FLAMMENSTAUB 2 Nr. 50
Hauch des Todes von Michael Marcus Thurner
A
uf den von Menschen besiedelten Welten der Milchstraße schreibt man das Jahr 1 2 2 5 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht. Der relativ unsterbliche Arkonide Atlan, der seit Jahrtausenden im Auftrag der Menschheit wirkt, kämpft in der fernen Galaxis Dwingeloo gegen die mysteriösen Lordrichter. Die Widerstandsgruppe »Konterkraft« schickt Atlan zur geheimnisvollen Intraweit, um dort den Flammenstaub, der eine ultimate Waffe sein soll, zu besorgen. Nach zahlreichen Abenteuern in der gigantischen Hohlwelt gelingt es ihm, diesen zu erbeuten. Aber er verweigert dessen Herausgabe in der Überzeugung, dass die Anführer der Rebellen zu schwach für seine Verwendung sind. Atlan trägt nun den Flammenstaub in sich und testet die Wirkung erfolgreich gegen die Truppen der Lordrichter. Aber je intensiver er ihn benutzt, desto verheerender ist sein Einfluss auf Psyche und Körper. Um seine Balance wiederzuerlangen, landet er auf einer heißen Vulkan welt, wo ihn der HAUCH DES TODES streift ...
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ten ihm durch leichte Bewegungen ih re Namen. Er wurde geboren. Er fühlte, wie Ja, dies war wahrlich ein bedeutsa Geist und Körper entstanden. Sein mer Moment! Nicht nur für ihn, son Körper, wunderbar glatt und flach, er dern für alle Namibander. Er würde zu zielte mehr und mehr Massezuwachs, etwas Besonderem heranwachsen, bis er eine optimale Größe erreicht denn seine fünfundzwanzig Eltern ge hatte. hörten zu den Besten, Geschicktesten »Wie wirst du dich nennen?«, fragte und Hitzigsten des Volkes. Zudem stellte die Fünfundzwanzig eine ein Mitglied seines Elternstammes. Instinktiv wusste er, dass es sich bei Glückszahl dar. Ein wenig Aberglaube dem »Sprecher« um Sedumol Vrentz steckte selbst in den nüchternen Na aus-dem-Hohlsten handelte. Der groß mibandern. Obwohl sie es alle erbit und etwas zu breit geratene Namiban tert bestritten hätten, so glaubten sie der war einer der begabtesten Kanten doch daran, das Schicksal nicht be stimmen und be wächter der Hei einflussen zu kön mat. nen. Und selbst Er überlegte, und verständlich hatte es fiel ihm, bloß Die Hauptpersonen des Romans: er diesen Chiro wenige Augenbli mant unterlegten cke nach seiner Atlan - Der Arkonide begegnet sich selbst. Einschlag ganz von Bewusstseinswer Admal Kalistein-aus-dem-Tiefsten - Der ihnen übernom dung, noch ein we Namibander versucht sein Volk zu retten. men. nig schwer, die passenden Gedan Die Kette der ken zu fassen. Also Namibander löste ließ er sich viel sich in Unruhe auf. Zeit. Er spürte, dass er sich zu viel Zeit bei Er nahm die Umgebung in sich auf, der Auswahl seines Namens ließ. Sie in der Geburt und geistiges Erwachen alle hatten zu tun und wollten zurück vor sich gegangen waren. Mit all sei an die Stätten ihres Wirkens. Das nen Sinnen forschte er umher; fühlte Genf, ihr Lebensmedium, bedurfte die Kraftlinien, den Geschmack des stetiger Achtsamkeit und Pflege. Genf, das ihn umgab, maß die Er Hastig tastete er mit den Randfran schütterungen an, die weit oberhalb sen umher. Er spürte festes Gestein, seiner Zeugungsstätte passierten. das sich unterhalb seines herrlich fla Seine Eltern hatten sich tief unten chen Leibes ausbreitete. Augenblick zusammengefunden. Es schien kaum lich wusste er, dass es sich um kalihal noch weiter hinabzugehen. Dies war tige Brocken handelte, die nur in ganz ein wertvoller, ein wichtiger Anhalts bestimmten Bereichen des Genf vor punkt, den er verinnerlichte und nie kamen. mals mehr vergessen würde. »Ich bin ... Admal Kalistein-aus Nacheinander nahm er Form und dem-Tiefsten«, sagte er endlich zö Konsistenz seiner Erzeuger in sich gernd. auf. Er berührte sie, und sie vermittel »Ein schöner Name«, lobte einer der 1.
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Eltern, der sich nestelnd und zärtlich über seinen Leib bewegte, um gleich darauf an Höhe zu gewinnen und ir gendwohin zu verschwinden. Es han delte sich um Umlauf Hersten-hoch in-den-Kräften, einen der führenden statischen Theoretiker des namiban dischen Volkes. Wahrscheinlich zog es ihn in seine Eindenkhöhle zurück, die während seiner Abwesenheit mit In formationsfransen voll gestopft wor den sein musste. »Du wirst Außergewöhnliches leis ten«, vermittelte ihm Asten Hochlaut in-der-Stufe. »Wir alle sind stolz auf dich«, fran selte Irmen Zahllos-um-die-Kette. »Ich setze große Brocken auf dich«, schabte Emen Heißkroch-aus-demInneren über seinen Leib. Nacheinander vollzogen die 25 El tern das Ritual der Geburtsglückwün sche und zogen sich anschließend so rasch wie möglich zurück. Sie alle wussten aus eigener Erfahrung, dass er nun alleine sein wollte - und musste. Zudem verlangte das Genf nach ihnen. Sie mussten ihren Pflichten so rasch wie möglich wieder nachkommen. Während der nächsten Zeiteinheit würde sich Admal Kalistein-aus-demTiefsten darüber klar werden, wo er seine Bestimmung sah. Die ersten Ep sen nach seiner Geburt gehörten ihm ganz alleine, und er brauchte sie drin gend zum Nachdenken. Danach gab es keine Pause mehr, bis ans Ende aller Tage.
2. Garshwyn war tot. Selbst der ver fluchte Flammenstaub, der in mir tob te, konnte daran nichts mehr ändern.
Trodemlyor, der im Orbit um Varlin stationierte Truppenstützpunkt der Lordrichter, war vernichtet, nachdem ich die Sonne kraft meines Willens zur Supernova gemacht hatte. Nichts war geblieben, was von Substanz war. Ich hatte diese feindliche Bastion aus sei ner - meiner! - Existenzebene gebla sen. Ich hatte Feinde sonder Zahl getö tet. Wesen, die entweder aus Verblen dung oder von der sogenannten Tro dar-Lehre indoktriniert die Galaxis Dwingeloo mit Angst und Schrecken überzogen hatten. Meine Hände zitterten, Schweiß stand auf meiner Stirn. Ich hieß die DYS-116, die Temperatur ein wenig zu senken. Die Zaqoor, Torghan, Daorghor, Ur’orgh, Shiruh und wie sie alle hei ßen mochten, bekämpften das Leben, das nicht wie sie war. Oh, wie ich sie hasste! Eine Stimme in meinem Inneren, samtweich und verlockend, forcierte einen weiteren Adrenalinschub, der mich beinahe alles um mich herum vergessen ließ. Beinahe. Sie unterwarf mein ohnehin bis aufs Äußerste angespannte Gemüt einer Zerreißprobe. Ich ballte die Hände, bohrte die Fingernägel ins Fleisch, bis es wehtat. Der Schmerz, verhältnis mäßig schwach im Vergleich zur Lust, die in mir tobte, brachte mich wieder einigermaßen - zur Vernunft. Ich drehte den Kopf zur Seite und blinzelte die Tränen weg, als ich mich zwang, Garshwyn aus meinen Gedan ken zu verdrängen. Ein Feind war mir zum Kumpan ge worden, dank des Flammenstaubs. Dies war möglicherweise die einzig
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gute Tat gewesen, die ich mit Hilfe des magischen Stoffs in meinem Leib voll bracht hatte. Und selbst dieser Hoff nungsschimmer, dieser Ansatz zur po sitiven Verwendung, war durch den Selbstmord Garshwyns ins Gegenteil verkehrt worden. Der Zaqoor hatte sich erschossen, um jenen Frieden zu finden, den ich ihm nicht hatte geben können. »Warum hast du den Leichnam nicht desintegriert?«, fragte die Schiffs intelligenz der DYS-116 mit einem beiläufigen Unterton in der Stimme, wie mir schien. »Was kümmert dich das?«, schrie ich unbeherrscht. »Dieser Mann verdiente zumindest eine Raumbestattung. So, wie er es sich gewünscht hätte.« Wie konnte es die Syntronik wagen, meine Entscheidung nachträglich anzuzwei feln? Ich zitterte und schluchzte und lachte. Was tat ich hier? Was geschah mit mir? Wie hatte ich jemals in eine der artige Situation geraten können, die mir von Augenblick zu Augenblick auswegloser erschien? Es ist dies das Resultat grenzenloser Selbstüberschätzung, unter der du schon immer gelitten hast, merkte der Extrasinn mit jenen deutlichen Zei chen der Erschöpfung an, die er mich seit Beginn seines Gesundungspro zesses immer wieder spüren ließ. Und dennoch klang auch so etwas wie Ha rne in seiner geistigen Stimme mit. Als wollte er sagen: »Siehst du - ich habe gewusst, dass du dich über schätzt.« »Wohin jetzt?« Die KI der DYS-116 unterbrach meine träge Unterhaltung mit dem Logiksektor. Die Stimme der Syntronik klang anders als sonst. Sie
hatte möglicherweise Probleme, meine Unbeherrschtheit und meine Stim mungsschwankungen richtig einzu ordnen. Sehr mühsam konzentrierte ich mich. »Wir kehren dorthin zurück, wo die ser ganze Wahnsinn begonnen hat«, gab ich zur Antwort. Ich nannte die Koordinaten, die sich mir - so wie al les während meines langen Lebens! unauslöschlich ins Gedächtnis ge brannt hatten. Oder? Hatte der Kampf gegen Peonu einen Teil meines Erinnerungsvermögens gekostet? Waren Lücken entstanden, die ich nie mehr würde füllen können? Ich weiß es nicht, flüsterte der Ex trasinn. Willst du - wollen wir - tat sächlich zurück? Ja, dachte ich. Es muss ein Ende nehmen. Ich verliere die Kontrolle, ich verliere meinen Verstand. Ich verliere dich. Und du hoffst, dies alles in der Intra weit wieder zu finden? Selbst auf die Gefahr hin, niemals mehr von dort hierher, ins Normaluniversum, zu rückgelangen zu können? Man muss wissen, wann man verlo ren hat. Ohne Tuxits Hilfe wird es mir kaum mehr gelingen, den Flammen staub unter Kontrolle zu bringen. Und wenn ich den Weg zurück nicht mehr schaffe, dann soll es eben so sein. Dann lebe ich mein Leben in der Intraweit zu Ende. Wann auch immer dieses En de sein mag. Zuerst einmal musst du den Durch gang in die Intraweit bewältigen, unk te der Extrasinn. Die innere Stimme wurde mit den letzten Wortgedanken immer schwächer, bis sie wie ein letz ter Windhauch verging. Von nun an
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schwieg sie für eine verdammt lange Zeit. * Nach subjektivem Empfinden dau erte die Reise zurück ins Innere der Sternengeburtswolke SET-3 fünf oder sechs Ewigkeiten. Der varganische Schutzanzug hielt meine Körperfunk tionen auf meinen Wunsch hin mög lichst niedrig. Ich durfte und wollte mich nicht aufregen und schon gar nicht über meinen Zustand grübeln. Jeder gedankliche Impuls mochte den Flammenstaub in mir zu einer Reakti on bewegen, die ich nicht mehr kon trollieren konnte. Schon das Reflektie ren über diese ungreifbare, unbegreif bare Substanz in mir regte mich auf und setzte möglicherweise Dinge in Gang, die in der Erschaffung zusätzli cher, unerwünschter Wahrscheinlich keitsebenen mündete. »Glück ist eine leichte Dirne«, hatte ein gescheiter Mann vor Jahrtausen den einmal geschrieben. »Sie weilt nicht gern am selben Ort; sie streicht das Haar dir aus der Stirne. Und küsst dich rasch und flattert fort.« Verflucht sollte ich sein - aber ich wünschte mir in diesen Stunden und Tagen nichts so sehr, als dass mich das Glück endlich verließe! Es saß mir im Genick, fett und breit und alles zerstö rend, und weigerte sich hartnäckig, je mand anderem als mir gefällig zu sein. Ich verspürte einen leichten Schmerz an meiner Pobacke und erwachte be reits ein paar Augenblicke später aus dem Halbschlaf, in den ich mich ver setzt hatte. Ich blickte auf mein Chronometer. 23. September 1225, stand dort. 14:46 Uhr war es in einer unendlich weit
entfernten Stadt in einer unendlich weit entfernten Galaxis. »Ich bitte um exakte Landekoordi naten«, forderte die DYS-116. »Dieselben wie bei unserer ersten Annäherung«, antwortete ich. Mit mentalen Dagor-Übungen, die mir in Fleisch und Blut übergegangen waren, versuchte ich, jene körperliche und geistige Erschöpfung zu vertrei ben, die mich seit dem Tod Garshwyns im Griff hielt. Die Schiffssyntronik führte mittler weile das gewünschte Manöver aus. Zehn Minuten später landeten wir im Staub jenes Asteroiden, von dem aus der hyperenergetische Schlauch Tephs in die Intraweit hineinragte. Und in dessen Boden der Leib einer Toten ruhte. * Ich trat zu Kytharas Grab, einer schmucklosen Erhebung inmitten der trostlosen Sand- und Steinwüste, de ren kurzer Horizont von der Intra weit und nichts anderem begrenzt wurde. Es gab keine Götter, an die ich in ih rem Namen ein Gebet richten konnte. Zu viel hatte ich gesehen und erlebt, um nicht zumindest Zweifel an der Existenz einer alles lenkenden Macht zu spüren. Ich war zu oft in unange nehme Nähe jener Wesen gerückt, die sich selbst als höher stehend titulier ten. Die Ehrfurcht vor einem großen Unbekannten, vor Gott, war bei mei nen Abenteuern irgendwann einmal auf der Strecke geblieben. Traurig schüttelte ich den Kopf. »Es sieht so aus, als wäre dein Tod umsonst gewesen«, begann ich einen leisen Monolog. »Ich komme mit dem
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Flammenstaub in mir einfach nicht klar. Ich habe mich verändert, und ich bin froh, dass du mich in diesem Zu stand nicht siehst.« Ich konnte nicht ruhig stehen bleiben, machte ein paar nervöse Schritte. »Andererseits ver misse ich dich wie noch selten jeman den zuvor. Ja - als Unsterblicher ist der Tod mein stetiger Begleiter. Er nimmt mir Gefährten und Freunde scheinbar im Sekundentakt, während ich weitermarschiere.« Hastig korri gierte ich mich: »Weitermarschieren muss. Du kennst diesen Zustand ewi ger Trauer sicherlich viel besser als ich. Ich verstehe, warum ihr Varganen euch so sehr in den Hintergrund der Geschichte zurückgezogen habt und unter euresgleichen geblieben seid.« Der goldene Anzug erhöhte seine Kli maleistung und trocknete mir Feuch tigkeit aus dem Gesicht. »Ich will gar nicht lange lamentieren; ich bedaure lediglich das Schicksal. Gemessen an unserer beider Lebenserwartungen ist es ein Hohn, dass uns nur so wenig ge meinsame Zeit zur Verfügung stand. Und wir haben sie für alles Mögliche benutzt - nur nicht für uns selbst.« Ich nahm ein wenig Sand von ihrem Grab und ließ ihn zwischen den Fin gern meines Handschuhs zu Boden rieseln. Dank der niedrigen Schwer kraft tanzten die Körner langsam, wie in Zeitlupe, hinab. Sie glitzerten und glänzten in der allgegenwärtigen Be leuchtung der riesenhaften Intraweit, die scheinbar jeden Moment auf mich herabzustürzen drohte. »Ich habe einen Freund gefunden«, fuhr ich schließlich fort, »und ich habe ihn wieder verloren. Ich zeigte ihm das wahre Leben, frei von jeglicher Beein flussung.« Bitternis packte mich. »Ich habe seinen Tod auf dem Gewissen.
Ich stehe in Garshwyns Schuld, ge nauso wie in der deinen.« Schließlich stützte ich mich, er schöpft und rasch atmend, auf eine mannshohe Felsnadel und verharrte ein paar Minuten in stiller Andacht. * Ich musste die Gedanken an Kytha ra nun verdrängen. Voraus wartete ei ne weitere Begegnung mit dem Schick sal. Ich aktivierte den Antigrav des Anzugs und programmierte den Auto piloten, der mich zu Tephs Behausung bringen würde. Wenn alles glatt ging, würde ich in wenigen Minuten durch seinen Leib hindurch, der in den Hy perraum hineinragte, ein zweites Mal in die Intraweit vordringen. Dort, so hoffte ich, war ich vor den Auswirkun gen des Flammenstaubs sicher. Tuxit würde eine Möglichkeit wissen, wie ich die Substanz abstoßen konnte. Doch noch war ich nicht so weit. Ich flog in Bodennähe dahin und blickte mich um. Das Generationen schiff der Hemeello war ebenso ver schwunden wie Peonus Raumer. Ich schwebte über eine eintönige Land schaft, die lediglich hier und dort vom Anblick alter Schiffswracks durch brochen wurde. Tephs Energieschlauch kam in Sicht. Sein wirbelnder Strahl, der tau melnd und wie suchend über dem Ho rizont im Nirgendwo endete, emittier te goldene Flocken, wie ich es erhofft hatte. Allerdings in einer wesentlich geringeren Quantität als bei meinem ersten Vordringen in die Intrawelt. Dennoch: Das Krakenwesen musste sich erholt und seine Funktion als Wächter an der Schwelle zur Intra weit wieder aufgenommen haben! Er
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leichtert atmete ich durch. Bei meiner letzten Begegnung hatte Teph zwi schen Leben und Tod gehangen. Ich landete und marschierte kurzer hand durch die gläserne Schleuse in jene einfach gehaltene Halle, in der er lebte. Augenblicklich stellte mein An zug jegliche Funktion ein, wie gehabt. Ich zog mich aus, atmete die ver brauchte und nach Fäulnis riechende Luft ein. In erster Linie beäugte ich die dunklen Winkel und Ecken, in de nen sich das seltsame Krakenwesen wie schon das letzte Mal verstecken mochte. Nichts. Der Raum war leer. Bis auf ein paar verdreckte Lumpen, die scheinbar achtlos in eine Ecke gepfeffert worden waren ... Lumpen? Wie hätten die hierher gelangen sol len? Ich trat näher, langsam und vorsich tig, und vermisste dabei schmerzhaft die Alarmschreie des Extrasinnes. Mein interner Mahner war bisweilen ein lästiger Geselle, aber oft genug auch mein Retter in höchster Not ge wesen. Schließlich neigte ich zu un verhältnismäßiger Neugierde. Es dauerte einige Sekunden, bis sich meine Augen an das Dunkel der Ecke gewöhnt hatten. Was ich erblickte, hätte aus einem billig gemachten Hor ror-Trivid stammen können: Teph lag hier - beziehungsweise das, was von ihm übrig geblieben war. Faltige, schlaffe Häute waren über einander getürmt und geknotet. Das Fleisch der langen und massiven Kra kenarme, die mich einmal mit immen ser Kraft gepackt und umschlungen hatten, war verschwunden. Ich griff nach den dünnhäutigen Res
ten, rieb sie zwischen meinen Fingern hin und her. Sie knisterten und emit tierten hellblaue Funken, die nach we nigen Augenblicken zerstoben. Ein Ton erklang. Ich zuckte zusam men. War dies ... ein Seufzer? Erschrocken ließ ich die Haut los und wich zwei Schritte zurück, bereit, mich so schnell wie möglich wieder in den varganischen Anzug zu zwängen und zu fliehen. Aber nein! Ich gab mir einen Ruck. Ich war hierher gekommen, um neuer lich Einlass in die Intrawelt zu begeh ren. Der Einfluss des Flammenstaubs hatte bereits beim Betreten dieses Raums ein wenig nachgelassen. Ich fühlte mich erstmals seit Tagen fast wohl in meiner Haut. Doch das konnte auch lediglich eine momentane Ver besserung meines mentalen Zustandes sein. Ich musste zurück, musste Kon takt zu den Rhoarxi finden! Ich überlegte. Der Energieschlauch, der eine sicht bare Verbindung zur Intrawelt vor spiegelte, war vorhanden; also steckte noch Leben in Teph, so unwahrschein lich dies auch schien. Schließlich gab es keinen anderen Weg in das in sich geschlossene Universum, das auf einer anderen Strangeness-Ebene existierte. »Kannst du mich hören?«, fragte ich in Richtung des Hautknäuels und kam mir dabei lächerlich wie selten zuvor vor. »Gnn ...«, ertönte eine brummige Stimme aus dem breitesten Teil des Hautlappenknäuels. Und noch einmal: »Gnn ...« Ich trat wieder näher heran, schob die einzelnen Schichten der Körper reste behutsam beiseite. Die vielen Augen, die mich während unserer ers
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ten Begegnung so eindringlich gemus tert hatten und großteils von rostroten Hautlappen verdeckt worden waren, bestanden nunmehr aus verschrum pelter Gallerte. Reihenweise fielen sie aus ihren Höhlen, während ich den Leib hin und her bewegte. Die schwartigen Hautreste der Kra kenarme ließen sich nach allen Rich tungen ausbreiten, ohne eine Reaktion zu erzeugen. Ein Kribbeln übertrug sich währenddessen von den Finger spitzen über meinen gesamten Körper. Ich legte den zentralen Sackkörper frei, betastete ihn behutsam. Er fühlte sich wie ein antiker Heißluftballon an, aus dem jegliche Luft entwichen war. Halt! Ich spürte Widerstand; ein etwa kopfgroßes Etwas bewegte sich im In neren von Tephs Körperhaut. Wärme übertrug sich auf meine Handinnen flächen. War dies der letzte Rest des Wär ters? War er auf eine kleine Kugel zusammengeschrumpft? Auf einen Gehirnbrocken, der nicht aufhören wollte zu existieren? »...ss los!« brummte dieselbe Stim me wie zuvor. Sie war kaum verständ lich und drang aus dem Leib hervor. Behutsam legte ich den Sackkörper zu Boden und wartete. Ich hatte in meinem Leben zu viel gesehen, um mich über Derartiges zu wundern. Das Leben konnte vielfältigste Erschei nungsformen annehmen; auch der Prozess des Sterbens trat in Formen auf, die wir Arkoniden niemals verste hen würden. Wenn Teph denn tatsächlich starb. »Kann ich dir helfen?«, fragte ich so prononciert wie möglich. Das Wesen, besser gesagt: der Rest des Wesens, achtete nicht auf meine Worte. »... kein Durchgang in die In
trawelt für dich möglich, Atlan von Arkon«, sagte Teph. Auf eine unheimliche Art und Weise erkannte er mich! Und mit einer Stim me, die mir Schauder über den Rücken jagte, zerstörte er jegliche Hoffnung. »Ich sterbe«, fuhr er fort. »Mein Nachfolger hat sich ...reits zu mir durchgefressen. Er wird die Reste ...es Bewusstseins und meines Wissens auf nehmen und als neuer Torwärter die nen.« Seines Nachfolgers? »Ich muss zurück!«, forderte ich mit möglichst fester und drängender Stimme. »Der Flammenstaub tötet mich. Ich gefährde den Bestand gan zer Sternensysteme, sobald ich nicht mehr Herr über meine Sinne bin.« Tephs Körpersack bewegte sich. Das kugelförmige Restwesen verlager te sich gut sichtbar ein Stück nach vorne, näher zur Vorderseite des einst maligen »Gesichts«. Die Haut riss wie Papier. Ein hellleuchtendes, konturlo ses Etwas kam hervorgeglitten, gehal ten von einem einzigen dünnen und scheinbar elastischen Band. Die Ober fläche des Restlebewesens reflektierte plötzlich mein Gesicht. Mit verzerrten Lippen sagte der gespiegelte Atlan zu mir: »Deine Probleme sind belanglos für mich, Arkonide! Meine Todesme tamorphose ist nur noch Tontas deiner Zeit entfernt, und ich sehne mich da nach wie noch niemals jemand zuvor. Mein Nachfolger ist nah, ganz nah; er wird den Platz einnehmen, den ich hinterlasse. Er wird meine Erinnerun gen und Erfahrungen verinnerlichen. Und dazu gehört auch die Erkenntnis, dass du bereits einmal durch mich hindurchgereist bist. Das stimmt doch, nicht wahr?« Ich nickte automatisch, ohne zu
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wissen, ob Teph mich tatsächlich se hen und meine Gestik deuten konnte. »Du und der andere vor dir haben mir Schmerz sondergleichen zugefügt. Ihr habt meinen Tod beschleunigt. Ei nerseits muss ich euch beiden dafür danken, andererseits spürte ich eure Rücksichtslosigkeit, mit der ihr euch hierher zurückgekämpft habt.« Die Kugel verlor sichtlich an Sub stanz, die Oberfläche wurde immer matter. »Unter keinen Umständen wird Te pher, mein Nachfolger, erlauben, dass du ihn als Durchgang benutzt. Du hat test deine Chance, Atlan. Und was du mit diesem Teil des Multiversums an stellst, ist schlussendlich dein Pro blem. Wenn irgendetwas passieren sollte, was die großen Strukturen die ses Universums ändert, so hast allein du es zu verantworten. Man wird dich dafür sicherlich zur Rechenschaft zie hen ...« Teph kroch stückchenweise in sei nen Sackkörper zurück. Oder ... wurde er von etwas zurückgezerrt? Von sei nem Nachfolger Tepher, der sich an ihm nährte? »Ich habe einen Fehler begangen«, beharrte ich auf meiner - zugegebe nermaßen schwachen - Argumentati on. »Die Rhoarxi, die Erbauer der In trawelt, werden es verstehen, wenn ... »Wenn du versagt hast, dann stehe dafür ein«, unterbrach mich Teph grob. »Und nun verschwinde endlich! Es gibt nichts mehr zu sagen. Ich möchte sterben.« Die Bilder auf dem kleinen Restkör per verschwanden, jegliches Leben darin schien zu erlöschen. Verzweifelt dachte ich nach. Es muss te einen Weg geben! Notfalls würde ich ihn mir mit Gewalt erzwingen ...
