abendessen ab.« »Vielleicht ist er da oben.« Das Mädchen wies auf einen Wandschrank, der über der Kommode hing. David war 35
etwas überrascht, weil sie bisher keinerlei Interesse am Auffinden seines Eigentums gezeigt hatte. Heller zog einen Hocker unter dem Tisch hervor und schob ihn vor die Kommode. Seine Frau beobachtete ihn, wie er den Schrank öffnete und darin herumsuchte. »Da war ein Anruf für dich«, sagte sie unvermittelt und schob die Lippen etwas vor. »Diese Mrs. North.« Heller murmelte etwas. »Ich fand es ziemlich dreist, hier einfach anzurufen.« Diesmal antwortete ihr Mann nicht. »Wirklich ganz schön frech!« sagte sie, offenbar in dem Versuch, ihn zu provozieren. »Ich hoffe, du hast dich anständig benommen am Telefon.« David war einigermaßen schockiert. Magdalene mochte ja unliebenswürdig und uncharmant, ja vielleicht sogar eifersüchtig sein. Aber das war doch kein Grund, sie vor einem Fremden so abzukanzeln. Sie holte Luft für eine passende Antwort, die David jedoch nicht mehr zu hören bekam. Heller, der mit Armen und Schultern in dem Schrank verschwunden gewesen war, kam wieder zum Vorschein, und als er sich aufrichtete, fiel ein schwerer, metallischer Gegenstand auf den Stapel Bügelwäsche, der auf der Kommode lag. Es war eine Pistole. Mit Waffen kannte sich David so gut wie gar nicht aus. Zwischen einer Beretta oder einer Mauser sah er keinen Unterschied. Er wußte nur, daß dies hier eine Pistole war, die da blitzend zwischen Hellers Unterhose und einem rosa Damenschlüpfer lag. Die beiden Hellers sprachen kein Wort. Um das unbehagliche Schweigen zu brechen, sagte David scherzend: »Ihr geheimes Waffenarsenal?« Heller begann mit einer hastigen Erklärung. »Ich weiß, ich dürfte sie nicht besitzen. Es ist ungesetzlich. Ich habe sie aus Amerika eingeschmuggelt. Als ich von einer Ge36
schäftsreise kam. Der Zoll paßt nicht immer so genau auf. Magdalene hatte Angst, wenn sie hier so alleine war. Es gibt hier nämlich allerhand schräge Typen. Streitereien, Prügeleien und so weiter.« »Mich geht das doch gar nichts an«, sagte David. »Ich dachte nur, Sie könnten es merkwürdig finden.« Plötzlich stampfte Magdalene mit dem Fuß auf. »Beeil dich doch, um Himmels willen. Wir wollen um halb acht ins Kino, und jetzt ist es schon zehn nach sieben. Abwaschen muß ich vorher auch noch.« »Abwaschen werde ich.« »Willst du denn nicht mitgehen?« »Nein danke.« Sie drehte das Gas ab, nahm die Teller und trug sie in das Wohnzimmer. David dachte, sie würde noch einmal zurückkommen, aber das tat sie nicht. »Hier ist er endlich«, sagte Heller. »Er war natürlich im letzten Winkel hinter der Trockenhaube.« »Ich habe Ihnen eine Menge Mühe gemacht.« Heller reichte ihm den Projektor hinab. »Jedenfalls brauche ich mir wegen dem Ding jetzt keine Gedanken mehr zu machen«, sagte er. Er schloß die Schranktüren nicht und ließ auch die Pistole liegen, wo sie lag. Vielleicht war es das Vorhandensein der Waffe – unheimlich, häßlich und auf unbestimmte Weise bedrohlich –, in diesem tristen, häßlichen Haushalt, das David bewog, impulsiv zu sagen: »Hören Sie, Bernard, falls ich irgend etwas für Sie tun kann …« »Niemand kann etwas tun«, sagte Heller unbewegt. »Sie sind kein Zauberer und auch kein Gott. Sie können die Zeit nicht zurückdrehen.« »Wenn Sie in Zürich sind, werden Sie sich besser fühlen.« »Wenn ich dorthin komme.« 37
Die ganze Begegnung hatte David doch so erschüttert, daß er die erstbeste Kneipe ansteuerte, um sich noch einen Whisky zu genehmigen. Dann ging er zur U-Bahn-Station East Mulvihill. Als er sich schon unter dem steinernen Baldachin des Bahnhofseingangs befand, entdeckte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite Magdalene Heller, die hastig, fast rennend, einem großen Kino zustrebte. Bevor sie hineinging, blickte sie hastig nach rechts und links. David beobachtete, wie sie ihre schwere Umhängetasche öffnete, eine Karte kaufte und allein die Treppe zum Balkon hinaufstieg. Über die Ursache für Hellers elenden Zustand gab es keinen Zweifel. Seine Ehe war schiefgegangen. Einer dieser beiden so ungleichen, offenkundig überhaupt nicht zueinander passenden Partner hatte einen Fehltritt begangen, und nach Magdalenes Bemerkungen über den Telefonanruf zu urteilen, schien Heller der schuldige Teil zu sein. War er zu diesem schweigsamen Schatten seiner selbst geworden, weil er nicht seine Freundin, sondern Magdalene mit in die Schweiz nehmen mußte?
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5 Auf dem Weg zur Schule kamen sie an dem Postboten vorbei, und Paul sagte: »Morgen brauche ich doch nicht zur Schule zu gehen, bevor er bei uns gewesen ist, nicht wahr?« »Wir werden sehen«, erwiderte Susan. »Ich gehe aber nicht«, sagte er aufsässig, vor allem um Richard zu imponieren, der neben ihnen hersprang. »Na, er kommt sowieso früh genug«, lenkte Paul wieder ein, indem er die Hand seiner Mutter ergriff. »Daddy schickt mir eine Armbanduhr. Das hat er versprochen.« »Eine Armbanduhr! Ach, Paul …« Ausgerechnet so ein empfindliches Geschenk. Wo Paul doch mindestens zweibis dreimal in der Woche beim Spielen hinfiel. »Die darfst du dann aber nur bei besonderen Gelegenheiten tragen.« Sie hatten das Schultor erreicht, und die beiden kleinen Jungen wurden vom Strom der anderen Kinder aufgeschluckt. Susan winkte Paul hinterher. Es war zehn vor neun, die Uhrzeit, zu der gewöhnlich Bob North mit seinem Wagen an der Schule vorbeifuhr. Susan wollte vermeiden, ihn zu sehen. Sie hatte ihre letzte Begegnung in unangenehmer Erinnerung. Vermutlich hatte er von Louises Besuch bei ihr und der Verabredung für den heutigen Vormittag erfahren und würde sich bemühen, noch seine eigene Version der Geschichte loszuwerden, bevor Louise ihn anschwärzen konnte. Leute in Louises Lage pflegten immer ihren Ehepartnern den schwarzen Peter zuzuschieben. Auch Julian hatte lange Zeit damit verbracht, ihre Unzulänglichkeiten als Ehefrau zu bemängeln, ihre Nörgelei, ihre Abneigung gegen seine fortschrittlicheren Freunde, ihre altmodischen Moralbegriffe, bevor er mit der Wahrheit über seine Untreue herausgerückt war. 39
Es war ein stiller Tag, nicht direkt nebelig, aber grau in grau. In der feuchten Luft lag Regen. Als Susan »Braeside« erreichte, beschleunigte sie ihren Schritt. Doch dann fiel ihr plötzlich ein, daß Bobs Wagen ja in der Inspektion war. Er hatte mit der Bahn in die Stadt fahren müssen und war jetzt sicherlich längst weg. Ihre Stimmung verbesserte sich merklich. Es war wirklich absurd, sich so nervös machen zu lassen, bloß weil eine Nachbarin ihr irgendwelche Intimitäten anzuvertrauen gedachte. »Braeside« wirkte düster und tot. Im Obergeschoß waren alle Vorhänge zugezogen, als seien die Norths verreist. Vielleicht lag Louise noch im Bett. Wenn man unglücklich war, flüchtete man sich oft in den Schlaf. Gleich würde Mrs. Dring erscheinen. Susan trat in ihr eigenes warmes Haus und begann, Teig anzurühren, um für Pauls Geburtstagsparty Kuchen zu backen. Die Uhr in ihrer Diele schlug neun. Kaum war der letzte Schlag verhallt, als die Preßluftbohrer ihr Geratter anfingen. Durch das schrille Geräusch erklang hohl das Gebell des Airedale. An Mrs. Dring war er mittlerweile gewöhnt, sein Gebell konnte also nicht ihr gelten. Susan fragte sich nicht zum erstenmal, warum das Anschlagen des Tieres stets so unwiderstehlich wirkte. Obwohl sie sich selber kleinlich und albern vorkam, lief sie ins Wohnzimmer und zog den Vorhang zur Seite. Pollux, der in seiner Rage gegen das Wintersche Gartentor gesprungen war, fiel mit einem Plumps auf den Weg zurück. Susan starrte. Auf dem Grünstreifen vor dem Bürgersteig stand der grüne Ford Zephyr. Louise North empfing wieder ihren Liebhaber. »Guten Morgen, meine Liebe. Hatten Sie schon gedacht, ich würde nicht kommen?« Mrs. Dring trompetete diese Frage stets mit triumphierendem Unterton heraus, sobald sie sich mehr als eine Mi40
nute verspätet hatte. Sie war eine große, grobknochige, rothaarige Mittvierzigerin, die sich selbst und ihre Arbeit ungeheuer wichtig nahm. Deshalb hegte sie auch die feste Überzeugung, daß ihre Arbeitgeber im Falle ihres Nichterscheinens völlig hilflos sein müßten. Außer an ihrem Ehemann ließ sie an niemandem ein gutes Haar. Ihr Mann allerdings verfügte über geradezu erstaunliche Fähigkeiten auf nahezu allen Gebieten und wurde bestenfalls von Mrs. Dring selbst übertroffen. »Es gibt einfach nichts, was dieser Mann nicht kann«, pflegte sie zu sagen. Sie kam in den Raum und trat sofort ans Fenster, wo sie stehenblieb, um sich ein Tuch um das fast scharlachrote Haar zu binden. »Ich wollte Sie übrigens fragen«, sagte sie, den Blick auf den grünen Zephyr gerichtet, »was sich eigentlich in Ihrem Nachbarhaus abspielt.« »Abspielt?« »Sie wissen, was ich meine. Ich habe es von meiner Freundin gehört, die bei Mrs. Gibbs aushilft. Sie behauptet, Mrs. North treibe es mit dem Heizungsingenieur.« »Kennen Sie den Mann?« fragte Susan wider Willen. »Ich habe ihn schon verschiedentlich gesehen. Mein Mann könnte Ihnen auch den Namen sagen. Sie wissen, was er für ein phantastisches Gedächtnis hat. Wir hatten selbst schon einmal den Einbau einer Zentralheizung erwogen, deshalb sagte ich: ›Du könntest ja mal mit diesem Heffer oder Heller reden, der immer in seinem grünen Wagen unterwegs ist.‹ Aber dann hat mein Mann die Leitungen selbst eingebaut. Es gibt nichts, was dieser Mann nicht schafft, wenn er es sich einmal vornimmt.« »Warum sollte er nicht rein geschäftlich bei Mrs. North sein?« »Schöne Geschäfte.« Da es auf dem Orchard Drive nichts weiter zu sehen gab, bezog Mrs. Dring jetzt am ge41
genüberliegenden Fenster Posten. Es war halb zehn. Obwohl es zu regnen begonnen hatte, waren die Preßluftbohrer während der vergangenen halben Stunde fast keine Sekunde verstummt. Susan konnte sich kaum vorstellen, daß von dem französischen Fenster aus etwas Besonderes zu sehen sein könne, doch Mrs. Dring reckte den Hals und preßte das Gesicht gegen die regennasse Scheibe, bis sie schließlich sagte: »Heute vormittag werden sie keinen Tee bekommen.« Susan, die sich an die Schreibmaschine gesetzt hatte, hob den Kopf. »Mmh?« »Die Arbeiter. Sehen Sie, da geht einer gerade den Weg entlang.« Wenn Susan nicht unhöflich sein wollte, mußte sie Mrs. Drings Aufforderung folgen. Sie trat also ebenfalls ans Fenster. Ein großer, mit einem Dufflecoat bekleideter Mann lief, die Kapuze tief über den Kopf gezogen, von der Northschen Hintertür zum Gartentor. »Ich habe gehört, wie er geklopft hat. Der will seinen Tee, habe ich mir gesagt. Aber heute vormittag ist die Kantine geschlossen, mein Freund. Madame hat andere Dinge im Kopf. Komisch, daß der Hund von den Winters nicht gebellt hat. Haben die ihn endlich einmal eingesperrt?« »Nein, er ist draußen.« Es regnete stetig. Der Arbeiter öffnete das Gartentor. Seine Kollegen waren tief in dem Graben verschwunden, einer hatte noch seinen Preßluftbohrer laufen. Der einzelne Mann wärmte sich einen Augenblick die Hände an dem Kanonenofen, dann wandte er sich mit gebeugten Schultern ab und entfernte sich auf dem Weg, der am Friedhof entlangführte. Mrs. Dring blickte ihm mit verbissenem Nicken nach. »Jetzt holt er sich eine Tasse aus dem Café«, stellte sie fest. »Ist der Wagen noch da?« fragte sie gleich darauf, da Susan sich wieder zurückgezogen hatte. 42
»Ja, der steht noch da.« Noch jemand anderer musterte den Wagen, nämlich Eileen O’Donnell, die ihren Schirm aufspannte, nachdem sie aus Louises Garten getreten war. »Mrs. O’Donnell kommt gerade an unsere Hintertür; Mrs. Dring«, sagte Susan. »Würden Sie bitte einmal nachsehen, was sie will?« Nach einem kurzen Wortwechsel an der Hintertür kehrte Mrs. Dring zurück. »Mrs. North hatte Mrs. O’Donnell gebeten, ihr ein paar Fischstäbchen mitzubringen, für den Fall, daß Mr. North zum Essen nach Hause kommt. Sie sagt, sie hätte ein paar Mal geklopft, aber es meldet sich niemand.« Susan nahm das Päckchen entgegen, wobei sie amüsiert registrierte, daß es in ein Exemplar von Certainty eingeschlagen war. Julian hätte sich bei dem Anblick gewunden. »Und was soll ich damit tun?« »Mrs. O’Donnell sagte, Sie würden zum Kaffee hinübergehen und könnten es dann doch mitnehmen.« Susan hatte allerdings bereits stark zu zweifeln begonnen, daß ihr Besuch in »Braeside« wirklich noch erwartet wurde. Als Mrs. Dring ihre Arbeit im Wohnzimmer beendet und sich in Julians einstiges Arbeitszimmer begeben hatte, war es halb elf, und der Wagen stand immer noch draußen. Es schien, als habe Louise die Verabredung vergessen. Trotzdem merkwürdig, weil sie derart beharrlich gewesen war. Die folgende halbe Stunde schlich nur langsam dahin. Es war nicht nötig, aus dem Fenster zu sehen. Der Airedale, der auf Winters Treppenabsatz hockte, würde ihr die Abfahrt des Mannes vermelden. Die Uhr schlug elf, und Susans Bedrücktheit begann zu weichen. Der Regen sammelte sich in Pfützen um die Räder des grünen Wagens. Sein Fahrer war noch immer in »Braeside«, und Susan seufzte erleichtert. Nun würde sie nicht hinübergehen müssen. Es 43
bestand kein Anlaß für Takt und Freundlichkeit oder gute Ratschläge. Louise hatte die Konsultation durch ihr eigenes Verhalten hinfällig werden lassen. Mrs. Dring hüllte sich in eine blaue Kunststoffhaut und stapfte hinaus in den Regen. Bevor sie verschwand, blieb sie sekundenlang stehen, um mißbilligend den Wagen und die geschlossenen Vorhänge zu betrachten. Susan versuchte sich zu erinnern, wie oft und jeweils für wie lange der Wagen bisher dagewesen war. Bestimmt nicht öfter als dreimal, und so lange wie an diesem Vormittag noch nie. Sie öffnete den Kühlschrank, um sich ein Butterbrot zu machen. Die Packung Fischstäbchen lag leicht verrutscht auf dem Metallrost. Ob Bob zum Essen nach Hause kommen würde? Eileen O’Donnell zumindest hatte es für möglich gehalten. Nun, sollte er ruhig kommen und die beiden zusammen finden. Vielleicht war das die beste Lösung für alle Beteiligten. Trotz dieser Gedanken nahm sie die Fischstäbchen aus dem Kühlschrank und ging in den Garten, um nach »Braeside« hinüberzuspähen. Im Erdgeschoß war niemand zu erblicken. Sie mußten noch hinter den geschlossenen Vorhängen oben im Schlafzimmer sein. Susan schaute auf ihre Armbanduhr. Es war schon nach halb eins. Wie wäre ihr zumute gewesen, wenn sie Julian im Bett mit Elizabeth angetroffen hätte? Sie wäre fast gestorben bei dem Anblick. Julian hatte sich sehr viel cleverer als Louise benommen, trotzdem war die Entdeckung seiner Untreue ungeheuer schmerzlich gewesen. Diese Erwägungen gaben den Ausschlag. Susan kehrte ins Haus zurück und schlüpfte in ihren Regenmantel. Dann trommelte sie heftig gegen die Northsche Haustür, klopfte erneut und klingelte Sturm. Doch niemand meldete sich. Sie mußten eingeschlafen sein. 44
Zögernd ging sie um das Haus. Was sie beabsichtigte, würde Louise zumindest für eine gewisse Zeit vor Schmach und Schande, vielleicht sogar vor Gewalttätigkeit bewahren, wenn sie ihr dafür auch nicht dankbar sein würde. Wer ließ sich schon gern in flagranti ertappen? Aber Susan war sowieso entschlossen, in Zukunft einen großen Bogen um die Norths zu machen. Die Hintertür war unverschlossen. Falls Louise dieses Verhältnis fortzusetzen gedachte, hatte sie noch allerhand zu lernen. Julian hätte sie gut beraten können. Die Küche war unaufgeräumt und eiskalt. Louise hatte nicht einmal das Frühstücksgeschirr abgewaschen. Es roch nach abgestandenem Fett. Auf dem Küchentisch stand die Aktentasche, die Susan ein oder zweimal in der Hand von Louises Liebhaber gesehen hatte. Über einer Stuhllehne hing sein Regenmantel. Susan legte ihr Päckchen ab und trat in die Diele, wobei sie leise Louises Namen rief. Es erfolgte keine Antwort, nicht der geringste Laut von oben. In dem kleinen Gäste-WC tropfte ein Wasserhahn. Susan ging bis zur Treppe und blieb neben der Wandnische stehen, in der eine Gipsmadonna ihr Kind anlächelte. Es war grotesk. Susan stieg die Stufen empor. Alle Türen mit Ausnahme der Schlafzimmertür standen offen. Sie blieb vor der geschlossenen Tür stehen und horchte. Ihr Widerstreben, die beiden zu überraschen, war mit jeder Stufe stärker geworden, und jetzt empfand sie heftigen Abscheu. Womöglich waren die beiden nackt. Sie fuhr sich mit der Hand über die schweißfeuchte Stirn. Es mußte mindestens zehn vor eins sein, und Bob konnte jeden Augenblick um die Ecke des Orchard Drive biegen. Sie packte die Klinke und öffnete millimeterweise die Tür. 45
Beide lagen auf dem Bett, der Mann schien jedoch voll bekleidet zu sein. Von Louise waren nur die bestrumpften Füße zu sehen, sonst war sie völlig von dem Körper ihres Liebhabers abgedeckt, der Arme und Beine weit abgespreizt hatte. Sein Gesicht war leicht zur Seite gewandt, so, als sei er, die Lippen auf Louises Wange gedrückt, eingeschlafen. Sie waren beide unheimlich still. So schlief niemand. Susan trat zwischen das Bett und die Frisierkommode und stolperte dabei über einen harten, metallischen Gegenstand, der auf dem Teppich lag. Sie starrte heftig atmend darauf hinunter. Zuerst hielt sie ihn für ein Kinderspielzeug, aber die Norths hatten keine kleinen Jungen, die mit lautem »Bäng, bäng, du bist tot« durch das Haus tobten. Einen Augenblick lang schlug sie die Hände vors Gesicht. Dann machte sie einen Schritt vor und beugte sich über das Paar. Eine Schulter von Louise war entblößt. Susan berührte sie, und der Kopf des Mannes fiel zurück. Dort, wo sein Ohr hätte sein müssen, befand sich ein rundes Loch, aus dem eine klebrige Flüssigkeit gelaufen und angetrocknet war. Unter dem Kopf war eine dicke Schicht geronnenes Blut, das die Gesichter der beiden aneinandergeklebt und Louises Nachthemd sowie ihren Morgenmantel durchtränkt hatte. Susan hörte ihren eigenen Entsetzensschrei. Sie hielt sich erschrocken den Mund zu und taumelte zurück, während der Fußboden unter ihr zu wanken und die Möbel zu tanzen schienen.
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6 Die Polizei bat Susan zu warten, bis die Beamten eingetroffen seien. Ihre Stimme hatte am Telefon so gezittert, daß sie erstaunt war, sich überhaupt verständlich gemacht zu haben. Sie war von dem Schock völlig benommen. Noch lange, nachdem die freundliche Stimme am Telefon verstummt war, die sie angewiesen hatte, nichts zu tun und nichts zu berühren, saß Susan da, den Hörer kraftlos in der Hand, und starrte auf die Madonna. Das Aufplatschen von Wasser vor dem Haus verriet ihr die Ankunft des Wagens. Susan war verwundert, überhaupt stehen zu können. Sie tastete sich an den Möbeln entlang wie eine Blinde zur Tür. Der Airedale hatte nicht angeschlagen, doch in ihrem augenblicklichen Zustand war sie sich über die Bedeutung dieser Tatsache nicht klar geworden. Sie beobachtete mit Entsetzen, wie ein Schlüssel ins Schloß geschoben wurde. Bob war zum Essen nach Hause gekommen. Er schüttelte sich die Regentropfen aus dem Haar, bevor er wahrnahm, wer in der dämmrigen Diele auf ihn wartete. »Susan?« Sie konnte nicht sprechen. Ihre Lippen öffneten sich, und sie holte tief Luft. Er sah sie an und dann an ihr vorbei auf die kalte Asche auf dem Rost sowie die Aktentasche auf dem Küchentisch. »Wo ist Louise?« Susans Stimme war nur ein heiseres Flüstern. »Bob, ich … Sie ist oben. Ich – ich habe die Polizei angerufen.« »Was ist denn passiert?« »Sie ist tot. Sie sind beide tot.« »Sie sollten ja zum Kaffee kommen«, sagte er töricht. Dann machte er einen Satz zur Treppe. »Sie dürfen nicht hinauf!« rief Susan und packte ihn bei den Schultern. Bob ergriff ihre Handgelenke, als wolle er 47
sich freimachen, und dann begann der Hund Pollux zu bellen, dumpf erst, gleich darauf wütend, als der Polizeiwagen durch die Straßenpfützen preschte. Bob ließ sich schlaff auf die Treppenstufen sinken und stützte den Kopf in die Hände. Es waren drei Polizeibeamte, ein kleiner, braungesichtiger Inspektor namens Ulph, ein Sergeant und ein Constable. Sie verbrachten lange Zeit im Obergeschoß und mit der Befragung Bobs in der Küche, bevor sie sich an Susan wandten. Der Sergeant kam an der geöffneten Wohnzimmertür mit ein paar Bogen Papier vorbei, die wie Briefe aussahen. Susan hörte Bob sagen: »Ich weiß nicht, wer er ist. Ich kenne nicht einmal seinen Namen. Fragen Sie die Nachbarn. Die werden Ihnen sagen, daß er der Liebhaber meiner Frau gewesen ist.« Susan schauderte zusammen. Ihr war noch nie in ihrem Leben so kalt gewesen. Jetzt hatten sie sich die Aktentasche vorgenommen. Susan konnte das durch die Durchreiche beobachten. Sie sah auch Bob blaß und steif am Küchentisch sitzen. »Nein, ich wußte nicht, daß er verheiratet war«, sagte Bob. »Warum sollte ich? Bernard Heller heißt er? Natürlich habe ich keine Zentralheizung bestellt.« Seine Stimme wurde lauter und brach. »Verstehen Sie denn nicht? Das Ganze ist nur ein Vorwand gewesen.« »Wo sind Sie heute vormittag gewesen, Mr. North?« »Mein Wagen war in der Inspektion, deshalb bin ich zu Fuß von zu Hause fort. Etwa um halb neun. Als ich losging, war meine Frau noch im Morgenrock und machte gerade das Bett. Ich arbeite als Kalkulator bei einer Baufirma und fuhr nach Barnet, um mir eine Baustelle anzusehen. Dann holte ich meinen Wagen aus der Werkstatt in Harrow ab und fuhr hierher. Ich dachte … Ich dachte, meine Frau würde mich zum Essen erwarten.« 48
Susan wandte den Kopf ab. Der Mantel, den Louise am Vortag angehabt hatte, lag über eine Stuhllehne geworfen, als würde sie jeden Augenblick hereinkommen, um ihn überzuziehen. Susan stiegen Tränen in die Augen, und sie schluchzte kurz auf. Gleich darauf trat der kleine, braungesichtige Inspektor ins Zimmer. Er schloß hinter sich die Tür und sagte behutsam: »Versuchen Sie, sich nicht aufzuregen, Mrs. Townsend. Ich weiß, das alles ist ein großer Schock für Sie gewesen.« »Es geht mir ganz gut. Wirklich. Hier ist es nur so schrecklich kalt.« Er mochte annehmen, daß ihre Augen vor Kälte tränten, wenn sie das auch für unwahrscheinlich hielt. Er hatte einen mitfühlenden Gesichtsausdruck. Nicht die Sorte von Polizist, die angesichts des Todes derbe Witzchen riß. »Wußten Sie, daß Mrs. North mit diesem Mann, diesem Heller, ein Verhältnis hatte?« fragte der Inspektor. »Ich … Nun, es war allgemein bekannt«, begann Susan. »Ich weiß, sie war sehr unglücklich darüber. Sie war katholisch und konnte sich nicht scheiden lassen.« Ihre Stimme bebte. »Sie war schrecklich deprimiert, als sie gestern zu mir kam.« »So deprimiert, daß sie an Selbstmord gedacht haben könnte? Oder daran, einem gemeinsamen Selbstmord zuzustimmen?« »Ich weiß nicht.« Die plötzliche Verantwortung erschreckte Susan. Ihre Hände waren eiskalt und zitterten. »Eine Katholikin würde doch keinen Selbstmord begehen, nicht wahr? Aber sie befand sich in einem erbarmungswürdigen Zustand. Ich weiß noch, daß ich dachte, jetzt ist sie mit ihrem Latein am Ende.« Er befragte sie ruhig über die Ereignisse des Vormittags, und Susan berichtete ihm, um Fassung bemüht, wie sie 49
kurz nach neun Hellers Wagen gesehen und dann ständig darauf gewartet hatte, daß er wegfahren würde. Wie Mrs. O’Donnell gekommen war und wie sie sich schließlich aufgerafft hatte, hinüber nach Braeside zu gehen, um Louise und Heller zu wecken, weil sie vermutet hatte, die beiden seien eingeschlafen. »Sonst ist im Laufe des Vormittags niemand ins Haus gegangen?« Susan schüttelte den Kopf. »Haben Sie jemanden weggehen sehen?« »Nur Mrs. O’Donnell.« »Tja, das wäre im Augenblick alles, Mrs. Townsend. Leider werden Sie bei der gerichtlichen Untersuchung anwesend sein müssen. Und jetzt würde ich an Ihrer Stelle Ihren Mann anrufen und ihn bitten, möglichst früh nach Hause zu kommen. Sie sollten lieber nicht allein sein.« »Ich bin nicht verheiratet«, sagte Susan verlegen. »Das heißt, ich bin geschieden.« Inspektor Ulph erwiderte nichts, aber er brachte Susan zur Tür, wobei er sie mit der Hand leicht unter dem Ellbogen stützte. Als sie hinaustrat in den Garten, schreckte sie blinzelnd zurück. Die Menschenmenge, die sich auf dem Bürgersteig angesammelt hatte, wirkte auf sie genauso schockartig wie grelles Sonnenlicht auf jemanden, der aus totaler Finsternis kommt. In Mäntel gehüllt, standen Doris, Betty und Eileen vor Doris’ Gartentor, umgeben von all den anderen Anwohnern des Orchard Drive, die nicht unterwegs waren. Niemand sprach ein Wort. Sogar Pollux war von dem ungewohnten Kommen und Gehen erschöpft verstummt und lag zu Füßen seiner Herrin, den Kopf zwischen den Pfoten. Doris sah verfrorener und elender aus, als Susan sie jemals erlebt hatte. Aber ausnahmsweise kam keine Klage wegen der Kälte über ihre Lippen. Sie trat einen Schritt 50
vor, legte den Arm um Susans Schultern, und Inspektor Ulph sagte: »Würde eine der Damen sich freundlicherweise Mrs. Townsends annehmen?« Susan ließ sich von Doris an dem grünen Zephyr, dem Polizeiwagen und dem schwarzen Leichenwagen vorbei in ihr Haus geleiten. »Ich bleibe bei dir, Susan«, sagte Doris. »Die ganze Nacht bleibe ich hier. Ich lasse dich nicht allein.« Ihr Gesicht war grau und verstört. »Ach, Susan, Susan … Dieser Mann, hat er sich und sie umgebracht?« »Ich weiß nicht. Er muß es wohl getan haben.« Es war eigenartig, dachte Susan, wie die Tragödie in allen die besten Eigenschaften zum Vorschein brachte: Takt, Freundlichkeit und Anteilnahme. Die einzige Taktlosigkeit, derer sie sich später erinnern konnte, war das Geschenk, mit dem Roger Gibbs zu Pauls Geburtstagsparty ankam, nämlich mit einem Spielzeugrevolver. »Manche Leute sind doch wirklich nicht mehr zu retten«, sagte Mrs. Dring. »Stellen Sie sich vor, einen Revolver! Von Mrs. Gibbs hätte man etwas mehr Überlegung erwarten können. Außerdem hat sie ihren Jungen auch mit einer akuten Erkältung herkommen lassen. Was soll ich mit den Kindern denn spielen? Die Reise nach Jerusalem oder Hänschen piepe mal? Ich hoffe zu Gott, daß Paul nichts mit der Uhr passiert, die ihm sein Vater geschickt hat.« Mrs. Dring war an diesem Nachmittag ungewöhnlich gedämpft und trotz der knalligen Aggressivität ihrer roten Haare und des lila Kleides, von dem sie behauptete, ihr Mann habe es gestrickt, ausgesprochen sanft. »Hat Mr. Townsend sich schon gemeldet?« Die Uhr war mit der ersten Post gekommen, begleitet von einer Glückwunschkarte, auf der statt des für einen Sechsjährigen passenderen, plüschäugigen Teddybärs van 51
Goghs Mühlen in Dortrecht abgebildet waren. Julian vertrat die Meinung, daß mit der Geschmacksbildung bei Kindern nicht früh genug begonnen werden könne. Für Susan hatte keine Zeile beigelegen, und angerufen hatte er auch nicht. »Er muß es doch in der Zeitung gelesen haben«, sagte Doris unwillig, als sie mit einem Tablett Wurstbrötchen vorbeijonglierte. Mrs. Dring runzelte die Stirn. »Vielleicht will er etwas darüber in seiner eigenen Zeitung veröffentlichen.« »Das ist nicht die Art von Zeitung, die so etwas bringt«, stellte Susan richtig. Nur weil sie Pauls Interesse von dem Geschehen im Nachbarhaus hatte ablenken wollen, war Susan zu dem Entschluß gelangt, die Geburtstagsparty wie geplant stattfinden zu lassen. Aber jetzt, während die Jungen ausgelassen zu der Musik des Plattenspielers durch das Haus tobten, kamen ihr doch Bedenken, ob Bob, wenn er den Krach hinüberschallen hörte, diesen Übermut nicht als Zeichen von Gleichgültigkeit gegenüber seinem Schmerz auffassen könnte. Sie hoffte, er würde ihre Motive begreifen und auch verstehen, daß sie ihn noch nicht besucht hatte, weil sie es für besser hielt, ihn erst einmal allein zu lassen. Als Susan nach der gerichtlichen Untersuchung zurückkam, wurde sie schon vor der Tür von Doris abgefangen und gleich ins Wintersche Haus geschleppt. Das gemütlich prasselnde Kaminfeuer und der sorgfältig gedeckte Tisch waren offensichtlich als Köder gedacht, um Susan möglichst lange festzuhalten und ihr auch das kleinste Detail über die Ermittlungen zu entlocken. Doris’ sanfte, mitfühlende Stimmung war längst verflogen, und ihre Gier nach Klatsch hatte wieder die Oberhand gewonnen. 52
»Was war mit der Waffe?« fragte Doris, wobei sie Susan reichlich Obstsalat auf den Teller füllte. »Anscheinend hat dieser Heller sie aus Amerika eingeschmuggelt. Sein Zwillingsbruder hat sie identifiziert und ausgesagt, Heller habe bereits im September einen Selbstmordversuch unternommen. Allerdings nicht mit der Waffe. Der Bruder fand ihn, als er den Gashahn aufgedreht hatte.« Doris nickte eifrig, um Susan zum Weiterreden zu ermuntern. »Er hat zwei Schüsse auf Louise abgegeben, beide ins Herz. Dann hat er sich selbst erschossen. Der Pathologe fand es etwas merkwürdig, daß er die Waffe fallen gelassen hat, aber das soll auch schon in anderen Fällen vorgekommen sein. Ich bin gefragt worden, ob ich die Schüsse gehört hätte, aber ich habe nichts gehört.« »Wie soll man denn bei diesen Preßluftbohrern irgend etwas hören?« »Vermutlich war das der Grund. Es wurde übrigens der Tatbestand des Mordes und bei Heller des Selbstmordes festgestellt. Er soll schon öfter mit Selbstmord gedroht haben. Das haben sein Bruder und seine Frau ausgesagt.« Doris piekte sich ein paar Ananasstücke aus dem Obstsalat heraus. »Wie ist denn die Frau?« »Sehr hübsch, würde ich sagen. Erst fünfundzwanzig.« Susan sah wieder vor sich, wie Carl Heller und Magdalene Heller vor Beginn der Untersuchung versucht hatten, mit Bob North zu sprechen, und wie Bob sie brüsk abgewiesen hatte. Sie würde wohl nie vergessen, wie dieser große, schwere Mann auf Bob zugegangen und ihn in seinem mit starkem Akzent gefärbten Englisch angesprochen hatte, und Bobs bittere Verachtung für die Frau des Mannes, von dem Louise umgebracht worden war. Doris würde sie davon nichts berichten, auch nichts von Bobs rasendem Ausbruch vor Gericht, als Magdalene Heller ihm vorgeworfen 53
hatte, er habe seine Frau durch Vernachlässigung in die Arme eines anderen Mannes getrieben; und nichts von dem bestürzten, erstarrten Entsetzen der jungen Frau, das sich schließlich in Schmähungen gegen Bob Luft gemacht hatte. »Sie wußte von Louise«, sagte Susan. »Heller hatte versprochen, sie aufzugeben und seine Ehe wieder zu flicken, aber er hielt sein Wort nicht. Deshalb fühlte er sich auch schon monatelang so deprimiert und trug sich mit Selbstmordgedanken.« »Sind sich die Frau und Bob schon früher begegnet?« »Bob wußte nicht einmal, daß Heller verheiratet war. Niemand weiß, wie sich Heller und Louise kennengelernt haben. Heller arbeitete bei einer Firma namens Equatair, deren Geschäftsführer auch vorgeladen war. Er sagte aus, Heller habe im Mai als Repräsentant der Firma nach Zürich gehen sollen – anscheinend hatte er sich immer gewünscht, in die Schweiz zurückkehren zu können. Er ist dort geboren und aufgewachsen – aber er zeigte keinerlei Interesse, als er den Posten angeboten bekam. Vermutlich dachte er daran, daß dies die Trennung von Louise bedeuten würde. Der Geschäftsführer sagte, Equatair bekäme seine Kunden, indem Offerten mit Antwortkarten versandt würden. Louise sei nicht angeschrieben worden, deshalb müsse angenommen werden, Heller habe ihr persönlich eine Antwortkarte gegeben, damit sie sie ausfüllen und seinen Besuch anfordern konnte. Damit alles ganz harmlos aussah.« Doris verschlang Susans Bericht mit wahrer Begeisterung. »Ich frage mich, warum die beiden nicht miteinander durchgebrannt sind.« »Nach Hellers Briefen zu urteilen, wollte er das tun, aber Louise nicht. Anscheinend hat sie nie richtig mit Bob darüber gesprochen.« 54
»Briefe?« hakte Doris erregt ein. »Was für Briefe?« Die Polizei hatte die Briefe in einem Schubfach in Louises Frisiertisch entdeckt. Zwei Liebesbriefe von Heller an Louise, geschrieben im November und Dezember vergangenen Jahres. Carl Heller hat die Handschrift seines Bruders identifiziert, deren Echtheit außerdem noch durch einen Vergleich mit Hellers Arbeitsnotizen bestätigt worden war. Bobs Gesicht war grau geworden, als die Briefe vor Gericht verlesen worden waren, und Hellers Witwe hatte, das Gesicht mit den Händen bedeckt, den Kopf gegen die breite Schulter ihres Schwagers gepreßt. »Es waren nur Liebesbriefe«, erwiderte Susan, von Doris’ Beharrlichkeit erschöpft. »Es wurden Teile daraus vorgelesen. An den Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern«, log sie. Ihr Gesichtsausdruck mußte ihren Unwillen verraten haben, denn Doris wechselte mit einem gemurmelten: »Na, das wird ja morgen alles in der Zeitung stehen«, das Thema, um sich endlich auch einmal für Susans Zustand zu interessieren. »Ich bin ein Biest, dich so auszuquetschen, nicht wahr? Du siehst ganz erschöpft aus. Hoffentlich wirst du nicht krank.« Susan fühlte sich tatsächlich ziemlich zerschlagen und schwindlig. Wahrscheinlich kam das von dem überheizten Raum. Zu Hause würde ihr bestimmt besser werden. Sie verabschiedete sich von Doris und überquerte schnell die Straße, ohne nach »Braeside« zu blicken. Arbeit wird im allgemeinen als beste Medizin verordnet, deshalb setzte sich Susan sofort an die Schreibmaschine. Doch obwohl sie ihre Hände knetete und gegen den Heizkörper preßte, wollten sie nicht zu zittern aufhören. Es war ihr unmöglich, Maschine zu schreiben. Würde sie in diesem Haus überhaupt je wieder arbeiten können? Es erinnerte sie alles so schrecklich an »Braeside«. Sie wünschte 55
von Herzen, sie hätte sich am Mittwoch nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert, selbst wenn dann Bob die entsetzliche Entdeckung hätte allein machen müssen. Ihr erster Eindruck, die Atmosphäre in »Braeside«, hatte in ihr das Bild eines Totenhauses hinterlassen, dessen Wirkung auf ihr eigenes Haus auszustrahlen schien. Zum erstenmal begann sie sich zu fragen, warum sie nach der Scheidung überhaupt in Matchdown Park wohnen geblieben war. Susan hörte Bobs Wagen kommen, doch sie blickte nicht hoch. Jetzt, nachdem alles vorüber war, hätte sie ihm vielleicht Trost geben können, aber sie besaß weder die physische Stärke noch die Willenskraft, hinauszugehen und an seine Tür zu klopfen. Oft hatte sie Doris’ tägliches Erscheinen zur Teezeit verflucht, aber als Paul allein nach Hause kam, gab ihr das einen Stich. Seit Monaten hatte sie kein so starkes Bedürfnis nach menschlicher Ansprache gehabt. Am liebsten hätte sie sich ins Bett gelegt und geweint. Ein sechsjähriges Kind, und sei es noch so geliebt, ist keine Gesellschaft für eine Frau, die sich selbst so verunsichert und niedergeschlagen fühlt wie ein Kind. Susan fragte sich, ob Paul in ihren Augen die gleiche Verwirrung lesen mochte wie sie in den seinen. »Roger Gibbs sagt, Mrs. North ist von einem Mann erschossen worden«, berichtete Paul angelegentlich, wobei er seinem blassen Gesicht ein breites, männliches Lächeln abrang. »Sie war ganz voll Blut, und es hat eine Verhandlung gegeben, wie im Fernsehen.« Susan lächelte zurück, ebenfalls so angelegentlich wie möglich. Bevor sie zu einer entschärfenden Erklärung ansetzen konnte, fuhr Paul fort: »Er sagt, der Mann hätte Mrs. North heiraten wollen, aber das ging nicht, deshalb hat er sie erschossen. Warum hat er das getan? Wenn sie 56
tot war, konnte er sie doch sowieso nicht mehr heiraten. Daddy hat Elizabeth doch auch nicht erschossen, und er hat sie heiraten wollen.« »Das war nicht ganz das gleiche. Wenn du älter bist, wirst du es verstehen.« »Das sagst du immer.« Paul ging zu seiner Spielkiste hinüber. Der Revolver, den er von Roger Gibbs bekommen hatte, lag obenauf. Paul nahm ihn in die Hand, betrachtete ihn sekundenlang und ließ ihn wieder fallen. »Darf ich meine Uhr ummachen?« fragte er. »Ja sicher, Liebling.« »Darf ich sie tragen, bis ich ins Bett muß?« Susan hörte, wie Bobs Wagen von der Garagenausfahrt zurückgesetzt wurde. Diesmal trat sie ans Fenster und beobachtete ihn. Sie starrte lange Zeit auf die leere Straße hinaus und dachte daran, wie sie Bob von ihrer Verlassenheit in der Nacht nach Julians endgültigem Auszug erzählt hatte.
