Thomas Kastura
Flucht ins Eis
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Was zieht die Menschen in die Polargebiete oder ...
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Thomas Kastura
Flucht ins Eis
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Was zieht die Menschen in die Polargebiete oder in eisige Höhen? Geht es um Ruhm oder Selbstbestätigung, um die Überwindung einer inneren Leere in einer leeren Landschaft, in die man jeden beliebigen Text einschreiben kann? In seinem originellen Essay gibt Thomas Kastura den folgenden Rat: »Begeben Sie sich direkt in den Ohrensessel. Gehen Sie nicht über den Pol.« ISBN: 3-351-02791-5 Verlag: Aufbau Erscheinungsjahr: 1. Auflage 2000
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Autor
THOMAS KASTURA, geboren 1966, hat in Bamberg Germanistik studiert. Er ist freier Journalist und verfaßt regelmäßig Beiträge für den Bayerischen Rundfunk, die Welt, den Rheinischen Merkur, mare u. v. a.
Inhalt Autor........................................................................................................2 Inhalt........................................................................................................3 Am Ziel.....................................................................................................5 Frostbeulen ............................................................................................10 Im Ohrensessel.......................................................................................25 Weiß .......................................................................................................49 Ich friere, also bin ich............................................................................71 Edle Eskimos..........................................................................................94 Alles wär’ so klar.................................................................................106 Literatur...............................................................................................109 Danksagung .........................................................................................115
Die Pole sind in uns Paul Celan
Am Ziel »Da stehen wir nun. Ein kleines Grüppchen von acht Personen in dieser unendlichen Weite. Vor Erschöpfung sind wir unfähig, uns zu freuen. Wir starren einander an, murmeln ein wenig verlegen und hilflos belanglose Sätze und wissen nicht, wie wir uns verhalten sollen.« (Arved Fuchs am Nordpol, 1989) Da steht er nun, der Goretex-Tor, und ist so klug als wie zuvor. Man muß die Ehrlichkeit bewundern, mit der sich Fuchs in seinem Buch Von Pol zu Pol als deliriöser Zombie outet. Er setzt noch eins drauf: »Mir erscheint alles wie ein Traum. Gut, wir sind am Nordpol. Das habe ich verstanden. Aber ich verspüre einen inneren Drang weiterzulaufen.« Kaum anders ergeht es Fuchs am Südpol, den er sieben Monate später erreicht. »Es ist zu viel auf einmal und zu abstrakt für meinen Kopf«, schreibt er, denn auf ihn warten schon zahlreiche Journalisten, Gratulanten der Amundsen-ScottStation und die neuesten Nachrichten aus der Heimat. In Deutschland wird nämlich gerade Geschichte geschrieben, als Fuchs und Reinhold Messner Ende 1989 durchs Eis der Antarktis stapfen. »Ich bin am Pol. Europa steht Kopf«, weiß der Langläufer über sein Verhältnis zur Welt zu sagen. Fuchs ist sich zwar im klaren, »wie unsinnig und albern im Grunde ein solcher Rekord ist«. Trotzdem freut er sich über seine Leistung. Große Gedanken werden an den Erdachsen gemeinhin nicht gedacht. Es ist enttäuschend, was man von den eiswandernden, skilaufenden, hundeschlittenfahrenden, luftschiffreisenden, flugzeugfliegenden und neuerdings auch fallschirmspringenden Polarfahrern erfährt, wenn sie am Ziel ihrer Träume stehen. Børge Ousland heult sich 1994 »das Herz aus dem Bauch vor Freude und Erleichterung«. Helmer Hanssen, ein Begleiter Amundsens, hat 1911 »kein Gefühl des Triumphes«, sondern ist 5
nur erleichtert, daß er beim Rückmarsch den Wind im Rücken hat. Für Robert F. Scott, der das Wettrennen zum Südpol verlor, ist es »ein schauriger Ort«, für Reinhold Messner »ein absolut imaginärer Punkt«. Christopher Holloway kommt 1989 zu der überraschenden Erkenntnis, daß dem Pol die dritte Dimension fehle. »Hier anzukommen ist enttäuschend. Ohne unsere Navigationsinstrumente hätten wir ihn mit Sicherheit verpaßt.« Olav Bjaaland kann – kleiner poetischer Höhenflug – »die Erdachse quietschen hören«. Die Herren sind platt, nicht nur in ihren Tagebüchern, sondern auch noch zu Hause am Schreibtisch. Mit ganz wenigen Ausnahmen fabrizieren sie nur banale Expeditionsprosa voller Schweiß, Frostbeulen und Schneeblindheit. Da braucht es schon Schriftsteller wie Christoph Ransmayr, um einem Eisabenteuer wie der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition von 1872 bis 1874 literarischen Schliff zu geben (Die Schrecken des Eises und der Finsternis, 1984). Aber auch die Frauen wissen nichts Tiefgründiges zu vermelden. Helen Thayer, die zusammen mit ihrem Hund als erste den magnetischen Nordpol erreicht hat, spricht von einem »der schönsten Momente meines Lebens« und läßt dann doch ein bißchen Genugtuung heraus: »Der Sieg war süß.« Ernüchterung, Erschöpfung, eine allgemeine innere Leere und dann und wann ein mühsam unterdrückter Mini-Orgasmus. Ist das der Lohn für all die Masochisten, die in den letzten 100 Jahren irgendwann an einem der beiden Erdpunkte standen, wo sich alle Meridiane und damit alle Zeitmaße treffen? An Punkten, die sich zudem dauernd verändern: Das Eis über dem Nordpol, der ja mitten im Polarmeer liegt, driftet acht Meter in der Minute. Das Festlandeis über dem Südpol verschiebt sich um ein paar Zentimeter im Jahr. Die Entdeckungsreisenden des von den Briten sogenannten »Heroischen Zeitalters« (1900-1914) haben wenigstens noch ein markiges Selbstbewußtsein im Gepäck, das durch 6
Nationalismus, Imperialismus und Rassismus zu bemerkenswerter Blüte gelangt ist. Man nehme nur die selbstbesoffene Allmachtsphantasie von Robert E. Peary: »Endlich am Pol! Der Preis dreier Jahrhunderte! Mein Traum und Ziel seit 23 Jahren. Endlich mein! Ich kann es noch nicht begreifen.« Was aber treibt den homo sapiens sapiens heute in eine Gegend, wo man nicht einatmen kann, ohne Erfrierungen der Lunge befürchten zu müssen? Und warum sind die Daheimgebliebenen von dem Schneetreiben immerhin so fasziniert, daß sie jede Menge Zeitungsartikel und Bücher darüber lesen, Multivisionsshows, TV-Sendungen und Kinofilme ansehen? Was ist dran an der Flucht ins Eis? Und ist es wirklich eine Flucht, die Abenteurer, Schriftsteller und ein breites Publikum in der Realität oder in der Phantasie betreiben? Ein paar Eckdaten vorweg: Die Mythen, Illusionen und Projektionen, die seit der Antike mit den Polarregionen in Verbindung gebracht werden, sind auf unterschiedliche Weise in unser Gedächtnis eingeschrieben. Da kann man aufklären, soviel man will: Schon die Engramme einer ersten Schlittenfahrt oder Schneewanderung lassen sich nicht einfach löschen. Der idealistische Gedanke von einer unberührten Natur, von der »süßen, reizvollen Unschuld«, die Robert Walser in verschneiten Feldern erblickte, wirkt fort. Der griechische Dichter Pindar sah in den Hyperboreern, die hinter dem Nordwind wohnen, ein sagenhaftes Volk. Es lebt unberührt von menschlichen Beschwerden in einem sonnigen, fruchtbaren Märchenland, einer Art Wärmeinsel jenseits der Eisbarrieren. Diese Idee eines geographischen Isolats, das dem Menschen versperrt ist, war bis ins 19. Jahrhundert verbreitet. Manch fröhlich dilettierender Theorienschmied vermutete am Nordpol sogar die Wiege der Menschheit. Georg Heym hat dieses rassenbiologisch angehauchte Hirngespinst in seiner Erzählung »Das Tagebuch Shackletons« (1911) ironisiert – was 7
einige Nazis aber nicht davon abhielt, den Ursprung ihrer Herrenrasse nach Grönland zu legen. Abgemildert waren diese fixen Ideen noch im Populär-Rousseauismus der 70er und 80er Jahre lebendig, als man überall auf der Welt, u. a. auch bei den Polarvölkern, bessere Menschen entdeckte. Wie das vermeintliche Paradies im Eis auch immer aussieht und begründet wird – der Wunsch danach ist wie eine Trotzreaktion: Für den Menschen wird die Erde zu den Polen hin immer lebensfeindlicher. Trotzdem muß dort etwas existieren, was Aufschluß gibt über unseren Platz in der Welt, ein letztes, im ewigen Eis konserviertes Geheimnis, das sich beharrlich dem Zugriff entzieht. Warum sonst sind diese Gebiete so unzugänglich, umringt von merkwürdigen Phänomenen wie Seeungeheuern, Eisbergen, Mahlströmen und dem Polarlicht, wenn dort nicht etwas Außerordentliches verborgen läge? Die Wissenschaft löst diesen Anspruch auf ihre Weise ein: Bohrkerne vom grönländischen Inlandeis vermitteln uns etwas über Erdgeschichte und Evolution. In Eisplatten hat man unzählige, noch unerforschte Mikroorganismen entdeckt, aus denen sich neue Medikamente gewinnen lassen. Die Polarmeere wimmeln nur so von Artenreichtum. Allein die Biomasse des antarktischen Krills, von dem sich Fische, Pinguine, Wale und Robben ernähren, ist größer als die aller Menschen. Überdies haben die Leuchtkrebse einen natürlichen Frostschutz im Gewebe, was sie uns physiologisch überlegen macht. Doch wo der Krill einen Nervenknoten hat, haben wir ein Gehirn. Fragt sich nur, ob wir es auch gebrauchen, wenn wir mit kaputten Füßen mitten im weißen Schweigen stehen. Margaret Atwood vergleicht das Hinausfahren ins Kartenlose und Unbekannte, das bei den Polarfahrern noch »irgendwie kühn und edel« war, mit »Sex in der High-School, damals, vor der Pille«. Jedem sein eigener Kick. Im Gegensatz zur Lust am Sex, für den man in den Polargebieten mindestens einen warmen 8
Schlafsack braucht, ist die Lust am Eis etwas komplizierter. Gemeinsamkeiten schloß schon Hiob nicht aus: »Wo kommt das Eis her? Wer ist seine Mutter? Und welcher Schoß gebar den Reif und Frost, der Bach und Fluß in harten Stein verwandelt, das Meer bewegungslos erstarren läßt?«
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Frostbeulen Über Pol-Mythen, Pol-Wirklichkeit und die Geschichten, die darüber geschrieben wurden, später mehr. Wenden wir uns zuerst den Abenteurern und Extremsportlern zu, die sich auf dem Spielplatz der Helden (so ein Romantitel von Michael Köhlmeier) tummeln. Nachdem Amundsen im Jahre 1911 den Südpol und Cook bzw. Peary (das ist immer noch strittig) im Jahre 1908 bzw. 1909 den Nordpol erreicht haben, geht es erst richtig los. Der Wettkampf um die Pol-Trophy und seine enorme Resonanz lösen einen Run aus, der bis in die Gegenwart anhält. Ein Menetekel ist auch schon errichtet. Scotts Scheitern, neben dem das Scheitern seiner zahlreichen Vorgänger verblaßt, macht klar: Fehler enden hier ganz schnell tödlich. Die Tagebücher des britischen Marineoffiziers wurden bald gefunden und von James Barrie, dem Autor von Peter Pan, in eine sentimentale Form gebracht. Sie waren ein Bestseller und weitaus beliebter als die relativ nüchternen Notate Amundsens. Man schätzte daran vor allem Scotts heroische Leidensfähigkeit, die zur Untergangsstimmung der Jahrhundertwende paßte. Heldenhaftes Scheitern war ja auch das Kardinalthema in Deutschland, wo man sich von der 1848er Revolution bis zum Versailler Vertrag und darüber hinaus ewig benachteiligt fühlte. Von Richard Wagner bis Oswald Spengler entstanden Leidensepen, die der National-Neurose des Zu-KurzGekommen-Seins ein apokalyptisches Gepräge verliehen. Scotts Leidensfähigkeit war rückblickend überflüssig: Mit mehr Umsicht und weniger Versäumnissen hätte er sich viele Strapazen erspart. Er benutzte zum Beispiel Ponys, die sich schon bei früheren Expeditionen als ungeeignet erwiesen hatten. Er hatte Motorschlitten, die nicht funktionierten, und Hunde, die 10
niemand zu treiben verstand. Außerdem konnte er nicht besonders gut Skilaufen. Dafür »ehrte« es seiner Ansicht nach den Mann, die schweren Schlitten selber zu ziehen. »Wir werden sterben wie Gentlemen«, schrieb er aus seinem sturmumtosten Zelt zurück nach England – zumindest Selbststilisierung beherrschte er und machte sich damit bis zuletzt etwas vor. Amundsen, der die Faktoren Männer, Hunde, Schlitten und Proviant besser abstimmte, gleicht mehr den Extremsportlern der Gegenwart. Er galt als besonnener Planer, der alle Möglichkeiten abwägte und sein Vorhaben energisch vorantrieb. Doch auch er war von einem unbändigen Ehrgeiz erfüllt und brachte seine Begleiter in unnötige Gefahr, als er einmal zu früh (noch im Winter) zum Südpol aufbrach und wieder umkehren mußte, bis es dann im zweiten Anlauf klappte. Auch Amundsen wollte den Ruhm, der erste zu sein. Dieser Drang beherrschte alle Polpioniere, die häufig nichts anderes als soldatische Ersatzhandlungen vollbrachten. Die Heimkehrer, egal, ob sie ihr Ziel erreichten oder nur einigermaßen unbeschadet überlebten, wurden von der nationalistisch gestimmten Öffentlichkeit denn auch wie Kriegshelden gefeiert. Ein englischer Journalist verglich Scotts Scheitern mit Nelsons Tod in der Schlacht von Trafalgar, Amundsen wurde in der Königlichen Universität zu Berlin hymnisch empfangen: »Wie in früheren Zeiten lauter Jubel den Helden empfing, welcher den Kampf mit dem Feind glücklich bestanden, so jubeln wir heute dem Sieger entgegen, welcher den Kampf mit den großen Naturgewalten erfolgreich geführt«. Finanziell glich manch gelungenes Polunternehmen einem Hauptgewinn im Lotto, während fehlgeschlagene Expeditionen Männer wie Ernest Shackleton in den Ruin trieben. Neben den Gewinnen aus Büchern und Vortragsreisen erhielt das PR-Genie Peary eine jährliche Admiralspension von 6 500 US-Dollar. Sein Gegenspieler Frederick Cook war weniger geschäftstüchtig und 11
auch weniger skrupellos. Auf Pearys Anspruch, den Pol erreicht zu haben, reagierte er mit dem Ausspruch: »Es gibt genug Ruhm für uns alle.« Da täuschte er sich: Ruhm ist rar, und alle wollen etwas davon abhaben. Ob es nun eine Tapferkeitsmedaille, ein Interview im Spiegel oder der Applaus eines Diavortrag-Auditoriums in der Volkshochschule ist – der Stolz auf eine vollbrachte Leistung, was auch immer sie wert ist oder welchen Sinn sie haben mag, verlangt nach Anerkennung. Dabei zählt vor allem der Rekord. Während im 17. und 18. Jahrhundert die Jagd nach Walen und anderen Meerestieren die Menschen in die Polargebiete lockte, war es im 19. Jahrhundert wissenschaftliches Interesse. Den meisten Polarfahrern dienten Forschungszwecke aber nur als Vorwand, um mit Hilfe von Fördermitteln und Spenden ihr Hauptziel finanzieren zu können. Das hieß: ein Stückchen weiter als ihre Konkurrenten nach Norden oder Süden zu gelangen. Doch auch an Mahnern fehlte es nicht. Karl Weyprecht, der mit der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition nur knapp dem Verderben entronnen war, gab zu bedenken: »Der Pol selbst ist […] für die Wissenschaft vollständig gleichgültig. Ihm nahegekommen zu sein dient allenfalls zur Befriedigung der Eitelkeit.« Man solle lieber »Polarwarten statt Polarfahrten« ausrüsten. Ruhm, vor allem in seiner pathetischen Variante, ist heute zwar nicht mehr das alles beherrschende Motiv. Aber er spielt eine wichtige Rolle, wenn es um die Vermarktungsmöglichkeiten einer extremsportlichen (Tor)Tour ins Eis geht. Um Aufsehen zu erregen, müssen Superlative her. Zu Fuß, allein, ohne Funkgerät, Luftunterstützung und elektronische Navigationssysteme zum Pol zu marschieren, gehört inzwischen fast schon zum Standard. Diese Superlative werden immer neu moduliert, ein Phänomen, das vor allem aus dem hochalpinen Bergsport bekannt ist. Am Mount Everest, der gerne als »dritter Pol« 12
bezeichnet wird, haben sich die Leistungskriterien nach Edmund Hillarys Erstbesteigung schrittweise hochgeschraubt: Reinhold Messner kraxelte ohne Sauerstoff, im Alleingang, ohne Seil, Eispickel oder Steigeisen aufs Dach der Welt. Es folgten die erste Frau, der älteste Mann, der erste Amerikaner, Österreicher, Japaner usf. Das alles läßt sich erweitern auf eine ganze Kollektion von Gipfelstürmen: Alle 14 Achttausender wollen bezwungen sein oder die »Seven Summits«, die höchsten Gipfel aller Kontinente oder, warum eigentlich nicht, die zweithöchsten Gipfel aller Kontinente (die angeblich viel schwieriger sein sollen als die höchsten). In besonders unzugänglichen Gebieten lockt noch eine Handvoll Erstbesteigungen, zum Beispiel in Spitzbergen oder Patagonien. Dort zu klettern ist so, als ob man in einem Gefrierschrank sitzen und 100-Dollar-Scheine verbrennen würde, wie sich ein Extrembergsteiger vor Ort vernehmen ließ. Das Bedürfnis, eine Spur im Gletscherfeld der Geschichte zu hinterlassen, bringt einen wahren Erfindungsreichtum hervor. Nachdem Nord- und Südpol mit allerlei technischem Gerät (Luftschiff, Flugzeug, Eistraktor, Motorschlitten, U-Boot) erobert waren, kam in den 80er Jahren die Rekonstruktion historischer Expeditionen in Mode. Robert Swan lief »in the footsteps of Scott« zum Südpol. Monica Kristensen versuchte, Amundsens Marsch mit authentischen Mitteln zu wiederholen. Jeff MacInnis und Mike Beedell durchsegelten mit einem Katamaran die Nordwestpassage, was Roald Amundsen mit dem Motorsegler Gjöa von 1903 bis 1906 als erstem gelungen war. Vier Norweger (Stein P. Aasheim, Odd Eliassen, Nils U. Hagen und Jo Toftdahl) machten ihrem Landsmann Fridtjof Nansen eine Grönlanddurchquerung nach – mit originalgetreuer Ausrüstung und gleicher Verpflegung. Mittlerweile ist auch dieses Feld größtenteils abgegrast. Die stetig expandierende Extremtourismus-Branche hat die einstige Terra incognita für die Allgemeinheit zugänglich gemacht. Was lange Zeit nur unter 13
großem finanziellem und logistischem Aufwand zu verwirklichen war, läßt sich jetzt pauschal buchen. Das fängt bei einer Hundeschlittentour durch Kanada an und hört bei einer Atomeisbrecher-Kreuzfahrt zum Nordpol längst noch nicht auf. 1994 kostete eine Fallschirm-Nordpolexpedition ab Moskau 2500 Dollar. Wolfgang Spielhagen begleitete eine dieser bunt zusammengewürfelten Reisegruppen zu dem »blau leuchtenden Preßeisbrocken […], den wir Nordpol nennen«. Ein bißchen Chuzpe braucht es dazu, mehr nicht. »Der alte Peary hatte sich zwanzig Jahre lang mit einer Niederlage nach der anderen auf den Sieg vorbereitet«, schreibt der Journalist. »Und ich? Ich habe mich von Gore-Tex letzte Woche in superwarme Klamotten stecken lassen, habe mir den Rest an einem Nachmittag zusammengekauft, mir einen Rucksack geliehen, und hier war ich nun«. Als die Fallschirmspringer dann einer nach dem anderen landen, ein paar Flaggen ausrollen und Champagnerflaschen entkorken, bringt es Spielhagen auf den Punkt: »Also keine Zeit verplempern: schauen und saugen, als ginge es um den letzten Tropfen Welt.« Der Kick stellt sich erst später auf dem Rückflug ein. »Kein Trip kommt besser als das rauschhafte Gefühl, wieder einmal überlebt zu haben.« Dieser Kick ist zwar auch an einem Bungee-Seil in einer x-beliebigen österreichischen Schlucht zu haben. Am Nordpol ist er aber exklusiver, ein Luxus, der einfach mehr hermacht. Was Emilio Salgàri in einem 1906 entstandenen Roman vorschlägt, hat allerdings noch keiner gemacht: Eine Gruppe englischer und amerikanischer Gentlemen strampelt Mit dem Fahrrad zum Südpol. Soll man darüber jetzt den Kopf schütteln oder ins nächste Reisebüro rennen, um den Dingen alsbald persönlich auf den Grund zu gehen? Fragen wir zunächst einmal die Therapeuten, und zwar ganz allgemein nach den Trips und Kicks von »ing«-Aktivitäten wie River-Rafting, Freeclimbing, Canyoning und was die Adventure-Veranstalter sonst noch auszubrüten imstande sind. 14
Die Gefahrlosigkeit der westlichen Welt, so der Psychologe Hans Hartmann, gebäre einen Erlebniswahn und treibe die Menschen dazu, »Gefahren zu provozieren und lustvoll ganz überflüssige Strapazen auf sich zu nehmen«. Auch für den Psychologen Henning Allmer geht es um »Spannung, Aufregung und Angstüberwindung«. Die 20- bis 45jährigen, die im Wohlstand aufgewachsen sind, müßten sich selbst beweisen, was in ihnen steckt. Damit macht man es sich ziemlich einfach: einerseits die dröge, reizlose, alles reglementierende Zivilisation, andererseits der instinktgetriebene Affektmensch, der anscheinend nicht in der Lage ist, über die Initiationsriten einer Cro-Magnon-Horde hinauszugelangen und 400 Jahre nach Descartes so etwas wie ein vernunftbestimmtes Handeln zu entwickeln. Aber wenn schon Instinkt und nicht Geist, dann wollen wir auch die biochemischen Nebenwirkungen kennen. Wer sich häufiger in die Grenzbereiche des »sensationseeking« begebe, so der Neurobiologe Gerald Hüther, könne süchtig werden nach den körpereigenen Lustsubstanzen Cortisol und Noradrenalin. Mit anderen Worten: Je öfter der innere Schweinehund überwunden wird, desto mehr Spaß kommt auf. Damit erklärt sich zumindest der Drang, am Nordpol einfach weiterzulaufen – Arved Fuchs ist demnach ein wahrer EisJunkie. Hüther geht noch einen Schritt weiter. Extremsportler wollen seiner Ansicht nach Sensation, Streß, Horror erfahren, damit sie ihre eigentlichen Probleme nicht bewältigen müssen. Letztere sind zwar ebenfalls mit Streß verbunden, steigern aber nicht das Selbstwertgefühl. Das ist schon etwas anderes als ein rein triebgesteuerter Fluchtreflex. Unter den Polarfahrern gibt es tatsächlich eine Reihe von Aussteigern, die das weiße Ödland bewußt mit der bürgerlichen Lebenswelt vertauschen. Ernest Shackleton versuchte sich zum Beispiel in allen möglichen Berufen und 15
bekam nirgends ein Bein auf den Boden. Auch Hjalmar Johansen kam mit dem Leben in der Zivilisation nicht zurecht. Als er bei Nansen als Heizer anheuerte, hatte er Universität und Militärschule abgebrochen und trank zuviel. In der Arktis notierte er dann, daß er zu Hause »ein richtiger Menschenfeind« geworden wäre; »deshalb bin ich froh, hier zu sein. Oh, hier hat man es so gut. Meist ist es kalt und dunkel, aber man ist frei! Wir kümmern uns nicht um Dinge, von denen wir zu Hause abhängig waren.« Handelt es sich bei Polarfahrern also um zivilisationsuntüchtige Versager, die sich gerade mal im nackten Existenzkampf behaupten können, ansonsten aber untauglich sind für die vielförmigen Anforderungen der modernen Leistungsgesellschaft? Streß, führt Gerald Hüther weiter aus, ist jedoch so schlecht nicht. Im Gegenteil: Auch in extremer Form sei er geradezu lebensnotwendig, denn »ohne unkontrollierbaren Streß hätten wir keinerlei Chance, die alten, eingefahrenen Bahnen unseres Denkens zu verlassen«. Das kennt man auch aus dem beruflichen Alltag. Unter Streß ist man häufig in der Lage, über sich hinauszuwachsen und bestimmte Kompetenzen zu steigern, zum Beispiel Ausdauer, Konzentrationsund Innovationsfähigkeit. Ohne Streß, Angst und psychische Belastungen, meint Hüther schließlich, hätte auch keine menschliche Evolution stattgefunden. Ein bißchen erinnert das an einen von Darwin ins Rollen gebrachten philosophösen Biologismus, der Evolution als Prozeß der Abhärtung verstand und mit einem aggressiven Freund/Feind-Schema auf die Lebenswirklichkeit der Moderne reagierte. Die daraus entstandenen Lehren, simplifiziert in der kernigen Formel »Gelobt sei, was hart macht«, sollen uns im nächsten Kapitel weiter interessieren. Um die psychische Voreinstellung eines Polarfahrers zu erklären, ist der Begriff »Streß« jedoch zu unscharf. Einleuchtender argumentieren Martin Venetz und Jürg 16
