JOHN STEINBECK
GABILAN AMERIKANISCHE NOVELLEN
John Steinbeck ist einer der bedeutendsten Prosadichter der Gegenwart. ...
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JOHN STEINBECK
GABILAN AMERIKANISCHE NOVELLEN
John Steinbeck ist einer der bedeutendsten Prosadichter der Gegenwart. Er gehört wie Thomas Wolfe, William Faulkner, Thornton Wilder, Louis Bromfield oder Ernest Hemingway in die Reihe jener großen amerikanischen Epiker, die eine neue Blüte des modernen Romans heraufgeführt haben und deren Werke zum Besitz der gesamten Kulturwelt geworden sind. Sein Ruhm drang zwar auch nach Deutschland, das so lange von der modernen Literatur der Welt abgeschnitten war, doch hat das deutsche Publikum bisher nur sehr wenig von ihm lesen können. In Steinbeck steht ihm eine Entdeckung bevor, bei der es an die besten Vertreter des neueren Romans wie Dostojewsky oder Joseph Conrad erinnert werden wird. Gabilan ist ein Novellenband, der in musterhafter Übersetzung eine Reihe der interessantesten und bezeichnendsten Erzählungen Steinbecks vereinigt. Sie zeigen eine einzigartige psychologische Durchleuchtung menschlicher Hintergründe und vereinen den scharfsichtigen, von stärkster dramatischer Spannung erfüllten Wirklichkeitssinn, der zur Tradition amerikanischer Geschichten und Erzählungen gehört. Mit einem magischen Zwielicht des Seelischen, das über fast allen Gestalten, des Buches liegt. Dunkle Regungen und Triebe treten jäh ins Licht, die Mittel moderner Psychoanalyse verbinden sich mit einem schlichten, selbstverständlichen Erzählton, und aus dem Alltag des Lebens erwächst ein illusionsloses Bild des Menschen in dieser Zeit. Es sind erregende, oft schonungslose Bilder, die dieser Dichter zeichnet, der stets auch ein meisterhafter Schilderer sozialer Zustände ist; es spricht aus ihnen eine neue Kunst der Menschengestaltung, die für die meisten deutschen Leser die Stimme eines fast unbekannten Amerika sein wird. So wird dieses faszinierende Buch zur Begegnung mit einem großen Dichter und einem unbestechlichen Kenner des menschlichen Herzens.
JOHN STEINBECK
GABILAN AMERIKANISCHE NOVELLEN
ZINNEN-VERLAG KURT DESCH – MÜNCHEN
Published under authority of 6870 District Information Service Control Command license number US – E – 101
Alle Rechte vom Verlag vorbehalten Autorisierte Übersetzung aus dem Amerik. von Hans B. Wagenseil Gesetzt aus Borgis Candida Gedruckt und gebunden bei R. Oldenbourg, München Einband und Schutzumschlag zeichnete Georg Wendt, München Printed in Germany
INHALT
Gabilan Die Chrysanthemen Das Frühstück Die Flucht Die weiße Wachtel Die Schlange Danach Der Mord Sankt Katy Das Versprechen Die Schnürbrust Johnny Bär
Seite 7 60 79 84 120 143 162 173 188 205 219 246
GABILAN
Bei Tagesanbruch verließ Billy Buck seinen Schlafraum; eine Sekunde blieb er auf der Türschwelle stehen und betrachtete kritisch den Himmel. Er war ein breitschultriger, krummbeiniger, untersetzter Kerl mit einem Walroßschnauzbart und viereckigen, muskulösen, dicken Händen. Seine versonnenen, wässerigen Augen hatten eine graue Farbe, und das unter seinem Stetsonhut hervorquellende Haar war strähnig und vom Wetter gebleicht. Während Billy auf der Türschwelle verweilte, war er eifrig damit beschäftigt, sein Hemd in seine Hosen zu stopfen. Er löste den Gürtel und schnallte ihn dann wieder zu. Die abgeschabten Stellen gegenüber jedem Loch ließen genau die allmähliche Zunahme von Billys Leibesumfang während einer Reihe von Jahren erkennen. Nachdem Billy sich über die Wetterlage informiert hatte, säuberte er beide Nasenlöcher, indem er eines nach dem andern mit seinem Zeigefinger zudrückte und sich heftig schneuzte. Nachdem das erledigt war, ging er, sich die Hände reibend, zum Stall hinunter. Sorgfältig striegelte und bürstete er die beiden Reitpferde, wobei er die ganze Zeit ein Selbstgespräch führte. Kaum war er mit dieser Arbeit fertig, als der eiserne Triangel im Farmhause zu läuten begann. Billy steckte Kardät7
sche und Striegel zusammen und legte beide auf den Querbalken und begab sich zum Frühstück. Jede seiner Bewegungen war bedachtsam, aber zugleich so überlegt, daß er am Wohnhause anlangte, während Mrs. Tiflin noch den Triangel schlug. Sie nickte ihm mit ihrem grauen Kopf zu und verschwand in der Küche. Billy Buck setzte sich auf die Stufen; da er nur Kuhhirt war, hätte es sich für ihn nicht geschickt, als erster das Eßzimmer zu betreten. Er hörte, wie Mr. Tiflin in seinem Zimmer mit dem Fuße aufstampfte, um in die Reitstiefel hineinzukommen. Der hohe, durchdringende Ton des Triangels setzte auch den Sohn des Hauses, Jody, in Bewegung. Jody war ein kleiner Junge, erst zehn Jahre alt, mit Haaren wie vergilbtes, staubbedecktes Gras und mit schüchternen, freundlichen, grauen Augen und einem Munde, der sich, sobald Jody über irgend etwas nachdachte, in steter Bewegung befand. Der Triangel riß den Buben aus tiefstem Schlafe. Es kam ihm aber nicht in den Sinn, dem schrillen Tone ungehorsam zu sein. Das war er noch nie gewesen. Niemand, das wußte er, hätte so etwas gewagt. Er bürstete die wirren Haare aus seinem Gesicht und streifte das Nachthemd über den Kopf. In wenigen Sekunden war er angekleidet – ein blaues, baumwollenes Hemd und wasserdichte Hosen. Es war Hochsommer; deswegen brauchte Jody sich nicht mit Schuhzeug abzuplagen. In der Küche wartete er, bis sich seine Mutter vom Aus8
guß zum Herde begeben hatte. Dann wusch er sich und strich mit den Fingern sein nasses Haar glatt. Als er den Ausguß verließ, wandte sich seine Mutter plötzlich zu ihm um. Jody blickte scheu zur Seite. „In den nächsten Tagen muß ich dir die Haare schneiden“, sagte die Mutter. „Frühstück steht auf dem Tisch. Geh’ hinein, damit Billy auch hineinkommen kann.“ Jody saß an dem langen, mit weißem, an mehreren Stellen bis zum Gewebe durchgescheuertem Wachstuch bedeckten Tisch. Setzeier lagen in langer Reihe auf einer flachen Schüssel. Jody schob drei Eier auf seinen Teller, gefolgt von drei dicken Scheiben angebratenem Schinken. Behutsam entfernte er von einem Eigelb ein Blutpünktchen. Jetzt kam Billy Buck in das Zimmer gestampft. „Der Tropfen Blut wird dir nichts schaden“, erklärte Billy. „Der Tropfen ist lediglich ein vom Hahn hinterlassenes Zeichen.“ Bald erschien auch Jodys großer, strenger Vater, und Jody erkannte an dem Geräusch auf dem Fußboden, daß der Vater Reitstiefel trug; trotzdem schielte er, um sich zu vergewissern, unter den Tisch. Der Vater drehte die über dem Tische hängende Petroleumlampe aus, da die Morgensonne jetzt hell durch die Scheiben schien. Jody getraute sich nicht zu fragen, wohin sein Vater mit Billy heute reiten würde, obwohl er brennend gerne mit ihnen geritten wäre. Der Vater war 9
ein strenger Zuchtmeister. Jody gehorchte ihm, ohne zu mucksen, aufs Wort. Würdevoll nahm Carl Tiflin am Frühstückstisch Platz und streckte die Hand nach der Platte mit den Eiern aus. „Sind die Kühe marschbereit, Billy?“ erkundigte er sich. „Steh’n in der untern Einzäunung“, entgegnete Billy. „Könnte sie genau so gut allein hintreiben.“ „Selbstverständlich könntest du das. Aber ein Mensch braucht Gesellschaft. Außerdem ist deine Kehle verdammt ausgetrocknet.“ Carl Tiflin befand sich heute in jovialer Stimmung. Jodys Mutter steckte ihren Kopf zur Türe herein: „Wann gedenkst du nach Hause zu kommen, Carl?“ „Das kann ich dir nicht sagen. Ich habe in Salinas mit verschiedenen Leuten zu reden. Es kann also später Abend werden.“ Eier und Kaffee und große Stücke Mehlkuchen verschwanden mit Blitzesschnelle. Jody schlich hinter den beiden Männern zum Hause hinaus und beobachtete, wie sie ihre Pferde bestiegen, sechs alte Milchkühe in dem Korral zusammentrieben und dann den über das Gebirge führenden Weg nach Salinas einschlugen. Die alten Kühe sollten also an den Schlächter verkauft werden. Sobald die beiden Männer jenseits des Grats verschwunden waren, schlenderte Jody den hinter dem Wohnhause ansteigenden Berg hinauf. Die Hunde kamen mit gekrümmtem Rücken und vor 10
Freude kläffend um die Hausecke gerannt. Jody tätschelte ihnen liebevoll die Köpfe – Doubletree Mutt mit dem dichtbehaarten Schwanz und den gelben Augen und Smasher, den Schäferhund, der einen Präriewolf abgewürgt und bei dem Kampfe ein Ohr eingebüßt hatte. Smashers verbliebenes Ohr stand steiler in die Luft, als es bei einem Collie der Fall sein sollte. Aber Billy Buck behauptete, das wäre ganz in der Ordnung. Nach der ersten stürmischen Begrüßung senkten die beiden Köter ihre Nasen jagdlustig auf den Boden und trabten voran, dann und wann zurückblickend, um sich zu überzeugen, ob der Junge ihnen auch folge. Sie schlugen den Weg bergauf über den Hühnerhof ein, wo die Wachteln mit den Hühnern um die Wette Körner aufpickten. Smasher jagte die Hühner eine kurze Strecke, um im Training zu bleiben, falls er je wieder Schafe hüten sollte. Jody schritt weiter über das Gemüseland, wo der grüne Mais bereits seinen Kopf überragte. Die Pfebenkürbisse waren noch klein und grün. Dann erreichte er den Saum eines mit Beifuß bestellten Feldes, in dessen Nähe die kalte Quelle ihr Wasser durch eine kurze Röhre in einen ausgehöhlten Baumstamm ergoß. Jody beugte sich tief über den Trog und schlürfte das Wasser unmittelbar an den mit Moos überkleideten Stellen des Stammes, da es hier am besten mundete. Dann blickte er zur Farm hinunter, auf das niedrige, weißgetünchte, von roten Geranien umgebene Wohngebäude und auf den langgestreckten Schlaf11
saal neben der hohen Zypresse, in dem Billy Buck mutterseelenallein hauste. Jody konnte auch den weitbauchigen, schwarzen Kessel im Schatten der Zypresse erkennen. Dort wurden die Schweine abgebrüht. Jetzt stieg die Sonne über den Grat empor und ließ die weißgekalkten Häuser und Stallungen aufglänzen und übergoß das feuchte Gras mit rosigem Schimmer. Unter den hohen Beifußstauden tummelten sich zahlreiche Vögel und scharrten in den trockenen, lautraschelnden Blättern. Vom Berghang ertönten die schrillen, pfeifenden Lockrufe der Eichhörnchen. Jody ließ seinen Blick nochmals über die Gebäude der Farm schweifen. Etwas Ungewisses schien ihm in der Luft zu schweben; er hatte das Vorgefühl einer Veränderung und eines Verlustes und des Gewinnes neuer, fremder Dinge. Dicht über dem Boden des Hanges schwebten zwei große, schwarze Geier, deren Schatten schnell und lautlos ihnen voraneilten. Irgendein Tier war in der Nähe krepiert; vielleicht eine Kuh, vielleicht waren es auch nur die Leichenreste eines Kaninchens. Jody wußte das. Den Geiern entging nichts. Jody haßte sie, wie alle anständigen Kreaturen sie hassen. Aber man durfte sie nicht schießen, weil sie unter dem Aas aufräumten. Nach kurzem Verweilen schlenderte der Junge wieder bergab. Die Hunde hatten ihn längst aufgegeben und waren in dem Gestrüpp verschwunden, um auf eigene Faust zu jagen. Jody ging wieder quer über das Gemüseland und blieb einen Au12
genblick stehen, um eine unreife Cantaloupmelone mit dem Absatz zu zerstampfen, aber er wurde seiner Tat nicht froh. Er wußte genau, daß man so etwas nicht tun durfte. Um die zerquetschte Frucht zu verbergen, verscharrte er sie. Kaum im Hause, beugte sich seine Mutter über seine aufgesprungenen Hände und besichtigte seine Finger und Nägel. Es nutzte freilich wenig, Jody sauber zur Schule zu schicken, denn unterwegs konnte sich allzuviel ereignen. Frau Tiflin seufzte über die schwarzen Risse auf seinen Fingern, und dann gab sie ihm seine Bücher und sein Frühstück und schickte ihn auf den zwei Kilometer weiten Schulweg. Ihr war es nicht entgangen, daß Jodys Mund den ganzen Morgen ununterbrochen gearbeitet hatte. Jody begann seine Reise damit, daß er seine Taschen mit kleinen, weißen Quarzstücken anfüllte, die am Wege lagen, und ebenso oft schleuderte er einen Stein nach einem Vogel oder einem Kaninchen, das sich allzu ausgiebig am Straßenrande gesonnt hatte. Am Kreuzwege jenseits der Brücke traf er zwei Freunde und die drei wanderten gemeinsam zur Schule, wobei sie die komischsten Sprünge vollführten und sich überhaupt recht albern benahmen. Die Schule hatte erst vor zwei Wochen ihre Pforten geöffnet, und unter den Buben herrschte noch ein sehr rebellischer Geist. Es war nachmittags vier Uhr, als Jody den Kamm des Berges erreichte und wieder auf die Farm hin13
unterschaute. Sein erster Blick galt den Reitpferden, aber der Korral war leer. Sein Vater war also noch nicht heimgekehrt. Jody verlangsamte daher seinen Schritt der nachmittäglichen Hausarbeit entgegen. Vor dem Farmhause saß die Mutter und stopfte Strümpfe. „In der Küche liegen zwei Pfannkuchen für dich“, sagte sie. Jody eilte in die Küche; als er zurückkam, hatte er den einen Pfannkuchen bereits zur Hälfte hinuntergeschlungen und kaute eifrig an der anderen Hälfte. Seine Mutter erkundigte sich, was er heute in der Schule gelernt habe, beachtete aber gar nicht seine, mit vollgestopftem Munde gemuffelte Antwort. „Jody“, fiel sie ihm ins, Wort, „heute abend fülle gefälligst die Wassertonne bis zum Rande voll. Gestern machtest du dich aus dem Staube, als das Faß knapp halb voll war. Und Jody, was ich noch sagen wollte, mehrere Hennen verlegen ihre Eier, falls die Köter sie nicht stehlen. Schau dich mal auf der Wiese um, vielleicht entdeckst du ein paar Nester.“ Jody, immer noch kauend, machte sich an die Verrichtung seiner häuslichen Pflichten. Als er das Geflügelfutter ausstreute, sah er, wie die Wachteln aus dem Gebüsch getrippelt kamen, um mit den Hühnern zusammen zu fressen. Aus irgendeinem Grunde war sein Vater stolz auf ihr Kommen. Er gestattete niemandem, in der Nähe des Hofes einen Schuß abzufeuern, aus Besorgnis, die Wachteln könnten verscheucht werden. 14
Nachdem der Wasserbottich gefüllt war, holte Jody sein kleines Gewehr und machte sich auf den Weg zu der kalten Quelle am Rande des Beifußakkers. Er erfrischte sich durch einen kühlen Trunk und dann zielte das Gewehr auf alle nur erdenklichen Dinge: auf Felsblöcke, auf Vögel im Fluge, auf den großen, schwarzen Schweinekessel unter der Zypresse, aber einen Schuß feuerte Jody nicht ab, weil er keine Patronen besaß und, bevor er nicht sein zwölftes Lebensjahr vollendet hätte, keine Munition erhalten würde. Hätte der Vater gesehen, wie er in Richtung auf die Farm zielte, dann hätte Jody noch ein Jahr länger auf die ersehnten Patronen warten können. Das fiel Jody plötzlich ein und er hütete sich, sein Gewehr noch einmal bergabwärts zu richten. Zwei Jahre waren eine lange Zeit, wenn man auf Patronen wartete. Fast alle Geschenke seines Vaters waren an gewisse Bedingungen geknüpft, die ihren Wert beträchtlich minderten. Das war tüchtige Erziehung. Das Abendessen wartete bis Einbruch der Dunkelheit auf seines Vaters Rückkehr. Als er endlich mit Billy Buck das Zimmer betrat, konnte Jody, wenn sie atmeten, den köstlichen Branntwein riechen. Innerlich freute er sich darüber, denn wenn sein Vater nach Branntwein roch, unterhielt er sich bisweilen mit ihm, bisweilen erzählte er sogar von Streichen, die er in den wilden Tagen, als er noch ein Junge war, ausgeführt hatte. Nach dem Abendessen saß Jody neben dem Ka15
min, und seine scheuen, freundlichen Augen durchstöberten die Zimmerecken. Er wartete gespannt, daß sein Vater mit der Sprache herausrücken möchte, denn Jody fühlte, daß der Vater noch irgendwelche Neuigkeiten zu berichten habe. Aber er wurde enttäuscht. Sein Vater deutete streng mit dem Finger auf ihn: „Du tätest gut, jetzt ins Bett zu gehen, Jody. Ich brauche dich morgen in aller Frühe.“ Das war nicht so schlimm. Jody tat gern, was ihm aufgetragen wurde, solange es sich nicht um regelmäßig wiederkehrende Arbeiten handelte. Er blickte auf den Fußboden, und sein Mund formte eine Frage, ehe er sie äußerte: „Was wollen wir morgen früh tun? Ein Schwein schlachten?“ erkundigte er sich schüchtern. „Frag’ jetzt nicht lange. Marschier’ lieber ins Bett.“ Sobald sich die Türe hinter ihm geschlossen hatte, hörte Jody seinen Vater und Billy Buck leise kichern; sie hatten also irgendeinen Scherz vor. Und später, als er im Bett lag und sich abmühte, von dem leise geführten Gespräch im Nebenzimmer einige Worte aufzuschnappen, hörte er seinen Vater protestieren: „Aber Ruth, ich habe ja nicht viel für ihn bezahlt.“ Jody hörte, wie die Kätzchen unten beim Stall Mäuse jagten, und er hörte den Zweig eines Obstbaumes gegen die Hausmauer klopfen. Als er einschlummerte, brüllte gerade eine Kuh. 16
Als in der Frühe der Triangel klingelte, kleidete sich Jody noch rascher als gewöhnlich an. Während er in der Küche sein Gesicht wusch und die Haare zurückstrich, fuhr ihn seine Mutter gereizt an: „Du verläßt das Haus nicht, bevor du nicht tüchtig gefrühstückt hast!“ Jody ging in das Eßzimmer und setzte sich an den langen, weißgedeckten Tisch. Er nahm eine Scheibe dampfenden Hafermehlkuchens von der Platte, ordnete säuberlich zwei Setzeier darauf an, deckte sie mit einer zweiten Kuchenscheibe zu und zerquetschte das Ganze mit seiner Gabel. Sein Vater und Billy Buck betraten das Zimmer. Aus dem Geräusch ihrer Tritte schloß Jody, daß beide Halbstiefel trugen, aber um seiner Sache sicher zu sein, schielte er wieder unter den Tisch. Der Tag war inzwischen angebrochen und der Vater drehte die Petroleumlampe aus. Er warf Jody einen strengen, exemplarischen Blick zu, während Billy Buck ihn überhaupt nicht beachtete. Billy vermied peinlich die schüchternen, fragenden Augen des Jungen und stippte eine große Scheibe Toast in seine Kaffeetasse. Carl Tiflin wandte sich barsch an den Buben: „Nach dem Frühstück begleitest du uns!“ Jody vermochte von nun an kaum noch einen Bissen hinunterzuwürgen; ein Verhängnis schien über ihm zu schweben. Billy Buck tunkte eifrig das Stück Toast in seine Tasse und lutschte den aufgesaugten Kaffee aus, dann wischte er seine Hände an den 17
Hosen ab. Die beiden Männer standen vom Tisch auf und gingen gemeinsam hinaus in das morgendliche Licht; Jody folgte ihnen in respektvoller Entfernung. Er bemühte sich, seine Gedanken im Zaume zu halten, damit sie ihm nicht davoneilten, ja er versuchte, an gar nichts zu denken. Seine Mutter rief ihnen nach: „Carl! Dulde nicht, daß es ihn vom Schulbesuch abhält!“ Sie marschierten an der Zypresse vorüber, von deren einem Ast ein Schwengel herunterhing, an dem die abgestochenen Schweine aufgehängt wurden, und weiter an dem schwarzen, eisernen Kessel vorbei. Also sollte heute doch kein Schwein geschlachtet werden. Die Sonne war über den Bergrücken emporgestiegen und zeichnete lange, dunkle Schatten der Bäume und Häuser auf den Boden. Auf einem Abschneideweg überquerten sie ein Stoppelfeld und hielten vor dem Stall. Jodys Vater schob den Torriegel zurück und trat ein. Auf der letzten Strecke waren sie direkt der Sonne entgegengegangen. Im Vergleich zu der blendenden Helle war der Stall finster wie die Nacht, aber warm von dem Heu und den Ausdünstungen der Tiere. Jodys Vater schritt auf eine Box zu. „Komm her!“ befahl er. Jody vermochte allmählich die einzelnen Gegenstände zu unterscheiden. Er warf einen Blick in die Box und fuhr erschrocken einen Schritt zurück. Aus der Box blickten ihm die Augen eines roten Ponyfüllens entgegen. Es hatte die Ohren gespitzt 18
und in seinen Augen leuchtete ein störrisches Licht. Sein Fell war dicht und struppig wie das Fell eines Airedaleterriers und seine Mähne war lang und verfilzt. Jodys Kehle schnürte sich zusammen und benahm ihm den Atem. „Es muß tüchtig gestriegelt werden“, sagte der Vater. „Sollte ich je merken, daß du es nicht ordentlich gefüttert und die Box nicht gesäubert hast, verkaufe ich das Pony in der gleichen Minute.“ Jody konnte den Blick des Fohlens nicht länger ertragen. Er schlug die Augen nieder und betrachtete ein paar Sekunden seine Hände, dann fragte er schüchtern: „Meins?“ Er streckte seine Hände über die Wand der Box. Laut schnaubend näherte das Pony seine graue Nase Jodys Hand, die Lippen zogen sich zurück und die kräftigen Zähne packten die Finger des Jungen. Das Pony bewegte seinen Kopf von oben nach unten und schien über den Spaß zu grinsen. Jody besah seine zerschundenen Finger. „Fein!“ rief er voll Stolz. „Fein! Ich glaube, es kann tüchtig zubeißen.“ Die beiden Männer lachten erleichtert auf. Carl Tiflin verließ leise den Stall und erklomm einen seitwärts ansteigenden Hügel, um ungestört zu sein. Er fühlte sich irgendwie verlegen. Billy Buck war zurückgeblieben, ihm fiel es leichter zu reden. Noch einmal fragte Jody: „Meins?“ Bill erwiderte in geschäftsmäßigem Tone: „Sicher! Das heißt, falls du gut für das Pony sorgst und es ordentlich dressierst. Ich werd’ es dich lehren. Es 19
ist noch ein Fohlen. Vorläufig darfst du nicht auf ihm reiten.“ Jody streckte wieder seine Hand aus und diesmal gestattete das rote Pony, daß er seine Nase streichelte. „Ich möchte ihm eine Möhre geben“, sagte Jody. „Wo habt ihr das Pony gekauft?“ „Auf einer Auktion“, erklärte Billy. „Ein Zirkus in Salinas machte Pleite und hinterließ Schulden. Der Sheriff versteigerte die Habseligkeiten.“ Das Pony reckte die Nase in die Luft und schüttelte die Stirnlocke aus seinen feurigen Augen. Jody kraulte vorsichtig seine Stirn und fragte leise: „Hat es keinen Sattel?“ Billy Buck lachte: „Den hätte ich beinahe vergessen. Komm mit.“ In der Geschirrkammer nahm er einen kleinen Sattel aus rotem Saffian vom Ständer. „Es ist halt ein Zirkussattel“, erklärte Billy Buck verächtlich. „Für den Hinterwald taugt er nicht viel. Aber wir haben ihn billig ersteigert.“ Jody getraute sich weder den Sattel anzuschauen noch ein Wort zu äußern. Er fuhr mit der Fingerspitze über das glänzende rote Leder und sagte nach langem Schweigen: „Aber er wird fein auf ihm ausschauen.“ Er dachte an die großartigsten und schönsten Dinge, die er kannte: „Wenn er noch keinen Namen hat, möchte ich ihn Gabilan Mountains nennen“, sagte er. Billy Buck verstand Jodys Gefühle. „Das ist ein ziemlich langer Name. Weshalb nennst du ihn nicht 20
einfach Gabilan? Das bedeutet Falke. Das wäre doch ein schöner Name für ihn.“ Billy befand sich in guter Laune. „Wenn du sorgfältig alle Schwanzhaare sammelst, könnte ich schon bald ein Haarseil für dich drehen. Du könntest es als Halfter verwenden.“ Jody wäre gern in den Pferdestall zurückgekehrt. „Was meinst du, Billy: könnte ich ihn nicht in die Schule mitnehmen – um ihn den Jungens zu zeigen?“ Aber Billy schüttelte den Kopf: „Er ist nicht einmal an ’nen Halfter gewöhnt. Wir hatten Mühe, ihn hierher zu schaffen. Mußten ihn fast ziehen. Besser, du machst dich jetzt ohne ihn auf den Schulweg.“ „Dann bring’ ich die Jungens heut’ nachmittag mit, damit sie ihn sich hier ansehen“, erklärte Jody. An diesem Nachmittag kamen sechs Buben eine halbe Stunde früher mit gesenkten Köpfen, pendelnden Armen und keuchendem Atem den Hügel hinabgerannt. Sie schossen an dem Haus vorüber quer über das Stoppelfeld direkt auf die Stallung zu. Und dann standen sie selbstvergessen vor dem Pony, und dann starrten sie Jody aus Augen an, in denen neue Bewunderung und neue Achtung zu lesen war. Bis heute war Jody ein Junge gewesen, mit Hosen und einem blauen Hemd bekleidet – stiller als die meisten, ja sogar im Rufe einer gewissen Feigheit stehend. Mit einem Schlage schien er verwandelt. Aus tausend Jahrhunderten erwuchs in 21
ihnen die uralte Bewunderung des Fußsoldaten für den Berittenen. Instinktiv fühlten sie, daß ein Mann hoch zu Roß geistig sowohl wie körperlich einem Manne zu Fuß überlegen sei. Sie fühlten, daß Jody durch ein Wunder aus der Gleichheit mit ihnen herausgehoben und über sie gestellt worden war. Gabilan reckte seinen Kopf über die Box und schnupperte. „Weshalb willst du nicht auf ihm reiten?“ schrien die Buben durcheinander: „Weshalb flichtst du nicht bunte Bänder in seinen Schweif wie auf dem Jahrmarkt? Wann wirst du auf ihm reiten?“ Jodys Selbstbewußtsein erwachte. Auch er empfand die Überlegenheit des Berittenen. „Er ist noch zu jung. In absehbarer Zeit darf ihn niemand besteigen. Ich werde ihn an der Longe trainieren. Billy Buck hat versprochen, es mir beizubringen.“ „Dürfen wir ihn nicht – nur eine ganz kurze Strecke – hinausführen?“ „Ausgeschlossen. Er ist noch nicht an einen Halfter gewöhnt“, erklärte Jody. Wenn er das Pony zum erstenmal ins Freie führte, durfte kein Mensch zuschauen. „Kommt und seht euch das Sattelzeug an.“ Beim Anblick des Sattels aus rotem Saffianleder waren die Kinder sprachlos, vollständig überwältigt. „Für den Buschwald ist der Sattel nicht recht geeignet“, sagte Jody großspurig. „Wenn ich im Buschwald zu tun habe, werde ich vermutlich auf blankem Rücken reiten.“ 22
„Aber wie willst du ohne Sattelknopf eine Kuh mit dem Lasso einfangen?“ „Vielleicht bekomme ich für jeden Tag einen besonderen Sattel. Vater wünscht, daß ich ihm bei der Aufzucht des Viehes behilflich bin.“ Gnädig gestattete er den Kameraden, den roten Sattel mit ihren Fingern zu berühren. Dann zeigte er ihnen den mit Kupfer beschlagenen Kehlriemen sowie die schweren Kupferrosetten an beiden Schläfenseiten, wo Kopfstück und Stirnriemen sich kreuzten. Das Zaumzeug war eine Pracht. Nach kurzer Zeit mußten die Buben ihren Heimweg antreten. Jeder einzelne von ihnen durchstöberte in Gedanken seine Besitztümer, ob sich nicht ein Stück darunter befände, wertvoll genug, um, wenn die Zeit gekommen wäre, als Bestechungsgeld für einen Ritt auf dem roten Pony dienen zu können. Jody war froh, als sie fort waren. Er holte Striegel und Kardätsche von der Wand, öffnete die Box und ging vorsichtig hinein. Die Augen des Ponys funkelten, es drehte sich um, als wollte es ausschlagen. Aber Jody klopfte ihm auf die Schulter und streichelte seinen kühn gebogenen Hals, wie er es bei Billy Buck gelernt hatte, und rief mit tiefer Stimme: „Ho-ho-ho, Schlingel.“ Allmählich verlor das Pony seine Scheu. Jody striegelte und bürstete es, bis ein ganzer Haufen Haare den Boden bedeckte und des Ponys Fell tiefrot schimmerte. Jedesmal, wenn Jody aufhörte, sagte er sich, es müsse noch schöner glänzen. Dann flocht er die Mähne in ein Dutzend 23
Schweineschwänzchen und flocht auch die Stirnlocke in einen Zopf, um sie nach kurzer Zeit wieder aufzuflechten und die Haare schön glatt zu bürsten. In seine Arbeit vertieft, merkte Jody nicht, daß seine Mutter den Stall betreten hatte. Als sie kam, war sie ärgerlich, aber als sie das Pony und Jody, so eifrig um es bemüht, sah, stieg ein seltsames Gefühl des Stolzes in ihr auf. „Die Holzkiste hast du wohl ganz vergessen?“ fragte sie mit mildem Tadel. „Es wird bald dunkel und im ganzen Hause ist auch nicht ein Scheit Holz. Die Hühner haben auch noch kein Futter bekommen.“ „Ach Mama, das hab’ ich vergessen“, sagte Jody und legte eilig Bürste und Striegel fort. „Schon gut, aber in Zukunft erledige gefälligst zuerst deine Hausarbeiten, dann wirst du nichts vergessen. Ich fürchte, du wirst in Zukunft eine Menge Dinge vergessen, wenn ich dir nicht scharf auf die Finger sehe.“ „Darf ich mir aus dem Garten für ihn ein paar Mohrrüben holen, Mama?“ Frau Tiflin dachte eine Weile nach: „Hm, wenn du mir versprichst, nur die großen, strunkigen Möhren herauszuziehen, will ich es erlauben.“ „Möhren geben dem Fell einen schönen Glanz“, sagte Jody. Und wieder schlug der Mutter Herz schneller vor Stolz. Seit das Pony im Stall stand, wartete Jody nie mehr auf den Ruf des Triangel, um aus dem Bett zu schlüpfen. Lange bevor seine Mutter erwachte, 24
kleidete er sich an und eilte leise zum Stall hinunter, um Gabilan zu bewundern. In den grauen, stillen Morgenstunden, wenn Land und Buschwald, Häuser und Bäume silbergrau und schwarz gleich dem Negativ einer Photographie getönt waren, stahl er sich vorüber an den schlummernden Felsen und der schlummernden Zypresse zum Stall. Die Truthühner, die außer Reichweite der Präriewölfe auf den Zweigen ihre Nachtruhe hielten, glucksten schlaftrunken. Die Felder schimmerten in grauem, kaltem Lichte und in dem gefallenen Tau zeichneten sich scharf die Fährten von Kaninchen und Feldmäusen ab. Die braven Hunde krochen mit gesträubten Haaren, ein dumpfes Knurren in ihren Kehlen, aus ihren Hütten. Sobald sie aber Jodys Geruch witterten, wedelten sie grüßend mit den Schwänzen – Doubletree Mutt mit dem langen, buschigen Schweif und Smasher, der angehende Schäferhund – und begaben sich träge zurück auf ihr warmes Lager. Für Jody war das eine seltsame Zeit und eine geheimnisvolle Gänge-Fortsetzung seiner Träume. In den ersten Wochen bereitete es ihm ein selbstquälerisches Vergnügen, sich auf diesen morgendlichen Gängen auszumalen, Gabilan stände nicht in seiner Box, ja, was noch ärger war, das Pony wäre nie dort gewesen. Es gab aber auch noch andere köstliche, kleine Selbstquälereien. Er stellte sich vor, die Ratten hätten große, zackige Löcher in den roten Sattel gefressen, oder die Mäuse hätten sämt25
liche Haare von Gabilans Schweif bis zur Wurzel abgenagt. Von solchen Vorstellungen gepeinigt, legte er gewöhnlich die letzte Strecke zum Stall im Laufschritt zurück. Leise schob er den rostigen Riegel an der Stalltüre zurück und trat ängstlich ein; aber mochte er die Türe auch noch so vorsichtig öffnen, regelmäßig blickte Gabilan über die Bretterwand der Box und wieherte leise und stampfte mit dem Vorderfuß und in seinen Augen schimmerten große, rote Feuerfunken, hell wie glimmendes Eichenholz. Manchmal, wenn an dem betreffenden Tage die Ackergäule benötigt wurden, fand Jody Billy Buck, mit Striegeln und Bürsten beschäftigt, bereits im Stalle vor. Billy unterbrach dann seine Arbeit, trat an Jodys Seite, bewunderte Gabilan und erzählte zahllose interessante Erlebnisse mit Pferden. Nach seiner Erfahrung waren Pferde ängstlich besorgt um ihre Füße; daher müßte man es sich zur Regel machen, ein Bein nach dem andern hochzuheben und Hufe und Fesseln zu streicheln, um ihre Sorge zu verscheuchen. Er erzählte Jody, wie erpicht Pferde auf Unterhaltung seien. Er riet ihm daher, ständig zu dem Pony zu sprechen und ihm für alles, was er täte, den Grund anzugeben. Billy war nicht ganz sicher, ob ein Pferd jedes Wort verstünde, aber es sei unmöglich, anzugeben, wieviel es verstünde und wieviel nicht. Solange ein ihm vertrauter Mensch ihm Geschichten erzählte, schlüge es niemals aus. Zum Beweis seiner Behauptungen führte 26
Billy verschiedene Beispiele an. Er habe es miterlebt, wie ein zu Tode erschöpfter Gaul sich wieder aufraffte, als sein Herr ihm erklärte, es wäre bis zum Bestimmungsort nur noch eine ganz kurze Strecke. Und er habe ferner gesehen, wie ein vor Angst gelähmtes Pferd seine Furcht abschüttelte, als sein Reiter ihm auseinandersetzte, wovor es sich so erschreckt hätte. Während Billy Buck in der Frühe diese und ähnliche Geschichten zum besten gab, schnitt er zwanzig bis dreißig Strohhalme in drei Zoll lange Stücke und verbarg sie unter seinem Hutband. Wenn er dann im Verlauf des Tages sich die Zähne stochern wollte, oder das Bedürfnis empfand, irgend etwas zu kauen, brauchte er nur nach oben zu langen und einen der Strohhalme unter dem Hutband hervorzuziehen. Jody hörte aufmerksam zu, denn er wußte, und der ganze Bezirk wußte es, was für ein ausgezeichneter Pferdekenner Billy war. Billys eigener Gaul war ein Indianerpony mit einem Ramskopf, aber es gewann bei fast allen Wettbewerben die ersten Preise. Billy verstand auch, einen Stier mit dem Lasso einzufangen, ihm eine Doppelschlinge um die Hörner zu werfen und rasch abzuspringen und das Weitere dem Indianerpony zu überlassen. Der Gaul spielte dann mit dem Stier wie ein Angler mit einem Fisch, aber plötzlich spannte er das Seil an, bis der Stier am Boden lag oder sich geschlagen gab. Nachdem Jody am Morgen das Pony gestriegelt 27
und gebürstet hatte, schob er den Querbalken der Box beiseite, worauf Gabilan sich an ihm vorbeidrängte und durch den Stall in den Korral jagte. Unermüdlich galoppierte er in der Runde, vollführte dazwischen plötzlich einen Bocksprung und landete auf steif ausgespreizten Beinen. Dann blieb er, am ganzen Leibe zitternd, mit lauschend nach vorne geneigten Ohren stehen, rollte wild mit den Augen, daß das Weiße sichtbar wurde, und tat, als fürchte er sich. Endlich schritt er schnaubend zum Wassertrog und steckte seine Schnauze bis zu den Nüstern in das Wasser. Jodys Brust hob sich vor Stolz, denn danach – das wußte er – konnte man ein Pferd beurteilen. Elende Klepper berühren das Wasser kaum mit ihren Lippen, ein edles Pferd dagegen taucht Maul und Nase so tief in den Trog, daß es gerade noch zu atmen vermag. Jody verfolgte jede Bewegung des Ponys und entdeckte an ihm Eigenschaften, die er noch nie bei einem anderen Pferde bemerkt hatte: die geschmeidigen, in steter Bewegung befindlichen Flankenmuskeln, die hervortretenden Sehnen der Hinterbacken, die sich wie eine Faust zusammenzogen, und den Widerschein der Sonne auf dem rotglänzenden Fell. Dann bestaunte Jody die beweglichen Ohren, die dem Gesicht Gabilans erst Ausdruck, ja einen ständig wechselnden Ausdruck verliehen. Das Pony redete mit Hilfe seiner Ohren. Nach der Art, wie es die Ohren spitzte, konnte man genau erkennen, was es dachte und empfand. Bisweilen standen die Ohren steil aufge28
richtet, dann wieder hingen sie schlaff herab Wenn Gabilan zornig war oder sich erschreckt hatte, schlug er die Ohren nach hinten, war er neugierig oder guter Laune, so standen sie spitz nach vorne gerichtet. Man konnte aus ihrer Stellung haargenau erraten, was in des Ponys Seele vorging. Billy Buck hielt sein Versprechen. Beim ersten Morgengrauen begann das Training. Zunächst mußte das Pony an das Tragen eines Halfters gewöhnt werden, und das war die schwierigste Aufgabe, weil es die erste war. Jody hielt Gabilan eine Rübe vor und schmeichelte und sprach ihm gut zu und zerrte an der Leine. Sobald Gabilan den ersten Ruck spürte, stemmte er die Füße gegen den Boden. Aber bereits nach wenigen Tagen hatte sich das Pony an die Leine gewöhnt und ließ sich von Jody durch die ganze Farm führen. Allmählich lokkerte Jody den Zügel und das Pony folgte ihm freiwillig, wohin er auch ging. Jetzt folgten die Übungen an der Longe. Auch das war eine mühsame Arbeit. Jody stand, die lange Leine in der Hand, in der Mitte eines Kreises. Er schnalzte mit der Zunge, und das Pony begann, von der Longe gehalten, im Schritt sich in weitem Kreise um seinen Lehrmeister zu bewegen. Er schnalzte noch einmal, um Gabilan in Trab zu versetzen, und ein drittes Mal, um ihn zum Galopp anzufeuern. Gabilan galoppierte und galoppierte und schien daran selbst große Freude zu empfinden. Plötzlich rief Jody: „Ho-a!“ und das Pony blieb wie ange29
wurzelt stehen. Es dauerte nicht lange, bis Gabilan seine Aufgabe begriffen hatte. Aber in mancher Hinsicht steckte ein boshafter Geist in dem Pony. Unvermutet biß er Jody in das Bein oder trat ihm auf die Füße. Dann und wann legte er die Ohren zurück und feuerte wütend nach allen Richtungen aus. Und jedesmal, wenn Gabilan einen solchen heimtückischen Streich ausgeführt hatte, sprang er rasch zur Seite und schien heimlich zu kichern. An den Abenden setzte sich Billy Buck vor das Herdfeuer und arbeitete an dem Roßhaarseil. Jody sammelte eifrig die ausgekämmten Schwanzhaare und saß daneben und sah bewundernd zu, mit welcher Bedachtsamkeit Billy das Seil fertigte. Zuerst wurden eine Anzahl langer Haare zu einer Schnur zusammengedreht, dann wurden zwei Schnüre zu einem Strick verflochten und endlich mehrere solcher Stricke zu einem kräftigen Seil miteinander verbunden. Das fertige Seil rollte Billy auf dem Fußboden auf und legte es unter seine Füße, um es fest und rund zu bekommen. Das Training an der Longe näherte sich seinem Ende. Jodys Vater, der zusah, wie das Pony gehorsam stillstand, sich dann, in Schritt und in Trab und Galopp setzte, wollte diese Dressur nicht so recht gefallen. „Der Junge macht aus dem Pony fast einen Zirkusgaul“, erklärte er unzufrieden. „Ich schätze keine Zirkuspferde. Es raubt einem Pferde seine Würde, wenn man es zu Kunststücken abrichtet. 30
Ein Kunstreitergaul ist ein Komödiant – ohne Würde, ohne eigenen Charakter.“ Und zu Jody sagte der Vater: „Ich möchte dir raten, ihn möglichst bald an den Sattel zu gewöhnen. Das ist vernünftiger.“ Jody eilte in die Geschirrkammer. Seit einiger Zeit pflegte er den Sattel über eine Sägebock zu legen und auf ihm zu reiten. Immer wieder schnallte er die Steigbügel kürzer oder länger, aber sie wollten nie richtig passen. Bisweilen bestieg er den Sägebock in der Geschirrkammer, an deren Wänden Halfter, Kummethölzer und Stränge hingen, und ritt in der Phantasie ins Freie hinaus. Die Flinte hielt er quer über dem Sattelknopf. Er sah die Felder an sich vorüberfliegen und hörte das Hämmern der galoppierenden Hufe. Es war eine kitzlige Aufgabe, dem Pony zum erstenmal den Sattel aufzulegen. Gabilan fuhr herum, bockte und schüttelte den Sattel ab, ehe die Gurten festgezogen werden konnten. Wieder und wieder mußte der Versuch erneuert werden, bis das Pony endlich den Sattel duldete. Auch das Festschnallen der Gurte bereitete Schwierigkeiten. Tag um Tag zog Jody die Gurtbänder etwas strammer an, bis sich Gabilan schließlich an das Sattelzeug gewöhnt hatte. Dann kam das Zaumzeug an die Reihe. Billy riet Jody, Gabilan ein Stück Süßholz zum Kauen zu geben, damit er sich daran gewöhne, überhaupt et31
was im Maule zu behalten. „Selbstverständlich könnten wir ihn mit Gewalt zu allem zwingen“, erklärte Billy. „Aber wenn wir das täten, würde er nie ein erstklassiger Gaul werden. Er würde immer eine gewisse Scheu empfinden, statt willig den Zaum zu tragen.“ In den ersten Tagen schüttelte Gabilan, sowie ihm der Zaum angelegt wurde, unwirsch mit dem Kopf und arbeitete mit der Zunge solange an der Kandare, bis Blut von seinen Lefzen tropfte. Immer wieder versuchte er das Kopfstück an der Krippe abzustreifen. Seine Ohren bewegten sich krampfhaft und aus seinen geröteten Augen sprachen Angst und Bosheit. Jody freute sich darüber, denn nur ein charakterloses Pferd läßt sich widerstandslos abrichten. Jody zitterte bei dem Gedanken an den Tag, an dem er sich zum erstenmal auf den Sattel schwingen dürfe. Wahrscheinlich würde das Pony ihn abwerfen. Das sei keine Schande. Aber eine Schmach sei es, wenn er sich nicht unverweilt aufraffe und das Pony wieder besteige. Bisweilen träumte ihm, er läge abgeworfen im Staube und weine und finde nicht den Mut, einen zweiten Versuch zu wagen. Die Scham über diesen Traum bedrückte ihn einen halben Tag lang. Gabilan wuchs rasch heran. Die Langbeinigkeit des Fohlens hatte sich bereits verloren; seine Mähne war länger und dunkler geworden. Dank des unermüdlichen Striegelns und Bürstens war sein 32
Fell glatt und glänzend wie orangeroter Lack. Jody vergaß auch nicht, regelmäßig die Hufe einzufetten und blank zu putzen, damit sie keine Risse bekämen. Das Roßhaarseil ging seiner Vollendung entgegen. Der Vater schenkte Jody ein Paar alte Sporen, bog die Seitenteile zusammen, trennte die Riemen ab und verkürzte die Kettchen, bis alles paßte. Und eines Tages erklärte Carl Tiflin: „Das Pony ist schneller herangewachsen als ich erwartete. Ich glaube, beim Erntedankfest kannst du es reiten. Aber wirst du dich auch im Sattel halten können?“ „Das weiß ich nicht“, entgegnete Jody schüchtern. Bis zum Erntedankfest waren es nur noch drei Wochen. Hoffentlich würde es an dem Tage nicht regnen; der rote Sattel könnte vom Regen Flecken bekommen. Jetzt kannte und liebte Gabilan seinen jungen Herrn. Sowie das Pony Jody über das Stoppelfeld schreiten sah, wieherte es lustig, und wenn Jody auf der Weide seinen Pfiff ertönen ließ, kam es sofort angaloppiert. Jedesmal erhielt es eine Mohrrübe zur Belohnung. Billy Buck wurde nicht müde, Jody Reitinstruktionen zu erteilen: „Sowie du im Sattel sitzt, klammerst du dich mit den Knien fest, aber Hände weg vom Sattelknopf, und sollte er dich abwerfen, so darf dich das nicht entmutigen. Ein Mann kann noch so tüchtig sein, es findet sich stets ein Gaul der ihn abzuschütteln vermag. Du mußt nur sofort 33
wieder im Sattel sitzen, damit er nicht auf den Gedanken kommt, dir über zu sein. Wenn du das beachtest, wird er schon bald den Versuch aufgeben, dich abzuwerfen, ja, sehr bald wird er dich nicht mehr abwerfen können. So muß man es anstellen.“ „Hoffentlich regnet es nicht vorher“, meinte Jody kleinlaut. „Weshalb nicht? Hast wohl Angst in den Schmutz zu fliegen?“ Das stimmte nur zum Teil; vor allem fürchtete Jody, Gabilan könnte beim Bocken ausgleiten und auf ihn fallen und ihm ein Bein oder die Hüfte brechen. Er hatte ähnliche Unfälle schon miterlebt und gesehen, wie die Reiter gleich zerquetschten Maikäfern auf dem Boden zappelten, und davor ängstigte er sich. Eifrig übte er sich auf dem Sägebock, die Zügel mit der linken Hand zu halten und in der rechten seinen Hut zu schwenken. Wenn er seine beiden Hände auf diese Weise beschäftigte, vermied er die Versuchung, sich am Sattelknopf festzuklammern, falls er in Gefahr geriet, herunterzufallen. Der Gedanke, was geschehen würde, wenn er sich am Sattelknopf festhalte, war ihm unerträglich. Vermutlich würden sein Vater und Billy Buck sich seiner schämen und nie wieder ein Wort an ihn richten. Wie ein Lauffeuer würde sich die Nachricht seiner Blamage im ganzen Bezirk verbreiten, so daß auch die Mutter sich seiner schämen müßte. Und auf dem Schulhof – – das war zu entsetzlich, um auch nur daran zu denken. Wenn Gabilan gesattelt im Stalle stand, stellte 34
sich Jody mit seinem ganzen Gewicht in den einen Steigbügel, aber das andere Bein schwang er nicht über des Ponys Rücken; das war bis zum Erntedankfest streng verpönt. Jeden Nachmittag legte Jody dem Pony den roten Sattel auf und zog die Gurten stramm. Gabilan hatte inzwischen bereits gelernt, während die Gurte angezogen wurden, seinen Bauch unnatürlich aufzublasen, und, wenn die Schnallen befestigt waren, die Luft wieder herauszulassen. Bisweilen führte Jody ihn bis an den Rand des Buschwaldes und ließ ihn aus dem runden, bemoosten Trog saufen; und bisweilen ging er auch mit ihm über das Stoppelfeld auf den Gipfel des Hügels, von dem man die weiße Stadt Salinas und die quadratischen Felder des weiten Tales überblickte und auf die von den Schafen abgeweideten Eichenanpflanzungen hinunterschaute. Dann und wann wagten sie sich auch in den Buschwald hinein und gelangten auf kleine, runde, so dicht eingehegte Lichtungen, daß die Welt versunken zu sein schien, und vom früheren Leben nur der Himmel und der Kranz von Gestrüpp übrig blieb. Gabilan liebte diese Ausflüge und gab durch Hochrecken seines Kopfes und durch ständiges Schnuppern seine Freude und sein Interesse zu erkennen. Wenn die beiden von einer solchen Expedition heimkehrten, haftete ihnen der süße Duft der Salbeibüsche an, durch die sie sich ihren Weg gebahnt hatten.
