GÜNTHER KRUPKAT
1956 VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
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GÜNTHER KRUPKAT
1956 VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/66/56) Umschlagzeichnung: Werner Kulle, Berlin Gestaltung und Typografle: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V15/30
r Nachtwind kam vom See her. Er fuhr raschelnd durch die Kronen der hohen Bäume, die sich am Ufer wiegten, und verlor sich im Dickicht des Parkes, in dessen Hintergrund die weiße Front des großen Hotels leuchtete. Aus den weitgeöffneten Türen und Fenstern des Erdgeschosses ergoß sich strahlender Schein auf die Terrasse. Musik, Lachen, Stimmgewirr und Gläserklingen waren zu hören. Von der Hotelterrasse her näherten sich zwei jugendliche schlanke Gestalten promenierend dem Parkausgang, der zum Seeufer führte. Es waren Teilnehmer des internationalen Kongresses für Astronautik, also für Fragen der Weltraumschiffahrt, der an diesem herrlichen Fleckchen Europas getagt hatte und nun mit einem festlichen Abend seinen Abschluß fand. „Daß Sie sich nur nicht erkälten, Miß Subowa! Sie sind vom Tanz erhitzt." Ein Lächeln glitt über das ebenmäßige Gesicht der jungen, dunkelhaarigen Frau, deren graue Augen mit gelassener Selbstsicherheit Menschen und Dinge zu beobachten pflegten, was sie ein wenig älter erscheinen ließ, als sie war. „Danke, Mr. Wood, ich friere nicht." Aber nachdenklich zog sie den Schleier, den sie über dem Abendkleid trug, fester um die Schultern. Ihr Begleiter, ein Mann von etwa dreißig Jahren, blond, blauäugig und hochgewachsen, betrachtete einen Augenblick lang still ihr Profil, das sich im Widerschein des erleuchteten Hauses aus dem umgebenden Dunkel abhob. Dann stieß er die Hände in die Taschen seines Jacketts und richtete den Blick versonnen auf die schimmernden Schneegipfel der Schweizer Berge jenseits des Sees. „Morgen trennen sich unsere Wege. Vielleicht für immer. Sie, Irina Subowa, die Assistentin des großen Gelehrten Petroff, werden in ihre Heimat zurückkehren, irgendwohin in die Weiten Ihres gewaltigen Landes. Sie werden sich wieder in Ihrer Arbeit vergraben, werden forschen, experimentieren, projektieren - bis Sie alt und grau geworden sind." Irina blickte mit einem prüfenden Lächeln auf den Mann. „Und Sie, der Reporter Carry Wood, werden weiter durch die Welt jagen, immer 3
auf der Suche nach neuen Sensationen. Und auch Sie werden darüber alt und grau werden." „Oder auch nicht." Carry Wood lachte, aber es war ein wenig Bitternis in seinen Worten. Er fuhr mit der Hand durch die Luft, als raffe er etwas zusammen. „Wie könnten Sie mich und mein Leben verstehen!" „Warum sollte ich das nicht?" „Weil wir in zwei verschiedenen Welten leben; sie sind wie Feuer und Wasser." Irina Subowa schüttelte lebhaft den Kopf. „Muß das so sein, Mr. Wood? Haben Sie nicht erst in diesen Tagen miterlebt, wie sich die Vertreter der Wissenschaft Ihres Landes mit den Forschern meines Landes und so vieler anderer Staaten in bestem Einvernehmen zusammengefunden und die Ergebnisse ihrer Arbeit erörtert haben, um einen uralten Traum der Menschheit, den Vorstoß in den Weltraum bald zu verwirklichen? Dieser Kongreß, über den Sie viele Berichte an Ihre Zeitungen gesandt haben, hat der Menschheit gezeigt, daß ihr im Atomzeitalter Aufgaben erwachsen, die sie nur in Eintracht und ehrlicher Zusammenarbeit lösen kann." Carry blieb stehen und lächelte ihr zu. „Man könnte es glauben, Sie kluge Frau." „Man muß es!" entgegnete sie mit Nachdruck und sah ihm in die Augen. „Und wir beide sind jung genug, um helfen zu können, daß dieser Glaube zur Tat wird. Jeder auf seinem Platz." Eilige Schritts näherten sich vom Hause her. Es war ein Hotelboy. „Ein Radiogramm für Sie, Mr. Wood." Carry nahm das gefaltete Blatt entgegen. Der Boy ließ eine Taschenlampe aufleuchten. Carry las und steckte das Papier in die Tasche. Der Boy verschwand. „Jeder auf seinem Platz, sagten Sie, Miß Subowa." Er blinzelte zu den Sternen hinauf. Dann wandte er jäh den Kopf zu ihr. „In einer Stunde muß ich abreisen. Ich habe neue Aufgaben bekommen. Wohin sie mich führen werden, das weiß ich allerdings noch nicht. Ich danke Ihnen für Ihre kameradschaftliche Hilfe während des Kongresses. Ich habe viel von Ihnen gelernt. Wir wollen Freunde bleiben, nicht wahr?" „Ja, Carry", sagte sie und reichte ihm die Hand. Sie kehrten wortlos zum Hause zurück, und bald darauf startete ein Düsenflugzeug mit Carry Wood an Bord in Richtung Maystone. Don Enrique Alvarez, Direktor des technisch-physikalischen Versuchswerkes eines der großen Weltkonzerne, das aus wohlerwogenen Gründen in ein abhängiges Ländchen Mittelamerikas verlegt worden 4
war, stieß den Zigarettenstummel so heftig in die Schale, daß die Asche über die polierte Schreibtischplatte stiebte. Mortez, sein Sekretär, trat erschrocken einen Schritt zurück, denn er war solche Heftigkeit bei seinem Chef nicht gewöhnt. „Er soll hereinkommen", knurrte Alvarez und hob seinen Geierkopf zur Tür hin. Es erschien ein sehr aufgeregter kleiner Herr, der sofort auf Alvarez zuging und seinen Strohhut auf den Schreibtisch warf, was Don Enrique mit einem mißbilligenden Blick hinnahm. „Die Rundfunksender machen die Menschen verrückt, die ganze Welt ist alarmiert! Ich bitte Sie, Senor Alvarez, ist das Ihr Ernst? Heute nacht soll die erste bemannte Weltraumrakete starten?" Alvarez schnippte ein Ascherestchen in die Luft. „Wozu die Aufregung, Professor Barrada? Es ist wahr, RAK 17 startet heute nacht mit einer Besatzung. Und warum sollte dieses bedeutsame Ereignis der Welt vorenthalten werden? Im Gegenteil, unser Konzern wünscht nach dem eben beendeten Kongreß für Astronautik eine Demonstration seines technischen Fortschritts." Professor Barrada sank auf einen Sessel nieder, sprang aber sogleich wieder auf. „Der Konzern w ü n s c h t . . . und ich, der wissenschaftliche Leiter der Versuchsabteilung, werde einfach vor die fertige Tatsache gestellt! Ich sage Ihnen: Die Versuche sind noch nicht abgeschlossen! Und Sie wollen trotzdem mit diesem Raketentyp Menschen in den Weltraum schicken?" „Unser wissenschaftlicher Rat teilt nicht Ihre - übertriebene Vorsicht." Der Professor rang nach Atem. „Ich weiß, ich weiß! Diese Leute sind dem Konzern natürlich bequemer. Der Kongreß in Europa hat aber bewiesen, daß uns Professor Petroff und sein Kollektiv überflügelt haben. Sie arbeiten offenbar schon am Bau eines Weltraumschiffes, das mit Atomenergie betrieben wird." „Gerüchte", unterbrach ihn Alvarez mit einem schnellen, bösen Blick. „Und wenn es so wäre, dann ist das ein Grund mehr für uns, keine Stunde zu verlieren. Uns soll niemand zuvorkommen. Petroff und seine Leute schon gar nicht!" Barrada ließ sich nicht beirren. „Wir sind über das Stadium der Rakete mit flüssigem Treibstoff noch nicht hinaus, ganz zu schweigen von anderen Unzulänglichkeiten. Wir brauchen Zeit, nur noch ein paar Monate. Solch ein Wettlauf aber kann verhängnisvoll werden. Und das lehne ich als Wissenschaftler ab!" „Sie sollten sich von diesem Petroff - und überhaupt von denen dort", Alvarez machte eine wegwerfende Geste, „nicht so stark beeindrucken 5
lassen, Senor Barrada. Die Zentrale hat nicht die Absicht, immer weiter Millionen für Ihre Versuche aufzuwenden. Objekt IV muß abgeschlossen werden. Die Besatzung ist da, und die Rakete startet heute nacht. Die Anweisung ist klar und eindeutig." Professor Barrada richtete sich vor Alvarez feierlich auf. „Im Namen der Wissenschaft protestiere ich gegen das Vorhaben. Ich wünsche nicht, mit diesem - Abenteuer in Zusammenhang gebracht zu werden!" „Ich habe davon Kenntnis genommen", entgegnete Alvarez in scharfem Ton. Barrada verneigte sich flüchtig und verließ den Raum. Ein paar Minuten lang war nur das Summen des großen Ventilators zu hören. Enrique Alvarez schaute auf das breite Fenster, dessen Gardinen ein leichter Windhauch bewegte. Draußen lag der Hafen still und verlassen im Sonnenglast des tropischen Mittags, und dahinter dehnte sich das dunkle Blau des Golfes. Schließlich sagte Alvarez: „Das gefällt mir nicht, das mit dem Barrada. Man muß dafür sorgen, daß er keine Schwierigkeiten bereitet." „Schon geschehen, Senor", bemerkte Mortez. „Die Überwachung läuft." Der Direktor erhob sich, ging ein paar Schritte auf und ab und stellte dann das Radio ein. Die Stimme eines Ansagers erscholl: „ . . . bringen wir laufend Berichte von der Vorbereitung zum Start der Weltraumrakete. Bleiben Sie am Empfangsgerät! Bleiben Sie am Empfangsgerät! Wir kommen mit weiteren Meldungen wieder. Wir kommen w i e d e r . . . " Alvarez schaltete ab. „Hauptsache, der Startplatz bleibt geheim! Es soll uns kein Mensch in unserem stillen Winkel stören", sagte er und blieb vor seinem Vertrauten stehen. „Mortez, wenn der Flug gelingt...! Begreifen Sie die Perspektiven, die ungeheure Bedeutung von Objekt IV: Strategische Beherrschung des Erdballs durch interplanetare Stützpunkte und Weltraumkreuzer! Unsere Aktien auf Rekordhöhe! Und wir werden die Entwicklungsarbeiten durchführen, die ersten Versuche im großen Maßstab. Der Start muß gelingen!" „Und wenn er nicht gelingt?" warf Mortez ein. Alvarez nahm eine Zigarre und spuckte die abgebissene Spitze auf den Boden. „Wenn er nicht gelingt...? Nun, dann wird eben eine neue Rakete starten." „In wenigen Minuten erfolgt die erste Originalübertragung vom Startplatz der Weltraumrakete. Bleiben Sie am Lautsprecher! Bleiben S i e . . . " „Extrablatt! Extrablatt! Interview mit führenden Wissenschaftlern über den ersten Weltraumflug. - Geheimnis um den Ort des Startes. Extrablatt!!" 6