Schmid. Die Zürcher Psychologen haben die Beweggründe von Extrem- und Risikosportlern untersucht und führen sie auf eine motivationale Grundstruktur zurück, die im Menschen angelegt ist: die Neugier. Hinter dem Drang, sich immer wieder Gefahren auszusetzen, stecke das urmenschliche Bedürfnis, die Neugier zu befriedigen und sich im jeweiligen Tun als kompetent zu erleben. Dabei lassen sich eine Such- und eine Endphase unterscheiden. In der Suchphase setzt sich der Mensch dem Unbekannten, Unsicheren, Gefährlichen aus und damit Spannung, Erregung, Streß. In der Endphase wird diese Spannung durch eine entsprechende Endhandlung aufgelöst, Sicherheit wird erreicht. Für den Polarfahrer wäre das die erfolgreiche Rückkehr ins Basislager. Erst dann sind die Gefahren bestanden. Die Belohnung dafür besteht in einem Glücksgefühl, das der amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi mit dem Begriff »Flow-Erleben« bezeichnet hat. Es meldet dem Individuum, daß seine Handlungsschritte zum Erreichen von Sicherheit optimal sind. Flow tritt also nur dann auf, wenn Anforderungen und Können in einem Gleichgewicht stehen. Für viele Polarfahrer wurde der Flow zu einem ernsten Problem. Als sie den Pol erreicht hatten, zogen sie das FlowErlebnis gleichsam vor. Als Motivation für den Rückweg konnte nur noch die Aussicht auf Ruhm und Anerkennung dienen – gesetzt den Fall, man war der erste. Scott und seine Begleiter hatten bestimmt keinen Flow, als sie merkten, daß ihnen Amundsen am Südpol zuvorgekommen war. Die Enttäuschung darüber führte zu einer vorzeitigen Entspannung, jegliche Motivation für den Rückweg war dahin. »Beim Hinmarsch straffte die überirdische Hoffnung, einer ganzen Menschheit Neugier und Sehnsucht zu verkörpern, ihre Energien heroisch zusammen, Übermenschliches an Kraft ward ihnen durch das Bewußtsein unsterblicher Tat«, schreibt Stefan Zweig 1927 über Scotts Expedition. »Nun kämpfen sie um nichts als die heile 17
Haut, um ihre körperliche, ihre sterbliche Existenz, um eine ruhmlose Heimkehr.« Shackleton, der weitaus umsichtiger als Scott agierte, erkannte diese Gefahr. Die Enttäuschung sei das größte Hindernis, das einen Polarfahrer erwarte. Sie lauere überall: Behinderungen durch Schneestürme, defekte Ausrüstungsgegenstände, zu wenig Proviant etc. Kein Wunder, daß sich der Pragmatiker Shackleton mit dem Fanatiker Scott bei dessen erster Expedition von 1901 bis 1904 überwarf. Im Jahre 1908 brach er dann selber zum Südpol auf und wurde mit der Enttäuschung fertig, weniger als 100 Meilen vor dem Pol umkehren zu müssen. Auch die Antarktisdurchquerung, die er 1914 in Angriff nahm, scheiterte. Doch weder Shackleton noch einer seiner Begleiter mußte deshalb mit dem Leben bezahlen. Das war neben dem sprichwörtlichen Glück im Unglück vor allem dem Optimismus, der Geduld und der physischen Stärke Shackletons zu verdanken – drei Eigenschaften, die seiner Ansicht nach die wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg im Eis seien. Shackletons Flow bestand im Überleben. Darin ähnelt er mehr den Survival-Künstlern der Gegenwart als den Gipfelstürmern der Vergangenheit. Eine Polarfahrt ist wohl eine Mischung aus beidem. Neugier spielt dabei insofern eine Rolle, als sie uns unsichere Situationen als ambivalent erleben läßt: als unheimlich und faszinierend zugleich. Das Flow-Erleben hängt davon ab, mit welcher Zielsetzung man an die Sache herangeht. Martin Venetz und Jürg Schmid haben eine Gruppe von Felskletterern nach ihren Motiven befragt. Darunter findet sich all das, was bereits angesprochen wurde: Leistungsstreben, Kompetenz- und Glücksgefühle, Distanzierung vom Alltag und ein gewisser Nervenkitzel. Darüber hinaus gaben die Sportler auch soziale Motive an. Diese bestünden sowohl in der Zugehörigkeit zu einer sportlichen Subkultur als auch im Gemeinschaftserlebnis einer Seilschaft, die auf unbedingtem gegenseitigem Vertrauen basiert. Dahinter steckt der Gedanke 18
einer Solidargemeinschaft, die fern von den sozialen Verwerfungen der Gesellschaft noch funktioniert. Um die Jahrhundertwende wurde das von Amundsen und Scott zu einer Schicksalsgemeinschaft hochstilisiert, die stellvertretend für eine Nation den Kampf an vorderster Naturfront aufnahm. Auf Polarfahrer trifft dieses schöne Ideal jedoch am allerwenigsten zu. Am Anfang einer Expedition ist zwar noch alles in Butter. Die Abenteurer des heroischen Zeitalters hatten etwas Männerbündisches, das an den vornehmen Londoner Club in Jules Vernes Reise um die Welt in 80 Tagen bzw. an die Royal Geographie Society denken läßt. Bei Whisky und Zigarren sprach man scherzhaft von dem Eisspaziergang, den man vor sich habe, und machte sich mit gespielter Sorglosigkeit gegenseitig Mut. Frauen hatten zu dieser Domäne keinen Zutritt. So duldeten die USA bis 1969 keine Frauen in ihren Antarktisstationen, weil sie sexuelle Konflikte befürchteten. Heute holen Frauen das, was ihnen jahrzehntelang vorenthalten wurde, intensiv nach, wenngleich sie der »Captain Scott Society« nach wie vor nicht beitreten dürfen. Wenn es ernst wird im Eis, ist es mit dem kameradschaftlichen Männerbund jedoch meist nicht weit her. Auf dem Weg zu den Polen bringt der extreme Streß Egomanen hervor, denen man nur ungern sein Leben anvertrauen möchte. Amundsen und Scott, die äußerst autoritär mit ihren subalternen Begleitern umsprangen, sind dafür nur die bekanntesten Beispiele. Auch der als Humanist gepriesene Nansen neigte zu irrationalen Entscheidungen, als er dem Nordpol mit der Fram nahekam (1893-95) und das im Eis eingeschlossene Schiff verließ. Von ihm stammt auch der Ausspruch: »Laßt uns alle Brücken abbrechen, laßt uns alle Schiffe verbrennen, damit unsere ganze Energie, unsere Augen, nur nach vorne gerichtet sind und nicht nach hinten.« Nansen setzte diese Eroberungsstrategie (»Fram« bedeutet soviel wie »Vorwärts«) in der Praxis um, indem er Rückzugsmöglichkeiten 19
von vorneherein ausschloß und damit die letzten Reserven seiner Mannschaft mobilisierte. »Den Pol oder sterben«, lautete seine Devise. Wer da nicht mitzog, war genauso dem Tod geweiht wie ein Deserteur. In dem eingangs erwähnten Roman Spielplatz der Helden (1988) hat Michael Köhlmeier die psychischen Abgründe einer Eiswanderung gleichsam durchdekliniert. Darin zerstreitet sich eine Dreier-Gruppe, die Grönland auf den Spuren Karl Wegeners durchquert, bis aufs Blut. Als sie zurückkehrt, »kannten die Kinder des einen ihren Vater nicht mehr«, weil in ihm ein »Rest aus der Urzeit« hervorgebrochen ist. Ein anderer verliert »immer mehr die Umgangsformen der Zivilisation« und kommt zu dem Schluß, daß es im ewigen Eis am besten wäre, die »Liebesfähigkeit« einfach auf sich selber zu lenken. Der dritte denkt sich im nachhinein, »man müßte bei so einer Expedition extra einen vierten Mann mitnehmen, ein sorgfältig ausgewähltes Arschloch, das man nur darum mitnimmt, um auf ihn einen Zorn haben zu können. Weil irgendwo muß der Zorn hin.« Verrohung, Vereinzelung und das Bedürfnis nach Sündenböcken – das klingt nach Reaktionen, die sonst auch vom Totalitarismus hervorgebracht werden. In der Tat hat das Übertrumpfungsgehabe mancher Polarfahrer viel mit einem absoluten Willen zur Macht zu tun (über Nietzsche später mehr) und sehr wenig mit dem Gedanken an eine philanthropische Kameradschaft im Eise. Mit letzterem läßt sich nur das Fußvolk, jene im nachhinein schnell vergessenen Helfer und Begleiter, bei der Stange halten. Meist kehren sie desillusioniert zurück wie William L. McKinlay, der 1914 einem Eismeer-Desaster knapp entkam. »Jede Schwäche, jeder Persönlichkeitsdefekt und jeder Charakterfehler«, notiert er, erhalte in einer arktischen Notlage tausendfaches Gewicht. Im Ersten Weltkrieg erlebt McKinlay dagegen eine Kameradschaft, die »im Hohen Norden völlig gefehlt hatte«. Demnach mag die soldatische 20
Ersatzhandlung bei den Polarfahrern des heroischen Zeitalters zwar intendiert sein. In der Wirklichkeit bleibt jedoch nichts davon übrig. Jeder ist sich dann selbst der nächste. Zwei Jahre, nachdem Köhlmeiers Roman herauskam, führten Messner und Fuchs öffentlich vor, daß Polarabenteuer tatsächlich ungeeignet sind, soziales Verhalten einzuüben. Die beiden schienen sich während ihrer 92tägigen Antarktisdurchquerung zwar nicht öfter zu streiten, als das unter diesen Umständen üblich ist. Dafür trugen sie über die Medien im nachhinein eine Schlammschlacht ohnegleichen aus. Messner diskreditierte Fuchs als konditionsschwachen Bremser, der die meiste Zeit angetrieben werden mußte. Fuchs stellte sich selber als bedächtigen Navigator dar, Messner dagegen als cholerischen Hansdampf, der in allem Erster sein muß. Der Marsch an den Pol und darüber hinaus ist demnach immer ein Alleingang, auch wenn man gemeinsam aufbricht. Messner wußte es nach der Antarktis-Transversale besser: »Zwei, isoliert in einer Welt ohne Zeit, sind zu zweit allein. Tag für Tag, auf Gedeih und Verderb, Auge in Auge, jeder mit sich selbst.« Im Extremsport wird aus einer herbeifabulierten Solidar- oder Schicksalsgemeinschaft ganz schnell eine Notgemeinschaft, die dem Ziel einer Expedition und sonst gar nichts dient. Wenn man sich die Egotrips ins Eis so ansieht, liegt die Vermutung nahe, daß viele dieser solitären Einzel-Gänger eine Flucht vor sozialen Verpflichtungen antreten. Letztendlich, so der Journalist Thomas Delekat, sei das fortgesetzte Grenzerlebnis an Orkus oder Jordan sogar ein Rückfall ins Asoziale. Beruf und Privatleben leiden unter der einsamen Sucht nach dem Kick. Ob das auf professionelle Abenteurer wie Fuchs und Messner zutrifft, ist schwer zu sagen. Bei der Lektüre zahlloser Selbsterfahrungselegien, die mehr oder weniger unbekannte Gelegenheitsabenteurer in den letzten zehn Jahren so zusammengeschrieben haben, könnte man aber schon auf den 21
Gedanken kommen. Denn mit der Zivilisation lassen die Eisfreaks immer auch soziale Bindungen zurück. Keiner von ihnen schreibt es, aber viele denken sich’s: »Ihr könnt mich doch alle!« Ist der Gang ins Eis also nur eine riskante Form der Selbsttherapie, ein Vergewisserungsritual für die Verunsicherten, Gelangweilten, Plan- und Orientierungslosen dieser Welt, die in ihren freudlosen Bürokomplexen vom großen, ursprünglichen Gefühl träumen? Und wenn ja, was ist das für ein Gefühl? Jack London ging als einer der ersten in den hohen Norden, um dort keine Rekorde aufzustellen, sondern die elementaren Aspekte der Existenz auszuleuchten. Sein Versuch, aus der Begrenztheit der westlichen Welt auszubrechen und sich der eigenen Vergänglichkeit bewußt zu werden, mündete in einen Kniefall vor der metaphysischen Ungewißheit. Der Mensch sei »ein einsamer Fleck Leben, der die gespenstischen Wüsten einer toten Welt durchwandert, den sein Wagemut schaudern läßt und der erkennt, daß er ein Wurm ist, sonst nichts.« Schon wieder Wurm, Krill, Krebs – das kann es doch noch nicht gewesen sein; ist es auch nicht für all jene, die den Beweis erbringen wollen, daß der menschliche Geist die physischen Limitierungen des Körpers überwinden kann und dadurch mehr ist als seine vergängliche Hülle. Selbstergreifen oder Selbstverlust, um mit Karl Jaspers zu sprechen. Das klingt ziemlich transzendental, und in der Tat herrscht kein Mangel an Eisheiligen, die erst durch den kalten Polar pilgern müssen, damit ihnen Gott oder ein Anverwandter über den Weg läuft. Der Ethnologe Knud Rasmussen legte einem Eskimo-Jaspers namens Igjugarjuk 1926 ein Stück Existenzphilosophie in den Mund: »Alle wahre Weisheit findet man nur ferne von den Menschen, draußen in der großen Einsamkeit, und sie kann nur erlangt werden durch Leiden. Entbehrungen und Leiden sind die einzigen Wege, den Sinn eines Menschen für das zu öffnen, was den anderen verborgen ist.« 22
Wer gut leidet, das weiß jede Domina, verabschiedet sich irgendwann in einen Zustand komatöser Glückseligkeit. Dazu braucht es aber nicht unbedingt Striemen auf dem Hintern oder einen Satz erfrorener Zehen. Es klappt auch mit dem Gefühl, alle auftretenden Schwierigkeiten kontrollieren und bewältigen zu können. Womit wir ein letztes Mal beim Flow-Erlebnis wären. Der Flow ist bei Extremsportlern immer dann am besten, wenn sie sich zum Beispiel in einen perfekt koordinierten Bewegungsablauf hineingeklettert haben und alles um sich herum vergessen. Das gibt es: Ohne viel Nachdenken verschmelzen dann Bewußtsein und Handlung zu einer zeitenthobenen Einheit. Noch einmal der Köhlmeier-Roman: »Ich war unheimlich wach. Ich bin in Philosophie versunken. Ich habe Gedanken gesponnen, habe im Kopf Konzepte entworfen, Konzepte zur Verbesserung der Welt. Ein euphorischer Zustand wie unter einer Droge. […] Es war ein Wunder. Auch eine Entmenschlichung.« Vielleicht ist es das, was die Menschen an die Pole treibt; nicht nur der biochemische Cocktail, der sich da im Kopf zusammenbraut und die Synapsen stimuliert, sondern ein Verharren am Übergang von Wachzustand und Narkose – Selbstvergessenheit im Wortsinn: das Ich mit allem, was dranhängt, abstreifen, um wie von außen einen Blick darauf zu werfen … Und dann ist sie doch da, die Omnipotenzanwandlung, die Peary hinausposaunt und Messner mit ebenso vielen Ausrufezeichen evangelisiert, das »I am the king of the world!«-Gefühl, nach dem wir uns insgeheim alle (besonders die Männer) sehnen, die »beschwingte Unabhängigkeit«, die Hans Castorp am Anfang seiner weglosen Fahrt im Schnee-Kapitel des Zauberberg empfindet und die in »Trunkenheit und Exzitation« übergeht. Wer es etwas kleiner mag, landet beim guten alten Sex. Von Masochismus, Autoerotik und Potenzallüren war ja bereits die Rede. Wer sich heute eine Polarfahrt leisten kann, hat das 30. 23
Lebensjahr oft schon überschritten. Da stellt sich dann gerne eine Art jugendliche Weigerung ein, das Altern ernst zu nehmen. Dieser Stachel sitzt tief, da wir in zunehmendem Maße vom Körperkult einer »Fit for Fun«-Ästhetik umgeben sind. In Wirklichkeit ist es nichts anderes als eine »Fit for Sex«Kampagne. Sie suggeriert, daß es braungebrannt, muskelbepackt und fröhlich am aussichtsreichsten sei, einen Paarungsgenossen zu finden. In den Polargebieten bzw. generell in der Natur gibt es das alles umsonst. Das Schönheitsideal, das sich dort erwerben läßt, weicht zwar ein bißchen von den HochglanzWaschbrettbäuchen ab, aber es geht noch durch und gibt einem das Gefühl, nicht zum alten Eisen zu gehören. Abenteuer macht jung und damit sexy. Nach so viel Flow wird der Polarfahrer irgendwann sehr, sehr müde. Auffällig häufig heißt es denn auch am Ende von Expeditionsberichten: »Ich schlief tief und fest.« Das ist nicht nur eine Reaktion auf körperliche und geistige Strapazen, auf den Lustgewinn durch Erfolg und/oder Leiden, sondern beinhaltet einen anderen Aspekt des Drangs nach mehr Leben: die Sehnsucht nach einem Scheintod, der den Verfall des Organischen aufhält, nach einem bewußtlosen Kälteschlaf, in dem die Zeit aufgehoben ist. In vielen Science-Fiction-Filmen, von 2001 bis Alien, gehört das zur Standardprozedur einer Weltraumfahrt. Die Realität hat inzwischen aufgeholt: Für viel Geld kann man sich post mortem einfrieren lassen in der Hoffnung, daß die Medizin einen in ferner Zukunft wieder ins Leben zurückholt und nicht nur das Tiefkühlverfahren, sondern auch den Tod reversibel macht. Ob euphorisiert oder schon jordanisiert – das lästige Ich läßt sich nur dann loswerden, wenn man einen Teil der Persönlichkeit ausblendet. Angst gehört dazu, Reflexionsfähigkeit und nicht selten der gesunde Menschenverstand.
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Im Ohrensessel Leser haben es da leichter: Auch sie können sich ausblenden in eine eigene Welt, aber sie können es in der Phantasie tun. Kurz vor dem Jahreswechsel gibt es nichts Schöneres, als sich im Ohrensessel zu vergraben und bei einer Tasse Tee von Schneestürmen und Eispressungen zu lesen, während draußen ein paar harmlose Flöckchen tanzen. Das verleiht einem ein tiefes Gefühl von Sicherheit. Der Antrieb, selber loszuziehen und sich an der Natur zu erproben, läßt sich durch Lektüre sublimieren. Möglichkeiten gibt es dafür mehr als genug: Der Polar-Boom hat nicht nur den Erlebnistourismus, sondern auch die Literatur, Unterhaltungsindustrie und Werbebranche erfaßt. In jeder Saison erscheinen neue Bücher über die alten Geschichten. Historische Expeditionsberichte und Memoiren werden neu aufgelegt, verloren geglaubte Materialien entdeckt und veröffentlicht, Biographien auf den neuesten Stand gebracht – all das ein reicher Fundus für Nacherzählungen und literarische Rekonstruktionen. Denn was den Polarfahrern früher so aus der Feder floß, läßt sich heute kaum noch mit Gewinn lesen. Hinzu kommen zeitgenössische Erlebnisberichte und Reportagen: Jedes Eis-Abenteuer wird gnadenlos vertextet, verfilmt und vermarktet. Geradezu inflationär ist die Romanproduktion. Anscheinend sitzt in jedem zweiten Blockhaus ein Zivilisationsgeschädigter Gelegenheits-Nansen, den auf dem Gang zum Klohäuschen ein Eisbär anfällt oder dem ein Blizzard in die Glieder fährt. Diese größtenteils touristischen Erlebnisse sind dann in selbstverliebten Nabelschauen und esoterischen Selbsterfahrungsarien nachzulesen, etwa in Die Farben des Eises (1995) von Audrey Schulman. Das meiste ist eher von soziologischem Interesse. Mehr darüber im Kapitel »Ich friere, also bin ich«. 25
Zu den wenigen anspruchsvollen Werken gehören Ransmayrs dokumentarische Fiktion Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) und Sten Nadolnys historisierende Fortschrittskritik Die Entdeckung der Langsamkeit (1983) – beides erfolgreiche Bücher, die den gegenwärtigen Kälte-Boom mit in Gang gesetzt haben. Guntram Vesper hat sich mit der Thematik schon in dem Gedichtzyklus »Nordwestpassage« (1981) auseinandergesetzt, ebenso W G. Sebald im zweiten Teil seines Prosagedichts »Nach der Natur« (1988). Auch Raoul Schrotts utopische Montage Finis Terrae (1995) greift auf ein Stück Polargeschichte zurück und dichtet frei Erfundenes hinzu: Er präsentiert das Logbuch des Pytheas von Massalia (Marseille), der um 330 v. Chr. den Norden Europas bereiste und bis nach Thule, dem Ende der damals bekannten Welt, gelangte. Doch in Wirklichkeit sind von Pytheas’ Bericht nur Bruchstücke erhalten. Schrott konstruiert ihn als Teil eines Verwirrspiels, das die Grenzen von Authentischem und Fiktion verwischt – eine Vorgehensweise, die auch Ransmayr und Nadolny verfolgen. Die Polargeschichte beruht ja größtenteils auf lückenhaften, subjektiven, tendenziösen, also äußerst zweifelhaften Quellen. Deshalb bietet sie eine Fülle von Leerstellen, die sich nicht nur mit spannenden Geschichten füllen lassen, sondern auch zu einer programmatischen Kritik unseres Begriffs von Wirklichkeit Anlaß geben. Aber wenden wir uns zunächst der grundsätzlichen Frage zu, warum die Polar-Plots so eine Anziehungskraft auf uns ausüben. Nochmals einige Beispiele für den Boom: Große Popularität erreichte der gehobene Thriller Fräulein Smillas Gespür für Schnee (1994) von Peter Høeg – sogar bei den Literaturkritikern, denen nunmehr klargeworden war, was sich da angebahnt hatte in Schnee und Eis. Die Verfilmung von Bille August tat ein übriges. Daneben waren im Kino Abenteuerdramen zu sehen wie Gefangen im ewigen Eis (1990), Der Schatten des Wolfes (1992), Auf Messers Schneide – 26
Rivalen am Abgrund (1997) oder Ruhm und Ehre (1998). Der IMAX-Film Antarctica (1993) oder die ZDF-Fernsehserie »Im Bannkreis des Nordens« (1998) setzten die lange Tradition der Dokumentarfilme fort. Dokumentarisch gehen auch die jüngsten Kassenschlager aus dem Sachbuch-Bereich vor: Caroline Alexander (Die Endurance, 1998) schildert Ernest Shackletons mißglückte Antarktisdurchquerung. Jon Krakauer (In eisige Höhen, 1998) berichtet von einem Bergsteiger-Drama am Mount Everest. Die Medienformen Sachbuch und Dokumentarfilm entstanden in den 20er Jahren und trugen erheblich zur Popularisierung der Polar-Thematik bei. Was reizt uns also gegenwärtig an diesen Abenteuern? Ganz einfach: Sie sind nun mal so spannend. Der Literaturwissenschaftler Volker Klotz ist diesem »nun mal« nachgegangen. Einige seiner Erkenntnisse über Abenteuerromane treffen auch auf viele Polar-Reißer zu. Mit Spannungen, so Klotz, antwortet die herbeierzählte abenteuerliche Welt den Spannungen im gesellschaftlichen Alltag. Dabei entschädigen Abenteuerromane für etwas, was man im Alltag vermißt. Ganz wichtig ist dabei eine Hauptfigur bzw. ein »Held«. Der Held, ob historisch verbürgt oder frei erfunden, setzt sich stellvertretend für den Leser Spannungen aus, die jener dann im Geiste nachempfinden kann. Heute gilt: Je durchschnittlicher ein Held, desto besser kann sich der Leser mit ihm identifizieren. Fräulein Smilla ist ein denkbar ideales Exemplar dieser Gattung. Mit den Abenteuern, die sie in Kopenhagen, auf einem Frachtschiff und auf einer Insel vor Grönland erlebt, entkommt sie selber ihrer ereignislosen Stadtexistenz und kehrt – als Grönländerin – zu ihren Wurzeln zurück: »Die Horizonte. Man zieht ihnen entgegen, und sie ziehen sich immer wieder zurück. Das ist Grönland, und das ist es, ohne das ich nicht sein kann! Deshalb will ich mich nicht einsperren lassen.« Wer möchte diesem Freiheitsdrang nicht zustimmen? 27
Spannungen, führt Klotz denn auch weiter aus, beruhen nicht auf sich selbst. Sie rühren bestimmte, geschichtlich begründete Erfahrungen im Leser an: »Verwirrungen, Schrecknisse und Sehnsüchte, gefördert durch die fortentwickelte bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert.« Die Sehnsucht nach dem Unbekannten und die Angst davor gehören zu diesen fundamentalen Erfahrungen, die sich auf das ewige Eis projizieren lassen und im abenteuerlichen Polarroman veranschaulicht werden. Er entschädigt für die unansehnlichen »Verkehrsformen von Kapital und Industrie«, so Klotz, und zwar doppelt: durch den Erzählprozeß des Autors, der uns die abenteuerliche Welt der Polarregionen vergegenwärtigt, und durch den Handlungsprozeß des Helden, der auszieht, um Verborgenes ans Tageslicht zu bringen. An beidem hat der Leser in seinem Ohrensessel Anteil, etwa in Sten Nadolnys Roman Die Entdeckung der Langsamkeit, der vom Leben des Polarforschers John Franklin handelt und das Programm des Abenteuerromans auf sehr poetische Weise formuliert: »John blickte ins Eis, studierte die Formen und versuchte zu verstehen, was sie bedeuteten. […] Stunde für Stunde zeichnete er die Formen der Eisberge. Er schrieb die Farben dazu: ›Grün auf der Linken, rot auf der Rechten, und nach zehn Minuten umgekehrt‹. Er versuchte zu benennen, was er sah, aber das gelang schlecht. Es war eher eine Musik, die man in Notenschrift hätte schreiben müssen. Das feingerippte Meer umspielte und trug die Eisfiguren wie ein Takt, und sie selbst hatten, wie Klänge, eine Harmonie, obwohl sie doch etwas Gesplittertes und Geborstenes waren. Aber sie wirkten ruhig und zeitlos, so etwas konnte nicht häßlich sein. Hier war es friedlich. Weit hinten, irgendwo im Süden, sorgte die Menschheit für das Elend der Menschheit. In London war die Zeit etwas Gebieterisches, jeder mußte mit ihr mithalten.«
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John Franklin kehrt von seiner Suche nach der Nordwestpassage nicht zurück und kommt im Eis um. Er scheitert an der Aufgabe, die Helden in Abenteuerromanen normalerweise zu bestehen haben, nämlich Rätsel zu lösen mit »dem äußersten Einsatz der eigenen körperlichen und geistigen Kräfte, deren der einzelne überhaupt erst in solchen außerordentlichen Lagen genußvoll inne wird.« Um den Leser auf seine unerkannten oder fehlgeleiteten Energien zu stoßen, fährt Klotz fort, bedarf es der »erzählten Extremlagen«, der Elementarsituationen, die den Menschen an der äußersten Grenze seiner Fähigkeiten zeigen. Genau darauf beruht die Breitenwirkung des Polarromans oder des spannenden Expeditionsberichts: Es geht um Leib und Leben. Das versteht jeder Leser, egal welche psychischen, gesellschaftlichen oder weltanschaulichen Prädispositionen er mit sich herumträgt. Man weiß, woran man ist – oder glaubt es zumindest, denn lebensbedrohliche Situationen kennen wir meist nur aus unseren Alpträumen. Die unberechenbaren Naturkräfte, die uns in vorindustrieller Zeit noch gefährlich wurden, haben wir inzwischen weitgehend gezähmt. Wir können ihnen nur noch in den Polarregionen, in der Wüste und ähnlichen Reservaten begegnen, die für die »erzählten Extremlagen« des Abenteuerromans eine geeignete Kulisse abgeben. In dem Roman von Sten Nadolny, der den Topos der abenteuerlichen Suche aufgreift und weiterentwickelt, ist das nun anders: Für den englischen Polarforscher John Franklin wird die menschenfeindliche Natur der Arktis zu einem Fluchtraum. Auf seinen Expeditionen entzieht er sich der beschleunigten Wirklichkeit der zivilisatorischen Moderne, dem »rasenden Stillstand« von Paul Virilio, dem Nihilismus des Schnell-Seins. In Nadolnys Fiktion, die sich von dem historischen Franklin löst, entwickelt der Held eine Strategie des Widerstands gegen die beklemmende Hast der Welt.