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Die Zeit schleppte sich dem Erntedankfest entgegen, aber der Winter nahte rasch. Die Wolken senkten sich und lasteten tagaus tagein auf dem Lande und verhüllten die Berggipfel, und nachts heulte der Wind. Den geschlagenen Tag rieselten von den Eichen die vergilbten Blätter zur Erde, bis sie den Boden dicht bedeckten, aber dennoch erschienen die Bäume unverändert. Jody betete inbrünstig, es möchte vor dem Erntedankfest nicht regnen, aber es regnete trotzdem. Die braune Erde färbte sich dunkler und die Bäume glitzerten. Die kurzen Stoppeln überzogen sich mit schwarzem Meltau, die Heuschober verfärbten sich in der mit Feuchtigkeit geschwängerten Luft grau, und das Moos auf den Dächern, das den ganzen Sommer graubraun wie Eidechsen gewesen war, schimmerte in lichtem Gelbgrün. Während der Regenwoche ließ Jody das Pony in seiner Box, nur nach beendetem Unterricht führte er ihn, um seine Glieder geschmeidig zu halten, zum Saufen in den oberen Korral zum Wassertroge. Nicht ein einziges Mal wurde Gabilan naß. Das regnerische Wetter hielt an und aus dem Boden sproßte junges Grün. Jody wanderte mit Gummischuhen und Regenumhang bekleidet zur Schule. Endlich ging eines Morgens die Sonne strahlend auf. Jody, mit seiner gewohnten Arbeit in der Box beschäftigt, fragte Billy Buck: „Glaubst du, daß ich Gabilan heute, während ich in der Schule bin, draußen im Korral lassen kann?“ 36
„Würd’ ihm nur gut tun, draußen in der Sonne herumzuspringen“, versicherte Billy. „Kein Tier liebt es, allzulange eingepfercht zu sein. Dein Vater und ich wollen heute auf den Berg, um die Quelle von Blättern zu säubern.“ Während Billy sprach, wiegte er nachdenklich den Kopf und stocherte sich mit einem seiner kurzgeschnittenen Strohhalme in den Zähnen. „Aber, falls es doch regnen sollte.“, begann Jody. „Nicht wahrscheinlich, daß es heute regnet. Der Himmel hat sich ausgeregnet.“ Billy krempelte seine Hemdärmel auf und streifte die Gummibänder hoch. „Na, und sollte es dennoch regnen, ein bißchen Regen hat noch keinem Gaul geschadet.“ „Bitte Billy, führ’ ihn trotzdem in den Stall, falls es regnen sollte. Ich habe Angst, er könnte sich erkälten und ich könnte ihn am Erntedankfest nicht reiten.“ „Selbstverständlich. Wenn wir zurückkommen, werde ich gleich nach ihm sehen. Aber es wird heute nicht regnen.“ Als Jody zur Schule ging, ließ er Gabilan draußen in der Einfriedung. Billy Buck irrte sich selten. Ein Mann wie er durfte sich nicht irren. Aber an diesem Tage irrte er sich doch. Kurz nach der Mittagsstunde ballten sich Wolken über den Bergen zusammen und ein heftiger Regen begann herniederzuströmen. Jody hörte die ersten Tropfen auf das Dach der Schule klatschen. Er überlegte, ob er nicht den Finger heben 37
und um Erlaubnis auszutreten bitten sollte. Einmal im Freien konnte er dann nach Hause laufen und das Pony in den Stall führen. Aber die Strafe – sowohl in der Schule, wie daheim – würde nicht auf sich warten lassen. Jody gab daher diesen ketzerischen Gedanken auf und klammerte sich an Billy Bucks Versicherung, ein Regenguß könnte einem Pferde nicht schaden. Als der Unterricht endlich beendet war, eilte er durch den dunklen Regen nach Hause. Aus den Böschungen zu beiden Seiten der Landstraße sprudelten kleine Quellen schmutzigen Wassers. Ein eisiger, böiger Wind wirbelte und peitschte die Regentropfen vor sich her. Jody stampfte im Hundetrab durch den mit Kies untermischten Morast. Auf der Höhe des Kammes angelangt sah er Gabilan, ein Bild des Jammers, im Korral stehen. Das rote Fell wirkte fast schwarz und triefte von Nässe. Das Pony stand mit gesenktem Kopfe, die rechte Flanke dem Regen und Wind zugekehrt. Jody raste den Hang hinunter, riß die Stalltüre auf und führte das durchnäßte Pony an der Stirnlocke in seine Box. Eilig holte er ein grobes Sacktuch, schruppte das vom Regen triefende Fell und rieb des Ponys Schenkel und Fesseln. Gabilan zitterte stoßweise wie der Wind, hielt aber geduldig still. Nachdem Jody das Pony so gut wie möglich abgetrocknet hatte, lief er in das Haus und holte heißes Wasser, in dem er den Hafer aufquellen ließ. 38
Gabilan hatte keinen Hunger, er schnüffelte nur an dem warmen Brei, aber ohne besonderes Interesse, und schauerte von Zeit zu Zeit zusammen. Von seinem feuchten Rücken stieg eine leichte Dampfwolke auf. Es dunkelte bereits, als Billy Buck und Carl Tiflin endlich heimkehrten. „Als der Regen einsetzte, packten wir rasch bei Ben Herche unsern Kram zusammen, aber der Regen hielt den ganzen Nachmittag an“, erklärte Carl Tiflin. Jody warf Billy Buck einen vorwurfsvollen Blick zu und Billy fühlte sich schuldig. „Du behauptetest, es würde nicht regnen“, sagte Jody anklagend. Billy Buck blickte scheu zur Seite. „Um diese Jahreszeit vermag man schwer etwas vorauszusagen“, entgegnete er, aber das war eine lahme Entschuldigung. Billy Buck besaß nicht das Recht, sich zu irren; das wußte er. „Das Pony ist naß geworden, völlig durchnäßt!“ „Hast du ihn abgetrocknet?“ „Ja, ich habe ihn mit einem alten Sack abgerieben und über den Hafer heißes Wasser geschüttet.“ Billy nickte beifällig. „Glaubst du, daß er sich erkältet hat, Billy?“ „Ein bißchen Regen hat noch nie jemandem geschadet“, versicherte Billy. Jetzt mischte sich Jodys Vater ins Gespräch und hielt dem Jungen eine kleine Vorlesung. „Ein Gaul“, schloß er, „ist kein verpimpeltes 39
Schoßhündchen.“ Carl Tiflin haßte Verweichlichung und Krankheit und verachtete Hilflosigkeit aus innerster Überzeugung. Jodys Mutter stellte eine Schüssel mit Beefsteak und Salzkartoffeln und gekochtem Kürbis auf den Tisch, die das Zimmer mit ihrem Dampf erfüllten. Sie setzten sich zum Essen nieder. Carl Tiflin schimpfte noch immer leise über Verweichlichung bei Tieren und Menschen durch allzu große Verzärtelung. Billy Buck schämte sich wegen seines Irrtums. „Hast du ihn ordentlich zugedeckt?“ erkundigte er sich. „Nein, ich fand keine Decke, ich habe ihm nur ein paar alte Säcke über den Rücken gelegt.“ „Dann wollen wir nach dem Essen in den Stall gehen und ihn ordentlich einwickeln.“ Billy Buck fühlte sich nach diesem Rat etwas wohler. Sobald sich Jodys Vater an den Kamin zurückgezogen hatte und die Mutter das Geschirr abwusch, holte Billy eine Laterne und zündete sie an. Dann stampften er und Jody durch den Schlamm zum Stall hinunter. Der Stall war dunkel und warm und anheimelnd. Die Pferde kauten geräuschvoll ihr abendliches Heu. „Halt mal die Laterne!“ befahl Billy. Sorgfältig befühlte er Beine und Flanken des Ponys, drückte seine Wangen gegen des Ponys graues Maul, und zog dann die Augenlider empor, um die Augäpfel zu betrachten, und hob die Lippen hoch, um sich das Zahnfleisch anzuschauen, und führte 40
seine Finger tief in die Ohren ein. „Besonders munter ist er nicht“, erklärte Billy. „Ich werde ihm eine Abreibung verabreichen.“ Billy holte einen Sack und rieb mit aller Kraft erst die Beine und dann die Brust des Ponys. Gabilan verhielt sich seltsam gleichgültig. Geduldig ließ er sich die Abreibung gefallen. Zuletzt holte Billy aus der Sattelkammer eine alte, baumwollene Steppdecke, warf sie dem Pony über den Rücken und befestigte sie mit einem Strick fest um Hals und Brust. „Morgen früh wird er schon wieder auf dem Posten sein“, erklärte Billy Als Jody das Haus betrat, blickte seine Mutter von ihrer Arbeit auf. „Du bist heute lange auf“, sagte sie, legte ihre Hand unter sein Kinn, strich ihm die wirren Haare aus den Augen und fuhr dann fort: „Mach’ dir um das Pony keine Sorgen. Es wird schon wieder munter werden. Billy versteht sein Handwerk so gut wie irgendein Pferdedoktor im ganzen Bezirk.“ Jody hatte nicht geglaubt, daß die Mutter seinen Kummer bemerken würde. Sanft machte er sich von ihr los und kniete sich vor den Kamin, bis er die Hitze des Feuers auf seinem Bauch spürte. Nachdem er sich gründlich hatte braten lassen, begab er sich in sein Bett, aber es war schwierig, Schlaf zu finden. Er wachte, wie es ihm schien, erst nach langer Zeit auf. Das Zimmer war dunkel, aber das Fenster schimmerte in dem matten Grau, das der Morgendämmerung voranzugehen pflegt. Er sprang aus dem Bett, ergriff seine Sachen und be41
mühte sich in die Hosenbeine zu schlüpfen, als die Uhr im Nebenzimmer zwei schlug. Schlaftrunken legte er seine Kleider wieder auf den Stuhl und kroch ins Bett zurück. Als er von neuem erwachte, war es heller Tag. Zum erstenmal hatte er das Läuten des Triangels verschlafen. Eilig sprang er auf, streifte seine Kleidung über und eilte, sein Hemd zuknöpfend, zur Tür hinaus. Seine Mutter blickte ihm ein paar Sekunden nach und machte sich dann wieder stumm an ihre Arbeit. Ihre Augen waren versonnen und liebevoll. Dann und wann verzog sich ihr Mund zu einem leichten Lächeln, ohne daß sich der Ausdruck ihrer Augen geändert hätte. Jody ging im Sturmschritt zum Stall hinunter. Auf halbem Wege hörte er bereits das Geräusch, das er gefürchtet hatte, das dumpfe, rasselnde Husten eines Pferdes. Jetzt lief er, als gälte es sein Leben. In dem Stall traf er bereits Billy Buck bei dem Pony. Billy war gerade damit beschäftigt, mit seinen breiten, kräftigen Händen des Ponys Beine zu massieren. Er blickte von seiner Arbeit auf und lächelte zufrieden. „Er hat sich nur ein wenig verkühlt“, erklärte Billy, „in ein paar Tagen haben wir ihn über den Berg.“ Jody betrachtete des Ponys Kopf. Die Augen waren halb geschlossen, die Lider geschwollen und trocken. In den Augenwinkeln hatte sich verhärteter Schleim angesammelt. Es hielt den Kopf gesenkt, und die Ohren hingen schlapp herab. Jody streckte ihm seine Hand hin, aber das Pony beach42
tete sie nicht. Es hustete wieder, so daß sich sein ganzer Körper krampfte, vor Anstrengung zusammenzog. Aus den Nüstern tropfte Schleim. Jody blickte sich nach Billy Buck um: „Er ist furchtbar krank, Billy.“ „Nur eine kleine Erkältung, wie ich schon gesagt habe“, beharrte Billy. „Geh’ jetzt und frühstücke, und dann mach’, daß du in die Schule kommst, ich werde für ihn sorgen.“ „Aber vielleicht hast du irgend etwas anderes zu tun? Vielleicht läßt du ihn allein.“ „Nein, das werde ich nicht tun. Ich werde ihn unter keinen Umständen verlassen. Morgen ist Samstag. Da kannst du den ganzen Tag bei ihm bleiben.“ Billy hatte sich wieder geirrt und fühlte sich schuldbeladen. Jetzt war es seine Pflicht, das Pony zu kurieren. Jody begab sich in das Haus hinauf und setzte sich wortlos an den Tisch. Die Eier und der Schinken waren kalt und talgig, aber er beachtete das nicht. Er aß seine übliche Portion. Er bat nicht einmal, die Schule schwänzen zu dürfen. Als seine Mutter das Geschirr abräumte, strich sie ihm das Haar zurück. „Billy wird auf das Pony achtgeben“, tröstete sie ihn. Den ganzen langen Tag hockte Jody niedergeschlagen auf der Schulbank. Er vermochte weder eine Frage zu beantworten noch eine Zeile zu lesen. Er brachte es nicht einmal über das Herz, einem seiner Kameraden zu erzählen, daß das Pony erkrankt sei, vielleicht hätte das Gabilan schaden 43
können. Als der Unterricht beendet war, machte er sich klopfenden Herzens auf den Heimweg. Er ging langsam und ließ die anderen Jungen vorauseilen. Am liebsten wäre er immer weiter gewandert, um nie die Farm zu erreichen. Billy befand sich, seinem Versprechen gemäß, in dem Stall, aber das Pony war entschieden kränker. Seine Augen waren jetzt fast ganz geschlossen, und der Atem drang pfeifend an irgendeinem Hindernis vorbei aus seinen Nüstern. Ein dünner Schleier überzog die sichtbaren Teile der Augen. Es war zweifelhaft, ob das Pony überhaupt noch etwas zu sehen vermochte. Dann und wann schnaufte es tief, um Luft durch die Nasenlöcher zu bekommen, aber durch diese Anstrengung schienen sie sich nur immer mehr zu verstopfen. Niedergeschlagen betrachtete Jody Gabilans Fell. Die Haare waren wirr und hatten ihren Glanz verloren. Billy stand stumm neben der Box. Jody fürchtete sich, eine Frage zu stellen, aber er mußte sich Gewißheit verschaffen. „Billy, wird es – wird es wieder gesund werden?“ Billy streckte die Finger durch die Latten und betastete Gabilans Schlund. „Fühl’ mal hier“, sagte er und führte Jodys Finger zu einer großen Geschwulst unterhalb der Kinnladen. „Sobald sie größer geworden ist, werde ich sie aufschneiden und dann wird sich Gabilan gleich wohler fühlen.“ Jody blickte rasch beiseite, denn er hatte schon etwas von solchen Geschwülsten gehört. „Was fehlt ihm eigentlich?“ 44
Billy verspürte wenig Neigung zu antworten, aber es half ihm nichts, er durfte sich nicht dreimal hintereinander irren. „Druse“, entgegnete er barsch, „aber mach’ dir deswegen keine Sorgen. Ich werde ihn schon durchbekommen. Ich habe schon Pferde wieder gesund werden sehen, die erheblich kränker waren als Gabilan. Ich will ihm jetzt ein heißes Dampfbad machen. Du kannst mir dabei helfen.“ „Ja“, stammelte Jody kläglich. Er folgte Billy in die Kornkammer und sah zu, wie dieser den Umschlag bereitete. Der Umschlag bestand aus einem langen, leinenen Futterbeutel, der mit Bändern versehen war, um den Beutel hinter den Ohren zu befestigen. Billy füllte den Sack etwa ein Drittel mit Kleie voll und mischte ein paar Hände getrockneter Hopfenblüten darunter. Dann goß er auf die trokkene Masse ein wenig Karbol und Terpentinöl. „Jetzt werde ich alles gründlich durchkneten, inzwischen läufst du ins Haus und holst einen Kessel mit kochendem Wasser“, erklärte Billy. Als Jody mit dem dampfenden Kessel zurückkehrte, streifte Billy die Bänder Gabilan über den Kopf und zog den Beutel hoch über seine Nase. Durch ein kleines Loch in der Seite des Beutels goß er auf die Mischung das heiße Wasser. Als eine ätzende Dampfwolke aus dem Beutel aufstieg, schrak das Pony zurück, aber dann drang der lösende Dampf durch die Nüstern in seine Lunge und fing an, die Nasengänge freizumachen. Gabilan schnaufte laut, seine Beine zitterten vor Fieberfrost. Er kniff 45
die Augen zu, um sie vor der beizenden Wolke zu schützen. Billy goß wieder heißes Wasser in den Beutel und ließ den aufsteigenden Dampf fünfzehn Minuten einwirken. Endlich stellte er den Kessel auf den Boden und entfernte den Beutel von Gabilans Schädel. Das Pony machte entschieden einen muntereren Eindruck, es atmete wieder frei, und seine Augen waren weiter geöffnet als vorher. „Sieh nur, wie wohl ihm das getan hat,“ sagte Billy, „jetzt wollen wir es wieder in die Decke einhüllen, vielleicht ist es morgen nahezu gesund.“ „Ich möchte heute nacht bei ihm bleiben“, schlug Jody vor. „Nein, das laß bleiben. Ich werde meine Decken holen und sie hier aufs Heu legen. Morgen kannst du bei ihm wachen, und falls es erforderlich ist, ihn wieder inhalieren lassen.“ Der Abend senkte sich nieder, als sie zum Essen in das Gutshaus gingen. Jody kam es gar nicht zum Bewußtsein, daß ein anderer die Hühner gefüttert und die Wassertonne gefüllt hatte. Er schritt an dem Hause vorüber zu dem dämmrigen Buschholz und trank aus dem ausgehöhlten Baumstamm. Das Quellwasser war so kalt, daß es ihn im Munde schmerzte und ihm ein Schauer über den Rücken lief. Der Himmel war noch hell. Jody entdeckte einen Habicht, der so hoch flog, daß die letzten Sonnenstrahlen seine Brust trafen und seine Federn aufglänzen ließen. Zwei Schwarzdrosseln jagten hinter ihm her, und auch ihr Gefieder schimmerte, 46
während sie ihren Feind angriffen. Im Westen ballten sich wieder Regenwolken zusammen. Jodys Vater sprach, solange die Familie das Abendbrot verzehrte, kein Wort. Aber nachdem Billy Buck seine Decken geholt und sich in den Stall zum schlafen begeben hatte, errichtete Carl Tiflin in dem Kamin einen hohen Scheiterhaufen und erzählte allerlei Geschichten. Er erzählte von dem wilden Manne, der splitternackt durch das Land gelaufen war und einen Schweif und Ohren wie ein Roß besaß. Und er erzählte von der Kaninchenkatze, von Moro Coje, die auf der Jagd nach Vögeln auf die Bäume hüpfte. Er berichtete von den berühmten Brüdern Maxwell, die eine Goldader entdeckt und deren Spuren so sorgfältig verborgen hatten, daß sie nicht wieder aufzufinden war. Jody hockte, das Kinn in seine Hände gestützt; sein Mund arbeitete nervös, und sein Vater merkte allmählich, daß er nicht mehr aufmerksam zuhörte. „Ist das nicht komisch“, fragte er. Jody lachte höflich und sagte: „Ja, Sir.“ Der Vater war ärgerlich und gekränkt und erzählte keine weiteren Geschichten. Nach einer Weile ergriff Jody eine Laterne und begab sich in den Stall hinunter. Billy Buck schnarchte in dem Heu. Dem Pony schien es wesentlich besser zu gehen, nur beim Atmen rasselte es leise in seinen Lungen. Jody blieb eine Zeitlang neben ihm stehen und fuhr mit seinen Fingern über das rauhe, rote Fell, dann ergriff er wieder die Laterne und kehrte in das Haus zurück. 47
Als er im Bett lag, kam seine Mutter in das Zimmer. „Hast du auch genügend Decken? Es wird Winter.“ „Ja, Mama.“ „Na, dann schlafe dich heute nacht aus.“ Sie zögerte und blieb unentschlossen stehen. „Das Pony wird schon wieder gesund werden“, sagte sie. Jody war todmüde und schlief rasch ein und erwachte erst beim Morgengrauen. Der Triangel läutete, und Billy Buck kam aus dem Stall geschlendert, ehe Jody das Haus verlassen konnte. „Wie geht es ihm“, erkundigte sich Jody. Billy schlang wie gewöhnlich sein Frühstück hinunter „Leidlich. Heute früh werde ich die Geschwulst öffnen. Dann wird er sich wahrscheinlich erholen.“ Nach dem Frühstück suchte Billy sein bestes Messer heraus, ein Messer mit einer haarscharfen Spitze. Lange Zeit wetzte er die blanke Klinge auf einem kleinen Schleifstein und prüfte Spitze und Klinge wieder und wieder, zuerst auf seinem schwieligen Daumenballen, und zuletzt probierte er beide auf seiner Oberlippe. Auf dem Weg zum Stalle fiel es Jody auf, wie hoch das junge Gras emporgeschossen war, und wie sich die Stoppeln täglich mehr und mehr in eine unfreiwillige, neue grüne Saat verwandelten. Es war ein kühler, sonniger Morgen. Sobald Jody das Pony erblickte, erkannte er, daß es kränker geworden war. Die Augen waren geschlossen und durch eingetrockneten Schleim verklebt. Der Kopf hing so tief herunter, daß des Ponys 48
Nase fast die Streu berührte Bei jedem Atemzug entquoll seiner Brust ein leises Röcheln, ein tiefliegendes, geduldiges Röcheln. Billy hob den matten Kopf in die Höhe und machte mit dem Messer rasch einen tiefen Einschnitt. Jody sah den gelben Eiter herunterrinnen. Während Billy die Wunde mit starkverdünnter Karbolsäure auswusch, hielt Jody den Kopf des Ponys fest. „Jetzt wird es sich bald besser fühlen“, versicherte ihm Billy. „Jenes gelbe Gift machte es so elend.“ Jody blickte Billy Buck ungläubig an: „Es ist sehr, sehr krank!“ Billy überlegte lange, was er antworten sollte. Um ein Haar hätte er eine leichtfertige Zusicherung hervorgesprudelt, aber er besann sich noch rechtzeitig eines besseren: „Ja, Gabilan ist ziemlich elend“, sagte er endlich. „Ich habe aber schon kränkere Pferde wieder gesund werden sehen. Falls keine Lungenentzündung hinzukommt, werden wir es durchbringen. Du bleibst hier. Sollte es ihm schlechter gehen, kannst du mich ja rufen.“ Noch lange Zeit, nachdem Billy sich entfernt hatte, blieb Jody neben dem Pony stehen und kraulte es hinter den Ohren. Aber das Pony hob nicht den müden Kopf, wie es das früher zu tun pflegte, als es noch gesund war. Sein stöhnendes Atmen klang dumpfer. Doubletree Mutt blickte in den Stall und wedelte aufreizend mit seinem dicken Schwanz, und Jody war über seine Gesundheit so aufgebracht, daß er 49
einen harten, dunklen Lehmklumpen vom Boden auflas und ihn nach dem Hunde schleuderte. Aufheulend lief Doubletree Mutt fort, um sich seine wunde Pfote zu lecken. Im Laufe des Vormittags kam Billy Buck und ließ das Pony wieder heißen Dampf einatmen. Jody paßte gespannt auf, ob sich auch diesmal der Zustand des Ponys wie früher bessern würde. Das Atmen klang ein wenig leiser, aber trotzdem ließ es seinen Kopf herunterhängen. Langsam schleppte sich der Samstag dahin. Spät am Nachmittag begab sich Jody in das Haus und holte sein Bettzeug und bereitete sich in dem Heu ein Lager. Er fragte nicht erst um Erlaubnis. Aus der Art, wie seine Mutter ihn anblickte, schloß er, daß sie ihm fast alles gestatten würde. An diesem Abend hing er eine brennende Laterne an einem Draht über der Box auf. Billy hatte ihm geraten, in kurzen Abständen des Ponys Beine zu massieren. Um neun Uhr sprang der Wind auf und pfiff heulend um den Stall. Trotz seines Kummers wurde Jody müde. Er wickelte sich in seine Decken und legte sich schlafen. – Aber auch in seinen Träumen verfolgte ihn das stöhnende Atmen des Ponys. Im Schlaf vernahm er ein krachendes Geräusch, das sich so oft wiederholte, bis er davon erwachte. Der Wind fegte durch den Stall. Jody sprang auf und blickte den Gang hinunter. Die Stalltür war aufgeflogen und das Pony verschwunden. Jody ergriff die Laterne und eilte in das Unwetter 50
hinaus und sah Gabilan schwankend, mit gesenktem Kopf, die Beine schwerfällig und mechanisch bewegend, in der Finsternis untertauchen. Als er ihm nacheilte und ihn an der Stirnlocke ergriff, ließ sich Gabilan geduldig in seine Box zurückführen. Das Stöhnen klang lauter und aus den Nüstern kam ein pfeifender Ton. Von dieser Minute an schlief Jody nicht mehr. Das zischende Atmen des Ponys schwoll an und klang schärfer. Jody war froh, als beim Morgengrauen Billy Buck erschien. Billy betrachtete das Pony lange Zeit, als hätte er es noch nie vorher gesehen. Er befühlte die Ohren und die Flanken. „Jody“, sagte er, „ich muß etwas tun, was du nicht zu sehen brauchst. Geh’ und bleib’ eine Zeitlang droben im Hause.“ Erregt umklammerte Jody Billys Arm: „Du willst ihn doch nicht erschießen?“ Billy tätschelte liebevoll des Knaben Hand: „Nein, Jody, ich will nur eine kleine Öffnung in seine Luftröhre schneiden, damit er frei atmen kann. Seine Nasengänge sind verstopft. Sobald er wieder gesund ist, stecken wir ein kleines Messingrohr in das Loch, durch das er atmen kann.“ Jody hätte nicht fortgehen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Gewiß war es entsetzlich zuzusehen, wie das rote Fell aufgeschnitten wurde, aber noch entsetzlicher war es zu wissen, daß es aufgeschnitten würde, ohne es zu sehen. „Ich bleibe hier“, erklärte er erbittert. „Bist du auch sicher, daß es sein muß?“ „Ja, ich bin dessen sicher. Wenn du bleibst, 51
kannst du seinen Kopf halten, das heißt, falls dir dabei nicht übel wird.“ Das blanke Messer kam wieder zum Vorschein und wurde genau so sorgfältig geschliffen wie das erste Mal. Jody hielt des Ponys Kopf in die Höhe und die Kehle gespannt, während Billy den Hals hinauf und herab nach einer geeigneten Stelle betastete. Als die blanke Messerspitze in der Luftröhre verschwand, schluchzte Jody einmal auf. Das Pony schwankte matt zur Seite und stand dann heftig zitternd still. Blut schoß in dickem Strahl auf das Messer und über Billys Hand und in seine Hemdsärmel. Die ruhige, breite Hand schnitt ein rundes Loch in das Fleisch und aus der Öffnung drang pfeifend der Atem und schleuderte einen feinen Sprühregen Blut in die Luft. Mit dem Einsaugen von Sauerstoff gewann das Pony plötzlich wieder Kraft. Es keilte mit den Hinterfüßen aus und versuchte sich zu bäumen, aber Jody zog seinen Kopf herunter, während Billy die frische Wunde mit Karbolsäure einrieb. Es war eine gute Arbeit. Das Blut versiegte, und die Luft pfiff regelmäßig mit leisem, gurgelnden Geräusch aus der Öffnung heraus und wurde wieder eingesogen. Der von dem nächtlichen Wind herbeigeführte Regen begann auf das Dach des Stalles niederzuprasseln, dann rief der Triangel zum Frühstück. „Geh jetzt hinauf und frühstücke, ich warte solange. Wir müssen jetzt dafür sorgen, daß sich die Öffnung nicht verstopft.“ 52
Zögernd verließ Jody den Stall. Er war viel zu niedergeschlagen, um Billy zu erzählen, daß der Wind die Stalltüre aufgerissen hatte und das Pony ins Freie gelaufen war. Langsam trat er in den feuchten, strahlenden Morgen und schlich zum Hause hinauf. Es bereitete ihm eine perverse Genugtuung, durch sämtliche Pfützen zu stapfen. Seine Mutter setzte ihm Essen vor und zog ihm trockene Kleider an. Sie stellte keine Fragen, sie fühlte, daß er keine Frage zu beantworten vermöchte. Aber als er fertig gefrühstückt hatte und in den Stall zurückkehren wollte, brachte sie ihm eine dampfende Pfanne mit Mehlbrei. „Gib ihm das“, sagte sie. Aber Jody nahm die Pfanne nicht. „Er mag nicht fressen“, sagte er, und eilte aus dem Hause. Im Stalle zeigte ihm Billy, wie man einen Baumwollbausch auf einem Stöckchen befestigen müßte, um damit das Atemloch auszuwischen, so oft es sich mit Schleim zu verstopfen drohte. Jodys Vater betrat den Stall und stellte sich neben die Box. Nach einiger Zeit sagte er zu dem Jungen: „Jody, es wäre vernünftiger, wenn du mich begleitetest, ich muß über den Berg fahren.“ Jody schüttelte stumm den Kopf. „Es wäre wirklich verständiger, den Stall zu verlassen“, beharrte der Vater. „Laß doch den Jungen in Frieden“, rief Billy ärgerlich. „Schließlich ist es sein Pony.“ Ohne ein weiteres Wort ging Carl Tiflin fort, er fühlte sich tief verletzt. Während des ganzen Vormittags hielt Jody die 53
Wunde offen, und die Luft strömte unbehindert aus und ein. Um die Mittagszeit legte sich das Pony ermattet auf die Seite und reckte seine Nase in die Luft. Billy kam zurück. „Falls du heute nacht bei ihm bleiben willst, tätest du gut, vorher einen Bissen zu essen“, riet er. Geistesabwesend verließ Jody den Stall. Der Himmel hatte sich mit einem harten, matten Blau bekleidet, überall waren die Vögel eifrig mit dem Suchen nach Würmern beschäftigt, die aus der feuchten Erde hervorgekrochen waren. Jody schlenderte bis zum Rande des Buschwaldes und setzte sich auf den bemoosten Wassertrog. Er blickte hinunter auf die Farm und auf den Schlafsaal und auf die düstere Zypresse. Der Platz war ihm vertraut, er schien aber seltsam verwandelt. Er war nicht mehr der gleiche wie früher, sondern nur ein Rahmen für Ereignisse, die sich dort unten abspielten. Aus Osten wehte ein kalter Wind und verkündete, daß das Regenwetter wenigstens für kurze Zeit vorüber sei. Zu seinen Füßen sah Jody die kleinen Ausläufer jungen Unkrauts sich über den Boden ausbreiten. In dem schlammigen Boden im Umkreis der Quelle waren Tausende von Wachtelfährten eingezeichnet. Verlegen kam Doubletree Mutt seitwärts über das Gemüseland angeschlichen und in Erinnerung an den Wurf mit dem Lehmklumpen schlang Jody seine Arme um des Köters Hals und küßte ihn auf seine breite, schwarze Nase. Doubletree Mutt hielt 54
ganz still, als fühle er, daß sich hier irgend etwas Feierliches ereigene. Ernst klopfte er mit seinem breiten Schwanz auf den Boden. Jody zog eine dickaufgeschwollne Zecke aus Mutts Genick und zerquetschte sie zwischen den Daumennägeln. Es war ein garstiges Geschöpf, Jody säuberte seine Hände in dem kalten Quellwasser. Außer dem stetigen Pfeifen des Windes herrschte auf der Farm Totenstille. Jody wußte, die Mutter würde ihn nicht schelten, wenn er heute das Mittagessen versäume. Nach kurzem Aufenthalt kehrte er langsam in den Stall zurück. Doubletree Mutt verkroch sich in seiner Hütte und winselte lange Zeit leise. Billy Buck verließ die Box und übergab Jody den Baumwollbausch. Das Pony lag noch immer auf der Seite, und die Wunde in seiner Kehle öffnete und schloß sich regelmäßig. Als Jody bemerkte, wie ausgetrocknet und abgestorben das Fell des Ponys aussah, wurde es ihm endlich klar, daß es für Gabilan keine Hoffnung mehr gab; er hatte schon früher bei Hunden und Kühen dieses abgestorbene Haar gesehen, und es galt als ein untrügliches Zeichen. Schwerfällig ließ er sich auf eine Kiste sinken und schob den Querbalken der Box beiseite. Lange Zeit beobachtete er die zuckende Wunde. Endlich übermannte ihn der Schlaf, und der Nachmittag verstrich rasch. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit brachte ihm seine Mutter eine Schüssel mit Irishstew und stellte sie wortlos neben ihn und ging 55
wieder fort. Jody aß ein paar Bissen, und als es dunkel war, stellte er die Laterne neben den Kopf des Ponys auf den Boden, damit er die Wunde sehen und offenhalten konnte. Und wieder schlief er ein, bis die nächtliche Kälte ihn aufweckte. Der Wind heulte und führte aus Norden Eiseskälte mit. Jody holte eine Decke von dem Lager im Heu und wickelte sich in sie ein. Endlich atmete Gabilan ruhiger. Das Loch in seiner Kehle bewegte sich nur langsam. Kreischend huschten Eulen auf der Jagd nach Mäusen über den Heuboden. Jody faltete seine Hände hinter dem Kopf zusammen und schlummerte ein. Im Schlaf wurde er sich bewußt, daß der Wind an Stärke zugenommen hatte. Er hörte ihn um den Stall poltern. Als er erwachte, war es taghell, die Stalltür stand weit offen, das Pony war verschwunden. Jody sprang auf und lief hinaus in die morgendliche Helle. Die Hufspuren des Ponys waren deutlich zu erkennen, ermattete Spuren mit kleinen Linien dazwischen, dort, wo die Hufe über den Boden geschleift waren. Die Fährte zog sich durch das reifbedeckte junge Gras und führte nach der Grenze des Buschwaldes auf dem halben Wege zum Kamm. Jody verfolgte sie im Laufschritt, die Sonne schien auf die scharfen, weißen Quarztrümmer, die hier und dort aus der Erde ragten. Während er der Spur folgte, huschte quer vor ihm ein Schatten über den Boden. Jody blickte auf und sah hoch in der Luft eine Schar schwarzer Geier ihre Kreise ziehen; 56
er sah, wie die Kreise sich allmählich tiefer und tiefer senkten und bald verschwanden die unheimlichen Vögel hinter dem Kamm. Jody beschleunigte seinen Lauf, angespornt von Angst und Wut. Die Spur mündete in den Buschwald und folgte hier einem zwischen den hohen Salbeisträuchern sich hinziehenden gewundenen Pfad. Auf der Höhe des Kammes mußte sich Jody verschnaufen; schwer atmend blieb er stehen. Das Blut pochte in seinen Ohren. Dann erblickte er, was er suchte. Unter ihm im Buschwald auf einer kleinen Lichtung lag das Pony. Aus der Ferne konnte Jody sehen, wie sich seine Beine langsam und krampfhaft bewegten, und in einem Kreise um das Pony hockten die Geier in Erwartung des Augenblicks des Todes, den sie so genau kannten. Jody sprang vor und rannte den Hang hinunter. Der aufgeweichte Boden dämpfte seine Schritte, und das Gestrüpp verbarg ihn. Als er auf der Lichtung anlangte, war alles vorüber. Der erste Geier hockte auf des Ponys Schädel und reckte gerade seinen Schnabel, von dem das blutige Augenwasser herunterträufelte, in die Höhe. Gleich einer Wildkatze sprang Jody in den Kreis. Die schwarze Brüderschaft erhob sich in einer dichten Wolke. Aber der große Geier auf des Ponys Schädel verspätete sich. Als er herunterhüpfte, um fortzufliegen, packte ihn Jody an den Schwungfedern und riß ihn zu Boden. Der Geier war fast so groß wie er selbst. Mit der Kraft einer Keule klatschte der freie 57
Flügel dem Jungen ins Gesicht, aber trotzdem ließ Jody den Geier nicht los. Die Klauen gruben sich in seinen Schenkel, und von beiden Seiten hämmerten die Flügel auf seinen Schädel ein. Blindlings griff Jody mit seiner freien Hand zu; seine Finger bekamen den Hals des sich sträubenden Vogels zu packen. Die roten Augen schauten in sein Gesicht, ruhig und furchtlos und wild; der nackte Schädel drehte sich von einer Seite zur anderen. Dann öffnete sich der Schnabel und spie einen Strom von Schleim und Blut aus. Jody erhob sich auf die Knie und ließ sich auf den großen Vogel fallen. Mit der einen Hand preßte er dessen Hals gegen den Erdboden, während er mit der anderen ein weißes Quarzstück ergriff. Der erste Hieb spaltete seitlich den Schnabel, und dunkles Blut spritzte aus den zusammengepreßten, lederartigen Schnabelecken. Wieder schlug Jody zu, verfehlte aber sein Ziel. Die roten, furchtlosen Augen starrten ihn noch immer an, unpersönlich und ohne Angst wie aus weiter Ferne. Wieder und wieder schlug Jody zu, bis der Geier tot am Boden lag, bis sein Schädel eine blutige, unkenntliche Masse war, und er hieb noch auf den toten Vogel ein, als Billy Buck Jody aufhob und ihn fest an sich preßte, um ihn zu beruhigen. Carl Tiflin wischte mit einem roten Taschentuch das Blut von des Knaben Gesicht. Jetzt war Jody matt und ruhig. Sein Vater stieß den Geier mit der Fußspitze an. „Jody“, erklärte er, „der Geier hat das Pony nicht getötet. Weißt du das nicht?“ 58
„Ich weiß es“, versetzte Jody müde. Billy Buck übermannte der Zorn. Er hatte Jody auf seine Arme gehoben und war im Begriff, ihn nach Hause zu tragen, aber jetzt wandte er sich nach Carl Tiflin um: „Verdammt! Natürlich weiß er das“, schrie Billy wütend. „Jesus Christus! Mann, seht Ihr nicht, wie dem Jungen zumute ist?“
DIE CHRYSANTHEMEN
Der hohe, flanellgraue Winternebel schloß das Tal von Salinas vom Himmel und von der ganzen übrigen Welt ab. Er lag auf jeder Seite wie ein Deckel über den Bergen und machte aus dem großen Tal einen verschlossenen Topf. Auf dem breiten, ebenen Talboden bissen die Traktoren tiefe Furchen in das Land und ließen die schwarze Erde dort, wo die Pflugschar eingeschnitten hatte, metallen aufglänzen. Jenseits des Salinas-Flusses erschienen die gelben Stoppelfelder der im Tal gelegenen Gehöfte in bleichen, kalten Sonnenschein gebadet, aber jetzt im Dezember gab es keinen Sonnenschein im Tal. Das dichte Weidengebüsch am Fluß flammte von den hellgelben Blättern. Es war eine Zeit der Ruhe und der Erwartung. Die Luft war kalt und weich. Ein leichter Wind blies von Südwesten, so daß die Farmer sich der Hoffnung hingaben, es werde bald ausgiebig regnen. Aber Nebel und Regen passen nicht zusammen. Auf Henry Allens Gehöft war nicht viel zu tun, denn das Heu war geschnitten und in die Bansen gebracht, die Obstgärten waren umgegraben, damit die Erde den Regen in tiefen Zügen trinken könne, wenn er käme. Das Vieh auf den höher gelegenen Triften wurde zottig und dickfellig. 60
Elisa Allen, die im Garten arbeitete, sah nach dem Hofe hin, wo Henry, ihr Mann, mit zwei Leuten sprach, die ihrer Kleidung nach Viehhändler sein mußten. Elisa beobachtete sie eine Weile und kehrte dann zu ihrer Arbeit zurück. Sie war fünfunddreißig. Ihr Gesicht war hager und scharf gezeichnet. Ihre Augen waren so klar wie Wasser. Ihre Gestalt sah in der Arbeitskleidung wuchtig und unbeholfen aus. Ein schwarzer Filzhut, der ihrem Mann gehörte, war bis zu den Augen herabgezogen, an den Füßen trug sie schwere Ackerstiefel, das Kattunkleid war fast ganz durch eine große Kordschürze verdeckt, in deren vier großen Taschen sie den Pflanzenstecher, das Kratzeisen, die Samen und das Messer untergebracht hatte, mit denen sie arbeitete. Um ihre Hände während der Arbeit zu schützen, trug sie schwere Lederhandschuhe. Sie schnitt mit einer kurzen und starken Schere die vorjährigen Chrysanthemenstengel ab. Dann und wann warf sie einen Blick nach den Männern auf dem Hof. Ihr Gesicht war lebhaft, reif und hübsch. Sogar die Arbeit mit der Schere ging zu lebhaft, zu stürmisch vonstatten. Die Chrysanthemenstengel schienen zu klein und zu leicht für ihre Energie. Sie strich sich mit dem Handschuhrücken einen Büschel Haare aus den Augen, so daß an ihrer Wange ein Schmutzstreifen zurückblieb. Hinter ihr stand das zierliche, weiße Gehöft, von roten Geranien bis hoch zu den Fenstern hinauf umblüht. Es 61
war ein sehr sauberes, kleines Haus mit blank geputzten Fensterscheiben und einer reinen Matte auf den Treppenstufen. Wieder warf Elisa einen Blick nach dem Traktorschuppen. Die fremden Männer stiegen in ihren Ford. Sie zog einen Handschuh aus und streckte ihre kräftigen Finger in den Wald von grünen Chrysanthementrieben, die um die alten Wurzeln herum aufsprossen. Sie breitete die Blätter auseinander und blickte zu den dicht beieinander wachsenden Stengeln hinab. Da gab es keine Blattläuse, keine Asseln, Schnecken oder Würmer. Ihre Finger, kratzlüstern wie die Pfoten eines Terriers, zerstörten solches Ungeziefer, ehe es nur aufkommen konnte. Elisa fuhr auf, als sie die Stimme ihres Mannes hörte. Er war ganz ruhig näher gekommen und lehnte sich auf das Drahtgitter, das ihren Blumengarten vor den Kühen, Hunden und Hühnern schützte. „Na, schon wieder dabei?“ sagte er. „Da wächst ja allerhand grünes Zeug.“ Elisa richtete sich auf und zog ihren Gartenhandschuh wieder über. „Ja, im neuen Jahr wird es eine Menge geben.“ In ihrem Ton und auf ihrem Gesicht lag eine Spur von Eitelkeit. „Du hast eine glückliche Hand für diese Dinger“, bemerkte Henry. „Einige von den gelben Chrysanthemen, die du voriges Jahr gepflanzt hast, maßen einen Viertelmeter im Durchmesser. Wie wäre es denn, wenn du dich ein wenig um den Obstgarten 62
annähmest und ebenso dicke Äpfel züchten würdest?“ Ihre Augen flammten auf. „Vielleicht könnte ich auch das zuwege bringen. Ich habe Glück mit Pflanzen. Das habe ich von meiner Mutter. Was sie nur in den Boden steckte, wuchs. Sie sagte, man müsse Pflanzerhände haben, die hätten das in sich.“ „Ja, bei Blumen tun sie jedenfalls ihre Wirkung“, sagte er. „Henry, was waren das für Männer, mit denen du eben gesprochen hast?“ „Das wollte ich dir gerade sagen. Es waren Viehaufkäufer. Ich habe ihnen dreißig Stück der dreijährigen Stiere verkauft. Bekam fast, was ich verlangte.“ „Gut“, sagte sie, „gut für dich“. „Ich habe mir gedacht, da es Samstagnachmittag ist, könnten wir eigentlich in Salinas in einem Restaurant essen und nachher in ein Kino gehen, um das Geschäft zu feiern.“ „Schön“, sagte sie, „o ja, das wird schön werden“. „Es sind auch Boxkämpfe heute abend“, fuhr Henry scherzend fort. „Wie wäre es, wenn wir dorthin gingen?“ „O nein“, meinte sie außer Atem. „Nein, Boxkämpfe möchte ich mir nicht ansehen.“ „Nur Spaß, Elisa. Wir werden in ein Kino gehen. Paß auf. Es ist jetzt zwei. Ich werde jetzt mit Scotty 63
die Stiere vom Berg herunterholen. Das kann vielleicht zwei Stunden dauern. Um fünf werden wir in die Stadt fahren und im Dominos-Hotel essen. Magst du?“ „Natürlich mag ich. Es tut gut, mal außer Haus zu essen.“ „Gut denn, ich werde jetzt ein paar Pferde satteln.“ „Da habe ich ja Zeit, die Schößlinge weiter umzupflanzen“, rief sie ihm noch nach. Sie hörte, wie ihr Mann Scotty aus der Scheune rief, und ein wenig später sah sie die beiden Männer den hellgelben Abhang hinaufreiten, um die Stiere einzufangen. Für die Anpflanzung der Chrysanthemen stand ein kleines viereckiges Salatbeet bereit. Sie grub den Boden mit ihrem Pflanzenstecher mehrmals um, glättete ihn und klopfte ihn fest. Dann zog sie zehn parallele Rillen, welche die Setzlinge aufnehmen sollten. An dem Chrysanthemenbeet zog sie dann die kleinen krausen Schößlinge heraus, schnitt mit ihrer Schere von jedem die Blätter ab und legte sie säuberlich auf einen Haufen. Von der Straße her hörte sie plötzlich Rädergekreisch und Hufgeklapper. Sie blickte auf. Die Landstraße lief an dem lichten Weidengebüsch und den Baumwollpflanzungen entlang, die den Fluß begrenzten, und diese Straße herauf kam ein sonderbares Fahrzeug mit einem wunderlichen Gespann. Es war ein alter gefederter Wagen mit run64
dem Zeltdach darauf. Er wurde von einem braunen Pferd und einem weißgrauen Esel gezogen. Ein großer, stoppelbärtiger Mann saß zwischen den Zeltplanen des Verdecks und trieb das mühselig einherkriechende Gespann an. Unter dem Wagen, zwischen den Hinterrädern, trabte ein magerer, zottiger Köter gemächlich dahin. In unbeholfenen, krummen Buchstaben stand auf der Zeltbahn geschrieben: „Töpfe, Pfannen, Scheren, Rasenmäher werden repariert.“ Zwei Reihen Geschäftsartikel und darunter das triumphierend bestimmte: repariert. Unter jedem Buchstaben war die Farbe in kleine, scharfe Spritzer ausgelaufen. Elisa, die auf dem Boden hockte, blickte auf, um den ulkigen knarrenden Wagen vorbeifahren zu sehen. Aber er fuhr nicht vorbei. Er zweigte in den zum Gehöft führenden Weg ab, wobei die alten schiefen Räder kreischten und quietschten. Der zottige Hund schoß unter den Rädern hervor und lief voraus. Sogleich gingen die beiden Schäferhunde des Hauses auf ihn los. Dann blieben alle drei stehen und spazierten mit steifen und zitternden Schwänzen, mit durchgedrückten Beinen, mit diplomatischer Würde, leise schnurrend im Kreise umeinander herum. Der Planwagen fuhr vor Elisas Zaun und hielt. Nun zog der fremde Hund im Gefühl der Unterlegenheit den Schwanz ein und kroch mit gesträubten Nackenborsten und entblößten Zähnen unter den Wagen zurück. Der Mann auf dem Wagensitz rief: „Ein scharfer Hund, wenn er mal losgeht.“ 65
Elisa lachte: „Das sehe ich. Wie oft geht er denn so im allgemeinen los?“ Der Mann stimmte in ihr Lachen ein. „Manchmal ganze Wochen lang nicht“, sagte er. Er kletterte steif über das Rad herunter. Das Pferd und der Esel knickten wie ungewässerte Blumen zusammen. Elisa sah, daß es ein sehr starker Mann war. Obschon sein Haar und Bart bereits grau wurden, sah er gar nicht alt aus. Sein abgetragener schwarzer Anzug war zerknittert und voller Fettflecken. Das Lachen war aus seinem Gesicht und seinen Augen verschwunden, sobald es in seiner Kehle verstummt war. Seine Augen waren dunkel und hatten den sinnenden Ausdruck, wie man ihn bei Fuhrleuten und Matrosen findet. Die schwieligen Hände, die er auf das Gitter legte, waren runzelig, und jede Runzel war eine schwarze Linie. Er nahm seinen verwitterten Hut ab. „Kommt man von diesem Schandweg über den Fluß auf die Landstraße nach Los Angeles?“ Elisa stand auf und schob die dicke Schere in ihre Schürzentasche. „Ja, dahin kommen Sie wohl, aber die Straße macht viele Windungen, ehe sie über den Fluß führt, und ich glaube nicht, daß Sie mit ihrem Gespann durch den Sand kommen.“ Er erwiderte etwas gereizt: „Da würden Sie doch staunen, wo ich mit meinen Tieren überall durchkomme.“ „Wenn sie mal richtig losgehen, wie?“ Er lachte ganz kurz. „Ja, wenn sie mal losgehen.“ 66
„Meiner Ansicht nach werden Sie viel Zeit sparen, wenn Sie nach Salinas zurückfahren und dort auf die Landstraße abbiegen.“ Er zog den Draht fest mit den Fingern an und ließ ihn losschnellen, so daß er einen singenden Ton gab. „Ich habe es eilig. Ich fahre jedes Jahr von Seattle nach San Diego und zurück. Jede Strecke ein halbes Jahr. Ich ziehe immer dem schönen Wetter nach.“ Elisa zog ihre Handschuhe aus und steckte sie zu der Schere in die Schürzentasche. Sie faßte unter die Krempe ihres Hutes und strich sich ein paar lose Haare weg. „Das muß eine ganz angenehme Lebensweise sein.“ Er lehnte sich vertraulich über den Zaun. „Vielleicht haben Sie die Schrift auf meinem Wagen bemerkt. Ich flicke Töpfe und schleife Messer und Scheren. Haben Sie wohl etwas derartiges für mich zu tun?“ „O nein“, sagte sie schnell, „so etwas nicht“. Ihre Augen wurden hart vor Trotz. „Mit den Scheren ist es am schlimmsten“, erklärte er. „Die meisten Leute ruinieren ihre Scheren beim Schleifen, aber ich weiß, wie man es macht. Ich habe ein besonderes Werkzeug. Sieht aus wie ein Spielzeug und ist patentiert. Macht seine Sache gut.“ „Nein, meine Scheren sind scharf.“ „Gut. Aber dann haben Sie sicher einen Topf“, fuhr er unbeirrt fort, „einen Topf mit Beulen oder 67
mit einem Loch. Ich kann ihn ganz neu machen, so daß Sie keinen neuen zu kaufen brauchen. Damit sparen Sie was.“ „Nein“, sagte sie kurz angebunden, „ich sagte Ihnen ja, ich habe nichts für Sie zu tun“. Sein Gesicht nahm einen tieftraurigen Ausdruck an. Seine Stimme klang weinerlich. „Habe heute noch kein Geschäft gemacht. Vielleicht kann ich nicht einmal zu Abend essen. Sie sehen, ich bin vom Weg abgekommen. An der Hauptstraße kenne ich alle Leute von Seattle bis San Diego. Sie heben ihre Sachen für mich auf, weil sie wissen, daß ich gut arbeite und sie Geld bei mir sparen.“ „Es tut mir leid“, sagte Elisa gereizt, „ich habe nichts für Sie zu tun“. Seine Augen glitten von ihrem Gesicht weg und blickten forschend auf den Boden. Sie gingen hin und her, bis sie an dem Chrysanthemenbeet haften blieben, wo sie gearbeitet hatte. „Was sind das für Pflanzen, Frau?“ Von Elisas Gesicht schwand der gereizte und störrische Ausdruck. „Oh, das sind Chrysanthemen, weiße und gelbe Riesen. Ich ziehe sie jedes Jahr, größer als irgend jemand hier in der Gegend.“ „Solche Blumen mit langen Stielen, nicht? Sehen aus, als wenn man so ’n farbiges Rauchwölkchen in die Luft pafft.“ „Genau so. Was für eine nette Art, sie zu beschreiben!“ „Riechen scheußlich, bis man daran gewöhnt ist.“ 68
„Es ist ein guter, bitterer Geruch“, entgegnete sie. „Gar nicht scheußlich.“ Er änderte rasch seinen Ton. „Mag den Geruch selbst gern.“ „Ich hatte dieses Jahr Blumen von einem Viertelmeter Durchmesser“, sagte sie. Der Mann beugte sich weit über das Gitter vor. „Ich kenne eine Frau da hinten auf der Straße, die hat den hübschesten Garten, den ich je gesehen habe. Sie hat fast alle Arten Blumen, nur keine Chrysanthemen. Als ich das letztemal den Kupferboden ihres Waschfasses flickte – eine harte Arbeit, aber ich mache sie gut –, sagte sie zu mir: ‚Wenn Sie mal ein paar schöne Chrysanthemen sehen, so bringen Sie mir doch einige Samen mit.‘ Das sagte sie zu mir.“ Elisas Augen blitzten auf. „Dann hat sie nicht viel Ahnung von Chrysanthemen. Man kann sie zwar aus Samen ziehen, aber es ist viel leichter, die kleinen Schößlinge anzuwurzeln, die Sie da sehen.“ „Aha“, sagte er. „Davon kann ich wohl keine mitbekommen?“ „Doch, das können Sie schon“, rief Elisa. „Ich könnte einige in feuchten Sand einschlagen, und Sie könnten sie mitnehmen. Sie schlagen im Topf Wurzeln. Sie müssen sie nur feucht halten. Und dann kann die Frau sie einpflanzen.“ „Da würde sie sich freuen, wenn ich einige mitbrächte. Sind sie sehr hübsch, sagen Sie?“ „Schön, ganz wunderschön.“ Ihre Augen glänz69
ten. Sie nahm den alten Hut ab und schüttelte ihr schönes schwarzes Haar locker. „Ich werde sie in einen Blumentopf setzen, und Sie können sie mitnehmen. Kommen Sie nur herein.“ Während der Mann durch das Gitter kam, lief Elisa aufgeregt durch den mit Geranien eingefaßten Weg zur Rückseite des Hauses. Als sie zurückkehrte, trug sie einen großen roten Blumentopf. Die Handschuhe hatte sie zurückgelassen. Sie kniete bei dem Aufzuchtbeet nieder, schöpfte mit der Hand die sandige Erde und schüttete sie in den glänzenden, neuen Topf. Dann nahm sie den kleinen Haufen Schößlinge, den sie zuvor zusammengelegt hatte. Mit ihren starken Fingern drückte sie die Schößlinge in den Sand und stopfte sie mit den Knöcheln fest. Der Mann stand über ihr. „Ich sage Ihnen, was man zu tun hat. Merken Sie sich das, damit Sie es der Frau sagen können.“ „Ja, ich will es mir schon merken.“ „Gut. Sehen Sie hier. Diese werden etwa in einem Monat Wurzeln schlagen. Dann muß die Frau sie herausnehmen und etwa einen Fußbreit auseinander in gute nahrhafte Erde setzen. In solche Erde, sehen Sie.“ Sie hielt ihm eine Handvoll der schwarzen Erde hin. „Sie werden schnell in die Höhe schießen. Jetzt kommt die Hauptsache. Im Juli muß sie die Stengel abschneiden, etwa zwanzig Zentimeter über dem Boden.“ „Bevor sie blühen?“ „Ja, bevor sie blühen.“ Ihr Gesicht glühte vor Ei70
fer. „Sie werden wieder nachwachsen. Etwa Ende September werden die Knospen hervorkommen.“ Sie hielt ein und schien nicht zu wissen, wie sie ihm das Weitere beibringen sollte. „Das schwierigste ist die Knospenauslese“, fuhr sie dann zögernd fort. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll.“ Sie sah ihm forschend tief in die Augen. Ihr Mund öffnete sich ein wenig, und sie schien zu lauschen. „Ich will’s versuchen“, sagte sie. „Haben Sie je etwas von Pflanzenhänden gehört?“ „Nicht daß ich wüßte.“ „Nun, ich kann Ihnen nur sagen, was das für ein Gefühl ist. Man spürt’s, wenn man die Knospen abpflückt, die man nicht haben will. Man sieht die Finger arbeiten. Sie tun es von selbst. Man kann’s fühlen, wie’s ist. Sie pflücken und pflücken die Knospen. Sie machen nie einen Fehler. Sie sind mit den Pflanzen eins. Verstehen Sie? Die Finger und die Pflanzen. Bis in den Arm hinauf können Sie das fühlen. Wenn man solche Hände hat, kann man nichts falsch machen. Können Sie das verstehen?“ Sie kniete auf dem Boden und sah zu ihm auf. Ihre Brust wogte leidenschaftlich. Die Augen des Mannes zogen sich zusammen. Er sah selbstbewußt weg. „Vielleicht weiß ich’s“, sagte er. „Manchmal nachts in dem Wagen dort …“ Elisas Stimme wurde heiser. Sie unterbrach ihn: „Ich habe niemals so gelebt wie Sie, aber ich weiß, was Sie meinen. Manchmal, wenn die Nacht dunkel ist, die Sterne glitzern, und es ist ganz still 71
draußen. Sie steigen höher und immer höher.“ Während sie vor ihm kniete, streckte sich ihre Hand gegen seine Beine, die in der fettigen schwarzen Hose steckten. Ihre zögernden Finger berührten fast das Tuch. Dann fiel ihre Hand auf den Boden zurück. „Sehr schön“, sagte er, „genau wie Sie das sagen. Nur wenn man nichts im Leib hat, dann ist es weniger schön.“ Sie erhob sich sofort kerzengerade, ihr Gesicht zeigte, daß sie sich schämte. Sie hielt ihm den Blumentopf hin und preßte ihn sanft in seinen Arm. „Hier, stellen Sie ihn auf Ihren Wagensitz, wo Sie ihn im Auge behalten können. Vielleicht kann ich eine kleine Arbeit für Sie finden.“ Sie suchte hinter dem Hause auf dem Schutthaufen und fand zwei alte zerbeulte Bratpfannen aus Aluminium. Sie trug sie zurück und gab sie ihm. „Hier, vielleicht können Sie diese ausbessern.“ Sein Wesen veränderte sich. Er wurde auf einmal Geschäftsmann. „Ich kann sie wie neu machen.“ Er stellte hinter seinem Wagen einen kleinen Amboß auf und holte aus einem öligen Werkzeugkasten einen kleinen Schmiedehammer hervor. Elisa ging durch das Gatter, um ihm zuzusehen, wie er die Beulen in den Pfannen gerade schlug. Bei einem schwierigen Teil der Arbeit sog er an seiner Unterlippe. „Sie schlafen auch in dem Wagen?“ fragte Elisa. „Direkt im Wagen. Bei Regen und bei Sonnenschein bin ich geborgen drin wie eine Kuh im Stall.“ 72
„Das muß schön sein“, meinte sie. „Ich wollte, Frauen könnten auch so umherziehen.“ „Es wäre wohl nicht das richtige Leben für eine Frau.“ Ihre Oberlippe schob sich ein wenig hoch, so daß ihre Zähne sichtbar wurden. „Woher wissen Sie das? Wie können Sie das denn sagen?“ „Wissen tu ich’s ja nicht, natürlich nicht“, entschuldigte er sich. „Hier sind Ihre Pfannen, fix und fertig. Da brauchen Sie keine neuen zu kaufen.“ „Wieviel macht das?“ „Sagen wir einen halben Dollar. Ich halte meine Preise niedrig und liefere gute Arbeit dafür. Darum habe ich an der Straße, die ich entlang ziehe, lauter zufriedene Kunden.“ Elisa holte das Geld aus dem Hause und gab es ihm. „Sie könnten vielleicht einmal Konkurrenz bekommen. Ich kann auch Scheren schleifen und die Beulen aus Töpfen schlagen. Ich könnte Ihnen zeigen, was eine Frau zuwege bringen kann.“ Er legte seinen Hammer wieder in die ölige Kiste und hob den Amboß in den Wagen. „Es wäre ein einsames Leben für eine Frau, und Angst müßte sie auch haben, wenn jede Nacht Tiere unter den Wagen kriechen.“ Er kletterte über die Deichsel, wobei er sich mit einer Hand an dem Rücken des Esels festhielt. Er setzte sich auf den Bock und nahm die Zügel in die Hand. „Vielen Dank auch“, sagte er. „Ich werde Ihrem Rat folgen und nach Salinas zurückfahren.“ 73
„Vergessen Sie aber nicht“, rief sie ihm zu, „den Sand feucht zu halten, wenn Sie längere Zeit brauchen, bis Sie zu der Frau kommen“. „Den Sand? Ach so. Sie meinen wegen der Chrysanthemen? Ja, wird gemacht.“ Er schnalzte mit der Zunge. Die Tiere lagen wohlig faul im Geschirr. Der Hund nahm seinen Platz zwischen den Hinterrädern ein. Der Wagen drehte um und kroch den Weg zurück, den er gekommen war, am Fluß entlang. Elisa stand vor ihrem Drahtzaun und schaute nach, wie der Wagen langsam davonfuhr. Ihre Schultern strafften sich. Mit zurückgeworfenem Kopf und halbgeschlossenen Augen konnte sie den Wagen nur noch undeutlich sehen, Ihre Lippen bewegten sich schweigend und formten die Worte: „Lebewohl … Lebewohl!“ Dann flüsterte sie: „Das ist ein heller Weg. Ah, wie’s dort glüht!“ Als sie ihr Flüstern hörte, schreckte sie auf. Sie schüttelte sich aus ihrer Träumerei los und sah sich um, ob vielleicht jemand ihr zugehört hatte. Nur die Hunde hatten sie gehört. Sie lagen schlafend im Staub und hoben den Kopf, streckten aber gleich wieder die Schnauze aus und schliefen weiter. Elisa eilte ins Haus. Sie ging in die Küche zum Herd und fühlte in den Wasserbehälter. Er war vom Mittag her noch voll heißen Wassers. Im Badezimmer zog sie ihre schmutzigen Kleider aus und warf sie in die Ecke. Dann rieb sie sich mit einem kleinen Bimsstein Beine und Schenkel, Lenden, Brust und Arme, bis ihre Haut ganz zerkratzt und rot war. Als sie sich abge74
trocknet hatte, stellte sie sich vor den Spiegel in ihrem Schlafzimmer und betrachtete ihren Körper. Sie zog ihren Leib ein und streckte ihre Brust heraus. Sie drehte sich um und betrachtete über die Schulter ihren Rücken. Nach einer Weile begann sie, sich langsam anzukleiden. Sie zog ihre neueste Unterwäsche, ihre hübschesten Strümpfe und dazu das Kleid an, das der beste Rahmen für ihre Schönheit war. Sie machte sich sorgfältig die Haare zurecht, zog ihre Augenbrauen nach und schminkte ihre Lippen. Bevor sie damit fertig war, hörte sie das Geklapper von Hufen und die Rufe Henrys und seines Helfers. Sie hörte, wie er die Türe des Krals zuschlug, und bereitete sich auf das Kommen ihres Mannes vor. Sein Schritt klang auf der Veranda. Er trat ins Haus und rief: „Elisa, wo bist du?“ „In meinem Zimmer, ich ziehe mich an, bin noch nicht fertig. Es ist heißes Wasser da zum Baden. Mach’ schnell. Es wird Zeit.“ Als sie ihn in der Wanne plätschern hörte, legte Elisa seinen schwarzen Anzug auf das Bett und Hemd, Socken und Krawatte daneben. Seine gewichsten Schuhe stellte sie auf den Boden neben das Bett. Dann ging sie auf die Veranda und setzte sich stocksteif nieder. Sie sah nach der Straße am Fluß hinüber, wo die Weiden mit ihren gefrorenen Blättern noch gelb leuchteten, so daß sie unter dem hohen, grauen Nebel wie ein schmaler Sonnenstreifen erschienen. Dies war die einzige Farbe in dem grauen Nachmittag. 75
Henry kam aus der Tür gepoltert, wobei er seine Krawatte in die Weste hineinschob. Elisa wurde noch steifer und ihr Gesicht wurde wie Stein. Henry blieb überrascht stehen und sah sie an. „Aber Elisa“, sagte er. „wie hübsch du aussiehst.“ „Hübsch? So, sehe ich hübsch aus. Was verstehst du unter hübsch?“ Henry merkte nichts. „Ich meine, du siehst so ganz anders aus, stark und glücklich.“ „Stark meinst du? Ja, stark. Was verstehst du unter stark?“ Er machte ein verdutztes Gesicht. „Du willst mich wohl aufziehen“, sagte er hilflos. „Dann will ich auch einen Scherz machen. Du siehst stark genug aus, um ein Kalb über dem Knie zu zerbrechen, und glücklich genug, um es wie eine Wassermelone aufzuessen.“ Eine Sekunde lang verlor sich ihre Starrheit. „Henry, sprich nicht so. Du weißt nicht, was du sagst.“ Sie gewann ihre Haltung wieder. „Ja, stark bin ich“, brüstete sie sich. „Ich habe bis jetzt nicht gewußt, wie stark.“ Henry sah zu dem Traktorschuppen hinüber, und als er seine Augen wieder auf sie richtete, waren sie nicht mehr verzaubert. „Ich werde den Wagen holen. Du kannst mittlerweile deinen. Mantel anziehen.“ Elisa ging ins Haus. Sie hörte, wie er vor das Tor fuhr und sich mit dem Motor beschäftigte. Sie brauchte sehr lange dazu, ihren Hut aufzusetzen. Sie zupfte hier ein wenig und drückte dort ein 76
wenig. Als Henry den Motor abstellte, schlüpfte sie in ihren Mantel und ging hinaus. Das kleine Auto ratterte die schmutzige Straße hinab, scheuchte die Vögel auf und trieb die Kaninchen in den Busch. Zwei Kraniche flogen mit langsamem Flügelschlag über den Weidenstrich und fielen in das Flußbett ein. Weit hinten auf der Straße sah Elisa einen dunklen Fleck im Staub. Sie fühlte plötzlich eine Leere in sich. Sie hörte nicht auf das, was Henry sprach. Sie versuchte, nicht hinzublicken. Sie wollte das Häufchen Sand und die grünen Schößlinge nicht sehen, aber sie konnte sie auch nicht übersehen. Die Chrysanthemen lagen auf, der Straße, dicht neben den Wagenspuren. Aber nicht der Topf, den hatte er behalten. Als das Auto daran vorbeifuhr, fiel ihr der gute, bittere Geruch ein, und sie schauderte zusammen. Sie schämte sich ihrer starken Pflanzenhände, die zu nichts nutz waren und müßig in ihrem Schoß lagen. Das Auto fuhr in eine Wegbiegung, und sie sah den Planwagen. Sie drehte sich ganz zu ihrem Mann herum, so daß sie den kleinen, verdeckten Wagen und das sonderbare Gespann nicht sehen konnte, als das Auto vorbeifuhr. Im Augenblick hatte sie den Mann hinter sich gelassen, den Geschäftemacher, der nicht erfaßt hatte, was sie meinte, oder es erst erfassen mußte. Sie sah sich nicht um. Zu Henry sagte sie laut, so daß ihre Worte das Geräusch des Motors übertönten: „Das wird schön werden heute abend, ein gutes Essen.“ 77
„Jetzt bist du wieder verändert“, klagte Henry. Er nahm eine Hand vom Steuer und streichelte ihr Knie. „Ich sollte dich öfter zum Essen ausführen. Es wäre gut für uns beide. Wir werden so schwerfällig, wenn wir nie herauskommen.“ „Henry“, sagte sie, „wollen wir nicht Wein zum Essen trinken?“ „Natürlich. Ah, das wird nett werden?“ Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: „Tun sich die Männer bei den Boxkämpfen sehr weh?“ „Manchmal schon, nicht oft, warum?“ „Ich habe gelesen, daß sie sich die Nasen einhauen und daß ihnen das Blut über die Brust hinabfließt, so daß die Boxhandschuhe ganz schwer und feucht von Blut werden.“ Er blickte sie erstaunt an. „Was ist denn mit dir los, Elisa? Ich hatte keine Ahnung, daß du solche Sachen liest.“ „Gehen auch Frauen zu den Boxkämpfen?“ „Ja, aber nicht viele. Was hast du denn, Elisa? Willst du etwa hingehen? Ich glaube nicht, daß es dir gefallen wird. Aber wenn du wirklich hingehen willst, werde ich dich natürlich hinführen.“ Sie sank auf ihrem Sitz zusammen. „Nein, nein, ich will nicht hingehen. Sicher nicht.“ Sie wandte ihr Gesicht von ihm ab. „Es wird genügen, wenn wir Wein trinken. Das wird genügen.“ Sie schlug ihren Mantelkragen hoch, so daß er nicht sehen konnte, wie sie leise weinte … wie eine alte Frau.