„Achtung, Achtung, in wenigen Minuten . . . " Carry Wood schob sich durch das Gewimmel der Hauptstraße von Maystone und betrat das große Verlagsgebäude. Alle grüßten den bekannten Reporter zuvorkommend, ja beinahe feierlich. „Hallo, Wood, der Chef erwartet Sie schon!" Carry öffnete eine gepolsterte Tür und trat in das Zimmer des Direktors. „Tag, Chef." Er wies auf eines der Fenster, durch die der Lärm aus den Straßenschluchten hereindrang. „Die ganze Welt steht köpf." „Endlich sind Sie da, Wood! Habe eine neue Aufgabe für Sie. Tolle Sache!" „Weiß s c h o n . . . Weltraumfahrt.", „Sie wissen schon?" „Lesen Sie Ihr eigenes Extrablatt nicht?" „Natürlich... Konnte Sie aber doch vorher nicht sprechen. Ging alles verdammt schnell. Kleiner Formfehler." „Zu Ihren Lasten, Chef." „Was soll das heißen?" „Daß ich noch gar nicht zugestimmt habe." „Sie wollen nicht?" „Und wenn ich nicht will?" „Hören Sie, Wood: Dank unserer guten Verbindungen haben wir erreicht, daß wenigstens ein Vertreter unserer Presse am Flug teilnehmen kann. Sie waren auf dem Kongreß für Astronautik, haben sich mit den Problemen der Raumschiffahrt einigermaßen vertraut gemacht. Wen sollte ich sonst schicken? Das ist die große Sache für Sie!" „Und für die Zeitung", setzte Carry hinzu. Der Chef überhörte den Einwurf. „Ich kenne Sie als unerschrockenen Burschen, der immer dabei ist, wenn es sich lohnt. Und hier lohnt es sich, verdammt! Über Nacht können Sie weltberühmt und dazu noch ein reicher Mann sein. Für den Berichterstatter, der an dem Raketenflug teilnimmt, ist eine enorme Prämie ausgesetzt." Er nannte eine sehr hohe Summe. Carry schob den Hut ins Genick. Er war im Grunde ein unkomplizierter Mensch und liebte schnelle Entschlüsse. Sollte er noch viel überlegen? Der Chef, dieser alte Fuchs, hatte ihn ja ohnehin schon festgenagelt, sein Name als Teilnehmer an der Weltraumfahrt war bereits in aller Munde. Sehr viel Ehre, sehr viel Geld! Das lockte. Gewiß, diese Aufgabe war besonderer Art. Vielleicht barg sie Gefahren in sich, die er gar nicht ahnte, ganz andere als jene, die er auf vielen Fahrten durch die weite Welt, auf den Schauplätzen kleiner und großer Sensationen schon überstanden hatte. Hier ging es um mehr! Er dachte an die Tage in 7
Europa, an Irina Subowa und ihre Worte an jenem Abend. Was würde sie wohl sagen, wenn sie erführe...? Ein Lächeln glitt über sein schmales Gesicht. „Ich nehme an, Chef!" „Na, also!" Der Chef lehnte sich zufrieden zurück. Irgendwo lärmte ein Lautsprecher: „ . . . Triumph unserer Technik . . . Vorbereitungen in vollem G a n g e . . . gewaltige S t a r t b a h n . . . wie ein riesiger, silberner F i s c h . . . der bekannte Reporter Carry Wood..." 0.30 Uhr. - Im Lichte des Vollmondes liegt die eintönige steinige Landschaft, die hier und da von Gruppen mannshoher Kakteen belebt ist. Auf dem bleichen Band der staubigen Landstraße jagt eine Kolonne von fünf Autos entlang. Im ersten Wagen fährt Sefior Alvarez mit einigen Herren vom Konzern. Den dritten Wagen steuert Mortez. Neben ihm sitzt Ingenieur Miller, Beauftragter des Konzerns, dahinter Pablo Sebastiano, Leiter der Abteilung U der Versuchsstation, und Carry Wood. Diese drei sind die Besatzung der RAK 17. Carry hebt den Blick von der vorbeifliegenden Landschaft zu den Weiten des Firmaments. Er ist gewiß nicht sentimental, aber das Außergewöhnliche des bevorstehenden Ereignisses erfüllt ihn doch ganz und gar. Er versucht sich die nächsten Stunden vorzustellen, es gelingt ihm jedoch nicht. Dieser Flug ist etwas Neues, was mit keinem seiner bisherigen Erlebnisse zu vergleichen ist. Keiner der Insassen des Wagens spricht. Jeder ist mit seinen Gedanken vollauf beschäftigt. Der Reporter in Carry wird plötzlich wach. Er tastet gewohnheitsmäßig nach seinem Notizblock in der Jackentasche und wendet sich an seinen Nebenmann. „Sefior Sebastiano, welche Gedanken beschäftigen Sie jetzt, kurz vor dem Start?" Pablo Sebastiano sieht Carry belustigt an. „Oh, Sefior Wood beginnt bereits mit seiner Berichterstatterarbeit! Meine Gedanken vor dem Start? Ja, wissen Sie", fährt er sinnend fort, „wenn man nach jahrelangen Arbeiten, Fehlschlägen und Erfolgen endlich vor einem neuen, entscheidenden Abschnitt der Entwicklung steht, dann blickt man noch einmal den langen Weg zurück, den man bis dahin gegangen ist. Und das habe ich soeben getan. Ich dachte daran, wie wir damals die ersten künstlichen Erdtrabanten in den Weltraum schössen." „Sie waren von recht geringem Umfang, nicht wahr?" „Ja, es waren kleine bescheidene Möndlein von etwa 40 Kilogramm Gewicht und nicht größer als 60 Zentimeter im Durchmesser. Aber sie waren mit vielerlei Hilfs- und Forschungsapparaten versehen und sandten uns durch ihr Radargerät die Ergebnisse der automatischen Messungen. Dann schickten wir besser ausgestattete, ferngesteuerte Raketen 8
auf die große Rundreise. Manche ,brachen aus' und verschwanden im Weltraum, einige explodierten beim Durchgang durch die Atmosphäre." „Und die anderen?" „Die landeten mit Fallschirmen. Sie brachten eine Menge Material mit, und unsere Kenntnisse von den Verhältnissen im Kosmos wuchsen. Aber der entscheidende Schritt ist der Vorstoß eines bemannten Flugkörpers in den Weltraum. Na, und der soll ja nun unternommen werden, unter Ihrer freundlichen Mitwirkung, Sefior." Während Sebastiano spricht, mustert Carry aufmerksam diesen Mann, der die Verantwortung für die erste Weltraumreise und das Leben der Raketenbesatzung tragen soll. Pablo Sebastiano ist ein hervorragender Wissenschaftler, groß, hager, etwa vierzigjährig. Sein dunkelhäutiges Gesicht ist markant, es verrät das Blut indianischer Vorfahren. Eine heitere Ruhe geht selbst in dieser bedeutsamen Stunde von ihm aus. Welch ein Kontrast zum zweiten Mann der Besatzung! Ingenieur Miller ist jünger als Sebastiano, untersetzt und unscheinbar. Auch er trägt Gelassenheit zur Schau, die aber gekünstelt wirkt. Seine kleinen schwarzen Augen blitzen hin und her, verharren hier und dort mit einem mißtrauischen Ausdruck, und schließen sich hin und wieder für Sekunden, wobei seine fleischige, weiße Hand nervös über das kurzgeschorene Haar fährt. Woher nimmt dieser Mensch den Mut zu einer Weltraumfahrt? Oder verfügt er über besondere Qualitäten? Carry wendet den Blick wieder Sebastiano zu und sagt, auf dessen letzte Worte eingehend: „Hoffentlich werden wir die ungeheure Beschleunigung der Rakete beim Start gut überstehen." Sebastiano nickt. „Das ist das Hauptproblem. Der menschliche Organismus verträgt jede gleichbleibende Geschwindigkeit, eine Beschleunigung aber nur in gewissen Grenzen. Unsere Versuche haben ergeben, daß die Beschleunigung eine Größe von 4 g* für längere Zeit nicht überschreiten soll, was bekanntlich der vierfachen Erdschwere entspricht." „Das bedeutet für mich, daß ich einen Druck von rund sechs Zentnern aushalten muß." „Ein scheußliches Gefühl, sage ich Ihnen! Ja, so ein Weltraumflug ist schließlich keine romantische Gondelfahrt." Carry will gerade eine Frage an Miller richten, als Mortez den Wagen bremst. Vor der Autokolonne blinkt rotes Licht. „Gendarmerieposten", erklärt Mortez. „Wir nähern uns dem Startplatz." Nach kurzem Wortwechsel am vordersten Wagen geht die Fahrt weiter. Der Weg steigt stetig an, und wenige Minuten später passieren sie einen doppelten Militärkordon, der das Gelände völlig abriegelt. • g = Erdbeschleunigung von 9,81 m/sec'
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1.15 U h r . - D e r Startplatz ist erreicht. Er liegt im Landinnern auf einem Hochplateau. Die Fläche dieses Plateaus ist betoniert und gleicht einem Rollfeld. An seinem Südrand stehen zwei flache Gebäude, die Kommandostelle. Sie ist durch geräumige Aufzüge mit den weiter unten liegenden Montagehallen verbunden. An der Nordseite des Rollfeldes erhebt sich in Westostrichtung der wuchtige Bau der Startbahn in einem Winkel von etwa 45 Grad zürn Himmel. In den Gleisen der Startbahn ruht auf Kugellagern, aber durch eine Bremsvorrichtung gesichert, ein großer, schlanker, im grellen Scheinwerferlicht schimmernder Fisch: die 35 Meter lange Weltraumrakete, Während unten bei den Häusern und Hallen Menschengruppen zu sehen sind, die erregte Diskussionen führen, befinden sich auf dem Rollfeld nur wenige Personen. Ein paar Leute vom Rundfunk rennen hin und her. An der Startbahn hat der Hauptingenieur mit seinen Mitarbeitern Aufstellung genommen. Zu ihren Häuptern ragt geheimnisvoll wie eine Sphinx die Rakete. Die Autokolonne kommt den Serpentinenweg herauf, überquert das Rollfeld und hält vor der wartenden Gruppe. Die Funkreporter stürzen hinzu. Der Hauptingenieur öffnet die Tür des ersten Wagens, begrüßt die Vertreter des Konzerns und meldet Direktor Alvarez: „RAK 17 ist startbereit!" Auch Carry ist ausgestiegen. Er hat Block und Bleistift in der Hand, schiebt die Mütze zurück und sieht sich um. „Das wäre also unser Himmelsautobus." Diese Bemerkung bringt ihm einen strafenden Blick von Ingenieur Miller ein, doch das stört ihn nicht. Inzwischen haben sich die anderen um einen großen, dicken Mann gruppiert, der eine Ansprache beginnt. Carry hört kaum hin, nur einzelne Schlagworte dringen in sein Bewußtsein: „ . . . Ergebnis langer Forschungsarbeit... zum Wohle der Menschheit... selbstloser Einsatz . . . friedliche Ziele . . . Dank an alle Mitarbeiter..." Alvarez steht neben dem Redner, Mortez hinter ihm. Der Direktor mustert die Anwesenden, dann neigt er sich zu Mortez und murmelt: „Kein einziger vom Arbeitskreis Barrada ist hier!" Mortez sieht nachdenklich auf Alvarez, gibt sich einen Ruck und flüstert ihm zu: „Ich habe soeben erfahren, daß Professor Barrada fort ist. Mit dem Flugzeug ins Ausland!" Ein Scheinwerfer spielt über Alvarez' Gesicht. Es ist totenbleich. 1.40 U h r . - D i e Rede ist beendet.Ein kurzes Händeklatschen folgt, das sich in den gewaltigen Dimensionen der Anlagen verliert. Die Besatzung wird verabschiedet, sie begibt sich zur Rakete. 10
