Thommie Bayer
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Ein KünstlerErkennungsbuch 30 Typen wie du und er PSYCHOLOGIE HEUTE HEUTE PSYCHOLOGIE
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Thommie Bayer
Thommie Bayer
Ein KünstlerErkennungsbuch 30 Typen wie du und er PSYCHOLOGIE HEUTE HEUTE PSYCHOLOGIE
Taschenbuch Taschenbuch
Thommie Bayer, Jahrgang 53, studierte Malerei in Stuttgart, bevor er sich als Liedermacher etablierte. Nach über tausend Konzerten und acht Langspielplatten lebt er heute als Schriftsteller in Staufen / Breisgau. Er schreibt Romane, Erzählungen und Glossen; Artikel für Zeitungen und Rundfunk; Texte und Musik für Ex-Kollegen. Bei BELTZ veröffentlichte er 1990 „Sellavie ist kein Gemüse. 30 Typen wie du und er“.
Thommie Bayer
Es ist nicht alles Kunst, was glänzt … Ein Künstler-Erkennungsbuch Mit Zeichnungen von Volker Kriegel
PSYCHOLOGIE HEUTE Taschenbuch verlegt bei Beltz
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bayer, Thommie : Es ist nicht alles Kunst, was glänzt … : ein KünstlerErkennungsbuch / Thommie Bayer. Mit Zeichn. von Volker Kriegel. – Weinheim ; Basel: Beltz, 1991 (Psychologie heute: Taschenbuch ; 546) ISBN 3-407-30546-X NE: Psychologie heute / Taschenbuch Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. © 1991 Psychologie heute-Taschenbuch, verlegt bei Beltz • Weinheim und Basel Herstellung: L & J Publikations-Service GmbH, 6940 Weinheim Satz: Satz & Reprotechnik GmbH, 6944 Hemsbach Druck und buchbinderische Verarbeitung: Druckhaus Beltz, 6944 Hemsbach Umschlaggestaltung: Peter J. Kahrl, Neustadt/Wied Printed in Germany
ISBN 3 407 30546 X
Inhalt
Männchen machen Die Entstehung des Künstlers 13
Sauerklampfer Der klassische Gitarrist 17
Die typische Handbewegung Der Rockgitarrist 19
Alle können Englisch Der Folkgitarrist 22
Dr. Kimble auf der Flucht Der Jazzmusiker 24
Alles ist eins Bildende Kunst 27
Der Postbote bringt es nicht Lyrik 29
Filigranosaurus Rex Der Maler an sich 31
Ohne Nichts ist nichts Gottes Verhältnis zum Künstler 33
Patzer mit Goldrand Der alte Virtuose 35
High Tech Der junge Virtuose 37
Ein ganz normaler Geheimagent Schriftsteller 39
Obstedler im Ge… Tschuldigung Der Charakterdarsteller 47
Toter Briefkasten Der Psychologe und der Künstler 49
Armeauskugeln im Frack Der Dirigent 52
Das wissende Grinsen und die Farbe Violett Cello 53
A Big Second Hand Der Bluesmusiker (weiß) 55
Sing es, wie es ist, Mann Der Bluesmusiker (schwarz) 57
Stichworte Rock 58
Die Fortsetzung des Komponisten mit anderen Mittteln Der Pianist 62
Da war schon sehr viel Schönes dran Der Theaterregisseur 64
Spaghetti Matriciana Der Tenor 66
Stichworte Musik 68
Praecox Orange Der Science-Fiction-Autor 73
Ein Klon ist keiner vom Zirkus Der junge Wilde 76
Weniger ist mehr Der Minimalist 79
Corinna, Corinna Der junge Filmregisseur 81
Stichworte Darstellende Kunst 83
Man gönnt sich ja sonst nichts Sonntag morgens um elf 87
Innere Ruhe Der Bassist 89
Schweigen ist Gold Der Schlagzeuger 91
Nothing left Toulouse-Lautrec Der Normale und der Künstler 93
Seufzer fliegen leicht Die Ballerina 95
Fliehkraft ist nicht nur Physik Der Tänzer 96
Ein Bild von Mann Der Malerfürst 97
Die Schöpfung ist kein Kellnerjob Erlebnisse 99
Die zwölf häufigsten Fragen, die einem Künstler gestellt werden 103
Eine linke Gerade für die Wirklichkeit Der Bildhauer 105
Mindestens zwei Seelen in der Brust Bratsche 107
Geh steabn du Huuund Der große Mime 109
Der Zusammenhang von Loft und Legende Frauen in der Kunst 111
Stichworte Bildende Kunst 116
Abklatsch und Damenwahl Künstlerhafte Leute 123
Saxualität ist machbar, Frau Nachbar Der Pop-Saxofonist 125
Batman konnte auch nicht fliegen Der Maler auf dem Land 127
Wozu braucht man Kunst? 129
Ebbe in der Minibar Hinter der Bühne 133
Do the Lortzing, do it now Der schwarze Sänger 138
Spaß muß sein BlechbläserMinimalist 141
Künstler und … 143
Wohlfeil ist nicht gut geschliffen Der wahre Künstler 147
Stichworte Literatur 149
Salz ins Tote Meer Ein Herz für Künstler 155
Männchen machen Die Entstehung des Künstlers
Der Künstler war von Gott seinerzeit für die Schöpfung gar nicht vorgesehen. Er kam durch ein Mißverständnis in die Welt. Und durch die Eitelkeit Gottes, der es nicht lassen konnte, mit seinem Werk anzugeben. „Kuck doch bloß mal, wie toll das alles hier gelungen ist“, sprach er zu dem Ex-Lehmklumpen, den er als Komplizen für sich vorgesehen hatte. Als Kumpel. „Find’st das nicht toll?“ „Doch ja“, antwortete Adam, „doch“, und spürte dabei einen Stich im Herzen. Was war denn toll an diesem Zeug? Es wuchs, es flog, es schwamm, es hatte Farben, es rannte hin und her im Paradies – na und? Was um Himmels willen sollte daran so toll sein, daß er es zu bewundern hätte? „Und ich?“ fragte der Ex-Klumpen und Kumpel in spe, „wie find’st du mich?“ Gott spürte, daß hier ein Schmerz war und sagte diplomatisch: „Aber du bist doch überhaupt meine beste Leistung. Dich hab ich ja sogar nach meinem Ebenbild gemacht.“ Dazu muß man wissen, Gott war schon damals unsichtbar, insofern war die Antwort für Adam interessant. Er schloß daraus, daß Gott a. wunder13
schön sein mußte, schöner als die übrige Natur, daß er, Adam b. als Ebenbild ebenso wunderschön war, daß c. Schönheit und d. das Erschaffen derselben ganz besonders hervorragende Leistungen seien, und daß ihn, Adam, e. eigentlich nichts, außer der Reihenfolge des Auftretens von seinem Schöpfer unterschied. In der Annahme, den Schmerz gelindert zu haben, eilte Gott zu einem dringenden Termin und ließ den zwar getrösteten, aber auf eine verhängnisvolle Idee gebrachten Adam in seiner frischgebackenen Idylle allein. Prompt formte er eine Handvoll Dreck und hauchte darauf ein was das Zeug hielt. Nichts geschah. Er versuchte es mit anderen Lehmsorten, mit Mischungen und immer ausgefuchsteren Hauchmethoden, aber nichts, nichts wollte funktionieren. Kein Ebenbild Adams begann fröhlich zu zappeln, sondern eine wachsende Reihe kläglicher Lehmklumpen verunzierte die Gegend. Da hatte Adam seinen Schöpfer schon am ersten Abend einer bösen Schwindelei überführt. Das mit dem Ebenbild stimmte nicht. Sonst hätte das Herstellen weiterer Ebenbilder ja geklappt. Doch was folgte nun daraus? Was genau war der Schwindel gewesen? War Gott vielleicht schön und Adam häßlich? Oder andersrum? Oder beide häßlich? Oder schön und nur verschieden schöpfungsfähig? Hatte Gott mit „Ebenbild“ nur das Äußere gemeint? Und wenn ja, warum geizte er ausgerechnet mit der Fähigkeit, Leben in Tonklumpen einzuhauchen? Dann mußte diese Fähigkeit 14
das Größte überhaupt sein. Das Beste, was man überhaupt können konnte. Adam verschob die Klärung dieser Fragen auf den nächsten Tag, weil er über all dem Nachdenken müde geworden war. Am andern Morgen war er überzeugt, daß der Fehler bei ihm lag und es nur um einen Kniff ginge, den er noch nicht beherrschte. Also bat er Gott schlau, ihm einen Gefährten zu machen. Sei doch ein bißchen langweilig so, und Gott habe schließlich auch noch anderes zu tun. Er hegte die Hoffnung, bei der Herstellung zusehen zu können, um dann alles genauso zu machen wie der Meister. „Klar“, sagte Gott, und das nächste, was Adam wieder mitbekam, war diese Frau. „Ich bin Eva“, sagte sie, „wir beide werden viel Spaß miteinander haben.“ Der Rest der Geschichte ist bekannt. Von diesem Zeitpunkt an hatte Adam anderes zu tun, und die Relikte seiner ersten Versuche, die Reihe trauriger Lehmklumpen, fiel dem nächsten Großputz zum Opfer. Dann der Umzug, die Familie, all die Beschwerlichkeiten und der viele, viele Schweiß des Angesichts – kurz: es gab keine Möglichkeit mehr, sich mit der Erschafferei auseinanderzusetzen. Wann denn auch? Doch ganz hinten in seinem Kopf spürte Adam, daß er geleimt worden war, daß diese Geschichte mit dem Ebenbild Gottes irgendeinen Haken hatte, daß da irgend etwas war, auf das er nur zu kommen brauchte, irgendein Dreh, den er nur noch nicht versucht hatte. 15
Schließlich war er eines späten Tages alt genug und konnte seine Kinder und Kindeskinder für sich arbeiten lassen. Und man sah ihn immer öfter am Bach sitzen und kleine Männchen aus Lehm zusammenklatschen. Einmal setzte sich einer seiner Urenkel zu ihm und fragte: „Machst’n da?“ „Männchen“, sagte Adam einsilbig. „Und warum?“ „Macht mir Spaß.“ „Ich auch“, sagte der Bengel, denn vielleicht stimmte das ja, daß das Spaß machte. Obwohl es Adams mürrischer Miene nach nicht so aussah. „Ich zeig dir, wie’s geht“, sagte Adam und verspürte ein leises Gefühl des Stolzes. „Hier, kuck mal, du nimmst erstmal so eine Menge etwa, und dann mußt du kneten und hier so bißchen biegen, und dann ganz vorsichtig …“ Und tatsächlich – es machte Spaß.