DAS FRÜHSTÜCK
Wenn ich an diese Begebenheit denke, so wird mir froh zumute. Ich erinnere mich noch an die kleinsten Einzelheiten, ich weiß selbst nicht wieso. Ich denke immer daran, und immer wieder steigen vom Grunde meines Gedächtnisses neue Einzelheiten auf. Die Erinnerung selbst macht mich so sonderbar froh. Es war in aller Herrgottsfrühe. Die Berge im Osten waren schwarzblau, aber hinter ihnen strömte das Licht hoch und färbte ihre Konturen schwach mit einem verwaschenen Rot, während es, je höher es in den Himmel hinaufstieg, immer kälter, grauer und dunkler wurde, und schließlich westwärts, mir zu Häupten, in der noch schwarzen Nacht versank. Es war kalt, nicht gerade so, daß einem die Zähne klapperten, aber doch kalt genug, daß ich mir die Hände rieb und sie tief in die Taschen steckte, die Schultern hochzog und mit den Füßen auf den Boden stampfte. Tief im Tal, wo ich mich befand, war die Erde vom Dämmerlicht lavendelgrau. Während ich die Landstraße entlangging, sah ich vor mir ein Zelt, das nur ein bißchen weniger grau war als der Boden. Neben dem Zelt blitzten Streifen orangeroten Feuers auf, die aus den Rissen eines alten, rostigen Eisenofens kamen. Grauer Rauch wirbelte aus 79
dem kurzen Ofenrohr, wirbelte hoch in die Luft, bevor er in die Breite zerfloß und zerrann. Ich sah eine junge Frau neben dem Ofen – oder war es ein Mädchen? Sie trug einen verblichenen Kattunrock und ein ebensolches Mieder. Als ich näherkam, sah ich, daß sie auf dem angewinkelten Arm ein Kind trug, einen Säugling. Den Kopf des Kindes sah man nicht, er steckte unter dem warmen Mieder. Die Mutter ging umher, schürte das Feuer, öffnete die rostige Ofenklappe, um einen besseren Zug herzustellen. Inzwischen saugte das Kind ruhig weiter, aber das störte die Mutter nicht bei der Arbeit, noch verminderte sich dadurch die Grazie ihrer leichten, schnellen Bewegungen, die dabei etwas sehr Bestimmtes hatten und von hausfraulicher Erfahrung zeugten. Das rote Feuer flakkerte aus den Rissen des Ofens und warf tanzende Kringel auf das Zelt. Ich war jetzt ganz nahe und konnte den Geruch von schmorendem Schinkenspeck und heißem Brot wahrnehmen, die anheimelndsten, angenehmsten Düfte, die ich kenne. Im Osten wurde es immer heller. Ich näherte mich dem Ofen und streckte meine Hände nach ihm aus. Ein Zittern überkam mich, als mich die Wärme traf. Dann flog die Zelttür auf und ein jüngerer Mann kam heraus, dem ein älterer folgte. Sie waren beide in neue, blaue Anzüge aus grobem Baumwollstoff gekleidet, an deren Jacken die Messingknöpfe schimmerten. Sie hatten scharfgeschnittene Gesichter und sahen sich sehr ähnlich. 80
Der jüngere hatte einen schwarzen, der ältere einen grauen Stoppelbart. Gesicht und Haar trieften von Wasser, sogar ihre Bartstoppeln und Wangen glitzerten von Tropfen. Sie blieben zusammen stehen, sie gähnten zusammen, wobei sie beide nach den von Licht flammenden Säumen der Berge blickten. Sie drehten sich zusammen um und sahen mich. „Morgen!“ sagte der ältere. Man konnte nicht behaupten, daß er ein freundliches Gesicht machte, aber er machte auch kein unfreundliches. „Morgen!“ antwortete ich. „Morgen!“ sagte der junge Mann. Langsam trocknete das Wasser auf ihren Gesichtern. Sie gingen zum Ofen und wärmten sich die Hände. Das Mädchen blieb bei ihrer Arbeit, sah auch nicht auf. Sie hatte das Haar mit einem Band nach hinten gebunden, damit es ihr nicht in die Augen fiel, es hing ihr im Nacken herab und wehte hin und her, wenn sie arbeitete. Sie stellte Blechtassen auf eine Kiste, legte auch Blechteller, Messer und Gabeln dazu. Dann schöpfte sie den gebratenen Speck aus dem tiefen Fett und legte ihn auf eine große, blecherne Schüssel, und der Schinken knisterte und krachte, wie er sich knusperig zusammenkrümmte. Sie öffnete die rostige Bratrohrtür und holte eine viereckige Pfanne voll hoher, dicker Biskuits hervor. Als der Geruch dieses warmen Gebäcks aus dem Ofen drang, taten die beiden Männer einen tiefen 81
Atemzug. Der jüngere sagte wie hingeschmolzen: „Hm!“ Der ältere wandte sich zu mir: „Schon gefrühstückt?“ „Nein.“ „Gut, dann setz’ dich.“ Das war das Signal. Wir gingen zu der Kiste und hockten uns rund um sie herum auf den Boden. Der jüngere fragte: „Auch beim Baumwollpflücken?“ „Nein.“ „Wir haben schon zwölf Tage gearbeitet.“ „Sie haben sich sogar neue Anzüge gekauft“, rief das Mädchen vom Ofen her. Die beiden Männer blickten lächelnd an ihren neuen Anzügen hinunter. Das Mädchen stellte die Schüssel mit dem Schinken, die braunen, hohen Biskuits, einen Napf mit heißem Schinkenfett und einen Topf Kaffee hin und hockte sich dann auch an der Kiste nieder. Das Kind trank noch immer, den Kopf schön warm unter dem Mieder. Ich konnte das schmatzende Geräusch des Saugens hören. Wir füllten unsere Teller, gossen das Schinkenfett über das Brot und taten Zucker in den Kaffee. Der ältere Mann stopfte sich den Mund voll und kaute und schluckte. Dann sagte er: „Himmel noch mal, ist das gut!“ Und sogleich füllte er wieder den Mund. „Zwölf Tage hindurch haben wir gut gegessen“, sagte der jüngere. Wir aßen alle schnell und gierig, füllten unsere 82
Teller von neuem und aßen wiederum schnell, bis wir voll und warm waren. Der heiße, bittere Kaffee verbrühte uns fast die Kehle. Wir schütteten den Satz auf den Boden und füllten unsere Tassen aufs neue. Das Licht war jetzt farbig geworden, es war ein rötliches Glühen darin, das die Luft noch kälter erscheinen ließ. Die beiden Männer blickten nach Osten und ihre Gesichter erglühten vom Morgenlicht. Als ich kurz aufblickte, sah ich das Bild der Berge und das darüber strömende Licht sich in den Augen des älteren Mannes widerspiegeln. Dann schütteten die beiden Männer den Kaffeesatz aus ihren Tassen und standen zusammen auf. „Müssen jetzt gehen“, sagte der ältere. Der jüngere wandte sich an mich: „Wenn du Baumwolle pflücken willst, könnten wir dir vielleicht Arbeit verschaffen.“ „Nein, ich muß weiter. Dank auch für das Frühstück.“ Der ältere winkte abwehrend. „War uns eine Freude.“ Sie gingen zusammen fort. Im Osten flammte die Luft jetzt von Licht. Ich ging die Landstraße hinab. Das ist alles. Ich kann natürlich einige Gründe anführen, warum es so angenehm war. Aber es war außerdem noch etwas unsagbar Schönes dabei, und darum wird es mir so warm ums Herz, wenn ich an jenen Morgen denke.
DIE FLUCHT
Etwa fünfzehn Meilen unterhalb Monterey, an der wilden Küste, lag die Farm der Familie Torres, ein paar abschüssige Äcker über einer Klippe, die steil zu den braunen Riffen und zu den zischenden weißen Wassern des Ozeans abfiel. Hinter der Farm ragten die steinernen Berge gen Himmel. Die an dem Berghange gleich winzigen Blattläusen zusammengedrängten Wirtschaftsgebäude schmiegten sich so eng an den Boden, als drohte der Wind sie in das Meer zu wehen. Das kleine Blockhaus, die wurmstichige, verfallene Scheune waren mit grauem Salz überzogen und so lange von den feuchten Winden gepeitscht, bis sie die Farbe der Granitfelsen angenommen hatten. Zwei Pferde, eine rote Kuh und ein Kalb, ein halbes Dutzend Schweine und eine Schar magerer, vielfarbiger Hühner belebten das Gehöft. Auf den unfruchtbaren Hängen wurde ein wenig Korn gezogen, das bei den ständigen Winden kurz und derb blieb und nur an den landeinwärts gelegenen Seiten der Halme Ähren ansetzte. Mama Torres, eine hagere, dürre Frau mit alten Augen, leitete bereits zehn Jahre, seit ihr Mann eines Tages auf dem Felde über einen Stein gestolpert und der Länge nach auf eine Klapperschlange gefallen war, die Farm. Wenn jemand von einer 84
Klapperschlange in die Brust gebissen wird, so läßt sich nicht viel dagegen tun. Mama Torres hatte drei Kinder, zwei untersetzte Dunkelhäutige von zwölf und vierzehn Jahren, welche die Mama auf die Felsen unterhalb der Farm zum Fischen zu schicken pflegte, so oft das Meer ruhig war und der pflichtvergessene Zollwächter sich in irgendeinem ferngelegenen Teile des Montereybezirks umhertrieb. Dann war noch Pepé da, der schlanke, lächelnde, neunzehnjährige Sohn, ein sanfter, liebevoller, junger Bursche, aber äußerst träge. Pepé hatte einen großen, kegelförmigen Schädel, von dessen Spitze dicke, schwarze Haare wie ein Strohdach nach allen Seiten herunterhingen, über seinen lächelnden kleinen Augen schnitt Mama eine gerade Ponyfrisur heraus, damit er sehen konnte. Pepé besaß scharf vorspringende indianische Backenknochen und eine Adlernase, aber sein Mund war so sanft und mollig wie ein Mädchenmund und sein Kinn wirkte weichlich und energielos. Er war ungeschickt und schlaksig mit den Beinen, Füßen und Händen, und er war sehr träge. Mama fand ihn schön und mutig, aber sie sagte es ihm nie. Sie sagte: „Irgendeine träge Kuh muß sich in deines Vaters Familie eingeschlichen haben, sonst könnte ich nicht einen Sohn wie dich haben.“ Und sie sagte: „Während ich mit dir schwanger ging, kam eines Tages ein schleichender, träger Coyote aus dem Buschwerk und starrte mich an. Das muß dich so gemacht haben.“ 85
Pepé lächelte verlegen und stach mit seinem Messer in die Erde, um die Klinge scharf und frei von Rost zu halten. Dieser Dolch, seines Vaters Dolch, war sein Erbe. Die lange, schwere Klinge ließ sich in den schwarzen Griff zurückschlagen. An dem Griff befand sich ein Knopf. Sobald Pepé auf den Knopf drückte, sprang die Klinge fertig zum Gebrauch heraus. Das Messer verließ Pepé nie, war es doch seines Vaters Messer gewesen. An einem sonnigen Morgen, als das Meer unter den Klippen blau erstrahlte und die weiße Brandung an dem Riff emporkletterte, und als selbst die steinernen Berge freundlich blickten, rief Mama Torres zur Tür des Blockhauses hinaus: „Pepé, ich habe eine Arbeit für dich.“ Keine Antwort erfolgte. Mama lauschte. Hinter dem Schuppen erklang lautes Gelächter. Sie hob ihren weiten Rock hoch und schritt in der Richtung auf das Geräusch zu. Pepé saß, mit dem Rücken gegen eine Kiste gelehnt, auf der Erde. Seine weißen Zähne glänzten. Zu beiden Seiten von ihm standen die beiden kleinen Schwarzen, gespannt und erwartungsvoll. Fünfzehn Fuß von ihnen entfernt war ein Sequoienpfahl in den Boden getrieben. Pepés rechte Hand lag schlaff in seinem Schoß und in der Handfläche ruhte das große, schwarze Messer. Die Klinge war in den Griff zurückgeschlagen. Pepé betrachtete lächelnd den Himmel. Plötzlich rief Emilio: „Ya!“ 86
Pepés Handgelenk schnellte vor wie der Kopf einer Schlange. Die Klinge schien mitten in der Luft herauszuspringen und mit dumpfem Aufprall bohrte sich die Dolchspitze tief in den Pfahl, und der schwarze Griff zitterte. Die Drei brachen in begeistertes Gelächter aus. Rosy lief zu dem Pfosten und zog den Dolch heraus und brachte ihn Pepé. Er drückte die Klinge zurück und legte das Messer wieder sorgfältig auf seine regungslose Handfläche. Selbstbewußt lächelnd blickte er zum Himmel empor. „Ya!“ Das wuchtige Messer sauste von neuem durch die Luft und fuhr wieder tief in den Pfosten. Mama segelte wie ein Schiff vorwärts und unterbrach das Spiel. „Den ganzen Tag machst du nur Torheiten mit dem Dolch, wie ein Schoßkind“, zürnte sie. „Stell’ dich auf deine großen Füße, die nur Schuhe auffressen. Steh auf!“ Sie packte ihn an seiner einen schlaffen Schulter und zerrte ihn hoch. Pepé grinste blöde und stellte sich linkisch vor ihr auf. „Aufgepaßt!“ rief Mama. „Du großer Faulpelz mußt das Pferd einfangen und ihm deines Vaters Sattel auflegen. Du mußt nach Monterey reiten. Die Medizinflasche ist leer; Salz ist auch nicht im Hause; jetzt spute dich, du Kohlkopf! Fang das Pferd ein.“ In Pepés schlaksiger Gestalt ging eine Revolution vor. „Nach Monterey, ich? Allein? Si, Mama.“ 87
Sie runzelte die Stirn. „Glaub’ nur nicht, alter Schafskopf, daß du dir Süßigkeiten kaufen kannst. O nein, ich geb’ dir nur Geld für die Medizin und das Salz mit.“ „Mama, wirst du das Hutband um den Hut legen?“ fragte Pepé lächelnd. Sie wurde sanfter. „Ja, Pepé … du darfst das Hutband tragen.“ Seine Stimme klang einschmeichelnd: „Und das grüne Halstuch?“ „Ja, wenn du rasch machst und ohne Verdruß zurückkommst, kannst du das grüne, seidene Halstuch haben, aber du mußt versprechen, wenn du ißt, das Halstuch abzubinden, damit es keinen Fleck bekommt …“ „Si, Mama. Ich werde achtgeben. Ich bin ein Mann.“ „Du? Ein Mann? Du bist ein Kohlkopf.“ Er begab sich in den baufälligen Schuppen, holte einen Strick und ging eilfertig auf den Hügel, um das Pferd einzufangen. Als er fertig war und vor der Tür aufstieg, aufstieg auf seines Vaters Sattel, der so alt war, daß der eichene Rahmen an vielen Stellen durch das zerfetzte Leder hindurchschaute, brachte Mama den runden, schwarzen Hut mit dem gepreßten ledernen Band heraus und reichte ihn ihm und schlang das grüne Halstuch um seinen Hals. Pepés blauer baumwollener Rock war viel dunkler als sein Hemd, denn er war viel seltener gewaschen worden. Mama reichte ihm die Medizinflasche und die 88
Silbermünzen. „Das ist für die Medizin“, sagte sie, „und das für das Salz. Das für eine Kerze für den Papa, das für dulces für die Kleinen. Unsere Freundin Mrs. Rodriguez wird dir Abendessen geben, und vielleicht auch ein Bett für die Nacht. Wenn du in die Kirche gehst, sprich nur zehn Paternoster und nur zwanzig Ave Marias. O, ich kenne dich, du großer Coyote, du würdest am liebsten den ganzen langen Tag dort deine Aves plappern und derweilen die Kerzen und die heiligen Bilder anstarren. Hübsche Dinge anstaunen ist nicht gute Andacht.“ Der schwarze Hut bedeckte Pepés Spitzkopf und sein schwarzes Zottelhaar und verliehen ihm Würde und Alter. Er saß gut auf dem kräftigen Gaul. Mama dachte im stillen, wie schön er ist, dunkel und hager und groß. „Ich würde dich heute nicht allein fortschicken, du Kleiner, brauchte ich nicht die Medizin“, sagte sie sanft. „Es ist nicht gut, keine Medizin im Hause zu haben, denn wer weiß, wann der Zahnschmerz kommt oder das Bauchweh, solche Dinge gibt’s.“ „Adios, Mama“, rief Pepé. „Ich bin bald zurück. Du kannst mich oft alleine schicken. Ich bin ein Mann.“ „Du bist ein törichtes Kücken.“ Er straffte seine Schultern, schlug mit dem Zügel den Gaul auf den Hals und ritt fort. Einmal wandte er sich um und sah, daß alle ihm nachschauten, Emilio, Rosy und Mama. Pepé grinste vor Stolz und Freude und setzte den derben, falben Gaul in Trab. 89
Als Pepé nach Überquerung einer kleinen Straßensenke außer Sicht gekommen war, wandte sich Mama an die kleinen Schwarzen, aber sie sprach mehr zu sich selber. „Er ist jetzt fast ein Mann“, sagte sie. „Es wird beruhigend sein, wieder einen Mann im Hause zu haben.“ Ihr Blick richtete sich auf die Kinder. „Geht jetzt auf die Felsen. Die Ebbe setzt ein. Es werden Seeohren an den Felsen haften.“ Sie drückte ihnen die Schabeisen in die Hände und blickte ihnen nach, während sie den steilen Pfad zu dem Riff hinunterstiegen. Dann trug sie ihren glatten Mahlstein vor die Haustüre und setzte sich nieder und zermahlte ihr Korn zu Mehl, gelegentlich zu der Straße hinüberblickend, die Pepé entlang geritten war. Der Mittag kam und dann der Nachmittag, und die Kinder klopften auf einem Felsen die Seeohren, um sie weich zu bekommen, und Mama wälzte den Maiskuchen dünn aus. Während die rote Sonne zum Ozean hinabtauchte, verzehrten sie ihr Abendessen. Sie setzten sich auf die Stufen vor der Haustüre und schauten zu, wie der große, bleiche Mond über den Berggipfeln emporklomm. Mama sagte: „Jetzt ist er im Hause unserer Freundin Mrs. Rodriguez. Sie wird ihm leckere Sachen zu essen geben und vielleicht auch ein Geschenk.“ Emilio sagte: „Eines Tages werde ich auch nach Monterey reiten und Medizin holen. Ist Pepé heute ein Mann geworden?“ 90
Mama sagte weise: „Ein Junge wird ein Mann, sobald ein Mann gebraucht wird. Merk dir das! Ich habe vierzig Jahre alte Burschen gekannt, weil kein Mann vonnöten war.“ Bald darauf zogen sie sich zurück, Mama in ihr breites Eichenbett in der einen Ecke des Zimmers, Emilio und Rosy in ihre mit Stroh und Schaffellen angefüllten Kisten auf der entgegengesetzten Seite des Zimmers. Der Mond wanderte über den Himmel und die Brandung klatschte tosend gegen die Felsen. Die Hähne krähten den ersten Morgengruß. Das Brüllen der Brandung wurde zu einem wispernden Rauschen an den Riffen. Der Mond senkte sich zum Meer hinab. Die Hähne krähten von neuem.
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Der Mond hatte fast den Meeresspiegel erreicht, als sich Pepé auf einem abgetriebenen Gaul seiner Heimstätte nahte. Sein Hund kam hervorgesprungen und umkreiste vor Freude kläffend den Gaul. Pepé ließ sich vom Sattel auf die Erde gleiten. Das verwitterte, kleine Blockhaus glänzte wie Silber in dem Mondlicht und sein viereckiger Schatten war gegen Norden und Osten pechschwarz. Im Osten lagen die hochgetürmten Berge in dunstigem Licht; ihre Gipfel verschmolzen mit dem Himmel. Pepé ging müde die beiden Stufen hinauf in das Haus. Innen war es finster. In der einen Ecke raschelte etwas. Mama rief aus ihrem Bett: „Wer ist da? Pepé bist du es?“ „Si, Mama.“ „Hast du die Medizin bekommen?“ „Si, Mama.“ „Gut, leg dich schlafen. Ich dachte, du würdest im Hause von Mrs. Rodriguez nächtigen.“ Pepé stand stumm in dem dunklen Zimmer. „Weshalb stehst du hier herum, Pepé? Hast du Wein getrunken?“ „Si, Mama.“ „Na, dann leg’ dich ins Bett und schlaf den Wein aus.“ Seine Stimme klang abgespannt und geduldig, aber sehr entschieden: „Steck’ die Kerze an, Mama. Ich muß fort in die Berge.“ „Was soll das heißen, Pepé? Du bist verrückt.“ 92
Mama entzündete ein Schwefelholz und hielt die kleine, bläuliche Flamme nach unten, bis das Feuer das Hölzchen ergriffen hatte. Dann führte sie das Flämmchen an die Kerze auf dem Fußboden neben ihrem Bett. „Sag’ Pepé, was schwatzest du da?“ Sie blickte ihm besorgt ins Gesicht. Pepés Wesen war verwandelt. Der energielose Ausdruck seines Kinns war verschwunden. Sein Mund erschien nicht mehr so weichlich, als es der Fall gewesen war; die Linien seiner Lippen waren straffer, aber die auffallendste Veränderung hatte in seinen Augen Platz gegriffen. Das Lächeln in ihnen war erloschen; aber auch die Schüchternheit. Sie blickten scharf und hell und zielbewußt. Er erzählte mit müder, eintöniger Stimme, er erzählte ihr alles, genau wie es sich abgespielt hatte. Ein paar Leute kamen in Mrs. Rodriguez Küche. Es gab Wein zu trinken. Pepé trank Wein. Der kleine Streit – der Mann ging auf Pepé los, und dann das Messer – es flog fast von selbst. Es flog, es traf, ehe Pepé sich dessen bewußt war. Während er sprach, wurde Mamas Antlitz streng, und es schien noch magerer zu werden. Pepé schloß: „Ich bin jetzt ein Mann, Mama. Der Kerl belegte mich mit Schimpfworten. Ich konnte das nicht ertragen.“ Mama nickte: „Ja, du bist ein Mann, mein armer, kleiner Pepé. Ich habe es über dich kommen sehen. Ich habe zugeschaut, wie du das Messer in den Pfosten schleudertest, und mich packte Angst.“ Eine Sekunde lang hatte ihr Gesicht einen weichen 93
Ausdruck angenommen, aber jetzt wurde es wieder streng. „Komm! Wir müssen dich fertig machen. Geh! Wecke Emilio und Rosy. Spute dich!“ Pepé begab sich in die andere Ecke, in der sein Bruder und seine Schwester zwischen den Schaffellen schliefen. Er beugte sich nieder und schüttelte sie leicht: „Wach’ auf, Rosy, wach’ auf, Emilio! Die Mama sagt, ihr müßt aufstehen.“ Die kleinen Schwarzen richteten sich auf und rieben sich bei dem Kerzenschimmer die Augen. Mama war inzwischen aus dem Bett geschlüpft, mit dem langen, schwarzen Rock über ihrem Nachthemd. „Emilio“, rief sie, „steh auf und fang das andere Pferd für Pepé ein. Rasch! Rasch!“ Emilio streifte seine Hosen über die Beine und taumelte schlaftrunken zur Tür hinaus. „Hörtest du irgend jemand hinter dir auf der Straße?“ erkundigte sich Mama. „Nein, Mama. Ich paßte scharf auf. Auf der Straße war keine menschliche Seele.“ Mama hüpfte wie ein Vogel hin und her. Von einem Nagel an der Wand nahm sie einen Wasserbeutel und warf ihn auf den Boden. Sie zerrte eine Decke aus ihrem Bett und rollte sie fest zusammen und verschnürte beide Enden mit Bindfäden. Einer Kiste neben dem Ofen entnahm sie einen Mehlsack, der bis zur Hälfte mit Dörrfleisch gefüllt war. „Hier, deines Vaters schwarzen Rock, Pepé. Zieh ihn über.“ Pepé stand mitten im Zimmer und sah ihrem 94
Treiben zu. Mama langte hinter die Tür und brachte das Gewehr zum Vorschein, eine lange Flinte, deren Lauf blank geputzt war. Pepé nahm sie ihr aus der Hand und klemmte sie in seine Ellbogenbeuge. Dann holte Mama einen kleinen Lederbeutel und zählte ihm die Patronen in die Hand. „Nur zehn sind noch da“, sagte sie warnend. „Du mußt sparsam mit ihnen umgehen.“ Emilio steckte seinen Kopf zur Tür herein: „Qui ’st ’l caballo, Mama.“ „Leg’ ihm den Sattel von dem andern Pferd auf. Binde die Decke fest. Hier das Dörrfleisch. Häng’ es an den Sattelknopf.“ Pepé stand immer noch stumm und verfolgte seiner Mutter ruhelose Geschäftigkeit. Sein Kinn sprang energisch vor und seine Mädchenlippen waren fest aufeinandergepreßt und schmal. Seine kleinen Augen verfolgten Mama fast argwöhnisch durch das ganze Zimmer. Rosy fragte zaghaft: „Wohin geht Pepé?“ Mamas Augen bekamen einen finsteren Ausdruck. „Pepé geht auf eine Reise. Pepé ist jetzt ein Mann. Er muß handeln wie ein Mann.“ Pepé straffte seine Schultern. Sein Mund verzog sich, bis er genau Mamas Mund glich. Endlich waren die Vorbereitungen beendet. Der beladene Gaul stand vor der Haustür. Von dem Wasserbeutel zog sich eine feuchte Spur über die Schulter des Falben. Der Mondschein verblaßte im Morgengrauen 95
und der riesige, bleiche Mond berührte fast das Meer. Die Familie stand neben dem Blockhaus. Mama trat dicht vor Pepé hin: „Gib acht, mein Sohn! Mach’ nirgends halt, bis es wieder dunkel ist. Schlafe nicht, selbst wenn du todmüde bist. Gib acht auf den Gaul, damit er nicht vor Mattigkeit stehen bleibt. Vergiß nicht, sparsam mit den Kugeln umzugehen – es sind nur zehn da. Stopf dir nicht den Bauch mit Dörrfleisch voll sonst macht es dich krank. Iß ein Stückchen Fleisch und fülle deinen Magen mit Gras. Wenn du die hohen Berge erreichst und wenn du einen von den schwarzen Wachtposten erblickst, nähere dich ihm nicht und lass’ dich auf kein Gespräch mit ihm ein. Und vergiß auch nicht deine Gebete.“ Sie legte ihre abgemagerten Hände auf Pepés Schultern, stellte sich auf die Fußspitzen und gab ihm auf beide Backen einen förmlichen Kuß und Pepé küßte sie auf beide Wangen. Dann trat er zu Emilio und Rosy und küßte sie beide auf die Wangen. Pepé wandte sich wieder an seine Mama. Er schien nach einem Zeichen der Sanftmut, einem Zeichen der Schwäche bei ihr zu suchen. Seine Augen blickten verlangend, aber Mamas Gesicht blieb finster. „Geh’ jetzt“, sagte sie. „Warte nicht, um wie ein Kücken eingefangen zu werden.“ Pepé schwang sich in den Sattel. „Ich bin ein Mann!“ sagte er. Es war beim ersten Frührotschimmer, als er hügelaufwärts in Richtung auf den kleinen Canyon 96
ritt, durch den ein Saumpfad in die Berge führte. Mondschein und Tageslicht kämpften miteinander, und beim Wettstreit dieser beiden Lichter konnte man nur undeutlich sehen. Ehe Pepé hundert Meter zurückgelegt hatte, verschwanden die Umrisse seiner Gestalt im Dunste; und lange bevor er in den Canyon einbog, war er zu einem grauen, unbestimmten Schatten geworden. Mama stand steif vor ihrer Türschwelle, und neben ihr standen Emilio und Rosy. Dann und wann warfen sie Mama einen verstohlenen Blick zu. Als Pepés grauer Schatten, mit der Berglehne verschmolz und unsichtbar wurde, sank Mama in sich zusammen. Sie stimmte die schrille, weinerliche Totenklage an. „Unser schöner – unser tapferer“, jammerte sie. „Unser Beschützer, unser Sohn, er ist gegangen.“ Es war der übliche Klagegesang. Er stieg zu einem hohen, durchdringenden Wimmern an und endete in einem leisen Stöhnen Mama wiederholte die Klage dreimal, dann wandte sie sich um und betrat das Haus und verschloß die Tür. Emilio und Rosy standen verwirrt im Morgengrauen. Sie hörten Mama in dem Hause jammern. Sie gingen und setzten sich auf die Klippe über dem Meere. Sie preßten ihre Schultern aneinander. „Wann ist Pepé ein Mann geworden?“ fragte Emilio. „Gestern abend“, sagte Rosy. „Gestern abend in Monterey.“ Die hinter den Bergen emporsteigende 97
Sonne färbte die auf dem Meere lagernden Wolken rot. „Wir werden heute kein Frühstück bekommen“, sagte Emilio. „Mama wird keine Lust zum Kochen haben.“ Rosy antwortete ihm nicht. „Wo ist Pepé hingeritten?“ fragte der Bruder. Rosy ließ ihre Augen umherschweifen. Sie bezog ihre Kenntnisse aus der ruhigen Luft. „Er ist auf eine Reise gegangen. Er wird nie wieder zurückkommen.“ „Ist er tot? Glaubst du, daß er tot ist?“ Rosy blickte wieder auf das Meer hinaus. Ein kleiner Dampfer, eine Rauchwolke hinter sich herziehend, glitt über den fernen Horizont. „Er ist nicht tot“, erklärte Rosy. „Noch nicht.“ Pepé legte die lange Flinte quer vor sich über den Sattel. Er ließ den Gaul nach dessen Gutdünken bergauf steigen und blickte nicht zurück. Der steinige Hang bekleidete sich mit einem Mantel niedrigen Buschwerks, so daß Pepé den Zugang zu dem Saumpfad leicht fand und in ihn einbog. An der Mündung des Canyons angelangt, drehte er sich auf dem Sattel um und schaute zurück, aber das dunstige Licht hatte die Hofgebäude verschluckt. Pepé trabte weiter. Die hohe Wand des Canyons schloß sich hinter ihm, Sein Gaul reckte den Hals und stöhnte und trottete den Pfad entlang. Es war ein vielbegangener Weg aus dunkler weicher Lauberde, untermischt mit Sandsteintrüm98
mern. Der Pfad wand sich um die vorspringende Schulter des Canyons und fiel dann steil zum Flußbett ab. An den seichten Stellen floß das Wasser, von den ersten Strahlen der Morgensonne vergoldet, langsam dahin. Kleine runde, auf dem Grunde liegende Steine waren von rotbraunem Moos wie von Rost überkleidet. An den sandigen Uferrändern gedieh die hohe wilde Minze, während im Wasser selbst die Brunnenkresse, alt und zäh, üppig in Samen geschossen war. Der Pfad führte in den Fluß und tauchte auf dem jenseitigen Ufer wieder empor. Das Pferd patschte in das Wasser und blieb stehen. Pepé lockerte die Zügel und ließ den Gaul von dem fließenden Wasser saufen. Bald wurde die Schlucht abschüssig, und die erste riesige Schildwache immergrüner Sequoien bewachte den Saumpfad, mächtige rote Stämme mit einem Laubwerk, so grün und zart wie Farne. Im Augenblick, da Pepé unter den Bäumen untertauchte, verschwand die Sonne. In dem matten Grün des Unterholzes spielte ein purpurnes, würziges Licht. Stachelbeersträucher und Brombeerbüsche und hohe Farne umsäumten das Flußbett, und zu Häupten berührten sich die Zweige der Sequoien und sperrten den Himmel aus. Pepé trank aus dem Wasserbeutel; dann griff er in den Mehlsack und entnahm ihm einen schwarzen Streifen Dörrfleisch. Seine weißen Zähne nagten von dem Fleisch ein Stück ab. Er kaute be99
dächtig und nahm hin und wieder einen Schluck aus dem Wasserbeutel. Seine kleinen Augen waren schlaftrunken und schwer, aber die Muskeln seines Gesichts waren gespannt. Die Erde des Weges schimmerte schwarz. Sie gab unter den stampfenden Hufschlägen einen dumpfen Klang. Der Fluß wurde reißender. Kleine Wasserfälle schäumten über die Steine, über das Wasser neigten sich fünffingrige Farne und von ihren Blattspitzen tropfte Sprühregen. Pepé hockte halb über den Sattel gebeugt und ließ das eine Bein schlenkern. Er pflückte von einem Baum ein Lorbeerblatt und steckte es ein paar Sekunden in den Mund, um den Nachgeschmack des ausgetrockneten Dörrfleisches zu verscheuchen. Die Flinte hielt er nachlässig quer über den Sattelknauf. Plötzlich richtete er sich in dem Sattel auf, riß seinen Gaul von dem Pfad herunter und trieb ihn mit Sporenstößen hinter eine mächtige Sequoie. Hastig zog er die Kandare an, um das Pferd am Wiehern zu verhindern. Sein Gesicht war erregt und seine Nasenflügel bebten. Ein dumpfes Dröhnen drang vom Pfad an sein Ohr, und ein Reiter trabte vorüber, ein feister Mann mit roten Backen und einem Stoppelbart. Sein Gaul senkte den Kopf auf den Boden und schnaufte, als es die Stelle erreichte, an der Pepé abgebogen war. „Munter!“ rief der Mann und zerrte seines Pferdes Kopf hoch. Erst als der Hufschlag völlig verklungen war, 100
lenkte Pepé wieder in den Saumpfad ein. Aber er sank nicht wieder auf dem Sattel in sich zusammen. Er hob die lange Flinte, öffnete den Verschluß, um eine Patrone in den Lauf zu stecken; dann setzte er den Hahn in Ruhestellung. Der Weg wurde immer steiler. Die Sequoien waren jetzt niedriger und ihre Wipfel abgestorben, zu Tode gepeitscht, dort, wo der Wind sie erreichte. Das Pferd stampfte mühsam weiter; die Sonne stieg langsam zum Zenit und begann ihren Marsch dem Nachmittag entgegen. Wo der Fluß aus einem Seitencanyon brach, trennte sich der Pfad von ihm. Pepé stieg ab, ließ seinen Gaul saufen und füllte seinen Wasserbeutel. Sobald der Saumpfad den Fluß verlassen hatte, verschwanden rasch die Bäume und nur der dichte, spröde Beifuß und manzanita und chaparral wuchsen längs des Weges. Auch die weiche schwarze Erde war verschwunden und nur bräunliches Felsgestein als Untergrund des Weges zurückgeblieben. So oft das Pferd über die losen Steine stolperte, huschten Eidechsen in das Buschwerk. Pepé wandte sich im Sattel um und blickte zurück. Er befand sich jetzt im Freien: er konnte aus weiter Ferne entdeckt werden. Je weiter er dem Saumpfad bergauf folgte, desto rauher und wüster und öder wurde das Land. Der Weg umging mächtige, quadratische Felsblöcke. Kleine graue Kaninchen raschelten im Gestrüpp. Ein Vogel zirpte ein eintöniges Lied. Die kahlen Berggipfel im Osten la101
gen bleich und ausgedörrt unter der sinkenden Sonne. Der Gaul stampfte den Pfad höher und höher in Richtung auf ein kleines V in dem Grat. Das war der Paß. Pepé blickte sich fast jede Minute argwöhnisch um und seine Augen musterten die Spitzen des Bergrückens. Einmal erspähte er eine Sekunde lang auf einem hellen, kahlen Vorsprung des Berges eine dunkle Gestalt, aber er schaute rasch weg; es war einer der schwarzen Wachtposten. Niemand wußte, wo die Posten sich befanden, noch wo sie hausten. Aber es war ratsamer, sie unbeachtet zu lassen und ihnen keine Aufmerksamkeit zu schenken. Sie behelligten niemanden, der sich auf dem Saumpfad hielt und ruhig seinen Geschäften nachging. Die Luft war ausgedörrt und mit hellem Staub erfüllt, den ein schwacher Wind von den Bergen herabwehte. Pepé trank sparsam aus seinem Wasserbeutel und verkorkte ihn sorgfältig und hing ihn wieder an den Sattelknopf. Der Pfad zog in Serpentinen die schiefrige Berghalde hinan, Felsen vermeidend, unter Klippen sich durchwindend, sich in alte Wasserrinnen senkend und aus ihnen emportauchend. Als Pepé den Engpaß erreichte, hielt er an und schaute lange Zeit zurück. Jetzt war nirgends ein schwarzer Posten zu erblicken. Der Saumpfad in seinem Rücken lag ausgestorben. Nur die hohen Wipfel der Sequoien verrieten den Verlauf des Flußbettes. Pepé ritt weiter durch den Paß. Seine kleinen 102
Augen waren vor Übermüdung fast geschlossen, aber sein Gesicht war ernst, hart und männlich. Der Bergwind pfiff seufzend durch den Paß und um die Kanten der riesigen Granitblöcke. In der Luft, dicht über dem Grat, schwebte ein rotschwänziger Bussard und kreischte zornig. Pepé durchquerte langsam den zerklüfteten Paß und blickte auf der anderen Seite in die Tiefe. Der Saumpfad führte zwischen Felstrümmern steil bergab. Am Grunde des Hanges erstreckten sich eine düstere, dicht mit Buschwerk bestandene Schlucht und jenseits der Schlucht ein schmales Plateau, gekrönt von einem Eichenwäldchen. Quer über das Plateau zog sich ein grüner Grasstreifen; und weiter im Hintergrund erhob sich ein neuer Bergriese, mit kahlen Felstrümmern und absterbendem, niedrigem, dunklem Gestrüpp bedeckt. Pepé nahm wieder einen Schluck aus seinem Wasserbeutel, denn die Luft war so ausgetrocknet, daß sich seine Nasenlöcher mit Krusten bedeckten und seine Lippen brannten. Er trieb seinen Gaul den Saumpfad hinab. Die Hufe glitschten und stolperten auf dem abschüssigen Wege, kleine Steine vor sich herschleudernd, die in das Gestrüpp kullerten. Die Sonne war jetzt hinter dem westwärts gelegenen Berge verschwunden, glühte aber immer noch auf den Eichen und der grasbedeckten Fläche. Die Felsen und der Berghang sandten immer noch Hitzewellen empor, die sie von des Tages Sonne aufgespeichert hatten. 103
Pepé blickte nach der höchsten Spitze des benachbarten ausgedörrten Bergrückens hinüber. Er sah eine dunkle Gestalt, die Gestalt eines Mannes, sich gegen den Himmel abzeichnen, und er blickte rasch fort, um nicht neugierig zu erscheinen. Als er nach ein paar Sekunden wieder hinschaute, war die Gestalt verschwunden. Talabwärts gewährte der Pfad schon nach einer kurzen Strecke keinen Ausblick. Bisweilen suchte der Gaul nach einem festen Halt, bisweilen setzte er seinen Huf auf und glitt aus. Endlich erreichten sie die Talsohle, wo das düstere chaparral Pepés Kopf überragte. Er hielt auf der einen Seite seine Flinte und auf der andern seinen Arm in die Luft, um sein Gesicht vor den spitzen kleinen Zweigen des Busches zu schützen. Er ritt aus der Schlucht hinaus und eine kleine Klippe hinauf. Jetzt lagen der flache Grasstreifen und das runde, schattenspendende Eichenwäldchen dicht vor ihm. Eine Minute lang musterte er den Saumpfad, den er gekommen war; aber dort regte sich nichts und kein Laut störte die Stille. Endlich ritt er weiter über den ebenen Boden zu dem grünen Streifen und an dem höher gelegenen Ende des Bruchs entdeckte er eine kleine Quelle, die aus dem Erdboden hervorquoll und sich in eine flache Grube ergoß, bevor sie in dem moorigen Boden versickerte. Pepé füllte zuerst seinen Wasserbeutel, und dann ließ er den durstigen Gaul aus der Pfütze saufen. Er 104
führte das Pferd in das Eichengehölz, und in der Mitte des Wäldchens, nach allen Seiten vor neugierigen Blicken geschützt, nahm er den Sattel und das Zaumzeug ab und legte es auf die Erde. Der Gaul schob seinen Unterkiefer zur Seite und gähnte. Pepé schlang das Leitseil um den Hals des Tieres und band das andere Ende um einen jungen Eichenstamm, so daß es in einem ziemlich weiten Kreise grasen konnte. Während das Pferd gierig an dem trockenen Grase knabberte, begab sich Pepé zu dem Sattel und entnahm dem Sack einen dunklen Streifen Dörrfleisch; dann schlenderte er zu einer am Rande des Gehölzes stehenden Eiche, von der aus er den Weg überblikken konnte. Er ließ sich auf die raschelnden, trockenen Eichenblätter nieder und griff automatisch nach seinem großen, schwarzen Messer, um das Dörrfleisch zu zerteilen, aber er besaß kein Messer mehr. Rücklings auf seine Ellbogen gestützt, nagte er an dem zähen, salzigen Fleisch. Sein Gesicht war blaß, aber es war das Gesicht eines Mannes. Das leuchtende Abendrot färbte den östlichen Kamm, aber im Tale begann es bereits zu dunkeln. Tauben flogen von den Bergen herab zur Quelle und die Wachtel kam eilend aus dem Buschwerk gelaufen und schloß sich ihnen an und schwatzte mit ihnen. Aus dem Augenwinkel schielend, bemerkte Pepé einen Schatten aus der buschbedeckten Felsspalte auftauchen. Behutsam wandte er seinen Kopf. Eine 105
große gefleckte Wildkatze nahte sich auf dem Bauche schleichend, lautlos wie ein Gedanke, der Quelle. Pepé spannte seine Büchse und richtete vorsichtig die Mündung auf das Ziel Dann warf er einen besorgten Blick auf den Saumpfad und setzte den Hahn wieder in Ruhestellung. Er las einen neben ihm auf der Erde liegenden Eichenzweig auf und schleuderte ihn nach, der Quelle. Die Wachtel flog, einen pfeifenden Ton ausstoßend, auf und auch die Tauben flüchteten flügelklatschend. Die große Katze erhob sich: ein paar Sekunden musterte sie Pepé aus ihren kalten gelben Augen, dann zog sie sich furchtlos in die Schlucht zurück. Rasch sammelte sich die Dämmerung in dem tiefeingeschnittenen Tal. Pepé murmelte seine Gebete, legte den Kopf auf seinen Arm und versank augenblicklich in schweren Schlaf. Der Mond ging auf und erfüllte das Tal mit kaltem, blauem Licht und der Wind fegte raschelnd von den Gipfeln hernieder. Die Eulen huschten auf der Suche nach Kaninchen längs der Hänge auf und nieder. Unten im Gestrüpp der Felsspalte bellte ein Coyote. Die Eichen flüsterten leise bei der nächtlichen Brise. Pepé fuhr lauschend aus dem Schlaf. Sein Pferd hatte gewiehert. Der Mond stand gerade im Begriff, hinter dem westlichen Kamm zu verschwinden, das Tal in undurchdringlicher Finsternis zurücklassend. 106
Pepé hielt seine Flinte fest umklammert. Fern vom Saumpfad herab tönte ein Wiehern als Antwort und das Aufschlagen von Hufeisen auf Fels. Pepé sprang auf, eilte zu seinem Pferde und führte es unter die Bäume. Hastig legte er ihm den Sattel auf und schnallte ihn für den steilen Pfad fest, ergriff den widerstrebenden Kopf des Gauls und zwang ihm die Kandare ins Maul. Er betastete den Sattel, um sich zu vergewissern, ob der Wasserbeutel und der Sack mit Dörrfleisch an ihm befestigt waren. Dann stieg er auf und wandte sich bergaufwärts. Die Nacht war samtschwarz. Der Gaul fand sicher den Zugang zu dem Saumpfad, wo dieser das Plateau verließ, und begann, auf den Felsen stolpernd und ausgleitend, den Anstieg. Pepé griff mit der Hand an seinen Kopf. Sein Hut fehlte. Er hatte ihn unter der Eiche vergessen. Das Pferd war bereits eine tüchtige Strecke bergauf gestampft, als der erste Dämmerschein die Luft erhellte, ein stählernes Grau aus Helle und Dunkelheit gemischt. Der scharfe, tiefeingeschnittene Rand des Bergrückens erhob sich steil über ihm, verwitterter Granit, von den Stürmen der Zeit zerquält und zerfressen. Pepé hatte die Zügel um den Sattelknauf geschlungen, dem Gaul die Richtung überlassend. Das Buschwerk zerrte in der Dunkelheit an seinen Beinen, bis ein Hosenbein am Knie in Fetzen hing. Allmählich begann das Licht über den Kamm zu fluten. Soweit das Auge bei dem Dämmerlicht 107
reichte, standen in weiter Perspektive seltsam und einsam verdorrte Sträucher und Felsblöcke. Dann schlich sich Wärme in das Licht. Pepé zog den Zügel an und blickte zurück, aber er vermochte unten in dem dunkleren Tal nichts zu unterscheiden. Der Himmel oberhalb der aufgehenden Sonne verwandelte sich in Blau. In der Wüstenei des Berghanges wuchsen die armseligen, verdursteten Büsche kaum drei Fuß hoch. Hier und dort ragten mächtige, unverwitterte Granitblöcke, an Hausruinen erinnernd. Pepé sank vor Erschöpfung in sich zusammen. Er nahm einen Schluck aus seinem Wasserschlauch und biß ein Stück Dörrfleisch ab. Hoch in der Luft kreiste ein einzelner Adler. Ohne Warnung stieß Pepés Pferd einen durchdringenden Schrei aus und brach zusammen. Fast ehe der Büchsenschuß aus dem Tale widerhallte, war Pepé aus dem Sattel geschleudert. Aus einem Loch hinter der zuckenden Schulter brach ein Strom hellroten Blutes hervor und versiegte und brach von neuem hervor und versiegte wieder. Die Hufe hämmerten auf dem Boden. Pepé hockte halb betäubt neben dem Gaul. Vorsichtig blickte er den Berghang hinunter. Ein Salbeistengel dicht neben seinem Kopf wurde abgerissen und ein zweiter Schuß wurde von beiden Wänden der Schlucht zurückgeworfen. Pepé warf sich hinter einem Busch auf den Boden. Auf die Knie und eine Hand sich stützend, begann er den Berg emporzukriechen. Seine rechte Hand 108
hielt die Büchse umklammert und schob sie vorwärts. Er bewegte sich mit der instinktiven Vorsicht eines Tieres. Rasch bahnte er sich seinen Weg in Richtung auf einen der mächtigen Granitfelsen auf dem über ihm gelegenen Hang. Wo das Buschwerk hoch wuchs, erhob er sich und lief in gebückter Haltung, aber wo die Deckung unvollkommen war, kroch er auf dem Bauche, seine Flinte vor sich herschiebend. Die letzte kurze Strecke bot überhaupt keinen Schutz. Pepé zauderte, dann querte er in weiten Sprüngen den Raum und verbarg sich hinter dem Felsen. Keuchend lehnte er sich gegen den Block. Sobald sein Atem ruhiger ging, schlich er hinter dem großen Felsblock weiter, bis er einen schmalen Spalt entdeckte, der es ihm gestattete, einen schmalen Ausschnitt bergabwärts zu überblicken. Pepé legte sich auf den Bauch, schob den Flintenlauf durch den Spalt und wartete. Allmählich rötete die Sonne die westlichen Kämme. Die Geier begannen bereits, sich in der Nähe der Stelle, wo das Pferd verendet war, zu sammeln. Ein kleiner, brauner Vogel scharrte unmittelbar vor der Flintenmündung in den trockenen Salbeiblättern. Der kreisende Adler flog der aufsteigenden Sonne entgegen. Tief unten in dem Buschholz bemerkte Pepé eine flüchtige Bewegung. Seine Hand umklammerte die Büchse. Eine zierliche, braune Hindin schritt leichtfüßig über den Saumpfad und verschwand wieder 109
in dem Unterholz. Pepé wartete eine lange Zeit. Tief unter sich konnte er das kleine Plateau und das Eichenwäldchen und den grünen Grasstreifen überschauen. Plötzlich wurde sein Blick wieder auf den Saumpfad gelenkt. Zwischen dem etwa vierhundert Meter tiefer gelegenen Dickicht von Stecheichen hatte sich etwas rasch bewegt. Sein Büchsenlauf senkte sich. Das Korn fügte sich in das V der Kimme. Pepé zielte eine Sekunde, dann hob er das Visier um einen Strich. Die leichte Bewegung in dem Buschwerk wiederholte sich. Die Büchse richtete sich auf diesen Punkt. Pepé drückte ab. Der Schuß donnerte den Berg hinunter gegen die andere Talseite und wurde verstärkt von der Felswand zurückgeworfen. Auf dem Hang regte sich nichts. Keine Bewegung. Und dann prallte etwas Helles gegen den Granit des Spaltes und eine Kugel pfiff durch die Luft, und der Knall eines Büchsenschusses tönte von unten herauf. Pepé spürte einen stechenden Schmerz in seiner rechten Hand. Ein silberglänzender Granitsplitter ragte zwischen den Knöcheln seines ersten und zweiten Fingers hervor und die Spitze steckte tief in seiner Handfläche. Vorsichtig zog er den Splitter heraus. Die Wunde blutete leicht und gleichmäßig. Weder eine Vene noch eine Arterie waren verletzt. Pepé untersuchte eine kleine, in den Felsen eingefressene Höhlung und holte eine Handvoll Spinngewebe hervor und preßte die Masse in die Wunde. Die Blutung hörte sofort auf. 110
Die Flinte lag auf dem Boden. Pepé hob sie auf und schob eine neue Patrone in das Magazin. Dann schlängelte er sich auf dem Bauche in das Buschholz. Er kroch erst weit nach rechts und dann den Hang hinauf, langsam und vorsichtig, kroch, Dekkung suchend, und verschnaufte, und kroch dann wieder weiter. In den Bergen steht die Sonne hoch auf ihrem Bogen, ehe sie in die Schluchten eindringt. Das glühende Antlitz lugte über den Kamm und strahlte sofort Hitze aus. Das grelle Licht prallte auf die Felsen und wurde von ihnen zurückgeworfen und stieg zitternd von neuem von dem Boden empor, und auch die Felsen und Büsche hinter der Luft schienen zu vibrieren. Pepé kroch, nach Möglichkeit die Richtung auf den höchsten Grat einhaltend, im Zickzack vorwärts. Die tiefe Wunde zwischen seinen Knöcheln begann zu pulsieren. Er kroch geradewegs auf eine Klapperschlange zu, ohne sie zu bemerken; erst als sie ihren dürren Kopf erhob und leise zu klappern begann, fuhr er zurück und wählte einen anderen Weg. Flinke, graue Eidechsen huschten vor ihm hin und her, dünne Staubwölkchen aufwirbelnd. Pepé fand wieder eine Menge Spinnweben und preßte sie gegen seine pochende Hand. Jetzt schob er mit der Linken die Flinte vor sich her. Kleine Schweißperlen rannen an seinen struppigen, schwarzen Haaren entlang und flossen über seine Backen. Seine Lippen und seine Zunge 111
schwollen an und wurden schwer. Vergeblich bemühten sich seine Lippen, Speichel in den Mund zu ziehen. Seine kleinen, dunklen Augen blickten unstet und argwöhnisch. Als einmal eine graue Eidechse vor ihm auf dem durchglühten Boden hocken blieb und ihren Kopf zur Seite wandte, zermalmte er sie mit einem Stein. Als die Sonne die Mittagshöhe überschritt, hatte er noch nicht einmal eine Meile zurückgelegt. Erschöpft kroch er die letzten hundert Meter bis zu einem Gestrüpp hoher, stachliger Beerentrauben, kroch verzweifelt, und als das Gestrüpp erreicht war, zwängte er sich zwischen die zähen, knorrigen Strünke, und sein Kopf sank auf seinen linken Arm. Die kümmerlichen Stauden boten nur wenig Schatten, aber sie gewährten Deckung und Sicherheit. Pepé verfiel, so wie er lag, in Schlaf, und die Sonne brannte auf seinen Rücken. Ein paar kleine Vögel hüpften dicht an ihn heran und musterten ihn neugierig und hüpften weiter. Pepé krümmte sich im Schlaf und hob wieder und wieder die verletzte Hand und ließ sie sinken. Die Sonne versteckte sich hinter den Gipfeln, und der kühle Abend kam, und dann die Dunkelheit. Ein Coyote kläffte am Berghang. Pepé fuhr aus dem Schlaf und blickte sich mit verschleierten Augen um. Seine Hand war angeschwollen und schwer; ein schmaler, schmerzender Streifen zog sich an der Innenseite seines Armes entlang und endete in einer Geschwulst in seiner Achselhöhle. Scheu schau112
te er in die Runde, und dann erhob er sich, denn die Berge waren tiefschwarz und der Mond war noch nicht aufgegangen. Pepé stand hoch aufgerichtet in der Finsternis. Der Rock seines Vaters schnürte seinen Arm ein. Seine Zunge war angeschwollen und füllte fast die Mundhöhle aus. Er streifte den Rock herunter und ließ ihn in das Buschwerk fallen, und dann kämpfte er sich weiter bergauf, über Felsen stolpernd und mühsam sich einen Weg durch das Dickicht bahnend. Die Büchse schlug beim Gehen gegen Steine. Kleine, trockene Sandlawinen, untermischt mit Steinbrocken, rieselten hinter ihm in die Tiefe. Schon bald stieg der alte Mond empor und beleuchtete den vor ihm aufragenden, zerklüfteten Grat. Beim Schein des Mondes schritt Pepé sicherer aus. Er ging vornübergebeugt, so daß sein pulsierender Arm vom Körper forthing. Der Weg bergauf wurde in schnellen Sprüngen und Ruhepausen zurückgelegt, ein paar Meter stürmischen Emporklimmens und dann eine Rast. Der Wind fegte raschelnd durch die verdorrten Zweige der Büsche den Hang hinab. Als Pepé endlich auf dem scharfen Rücken des Grates anlangte, stand der Mond im Meridian. Während der letzten hundert Meter bergauf hatte der nagende Wind keine Erde mehr heruntergefegt. Der Weg bestand aus gewachsenem Gestein. Pepé erstieg die höchste Spitze und schaute nach der anderen Seite hinab. Auch dort gähnte eine 113