Die drei Teile, aus denen das Weltraumfahrzeug besteht, sind deutlich zu erkennen. Es ist eine sogenannte Mehrstufenrakete, deren System es ermöglicht, eine Geschwindigkeit von etwa 11,2 Kilometern in der Sekunde, also von mehr als 40 000 Stundenkilometern zu entwickeln, um die Anziehungskraft der Erde zu überwinden. Ihr Heck mit den mächtigen, flossenartigen Flächen, die der Rakete größere Stabilität beim Flug durch die Atmosphäre verleihen sollen, beansprucht fast die Hälfte der gesamten Raketenlänge. Darin befindet sich die Treibstoffkammer I. Wenn sie leergebrannt ist, wird sie automatisch ausgeklinkt und abgeworfen. Ein Fallschirm trägt sie zur Erde zurück. Ebenso geschieht es mit der Kammer II, dem kleineren Mittelteil der Rakete. Der dritte Teil mit der letzten Treibstoffkammer und dem Steuerraum hat breite, stumpfe Tragflächen für den Gleitflug bei der Rückkehr zur Erde. Die Einstiegluke des Steuerraumes ist geöffnet. Als erster betritt Miller über eine schmale Leiter das Innere der Rakete. Ihm folgt Carry. Sebastiano schaut noch einmal zurück. Sein Blick schweift über das weite Rund der mondhellen Landschaft, über die Startbahn und den glänzenden Flugkörper. Dann nickt er den beiden Männern vom Platzpersonal zu, die neben der Leiter stehen, und folgt seinen Gefährten. Mit schnellen Griffen wird die Luke verschraubt. Die Zurückbleibenden folgen der Autokolonne zu den Gebäuden am Südrand des Rollfeldes. Sie wollen den Start, geschützt von den dicken Fensterscheiben der Kommandostelle, beobachten. Die Scheinwerfer konzentrieren ihre Lichtkegel auf die Startbahn. Draußen ist kein Mensch mehr zu sehen. Nur ein Papierfetzen trudelt im Nachtwind über die große Betonfläche. 1.45 Uhr. - Sebastiano und Miller haben sich auf den vorderen Sitzen im Steuerraum festgeschnallt. Hinter ihnen hat Carry Platz genommen. Die Sessel sind stark gepolstert und so eingerichtet, daß sie wie Liegestühle verstellt werden können. Hierdurch ist es möglich, die Weltraumreisenden vor ernsten Störungen des Blutkreislaufes infolge des hohen Andrucks beim Start und bei jeder Flugbeschleunigung unterwegs zu bewahren. Die Schwenkvorrichtung der beiden Vordersitze ist mit einem Mechanismus des Schaltbrettes gekoppelt, so daß sich die Steuerungsanlage mit ihren vielen Hebeln, Zählern und Signallämpchen in dem Maße hebt, wie die Sessel zurücksinken, also stets im Blickfeld und in Griffnähe des Führers bleibt. An der Bugwölbung befindet sich ein siebenteiliges Fenster aus Spezialglas, das wie in einem Futteral durch eine doppelte Panzerkappe geschützt ist, solange die Rakete beim schnellen Durchqueren der Atmosphäre infolge des Luftwiderstandes einer starken Erhitzung ausgesetzt wird. Der hintere Teil des Steuerraumes 11
ist bis in den letzten Winkel für die weitere technische Ausstattung in Anspruch genommen worden. Dort sind die verschiedensten Meßinstrumente, automatische Regler, Selbstschreiber und andere Mechanismen untergebracht. Sebastiano überprüft die Kontrollgeräte. Dann wendet er sich langsam Miller und Carry zu. Seine Miene ist unbewegt, doch in seinem Blick liegt ein Leuchten. Kein Wort wird gesprochen. Ein Gedanke beherrscht alle drei: Es ist soweit! In die Stille fallen Sebastianos Worte: „Noch 15 Sekunden! Legen Sie sich bequem in Ihre Sessel, atmen Sie ruhig, ganz entspannt." Er schaltet das Mikrophon ein. „Hallo, Kommandostelle! RAK 17 startfertig." Ein Prasseln kommt aus dem Lautsprecher, darauf ertönt die Stimme des Hauptingenieurs: „Achtung, RAK 17! Start frei!" Drei Augenpaare verfolgen das Zucken des Uhrzeigers am Schaltbrett des Steuerraumes. Noch fünf Sekunden, noch v i e r . . . d r e i . . . z w e i . . . noch eine S e k u n d e . . . Sebastiano drückt einen Hebel nieder. Ein weithin hallender Donner bricht los. Die Männer in der Kommandostelle sind von einem grellen Blitz geblendet. „Ein Uhr zweiundfünfzig. Rakete glatt abgekommen", meldet der Hauptingenieur. „Unsere siebzehnte, Senor Alvarez", fügt er hinzu. „Aber die erste mit Menschen!" Carry stöhnt. Sein Körper ist schweißgebadet, denn von den glühheiß gewordenen Außenwänden der Rakete dringt trotz der Isolierung eine kaum erträgliche Hitze in den Steuerraum. Carry ringt nach Luft, aber auf seiner Brust liegt eine zentnerschwere Last. Über denKöpfen von Müler und Sebastiano kann er den Chronometer am Schaltbrett sehen. Es sind . . . ach, wie schwer wird das D e n k e n . . . es sind erst 90 Sekunden seit dem Start vergangen, und mehrere Minuten noch wird diese fürchterliche Beschleunigung dauern. Sebastianos Hand ruht auf dem Hebel. Er bewegt sie ein wenig. Da preßt sich die unsichtbare Riesenfaust noch stärker auf Carry. Seine Glieder liegen bleischwer in den Polstern des Sessels. Der Zeiger des Geschwindigkeitsmessers wandert weiter: 4000... 4250 . . . 4500 . . . 5000 . . . m/sec! Carry wird von Schwindel erfaßt, er verliert für Sekunden das Bewußtsein. Dann sieht er wieder die Gefährten vor sich, das erleuchtete Schaltbrett und den Zeiger, der gerade den Strich bei 6500 überschritten hat. Er versucht zu sprechen, bringt aber die Kraft dazu nicht auf und sinkt erneut in ein Dahindämmern. Plötzlich geschieht etwas Merkwürdiges. Carry spürt den entsetzlichen Druck nicht mehr. Er hat das Gefühl, als würde sich die Rakete über12
schlagen und mit ihm ins Unendliche stürzen. Unwillkürlich streckt er die Arme vor. Was ist das? Die Arme schweben ja in der Luft, sie haben kein Gewicht mehr! Carry kann sie nicht fallen lassen, er muß sie herabdrücken. Sein Blick richtet sich auf den Geschwindigkeitsanzeiger. Die schimmernde Nadel ist zur Ruhe gekommen, sie weist auf eine gleichmäßige Geschwindigkeit von 7920 m/sec. Der Düsenantrieb ist abgestellt worden. Die Rakete fliegt infolge des Beharrungsvermögens weiter und befindet sich daher im Zustand völliger Schwerelosigkeit. So ist das also, denkt Carry, wobei ihm angenehm bewußt wird, daß ihn nun das verdammte Schlüsselbund in der hinteren Hosentasche nicht mehr drückt, weil er ja in seiner Hose - schwebt. Nun rührt sich auch Sebastiano. Er hebt behutsam den Kopf und schaut auf die Skalen. Darauf wendet er sich zu Carry um. Sein Gesicht ist von der überstandenen Anstrengung eingefallen. Er lächelt matt. „Wie geht es? War es schlimm?" „Danke, es hat mir genügt! Aber vielleicht gewöhnt man sich an so etwas. Als die Eisenbahn zum erstenmal eine Geschwindigkeit von 60 Stundeinkilometern erzielte, haben die Leute auch geglaubt, dies nicht überleben zu können!" „Wir haben jetzt aber eine Geschwindigkeit von rund 28 500 Stundenkilometern", bemerkte Sebastiano und läßt die Sessel langsam in die Normalstellung schwenken. „Es ist, als ständen wir still." „Gleichbleibende Geschwindigkeiten spüren wir eben nicht. Oder haben Sie schon jemals die Geschwindigkeit empfunden, mit der unsere Erde in einem Jahr um die Sonne jagt? Sie beträgt sogar 29,5 Kilometer pro Sekunde oder rund 106 000 Stundenkilometer." „Hören Sie mit diesen Zahlen auf! Mir dreht sich's im Kopf. Was macht eigentlich Ingenieur Miller?" Der hat die Augen geschlossen. Sebastiano berührt ihn sacht. „Hallo, Senor!" Erwachend sieht sich Miller um. Er besinnt sich, wo er ist. „Alles in Ordnung?" „Jawohl", bestätigt Sebastiano. „Geschwindigkeit genau 28 512 Stundenkilometer." Miller blickt zur Uhr. „Warum hat die Rakete nicht 40 000 Stundenkilometer Geschwindigkeit?" Sebastiano öffnet mit Hilfe eines Mechanismus die Schutzhülle des Bugfensters und schaut hinaus auf die Sterne im tiefschwarzen Firmament. „Wollten Sie vom Druck der Beschleunigung zerquetscht werden? Seien Sie froh, daß Sie das überstanden haben, Sefior", antwortet er. 13