16
Sauerklampfer Der klassische Gitarrist
Der klassische Gitarrist hat einen Bart. Sollte er rasiert sein, dann ist das nur ein Täuschungsmanöver. Damit man den Bart nicht sieht. Die meisten bedienen sich dieses Tricks und tragen den Bart innen. Der klassische Gitarrist hält seine Gitarre liebend umfangen. Er beneidet den Cellisten darum, daß der auch noch die Beine um sein Instrument falten darf. Er verachtet Gitarristen anderer Musiksparten, einschließlich des Jazz, verbirgt das aber hinter interessiert-kollegialem Getue und freundlichem Fachsimpeln. Tja, leider muß er aber dann gleich wieder, weil die anderen nicht wissen, was eine Ramirez ist. Da ist es wieder! Dieses Nichtwissen. Vielleicht das Gravierendste, was ihn von den allermeisten Menschen, auch den Hörern klassischer Musik, unterscheidet. Dieses Nichtwissen. Sie wissen so gut wie alle nicht, daß es ihn gibt. Daß es die klassische Gitarre gibt. Sie nennen sein Instrument Wandergitarre oder Klampfe, weil sie denken, das benutzt man bei den Pfadfindern. Sie halten Segovia für einen amerikanischen Baum, so einen großen, alten, majestätischen Baum … groß, alt und majestä17
tisch, stimmt ja alles, nur Baum stimmt eben leider nicht … Der klassische Gitarrist hat einen Lieblingswitz: Ein Gitarrist besteigt die Straßenbahn mit seinem Gitarrenkoffer in der Hand. Eine Frau, die neben ihm steht, fragt: „Spielen Sie Gitarre?“ Der Gitarrist antwortet: „Wieso, hören Sie was?“ Diesen Witz liebt er deshalb, weil die Frau darin nicht „Geige“ sagt.
18
Die typische Handbewegung Der Rockgitarrist
Seine linke Schulter ist fünf Zentimeter tiefer als die rechte, weil seit Jahren diese schwere Elektrogitarre dran hängt. Die ist unter anderem deshalb so schwer, damit der Gitarrist auf der Bühne nicht wegfliegt. Wie kein anderer aus der Band ist er nämlich ständig derart hin und weg von seinem Sound, daß es ihn nach vorn, hinten, rechts, links, unten und oben reißt, als wäre er ein Blatt im Orkan und seine Haare ein Blitz im Gewitter. Er ist blond. Und er hat viele Haare. Wenn nicht, dann lebt er von Studioarbeit oder fährt einen alten Corvette Stingray. Preis bzw. Anzahl des bzw. der Stingrays verhalten sich reziprok zu Länge und Anzahl der Haare. Zwei bevorzugte Alpträume hat der Rockgitarrist. Der eine: Er springt vom Schlagzeugpodest, um den Eröffnungsakkord der neuen Single ins tosende Publikum zu peitschen, und da ist keine Gitarre! Und deren Kabel hat sich auch noch um seine Beine gewickelt, so daß er in einer Zehntelsekunde auf der Fresse liegen wird. Und dann ist da auch kein Publikum, was er als doppelte Blamage auffaßt. Und dann, kurz vor dem Aufprall 19
merkt er noch, daß das gar nicht er ist, der da springt, sondern Anneliese Rothenberger, und die springt nicht, sondern schüttelt Miracoli aus der Packung, und diese typische Handbewegung erinnert ihn an etwas … Der andere Alptraum geht so, daß der Gitarrenhals mitten im Solo schlapp herunterhängt und sich weigert, wieder zu erigieren. Einen dritten Alptraum gibt es auch, aber mangels erinnerbarer Tagesereignisse nicht in signifikanter Häufung: Das Kondom platzt, weil diese Salatgurke noch im wachsen ist. Oder war es eine Essiggurke? Oder Geleebanane?
20
Alle können Englisch Der Folkgitarrist
Er betritt die Bühne mit den Worten „Schön, daß wenigstens ihr da seid“ und fängt an, das linke Ohr zum Gitarrenhals geneigt, an den Stimmschrauben zu drehen. Als käme der Ton wie bei Sängern aus dem Hals. Nach zwei Minuten sagt er „Komisch, als ich sie gekauft habe, hat sie noch gestimmt“, und dann muß er warten, bis die Leute fertiggelacht haben, damit er mit dem Stimmen fortfahren kann. Hat er dann Streets of London fertiggespielt, stimmt er um in offenes D. Und damit es dem Publikum mit der Stimmerei nicht zuviel wird, kündigt er an, er spiele jetzt ein chinesisches Instrumentalstück aus dem vierzehnten Jahrhundert und das habe den Titel „Tu-Ning“. Alle können Englisch, alle lachen. Hat der Folkgitarrist nach dem dritten Stück noch kein Guinness auf der Bühne stehen, dann ist was schiefgelaufen. Das kann vorkommen. Vor allem dann, wenn er ein bißchen zu spät gekommen ist und die im Publikum ihrerseits schon so viel Guinness intus haben, daß sie denken, der Mann da probiert nur die Anlage aus. Dann schaut der Gitarrist auf die Uhr und stellt erschreckt fest, daß wir 22
schon Neunzehnhunderteinundneunzig haben, und dann wundert ihn das alles nicht. Er putzt seine langlebigen Bronzesaiten mit einem Lappen und bestellt sich an der Theke ein Guinness. Zum Selberzahlen. Was ihn manchmal wurmt, ist, daß keiner mehr den Werner Lämmerhirt kennt. Echt, weiß heut keiner mehr, wer das ist. Das ist unter anderem deshalb so schade, weil ihn Lämmerhirt damals auf dem UZ-Fest sofort geduzt hat. Der ist nämlich schwer in Ordnung. Von dem ist auch der Spruch mit dem chinesischen Instrumental. Was der Folkgitarrist nicht weiß, ist, daß Lämmerhirt j e d e n duzt. Doch. Der ist da völlig locker. Schon drei Freunde des Folkgitarristen sind ins Dixieland-Lager gewechselt. Er hat auf seine Armbanduhr gedeutet und hat gesagt: „Weißt du, was wir für eine Jahreszahl haben? Neunzehnhunderteinundneunzig, Mann, nicht Neunzehnhundertelf.“ „Eben“, haben die Freunde dann gesagt, „eben.“ Das fand er eine billige Retourkutsche. Seine Armbanduhr hat übrigens gar kein Datum. Und keinen Sekundenzeiger. Genaugenommen trägt er überhaupt keine. Sieht nicht gut aus beim Gitarrespielen.
23
Dr. Kimble auf dem Flur Der Jazzmusiker
In seiner hauptberuflichen Form ist der Jazzmusiker entweder Fernsehkomponist oder aus dem Ausland. Hierzulande hat er studiert und ist mindestens halbtags was Anständiges von Beruf. Eine gewisse Trauer prägt in unbeobachteten Momenten sein Mienenspiel, hat er doch entweder gehört oder sogar mitansehen müssen, daß seine einst junge Musik in nur einer Generation so alt geworden ist. Schneller übrigens als er selbst. Er ist immer noch so jung, wie er sich fühlt. Und seine Söhne haben nichts dagegen, hin und wieder mal mit ihm ein paar Standards zu jammen. Oh ja. In seiner allerleidenschaftlichsten Form kann der Jazzmusiker sogar auf ein Studium verzichtet haben und jetzt einen Musikladen, eine Autovermietung oder einen Kiosk betreiben. Ganz versteckt auch könnte er in irgendeinem Funkhaus über die Flure schlurfen, Archivmaterial hinter sich herflattern lassen – und auch hier die gewisse Trauer in seinem Mienenspiel. Wenn keiner hersieht. Ist er über fünfzig, dann hat er einen Bart und viele Freunde. Jünger ist er glattrasiert und einsam und läßt den Jazzer nicht bei jeder Gelegenheit raushängen. Muß ja nicht 24
jeder wissen, daß er Jahre seines Lebens damit verbracht hat, einerseits das Instrument immer besser beherrschen zu lernen, andererseits aber immer weniger auf solche oberflächlichen Dinge wie Melodie, Rhythmus, Virtuosität und Spieltechnik zu geben. Zugunsten des unerhörten Neuen, des gefundenen Tones, der Struktur, des Ereignisses, des noch nie dagewesenen Originals. Muß ja nicht jeder wissen. W i l l vor allem nicht jeder wissen. Genaugenommen sogar so ziemlich keiner. Der Jazzmusiker wurde gejagt. Sein Leben lang. Immer, wenn er etwas erreicht hatte, wurde es ihm weggenommen. Der Swing war plötzlich in den Kinoschlagern, dann in noch weit schlimmeren, der Blues landete beim Rock’n Roll, der Bigband Sound in Werbeshows, New Orleans auf jedem Stadtfest, BeBop in der Alkoholreklame, Rockjazz, Popjazz, Herrenparfum – furchtbar. Sogar die Klänge hat man geklaut. Der schmelzende Saxofonton war plötzlich Pflicht hinter jeder Großstadtmorgen-einsam-Regen-Held-fragt-sich-wozu-das-alles-Szene in Film und Fernsehen, der schmutzige Saxofonton landete ein paar Jahre später auf Beate-Uhse-Ebene, dann in stumpfsinnigen Rockfetzern und schließlich im blödesten Popgedudel. Blieb dem Jazzer nur noch der spröde, kratzige Sägezahnton. Den wollte keiner haben. Aber jetzt klingt es wie auf dem Kamm geblasen. Ähnlich bei den kompositorischen Strukturen. Allein den Free-Jazz, den nahm ihm niemand weg. Der gehört noch immer dem Jazzer allein. Nur schade, beim Publikum 25
herrscht wenig Jubel darüber, daß jeder Musiker das Eingehen auf die Töne jedes Mitmusikers vermeidet, daß kein bekanntes Intervall mehr vorkommt und kein billiger erkennbarer Rhythmus oder gar eine Melodie sich seichterweise breitmachen kann. Ausgerechnet jetzt, wo alle Grenzen gesprengt sind, fängt das Publikum mit welchen an. Nämlich mit den Grenzen, in denen sich seine Begeisterung hält. Ein Don Quichotte des Klanges, getötete Windmühlen links und rechts seines Weges, sieht sich der Jazzer stolz diesen langen Flur im Funkhaus beschreiten. Und in ihm spielt eine nie gehörte Musik. Kollege Sancho am Vibraphon, Rosinante am Baß, und sie schreiten gemessen und doch frei. Beziehungsweise free. Richtung Kantine.