Ein dünnes Pfeifen ertönte. Mich fröstelte, und mit einem Mal musste ich nach Luft schnappen. Teph ließ die Atemluft aus der Halle entweichen! Ein deutlicheres Zeichen, dass er mich loswerden wollte, gab es wohl nicht. Eilig wie selten zuvor schlüpfte ich in den Varganenanzug. Schon kristal lisierte die Atemluft, schon fühlte ich das schmerzende Beißen unglaublicher Kälte an den Händen und im Gesicht. Es musste binnen weniger Sekunden auf minus 30 Grad oder mehr abge kühlt haben. Ich hielt den Atem an, verriegelte den letzten Sicherheitska rabiner am Halskragen und stürmte so schnell wie möglich aus Tephs Halle. Meine Beine waren steif und wollten sich nur mühsam bewegen lassen. Un ter Schmerzen öffnete ich das Tor und stapfte hinaus, auf den namenlosen Asteroiden. Endlich sprangen die Funktionen des Anzugs an! Die Hei zung setzte mit Höchstleistung ein. Köstliche Luft füllte meine Lungen, und keuchend atmete ich tief durch. Es dauerte eine Weile, bis ich die Kraft fand, erneut an der Schleusen türe zu rütteln. Umsonst; ich war ausgesperrt. Ich spähte durch das dumpfe Glas nach innen. Die Sichtfunktionen des Schutzanzugs funktionierten lediglich mangelhaft. Sie zoomten ein grob ge rastertes Bild heran. Tephs Restkörper war wohl noch kleiner geworden. Aus der Ecke, in der er gelegen hatte, drang ein weiteres Etwas in den Haut sack; es schien, als würde es aus dem Nichts auftauchen ... oder aus dem un begreifbaren Hyperraum. Tepher war gekommen. Er nährte sich an seinem Vorgänger und würde
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nicht mehr aufhören zu fressen, bis er dessen Leib zur Gänze ausgefüllt hat te. Vielleicht wuchs er in der hinter lassenen Haut so lange heran, bis er den Krakenkörper ausfüllte - wer ver mochte das schon zu sagen? Ein Energieschirm, dem meine An zugfunktionen nichts entgegenzuset zen hatten, schleuderte mich plötzlich mehrere Meter zurück. Ich landete schwer auf dem Rücken, ohne dass mich das varganische Hochtechnolo gie-Produkt auffangen konnte. Zorn erfüllte mich. Ich griff, so be wusst ich nur konnte, nach dem Flam menstaub in mir, fokussierte ihn man gelhaft auf Tephs Halle. Ich wollte das Gebäude zerstören, es zerfetzen. Die Aussicht, dass der Krake einen Tod er leiden würde, wie er ihn wollte, wäh rend ich hier weiterem Leiden ausge setzt war, führte mich nahe an die Grenze zum Irrsinn. Ich erzeugte ei nen instinktiven Aufriss zu einer an deren, einer hässlichen Wahrschein lichkeit und schleuderte das Produkt gegen den Schutzschirm. Nichts geschah, sosehr ich mich auch abmühte und konzentrierte. Dieses Gebäude hier war wohl das einzige im bekannten Universum, dem nicht beizukommen war. 3. Admal Kalistein-aus-dem-Tiefsten sah sich um. Er reiste die Untiefen des Genf entlang. Gemächlich flosselte er durch die Höhlen und Kavernen, die Gräben, Klüfte und Spalten. Sorgsam verglich er das, was er an Wissen von seinem Elternstamm übernommen hatte, mit jenen Eindrücken, die er so eben am eigenen Leib erfuhr.
Es gab geringfügige Diskrepanzen. Admal begriff, dass das Erfassen, Er fühlen und Einordnen dieser kleinsten Unterschiede ein Charakterbild erga ben. Sein Charakterbild. Dieses Kennenlernen seiner körper lichen Funktionen machte ihn zu ei nem Individuum, das sich von anderen unterschied. Admal lernte rasch, Kleinigkeiten zu klassifizieren. Es tat ihm gut, seine individuellen Ausprägungen zu defi nieren. Durch den Vergleich von Theo rie und Praxis erfuhr er, dass er einen leichten Hang zu Nervosität hatte. Auch war er lernbegieriger als andere Namibander, und seine physischen Leistungswerte schienen weit über de nen des durchschnittlichen Artgenos sen angesiedelt zu sein. Andererseits machte ihm sein nur leidlich ausge prägter Geschmack für Kraftlinien zu schaffen. Mehr als einmal verirrte er sich in Nebenhöhlen oder Abbrüchen und tat sich schwer, wieder in ausrei chend weiche Fahrrinnen des Ee zu gelangen. Lag hier etwa eine körperliche Dys funktion vor? War er eine Fehlgeburt? War es ihm vorherbestimmt, recht bald wieder den Weg in den Tod wäh len zu müssen? Die Namibander, so erfuhr er aus seinem umfangreichen Wissensfun dus, hatten keinen Sinn für Unnötiges. Jemand, der nichts zum Wohlgefühl des Volkes beitrug, wurde nicht ge braucht und hatte sich selbst aufzulö sen. Aber nein! Erleichtert bewegte er seinen Kör per in breiten Wellen, als er die not wendigen Informationen aufstöberte: Er tat gut daran, eilig den Weg zur
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Großen Leere zu suchen. Nur dann, wenn er die rituelle Erste Entladung vornahm, würde er die Kraftlinien in ausreichendem Maß spüren und damit auch die Entwicklung weiterer le benswichtiger Sinne initiieren. Taumelnd verließ er die tiefliegende Geburtshöhle durch den größten Ver bindungskanal. Immer wieder streifte er am Festen an und machte sich mit dem unangenehmen Tastgeschmack vertraut. Viel lieber hätte er sich an anderen Namibandern festgeklam mert und wäre mit ihnen in einer klei nen Kette weitergereist. Doch sie wi chen ihm aus und machten ihm un missverständlich klar, dass sie um sei ne Desorientierung und sein geringes Alter wussten. Es ging weiter. Auf und ab, immer den Hauptstrom der reisenden Nami bander entlang. Seine Welt war groß; viel größer, als er sie mit seinem Ver stand eingeschätzt hätte. Und den noch war sie ... unkomplett. Teile eines Koordinatensystems, das von älteren Generationen stammen musste, fehl ten ihm schmerzlich. Denk nicht daran, ermahnte er sich, zumindest jetzt noch nicht. Während Admal dahintrieb, nahm er Nahrung zu sich. Er versetzte sei nen Körper parallel zu seinen Flossel bewegungen in geringfügige Rotation. Der Vorgang vollzog sich automatisch, ohne dass er ihn bewusst steuern konnte. Fasziniert fühlte er, dass sein herrlich dünner Leib Nährstoffe durch einen Diffusionsprozess aus dem Genf filterte und in sich aufnahm. Er wurde breiter und höher. Auch bildeten sich schlackige Beulen, in de nen es gehörig rumpelte. Admal zog seinen Körper verschämt ein wenig zusammen. Die anderen Na
mibander mussten nicht bemerken, dass er sich erstmals ernährte. Dafür, so sagte ihm sein Wissensfundus, war dieser Vorgang zu intim. Die Beulen wanderten ruckartig durch sein Inneres, fanden sich all mählich zusammen und bildeten schlussendlich eine flache Blase. Es wurde wirklich Zeit, dass er zur Gro ßen Leere gelangte! Als er meinte, den richtigen Weg an hand der Kraftlinien gefunden zu ha ben, fädelte er sich in den Strom der geschäftig dahintreibenden Namiban der ein. Sie bewegten sich elegant vor wärts, flosselten mit scheinbar gerin gem Kraftaufwand an ihm vorbei und wichen einander mit unglaublichem Geschick aus. Es herrschte in der Tat ein riesengroßer Unterschied zwi schen all dem in seinem Kopf gespei cherten Wissen und der praktischen Erprobung. »Platz da!«, vermittelte ihm ein bul lig gebauter Namibander. Er drängte sich grob vorbei, ja er stieß sich sogar an ihm ab, um sein Tempo zu steigern! Währenddessen teilte er Admal mit den feinen Randfühlern entschuldi gend mit, dass in einer unteren Seiten höhle möglicherweise ein Hoa-Aus bruch bevorstand. Die gefährliche Si tuation erforderte unbedingt mehrere Sicherheitsleute, die für eine kanali sierte Verteilung der hochgeschleuder ten Massen sorgen mussten. Was für ein aufregendes Leben die ser Namibander haben musste! Stets war er auf der Suche nach möglichen Sicherheitslücken, stets unterwegs durch das wunderbare Labyrinth ih res Lebensbereiches, immer vor Ort, wo etwas Bedeutsames geschah. Die Wellen, die er schlug, verklan gen allmählich. Er hatte das Kraftlini
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ensystem gehörig durcheinander gewirbelt. Es würde einige Zeit dau ern, bis sich die Unruhe legte und Ad mals noch stumpfe Fühlsinne die Richtung, in die er musste, neu be stimmen konnten. Orientierungslos drehte er sich im Kreis und nahm währenddessen weitere Nahrung auf. Sein Leib schwoll stetig an. »Wohin willst du, Junge?« Admal fühlte sich an allen Rändern gleichzeitig gepackt. Ein schlanker, unruhig hin und her franselnder Na mibander umflatterte ihn. Seine sanf ten Berührungen, die nur Augenblicke zu dauern schienen, erzeugten ein neues, seltsames Gefühl. »Zur Großen Leere«, vermittelte er dem anderen. »Ich wurde soeben ge boren ...« »Das musst du nicht extra erwäh nen. Das fühle ich ohnehin.« »Kannst du mir den Weg nach oben zeigen?« »Keine Zeit, Junge. Ich bin Bote und mit wichtigen Informationen unter wegs. Du schaffst das auch alleine, da bin ich mir sicher. Dein Körper fühlt sich gut an; so glatt, so faltenfrei, so frisch.« »Ach ja? Wie kannst du das ...« »Keine Zeit für Erklärungen, ich muss weiter. Hast du in fünf Epsen Zeit für mich?« Eine Epse war eine Zeiteinheit, so wusste Admal, deren Länge sich durch den Rhythmus in der regelmäßigen Umkehrung der Kraftlinien ermittel te. Allerdings hatte er eine solche Um kehrung noch nicht mitgemacht, also konnte er mit dieser Angabe vorerst nichts anfangen. »Ich muss mich orientieren.« Ver wirrt ließ er die Randfransen hoch und nieder tanzen. »Es ist alles so neu ...«
»Keine Zeit, mein Bester. In fünf Epsen an der Durchflucht zur Treib höhle Auf-dem-Ee. Und sei pünkt lich.« »Ich kann es dir nicht garantieren, dass ... »Keine Zeit für schöne Worte, ich muss weiter. Du kommst, verstanden?« Der andere ließ ihn los und flosselte mit kräftigen Bewegungen in einen Nebenstrang der Strömung. Was war das bloß für ein komischer Partutz gewesen? Es dauerte lange, bis er des Rätsels Lösung gefunden hatte, und sie ver setzte ihm einen gehörigen Schreck: Es gab in der Tat Namibander, die stets lamentierten, keine Zeit zu ha ben, und dennoch ewig lange zu plau dern vermochten. Sie gehörten im gro ßen Volksverbund zu jener Minder heit, die allein spontane Gebärketten anregen konnte und das Zusammen spiel während der Geburt lenkte. Admal war einer der wenigen Frau en begegnet, und sie hatte ihn zu einer prophylaktischen Zuchtbegutachtung eingeladen. * Allmählich legte sich Admals Ver wirrung. Er schob die Erinnerung an die beunruhigende Begegnung beiseite und setzte den Weg fort. Seine Sinne schienen sich unterdes sen geschärft zu haben. Mochte es die Aufregung sein oder sein wachsendes Bedürfnis, sich zu entladen - es zog ihn förmlich in die richtige Richtung. Vorbei ging es an toten Höhlen, zwi schen trägen Strömungen des wider wärtigen und bröckeligen Hoa hin durch, um gefährliche Wechseltiefen herum. All diese Gefahren konnten ei
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nen unerfahrenen und unaufmerksa men Namibander in den Tod reißen. Mit jedem Fransenschlag wuchs sei ne Selbstsicherheit. Er empfand seine Vorwärtsbewegungen nicht mehr als mühselig und belastend, im Gegenteil: Sie machten ihm Spaß! Einer seiner Eltern, der Tanzkünstler Beloir Zitter bar-vor-dem-Grund, hatte ihm Ein fühlsamkeit und einen besonderen Sinn für Schönheit mitgegeben. Im Gegensatz zu vielen anderen Artge nossen, so wusste Admal, konnte er die Pracht seines Lebens in vollen Zü gen genießen. Er empfand Freude und Leid, Glück und Trauer mit außeror dentlicher Intensität. Für eine kurze Weile ließ er sich auf den Kraftlinien dahintreiben und genoss es schlicht weg, zu sein. Bis ihn das zunehmende Gurgeln in seinem Körper in die Wirklichkeit zu rückrief. Nun wurde es tatsächlich Zeit für die Begegnung mit der Großen Leere. Admal schwamm quer durch die oberste der Breiten Höhlen, deren sie ben Ausgänge unweigerlich in Enden des namibandischen Lebensbereiches mündeten. Dahinter, so wusste er, gab es nichts. Erschreckendes, fürchterli ches Nichts, das sie dennoch für ihr Überleben dringend benötigten. Warum dies so war, vermochten auch die drei Philosophen seines El ternstammes nicht zu sagen. Die Na mibander waren darauf angewiesen, in regelmäßigen Abständen die Nähe der Großen Leere zu suchen und sich zu entladen. Nur so blieb ihre Körper lichkeit in einem akzeptablen Gleich gewicht. Er nahm die Abzweigung zu einem der breitesten Endstücke. Admal spürte die Bewegungen einer Vielzahl
Artgenossen, die ebenfalls hierher und wieder zurück strömten. Manchen war immenser Druck anzumerken, andere wiederum wirkten dösig und er schöpft. Geduldig reihte er sich in die Kolonne der Wartenden, die niemals kürzer wurde. Der Stamm der Nami bander war groß und mächtig und ihr Gebiet, so befürchteten manche des Volkes, zu klein. »Du kannst vorflosseln«, teilte ihm ein älterer und bereits steif gewachse ner Artgenosse mit. »Du bist jung und hast es dringend nötig, wie ich fühle.« So war es in der Tat. Alleine der Ge danke, sich endlich entladen zu dürfen, verstärkte den Druck in Admal. Also streichelte er dem Alten kurz und dankbar über die Oberfläche und schob sich an ihm vorbei. Auch andere ließen ihm den Vortritt. Sie alle kannten wohl die Schmerzen, die ihn nun plagten. Bereitwillig machten sie Platz. Kälte kroch über seinen Leib, je nä her er dem Ziel kam. Sie versteifte sei ne Fühl- und Bewegungsfransen und ließ im Gegensatz dazu seinen Leib nahezu unkontrolliert zittern. »Helft mir ... bitte«, bat er zwei Na mibander, die unmittelbar neben ihm trieben. »Ich habe es noch nie getan. Ich weiß nicht ... wie ich mich öffnen soll, und ... ich platze gleich.« Admal fühlte beruhigendes Strei cheln über seine Seitenkanten. Doch es half nicht viel. Sein Inneres, von unaussprechlicher Kälte geplagt, re bellierte, wollte sich in Einzelpartikel auflösen und in die Große Leere hin auftreiben ... »Du musst loslassen«, sagte einer seiner beiden Helfer. »Dann geschieht es von alleine.« Admal zerbarst. Der Körper, eben noch wunderbar glatt und unver
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braucht, löste sich in kleinste Einzel bestandteile auf. Die Nahrungsgase, die sich in seinem Leib gebildet und verfangen hatten, drangen schwallar tig nach oben, stießen hinaus in das unmögliche Universum, dessen Exis tenz noch kein Namibander hatte be stätigen können. Admals einzelne Bewusstseinsteile spürten und verfolgten die Gasblase, bis sie ins Außen, in die Große Leere, vordrangen und aufhörten zu existie ren. Vielleicht war da ein Hauch einer Empfindung schrecklicher, bizarrer Kälte, die sein zerteilter Körper auf fing. Doch das Gefühl verging genauso rasch, wie es gekommen war. Zurück blieben unendliche Müdigkeit und das Gefühl, die Entladung ohne Probleme hinter sich gebracht zu haben. Kleinste Reste seines Körpers fanden rasch wie der zusammen, wie magisch voneinan der angezogen. Sie verbanden sich zu einer neuen, durchaus interessanten Gruppierung. Er wirkte nun ein wenig bucklig und unrein. Doch diese Makel wurden durch einen spürbaren Zu wachs an Selbstbewusstsein und Span nung mehr als ausgeglichen. »Gratuliere!«, sagte einer seiner Helfer. »Beachtenswert, wie du das ge macht hast«, meinte der andere. »Du kannst nur Admal Kalistein-aus-demTiefsten sein, nicht wahr? Ich habe von deiner Geburt gehört. Du bist wirklich etwas Besonderes.« »Ja«, wiederholte er stolz, »ich bin etwas Besonderes.« 4. Ich verließ den Asteroiden wie ein geprügelter Hund.