„Ein großartiger Erfolg!" meint Carry. Aber Ingenieur Miller ist unzufrieden. „Sie haben auf diese Weise zuviel Treibstoff verbraucht, Sebastiano. Weit kommen wir nicht." „Stimmt", bestätigt der Raketenführer. „Treibstoffkammer I und II sind schon ausgeklinkt und abgeworfen. Eben deshalb habe ich den Antrieb bei 7920 m/sec Geschwindigkeit gestoppt. Wir halten uns mit der Anziehungskraft der Erde also gerade die Waage und bewegen uns jetzt auf einer Kreisbahn." Sebastiano schnallt sich vom Sitz los und fordert seine Gefährten auf, dasselbe zu tun. „Aber Vorsicht!" mahnt er. „Vergessen Sie keinen Augenblick die Schwerelosigkeit. Denn von dem gleichen Kraftaufwand, den Sie von der Erde her gewöhnt sind, würden Sie einen derartigen Bewegungsimpuls erhalten, daß Sie sich vielleicht den Kopf einschlagen." Als Sebastiano durch den Raum geht, gleichen seine Bewegungen denen eines Tauchers, der sich unter Wasser behutsam und schwebend fortbewegt. Er zieht sich an einer Verstrebung zu Boden nieder und löst eine stählerne Deckplatte von einem Bullauge. Ohne die geringste Mühe hebt er die Platte auf, und als er gar die Hände öffnet, hängt sie frei im Raum. Ein leichtes Antippen mit dem Finger genügt, um das schwere Metallstück wie einen Kinderballon zur Decke steigen zu lassen. Carry verfolgt fasziniert diesen Vorgang. Er kann der Versuchung nicht widerstehen und gibt sich mit den Fußspitzen einen kleinen Stoß, worauf er prompt hinter der Stahlplatte her zur Decke schwebt. Sebastiano zieht ihn lächelnd herab. „Unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit hat alles das gleiche Gewicht, ob Mensch, Daunenfeder oder Stahlplatte: nämlich keines!" „Das war mir natürlich bekannt", erklärt Carry. „Diese Erscheinung aber in Wirklichkeit, sozusagen am eigenen Leibe zu beobachten... das ist einfach unheimlich." „Und nun sehen Sie her!" Sebastiano weist auf das Bullauge am Boden. Durch den Druck auf einen Knopf hat er es auch von seinem Außenschutz befreit. Carry und Miller blicken durch das dicke Glas. Unter ihnen rollt eine riesige gewölbte Fläche vorüber. Es ist die Erde im fahlen Widerschein des Mondes. „Das dort ist Südamerika", sagt Sebastiano. „Und bald werden wir die Morgensonne über Afrika, Mittag über Asien und wieder das nächtliche Amerika sehen. In weniger als zwei Stunden umkreist unsere Rakete den Erdball - als erster künstlicher Trabant, in dem sich Menschen befinden!" „Wie weit sind wir von der Erde entfernt?" fragt Carry. Sebastiano schaut zu den Kontrollgeräten. „1500 Kilometer." Carrys Augen blitzen. „Senden sie unseren Erfolg in alle Welt: RAK 17 14
hat die Probe bestanden. Erster gelungener Vorstoß in den Weltraum. An Bord alles wohlauf. Vor uns der endlose Kosmos, leuchtende Welten, die unsere Weltraumkreuzer nun bald anlaufen werden, um auch den Geschöpfen anderer Planeten die Segnungen unserer Kultur zu bringen. Senden Sie schon, Sebastiano, senden Sie!" „Unsinn", mischt sich Miller ein. „Wir werden froh sein können, wenn es uns in nicht zu ferner Zeit gelingt, bis zum Mond vorzustoßen. Zunächst aber haben wir ganz andere Pläne. Bitte, Sebastiano, chiffrierter Funkspruch an den Konzern: Rakete und Besatzung wohlbehalten. Erster Versuch befriedigend. Kreisen als künstlicher Satellit einige Zeit in 1500 Kilometer Höhe. Weitere Versuche mit größeren Treibstoffmengen erforderlich." Sebastiano notiert den Wortlaut und schaltet den Sender ein. Da trifft die Rakete ein leichter Schlag. Ein zweiter, dritter folgt. Die gewichtlosen Körper der Raketeninsassen werden recht unsanft durcheinandergewirbelt. Als sie sich wieder auf die Beine gestellt haben, sehen sie sich an. Sie wagen kaum zu atmen. Nur das feine Ticken der Uhrwerke einiger Meßgeräte füllt den Raum anscheinend mit Leben. Als erster faßt sich Carry. „Was war das?" fragt er. Miller macht diese Frage offenbar nervös, eine tiefe Falte gräbt sich senkrecht in seine Stirn. Sebastianos Blick wandert über die Skalen des Schaltbrettes und verharrt schließlich auf der Skala des Druckmessers für die Treibstoffkammer. Carry folgt diesem Blick. Er sieht den Zeiger auf der Leuchtscheibe fallen, langsam, aber stetig fallen, bis er am Nullpunkt angelangt ist. Miller beobachtet den Vorgang ebenfalls. „Nun?" drängt Carry. Auf Sebastianos Stirn stehen Schweißperlen, sein Gesicht ist merkwürdig starr. Er wendet sich den beiden Gefährten zu. Einen Augenblick herrscht erwartungsvolles Schweigen, wie vor einem schicksalsschweren Urteilsspruch. Dann öffnet er den Mund. „Meteoriten! Treibstoffkammer III, unsere letzte, ist durchschlagen worden." Miller sieht noch immer zur Schalttafel. „Manövrierunfähig...", flüstert er geistesabwesend. „Was soll das heißen? Ich bitte um eine Erklärung", fordert Carry. Miller schweigt. Sebastiano aber sagt: „Meteoriten, kleine, vielleicht kieselgroße kosmische Splitter, die mit hoher Geschwindigkeit im Weltraum umherirren, haben die Rakete getroffen, und zwar am Heck, wo die Treibstoffkammer liegt." „Und nun?" „Und nun?" wiederholt Sebastiano in unheimlicher Ruhe, bewegt 15
sich zum Führersitz und drückt einige Hebel in Grundstellung. „Und nun, Senor, sind Sie im Begriff, Ihre hoffnungsvolle Laufbahn zu beenden." Die Beherrschung dieses Südländers ist bewunderungswürdig. Carry schaut ungläubig auf das Schaltbrett. Miller ist totenblaß, seine Augen sind geschlossen. Aber unvermittelt schreit er los: „Das kann nicht wahr sein! Wir müssen zur Erde zurückkehren!" In seltsamem Gegensatz zu seiner Erregung schiebt und zieht er sich vorsichtig zu den Schalthebeln, klappt sie hoch und herunter. Sebastiano löst Millers Finger von den Griffen. „Wir können nicht zurückkehren. Das wissen Sie doch genausogut wie ich." „Das heißt...", beginnt Miller mit rauher Stimme, doch er wagt es nicht, den entsetzlichen Gedanken auszusprechen. Sebastiano tut es. „Das heißt, daß wir immerfort um die Erde kreisen werden, falls nicht ein Anstoß von außen uns aus der Bahn lenkt. Eine Möglichkeif, unsere Geschwindigkeit zu verringern, also das verhängnisvolle Gleichgewicht der Kräfte aufzuheben, haben wir nicht. Die Düsen können wir ja nicht mehr in Tätigkeit setzen." „Kreisen . . . immer kreisen!" stammelt Miller; mit weitaufgerissenen Augen stiert er teilnahmslos vor sich hin. Carry klebt das Haar an der Stirn. Er beginnt das Furchtbare zu begreifen. „Dann sind wir hier in einem fliegenden Sarg?" Stoisch antwortet Sebastiano: „Wenn uns keine Hilfe von dort unten, von der Erde k o m m t - j a ! " „Funken Sie SOS, Sebastiano!" keucht Carry. „SOS? Nein, nein!" Miller ist aus seiner Teilnahmslosigkeit erwacht. „Die Rakete ist ein strategisch wichtiges Objekt. Sie darf keiner fremden Hilfsexpedition in die Hände fallen. Funken Sie nach dem Code an unsere Station, daß wir sofort Hilfe brauchen, sofort!" „Hilfe von unserer Station ist nicht zu erwarten", antwortet Sebastiano. „Mit einem solchen Zwischenfall hat niemand gerechnet. Allerdings . . . Professor Barrada forderte schon immer bessere Schutzmaßnahmen gegen eventuelle Meteoreinschläge. Aber man ließ uns ja keine Zeit." „Die Station soll unverzüglich eine Rakete zu unserer Hilfe starten!" schreit Miller. Sebastiano schaut kalt auf ihn hinab. „Die Rakete, die uns retten könnte, dürfte die Montagehallen in etwa vier Wochen verlassen, Senor. So lange werden Sie, werden wir drei nicht mehr leben. Begreifen Sie das? Aber solange wir atmen, werden wir auch das letzte Fünkchen Hoffnung in uns nähren und unser SOS über den ganzen Erdball senden! Vielleicht, daß irgendwo in der W e l t . . . " Er neigt sich zur Funkanlage. 16
'„Recht so!" pflichtet Carry bei. Miller verharrt mit verkniffenen Augen vor Sebastiano. „Das werden Sie nicht tun! Wollen Sie die Rakete, die Geheimnisse unserer Konstruktion anderen ausliefern? Vielleicht Professor Petroff? Ich habe volles Vertrauen zu unseren Leuten, volles Vertrauen, verstehen Sie! Der Konzern wird unsere Rettung ermöglichen. Darüber kann es keinen Zweifel geben! Als Bevollmächtigter des Konzerns befehle ich Ihnen, meinen Weisungen zu folgen!" Sebastiano wendet sich halb zu ihm hin. „Hören Sie, Miller, hier befehle ich und kein anderer." „Sie sind dem Konzern verantwortlich und haben seine Interessen wahrzunehmen!" „Ja, dort unten, auf der Erde, da war es einmal so! Hier bin ich nur meinem Gewissen gegenüber verantwortlich. Und das gebietet mir, alle Möglichkeiten der Rettung auszuschöpfen. In jahrelanger Arbeit haben wir Wissenschaftler für Ihren Konzern diese Rakete entwickelt. Es ist wahr, sie ist ein technisches Wunderwerk. Nur eine Kleinigkeit fehlt ihr noch: Sicherheit für das Leben ihrer Besatzung, soweit sie nach menschlichem Ermessen gewährleistet werden1 kann. Professor Barrada hatte also recht, als er vor dem übereilten Statt der bemannten Rakete warnte. Aber wer hörte auf seine Worte? Der Konzern drängte und drängte auf Abschluß der Arbeiten, und wir ehrgeizigen Narren von der Versuchsabteilung zitterten nur um unsere einträglichen Pöstehen und nahmen die große Verantwortung, die in unseren Händen lag, allzu leicht. Auch ich selbst! Und es ist ganz folgerichtig, wenn ich diesen blinden Ehrgeiz, diese Leichtfertigkeit nun vielleicht mit dem eigenen Leben bezahlen muß. Aber was bedeuten dem Konzern schon Menschenleben? Es geht ihm nur um Vormachtstellung, um Dividenden und was sonst noch. Menschen sind für ihn Versuchsobjekte, nichts weiter!" Enttäuschung und tiefe Verachtung spiegeln sich in Sebastianos Gesicht. Er wendet sich wieder der Funkanlage zu und überprüft sie. Sie ist intakt. Miller war bei Sebastianos Worten erstarrt, jetzt verfärbt er sich vor Wut. „Das ist Meuterei! Ich werde Sie vor Gericht stellen lassen, wenn wir erst einmal unten sind", brüllt er und versucht, Sebastianos Hände zu umklammern. „Der Konzern wird . . . " Carry steht mit einemmal drohend hinter dem Ingenieur. „Zum Teufel mit Ihrem Konzern! Knechtstreue ist hier keinen Cent wert. Das haben Sie wohl noch nicht begriffen!" Was nun geschieht, ist das Werk von Sekunden. Miller zieht eine Pistole aus der Tasche und richtet sie auf Sebastiano. „Los, Funkspruch an den Konzern. Nach dem Code!" 17
