TERRA ASTRA 95
Esper des Todes von Peter Terrid
Arsan Ganew - Der Esper des Todes.
Maryvonne - Ein mutiges Mädchen
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TERRA ASTRA 95
Esper des Todes von Peter Terrid
Arsan Ganew - Der Esper des Todes.
Maryvonne - Ein mutiges Mädchen
Stuart Carmody - Ein junger Anwalt.
Kenneth Foissy und Myron Heatherton
Präsidentschaftskandidaten der Solaren Union.
Miguel-Joaquin Perez - Ein Schmugglerkönig.
1. „Leitstelle an Raumfähre Titan: Landen Sie auf Feld vierzehn. Passen Sie auf - neben Ihnen wird ein Schwertransporter starten; Sie werden etwas durch geschüttelt werden!“ Die Stimme von Arsan Ganew klang wie immer: ruhig und monoton, fast einschläfernd. „Titan an Leitstelle: Wir haben verstanden! Landung auf Feld vierzehn. Danke für den Hinweis! Ende!“ Der Funker der Raumfähre mühte sich, Arsans Tonfall nachzuahmen. Es gelang ihm recht gut - das Phlegma war nicht zu überhören. Arsan nahm diese gutmütige Spöttelei gleichgültig hin - Gleichgültigkeit war ein hervor stechender Charakterzug an ihm. Er zündete sich eine Zigarette an und sah hinaus auf den Raumhafen; der Betrieb flaute langsam ab. In wenigen Stunden würde die Nacht über die Wüsten New-Mexikos hereinbrechen, dann wurde der Flugbetrieb vollstän dig eingestellt. Schweigend sah der Mann zu, wie computergesteuerte Stap ler die Raumschiffe von ihrer Fracht befreiten oder neu beluden. Der Um schlag des Hafens war nicht sonderlich groß. In der Hauptsache handelte es sich um Gebrauchsgüter, die einstweilen auf den Mars- und Mondsiedlun gen noch nicht selbst produziert werden konnten. Mehr als fünf Millionen Menschen lebten inzwischen auf dem irdischen Mond, besser gesagt in ihm, -1
denn nur die sublunaren Höhlen und Kunststädte boten ausreichenden Schutz gegen Meteoriteneinfall und die kosmische Strahlung. Ungefähr halb so groß waren die Siedlungen auf dem Mars; dort wurden die Städte unter riesigen Traglufthallen errichtet, in denen die Luftzusammensetzung irdi schen Normen entsprach und ein Leben erst ermöglichte. „Mister Ganew bitte zum Chef!“ ertönte eine weibliche Stimme; sie kam aus dem Lautsprecher über Arsans Kopf. „In den nächsten fünf Minuten, wenn möglich!“ Arsan hatte die Durchsage zur Kenntnis genommen; schweigend drückte er die Zigarette aus und verließ den Raum, ohne sich um die teils fragenden, teils erleichterten Blicke der anderen Männer in der Leitstelle zu kümmern. Er ahnte, was ihn erwartete. „Bitte, gedulden Sie sich noch ein wenig!“ bat das Mädchen im Vorzim mer; interessiert musterte es den Mann, der nickte und es sich in einem der Sessel bequem machte. Arsan maß knapp einhundertneunzig Zentimeter; trotz dieser Länge wirk te er nicht hager oder dürr. Die Bewegungen des Mannes verrieten Kraft und Training, gleichzeitig jedoch zeigten sie etwas von dem Phlegma, das diesen Mann befallen hatte wie eine bösartige Seuche. Seine dunklen Haare trug er nach Römerart kurzgeschoren; die gleichmäßige Brauntönung des Gesichts verriet, daß Arsan sich längere Zeit im freien Weltraum aufgehalten haben mußte - nur dort bekam die Haut jenen typischen Bronzeton, der auf den ersten Blick den Raumfahrer verriet. „Sie können eintreten, Mister Ganew!“ erklärte das Mädchen, nachdem eine kleine Signallampe vor ihr auf dem Schreibtisch aufgeflammt war. Ar san erhob sich und ging in das Nebenzimmer, wo der Chef des Kontroll turms bereits auf ihn wartete. Mit einer Handbewegung forderte der Mann hinter dem wuchtigen Schreibtisch den Eintretenden auf, sich zu setzen. „Ich will es kurz machen!“ erklärte Sean O'Conell, während er in seinen Papieren blätterte. „Mir liegen hier einige Beschwerden vor - Beschwerden, die Sie betreffen!“ Er wartete einige Sekunden auf Arsans Reaktion; als diese ausblieb, kniff er die Lippen zusammen und sprach weiter: „Gefällt Ihnen dieser Job nicht, Mister Ganew? Wenn Sie mit irgend etwas nicht zufrieden sind, dann äußern Sie sich frei und offen!“
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„Das Verhältnis zwischen geleisteter Arbeit und der Bezahlung ist hier das beste, das ich mit meiner Ausbildung erreichen kann!“ meinte Arsan halb laut; es klang, als verlese er Börsenberichte. „Demnach ist der Job gut!“ „Die Piloten der landenden Schiffe sind etwas anderer Meinung“, erklärte O'Conell. „Sie beschweren sich darüber, daß Sie Ihre Mitteilungen und An weisungen in einem Tonfall von sich gäben, der kaum mehr zu ertragen sei. Wenn ich Ihnen aus einem Brief vorlesen darf: Der Kerl spricht als würde es ihn überhaupt nicht interessieren, ob wir glatt landen oder unsere Kisten samt Passagieren auf dem Feld zerschlagen. Wir Piloten machen auch Fehler, besonders bei Starts und Landungen, und mehr als einmal ist eine Katastrophe nur dadurch verhindert worden, daß aus dem Kontrollturm unsere Fehler bemerkt und sofort korrigiert wurden. Bei diesem Mann jedoch h aben wir das Gefühl, daß er unseren Irrtum zwar erkennt, aber nur mit den Schultern zuckt und gleichgültig zusieht, wie wir abstürzen. Wir fordern Sie auf, diesen Zustand zu beenden - nötigenfalls durch Entlassung des betreffenden Sprechers!“ O'Conell sah von dem Brief hoch und musterte Arsan, dessen G esicht nach wie vor jenes maskenhafte Lächeln zeigte, das auch seinen Kollegen im Kon trollturm den Nerv tötete. „Unter diesem Brief, Mister Ganew, stehen dreißig Unterschriften von Raumpiloten!“ stellte O'Conell fest. „Ich kann diesen Brief nicht einfach in den Papierwolf geben und vergessen - würden Sie bitte dazu Stellung neh men! Ich bin nämlich auch nicht gewillt, Sie ohne weitere Umstände zu ent lassen!“ In Arsans Gesicht rührte sich nichts, als er sagte: „Ich habe bisher keinen Fehler gemacht, und Pannen bei den Piloten wer de ich ebenso korrigieren, wie dies meine Kollegen anderswo tun. Anson sten - ich bin kein Schauspieler, und ich habe auch keine Lust, mich als Al leinunterhalter zu betätigen, auch wenn den Piloten das offenbar lieber zu sein scheint!“ „So kommen wir nicht weiter, Ganew!“ sagte O'Conell gepreßt. „Auch Ihre Kollegen im Kontrollturm haben schon ähnliche Beschwerden bei mir vorgebracht. Sie ärgern sich darüber, daß sie von Ihnen wie Luft behandelt werden!“ „Ich tue meine Arbeit wie jeder andere!“ gab Arsan gleichmütig zurück. „Dafür werde ich bezahlt - von Menschenfreundlichkeit stand nichts im Vertrag!“ -3
Obwohl sich das Gespräch zuspitzte, zeigte Arsans Stimme kein Anzei chen von Erregung. O'Conell schien dieser Gleichmut noch mehr zu erregen; leise, fast zischend sagte er: „Ich will einstweilen von Maßnahmen absehen, Ganew! Aber sollte noch eine solche Beschwerde bei mir eintreffen, sähe ich m ich gezwungen, etwas zu tun - nämlich Sie zu feuern! Haben Sie verstanden?“ „Gewiß!“ gab Arsan zurück. „Kann ich jetzt gehen?“ Wortlos deutete O'Conell auf die Tür; Arsan verbeugte sich höflich und verließ schweigend den Raum. Ein Blick auf die schwere Uhr an seinem rechten Handgelenk zeigte ihm, daß seine Dienstzeit bereits abgelaufen war. Arsan verzichtete darauf, noch einmal zum Tower hinaufzusteigen; er ging zur Tiefgarage, in der sein Gleiter geparkt stand, ein feuerrotes, klappriges Gefährt, das mit ähnlich vielen Mucken behaftet war wie sein Besitzer - und ebenso störungsfrei arbeitete, wenn es darauf ankam. Arsan fuhr etwas mehr als zehn Minuten, dann hatte er den Häuserblock erreicht, in dem sich sein Apartment befand. Der Mann hatte sich für eine Wohnung am Rande der Stadt Alamogordo entschieden - von dort aus konnte er den Raumschiffsverkehr bei Tag und Nacht beobachten. Arsan ließ den Gleiter unverschlossen auf dem Parkplatz vor dem Haus stehen ein derart heruntergekommen aussehendes Vehikel konnte schwerlich einen Dieb reizen. Neugierige Blicke folgten dem Mann, als er zur Haustür hinüberschritt; aus der Entfernung besaß Arsan eine große Anziehungskraft auf Frauen, die aber nachließ, wenn die Mädchen Zeit fanden, die harten Gesichtszüge zu studieren. Es war besser, mit diesem Mann nicht in engeren Kontakt zu tre ten, besser für alle Beteiligten. Es war nicht weiter verwunderlich, daß nur einige sehr spärlich gestreute Freunde je Arsans Apartment betreten hatten. Sehr gemütlich wirkte der große Wohnraum nicht - Bücher lagen auf dem fleckigen Teppichboden verstreut, in einer Ecke fand sich eine Ansammlung von leeren Flaschen. Die Aschenbecher quollen fast über, und im Zimmer hing der ekelhafte Geruch kalten Zigarettenqualms. Das Bett sah noch so aus, wie Arsan es am Morgen verlassen hatte. Fünf Minuten brauchte der Mann, dann hatte er mit jener typischen Raffinesse, die Faulpelzen eigen ist, das Zimmer halbwegs aufge räumt. Sauber und gepflegt wirkte lediglich die hochwertige Stereoanlage, die Arsan in Betrieb setzte. -4
„Ich muß etwas essen!“ murmelte der Mann. Mit sich selbst sprach Arsan mehr als mit jedem anderen Menschen, aus genommen Kinder, mit denen er vorzüglich umzugehen verstand. Rasch und ohne sich Mühe zu geben, bereitete Arsan ein Abendessen zu; während der Mann auf einer der vier Kochplatten des Mikrowellenherdes ein Spiegelei briet, dachte er unwillkürlich daran, daß er mit diesem Herd schon etliche gastronomische Kunststücke vorgeführt hatte - damals ... Erinnerung ... Vor nichts hatte Arsan mehr Angst als vor der teuflischen Genauigkeit seines Gedächtnisses, das Gedanken, Bilder, Stimmen und Gerüche zu ei nem teuflischen Gebräu mischte. Arsan preßte die Zähne zusammen, dann öffnete er mit fast maschinenhaften Bewegungen den Kühlschrank, holte eine Flasche Bier heraus und leerte sie, ohne die Flasche einmal abzusetzen. Er konzentrierte sich wieder auf sein Abendessen, gerade noch rechtzeitig, um das Ei vor dem Verkohlen zu bewahren. Hastig schlang er die improvi sierte Mahlzeit herunter. Anschließend ging er in den Wohnraum zurück; gleichzeitig schaltete er das Bandgerät aus und den Holovisor ein. Das Pro gramm, das dreidimensional in dem Kubus von einem Meter Kantenlänge ablief, war so primitiv wie immer. Nur nicht denken, keine Erinnerung! Das Lebensziel ist Vergessen! Als primitiv bezeichnete Völker der Erde pflegten mit peinlich genauen Ritualen böse Geister zu vertreiben, die es nicht gab, zumindest nicht für Menschen wie Arsan, der durch und durch naturwissenschaftlich eingestellt war. Arsan merkte nicht, daß er ebenso zu Ritualen griff, um sehr wohl vor handene Dämonen zu bekämpfen - je mehr der Alkohol seine Sinne umne belte, desto maschinenhafter wurden die Bewegungen, mit denen er zur Flasche griff, mit der peinlichen Genauigkeit des schwer Bezechten das Glas füllte und daraus trank. Die Batterie leerer Flaschen neben seinem Sessel wuchs; Arsan nahm dies nicht wahr. Er konzentrierte den noch aktiven Teil seines Bewußtseins auf den Holovisor, auf dem ein mäßig spannender We stern ablief. Arsan achtete kaum auf die banale Handlung; er fand sein Ver gnügen darin, der Begleitmusik zuzuhören und festzustellen, welche alten Meister der Tonkunst von dem Komponisten der Filmmusik bestohlen wor den waren.
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„Schade, Mädchen!“ murmelte Arsan grinsend; seine Sprache war noch erstaunlich deutlich. „Spätestens nach dreihundert weiteren Filmmetern bekommst du einen Pfeil in den Rücken!“ Der Mann kicherte selbstgefällig, als sich seine Vorhersage prompt erfüll te; auch die folgende Szene war vorhersehbar - geröcheltes Liebesgeständ nis, dann der letzte Kuß, umrahmt von den unvermeidlichen Streicherklän gen des Orchesters. Arsan klatschte beifällig in die Hände. Nicht erinnern, vergessen! Neurose - Krebsgeschwulst des Charakters; ebenso heimtückisch und ebenso mörderisch wie ein Hirntumor. Irgendwo, in frühester Kindheit, fand die Ansteckung statt, das Trauma: der Tod eines geliebten Menschen, ein lebensgefährliches Abenteuer - die Zahl der möglichen Ursachen war groß und vielgestaltig wie das Leben. In jedem Fall konnte der kindliche Geist das Erleben nicht verarbeiten; er konnte nur vergessen. Das Erlebnis selbst wanderte ins Unbewußte, kapselte sich ein und wuchs im Laufe der Jahre, langsam und unerbittlich, ohne daß der Betroffene etwas davon merk te. Viel später erst, manchmal nach Jahrzehnten, machte sich der Kern der Neurose wieder bemerkbar - aber verwandelt und darum um so heimtücki scher. Das Trauma selbst blieb eingekapselt, aber sein schleichendes Gift sickerte in die Gedanken und zersetzte den Charakter. Die Folgen konnten harmlos und fürchterlich sein; manchmal kam es nur zu mehr oder minder harmlosen Ticks. In anderen Fällen waren die Aus wirkungen tiefgreifender: Aus völlig unscheinbaren Menschen wurden über Nacht Amokläufer; andere richteten die angestauten Aggressionen gegen sich selbst; Arbeitsunfähigkeit, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit - vielfäl tig und nachhaltig waren die Auswirkungen der Charakterstörung. Arsans psychische Geißel waren seine Erinnerungen ... * Ein heller, klarer Himmel spannte sich über New-Mexico; brennend heiß, aber noch erträglich strahlte die Sonne auf die Landschaft. Das Getreide trocknete, verbrannte am Halm; die Tiere brüllten nach Wasser. Die Menschen stöhnten unter der gna denlosen Hitze, die die Zunge lähmte, die Gedanken ausdörrte. Irgendwo, in einem der vielen weißgekalkten Häuser, die typisch, waren für diesen Landstrich, stand die Frau am Herd und backte Tortillas, flache Fladen aus Mais-6
mehl und Wasser. Die Frau war nicht schön; der grobgewebte Rock, die nicht min der unansehnliche Bluse verbargen eine müde, ausgezehrte Gestalt. Arsan liebte seine Mutter- so wie ein Knabe von sechs Jahren seine Mutter nur lieben kann. Sie war zwar streng, aber gerecht. Ihre Strafen brannten so heiß auf der geschundenen Haut, wie ihre liebevollen Küsse schmeckten, Arsan liebte seine Mut ter, denn er kannte keine andere Liebe. „Mom, sieh, was ich gefunden habe!“ sagte der Sechsjährige stolz; in den Händen trug er einige Blumen, die wild am Rand der Felder wuchsen. Die Pflanzen hatten ebenfalls unter der Hitze gelitten; die Blüten waren halbwelk - kaum konnten die Stengel die zarte Last tragen. Für den Jungen waren die Blumen unendlich schön, gerade richtig, um sie der Mutter zu schenken. „Sieh, Mom - sind sie nicht schön!“ Die Frau am Herd drehte sich um und lächelte. „Sie sind wirklich herrlich, Arsan!“ sagte sie zärtlich. „Ich habe nie sch önere Blumen gesehen!“ Übergangslos begann der Junge mit den Augen zu zwinkern, als wollte er mit dem, Lidschlag einen Fremdkörper vom Augapfel wischen; während er seiner Mut ter den Strauß übergab, verkrampften sich seine Gesichtszüge. Trotz der sonnenge bräunten Haut war deutlich zu erkennen, wie der Junge erblaßte. Seine Hände zit terten, als er den Strauß übergab. „Mom!“ flüsterte der Junge tonlos. „Mom, woher kommt der rote Strich an dei nem Kopf? Was hat das zu bedeuten, Mom?“ Arsans Mutter schüttelte verwundert den Kopf; instinktiv drehte sie sich um und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel des Wassers, das im Becken stand. Von einem roten Strich war nichts zu erkennen - sichtbar waren lediglich die Falten und Run zeln einer vor der Zeit gealterten Frau. „Du träumst, Arsan!“ sagte die Mutter leise. „Da ist kein roter Strich. Vielen Dank für die schönen Blumen!“ Der jähe Anfall schien verflogen zu sein; der Junge lächelte wieder fröhlich. „Ich werde sehen, ob ich noch mehr finde, Mom! Bis nachher!“ * Arsan stand unsicher von seinem Sessel auf, wankte hinüber zu seinem Bett. Schwer fiel der Körper des Mannes auf den Schaumstoff der Matratze. Das Holovisorprogramm war beendet, und der Mann war den Anstürmen seiner
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Gedanken preisgegeben. Aufkeimendes Schluchzen erstickte Arsan, indem er in das Kissen biß und die Arme über dem Kopf zusammenpreßte. * Die Gedanken liefen weiter, bohrten und brannten ... Am Sonntag danach war Zahltag; der Grundbesitzer zahlte die Taglöhner aus, die auf seinen Feldern ernteten. Der Lohn war karg; die Menschen in den großen Städ ten, die alles hatten, was sich Menschen nur ausdenken konnten - diese Menschen waren nicht gewillt, für Obst und Gemüse viel zu zahlen. Und außer den Farmar beitern gab es noch viele andere, die w enig taten, aber um so mehr an den Produkten verdienten, für die die Taglöhner auf den Feldern arbeiteten. Zu diesen Taglöhnern gehörte auch Arsans Vater, ein rauher, wilder Mann, der viel trank und als Schlage tot berüchtigt war. Als er an diesem Tag in die kleine Siedlung zurückkehrte, wußte jeder im Dorf, wie der Rest des Tages im Ganewschen Haushalt verlaufen würde. Arsans Vater war betrunken; fast die Hälfte seines kümmerlichen Lohnes war als Branntwein durch seine Kehle geflossen. Der Alkohol hatte seine Börse geleert und seine Wut über dieses kaum mehr erträgliche Leben aufgefüllt. Arsan hätte längst schlafen sollen; aber in dem Haus gab es keine Türen, und der Lärm des elterlichen Streites schallte bis weit herauf auf die Dorfstraße. Auf bloßen Füßen tappte der Junge in die Küche, blieb am Eingang stehen und verfolgte das Geschehen im Raum. Der Vater vermochte sich vor Trunkenheit kaum noch auf den Füßen zu halten, und die Schwäche seiner Glieder versuchte er durch gewalttätige Worte wettzuma chen. Arsans Mutter stand vor ihrem Mann und ließ den Wutausbruch schweigend über sich ergehen. Sie schwieg immer, wenn ihr Mann einen seiner Anfälle bekam. An diesem Tag war die Wut von Arsans Vater besonders groß; der Boß hatte ver kündet, er könne nicht mehr soviel zahlen wie früher, und da die Arbeiter keinen Vertrag hatten, mußten sie sich darein fügen. Schlimmer noch: Arsans Vater hatte sich geprügelt; der andere Arbeiter lag in der Klinik, und Arsans Vater war entlas sen worden. Arsan stand, für die Streiter nicht sichtbar, an der Tür und sah mit wild jagen dem Puls zu, wie sich der Vater immer mehr erhitzte. Der Vater begann, auf die Frau einzuschlagen; blind vor Wut drosch er mit Fäusten auf sie ein. In Arsan machte sich Angst breit, Angst vor einem Geschehen, das er nicht begriff. So groß -8
war seine Furcht, daß er weder einzugreifen noch fortzulaufen wagte. Wie festge wurzelt stand der Junge an seinem Platz. Zum erstenmal in ihrem Leben leistete die Mutter Widerstand; ohne die geringste Aussicht auf Erfolg schlug sie um sich, versuchte auf diese Weise, den Peinigungen des Bezechten zu entkommen. Arsans Vater schrie auf; der Widerstand reizte seine Wut ins Grenzenlose. Er holte aus und traf mit der geballten Faust die Frau am Kopf; so groß war die Wucht des Schlages, daß die Frau mehrere Schritte weit zu rücktaumelte und stürzte. Im Fallen schlug ihre Stirn mit voller Wucht auf die gußeiserne Kante des Herdes. Es gab ein kurzes, knackendes Geräusch, dann er schlaffte der Körper und sank haltlos zu Boden. Arsan wagte kaum zu atmen. Er sah, wie sein Vater mit unsicheren Schritten zu dem leblosen Körper hinüberschwankte. Der Mann hob seine Frau auf; ihr Kopf fiel haltlos über seine Schulter. Arsan sah zwei gebrochene Augen - und darüber, quer über die Stirn, eine lange, blutige Wunde ... * Arsan hatte sich wieder halb aufgerichtet; er saß auf der Kante des Bettes und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Der Körper zuckte unkontrolliert in einem mit Mühe zurückgehaltenen Weinkrampf. Nach einigen Minuten beruhigte sich Arsan wieder; er ging zum Kühlschrank und holte sich eine neue Flasche. Zehn Minuten später lag er regungslos in seinem Bett und schlief den schweren, traumlosen Schlaf eines Betäubten.
2. In Arsans Eingeweiden tobte der Hunger; seit drei Tagen hatte der Mann keine feste Nahrung mehr zu sich genommen. Das letzte Geld war für Alko hol ausgegeben worden. O'Conell hatte seine Ankündigung wahrgemacht Arsan war arbeitslos. Weil es seiner Vorstellung von einem ungebundenen, freien Leben nicht entsprach, hatte Arsan darauf verzichtet, die Beiträge zu zahlen, die ihm auch in Zeiten der Arbeitslosigkeit ein erträgliches Aus kommen ermöglicht hätten.
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Arsan hatte zwölf vergebliche Versuche hinter sich; bei jedem neuen An lauf nach Arbeit hatte man seine Dokumente einsehen wollen, und jeder Boß hatte den gleichen Text lesen können: Ein guter Mann für jeden Job, nach kurzer Einarbeitungszeit auch für anspruch s vollere Posten geeignet. Hohe Intelligenz, präziser Arbeiter. Menschlich untragbar; mußte wegen Vergiftung des Betriebsklimas entlassen werden. Mit diesem Zeugnis war nirgendwo Arbeit zu finden, nicht in einer Zeit, in der die menschliche Seite in Betrieben mehr berücksichtigt wurde als fachliche Qualität. Ein Eigenbrötler konnte noch so erstklassig sein - Jobs bekam er nur in Ausnahmefällen. Arsans Aussichten waren mehr als trübe; der Mann wußte dies genau. Er kannte die Bar, in die er eintrat; ein übelbeleumundeter Ort, an dem man nur Personen antraf, die es nicht fertiggebracht hatten, sich in die G e sellschaft einzufügen. Wer hier einkehrte, bewegte sich ständig unterhalb der Grenze der Legalität. Der Wirt hinter der Theke begrüßte Arsan mit einem freundlichen Lä cheln; er kannte den Mann. „Rum?“ erkundigte sich der Keeper und griff bereits hinter sich in das gefüllte Regal. Arsan winkte ab und stützte sich auf die Theke; der Wirt verstand und kam langsam näher. „Schwierigkeiten?“ erkundigte er sich mißtrauisch. „Pleite?“ „Genau!“ bestätigte Arsan. „Ich brauche Kredit oder einen Job, am besten beides zur gleichen Zeit!“ „Kredit hast du bei mir“, meinte der Wirt. „Und was den Job angeht woran hast du gedacht?“ Arsan zuckte mit den Schultern, während der Wirt für ihn ein Glas füllte und vor ihn hinstellte. Arsan trank den Brandy in einem Zuge aus und stell te das Glas zurück. „Die Auswahl wird vermutlich recht beschränkt sein“, erklärte Arsan ru hig. „Kannst du mir irgend etwas bieten?“ „Ich werde mich umhören!“ versprach der Keeper; mit Handzeichen winkte er ein Mädchen heran und machte ihr klar, daß Arsan auf Kosten des Hauses zu verpflegen sei. Während der Mann seinen Hunger stillte, hörte sich der Wirt im Lokal um.
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Scheinbar ohne Absicht kam er nach einer Zeit näher, putzte Gläser und sah sich um; Arsan beugte sich leicht über die zerschrammte Theke. „Wie weit bist du bereit, zu gehen?“ erkundigte sich der Wirt. „Unter Um ständen habe ich etwas für dich!“ Arsan dachte kurz nach; seine Börse war leer, und es stand für einige Zeit keine Arbeit in Aussicht. Genau besehen, hatte er überhaupt keine Aus wahlmöglichkeit. „Solange bei der Aktion keine Menschen zu Schaden kommen, bin ich dabei!“ murmelte er kaum hörbar. „Sonst nicht!“ „Das dürfte reichen!“ erklärte der Wirt leise. „Setze dich an einen der Ti sche - ich werde dir jemanden schicken!“ Wortlos kam Arsan der Aufforderung nach. Er nahm sein Glas von der Theke mit und leerte es langsam. Er wartete fast fünf Minuten, dann erhob sich ein Gast in einer der Nischen und ging auf Arsan zu. „Darf ich mich setzen?“ wollte der Fremde wissen; bevor Arsan auf die Frage antworten konnte, hatte sich der Mann bereits auf dem Stuhl gege n über niedergelassen. Neugierig musterten sich die beiden Männer. Arsan sah eine hochgewachsene, hagere Gestalt; die Haut war hell, ver mutlich dank eines längeren Aufenthalts innerhalb geschlossener Räume. Das Gesicht des Mannes verriet einiges von seiner Skrupellosigkeit. „Du suchst einen Job?“ erkundigte sich der Fremde. „Gleichgültig welcher Art?“ „Ohne Blutvergießen!“ gab Arsan knapp zurück. „Sonst alles!“ Der Mann gegenüber trommelte unruhig mit den Fingerkuppen auf dem Tisch. „Um was soll es sich handeln?“ wollte Arsan halblaut wissen. „Lohngelder in einer kleinen Bankfiliale!“ gab der Mann knapp Auskunft. „Rund eine halbe Million - bisher sind wir vier, mit dir fünf. Macht demnach einhunderttausend für jeden von uns!“ Arsan nickte nachdenklich; die Beute war ziemlich hoch, und sein Ge sprächspartner machte nicht den Eindruck, bei der Verteilung von Intelli genz mehrmals „hier!“ geschrieen zu haben. Dieser Umstand erhöhte das Risiko beträchtlich. „Wie genau kennst du die anderen drei?“ wollte Arsan wissen.