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Dieser Schutzreflex nimmt die Gestalt einer sozialen Utopie an. Franklin entwirft in der abgeschiedenen Naturwelt der Arktis ein gesellschaftliches Modell, das die Individualität des einzelnen zum obersten Prinzip erklärt: »Man lasse die Schnellen schnell und die Langsamen langsam sein, jeden nach seinem aparten Zeitmaß.« Diese Utopie stellt Franklins eigentliche Entdeckung dar. Der Nordpol, der ja auch ein UTopos ist, rückt dagegen in den Hintergrund. »Das Ziel war wichtig gewesen, um den Weg zu erreichen. Den hatte er nun, auf dem ging er, und der Pol wurde wieder zum geographischen Begriff.« In Nadolnys Arktis geht es nicht mehr um die Eroberungsrituale einer um jeden Preis expandierenden Moderne, sondern um eine neoromantische Philosophie des Unterwegsseins, ein »Franklinsches System des Lebens und des Fahrens«. Dieser Wanderschaft liegt ein spirituelles AskeseIdeal zugrunde, dem schon die frühmittelalterlichen monachi peregrini angehangen waren und das Bruce Chatwin auf seine Theorie des Nomadentums übertrug: Ohne die Einschränkungen, die Besitz und Seßhaftigkeit mit sich bringen, lassen sich die wertvollsten Erkenntnisse gewinnen. Jesus ging in die Wüste. Franklin geht ins Eis. »Er hatte nur die Sehnsucht, unterwegs zu bleiben, […], auf Entdeckungsreise, bis das Leben vorbei war.« Aber wie das mit Utopien so ist: In der Wirklichkeit sind sie nicht einzulösen. Franklin geht in der Arktis zugrunde. Am Ende kann er weder sprechen noch schreiben, braucht für jede Fortbewegung Hilfe, seine Körper- und Geistesfunktionen verlangsamen sich. Mit seinem Tod wird auch die »Entdeckung der Langsamkeit« zu Grabe getragen. Nadolnys Roman enthält zwei Aspekte, die in den 80er Jahren von zentraler Bedeutung sind: Er plädiert für ein anderes Verhältnis zur Natur und ganz allgemein zur Umwelt – eine Forderung, die ja auch von der Ökologiebewegung vehement vorgetragen wurde. Und er demonstriert das Scheitern visionärer 30
Weltentwürfe. Damit schließt er sich der postmodernen Kritik an den Meta-Erzählungen der Moderne an, einem geschichtspessimistischen Denken, das vor allem Fortschrittsund Technikgläubigkeit verurteilt. Gehen wir zunächst dem gewandelten Naturerlebnis nach, das in Nadolnys Roman so gar nichts von »Kampf«, »Unterwerfung«, »Bezwingung« hat. Die Natur wirkt auf Franklin friedvoll und inspirierend. Er begreift sie nicht als lebensfeindliche Macht, an der man seine Kräfte mißt, auch nicht als unberechenbare Bedrohung, die noch der Titanic den Garaus macht. Eisberge sind für ihn Kunstwerke der Schöpfung. Schon Immanuel Kant zählte »Eispyramiden« zu den schaurig schönen Gegenständen des »Erhabenen«, in denen der Mensch sich seiner eigenen Größe als Vernunftwesen vergewissern konnte. Diese Wahrnehmung der Natur teilen wir auch heute. Wir besuchen Naturschutzgebiete und Nationalparks wie Freiluftmuseen. 1991 wurde die gesamte Antarktis zum »Weltpark« erklärt, was eine Flut von Natur-Reportagen über »die kalte Pracht« ausgelöst hat. Ehemalige russische Forschungsschiffe befriedigen nach dem Zusammenbruch der UdSSR die zunehmende Nachfrage nach AntarktisKreuzfahrten. Diese Form des Tourismus kommt der Kantschen Anschauung des Erhabenen am nächsten: Von einer Schiffsreling aus bleiben Treibeisfelder und »Eisbergalleen« auf sicherer Distanz. Bei kurzen Landgängen herrscht die umweltbewußte Regel: »Nimm nur Erinnerungen und Fotos mit.« Es ist ein Schauen und Staunen, das mit den »Nordlandfahrten« der 30er Jahre beginnt und via Lichtbild und Fotografie auch den Daheimgebliebenen möglich ist: GEO bringt uns das »neue Bild der Erde« (so der Untertitel der Zeitschrift) direkt an den Ohrensessel. Seit wir genauere Kenntnisse über die vielfältigen Ökosysteme der Polargebiete besitzen, gelten sie uns nicht mehr als öde Sperrzonen, in denen 31
kein Leben gedeiht, sondern als kostbare Wildnis-Reservoir, die vom Menschen weitgehend unbehindert sind (vor allem die Antarktis). Im Jahre 1860 ist das noch anders. Damals berichtet die Gartenlaube über die Suche nach den 129 Verschollenen der letzten Franklin-Expedition (1845-48) und schließt mit der Mahnung: »Es fehlt wahrhaftig nicht an Gebieten, aus denen der Entdecker schönere Lorbeeren als die des Kriegers sich holen kann. Da ist Afrika, wo es mehr als Leichen zu sammeln gibt, wo der Wissenschaft und Cultur eine reiche Ernte harrt. Auf dieses zukunftsweisende Gebiet soll die Thatkraft sich werfen, aber den Nordpol überlasse man seiner todten Natur.« Tote Natur – so urteilte man auch über Caspar David Friedrichs Gemälde Das Eismeer (1823/24), das inzwischen zur Ikone des »Kälte-Kults« avanciert ist. Die Malerei habe in derartigen Bildern »den höchsten Grad der Unnatur« erreicht, hieß es damals. Nach den Berichten, die Forscher wie William E. Parry und James C. Ross in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts mitbrachten, erscheint die Arktis sogar wie ein anderer Planet. Als der norwegische Geologe Keilhau 1827 zur Bäreninsel gelangt, hat er das Gefühl, »einen fremden, nicht mehr unserem Weltteil angehörenden Strand zu betreten«. Auch Michael Köhlmeier läßt einen seiner Grönlandwanderer sagen: »Man kann dazu nicht Landschaft sagen. Ist es eine Landschaft, wo das eigentliche Land zweitausend Meter unter deinen Füßen liegt? Eine Eisscheibe. Eine Unwirklichkeit.« Im Laufe des 19. Jahrhunderts schlägt diese Abwehrhaltung, die einer unbekannten, vielfach noch mit Mythen aufgeladenen, uniridischen Welt entgegengebracht wurde, dann um in den bekannten Drang zu Gipfelstürmen und ähnlichen Höchstleistungen im ewigen Eis. Der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen hat einige Dramatisierungen von Polarexpeditionen untersucht. Dabei beobachtet er zwei Motive: Der »Kampf mit der Kälte als 32
Parabel der heroischen Pioniertat, das wüste Naturobjekt sich Untertan zu machen, mischt sich mit der Haltung von Nietzsches ›Nordpolfahrern‹, für die die polare Region die ideale Landschaft ihres Nihilismus ist«. Für Nietzsche ist die Entfernung aus der menschlichen Gemeinschaft, die Einsamkeit des »Im-Eise-Lebens«, eine existenzielle Voraussetzung klaren Denkens. Im Ecce Homo und Antichrist (beide 1888 entstanden) begreift er die Philosophie als »freiwilliges Leben in Eis und Hochgebirge«. Jenseits »des Nordens, des Eises, des Todes« könnten wir uns als »Hyperboreer« fit machen für die Kältekammern der Moderne. Den Menschentypus, der zur fernen, »furchtbaren« Natur strebt, idealisiert er wie folgt: »Man sieht einen traurigen, harten, aber entschlossenen Blick – ein Auge, das hinausschaut (vielleicht um nicht hineinzuschauen? und nicht zurückzuschauen? … ) Hier ist Schnee, hier ist das Leben verstummt, die letzten Krähen, die hier laut werden, heißen ›Wozu?‹, ›Umsonst!‹, ›Nada‹ – hier gedeiht und wächst nichts mehr.« Die Polarregionen fungieren bei Nietzsche als Laboratorium, in dem sich die Beobachtung schärfen und der Wille schulen läßt. Die Natur wird zu einem abstrakten Übungsraum, in dem es keine Irritationen gibt: keine Vertröstungen durch religiöse Heilsversprechen, keine Sinnzuweisungen durch die Deutungslehren der Aufklärung, keine Entwürdigungen durch Emotionen wie Mitleid oder die bürgerlich-humanistische Moral. Doch Nietzsches Utopie des kalten Blicks, der eine gesteigerte Wahrnehmung ermöglichen soll, basiert auf einer überaus eurozentrischen Wahrnehmung der Polarregionen. Dort scheinen die Prozesse des Werdens und Vergehens ja tatsächlich eingefroren zu sein. Der belebende Rhythmus von Tag und Nacht ist durch zwei Jahreszeiten aufgehoben: den Polarsommer mit der Mitternachtssonne und den Polarwinter mit 33
monatelanger Dunkelheit. Dieses unerbittliche Entweder-Oder, das keinen Raum für Zwischentöne oder Differenzierungen läßt, kommt einem absoluten Denkmodell natürlich entgegen. Am Pol, so könnte man meinen, herrscht eine Ordnung, die noch nicht korrumpiert ist von komplexen Verläufen und Simultanitäten, wie sie die Chaostheorie später formuliert hat. Ernst Jünger spricht noch 1959 von einer Bewährungsprobe, die der moderne Mensch im Eis zu bestehen habe: »Das Eis war einer unserer großen Lehrmeister, wie es der Winter heute noch ist. Es hat unseren ökonomischen, technischen und moralischen Sinn bestimmt. Es hat unseren Willen gestärkt, uns denken gelehrt.« In der Moderne wohnt der »Unnatur« der Polarregionen noch ein symbolhafter Schrecken inne: Arktis und Antarktis gelten zwar nicht mehr als außerweltliche Unorte, auf die kein Lebender einen Fuß setzen sollte und wo selbst Rationalisten wie Mary Wollstonecraft Shelleys Dr. Frankenstein von ihrer prometheischen Vergangenheit eingeholt werden und zugrunde gehen. Sie dienen aber als Metaphern für die Entfremdung des Menschen von seinesgleichen und seiner Umwelt, für Vereinzelungs-, Angst- und Verlusterfahrungen, deren Registrierung und Aufarbeitung für die Moderne so wesentlich geworden sind. Bis in den Existenzialismus hinein begegnet uns das ewige Eis als Landschaft ohne Orientierungsmarken, als Ort des »Unversicherbaren«, wie es in Hans Erich Nossack Roman Spirale (1956) heißt, als »Übernichts«, wie Paul Celan in einem späten Gedicht schreibt. In Thomas Bernhards Roman Frost (1963) träumt der Maler Strauch davon, daß die ganze Welt um ihn herum zu Eis erstarrt sei: »Es war, als befände ich mich in einem Aquarium, in dem das Wasser eingefroren ist. Alles in diesem Aquarium war eingefroren. Die Baumstämme. Die Sträucher. Alles. Eingefroren in weißliches Eis […]. Bei der geringsten Erschütterung […] bildeten sich Tausende und Zehntausende 34
von Sprüngen in dem riesigen Eisblock, zu dem die Erde erstarrt war.« Für manche Schriftsteller bleibt es bis heute dabei: Die Eislandschaften gelten ihnen als Widerpart des organischen Lebens und der Natur, als kahle Verbannungsorte, an denen sich der Mensch entweder ausgesetzt, machtlos und verletzlich fühlt oder aber – zumindest in Nietzsches und Jüngers Phantasie – zum Übermenschen reift. Dieses Schreckbild hat aber nur solange Bestand, bis die Polargebiete genauer erforscht sind und leichter erreichbar werden. Am Archetyp Eis (= Kälte) ändert sich zwar nichts. Aber die Metapher der Polarfahrt erfährt eine Umpolung. Alfred Andersch ist einer der ersten Schriftsteller, die als Touristen in den hohen Norden reisen. Am Ende seines Reiseberichts Hohe Breitengrade (1969), der von einer Fahrt durch den Spitzbergen-Archipel handelt, prophezeit er eine »künftige Ästhetik der Natur«. Damit hat er gar nicht so unrecht, wenn man an die Naturlyrik der 80er Jahre denkt. Schnee und Eis spielen zum Beispiel in den Gedichten von Sarah Kirsch eine zentrale Rolle; auch bei Doris Runge, Ulrich Schacht, Wulf Pursten und anderen. Andersch ist kein Arktis-Romantiker, obwohl auch er die Zivilisation gerne hinter sich läßt. Anwandlungen von Ergriffenheit verbittet er sich: So widerruft er bei der Betrachtung eines rötlichen Tafelberges das Wort »Magie« und ersetzt es durch »Phänomen« im Sinne Heideggers als »das Sich-an-ihm-selbst-Zeigende, das Offenbare«. Andersch trifft auf kein Idyll, sondern auf allgegenwärtige Spuren der Zerstörung durch den Menschen, etwa auf den Walroß- und Robben-Friedhof der Insel Moffen: »Weil der Pol alles konserviert, hat er auch den Schindanger eingefroren, und so liegen denn auf Moffen Island die Knochen der Meer-Menschen des 17. Jahrhunderts zu Tausenden weiß auf den grauen Steinen. Die Walroßhäupter 35
mit den Stoßzähnen haben die Jäger als Trophäen mitgenommen, aber aus runden Augenhöhlen glotzen uns unzählige Robbenschädelchen an.« Die Formen dieser Knochen erinnern Andersch an Skulpturen von Hans Arp. Einem Fjord wendet er die gleiche Aufmerksamkeit zu wie einer Fuge von Bach. Die Verteilung und Färbung von Flechten seien »ebenso das Ergebnis von Form-Prozessen wie die Kathedrale von Chartres oder ein Bild von Cézanne«. Demnach löse die Anschauung der Natur die gleichen psychischen und mythischen Erfahrungen aus wie die Anschauung eines Kunstwerkes. Doch Andersch fühlt sich nicht vom Schrecklichen der Arktis angezogen, sondern von ihrer Stille und Menschenleere. »Friedlich und schön« sei es dort, wo der Mensch sich wieder zurückgezogen hat. Hier scheint ein Kunstbegriff durch, der an antikünstlerischen Ausdrucksformen Gefallen findet und die Natur als gewachsene, nicht-konzeptuelle »Land Art« versteht. Reduktion und Abstraktion, jene revolutionären Kunstanstrengungen der Moderne, findet Andersch in der Arktis schon vor. Den Menschen, so scheint es, braucht es dafür gar nicht. In der Natur ist schon alles vorhanden. Andersch legt auch in die sich ständig verschiebende Packeisgrenze Bedeutung hinein. Sie sei ein »heraklitisches Zeichen«, stehe also für die Unaufhaltsamkeit der Bewegung als Seinsgesetz. Auch damit wird dem Bild der »toten Natur« eine Absage erteilt. Die dauernde Spannung von Gegensätzen, die nach Heraklit das Wesen der Welt ausmachen, ist gerade an den Naturphänomenen der Arktis zu beobachten. Ihre angebliche Leblosigkeit wirkt auf Andersch wie ein Sinnbild des Lebens. Um das zu erkennen, muß man nicht zum heroischen oder nihilistischen Leidensmann werden: »Wenn einer sich in der Arktis einsam fühlt, und so eine Kugelrobbe erscheint neben ihm und sieht ihn an, fast ohne Scheu, dann ist er nicht mehr allein.« 36
Unsereins gelangt auch ohne das gängige »panta rhei«Philosophem zu dem Schluß, daß sich Natur nicht auf eine Sommerwiese beschränkt. Nietzsche und Co. haben vielleicht noch nichts vom Krill gewußt. Die Polarfauna in Gestalt von Walen, Robben, Eisbären, Füchsen, Seevögeln etc. dürfte ihnen aber bekannt gewesen sein. »›Nada‹ – hier gedeiht und wächst nichts mehr« – das ist ein Satz aus dem 19. Jahrhundert, in dem man stark auf den Effekt von Theorien und Theoremen, Thesen und Hypothesen abzielte und dafür auch schiefe Metaphern in Kauf nahm. Die Polarregionen sind ohne Zweifel ein gewichtiges Symbol. Sie sprechen aber nicht nur verborgene Ängste an wie das Geburtstrauma des Kälteschocks, sondern auch Sehnsüchte. Um 1900 scheint die Natur dem Menschen über dem unentwegten Klassifizieren und Kategorisieren der Aufklärung abhanden gekommen zu sein. Deshalb, so die Kunsthistorikerin Heidi Caroline Ebertshäuser, muß sie in ihren letzten Schlupfwinkeln unter übermenschlichen Anstrengungen wiederentdeckt werden. Dieses Motiv, das Andersch ebenfalls bewegt, geben auch viele Extremsportler für ihre Unternehmungen an. Die Norweger kennen dafür den Ausdruck »arktis-bitten«, von der Arktis gebissen. Arkadien liegt also auch im äußersten Norden und Süden. Es bietet Naturerlebnisse und Erfahrungen, die mit den klassischen Wunschlandschaften durchaus konkurrieren können – Caspar David Friedrich hatte zum Beispiel die Absicht, Island zu besuchen und nicht Italien wie die meisten seiner Künstlerkollegen. Doch im Gegensatz zum Land, wo die Zitronen blüh’n, ist es an den Polen nach wie vor nicht ganz ungefährlich. Wer dort für längere Zeit »aussteigen« will, kann das nicht mit einem Tornister »weißer und schwarzer Wäsche« sowie einigen Bänden Homer, Theokrit und Vergil tun wie Johann Gottfried Seume 1801 auf seinem Spaziergang nach Syrakus. Wen die Arktis zur Weltflucht animiert, der sollte sich 37
in jeder Hinsicht warm anziehen – zur Antarktis haben ohnehin nur Forscher und ausgewählte Journalisten Zutritt. Die Hauptfigur in Christoph Ransmayrs Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) erliegt der Faszination, die von der alten Beschreibung einer Eismeerfahrt ausgeht. Um die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition von 1872 bis 1874 vor Ort nachzuvollziehen, bricht Mazzini nach Spitzbergen auf. Dabei wird er eins mit dem Gegenstand seiner Recherche: »Es war, als ob jener Sog, der schon Mazzinis frühere Phantasiegestalten in den höchsten Norden verweht hatte, nun auch ihn selbst erfaßt hätte und fortzog. Mazzini rannte einer verjährten Wirklichkeit nach. […] Mazzini reiste ins Eismeer. Mazzini zelebrierte die Chronik der Payer-WeyprechtExpedition vor den Kulissen der Wirklichkeit […]. Mazzini wanderte über die Gletscher. Mazzini verschwand.« Mazzini – das ist zu einem gewissen Teil auch der Leser in seinem Ohrensessel, ein »armchair sailor«, wie man im Englischen sagt. Auch wir sind fasziniert von der Polargeschichte, die mit Ransmayrs Worten eine »Chronik des Scheiterns« ist. Tragödien sind ja weitaus interessanter als geglückte Expeditionen. Allein die Todesarten der zahlreichen Untergeher beschwören einen Schauder herauf, der uns an weit zurückliegende, vorzivilisatorische Gefahren erinnert: Skorbut, Angriffe durch Eskimos oder Eisbären, Verhungern und daran anschließend Kannibalismus oder – Ironie der Moderne – Bleivergiftung durch die unsachgemäße Verlötung von Nahrungskonserven. Und alles hat sich wirklich so zugetragen: »after a true story«. Expeditionsberichte und ihre Nachdichtungen benötigen den Reiz des Authentischen. Freie Erfindung gilt als Sakrileg in einem Genre, in dem nur Fakten zählen. Denn nichts, so redet es aus Stefan Zweig, »erhebt dermaßen herrlich das Herz als der Untergang eines Menschen im Kampf gegen die unbesiegbare Übermacht des Geschickes, diese allzeit großartigste aller Tragödien, die manchmal ein Dichter und tausendmal das Leben gestaltet«. 38
Mit den Fakten ist es so eine Sache. Wie bereits erwähnt ist die Quellenlage der Polargeschichte höchst unsicher. Bis heute wurde nicht schlüssig bewiesen, ob Frederick Cook oder Robert Peary den Nordpol überhaupt erreicht haben. Beide blieben der Öffentlichkeit eindeutige Belege schuldig und verstrickten sich in Widersprüche, die berechtigte Zweifel aufkommen ließen (Cook gilt nur deswegen als unglaubwürdiger, weil er später in kriminelle Affären verwickelt wurde). Voller Widersprüche stecken auch die Tagebücher der Polarfahrer, was teilweise auf die extremen Bedingungen ihrer Entstehung zurückzuführen ist. Noch fragwürdiger sind Expeditionsberichte und Autobiografien, da sie häufig von Ghostwritern verfaßt wurden. A. E. Thomas, der Die Entdeckung des Nordpols (1910) für Peary bearbeitete, resümiert: »Es war ein langweiliges Buch, weil Peary ein langweiliger Mann war. Es war unmöglich, lebendiges, menschliches Material aus ihm herauszubekommen.« Heute will kaum jemand Die Entdeckung des Nordpols lesen, ebenso wenig Die Eroberung des Südpols (1912) von Roald Amundsen. Die darin enthaltene Selbstgerechtigkeit, Großspurigkeit und Heuchelei, vom Pathos gar nicht zu reden, sind nachgerade unerträglich. Gleiches gilt für die dick aufgetragenen Passionsgeschichten über gescheiterte Polarfahrer, denen das Massenpublikum der 20er Jahre noch auf den Leim ging. Seit einiger Zeit wird die Polargeschichte jedoch umgeschrieben. An kritischen Stimmen hat es ohnehin nie gefehlt (man denke an den Gartenlaube-Text). Aber im 19. Jahrhundert verhallen sie noch ungehört wie Karl Weyprechts Verdruß über die ihm entgegenschallende Heldenverehrung. »Ich war nie seekrank«, zitiert Ransmayr eine seiner Reden aus den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, »aber ich könnte es werden, wenn ich das Geschwätze über meine Leistungen, über meine Unsterblichkeit anhören muß. Unsterblich! Und dazu mein Husten …« Weyprecht starb 1881 an Tuberkulose. 39
Um die Jahrhundertwende setzt dann eine Fortschrittskritik ein, die mit dem Skeptizismus des Fin de Siècle einhergeht. Für Karl Kraus (1909) erreicht nur »die Dummheit« den Nordpol, »und sieghaft flattert ihr Banner als Zeichen, daß ihr die Welt gehört«. Georg Heym formuliert es 1911 literarischer, als er dem Tagebuch Shackletons seine eigene Fassung hinzufügt: »Bis hierher war der Mensch gekommen, hinter seinen Idealen her, unter entsetzlichen Leiden, Frost-Wunden und Hunger, ein Blinder, der hinter einem wahnsinnigen Führer dreintappt. […] Und in einförmigem Trott, wie ein Zug sibirischer Sträflinge, wandern wir geradeaus dem weißen Mond entgegen, der wie die Larve eines Gespenstes am blauen Himmel aufgehängt ist.« Diese noch sehr allgemeine Kritik wird nach 1945 konkreter. Inzwischen liegt genügend zusätzliches Material vor, um die großartigen Entdeckertaten zu relativieren. Matthew Henson, der afroamerikanische Begleiter Pearys, bricht erst lange nach dem Tod seines Chefs sein Schweigen. Nicht Peary, der Henson in Sklavenhaltermanier als »My boy« anredete, sei zuerst am Nordpol gewesen, sondern er selber. Henson sei auch sonst immer vorausgelaufen, Peary hingegen wegen seiner auf acht Polarreisen gründlich ruinierten Füße den größten Teil des Hinund Rückwegs auf dem Schlitten gefahren. Auch solche Quellen sind natürlich fragwürdig, aber sie sind glaubwürdiger als die Versionen der »Chefs«, die häufig gleich durch mehrere Aussagen von Begleitern widerlegt werden. Als besonders verwerflich erscheint uns heute die Forderung nach unbedingter Gefolgschaft, die viele Expeditionsleiter an ihre Männer stellten. Zur Aufrechterhaltung der Disziplin mußten sie zwar eine gewisse Autorität wahren, aber die Nansens und Amundsens erwiesen sich allzu oft als verbohrte Tyrannen, die konstruktiver Kritik unzugänglich waren, unnötige Risiken eingingen und alle Warnungen in den Wind schlugen. 40
Der isländisch-kanadische Forscher Vilhjalmur Stefansson erklärte seiner Mannschaft im Jahre 1913 ganz offen, daß ihr Leben im Vergleich zum Ziel der Expedition zweitrangig sei. Stefansson schlug die aufbrandenden Proteste nieder, die Mannschaft fügte sich. Doch sie hatte nicht so viel Glück wie die Männer Nansens und Amundsens: Einer der Überlebenden, William L. McKinlay, schilderte 1976 das Scheitern der Expeditionsgruppe, die von Stefansson einfach im Stich gelassen wurde. In seinem Buch Karluk, Die Geschichte einer verratenen Expedition (1999 wiederaufgelegt) spricht er von einem »jämmerlichen und tragischen Fiasko« und gibt Stefansson die Schuld. Dieser habe sich als völlig unfähiger Organisator erwiesen, der um des eigenen Ruhmes willen letztlich über Leichen ging. »Das Herz gelangt zur Tapferkeit nur durch Verhärtung«, resümiert auch André Gide melancholisch. In seinem Roman Die Reise Urians (1892) verlieren die Polarfahrer jeglichen Antrieb zur Weiterreise, weil sie am Pol auf eine Leiche treffen. Und Tom Wittgen, der den Untergang der Jeanette-Expedition (1879-81) von George Washington De Long nacherzählt hat (Eismeerdrift, 1979), schreibt: »Der Mensch strebt nach Erkenntnis und ist bereit, sein Leben zu opfern, um die Rätsel der Erde zu lösen. Der Mensch ist aber auch bereit, anderer Leben zu opfern, um die Erde zu besitzen.« Reihenweise werden Führergestalten, eine in der Moderne ohnehin suspekt gewordene Figur, vom Sockel gestoßen. Doch nur selten kommt es zu einer kritischen, einigermaßen wertungsfreien Aufarbeitung. Vielmehr rücken die vergessenen Helden aus dem zweiten Glied, die Gefährten, Begleiter, Handlanger, gleichberechtigt an die Stelle ihrer Chefs: Heroismus von unten, könnte man sagen, aber eben immer noch Heroismus, der sich der gleichen martialischen Rhetorik bedient wie seine Vorgänger. Der »Kampf« geht nie zuende in der polaren Kriegsberichterstattung. So wird zum Beispiel 41
McKinlays Karluk-Bericht im Vorwort als »Geschichte echten Heldentums unter fürchterlichen Umständen« gefeiert. Bis in die Gegenwart bleibt das so. Ragnar Kvam Jr. (Im Schatten, 1999) hat die Lebensgeschichte von Hjalmar Johansen aufgeschrieben, dem »dritten Mann zwischen Fridtjof Nansen und Roald Amundsen«. Obwohl Kvam mit allen dreien streng ins Gericht geht, betreibt er vor allem eine Rehabilitation Johansens und findet einen versöhnlichen Schluß: Johansen habe »die Heldentaten der anderen« erst ermöglicht und sich dadurch »einen herausragenden Platz in der Polargeschichte« erobert. Der Verdacht liegt nahe, daß es bei den meisten Expeditionsbüchern nicht so sehr um Aufklärung, sondern in erster Linie um Dramaturgie geht. Die Polarautoren haben die Perspektive des »Jacques le fataliste« von Denis Diderot entdeckt: des tatkräftigen, lebensklugen Dieners, der den Bockmist seines Herrn wieder ausbügelt. Per Olof Sundman greift dieses Stilmittel in seinem Roman Ingenieur Andrées Luftfahrt (1969) auf, der aus der Sicht von Knut Fraenkel erzählt ist. Fraenkel war einer der beiden Begleiter des Schweden Salomon August Andrée. Dieser »kühne Organisator des Mißerfolgs« wollte 1897 in einem Ballon den Nordpol überfliegen. Das schlecht geplante Unternehmen scheiterte. Nach dem Absturz des fragilen Luftgefährts, das immerhin 480 Kilometer zurücklegte, versuchten sich die »Aeronauten« nach Spitzbergen oder Franz-Joseph-Land durchzuschlagen. Doch alle starben an Trichinenvergiftung, die sie vermutlich durch den Verzehr eines kranken Eisbären erlitten hatten. Sundmans Roman hebt sich vom kitschigen Einerlei der Expeditionsepik wohltuend ab. Aus den Tagebüchern Andrées, die 1930 gefunden wurden, rekonstruiert er eine nüchterne Geschichte. Ihre kurzen, schroffen Sätze lesen sich wie ein Abbild der Eislandschaft. Wieder wundern wir uns über den Dilettantismus, mit dem selbsternannte Forscher zu ihren Kamikaze-Unternehmungen aufbrachen – und darüber, daß 42