„Sind Sie wahnsinnig geworden?" ruft Carry. Miller vermutet einen Angriff und springt, den Zustand der Schwerelosigkeit nicht beachtend, einen Schritt zurück, verliert die Gewalt über sich und prallt mit voller Wucht an eine stählerne Verstrebung. Carry bewegt sich zu Miller hin, der regungslos an der Wand lehnt. Seine Arme schweben im Raum, so wie er sie beim Sprung emporgeworfen hat. Am Hinterkopf quillt dunkles Blut hervor, es tropft nicht hinab, sondern sammelt sich schwebend vor der Wunde. Carry richtet sich auf. Seine Stimme ist heiser, kaum zu hören. „Er ist t o t . . . " „Tot!" kommt es wie ein Echo von Sebastianos bleichen Lippen. Er wendet sich dem Sendeapparat zu, schaltet, und dann funkt er zur Erde hinab: SOS — SOS — RAK 17 manövrierunfähig — kreisen in 1500 Kilometer Höhe — SOS — SOS — Der Funker des Startplatzes auf dem Hochplateau verfolgte immer wieder die Zeichen, die aus dunkler Ferne zu ihm drangen. Es stimmte: RAK 17 rief SOS! Er benachrichtigte den Hauptingenieur, der mit Alvarez und Mortez sofort erschien. Alvarez riß dem Mann den Blockzettel aus der Hand. Sein Blick lag wie hypnotisiert auf den Zeilen. Endlich hob er den Kopf und sah die anderen der Reihe nach an. „Der Flug an sich ist geglückt... ja, aber die Rakete kann nicht auf die Erde zurück. Sie senden SOS." „Also gescheitert", stellte Mortez fest. „Gescheitert", gab Alvarez zögernd zu. „Durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall gescheitert. Und Miller tödlich verunglückt." Er winkte seinen Begleitern, ihm in einen Nebenraum zu folgen. „Das gibt einen Riesenskandal", sagte er hier und hieb mit der Faust wütend durch die Luft. „Wir müssen alles versuchen, ihn zu vermeiden." „Die SOS-Rufe der RAK 17 werden von allen Großstationen aufgegriffen", gab Mortez zu bedenken. „Und morgen steht die Geschichte in der Weltpresse", ergänzte Alvarez zähneknirschend. „Der wissenschaftliche Rat soll zusammentreten! Alle Mitglieder sind ja anwesend." Die Nachricht traf die Mitarbeiter wie ein Blitz. Lähmendes Entsetzen lag über der Versammlung. Alvarez wurde ungeduldig. „Nun, meine Herren, verlieren wir keine kostbare Zeit! Ich bitte um praktische Vorschläge: Haben wir eine Möglichkeit, RAK 17 zu helfen?" Der Hauptingenieur schüttelte den Kopf. „Nein, Sefior. Wir hatten alles auf eine Karte gesetzt... Auf Anweisung, der Eile wegen", fügte er entschuldigend hinzu. 18
„Wie lange kann sich die Besatzung der RAK 17 halten?" „Das ist schwer zu sagen. Keinesfalls allzu lange. D a n n - t r i t t Tod durch Ersticken ein." Nach kurzer Debatte unter den Sachverständigen einigte man sich auf eine Frist von 48 Stunden. „Innerhalb dieser Zeit ist nichts zur Rettung der Rakete zu tun? Bedenken Sie, meine Herren, was auf dem Spiele steht: der Ruf des Konzerns, unsere Ehre, große materielle Werte u n d . . . ja, natürlich auch Menschenleben", drängte Alvarez. „Bei größten Anstrengungen würden wir drei Wochen benötigen, um eine weitere Rakete zu starten." Darüber gab es keine Meinungsverschiedenheit im Rat. „Auch nicht bei internationaler Zusammenarbeit?" fragte Alvarez. „Ich m e i n e . . . unter gewissen Bedingungen, soweit wir keine Geheimnisse preiszugeben b r a u c h e n . . . Sie verstehen?" „Auch dann nicht, Sefior. Der Kongreß für Astronautik hat gezeigt, daß wir allen Staaten der westlichen Hemisphäre auf diesem Gebiet weit voraus sind. Eine nennenswerte Hilfe wäre also auf internationaler Basis nicht zu erwarten." Hier warf der junge Leiter des chemischen Laboratoriums ein: „Es gäbe vielleicht die Möglichkeit einer Hilfe durch Professor Petroff und sein Kollektiv." „Petroff? Nein, niemals!" wies Alvarez brüsk zurück. „Darüber gibt es keine Diskussion." Er sah nicht das Achselzucken einiger Wissenschaftler. Offenen Widerspruch wagte in diesem Punkt aber keiner. „Ich danke, meine Herren, halten Sie sich jedenfalls bereit. Und denken Sie an Ihre Schweigepflicht!" Die Mitarbeiter verließen den Raum. Bei Alvarez blieben nur der Hauptingenieur und Mortez. Der Direktor ging auf und ab. „Lassen Sie an RAK 1? funken: Ruf empfangen. Hilfsaktion im Gange." Der Hauptingenieur starrte Alvarez an. Der brüllte los: „Was denn, haben Sie nicht begriffen? Eilen Sie, jede Minute ist wertvoll!" „Verzeihen Sie, Sefior, die Rakete ist jetzt von unserer Station aus nicht zu erreichen. Sie muß zur Zeit den Raum über der östlichen Hemisphäre", er rechnete im Kopf nach, „und zwar westlich von Australien durchfliegen." „Machen Sie es, wie Sie wollen!" tobte der Direktor. „Aber sorgen Sie dafür, daß die Nachricht auf schnellste Weise der Raketenbesatzung übermittelt wird." „Hilfsaktion im Gange?" fragte Mortez, nachdem der Hauptingenieur fort war. „Verstehen auch Sie nicht, wie?" knurrte Alvarez gereizt. „Gibt es 19
eine Hilfe für RAK 17? Nein! Was also soll man den armen Teufeln sagen? Lassen wir ihnen ein bißchen Hoffnung, und sie hören wenigstens erst mal mit der SOS-Funkerei auf. Wir gewinnen auf diese Weise Zeit, und der Konzern kann Maßnahmen treffen, um den unvermeidlichen Kurssturz an der Börse aufzufangen." Aber die Rechnung des Don Enrique Alvarez ging nicht auf. RAK 17 sandte seine SOS-Rufe unentwegt weiter. Die sensationell aufgemachten Nachrichten vom Start der bemannten Weltraumrakete waren in der Welt sehr verschieden aufgenommen worden. Für gewisse Kreise waren sie Anlaß zu wilden Spekulationen, zu einer Geschäftemacherei, die in ihrer Hysterie kaum Grenzen fand. Der Kurs der Konzernaktien war schon am Abend inoffiziell sprunghaft in die Höhe geschnellt. Die Börsenmakler wurden buchstäblich verfolgt. Schwindler und Betrüger witterten Hochkonjunktur. Eine rührige Firma hatte bis Mitternacht bereits dem „letzten Schrei" der Mode zum Lichte einer wunderlichen Welt verholfen: dem „Raketenbinder", einer Krawatte mit der fliegenden Weltraumrakete im Buntdruck auf Sternschnuppenmuster. Reißender Absatz war dieser „aparten" Neuheit gesichert. Auf zahllosen Straßen und Plätzen stellten geschäftstüchtige Leute Fernrohre auf, durch die sie lange Schlangen von Kindern und anderen harmlosen Gemütern mangels besserer Objekte den guten alten Mond bewundern ließen. Das Entgelt dafür erhöhte sich in vorgerückter Stunde allerdings um 50 Prozent. In wissenschaftlichen Kreisen wurde das Ereignis lebhaft diskutiert, man verhielt sich jedoch zunächst abwartend. Professor Petroff, erste Kapazität auf diesem Gebiet, gab keine Stellungnahme ab. Es wurde bekannt, daß er auf dem Rückflug vom Kongreß für Astronautik erkrankt war. Plötzlich lief der Schreckensruf um den Erdball: SOS aus dem Weltraum! Die Begeisterung erlosch jäh. Der furchtbare Gedanke beherrschte jeden, der eines Mitgefühls fähig war: Dort oben im Kosmos treiben Menschen hilflos dem sicheren Tode entgegen, Menschen, die vor wenigen Stunden noch auf dieser schönen, warmen, blühenden Erde dahergingen wie jeder andere. Wer war schuld an ihrem grauenhaften Schicksal? Sie selbst? Der Konzern? Waren nicht alle Sicherungsmaßnahmen getroffen worden? Am Vormittag übertrugen unabhängige Rundfunksender eine Erklärung von Professor Barrada. Eine Welle von Protesten gegen das verantwortungslose Handeln des Konzerns war die Folge. Namhafte Wissen20
schaftler aller Länder pflichteten Barrada bei, und überall suchte man fieberhaft nach einem Weg zur Rettung der Raketenbesatzung. Telegramme, Fernsprüche jagten hin und her. Es bildeten sich mehrere Gremien aus international anerkannten Gelehrten, die alle Möglichkeiten zu einer sofortigen Hilfsaktion prüften. Nach vorsichtigen Schätzungen mußten die in der Rakete Eingeschlossenen jetzt noch eine Lebensfrist von etwa 36 Stunden haben. „Schon wieder ein Funkspruch: Wir sollen ausharren, man versucht, uns zu retten." „Glauben Sie noch daran?" „Abwarten! Geben Sie mir die Meßergebnisse." Sebastianos Stimme klingt verbissen. Er weicht nicht vom Funkgerät, es ist ihre Brücke zur Erde, zum Leben. Mehrere Großstationen versuchen, mit ihnen Verbindung zu behalten. Carrys Blicke schweifen über die automatisch arbeitenden Meß- und Kontrollapparate im Hintergrund des Raketenraumes. Jedes Gerät scheint von eigenem Leben beseelt zu sein. Da kritzelt eine zarte Stahlfeder Kurven auf eine rotierende Papierrolle. Dort tippen zierliche Zeiger Punkte in eine laufende Walze. Mit fast unheimlicher Monotonie üben diese Instrumente ihre Funktionen aus, die ihnen ein menschlicher Wille auferlegte. Sie messen, registrieren, kontrollieren alle Vorgänge in der fremden Welt, die sie umgibt. Aber hat all das noch einen Sinn? Carry wird von Wut gepackt. Er möchte die Apparate am liebsten vernichten, bis zur Unkenntlichkeit zertrümmern. Soll dieses entsetzliche mechanische Leben in ihnen immer weiterlaufen? Auch wenn vielleicht längst alles vorbei i s t . . . für ihn und seinen Gefährten? „Sebastiano!" schreit er. „Glauben Sie an unsere Rettung?" Der wendet sich um und schaut Carry lange an. „Antworten Sie!" drängt Carry mit flackerndem Blick. Da sagt Sebastiano langsam und mit Betonung: „Nehmen wir einmal an, Carry, ich glaubte nicht daran. Würde sich dadurch unsere Lage ändern?" „Nein", gab Carry zu. „ A b e r . . . " „Aber...?" „Man könnte mit dieser Quälerei Schluß machen." Sebastiano erhebt sich und legt seine Hände auf Carrys Schultern. „Und wenn ich nun an die Möglichkeit unserer Rettung glaubte? Ändert sich dann unsere Lage?" „Auch nicht." 21