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„Etwas besser als dich“, erwiderte der Fremde. „Aber in allen Fällen nicht gut genug, um genügend Angaben für einen brauchbaren Steckbrief liefern zu können - selbst wenn ich wollte! Genügt das?“ Arsan nickte zufrieden. „Ich mache mit!“ sagte er ruhig; er winkte dem Wirt zu, die Gläser neu zu füllen. „Das heißt, wenn du und deine Freunde einverstanden sind!“ „Sie werden es nicht wagen, mir zu widersprechen!“ sagte der Fremde kalt. „Und auch für dich wird es besser sein, wenn du dich meinen Anord nungen widerspruchslos fügst!“ Arsan fühlte leisen Ärger in sich aufsteigen; er war diesem Mann fraglos überlegen, und das selbstherrliche Auftreten des Fremden störte ihn. Dieses Gefühl des Ärgers reichte aus ... Vor Arsans Augen verschwamm das Gesicht des Fremden, dann stabili sierte es sich wieder. Arsan, dem dieses Phänomen vertraut war, sah genau hin. Das Gesicht des Fremden hatte sich nur unwesentlich verändert; im merhin war zu erkennen, daß zwischen den beiden Gesichtern ein Altersun terschied von mehr als zehn Jahren liegen mußte. Um den Hals des Mannes zog sich ein breiter, blauroter Streifen; das Strangulationsmal war nicht zu übersehen. Arsan kannte den Namen des Mannes nicht, aber eines wußte er genau: Sein Gegenüber würde relativ jung und auf nicht gewöhnliche Art und Weise sterben! „He, was ist mit dir?“ erkundigte sich der Fremde plötzlich; ihm war der verglaste Blick Arsans aufgefallen. „Hast du diese Anfälle öfter?“ Arsan kehrte wieder in die Gegenwart zurück; er schüttelte heftig, den Kopf. „Keine Aufregung“, wehrte er ab. „Es hat nichts zu bedeuten!“ „Wenn du bei deiner Arbeit auf ähnliche Weise ausfällst, gibt es Schwie rigkeiten!“ warnte der Fremde scharf. „Ich kann mir kein Versagen leisten. Wir treffen uns morgen hier in dieser Kneipe!“ „Uhrzeit?“ fragte Arsan knapp zurück. „Eine halbe Stunde vor Mittag!“ befahl der Fremde kurz. „Ortszeit!“ Der Mann stand auf, ging zur Theke und bezahlte, dann verließ er rasch das Lokal. Arsan sah ihm mit gemischten Gefühlen nach. Noch hatte er eine Chance, eine Entwicklung zu stoppen, die - und das spürte er sehr genau - in einer Katastrophe enden würde.
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Arsan war am nächsten Tag als erster in der Bar; er hatte dort gege ssen dank des Kredits, den der Wirt ihm ohne zu fragen eingeräumt hatte. In der ver gangenen Nacht hatte Arsan ausnahmsweise ruhig geschlafen; keine Erinne rungen hatten ihn gestört, seine Stimmung hatte sich dadurch merklich ge hoben; dennoch wäre er froh gewesen, die nun bevorstehenden Ereignisse bereits hinter sich gebracht zu haben. Er spürte seine Nervosität deutlich; allein das leichte Beben seiner Hände hätte als Warnzeichen ausgereicht. Als zweiter Mann des Teams erschien der Fremde vom Vortag; er ging ohne Umwege auf Arsan zu und setzte sich. Als sich beide Zeiger auf Arsans Uhr deckten, waren auch die drei übrigen Männer eingetroffen, Durchschnitts gestalten, an denen nur die verschlossenen Gesichtszüge auffielen. „Wie wollen wir vorgehen?“ fragte einer der drei Männer, die Arsan noch nicht kannte. „Hast du einen bestimmten Plan, Chef?“ Der Fremde nickte langsam; bevor er zu sprechen begann, sah er sich u n auffällig, aber sehr gründlich in der Bar um. Erst als er sicher war, keine unliebsamen Zuhörer zu haben, begann er zu erklären. „Ich habe draußen einen Gleiter geparkt, darin liegt auch unsere Ausrü stung“, berichtete der Fremde. „Wir gehen in den Schalterraum, werfen ein paar Narkobomben, holen uns das Geld und verschwinden wieder. An schließend wird die Beute geteilt, und wir trennen uns. Was jeder einzelne mit seinem Anteil anfängt, ist mir gleichgültig - ich empfehle nur, sehr be hutsam mit dem Geld umzugehen und nach Möglichkeit diese Bar nie wie der zu betreten!“ „Hört sich ziemlich einfach an!“ stellte Arsan fest. „Fast zu einfach! Was geschieht, wenn die Angestellten der Bank sich wehren?“ „Erstens gibt es gegen Narkobomben nur ein Gegenmittel, nämlich Nasen filter“, gab der Chef zurück, „und zweitens nehmen wir für den alleräußer sten Notfall unsere Laser mit!“ Arsan zuckte schicksalsergeben mit den Schultern; die Tatsache, daß die Gruppe bewaffnet sein würde, paßte ihm überhaupt nicht. „Brechen wir auf!“ befahl der Chef. „Und benehmt euch normal - ihr seid schließlich keine Anfänger, will ich hoffen!“ Sein leicht skeptischer Blick traf Arsan, der gleichmütig mit den Schultern zuckte. Irgendwo im Innern spürte Arsan, daß die bevorstehenden Ereignis- 13
se mit der vernichtenden Wucht eines Erdrutsches über ihn hereinbrechen würden; aber er wußte auch, daß er so oder so vor dem Ende stand - was kümmerte es ihn, wie dieses Ende aussah. Der Gleiter vor der Kneipe erwies sich als Durchschnittsfahrzeug, das am Vortag vom Chef gestohlen und stark frisiert worden war. Die Kennzeichen waren sorgfältig geändert. Alle fünf Männer trugen Handschuhe, obwohl das nicht abgesprochen worden war. Wortlos nahm Arsan auf dem Platz neben dem Fahrer den dort liegenden Laser auf und setzte sich; mit leicht mißbilligenden Blicken nahmen die anderen Männer auf dem Rücksitz Platz. Während der Chef das Fahrzeug durch den dichten Mittagsverkehr lenkte, überprüfte Arsan den Laser und die Magazine. Der Chef mußte her vorragende Beziehungen haben - sowohl die Narkobomben als auch Laser und Nasenfilter stammten aus Beständen der Raumgarde. „Die Waffen weg!“ kommandierte der Chef scharf; gehorsam verbargen die Männer die Handfeuerwaffen in ihren Jacken. Die Fahrt dauerte mehr als eine Stunde, dann war der vorbestim mte Tatort erreicht, ein Vorort von Albuquerque. Zu dieser Tageszeit waren die Straßen fast ausgestorben; die Mehrzahl der Einwohner versteckte sich vor der Hitze in den vollklimatisierten Häusern. Nur einige Kinder, denen die Wärme nichts auszumachen schien, spielten in den Gärten an der Hauptstraße des Städtchens. „Steckt die Nasenfilter ein!“ kommandierte der Chef; folgsam steckten die Männer die unscheinbaren Patronen in die Nasenlöcher. Dies war die einzi ge unauffällige Schutzmaßnahme gegen die Wirkung des Gases in den Nar kobomben - solange jedenfalls, wie keiner der Männer den Fehler machte, durch den Mund zu atmen. „Wir parken hier!“ bestimmte der Chef. Der Gleiter wurde am Straßenrand abgestellt, dann verließen die Männer das Fahrzeug. Nach dem Aussteigen lief ihnen nach zwei Minuten blanker Schweiß über die Gesichter. Arsan schätzte die Temperatur auf mindestens vierzig Grad Celsius; glücklicherweise war die Luft trocken. Die Bankfiliale, die sich der Chef des Teams ausgesucht hatte, lag nur we nige Schritte entfernt; an der Außenwand hing eine große Digitaluhr - das Zifferblatt kündigte an, daß die Filiale nur noch wenige Minuten geöffnet sein würde. Nacheinander betraten die Männer das Gebäude; rasch u nd aufmerksam sah sich Arsan um. Zwei Kunden standen vor den Schaltern, die aus schuß- 14
sicherem Glas bestanden. Dahinter hielten sich acht Angestellte der Bank auf, darunter drei Androiden, wie Arsan sofort bemerkte. Bevor die Men schen in der Halle Zeit fanden zu reagieren, warfen die Männer ihre Narko bomben. Die flachen Plastikgefäße platzten auf und setzten weißliche Gas schwaden frei, die in wenigen Sekundenbruchteilen den ganzen Raum er füllten. Die Kunden spürten den ungewohnten Geruch als erste; noch wäh rend sie sich umdrehten, setzte die Wirkung des Gases ein - geräuschlos sanken die beiden Männer auf den Marmorboden. Wenig später brachen auch die Angestellten der Bank zusammen - bis auf einen alten Mann, der mit schreckgeweiteten Augen zurückwich. Gerade noch rechtzeitig hatte Arsan gemerkt, daß der Mann gegen das Gas unempfindlich war; mit einem gewaltigen Satz war Arsan über die flachste Stelle der Absperrung gesprun gen und hatte seinen Laser gezogen und auf den Mann gerichtet. Daß die Waffe nicht entsichert war, fiel dem alten Mann in seiner Verwirrung nicht auf. Der große Tresor der Bank stand im Hintergrund der Schalterhalle, ein massiver Kasten aus molekülverdichtetem Stahl. Die Tür war verschlossen, und es hätte Tage gebraucht, das Metall mit den Handfeuerwaffen durch schneiden zu wollen. Auch mit diesem Hindernis schien der Chef gerechnet zu haben. Er trat an den Alten heran, nahm von einem der Schreibtische ein Stück Papier auf und kritzelte einen Satz darauf. „Wer ist befugt, den Tresor zu öffnen?“ las Arsan zusammen mit dem Alten; der Mann wich noch einen Schritt zurück und preßte die Kiefer zu sammen. Sein Widerstand erlosch schlagartig, als der Chef den Laser hob und an die Schläfe des Mannes setzte. „Der Chef und sein Stellvertreter!“ sagte der Alte mit unsicherer Stimme; mit dem Finger zeigte er auf zwei der am Boden liege nden Angestellten. Der Boß grinste boshaft und zog den Laser wieder zurück. Zusammen mit seinen Helfern schleppte er die beiden Männer zum Tresor hinüber. An den Handgelenken der beiden Angestellten hingen die komplizierten Magnet schlüssel, an geflochtenen Ketten aus Stahl. Der Chef riß seinen Mann in die Höhe und drückte ihn gegen die Stahlwand des Tresors; während er mit der rechten Hand den Schlüssel zu fassen versuchte, drückte er mit der Linken die Innenfläche der linken Hand des Mannes gegen das deutlich sichtbare Wärmeschloß an dem Tresor. Nur wenn gleichzeitig der Schlüssel gedreht
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und das Wärmeschloß berührt wurde, das auf die Handlinienmuster der autorisierten Männer abgestimmt war, öffnete sich der Tresor. Der Chef fluchte mit geschlossenem Mund; der Laser in seiner rechten Hand störte ihn. Der Mann drehte sich kurz herum und warf Arsan die Waf fe zu. Die Waffe seines Helfers wechselte ebenfalls den Besitzer, dann wie derholten die beiden Männer ihren Versuch. Die Schlüssel paßten zwar in die beiden Schlösser, ließen sich jedoch nicht drehen! Der Chef gab einen wütenden Fluch von sich, dann bedeutete er seinem Nebenmann mit dem Kopf, die Plätze zu tauschen. Während die beiden Männer ihre Standorte wechselten, sah Arsan, wie ein triumphierendes Grinsen über das Gesicht des alten Mannes flog. Arsan schaltete sehr schnell; als erstes drehte er sich zu seinen Komplizen herum - keiner der Männer schien auf den Alten geachtet zu haben. Dessen Lächeln konnte nur eines bedeuten: Durch den Versuch, den Tresor mit den vertauschten Schlüsseln zu öffnen, war vermutlich die örtliche Polizei alar miert worden. Was das bedeutete, konnte sich Arsan unschwer ausmalen. Der zweite Versuch gelang; die Schlüssel drehten sich, und langsam schwang die massive Stahltür zur Seite. Im Innenraum des Tresors sah Ar san dicke Bündel von Geldscheinen; die Dicke der einzelnen Päckchen ließ den Schluß zu, daß die Scheine nicht durchnumeriert waren. Der Chef stieß ein zufriedenes Brummen aus, dann ließ er den Mann, mit dessen Schlüssel er den Tresor geöffnet hatte, achtlos auf den Boden fallen. Hastig begannen die beiden Männer vor dem Tresor, die Geldscheine in die Plastikbeutel zu füllen, die sie mitgebracht hatten. Die beiden Männer hatten ihre Beutel knapp zur Hälfte gefüllt, als eine dröhnende Lautsprecherstimme ihre Tätigkeit unterbrach. „Hier spricht die Polizei!“ hörte Arsan eine laute Männerstimme. „Werfen Sie Ihre Waffen fort und verlassen S ie mit erhobenen Händen das Gebäude. Sie haben keine Fluchtmöglichkeit mehr - das gesamte Gelände ist umstellt. Ich fordere Sie auf, sich unverzüglich zu ergeben!“ „Verdammt!“ rief einer der Gangster; für eine Sekunde vergaß er, durch die Nase zu atmen. I n der nächsten Sekunde lag er b ereits am Boden. Arsan stieß dem Alten vor ihm die Waffe gegen den Brustkorb; langsam bewegten sich die beiden Männer die offene Hälfte der Schalterhalle zurück. Unsicher folgten die anderen Gangster. Der alte Mann fing leicht zu zittern an; er be gann Arsan leid zu tun. - 16
Ein altes Gesicht, blaß und vor Schmerz verzerrt ... Arsan zuckte zusammen, dann handelte er mit rasender G eschwindigkeit. Er entsicherte mit einem Handgriff seinen Laser und spielte die Waffe dem Alten in die Hände. Arsan entsicherte seine zweite Waffe und schoß. Bevor der Chef den Sinneswandel bemerkte, hatte ihn der rot leuchtende Strahl bereits am Oberschenkel getroffen; der Mann schrie schmerzerfüllt auf und verlor das Bewußtsein. Die beiden anderen Gangster fuhren herum und entsicherten ihre Laser. Arsan schoß ein zweites Mal und traf. Während der verbliebene Gangster in Deckung ging und das Fe uer erwiderte, gab Arsan dem Alten einen kräftigen Stoß, um ihn aus der Schußlinie zu bringen. Der Mann taumelte unter der Wucht des Stoßes einige Schritte weit, dann faßte er sich und rannte aus dem Gebäude heraus. Sekundenbruchteile später hörte Arsan das Zischen von Laserschüssen und einen schrillen Schrei hinter sich. Wut stieg in Arsan auf, ein wilder Haß, der sich auf den noch verbliebenen Gangster richtete, der sich hinter einem massiven Schreibtisch verborgen hatte und aus dieser Deckung auf Arsan feuerte. Die Aufregung ließ die Hand des Mannes zittern, und so verfehlten die Schüsse ihr Ziel. Arsan hechtete quer durch den Raum, entging nur knapp einem Laserstrahl, der eine Handbreit unter seinem Bauch vorbeizischte und die Wandtäfelung ankohlte. Während des Abrollens richtete Arsan mehr instinktiv als geplant seinen Laser in die Richtung des Schreibtisches und feuerte mehrmals. Ein Schrei bewies ihm, daß er getroffen hatte. Der Kampf war beendet; Arsan stand langsam auf. Er atmete tief durch die Nase und ging mit schleppenden Schritten auf den Eingang der Bankfiliale zu. Mit dem Fuß stieß er die glä serne Tür auf und warf seine Waffe ins Freie. „Okay!“ tönte es aus dem Megaphon. „Kommen Sie mit erhobenen Hän den heraus!“ Langsam setzte Arsan einen Fuß vor den anderen; als er im Freien war, erkannte er, daß er keine Chance mehr hatte. Die Straße wimmelte von b e waffneten Polizeibeamten, die ihn mit grimmigen Gesichtern anstarrten. Wenige Schritte von Arsan entfernt lag eine reglose Gestalt auf dem Pflaster; Arsan ging langsam hinüber, kniete nieder und drehte den Mann auf den Rücken. Das Gesicht des toten Bankange stellten war bleich, seine Züge waren ver zerrt von Schmerz. - 17
Zwei Polizisten traten auf Arsan zu und legten ihm Handschellen an. „Wo sind deine Komplizen?“ fragte einer der Beamten finster. Arsan machte mit dem Kopf eine Bewegung über seine Schulter hinweg. „Drinnen!“ sagte er gleichmütig. „Sie sind bewußtlos!“ Er nahm mit seinen gefesselten Händen die Filter aus den Nasenlöchern und atmete tief durch. Sein Spiel war verloren - von jetzt an würden andere bestimmen, wie sein Leben weitergehen sollte.
3. Das Gesicht des Wärters erschien im Guckloch in der Zellentür; der Mann überzeugte sich davon, daß Arsan auf seiner Liege lag, dann sagte er: „Ihr Anwalt, Mister Ganew!“ Ohne Arsans Antwort abzuwarten, schloß der Wärter die Zellentür auf; unbeeindruckt musterte Arsan den eintreten den Besucher. Der Anwalt war noch jung, Arsan schätzte ihn auf knapp dreißig Jahre. Das Gesicht wirkte offen und vertrauenerweckend, die Bewe gungen verrieten sportliche Übung und vollendete Körperbeherrschung. „Stuart Carmody!“ stellte sich der junge Anwalt vor. „Das Gericht hat mich als Ihren Pflichtverteidiger eingesetzt!“ Arsan übersah die ausgestreckte Hand und brummte: „Ich brauche keinen Verteidiger! Verschwinden Sie!“ „Mag sein, daß Sie keinen Verteidiger brauchen“, meinte der Anwalt ge lassen; er zog mit dem Fuß einen Sessel in die Nähe der Liege und nahm Platz. „Aber ich brauche Klienten, und Ihr Fall hat ziemliche Schlagzeilen gemacht. Also?“ Arsan zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Sprechen Sie sich aus!“ murmelte er, während er sich eine Zigarette a n zündete. „Mir kann es gleich sein!“ „Gut!“ gab der Anwalt zurück. „Wissen Sie, wie die Anklage lautet?“ „Bewaffneter Raubüberfall!“ schätzte Arsan. „Es läuft vermutlich auf zwan zig Jahre Zwangsarbeit in den Mondbergwerken hinaus!“ „Zwei Fehler!“ korrigierte der Anwalt ruhig. „Erstens lautet die Anklage auf Mord dritten Grades - Herbeiführung des Todes eines Menschen ohne direkte Tötungsabsicht, wie es im Behördenjargon heißt. Und darauf ...!“ „Steht lebenslang!“ setzte Arsan den Satz fort. „Auch gut!“ - 18
„Hm!“ meinte der Anwalt nachdenklich. „Sprüche dieser Art ke nne ich schon - ich hatte eigentlich gehofft, Sie würden sich etwas Besseres einfallen lassen. Wenn Sie erst einmal im Bergwerk sind, haben Sie keine Auswahl mehr. Jetzt schon!“ „Zwischen welchen Alternativen?“ wollte Arsan wissen. „Konverter oder Konversion!“ erklärte Carmody. „Wenn Sie bereit - und geeignet - sind für eine tiefenpsychologische Charakterumwandlung, kön nen Sie in zwei bis drei Jahren wieder ein freier Mann sein!“ „Aber nicht mehr derselbe, der hier eingesperrt sitzt!“ knurrte Arsan. „Be sten Dank!“ „Es ist Ihr Leben!“ meinte der Anwalt; es gelang ihm ausgezeichnet, Ar sans brummigen Tonfall nachzuahmen. „Mein Honorar ist unabhängig vom Urteil. Gehen wir auf ein anderes Thema über. Die Polizeibeamten, die Sie festgenommen h aben, sagten aus, sie hätten nach dem tödlichen Irrtum mit dem Bankbeamten noch Laserschüsse in der Filiale gehört. Drei Ihrer Kom plizen wurden mit Schußverletzungen aufgefunden - haben Sie auf die Männer geschossen?“ Arsan nickte stumm, während Carmody in seinen Unterlagen blätterte. „Warum?“ bohrte der Anwalt weiter. „Tätige Reue kann Ihnen enorm helfen. An der Waffe, die bei dem erschossenen Bankangestellten gefunden wurde, hat man Ihre Fingerabdrücke gefunden. Haben Sie dem Mann die Waffe gegeben, oder hat er sie sich genommen?“ „Versuchen Sie keine faulen Tricks mit mir!“ warnte Arsan. „Ich habe Handschuhe getragen!“ „Die Knick- und Faltlinien im Handschuhleder sind genauso deutlich und beweiskräftig wie echte Fingerabdrücke!“ gab der Anwalt zurück. „Reden Sie - haben Sie dem Mann die Waffe gegeben?“ „Ja, ich habe sie ihm in die Finger gedrückt!“ sagte Arsan fauchend. „Und ich habe auch die ehrenwerten Herren meiner Begleitung unschädlich ge macht. Aber wer wird mir das glauben?“ „Ich beispielsweise!“ erklärte Carmody; er machte sich Notizen, während er mit Arsan sprach. „Und vielleicht auch die Geschworenen! Warum haben Sie Ihre Absichten so plötzlich geändert? Wege n der auftauchenden Poli zei?“ Arsan drehte sich auf der Liege um und starrte die Wand an.
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Was sollte er dem Anwalt sagen? Daß er eine Para-Begabung hatte? Daß er in jenem Augenblick in der Bank den nahen Tod des Angestellten gesehen hatte? Daß dies - wie so oft - ein Versuch gewesen war, das Gesehene doch nicht wahr werden zu lassen? Und daß es ihm, ebenfalls wie immer, nicht gelungen war? Arsan biß die Zähne zusammen, bis seine Kiefer zu schmer zen begannen. Sein Nachdenken hatte fast drei Minuten gedauert; Carmody hatte es während dieser Zeit vermieden, Arsan anzusprechen. Wahrscheinlich ahnte er, daß im Innern seines Klienten Wichtiges vor sich ging. „Darauf gebe ich keine Antwort!“ erklärte Arsan schließlich, nachdem er sich wieder herumgedreht hatte. Carmody zuckte mit den Schultern. „Wir werden sehen“, bemerkte er. „Vielleicht werden Sie während der Verhandlung etwas gesprächiger werden! Eine andere Frage: Wollen Sie einen Androiden-Richter oder einen anderen?“ Während er überlegte, rekapitulierte Arsan rasch, was er über die Androi den wußte. Den ersten Androiden der Menschheitsgeschichte hatte Cyrus A.V. Young kurz nach der Zweitausendjahreswende hergestellt. Er hatte normalmensch liche Zellen genetisch umgeformt und aus diesen Zellen in einem unerhört aufwendigen Verfahren vollständige Lebewesen gebrütet, die sich äußerlich nicht von normalen Menschen unterschieden. Wichtig waren die verborge nen Unterschiede: Androiden lebten im Durchschnitt zehn Jahre länger als andere Menschen; das war hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß Young seine Kunstmen schen aus Zellen hergestellt hatte, die zu m edizinisch besonders gesunden und kräftigen Personen gehört hatten. Außerdem hatte Young dafür gesorgt, daß die Androiden größere und leistungsfähigere Herzmuskeln und Ner venverbindungen besaßen. Der entscheidende Unterschied aber war psy chologischer Natur: Die Androiden kannten drei verschiedene Persönlich keitsstrukturen, zwischen denen sie in Sekunden hin- und herwechseln konnten. Wenn Androiden Lust hatten, dachten sie in den eiskalt logischen, unerbittlichen Bahnen eines großen Rechenhirns. Gefühle waren in diesem Zustand nicht enthalten. Andererseits waren Androiden - nach ihrem eige nen Beliebten - auch reine Gefühlswesen, die, völlig unempfindlich und unempfänglich für Logik und Vernunft, handelten. Der dritte Zustand stell te jene Verbindung zwischen den anderen beiden Ebenen her, die typisch - 20
war für normale Menschen - jenen eigentümlichen Mischzustand zwischen Logik und Gefühl, aus dem Menschen nur selten herausfanden. Arsan hatte die Wahl; er konnte sich für einen „normalen“ Richter ent scheiden, der nach bestem Wissen und Gewissen sein Urteil fällen würde unter Einschluß aller menschlichen Fehler und Unzulänglichkeiten. Die a n dere Wahl war ein Androidenrichter; er - würde zumindest die Beweisauf nahme mit der gnadenlosen Schärfe eines durch keinerlei Gefühle beeinfluß ten Verstandes betreiben. „Ich hätte gern einen Androidenrichter!“ erklärte Arsan fest; Carmody zog erstaunt die Brauen in die Höhe, dann nickte er anerke nnend. „Hoffentlich geht Ihre Spekulation auf!“ wünschte er. „Ihre Komplizen haben sich ohne Ausnahme für einen normalen Richter entschieden! Viel Glück!“ * Die Verhandlung verlief besser, als Arsan in seinen kühnsten Träumen ver mutet hatte. Die Männer, die zusammen mit ihm die Bankfiliale überfallen hatten, wurden in seinem Prozeß als Zeugen vernommen. Obwohl die vier Männer hartnäckig leugneten, gaben sie unfreiwillig doch ein Geständnis ab - winzige Widersprüche in ihren Aussagen fielen dem Androiden auf dem Richterstuhl sofort auf. Mit scharfen, präzise gestellten Fragen trieb der Staatsanwalt - ebenfalls Androide - die Zeugen zusehends in die Enge. Stück für Stück schälte sich aus den Aussagen die Wahrheit heraus - soweit sie den Überfall betraf. Was Arsan dazu getrieben hatte, so und nicht anders zu reagieren, warum er mitten in dem Überfall seine Handlungsweise so über raschend geändert hatte, blieb unklar. Arsan wich jeder Frage, die auf diesen Komplex zielte, mit großer Hartnäckigkeit aus. Nach fünfstündiger Beratung zogen sich die Geschworenen zurück; als sie wenige Minuten später aus dem Beratungszimmer zurückkehrten, lautete ihr Spruch auf schuldig! „Wir empfehlen allerdings dem Hohen Gericht besondere Milde in der Bemessung der Strafzeit!“ fügte der Obmann der Geschworenen hinzu. Der Richter nahm die Stellungnahme der Geschworenen schweigend zur Kenntnis, dann drehte er sich um und sah Arsan aufmerksam an.