Selbstverständlich hatte ich geahnt, dass es mir schwer fallen würde, in die Intrawelt zurückzukehren. Aber es würde »schon irgendwie gehen«, hatte ich mir selbst weisgemacht. Im Nachhinein betrachtet ent sprang diese Einstellung bemerkens werter Selbstüberschätzung. Ich hatte den Flammenstaub bei vollem Be wusstsein akzeptiert. Niemand und schon gar nicht die Rhoarxi würden mir dabei helfen, ihn wieder loszuwer den. Die DYS-116 erhob sich einmal mehr in die Schwärze des Weltalls. Bald darauf schoben wir uns an füt ternden Sternengeburtswolken vorbei und rasten um das riesige Gebilde ei nes Ernteraumschiffes, das weiteres Material für die Fertigstellung der In trawelt heranbrachte. Ich kümmerte mich nicht um das Zubringerschiff. Ich empfand weder Lust noch Muße, diesem Giganten mehr Aufmerksam keit als notwendig zu widmen. Weg, nur weg, so war meine Devise. Nie mehr wieder wollte ich hierher zu rückkehren, an diesen Ort des Todes und der Niederlagen. »Wohin?«, fragte mich die DYS-116. »Hinaus aus Dwingeloo«, ächzte ich. Mein Magen brannte. Ich nahm meine Umgebung in mehreren über einander liegenden Schichten wahr, die sich in alle räumlichen Dimensio nen ausdehnten und immer mehr an Platz benötigten. Die Impulse des Zeilaktivators hatten kaum besänfti genden Einfluss auf meine Phantas magorien und die fürchterlichen Schmerzgebilde, die sich in mir auf stauten. »Such einen allein stehenden Plane ten!«, befahl ich dem Schiff. Voraus setzungen: atembare Luft, kein intelli
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gentes Leben, möglichst weit weg von allem. Und beeil dich!« Die KI gab keine Antwort. Wahr scheinlich durchsuchte sie ihre Spei cherdatenbänke nach Übereinstim mungen mit meinem groben Anforde rungsprofil. Die Stunden vergingen. Die DYS 116 zeichnete inzwischen auf meinen Wunsch hin ein Bild der momentanen Lage in Dwingeloo. Es gereichte mir zum Vorteil, dass ich in einem Beiboot der lordrichterlichen Flotte unterwegs war. Wann auch immer wir zwecks Orientierung in den Normalraum zu rückkehrten, sandte es Abfrageimpul se nach allen Richtungen aus, die al lerdings nur teilweise beantwortet wurden. Die Truppen der Zaqoor, Ur’oghs und wie sie alle hießen, wirk ten selbst zwei Monate nach dem Tod Yagul Mahuurs verwirrt und führer los. Ihren sonst so straffen Strukturen fehlte die Führungselite. Niemand schien sich aufraffen zu können, den Gesamtbefehl über die weit ver sprengten Trodar-Kämpfer zu über nehmen. Ein weiterer Schmerzanfall plagte mich, zwang mich in die Knie. Der Flammenstaub wuchs in mir, wurde wilder und wilder, verlangte nach un gezügelter Entladung. Es schien mir fast, als handelte er wie ein heran wachsendes Kind, das nach mehr Freiheit verlangte. Natürlich war die ser Gedanke unsinnig. Diese Materie war, in bildlicher Übertragung, Ab rieb von einer jener Achsen und Kno tenpunkte, die das Multiversum in Be wegung hielten. Substanz, die eigent lich gar nicht existieren durfte und mit meiner Umwelt höchst folgen schwer reagierte. Sie erzeugte verän derte Wahrscheinlichkeiten. Anders
ausgedrückt, verschaffte mir der Flammenstaub bei allem, was ich mir wünschte, Glück - und brannte mich gleichzeitig aus. Der Anfall ging vorbei, ich erlangte wieder die Kontrolle über meinen Körper. »Du hast Schmerzen«, konstatierte die Schiffssyntronik. »Kümmere dich nicht darum«, ent gegnete ich. »Mein Schutzanzug sorgt für eine ausreichende Behandlung.« Die goldene Kombination aus var ganischer Fertigung war in der Tat weitgehend auf meine Bedürfnisse ausgerichtet. Sie versorgte mich mit einem vorsichtig dosierten Schub ei nes Schmerzmittels, das andererseits meine Sinne so wenig wie möglich be lastete. Es würde mich, so hoffte ich, von der ungreifbaren Gefahr in mei nem Inneren befreien. »Statusbericht«, forderte ich müde. »Die Sondierungsarbeiten laufen. Der Funkverkehr ist nicht besonders rege. Wir müssten einen verbliebenen Knotenpunkt des lordrichterlichen Flottenaufmarschs anfliegen, um ge nauere Informationen zu erhalten. So kann ich nur auf wenige routinemäßig abgesetzte Datenstreams zugreifen ...« »Wir bleiben jeglicher Schiffsan sammlung fern«, unterbrach ich ihn erschrocken. Die KI schwieg. Ihre Rechenprozes se, die im Hyperraum überlichtschnell verliefen, blieben mir manchmal rät selhaft. Ich konnte mir niemals sicher sein, ob sie mich als alleinigen Be fehlshaber ansah. Die DYS-116 war mir schließlich von einem Anführer der so genannten Konterkraft namens Reshgor-1 übergeben worden, der mich aufgefordert hatte, den Flam menstaub für seine Untergrundorga
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nisation zu besorgen. Solcherart woll ten die Revoluzzer den Lordrichtern den Kampf, der bislang bestenfalls auf Sparflamme geführt worden war, offen ansagen. Ich hatte ihnen das teuflische Zeug aus gutem Grund verweigert. Einer seits waren mir die Erklärungen von Reshgor-1 zu nebulös erschienen, um ihm wirklich zu vertrauen. Anderer seits wollte ich nicht wie ein Maskott chen auf Reshgors Zaqoor-Raumer drei Galaxien durchpflügen und mich gemäß seiner Anweisungen im Gueril lakampf um die Lordrichter-Truppen kümmern. Ich war zwar unsterblich, aber meine Zeit erschien mir dennoch zu wertvoll, um dieses Spielchen ohne Garantie auf Erfolg mitzumachen. Nein. Ich hatte einen anderen, einen dritten Weg gewählt. »Der Fisch beginnt am Kopf zu stin ken«, hätte mir ein bestimmter Barbar von Larsaf III gesagt, »also gib dich gar nicht damit ab, die Gräten abzu knabbern.« Ich nickte ihm in meinen Gedanken zu. Die einzige Person, der ich wirklich vertraute, die Herrschaft der Lordrichter zu beenden, war ich selbst. So überheblich, so selbstver liebt das auch klingen mochte. Ich kehrte mit meinen Überlegun gen zur DYS-116 zurück. Ich nutzte sie als Werkzeug und nicht als Berater, wie dies in unzähli gen arkonidischen und terranischen Schiffen der Fall gewesen war. Über rangbefehle konnten jederzeit wirk sam werden und mir die Befehlsge walt wegnehmen. Flammenstaub hin oder her - wenn die Syntronik mich täuschte und betäubte, war es um mich geschehen. Weitere Informationen zu Bewegun gen der Lordrichter-Flotten tröpfelten
herein, wie ich anhand eines akusti schen Signals vermittelt bekam. Ich wartete zwei oder drei Sekunden, be vor ich nach Auswertungsergebnissen verlangte. »Tendenziell ist es immer noch so, dass die Truppen des Feindes wie ge lähmt sind. Es herrscht, wenn man das bei von Trodar geimpften Truppen sa gen kann, gelindes Entsetzen über die Zerstörungen am Dunkelstern. Man wartet auf eine Reaktion oder einen Befehl der Lordrichter. Die Nervosität wurde durch deine Störmaßnahmen weiter gesteigert. Die Truppenverluste hielten sich zwar in Grenzen; aber erstmals ist das bislang Undenkbare eingetreten. Jemand leistet Trodar of fenen Widerstand - und hat Erfolg da mit.« »Ich dachte, dass der Trodar-Glaube durch nichts und niemanden zu beein flussen sei?« »So ist es auch«, bestätigte die DYS 116. »Die Unsicherheit bezieht sich allgemein auf den Mangel an Befeh len. Die Zaqoor und andere Völker zweifeln an den Fähigkeiten ihrer Vor gesetzten.« »Kommt es zu Machtkämpfen in den unteren Rängen der Befehlskette?« »Nein.« Die Syntronik sagte nichts weiter. Ich überlegte. Es war eine törichte Frage gewesen. Große Teile der Garb yor-Truppen kannten offensichtlich nichts anderes als Gehorsam. Sie wuss ten wahrscheinlich nicht einmal, was Aufbegehren oder Rebellion bedeute te. »Du sagtest: Tendenziell verhalten sich die Einheiten der Lordrichter ru hig. Gibt es auch gegenteilige Anzei chen?« »Ja. Eine Flotte mit mehr als 300
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Einheiten, die in der Southside statio niert gewesen waren, soll sich in Be wegung gesetzt und Dwingeloo verlas sen haben.« »Wohin?« »Das ging aus dem Funkspruch nicht hervor, der auch mit aller gebo tenen Vorsicht als ›mögliches Gerücht‹ gekennzeichnet worden war. Der tat sächliche Informationsfluss zwischen den einzelnen Flottenteilen ist ange sichts der besonderen Bedingungen in Dwingeloo nicht besonders einfach.« Kein Wunder. Mehr als ein Drittel der Galaxis bestand aus Zonen mit hochaktiven Pulsaren; die mit den Ak tivitäten der Varganen und dem Dun kelstern in engem Zusammenhang standen. Irgendwann würden sich die energetischen Feuerwerke, die dort abliefen, beruhigen. In Hunderten oder Tausenden von Jahren. Wer ver mochte schon zu sagen, wie lange es dauern würde, bis sich das natürliche Gleichgewicht, das über endlose Zei ten hinweg gestört worden war, wieder einstellte? »Hast du einen Planeten gefunden, der meinen Wünschen entspricht?«, fragte ich. »Die Datenstreams der GarbyorTruppen haben mir Aufschlüsse gege ben, wo ich suchen sollte. Auswahl gibt es genug, und deine Kriterien las sen mir ausreichend Platz für Inter pretationen. Aber ich habe deinem Wunsch, dass du eine Welt möglichst fernab von allen anderen suchst, an die oberste Stelle der Prioritäten ge setzt.« »Gut. Beeil dich. Zeit ist ein wert volles Gut für mich geworden.« Ein beunruhigendes Grummeln hat te sich in meiner Magengegend be merkbar gemacht. Es zwickte und
zwackte. Gleichzeitig bewegten sich die Gegenstände, die in mein Ge sichtsfeld gerieten, über- und ineinan der. So früh? Das Schmerzmittel hatte nicht ein mal eine halbe Stunde lang gewirkt. 5. Admal gewann an Reife und Erfah rung. Er fügte neue Erkenntnisse auf vielerlei Gebieten dem Wissen seiner Vorfahren hinzu. Irgendwann einmal würde er sich auf eine Paarungskette einlassen - und dann würde er mehr hinterlassen als die Erinnerungen an derer. Wenn er seine Reisen durch die Strömungen des Genf einmal bleiben ließ und befand, dass es Zeit für ein wenig Ruhe war, dann begab er sich in die Höhle der Philosophen. Drei seiner Väter lebten dort, doch er fühlte sich nicht unbedingt zu ihnen persönlich hingezogen. Er liebte vielmehr die Un gezwungenheit, mit der in großen Ver bundsteppichen Theorien aufgestellt wurden, die in anderen namibandi schen Lebensbereichen vielleicht als Blasphemie gegolten hätten. »Vielleicht gibt es ... Leben jenseits der Großen Leere?«, fragte Jenhaut Zweifel-ob-der-Steine, ein Berufspro vokateur. Unruhiges Geflatter begleitete seine Worte. Es war ihm anzumerken, dass er selbst nicht an diese Theorie glaub te, die er hier so großspurig aussprach. »Hör auf, dich über uns lustig zu machen«, erwiderte Iman Wahres-tief im-Leben, der die Rolle des ständigen Gegenpols hervorragend spielte. So vernünftig eine Theorie auch sein
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mochte - Iman sprach und argumen tierte dagegen. Die beiden, obwohl keine angenehmen Zeitgenossen, er gänzten sich prächtig. Sie hielten die Diskussionen stets am Laufen. Wollte man, aus welchen Gründen auch immer, an den Gesprächen nicht mehr teilhaben, so zog man sich ein fach zurück und ließ einen anderen des Volkes nachrücken. Solcherart än derten sich die Ausrichtungen der Streitgespräche immer wieder. Neue Meinungen kamen hinzu, alte wurden aussortiert. Und irgendwann, wenn ein Thema erschöpfend behandelt und von allen Seiten betrachtet worden war, wurde es zur »Wahrheit« erklärt. Man schickte dann Boten aus, die die Nachrichten weitergaben. Trotz aller Homogenität im Geflecht der Körperteppiche gab es auch Na mibander, die sich niemals auch nur eine Fransenbreite darüber hinaus be wegten. Sie wurden in dieser Höhle geboren, lebten, um nachzudenken, und zerfielen irgendwann, nach scheinbar unendlich langer Zeit. Diese Urgesteine der philosophischen Be trachtungslehren lebten in Askese. Die Gase der wenigen Nahrung, die sie zu sich nahmen, wurden von Helfern bereitwillig entsorgt. Sie genossen die größte Hochachtung unter ihresglei chen - auch wenn ihnen der Makel an haftete, dass sie sich niemals bereit er klärten, sich zu paaren und derart die Unmengen an ausdiskutiertem Wissen weiterzureichen. Admal Kalistein-aus-dem-Tiefsten löste sich nach geraumer Zeit aus dem Teppich und schwebte, von den fan tastischen Ideen der anderen getrie ben, glückselig nach oben. Sein Kör per fühlte sich nun straffer an. Die Auflösungserscheinungen, die er stets
nach anstrengenden Reisen an sich be merkte, waren nicht mehr als eine Er innerung. Er grüßte seine drei Väter, indem er über ihre Leiber strich, und verließ die Höhle der Philosophen. Noch war er nicht bereit, eine Ar beit, die ihm für sich selbst geeignet schien, zu suchen. Er wollte weiter mit seinen nach wie vor nicht ausgereizten Sinnen experimentieren. Das Erfüh len der Kraftlinien alleine war für ei nen Namibander nicht ausreichend. Er wusste um andere Möglichkeiten, sich zu orientieren und das Leben zu erfühlen, scheiterte bei der Ausfüh rung aber immer wieder an mentalen Blockaden. »Schau an«, streichelte ihm eine un angenehm bekannte Fühlfranse über die Haut. »Der junge Neugeborene, der seine Rendezvous nicht einhält. Ich habe eine ganze Epse in der Treib höhle auf dich gewartet, obwohl ich keine Zeit hatte.« Es war ... es war die Frau. Ein We sen, dessen Ausstrahlung, Berührun gen und körperliche Vermittlungen sein Denken gehörig durcheinander brachten. »Eben ... eben genau deswegen bin ich nicht erschienen«, vibrierte Admal zurück. Er bewegte sich dabei so un geschickt, dass sie seine Lüge durch schauen musste. »Du sahst so geschäf tig aus. Ich konnte mir nicht vorstel len, dass du es zum Treffpunkt schaf fen würdest.« »Du fühlst dich so gut an - und schwindelst gleichzeitig so schlecht. Deine Eltern gehörten offensichtlich nicht zur besonders fantasievollen Sorte.« »Ist denn Fantasie ein Kriterium für die Paarung?«, fragte Admal empört. »Warum willst du Dinge wissen, die
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eigentlich nur Frauen etwas angehen? Na schön - ich werde dir ein wenig bei deinen Problemen helfen. Du hast doch Probleme, nicht wahr? Unter brich mich gefälligst nicht! Ich habe ohnehin nur wenig Zeit.« Sie hakte sich mit mehreren Fransen bei den sei nen ein und zog ihn unbarmherzig mit sich, sosehr er sich dagegen wehrte. »Mein Name ist Girlian Heißschwatz voll-der-Güte. Ich wusste von Anfang an, worin meine wahre Begabung liegt, auch wenn ich hauptsächlich als Informationsbote zwischen den Höh len hin und her flattere.« »Und worin liegt deine eigentliche Begabung?«, fragte Admal, dessen Verwirrung sich von Augenblick zu Augenblick verstärkte. Die Aufdring lichkeit der Frau war ihm unheimlich. Der Rückgriff auf den Wissenspool seiner Väter half ihm auch nicht wei ter. Die namibandischen Männer stan den ihren weiblichen Artgenossen seit Urgedenken hilf- und ratlos gegen über. Und er hatte, so stellte Admal panisch fest, kaum Zugriff auf die ge netischen Erinnerungen seiner einzi gen Mutter. Er schlitterte trotz seiner ausgezeichneten Lebensplanung in ei ne Situation, die er nicht oder kaum kontrollieren konnte. »Auch wenn ich nur wenig Zeit da für erübrigen kann, so bin ich doch dafür prädestiniert, Männer zu lei ten.« * Girlian nahm ihn unter die Frans linge und zeigte ihm die gemeinsame Heimat aus ihrer Sicht. Das, was sich bislang so klar strukturiert dargeboten hatte, wirkte plötzlich kompliziert und eigentlich
unüberschaubar. Die Namibanderin machte ihn auf die leisen Erschütte rungen des Gesteins unter ihnen auf merksam. Sie ließ ihn den Geschmack des Genf kosten und seine Konsistenz austesten. Auch mit unterschiedlichen Intensitäten im körperlichen Kontakt machte sie ihn vertraut und welch subtile Zwischentöne man daraus er fühlen konnte. Der Austausch von Körperteilchen, mit denen Namibander wichtige In formationen an den Fühl- und Ge sprächspartner weitergaben, war ihr ein besonderes Anliegen. »Du weißt, dass ich eigentlich keine Zeit für dich habe«, so begann sie wie so oft, »aber du bist derart geradlinig in allem, was du sagst und tust, dass es fast schmerzt. Ich möchte deinen Cha rakter ein wenig ändern.« »Wie bitte? Was soll denn an Gerad linigkeit falsch sein?« »Du könntest andere damit verlet zen.« »Es hat sich bislang noch niemand bei mir beschwert.« »Weil du immer nur mit Männern zu tun hattest.« »Andere Frauen reden ohnehin nicht mit mir und schon gar nicht, seitdem du wie zähestes Hoa an mir hängst.« »Das wäre ja noch schöner, dass du mit einer anderen herumfranselst.« »Dann gibt es ohnehin niemanden, den ich verletzen könnte!« »Also nein!« Empört stieß sie eine winzig kleine Gasblase der Entrüs tung aus, die sich wie ein Klumpen im Ee hielt und irgendwann von den Mitgliedern der stets aufmerksamen Flussreinigung entfernt werden wür de. »Und was ist mit mir?« »Was soll mit dir sein?«
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»Du fransenloser Partutz, du dauer geblähter Kantenlecker, du schlabbri ger Flachtaucher, du ...« Girlian bewies, obwohl sie dafür ei gentlich keine Zeit hatte, enormes Stehvermögen beim Fluchen und ei nen überaus ausgeprägten Wortschatz. Eine Epse lang verfolgte sie ihn, wo hin er auch tauchte und franselte, fuhr über ihn hinweg, stellte sich ihm in den Weg, ließ ihn mit schmerzhaften Griffen ihre Wut spüren. Schlussend lich krümmte sie sich müde zusammen und legte ihm ein Körperteilchen an seinen Fransenrand. »Sosehr du dich auch dumm stellst und dagegen wehrst«, so glaubte er zu verstehen, »du wirst irgendwann zu meinen Ket tenpartnern gehören. Ob du es willst oder nicht. Ich weiß es, und keine Wi derrede! So - und jetzt habe ich keine Zeit mehr für dich.« Girlian trieb davon und ließ ihn völ lig verblüfft zurück. Darauf wäre er nie gekommen. Vielleicht stimmte es ja, dass er ein wenig neben der Strömung war. Denn er verstand die Frauen - beziehungs weise diese Frau - immer weniger. 6. Ich trieb auf Schmerzwellen dahin, im labilen Bereich zwischen Schlaf und Ohnmacht. Ab und zu erwachte ich von meinem eigenen Geschrei, verschwitzt und stinkend. Ich schaffte es, bei halbwegs klarem Kopf ein paar Entscheidungen zu treffen. Die DYS 116 hatte meine Erklärungen akzep tiert, dass ich aufgrund einer Krank heit derzeit nur bedingt handlungsfä hig sei. Sie war angewiesen, nur jene Befehle von mir zu befolgen, die lo
gisch und in sich schlüssig klangen. Ich begab mich damit auf äußerst dünnes Eis, wusste allerdings keine bessere Lösung für mein Dilemma. Ich hatte den Gedanken lange genug verdrängt - doch nun musste ich mich der Wahrheit stellen: Wenn ich nicht bald eine Lösung fand, mit mir selbst ins Reine zu kommen, starb ich. Es gab keine Heilung für meine »Krank heit«. Ich alleine konnte sie besiegen oder daran zugrunde gehen. Aber eine Entscheidung sollte kei nesfalls an Bord dieses Kaumschiffes fallen. Nicht hier, umgeben von frem den Dingen, denen ohnehin nur schlechte Erinnerungen anhafteten. Ich wollte Erde, Sand oder Stein unter meinen Füßen spüren, wenn es ... wenn es so weit war. Kämpfe!, hörte ich das schwache Echo einer Stimme, die wohl meinem Extrasinn gehörte. Kurz erwachte mein Widerstandsgeist; ich war ein Arkonide, und ich war der Kristall prinz. Dutzende Ehrentitel und Beina men hafteten mir an. Viele davon deu teten auf meine Beharrlichkeit hin, die manchmal auch als Stolz gedeutet wurde. Was war davon geblieben? Kaum etwas. Der Flammenstaub machte seinem Namen alle Ehre. Er fraß mich mit fiebrig heißem Feuer auf. Kein Leib und keine Seele war als Gefäß für ihn geeignet, wenn man die wunderlichen Rhoarxi außen vor ließ. Er brachte Schmerzen und viel schlimmer, er brachte Veränderungen. In manchen Augenblicken erkannte ich mich nicht wieder. Mit jeder Verwendung des Flammenstaubs, mit jedem Eingriff in die unendlichen Welten der Wahr scheinlichkeiten veränderte sich mein
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Charakter zum Schlechten. Ich hatte einen Weg betreten, der spiralförmig nach unten in einen Abgrund führte. Und ich konnte nicht mehr umkehren, so viel hatte ich während der letzten Tage einsehen müssen. »Wir haben das Zielgebiet erreicht«, durchbrach die DYS-116 meine von Schmerzwehen benebelten Gedanken. »Wie ... meinst du?« »Der Planet, den du suchtest. Weit ab von anderen, ohne intelligentes Leben, aber mit für dich erträglichen Verhältnissen.« »Wollte ... ich das? Gut, gut ...« Nach diesen Worten musste ich ein geschlafen sein; das fünffach überla gerte Bild des zentralen Holoschirms hatte sich verändert, als ich das nächs te Mal darauf starrte. »... soll er heißen?« »Wie bitte?«, fragte ich verwirrt. »Der Planet hat bislang keinen Na men. Du musst ihm einen geben.« Das war absurd! Was kümmerte mich ein Name für diese Welt? Ich ließ mir Zeit mit einer Antwort. Gierig und mit zitternden Händen trank ich aus einem Wasserbecher. Die kühle Flüssigkeit tat gut und weckte in geringem Maße meinen Lebensgeister. »Ich nenne ihn ›Ende‹«, brachte ich schließlich hervor. »Ein seltsamer Name.« »Ich brauche keine nutzlosen Kom mentare!«, brüllte ich mit rauem Hals. Trotz der Schmerzen tat es gut, sich Luft zu verschaffen. Am liebsten hätte ich ... hätte ich ... dieses verdammte Schiff samt seiner Syntronik in einen Klumpen aus Metall und Plaststoffen verwandelt und ... Erschrocken hielt ich inne, lenkte meine Gedanken in ungefährlichere Gefilde.
Beinahe hätte ich den tobenden Ge lüsten in mir nachgegeben, den Flam menstaub genutzt - und für meinen Tod gesorgt. Nein, so dachte ich voll Ingrimm, wenn es denn sein soll, dann auf dem. Boden dieser Welt. Stehend und mit jener Würde, die mir gebührt. * Ich ließ mir die Daten von Ende viermal - vorspielen. Nur allmählich sickerten die Informationen in meinen Geist ein. Der Planet war heiß, selbst für mei ne Bedürfnisse. Die Durchschnitts temperatur lag an den Polgegenden bei 35 Grad Celsius, in Äquatornähe sogar weit darüber. Dicke Wolkende cken, ständig von statischen Entla dungen erleuchtet, hingen über damp fenden Ozeanen, deren Wellen mit ei ner Höhe von zwanzig Metern oder mehr gegen karstiges Land schlugen. Die beiden Kontinente waren klein und von vulkanischer Tätigkeit in all ihren Ausprägungen beherrscht. In den Ozeanen hatte sich, so meinte zumindest die Syntronik der DYS 116, primitives Leben entwickelt, das in relativ kurzer Zeit, also nicht mehr als in ein paar zehntausend Jahren, das Festland erobern könnte. Der Atmosphäregehalt an Schwefel, Methan und Ammoniak würde mir das Atmen schwer machen. Ende befand sich mehr schlecht als recht in jenem schmalen biosphärischen Band, das Arkoniden ein Überleben erlaubte. »Es wird für meine Zwecke rei chen«, hustete ich. Das Tuch vor mei nem Mund färbte sich rot von Blut. Achtlos warf ich es beiseite. Der weiß eingepackte Planet und
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seine gelbe Sonne wirbelten heran, ohne dass ich sonderlich darauf achte te. Mein Zaqoor-Schiff gestaltete die Annäherung automatisch. Bis wir landeten, starrte ich untätig vor mich hin und bemühte mich, die chaotische, brodelnde Hexenküche in mir im Zaum zu halten. »Du kannst aussteigen«, sagte die Schiffssyntronik schließlich. »Wie soll ich mich weiter verhalten?« »Du wartest«, wies ich sie an, wäh rend ich meinen Schutzanzug über prüfte. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich kaum die notwendigen Handgriffe absolvieren konnte. »Wie lange soll ich warten?«, bohrte die DYS-116 mit der Langmut einer Maschine nach. »Bis ich wiederkehre.« »Und wenn du nicht zurückkommst?« »Du wartest.« Ich hatte keinen Plan, wie ich weiter mit dem Schiff verfah ren sollte. Meine Gedanken verwirrten sich. Es wollte mir keine vernünftige Anweisung einfallen. Ich stützte mich aus meinem Sessel hoch, blickte mich ein letztes Mal um und trat in die Schleuse. Die DYS-116 spuckte mich förmlich aus, als wollte sie mich nicht mehr an Bord haben, und ich tat einen ersten Schritt in die Hölle.
7. Lange Zeit beschäftigte sich Admal mit unterschiedlichstem Fransen werk. Seine genetischen Veranlagun gen machten ihn zum Allrounder, der in keinem Fachgebiet sonderlich gute Leistungen erbringen würde. Ein Großteil der Namibander ver
einte fachspezifisches Erbgut in sich, das ihn für einen bestimmten Ar beitsbereich prädestinierte. Oblohn Schwartenstein-aus-dem-Hauen zum Beispiel, ein schweigsamer und fast ausschließlich auf seine Tätigkeit kon zentrierter Strömungsleiter, »beerbte« mehr als zwanzig Väter, die dieselbe Tätigkeit ausübten oder ausgeübt hat ten. Er kam kaum zur Ruhe. Überall und nirgends war er anzutreffen, trieb im Genf umher, durchmaß den Wohnund Lebensbereich ihres Volkes mit kräftigen Fransenschlägen und er fühlte die Flüsse des Ee und des Hoa mit all seinen Sinnen. »Wann ruhst du dich jemals aus?«, fragte ihn Admal, als er Oblohn wäh rend einer seiner Routinewege ein Stückchen begleitete. »Ist nicht notwendig«, erwiderte der Strömungsleiter. Er flosselte währenddessen vorsichtig vor sich hin, schmeckte schnuppernd nach den Gravitationslinien und erschnüf felte etwaige Temperaturverände rungen. »Aber jedermann benötigt eine Er holungszeit. Sonst zerfällst du ir gendwann oder vergisst, dich zu ent laden.« »Zerfallen müssen wir alle«, kam die lakonische Antwort. »Und meine Arbeit muss getan werden. Wir sind ohnehin viel zu wenige.« Da war sie, die Unsicherheit. Das Gefühl, nicht vollständig zu sein und irgendwann einen Teil des Volkes ver loren zu haben. Admal spürte dasselbe ungreifbare Gefühl in sich selbst heranwachsen, während Oblohn diese bedrohlich klingenden Wörter aussprach. Sie waren früher mehr gewesen ...
Illustration: Harry Messerschmidt
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Die kollektive Erinnerung seiner Väter und Vorväter sprach an, erzählte vom »Tag der Zerfransung«. Als das komplizierte Höhlen- und Wohnsys tem aufgrund der Unachtsamkeit ei nes einzigen Tunnelmeisters in sich zusammengebrochen war. Tausende ihrer Landsleute waren damals umgekommen. Ein überra schender Erdstoß, dessen Entstehung nicht schnell genug gemeldet worden war, hatte Gänge zerstört und Kaver nen zum Einsturz gebracht. Den in der Folge aufgetretenen erbarmungslosen Starkströmungen waren vor allem die Unerfahrenen und Schwachen zum Opfer gefallen. Und letztendlich war die so genannte Große Tangente, der wichtigste Reisetunnel ihres komple xen Lebensraumes, in sich kollidiert. Seitdem fehlte Admals Volk die Zu gangsmöglichkeit zum »Bauch« des namibandischen Stadtlandes. Einem Teil ihres weitläufigen Siedlungsge bietes, in dem die heißen Quellen sprudelten, prickelndes Ee entsprang und die Felskrusten außerordentlich stabil waren. Vermutlich lebte dort auch heute noch ein Drittel aller Na mibander getrennt von ihnen. Sie wa ren in den kollektiven Erinnerungen Admals und seiner Landsleute nach wie vor präsent, aber sosehr er sich auch bemühte, er konnte nicht sagen, wie sie sich eigentlich anspürten. Und Spüren war das Wesentliche ihrer Zivilisation. »Wir werden sie wiederfinden«, franselte Admal seinem so schweigsa men Freund zu. »Das werden wir«, bestätigte Ob lohn ohne besonderen Nachdruck. »Wir werden dann ein Fest feiern, wie es das Volk noch nie erlebt hat.« Sie verabschiedeten sich voneinan
der. Admal ließ sich weitertreiben, ohne Weg und Ziel. Manchmal unter hielt er sich mit seinen Artgenossen, erkundigte sich, wie sie sich fühlten, fragte nach ihren Arbeiten. Er kom munizierte mit anderen Tunnelmeis tern, Raumschneidern, Strömungslei tern, Kantenwächtern, Regelwerkern, Genfspülern. Sie alle wirkten geschäf tig und völlig auf ihre Aufgaben kon zentriert. Was für ein Unterschied zu den Philosophen, die in ihren tiefen Höhlen schwebten und sich hinge bungsvoll theoretischen Erkenntnis sen widmeten! Hier, in den belebtes ten Gebieten, herrschte unglaubliche Hektik, die vollkommene Aufmerk samkeit erforderte. Admal horchte in sich hinein. Seine Sinne, seit geraumer Zeit vollends er wacht, erzeugten zwiespältige Gefüh le. Einerseits hätte er am liebsten gleich mit angepackt, um den fleißigen und arbeitsamen Männern zu den Fransen zu gehen. Andererseits zog es ihn in die Stille und relative Einsam keit der Denker und Lenker, um dort Entscheidendes zur Gesundung der Namibander beizutragen. Ja. Zur Gesundung. Denn jeder Ge danke, so hatte er mittlerweile festge stellt, drehte sich eigentlich um die Wiedervereinigung ihres Volkes. Es musste unbedingt eine Ausweichroute zur Großen Tangente gefunden wer den, um in den Bauch hinabzugelan gen. Sonst würden sie über kurz oder lang ihren Lebenswillen verlieren, hinauftreiben zur Großen Leere und dort ihr Leben kollektiv beenden. * »Du bist nicht sehr entschlussfreu dig«, stellte Girlian entschieden fest.