26
Alles ist eins Bildende Kunst
Der Begriff „Bildende Kunst“ ist eigentlich reserviert für Malerei, Zeichnung, Graphik und Bildhauerei, also jene Kunstgattungen, bei denen die Gebilde hergestellt werden, Dinge, die man sehen und anfassen kann. Beziehungsweise könnte. Denn selbstverständlich sind die Bilder hinter Glas, und die Skulpturen zu weit weg oder das Berühren ist verboten. Aber ohnehin sollte man sich von solchen Gattungsbezeichnungen nicht allzuviel an Klarheit erhoffen, sie taugen, wenn überhaupt, dann nur zur Unterscheidung. Und man darf sie nicht wörtlich nehmen, man lernt sie tunlichst nur auswendig. Nähme man sie wörtlich, man käme in Teufels Küche. Ein Buch bildet doch auch. Sogar nicht nur eines, sondern – leider vielleicht – die allermeisten. Theater, Rezitation, Kabarett, Tanz und Film nennt man die darstellende Kunst, obwohl doch so ein Vier-Quadratmeter-Ölschinken mit Zertifikat in den Eingangshallen gewisser Kreise durchaus auch ordentlich was darstellt. Und die Tonkunst. Da lacht der Skulpteur nun wieder. Aus Ton macht er fast jedes Modell. Und der Maler mit all seinen Farbtö n e n? Und b i I d e t nicht wiederum ein Or27
chester Klangfa r b e n? Ein Fotograf ab? Ein Lyriker sich was ein? Weil er was darstellt zum Beispiel. Oder auf diesen graunebligen Grundton, den er immer drauf hat. Und die Dichtkunst? Wir ahnen es schon, auch sie findet in allen Sparten statt. Die Klappen der Blasinstrumente müssen ebenso perfekt abdichten wie die Schweißbrille des Bildhauers, sonst kommt im ersten Falle ein schlimmes Gefistel und im zweiten ein Augenleiden dabei raus. Der Maler verdünnt seine Farben mit Terpentin, und was ist Verdünnen anderes, als eine Minderung von Dichte? Und fällt nicht nach jeder Theater-, Ballett- und sogar Kinoaufführung der Vorhang, ein dichtes Gewebe von Fasern, vors Geschehene? Und sind zum Beispiel HA Schult und seine Elke Kosta etwa noch ganz dicht? Wir sehen, nichts ist, wie es scheint, überall Verwirrung, ein dichtes Netz von Gebilden, Darstellungen, Tönen, die man allesamt in Wirklichkeit eben nicht sehen und anfassen kann. Das ist ja grad der Witz dabei.
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Der Postbote bringt es nicht Lyrik
Der Lyriker ist eine Frau. Oder sonstwie sensibel. Aber doch eher eine Frau. Vielleicht weiß er es noch nicht, und wenn er weiterhin so unverkäufliches Zeug schreibt, kriegt er nie das Geld für die Operation zusammen, aber es sind schon ganz andere schließlich doch noch im Lucy Körner Verlag untergekommen. Der Lyriker hat eine schöne Stimme oder schöne Hände oder könnte auch Arzt oder Lehrer bleiben, aber er spürt, daß die Spießerwelt ihn in seinem Frausein nicht annehmen kann. Wenn er allerdings aussteigt, dann stellt sich das Problem, wer die Gedichtbände finanziert. Diese überall inserierenden Kleinverlage jedenfalls nicht. Die können nur mit Autorenbeteiligung veröffentlichen. Des Lyrikers bester Freund und ärgster Feind haben beide denselben Beruf. Oder fast denselben. Der Mensch, dem er am häufigsten begegnet, sein bester Freund, ist der Mann an Schalter zwei. Der hat ihm schon manchmal die Adressen korrigiert. „Rowohlt, ist das nicht Hamburger Straße? Hamburger Allee war doch dieser Druckladen in Frankfurt.“ Ja, er bringt schon mal die eine oder andere 29
Adresse durcheinander. Wenn man aber auch so viele kennt. Und sein ärgster Feind, obwohl nicht mal persönlich, ist der Postbote. Zwar begegnet er dem viel seltener, aber das zum Teil auch deswegen, weil der Lyriker schon aus dem Fenster sehen kann, daß es diesmal wieder ein großer Umschlag ist und er deshalb gar nicht erst zum Briefkasten muß. Jedenfalls nicht extra. Reicht nachher noch. Beim Einkaufen. Großer Umschlag bedeutet nämlich Manuskript zurück.
30
Filigranosaurus Rex Der Maler an sich
An sich existiert der Maler schon seit einiger Zeit nicht mehr. Er ist ausgestorben. Aber er selbst und seine Freunde, das sind gar nicht mal so wenige, ignorieren diesen Tatbestand erfolgreich. Das klappt. Kunstgeschichtlich hat der Maler keine Aufgabe mehr, wenn man mal von den Dreißig-MarkPorträts auf dem Markusplatz in Venedig absieht, auf denen jede Brigitte wie eine Brischidd oder wenigstens eine Britt aussieht. Also eigentlich hat der Maler nichts mehr zu sagen, aber das tut er laut und deutlich. Ist er alt genug und hat vielleicht noch bei Baumeister studiert, dann kann er sich immerhin darauf rausreden, daß man sich in dem Alter nicht mehr umstellt, aber er muß damit leben, daß die jungen Künstler so ein Gesicht ziehen, so ein naserümpfendes stirnfaltiges Gesicht, wenn irgendwo gemalt wird. Kunst ist das jedenfalls nicht. Heutzutage werden Äste an die Wand gelehnt, Schotter, alte Zeitungen, Metall platten, tote Tiere, ach nein, das ist auch schon wieder vorbei, jedenfalls allerlei Zeug, das es sowieso schon gibt, wird irgendwie raumgreifend angeordnet, zur Not vielleicht noch mit einem dicken weißen Strich Dispersion über31
pinselt. Ei n e m Strich. Das ist aber malerischerseits das höchste der Gefühle. Oder man macht gleich ein Video. Aber malen? Nee. Damit kann man sich nur noch lächerlich machen. Tja, aber dafür, daß die Malerei tot ist, läßt sie doch noch ganz schön die Muskeln spielen. Man kann sagen, sie ist die lebendigste Leiche, die man im Keller haben kann. Oder an der Wand. Oder im Safe.
32
Ohne Nichts ist nichts Gottes Verhältnis zum Künstler
Vielleicht aus schlechtem Gewissen, weil er sich damals die Aufschneiderei nicht verkneifen konnte, hält Gott seither ein Auge auf die Künstler. Ein behütendes. Anfänglich war da auch Angst im Spiel, die Lehmpantscher könnten sich noch zu einer echten Konkurrenz auswachsen, aber es zeigte sich bald, daß diese Angst grundlos war. Wie denn auch? Die hatten ja kein Nichts. Wer was erschaffen will, so richtig original, der braucht ein gescheites Nichts. Ohne Nichts ist nichts. Die armen Künstler konnten immer nur was nachmachen, weil die Welt schon voller Dinge war. Das machten sie allerdings recht hübsch und zunehmend geschickter. Bald experimentierten sie nicht mehr mit Matsch, sondern hauten Lücken in große Steine. Das imponierte Gott, denn er entdeckte darin eine gewisse Schlauheit. Hatte der Versuch, aus nichts Etwas zu machen, schon nicht hingehauen, so probierten sie jetzt, aus etwas Nichts zu machen. Eine saubere experimentelle Logik. Na ja, das war vielleicht ein bißchen zu radikal formuliert, fand Gott, aber immerhin: der Matsch ähnelte mehr dem Nichts und die Steine doch sehr 33
einem Etwas. Und das Reduzieren der Steine auf kleineren und an irgendwas erinnern sollenden Umfang war doch auf jeden Fall eine Art Hinführung zum Nichts. Und dann malten sie ihre Höhlen an. Auch hübsch. Und dann versuchten sich manche als Tierstimmenimitatoren. Doch. Das gedieh. Daß sie dann immer gleich glaubten, ein Zauber sei mit ihren Produkten verbunden, war zwar ärgerlich – es war die alte Verwechslung von Abbild und Wesen –, aber immer, wenn Gott sich „die sollen doch den Scheiß lassen“ schimpfen hörte, riß er sich am Riemen und spürte einen Stich. Bin ja selber schuld, sagte er dann kleinlaut, hab’s ja selber vorgemacht. Im Laufe der Zeit wurde die ganze Geschichte so unterhaltend, daß Gott manchmal sogar versucht war, seine anderen Universen zu vernachlässigen. So gern schaute er den Künstlern zu. Sie tanzten inzwischen, sie sangen, sie malten alles mögliche, sie bildhauerten, phantasierten, erzählten Geschichten und machten Musik, kurz, sie verschönerten sein langweiliges Hausmeisterdasein und wurden seine Lieblinge. Gerührt von dem Theater, das sie, wie er glaubte, nur ihm zu Ehren aufführten, gab Gott ihnen irgendwann als einzigen die Geheimnummer, die direkt zu seinem Anrufbeantworter führt, und seither sind es die Künstler, die immer mal eine Nachricht für ihn auf Band sprechen. Sind halt doch sowas wie Komplizen. Kollegen. Nicht ganz auf demselben Niveau, aber immerhin. Doch, muß er sagen. Alle Achtung. Doch. 34
Patzer mit Goldrand Der alte Virtuose
Er führt ein Sportlerleben. Üben, üben, üben. Diese ganze Feinmotorik muß immer gefordert bleiben, sonst rostet sie und knirscht. Die Sportler beneidet er sogar manchmal um die viele frische Luft. Allerdings bewundern ihn die interessanteren Frauen. Aber immer aus großer Entfernung. Wenn ihr wüßtet, denkt er manchmal, bevor er sich in die guillotinengesäumte Todeskurve der Revolutionsetüde legt, wenn ihr wüßtet! Manchmal träumt er davon, wieder ein kleiner Junge zu sein, oder ein kleines Mädchen, oder beides. Aber dann schon ein bißchen älter. Zirka ausreichend lang nach der Pubertät. Und manchmal träumt er davon, in der Pause vor dem ersten Ton des Largo, laut und vernehmlich mit den Fingergelenken zu knacken. Daran merkt er, daß er kein kleiner Junge mehr ist. Als kleiner Junge hat er nämlich noch davon geträumt, in der Kirche zu rülpsen. So richtig bierig. Na ja, dafür kannte er damals Henry Miller noch nicht. Ach, und am liebsten träumt er davon, seine umfangreiche Tonbandsammlung von herausgeschnittenen Patzern als Platten zu veröffentlichen. 35
Das gäbe eine schöne Serie. Mit dem Titel „Mein Leben“, oder „Meine schönsten Studioerlebnisse“. Mit Goldrand. Statt einer Biografie. Sein Lieblingswitz geht so: „Was ist der Unterschied zwischen einem Eichhörnchen und einem Klavier? Na? Ganz einfach! Das Eichhörnchen rennt den Baum hinauf, und das Klavier ist auch aus Holz.“ Dadaistisch. Davon hat er noch mehr auf Lager.
36
High Tech Der junge Virtuose
Er ist inzwischen so perfekt, daß er beim Spielen seinen Dupont-Kuli zücken kann, um in der Partitur zu korrigieren. Es ist lästig, das immer wieder tun zu müssen, aber an die Originalpartituren kommt er nicht ran. Die liegen im Museum unter Glas. Er könnte sich auch mal eben kämmen, auch im Gewittersatz der Mondscheinsonate, kein Problem, aber erstens fühlt sich dann das Publikum verhöhnt und zweitens ist er sich des tadellosen Sitzes seiner langen, samtigen Lockenpracht absolut sicher. Also wozu. Seine Professoren hatten Angst vor ihm, und seine Eltern sind kurz davor, ihn zu siezen. Auf dem Anrufbeantworter. Dem technisch ausgereiftesten, den’s gibt. Er hat keine Freunde. Wann denn auch? Braucht er auch nicht. Um sich zu amüsieren, spielt er vierhändig Klavier. Mit sich selber. Außerdem wär’s ihm unangenehm, wenn jemand mitbekäme, daß er nicht eine Folge von Miami Vice ausläßt.