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7 Der Bericht über die polizeilichen Ermittlungen im Evening Standard war vier Spalten lang. David kaufte sich ein Exemplar von einem Straßenhändler und las es im Gehen, während er auf seinen Wagen zuschlenderte. Die Abendzeitungen vom Mittwoch hatten Fotos von Magdalene Heller, von Bob North und von der jungen Nachbarin gebracht, die die Toten aufgefunden hatte. Am heutigen Tag war nur eine Aufnahme abgebildet, auf der Mrs. Heller Arm in Arm mit einem Mann das Gerichtsgebäude verließ. Der Überschrift war zu entnehmen, daß der Mann Hellers Zwillingsbruder war. David schien die Ähnlichkeit der Brüder wirklich verblüffend zu sein. Offenbar war er derjenige, für den der Projektor ausgeliehen worden war. David hatte das Gerät am Dienstagabend ausgepackt, ein bißchen erheitert über die Sorgfalt, mit der Heller es in mehrere Lagen Zeitungspapier eingeschlagen hatte. Aber dann war seine Erheiterung einer gewissen Bedrücktheit gewichen, als er nämlich in einer der Zeitungen eine kleine Notiz entdeckt hatte, in der Hellers Eheschließung mit einer Miss Magdalene Chant vermeldet wurde. Die Notiz war David nur ins Auge gefallen, weil Heller sie mit Tinte umrandet und dem Datum versehen hatte: 7. 6. 62. Die Zeitung war ein Erinnerungsstück gewesen, dachte David, das Heller nicht mehr hatte aufheben wollen, nachdem seine Ehe schiefgegangen war. Zuletzt hatte sie für ihn nur noch den Wert von Einwickelpapier gehabt. David ging durch den Kopf, wie merkwürdig es war, daß ausgerechnet er ein relativ flüchtiger Bekannter, mit Heller am Vorabend von dessen Tod zusammengewesen war, und das länger als je während der zwei oder drei Jahre, die sie 58
sich gekannt hatten. Jetzt fragte er sich, ob er Heller in dessen letzten Stunden vielleicht enttäuscht und im Stich gelassen haben mochte und ob er, was das Schlimmste war, nicht doch ein paar Worte der Anteilnahme oder der Ermunterung hätte finden können, die Heller womöglich von seinem Vorhaben abgebracht hätten. David fühlte sich schuldig. Er hatte versagt. Er hielt sich ohnehin oft für zu entschlußlos und zaghaft. Er hatte gar nichts getan, schlimmer noch, er hatte Hellers Wohnung mit ausgesprochener Erleichterung verlassen. Und am folgenden Tag hatte sich Heller erschossen. David war so deprimiert, daß er dringend etwas zu trinken brauchte. Er faltete die Zeitung zusammen, stopfte sie in die Tasche und machte sich auf den Weg nach Soho und dem »Mann mit der eisernen Maske«. Es war noch früh und die Kneipe ziemlich leer. David war noch nie an einem Freitag dortgewesen. Gewöhnlich fuhr er freitags zeitig nach Hause, um das Wochenende zu genießen. Er sah sich nach bekannten Gesichtern um. An einem Tisch neben dem Eingang saßen die beiden bärtigen Männer. Als David an ihnen vorbeiging, hörte er den einen sagen: »›Manche Leute würden für Geld alles tun‹, habe ich ihm ins Gesicht gesagt. ›Aber Geld ist nicht alles.‹« »Das ist Ansichtssache, Charles …« In der finstersten Ecke des Lokals saß ganz allein ein Mädchen. Sie hatte David den Rücken zugekehrt und starrte an die kahle Wand. David bestellte ein Bier. Während er auf das Wechselgeld wartete, spähte er neugierig zu dem einsamen Mädchen hinüber. Er konnte nur ihren Rücken sehen, langes schwarzes Haar, und lange Beine in Samthose. Sie saß ganz still und betrachtete die braune Wandtäfelung mit einer Faszination, als verfolge sie ein aufregendes Fernsehprogramm. 59
Etwas an ihrer Schulterhaltung kam ihm bekannt vor, und er überlegte, ob er sie schon gesehen haben könnte, als die Tür aufging und fünf junge Männer hereinkamen. Der plötzliche Luftzug veranlaßte sie, schnell und nervös den Kopf zu wenden. David erkannte sie sofort. »Guten Abend, Mrs. Heller«, rief er verblüfft. Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu bestimmen. Angst? Vorsicht? Verärgerung? Was mochte sie ausgerechnet am Tag der polizeilichen Untersuchung des Todes ihres Mannes allein in einer Kneipe im Westend wollen? »Ist das Ihr Stammlokal?« fragte sie in abweisendem Ton. »Ich komme manchmal her. Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?« Ihr »Nein« kam so schroff, daß einige Gäste die Köpfe hoben. »Ich meine, nein danke. Bemühen Sie sich nicht. Ich wollte sowieso gerade gehen.« David hatte erwogen, ihr einen Kondolenzbrief zu schreiben, hatte den Gedanken dann aber fallenlassen, weil es ihm unangebracht erschienen war, einer Frau sein Beileid auszudrücken, die von einer offenkundig unglücklichen Ehe befreit worden war. Nun fühlte er sich aber doch verpflichtet, ihr ein paar Worte zu sagen, und sei es nur, um ihr zu zeigen, daß er von Hellers Tod wußte. Er rang sich also einige gestelzte Phrasen ab, aber nach einem ungeduldig gemurmelten: »Ja, ja«, unterbrach sie ihn etwas unlogisch. »Ich war mit jemandem verabredet, aber sie ist nicht gekommen.« Sie? Eine Kneipe in Soho schien David ein ziemlich ungewöhnlicher Ort als Treffpunkt für zwei Frauen zu sein. Magdalene Heller stand auf und begann, ihren Mantel zuzuknöpfen. »Kann ich Sie zur U-Bahn bringen? Mein Wagen steht nicht weit von hier.« 60
»Machen Sie sich keine Mühe. Das ist nicht notwendig.« David leerte sein Glas. »Es ist keine Mühe für mich«, sagte er. »Tut mir leid, daß Ihre Freundin nicht gekommen ist.« David spürte, daß sie ihm am liebsten davongerannt wäre. Während sie zum Ausgang gingen, suchte sie nervös in ihrer Handtasche herum. Schließlich hatte sie die Zigaretten gefunden. David holte sein Feuerzeug heraus und hielt ihr die Flamme vor das Gesicht. Hinter ihr öffnete sich die Tür. Nur etwa dreißig Zentimeter weit, dann wurde ihr Schwung abgebremst. Magdalene Heller zog den Rauch ein und drehte sich um. David wußte selbst nicht, warum er den Finger weiter auf den Anzünder gepreßt hielt, so daß die Flamme noch immer brannte. Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, stand auf der Schwelle und starrte herein. Magdalene Heller wandte sich wieder David zu. »Vielen Dank, David. Ich bin sehr froh, daß wir uns getroffen haben«, sagte sie mit unerwarteter Beredtsamkeit. David war von dieser unerwarteten Kehrtwendung so verdutzt, daß er ihr in das hübsche, plötzlich errötete Gesicht starrte. Ihre Zigarette war wieder ausgegangen. Er gab ihr erneut Feuer. Der Mann verschwand so abrupt, daß die Tür hin und her pendelte. Obwohl sie schon zum Gehen bereit gewesen waren, öffnete Magdalene Heller noch einmal ihre Handtasche und wühlte ziellos darin herum. »Kannten Sie diesen Mann?« fragte David, um dann, da er meinte, etwas unhöflich gewesen zu sein, wahrheitsgemäß hinzuzufügen: »Ich kenne ihn jedenfalls bestimmt. Es könnte jemand sein, mit dem ich beruflich Kontakt gehabt habe, beim Fernsehen. Sein Gesicht kommt mir ungemein vertraut vor.« »Er ist mir nicht aufgefallen.« 61
»Ich könnte sein Bild auch in der Zeitung gesehen haben. In irgendeinem Zusammenhang. Ja, das wird es wohl sein.« »Da scheint mir das Fernsehen wahrscheinlicher«, sagte sie gleichmütig. »Er schien Sie zu kennen.« Oder war dieses Mädchen wirklich so ungewöhnlich gutaussehend, daß es sogar hier im Westend auffiel, wo es von hübschen Mädchen nur so wimmelte? Sie legte die Hand auf seinen Arm. »David?« Sie blickte ihn mit ihren goldgesprenkelten Augen an. Warum war ihm ihre Berührung nur so unangenehm, als habe eine Schlange seinen Ärmel gestreift? »David, wenn Sie nichts Besseres vorhaben, würden Sie – würden Sie mich nach Hause fahren?« Den ganzen Weg zum Wagen hing sie an Davids Arm und plapperte ununterbrochen. Ob sie in der Lage sein würde, ihre Wohnung zu halten, über ihre Zukunft, ihre mangelnde Berufsausbildung. Sie hatte einen bestimmten Akzent, den David die ganze Zeit unterzubringen suchte, während er so tat, als höre er zu. Wie frisch verwitwet sah sie jedenfalls nicht aus. Die eng anliegende Hose, der hochgeschnürte Busen, das knallige Make-up und die lange schwarze Mähne waren im Gegenteil ziemlich provozierend. Nachdem sie etwa eine Viertelstunde gefahren waren, legte sie ihm die Hand auf das Knie. Er hatte nicht den Mut, sie wegzuschieben, und begann zu schwitzen, als ihre Finger seine Oberschenkel streichelten. Sie rauchte unentwegt und öffnete alle paar Minuten das Fenster, um Asche hinauszuschnippen. »Geht es weiter geradeaus?« fragte er. »Oder muß ich nach links?« 62
»Fahren Sie ruhig weiter. Ich sage Ihnen schon Bescheid.« David folgte ihren Anweisungen und kurvte durch ein Gewirr kleiner Straßen. Nach geraumer Zeit tippte sie ihm mit dem Finger auf die Hand. »Würden Sie einen Augenblick anhalten, David? Ich muß mir Zigaretten kaufen.« David hatte gesehen, daß das Päckchen in ihrer Tasche noch fast voll gewesen war. Zögernd fuhr er an den Bordstein. Sie waren ziemlich allein und unbeobachtet. »Ich bin so einsam, David«, begann sie. »Sei lieb zu mir.« Ihr Gesicht war so dicht an dem seinen, daß er jede Pore ihrer Haut sehen konnte. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ach, David«, flüsterte sie. Es war wie ein Traum, ein Alptraum. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Und wie in einem Alptraum war David einen Augenblick lang völlig steif und willenlos. Sie berührte seine Wange, streichelte sie und verschränkte dann ihre warmen Hände in seinem Nacken. Er versuchte sich einzureden, daß er sie sicher falsch beurteilte, daß sie sehr einsam war, niedergeschmettert, trostbedürftig. Deshalb legte er den Arm um sie. Den vollen, feuchten Lippen wich er aus, indem er seine Wange gegen die ihre preßte. So verharrte er eine halbe Minute. Erst als sie ihren Mund mit der Saugkraft einer See-Anemone auf seinen Hals drückte, nahm er den Arm von ihren Schultern. »Kommen Sie«, sagte er. »Die Leute können uns sehen.« Es war keine Menschenseele zu erblicken. »Fahren wir weiter.« Er mußte sie von sich wegstemmen, eine Erfahrung, die sie offenbar noch nie gemacht hatte. Sie atmete schwer und blickte verdrossen vor sich hin. Die Mundwinkel hatte sie schmollend herabgezogen. »Ich lade Sie zu mir zum Essen ein«, sagte sie mit klagendem Unterton. »Bitte kommen Sie. Ich kann gut ko63
chen, wirklich. Sie dürfen nicht danach urteilen, was ich neulich Bernard vorgesetzt habe. Ihm war ganz egal, was er aß.« »Ich kann nicht, Magdalene.« Er war zu verlegen, um sie anzublicken. »Aber Sie sind jetzt doch schon bis hierher mitgekommen. Ich möchte mit Ihnen reden.« Unglaublicherweise legte sich ihre Hand schon wieder auf sein Knie. »Lassen Sie mich doch nicht so allein.« David wußte nicht, was er tun sollte. Einerseits war sie eine Witwe, jung und arm, die ihren Mann erst vor wenigen Tagen verloren hatte und die man nicht im Stich lassen durfte. Zumal er schon ihren Mann im Stich gelassen hatte. Und der Mann hatte sich umgebracht. Andererseits war da ihr ungeheuerliches Benehmen, der plumpe Verführungsversuch. Die ganze Essenseinladung war doch ganz offenkundig nur ein Vorwand. Aber sollte er sie deshalb tatsächlich sich selbst überlassen? Schließlich war er ein erwachsener Mann mit einiger Erfahrung. Er konnte auf sich aufpassen und mit gebotenem Takt allzugroße Peinlichkeiten vermeiden. Was mochten nur ihre Beweggründe sein? War sie schlicht eine Nymphomanin oder nur durch den Schock aus dem Geleise gebracht? Jedenfalls war David nicht eitel genug anzunehmen, er habe plötzlich einen unwiderstehlichen Sex-Appeal entwickelt. »Ich weiß nicht, Magdalene«, sagte er zweifelnd. Sie fuhren an dem erleuchteten Kino vorbei. An einer Bushaltestelle stand eine lange Menschenschlange aufgereiht. David gab einen erstickten Schreckenslaut von sich. Seine Hände wurden feucht. Am Ende der Schlange stand Bernard Heller und las seine Abendzeitung. Natürlich war es nicht Bernard Heller. Dieser Mann war größer und schwerer, sein Gesicht bulliger, weniger intel64
ligent als Bernards. Wäre David nicht sowieso schon nervös und verwirrt gewesen, hätte er auf Anhieb erkannt, daß dies der Zwillingsbruder Carl war, der den Projektor ausgeliehen hatte. Aber sie waren sich ungeheuer ähnlich. David bereitete der Anblick Carls ein wenig Unbehagen. Er hielt neben der Schlange, und Carl Heller wälzte sich auf den Rücksitz. Magdalene war ziemlich blaß geworden. Sie stellte David ihrem Schwager kurzangebunden vor. »David wird bei mir essen, Carl«, verkündete sie, um in einem Ton, als gehörte ihr der Wagen sowie David mindestens zur Hälfte, hinzuzufügen: »Wir setzen dich erst ab.« »Ich kann nicht zum Essen bleiben, Magdalene«, sagte David entschieden. Die Anwesenheit von Bernards Bruder verwirrte ihn zwar, gab ihm aber zugleich seine Entschlossenheit wieder. Hier waren geeignete Hände, in denen er die Witwe beruhigt zurücklassen konnte. »Ich weiß leider nicht, wo Sie wohnen, Mr. Heller.« Magdalene murmelte etwas, das wie Copenhagen Street klang. Sie hatte gerade begonnen, David auseinanderzusetzen, wie er weiterzufahren habe, als David spürte, wie sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte. »Sie ist heute abend nicht in der Verfassung, Besuch zu empfangen, Mr. Chadwick.« Die Stimme war viel kehliger als Bernards. Es lag mehr in dem Satz, als der höflichversteckte Hinweis, daß David nicht erwünscht sei. David hörte aus ihm einen gewissen Besitzanspruch, Stolz, Sorge und … Ja, vielleicht Eifersucht heraus. »Ich werde mich um sie kümmern«, sagte Carl. »Das hätte auch mein armer Bruder gewollt. Sie hat heute einen schlimmen Tag gehabt, aber sie hat mich.« Magdalene hatte aufgegeben. Sie sagte kein Wort mehr, bis sie Hengist House erreicht hatten. »Vielen Dank fürs Nachhausebringen.« 65
»Ich habe mich gefreut, daß wir uns getroffen haben«, log David. Carls Gesichtsausdruck glich genau dem von Bernard, stumpf vor Schmerz, unerträglich erschütternd, und David hörte sich in einem sinnlosen Echo die Worte wiederholen, die er zu dem toten Mann gesagt hatte: »Hören Sie, falls ich irgend etwas für Sie tun kann …« »Niemand kann etwas tun.« Die gleiche Antwort, der gleiche Ton. Dann sagte Carl: »Die Zeit wird helfen.« Magdalene blieb ein wenig zurück. »Gute Nacht, dann«, sagte David. Er beobachtete, wie Carl ihren Arm ergriff und sie mit sanfter Gewalt zur Haustür bugsierte, während sie sich leicht ziehen ließ und dabei zurückschaute wie ein Kind, dessen Vater gekommen ist, um es von einem gefährlichen Spiel mit dem Nachbarjungen nach Hause zu holen.