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»Seit Ewigkeiten schon flosseist du ohne Ziel umher und weißt nicht, wel che Arbeit du tun sollst. Und da ich nur wenig Zeit zur Verfügung habe, weiß ich, wie lange eine Ewigkeit an dauern kann.« »Ich bin das Produkt meiner El tern«, verteidigte sich Admal schwach. »Es zieht mich mal hierhin, mal dahin. Ich könnte zwanzig oder dreißig Beru fe ausüben - und in keinem besonders gut sein.« »Immerhin bist du im Zeitver schwenden meisterlich.« »Spar dir deine Scherze, Girlian! Ich weiß gar nicht, warum ich dein lä cherliches Gefransle auf Dauer erdul de.« »Weil du mir gehörst. Irgendwann einmal werden wir uns paaren. Ich freu mich schon darauf.« Admal schreckte vor der brutal ehr lichen Frau eine Fransenbreit zurück. »Du bist ... pervers«, teilte er ihr ent rüstet mit. »Wie kann man nur so offen von einer Vereinigung sprechen!« »Ich bin eine Frau. Eine Frau darf das.« Dies war eines der Totschlag-Argu mente, die Girlian im Laufe ihrer Zu sammenkünfte immer wieder und ger ne anwandte. Es gab einfach kein Bei kommen. Mit ihrer naturgegebenen Sonderstellung hob sie sich ab. Nie mals verließ sie die heißen Diskussio nen als Verliererin. Admal wechselte abrupt das Thema. »Du bist eigentlich die einzige Frau, der ich jemals begegnet bin. Wo sind denn die anderen?« »Ach - die sind alle ganz schön be gaselt.« Mit rollenden Bewegungen ih rer Randfransen zeigte Girlian ihren Widerwillen, während sie weiter sprach. »Es gibt ohnehin nicht allzu
viele von uns, und wir gehen uns so weit wie möglich aus dem Weg. Außer dem habe ich eh nie Zeit für einen Plausch.« »Wenn sie dich meiden, dann wun dert mich das nicht. Dennoch: Ich bin wahrscheinlich mehr als du in allen Teilen des Stadtlandes unterwegs, und ich hätte längst eine deiner Ge schlechtsgenossinnen treffen müssen.« »Deine Sinne sind offensichtlich derart schlecht ausgeprägt, dass du sie selbst nicht bemerktest, wenn sie dich im Doppelpack mit sich nähmen.« »Und warum erkenne ich dich dann fünfzig Sabis gegen die Strömung? Gibst du damit zu, dass du stinkst?« Girlian fasste ihn fest, fast schmerz haft an und stieß ihn entrüstet eine Körperlänge von sich. »Kein Feingefühl habt ihr Männer! Es ist mit euch allen dasselbe! Muss man dir und deinen hohlgasigen Art genossen denn alles genau erklären, bevor ihr kapiert?« »Wie? Ich verstehe nicht. Was hab ich denn gesagt ...?« »Ach - vergiss es! Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich dir eine Lektion erteilen, dass dir Riechen und Fran sein verginge.« »Verdammt - jetzt sei doch nicht so! Woher soll ich denn das alles wissen? In den Erinnerungen meiner Väter gibt es kaum Informationen über euch Frauen. Es ist, als wärt ihr bloß Geis ter, die für eine Zeit lang das Leben eines jeden Mannes teilen und schließ lich irgendwann spurlos verschwin den.« Girlian ließ ihre Fransen schlaff hängen und bewegte sich lediglich müde gegen den sanften Strom des et was zu kühlen Ee. Schließlich raffte sie sich doch zu
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einer Antwort auf. Admal konnte spü ren, wie schwer es ihr fiel. »Du weißt gar nicht, wie nahe du der Wahrheit kommst, du lecker Gas blaserich. Vorerst sag ich dir nur so viel: Du wirst niemals in deinem Le ben einer anderen Frau begegnen. Ich habe dich als mein Eigentum mar kiert. Niemand darf dich mir abspens tig machen.« * Die Große Tangente war lange Zeit eine Baustelle gewesen, in der man vergeblich versucht hatte, einen neu erlichen Durchbruch zum Bauch zu schaffen. Doch jegliche Hoffnung war vergebens gewesen. Nicht nur der rie sige Tunnel an sich war zusammenge brochen. In diesem thermisch und bruchtechnisch hochaktiven Teil des Stadtlandes war kein Stein auf dem anderen geblieben. Die Strömungen hatten sich ebenso verändert wie die Struktur des Gesteins, die Kraftlinien, Geschmack und Geruch der Felsen. Admal fühlte sich wie auch alle ande ren Namibander in diesem Grenzbe reich von seinen Sinnen überfordert. Er durfte nicht allzu lange hier blei ben. Seine Empfindungen spielten ihm sonst gefährliche Streiche. Mehr als einmal war er Hunderte Sabis entfernt wieder zu sich gekommen, voll gefüllt mit schwärendem Gas und instinktiv in abwehrender Position zusammen gerollt. Dies hier war lebensgefährdendes Gebiet, in dem es einfach kein Vor wärtskommen mehr gab. Immer wieder probierten es Ar beitstrupps, stürzten sich in größeren Gruppen und mit fatalistischem To desmut in den nur noch rudimentär
vorhandenen Tunnel. Viele kamen nicht mehr zurück, noch mehr wurden wahnsinnig und zuckten nunmehr in abgesonderten Höhlen sinnlos vor sich hin. »Es muss einen anderen Weg ge ben«, behauptete Admal während ei ner der unzähligen Besprechungen, denen er sich anschloss. »Wir dürfen nicht immer wieder stur dasselbe ver suchen. Suchen wir nach Alternati ven ...« »Und wie, bitte schön?«, fragte ein Namibander, der im Verbundteppich anonym bleiben wollte. »Wir spüren es doch alle, dass es hinter der Großen Tangente weitergeht. Nur, sobald wir uns dem ... dem ... eingestürzten Stück nähern, versagen uns die Sinne den Dienst. Ich behaupte, dass wir uns le diglich in der Masse einen Weg hin durchgraben können. Es muss eine Anstrengung des gesamten Volkes sein. Hunderte, Tausende, ja Zehntau sende müssen sich versammeln, zu al lem entschlossen; dann beginnen wir zu bohren und zu graben, schieben die Unentschlossenen und Verwirrten nach vorne, bis wir das Ziel erreicht haben ...« »Was du da forderst, kommt einem Massenmord gleich!«, franselte Ad mal erschrocken zurück. »Es wäre auch nichts gewonnen. Mir graut vor der Vorstellung, dass wir die wahn sinnig Gewordenen vor uns hertrei ben, in das Tote Gebiet hinein, und von ihnen erwarten, dass sie graben und wühlen. Das kann nicht dein Ernst sein!« Er erhielt keine Antwort. Nervöse Spannung machte sich im Diskussi onsteppich breit. Das Thema war be reits zu oft durchdiskutiert worden. Nicht nur von Admal und den hier An
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wesenden, sondern auch von unzähli gen Generationen davor. Wir sind beschränkt, dachte Admal verärgert und erschrocken zugleich. Es fällt uns schwer, neue Wege einzu schlagen. Wir erledigen zeitlebens Routinearbeiten, entwickeln aber außer auf den Gebieten philosophi schen Denkens - kaum neue Ideen. Was ist es nur, das uns fehlt? Mir ist, als könnte ich die Lösung jeden Mo ment greifen - und dann gleitet sie mir doch zwischen den Fransen hin durch ... Admal löste sich aus dem Teppich und ließ sich zum Gasablassen zur Großen Leere hinauftragen. Die Strö mungen waren günstig um diese Zeit. Die Höhlenwächter signalisierten we nig Unruhe im Ee, er kam zügig vor wärts. »Immer wenn ich keine Zeit habe, läufst du mir über den Weg«, vermit telte eine bekannte Gestalt. Girlian hielt sich an ihm fest. Ge nüsslich ließ sie sich von ihm weiter ziehen. Er hasste das, und sie wusste es. »Es ist eine schöne Zeit, nicht wahr? Ich habe das Treibenlassen selten so genossen wie jetzt. Das Ee, es fühlt sich so weich, so sanft an ... Ich würde mich am liebsten jetzt gleich paaren.« »Bist du verrückt geworden?« Er schrocken faltete er seinen Leib zu sammen und schob ihre Fühlfransen so weit wie möglich von sich. »Ich habe momentan ganz andere Sorgen als deine Fortpflanzungsbegierden. Schlag dir das gefälligst aus deinen schmutzigen Gedanken!« »Benimm dich nicht so zickig, mein Bester! War ja nur ein kleiner Scherz. Aber du solltest darauf gefasst sein, dass der Moment, da ich nach dir und
den anderen verlange, jederzeit kom men kann. Glaub mir - ihr Männer habt keinerlei Einfluss darauf, wann und wo ich will.« »Warum willst du mich unbedingt bei deiner Fortpflanzungskette dabei haben?«, fragte Admal, während er verzweifelt versuchte, der Umklam merung Girlians zu entkommen. »Ich bin jung. Ich habe wenig Erfahrung. Ich habe keine Ahnung, was einmal aus mir wird. Was willst du also mit mir anfangen?« »Du hast Großes in dir«, franselte sie sanft, aber unbarmherzig. »Ich spüre, dass du unser aller Leben be einflussen kannst. Und wenn es so weit ist, werde ich an deiner Seite sein.« Sosehr sich Admal auch wehrte - sie bewegte sich wesentlich geschickter als er durch das Genf und blieb stets auf seiner Höhe. »Ich werde dich nie verstehen«, blubberte er überfüllt, während er in eine kleine Zwischenhöhle trieb. Die Nahrungsgase machten sich unange nehm in ihm bemerkbar. Der Entla dungsprozess an der Großen Leere war keine Sache, die man von einem Moment zum anderen perfekt be herrschte. Nach wie vor schied er un mäßig und unkontrolliert aus, so dass er meist für eine halbe Epse in Einzel teile zerlegt blieb. Insgeheim war es Admal nicht un recht, Girlian an seiner Seite zu wis sen. Sie konnte ihm vielleicht bei einer rascheren Zusammensetzung helfen. »Ich gebe dir einen Vorgeschmack, wie es sein wird, dich mit mir zu ver binden«, sagte sie plötzlich mit einer erschreckenden Mischung aus Zärt lichkeit und Gier. Sie legte sich zur Gänze an seine empfindliche Untersei
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te, streichelte und kitzelte ihn, wäh rend sein Drang zur Entladung immer größer wurde. »Lass es bleiben!« Mit aller Kraft versuchte er, sich von ihr zu lösen, ih rer Umarmung zu entkommen - und schaffte es nicht. Ihre Berührungen sprachen Empfindungen an, die tief in ihm steckten. Wunderfransige, grau envolle, herrliche, erschreckende, Pa nik erzeugende Gefühle. Admal blieb steinstarr und ließ es geschehen. Es traf ihn wie ein Schock. Er war bislang ... nicht ganz gewesen! Erst durch Girlians Berührungen wurde er in eine neue Welt gehievt, die nichts mehr mit dem Einerlei des Genf zu tun hatte. Sie war so bunt und so schil lernd, dass er sich am liebsten auf die doppelte Länge ausgestreckt hätte und ... »Na - wie fühlt sich das an?« »Nicht aufhören!«, bettelte er und presste ihren Leib fest an sich. »Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Es ist so schön, dass es schmerzt.« »Nicht wahr? Schade, dass ich nicht mehr Zeit habe ...« »Bleib doch! Bitte!« Vergeblich kämpfte sein schmerzhaft aufgebläh ter Körper gegen den ihren an. Sie lös te sich von ihm. Girlian bewegte sich geschickter als jeder andere Namiban der, dem er jemals begegnet war. Bin nen weniger Augenblicke hatte sie sich befreit. Lediglich Duft und Ge schmack nach unglaublicher Hitze blieben an ihm haften. »Ich habe gesagt, dass ich dir nur einen Vorgeschmack geben werde. Kannst du dir vorstellen, wie es sich bei einer richtigen Kettenvereinigung anfühlen wird?« »Wann willst du es machen? Sag mir,
dass es bald sein wird. Du willst es doch auch, das kann ich spüren. War um sollen wir warten?« Erneut wehrte sie seine begierig ausgestreckten Fransen ab und zog sich noch weiter zurück. Nur die längs ten Spitzen ihres Körpers berührten ihn nun. »Geduld. Irgendwann kommt der richtige Moment.« Schwer unter drückte Sehnsucht klang in ihren Be rührungen mit. »Ich ... ich weiß auch nicht, wann es so weit sein wird. Es liegt außerhalb meiner Kontrolle.« Eine letzte flüchtige Berührung, sanft und zärtlich, und fort war sie. Girlian, seine Frau. Girlian, die Wundervolle. * Zeit verging. Admals Erfahrungs schatz wuchs weiter an. Es stand für ihn fest, dass er weder für körperliche Tätigkeit noch für trockene Denkar beit geeignet war. Er kümmerte sich nicht weiter um die Stimmen, die ihn mittlerweile als »unnützen Tauge nichts« titulierten. Keinesfalls wollte er sich drängeln lassen. Stattdessen tauchte er überall und nirgends auf, Stets unruhig und quirlig - und meist mit einer Vielzahl lästiger Fragen im Gepäck. Einige Namibander hassten ihn auf grund seiner Beharrlichkeit. Admal ignorierte sie. Ein Teppich voll Ge dankenfransen hatte sich in ihm ge sammelt. Dies war Wissen, das er aus allen Höhlen und Kavernen zusam mengetragen hatte und das irgend wann einen Sinn ergeben würde. Er musste nur noch in Erfahrung bringen, welchen. Das Grübeln und Sinnieren fiel ihm manchmal gehörig schwer. Girlian
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ging ihm nur selten aus dem Sinn. Sei ne Fransenspitzen waren bis zum Gehtnichtmehr angespannt, wenn er nur an sie dachte. Jede Begegnung mit seiner Frau war von Hoffen und Ban gen geprägt. Irgendwann musste es doch endlich so weit sein, dass sie eine Befruchtungskette befahl! »Sie fränselt uns!«, behauptete Ob lohn Schwartenstein-aus-dem-Hauen, der mittlerweile zu seinem kleinen Freundeskreis zählte. Und, wie das Schicksal so spielte, gemeinsam mit 18 weiteren Namibandern zu Girlians Auserwählten gehörte. »Natürlich tut sie das«, klagte Ad mal. »Ich verstehe bloß nicht, warum wir uns ihr nicht entziehen können. Ich habe sogar eine Radikalkur aus probiert, um sie zu vergessen. Eine Epse lang habe ich mich gegen HoaFels geschmissen, immer wieder, bis jede einzelne Franse schmerzte.« »Und?« »Fehlanzeige. Ich konnte mich ep senlang nicht bewegen, aber in meinen Gedanken sah ich, wie sie mich strei chelte und versorgte.« »Ein verfluchtes Weib ist das! So hartnäckig, dass sie uns nicht einmal in unseren Träumen alleine lässt.« »Ich hasse sie!« »Ich auch.« Sie schwiegen lange und trieben reglos nebeneinander her, bis sie Ob lohns neueste Arbeitsstätte erreicht hatten. »Wann siehst du Girlian wieder?«, fragte Admal schließlich. »Hoffentlich nach meiner Schicht.« »So ein verfluchtes Weib.« »Ja. Verflucht ist sie.« Admal ließ seinen Kumpan alleine und trieb ohne Sinn und Zweck da von. Er gab sich den Strömungen hin,
genoss kleine Verwirbelungen und musste nur gelegentlich größeren Hoa-Brocken ausweichen. Seit gerau mer Zeit war das Genf besonders friedlich. So ruhig, dass die erfahre nen Strömungsbeobachter bereits ner vös wurden. Ein schmäler werdender Strom zog ihn durch eine Kette enger Kavernen, die lediglich als Durchgänge dienten. Hier war kein Platz für Behausungen oder Ruhestätten. Mehrere Namiban der eines Arbeitstrupps hielten sich beharrlich an den Felsseiten fest und klaubten unbeeindruckt von der hefti gen Strömung Brocken aus den Wän den. Drei kräftig gebaute Männer zo gen das Gestein an ihren Leib und lie ßen sich davontreiben, hinauf zur Großen Leere, wo sie es entsorgten. So würde hier in absehbarer Zeit ein breiter, bequemer Durchfluss entste hen, in dem vier oder fünf Nami bander nebeneinander dahinflosseln konnten. Admal passierte geschickt die schmale Stelle, ohne sich den Körper anzuschlagen. Gleich dahinter gabelte sich die Strömung. Ee führte tiefer hinab. Dorthin, wo Hunderte Ruheka vernen müde Arbeiter aufnahmen, um sie nach ein oder zwei Epsen der Ent spannung wieder auszuspucken. Admal nahm den anderen, unsaube ren Weg. Hoa-Brocken, scharf und kantig, kamen ihm träge entgegen. Mit kräftigem Körperschlag musste er ge gen mehrere Wirbel ankämpfen. Hier war er noch nie gewesen. In Gedanken versunken reiste er da hin. Nur beiläufig registrierte er, dass der Strom der Namibander immer ge ringer wurde und schließlich endete. Erschrocken blieb er stehen. Die magnetischen Kraftlinien hat
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ten fast vollends nachgelassen! Nur noch ein Hauch war von ihnen zu spü ren. Beängstigend wenig und gerade so viel, dass er seine Orientierung be hielt. »Furchterregend, nicht wahr?« Erschrocken zog er seinen Körper zusammen. »Was hast du hier zu suchen, Girli an?«, fragte er nach geraumer Zeit. Teilweise verärgert, teilweise glück lich; wie immer, wenn er mit seiner Frau allein sein durfte. »Ich komme oft hierher«, gab sie knapp zur Antwort. »Man nennt die ses Gebiet das ›Ruheland‹. Ich genieße die Treibstille, der man hier ausgesetzt ist.« »Ich dachte, du hättest keine Zeit für Vergnügungen?« »Die Ruhe ist schrecklich, und den noch gibt es nichts Schöneres als die sen Ort«, fuhr sie fort, ohne auf seine Worte einzugehen. »Die Erinnerung einer meiner Vorfahren hat mir den Weg hierher gezeigt.« Sie drehte sich scheinbar willkürlich im Kreis und zog ihn dabei mit sich. Admal wirbelte hilflos umher, berührte glatten Fels, geriet in unterschiedlichste Hitzeströ mungen. »Hör auf!« Er drückte sich, so fest er konnte, gegen ihren Leib. Panisch löste er eine Informationsfranse und drück te sie ihr entgegen. Es war dies ein Hilfeschrei, eindringlich und nicht zu überspüren. Endlich ließ sie ihn los. Admal fühl te sich davongeschleudert, ins Nichts hinein, in dem es kein Oben und Unten gab. Keine Kraftlinien, keine Anzie hung in irgendeine Richtung, keine unterschiedlichen Geschmäcker. Was hatte die Wahnsinnige getan? Er verlor die Orientierung, griff ver
gebens nach allen Richtungen, sand te weitere Informationsflecken und -fransen aus in der Hoffnung, dass ei ner davon Girlian treffen würde ... Admal prallte auf Fels, glatt und griffig. Er erinnerte ihn an eine andere Stelle des Stadtlandes. Girlian packte ihn plötzlich und setzte seinen unkontrollierten Treib bewegungen mit mehreren ruhigen Griffen ein Ende. »Ist schon gut, Ad mal, ich bin ja da.« Die Panik hielt ihn fest im Griff. »Wir werden hier sterben! Ich spüre nichts mehr; wir sind im Bodenlosen. Ist dies etwa die Große Leere? So tu doch etwas, du verrücktes Weibsstück ...« »Ganz ruhig.« Ihre Fransen wurden steinhart, als sie ihn mit sich zerrte. »Ich weiß, was zu tun ist.« Unter Schmerzen befolgte er ihren Rat. Er ließ seinen Körper hängen und hoffte, dass Girlian tatsächlich wuss te, wie sie vorzugehen hatte. Nach geraumer Zeit kehrten Ad mals Sinne zurück. Schwach und vage fühlte er Kraftlinien. Sie gaben ihm ein ausreichendes Gefühl der Sicher heit und beruhigten seine aufgebrach ten Nerven. Girlian ließ ihn behutsam los. Er stieß sich ab und ertastete eine kantige Felsformation, die schmerzend über seine Oberfläche rieb. Doch diese Pein war immer noch besser als das Be wusstsein, der Unberechenbarkeit sei ner Frau ausgesetzt zu sein. »Was hast du dir bloß dabei ge dacht?«, fuhr er sie wütend an, als sie sich schließlich näherte. »Es tut mir Leid«, franselte sie schuldbewusst zurück. »Ich dachte, du würdest die Kraftlinien noch spüren.« »Mitten im Nichts? Machst du Scherze?«
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»Nein. Ich vergaß, dass ihr Männer bei weitem nicht so empfindlich seid wie ich.« »Du kannst mir nicht weismachen, dass du dort draußen noch wusstest, wo vorne, hinten, oben oder unten war!« Girlian trieb ihn mit ihren Angebe reien noch in den Wahnsinn! »Die Kräfte sind hier schwächer, das stimmt«, gab sie unumwunden zu. »Aber ich habe keineswegs die Orien tierung verloren.« »Das glaube ich dir nicht!« »Ich bin eine Frau«, empörte sie sich. »Glaubst du denn, wir sind ledig lich dazu da, um mit euch Nachkom men zu zeugen?« »Na ja ... öhm ... eigentlich ...« »Oh, du stumpfster aller Hoa-Bro cken!« Peitschend hieb sie ihm über den Mittelteil seines Leibs, so dass es ihn beinahe erneut fortriss. »In uns steckt viel mehr als ein paar Pheromo ne, Hormone oder sexuelle Begierde; das lass dir ein für alle Mal gesagt sein.« »Da hast du Recht«, schnappte er, nach wie vor außer sich. »Darüber hinaus kommst du wie eine Naturka tastrophe über uns Männer. Jedes Mal, wenn wir beide zusammentreffen, bringst du mich so in Rage, dass ich nicht mehr weiß, wie ich heiße. Und ich habe mir sagen lassen, dass es auch anderen so geht.« »Jetzt hör einmal zu, du zerflauster Flatterteppich! Ohne mich hättest du das Stadtland gar nicht richtig ken nen gelernt. Sei dankbar, dass ich dich ab und zu anstupse und dir den richtigen Weg in deiner Entwicklung zeige.« »Du hast mich also in die Mitte ei nes riesengroßen Nichts geschmissen,
damit ich ›meine Fähigkeiten entfal ten kann‹? Nein danke - auf diese Hil festellung kann ich gut und gerne ver zichten. Die Breiten Höhlen mögen zusammenbrechen, bevor ich noch einmal mit dir zusammentreffen will, du ... du ...« Und ein fernes Grollen, unheilbrin gend heftig am und im Fels zu spüren, kündete davon, dass die Breiten Höh len tatsächlich einbrachen. 8. Ich entfernte mich so rasch wie möglich von der DYS-116. Ungedul dig wartete ich die zusätzliche Über prüfung meines Schutzanzuges ab, be vor ich den golden beschichteten Helm nach hinten schob und die Luft des Planeten einatmete. Gleich darauf wünschte ich, es nicht getan zu haben! Glühend heiße Luft, stickig und feucht, strich über mein Gesicht. Sie stank bestialisch nach Schwefel und scharfem Reinigungsmittel; ätzender Geschmack sammelte sich augen blicklich in meinem Mundraum. Ich musste flach und rasch atmen, um aus reichend Sauerstoff in meine Lungen pumpen zu können. Alles eine Sache der Gewöhnung, sagte ich mir und blieb stehen. Die Umstellung dauert sicherlich nur ein paar Minuten. Ich nahm mir die Zeit. Keinesfalls wollte ich mit geschlossenem Raum anzug über Ende stiefeln. Tatsächlich beruhigte sich meine Atmung nach geraumer Zeit. Arkoni den sind schließlich für ihre Anpas sungsfähigkeit bekannt. Der unge wohnt niedrige Luftdruck bereitete