„Aber . . . ? " fragt jetzt Sebastiano lächelnd. „Zum Teufel, Sebastiano, sind Sie eine Denkmaschine oder ein Mensch, ein fühlender Mensch?" „Ein Mensch wie Sie, Carry, genau wie Sie. Und wir wollen hoffen bis zum letzten Atemzug, alle beide! Aber wir dürfen darüber nicht die Vernunft verlieren. In keinem Augenblick! Sonst ist die Chance verspielt." Carry hat sich beruhigt. Und da er schweigt, fährt Sebastiano fort: „Betrachten wir also einmal ganz vernünftig unsere Situation. Wir stehen hier auf einem Posten, den vor uns noch kein Mensch erreicht hat, aber wir sind gefangen von Naturkräften, über die wir die Herrschaft verloren haben. Innerhalb dieser stählernen Wände sind wir jedoch noch Herr der Situation. Uns stehen genügend Hilfsmittel zur Verfügung, die Vorgänge um uns zu beobachten, kennenzulernen. Sollten wir also die Hände in den Schoß legen, resignieren, uns tatenlos der Hoffnung auf Hilfe hingeben? Oder sollten wir n i c h t - w e n n wir schon leichtsinnig genug waren, uns in diese Lage zu bringen-, sollten wir dann nicht wenigstens so viel Mut und Würde haben, um denen dort unten auf der Erde zu beweisen, daß wir unsere Lage erkennen, meistern und bereit sind, unsere ganze Kraft bis zuletzt in den Dienst der Forschung zum Wohle und Nutzen der Menschheit einzusetzen?" Carry hebt den Kopf und reicht dem anderen die Hand. „Es ist gut, ich habe Sie verstanden, Sebastiano." Und er geht zu den Meßautomaten, notiert ihre Angaben und gibt den Zettel Sebastiano, der die Zahlen zu Auswertungen zusammenstellt und an die wichtigsten Stationen sendet. Mit stiller Geschäftigkeit wiederholt sich dieser Vorgang in regelmäßigen Zeitabständen. Noch achtzehn Stunden. Carry wirft einen Blick auf die Uhr. Er beobachtet eine Weile den Sekundenzeiger. Sekunden werden Minuten, Minuten werden Stunden. Und dann? Ein Frösteln schüttelt ihn. Sebastiano dort vor ihm ist wieder ganz in seine Funkarbeit vertieft. Glücklicher Mensch! Er vergißt die Zeit. Carry schaut sich langsam um. Wie still, beinahe wohnlich der kleine Raum im Lichte der Deckenbeleuchtung liegt. Es ist kaum zu glauben, daß die Rakete in rasendem Flug um die Erde kreist. Aber sie kreist, lautlos-und ewig! Sie haben alle Fenster abgeblendet. Das ist gut so. Unerträglich war der stetige Wechsel zwischen der eisigen Finsternis an der Nachtseite des Erdballs und der blendenden Glut, wenn sie der im luftleeren Raum ungehemmten Sonnenstrahlung ausgesetzt waren. Carry betrachtet die blinkenden Stahlschrauben der Einstiegluke. 22
In die dahinter befindliche kleine Luftschleusenkammer haben sie Millers Leiche gebracht. Wie ein heimtückisches Ungeheuer überfällt Carry plötzlich der Gedanke: Wenn Sebastiano auch tot w ä r e . . . Bliebe dann nicht für ihn die doppelte Menge Sauerstoff, also eine größere Chance, gerettet zu werden? Carry ächzt. Sebastiano kommt auf ihn zu. „Was ist? Schwach geworden?" Carry greift nach der Hand des anderen, hält sie fest umschlossen. „Wir müssen am Leben bleiben! Sie, Sebastiano, und i c h . . . beide!" Armer Teufel, denkt Sebastiano, und ein Seufzer entringt sich seiner Brust. Sie sehen sich in die Augen. Ihre Wangen sind eingefallen, die Blicke matt, erschöpft. Ihre Herzen schlagen schnell und heftig, wie im Wettlauf mit der leuchtenden Uhr am Führerstand. Noch zehn Stunden! Vom Empfangsgerät her werden Geräusche hörbar. Sebastiano schaltet mit zittrigen Händen. Sein Kopf neigt sich vor. „Wer ist das?" fragt Carry. Sebastiano wehrt ab, größte Konzentration spannt seine Gesichtszüge. Nun wendet er sich zu Carry um. Er ist noch ganz in seinen Gedanken befangen. Carry wird unruhig. „Sprechen Sie doch! Woher kam die Sendung?" Langsam lösen sich die Worte von Sebastianos Mund: „Von Professor Petroff. Wir sollen ausharren!" „Von Professor Petroff?" „Wissen Sie, was das bedeutet, Carry? Petroff und sein Kollektiv sind auf dem Gebiet der Astronautik am weitesten fortgeschritten. Einzelheiten über ihre Arbeiten hat man bisher nicht erfahren. Aber eines ist sicher: Wenn wir mit ihnen zusammengearbeitet, unsere Erfahrungen gegenseitig ausgetauscht hätten, wäre es gewiß nicht zu dieser Katastrophe gekommen. Der Konzern hat jedoch stets das Angebot einer Zusammenarbeit abgelehnt. Und nun funkt Petroff, wir sollen ausharren. Carry, das ist eine Chance für uns. Die Chance!" „Irina Subowa", flüstert Carry. Er sieht die junge Assistentin Petroffs vor sich, wie vor wenigen Tagen noch im nächtlichen Park am See. Sie lächelt und spricht: Jeder auf seinem Platz, C a r r y . . . Denken Sie noch daran? Warum schauen Sie zu den Sternen hinauf? Wollen Sie dorthin? . . . Nun gut, wir beide sind jung genug, um helfen zu k ö n n e n . . . Jeder auf seinem Platz, C a r r y . . . Und wenn es die letzten Stunden Ihres Lebens sind!-Irinas Bild verschwimmt. Er sieht Sebastianos fragende Miene und zwingt das verdammte Würgen in der Kehle nieder. „Schon gut, Sebastiano, es kamen mir so Gedanken. Ist schon vorbei." 23
• Professor Petroff hatte gegen den Protest des Arztes das Krankenbett verlassen. „Es geht um Menschenleben!" hatte er dem Doktor mit vorwurfsvollem Blick widersprochen. „Mir können Sie helfen. Aber denen da draußen im Weltraum nicht. Das ist meine Sache. Also, bitte, behelligen Sie mich jetzt nicht weiter mit Ihrer Fürsorge. Die Zeit drängt!" Nun saß er in seinem Arbeitszimmer über Tabellen und Zeichnungen gebeugt. Neben ihm stand Irina Subowa, seine Assistentin. Sie hielt Funktelegramme in der Hand und wartete geduldig. Endlich hob er den Kopf mit dem vollen schneeweißen Haar. „Was haben Sie da, Irina? Neue Meldungen?" „Keiner kann helfen." Sie legte die Telegramme auf den Tisch. Er warf den Bleistift auf die Papiere und versank wieder in tiefes Sinnen. Nach einer Weile sagte er: „Die RAK 17 kreist auf einer Bahn um die Erde, auf der wir fliegende Sonnenenergiestationen und Zwischenlandeplätze für Weltraumschiffe des interplanetaren Verkehrs errichten wollen. So leichtfertig bei diesem Raketenflug auch Menschenleben aufs Spiel gesetzt wurden, hat er unsere Erfahrungen doch sehr bereichert... Die Männer dort in der RAK 17 sind Helden, wirkliche Helden, das sage ich Ihnen, Irina! Den Tod vor Augen, helfen sie bis zum letzten Atemzug der Wissenschaft. Ihre Funkübermittlungen von Meßergebnissen aus dem Kosmos sind von größtem Wert für die Forschung. Sie haben unsere Berechnungen vollkommen bestätigt. Die letzten UnSicherheitsfaktoren sind beseitigt." Er erhob sich und faßte ihre Hände. „Irina, Sie sind meine beste Schülerin, mein bester Mitarbeiter. Sie kennen die Probleme der Weltraumschiffahrt so gut wie ich. Was würden Sie jetzt tun, wenn sagen wir mal - der alte Petroff nicht mehr wäre?" „Die Starterlaubnis einholen", antwortete sie ohne Zögern. Des Professors Augen strahlten. „Ganz meine Meinung! Also, sofort Fernspruch an die Staatliche Kommission für Raumschiffahrt: Ersuchen um unverzügliche Starterlaubnis zur Rettungsexpedition für RAK 17." Er raffte die Papiere auf dem Arbeitstisch zusammen. „Und dann rufen Sie bitte das Kollektiv hier zusammen." Als die Mitarbeiter Petroffs versammelt waren, blickte der Professor einem nach dem anderen in die Augen. Sie standen im Halbkreis um ihn. Meine Jungens, dachte er stolz. Und er griff in die Augenwinkel, als säße dort ein lästiges Stäubchen. Dann richtete er sich straff auf. „Sie sind über die Geschehnisse der letzten Stunden genau unterrichtet. Menschen befinden sich in höchster Gefahr im Weltraum. Sie haben einen ersten Vorstoß unternommen; er ist nur zum Teil gelungen. Kein Wort über die eigentlichen Ursachen des Mißerfolges! Es ist keine Zeit zu verlieren." 24
Er wies auf den Berg Telegramme vor sich. „Alle bisherigen Hilfsversuche sind gescheitert, vor allem an Zeitmangel. Aber wir, Freunde, wir können diese Menschen retten. Sie selbst haben uns die Möglichkeit dazu in die Hand gegeben, denn die Kontrollzahlen, die die Besatzung der RAK 17 regelmäßig gesendet hat, ersparten uns viele zeitraubende Versuche und Beobachtungen. Ich habe daher die Staatliche Kommission um Starterlaubnis ersucht." Ein Raunen freudiger Überraschung ging durch den Raum. Professor Petroff hob beschwichtigend die Hand. „Die Startvorbereitung soll sofort durchgeführt werden. Und dann noch etwas: Infolge meiner Erkrankung nehme ich an dem Flug nicht teil. Wissenschaftlicher Leiter der Expedition ist-Irina Subowa. So, das ist alles. Ich danke Ihnen!" Petroff ging eilig aus dem Zimmer. Die anderen sahen sich einen Augenblick lang überrascht an, sie konnten es nicht gleich fassen, daß ihr erster Start zu einer größeren Fahrt ohne Teilnahme des Professors erfolgen sollte. Dann gratulierten sie Irina zu dem ehrenvollen Auftrag und eilten auf ihre Posten. Irina war am Schreibtisch Petroffs stehengeblieben. Der große Gelehrte hatte ihr sein Lebenswerk anvertraut! Sie war sich ihres Könnens und ihrer Fähigkeiten durchaus bewußt, und doch schwindelte ihr vor der gewaltigen Verantwortung. Wird sie die Aufgabe meistern? Wie muß die Rettungsaktion durchgeführt werden? Hat Petroff sie nicht überschätzt? Nein! Sie wird es schaffen. Tausend Gedanken bedrängten sie. Aber sie wurde ihrer Herr. Klare Dispositionen formten sich in ihrem Kopf. Sie hatte die Schwäche schon überwunden. Ihr Blick fiel auf die zahlreichen Papiere, die den Schreibtisch bedeckten. Da lag ein Funktelegramm, das sie nicht kannte. Sie zog es hervor. Natürlich es betraf die RAK 17. Was stand darauf? Die Namen der Raketenbesatzung? Merkwürdig, danach hatte in der Aufregung hier noch niemand gefragt. Pablo Sebastiano, Carry W o o d . . . Sie las den zweiten Namen mehrmals. Das war d o c h . . . kein Zweifel!... Sommerabend im Park . . . Tanzmusik, Gläserklingen, festlicher Schein... Daß Sie sich nur nicht erkälten, Miß Subowa . . . Wir wollen Freunde bleiben, nicht wahr? . . . Sirenengeheul schreckte Irina aus ihrem Sinnen auf. Alarm! Startvorbereitung! Sie verließ das Haus. In der Hand hielt sie noch das Funktelegramm mit den Namen von RAK 17. „RAK 17 meldet sich nicht mehr!" Diese Nachricht lief wenige Stunden später um die Welt. Was war geschehen? Ein neuer Unfall? Eine Störung der Funkanlage? O d e r . . . das Ende. 25