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8 Julian und Susan hatten versucht, sehr zivilisiert und aufgeklärt zu sein. Sie mußten in Kontakt bleiben, damit Julian seinen Sohn sehen konnte. Es war ihnen vernünftiger erschienen, eine ganz unemotionale Freundschaft zu unterhalten, und Susan hatte gewußt, daß dies schwierig sein würde. Wie schwierig, wie fast unmöglich, hatte sie sich nicht vorgestellt. Wenn das Leben glatt lief, zog sie es vor, nicht an Julians Existenz erinnert zu werden, und seine Telefonanrufe stellten eine unbehagliche Störung ihres Seelenfriedens dar. War sie jedoch unglücklich oder nervös, erwartete sie von ihm, das zu wissen und wieder bis zu einem gewissen Grade ihr Mann zu sein. Natürlich wußte sie, daß dies eine unmögliche, völlig unvernünftige Hoffnung war. Und sie hätte ihre Empfindungen auch keinem Menschen gegenüber zugegeben. Julian mußte sein eigenes Leben führen. Aber war es wirklich so unvernünftig, gerade dieses Mal ein Zeichen der Anteilnahme von ihm zu erwarten? Louises Tod hatte in allen Zeitungen gestanden. Auch über die gerichtliche Untersuchung war ausgiebig berichtet worden. Und Julian war ein eifriger Zeitungsleser. Daß er trotzdem nicht angerufen hatte, bewies eine gedankenlose Gleichgültigkeit, die Susans angestaute Depression zu der panikerregenden, schrecklichen Vorstellung steigerte, daß es der ganzen Welt völlig egal sei, ob sie nun lebte oder starb. Den Abend und die Nacht allein verbringen zu müssen, schien ihr plötzlich eine schrecklichere Qual als alles, was sie seit ihrer Scheidung durchgemacht hatte. Zum erstenmal störte sie sogar das Vorhandensein von Paul. Wäre er nicht gewesen, hätte sie wenigstens ausgehen können, ins Kino oder zu irgendwel67
chen alten Bekannten. Hier in diesem Haus konnte sie an nichts anderes denken als an Louise. Immer wieder stellte sie sich die gleichen Fragen. Hätte sie helfen, hätte sie den Lauf der Dinge ändern können? Wie sollte sie nur Tage, Wochen und Monate in diesem Haus aushalten und wie vor allem mit Paul fertig werden? Er war am Abend immer wieder auf Louise und den Mann zurückgekommen, und Susan hatte ihre Unfähigkeit verflucht, ihm überzeugende Antworten zu geben. Sie war erleichtert gewesen, als er sich schließlich seinen geliebten Spielzeugautos zugewandt und bis zur Bettgeh-Zeit hingebungsvoll damit beschäftigt hatte. Deshalb war es unverzeihlich, diesen aufsteigenden Zorn zu verspüren, als sie an ihren Schreibtisch trat und sah, wie Paul ihn hinterlassen hatte: als vielstöckiges Parkhaus mit winzigen Motorhauben und Stoßstangen, die aus jedem Spalt und jeder Ritze ragten. Schwarze Reifenspuren liefen über die obersten drei Manuskriptseiten. Unverzeihlich, wütend zu werden, und grausam vielleicht, die Wut nicht im Zaum zu halten. Aber die Worte waren schon heraus, bevor sie noch ganz die Treppe oben war, bevor sie sich bremsen und mit zusammengebissenen Zähnen bis zehn zählen konnte. »Wie oft habe ich dir gesagt, meine Sachen in Ruhe zu lassen? Das wirst du nicht noch einmal tun, nie mehr! Und wenn du es tust, darfst du deine Uhr eine ganze Woche lang nicht tragen.« Paul stimmte ein herzzerreißendes Geheul an. Er griff nach seiner Uhr, die auf ihrem Samtkissen lag, und drückte sie an sein Gesicht. Susan ließ sich, selbst den Tränen nah, auf die Knie nieder und nahm ihren Sohn in die Arme. »Hör auf zu weinen. Nun weine doch nicht.« »Ich will es nie wieder tun, aber du darfst mir meine Uhr nicht wegnehmen.« Wie schnell die Tränen eines Kindes 68
versiegten. Sie hinterließen keine Spuren, keine häßliche, aufgequollene Röte. Louises Tränen hatten ihr Gesicht zerfurcht, alt, aufgewühlt hinterlassen. Paul beobachtete sie mit der scharfen Intuition eines Kindes. »Ich kann nicht einschlafen, Mammi«, klagte er. »Ich mag dieses Haus nicht mehr leiden.« Er hatte den Kopf an ihre Schulter gepreßt. »Werden sie den Mann fangen und ins Gefängnis sperren?« »Er ist doch auch tot, Liebling.« »Ganz bestimmt? Rogers Mutter sagt, er sei weggegangen. Aber sie sagt auch, daß Mrs. North weggegangen ist. Wenn er nun doch nicht tot ist und wieder herkommt?« Susan ließ das Licht in Pauls Schlafzimmer und im Treppenhaus brennen. Unten im Wohnzimmer überlief sie ein Frösteln. Sie drehte die Zentralheizung auf, ging zum Telefon und wählte Julians Nummer. An diesem Abend, an dem alles schiefging, würde sich bestimmt Elizabeth melden. »Hallo, Elizabeth, hier Susan.« »Susan …« Die Wiederholung des Namens blieb in der Luft hängen. Wie immer schwang in Elizabeths rauher Schulmädchenstimme leiser Zweifel mit, als kenne sie mindestens ein Dutzend Susans. »Susan Townsend.« Es war grotesk und schier unerträglich. »Könnte ich Julian einen Augenblick sprechen?« »Aber sicher, wenn Sie wollen. Er ist gerade beim Nachtisch.« Wie diese beiden die Nahrungsaufnahme zelebrierten! Sie hatten vieles gemeinsam. Eines Tages würden sie zweifellos auch die Fettleibigkeit teilen. »Gut, daß Sie jetzt angerufen haben. Das Wochenende verbringen wir nämlich bei Mummy.« »Na, dann viel Vergnügen.« »Bei Mummy ist es immer sehr vergnüglich. Diese Toten da draußen in Matchdown Park finde ich ja wirklich 69
das Letzte. Und Sie haben mitten drin gesteckt. Aber sicher haben Sie kühles Blut bewahrt. Das tun Sie doch immer, nicht wahr? Ich hole bloß schnell Julian.« Julians Stimme klang, als habe er den Mund voll. »Wie geht es dir, Julian?« »Danke, nicht schlecht.« Susan fragte sich, ob ihr gereizter Seufzer am anderen Ende der Leitung zu hören gewesen war. »Julian, ich nehme an, du hast von den Ereignissen hier draußen gelesen. Was ich dich fragen wollte, ist folgendes: Hättest du etwas dagegen, wenn wir dieses Haus verkaufen? Ich möchte so bald wie möglich von hier wegziehen. Ich weiß nicht mehr, wie unsere Besitzverhältnisse miteinander verknüpft sind, nur noch, daß alles ziemlich kompliziert ist und wir beide einverstanden sein müssen.« »Verfahre ganz nach deinem Ermessen, meine Liebe.« Hatte er seinen Nachtisch mit zum Telefon gebracht? Er schien während des Gesprächs zu essen. »Du bist völlig frei in deinen Entscheidungen. Ich werde mich da nicht einmischen. Sei nur darauf bedacht, nicht weniger als zehntausend Pfund zu verlangen, und achte bei der Wahl deines neuen Wohnsitzes darauf, daß eine anständige Schule für meinen Sohn in der Nähe ist.« Er schluckte und fuhr lebhaft fort: »Übergib die Sache am besten einem Makler. Und falls mir jemand über den Weg läuft, der danach lechzt, in dem so bekömmlichen Matchdown Park zu vegetieren, werde ich ihn vorbeischicken. Sag mal, haben wir mit den Norths jemals mehr als einen Gruß gewechselt?« »Du hast mit niemandem mehr als einen Gruß gewechselt. Bestenfalls in Verbindung mit einem ironischen Grinsen.« Einen Augenblick dachte sie, ihn beleidigt zu haben. Dann sagte er: »Weißt du, Susan, du bist seit unserer 70
Trennung bedeutend bissiger geworden. Steht dir nicht schlecht. Es macht mich fast … äh, nein, das wollte ich nicht sagen. Ein recht attraktiv aussehender Bursche, dieser North, wie ich mich erinnere, sogar eine Art Intellektueller, nicht wahr?« »Er ist Kalkulator bei einer Baufirma.« »Nun, was immer das sein mag, jedenfalls werdet ihr euch jetzt ziemlich auf der Pelle sitzen. Kein Wunder, daß du wegziehen willst.« »Ich glaube kaum, daß ich noch jemals mit ihm reden werde«, sagte Susan. Julian murmelte etwas davon, daß er seine Mahlzeit noch beenden und für das Wochenende bei Lady Maskell packen müsse. Susan verabschiedete sich hastig, weil sie wußte, daß sie zu weinen beginnen würde. Sie wischte die Tränen, die ihr die Wangen hinunterliefen, nicht ab. Jedesmal, wenn Julian mit ihr sprach, hoffte sie auf Verständnis und Anteilnahme und vergaß dabei ganz, daß er mit anderen Leuten immer so ironisch, ätzend und distanziert geredet hatte. Nun gehörte sie eben auch zu diesen anderen Leuten und seine liebevolle Zuneigung nur noch Elizabeth. Trotzdem liebte sie ihn nicht mehr. Sie hatte sich nur noch nicht daran gewöhnt, keine Ehefrau mehr zu sein, im Denken eines Mannes keine Rolle mehr zu spielen. Wenn man verheiratet war, konnte man niemals völlig allein sein. Höchstens sich selbst überlassen, was ein Unterschied war. Paul war eingeschlafen. Sie deckte ihn zu, wusch sich das Gesicht und zog sich die Lippen nach. Ein ziemlich sinnloses Unterfangen, doch sie spürte, um halb acht Uhr schon ins Bett zu gehen, konnte zu einer Art Präzedenzfall werden. Man legte sich ins Bett, weil es nichts gab, für das sich aufzubleiben lohnte. Man stand morgens nicht auf, weil man sich sonst dem Leben stellen mußte. 71
Sie würde wegziehen. Daran mußt du dich klammern, dachte sie. Nie mehr zum Fenster stürzen, weil ein Hund bellte. Nie mehr verfolgen, wie Bob Norths Scheinwerferlicht über die Zimmerdecke huschte und an der Garagenwand verlosch, so wie in diesem Augenblick. Susan zog die Vorhänge zu. Ihr Hals war rauh und trokken. Das mußte vom überheizten Zimmer kommen. Warum wurde ihr abwechselnd heiß und kalt? Sie ging hinaus, um die Heizung erneut zu regulieren, und fuhr erschrocken zusammen, als die Haustürklingel anschlug. Wer mochte sie um diese Zeit besuchen? Der Hund hatte nicht gebellt. Es mußte Betty oder Doris sein. Der Mann auf der Schwelle räusperte sich, als sie die Hand auf die Klinke legte. Der Laut, nervös, rauh, verlegen, verriet ihr, bevor sie geöffnet hatte, wer draußen stand. Sie empfand ein unbehagliches Gefühl von Verzagtheit, das schnell in bloße Erleichterung darüber umschlug, daß überhaupt jemand zu ihr wollte. Dann ließ sie Bob North herein. Er gab sofort zu erkennen, daß dies nicht nur ein kurzer Besuch an der Haustür war, und Susan, die Julian noch kurz zuvor versichert hatte, sie würde mit ihrem Nachbarn wohl kaum noch in Kontakt geraten, war merkwürdig froh, als er ganz wie ein Freund und regelmäßiger Gast sofort ins Wohnzimmer strebte. Sein Gesicht zeigte keine Spur mehr von der Bitterkeit und dem Leid, die er vor Gericht zur Schau getragen hatte, und obwohl er sich noch einmal dafür entschuldigte, Susan in seine Angelegenheiten mit hineingezogen zu haben, gab er keine Erklärung über den Grund seines Erscheinens. Daß er mit einer bestimmten Absicht gekommen war, wurde nur durch seine Nervosität und den forschenden Blick klar, mit dem er Susan musterte. 72
»Haben Sie gearbeitet? Störe ich?« »Nein, nein.« Der Verlust, den er erlitten hatte, unterschied ihn von anderen Männern, machte ihn zu jemandem, der behutsam behandelt werden mußte. Susan ging der verblüffende Gedanke durch den Kopf, daß es unmöglich war, für einen Mann, der so gut aussah wie Bob, sehr viel Mitleid zu empfinden. Hätte sich nicht die Tragödie ereignet, und wäre er ohne diesen Anlaß zu ihr gekommen, hätte sie sich allein mit ihm unbehaglich gefühlt. »Wollen Sie sich nicht setzen?« fragte sie steif. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« »Das ist sehr lieb von Ihnen.« Er nahm ihr die Flasche aus der Hand. »Lassen Sie mich das machen.« Sie beobachtete ihn, wie er Gin in ein Glas goß und mit Bitter Lemon auffüllte. »Und was trinken Sie? Nein, schütteln Sie nicht den Kopf …« Er verzog das Gesicht zu einem kleinen, schiefen Grinsen, dem ersten Lächeln, das sie seit Louises Tod bei ihm sah. »Dies wird eine lange Sitzung werden, Susan, sofern Sie bereit sind, auszuharren.« »Natürlich«, murmelte sie. Das also war der Zweck seines Besuches. Er wollte mit jemandem reden, der nahe genug stand, um zuzuhören, und wiederum weit genug entfernt, um ihn, wenn er nicht mehr gebraucht wurde, beiseitezuschieben. Louise hatte das gleiche vorgehabt, aber sie war vorher gestorben. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Susan ließ sich auf die Couch sinken. Vor wenigen Augenblicken noch war sie erfreut gewesen über Bobs Besuch; jetzt fühlte sie sich nur noch ungeheuer müde. Bob durchquerte den Raum, wandte sich ruckartig um und zog aus der Tasche eine Rolle Papier, die er auf den Couchtisch fallen ließ. Susan streckte nach den Papieren die Hand aus und hob fragend die Brauen. Er nickte ihr auffordernd zu. 73
Sie entfaltete ohne sonderliche Neugier die erste Seite. Dann ließ sie das Blatt jedoch mit einem spitzen Aufschrei fallen, als habe sie einen kochendheißen oder ekelhaft glitschigen Gegenstand berührt. »Nein, das geht wirklich nicht! Diese Briefe kann ich nicht lesen!« »Sie erkennen sie also?« »Teile davon sind vor Gericht verlesen worden.« Susans Gesicht brannte. »Warum …« Sie räusperte sich, weil ihr Hals brannte. »Warum wollen Sie, daß ich die Briefe lese?« fragte sie heftig. »Seien Sie nicht so hart mit mir, Susan.« Er verzog die Augenbrauen wie ein kleiner Junge. Sie mußte plötzlich an Paul denken. »Die Polizei hat mir diese Briefe gegeben. Sie gehörten Louise, verstehen Sie? Und ich … Nun ja, ich habe sie geerbt. Heller hat sie ihr im vergangenen Jahr geschrieben. Im vergangenen Jahr, Susan. Seit ich diese Briefe kenne, habe ich nichts anderes mehr denken können. Sie verfolgen mich.« »Dann verbrennen Sie sie.« »Ich kann nicht. Ich lese sie immer wieder. Sie haben jede glückliche Erinnerung vergiftet, die ich an Louise hatte.« Er schlug die Hände vors Gesicht. »Sie wollte mich loswerden. Bin ich so verabscheuungswürdig?« Sie vermied eine direkte Antwort, weil die Frage absurd war. »Sie sind überreizt, Bob. Das ist nur natürlich. Wenn Menschen eine Liebesaffäre haben, sagen sie Dinge, die sie nicht ernst meinen, Dinge, die nicht unbedingt wahr sind. Ich nehme an, Julians Frau hat über mich eine Menge übertriebene, unschöne Bemerkungen gemacht.« Sie hatte solche Überlegungen noch nie angestellt. Es kostete sie Überwindung, sie in Worte zu fassen. Er nickte eifrig. »Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Ich wußte, daß Sie Verständnis haben würden.« Er stand behende auf und hielt ihr erneut die Briefe vors Gesicht. 74
Susan hatte von der Möglichkeit gesprochen, daß Elizabeth diffamierende Äußerungen über sie gemacht haben könnte. Wäre das in schriftlicher Form geschehen und ein solcher Brief in Susans Hände gelangt, hätte nichts auf der Welt sie dazu bewegen können, ihn einem Außenstehenden zu zeigen. Dennoch hätte sich vermutlich die Mehrheit aller Außenstehenden voll Gier auf eine solche Lektüre gestürzt. Sie mußte wohl außergewöhnlich prüde sein oder vielleicht auch nur feige. Ein Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt. Susan griff nach einer Zigarette. Ihr ging durch den Kopf, daß sie überhaupt noch nie Liebesbriefe gelesen hatte. Nicht einmal eigene. Julian und sie waren kaum getrennt gewesen, und wenn, hatten sie miteinander telefoniert. Bob schien ihr mehr Erfahrung zuzutrauen. Mit einem kleinen Seufzer begann sie zu lesen: 3, Hengist House, East Mulvihill 6. November 67 Mein Liebling, Du bist Tag und Nacht in meinen Gedanken. Wirklich, ich weiß nicht mehr, wann der Traum endet und das Wachsein beginnt, denn Du erfüllst mein ganzes Denken, und ich laufe herum wie ein Schlafwandler. Ich weiß, daß ich meist ziemlich langsam und schwerfällig bin, mein Schatz – ich kann mir vorstellen, wie Du beim Lesen dieser Zeilen lächelst und meine Behauptung vielleicht (hoffentlich!) bestreitest – aber es ist wahr, und nun bin ich auch noch halb blind und taub dazu. Meine Liebe zu Dir hat mich blind gemacht, aber nicht so blind, daß ich nicht in die Zukunft sehen könnte. Es erfüllt mich mit Angst, daß es mit uns womöglich noch jahrelang so weitergeht, daß wir uns nur gelegentlich und noch dazu heimlich sehen können. 75
Warum entschließt Du Dich nicht und sagst ihm die Wahrheit? Es hat keinen Zweck zu meinen, es könnte etwas geschehen, das alles von allein regelt. Was sollte geschehen? Er ist noch nicht alt und kann noch lange Jahre weiterleben. Du behauptest zwar, Du wünschst Dir nicht, daß er stirbt, aber das kann ich nicht glauben. Jeder Blick in Dein Gesicht verrät mir, daß Du ihn als eine Bürde betrachtest. Der Rest ist Konvention, und in Deinem Herzen weißt Du das auch. Er hat weder ein Recht noch einen Anspruch auf Dich, den heutzutage noch irgend jemand anerkennen würde. Im Grunde genommen läuft alles, was Du sagst, darauf hinaus, daß wir so weitermachen und warten müssen, bis er stirbt. Nein, ich will dich nicht dazu verleiten, ihm etwas in den Tee zu tun. Ich bitte Dich nur zum hundertstenmal, ihn davon zu überzeugen, daß Du ein Anrecht hast auf Dein eigenes Leben, das mit Dir teilen will Dein Dich liebender, aber sehr unglücklicher Bernard Nein, das war kein abstoßender Brief – es sei denn, man kannte den Mann, von dem Heller als lästiges Übel sprach. Und auch den zweiten Brief hätte man erschütternd finden können, ohne den Mann zu kennen, auf den er sich bezog. Die Adresse war dieselbe, das Datum fast einen Monat später. 2. Dezember 67, las Susan, und dann: Mein süßer Liebling, ich kann ohne Dich nicht mehr leben. Ich kann nicht meilenweit von Dir entfernt weiterexistieren und arbeiten und dabei daran denken, wie Du bei ihm Dein Leben vergeudest und Dich zu seiner Sklavin machst. Du mußt ihm von mir erzählen, ihm sagen, daß Du jemanden gefunden hast, der Dich aufrichtig liebt und Dir ein anstän76
diges Heim geben wird. Als wir uns vergangene Woche trafen, hast Du es mir halb versprochen, aber ich weiß, wie schwach Du sein kannst, wenn Du tatsächlich bei ihm bist. Braucht er wirklich all diese Pflege und Aufmerksamkeit, und würde nicht eine Haushälterin den gleichen Zweck erfüllen? Er ist weiß Gott immer grob und undankbar gewesen und, wie Du erzählt hast, sogar manchmal handgreiflich. Sprich mit ihm heute abend, Liebling, wenn Du bei ihm bist in Deinem – wie ich es nur bezeichnen kann – Gefängnis. Die Zeit vergeht so schnell, und wie wirst Du in ein paar Jahren sein, wenn Du älter bist und noch immer an ihn gebunden? Er wird Dich niemals wirklich schätzen und lieben. Alles, was er haben will, ist ein Dienstbote. Du wirst verbittert werden und versauern, und glaubst Du wirklich, unsere Liebe könnte unter diesen Umständen dauern? Ich für meinen Teil denke jedenfalls manchmal, daß ich ohne Dich meinem Leben nur ein Ende bereiten kann. Es ist mir unmöglich, weiter so dahinzuvegetieren. Schreibe mir oder besser noch, komm zu mir. Du hast mich noch nie glücklich gesehen, nicht so glücklich jedenfalls, wie ich sein werde, wenn ich weiß, daß Du ihn endlich verlassen hast. Bernard Susan faltete die Briefe zusammen. Ohne auf ihren Inhalt einzugehen, fragte sie, um das lastende Schweigen zu brechen: »Waren nur diese beiden? Hat er nicht mehr geschrieben?« »Sind die nicht genug?« »So habe ich das nicht gemeint. Ich hatte nur mehr erwartet, eine ganze Reihe.« »Mehr hat sie jedenfalls nicht aufgehoben.« 77
»Vielleicht hat sie sich geniert«, bemerkte Susan bitter. »Schließlich sind es nicht gerade literarische Meisterwerke.« »Das ist mir nicht aufgefallen. So etwas kann ich schlecht beurteilen. Immerhin ist die Bedeutung klar genug. Louise haßte mich so sehr, daß sie bereit war, Lügen über mich zu verbreiten.« Er nahm ihr die Briefe aus der Hand. »Susan«, fragte er eindringlich, »Sie glauben doch nicht etwa, daß ich ein gewalttätiger, grober Sklaventreiber gewesen bin?« »Natürlich nicht. Deshalb halte ich es auch für sinnlos, diese unglückseligen Briefe zu behalten. Sie würden sie nur wieder und wieder lesen und sich selbst quälen.« Einen schrecklichen Augenblick lang befürchtete sie, er würde zu weinen beginnen. Sein Gesicht verzerrte sich und wurde fast häßlich. »Ich kann es nicht über mich bringen, sie zu vernichten«, sagte er. »Susan, würden Sie es tun? Würden Sie es für mich tun, wenn ich sie Ihnen hierließe?« Langsam nahm sie die Briefe von seinem Schoß. »Ich verspreche es, Bob«, sagte sie und fühlte sich dabei völlig erschöpft. »Ich verspreche, es zu tun, sobald Sie gegangen sind.« Sie dachte, daß er sich daraufhin verabschieden würde. Wenn es auch noch nicht spät war, hatte sie jetzt doch das unwiderstehliche Bedürfnis nach Schlaf. »Ich sollte Sie mit alldem nicht langweilen«, fuhr er statt dessen in einem Ton fort, der das genaue Gegenteil verhieß. Offenbar war ihr die Müdigkeit nicht anzumerken. »Aber ich muß einfach mit jemandem reden. Ich kann das nicht alles für mich behalten.« »Sprechen Sie ruhig. Bob. Ich verstehe das durchaus.« Sie hörte zu, wie er von seiner Ehe berichtete, seiner einst so großen Liebe zu Louise, ihrer beider Enttäuschung 78
über ihre Kinderlosigkeit. Er stellte Vermutungen darüber an, wie Louise und Heller sich kennengelernt, welche Gemeinsamkeiten sie gehabt haben mochten. Er sprach mit Heftigkeit und Leidenschaft und wanderte dabei im Zimmer auf und ab. Susan lehnte sich zurück und nickte ihm von Zeit zu Zeit mitfühlend zu. Die Stummel in ihrem Aschenbecher begannen sich zu türmen, ihr Hals war rauh wie Sandpapier. »Mein Gott, entschuldigen Sie, Susan«, sagte er schließlich. »Ich habe Sie wirklich überstrapaziert. Jetzt gehe ich aber.« Sie unternahm keinen höflichen Versuch, ihn zurückzuhalten. Er ergriff impulsiv ihre Hand, und als er sich über sie beugte, verschwamm sein dunkles, lebhaftes Gesicht vor ihren Augen. »Versprechen Sie mir, daß ich diese schrecklichen Briefe nicht mehr zu Gesicht bekommen werde«, sagte er. Sie nickte. »Sie brauchen mich nicht zur Tür zu bringen. Ich lasse mich selber hinaus. Ich werde nie vergessen, was Sie für mich getan haben.« Das Klappen der Haustür fuhr Susan wie ein Stich durch den Kopf. Sie hatte Schüttelfrost, und ihr Rücken schmerzte. Sie schloß einen Moment lang die Augen. Als sie erwachte, war es Mitternacht. Die Heizung hatte sich abgeschaltet, so daß die Kälte an Susan emporkroch. Irgendwann, bevor sie eingeschlafen war, mußte sie die Gläser in die Küche getragen und den überquellenden Aschenbecher geleert haben. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, aber als sie sich aufrichtete, wußte sie sehr genau, daß ihre Schlaffheit und der scharfe Schmerz im Hals nichts zu tun hatten mit den gefühlsmäßigen Wechselbädern des Tages. Sie hatte ganz schlicht eine handfeste Grippe.
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9 Seit Julians Auszug schlief Susan in einem der beiden zusätzlichen Räume, die nach hinten hinausgingen. Jetzt war sie darüber besonders froh, denn krank in einem Zwilling von Louises Schlafzimmer zu liegen, wäre die schlimmste Medizin für sie gewesen. Als Susan nach einer unruhig verbrachten Nacht am Morgen Fieber maß, zeigte das Thermometer 39,5 Grad. »Geh hinüber zu Mrs. Winter, Schatz«, sagte sie zu Paul, der um acht ins Zimmer kam, »und bitte sie, dir Frühstück zu geben.« »Was hast du denn?« »Nur eine starke Erkältung.« »Wahrscheinlich hat Roger Gibbs dich bei meiner Geburtstagsparty angesteckt«, konstatierte Paul. – »Der hängt seine Erkältung allen Leuten an.« Der Arzt erschien gleichzeitig mit Doris, die sich am Fußende aufbaute und seine Diagnose mit guten Ratschlägen anreicherte. »Steck du dich nicht auch noch an«, sagte Susan matt, nachdem sich der Arzt verabschiedet hatte. »Nein, nein, keine Sorge, ich fange niemals Erkältungen ein.« Es stimmte. Trotz ihrer Überempfindlichkeit gegen niedrige Temperaturen war Doris nie erkältet. »Ich scheine immun zu sein«, sagte sie, während sie Susans Kissen aufschüttelte. »Hör dir bloß meinen Hund an. Er bringt sich fast um, weil drüben der Leichenwagen vorgefahren ist.« Sie lauschte mit schief geneigtem Kopf. »Wenigstens habe ich jetzt eine Entschuldigung, daß ich nicht mitzugehen brauche. Und für dich wäre Aufstehen glatter Selbstmord.« Sie schlug sich die Hand vor den 80
Mund. »O Gott, das hätte ich in diesem Zusammenhang lieber nicht sagen sollen. Ich habe gehört, die Katholiken wollen Louise nicht auf ihrem Friedhof haben. Wirklich eine Schande, weil es doch Heller getan hat.« Der Hund bellte hohl, und eine Tür wurde zugeschlagen. »Ich habe Bob getroffen. Er läßt dir gute Besserung wünschen. Stell dir vor, obwohl er selber doch soviel um die Ohren hat, wollte er wissen, ob er etwas für dich tun kann. Ich habe übrigens bei dir ein bißchen aufgeräumt und Staub gewischt. Nicht daß es nötig gewesen wäre, du hast ja immer alles tadellos in Schuß.« »Du bist sehr lieb, Doris.« »Nur ziemlich herrschsüchtig und wichtigtuerisch, Herzchen.« Doris’ plötzliche, unerwartete Selbstanalyse berührte Susan sympathischer als alle Hilfsbereitschaft. Sie krächzte etwas wegen Paul, und Doris sagte: »Er ist mit Richard zur Schule. Über das Wochenende kannst du ihn getrost bei uns lassen. Und was machst du ganz allein? Vielleicht können wir dir das Fernsehgerät heraufbringen.« »Nein, danke, das ist nicht nötig, Doris. Vielleicht lese ich nachher ein bißchen.« »Na, falls du dich langweilst, kannst du ja zusehen, wie sich die Arbeiter da draußen zu Tode schuften.« Doris zerrte den Vorhang zur Seite und lachte. »Die sind genauso schrecklich wie ich. Sie brauchen ihr Feuer und ihren Tee.« Eigentlich hatte Susan vorgehabt, einen jener Klassiker zu lesen, deren Lektüre ungeteilte Aufmerksamkeit verlangt, und deshalb Doris gebeten, ihr »Auf den Spuren der verlorenen Zeit« aus dem Bücherschrank zu holen. Aber Proust überforderte sie. Ihre Konzentrationsfähigkeit war so geschwächt, daß sie das Buch nach zehn Minuten angestrengten Starrens auf tanzende Zeilen sinken ließ 81
und sich zu ihrem eigenen Mißfallen dabei ertappte, wie sie Doris’ albernen Vorschlag befolgte und aus dem Fenster schaute. Der blaßblaue Himmel wirkte ungemütlich kalt, und Susan konnte durchaus verstehen, daß die Arbeiter ihr Feuer brauchten. Sie standen alle drei um den Kanonenofen und rührten in ihren verbeulten Teebechern. Louise hatte ihnen den Tee in Porzellangeschirr serviert. Susan stopfte sich die Kissen hinter den Kopf, um besser sehen zu können. Es war erstaunlich, wie unterhaltend es war, drei völlig unbekannte Menschen zu beobachten, die sich bewegten und miteinander unterhielten. Daß sie nichts hören konnte, erhöhte sogar noch den Reiz. Die Gruppe bestand aus einem älteren Mann, einem jüngeren und einem jungen Burschen. Die beiden Erwachsenen schienen den Jungen aufzuziehen, was jener sich gutgelaunt gefallen ließ. Dann kam ein Mädchen in kurzem rotem Mantel um die Ecke von O’Donnells Zaun. Als es an den Arbeitern vorbeiging, hob es den Kopf hoch in die Luft. Der Junge starrte sie an und rief ihr etwas hinterher. Susan lehnte entspannt in ihren Kissen. Sie hatte Louise vergessen und Bob, Pauls Ängste und Julians leichtfertige Gleichgültigkeit. Eine sehr viel ältere Frau kam vorüber, aber auch sie erntete einen anerkennenden Pfiff. Susan mußte lächeln, etwas beschämt darüber, sich so kindisch zu amüsieren. Wie alt mußte eine Frau wohl sein, um bei denen keinen Pfiff mehr hervorzulocken? Vierzig, fünfzig oder sechzig? Um drei Uhr holte der Junge einen schwarzen Kessel aus der Bauhütte und setzte ihn auf den Ofen. Ob die drei wußten, daß Louise tot war? Der Tee war fertig, die Becher wurden wieder gefüllt. Bei dem Quantum, das die drei tranken, war es ihnen offenbar bequemer, den Tee selbst aufzubrühen, als ihn aus 82
dem zweihundert Meter entfernten Café zu holen. Zweifellos war es ein harter Schlag für sie gewesen, als ihr Abgesandter am Mittwoch vergeblich an Louises Tür geklopft hatte. Sie hatten nicht den Jungen geschickt, überlegte Susan, sondern offenbar den jüngeren Mann, der sich jetzt gerade einen blauen Pullover überzog. Um sechs Uhr erschien Doris mit Paul und brachte ihn ins Bett. Die Arbeiter waren nach Hause gegangen, und Susan starrte verträumt auf die trüben roten Markierungslaternen, die sie zurückgelassen hatten. »Ich habe Besuch mitgebracht«, sagte Doris Sonntag nachmittag. »Rate mal, wen.« Julian konnte es nicht sein, der verbrachte das Wochenende auf dem Land bei Lady Maskell. Außerdem mied er Krankenzimmer. »Es ist Bob.« Doris blickte nervös über die Schulter zurück, da seine Schritte die Treppe heraufkamen. »Er wollte unbedingt kommen, obwohl ich ihn gewarnt habe, daß er in seiner schlechten Verfassung jeden Bazillus besonders leicht aufschnappt.« Er hatte beide Arme voll Osterglocken. Susan war überzeugt, daß sie im Vorgarten von »Braeside« gestanden hatten. Sie sah im Geist das große, quadratische Beet voll abgeschnittener Stiele vor sich. Anfänglich setzte Bobs Anblick sie in Verlegenheit, und sie überlegte, ob er seine mangelnde Zurückhaltung von Freitag abend wohl bedauerte. Er wirkte jedoch völlig unbefangen, wenn er auch, bis Doris das Zimmer verlassen hatte, ziemlich wortkarg blieb. »Ich hatte eigentlich erwartet, daß Sie wegfahren würden«, sagte Susan. »Nicht direkt auf Urlaub, aber um sich etwas abzulenken.« »Ich wüßte nicht, wo ich hinfahren sollte. Sonst bin ich immer nur mit ihr zusammen verreist.« Er holte eine Vase 83
und stopfte die Blumen ungeschickt und etwas lieblos hinein. »Hier bin ich besser aufgehoben«, fuhr er fort. »Außerdem habe ich noch allerhand zu erledigen.« Doris streckte mit einem strahlenden Lächeln den Kopf durch die Tür. »Mit Ihren Ferien scheinen Sie sowieso Pech zu haben. Ich erinnere mich, daß im vergangenen Jahr Louise krank wurde und Sie dieses Schiffsunglück miterlebten.« Bob erwiderte nichts, doch seine Miene verdüsterte sich gefährlich. »Der armen Louise ging es so wie dir jetzt, Susan, und Bob mußte sich so gut wie möglich allein amüsieren. O Gott, Bob, hätte ich Louise lieber nicht erwähnen sollen?« »Bitte«, sagte Bob gepreßt. Er setzte sich auf Susans Bettrand, ohne seine Gereiztheit über Doris’ Anwesenheit allzusehr zu verbergen. »Gott sei Dank, daß sie weg ist«, sagte er, nachdem sie endlich verschwunden war. »Bringt sie Sie nicht zum Wahnsinn?« »Sie ist eine gute Freundin, Bob. Schrecklich hilfsbereit.« »Ihr entgeht einfach nichts, was sich in dieser Straße abspielt. Und ihr Köter hat mich fast verrückt gemacht, als der Leichenwagen hier war.« Er stieß einen unglücklichen Seufzer aus, der Susan mit plötzlichem Mitleid erfüllte. Am liebsten hätte sie ihn tröstend in den Arm genommen, so wie sie das bei Paul zu tun pflegte. Der Gedanke irritierte sie. War er ihr gekommen, weil Bob so jung und verwundbar wirkte? Dabei war er älter als sie, vier oder fünf Jahre sogar. Bob ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und schloß sie dann leise. Er bewegt sich so geschmeidig wie ein Panther, ging ihr durch den Kopf. »Haben Sie die Briefe vernichtet?« fragte er. »Sie sagten, Sie würden sie verbrennen.« »Natürlich«, erwiderte Susan fest. Dabei hatte seine Frage ihr einen mächtigen Schreck versetzt. An die Briefe 84
hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht. Sie konnte sich auch trotz aller Anstrengung und entgegen der beruhigenden Versicherung, die sie Bob gegeben hatte, nicht mehr erinnern, ob sie sie tatsächlich verbrannt hatte oder nicht. Womöglich lagen sie noch unten auf dem Tisch, frei zugänglich für Doris oder Mrs. Dring? »Ich wußte, daß ich mich auf Sie verlassen kann, Susan«, sagte Bob. »Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Freitag abend auf die Nerven gegangen bin.« Er nahm das Buch hoch, das auf ihrer Bettdecke lag. »Anspruchsvolle Kost! Wenn ich krank bin, möchte ich nur stilliegen und aus dem Fenster schauen.« »Das habe ich gestern getan. Ich habe fast den ganzen Tag lang nur die Arbeiter beobachtet.« »Faszinierender Zeitvertreib«, bemerkte er ziemlich kühl, um dann fortzufahren: »Ein trübseliges Leben, das Sie führen, Susan. All diese Monate müssen Sie sehr einsam gewesen sein, und ich habe nie darüber nachgedacht.« »Warum sollten Sie?« »Ich habe in Ihrer Nachbarschaft gelebt. Es hätte mir auffallen müssen. Vielleicht hat Louise …« Er unterbrach sich und sprach dann mit verdrossenem Unterton weiter: »Aber sie war zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Wie alt sind Sie, Susan?« »Sechsundzwanzig.« »Sechsundzwanzig! Und wenn Sie krank sind, müssen Sie allein in Ihrem Zimmer liegen und haben nichts Besseres zu tun, als vier oder fünf Arbeitern zuzusehen, die die Straße aufreißen.« Sie versuchte zu lachen, aber sie war zu heiser. »Immer bin ich nicht allein«, sagte sie krächzend. »Doris sorgt vorzüglich für mich.« »Ja, Sie haben sie eine gute Freundin genannt. Ich wünschte, Sie hätten mich als guten Freund bezeichnet. 85
Das heißt, ich wünschte, die Situation wäre derart gewesen, daß Sie mich so hätten bezeichnen können.« Er stand abrupt auf und ging aus dem Zimmer. Als er wiederkam, hatte er Paul bei sich, der seine Armbanduhr über dem Pyjama-Ärmel festgeschnallt trug. »Ich kann dir keinen Gute-Nacht-Kuß geben, Liebling. Ich bin ganz voll Bazillen.« »Du hast gar keine Uhr hier drin«, sagte Paul. »Möchtest du meine haben? Nur für heute nacht?« »Das ist sehr lieb von dir gemeint, aber ich würde doch nicht im Traum daran denken, dich deiner Uhr zu berauben.« Seine Erleichterung war unübersehbar. »Na, gute Nacht.« »Komm, laß mal sehen, ob ich dich hochheben kann.« Bob legte die Hände um die Taille des Jungen. »Du bist so groß geworden. Ich wette, du wiegst eine Tonne.« Paul ließ sich hochheben, aber als Bob ihn wie ein kleines Kind hin und her zu schaukeln versuchte, sträubte er sich und rief: »Laß mich runter! Laß mich runter!« »Nun sei nicht albern.« Susan fühlte sich müde und wünschte, alle würden sie jetzt allein lassen. Mochte Bob ruhig denken, ihr Sohn habe protestiert, weil er sich nicht wie ein Baby behandeln lassen wollte. Sie wußte, daß es da einen anderen, dunkleren Grund gab. »Gute Nacht, Susan.« Pauls Zurückweisung hatte ihn offenbar nicht verärgert, denn er bedachte sie mit seinem charmanten, jungenhaften Lächeln, das ganz vergessen ließ, wie düster er dreinblicken konnte. Sie spürte instinktiv, daß er sich nur mit Paul abgegeben hatte, um ihr zu gefallen, nicht aus Liebe zu Kindern. »Gute Nacht, Bob. Und danke für die Blumen.« »Ich komme bald wieder«, sagte er. »Glauben Sie nicht, Sie hätten mich zum letztenmal gesehen.« Sie waren jetzt 86
allein. Er ging zur Tür und zögerte. »Sie sind meine Rettung gewesen, Susan. Ein Licht in der Dunkelheit.« Nachdem der leise, sich ständig wiederholende Sing-Sang »Tick-tack, tick-tack, tick-tack« in Pauls Zimmer verstummt war, zog Susan ihren Morgenrock an, überzeugte sich, daß ihr Sohn eingeschlafen war, und ging dann die Treppe hinunter. Ihre Beine waren wackelig, und jeder Schritt bewirkte ein Pochen in ihren Schläfen. Das Wohnzimmer war ordentlicher, als Mrs. Dring es jemals hinterließ. Susans Blick wanderte sofort zu dem Tisch, wo sie Hellers Briefe zuletzt gesehen hatte, aber auf dem polierten Rund stand lediglich ein sauberer Aschenbecher. Doris hätte die Briefe mit Vergnügen gelesen. Aber sie hätte sie niemals fortgenommen. Susan schob den Kaminschirm beiseite und starrte auf den Rost. Auf den sauberen Stangen lagen keine Papier-Aschenreste. Es sprach alles dafür, daß sie die Briefe doch selbst verbrannt hatte. Und als sie sich jene fieberverschwommenen Stunden ins Gedächtnis zurückzurufen versuchte, war sie fast überzeugt, daß sie mit dem Feuerzeug Hellers Briefe in Brand gesteckt und zugesehen hatte, wie die Flammen seine Worte verschlangen. Sie sah das ebenso deutlich vor sich, wie sie sich Doris vorstellen konnte, die mit Kehrbesen und Schaufel den Rost sauberfegte.