Schlucht gleich jener, durch die er gekommen war, von mattem Mondschein erfüllt und mit vertrockneten, kümmerlichen Beifuß- und Stechdornbüschen bewachsen. Jenseits der Schlucht stieg der Berg steil an, und die ausgezackten, verwitterten Zähne des Kammes zeichneten sich scharf gegen den Himmel ab. Auf der Sohle der Schlucht war das Gestrüpp dicht und finster. Pepé taumelte den Berg hinab. Seine Kehle war vor Durst fast zugeschnürt. Zuerst versuchte er zu laufen, aber er stürzte sogleich und überschlug sich. Nach dieser Erfahrung trat er vorsichtiger auf. Als er den Grund der Schlucht erreichte, verschwand der Mond gerade hinter den Bergen. Pepé zwängte sich in das dichteste Gebüsch und tastete mit den Fingern nach Wasser. In dem Bett des Gießbaches war kein Tropfen, nur feuchte Erde. Pepé legte seine Flinte ab, schöpfte eine Handvoll modriger Erde und stopfte sie in seinen Mund, aber sogleich spie er sie aus und kratzte den Rest mit den Fingern von seiner Zunge, denn der Moder zog seinen Mund zusammen wie ein Senfpflaster. Jetzt scharrte er in dem Bachbett mit der Hand ein Loch, grub ein kleines Bassin, um Wasser aufzufangen; aber ehe er genügend Erde ausgehoben hatte, sank sein Haupt vornüber auf den feuchten Boden und er schlief ein. Der Morgen graute und die Hitze des Tages senkte sich auf die Erde, und Pepé schlief noch immer. Spät am Nachmittag fuhr sein Kopf hoch. 114
Langsam blickte er rundum. Seine Augen waren Schlitze der Mattigkeit. Zwanzig Schritte entfernt stand in dem dichten Gestrüpp ein großer, gelbbrauner Berglöwe und glotzte ihn an. Sein langer, dicker Schwanz bewegte sich würdevoll, seine Ohren hielt er gespannt aufgerichtet, nicht drohend zurückgelegt. Der Löwe ließ sich auf seinen Bauch nieder und beobachtete ihn. Pepé untersuchte das Loch, das er in das Erdreich gegraben hatte. Auf seinem Grunde hatte sich ein halber Zoll morastiges Wasser gesammelt. Er zerrte den Hemdärmel von seinem wunden Arm, riß mit den Zähnen ein kleines Viereck heraus, tränkte es in dem Wasser und steckte es in den Mund. Wieder und wieder tauchte er den Lappen ein und sog ihn aus. Der Löwe lag unentwegt auf Wacht und beobachtete ihn. Der Abend senkte sich nieder, aber auf den Bergen rührte sich nichts. Kein Vogel besuchte die ausgedörrte Sohle der Schlucht. Gelegentlich warf Pepé einen Blick auf den Löwen. Die Augen des gelben Raubtiers fielen zu, als stünde es im Begriff, einzuschlafen. Es gähnte und seine lange, rote Zunge ringelte sich aus seinem Maul heraus. Plötzlich fuhr sein Kopf herum und seine Nüstern witterten. Sein kräftiger Schwanz peitschte den Boden. Er erhob sich und huschte gleich einem dunkelbraunen Schatten in das dichte Buschwerk. Eine Sekunde später hörte Pepé das Geräusch scharrender Pferdehufe auf Kies. Und er hörte noch 115
etwas anderes, ein hohes, winselndes Kläffen eines Hundes. Pepé ergriff mit der Linken seine Flinte und verschwand fast so lautlos wie der Löwe in dem Gestrüpp. In dem dunkelnden Abend schlich er gebückt auf den nächstgelegenen Grat zu. Erst als die Dunkelheit voll einsetzte, richtete er sich auf. Seine Kraft war gebrochen. In der Finsternis stolperte er über Felsen und sank auf dem steilen Hang auf die Knie, aber er schleppte sich weiter und weiter bergan, über die zerklüftete Berglehne kriechend und kletternd. Als er fast die Höhe erreicht hatte, legte er sich nieder und schlief eine kurze Zeit. Der ausgebrannte Mond, der auf sein Gesicht schien, erweckte ihn. Er erhob sich und schleppte sich weiter bergauf. Fünfzig Meter vom Gipfel entfernt hielt er an und kehrte um: er hatte seine Flinte vergessen. Mit schweren Schritten ging er bergab und durchstöberte das Gestrüpp, aber er konnte sein Gewehr nicht finden. Endlich legte er sich nieder, um auszuruhen. Der Schmerz in seiner Achselhöhle war stechender geworden. Mit jedem Herzschlag schien sein Arm an- und abzuschwellen. In liegender Lage gab es keine Stellung, bei der der schwere Arm nicht gegen seine Achselhöhle drückte. Mit der Anstrengung eines verwundeten Tieres erhob sich Pepé und kroch von neuem auf die Kammhöhe zu. Mit seiner linken Hand hielt er seinen geschwollenen Arm vom Körper fort. So schleppte er 116
sich den steilen Gipfel hinauf, ein paar Schritte, eine kurze Rast und wieder ein paar Schritte. Endlich näherte er sich seinem Ziel. Der Mond ließ den zackigen Grat scharf gegen den Himmel hervortreten. Pepés Bewußtsein löste sich in wilder, kreisender Gedankenflucht von ihm. Er sackte in sich zusammen und lag regungslos auf dem Boden. Der felsige Grat befand sich nur noch hundert Fuß über ihm. Der Mond wanderte über den Himmel. Pepé wälzte sich halb auf den Rücken. Seine Zunge mühte sich, Worte zu formen, aber nur ein undeutliches Lallen drang zwischen seinen Lippen hervor. Als der Morgen graute, riß sich Pepé gewaltsam zusammen. Seine Augen waren wieder klar. Er zog seinen dick aufgeschwollenen Arm an die Brust und betrachtete die eitrige Wunde. Der dunkelrote Streifen zog von seinem Handgelenk bis in die Achselhöhle hinauf. Mechanisch suchte er in seiner Tasche nach dem großen, schwarzen Messer, aber es war fort. Seine Augen glitten über den Boden. Er hob einen flachen, scharfkantigen Stein auf, kratzte die Wunde aus und schnitt tief in das wilde Fleisch hinein, und preßte dann den grünen Eiter in dicken Tropfen heraus. Er warf den Kopf in den Nacken und winselte wie ein Köter. Seine ganze rechte Seite zitterte vor Schmerz, aber der Schmerz klärte seinen Schädel. In dem grauen Dämmer kämpfte er sich den letzten Steilhang zum Grat empor, kroch über ihn hinweg und warf sich hinter einer Reihe von Fels117
trümmern auf den Boden. Unter ihm öffnete sich ein tief eingeschnittener Canyon, genau wie der vorige, wasserlos und verödet. Hier gab es kein Plateau, keine Eichen, nicht einmal dichtes Buschwerk. Und jenseits ragte ein scharfer Grat, spärlich mit absterbendem Beifuß bestanden und mit Granitblöcken übersät, über den Berg verstreut sprangen riesige Klippen vor und auf der Höhe zeichneten sich granitene Zähne gegen den Himmel ab. Der neue Tag war jetzt strahlend hell. Die flammende Sonne überschritt den Grat und stürzte sich auf den hinter den Felsen liegenden Pepé. In seinem struppigen, schwarzen Haar hatten sich dürre Zweige und Spinnweben verfangen. Die Augen lagen tief in seinem Schädel. Zwischen seinen Lippen schaute die Spitze seiner schwarz angelaufenen Zunge hervor. Er richtete sich auf und zog den geschwollenen Arm in seinen Schoß und streichelte ihn, seinen Körper hin- und herwiegend, und leise stöhnend. Er beugte den Kopf zurück und starrte in den blassen Himmel. Ein großer, schwarzer Vogel zog fast außer Sicht seine Kreise, während ein zweiter von links her sich näherte. Pepé hob den Kopf und lauschte; ein vertrauter Ton war aus dem Tal, aus dem er gekommen war, an sein Ohr gedrungen; es war das aufgeregte Kläffen von Hunden auf einer Fährte, wütend und fieberhaft. Pepé duckte sich. Er versuchte rasch, Worte zu 118
formen, aber nur ein unverständliches Zischen kam über seine Lippen. Mit seiner Linken machte er bebend das Zeichen des Kreuzes auf seiner Brust. Es kostete ihn einen harten Kampf, auf die Füße zu gelangen. Dann schleppte er sich mühsam und mechanisch auf einen mächtigen, den Grat überhöhenden Felsblock. Dort angelangt, erhob er sich langsam und schwankend auf die Füße und stand aufrecht. Tief unter sich konnte er das dunkle Gestrüpp erkennen, in dem er genächtigt hatte. Er stemmte seine Füße fest auf den Fels und stand dort, dunkel gegen den Himmel sich abhebend. Unmittelbar unter seinen Füßen schlug etwas klirrend gegen das Gestein. Ein Granitsplitter flog durch die Luft und eine Kugel flog zischend in die nächste Kluft. Pepé senkte einen Augenblick den Kopf, dann reckte er sich wieder gerade. Sein Körper zuckte zurück. Seine linke Hand griff hilflos an seine Brust. Der zweite Schuß dröhnte herauf Pepé taumelte und stürzte kopfüber in die Tiefe. Sein Körper schlug hart auf und rollte weiter und weiter, eine kleine Lawine nach sich ziehend. Und als er endlich sich in einem Gebüsch verfing, glitt die Lawine langsam über ihn weg und begrub seinen Kopf.
DIE WEISSE WACHTEL
Die dem Kamin in dem Wohnzimmer gegenüberliegende Wand war ein einziges hohes Fenster aus kleinen rautenförmigen, in Blei gefaßten Scheiben, das sich von den gepolsterten Fensterbänken fast bis zur Decke erstreckte. Durch das Fenster sah man, am schönsten, wenn man auf den Fensterbänken saß, über den Garten hinweg bis zu dem Hügel. Unter den Eichen des Gartens dehnte sich ein schattiger Rasenplatz, und um jede Eiche zog sich ein Kreis sorgfältig bearbeiteter Erde, in der Zinerarien wuchsen, üppige Sträucher, und so schwer mit Blüten in allen Farben von Scharlachrot bis Ultramarin überladen, daß sich die Zweige zum Boden neigten. Die Kante des Rasens wurde von einer Reihe hochstämmiger Fuchsien eingefaßt. Hinter den Fuchsien befand sich ein flacher Weiher, dessen ausbetonierter Abfluß – aus sehr triftigen Gründen – den Rasen überfluten konnte. Unmittelbar an den Garten grenzend erhob sich der Hügel, eine Wildnis, bedeckt mit amerikanischen Faulbäumen und Giftsumach, dürren Gräsern und immergrünen Eichen in regellosem Durcheinander. Wer sich nicht zur Hausfront begab, konnte nicht ahnen, daß die Besitzung hart am Stadtrande lag. Mary Teller, das heißt Mrs. Harry E. Teller, wuß120
te, daß das Fenster und der Garten zueinander paßten, und sie hatte einen sehr stichhaltigen Grund, das zu wissen. Hatte sie nicht bereits vor vielen Jahren die Stelle, wo das Haus und der Garten stehen sollten, ausgewählt? Hatte sie nicht, wohl an die tausendmal, das Haus und den Garten vor sich gesehen, zu einer Zeit, als der Platz noch eine öde, am Fuße eines Hügels gelegene kahle Fläche war? Hatte sie nicht im Hinblick auf Haus und Garten fünf Jahre lang jeden Mann sorgfältig gemustert und sich überlegt, ob er und der Garten zueinander passen würden? Sie fragte sich nicht in erster Linie: ‚Wird dieser Mann wohl einen solchen Garten lieben?‘, sondern: ‚Wird dieser Garten einen solchen Mann lieben?‘ Denn der Garten war sie selbst und schließlich hatte sie ja freie Wahl, den Mann zu heiraten, der ihr gefiel. Als sie Harry Teller kennenlernte, schien der Garten ihn zu lieben. Es wird ihn vermutlich ein wenig überrascht haben, als Mary, nachdem er um sie angehalten hatte und gespannt auf eine Antwort wartete, wie das bei Männern so üblich ist, eine Beschreibung eines hohen, breiten Fensters und eines Gartens mit weiter Rasenfläche und Eichen und Zinerarien sowie eines naturwüchsigen Hügels entwarf. „Selbstverständlich“, antwortete er zerstreut. Mary fragte: „Halten Sie das für albern?“ „Selbstverständlich nicht!“ entgegnete er nach einem sekundenlangen, bedrückten Schweigen. 121
Und da fiel ihr ein, daß er sie um ihre Hand gebeten hatte, und sie willigte ein und gestattete ihm, sie zu küssen. Sie sagte: „An den Rasenplatz wird sich ein kleiner ausbetonierter Teich anschließen. Weißt du weswegen? Auf dem Hügel nisten viel mehr Vogelarten, als du dir vorzustellen vermagst: Goldammern, wilde Kanarienvögel, rotflüglige Beutelstare und selbstverständlich auch Sperlinge und Hänflinge und eine Unzahl Wachteln. Natürlich werden sie alle heruntergeflogen kommen, um dort zu trinken! Meinst du nicht auch?“ Sie war sehr hübsch und er hatte das Verlangen, sie wieder und wieder zu küssen, und sie erlaubte es ihm. „Und Fuchsien“, sagte sie. „Die Fuchsien dürfen wir ja nicht vergessen! Sie erinnern an kleine tropische Weihnachtsbäume. Den Rasen werden wir täglich kehren müssen, um die Eichenblätter zu entfernen.“ Er lachte: „Was bist du für ein drolliges kleines Geschöpf. Der Platz ist noch nicht gekauft, und das Haus ist noch nicht gebaut und der Garten ist noch nicht angepflanzt, und schon machst du dir Sorgen über die auf dem Rasen herumliegenden Eichenblätter! Du bist so schön; du machst mir – du machst mir Appetit.“ Die Worte jagten ihr einen leichten Schrecken ein. Ein Ausdruck des Verdrusses huschte über ihr Gesicht. Aber trotzdem ließ sie sich wieder von ihm küssen, und dann schickte sie ihn nach Hause und begab sich in ihr Zimmer, wo sich ihr zierlicher 122
blauer Schreibtisch und auf diesem ein Notizbuch befanden. Sie ergriff einen Federhalter, dessen Stiel aus einer Pfauenfeder bestand, und sie schrieb unermüdlich: „Mary Teller.“ Ein- oder zweimal schrieb sie auch: „Mrs. Harry E. Teller.“ * Der Bauplatz war gekauft, und das Haus war gebaut worden, und sie waren verheiratet. Mary entwarf einen genauen Plan des Gartens, und während die Arbeiter ihn ausführten, ließ sie die Leute auch nicht eine Sekunde allein. Sie wußte bis auf einen Zoll genau, wo alles hinkommen sollte. Und sie zeichnete für die Maurer eine Skizze des flachen Teichs, einen herzförmigen Teich, aber ohne Spitze am unteren Ende, mit allmählich abfallenden Rändern, damit die Vögel bequem trinken konnten. Harry sah ihr voller Bewunderung zu. „Wer hätte ahnen können, daß ein so hübsches Frauenzimmerchen soviel Tatkraft besäße?“, sagte er. Das schmeichelte ihr, und sie war sehr glücklich, so daß sie erklärte: „Falls du es willst, darfst du einige Blumen, die du besonders liebst, im Garten anpflanzen.“ „Nein, Mary, es liegt mir viel zuviel daran, deine ureigene Seele in dem Garten aufsprießen zu sehen. Du sollst alles auf die dir eigene Art machen.“ Sie liebte ihn deswegen; schließlich war es ja ihr 123
Garten. Sie hatte ihn geplant und ersehnt, und sie hatte mit soviel Liebe die Farben auserwählt. Es wäre wirklich ein Jammer gewesen, hätte Harry irgendwelche Blumen gewünscht, die nicht zu dem Garten paßten. Endlich war der Rasen aufgegangen und um die Eichen standen die Zinerarien in eingegrabenen Töpfen in voller Blüte. Die zierlichen, hochstämmigen Fuchsien waren so sorgfältig verpflanzt worden, daß auch nicht ein Blatt welkte. Die Fensterbänke neben dem hohen Fenster waren dicht mit Kissen aus hellen, lichtechten Stoffen belegt, schien doch die Sonne einen großen Teil des Tages zum Fenster herein. Mary wartete, bis alles getan, alles genau so vollendet war, wie ihr geistiges Auge es geschaut hatte, und dann an einem Abend, als Harry aus dem Bureau nach Hause kam, führte sie ihn zu dem Fensterplatz. „Sieh!“, sagte sie sanft, „da ist er, genau wie ich ihn mir ersehnt hatte“. „Er ist schön“, flüsterte Harry, „wunderschön!“ „In einer Hinsicht stimmt es mich traurig, daß alles fertig ist“, sagte sie, „aber in der Hauptsache bin ich froh. Wir wollen nie etwas daran ändern, nicht wahr, Harry? Falls ein Strauch abstirbt, wollen wir einen ganz gleichen genau an die gleiche Stelle pflanzen.“ „Du närrisches kleines Ding“, sagte er. „Weißt du, ich habe so lange über den Garten nachgedacht, daß er ein Teil von mir ist; falls ir124
gend etwas an ihm geändert werden würde, hätte ich das Empfinden, als würde mir ein Glied ausgerissen.“ Er streckte die Hand aus, um sie zu streicheln, und zog sie dann wieder zurück. „Ich liebe dich so aufrichtig“, sagte er. „Aber ich ängstige mich gleichzeitig vor dir.“ Sie lächelte ruhig. „Du? Dich vor mir ängstigen? Was habe ich denn an mir, wovor du dich fürchten könntest?“ „Du bist in gewisser Weise so unnahbar. Etwas Undurchdringliches umgibt dich. Vermutlich weißt du das selbst nicht. Du gleichst in gewisser Hinsicht deinem eigenen Garten – festumrissen, so und nicht anders! Ich scheue mich, in ihm spazieren zu gehen, aus Furcht, ich könnte irgendeine deiner Pflanzen stören.“ Mary freute sich. „Liebster“, sagte sie. „Du ließest mich ihn schaffen. Du machtest ihn zu meinem Garten. Ja, du bist ein geliebtes Herz.“ Und sie gestattete ihm, sie zu küssen. * Er war stolz auf sie, wenn zum Abendessen Besuch erschien. Sie war so schön, so kühl, so vollkommen. Ihre mit Blumen angefüllten Vasen waren auserlesen, und sie sprach von dem Garten bescheiden, zögernd, fast als ob sie von sich selbst spräche. Bisweilen führte sie ihre Gäste in den Garten. Sie 125
deutete auf eine hochstämmige Fuchsie. „Ich wußte nicht, ob sie erfolgreich sein würde“, bemerkte sie, als handelte es sich um einen Menschen und nicht um eine Pflanze. „Sie verzehrte eine Menge Pflanzennahrung, ehe sie sich zum Wachsen entschloß.“ Sie lächelte still in sich hinein. Wenn sie im Garten arbeitete, war sie reizend anzuschauen. Sie trug ein helles, geblümtes, ärmelloses Kleid mit langem Schoß. Irgendwo hatte sie einen altmodischen, breitrandigen Hut aufgetrieben. Sie trug gute derbe Handschuhe, um ihre Hände zu schonen. Harry bereitete es Freude, sie zu beobachten, wenn sie mit einem Säckchen und einem großen Löffel umherging und Kunstdünger um die Wurzelstöcke ihrer Blumen streute. Er begleitete sie auch gerne nachts, um Raupen und Schnecken zu vernichten. Mary hielt die Blendlaterne, während das eigentliche Töten, das Zerquetschen der Raupen und Schnecken zu breiigen Massen, Harry überlassen blieb. Für sie, das wußte er, war das eine abstoßende Aufgabe, aber trotzdem zitterte das Licht niemals. „Mutiges Mädel!“ dachte er. „Hinter ihrer gebrechlichen Schönheit verbirgt sich ein starker Wille.“ Mary gestaltete diese Jagden zu einem erregenden Erlebnis. „Dort – dort kriecht eine ganz Große“, pflegte sie auszurufen. „Sie ist hinter jener schönen Blüte her. Töte sie! Töte sie rasch!“ Nach solcher Jagd gingen sie glücklich lachend ins Haus. Die Vögel bereiteten Mary Kummer. „Sie kom126
men nicht zum Trinken“, klagte sie. „Nur ganz vereinzelte lassen sich blicken. Ich möchte wissen, was sie abhält.“ „Vielleicht haben sie sich noch nicht daran gewöhnt. Mit der Zeit werden sie schon kommen. Vielleicht streift auch eine Katze herum.“ Ihr Gesicht wurde feuerrot und sie atmete schwer. Ihre hübschen Lippen spannten sich um ihre Zähne. „Falls eine Katze hier herumstromert, werde ich vergifteten Fisch auslegen“, rief sie. „Ich dulde es nicht, daß eine Katze meinen Vögeln nachstellt.“ Harry mußte sie beschwichtigen. „Weißt du, was ich tun werde? Ich werde ein Luftgewehr kaufen. Sollte sich dann eine Katze blicken lassen, können wir auf die Katze schießen. Die Kugel wird die Katze zwar nicht töten, aber sie wird ihr weh tun und die Katze wird sich nicht wieder zeigen.“ „Ja“, sagte sie ruhiger. „Das ist vielleicht vernünftiger.“ Abends war das Wohnzimmer besonders behaglich. Das Feuer flackerte hell im Kamin. Wenn der Mond schien, drehte Mary die Beleuchtung aus, und dann saßen sie und blickten durch das Fenster in den kühlen blauen Garten und auf die düstern Eichenbäume. Draußen war es totenstill und ewig. Und dann endete der Garten und das undurchdringliche Dikkicht auf dem Hügel schloß sich an. „Das ist der Feind!“ sagte Mary eines Abends. „Das ist die Welt, die eindringen möchte – rauh und 127
wild und ungepflegt. Aber sie kann nicht hinein, weil die Fuchsien es nicht dulden. Zu diesem Zweck stehen die Fuchsien dort, und sie wissen es. Die Vögel können zu uns kommen. Sie wohnen draußen in der Wildnis, aber sie kommen in meinen Garten um des Friedens und des Wassers willen.“ Sie lachte leise. „Hinter all’ diesem liegt ein tiefer Sinn verborgen, Harry. Ich weiß nicht genau, was es ist. Jetzt fangen die Wachteln an, uns zu besuchen. Heute abend waren wenigstens ein Dutzend am Weiher.“ Er sagte: „Ich wollte, ich vermöchte in das Innere deines Wesens zu blicken. Dein Denken scheint umherzuflattern, aber es ist ein kühles, folgerichtiges Denken. Es ist so selbstsicher.“ Mary setzte sich einen Augenblick auf seinen Schoß. „Nicht so furchtbar selbstsicher. Du merkst das nur nicht, und ich bin froh, daß du es nicht merkst.“ * Als Harry eines Abends unter der Lampe seine Zeitung las, sprang Mary plötzlich auf. „Ich habe meine Gartenscheren draußen vergessen“, sagte sie. „Bei dem Tau werden sie verrosten.“ Harry blickte über den Rand seiner Zeitung. „Kann ich sie nicht holen?“ „Nein, ich will lieber selbst gehen. Du würdest sie nicht finden.“ 128
Sie ging in den Garten und fand die Scheren, und dann blickte sie durch das Fenster in das Wohnzimmer. Harry las noch immer seine Zeitung. Das Zimmer war klar wie ein Gemälde, wie eine Bühne, auf der das Spiel gleich beginnen soll. Ein Feuervorhang schwankte in dem Kamin hin und her. Mary stand unbeweglich und schaute. Dort stand der große Sessel, in dem sie noch vor einer Minute gesessen hatte. Was würde sie jetzt wohl tun, angenommen, sie wäre nicht hinausgegangen? Angenommen, nur ihre Seele, nur ihr Verstand, nur ihr Sehvermögen befänden sich im Garten und hätten Mary in dem Sessel zurückgelassen? Ihr war es fast, als sähe sie sich wirklich dort sitzen. Ihre vollen Arme und ihre langen Finger ruhten auf den Armlehnen. Ihr zartes, sensitives Antlitz blickte, ihr das Profil zukehrend, nachdenklich in das Feuer. „Worüber sinnt sie jetzt wohl nach?“ flüsterte Mary. „Ich möchte wissen, was in ihrem Geiste vorgeht. Wird sie aufstehen? Nein, sie bleibt ruhig dort sitzen. Der Halsausschnitt ihres Kleides ist zu weit. Sieh nur, wie er seitlich über die Schulter herabgleitet. Aber das sieht recht hübsch aus. Es wirkt etwas nachlässig, aber anmutig und reizvoll. Jetzt – jetzt lächelt sie. Offenbar denkt sie an etwas Hübsches.“ Plötzlich kam Mary zu sich und begriff, womit sich ihre Gedanken beschäftigt hatten. Sie war begeistert. „Es gibt also zwei Ich’s“, dachte sie. „Es ist, als besäße ich zwei Leben, da ich mich selbst zu 129
sehen vermag. Das ist herrlich. Ob ich es sehen kann, so oft es mich danach gelüstet? Ich sah genau das, was andere Menschen sehen, wenn sie mich betrachten. Ich muß mit Harry darüber sprechen.“ Aber jetzt formte sich ein neues Bild; sie sah, wie sie es ihm erzählte, bemüht, zu schildern, was in ihr vorgegangen war. Sie sah, wie er sie über den Rand der Zeitung mit einem gespannten, verwirrten, fast gequälten Ausdruck in seinen Augen anstarrte. Er bemühte sich so ehrlich, zu verstehen, wenn sie ihm etwas erzählte. Er wollte verstehen und hatte doch niemals vollen Erfolg. Falls sie zu ihm von dieser nächtlichen Vision spräche, würde er Fragen stellen. Er würde alles hin- und herwenden im Bemühen, es zu begreifen, bis er zuletzt alles ruiniert hätte. Er wollte die Dinge, die sie ihm erzählte, nicht lächerlich machen, aber gegen seinen Willen tat er es dennoch. Er brauchte allzuviel Licht bei Dingen, die im Licht zusammenschrumpfen. Nein, sie würde ihm nichts sagen. Sicher würde sie den Wunsch empfinden, wieder in den Garten zu gehen und das Gleiche noch einmal zu erleben, und das könnte sie nicht, wenn er ihr das verdürbe. Durch das Fenster sah sie, wie Harry die Zeitung auf seinen Schoß sinken ließ und zur Tür blickte. Sie eilte ins Zimmer und zeigte ihm die Scheren als Beweis, weshalb sie hinausgegangen war. „Sieh nur, der Rost begann sich bereits anzusetzen. Morgen früh wären sie völlig verrostet und unansehnlich gewesen.“ 130
Er nickte ihr lächelnd zu. „Die Zeitung behauptet, das neue Darlehengesetz würde uns viel zu schaffen machen. Man wirft uns eine Menge Knüttel zwischen die Beine. Aber irgend jemand muß doch Geld ausleihen, wenn die Leute Geld borgen wollen.“ „Von Darlehen verstehe ich nichts“, entgegnete Mary. „Aber man hat mir erzählt, deine Gesellschaft besäße auf fast sämtliche Automobile in der Stadt Rechtsansprüche.“ Er lachte. „Oh, nicht auf alle, aber doch auf eine ganz stattliche Anzahl. So oft die Zeiten ein wenig schwierig werden, verdienen wir Geld.“ „Das klingt ja entsetzlich“, sagte sie. „Es klingt, wie unbilligen Vorteil sich verschaffen.“ Harry faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch neben seinem Stuhl. „Sag das nicht. Ich halte es nicht für unbillig“, widersprach er. „Die Leute brauchen Geld, und wir stellen es ihnen zur Verfügung. Den Zinssatz schreibt das Gesetz vor. Wir haben damit nichts zu schaffen.“ Sie legte ihre hübschen Arme und Finger auf die Lehne des Sessels, genau wie sie es durch das Fenster beobachtet hatte. „Vermutlich ist es in Wahrheit auch nicht unbillig“, sagte sie. „Aber es klingt, als zöget ihr aus den Menschen Vorteil, wenn sie sich in Bedrängnis befinden.“ Harry starrte lange Zeit nachdenklich in das Feuer. Mary konnte ihn sehen und wußte, daß er über ihre Worte nachgrübelte. Na, es konnte ihm nicht 131
schaden, wenn er erkannte, was das Geschäft in Wahrheit war. Viele Handlungen erscheinen berechtigter, wenn man sie ausübt, als wenn man über sie nachdenkt. Eine kleine geistige Hauswäsche wäre für Harry vielleicht gar nicht schlecht. Nach einer Weile blickte er zu ihr hinüber. „Liebste, du glaubst doch nicht im Ernst, daß wir unfaire Geschäfte machen?“ „Wie ich dir schon sagte, verstehe ich nichts von Darlehen, daher vermag ich auch nicht zu beurteilen, was fair und was unfair ist.“ Harry blieb beharrlich. „Aber deinem Gefühl nach ist es unfair? Du schämst dich meines Geschäfts? Wäre das der Fall, so könnte ich es nicht mehr ausstehen.“ Plötzlich fühlte sich Mary froh und geschmeichelt. „Nein, ich schäme mich nicht, du Einfaltspinsel Jeder Mensch besitzt das Recht, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Was du tust, tust du gut.“ „Bist du davon überzeugt?“ „Selbstverständlich bin ich davon überzeugt, du liebe Einfalt.“ Als Mary in ihrem kleinen Schlafzimmer im Bett lag, vernahm sie ein leises Klirren und sah, wie sich der Türknopf drehte und dann vorsichtig wieder zurückgedreht wurde. Die Tür war verschlossen. Das war ein Signal; es gab gewisse Dinge, über die Mary nicht sprechen mochte. Das Schloß war eine Antwort auf eine Frage, eine klare, bündige, nicht 132
mißzuverstehende Antwort. Besonders für Harry galt das. Stets drehte er fast geräuschlos an dem Knopf. Sie sollte es offenbar nicht merken, daß er es versucht hatte, aber es entging ihr nie. Er war lieb und taktvoll. Es beschämte ihn anscheinend, wenn er den Türknopf herumdrehte und die Tür verschlossen fand. Mary zog an der Beleuchtungskette, und sobald, sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, blickte sie zum Fenster hinaus in ihren von mildem Mondschein beleuchteten Garten. Ja, Harry war lieb und verständnisvoll. Zum Beispiel damals mit dem Hunde. Er kam in das Haus gestürzt, in wahrem Sinne gestürzt. Sein Gesicht war so gerötet und erregt, daß Mary einen Nervenschock erlitt. Sie dachte, irgendein Unglück wäre passiert. Als Nachwirkung des Schrecks stellten sich später am Abend Kopfschmerzen ein. Harry hatte gerufen: „Joe Adams – seine irische Terrierhündin hat Junge geworfen. Er will mir ein Junges schenken. Uralter Stammbaum – rot wie Erdbeeren!“ Er hatte sich wirklich einen jungen Hund gewünscht. Es schmerzte Mary, daß er keinen haben durfte. Aber sie war stolz auf sein rasches Verständnis für die Sachlage. Als sie ihm auseinandersetzte, was ein Hund den Blumen ihres Gartens antun könnte, vielleicht würde er sogar in ihren Blumenbeeten Löcher graben, und, was das Schlimmste war, die Vögel von der Tränke verscheuchen, hatte Harry das sofort eingesehen. Komplizierte Dinge, wie jene Vi133
sion in dem Garten, hätten ihn vielleicht verwirrt, aber die Sache mit dem Hunde begriff er sofort. Später am Abend, als der Kopf sie schmerzte, tröstete er sie und rieb ihr die Schläfen mit Eau de Cologne ein. Das war der Fluch der Phantasie. Mary hatte den Köter in ihrem Garten gesehen, leibhaftig gesehen, und die ausgescharrten Löcher und die verwelkten Pflanzen. Das war fast ebenso furchtbar, als hätte es sich tatsächlich ereignet. Harry fühlte sich beschämt, aber es war ja nicht seine Schuld, daß sie eine so lebhafte Phantasie besaß. Mary konnte ihn deswegen nicht tadeln, wie hätte er das wissen sollen? * Der späte Nachmittag, wenn die Sonne hinter dem Hügel verschwand, war die Zeit, die Mary als die eigentliche Gartenzeit bezeichnete. Das Mädchen war aus der Fortbildungsschule nach Hause gekommen und hatte die Sorge für die Küche übernommen. Das war fast eine geheiligte Stunde. Mary schritt durch den Garten und über den Rasenplatz zu ihrem hinter einer der Eichen halbverborgenen Liegestuhl: Von dort aus wollte sie die aus dem Weiher trinkenden Vögel beobachten. Sie empfand den Garten fast körperlich. Wenn Harry aus dem Bureau heimkam, blieb er im Hause und las seine Zeitung, bis Mary mit verzücktem Blick aus dem Garten zurückkehrte. Sie wäre untröstlich 134
gewesen, wenn jemand sie zu dieser Stunde gestört hätte. Der Sommer war gerade ins Land gezogen. Mary warf einen Blick in die Küche und überzeugte sich, daß dort alles seinen geregelten Gang ging. Dann betrat sie das Wohnzimmer und schaltete das kleine Licht ein, und dann war sie für den Garten fertig. Die Sonne hatte sich hinter dem Hügel versteckt und zwischen den Eichen sammelte sich der abendliche Dunst. Mary dachte: ‚Mir ist, als versammelten sich Millionen nicht gänzlich unsichtbarer Feen in meinem Garten. Man kann keine von ihnen erkennen, aber die Millionen verwandeln die Farbe der Luft.‘ Sie lächelte befriedigt über diesen anmutigen Gedanken. Der kurz gehaltene Rasen war vom Sprengen feucht und frisch. Die leuchtenden Zinerarien bildeten kleine, buntfarbige Heiligenscheine in der Luft. Die hochstämmigen Fuchsien waren mit Blüten überladen. Die Knospen glichen kleinen, roten Weihnachtsbaumkugeln und die geöffneten Blüten erinnerten an Ballettänzerinnen. Sie waren so richtig die Fuchsien, so vollkommen richtig. Und sie entmutigten den Feind jenseits der Grenze, das Buschwerk und Gestrüpp und die ungepflegten Bäume. Mary schritt quer über den Rasen, dem Abend entgegen, zu ihrem Liegestuhl und ließ sich auf ihm nieder. Sie konnte hören, wie sich die Vögel versammelten, um zum Weiher herunterzufliegen. ‚Es 135
bilden sich kleine Gesellschaften‘, dachte sie, ‚um am Abend meinen Garten zu besuchen. Wie müssen sie ihn lieben! Wie würde ich mich freuen, zum erstenmal in meinen Garten zu gehen. Könnte ich zwei Menschen zugleich sein … ‚Guten Abend, komm in den Garten, Mary.‘ ‚Oh, ist er nicht entzückend?‘ ‚Ja, ich liebe ihn, besonders zu dieser Stunde. Still, Mary. Erschreck’ nicht die Vögel.‘ Sie saß still wie eine Maus. Ihre Lippen waren erwartungsvoll geöffnet. Die Wachteln im Unterholz zwitscherten laut. Eine Goldammer ließ sich am Rande des Teiches nieder. Zwei winzige Fliegenschnäpper huschten über das Wasser und blieben flügelschlagend in der Luft stehen. Und dann kamen die Wachteln mit komischen, kurzen Schritten aus dem Gebüsch getrippelt. Sie machten halt, drehten ihre Köpfchen hin und her, um sich zu überzeugen, ob keine Gefahr drohe. Ihr Anführer, ein stämmiger Geselle mit einem schwarzen Schopf, schmetterte den Signalruf: „Alles klar!“ und die Gesellschaft eilte hinunter, um ihren Durst zu löschen. Und dann geschah das Wunder! Aus dem Gebüsch nahte eine weiße Wachtel. Mary erstarrte. Ja, es war eine Wachtel, kein Zweifel, und weiß wie Schnee. Oh, das war ein Wunder! Ein Freudenschauer, ein Freudentaumel durchzuckte Marys Busen. Sie hielt den Atem an. Das zierliche weiße Wachtelweibchen trippelte nach der andern Seite des Weihers, abseits von den gewöhnlichen Wach136
teln. Dort blieb es stehen und schaute sich um, und dann tauchte es seinen Schnabel in das Wasser. „Oh!“ rief eine Stimme in Mary, „sie gleicht mir!“ Eine wahnwitzige Begeisterung ließ ihren Körper erbeben. „Sie gleicht meinem innersten Wesen, einem zur letzten Reinheit geläuterten Wesen. Sie muß die Königin der Wachteln sein. In ihr verkörpert sich alles Schöne, das ich je erlebt habe.“ Die weiße Wachtel tauchte ihren Schnabel von neuem in das Wasser und warf ihren Kopf zurück und trank. Erinnerungen stürmten auf Mary ein und erfüllten ihre Brust. Etwas Trauriges, stets etwas Trauriges. Die unvermeidliche Emballage; die Begeisterung löste die Verschnürung. Was sich in der Verpackung befand, war niemals völlig … Die herrlichen Konfitüren aus Italien. „Iß sie nicht, Liebste. Sie sehen schöner aus als sie schmecken.“ Mary kostete sie nie, aber ihr Anblick löste eine ähnliche Begeisterung in ihr aus wie diese. „Wie schön Mary ist. Sie gleicht einer Enzianblüte, so ebenmäßig!“ Solche Worte zu hören, erweckten eine ähnliche Ekstase. „Mary, Liebling, raff’ deinen Mut zusammen. Dein Vater ist von uns gegangen.“ Im ersten Augenblick des Verlustes war die Ekstase die gleiche. Die weiße Wachtel streckte ihren einen Flügel nach rückwärts und glättete mit ihrem Schnabel die Federn. 137
„Dies ist mein Ich, das stets schön war. Dies ist mein Innerstes, mein Herz.“ * Die blaue Luft im Garten färbte sich purpurn. Die Fuchsienknospen glühten wie kleine Kerzen. Plötzlich aber schleicht ein grauer Schatten aus dem Gebüsch. Marys Kinn sinkt herab. Sie sitzt vor Furcht wie gelähmt. Eine graue Katze kommt wie der Tod aus dem Gesträuch geschlichen, schleicht auf den Weiher und die trinkenden Vögel zu. Marys Augen weiten sich vor Entsetzen. Ihre Hand umklammert ihren Hals. Endlich löst sich die Erstarrung. Sie kreischt laut auf. Die Wachteln stieben flügelklatschend auseinander. Die Katze verschwindet mit raschem Sprung in dem Gestrüpp. Mary schreit und schreit. Harry kommt aus dem Haus gestürzt und ruft: „Mary! Was ist dir, Mary?“ Bei seiner Berührung schaudert sie zusammen. Sie beginnt hysterisch zu schluchzen. Harry hebt sie auf seine Arme und trägt sie ins Haus und in ihr Schlafzimmer. Zitternd liegt sie auf dem Bett. „Was ist dir, Liebste? Was hat dich erschreckt?“ „Es war eine Katze“, stöhnte sie. „Die Katze wollte die Vögel beschleichen.“ Sie setzt sich im Bett auf; ihre Augen funkeln. „Harry, du mußt Gift auslegen! Noch heute nacht mußt du für diese Katze Gift streuen!“
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„Leg’ dich wieder hin, Liebling. Du hast einen Nervenschock erlitten.“ „Versprich mir, Gift auszulegen.“ Sie blickte ihn scharf an und sah ein aufrührerisches Licht in seinen Augen aufblitzen. „Versprich es mir.“ „Liebste“, sagte er entschuldigend, „ein Hund könnte das Gift fressen. Tiere leiden entsetzliche Qualen unter Gift.“ „Das ist mir gleichgültig!“ schrie sie. „Ich dulde in meinem Garten keine Tiere, gleichviel welcher Art.“ „Nein“, widersprach er, „ich tu’ das nicht. Nein, ich kann das nicht tun. Aber ich werde ganz frühmorgens aufstehen. Ich werde die neue Luftbüchse mitnehmen und ich werde der Katze einen Schuß versetzen, daß ihr das Wiederkommen vergeht. Das Luftgewehr schießt gut. Es wird der Katze eine Wunde beibringen, an die sie immer denken wird.“ Es war das erstemal, daß er ihr etwas abschlug. Sie wußte nicht, wie sie seinen Widerstand brechen sollte; ihr Kopf schmerzte entsetzlich. Als die Schmerzen am unerträglichsten waren, verschlimmerte er ihr Leiden noch, indem er sich weigerte, Gift zu streuen. Er nahm einen kleinen, mit Eau de Cologne getränkten Wattebausch und betupfte ihre Stirne. Sollte sie ihm etwas von der weißen Wachtel verraten? Er würde es nicht glauben. Aber falls er begriff, wie wichtig das war, würde er vielleicht doch die Katze vergiften. Bevor sie ihm ihr Erlebnis erzählte, wartete sie, bis sich ihre Nerven beruhigt 139
hatten. „Liebster, heute war eine weiße Wachtel im Garten!“ „Eine weiße Wachtel? War es nicht vielleicht eine Taube?“ Das geschah ihr recht. Gleich mit den ersten Worten zerstörte er alles. „Ich kenne Wachteln!“ schrie sie. „Sie war ganz in meiner Nähe. Ein weißes Wachtelweibchen.“ „Das wäre wirklich sehenswert“, sagte er. „Ich habe noch nie etwas von einer weißen Wachtel gehört.“ „Ich schwöre dir, ich habe sie deutlich gesehen.“ Er betupfte wieder ihre Stirn. „Vermutlich handelt es sich dann um einen Albino. Kein Pigment in den Federn oder etwas ähnliches.“ Sie wurde von neuem hysterisch. „Du begreifst auch nichts. Die weiße Wachtel war ich, mein geheimes Ich, zu dem niemand vorzudringen vermag; das Ich, das tief in mir verborgen liegt.“ Harrys Gesicht verzerrte sich im Bemühen, zu begreifen. „Verstehst du immer noch nicht, Liebster? Die Katze war hinter mir her. Sie wollte mich töten. Deswegen will ich sie vergiften.“ Gespannt musterte sie sein Gesicht. Nein, er begriff nichts, er konnte es nicht begreifen. Weshalb hatte sie es ihm nur erzählt? Wäre sie nicht so außer sich gewesen, würde sie es ihm nie verraten haben. „Ich werde meinen Wecker stellen“, sagte er. „Morgen früh werde ich der Katze etwas versetzen, woran sie noch lange denken soll.“ 140
Um zehn Uhr verließ er sie. Und als er gegangen war, sprang Mary auf und verschloß die Tür. Sein Wecker weckte Mary am andern Morgen. In ihrem Zimmer war es noch dunkel, aber das graue Licht des Morgens schien durch das Fenster. Sie hörte Harry sich leise ankleiden. Auf Zehenspitzen schlich er an ihrer Tür vorbei und ging hinaus, die Türe vorsichtig schließend, aus Furcht, sie aufzuwecken. In der Hand trug er die neue, blanke Luftbüchse. In der frischen, grauen Morgenluft reckte er seine Schultern und schritt leichtfüßig über den taufeuchten Rasen. Er ging bis zum Ende des Gartens und legte sich in das nasse Gras auf den Bauch. Im Garten wurde es heller. Die, Wachteln ließen bereits ihre metallischen Rufe erklingen. Die kleine, braune Gesellschaft versammelte sich am Rande des Gehölzes; sie reckten ihre Köpfe hoch. Dann rief der stattliche Führer: „Alles in Ordnung!“, worauf seine Schutzbefohlenen mit raschen Schritten zum Teiche eilten. Ein paar Sekunden später folgte ihnen die weiße Wachtel. Sie lief zur gegenüberliegenden Seite des Weihers, tauchte ihren Schnabel ein und warf ihren Kopf zurück. Harry zielte. Die weiße Wachtel senkte den Kopf und schielte zu ihm hinüber. Die Luftbüchse spie mit bösartigem Zischen ihre Kugel aus. Die Wachteln flogen in das Gebüsch. Aber die weiße Wachtel sank vornüber und zuckte einen Augenblick und lag dann unbeweglich auf dem Rasen. 141
Harry ging langsam zu ihr hin und hob sie auf. „Ich wollte sie nicht töten“, sagte er zu sich selbst. „Ich wollte sie nur verscheuchen.“ Er betrachtete den weißen Vogel in seiner Hand. Direkt in den Kopf, unmittelbar unter dem Auge, war das Schrotkorn eingedrungen. Harry ging zu der Reihe Fuchsien und warf die Wachtel in das Gebüsch. In der nächsten Sekunde legte er die Büchse auf den Boden und bahnte sich einen Weg in das Buschwerk. Er fand die weiße Wachtel, trug sie weit den Hügel hinauf und verscharrte sie unter einem Blätterhaufen. Mary hörte ihn an ihrer Tür vorübergehen. „Harry, hast du die Katze geschossen?“ „Sie wird sich nie wieder blicken lassen“, rief er durch die Tür. „Hoffentlich hast du sie getötet, aber Einzelheiten möchte ich nicht hören.“ Harry ging weiter in das Wohnzimmer und setzte sich in einen Klubsessel. Im Zimmer war es noch dämmerig, aber durch das hohe Fenster leuchtete der Garten und die Wipfel der Eichen waren von der Sonne gerötet. „Was bin ich für ein Schuft!“ flüsterte Harry. „Was bin ich für ein gemeiner Schuft, ein Tier zu töten, das sie so liebte.“ Er ließ den Kopf sinken und starrte zu Boden. „Ich bin so einsam!“ sagte er. „Oh Gott, ich bin so einsam!“
DIE SCHLANGE
Es war schon fast dunkel, als der junge Dr. Philips seinen Rucksack schulterte und den von der Flut zurückgelassenen Tümpel verließ. Er kletterte über die Felstrümmer hinauf und ging in seinen quatschenden hohen Gummistiefeln die Straße entlang. Die Straßenlampen brannten schon, als er bei seinem kleinen Versuchslaboratorium beim Lagerplatzviertel von Monterey anlangte. Es war ein schmucker kleiner Bau, der zum Teil auf Strebepfeilern über dem Buchtwasser, zum Teil auf Festland stand Von beiden Seiten wurde er von den großen Wellblechbauten der Sardinenpackereien eingeengt. Dr. Philips stieg die hölzernen Stufen hinauf und öffnete die Türe. Die weißen Ratten in ihren Käfigen rannten am Gitter rauf und runter und die gefangengehaltenen Katzen in ihren Ställen miauten nach Milch. Dr. Philips knipste das blendendhelle Licht über dem Seziertisch an und schmiß seinen klebrignassen Rucksack auf den Fußboden. Er ging hinüber zu den Terrarien beim Fenster, in denen die Klapperschlangen untergebracht waren, beugte sich darüber und schaute hinein. Die Schlangen lagen zusammengerollt und schläfrig in den Ecken, aber jeder Kopf war einzeln 143
sichtbar. Die verschleierten Augen schienen nach dem Leeren zu blicken, aber als der junge Mann sich über das Glasbehältnis beugte, züngelten die zwiegespaltenen Zungen, vorne schwarz und hinten rosa, heraus und fächelten langsam auf und ab. Dann erkannten die Schlangen den Menschen und zogen ihre Zungen ein. Dr. Philips warf seinen Ledermantel ab und zündete in dem kleinen Weißblechofen ein Feuer an. Er stellte einen Topf Wasser auf den Ofen und ins Wasser eine Konservendose mit weißen Bohnen. Dann stand er da und starrte den auf dem Boden liegenden Rucksack an. Dr. Philips war ein etwas weichlicher junger Mann mit den milden, abwesenden Augen eines Menschen, der viel durch ein Mikroskop schaut. Er trug einen kurzen blonden Bart. Die erhitzte Luft wirbelte mit saugendem Geräusch den Kamin hoch und trug eine Wärmequelle vom Ofen her. Die kleinen Wogen umspülten leise die Strebepfeiler unter dem Haus. Auf Stellagen ringsum im Zimmer standen Reihe um Reihe von Konservierungsgläsern, welche die präparierten Seetiere enthielten, mit deren Studium sich das Laboratorium befaßte. Dr. Philips öffnete eine Nebentüre und ging in sein Schlafzimmer, eine mit Büchern eingerahmte Zelle mit einem Feldbett, einer Leselampe und einem unbequemen Holzstuhl. Er zog seine Gummistiefel aus und schlüpfte in ein Paar Lammfellpan144
toffel. Als er in den andern Raum zurückkam, fing das Wasser im Topf bereits zu summen an. Er hob seinen Rucksack auf den Tisch unter dem weißen Licht und holte zwei Dutzend gemeiner Seesterne daraus hervor. Diese legte er nebeneinander in Reihen auf den Tisch. Seine gedankenabwesenden Augen richteten sich auf die weißen Ratten in ihren Drahtkäfigen. Aus einem Papiersack griff er Getreidekörner heraus und schüttete sie in die Futternäpfe. Sofort stürzten die Ratten das Gitter hinunter und fielen über die Nahrung her. Eine Flasche mit Milch stand auf einem Glasbord zwischen einem kleinen präparierten Tintenfisch und einer Qualle. Dr. Philips langte die Milch herunter und ging zu dem Katzenkäfig, aber ehe er die Schüsselchen füllte, griff er in den Käfig hinein und wählte mit sanftem Zugriff eine große gescheckte Straßenkatze. Er streichelte sie einen Augenblick lang, dann setzte er sie in ein enges, schwarz angestrichenes Behältnis, machte den Deckel zu, verschloß ihn und drehte sodann einen Hahn auf, der Gas in die Tötungskammer einströmen ließ. Während der kurze, leise Kampf in dem schwarzen Behältnis vonstatten ging, füllte er die Schüsselchen mit Milch. Eine der Katzen rieb sich, einen Buckel machend, an seiner Hand, und er lächelte und kraulte sie im Nacken. In dem Behältnis war es nun still. Er drehte den Hahn zu, denn der luftdichte Kasten war nun voll Gas. 145
Auf dem Öfen brodelte der Topf mit Wasser wütend um die Büchse Bohnen. Dr. Philips hob die Büchse mit einer großen Zange heraus, öffnete sie und kippte die Bohnen in eine Glasschüssel. Während er aß, betrachtete er die Seesterne auf dem Tisch. Da wo sich die einzelnen Strahlenglieder begegneten, traten kleine Tropfen einer milchigen Flüssigkeit aus. Er verschlang seine Bohnen und als er damit fertig war, stellte er die Schüssel in den Ausguß und ging zum Instrumentenschrank. Ihm entnahm er ein Mikroskop und einen Stoß Glasschüsselchen. Eins nach dem anderen füllte er die Schüsselchen unter einem Wasserhahn mit Seewasser und stellte sie in einer Reihe neben die Seesterne. Er zog seine Uhr heraus und legte sie auf den Tisch unter das strömende weiße Licht. Die Wellen glucksten mit kleinen Seufzern gegen die Strebepfeiler unter dem Fußboden. Er holte eine Pipette aus einem Schubfach und beugte sich über die Seesterne. In diesem Augenblick waren rasche, weiche Schritte auf den Holzstufen und ein starkes Klopfen an der Türe zu hören. Eine kleine Grimasse des Unwillens huschte über das Gesicht des jungen Mannes, als er öffnen ging. Eine große, hagere Frau stand auf dem Vorplatz. Sie hatte ein strenggeschnittenes, dunkles Kleid an; ihr glattes schwarzes Haar, das flach einer niederen Stirn anlag, war zerwühlt, als habe es der Wind verweht. In dem starken Licht glitzerten ihre schwarzen Augen. 146
Sie sagte mit einer leisen, tiefen Stimme: „Darf ich hereinkommen? Ich hätte Sie gerne gesprochen.“ „Ich bin gerade sehr beschäftigt“ entgegnete er unschlüssig. „Ich muß meine Zeiten einhalten.“ Aber er trat zur Seite. Die große Frau huschte herein. „Ich werde still sein, bis Sie mit mir sprechen können.“ Er schloß die Türe und brachte den unbequemen Stuhl aus dem Schlafzimmer. „Sie sehen“, entschuldigte er sich, „das Verfahren ist begonnen und ich muß mich dranhalten“. So viele Leute kamen herein und stellten Fragen. Er hatte sich bereits gewisse Erklärungsformeln zurechtgelegt für die einfacheren Verfahren. „Nehmen Sie hier Platz. In ein paar Minuten werde ich für Sie da sein können.“ Die große Frau beugte sich über den Tisch. Mit der Pipette sammelte der junge Forscher Flüssigkeit von den Stellen zwischen den Strahlengliedern der Seesterne und quirlte sie in ein Gefäß voll Wasser. Dann nahm er von der milchigen Flüssigkeit, zerquirlte sie im gleichen Gefäß und rührte das Wasser sachte mit der Pipette um. Er begann seinen kleinen Erklärungsvortrag. „Wenn Seesterne zeugungsreif sind, sondern sie bei Ebbe Samen und Eier ab. Indem ich reife Exemplare auswähle und sie aus dem Wasser herausnehme, versetze ich sie in dieselben Bedingungen wie bei Ebbe. Ich habe jetzt das Sperma und die Eier vermischt. Nun gieße ich etwas von der Mi147
schung in jedes dieser zehn Beobachtungsgläser In zehn Minuten werde ich den Inhalt des ersten Glases mit Menthol töten, zwanzig Minuten später Gruppe 2 und dann weiter alle zwanzig Minuten Gruppe 3 usw. Dadurch habe ich den Prozeß in seinen Entwicklungsstadien festgehalten und mache mikroskopische Präparate der einzelnen Serien zum biologischen Studium.“ Er ließ eine Pause eintreten. „Würden Sie gerne diese erste Gruppe unter dem Mikroskop betrachten?“ „Danke, nein.“ Er wandte sich ihr rasch zu. Die Leute wollten das sonst immer. Sie blickte überhaupt nicht auf den Tisch, sondern auf ihn. Ihre schwarzen Augen betrachteten ihn, aber sie schienen ihn nicht zu sehen. Er erkannte warum: die Iris war ebenso dunkel wie die Pupille, es gab keinen farbigen Trennungsstrich zwischen den beiden. Dr. Philips war gekränkt über ihre Antwort Wenn ihn das Fragenbeantworten auch langweilte, so ärgerte ihn doch ein Mangel an Interesse für seine Arbeit. Der Wunsch, sie hochzubringen, erwachte in ihm. „Während ich die ersten zehn Minuten warte, habe ich noch etwas anderes zu tun. Manche Menschen sehen es nicht gerne. Vielleicht gehen Sie besser hinaus in dieses Zimmer, bis ich damit fertig bin.“ „Nein“, meinte sie in ihrer ruhigen, trockenen Art. „Tun Sie, was Ihnen beliebt. Ich werde warten, bis Sie für mich Zeit haben.“ Ihre Hände ruhten 148