Der Steuerraum der RAK 17 ist dunkel. Die Deckenbeleuchtung brennt nicht mehr. Nur die Skalen der Meßgeräte schimmern noch in gelben, roten und grünen Färben. Die Luft ist stickig. Carry hat sich zur Bodenluke hinabgezogen. Er keucht und pumpt mühsam den letzten Sauerstoff in die Lungen. Seine Gedanken gleiten träge dahin, ziellos, von keinem Willen mehr gelenkt. Plötzlich wird er hellwach und hebt den Kopf. Vor dem Funkgerät sitzt Sebastiano in merkwürdig verkrümmter Stellung. „Sebastiano!" Carry schaudert vor der eigenen Stimme. Wie brüchig und fremd sie klingt. Sebastiano antwortet nicht. Eine würgende Angst packt Carry. Ist er schon allein in diesem stählernen Sarg? Er richtet den Oberkörper auf. „Sebastiano!!" Der andere bewegt sich kaum merklich. Es ist nur ein Reflex auf den Anruf. Ein Zittern überläuft Carry, das Blut singt in seinen Ohren, und das Herz pocht dazwischen, dumpf, schwer und drohend. An seiner Rechten fühlt er den Griff des Fensterverschlusses. Er drückt ein wenig dagegen. Ein Spalt des Bullauges im Boden der Rakete wird frei. Da ist sie, die Erde, dieses rastlos dahinjagende, gewaltige Rund. Der graue Fleck dort ist der Ozean, die hellen Partien der Kontinent, darauf graugrüne Schatten . . . Wälder, weite, herrliche Wälder unter blauem H i m m e l . . . Carry wendet den Blick ab. Nicht daran denken, nicht zurückdenken! Er zieht sich nach vom. „Sebastiano! Was funken Sie?" Sebastiano hebt die Hand, sie schwebt wie leblos in der Luft. Carry schaut ihm ins Gesicht. Es ist mumienhaft, die Augen sind geschlossen. In kurzen Stößen pfeift die Luft durch seine Lippen, die einen violetten Farbton angenommen haben. Carrys Blicke gleiten langsam weiter zum Schaltbrett. Alle Zeiger stehen still. Nur die Uhr dort, die tickt, tickt und t i c k t . . . Was ist das? Carry sieht vor Sebastiano ein kleines Ding aus bläulichem Stahl liegen. Vorhin sah er es nicht. Eine Pistole! Millers Pistole. Er greift behutsam danach. Da fühlt er Sebastianos Blick auf sich. Dieser Blick aus den starren, umflorten Augen! Er glaubt ein spöttisches Lächeln darin zu sehen. Feigling? Nein, das ist er nicht. Ausharren, bis zum letzten Atemzug auf seinem Posten bleiben! Er schiebt die Pistole weit weg und zieht sich ganz dicht an den Funkapparat heran. Sebastiano hat die Augen wieder geschlossen. Das Leben scheint aus ihm gewichen... In derselben Minute schoß eine sensationelle Radiomeldung durch den Äther. 26
„Die staatliche Nachrichtenstelle gibt bekannt: Weltraumschiff RS 1 ist soeben zur Rettung der in RAK 17 Eingeschlossenen unter dem Kommando von Chefingenieur Rossin mit einer Besatzung von zehn Mann gestartet. An Stelle des erkrankten Professors Petroff übernahm Irina Subowa, die verdiente Assistentin des Gelehrten, die wissenschaftliche Leitung der Expedition." Diese kurze, nüchterne Meldung hatte in allen Ländern der Erde eine ungeheure Wirkung. Der Verkehr in den Städten stockte für Minuten. Überall wurde das Ereignis diskutiert. Theatervorstellungen wurden unterbrochen, um die Nachricht bekanntzugeben. Alle Rundfunkgeräte hatten volle Lautstärke. Niemand wollte weitere Meldungen vom Verlauf des Unternehmens versäumen. Weltraumschiff RS 1, ein Gigant von etwa neunzig Meter Länge, zog indessen mit zunehmender Geschwindigkeit in einer weiten Spirale um den Erdball, wobei es schnell Höhe gewann. An Bord des Raumschiffes war kein Leben zu spüren. Seine Besatzung lag regungslos in den Sesseln. Nur am Steuerstand, wo sich Irina Subowa, Kommandant Rossin und drei wissenschaftliche Assistenten befanden, blinkten Lichtzeichen, klickten Schalter, wie von unsichtbarer Hand betätigt, und bewegten sich die Zeiger der Instrumente. Der Kurs wurde automatisch reguliert. Als das Schiff eine Höhe von 100 Kilometern mit gewöhnlichem Raketenbrennstoff erreicht hatte, glomm ein rotes Warnlicht auf. Der Antrieb wurde auf Atomkraft umgestellt. Die Sicherheitsblenden des Reaktors gaben den Neutronen freien Weg, und von dem gewaltigen atomaren Energiestrom getrieben, raste RS 1 gleich einem Kometen in den Weltraum. Der Andruck steigerte sich bis an die Grenze des Erträglichen und dauerte mehrere Minuten. Dann war eine Geschwindigkeit von 41 760 Stundenkilometern erreicht. Die Motoren wurden gestoppt. Kommandant Rossin erhob sich als erster. Die Schwerelosigkeit, die nun herrschte, machte ihm nicht so zu schaffen wie den Insassen der RAK 17. Mit Hilfe besonderer Schuhe, an denen sich kleine Elektromagneten befanden, konnte sich die Besatzung auf dem eisernen Boden des Raumschiffes halten und unterlag nicht der ständigen Gefahr, bei einer unbedachten Bewegung gleich davonzuschweben. Die Magneten schalteten sich selbsttätig ein und aus, so daß bei einiger Übung ein fast normales Gehen möglich war. Mit dieser Einrichtung war die Schwerkraft keineswegs ersetzt, aber sie genügte auf kurzen Fahrten. Für längere Reisen war eine Rotationsanlage vorgesehen, die das Raumschiff um seine eigene Achse schleuderte und so durch die Zentrifugalkraft eine künstliche Schwere im Schiffsinnern schuf. 27
Nachdem Rossin die Kontrollgeräte mit prüfendem Blick überflogen hatte, nickte er zufrieden. Irina trat hinzu. „In 45 Sekunden werden wir die Bahn der RAK 17 kreuzen", stellte sie fest. Der Kommandant lächelte. „Die Motoren sind völlig einwandfrei gelaufen. Alle Berechnungen haben sich bestätigt. Es ist großartig!" Irina schwieg. Sie konnte einfach nichts sagen. Stolz und Freude überwältigten sie. Da ertönte eine Stimme im Lautsprecher. „Meldung von Radarstation: Meteorschwarm, 62 Grad steuerbord, Entfernung etwa 600 Kilometer, Geschwindigkeit 50 Sekundenkilometer!" In der rechten oberen Ecke des Bildschirmes am Steuerstand hob sich eine kleine Wolke dunkler Pünktchen ab, die dem Mittelfeld der Scheibe zustrebte. Der Maschineningenieur griff zu den Hebeln, und ein schwacher Ausstoß der Backborddüsen änderte kaum spürbar den Kurs des Raumschiffes. Die Pünktchen auf dem Radarschirm schössen nach links und verschwanden. Rossin nahm die Mütze ab und hängte sie in die Luft. „Diese Meteoriten sind verdammte Burschen, Teufel noch mal." „RAK 17 hat sie zu spüren bekommen", fügte Irina hinzu. „Hoffentlich sind wir rechtzeitig zur Stelle. Die Besatzung gibt schon seit fast einer Stunde keine Antwort mehr!" Irina beobachtete die vibrierenden Zeiger an den Skalen. Aber ihr Blick glitt immer wieder über die Schalttafeln hinweg durch die großen runden Quarzglasscheiben in die unendliche Weite. Da unten zog der Planet Venus seine Bahn. Noch keines Menschen Auge hatte diesen schönen Stern in solcher Klarheit gesehen. Die Himmelskörper leuchteten und strahlten im tiefschwarzen Kosmos, wie es sich die kühnste Phantasie nicht erträumen ließ. Sah Carry all das auch? Oder sah er es nicht mehr? Sie riß sich von dem Gedanken los und zwang sich zur Konzentration auf ihre Aufgabe. Die Höhe von 1500 Kilometern war bereits überschritten, aber immer noch jagte RS 1 mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Der junge Assistent am Flugbahnmeßgerät reichte dem Kommandanten einen Papierstreifen, auf dem eine komplizierte Kurve markiert war, und Rossin wandte sich an Irina. „In 25 Sekunden werden wir das vorgesehene Manöver durchführen." Irina nickte und begab sich zum Bildschirm, um das Auftauchen der RAK 17 zu erwarten. Nach genau 25 Sekunden traten die Raketendüsen am Bug in Tätigkeit und bremsten allmählich den Flug. Gleichzeitig wurdte der Kurs geändert. Das Raumschiff ging in eine gewaltige Linkskurve. Durch den Kurswechsel erschien an der Backbordseite die im vollen Sonnen28
licht strahlende Erdkugel. Es war ein überwältigender Anblick. Aber keiner fand dafür Zeit, denn die Radarstation meldete: RAK 17! Am linken Rand des Bildschirmes tauchte ein Punkt auf. Er wanderte schnell zur Mitte und wuchs. Es sah aus, als würde die Rakete schneller als das Raumschiff und auf dieses zufliegen. In Wirklichkeit jedoch verlangsamte RS 1 seinen Flug stetig und näherte sich der Kreisbahn der Rakete immer mehr. Noch einmal ging ein Funkspruch an RAK 17: Ausharren! Hilfsexpedition zur Stelle! Aber eine Antwort kam nicht. Als die Rakete mit bloßem Auge sichtbar wurde, stieg die Erregung unter der Raumschiff besatzung auf den Höhepunkt, doch jeder blieb diszipliniert auf seinem Posten. Schon erkannte man Einzelheiten des Raketenrumpfes, die Tragflächen, das Bugfenster. Rossin wischte sich die Stirn. Hatte sich auch kein Fehler in die Berechnungen eingeschlichen? Immer noch flammten die Bremsstöße des Raumschiffes. Kein Fehler war unterlaufen, die Berechnung hatte gestimmt! RS 1 erreichte die Kreisbahn genau an dem vorausbestimmten Punkt, wurde nun ebenfalls zu einem künstlichen Trabanten der Erde, wenn auch nach dem Willen der Schiffsführung, und zog Seite an Seite mit der Rakete den ev/ig gleichen Kreis. Irina trat mit Rossin an eines der länglichen Seitenfenster. Sie blickten auf den stumpfen Stahlrumpf, der sich an den Bord des Raumschiffes zu schmiegen schien. An seinem Bug leuchteten Zeichen. „R — A — K — siebzehn", buchstabierte Rossin nachdenklich. Mit der Präzision einer Exerzierübung begann nun die eigentliche Rettungsaktion unter Irinas Leitung. Befehle durcheilten das Schiff. Irina und der Kommandant begaben sich zu einem Raum, dessen eine Seite von einer Stahltür ausgefüllt war. Hier fanden sich vier Männer ein. Es waren sorgfältig ausgewählte und gut geschulte Spezialisten für die Weltraumaußenarbeiten. Sie trugen helle Schutzanzüge, die der Form nach denen der Tiefseetaucher glichen. Gelenkvorrichtungen ließen für die Arme und Beine genügend Bewegungsfreiheit. Irina gab ihnen letzte Anweisungen und prüfte noch einmal die Ausrüstung der Rettungsmannschaft. Taucherhelmartige Gebilde wurden den Männern aufgesetzt und sorgfältig verschraubt. Jeder hatte auf dem Rücken einen Sauerstoffapparat, der an den Helm angeschlossen wurde. Die vier verschwanden darauf in der Luftschleuse, die hinter der Stahltür lag. Man kann nicht sagen, daß diese robusten Männer aufgeregt waren, als sich vor ihnen die Tür in der Außenwand öffnete, aber einen Augen29