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10 Die weiche, schmeichelnde Stimme am anderen Ende der Leitung war merkwürdig beharrlich. »Bernard hat sehr viel von Ihnen gehalten, David. Er sprach oft von Ihnen. Es wäre doch zu schade, wenn wir den Kontakt verlieren würden, und ich weiß, daß auch Carl Sie gern wiedersehen möchte. Wir waren beide enttäuscht, daß Sie am Freitag nicht bleiben und mit uns essen konnten. Deshalb dachte ich, wir könnten das ein anderes Mal nachholen. Wie wäre es mit morgen?« »Morgen kann ich leider nicht.« »Dann Dienstag?« »Diese Woche geht es überhaupt nicht. Ich werde Sie am besten anrufen.« David verabschiedete sich entschlossen und legte auf. Dann kehrte er in den vollgestopften, unordentlichen Raum zurück, den er sein Studio nannte, und dachte über die Anruferin nach. Eine erstaunlich inkonsequente Frau. Am Vorabend des Todes ihres Mannes war sie ziemlich mürrisch gewesen, und als sie ihm im »Mann mit der eisernen Maske« begegnet war, sogar ausgesprochen verärgert und abweisend. Innerhalb weniger Minuten dann hatte sich ihr ganzes Wesen vollkommen verändert, war sie süß, verführerisch und sogar überschwenglich geworden. Warum? Obwohl es heißt, kein Mann könne einer Frau widerstehen, die sich ihm an den Hals wirft, fiel es David durchaus nicht schwer, standhaft zu bleiben. Ihre Art hatte ihn von Anfang an abgestoßen, und er hätte unter gewöhnlichen Umständen nicht mehr viele Gedanken an sie verschwendet. Aber nun hatte sie ihn angerufen und mit ihm geredet wie eine alte Freundin, die alle Hoffnung hat, mehr zu werden. Sein vages Unbehagen verstärkte sich, bis der Fall 88
Magdalene Heller sein ganzes Denken beschäftigte. Wenn er sich die Ereignisse des Freitagabend mit allen Einzelheiten vergegenwärtigte, konnte ihr Benehmen nicht mehr als ganz normal bezeichnet werden. Andererseits schien in ihrer Verrücktheit doch eine gewisse Methode zu liegen. Sie hatte behauptet, in der Kneipe mit jemandem verabredet zu sein, und David hatte keinen Augenblick geglaubt, daß sie auf eine Frau gewartet hatte. Dann fiel ihm der Mann ein, der hereingekommen war, sie angestarrt und gezögert, bevor er sich eilig wieder zurückgezogen hatte. Genau von diesem Augenblick an hatte sich ihr Benehmen gegenüber David verändert. Plötzlich wußte David genau, daß sie mit diesem Mann verabredet gewesen war. Und zwar heimlich. Und weil sie befürchtete, Davids Neugier erregt zu haben, hatte sie die Szene im Auto gespielt, um ihn abzulenken, zu verführen und vergessen zu lassen, was er gesehen hatte. Die Sache mußte für sie ungeheuer wichtig sein, überlegte David, während er sich ihres nervösen Geplappers und ihrer aggressiven Liebkosungen erinnerte. Sie hatte ihn sogar in der Kneipe zurückgehalten, um zu verhindern, daß er den Mann auf der Straße womöglich doch noch erkannte. Aber er und die Hellers hatten seines Wissens keine gemeinsamen Bekannten. Wie hätte er einen Freund von Magdalene erkennen können? Und selbst wenn, warum spielte das so eine große Rolle für sie? Plötzlich war es draußen warm geworden. Die Arbeiter hatten einen Spirituskocher mitgebracht, und der Junge brühte den Tee in der Bauhütte auf. Zum erstenmal, als habe ihn die Wärme herausgelockt, arbeitete der Mann mit dem blauen Pullover außerhalb des Grabens, und zum erstenmal sah Susan ihn in voller Statur. 89
Sie war überrascht, daß er ziemlich klein, oder besser gesagt, kurzbeinig war. Vielleicht hatte nur die Länge seines Rumpfes ihr den Eindruck von Körpergröße vermittelt. Dann fiel ihr aber ein, daß sie ihn schon bei früherer Gelegenheit draußen gesehen hatte. In Louises Garten nämlich, am Tage von Louises Tod, und als sie jetzt so darüber nachdachte, wurde in ihr die Erinnerung an einen viel größeren Mann noch lebhafter. Der Mann war bestimmt ein Meter achtzig groß gewesen und nicht so kräftig gebaut. Die Erklärung mußte sein, daß zu jener Zeit mehr als drei Arbeiter auf der Straße tätig gewesen waren. Als er mit den Osterglocken gekommen war, hatte Bob von vier oder fünf Männern gesprochen, und sicher hatte er besser darauf geachtet als sie, die vor ihrer Krankheit den Arbeitern kaum einen Blick geschenkt hatte. »Mr. North hat Lektüre für Sie abgegeben.« Mrs. Dring packte ihr einen Stapel neuer Zeitschriften auf das Bett. »Ich finde, Ihre Krankheit war das beste, was ihm passieren konnte. Das hat ihn wenigstens abgelenkt. Er kommt heute abend her, nicht wahr, Sie sollten darauf achten, daß die Nachbarn nicht zu reden anfangen. Diese Mrs. Gibbs hat eine scharfe Zunge.« »Ach, Blödsinn«, sagte Susan verdrießlich. »Sie haben doch eben selbst gesagt, daß er nur kommt, um sich abzulenken.« »Und er ist der Typ, der sich mit Frauen ablenkt. Sie brauchen mich gar nicht so anzusehen. Ich finde ja gar nichts dabei. Und da wir gerade von Männern reden, achten Sie darauf, daß diese Arbeiter da draußen Sie nicht im allzutiefen Negligé erblicken.« Mrs. Drings Benehmen war eher das eines Kindermädchens als das einer Putzfrau. Susan akzeptierte mit einem Achselzucken ein Bettjäckchen, das sie ihr zuwarf. 90
»Wie viele Leute arbeiten eigentlich draußen, Mrs. Dring?« »Nur die drei.« »Ich dachte, vorige Woche seien es vier oder fünf gewesen.« »Es waren niemals mehr als drei«, sagte Mrs. Dring. »Wahrscheinlich haben Sie durch Ihr Fieber doppelt gesehen.« Magdalene Heller rief David Mittwoch abend wieder an. Sie sei sehr einsam, sagte sie, denn sie kenne außer Carl kaum eine Menschenseele. »Und was ist mit Ihrem Freund, mit dem Sie in der Kneipe verabredet waren?« »Den kenne ich nicht so gut.« »Aber doch wohl besser als mich.« War ihr bewußt, was sie gesagt hatte? Er murmelte eine hastige Verabschiedung. Nach dem fatalen Satz hatte ihre Stimme bestürzt geklungen. Dies war keine Angst, bei einem Abenteuer ertappt zu werden, oder Furcht vor Skandal. David spürte, daß sie Todesangst hatte. Er hatte richtig getippt und die Quelle ihrer Angst erraten. Vorübergehend war er erleichtert. Nun würde sie ihn wohl in Ruhe lassen. Vor Gericht hatte sie natürlich die gekränkte Unschuld gespielt. Es würde komisch aussehen, wenn sich nun herausstellte, daß sie selbst einen Freund besaß, und ihm fiel ein, daß er gleich den Eindruck gehabt hatte, sie sei mit einem Mann verabredet, als er sie vor dem Kino beobachtet hatte. Er las noch einmal den Zeitungsbericht über die polizeiliche Untersuchung, aber es war nur wenig von dem zitiert, was Magdalene ausgesagt hatte. Mit einem Achselzucken faltete er die Zeitung wieder zusammen, als sein Blick an einem Foto auf der ersten Seite hängen blieb. Die Unterschrift lautete: »Mr. Robert North und seine Ehefrau Louise, die vergangenen Mittwoch zusammen mit dem 91
dreiunddreißigjährigen Kaufmann Bernard Heller erschossen aufgefunden wurde. Die Aufnahme wurde während des Urlaubs gemacht, den die Norths im vergangenen Jahr in Devon verbrachten. Siehe Bericht auf Seite fünf.« Davids Augen verengten sich, und er betrachtete forschend das abgebildete Gesicht. Dann blätterte er schnell zurück auf Seite fünf. »Ich hatte den Namen Heller noch niemals gehört«, hatte North dem Vernehmungsrichter gesagt, »bis mir jemand aus der Nachbarschaft erzählte, ein Vertreter von Equatair sei verschiedentlich in meinem Haus gewesen. Ich habe ihn vor seinem Tod nie gesehen und wußte natürlich auch nicht, daß er verheiratet war.« Aber sechs Stunden später war er in einer Kneipe in Soho gewesen, zum Rendezvous mit der Witwe jenes verheirateten Mannes. Ein regelmäßiger, wöchentlicher Beitrag in Certainty war eine Art Tagebuch, geschrieben von Julian Townsend unter dem Titel »Ereignisse«. David als einem festen Leser der Zeitschrift, war Julians scharfe Feder wohlvertraut. Eine Freundin von ihm, eine junge Schauspielerin namens Pamela Pearce, behauptete, den Herausgeber von Certainty zu kennen, und drohte gelegentlich, David mit ihm bekannt zu machen. Bisher hatte er diese Begegnung jedoch immer vermieden, um sich seine Illusionen zu erhalten. Townsend konnte gar nicht so anmaßend, so selbstgefällig und pedantisch sein, wie seine Artikel vermuten ließen. Und David befürchtete, seinen Geschmack an den »Ereignissen« zu verlieren, falls sich ihr Autor womöglich als umgänglicher Bürger erwies. Julian pflegte unweigerlich auch kulinarische Probleme zu behandeln, und heute ließ er sich nach der Erörterung einiger Fleischrezepte sehr heftig über ein Gericht aus, das ihm anläßlich eines Wochenendes auf dem Land bei seinen 92
aristokratischen Verwandten in einem kleinen Hotel serviert worden war. Lächelnd las David weiter. Der Rest des Beitrags schien aus einer Attacke auf die Vororte Londons zu bestehen. »Das ländliche England«, las David amüsiert, »kastriert durch den Preßluftbohrer.« Von der vergewaltigten Landschaft eilte Julian zurück zur Stadt. »Matchdown Park, wo kein Monat ohne die Demolierung eines georgianischen Kleinods vergeht …« Merkwürdig. Sonst vergingen Jahre, ohne daß jemand Matchdown Park erwähnte, und nun tauchte der Name ständig auf. David war überrascht festzustellen, daß Townsend tatsächlich dort lebte. Aber es schien kein Irrtum möglich. »Die Kenntnis des Autors«, endete der Absatz, »basiert auf einem fünfjährigen Aufenthalt.« David holte das Telefonbuch, und da stand es: Julian M. Townsend, 16 Orchard Drive, Matchdown Park. Er zögerte nachdenklich. Aber als er zu wählen begann, war es nicht die Nummer, die neben dem Namen Townsend zu lesen war. »Julian Townsend?« fragte Pamela Pearce. »Da hast du Glück, mein Liebling. Ich gehe morgen abend auf eine Party, und er ist auch eingeladen. Warum kommst du nicht einfach mit?« »Wird seine Frau auch dort sein?« »Seine Frau? Ich nehme es an. Er geht nirgendwo ohne sie hin.« Eine Mrs. Susan Townsend hatte Hellers Leiche gefunden. Sie wohnte neben den Norths im Orchard Drive. Es hatte in den Zeitungen gestanden. Sie war eine Freundin von Mrs. North gewesen und würde vielleicht wissen, ob sich North und Magdalene Heller schon vor der gerichtlichen Untersuchung gekannt hatten. Wenn Mrs. Townsend mit sich reden ließ, würde sie seine Bedenken womöglich zerstreuen können. 93
11 »Es ist eine Schande, wie der Fußboden aussieht«, stöhnte Mrs. Dring, die auf allen vieren herumrutschte. »Hoffen wir, daß es mit dem Dreck draußen jetzt ein für allemal vorbei ist. Wußten Sie schon, daß die Straße gestern endlich fertig geworden ist? Die drei sind abgezogen.« Sie hatte also noch den letzten Akt miterlebt. Susan ließ sich an ihrer Schreibmaschine nieder. Ihr schien, als habe diese endlich überwundene Krankheit eine schwarze Lebensphase beendet und ihr zugleich neue Kraftquellen erschlossen. Immerhin hatte sie den Entschluß gefaßt, Matchdown Park zu verlassen, und Freundschaft mit Bob North geschlossen. Als sie jedoch zu arbeiten begann, froh darüber, wieder klar denken zu können, stieg die Spur eines Zweifels in ihr auf. Aus einem unerfindlichen Grund wurde sie bei der Erinnerung an die Straßenarbeiter unruhig, und obwohl sie eigentlich Mrs. Drings Erleichterung über ihr Verschwinden hätte teilen müssen, empfand sie ein merkwürdiges Unbehagen. Es waren niemals mehr als drei gewesen, hatte Mrs. Dring mit Bestimmtheit behauptet, und doch hatte sie, während Louise mit Heller bereits tot im Hause lag, einen vierten Mann in Louises Garten gesehen. Jener Mann hatte an Louises Hintertür geklopft – Mrs. Dring hatte es gehört – und war dann fortgegangen. Nicht zurück zu den anderen, sondern allein die Straße entlang. Als sie sich die Szene im Geiste noch einmal vorstellte, konnte sie sich ganz deutlich erinnern, daß die drei anderen, der ältere Mann, der mit dem blauen Pullover und der Junge in ihrem Graben gewesen waren, während sich der vierte, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, einen Moment die Hände am Feuer gewärmt hatte. 94
»Mrs. Dring.« Susan war so hastig aufgesprungen, daß sie ein leichter Schwindel überfiel. »Mir ist gerade etwas eingefallen. Etwas sehr Wichtiges. Bei der gerichtlichen Untersuchung hatte ich vermutlich schon die Grippe in den Knochen. Ich wurde nämlich gefragt, ob ich an jenem Vormittag irgend jemanden im Nachbarhaus gesehen hätte, und ich verneinte. Ich sagte …« Sie unterbrach sich, irritiert von der unverhohlenen Neugier, die sich in Mrs. Drings Miene spiegelte. »Na, und Sie haben doch auch niemanden gesehen, oder?« »Ich habe überhaupt nicht mehr daran gedacht. Jetzt kann es ja keine Rolle mehr spielen. Wir alle wußten, wie der Gerichtsbeschluß lauten würde, aber trotzdem …« Susan biß sich auf die Lippe. Dann zwang sie sich zu einem gequälten Lächeln und wechselte schnell das Thema: »Wenn Paul jetzt keinen Lehm mehr hereinschleppt, werden Sie den Fußboden schon in Ordnung bekommen.« Pamela Pearce war eine niedliche kleine Blondine mit einem Hang zu Glitzerkram. Lurexfäden zogen sich durch die Gewebe fast aller ihrer Kleidungsstücke, sie liebte Pailetten und Perlen, alles was glänzte. An diesem Abend schimmerte sie in ihrem Lamékleid wie ein Goldfisch. »Solltest du mich nicht lieber darüber aufklären, wer meine Gastgeber sind?« fragte David, als er den Wagen abschloß. »Ich möchte mich doch nicht so ganz als Eindringling fühlen.« »Greg ist einer von diesen Gesellschaftsfotografen. Du hast bestimmt die entzückenden Aufnahmen gesehen, die er von Prinzessin Alexandra gemacht hat. Seine Frau heißt Dian und ist einfach hinreißend. Du verliebst dich auf den ersten Blick in sie.« Das Problem war nur, daß David niemals ganz sicher 95
war, sie überhaupt zu sehen bekommen zu haben, da sich niemand die Mühe machte, ihn irgend jemandem vorzustellen. Pamela war gleich zu Anfang eine Treppe hinauf entschwunden, und David fand sich auf einer kleinen Teppichinsel, umgeben von gleichgültigen Rücken, durch die er sich wie ein Brustschwimmer hindurchkämpfte, um schließlich erschöpft auf einen kleinen Stuhl zu sinken. Der Raum war eigentlich viel zu klein, um einer so großen Party zu dienen. Dennoch war es den Gästen gelungen, sich in exklusive Grüppchen aufzuteilen. Die größte Gruppe hatte als Mittelpunkt einen hochgewachsenen Mann mit mächtig ausladender Stirn, der genau unter der Deckenlampe stand, die ihn wie ein Scheinwerfer beleuchtete. David hatte keine Schwierigkeit, Julian Townsend zu erkennen. Fünf Frauen umgaben ihn in einem Kreis. Sie hingen gebannt an seinen Lippen. Eine von ihnen mußte seine Frau sein, dachte David, die unschuldige Nachbarin von Hellers Geliebter. Der Kranz der Verehrerinnen bestand aus einer strengen Brünetten mit einer Zigarre, zwei fast gleich aussehenden Blondinen, einem Teenager in Braun und einer älteren Dame, die offenbar den Rest des Wochenendes auf dem Land zuzubringen gedachte, da sie ein Tweedkostüm, Netzstrümpfe und hohe Stiefel trug. Pamela war nirgends zu sehen, obwohl er gelegentlich ihr schrilles Gekicher von oben hörte. David war leicht verärgert. Wenn er sich Townsend nicht einfach als Leser und Bewunderer selbst vorstellte, sah er keine Möglichkeit, ohne Pamela mit ihm ins Gespräch zu kommen. Dann löste sich der Teenager aus dem Kreis der Anbeterinnen und kam auf David zu. »Ich bin Elizabeth Townsend«, sagte sie forsch. »Und wie heißen Sie?« »David Chadwick.« Er konnte seine große Überraschung kaum verbergen. In ihrem sehr kurzen, formlosen Kleid 96
von der Struktur und Farbe eines Schwarzbrotes und dem langen, zotteligen Haar wirkte sie wie siebzehn. Ohne Zweifel an die Gesellschaft eines Mannes gewohnt, dem es nie an Worten ermangelte, musterte sie David ungläubig. »Ich glaube, Sie wohnen in Matchdown Park«, brachte David heraus. »Du lieber Himmel, nein. Wie kommen Sie denn darauf?« »Ich habe es in Certainty gelesen«, erwiderte David verärgert. »Sie sind doch Mrs. Julian Townsend?« »Natürlich bin ich das.« Sie sah tief beleidigt aus. Doch dann erhellte sich ihre Miene. »Ach, jetzt beginne ich zu verstehen. Sie sind ins Fettnäpfchen getreten.« Seine Verwirrung schien sie zu belustigen. »Sie meinen Julians Verflossene. Mich würden nicht einmal zehn Pferde nach Matchdown Park kriegen.« Den letzten Satz hatte sie ziemlich verächtlich ausgestoßen, doch noch bevor sie ihn vollendet hatte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und wurde fast begierig. »Warum fragen Sie überhaupt? Würden Sie etwa dort leben wollen?« »Vielleicht«, murmelte David, ohne zu wissen, worauf das hinauslaufen sollte. Eine derart direkte, ungehemmte Person wie dieses Mädchen war ihm überhaupt noch nicht begegnet. »Julians Verflossene will nämlich umziehen, deshalb soll das Haus in Matchdown Park verkauft werden. Es ist ein sehr hübsches Haus.« Sie schien völlig vergessen zu haben, daß sie noch zwei Minuten zuvor von seiner Umgebung nur mit Schaudern gesprochen hatte. »Julian wäre einfach hingerissen, wenn ich für ihn einen Käufer fände.« »Wie groß ist es denn?« fragte er vorsichtig. »Kommen Sie mit und reden Sie selbst mit Julian. Er wird Ihnen alles sagen.« Sie packte seinen Arm. »Julian, 97
sei doch einmal eine Minute still! Hör zu, ich habe jemanden gefunden, der tatsächlich in Matchdown Park wohnen will.« Susan hatte Paul nicht vorgewarnt, daß Bob am Abend vorbeikommen würde. Sie wollte nicht, daß er womöglich aufwachte und – ohnehin von Ängsten und Hirngespinsten geplagt – unten eine Männerstimme hören würde. In seiner augenblicklichen Vorstellungswelt trugen Männer, die alleinstehende Frauen besuchten, Pistolen bei sich … Sie murmelte eine Entschuldigung und ging hinauf in Pauls Zimmer, um ihn noch einmal zuzudecken und seine Armbanduhr an einen sicheren Platz auf seinem Nachttisch zu legen. Als sie die Treppe hinunterstieg, klingelte das Telefon. »Ich nehme nicht an, daß du das Haus schon verkauft hast?« Julians Stimme klang vor dem Hintergrund von Musik und Gelächter ungewöhnlich enthusiasmiert. »Kaum«, erwiderte Susan trocken. »Das hatte ich mir gedacht. Aber keine Sorge. Sag mal, hast du Montag abend etwas vor?« Wenn sie ihn auch nicht mehr liebte, war es doch scheußlich, so eine Frage von dem Mann gestellt zu bekommen, mit dem man einmal verheiratet gewesen war. »Warum?« »Ich habe einem Interessenten gesagt, daß er kommen und sich das Haus ansehen könnte. Chadwell, Challis … Oder so ähnlich. Er ist hier gerade bei mir … Das heißt, eigentlich nicht bei mir, sondern wir sind alle bei Dian. Elizabeth hat ihn aufgegabelt.« Susan räusperte sich. »Wann will der Mann denn kommen?« »Gegen acht.« Er senkte die Stimme zu einem kaum 98
hörbaren Murmeln. »Ich würde nicht unbedingt die Geschichte von nebenan erwähnen. Das könnte ihn abschrekken.« »Julian, du scheinst bedeutend naiver zu sein, als ich dir zugetraut hätte, wenn du meinst, irgend jemand könnte dieses Haus kaufen, ohne von Louises Selbstmord zu erfahren.« Sie hielt erschrocken inne. Alle Türen standen offen, und Bob mußte ihre Worte gehört haben. »Vielleicht erfährt er es erst«, sagte Julian verschlagen, »wenn er den Vertrag unterschrieben hat. Erzähl mir bloß nicht, daß dir die Aussicht, fünftausend Pfund zu bekommen, gleichgültig wäre. So, nun muß ich aber zu meinen Leuten zurück. Du bist allein?« »Nein, ich bin nicht allein«, erwiderte Susan. »Ich habe Besuch von einem Freund, deshalb mußt du mich jetzt entschuldigen, Julian. Ich kann ihn nicht solange warten lassen.« Bob hatte die ausdruckslose Miene eines Menschen aufgesetzt, der wider Willen ein Privatgespräch mitanhören muß und nun höflichkeitshalber völlige Taubheit vorzutäuschen versucht. »Es tut mir leid«, sagte Susan spröde. »Sie haben alles mitanhören müssen.« »Ich konnte es nicht vermeiden. Sie wollen fortziehen, Susan?« »Die Atmosphäre hier ist nicht das Richtige für Paul, und außerdem … Vermutlich hatte ich schon die Krankheit in mir. Vergangene Woche bin ich fast hysterisch gewesen. Ich wollte so schnell wie möglich weg, aber das war, bevor …« Bevor was? Was hatte sie sagen wollen? Sie wandte verwirrt den Kopf ab. Eigentlich hatte sie erwartet, daß er ihren Satz zu Ende führen würde, aber er musterte sie nur abschätzend. 99
»Wann werden Sie denn voraussichtlich wegziehen?« »Sobald ich kann«, erwiderte sie ruhig. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln und versuchte, die absurde Enttäuschung hinunterzuschlucken. Hatte sie wirklich geglaubt, dieser Witwer, diese beinahe verlorene Seele, war nur zu ihr gekommen, weil er sie mochte? Er suchte lediglich eine Schulter, an der er sich ausweinen konnte, und ihre Schulter hatte sich angeboten. »Ich kann verstehen, daß Sie dies alles hier hinter sich lassen wollen«, sagte er. »Bald werden Sie Louise und mich vergessen haben, nicht wahr?« Und dann begann er, wie schon so oft, Schritt für Schritt jedes Wort, jede Geste, jeden Verdacht durchzugehen, die ihn dazu gebracht hatten, Louises Liebesaffäre zu argwöhnen. »Bob«, sagte Susan scharf, »Sie müssen endlich aufhören damit. Sie machen sich sonst selber zum Neurotiker. Was glauben Sie, dadurch zu gewinnen? Die beiden sind tot, es ist alles vorbei.« Er starrte sie an, erschrocken und zum Schweigen gebracht. Zum erstenmal begann sie sich zu fragen, warum er so besessen war, immer wieder von dem Tod seiner Frau zu reden. Ein kleines nervöses Kribbeln überlief sie, nicht direkt Angst vor der Ungeheuerlichkeit, die sie auszusprechen gedachte. »Ist es vielleicht«, begann sie langsam, »weil Sie bezweifeln, daß es wirklich Selbstmord gewesen ist?« Er erwiderte nichts. Seine rauchgrauen Augen hatten einen starren Ausdruck, und sein Gesicht war maskenhaft verschlossen. Susan war von ihren eigenen Worten überrascht, und nachdem sie nun ausgesprochen waren, hatte sie das Gefühl, sie wären besser ungesagt geblieben. Sie hatte keinerlei Veranlassung, so etwas zu vermuten, nur ein vages Unbehagen, das im Laufe des Tages und des Vortages in ihr aufgestiegen war. 100
»Es ist nur, während ich krank war …« Sie errötete. Ob sich Doris so fühlen mochte, wenn sie eine ihrer Taktlosigkeiten herausließ? »Es gab da ein oder zwei merkwürdige Dinge«, fuhr sie fort, »die mich nachdenklich machten.« »Sie haben gefiebert.« »Nun, so krank war ich auch wieder nicht.« »Ich würde nicht wollen«, sagte er, »ich könnte nicht ertragen … Susan, es war seine Waffe, sie haben Pulverspuren in seiner Hand gefunden. Wie könnte da …?« »Wenn Sie davon überzeugt sind«, sagte sie, »kann es natürlich keinen Zweifel geben.« Sie fühlte sich kalt und elend, weil er aufstand und wortlos hinaus in die Diele ging. »Bob«, sagte sie und lief ihm hinterher. »Susan?« »Ich habe gefiebert.« Er berührte ihre Schulter, beugte sich herab und streifte mit den Lippen ihre Wange. Es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein, seit jemand außer Paul sie geküßt hatte, und als sie die leichte Berührung seines Mundes spürte, kam es ihr vor, als höre sie ganz deutlich die Musik und das Gelächter von der Party, auf der sich Julian befand. Eine abgrundtiefe Verlassenheit und der Wunsch, diese Verlassenheit unter allen Umständen zu beenden, ließ sie ihre Hand ausstrecken und die seine festhalten. »Verzeihen Sie mir?« Er nickte, noch zu erschüttert, um zu lächeln. Sie hörte ihn schnell nach ›Braeside‹ hinübergehen. Aber obwohl sie nach einer kleinen Pause ebenfalls in den Garten hinaustrat, sah sie, daß kein Licht in dem Haus brannte, dessen Fenster stets geschlossen waren.