nebeneinander in ihrem Schoß. Sie war vollkommen entspannt. Ihre Augen glänzten, aber sonst war alles Leben in ihr wie abwartend ausgeschaltet. Er dachte: „Langsame Reaktion, fast ebenso langsam wie bei einem Frosch anscheinend.“ Der Wunsch, sie aus ihrer Unbeteiligtheit herauszureißen, ergriff wieder von ihm Besitz. Er stellte eine kleine hölzerne Wiege auf den Tisch, legte Skalpell und Scheren zurecht und führte eine große hohle Nadel in eine Preßtube ein. Dann holte er aus der Tötungskammer die schlaffe Katze hervor, legte sie in die Wiege und klammerte ihre Beine an beidseitig angebrachten Haken fest. Er schielte seitwärts nach der Frau. Sie hatte keine Bewegung gemacht. Sie blieb ruhig. Die Katze grinste zum Licht empor, ihre rosa Zunge hing zwischen ihren Nadelzähnen heraus. Dr. Philips trennte geschickt die Haut an der Kehle auf; mit einem Skalpell tastete er sich durch und fand eine Schlagader. Mit untadeliger Technik führte er die Nadel in die Röhre ein und band sie mit einer Darmsaite ab. „Einbalsamierungs-Flüssigkeit“, erklärte er. „Später werde ich gelben Farbstoff in das Venensystem und roten Farbstoff in das Arteriensystem einspritzen – zur Blutkreislauf-Darstellung – für die Biologiekurse.“ Wieder blickte er zu ihr hinüber. Ihre dunklen Augen schienen mit Staub verschleiert. Ausdruckslos blickte sie auf die klaffende Kehle der Katze. Nicht ein Tropfen Blut war verschüttet worden. Der 149
Einschnitt war glatt. Dr. Philips sah auf seine Uhr. „Zeit für die erste Gruppe.“ Er schüttete ein paar Mentholkristalle in das erste Beobachtungsglas. Die Frau machte ihn nervös. Die Ratten kletterten wieder auf dem Gitter ihres Käfigs herum und quiekten leise. Die Wellen unter dem Haus leckten mit leisem Pochen an die Strebepfeiler. Der junge Mann fröstelte. Er warf ein paar Stükke Kohlen in den Ofen und setzte sich. „Jetzt“, sagte er. „Ich habe für zwanzig Minuten nichts zu tun.“ Er bemerkte, wie kurz ihr Kinn zwischen Unterlippe und Spitze war. Sie schien langsam zu erwachen, aus einem tiefen Tümpel des Bewußtseins emporzutauchen. Sie hob den Kopf, ihre dunklen, verschleierten Augen blickten sich in dem Raum um und kehrten dann wieder zu Dr. Philips zurück. „Ich habe gewartet“, erklärte sie. Ihre Hände verharrten nebeneinander in ihrem Schoß. „Sie haben Schlangen?“ „Na, natürlich“, sagte er ziemlich laut. „Ich habe an die zwei Dutzend Klapperschlangen. Ich zapfe ihnen das Gift ab und versende es an die Serumlaboratorien.“ Sie fuhr fort, ihn anzusehen, aber ihre Augen richteten sich nicht unmittelbar auf ihn, sie schienen ihn vielmehr einzubeziehen und alles in weitem Kreis rund um ihn herum zu sehen. „Haben Sie ein Schlangenmännchen, ein Klapperschlangenmännchen?“ „Nun, zufällig weiß ich gerade, daß ich eins ha150
be. Ich kam eines Morgens herein und fand eine große Schlange im – Koitus mit einer kleineren. Das ist sehr selten in Gefangenschaft. Sie sehen also, ich weiß, daß ich ein Männchen habe.“ „Wo ist es?“ „Gerade dort in dem Glaskasten beim Fenster.“ Ihr Kopf drehte sich langsam, aber ihre beiden ruhenden Hände bewegten sich nicht. Sie wandte sich wieder ihm zu. „Darf ich es sehen?“ Er stand auf und ging zu dem Glaskasten beim Fenster. Auf dem Sandboden lag verflochten der Knäuel Schlangen, aber ihre Köpfe hoben sich einzeln ab. Die Zungen kamen heraus, flatterten einen Augenblick und züngelten nach oben und unten, um die Luft nach Erschütterungswellen abzutasten. Dr. Philips wandte nervös den Kopf. Die Frau stand neben ihm. Er hatte sie nicht vom Stuhle aufstehen hören. Nur das Plantschen des Wassers zwischen den Strebepfeilern und das Hin- und Herrennen der Ratten am Gitter hatte er gehört. Sie sagte leise: „Welches ist das Männchen, von dem Sie gesprochen haben?“ Er deutete auf eine dicke, staubgraue Schlange, die allein in einer Ecke des Behälters lag. „Die dort. Sie ist fast einen Meter dreißig lang. Sie kommt aus Texas. Unsere Schlangen von der Pazifischen Küste sind gewöhnlich kleiner. Sie hat sich auch alle Ratten geholt. Wenn ich die anderen füttern will, muß ich sie herausnehmen.“ Die Frau blickte hinunter auf den stumpfen, 151
plumpen Kopf. Die gespaltene Zunge schlüpfte heraus und hing einen Augenblick vibrierend in der Luft. „Und Sie sind sicher, daß es ein Männchen ist?“ „Klapperschlangen sind merkwürdig“, erklärte er ausweichend. „Fast jede Geschlechtsbestimmung erweist sich als falsch. Ich behaupte nicht gerne etwas Endgültiges hinsichtlich Klapperschlangen, aber – ja, ich kann Ihnen versichern, daß das ein Männchen ist.“ Ihre Augen ließen nicht ab von dem flachen Kopf. „Wollen Sie es mir verkaufen?“ „Verkaufen?“ rief er. „Es Ihnen verkaufen?“ „Sie verkaufen doch Exemplare, nicht wahr?“ „Ja, doch. Natürlich ja. Natürlich doch.“ „Wieviel? Fünf Dollars? Zehn?“ „Oh, nicht mehr als fünf. Aber – verstehen Sie etwas von Klapperschlangen? Sie könnten gebissen werden.“ Sie sah ihn einen Augenblick lang an. „Ich beabsichtige nicht, die Schlange mitzunehmen. Ich möchte sie hier lassen, aber – ich möchte, daß sie mir gehört. Ich möchte hierherkommen, sie ansehen, sie füttern und wissen, daß sie mein ist.“ Sie machte ein Geldtäschchen auf und zog eine Fünfdollarnote heraus. „Hier! Jetzt gehört sie mir.“ Dr. Philips erschrak. „Sie könnten kommen und sie ansehen, ohne daß sie Ihnen gehört.“ „Ich möchte aber, daß sie mein ist.“ „Himmel!“ rief er aus. „Ich habe ganz auf die 152
Zeit vergessen!“ Er rannte zum Tisch. „Drei Minuten drüber. Es wird nicht viel machen.“ Er schüttelte Mentholkristalle in das zweite Beobachtungsglas. Und dann fühlte er sich wieder hingezogen zu dem Behältnis, wo die Frau noch immer das Schlangenmännchen anstarrte. Sie fragte: „Was frißt es?“ „Ich füttere es mit Ratten aus dem Käfig dort drüben.“ „Würden Sie es in den andern Behälter bringen? Ich möchte es gerne füttern.“ „Aber es braucht nichts zu fressen. Es hat diese Woche schon eine Ratte gehabt. Manchmal nehmen diese Tiere, drei oder, vier Monate lang keine Nahrung zu sich. Ich hatte eine Schlange, die über ein Jahr nichts gefressen hat.“ In ihrem ruhigen Gleichton fragte sie: „Würden Sie mir eine Ratte verkaufen?“ Er zuckte die Achseln. „Ich verstehe. Sie möchten gerne sehen, wie Klapperschlangen fressen. Gut. Ich werde es Ihnen vorführen. Die Ratte kostet 25 Cents. Es ist aufregender als ein Stierkampf, wenn Sie es auf eine Art ansehen, und es ist ganz einfach eine Schlange, die ihre Mahlzeit verspeist, wenn Sie es auf die andere betrachten.“ Sein Ton war eisig geworden. Er haßte Menschen, die ein Schauspiel aus Naturprozessen machten. Er war kein Sportsmann, sondern ein Biologe Um der Wissenschaft willen konnte er tausend Tiere umbringen, aber keine Fliege zum Vergnügen. Er hatte 153
sich das schon früher in seinem Verstand zurechtgelegt. Langsam wandte sie ihm den Kopf zu und der Anfang eines Lächelns formte sich auf ihren dünnen Lippen. „Ich möchte meine Schlange füttern. Ich werde sie in den andern Behälter bringen.“ Sie hatte den Deckel des Terrariums aufgemacht und die Hand hineingesteckt, ehe er begriff, was sie tat. Er stürzte hinzu und riß sie zurück. Der Deckel fiel klirrend zu. „Sind Sie denn ganz von Sinnen?“ fragte er barsch. „Vielleicht hätte sie Sie nicht getötet, aber sie hätte Sie elend krank gemacht trotz allem, was ich für Sie tun könnte.“ „Dann bringen Sie sie in den anderen Behälter“, erwiderte sie ruhig. Dr. Philips war betroffen. Er entdeckte, daß er den dunklen Augen auswich, die nichts anzublikken schienen. Er fühlte, daß es wahrhaft unrecht war, eine Ratte in den Behälter zu stecken, zutiefst sündig. Und er wußte nicht warum. Oft hatte er Ratten in den Behälter gesteckt, wenn der oder jener es hatten sehen wollen; aber heute abend ekelte ihn dieser Wunsch. Er versuchte, sich durch Erklärungen darüber hinwegzusetzen. „Es ist gut, sich das einmal anzusehen“, erklärte er. „Es zeigt Ihnen, wie eine Schlange zu Werke geht. Es bringt einem Achtung vor einer Klapperschlange bei. Andererseits gibt es viele Menschen, die von dem Schrecken einer zustoßenden Schlange träumen. Ich glaube, das geschieht darum, weil 154
sich der Betroffene mit der Ratte personengleich fühlt. Der Mensch wird zur Ratte. Hat man es erst einmal gesehen, so objektiviert sich die ganze Sache: die Ratte ist einfach eine Ratte – und der Schrecken ist überwunden.“ Er holte einen langen, vorne mit einer Lederschlaufe versehenen Stock von der Wand. Indem er den Deckel öffnete, streifte er die Schlaufe über den Kopf der großen Schlange und zog die Schlinge zu. Ein durchdringendes, hörnernes Geklapper erfüllte den Raum. Der dicke Leib wand sich und peitschte um den Handgriff des Stockes, als Philips nun die Schlange heraushob und sie in den Fütterungsbehälter fallen ließ. Eine Zeitlang stand das Tier zum Zustoß bereit, aber das Rasseln hörte langsam auf. Die Schlange kroch in eine Ecke, rollte ihren Leib zu einem großen Achter zusammen und lag still. „Sie sehen“, erklärte der junge Mann, „diese Schlangen sind ganz zahm. Ich habe sie geraume Zeit und glaube, ich könnte sie anfassen, wenn ich wollte. Aber jeder, der mit Klapperschlangen hantiert, wird früher oder später gebissen. Ich will ganz einfach nicht die Gefahr laufen.“ Er schielte nach der Frau. Es widerstrebte ihm, die Ratte hineinzusetzen. Sie war hinübergegangen zu dem neuen Behälter und stand jetzt davor: ihre schwarzen Augen starrten wieder auf den kantigen Kopf der Schlange. Sie sagte: „Tun Sie bitte die Ratte hinein.“ Widerstrebend ging er zu dem Rattenkäfig. Aus irgendeinem Grunde tat ihm die Ratte leid, und ein 155
solches Gefühl hatte er nie vorher gekannt. Seine Augen wanderten über den wimmelnden Haufen weißer Leiber, die am Gitter hochkletterten. ‚Welche?‘ dachte er ‚Welche soll es sein?‘ Plötzlich wandte er sich ärgerlich der Frau zu. „Möchten Sie nicht vielleicht lieber eine Katze hineinstecken? Dann würden Sie einen richtigen Kampf sehen. Die Katze könnte vielleicht sogar siegen, aber in diesem Fall möglicherweise die Schlange töten. Ich verkaufe Ihnen eine Katze, wenn Sie wollen.“ Ohne nach ihm hinzusehen, sagte sie: „Tun Sie bitte eine Ratte hinein. Ich möchte sehen, wie mein Männchen sie frißt.“ Er öffnete den Rattenkäfig und griff hinein. Seine tastende Hand bekam einen Schwanz zu fassen und er hob eine dicke, rotäugige Ratte aus dem Käfig heraus. Sie schnellte sich herum und versuchte ihn in die Finger zu beißen, als ihr das aber nicht gelang, hing sie langgestreckt und reglos am Schwanz herab. Er ging rasch durchs Zimmer, öffnete den Fütterungsbehälter und ließ die Ratte auf den Sandboden hinunterfallen. „Jetzt geben Sie acht!“ rief er. Die Frau gab ihm keine Antwort. Ihre Augen verweilten bei der ruhig daliegenden Schlange, deren rasch ein- und auszüngelnde Zunge die Luft im Behälter abtastete. Die Ratte landete auf ihren Füßen, drehte sich und beschnupperte ihren rosa nackten Schwanz. Dann trottete sie unbekümmert, beim Gehen wit156
ternd, über den Sand. Im Zimmer war es still. Dr. Philips wußte nicht, ob es das Wasser zwischen den Pfeilern oder die Frau war, was seufzte. Aus dem Augenwinkel sah er ihren Leib sich vorbeugen und dann sich aufrichten. Die Schlange entringelte sich langsam, leise. Die Zunge flackerte ein und aus. Ihre Bewegung erfolgte so gradweise, so gleitend, das es überhaupt keine Bewegung zu sein schien. Am anderen Ende des Käfigs richtete sich die Ratte zu sitzender Stellung auf und begann den feinen Haarflaum ihrer Brust herunterzulecken. Die Schlange glitt weiter, immer eine gespannte S-Kurve ihres Nackens beibehaltend. Die Stille zehrte an dem jungen Mann, der fühlte, wie ihm das Blut heiß zum Herzen drang. Er sagte laut: „Sehen Sie! Sie hält den Bogen zum Abschuß gespannt. Klapperschlangen sind vorsichtige, nahezu feige Tiere. Ihr Mechanismus ist so zerbrechlich. Die Mahlzeit der Schlange muß durch eine Operation erworben werden, die ebenso schwierig ist wie die Aufgabe eines Chirurgen. Sie geht kein Risiko ein hinsichtlich ihrer Instrumente.“ Die Schlange war jetzt bis zur Mitte des Behälters gerieselt. Die Ratte blickte hoch, sah die Schlange und fuhr dann unbesorgt fort, ihre Brust zu lecken. „Es ist das herrlichste auf der Welt“, sagte der junge Mann. Seine Pulse hämmerten. „Es ist das schaurigste, von der Welt.“ 157
Die Schlange war jetzt dicht herangekommen. Ihr Kopf hob sich ein paar Zentimeter vom Boden. Er wiegte sich langsam vor und zurück, zielte, schätzte die Entfernung, zielte. Dr. Philips schielte erneut nach der Frau. Ihm wurde übel. Auch sie wiegte sich, nicht stark, nur eben andeutungsweise. Die Ratte blickte auf und sah die Schlange. Sie ließ sich auf ihre vier Beine fallen und richtete sich wieder auf – und dann erfolgte der Zustoß. Es war unmöglich, etwas zu sehen; es war ganz einfach ein Blitz. Die Ratte schüttelte sich, wie nach einem unsichtbaren Schlag. Die Schlange kroch rasch in die Ecke zurück, aus der sie gekommen war, und rollte sich dort zusammen, während ihre Zunge in dauernder Bewegung blieb. „Vollendet schön!“ rief Dr. Philips aus. „Genau zwischen den Schulterblättern. Die Giftzähne müssen fast ins Herz gedrungen sein.“ Die Ratte stand still, wie ein kleiner, weißer Blasebalg atmend. Plötzlich schnellte sie in die Luft hoch und fiel zur Seite. Ihre Beine schlugen eine Sekunde lang krampfhaft aus und sie war tot. Die Frau entspannte sich, entspannte sich schläfrig. „Nun“, sagte der junge Mann, „es war eine aufregende Szene, was?“ Sie wandte ihm ihre verschleierten Augen zu. „Wird sie sie jetzt verschlingen?“ fragte sie. „Natürlich wird sie gefressen. Die Schlange hat sie nicht zum Vergnügen umgebracht. Sie hat sie umgebracht, weil sie hungrig war.“ 158
Die Mundwinkel der Frau bogen sich wieder etwas nach oben. Sie blickte zurück auf die Schlange. „Ich möchte sehen, wie sie sie verschlingt.“ Jetzt kam die Schlange wieder aus ihrem Winkel hervor. Ihr Nacken war jetzt kein gespannter Bogen mehr, sondern sie näherte sich der Ratte behutsam, bereit, zurückzufahren, im Falle diese angreifen sollte. Sie stieß den leblosen Körper leise mit ihrer stumpfen Nase an und wich zurück. Beruhigt, daß er tot war, tastete die Schlange den Körper überall mit ihrem Kinn ab, vom Kopf bis zum Schwanz. Sie schien den Körper abzumessen und ihn zu küssen. Schließlich klappte sie ihr Maul auf und hängte ihre Kiefer aus den Scharnieren. Dr. Philips wandte seinen ganzen Willen auf, damit sein Kopf sich nicht wieder der Frau zuwendete. Er dachte: wenn sie den Mund auftut, wird mir schlecht. Ich werde Angst bekommen. Es gelang ihm, seine Augen fernzuhalten. Die Schlange schob ihre Kinnbacken über den Kopf der Ratte und dann, mit wurmartigen, hämmernden Stoßbewegungen, begann sie die Ratte zu verzehren. Die Kinnbacken faßten zu, der ganze Schlund kroch nach und erneut faßten die Kinnbacken zu. Dr. Philips wandte sich weg und ging zu seinem Arbeitstisch. „Sie haben mich eine der Gruppen vergessen lassen“, bemerkte er bitter. „Die Darstellungsfolge wird nicht vollständig sein.“ Er schob eines der Beobachtungsgläser unter ein schwach vergrößerndes Mikroskop und betrachtete 159
es. Hierauf goß er den Inhalt sämtlicher Glasschüsselchen in den Ausguß. Die Flut war gefallen, so daß nur ein nasses Gewispere durch den Fußboden heraufdrang. Der junge Mann klappte eine Falltüre zu seinen Füßen hoch und kippte die Seesterne in das schwarze Wasser. Dann blieb er bei der Katze stehen, die, auf das Schaukelbrett gekreuzigt, komisch ins Licht grinste. Ihr Körper war aufgepumpt mit Konservierungsflüssigkeit. Er stellte den Druck ab, zog die Nadel heraus und band die Vene ab. „Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“ fragte er. „Nein, danke. Ich werde gleich gehen.“ Er kam auf sie zu, während sie vor dem Behälter mit der Schlange stand. Die Ratte war hinuntergewürgt, alles, bis auf ein Endchen von dem rosa Schwanz, das wie eine sardonische Zunge aus dem Maul der Schlange hing. Der Schlund machte noch einmal eine Schluckbewegung und der Schwanz verschwand. Die Kinnbacken sprangen in ihre Scharniere zurück und die große Schlange kroch vollgefressen in die Ecke, ringelte einen großen Achter und legte den Kopf auf den Sand. „Sie schläft jetzt“, bemerkte die Frau. „Jetzt gehe ich. Aber ich werde wiederkommen und dann und wann meine Schlange füttern. Ich zahle für die Ratten. Ich möchte, daß sie reichlich davon bekommt. Und manchmal werde ich sie mitnehmen.“ Ihre Augen kamen einen Augenblick aus ihrem staubverschleierten Traum hervor. „Vergessen Sie 160
nicht, sie gehört mir. Nehmen Sie ihr das Gift nicht weg. Ich möchte, daß sie es behält. Gute Nacht.“ Sie ging rasch zur Türe und hinaus. Er hörte ihre Schritte auf den Stufen, aber er konnte sie nicht auf dem Pflaster davongehen hören. Dr. Philips rückte einen Stuhl zurecht und setzte sich vor den Schlangenbehälter. Er versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, während er die träge Schlange betrachtete. ‚Ich habe soviel von psychologischen Geschlechtssymbolen gelesen‘, dachte er bei sich. ‚Das scheint mir die Sache nicht zu erklären. Mag sein, ich bin zuviel allein. Wenn ich wüßte – nein, ich kann zu nichts beten.‘ Wochenlang wartete er darauf, daß sie wiederkommen würde. ‚Ich werde hinausgehen und sie allein lassen, wenn sie kommt‘, beschloß er. ‚Ich will die verflixte Geschichte nicht noch einmal mitansehen.‘ Sie kam nie wieder. Monatelang sah er nach ihr aus, wenn er in der Stadt herumging. Mehrere Male rannte er hinter einer großen Frau her in der Meinung, es könnte sie sein. Aber er sah sie nie wieder. Nie.
DANACH
Die hochgehende Brandung der Erregung, das Gedränge und Geschrei der Leute im Stadtpark wichen allmählich der Stille. Eine Menschenansammlung stand noch unter den Ulmen, undeutlich von einem, zwei Häuserblocks entfernten blauen Straßenlicht beleuchtet. Eine müde Ruhe senkte sich auf die Menschen herab. Einige Gestalten aus dem Pöbelhaufen begannen in die Dunkelheit davonzuschleichen. Der Parkrasen wurde von den Füßen der Menge zertrampelt. Mike wußte, alles war vorbei. Er konnte die Entspannung in sich selber fühlen. Er war so sehr erschöpft, als hätte er mehrere Nächte ohne Schlaf verbracht; aber es war eine traumhafte Erschöpfung, eine graue, angenehme Erschöpfung. Er zog den Mützenschild über die Augen und ging fort. Ehe er aber den Park verließ, drehte er sich zu einem letzten Blick um. In der Mitte der Menge hatte jemand eine zusammengedrehte Zeitung angezündet, die er in die Höhe hielt. Mike konnte sehen, wie sich die Flamme um die Füße des grauen, nackten Körpers kräuselte, der von der Ulme herunterhing. Es schien ihm seltsam, daß Neger sich, wenn sie tot sind, zu einem bläulichen Grau verfärben. Die brennende Zeitung beleuchtete die Köpfe 162
der Emporblickenden, stummer und gebannter Männer. Sie ließen den Blick nicht von dem Gehängten. Mike fühlte eine leise Entrüstung gegen den Jemand, der den Leichnam zu verbrennen versuchte. Er wandte sich an einen Mann, der neben ihm im Halbdunkel stand. „Das hat doch keinen Zweck!“ sagte er. Der Mann rückte, ohne etwas zu erwidern, ab. Die Zeitungsfackel erlosch und ließ den Park um so schwärzer erscheinen. Aber sofort wurde ein neues zusammengedrehtes Papier angezündet und gegen die Füße emporgehalten. Mike trat an einen andern beobachtenden Mann heran. „Das hat doch keinen Zweck!“ wiederholte er. „Er ist doch jetzt tot. Das kann ihm nicht mehr wehtun.“ Der zweite Mann brummte etwas, blickte aber nicht weg von dem flackernden Papier. „Ist ganz recht so“, sagte er. „Das wird dem Land einen Haufen Geld ersparen, und kein dreckiger Anwalt mischt sich hinein.“ „Ganz was ich sage“, pflichtete Mike bei. „Kein dreckiger Anwalt. Aber es hat keinen Zweck, ihn verbrennen zu wollen.“ Der Mann fuhr fort, nach der Flamme hinzustarren. „Nun, es kann auch nicht groß schaden.“ Mike saugte mit den Augen den Anblick der Szene auf. Er konnte nicht genug davon kriegen. Hier war etwas, an das er sich später würde erinnern wollen, so daß er davon erzählen konnte. Aber die seltsame Müdigkeit schien der Schärfe des Bildes Abbruch zu tun. Sein Verstand sagte ihm, hier 163
spiele sich eine schreckliche und wichtige Sache ab, aber seine Augen und seine Gefühle pflichteten dem nicht bei. Es war ganz einfach gemein. Eine halbe Stunde zuvor, als er mit dem Pöbel gegrölt und um eine Möglichkeit gekämpft hatte, beim Hochziehen des Strickes zu helfen, war seine Brust so erfüllt gewesen, daß er sich beim Weinen ertappt hatte. Aber nun war alles tot, alles unwirklich; die dunkle Volksmenge bestand aus steifen Marionetten. In dem Flammenlicht waren die Gesichter so ausdruckslos wie aus Holz. Mike fühlte die Steifheit, die Unwirklichkeit auch in sich selbst. Endlich wandte er sich ab und ging hinaus aus dem Park. Ein leiser Schmerz begann sich in Mikes Brust zu regen. Er tastete sich mit den Fingern ab; die Muskeln taten weh. Dann erinnerte er sich. Er hatte sich in der vorderen Reihe der Menge befunden, als diese das geschlossene Gefängnistor stürmte. Eine vierzig Mann starke Welle hatte Mike gegen das Tor geworfen wie einen Rammblock. Er hatte es in jenem Augenblick kaum gespürt, und sogar jetzt schien der Schmerz die stumpfe Eigenschaft der Einsamkeit zu haben. Zwei Häuserblocks weiter überhing das leuchtende Neonlichtwort AUSSCHANK den Gehsteig. Mike eilte darauf zu. Er hoffte dort Menschen zu finden, reden zu können, diese Stille abzutun. Und er hoffte, die Männer dort würden nicht dabei gewesen sein. Der Barmann stand allein in dem kleinen Barraum, ein unscheinbarer Mann mittleren 164
Alters, mit einem melancholischen Schnurrbart und dem Ausdruck einer alten Maus, klug aussehend, ungekämmt und auf seiner Hut. Er grüßte mit einem kurzen Kopfnicken, als Mike eintrat. „Sie sehen aus, als wären Sie im Schlaf gewandelt“, sagte er. Mike sah ihn erstaunt an. „Ganz so fühle ich mich auch: als wäre ich im Schlaf gewandelt!“ „Nun, ich kann Ihnen was zum Aufwachen geben, wenn Sie wollen.“ Mike erwog. „Nein … ich bin irgendwie durstig. Ich nehme ein Bier … Waren Sie dort?“ Der kleine Mann nickte wieder mit seinem mausähnlichen Kopf: „Ganz zum Schluß, wie er schon droben und alles vorbei war. Ich dachte mir, ein Haufen von den Kerls würde durstig sein, also ging ich zurück und sperrte hier auf. Niemand außer Ihnen bis jetzt, vielleicht hatte ich unrecht.“ „Sie kommen vielleicht später“, meinte Mike. „Eine Menge von ihnen steht noch im Park herum. Freilich, es braucht ’ne Weile, bis sich die Gemüter so langsam beruhigen. Einige versuchten ihn mit Zeitungen zu verbrennen. Das hat doch keinen Zweck.“ „Gar keinen Zweck“, gab ihm der kleine Barmann recht. Er beugte sich mit funkelnden Augen dicht zu ihm über den Schanktisch: „Waren Sie die ganze Zeit dabei – – – zum Gefängnis und alles das?“ Mike trank noch einmal, schaute dann durch sein Bier und beobachtete die vom Boden seines Glases aufsteigenden Bläschen. „Alles“, sagte er. „Ich war einer der ersten im Gefängnis, und ich half den 165
Strick hochziehen. Es gibt Fälle, in denen die Bürger das Gesetz selbst in die Hand nehmen müssen. Ein dreckiger Rechtsanwalt kommt sonst daher und läßt einen Schurken durchschlüpfen.“ Der Mauskopf wackelte auf und ab. „Da haben Sie verdammt recht“, sagte er. „Die Rechtsanwälte bringen sie einfach aus allem heraus. Ich vermute, der Nigger war richtig schuldig.“ „O bestimmt! Jemand sagte, er habe sogar gestanden.“ Der Kopf beugte sich wieder über die Bar. „Wie fing es an, Mister? Ich kam erst hin, als alles vorbei war, und dann blieb ich nur eine Minute und kam dann zurück, um aufzumachen für den Fall, daß einer von den Kerls ein Glas Bier würde haben wollen.“ Mike leerte sein Glas und schob es zum Neufüllen hin. „Na, natürlich wußte jeder, daß es so kommen würde. Ich saß in einer Bar gegenüber dem Gefängnis, War den ganzen Nachmittag dort gewesen. Ein Kerl kam herein und sagte: ‚Worauf warten wir noch?‘ Also gingen wir über die Straße, und ein Haufen Männer stand dort, und ein weiterer gesellte sich dazu. Wir standen alle da und brüllten. Dann kam der Richter heraus und hielt eine Ansprache, aber wir schrien ihn nieder. Ein Kerl mit einer Jagdflinte ging die Straße entlang und schoß die Straßenlampen aus. Schön. Dann berannten wir die Gefängnistore und sprengten sie auf. Der Richter unternahm nichts. Möchte es ihm auch nicht raten, einen Haufen ehrenhafter Männer zu erschießen, um einen Schuft von Nigger zu retten.“ 166
„Also, der Richter begann zu schreien: ‚Erwischt den richtigen Mann, Jungens, um Himmels willen, greift den richtigen Mann! Er ist in der vierten unteren Zelle.‘ Es war irgendwie mitleiderregend“, sagte Mike langsam. „Die anderen Gefangenen waren derart erschrocken. Wir konnten sie durch die Gitter sehen. Ich habe noch nie solche Gesichter gesehen. Nun, wir gingen also zu der Zelle des Niggers. Er stand stocksteif da, mit geschlossenen Augen, so als wäre er schwer betrunken. Einer von den Kerls legte ihn um, und er stand wieder auf. Dann versetzte ihm ein anderer einen Hieb, und er überschlug sich und knallte mit dem Schädel auf den Zementfußboden.“ Mike lehnte sich über die Bar und tippte mit seinem Zeigefinger auf das polierte Holz. „Natürlich ist das nur meine Vorstellung, aber ich glaube, das hat ihn umgebracht. Denn ich half mit, ihm die Kleider auszuziehen, und er rührte sich kein einziges Mal, und als wir ihn aufknüpften, schlegelte er auch nicht. Nein, Mister. Ich glaube, er war die ganze Zeit schon tot, nachdem ihn dieser zweite Kerl niedergeschlagen hatte.“ „Nun, schließlich ist’s ganz gleich.“ „Nein, das ist es nicht. Man macht die Sache gern richtig. Er hat es verdient und hätte es auch spüren sollen.“ Mike griff in seine Hosentasche und zog einen Fetzen zerrissenen blauen Baumwollstoff heraus. „Das ist ein Stück von den Hosen, die er anhatte.“ 167
Der Barmann beugte sich nahe darüber und untersuchte den Stoff. Mike zugewandt, warf er den Kopf in den Nacken. „Ich gebe Ihnen einen Silberdollar dafür.“ „Was Sie nicht sagen! Nein, nein.“ „Gut, ich gebe Ihnen zwei Dollar für die Hälfte davon.“ Mike sah ihn mißtrauisch an. „Wozu wollen Sie es?“ „Hier! Geben Sie mir Ihr Glas her! Trinken Sie ein Bier auf meine Rechnung. Ich will den Fetzen an die Wand nageln, mit einem kleinen Zettel darunter. Die Gäste, die hereinkommen, werden sich’s gerne ansehen.“ Mike säbelte den Stoffetzen mit einem Taschenmesser in zwei Hälften und nahm von dem Barmann zwei silberne. Dollars in Empfang. „Ich kenne einen Reklameschriftenmaler“, sagte der kleine Mann. „Kommt jeden Tag herein. Von ihm lasse ich mir ein nettes Kärtchen zurechtmachen, um es darunter anzubringen.“ Er machte ein nachdenkliches Gesicht. „Glauben Sie, daß der Richter jemanden festnehmen wird?“ „Natürlich nicht. Wozu sollte er Radau anfangen wollen. Es waren eine Menge Wähler unter diesen Leuten heute abend. Sobald sie alle weg sind, wird der Richter kommen, den Neger abschneiden und alles ordnen.“ Der Barmann blickte zur Türe hin. „Ich glaube, ich täuschte mich bezüglich der Kerls. Dachte, sie würden etwas trinken wollen. Es ist schon spät.“ „Ich denke, ich gehe heim. Ich bin müde.“ „Wenn Sie in Richtung nach Süden gehen, möch168
te ich mich anschließen und gehe ein Stückchen mit Ihnen. Ich wohne Süd-Acht.“ „Was, das ist ja nur zwei Blocks von meinem Haus! Ich wohne Süd-Sechs. Sie müssen gerade an meinem Haus vorbei. Komisch, daß ich Sie noch nie gesehen habe.“ Der Barmann wusch Mikes Glas aus und nahm die lange Schürze ab. Er zog Hut und Jacke an, ging zur Tür und knipste das rote Neonlicht und die Glühbirnen am Eingang aus. Einen Augenblick standen die beiden Männer auf dem Gehsteig und blickten zurück nach dem Park. „Sehen Sie?“ sagte Mike. „Ganz, als sei nichts geschehen.“ Sie schlenderten die leere Straße entlang und wandten sich südwärts, hinaus aus dem Geschäftsviertel. „Ich heiße Welch“, sagte der Barmann. „Ich bin erst seit rund zwei Jahren in dieser Stadt.“ Das Einsamkeitsgefühl hatte Mike wieder befallen. „Es ist seltsam …“, sagte er; und dann: „Ich bin hier in dieser Stadt geboren, im gleichen Haus, in dem ich jetzt wohne. Ich habe eine Frau, aber keine Kinder. Beide sind wir in dieser Stadt hier geboren. Jedermann kennt uns.“ Sie gingen ein paar Häuserblocks weiter. Die Läden blieben zurück, und hübsche Häuser mit büschebestandenen Gärten und geschorenem Rasen rahmten die Straße ein. Die hohen, schattenspendenden Bäume warfen infolge der Straßenlichter ihren Schatten auf das Pflaster. Welch sagte leise: „Ich möchte gern wissen, was für eine Art Mensch 169
er war – der Nigger, mein’ ich.“ Mike antwortete aus seiner Einsamkeit heraus: „Die Zeitungen sagten alle, er sei ein Schurke gewesen. Ich lese immer die Zeitungen. Sie sagten das alle.“ „Ja, ich lese sie auch. Aber eben dadurch denkt man über ihn nach. Ich habe sehr nette Nigger gekannt.“ Mike wandte ihm den Blick zu und sagte abwehrend: „Nun, ich habe selbst ein paar verflixt feine Nigger gekannt. Ich habe neben ein paar Niggern gearbeitet, und sie waren so nett wie nur irgendein weißer Mann, dem man begegnen möchte. Aber nicht, daß es keine Schurken darunter gäbe.“ Welch rückte beim Gehen dicht heran. „Hübsche Gärten hier. Muß einen Haufen Geld kosten, sie instand zu halten.“ Er drängte sich noch näher heran, so daß seine Schulter Mikes Arm berührte. „Ich war noch nie bei so einer Sache dabei. Was für ein Gefühl hat man – – – danach?“ Mike wich der Berührung aus. „Man fühlt überhaupt nichts.“ Er senkte den Kopf und beschleunigte den Schritt. Der kleine Barmann mußte fast laufen, um nachzukommen. Mike stieß hervor: „Man fühlt sich irgendwie zerschlagen und kaputt. Aber auch befriedigt. Als habe man gute Arbeit geleistet – – – aber müde und in gewisser Weise schläfrig.“ Er verlangsamte seinen Schritt. „Sehen Sie, dort brennt ein Licht in der Küche. Dort wohne ich. Meine Alte wartet auf mich.“ Er blieb vor seinem kleinen Haus stehen. Welch stand unruhig neben ihm. „Kommen Sie in 170
meine Budike, wenn Sie ein Glas Bier trinken wollen, oder einen Schnaps. Offen bis Mitternacht. Ich bediene meine Freunde gut.“ Er huschte davon wie eine alte Maus. Mike rief ihm nach: „Gute Nacht!“ Er ging seitlich um sein Haus herum und trat durch die Hintertüre ein. Seine magere, verdrießliche Frau saß beim geöffneten Gasofen und wärmte sich. Sie wandte Mike, der im Türrahmen stand, anklagende Blicke zu. Dann wurden ihre Augen groß und hingen an seinem Gesicht: „Du warst bei einer Frau!“ sagte sie heiser. „Mit welcher Frau warst du zusammen?“ Mike lachte. „Du hältst dich für verteufelt schlau, was? Du bist eine ganz Schlaue, nicht wahr? Was läßt dich glauben, ich sei mit einer Frau zusammen gewesen?“ Sie erwiderte heftig: „Glaubst du denn, ich könnte nicht nach deinem Gesichtsausdruck sagen, daß du bei einer Frau warst?“ „Schön“, sagte Mike, „wenn du so schlau bist und alles weißt, erzähl’ ich dir nichts. Du kannst ruhig auf die Morgenzeitung warten.“ Er sah Zweifel in die unbefriedigten Augen kommen. „War es der Nigger?“ fragte sie. „Haben sie den Nigger herausgeholt? Alle sagten, sie würden es tun.“ „Finde es nur selbst heraus, wenn du so schlau bist. Ich sag’ dir gar nichts.“ Er ging durch die Küche ins Badezimmer. Ein kleiner Spiegel hing an der Wand. Mike nahm seine Mütze ab und betrach171
tete sein Gesicht. „Wahrhaftig, sie hat recht!“ dachte er, „gerade so ist mir zumute.“
DER MORD
Dies ereignete sich vor einigen Jahren im Bezirk von Monterey in Mittelkalifornien. Der Canyon del Castillo ist eines der vielen Täler in der zerklüfteten Bergkette von Santa Lucia. Von dem Hauptcanyon erstreckt sich eine Reihe kleiner Nebentäler in die Berge hinein, die mit Eichen, Giftbäumen und Salbei bewachsen sind. Der Canyon wird durch ein gewaltiges Steinschloß abgeriegelt. Erst wenn man nahe an das Schloß herankommt, sieht man, daß die Arbeit von Zeit und Wasser es durch einen seltsamen Zufall aus dem weichen, schichtenförmig gelagerten Sandstein geschaffen hat. Auf dem fast ebenen Talboden stehen das alte Farmhaus, eine verwitterte, moosbewachsene Scheune und ein halb eingefallener Viehstall. Das Haus ist verlassen. Die Türen schlagen des Nachts kreischend in ihren verrosteten Angeln hin und her, wenn der Wind von dem Schloß herunterpfeift. Nur wenige Leute besuchen das Haus. Manchmal poltert eine Schar Jungen durch die leeren Räume. Sie machen einen solchen Lärm, weil sie sich vor den Gespenstern fürchten, an die sie doch nicht glauben. Jim Moore, dem das Land gehört, sieht nicht gern Leute da oben. Er reitet dann von seinem neuen Haus, das tiefer im Tal liegt, herauf und ver173
jagt die Jungen. Er hat an seinen Grundstücken überall Tafeln mit der Aufschrift „Betreten verboten!“ angebracht, um neugierige und nach krankhaften Erregungen lüsterne Menschen fernzuhalten. Manchmal möchte er das alte Haus niederbrennen, aber dann fühlt er plötzlich eine sonderbare und mächtige Beziehung zu den schwingenden Türen, den blinden Fensterhöhlen, und er nimmt von seinem Vorhaben Abstand. Wenn er das Haus in Flammen aufgehen ließe, so würde er ein großes und wichtiges Stück seines Lebens zerstören. Er weiß, daß, wenn er mit seiner rundlichen und immer noch hübschen Frau in die Stadt geht, sich die Leute mit einer fast an Bewunderung grenzenden Scheu nach ihm umdrehen. Jim Moore war in dem alten Hause geboren und aufgewachsen. Seine Eltern waren bereits tot, als er sein dreißigstes Lebensjahr erreichte. Er feierte seine Großjährigkeit, indem er sich einen Bart stehen ließ. Er verkaufte die Schweine und beschloß, sich nie mehr welche anzuschaffen. Schließlich kaufte er einen vorzüglichen Guernseybullen, um seinen Viehbestand zu verbessern. Am Samstagabend ging er gewöhnlich nach Monterey, scherzte mit den Mädchen in den „Drei Sternen“ und betrank sich. Es verging kein Jahr und Jim heiratete Jelka Sepic, ein serbisches Mädchen. Er war nicht gerade stolz auf ihre Herkunft, auf ihre vielen Geschwister und Vettern, aber sie war bildschön. Sie hatte Au174
gen, so groß und fragend wie die eines Rehes. Ihre Nase war fein geschnitten, und ihre Lippen voll und weich. Nicht genug konnte Jim über ihre Haut staunen, denn von einer Nacht zur andern vergaß er, wie schön sie war. Jelka war so sanft, ruhig und fügsam, eine so gute Haushälterin, daß Jim nur mit Empörung an den Rat denken konnte, den ihm ihr Vater am Hochzeitstage gegeben hatte. Der Alte stieß Jim mit dem Ellenbogen in die Rippen und grinste dabei vielsagend, so daß seine kleinen, schwarzen Augen fast hinter den dicken, faltigen Lidern verschwanden. „Sei gescheit“, sagte er. „Jelka ist ein slavisches Mädchen, keine Amerikanerin. Gerät sie auf Abwege, so verprügle sie. Ist sie zu lange brav, so verprügle sie ebenfalls. Meine Mama bekam Prügel, ihre Mama auch. Ein slavisches Mädchen vergißt das nicht. Das ist kein rechter Mann, der seine Frau nicht verdrischt.“ „Ich würde Jelka nie schlagen“, sagte Jim. Der Vater stieß ihn wieder kichernd in die Rippen. „Sei gescheit“, warnte er. „Einmal wirst du’s schon sehen.“ Jim entdeckte bald genug, daß Jelka keine Amerikanerin war. Sie war sehr still, sprach niemals zuerst, sondern antwortete, nur ganz kurz und sanft auf seine Fragen. Sie lernte ihren Mann auswendig, wie sie Bibelstellen lernte. Als sie erst kurze Zeit verheiratet waren, brauchte Jim nach keinem Gegenstand, den er gerade haben wollte, mehr zu fragen, sie hatte ihn schon zur Hand, bevor er den 175
Mund auftat. Sie war eine vortreffliche Frau, aber keine Kameradin. Sie unterhielt sich nicht mit ihm. Ihre großen Augen folgten ihm, und wenn er lächelte, lächelte sie manchmal auch, aber es war ein fremdes und zurückhaltendes Lächeln. Endlos strickte, flickte und nähte sie. Manchmal tätschelte Jim ihr Kopf und Hals, wie er das etwa bei einem Pferde tat, so sehr glich sie einem Tier. Er bemerkte bald, daß er ihr auf keine Weise nahekommen konnte. Wenn sie ein Leben für sich führte, so war es so fern, daß er es nicht erreichen konnte. Die Schranke in ihren Augen konnte man nicht wegräumen, denn sie war weder aus Feindschaft noch mit Absicht da. Nachts streichelte er ihr glattes, schwarzes Haar und ihre unwahrscheinlich herrlichen Schultern, die wie poliert waren. Dann schnurrte sie ein wenig vor Wonne. Aber gleich wurde sie wieder die sorgende und peinlich aufmerksame Hausfrau. „Warum sprichst du nicht mit mir?“ fragte er sie. „Magst du dich nicht mit mir unterhalten?“ „Doch, aber du mußt mir sagen, was ich sagen soll.“ Sie sprach zwar dieselbe Sprache wie er, aber aus einem Geist, der seiner Rasse fremd war. Nach einem Jahr begann Jim, sich nach der Gesellschaft von Frauen zu sehnen, nach leichter Plauderei über belanglose Dinge, nach Scherzen, die an Beleidigungen grenzen und doch nur ein schrilles Lachen auslösen, nach gemeinen Redensarten. Er fing wieder an, in die Stadt zu gehen und 176
mit den lärmenden Mädchen in den „Drei Sternen“ zu trinken und zu spielen. Man konnte ihn dort gut leiden, weil er, trotz seines strengen und ernsten Gesichtes, so gern lachte. An Sonntagnachmittagen sattelte er ein Pferd und steckte sein Gewehr ins Futteral für den Fall, daß er ein Reh sehen sollte. Immer fragte er sie dann: „Bleibst du denn gern daheim?“ „Ja, sehr gern.“ Einmal fragte er: „Wenn nun jemand käme?“ Ihre Augen blitzten einen Augenblick auf, dann lächelte sie. „Ich würde ihn wegschicken.“ „Ich werde morgen mittag zurück sein. Es ist zu weit, um noch in der Nacht heimzureiten.“ Er fühlte, daß sie wußte, wohin er ging, aber sie erhob niemals einen Einwand dagegen, noch gab sie ein Zeichen der Mißbilligung. „Es wäre gut, wenn du ein Kind bekämest“, sagte er. Ihr Gesicht hellte sich auf. „Vielleicht wird mir Gott eines Tages die Gnade erzeigen“, sagte sie voll Eifer. Es tat ihm leid, daß sie so allein war. Wenn sie nur mit den anderen Frauen im Tal verkehren würde, dann hätte sie Gesellschaft gehabt, aber sie zeigte weder Lust noch Begabung dazu. Etwa einmal im Monat spannte sie die Pferde ein und verbrachte einen Nachmittag bei ihrer Mutter und dem Rudel Brüder, Schwestern, Vettern und Basen, die im Hause ihres Vaters wohnten. „Da wirst du dich endlich mal gut unterhalten“, sagte Jim zu ihr. „Den ganzen Nachmittag werdet ihr wie Enten eu177
re verrückte Sprache schnattern. Du wirst mit deinem großen Vetter kichern, der immer ein so verlegenes Gesicht macht. Wenn ich was an dir auszusetzen hätte, würde ich dich eine vermaledeite Ausländerin nennen.“ Er dachte daran, wie sie das Brot mit dem Zeichen des Kreuzes segnete, bevor sie es in den Backofen schob, wie sie jeden Abend kniend betete und daß sie im Zimmer ein Heiligenbild aufgehängt hatte. An einem heißen, staubigen Samstag im Juni hatte Jim bis sechs Uhr abends Hafer geschnitten. Als er in die Küche kam, stellte Jelka gerade sein Essen auf den Tisch. „Ich bin todmüde“, sagte er, „aber ich werde doch noch heute abend nach Monterey reiten. Es ist Vollmond.“ In ihren sanften Augen stand ein Lächeln. „Ich will dir was sagen, Jelka, wenn du Lust hättest, würde ich den Wagen anspannen und dich mitnehmen.“ Sie lächelte wieder und schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte lieber hierbleiben. Die Läden sind ja doch schon geschlossen, wenn wir hinkommen.“ „Nun gut, so werde ich reiten. Du willst also wirklich nicht mitkommen?“ „Wenn es früh genug wäre und die Läden noch offen wären – aber so, es wird zehn sein, bis wir hinkommen.“ „Nein, wenn ich reite, bin ich um Viertel nach neun dort.“ Es war fast dunkel, als er mit dem Ra178
sieren fertig war. Er hatte seinen dunkelblauen Anzug und seine neuen Schaftstiefel angezogen. Jelka hatte das Geschirr gespült und weggeräumt. Als Jim durch die Küche ging, sah er, daß sie die Lampe auf den Tisch in der Nähe des Fensters gestellt hatte und daß sie dort saß und einen braunwollenen Socken strickte. „Warum sitzest du heute dort?“ fragte er. „Du sitzest doch sonst immer hier. Manchmal hast du schon ein seltsames Gebaren.“ Ihre Augen erhoben sich langsam von ihren flinken Händen. „Du sagtest, es sei heute Vollmond. Ich möchte ihn aufgehen sehen.“ „Du bist nicht recht gescheit. Von dem Fenster da kannst du ihn ja gar nicht sehen. Ich dachte, du würdest dich wenigstens in der Himmelsrichtung auskennen.“ Ein merkwürdiges Lächeln flog über ihr Gesicht. „Dann will ich aus dem Schlafzimmerfenster schauen.“ Jim ging hinaus und fing auf der Koppel ein Pferd ein und sattelte es. Über den Bergen im Osten lag eine Strahlenkrone weichen, rötlichen Lichts. Der Vollmond würde aufgehen, bevor noch das Tageslicht ganz aus dem Tal verschwunden war. Als Jim wieder in die Küche kam, saß Jelka noch immer am Fenster und strickte. Jim nahm aus der Ecke seinen Karabiner. Während er die Patronen ins Magazin steckte, sagte er: „Das Mondlicht liegt schon auf den Bergen. Wenn du sehen willst wie der Mond auf179
geht, mußt du nach draußen gehen. Er wird wahrscheinlich ganz feuerrot hervorkommen.“ „Gleich“, erwiderte sie, „ich muß erst hiermit fertig sein.“ Er ging zu ihr hin und streichelte sie über das weiche Haar. „Gute Nacht. Morgen um Mittag werde ich wohl wieder da sein.“ Ihre dunklen Augen folgten ihm, bis er aus der Tür heraus war. Jim schob den Karabiner in das Sattelfutteral, saß auf und ritt das Tal hinab. Hinter den Bergen zu seiner Rechten glitt der große, rote Mond schnell herauf. Das letzte Nachglühen des Tages und der erste Schein des Mondes vermischten sich zu einem eigenartigen Zwielicht, das die Umrisse der Bäume vergrößerte und den Bergen ein neues, geheimnisvolles Aussehen gab. Die staubbedeckten Eichen schimmerten und der Schatten unter ihnen war so schwarz wie Samt. Ein großer, langbeiniger Schatten eines Pferdes und eines halben Mannes ritt Jim zur Linken und etwas voraus. Von den Farmen nah und fern erscholl das Gebell der Hunde, das eine Heulnacht einleitete. Jim setzte seinen Wallach in Trab. Das Geklapper der Huftritte hallte von dem Schlosse hinter ihm zurück. Er dachte an die blonde Mary in den „Drei Sternen“. „Ich werde ziemlich spät hinkommen, vielleicht wird sie ein anderer haben“, dachte er. Der Mond stand jetzt klar über den Bergen. Jim war etwa eine Meile geritten, als er Hufgetrappel hörte, das ihm entgegenkam. Ein Reiter trabte heran und hielt sein Pferd an. „Bist du’s Jim?“ „Ja. Ah, George!“ „Ich wollte gerade zu dir reiten. 180
Ich wollte dir nämlich sagen – kennst du die Quelle oben am Bergrand meines Landes?“ „Ja, wieso?“ „Ich war heute nachmittag zufällig oben. Ich fand ein erloschenes Lagerfeuer und Kopf und Füße eines Kalbes. Die Haut lag halb verbrannt im Feuer. Ich zog sie heraus, sie hatte dein Brandzeichen.“ „Zum Teufel noch mal! War das Feuer schon lange erloschen?“ „Unter der Asche war der Boden noch warm. Es wird wohl letzte Nacht gewesen sein. Ich kann leider nicht mit dir gehen, Jim, ich muß zur Stadt, aber ich dachte mir, ich wollte es dir doch eben sagen, so daß du die Runde machen kannst.“ Jim fragte ruhig: „Wieviel Leute mögen es etwa gewesen sein?“ „Das kann ich nicht sagen. So genau habe ich nicht geschaut.“ „Dann will ich doch lieber nachsehen. Ich wollte auch zur Stadt. Aber wenn Diebe am Werk sind, will ich nicht noch mehr Vieh verlieren. Ich werde über dein Land reiten, wenn du nichts dagegen hast, George.“ „Hast du ein Gewehr bei dir?“ „Natürlich. Hier unter meinem Bein. Vielen Dank für die Nachricht.“ „Reit’ nur zu, wohin du willst. Gute Nacht.“ Der Nachbar wandte sein Pferd um und trabte nach der Richtung zurück, aus der er gekommen war. Nach einer halben Stunde fand Jim das verlassene Lager. Er zündete ein Streichholz an und betrachtete das Brandzeichen auf dem halb verkohlten Fell. Schließlich stieg er wieder aufs Pferd, ritt über die kahlen Grashügel und bog in sein eigenes Land ab. Er folgte dem Klang der Kuhglocken und 181
fand die Tiere, vermischt mit Wild, ruhig grasend. Er hielt an und lauschte, ob er nicht Hufgetrappel oder Menschenstimmen hörte. Nichts. Es war nach elf, als er sein Pferd heimwärts lenkte. Er hatte fast die Hofkoppel erreicht, als er ein Pferd in der Scheune stampfen hörte. Er hielt den Wallach an. Gespannt lauschte er. Wieder hörte er deutlich das Stampfen. Er nahm sein Gewehr, stieg ab, ließ das Pferd laufen und schlich zur Scheune. Im Dunkel konnte er das Malmen der Zähne des Pferdes hören, das Heu kaute. Er riß ein Streichholz am Gewehrkolben an. Im Stall stand ein gesatteltes und aufgezäumtes Pferd angebunden. Das Pferd hörte auf zu fressen und wandte den Kopf gegen das Licht. Jim blies das Streichholz aus und ging schnell aus der Scheune. Er setzte sich an den Rand des Wassertrogs und blickte in das Wasser. Seine Gedanken kamen so langsam, daß er sie in Worte formte und sie leise vor sich hinsprach. „Soll ich durch das Fenster sehen? Nein. Mein Kopf würde einen Schatten ins Zimmer werfen.“ Er betrachtete den Karabiner, den er in der Hand hielt. Unten am Kolben, wo er abgegriffen war, glänzte das Metall silbern. Schließlich stand er entschlossen auf und ging auf das Haus zu. Vorsichtig setzte er den Fuß auf die Stufen und tastete sie ab. Die drei Hunde kamen unter dem Hause hervor, schüttelten sich, streckten sich und schnüffelten, dann krochen sie wieder auf ihr Lager. Die Küche war dunkel, aber Jim wußte genau, wo jedes Mö182
belstück stand. Er durchschritt den Raum so behutsam, daß er die Uhr in seiner Tasche ticken hörte. Die Schlafzimmertür stand auf, und der Mond schien von dort auf den Küchenboden. Schließlich erreichte Jim die Tür und sah ins Zimmer. Das Mondlicht lag auf dem weißen Bett. Jim sah Jelka auf dem Rücken liegen, ein Arm ruhte nackt und weich über ihrer Stirn und ihren Augen. Er konnte nicht sehen, wer der Mann war, denn sein Kopf war abgewandt. Jim beobachtete das Paar mit verhaltenem Atem. Da zuckte Jelka im Schlaf zusammen, der Mann drehte den Kopf und seufzte – es war Jelkas Vetter, ihr großer, verlegener Vetter. Jim machte kehrt und stahl sich durch die Küche und die Hintertür zurück ins Freie. Er ging wieder zu dem Wassertrog und setzte sich auf dessen Rand. Er seufzte ein paarmal tief auf und wußte selbst nicht warum, denn er dachte an die grasigen Hügelkämme und den Sommerwind, der über sie hinstrich. Er dachte an die Art und Weise, wie seine Mutter ein Schaff zu halten pflegte, um das Kehlblut aufzufangen, wenn sein Vater ein Schwein schlachtete. Sie stand so weit wie möglich abseits und hielt das Schaff in Armeslänge, um ihre Kleider vor Blutspritzern zu schützen. Jim tauchte die Hand in den Trog, so daß der Mond im Wasser in glitzernde Lichtströme auseinanderbrach. Er feuchtete seine Stirn an und stand auf. Diesmal ging er nicht so leise, sondern schlich auf den Zehenspitzen durch die Küche, bis er an 183