Andrée schon vor dem Start nicht an eine glückliche Rückkehr glaubte und trotzdem losflog. Sundman legt das alles offen: Selbstüberschätzung, Leichtsinn, nationalistische Flausen. Er demontiert die schwedischen Polarhelden als Männer auf verlorenem Posten. Fraenkel, der als letzter stirbt, verkürzt sein Leiden ganz unheroisch mit Opium und Morphium. Sein Kollege Strindberg fragt sich schon zuvor, ob es nicht in der Natur der Sache liege, »daß Polarforscher keinen gesunden Menschenverstand besitzen«. Während Sundmans Imperialismuskritik über eine bloße Nacherzählung der historischen Andrée-Expédition hinausgeht, ist Caroline Alexanders Buch Die Endurance (1998) eine gelungene dokumentarische Rekonstruktion. Die amerikanische Schriftstellerin stellt die gescheiterte »Imperial Trans-Antarctic Expedition« von Ernest Shackleton (1914-16) dar, und zwar aus der Sicht einer ganzen Reihe von Expeditionsteilnehmern. Dafür hat sie deren Tagebücher und Berichte ausgewertet und läßt Shackleton selbst in den Hintergrund treten. Es gelingt ihr, die Persönlichkeiten der Männer und ihre Rolle in der isolierten Überlebensgemeinschaft genau herauszuarbeiten. Spröde Eigenbrötler waren darunter und pedantische Schwarzseher, jungenhafte Abenteurer, aber auch überaus kompetente KälteProfis. Shackleton, über den man nur mittelbar etwas erfährt, hielt diese heterogene Truppe mit einem unerschütterlichen Optimismus zusammen. Seiner Umsichtigkeit war es zu verdanken, daß alle Männer wohlbehalten in die Zivilisation zurückkehrten. Als die im Eis eingeschlossene Endurance nach monatelanger Drift zerdrückt worden war, rettete sich die Besatzung auf eine Eisscholle und setzte später auf das menschenleere Elephant Island über. Mit fünf Begleitern und dem seetüchtigsten Beiboot fuhr Shackleton zur Walfängerinsel Südgeorgien, um von dort Hilfe zu holen. Auf der 1200 Kilometer langen Überfahrt drohten die berüchtigten Kap43
Hoorn-Roller das notdürftige abgedeckte Boot zum Kentern zu bringen. Dem Verdursten nahe durchquerte Shackleton auch noch das zerklüftete Südgeorgien, bis er in der Walfängerstation ankam. Nach mehreren Versuchen rettete er das zurückgebliebene Gros seiner Mannschaft, das sich auf der unwirtlichen Elefanteninsel von Pinguinen, Napfschnecken und Seetang ernährt hatte. »Ich habe es geschafft«, schrieb er seiner Frau Emily, »nicht ein Leben verloren, und wir sind durch die Hölle gegangen.« Im Ohrensessel erscheint uns diese Robinsonade weitaus sympathischer als die üblichen Eroberungsund Untergangsgeschichten. Shackleton blieb noch im Scheitern souverän und war letztlich doch erfolgreich. Nach dem Sinken der Endurance (engl, für »Ausdauer«) reduzierte sich das Unternehmen auf einen Survival-Trip. Eine Beinahe-Tragödie mit Happy-End: So stellen sich auch viele Extremsportler ihre Abenteuer vor. Und unfreiwillig brachte Shackleton doch noch einen Rekord mit: Die Fahrt mit dem Beiboot James Caird gilt als eine der größten Fahrten aller Zeiten im offenen Boot. Dieser politisch korrekte Heroismus hat viele Leser gefunden. Das liegt vor allem an der facettenreichen, einfühlsamen Darstellung, die nur selten ins Sentimentale abgleitet und sehr auf Objektivität bedacht ist. Damit stellt Caroline Alexander rührselige Doku-Dramen wie das von Alfred Lansing (635 Tage im Eis. Die Shackleton-Expedition, 1960, neu aufgelegt 1999) in den Schatten. Sie spricht nicht nur ein notorisches Stammpublikum an, sondern eine breite Öffentlichkeit, die mit verstaubtem Polar-Heldentum eher wenig anzufangen weiß. Bleiben wir noch einen Moment im Ohrensessel und blättern in dem erfolgreichsten Expeditionssachbuch der letzten Jahre: In eisige Höhen (1998) von Jon Krakauer. Die Handlung ist in einem Satz erzählt: Bei einer Besteigung des Mount Everest am 10. Mai 1996 kommen fünf Menschen ums Leben. Krakauer, der von Anfang bis Ende dabei war, schildert nicht nur den 44
minutiösen Ablauf des Debakels, sondern seinen gesamten Hintergrund. Mit »roher, unnachsichtiger Ehrlichkeit« will er individuellen Fehlern nachgehen, unterschiedliche Motive aufdecken und die Kommerzialisierung des Extrembergsteigens bloßstellen. Das gelingt ihm auch. Da wären zunächst die vordergründigen Ursachen des Unglücks: Ein Schneesturm bricht über die Bergsteiger herein, von denen sich die meisten nicht an die »Umkehrzeit« gehalten haben. Die Umkehrzeit ist eine von den Bergführern festgesetzte Uhrzeit, zu der man die »Todeszone« in über 8000 Metern Höhe wieder verlassen sollte – auch wenn der Gipfel noch nicht erreicht ist und es für die 65000 USDollar, die einer der Everest-Touren-Unternehmer für eine Führung verlangt, kein Erfolgserlebnis gibt. Neben den übermächtigen Naturgewalten und der Ignoranz der Verunglückten gibt Krakauer noch andere Faktoren an: den Erfolgsdruck der Bergführer, ihren Leichtsinn nach mehreren geglückten Unternehmen und ihren Eigensinn, der eigenen Trophäensammlung eine weitere Everest-Besteigung hinzuzufügen; außerdem die Unerfahrenheit einzelner Kunden, ihre Selbstüberschätzung etc. sowie ganz allgemein die menschliche Hybris. Krakauers Resümee erinnert an Sundmans Andrée-Roman: »Wir haben es hier mit einer Tätigkeit zu tun, bei der das Eingehen von Risiken geradezu idealisiert wird. In dieser Sportart wurden schon immer diejenigen am meisten gefeiert, die Kopf und Kragen riskierten und dennoch davonkamen. Bergsteiger zeichneten sich noch nie durch einen Überschuß an gesundem Menschenverstand aus.« Die kritische Haltung Krakauers, die auch Selbstvorwürfe einschließt, macht einen Teil seines enormen Erfolges aus. Aufklärung tut not, und Krakauer leistet sie, obwohl er mit seinen unbequemen Analysen viele Bergsteiger gegen sich aufgebracht hat. Bedenklich ist jedoch die Reaktion beim nicht45
bergsteigenden Massenpublikum, die Krakauer bewußt herbeiführt. Leicht sehen sich zahlreiche Leser in der Annahme bestätigt, daß Extremsport nur etwas für Spinner ist. Diese Häme hätte sicher auch Fuchs und Messner ereilt, wenn ihr Antarktis-Unternehmen fehlgeschlagen wäre. Indem man eine gescheiterte Expedition als sinnlos und unvernünftig von sich weist (»Selber schuld!«), läßt sich die eigene, vielleicht unbefriedigende Lebenssituation in Konversion um so sinnhafter und vernünftiger erleben. Dieses Überlegenheitsgefühl (»Das könnte mir nicht passieren!«) ist der Triumph der vorsorglich Daheimgebliebenen über die harten Burschen in Fels und Eis, der Triumph des Ohrensessels über die Anorakkapuze. Bei keinem anderen Buch stellt er sich so durchschlagend ein wie bei In eisige Höhen. Systematisch treibt uns Krakauer das Mitgefühl aus, eben mit »roher, unnachsichtiger Ehrlichkeit«. Was für eine paradoxe Rhetorik: Ehrlichkeit ist doch recht eigentlich eine Tugend der Aufklärung, während Roheit und Unnachsichtigkeit zu den Untugenden der Boulevardmedien gehören. Bleibt noch die Frage, auf wessen Kosten dieser wohlfeile Triumph im Falle des Krakauer-Buches geht. Der Text ist ja überaus fesselnd geschrieben, wofür der Autor eine Reihe erzählerischer Kniffe anwendet. So macht er die im Genre obligatorischen Vorausdeutungen und kündigt damit kommendes Unheil mit einer geradezu händereibenden Lust am Schrecken an. Er stellt Perspektiven nebeneinander und baut retardierende Momente ein, um den tragischen Showdown möglichst lange hinauszuzögern. Vor allem aber wird lange und viel gestorben in diesem Schocker, der einen zuerst nicht losund nach der Lektüre doch kaltläßt. Wie in einer HollywoodSchnulze walzt Krakauer die Sterbeszenen aus, und wenn er das Ableben seiner Berggefährten nicht selber miterlebt hat, spekuliert er ausgiebig darüber. Zu den fünf Toten am 10. Mai
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1996 (er)zählt er schließlich noch die Opfer der gesamten Saison hinzu (12) sowie alle Everest-Opfer bis dato (144). Ohne diese vielen Leichen wäre das Buch längst nicht zum Bestseller geworden, es wäre vermutlich gar nicht geschrieben worden (ursprünglich war nur ein Artikel für die Zeitschrift Outside geplant). Leichen sind natürlich Fakten, aber Krakauers »Drama am Mount Everest« (Untertitel) ist förmlich auf Leichen zugeschnitten. Daß es aus Gründen der Pietät ungehörig ist, Leichen im Fototeil des Buches abzubilden, läßt sich beheben: Ein makabrer Höhepunkt des Buches ist der Auftritt einer Fast-Leiche namens Beck Weathers, der von seinen Begleitern bereits aufgegeben worden ist und wie die Mumie des Pharao ins Lager zurückstolpert. Die Zeitschrift GEO, die uns auch dieses »neue Bild der Erde« nahebringt, hat eine Reportage von Krakauer zeitgleich zum Buch veröffentlicht. Darin sind Weathers schreckliche Erfrierungen (später müssen ihm ein Teil des rechten Unterarms, Finger der linken Hand und die Nase amputiert werden) genau zu sehen. Es mag antiquiert und moralistisch klingen, aber In eisige Höhen ist ein Geschäft mit dem tragischen Schicksal anderer Menschen. Selbstverständlich sind das auch viele andere Bücher über Polarfahrer, allen voran der Scott-Nekrolog Letzte Fahrt (1913, wiederaufgelegt 1999; der englische Titel Scott’s Last Expedition klingt weniger mythisch). Wie bereits gesagt: Der gescheiterte Mensch ist nun mal interessanter als der erfolgreiche. Krakauers Buch ist jedoch so voyeuristisch und sensationslüstern, daß man eine Gänsehaut bekommt. Nicht wegen der imaginären Kälte oder des Thrills, sondern wegen des Kalküls, das dahintersteht. Das Buch überschreitet eine ethische Grenze, und wenn solche Grenzen erstmal überschritten sind, folgt der nächste Coup auf dem Fuß: Im Frühjahr 1999 wurde die Leiche von George L. Mallory entdeckt, der schon 1924 versuchte, den Everest zu besteigen, und dabei verschollen ist. Für das Exklusiv-Foto 47
zahlte der Stern eine hohe Summe. – Wir lesen auch diesen Artikel. Wir belächeln die Kommentare Edmund Hillarys (Everest-Erstbesteiger 1953) und Reinhold Messners (EverestErstbesteiger ohne Sauerstoff 1978), die viele Argumente dafür anführen, daß es Mallory auf keinen Fall bis zum Gipfel geschafft haben konnte, denn das würde ihre eigenen Rekorde schmälern. Und wir denken uns: Ein Glück, daß es nicht wir sind, die da liegen. Halten wir’s mit Barthold Heinrich Brockes, auch er ein Aufklärer: Wann draussen die erstarrte Welt, Mit scharfem Frost, der dunckle Winter schrecket, Wenn schroffes Eis das harte Feld, Mit rauhen Schollen, drückt und decket, Vergönnet mir des Schöpfers Güte, Daß, mit Bequemlichkeit und ruhigem Gemüthe, Ich ein vergnüglich Feur, in meinem Zimmer, Den wärmenden Camin mit Lust erleuchten seh’.
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Weiß »Da lag es da, das Kinderland in seiner Kinderfarbe.« Auf einem seiner Winterspaziergänge kommt es Robert Walser so vor, als ob der Schnee die Leinwand des Daseins neu grundieren würde. Die Farbe Weiß steht seit jeher für Reinheit und Unberührtheit, für Unschuld und Ursprünglichkeit. Weiß ist das Gewand derer, die ohne Sünde sind und die nach der Offenbarungslehre des Predigers Johannes bei Gott weilen werden. Weiß ist unsere Weste, wenn wir nichts Unrechtes oder sonstwie Verwerfliches getan haben. Und weiß sind die unerforschten Flecken auf der Landkarte. Das trifft auf die Polarregionen, die in vielen Atlanten immer noch weiß dargestellt werden und aus dem Weltall auch so wirken, gleich doppelt zu. Alles Mythos. Die Eiskappen an den Polen erscheinen unserem Auge in allen möglichen Blau- und Grautönen und nur selten in einem reinen, die Spektralfarben fast gänzlich reflektierenden Weiß. Außerdem sind die Polargebiete alles andere als unberührt, man denke nur an die Umweltgifte, die sich inzwischen dort angesammelt haben. Die Bewohner der Arktis müssen zum Beispiel mit einer hohen Schadstoffbelastung durch polychlorierte Biphenyle (PCB) leben. »Die Erde funktioniert wie ein gigantischer Destillierkolben«, schreibt Alexandra Rigos im Spiegel, Flüchtige Umweltgifte verdunsten in den Industrieländern und driften in kältere Gefilde, wo sie kondensieren. Im ewigen Eis gibt es kaum Bakterien und zu wenig Sonneneinstrahlung, um die Chemikalien abzubauen. Trotzdem gelten die Polarregionen vielfach noch als vorzeitliches Paradies. »Im Inneren der Antarktis herrschte der Urzustand. Himmel und Hölle waren hier eins«, schreibt 49
Reinhold Messner, der einem simplen Sinnspruch nie abgeneigt ist. Die Werbeindustrie hat solche kollektiven Wunschvorstellungen aufgegriffen. Der Trend, zu unseren atavistischen Wurzeln zurückzukehren, findet sich explizit in einer Gore-TexReklame wieder: »Zu Beginn war unser Leben frei. Wir waren den Wäldern, den Bergen, den Meeren ganz nah. Das ist Vergangenheit. Heute leben wir in Städten. Büromenschen, Fernsehgucker, Partygänger. Manchmal sehnen wir uns zurück. Mit GORETEX® Produkten können Sie die Natur neu entdecken – bei jedem Wetter.« Um 1900 legten sich keine Reklame-Kreativos, sondern die Dr. Moreaus diffuser Rassen- und Abstammungslehren ins Zeug. Ein gewisser Georg Biedenkapp (Der Nordpol als Völkerheimat, 1906) behauptete, daß alle Spuren der indogermanischen Rasse »mehr und mehr nach dem Norden« weisen würden. Dabei berief er sich auf eine Untersuchung des Inders Bâl Gangâdhar Tilak (The arctic home in the Veda, 1903), der die heiligen Schriften der Inder (Veden) neu interpretiert hat. Demnach liege die Heimat der Indogermanen am Nordpol, wo früher einmal »ein milderer Himmel« geleuchtet habe. Der Amerikaner William Warren vermeldete schon 1885, daß vor der Sintflut der Nordpol der Ursprung der Menschheit gewesen sei (Paradise Found). Solch rassengeschichtliche Märchen schießen um die Jahrhundertwende wie Pilze aus dem Boden. Sie stehen meist unter dem Einfluß von Eiszeit-Hypothesen, die damals in großer Zahl verbreitet sind und denen wir uns im Kapitel »Ich friere, also bin ich« noch zuwenden werden. Im Umkreis der Milleniumsängste haben spekulative Antworten auf die Frage »Woher kommen wir?« wieder Konjunktur – mit dem Unterschied, daß man dafür die technischen Errungenschaften der Archäologie, etwa die Radiokarbonmethode, vollständig ausblenden muß. Die Psychiaterin Olga Kharitidi (Das weiße 50
Land der Seele, 1996) verläßt sich lieber auf ihre Intuition und die Mitteilungen einer sibirischen Heilerin. Demnach stand die Wiege der Menschheit in Sibirien, und zwar schon vor 300000 Jahren. Gerhard Henschel hat Kharitidis esoterischen Stiefel sogar für die taz rezensiert und weist zu Recht auf den Komiker Helge Schneider hin, der ebenfalls fragt: »Kommen wir nicht sogar aus Urzeiten?« Nein, sagen Rand und Rose Flem-Ath, wir kommen aus Atlantis – der versunkene Kontinent unter dem ewigen Eis (1996). Die US-Hobbyforscher verorten Atlantis unter der Antarktis und haben darüber ein rührend dämliches Buch geschrieben. Zurück zum Ernst der halbwegs gesicherten Kulturgeschichte. Wenn Blau die Sehnsuchtsfarbe der Romantiker war, dann ist Weiß das Ideal der Moderne. Es drückt das Bedürfnis aus, sich von allem Gegenständlichen zu befreien und die Wirklichkeit aufs Abstrakte zu reduzieren. Malewitsch hat das in seinem Gemälde Weißes Quadrat auf weißem Grund (1918) radikal dargestellt – mit dem Effekt eines Neubeginns: Seither hat die abstrakte Kunst immer neue »Kinder ihrer Zeit« hervorgebracht, um mit Kandinsky zu sprechen. In dessen kunsttheoretischer Schrift »Über das Geistige in der Kunst« erklärt er schon 1911 die Farbe Weiß zum Symbol einer Welt, in der alle Farben verloschen sind. Sie wirke auf unsere Seele wie völlige Stille, die aber nicht die des Todes sei, sondern überquelle von lebendigen Möglichkeiten. »Sie ist ein kleines Etwas, angefüllt mit jugendlicher Freude, oder besser gesagt, ein kleines Etwas vor jeglicher Geburt, vor jeglichem Anfang.« Auch Kandinskys Manifest stand vor einem Neubeginn. Es kam heraus, bevor er sein erstes abstraktes Bild malte. Die weißen Polargebiete haben als Symbol des Neuen und Ungewissen, dem man freudig entgegensieht, eine lange Tradition. Wir haben bereits von den mythischen Hyperboreern gehört, jenem glückseligen Volk des Nordens, dem der Grieche 51
Pindar Sittenreinheit, Frömmigkeit und ein tausendjähriges Alter zuschreibt. In der »Göttlichen Komödie« (1307-1321) schickt Dante seinen Odysseus auf eine imaginäre Fahrt zum Südpol. Vor der Antarktis erleidet er Schiffbruch und verbüßt im Berg des Purgatorio seine Sünden. Dieses Fegefeuer liegt im Mittelpunkt des »Antichthon«, der verkehrten Gegenwelt der Pythagoreer, wo die Bäume in die Erde wachsen und die Sonne schwarz leuchtet. Trotz dieser abschreckenden Schimären verkörpert Dantes Odysseus eine Neugier auf die weite Welt, die dem theologischen Denken des Mittelalters fremd ist. Gleiches gilt für die fiktiven Reisen von Sir John Mandeville (14. Jahrhundert), in denen der Ferne Osten mit Fabelwesen bevölkert ist, die den merkwürdigen Antipoden in nichts nachstehen. Allmählich wurde es den Menschen zu eng in der Alten Welt. In der Rennaissance schob man die Mahnungen der Gottesmänner dann beiseite. Die Grenzen des Unbekannten wichen zurück, die Leere des Meeres wurde nicht mehr als metaphysische Beunruhigung empfunden. Der »Geist des Kaps«, den Luis de Camões in seinen Lusiaden (1572) zur Bewachung des Südpols abstellt, kann gegen die Entschlossenheit von Vasco da Gama schon nichts mehr ausrichten. Der Portugiese umschifft das Kap der Guten Hoffnung und erreicht Indien. Camões und seine Leser applaudieren. Trotzdem dauert es lange, bis sich jene »Nebel« heben, die mittelalterliche Weltkarten in Richtung Pol verzeichnen. Nifelheim (Nebelwelt) liegt dort, das kalte Todesreich aus dem nordgermanischen Schöpfungsmythos. Erik der Rote und Leif Eriksson segelten im 10. Jahrhundert zwar bis nach Grünland (Grönland), wo damals eine klimahistorisch belegte Wärmeperiode herrschte. Die Wikinger gründeten eine prosperierende Kolonie, zogen sich aber nach gut 400 Jahren zurück, als es in der Terra arctica wieder kälter wurde. 52
Spitzbergen, über dessen Entdeckung nur der Satz »Svalbardi fundinn« (»Kalte Küste gefunden«) aus dem Jahre 1194 überliefert ist, galt wohl von vorneherein als unbewohnbar. Dichter Nebel tritt in diesen Breiten häufig auf: »Ehe wir es uns versahen, war die Luft ganz dick und dämmrig, daß man sie greifen mochte«, schreibt Johann Dietz, ein deutscher Barbier und Chirurg, der im 17. Jahrhundert an Bord holländischer Walfänger in den Norden fuhr. »Wir sahen keine Sonne, noch Mond, noch Stern.« In dieser Suppe schwimmen zur Zeit der Aufklärung noch jede Menge Mythen. »Thule« hatte Pytheas das Land im Norden genannt, auf das er sechs Tagesfahrten nördlich von Britannien stieß und wo er »erstarrtes Meer« (»mare concretum«) vorfand (Nansen wies 1911 nach, daß Pytheas’ Thule auf der Höhe des norwegischen Trondheim gelegen haben muß). Mit »Ultima Thule« bezeichneten die Römer Nordeuropa. Seneca dichtete, daß dereinst eine Zeit kommen werde, wo das Meer neue Welten entschleiert »und Thule nicht mehr das äußerste Land sein wird«. Im 18. und 19. Jahrhundert war Thule eine sprichwörtliche Bezeichnung für die Regionen am Nordrand der Welt. Der Ethnologe Knud Rasmussen gründete 1910 im Nordwesten von Grönland eine Handelsstation namens Thule. Heute ist dort ein amerikanischer Militärstützpunkt, der im Kalten Krieg eine bedeutende Rolle spielte. Die Eskimos, die dort lebten, wurden 1953 nach Qaanaaq »umgesiedelt«, das ebenfalls unter dem Namen »Thule« bekannt ist. Das mythische Thule ist für den jungen Goethe eine Art Alterssitz für absolutistische Betonköpfe (»Der König in Thule«, 1774), während für Klopstock der Nordpol ein heiliger, »unbetrachteter« Ort ist, »wo von des Menschen Stimme kein Laut tönt« (»Messias«, 1748). Und Johann Gottfried Schnabel erfindet in der Nähe des Südpols die utopische Insel Felsenburg (1731-43). In diesem »Asyl der Redlichen« siedeln sich diejenigen an, die dem lasterhaften, spätfeudalistischen Europa den Rücken kehren. 53
Solange die Landkarten weiße Flecken zeigen, geben auch Wissenschaftler ihren Gedanken Auslauf. Manche Hypothesen über den Nord- und Südpol nehmen sich genauso phantastisch aus wie literarische Fiktionen. Von Öffnungen wird da fabuliert, die zu unbekannten Welten im Erdinneren führten. Dort stellte sich der Reiseschriftsteller John C. Symmes (1780-1829) drei Sphären vor, in deren Mitte sich eine innere Sonne befände. Gerard Mercator bot auf seiner Nordpolarkarte (1569/1595) eine religiös inspirierte Version an: Der als Fels dargestellte »Polus Arcticus« liegt inmitten eines arktischen Ozeans. Er ist von vier großen Inseln umgeben, die durch Meerengen voneinander getrennt sind und zwischen denen das Wasser von den äußeren Ozeanen dem Zentrum zufließt – eine Analogie zu den vier Paradiesflüssen, wie sie auf mittelalterlichen Karten verzeichnet sind. Joscelyn Godwin hat eine Vielzahl solcher Theorien gesammelt (Arktos, 1997) und geht auch auf die weniger komplizierte Frage ein, ob der Pol nun ein Loch oder eine Erhebung sei. Manchen erschien er als Magnetberg, als Eissäule oder als »Großer Nagel«, wie die Eskimos den Nordpol nennen. Andere nahmen an, daß das Meer durch einen gigantischen Wasserstrudel am Nordpol in die Unterwelt strömt und am Südpol wieder an die Oberfläche gelangt (Athanasius Kircher, Mundus subterraneus, 1678). Ob spitzer Berg, an dem alles zerschellt, oder gigantisches Loch, das alles verschlingt (und dann wieder ausspeit), ob Phallus oder Uterus – die Darstellung des Pols ist immer auch eine Projektion der Kartenzeichner und ihrer jeweiligen Prägungen, Erfahrungen, Weltbilder. Nichtsdestotrotz haben viele dieser Mythen einen wahren Kern. Magnetfelsen lassen sich auf Eisberge und Driftbewegungen zurückführen, Wasserstrudel auf das Aufeinandertreffen von Meeresströmungen (ein »Maelstrom« existiert bei den norwegischen Lofoten tatsächlich). Die natürlichen Gegebenheiten in den Polarregionen begünstigen 54
auch das Ideal der Reinheit – selbst dann noch, als die Nebel des Mittelalters längst gelüftet sind. Vor allem in der Antarktis glauben Polarfahrer einen ganzen Kontinent vor sich zu haben, in dem es weder gefährliche Tiere wie Eisbären noch feindlich gesinnte Eingeborene gibt: eine Urlandschaft, an der sich alles noch »pur« erleben läßt. Das glauben auch die modernen Polarhelden von Greenpeace. Die Umweltorganisation hat sich mit ihren zahlreichen Antarktis-Kampagnen Verdienste erworben und dabei mitgewirkt, »die letzte große unberührte Wildnis der Erde« dem Zugriff der Rohstoffindustrie zu entziehen. Doch die Ideologie, die Greenpeace und andere Öko-Bewegungen seit Ende der 70er Jahre entwickelt haben, ist durchsetzt von einer irrationalen, durch Regressionsmythen beeinflußten Sehnsucht nach einer verlorengegangenen Harmonie zwischen Mensch und Natur. Darin ist eine vordarwinische Auffassung der Evolution zu erkennen: der Glaube, daß die Natur a priori ein Garten Eden sei, den wir erst in jüngster Zeit besudelt hätten. Nach dieser Denkart ist die Antarktis durch die Fahnen der Polarfahrer gleichsam defloriert worden. Das Zitat des Polüberfliegers Richard Byrd, das Greenpeace als Motto für eine InternetWebsite benutzt, spricht Bände: »Lange betrachtete ich den Himmel. Ich kam zu dem Schluß, daß solche Herrlichkeit auf weit entfernte und gefährliche Regionen beschränkt sein muß. Die Natur hat gute Gründe, denjenigen, die das Schicksal bestimmt hat, dies mit eigenen Augen zu sehen, große Opfer abzuverlangen.« (Aufbruch ins Eis, 1938) Am liebsten wäre es Greenpeace, wenn man dem fragilen Ökosystem der Antarktis besser gleich fernbliebe. Das erinnert an Warnungen, die schon Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts ausgesprochen haben. Coleridge, Byron und Poe stellen das Vordringen zum Pol als Tabuverletzung dar, die Einsamkeit, Liebesverlust und Tod nach sich zieht. Ein Schreckbild wird 55
installiert, das Ausdruck eines fundamentalen horror vacui ist: Was geschieht, wenn der Mensch alle Geheimnisse der Natur entzaubert hat? Wieviel Wissen darf er erwerben, ohne dabei körperlichen und vor allem seelischen Schaden zu nehmen? Es sind vor allem die Romantiker, die solche »Betreten verboten« -Tafeln aufstellen. Schon Hölderlins »Wanderer« (in der 1. Fassung des Gedichts von 1796) kehrt verstört von einer Reise in den Hohen Norden zurück. Dort hat er den »Eispol […] besucht; wie ein starrendes Chaos / Türmte das Meer sich da schrecklich zum Himmel empor. / Tot in der Hülse von Schnee schlief hier das gefesselte Leben, / Und der eiserne Schlaf harrte des Tages umsonst.« Samuel T. Coleridge stellt seine »Ballade vom alten Seemann« (1798) in einen religiösen Kontext. Von einem Orkan wird der Erzähler mit seinem Schiff an den Südpol getrieben. Dort lädt er Schuld auf sich: Mutwillig tötet er einen Albatros, den er im nachhinein mit einer »Christenseele« vergleicht. Daraufhin ist der alte Seemann zahlreichen Gefahren ausgesetzt (Windstille, Hitze, Durst). Auf einem Geisterschiff erscheint schließlich der Tod und macht der übrigen Besatzung den Garaus, so daß der Seemann ganz allein zurückbleibt. Wie ein ruheloser Ahasver muß er über die Erde ziehen, bis sein Vergehen an der Schöpfung gesühnt ist. Gealtert kehrt er in die Heimat zurück und erzählt seine Geschichte, die ihn immer noch wie ein Alptraum verfolgt: »Und durch das Treibeis warfen die schneebedeckten Abgründe / Einen düsteren Schein: / Weder Menschen noch Tiere können wir erkennen – / Überall war Eis. // Das Eis war hier, das Eis war dort, / Ringsherum war Eis: / Es krachte und grollte und brüllte und heulte / Wie Dröhnen, das man beim Erwachen aus einer Ohnmacht hört!« Coleridge erwähnt auch einen Wassersog, in dem das Schiff des alten Seemanns untergeht. In solch ein Verhängnis geraten noch eine ganze Reihe anderer literarischer Figuren. Edgar 56