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12 Die Bäume, die aus Rechtecken zwischen den Pflastersteinen wuchsen, gehörten zu der Sorte, die David am wenigsten liebte: sterile Zierkirschen und -pflaumen, die keine Früchte trugen. Sie standen gerade in voller Blüte, und David vermutete, daß er für seinen Besuch den einzigen Tag im Jahr ausgesucht hatte, an dem der Orchard Drive seinen Namen zu Recht trug. Die Häuser sahen nicht alle gleich aus – er zählte vier verschiedene Typen –, und jedes war von dem anderen getrennt, hatte eine eigene Garage und einen großen Vorgarten. Keine laute Stimme, keine gedämpfte Musik, kein Schritt störte die Stille. Er begann zu verstehen, warum zehn Pferde Elizabeth Townsend nicht dazu gebracht hätten, hier zu leben. Fast als sei sie selber ein Pferd oder vielleicht ein zottiges Pony, hatte sie ihn zu der Gruppe gezerrt, wo der Herausgeber von Certainty Hof hielt. Mit lauten Rufen wie: »Einen Moment mal!« und: »Paßt auf eure Kehrseiten auf!« hatte sie ihn ihrem Gatten ganz unfeierlich unter die Nase geschoben. Julian Townsend hob die Brauen und eine abwehrende Hand in Richtung auf seine Frau. »Und gerade dieser entscheidende Spritzer Cointreau«, schloß er, »macht den ganzen Unterschied zwischen schlichter potage und haute cuisine aus. Nun, was wolltest du sagen, Liebling?« Seine Anbeterinnen zogen sich zurück. David blickte unbehaglich in das Gesicht, das jede Woche tausend erbitterte Briefe provozierte. Ein feuchter Schimmer glänzte auf Townsends mächtiger Stirn, die sich krauste und wieder glättete, als seine kleine braune Frau David ungenau vorstellte. 102
»Eine private Transaktion wäre natürlich sehr angenehm«, sagte der große Mann schließlich. »Allerdings würde ich keinesfalls unter zehntausend Pfund verkaufen.« »Für heutige Zeiten nicht übertrieben.« Diese beiläufige Erwiderung brachte Townsend leicht aus dem Konzept. Es war offenkundig, daß er schnell und vielleicht etwas verärgert überlegte, ob er eine zu geringe Summe genannt hatte. Dann schien er sich jedoch entschieden zu haben, die Geldfrage erst einmal beiseite zu lassen, denn er sagte fast leutselig: »Es ist eine reizende Gegend da draußen, rus in rube, wissen Sie? Und das Haus selbst in ausgezeichnetem Zustand. Kennen Sie sich in Matchdown Park aus?« David, der gelegentlich mit der U-Bahn durchgefahren war und es zweimal von Bernard Heller hatte erwähnen hören, bejahte eifrig. Townsend strahlte ihn an. »Ich denke, das verlangt nach einem Schluck.« Er machte keinerlei Anstalten, selbst etwas Trinkbares zu besorgen, aber zwischen ihm und einer seiner Verehrerinnen schien eine Art von Telepathie zu bestehen. Sie entfernte sich und kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem Whiskygläser standen. Townsend erhob das seine und rief etwas, das wie »Tavio dexia« klang. »Ein finnischer Trinkspruch«, erläuterte seine Verehrerin ehrfurchtsvoll. Anschließend hatte Townsend die Gastgeberin gesucht, um sie zu fragen, ob er telefonieren dürfe. »Ich hoffe, Sie kaufen es«, sagte seine Frau, wobei sie David unterhakte. »Wir können unsere Hälfte von den zehntausend gut gebrauchen. Grüßen Sie die arme, alte Susan.«
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Nun, gleich würde er die arme, alte Susan kennenlernen. Dies war das Nachbarhaus von ›Braeside‹, dem harmlos und respektabel aussehenden ›Braeside‹, wo Heller etwas gefunden hatte, was ihm die grünäugige Magdalene nicht hatte geben können, und in dem er den Tod gesucht hatte. Oder hatte der Tod ihn gesucht? Das, dachte David, war der springende Punkt. Um das herauszufinden, war er gekommen. Die blaßrosa Blütenzweige streiften sein Gesicht, als er aus dem Wagen stieg. Er schlug die Tür zu, und sogleich erhob sich aus der dunklen Stille hinter ihm ein ungeheures Getöse. Er fuhr zusammen und schnellte herum. Aber es war nur ein Hund, ein braun-schwarzer Airedale, der sich in dem gegenüberliegenden Garten wie wild gebärdete. Der Lärm verscheuchte jeden Gedanken bis auf die natürliche Versuchung, aufzugeben und umzukehren. Vermutlich war die arme, alte Susan bereits alarmiert und beobachtete ihn hinter der Gardine. Er steuerte auf die Haustür zu, wobei er sich vor der Begegnung fürchtete. Würde sie ein Abklatsch von Elizabeth sein, schrill und indiskret, oder eine spießige Hausfrau, vor deren Affektiertheit Townsend die Flucht ergriffen hatte? Er drückte auf die Klingel. Die Tatsache, daß sie einfach nur läutete, statt das Glockenspiel von Westminster ertönen zu lassen, heiterte ihn etwas auf. Das Dielenlicht ging an, die Tür öffnete sich, und er stand vor der Frau, die Heller tot aufgefunden hatte. Sie war nichts von dem, was er erwartet hatte. Während er das helle Haar, die breiten Brauen und die schmale Nase in sich aufnahm, wußte er sofort, wo er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte: in der Nationalgalerie, aber bei keiner lebenden Frau. Effie Ruskin, dachte er, aus Millais »Der Entlassungsbefehl«. Sie lächelte ihm verbindlich entgegen. 104
»Entschuldigen Sie den Hund«, sagte sie. »Ohrenbetäubend, nicht wahr? Bei Fremden bellt er immer so.« »Nur bei Fremden?« »O ja. Sie brauchen keine Angst zu haben, daß er sich immer so anstellt, falls Sie hier wohnen werden. Möchten Sie nicht hereinkommen? Ich fürchte, es ist schon zu spät, um den Garten noch richtig sehen zu können.« Ihn packte plötzlich Unbehagen. Julian Townsend und seine jetzige Frau hinters Licht zu führen, war gut und schön. Hohl, bedenkenlos und unaufrichtig hatten sie nichts Besseres verdient. Diese Frau indessen, die ihn in gutem Glauben empfing, machte von Anfang an einen ungemein anständigen Eindruck auf ihn, so daß er sich wie ein Spion vorkam. Während er ihr ins Haus hineinfolgte, stellte er sich ihre Nachfolgerin vor, und seine Meinung von Julian Townsend sank noch tiefer. Wahrscheinlich würde er Certainty abbestellen. »Dies ist der Wohnraum«, sagte sie, »mit einer Eßecke, wie Sie sehen, und diese Tür dort führt in das Zimmer, das mein – das heißt Julian – als Arbeitsraum benutzt hat. Ich zeige es Ihnen gleich.« Auf dem Schreibtisch lag etwas, das wie ein Manuskript aussah, vielleicht schrieb sie selber. Daneben stand ein voller Aschenbecher. Sie rauchte zuviel. Für einen möglichen Käufer widmete er seine Aufmerksamkeit den falschen Dingen. Es war nicht sie, die zum Verkauf stand. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich Sie bitte, möglichst leise zu sein, wenn wir hinaufgehen. Mein kleiner Sohn schläft.« »Ich wußte nicht, daß Sie ein Kind haben.« »Warum sollten Sie?« Ihre Stimme war kühl. Sie begann ihn über die Heizungsanlage aufzuklären, und er dachte an Heller. Auf dem Sideboard konnte er ein Tablett mit einer 105
Ginflasche und zwei Gläsern sehen. Sie erwartete jemanden, offenbar einen Mann. Zwei Frauen würden miteinander Kaffee trinken oder vielleicht Sherry. Sie gingen hinauf. Das Kind schlief in einem erleuchteten Raum. Ihm gefiel die Art, wie sie sich dem Bettchen näherte, leise und behutsam, um die zerwühlte Decke zu glätten. Das eigentliche Schlafzimmer war unbenutzt. Sie mußte ausgezogen sein, nachdem Townsend sie verlassen hatte. Dieser verdammte Townsend! Es bereitete ihm ein echtes Vergnügen, sich die Enttäuschung des Mannes vorzustellen, wenn die erwarteten fünftausend Pfund nicht eintrafen. Schließlich konnte er ihn Monate zappeln lassen. Wenn nur nicht diese Frau gewesen wäre. Während sie redete und ihm alle Vorzüge des Hauses erklärte, begann er sich richtig elend zu fühlen. Er führte sie hier an der Nase herum, was um so verwerflicher war, als sie das Geld aus dem Verkauf vermutlich brauchte. Sie schloß die Schlafzimmertür und sagte ruhig: »Bevor wir weitergehen, sollten Sie meiner Meinung nach etwas erfahren. Ich weiß nicht, ob Ihnen das Haus gefällt, aber ich könnte nicht mit Ihnen verhandeln, ohne Ihnen zu sagen, daß im Nachbarhaus ein Doppelselbstmord verübt worden ist. Vor drei Wochen erst. Es hat zwar alles in der Zeitung gestanden, aber vielleicht haben Sie keine Verbindung hergestellt.« Ihre Aufrichtigkeit, im Gegensatz zu seinem Täuschungsmanöver, ließ ihn erröten. »Ich habe …« »Es wäre nicht fair, Ihnen das zu verschweigen. Manche Leute sind in dieser Beziehung abergläubisch. Mrs. North und der Mann – ein Mann namens Heller – haben sich in ihrem Schlafzimmer erschossen. Diesem Schlafzimmer. Die Häuser sind innen genau gleich.« Sie zuckte die Achseln. »Tja, nun wissen Sie es.« 106
Er machte einen Schritt von ihr fort und stützte die Hände auf das Treppengeländer. »Ich wußte es schon«, stieß er hastig hervor. »Und ich kannte Bernard Heller. Ziemlich gut sogar.« Die Stille hinter ihm war fast beängstigend. Dann hörte er sie sagen: »Ich verstehe nicht ganz. Sie wußten Bescheid und wollten trotzdem …« Er begann die Treppe hinabzusteigen, unfähig, etwas zu erwidern. Sie folgte ihm zögernd. Ohne sich umzusehen, spürte er mit unverhältnismäßig heftigem Bedauern, daß die zwischen ihnen angebahnte freundliche Harmonie jäh zerstört war. Am Fuß der Treppe blieb sie ein Stück entfernt von ihm stehen. »Sie wollen ein Haus kaufen, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft Ihr Freund gestorben ist? Das verstehe ich wirklich nicht.« »Ich kenne auch Mrs. Heller, und ich werde versuchen, Ihnen zu erklären …« Sie blickte zur Haustür und dann zurück zu ihm. »Das dürfte mich kaum etwas angehen. Mich interessiert nur, ob Sie das Haus kaufen wollen oder nicht. Falls Sie Journalist sein sollten oder Privatdetektiv, müssen Sie meinen Nachbarn aufsuchen, nicht mich.« »Mrs. Townsend …« Sie hob den Blick – graue Augen, unerträglich klar – und der Effie-Ruskin-Mund zog sich zusammen. »Was haben Sie sich eigentlich gedacht? Daß ich klatschen würde, Ihnen irgendwelche Enthüllungen machen? Ich weiß nichts über Mrs. Heller, ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen. Aber hat Mr. North nicht genug durchgemacht?« Sie spähte die Treppe hinauf und drückte sich dann vorsichtig an ihm vorbei. Sie hatte Angst. Auf die Idee, daß sie Angst bekommen könnte, war er überhaupt nicht gekommen, weil er noch nie versucht hatte, sich in die Lage 107
einer Frau zu versetzen, die sich allein mit einem fremden Mann befindet, noch dazu einem Eindringling. Er spürte, wie er vor Scham erblaßte, als er beobachtete, wie sie zum Telefon blickte, dem Rettungsseil, der Verbindung zu Schutz und Hilfe. Er trat mit klopfendem Herzen einen Schritt zurück. In ihren Augen war er nicht besser als ein Vertreter, der den Fuß zwischen die Tür klemmt. Während sich ihre Hand unauffällig zum Telefonhörer tastete, sagte sie mutig: »Mr. North ist ein Freund von mir. Ich verstehe nicht, was Sie vorhaben, ich weiß nur, daß er nicht noch mehr verletzt werden darf. Bestellen Sie das Mrs. Heller.« David öffnete die Tür und trat hinaus. Augenblicklich begann der Hund wieder zu bellen. Sie mußte wissen, daß sie nun sicher war. »Vielleicht hat Mrs. Heller ihn längst informiert«, sagte er laut über den Lärm hinweg. »Sie hat noch nie mit ihm gesprochen.« Sie ließ den Hörer los und hob den Kopf. »Würden Sie jetzt bitte gehen?« »Mein Gott«, sagte er etwas stotternd und verfluchte dabei den Hund. »Ich will Ihnen doch nicht weh tun. Ich gehe; wenn Sie wollen, können Sie die Polizei anrufen. Vermutlich habe ich gegen das Gesetz verstoßen, Vorspiegelung falscher Tatsachen vielleicht.« Er konnte sie dabei nicht anschauen, aber er mußte es sagen: »Mrs. Townsend, die beiden kennen sich doch. Am Tag der gerichtlichen Untersuchung waren sie in einer Kneipe in London verabredet. Ich habe sie selber gesehen.« Die Tür wurde so heftig zugeschlagen, daß er zurückprallte. Der Hund hatte sich derart in Rage gesteigert, daß er wie verrückt am Gartentor hochsprang. David stieg mit zitternden Händen in sein Auto. Als er losfuhr, kam ein anderer Wagen an ihm vorbei und bog mit elegantem Schwung in die Auffahrt von ›Braeside‹ ein. David verlangsamte das Tempo. Der Mann stieg aus, und David sah im Rückspiegel den dunklen, gut geschnittenen Kopf: Robert North. 108
David bremste und blieb stehen. Ohne sich umzudrehen, beobachtete er North weiter im Rückspiegel. North schob das Garagentor hoch, schien es sich dann jedoch anders zu überlegen. David fragte sich, warum ihm die Stille auf einmal so merkwürdig vorkam, und wurde sich bewußt, daß der Hund zu bellen aufgehört hatte. North ging auf das Tier zu und tätschelte ihm den Kopf. Als er sich wieder abwandte, blieb der Hund still. Susan Townsend hatte gesagt, daß er nur bei Fremden anschlug … David sah, wie North auf Mrs. Townsends Haustür zuging und klingelte. Die beiden schienen auf vertrautem Fuß zu stehen, dachte er, während er weiterfuhr. Der Gin auf dem Tablett war also für ihn bestimmt gewesen. Kein Wunder, daß Susan Townsend so sauer reagiert hatte! Sie war nicht einfach nur eine gute, verschwiegene Nachbarin, sondern gefühlsmäßig beteiligt. Offenbar sogar richtig verliebt. Allein Norths Aussehen konnte jede Frau schwach machen. Und er, David, hatte gedacht, er könne sie über North aushorchen. Bob legte sanft den Arm um Susans Schulter und führte sie zu einem Stuhl. »Was ist passiert, Susan? Sie sehen aus, als hätte Sie etwas erschreckt.« »Es war jemand hier«, sagte sie und atmete schnell. »Ein Mann – er sagte, oder besser, er deutete an, Sie hätten sich am Tage der gerichtlichen Untersuchung heimlich mit Mrs. Heller getroffen.« »Das habe ich auch«, erwiderte er kühl. »Ich war mit ihr in einem Londoner Lokal verabredet, aber das war kein Geheimnis.« »Sie brauchen mir nichts zu erklären.« Susan machte eine leichte Bewegung, um sich von seinem Arm zu befreien. »Es geht mich nichts an, ich dachte nur, Sie kannten Mrs. Heller gar nicht. Ich hatte den Eindruck, Sie hätten sie bei der Untersuchung zum erstenmal gesehen.« 109
»Wir haben uns auch vorher nicht gekannt. Aber später sprach ich mit ihr – sie entschuldigte sich bei mir wegen der Art und Weise, wie sie sich vor Gericht benommen hatte. Sie tat mir leid. Sie ist fast mittellos, müssen Sie wissen. Dieses Schwein Heller hat ihr keinen Pfennig hinterlassen. Ich fühlte mich verpflichtet zu helfen, und deshalb trafen wir uns. Als ich jedoch in das Lokal kam, war sie dort mit einem Mann.« »Diesem Chadwick, der hier war?« »Ja. Susan, mir war nicht danach zumute, mich mit Fremden zu unterhalten. Ich machte kurzentschlossen kehrt und kam dann zu Ihnen. Natürlich habe ich Mrs. Heller später zu Hause aufgesucht. Ich komme gerade von ihr.« »Wie grausam Menschen sind«, sagte sie nachdenklich. »Manche sind es. Und dann findet man jemanden, der lieb ist und gut und bezaubernd wie Sie, Susan.« Sie blickte ihn ungläubig an. »Ich meine das ernst«, sagte er leise. »Komm her, Susan. Du hast Jahre und Jahre neben mir gelebt, und ich habe dich nie gesehen. Und jetzt … Ich fürchte, es wird wohl zu spät sein … Ich frage mich … Darf ich dich küssen, Susan?« Er würde ihre Stirn berühren, ihre Wange streifen, wie am Tag zuvor an der Haustür. Sie hob widerstandslos das Gesicht, und dann war es plötzlich überhaupt nicht mehr wie am Vortag. Sie lag in seinen Armen, dicht an ihn gepreßt, Mund an Mund, und ihre Augen schlossen sich.
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13 Detektiv-Inspektor Ulph wußte, daß Robert North seine Frau und deren Liebhaber umgebracht hatte. Er wußte es, aber er konnte es nicht beweisen. Sein Superintendent lachte ihn aus, als er ihm Norths Motiv und Gelegenheit zur Tat auseinandersetzte. Ohne handfeste Beweise war da nicht das geringste zu machen. »Haben Sie schon einmal davon gehört«, sagte der Superintendent ätzend, »daß man die Tatwaffe von ihrer Herkunft bis in die Hand des Mörders verfolgen können muß?« Natürlich hatte Ulph davon gehört. Eben dieses Problem hatte ihn gleich von Anfang an beschäftigt. Mitten in Norths Vernehmung war er dem Blick dieses Mannes begegnet und hatte in ihm unter dem gespielten Schmerz eine Herausforderung gelesen, die zu sagen schien: Du weißt Bescheid, und ich weiß Bescheid. Aber es kann niemals bewiesen werden. Die Waffe gehörte Heller. Sowohl Hellers Witwe als auch dessen Bruder beschworen, sie noch am Vorabend des Mordes in seinem Besitz gesehen zu haben. Und Pulverspuren hatten ergeben, daß Heller eine Waffe abgeführt hatte, nicht aber North. Heller war von einer Mrs. Gibbs und einer Mrs. Winter gesehen worden, als er ›Braeside‹ zehn Minuten nach neun Uhr betrat, und während des restlichen Vormittags hatte niemand das Haus verlassen. North, ohne Auto, war in Barnet gewesen. Und trotzdem wußte Ulph, daß North seine Frau umgebracht hatte. Das Bild, wie er dabei vorgegangen war, stand ihm ganz deutlich vor Augen. Niemand hatte North an jenem Morgen das Haus verlassen sehen. »Ich habe ihn nicht weggehen sehen«, hatte Mrs. Gibbs gesagt, »aber ich sehe ihn selten weggehen. 111
Das hilft Ihnen auch nicht weiter, nicht wahr? Ich habe nur gesehen, wie Heller kam.« Weil der Hund gebellt hatte … North wußte natürlich, daß niemand im Orchard Drive etwas sah, wenn der Hund nicht bellte. Er hatte seine Frau erschossen, während sie das Bett machte, und dann, als der Hund bellte, war er hinuntergegangen, um ihren Liebhaber einzulassen. Vermutlich hatte er ihn ganz liebenswürdig empfangen und ihm gesagt, er beginne sich nun ernsthaft für den Einbau einer Heizung zu interessieren und sei zu Hause geblieben, um alles zu besprechen. Und Heller war ihm, seinen Unmut verbergend, hinaufgefolgt in den oberen Stock. Ulph sah die Frau auf dem Bett liegen und hörte Norths Hilferuf. Seine Frau müsse ohnmächtig geworden sein. Was war natürlicher für Heller, als North zu folgen und sich ebenfalls über Louises Körper zu beugen? Dann hatte North ihn erschossen, mit einem Schuß in den Kopf. Hatte er Gummihandschuhe getragen? Ulph stellte sich vor, wie er mit der behandschuhten Hand die bloße Hand des toten Mannes um die Pistole schloß, ihren Lauf auf das Herz der Toten richtete und zum drittenmal abdrückte. Danach mußte North das Haus verlassen haben. Es war unvorstellbar, daß er es getan haben konnte, ohne gesehen worden zu sein. Sämtliche Augen waren auf ›Braeside‹ gerichtet gewesen, um Hellers Weggang zu erwarten. Aber North war nicht herausgekommen. Statt dessen war er um ein Uhr fünfzehn in seinem aus der Werkstatt geholten Wagen eingetroffen. Und die Waffe? Zuweilen spielte Ulph mit dem phantastischen Gedanken, North könne sie aus Hellers Aktentasche genommen haben, während sie auf dem Küchentisch stand. Aber Heller hatte die Waffe nie mitgenommen. Es sei denn, er hätte doch Selbstmord begehen wollen … 112
Der Teil von Ulph, der Polizeibeamter war, wünschte North der Gerechtigkeit auszuliefern; der Teil jedoch, der nur ein ganz gewöhnlicher Mann war, hegte für ihn insgeheim ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Seine eigene Frau hatte ihn wegen eines anderen verlassen, und er war geschieden. Aber es hatte Zeiten gegeben, in denen auch er Vorstellungen gehabt hatte wie die, in denen North die Hauptrolle spielte. Er wußte, wie es war, Mordgelüste zu hegen. Ulph verspürte also nicht das Bedürfnis, als Instrument der Rache an North zu dienen. Sein Interesse war akademisch, unvoreingenommen. Er wollte einfach nur wissen, wie der Mann es angestellt und zu einem geringeren Teil auch warum er es getan hatte, da doch in diesem Fall eine Scheidung die leichtere, näherliegende Lösung gewesen wäre. Aber der Fall war abgeschlossen und zu den Akten gelegt. Hinterher wünschte David, er hätte Susan nicht angerufen, um sich zu entschuldigen. Ihre Stimme klang noch immer in seinem Ohr. »Mr. North hat eine Regelung getroffen, Mrs. Heller etwas Geld zu leihen. Es ist bedauerlich, daß ihre älteren Freunde nicht an so etwas gedacht haben.« Sie hatte ihn mit kalten, spitzen Bemerkungen abgespeist, die darauf angelegt waren, zu verletzen. Aber während er ihr demütig zuhörte, konnte er nur an den ersten Eindruck denken, den sie auf ihn gemacht hatte, einen Eindruck äußerster Aufrichtigkeit. Er hegte keinen Groll gegen sie. Als er im »Mann mit der eisernen Maske« einkehrte, waren die beiden bärtigen Männer die einzigen Gäste. Sie saßen an ihrem gewohnten Tisch. 113
Der Barmann musterte David neugierig, als dieser sich suchend in dem leeren Lokal umblickte. »Sie sehen aus, als hätten Sie etwas verloren.« »Jemanden«, korrigierte ihn David. »Eine junge Dame. Ich hoffte, sie hier zu finden.« »Die hat Sie wohl versetzt, wie?« »Nicht direkt.« Die beiden Bärtigen würden schon nicht beißen. David näherte sich zögernd ihrem Tisch. »Entschuldigen Sie bitte, sind Sie schon hier, seit aufgemacht wurde?« Die beiden Männer blickten auf. »Allerdings.« »Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie vielleicht ein Mädchen hereinkommen gesehen haben, ein auffallend hübsches, dunkelhaariges Mädchen. Ich bin neulich schon einmal mit ihr hiergewesen.« »Ich glaube, bei mir dämmert es.« Der größere der beiden kratzte sich am Bart. »Warten Sie mal, war das so eine Kleine mit knallenger Hose?« »Ganz richtig.« David brachte ein relativ ungezwungenes Lachen zustande. »Sie war früher meine Sekretärin, und da meine augenblickliche Schreibkraft gekündigt hat, dachte ich … Soviel ich weiß, verkehrt sie nämlich regelmäßig hier, und weil ich ihre Adresse nicht kenne, bin ich auf gut Glück hergekommen, um sie vielleicht zu erwischen.« Er beglückwünschte sich zu seiner Fähigkeit, so elegant zu lügen. »Heute ist sie noch nicht hiergewesen«, sagte der Bärtige. »Tut mir leid, daß wir Ihnen nicht helfen können.« »Darf ich Sie zu einem Drink einladen?« fragte David mit dem Mut der Verzweiflung. »Habe ich das Wort Drink gehört? Das ist aber mächtig nett von Ihnen. Kognak bitte«, sagte der Große, offenbar gleich für seinen Freund mit. David bestellte an der Bar zwei Kognaks und für sich ein 114
Bier. Der Barmann kniff die Lippen zusammen. Seine Miene war bedeutungsvoll, nur konnte David sie nicht interpretieren. »Wenn ich wüßte, wo ich ihren Freund erwische, würde mir das auch weiterhelfen«, sagte er, während er die Gläser abstellte. »Alles, was ich brauche, ist ihre Adresse. Haben Sie sie hier schon einmal mit einem Mann gesehen?« Der Große hob den Kopf. »Oft sogar. Mit einem großen, gutaussehenden, dunkelhaarigen Burschen. Er hat immer Gin-Fizz getrunken, nicht wahr, Sid?« »Genau«, sagte Sid. David begann vor Aufregung zu stottern. Daß ihn die beiden offenkundig für Magdalene Hellers abgehalfterten Liebhaber hielten, störte ihn nicht im geringsten. »Immer?« fragte er. »Sie meinen, die beiden sind tatsächlich öfter hiergewesen?« »In den vergangenen sechs Monaten bestimmt einmal pro Woche. Nein, es müssen sogar acht Monate gewesen sein. Hilf mir doch mal auf die Sprünge, Sid. Wann haben wir die ›Rose‹ aufgegeben und sind hierhergekommen?« »Im August.« »Richtig, August. Jetzt erinnere ich mich, daß es August gewesen ist, weil Sid und ich gleich nach meiner Rückkehr aus Mallorca wie üblich in die ›Rose‹ gingen, und da wollten sie mich mit dem Wechselgeld übers Ohr hauen. Da hat es mir gereicht, und wir sind nach hier übergewechselt. Ihr Mädchen und der gutaussehende Kerl waren schon vorhanden.« »Aha. Und seitdem haben sich die beiden hier regelmäßig getroffen?« »Bis auf die letzten vierzehn Tage.« Der Große blickte zum Barmann und beugte sich vertraulich zu David. »Wahrscheinlich haben sie von dem Laden hier die Nase 115
voll. Es kommen allerhand Schweinereien vor. Kurz bevor Sie gekommen sind, hat dieser Bursche dort drüben versucht, mich aufs Kreuz zu legen. Behauptete, ich hätte ihm nur ein Pfund gegeben, dabei war es ein Fünfer. Widerlich!« Er runzelte ärgerlich die Stirn und kratzte sich den Bart. »Scheint, als müßte ich doch nach einer neuen Sekretärin inserieren.« Sid starrte ihn verachtungsvoll an und sprach, plötzlich aufstehend, den längsten Satz, den David je von ihm gehört hatte. »Erzählen Sie uns doch keine Märchen von einer Sekretärin. Wir sind alle Männer von Welt. Mir jedenfalls paßt es nicht, wenn man mich wie ein Kind behandelt. Du willst doch wohl nicht noch einen trinken, Charles?« Er riß die Tür auf. »Sekretärin!« stieß er hervor. »Genau«, sagte Charles, die Rollen tauschend. Sie verschwanden. David ging achselzuckend zur Bar. »Das sind zwei Komiker, die beiden«, sagte der Barmann mit Nachdruck. »Wenn man für schwarzen Humor schwärmt.« David trat hinaus ins Freie und begann ziellos durch die Straßen zu wandern. Seine Entdeckung hatte ihn in Hochstimmung versetzt. Nur der Gedanke an Susan Townsend bereitete ihm Unbehagen. Sie mußte informiert werden. Sie durfte nicht allein bleiben da draußen, ohne Schutz, eine leichte Beute für North. Mit ihrer Mitteilung von Davids erstem Verdacht hatte sie ihn bereits aufgeschreckt. Es gab keine absolute Klarheit, was sie sonst noch beobachtet haben konnte, welch winzige Widersprüche in seinem Benehmen ihr als Nachbarin aufgefallen sein mochten. David glaubte keinen Augenblick daran, daß North ihre Gesellschaft aus echter Zuneigung suchte. Sie war in Gefahr. 116
Er wußte, daß er sie nicht warnen konnte. Er war der letzte auf der Welt, dem sie zuhören würde. Aus diesen Überlegungen heraus steuerte er die nächste Telefonzelle an. Vielleicht hätte er das schon vor Tagen tun sollen … Er suchte die Nummer der Polizei heraus und wählte. Inspektor Ulph war ein kleiner, magerer Mann mit einer hervorspringenden Hakennase und olivfarbenem Teint. David versuchte stets, in der Kunst Vorbilder für lebende Personen zu finden. Susan Townsend hatte er mit Millais’ Porträt von Effi Ruskin verglichen, Magdalene Heller hatte für ihn etwas von Goyas Maja, und dieser Polizeibeamte erinnerte ihn an Bilder von Mozart. Es war der gleiche sensible Mund, der Ausdruck von Leiden, gemildert durch innere Stärke, die Augen, die zu Heiterkeit auffordern konnten. Ulph seinerseits sah einen jungen, schlanken Mann vor sich, intelligent, wenn auch nicht besonders gut aussehend, dessen lebhafter Blick ihn einen Moment lang zehn Jahre jünger machte. Er sprudelte mit leidenschaftlicher Anteilnahme eine Geschichte hervor, und Ulph hörte zu, ohne die Erregung zu zeigen, die der Name North zu Anfang in ihm hervorgerufen hatte. Was hatte er zu hören erwartet? Jedenfalls nicht dies. Seinem kleinen Gefühlshoch folgte Enttäuschung, während er noch einmal wiederholte, was ihm sein Besucher berichtet hatte: »Also Mr. North und Mrs. Heller haben sich Ihrer genauen Kenntnis zufolge noch vor dem Tode ihrer jeweiligen Ehepartner regelmäßig in einem Londoner Lokal namens ›Der Mann mit der eisernen Maske‹ getroffen?« David nickte mit Nachdruck. Er hatte eine stärkere Reaktion erhofft. »Ja. Es mag etwas weit hergeholt klingen, aber ich glaube, sie sind dort zusammengekommen, um einen Plan auszuhecken, die beiden umzubringen und das Ganze wie Selbstmord aussehen zu lassen.« 117
»Tatsächlich?« Ulph hatte die Brauen in die Höhe gezogen. »Ich bin überzeugt, daß er es getan hat«, sagte David impulsiv. »Und wenn er es war, muß sie daran beteiligt gewesen sein. Nur sie konnte ihm sagen, wann Heller nach ›Braeside‹ kommen würde, und nur sie konnte ihm die Waffe aushändigen. Ich war am Vorabend von Hellers Tod in seiner Wohnung und habe die Waffe gesehen. Später beobachtete ich, wie seine Frau ins Kino ging. Ich nehme an, North erwartete sie dort, um die Pistole in Empfang zu nehmen.« Die Pistole. Dies war der einzige Weg, überlegte Ulph, wie North sie bekommen haben konnte. »Sie sagen, North und Mrs. Heller trafen sich zum erstenmal im August in diesem Lokal?« »Ja, ich stelle mir das folgendermaßen vor. Bernard Heller hatte Mrs. North kennengelernt, sich in sie verliebt und mit ihr eine Affäre angefangen. North erfuhr davon und setzte sich deshalb mit Magdalene Heller in Verbindung.« David holte tief Luft. Seine Theorie kam ihm selber höchst einleuchtend vor. »Sie verabredeten sich, um über das – äh – Unrecht zu sprechen, das ihnen angetan wurde. Dabei blieb es vorerst. Im September unternahm Bernard einen Selbstmordversuch – ich habe es in der Zeitung gelesen –, das muß sie erschüttert haben. Aber als er sein Verhältnis mit Louise wieder aufnahm, setzten sie ihre Treffen fort und beschlossen, die beiden umzubringen.« Davids Erklärung war so voller Löcher, so wenig lebensnah, daß Ulph fast lachen mußte. Doch dann erinnerte er sich, daß er dieser Theorie, so absurd sie sein mochte, den einzigen Hinweis darauf verdankte, wie North in den Besitz der Waffe gelangt war, und er seufzte nur. »Hören Sie mir einmal zu, Mr. Chadwick«, sagte er behutsam. »Ein normaler Bau-Kalkulator aus der gesellschaftlichen 118
Mittelklasse entdeckt, daß ihm seine Frau untreu ist. Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Er kann sich mit seiner Frau aussprechen, er kann sich mit dem betreffenden Mann aussprechen, er kann sich scheiden lassen.« Er spürte, wie sich unter dem Tisch seine Hände verkrampften. Hatte er das nicht alles selber getan? »Er kann einem von ihnen oder beiden Gewalt antun, die Frau umbringen oder beide. Er kann sogar mit der Ehefrau des Liebhabers Kontakt aufnehmen und sie von seiner Entdeckung informieren. Das letztere ist eine Möglichkeit. Sie oder ich«, fuhr Ulph fort, »würden das vermutlich nicht tun, aber es ist schon vorgekommen. Das unschuldige Paar steht dem schuldigen gegenüber. Mehr Auseinandersetzungen, mehr Aussprachen folgen. Was das unschuldige Paar nicht tut, ist das eine: es trifft sich nicht in einem Lokal, um einen Mord zu planen. Zwei völlig fremde Menschen, die nichts voneinander wissen? Können Sie sich das tatsächlich vorstellen?« »Und wenn ich nun in die Kneipe zurückgehe«, sagte David schüchtern. War das Amüsiertheit, die da in Ulphs Augen aufflackerte? »Wenn ich mir die Namen der beiden Männer beschaffe?« »Solange Sie sich nur nicht selbst in Schwierigkeiten bringen, Mr. Chadwick.« David verließ langsam das Polizeirevier. Er fühlte sich gedemütigt, aus allen Himmeln gestoßen durch Ulphs fachmännisches Urteil. Und doch hatte Ulph ihm lediglich gezeigt, daß seine Rückschlüsse nicht stimmten. Er hatte nichts getan, um Davids Überzeugung von Norths Schuld zu ändern oder die wachsende Gewißheit zu verringern, daß North Susan Townsend verfolgte, um herauszufinden, wieviel sie wußte.