37
Ein ganz normaler Geheimagent Schriftsteller
Der Schriftsteller ist neben dem Schauspieler die künstlerische Spezies mit der breitesten Artenvielfalt. Seine Modellzahl ist fast ebenso beeindrukkend wie das Bild, das er selber von sich hat. Ein imposantes Selbstbild braucht er auch, weil von allen Seiten fremde Absahner in seinen Beruf drängen. Politiker, die gewählt und für klug gehalten werden wollen, obwohl das doch einander eher ausschließt, Politiker, die das Pech hatten, für klug gehalten zu werden, deshalb nicht mehr gewählt wurden und nun ihre hoch alimentierte Freizeit anders ausfüllen wollen, Professoren, die ihre Reputation nach Regalmetern messen, Mütter, deren Kinder jetzt in einer anderen Stadt studieren undsoweiter. Jeder kann Schriftsteller werden. Er braucht dazu nur ein Minimum an Orthografie, einiges an Zeit und ein Maximum an Selbstbewußtsein. Diese Vielzahl der Möglichkeiten macht es nicht gerade leichter, herauszufinden, was denn nun das Besondere an so einem sein soll. Und noch erschwerend kommt hinzu, daß es der Schriftsteller – auch hier dem Schauspieler ähnlich – liebt, wie ein ganz normaler Mensch auszusehen. Wie du 39
und ich. So kommt er besser an die Informationen. Wie ein Geheimagent. Und wie die meisten Geheimagenten lebt er im falschen Land, verschärfterdings gar in der falschen Zeit, aber wie nicht einmal die schlechtesten Spione läßt er das bei jeder Gelegenheit raus. Spätestens in seinem Werk. Der e i n e versteckt ein Barett im Schrank und denkt schon seit Jahren darüber nach, wieso manche Kritiker den erzenen Ton seiner Sprache als Geklingel bezeichnen. Der a n d e re vermißt den spanischen Bürgerkrieg und scheißt auf erzenen Klang. Weil er die Wahrheit sagt. In kurzen Sätzen. Schmerzhaft ehrlich. Voll auf den Punkt. Der d rit te ist ein Kultautor, weil er immer alles durcheinanderbringt. Großschreibung, Kleinschreibung, Zukunft, Perfekt, Imperfekt, Präsens, und irgendwie folgt er der Logik von Träumen. Seine Gemeinde ist klein, aber erlesen. Sie besteht aus seiner Frau, die nebenbei noch Versicherungen verkauft. Der vier te hat einen Schnurrbart und lernt Spanisch. Auf den ersten sechs Seiten seiner Geschichten hat jeweils schon ein räudiger Hund im strömenden Regen einen blutigen Hahnenkampf und/ oder eine Voodoozeremonie gestört, worauf der mächtige Mann seine regelmäßige Marienerscheinung und/oder Darmkolik unterbricht, um einen Brief zu schreiben und/oder eine Revolution blutig zu entfachen oder niederzuschlagen. Hierbei 40
schwitzt er und/oder hat Durchfall, erbricht sich, nimmt die syphilitische Hure, verendet langsam oder wird mit einem rostigen Fuchsschwanz und/oder einer Gartenschere operiert … Das ganze kann zur Not auch im Bayrischen Wald spielen, dann ist es aber keine Revolution, sondern bloß eine blutige Tanzbodenschlägerei. Und kein Voodoo, sondern wahrsagende Scherenschleifer. Und der Hund hat Tollwut statt Räude. Der fünf te will eigentlich Präsident werden. Von irgendwas. Am besten aber schon von seinem Land. Dann wäre es nicht mehr ganz so falsch. Die s e c h s t e schreibt Szenekrimis. Aus der Schwanz-ab-Perspektive. Der siebte schreibt über Katastrophen, Explosionen, Grausamkeit, vor allem Grausamkeit, und hat irgendwo eine Pfeife, eine Katze und eine Wolljakke. Oder keine Katze mehr und statt dessen eine Felljacke. Die achte dito, außer Pfeife, das heißt, warum eigentlich nicht auch mit Pfeife? Der neunte verlegt sich mehr auf die Bedrohung und die latente Grausamkeit und die latente Katastrophe und die drohende Explosion … Kann auch rein psychisch sein. Die zehnte dito, aber auf jeden Fall psychisch. Der elf te ist brillant. Der z wölf te wird tatsächlich Präsident. Der dreizehnte soll ganz gut sein. Im nächsten Urlaub vielleicht. Aber erst noch die letzten 752 Seiten vom Foucaultschen Pendel. 41
Der vierzehnte ist irgendwie dunkel. Auch vom Typ her. Der fünf zehnte ist nur noch so jung, wie er sich fühlt und arbeitet die Zeit des Dritten Reiches auf, und seine Kindheit gleich mit. Und all diesen Untertanengeist oder dieses Herrschaftsgebaren. Ist gebildet und hält das auf keinen Fall geheim, weiß auch immer, was politisch jetzt eigentlich richtig wäre. Wäre, wohlgemerkt. D. h. notabene. Er mischt sich ein. Im Hauptnebenberuf. Der sechzehnte arbeitet seine Kindheit auf und die Zeit des Dritten Reiches gleich mit. Kann sich auch jederzeit auf lateinisch oder altgriechisch unterhalten, findet Geschichte wichtiger als Psychologie, wenn auch nur ein bißchen. Weiß politisch Bescheid. Und wenn mal gar nichts läuft, schreibt er halt ein Kinderbuch. Oder eine Kolumne. Oder geht in irgendsoein Kuratorium, um dort seinen Kollegen Literaturpreise zu verweigern. Die siebzehnte hat sich gut gehalten, wird aber trotz Millionenauflagen in Kollegenkreisen nicht als Schriftsteller(in) angesehen, sondern als jemand, der (die) schriftstellert. Das ist in Kollegenkreisen ein wichtiger Unterschied. Ihre Geschichten handeln von dem jungen Erben des Gutes, der jetzt am Scheideweg zwischen der Verpflichtung, die er seiner alten Mutter ins Grab mitgegeben hat … nein, die seine alte Mutter ihm aus dem Grab zugerufen …. nein, ihm ins Grab mitgege… oder waren es ihre letzten Worte? Also, bevor sie ins Grab …? Na ja, jedenfalls, zwischen diesem Ge42
lübde oder was das war und seiner Karriere, oder der glutäugigen Frau, in deren bebender Bluse allerhand geboten ist, oder dieser politischen Aufgabe, oder der Übernahme des Parfümkonzerns, jedenfalls ist er immer am Scheideweg. Und die Schriftstellerin hat ein Pferd. Oder zwei große Hunde. So teure Flokatis. Oder irgendwas in der Richtung. Der acht zehnte recherchiert immer ganz genau. Der neunzehnte schafft statt dessen ein Buch mehr pro Jahr. Die z wanzigste arbeitet die Wunden ihrer letzten Beziehung auf und die Kindheit ihres Sohnes Oliver gleich mit. Ganz am Rande streift sie auch das Thema Ekel. Der einundz wanzigste hat noch nicht mitgekriegt, daß sein Latein-, Griechisch-, Geschichts-, oder Deutschlehrer ihn erstens gar nicht persönlich gemeint und zweitens inzwischen ganz andere Sorgen hat. Der Schriftsteller zeigt es ihm immer noch. Er schreibt über Epochen oder wenigstens epochale Personen, arbeitet seinen Latein-, Griechisch-, Geschichts-, oder Deutschunterricht auf, aber weil er jung ist, unter besonderer Berücksichtigung von Blut, Scheiße und Religion. Sonst ist es nicht groß. Beziehungsweise wahr. Humor hält er für das, worüber sein Latein-, Griechisch-, Geschichts-, oder Deutschlehrer auch lachen würde, was aber nicht heißt, daß es in einem seiner Bücher vorkommen müßte. Beziehungsweise dürfte. Alles 43
zu seiner Zeit. Beziehungsweise Ort. An. Seinem. Zwischenrein schreibt er schon mal ein Jugendbuch. Über eine epochale Person. Ohne besondere Berücksichtigung von … Der z weiundz wanzigste arbeitet nacheinander die Achtundsechziger-Bewegung, den Beziehungsfrust der Siebziger, die menschliche Kälte der Achtziger und das falsche Nationalgefühl der Neunziger auf. Außerdem noch die autonome Bewegung, die Hausbesetzerbewegung, den Punk, den Neonazismus und diese Yuppies. Unter besonderer Berücksichtigung von Blut, Scheiße, Selbstekel und Gewalt. Beziehungsweise Bullenterror. Schreibt auch mal einen Krimi. Mit so einem VaterSohn-Konflikt. Der geht aber schlecht aus. Humor hält er für das, was in der Trivialliteratur schon mal vorkommen kann. Bei ihm nicht. Aber für ein Motto vor dem ersten Kapitel wär ihm Buster Keaton schon recht. Wenn der nur geredet hätte. So ist es halt immer von Adorno. Der dreiundz wanzigste arbeitet die Berliner Kneipenszene auf. Unter besonderer Berücksichtigung der Farbe Schwarz. Aber alles sehr anspruchsvoll. Seine Figuren haben alle nur Nachnamen. Außer den Frauen. Die heißen dann aber Cora oder Liv. Sein Protagonist (nicht Held) heißt zum Beispiel Trotter. „Trotter wird fragen. Punkt. Fragen, ob dieser Selbstekel gebracht sei oder gefunden. Punkt. Gefunden hier unter diesen Träumern. Punkt. Im Schrott dieser auf Halde produzierten Existenzen. Punkt. Punkt. Punkt.“ 44
Der vierundz wanzigste lebt im noch falscheren Land und arbeitet dessen noch falschere Freundlichkeit auf. Unter besonderer Berücksichtigung der besonderen Berücksichtigung von Blut, Scheiße, Ekel, Gewalt, Tod, Denunziantentum, niederer Gesinnung, schlechtem Wetter und allumfassender Miesigkeit. Der fünfundz wanzigste möchte hier nicht genannt sein. Der sechsundz wanzigste kommt aus dem falschesten aller Länder zur falschesten aller Zeiten. Nämlich nach der Auflösung. Hatte es früher leicht und hat es jetzt schwer. Würde das aber selbst genau andersherum sehen. Respektive sagen. Und will sich die Utopie nicht nehmen lassen. Der siebenundz wanzigste hat es mit dem Reisen und der Kleingeistigkeit der Menschen. Und daß das irgendwie zusammengehört. Ist als Mensch auch sympathisch. Der achtundz wanzigste hat auch keinen Humor, schreibt aber dafür unter Pseudonym. Mit Doppelnamen. Die n e u n u n d z wa n z i gs te widmet sich ausschließlich dem Thema Ekel und Selbstekel, und sie nennt die Dinge beim Namen. Allerdings in schöner Sprache. Also nicht etwa „Kotzfladen“, sondern eher „Erbrochenes“. Die dreißigste folgt auch irgendwie der Logik von Träumen. Muß aber auch noch dazuverdienen. Weil ihr Mann sonst wieder den ganzen Lehrauftrag übernehmen müßte. 45
Es gibt noch viel mehr von diesen Leuten, und sie sind alle interessant, aber aus Konditionsmangel brechen wir diese Aufzählung hier ab. Obwohl man, den entsprechenden Masochismus vorausgesetzt, ein ganzes Buch füllen könnte mit dem Versuch, sie zu beschreiben. Aber sie tun es ja selber. Fortwährend. Und nicht nur ein Buch, nein, viele, viele, viele.