Allan Poe (Der Bericht des Arthur Gordon Pym aus Nantucket, 1838) läßt seinen Abenteurer weit über den 80. Breitengrad nach Süden vordringen. Dort beendet ein monströser Wasserstrudel die Ausfahrt ins Ungewisse. Im Angesicht des Todes hat Pym eine Vision: »Und jetzt rasten wir den Umarmungen des Wassersturzes entgegen, dorthin, wo sich eine Spalte auftat, uns zu empfangen. Aber in diesem Augenblick erhob sich mitten in unserem Wege eine verhüllte, menschliche Gestalt, doch weit gewaltiger in allen Maßen als die Kinder der Erde. Und ihre Haut war von weißer Farbe, von der Farbe des leuchtendsten, blendendsten ewigen Schnees -« Die Bedeutung dieser weißhäutigen Gestalt ist schwer zu entschlüsseln. Zuvor war von schwarzen Eingeborenen die Rede, die eine unerklärliche Angst vor der Farbe Weiß haben und Pyms Schiff zerstören. Vielleicht tritt der weiße Himmelsoder Todesbote als Wächter verbotenen Wissens auf – Poe läßt die Frage absichtlich offen. Jedenfalls herrscht in seiner Circumpolarregion, einem »Reich neuer und wunderbarer Dinge«, die Farbe Weiß vor: Eine lichtgraue Dunstwand erhebt sich am Horizont. Feiner, weißer Staub, »der wie Asche aussah«, geht nieder. Mächtige weiße Tiere mit »scharlachroten Zähnen und Klauen« schwimmen dort umher. Poe greift in seiner Erzählung die seinerzeit verbreitete Annahme auf, daß sich der Ozean hinter den Eisbarrieren erwärmen und das Klima zum Südpol hin immer milder werden würde. Ein Stück weit entspricht das sogar der Wirklichkeit: Aufgrund von Strömungsverhältnissen und Wassertemperatur liegt hinter den ersten Treibeisfeldern des Südpolarmeeres tatsächlich eine schiffbare Zone, die weiter südlich dann vom Pack- und Schelfeis begrenzt wird. Bei Poe fungieren diese eisfreien Gewässer als symbolische Nahtstelle, an der menschlicher Erkenntnisdrang und die Bereiche des Unbewußten aufeinandertreffen. Verlockt von der 57
»Gelegenheit, das große Problem des antarktischen Festlandes zu lösen« überantwortet sich Pym der Strömung zum Südpol. Doch die Mächte der Natur tragen ihn an einen Punkt, der mit dem Verstand nicht mehr zu fassen ist. Diese letzte ungelöste Szene läßt sich übertragen auf Poes eigenen lebenslangen Konflikt: das Schwanken zwischen Ratio und Intuition, Intellekt und Seele, Kalkulation und Imagination. Im Weiß der Antarktis, so ließe sich folgern, trifft man auf die eigene Psyche, die Anfang des 19. Jahrhunderts ein ähnlich unerforschtes Land ist wie die Gegend um den Südpol. Das entspricht auch der tiefenpsychologischen Deutung von C. G. Jung, der Träume vom Aufenthalt am Pol als Konfrontation mit dem Unbewußten interpretiert hat – eine Konfrontation, die häufig mit der Auslöschung der geistigen Existenz endet. Der offene Schluß der Erzählung hat viele Schriftstellerkollegen Poes inspiriert (zum Beispiel Jules Verne, André Gide und Stéphane Mallarmé). Am bekanntesten ist die Geschichte von Kapitän Ahab, der ebenfalls von der neuenglischen Hafenstadt Nantucket in See sticht. Herman Melville hat der Farbe Weiß im Moby Dick (1851) ein eigenes Kapitel gewidmet. Anders als Poe, bei dem Weiß für das Unauslotbare schlechthin steht, weist ihm Melville eine Fülle von Bedeutungen zu. Zusammengefaßt dient ihm Weiß als Metapher für die Ambivalenz von erhabener Schönheit und grausigem Schrecken, von »sichtbarer Welt« (Liebe, Schönheit) und ihren »unsichtbaren Bereichen« (Grauen, Zerstörung). Über den Eisbär der Polarregionen und den weißen Hai der Tropen schreibt er: »Das gespenstische Weiß ist es, das stumm und starr uns anglotzt und ihnen die ihrem Wesen widersprechende, Abscheu sogar mehr als Schrecken erregende Sanftheit verleiht.« In vielen Mythen und Religionen sind weiße Tiere (Stiere, Schwäne, Pferde, Elefanten) die Offenbarungsträger einer Gottheit. Auch Melvilles weißer Wal kleidet sich »in das Vlies der himmlischen Unschuld«, erweist sich aber als Un-Tier, das 58
den rachedurstigen Ahab schließlich in die Tiefe reißt. Doch Moby Dick ist nicht der Sendbote eines strafenden Gottes, der den Menschen in seine Schranken weist. Er ist nicht Ahabs Feind, sondern sein Spiegelbild. In seinem »wesenlosen Weiß«, das die sichtbare Abwesenheit jeder Farbe und gleichzeitig die Summe aller Farben ist, offenbaren sich letztlich nur die Obsessionen Ahabs: die Selbstüberhebung und Selbstzerstörung eines Egomanen. Für Ahab hat die weiße Farbe keine Mitteilungsfunktion wie für den Erzähler Ismael. Er starrt sich blind an »dem unendlichen weißen Leichentuch, das rings alles Sichtbare umhüllt«. Ein bißchen erinnert das an Schneeblindheit. Diese Erkrankung der Hornhautoberfläche tritt auf, wenn das Auge den kurzwelligen, ultravioletten Strahlenanteilen des Sonnenlichts zu stark bzw. zu lange ausgesetzt ist. Das Naturphänomen läßt sich auf Ahabs Situation übertragen: Seine Manien, die vom Weiß des Wals ungefiltert reflektiert werden, machen ihn unsensibel für die äußere Welt. Schließlich nimmt der radikale Individualist, der sich von den Menschen isoliert hat, auch von sich selber nichts mehr wahr. Wie ein zweites Lid schiebt sich der Haß vor sein inneres Auge und beraubt ihn der Fähigkeit zu jeglicher Erkenntnis. Diesen Verlust, der sowohl ein Selbst- als auch Weltverlust ist, hat er mit vielen Polarfahrern gemein. »Nur der Triumph als zweites Augenlid vor den Schrecken der Einöde«, dichtet Guntram Vesper über Robert E. Peary. Noch einmal: Weiß macht (auch) blind. Bei allem Respekt vor Melvilles allegorischem Meisterwerk, das bereits selber zum Mythos geworden ist, enthält es doch eine Reihe von Effekten, die dem Schauerroman entliehen sind. Als besonders drastisch erscheint das titelgebende Ungetüm. Der weiße Wal ist von Schrecken umgeben, »die aus fremden, nicht mit Auge oder Hand faßbaren Bereichen stammten«. Auch für den Leser bleibt Moby Dick unfaßbar, bis er am Ende des Romans seinen großen Auftritt hat. Melville zögert diese 59
Epiphanie lange hinaus und spielt damit, »daß uns das Traurige, das Schreckliche, das Schauderhafte selbst, mit unwiderstehlichem Zauber an sich lockt« (Schiller). Neben der Tiefsee, in der Moby Dick nach seinen Wutausbrüchen verschwindet, und neben dem Dschungel, in dem King Kong umherstapft, bieten auch die Polargebiete zahlreichen Ungeheuern eine feste Bleibe. Frankensteins Monster sitzt da noch irgendwo: Nachdem es seinen Schöpfer zu dessen Ahnen befördert hat, springt es auf eine Eisscholle und treibt ab in die Dunkelheit. Vielleicht leistet es dem Frostriesen Hymir aus der Edda Gesellschaft, der »am Himmelsrand« wohnt und von Thor gelegentlich niedergemacht wird. Der Horrorautor H. E Lovecraft denkt sich in seiner Geschichte Berge des Wahnsinns (1936) eine ganze Menagerie gruseliger Geschöpfe aus. Schleimige Tentakelwesen sind darunter, weiße Riesenpinguine sowie »ein schreckliches, unbeschreibbares Ding, größer als jeder U-Bahnzug – eine formlose Masse protoplasmatischer Blasen, schwach luminiszierend und mit Myriaden vergänglicher Augen, die sich als Pusteln grünlichen Lichts auf der ganzen tunnelfüllenden Vorderfront bildeten und zurückbildeten«. Diese unterirdische Aneinanderreihung schlechter SpecialEffects spielt in der Antarktis. Dort spüren Forscher die Reste einer vorzeitlichen »Nachtmahrstadt« auf, Labyrinthe einer untergegangenen Alien-Zivilisation, die jederzeit bereit sei, die Erde wieder in Besitz zu nehmen. Kein Wunder, daß einige Teilnehmer der Expedition darüber wahnsinnig werden: Sie haben etwas zum Leben erweckt, das alles auf den Kopf stellt, was sie über die Erd- und Menschheitsgeschichte zu wissen glauben. Unter dem unschuldigen Weiß der Eiskappe lauert eine apokalyptische Bedrohung, die lieber unangetastet geblieben wäre. Lovecraft, der sich explizit auf die Erzählung von Arthur Gordon Pym bezieht, schließt sich den Vorbehalten gegen den Wissensdrang des Menschen an. 60
Ganz ernst sind diese surrealen Phantasmagorien freilich nicht zu nehmen – es sei denn, man interpretiert die »satanischen Einbrüche und Verschwörungen« und allgemein die »zerbröckelnde Gnosis« (Giorgio Manganelli) von Lovecrafts in den 20er und 30er Jahren entstandenen Texten als Chiffren für die realen Medusenhäupter der damaligen Zeit: Die Programme des Faschismus und Nationalsozialismus nehmen sich stellenweise ähnlich phantasmagorisch aus wie Lovecrafts beunruhigende Mythologie, man denke nur an Hitlers Brandreden gegen die Juden in Mein Kampf. Vor diesem Hintergrund bekommt Lovecrafts abschließende Mahnung eine ganz andere Bedeutung: »Es ist unbedingt notwendig, im Interesse des Friedens und der Sicherheit der Menschheit, daß einige der dunklen, toten Winkel und unergründlichen Tiefen der Erde nicht angetastet werden, um zu verhüten, daß schlafende Abnormitäten zu einem neuen Leben erwachen und blasphemisch überlebende Nachtmahre aus ihren schwarzen Schlünden hervorgekrochen kommen und auf neue und größere Eroberungen ausgehen.« Wem diese Folgerung zu abgelegen erscheint, der schlage bei Jorge Luis Borges nach oder sehe sich die Bilder von Salvador Dali an. Bei diesen Surrealisten lassen sich eindeutigere Parabeln auf den Totalitarismus finden. Um ausführlich auf den Zusammenhang zwischen surrealistischen Schreckensvisionen und dem Massenwahn der großen Ideologien einzugehen, fehlt hier leider der Platz. Vorerst sei nur erwähnt, daß die weißen Eiswüsten an den Polen durchaus Anlaß für Assoziationen geben, die in die dunklen Kapitel der Zeitgeschichte führen. Bei Guntram Vesper stellt sich die Erinnerung in Thule ein, in der »Stadt im Eis« (1981), wie eines seiner Gedichte betitelt ist. Dort, wo der Schnee planiert ist und die Drähte im Nichts enden, scheint urplötzlich der Gedanke an die von Faschismus und Krieg beschädigte Existenz auf:
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»… und dann die Bilder des Hungers, ein Fallbeil / Vernichtungslager / Seuchenzonen und die / endlose Brut von Gewehrfabriken / Erschießungskellern, Festhallen / das Märchen / vom bösen Menschen ist zu lang / zu lang für mein kurzes Leben.« Doch zurück zu den harmloseren Schrecken des Trivialen. Wer sich durch Lovecrafts »Berge des Wahnsinns« dunkel an einen Film erinnert fühlt, liegt richtig. Das Ding aus einer anderen Welt (1951) nimmt den Gedanken vom unbekannten, im Eis eingeschlossenen Lebewesen ebenso auf wie das Remake dieser klassischen Horror-Utopie (Das Ding, 1982). Das Motiv hat seither zahlreiche Abwandlungen erfahren. Science-fictionAutoren erfinden ganze Eisplaneten, um in diesen KälteSzenarien die Möglichkeit extraterrestrischen Lebens durchzuspielen (Brian W Aldiss, Helliconia, 1982; Alan Dean Foster, Eissegler, 1974-87; Anne McGaffrey u. Elizabeth Scarborough, Die Gesänge des Eisplaneten, 1993). Das Weiß der Polarregionen ist wie ein leeres Blatt Papier, auf dem alternative Weltentwürfe und Kosmogonien entstehen. Mal werden uns bessere, dann wieder schlechtere Welten vorhergesagt, etwa in dem Roman Die Entstehung des Repräsentanten von Planet 8 (1982) von Doris Lessing. Er handelt vom Kältetod eines Planeten, der kollektiven Selbstaufgabe seiner Bewohner und dem Widerstand einiger weniger unter extremen Belastungen. Abgesehen von solchen Gesellschaftsparabeln geben die Eisplaneten aber meist nur eine exotische Kulisse ab. Die »unbefleckte Tafel« (Karel Capek) regt nicht nur literarischen Einfallsreichtum an. Während Lovecrafts Horrorwesen unter dem Eis der Antarktis auf ihre Entdeckung warten, verschmelzen die verschneite Erde und der Himmel auf der Oberfläche »zu einer einzigen mystisch schimmernden Leere […], in der kein sichtbarer Horizont mehr die Grenze zwischen beiden markierte«. Damit beschreibt Lovecraft 62
(vermutlich unwissentlich) ein Phänomen der Polarregionen, das einen noch orientierungsloser werden läßt als die Schneeblindheit: den sogenannten »Whiteout«-Effekt. Er tritt ein, wenn das Licht unter einer geschlossenen Wolkendecke durch vielfache Reflexion so diffus wird, daß die Umgebung in einem einzigen gestaltlosen Weiß erscheint. Erhöhungen oder Vertiefungen werfen keine Schatten mehr, alles versinkt in einer gleichförmig weißen Welt, selbst der Horizont verschwindet. Es gibt keinen sichtbaren Anhaltspunkt dafür, wo oben und unten ist. Wanderer, die im »Whiteout« ihren Orientierungssinn verlieren, kommen wortwörtlich aus dem Gleichgewicht. Sie fallen hin und können nicht mehr aufstehen. Manche brechen vor Erschöpfung zusammen, weil sie meinen, einen Steilhang hinaufzusteigen, obwohl sie in Wirklichkeit über ebenes Eis gehen. Diese Sinnestäuschungen lassen einem im »Whiteout« einen Zustand absoluter Leere erfahren. Alles geht einem dabei verloren: nicht nur die Vorstellung von der Welt, die sich als indifferentes Nichts erweist, sondern auch das Wissen darum, das Bewußt-Sein des eigenen Geistes, der Urwille, um mit Schopenhauer zu sprechen. Während sich die Sinne bei Schneeblindheit nur teilweise reduzieren und der Vorschein von Welt und Wille noch erhalten bleibt, ist davon im »Whiteout« nichts mehr übrig. Diese nihilistische Erfahrung, die eigentlich schon keine Erfahrung mehr ist, geht über die Thesen der radikalsten Skeptiker hinaus. »Um die Irrealität zu denken und sich von ihr durchdringen zu lassen«, schreibt E. M. Cioran 1969, »muß man sie stets geistig gegenwärtig haben.« Doch im »Whiteout« ist auch von der Geistesgegenwart nichts mehr zu spüren. Cioran geht 1973 noch einen Schritt weiter und kommt mit seiner Beschreibung der Nichtwirklichkeit dem Zustand im »Whiteout« am nächsten: »Wo sind meine Empfindungen? Sie sind in mir, in meinem Ich verschwunden, und dieses Ich, was ist es anderes als die Summe dieser verflogenen Empfindungen?« 63
Einige Schriftsteller und Künstler haben den horror vacui, die Angst, daß die Welt eigentlich nicht existiert, anhand von Polarerfahrungen zu beschreiben versucht. Jack London sucht in seiner Alaska-Erzählung »Das Weiße Schweigen« (1900) Zuflucht im Religiösen. Die Natur kenne viele Wege, um den Menschen von seiner Endlichkeit zu überzeugen, »das Schrecklichste aber, das Betäubendste überhaupt ist das Weiße Schweigen, in dem nichts geschieht. […] wenn überhaupt, so ist der Mensch hier mit Gott allein«. Auch der Maler Per Kirkeby zieht sich des öfteren in die Einsamkeit des hohen Nordens zurück. 1993 hat er eine ganze Serie von »Aquarellen aus Grönland« gemalt und beschreibt seine Erfahrungen vor Ort: »Die weiße Farbe streift bei den Polen umher. Für mich bedeutet das ewige Unruhe und ewiger Schrecken. […] Die weiße Farbe macht das Blut in mir schneller schlagen. Es ist die weiße Farbe oder das weiße Tier. Ist es nicht gleichgültig – ist es nicht nur die Angst hier bei den Schneeflecken, bei der erstarrten Küste, die weiße Stille, der viel zu klare Weitblick.« Der klare Weitblick, den Nietzsche mit einem gewissen Gratismut von seiner engadinischen Olympierwarte aus eingefordert hat, jagt Kirkeby Angst ein. Gleichsam als Gegengewicht zur »ewigen Unruhe und dem ewigen Schrecken« der Farbe Weiß stellen seine Bilder von Grönland abstrahierte Landschaften dar. Vielfarbig und bewegt erschaffen sie das neu, was in der Öde verlorengegangen scheint. Auch Imi Knoebel, dessen Weiß-in-Weiß-Malerei noch von der reduzierten Bildsprache Malewitschs inspiriert war (der Kunstname »Imi« leitet sich von einer Waschmittelmarke der DDR ab), hat die kompromißlose Strenge seiner Frühphase zugunsten einer freieren Kombinatorik aufgegeben. Das reine Weiß ist in seiner Minimalität nicht lange auszuhalten. Monika Maron fühlt sich ähnlich zurückgewiesen von dem kalten Entweder-Oder der Moderne. In der Erzählung »Das 64
Mißverständnis« (1982) entwirft sie ein surreales Bild von Grönland. Dort ist aufgrund militärischer Experimente eine neue Eiszeit hereingebrochen. Die abgestumpften, einander mißtrauenden Menschen bringen sich aus Langeweile gegenseitig um. Diese apokalyptische Welt, die in den Lehrsätzen einer überkommenen Dialektik erstarrt ist, steht symbolisch für die bedrückenden Zustände im realexistierenden Sozialismus der 70er und frühen 80er Jahre: »Aber ein schöner bunter Schnee ist Unnatur, weil die Natur in Grönland nur zwei Eigenschaften haben darf: sie ist weiß und kalt. Nichtweiß und nichtkalt und alles Nichtweiße und Nichtkalte ist wider die Natur.« Maron wendet sich in ihrem Werk gegen Normierungs- und Vereinheitlichungstendenzen, denen sie in der DDR selber ausgesetzt war (sie konnte nur im Westen publizieren). Analog dazu will die weibliche Hauptfigur der Erzählung aus den dogmatischen Verhältnissen des fiktiven Grönlands ausbrechen: »Ich liebe das Nichtkalte und das Nichtweiße. Wenn schon Schnee, dann bunter Schnee. Die Natur Grönlands ist wider mich, und ich bin wider die Natur Grönlands. Ich kann sie nicht fressen, aber ich kann sie verlassen.« Im Frühjahr 1988 erhielt Monika Maron ein Visum für die Bundesrepublik und siedelte von Ostberlin nach Hamburg über. Als 1995 ihre kurzzeitige Liaison mit der Stasi herauskam, war ihr Dissidentinnen-Image allerdings angekratzt. Die Kälte des Systems, so ließe sich ergänzen, bringt eben auch den Wunsch nach einer trügerischen Nestwärme hervor. Interessanter als Marons Fehltritte ist in diesem Zusammenhang das Bild, das die DDR-Medien von den Polarregionen zeichneten. Hans Albert Förster schreibt in seiner 1952 erschienenen Polargeschichte, daß das Leben in Sibirien auch im Winter »emsig« weitergehe. Selbst Obst, Gemüse und Getreide gebe es dort oben, »abgehärtete Sorten, die auf Mitschurins weltberühmten Hochzuchtgütern der Sowjetunion gezüchtet 65
worden sind«. Und: »Leben jenseits des Polarkreises. Hartes, aber zukunftsträchtiges Leben.« Während man im Westen mit Sibirien eher Kriegsgefangenenlager und den GULAG verband, sangen Stalinismussympathisanten im Osten das »Lied der sibirischen Arbeit«. Die rohstoffreichen Polarregionen der UdSSR wurden ähnlich wie der Wilde Westen in Amerika zum gelobten Land stilisiert. Zahlreiche Romane, Reportagen und Filme, etwa über die russischen Eisdrift-Stationen im Nordpolarmeer, priesen Sibirien als Ort, an dem sich die heilsamen Kräfte des Sozialismus ungehindert entfalten konnten. Mit Höchstlöhnen versuchten die Sowjets, Arbeitskräfte in eine lebensfeindliche Gegend zu locken, in der Jewgeni Samjatin 1918 nur schicksalshafte Naturmächte walten sah: »Die Schneewehen gehen bis unter die Dächer. Alles ist dunkel-weiß, weich, still. Wer kann sagen, wo der Tag, wo die Nacht ist. Alle sind eingeschlafen – ein einziger langer Traum, dem niemand widerstehen kann, hält sie umfangen.« Nachdem der Traum des multinationalen Sowjetstaates 1991 ein Ende fand und aus Moskau keine Gelder mehr kamen, sind die meisten Russen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Den jahrzehntelang unterdrückten Polarvölkern hinterlassen sie radioaktiven Müll, Industrieschrott sowie die Folgen von Mißwirtschaft und einer verheerenden Sozialpolitik (mehr über die Realitäten am Pol im Kapitel »Edle Eskimos« ). Der weiße Schnee, der sich auf diese Vergangenheit senkt, ist so trügerisch wie alle anderen Mythen, denen wir bisher begegnet sind. Sie bleiben nur intakt, wenn man ihnen nicht zu nahe kommt. Auch Christoph Ransmayr schließt sich am Ende seines Arktis-Romans diesem neoromantischen Credo an, wenn auch mit fortschrittskritischem Impetus: »Das ist mein Land, sage ich. Aber die Zeichen auf meiner Karte bedeuten Sperrgebiet, bedeuten darf nicht betreten werden, nicht bereist, nicht überflogen. Ein verbotenes Land; 66
es ist wüst und unzugänglich wie je, unzugänglich auch in milden Sommern, in denen das Eis gut verteilt liegt.« Inzwischen knüpfen sich an die Symbolfarbe Weiß mehr oder weniger abgegriffene Gemeinplätze, größtenteils Superlative wie Reinheit, Unberührtheit und Perfektion, oder Horror, Verzweiflung und Tod. Das Blütenweiß eines Taufhemdes und das nachdunkelnde Bleiweiß eines Totenschädels – beide Zeichen sind hochgradig besetzt, vergleichbar mit den Farben Blutrot oder Himmelblau. Es scheint so, als ob die Farbe Weiß gleichsam unbrauchbar geworden wäre, um der pluralistischen, von Grautönen beherrschten Wirklichkeit noch irgendwie beizukommen, als ob die Radikalität und Unbedingtheit, die man damit seit der Moderne verbindet, diskreditiert sei. Anders verhält es sich, wenn die Farbe Weiß einen U-Topos bezeichnet, einen Unort, an dem der Ausnahmezustand die Regel ist, ein abstraktes Proszenium für Vorgänge, die sich gleichsam außerhalb der Welt abspielen. Nietzsche und Nadolny haben das mit je unterschiedlichem Vorzeichen umgesetzt. Bei Nietzsche erkennt der Übermensch im Eis seine wahre Größe und kehrt als überlegene Führergestalt in die Gesellschaft zurück. Bei Nadolny erkennt der Mensch seine Stärken und seine Schwächen und stirbt im Eis. Die monochromatische Fläche des Eises, das ist nach den Wunschvorstellungen der abendländischen Geistesgeschichte auch eine »Quasi-Ewigkeit, in der die naturhaften Prozesse – und damit der Fluch der Zeit – aufgehalten werden«, so Heidi Caroline Ebertshäuser. Tatsächlich geht in den Polarregionen vieles in Franklinscher Langsamkeit vor sich. Das zeigt auch ein Blick auf die polare Fauna: In den Gewässern um die Antarktis wachsen zum Beispiel Seespinnen langsamer, werden größer und leben länger als ihre Artgenossen in wärmeren Gefilden. Allgemein läßt sich sagen, daß sich die Bewegungen aller Lebewesen ebenso verlangsamen wie ihr Verfall. Die Biozyklen passen sich an den Polartag und die Polarnacht an, die Zeit 67
erscheint in die Länge gedehnt. Man hat den Eindruck der Zeitenthobenheit. Der Held in Adelbert von Chamissos Märchen »Adelberts Fabel« (1806) empfindet diese Zeitenthobenheit noch als Gefangenschaft, als toten Punkt. Nach einer langen Wanderung erwacht er in einer Eiswüste und wartet vergeblich auf eine Veränderung der stagnierenden Welt. Im 20. Jahrhundert wechselt das Vorzeichen, wie Doris Runge in ihrem Wintergedicht »ein schleier« (1991) sprachmächtig veranschaulicht hat: schnee bin ich die braut nicht länger will ich warten mein stern leuchtet fern und erloschen bin ich jetzt brautweiß bereit und aus der witterung des lebens Ruhe und Souveränität kommen hier zum Ausdruck, Gefaßtheit, Erlöstheit, Feierlichkeit – alles Gefühle, die ein euphorisierter Polarfahrer teilen mag. »Dort oben war ich aus der Wirklichkeit herausgehoben«, denkt sich einer der Grönland-Marschierer in Köhlmeiers Roman. »Diese unheimliche Weite. Diese diktatorische Ruhe. […] Du bist der Mittelpunkt. Der Horizont ist der Kreis.« Wie eine Insel zeitlosen Friedens in der Katastrophenlandschaft der Geschichte wirkt das, allerdings auch wie eine Friedhofsstille, wie Alfred Andersch schreibt. Wenn die Geschichte als aussichtslos erscheint (Nihilismus) oder einfach ihr Stillstand verkündet wird (Post-Histoire), liegt eine Aufwertung der Nicht-Geschichte der Natur nahe. Zum Größenwahn ist es dann nur ein Schritt. Nüchterne Analysen 68
gelingen den selbstgewissen und meist auch selbstgerechten Polarfahrern selten. Die Engländerin Jenny Diski stellt mit ihrem Roman Das blaue Herz des Eises (1999) eine Ausnahme dar. Auf einer ganz normalen Antarktis-Kreuzfahrt unternimmt sie eine Recherche du temps perdu. Zwar hat sie anfangs den Wunsch, unerreichbar zu sein und in ihren Träumen einen Zustand zu erreichen, »in dem nichts je geschehen würde oder geschehen konnte. Einen Zustand, in dem es nichts gab, worauf man warten mußte. Nennen Sie es eine Klinik oder eine Mönchszelle oder einen großen, leeren weißen Kontinent.« Als sich das Schiff dann aber Antarktika nähert, wie der sechste Kontinent ohne die umgebenden Meere heißt, setzt sie keinen Fuß darauf. Diski hat ihr Ziel nämlich schon erreicht: Auf der Fahrt durchs Südpolarmeer ist sie in die Anatomie ihrer Depressionen vorgedrungen und hat die Traumata ihrer verlorenen Kindheit überwunden. Diese Anamnese sei wie das »Lüften eines Schleiers«, schmerzlich, aber von Zeit zu Zeit notwendig, um den eigenen Standpunkt in der Welt zu bestimmen. Wenn dieser Schritt gelingt, ist der reale Gang ins Eis nur noch eine überflüssige Formsache: »Da waren wir also, am Ende der Welt […]. Ich wäre gern woanders gewesen.« Diski bleibt auf Distanz zu ihrem Ich, und das ist ganz entscheidend bei dieser Form von Literatur. Sie verfällt nicht in Selbstvergessenheit wie die zeitenthobenen Eisschwärmer, sondern steckt voller Selbstironie – ein essentielles Mittel der Aufklärung. Sie stimmt keinen Hymnus auf die umgebende Natur an, sondern begegnet ihr mit augenzwinkerndem Witz. Pinguinküken, die sie auf einer Insel im Südpolarmeer sieht, wirken auf sie wie Rugby-Spieler oder »pelzmanteltragende New Yorker zur Weihnachtszeit, bloß ohne die Päckchen«. Bei dem Franzosen Patrick Grainville (Die Orgie, der Schnee, 1992) ist das anders. Er muß beim Anblick des Eises an seine glückliche Kindheit denken. Den Schnee empfindet er als »Gegengift des Todes« und erhebt ihn sogar zur Gottheit, die er 69
umarmen möchte. Bei ihm ist wenig von dem relativierenden Abstand Diskis zu spüren. Er läßt sich vereinnahmen von seinen rein emotionalen Erfahrungen, die uns aufgrund ihrer Absolutheit letztlich fremd bleiben. Dieser Effekt tritt bei vielen Texten ein, die von Fluchtbewegungen ins Eis handeln. In den 90er Jahren sind literarische Selbsterfahrungstrips zu einer Art Breitensport geworden. Prinzipiell ist dagegen nichts einzuwenden – wenn sich die Bruce Chatwin-Epigonen nur nicht so viel banalen Schund ausdenken würden. Diesem Schund und den Hirngespinsten, denen er entsprießt, wollen wir uns jetzt zuwenden.