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14 Es war Davids Pech, daß Sid und Charles am Abend nicht mehr im »Mann mit der eisernen Maske« auftauchten. Er saß bis acht Uhr herum, dann fuhr er nach Hause. Am folgenden Abend waren zwar etliche Stammgäste da, aber Sid und Charles ließen sich wiederum nicht blikken. David starrte unruhig zur Tür, bis er schließlich den Barmann fragte. »Diese beiden Typen mit Bart meinen Sie?« »Ja, genau«, bestätigte David. »Sie haben sie gestern mittag als Komiker bezeichnet. Ich muß die beiden unbedingt sprechen.« »Ich bezweifle stark, daß die noch einmal hier erscheinen.« Der Barmann sah David bedeutungsvoll an und setzte das Glas ab, das er gerade poliert hatte. »Behalten Sie es für sich, aber ich hatte mit den beiden gestern mittag eine Auseinandersetzung. Es ging mal wieder ums liebe Geld. Das ist schon fast eine Krankheit bei denen.« Er senkte die Stimme. »Sie haben ein paarmal behauptet, ich hätte ihnen zuwenig rausgegeben, und gestern ist mir dann der Kragen geplatzt. Holt doch die Polizei, wenn ihr nicht zufrieden seid, habe ich gesagt. Wir haben hier nichts zu verbergen. Es ist mein gutes Recht, euch nicht mehr zu bedienen, und das werde ich euch auch beweisen, falls ihr morgen wiederkommt.« »Das gleiche ist ihnen im vergangenen August in der ›Rose‹ passiert«, sagte David niedergeschlagen. »Sollte mich nicht wundern. Die beiden sind doch wohl nicht etwa Freunde von Ihnen?« »Ich kenne nicht einmal ihre Namen.« »Ein Kneipenbummel«, sagte Pamela Pearce, »kann aber ziemlich langweilig werden.« 120
»Ich muß unbedingt zwei Leute erwischen.« »Schulden sie dir Geld?« »Nein«, erwiderte David verdrossen. »Es handelt sich um etwas viel Ernsthafteres, aber das kann ich dir nicht erklären. Komm schon, vielleicht ist es ganz ulkig, in jeder Kneipe von Soho ein Glas zu trinken.« »Das dürfte eher tödlich sein. Außerdem regnet es in Strömen, Liebling.« »Na und wenn schon. Du kannst ja deinen neuen Regenmantel anziehen.« »Das ist eine Idee«, sagte Pamela, und als er sie abholen kam, glitzerte sie in silberner Krokodilimitation. Es war Sonntag, und Julian Townsend holte seinen Sohn ab. Hand in Hand gingen sie den Gartenweg entlang zum Wagen. Susan blickte ihnen belustigt hinterher, weil der Airedale, der nur bei Unbekannten anschlug, Julian zu verbellen begonnen hatte. Julian war ein Fremder geworden. Sie zuckte die Achseln und kehrte ins Haus zurück. Im Dielenspiegel kam ihr ihr eigenes Abbild entgegen, und sie blieb stehen, um sich zu bewundern. Das helle Haar, das neuen Glanz bekommen hatte, die grauen Augen, die erwartungsvoll leuchteten, das neue Kleid, für das sie ihr Bankkonto geplündert hatte. Das Honorar von Miss Willingale würde das Loch wieder stopfen. Susan hatte nur noch vier Kapitel zu schreiben. Bobs Schritte näherten sich auf dem Seitenweg. Er kam jetzt nicht mehr formell durch die Vordertür. Susan betrachtete das Mädchen im Spiegel und sah in ihrem Gesicht Freude über die neue Vertrautheit, den Anfang, Dinge als selbstverständlich hinzunehmen. Sie ging ihm etwas schüchtern entgegen. Als er hereinkam, nahm er sie wortlos in die Arme. Sein Kuß war lang, 121
intensiv und gekonnt und in seiner Wirkung auf sie fast erschreckend. Trotzdem waren sie nur Freunde, sagte sie sich, Freunde, die sich gegenseitig trösteten. Sie löste sich von ihm, aufgewühlt, nicht willens, seinem Blick zu begegnen. »Bob, ich … Warte einen Augenblick auf mich. Ich muß noch meine Handschuhe holen, meine Tasche.« Handschuhe und Tasche lagen oben auf dem Frisiertisch. Sie ließ sich schwerfällig auf das Bett sinken und starrte blicklos aus dem Fenster. Ihr zitterten die Hände. Bisher hatte sie angenommen, daß ihr das ohne einen Mann verbrachte Jahr nur wegen der fehlenden Gemeinsamkeit und dem Schmerz über die Zurückweisung fast unerträglich erschienen war. Jetzt wußte sie, daß sie ebensosehr die sexuelle Befriedigung vermißt hatte. Bob wartete am Treppenabsatz auf sie. Ihr fiel ein, wie sich das Mädchen in Harrow auf der Straße nach ihm umgedreht hatte, wie Doris von seinem Aussehen und seinem Charme geschwärmt hatte, und diese Huldigungen anderer Frauen schienen ihn plötzlich noch reizvoller zu machen. Alle, außer seiner Frau, waren von seiner Erscheinung überwältigt gewesen. Warum hatte er gerade sie unbeeindruckt gelassen? »Wir werden draußen in einem kleinen Ausflugslokal essen«, sagte er. »Ich habe schon immer kleine gemütliche Lokale gemocht.« Sie nahm seine Hand und lächelte ihm zu. »Hast du das wirklich, Bob?« »Warum sagst du das in so einem Ton?« fragte er nervös. »Und warum siehst du mich so an?« »Ich weiß nicht. Ich habe mir nichts dabei gedacht.« Sie wußte selbst nicht, warum ihr unvermittelt Heller und dessen Witwe in den Sinn gekommen waren. »Laß uns eine 122
Abmachung treffen«, sagte sie schnell. »Wir wollen heute nicht über Heller oder Louise sprechen.« »Gut«, nickte er und strich ihr über das Haar. Sie überlief ein leichtes Zittern, als sie seine Berührung spürte. Statt erleichtert zu sein, empfand sie ein unbestimmtes Mißbehagen. Hatten sie überhaupt über etwas anderes zu reden, irgendeine Gemeinsamkeit? Es war etwas entsetzlich Demütigendes in dem Gedanken, der ihr in den Sinn gekommen war. Daß sie, statt mit ihm auszugehen, eigentlich lieber zu Hause geblieben wäre, dicht bei ihm, in einem fortwährenden Gefühl von Wärme und Begehren. Außerhalb dieses Raumes würden sie, wie ihr schien, keine Existenzberechtigung haben als Paar, als Freunde. Ihre Gespräche würden sich, des Objektes beraubt, das sie zusammengeführt hatte, in Banalitäten verlieren. Doris sah aus dem Fenster und winkte. Betty blickte von ihrer Gartenarbeit hoch und lächelte ihnen zu. Es war, als ob sie mit Bob in die Flitterwochen aufbräche, dachte Susan. Sie stieg zu ihm in den Wagen, und dann erinnerte sie sich daran, wie rüde er sie behandelt hatte, als sie nach Harrow gefahren waren. Und doch war er derselbe Mann. Er lächelte sie an, hob ihre Hand an den Mund und küßte ihre Finger. Aber sie kannte ihn überhaupt nicht, wußte gar nichts von ihm. Was immer sie auch sagte, würde auf das Thema Heller zurückführen. So war es immer. Aber sie hatte versprochen, weder ihn noch Louise zu erwähnen. Sie mußte irgendein neutrales Thema finden. »Wie kommst du mit Mrs. Dring zurecht?« fragte sie verzweifelt. Sie hatte ihre Putzfrau gebeten, ihm etwas im Haus zu helfen. »Ganz gut. Es war lieb von dir, sie zu überreden, Susan.« »Und sie kann nur samstags kommen?« »Ja, wenn ich zu Hause bin.« Er nahm eine Hand vom 123
Lenkrad und berührte ihren Arm. Nicht aus Zuneigung oder sexuellem Begehren, dachte sie. Vielleicht nur, um sich zu vergewissern, daß sie tatsächlich da war. Und dann sagte er mit ganz leiser Stimme, als ob jemand mithören könne: »Sie redet mit mir darüber. Ich versuche zwar, mich von ihr fernzuhalten, aber bei jeder Gelegenheit, die sich bietet, spricht sie davon.« »Sie ist ziemlich gedankenlos«, sagte Susan beruhigend. »Ich werde sie mir einmal vornehmen.« Aber er schien sie kaum zu hören. Wieder einmal war er auf jenen Morgen zurückgekommen, sein Eintreffen in »Braeside«, das Paar im Bett. Und von Mitleid erfüllt, ohne ihn spüren zu lassen, daß sie selbst ein wenig beunruhigt war, legte Susan ihre Hand auf seinen Arm und ließ sie dort ruhen. »Ich habe die beiden nicht auftreiben können«, sagte David. Ulphs Miene war die eines nachsichtigen Vaters, der den Geschichten eines Kindes zuhört. Vielleicht hatte er an die Existenz von Sid und Charles nie recht geglaubt. Vor seiner Skepsis kam David sich wie ein Spinner vor, einer jener Leute, die mit wilden Behauptungen zur Polizei laufen, um Ärger zu stiften oder sich interessant zu machen. »Ich hatte den Eindruck, sie arbeiten in der City«, fuhr er fort und kam sich dabei ziemlich dämlich vor. »Wir könnten es bei der Börse versuchen oder bei Lloyds.« »Sie könnten das versuchen, Mr. Chadwick.« »Soll das heißen, Sie unternehmen nichts? Sie setzen keinen Mann darauf an?« »Um was zu erreichen? Nach dem zu urteilen, was Sie mir über das Benehmen Ihrer bärtigen Bekannten berichtet haben, sind sie nicht gerade Muster an Redlichkeit. Mr. Chadwick, können Sie ganz sicher sein, daß die beiden Sie nicht nur auf den Arm genommen haben?« 124
David nickte verbissen. Ulph zuckte die Achseln und trommelte leicht mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Es bestand kein Grund, diesem hartnäckigen Burschen auf die Nase zu binden, daß North und Mrs. Heller seit seinem letzten Besuch jeder für sich noch einmal verhört worden waren und heftig bestritten hatten, sich schon vor den Selbstmorden gekannt zu haben. Ulph glaubte ihnen. Mrs. Hellers Schwager und ihre Nachbarn kannten inzwischen alle Robert North. Sie kannten ihn als den gütigen Wohltäter, der sich fünf Tage nach der Tragödie zum erstenmal in East Mulvihill gezeigt hatte. Deshalb hatte Ulph auch den Glauben an Davids Theorie in bezug auf die Waffe verloren. Er glaubte noch immer an Norths Schuld. Aber North mußte die Waffe auf eine andere Art erhalten haben. Ulph wußte nicht, wie; ebensowenig wußte er, wie North aus dem Haus gelangt war. Antworten auf diese Fragen würden ihn in die Lage versetzen, den Fall noch einmal aufzurollen, keine unhaltbaren Theorien über eine Konspiration. »Sehen Sie, Mr. Chadwick«, sagte er geduldig, »Ihnen fehlt nicht nur der Beweis für eine derartige Verschwörung, sondern sogar eine Theorie, die mich von der Notwendigkeit einer solchen überzeugen würde. Als Mrs. Heller zum erstenmal von der Untreue ihres Mannes erfuhr, bot sie ihm die Scheidung an und reichte sie lediglich deshalb nicht ein, weil er noch einmal den Versuch machen wollte, die Ehe weiterzuführen. Er hätte sie nicht daran hindern können, ihn für den schuldigen Teil erklären zu lassen. Er versuchte auch gar nicht, die Wahrheit zu verheimlichen. Er liebte Mrs. North, beging mit ihr Ehebruch und gestand dies seiner Frau. Was North betrifft, so könnte er eine Affekthandlung aus Eifersucht oder verletztem Stolz begangen haben. Das ist etwas ganz anderes, als monatelang mit einer relativ Fremden zu konspirieren. Sein 125
Zorn wäre inzwischen abgekühlt gewesen. Warum hätte er das ungeheure Risiko eingehen sollen, das mit einem vorsätzlichen Mord verbunden ist, wenn er bei all den Beweisen, die er hatte, nur die Scheidung hätte einzureichen brauchen?« Mehr sagte er nicht. Zeige mir, dachte er, wie ein Mann, dessen Eifersucht und Wut ich verstehe, in den Besitz einer Waffe gelangt ist, die er nicht gehabt haben kann, und wie er ungesehen aus einem Haus kam. Sie hatte ihn oft genug eingeladen, und doch würde sie von seinem Anblick wenig begeistert sein. North würde ihr inzwischen von seinem Besuch in Matchdown Park berichtet haben. David blieb ein oder zwei Sekunden zögernd auf der Türschwelle stehen, bevor er den Klingelknopf drückte. Es war der Schwager, der ihn in die Wohnung ließ. Im Flur roch es nach Fett und Gemüse. Sie hatten gemeinsam gegessen, und die schmutzigen Teller standen noch auf dem Tisch. Magdalene Heller lehnte unter der Mandoline an der Wand, eine unangesteckte Zigarette zwischen den Fingern. »Ich dachte, es wäre Zeit, Sie einmal zu besuchen«, sagte David und machte mit seinem Feuerzeug einen Schritt vorwärts. Die Flamme warf lila Schatten auf ihr Gesicht, und ihre Augen weiteten sich. Sie schwieg einen Augenblick, aber David fühlte, daß sie sich ebenso wie er der Vorläuferin dieser Szene erinnerte. Halb erwartete er, daß sie einen schnellen Blick über die Schulter zurückwerfen würde, um Norths Gesicht zu suchen. Sie setzte sich und schlug die langen, schönen Beine übereinander. »Nun, wie geht es Ihnen?« »Gut.« Ihre Schroffheit, ihr Mangel an Charme, erinnerten ihn ein wenig an Elizabeth Townsend. Aber während 126
Mrs. Townsends Benehmen der Sicherheit entsprang, die Herkunft, Erziehung und gesellschaftlicher Hintergrund verleihen, war Magdalenes Haltung die einer Frau, die sich ihrer Schönheit bewußt ist. Es war Carl, der sagte: »Die Leute sind sehr nett gewesen, vor allem Mr. North.« Es schien David, als versteife sich das Mädchen bei Nennung dieses Namens. »Er hat Magdalene Geld geborgt, damit sie sich über Wasser halten kann.« Carl lächelte etwas töricht. »Mehr wie ein alter Freund«, sagte er, und als David leicht die Augenbrauen hob: »Sogar die Polizei ist hergekommen und hat Magdalene gefragt, ob sie ihn schon vorher gekannt hat.« Davids Herzschlag beschleunigte sich. Also war Ulph doch interessiert … »Aber natürlich hat sie ihn nicht vorher gekannt«, sagte er scheinheilig. Magdalene drückte ihre Zigarette aus. »Warum setzt du nicht Kaffeewasser auf, Carl?« Während sich Bernards Bruder entfernte, musterte sie David mit ihren grüngoldenen Augen. »Sagen Sie mir«, ihr Akzent war an diesem Abend stärker als sonst, »hat Bernard Ihnen je erzählt, wie er diese Frau kennengelernt hat?« »Nein«, erwiderte David, »er hat mir nichts erzählt. Wie haben sie sich denn kennengelernt?« »Vergangenen August in Matchdown Park. Sie war bei einer Freundin, und Bernard kam, um ein fehlendes Teil an der Heizung anzubringen. Sie war krank gewesen und hatte einen Rückschlag, und deshalb mußte er sie nach Hause fahren. Damit fing alles an.« Warum erzählst du mir das? fragte er sich. »Er hat mir das alles berichtet«, fuhr sie fort. »Bob North hatte nicht die geringste Ahnung. Ich mußte ihn erst aufklären. Es ist nicht allzu überraschend, nicht wahr, daß wir uns nach der Untersuchung zusammenfanden. Wir hatten uns eine Menge zu erzählen.« 127
»Aber die Polizei meint, Sie und North hätten sich schon früher gekannt?« In ihren Augen zuckte Haß auf. Sie wußte, warum die Polizei zu ihr gekommen war und wer sie aufmerksam gemacht hatte, aber sie wagte es nicht auszusprechen. »Ich habe Bob vor drei Wochen zum erstenmal in meinem Leben gesehen«, sagte sie brüsk und warf den Kopf zurück, so daß ihre langen schwarzen Haare nach hinten fielen. »Ich bin nicht beunruhigt. Warum sollte ich auch?« »Für mich bitte keinen Kaffee«, sagte David, als Carl mit dem Tablett zurückkam. Er hatte eine starke Aversion dagegen, in dieser Wohnung irgend etwas zu sich zu nehmen. »Ich nehme an, Equatair hat Ihnen etwas ausgezahlt«, sagte er kühn, da zwischen ihm und ihr keine Veranlassung mehr zu Takt und Rücksichtnahme bestand. Die Erinnerung an die Berührung ihres Mundes bereitete ihm Übelkeit. »Wenig genug«, erwiderte sie. »Ich nehme an, es wird für die Firma nicht leicht gewesen sein, einen Ersatz für Bernard zu finden, der in die Schweiz gehen kann.« David wandte sich an Carl. »Wäre das nicht etwas für Sie gewesen?« »Ich spreche zwar die Sprache, Mr. Chadwick, aber nein, ich bin nicht so intelligent, wie Bernard gewesen ist. Ich werde im Urlaub in die Schweiz fahren. Ich habe Verwandte dort.« Magdalene goß sich ihren Kaffee so vorsichtig ein, als habe sie Angst, ihre Hände könnten zittern. David spürte plötzlich, daß er mit ihrem Schwager in Verbindung bleiben mußte. Er hatte schon einmal versäumt, sich eine Adresse geben zu lassen. Er verabschiedete sich von Magdalene nur mit einem Nicken und folgte Carl hinaus auf den Flur. »Vielleicht fahre ich auch in die Schweiz«, sagte er, als 128
sie außer Hörweite waren. »Falls ich einen Rat brauche – könnten Sie mir vielleicht Ihre Adresse geben?« Carls trübselige Miene erhellte sich. Er wirkte wie ein Mann, der nur selten um Rat ersucht wird. David gab ihm einen Kugelschreiber und einen alten Briefumschlag, auf den Carl mit breiter Handschrift seine Adresse und die Telefonnummer seiner Wirtin notierte. »Jederzeit zu Ihren Diensten, Mr. Chadwick.« Er öffnete die Tür und spähte hinaus. »Ich dachte, wir würden heute noch Besuch von Mr. North bekommen. Ein- oder zweimal bin ich hiergewesen, als er bei Magdalene war. Aber er ist ein sehr beschäftigter Mann, und seine Nachbarn nehmen auch viel Zeit in Anspruch …« Seine Nachbarn. Eine Nachbarin, dachte David. Ob North jetzt wohl bei ihr sein mochte? Stellte er ihr nach, so wie Magdalene Heller ihm, David, nachgestellt hatte, und aus demselben Grund? Am Bahnhof East Mulvihill kaufte er seine Fahrkarte, und dann, ohne lange nachzudenken, ging er in eine Telefonzelle.
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15 »Mrs. Townsend, hier ist David Chadwick. Bitte legen Sie nicht auf.« Ob seine Stimme so eindringlich klang, wie er glaubte? »Ich wollte mit Ihnen sprechen. Ich konnte die Dinge nicht so in der Luft hängenlassen.« »Bitte?« Es konnte ein warmes Wort sein, aber bei ihr klang es wie das kälteste der Welt. »Ich habe nicht angerufen, um darüber zu sprechen – was ich vergangene Woche erwähnte. Ich will nicht über Mr. North reden.« »Das ist gut, denn über ihn unterhalte ich mich nicht.« Sie sprach ganz neutral. »Es war abscheulich, was ich vergangene Woche getan habe, und ich entschuldige mich zutiefst. Können Sie verstehen, wenn ich sage, daß ich Sie gern sehen würde, um Ihnen zu erklären, daß ich kein Flegel bin? Mrs. Townsend, dürfte ich Sie zum Essen einladen?« Er konnte die Art ihres Schweigens nicht definieren. »Natürlich nicht«, sagte sie und lachte. In ihrem Lachen konnte er weder Ärger noch Spott erkennen. Sie war nicht einmal belustigt. Sie war einfach nur ungläubig. »In einem großen, menschengefüllten Restaurant, wo ich Ihnen keine Angst einjagen kann …«, beharrte er. »Ich hatte Angst.« In diesem Augenblick verliebte er sich in sie. Bis dahin war alles nur ein törichter Traum gewesen. »Ich hatte Angst«, wiederholte sie, »weil ich allein und weil es dunkel war.« Wieder folgte Schweigen. »Sind Sie noch da?« Ihre Stimme klang jetzt lebhaft. »Ich finde dies eine höchst alberne Unterhaltung. Ich nehme an, Sie haben in gutem Glauben gehandelt, und im übrigen spielt das jetzt 130
auch keine Rolle mehr. Aber wir kennen uns überhaupt nicht, und das einzige Thema, über das wir uns unterhalten können … Nun, darüber will ich nicht reden.« »Das wäre wirklich nicht das einzige Thema«, widersprach er heftig. »Ich könnte Ihnen sofort hundert Sachen aufzählen.« »Auf Wiedersehen, Mr. Chadwick.« Sie war fast sicher, daß Bob das Telefongespräch nicht mitangehört hatte, aber als sie ins Wohnzimmer zurückkam, sah er sie mit gequältem Augenausdruck an. »Ich habe gehört«, sagte er, »daß es dieser Chadwick war.« »Er wollte mich nur zum Essen einladen«, sagte sie besänftigend. »Aber natürlich habe ich abgelehnt.« »Was will er, Susan? Worauf ist er aus?« »Nichts. Nicht, Bob, du tust mir weh.« Seine Hände, die so sanft sein konnten, wenn sie über ihre Wange streichelten, brachen ihr fast die Handgelenke. »Setz dich. Was sagtest du gerade, bevor das Telefon läutete …?« Er entspannte den Griff. »Wegen Louise«, sagte er. »Ich erzählte dir, wie sie und Heller sich kennengelernt haben und er sie nach Hause fuhr. Magdalene Heller hat mir die ganze Geschichte berichtet. Danach pflegten sie sich zu treffen, wenn ich lange arbeiten mußte.« Seine Stimme klang erregt und verzweifelt. »In Cafés und Lokalen. Er geriet in einen solchen Zustand, daß er sich umzubringen versuchte. Wäre es ihm doch bloß gelungen. Er fing an, ihr diese schrecklichen Briefe zu schreiben … Susan, du hast die Briefe doch verbrannt, nicht wahr?« Es war ihr mittlerweile egal, ob sie ihm die Wahrheit sagte oder log. Was war nebenbei bemerkt die Wahrheit? »Ich habe sie verbrannt, Bob.« »Warum kann ich das alles nicht vergessen und hinter 131
mir lassen? Du glaubst, ich werde verrückt. Ja, das glaubst du, Susan, ich sehe es an deinem Gesicht.« Sie stützte den Kopf in die Hände. »Halte dich von Mrs. Heller fern, wenn sie dich so aufregt«, sagte sie schnell. »Du hast genug für sie getan.« »Wie meinst du das?« »Du hast ihr doch Geld gegeben, nicht wahr?« Er seufzte müde. »Ich würde gern wegfahren, weit weg. Ach, Susan, wenn ich heute abend bloß nicht in dieses Haus zurückgehen müßte! Oder je wieder zu Magdalene Heller.« Er schwieg und sagte dann, als konstatierte er etwas ganz Profundes, zugleich jedoch Neues und Abstoßendes: »Ich möchte Magdalene Heller nie wiedersehen.« »Mich auch nicht, Bob?« fragte Susan leise. »Dich? Es wäre besser, wenn ich dich nie kennengelernt, nie gesehen hätte …« Er stand auf, und sein Gesicht war so bleich und gepeinigt, als sei er krank oder tatsächlich geistesgestört. »Ich liebe dich, Susan.« Er legte die Arme um sie und sagte, wobei seine Lippen fast die ihren berührten: »Eines Tages, wenn ich … Wenn ich mich wieder besser fühle und alles überstanden ist, willst du mich dann heiraten?« »Ich weiß nicht«, sagte sie verwirrt, aber sie küßte ihn mit einem tiefen Seufzer, und ihr schien, als sei noch nie ein Kuß so angenehm und süß gewesen. »Es ist nicht die rechte Zeit dazu, nicht wahr?« sagte sie, nachdem sich ihre Lippen getrennt hatten, und blickte in sein zerquältes, gehetztes Gesicht. »Da ist der Junge, ich weiß«, sagte er, ihre Gedanken lesend. »Er hat Angst vor mir. Das wird vorbeigehen. Wir könnten alle wegfahren, nicht wahr? Weg von Mrs. Dring und diesem Chadwick und – und Mrs. Heller.«
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David hatte die Fernsehnachrichten angestellt. Als nur noch irgendwelche regionalen Wahlergebnisse kamen und er schon ausschalten wollte, horchte er plötzlich bei der Stimme eines Kommentators auf, der den Sprecher abgelöst hatte. Dieser singende Tonfall, diese scharfen Rs kamen ihm bekannt vor. Er hatte sie erst am frühen Abend aus dem Munde Magdalene Hellers gehört. Ihr Akzent, sehr viel schwächer als der des Kommentators, hatte ihn immer wieder beschäftigt. Jetzt hatte er ihn endlich untergebracht. Sie stammte aus Devon. Ihm kam sofort das Zeitungsfoto von Robert und Louise North in den Sinn. Es war in Devon aufgenommen worden, als sie dort im vergangenen Jahr ihren Urlaub verbracht hatten. War das bedeutungsvoll oder nicht? Er rief sich noch einmal sehr genau das Gespräch in Erinnerung, das er vor zwei Stunden mit Magdalene Heller geführt hatte, und ihm kam merkwürdig vor, daß sie sich soviel Mühe gemacht hatte, ihm in allen Einzelheiten zu berichten, wie Heller und Louise North sich kennengelernt hatten. War es nicht sehr viel wahrscheinlicher, daß sie sich alle vier im Urlaub begegnet waren? David packte erneut die Erregung. Angenommen, die beiden Paare hatten sich tatsächlich im Hotel oder am Strand kennengelernt, und Louise und Heller hatten anschließend weiter Kontakt gehalten? Dann hatten sich auch North und Magdalene schon vorher gekannt, und es war durchaus einleuchtend, daß North ihr oder sie ihm von der Untreue ihrer Ehepartner berichtet hatte. Sogar Ulph konnte daran nichts Phantastisches finden. David zögerte einen Augenblick, dann wählte er Carl Hellers Nummer. Seine Wirtin meldete sich. Mr. Heller war soeben von seiner Schwägerin nach Hause gekommen und zog sich nur noch den Mantel aus. »Es ist doch hoffentlich nichts passiert, Mr. Chadwick?« 133
»Nein, nein«, sagte David. »Ich habe nur gerade überlegt, ob ich nicht schon über Ostern ein paar Tage in die Schweiz fahren sollte und Sie mir da vielleicht einen besonders netten Ort empfehlen könnten.« Carl begann, eine Liste von Namen und Adressen herunterzuspulen. Er schien auf Bitten um Gefälligkeiten genauso überschwenglich zu reagieren, wie es sein Bruder Bernard getan hatte. »Das dürfte reichlich genügen«, sagte David, als Carl Atem schöpfte. »Ich nehme an, Ihr Bruder und seine Frau sind oft dort gewesen?« »Mein Bruder ist nach seiner Heirat nie mehr in die Schweiz gefahren. Er bemühte sich, wie er mir sagte, ein echter Engländer zu werden. Er und Magdalene verbrachten den Urlaub immer in Devon, wo Magdalene herstammt.« »Tatsächlich?« »Aber komischerweise stiegen sie dort – das heißt in Bathcombe Ferrers – stets in einer kleinen Pension ab, die sich Swiss Chalet nennt. Mein Bruder und ich haben oft darüber gelacht. Aber wer hätte gedacht, daß alles so enden würde …«
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16 Ein rustikales Schild mit eingebranntem Namen sagte ihm, daß er angekommen war. Sonst ließ nichts an dem Haus erkennen, warum es Swiss Chalet hieß. Es war im Stil der Jahrhundertwende gebaut, drei Stockwerke hoch, und hatte ein kaum sichtbares Dach. Der Eingang führte durch eine Glasveranda mit Topfpflanzen in die Halle. David trat an eine Art Fensteröffnung in der Wand, die ihn an den Fahrkartenschalter eines Provinzbahnhofs erinnerte, und betätigte eine mit Edelweiß bemalte Kuhglocke. Ihr schriller Klang rief eine kleine dicke Frau auf den Plan, die so aggressiv hinter einer Tür mit der Aufschrift »Privat« hervorstürmte, als wolle sie gleich mit faulen Eiern und Tomaten werfen. »Chadwick«, sagte David hastig. »Aus London. Ich habe ein Zimmer bestellt.« Die drohende Haltung schwand, ohne einem Lächeln zu weichen. David schätzte die Frau auf Anfang Sechzig. Ihr Haar war in dem Farbton einer Kokosmatte gefärbt und erinnerte auch in seiner Beschaffenheit an eine solche. »Angenehm«, sagte sie. »Ich bin Mrs. Spiller, mit der Sie telefoniert haben.« Sie war keine Einheimische, vielleicht hergezogen in der Hoffnung, ein Vermögen verdienen zu können. Das Gästebuch, das sie ihm entgegenschob, kündete mit seiner Leere von einer Fehlspekulation. »Zimmer Nummer acht.« David streckte die Hand aus, um einen Schlüssel entgegenzunehmen. Sie runzelte erzürnt die Stirn. »Wir haben keine Schlüssel. Wenn Sie so eigen sind, können Sie ja die Tür verriegeln. Frühstück gibt es Punkt acht, Mittagessen um eins und Abendbrot um sechs Uhr.« David nahm seinen Koffer auf. »Ihr Zimmer ist im zweiten Stock, erste Tür links. Die Toilette befindet 135
sich im Badezimmer, halten Sie sich deshalb nicht zu lange mit dem Waschen auf. Es gibt so etwas wie Rücksichtnahme.« Rücksichtnahme auf wen? fragte sich David. Die Saison hatte noch kaum begonnen, und das Haus wirkte verlassen und tot. Es war zehn Minuten nach elf, aber Mrs. Spiller schien ihre letzte Ermahnung vergessen zu haben, denn sie bellte ihm, als er die Treppe hinaufstieg, nach: »Sie haben mir gar nicht gesagt, wer mich empfohlen hat.« »Eine Bekannte«, erwiderte er. »Eine Mrs. Heller.« »Doch nicht etwa die kleine Mag?« »Mrs. Magdalene Heller, ganz richtig.« »Warum haben Sie das denn nicht früher gesagt?« Weil er gedacht hatte, vorsichtig und schrittweise vorgehen zu müssen. »Sie sind wirklich ein komischer Kauz. Wenn ich nicht gefragt hätte, hätte ich das wohl nie erfahren. Ich habe über die Tragödie in der Zeitung gelesen. Es hat mich wirklich mitgenommen, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe den Kessel auf dem Herd. Wollen Sie vor dem Schlafengehen noch eine Tasse Tee? Das ist recht. Lassen Sie das Gepäck ruhig stehen, ich sage meinem Sohn, daß er es raufbringen soll.« Es ließ sich alles sehr viel besser an, als David erwartet hatte. Er mußte nur eine Frage stellen. Von ihrer Beantwortung hing ab, ob er das ganze Wochenende bleiben würde oder nur eine Nacht. »Sie war doch erst im vergangenen Jahr hier, nicht wahr?« »Genau, im Juli. Ende Juli. Machen Sie es sich im Aufenthaltsraum bequem.« Das Zimmer war klein und schäbig. Es roch nach Geranien und Fliegenspray. Mrs. Spiller war verschwunden, um den Tee zu holen. Während David Platz nahm, über136
legte er, wie oft Magdalene auf demselben Stuhl gesessen haben mochte. Vielleicht waren auch die Norths hiergewesen, und die Begegnung zwischen Bernard und Louise hatte eben in diesem Zimmer stattgefunden? Er betrachtete die Einrichtung mit dem kritischen Blick eines Bühnenbildners: die Topfpflanzen, das Hochzeitsfoto auf dem Klavier, den Schneesturm unter der Glaskuppel. Halb verdeckt von einem Blumenständer aus Mahagoni war noch ein weiteres Bild. Er stand auf, um es sich näher anzusehen, und sein Herz machte einen kleinen Sprung. Was paßte besser in ein solches Interieur als Millais’ »Entlassungsbefehl«? Susan Townsend blickte durch ihn hindurch in die Ferne, die Mundwinkel ein wenig herabgezogen, die Augen kühl und unbeteiligt. Bevor er nach Devon abgefahren war, hatte er etwas Merkwürdiges, vielleicht Törichtes getan. Er hatte ihr ein Dutzend weiße Rosen geschickt. Ob sie genauso aussehen würde, wenn sie die Blumen in Empfang nahm? »Zucker?« fragte Mrs. Spiller direkt in sein Ohr. Er fuhr so zusammen, daß er ihr fast die Teetasse aus der Hand stieß. »Bißchen nervös, nicht wahr? Ein paar Tage hier werden Sie wieder auf die Beine bringen. Sehr kräftigend, das Klima in Bathcombe.« »Magdalene bekommt es auch immer so gut«, sagte David. »Ein Glück. Bei dem, was sie durchmachen mußte, braucht man seine Gesundheit. Wie schrecklich, daß er sich so etwas angetan hat, nicht wahr? Ich habe mich oft gefragt, was wohl dahinter gesteckt haben mag.« Bestimmt nicht so oft wie ich, dachte David, während er in kleinen Schlucken den süßen, heißen Tee trank. »Sie, als ein Freund der Hellers, müßten doch mehr wissen. Sie können ruhig mit mir darüber reden. Ich übertrei137
be wohl kaum, wenn ich sage, daß ich mehr oder weniger zur Familie gehört habe. Jahr für Jahr kam Mr. Chant mit seiner kleinen Mag hierher. Mag hat mich immer Tante Vi genannt.« »Das tut sie auch heute noch«, behauptete David beherzt. »Sie erzählt oft von ihrer Tante Vi.« Aber wer war Mr. Chant? Ihr Vater natürlich. In der Hochzeitsanzeige, die er in der alten Zeitung gefunden hatte, war von der Eheschließung zwischen Bernard Heller und Miss Magdalene Chant die Rede gewesen. »Ja«, sagte Mrs. Spiller in Erinnerung versunken, »sie kam mit ihrem Vater jedes Jahr hierher. Jeder im Ort erinnert sich an die kleine Magdalene Chant, die ihren Vater im Rollstuhl vor sich her schob. Bernard und sie sind auch in ihren Flitterwochen hiergewesen und anschließend fast jedes Jahr,« »Mrs. North war wohl nie in diesem Haus?« »North?« Mrs. Spiller überlegte. Dann stieg ihr Röte ins Gesicht. »Meinen Sie etwa diese Person, die Bernards Liebchen gewesen ist?« David nickte. »Natürlich nicht. Wie kommen Sie denn darauf? Er muß sowieso den Verstand verloren gehabt haben, einer solchen Frau nachzustellen, wo er mit diesem hübschen Mädchen verheiratet war. Alle Jungen hier waren früher hinter Magdalene her oder wären es gewesen, wenn ihr Vater ihnen die Möglichkeit dazu gegeben hätte.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte David besänftigend. »Ich finde, Magdalene sieht wirklich außergewöhnlich gut aus.« Aber so leicht war Mrs. Spiller nicht zu beruhigen. »Ich gehe jetzt zu Bett«, sagte sie und musterte David stirnrunzelnd. »Sie können sich das Fernsehen anstellen, wenn Sie wollen.« »Ein bißchen kalt dafür.« Der Raum war ungeheizt, und 138
auf dem Kaminrost stand eine Vase mit künstlichen Blumen. »Nach dem ersten April wird bei mir nie mehr Feuer angemacht«, sagte Mrs. Spiller scharf. Eines hatte er herausgefunden. Die Norths waren nicht im Swiss Chalet gewesen. Aber sie hatten in besseren finanziellen Verhältnissen gelebt, vielleicht hatten sie in einem der Hotels des Ortes gewohnt. David frühstückte für sich allein mit Cornflakes, Eiern, Schinken und sehr blassem, dickem Toast. Es war ein kühler, bewölkter Vormittag, sonnenlos und windstill. David entdeckte einen Pfad, der ihn zwischen Fichten hindurch innerhalb von zehn Minuten auf die Oberkante einer Klippe führte. Die See war grau mit einem leichten Silberschimmer. Zwischen zwei Landzungen erhob sich eine spitze, heidekrautbewachsene Insel, die David nach Turners Gemälde als den Mewstone erkannte. Diese Assoziation von Natur und Kunst rief ihm Susan Townsends Gesicht ins Gedächtnis, und er war ziemlich deprimiert, als er sich auf den Weg in den Ort machte. Im Great Western Hotel herrschte noch nicht viel Betrieb. David bestellte eine Tasse Kaffee. »Ein Freund von mir«, wandte er sich an die Serviererin, »ein Mr. North, war Ende Juli des vergangenen Jahres hier und hat ein Buch im Hotel vergessen. Ich soll für ihn nachfragen, ob es sich eingefunden hat.« »Da hat er sich aber lange Zeit gelassen«, erwiderte das Mädchen schnippisch. »Wenn ich nicht zufällig hergekommen wäre, hätte er sich sowieso keine Mühe deswegen gemacht.« »Und wie soll das Buch heißen?« »Sesame and Lilies«, erwiderte David, weil er immer wieder an Susan Townsend denken mußte, die ihm als Ruskins Frau vor Augen stand. Er ließ alles Wechselgeld, 139
das er auf zehn Shilling herausbekommen hatte, auf dem Tisch liegen. »Ich werde mich erkundigen«, sagte das Mädchen sehr viel bereitwilliger. Sie kehrte mit langer Miene zurück. »Ihr Freund hat hier kein Buch vergessen«, sagte sie. »Er hat nicht einmal hier gewohnt. Ich habe im Hotelregister nachgesehen. Vielleicht versuchen Sie es im Palace oder im Rock.« Aber dort war der Name North ebenfalls unbekannt. Im Swiss Chalet gab es Eintopf und Pudding zu Mittag. »Nun, haben Sie jemanden getroffen, der Mag kennt?« erkundigte sich Mrs. Spiller, als sie David Pulverkaffee und Käsescheibletten servierte. »Ich habe kaum einen Menschen gesehen.« Die Kokosmatten-Löckchen zitterten empört. »Wenn Sie Betrieb haben wollen, hätten Sie sich mit Plymouth begnügen müssen. Nach Bathcombe kommen die Leute der Ruhe wegen.« »Ich beklage mich ja nicht«, log David. »Bathcombe ist ein ganz reizender Ort.« Mrs. Spiller setzte sich und stützte die leicht violetten Ellbogen auf den Tisch. »Das hat auch Mr. Chant immer gesagt. Was ich Sie übrigens noch fragen wollte, wie geht es eigentlich Tante Agnes?« »Tante Agnes?« »Ich dachte, die hätte Mag bestimmt erwähnt. Nicht daß ich Mag einen Vorwurf daraus machen würde, ein halbes Kind, das sie war, aber sie hatte doch allen Grund, Tante Agnes dankbar zu sein. Ohne Tante Agnes hätte sie nie nach London gehen und heiraten können.« David bemerkte gedankenverloren, daß das vielleicht gar nicht so schlecht gewesen wäre. »Da haben Sie etwas Wahres gesagt.« Mrs. Spiller bot ihm ein paar Butterkekse an. »Aber sie konnte ja nicht 140