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„Mister Ganew!“ sagte der Richter leise und eindringlich. „Wenn ich alle Informationen berücksichtige, die ich in Ihrem Prozeß sammeln konnte, dann verstärkt sich in mir ein ganz bestimmter Eindruck - die Auffassung nämlich, daß Sie in dieses Verbrechen mehr hereingerutscht sind, und daß Sie eine Konversion ablehnen, um sich für diesen Fehler selbst zu strafen. Oder haben sich Ihre Ansichten über Konversion inzwischen geändert?“ Arsan verneinte, und der Richter schüttelte bedauernd den Kopf. „So bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie, Arsan Ganew, zu zehn Jahren Haft und Zwangsarbeit zu verurteilen. Sollten Sie in dieser Zeit eine Kon version wünschen, so steht es Ihnen frei, jederzeit einen entsprechenden Antrag an das Gericht zu stellen! Die Verhandlung ist damit geschlossen!“ „Sie sind ein Narr, Ganew!“ zischte Carmody, der hinter Arsan saß, dem Verurteilten ins Ohr. „Sie sind ein Narr, der mehr Angst vor sich selbst hat als vor dem Gefängnis! Merken Sie sich diese Worte - eines Tages werden Sie zu der gleichen Erkenntnis kommen!“ Arsan sah dem Anwalt kurz ins Gesicht, dann zuckte er mit den Schultern und ließ sich - von dem Urteil anscheinend vollkommen unbeeindruckt abführen. * Arsan hatte sich den Aufenthalt in einer Strafanstalt anders vorgestellt; er hatte mit schweren, metallbeschlagenen Türen gerechnet, mit dumpfen, lichtleeren Zellen, schlechtem Essen und mürrischen, vielleicht sogar sadisti schen Wächtern. Die Wirklichkeit sah anders aus, beträchtlich anders. Die Häftlinge im Bezirksgefängnis von Albuquerque waren in viergeschossigen modernen Neubauten untergebracht. Jedem Gefangenen stand eine Einzelzelle mit fünfzehn Quadratmetern Bodenfläche zu, verbunden mit einer modernen Naßzelle. Das vorgeschriebene Mobiliar bestand lediglich aus einem überra schend bequemen Bett - den Rest des Mobiliars durften sich die Gefangenen aus einem umfangreichen Baukastensystem von Regalen und Anbaukästen entwerfen und zusammenbauen. Die Zellen waren hell und freundlich, und die Wärter so freundlich, wie es unter den waltenden Umständen überhaupt möglich war.
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Arsan wußte, daß sein Aufenthalt im Bezirksgefängnis nur kurze Zeit dauern konnte. Am Tage seiner Ankunft hatte man ihm einiges erklärt. Sechs Monate lang hatte er Zeit, sich an das Leben als Gefangener zu ge wöhnen, dann fand der Transport zum Mond statt. Dort würde er genau neun Jahre bleiben, um anschließend wieder in das Bezirksgefängnis zu rückzukehren und die letzten sechs Monate seiner Strafe abzubüßen. Der eigentliche Sinn dieser Unterbringung wurde Arsan ziemlich schnell klar - die irdische Justiz legte keinen Wert darauf, einen Gefangenen zu stra fen. Ihr wichtigstes Ziel war, die Charaktere der Straffälligen zu ändern, damit sie nie wieder mit dem Gesetz in Konflikt gerieten. Daß das Bezirks gefängnis durch Energiemauern fast undurchdringlich von der Außenwelt abgeschirmt war, diente nur dem einen Zweck, die Bevölkerung vor den Gefangenen zu schützen - mehr nicht. Diese Informationen bekam Arsan von einem Mitgefangenen, der sich nach dreijähriger Zwangsarbeit auf dem Mond zur Konversion entschlossen hatte und wenige Tage später nach Albuquerque zurücktransportiert wor den war. „Das Leben in den Mondbergwerken ist verdammt hart, Junge!“ hatte der Häftling gesagt. „Und sie haben nur eines vor - dich mit Arbeit so lange zu schinden, bis du reif bist für eine Konversion. Und glaube mir, ob du da oben gezwungen wirst, deinen Körper in Stücke zu schuften, oder ob du deinen Charakter hier mit Hilfe von Fachleuten umbaust - der Unterschied ist gewaltig. Beides ist gleichermaßen unangenehm, aber das zweite Verfah ren ändert dich positiv - das ist der Unterschied!“ Arsan hatte auch darauf nicht reagiert; er saß seine Zeit in Albuquerque ab, trotz der eindringlichen Mahnungen des Anstaltspsychologen und des nimmermüden Carmody, der offenbar nicht gewillt war, den Fall Arsan Ganew nach dem Urteil einfach zu den Akten zu legen. In Albuquerque erhielt Arsan binnen weniger Tage den Spitznamen Der Große Schweiger; es störte ihn nicht. Tagsüber beschäftigte er sich in der wohlsortierten Gefängnisbücherei, nachts schlief er ruhig dem Tag entgegen, an dem man ihn zum Mond transportieren würde. *
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„Sie haben noch genau achtundvierzig Stunden Zeit, Ganew!“ mahnte der Anstaltspsychologe; er hatte sich Arsan gegenüber an den langen Tisch ge setzt, an dem Wärter und Häftlinge gemeinsam die Mahlzeiten einnahmen. „Und diese Zeit ist nicht mehr, lang!“ „Ich weiß, wie lang ein Tag ist!“ gab Arsan zurück, während er aß. „Las sen Sie mich endlich in Ruhe!“ Der Psychologe zuckte mit den Schultern, dann widmete er sich resignie rend seinem Essen. Im großen Speisesaal hielten sich zu diesem Zeitpunkt dreihundert Häft linge auf, die von dreißig Wärtern überwacht wurden - wenn man von den Kameras absah, die zwar nicht zu erkennen waren, aber mit Sicherheit ir gendwo eingebaut waren, wie Arsan vermutete. Von den Häftlingen befan den sich vierzig Prozent als Dauergäste in der Anstalt - sie unterzogen sich der Konversion. Der Rest wartete auf den Transport zu den Mondbergwer ken. Am hinteren Ende des langen Saales flimmerte der Bildschirmkubus des Holovisors, der fast vierundzwanzig Stunden lang in Betrieb war. Arsan sah nur zur Hälfte zu; selbst für seinen Geschmack war das Programm zu debil. Erst der abrupte Stop des trivialen Films erregte sein Interesse; aufmerk sam sah er zu dem Würfel hinüber, der einige Minuten lang das Zeichen des Senders zeigte, eine moderne Plastik, die die Wahrhaftigkeit darstellen soll te. Als die Figur verschwand, erschien ein Nachrichtensprecher im Bild; die dunkle Kleidung ließ vermuten, daß er nichts Angenehmes zu berichten hatte. „Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer“, sagte der Sprecher ernst. „Aus aktuellem Anlaß unterbrechen wir unser laufendes Programm. Wir haben vor wenigen Minuten erfahren, daß Donald W. Asmodi, Präsident der Solaren Union, im Alter von dreiundneunzig Jahren an den Folgen einer Herzattacke verstorben ist!“ Ein Raunen ging durch den Saal; auch bei den Häftlingen in Albuquerque war der alte Präsident sehr bekannt - und beliebt. Das Niederschlagen des Marsaufstandes, bei dem kein Tropfen Blut geflossen war, hatte den alten Mann zum Volkshelden gemacht; jedesmal, wenn er für den Präsidentenpo sten kandidiert hatte, war er mit überwältigenden Mehrheiten in seinem Amt bestätigt worden. Arsan lächelte schwach; ihn konnte die Nachricht
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nicht überraschen - er wußte schon seit mehr als zwölf Jahren, daß der Prä sident in hohem Alter einen sanften Tod sterben würde. „Gemäß der Verfassung der Solaren Union“, fuhr der Nachrichtensprecher fort, „hat der Vorsitzende des Solaren Rates mit sofortiger Wirkung eine Neuwahl ausgeschrieben. Der Wahltag wird in genau einem halben Jahr stattfinden, wie es das Gesetz vorschreibt! Bis zu diesem Augenblick liegen nur zwei Kandidaturen vor!“ Das Bild im Kubus änderte sich; der Sprecher verschwand, und an seine Stelle trat ein Mann, den Arsan kannte: Myron Heatherton, Fraktionsvorsit zender der Regierungspartei, ein Mann, der ein nicht zu übersehendes Flui dum von Intelligenz, Besonnenheit und Gerechtigkeit besaß. Heatherton sprach einen kurzen, eindringlichen Nachruf auf Asmodi, dann gab er seine Kandidatur bekannt. Wieder wechselte das Bild; diesmal wurde Kenneth Foissy sichtbar. Er war Vorsitzender der stärksten Oppositionspartei. Wie Heatherton, beschränkte er sich auf das Nötigste; er drückte seine Trauer über Asmodis Tod aus und verkündete, er werde sich um die Präsident schaft bewerben. Foissys Ausstrahlung war von ganz anderer Art als die Heathertons; der Mann versprach, ohne dies zu sagen, Fortschritt, Änderung der bestehenden Verhältnisse zum Wohle aller. Foissys Image war das eines Sozialrevolutio närs - gebremst und kontrolliert durch eine rechtliche und moralische Unan tastbarkeit. Selbst seine erbittertsten politischen Gegner wagten nicht, ihn der leisesten Unlauterkeit zu bezichtigen. Dies bedeutete in Foissys Fall besonders viel. Der Vorsitzende der Opposition war Androide. „Ganew! Ganew!“ rief der Psychologe und packte Arsan an den Schultern. „Mann, was fehlt Ihnen? Ist Ihnen übel?“ Arsan befreite sich aus dem Griff und stand auf; sein Gesicht war fast blut leer, seine Augen blickten starr in die Weite. Er knickte halb ein; der Psycho loge kam um die Ecke des Tisches und stützte Arsan. „Reden Sie, Mann!“ schrie er Arsan an. „Was fehlt Ihnen?“ „Nichts!“ wehrte Arsan ab; langsam nur fand er wieder zu sich. „Ich möchte in meine Zelle zurück!“ Halb gehend, halb von dem Psychologen geschleppt, erreichte Arsan seine Zelle; in dem Raum angekommen, legte er sich auf sein Bett und rührte sich nicht, bis der Psychologe nach einigem Zögern den Raum wieder verlassen - 25
hatte. Langsam richtete sich Arsan auf, nachdem er das Schnappen des Tür schlosses gehört hatte, stützte den Kopf in die Hände und grübelte. „Auch das noch!“ murmelte er verzweifelt. „Was soll ich jetzt tun?“ Arsan stand auf, ging in der Zelle hin und her. Seine Beine bewegten sich wie Teile eines Automaten. Von Zeit zu Zeit stöhnte er unterdrückt auf; in seinem Schädel tobte eine Flut sich widersprechender Gedanken. Länger als eine halbe Stunde marschierte Arsan in der Zelle auf und ab; er nahm nicht wahr, daß er durch das Guckloch besorgt beobachtet wurde. Dann setzte er sich wieder auf das Bett. „Der letzte Versuch!“ murmelte Arsan. „Meine allerletzte Chance!“
4. Arsan begann unterdrückt zu kichern, wurde lauter und brach schließlich in schallendes Gelächter aus. Der Mann wußte, daß er sich jetzt keinen noch so kleinen, u nscheinbaren Fehler erlauben durfte; alles, jede Kleinigkeit mußte so ablaufen, wie Arsan es geplant hatte. Arsan wußte, daß er äußerst hoch und gefährlich spielte, aber er war entschlossen, diesen letzten ihm n och verbliebenen Trumpf bis an die Grenze des Möglichen auszuspielen. Abrupt brach das Gelächter ab, setzte als Kichern wieder ein. Arsan spannte alle Kräfte an, als er den Überzug der Matratze mit bloßen Händen aufriß und die Füllung aus zusammengepreßtem Seegras herauswühlte. Der Wärter am Guckloch sah fassungslos durch das halbverspiegelte Glas, dann wanderte sein Blick zu dem Anstaltspsychologen, der neben ihm stand. „Was, bei Merkur, treibt er jetzt?“ wollte der untersetzte Wärter wissen. „Abwarten!“ empfahl der Psychologe; sein fachliches Interesse war ge weckt, und er trat näher an das Guckloch. Im Innern der Zelle war Arsan, leise vor sich hin murmelnd, damit beschäftigt, aus dem Seegras kleine Ne ster zu formen, die er willkürlich im Raum verteilte. In kurzer Zeit war jeder Winkel der Zelle mit diesen Nestern ausgestattet. Auf dem Fensterbrett fand sich ein solches Nest, das Waschbecken war ebenso damit ausgestattet wie der Boden und das Bett.
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Der Psychologe verzog schmerzlich das Gesicht und nickte finster, dann gab er mit einer Handbewegung dem Wärter Befehl, die Zelle zu öffnen. Arsan unterbrach seine absonderliche Tätigkeit nicht, als die beiden Männer in den Raum traten. Erst als der Psychologe ihn unmittelbar ansprach, hörte Arsan mit dem halblauten Murmeln sinnloser Silben und Satzfetzen auf. „Was machen Sie denn da Schönes, Ganew?“ erkundigte sich der Psycho loge freundlich. Arsan blickte überrascht auf und lächelte entrückt. „Ich baue Nester“, erklärte er freundlich, „damit die kleinen Mäuse weich schlafen können. Bitte, passen Sie auf, daß Sie nicht auf eines der Tierchen treten!“ „Er ist übergeschnappt!“ stellte der Wärter entgeistert fest, dann fuhr er grimmig fort: „Oder er versucht uns zu veralbern und den Irren zu mimen. Stehen Sie auf, Mann - solche Tricks verfangen bei uns nicht!“ „Lassen Sie den Mann in Ruhe!“ wurde der Wärter scharf zurückgewie sen. In der Türöffnung war der Leiter der Strafanstalt zu sehen. „Ich kam zufällig vorbei. Was geht hier vor? Was sagen Sie als Fachmann?“ Die Frage galt dem Psychologen, der angestrengt nachdachte. „Alkoholdelir!“ meinte er schließlich. „Der Mann hat keinen Tropfen Alkohol mehr gesehen, seit er hier eingelie fert wurde!“ protestierte der Wärter energisch, offenbar in seiner Berufsehre gekränkt. „Und ich weiß auch, wie ein Delirium aussieht - so jedenfalls nicht!“ Der Leiter der Anstalt sagte nichts; sein fragender Blick ruhte auf dem Psychologen. „Ganew leidet nicht an einem Delirium infolge überhöhten Alkoholgenus ses“, erklärte der Wissenschaftler ruhig. „In G anews Fall handelt es sich um ein Entzugsdelir!“ „Selbst wenn Ihre Vermutung stimmt“, wandt der Anstaltsleiter ein, „sieht Ganews Verhalten zwar sehr sonderbar aus, gleicht aber keinem der Delir fälle, die ich kenne! Sind Sie sicher, daß er nicht simuliert?“ Während des Wortwechsels war Arsan weiter seiner Beschäftigung nach gegangen, Nester für seine kleinen Freunde zu bauen. Die Anwesenheit der drei Männer schien ihn nicht zu stören.
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„Solche Fälle kommen nur äußerst selten vor“, erläuterte der Psychologe. „Sie haben natürlich in gewisser Weise recht - ein Alkoholdelir ist norm a lerweise mit dem Auftauchen von furchterregenden Halluzinationen ver bunden. Das Register der Schreckbilder reicht von bösartigen, großen schwarzen Hunden bis zu Ungeheuern aus dem Weltraum. Es gibt aber auch - das allerdings nur selten - Fälle eines sogenannten positiven Delirs, in denen die Patienten unter Halluzinationen leiden, aber unter recht erfreuli chen. Ganew beispielsweise hat eine Erscheinung von kleinen, putzigen Nagern, die seiner Hilfe bedürfen. Darum baut er Nester für sie. Und was Ihre zweite Bemerkung betrifft, nein, Ganew sim uliert nicht. Die Fälle eines positiven Delirs sind so selten, daß nur Fachleute sie kennen!“ „Was sollen wir mit ihm machen?“ wollte der Wärter wissen; er musterte Ganew mit offen erkennbarem Mißtrauen - die Ausführungen des Psycho logen schienen den Wärter nicht überzeugt zu haben. „Schaffen Sie ihn in die Krankenabteilung“, bestimmte der Psychologe. „Wir werden die Halluzinationen mit Medikamenten bekämpfen. Ich werde später feststellen, wie die weitere Therapie aussehen soll!“ „Ganew ist für den nächsten Transport zum Mond b estimmt!“ bemerkte der Anstaltsleiter. „Denken Sie bitte daran!“ Der Psychologe zuckte mit den Schultern und antwortete entschieden: „Bevor er nicht völlig auskuriert ist, kann ich einen Transport nicht ver antworten. Die medizinische Versorgung im Straflager auf dem Mond mag zwar vorzüglich sein, aber es gibt meines Wissens keinen Psychologen im Lager. Wenn Sie Ganew zum Mond schicken, wird man ihm dort oben mit Sicherheit jeden Abend eine große Dosis Miul-AV verabreichen, um ihn ru higzustellen, wie man diesen Abschmierdienst mit Psychodrogen heutzutage nennt. Und wenn G anew nach Verbüßung seiner S trafe zurückkehrt, wird er von dieser Droge so abhängig sein, daß er mehr Miul-AV tagsüber verzehrt als Nahrungsmittel.“ „Ich weiß!“ meinte der Anstaltsleiter mißmutig. „Also gut, er bleibt noch auf der Erde, bis Sie ihn wieder hergerichtet haben. Aber beeilen Sie sich bitte!“ Der Psychologe sah dem Leiter nach, als der Mann den Korridor entlang schritt; unwillig schüttelte der Wissenschaftler den Kopf. „Beeilen!“ murmelte er bitter. „Als ob der menschliche Verstand eine Ma schine wäre, an der man Schäden einfach flicken könnte! Helfen Sie mir!“ - 28
Die letzten Worte hatte der Mann laut gesprochen; sie waren an den Wär ter gerichtet, der auf das Kommando des Psychologen hin Arsan unter den Armen faßte und langsam in die Höhe zog. Verge blich protestierte Arsan mit weinerlicher Stimme gegen diese Behandlung; sanft aber bestimmt wur de er in den Krankenblock der Anstalt transportiert. Arsan kannte die Räumlichkeiten annähernd - wegen einer Magenverstimmung hatte er die Station schon einmal aufsuchen müssen. Auch hier, das wußte er, hatte er keine Freunde, da er sich als Patient noch störrischer verhalten hatte als sonst. Als Arsan in das Innere der Krankenstation gelangte, erkannte er rasch, daß die Lage für ihn außerordentlich günstig war. Fast alles Personal war in den Zimmern beschäftigt, auf den Gängen liefen die Männer und Frauen achtlos aneinander vorbei. Während er noch immer leise unsinnige Silben vor sich hin lallte, schielte Arsan nach der Hüfte des Wärters, der seinen torkelnden Gang stützte. Der Laser der Wache war relativ leicht zu erreichen und, wie die Ladekontrollampe zeigte, mit einem frischen Magazin geladen. Während die beiden Männer ihn mit sich zerrten, überdachte Arsan die Lage der Krankenstation. Von hier aus war eine Flucht in jedem Falle einfa cher als von jedem anderen Platz aus. Allerdings waren die Ausbruchsmög lichkeiten ohnedies sehr b eschränkt - in der nicht sehr langen Geschichte der Strafanstalt waren insgesamt dreißig Fluchtversuche verzeichnet. Keiner der Ausbrecher hatte sein Ziel erreicht; der Rekord stand bei achtzehn Stunden in Freiheit - länger hatte sich ke iner halten können. Blinzelnd sah Arsan sich um; der Flur war in diesem Augenblick men schenleer, und in einigen Metern Entfernung erkannte Arsan ein frisch über zogenes Bett, dessen Oberteil abgenommen und als Trage benutzt werden konnte. Bevor der Wärter begriff, was mit seinem Gefangenen vorging, hatte Ar san sich losgerissen. Ein Handgriff genügte, um ihn in den Besitz der Strahlwaffe zu setzen. Als der Wärter verdutzt hochblickte, sah er in die Mündung des bereits entsicherten Laser. „Ganew!“ sagte der Psychologe scharf; er hatte als erster die Verblüffung überwunden. „Was soll der Unfug - Sie wissen doch, daß Sie Ihre Lage da durch um keinen Deut verbessern!“ „Ruhe!“ gab Arsan mit gleicher Schärfe zurück. „Legen Sie die Hand an die Hüfte, so als wären Sie bereit, jederzeit zu ziehen!“ - 29
Der Befehl galt dem Wärter, der unter dem Eindruck des auf ihn gerichte ten Laser rasch gehorchte. Arsan nickte zufrieden - der Kolben des Lasers war so klein, daß ein nicht sehr aufmerksamer Beobachter nicht erkennen konnte, ob der Wärter seine Hand auf einem Kolben liegen hatte oder nur die Öffnung des Halfters verdeckte. „Vorwärts!“ kommandierte Arsan; mit dem Laser trieb er die Männer zu dem Bett. Er zog die Decke zurück und legte sich darunter - jederzeit den Laser auf einen der beiden Männer gerichtet. „Ich bin schwerkrank!“ sagte er mit leichtem Grinsen. „Und Sie werden mich jetzt sofort in eine erstklassige Klinik in der Stadt überweisen!“ Eine junge Frau in Schwesterntracht bog um eine Ecke und kam den Kor ridor entlang; während sie an der Gruppe vorbeiging, nickte sie dem Psy chologen lächelnd zu. „Fassen Sie mit an!“ bestimmte der Psychologe nach kurzem Nachdenken; er schien begriffen zu haben, daß er im Augenblick nichts anderes tun konn te, als sich den Anweisungen des Häftlings zu fügen. Sein Befehl galt dem Wärter, der Arsan wütend anstarrte. „Dafür werden Sie noch zu bezahlen haben, Ganew!“ zischte der Mann in drohendem Ton. „Spätestens in vierundzwanzig Stunden sind Sie wieder hier - und dann werden Sie meinen Befehlen gehorchen!“ „Kümmern Sie sich um Ihre Sachen!“ gab Arsan ungerührt zurück. „Fah ren Sie das Bett zu dem Eingang, an dem die Krankentransporter halten!“ Die Männer gehorchten; nach wenigen Minuten war der Ausgang erreicht. Niemand nahm Notiz von der Dreiergruppe. Nur ein bewaffneter Wärter stellte sich den Männern in den Weg. „Dieser Mann ist schwer erkrankt!“ erklärte der Psychologe auf den fra genden Blick des Beamten hin. „Wir müssen ihn sofort in eine bessere Klinik transportieren! Es eilt - haben Sie einen Gleiter frei?“ „Gleiter vierzehn ist zur Zeit frei!“ gab der Mann Auskunft. „Brauchen Sie noch einen Fahrer?“ Der Psychologe schielte verstohlen zu Arsan, bevor er antwortete; der Blick, der ihm zugeworfen wurde, reichte als Antwort aus. „Danke, nein!“ erklärte der Psychologe. „Wir kommen zu zweit aus - Sie können ja sehen, der Häftling ist nicht bei Bewußtsein. Er wird keine Schwierigkeiten machen!“
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Der Mann hielt die große Schwingtür auf, bis Arsans Lage rstatt auf die Rampe geschoben war, dann sprang er von der Rampe und ging auf einen abseits stehenden Gleiter zu. Mit Erleichterung stellte Arsan fest, daß das Fahrzeug neutral lackiert war. Zwar war der Gleiter auf den ersten Blick als Krankentransporter zu identifizieren, aber keine Markierung verriet, daß er zum Fuhrpark einer Haftanstalt gehörte. Geschickt steuerte der Wärter den Gleiter so an die Rampe, daß einige wenige Handgriffe genügten, um die Trage samt Arsan ins Innere des Fahrzeugs zu befördern. „Ich werde in der Kabine bleiben und den Patienten beobachten!“ erklärte der Psychologe, nachdem er den mörderischen Blick aus Arsans Augen rich tig gedeutet hatte. „Gute Fahrt!“ wünschte der freundliche Wärter, als sein Kollege in die Fahrerkabine kletterte. Mit einem leisen Rucken setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. „Wohin soll es gehen?“ wollte der Psychologe wissen; er hatte es sich auf einem der Plätze bequem gemacht, die für das ärztliche Begleitpersonal be stimmt waren. Mit leicht unsicheren Fingern fischte der Mann eine Zigarette aus einer zerknitterten Packung und zündete sie an. „In spätestens einer halben Stunde wird man in der Anstalt Ihre Flucht bemerkt haben!“ stellte der Psychologe fest; die Zigarette schien ihm seine Gelassenheit teilweise zurückgebracht zu haben, wie das leicht spöttische Lächeln bewies, mit dem der Mann auf Arsan herabsah. „Und man wird auch recht schnell entdecken, wie Sie geflohen sind!“ fuhr der Wissenschaftler fort. „Glauben Sie mir, Ihre Chancen sind gleich Null!“ „Das bleibt abzuwarten!“ konterte Arsan. Der Gleiter hatte inzwischen das Anstaltsgelände verlassen und sich in den schwachen Verkehr auf der Hauptstraße eingefädelt. Zügig, mit einem Mittel von etwas mehr als einhundert Kilometern in der Stunde, glitt das Fahrzeug über die Betonpiste in Richtung Süden. Die Straße zog sich am Rio Grande entlang, der kurz vor El Paso zum MexikanischAmerikanischen Grenzfluß wurde und auf der mexikanischen Seite Rio Bra vo del Norte genannt wurde. Aber diese Grenze war im Laufe der Jahrzehn te immer unwichtiger geworden, ebenso wie die White Sands Proving Grounds, die Arsan nach mehr als zweistündiger Fahrt aus dem linken Fe n ster sehen konnte. Früher, als die Vereinigten Staaten noch ein selbständiges, machtvolles politisches Gebilde gewesen waren, hatte die amerikanische - 31