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Obstedler im Ge … Tschuldigung Der Charakterdarsteller
Wer nicht schön ist und trotzdem keine Lust hat, Komiker zu werden, sich darüber hinaus bewegen und lange Sätze behalten kann, wird beim Theater gleich Charakterdarsteller. Weil aber Charakter und Jugend nicht gerade Synonyme sind, fangen diese Leute direkt mit der längsten Durststrecke an. Vorgesehen sind Charakterrollen nämlich für Schauspieler, die sich beim Fechten nun doch immer öfter mal mit schmerzverzerrtem Gesicht ins Kreuz fassen. Und Schauspielerinnen sind reif, wenn die Zahl der auf die Bühne geworfenen Rosensträuße merklich nachläßt und sie ihr weiteres Lebensglück trotzdem nicht in der Familie suchen wollen. Der Charakterdarsteller verachtet das Fernsehen. Interessanterweise tut er das gerade deshalb, weil das Fernsehen ihn nicht verachtet. Wenn es nicht um das Haus am Tegernsee ginge und die Familie, die sich dort gut eingelebt hat, die Kinder, deren Freundschaften man nicht auseinanderreißen soll, und den endlich richtig temperierten Weinkeller, dann täte er sich das nicht alle Jahre wieder an. Dieses Getue des Kameramannes, der ein Zoom mit größerer Brennweite verlangt, weil er 47
nicht mit einer vollgespuckten Linse arbeiten könne, dieses Mittelmaß, diese kunstlose Kleinspielerei, dieses „Weniger-weniger“-Geschrei der Regisseure. Eins steht fest: Wenn die Villa abbezahlt ist, dann macht er außer Theater nur noch Synchronisationen. Dreimal das Lachen von J. R. Ewing reicht schon für einen Satz Winterreifen. Vielleicht in zwei Jahren. Wenn seine Frau an den Kammerspielen noch hundert Mal Medea hat und die beiden italienischen Kriegsfilme klappen.
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Toter Briefkasten Der Psychologe und der Künstler
Einerseits zählt der Psychologe zu den hingebungsvollsten Verehrern des Künstlers, mißt er doch schon dem simplen Hineinblasen in ein Saxofonmundstück große, sehr große Bedeutung bei und kann ganz aus dem Häuschen geraten, wenn das Wort „Töpfern“ auch nur im Raum s c h w e b t , ohne je zu landen. Andererseits aber gibt es viel Ungeklärtes zwischen den beiden. Ambivalentes auch irgendwo. So kann zum Beispiel der Psychologe den Maler eigentlich ganz gut leiden, aber umgekehrt will kein Schuh draus werden. Höchstens ein Fallschirmspringerstiefel mitten in die Eier. Der Maler ist nämlich stocksauer, weil der Psychologe ihn entweder anal, zwanghaft, narzißtisch oder regressiv nennt. Darüber kann der Maler jetzt aber nun mal gar nicht lachen. Auch der Musiker ist seit seiner Sehnenscheidenentzündung nicht mehr sehr gut auf den Psychologen zu sprechen. Hat der ihm doch ins Gesicht gelächelt und gesagt: „Du willst gar nicht auf Tournee.“ Nun ist der Psychologe jedoch ein guter Kunde für den Künstler. Vielleicht nicht ganz so gut wie der Zahnarzt für Druckgrafik, 49
aber doch besser als der Durchschnitt, weil er bei „Hundert Meisterwerke“ eigentlich nie den Kanal wechselt. Aber dann versaut er einem auch wieder den Markt, indem er Hinz und Kunz dazu anhält, sich selbst zu erfahren. Am besten kreativ. Mit K. Creativ mit C findet eher im Design und Frisurenwesen statt. So entsteht ein mutwillig herbeitherapiertes Laienheer von Sensiblen, die jetzt auch ein halbes Gesicht malen wollen und eine explodierende Frauenbrust über einem perspektivisch verzerrten Schachbrett. Apropos Schachbrett. Beim surrealistischen Maler ist es gerade andersrum. Er liebt den Psychologen, weil er hofft, wenigstens d e r verstünde ihn. Aber da muß jetzt der Psychologe wieder passen. So, wie er das mitkriegt, träumen die Leute nicht von Spiegeleiern auf Klaviertasten und Frauenkörpern, die nahtlos in ein Stundenglas übergehen. Nein, sorry, echt nicht. Und dann ist da noch die Sache mit der Telefonnummer. Ja, der Nummer von Gottes Anrufbeantworter. Aus irgendeinem Grunde glaubt nämlich der Psychologe, er hätte diese Nummer und weiß nicht, daß das ein absolut toter Briefkasten ist. Die Nummer ist genauso falsch wie die, die der Papst hat. Das Mißverständnis kann sich auch niemals aufklären, weil der Psychologe ja immer nur Memos durchgibt und nie mit einer Antwort rechnet. Er denkt ja sowieso, Gott wolle seine Ruhe und daß die Menschheit frei sei. Das, was der Psychologe durchgibt, ist immer nur, um Gottes Aktenlage zu 50
aktualisieren. Der Künstler aber we i ß, daß die Nummer, die er hat, stimmt. Jede Eingebung, um die er bittet, kommt auch wirklich unten an. Na ja, jede zweite immerhin. Tja, und dann denkt der Psychologe auch noch, das, was er da mache, sei irgendwo auch eine Kunst. Den Leuten ihr Problem auf-, oder abzuschwatzen, das bringt er doch jederzeit. Wo ist denn da der Unterschied zu den Kollegen in den Elfenbeintürmen? Aber da kann jetzt wieder der Künstler herzlich lachen. Das Verhältnis zwischen Künstler und Psychologe ist also insgesamt aufmerksam, aber nicht unproblematisch. Nein, wirklich. Nicht ganz unproblematisch. Müßte man mal in Ruhe drüber reden. Ganz offen. Ganz bei sich selbst. Mal die ganzen Bedürfnisse, die man aneinander stellt, formulieren. Zwar würde der Schriftsteller auf einen Satz, in dem Bedürfnisse gestellt werden, augenblicklich mit psychosomatischer Akne reagieren, doch den Psychologen verehrt er trotzdem. Das kann daran liegen, daß der für ihn eine Art Vaterfigur darstellt – so jetzt mal im menschenforscherischen Bereich gesehen –, es könnte aber auch daher kommen, daß in den Rezensionen immer steht, die Psychologie sei neben der Handlungsführung diesmal ganz erstaunlich gut und präzise, und man könne vom Autoren in dieser Hinsicht noch viel Schönes erwarten undsoweiter – da muß der Schriftsteller ja denken, Psychologie sei eine gute Sache. Wenn er’s drauf hat, muß es gut sein. 51
Armeauskugeln im Frack Der Dirigent
Was im Heimatroman der Oberförster, im Krankenhaus der Chefarzt, in der Literatur Siegfried Unseld und bei Mercedes die S-Klasse, ist in der klassischen Musik der Dirigent. Macht ein bißchen zuviel Wesens von sich, kassiert ein bißchen zuviel Gehalt, hat so ein bißchen was vom Tüpfelchen auf dem I (man würde diesen Buchstaben auch ohne Tüpfel nicht verwechseln) oder der Schaumkrone einer Dünung. Wenn es wenigstens die Krone eines Pilses wäre. Nur merkwürdig, daß die Damen und Herren unter Karajan tatsächlich einen strafferen Zack pflegten als diejenigen, vor denen ein anderer Gymnastiker im Himmel rudert. Ist das Magie? Alle glauben dran und deshalb klappt’s? Oder dient das Oberkörperballett im Konzert nur der Applausabholung eines Trainers, dem es sonst erginge wie den armen Theaterregisseuren, die sich allenfalls bei einer Premiere scheinbar widerwillig auf die Bühne zerren lassen dürfen? Manches spricht dafür. Zum Beispiel die Tatsache, daß ein Musiker selten zum Dirigentenpult schaut. Eher doch aufs Notenblatt. 52
Das wissende Grinsen und die Farbe Violett Cello
Pferd oder Cello heißt es spätestens in der Pubertät im Leben eines jeden Mädchens aus besseren Kreisen. Das Cello ist zunächst einmal leichter zu pflegen, gestattet aber dafür, rein äußerlich, weniger Assoziationen zu allem, was mit Prinzen, Rosengärten, Entführungsphantasien und schloßbetonter Lebensweise harmoniert. Aber dann ist es wiederum reinlicher, weniger wild und bockig und hat den Vorteil, viel seltener dieses wissende Grinsen der Jungs heraufzubeschwören. Was es dann aber wieder mit dem Pferd gemein hat, ist das Wichtige – nämlich: es vibriert in allernächster Nähe einer Körperregion, in der so etwas zunehmend als interessant empfunden wird. Hat sich das Mädchen erst einmal für’s Cello entschieden, dann dauert es nicht lang, bis auch die Farbe Violett in sein Leben tritt. Die Tiefe, das Geheimnis, die Melancholie und der brummende Griff aus dem Keller des Lebens verändern des Mädchens Charakter und Äußeres. Lange Haare wird es tragen und nie mehr blond sein, es wird Rimbaud lesen und Rilke und in der Malerei bei Frida Kahlo stehen. Und bei Modigliani. Wenn es 53
schwimmen geht, dann nur bei Vollmond, und in den psychologischen Tests wird es als Lieblingsfrucht „Aubergine“ ankreuzen. Die Notizen in seinem samtgebundenen Tagebuch werden schwungvoller und geheimer, und in Südfrankreich verliert das Mädchen dann seine Unschuld an einen wesentlich älteren Mann, der zwar anfangs so sensibel tat, aber dann, gegen Ende der Ferien, doch Skrupel wegen Frau und Kindern entwickelt. Und später in ihrem Leben wird die Cellistin immer deutlicher zu spüren bekommen, daß die Zuhörer nur das Eine wollen. Ein gläsernes Cello. Von diesem Wissen traurig geworden, wird sie eines Tages im Interview sagen: „Ich war eigentlich mit dem Cello verheiratet.“ Und da ist es dann endlich, das Grinsen der Jungs. Aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Und was ist mit den Cellisten? Schließlich gibt es auch Männer, die es aus der Hüfte klagen, brummen und stöhnen lassen. Haben die etwa alle eine Geschlechtsumwandlung hinter sich? Wohl kaum, aber wissen wir denn, woher Rostropowitsch kommt oder wohin er will, wenn er dem Cello die Sporen gibt?