wissen, was dabei herauskommen würde, nicht wahr? Damals, 1960, habe ich mir immer gedacht, das arme Ding wird nie ein vernünftiges Leben führen können, solange sie an diesen alten Mann gebunden ist.« »Mr. Chant, meinen Sie?« fragte David geistesabwesend. »Nun, vielleicht hätte ich ihn nicht alt nennen sollen. Er war knapp fünfundfünfzig, schätze ich. Aber Sie wissen, wie das mit Invaliden ist. Man hält sie immer für alt, besonders wenn sie verkrüppelt sind, wie Mr. Chant es war.« »Arthritis oder so etwas, nicht wahr?« »Nein, da sind Sie im Irrtum. Multiple Sklerose, hat mir Tante Agnes gesagt. 1960 war sie mit ihm hier, denn damals ging es ihm besonders schlecht. Für Mag allein wäre es zuviel gewesen. Als Tante Agnes dann schrieb, Mag würde nach London gehen, um sich einen Job zu suchen, hielt ich das für das Beste, was ihr passieren konnte. Laß sie ein bißchen das Leben genießen, dachte ich. Natürlich war es für Tante Agnes mit ihren über Siebzig nicht leicht, einen Invaliden zu versorgen.« »Aber sie hat es sicherlich geschafft.« »Wahrscheinlich hat sie nicht geahnt, was auf sie zukam. Es war ja nicht vorauszusehen, daß Mag gleich Bernard kennenlernen und sich verloben würde. Ich habe überhaupt nichts davon gewußt, bis Mag und Bernard in ihren Flitterwochen hierherkamen. Das war zwei Jahre später und Mr. Chant inzwischen gestorben. Deshalb wollte ich wissen, was aus Tante Agnes geworden ist. Vermutlich ist sie auch tot. Es trifft uns alle, wenn die Zeit abgelaufen ist, nicht wahr?« »Kommt darauf an, was Sie darunter verstehen«, sagte David und dachte dabei an Bernard Heller. Susan hatte gerade das letzte Kapitel von Miss Willingales Roman angefangen, als Bob die Hintertür öffnete und leise 141
hereinkam. Sie hörte sofort auf zu tippen, etwas bestürzt über Pauls Gesichtsausdruck. Er hatte zwischen den Beinen ihres Stuhls mit seinen Autos gespielt, aber nun hockte er wie erstarrt mit einer Miene, die nur seine Mutter zu lesen verstand. »Woher sind die Blumen, Susan?« Es war Paul, der die Antwort übernahm. »Von einem Mann, der David Chadwick heißt. Rosen sind das Allerteuerste, was man jemandem im April schicken kann.« »Ich verstehe.« Bob blieb am Fenster stehen und starrte hinaus. »Chadwick … Und Osterglocken sind das Billigste, nicht wahr?« »Sie haben Ihre Osterglocken im Garten gepflückt.« »Schon gut, Paul. Jetzt ist es genug«, sagte Susan. »Es ist noch gar nicht allzu lange her, da fandest du es albern, Leuten Blumen zu schicken. Und damit hattest du ganz recht. Ich sehe übrigens Richard draußen, vermutlich wartet er auf dich.« »Warum klingelt er dann nicht?« Aber Paul ging hinaus, wobei er die Hand übersah, die Bob ihm demonstrativ entgegenstreckte. Statt dessen ergriff Susan die Hand. Während sie neben Bob stand, empfand sie wieder die physische Anziehungskraft, die er auf sie ausübte. »Hast du darüber nachgedacht, was ich dich gefragt habe?« Einen Augenblick lang war ihre einzige Antwort, seine Hand fester zu drücken. Und dann wurde ihr unvermittelt bewußt, daß dies im Grunde ihre ganze Erwiderung war. Körperlicher Kontakt war das einzige, womit sie ihn erreichen konnte. Die stärkere Intimität, die sie erwartete, falls sie heirateten, würde dieser Händedruck auf erweiterter Basis sein, das verzweifelte, seelenlose Übereinanderherfallen zweier Kreaturen in einer Wüste. 142
Sie blickte zu ihm auf. »Es ist noch zu früh, Bob.« Sein Gesicht war grau und verhärmt, nicht einmal mehr attraktiv, und es war mehr Zärtlichkeit als Begehren, was in ihr das Bedürfnis weckte, ihn zu küssen. Sie löste sich von ihm, weil ihre hinhaltende Antwort einen Kuß hätte falsch wirken lassen. »Komm und setz dich«, sagte sie. »Du bist doch nicht böse wegen der Rosen? Ich weiß nicht, warum er sie geschickt hat.« »Weil er dich näher kennenlernen will, natürlich. Susan, die Welt ist voll von Männern, die dich näher kennenlernen wollen. Deshalb muß ich – mußt du – Susan, wenn ich dich, als Louise noch lebte, so gesehen hätte, wie ich dich heute sehe, wärst du dann …?« »Als Louise noch lebte?« »Wenn ich mich damals schon in dich verliebt hätte, wärst du dann mit mir fortgegangen?« Sie hatte Angst, ohne zu wissen, warum. »Natürlich nicht, Bob. Selbst wenn du mich hättest heiraten wollen, Louise konnte sich nicht von dir scheiden lassen. Sie war katholisch.« »Mein Gott«, rief er aus, »das weiß ich!« »Dann quäle dich doch nicht selbst.« Sie zögerte und fuhr fort: »Ich nehme aber an, du hättest dich von ihr scheiden lassen können.« Wäre dann alles anders gewesen? Hätte es eine echte Gemeinschaft gegeben zwischen ihnen, ohne das Schreckgespenst von Louises und Hellers Tod, dem einzigen, ermüdenden Thema ihrer Unterhaltungen? »Ja, das wäre doch wohl möglich gewesen«, sagte sie. »Aber ich hätte es nicht tun können«, sagte er. Seine Augen hatten sich von blau zu einem furchterregenden, undurchdringlichen Schwarz verdunkelt. »Und weil ich es nicht hätte tun können … Ach, Susan, was hat es denn für einen Sinn? Es ist vorbei, vorbei für immer. Heller hat 143
meine Frau geliebt und sie getötet, und ich müßte frei sein … Susan, ich werde niemals frei sein!« Er verstummte, schauderte zusammen, und allmählich nahm sein Gesicht jenen Ausdruck an, den es immer bekam, wenn er sich in Besessenheit steigerte. »Alle verfolgen mich«, sagte er. »Die Polizei ist wieder hiergewesen. Hast du den Hund nicht gehört? Die ganze Straße muß aufmerksam geworden sein.« »Aber warum, Bob?« »Ich nehme an, dein Freund Chadwick hat sie auf mich gehetzt.« Verächtlich blickte er die weißen Rosen an. »Sie wollten wissen, ob ich Magdalene Heller schon im vergangenen August gekannt habe.« Er wandte ihr das Gesicht zu und starrte sie mit seinen verdüsterten Augen an. Zum erstenmal hatte sie Angst vor ihm. »Sie verfolgt mich auch«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Das verstehe ich nicht«, sagte Susan hilflos. »Ich hoffe zu Gott, das wirst du auch nie. Und dann ist da deine Mrs. Dring.« Er zog scharf die Luft ein. »Ich habe sie heute vormittag rausgeschmissen. Ihr dauerndes Gerede über Louise hätte ich ja noch ausgehalten.« »Was ist denn passiert, Bob?« »Ich habe sie dabei ertappt, wie sie in Louises Kommode wühlte. Wahrscheinlich hat sie nach diesen Briefen gesucht. Sie muß in der Zeitung davon gelesen haben. Es gab einen gewaltigen Krach, und wir haben uns Dinge an den Kopf geworfen, die besser ungesagt geblieben wären. Es tut mir leid, Susan. Bei mir läuft alles falsch, nicht wahr?« Er streckte langsam die Hände nach ihr aus, als wolle er sie zu sich heranziehen, da schrillte eindringlich das Telefon. Er ließ den Kopf mit einem verzweifelten Seufzer in die Hände sinken. Susan hob den Hörer ab und ließ sich schwerfällig auf dem Sessel nieder, als sie Julians spröde Stimme vernahm. 144
»Ich habe einen Käufer für das Haus gefunden, meine Liebe. Unser alter Freund Greg.« »Warum will gerade er hier draußen leben?« »Eine berechtigte Frage«, sagte Julian, »angesichts dieser entzückenden kleinen Stadtwohnung, die er hat. Tatsache ist, daß Dian über die Stränge geschlagen hat und Greg meint, in London gebe es zu viele Versuchungen. Ich werde ihn also vorbeischicken, einverstanden?« »Hoffentlich erkenne ich ihn noch.« Sie war sich bewußt, daß Julian eine scharfe, ironische Erwiderung gab, aber die Worte gingen an ihr vorbei, bedeutungslos, ohne Wirkung. Als sie vom Wohnzimmer her ein Geräusch hörte, blickte sie auf und sah Bob im Türrahmen stehen. Sein Gesicht und sein Körper befanden sich im Schatten, eine dunkle Silhouette, die den Eindruck eines Mannes am Rande des Abgrunds heraufbeschwor. Sie legte die Hand über die Sprechmuschel. »Bob …« Er machte eine merkwürdige kleine Geste, wie um etwas abzuwehren. Dann verschwand er, und sie hörte, wie die Tür zum Garten geschlossen wurde. »Bist du noch dran, Susan?« »Ja, ich …« Wie ganz anders wäre dieses Gespräch mit Julian verlaufen, wenn sie es als Gelegenheit benutzt hätte, ihm ihre bevorstehende Heirat mitzuteilen! In diesem Augenblick wußte sie ganz klar, daß sie Bob niemals heiraten würde. »Greg kann gern kommen, wann immer es ihm paßt«, sagte sie ruhig, mit der unverbindlichen Höflichkeit einer Geschäftspartnerin. »Es war nett von dir, anzurufen. Auf Wiederhören.« Sie blieb lange neben dem Telefon sitzen und dachte darüber nach, daß sie und Bob jetzt nur durch zwei dünne Wände und drei Meter Luft voneinander getrennt waren. Aber diese Barrieren waren genauso unüberwindlich wie die Besessenheit seines Geistes. 145
17 Mit der Geschichte von dem verlorenen Buch klapperte David Samstag nachmittag sämtliche Hotels an der Küste von Süd-Devon zwischen Plymouth und Salcome ab, aber ohne Ergebnis. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, daß sie in Nord-Devon gewesen waren, vielleicht sogar schon im Mai oder Juni. Oder daß Magdalene die Wahrheit gesagt hatte und sich Bernard und Louise tatsächlich in einer Küche beim Tee kennengelernt hatten. »Haben Sie einen netten Tag verlebt?« fragte Mrs. Spiller und stellte einen Teller Schweinebraten mit Salat vor ihn hin. »Schade, daß es noch zu früh im Jahr ist, um die Schiffstour nach Plymouth zu machen. Aber die Schiffe fahren erst ab Mai. Mag hat immer Ausflüge mitgemacht. Aber vielleicht würden sie Ihnen gar nicht gefallen, wo Sie doch so ein nervöser Typ sind.« Eigentlich hatte er sich nie für einen Neurotiker gehalten. Aber vielleicht hatten die Aufregungen der letzten Tage ihre Spuren hinterlassen. »Sind diese Seereisen denn besonders gefährlich?« erkundigte er sich ironisch. »Normalerweise überhaupt nicht, nur einmal hat es eben diese Sache mit der Ocean Maid gegeben, nicht wahr?« Der Name kam David irgendwie bekannt vor, und er erinnerte sich undeutlich an Sensationsberichte in der Zeitung. Ein Blick auf Mrs. Spiller verriet ihm, daß sie auf Unterhaltung aus war. »Das war ein Vergnügungsdampfer«, sagte er. »Ist er nicht vor der Küste hier auf Grund gelaufen?« Mrs. Spiller goß sich eine Tasse Tee ein. »Die Ocean Maid machte Fahrten von Torquay und Plymouth und legte hier und in Newton an. Um sechs Uhr abends war sie fahrplanmäßig fällig. Und dann kam die Meldung, daß sie 146
vermißt wurde. Mag hatte sich an dem Tag ziemlich gelangweilt, und weil sie nichts mit sich anzufangen wußte, hatte ich ihr die Dampferfahrt vorgeschlagen. Wer konnte denn auch ahnen, daß der Maid der Brennstoff ausgehen und sie die ganze Nacht draußen herumschaukeln würde? Mag hatte nur Jeans und ein dünnes T-Shirt auf dem Leib, sie muß schrecklich gefroren haben. Erst wurde es sechs und dann sieben und das Schiff war immer noch nicht da, und dann hörten wir es im Radio. Ich war völlig mit den Nerven fertig und drauf und dran, Bernard zu telegrafieren. Man weiß ja nicht, was man in einem solchen Fall tun soll, nicht wahr? Ob man jemanden womöglich grundlos aufregt, zumal ausgerechnet ich Mag zu dieser Fahrt überredet hatte.« »Er hat den Ausflug also nicht mitgemacht?« David legte das Besteck aus der Hand und blickte von einem plötzlichen Kältegefühl gepackt von seinem Teller hoch. »Mitgemacht? Wie sollte er denn? Er war doch in London.« »Aber ich dachte, Sie hätten gesagt …« »Mr. Chadwick, heute abend sind Sie nicht sehr mit Ihren Gedanken dabei. Ich spreche doch vom vergangenen Jahr, vergangenen Juli. Da war Mag alleine hier. Sie verwechseln das mit den Jahren davor, als Bernard mit ihr zusammen kam. Jedenfalls habe ich ihm nicht telegrafiert, und das war ein Glück, denn Mag hat alles fabelhaft überstanden und auf dem Schiff sogar noch nette Leute kennengelernt, mit denen sie während des restlichen Urlaubs fast ständig zusammen war. Ich war nur froh, daß ich Bernard nicht völlig umsonst hierher gehetzt hatte. Sie sind ja ganz blaß geworden, Mr. Chadwick. Ihnen ist doch hoffentlich nicht schlecht?« Magdalene hatte nicht gelogen. Bernard hatte Louise so kennengelernt, wie sie es berichtet hatte. Vielleicht stimm147
te sogar, daß sie North vor der gerichtlichen Untersuchung noch nie gesehen, keine Mordpläne mit ihm geschmiedet, ihm nicht die Waffe übergeben oder mit ihm im »Mann mit der eisernen Maske« gesessen hatte. War es nicht möglich, daß Sid und Charles die beiden überhaupt nie beobachtet und nur eine amüsante Geschichte erfunden hatten, solange sie seinen Kognak tranken? Sonntag früh packte er seinen Koffer und verließ das Swiss Chalet. Sieben Kilometer landeinwärts tankte er in einem Dorf namens Jillerton. »Soll ich die Windschutzscheibe reinigen, Sir?« »Ja, bitte, und würden Sie auch den Reifendruck prüfen?« »Könnten Sie sich fünf Minuten gedulden, bis ich den Herrn dort drüben abgefertigt habe?« David nickte und schlenderte die Dorfstraße entlang. Es gab nur einen Laden, und obwohl Sonntag war, hatte er geöffnet. David ging ziellos hinein und betrachtete die bunten Autoaufkleber, die kleinen Maskottchen und die geschnitzten Hirsche. Auf einem Regal hinter dieser Ansammlung von Kitschartikeln standen Töpferarbeiten aus Devon, Krüge und Becher, handbemalt in Hellbeige und Braun und nicht ohne Reiz. Ihm fiel niemand ein außer Susan Townsend, dem er etwas hätte schenken wollen, und wenn er ihr ein Souvenir mitbrachte, würde sie es wahrscheinlich zurückschicken. Die weißen Rosen welkten vielleicht in diesem Augenblick auf seiner Türschwelle. Die meisten der glatten, hübsch geformten Becher trugen als Aufschrift Vornamen: Peter, Jeremy, Anne … Sicher gab es auch einen mit Susan. Was war nur los mit ihm, daß er überall nach ihrem Gesicht oder ihrem Namen suchte? Am Ende des Regals stand ein unbeschriebener Becher, den er seiner Mutter für ihren abendlichen Kakao kaufen konnte. Er nahm ihn herunter, drehte ihn in der Hand und 148
entdeckte, daß er gar nicht unbeschrieben war. Ebenso wie die anderen trug er in eleganter brauner Schreibschrift einen Namen. Magdalene. Konnte ihn Bernard bei einem ihrer früheren Aufenthalte in Devon für Magdalene bestellt und abzuholen vergessen haben? David stellte den Becher nachdenklich zurück, als hinter ihm eine Stimme sagte: »Ein sehr ungewöhnlicher Name, nicht wahr, Sir?« David wandte sich nach der Stimme um. Sie gehörte einem Mann, der in seinem Alter sein mochte. »Ich habe oft zu meiner Frau gesagt, den Becher werden wir wohl nie verkaufen, nicht mit einem Namen wie Magdalene.« Er hob die Stimme und rief zu jemandem, der sich in einem anschließenden Raum befand: »Ich sagte gerade zu diesem Herrn, wir werden wohl den Becher nie verkaufen, den Mr. North bestellt hat.« »Mr. North?« »Ich erinnere mich so genau, weil die Umstände ein bißchen – äh, komisch waren«, sagte der Ladenbesitzer. »Es war im vergangenen August, in der Hochsaison. Aber ich will Sie damit nicht behelligen, Sir. Der Herr holt den Becher bestimmt nicht mehr ab, wenn Sie ihn also haben wollen … Aber nein, nicht mit einem Namen wie Magdalene.« »Ich nehme ihn«, sagte David mit nachdenklicher Stimme. »Das finde ich nett von Ihnen, Sir. Zehn Shilling, Sixpence, wenn ich bitten darf.« »Sie sagten, die Umstände seien komisch gewesen.« Der junge Mann hielt mit dem Einpacken inne. »Wenn Sie den Becher nehmen, dürfen Sie wohl auch die Geschichte erfahren. Der Herr wohnte im King’s Arms. Das ist der Gasthof jenseits der Wiese, und mein Onkel führt ihn. Mr. North bestellte den Becher für seine Frau, wie er sagte, doch als er ihn dann nicht wie vereinbart abholte, 149
sprach ich mit meinem Onkel deswegen. ›Das ist aber eine Mrs. Louise North‹, sagte mein Onkel, ›keine Magdalene.‹ Merkwürdig, dachten wir. Sieht aus, als wäre der Becher für eine Freundin bestimmt.« »Deshalb wollten Sie ihn nicht in Verlegenheit setzen und den Becher ins Hotel bringen?« »Das hätte ein schönes Theater gegeben, Sir. Zumal seine Frau – seine richtige Frau, meine ich – gleich am ersten Tag nach der Ankunft krank geworden war.« »Ziemliches Pech für Mrs. North«, sagte David beiläufig. Ihm fielen Magdalene Hellers Worte ein. Als Bernard sie kennengelernt hatte, war Louise krank gewesen … Waren sie sich also nach diesem Urlaub zum erstenmal begegnet? »Das muß ihnen den ganzen Aufenthalt hier verdorben haben.« »Mr. North hat sich nicht aus der Stimmung bringen lassen, Sir.« Der Ladenbesitzer zuckte die Achseln. »Der hat ohne seine Frau sogar Dampferfahrten unternommen. Die Ocean Maid, Sie werden davon in der Zeitung gelesen haben. Als er kam, um den kleinen Becher zu bestellen, hat er mir erzählt, wie sie stundenlang herumgetrieben sind und nie wußten, wie nahe sie an den Felsen waren. Für Sie oder für mich wäre nach so einem Erlebnis der Urlaub sicher zu Ende gewesen, nicht wahr, Sir? Aber diesem Mr. North hat das alles nichts ausgemacht. Ich sagte damals noch zu meiner Frau, bei dem muß mehr passieren, ehe es ihn umhaut.« Fast bedauerte Susan, daß sie sich dem Ende des Romanmanuskripts näherte. Die Arbeit daran hatte sie in gewisser Weise von der Tragödie im Nachbarhaus und von Bob North abgelenkt. Nun würden die Probleme, die, wenn sie an der Maschine saß, nur unterschwellig vorhanden gewesen waren, den Hauptplatz in ihren Gedanken einnehmen. 150
Seite vierhundertzwei. Das Ganze würde etwa vierhundertzehn Seiten lang werden. Jane Willingales Handschrift hatte sich auf den letzten fünfzig Seiten derart verschlechtert, daß sogar Susan, die daran gewöhnt war, Mühe hatte, einige Worte zu entziffern. Sie war gerade mit einer besonders unleserlichen Schlangenlinie beschäftigt, als Doris an die Hintertür klopfte und mit Richard hereinkam. »Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, wenn ich ihn eine Weile bei dir lasse? Nur solange wir auf einen Drink bei den O’Donnells drüben sind. Bob war auch eingeladen, aber er will nirgendwo hin. Wenn du mich fragst, hat er Verfolgungswahn gekriegt. Aber du weißt ja sicher besser über seinen Geisteszustand Bescheid als alle anderen. Die Polizei war in dieser Woche stundenlang da. Hast du’s gesehen?« »Bob hat es mir gesagt.« »Und gestern habe ich beim Vorbeigehen gehört, wie er deine Mrs. Dring angebrüllt hat. Er befindet sich wirklich in einem besorgniserregenden Zustand. Du wirst es ja am besten wissen, aber an deiner Stelle würde ich nicht mit ihm allein bleiben. Oh, weiße Rosen. Die werden bei dieser Temperatur bald die Köpfe hängenlassen. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich könnte den ganzen Tag hierbleiben, aber ich sehe schon, daß du weiterarbeiten willst. Wenn es bei den O’Donnells nur nicht immer so langweilig wäre.« Das unleserliche Wort hieß »Mord«. Susan tippte es mit einem leichten Gefühl unerklärlichen Unbehagens. Sie hörte Richard hinaufgehen und das Geräusch kleiner Autos, die aus dem Kinderzimmer hinausgerollt wurden. Noch sieben Seiten, die ihre ganze Konzentration verlangten. Die Kinder hatten ihre Fahrzeuge inzwischen auf die Treppenstufen gebracht. Sie mußte tolerant sein, ihre Ermahnungen aufsparen, bis der Lärm wirklich unerträglich 151
wurde. Bumm, bumm, klirr … Das war der Panzer, der herunterfiel und eine neue Delle in das Dielenparkett schlug. »Ihr macht aber wirklich einen schrecklichen Krach«, rief Susan. »Könnt ihr nicht ein bißchen hinausgehen?« »Draußen regnet es«, kam Pauls unwillige Stimme. »Du weißt doch aber, daß ihr nicht auf der Treppe spielen sollt.« Sie arbeitete sich durch einen langen Satz und wandte die Seite um. Die Schrift hatte sich plötzlich völlig verändert: Mein Liebling, Du bist Tag und Nacht in meinen Gedanken. Wirklich, ich weiß nicht mehr, wann der Traum endet und … Susan runzelte die Stirn und steckte sich eine Zigarette an. Dann nahm sie die Blätter in die Hand und starrte auf Bernard Hellers Liebesbriefe nieder.
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18 »Dürfen wir die Autobahn mit hinausnehmen?« fragte Paul und fügte geschickt hinzu: »Es hat zu regnen aufgehört, aber das Gras ist noch naß, deshalb wollte ich dich lieber fragen.« Susan hörte ihn kaum. »Was, Liebling?« »Ob wir die Autobahn mit hinausnehmen dürfen.« »Du hast draußen keine Steckdose, und um die Tür offenzulassen, ist es zu kalt.« Paul zog einen Flunsch. »Das ist aber ungerecht. Auf der Treppe dürfen wir nicht spielen, und hier hereinkommen dürfen wir nicht, weil du arbeiten mußt. Dein Schreibtisch ist auch wieder ganz unordentlich, und du hast sogar überall Asche runterfallen lassen. Wenn ich Unordnung mache, wirst du gleich wütend.« Sie hatte also die Briefe nicht verbrannt. Im Grunde ihres Herzens hatte sie das vielleicht die ganze Zeit gewußt, aber sie wußte auch, daß sie die Briefe auf keinen Fall zwischen das Manuskript gepackt hatte. Welchen Grund mochte Doris dafür gehabt haben, Doris oder Mrs. Dring? »Paul, du hast doch nicht wieder mit meinen Papieren gespielt, nicht wahr?« »Nein.« »Bist du ganz sicher?« »Ich habe sie nicht einmal angefaßt«, fuhr der kleine Junge hoch. »Das schwöre ich. Ehrenwort. Ich bin seit dem Tag, bevor du krank geworden bist, überhaupt nicht mehr an deinem Schreibtisch gewesen, dem Tag, an dem du wegen Mrs. North zu der Verhandlung mußtest.« Paul war vor Empörung rot angelaufen und schien verdächtig den Tränen nahe. »Da hast du gesagt, wenn ich noch ein153
mal an deine Papiere gehe, darf ich meine Uhr nicht mehr tragen, und deshalb habe ich sie nicht mehr angerührt.« »Du brauchst dich nicht so aufzuregen. Ich glaube dir ja.« »Außer an dem ersten Tag, an dem du im Bett bleiben mußtest«, sagte er verteidigend. »Aber nur weil ich dir helfen wollte. Das Manuskript war völlig durcheinander, und du hattest sogar ein paar Blätter auf dem Kaffeetisch liegen lassen. Die habe ich mit den anderen zusammengelegt, ganz ordentlich. Ich dachte, du würdest dich darüber freuen!« David war in Jubelstimmung. Er hatte recht gehabt und seine Zeit nicht vergeudet. Ohne jeden Zweifel hatten sich Robert North und Magdalene Heller seit vergangenem Sommer gekannt. Er war in Jubelstimmung, aber es gab trotzdem noch viel, das er nicht verstand. Bisher hatte er immer angenommen, die beiden seien durch die Liebesaffäre zwischen ihren Ehepartnern zusammengekommen, jetzt aber schien es, als hätten sich Witwe und Witwer zuerst kennengelernt. North hatte ebenso wie Magdalene allein eine Dampferfahrt gemacht, und als es aussah, als würde das Schiff die ganze Nacht umhertreiben, bei Magdalene die Beschützerrolle übernommen. David konnte sich die beiden genau vorstellen. Magdalene in ihrer Hose und dem dünnen T-Shirt, ein bißchen ängstlich vielleicht, aber doch ihrer Wirkung voll bewußt, North, der sie tröstete und ihr seinen Mantel anbot. Aber Bernard war in London gewesen und Louise krank im Bett. War es vorstellbar, daß Magdalene oder North nach ihrer Rückkehr ein Treffen zu viert arrangiert hatten? Kaum, dachte David. North hatte für Magdalene den Becher be154
stellt und war anschließend sicher täglich mit ihr zusammengewesen. Mrs. Spiller hatte Leute erwähnt, mit denen sich Magdalene auf dem Schiff angefreundet hatte. Am Schluß der Ferien waren die beiden sicher schon ineinander verliebt gewesen, und North hätte weder Magdalene seiner Frau, noch umgekehrt sie North ihrem Mann vorgestellt. Wie hatten sie es aber sonst geschafft, daß ihre Partner sich kennengelernt hatten? David verbrachte den Montagvormittag in Knightsbridge zwischen den Antiquitätengeschäften, um ChippendaleMöbel für ein Bühnenbild aufzustöbern. Seine Suche war erfolgreich, so daß er um halb eins die Straße überquerte, um zur U-Bahn zu gehen. Eine Frau, deren Gesicht ihm bekannt erschien, kam von Harrods heraus und unausweichlich auf ihn zu. Mit einem leichten Stich in der Magengrube wurde ihm bewußt, um wen es sich handelte. Es war Ironie des Schicksals, daß er ausgerechnet die zweite Mrs. Townsend treffen mußte, während er sich nichts sehnlicher wünschte, als der ersten zu begegnen. Die Absurdität der Situation ließ ihn lächeln, und Elizabeth Townsend faßte dieses Lächeln als freudige Begrüßung auf. Mit einem heftigen Schnaufer ließ sie eine riesige Tragetasche aus buntem Papier auf den Bürgersteig sinken. »Sie haben also das Haus nicht gekauft«, sagte sie mit der lauten Direktheit, die er so abstoßend fand. »Wußten Sie, daß Greg darauf scharf war? Er ist nur nicht bereit, mehr als achttausend auszuspucken, und weiß der Himmel, wir sind ganz schön pleite. Jeden Monat geht ein Haufen Geld an diese Frau in Matchdown Park, und was übrigbleibt, wird verfressen.« Sie zog geräuschvoll die Luft ein. »Sie würden nicht glauben, was ich gerade für einen Hummer bezahlen mußte.« David musterte sie aufmerksam. Sie sah an diesem Vormittag noch jünger aus und besonders uncharmant. Das 155
Gewand, das sie trug – ein Kleid? ein Mantel? – war aus dickem, mehrfarbenem Material, an manchen Stellen etwas grau gestreift und an Saum und Ärmeln mit Fransen besetzt. »Mein Mann ist geradezu wild auf gutes Essen«, fuhr sie fort. »Hier, Sie können das ruhig für mich tragen. Das Zeug wiegt eine Tonne.« Die Tragetasche wog tatsächlich fast einen halben Zentner. Als David sie aufhob, verrutschte die Verpackung eines der zuoberst liegenden Pakete, und eine große, rote Hummerschere kam zum Vorschein. Elizabeth Townsend strebte zum Bordstein. »Soll ich Ihnen ein Taxi besorgen?« »Sie machen wohl Witze. Ich gehe zum Bus.« Sie starrte ihn an. »Wissen Sie, was ich mir heute zu Mittag leisten werde? Yoghurt. So weit bin ich gesunken. Und dabei liebe ich Essen.« Sie seufzte verdrossen. »Oh, kommen Sie schnell, bevor die Ampel umschaltet.« Er folgte ihr, die Tragetasche schleppend. »Ich hatte gedacht, ich würde mit Dian essen gehen können«, fuhr sie mißgestimmt fort. Fast hätte David gefragt, wer denn Dian sei, doch dann fiel ihm noch rechtzeitig die Party ein. »Und warum tun Sie das nicht? Sie wohnt doch nur einen Katzensprung von hier.« »Ach, das möchte ich lieber nicht. Sonst bin ich ja in solchen Dingen nicht gerade kleinlich, aber Dian hat sich einen Freund zugelegt. Hätten Sie das von ihr erwartet?« David verneinte mit Nachdruck. »Ich hätte sie eigentlich für zu prüde gehalten. Sogar frigide, würde ich sagen. Aber dann rief ich heute früh Minta an, und als ich erwähnte, daß ich zu Dian hineinschauen wolle, meinte sie, das solle ich lieber lassen, weil ihr Freund wieder da sei. Aber halten Sie Dian gegenüber um 156
Himmels willen den Mund. Ich weiß, daß Sie mit ihr gut bekannt sind. Es heißt schließlich, leben und leben lassen. Zu Minta hat Dian auch nichts gesagt, und sie wird es wohl kaum noch tun, nicht wahr?« »Nicht anzunehmen.« »Aber da Minta ihr direkt gegenüber wohnt, konnte sie kaum erwarten, daß niemand etwas merkt. Minta hat mir erzählt, daß der Wagen dieses Burschen in den vergangenen vierzehn Tagen mindestens ein halbes dutzendmal vor der Tür gestanden hat, und sie hat gesehen, wie der Bursche sich ins Haus schlich, nachdem Greg ins Atelier gefahren war. Natürlich hat sie Greg die Sache gesteckt, deshalb will er Dian aus dem Verkehr ziehen.« David stellte die Tragetasche ab. »Ist das alles, woraus Minta ihre Schlüsse gezogen hat?« fragte er, bemüht, ohne Erregung zu sprechen. »Nur weil der Wagen eines Mannes vor Dians Haustür stand?« »Sie hat ihn hineingehen sehen«, erwiderte Elizabeth Townsend scharf. »Aber Mrs. Townsend …« »Nennen Sie mich doch Elizabeth. Sonst fühle ich mich ja wie sechsundneunzig.« »Aber Elizabeth, er könnte doch ein Vertreter, ein Sachverständiger, ein Innenarchitekt, alles mögliche gewesen sein.« »So? Ich sage Ihnen, er ist ein flotter Knabe von etwa Dreißig und Dian eine Augenweide. Sie wissen sehr gut, daß Dian und Greg es seit zwei Jahren nicht mehr miteinander getrieben haben, und Dian sitzt immer allein rum. Sie können es mir ruhig glauben, die ist völlig durcheinander wegen dieses Kerls. Sie sind naiv, David, das ist Ihr Problem. Aber Minta und ich kennen das Leben, und wenn wir hören, daß eine Frau heimlich Herrenbesuch kriegt, wenn ihr Ehemann weg ist, wissen wir, was wir davon zu halten haben.« 157
»Bei der treuen Dian, der frigiden Dian?« »Sie wollen wohl für Dian Stimmung machen, wie? Dann ist sie eben nicht treu, nicht frigide. Dies beweist es.« An diesem Punkt der Unterhaltung platzte der Boden der Tragetasche. David blickte auf die Auberginen, die Zitronen und die Büchsen mit Leberpastete nieder, die in den Rinnstein rollten, und sagte glücklich: »Elizabeth, ich bin schrecklich froh, Sie getroffen zu haben. Sagen Sie, wenn Sie sich ein Lokal aussuchen könnten, wo Sie am liebsten zu Mittag essen würden, welches wäre das?« »Das Ecu de France«, erwiderte sie prompt. Sie stopfte zwei Zitronen in die Tasche ihres Gewandes und sah ihn hoffnungsvoll an. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß sie Yoghurt essen«, sagte er. »Mir hat Yoghurt noch nie geschmeckt.« Er winkte einem Taxi, öffnete dessen Tür und warf Obst, Gemüse und Konserven auf die Rückbank. »Jermyn Street«, sagte er zu dem Fahrer. »Zum Ecu de France.« Als er sich der Tür näherte, hörte er aus seinem Büro das Rücken eines Stuhls, und als er eintrat, saß die Frau, die auf ihn wartete, mit betont harmlosem Gesichtsausdruck ein bis zwei Meter vom Schreibtisch entfernt. Ulph war überzeugt, daß sie in den Papieren geblättert hatte, die offen auf dem Schreibtisch lagen. Es handelte sich um den Programmentwurf für das Polizeisportfest, und Ulph mußte innerlich lächeln. »Guten Morgen«, sagte er. »Sie wollen mich sprechen?« »Sie oder einen Ihrer Kollegen«, erwiderte die Frau und zupfte sich mit ihrer behandschuhten Hand das krause rote Haar zurecht. Sie musterte Ulph mit unverhohlener Enttäuschung. Offenbar hatte sie jemanden mit imposanterer Statur erwartet. »Ich habe gehört, Sie sind an einem Mr. North interessiert«, sagte sie. 158
»Dürfte ich Ihren Namen erfahren?« »Mrs. Dring. Mrs. Leonard Dring. Mein Vorname ist Iris.« Sie zog die Handschuhe aus und legte sie neben ihre Tasche auf den Schreibtisch. »Ich arbeite bei diesem North, als Raumpflegerin. Das heißt, ich habe bei ihm gearbeitet, bis er mich Samstag rausgeschmissen hat. Was ich Ihnen erzählen wollte, ist, daß ich auch im Nachbarhaus arbeite und an dem Vormittag dort war, als Mrs. North umgebracht wurde.« Ulph nickte reserviert. Dies war nicht das erstemal, daß er der Rachsucht entlassener Dienstboten begegnete. »Fahren Sie bitte fort.« »Hinter dem Garten rissen damals drei Arbeiter die Straße auf, und Mrs. North gab ihnen immer Tee. An dem bewußten Tag so gegen halb zehn war ich in der Küche von Mrs. Townsend und hörte, daß nebenan an die Hintertür geklopft wurde. Na, ich habe nicht weiter darauf geachtet und fing an, im Wohnzimmer Fenster zu putzen, und da sah ich diesen Kerl den Gartenweg entlangkommen. Ein großer Kerl im Dufflecoat. Mrs. Townsend und ich haben ihn für einen von den Arbeitern gehalten. Er ging zum Gartentor hinaus und dann weiter den Friedhofsweg hinunter.« »Vielleicht wollte er in ein Café?« »Das haben wir damals auch gedacht. Und wir sollten es wohl auch denken. Der springende Punkt ist, daß nie mehr als drei Männer an der Straße gearbeitet haben. Mein Mann kennt den Vorarbeiter und hat ihn extra gefragt. Es waren immer nur drei Leute, der alte Mann, der jüngere und der junge Bursche. Und als ich hörte, wie an die Tür geklopft wurde, hat der Hund nicht gebellt. Dabei war er draußen im Garten, ich habe ihn genau gesehen. Mein Mann sagt immer, die Tiere haben mehr Verstand als Menschen. Die lassen sich nicht von einem Dufflecoat täuschen und von Leuten, die sich als Arbeiter tarnen.« 159
»Sie haben lange Zeit gebraucht, bis Sie zu mir gekommen sind, Mrs. Dring«, sagte Ulph ruhig. »Könnte es sein, daß Sie jetzt nur hier sind, weil Sie sich über Mr. North geärgert haben?« »Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie Mrs. Townsend. Die weiß Bescheid. Die hat mich überhaupt erst auf die Idee gebracht.« Ulph saß ganz still und dachte nach. Seine Vorstellung von der Mordszene hatte sich verändert. North war ganz simpel vorgegangen, impulsiv, ohne zu überlegen. Und anschließend hatte er nur seine Spuren verwischt. An jenem Morgen war er nicht zu Hause geblieben, um einen Doppel-Selbstmord vorzutäuschen, sondern um die Lage mit Heller zu klären. Vermutlich hatte er Louise Bescheid gesagt und ihr die Möglichkeit gegeben, ihren Liebhaber vorzuwarnen. Ulph spürte, wie sein Augenlid nervös zuckte. Hatte er nicht genau das gleiche getan? Seine Frau und deren Liebhaber zur Rede gestellt? Hatte er nicht auch versucht, die ganze Sache ruhig und vernünftig mit ihnen zu besprechen? Seine Frau hatte sich ins Schlafzimmer geflüchtet und tränenüberströmt auf ihr Bett geworfen. Louise North hatte vermutlich ebenso reagiert, und beide Männer waren zu ihr hinaufgegangen. Aber zuerst hatte Heller seinen Regenmantel und seine schwere Aktentasche auf den Küchentisch gelegt, wobei er die Pistole in der Jackentasche behielt. Ulph wußte sehr wohl, daß ein Mann, der eine Waffe besitzt – selbst ein ganz ruhiger und friedfertiger Mann –, im Extremfall fähig ist, diese Waffe zu benützen. Louise hatte in Heller den Eindruck erweckt, vielleicht irrtümlich, vielleicht absichtlich, daß ihr Mann gewalttätig und tyrannisch sei. Und im Bewußtsein der Szene, die ihn erwartete, hatte Heller seine Pistole eingesteckt. Nur als Drohmittel, selbstverständlich. 160
Und North? Vielleicht war Heller später eingetroffen als erwartet, und North, des Wartens müde, hatte sich bereits zum Weggehen fertiggemacht. In Mantel und Handschuhen. Und so hatten sie zusammen das Schlafzimmer betreten. Hatten sie miteinander gekämpft und hatte sich dabei ein Schuß gelöst? Ulph hielt das für sehr wahrscheinlich. Louise war unabsichtlich von Heller getroffen worden, und als er sich entsetzt über sie gebeugt hatte, neben ihr niedergesunken war, hatte North die Pistole ergriffen und Heller erschossen. Anschließend hatte er dann in instinktivem Selbsterhaltungstrieb Hellers Hand zum zweitenmal um die Waffe geschlossen – falls sein, Norths, Handschuh frühere Fingerabdrücke verwischt haben mochte – und einen dritten Schuß abgegeben. Es hatte geregnet. Ein Dufflecoat mit übergestülpter Kapuze, der Augenblick, um an der Hintertür zu klopfen, wie es die Arbeiter immer taten, und dann das bewußt langsame Schlendern zum Gartentor, die Straße entlang hinaus in die ahnungslose Außenwelt. Mit einem guten Anwalt, dachte Ulph, konnte North glimpflich davonkommen. Er war unerträglich herausgefordert worden. Die Frau hatte sein Haus zu einem Bordell gemacht und üble Dinge über ihn an ihren Liebhaber geschrieben. Ulph mußte mit leichter Belustigung an David Chadwick und dessen abenteuerliche Theorien denken. Was konnte man von einem Bühnenbildner anderes erwarten? Dennoch hatte auch Ulph zwei oder drei Tage lang an die Möglichkeit eines Komplotts geglaubt. Er fühlte sich ein bißchen beschämt.