Armee dort ein Raketen-Testgelände unterhalten. Inzwischen hatte man die Raumfahrt weitestgehend dem Zugriff von Militärs entzogen, und die Ver einigten Staaten waren nichts weiter als ein besonders großer und wohlha bender Verwaltungsbereich der Erde. Immerhin: Arsan wußte, daß an der Grenze nach wie vor kontrolliert wurde; allerdings unterstanden die Polizeikräfte auf der anderen Seite des Rio Grande der Verwaltung der Mittelamerikanischen Union, und daß die Nachrichtenverbindungen zwischen beiden Bezirken wesentlich hätten ver bessert werden können, war in Unterweltskreisen hinlänglich bekannt. Wenn es Arsan gelang, die Grenze ungehindert zu überqueren, gewann er dadurch fast drei Tage. So lange dauerte es erfahrungsgemäß, bis das Amts hilfeersuchen der nordamerikanischen Polizei die Beamten auf der anderen Seite in Bewegung brachte. Der Psychologe schien Arsans Kombinationen nachgedacht zu haben; mit einem geringschätzigen Lächeln sagte er: „Geben Sie auf, Ganew! Sie haben keinerlei Aussichten, die Grenze über schreiten zu können! Wenn Sie es bei Nebenübergängen versuchen, wird man Sie festhalten, weil jeder Grenzwächter sich sofort fragen wird, weshalb Sie schlechte Nebenstraßen der Hauptstraße vorziehen. Und wenn Sie den Hauptübergang benutzen wollen - der liegt in El Paso, und auf der a nderen Flußseite liegt Ciudad Juarez. Da wird man sich fragen, warum ein Kranker aus dem halbleeren, vorzüglichen Hospital in El Paso ausgerechnet in das fast provinzielle Krankenhaus von Ciudad Juarez gebracht werden soll. Haben Sie das begriffen?“ „Sicher!“ bestätigte Arsan kalt. „Ich habe mir auch schon e twas einfallen lassen. Machen Sie sich frei!“ Der Psychologe sah Arsan verdutzt an. „Was, bitte?“ fragte er. „Sie sollen sich ausziehen!“ befahl Arsan und verlieh der Aufforderung mit einer kleinen Bewegung des Lasers mehr Nachdruck. „Sie haben ziem lich genau meine Figur - Ihr Anzug wird mich vorzüglich kleiden!“ Zähneknirschend trennte sich der Psychologe von seinem neuen, offenbar maßgeschneiderten Anzug; dann wurde ihm befohlen, Arsans Kleidung anzulegen. Arsan ließ den Psychologen warten, bis er selbst wieder voll ständig bekleidet war; der Anzug des Wissenschaftlers paßte ihm leidlich. Während der Psychologe die Kleider Arsans überstreifte, suchte Arsan in - 32
der Bordapotheke des Kranke ntransporters. Nach kurzem Suchen hatte er gefunden, was er brauchte. Aus einem Klappfach förderte er eine Hochdruckspritze zutage, die er m it einem starken Betäubungsmittel lud. „Bedienen Sie sich!“ sagte er mit leisem Spott, als er die Spritze an den Psychologen weitergab. „Ich wünsche ...“ Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. In einem Anfall von Verzweif lung richtete der Psychologe die Öffnung der Spritze gegen Arsan und drückte ab. Die Preßluft trieb in Sekundenbruchteilen einen feinen weißli chen Nebel aus der Düse, der Arsan entgege nzischte. Bevor die betäubende Wolke Arsan erreicht hatte, war der Gefangene einen halben Schritt zur Seite gewichen und zog den Abzug seines Lasers durch. Der blaßgelbe Strahl des Gas-Lasers schlug zwischen den Beinen des Psychologen auf den Metallbo den des Gleiters und bohrte ein daumenstarkes Loch. Der Geruch verbrann ten Stahls hing plötzlich in der Kabine des Transporters und mischte sich mit dem leicht ätzenden Geruch des versprühten Betäubungsmittels. Leise drohend sagte Arsan: „Versuchen Sie solche Tricks nicht noch einmal! Ich werde so sanft mit Ihnen umgehen, wie es die Umstände zulassen - an Ihnen liegt es, ob ich härter werden muß!“ Sichtlich bleicher geworden, starrte der Psychologe auf das Loch im Bo den, dann nickte der Mann und setzte die Düse der Spritze an seinen linken Oberarm. Sekunden später hatte der Druck das Medikament in die Kapillar gefäße unter der Haut gepreßt. Es dauerte eine halbe Minute, dann begann das Mittel zu wirken. Der Psychologe bekam glasige Augen, knickte in den Knien ein und ging zeitlupenhaft zu Boden. Der Fahrer, der den Vorgang durch den Rückspiegel beobachtet hatte, fluchte halblaut. „Verlassen Sie die Hauptstraße und benutzen Sie einen anderen Weg!“ kommandierte Arsan rauh; folgsam verließ der Wärter nach einigen Kilome tern die Fahrbahn und bog in einen kleinen Seitenweg ein. Die Straße schlängelte sich durch die südwestlichen Ausläufer der Rocky Mountains; nur für jeweils einige hundert Meter war der Straßenverlauf zu übersehen. Was darüber hinausging, wurde von Felsvorsprüngen und An höhen verdeckt. Arsan wartete zehn Minuten, dann befahl er dem Fahrer: „Halten Sie an der nächsten Straßenbiegung an!“
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Der Wärter gehorchte; für Sekundenbruchteile zuckte ein höhnisches Grinsen über das Gesicht des Mannes. Arsan übersah das Zucken nicht, aber er war auch auf den offenkundigen Trick des Wärters vorbereitet. „Hören Sie zu, Mann!“ sagte Arsan leise und eindringlich. „Ich nehme an, daß Sie mich gut genug kennen, um zu wissen, daß ich Sie nicht unter Druck setzen will, indem ich Ihnen mit der Erschießung des Psychologen drohe. Sie haben jetzt eine einmalige Chance, wegzulaufen!“ „Und genau das werde ich tun!“ brummte der Wärter höhnisch, „Sie wol len mit mir den Platz tauschen und mich ebenfalls mit der Spritze betäuben. Dazu müssen Sie entweder nach vorne kommen - in diesem Fall verschwin de ich mit dem Gleiter -, oder Sie zwingen mich, nach hinten zu kommen. Und in diesem Fall können Sie mich einige Zeit nicht sehen - das dürfte rei chen, um mich in Sicherheit zu bringen! Sie haben ausgespielt, Ganew!“ Langsam zog sich Arsan am Ende des Gleiters zurück und ließ die Heck tür nach oben aufschwingen; noch immer durch das Fenster in der Rück wand der Fahrerkabine gut sichtbar für ihn, saß der Wärter auf dem Sitz des Fahrers. In den Augen des Mannes, die er im Rückspiegel deutlich sehen konnte, schimmerte eine leicht boshafte Freude, gepaart mit Angst. „Sie steigen jetzt nach links aus!“ befahl Arsan laut und sprang auf den Straßenboden. Auf dem Rückspiegel wanderte der Kopf des Wärters langsam nach links, wo die freie Straße eine Flucht stark erschwerte. S obald der Kopf im Spiege l verschwunden war, machte Arsan einen gewaltigen Satz nach rechts, auf das Geröll zu, das sich am Rande der Straße befand. Seine Rechnung ging auf; der überschlaue Wärter hatte sich geduckt, nachdem er den Kopf zur Straße hin bewegt hatte, war dann nach rechts gekrochen und hoffte so, Arsan zu überlisten. „Pech gehabt, mein Freund!“ sagte Arsan ruhig, als der Wärter den Boden der Straße unter den Füßen hatte. „Ich will nicht hoffen, daß Sie einen Wett lauf mit einem Laserstrahl unternehmen wollen!“ Der Fahrer drehte sich auf dem Absatz herum und starrte Arsan mit dem Ausdruck fassungslosen Erstaunens an. Mit langsamen Schritten ging er auf Arsan zu, an ihm vorbei und kletterte in den Transportraum. Arsan wartete, bis der Mann sich mit Hilfe der Injektionspistole selbst betäubt hatte, dann ging er nach vorne und nahm auf dem Sitz des Fahrers Platz. Ein Blick in den Rückspiegel überzeugte ihn davon, daß die Szene hinter ihm halbwegs - 34
natürlich wirkte. Auf der Trage lag der Psychologe und schlief; der Wärter war auf einem der Plätze für das Begleitpersonal zusammengesunken, als sei er eingenickt und könne jeden Augenblick wieder erwachen. Arsan ließ den Motor des Gleiters anlaufen und fuhr weiter die Straße entlang. Auf einer Anhöhe stoppte er jäh die Fahrt. Ein rascher, gründlicher Blick voraus hatte ihm gezeigt, daß in einiger Entfernung ein flacher, offener Glei ter die Straße befuhr. Arsan blieb nur wenig Zeit, dann mußte ihn das Fahr zeug erreicht haben. So rasch es ging, schaltete er den Gleitermotor aus. Das Aggregat knirschte leise, als die Bodenplatte des Fahrzeugs den Boden der Straße berührte. Arsan versteckte den Laser in seiner Jacke, dann verließ er die Fahrerkabine, ging nach vorne und öffnete die Motorhaube. Jetzt stand er neben dem Gleiter, den Kopf über den Maschinenraum ge senkt; in der Nähe war bald das Heulen eines Gleiters zu hören, der rasch näher kam. Arsan schien nicht wahrzunehmen, wie das Heulen anschwoll, als der Fahrer sein Gefährt gewaltsam abbremste und zum Stillstand brach te. Das leise Klatschen einer Tür war zu vernehmen, dann leises Knirschen, als sich der Fahrer Arsan näherte. „Kann ich Ihnen helfen, Mister?“ fragte eine klare Altstimme. Arsan setzte ein Lächeln auf und richtete sich auf; während er sich um drehte, gefror sein Gesicht zu einer Maske starren Entsetzens. Er spürte, wie seine Beine nachgaben, sah noch, wie das Mädchen den Mund öffnete, dann verlor er die Besinnung. * Evita. Einige Zentimeter kleiner als er, schlank, fast knabenhaft. Das Gesicht mit den großen, dunklen Augen, umrahmt von kurzgeschnittenem, dunkelbraunem Haar. Er hatte sie in Skandinavien kennengelernt, auf einer Reise, die er zusammen mit einem Freund machte. Das Mädchen hatte am Straßenrand gestanden und sich weder von dem wildverwegenen Aussehen der beiden jungen Männer noch von der Brüchigkeit des alten Gleiters davon abhalten lassen, sie auf der Fahrt zu begleiten. Es wurden vier Wochen, abenteuerlich, wild und romantisch. An Lagerfeuern, die sie in verschwiegenen, menschenverlassenen Fjorden anfachten, brieten sie die selbstgefangenen Fische, badeten in den kleinen, felsigen Buchten, deren Wasser vom Golfstrom gewärmt war, schliefen im Freien auf dem warmen Sand. - 35
Sie war im Norden Kanadas geboren, sah aber aus, als stamme sie aus weit südli cheren Landstrichen. Ähnlich war auch ihr Temperament - überschwengliche, an steckende Fröhlichkeit, manchmal getrübt von Anfängen einer tiefen Melanch olie. Gerade diese Mischung erregte Arsans Interesse. Es kam, wie es kommen mußte. Ohnmächtiges Zähneknirschen, als sie ihn in einer Bucht zurückließen und ohne ihn einen zweitägigen Ausflug machten; verzweifelte Ohnmacht, als er sah, was unausweichlich zu geschehen hatte - der Freund, seit langem schon hochgradig suicidgefährdet, entschied sich bei einer Weggabelung nicht für eine der beiden Straßen, sondern für den Wegweiser. Die Polizei schweißte das, was von den beiden noch geblieben war, aus dem unförmigen Wrack und schloß mit dem Vermerk: Menschliches Versagen die Akten.
5. „He, Mister, kommen Sie zu sich!“ hörte Arsan das Mädchen sagen, gefiltert und gedämpft durch seine langsam abklingende Bewußtlosigkeit. „So at traktiv bin ich nun wieder nicht, daß Sie bei meinem Anblick sofort umkip pen müssen!“ „Evita!“ flüsterte Arsan kaum hörbar. Als er die Augen öffnete, sah er das Gesicht des Mädchens vor sich, das ihm beim ersten Anblick an jenes tote Mädchen erinnerte, das er gewaltsam wieder vergessen hatte. „Irrtum, Mister!“ antwortete das Mädchen, das sein Flüstern gehört hatte. „Ich heiße Maryvonne! Was ist m it Ihnen? Fühlen Sie sich nicht wohl?“ Arsan hatte seine Benommenheit überwunden und richtete sich kopf schüttelnd auf. „Mir geht es prächtig!“ murmelte er. „Und was ist mit den beiden Männern in Ihrem Gleiter?“ erkundigte sich Maryvonne neugierig. „Ich habe alles versucht, sie aufzuwecken, aber sie schlafen, als hätte man sie betäubt!“ „Gut beobachtet!“ murmelte Arsan, während er den Laser zog und auf das Mädchen richtete. „Bitte, machen Sie mir keine Schwierigke iten!“ Das Mädchen trat zwei Schritte zurück und musterte Arsan ausgiebig.
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„Sie können das Ding wieder wegstecken!“ meinte sie nach einigem Nachdenken. „Ich werde Ihnen auch ohne diesen tödlichen Bittsteller hel fen!“ Arsan sah sie skeptisch an, dann sicherte er den Laser, b ehielt ihn aber in der Hand. Es erschien ihm mehr als rätselhaft, wie das Mädchen reagierte. „Warten Sie“, überlegte Maryvonne laut. „Irgendwoher ke nne ich Sie ...“ „Ich heiße Arsan Ganew!“ wurde ihr eröffnet. „Ich bin vor einigen Stun den aus der Strafanstalt in Albuquerque ausgebrochen, weil ich kein Interes se daran hatte, neun Jahre in den Mondbergwerken zuzubringen. Ich hoffe, Sie begreifen, wie wenig mir Ihr Leben angesichts dieser Zukunft bedeutet!“ „Mehr!“ sagte das Mädchen einfach. „Wie stellen Sie sich Ihre weitere Flucht vor? Mit dem Krankentransporter werden Sie nicht weit kommen!“ „Richtig!“ stimmte Arsan grimmig zu. „Deshalb werde ich mir Ihren Glei ter ausleihen. Sie bekommen ihn später von der Polizei zurück!“ „Und was haben Sie mit mir vor?“ wollte Maryvonne wissen; sie schien den Laser in Arsans Hand überhaupt nicht wahrzunehmen. „Sie werden eine kleine Schlafkur machen“, erklärte Arsan. „Ich werde Ihnen ein Schlafmittel einspritzen, und wenn Sie wieder zu sich kommen, bin ich längst untergetaucht!“ „Kommt nicht in Frage!“ protestierte Maryvonne. „Ich werde mitfahren! Ich denke gar nicht daran, Ihnen einfach meinen Gleiter zu überlassen. In welche Richtung wollten Sie fahren?“ „Süden!“ gab Arsan Auskunft und war über seine Ehrlichkeit erstaunt. „Genau wie ich!“ stellte das Mädchen fest. „Hören Sie: Ich habe einen wichtigen Termin, und wenn ich nicht pünktlich bin, ist die Hölle los. In Ihrem und meinem Interesse werde ich Sie begleiten!“ „Ausgeschlossen!“ wehrte Arsan ab. „Sie bleiben hier!“ Maryvonne begann wütend zu werden. „Sie scheinen ein unverbesserlicher Dickschädel zu sein, Arsan Ganew!“ sagte sie fauchend. „Was, glauben Sie, wird passieren, wenn ich nicht pünkt lich bei meinem Chef zum Dienst erscheine?“ „Das hängt von Ihrem Arbeitgeber ab“, meinte Arsan, „und der ist mir herzlich gleichgültig!“ „Sagen Sie das Foissy einmal persönlich !“ lautete die gereizt klingende Antwort des Mädchens. „Foissy!“ wiederholte Arsan ungläubig. „Sie arbeiten für Kenneth Foissy?“ - 37
„Ich sagte es bereits, laut und deutlich!“ konterte Maryvonne. „Er erwartet von mir wichtige Unterlagen für seinen Wahlkampf ...“ Maryvonne unterbrach sich abrupt und musterte Arsan mißtrauisch. „Sind Sie etwa von unseren politischen Gegnern gekauft?“ wollte sie wis sen; langsam ging sie rückwärts auf ihren Gleiter zu. „Sind Sie hinter den Dokumenten her? Oder ist Ihr Auftrag der, Foissys Mitarbeiterstab zu dezi mieren?“ „Steigen Sie ein!“ befahl Arsan nach kurzem Überlegen. „Sie werden mich zu Ihrem Chef bringen - zu ihm wollte ich nämlich!“ Das Mißtrauen des Mädchens wuchs noch; ehe Arsan sie daran hindern konnte, hatte sie in das Innere des Gleiters gegriffen und die Schlüssel abge zogen. Arsan kam gerade noch zur rechten Zeit, um sie am Werfen der Schlüssel zu hindern. „Sie, Sie ...!“ tobte Maryvonne und wehrte sich verbissen, als Arsan ihr die Schlüssel abzunehmen versuchte. Er unterdrückte mit Mühe einen Schmer zensschrei, als ihr Fuß mit großer Wucht sein Schienbein traf; langsam be gann er die Geduld zu verlieren, aber bevor er sich entschloß, härter vorzu gehen, erlosch der Widerstand des Mädchens ebenso rasch, wie er aufge flackert war. „Für einen ernsthaften Attentäter sind Sie viel zu rücksichtsvoll!“ meinte sie spöttisch, während sie den gelblichen Staub von ihren Hosen klopfte. „Also gut - ich werde Sie zu Foissy bringen, aber nur, wenn Sie mir sagen, was Sie dort zu tun haben!“ „Die Bedingungen stelle ich!“ beendete Arsan das Gespräch hart. „Setzen Sie sich und fahren Sie los - Richtung El Paso! Was haben Sie übrigens in dieser Einöde zu suchen gehabt? Haben Sie Verwandte hier?“ „Dienstgeheimnis!“ gab Maryvonne zurück. Arsan lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück, ständig das Mädchen im Auge haltend. Fürs erste war er in Sicherheit: Bis man auf der Nebenstraße den Krankentransporter gefunden hatte, würde mit Sicherheit beträchtliche Zeit vergehen. Die beiden Männer selbst waren für mindestens dreißig Stunden außer Gefecht gesetzt. Fraglich war nur, ob die amerikanische Poli zei ihre Zollkollegen in El Paso über die Flucht unterrichtet hatten - in die sem Fall wäre die Tarnung als Psychologe eher gefährlich als nützlich. Was das Mädchen anging, war Arsan nicht ganz sicher, was er von ihm halten sollte. - 38
„Sie gestatten?“ erkundigte sich das Mädchen mit ironischer Liebenswür digkeit und schaltete das Radio ein. „Wir bringen die letzten Nachrichten!“ klang es aus dem Lautsprecher. „Aus der Haftanstalt in Albuquerque brach vor wenigen Stunden Arsan Ganew aus. Er sollte eine zehnjährige Strafe wegen Mordes dritten Grades verbüßen. Die Behörden nehmen an, daß er versuchen wird, sich aus dem Hoheitsbereich der terrestrischen Polizei zu entfernen. Arsan ist mit einem Laser bewaffnet; die Polizei vermutet, daß er davon rücksichtslos Gebrauch machen wird!“ Die folgende Wettervorhersage nahm Arsan nicht mehr wahr; seine Ge danken kreisten um die Überlegungen, die die Polizei anstellen würde. Ar san dachte darüber nach, wohin er sich wenden würde, wenn er tatsächlich plante, die Erde zu verlassen. Einen kleinen, unbedeutenden Raumhafen gab es auch in El Paso; dort landeten hauptsächlich Charterschiffe, die Touristen aus allen Teilen des Sonnensystems herantransportierten und auf die nähere Umgebung verteil ten. Entsprechend den geringen Attraktionen, die die Vereinigten Staaten und Mexiko in dieser Gegend zu bieten hatten, war auch die Zahl der Ur lauber recht klein. Außerdem kannte Arsan keinen Menschen in El Paso wenn sich ihm eine Chance bot, das Sonnensystem zu verlassen, dann be stimmt nicht dort. Instinktiv hätte Arsan versucht, sich nach Australien durchzuschlagen - dort kamen fast täglich Hunderttausende von Touristen an, um auf den dreitausend künstlichen Inseln inmitten des Great Barrier Reef ihren Sonnenhunger zu stillen. Bei solchen Touristenströmen war ein Chaos nahezu unvermeidlich - dort war die Aussicht am größten, als blinder Passagier oder mit wahlweise gefälschten oder gestohlenen Papieren das Schwerefeld der Erde zu verlassen. Gelang ihm dies, war es fast aussichtslos für die terrestrische Polizei, ihn länger zu verfolgen - nur auf der Oberfläche von Planeten waren Personen aufspürbar. Im freien Raum zwischen den Planeten gab es mehr Verstecke als überhaupt Menschen im Sonnensystem. „Wo wohnt Foissy eigentlich?“ wollte Arsan wissen. Maryvonne begann leise zu kichern, lachte dann hemmungslos. „Mann!“ kicherte sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte. „Sie sind ein Spaßvogel erster Güte. Wie wollten Sie ihn denn finden?“ „So wie jetzt auch“, gab Arsan gelassen zurück. „Durch Fragen. Also?“
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„Foissy hat ein Haus in Buenaventura, in der Bucht von Choco!“ gab Ma ryvonne bereitwillig Auskunft. „Kennen Sie die Gegend?“ Arsan schüttelte den Kopf. „Die Bucht von Choco liegt an der kolumbianischen Pazifikküste - ein herrlicher Fleck Erde!“ Arsan unterdrückte mit Mühe einen Fluch. „Das dauert Tage, bis wir dort angekommen sind!“ sagte er finster. „Ich habe keine Zeit!“ „Warten Sie ab, was passiert!“ empfahl das Mädchen. Ihr Fahrstil bewegte sich hart an der Grenze der Legalität; mit einem Mit tel von mehr als zweihundert Kilometern in der Stunde raste das Mädchen durch die Gebirgstäler, verkürzte durch waghalsige Manöver die Kurven und nahm keinerlei Rücksicht auf Arsans zunehmende Unruhe. Arsan war gewiß kein Feigling, aber die Sorglosigkeit, mit der Maryvonne ihr und sein Leben aufs Spiel setzte, ließ ihn frösteln, zumal das Mädchen die immer schlechter werdenden Lichtverhältnisse nicht zur Kenntnis zu nehmen schien. Es war schließlich Arsan, der zum Armaturenbrett hinübergriff und das Fernlicht einschaltete. „Tausend Dank!“ meinte Maryvonne lächelnd. „Es fehlte nicht viel, und ich hätte selbst das Licht einschalten müssen. Sie müssen äußerst stabile Nerven haben.“ „Verschätzen Sie sich nicht!“ sagte Arsan trocken. „Auch meine Geduld endet - meist abrupt und mit unangenehmen Folge n. Hätten Sie die Güte, das Tempo zu drosseln?“ Er wies mit der Hand nach vorne, wo zwischen zwei Bergspitzen für Se kundenbruchteile ein Lichtschimmer aufgeblitzt war. „Sie haben recht!“ meinte Maryvonne und verringerte die Geschwindig keit des Gleiters allmählich, bis sie einen polizeifreundlichen Wert erreicht hatte. „Die Polizei ist recht rege auf diesen Straßen - besonders um diese Tageszeit!“ Mit normaler Geschwindigkeit näherte sich der Gleiter der City von El Paso; in den Vororten war der Straßenverkehr noch erträglich gewesen - in der Innenstadt herrschte ein nahezu vollkommenes Chaos. „Wir haben ausgesprochenes Glück!“ meinte Maryvonne erleichtert. „Es muß irgendein größeres Fest in El Paso gegeben haben!“
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Sie deutete auf mehrere Gleiter in ihrer unmittelbaren Nähe; die Fahrzeu ge trugen meist mexikanische Nummernschilder und waren mit Blumen und Girlanden geschmückt. „Bei diesem Andrang kann der Zoll unmöglich funktionieren!“ vermutete das Mädchen. „Die Beamten - werden wahrscheinlich froh sein, den Ver kehrsstau überhaupt unter Kontrolle halten zu können!“ „Ich hoffe, Sie haben recht!“ murmelte Arsan. Der Verkehr und der Zoll machten ihm keine Sorge; er fragte sich, was das Mädchen Maryvonne an der Grenze machen würde. Hier bot sich für sie eine einmalige Gelegenheit, den unbequemen Fahrgast rasch festnehmen zu lassen. Mit steigender Unruhe verfolgte Arsan, wie Maryvonne den Gleiter in die schier endlose Schlange der Grenzgänger einreihte. Er hatte Mühe, ein scheinbar gelangweiltes Gesicht zu machen, als die Zollbeamten sich Mary vonnes Gleiter näherten - und mit einem Seufzer der Erleichterung quittierte er die Handbewegung des Zöllners, die Maryvonne den deutlichen Befehl gab, durchzufahren. „Dieser Teil des Abenteuers wäre erledigt!“ meinte Maryvonne wenig später. „Was kommt jetzt?“ Kurz hinter der Grenze war sie von der Hauptstraße abgebogen und hatte sich für eine Nebenstraße entschieden, die zur Pazifikküste führte - wenn auch mit großen Umwegen. „Wäre es nicht besser, wir würden den Transamerican-Highway benut zen?“ erkundigte sich Arsan. Diese schon recht alte Fernverbindung von Alaska bis Feuerland war vor zehn Jahren zum letztenmal modernisiert worden; jetzt zog sich ein Beton band mit sechzehn Fahrspuren das Rückgrat des Kontinents entlang - von Selawik am Nördlichen Polarkreis bis nach Punta Arenas an der Magellan straße. Vier ähnlich großzügig gebaute Querverbindungen gab es im nördli chen Teil des Doppelkontinents, drei im Süden, darunter die legendäre Amazonica, die erste vor sechs Jahren fertiggestellt worden war. „Was sind Sie eigentlich von Beruf?“ wollte Maryvonne wissen. „Raumfahrer!“ antwortete Arsan. „Aber was hat das mit meiner Frage zu tun?“ „Etwas Ähnliches habe ich mir gedacht“, sagte das Mädchen. „Sie haben keine Ahnung, wie es auf der Erde heutzutage aussieht. Der Highway ist schon jetzt wieder überlastet - wenn wir auf dieser Route versuchen, nach - 41
Kolumbien zu kommen, werden wir Tage brauchen! Und Zeit haben wir nicht viel! Ich würde vorschlagen, wir fahren ziemlich genau nach Westen, auf Guayamas zu. Dort mieten wir uns ein schnelles Boot und fahren an der Küste entlang bis Buenaventura. Einverstanden?“ Arsan wühlte in den Taschen des Psychologen herum; der Mann verdiente offenbar nicht sonderlich viel - zwei Fünfziger waren die größten Scheine, die Arsan finden konnte. „Bekommt man dafür ein hochseetaugliches Boot?“ fragte er ske ptisch. „Keine Angst!“ versuchte Maryvonne ihn zu beruhigen. „Ich habe genug Geld bei mir - Foissy zahlt recht ordentlich für seine engsten Mitarbeiter!“ Während das Mädchen fuhr, studierte Arsan die Karten. Mehr als sechs hundert Kilometer lagen zwischen Ciudad Juarez und Guayamas, und diese Strecke führte durch die westliche Sierra Madre. In dieser Gegend lebten nur wenige Menschen; zu heiß und trocken waren die Sommer, von mörderi scher Kälte erfüllt die Winter. Arsan war nervös. Maryvonne fuhr mit äußerster Konzentration; sie schien ihren Begleiter überhaupt nicht wahrzunehmen, während sie das Fahrzeug förmlich durch die schmalen Gebirgstäler peitschte. Arsans Blick ruhte für wenige Sekun den auf ihrem Gesicht, und wieder drängte ein schmerzhafter Impuls seiner Erinnerungen an die Oberfläche. Arsan erschrak. Er hatte klar gewußt, was passieren würde; schon die Andeutung einer Gefühlsbeziehung zwischen ihm und seinem Gegenüber reichte aus gleichgültig, wie diese Gefühle beschaffen waren. Wie schon so oft in seinem Leben, bekamen seine Augen einen glasigen Ausdruck, wurde er von der unbekannten Kraft in seinem Innern überwältigt. Aber in diesem Fall sah er nichts - gar nichts. Er empfand nur ein Gefühl der Leere, mehr nicht. War der Fluch von ihm genommen, oder kündigten sich so noch größere Probleme an? Arsan schluckte heftig, als er die Konse quenzen überdachte. „Können Sie mich ablösen?“ fragte das Mädchen plötzlich und unterbrach Arsans Grübeln. „Ich kann mich nicht mehr richtig konzentrieren!“ „Das wundert mich nicht“, brummte Arsan. „Aber es ist fraglich, ob ich zur Zeit mehr leiste als Sie - ich habe nämlich einen infernalischen Hunge r, und sanitäre Anlagen erscheinen mir auch recht verlockend!“ - 42