die Schlafzimmertür kam. Jelka bewegte den Arm und öffnete ein wenig die Augen. Auf einmal riß sie die Augen weit auf, dann wurden sie feucht. Jim sah sie an, aber sein Gesicht war ausdruckslos. Er spannte den Hahn. Der helle Ton des Stahls klang durch das Haus. Unruhig bewegte sich der Mann im Schlaf. Jims Hände zitterten. Er hob das Gewehr zur Schulter und stemmte es fest dagegen, damit es nicht schwankte, über der Kimme sah er das kleine, weiße Viereck zwischen den Augenbrauen und dem Haar. Das Korn wankte einen Augenblick, dann kam es zur Ruhe. Der Schuß krachte. Jim sah, wie das Bett unter dem Schlag hochsprang. Ein kleines, schwarzes, blutloses Loch war in des Mannes Stirn. Jim sah langsam nach Jelka hin. Ihre Augen hatten sich von ihm weg auf das Ende des Gewehrs gerichtet. Sie wimmerte leise wie ein frierendes Hündchen. Von Panik ergriffen machte Jim kehrt. Seine Absätze schlugen auf den Küchenboden, aber draußen ging er wieder ganz langsam zu dem Wassertrog. Er hatte einen salzigen Geschmack im Mund, und sein Herz klopfte wie wild. Er nahm seinen Hut ab und steckte den Kopf ins Wasser. Dann beugte er sich vor und erbrach sich. Er hörte, wie Jelka im Hause hin und her ging. Sie wimmerte immer noch. Schwach und schwindlig richtete sich Jim auf. Er wankte durch den Pferch auf die Weide hinaus. Auf einen Pfiff kam sein gesatteltes Pferd herbei. Automatisch stieg er auf und ritt hinunter ins Tal. 184
Bei Tagesanbruch fuhr ein zweispänniger Wagen auf den Farmhof. Ein stellvertretender Sheriff und ein Leichenbeschauer saßen auf dem Polstersitz. Auf dem Kutscherbock saß Jim, gegen seinen Sattel gelehnt. Sein müder Wallach folgte hinter dem Wagen. Der Sheriff zog die Bremse und wickelte den Zügel darum. Die Männer stiegen aus. Jim fragte: „Muß ich mit hineingehen? Ich bin zu müde und zerschlagen dazu.“ Die Männer winkten ihm ab und gingen in das Haus. In ein paar Minuten kamen sie wieder heraus und trugen die in eine Decke gewickelte steife Leiche zwischen sich und hoben sie in den Wagenkasten. Jim ging auf sie zu. „Muß ich jetzt wieder einsteigen?“ „Wo ist Ihre Frau, Herr Moore?“ fragte der Sheriff. „Ich weiß nicht“, gab Jim müde zur Antwort. „Sie wird wohl irgendwo in der Nähe sein.“ „Sie haben sie also bestimmt nicht umgebracht?“ „Nein, ich habe sie nicht angerührt. Ich werde sie schon finden und sie heute nachmittag herbringen, das heißt, wenn ich jetzt nicht wieder zu Ihnen einsteigen muß.“ „Wir haben Ihre Aussage. Und bei Gott, wir haben ja auch Augen im Kopf. Sie werden natürlich wegen Totschlags angeklagt werden. Aber die Anklage wird fallen gelassen, wie bei uns immer in solchen Fällen. Gehen Sie nicht zu streng mit Ihrer Frau um, Herr Moore.“ „Ich werde ihr nicht allzu weh tun“, sagte Jim. Er 185
sah dem davonratternden Wagen nach. Dann ging er langsam ins Haus und holte eine mit Blei geladene, neunschwänzige Ochsenpeitsche heraus. Er ging über den Hof zur Scheune, stieg über die Leiter zum Heuboden hinauf und hörte wieder das hohe, hündische Wimmern. Als er aus der Scheune herauskam, trug er Jelka über der Schulter. Bei dem Wassertrog setzte er sie sanft auf den Boden. In ihrem Haar hing Heu. Ihr Unterrock war rot von Blut. Jim tauchte sein Taschentuch ins Wasser und wusch ihre zerbissenen Lippen und ihr Gesicht. Ihre trüben, schwarzen Augen folgten jeder seiner Bewegungen. „Du hast mir weh getan“, sagte sie. „Du hast mir sehr weh getan.“ Er nickte ernst „So weh wie möglich, so gut ich konnte, ohne dich zu töten.“ Die Sonne schien heiß. Ein paar Brummfliegen summten umher, die das Blut rochen. Jelkas geschwollene Lippen versuchten zu lächeln. „Hast du denn schon gefrühstückt?“ „Nein, ich bin noch nüchtern.“ „Dann werde ich dir ein paar Eifer in die Pfanne schlagen.“ Sie stand mühsam auf. „Laß dir helfen“, sagte er. „Ich will dir helfen, das Hemd auszuziehen. Es trocknet dir auf der Haut. Es wird weh tun.“ „Nein, das mache ich selbst.“ Ihre Stimme hatte einen eigenartigen Klang. Ihre dunklen Augen sahen ihn einen Augenblick warm an, dann humpelte sie ins Haus. 186
Jim setzte sich auf den Rand des Wassertrogs und wartete. Er sah den Rauch aus dem Kamin kerzengerade in den Himmel steigen. Bald rief Jelka aus der Küchentür: „Komm, Jim, dein Frühstück ist fertig!“ Vier gebackene Eier und vier dicke Scheiben Schinken lagen in einer Pfanne für ihn bereit. „Der Kaffee wird gleich fertig sein“, sagte sie. „Willst du nicht auch essen?“ „Nein, noch nicht. Meine Lippen sind ganz wund.“ Er aß hungrig seine Eier, dann betrachtete er sie. Sie hatte eine frische, weiße Bluse an, ihr schwarzes Haar war glatt gekämmt. „Wir gehen heute nachmittag zur Stadt“, sagte er. „Ich will Bauholz bestellen. Wir werden ein neues Haus weiter unten im Tal bauen.“ Ihre Augen gingen zu der geschlossenen Schlafzimmertür und zu ihm zurück „Ja“, sagte sie, „das wird gut sein.“ Und dann nach einer Weile: „Wirst du mich hierfür noch mehr schlagen?“ „Nein, hierfür nicht mehr.“ Ihre Augen lächelten. Sie setzte sich neben ihn auf einen Stuhl, und Jim streckte seine Hand aus und streichelte ihr Haar und ihren Nacken.
SANKT KATY
In P– (wie der Franzose sagt) lebte im Jahre dreizehn… ein böser Mann, der ein böses Schwein hielt. Er war ein böser Mann, weil er allzuoft zur unrechten Zeit und über die unrechten Leute lachte. Er lachte über die guten Brüder von M., so oft sie an seine Türe wegen eines Schluckes Whisky oder einer Silbermünze pochten, und er lachte, wenn sie den Zehnten erheben wollten. Als Bruder Clement in den Mühlteich fiel und ertrank, weil er den Sack mit Salz, den er schleppte, nicht fallen lassen wollte, lachte der böse Mann – Roark –, bis er sich ins Bett legen mußte. Wenn man sich das häßliche, garstige Gelächter vorstellt, begreift man, was für ein böser Mensch dieser Roark war, und es wird niemanden überraschen, daß er seinen Zehnten nicht bezahlte, sondern selbst seine Exkommunikation forderte. Man ersieht daraus, Roark besaß nicht das richtige, zum Lachen geeignete Gesicht. Es war ein finsteres, strenges Gesicht, und wenn Roark lachte, sah es aus, als hätte man ihm soeben ein Bein ausgerissen und sein Gesicht wäre im Begriff, sich qualvoll zu verziehen. Außerdem bezeichnete er die Leute als Narren, was unfreundlich und unklug ist, selbst wenn sie es sind. Niemand wußte, was Roark so böse gemacht hatte, außer daß 188
er ein Landstreicher gewesen war und schlimme Dinge über die Welt erfahren hatte. So beschaffen war die Atmosphäre, in der das böse Schwein Katy aufwuchs, und vielleicht war seine Bosheit daher kein Wunder. Es sind Bücher geschrieben worden, daß Katy einer langen Ahnenreihe böser Schweine entstammte; daß Katys Vater ein Hühnerfresser war, was jedermann wußte, und daß Katys Mutter aus ihrem eigenen Wurf, falls man es nicht verhinderte, sich ein Mahl zu bereiten pflegte. Aber das ist nicht wahr. Katys Mutter und Vater waren gute, bescheidene Schweine, insoweit die Natur Schweine mit der Fähigkeit zur Bescheidenheit ausgestattet hat, was nicht in sehr hohem Maße der Fall ist. Aber immerhin besaßen sie den Geist der Bescheidenheit, wie ihn eine Menge Menschen haben. Katys Mutter hatte Wurf auf Wurf delikater, ewig hungriger Ferkel zur Welt gebracht, so normal und anständig, wie man es nur wünschen kann. Man erkennt daraus, daß Katys Boshaftigkeit nichts Ererbtes war, sie mußte sie daher von dem Manne Roark angenommen haben. Dort lag Katy auf dem Stroh mit ihren Schlitzäuglein und ihrer roten, runzligen Nase, ein so schönes und sanftes Schweinchen, wie man es nur je sah, bis zu dem Tage, an dem Roark in den Schweinestall ging, um den Wurf zu taufen. „Du bist Brigid“, sagte er, „und du heißt Rory und – dreh dich mal um, du kleiner Deivel! – du bist Katy“, und von die189
ser Minute an war Katy ein böses Schwein, ja, in der Tat das böseste Schwein, das es je in dem P–er Bezirk gegeben hatte. Sie begann damit, den größten Teil der Milch zu stehlen; gegen die Zitzen, die sie nicht leer zu saufen vermochte, stemmte sie ihren Rücken, so daß die arme Rory und Brigid, sowie die übrigen Geschwister, arme, verbuttete Tiere wurden. Schon bald war Katy doppelt so schwer wie ihre Brüder und Schwestern, und auch doppelt so kräftig. Und als Beispiel für ihre Boshaftigkeit mag folgendes dienen: nach und nach packte sie Brigid, Rory und die übrigen beim Genick und fraß sie auf. Nach einem solchen Anfang konnte man Katy fast jede Art von Sünde zutrauen, und es dauerte auch nicht lange, da begann sie, Hühner und Enten zu verzehren, bis schließlich Roark sich ins Mittel legte. Er sperrte Katy in einen festen Schweinekoben, wenigstens war der Koben auf seiner Seite fest. Wenn Katy jetzt noch Hühner fraß, bezog sie dieselben von den Nachbarn. Du hättest Katys Gesicht sehen sollen. Von Anfang an war es ein gottloses Gesicht. Ihre boshaften, gelben Äuglein würden dir Furcht eingejagt haben, selbst wenn du einen Knüttel gehabt hättest, um ihr mit ihm einen Schlag auf die Nase zu versetzen. Sie wurde zum Schrecken der Nachbarschaft. Nachts pflegte Katy sich durch ein Loch in ihrem Koben hinauszustehlen, um Hühnerställe zu plündern. Dann und wann verschwand sogar ein 190
Kind und wurde nie wieder gesehen. Und Roark, der darüber hätte beschämt und traurig sein müssen, gewann Katy nur lieber und lieber. Er erklärte, sie sei die beste Sau, die er je gehabt habe, und besäße mehr Verstand als irgendein Schwein in dem ganzen Bezirk. Nach kurzer Zeit ging ein Raunen durch das Land, ein Gespensterschwein schleiche nachts durch die Gegend, beiße die Leute in die Beine, durchwühle die Gärten und fresse Enten. Einige gingen sogar so weit, zu behaupten, Roark selbst verwandle sich in ein Schwein und durchstreife nachts die Hecken. In solchem Rufe stand Roark bei seinen Nachbarn. Katy war jetzt eine ausgewachsene Sau und es nahte für sie die Zeit, Nachkommen zur Welt zu bringen. Der Eber war von jenem Tage an unfruchtbar und ging mit einem betrübten, argwöhnischen Ausdruck in seinem Gesicht umher und war verlegen und schüchtern. Aber Katy schwoll auf und schwoll immer mehr auf, bis eines abends ihre Jungen da waren. Sie säuberte sie alle gründlich und leckte sie so sorgfältig ab, man hätte denken können, die Mutterschaft habe ihren Charakter gewandelt. Nachdem Katy die Jungen sauber und trocken geputzt hatte, legte sie die Ferkelchen nebeneinander in Reih und Glied und fraß eines nach dem andern auf. Das war selbst für einen so bösen Mann wie Roark zuviel, denn wie jedermann weiß, ist eine Sau, die ihre eigenen Jungen verzehrt, über 191
jedes menschliche Vorstellungsvermögen verderbt und gottlos. Zögernd bereitete sich Roark vor, Katy zu schlachten. Er war gerade damit beschäftigt, das Messer zu schleifen, als Bruder Colin und Bruder Paul den Pfad entlang kamen, um den Zehnten einzusammeln. Sie waren von dem Mönchskloster in M. ausgesandt worden und obwohl sie nicht erwarteten, von Roark irgendeine Gabe zu erhalten, wollten sie doch, wie es in eines Menschen Natur liegt, irgendwie einen Versuch wagen. Bruder Paul war ein hagerer, energischer Mann mit einem hageren, energischen Antlitz und einem scharfen Auge, das unbeugsame Frömmigkeit ausstrahlte, während Bruder Colin ein untersetzter, rundlicher Mann war mit einem breiten, rundlichen Gesicht. Bruder Paul war darauf erpicht, die Gnade Gottes im Himmel zu erproben, aber Bruder Colin neigte dazu, sie auf Erden zu erkunden. Die Leute nannten Colin einen schönen Mann und Paul einen guten Mann. Sie gingen gemeinsam den Zehnten einzuheben, weil, was Bruder Colin nicht durch Überredung zu erreichen vermochte, Bruder Paul mit Drohungen und Schilderungen des höllischen Feuers durchsetzte. „Roark!“ sagte Bruder Paul, „wir kommen, um den Zehnten zu erheben. Du willst doch nicht, daß deine Seele in Schwefel gepökelt werde, indem du bei deinen Gewohnheiten verharrst?“ Roark unterbrach das Wetzen des Messers, und seine Augen hätten, was Boshaftigkeit anbetrifft, 192
Katys eigene Augen sein können. Er schickte sich an zu lachen, aber der Anfang des Lachens blieb in seiner Kehle stecken. Sein Gesicht bekam einen Ausdruck gleich dem Ausdruck Katys, als sie sich darangemacht hatte, ihre Jungen aufzufressen. „Ich habe ein Schwein für euch“, sagte Roark und legte das Messer hin. Die Brüder waren erstaunt, denn bis zu jenem Tage hatten sie von Roark nie etwas erhalten, außer daß er den Hund auf sie hetzte und ihnen eine Lachsalve nachsandte, wenn sie im Bestreben, das Hoftor zu erreichen, über ihre Kutten stolperten. „Ein Schwein?“ fragte Bruder Colin argwöhnisch. „Was für eine Art Schwein?“ „Das Schwein, das sich dort allein in dem Koben befindet“, erklärte Roark, und die Farbe seiner Augen schien sich in Gelb zu verwandeln. Die Brüder eilten zu dem Schweinekoben und blickten hinein. Sie bestaunten Katys Größe und das Fett auf ihr und blickten sich ungläubig an. Colin vermochte nur an die riesigen Schenkel zu denken und die Schinken, die sie gleich einem Überwurf mit sich herumschleppte. „Wir werden von diesen Schenkeln auch für uns persönlich eine Wurst ergattern“, flüsterte er. Aber Bruder Paul dachte nur an die Lobsprüche Pater Benedikts, wenn dieser erführe, daß sie von Roark eine Sau erhalten hätten. Paul wandte sich um: „Wann willst du uns das Schwein senden“, erkundigte er sich. 193
„Ich werde euch nichts bringen“, rief Roark. „Das Schwein dort gehört euch. Entweder, nehmt ihr die Sau mit oder sie bleibt hier.“ Die Brüder widersprachen nicht. Sie waren viel zu froh, überhaupt etwas zu bekommen. Paul zog einen Strick durch Katys Nasenring und führte sie aus dem Stall; und kurze Zeit folgte ihnen Katy, als wäre sie wirklich ein gutes Schwein. Als die drei durch das Hoftor schritten, rief Roark ihnen nach: „Ihr Name ist Katy“, und das Gelächter, das so lange in seiner Kehle steckengeblieben war, brach heraus. „Es ist eine schöne, schwere Sau“, bemerkte Bruder Paul unsicher. Bruder Colin wollte ihm antworten, als ein Etwas gleich einem Wolfseisen ihn rücklings am Bein packte. Laut aufschreiend fuhr Colin herum. Katy kaute zufrieden an einem Stück von der Wade seines Beins und der Ausdruck ihres Gesichts glich Satans eigenem Antlitz. Katy kaute und schluckte behaglich; dann trat sie vor, um ein neues Stück Fleisch von Bruder Colin zu ergattern, aber im gleichen Augenblick sprang Bruder Paul vor und versetzte ihr einen gutgezielten kräftigen Fußtritt auf das Ende ihres Rüssels. Hatte vorher Bosheit aus Katys Antlitz geleuchtet, so blickten jetzt Dämonen aus ihren Augen. Sie spannte ihre Muskeln an und grunzte tief unten in ihrer Kehle; schnaubend und ihre Zähne fletschend wie eine Bulldogge ging sie auf den Bruder los. Die Brüder warteten ihr Nahen nicht ab; sie rannten zu einem Weißdornbaum ne194
ben dem Wege und kletterten unter Stöhnen und Aufbietung ihrer Kräfte hinauf, bis sie sich endlich außer Reichweite der schrecklichen Katy befanden. Roark hatte sich hinunter zum Hoftore begeben um ihnen nachzublicken, und stand dort und lachte auf eine Art, die ihnen zeigte, daß sie von ihm keine Hilfe zu erwarten hätten. Auf dem Erdboden unter ihnen lief Katy auf und ab; sie scharrte den Boden auf und riß große Rasenstücke heraus, um ihre Kraft zu zeigen. Bruder Paul schleuderte einen Ast nach ihr und sie zerriß ihn in Stücke und stampfte die Stücke mit ihren scharfen Hufen in den Boden, beobachtete aber während der ganzen Zeit die Brüder aus ihren gelben Schlitzaugen und fletschte ihre Zähne. Die beiden Brüder kauerten kläglich auf dem Baum, ihre Köpfe zwischen die Schultern gesenkt und ihre Kutten eng um den Leib geschlungen. „Hast du ihr einen tüchtigen Tritt gegen die Nase versetzt?“ erkundigte sich Bruder Colin hoffnungsvoll. Bruder Paul blickte auf seinen Fuß hinunter und dann auf Katys derben, ledernen Rüssel. „Der Tritt von meinem Fuß würde jedes Schwein außer einem Elefanten zu Boden schmettern“, entgegnete er. „Man kann mit einem Schwein nicht disputieren“, meinte Bruder Colin. Katy streifte wütend unter dem Baum umher. Eine lange Zeit saßen die Brüder, die Kutten mürrisch um ihre Beine geschlungen, in Schweigen versun195
ken. Bruder Paul brütete mit nervöser Inbrunst über dem Problem. Endlich bemerkte er: „Willst du etwa behaupten, Schweine besäßen viel von der Natur eines Löwen?“ „Nein, mehr von der Natur des Satans“, entgegnete Colin trübselig. Paul richtete sich auf und betrachtete Katy mit neu erwachtem Interesse. Dann hielt er sich sein Kruzifix vor die Brust und rief mit furchterregender Stimme: „APAGE SATANAS!“ Katy schauerte zusammen, als hätte ein heftiger Windstoß sie getroffen, kam aber dennoch näher. „APAGE SATANAS!“ rief Paul noch einmal und Katy erhielt wieder einen Stoß, gab sich aber nicht geschlagen. Ein drittes Mal schleuderte Bruder Paul den Exorzismus auf sie herab, aber inzwischen hatte sich Katy von dem ersten Schrecken erholt. Die Beschwörung hatte daher sehr geringen Effekt und wehte lediglich ein paar trockene Blätter zur Erde nieder. Bruder Paul blickte Colin entmutigt an. „Natur des Satans“, verkündete er traurig, „aber nicht des Satans eigenes Wesen, sonst wäre jenes Schwein zerplatzt“. Katy knirschte in gräßlicher Wollust mit den Zähnen. „Bevor ich auf den Gedanken der Teufelsaustreibung verfiel“, meinte Paul nachdenklich, „dachte ich an Daniel in der Löwengrube und überlegte mir, ob wohl das gleiche Mittel auf ein Schwein wirken würde?“ 196
Bruder Colin betrachtete ihn besorgt. „Vielleicht liegen in der Natur des Löwen gewisse Fehler verborgen“, argumentierte er. „Vielleicht sind Löwen nicht so ketzerisch veranlagt wie Schweine. Auf jeden Fall ist es für einen frommen Mann eine kitzlige Sache, herauszubekommen, ob ein Löwe dahintersteckt. Denk’ an Daniel, denk’ an Samson, denk’ an zahlreiche Märtyrer, um nur von den Heiligen zu sprechen; aber ich könnte auch viele Fälle wie etwa Androkles namhaft machen, die ganz und gar nicht heilig sind. Nein, Bruder, der Löwe ist ein speziell zur Bekämpfung durch Heiligkeit und Orthodoxie geschaffenes Tier. Wenn daher ein Löwe in all diesen Geschichten vorkommt, so deswegen, weil von allen Kreaturen der Löwe der am wenigsten unzugängliche gegen die Kraft der Religion ist. Ich glaube, der Löwe muß als eine Art Anschauungsobjekt geschaffen worden sein. Er ist sicherlich ein für Gleichnisse geschaffenes Tier. Was aber das Schwein anbetrifft – so suche ich in meinem Gedächtnis vergebens nach einem Bericht, daß ein Schwein irgendeine Kraft außer einen Schlag auf die Nase oder einen Messerstich in die Kehle anerkennt. Schweine im allgemeinen und dieses Schwein im besonderen sind die halsstarrigsten und heidnischsten Bestien.“ „Dennoch“, fuhr Bruder Paul fort, dem Vortrag nur geringe Beachtung schenkend, „wenn du kirchliche Waffen in deiner Hand hältst, wäre es eine unauslöschliche Schande, sie nicht auf die Probe zu stellen, möge es sich um einen Löwen 197
oder um ein Schwein handeln. Die Teufelsaustreibung hat versagt, aber das bedeutet gar nichts.“ Er begann, das Seil, das ihm als Gürtel diente, abzuwickeln. Bruder Colin sah ihm erschreckt zu. „Paul, Mensch“, rief er, „Bruder Paul, um der Liebe Gottes willen, klettere nicht hinunter zu der Sau.“ Aber Paul beachtete ihn nicht. Er wickelte seinen Gürtel weiter ab und befestigte an dessen Ende die Kette seines Kruzifixes; dann lehnte er sich zurück, bis er nur noch mit seinen Knien an dem Äste hing und die Kapuze seiner Kutte über seinen Kopf fiel, und ließ den Strick wie eine Fischleine hinunter und schwenkte das Kruzifix vor Katy hin und her. Katy kam stampfend und zähneknirschend näher, bereit, das Kruzifix zu packen und in den Boden zu stampfen. Das Gesicht Katys trug den Ausdruck eines Tigers. Im Augenblick, da sie das Kreuz berührte, fiel dessen scharfer Schatten auf ihr Antlitz, und das Kreuz spiegelte sich in ihren gelben Augen wider. Katy blieb wie gelähmt stehen. Die Luft, der Baum, die Erde erschauerten in erwartungsvollem Schweigen, während die Gottheit mit der Sünde kämpfte. Dann quollen langsam zwei dicke Tränen aus Katys Augen, und bevor man einen Gedanken zu fassen vermochte, lag sie lang ausgestreckt auf dem Boden, machte mit ihrem rechten Huf das Zeichen des Kreuzes und stöhnte leise voller Pein in Erkenntnis ihrer Verbrechen. 198
Bruder Paul ließ das Kreuz eine geschlagene Minute hin- und herbaumeln, ehe er sich wieder auf den Ast emporschwang. Während der ganzen Zeit hatte Roark von seinem Hoftore aus das Schauspiel beobachtet. Von diesem Tage an war er fürder kein böser Mahn mehr; in einem Augenblick hatte sich sein gesamtes Wesen gewandelt. Ja, er erzählte die Geschichte wieder und wieder jedem, der sie hören wollte. Roark erklärte, er habe in seinem ganzen Leben nie etwas so Großartiges und Anfeuerndes gesehen. Bruder Paul erhob sich und stellte sich auf den Ast. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Dann, mit der freien Hand die Worte unterstreichend, deklamierte Bruder Paul in prächtigem Latein vor der stöhnend am Boden liegenden Katy die Bergpredigt. Als er schloß, herrschte – bis auf die Seufzer und das Stöhnen des bußfertigen Schweins – ein völliges, heiliges Schweigen. Es ist zweifelhaft, ob Bruder Colin seiner Natur nach die Kraft eines echten, militanten Priesters besaß. „Hältst – hältst du es für gefahrlos, jetzt schon hinabzuklettern?“ stammelte er. Statt einer Antwort riß Bruder Paul einen Zweig von dem Dornbaum und schleuderte ihn auf die am Boden liegende Sau. Katy schluchzte laut auf und erhob ihr tränenüberströmtes Antlitz zu den Brüdern, ein Angesicht, aus dem alle Bosheit gewichen war; die gelben Augen glänzten golden vor Reue und der daraus entspringenden Seelenpein. Die 199
Brüder kletterten von dem Baum zur Erde, zogen wieder den Strick durch Katys Nasenring und schritten mit dem erlösten Schwein, das demütig hinter ihnen hertrottete, die Straße entlang. Die Nachricht, daß sie ein Schwein von Roark nach Hause brächten, erregte solches Aufsehen, daß Bruder Paul und Bruder Colin bei ihrer Ankunft vor den Toren von M. eine dichte Schar sie erwartender Mönche vorfanden. Die Bruderschaft umdrängte sie befühlte die Speckseiten Katys und kniff sie in ihre Wammen. Plötzlich wurde eine Öffnung in den Ring gebrochen, durch die Pater Benedikt schritt. Sein Antlitz trug ein solches Lächeln, daß Colin sich seiner Wurst und Paul sich seiner Lobsprüche sicher fühlten. Plötzlich, zum Entsetzen und zur Bestürzung aller Anwesenden, watschelte Katy zu dem kleinen Weihwasserbecken neben der Kapellentür, tauchte ihren rechten Huf in das geweihte Wasser und bekreuzigte sich. Es währte ein paar Sekunden, ehe jemand sprach. Dann erklang voller Zorn Pater Benedikts strenge Stimme: „Wer war es, der dieses Schwein bekehrte?“ Bruder Paul trat vor: „Ich tat es, Vater!“ „Du bist ein Narr!“ entgegnete der Abt. „Ein Narr? Ich glaubte, Ihr würdet erfreut sein, Vater.“ „Du bist ein Narr!“ wiederholte Pater Benedikt. „Wir können dieses Schwein nicht schlachten. Dieses Schwein ist ein Christ.“ 200
„Es herrscht mehr Freude im Himmel …“ begann Bruder Paul zu zitieren. „Schweig!“ unterbrach ihn der Abt. „Es gibt eine Unmenge Christen. In diesem Jahre herrscht großer Mangel an Schweinen.“ Es würde einen dicken Band beanspruchen, die Tausende von Krankenbetten aufzuzählen, die Katy besuchte, den Trost zu schildern, den sie in Paläste und Hütten trug. Sie saß neben Betten der Qual und ihre gütigen goldenen Augen brachten den Leidenden Erleichterung. Eine Zeitlang dachte man, sie müßte eigentlich wegen ihres Geschlechts das Mönchskloster verlassen und in ein Nonnenkloster eintreten, denn die üblichen gemeinen Zungen erregten in dem Bezirk den üblichen gemeinen Skandal. Aber wie der Abt erklärte, brauchte man Katy nur anzuschauen, um von ihrer Keuschheit überzeugt zu sein. Das weitere Leben Katys war ein einziger langer Bericht guter Taten. Aber erst am Morgen eines Festtages dämmerte den Brüdern die Erkenntnis, daß ihr Kloster eine Heilige beherberge. An dem fraglichen Morgen, während Freudenhymnen und Danksagungen aus tausend frommen Mündern erklangen, erhob sich Katy von ihrem Sitz, schritt zu dem Altar und drehte sich eindreiviertel Stunden wie ein Kreisel auf der Spitze ihres Schwanzes. Die versammelten Brüder schauten voller Erstaunen und Bewunderung zu. Dies war ein wunderbares Beispiel für das, was ein heiliges Leben zu bewirken vermochte. 201
Von Stunde an wurde M. ein Wallfahrtsort. Endlose Reihen von Pilgern schlängelten sich durch das Tal und stiegen in den von den guten Brüdern geführten Wirtschaften ab. Täglich um vier Uhr trat Katy aus dem Portal und segnete die Menge. Wenn jemand von Skrofeln oder Trichinen geplagt wurde, berührte Katy ihn, und er war geheilt. Genau fünfzig Jahre auf den Tag nach ihrem Tode wurde Katy in den Kalender der Auserwählten aufgenommen. Es wurde vorgeschlagen, sie Sankt Katy, die Jungfrau, zu nennen. Eine Minderheit behauptete jedoch, Katy sei keine Jungfrau, da sie in ihren sündigen Tagen einen Wurf Junge zur Welt gebracht habe. Die opponierende Partei erwiderte, das habe nichts zu bedeuten. Sehr wenige Jungfrauen, so erklärten sie, seien Jungfrauen. Um dem Kloster Zwietracht zu ersparen, legte ein Komitee das Problem einem biedern, ungeheuer gelehrten Bartscherer vor, nachdem man vorher übereingekommen war, sich seiner Entscheidung zu unterwerfen. „Es ist eine delikate Frage“, verkündete der Barbier. „Man könnte sagen, es gebe zwei Arten von Jungfrauenschaft. Manche behaupten, Jungfrauenschaft beruhe auf einem winzigen Stück Gewebe. Wenn du es besitzt, bist du eine; wenn du es nicht besitzt, bist du keine. Diese Definition bedeutet eine schwere Gefahr für die Grundlage unserer Religion, da dann keine Möglichkeit besteht, zwischen der Gnade Gottes, die es von innen heraus, und der 202
Gottlosigkeit des Mannes, der es von außen zerstört, zu unterscheiden. Andererseits“, fuhr er fort, „gibt es Jungfrauenschaft der Absicht nach, und diese Definition gestattet die Existenz von einer weit größeren Anzahl Jungfrauen als die erste. Aber auch hier geraten wir wieder in Verlegenheit. Als ich ein wesentlich jüngerer Mann war, ging ich bisweilen des Abends mit einem Mädchen am Arme spazieren. Jede von ihnen, die mit mir wandelte, war eine Jungfrau der Absicht nach, und wenn man die zweite Definition gelten läßt, ist sie es immer noch.“ Das Komitee verabschiedete sich hochbefriedigt. Ohne Zweifel war Katy eine Jungfrau der Absicht nach gewesen. In der Kapelle in M. steht ein goldumrahmtes, juwelengeschmücktes Reliquienkästchen und in seinem Innern ruhen auf einem Polster von rotem Atlas die Gebeine der Heiligen. Menschen kommen aus weiter Ferne, um den kleinen Schrein zu küssen, und die es tun, gehen fort und lassen ihre Kümmernisse hinter sich. Wie festgestellt worden ist, besitzt diese heilige Reliquie die Eigenschaft, weibliche Beschwerden und Ringelflechte zu heilen. Es liegt ein Bericht von einer Frau vor, welche die Kapelle besuchte, um von beiden Übeln befreit zu werden. Sie erklärte eidlich, daß sie ihre Wange an dem Reliquienkästchen gerieben habe und daß im gleichen Augenblick, da ihr Gesicht den heiligen Gegenstand berührte, ein behaartes Mutter203
mal, das sie von Geburt an besessen habe, verschwunden und nie wiedergekehrt sei.
DAS VERSPRECHEN
An einem Frühlingsnachmittag wanderte der kleine Jody die von Büschen umstandene Straße entlang seiner heimatlichen Ranch zu. Er stieß die Knie gegen die golden glänzende Fettbüchse, die ihm als Frühstücksdose diente, wodurch es ihm gelang, das Dröhnen einer großen Trommel nachzuahmen, während die gegen die Zähne trillernde Zunge das Geräusch wirbelnder Trommelstöcke und ab und zu einen Trompetenstoß hervorbrachte, über dem Nachmittag lag der grüngoldene Hauch des Frühlings. Unter den weiten Zweigen der Eichen schossen bleiche Pflanzen hoch, während auf den Abhängen das Grün schon dick und saftig war. Als die von Jody angeführten grauen und schweigenden Soldaten vorbeizogen, hörten die Kühe mit dem Grasen auf und betrachteten den Vorbeimarsch. Plötzlich hörte Jody auf zu blasen und zu trommeln. Die grauen Soldaten hielten verdutzt und nervös an. Jody kniete sich hin. Das Bataillon stand einen Augenblick in langen Reihen ungeduldig da, löste sich dann in leichten Nebeldunst auf und verschwand. Jody hatte unter dem Staub der Straße die Dornenkrone eines Leguans erblickt. Er öffnete die Frühstücksdose und beförderte das erste Wild hinein. Die Jagd fiel ziemlich gut aus, denn 205
als Jody die Straßenkreuzung erreichte, wo auf einem Pfahl der Briefkasten angebracht war, hatte er zwei weitere Leguane gefangen, vier kleine Eidechsen, eine Blindschleiche, sechzehn gelbflügelige Grashüpfer und einen braunen, feuchten Molch, den er unter einem Stein hervorgezogen hatte. An dem Briefkasten aber war die Jagd zu Ende, denn die kleine, rote Metallfahne war auf ihm sichtbar, zum Zeichen, daß Post drinnen war. Jody sah nach und zog eine Zeitung und einen Katalog heraus. Dann lief er schnell talwärts zur Ranch, an der Scheune, dem Stall, der Zypresse vorbei, polterte durch die Hintertür und rief: „Mama, ein Katalog!“ Frau Tiflin war in der Küche und füllte geronnene Milch in einen Leinenbeutel. „Hier in der Küche, Jody, hier bin ich“, rief sie. Er kam hereingerannt und warf die Frühstücksbüchse in den Ausguß, daß es nur so knallte. „Hier ist er. Darf ich ihn haben?“ „Verlier ihn nicht, Jody, der Vater will ihn sicher durchsehen, übrigens will er dich sprechen.“ Jody legte den Katalog hin. „Warum … habe ich wieder was ausgefressen?“ Frau Tiflin lachte. „Du hast doch immer ein schlechtes Gewissen. Was hast du denn wieder getan?“ „Nichts“, sagte Jody betreten. Er konnte sich nicht denken, was wieder los war. Man wußte nie, was einem hinterher als Verbrechen ausgelegt wurde. Er schlich sich zur Tür hinaus. Draußen hörte er noch, 206
wie seine Mutter die Frühstücksdose öffnete und dann laut aufkreischte. Er ging zum Stall, absichtlich überhörend, daß seine Mutter ihn zurückrief. Karl Tiflin stand mit dem Knecht Billy Buck an dem Zaun der unteren Weide. Jeder hatte einen Fuß auf die unterste Latte gestellt und stützte sich mit beiden Ellenbogen auf die obere. Jody schlängelte sich mit unbehaglichen Gefühlen an sie heran. Er trat schließlich mit einem Fuß laut auf, um sich den Anschein der Unschuld zu geben, stellte dann auch einen Fuß auf die untere Latte, legte die Ellenbogen auf die obere und sah ebenfalls auf die Wiese hinaus. Die beiden Männer wandten den Kopf ein wenig nach ihm hin. „Ah, da bist du ja, möchte mit dir sprechen“, sagte Karl Tiflin. „Ja, Vater“, sagte Jody schuldbewußt. „Bill sagt, daß du gut mit Pferden umzugehen verstehst.“ Also war keine Bestrafung zu erwarten! Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit stieg in Jody auf, weil der Knecht ihn so gelobt hatte. „Ja, das alte Pony hat es sehr gut bei ihm gehabt“, warf Bill ein. Dann rückte Karl Tiflin langsam mit seinem Plan heraus. „Würdest du dafür arbeiten, wenn du noch ein Pferd bekämst?“ Jody zitterte. „Ja, Vater.“ „Dann hör’ zu. Billy sagt, wenn man lernen wolle, mit Pferden umzugehen, so sei der beste Weg dazu, ein Fohlen aufzuziehen.“ 207
„Es ist der einzige Weg“, bemerkte Billy. „Nun pass’ auf, Jody. Jess Taylor von der oberen Ranch hat einen schönen Hengst, aber das Deckgeld beträgt fünf Dollar. Ich würde das Geld auslegen, aber du müßtest es den ganzen Sommer hindurch abarbeiten. Willst du das tun?“ Jody fühlte, wie sich sein ganzes Innere vor Freude zusammenkrampfte. „Ja, Vater“, versicherte er ganz ergeben. „Nun gut, morgen früh bringst du Nellie auf die obere Ranch und läßt sie belegen. Du wirst auch so lange für Nellie sorgen, bis sie das Fohlen wirft.“ „Ja, Vater.“ „So, jetzt geh, füttere die Hühner und trag’ Holz ins Haus.“ Jody ging mit einem Ernst an die Arbeit, wie er ihn noch nie gezeigt hatte. Später, als er wußte, daß sein Vater und Billy Buck nicht mehr an der Weide waren, ging er hinüber. Die anderen Pferde grasten schon weiter oben, aber Nellie rieb sich noch immer nervös an den Pfosten der Umzäunung. Jody ging langsam zu ihr hin. „Brav, Nellie, brav.“ Die Stute legte die Ohren zurück und zog die Lippen von ihren gelben Zähnen. Sie wandte den Kopf, ihre Augen glänzten fiebrig. Jody kletterte oben auf den Zaun, ließ seine Beine herunterbaumeln und betrachtete zärtlich das Pferd. Es wurde langsam dunkel. Fledermäuse und Eulen flogen umher. Billy Buck kam mit einem Eimer voll Milch des Weges und blieb stehen. „Hübsch 208
lange wirst du warten müssen. Wenn du es nur nicht leid wirst.“ „O nein, Bill. Wie lange wird es denn dauern?“ „Fast ein Jahr.“ „Ich werde es schon erwarten können.“ Am nächsten Morgen nach dem Frühstück faltete Karl Tiflin einen Fünfdollarschein in ein Stück Zeitungspapier und befestigte es mit einer Nadel in Jodys Joppentasche. Billy Buck legte Nellie einen Halfter an und führte sie aus der Weide. „Gib acht auf sie“, sagte er. „Hier fass’ an und halt sie hübsch kurz, daß sie dich nicht beißen kann, sie ist ganz närrisch.“ Jody faßte Nellie dicht am Halfter und machte sich mit ihr auf den Weg zur oberen Ranch. Das Pferd tänzelte und sprang aufgeregt hinter ihm drein. Nachdem er es eine Stunde bergauf geführt hatte, konnte er das rote Stalldach zwischen den Eichenbäumen sehen. Plötzlich machte Nellie einen Sprung nach rückwärts und hätte sich fast losgerissen. Vom Stall her hörte Jody ein schrilles Wiehern, Splittern von Holz und dann die Stimme eines Mannes. Nellie bäumte sich hoch. Als Jody sie an der Halfterleine nahm, schnappte sie mit entblößten Zähnen nach ihm und ging auf ihn los. Er ließ die Leine los und sprang ins Gebüsch. Von den Eichen her kam wieder das schrille Wiehern, und diesmal antwortete Nellie. Im vollen Galopp, mit einem zerrissenen Halfterstrick, kam der Hengst den Berg herunter. Seine Augen 209
glitzerten fiebrig, seine geblähten, hocherhobenen Nüstern waren feuerrot, seine glatten, schwarzen Flanken blitzten im Sonnenlicht. Der Hengst kam in so schnellem Lauf, daß er nicht einhalten konnte, als er die Stute erreichte. Nellie legte die Ohren zurück, sie sprang im Kreise herum und schlug nach ihm aus, als er vorbeisauste. Der Hengst wirbelte herum und bäumte sich. Er versetzte der Stute einen Schlag mit seinen Vorderhufen, und während sie unter dem Anprall taumelte, biß er sie in den Hals, daß Blut kam. Sofort änderte sich Nellies Laune. Sie wurde weiblich kokett. Sie beknabberte den gebogenen Nacken des Hengstes mit den Lippen. Sie drehte sich um und rieb ihre Schulter gegen seine Schulter. Jody stand halb verborgen im Gebüsch und beobachtete sie. Er hörte den Tritt eines Pferdes hinter sich. Aber bevor er sich umwenden konnte, faßte ihn eine Hand beim Rockkragen und hob ihn vom Boden. Jess Taylor setzte den Knaben hinter sich aufs Pferd. „Er hätte dich töten können“, sagte er. „Sonnenhund ist manchmal der reinste Teufel. Er hat sich losgerissen und ist direkt durch das Tor gestürmt.“ Jody saß ganz ruhig da, aber dann schrie er auf: „Er tut ihr weh, er bringt sie um. Er muß weg!“ Jess lachte. „Es wird ihr nichts geschehen. Aber du steigst jetzt besser ab und gehst auf den Hof. Es wird dort sicher ein Stück Kuchen für dich geben.“ Aber Jody wollte nicht. „Sie gehört mir, und das 210
Fohlen gehört auch mir, ich soll es aufziehen.“ Aber bald war die Gefahr vorüber. Jess setzte Jody ab, nahm dann den Hengst bei dem zerrissenen Halfterseil und ritt voraus, während Jody Nellie hinterherführte. Als er die fünf Dollar losgenestelt und überreicht und zwei Stück Kuchen verzehrt hatte, brach Jody wieder nach Hause auf. Nellie folgte ihm jetzt ganz gefügig. Sie war so ruhig, daß Jody auf einen Baumstumpf kletterte und den größten Teil des Weges heimritt. Die Stute Nellie wurde immer zahmer. Wenn sie an den vergilbenden Hügeln weidete oder für leichte Arbeiten eingespannt wurde, waren ihre Lippen fortwährend zu einem selbstgefälligen Lächeln gekräuselt. Sie ging langsam mit dem ruhigen Selbstbewußtsein einer Kaiserin. Jody beobachtete sie Tag für Tag mit kritischen Augen, konnte aber keine Veränderung feststellen. „Meinst du, daß sie wirklich ein Fohlen bekommt?“ fragte er Billy Buck. Bill rollte mit Daumen und Zeigefinger die Lider von den Augen der Stute. Er befühlte ihre Unterlippe und die schwarzen, ledernen Zitzen. „Würde nicht überrascht sein“, sagte er. „Aber man sieht noch gar nichts. Es ist doch jetzt schon drei Monate her.“ „Ich habe dir ja gesagt, daß du hübsch lange warten mußt. Es dauert noch fünf Monate, bevor du überhaupt etwas siehst. Und mindestens acht Monate, bevor sie wirft, etwa nächsten Januar.“ 211
Jody seufzte tief auf. „Das dauert aber lange.“ „Und dann dauert es noch zwei Jahre, bevor du das Fohlen reiten kannst.“ „Aber dann bin ich schon erwachsen“, rief Jody verzweifelt. „Ja, dann wirst du schon ein alter Mann sein“, sagte Bill. „Sag mir, wie es sein wird, Bill. Ist es so ähnlich, wie wenn Kühe Kälber kriegen?“ „Nun, du hast doch schon gesehen, wie Kühe kalben. Es ist fast genau so. Die Stute fängt an zu stöhnen und sich zu strecken, und dann, wenn alles gut geht, kommen der Kopf und die Vorderfüße heraus, und die Hufe stoßen ein Loch, genau wie es die Kälber machen, und dann beginnt das Fohlen zu atmen. Es ist gut, wenn man dabei ist, weil das Fohlen, wenn die Füße nicht richtig kommen, den Sack nicht durchstoßen kann und dann womöglich erstickt.“ „Nun, dann werden wir eben dabei sein müssen“, sagte Jody. Ihn quälte noch ein Gedanke, den er sich auszudrücken scheute. „Bill“, begann er kläglich, „du paßt doch auf, daß dem Fohlen nichts passiert?“ Bill wußte, daß Jody an das rote Pony Gabilan dachte, das an Druse starb. Bis dahin war er unfehlbar gewesen. Aber jetzt fühlte er sich nicht mehr so sicher. „Einem Fohlen kann alles mögliche passieren“, sagte er barsch. „Das ist nicht meine Schuld. Ich 212
bin nicht allmächtig.“ Und dann fügte er milder hinzu: „Ich werde natürlich alles tun, was ich kann, aber ich kann nichts versprechen. Nellie ist eine gute Stute, sie hat schon gute Fohlen geworfen und müßte es auch wohl diesmal tun.“ Dann ging er von Jody fort in den Stall, denn sein Stolz war verletzt … Das Jahr ging langsam zur Neige. Allmählich gab Jody sein Fohlen verloren. An Nellie war keine Veränderung zu bemerken. Der Sommer und der helle, warme Herbst gingen vorüber. Dann begann der Morgenwind Blätter auf dem Boden umherzuwirbeln, die Luft wurde kalt, und der Giftbaum rot. An einem Septembermorgen rief die Mutter, als Jody gerade mit dem Frühstück fertig war, ihn in die Küche. Sie goß kochendes Wasser in einen Eimer, der voll von trockenem Mittelmehl war, und rührte das Ganze zu einem dampfenden Brei an. „Sieh her, wie das gemacht wird. Das wirst du von nun an selbst jeden Morgen tun müssen“, sagte sie zu Jody. „Warum? Was ist das?“ „Warmer Brei für Nellie. Das wird ihr gut tun.“ Jody rieb sich die Stirn mit seinem Fingerknöchel. „Ist es soweit?“ fragte er schüchtern. Frau Tiflin stellte den Kessel hin und rührte den Brei mit einem Holzlöffel. „Natürlich ist sie soweit. Nur solltest du von jetzt an besser auf sie achtgeben. Hier, bring’ ihr das Frühstück.“ Jody kletterte mit dem Eimer über den Zaun und setzte den dampfenden Brei vor Nellie hin, die gerade beim Wassertrog stand. Dann trat er zurück, 213
um sie zu betrachten. Sie hatte sich wirklich verändert. Ihr Leib war geschwollen. Wenn sie sich bewegte, traten ihre Füße sanft auf den Boden. Sie tauchte die Nase in den Eimer und schlürfte das Frühstück. Als sie fertig war und den Eimer ein wenig auf dem Boden herumgestoßen hatte, ging sie ruhig zu Jody hinüber und rieb sich die Wange an seiner Schulter. Bill Buck kam hinzu und sagte: „Es geht schnell, wenn es einmal anfängt, wie?“ „Wie lange wird es noch dauern?“ fragte Jody atemlos. Bill zählte flüsternd an seinen Fingern. „Etwa drei Monate“, sagte er dann laut. „Ganz genau kann man es nicht sagen. Manchmal ist es auf den Tag elf Monate, aber es kann auch zwei Wochen früher oder einen Monat später eintreten, ohne daß das etwas zu bedeuten hat.“ Während der ersten zwei Januarwochen regnete es beständig. Wenn Jody nicht in der Schule war, verbrachte er die meiste Zeit im Stall bei Nellie. Die Stute war jetzt so aufgeschwollen, daß Jody es mit der Angst bekam. „Ich glaube, sie wird platzen“, sagte er zu Bill. Der fünfzehnte Januar kam heran, und das Fohlen war noch immer nicht da. Der zwanzigste kam. Nun wuchs in Jodys Magen ein dicker Klumpen Angst. „Wird auch alles gut gehen?“ fragte er Bill bange. „Sicher. Ich habe dir doch gesagt, daß es nicht immer zur selben Zeit ist. Du mußt dich gedulden.“ 214
In der Nacht zum zweiten Februar schrie Jody im Schlaf auf. „Jody, du träumst“, rief seine Mutter herein, „wach’ auf und schlaf wieder ein.“ Aber Jody war so mit Schrecken und Verzweiflung erfüllt, daß er kurze Zeit ruhig liegen blieb, bis seine Mutter wieder eingeschlafen war. Dann schlüpfte er in seine Kleider und ging mit bloßen Füßen nach draußen. Die Nacht war pechschwarz. Ein feiner Staubregen fiel nieder. Die Stalltür kreischte, als er sie öffnete, was sie nie bei Tage tat. Jody fand eine Laterne und eine Schachtel Streichhölzer. Nellie stand aufrecht. Ihr ganzer Körper schwankte hin und her. Jody schmeichelte ihr, aber das Schwanken hörte nicht auf, sie sah sich auch nicht um. Als er neben sie trat und sie auf den Hals klopfte, zuckte sie unter seiner Hand zusammen. Da rief Bill Buck von dem über dem Stall gelegenen Heuboden, wo er schlief: „Was tust du da, Jody?“ „Ich wollte nur mal nach Nellie sehen. Meinst du, daß mit ihr alles richtig ist?“ „Ja, natürlich.“ „Du sorgst doch dafür, Bill, daß ihr nichts passiert?“ „Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich dich holen werde“, knurrte Bill, „und damit gut. Mach’, daß du wieder ins Bett kommst und denk’ nicht immer an die Stute. Sie hat gerade genug zu tun und braucht dein Jammern nicht.“ Jody war ganz klein und häßlich, denn er hatte Bill noch nie in einem solchen Ton sprechen gehört. 215
Als er durch die Küche schlich, stolperte Jody über einen Stuhl. Sein Vater rief vom Schlafzimmer: „Wer ist da?“ In der nächsten Sekunde stand der Vater auch schon mit einer brennenden Kerze vor ihm. „Was machst du da?“ „Ich habe nur nach der Stute gesehen“, sagte Jody schüchtern. Der Zorn, der schon in Jodys Vater aufspringen wollte, wurde von Bewunderung über Jodys Tüchtigkeit niedergehalten. „Es gibt keinen Menschen“, sagte er schließlich, „der mehr von Pferden versteht als Bill. Die Sorge um die Stute überlass’ ihm.“ „Aber das Pony starb …“ kam es aus Jodys Munde gepoltert. „Das war nicht seine Schuld“, sagte Tiflin. „Wenn Bill ein Pferd nicht retten kann, so kann es nicht gerettet werden.“ Es schien Jody, daß er kaum die Augen geschlossen hatte, um zu versuchen, wieder einzuschlafen, als er heftig an der Schulter gerüttelt wurde. Neben ihm stand Bill Buck mit einer Laterne in der Hand. „Steh auf“, sagte er, „schnell!“ Dann war er schon wieder aus dem Zimmer. Jody schlüpfte so schnell in seine Kleider, daß er bereits draußen war, als Bills Laterne noch auf dem Hof hin- und herschwankte. Die Berggipfel lagen schon im Morgengrauen, aber in die tief gelegene Mulde der Ranch drang noch kein Licht. Jody lief eilig hinter der Laterne her und erreichte Bill gerade, als er in den Stall trat. Bill hängte die Laterne 216
an einen Nagel an der Wand und zog seinen blauen Stallrock aus. Jody sah, daß er nur ein ärmelloses Hemd darunter trug. Nellie stand starr und steif da, aber während beide sie betrachteten, krümmte sie sich zusammen. Ihr Leib zuckte. Dann hörten die Krämpfe auf, begannen aber bald wieder aufs neue. „Da stimmt was nicht“, murmelte Bill nervös. Sein entblößter Arm verschwand. „Um Himmelswillen“, sagte er, „es liegt falsch.“ Der Krampf kam wieder. Bill straffte sich. An seinem Arm und an seiner Schulter traten die Muskeln hervor. Er keuchte, Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Nellie schrie vor Schmerz. „Es liegt falsch“ keuchte Bill. „Ich kann es nicht herumdrehen. Es liegt ganz verkehrt.“ Er blickte wild auf Jody. Dann stellte er mit den Fingern eine sorgfältige Untersuchung an. Er sah Jody mit aufgeblasenen Backen eine Minute fragend an. Dann holte er mit seiner feuchten Hand einen Schmiedehammer von der Wand. „Geh fort, Jody“, sagte er. Jody starrte ihn töricht an. „Geh fort, sag’ ich dir, sonst ist es zu spät.“ Jody rührte sich nicht von der Stelle: Da ging Bill Buck schnell zu Nellies Kopf hin. „Schau weg“, schrie er, „dreh dich um!“ Diesmal gehorchte Jody. Er wandte den Kopf zur Seite. Er hörte Bill heiser keuchen und dann ein hohles Krachen von Knochen. Nellie gab einen schrillen Laut von sich. Jody sah, wie der Hammer sich noch einmal – hob und wieder auf die flache 217
Stirn sauste. Dann fiel Nellie schwer auf die Seite, zitterte einen Augenblick und streckte sich. Bill sprang auf sie, sein großes Taschenmesser in der Hand. Es dauerte nicht lange, dann hielt er das kleine, schwarze Fohlen in den Armen und betrachtete es. Und dann ging er langsam zu Jody hinüber und legte es ihm zu Füßen aufs Stroh. Bill zitterte am ganzen Körper, seine Zähne klapperten. Er konnte nur noch heiser flüstern: „Da ist dein Fohlen. Ich habe es dir versprochen, und da ist es. Ich mußte es tun.“ Dann blickte er über die Schulter in die Boxe, wo Nellie lag. „Hol’ Wasser und einen Schwamm“, flüsterte er. „Wasch es und trockne es ab, wie es seine Mutter getan haben würde. Du mußt es mit der Flasche aufziehen, aber du hast dein Fohlen, wie ich es dir versprochen habe.“ Jody starrte auf das feuchte, keuchende Fohlen. Es streckte sein Kinn aus und versuchte, den Kopf zu heben. Seine klaren Augen waren meerblau. „Hol’ dich der Teufel!“ schrie Bill. „Willst du jetzt gehen und Wasser holen, ja?“ Jetzt endlich raffte sich Jody auf und trat aus dem Stall in die Dämmerung hinaus. Sein Hals war ausgetrocknet, er spürte Übelkeit. Seine Beine waren steif und schwer. Er versuchte, sich über das Fohlen zu freuen, aber Bill Bucks irre, müde Augen hingen vor ihm in der Luft.