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mir bald keine Probleme mehr; den üblen Gestank hatte ich noch viel schneller vergessen. Erstmals blickte ich mich bewusst um. Die DYS-116 hatte mich auf einer kleinen Landzunge abgesetzt. Wenige hundert Meter entfernt brachen ge waltige Wasserkämme über dunkle Felsen. Der stürmische Wind aus Mee resrichtung führte nicht den erwarte ten Geschmack nach Salz mit sich. Vielmehr vermeinte ich, Ozon zu rie chen - was natürlich Unsinn war. Bes tenfalls waren es meine oxidierten Na senschleimhäute, die von dem hochre aktiven Gas über alle Maße gereizt wurden. Hundertfach verästelte Blitze schlu gen gegen den dunkelroten Hinter grund ins Wasser. Die hochstehende Sonne war nur anhand einer etwas helleren Wolkenbank zu erkennen. Wahrscheinlich durchdrang sie den Nebel nur in den seltensten Fällen. »Wo hast du mich abgesetzt?«, frag te ich über Funk die DYS-116. Ich un terdrückte einen Fluch über mein Fehlverhalten. Dies und viele andere Fragen zu den Bedingungen auf Ende gingen mir erst jetzt, viel zu spät, durch den Kopf. Routinen, die mir über Jahrtausende in Fleisch und Blut übergegangen waren, hatten nicht ge griffen. »Eintausend Kilometer südlich des magnetischen Nordpols«, meldete sich der Schiffssyntron. »Ich achtete dar auf, dass die Umweltbedingungen für deinen Metabolismus noch einigerma ßen verträglich sind.« Ja. Einigermaßen war das richtige Wort. Ich spuckte ätzend schmecken den Schleim auf den Boden. »Brauchst du Unterstützung?«, frag
te die DYS-116 nach. Mir schien, als klänge die Stimme lauernd. »Nein!«, krächzte ich ins Mikrofeld. »Du wartest gefälligst ab.« »Ich verstehe nicht ganz, auf was ich warten soll.« »Du wirst schon sehen!« Mit einem schwachen Hieb auf mein Handgelenk unterbrach ich die Verbindung. Es dauerte wiederum einige Sekun den, bis ich meine Atmung unter Kon trolle bekam. Jede körperliche An strengung zehrte an meinen Kraftre serven. Ein besonders kräftiger Brecher des dunklen, gischtenden Wassers fegte brüllend über die Felsbank hinweg, auf der ich stand. Für mich bestand zunächst keine Gefahr. Der Schutzan zug würde mich selbsttätig in Sicher heit bringen, sobald ich nicht ausrei chend auf eine Bedrohung reagierte. Das Wasser umspülte meine Beine. Es trieb schleimige Pflanzen- oder Al genreste mit sich. »Wassertemperatur 36 Grad Celsi us«, meldete die Positronik des Schutzanzugs. »Hoher Metallgehalt, hoher Ozon- und Sauerstoffgehalt, wenige gelöste Salze. Es ist nicht rat sam, größere Mengen der Flüssigkeit zu trinken.« Es war mir klar, dass die hohen Temperaturen von massiver untersee ischer Vulkanaktivität verursacht wurden. Nicht weit voraus blubberte es an der Wasseroberfläche. Ein gelb lich roter Schaumteppich verteilte sich dort gleichmäßig über die dicke Wassersoße. Immer wieder wurden glühende Gesteinsbrocken mehrere Meter hoch in die Luft geschleudert, um bald darauf zischend zu versinken. Ein weiterer Wasserstoß schwappte auf mich zu, reichte rasch bis zum
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Knie. Das Wasser drang fast bis zur DYS-116 vor, bevor es sich wieder zu rückzog. Die Strömung zerrte unbe stimmt an meinen Beinen, als wollte sie mich davor warnen, hier allzu lan ge zu verweilen. Der Hustenanfall kam plötzlich, fast überfallartig. Ich krümmte mich, fiel auf die Knie, war plötzlich bis über den Hintern mit schäumendem Wasser bedeckt. Meine Lungen brann ten, während ich mir speiend Erleich terung verschaffte. Schmerz im Schlä fenbereich setzte mir zusätzlich zu. Ich spürte den leichten Einstich schmerz an der Pobacke und fühlte mich plötzlich hochgehoben. Der im Kragen eingerollte Helmwulst zog sich sekundenschnell nach vorne. Au genblicklich atmete ich sauberen, herrlich schmeckenden Sauerstoff. Mein Metabolismus reagierte auf die Schmerzspritze. Auch wenn sich mei ne körperliche Befindlichkeit nur für kurze Zeit verbessern würde, genoss ich es in vollen Zügen. Moment mal ... so hatte ich es nicht gewollt! Die Anzugpositronik reagierte ge mäß ihren Befehlen. Sie wollte mein Leben unter keinen Umständen ge fährdet sehen. Doch die Hilfe des An zugs störte mich bei meinem Unter fangen, so unvernünftig dies auch klang. Aus einer Höhe von fünfzig oder sechzig Metern blickte ich hinab auf den Ozean. An mehreren Stellen blub berte und kochte es. Überall schien Bewegung zu sein. Primitives Leben mochte dort unten gegen die elemen taren Gewalten ankämpfen. Protozel len, Bakterien oder bereits höher ent wickelte Organismen. Vielleicht war teten auch schon Gastropoden und
Cephalopoden gut versteckt auf ihre Chance. Sie lauerten, um irgendwann, wenn sich die Meere einigermaßen be ruhigt hatten, das Wasser zu verlassen und sich aufs Land vorzutasten. Die Analyse der DYS-116, dass es nur noch wenige tausend Jahre bis da hin dauern würde, erschien mir sehr gewagt. Seltsam schien lediglich, dass die Flora für die hiesigen Verhältnisse außerordentlich weit und gut entwi ckelt war. Über den Ozean schwapp ten breite Algenteppiche, an Land war teten riesige Urwaldflächen darauf, von der Tierwelt erobert zu werden. Ich seufzte. Die Entwicklung des Lebens ging stets mit der Langmut von Mutter Na tur vor sich. Nur in verhältnismäßig wenigen Fällen griffen so genannte Höhere Mächte in dieses Spiel ein und streuten nach vorherbestimmten Plä nen lebensbringende Sporen über Pla neten aus. Wer wusste schon, wer hier wann seine Spuren hinterlassen hatte? Angewidert schüttelte ich meinen Kopf. Selbst jetzt, da ich eigentlich um mein Leben kämpfen sollte, lenk ten mich Gedanken an kosmische Zu sammenhänge ab. Ich übernahm die Kontrolle über die Flugaggregate und steuerte weiter landeinwärts. Der Schutzanzug ließ mich gewähren. Offensichtlich lag die Kurve meiner Vitalimpulse derzeit im Plus. Der Ozean, der sich von hier oben wie ein apokalyptisches Durcheinan der verschiedener Rot-, Blau- und Grüntöne präsentierte, aus dem La byrinthe an unterseeischen Felsgra ten und -nadeln hervorstachen, ver schwand rasch aus meinem Gesichts feld. Auch die DYS-116 blieb hinter mir. Mit weniger als dreißig Stunden
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kilometern flog ich an dampfenden Seen, abgerundeten Felsbänken und steil hochragenden Gesteinsformen vorbei. Es war eine Flucht, nichts anderes. Ich wollte das Zaqoor-Beiboot einfach nicht mehr sehen, wollte meinen Frie den haben. Ich durfte an nichts ande res mehr denken als mein Innerstes. An den Kampf, den ich auszufechten hatte. Der Plan, wie ich dem Flam menstaub beizukommen gedachte, stand. Und dafür benötigte ich alle Ruhe dieser Welt. Das Mittel ließ nach. Es sollten dies die letzten schmerzfreien Minuten meines Lebens gewesen sein. * Ich wanderte über eine weite Ebene. Sie war von bizarr spitzen Felsnasen durchbrochen, die scheinbar vom Wind in eine Richtung gebeugt wor den waren. Wie erstarrte Krieger rag ten sie in den Himmel und warfen wei che, konturlose Schatten. Es dämmerte. Die wenigen Sonnen strahlen, die den Boden erreichten, färbten das Land rot und braun. Trugbilder narrten mich, erzeugt vom Flammenstaub. Ich sah doppelt oder dreifach. Schattierungen lösten sich scheinbar von meinem Körper. Als entfernten sich sterbende Wahr scheinlichkeiten von mir. Ratten, die das sinkende Schiff verließen. Ich lachte. Meine Stimme klang dünn und schrill in dieser Atmosphä re. Wo war der Extrasinn geblieben? In diesen Stunden benötigte ich ihn mehr als jemals zuvor. Es war mir, als verlöre mein Körper an Konsistenz. Alles fühlte sich selt
sam weich und nachgiebig an. Der Schutzanzug hingegen, der mich um gab, war hart und spröde. Er passte nicht mehr zu mir. »Weg damit!«, schrie ich, und schlüpfte hastig daraus hervor. Die wenigen, normalerweise so vertrauten Handgriffe wollten mir einfach nicht gelingen. Ich zog, nestelte und zerrte, kämpfte gegen den ungewöhnlichen Widerstand an. Ein akustisches Signal erklang. Ich ignorierte das Geplapper der Positro nik. Sie wollte mich »vor weiteren Ge fahren warnen«, sprach von »Unver antwortlichkeit«, »Delirium« und »tendenzieller Unzurechnungsfähig keit«. Sämtliche Einwände ignorierend, musste ich mehrmals nachjustieren, bis ich endlich die erforderliche Be fehlsfolge in das Multigerät am linken Unterarm eingegeben hatte. Augen blicklich endete das nervige Gequäke. Wie eine tote Haut hing der Anzug nun an mir. Ich zog mir diese Haut vom Leib und ließ sie achtlos liegen. Die letzte Verbindung zu meinem früheren Le ben war somit gekappt. Ein einzelner vernünftiger Gedanke befreite sich aus dem Chaos meiner Empfindungen. Du weißt nicht mehr, was du tust!, warnte die Stimme meines früheren, rationalen Ichs. Und ob ich das weiß!, gab ich mir selbst zur Antwort. Ich werde den Teu fel mit dem Beelzebub austreiben. Ich stolperte und taumelte weiter. Weg, nur weg von allem, was mich an meine Vergangenheit erinnerte. Ich konnte kaum noch etwas erkennen. Nein - es war keine Beeinträchtigung meiner Sehnerven; vielmehr sah ich
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zu gut! Jedes kleinste Detail, das ich erblickte, jeder Stein, jeder Wasser tropfen, jede kristalline Form zerfiel augenblicklich in Fraktale. Die Bil der teilten und teilten sich bis auf die molekulare Ebene hinab. So in etwa muss uns eine Superintelligenz oder ein Kosmokrat wahrnehmen, flüsterte eine bösartige Stimme im Hinter grund meines Seins. Unbedeutend und klein, jenseits jeglichen bewuss ten Sinngehalts, aber dennoch gesto chen scharf. Eine Idee kam mir in den Sinn; irr sinnig, aber faszinierend. Was wäre, wenn ich zurück zum Ozean marschierte und mich einfach hineinfallen ließ? Ich brauchte ledig lich den Mund weit zu öffnen und zu schlucken, schlucken, schlucken ... Mein Körper, von Parasiten in gro ßen Mengen befallen, würde in seine Bestandteile zerfallen. Irgendwo im Himmel mochte das Bild einer Spiral galaxis aufleuchten, zum Zeichen da für, dass ein Zellaktivator-Träger ge storben wäre. Und im Meer, tief drunten, dort, wo mein Leib zerfiel, würde neues Leben entstehen. Aus totem Zellgewebe wür den neue Kulturen und Verbindungen werden. Vielleicht hatte Ende auf mich ge wartet? Möglicherweise war ich jener Katalysator oder jener Samen, aus dem irgendwann einmal intelligentes Dasein entspringen würde? Ein Volk, aus einem Arkoniden geboren ... Das Lachen kam genauso stoßweise wie mein Atem. Die Bewegungen schmerzten immer mehr, seitdem die Unterstützung durch den Schutzan zug weggefallen war. Ich sollte mich ein wenig ausruhen. Vielleicht für ein paar Minuten hinlegen und darüber
nachdenken, was ich hier eigentlich wollte. Ich plumpste zu Boden. Drei oder vier Blitze zuckten über den Horizont, während ich die dahinziehenden Wol ken betrachtete. Regen begann auf mich niederzuprasseln. Er schmeckte furchtbar bitter. Ich hasste ihn. Der Boden fühlte sich viel zu warm an. Ich hasste ihn ebenfalls. Ich machte, dass er nicht mehr so heiß war. Ich kühlte ihn ab. Weil. Ich. Es. Konnte. 9. »Die Breiten Höhlen!« Admals Fransen rollten sich vor Schreck ein. Mühsam unterdrückte er ein Körper flattern. »Ich kann es auch spüren!« Girlian legte sich über seinen Körper. Mehrere unmotiviert aus ihrem Körper losge löste Fransenbotschaften trafen ihn schmerzhaft. Sie wirkte nervöser, als er sie jemals erlebt hatte. »Ich muss hin!« Admal kümmerte sich nicht weiter um die Frau. Plötzlich waren ihr Geruch und ihre Lockstoffe, mit denen sie ihn sonst zu verwirren wusste, nebensächlich ge worden. Eine Katastrophe bahnte sich an, wie sie schlimmer nicht sein konn te. Die Breiten Höhlen machten mehr als 30 Prozent ihres gesamten Lebens raumes aus. Wenn dort die ihnen so gewohnte Ordnung verloren ging, sich die Kraftlinien veränderten und die Höhlen gar einbrachen, würde dies unabsehbare Folgen für die Namiban der haben. »Was können wir tun?«, fragte Girli
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an, die ihm mit spürbarer Verwirrung folgte. »Wir sollten uns fern halten. Es gibt Spezialisten für Aufräumarbeiten nach Unfällen.« »Spezialisten - ja!«, gab Admal kurz angebunden zur Antwort. »Aber nie mand macht sich die Mühe, die Dinge miteinander zu verknüpfen.« Er ließ die Botschaften über seine Außenfran sen schwappen. Ganz ruhig und schwach, eigentlich für sich selbst und nicht für Girlian bestimmt. »Ursache und Wirkung«, setzte er grüblerisch hinzu. »Wirkung und Ursache.« »Ich verstehe nicht.« »Ich auch noch nicht. Aber ich weiß, dass ich in die Breiten Höhlen muss.« Tatsächlich war es ein besonderer Drang, der ihn nach oben trieb. Druck baute sich in seinem Leib auf, durch aus vergleichbar mit einer besonders heftigen und schmerzhaften Gasblase - und doch ganz anders. Admal fühlte, dass er gebraucht wurde. Er flosselte sich mit all seiner Ge schicklichkeit durch Ee- und Hoa-Li nien. Zwischen Felswänden hindurch, die von zähklebrigem Genf nahezu miteinander verschweißt waren. Ver steckte Schleichfurten entlang, mitten durch eine Philosophenkammer, in der mit äußerster Verärgerung auf seinen waghalsigen Kurs reagiert wurde. Kreuz und quer durch das Labyrinth ihres Stadtlandes, das er sich im Laufe seines Lebens, so gut es ging, einge prägt hatte. Die unterste der Breiten Höhlen war erreicht. An den Zugängen herrschte schreckliches vibrierendes Geflatter, das sich über das Genf auf Admal übertrug. Die Namibander hier waren voll der Panik. Hunderte von ihnen wollten die Höhle gleichzeitig verlas sen. Sie waren ineinander verschlun
gen. Ihre verwirrt tastenden Fransen verbanden sich mit denen anderer und bildeten in Angststarre einen un durchdringlichen Riesenteppich an Leibern. »Sie werden sich gegenseitig zerrei ßen!« Girlian war seinen raschen Kör perschlagbewegungen nur mühsam gefolgt. Ihr Leib hob und senkte sich wellig vor Erschöpfung. »Wir probieren es an einem anderen Zugang.« Entschlossen flosselte Ad mal weiter. »Ich muss unbedingt in die Höhle hinein. Ich muss mir ansehen, was passiert ist. Ich muss ...« Er hinterließ ihr keine weiteren Wortfransen und konzentrierte sich ganz auf die Strecke vor ihm. Kantenund Tunnelwächter waren hier, in den schmalen Durchgangsbereichen, die die Breiten Höhlen umgaben, zugange. Sie alle wirkten verwirrt und wie ge lähmt. Im Erinnerungsschatz ihrer Vorfahren gab es nur einen Vorfall von ähnlicher Tragweite, und auch damals hatten die Namibander nicht gewusst, wie sie reagieren sollten. Passierte hier ein zweiter »Tag der Zerfransung«? Würde sich die Kata strophe wiederholen und ihren ohne hin beschränkten Lebensraum end gültig zerstören? Der zweite Zugang zu den Breiten Höhlen war ebenso verstopft wie der dritte, vierte und fünfte. Überall knäulten sich die Namibander inund übereinander. Wie lebende HoaPfropfen versperrten sie die Zuflüsse. »Sie sterben!«, lamentierte Girlian. »Sie werden sich gegenseitig zerfet zen!« Admal spürte, wie ihn die Ereignis se zu überrinnen drohten. Er fühlte mit allen Fransen seines Körpers, dass er und niemand anders mit dieser Si
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tuation umgehen konnte. Hier wartete seine Bestimmung! Er musste in die erste der Breiten Höhlen hineingelan gen, sich einen Überblick über die Ge schehnisse verschaffen und dann eine Entscheidung treffen. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Vor seinen Fran sen wurde gestorben. Und hinter dem Felswerk, das die Breiten Höhlen um gab, fühlte er den Druck weiter wach sen. Es konnte nicht mehr lange dau ern, bis er sich irgendwo entladen würde. »Weg hier!«, franselte Girlian mit zunehmender Panik. »Wir müssen möglichst weit weg sein, wenn es pas siert.« Sie zog und zerrte an ihm. »Wir dürfen uns hier nicht länger herum treiben, sonst erwischt es uns ...« »Begreifst du denn nicht, dass es kein Entkommen gibt?« Er erschrak vor seiner eigenen Heftigkeit. »Wenn die Breiten Höhlen hochgehen, ist es mit dem gesamten Stadtland vorbei. Reiß dich zusammen, Frau!« Sie schwieg, während sich ein wei teres Teilchen zu seinem Gedanken puzzle fügte. »Du kannst den Namibandern bei den Ausgängen helfen!«, schlug er schließlich zögernd vor. »Ich? Ich blähe mich grad auf vor Angst! Wie kann ich in meinem Zu stand jemandem helfen?« »Schwimm einfach hin und benimm dich, wie du es mir gegenüber immer machst! Umgarne die Verknäulten, streichle sie, liebkose sie, beruhige sie. Sie werden sich entspannen - und dei nen Wünschen folgen.« »Ich ... ich kann diese Männer doch nicht auf Befehl erregen.« Unruhig trieb sie vor ihm auf und ab, während verzweifelt abgestoßene Fransen, die von Leid und Schmerz
der ineinander verhangenen Nami bander verkündeten, vorbeitrieben. Eine jede, die auf Admals Leib traf, ließ ihn zusammenzucken. »Du kannst es!« Er packte sie, schüttelte sie kräftig durch. »Du musst es können!« Er stieß sie vor sich her, auf den nächstgelegenen Leiberpfropfen zu. »Beruhige dich und hör mir gut zu«, vermittelte er möglichst ruhig. »Ver lass dich auf deinen Instinkt. Lass es so geschehen, als würdest du mich oder Oblohn umgarnen.« Er streichel te sanft über ihre kratzige Oberseite. Allmählich entspannte sich ihr Leib, wurde glatter und griffiger. Ruhe kehrte in sie zurück - und diese seltsa me Ausstrahlung, die ihn jedes Mal wieder in ihren Bann zog. Ein kräftig gebauter, nur noch leise franselnder Namibander hatte sich zu einer pervertierten Körperrundstel lung verbogen und sich dabei um zwei andere Flüchtlinge gekrallt. Er hielt die beiden fest, zog sich immer fester um sie zusammen, als wolle er sie ganz einhüllen. »Es ist gut«, hörte Admal seine Frau beruhigend auf ihn einwirken. Ihr wunderschöner, praller und vor Erotik knisternder Leib strich mit unglaubli cher Sanftheit über den Verknüllten hinweg. So leicht, so flaumig, dass le diglich der Hauch einer Berührung passierte. »Lass los«, flüsterte Girlian, »du bist in Sicherheit. Ich bin ja da, ich helfe dir ...« Das Wunder geschah. So plötzlich, dass Admal erschrocken zurückfuhr. Der Verknüllte streckte sich, ließ die beiden anderen los. Diese wiederum schossen davon, wie vom wilden Hoa gestoßen, ließen die Gänge in Rekord zeit hinter sich. Das riesige Namiban
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der-Knäuel verschob sich und lockerte sich ein wenig in seiner Struktur. »Gut so«, franselte Admal Girlian zu. »Du machst das ausgezeichnet.« »Es ist widerlich!«, klagte die Frau. »Diese hier sind Männer, die sich we der gut anfühlen noch gut schmecken. Mir ist, als würde ich die Gasblasen eines anderen in mir aufnehmen.« »Aber du alleine kannst sie retten!« Erneut streichelte er sie beruhigend. »Ich bleibe so lange wie möglich bei dir. Denke nur an mich und an unsere gemeinsame Kette.« Girlian beutelte sich angewidert, berührte zweifelnd seinen Flachleib und machte weiter. Es funktionierte. Je mehr Erfolg sie hatte, desto leich ter fiel es ihr, die wildfremden Nami bander anzufassen, zu streicheln, auf sie einzureden, sie zu entspannen. Mit einem letzten Schnalzer, dessen Vibrationen durch das Genf deutlich zu spüren waren, platzte der Leiber pfropfen. Die letzten Namibander trieben hastig zur Seite. Ein toter Fleckenteppich, der vielleicht einmal aus zehn oder zwölf Mitgliedern ihres Volkes bestanden haben mochte, blieb über. Dies war ein geringer Fransen zoll im Vergleich zu jenem, den man ohne Girlians Beistand hätte erwarten müssen. »Du kümmerst dich um die anderen Zu- und Abflüsse!«, befahl Admal mit in energischem Befehlston aufgestell ten Informationsfransen. »Du weißt, was zu tun ist. Du wirst es von nun an alleine schaffen. Ich lasse mich wäh renddessen in die Breiten Höhlen hin eintreiben und erkunde, was dort ge nau vor sich geht.« »Es könnte dein Tod sein!« Sie hängte sich an ihn, zitternd und müde.
»Ich spüre, wie sich das Genf verdich tet. Es kann nicht mehr lange dauern, bis ...« »Ich weiß«, antwortete er müde. »Aber ich bin Admal Kalistein-aus dem-Tiefsten. Ich bin etwas Besonde res. Und ich weiß, wo meine Bestim mung liegt.« Er ließ Girlian hinter sich und be gab sich hinein ins Ungewisse. * Die Breiten Höhlen waren nahezu leer. In allen drei klebten geflüchtete Namibander an den wenigen Zu- und Abflüssen. Bewegungslos, in einer Starre verhangen, die von Geschmä ckern nach Panik und Hilflosigkeit durchtränkt war. Wir können uns möglicherweise per fekt auf eine derartige Situation vor bereiten, sinnierte Admal trübsinnig, und wir verlassen uns auf die Erfah rungswerte unserer Ahnen. Aber wenn wir eine derartige Situation nicht selbst einmal durchlebt haben, reagie ren wir falsch. Wir sind ... schwerfäl lig. Diese Erkenntnis, so unspektakulär sie momentan auch klingen mochte, würde vielleicht später einmal große Bedeutung erlangen. Doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um dar über zu sinnieren. Die Kraftlinien in den Breiten Höh len waren fast vollends abgestorben. Die wenigen Orientierungspunkte, die Admal noch spürte, erwiesen sich als trügerisch. Er wünschte sich Girlian herbei. Ihr Gespür war wesentlich stärker ausge prägt als das seine. Doch es half nichts - seine Frau musste ihre Arbeit an ei ner ganz anderen Front erledigen.