„Sie haben recht!“ stimmte Maryvonne zu. „Ich habe seit acht Stunden nichts mehr gegessen. Sind im Handschuhfach noch Lebensmittel?“ Arsan suchte kurz in dem Fach nach, dann meinte er grinsend: „Wenn Sie die Pille als Grundnahrungsmittel betrachten: ja - sonst nicht!“ Das Mädchen lachte unterdrückt, während Arsan auf der Karte nach schaute. Nach seinen Überlegungen mußten sie in a bsehbarer Zeit Nacozari erreicht haben, ein kleines Nest mit knapp zweitausend Einwohnern. Daß seine Schätzung richtig war, zeigte sich eine Viertelstunde später, als die ersten Häuser im Scheinwerferlicht auftauchten - meist mit nur einem G e schoß, die Dächer mit Wellblech bedeckt. „Beim Saturn!“ seufzte Arsan. „Wo sollen wir in diesem Nest zu dieser Tageszeit etwas zu essen auftreiben?“ Langsam kurvte Maryvonne durch die unebenen Straßen und Gassen; nach zehn Minuten der Suche riß sie erstaunt die Augen auf. Im Licht der beiden Scheinwerfer tauchte ein Hinweisschild auf, das für ein angeblich hochmodernes Motel warb. Die beiden Menschen im Gleiter sahen sich skeptisch an, dann zuckte Arsan die Schultern und murmelte: „Versuchen wir es - mehr als fehlschlagen kann es nicht!“ Sie folgten der Richtung, in die das Schild wies, und erreichten nach kur zer Zeit am Ortsausgang ein zweites Schild - es deutete auf eine gepflasterte Nebenstraße. In einiger Entfernung waren flache Gebäude zu erke nnen. Als der Gleiter sich den Häusern näherte, schöpfte, Arsan neue Hoffnung - die zwölf Bungalows, die zu dem Motel gehörten, sahen tatsächlich ihren nord amerikanischen Ebenbildern verblüffend ähnlich. Maryvonne parkte den Gleiter vor dem Verwaltungsgebäude, in dem noch Licht brannte. „Hallo!“ rief Arsan laut, als er die Tür des Verwaltungsgebäudes erreicht hatte. „Ist hier jemand?“ „Nein!“ sagte eine Männerstimme mit leisem Spott; der Mann kam aus einem Nebenzimmer und schüttelte Arsan leicht grinsend die Hand. „Was kann ich für Sie tun? Brauchen Sie ein Zimmer?“ „Nicht ganz!“ bemerkte Maryvonne, die leise herangetreten war. „Wir haben Hunger und Durst, außerdem würden wir uns gerne waschen. Läßt sich dieser Notstand trotz der Tageszeit noch beheben?“
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„Für Sie werde ich mein Möglichstes tun!“ versprach der Mann lächelnd. „Sie sind seit drei Jahren meine einzigen Gäste - ich bin froh, wenigstens ein Essen loszuwerden. Haben Sie bestimmte Wünsche?“ „Chili con Carne!“ bestellte Maryvonne. „Ich habe lange nichts Mexikani sches mehr gegessen!“ „Einverstanden!“ meinte der Geschäftsführer des Motels freundlich. „Nehmen Sie sich vom Schlüsselbrett die Schlüssel für irgendeinen Bunga low - dort können Sie sich waschen und frisch machen! Ich werde mich um Ihr Essen kümmern!“ Während Maryvonne sich im Bungalow erfrischte, sah Arsan nach der Ladung des Gleiters; nach seiner Schätzung würde der Treibstoff gerade noch bis Guayamas reichen - wenn alles ungestört ablief. Glücklicherweise verfügte der Motelleiter auch über eine Zapfsäule, deren Tank noch bis an den Rand gefüllt war. Die Bezeichnung Zapfsäule hatte sich gehalten, ob wohl dort nicht mehr Benzin getankt wurde, sondern elektrische Energie in die hochgezüchteten Brennstoffzellen eingeleitet wurde. Als Arsan befriedigt feststellte, daß die Anzeige der Ladekontrolle wieder auf Einhundert stand, war Maryvonne gerade fertig geworden. Auch der Leiter des Motels hatte seine Arbeit beendet, wie der scharfe Geruch bewies, der aus dem Innern des Verwaltungsgebäudes drang. Das Chili con Carne schmeckte vorzüglich, und weder Maryvonne noch Arsan sparten mit ihrem Lob. „Ich habe eine angenehme Nachricht für Sie, Mister!“ meinte der Leiter des Motels nach dem Essen. „Die Polizei hat in der Nähe von El Paso den entflohenen Sträfling Arsan Ganew aufspüren können. Dabei kam es zu einem Feuergefecht zwischen der Polizei und Ganew. Der Mann wurde getötet und dabei derartig zugerichtet, daß die Polizei einstweilen nur ver muten kann, Ganew tatsächlich gefaßt zu haben. Erst eine genaue kriminal technische Untersuchung wird darüber letztlich Aufschluß geben können. Einstweilen hat die Polizei ihre Suchkommandos stark reduziert! Ich nehme an, es freut Sie, derlei zu hören!“ „Wie kommen Sie auf diese absurde Idee?“ wollte Arsan mißtrauisch wis sen. „Ich habe hier nur wenig zu tun“, meinte sein Gegenüber gleichmütig, „und die einzige Freude meiner alten Tage ist das Programm im Holovisor.
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Außerdem ist mein Gedächtnis vorzüglich, besonders was Gesichter angeht. Sie sind Arsan Ganew, nicht wahr?“ Arsan nickte wortlos; die Ruhe des Mannes führte bei ihm zu gesteigerter Nervosität. Was hatte der Mann vor? „Und die junge Dame an Ihrer Seite ist Ihre Braut oder derlei?“ vermutete der Motelbesitzer; Arsan nickte wieder, begleitet von einem anzüglichen Grinsen, das an Maryvonne adressiert war. „Darf ich wissen, wie Sie sich Ihre weitere Flucht vorstellen?“ e rkundigte sich der Leiter des Motels interessiert. „Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein?“ „Warten Sie, Arsan!“ mischte sich Maryvonne plötzlich ein. „Sagen Sie nichts!“ Das Mädchen sah den Mann genau an; der Motelbesitzer erwiderte den Blick mit einem angedeuteten Lächeln. Maryvonne schloß die Augen und schien nachzudenken. „Sie können sprechen, Arsan!“ sagte das Mädchen schließlich. „Ich weiß, daß wir ihm vertrauen können!“ „Gut geraten!“ brummte Arsan grimmig. „Was bleibt uns anderes übrig?“ Knapp und präzise schilderte Arsan, wie er sich den Rest der Flucht vor stellte. Wohin er wirklich wollte, und was er dort zu tun hatte, verschwieg er vorsichtshalber. Der Mann hörte Arsan aufmerksam zu, dann meinte er nachdenklich: „Ihr Plan ist eigentlich nicht schlecht, aber es sind einige Unsicherheitsfak toren darin, die mich stören. Können Sie überhaupt ein modernes Boot steu ern?“ Die Frage galt Maryvonne, die noch immer in sich hinein zu horchen schien. Das Mädchen fuhr erschrocken hoch, dann beantwortete es die Fra ge. „Ich bin die Strecke schon einige Male gefahren - allerdings immer tags über!“ sagte sie zuversichtlich. „Ich glaube nicht, daß es schwer sein wird, nachts zu fahren, wenn wir während der ganzen Zeit in Sichtweite der Küste bleiben!“ „Und eben das dürfen Sie nicht!“ widersprach ihr der Motelleiter. „Ent weder werden Sie für Schmuggler gehalten - dann haben Sie die Küstenpoli zei auf dem Hals -, oder die Schmuggler halten Sie für Polizisten - und das ist vielleicht noch gefährlicher!“ - 45
„Schmuggler?“ fragte Arsan verblüfft. „An der mexikanischen Küste? Was wird geschmuggelt und wohin?“ „Kleinigkeiten!“ meinte sein Gegenüber. „Schnaps, Zigaretten, Kaffee nichts Aufregendes. Das Ziel ist meist Ecuador oder Peru. Die Polizei ist dagegen fast machtlos - die Beamten sind meist die Verwandten der Schmuggler und wissen genau, daß ohne diesen Schwarzhandel manche Familie hungern müßte. Auf den Patrouillenfahrten wissen die Skipper der Polizeischiffe meist sehr genau, wohin sie keinesfalls fahren dürfen. Die Einheimischen sind so ziemlich sicher - aber Fremde, die zu schmuggeln versuchen, werden meist gleich beim ersten Versuch erwischt! Deshalb mei ne Warnung!“ „Sie sind ausgezeichnet informiert!“ stellte Arsan leicht belustigt fest. „Selbstverständlich!“ gab der Mann zurück. „Schließlich habe ich jahr zehntelang selbst geschmuggelt. Es wäre mir recht peinlich, würde Ihre Flucht mißlingen - dann käme die Polizei auch zu mir und würde Fragen stellen!“ „Und davor haben Sie Angst!“ konstatierte Arsan grinsend. „Mir scheint, wir haben genau den Wirt gefunden, den wir brauchen. Wie können Sie uns helfen?“ „Fragen Sie in Guayanas nach Miguel-Joaquin Perez!“ schlug der Motellei ter vor. „Er ist jetzt der kleine König der Schmuggler. Sagen Sie ihm, Sie kämen von Andrez. Er kann Sie auf einem seiner Boote sicher an Ihr Ziel bringen - wenn Sie nicht gerade nach Übersee wollen, wird er Ihnen jeden Wunsch erfüllen - gegen Bargeld, versteht sich!“ Arsan beschloß, so rasch wie möglich weiterzufahren. Es war immerhin möglich, daß die Polizei den falschen Arsan Ganew nur e rfunden hatte, um den wirklich Flüchtigen zu täuschen und in S icherheit zu wiegen. In diesem Fall wurden die Minuten wieder kostbar. „Was sind wir Ihnen schuldig, Mister?“ erkundigte sich Arsan und stand auf; sein Gegenüber schüttelte abwehrend den Kopf und sagte mit leiser Resignation: „Zu mir kommt etwa alle acht Monate ein Gast. Soll ich für das Vergnü gen, das mir solch ein Besuch macht, auch noch Geld verlangen? Sie werden Ihre Scheine noch brauchen - Perez ist zwar erstklassig, aber nicht billig, selbst wenn ich Sie schicke! Lassen Sie sich nicht von ihm übers Ohr hauen!
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Noch etwas! Die Straße von hier bis Guayamas ist in einem erbarmungs würdigen Zustand - sehen Sie sich vor, daß Sie nicht in einer Felsspalte ver schwinden!“ „Ich werde mir jede erdenkliche Mühe geben!“ versprach Arsan; vor sichtshalber nahm er hinter den Steuereinrichtungen des Gleiters Platz. Ma ryvonne wurde auf den Sitz des Beifahrers verbannt. Der Mann winkte den beiden eine Zeitlang nach, dann verschwamm sein Bild mit der Dunkelheit. Die Straße führte bergauf und war mit gefährlichen Kurven gespickt; Arsan mußte sich höllisch konzentrieren, wollte er nicht von dem schmalen Betonband abkommen und an einem Felsvorsprung zer schellen. Nach einigen Kilometern Fahrt war der betonierte Teil der Straße verschwunden; jetzt fegte der Gleiter über nackten Fels, der noch deutliche Spuren der Planierungsarbeit mit Sprengstoff und großen Einebnungsma schinen aufwies. Während Arsan fuhr, war Maryvonne auf dem Sitz neben ihm eingeschlafen; dem Lächeln nach zu schließen, mußten ihre Träume recht angenehm sein. * Als der Gleiter Guayamas erreichte, stand die Sonne fast im Zenit und brannte auf die kleine Stadt herunter. Die Ladung des Gleiters war zur Hälf te verbraucht, und Arsan fühlte sich vollkommen ausgelaugt, als er über eine Anhöhe fuhr und vor und unter sich die weißen Flachbauten von Gua yamas erkannte. An der Stadt war die Entwicklung der letzten hundert Jahre offenbar spurlos vorbeigegangen; von außen waren jedenfalls keine Anzei chen großen zivilisatorischen Einflusses zu erke nnen. Die Straßen waren schmal, steingepflastert und führten planlos durch die Häuserreihen zum Meer. Halbnackte Kinder spielten im Schatten der Häuser, oft gestört von verwilderten Hunden und streunenden Katzen. Vom Meer her wehte ein Geruch nach Salz und Fischen zu den Bergen hinauf, und an den Kais waren Schiffe vertäut, die ebenfalls längst vergangenen Jahrhunderten zu ent stammen schienen. Auffällig war nur das knappe Dutzend von Booten, das einen kleinen Teil des Hafens für sich beanspruchte - diese Fahrzeuge ent sprachen modernsten Bauprinzipien. Arsan fragte sich unwillkürlich, wie sich diese Boote hierher verirrt haben konnten.
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Der Stadtrand von Guayamas kam näher. Arsan stieß das Mädchen neben sich vorsichtig an, um es zu wecken. Maryvonne blinzelte verwirrt und murmelte dann, noch halb schlafend: ,,Wo sind wir?“ „Guayamas!“ belehrte Arsan sie. „Zeit, aufzuwachen! Sie haben lange genug geschlafen!“ Das Mädchen sah Arsan erstaunt an; offenbar versuchte sie, sich der jüng sten Ereignisse zu erinnern. Als sich ihre Informationen wieder eingestellt hatten, begann sie zu lächeln. „Guten Morgen, Arsan!“ sagte sie halblaut. „Es freut mich, daß Sie mich unterwegs nicht einfach aus dem Gleiter geworfen haben!“ „Ich habe Wichtigeres zu tun!“ gab Arsan brummig zurück. „Ich bin m ü de, hungrig und völlig verschwitzt - berücksichtigen Sie bei Ihren Späßen meine Laune! Ich kann auch sehr ungemütlich werden!“ „Sie reden wie ein Held aus dem Holovisor!“ stellte Maryvonne unbeein druckt fest. „Mir können Sie damit nicht imponieren!“ Die Straße, die Arsan befuhr, näherte sich der Stadt in einem weiten Bo gen; die eine Hälfte des großen U zog sich von den Hängen herunter, die zweite Hälfte führte der Länge nach durch die Stadt und mündete an ihrem Ausgang in die Küstenstraße. Arsan nutzte die Zeit, die der Umweg ihm abnötigte, um die Stadt genauer zu betrachten - vor allem hielt er Ausschau nach einem Polizisten. Instinktiv hatte er einen malerisch herausgeputzten Schwachkopf mit üppigem Schnauzbart erwartet. Als er den Gleiter vor einem Gasthof am Hafen parkte und den Mann auf sich zukommen sah, erkannte er, wie sehr er sich getäuscht hatte. Der Mann trug zwar Uniform, aber von betont unauffälligem Zuschnitt. Das Gesicht war glatt rasiert und verriet soviel Intelligenz, daß Arsan fast zusammengezuckt wäre. „Sie dürfen hier nicht halten!“ wurde er belehrt; der Mann beugte sich leicht über den Rand der Türen und musterte die beiden Insassen eindring lich. Als er Maryvonne erkannte, hellte sich sein Gesicht auf. „Guten Morgen, Teniente!“ sagte Maryvonne freundlich. „Verzeihen Sie, ich habe auf das Schild nicht geachtet!“ „Unwichtig!“ wehrte der Polizist lächelnd ab. „Ich kam nur herüber, um festzustellen, wer mit einem so teuren Fahrzeug ausgerechnet unser Nest aufsucht - ich hoffe, Sie vergeben mir meine Neugierde!“
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„Selbstverständlich, Teniente!“ erwiderte Maryvonne. „Sagen Sie, haben Sie in den letzten Tagen irgendwelche besonderen Beobachtungen ge macht?“ „Ich verstehe nicht ganz!“ sagte der Polizist schulterzuckend. „Was sollte ich beobachtet haben?“ „Merkwürdige Fremde, Gleiter mit auffälligen Kennzeichen beispielswei se“, erklärte das Mädchen. „Ich transportiere wichtige Unterlagen für Ken neth Foissy - es wäre möglich, daß irgend j emand sich um jeden Preis in den Besitz dieser Dokumente setzen will. Wir sind aus Sicherheitsgründen wie Wahnsinnige ohne Pause gefahren - daher auch das leicht ramponiert wir kende Äußere meines Begleiters!“ „Mir ist nichts aufgefallen, Miß!“ sagte der Leutnant nach kurzem Nach denken. „Aber ich werde die Augen offenhalten - wenn ich etwas bemerke, werde ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen!“ „Muchas gracias, Teniente!“ bedankte sich Maryvonne. „Und wir werden auch auf Verkehrszeichen achten!“ Der Beamte grüßte und entfernte sich, während Arsan mit müden Glie dern aus dem Gleiter stieg und sich reckte. Er blieb vor dem Gasthof stehen, während Maryvonne den Gleiter vorschriftsmäßig einparkte. Im Gasthof bestellten die beiden ein reichhaltiges Frühstück, das der Wirt eigenhändig servierte. Er war ein Hüne an Gestalt. Im Gesicht des Mannes paarten sich kindliche Gutmütigkeit und gerissene Schläue in höchst merkwürdiger Wei se. „Vorzüglich!“ lobte Arsan, nachdem er sich gesättigt hatte. „Sagen Sie, Senor, kennen Sie in Guayamas einen gewissen Miguel-Joaquin Perez?“ „Sind Sie von der Polizei?“ fragte der Wirt zurück; die Furcht in seinen Augen war echt, stellte Arsan fest. „Nein!“ erklärte Arsan ruhig. „Würden wir sonst so offen fragen? Wo können wir den Mann finden?“ Der Wirt musterte Arsan lange und nachdenklich, dann murmelte er: „Ich werde Perez für Sie holen. Aber ich warne Sie - wenn Sie mich her eingelegt haben, Mister ...!“ Die Drohung war nicht zu überhören; Arsan zuckte mit den Schultern, und der Wirt verschwand. Als er nach zehn Minuten wiederkehrte, befand sich in seiner Begleitung ein Mann, der in seinen Abmessungen dem Wirt
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nichts nachgab. Perez, denn nur um diesen konnte es sich handeln, ging zu Arsan hinüber, starrte ihn an und setzte sich auf einen freien Stuhl. „Sie wollten zu mir?“ begann er; es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage. „Was kann ich für Sie tun?“ „Andrez schickt uns!“ eröffnete Arsan die Diskussion. „Ich will hoffen, der Name bedeutet etwas für Sie!“ Perez kniff die Augen zusammen; man sah ihm an, daß er versuchte, Ar san und Maryvonne einzuschätzen - ob er es wagen konnte, den beiden zu viel zu verraten, und wieviel bei diesem Geschäft zu verdienen war. „Ich kenne Andrez!“ sagte er schließlich. „Noch einmal - was kann ich für Sie tun?“ „Wir müssen schnellstens nach Buena Ventura, Kolumbien! Nach Mög lichkeit ohne Zoll- und Paßkontrolle!“ „Buenaventura!“ wiederholte Perez ungläubig. „Sind Sie von Sinnen - das sind mehr als zweitausendfünfhundert Seemeilen Luftlinie. Was, bei allen Seeteufeln, haben Sie ausgerechnet dort zu tun? Ich kenne weit bessere Mög lichkeiten, unterzutauchen und sich vor der Polizei zu verstecken. A propos: Weswegen sucht die Polizei Sie eigentlich?“ Kalt zählte Arsan auf, was sich bis zu dieser Stunde auf seinem Sündenre gister angesammelt hatte; als er geendet hatte, wiegte Perez nachdenklich den Kopf. „Sind Sie schuldig?“ wollte er dann wissen; Arsan nickte, und P erez kniff die Augen zusammen. „Ich fahre für Sie!“ erklärte er schließlich. „Achthundert - die Hälfte jetzt, den Rest in Buenaventura!“ „Einverstanden!“ gab Maryvonne knapp zurück. „Wann laufen wir aus?“ Sie holte ihre Börse aus der Hantasche und zählte vier Hunderter ab - was blieb, war nicht mehr viel. „Wir treffen uns heute abend hier in diesem Gasthof!“ bestim mte Perez. „Seien Sie pünktlich - ich warte höchstens zehn Minuten!“ Er steckte die Geldscheine, ohne sie anzusehen, in eine Hosentasche, stand auf und verließ rasch den Gasthof. Arsan sah dem Mann nachdenklich hin terher - er wußte nicht recht, was er von Perez halten sollte. Zu schnell für seinen Geschmack war der Mann auf Arsans Bitte eingegangen, und der Preis war - berücksichtigte man die Umstände - überraschend niedrig. Arsan ahnte dumpf, daß es Schwierigkeiten geben würde. - 50
6. „Für jemanden, der so viele Gesetze bereits gebrochen hat“, meinte Perez grinsend, „sind Sie erstaunlich pünktlich! Los, steigen Sie ein!“ Arsan und Maryvonne hatten sich fast auf die Sekunde genau im Gasthof eingefunden; um ihren Gleiter kümmerte sich einstweilen der Wirt. Perez hatte ein anderes Fahrzeug besorgt, das vor der Gaststätte parkte. Arsan und das Mädchen kamen der Aufforderung nach und stiegen ein, während Perez hinter dem Steuer Platz nahm. Der Mann beschleunigte das Fahrzeug und verließ nach wenigen hundert Metern die Uferstraße; er folgte einem Sei tenweg, dem kaum anzusehen war, daß er befahrbar war. Sobald das Fahr zeug von der Straße aus nicht mehr zu sehen war, schaltete Perez die Be leuchtung ein. Die Strahlen der Scheinwerfer rissen für Sekundenbruchteile Felsen und Unebenheiten aus dem abendlichen Dunkel. Über der Bucht von Guayamas lag eine dichte, finstere Wolkendecke, die Arsan mit leichter Be sorgnis musterte. „Keine Aufregung!“ meinte Perez halblaut. „Es sieht übler aus, als es ist wir bekommen ein wenig Regen, und derlei ist in diesem Landstrich eine ausgesprochen angenehme Überraschung!“ Der Weg beschrieb eine enge Kurve und brach dann abrupt ab; Perez stoppte das Fahrzeug, als der Lichtkegel, der über die Straße huschte, plötz lich im Nichts zu verschwinden schien. Am Rande des Weges tauchte eine Gestalt aus dem Dunkel auf und ging auf den Gleiter zu. „Pedro!“ sagte P erez knapp. „Er wird den Gleiter nach Guayamas zurück bringen!“ Die beiden Männer und Maryvonne stiegen aus; Perez ging voran und erteilte Pedro einige geflüsterte Befehle. Dann wandte er sich zu seinen bei den Passagieren um. „Alles in Ordnung!“ brummte e r. „Das Boot liegt am Ufer; keiner hat seine Anfahrt bemerkt! Folgen Sie mir!“ Perez hatte sich als Anlegestelle für sein Boot einen Teil der Steilküste in der Nähe der Stadt ausgesucht; der Abstieg war schwierig und in der Dun kelheit nicht ungefährlich, aber dank der kundigen Führung des Schmugg lers standen Arsan und Maryvonne eine Viertelstunde später auf dem - 51
schmalen Geröllstreifen zwischen dem Fuß der Felsen und dem Meer. Auf dem Wasser e rkannte Arsan schwach die Silhouette eines der Fischerkähne, die er im Hafen von Guayamas gesehen hatte. Unwillkürlich stöhnte er leise auf. „Mann!“ knurrte er wütend. „Wollen Sie uns ernsthaft mit diesem Wrack nach Kolumbien bringen? Beim ersten Windhauch wird sich das Ding in seine Spanten und Planken zerlegen! Außerdem werden wir damit länger als einen Monat unterwegs sein!“ „Das glaubt auch die Polizei!“ gab Perez trocken zurück. „Darum hat sie das Boot auch noch nie kontrolliert, und das ist gut so!“ Ein leises, kaum hörbares Klatschen verriet, daß sich ein Boot näherte; Perez richtete den Kegel eines Handscheinwerfers auf das Wasser - eine Gig, von zwei Männern gerudert, kam langsam näher, vorsichtig durch die schwache Dünung lavierend. Mit einem Knirschen lief die Gig auf dem schmalen Küstenstreifen auf. „Steigen Sie ein!“ kommandierte Perez und sprang als erster in das schma le Boot. „Und rudern Sie mit!“ Gehorsam faßte Arsan nach einem der Riemen und versuchte, sich den Pullschlägen der anderen Männer anzupassen. Nach einigem Mühen hatte er den richtigen Rhythmus gefunden; die vereinte Kraft der vier Männer trieb das Boot rasch vorwärts, und nach kurzer Zeit lag die Gig längsseits an dem Fischkutter. Arsan rümpfte leicht die Nase, als er den durchdringenden Fischgeruch wahrnahm, dann überlegte er sich, daß für solche Empfindlich keit keine Zeit war - es gab Wichtigeres. Knatternd sprang der Hilfsmotor des Kutters an. Langsam schob sich das Boot vorwärts, dann ließ Perez die Segel setzen. Vom Land her wehte ein frischer Wind, der rasch die Segel blähte und die Fahrt des Schiffes vergrö ßerte. „Wie schnell laufen wir?“ wollte Arsan wissen. Perez grinste und entblößte dabei eine lückenhafte Reihe schwärzlich ge färbter Zähne. „Sechs Knoten!“ sagte er amüsiert. „Behalten wir diese Geschwindigkeit bei, dann sind wir frühestens im nächsten Jahr am Ziel - so etwas wollten Sie doch sagen, oder?“ Arsan nickte kurz. Er rechnete sich aus, daß sein Gegenüber sicher keine monatelange Seereise auf diesem Seelenverkäufer plante. Aus dieser Über- 52