DIE SCHNÜRBRUST
Peter Randall war einer der angesehensten Farmer im Bezirk Monterey. Einmal, bevor er sich anschickte, in einer Freimaurerversammlung eine kleine Rede zu halten, bezeichnete ihn der Bruder, der ihn einführte, als ein nachahmenswertes Vorbild für sämtliche jungen Freimaurer Kaliforniens. Er war annähernd fünfzig; sein Benehmen war würdig und zurückhaltend, und er trug einen sorgfältig gepflegten Backenbart. Bei jeder Versammlung erhöhte sich noch die Autorität, die dem bärtigen Manne gebührte. Auch Peters Augen waren ernst; blau und ernst, ja, fast schwermütig. Die Leute fühlten, daß er Kraft besaß, aber eine gebändigte Kraft. Bisweilen bekamen seine Augen, ohne erkennbaren Anlaß, einen mürrischen und boshaften Ausdruck wie die Augen eines bösartigen Köters; aber dieser Ausdruck verschwand rasch und seine Miene wurde wieder zurückhaltend und aufrichtig. Er war groß und breitschultrig. Er trug seine Schultern so grade, als steckten sie in einem Panzer, und er zog seinen Bauch wie ein Soldat ein. Da Farmer gewöhnlich etwas schlaksig gehen, erhöhte Peters Haltung noch den Respekt vor ihm. Was Peters Frau, Emma, anbetraf, so stimmten die Leute allgemein darin überein, daß es kaum zu 219
begreifen sei, wie solch ein kleines Haut- und Knochenfrauchen überhaupt zu leben vermochte, besonders, da sie den größten Teil des Jahres krank war. Sie wog siebenundachtzig Pfund. Mit fünfundvierzig Jahren war ihr Gesicht so runzlig und braun wie das Gesicht einer alten, alten Frau. Nur ihre dunklen Augen glühten fieberig, vor Entschlossenheit zu leben. Ihr Vater war Freimaurer vom dreiunddreißigsten Grad und Meister vom Stuhl der Großloge von Kalifornien gewesen. Vor seinem Hinscheiden hatte er sich lebhaft für Peters Laufbahn als Freimaurer interessiert. Einmal im Jahr verreiste Peter auf eine Woche und ließ seine Frau allein auf der Farm. Den Nachbarn, die zu Besuch kamen, um ihr Gesellschaft zu leisten, erklärte sie regelmäßig: „Er befindet sich auf einer Geschäftsreise.“ Jedesmal, wenn Peter von einer solchen Geschäftsreise zurückkehrte, war Emma ein oder zwei Monate leidend, und das war hart für Peter, denn Emma verrichtete ihre Arbeit allein und weigerte sich, ein Dienstmädchen zu nehmen. Wenn sie krank war, mußte daher Peter die Hausarbeit verrichten. Die Randall-Farm lag jenseits des Salinas am Rande der Vorberge. Es war ein ideal ausgeglichener Besitz aus Flach- und Hügelland. Fünfundvierzig Acker fruchtbaren, ebnen Bodens, in alten Zeiten von dem Fluß aus der besten Erde des Landes angeschwemmt und flach wie ein Brett ausgebreitet; und achtzig Acker welligen Hügellands für Heu 220
und Obstbäume. Das weiße Gutshaus war so adrett und zurückhaltend wie seine Besitzer. Der unmittelbar am Hause liegende Hof war eingezäunt und in dem Garten züchtete Peter unter Emmas Anleitung Dahlien und Immortellen, Garten- und Kartäusernelken. Von der Vordertür schweifte der Blick hinab über das Flachland bis zu dem Flusse mit seinem Saum von Weiden und Baumwollsträuchern, und weiter über den Fluß hinweg zu Rübenfeldern und hinter den Feldern zu der zwiebelförmigen Kuppel des Gerichtsgebäudes von Salinas. Am Nachmittag pflegte Emma in einem Liegestuhl vor der Haustüre zu sitzen, bis der kühle Wind sie ins Zimmer scheuchte. Sie strickte ständig und blickte nur dann und wann auf, um zu beobachten, ob Peter auf den Äckern oder in dem Obstgarten oder auf dem Hang unterhalb des Hauses arbeitete. Die Randall-Farm war nicht höher mit Hypotheken belastet als irgendeine der andern Besitzungen in dem Tale. Die Saat, sachverständig ausgewählt und sorgfältig gepflegt, zahlte die Zinsen und gestattete eine vernünftige Lebensführung und warf außerdem jährlich ein paar hundert Dollar ab zur Tilgung der Schulden. Es war daher kein Wunder, daß Peter Randall bei seinen Nachbarn in hohem Ansehen stand und daß seinen spärlichen Worten, selbst wenn sie vom Wetter oder, den alltäglichsten Dingen handelten, Aufmerksamkeit gezollt wurde. Wenn Peter erklärte: „Ich werde am Samstag ein 221
Schwein schlachten“, ging nahezu jeder seiner Hörer nach Hause und schlachtete am Samstag ein Schwein. Sie wußten nicht weshalb, aber wenn Peter Randall ein Schwein zu schlachten beabsichtigte, erschien es ihnen als eine gute, sichere, vernünftige Sache, es gleichfalls zu tun. Peter und Emma waren seit einundzwanzig Jahren verheiratet. Sie füllten das Haus an mit soliden Möbeln, einer Anzahl gerahmter Gemälde, Vasen von allen erdenklichen Formen und Büchern eines ganz bestimmten Typs. Emma hatte keine Kinder. Das Haus war makellos, unverziert und unbemalt. Vor der Vorder- und der Hintertüre hielten Fußabstreifer und dicke Kokosmatten dem Hause den Schmutz fern. In den Zeiten zwischen ihren Krankheiten achtete Emma darauf, daß das Haus peinlich sauber gehalten wurde. Die Angeln der Zimmer- und Schranktüren waren geölt und nirgends fehlte eine Schraube. Die Möbel und die Vertäfelung wurden einmal im Jahre aufpoliert. In der Regel wurden Reparaturen vorgenommen, wenn Peter von seiner jährlichen Geschäftsreise heimgekehrt war. So oft die Nachricht unter den Farmern die Runde machte, Emma sei wieder erkrankt, lauerten die Nachbarn dem Doktor, wenn er die Uferstraße entlang fuhr, auf. „Oh, vermutlich wird sie bald wieder wohlauf sein“, antwortete er auf ihre Fragen. „Freilich wird sie ein paar Wochen das Bett hüten müssen.“ 222
Die guten Nachbarn schleppten Kuchen in die Randall-Farm und betraten auf Zehenspitzen das Krankenzimmer, in dem das knochige Vögelchen von einer Frau in einer riesigen Walnußbettstatt lag. Sie blickte die Besucher mit ihren glänzenden, kleinen dunklen Augen an. „Sollen wir nicht die Vorhänge ein wenig aufziehen, Liebste?“ fragten sie. „Nein, danke. Das Licht tut meinen Augen weh.“ „Können wir nicht irgend etwas für Sie tun?“ „Nein, danke. Peter sorgt sehr gut für mich.“ „Bitte, vergessen Sie nicht, wenn Ihnen irgend etwas einfallen sollte …“ Emma war eine so energische Frau. Es gab nichts, was man für sie tun konnte, wenn sie krank lag, außer Peter mit Pasteten und Kuchen zu versorgen. Peter pflegte sich, mit einer hübschen, sauberen Schürze bekleidet, in der Küche aufzuhalten. Entweder füllte er eine Wärmflasche oder er rührte Quark an. Und an einem Herbsttage, als die Nachricht umlief, daß Emma einen Zusammenbruch erlitten habe, buken die Farmersfrauen für Peter und bereiteten sich vor, ihre üblichen Besuche abzustatten. Mrs. Chappell, die nächste Nachbarin, stand wartend an der Uferstraße, als der Doktor vorbeifuhr. „Wie geht es Emma Randall, Doktor?“ „Ich fürchte, es geht ihr nicht besonders gut, Mrs. Chappell; ich fürchte, sie ist eine recht kranke Frau.“ 223
Da sich nach Dr. Marn’s Ansicht jeder, der nicht tatsächlich ein Leichnam war, auf dem Weg der Genesung befand, wurde auf den Farmen das Gerücht kolportiert, Emma Randall läge im Sterben. Es war eine lange, schreckliche Krankheit. Peter selbst verabreichte ihr Klistiere und brachte ihr Wärmflaschen. Des Doktors Vorschlag, eine Krankenschwester zu engagieren, traf in den Augen der Patientin auf heftigen Widerstand; und so krank wie sie war, wurden ihre Wünsche respektiert. Peter reichte ihr das Essen und badete sie und brachte das große Walnußbett in Ordnung. Die Vorhänge des Schlafzimmers blieben zugezogen. Es währte zwei Monate, ehe sich die dunklen, stechenden Vogelaugen verschleierten und der scharfe Verstand sich ins Unbewußte zurückzog. Erst dann kam eine Schwester in das Haus. Peter selbst war abgemagert und elend, und stand dicht vor einem Zusammenbruch. Die Nachbarn versorgten ihn mit Kuchen und Pasteten, aber fanden dieselben, wenn sie wieder vorsprachen, unberührt in der Küche stehen. An dem Nachmittage, an dem Emma starb, weilte Mrs. Chappell bei Peter im Hause. Peter erlitt einen hysterischen Anfall. Mrs. Chappell telephonierte mit dem Doktor und rief dann ihren Gatten zur Hilfe herbei, denn Peter gebärdete sich wie ein Verrückter und trommelte mit beiden Fäusten gegen seine bärtigen Wangen. Ed Chappell war peinlich berührt als er ihn so sah. 224
Peters Bart war naß von Tränen. Sein lautes Schluchzen konnte man im ganzen Hause vernehmen. Bisweilen saß er neben dem Bett, den Kopf in ein Kissen vergraben, und bisweilen lief er blökend wie ein Kalb im Zimmer auf und ab. Als Ed Chappell schüchtern seine Hand auf Peters Schultern legte und mit hilfloser Stimme sagte: „Fass’ dich, Peter, fasse dich endlich“, schüttelte Peter die Hand des Freundes ab. Der Doktor zog einen Totenschein aus der Tasche und unterzeichnete ihn. Als der Leichenbestatter erschien, durchlebten die Herren mit Peter eine furchtbare Zeit. Er war halb wahnsinnig. Als sie versuchten, die Leiche aus dem Zimmer zu schaffen, stürzte er wütend auf sie los. Erst nachdem Ed Chappell und der Leichenbestatter ihn festhielten, während der Doktor ihm eine Morphiumspritze verabreichte, konnten sie Emma fortbringen. Das Morphium brachte Peter keinen Schlaf. Zusammengekauert und schwer atmend hockte er in einer Ecke und starrte auf den Fußboden. „Wer wird bei ihm bleiben?“ erkundigte sich der Doktor. Und zu der Schwester gewandt: „Sie, Miss Jack?“ „Ich würde allein nicht mit ihm fertig werden, Herr Doktor.“ „Wollen Sie bei ihm bleiben, Chappell?“ „Selbstredend bleibe ich bei ihm.“ „Gut. Also passen Sie auf. Hier haben Sie drei wirksame Brompräparate. Sollte er wieder zu toben 225
beginnen, geben Sie ihm eine Dosis. Falls das nicht hilft, so haben Sie hier noch einige Tabletten Veronal Natrium.“ Ehe der Arzt und der Leichenbestatter sich entfernten, führten sie den halb betäubten Peter in das Wohnzimmer und betteten ihn sorgsam auf ein Sofa. Ed Chappell setzte sich in einen Lehnstuhl und beobachtete den Freund. Die Beruhigungsmittel und ein Glas Wasser standen neben ihm auf dem Tisch. Das kleine Wohnzimmer war abgestaubt und peinlich sauber. Erst am Morgen hatte Peter den Fußboden mit feuchtem Zeitungspapier gescheuert. Ed Chappell errichtete in dem Kamin einen kleinen Scheiterhaufen und legte, sobald die Flammen hochschlugen, ein paar Eichenklötze darauf. Die Dunkelheit hatte zeitig eingesetzt. Kleine Regentropfen wurden vom Winde gegen das Fenster getrieben. Ed säuberte den Docht der Petroleumlampe und drehte ihn niedrig. Im Kamin prasselte das Feuer und die Flammen schlangen sich wie Haare um die Eichenscheite. Lange Zeit saß Ed in seinem Lehnstuhl und ließ Peter, der im Halbschlaf auf dem Sofa ruhte, nicht aus den Augen. Endlich nickte Ed selbst ein. Etwa gegen zehn Uhr erwachte er. Er fuhr hoch und blickte nach dem Sofa hinüber. Peter hatte sich aufgerichtet und starrte ihn an. Ed’s Hand griff nach dem Bromfläschchen, aber Peter schüttelte den Kopf. 226
„Du brauchst mir nichts einzugeben, Ed. Ich glaube, der Doktor hat mir eine tüchtige Dosis eingespritzt. Ich fühle mich jetzt bereits ganz wohl, nur ein wenig dösig.“ „Wenn du wenigstens eine von diesen Tabletten nehmen wolltest, würdest du schlafen können.“ „Ich mag aber nicht schlafen.“ Er spielte mit seinen Fingern in dem zerzausten Bart und erhob sich dann. „Ich werde hinausgehen und mein Gesicht waschen, dann wird mir wohler werden.“ Ed hörte, wie er in der Küche den Wasserhahn aufdrehte. Bereits nach wenigen Minuten betrat er, das Gesicht mit einem Handtuch abtrocknend, das Wohnzimmer. Er lächelte seltsam. Es war ein höhnisches, verwundertes Lächeln, ein Ausdruck wie ihn Ed bei Peter noch nie bemerkt hatte. „Ich glaube, als sie starb, bekam ich eine Art Tobsuchtsanfall, nicht wahr?“ fragte Peter. „Nun – ja. Du ließest dich ziemlich gehen.“ „Mir war, als schnappte in meinem Innern irgend etwas aus“, erklärte Peter. „Etwas wie ein Treibriemen. Alles in mir schien sich zu lösen.“ Ed schlug die Augen nieder und sah eine kleine, braune Spinne über den Fußboden kriechen und streckte seinen Fuß aus und zertrat sie. Unvermittelt fragte Peter: „Glaubst du an ein Leben nach dem Tode?“ Ed Chappell rückte auf seinem Sessel unbehaglich hin und her. Er schätzte es nicht, über solche Fragen zu sprechen, denn über sie sprechen, hieß, 227
sie sich in das Bewußtsein rufen und über sie nachdenken. „Hm – ja, wenn du mich auf Herz und Nieren prüfst, so muß ich die Frage bejahen.“ „Glaubst du, daß jemand – jemand, der hinübergegangen ist –, herunterzublicken und zu sehen vermag, was wir hier treiben?“ „Oh – ob ich so weit gehen möchte, weiß ich nicht – nein, das weiß ich wahrhaftig nicht.“ Peter fuhr wie im Selbstgespräch fort: „Angenommen, sie könnte mich sehen, und ich betrüge mich nicht so, wie sie es verlangte, so müßte sie eigentlich darüber ganz froh sein, denn solange sie hier war, handelte ich ja nach ihren Wünschen. Es müßte sie freuen, daß sie aus mir einen anständigen Kerl gemacht hatte. Falls ich mich; seit sie nicht mehr hier ist, nicht wie ein anständiger Mensch aufführen würde, so wäre das doch nur ein Beweis, daß ihr allein das Verdienst gebührte. Meinst du nicht auch? Und ich war doch ein tüchtiger Kerl! Nicht wahr, Ed?“ „Was soll das bedeuten: ‚war‘?“ „Nun, mit Ausnahme einer einzigen Woche im Jahr habe ich mich immer anständig aufgeführt. Ich weiß nicht, wie das jetzt werden wird …“ Sein Gesicht bekam einen zornigen Ausdruck. „Nur eines weiß ich.“ Er sprang auf und riß sich Rock und Hemd vom Leibe, über seinem Netzhemd trug er eine Schnürbrust, die seine Schultern zurückbog. Er hakte die Schnürbrust auf und schleuderte sie 228
fort. Dann ließ er seine Hosen herunter und enthüllte einen breiten Gummigürtel. Er streifte ihn über die Füße und kratzte wollüstig seinen Leib, ehe er seine Kleider anzog. Wieder blickte er Ed mit jenem merkwürdigen, verwunderten Lächeln an. „Ich begreife es nicht, wie sie mich dazu brachte, gewisse Dinge zu tun, aber sie tat es. Sie erweckte nie den Eindruck, als kujoniere sie mich, aber trotzdem zwang sie mich, bestimmte Dinge zu tun. Weißt du, im Grunde glaube ich nicht an ein Leben nach dem Tode. Solange sie lebte, selbst wenn sie krank lag, mußte ich alles tun, was sie wollte, aber in dem Augenblick, da sie die Augen schloß, war mir – ja, es war – als sei die Schnürbrust von mir abgefallen. Ich konnte es nicht länger ertragen. Alles war vorüber. Ich werde mich erst daran gewöhnen müssen, ohne diesen Panzer herumzulaufen.“ Er drohte Ed mit dem Finger. „Mein Bauch wird sich vorwölben“, erklärte er nachdrücklich. „Ich will, daß er sich vorwölbt. Schließlich bin ich fünfzig Jahre alt.“ Ed fühlte sich unbehaglich. Er wäre am liebsten fortgerannt. Diese Redensarten erschienen ihm nicht passend. „Wenn du nur eine dieser Tabletten schlucken wolltest, würdest du schlafen können“, sagte er verlegen. Peter hatte seinen Rock noch nicht wieder angelegt. Er saß mit geöffnetem Hemd auf dem Sofa. „Ich will aber nicht schlafen. Ich möchte mich unterhalten. Vermutlich werde ich den Gürtel und den 229
Panzer zur Beerdigung noch einmal tragen müssen, aber dann werde ich beide verbrennen. Paß mal auf. Im Schuppen habe ich noch eine Flasche Whisky. Ich werde sie holen.“ „Oh nein, nein“, widersprach Ed eifrig. „Ich könnte jetzt keinen Tropfen trinken, nicht zu so einer Zeit.“ Peter erhob sich. „Nun, ich kann es. Wenn du willst, kannst du ruhig sitzenbleiben und mir zuschauen. Ich erkläre dir, es ist alles vorüber.“ Er ging zur Tür hinaus und ließ Ed Chappell niedergeschlagen und empört zurück. Schon nach wenigen Augenblicken erschien er wieder. Während er mit der Whiskyflasche in der Hand eintrat, fuhr er in seiner Rede fort. „Nur eine Sache habe ich in meinem Leben durchgesetzt: jene Reisen. Emma war ein verdammt helles Frauenzimmer. Sie wußte, ich würde überschnappen, hätte ich nicht einmal im Jahre fort gedurft. Gütiger Gott, wie sie mir ins Gewissen redete, wenn ich heimkam.“ Er senkte seine Stimme zu vertraulichem Flüstern. „Weißt du, was ich während dieser Reisen tat?“ Ed starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Hier saß ein Mann, den er nicht kannte, und er war wie verzaubert. Er nahm das Glas Whisky, als es ihm gereicht wurde. „Nein, was tatest du?“ Peter goß den Schnaps hinunter und hustete und wischte sich den Mund mit der Hand. „Ich besoff mich!“ erwiderte er. „Ich besuchte Freudenhäuser in San Franzisko. Eine Woche war ich besoffen und 230
jede Nacht ging ich in ein Bordell.“ Er schenkte sich sein Glas voll. „Ich vermute, Emma ahnte das, aber sie sprach nie ein Wort darüber. Ich wäre zusammengebrochen, hätte ich nicht fort gekonnt.“ Ed Chappell nippte zimperlich an seinem Whisky. „Sie behauptete stets, du befändest dich auf einer Geschäftsreise.“ Peter betrachtete sein Glas und leerte es und schenkte es wieder voll. Seine Augen begannen zu glänzen. „Trink deinen Whisky, Ed. Ich weiß, du hältst es nicht für anständig – so bald schon, aber außer dir und mir soll es kein Mensch erfahren. Schür’ das Feuer. Ich bin nicht traurig.“ Chappell kniete vor dem Kamin nieder und stocherte in dem glimmenden Holz, bis eine Unmenge Funken gleich kleinen schillernden Vögeln den Kamin emporflogen. Peter füllte die Gläser und zog sich auf das Sofa zurück. Als Ed sich wieder auf den Stuhl gesetzt hatte, trank er aus seinem Glase und gab sich den Anschein, als merke er nicht, daß es nachgefüllt worden war. Seine Backen begannen sich zu röten. Jetzt erschien es ihm gar nicht mehr so schrecklich, zu trinken. Der Nachmittag und der Tod waren in eine ferne Vergangenheit versunken. „Möchtest du ein Stück Kuchen? In der Speisekammer stehen ein halbes Dutzend Kuchen.“ „Nein, ich glaube, ich möchte keinen.“ „Weißt du“, gestand Peter, „ich glaube, ich werde in diesem Leben nie wieder ein Stück Kuchen 231
essen. Seit zehn Jahren brachten mir die Leute jedesmal, wenn Emma krank lag, Kuchen. Das war nett von ihnen, selbstverständlich; aber seit dieser Zeit ist Kuchen für mich gleichbedeutend mit Krankheit. Sauf deinen Whisky!“ In dem Zimmer ereignete sich etwas. Beide Männer blickten auf, um festzustellen, was geschehen war. Das Zimmer war irgendwie anders, als es vor einer Sekunde gewesen war. Dann lächelte Peter trunken. „Die Stutzuhr ist stehengeblieben. Ich glaube, ich werde sie nicht wieder aufziehen. Ich werde mir eine kleine, schnelle Weckeruhr anschaffen, die rasch tickt. Das Klack-Klack-Klack klingt so traurig.“ Er goß seinen Whisky hinunter. „Vermutlich wirst du überall herumerzählen, ich sei verrückt. Oder etwa nicht?“ Ed blickte von seinem Glase auf, lächelte und wiegte den Kopf. „Nein, das werde ich nicht tun. Ich begreife recht gut, wie dir zumute ist. Ich hatte ja keine Ahnung, daß du jenen Panzer und den Gürtel trugst.“ „Ein Mann soll gerade und aufrecht stehen“, erklärte Peter. „Ich bin von Natur schlaksig.“ Plötzlich polterte er los: „Ich bin von Natur ein Trottel! Seit zwanzig Jahren habe ich den weisen, anständigen Mann gespielt – ausgenommen jene eine Woche im Jahr.“ Dann sagte er mit schallender Stimme: „Die Dinge sind so tropfenweise über mich gekommen. Das Leben ist aus mir herausgequetscht worden. Komm, laß mich dein Glas füllen. 232
Ich habe noch eine zweite Pulle draußen im Schuppen unter einem Stapel Säcken versteckt.“ Ed hielt ihm sein Glas hin. Peter fuhr fort: „Ich dachte, wie schön es sein müßte, wenn ich meine gesamten Äcker am Fluß mit spanischen Wicken bestellen würde. Stell’ dir nur vor, wie hübsch es sein müßte, vor der Haustüre zu sitzen und über die Äcker aus Blau und Rot – eine einzige Farbenfläche – zu blicken. Und stell’ dir den betäubenden Geruch vor, wenn der Wind darüberfegt. Ein so betäubender Duft, daß er einen fast zu Boden werfen würde.“ „Eine Menge Menschen haben sich durch den Anbau wohlriechender Wicken ruiniert. Selbstredend erhältst du einen ordentlichen Batzen Geld für dein Saatgut, aber wie viele Zufälligkeiten können deine ganze Ernte vernichten.“ „Ich schere mich den Teufel darum!“ schrie Peter. „Ich will ein Übermaß von allem und jedem. Ich will vierzig Äcker voll Farbe und Duft. Ich will ein feistes Frauenzimmer mit Brüsten wie Kissen. Ich bin ausgehungert, sage ich dir, ich bin ausgehungert nach allem, nach einem Übermaß von allem.“ Ed’s Gesicht wurde bei diesen Gefühlsausbrüchen besorgt: „Wenn du nur eine dieser Tabletten einnehmen würdest, könntest du schlafen.“ Peter sah den Freund beschämt an. „Ich fühle mich vollständig wohl. Ich wollte nicht so schreien. Ich denke heute nicht zum erstenmal an diese Dinge! Seit Jahren habe ich an sie gedacht, wie ein 233
Schulbub an die Ferien denkt. Ich fürchtete immer, ich würde zu alt sein. Oder ich würde ihr vorangehen und alles verlieren. Aber ich bin erst fünfzig, in mir steckt noch ein Überschuß an Saft und Kraft. Ich sprach mit Emma über die spanischen Wicken, aber sie wollte davon nichts hören. Ich weiß nicht, wie sie es anstellte, mich gefügig zu machen“, fügte er versonnen hinzu. „Ich vermag mich nicht mehr daran zu erinnern; sie hatte ihre eigne Art, alles durchzusetzen. Jetzt ist sie fort. Ich spüre, daß sie fort ist. Ich werde wieder schlaksig werden, Ed. Ich werde über die ganze Farm hinschlaksen. Ich werde Dreck in das Haus hineinschleppen. Ich werde mir eine große, fette Haushälterin aussuchen – eine große, fette, aus San Franzisko. Und stets und ständig soll eine Flasche Brandy auf dem Regal stehen.“ Ed Chappell erhob sich und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Ich glaube, da du dich wohl fühlst, ist es für mich Zeit, nach Hause zu gehn. Ich möchte noch ein paar Stunden schlafen. Es wäre vernünftiger, Peter, wenn du die Uhr aufziehen würdest. Einer Uhr tut es nicht gut, wenn man sie nicht aufzieht.“ Am Tag nach der Beerdigung machte sich Peter Randall auf seiner Farm an die Arbeit. Die Chappels, denen das benachbarte Gut gehörte, sahen lange vor Tagesanbruch in Peters Küche die Lampe brennen. Und sie sahen, eine halbe Stunde bevor sie aufstanden, seine Laterne über den Hof schwanken! Im 234
Verlauf von drei Tagen hatte Peter die Obstbäume in seiner Plantage ausgeputzt und beschnitten. Er arbeitete vom ersten Lichtstrahl, bis er die Zweige gegen den Himmel nicht mehr zu erkennen vermochte. Dann begann er die große, am Fluß gelegene Ackerfläche zu bearbeiten. Er pflügte und walzte und eggte. Zwei Fremde in Schaftstiefeln und Reithosen kamen auf die Farm und besichtigten Peters Land. Sie zerkrümelten die Erde zwischen ihren Fingern und trieben tiefe Löcher in das Erdreich. Und als sie fortgingen, nahmen sie in kleinen Papiertüten Erdproben mit. Regelmäßig vor Beginn der neuen Saatperiode pflegten die Farmer einander zu besuchen. Sie hockten dann auf ihren Schenkeln, hoben Hände voll Erde auf und zerbröckelten sie zwischen ihren Fingern. Sie unterhielten sich über die Märkte und über das Saatgut und gedachten an Jahre, in denen Bohnen einen guten Marktpreis erzielt hatten, und an andere Jahre, wo Felderbsen kaum genug Geld eingebracht hätten, um die Kosten für das Saatgut zu decken. Es gab einige Farmer, deren Ansicht Gewicht besaß. Wenn Peter Randall oder Clark DeWitt erklärten, sie hätten die Absicht, Feuerbohnen und Futtergerste anzubauen, zeigte es sich, daß in diesem Jahre auf den meisten Farmen Feuerbohnen und Gerste angebaut wurden, denn da diese beiden Männer geachtet und erfolgreich waren, glaubte man allgemein, daß ihre Absichten wohlbegründet und nicht zufällig wären. Allgemein 235
wurde angenommen, freilich nie bestätigt, daß Peter Randall und Clark DeWitt besondere Verstandeskräfte und eine gewisse prophetische Begabung besäßen. Als die üblichen Besuche begannen, zeigte es sich, daß in Bezug auf Peter Randall eine Veränderung Platz gegriffen hatte. Er hockte auf seinem Pflug und unterhielt sich liebenswürdig. Er erklärte, er hätte sich noch nicht entschieden, was er anbauen würde, aber er sagte das in einem solchen schuldbewußten Ton, daß es jedem klar war, daß er keine Lust hatte, darüber zu reden. Als er mehrere Neugierige in dieser Weise abgefertigt hatte, hörten die Besuche auf seiner Farm auf und die Farmer gingen geschlossen in Clark DeWitt’s Lager über. Clark beabsichtigte, Chevaliergerste anzubauen. Seine Entscheidung bestimmte den überwiegenden Teil der Aussaat in der Nachbarschaft. Aber wenn auch die Fragen aufhörten, die Zinszahlung hörte nicht auf. Leute, die an der fünfundvierzig Acker umfassenden Fläche der RandallFarm vorüberfuhren, musterten das Feld sorgfältig, um aus der Art der Bestellung festzustellen, was wohl dort ausgesät werden sollte. Während Peter mit der Drillmaschine hin und zurück über den Akker fuhr, wagte sich niemand in die Nähe, denn Peter hatte deutlich zu verstehen gegeben, daß seine Aussaat ein Geheimnis sei. Selbst Ed Chappell besuchte ihn nicht mehr. Ed fühlte sich ein wenig beschämt, wenn er an jene 236
Nacht zurückdachte; beschämt über Peters Zusammenbruch, aber beschämt auch über sich selbst, weil er sitzengeblieben war und ihm zugehört hatte. Er beobachtete Peter genau, um sich zu vergewissern, ob Peter seine gottlosen Vorsätze verwirklicht habe, oder ob die ganze Unterhaltung nur eine Folge des Verlustes und einer hysterischen Anwandlung gewesen sei. Es fiel ihm auf, daß Peters Schultern nicht mehr zurückgebogen waren und daß sein Bauch ein wenig vorsprang. Er begab sich in Peters Haus und als er auf dem Fußboden keinen Schmutz entdeckte und auch die Stutzuhr wieder ticken hörte, atmete er erleichtert auf. Mrs. Chappell erzählte häufig von jenem Nachmittag. „Sie hätten, nach der Art, wie er sich aufführte, bestimmt geglaubt, er habe den Verstand verloren. Er heulte unbeherrscht. Ed verweilte einen Teil der Nacht bei ihm, bis er sich beruhigt hatte. Um ihn zum Schlafen zu bringen, mußte ihm Ed etwas Whisky einflößen. Aber“, fügte sie strahlend hinzu, „angestrengte Arbeit ist das sicherste Mittel, um Kummer zu verscheuchen. Peter Randall steht jeden Morgen um drei Uhr auf. Ich kann das Licht in seiner Küche von meinem Schlafzimmer aus sehen.“ Die Weiden bekleideten sich mit Silbertröpfchen, und längs des Weges sproß Unkraut hervor. Das Wasser des Salinas war dunkelbraun und einen Monat führte der Fluß Hochwasser, um dann wieder zu grünen Tümpeln zu versickern. Peter Randall hatte sein Land prachtvoll bestellt. Die Erde 237
war weich und schwarz; kein Klümpchen war größer als ein Kieselstein und bei Regenwetter schimmerte der Boden vor Fruchtbarkeit violett. Und dann gingen auf dem dunklen Acker die dünnen, grünen Reihen auf. Während der Dämmerung kroch ein Nachbar unter der Umzäunung hindurch und riß eines der winzigen Pflänzchen aus. „Irgendeine Leguminosenart“, erklärte er seinen Freunden. „Vermutlich Felderbsen. Weshalb tat er nur so geheimnisvoll? Ich fragte ihn unumwunden, was er zu säen beabsichtige, aber er wollte es mir nicht verraten.“ Die Worte: „Es sind spanische Wicken!“ liefen durch alle Farmen. „Die ganzen gottverdammten fünfundvierzig Acker sind mit wohlriechenden Wicken bestellt!“ Die Leute wandten sich an Clark DeWitt, um dessen Meinung zu hören. Seine Ansicht lautete folgendermaßen: „Die Leute glauben, weil man an spanischen Wicken pro Pfund zwanzig bis sechzig Cent verdienen kann, könne man durch sie reich werden. Aber spanische Wicken sind das unzuverlässigste Saatgut auf der Welt. Falls die Maikäfer sie nicht auffressen, können sie gut gedeihen. Aber dann kommt ein heißer Tag und sprengt die Hülsen auf und vernichtet alles. Oder es kommt Regenwetter und verdirbt die gesamte Ernte. Es ist durchaus berechtigt, ein paar Morgen anzubauen und dem Zufall zu vertrauen, aber doch nicht das ganze riesige Feld. Seit Emmas Tod ist Peter im Kopf nicht ganz richtig.“ 238
Diese Meinung fand ungeteilten Beifall. Jeder gab sie als die seine aus. Häufig äußerten sie zwei Nachbarn zueinander, wobei jeder die Hälfte der Worte des andern wiederholte. Als allzu viele Peter Randall das erklärten, wurde er unwirsch. Eines Tages schrie er: „Sagt bitte, wem gehört dieses Land? Wenn ich mich zugrunde richten will, habe ich ein verdammt gutes Recht dazu! Oder nicht?“ Und dieser Wutausbruch veränderte plötzlich die öffentliche Meinung. Die Leute erinnerten sich, daß Peter ein tüchtiger Farmer war. Vielleicht besaß er geheime Kenntnisse. Die beiden Männer in Schaftstiefeln waren zweifellos Bodensachverständige! Eine große Anzahl der Farmer wäre froh gewesen, wenn sie wenigstens ein paar Morgen mit wohlriechenden Wicken bestellt hätten. Sie wünschten das besonders, als die Ranken sich zu bilden begannen, sich über den Furchen vereinigten und die schwarze Erde dem Blick entzogen; als sich Knospen ansetzten und eine reiche Ernte verhießen. Und dann begann die Blütezeit; fünfundvierzig Acker voll Farbe, fünfundvierzig Acker voll Duft. Die Leute behaupteten, man könne den Duft vier Meilen fern in Salinas riechen. Autobusse führten Schulkinder hinaus, um sich die Pracht anzusehen. Eine Gruppe Herren von einer Saatgutgesellschaft verbrachten einen ganzen Tag damit, sich die Pflanzen anzuschauen und das Erdreich zu untersuchen. Jeden Nachmittag saß Peter Randall in einem 239
Schaukelstuhl vor seiner Haustüre und blickte hinunter auf das riesige Quadrat von Rot und Blau und auf das lustige Viereck aus gemischten Farbtönen. Wenn der Nachmittagswind wehte, sog er die Luft tief ein. Sein blaues Hemd stand am Halse offen, als wollte er seine Haut dem Dufte aussetzen. Die Farmer suchten von neuem Clark DeWitt auf, um jetzt seine Meinung zu erkunden. Er sagte: „Es gibt rund zehn Ereignisse, die die Ernte immer noch vernichten können. Aber man kann ihn zu seinen spanischen Wicken bisher beglückwünschen.“ Clarks gezwungenes Wesen verriet den Leuten, daß er ein wenig eifersüchtig war. Sie blickten über die bunten Felder zu Peter hinüber, der vor seiner Haustüre saß, und empfanden ihm gegenüber von neuem Bewunderung und Hochachtung. Eines Nachmittags stieg Ed Chappell die Stufen zu Peters Farm hinauf. „Du wirst eine famose Ernte haben, Freund.“ „Sieht so aus“, entgegnete Peter. „Ich warf einen flüchtigen Blick auf deine Felder. Die Schoten setzen gut an.“ Peter seufzte. „Die Blüte ist nahezu vorüber“, sagte er. „Ich hasse es, die Staubgefäße abfallen zu sehen.“ „Ich würde mich an deiner Stelle freuen, sie abfallen zu sehen. Falls nichts dazwischenkommt, wirst du einen Haufen Geld scheffeln.“ Peter zog sein buntes Taschentuch aus der Rock240
tasche und schnaubte sich die Nase und rieb sie kräftig, weil sie juckte. „Mich betrübt es, daß der Duft sobald aufhört“, sagte er. Dann machte Ed eine Anspielung auf den Tag von Emmas Tode. Er kniff das eine Auge listig zu. „Hast du jemand zur Führung deines Haushaltes gefunden?“ „Ich habe mich noch gar nicht umgeschaut“, erklärte Peter. „Ich hatte keine Zeit.“ Um seine Augen hatten sich Sorgenfalten eingegraben. Aber wer würde sich keine Sorgen machen, dachte Ed, wenn ein einziger Hagelschauer die gesamte Mühe eines Jahres vernichten kann. Wären das Jahr und das Wetter extra für wohlriechende Wicken bestellt worden, es hätte nicht günstiger sein können. An den Tagen, an denen frühmorgens die Schoten abgepflückt wurden, lagerte der Nebel dicht auf dem Boden. Als die riesigen Haufen sicher auf Leinentüchern ausgebreitet lagen, brannte die Sonne heiß vom Himmel und ließ die Schoten für den Drusch reifen. Die Nachbarn sahen staunend zu, wie sich die langen Reihen von Säcken mit den runden, dunklen Körnern füllten, und sie gingen nach Hause, um auszurechnen, wieviel Dollar diese überreiche Ernte Peter vermutlich eintragen würde. Clark DeWitt verlor einen großen Teil seiner Anhänger. Die Leute beschlossen, herauszubekommen, was Peter im kommenden Jahr anzupflanzen beabsichtige, um seinem Beispiel folgen zu können. Wie hatte er es nur 241
vorausahnen können, daß dieses Jahr für spanische Wicken so vortrefflich geeignet sein würde. Zweifellos verfügte er über irgendwelche geheimnisvollen Kenntnisse. Wenn ein Bewohner des oberen Salinastals in Geschäften oder zur Erholung nach San Franzisko reist, nimmt er sich ein Zimmer im Ramona-Hotel. Das ist sehr angenehm, denn in der Halle trifft er gewöhnlich irgend jemanden aus seiner Heimat. Man sitzt in den Polstersesseln der Halle und kann sich über das Salinastal unterhalten. Ed Chappell fuhr nach San Franzisko, um die Kusine seiner Frau abzuholen, die von Ohio zu Besuch erwartet wurde. Der Zug war erst am folgenden Morgen fällig. In der Halle des Ramona schaute sich Ed nach einem Bekannten aus dem Salinastal um, aber in den Klubsesseln saßen nur Fremde. Er besuchte ein Kino. Bei seiner Rückkehr blickte er sich wieder nach irgendeinem Menschen aus der Heimat um, aber auch jetzt waren nur Fremde anwesend. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Vergnügungsanzeiger, aber es war bereits ziemlich spät. Er nahm daher Platz, um vor dem Schlafengehen noch seine Zigarre zu Ende zu rauchen. In der Eingangstür entstand ein Tumult. Ed sah, wie der Portier mit der Hand winkte. Ein Page eilte auf die Straße. Ed drehte sich neugierig in seinem Sessel um. Draußen wurde einem Herrn beim Aussteigen aus einem Taxameter geholfen. Der Page 242
nahm ihn von dem Kutscher in Empfang und geleitete ihn durch die Tür. Es war Peter Randall. Seine Augen stierten glasig und aus seinem geöffneten Munde tropfte es feucht. Auf seinem wirren Haar fehlte der Hut. Ed sprang auf und eilte zu ihm. „Peter!“ Peter versuchte kraftlos den Pagen fortzuschieben. „Laß mich in Frieden“, stammelte er. „Alles in bester Ordnung. Wenn du mich endlich ungeschoren läßt, erhältst du das doppelte Trinkgeld.“ Ed rief wieder: „Peter!“ Die verglasten Augen wandten sich ihm langsam zu und dann fiel Peter ihm um den Hals. „Mein alter Freund“, rief er. „Ed Chappell, mein alter lieber Freund. Was treibst du hier? Komm hinauf in mein Zimmer und trink mit mir ein Glas.“ Ed stellte ihn auf seine Füße. „Bei Gott, das tu’ ich“, sagte er. „Ich habe das Bedürfnis nach einem kleinen Schlaftrunk.“ „Schlaftrunk? Hölle und Teufel! Wir wollen ausgehn … und … und uns eine Revue ansehn oder so was.“ Ed half ihm in den Fahrstuhl und geleitete ihn in sein Zimmer. Peter ließ sich schwerfällig auf sein Bett fallen und kämpfte sich dann in eine sitzende Haltung. „Nebenan, im Badezimmer steht eine Pulle Whisky. Hol’ uns ein Glas.“ Ed brachte die Flasche und zwei Gläser. „Was tust du in Frisco, Peter? Feierst wohl die Ernte? Mußt einen Haufen Geld verdient haben.“ 243
Peter spreizte seine Handfläche aus und tippte nachdrücklich mit dem Finger darauf. „Natürlich habe ich Geld verdient – aber es war ein Hasardspiel. Ja, es war das reinste Hasardspiel.“ „Aber du hast das Geld eingesackt!“ Peter krauste gedankenvoll die Stirn. „Genau so gut hätte mir die Puste ausgehn können“, sagte er. „Die ganze Zeit, das ganze Jahr kam ich nicht aus den Sorgen heraus. Es war einfach ein Hasardspiel.“ „Na, auf jeden Fall hast du dein Geld weg.“ Peter wechselte das Thema. „Mir wurde übel“, sagte er. „In dem Taxameter wurde mir übel. Ich komme schnurstracks aus einem Freudenhaus in der Van Ness Avenue“, erklärte er entschuldigend. „Ich bin erst heute in der Stadt angekommen. Ich wäre zusammengebrochen, wär’ ich nicht hierhergefahren, um etwas von der aufgespeicherten Kraft aus meinem System herauszuschaffen.“ Ed musterte ihn neugierig. Peters Kopf schwankte zwischen seinen Schultern hin und her. Sein Bart war zerzaust und ungepflegt. „Peter …“, begann Ed, „in der Nacht, da Emma starb, erklärtest du, du wolltest alles – von Grund aus ändern.“ Peters schwankendes Haupt erhob sich langsam. Er starrte Ed Chappell mit weisem Ausdruck an. „Sie ist nicht tot gestorben!“ lallte er. „Sie duldete nicht, daß ich etwas tat. Sie hat mich während des ganzen Jahres wegen dieser Wicken geschunden.“ Seine Augen bekamen einen verwunderten Aus244
druck. „Ich weiß nicht, wie sie das fertigbringt.“ Er runzelte die Stirn, spreizte die Handfläche aus und tippte wieder mit dem Finger auf sie. „Aber merk’ dir eins, Ed Chappell, jenen Panzer werde ich nicht mehr tragen, und ich will verdammt sein, wenn ich ihn je wieder trage. Vergiß das nicht.“ Sein Kopf sank vorneüber. Aber schon nach einer Sekunde blickte er wieder auf. „Ich habe mich besoffen“, erklärte er ernst. „Ich bin in einem Bordell gewesen.“ Er rückte vertraulich näher. Seine Stimme senkte sich zu einem rauhen Flüstern. „Aber die Sache ist in Ordnung; ich werde die Schnürbrust ausbessern. Weißt du, was ich tun werde, sobald ich nach Hause komme? Ich werde elektrische Beleuchtung legen lassen. Emma wünschte sich schon immer elektrisches Licht.“ Er sank auf dem Bett zusammen. Ed Chappell hob ihn auf die Kissen und entkleidete ihn, bevor er sich in sein Zimmer begab.