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Also ließ er sich treiben, stets zwi schen gesundem Selbstbewusstsein und heftigen Panikschüben schwan kend. Das Genf drang aus mehreren Zu lieferflüssen durch den Boden der Hal len, wie er wusste. Normalerweise wurde das meiste davon durch ein System schmaler, nicht beflosselbarer Nebenkanäle an die Große Leere ab geleitet. Dort sprudelte es unter leich tem Druck hoch und verendete, mögli cherweise zu Leblosigkeit erstarrt, im ewig kühlen Nirgendwo. Sechs der Nebenkanäle, so konnte Admal fühlen, waren verstopft. Dort lag die Ursache des ganzen Problems. Wie hatte dies passieren können? Immer wieder verklebten Nebenkanä le und mussten dann mühsam und un ter Einsatz aller verfügbaren Kräfte leer geräumt werden. Aber sechs Sys teme, die zur selben Zeit versagten das konnte einfach kein Zufall sein! Er flosselte die Nebenkanäle ab. Das Genf stand hier still, und Stillstand im Fluss bedeutete Abkühlung. Nur durch stetig nachströmendes Ee und Hoa aus den tiefsten Tiefen, zu denen sie keinen Zugang hatten, blieb die Temperatur im Stadtland angenehm. Admal erfühlte einen der verstopf ten Nebenkanäle. Mit Todesverach tung drang er, so weit es ging, nach oben vor. Eisige Kälte erwartete ihn und schwer bröckeliges Hoa, so dick und fest, dass er sich beinahe darin verklemmt hätte. Hastig zog er sich aus dem Kamin zurück in Sicherheit und wärmte sich für ein paar Augen blicke an einem tieferen Ee-Strom. Doch auch hier war das Stocken im Fluss bereits zu spüren. Alles wurde träge, alles wurde kalt. Das Genf schmeckte derart widerlich, dass er
sich am liebsten in kleinere Bestand teile aufgelöst hätte. »Die Kanäle sind so fest verpfropft, dass wir sie so rasch nicht wieder frei bekommen«, franselte er zu sich selbst. »Und wenn wir den Druck, den nachfließendes Ee und Hoa liefern, nicht schnellstens abbauen, stürzen die drei Breiten Höhlen allesamt in die Große Leere.« Die Vorstellung allein erzeugte einen weiteren Zitterschub. »Was können wir bloß dagegen tun? Denk nach, Admal, denk nach ...« Einmal mehr erkannte er, wie wenig die Erinnerungen der Eltern und Vor fahren eigentlich wert waren. Sie stellten allesamt Einzelsprengsel dar, denen der Zusammenhang fehlte. Wie Körperteilchen, die niemals mehr zu einander fanden. Aber er, Admal Kalistein-aus-demTiefsten, war doch etwas Besonderes! Bereits vor einer knappen Epse hatte er in einer Situation, der niemals zu vor ein Namibander gegenübergestan den hatte, die richtige Entscheidung getroffen. Wer außer ihm hätte er kannt, dass allein die Frau Girlian das Leben der verpfropften Männer retten konnte? Finde die Zusammenhänge!, forder te er von sich selbst. Ein Gedanke: Die Kantenwächter wissen ganz genau, welche Stellen zur Großen Leere hin am labilsten und dünnsten sind. Ein zweiter Gedanke: Die Strö mungsleiter verstehen es, das Genf durch ein System von Öffnungen und Verschlüssen punktgenau an die ge wünschte Stelle zu leiten. Ein dritter Gedanke: Raumschnei der arbeiten mit Über- und Unter druck, um neu geschaffene Wohn- und Denkhöhlen nach ihren Vorstellungen
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zu gestalten. Sie wissen, wie man Platz schafft. Der vierte, revolutionäre und noch niemals zuvor gedachte Gedanke war: Kombiniere diese handwerklichen Fä higkeiten miteinander und löse damit das Problem. Admal tat es. * »Du meinst, dass das funktioniert?«, fragte Ziam Hartenbau-ob-der-Hitze zweifelnd. »Ich bin mir hundertprozentig si cher!«, gab Admal zur Antwort. »Die Lösung liegt ganz klar vor mir. Aber wir dürfen keine weitere Zeit verlie ren. In maximal einer Epse bricht das gesamte Höhlensystem zusammen.« »Die Arbeiten, die du uns zumutest, sind lebensgefährlich«, meldete sich eine weitere, anonyme Stimme aus dem hastig zusammengeflochtenen Beratungsteppich. »Ja. Das ist nicht zu leugnen. Wir al le riskieren unser Leben, vor allem die Raumschneider an vorderster Front.« Admal zögerte für einen Moment. »In dem einige wenige sich opfern, be kommt das Volk der Namibander eine Überlebenschance. Um euch zu zei gen, wie ernst es mir ist, werde ich mich selbst an den gefährlichsten Ar beiten beteiligen.« Admal löste nahezu ein Zehntel sei ner Körpermasse auf, um die Anwe senden in möglichst eindringlicher Manier zu überzeugen. Er bombar dierte sie förmlich mit kleinen und größeren Informationsfransen, in die er all seine Kraft und seinen Willen packte. »Dann lass es uns versuchen«, fran selte Ziam schließlich. Er löste sich
aus dem Teppich und machte sich auf den Weg, tief hinein in die Breiten Höhlen. Die anderen folgten. Schweigsam, in düstere Gedanken verhangen. * Transporteure wälzten schweres, fast ausgehärtetes Hoa in die oberste der Breiten Höhlen, angewiesen von jenen Linienspürern, die die feinsten Sinne hatten. Die Strömungsleiter er höhten währenddessen punktuell den Druck des Ee dort, wo Kantenwächter besonders labile Deckenflecken mar kiert hatten. Sie alle franselten vor Angst und Unsicherheit. Ein falscher Gedankengang, eine unbedachte Be wegung, und schon würden sie vom Druck des Genf in das Unbekannte geschleudert werden. »Beeilung!«, Admal trieb die Män ner an. Ruhelos flosselte er hin und her, sprach diesem Mut zu und gab je nem präzise Anweisungen, die sein plötzlich wie heiß brennend funktio nierender Geist hervorbrachte. Im Gegensatz zu allen anderen steckte unglaubliche Ruhe in seinem Körper. Er fühlte sich nun, da er tat sächlich etwas tat, so gut wie niemals zuvor. »Den großen Klumpen dorthin!«, wies er den größten Arbeitstrupp an. »Haltet ihn möglichst aus der Strö mung und wartet auf mein Zeichen.« »Wir müssen uns beeilen!«, warnte ihn Oblohn, »Es knirscht und knackst überall. Ich spüre, dass das Gefüge der Breiten Höhlen nicht mehr lange hält.« Der Freund gehörte ebenfalls zu den Freiwilligen, die ihr Leben ris kierten. »Ich weiß.« Admal zögerte. »Wir
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müssen dennoch auf den geeignetsten Moment warten.« »Und wann ist der, bitte schön?« Oblohn bewegte sich unruhig im Ee auf und ab. »Ich ... ich kann es noch nicht sa gen«, musste Admal zugeben. »Aber ich werde es spüren, wenn es so weit ist.« Oblohn berührte ihn zweifelnd. »Du verlässt dich viel zu sehr auf deine Ge fühle.« »Ich nenne es Intuition.« Entschlos sen schob Admal die Fransen hoch. »Ich weiß, was ich zu tun habe. Ihr müsst mir nur vertrauen.« »Das tun wir, Admal. Das tun wir ...« Er trieb davon und verschwand aus seiner Wahrnehmung. Sosehr Admal ihn auch mochte - er benötigte Ruhe, um sich zu konzentrieren. Ein Geflecht verschiedenster Eindrücke musste sor tiert werden. Ohne bewusst darauf zu achten, nahm er währenddessen die Nachrichten mehrerer Boten entge gen. Sie informierten ihn über beun ruhigende Sprünge und Risse an der Oberseite der Breiten Höhlen. Er durf te sich nicht mehr allzu viel Zeit las sen ... »Der große Hoa-Brocken ist in Posi tion!«, spürte er eine hastig auf ihn ge schleuderte Informationsfranse. Gut, gut ... »Die Kantenwächter sollen sich be reitmachen!«, franselte er an mehrere Boten. »Alle anderen verlassen so schnell wie möglich die Räume.« Er rollte sich zusammen und zählte leise bis fünfzig. »Vierzehn, fünfzehn ...« Wie es Girlian wohl geht? Ob sie es geschafft hat, alle Knäuel zu lösen? »Dreiundzwanzig, vierundzwanzig ...« Habe ich mit meinen Vermutungen
Recht, oder besitze ich lediglich ein falsches, grenzenlos übersteigertes Selbstbewusstsein? »Siebenunddreißig, achtunddreißig ...« Es kann nicht gut gehen, ich irre mich bestimmt! »Fünfundvierzig, sechsundvierzig ...« Ich muss es abbrechen! Ich werde davonlaufen und ... »Fünfzig!« Admal spannte seinen Körper an und schnellte davon. Auf den großen Hoa-Brocken zu. Die Kantenwächter spürten sein Nahen, tasteten mit aller Kraft über den klobigen Fels, schoben ihn in das Ee. Die Strömung, von den besten Wächtern der Zunft geschickt ver stärkt und kanalisiert, riss den Bro cken mit sich. Nach oben. Auf die Decke der Höhle zu. Dort, wo sie fragil und dünn war. Dort, wo sich die ersten Risse bildeten. »Stärker und schneller!«, feuerte Admal die Männer an. Sie schoben und drängten, wuchteten und flossel ten, beschleunigten das riesige, so un angenehm kantige Ding. Hoch, immer höher, ihrem sicheren Tod entgegen. Dies hier war sein persönliches Opfer. Die große Tat, für die er lebte und ge lebt hatte. Mit Bedauern dachte er an das neue Wissen über Ursache und Wirkung, Zusammenhänge, Verbin dungen, von einem großen und kom plexen Bild. Niemals würde er diese Erfahrungen weitervermitteln kön nen, so dass seine Nachfahren darauf aufbauen konnten. Wenn dieses Manöver hier klappte, würde es einen grandiosen Sieg für ihr kleines Volk bedeuten und dennoch von seinem Tod überschattet sein. Niemand würde jemals von seinen Ideen erfahren ...
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Etwas streifte Admal, schmiss ihn aus der Bahn. Er torkelte, verlor kurz fristig die Orientierung. Ein breiter und wuchtig gebauter Körper schob sich an ihm vorbei und nahm seinen Platz im Geflecht der anschiebenden und antauchenden Namibander ein. Eine einsame Informationsfranse traf seinen Körper. »Du bleibst hier«, wurde übermit telt. »Du bist zu wichtig für das Volk. Akzeptiere mein Opfer und bring dich in Sicherheit. Leb wohl.« »Oblohn!« Admal warf seinen Kör per in verzweifelte Wellen, wollte dem Freund hinterherflosseln. Doch der Sog, den der Hoa-Brocken erzeugte, riss die Kantenwächter und Oblohn mit sich hinauf, immer forscher und schneller, der Decke der Höhle entge gen. Er hingegen blieb zurück. Nur noch wenige Augenblicke, dann würde der Trupp aus dem Ee-Fluss ausscheren und gegen die Gewölbe decke prallen. Es war zu spät, er konnte sie niemals mehr einholen! Ad mal musste sich sofort in Sicherheit bringen, wollte er nicht jene Chance vertun, die ihm der Freund geboten hatte. »Oblohn!«, franselte er zu sich selbst, während er den Körper so stark wie niemals zuvor zum Vibrieren brachte und gegen das zerrüttete Genf ankämpfte. Und nochmals, traurig und verzweifelt: »Du selbstloser, ver rückter, herrlicher Narr!« Der Hoa-Brocken prallte gegen die Decke. Admal fühlte es. Augenblick lich entstand ein Sog, der das Genf nach oben zog. Hinein in die Große Leere. Feuriges, angenehm heißes Ma terial würde eruptiv nach oben ge schleudert werden, ins Wasauchimmer hinein. Ein paar Brocken, widerwär
tig, spitz und jeglicher Hitze beraubt, würden irgendwann wieder auftau chen und als dreckiges, schweres Hoa in das Genf zurücksinken. Admals Gedanken drehten sich im Kreise, während er sich vom Ort des Durchbruchs wegbewegte. Der Sog hinter ihm nahm immer mehr zu. Er kam kaum noch von der Stelle. Ein scharfkantiger Hoa-Brocken streifte ihn, zerriss seinen Körper bis zur Mitte. Er scherte sich nicht weiter darum. Seine Fransen schienen nicht verletzt, und Schmerz empfand er in diesen Momenten ohnehin nicht. Alles drehte sich um ihn. Das Genf brüllte und dröhnte, Kraftlinien ver schwammen, der Geschmack des Ee wurde säuerlich. Er konnte nicht mehr. Noch immer entlud sich das unter enormem Druck stehende flüssige Gestein in die Große Leere. Wütend und wild, weil man es so lange daran gehindert hatte. Weil seine natürlichen Strömungen behin dert worden waren. Weil die Nami bander ihrer Aufgabe als Pfleger ihres Lebensbereiches nicht hatten nach kommen können. Admal wollte einfach nicht mehr weiter. Seine Fransen waren klamm und schwielig geworden; jegliche Kraft fehlte ihnen. Oblohn, der sicher lich mit all den anderen Kantenwäch tern ins Nichts hinausgeschleudert worden war, hatte sich umsonst für ihn geopfert. Schon zog das Genf an ihm, würde ihn packen, während seine Bewegun gen immer schwächer wurden, ihn im mer weiter hinaufspülen und ... Da! Ein kantiger Vorsprung, seit lich von ihm. Mühsam hielt er sich fest. Nochmals holte er alles aus sei nem müden Körper heraus, umklam
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merte mit all den aufgedröselten Fransen das widerlich schmeckende Gestein. Eine sanfte Kraftlinie war hier zu spüren. Sie führte ein Stückchen hin ein und versiegte dort. Neuer Mut durchströmte Admal. Wenn er es schaffte, seinen Widerwil len gegen das tote, versteinerte Mate rial aufzugeben und tiefer in die Kaverne hineinzugelangen, würde er vielleicht eine Bucht finden, in der er sich festklammern konnte. Er zog sich vorwärts, Stück für Stück. Der hintere Teil seines Körpers löste sich währenddessen auf. Immer größere Fransenteile rissen ab. Und dennoch tastete er sich mit einer selt samen Mischung aus Panik und Trotz als Antrieb vorwärts. Ruhiges, fast bewegungsloses Ee er wartete ihn abseits der dünnen Kraft linie. Eine winziger Einschnitt, kaum groß genug für seinen zerfetzten Leib, nahm Admal auf. Ruhig schwappte er umher, genoss den Moment der Ruhe, während das entfesselte Genf nach wie vor durch die Breiten Höhlen tobte. Er hatte es geschafft! Er war in Sicherheit. Die Geschmäcker und die Vibratio nen wurden schwächer. Sie traten im mer weiter in den Hintergrund, wäh rend Admal in seinen Körper hinein horchte. Sein Zustand war bedenk lich. Er musste unbedingt wach bleiben. Nur wenn er es schaffte, die vielen lose weghängenden Fetzen er neut an seinen Leib zu binden, würde er überleben. Er durfte sich unter kei nen Umständen auflösen, und noch weniger durfte er das Bewusstsein verlieren. Er musste unbedingt ... un bedingt ...
10.
Stunden später erwachte ich aus meiner Katharsis. Ich fühlte mich bes ser. Durch den Rundumschlag, den ich mit Hilfe des Flammenstaubs voll führt hatte, hatte ich etwas Zeit ge wonnen. Doch was war passiert, bevor ich in Ohnmacht versunken war? Ich schüttelte benommen den Kopf und blickte mich um. Es war längst dunkel geworden. Rot glühende Au gen kleiner Lavaseen und -öffnungen des vulkanisch hochaktiven Umlandes starrten mich an. Magmaflüsse zeich neten in weiter Ferne die Umrisse ei nes Berges nach. Das Meer hingegen war hier nicht mehr zu sehen. Ich musste weit gewandert sein; weiter, als ich es vermutet hatte. In unmittelbarer Umgebung war es ruhig und kühler, als ich es in den we nigen Stunden auf Ende bislang erlebt hatte. Der Boden, schwarz und scharf gratig, bewegte sich unruhig. Plötzlich war mir, als triebe ich auf einer riesi gen, kühlen Scholle durch ein Meer aus Hitze ... Ich begriff. Ich hatte die Welt um mich verän dert! All mein Verlangen, es ein wenig kälter zu haben, hatte sich auf die Erdoberfläche um mich konzentriert. Wo früher Lava in Seen und aus Quel len geblubbert war, hatte ich festen Untergrund hingewünscht. Erschrocken stemmte ich mich hoch. Da war die Ahnung einer Er schütterung, die ich unter meinem Körper spürte. Der Druck des Mag mas, das unter meinen Füßen kochte, würde irgendwann, irgendwo zu groß werden und sich in einer gewaltigen Entladung Luft verschaffen - im
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wahrsten Sinne des Wortes. Und wenn ich meinem Gefühl und meiner Erfah rung bloß ein wenig Vertrauen schenk te, dann war dieser Moment nicht mehr allzu weit weg. Ich lief und stolperte durch die Dunkelheit. Aus irgendeinem Grund hatte ich die dünnen, aber strapazier fähigen Stiefel angelassen, genauso wie den Schweiß absorbierenden Un teranzug. Angesichts des unruhigen und rauen Bodens gratulierte ich mir im Nachhinein zu diesem Entschluss. Ich musste weg von diesem herbei gewünschten Land, so schnell wie möglich. Irgendwohin. Der Boden schien immer heftiger zu schwanken. Mein Atem ging pfeifend, mein Kopf begann zu dröhnen. Meine kör perliche Verfassung war unter jeder Kritik. Auch die Gedanken flossen träge dahin. Genauso langsam und be dächtig wie die Magmabäche in ge raumer Entfernung. Ein weiterer Erdstoß. Mir war, als klopfte jemand oder etwas von unten gegen den Erdboden. Wütend und empört darüber, dass man es eingesperrt hatte. Eine Spalte tat sich vor mir auf. Im düsteren Lichterschein kaum sicht bar - und dennoch mehr als vier Meter breit. Ich konnte nicht mehr abbrem sen, also stieß ich mich an der Kante ab und sprang darüber hinweg. Ich landete schwer und ungelenk, hatte kaum noch die Kraft, mich auf den Beinen zu halten. Schwer federte ich in den Knien ab und lief weiter. Der rechte Ärmel hing in Fetzen weg. Blut tropfte darunter hervor. Am liebsten hätte ich vor Zorn und Ohnmacht laut geschrien, aber meine Atemluft war mir zu wertvoll. Warum blieb ich nicht einfach ste
hen und wünschte mir eine noch stär kere Bodendecke herbei? Ich konnte Schicht auf Schicht, Wunsch auf Wunsch auftragen lassen. Die Wahr scheinlichkeiten ändern, bis kein Grammeln und Wüten unter meinen Beinen mehr zu spüren war. Ich spürte, dass ich es nicht tun durfte. Mit jeder Beeinflussung der Wahrscheinlichkeiten, die ich auslös te, trieb ich weiter hinab in den Stru del aus Wahrnehmungsstörungen, Schmerz, Illusionen, Kräfteverlust und ... und Irrsinn. Also lief ich, was die Beine herga ben. Ganz merkwürdige korallenähnliche Bäumchen, kaum zwanzig Zentimeter hoch, zerbarsten unter meinen Beinen zu Staub. Sie klingelten und sirrten in Tonfrequenzen, die wohl bis in den Ultraschallbereich reichten. Der Schmerz, den sie erzeugten, verfolgte mich. Eine weitere Qual, der ich aus gesetzt war. Die Erde bebte; sie warf mich wie ein bockendes Wildpferd ab, schleu derte mich meterweit beiseite. Ich lan dete hart, aber glücklicherweise auf ebenem Grund. Hinter mir, so fühlte ich, stieg Hitze auf. Hastig drehte ich mich um - und blickte einem Monster ins Antlitz. Rot und gelb glühend sprudelte es mit unglaublicher Wucht zwischen berstenden Bodenschollen hervor. Das befreite Magma war von unglaubli cher Wut erfüllt. So lange eingesperrt, so lange gebändigt, sann es nunmehr auf Rache. Mehr als hundert Meter hoch spritzte die Fontäne, machte die Nacht zum Tag. Ich atmete tief durch; ich glaubte, mich in ausreichend sicherer Distanz zum Eruptionszentrum zu befinden.
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Wie sehr ich mich irrte, merkte ich erst, als die ersten krustigen Lava brocken unweit von mir niederkrach ten und knallend auseinander bra chen. Dann erst war die Schallwelle des explosionsartigen Ausbruchs her an. Sie brüllte über mich hinweg, be täubte mich, zwang mich noch tiefer zu Boden. Mit beiden Händen an den Ohren rollte ich mich fort, hinab in ei ne Bodensenke, die mir einigermaßen vertrauenswürdig erschien. Hitze kam über mich, versengte meine Augen brauen, nahm mir den Atem. Erst nach zehn, zwölf Sekunden wagte ich es, wieder Luft zu holen. Blinzelnd erhob ich mich, zögernd, tastend. Alles um mich strahlte Hitze aus, doch es ließ sich aushalten. Also nahm ich die Hände von den Ohren und überblickte das neu geordnete Land. Seltsam verformte Steinplatten, über dreißig Meter breit, standen ei nen halben Kilometer von mir entfernt im Kreis steil in die Höhe. Sie wank ten bedenklich, während aus dem Ka nal in ihrer Mitte weiteres Magma quoll. Es war dort passiert, wo ich noch vor Minuten bewusstlos gelegen hatte. Ein Vulkan war geboren - und ich trug Schuld daran! Er spuckte böse vor sich hin und grub sich mit seinen Flammenarmen neue Wege durch das Plateau. Die meisten Kamine und Flüsse des Magmas führten glückli cherweise von mir weg. Durch meinen Eingriff in die labile Natur von Ende hatte ich für ein Kip pen des lokalen Ökosystems gesorgt. Im Nachhinein beglückwünschte ich mich zu meiner Voraussicht, auf einem nicht von Intelligenzen bewohnten Planeten gelandet zu sein.
Fetzen undefinierbarer Konsistenz, seltsam ausgefranst und schlickigen Algenteppichen nicht unähnlich, platschten hier und dort zu Boden. Es schien mir, als steckte Leben in ihnen. Aber sie zitterten wohl wegen des tek tonisch in Unruhe begriffenen Landes. Trotz der Hitze fröstelte ich. Und wenn es sich doch um Lebewe sen handelte? Nicht weit entfernt lag so ein ... zuckendes Teil. Ich unter drückte den Impuls, es zu untersu chen. Also marschierte ich einfach weiter, tiefer in das unheimliche Land hinein - auf der Suche nach einem Ausweg aus meinem persönlichen Inferno, das sich in einem weiteren Schub in mir drin ankündigte. * Meine innere Bestie erwachte er neut. Für eine Stunde hatte sie Ruhe gegeben. Jetzt aber griff sie nach mei nem Geist, lockte und verführte mich. »Lass mich raus«, rief sie, »lass mich raus!« Es war schlimmer als das härteste Rauschgift, das einen körperlich und geistig abhängig machte. Denn der Flammenstaub war nicht nur ein Stoff, dem ich mich hingegeben hatte. Seit geraumer Zeit durchdrang er mich, war ein Teil meines Lebens ge worden. Er war ich. »Es ist ganz leicht«, sprach die Stimme in meinem Kopf. »Befreie mich. Gib dich mir hin. Nur ein wenig, ein winziges bisschen ...« Und, nur Augenblicke später, brüllend: »Tu es, du verdammter Dickschädel, oder ich schneide dir den Schädel entzwei! Ich verursache Schmerzen, wie du sie noch niemals zuvor gespürt hast!«
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Eine schwarze Wolke voll Flitter durchdrang mich, legte sich über mei ne Ganglien und Nervenzentren. Jede einzelne Berührung, die ich in mir zu spüren glaubte, erzeugte eine andere Art von Qual. Ich wollte schreien und konnte es nicht. Ich wollte weinen und durfte es nicht. Ich wollte sterben und schaffte es nicht. Es gab nur noch eines, was ich zu tun imstande war: die Bestie des Flammenstaubs ein weiteres Mal frei zulassen. Mein letzter Plan, aus Verzweiflung geboren, würde nicht greifen. Ich zer marterte mir den Kopf. Was war es überhaupt gewesen, das ich mir über legt hatte? Ich erinnerte mich nicht mehr. Einerlei. Denn wie konnte man sich selbst etwas vormachen? Der Gegner, den ich bekämpfte, war nun mal ich selbst. Er wusste, was ich war, was ich dachte, was ich wollte. Niemals wür de ich mich selbst reinlegen können. Ich ließ mich in eine Erdfalte plumpsen, versteckte mich wie ein verschrecktes Tier. Mit zitternden Händen schob ich die geistigen Staub weben beiseite, die sich vor meinen Sinnen bildeten. Es nützte nichts. Im mer mehr von ihnen tauchten auf, drängten nach. Wahrscheinlichkeits ebenen sonder Zahl, die sich in mei nem Inneren bündelten. Ich wurde zu einem Embryo, der ungeboren darauf wartete, aus dem Schoß der Mutter hervorzudringen. Tausendfach, mil lionenfach. Ich ließ es zu. Ich wurde wieder und wieder geboren. Der Flammenstaub überschüttete einmal mehr das Land.