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A Big Second Hand Der Bluesmusiker (weiß)
Er kann den ganzen Rummel um seine Person nicht leiden. Den Rummel um andere Personen übrigens auch nicht. Sein kariertes Baumwollhemd hat schon bessere Tage gesehen. Bevor er es kaufte, second hand. Von Musik im allgemeinen hält er nicht besonders viel, genaugenommen gar nichts. Was soll das sein? Musik im allgemeinen? Wo ist da was Allgemeines? Im wesentlichen gibt es drei Akkorde pro Song, es ist klar, wer was zu tun hat, komponieren ist was für Angeber, und seit dem Automobil als Kombiversion hat es nur noch eine nützliche Erfindung gegeben: den tragbaren Verstärker. Auf die Evolution und alles, was ihr nacheifert, schaut er herab; das ist alles oberflächliche Effekthascherei. Und doch muß die Evolution auch ihn für etwas vorgesehen haben. Und wenn es nur die Aufgabe ist, in der Musik das zu verkörpern, was ein Kirchentagsbesucher in der Welt der Mode darstellt: den permanenten Vorwurf. Tagsüber macht der Bluesmusiker etwas anderes. Je nach Land ist er von Beruf entweder Holzfäller, Holzfäller, Holzfäller oder Krankenpfleger. 55
Die Musik nicht als Hauptberuf zu betreiben, ist für ihn Ehrensache. Das fände er korrupt. Dieses ganze Getue mit Hotelbetten, Verträgen, Instrumentensammlungen und Luxusautos findet er dermaßen zum Kotzen, und geht auch voll am Wesentlichen vorbei. Das Wesentliche ist: der schlechte Geschmack im Mund am Morgen, der Horizont, die Frau, die ihn verlassen hat und die Einsamkeit einer regennassen Großstadt. Oder die Einsamkeit eines nebelverhangenen …, oder staubigen …, oder nach Benzin stinkenden …, oder dieser verrauchte Club, an dessen Flipperautomaten er sich die neunundfünfziger Lee-Jeans aufgerissen hat, und diese Lady sagte „Hey“, worauf er nur müde …
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Sing es, wie es ist, Mann Der Bluesmusiker (schwarz)
Er hat eine echte Biographie und einen ausgesprochen komplexen Namen. In der Art etwa wie Squeezie Noah Washington jr., Blind Pearl Peanuts, Wolfhound Jackson oder Cucumber Big. Er war zuerst da. In jeder Beziehung. Menschheitsgeschichtlich sowieso. Aber nicht nur deshalb kommt er ausschließlich in Amerika, dem, wie wir wissen, ältesten Land der Erde vor. (Oder war es das beste? größte? freieste?). In jedem anderen Land mußte die Berufswahl schon an der Namensgebung scheitern. Man stelle sich nur mal Namen wie Roamin Sepp Funzenbichler oder Coquilles Saint Jacques auf einem Konzertplakat vor. Ganz zu schweigen von Breathing Ole Gustafssonborglund oder Big Pjotr Kerenchyinknjoff. Nein, nein. Der Bluesmusiker ist Original. Von der Plantage in Mississippi bis zur Big Black Limousine. Das ist auf deutsch eine Bigge Bläcke Limusine. Die hat er. Extra lang. Beziehungsweise hatte. Er ist nämlich gestern gestorben. Ja, der original Bluesmusiker (schwarz) ist spätestens gestern gestorben. Und wenn es nicht gestern war, dann vorgestern oder morgen. Ganz bestimmt morgen. Leider. Schad. 57
Stichworte Rock
Heav y Metal Findet in Leder und Jeansstoff statt, handelt von Toten, Untoten, Kreissägenmonstern, Henkern, Rittern und Geschlechtsverkehr. Der Heavy-MetalRocker bildet sich was auf sein Lebensgefühl ein und hat von allem das längste. Jedenfalls im Haarbereich. Das Lebensgefühl ist: Bierdose, laut und ficken. Heav y Rock Dasselbe, nur mit in Richtung Motorenbereich verschobenem Themenschwerpunkt, sowie leicht verändertem Lebensgefühl: Champagner, laut und ficken. Hard Rock Die Abiturientenversion des Heavy Rock unter strikter Vermeidung wallender Gewänder und Hinzunahme von Chorgesang und Tasteninstrumenten. Ar t Rock Wie bei Arten üblich, ausgestorben. War dazu da, dem Musiklehrer was zu beweisen und entstand 58
daraus, daß einer in der Band Notist war. Konnte sich verdichten zu der ganz schlimmen Variante: Klassik Rock Da wurde dann „Für Elise“ in das Stück eingearbeitet. Als B-Teil. Sof t Rock Auch Kuschelrock. Zielt genau zwischen die Beine der Mädchen. Song Rock Tautologischer Blödsinn. Jeder Rock ist Songrock, außer, wenn er instrumental ist. Soll vielleicht suggerieren, daß der Gitarrist keinen Anspruch auf ein Solo erhebt. Jaz z Rock Kommt immer dann auf, wenn die Musiker zu gut geworden sind. Dann will jeder mal ein Solo spielen, und der handwerkliche Höhenrausch erfaßt alle, nur nicht das Publikum. D eutschrock Auch Krautrock, regionale Art Art-Rock, ausgestorben. Roots Rock Anderes Wort für Reggae, könnte auch Schlafrock heißen. Erkennt man daran, daß der Drummer andersherum spielt und der Gitarrist eine Art Salamitechnik pflegt. Er schnipselt immer ein Scheibchen zwischenrein. 59
Punk Rock Erkennt man daran, daß es widerwärtig klingt und trotzdem nicht als Kunst gedacht ist, daß es farblich nicht viel hermacht und einen insgesamt recht schlechtgelaunten Eindruck. Space Rock Ausgestorbene, etwas knöpfchendreherlastigere Variante des Art Rock. Folk Rock Geht so: fiddeldi, fiddeldei, fiddeldi, fiddeldei und hält sich was zugute auf die gelegentliche Verwendung akustischer Instrumente. Als ob an denen noch irgend etwas akustisch wäre, wenn man sie endlich laut genug gekriegt hat, damit die tausend tanzbegeisterten Tanderadisten sie auch hören. Rein optisch erkennt man Folk Rock an der blumigen Frau im altmittelhochgälischen Kleid und/oder dem Dia von Stonehenge auf der Bühne und/oder dem Plattencover. Funk Rock Hat mit Funk oder gar Rundfunk nichts zu tun, außer vielleicht, daß der Südwestfunk viel davon spielt. Eignet sich für Millionärspartys und ist sozusagen anspruchsvoll. Funk wird Fank gesprochen und bedeutet in diesem Zusammenhang soviel wie, daß man den Bassisten immer raushört. Und daß alle Musiker gnadenlos gut spielen können. Funk Rock ist die letzte Vorstufe zum Jazz Rock. 60
Pop Rock Erkennt man daran, daß der Sänger von allen der hübscheste ist und demnächst eine Solokarriere starten wird. Brass Rock Ernährt mindestens drei Blechbläser zusätzlich und hält deshalb selten lange vor. Soul Rock Ernährt diejenigen schwarzen Musiker, die sich zu spät oder gar nicht bei einer Funk Band beworben haben, oder dafür noch nicht gnadenlos gut genug spielen. Glam Rock Ausgestorbene, noch optischere Variante des Pop Rock . Falsch in diesem Zusammenhang sind die Worte: Tarock, Barock, Sham-, Ayers-, Hosen-, Wickel-, Eden-, oder Bratenrock.
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Die Fortsetzung des Komponisten mit anderen Mitteln Der Pianist Der Pianist ist besser. Er ist klüger als die andern, kommt besser allein zurecht, braucht sein Instrument nicht selber zu tragen und ist außerdem noch sowas ähnliches wie der natürliche Komplize des Komponisten. Der Pianist weiß nämlich, wie es der Komponist eigentlich gemeint hat. Weil er eine Art Ein-Mann-Orchester ist. Weil er kapiert, was vorgeht. Rhythmisch, melodisch, intervallisch und strukturell. Und überhaupt. Deswegen ist auch noch kein Dirigent auf die Idee gekommen, einen Pianisten fest ins Orchester aufzunehmen. Der würde dauernd widersprechen oder sarkastisch mit dem Hocker knarren. Der Pianist hat den besseren Abitursnotendurchschnitt, die exquisitere Kunstsammlung, mehr Bücher gelesen, die einflußreicheren Freunde und fährt das größere Auto. Der Pianist ist einfach in allem besser. Dabei hat er durchaus Handicaps. Sein Ton ist nicht so persönlich wie der eines Geigers, Bläsers oder Sängers, seine Intonationsmöglichkeiten sind eingeschränkt, er hat nur lächerliche zwölf Noten, wenn er nicht den Stimmhammer in seinen Vortrag integriert. Und das geht nicht, weil er nur zwei Hände 62
hat. Aber das ist bei andern Musikern ähnlich. Doch ihn stören seine Handicaps nicht. Er ist so raffiniert, aus der Not eine Tugend zu machen. Es gibt nur zwölf Töne, sagt er, alles andere sei Arabergedudel. Er bildet sich das absolute Gehör ein und ist stolz auf seine sauberen Noten. Was in seinem Falle einfach keine große Leistung ist, er muß ja nur auf die entsprechende Taste hauen. Jeder mögliche Fehler läge beim Stimmer. Der Pianist ist einfach ein nervtötender Besserwisser und deshalb ist es gut, daß im Orchester keiner vorkommt. Der würde auf der Busfahrt immer neben dem Fahrer sitzen wollen, dadaistische Witze erzählen und zwischendurch arrogant ins Leere blicken. Die paar Klavierkonzerte, die man eben spielen muß, sind grad noch zu verkraften. Der Star fährt mit dem Dirigenten, damit der auch mal einen Rolls Royce von innen sieht, und keiner stört die Blechbläser beim Doppelkopf. Und die Flötistinnen bei der Lyrik. Und den Schlagwerker bei seiner Sportzeitung. Mit zum Beispiel dadaistischen Witzen.