JOHNNY BÄR
Das Städtchen Loma baut sich auf einem niedrigen, runden Hügel auf, der sich gleich einer Insel aus der ebenen Talmündung des Salinas erhebt. Nördlich und östlich der Stadt dehnt sich meilenweit ein trostloser Binsensumpf, während im Süden das Marschland trockengelegt worden ist. Das Ergebnis der Entwässerung bildete fruchtbares Gemüseland, einen Boden so schwarz an fruchtbarer Erde, daß Salat und Blumenkohl zu wahren Riesenpflanzen heranwachsen. Die Eigentümer der nördlich der Stadt gelegenen Sümpfe beschlossen endlich auch, den schwarzen Boden zu kultivieren, und gründeten zu diesem Zweck eine Genossenschaft. Ich stehe im Dienste der Gesellschaft, die mit der Genossenschaft vertraglich vereinbart hat, einen breiten Abzugskanal auszuheben. Der schwimmende Bagger kam an, wurde aufmontiert und begann, einen Wassergraben quer durch den Sumpf zu fressen. Einige Wochen hauste ich zusammen mit der Belegschaft in dem schwimmenden Schlafsaal, aber die Mosquitos, die in dichten Schwärmen über dem Bagger schwebten, und der pestilenzialische Gestank, der nachts aus dem Sumpfe aufstieg, vertrieben mich in das Städtchen Loma, wo ich im Hause 246
von Mrs. Ratz ein möbliertes Zimmer mietete, das elendeste Loch, das ich je gesehen habe. Ich hätte mich natürlich nach einer andern Wohngelegenheit umschauen können, aber die Tatsache, daß ich meine Post an Mrs. Ratz’ Adresse bestellt hatte, gab den Ausschlag. Schließlich schlief ich ja nur in dem kahlen, kalten Zimmer. Meine Mahlzeiten nahm ich in der Kantine der schwimmenden Arbeitsbaracke ein. In Loma leben nicht mehr als zweihundert Menschen. Die Methodistenkirche steht auf dem höchsten Punkte des Hügels, ihr Turm blickt meilenweit über das Land. Zwei Kolonialwarengeschäfte, eine Eisenhandlung, eine alte Freimaurerloge und die Buffalobar bilden die öffentlichen Gebäude. Auf den Hängen des Hügels kleben die winzigen Blockhütten der Einwohner und auf der fruchtbaren Ebene im Süden verstreut liegen die Häuser der Grundbesitzer, kleine Höfe, gewöhnlich von hohen Hecken aus beschnittenen Zypressen umhegt, um die heftigen, abendlichen Winde abzuwehren. An den Abenden konnte man in Loma nichts unternehmen, höchstens die Schankwirtschaft besuchen, einen alten Bretterschuppen mit Schwingtüren und einem mit Zeltbahnen überspannten Zugang. Weder die Prohibition noch deren Aufhebung hatten das Geschäft, seine Klientel oder die Qualität des Whisky zu ändern vermocht. Im Verlaufe eines Abends sprach jeder männliche, über fünf247
zehn Jahre alte Bewohner Lomas wenigstens einmal in der Buffalobar vor, trank seinen Whisky, unterhielt sich kurze Zeit und begab sich dann nach Hause. Der dicke Carl, Besitzer und Barkeeper in einer Person, begrüßte jeden Gast mit phlegmatischmürrischer Miene, die dennoch Vertraulichkeit und Zuneigung atmete. Sein Gesicht war sauertöpfisch, seine Stimme klang grob, aber dennoch – ich weiß nicht, wie er es anstellte – es wirkte nun einmal so. Ich selbst fühlte mich belohnt und erwärmt, als der dicke Carl mir zum erstenmal wie einem Stammgast sein sauertöpfisches Schweineantlitz zuzuwenden geruhte und mich brummig fragte: „Was befehlen Sie?“ Das war seine ständige Frage, obwohl er nur Whisky ausschenkte, und zwar nur eine einzige Sorte Whisky. Ich habe es erlebt, wie er es strikt ablehnte, einem neuen Gast den Whisky mit etwas Zitronensaft zu verdünnen. Der dicke Carl empfand gegen gemischte Getränke eine Abneigung. Um seinen Bauch hatte er stets ein riesiges Handtuch geschlungen, mit dem er während des Hin- und Hergehens die Gläser säuberte. Der Fußboden der Kneipe bestand aus unbehobelten, mit Sägespänen bestreuten Brettern; die Bar selbst war ein ausgedienter Ladentisch; die Stühle waren ungepolstert und steiflehnig; den einzigen Schmuck bildeten an den Wänden befestigte Plakate und Empfehlungskarten sowie Bilder von Kandidaten für die Bezirkswahlen oder von Geschäftsreisenden 248
und Auktionatoren. Einige dieser Bilder hingen schon seit vielen Jahren hier. Die Karte des Sheriffs Rittal bat noch immer um Wiederwahl, obwohl Rittal bereits seit sieben Jahren im Grabe ruhte. Die Buffalobar erschien selbst mir als ein unmöglicher Aufenthaltsort, aber wenn man durch die nächtlichen Straßen schlenderte, wenn man über die mit Brettern belegten Bürgersteige schritt, wenn einem die langen, aus den Sümpfen aufsteigenden Nebelfetzen gleich schmutzigen, wehenden Fahnen ums Gesicht getrieben wurden, und wenn man dann die Schwingtüren der Kneipe des dicken Carl aufstieß und ringsum die Leute schwatzend und trinkend sitzen sah und der dicke Carl einem entgegenkam, wirkte die Bar doch recht gemütlich. Man konnte ihr einfach nicht entgehen. Meistens wurde in äußerst bescheidenen Grenzen gepokert. Timothy Ratz, der Gatte meiner Wirtin, pflegte nur gelegentlich mitzuspielen und äußerst vorsichtig obendrein, denn nur wenn er nicht mitging, trank er einen Whisky. Ich habe ihn schon fünfmal hintereinander passen sehen. Sobald er gewonnen hatte, schichtete er die Karten sorgfältig auf einen Haufen, erhob sich und schritt würdevoll an den Bartisch. Der dicke Carl, schon ein halbgefülltes Glas in der Hand, fragte: „Was befehlen Sie?“ „Whisky!“ entgegnete Timothy ernst. In dem langgestreckten Raum saßen Männer von 249
den Farmen und aus dem Städtchen auf den steiflehnigen Stühlen oder standen auf den altmodischen Ladentisch gestützt. Ein leises, monotones Flüstern erfüllte den Raum, nur zur Zeit der Wahlen oder eines Boxkampfes wurden Reden gehalten oder mit lauter Stimme Meinungen geäußert. Ich haßte es, durch den nächtlichen Nebel zu wandern und fern im Sumpf das Rasseln des Dieselmotors auf dem Bagger und das Klirren der Eimer zu hören und dann mein elendes Loch bei Mrs. Ratz aufzusuchen. Bald nach meiner Ankunft in Loma machte ich die Bekanntschaft von Mae Romero, einer hübschen Halbblutmexikanerin. An den Abenden ging ich häufig mit ihr an dem Südhange des Hügels spazieren, bis uns der garstige Nebel in die Stadt trieb. Nachdem ich sie bis zu ihrem Hause begleitet hatte, stattete ich noch der Bar einen flüchtigen Besuch ab. Eines Nachts saß ich in der Bar im Gespräch mit Alex Hartnell, dem Besitzer einer hübschen kleinen Farm. Wir unterhielten uns über Barschfischerei, als sich die Vordertür öffnete und wieder zurückschwang. Die in der Kneipe versammelten Männer verstummten plötzlich. Alex stieß mich heimlich an und sagte: „Da kommt Johnny Bär!“ Ich blickte mich um. Sein Name beschreibt ihn treffender als ich es vermag. Er glich einem mächtigen, stumpfsinnigen, grinsenden Bär. Seinen mit schwarzen, verfilzten 250
Haaren bedeckten Schädel trug er nach vorne geneigt und seine langen Arme hingen so weit hinunter, als pflegte er auf allen vieren zu laufen und ging jetzt nur, um seine Kunst zu zeigen, aufrecht. Seine Beine waren kurz und krumm und endeten in merkwürdig quadratischen Füßen. Er trug einen dunkelblauen Baumwollanzug, aber seine Füße waren bloß. Sie wirkten nicht etwa verkrüppelt oder deformiert, aber sie waren genau so breit wie lang. Er stand in dem Eingang und schlenkerte mit den Armen, wie man das häufig bei Halbidioten findet. Auf seinem Gesicht stand ein blödes, glückliches Lächeln. Endlich bewegte er sich weiter und trotz seines plumpen, riesigen Körpers schien er kaum den Boden zu berühren. Er ging nicht wie ein Mensch, sondern wie ein umherlungerndes, nächtliches Raubtier. Vor dem Bartisch machte er Halt; seine hellen Schlitzaugen wanderten erwartungsvoll von Gesicht zu Gesicht und er fragte: „Whisky?“ Loma war keine freigebige Stadt. Bisweilen bezahlte jemand für einen andern einen Drink, aber nur wenn er überzeugt war, der andere würde ihn dafür auch zu einem Schnaps einladen. Es überraschte mich daher, als einer dieser biederen Leute ein Geldstück auf den Bartisch warf. Der dicke Carl schenkte ein Glas voll. Das Ungetüm ergriff es und goß den Whisky hinunter. „Was zum Teufel …“, begann ich. Aber Alex stieß mich an und flüsterte: „Pst!“ 251
Jetzt erlebte ich eine seltsame Pantomime. Johnny Bär trottet zum Eingang und kam dann geräuschlos zurückgeschlichen. Das törichte Grinsen verließ keinen Moment sein Gesicht. In der Mitte des Saals warf er sich auf den Bauch. Eine Stimme quoll aus seiner Kehle, eine Stimme, die mir bekannt vorkam. „Oh, du bist viel zu schön, um in solch’ einem schmutzigen Nest zu leben.“ Jetzt stieg die Stimme zu einem weichen, etwas kehligen Ton mit einem merkwürdigen Akzent auf den einzelnen Worten an: „Und das sagst ausgerechnet du mir!“ Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Das Blut pochte in meinen Ohren. Ich errötete. Es war meine Stimme, die aus Johnny Bär’s Kehle hervordrang, es waren meine Worte, meine Betonung. Und dann war es plötzlich die Stimme von Mae Romero – unverkennbar! Hätte ich nicht den zusammengekauerten Menschen auf dem Fußboden leibhaftig vor mir gesehen, ich würde ihr zugerufen haben. Das Zwiegespräch ging weiter. Solche Worte klingen albern, wenn ein Dritter sie äußert. Johnny Bär fuhr unbeirrt fort, oder zutreffender müßte ich sagen, ich fuhr unbeirrt fort. Er äußerte Worte, untermischt mit Geräuschen. Nach und nach wandten sich die Blikke der Gäste von Johnny Bär ab und mir zu. Die Leute betrachteten mich grinsend. Ich konnte mich nicht wehren. Ich wußte, falls ich den Versuch machen würde, Johnny Einhalt zu gebieten, wäre ein 252
Boxkampf die Folge, daher ging das Schauspiel bis zum Schluß weiter. Als es vorüber war, freute ich mich von Herzen, daß Mae Romero keine Brüder besaß. Was für unzüchtige, eindeutige, lächerliche Redensarten waren aus Johnny Bär’s Kehle gedrungen. Endlich erhob er sich immer noch mit dem nämlichen idiotischen Lächeln und flötete von neuem: „Whisky?“ Ich glaube, die in der Bar anwesenden Gäste bemitleideten mich. Sie blickten auf ihre Tische nieder und unterhielten sich ostentativ miteinander. Johnny Bär schlurfte bis zur Rückwand des Saals, kroch unter einen runden Spieltisch, rollte sich zusammen wie ein Hund und schlief ein. Alex Hartnell betrachtete mich mitfühlend. „Hören Sie ihn heute zum erstenmal?“ „Ja! Was zum Henker ist das für ein Geschöpf?“ Alex ließ meine Frage unbeantwortet. „Falls Ihnen Mae’s guter Ruf Kummer bereitet, so können Sie sich Ihr Bedauern schenken. Johnny Bär ist Mae schon häufiger nachgeschlichen.“ „Wie hat er es aber nur angestellt, uns zu belauschen? Ich habe ihn nie bemerkt.“ „Noch nie hat jemand Johnny Bär gehört oder gesehen, wenn er seinen Geschäften nachgeht. Er vermag sich ohne Bewegung zu bewegen. Wissen Sie, was unsere jungen Burschen tun, wenn sie mit einem Mädel spazierengehn? Sie nehmen einen Köter mit. Hunde fürchten Johnny Bär und wittern seine Anwesenheit bereits aus der Ferne.“ 253
„Aber gütiger Gott! Diese Stimme …“ Alex nickte. „Ja, ich weiß. Verschiedene von uns wandten sich Johnny’s wegen an die Universität und ein junger Gelehrter kam nach Loma. Er beobachtete Johnny und erzählte uns von dem blinden Tom. Je was vom blinden Tom gehört?“ „Sie meinen vermutlich den schwarzen Pianisten? Gewiß, von dem habe ich schon gehört.“ „Nun, der blinde Tom war ein Halbidiot. Er vermochte kaum ein vernünftiges Wort zu sprechen, aber er konnte alles, was er hörte, auf dem Klavier getreu wiedergeben. Lange Konzertstücke. Sie veranstalteten Versuche mit erstklassigen Musikern, und Tom reproduzierte nicht nur die Musik, sondern sogar jede auch die unbedeutendste individuelle Nuance. Um ihm eine Falle zu stellen, machten die Musiker geringfügige Fehler, aber Tom gab auch die Fehler wieder zum besten. Er photographierte gewissermaßen das Spiel in allen seinen Einzelheiten. Der junge Gelehrte behauptete, bei Johnny Bär handele es sich um einen ähnlichen Fall, nur daß Johnny statt Noten Worte und Stimmen naturgetreu wiedergibt. Er sprach Johnny einen langen griechischen Satz vor und Johnny wiederholte ihn haargenau. Er versteht den Sinn der Worte nicht, er wiederholt sie lediglich. Er besitzt nicht genügend Grips, um irgend etwas hinzuzufügen, daher kann man überzeugt sein, daß er nur das sagt, was er gehört hat.“ „Aber aus welchem Grunde tut er das? Weshalb 254
interessiert es ihn, Leute zu belauschen, wenn er ihre Worte doch nicht kapiert?“ Alex drehte sich eine Zigarette und zündete sie an. „Verstehen tut er nichts, aber er liebt Whisky. Aus Erfahrung weiß er, daß, wenn er an Fenstern lauscht und hierherkommt und das, was er gehört hat, wiedererzählt, ihm irgendeiner der Gäste einen Whisky spendieren wird. So versuchte er beispielsweise Mrs. Ratz’s Gespräche in einem Laden oder Jerry Nolands Streit mit seiner Mutter zum besten zu geben, aber für solche Sachen bezahlt ihm niemand einen Whisky.“ „Es ist merkwürdig“, sagte ich, „daß ihn noch niemand, wenn er unter den Fenstern herumschleicht, über den Haufen geschossen hat.“ Alex spielte mit seiner Zigarette. „Eine Menge Leute haben das versucht, aber Johnny Bär läßt sich weder überrumpeln noch fangen. Man hält seine Fenster fest verschlossen und unterhält sich selbst, dann nur im Flüsterton, wenn man nicht will, daß die Gespräche wiederholt werden. Sie hatten Glück, daß die Nacht dunkel war. Hätte er Sie gesehen, wäre er auch noch als Schauspieler aufgetreten. Sie sollten nur einmal sehen, wie Johnny Bär sein Gesicht zu verzerren vermag, um wie ein junges Frauenzimmer auszuschauen. Es ist einfach grauenhaft.“ Ich betrachtete die zusammengeduckte Gestalt unter dem Spieltisch. Johnny Bär’s Rücken war dem Zimmer zugekehrt. Der Lichtschein fiel auf 255
sein dunkles, verfilztes Haar. Ich bemerkte, wie sich ein großer Brummer auf seinem Schädel niederließ, und dann, ich schwör’s, sah ich, wie die gesamte Kopfhaut zuckte, genau wie die Haut eines Pferdes zuckt, um Fliegen abzuwehren. Der Brummer setzte sich wieder auf seinen Kopf und sofort wurde sie durch das Zucken der Kopfhaut verscheucht. Auch ich erschauerte am ganzen Körper. Die Unterhaltung in der Bar war wieder zu einem gelangweilten, eintönigen Flüstern geworden. Der dicke Carl hatte während der verflossenen zehn Minuten ununterbrochen ein Glas mit seinem Schürzenhandtuch poliert. Eine kleine Gesellschaft in meiner Nähe unterhielt sich über Hunderennen und Hahnenkämpfe und kam allmählich auf Stierkämpfe zu sprechen. Neben mir sagte Alex: „Kommen Sie, wir wollen noch einen heben.“ Wir traten an den Bartisch. Der dicke Carl ergriff zwei Gläser: „Was befehlen die Herren?“ Keiner von uns antwortete. Carl schenkte den braunen Whisky ein. Er glotzte mich dabei mürrisch an und das eine seiner dicken, fleischigen Lider zwinkerte mir feierlich zu. Ich weiß nicht wieso, aber ich fühlte mich geschmeichelt. Carl deutete mit dem Kopf nach dem Spieltisch. „Heut’ hatte er Sie am Wickel! Nicht wahr?“ Ich zwinkerte gleichfalls und bemühte mich, seine abgehackte Sprechweise nachzuahmen: „Das nächstemal nehm’, ich ’nen Köter mit.“ 256
Wir leerten unsere Gläser und begaben uns wieder auf unsere Plätze. Timothy Ratz gewann ein Spiel, schichtete sorgfältig seine Karten auf und trat an die Bar. Verstohlen schielte ich nach dem Tisch, unter dem sich Johnny Bär verkrochen hatte. Er lag jetzt auf dem Bauch, das blöde, lächelnde Gesicht dem Zimmer zugekehrt. Langsam bewegte er den Kopf und blickte sich nach allen Seiten um ähnlich einem Raubtier, das sein Versteck verlassen will. Dann kroch er langsam hervor und richtete sich auf. Seine Bewegungen wirkten paradox. Seine Glieder machten einen verkrüppelten, ja formlosen Eindruck, dennoch bewegte er sie mühelos. Er watschelte durch die Kneipe, wobei er den Gästen zulächelte. Vor dem Bartisch angelangt, wiederholte er seine ständige Bitte: „Whisky? Whisky?“ Die Frage klang wie ein Vogelruf. Ich wußte nicht, von welchem Vogel, aber ich hatte den Ruf schon gehört – zwei ansteigende Töne, die wieder und wieder fragten: „Whisky, Whisky?“ Die Unterhaltung in dem Lokal stockte, aber niemand erhob sich, um ein Geldstück auf die Bar zu legen. Johnny lächelte kläglich: „Whisky?“ Jetzt versuchte er, die Gäste mit neuen Künsten zu verführen. Aus seiner Kehle tönte die Stimme einer zornigen Frau: „Ich versichere Ihnen, es waren fast nur Knochen! Zwanzig Cents das Pfund und die gute Hälfte Knochen!“ Und dann ein Mann: „Beruhigen Sie sich, Ma’am. Ich habe das 257
nicht gewußt. Zum Ausgleich werde ich Ihnen ein Paar Würstchen einpacken.“ Johnny Bär blickte sich erwartungsvoll um. „Whisky?“ Aber auch jetzt fand sich niemand bereit, ein Geldstück zu opfern. Johnny schlich zu der Schwingtüre und bückte sich. „Was hat er jetzt vor?“ flüsterte ich. „Pst!“ mahnte Alex. „Er späht durch ein Fenster. Passen Sie auf!“ Eine Frauenstimme wurde vernehmbar, eine kühle, feste Stimme; die Worte klangen abgehackt: „Ich kann es nicht fassen. Bist du ein Scheusal? Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich würde es nie für möglich gehalten haben.“ Eine andere Frauenstimme antwortete, eine leise, rauhe, vor Unglück zitternde Stimme: „Vielleicht bin ich ein Scheusal. Ich kann nichts dagegen tun. Ich kann nichts dagegen tun.“ „Aber du mußt etwas dagegen tun. Es wäre besser, du wärest tot!“ Von den wulstigen, lächelnden Lippen ertönte ein unterdrücktes Schluchzen. Das Schluchzen eines verzweifelten Weibes. Ich blickte mich nach Alex um. Er saß steif aufgerichtet, die starren Augen weit aufgerissen. Ich öffnete schon den Mund, um eine Frage zu flüstern, aber er gebot mir mit einer Handbewegung Schweigen. Mein Blick schweifte durch die Kneipe. Sämtliche Gäste saßen regungslos und lauschten. Das Schluchzen hörte 258
auf. „Hast du nie etwas Ähnliches empfunden, Emalin?“ Alex atmete bei Erwähnung dieses Namens schwer. Die kalte Stimme rief: „Bestimmt nicht!“ „Niemals in der Nacht? Nie – niemals in deinem ganzen Leben?“ „Wär’ das der Fall“, erklärte die kalte Stimme, „wär’ das je der Fall gewesen, ich hätte diesen Teil von mir herausgerissen. Hör’ endlich mit deinem Gewimmer auf, Amy. Ich kann das nicht ertragen. Falls du deine Nerven nicht zu beherrschen vermagst, werde ich dafür sorgen, daß du in ärztliche Obhut kommst. Jetzt geh’ und verrichte deine Gebete.“ „Whisky?“ flötete Johnny Bär grinsend. Zwei der Gäste traten wortlos an die Bar und warfen Geld auf den Tisch. Der dicke Carl füllte zwei Gläser und nachdem Johnny Bär beide Gläser hintereinander ausgetrunken hatte, schenkte Carl das eine Glas noch einmal voll. Jeder ersah daraus, wie ergriffen er war. In der Buffalobar wurde nie Whisky umsonst ausgeschenkt. Johnny Bär blickte sich grinsend in dem Saale um und ging dann mit den ihm eigenen, schleichenden Bewegungen auf die Straße. Langsam und geräuschlos schlugen die Türflügel hinter ihm zu. Eine Unterhaltung wollte nicht wieder in Fluß kommen. Jeder war offenbar mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Einer der Gäste nach dem andern verließ das Lokal und beim Zurückschwin259
gen der Tür wurden kleine Nebelfetzen in die Bar geweht. Alex erhob sich und ging hinaus, und ich folgte ihm. Die Nacht war von dem übel duftenden Nebel erfüllt. Er schien an den Häusern zu kleben und seine Fangarme in die Luft zu recken. Ich beschleunigte meine Schritte und holte Alex ein. „Was war das wieder?“ fragte ich ihn. „Was hatte das alles zu bedeuten?“ Eine Sekunde dachte ich, er würde mir keine Antwort geben, aber abrupt blieb er stehen und wandte sich mir zu. „Der Teufel soll das holen! Also hören Sie. Jede Stadt besitzt ihre Aristokraten, ihre über jeden Tadel erhabene Familie. Emalin und Amy Hawkins sind unsere Aristokraten, jungfräuliche Damen, gütige Menschen. Ihr Vater war Kongreßmitglied. Ich schätze solche Szenen nicht. Johnny Bär sollte so etwas unterlassen. Weshalb? Nun, weil sie ihn durchfüttern. Die Kerle sollten ihm keinen Whisky bezahlen. Jetzt wird er unablässig um das Haus herumgeistern –. Jetzt, da er weiß, daß es ihm Whisky einträgt.“ „Sind die Hawkins mit Ihnen verwandt?“ erkundigte ich mich. „Nein, aber sie sind – nun, sie sind anders als die anderen Einwohner. Ihre Farm grenzt an die meine. Eine Anzahl Chinesen bewirtschaften das Gut auf Gewinnanteil. Wissen Sie, es ist schwierig, die Sache zu erklären. Die Hawkins sind gewissermaßen unser Halt, unser Vorbild, wenn wir – nun 260
wenn wir anständige Menschen schildern möchten.“ „Johnny Bär hat doch nichts geäußert, was dem guten Ruf der Damen Abbruch tun könnte“, widersprach ich. „Das weiß ich nicht. Mir ist es nicht klar, was er meinte. Nur ganz dunkel glaube ich es zu wissen. Aber lassen wir das. Gehen wir schlafen. Den Ford habe ich nicht mitgebracht. Ich gehe zu Fuß nach Hause.“ Nach diesen Worten ließ er mich stehen und verschwand rasch in dem tiefhängenden, wallenden Dunst. Auch ich schlenderte nach Mrs. Ratz’ Pension. Vom Sumpf herüber erklang das Rasseln des Dieselmotors und das Klirren des riesigen stählernen Mauls, das sich seinen Weg durch den Boden nagte. Es war Samstagnacht. Am Sonntag früh, Schlag sieben Uhr, würde der Bagger seine Arbeit einstellen und bis Mitternacht ruhen. Die Geräusche sagten mir, daß alles in Ordnung sei. Ich stieg die schmale Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Endlich im Bett ließ ich eine Zeitlang noch das Licht brennen und betrachtete die verblaßten, geschmacklosen Blumen auf der Tapete. Ich dachte an die beiden Stimmen, die aus Johnny Bär’s Mund gesprochen hatten. Es waren echte Stimmen, keine Imitationen. Wenn ich mich an ihren Tonfall erinnerte, sah ich die beiden Frauen, die gesprochen hatten, die kaltstimmige Emalin und das weiche, schmerzverzerrte Antlitz leibhaftig vor mir. Ich zerbrach mir 261
den Kopf, worüber Amy so unglücklich sein mochte. War es nur das geheime Leid einer an der Schwelle des Alters stehenden Frau? Das erschien mir unwahrscheinlich, im Ton der Stimme lag zuviel Angst. Ich schlummerte bei brennendem Licht ein und mußte später aus dem Bett schlüpfen und es ausschalten. Am nächsten Morgen gegen acht Uhr ging ich quer über den Sumpf zu dem Bagger. Die Belegschaft war eifrig beschäftigt, ein neues Drahtseil um die Trommel zu spannen und das abgenutzte Kabel zum Abtransport aufzurollen. Ich kontrollierte die Arbeit und kehrte etwa um elf Uhr nach Loma zurück. Vor Mrs. Ratz’ Boardinghaus hielt Alex Hartnell in einem Ford-Tourenwagen Modell T. Er rief mir schon von weitem zu: „Ich wollte grade zum Bagger fahren, um Sie zu entführen. Heute morgen habe ich ein paar Hähnchen den Hals umgedreht, hätten Sie Lust, mich zu begleiten und mir beim Verzehren behilflich zu sein?“ Ich stimmte freudig zu. Unser Koch war ein tüchtiger Koch, ein großer, beleibter Kerl, aber in jüngster Zeit war er mir unsympathisch geworden. Er rauchte kubanische Zigaretten aus einer Bambusspitze. Mir mißfiel die Art, wie er morgens seine Finger knacken ließ. Seine Hände waren sauber – mit Mehl bestäubt wie die eines Müllers. Ich hatte bis vor kurzem keine Ahnung, weshalb man jene fliegenden kleinen Käfer Müllermotten nannte. Na, ich kletterte zu Alex in den Ford. Wir brausten mit 262
dem Ford den Hügel hinab und über die fruchtbare, südwestlich sich erstreckende Ebene. Die Sonne funkelte auf der schwarzen, fetten Erde. Als ich noch ein Kind war, erzählte mir ein katholischer Junge, daß an den Sonntagen die Sonne stets scheine, und wenn auch nur für ein paar Sekunden, denn der Sonntag sei der Tag Gottes. Seit jener Zeit hielt ich immer Ausschau, ob das auch wahr sei. Rasselnd fuhr der Ford über das flache Gelände. Alex brüllte: „Erinnern Sie sich noch an die Hawkins?“ „Selbstverständlich erinnere ich mich.“ Er deutete mit dem Finger gradeaus: „Dort drüben liegt ihr Haus.“ Von dem Hause war freilich nicht viel zu sehen, da es von einer hohen, dichten Zypressenhecke umgeben war. Innerhalb des Quadrats schien sich auch noch ein kleiner Garten zu befinden. Nur das Dach des Hauses und die Kanten der Fenster schauten über die Hecke. Das Haus war braun gestrichen, mit dunkelbrauner Ölfarbe, wie sie in Kalifornien mit Vorliebe für Bahnhofsgebäude und Schulen verwendet wird. Vorne und an der einen Seite der Hecke befanden sich zwei schmale Türen. Die Stallungen lagen hinter dem Wohngebäude außerhalb des grünen Walles. Die Hecke war viereckig zugestutzt. „Eine solche Hecke hält den Wind ab“, schrie Alex, bemüht, das Motorengeräusch des Ford zu übertönen. 263
„Aber Johnny Bär hält sie nicht ab“, entgegnete ich. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Er deutete auf ein weißgetünchtes, viereckiges Gebäude mitten auf den Äckern: „Dort wohnen die Chinesen. Ausgezeichnete Landarbeiter. Ich wünschte, ich hätte ein paar so tüchtige Knechte.“ Im gleichen Moment bog um die Ecke der Hecke ein Einspänner und schwenkte in die Landstraße ein. Das graue Pferd war alt, aber sorgfältig gestriegelt, der Wagen sauber und die Beschläge blankgeputzt. Die Scheuklappen des Gauls waren mit einem schweren silbernen H verziert. Ich hatte den Eindruck, als wäre der kurze, zum Leitzügel führende Riemen für einen so alten Klepper allzu kurz. Alex brüllte: „Da kommen die Damen auf der Fahrt zur Kirche.“ Als die beiden Damen an uns vorbeifuhren, zogen wir unsere Hüte und verbeugten uns, und sie neigten förmlich ihre Köpfe. Ich konnte sie deutlich erkennen. Ihr Anblick erschütterte mich. Sie sahen genau so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Johnny Bär war noch unheimlicher, als ich bis dahin geahnt hatte, da er durch den Ton einer Stimme die Gesichtszüge der betreffenden Menschen zu zeichnen vermochte. Ich brauchte Alex nicht zu fragen, welche von den beiden Damen Emalin und 264
welche Amy wäre. Die klaren, scharfen Augen, das harte Kinn, der mit der Genauigkeit eines Diamanten geschnittene Mund, die steife, flachbrüstige Figur mußte Emalin sein. Amy war ihr verblüffend ähnlich, und dennoch so unähnlich. Alles an ihr war weich gerundet. Ihre Augen blickten warm, ihr Mund war voll, ihre Brüste wölbten sich leicht vor und dennoch glich sie Emalin. Aber während Emalins Mund von Natur verkniffen war, hielt Amy ihre Lippen nur zusammengepreßt. Emalin mußte etwa fünfzig bis fünfundfünfzig Jahre alt sein, und Amy war ungefähr zehn Jahre jünger. Ich konnte die beiden Damen nur einen Augenblick betrachten und habe sie nie im Leben wiedergesehen. Es erscheint daher seltsam, daß ich keinen Menschen auf der Welt besser zu kennen glaube als diese beiden Frauen. Alex brüllte: „Verstehen Sie jetzt, was ich mit Aristokraten meinte?“ Ich nickte. Das war leicht einzusehen. Eine Gemeinde, in deren Mitte solche Frauen lebten, mußte sich in gewisser Weise sicher fühlen. Und grade ein Ort wie Loma mit seinen Nebeln und dem an eine grauenhafte Sünde erinnernden Sumpfland brauchte die Hawkins, ja es brauchte sie dringend. Schon ein Aufenthalt von wenigen Jahren in dieser Stadt hätte eines Mannes Geist zu vergiften vermocht, wären nicht Frauen wie diese als Gegengewicht dort ansässig gewesen. Das Mittagessen war vorzüglich. Alex’s Schwe265
ster hatte die Hähnchen in Butter gebraten und auch die übrigen Speisen schmeckten delikat. Meine Abneigung und mein Argwohn gegen unsern Koch erhielten neue Nahrung. Wir saßen gemütlich im Speisezimmer und tranken ausgezeichneten Brandy. „Ich begreife nicht, weshalb Sie überhaupt die Buffalobar betreten“, sagte ich. „Der Whisky dort …“ „Sie haben recht“, entgegnete Alex. „Aber die Buffalo ist, sozusagen, die Seele Lomas. Sie ist unsere Zeitung, unser Theater, unser Klub.“ Das entsprach der Wahrheit; und als Alex den Ford in Gang setzte, um mit mir nach Loma zu fahren, wußten er und ich genau, daß wir wieder ein bis zwei Stunden in der Bar verbringen würden. Wir näherten uns dem Städtchen. Die schwachen Lichter der Scheinwerfer huschten über die Chaussee. Ein Auto kam uns entgegengerattert. Alex lenkte seinen Wagen quer über die Straße und trat die Bremse nieder. „Es ist der Doktor, Doktor Holmes“, erklärte er. Der sich in rascher Fahrt nähernde Wagen bremste scharf, da er an uns nicht vorbei konnte. „Auf ein Wort, Doktor“, rief Alex. „Ich wollte Sie nur bitten, bei meiner Schwester vorzusprechen. Sie hat am Nacken ein Furunkel.“ Doktor Holmes rief zurück: „Wird erledigt, Alex. Ich werde mir die Sache ansehn. Aber bitte, machen Sie Platz, ich habe Eile.“ Alex ließ sich Zeit. „Wer ist krank?“ fragte er. „Miß Amy hat einen leichten Anfall. Miß Emalin 266
telephonierte und ersuchte mich, rasch zu kommen, also, bitte, geben Sie die Straße frei.“ Alex stieß seinen Wagen zurück und ließ den Arzt vorbeifahren. Dann setzten wir unsere Fahrt fort. Ich wollte gerade sagen, wie klar heute die Nacht sei, als ich, vorwärtsblickend, die Nebelfetzen aus dem Sumpfe aufsteigen und gleich trägen Schlangen um den Hügel nach Loma hinauf sich winden sah. Mit einem Ruck hielt der Ford vor der Buffalobar und wir betraten das Lokal. Der dicke Carl kam uns, ein Glas mit seiner Schürze putzend, entgegen. Er griff unter den Bartisch nach der ersten besten Schnapsflasche. „Was befehlen die Herren?“ „Whisky.“ Einen Moment erhellte ein flüchtiges Lächeln das feiste, mürrische Gesicht. Die Kneipe war überfüllt. Meine gesamte Belegschaft mit Ausnahme des Kochs war anwesend. Vermutlich war der Koch auf dem Prahm geblieben und rauchte aus einer Bambusspitze seine unvermeidlichen kubanischen Zigaretten. Er trank nie einen Tropfen; das genügte, um ihn mir verdächtig zu machen. Zwei Deckarbeiter, ein Ingenieur und drei Maschinisten hockten auf den steiflehnigen Stühlen. Die Maschinisten unterhielten sich über den Abzugskanal. Buffalo war die friedlichste Bar, die ich je besucht habe. Hier gab es keinen Streit, selten Gesang oder irgendwelche Possen. Des dicken Carl’s mürrische, 267
traurige Augen gestalteten das Trinken zu einer ruhigen, ernsten Aufgabe und nicht zu einer lärmenden Beschäftigung. Timothy Ratz spielte wie gewöhnlich an einem der runden Tische Karten. Da sämtliche Stühle besetzt waren, lehnten wir uns gegen die Bar und unterhielten uns über Sport und Preise und alle möglichen Abenteuer, die wir erlebt oder angeblich erlebt hatten; die übliche, oberflächliche Barunterhaltung. Von Zeit zu Zeit bestellten wir einen neuen Whisky. Auf diese Weise verstrichen ein paar Stunden. Alex hatte bereits erklärt, er wolle nach Hause gehen, und ich empfand das nämliche Bedürfnis. Die Belegschaft des Baggers brach auf, da um Mitternacht die neue Schicht begann. Plötzlich öffneten sich lautlos die Türflügel und Johnny Bär betrat, die langen Arme schlenkernd und mit seinem unförmlichen Schädel nickend, ein idiotisches Lächeln auf dem Gesicht, die Kneipe und blickte sich nach allen Seiten um. Seine quadratischen Füße erinnerten an die Pfoten einer Wildkatze. „Whisky?“ flötete er, aber niemand ermutigte ihn. Jetzt begann Johnny seine Kunststücke zu zeigen. Er legte sich auf den Bauch, genau wie damals, als er mich zur Zielscheibe erwählte. Näselnde, singende Laute quollen aus seiner Kehle. „Aha, Chinesisch“, dachte ich. Und dann, so schien es mir wenigstens, wurden die gleichen Worte von einer anderen Stimme langsamer und ohne nasalen 268
Klang wiederholt. Johnny Bär hob seinen zottigen Kopf und fragte: „Whisky?“ Mit erstaunlicher Leichtigkeit sprang er auf seine Füße. Die Sache fing an, mich zu interessieren. Ich wollte mir das Theater anschauen und warf einen Vierteldollar auf den Bartisch. Behend goß Johnny den Schnaps hinter die Binde. Eine Sekunde später bedauerte ich meine Voreiligkeit. Ich getraute mir nicht, Alex anzublicken. Johnny Bär trottete in die Mitte des Saals und nahm seine Fensterpose an. Emalins kühle Stimme sagte: „Sie ist hier, Doktor.“ Ich schloß die Augen, um Johnny Bär nicht ansehn zu müssen, und im nämlichen Augenblick war er verschwunden und es war Emalin Hawkins, die gesprochen hatte. Ich hatte die Stimme des Arztes auf der Landstraße gehört und es war seine Stimme, die jetzt erwiderte: „Sie sprachen von einem Ohnmachtsanfall?“ „Ja, Doktor.“ Eine kurze Pause entstand, und dann fragte des Doktors Stimme gedämpft: „Weshalb hat sie es getan, Emalin?“ „Weshalb soll sie was getan haben?“ Die Frage hatte einen fast drohenden Unterton. „Ich bin Ihr Arzt, Emalin. Ich war schon der Arzt Ihres Vaters! Sie sind verpflichtet, mir die Wahrheit zu gestehen. Glauben Sie, ich habe den Strangulierungsstreifen an Amys Halse nicht bemerkt? Wie lange hing sie, ehe Sie sie abschneiden konnten?“ 269
Längeres Schweigen. Jetzt klang Emalins Stimme nicht mehr kalt. Sie war leise, fast ein Hauch. „Zwei oder drei Minuten. Wird Amy wieder genesen?“ „Ja, sie wird die Sache überstehn. Die Verletzung ist nicht bedenklich. Aber weshalb hat sie es getan?“ Die antwortende Stimme klang jetzt noch kälter als zuerst. Sie klang wie eingefroren. „Ich weiß es nicht, Herr Doktor.“ „Das heißt, sie wollen es mir nicht verraten.“ „Ich meine, was ich sage.“ Jetzt erteilte die Stimme des Arztes Anweisungen für die Behandlung der Patientin: Ruhe, Milch und ein Gläschen Whisky. „Vor allen Dingen aber seien Sie gütig“, fügte er hinzu. „Vor allen Dingen nehmen Sie Rücksicht.“ „Werden Sie zu niemandem darüber sprechen, Doktor?“, fragte Emalin, und ihre Stimme zitterte. „Ich bin Ihr Arzt!“ entgegnete er sanft. „Selbstverständlich werde ich nicht darüber sprechen. Ich schicke Ihnen heute abend noch einige Beruhigungsmittel.“ „Whisky?“ Ich riß die Augen auf. Vor mir stand der unheimliche Johnny Bär und blickte sich lächelnd um. Die Anwesenden schwiegen beschämt. Der dicke Carl starrte auf den Fußboden. Ich wandte mich schuldbewußt an Alex, da ich mich verantwortlich fühlte. „Es tut mir aufrichtig leid“, entschuldigte ich 270
mich, „aber ich ahnte ja nicht, daß er sich so aufführen würde“. Verstimmt ging ich auf die Straße und begab mich in mein elendes Loch bei Mrs. Ratz. Ich öffnete das Fenster und blickte in den wallenden, wogenden Nebel hinaus. Weit in der Ferne auf der Marsch hörte ich den Dieselmotor langsam anlaufen und sich allmählich erwärmen. Und bald darauf erscholl das Klirren des Greifbaggers, der an dem Abflußgraben zu arbeiten begann. Der folgende Morgen bescherte uns eine Serie von Unfällen, wie sie bei Bauarbeiten häufig vorkommen. Eines der neuen Drahtseile riß und der riesige Schöpfeimer sauste auf einen der Pontons und versenkte ihn und das Arbeitsmaterial in acht Fuß tiefem Wasser. Wir ließen eine Hebeglocke hinunter und spannten ein Seil, aber das Seil riß und schlug einem Deckarbeiter glatt beide Beine ab. Wir verbanden die Stümpfe und überführten den Mann eiligst nach Salinas. Jetzt folgten hintereinander eine Anzahl kleinerer Unfälle. Bei einem der Maschinisten machten sich als Folge einer unbedeutenden Schramme die Anzeichen einer Blutvergiftung bemerkbar. Der Koch rechtfertigte endlich meine vorgefaßte Meinung; ich ertappte ihn, wie er dem Ingenieur einen Kanister marijuana verkaufen wollte. Alles in allem war das Ergebnis des Tages nicht besonders erheiternd. Es dauerte zwei Wochen, ehe wir wieder mit einem neuen Ponton, einem neuen Deckarbeiter und ei271
nem neuen Koch unsere Arbeit aufnehmen konnten. Der neue Koch war ein verschmitztes, dunkles, spitznasiges Männlein von einschmeichelndem Wesen. Diese Kette von Widerwärtigkeiten hatten meine Verbindung mit dem gesellschaftlichen Leben Lomas unterbrochen. Als aber der Greifbagger sich von neuem klirrend in den Morast hineinfraß und der große alte Diesel sich rasselnd tiefer in das Sumpfgelände vorarbeitete, machte ich mich eines Abends auf den Weg zu Alex Hartnell’s Farm. Als ich an dem Hawkinsschen Hause vorüberschritt, guckte ich über eine der schmalen Pforten in der Zypressenhecke. Das Haus war dunkel, ja, mehr als dunkel, weil in einem der Fenster ein mattes Licht schimmerte. Ein leichter Wind fegte über den Boden und trieb dichte Nebelballen vor sich her. In der einen Sekunde schritt ich durch sternklare Nacht, in der nächsten umhüllte mich undurchdringlicher Dunst und dann war es wieder klar. Mir war, als hörte ich hinter der Hecke auf dem Hawkinsschen Hof ein unterdrücktes Stöhnen. Und als ich wieder aus dem Nebel ins Freie trat, sah ich eine dunkle Gestalt über das Feld laufen. Die schlurfenden Schritte verrieten, daß es einer der mit Sandalen bekleideten, chinesischen Landarbeiter war. Die Chinesen essen viele Gerichte, die nachts gesammelt werden müssen. Auf mein Klopfen öffnete Alex die Haustüre. Er freute sich offensichtlich, mich wiederzusehn. Seine 272
Schwester war abwesend. Ich nahm neben dem Ofen Platz und Alex brachte eine Flasche von jenem vorzüglichen Branntwein. „Wie mir erzählt wurde, haben Sie eine ganze Serie ärgerlicher Zwischenfälle erlebt.“ Ich erzählte ihm, mit was für Schwierigkeiten ich zu kämpfen gehabt hatte. „Anscheinend ereignen sich Unfälle in der Regel serienweise. Meine Leute haben ausgerechnet, daß sie meistens in Gruppen von 3, 5, 7 und 9 auftreten.“ Alex nickte: „Gefühlsmäßig bin ich zu einem ähnlichen Schluß gelangt.“ „Wie geht es den Schwestern Hawkins?“, erkundigte ich mich. „Als ich an ihrem Hause vorüberkam, war es mir, als hörte ich jemanden hinter der Hecke weinen.“ Alex schien Bedenken zu tragen, über die Geschwister zu sprechen, aber gleichzeitig auch wieder den Wunsch zu hegen, über sie zu sprechen. „Vor einer Woche besuchte ich sie“, sagte er endlich. „Miß Amy fühlte sich nicht wohl. Ich konnte sie daher nicht sprechen. Ich sah nur Miß Emalin. Irgendein Verhängnis schwebt über diesen Menschen!“, stöhnte er plötzlich. „Man könnte fast meinen, Sie seien mit ihnen verwandt“, sagte ich. „Ihr Vater und mein Vater waren intime Freunde. Wir nannten die jungen Damen Tante Amy und Tante Emalin. Diese beiden Menschen können nichts Böses begehen. Für jeden in unserer Stadt 273
wäre es ein Unglück, falls die Schwestern Hawkins nicht mehr die Schwestern Hawkins wären.“ „Das gute Gewissen der Gemeinde!“ sagte ich. „Ja, der feste Halt!“ rief er. „Der Ort, wo jedes Kind sich seinen Lebkuchen holen kann. Der Ort, wo ein Mädel seinen Seelenfrieden wiederfindet. Sie sind stolz, aber sie glauben an Dinge, von denen wir hoffen, daß sie wahr sein möchten. Und sie führen ihr Leben – nun – sie führen es, als wäre Ehrenhaftigkeit die beste Politik und als trüge Mildtätigkeit ihre Belohnung schon in sich. Wir brauchen sie!“ „Ich verstehe.“ „Aber Miß Emalin kämpft gegen irgend etwas Fürchterliches an, und ich fürchte, sie hat wenig Hoffnung, obzusiegen.“ „Wie meinen Sie das?“ „Ich weiß selbst nicht, was ich meine. Aber mir ist schon der Gedanke gekommen, Johnny Bär über den Haufen zu schießen und seine Leiche in den Sumpf zu werfen. Ja, ich habe ernsthaft daran gedacht!“ „Johnny Bär trifft doch keine Schuld“, widersprach ich. „Er ist im Grunde nur eine Grammophonplatte, ein Sprechapparat, nur daß man statt eines Nickels ein Glas Whisky einwerfen muß.“ Unser Gespräch wandte sich andern Gegenständen zu und nach kurzer Zeit brach ich auf und kehrte nach Loma zurück. Mir dünkte, als klebe der Nebel an der Zypressenhecke des Hawkinss274
chen Hauses, als hätten sich zahllose Nebelballen um das Haus geschart und als kröchen immer neue Nebelschlangen langsam näher. Während ich weiterschritt, mußte ich über die seltsamen Wege lächeln, die eines Menschen Gedanken wandeln, um die Natur mit seinem Denken in Einklang zu bringen. Jetzt lag das Haus in völliger Dunkelheit. Meine Arbeit war gut in Fluß gekommen. Der mächtige Schöpfbagger nagte sich immer weiter in den Boden ein. Die Belegschaft hatte das Empfinden, die Zeit der Unfälle sei überwunden, und das half. Der neue Koch schmeichelte den Leuten so erfolgreich, daß sie ohne Murren gebratenen Zement verspeist hätten. Die Persönlichkeit eines Kochs ist für das Wohlbefinden einer Belegschaft wichtiger als seine Kochkunst. Am Abend des zweiten Tages nach meinem nächtlichen Besuch bei Alex wanderte ich, eine Nebelfahne hinter mir herziehend, den hölzernen Gehsteig hinunter und betrat die Buffalobar. Der dicke Carl kam mir, ein Whiskyglas polierend, entgegen. „Whisky!“, rief ich, bevor er eine Möglichkeit hatte, seine unvermeidliche Frage zu stellen, was der Herr befehle. Ich ergriff mein Glas und nahm auf einem der steiflehnigen Stühle Platz. Alex war noch nicht erschienen. Timothy Ratz spielte wie gewöhnlich Karten und hatte eine phänomenale Glückssträhne. Viermal hintereinander gewann er den gesamten Einsatz und holte sich jedesmal einen Whisky. Immer neue Gäste strömten 275
in die Kneipe. Ich weiß nicht, was wir ohne die Buffalobar angefangen hätten. Gegen zehn Uhr verbreitete sich die Neuigkeit. Wenn man später darüber nachdenkt, vermag man sich nicht genau zu entsinnen, wie sich die Dinge abgespielt haben. Irgend jemand tritt ein; ein Flüstern hebt an; plötzlich weiß jeder, was sich ereignet hat, ja, kennt sogar die Einzelheiten. Miß Amy hatte Selbstmord verübt. Wer brachte die Trauerbotschaft? Ich weiß es nicht. Sie hatte sich erhängt. In der Bar wurde nicht viel über das Ereignis gesprochen. Man konnte sehen, wie die Leute sich bemühten, mit dieser Tatsache fertig zu werden. Sie paßte nicht in ihren Gedankenkreis. Leise redend standen die Gäste in kleinen Gruppen beisammen. Langsam öffneten sich die Schwingtüren und Johnny Bär kam, seinen mächtigen behaarten Schädel rollend, ein idiotisches Lächeln auf dem Gesicht, mit schlenkernden Armen hereingeschlichen. Seine quadratischen Füße glitten lautlos über den Boden. Seine Augen wanderten durch das Lokal und er flötete: „Whisky? Whisky für Johnny?“ Die Anwesenden hatten alle den dringenden Wunsch, die Wahrheit zu erfahren. Sie schämten sich dieses Wunsches; aber ihr gesamtes geistiges System verlangte nach Wissen. Der dicke Carl schenkte ein Glas voll. Timothy Ratz legte die Karten auf den Tisch und erhob sich. Johnny Bär trank gierig seinen Whisky. Ich schloß die Augen. 276
Des Arztes Stimme klang rauh: „Wo ist sie, Emalin?“ Ich habe nie eine Stimme wie jene, die antwortete, vernommen, kalt, gefaßt, mit größter Anstrengung beherrscht, aber doch zitterte durch die Kälte herzzerreißende Verzweiflung. Es war eine monotone, seelenlose Stimme und doch vibrierte in ihr die Qual eines gebrochenen Herzens: „Sie ist hier, Doktor.“ „Hm.“ Lange Pause. „Hat sie lange Zeit gehangen?“ „Ich weiß es nicht, Doktor.“ „Weshalb hat sie es getan, Emalin?“ Wieder die monotone Stimme: „Ich – ich weiß es nicht, Doktor.“ Eine noch längere Pause, und dann: „Hm – Emalin – wußten Sie, daß sie ein Kind erwartete?“ Die kühle Stimme brach und ein Seufzer erklang: „Ja, Doktor“ – kaum vernehmbar. „Wenn das der Grund war, weshalb Sie sie erst nach so langer Zeit fanden … Nein, Emalin, armes Ding, so meinte ich es ja nicht.“ Emalin hatte ihre Stimme wieder in ihrer Gewalt: „Können Sie den Totenschein ausstellen, ohne zu erwähnen …“ „Natürlich kann ich das. Selbstverständlich kann ich das. Ich werde auch den Leichenbestatter entsprechend informieren. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“ „Ich danke Ihnen, Doktor.“ 277
„Jetzt werde ich gehn und telephonieren. Ich möchte Sie aber hier nicht allein lassen. Begleiten Sie mich in das andere Zimmer, Emalin. Ich werde Ihnen ein Beruhigungsmittel mischen …“ „Whisky? Whisky für Johnny?“ Ich sah das Lächeln und den behaarten, wackelnden Schädel. Der dicke Carl schenkte ein neues Glas voll. Johnny Bär trank und schlich dann nach der Rückseite der Kneipe, kroch unter einen Tisch und legte sich schlafen. Niemand sprach. Die Gäste traten an den Schanktisch und legten schweigend ihr Geld hin. Alle machten einen niedergeschlagenen Eindruck; ein System war zusammengebrochen. Einige Minuten später betrat Alex den schweigenden Raum. Er eilte zu mir: „Haben Sie schon gehört?“ fragte er leise. „Ja.“ „Ich habe es gefürchtet!“ stöhnte er. „Bereits vor ein paar Nächten sagte ich es Ihnen. Ja, ich habe es gefürchtet!“ „Wußten Sie, daß sie schwanger war?“ erkundigte ich mich. Alex richtete sich auf. Er schaute sich im Saale um, dann kehrte sein Blick zu mir zurück. „Johnny Bär?“ fragte er. Ich nickte. Alex wischte mit der Hand über seine Augen. „Ich glaube es nicht.“ Ich wollte ihm antworten, als ein leises Schlurfen meinen Blick nach der Rückwand der Bar lenkte. Johnny Bär kam wie ein 278
Dachs aus seinem Bau gekrochen, richtete sich auf und schlich zur Bar. „Whisky?“ Mit erwartungsvollem Lächeln schaute er den dicken Carl an. Jetzt trat Alex vor und wandte sich an die Anwesenden: „Hört zu, Jungens! Die Geschichte ist weit genug gediehen. Ich wünsche kein Wort mehr über die Sache zu hören!“ Falls er Widerspruch erwartet hatte, wurde er enttäuscht. Die Leute nickten einander zu. „Whisky für Johnny?“ Alex trat auf den Idioten zu: „Du solltest dich schämen! Miß Amy gab dir zu essen und schenkte dir sämtliche Kleider, die du je besessen hast.“ „Whisky?“ flötete Johnny lächelnd und begann seine Kunststücke zu zeigen. Ich hörte den nasalen Sing-Sang, der wie Chinesisch klang. Alex atmete erleichtert auf. Aber jetzt ertönte die andere Stimme, langsam, zaudernd, die Worte ohne den näselnden Tonfall wiederholend. Alex schnellte sich so rasch vor, daß ich seinen Bewegungen nicht zu folgen vermochte. Seine Faust landete auf Johnny Bär’s grinsendem Mund. „Ich habe dir gesagt, ich hätte genug von diesem Blödsinn“, brüllte er. Johnny Bär gewann sein Gleichgewicht wieder. Seine Lippen waren aufgespalten und bluteten, aber das blöde Lächeln stand immer noch auf seinem Gesicht. Er bewegte sich bedächtig und ohne 279
Anstrengung. Seine Arme umklammerten Alex wie die Tentakel eines Polypen eine Krabbe umklammern. Alex beugte sich nach rückwärts. Ich sprang vor und packte einen Arm des Ungeheuers und versuchte ihn auszurenken, vermochte aber den eisernen Griff nicht zu lockern. Der dicke Carl wälzte sich, einen Schlegel in der Hand, über den Bartisch und schlug auf den verfilzten Schädel solange ein, bis Johnny Bär’s Arme schlaff heruntersanken und das Ungetüm zusammenbrach. Ich fing Alex auf und geleitete ihn zu einem Stuhl. „Sind Sie verletzt?“ Er rang nach Atem. „Ich glaube, mein Rückgrat ist verstaucht“, sagte er. „Das wird sich rasch wieder geben.“ „Steht Ihr Ford draußen? Ich werde Sie nach Hause fahren.“ Keiner von uns gönnte beim Vorbeifahren dem Hawkinsschen Hause einen Blick. Ich hielt die Augen starr auf die Landstraße gerichtet. Dann führte ich Alex in sein unbeleuchtetes Haus, brachte ihn zu Bett und schüttete heißen Grog in ihn hinein. Er hatte auf der ganzen Fahrt kein Wort gesprochen. Aber als er im Bett lag, fragte er: „Glauben Sie, daß einem der Leute etwas aufgefallen ist? Ich hoffe, ich versetzte ihm den Hieb gerade zur rechten Zeit.“ „Wovon reden Sie? Ich weiß immer noch nicht, weshalb Sie ihn schlugen.“ „Hören Sie genau zu“, sagte er. „Ich werde mit 280
meinem verstauchten Rückgrat einige Zeit das Haus hüten müssen. Falls Sie irgend jemanden irgend etwas sagen hören, stopfen Sie ihm bitte das Maul. Dulden Sie nicht, daß irgendein Mensch etwas sagt.“ „Ich begreife immer noch nicht, wovon Sie reden.“ Er blickte mir einen Moment fest in die Augen. „Ich denke, ich darf Ihnen vertrauen“, sagte er. „Jene zweite Stimme – das war Miß Amy.“