11. Admal erwachte. Er vermochte ziel gerichtet zu denken. Er war ganz ge blieben! »Wir haben dich gerade noch recht zeitig gefunden«, franselte Girlian an seiner Seite. »Es war knapp, doch die besten Fransenschweißer haben es ge schafft, deinem Leib wieder eine Form zu geben.« Er drehte sich um die eigene Achse, schnupperte das herrlich heiße Ee und rollte sich wohlig darin. Kraftlinien, stark und ruhig, zeigten in seltsame neue Richtungen - aber sie strahlten Gesundheit aus. »Du hast es tatsächlich hinbekom men!«, plapperte Girlian weiter. »Du alleine hattest einen Plan. Du alleine konntest ihn durchsetzen. Du bist wahrlich etwas Besonderes!« »Du bist etwas Besonderes!«, echote es von allen Seiten. Erstaunt lauschte Admal umher. Da ... da waren Namibander sonder Zahl! Sie alle hatten sich hier in einer der Breiten Höhlen versammelt, um ihm zu huldigen. Ihre Fransen berühr ten einander. Ein gewaltiger Teppich, der aus zigtausend Mitgliedern des Volkes bestehen musste, hüllte ihn ein. Er schmeckte und roch Philosophen, die seit Namibandergedenken ihre Höhlen nicht mehr verlassen hatten. Sechzehn seiner Väter hatten sich ebenfalls hierher begeben und strahl ten Stolz aus. Drei - drei! - Frauen bil deten Zentren des Teppichs, um schwärmt und auch gefürchtet. Auch sie vermittelten Dankbarkeit und Wärme. »Es ist noch nicht vorbei«, franselte Admal schwach. Unruhe entstand. Wellenartig brei
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tete sie sich aus, von einem Ende zum anderen. »Wie sollen wir das verstehen?«, fragte Girlian als Fransenrohr der an deren. »Irgendetwas geht in der Großen Leere vor sich«, gab er zur Antwort. »Unser Stadtland ist im Umbruch be griffen, und wir können offensichtlich keinerlei Einfluss darauf nehmen.« »Die Geschehnisse der letzten Ep sen waren eine ähnliche Katastrophe wie am Tag der Zerfransung vor un denklichen Zeiten«, warf Emen Heiß kroch-aus-dem-Inneren, einer seiner Väter, ein. »Es ist unwahrscheinlich, dass sich Derartiges gleich wieder er eignet. Gut, es haben sich in der Zwi schenzeit zwei weitere Entlastungska näle geschlossen, aber das sind wohl die Nachwirkungen ...« »Wir dürfen uns nicht selbst belü gen!«, fuhr Admal wütend dazwi schen. »Ich vermute, dass der Auf bruch der Breiten Höhlen erst der Vor bote viel schlimmerer Geschehnisse ist. Überlegt einmal: Sechs Kamine der Breiten Höhlen haben sich zum selben Zeitpunkt für immer verschlos sen. Das kann kein Zufall sein! Wer auch immer dafür verantwortlich ist, vermag möglicherweise das Genf als Ganzes in ewige Starre zu zwingen.« »Unsinn!«, drang ein Kommentar aus der Anonymität des riesigen Tep pichs. Doch der Stimme fehlte jegli cher Nachdruck. »Ich habe lange genug beobachtet.« Admal ließ sich von der Gegenrede nicht irritieren. »Das Stadtland ist viel zu unruhig. Zeit unseres Lebens laufen wir Problemen hinterher. Wir flicken kleine Einbruchsteilen, repa rieren Kanäle, bessern Höhlen aus. Wäre es denn nicht vernünftig, uns ei
ne neue Heimat zu suchen? Eine, in der wir wesentlich mehr Ruhe und Muße finden?« Es herrschte Totenstil le. Mit einem leisen Seufzer setzte Ad mal hinzu: »Ich bin davon überzeugt, dass wir von hier verschwinden soll ten.« Empörung erfüllte augenblicklich die Versammlungshöhle. »Selbst wenn wir wollten, könnten wir nicht weg!«, rief ein erzürnter Mann. »Seit Ewig keiten schon ... suchen wir den Durch gang von der Großen Tangente zum Bauch, zu den anderen, und es gelingt nicht. Wie sollen wir es denn ... jetzt schaffen?« »Ich weiß, dass ich einen Tunnel fin den kann«, antwortete Admal. »Denn ich habe es während der letzten Epsen gelernt ...« »Du hast jetzt erst gelernt, wie man etwas ... findet?« Unruhe kehrte in den Teppich ein. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ausgerechnet du uns vor der Katastrophe gerettet haben willst; ich finde schon ... seit meiner Geburt das, was ich suche.« Gelächter übertrug sich durch die ineinander verwobenen Fransen. Die Stimmung drohte zu kippen. Bereits jetzt. Es schien so, als neideten ihm manche Namibander den Erfolg und wollten seine Forderung ins Lächerli che ziehen. Admal zog den Körper nachdenk lich ein wenig zusammen. Er be schloss, etwas zu riskieren. »Ich habe keine Zeit, mit dir zu streiten, Jenhaut Zweifel-ob-der-Steine«, franselte er schließlich selbstbewusst. »Lasst mich einfach gewähren, und ich garantiere, dass ich binnen kürzester Zeit eine ge eignete Verbindung zum Bauch erfor sche.« »Wie hast ... du mich erkannt?« Jen
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haut, der stets provokante Berufsphi losoph, fiel vor Erstaunen beinahe aus dem Teppich. »Ich wollte doch an onym bleiben. So ... so etwas habe ich noch nie erlebt!« Admal streckte sich erleichtert aus. Seine eben erst entdeckte Begabung, zu kombinieren und Schlüsse zu zie hen, hatte ihm erneut geholfen. Es gab nur wenige Namibander, die den Widerspruch so genüsslich wie Jenhaut zelebrierten. Noch weniger waren für ihre Überheblichkeit be kannt. Und es kam eigentlich nur ei ner in Frage, dessen Wortfransen struktur derart seltsam war: Er fran selte schleppend, immer wieder von langen Pausen unterbrochen. Auch wenn ihm persönlich die Lösung so einfach erschien, so war Admal sich dennoch sicher, dass niemand anders Jenhaut aus der Vielzahl der Anwe senden hätte herausfiltern können. »Wie ich das gemacht habe, bleibt mein Geheimnis«, teilte er schließlich über seine Fransen klar und deutlich mit. »Ich hoffe, ihr schenkt mir jetzt euer Vertrauen?« Vibrierende Zustimmung erreichte ihn von allen Seiten. Er hatte die Na mibander wieder dort, wo er sie brauchte. »Gut.« Admal überlegte rasch. »Ich brauche so viele Informationen wie niemals zuvor. Wir beginnen in jenem Bereich, in dem der Zusammenbruch der Großen Tangente stattgefunden hat ...« »Wir haben das gesamte Einbruchs gebiet hundertfach abgesucht!«, ver suchte ein Kantenwächter, der sich in seiner Berufsehre angegriffen fühlte, einen Einspruch. »Ist das etwa alles, was dir einfällt?« »Du solltest mich aussprechen las
sen! Ich möchte, dass ihr das Gebiet in einem Umkreis von mehreren hundert Sabis abklopft. Ich will über die kleinste Änderung in der Gesteins struktur Bescheid wissen. Der winzigs te Hohleinschluss, die geringste Strö mungsänderung und der minimalste Verdacht auf eine verschobene Kraft linie muss mir gemeldet werden.« »Was erwartest du dir davon?« »Ich möchte eine Art Plan entwer fen. Seit dem Tag der Zerfransung ist viel Ee die Linien entlanggeronnen. Und ich bin mir sicher, dass sich die Verhältnisse geändert haben. Oder habt ihr vergessen, dass sich Ee und Hoa immer den leichtesten und güns tigsten Flussverlauf suchen, bevor sie in die Große Leere entweichen? Viel leicht waren es nur leichte Verschie bungen, die seit jenem Tag passiert sind; vielleicht haben wir die damalige Linienführung ignoriert.« Er zögerte. »Das Genf hat einen neuen Lauf. Wir hingegen sind auf der Stelle geflos selt.« * Das Begreifen fiel den Namibandern nicht leicht. Schweren Gases musste Admal einsehen, dass er eine einmali ge Laune der Natur war. Wahrschein lich konnte er seine seltsame Gabe zum Kombinieren niemals an andere weitergeben. Keiner schien die Vor aussetzungen zu besitzen, Dinge so wie er zu verstehen. Doch mit diesem Problem würde er sich beschäftigen, sobald Zeit dafür blieb. Momentan musste er dafür sor gen, dass die Dinge im Fluss blieben. Sein Gefühl - und diesmal war es wirklich nur ein Gefühl - sagte ihm, dass sie sich beeilen mussten.
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Er erholte sich in einem Ee-Becken in der Nähe der einstmals eingestürz ten Großen Tangente aus. Hier waren die Kraftlinien nur zu erahnen, und auch der Sog des Genf war so schwach, dass er seinen Körper nur ganz behutsam bewegen musste, um an Ort und Stelle zu bleiben. Sein zu sammengeflickter Körper schmerzte nach wie vor. Heftige Treibbewegun gen waren ihm kaum möglich. Oblohn kam ihm in den Sinn; nicht das erste Mal während der vergange nen Epsen. Er verdankte dem Freund sein Leben. Er würde von nun an an dieser Schuld tragen. Die Nachrichten, die ihn aus allen Teilen des Stadtlandes erreichten, blieben beunruhigend. Die Erschütte rungen und Veränderungen durch den Ee-Ausbruch zogen weitere Probleme nach sich. Manch kleiner Wohnbereich litt seitdem unter einem Mangel an Genf-Durchfluss und füllte sich mit Hoa, das über kurz oder lang zu fes tem Gestein erkalten würde. Andere Bereiche wurden vom Ee regelrecht überschüttet, so dass die Statik der Höhlen in Gefahr geriet. Diese Katastrophe ist wie eine hefti ge Vibration, die vom Zentrum eines Versammlungsteppichs ausgeht und immer heftiger wird, je näher sie den Randbereichen kommt. Ich habe Angst; fürchterliche, gasige Angst. Nur mühsam bekam Admal seine Gefühle unter Kontrolle. Er durfte sich in diesen Momenten keinerlei Un sicherheit leisten. Alle Namibander setzten mittlerweile ihre Hoffnung auf ihn. Niemand zweifelte mehr an seiner Besonderheit. Weitere Informationsfransen wur den ihm zugeschwappt. Die Boten ver schwanden so rasch, wie sie aufge
taucht waren. Sie erledigten ihre Auf gaben so, wie er es wünschte, und um keinen Fransenbreit anders. Und genau darin bestand ja das prinzipielle Problem. * Sein wenig trainierter Geist tat sich schwer, das dreidimensionale Bild, das sich allmählich formte, zu erfassen. Bislang hatte er das Stadtland immer instinktiv erfasst. Ohne viel nachzu denken, war er von einem Ort zum an deren geflosselt. Nun galt es aber, Standorte genau festzulegen und zu einander in Relation zu setzen. Grö ßenverhältnisse mussten miteinander abgeglichen, die Flüsse des Genf in ei nen Zusammenhang gebracht werden. »Du solltest eigentlich in einem EeBad treiben und es dir gut gehen las sen«, franselte ihm Girlian zärtlich zu. »Ich spüre, dass du noch immer nicht vollends geheilt bist.« »Lass das!«, fuhr er sie an. »Was meinst du?« Irritiert wich sie eine halbe Körperbreite beiseite. »Deine Ausstrahlung - sie behindert mich bei der Arbeit! Sie überlagert meine Gedanken, lenkt mich ab ...« »Ich wollte dir nur etwas Gutes tun!« »Ich weiß ...« Seufzend zog er seinen Körper zusammen. »Du bist dir deiner Wirkung wirklich nicht bewusst, stimmt’s?« Girlian gab keine Antwort. »Du hast keine Ahnung, wie sehr du mich erregst. Du tust es ständig. Im mer, wenn wir zusammen sind, würde ich dich am liebsten an mich fesseln und knäueln und die anderen Männer zusammenrufen. Doch jetzt, in den nächsten paar Epsen, kann ich keiner
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lei Ablenkung brauchen. Ich habe mir eine Last aufgeladen, die für einen Einzelnen eigentlich viel zu schwer ist. Wenn du mich zusätzlich noch ab lenkst, ist meine ganze Planung um sonst.« »Ich verstehe.« Beleidigt rollte sie ihre Fransen ein und fädelte sich in den sanften Ee-Strom ein. »Du magst mich nicht. Nun gut - ich habe ohne hin keine Zeit für dich ...« Und weg war sie. Admal warf Wellen der Fassungslo sigkeit. Das Stadtland ging unter, er brachte trotz aller Hektik logische und vernünftige Argumente vor, und dennoch spielte dieses Weibsstück die Beleidigte. Als ob er an all ihren Pro blemen Schuld trug! Nur mühsam gelang es ihm, sich wieder auf seine gedankliche Karte zu konzentrieren. Der namibandische Geist war nicht darauf trainiert, eine derart große Zahl von Einzelinforma tionen aufzunehmen und zu verarbei ten. Als natürlichen Ausgleich für die se Schwäche besaßen sie die Fähig keit, das Erbgut ihrer Eltern in vollem Bewusstsein zu übernehmen. Todesmutige Namibander suchten trotz der hier herrschenden Probleme die Große Tangente ab. Weitere Infor mationsfransen schwappten herbei. Er fügte sie ein, verschob sie ein we nig, brachte sie zueinander in Rela tion. Gedanklich gesetzte Farbtöne halfen ihm, die Schwerpunkte seiner Suche zu markieren. Hier lag das Trümmerfeld der einstmaligen Großen Tangente. Dort vermuteten die Kan tenwächter mehrere Hohlräume. Ris se, meist schmal wie Fransen, ließen erahnen, dass sich in mehreren über einander gelagerten Höhlen die Fels wände zueinander verschoben hatten.
Altere Magnet- und Kraftlinien waren mithilfe der Erinnerungen ihrer Vor fahren rekonstruiert worden. Sie exis tierten nicht mehr oder nur noch in Ansätzen. In das Stadtland eingebro chene Brocken, so groß wie zwanzig übereinander gekettete Namibander, waren zu Teilen der Außenwände ge worden. Ee- und Hoa-Ströme, die ständig die Kavernen und Tunnels ab geschliffen und verändert hatten, wa ren weitere Faktoren in Admals Bild. »Aus jetzt!«, befahl er, als sich ihm die nächsten Boten näherten. Er hatte genug, er konnte nicht mehr. Es war zum Verzweifeln! Wie sehr er das Bild auch drehte und wendete, es ergab einfach keinen Sinn. Drehen und wenden ... drehen und wenden ... Er begann zu vibrieren. Das war es! Augenblicklich näherte sich ihm ein unruhig wartender Kantenwächter. »Was befand sich unterhalb der Großen Tangente?«, fragte Admal auch wenn er die Antwort bereits ahnte. »Darunter? Aber ... da sind Stütz wände und ein paar Hohlräume, zu klein, um uns aufzunehmen, dann ein paar unbedeutende Ee-Ströme, und es ...« »Darunter, du Gasblaserich!« War um stellte man ihm ausgerechnet den dümmsten aller Wächter zur Verfü gung. »Ganz unten ist eine Höhle, die wir kaum nutzen, weil sie keine Kraftlini en aufweist ...« »Es ist das Ruheland!«, unterbrach ihn Admal. »Stimmt’s?« »Ja ... ja, so nennen es die meisten.« Das Ruheland. Jenes schreckliche Gebiet, in dem ihn Girlian - war es tat sächlich erst ein paar Stunden her?
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frei hatte umherwirbeln lassen? Das so tot war und so schal schmeckte, dass kaum jemand bis dahin vor drang? Mit Ausnahme der Frau, die ein perverses Vergnügen an der totalen Linienleere verspürte und sich in scheinbar selbstmörderischer Absicht hineinwarf, um in dunkler Ödnis zu tanzen? »Wir haben immer falsch gedacht«, behauptete Admal fassungslos. »Wir glaubten, dass lediglich die Große Tangente zusammengebrochen sei. Hier, auf dieser Ebene, müsste sich der Durchgang zum Bauch befinden. Aber in Wirklichkeit hat sich unser gesam ter Lebensraum an einer Bruchkante nach oben verschoben. Besser gesagt: Der Bauch und all das Stadtland auf der anderen Seite sind nach unten weggekippt. Die Niveaus der beiden Bereiche haben sich um mehrere hun dert Sabis zueinander verschoben, möglicherweise auch verdreht. Ich Idi ot! Ich habe im Ruheland dieselbe Ge steinsstruktur gespürt wie hier oben. Warum ist mir das nicht gleich einge fallen?« Er packte den verdutzten Kantenwächter und holte mehrere der Boten herbei. »Franselt es an alle wei ter, dass der Zugang zum Bauch höchstwahrscheinlich unten im Ruhe land liegt«, vermittelte er ihnen. »Wir müssen uns dort versammeln und so schnell wie möglich einen Durchbruch erzwingen. Ich brauche jeden Mann, der noch ausreichend Kraft in sich verspürt, um zu helfen ...« Vibrationen, so heftig, dass sie das gesamte Stadtland durchdrangen, beutelten Admal sabisweit beiseite. Etwas Schreckliches musste passiert sein. Der Untergang des Stadtlandes hat te in diesen Momenten begonnen.
12. Ich machte, dass die Erde bebte und aufriss. Ich machte, dass ein Regen guss mit Blitz und Donner über mich hinwegzog und die Hitze des Magmas abkühlte. Ich machte, dass Wind auf kam, der den Wasserdunst hinwegfeg te und die kleinen Kristallbäumchen wie Zahnstocher knickte. Ich machte ... einfach alles. Was mir bei meiner Begegnung mit den Keilraumern der Roschech-Ech sen auf dem Planeten Letrasch nur mangelhaft »geglückt« war, hätte mir nun keinerlei Probleme mehr bereitet. Mit einem einzigen Gedanken hätte ich ihre Schiffe vernichten können. Die unmöglichsten Wahrscheinlich keiten wurden unter dem immer hefti ger werdenden Einfluss des Flammen staubs zur Realität. Nichts, nichts, nichts konnte sich meiner Allmacht entziehen. Ich war alles. Ich war Herrscher. Ich war Gott. Eine kurzer Gedanke genügte, und zwei bizarr verformte Felsnadeln bra chen zur selben Zeit. Ihr Knacksen war weithin zu hören. Sie stürzten ge geneinander - und blieben beide in absurden Winkeln stehen. Ihre Spit zen, kaum breiter als ein Finger, stütz ten einander ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass so et was geschehen konnte, musste in ei nem prozentuellen Bereich liegen, des sen Nullen vor der Eins irgendwo von hier bis zum Horizont reichten. Mein Kopf schien sich währenddes sen zu verformen. Er wurde größer und größer. Panisch griff ich mir mit beiden Händen an die Schläfen und ertastete eine geleeartige Masse. »Was soll das?«, brüllte ich. »Ich
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bin Gott!« Die widerliche Substanz, weich und warm, zerriss und zer bröckelte unter meinen Fingern. Schließlich zerfiel sie zu feinsten Fus seln, die im ruhiger gewordenen Wind davonwehten. Ich verstand. Ich hielt abgestorbene Wahrschein lichkeiten in meiner Hand. Je mehr ich meine Umwelt formte oder verformte, desto geringer war die Zahl meiner möglichen Wege in die Zukunft. Ich wir! - wurde weniger. Der Flammen staub erschöpfte mich und meinen Geist so lange, bis nur noch ein letzter, singulärer Atlan hier liegen würde, inmitten eines Staubhaufens, der schließlich im Nichts verging. Zellak tivator hin oder her. Wo bist du?, rief ich in die Tiefen meines Unterbewusstseins. Ich brau che dich wie niemals zuvor! Der Extrasinn antwortete nicht. Er war, wenn dies mein zerrütteter Geist noch richtig auf die Rolle be kam, meine winzige und einzige Chan ce, dem Tod zu entgehen. Ich musste ihn wachrütteln, aus seinem Erschöp fungszustand wecken und einen Deal mit ihm aushandeln. Der Logiksektor war Fremder und Freund zugleich. Ein Teil von mir - und dennoch viel mehr. Wenn ich ihn dazu »überreden« konnte, die Wirkung des Flammen staubs in sich zu bündeln, würde er sterben - und ich leben. So sah es zumindest mein Plan vor. Die Hoffnung, dass er aufgehen wür de, war von vorneherein gering gewe sen. So hatte ich mir gewünscht, auf Ende einen ruhigen Ort zu finden, an dem ich mich konzentriert mit dem Extrasinn beschäftigen konnte. Doch ich trug Chaos und Unruhe in mir. Wo auch immer ich auftauchte,
würde niemals mehr Frieden herr schen. Ich brauche dich!, schrie ich ein weiteres Mal in mich hinein. Ein leises, kaum wahrnehmbares Echo antwortete mir. So schwach, mü de und ausgelaugt, dass es auch einer Einbildung entspringen mochte. Warum wünschte ich ihn mir nicht einfach herbei?! Ich war dazu imstan de ... Der Gedanke, bittersüß und schön, weckte mich für ein paar Sekunden aus meinem körperlichen und geisti gen Zerfallsprozess - um gleich darauf zerstört zu werden. Die Spielchen mit der Wahrschein lichkeit erstreckten sich auf alles Vor stellbare - nur nicht auf mich selbst. Ich war der ruhende Pol in diesem Meer aus Chaos, das ich verbreitete. Ich fasste die Sonne ins Auge. Sie ging soeben auf, nach dem gewaltigen Sturm von Wolkenbergen nicht mehr verdeckt. Wie wäre es, wenn ich sie herabstürzen ließe? Oder explodieren? In einem Feuerwerk vergehen lassen, dass im Anschluss gegrillte Rinder viertelchen auf Ende herabregneten, während eine halutische Balletttruppe in Tutus gekleidet ein neuarkonidi sches Tanztheaterstück interpretierte? Buchstäblich alles war möglich. Die Wirkung des Flammenstaubs war längst nicht mehr kontrollierbar. Die ser Stoff, aus dem das Multiversum gewoben war, hatte mich für eine ge wisse Zeit als Gefäß ausersehen. Nun war er meiner überdrüssig geworden. Er forderte mein Leben und würde auf geheimnisvolle Art und Weise diffun dieren. Wahrscheinlich kehrte er dort hin zurück, von wo er gekommen war. In ein Kontinuum, das wir einfachen Wesen uns nicht einmal vorstellen
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konnten und das auch höhergestellten Entitäten nicht zur Verfügung stand. Ich schluchzte auf, laut und irre, und es regnete Taschentücher. Weil ich es so wollte. 13. Admal trieb die Namibander an, als hätte er zeit seines Lebens nichts an deres getan. Er teilte ein, plante und gab Befehle. Etwas war in ihm erwacht: ein Ge fühl, das ihn in die Verantwortung für das gesamte Volk zwang. Noch nie mals zuvor, so wusste er aus den Gedächtnisblöcken seiner Vorfahren, hatte es einen wie ihn gegeben. Die Struktur des Stadtlandes brach zusammen, da gab es nichts zu be schönigen. Es existierten kaum noch Öffnungen nach oben, an denen man Gase in die Große Leere entladen konnte. Das Genf wechselte immer wieder und völlig willkürlich seine Konsistenz. Zu ihrer aller Verwirrung änderten sich auch die Kraftlinien; so mit ging nahezu jegliche Orientierung verloren. Einige Namibander starben, weil ei ne Zwischenhöhle einbrach und sie im sich verfestigenden Genf festge klemmt blieben. Ein paar störrische Philosophen waren seinen Warnungen nicht gefolgt. Eine neu entwickelte Ee-Strömung hatte sie mit sich geris sen, hin zu einer Höhle, aus der es kei nen Ausweg mehr gab. Eine der weni gen Frauen hatte angeblich während einer Panikattacke ihre Männer zu sammengerufen; sie galten seitdem als vermisst ... »Gibt es denn keine guten Nach richten?«, herrschte er den Boten an.
»Alles, was du mir berichtest, bringt mich dazu, dass ich meine Fransen einrolle.« Der Namibander schwieg. Voll Angst und Respekt zog er sich in die Ee-Strömung zurück. »Der Auszug muss rascher vor sich gehen!«, ließ Admal durch andere Bo ten verbreiten. »Versammelt euch un ten im Umfeld des Ruhelands. Drängt euch dicht an dicht. Sobald wir die Öffnung zum Bauch gefunden haben, verschwinden wir von hier.« Er franselte »sobald«, obwohl es »sofern« heißen musste. Seine Überle gungen basierten lediglich auf ein paar Vermutungen und Wunschden ken. Mit gasigen Schmerzen im Leib musste er zugeben, dass angesichts der Umstände die Suche nach dem Durch bruch zum Bauch nicht so schlecht lief. Girlian, die sich ja im Ruheland auskannte und auch am besten orien tieren konnte, hatte eine winzige Höh le mit äußerst schwachem Ee-Durch fluss entdeckt. Der Riss, nur eine halbe Körperhöhe breit, schien tief zu ge hen. Ein Freiwilliger hatte nahezu die Hälfte seiner Körpersubstanz geopfert und eine langgezogene Franse ausge bildet, die hundert Sabis waagrecht in die Felsspalte hineinreichte. Wenn man seinem Gefühl vertrauen konnte, so weiteten sich die Wände am Ende dieser Schlucht aus. Die Höhle auf der anderen Seite musste, so sagte er, der art groß sein, dass ihr ganzes Volk hin einpasste. Admal erstickte das aufkommende Jubelgefransel im Ansatz. Es würde lange dauern, bis sie die Höhle so weit verbreitert hatten, dass sie durch konnten. Währenddessen passierten beängs
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tigende Dinge in längst aufgelassenen Höhlen und Durchgängen des Stadt landes. Willkürliche Ee-Ausbrüche sogen unglaubliche Mengen von Genf hinaus in die Große Leere. Höhlen, die stets gut durchströmt gewesen waren, erkalteten. Viele Boten und Beobach ter bezahlten ihre mutige Tätigkeit mit dem Leben. Zu Admals Erleichterung blieben die meisten Namibander ruhig und besonnen. Die Männer und Frauen würden all das tun, was er von ihnen wünschte. »Wie kommt ihr weiter?«, fragte Ad mal einen der Kantenhauer. Es war ein grobschlächtiger Kerl mit vernarbten Fransen, der mit unglaublichem Elan immer und immer wieder gegen das Gestein anstürmte. Kleine Bröckchen fielen in den sanften Ee-Strom und wurden von Helfershelfern wegge kehrt, bevor sie klumpenweise erkal teten und zu Hoa wurden. »Wir geben alles«, war die einsilbige Antwort. Wieder lief er an. Eine breite Gesteinskante stürzte unter dem Jubel seiner Kollegen herab. Dreißig oder vierzig Sabis waren bereits geschafft, wie sich Admal überzeugen konnte, also mehr als ein Drittel des Gesamtweges. Zwei oder drei Namibander würden nebeneinan der durch dieses Nadelöhr flossein können, sobald die gesamte Strecke geschafft war. Hoffentlich reicht das, dachte Admal bei sich. Der Zusam menbruch des Stadtlandes schreitet immer zügiger voran. Es würde schon klappen. Es musste klappen. Wobei sie allerdings eine weitere Unbekannte nicht außer Acht lassen durften: Was erwartete die Namiban der auf der anderen Seite, im Bauch?