blick zögerten sie doch, denn es war eine eigene Sache, dieser erste Schritt in den Weltraum, den vor ihnen noch kein Mensch getan hatte. Dann stießen sie sich schwebend vom Schiff ab, das sie auf seinem rasenden Kreislauf um die Erde begleiteten, wovon sie im luftleeren Raum natürlich nicht das geringste spürten. Sie konnten sich mit Hilfe der Rückstoßkraft kleiner Preßluftapparate in jeder gewünschten Richtung leicht fortbewegen und sich untereinander durch Funkgeräte verständigen, die in den Schutzhelmen eingebaut waren. Mühelos dirigierten sie den Raketenkörper, der ja kein Gewicht hatte, durch eine Heckklappe in das Innere des Schiffes, in einen tunnelartigen Raum. Dieser Raum war eigentlich für eine kleine Hilfsrakete bestimmt, die man auf dieser Fahrt aber nicht mitgenommen hatte, um Platz für die zu bergende RAK 17 zu schaffen. Die Klapptür schloß sich, Luft füllte zischend das Gewölbe. Es war geschafft! Die ganze Besatzung des Raumschiffes wartete voller Ungeduld. Der Zeiger des Luftdruckmessers stieg und stieg. Endlich wich die innere Panzertür zurück. Da schwebte RAK 17 im grellen Licht elektrischer Lampen, als ruhe sie aus von ihrer langen Fahrt. Aber die Menschen in ihr? Lebten sie noch? In fieberhafter Eile wurde der Verschluß der äußeren Einstiegluke geöffnet. Man fand Millers Leiche in der Schleusenkammer. Irina sah unverwandt auf den Toten, über den sich der Schiffsarzt beugte. Inzwischen war auch die innere Luke aufgeschraubt worden. „Wollen S i e . . . ? " wandte sich der Kommandant mit leiser Stimme an Irina. Sie schüttelte wortlos den Kopf. Rossin begab sich mit drei Mann in den Steuerraum der Rakete hinab. Unendlich schien die Zeit, bis sie wieder auftauchten. Zuerst brachten sie Sebastiano, dann Carry. Keiner der beiden gab Lebenszeichen von sich, ihre Gesichter waren wie Millers Totenantlitz aschfahl und mit bläulichen Flecken bedeckt. Irina mußte sich abwenden, ihre Sinne drohten zu schwinden. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Worte des Arztes: „Sofort in meine Kabine mit den beiden!" Rossin blieb vor Irina stehen. Er sah ihr wachsbleiches Gesicht und legte seine Hand beruhigend auf ihre Schulter. „Warten Sie ab! Wir steuern sofort die Erde an." Er ging zum Kommandostand und erteilte die Befehle zur Rückkehr: „Bugmotoren Eins und Zwei halbe Kraft!" RS 1 verlangsamte seinen Flug und verließ damit die Kreisbahn, die es soeben noch um die Erde gezogen hatte. Sein Bug wandte sich dem Heimatplaneten zu. 30
Irina stand indessen unschlüssig vor der Kabine des Arztes. Sollte sie eintreten? Sie sah ihn immer noch neben sich im Park am See, diesen frischen, munteren Carry. War es der gleiche gewesen, den sie hier hineingetragen h a t t e n . . . ? Der Arzt öffnete die Tür. Überrascht gewahrte er Irina. „Sie hier?" Sein Ton war ein wenig vorwurfsvoll. Er hatte die wissenschaftliche Leiterin beim Steuerstand vermutet, wie es sich gehörte. Sogleich jedoch erkannte er ihren Zustand, und seine Stimme wurde freundlicher. „Beruhigen Sie sich, Irina Subowa. Ich kann Ihnen gratulieren. Die Expedition ist ein voller Erfolg. In jeder Beziehung! Unsere beiden Patienten leben. Wir kriegen sie durch, mein Wort darauf! Aber warten Sie mal, ich werde Ihnen eine kleine Stärkung geben. War wohl ein bißchen viel auf einmal, was?" Er verschwand hinter der Tür. Als er mit ein paar Tabletten wieder erschien, war Irina nicht mehr da. „Na, dann nicht!" brummte er und begab sich zu seinen Schutzbefohlenen. „Nun, Kommandant, welche Höhe?" fragte Irina, als sie den Steuerstand betrat. Ihre Stimme war wieder ruhig und selbstsicher, wie sonst. „950 Kilometer." Das Raumschiff näherte sich unter der zunehmenden Anziehungskraft auf einer weiten Spirale der Erde. Irina sah die dunkle Fläche des Großen Ozeans, immer schärfer traten die Konturen der Erdteile hervor. Über Asien zogen Wolkenfelder dahin. „675 Kilometer." „Lassen Sie das Landemanöver beginnen", sagte Irina nach einem Blick auf die Kontrollgeräte. „Raumschiff klar zum Landemanöver!" „Schiff klar." „Bugmotoren volle Kraft!" Aus allen Düsen am Vorderteil des Schiffes schössen Feuergarben. Die Bremswirkung verstärkte sich immer mehr. „400 Kilometer." Der Arzt tauchte am Steuerstand auf. Irina wandte verwundert den Kopf. Auch der Kommandant war erstaunt. „Nanu, Doktor, haben Sie bei Ihren Patienten nichts zu tun?" „Nein, im Augenblick nicht viel. Beide haben das Bewußtsein wiedererlangt. Es geht ihnen verhältnismäßig gut. Kleine Nachbehandlung wird natürlich unten", er zeigte auf die Erde, „noch nötig sein." Irina gab dem Funker einen Auftrag, „Spruch an Professor Petroff: Höhe 250 Kilometer. Setzen zur Landung an. RS 1 auf Fahrt voll bewährt. Besatzung von RAK 17 gerettet." 31
Rossin lachte. „Der Alte wird sich freuen. Das ist die Krönung seines Lebenswerkes. Irina, Doktor-ich glaube, er wird vor Freude weinen. Ich möchte es beinahe auch." „Heben Sie sich die Freudentränen bis zur Landung auf", riet Irina. Das sollte burschikos klingen, aber ihre Stimme zitterte. „100 Kilometer", wurde vom Schaltpult gemeldet. „Tragflächen ausfahren!" Das Raumschiff erreichte den engeren Luftbereich der Erde und begann nun, wie ein Raketenflugzeug niederzugehen. Als RS 1 seine letzte Schleife über dem Rollfeld zog, sah man unter der wartenden Menge von weitem schon den weißen Schopf Petroffs leuchten. Das Donnern der Motoren verstummte, das Raumschiff setzte auf dem Boden auf. Die vorstürmenden Kameraleute und Reporter wurden von Petroff glatt beiseite gefegt. Über sein strahlendes Gesicht liefen helle Tränen. „Ich beglückwünsche euch, ich beglückwünsche euch!" Er umarmte den Kommandanten, Irina, die ganze Besatzung. „Und die Geretteten? Wie geht es ihnen? Bringt sie sofort zum Krankenhaus! Doktor, sorgen Sie dafür, daß sie allerbeste Pflege finden. Allerbeste!" „Es wird alles geschehen, daß die beiden recht bald wieder gesund und munter sind", beruhigte ihn der Doktor. In diesem Augenblick wurden Sebastiano und Carry aus dem Raumschiff gehoben. Sie blinzelten im Sonnenlicht. Die E r d e . . . zum Fassen nah! Professor Petroff warf einen langen Blick auf die beiden. Dann verneigte er sich vor ihnen. „Sie sind die ersten des Menschengeschlechts, die den Erdball verließen, und Sie haben als Pioniere der Wissenschaft Ihren Posten gehalten. Ich grüße Sie, meine Freunde!" Und er drückte beiden herzlich die Hand. Darauf wandte er sich Irina und Rossin zu. „Kommen Sie, kommen Sie! Sie müssen mir ausführlich berichten." „Ich komme sogleich", rief Irina den beiden Männern zu, die, in ein eifriges Gespräch vertieft, sich bereits entfernten. Sie blieb neben Carry stehen. Er war noch sehr schwach. Aber er sah sie unentwegt an, und dann sprach er leise: „Jeder auf seinem Platz!... So sagten Sie damals, nicht wahr?" Sie drückte seine Hand. „Und Sie sagten, wir wollen Freunde bleiben. War es nicht so, Carry?" Er nickte lächelnd. „Fürs ganze Leben, Irina." Schon klappte hinter ihm die Tür des Krankenwagens zu. Sie sah dem davonfahrenden Wagen eine Weile sinnend nach. Dann folgte sie Professor Petroff und dem Raumschiffkommandanten.
Zorn Ministerium für Kultur mit einem Preis ausgezeichnet
Vier Berliner Kinder erleben etwas sehr Spannendes... Sie haben sich ihre Ferien so ganz anders vorgestellt, sie wollten spielen, rudern, die Erbsensprache lernen, aber plötzlich kommt ein Telegramm und stößt ihren Vergnügungsplan völlig um: Vetter Heinrich aus Schwerin will sie besuchen und eine Kiste mit Tieren mitbringen. Was für geheimnisvolle Tiere das sind, welche Aufregungen und Überraschungen dem vierblättrigen Kleeblatt daraus entstehen und wie die Polizei sich dazu verhält, das erzählt Karl Veken für große und kleine Tierfreunde. Illustriert von Karl Fischer • 116 Selten Halbleinen 3,60 DM
DER KELLERSCHLÜSSEL 2. Auflage • Illustriert von Ingo Kirchner • 176 Seiten • Halbleinen 4,80 DM
Marta hat den langen Kellerschlüssel sorgfältig unter der Schürze versteckt. Sie muß vorsichtig sein: die „Pickelhauben" sind besonders scharf auf „Eierkisten", und Vater bringt heute wieder zwei davon nach Hause. Doch geschickt lockt sie die bismardksche Polizei auf eine falsche Spur, um die Kisten zu retten. Sei nur ehrlich, hättest du das diesem Mädchen zugetraut? Marta, Walter, Richard und viele andere gehören zu jenen Jungen und Mädchen, die sich in den stürmischen Tagen der deutschen Arbeiterbewegung durch Mut und Kühnheit ausgezeichnet haben. Vom Ministerium für Kultur mit einem Preis ausgezeichnet