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Da war schon sehr viel Schönes dran Der Theaterregisseur
Ein Viertel seines Lebens verbringt er im Speisewagen der Intercitys von Hamburg in die Provinz. Alles außer Hamburg ist Provinz. Deshalb würde er auch nie die Wohnung in Sankt Georg aufgeben. Nie. Dann schon lieber diese endlosen Bahnfahrten von Hinzenhausen nach Kunzentredwitz über Wurzenheim, Schmierendorf und Brettlstadl-West. Das zweite Viertel seines Lebens verbringt er mit seinen Töchtern Nora und Julie, wenn deren Stiefväter sich nicht querstellen. Das heißt, er verbrächte dieses Viertel gern mit ihnen, aber über ein paar zerstreute Parkspaziergänge pro Jahr kommt das nie hinaus. Das dritte Viertel verbringt er auf Probebühnen, in Requisite, Intendanz, Gästewohnung und Weinstube, und das vierte im leeren dunklen Zuschauerraum mit den Worten „Kinnings, das geht so nicht. Ich sehe es nicht bluten, da ist kein Rock’n Roll, kein Eros, Kinnings, das ist noch überhaupt nicht konvulsivisch …“, und wenn er sich so reden hört, dann denkt er immer, warum ist das Aspekte-Team jetzt nicht da und macht ein Porträt über mich. Die Leute wollen doch nicht immer nur den Zadek bei der Arbeit sehen. Aber was soll man 64
schon erwarten im Stadttheater Kunzentredwitz. Ich erwarte ja kaum noch was. Eigentlich gar nichts mehr. Außer vielleicht, daß diese wabblige festangestellte Flasche mit ihrer blödsinnigen Rollengarantie endlich ihre fünfzehn Worte so ausspricht, daß es nicht mehr wie ein einziger Bierfurz klingt. Oder das Umstülpen eines Eimers voll Eiersalat mit Mayo. Diese schauspielerische Katastrophe hat nicht nur kein Talent, sondern auch eine Stimme, die Fettflecken macht. Deshalb läßt der Regisseur auch das gute graue Veloursjackett zu Hause und geht tagaus tagein mit der Lederjacke. Na ja, nicht gerade deshalb. Die braune Strickjacke hat er vorgestern früh dieser vielversprechenden Anfängerin für den Heimweg ausgeliehen, und das Jackett braucht er für die Premierenfeier. Tja, und das fünfte Viertel seines Lebens verbringt er in seinem wunderschön gelegenen kleinen Haus auf Korfu, wo er immer Kraft, Licht, Bewegung und Geist auftankt. Und dieses gewisse klassische Fluidum. Vielleicht kommt die vielversprechende Anfängerin mit? Aber frühestens im März. Wenn sie dann noch vielversprechend ist. Jetzt mal rein talentmäßig gesehen. Vom Konvulsivischen her.
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Spaghetti Matriciana Der Tenor
Der Tenor ist dick. Oder bärtig. Oder tot. Oder Peter Hofmann. Wenn er nicht tot ist, dann lebt er gut. Die Frauen schwärmen für ihn. Weil er so laut brüllen kann. Und im Stück selbst schwärmen die Frauen auch immer für ihn. Die Sopranistinnen, Mezzosopranistinnen und Altistinnen. Nur die Bassistinnen schwärmen nicht für ihn, aber die sind eine zu vernachlässigende Größe. Sie tendieren gegen Null. Na, und weil schon im Stück alle Frauen für den Tenor schwärmen, tun es ihnen die im Publikum nach. Ist ja auch klar. Der Tenor ist der einzige, bei dem man immer sicher sagen kann, wann er singt. Beim Bariton könnte es auch ein vorbeifahrender S-Bahn-Zug sein, und beim Baß ein Gewitter oder gar der beginnende Zusammenbruch des Schnürbodens. Das einzige in der Natur vorkommende Geräusch, mit dem man den Gesang des Tenors verwechseln könnte, wäre gleichzeitiges Auf-den-Schwanz-Treten bei ca. vierunddreißig Katzen. Aber wer macht sich schon die Mühe? Der Tenor breitet beim Singen immer die Arme aus, als wolle er damit andeuten, daß er blank ist und trotzdem alle Anwesenden zu einer 66
Portion Spaghetti Matriciana einlädt. Vielleicht macht ihn das so sympathisch? Aber nein, das kann es nicht sein, Bariton und Baß rudern auch mit den Armen. Aber dennoch: beim Tenor wirkt es irgendwie glaubwürdiger. Vielleicht, weil man aus der Regenbogenpresse weiß, daß er sich locker eintausendvierhundert Portionen Spaghetti Matriciana leisten kann. Beziehungsweise könnte.
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Stichworte Musik
Jaz z Wenn das Schlagzeug öfter als alle Viertelstunde mal vorkommt und es dennoch nicht zum Tanzen ist, oder wenn so schnell gespielt wird, daß man keine Melodie heraushört und es trotzdem nicht der Hummelflug von Rimski-Korsakoff ist, dann ist es Jazz. Ethnisch Alles was nicht direkt von hier ist und auch kein Blues, ist ethnische Musik. Daraus ergibt sich, daß der Afrikaner davon eine ganz andere Vorstellung hat als der Asiate. Aber das ist ja bei allem andern auch so. Musik wissenschaf t Eine Wissenschaft, die, wie alle statistisch orientierten so tut, als müsse all das, was am häufigsten vorkommt, auch am dringendsten sein. Lebt, wie alle diese Wissenschaften, davon, daß ihre Erkenntnisse dauernd überholt werden und nachjustiert werden müssen. 68
Moderne Klassik Diese Bezeichnung muß von einem Kabarettisten erfunden worden sein. Da aber zufällig niemand darüber lachen mußte, fungiert sie jetzt als Etikett für alle Musik, über die keinesfalls gelacht werden darf. Ernste Musik Ist entweder schon so lange populär, daß es niemandem mehr auffällt, oder der Komponist hat studiert. Dann ist die Musik so unpopulär, daß sie niemandem auffällt. Unterhaltungsmusik Ist von jemandem komponiert worden, der die Tatsache, daß er Noten schreiben kann, irgendwie nicht genügend professoral absichern konnte und deswegen auf der Subventionsschiene keine Chance hat – sie findet auf dem freien Markt statt. Man erkennt sie daran, daß der Sänger grinst, oder daß man ihretwegen das Autoradio lauter dreht. Oder leiser. Oder daß man es selber klaut, damit einem die Versicherung einen kleinen Beitrag zum neuen Kassettenrecorder leistet. Sopran Kommt bei Knaben, wenn man auf chirurgische Korrekturen verzichtet, nur bis zur Pubertät vor. Bei Frauen bis ins hohe Alter. Wie der Überschallknall kann die Sopranstimme Fensterscheiben zerspringen lassen, Haustiere verstören und das vegetative Nervensystem durcheinanderbringen. 69
Altstimme So bezeichnet man nicht etwa das Organ von Bernhard Minetti oder das Kreuzchen, das Helmut Schmidt bei der Wahl macht, sondern die Stimmlage einer Frau, die zur Not auch für den Parsifal einspringen könnte. Tremolo Wurde früher einmal erfunden, damit die Stimmen nach mehr klingen. Da es fast niemand richtig hinbekam, wurde meistens ein Vibrato daraus. Ebenso überraschender- wie unglücklicherweise wurde nur wenigen Zuhörern davon übel, und so bürgerte sich diese Unsitte ein. Gute Stimme Laute Stimme. Noten Für den klassischen Musiker das, was Darmol für den Verstopften ist. Ohne kann er nicht leben. Frag einen Klassiker nach der Uhrzeit und er wird in der Partitur blättern, nimm sie ihm weg und er fällt hin, zünde sie an und er verröchelt sein Leben. Falls da nicht zufällig ein rettender Musikalienhandel in Kriechweite ist. Volk smusik Das Gegenteil von ethnischer Musik. Also von hier. Wird gern verwechselt mit dem, was man inzwischen 70
Volk stümliche Musik nennt. Das ist die Fortsetzung des Krieges mit gar nicht mal so anderen Mitteln. Minimal music Klingt wie ein Synthesizer mit Arpeggio-Automatik, den man vergessen hat auszuschalten. Ist aber manchmal auch mit echten Geigen, also Ernst. Also mit Noten und allem. Arpeggio Ist das, wofür man Richard Clayderman nicht die Hand abhacken darf. Weil erstens Demokratie ist und zweitens Chopin auch schon davon gelebt hat. Piano Heißt auf italienisch „Stockwerk“, gehört hier also nicht hin. Streicher Sind die Leute, die im Orchester für die sägeartigen Klänge und Bewegungen zuständig sind. Bläser Sind die Leute, die sich ihren Lebensunterhalt auch als Skatprofis verdienen könnten. Außer den Frauen natürlich. Schon deswegen, weil es keine weibliche Form von Profi gibt. Profa vielleicht? Oder Profiin? O rgel Ist für den Synthesizer das, was die Libellen für den Hubschrauber waren. Vorläufer. 71
D udelsack Auch Sackpfeife. Wird außer in Schottland, Irland und sonstigen Schafgegenden fast nur als Schimpfwort verwendet. Klingt auch so. Rhy thmus Ist das, was Beethovens Fünfte von einer französischen Polizeisirene unterscheidet. Tak t Ist das, was der Orchestermusiker sich vom Dirigenten vor die Nase peitschen läßt und das, was der Solist Einer, der alleine davon leben kann, unter „ferner liefen“ abgespeichert hat. Bei seinem Vortrag sind die Pausen So nennt man unwichtige, geräuscharme Erholungsphasen in Musik, reine Geduldssache. Oder Ermessensfragen. Keinesfalls haben sie etwas mit dem Taktmaß des Stückes zu tun. Musikliebhaber Sind nicht die Leute, die sich Samstag abends, nach dem Baden, während die Frau das Neglige anzieht, den Bolero von Ravel auflegen, sondern die, denen er schon vor Bo Derek zum Halse raushing. So wie die Moldau, Für Elise, Solveigs Lied, Carmen und der Gefangenenchor.