legung ergaben sich zwei verschiedene Möglichkeiten: Der Kutter war tech nisch wesentlich besser ausgestattet, als das dürftige Äußere vermuten ließ. Die andere Möglichkeit hätte bedeutet, daß der Kutter für die Absichten der beiden Flüchtigen nicht, wohl aber für Perez' Pläne geeignet war. In diesem Fall würde die Reise vermutlich nach kurzer Zeit auf dem offenen Meer enden - vermutlich nach einem Raubmord an den beiden Passagieren. Langsam tuckerte der Kutter durch die Gewässer des Kalifornischen Golfs; nach kurzer Zeit verwuchs die dunkle Silhouette der Küste mit der Finster nis der Nacht. Regen kam auf, und Arsan flüchtete sich in den Kommando stand des Kutters. Dort fand er Perez wieder; der Mann stand über den Bild schirm des Bordradars gebeugt und studierte das Bild. Erst als sich der Kut ter mehr als fünf Seemeilen weit von der Küste entfernt hatte, gab der Kapi tän seine ersten Befehle. Maryvonne, die trotz des heftiger werdenden Regens an der Reling lehnte, sah verwundert, wie auch seitlich aus dem Rumpf des Kutters Metallstreben hervorschoben und im Wasser versanken. Gleichzeitig schien das gesamte Heck des Kutters herabzufallen. Dann begriff das Mädchen schlagartig - mit ein paar technischen Finessen hatte Perez den so unscheinbar wirkenden Kutter in ein schnelles Tragflügelboot verwandelt. Begleitet von einem durchdringenden Heulen wurden die Triebwerke in Bewegung gesetzt und begannen das Boot vorwärts zu schieben. Der Auftrieb, der von den Trag flügeln ausging, hob den Rumpf des Kutters langsam an, bis nur noch die Tragflügel und die Verstrebungen in das Wasser hineinragten. Rasch wurde das Boot schneller - Arsan, der gespannt auf das Log sah, grinste zufrieden, als er ablas, daß der Kutter mit mehr als zweihundert Kilometern in der Stunde über das Wasser des Golfes raste. „Geschickt gemacht!“ rief er in Perez' Ohr, um den Lärm der Triebwerke zu übertönen. „Wie lange werden wir bei diesem Tempo bis Buenaventura brauchen?“ „Etwas mehr als einen Tag!“ gab Perez grinsend in der gleichen Lautstärke zurück. „Sind Sie nun zufrieden?“ „Vollkommen!“ brüllte Arsan. Auf dem Radarschirm konnte Arsan sehen, wie schnell sich das Boot be wegte - nach zweistündiger Fahrt hatte der Kutter die Höhe von Culican erreicht. Perez ließ das Boot etwas nach Südwest abfallen, um von der Küste freizukommen. - 53
„Je weiter wir von der Küste entfernt sind“, antwortete er auf Arsans fra genden Blick, „desto sicherer sind wir vor Polizeibooten. Und gegen die Kreuzer der Polizei haben wir keine Chance. Klar?“ Arsan nickte bestätigend. Das Wetter begann schlechter zu werden. Blitze zuckten zwischen den finsteren Wolkenmassen und erleuchteten für Sekundenbruchteile eine rau he, dunkle See mit weißen Schaumkronen auf den Wellenbergen. Etwa eine halbe Seemeile von dem Kutter entfernt schlug ein Blitz in die See ein und schuf eine kleine Springflut, die den Kutter auf dem Wasser tanzen ließ. Nur der großen Geschwindigkeit des Kutters war es zu verdanken, daß die Auswirkungen des Gewitters sich in erträglichen Grenzen hielten. Arsan war in wenigen Minuten völlig durchnäßt, aber es störte ihn nicht. Er war in einer der ödesten Gegenden des amerikanischen Doppelkonti nents aufgewachsen, und die Wildheit des Wassers faszinierte ihn. Mary vonne kannte diesen Anblick schon von einigen früheren Seereisen und zeigte sich unbeeindruckt. Sie konzentrierte sich mehr auf eine dumpfe Ah nung, die sie gefangen hielt - das Gefühl, daß irgendein bedrohliches Ereig nis bevorstand. * „Die Cocos-Insel!“ erklärte Perez, als das Radarbild des Eilands auf dem Schirm auftauchte. „Dort werden wir eine Pause einlegen - die Tanks sind nahezu leer!“ Arsan nickte. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Fahrt des Kutters ohne Störungen verlaufen. Mit einer gleichbleibenden Geschwindigkeit von mehr als zweihundert Kilometern in der Stunde war das Boot von Guayamas oh ne Pause bis zu diesem Winkel des Pazifischen Ozeans gerast. Immerhin waren jetzt mehr als siebzig Prozent der Wegstrecke bereits zurückgelegt. Während der Fahrt hatte sich die sechsköpfige Besatzung des Bootes haupt sächlich damit beschäftigt, das Schiff immer wieder neu zu bemalen - Name, Bemalung und Kennzeichen wurden jeweils den Vorschriften des Landes angepaßt, durch dessen Hoheitsgewässer das Schiff fuhr. Arsan hatte sich ausgerechnet, daß dieser große Aufwand für eine simple Schmugglerbande etwas zu gewaltig war. Immerhin verfügte Perez auch über hervorragend gefälschte Schiffspapiere für die jeweiligen Hoheitsgewässer, und es war - 54
anzunehmen, daß seine falschen Angaben auf dem Lande immerhin einer oberflächlichen Überprüfung standhalten würden. Jetzt trug der Kutter den Namen Isabelle, und nach den P apieren war sein Heimathafen Punatrenas in Costa Rica, da die Cocos-Insel offiziell zu die sem Land gehörte und von ihm verwaltet wurde. „Kennen Sie die Geschichten um die Cocos-Insel?“ erkundigte sich Perez; er sprach noch immer sehr laut, obwohl sich sein Kutter inzwischen wieder in ein normales Fischereifahrzeug verwandelt hatte und vom Wind in die Nähe der Insel getrieben wurde. Arsan nickte kurz. Seit Jahrhunderten rankten sich zahllose Sagen und Erzählungen um diese unscheinbare Insel. Es hieß, der sagenhafte Seeräuber Kapitän Kidd habe dort seine märchenhaften Schätze vergraben; sie wurden nie gefunden. Ein anderer Schatz, den der Portugiese Benito Bonito dort versteckt hatte, wurde 1932 gefunden. Und bis auf den heutigen Tag suchten noch eifrige Männer nach der sagenhaften Beute von Lima, dem gewaltigen Goldschatz, den die Spanier vor dem heranmarschierenden Befreier Simon Bolivar in Sicherheit bringen wollten - 240 Millionen alter US-Dollars! Einige kleinere Inseln umgaben die alte Schatzinsel. Vorsichtig steuerte Perez durch die Klippen, bis er die Einfahrt zur Wafer-Bay erreicht hatte. Nur dort war es möglich, die Insel anzulaufen. Langsam tuckerte der Kutter in den natürlichen Hafen, der von allen Menschen verlassen war. Etwa ein mal im Jahrzehnt lief ein Schiff die Insel an, um nach einem halben Jahr mit enttäuschten und bankrotten Schatzsuchern wieder abzufahren. Ein besseres Versteck für Schmuggler konnte sich in den Weiten des Pazifiks kaum fin den lassen. „Geschafft!“ murmelte Perez, nachdem die Ankerkette außenbords geras selt war und der Motor ausgeschaltet worden war. „Die Riffe um die Insel sind mörderisch!“ „Können wir an Land?“ erkundigte sich Maryvonne. „Ich würde mir die Insel gerne einmal näher ansehen. Wie lange wird das Auftanken ungefähr dauern?“ „Drei Stunden!“ schätzte Perez. „Aber Vorsicht: Die Cocos-Insel ist nicht ungefährlich. Bleiben Sie in der Nähe des Strandes - das Innere der Insel ist immer noch unerforschte Wildnis!“
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Zwei Männer ließen die Gig zu Wasser; Maryvonne und Arsan stiegen in das Boot und ließen sich von den Männern zum sandigen Strand rudern. Hinter dem dreißig Meter breiten Streifen aus feinem, weißem Sand, der mit den zerkrümelten Schalen von Muscheln durchsetzt war, begann der dichte Wald aus Cocospalmen, der der Insel den Namen gegeben hatte. „Ein herrlicher Fleck!“ rief Maryvonne. „Warm, sonnig - und vor allem keine Menschen!“ In hundert Metern Entfernung drehte sich eine große Landschildkröte kurz zu dem Mädchen um, schien den Kopf zu schütteln und kroch dann dem nahen Rand des Palmenwaldes zu. In der Luft hing das Geschrei der Tiere des Waldes, Affen zumeist, und das Gekreisch einer Hundertschaft von Vögeln, die von den beiden Menschen aufgeschreckt worden waren. Während die beiden Männer das Treibstoffversteck suchten, machten Arsan und Maryvonne einen ausführlichen Spaziergang am Strand entlang. Die Sonne brannte heiß vom Tropenhimmel, und nur der stete Wind des Nord westpassats brachte eine Linderung der Glut. „So, Arsan Ganew!“ sagte Maryvonne plötzlich. „Jetzt will ich endlich wissen, was Sie bei meinem Chef wollen. Was verspricht sich ein entflohener Sträfling von Kenneth Foissy? Hoffen Sie auf Begnadigung? Wiederaufnah me des Prozesses, oder was?“ Sie hatte sich auf einen Felsblock gesetzt, der aus dem Sand ragte und ein Stück ins Wasser reichte. Arsan sah zu dem Mädchen auf, nachdem er sich auf den warmen Sand vor dem Fels gehockt hatte. Nervös fingerte er in den Taschen nach einer Zigarette. „Ich kann es Ihnen nicht sagen!“ murmelte er schließlich. „Sie h aben bis jetzt Vertrauen zu mir gehabt - bleiben Sie so, und stellen Sie keine Fragen. Vor allen Dingen keine Fragen, die ich nicht beantworten kann!“ „Ich will Ihnen ein kleines Geheimnis verraten, Arsan!“ sagte das Mäd chen ernst. „Haben Sie sich eigentlich nicht gefragt, warum ich Sie auf dieser Wahnsinnstour begleite?“ „Mein Charme wird's sein, vermute ich!“ In Arsans Stimme schwang eine nicht zu überhörende Bitterkeit mit. „Ich habe eine Art zweites Gesicht!“ meinte Maryvonne langsam. „Ich weiß meistens schon einige Tage, bevor es geschieht“, fuhr Maryvonne fort, „was mir oder einem Menschen meiner Umgebung zustoßen wird. Es ist
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nichts Genaues - nur das sichere Gefühl, daß etwas geschieht, sei es ange nehm oder von Übel! Und als ich die Landstraße in New-Mexico entlangfuhr, hatte ich plötzlich das sehr sichere Gefühl, daß dieser Tag etwas sehr Angenehmes für mich bringen würde. Dann traf ich auf Sie, und weil mich mein Instinkt noch nie getrogen hat, habe ich Sie begleitet. „Und jetzt, in diesem Augenblick, spüre ich, daß Sie in Gefahr sind, Ar san!“ Arsan blickte das Mädchen erschrocken an. Leise fragte er: „Woher wissen Sie das, und wie sieht diese Gefahr aus? Sind Sie Ihrer Sache sicher?“ „Nacheinander“, erwiderte Maryvonne. „Ich weiß nicht, woher meine Ahnungen - wenn man es so nennen will - stammen, aber sie haben bis jetzt immer gestimmt, und ich fürchte, sie werden auch heute stimmen. Wie die Gefahr aussieht, die Sie bedroht, weiß ich nicht, aber daß Sie in Gefahr sind, das weiß ich sehr genau!“ Arsan preßte die Kiefer zusammen und warf die halbgerauchte Zigarette fort; zwischen ihm und dem Mädchen baute sich langsam, aber unweige r lich ein gewisses Spannungsfeld auf. Arsan wußte nicht, wie er diese Ent wicklung steuern sollte. Gewiß, es war reizend, was Maryvonne über ihre Begegnung sagte, und er spürte auch, wie sich seine Sympathie für das Mädchen rasch in einem Ausmaß steigerte, das für seine bisherige Lebensführung und Philosophie höchst bedrohlich war. Obwohl - oder gerade weil - das Mädchen ihn an Evita erinnerte, diesen längst verdrängt geglaubten schwarzen Schatten auf seiner Erinnerung, fühlte er sich zu ihr hingezogen. Aber die Tatsache, daß er sich selbst und seine überragend schlechten Eigenschaften sehr genau kannte, ließ ihn vor diesem Gedanken zurückschrecken. Außerdem ... Arsan überprüfte noch einmal seine Überlegungen, seinen Plan. „Nein!“ sagte er schließlich hart. „Bitte verstehen Sie mich richtig, Mary vonne. Mein ganzer Plan, und damit meine Zukunft, beruht auf dem Um stand, daß ich einen Informationsvorsprung habe. Diesen Vorsprung darf ich um keinen Preis verlieren - die Folgen wären fürchterlich, und das nicht nur für mich! Ich muß meine Informationen für mich behalten!“ Maryvonne sah ihn nachdenklich an, dann lächelte sie schwach. - 57
„Also gut“, meinte sie seufzend. „Ich werde Ihnen auch weiterhin vertrau en - ich könnte mich ohrfeigen dafür!“ Arsan sah auf seine Uhr; es wurde langsam Zeit, zur Wafer-Bay zurückzu kehren. Als sie sich langsam, der Bucht näherten, wurde Arsan zusehends unruhiger. Er ärgerte sich, daß er vergessen hatte, seine Waffe mitzuneh men. Was sollte er anfangen, wenn ... „Verdammt!“ knurrte er grimmig. „Was ist, wenn Perez uns hier einfach aussetzt?“ Maryvonne wurde für den Bruchteil einer Sekunde bleich, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich glaube es nicht“, meinte sie zuversichtlich. „Wenn es ihm nur um unser Geld ginge, hätte er uns kurz hinter Guayamas über Bord werfen las sen können - jetzt hat er schon soviel Treibstoff verfeuert, daß er nur dann auf seine Kosten kommt, wenn wir ihn korrekt ausbezahlen!“ „Hoffentlich hast du recht, Mädchen!“ brummte Arsan; Maryvonne lächel te kaum erkennbar. Vorsichtshalber näherten sich die beiden der Wafer-Bay im Schutz des Cocoswaldes. Als Arsan die Bucht überblicken konnte, stieß er einen halb lauten Fluch aus. Neben dem Kutter schwoite ein zweites, hochmodernes Boot, und die Gestalt auf dem Vordeck ließ keinen Zweifel an der Absicht der Besatzung. Die Mündung des Lasers zielte auf die Brust von Perez, der am Mast seines Kutters festgebunden war. Auf dem Deck des Kutters lagen die anderen Männer, die zur Crew von Perez gehörten, ebenfalls gefesselt. „Verdammt!“ fluchte Arsan wütend. „Was hat das zu bedeuten - diese Männer sind nie und nimmer von der Polizei. Ob hier ein interner Banden krieg der Schmuggler ausgetragen wird?“ Er zog sich mit dem Mädchen einige Meter weit in den Wald zurück; Ma ryvonne machte ein sehr besorgtes Gesicht. Arsan bemerkte die Verände rung im Mienenspiel des Mädchens, beschloß aber, einstweilen nicht nach der Ursache zu forschen. „Wo mögen die anderen Besatzungsmitglieder des fremden Schiffes sein?“ überlegte er halblaut, sobald er sich hinter dem Gestrüpp zwischen den Co cospalm en vor Blicken sicher glaubte. Auf der anderen Seite der Bucht trat ein bewaffneter Mann aus dem Wald und rief etwas zu dem Schiff hinüber. Die Antwort des Mannes auf dem Boot war nicht zu verstehen, aber Arsan schloß aus dem Kopfschütteln der Wache und dem schnellen Verschwinden - 58
des zweiten Mannes, daß man nach ihm und Maryvonne suchte. Woher wußten die Männer, daß sich außer Perez und seinen Männern noch andere Menschen an Bord des Kutters befunden hatten? „Hör zu, Maryvonne!“ flüsterte Arsan. „Wir haben nur eine Chance, heil aus diesem Desaster herauszukommen ...!“ „Nämlich die, augenblicklich die Hände zu heben!“ sagte eine Stimme hinter den beiden. Arsan drehte sich betont langsam herum und starrte nie dergeschlagen auf den entsicherten Laser, der auf ihn gerichtet war. Der Mann, der die Waffe hielt, sah grinsend auf Arsan und Maryvonne herab. „Von Ihnen will ich nichts, Mister“, meinte der Bewaffnete. „Aber das Mädchen besitzt etwas, das mich brennend interessiert!“ „Wovon reden Sie?“ fragte Maryvonne, sobald sie den ersten Schrecken überwunden hatte. „Was wollen Sie von mir?“ „Die Unterlagen, die Sie Ihrem Chef bringen sollen!“ sagte der Mann kalt. „Ich weiß, daß Sie sie bei sich tragen oder auf dem Boot versteckt halten. Geben Sie mir die Papiere, und Sie können unbehelligt mit dem Kutter ver schwinden.“ „Und wenn ich Ihren Vorschlag nicht annehme?“ fragte Maryvonne kalt blütig. Der Mann mit der Waffe lachte halblaut; die Mündung des Lasers bewegte sich stetig hin und her, pendelte zwischen Arsan und Maryvonne. „Miß!“ meinte der Mann spöttisch, „ich kenne Foissy und seine Mitarbei ter viel zu gut, um nicht zu wissen, daß Sie sich für Ihren Chef und dessen Sache nötigenfalls in Stücke zerreißen lassen würden. Aber da Sie mit die sem Menschen hier zusammenreisen, nehme ich an, daß Sie beide durch sogenannte Sympathie miteinander verbunden sind. Sympathie übrigens heißt soviel wie Mitleid, wenn man das Wort aus dem Griechischen über setzt - ich nehme an, Sie werden Mitleid empfinden, wenn wir uns Ihren Freund vornehmen!“ „Er ist nicht mein Freund!“ widersprach Maryvonne und strafte selbst durch heftiges Erröten ihre Worte Lügen. Der Laser zielte jetzt auf Arsans rechten Fuß. „Ihr Freund, Miß, wird hinken, wenn Sie nicht reden!“ warnte der Bewaff nete. Arsan und Maryvonne lagen auf dem Rücken und starrten wütend zu dem Fremden hinauf; der Fremde schien die hilflose Lage der beiden zu - 59
genießen, und Arsan zweifelte nicht daran, daß er seine Drohungen auch in die Tat umsetzen würde. „Sagen Sie mir, wonach Sie suchen!“ meinte Arsan mit erzwungener Ruhe. „Ich habe keine Lust, mich wegen irgendwelcher dummen Papiere verkrüp peln zu lassen! Ich kenne das Mädchen erst seit wenigen Stunden - Sie wer den verstehen, daß ich wenig Lust habe, mich für diese Dame zu opfern!“ Der Mann sah skeptisch auf Arsan herunter, dann grinste er diabolisch. „Gut, Mister!“ meinte er höhnisch. „Wenn Ihnen diese Dame tatsächlich nichts bedeutet, dann übernehmen Sie doch ihre Befragung!“ Arsan stand langsam auf und klopfte sich den feinen Sand von den Klei dern. Er reichte Maryvonne eine Hand und riß sie brutal in die Höhe; das Mädchen stieß einen leisen Schmerzenslaut aus. „Sage mir, wo die Papiere sind!“ drohte Arsan. „Andernfalls ...!“ Er ballte die rechte Hand zur Faust und schlug zu; das Mädchen taumelte, nach Luft schnappend, einige Schritte weit zurück. Ein zweiter Fausthieb warf Maryvonne mit dem Rücken gegen den Stamm einer Cocospalme. Langsam ging Arsan auf das Mädchen zu und legte ihm die Hände um den Hals. Dann drückte er sehr langsam zu. Bevor der Wärter begriff, was um ihn herum geschah, hatte sich Arsan abgestoßen. Mit beiden Händen auf den Schultern des Mädchens warf er die Beine in die Höhe und traf den Fremden mit dem Absatz präzise am Kinn. Der Mann stöhnte auf, der Laser fiel aus seiner kraftlosen Hand, dann sank der Mann langsam in sich zusammen. Arsan sprang rasch zu dem Bewußtlosen und nahm den Laser an sich. Dann drehte er sich zu Maryvonne, die bleich an den Stamm der Palme ge lehnt stand und immer noch nach Luft rang. „Tut mir leid, Maryvonne“, sagte Arsan leise. „Aber die ersten Schläge konnte ich nicht nur vortäuschen!“ Maryvonne nickte lächelnd und holte tief Luft. „Du bist ein ausgemachter Ganove!“ murmelte sie. „Aber ein liebenswer ter!“ „Keine Zeit für Komplimente!“ sagte Arsan kalt. „Was sind das für Papie re?“ „Ich weiß es nicht!“ erklärte das Mädchen schulterzuckend. „Foissy schickte mich zu einem Einsiedler, der am Oberlauf des Gila lebt. Dort holte - 60
ich ein Päckchen mit Dokumenten ab, die ich - so bestimmte Foissy - auf einem möglichst ungewöhnlichen Weg nach Buenaventura bringen soll. Was das für Dokumente sind, ist mir unbekannt!“ „Nun gut“, murmelte Arsan. „Wir müssen zum Boot zurück, bevor die anderen auf uns stoßen!“ In einem weiten Bogen schlichen sich Arsan und Maryvonne an die beiden Boote heran, bis sie in einer günstigen Schußentfernung waren. Arsan legte den Lauf des erbeuteten Lasers in eine Astgablung und zielte lange und sorgfältig. Als er abdrückte, zischte ein roter Blitz zu einem der Boote hinüber und traf den Bewaffneten in die rechte Hand. Der Mann schrie schmerzerfüllt auf und ließ die Waffe fallen, die klatschend im Wasser der Bucht verschwand. Vom Kutter tönte ein heiserer Freudenruf der Gefesselten. „Schnell ins Boot!“ rief Arsan und hetzte mit weiten Schritten auf die Gig zu, die am Strand lag. Zusammen wuchteten Arsan und Maryvonne das Boot ins Wasser und griffen zu den Rudern. Arsan zog ohne Rücksicht auf das Mädchen mit aller Kraft die Blätter durchs Wasser; erstaunt stellte er fest, daß Maryvonne dieser Kraftprobe gewachsen war. Nach wenigen Mi nuten lag das Boot an der Seite des Kutters. Arsan enterte als erster auf. „Prachtvoll!“ brüllte Perez freudig, als er Arsans Gesicht über der Bord wand auftauchen sah. „Los, mache uns frei! Diese verdammten Schurken können jeden Augenblick zurückkommen!“ Arsan winkte Maryvonne zu, Perez und seine Männer zu befreien; er selbst sprang mit einem gewaltigen Satz zu dem zweiten Schiff hinüber, auf dessen Deck sich der Getroffene wälzte. Der Durchschuß durch die Hand mußte höllisch schmerzen; der Mann wagte keinen Widerstand, als Arsan ihn fesselte. „Was nun, Kamerad?“ wollte Perez wissen; er war Arsan gefolgt und mas sierte die Handgelenke, die von der engen Fesselung schmerzten. „Werfen wir den Kerl über Bord?“ Arsan schüttelte den Kopf und wartete, bis auch Maryvonne das zweite Schiff betreten hatte. Dann sagte er langsam und ruhig: „Höre zu, Perez! Wir werden dich schon hier ausbezahlen. Anschließend fahren wir mit dem Boot der Gangster weiter. Ihr bringt diesen Mann zur Insel zurück und laßt ihn bei seinen Freunden. Sobald wir das Festland er reicht haben, schicken wir ein Polizeiboot hierher und lassen die Gangster - 61
abholen - es dürfte ratsam sein, wenn ihr zu dem Zeitpunkt bereits das Wei te gesucht habt!“ Perez zog die Brauen zusammen, dann bückte er sich und zog dem unter drückt stöhnenden Gefangenen die Brieftasche aus der Jacke und durch wühlte sie. „Mehr als zwei Tausender!“ stellte er vergnügt fest. „Ihr braucht uns nicht auszubezahlen - das hier reicht uns! Gute Fahrt!“ Ohne sich um das schmerzliche Wimmern des Gefesselten zu kümmern, packte er den Mann über die Schulter und schaffte ihn an Bord seines Kut ters. Arsan konnte sehen, wie sich zwei seiner Männer zu der Gig abseilten, um den Mann an Land zu bringen. „Gute Fahrt!“ rief Arsan zurück. Im Kommandostand des zweiten Bootes steckten noch die Zündschlüssel. Arsan startete den Motor und ließ den Hochseekreuzer mit minimaler Fahrt aus der Bucht gleiten. Das Echolot im Kommandostand half ihm bei der schwierigen Aufgabe, ohne Kollision den dichten Gürtel von unterseeischen Riffen rings um die Insel zu passieren. Sobald er die freie See erreicht hatte, schob er den Beschleunigungshebel bis zum Anschlag nach vorne. Das Boot machte einen gewaltigen Satz vorwärts, hob sich leicht aus dem Wasser und raste davon. Arsan richtete sich nach dem Kartentank und programmierte einen Kurs, der ihn geradlinig nach Buenaventura führen mußte. Er wußte, daß er auf diesem Kurs einige interkontinentale Schiffahrtsrou ten schnitt und Gefahr lief, entdeckt und aufgegriffen zu werden. Aber die Tatsache, daß irgendwelche Unbekannte hinter der dünnen Aktenmappe her waren, die Maryvonne vom Kutter an Bord des Gangsterschiffes ge schafft hatte, erfüllte ihn mit Besorgnis. Er wußte, daß es Tradition war, daß Wahlkämpfe ziemlich rauh ausfielen, aber weder Foissy noch sein Gege n kandidat würden Mordanschläge auf Mitarbeiter des Gegners zulassen dafür war die irdische Presse entschieden zu neugierig und clever. Was a lso verbarg sich in der Mappe, und wer riskierte sogar einen Mord, um sich in den Besitz der Dokumente zu setzen? „Übernimm du das Steuer!“ bat Arsan das Mädchen; Maryvonne nickte und stellte sich hinter das Ruder. Obwohl das Boot von einem Computer gesteuert und präzise auf Kurs gehalten wurde, war es immer noch wichtig, einen Mann hinter dem Ruder stehen zu haben - für den Fall, daß ein uner wartetes Hindernis auftauchte und ein sofortiges Eingreifen nötig machte. - 62
„Darf ich mir die Dokumente in der Mappe ansehen?“ fragte Arsan leise. Das Mädchen preßte nachdenklich die Lippen zusammen, dann nickte sie. Während Maryvonne das Meer in Fahrtrichtung beobachtete, öffnete Ar san die schmale Mappe und las langsam und sorgfältig jedes Stück Papier durch. Viel verstand er nicht - die meisten Blätter waren mit mathemati schen Symbolen übersät, die ein paar Dutzend IQ-Punkte oberhalb seines Niveaus lagen. Arsan verstand nur eines - in irgendeiner Form handelte der Text von Raumfahrt. Diese Erkenntnis verblüffte Arsan ziemlich - die irdi sche Raumfahrt war bereits so weit entwickelt, daß technische Neuerungen bestenfalls dazu dienten, die Raumfahrt sicherer und perfekter zu machen. Entscheidende technologische Durchbrüche waren nicht zu erwarten - die Lichtmauer, die Einstein als erster ermittelt hatte und die die Menschheit von der Eroberung des freien Raumes zwischen den Sternen abhielt, stand noch immer und zeigte keinerlei Verfallserscheinungen. Alles Experimentie ren hatte nur zu neuen Beweisen der Undurchdringlichke it dieser Barriere geführt. Arsan erzählte dem Mädchen seine Überlegungen; Maryvonne zuckte mit den Schultern und meinte: „Ich weiß nicht, ob du recht hast, aber irgendeinen großen Wert müssen die Papiere haben! Wir müssen uns beeilen, zu Foissy zu kommen!“ Arsan nickte schweigend; jede vertrödelte Sekunde konnte von buchstäb lich tödlicher Wirkung sein.