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19 David betrachtete noch einmal das Urlaubsfoto der Norths. Diesmal konnte er sogar den Hintergrund bestimmen. Das rustikale Dach und der Zaun des King’s Arms waren unverkennbar. Er hatte die Zeitung zusammen mit den übrigen Erinnerungen an Bernard Heller verwahrt. Auch die Vermählungsanzeige lag dabei. Die Druckerschwärze war schon leicht verblichen, nicht aber Bernards Handschrift, die dunkelblauen Daten seiner Eheschließung mit dem kleinen, sehr typischen, dicken Querbalken durch den Abstrich der Sieben. Er starrte nachdenklich darauf nieder. Dann ging er zum Telefon. Inspektor Ulph war unterwegs und hatte nicht hinterlassen, wann er zurück sein würde. David zögerte, schob aber schließlich alle Bedenken beiseite und wählte noch einmal. Es meldete sich das Kind. »Könnte ich deine Mutter sprechen?« Die Stimme des Jungen klang nett und vernünftig, älter als nach dem Eindruck, den David von dem schlafenden Blondschopf gehabt hatte. »Wer ist bitte am Apparat?« »David Chadwick.« »Wir haben Ihre Blumen in eine Vase gestellt.« Susans Sohn konnte nicht ahnen, welche Freude er mit dieser schlichten Mitteilung verursachte. »Einen Augenblick, ich hole meine Mutter.« David hätte die ganze Nacht gewartet. »Vielen Dank für die Blumen«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen eigentlich schreiben, aber … Es ist soviel dazwischengekommen.« Er hatte behutsam, taktvoll, diplomatisch vorgehen wollen. Der Klang ihrer Stimme veranlaßte ihn jedoch, gleich 162
mit der Tür ins Haus zu fallen. »Ich möchte Sie unbedingt heute noch sprechen. Darf ich gleich kommen?« »Aber warum?« »Ich muß Sie sprechen. Ja, ich weiß, daß Sie mich nicht ausstehen können, und ich gestehe gleich ganz offen, daß ich mit Ihnen über North reden will. Legen Sie bitte nicht auf. Ich möchte trotzdem kommen.« »Sie sind ein außergewöhnlicher Mann, nicht wahr?« Ihre Stimme klang ganz ernst. »Diesmal werde ich keine Angst haben«, fuhr sie fort. »Vielleicht klärt ein Gespräch die Luft.« Paul schlief an diesem Abend erstaunlich schnell ein. Susan überlegte, ob es wohl daran lag, daß das Haus so gut wie verkauft war. Es war noch hell, der Abend mild und frühlingshaft, so daß sie, um nach nebenan zu gehen, keinen Mantel überzuziehen brauchte. Bob hatte sich das Recht zugestanden, ihr Haus ohne anzuklopfen zu betreten, und obwohl sie bislang keinen Gebrauch davon gemacht hatte, fand sie, für sich das gleiche Privileg in Anspruch nehmen zu dürfen. Es war das erstemal seit jenem Vormittag, daß sie nach »Braeside« hinüberging. Die Tür gab auf einen leichten Druck hin nach, die Küche gähnte ihr leer entgegen. »Bob?« Der Wohnraum war ungelüftet, aber sauber und ordentlich, als sei er lange nicht benützt worden. Eine Sekunde lang bemerkte sie Bob gar nicht, weil er so regungslos in einem Sessel saß. Ein Sonnenstrahl fiel ihm auf das Gesicht, doch er starrte durch ihn hindurch wie ein Blinder. Sie trat auf ihn zu, kniete vor ihm nieder und ergriff seine Hand. Die Berührung seiner Haut war nicht mehr aufregender für sie, als Pauls Haut zu berühren, und sie empfand für ihn nur noch, was sie zuweilen für Paul empfand: 163
Mitleid, Zärtlichkeit und vor allem Unfähigkeit zu verstehen. Aber sie liebte Paul. War sie Bob je nahe genug gewesen, um ihn zu lieben? »Susan, ich bin am Ende«, sagte er. »Die Polizei war heute bei mir im Büro, aber das ist jetzt auch egal. Es spielt keine Rolle mehr. Ich bin verrückt gewesen, geblendet wahrscheinlich. Aber ich will niemandem einen Vorwurf machen. Falls ich verleitet worden sein sollte – nun, schließlich war ich ein erwachsener Mann.« Er drückte ihre Hände. »Ich bin froh«, fuhr er fort, »daß sie niemand anderen für alles verantwortlich machen können. Sie können nicht dahinterkommen. Du weißt nicht, was ich meine, nicht wahr?« Sie schüttelte den Kopf. »Um so besser. Ich möchte auch nicht, daß du es weißt. Sag mir, hast du jemals gedacht, ich könnte dir etwas antun?« Sie starrte ihm sprachlos ins Gesicht. »Der Vorschlag wurde gemacht«, sagte er heiser. »Und ich … Eine Zeitlang … Es waren nur ein oder zwei Tage, Susan. Ich wußte nicht, was du wußtest oder gesehen hattest. Ich liebe dich wirklich. Ich liebe dich.« »Ich weiß«, sagte sie, »ich weiß.« »Und Louise liebte Heller, nicht wahr?« Er holte tief Luft und sagte heftig: »Ich habe es aus Eifersucht getan. Ich konnte nicht ertragen … Ich war herausgefordert worden, nicht wahr, Susan? Und vielleicht brauche ich nicht für allzu lange ins Gefängnis. Ich werde zu dir zurückkommen.« Er nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände. »Begreifst du, was ich dir zu sagen versuche?« »Ich glaube schon«. Ihre Stimme versagte. Sie versuchte nicht, sich aufzurichten, weil sie befürchtete, sonst umzufallen. Eigentlich hatte sie ihm sagen wollen, daß die Briefe seiner Frau noch existierten, daß sie nicht verbrannt 164
worden waren. Seine Hände tasteten über ihre Haut. Draußen begann der Hund zu bellen, weil eine Wagentür zugeschlagen wurde. »Sie haben geweint«, sagte David. »Ja, aber ich dachte nicht, daß es auffallen würde.« Die Tränenspuren ließen sie besonders jung erscheinen. »Ich war am Telefon ziemlich tölpelhaft«, sagte er. »Mit Ihnen bin ich immer tölpelhaft.« »Das ist nicht so wichtig«, sagte sie. »Im Augenblick scheint mir überhaupt nichts besonders wichtig zu sein. Sie sind gekommen, um mit mir über jemanden zu reden, den wir beide kennen. Ich glaube, dafür ist es zu spät. Er wird wohl nicht mehr wiederkommen.« »Soll das heißen, daß er verhaftet worden ist?« »Das haben Sie doch gewollt, nicht wahr?« fragte sie schroff. Er konnte nicht sagen, ob es persönlicher Haß war, der sich in ihren Augen spiegelte, oder Verzweiflung an der Welt, in der sie lebte. Sie wandte den Kopf ab und ließ sich auf einen Stuhl sinken, als könnten ihre Beine sie nicht länger tragen. »Nicht, daß ich es verstehen würde,« sagte sie. »Es ist alles noch zu früh, ich habe es noch nicht richtig verdaut.« Sie strich sich das Haar aus der Stirn. »Aber wissen Sie, was Eifersucht ist? Haben Sie dieses Gefühl jemals gekannt?« David antwortete nicht direkt. »Hat er Ihnen das erzählt?« fragte er. »Daß er aus Eifersucht getötet hat?« »Natürlich.« Ihre Stimme klang hart und spröde. »Er hat die Beherrschung verloren. Es war ein Impuls, er war nicht bei Sinnen.« »Sie sind im Irrtum, Susan.« Sie ließ die Nennung ihres Vornamens durchgehen. Aus Gleichgültigkeit, dachte er bitter. »Ich möchte Ihnen etwas erzählen. Es wird Sie vielleicht trösten. Ich wage nicht zu behaupten, daß es Ihre 165
Gefühle für North verändern wird, obwohl …« Er stieß einen kurzen Seufzer aus. »Aber vielleicht denken Sie dann etwas besser über mich. Darf ich sprechen?« »Wenn Sie wollen? Ich habe nichts anderes zu tun. Es wird mir die Zeit vertreiben.« David brannte darauf, seine Geschichte loszuwerden, und er hätte sie zuerst Inspektor Ulph erzählt, wenn dieser nicht anderweitig beschäftigt gewesen wäre. Es war eine schreckliche Geschichte, die ihn, als ihm im Laufe des Tages die ganze Wahrheit aufgegangen war, mit Entsetzen erfüllt hatte. »Bob North hat Magdalene Heller vergangenes Jahr während eines Urlaubs in Devon kennengelernt«, begann David. »Sie verliebten sich. Was North betrifft, sollte man es vielleicht besser physische Hörigkeit nennen.« Susan starrte mit unbeteiligtem Gesicht vor sich hin. »Als sie nach Hause zurückkehrten«, fuhr er fort, »fingen sie an, sich in einem Londoner Lokal zu treffen, zweifellos auch an anderen Orten. Magdalene wollte North, weil er gut aussieht und für ihre Verhältnisse wohlhabend ist. Ihn lockte ihr körperlicher Reiz. Ich nehme an, es war Magdalene, die den Plan ausdachte, sie war vielleicht, dramatisch ausgedrückt, sein böser Geist. Magdalene besaß eine Waffe, und im September hatte Magdalenes Mann versucht, sich mit Gas zu vergiften, weil sie ihn nicht liebte. Ein Mann, der einen Selbstmordversuch unternommen hat, kann den Versuch wiederholen und beim zweitenmal Erfolg haben. Ich weiß nicht, wann sie den Plan auszuhecken begannen. Vielleicht erst nach Weihnachten. Es dürfte im Januar oder Februar gewesen sein, als Magdalene ihrem Freund North eine von Hellers Geschäftskarten für Louise übergab, um ihr vorzuschlagen, sich eine Zentralheizung einbauen zu lassen. Nein, es war keine Duplizität der Erei166
gnisse, daß Heller im Gebiet von Matchdown Park arbeitete. Weil hier sein Revier war, baute Magdalene ihren Plan darauf auf.« »Worauf?« fragte Susan mit kaum hörbarer Stimme. »Sobald Louise die Karte erst ausgefüllt und unterschrieben hatte«, fuhr er fort, »begann sie, ihren Nachbarn von dem Zentralheizungsprojekt zu erzählen. Heller kam mit seinem Wagen, um Einzelheiten zu besprechen, und jedesmal bellte der Hund, so daß keinem der Nachbarn Hellers Besuche entgingen. Louise North hatte deshalb so unglücklich ausgesehen, weil sie von der Untreue ihres Mannes wußte. Sie hatte zu niemandem davon gesprochen, aber sie konnte nicht verhindern, daß man ihr das Elend ansah. Es gab nur eins, das sie ablenken konnte, die Verbesserung der Heizungsanlage, und natürlich berichtete sie allen Nachbarn davon. Als die Nachbarn jedoch North nach seiner Meinung zu dem Projekt befragten, leugnete er einfach, etwas davon zu wissen. Denn das war der einzige sichere Weg, um zu erreichen, daß Hellers Besuche als Ehebruch angesehen wurden.« Susan hob den Blick. »Aber das ist doch absurd.« Ihr erster Schock war in Gereiztheit übergegangen. »Natürlich haben die Leute Bob nach der Heizung gefragt, und natürlich hat er die Absicht, sie einbauen zu lassen, bestritten. Falls Bob gelogen haben sollte, was wäre dann Ihrer Meinung nach geschehen, wenn Nachbarn ihn in Gegenwart Louises nach der Heizung gefragt hätten? Sehr wahrscheinlich ist das sogar passiert.« »Wenn er in einem solchen Fall«, erwiderte David ruhig, »Louise das Antworten überlassen und sich nur schweigend abgewandt hätte, wären die Nachbarn vermutlich um so fester von Louises Schuld überzeugt gewesen. Sie hätten insgeheim den betrogenen Ehemann bemitleidet, der sich bemühte, den Betrug seiner Frau zu verbergen.« 167
»Louise North war in Heller verliebt«, sagte Susan beharrlich. »Er war drei- oder viermal hier, und Bob wußte sehr genau, warum er kam. Am Tag, bevor Louise starb, kam sie in Tränen aufgelöst zu mir und bat mich, sie am folgenden Tag zu besuchen, um mir die ganze Geschichte anzuhören.« »Hat sie Ihnen tatsächlich gesagt«, fragte er zweifelnd, »daß sie in Heller verliebt sei?« Susan krauste etwas unsicher die Stirn. »Nein, aber ich … Natürlich kam sie deswegen herüber. Warum hätte sie sonst kommen sollen?« »Vielleicht, um Ihnen zu erzählen, daß ihr Mann sie betrog, und Sie um Ihren Rat zu bitten.« Sie sah ihn an und errötete bis zu den Haarwurzeln. »Sie meinen, daß ich ein guter Ratgeber gewesen wäre, weil auch ich betrogen worden bin?« Es war schrecklich, daß ausgerechnet er sie so verletzen mußte. Sein Hals war trocken, und einen Augenblick lang brachte er kein Wort heraus. »Aus eben dem Grund, den Sie selbst genannt haben, hätte sie nicht erwartet, daß Sie dem schuldigen Ehepartner allzuviel Sympathie entgegenbringen würden, nicht wahr? Und dabei hielten Sie Louise für schuldig.« »Das tue ich noch immer«, sagte sie mit plötzlicher Leidenschaft. »Ich glaube, daß Bob unglücklich war.« »Ja, ich denke auch, daß er unglücklich war. Es kann kein Glück sein, wenn man von einer Frau wie Magdalene zu so entsetzlichen Taten getrieben wird.« »Was versuchen Sie mir eigentlich beizubringen?« »Daß Bernard Heller und Louise North überhaupt kein Verhältnis hatten. Daß sie lediglich als Hausfrau und Geschäftsmann miteinander verkehrten.«
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20 Susan nahm eine Zigarette und steckte sie an, bevor er ihr Feuer geben konnte. Ihre Hände waren ganz ruhig. Die Tränenspuren waren verschwunden, aber unter ihren Augen lagen blaue Schatten. David stotterte ein wenig. »Sie haben es sehr gefaßt aufgenommen. Darüber bin ich froh.« »Nur weil ich weiß, daß es nicht wahr ist.« Er seufzte, aber nicht erbittert. Wie konnte er erwarten, daß sie Unbeständigkeit, Untreue verstand? »Ich weiß, es ist zu Anfang schwer zu fassen«, sagte er ruhig. »O nein, das ist es nicht.« Ihr Gesicht war fast heiter. »Als Sie anfingen, fürchtete ich, daß alles wahr sein würde, aber jetzt, da ich weiß, daß es nicht wahr ist, fühle ich mich … Nun, leichter. Ich nehme Ihnen nichts übel«, fuhr sie fort. »Ich weiß, Sie waren der Meinung, das Richtige zu tun. Das weiß ich zu schätzen.« Sie lächelte ihm kurz zu. »Sie sind wirklich ein netter, rücksichtsvoller Mensch. Es ist wahr, daß …« Sie senkte den Blick. »Es ist wahr, daß ich für Bob North eine gewisse Zuneigung gefaßt habe. Wir suchten beieinander Trost, weil …« Ihre Stimme hatte einen sachlicheren Tonfall bekommen. »Weil wir beide einen Tiefpunkt unseres Lebens erreicht hatten. Ich komme über diesen Schock hinweg. Ich bin an Schocks gewöhnt«, sagte sie. »Er hat etwas Schreckliches getan, und wir werden uns nicht wiedersehen. Im Grunde hatten wir nie viel gemeinsam. Ich werde sehr bald von hier wegziehen, und im übrigen habe ich meinen kleinen Sohn, um den ich mich kümmern muß.« Sie brach ab und räusperte sich. »Aber Sie sollen wissen, warum ich so sicher bin, daß Sie sich irren.« »Ja«, sagte er müde, »ja.« 169
»Heller und Louise liebten sich, das weiß ich. Er hat ihr nämlich im vergangenen November Liebesbriefe geschrieben, und die habe ich hier. Bob hat sie bei mir gelassen. Wenn Sie wollen, können Sie sie sehen.« »Gefälscht«, sagte David, die Briefe in den Händen drehend, obwohl er wußte, daß das nicht möglich sein konnte. Er erinnerte sich jetzt an die Schreiben, die vor Gericht von Magdalene Heller, dem Geschäftsführer von Equatair, und Hellers eigenem Bruder identifiziert worden waren. »Nein, ich weiß, daß sie nicht gefälscht sein können.« Er las sie, während Susan ihn dabei mit gedämpfter Traurigkeit beobachtete. »Sie sehen, beide sind aus dem vergangenen Jahr datiert, 1967.« Er las die Briefe noch einmal, langsam und aufmerksam, und schaute dabei besonders auf die Daten: 6. November 1967 und 2. Dezember 1967. Es bestand kein Zweifel, wann sie geschrieben worden waren, und es war trotzdem etwas merkwürdig daran. »Er ist kein alter Mann und kann noch lange Jahre weiterleben. Er hat weder ein Recht noch einen Anspruch auf dich, den heutzutage noch irgend jemand anerkennen würde.« »Wie alt ist North?« fragte er. »Ich weiß nicht genau«, erwiderte sie, »etwa Anfang Dreißig.« »Eigenartig«, sagte David, »daß Heller in dieser Weise auf ihn Bezug genommen haben sollte.« »Aber es ist wahr, er ist kein alter Mann.« »Nein, er ist im Gegenteil so jung, daß es absurd gewesen wäre, so über ihn zu schreiben. Die Schilderung trifft eher auf jemanden zu, der, sagen wir, Mitte Fünfzig ist. Und wie paßt das ins Bild? ›Wir müssen so weitermachen und warten, bis er stirbt.‹ Warum hätte North sterben sol170
len? Er ist doch kräftig und gesund, nicht wahr? Und dann diese Bemerkung, er habe weder ein Recht noch einen Anspruch, den irgend jemand anerkennen würde. Ich möchte doch annehmen, neunzig Prozent der Bevölkerung würden nicht bestreiten, daß Ehegatten gesetzliche und moralische Rechte und Ansprüche ihren Partnern gegenüber haben und daß diese Fessel sogar ziemlich stark ist.« »Es bedarf etlicher juristischer Kniffe, um sie zu brechen«, sagte sie trocken. »Aber Sie vergessen, daß sich Heller in einem Ausnahmezustand befand, daß er hysterisch war.« »Trotzdem sind diese Briefe nicht hysterisch. Teile von ihnen sind ruhig und zärtlich. Darf ich fragen, warum North Ihnen die Briefe gegeben hat?« »Er wollte, daß ich sie verbrenne. Er selbst hatte nicht die Kraft dazu.« Fast hätte David gelacht. Daß der Mann die Vernichtung der Briefe gewünscht hatte, war klar, denn obwohl sie auf den ersten Blick echt schienen, hätte eine intensivere Prüfung womöglich einige Ungereimtheiten ergeben, die zeigten, daß Louise nicht die Empfängerin gewesen sein konnte. Warum hatte er sie Susan Townsend gezeigt? Um sich ihrer Sympathie, ihres Mitleides, ihrer Anteilnahme zu vergewissern. Es war ihm gelungen, dachte David bitter. »Wissen Sie, was ich glaube?« Sie wußte es nicht, und es schien sie auch nicht zu interessieren. Sie hörte ihm nur aus Höflichkeit zu. Er sprach trotzdem weiter. »Ich glaube, der Mann, von dem die Rede ist, war überhaupt kein Ehemann. Die Frau, die diese Briefe empfing, war zwar an jemanden gebunden, aber nur durch Pflicht.« Er blickte auf und bemerkte, daß sie sehr müde war. »Verzeihen Sie mir«, sagte er. »Darf ich diese Briefe mitnehmen?« »Warum nicht? Es will sie niemand sonst haben.« Sie reichte ihm die Hand und ging vor ihm her in die Diele. 171
»Sie sollten nicht allein bleiben«, sagte er impulsiv. »Ich würde nicht weggehen, nur werden Sie meinen Anblick verabscheuen.« »Das ist natürlich Unsinn, aber ich bin daran gewöhnt, allein zu sein. Nach der gerichtlichen Untersuchung war ich in schlechter Verfassung, weil ich da schon die Grippe hatte.« Sie öffnete die Haustür, und als er hinaustrat, begann der Hund loszubellen. »Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen kennenlernen können«, sagte Susan. »Aber wir haben uns kennengelernt.« Er wartete ihre Antwort nicht mehr ab, weil sie womöglich seine Hoffnung zerstört hätte. Bis zu ihrer Eheschließung hatte Magdalene Heller bei ihrem Vater gelebt, einem Mittfünfziger, der an Multipler Sklerose litt. Sie hatte ihn gepflegt, bis sie nach London ging und Bernard kennenlernte. Aber sie konnte nicht heiraten und ihren Vater verlassen. Sie mußte warten, bis er starb. Der chronisch Kranke war grob und undankbar, aber es gehörte zu Magdalenes Tochterpflicht, ihn zu betreuen und ihren Verlobten nur in Abständen zu sehen. David ließ diese Tatsachen vor seinem geistigen Auge Revue passieren, und als er East Mulvihill erreichte, hatte sich in seinem Kopf eine neue Theorie geformt, ein Ableger der ersten, wie ein neuer kleiner Kopf am Leib einer Hydra. Carl Heller öffnete ihm die Wohnungstür. Ob Magdalene ihn als ihren Hausdiener beschäftigte? Sein stumpfes, lethargisches Gesicht wirkte niedergeschlagen. »Haben Sie die Morgenzeitungen gelesen?« fragte er. »Sie haben Mr. North wegen Mordes an meinem Bruder verhaftet.« Er packte Davids Arm. »Ich kann es nicht glauben. Magdalene ist krank, sie liegt im Bett. Gestern, als er nicht kam und auch nicht anrief, dachte ich, sie wür172
de verrückt.« Er schüttelte den Kopf und hob die Hände. »Jetzt hat sie sich ein bißchen beruhigt. Und all das Elend ist nur gekommen, weil mein Bruder dieses Unrecht getan hat.« »Ich glaube nicht, daß er etwas Unrechtes getan hat, Mr. Heller. Er hat doch ein paar Briefe an Mrs. North geschrieben, nicht wahr?« »Schlimme Briefe. Ich werde nie vergessen, wie ich vor Gericht sagen mußte, daß mein Bruder sie an diese Frau geschrieben hat.« »Aber hat er sie wirklich an Mrs. North geschrieben?« David folgte ihm ins Wohnzimmer. »Ja, und ich habe mich geschämt deswegen.« Carl marschierte unruhig im Zimmer auf und ab. »Daß mein Bruder von dem armen Mr. North geschrieben hat, er sei nutzlos und besser tot.« »Mr. Heller …« David wußte, daß es sinnlos sein würde, diesem schwerfälligen, begriffsstutzigen Mann komplizierte Zusammenhänge zu erklären. »Würden Sie mir etwas sagen? Es mag Ihnen bedeutungslos erscheinen, nebensächlich, aber sagen Sie mir bitte: wie hat Bernard seine Sieben geschrieben?« Carl zog überrascht und sogar etwas verärgert die Brauen zusammen, aber er unterbrach seinen Marsch, ergriff den Bleistift, den David ihm reichte, und malte eine Sieben mit einem Balken durch den Abstrich. »Das dachte ich mir. Er war in der Schweiz aufgewachsen. Und nun machen Sie bitte noch eine Eins, so wie Bernard sie schrieb.« Einen Augenblick schien es, als würde Carl dieser Bitte nicht nachkommen. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, er starrte David an, doch dann malte er achselzuckend eine Eins auf das Papier, die einer englischen Sieben sehr ähnlich sah. David zog den Bogen unter der plumpen Hand 173
hervor und betrachtete ihn nachdenklich. Magdalene hatte Bernard 1962 geheiratet und 1961 kennengelernt. Es paßte alles und doch … Warum hatte die Polizei nicht aufgemerkt, die doch Bernards Kundenbücher gesehen hatte, warum nicht der Geschäftsführer von Equatair, der Bernards Handschrift kannte, warum nicht Carl? »Sie sagten mir einmal, daß Bernard, um beruflich weiterzukommen, beschlossen habe, so englisch zu werden wie möglich. Hat er dazu auch seine Schreibweise dieser kontinentalen Sieben und Einsen geändert?« »Schon möglich.« Carl nickte. »Vor fünf Jahren sagte er jedenfalls zu mir, er wolle vermeiden, daß ihn noch jemand als Ausländer erkennt.« »Fünf Jahre ist es also her«, sagte David leise, »daß er seine Sieben ohne Querbalken und seine Einsen als einen senkrechten Strich zu schreiben begann …« Er sprach mit gesenkter Stimme, weil er gehört hatte, daß hinter ihm eine Tür geöffnet worden war und Schritte näherkamen. Sie trug einen langen schwarz-roten Morgenrock, und ihr Gesicht war blaß und starr, so daß sie beinahe alt aussah. »Na, wieder zurück?« Sie bemühte sich, herausfordernd zu sein, es gelang ihr jedoch nicht, ihrer Stimme genügend Festigkeit zu geben. »Ich hätte gern ein Glas Wasser« wandte sie sich an Carl. Er holte es mit einem demütigen Nicken. Ihre Hand zitterte, so daß ihr beim Trinken etwas Wasser übers Kinn lief. »Bob North hat also die beiden umgebracht«, sagte sie mit gepreßter Stimme. »Nur gut, daß wir nichts weiter mit ihm zu tun gehabt haben. Er muß ein Idiot gewesen sein, sich so erwischen zu lassen.« »Mörder müssen erwischt werden«, sagte Carl töricht. »Sie müssen raffiniert sein«, widersprach sie, »und aufpassen, daß man sie nicht schnappt.« 174
»Ich frage mich, ob Sie raffiniert genug wären«, sagte David und fügte, während er aufstand, im Plauderton hinzu. »Es muß interessant sein, das zu erleben.« Die grünen, goldschimmernden Augen blieben lange Zeit auf ihm haften, dann kehrte sie, das Glas in der Hand, ins Schlafzimmer zurück. »Ich wollte nur wissen«, sagte David, als Susan sich meldete, »ob es Ihnen gutgeht.« »Aber danach haben Sie sich doch gestern abend erst erkundigt«, protestierte sie, »und heute vormittag. Es ist alles in Ordnung. Wirklich. Nur daß die Polizei alle Augenblicke kommt …« »Ich will nachher auch zur Polizei, aber erst würde ich gern bei Ihnen vorbeikommen. Darf ich?« »Wenn Sie wollen«, erwiderte sie. »Wenn Sie wollen, David.« Sie hatte ihn beim Vornamen genannt, und sein Herz machte einen kleinen Sprung. »Aber keine Geschichten, keine Theorien. Die kann ich nicht mehr ertragen.« »Das verspreche ich«, sagte er. Sie würde dem Prozeß beiwohnen müssen, aber bis dahin würde sie ihn, David, gut genug kennen, um sich von ihm begleiten zu lassen. Sie würde vor Gericht alles hören, und sie würde ihn neben sich brauchen, wenn sie von den Beweisen erfuhr, die gegen die beiden Angeklagten vorlagen. David legte den Hörer auf und machte sich auf den Weg, um Ulph zu berichten, was Magdalene Heller und Robert North getan hatten. Wie sie zwischen zwei harmlosen, liebenswerten Menschen, die ihnen – abgesehen von ihrer bloßen Existenz – nie etwas zuleide getan hatten, eine Affäre erfunden und derart aufgebauscht hatten, daß die Betroffenen sogar von ihren Freunden und Nachbarn geschmäht und verleumdet worden waren. Und alles nur, 175
weil Louise North sich nicht scheiden lassen konnte und Heller seine Frau mit in die Schweiz nehmen wollte. Vielleicht würde er Ulph seine letzte Entdeckung zuerst mitteilen. Er war von Natur aus nicht rachsüchtig, aber es verlangte ihn danach, Ulphs Gesicht zu sehen, wenn dieser erfuhr, daß Magdalene Heller ihre eigenen Liebesbriefe – Briefe von Bernard aus dem Jahre 1961 – aufgehoben und als schriftlichen Beweis benützt hatte für einen Ehebruch, der nie begangen worden war. Er wollte Ulphs Miene sehen und schließlich auch die Mienen des Richters und der Geschworenen beim Urteil.
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