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Ich friere, also bin ich Die Formen der Selbsttäuschung sind mannigfaltig bei jenen, die aufbrechen, um aus dem Eis ein paar Erkenntnisbrösel mit nach Hause zu transportieren. Dort bekommen sie von niemanden, schon gar nicht von Lektoren, gesagt, daß ihre vulgärphilosophischen Souvenirs bei Lichte betrachtet dahinschmelzen wie ein Cornetto Erdbeer unterm Kinositz. Also wird’s gedruckt und keine Caspar-David-Friedrich-Stiftung ist zur Stelle, um den Gebrauch des berühmten Eismeer-Bildes als Coverillustration zu verbieten. Herausragendes Merkmal dieser Berichte aus der polaren Selbsttherapie ist eine Art Metapherninkontinenz. Die bereits erwähnte Audrey Schulman (Die Farben des Eises, 1995) ist davon durchgängig befallen. Ein Satz mag genügen, um die schiefe Bildersprache der US-Amerikanerin, die sich immerhin mit einem Creative Writing-Kurs gewappnet hat, zu demonstrieren: »Sie dachte, wenn ihr Arm nur lang genug wäre, könnte sie hinaufreichen, den arktischen Himmel wegdrücken und dahinter ihren eigenen Himmel wiederfinden, bewölkt, weich und körperlos.« »Sie«, das ist die Fotografin Beryl, die zu einer EisbärenSafari nach Kanada reist. Wie das »Whale Watching« vor der Küste Alaskas ist das »Polar Bear Watching« an der Hudson Bay zu einer populären Form des Tourismus geworden: In speziell konstruierten Fahrzeugen mit hohen Rädern und verstärkten Fenstern werden die Kunden zu den größten landlebenden Raubtieren der Erde gekarrt. In Beryls Fall geht der Bus natürlich kaputt. Plötzlich sieht sie sich mit einer Bewährungsprobe à la Nietzsche konfrontiert. Schulman formuliert das so:
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»Ich möchte lernen, aus eigener Kraft zu überleben, mich den Extremen zu stellen. Wenn ich das nicht tue, werde ich eines Tages nicht wirklich gelebt haben, jedenfalls nicht im Sinne dieser Welt, in der es Zyklen gibt wie Dürre und Kälte, Durst und Überfluß.« Beryl, die mit Nachnamen Findham heißt, hat ausschließlich ihre Selbstfindung im Sinn. Diese gestaltet sich als eine Art Initiationsritus in Frauen-Power. Männer erscheinen in dem Roman als herrisch, gewalttätig und ignorant. Sie dienen nur als Staffage und geben einen Kontrast für die narzißtische Hauptfigur ab. Stereotyp sind auch die Beschreibungen der Arktis. Bis ein existenzieller Schneesturm hereinbricht – auch hierin folgt das Buch einer Standard-Dramaturgie – strickt Schulman an einem Idyll. Masche für Masche fallen Begriffe wie »Klarheit«, »Schönheit«, »Ausgewogenheit« und »Unendlichkeit«. Man kann sich das Schnittmuster förmlich vorstellen, das sich die Autorin gemacht hat, um nur ja keine Platitüde auszulassen. Der Ort, an dem ihre Heldin vor Eisbären und Kälte Schutz sucht und im übertragenen Sinn neugeboren wird (»Beryl brach durch den Schnee hindurch in den Morgen«), ist eine Schneehöhle und damit das einzige Uterus-Symbol, das im Eis zur Verfügung steht. Die Erkenntnis, die uns nach dem überstandenen Abenteuer mitgeteilt wird, hat die Qualität eines Kalenderspruchs: »Sie dachte bei sich: Wie klein doch alles ist.« Die englische Reisejournalistin Sara Wheeler muß in der Antarktis erst Tausende von Kilometern zurücklegen und 469 Seiten ihres Buches herunterschreiben (Terra Incognita, 1999), um zu erkennen, »wie wenig ich wirklich wußte«. Mit sokratischer Ironie hat das wenig zu tun. Vielmehr liegt diesem Eingeständnis des Nichtwissens und Wheelers anschließendem »Glauben an das Paradies« die Unfähigkeit oder auch der Widerwille zugrunde, komplexe geistige Vorgänge darzustellen und begreiflich zu machen. Wheeler diskutiert die Kernfragen 72
ihrer Antarktis-Reise immer nur an der Oberfläche. Unter anderem sieht sie den sechsten Kontinent als Shangri La, »dessen Bewohner die ewige Jugend besaßen – die ja auch in den Legenden um die toten Antarktispioniere eine Schlüsselrolle spielt«. Das war’s dann auch schon an sperriger Chiffrenanalyse. Oberster Maßstab bleibt Wheelers subjektive Sehnsuchtsprojektion, auf der sie trotzig beharrt: »Alles hier strahlte Harmonie aus.« Wer diese Harmonie ergründen will oder gar anzweifelt, ist in Wheelers Paradies fehl am Platz. Viele Polarreisende fahren ja genau aus diesem Grund ins Eis: um das aufreibende, undankbare, unvollendbare Projekt der Aufklärung beiseitezulegen und noch etwas zu spüren von einer gottgegebenen Ordnung, die sie aller Erklärungsversuche enthebt. Sie wollen etwas entdecken, was sich nur erfahren, aber nicht erklären läßt. Dieser Widerspruch macht den Reiz des »ultimativen Ortes« aus, einer Region, die der Literaturkritiker Peter Urban-Halle folgendermaßen beschreibt: »Die Eisflächen, in die man aufbricht, sind weit, wunderbar und dennoch schrecklich. Hier kann man tief durchatmen, bis man merkt, wie öde alles ist. Nichts verstellt einem den Blick, und doch bleibt alles unübersehbar. Das Eis wird zum Labyrinth.« Wer sich nicht schon im Paradies, sondern in einem Labyrinth wähnt, steht zumindest noch vor einer Aufgabe. Ein Labyrinth ist ein Rätsel. Wohin führt es? Gibt es einen Ausgang? Wie gelangt man dorthin? Diesen Fragen – den großen Fragen der Metaphysik – kann der heilssuchende Polarfahrer auf unterschiedliche Weise nachgehen: entweder mit der Ratio unter Zuhilfenahme eines logischen Ariadnefadens oder unter Ausschaltung der Ratio unter Zuhilfenahme von Mythen. Den Weg durch ein Labyrinthmuster mit dem Finger nachzufahren galt noch im Christentum des Mittelalters als Ersatz für die Pilgerfahrt nach Jerusalem. Nach der Durchquerung des
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Labyrinths erwarten den Pilger Ablaß, Auferstehung und das ewige Leben. Interessanterweise gibt es auch für das Bild des Labyrinths eine Entsprechung in der polaren Wirklichkeit: Die zerklüfteten Preßeislandschaften, die den Polarfahrern den Weg verlegen und vor allem an der Packeisgrenze anzutreffen sind, galten noch in der Neuzeit als unüberwindliches Hindernis. Als sich die ersten Polarfahrer hineinwagten, wähnten sie sich tatsächlich in einem Labyrinth, hinter dem sie Fabelwelten, Horrorwesen oder geophysische Kuriositäten vermuteten. Nicht anders in der Literatur. Immer wieder, so Urban-Halle in seinem Zeitungsartikel aus dem Jahre 1997, machen sich Schriftsteller in ihren Büchern zu den Weltgrenzen auf. Stets werde das Wunder erwartet, das Unsagbare sagbar und das Unsichtbare sichtbar zu machen, sprich: den Ausgang des Labyrinths zu finden oder zumindest seine Konstruktion zu begreifen. Urban-Halle hat bei seiner Analyse allerdings nur mißglückte Identitätssuchen und Entdeckungsfahrten im Blick, die ein »Programm gegen Illusion und Hybris jeder Art« bilden. Glückhafte Polarwallfahrten, die am Unsagbaren hemmungslos herumformulieren, hat er sich zu Recht erspart und schließt: »Wir sind wieder nüchtern.« Schulman und Wheeler sind es nicht, auch nicht Sheila Nickerson (Das gefrorene Meer, 1998), die in Alaska nach »spiritueller Wahrheit« sucht. Um den Flugzeugabsturz eines Kollegen zu verarbeiten, zeichnet sie das Schicksal all derer nach, die in der eisigen Wildnis verschwunden sind. Nickerson, die »zur Erlangung des Gleichgewichts mit der Erde« auch mal rote »feng shui«-Kerzen anzündet, geht nach dem gleichen Prinzip wie Wheeler vor: Sie verknüpft eigene Erfahrungen, die sie in selbstverliebten Tagebucheinträgen festhält, mit Begebenheiten aus der Polargeschichte. Spannung ist dabei aber nur dann garantiert, wenn man das oft und oft erzählte Scheitern von Franklin & Co. noch nicht kennt. Nickerson versucht, 74
parallel zu ihrer materialreichen Stoffsammlung einen individuellen tragischen Konflikt zu konstruieren und damit die eigene Biographie aufzuwerten. Dabei kommt jedoch nur ein melodramatisches Betroffenheitsgeraune heraus: »Doch bis auf weiteres werden die Leichen sanft zugedeckt von den Kristallen des Schweigens und des Friedens. Es gibt keine Hoffnung, keine Suche.« Am Ende besteht Nickersons spirituelle Wahrheit darin, daß in Alaska Menschen verunglücken und daß man nichts dagegen machen kann. Ihr eigenes Seelenheil bleibt davon unbehelligt: Mit einem lachenden und einem weinenden Auge verläßt sie Alaska in Richtung Karibik. Zuvor ist ihr beim Meditieren ein Rotkehlchen erschienen – für die Autorin ein gutes Omen, für den Leser eine sentimentale Zumutung. Warum, fragt man sich da, verkünden die Schulmans, Wheelers und Nickersons erst seit zirka zehn Jahren ihre eisige Harmonienlehre? Warum gedeiht diese »Ich weiß, daß ich nichts weiß«-Larmoyanz in der Kälte offenbar besonders gut? Und warum stammt sie vorwiegend von Frauen? Der Reihe nach. Wie bereits erwähnt, hat der Polartourismus in den letzten zehn Jahren stark zugenommen. Arktis und Antarktis sind für Schriftstellerinnen und Schriftsteller inzwischen so einfach zu erreichen wie die klassischen Länder der Reiseliteratur, Italien und Griechenland – womit wir wieder beim Glauben an ein »boréales Arkadien« wären, der schon Novalis zu einer blauäugigen Polarmystik veranlaßt hat (etwa in der Arcturus-Mythe im Heinrich von Ofterdingen, 1802). Hinzu kommt eine volkstümliche Faszination, die von den Polarregionen und ihrer scheinbar so handlichen Symbolik ausgeht, des weiteren eine allgemeine Zivilisationsmüdigkeit sowie ein gewisser Bilanzierungsdrang, wie er sich am Ende eines Jahrhunderts gerne einzustellen pflegt. Vor allem aber sind es publizistische Erwägungen, um es gelinde auszudrücken. Schärfer: Der Erfolg von Nadolny und später von Høeg hat noch den letzten schreibenden Laptop-Besitzer ohne zugkräftigen 75
Stoff und Schauplatz wachgerüttelt, jetzt auch mal was im Eis zu machen. Vergleichbar ist diese Mode mit der Welle von Historienromanen, die Der Name der Rose von Umberto Eco ausgelöst hat. Hier wie dort läßt sich unschwer der Kriterienkatalog der Postmoderne erkennen, der da (im Auszug) lautet: Das intertextuell Collage- und Zitathafte, die Gattungsmetamorphose, die Mischung von Hoch- und Alltagskultur, das Autobiographische, das Geschichtliche, die Entdeckungsfreude, das Multikulturelle kommen stärker zur Geltung (nach Paul Michael Lützeler, Spätmoderne und Postmoderne, 1991). Viele Polar-Romane greifen diese Elemente lediglich in trivialisierter Form auf und nehmen von der Moderne genau das mit hinüber, was die Postmoderne eigentlich erfolgreich abgestreift hat: Utopieversessenheit. Während Schulman, Wheeler und Nickerson von der Kritik kaum beachtet wurden, stieß der Debütroman von Klaus Böldl (Studie in Kristallbildung, 1997) hierzulande auf mehr Resonanz. Obwohl der Markt damals noch nicht übersättigt war und es auch noch lange nicht ist (man denke an die Sachbücher von Alexander und Krakauer), traf Böldl sogleich der Vorwurf des Epigonentums. Zu Recht, denn es geht um Langsamkeit (Nadolny), Selbstauflösung (Ransmayr) und Landschaftsimpressionen in Grönland (Heeg). Böldl hat diese Faktoren, die sich zu einer Art Funktionsformel für Arktisromane multiplizieren lassen, wohl als Vorlage benutzt. Nur ein Faktor fehlt: eine tragfähige Geschichte. Um diesen Mangel weiß auch Böldl und begründet ihn wie viele Autoren, denen über Sprache und Stil die Handlung abhanden kommt: Er erklärt die Verweigerung, etwas Biographisches mitzuteilen, zum Programm. »Warum auch nicht?«, könnte man sagen und sich auf dieses dekonstruktivistische Kunstgebilde einlassen. Doch anstelle eines saftigen philosophischen Monologs erwartet uns nur eine sattsam bekannte nihilistische Demutshaltung: 76
»Mein Verbrauch an Zeit ist verschwindend gering, gemessen an den Unmengen von Zeit, die sich die Eismassen ringsum auf dem Meer und auf den Bergen zum Entstehen und Vergehen nehmen.« Und tautologisch geht es weiter: »Jede einzelne Kristallbildung nimmt unbeirrbar den ihr zustehenden Zeitraum in Anspruch.« Zumindest liefert Böldls Roman den Beweis, daß Binsenweisheiten von der Eisabbruchkante keine weibliche Domäne sind. Dort oben neigen Männer vielleicht eher zum markigen Sprücheklopfen und Frauen zum erleuchteten Om mani padme hum. Das ist aber schon alles an geschlechtsspezifischen Pauschalitäten. Es gibt zu viele Ausnahmen, als daß sich daraus eine Regel ableiten ließe. Allerdings ist die Häufigkeit, mit der Autorinnen derzeit über die Polarregionen schreiben, schon auffällig. Wie bereits im Kapitel »Frostbeulen« erwähnt, liegt das ganz einfach an der Gleichstellung, die inzwischen auch den Spielplatz der Helden erreicht hat. Jahrzehntelang schotteten Männer die Polarstationen vor Frauen ab, weil sie »ihre körperliche Gesundheit und ihr seelisches Gleichgewicht« gefährdet sahen, wie Expeditionsteilnehmer einer Antarktis-Expedition noch in den 40er Jahren befürchteten. Im Jahre 1969 ließen die USA dann die ersten vier Frauen an dem Antarktisprogramm teilnehmen. 1990 überwinterte schließlich eine reine Frauencrew in der deutschen Georg-von-Neumayer-Station. Damit gehört der Chauvi-Witz des amerikanischen Piloten Harry Darlington endgültig der Vergangenheit an: »Es gibt ein paar Dinge, die Frauen einfach nicht tun. Sie können nicht Papst oder Präsident werden oder in die Antarktis gehen.« Darlington nahm seine Frau Jennie 1946 dann doch mit in die Antarktis – Hunde, die bellen, beißen nicht. Die erste Frau, die über die Polarregionen schrieb, war übrigens eine Deutsche. Christiane Ritter packte den esoterischen Eiskratzer schon in den 30er Jahren aus. Damals 77
mimte die Nazi-Heroine Leni Riefenstahl in dem Spielfilm SOS Eisberg (1933) eine draufgängerische Fliegerin, der sich gerade mal ein Eisberg in den Weg stellen darf. Ritter, die mit ihrem Mann auf Spitzbergen überwinterte, blieb jedoch folgsam in ihrer Hütte und versah Hausfrauenpflichten. In dem Erlebnisbericht Eine Frau erlebt die Polarnacht (1938; neu aufgelegt 1997) notiert sie dann zum Beispiel, daß sich das Eiweiß von Eiderenteneiern nicht schaumig schlagen läßt, um daraus einen Schmarren zu bereiten. Wenn man solche Passagen abzieht, hat Ritter ihr Arktis-Abenteuer bemerkenswert anschaulich protokolliert – ein extremer Nordland-Trip war seinerzeit ein ungewöhnliches Unterfangen, dem nur ein paar skandinavische Jäger etwas abgewinnen konnten. In ihrem romantischen Resümee verfällt Ritter jedoch jener Mischung aus Stolz auf die eigene Leistung und Ehrfurcht vor den Naturkräften, die genretypisch geworden ist: »Man muß hindurchgegangen sein durch die lange Nacht, durch die Stürme und die Zertrümmerung der menschlichen Selbstherrlichkeit. Man muß in das Totsein aller Dinge geblickt haben, um ihre Lebendigkeit zu erleben.« Ritter ahnte wohl, daß in Deutschland eine lange Nacht ganz anderer Art vorbereitet wurde. »Vergessen ist Europa und alles, was uns bindet«, schwärmt sie für ihr nördliches Refugium, das bald von strategischer Bedeutung für die alliierten Geleitzüge nach Murmansk werden sollte. Auf ihre Frage, ob in Europa schon Krieg ausgebrochen sei, antwortet ein Besucher: »Nein, vorderhand nicht.« Halb möchte Ritter für immer in ihrem »weißen Märchenland« bleiben, wo die Sonne sieghaft (!) steigt und Schneestürme an die Endlichkeit des Lebens gemahnen. Auf der Rückfahrt weiß sie: »Die Mayonnaisen und alle Pikanterien schmecken uns nicht mehr so gut wie ehemals.« Solch spärliche Aha-Erlebnisse erinnern an die Autosuggestionsformeln in einem Erlebnisseminar, wo sich am Wochenende Selbstüberwindung einüben läßt. »Einmal muß 78
man sich einfach zusammenreißen und weggehen«, denkt sich auch die Journalistin Eira, der es einfach unmöglich ist, »sich in ihrer immer zu warmen Zweizimmerwohnung Kälte vorzustellen«. Die Norwegerin Cecilie Enger (Das kalte Licht des Nordens, 1998) schickt ihre Protagonistin ans Nordkap. Dort soll sie eine Reportage über alte Menschen schreiben, die im äußersten Norden des Landes leben und dort den gesamten Zivilisationsprozeß von der frühgeschichtlichen Jägerkultur bis zum Schneemobil gleichsam im Zeitraffer miterlebt haben. Wie bei Schulman ist es ein Sturm, der einen Prozeß der Selbstbehauptung in Gang setzt, einen kathartischen Alleingang, der Individuation suggeriert und Klischees produziert wie »Hier ging die Zeit anders«. Von einer Soziogenese des Einsiedlertums, die man sich von Enger erwartet hätte, sind ihre mythenbewegten Mitteilungen jedoch ebenso weit entfernt wie von einem Bildungsgang, wie ihn Hans Castorp im SchneeKapitel des Zauberberg durchläuft. Nur die journalistischen Passagen können eine gewisse Geltung beanspruchen. Auf der Suche nach einer ursprünglichen Welt übt die Heldin des Buches Kritik an der ökonomischen Ausbeutung der Polargebiete und an den Umweltschäden, die Fortschritt und Modernisierung nach sich ziehen: »Schon heute sind die Eisbärinnen auf Svalbard dermaßen verseucht, daß sie ihre Jungen mit Chlorgiften umbringen, einfach, indem sie sie säugen.« Die anschließende deterministische Schlußfolgerung könnte von Greenpeace stammen: »Wir können nicht gegen Eis und Kälte anleben. […] Wir können nicht gegen das anleben, was die Natur vorausbestimmt hat.« Oder sie stammt von Peter Høeg. In seiner Fräulein Smilla findet sich eine auffallend ähnliche Textstelle: »Man kann versuchen, mit dem Eis zu leben. Aber man kann nicht gegen das Eis anleben oder es verändern und an Stelle des Eises leben.« Die touristischen Wahrnehmungen gleichen sich in diesen Romanen ebenso wie die nebulösen Reflexionen und holprigen 79
Philosopheme, die sich scheinbar unentwegt fortzeugen. Angeregt von Nietzsches Hymnus auf die Einsamkeit des »ImEise-Lebens« werden Techniken der Ausgrenzung durchdekliniert. Im Gegensatz zu Nietzsche geht es bei diesen Selbsterprobungen nicht um einen triumphalen Sieg, der den Menschen über die Naturkräfte erhebt. Es geht um das Aushalten der Naturkräfte, um ein Survival-Training, das einen nicht nur abhärtet für das Leben in der Gegenwart, sondern für eine weitaus größere Bedrohung, die in der Zukunft liegt: eine neue Eiszeit. »Mir gefällt die Vorstellung eigentlich gut, daß es so kommen wird, daß alles immer kälter wird, und nicht umgekehrt«, denkt sich die Nordkap-Heldin von Cecilie Enger. Sie bezieht sich dabei auf den altnordischen Mythos vom letzten und ewigen Fimbulwinter. Danach würde der Weltuntergang mit einer Periode bitteren Frostes beginnen, um den Menschen das Ende anzukündigen und es ihnen zu ermöglichen, sich darauf vorzubereiten. Wenn der Wolf Skoll dann die Sonne verschlingt, werde nur ein einziges Menschenpaar im sogenannten Hoddmimeswald überleben. Da in der Finnmark, dem äußersten Norden Norwegens, aber kein einziger Baum zu sehen ist, liegt für Engers alter ego der Schluß nahe, daß es auf der ganzen Erde »nur noch Eis, Finsternis und Kälte« geben werde. Diese Form der Endzeitstimmung war am Fin de siècle besonders stark ausgeprägt. Damals war die Vorstellung einer totalen Vergletscherung der Erde eine weitverbreitete Endzeitvision. Man glaubte, daß die Kälte in den Polargebieten wachse und der Eisgürtel an den Polen stetig in gemäßigtere Breiten vorrücke. Manche Hypothesen, die unter anderem von Mammutfunden in Sibirien beeinflußt waren, gingen davon aus, daß schon in naher Zukunft, also gleichsam über Nacht, furchtbare Minusgrade hereinbrechen würden. Andere EiszeitTheorien propagierten keine plötzliche, sondern eine allmähliche Erkaltung der Erde. Ähnlich wie im Fimbulwinter hätten die Menschen somit noch Zeit, Vorbereitungen für den 80
»Wärmetod« der Erde zu treffen und Überlebensstrategien einzuüben. Helmut Lethen hat die »Eiszeit-Folklore« der Jahrhundertwende ausführlich untersucht. Urängste vor einem mythischen Weltwinter verbanden sich damals mit der Untergangsphilosophie der décadence. Die Eiszeit, so Lethen, diente als Symbol für eine Reihe von Erscheinungen der Modernisierung: das Vordringen der Verstandeskälte, den Prozeß der Entfremdung und allgemein eine »metaphysische Obdachlosigkeit«. Ausgehend von Cuviers Katastrophentheorie (1796), wonach das Leben durch gewaltige Katastrophen periodisch vernichtet und in gewandelter Form wiedererschaffen worden sei, hatten sich im 19. Jahrhundert regelrechte »Schablonen des Pessimismus« entwickelt. Dazu gehören auch die populärgeologischen EiszeitProphetien, die um 1900 wie Eiszapfen von den Dächern wuchsen. Sie sind eine Reaktion auf das Geschichtsmodell der Aufklärung, das die Historie noch als aufsteigenden Prozeß hin zu Vernunft und Humanität begriffen hat. In der Erkenntniskrise der Jahrhundertwende formulierte nunmehr eine spekulative Naturwissenschaft Antworten, die man der humanistischen Geschichtsphilosophie nicht mehr zutraute. Das Kernstück vieler Eiszeit-Theorien war der zweite Hauptsatz der Thermodynamik: Die Menge der Energie bleibt in einem geschlossenen System zwar erhalten, aber einmal umgewandelte Energie läßt sich danach nicht mehr konstruktiv nutzbar machen. Anders formuliert: Alles, was warm ist, wird zwangsläufig kalt und bleibt es unwiderruflich. Ein Umkehrprozeß ist nicht möglich, der Vorrat an Wärme erschöpft sich nach und nach. Demnach würde die Erde irgendwann einen Zustand völliger Erkaltung erreichen. In der Literatur fand das reichen Niederschlag. Schon Jules Verne versuchte, wissenschaftliche Neuerungen mit phantastischen Geschichten zu verbinden. Seine Folgerungen für 81
die Polargeographie stehen jedoch noch unter dem Einfluß der alten Mythen. Am Nordpol vermutet er einen brodelnden Vulkan (Die Abenteuer des Kapitän Hatteras, 1866), am Südpol einen Berg »halb aus Porphyr, halb aus Basalt«, den der Übermensch Kapitän Nemo mit seinem U-Boot Nautilus in Besitz nimmt (20000 Meilen unter den Meeren, 1870). Der Südpol sei nicht nur unterseeisch, sondern auch über eine eisfreie Meerenge zu erreichen, die den antarktischen Kontinent in zwei Teile teilt (Die Eissphinx, 1897). H. G. Wells, der Biologie und Paläontologie studiert hat, verarbeitet schließlich die aktuellen Theorien über Klimawechsel und Artensterben. In seinem Roman Die Zeitmaschine (1895) beschwört er ein apokalyptisches Bild ewiger Kälte herauf. Der letzte Halt seines Zeitreisenden liegt 30 Millionen Jahre in der Zukunft: »Ich sah mich um, ob noch Spuren von tierischem Leben verblieben waren. […] Doch ich sah keine Bewegung auf der Erde, am Himmel oder im Meer. […] Eine bittere Kälte fiel mich an. Am Meeresrand lag ein Eissaum, und weiter draußen gewahrte ich treibende Eismassen; doch zum größten Teil war der salzige Ozean, blutrot unter dem ewigen Sonnenuntergang leuchtend, noch ungefroren. […] Die Kälte, die mir ins Mark drang, und der Schmerz, den mir das Atmen bereitete, überwältigten mich.« Die Passage stammt aus dem Kapitel »Der sterbende Planet«. Während der Zeitreise in die Kälte wird der Wechsel von Tag und Nacht immer langsamer, die Luft wird dünner – Verhältnisse, die auch auf den Hochplateaus Grönlands oder der Antarktis herrschen. Die Ursache der Erkaltung bleibt jedoch unklar. Einen abrupten Klimawechsel, der wie eine Naturkatastrophe über den Menschen hereinbrechen werde, stellt Wells nicht in Aussicht. In einer Zeit »schwachen Herumexperimentierens, bruchstückhafter Theorien und allseitiger Uneinigkeit« seien die Menschen vielmehr von »den 82