7. „Dein Chef hat einen verteufelt guten Geschmack, Mädchen!“ stellte Arsan bewundernd fest. Das Boot, das sie den Gangstern abgenommen hatten, lief mit halber Fahrt in den Hafen Buenaventura ein. Die Bucht von Choco lag unter dem Licht der Mittagssonne, deren Glut vom sanften Seewind stark gemildert wurde. Ein paar Stunden zuvor mußte es geregnet haben - die Landschaft machte den Eindruck, als sei sie frisch gewaschen. Die Feuchtigkeit bewirkte, daß alle Farben gesättigter und glänzender wirkten - das Grün der Blätter, die üppige, sinnverwirrende Farbenpracht der tropischen Vegetation und das Weiß der gekalkten Häuser, die sich in langer Linie den Strand entlangzo- 63
gen. Buenaventura hatte etwas mehr als fünfzigtausend Einwohner, die überwiegend in kleinen, eingeschossigen Häusern wohnten. An der Mole des kleinen Hafens zählte Arsan ein halbes Hundert einfa cher Sportsegelboote, ein Dutzend moderner Fischereifahrzeuge und nur zwei Luxuskreuzer, die dem Fahrzeug entsprachen, das er selbst steuerte. Trotz des auffälligen Untersatzes schien niemand von Arsan und seinem Boot Notiz zu nehmen, als er am Kai anlegte und das Boot vertäute. Zwei Männer waren damit beschäftigt, die Uferstraße vom Sand zu befreien; sie schauten nur kurz auf und fuhren fort, ihre Besen mit langen, gleichmäßigen Strichen über das Betonband zu führen. „Wer ist eigentlich für dieses Paradies verantwortlich?“ wollte Arsan wis sen. „Mein verehrter Chef!“ antwortete Maryvonne mit sichtlichem Stolz. „Er hat seine politische Karriere als Bürgermeister von Buenaventura begonnen, wurde dann Gouverneur von ganz Kolumbien und so fort. Er hat damals dafür gesorgt, daß der berüchtigte Fortschritt nur in geringem Maße nach Buenaventura gedrungen ist, und der jetzige Bürgermeister ist ein alter Freund von Kenneth!“ „Vielleicht werde ich mich hier einmal niederlassen“, meinte Arsan nach denklich. „Das wird schwer sein!“ erwiderte Maryvonne lächelnd. „Wer hier ein Haus bauen oder kaufen will, braucht dazu die Genehmigung des Bürge r meisters, und der läßt nur solche Personen zu, die auch in diese Landschaft passen,“ „Aha!“ machte Arsan grinsend. „Und wie kommen wir nun zu deinem geliebten Chef?“ Es zeigte sich, daß es am Hafen eine Gleitervermietung gab; der Inhaber kannte Maryvonne und begrüßte sie überaus freundlich. Um den beiden zu helfen, wies er seinen Sohn an, Arsan und Maryvonne zum Haus von Foissy zu fahren und den Gleiter zurückzubringen. Foissys Haus, ein eingeschossiges Gebäude, das sich nur durch seine Weit läufigkeit von den anderen Gebäuden in Buenaventura unterschied, lag auf der Kuppe eines Hügels, der zu den letzten Ausläufern der westlichen Kor dilleren zählte. Von der Kuppe aus hatte man einen vorzüglichen Überblick über die Bucht von Choco und Buenaventura. Ein großer, üppig bewachse ner Garten gehörte ebenfalls zu Foissys Wohnsitz, der von einem auf den - 64
ersten Blick recht wirkungslosen Eisenzaun geschützt wurde. Arsans prü fender Blick bemerkte allerdings ziemlich rasch, daß sich hinter dem Schmiedeeisen zahlreiche elektronische Fallen und Alarmanlagen versteck ten. Es mußte ziemlich schwierig sein, ohne Foissys Zustimmung zum Haus vorzudringen. Der Gleiter hielt vor dem Haus, und Arsan und Maryvonne stiegen aus; der Fahrer winkte ihnen fröhlich zu, als er das Fahrzeug wendete und mit einem wahren Höllentempo die gewundene Straße den Berg hinunter raste. Arsan sah ihm mit sehr gemischten Gefühlen nach - jetzt kam alles darauf an, ob seine Trumpfkarte, die einzige, die er hatte, auch wirklich stach. „Maryvonne ist hier, Chef!“ sagte das Mädchen in das Mikrophon der Gegensprechanlage. „Ich habe noch jemanden mitgebracht - es scheint von Wichtigkeit zu sein!“ Anstelle einer Antwort schwang langsam und lautlos das große, schmie deeiserne Tor auf und gab den Weg frei, der durch sorgfältig gepflegte Blu menbeete zum Haus führte. Am Eingang erwartete sie ein hochgewachsener Mann, der Maryvonne freundlich grüßte und dann Arsan mißtrauisch stu dierte. Seinem Blick entging nicht die Waffe, die Arsan unter der hellgelben Segeljacke trug. Wortlos streckte der Mann die rechte Hand aus und nahm schweigend Arsans Waffe in Empfang. „Sie bekommen sie wieder, wenn Sie das Grundstück verlassen!“ sagte der Mann. „Folgen Sie mir!“ Die Inneneinrichtung des Hauses entsprach dem Bild, das Arsan sich schon vorher gemacht hatte - der Besitzer verfügte sowohl über Geld als auch über die Fähigkeit, damit einem sehr persönlichen Stilempfinden ge schmackvoll nachgehen zu können. Arsan, der immer sehr stolz auf seinen guten Geschmack gewesen war, fühlte sich leicht befangen. Das Gefühl ver stärkte sich noch, als er hinter Maryvonne in Foissys Arbeitszimmer trat. „Maryvonne!“ sagte Foissy begeistert. „Endlich sind Sie angekommen! Ist die Fahrt ohne Zwischenfälle verlaufen?“ „Ja, Chef!“ sagte Maryvonne lächelnd. „Es ist alles nach Plan gelaufen mit einigen kleineren Schönheitsfehlern. Einen dieser Zwischenfälle möchte ich Ihnen vorstellen!“ Sie trat einen Schritt zur Seite und gab für Arsan die Sicht frei. Foissy war knapp über sechzig Jahre alt. Er war etwas kleiner als der irdi sche Durchschnitt, was aber seiner Persönlichkeit keinen Abbruch tat. Das - 65
leichtgewellte, angegraute Haar trug er glatt nach hinten gekämmt. Hinter den Gläsern der starkrandigen Brille sahen zwei dunkle Augen Arsan mit ernster Ruhe an. Typisch für das markante Gesicht waren die stark ausge prägten Falten von der Nase zu den Mundwinkeln und der weiße Schnauz bart. „Ich kenne Sie!“ sagte Foissy ruhig. „Sie sind Arsan Ganew und werden von der Polizei gesucht. Ich kenne Maryvonne lange genug, um zu wissen, daß sie nichts Unbedachtes tun wird. Weshalb also sind Sie dank ihrer Hilfe hier?“ „Sir!“ begann Arsan zögernd; sein Selbstbewußtsein ließ ihn zum ersten Male im Stich. Plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, daß die Verantwortung, der sich Foissy freiwillig unterwarf, weit schwerer wog als alle Schwierigke i ten, die ihn selbst belasteten. Die Machtfülle, die Foissy auf sich vereinigt hatte, übte mit Sicherheit e inen ebenso großen Druck auf die Selbstkontrolle aus wie Arsans Neurosen - nur mit dem Unterschied, daß Arsan von seinem Unterbewußtsein gepeinigt und terrorisiert wurde, während Foissy offen kundig wußte, dem Rausch der Macht mit Festigkeit zu begegnen. „Sir!“ begann Arsan von neuem. „Mein Auftauchen hier hat eine gewisse Vorgeschichte, die zur Erklärung dringend notwendig ist. Wenn ich den Sachverhalt richtig deute, verfüge ich über eine Paragabe - eine ESPFähigkeit!“ „Extra Sensory Perception!“ wiederholte Foissy nachdenklich, ohne den Blick von Arsan zu wenden. „Von welcher Art sind Ihre außersinnlichen Wahrnehmungen ?“ „Ich bin ein Todesseher!“ sagte Arsan dumpf. „Wenn ich einen Menschen sehe - der Blickkontakt ist nötig -, und ich empfinde irgend etwas für diesen Menschen, gleichgültig ob Liebe, Haß, Trauer oder Wut, dann sehe ich die sen Menschen so, wie er zum Zeitpunkt seines Todes aussieht! Ich kann mich dagegen nicht wehren -und ich habe die traurige Erfahrung machen müssen, daß diese Paragabe offenbar unfehlbar ist!“ Foissy sah Arsan aufmerksam und konzentriert an. „Sie haben vermutlich einige Schwierigkeiten durch diese Fähigkeit, jun ger Mann!“ vermutete er. „Es muß stören, wenn man in dem geliebten Mäd chen schon die häßliche Alte oder das jung sterbende Verkehrsopfer sieht. Habe ich recht?“ Arsan nickte stumm. - 66
„Und was genau führt Sie zu mir?“ wollte Foissy wissen. Maryvonne ne ben ihm erbleichte; sie begriff etwas schneller als ihr Chef, warum Arsan ihn hatte aufsuchen wollen. „Sir!“ sagte Arsan; er hatte seine Ruhe wiedergefunden. „Im Gemein schaftsraum der Strafanstalt von Albuquerque sah ich, wie Sie Ihre Kandida tur bekanntgaben. Ich bin ein Bewunderer Ihrer Politik ...!“ „Sie haben meinen Tod gesehen!“ sprach Foissy; sein Gesicht bekam ü ber gangslos eine etwas maskenhafte Starre. Jetzt war Foissy nicht mehr der von Gefühlen beeindruckbare Mensch, sondern nur noch kalkulierender An droide. „Da ein normaler Tod an Altersschwäche Sie vermutlich nicht über rascht hätte, komme ich zu dem Schluß, daß mein Tod gewaltsam sein wird! Wann?“ Hilflos zuckte Arsan mit den Schultern. „Ich weiß es nicht!“ gestand er. „Es kann in dieser Stunde geschehen, es kann ebensogut noch ein Jahr verstreichen. In meiner Vision sahen Sie so aus, wie jetzt auch - sehr groß kann die Zeitspanne nicht sein. Und noch etwas - die tödliche Verletzung ist der Einschuß eines Lasers!“ „Ein Attentat!“ stöhnte Maryvonne auf. Foissy wankte leicht und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. „Also gut, ein Attentat!“ sagte er halblaut, wenn auch mit leicht unsicherer Stimme. „Ich werde hoffentlich der letzte sein, dem dergleichen zustößt!“ Arsan schüttelte den Kopf. „Nein!“ sagte er hart. „Überlegen Sie einmal Sie werden getötet, vielleicht während des Wahlkampfes. Sie sind der e rste Androide, der den Sprung zur Präsidentschaft wagen will. Und bei diesem Versuch werden Sie von einem Attentäter getötet - können Sie sich ausma len, was die Bevölkerung denken wird? Jeder wird annehmen, daß ein Nicht-Androide Sie aus irgendwelchen rassischen Vorurteilen getötet hat. Und bei den Nicht-Androiden wird Panik ausbrechen - sie werden von den Androiden annehmen, was sie bei sich selbst vermuten würden: Haß, der reif ist für einen Bürgerkrieg!“ „Er hat recht, Chef!“ mischte sich Maryvonne ein. „Wenn man Sie tötet, ist ein Bürgerkrieg mit Millionen Opfern nicht zu vermeiden!“ „Aus diesem Grund bin ich hier!“ fuhr Arsan fort. „Obwohl meine ganze Erfahrung dagegen spricht - wir müssen alles versuchen, meine Vision Lü gen zu strafen!“
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„Wenn Sie meinen Tod gesehen haben“, murmelte Foissy dumpf, „wird er sich wohl kaum vermeiden lassen - ob mit Ihrer Hilfe oder ohne sie!“ „Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu, Sir!“ antwortete Arsan entschlossen. „Aber verstehen Sie bitte - diese Visionen sind mein Fluch. Und in Ihrem Fall stehen mehr Möglichkeiten, das Verhängnis abzuwenden, zur Verfü gung als sonst!“ „Ich vermute“, sagte Foissy langsam, „daß Sie auch schon einen Plan h a ben. Richtig?“ „Korrekt!“ bestätigte Arsan. „Ich habe einen Plan. Alles, was ich gesehen habe, spricht für einen Laserschuß aus nächster Nähe. Da Sie jetzt wissen, in welcher Gefahr Sie schweben, wird so leicht niemand an Sie herankönnen. Der Attentäter muß zu Ihrem Stab, Ihrem engsten Mitarbeiterkreis gehören!“ „Sie vergessen sich selbst, mein Freund“, erinnerte Foissy mit einem schie fen Lächeln. „Ich weiß, daß ich Sie nicht ermorden will!“ konterte Arsan trocken. „Und mein Wissen ist hier entscheidend.“ Überlegen wir uns, was geschehen kann. Ein Mann aus Ihrem Stab geht auf Sie zu, zieht seine Waffe und drückt ab. Nun bin ich aber ständig an Ihrer Seite. Ich werde den Mörder seiner Tat wegen hassen, folglich seinen Tod sehen. Können Sie mir folgen? „Einstwei len ja!“ murmelte Foissy. „Wenn ich nun bei dem Versuch, Ihr Leben zu retten, den Mann niederschieße, also töte“, setzte Arsan seinen Gedanke n gang fort, „muß ich kurz zuvor diesen Tod gesehen haben! Das bedeutet, daß der Täter sich für mich Sekunden vorher entlarvt - allerdings nur unter der Voraussetzung, daß ich das Recht bekomme, diesen Mann sofort zu töten!“ „Da komme ich nicht ganz mit!“ mischte sich Maryvonne ein. „Was ist, wenn du den Attentäter nicht erkennst und folglich nicht töten kannst?“ „Dann bricht der Plan zusammen“, gab Arsan zu. „Wenn der Mörder ent kommt und an Altersschwäche stirbt, wird er für mich unter allen Mitarbei tern nicht zu erkennen sein. Die Tatsache, daß er - hoffentlich - noch vor seinem Opfer, also sehr früh sterben wird, ist für mich der entscheidende Hinweis auf den Täter!“ „Ich finde Ihren Plan gut, Arsan!“ kommentierte Foissy ruhig. Aber ich lehne ab - in unserer Verfassung ist die Todesstrafe verboten, und selbst - 68
Propaganda für ihre Wiedereinführung steht unter Strafe. Ich werde niemals zulassen, daß ein Mann durch meinen Entschluß stirbt. Übrigens hat Ihr Plan an dieser Stelle ein großes Loch: Gelingt Ihr Plan, dann muß ein Unschuldiger sterben - denn der Mann wird gar nicht dazu kommen, mich zu töten. Und sollte er erfolgreich sein, dann verbitte ich mir jede Form von Rache oder Lynchjustiz. Aber ich gebe Ihnen eine Chance, Ihre Visionen gleich zweifach zu übertölpeln - wir wer den nach Ihrem Konzept vorgehen, aber Sie erhalten von mir den ausdrück lichen Befehl, den Mann unter keinen Umständen zu töten. Vielleicht hat meine Order mehr Gewicht für Sie als das Gesetz, das Sie brechen wollten! Arsan sah den Mann hinter dem Schreibtisch schweigend an, dann nickte er schwach. „Ich werde den Mann nicht töten!“ sagte er dumpf. „Obwohl das sämtli che Chancen zerstören wird!“ „Da fällt mir ein, Chef“, meldete sich Maryvonne, „daß Arsan immer noch von der Polizei gesucht wird!“ „Richtig!“ stimmte Foissy zu. „Stelle mir bitte eine Holovisorverbindung zum Justizministerium her!“ Zwei Minuten später erschien in dem Würfel auf Foissys Schreibtisch das dreidimensionale Abbild des irdischen Justizministers Walter Rambo. Foissy kam ohne Umschweife zur Sache und berichtete Rambo über Arsans Mittei lung und seinen Plan. „Gibt es eine Möglichkeit, ihn in meiner Nähe zu belassen, Walter?“ wollte Foissy abschließend wissen. In dem Kubus drehte sich langsam das Gesicht des Ministers, bis der Mann Arsan sehen konnte. „Es gibt eine Möglichkeit, Kenneth!“ sagte er ruhig. „Ich kann für Arsan Ganew mit sofortiger Wirkung einen Strafaufschub durchsetzen. Sie wissen, was das bedeutet, Mister Ganew?“ „Selbstverständlich, Sir!“ antwortete Arsan enttäuscht. „Sobald der Fall gelöst ist, habe ich mich der Polizei zu stellen!“ „Werden Sie das tun?“ fragte Rambo unerbittlich; Arsan knirschte mit den Zähnen. „Ja!“ sagte er finster. „Ich werde mich der Polizei stellen!“ „Gut - der Aufschub ist hiermit bewilligt!“ erklärte Rambo freundlich. „Und ich wünsche jedem alles Glück!“
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„Danke“, antwortete Foissy lächelnd und schaltete das Gerät aus. „Nun zu dir, Maryvonne - hast du die Unterlagen mitgebracht?“ Wortlos übergab das Mädchen die schmale Mappe an Foissy; der Präsi dentschaftskandidat überprüfte den Inhalt. Er mußte von u ngeheuer großer Bedeutung sein, überlegte Arsan, als er Foissys freudestrahlendes Gesicht bewunderte - so bedeutungsvoll, daß Foissy sogar vergaß, daß er in wenigen Tagen oder Wochen würde sterben müssen. * Die nächsten zwei Wochen waren für Arsan eine Tortur besonderer Art; in immer neuen Anfällen seiner Parabegabung überprüfte er sämtliche Mitar beiter und Besucher Foissys. Sein Verstand brach unter den grausamen Ein drücken fast zusammen - zumal er auf Foissys Anweisungen den Betroffe nen nichts sagen durfte. So würde der junge Bürobote vermutlich im näch sten Jahr von einem Hai getötet werden, und von einer der Sekretärinnen wußte Arsan, daß sie in fürchterlichem Elend und hochbetagt sterben muß te. Ein Hinweis auf den Attentäter fand sich nicht, wenn man davon absah, daß Arsan zu fürchten begann, Maryvonne hätte etwas mit dem Attentat zu tun. „Bei ihr komme ich einfach nicht durch, Chef!“ klagte er bei einem abend lichen Gespräch mit Foissy. „Bei Maryvonne sehe ich überhaupt nichts - in ihrem Fall versagen meine Fähigkeiten vollkommen. Sie wäre die einzige, die durch meine Kontrolle schlüpfen könnte!“ „Vielleicht ist sie ein Robotdouble!“ scherzte Foissy gutgelaunt; er schien die Gefahr, in der er schwebte, überhaupt nicht ernstzunehmen. „Ausgeschlossen!“ wehrte Arsan ab. „Auch in diesem Fall könnte ich b e schreiben, wann ungefähr ihr mechanisches Leben ein Ende hätte!“ Er grin ste verwegen. „Wenn ich mich konzentriere, kann ich Ihnen sogar sagen, wie lange Ihr Gleiter noch funktionieren wird, bis er endgültig auf den Schrottplatz gehört!“ „Ist das wahr?“ fragte Foissy erstaunt. „Sie könnten also theoretisch eine Maschine betrachten und zuverlässig sagen, ob sie eine bestimmte Zeitlang einwandfrei funktionieren wird?“ „Wenn mir an dem Ding etwas liegt“, bestätigte Arsan, leicht verwundert über Foissys Erregung, „dann kann ich derlei sogar ziemlich präzise - 70
bestimmen. Meine Uhr beispielsweise habe ich vor zehn Jahren für ein Spottgeld gekauft - und sie wird erst in weiteren dreißig Jahren aufhören zu ticken. Mich hat noch kein Verkäufer anschmieren .können!“ „Phantastisch!“ rief Foissy impulsiv. „Mein Junge, ich habe das sichere Gefühl, daß Sie nie wieder nach Albuquerque zurück müssen!“ Arsan sah dem davoneilenden Androiden erstaunt nach. „Wenn das ein Scherz war“, murmelte er pessimistisch, „dann war es kein guter!“ * Der nächste Morgen brachte die Katastrophe. Als Foissy am Frühstückstisch erschien - er pflegte stets in Gesellschaft zu essen -, stieß Arsan einen Ruf des Entsetzens aus. Maryvonne wurde bleich und sprang von ihrem Sitz auf, während Arsan wie hypnotisiert auf Foissys Kinn starrte. „Was gibt es, Arsan?“ wollte Foissy wissen, während er sich setzte. „Was entsetzt Sie derartig?“ „Chef?“ fragte Arsan mit unsicherer Stimme. „Vermute ich richtig, daß Sie ein Anhänger frühzeitlicher Rasiermethoden sind?“ „Gut geraten, Arsan!“ sagte Foissy amüsiert. „Ich rasiere mich tatsächlich wie unsere Vorfahren mit Wasser, Rasierseife und einem scharfen Messer. Woher wissen Sie das?“ „Weil Sie sich heute morgen geschnitten haben!“ sagte Arsan mühsam. „Und weil ich mich jetzt erinnere, daß ich diese Schnittwunde schon einmal gesehen habe!“ „Es ist nicht weiter verwunderlich, daß ich mich beim Rasieren verletzt habe“, meinte Foissy belustigt. „Ich bin heute ein wenig aufgeregt - schließ lich ist heute Wahl ...!“ Er stockte unvermittelt, als ihm bewußt wurde, was Arsan gesagt hatte. Langsam drehte er sich zu Arsan um, mit schreckgeweiteten Augen. Ein fahler Blitz zischte durch den Raum, und als der Donner verklungen war, sah Arsan, wie der Androide mit einem schwärzlichen Einschußloch zwi schen den Augen vom Stuhl fiel. „Vielen Dank, Arsan Ganew!“ sagte eine Männerstimme hinter ihm. „Sie haben sich tatsächlich nicht geirrt!“
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Arsan, der als einziger im Raum eine Waffe tragen durfte, drehte sich ra send schnell herum und riß den Laser aus der Halfter. Vor ihm stand ein unbekannter Mann mit einer Maske; Arsan wußte nicht, wie der Fremde in das Haus gelangt sein mochte, aber es bestand kein Zweifel, daß er den töd lichen Schuß abgegeben hatte - der Laser lag noch in seiner Hand. Arsan war versucht, sofort abzudrücken, dann erinnerte er sich des Versprechens, das er dem Toten gegeben hatte. „Legen Sie die Waffe weg, Mann!“ sagte Arsan gefährlich leise. „Und h e ben Sie die Hände in die Höhe!“ Dumpf polterte der Laser auf den Teppich, dann gingen die Hände des Fremden langsam nach oben und streiften die Maske ab. Arsan stieß einen Ruf des Erstaunens aus, als er das Gesicht erkannte. „Sir!“ stammelte er fassungslos. * „Sie haben nur einen kleinen Fehler gemacht, Arsan!“ sagte Foissy lächelnd. Er hatte sich mit Arsan und Maryvonne in sein Arbeitszimmer zurückge zogen; sie hatten sich um den großen, hölzernen Tisch gesetzt, der früher in der Kapitänskajüte eines alten Segelschiffs gestanden hatte. Auf der Maha goniplatte standen drei halbgefüllte Gläser. „Was Sie nicht wissen konnten und meine Mitarbeiter völlig vergessen hatten“, setzte Foissy seine Erklärung fort, „ist der Umstand, daß ich am Todestag des alten Präsidenten im Bett lag und eine Darmgrippe auskurier te. Was Sie auf dem Bildschirm gesehen haben, war das Robotdouble, das ich heute morgen erschossen habe!“ „Aber ...“, stammelte Arsan hilflos. „Warum haben Sie uns das nicht frü her verraten?“ „Ich bin selbst erst durch Zufall darauf gestoßen“, berichtete Foissy zu frieden. „Ich bin selbstverständlich von der Annahme ausgegangen, daß sich Ihre ESP-Fähigkeiten auf Menschen beschränken. Und auf das Datum, an dem Sie meinen Tod sahen, habe ich natürlich auch nicht geachtet. Erst ge stern abend, als wir über Robots sprachen, fiel mir ein, daß am Todestag des alten Präsidenten mein Double die Erklärung meiner Kandidatur verlesen hatte. Sein Tod ist nicht weiter wichtig - es handelt sich lediglich um eine Maschine ohne den geringsten Funken von Persönlichkeit. Das einzig Le- 72