14. Eine Ruhephase ließ mich Schmerz und Flammenstaub nahezu vergessen. An die Trübung meines Blicks hatte ich mich längst gewöhnt und auch an die Hautschichten, die von mir abfie len wie Rindenborke. Ich nutzte diesen Moment der Klar heit, um erneut nach dem Extrasinn zu forschen. Ja - er war wach, und er konnte mich denken hören. Vielleicht hatte ich doch noch eine Chance? Würde ich denn ohne ihn leben kön nen? Schließlich war er ein Teil meines Geistes und meiner Psyche. So wie während der seelischen Gefangennah me durch Peonu würde ich wahr scheinlich immensen Druck verspüren und ein Gefühl der Leere, das schreck licher war als jeder körperliche Schmerz. War es das wert? Sollte ich den Tod nicht annehmen? Schließlich kam er als alter Freund zu mir, den ich schon tausendmal weggeschickt hatte ... Nein! Ich würde kämpfen. Ich konnte mich keinesfalls über ein zu kleines Ego beklagen. So war ich durchaus der Ansicht, dass ein Uni versum mit Atlan wesentlich besser funktionierte als eines ohne. Auch mit meinem arkonidischen Heimatvolk hatte ich noch einiges vor. Es war mir nicht recht, dass ich einfach so starb. Mein Tod sollte zumindest eine Bedeu tung haben und nicht so profan pas sieren, so abgelegen und unbemerkt. Eine neue Schmerzwehe peinigte mich. Sie war stärker und mächtiger als die vorherigen. Flammenstaub rie selte grau aus meinem Kopf, und Hautschalen starben ab. Tausende At lans fanden in diesen Sekunden den Tod. Ich wollte mich erheben und aus
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diesem Loch, das voll von Staubweben war, verschwinden. Unter Aufbietung aller Kräfte kam ich hoch - und stürzte schwer zurück. Ich fiel auf den Arm. Er brach, brach entzwei. Es tat weh. Der Flammenstaub tat noch mehr weh. Also ließ ich ihm seinen ... Willen und erzeugte weiteres Chaos auf die sem toten, unbewohnten Planeten. 15. Alle Ee-Ströme versiegten. Nichts bewegte sich mehr. Das Stadtland war endgültig zum Erstarren verurteilt. »Weitermachen!«, ordnete Admal an. »Beruhigt die Wartenden; noch ha ben wir ausreichend Zeit, bis sich die Kälte im gesamten Stadtland ausbrei tet. Bleibt währenddessen alle in Be wegung.« Die Kantenhauer machten weiter, während Boten in den riesigen Tep pich der Wartenden eindrangen und Admals Worte verbreiteten. Admals Leib zitterte wie der eines alten, zerrupften Tatterfransers. Er hatte gelogen. Natürlich wusste er nicht, ob die Zeit reichen würde. Wer konnte so etwas schon voraussagen, bei der großen Gasblase?! Grob ge rechnet blieb ihnen noch eine dreivier tel Epse. Dann würde die Starre über sie kommen und sie unbarmherzig einschließen, ihre Leiber zerquetschen und alle Träume und Hoffnungen end gültig zum Versiegen bringen. »Schichtwechsel!«, ordnete er an. »Beeilt euch gefälligst!« Die Kanten hauer flosselten aus dem frisch ge schlagenen Teilstück des Tunnels her vor. Sie waren von den Strapazen ge
zeichnet. Admal konnte frische Wun den und unkontrolliertes Körper zittern spüren. Frische, ausgeruhte Arbeiter nahmen ihre Plätze ein. Mit dem Mut der Verzweiflung warfen sie sich gegen die Felswände, so wie ihre Vorgänger. Admal blieb im dünnen Strahl des Ee. Dies war der einzige Ort im Stadt land, an dem es noch ein wenig Hitze zu spüren gab. Er nutzte das Privileg, hier drin treiben zu dürfen, ohne schlechtes Gewissen aus. Auf seinen Geist kam es an; er durfte unter kei nen Umständen erkalten. Ab und zu streifte er über das frisch behauene Gestein, ob er eine Erwärmung oder eine Bruchstelle zu spüren vermochte. Immer wieder erteilte er neue Anwei sungen. Er befahl, die Stoßrichtung ein wenig abzuändern oder Neben bohrungen vorzunehmen. Mehrere Richtungswechsel, die durch weiche res Gestein führten, schürten die Hoff nung. Zeit verging. Vier Namibander star ben während ihrer Rammversuche. Ih re aufgefranselten Leiber wurden ge meinsam mit losgebrochenem Gestein abtransportiert und im sich verfesti genden Genf abgelagert. »Hinter dem Teppich ist alles hart geworden!«, teilte ihm ein zu Tode verängstigter Bote mit. »Wir können uns kaum noch bewegen.« »Rückt enger zusammen!«, befahl Admal. »Bildet Knotengemeinschaf ten! Nutzt jeden freien Raum, den es gibt! Lasst uns nur den einen Spalt, den wir benötigen, um das Gestein nach hinten weg zu entsorgen!« »Es gibt kein Hinten mehr ...« »Tu gefälligst, was ich dir sage!« Admal zerrte an den Gesprächsfran sen des Boten.
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Panikartig stob der Junge davon. Admal drehte sich wieder in Rich tung des dünnen Genf-Sprudels. Täuschte er sich, oder war der Strahl stärker, breiter geworden? Tatsächlich! Der Druck auf seinen Körper nahm zu. Eine Rinne herrli cher Wärme bildete einen krassen Ge gensatz zu der Kälte, die sich schlei chend in ihr Stadtland gestohlen hatte. Admal flosselte nach vorne. Dort hin, wo zu Tode erschöpfte Namiban der mit taumelnden Bewegungen ge gen das Gestein anstürmten. »Ihr habt es gleich geschafft!«, feu erte er sie an. »Eine letzte gemeinsame Anstrengung, und wir sind durch!« Er gliederte sich in die Reihen der müden Männer ein. Schob, drängelte, drück te. Sie mussten diesen einen Pfropfen wegdrücken. In den Leerraum, den er dahinter erahnte. Nun gab es für Admal kein Zaudern und Zweifeln mehr. Er malte sich aus, was im Bauch auf sie wartete. Herrli che Kaskaden warmen Ees, die sich über abgerundetes Felsgestein nach allen Seiten ausbreiteten. In denen er sich laben konnte und die, wenn er den richtigen Moment abwartete, ihn unwiderstehlich hochsprudelten und ihn in einen gemächlich dahintröp felnden Seitenstrang spülten. Diese Gedanken gaben ihm Kraft. »Und - zugleich!«, rief er. Sie stürm ten drauflos. Drei Dutzend Männer in einem engen Knäuel. Das Gestein wankte, der Strahl des Ee nahm neuerlich zu. »Und - zugleich!« Dasselbe Kom mando, dasselbe brutale Manöver. Die freigeräumte Höhle bebte. Ad mal schob seine Ängste, dass unter der Wucht ihr fragiles Räumwerk in sich
zusammenstürzen würde, beiseite. Es galt. »Und - zugleich!« Ein Knäuel, des sen Außenflanken großteils nur noch aus totem Fransengewebe bestanden, rammte mit aller verbliebenen Kraft gegen die Felswand. Unbekannte Kraftlinien wurden plötzlich spürbar. Feine Risse erschienen dort, wo sie aufgeprallt waren, verbreiterten sich, zogen sich durch das Gemäuer. Etwas hatte nachgegeben. Die Männer entwirrten sich müde und flosselten dann ruhig im Strom. Drei weitere tote Körper wurden nach hinten weggeschwemmt. Admal wagte sich als Erster vor an die Wand. Er hatte Angst. Gasige, verfluchte Angst. Zigtausend Namibander war teten hinter ihm. Auf seinem Leib las tete die Verantwortung für alles, was in den letzten Epsen passiert war. Vorsichtig tippte er gegen das Ge stein. Es fühlte sich morsch und brö ckelig an. Flammende Hitze strömte aus kleinen Löchern über seinen Kör per. Er verstärkte den Druck seiner Fransen. Ein leibgroßer Brocken stürzte nach vorne. Feuer badete ihn augenblicklich, leckte und liebkoste ihn. Das Gefühl war so schön, so heiß, so ... anders. Sie hatten den Bauch erreicht. Er ließ sich nach hinten treiben, auf die anderen zu. Merkwürdige Ruhe hatte ihn erfasst. Admal flosselte an den Kantenhau ern vorbei, ließ sich wegschwappen, bis er einen Boten erreicht hatte. Er packte ihn an den Fransen, fest und sanft zugleich. »Sag ihnen allen, dass wir es ge schafft haben. Das Volk kann umzie
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hen, hinein in den Bauch und mögli cherweise noch weiter. Sie sollen dis zipliniert vorrücken und sich gefäl ligst beeilen.« Er ließ los und kümmerte sich nicht weiter um seinen Gesprächspartner. Er brauchte Ruhe und Abstand. Einen Platz, an dem er sich verstecken konn te, um die große Leere zu begreifen, in die er mit einem Mal gefallen war. 16. Alles um mich erstarrte. So weit ich blicken konnte, stand die Welt still. Ich wollte diesen Gestank nach Schwefel und Ammoniak nicht, dieses flammende Schreckbild ständig nach quellender Lavamassen und schon gar nicht die tektonische Unruhe unter meinen Beinen. Mein Zorn auf ... auf ... Ichweißnichtwas zeigte unglaubliche Folgen. Ich war der Flammenstaub, und der Flammenstaub war ich. Müde zog ich mir weitere abgestor bene Wahrscheinlichkeiten, dünn wie Gazehäute, beiseite. Sie starben so rasch, dass ich kaum nachkam, zumal der eine Arm - welcher? Der linke oder der rechte? Ich konnte mich nicht mehr an den Unterschied erinnern schmerzte. Ich blickte ihn an. Ein Knochen stach in irrwitzigem Winkel aus dem Fleisch hervor. Eingerissene Sehnen, hauchdünn und hellrot, bewegten sich, wenn ich meine Finger beugte. Ich lachte und wünschte diese ganze Welt zum Teufel. Nun - selbst die Wirkung des Flam menstaubs schien Grenzen zu haben, denn es veränderte sich nichts. Nur der Schwefelgeruch kehrte wieder.
Da lag ich, inmitten eines riesigen Haufens durchsichtiger Lebensfolien, und pumpte Unmengen des Flammen staubs aus mir. Wie eine Wolke aus glitzernden, irisierenden Staubfusseln schwebte er über meinem Kopf. Ich fragte mich, woher all dieses Zeug kam. Hatte es sich in mir vermehrt? Das Nachwachsen der Gazeschich ten endete. Vielleicht waren es noch vier oder fünf, die ich auf mir fühlte. Seltsamerweise spürte ich Leben in ihnen. Vitalimpulse. Ich verstand. Dies waren jene Atlans, die mir am nächsten standen. Die sich vielleicht nur in winzigsten Details von mir un terschieden. Ein Atlan verging, dann der nächste. Ich war müde, so unendlich müde. Ich wollte dieses Leben nicht mehr er tragen, wollte einfach nur noch schla fen und all das, was sich in mir ab spielte, vergessen. Ein weiterer Atlan starb. Wir waren nun alleine, der Andere und ich. Beide litten wir dieselben Schmerzen und starrten fassungslos auf den gebrochenen Arm, aus dessen offener Wunde träge Blut hervor drang. »So hätte es niemals enden sollen«, sagte ich. »Wir dürfen nicht aufgeben«, ent gegnete er. Entsprang dies einer Einbildung, oder konnten wir tatsächlich mitein ander kommunizieren? »Ich höre dich, so, wie du mich hörst«, murmelte der Andere. »Ich verstehe deine Gedanken. Ich bin du. Du bist ich.« »Es wird nicht mehr lange dauern, dann bist auch du weg.« Ich grinste schwach. »Ich werde alleine sterben.«
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Er lächelte gleichzeitig mit mir. »War es denn das?«, fragte er mich, während sich die Wolke des Flammen staubs über uns weiter verdichtete und zusammenzog. Die Welt um uns hörte währenddessen auf, sich auf meinen Wunsch hin zu verändern. Meine Kraft reichte nicht mehr aus. Ich vermeinte, ein Muster im Flirren des Flammenstaubs zu erkennen. Das einer Spiralgalaxis, das sich immer weiter ausbreitete ... »Ja, das war’s«, gab ich nach gerau mer Weile zur Antwort. Auch das Re den tat nun gehörig weh. »Wir brachten nicht alles zu Ende, was wir uns vorgenommen hatten. Die Lordrichter ... die Befreiung der Cap pins ... Peonu ...« »Es hätte niemals ein Ende gege ben.« Ich drehte mich zur Seite, krümmte mich in eine Embryonalstel lung. So, wie ich geboren wurde, so wollte ich sterben. »Haben wir etwas zu bereuen?«, fragte ich den Anderen. »Vieles - und doch nur wenig. Ange sichts unseres Alters wahrscheinlich nur Bagatellen.« »Unsere Feinde, und das waren im Laufe der Jahrtausende ein ganzer Haufen, waren sicherlich anderer Mei nung.« Er lachte. Leise und schwach. Wir würden einfach einschlafen. Zuerst er, dann ich. Dann war da die Idee. 17. Die Beben hatten sich beruhigt. All die plötzlichen, unbegreiflichen Ände rungen waren zu einem Ende gekom men. Das Genf floss kräftig und herr lich warm durch den Bauch. Sie bade
ten darin, eng ineinander geschlun gen, und wiegten sich in einer kollektiven Melodie. Dichter und Kunstfransler arbeiteten bereits gut vernehmbar an einem Heldenepos, das sie ihm auf den Leib schreiben wür den. »Admal Kalistein-aus-dem-Tiefsten ist ein Heroe, wie ihn das Volk noch nie gesehen hat!«, dröhnte eine kräfti ge Stimme. Mehrere Namibander nah men die Worte auf, trugen sie weiter, bis sie durch den gesamten Teppich vi brierten. Jubel, Fröhlichkeit und Er leichterung machten sich Luft, so laut, dass der Fels zu beben schien. Doch hier, an der Jenseitsseite des Stadtlan des, konnte ihnen - vorerst - nichts passieren. Die Fachleute hatten ihre Prüfungen längst abgeschlossen. Dies war Genf, gesünder und reiner als je nes, das sie bislang um sich gehabt hatten. Und die Statik der Felswände gab Anlass zu der Hoffnung, dass sie hier für lange Zeit würden leben kön nen. »Danke«, sagte Admal bescheiden. Nach wie vor wusste er nicht, wie er mit den Ereignissen der letzten Stun den umgehen sollte. War er immer schon so gewesen, wie er sich jetzt fühlte, und hatte bloß die Augenblicke der letalen Gefahr gebraucht, um auf seine besonderen Gaben zurückgrei fen zu können? Oder hatte der Zufall Regie geführt? War er ein Kind des Glücks, das im richtigen Moment am richtigen Platz gewesen war? Auf diese Fragen würde es wohl kei ne Antworten geben. Admal musste nach vorne blicken. Es gab so viel zu tun. Wahrscheinlich würde seine Le benszeit nicht ausreichen, um all das zu erledigen, was er sich in diesem neuen Lebensraum vorgenommen hat
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te. Er platzte vor Tatendrang. Ideen, Pläne und Vorschläge drängten in sei nen Geist, und eine unstillbare Sehn sucht erwachte: Er wollte alles über das Warum herausfinden. Warum das Stadtland binnen kür zester Zeit ausgetrocknet und warum all die Ee- und Hoa-Flüsse versiegt waren. Gab es etwa Leben jenseits der Gro ßen Leere? Unwahrscheinlich. Nach namiban dischem Ermessen konnte kein Wesen, egal wie fremdartig es auch sein mochte, im Nichts existieren. War also alles nur Zufall oder Be stimmung gewesen? Nun - er würde viel darüber nach denken. Unruhe entstand an den Rändern des Teppichs. Stille, freudige Unruhe. Admal Kalistein-aus-dem-Tiefsten rollte sich wohlig zusammen. Es gab sie also wirklich, die jenseiti gen Verwandten. Sie waren gekom men, um sie zu begrüßen. Sie waren wieder ein Volk. 18. Der Zeilaktivator, der mich seit vie len Jahren am Leben erhielt, schickte seine belebende Wirkung mit derarti ger Heftigkeit durch meinen Körper, dass ich nicht einmal mehr zwischen den einzelnen Impulsen unterscheiden konnte. Der Chip, den ich von ES nahe dem rechten Schlüsselbein implantiert bekommen hatte, surrte unruhig vor sich hin. Er schien überhitzt und über lastet, und er erzeugte zusätzliche Schmerzen. Er konnte die vom Flam menstaub verursachte Wirkung nicht mehr ausreichend neutralisieren.
Mein Plan geriet in Vergessenheit. Kein Gedanke wollte mehr haften bleiben. Alles verschwamm, alles wur de weich, ätherisch leicht und seltsam trivial. Hätte ich die Kraft besessen, hätte ich wohl mit den Schultern ge zuckt. Was war schon dran am Tod? »Noch ist es nicht so weit«, murmel te der Andere, während sich auch sei ne Lebensfolie mehr und mehr verfes tigte. »Du hattest eine Idee?« Ich beneidete ihn um seine Kraft. Er schaffte es, seine Lippen zu bewegen. Es fiel mir wieder ein, was ich vor gehabt hatte. Mir blieben vielleicht noch Sekun den. Ich musste mich konzentrieren, die träge gewordenen Zahnräder in meinem Kopf ein letztes Mal in Bewe gung setzen. Ein letztes Atemanhalten, eine letz te Anstrengung. Ich dachte: Leb wohl! Dann atmete ich tief ein. Sog mit all meiner Restkraft den Flammenstaub in mich zurück. Ich spürte währenddessen den An deren. Er war verwirrt, er konnte mit meiner Idee nichts anfangen. Viel leicht waren die Gedanken der letzten Minuten der einzige Unterschied, der uns jemals ausgemacht hatte. Der Großteil seiner FlammenstaubWolke ging ebenfalls auf mich über, weil ich es so wollte. Ich besiegte die ses verfluchte Zeug, indem ich es nutz te - denn ich befreite den Anderen. Er würde leben, ich sterben. Ich war einem - verständlichen - Irr tum erlegen. Nicht ich, sondern er war es, der auf der stärksten, der wahr scheinlichsten Zeitlinie lebte. Sein biss chen Mehr an Energie machte mögli cherweise den Unterschied zwischen uns beiden aus. Er war der Atlan.
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Aber schlussendlich ist alles eine Sache der Perspektive, nicht wahr? * Schwarze Wolken zerbissen mein Gehirn, sie tobten durch die Ganglien und löschten mein Denken mit tollwü tiger Rasanz aus. Ich wehrte mich, denn es gab zwei Dinge, die ich zuvor noch erledigen wollte. Vielleicht würde ich explodieren, inmitten einer Staubwolke aus uner füllten Möglichkeiten? Der Andere musste also weg. Ich schleuderte ihn von mir. Nicht physisch, sondern unter Ausnutzung des Flammenstaubs. Und ich würde ihm ein Abschieds geschenk bereiten. Ein Transportmit tel dorthin zurück, wo auch ich gerne gestorben wäre. Eine Passage in die Milchstraße. Ein Schiff der Cappins würde kommen und ihn aufnehmen. Die Schmerzen verklangen, mach ten der finalen Gleichgültigkeit Platz. Das fingergroße Muttermal am rechten Oberschenkel juckte, und ein letztes Mal kratzte ich darüber. Mein Leben war vollbracht. Ich ließ den Tod geschehen. 19. Im Bauch, viel später: Admal hatte Dinge getan, die in den Erinnerungen der Namibander für al le Ewigkeiten verankert bleiben wür den. Es galt noch eines zu tun, bevor er sich auf seine alten Tage in eine einsa me Höhle zurückzog, um über das Abenteuer des Lebens nachzudenken.
»Ich bin so weit, Girlian«, sagte er zu seiner Frau. »Es muss jetzt sein oder nie.« Sie tätschelte zärtlich über seine al ten, etwas krumm gewordenen Fran sen. »Ja. Ich denke, dass ich jetzt Zeit für dich habe.« Auch ihr Körper war alt und ge brechlich geworden. Sie konnte die Kraftlinien, die sie früher so geliebt und außerordentlich gut gespürt hatte, kaum mehr wahrnehmen. Dennoch schaffte sie es mit ihrer nervtötenden, charmanten, immens lästigen und lie benswerten Art, binnen kurzer Zeit ei nen gut gehegten Hort paarungswilli ger Männer um sich zu sammeln. Genau fünfundzwanzig Namibander knüpften sich zu einem Liebesteppich zusammen. Fünfundzwanzig war eine gute Zahl. Niemals hatte sie ihn, Admal, in den Geburtstanz mit einbezogen. Jetzt erst, zum Ende ihres Lebens, erhörte sie sein Werben. »Du wirst verstehen, warum«, hatte Girlian stets auswei chend gefranselt. Sie verschlangen sich ineinander, während die Frau Pheromone aus schüttete, die einzelnen Väter um gruppierte und den Paarungstanz mit viel Geschick und Zärtlichkeit diri gierte. Schließlich ließ sie sich ins Zentrum des Teppichs gleiten. Dort hin, wo Admal schwebte. Im Zentrum der Hitze, im Mittelpunkt aller Eksta se und Glückseligkeit. Girlian glitt auf ihn zu, legte sich über ihn, wurde eins mit ihm. Sie löste sich auf. Ihr Körper ver dampfte während des Geschlechtsver kehrs. »Normalerweise würde ich mich während des Geburtsvorganges mei nes letzten Kindes auf alle Väter ver
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teilen«, hörte Admal ihre Stimme in sich, »und niemand würde ahnen, wo hin ich verschwunden wäre. Aber du bist etwas Besonderes. Meine Gedan ken und meine Erinnerungen werden für immer in dir bleiben.«
Girlians Körperlichkeit verwehte. Das, was die Frau ausgemacht hat te, steckte von nun an in Admal. Und das Kind, das gezeugt worden war, wurde zu etwas ganz Besonde rem.
ENDE
Dem verletzten Atlan bleibt nur wenig Zeit, sich von der strapaziösen Kon frontation mit sich selbst bzw. seinem »Alternativ-Ego« zu erholen. Welche Wirkung hat der restliche Flammenstaub? Wird der Arkonide seinen wert vollen varganischen Raumanzug wiederfinden? Das angekündigte Treffen mit den Cappins und die Reise in die TODESZONE
SCHIMAYN
schildert Christian Montillon im Folgeband. zehn Tagen überall im Zeitschriftenhandel.
Der Roman erscheint in vier
Atlan - erscheint zweiwöchentlich in der Pabel-Moewig Verlag KG, 76437 Rastatt. Internet: www.vpm-online.de. Redaktion: Sabine Kropp, Postfach 2352, 76413 Rastatt. Titelillustration: Arndt Drechsler. Druck: VPM Druck KG, 76437 Rastatt, www.vpm-druck.de. Vertrieb: VU Verlagsunion KG, 65396 Walluf, Postfach 5707, 65047 Wiesbaden, Tel.: 06123/620-0. Marketing: Klaus Bollhöfener. Anzeigenleitung: Pabel-Moewig Verlag KG, 76437 Rastatt. Anzeigenleiter und verantwortlich: Rainer Groß. Zurzeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 31. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Öster reich: Pressegroßvertrieb Salzburg Gesellschaft m.b.H., Niederalm 300, A-5081 Anif. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlages. Für unverlangte Manuskript sendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. März 2006. Internet: http://www.Atlan.de und E-Mail:
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