wachsenden Errungenschaften der Zivilisation« bedroht, einer »Anhäufung von Torheiten, die unweigerlich auf ihre Schöpfer zurückfallen und sie am Ende vernichten«. Im Gegensatz zur zögerlichen Entdeckerkritik von Jules Verne äußert Wells also eine unverblümte Wissenschaftskritik. Der Zoologe Fridtjof Nansen, der sich 1893 mit der Fram vom Eis einschließen ließ, hat eine andere Eiszeit-Version parat. Unter dem Eindruck seiner ersten Überwinterung im Nordpolarmeer blickt er nicht um Jahrmillionen, sondern nur um einige Jahrhunderte voraus. Seine Prophezeiungen sind an zyklischen Wärme- und Kälteperioden orientiert. Sie erschienen in dem immer noch populären Opus In Nacht und Eis (1897) und ähneln schon eher den gängigen Eiszeit-Theorien: »Die Welt, die kommen wird! […] Langsam und unmerklich nimmt die Wärme der Sonne ab und in derselben langsamen Weise sinkt die Temperatur der Erde. Tausende, Hunderttausende, Millionen von Jahren entschwinden, Eiszeiten kommen und gehen, und die Wärme nimmt immer mehr ab; ganz allmählich dehnen sich die treibenden Eismassen weit und immer weiter aus, immer weiter dringen sie nach südlichen Breiten, ohne daß jemand es bemerkt, bis endlich alle Meere der Erde eine einzige Eismasse sind.« Nur in den Tiefen des Ozeans sei dann noch Leben zu finden (Nansens Expedition hatte bei Lotungen Krill und ähnliches Getier nach oben befördert). Aber nicht genug: Irgendwann werde das Eis auch den Meeresgrund erreichen. Die Erde werde zu einem einzigen Eisklumpen erstarren, zu einem »Stern unter Sternen«. Schon der Tonfall des Atheisten Nansen hat etwas Biblisches – später ist von einem großen Schweigen die Rede, wenn die Erde »wieder wüst und leer« sein wird, vom »Geist des Raumes über den gefrorenen Gewässern«. Daran zeigt sich, wie nahtlos die Wissenschaft damals die Stelle der Religion eingenommen hat. Nansens »eschatologische Banalitäten«, so Hans 83
Blumenberg, gehören mehr der Kultur- als der Wissenschaftsgeschichte an – Eiszeit-Folklore eben. Mit der Fram machte Nansen vor, wie sich der Mensch nach dem Wärmetod der Erde zu verhalten habe: Er überließ sich der noch kaum erforschten Eisdrift und überlebte drei Winter im Eis. Aber die Eiswüsten können nicht nur am Ende von allem Leben stehen, sondern auch am Anfang. Wie schon erwähnt waren sie eine zentrale Denkfigur für Nietzsches Philosophie, die wiederum von zahlreichen Adepten aufgegriffen wurde. Zu ihnen gehörte der Populärschriftsteller Wilhelm Bölsche, der eine optimistische Teleologie entwickelte: Erst die Eiszeit habe den Zivilisationsprozeß in Gang gesetzt (Vom Bazillus zum Affenmenschen, 1900; Eiszeit und Klimawechsel, 1919). Im »Gletscherschutt der Eiszeit« lägen die ersten uns bekannten Kulturreste des Menschen verborgen. Auch der dänische Autor Johannes V. Jensen wandte sich gegen die Untergangsstimmung seiner Zeit und lancierte in seinem vielgelesenen Roman Der Gletscher (1908) die These, daß jede Evolution auf Abkühlung beruhe. Dieses Lob der Kälte wurde von der europäischen Avantgarde (1910-30) aufgenommen, wie Helmut Lethen für die Schriftsteller Bertolt Brecht und Gottfried Benn, die Künstler George Grosz und Theo van Doesburg, den Kulturphilosophen Theodor Lessing und den Psychologen Sandor Ferenczi nachweist (siehe dazu auch Joachim Metzners umfangreiche Studie Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang, 1976). Auch bei Ernst Jünger spielte die Eiszeit eine entscheidende Rolle im Prozeß der »Hominisation«. Wer »in Stahlgewittern« aufgewachsen ist, so ließe sich folgern, empfindet die »soziale Eiszeit« des 20. Jahrhunderts nicht unbedingt als Nachteil, sondern richtet sich darin ein und begreift sie irgendwann sogar als erzieherisch. Kälte gilt dann als Voraussetzung einer unbestechlichen Urteilskraft. Ob Jünger (»Das Eis war einer unserer großen Lehrmeister«), Walter Benjamin (»Kaltstellen 84
der moralischen Persönlichkeit«) oder Grosz (»bei mir Nordpol, Packeis-Charakter«) – Intellektuelle aller Coleurs nehmen die Forderung Nietzsches auf, wonach der moderne Mensch erst in der Kälte objektiv sein könne. Dort erspart er sich nämlich das mühselige Geschäft, gegen Mythen und Aberglauben, Archetypen, Religionen und Ideologien immerzu den Gegenbeweis antreten zu müssen. Nietzsche: »Ein Irrtum nach dem anderen wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt – es erfriert […]. Hier zum Beispiel erfriert ›das Genie‹; eine Ecke weiter erfriert ›der Heilige‹; unter einem dicken Eiszapfen erfriert ›der Held‹; am Schluß erfriert ›der Glaube‹, die sogenannte ›Überzeugung‹, auch das ›Mitleiden‹ kühlt sich bedeutend ab – fast überall erfriert ›das Ding an sich‹.« Daß der Übermensch selber zur Ideologie werden sollte, hat Nietzsche freilich nicht vorausgesehen. Den Nazis kam es durchaus entgegen, sowohl die christliche als auch die aufklärerische Ethik mit der Begründung zu diffamieren, daß Humanität etwas für Schwächlinge sei. Viele Welteislehren, etwa Hanns Hörbigers »Glazial-Kosmologie« (entstanden um 1900, publiziert 1927), wonach sich Eis in Form von »Eisgewölk« im Weltall gesammelt habe und die Himmelskörper entstehen ließ, gingen denn auch ins Gedankengut der Nazis ein. Im Eis, wo Ethik ohnehin abstirbt und sich jede weitere Argumentation erübrigt, fühlt sich auch die nordische Heldenrasse wohl. Dort, so nahmen viele Rassenkundler an, hätten schon die Arier ihre überlegenen Gene mit den dazugehörigen körperlichen, psychischen und kognitiven Merkmalen herausgebildet. Eine neue Eiszeit, so die Schlußfolgerung, würde die natürlichen Selektionsprozesse nur beschleunigen. Am Ende stünden die kälteresistenten Germanen als Sieger da. Über die genaue Herkunft der Arier war man sich jedoch uneinig. In einem »Geschichtsbuch für die deutsche Jugend« 85
von 1943 ist von Rentierjägern die Rede, welche die plumpen Neandertaler nach den Gesetzen des Sozialdarwinismus verdrängt hätten. Dummerweise finden sich in den Polarregionen keine Zeugnisse für eine frühgeschichtliche Anwesenheit der Arier. Der vorderasiatische und indische Raum gibt da schon mehr her, zum Beispiel indoiranische Sprachspuren, die der arischen Oberschicht im Mesopotamien des 15. und 14. Jahrhunderts v. Chr. zugeschrieben werden. Heinrich Himmler, der sich selbst für eine Reinkarnation von Heinrich dem Löwen hielt und für sein »Ahnenerbe« noch die abwegigsten Gedanken in Erwägung zog, ging noch weiter in der Zeit zurück und dachte sich eine Paläoanthropologie mit mystischem Einschlag aus. Er vermutete, daß die Germanen vom Welteis des Himmels (nach Hörbigers »GlazialKosmologie«) auf die Erde herabgestiegen seien. Vielleicht habe der Urarier im Eis des Himalaya die Zeiten unbeschadet überdauert. So hat es zumindest der Schriftsteller Jens Sparschuh recherchiert. In seinem Roman Der Schneemensch (1993) bricht eine Nazi-Expedition in den Himalaya auf und geht dort auf der Suche nach dem germanischen Yeti jämmerlich zugrunde. Der einzige Überlebende ist durch Hunger und Kälte selber zu einer Art Schneemensch geworden und hat den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Nur aus seinem Tagebuch ist der Hergang des (fiktiven) Unternehmens zu ermitteln. Geradezu parodistisch stellt Sparschuh die Spekulationen der Nazi-Forscher dar, die er in einem rapporthaften Stil wiedergibt: »Hinwendung zum ewigen Eis: keine Reise in die Vergangenheit, sondern Schritt in die Zukunft (allgemeiner Weltlauf: zuerst Sonnenglut, dann allmähliehe Vereisung); allgemein: Wer sich im Daseinskampf gegen die Kälte behauptet und aufgeartet hat – Zeuge der Zukunft.« Gespenstisch wird es allerdings, wenn die Expeditionsteilnehmer von den praktischen Anwendungsmöglichkeiten ihres 86
Forschungsauftrags sprechen. Der Führer selbst erwarte völkischen Nachschub aus dem »reinen Rassenraum« im Eis. Eine Kreuzung des Schneemenschen mit nordfriesischen Bauernmädchen könne einen neuen »kaltblütigen Kämpfertyp« hervorbringen. Von einer propagandistischen »Wunderwaffe« ist die Rede, einer Entscheidungsschlacht im »historischen Hinterland«, der »Sicherung eines geeigneten Rückzugsgebiets« etc. – der Roman spielt in den Jahren 1941 bis 1943, als Hitler für den Notfall schon eine uneinnehmbare »Alpenfestung« plante. So grotesk, wie sich Sparschuhs Fiktion anhört, ist sie gar nicht, man denke nur an die rassenpolitischen Zuchtprojekte der Nazis in Gestalt des »Lebensborns«, die unter anderem von Schriften des Rassentheoretikers Hans F. K. Günther angeregt waren. Hier zeigt sich die okkulte Seite des nationalsozialistischen Rassenwahns, den man im Hinblick auf Himmlers pseudowissenschaftliche Hirngespinste mit Fug und Recht als »Wahn« bezeichnen kann. Diesem Wahn verfällt auch die Hauptfigur des Romans, ein Sprachwissenschaftler, der in den Fußstapfen der Indogermanistik nach einer Ursprache fahndet und sie zur »Welt-Allsprache« weiterentwickeln will. Letztere sei dem Überlebenskampf mit der Natur besser angepaßt. Schon ihr Satzbau würde das »Ausgeliefertsein an die Welt« widerspiegeln, etwa in dem Beispiel »Schnee-sehe-ich«. Zuerst komme das »Objekt, das lange vor uns da war und lange nach uns da sein wird (Schnee)«, dann das Tätigkeitswort und erst am Schluß das Subjekt. Der Leiter der Expedition, ein zum Nationalsozialismus konvertierter Ahnenerbe-Professor, gibt den eiszeittheoretischen Rahmen vor: »Die Kälte aber ist der natürliche Evolutionspartner! Sie treibt die Überlebenskräfte hervor. In den Regionen der Kälte müssen Feuer, Kleidung usw. erfunden werden. Die Stätte des 87
erbarmungslosen Daseinskampfes ist also der Ort der Entwicklung.« In vielen Punkten ähnelt die Expedition den klassischen Polarfahrten. Leichtsinn, Selbstüberschätzung und Kameradschaftsgeist weichen dabei ebenso einer schrittweisen Ernüchterung. Und wenn sich die Hauptfigur den Schneemenschen vorstellt, kommt uns das von Nansen bekannt vor: »Dort oben, weltabgeschieden, lebt er vielleicht. Ein Zeuge der Vergangenheit. Fernab von unserm Weltgetriebe trottet er durch die sonnenglitzernden Schneewüsten … Und für ihn ist die Welt wie zur Stunde des Schöpfungsbeginns: wüst, ungestalt, groß.« Später, als sich die Expedition zunehmend als »Himmlers Himmelfahrtskommando« entpuppt, zieht Sparschuh einen vielsagenden Vergleich zu Hitlers »Berghof« am Obersalzberg: »Muß ein grandioses Gefühl sein, dort oben. Wenn der Führer so um sich blickt: nur Eis, Ruhe, sagenhafter Fernblick.« Hitler und die Rassenkunde: Ein Egomane, für den die Zeit stillzustehen scheint, macht sich eine fadenscheinige PseudoWissenschaft zunutze, die ihre Anhänger (zumindest in dem Roman) ins Verderben stürzt. Sparschuh hat für seine ironische Parabel auf Hybris, Größenwahn und Allmachtsphantasien einen Stoff gewählt, der in gewissem Sinne die historische Verlängerung zum heroischen Zeitalter Scotts ist. In beiden Fällen werden die Protagonisten Opfer ihrer eingebildeten Überlegenheit. Erst als die Lage im Himalaya aussichtslos wird, setzt sich bei den Yeti-Forschern die Erkenntnis durch: »Die Angst, Schwäche einzugestehen, macht uns so schwach. Die fixe Idee, mutig sein zu müssen, macht uns so feige.« Die Hauptfigur in Sparschuhs Roman hat viel mit den Polarfahrern der Vergangenheit und Gegenwart gemein. Wieder 88
begegnen uns die bekannten Motive für eine Flucht ins Eis: die »Abenteuerlichkeit dieser Reise, bei der es bis ans andere Ende der Welt gehen sollte«; die »Begierde, die uns treibt, zu erforschen, unschuldsweiße Flecken auszutilgen, den ersten Schritt ins jungfräuliche Weiß des Schneelandes zu setzen«; die »ungestillte Lust in uns, der wir verfallen sind, solange wir sind und noch nicht verfallen sind«. Konkret heißt das für den jungen Wissenschaftler, der vom Kriegsdienst entbunden ist: »Ich hatte endlich wieder ein Ziel vor Augen.«; »Ich witterte die Gefahr als Chance, meinem Leben wieder einen Sinn zu geben […].« Später kommen ihm Zweifel: »Und was suche ich? Bestätigung – aber wofür? Daß es den UA [Urahn] gibt? Daß es ihn nicht gibt? Daß es mich gibt? Oder suche ich nur einen Ort, wo ich so sein kann, wie ich bin, wo ich ankommen kann … Vielleicht eine Ur-Sehnsucht?« – Und schließlich: »Es müßte ein Fortgehen geben ohne Ende, ein Fortgehen, ohne je anzukommen. Sicher, auch das gibt es. Das ist der Tod.« Hier vermischen sich der Wunsch nach einem anästhetischen Zustand der Empfindungslosigkeit, den die historischen Avantgarden mit der Kälte verbanden, und das Bedürfnis nach Abhärtung und Selbstvergewisserung, das die Zivilisationsflüchtlinge der Postmoderne neuerdings wieder hegen. Sparschuhs überspitzte Expeditionsgeschichte zielt jedoch in erster Linie auf die Rassenideologie der Nazis und ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln. Dabei stellen die zumeist antiaufklärerischen und antihumanistischen Eiszeittheorien nur eines von vielen populärwissenschaftlichen Elementen dar, die von den Nazis dankbar aufgegriffen und instrumentalisiert wurden. Wie schnell aus versponnenen Gemeinplätzen bitterer Ernst wird, zeigt auch ein aktuelles Beispiel aus den 90er Jahren. Jon Krakauer hat es aufgezeichnet, derselbe Krakauer, der sich mit dem umstrittenen Everest-Drama »In eisige Höhen« (siehe das Kapitel »Im Ohrensessel«) in die Niederungen des 89
Sensationsjournalismus begeben hat. Die Reportage In die Wildnis (1997) ist mehr auf Dokumentation bedacht und weniger auf effektvolle Inszenierung. Gleichwohl geht es auch hier um ein Scheitern mit tödlichem Ausgang: Ein junger amerikanischer Aussteiger namens McCandless bricht alle Brücken zur Zivilisation ab und sucht in Alaska die »Vereinigung mit der nackten Natur, dem Kosmos«. Dafür nimmt er nur das Allernötigste mit (ein Gewehr und einen Sack Reis). Indem er seine Landkarte einfach wegwirft, macht er die vollständig kartographierte Welt wieder zur Terra incognita. Anstelle von Goretex-Kleidung und Astronautennahrung hat er lediglich geistige Nahrung im Gepäck: Thoreau- und Tolstoi-Lektüren inspirieren ihn zu einem Leben im Einklang mit der Natur. Diesem Idealismus setzt eine Pflanzenvergiftung ein tragisches Ende: McCandless, zunehmend geschwächt und nicht mehr in der Lage, Hilfe herbeizurufen, stirbt den Hungertod. Krakauer hat diese authentische Geschichte, die in der amerikanischen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wurde, akribisch rekonstruiert. Seine Reportage erweist sich als eine Diagnose des Aussteigertums. All die Schönfärbereien und Wildnis-Utopien, die wir von den Polarfreaks kennen, kehren in McCandless’ Tagebuchaufzeichnungen wieder: In Alaska strebt er nach Freiheit und Enthaltsamkeit, nach einer Abkehr vom »Gift der Zivilisation« und einer Rückkehr zum Wesentlichen. Er stilisiert sich selbst zu seinem alter ego »Alexander Supertramp« hoch und nimmt sich eine quasireligiöse sentimental journey vor: »Es gilt, die letzte Schlacht zu schlagen, die zur zweiten Natur gewordene Falschheit auszumerzen und die spirituelle Wallfahrt siegreich zu beenden.« Diese metaphysische Überwölbung findet Krakauer so sympathisch, daß er seine journalistische Objektivität stellenweise aufgibt. McCandless, lautet sein Resümee, habe in seinen letzten Stunden inneren Frieden erlangt: »Er strahlt die 90
heitere Gelassenheit eines Mönchs aus, der zu seinem Herrn aufsteigt.« Dagegen führt Krakauer auch die Kritik an, die dem »narzißtischen Traumtänzer« nach seinem Tod entgegenschlug. Unter anderem wurde ihm Ignoranz vorgeworfen, aufgesetztes Asketentum und eine arrogante, pseudoliterarische Geisteshaltung. Er sei ein begabter, ein wenig zur Theatralik neigender Schuljunge gewesen, dem »die nötige Demut fehlte«. Krakauer räumt denn auch den Reiz der Gefahr ein, der nicht nur McCandless, sondern »immer mehr junge Männer zu hochriskanten Freizeitunternehmungen« verführe. McCandless – ein Jedermann? Ja, denn bei dieser »spirituellen Wallfahrt« handelt es sich nicht um ein extremsportliches Abenteuer. Der 24jährige Aussteiger setzt sich den Gefahren der Wildnis aus, ohne zuvor essentielle Überlebenstechniken eingeübt zu haben. Er zieht einfach drauflos und verkennt die Risiken, die mit einer solch jungenhaften Selbsterprobung verbunden sind. Vilhjalmur Stefanssons Wunschbild einer »freundlichen Arktis« scheint hier durch, einer Wildnis, in der man sich allein »aus dem Land« ernähren könnte. Mutter Erde, so die einfältige Annahme, kümmere sich schon irgendwie um die Kinder, die an ihren Busen zurückkehren wollen. An dieser menschenfreundlichen Version der last frontier brauche man neben einem Gewehr nur einen unbändigen Willen. Wichtig, so der positiv denkende McCandless, sei die richtige Einstellung, dann komme man schon mit allem klar. Ob nun mit oder gegen die Natur – diese Fallgeschichte zeigt in extremis, wes Geistes Kind viele der gegenwärtigen Selbsterfahrungsapostel sind. Sie huldigen einer radikalen Hybris, die sich nicht auf körperliche, sondern auf geistige Überlegenheit stützt. Ökologiebewußtsein und Fortschrittsskepsis sind dann nur wohlfeile Gesinnungsaccessoires, die das Pathos vom Übermenschen übertünchen. Es scheint so, als ob 91
sich nichts, aber auch gar nichts geändert hätte im Laufe des 20. Jahrhunderts. Im Eis wird eben nicht ein Irrtum nach dem anderen auf Eis gelegt, wie es Nietzsche vorschwebte, sondern jeder Irrtum wird aufs neue begangen, und jedes Ideal muß aufs neue widerlegt werden. Von allein tritt dort nur der Tod ein. Das Eis nimmt einem das Denken nicht ab. Das weiß auch Hans Castorp, dem Thomas Mann die Erkenntnis nahelegt, »daß er kein Recht hatte auf große Worte und Gebärden, da Herausforderung sein Teil gewesen und alle Bedenklichkeiten der Lage auf seine eigene Rechnung kamen«. Doch um Erkenntnis geht es Aussteigern wie Mc-Candless im Grunde nicht. In der Regel brechen sie schon mit vorgefaßten Urteilen von sich und der Welt auf, die sie in der Wildnis lediglich bestätigt sehen wollen. Diese vorgefaßten Urteile gehen auf Fiktionen zurück, die nirgendwo so langlebig sind wie in Texten über die Polarregionen. Die Aufzeichnungen von McCandless und Krakauers Rekonstruktion enthalten ebenso wie die meisten Eisromane ein Sammelsurium von Zitaten, Motti und Bezügen. Sie sind Ergebnis selektiver Lektüren, die schon vorab die weißen Schneeflächen mit literarischen Landmarken und Wegweisern bedecken. Geistig ist die Terra incognita also längst in Besitz genommen. Wer über das Eis schreibt, steht genauso unter der »Aufsicht alles bisher Geschriebenen«, wie es Botho Strauß in Paare, Passanten (1981) für die Gesamtheit aller Texte beklagt. Strauß schickt seinem berühmt gewordenen Diktum jedoch die Folgerung hinterher: »Man schreibt aber doch auch, um sich nach und nach eine geistige Heimat zu schaffen, wo man eine natürliche nicht mehr besitzt.« Rein äußerlich scheinen die Polarregionen diese Aneignung einer geistigen Heimat zu befördern. Wie gesagt: Im Eis klärt sich der Blick. Fragt sich nur, in welcher Weise man sich von den Kälte-Fiktionen, die uns in den letzten Kapiteln so zahlreich begegnet sind, beeinflussen läßt: Fiktionen lassen sich bruchlos übernehmen und als illustrativer Effekt benutzen (das haben wir 92
am Beispiel der Fiktion vom Eis-Paradies oder vom Weltwinter gesehen). Oder sie lassen sich konstruktiv – wahlweise auch dekonstruktiv – reflektieren. Die Hauptfigur in dem Roman Nie mehr schlafen (1966; neu aufgelegt 1999) von Willem Frederik Hermans durchläuft einen solchen Reflexionsprozeß. Ein junger Geologe fährt in die norwegische Finnmark, um Beweise für eine spektakuläre Meteoritentheorie zu finden. Die Expedition gerät jedoch zur Irrfahrt. Der ehrgeizige Forscher, der nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Eltern und damit der Gesellschaft etwas beweisen will, verliert seinen Kompaß und entgeht knapp dem Tod. »Den Stein der Weisen, oder wenigstens ein Mineral, das nach mir benannt wird«, findet er nicht, nur die Leiche seines von einem Felshang abgestürzten Freundes. Die Ausprägung von Wissenschaft als »der titanische Versuch des menschlichen Intellekts, sich aus seiner kosmischen Isolation durch Verstehen zu befreien« (so die Wissenschaftsfiktion am Anfang des Romans) erweist sich damit ausnahmslos als nichtig und leer. »Niemand kann mit seinem Leben experimentieren. Niemand braucht sich vorzuwerfen, daß er im dunkeln tappt.«
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Edle Eskimos Die »großen Probleme« der Wissenschaft sind in Hermans’ Roman folgende: »Woher kommt unser Planet? Was ist seine Zukunft? Gehen wir einer neuen Eiszeit entgegen, oder werden einmal Datteln am Südpol wachsen?« Cecilie Engers NordkapHeldin hat es noch etwas dramatischer. Sie denkt an die verrosteten Atom-U-Boote der ehemaligen UdSSR, aus denen Atommüll sickert, und daran, »daß der Jüngste Tag gekommen ist, wenn die Pole schmelzen, während sich dort, wo sich früher funkelnde Berge aus blauem Eis befunden haben, die Touristenhotels ausbreiten.« Klimamodelle haben auch gegenwärtig wieder Hochkonjunktur. Anscheinend mehren sich die Anzeichen für eine Erwärmung respektive Erkaltung der Erde mit Vorliebe vor einer Jahrhundertwende. Dann genügen schon ein paar strenge Winter beziehungsweise heiße Sommer, um eine Flut emotional eingefärbter Prognosen auszulösen. Als gesichert gilt nur, daß wir in einer Zwischeneiszeit leben und die letzte Eiszeit vor etwa 20000 Jahren ihren Höhepunkt erreicht hat. Für eine demnächst hereinbrechende Eiszeit spricht nach dem jetzigen Kenntnisstand nichts. Erst in ungefähr 50000 Jahren, vielleicht aber schon in 20000 bis 30000 Jahren, ist mit einer erneuten Vereisung zu rechnen. Voraussagen über die nähere Zukunft, die zum Beispiel von einem verstärkten Abschmelzen der Polkappen ausgehen, lassen sich empirisch schwer belegen. Das liegt daran, daß es erst seit einigen Jahrzehnten zuverlässiges Datenmaterial über die Polarregionen gibt. Messungen der Eisdicke, Wassertemperatur, Drift- und Strömungsstärke etc. wurden zwar schon früher vorgenommen, umfaßten aber nur geringe Zeiträume in wenigen ausgewählten 94
Gebieten. Die Beobachtungen der letzten 20 Jahre ergeben folgendes Bild: Die Schneebedeckung in Amerika und Eurasien scheint abzunehmen. Zugleich wird die Decke der Meereisfläche dünner. In den letzten 20 Jahren schrumpfte der Eisanteil in der Arktis um 2,9 %, während das Inlandeis der Antarktis jedoch um 1,3 % zunahm. Die Datenbasis ist also sehr schmal. Fest steht nur, daß die Eismenge an den Polen (Inlandeis + Meereis) variabel ist und derzeit eher ab- als zunimmt. Diese Veränderungen werden häufig auf die globale Erwärmung zurückgeführt, die unter anderem durch die Zerstörung der Ozonschicht bedingt sei. Diese Annahme entstand in den 80er Jahren, als das Ozonloch über der Antarktis entdeckt wurde. Damals traf die alarmierte Fachwelt drastische Voraussagen: Schon in Kürze würde der sogenannte Treibhauseffekt die Polkappen vollständig zum Abschmelzen bringen – mit katastrophalen Folgen in Form einer neuen Sintflut. Die Abnahme der Eismenge hat jedoch auch langfristige geound astrophysische Gründe: Die Rotationsachse der Erde verändert ihre Neigung, die Ellipse der Erdbahn verändert ihre Exzentrizität, die Lage der Ellipse im Raum rotiert. Hinzu kommt der Einfluß von Meeresströmungen wie dem Nordatlantikstrom, dem verlängerten Arm des Golfstroms. Inzwischen ist der Treibhauseffekt ebenso umstritten wie das Abschmelzen der Pole. Hier ist nicht der Ort für klimatologische Diskussionen. Nur soviel: Einerseits liegt die Vermutung nahe, daß Katastrophentheorien von globaler Erwärmung und Überschwemmung zu einem gewissen Teil kollektiven Ängsten entspringen, die auf die Umwelt projiziert werden. Andererseits ist die Abnahme der Ozonkonzentration eine unbestrittene Tatsache. Überdies bieten die jüngsten Zweifel am Treibhauseffekt der FCKW-Produktion und den angeschlossenen Industrien ein willkommenes Alibi, um die 95