bende an dem Ding ist die biosynthetische Gesichtsmaske, die man leider auch rasieren muß. Daß Sie sich an den kleinen Schnitt im Gesicht des Ro bots erinnerten, machte den etwas üblen Spaß, den ich mir erlaubte, erst richtig perfekt!“ „Damit wären alle Bedingungen erfüllt!“ stellte Maryvonne strahlend fest. „Arsan hat die Ereignisse richtig gesehen, aber falsch gedeutet - und Sie leben, Chef! Und der befürchtete Bürge rkrieg findet auch nicht statt! Was will man mehr?“ Arsan schwieg; er dachte im Augenblick weniger an andere als vielmehr an sich selbst. Er hatte sein Wort gegeben - in den nächsten Tagen mußte er sich der Polizei stellen und nach Albuquerque zurück. „Sie machen ein ausgesprochen niedergeschlagenes Gesicht, Arsan!“ stell te Foissy fest. „Ich nehme an, Sie bedenken Ihre persönliche Zukunft! Nun, was halten Sie davon, an einem Himmelfahrtskommando teilzunehmen falls Sie es überleben, sind Sie ein freier Mann!“ „Das hängt von der Art des Himmelfahrtskommandos ab!“ wandte Arsan ein. „Darf ich Details hören?“ Foissy sah auf seine Uhr; die Zeit wurde langsam knapp. In weniger als einer Stunde mußte er nach Bogota, um sich dort den Journalisten zu stellen, die über diese Wahl berichteten. „Ganz kurz gesagt“, begann Foissy, „Sie sollen die erste menschliche Ex pedition zu den Sternen leiten. Was halten Sie davon?“ Arsan schüttelte den Kopf. „Sie wissen ebensogut wie ich, daß interstellarer Flug gleich dilatori schem Flug ist!“ widersprach er. „Ich möchte bei einer Rückkehr nicht Jahr hunderte in die Zukunft versetzt sein! Dann schon lieber in die Mondberg werke!“ „Sie irren sich, Arsan!“ korrigierte Foissy sanft. „Wissen Sie, was Mary vonne für Dokumente mitgebracht hat - die mathematischen Grundlagen für ein überlichtschnelles Raumschiff! Die Männer, die hinter den Unterlagen her waren, gehörten zu einem bekannten Unternehmen der Raumfahrt, des sen Direktoren jetzt erheblichen Ärger mit der Polizei haben werden!“ „Sie - wissen, daß die Lichtgeschwindigkeit nicht zu überschreiten ist“, protestierte Arsan entschieden. „Da haben Sie recht!“ räumte Foissy ein. „Aber unser mathematisches Genie hat ein anderes Prinzip entdeckt. Anstatt einen menschlichen Körper zu verschicken, sendet er ein Bündel von Informationen, aus denen man den - 73
gleichen Menschen wieder zusammensetzen kann!“ Arsan lachte skeptisch auf. „Können Sie mir ein Gerät nennen“, erkundigte er sich spöttisch, „das alle Informationen speichern kann, aus denen sich ein menschlicher Körper zusammensetzt?“ „Kann ich!“ erwiderte Foissy gelassen. „In Ihrem Körper sind alle nötigen Informationen enthalten, die man braucht, um einen Menschen präzise zu beschreiben - Erinnerungen, Gefühle und dergleichen mit eingeschlossen.“ „Akzeptiert!“ räumte Arsan ein. „Aber worauf wollen Sie eigentlich hin aus?“ „Ein Freund von mir“, berichtete Foissy, „ein ziemlich genaues Muster jenes Typs des zerstreuten Professors, hat ein Verfahren entwickelt, sämtli che Informationen eines Körpers - gleichgültig ob Menschen oder Maschi nen - auf Tachyonen zu übertragen. Ich hoffe, Sie kennen diese Teilchen!“ „Sie sind überlichtschnell!“ rekapitulierte Arsan sein Wissen. „Und für Tachyonen ist die Lichtmauer von oben so undurchdringlich wie für das Licht von unten!“ „Richtig!“ bestätigte Foissy. „Unser Freund hat nun zwei Geräte entwik kelt, von denen eines fähig ist, Tachyonen von besonders hoher Geschwin digkeit auszusenden. Das andere Gerät dient als Empfänger und wandelt die Tachyonen wieder in bekannte Materie um!“ „Ein Transmitter also!“ stellte Arsan ungläubig fest. „Das heißt ja ... !“ „... daß der Menschheit endlich der Weg zu den Sternen offensteht!“ er gänzte Foissy. „Ja, Sie haben recht - uns bieten sich neue, ungeahnte Mög lichkeiten. Die Menschheit wird von Stern zu Stern springen können - die ganze Galaxis steht uns offen. Das heißt, wenn nicht schon eine andere Rasse vor uns auf diesen Gedanken gekommen ist und die Milchstraße b ereits fest im Griff hat!“ „Diese Furcht ist unbegründet!“ mischte sich Maryvonne ein. „Dafür ist die Galaxis viel zu gewaltig!“ „Sir!“ meldete sich ein Sekretär vom Eingang des Zimmers. „Es wird Zeit draußen wartet schon Ihr Gleiter! Nach den letzten Nachrichten liegt die Wahlbeteiligung bei mehr als neunzig Prozent!“ „Und wie stehen unsere Chancen?“ wollte Maryvonne wissen. „Knapp!“ sagte der Sekretär düster. „Es gibt ein heißes Kopf-an-KopfRennen. Aber noch ist nichts verloren!“ „Im Gegenteil!“ murmelte Arsan. „Wir haben alles gewonnen!“ - 74
8. „Alle Daten sind günstig!“ behauptete Prano Cooner, Leiter des Projekts Alpha. „Nach den Berechnungen der Astronomen müßte das System einen erdähnlichen P laneten haben. Die Reisestrecke ist vergleichsweise kurz, und die Startbedingungen kann man fast als ideal bezeichnen!“ „Derlei höre ich gerne!“ murmelte Kenneth Foissy, seit drei Monaten Prä sident, dank einer hauchdünnen Mehrheit. Das Gespräch fand auf dem Mond statt; man hatte es vorgezogen, die letzten Details dort zu klären, wo auch das Raumschiff starten sollte. Fünf Männer befanden sich in dem kleinen Raum, der zu dem gewaltigen Höh lensystem gehörte, mit dem man den Mond untergraben hatte. Das For schungslabor befand sich am Fuß des Gebirges, das auf den Karten als Mondalpen verzeichnet war. In einer Entfernung von zwei Kilometern Sicht linie ragte das erste interstellare Raumschiff der Menschheit in die Höhe, eine zerbrechlich wirkende Konstruktion aus Tanks, Leitungen und Trans portbehältern, die von nur wenigen Verstrebungen zusammengehalten wurden. Nur der obere Teil des Raumschiffs sah stabiler konstruiert aus - er sollte auf einem Planeten landen und während des Fluges den Piloten be herbergen. „Haben Sie sich die Maschinen angesehen, Arsan?“ wollte Foissy wissen. „Und wenn - zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?“ Arsan machte ein säuerliches Gesicht. „Beide Anlagen - sowohl der Transmitter als auch das Schiff - werden mit Sicherheit älter werden als ich“, gab er bekannt. „Aber das trifft auch dann zu, wenn ich nach der Einschläferung niemals mehr aufwache. So betrachtet, ist meine Prognose nur von geringem Wert!“ Foissy runzelte die Stirn; mit dieser Überlegung hatte er nicht gerechnet. „Nun“, meinte Arsan gedehnt. „Ich weiß zumindest, daß die Wiederbele bungsautomatiken einwandfrei arbeiten werden. Gar zu groß ist die Gefahr also nicht!“ „Das bedeutet“, setzte der Leitende Ingenieur des Projekts die Gedanke n kette fort, „daß Sie den Auftrag übernehmen?“ „Ich übernehme!“ sagte Ar san kurz. - 75
Bis vor wenigen Tagen hatte er noch in den Mondbergwerken gearbeitet; Foissys Macht war durch die Spielregeln einer rechtsstaatlichen Verfassung begrenzt - auch ihm war es nicht möglich gewesen, Arsan während der Zeit in Freiheit zu lassen, in der das Raumschiff gebaut worden war. Auch von Maryvonne hatte Arsan seit dem Wahltag nichts mehr gehört und gesehen es hatte ihn nur ein paar Tage lang geärgert, dann hatte der Mantel der Gleichgültigkeit wieder alles Vergangene verhüllt. „Wir haben sämtliche Anlagen und deren Bedienungselemente so verein facht, daß sie auch ein Laie bedienen könnte!“ erläuterte der Leitende Inge nieur. „Viel Arbeit werden Sie also nicht haben, Mister Ganew!“ „Es freut mich“, meinte Arsan bissig, „daß Sie auf meine sprichwörtliche Faulheit soviel Rücksicht nehmen. Wann ist der Start?“ „Wann Sie es für richtig halten“, erhielt er zur Antwort. „Das Schiff ist aufgetankt, sämtliche Systeme sind geprüft und arbeiten einwandfrei. Wenn Sie wollen, können Sie in einer Stunde bereits im Raum sein!“ „Ich will!“ erklärte Arsan entschlossen. „So schnell wie möglich!“ * „Viel Glück!“ wünschte Arsan, dann schaltete er den Sender aus. Es war sinnlos geworden, noch weiter den Funkverkehr mit der Erde auf rechtzuerhalten. Arsans Schiff hatte bereits soviel Fahrt gewonnen, daß die lichtschnellen Funksignale nur noch arg verstümmelt und verzerrt die Sen der verließen. Für mehr als zehn Jahre war jede Verbindung zwischen den irdischen Stationen und dem Raumschiff unterbunden. Was nach dem Ab lauf dieser Zeitspanne sein würde, konnte Arsan nur hoffen. Arsan zündete sich eine Zigarette an und setzte sich in seinen Wohnraum. Es fehlte weder die Hausbar noch eine Sammlung von Musikbändern nebst einem Abspielge rät. „Was nun?“ murmelte Arsan im Selbstgespräch. Das Gefühl, völlig allein zu sein, zerrte an seinen Nerven. Die Belastung war um so stärker, als Arsan dieses Gefühl seit langen Jahren kannte und fürchtete. Obendrein fühlte er sich alles andere als wohl. Das Mädchen Ma ryvonne war für ihn verschwunden, sein ehemaliger Freundeskreis würde von einem entlassenen Häftling nichts wissen wollen, und der einzige Mensch, dem Arsan vertraute - Kenneth Foissy -, stand auf so verschiede- 76
nem Niveau, daß auch dies ihm nicht weiterhelfen konnte. Das Gefühl, von anderen Menschen abgeschnitten zu sein, war schon für sich genommen eine Tortur - das Wissen aber, daß auch die Anwesenheit von Menschen Arsan nicht eine gewisse innere Ruhe und Sicherheit geben konnte, lähmte den Mann fast völlig. Für eine Sekunde überlegte Arsan, was er tun sollte. Selbstverständlich konnte er sich planmäßig einfrieren lassen, um so den einfach lichtschnellen Flug des Raumschiffs verschlafen zu können - dies sah der Flugplan vor. Aber die Gewißheit, daß er nach Ablauf dieser Frist erst recht alle Verbin dungen zu seinen Mitmenschen verloren haben würde, war alles andere als aufmunternd. „Schwachkopf!“ schimpfte der Mann mit sich selbst. „Wenn es dir Spaß macht, kannst du ja den Wiedererweckungsmechanismus zerstören!“ Für einen Augenblick beschäftigte sich Arsan ernsthaft mit dieser Mög lichkeit, dann schüttelte er den Kopf. Eine solche Lösung seiner Probleme ließ sein Stolz nicht zu - also mußte er sich zähneknirschend in das Unver meidliche fügen. Sorgfältig achtete Arsan darauf, im Wohnbereich des Raumschiffs peinli che Ordnung und Sauberkeit herzustellen, dann ging er ein Stockwerk tiefer, wo die Einrichtungen für den biologischen Tiefschlaf eingebaut waren. Eine Stunde später war Arsan klinisch tot, sein zu Eis erstarrter Körper lag im Kühlfach und wartete darauf, daß ein Automat ihn wieder aufwecken wür de. * Als Arsan wieder zu sich kam, hatte sein Raumschiff das unbekannte Son nensystem erreicht, das Ziel der Reise war. Die Computer hatten das Schiff bereits gedreht, und die Triebwerke arbeiteten mit höchsten Verzögerungs werten. Als Arsan die Anzeige des großen Radars studierte, erkannte er, daß das fremde Sonnensystem insgesamt vier Planeten aufwies, davon einen innerhalb der Ökosphäre. Die Experten hatten richtig gerechnet - einer der Begleiter der Sonne bot Voraussetzungen für höherentwickeltes Leben in Formen, die den irdischen entsprechen mußten. Wenn man die Werte der Zentralsonne auf solare Maßstäbe umrechnete, war der gesichtete Planet u m etwas mehr als fünf Prozent weiter von seiner Sonne entfernt als die Erde - 77
von Sol. Das ließ auf ein Klima schließen, das leicht unterhalb der irdischen Norm liegen mußte. Klickend spie der Auswerter ein Foto aus, das länger als zwei Stunden belichtet worden war; Automaten hatten die Rotverschie bung korrigiert, die sich aus der hohen Geschwindigkeit des Raumschiffs ergab. Die Aufnahme war zu klein, als daß Einzelheiten zu erkennen waren; deutlich aber waren ausgedehnte Wolke nfelder zu sehen. Durch die Lücken schimmerten Grün und Braun - vermutlich Ozeane und ausgedehnte Land flächen, überlegte Arsan. Zwischen Arsans Schiff und dem Planeten wurde ein größerer Schwarm von kleinen und kleinsten Himmelskörpern ausgemacht, offenbar eine An sammlung von Asteroiden, wie man sie bereits aus dem Sonnensystem kannte. Vorsichtshalber ging Arsan zwei Decks tiefer. Dort war der große Transmitter aufgebaut, einstweilen noch nicht akti viert. Arsan schaltete die Energiezufuhr ein und wartete, bis die Anzeigen die vorgeschriebenen Werte erreicht hatten. Was genau er machte, wußte er nicht - sollte der Transmitter ausfallen, war er für alle Zeiten vom Sonnensy stem abgeschnitten. Ein Zurück ohne Transmitter gab es für Arsan nicht. Langsam baute sich in dem Metallkäfig in der Mitte des Raumes ein bläu lich schimmerndes Feld auf. Wenn alle Berechnungen stimmten, würde es genügen, einfach durch dieses Feld zu schreiten, um wohlbehalten auf der Erde wieder herauszukommen. Aus Sicherheitsgründen war aber vorgesehen, daß Arsan den Transmitter nur im äußersten Notfall benutzen sollte. Für die abgesprochenen Testsen dungen - Nachrichten, Lebensmittel, Versuchstiere und dergleichen - blieb im Notfall keine Zeit mehr. Entsprechend höher war auch das Risiko. Der Transmitter auf der Erde sollte laut Plan vom Start an pausenlos in Betrieb bleiben, um Arsan jederzeit die Aussicht auf Rückkehr bieten zu können. „Die Rückversicherung arbeitet also!“ stellte Arsan halblaut fest. „Wir wollen sehen, wie es weitergeht!“ Ungefährdet passierte das Raumschiff den Asteroidengürtel und näherte sich mit allmählich geringer werdender Fahrt dem innersten Planeten, auf dem das Schiff - zumindest der obere Teil - landen sollte. Trotz der hohen Geschwindigkeit des Schiffes verstrichen mehr als zehn Stunden, bis das Schiff den Planeten erreicht hatte und in einem stabilen Orbit um den Him melskörper kreiste.
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Wieder machten die automatischen Kameras Aufnahmen und entwicke l ten sie. Arsan erkannte acht Kontinente in der Größe Australiens, dazwi schen ausgedehnte Meere mit Tausenden von Inseln mittlerer Größe. Die Polkappen erwiesen sich als relativ groß, waren aber nach den Messungen nicht annähernd so dick wie auf der Erde. Alles in allem ein Planet, der die extremen landschaftlichen und klimatischen Verhältnisse der irdischen Pol und Tropengebiete vermissen ließ, dafür aber über weite Strecken nahezu paradiesische Verhältnisse aufwies - zumindest auf den Fotografien. Von einer Zivilisation konnte Arsan auf den Aufnahmen nichts entdecken. Leben allerdings gab es - auf den großen Grasflächen der Kontinente schie nen riesige Herden großer Tiere zu weiden. Arsan schickte eine automatische Sonde aus, die die Lufthülle des Plane ten erkunden sollte. Die ersten Meßergebnisse entlockten Arsan einen Seuf zer der Erleichterung - die Zusammensetzung der Planetenatmosphäre u n terschied sich nur unwesentlich von den irdischen Normen. Die Luft war atembar, kühl und wies nur geringe Feuchtigkeit auf. Arsan ließ die Sonde tiefer sinken und aktivierte die Kameras - gestochen scharf erschien auf dem Bildschirm eine Wiedergabe der Bilder, die die Sonde aufnahm. Im Zickzack überquerte die Sonde einen der Kontinente - von intelligentem Leben war nichts zu erkennen. Außer ... Arsan stieß einen Schrei der Überraschung aus. Das Blitzen auf dem Bild schirm stammte ohne Zweifel von Metall. Arsan ließ die Sonde tiefer gehen, den Punkt noch einmal überfliegen. Auf der weiten Ebene stand ein Kasten aus glänzendem Metall, ohne sichtbare Öffnungen. Davor stand eine Reihe von Gebäuden. Gebäuden? Arsan fühlte sich bei dem Anblick unwillkürlich an riesige Maden erinnert, die zur Hälfte im Erdreich lagen. Er schätzte flüchtig die Größe und erkann te, daß niemals alle dieser Maden in den Würfel hineingepaßt hätten. Folg lich mußte es sich tatsächlich um Gebäude handeln - also um Produkte h ö herentwickelter Lebewesen. Noch tiefer ging die Sonde. „Tatsächlich!“ sagte Arsan laut. „Leben!“ Zwischen dem Kasten aus Metall und den Gebäuden bewegten sich Ge stalten, deren Körper überraschend humanoid wirkten. Eine der Gestalten schien die Sonde gesehen zu haben- ein Arm wies in die Höhe, und aus den Häusern rannten Dutzende von Wesen auf den freien Platz dazwischen. - 79
Langsam schwebte die Sonde dem Boden entgegen und setzte weich auf. Respektvoll wichen die Fremden einige Schritte zurück. Dann ging eine der Gestalten auf die Sonde zu, genau der Kamera entgegen. Die Geste des Fremden mußte jedem Wesen der Galaxis verständlich sein - die halb erho benen Arme und die offenen Flächen der Hände signalisierten Friedensbereitschaft. Die Sonde besaß keine Mikrophone; Arsan konnte also nicht verstehen, was der Anführer der Fremden sagte - die Bewegungen seines Mundes je doch waren nicht zu übersehen. „Warte, Freund!“ murmelte Arsan. „Bald werde ich mit dir reden!“ Die Einmaligkeit dieses Vorgangs hatte seinen leicht ironischen Humor wiederhergestellt. Zufrieden lächelnd und dabei leise pfeifend ging Arsan an die Arbeit, den nunmehr überflüssigen Teil seines Schiffes abzusprengen. Anschließend leitete er das Landungsmanöver ein. Es dauerte mehr als vier Stunden, bis das Schiff den Standort der Sonde erreicht hatte. Als das Schiff sich langsam auf den grasbewachsenen Boden senkte, wi chen die Fremden zurück. Arsan hatte während des automatisch ablaufen den Landemanövers genügend Zeit, die Fremden zu beobachten und sich zu überlegen, wie er vorgehen sollte. Die Fremden glichen verblüffend irdischen Menschen - zumindest was die Körperform anging. Abweichend waren die Kopfform - fast genau kugel rund - und der silbrig schimmernde Pelz, der die Haut der Fremden bedeck te. An den Händen zählte Arsan drei Finger und einen frei beweglichen Daumen. Mit einem leisen Ruck setzte der Landungsteil von Arsans Raumschiff auf dem Boden des Planeten auf. Schlagartig erstarben die Geräusche, die den ganzen Flug begleitet hatten; nur das leise Winseln des Hauptstromlieferan ten war noch zu hören. Schritt für Schritt legte Arsan vorsichtig zurück, bis er auf dem Grasboden des Planeten stand. Die Fremden kamen langsam näher, an ihrer Spitze der Mann, der als er ster das Friedenszeichen gegeben hatte. „Willkommen, Arsan Ganew!“ sagte der Fremde laut und lächelte. „Ich hoffe, Sie haben Ihre Reise gut überstanden!“ Arsan taumelte einen Schritt zurück, fassungslos vor Staunen.
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„Was, wie ...?“ stammelte er h ilflos und hielt sich am Geländer der Rampe fest. „Wir werden Ihnen alles erklären!“ versprach der Anführer der Fremden. „Nennen Sie mich Thscort. Unser Schiff ist leider hier havariert. Auf unse rem Hinflug sind wir zufällig auf Ihr Schiff gestoßen - und wir waren so dreist, es zu betreten!“ „Aber ...“, sagte Arsan fassungslos. „Woher wissen Sie meinen Namen und unsere Sprache?“ „Ganz elementar, mein lieber Ganew!“ kopierte der Fremde einen von Arsans Lieblingssprüchen. „Wir haben diese Informationen Ihrem Hirnin halt entnommen, während Sie im Tiefschlaf lagen. Wir haben uns übrigens erlaubt, an Ihrem Bewußtseinsstand ein paar kleine Änderungen vorzuneh men. Sie werden davon nichts merken, aber Ihre - wie lautete doch der irdi sche Fachausdruck? - Neurosen sind nun verschwunden. Außerdem haben wir Ihren Flug ein wenig verkürzt - seit Ihrem Abflug von der Erde ist erst ein knappes Jahr vergangen!“ Arsan hatte Mühe, diese Flut von Überraschungen zu verdauen. „Langsam, langsam!“ murmelte er und setzte sich auf die Rampe. „Sie haben also während des Fluges mein Schiff betreten und meinen Schädel ausgeplündert. Und dann haben Sie mein Schiff hierhergeschleppt. Warum haben Sie mich nicht gleich hier abgesetzt?“ „Das hat zwei Gründe“, erklärte der Fremde seufzend. „Wir wollten zu nächst den Planeten überprüfen, bevor wir Sie holen wollten. Dabei sind wir leider abgestürzt. Außerdem erschien es uns zu gefährlich - die Anlagen, die im zweiten Deck stehen, sind uns völlig unbekannt. Wir zogen es daher vor, nur Ihre Flugzeit abzukürzen. Leider wird uns diese freundliche Tat keinen Lohn bringen, - wir sind zusammen auf diesem Planeten gestrandet und werden ihn nie mehr verlassen können, denn Ihr Schiff taugt ja nur zu einer Landung!“ Arsan grinste spitzbübisch. „Lieber Freund!“ erklärte er feierlich. „Ich werde Hilfe holen. Übrigens: Mögen Sie Champagner?“ Thscort nickte grinsend. „Wir haben verblüffend viel gemeinsam!“ meinte er fröhlich. „Nicht nur die Gestalt!“ „Kommen Sie mit!“ schlug Arsan vor und ging ins Innere seines Schiffes zurück. Die anderen Fremden blieben auf dem freien Platz zwischen ihren Behausungen, die Arsan inzwischen als Traglufthallen identifiziert hatte.
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Im zweiten Deck betrachtete Thscort staunend das Kraftfeld des Transmit ters, während Arsan einen kurzen Bericht niederschrieb und in einer Kapsel verstaute. Dann warf er den unscheinbaren Behälter in das Feld. Geräusch los verschwand die Kapsel. „Jetzt wird es spannend!“ meinte Arsan und zündete sich eine Zigarette an. Er mußte fast zwei Stunden lang warten, dann tauchte vor dem Kraftfeld plötzlich eine Kiste auf. Zufrieden grinsend las Arsan die Aufschrift, die besagte, daß dieser Behälter feinste Getränke enthielt und sorgsam zu hand haben sei. „Auf den Zufall, der uns zusammengeführt hat!“ sagte Arsan, als die bei den gefüllten Gläser gegeneinanderklangen. „Und auf eine Freundschaft zwischen den Sternen!“ antwortete Thscort. Diese Partnerschaft versprach unendlich viel; Thscorts Rasse kannte die überlichtschnelle Raumfahrt - die Erde konnte ihren neuen Transmitter in die Waagschale werfen. Mit diesen beiden Erfindungen stand beiden Rassen der Weg zu den Sternen weit offen. Und wie eine glückliche Maryvonne bewies, die eine Stunde später in Arsans Schiff materialisierte, hatte auch für Arsan die Zukunft allerlei An genehmes zu bieten. ENDE
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