internationalen Vereinbarungen über die Einstellung der Produktion von Halogenkohlenwasserstoffen in Frage zu stellen. Wie auch immer: Weitreichende Maßnahmen zum Umweltschutz sind auch dann vonnöten, wenn der Treibhauseffekt nicht eintritt. Das zeigen schon andere Probleme in den Polarregionen. Von giftigen industriellen Abfallstoffen, die durch Wind und Meeresströmung in die Arktis getrieben werden und dort in die Nahrungskette gelangen, haben wir schon gehört. Auch der Atommüll von russischen Atom-U-Booten, die als ökologische Zeitbomben in den Häfen verrotten, ist traurige Realität; ebenso das radioaktive Jod und Cäsium, das von Atomkraftwerken wie Sellafield über den Golfstrom in den hohen Norden gelangt. Betroffen ist neben der bedrohten Tierwelt vor allem die indigene Bevölkerung. Über dreißig unterschiedliche Völker sind in den Tundren und Küstengebieten der Arktis zuhause. Dazu gehören die Inuit, wie sich die Eskimos selber nennen, Indianer, Samen, Samojeden, Jakuten, Nenzen, Korjaken und Tschuktschen. Ein ethnologisches Interesse an »Kulturen, die der Kälte trotzen« (Titel einer GEO-Reportage) erwachte erst im 20. Jahrhundert. Forscher wie Knud Rasmussen lebten mit den arktischen Völkern und erlernten ihre Lebensweise. 1922 drehte Robert Flaherty den Dokumentarfilm Nanuk der Eskimo, der die Inuit erstmals einem breiten Publikum in Europa und Nordamerika nahebrachte. Zuvor hatten die Weißen größtenteils nur Verachtung für die »schmutzigen Wilden« übrig. Manchmal wurden Inuit sogar als Kuriositäten an die Fürstenhöfe Europas verschleppt. Noch im Jahre 1910 nahm Robert Peary einige seiner Inuit-Reisebegleiter mit nach New York. Seine Frau Josephine nannte sie »unsere Huskies«. An dieser Diskriminierung hat sich lange Zeit wenig geändert. Nationen wie die USA, Kanada, die UdSSR und Dänemark verfolgten in den Polarregionen eine klassische Kolonialpolitik, die auf wirtschaftliche Ausbeutung und die Erweiterung ihres 96
geostrategischen Machtbereichs gerichtet war. Nach den Pelzhändlern, die an Fuchs-, Robben- und Eisbärfellen interessiert waren, kamen Rohstoffkonzerne, die Erdölförderung und Erzabbau in großem Umfang betrieben. Wie bei der Kolonisierung Schwarzafrikas wußte in der westlichen Welt kaum jemand, was an den Vorposten des Fortschritts geschah. Die Polarregionen waren ein Spielplatz nicht nur für die Abenteurer des heroischen Zeitalters, sondern auch für die sogenannten Pioniere der Hudson Bay Company und der christlichen Mission. Kriminelle, die sich dem Zugriff der Staatsgewalt entziehen wollten, konnten hier buchstäblich Zuflucht suchen. So hauste ein norwegischer Nazi aus Bergen direkt nach dem Krieg auf der Bäreninsel, die zu Spitzbergen gehört, und baute in einem verfallenen Bergwerk Kohle ab. Als Lieferant war er von der örtlichen Radio- und Wetterstation geduldet, als Gast jedoch unerwünscht. »Irgendwann«, schreibt Andreas Umbreit in seinem glänzend recherchierten Spitzbergen-Handbuch (1996), »fanden Stationsangehörige sein Ruderboot am Ufer gestrandet, der Bergenser wurde nie wieder gefunden.« Diese reale Begebenheit erinnert an einen Abschnitt aus Paare, Passanten. Botho Strauß erzählt dort von einem »ungefügten Ort« an der Nordküste von Island, »herausgerissen aus der Weltvernetzung […], den es heimlich zu noch größerer Entlegenheit, noch höherem, aufzehrendem Norden hinzieht. […] Hierher nach getaner Untat, nach einem Raub, nach einem schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit?« Die Verbrechen, die an den Polarvölkern begangen wurden, dringen seit den 70er Jahren an die Öffentlichkeit. Der Kanadier Farley Mowat ergreift in dem Buch Der Schneewanderer (1977) Partei für eine Inuit-Gemeinschaft, die von der kanadischen Regierung auf rücksichtslose Weise umgesiedelt und dem Hungertod ausgeliefert wurde. In Mowats dokumentarischen Geschichten mischt sich Realismus mit Idealismus. Denn hinter dem aufklärerischen Bemühen, den Leidensweg eines 97
unterdrückten Volkes nachzuzeichnen, ist das Bild vom »edlen Wilden« erkennbar. »Die Menschen im Norden sind glücklich. […] Der Schnee ist ihr Freund. Ohne ihn wären sie umgekommen, oder – was von ihrem Gesichtspunkt aus fast noch schlimmer ist – sie wären längst gen Süden getrieben worden, um sich uns in unserer fieberhaften Hetzjagd anzuschließen, deren Ziel wir nicht einmal kennen.« Greenpeace-Literatur nennt man diese engagierte Form der Zivilisationskritik, der wir im Bezug auf die Polarregionen auch bei Kenneth White (Der blaue Weg, 1984), Julie Harris (Der lange Winter am Ende der Welt, und Joan Clark (Der Triumph der Geraldine Gull 1997) begegnen. All diesen Erzählungen und Romanen ist das Ideal eines vorbürgerlichen Menschentypus gemein, der noch sensibilisiert sei für ein Leben im Einklang mit der Natur. Als ob sie das Leid wiedergutmachen müßten, das den Polarvölkern zugefügt wurde, machen Autoren wie Mowat die Inuit zu besseren Menschen. Diese seien noch nicht von sich selbst und der Umwelt entfremdet. Sie verfügten über soziale Kompetenzen, die uns längst verlorengegangen seien. Von sich aus praktizierten sie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, was sich zum Beispiel im Kollektiveigentum widerspiegele. Ihre Überlebenstechniken, die sie durch den Einfluß der Weißen zunehmend verlernten, machten sie uns überlegen. Schon Roald Amundsen schrieb in seinen Memoiren, daß seine eigenen Reisen und Entdeckertaten vor den »alltäglichen Entbehrungen der Nordvölker« verblaßten. Und der weniger bekannte Aage Gilberg betitelte ein Stück seiner Familiengeschichte folgendermaßen: Mit Lisbet nach Thule. Eine Hochzeitsreise zu den ganz guten Menschen ( 1942). Nach Darwin und Nietzsche, Jaspers, Jünger und Heidegger jetzt Rousseau, der ja auch am Idealbild des Menschen herummodelliert hat. Die berechtigte Kritik an den Begleiterscheinungen der Moderne, an Kolonialismus und 98
Kapitalismus, verliert dadurch an Glaubwürdigkeit. Sie wird zur Kolportage wie Høegs Fräulein Smilla, die als Gletscherforscherin das Wissen der grönländischen Inuit und das der westlichen Welt in sich vereinigt. Smilla weiß allerdings auch den klugen Satz: »Jeder Versuch, die Kulturen nebeneinanderzustellen, um zu bestimmen, welche davon am höchsten entwickelt ist, führt immer nur dazu, daß die westliche Kultur noch einen weiteren beschissenen Versuch unternimmt, den Haß auf ihre eigenen Schatten auf andere zu projizieren.« Die indigene Bevölkerung der Polarregionen muß die Schuldkomplexe der Zivilisationsflüchtlinge nicht mit sich herumschleppen. Deswegen haben die Schriftsteller der Polarvölker ein anderes Bild vom Leben im ewigen Eis und vermitteln es meist auch anders. Ihre Geschichten tragen sich nicht am Ende der Welt zu, auch wenn es aus unserer Perspektive so aussieht. Sie handeln nicht von Entdeckungsreisen, Fluchtreflexen, Selbsterfahrungstrips, sondern spielen in einer heimatlichen Lebenswelt, die nicht allein durch den Antagonismus zur westlichen Zivilisation definiert ist. In der Literatur der Polarvölker ist vor allem die gleichnishafte Nacherzählung von Legenden verbreitet. Velma Wallis (geb. 1960), eine Athabaska-Indianerin aus Alaska, verfaßt solche Geschichten, die in ferner Vergangenheit spielen (Zwei alte Frauen, 1994; Das Vogelmädchen und der Mann, der der Sonne folgte, 1998). Wallis’ Figuren lehnen sich gegen das Gesetz der Stärke auf, das in der Wildnis jeden Ansatz einer aufgeklärten Ethik blockiert. Da werden zum Beispiel zwei alte Frauen von ihrem eigenen Stamm ausgesetzt, weil die ausgehungerten Indianer nicht mehr für Greisinnen sorgen wollen – Euthanasie in der Wildnis. Die Alten aktivieren vergessene Fähigkeiten und schaffen es zu überleben. Dabei entwickeln sie ein Bewußtsein für Toleranz und Humanität, das am Ende auch ihrem Stamm 99
zugute kommt. Als sich ihre Wege erneut kreuzen, helfen die beiden Ausgestoßenen ihren treulosen Angehörigen mit Vorräten durch den Winter. Der Stamm hat seine moralische Lektion gelernt: »Nie wieder ließ die Gruppe irgendeines ihrer alten Mitglieder im Stich.« Diese »Legende von Verrat und Tapferkeit« ist zwar volkspädagogisch und ein bißchen kitschig erzählt, enthält aber zwei wichtige Gesichtspunkte: Wallis stellt ihre indianischen Vorfahren als Menschen mit Stärken und Schwächen dar. Selbst die beiden Greisinnen werden nicht zu altersweisen Matriarchinnen überhöht, sondern kritisch und differenziert beschrieben. Wallis geht es nicht um ein bestimmtes Menschenbild, sondern um die düsteren sozialen Auswirkungen einer Hungersnot. Die Indianer kommen dabei nicht besonders gut weg, weshalb das Buch nur gegen den Widerstand der großen Indianerverbände publiziert werden konnte. Offenbar ist der Hang zu einer heroisierenden Umdeutung der Vergangenheit auch bei »edlen Wilden« anzutreffen, die sich für Aufklärung und Erinnerungsarbeit stark machen. Gutmenschen scheinen überall über die Objektivität zu stolpern, die sie zu vertreten vorgeben. Darüber hinaus wendet sich Wallis gegen die Mär von Abhärtung und natürlicher Selektion, die Polarfahrer wie Roald Amundsen mit den »alltäglichen Entbehrungen der Nordvölker« verbinden. In Zwei alte Frauen schärft das erfolgreiche Bestehen des Überlebenskampfes die Sinne weniger für einen sozialdarwinistischen struggle for life, sondern für ein verantwortungsvolles, mitmenschliches Zusammenleben. Die Polarregionen dienen dabei nicht als nietzscheanisches Fitneßstudio, wo einem der Humanismus ein für allemal ausgetrieben wird. Vielmehr läßt sich dort ethisches Handeln ex negativo einüben. Das Wort von der Solidargemeinschaft – hier macht es ausnahmsweise einmal Sinn. Die Gemeinschaft ist in Wallis’ Roman keine selbstgewählte oder beliebig abrufbare. 100
Sie ist kein Nebenprodukt, das auf dem Weg zu höherem Ruhm anfällt, sondern ein Abbild der condition humaine schlechthin. Seit 1971 treten die amerikanischen Inuit erfolgreich für ihre Rechte ein. Sie erreichten Entschädigungsund Ausgleichszahlungen, wirtschaftliche Beteiligungen an Bodenschätzen, politische Mitbestimmung und gesellschaftliche Gleichberechtigung. Davon sind die Polarvölker auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR jedoch noch weit entfernt. So hat sich das Tschuktschen-Gebiet, das im äußersten Nordosten Sibiriens liegt, zwar 1990 für souverän erklärt. An den Machtstrukturen mit einer russischen Führungsschicht und geringer politischer Präsenz der Tschuktschen hat sich jedoch ebensowenig geändert wie an den Folgen der kolonialen Vergangenheit. Der tschuktschische Schriftsteller Juri Rytchëu geht in seinen Büchern mit der Russifizierung und den Altlasten der Sowjetherrschaft ins Gericht. Vor allem der Roman Unna (1997) macht deutlich, daß sich die sozialistische Geschichtstheorie von der westlichen Fortschritts- und Überlegenheitsideologie kaum unterscheidet. In der UdSSR hatten die Tschuktschen den Status einer Urgesellschaft, der man das Licht der Revolution bringen müsse. Im marxistischen Sinne standen die Polarvölker also am Anfang der ökonomischen Gesellschaftsformation, die über Gentilordnung, Sklavenhaltergesellschaft und Feudalismus zum Kapitalismus geführt hat und vom Sozialismus abgelöst wurde (oder dereinst werde). Seit den 30er Jahren betrieben die Sowjets die »Verschmelzung nationaler Einzelkulturen«, 1964 abgemildert zur »Annäherung der sozialistischen Völker«. Im TschuktschenGebiet (Tschukotka), das bis 1987 militärische Sperrzone war, sah diese Kolonialpolitik folgendermaßen aus: Im Zuge der Enteignung ruinierten die russischen Parteibürokraten die Rentierzucht und entzogen der Seewirtschaft mit industriellen Fangmethoden ihre Grundlage. Sie lösten »perspektivlose« 101
Siedlungen der Tschuktschen auf und pferchten ihre Bewohner in Plattenbauten zusammen. Sie reduzierten die Zahl der tschuktschischen Lehrbücher und bestraften Kinder in den Kindergärten, wenn sie ihre Muttersprache verwendeten. An der Politik konnten sich nur indoktrinierte »Muster«-Tschuktschen beteiligen, die ihre Kultur und Lebensweise aufgaben. Rytchëu zeigt das an der titelgebenden Romanfigur: Die Tschuktschin Unna läßt sich für eine Parteikarriere einspannen und verleugnet sowohl ihren Vater als auch ihren jüdischen Geliebten. Schließlich zerbricht sie an ihrer Schwäche und an dem oppressiven System, zu dessen Handlanger sie geworden ist. Am gleichen Tag, an dem auch der greise Leonid Breschnew stirbt, begeht sie Selbstmord. Unna ist Rytchëus realistischster Roman. Doch auch in den Mythen und Legenden, die er als Parabeln widergibt, stellt er die Tschuktschen nicht stereotyp als »die Guten« dar. Mit seinen zwiespältigen, manchmal auch bösartigen Figuren zeigt er vielmehr, »daß es auch bei uns Diebe und Lumpen und jegliche Art sonstigen Abschaums gibt – nicht besser und nicht schlechter als in einem beliebigen anderen Volk«. In dem Roman Traum im Polarnebel (1991) führt Rytchëu exemplarisch vor, wie ein kanadischer Polarforscher vom Saulus zum Paulus wird. Dieser schießt nach seiner anfänglichen Geringschätzung für die Tschuktschen über das Ziel hinaus und verklärt sie zu »richtigen Menschen«, die sich »beste menschliche Eigenschaften« bewahrt hätten. Doch genauso wie sich seine hochfliegenden Forscherpläne zerschlagen, muß er sein Wunschbild von einem Leben »ohne die Sorgen und Komplikationen der zivilisierten Welt« revidieren: In einem harten Winter stirbt seine zweijährige Tochter. Das Leben im Einklang mit der Natur fordert seinen Tribut. Heute haben Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und soziales Elend die existenziellen Nöte früherer Zeit abgelöst. Neben den Folgen von Kulturimperialismus und jahrzehntelanger 102
Mißwirtschaft ist der Alkoholismus das größte Problem der Tschuktschen. Fast alle Polarvölker sind davon betroffen, unter anderem auch die grönländischen Inuit, nachzulesen bei Peter Høeg, Libuše Moníková (Treibeis, 1992) und J. Bernlef (Zwischen Eisbergen, 1993). Alkohol spielt auch in den Grönland-Erzählungen des Dänen Jørn Riel (Das Haus meiner Väter, 1999) eine zentrale Rolle – mit dem Unterschied, daß Riel ein anderes Ziel als seine politisch engagierten Kollegen verfolgt. Sein fröhlich fabuliertes Garn, das er Bären- und Robbenjägern abgelauscht hat, ist ironisch gefiltert. Er erzählt von abenteuerlichen Amputationen, verrückten Selbstverstümmelungen und zermürbenden Zahnextraktionen; von einem falschen Priester, der die Ureinwohner mit Hilfe eines aufblasbaren Tempels missionieren will; von einem umherreisenden Koch, der für sein Buch Mahlzeit der Menschheit Eskimo-Rezepte sammelt und von einem Bären angeknabbert wird; oder von einem gestrandeten Anthropologen, der einen Erzfund im Fjord versenkt, damit in Grönland kein Goldrausch ausbricht. Irgendwann packt sie dort oben alle der Polarkoller. Dann fließen Ströme von selbstgebranntem Schnaps, der hier »Schwarzer Tod« heißt und seinen Konsumenten die schönsten Delirien beschert. Oder die Inuit feiern ein alkoholfreies Fest, mit dem sie »das Erste von etwas« begehen, zum Beispiel den ersten Seidenschlüpfer, den ein Inuit-Mädchen geschenkt bekommt. Das Zusammenleben ist von einer pragmatischen, nicht immer philanthropischen Ethik geprägt. Ganz oben steht auch bei Riel die Toleranz: »Man soll sich ja nicht zu sehr in die Freiheit des andern einmischen.« In diesen Erzählungen schwingt die Vorahnung mit, daß das Leben »außerhalb aller Grenzen« nicht von Dauer ist. Es sind Fluchtgeschichten, die dem Aussteigertum eine augenzwinkernde Sympathie entgegenbringen. Zugleich legen sie jedoch nahe, daß dieses Leben auf lange Sicht nur wenig intellektuelle Befriedigung bereithält. 103
Das gleiche könnte man von weiten Teilen der Ethno-Literatur sagen, die seit den 70er Jahren populär geworden und uns jetzt in einigen Beispielen begegnet ist. Neben dem aufklärerischen Anspruch, uns mit den Mißständen und Emanzipationsbewegungen in fernen Ländern vertraut zu machen, erfüllt sie Sehnsuchtphantasien von Freiheit, Ursprünglichkeit und intakter Natur. Das ist selbst bei Juri Rytchëu so. Während er sich skeptisch über die Perspektiven seines Volkes äußert, zeichnet er in seinen Naturbeschreibungen das Bild eines kargen, modernistisch ausgeräumten Idylls: »Das Meer glitzerte unter der Sonne und warf Lichtflecke auf niedrig fliegende Vogelschwärme. Je näher der Jäger kam, desto deutlicher spürte er den gewaltigen Atem des Ozeans. Vom offenen Wasser wehte ihm mit frischem Duft die Erinnerung an den vorjährigen Sommer zu, als die Wellen lange Schlingen von Seetang ans Ufer warfen. Das Wasser hob und senkte sich, als atme eine riesige, bis zum Horizont sich erstreckende Brust. Nur wo Himmel und Wasser einander berührten, schwammen Wolken, vielleicht auch Eisschollen.« Siegfried Lenz hat das folkloristische Interesse an den Polarvölkern in seiner Satire »Die Lampen der Eskimos oder Die Leiden eines Spezialisten« (1959) karikiert. Darin stellt ein Grönlandforscher die Hypothese auf, daß »es zwischen 1789 und 1812 einen allgemeinen Verfall in der Lampenkultur bei den Torngasuks gegeben haben muß«. Sechzehn Jahre wendet der Wissenschaftler auf, um in Hamburg ein Institut zu gründen, Mitarbeiter heranzuziehen und einschlägige Literatur über die Lampen und Dochte der Torngasuk-Eskimos zu verfassen. Seine Forschungen beruhen jedoch lediglich auf Exponaten, die er über einen Mittelsmann in Ostgrönland »auf Dollarbasis« bezogen hat. Schließlich reist er selber nach Grönland, um seine Hypothese vor Ort zu überprüfen. Dort muß er feststellen, daß seine umfangreiche historische Lampen- und Dochtsammlung in Wirklichkeit von geschickten Eskimo-Mädchen in Heimarbeit 104
hergestellt wurde. »Ich sah, wußte und sah, wohin der Etat meines Instituts gewandert war.« Solange sie nur einigermaßen plausibel erscheinen, schenken wir den Fiktionen, die uns von den Rändern der Welt erreichen, zunächst einmal Glauben. Als noch begründete Ängste vor einem Atomkrieg bestanden, nahm man zum Beispiel an, daß die Staubwolke atomarer Explosionen eine neue Eiszeit auslösen würde, einen »Atomwinter«, wie es in Høegs Smilla-Roman heißt. Die Science-Fiction-Literatur griff diese Vermutung in zahlreichen Endzeitszenarien auf (Robert Silverberg, Die Stadt unter dem Eis, 1964; Michel Moorcock, Eiszeit 4000, 1969; Richard Hey, Im Jahr 95 nach Hiroshima, 1982). Nach dem Bekanntwerden der Ozonlöcher änderte sich das Vorzeichen: Überflutungsgeschichten wie in dem Film Waterworld kamen in Mode – eine Zukunftsvision, wofür die Wassermenge der Erde übrigens bei weitem nicht ausreicht. Wie schnell jedoch aus Fiktion Wirklichkeit werden kann, zeigen die Dreharbeiten zu dem Kalter-Krieg-Thriller Eisstation Zebra (1967), der nach einem Roman von Alistair MacLean entstanden ist: In einem riesigen Studiogelände wurden tonnenweise Kaolin und gemahlener Marmor verstreut, um Schnee und Eis zu simulieren. Als die Schauspieler dann zu den ersten Szenen unter der kalifornischen Sonne Hollywoods antraten, wurden einige schon nach kurzer Zeit schneeblind. Die Produktionsgesellschaft gab Schneebrillen aus.
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Alles wär’ so klar »Ich möchte ein Eisbär sein, im kalten Polar. Dann müßte ich nie mehr schrei’n – alles war’ so klar.« Die Neue-DeutscheWelle-Band »Grauzone« brachte diesen Song Anfang der 80er Jahre heraus. Etwa um die gleiche Zeit intonierte Inga Humpe von der Gruppe »Ideal« ihr emotionsloses: »Eiszeit, mit mir beginnt die Eiszeit, minus 90 Grad.« Beide Lieder sind wohl als Abstoßungsreflex auf die Machtübernahme durch Helmut Kohl 1983, aber auch auf die gesinnungsästhetische Lufthoheit der 68er und allgemein als Widerstand gegen die Mißachtung der nachrückenden Generation zu interpretieren. Eiszeit herrschte in den 80ern in der Tat für all jene, die vom gesellschaftlichen Konsens abwichen. Und der schloß vor allem diejenigen aus, die sich den einfallslosen Zukunftsentwürfen der politischen Linken und Rechten nicht anschließen wollten und nicht mehr wußten, wo es denn langgeht in einer Zeit, da der Stillstand der Geschichte zum common sense geworden war. Ich möchte kein Eisbär sein. Allerdings gebe ich gerne zu, daß ich mich nach wie vor angezogen fühle von Arktis und Antarktis. Weshalb hätte ich sonst ein »Billy«-Regal mit Literatur über Schnee und Eis vollstehen? Aber: Ich habe von dem Zeug nur eine Regalreihe mit Gewinn gelesen. Einerseits rühren mich poetische Naturbeschreibungen. Mich fasziniert die Ambivalenz von Schönheit und Schrecken, von Wahrheit und Fiktion. Kälte, Weite, Weiß – das setzt ganz einfach Phantasien frei. Einige davon sind durchaus in der Lage, unsere komplexe Wirklichkeit aus der Ferne zu beleuchten – und dafür dürfen sie ruhig auch unterhaltend sein. Doch die Mehrzahl ist schrecklich überspannt, naiv und dogmatisch. Ich bestreite, daß sich im Eis höhere Erkenntnisse erlangen oder entsprechende Ersatzhandlungen 106
vollziehen lassen. Dazu braucht es keine Flucht ins Eis. Jeder Gedanke, der einen in den Polarregionen anweht, kann auch woanders gedacht werden. Eine Reklame der Bekleidungsfirma Lands’ End® lautet wie folgt: »Möchten Sie unseren Squall-Parka für den Nordpol? Oder für die Stadt?« – Antwort: »Wieso eigentlich oder? Ob Nordpol-Expedition oder City-Bummel, das ist unserem Squall®-Parka ziemlich egal.« Die Werbeleute haben verstanden: Längst geht es nicht mehr darum, den Fuß auf einen besonders abgelegenen Punkt des Planeten zu setzen, an dem es ziemlich oft stürmt und die Sicht nur ein paar Meter beträgt. Es geht darum, daß man in einem Squall®-Parka zum Nordpol gehen könnte – wenn man nur wollte. Die Vorstellung davon reicht schon aus: das Gefühl von Abenteuer, Ungebundenheit etc., das so eine High-Tech-Jacke vermitteln will. Der Wunsch nach Abenteuer braucht gar nicht eingelöst zu werden. Die Fiktion davon genügt allemal. Mein Rat: Begeben Sie sich direkt in den Ohrensessel. Gehen Sie nicht über den Pol. Ziehen Sie keine Selbsterfahrungen ein, die nur das wiedergeben, was Sie ohnehin schon über sich und die Welt zu wissen meinen. Im Ohrensessel erfährt man mehr über den Menschen und die Natur, als uns Adrenalinschübe und Frostbeulen vermitteln können. Heroismus und Nihilismus, Aufklärung und Romantik stellen sich dort als das dar, was sie sind: als Versuche, die Welt zu erklären. Der Kälte-Diskurs enthält viele geistesgeschichtliche und zugleich lebenspraktische Elemente, die uns wichtig erscheinen. Eine unabdingbare Voraussetzung für Reflexionen über unser Dasein ist das »ImEise-Leben« aber nicht. Ingomar von Kieseritzky, ein veritabler Anti-Chatwin, fällt in seiner Erzählung »Von der Wollust des Reisens und abenteuerlichen Ruhekuren« (1996) ein ultimatives Urteil: »Die meisten Orte auf diesem Planeten müßte es eigentlich gar nicht geben, man kann sie getrost sich selbst überlassen, da sind sie 107
am besten aufgehoben.« Und Fernando Pessoa, der auch nicht am Nordpol war, dichtete: »Reisen? Existieren ist reisen genug.« Wer sich trotzdem vor Ort von der schönen Kälte überzeugen möchte, kann dies in einem schwedischen Eishotel am Polarkreis tun. Alles besteht dort aus Eis: Wände, Decken, Türen, das Mobiliar, sogar der Kristallüster in der Hotelbar und natürlich auch das Eis im Wodka-Cocktail, den man aus gefrorenen Bechern trinken kann. Das ist im Wortsinn »cool«, aber nicht lange, weil der Mumienschlafsack bald anziehender ist als die abweisende weiße Pracht. Bleibt noch die letzte touristische Herausforderung: Im Jahre 2001 wird es gegen ein entsprechend hohes Entgelt möglich sein, den Nordpol dort zu besichtigen, wo noch nie zuvor ein Mensch gewesen ist: vier Kilometer unter dem Polarmeeresspiegel. Von einem Tauchboot aus kann man dann nachprüfen, ob dort unten die Erdachse nicht doch aus dem Globus ragt. Was werden wir wohl von dieser Reise in die Nacht mitgeteilt bekommen? Daß es kalt und dunkel ist und dann und wann ein weißer Krebs vorüberschwebt? Das haben wir uns schon gedacht.
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Danksagung Mein Dank gilt den Freunden, Bekannten und Kollegen, ohne deren Anregungen ich das Material für dieses Buch nicht hätte zusammentragen können. Großen Dank schulde ich Philipp Bergmann für wertvolle Hilfe in Wort und Tat. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Michael Klein und Franz Loquai, mit denen ich mein Interesse für Polarliteratur teile. Für nützliche Hinweise, stete Unterstützung und ein offenes Ohr danke ich: Ulrich Baron, Norbert Blank, Zora del Buono, Gerald Hiltensberger, Willi Huntemann, Christine Kanz, Maria Klaner, Günther Oltsch und Hannes Stein. Dank gebührt meiner Lektorin Annette C. Anton für ihr spontanes Interesse an dem Thema. Und ganz besonderer Dank gilt Conny und Ida.
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