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Praecox Orange Der Science Fiction-Autor
Falls er nicht gerade Klavierspielen kann, hat der Science Fiction-Autor Pech bei den Frauen. Dabei wissen sie noch nicht mal, daß er seine Söhne Khadar, Infan und Zelmos nennen würde, sie wissen nicht, daß sein Arbeitszimmer überquillt von Spielzeug, und sie kommen ihm noch nicht einmal so nah, daß es an seinen sieben komma zwei Dioptrien liegen könnte – nein, es ist so: die Frauen interessieren sich einfach so was von gar nicht für Science Fiction, daß er nie mit ihnen in Berührung kommt. Er geht nicht auf Lesereisen, und selbst wenn, dann säßen keine Frauen im Publikum. Sollten seine Geschichten verfilmt werden, dann sitzen garantiert keine Frauen im Kino, und selbst wenn, dann warten sie nicht auf den Abspann, und selbst wenn doch, dann lesen sie ihn nicht. Die Sekretärinnen im Verlag sind entweder verheiratet – alleine kämen sie mit dem bißchen Gehalt gar nicht über die Runden – oder sie haben andere Prioritäten. Ja, wenn er Gedichte schreiben würde. Oder Märchen. Und anderswo Frauen kennenzulernen, dazu ist keine Zeit. Ein Science Fiction-Autor kann sich nicht das pompöse Lotterleben eines Roman73
ciers leisten, ein Science Fiction-Autor arbeitet rund um die Uhr. Wenn er nicht gerade Stanislav Lem heißt. Aber ob der nun immer Glück hat bei den Frauen? Existenztechnisch ist der Science Fiction-Autor noch schlechter dran als der Krimiautor, denn es gibt für ihn keine Jobs wie Tatort, Derrick, Eurocops undsoweiter. Ein Taschenbuch nach dem andern muß er schreiben, und wenn er nicht vier im Jahr schafft, dann kann er das Überleben vergessen. So bleibt ihm frauentechnisch nur die Möglichkeit, in jeder Geschichte so gegen Seite hundert zirka eine fulminante Liebesszene einzuflechten. Zelmos hafte schon während des Fluges den Eindruck gehabt, daß Prinzessin Xerja seit ihrer Rückkehr von der Jagd auf Malvin-Omega-Acht, dem Planetoiden der Familie Kor, der sie nun bald angehören würde, unruhig gewesen sei, ja, daß sie auf ihn, Zelmos, den sie doch für einen einfachen Transplexer halten mußte, Blicke geworfen habe. Interessierte, vielleicht sogar leidenschaftliche Blicke. Und nun würden sie landen auf Karion, dem Planeten der Sinnlichkeit. Was hatte Xerja vor? Wußte sie denn nicht, daß es ein gefährliches Spiel war, sich mit einem Gork einzulassen? Oder wußte sie, daß er weder ein Gork noch ein Transplexer war? Hatte sie ihn enttarnt? „Höre, Zelmos“, sagte sie hinter ihm, als er den Landepersuador programmierte, „höre, wir landen nicht. Nicht jetzt.“ Ihre Stimme klang merkwürdig bewegt, und Zelmos drehte sich um, denn er wollte ihr zu bedenken geben, daß Prinz Khador, der höchste Repräsen74
tant der Familie Kor, ihr Bräutigam, ihr zukünftiger Ehemann, schon ungeduldig auf sie warte, da sah er, daß Xerja vollkommen nackt in der Tür der Transmitterschleuse stand, ihre Hand nach ihm ausgestreckt und in ihren Augen ein Leuchten, eine Glut voller Leidenschaft und Begehren, deren Kraft er sich nicht würde entziehen können …
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Ein Klon ist keiner vom Zirkus Der junge Wilde
Der junge wilde Maler lebt in Berlin. Ja wo denn sonst? Ja, da auch, natürlich, aber der Sommer in der zweiundvierzigsten Straße ist einfach unerträglich, da geht’s in Kreuzberg einfach besser ab. Außerdem, in den Berliner Kneipen macht man wenigstens noch einen Stich mit New Yorker Klamotten. In New York interessieren die keinen. Dort bist du wiederum besser dran mit einer Berliner Frisur. Der junge Wilde ist eigentlich introvertiert, nur hat das bisher noch keiner gemerkt. Obwohl ihm das manchmal wehtut, daß die Leute so ein falsches Bild von ihm haben, kann er ja nicht einfach losschreien: „Ich bin übrigens introvertiert, ihr Arschlöcher.“ Das wäre mehr was für einen Aktionskünstler, und die sind das letzte. Beziehungsweise waren. Sind ja auch schon wieder ausgestorben. Der junge Wilde gibt mehr Geld für Kleider und Frisuren aus als für Essen, Alkohol und Leinwände zusammen. Was für Leinwände überhaupt? In der Größe, in der er malt, gibt es gar keine Leinwände. Wenn du heutzutage so Kleinkram malst, das schaut sich keiner mehr an. Es muß schon Mu76
seumsgröße haben, sonst hast du keine Chance. Vier auf zehn Meter mindestens. Kann man ja transporthalber als Triptychon aufziehen. Triptychon kommt immer noch gut. Kürzlich hat der junge Wilde etwas Schreckliches erlebt. Er war in London, um sich bei Recommended Records nach neuen abgefahrenen CDs umzusehen, und da kam er an so einer Loft Galerie vorbei und da hing ein Triptychon von ihm. Vier auf zehn Meter, tanzende Akte mit afrikanischer Maske. Und das Schlimmste daran war, es stand ein anderer Name darunter. Nein, das war nicht das Schlimmste, das war nur das Zweitschlimmste. Das Schlimmste war, das Bild war gar nicht von ihm. Nein, das war auch noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, daß es aber von ihm hätte sein können. Und dann war da auch noch so ein Typ bei Virgin mit genau derselben Frisur.
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Weniger ist mehr Der Minimolist
Vor Jahren schon, als er noch ein Vertreter des Informel war, ärgerte er sich, wenn es ihm trotz aller Anstrengung nicht gelungen war, einen nachvollziehbaren Pinselstrich zu vermeiden. Manchmal waren da eben diese Bildereignisse, denen man noch so richtig das Malerische ansah. Viel zu gewollt. Als er dann nur noch Collagen machte mit verschiedenen Materialien, wurde er völlig mißverstanden. Man bezeichnete ihn plötzlich als Dadaisten und analysierte alles mögliche aus den Versatzstücken seiner Bilder heraus. Dabei sollte nichts Literarisches, nichts gestisch manipulativ Erzählendes mehr die Reinheit seiner Arbeit stören. Als er schließlich nur noch monochrom malte, war zwar endlich jede Gebärde, alles aufdringlich manieristische Malenkönnenwollen draußen, aber die Beschaffenheit des Farbauftrags mit der Anstreicherrolle verleitete die Kritik zu der Annahme, es handle sich bei ihm um „einen sich in sparsamen Reliefstrukturen rhythmisch in die Fläche ausbreitenden Bildhauers“. Es war zum Verzweifeln. Eine Zeitlang konnte er überhaupt nicht arbeiten. Aber dann, irgendwann, zwang ihn die angestaute 79
Schaffenskraft, seinen Weg der Reduktion auf das Wesentliche weiterzugehen. Er stellte nur noch signierte Leinwände aus. Zuerst in verschiedenen Größen, dann immer nur noch in derselben, dann unsigniert, dann nur noch leere Rahmen, dann leere Wände, dann ohne Preise, dann ohne Vernissage, dann ohne Einladung, schließlich überhaupt nicht mehr, und jetzt ist er am Ziel seiner Lebensarbeit. Er denk t nicht einmal mehr ans Malen.
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Corinna, Corinna Der junge Filmregisseur
Wer hat dem sechzehnjährigen Schüler gesagt, er solle sein Weihnachtsgeschenk dazu benutzen, diesen Film über den Selbstmord einer Siebzehnjährigen zu drehen? Und wer hat ihm gesagt, welches Mädchen er anhauen muß, damit er die Nacktszene im Gegenlicht, in der sie im Drogenrausch tanzt, auch wirklich auf Band kriegt? Und wer hat ihm gesagt, daß er die Szene vor der Aufführung im Kunstunterricht besser rausschneidet, daß er die Kamera so oft wie möglich schiefhalten soll, daß er in den Video-AK seiner Schule gehen soll und dann zu Alexander Kluge, daß sein erster geförderter Film von Grausamkeit und Einsamkeit in einem bayrischen Dorf handeln muß, wo der junge Fremde schließlich von einem Metzgerlehrling umgebracht wird, weil er die Lehrerin nicht in Ruhe lassen will, und der Mord wird nie aufgeklärt, weil alle zusammenhalten? Wer hat ihm gesagt, daß jeder weitere Film in München spielen und unbedingt mit Streichquartetten, Klaviermusik und/ oder Saxofon unterlegt sein muß? Daß Schwarzweiß künstlerischer ist als Farbe, lange Pausen interessanter sind als kurze und Tragik im Vergleich 81
zu Komik einfach besser reinhaut? Wer hat ihm gesagt, daß er seine Drehbücher ruhig selber schreiben kann, daß Menschen Sätze wie „Der bekommt, was er verdient“, „Manchmal fühle ich mich so tot“, „Ich komme aus der Stadt und suche Ruhe“ oder „Hanna, bring dem Gast ein Bier“ sagen? Wer hat behauptet, das Tragen einer ärmellosen Lederjacke mit unzähligen Taschen sei nach Truffaut noch erlaubt? Und wer verlangt von ihm, daß er dauernd den Film Noir zitiert oder demnächst auch noch ein Roadmovie dreht? Wer hat ihm den Floh ins Ohr gesetzt, Donnerstag nachts um elf sei eine tolle Sendezeit? Von wem hat er den Tip gekriegt, daß langes Aus-dem-Fenster-Schauen in jeder dritten Einstellung vorkommen sollte, daß einer, wenn er unter seelischem Druck steht, die Faust an die Wand haut und den nächsten Satz schreit? Und dann ganz leise „Ach, ist doch auch egal“ sagt? Und dann wieder langer Flur und Streichquartett? Undsoweiter? Das m u ßte ihm niemand sagen! Lernt man doch alles, wenn man die Arbeit der Kollegen anschaut, oder weiß man schon von selber. Sonst kann man das Weihnachtsgeschenk gleich in die Ecke schmeißen und hat nie ‘ne Chance, Corinna nackt vor die Kamera und dann, wenn nicht ins Bett, so doch wenigstens ins Archiv zu kriegen.
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Stichworte Darstellende Kunst
Dramaturgie Klingt interessanter als es ist. Im wesentlichen muß der Dramaturg in erster Linie dem Herrn Regisseur und in zweiter den Damen und Herren Schauspielern den Arsch nachtragen. Modern Ist nicht mehr Hamlet in Jeans auf einer Metallbühne, sondern wenn die Lulu echt nackt ist und auch irgendwo ein Saxofon spielt. Freies Theater Besteht im wesentlichen aus Überstunden, Nachtfahrten, Kulissenbasteln und selber schminken. Wird ausschließlich vor der Ehe praktiziert und gibt sich dann wieder von selber, wie das Leben in Wohngemeinschaften. Wur zn Hellebardenträger, der Sätze hat wie „Still, ich höre ihn kommen“ oder „Herr Graf, die Pferde sind gesattelt“. Aber nur jeweils einen pro Stück. Strassberg-Seminar Dafür gibt der Schauspieler das bißchen Geld, was 83
er verdient, mit vollen Händen aus. Da lernt er Sense-Memory. Das ist, an die kaputte Puppe zu denken, während man das Erhalten einer Todesnachricht spielt. In etwa. Fernsehballet t Ist, wie alles mit der Vorsilbe Fernseh, grausig. Sie rennen alle hierhin, sie rennen alle dahin, sie grinsen alle breit und schütteln, was sie haben. Was allein das Fernsehballett mit richtigem verbindet, ist die Tatsache, daß das komplette Zappel- und Hüpfprogramm recht wenig mit der Musik, auf die es angeblich passen soll, zu tun hat. Boulevardkomödie Ist, wenn die Leute lachen. Mit Leute sind die Doofen gemeint, und mit Lachen das unschöne Geräusch, das man im Zweifels- oder Fernsehfall vom Band dazuspielt. Immer an den Stellen, wo die Schauspieler die Gebärde von gerade eben wiederholen. Komödie Ist, wenn die andern Leute lachen. Tragödie Ist, wenn ganz andere lachen. Aber die fliegen dann auch gleich raus. Drama Tragödie mit mehr Lärm und Action. Bei dieser Art von Stück braucht die 84
Souf f leuse – das ist die Frau, die schon in der Schule das Einsagen nicht lassen konnte – einen Spuckschutz, sonst ist sie nach jeder Vorstellung naß bis auf die Haut, erkältet sich und bekommt Husten Daran erkennt der Schauspieler, daß er einen Zahn zulegen muß. Jedenfalls dann, wenn der Husten aus dem Publikum kommt. Das ist die spärliche oder weniger spärliche Besatzung des, je nach Karrierestand kleinen, mittleren oder großen schwarzen Lochs vor der Bühne. Tournee Die unbequemste Art, Theater zu spielen. Die Spesen reichen nicht für ein gutes Hotel und die Witze im Bus sind immer dieselben. Außerdem paßt das Bühnenbild – das ist das, was der verhinderte Kunsterzieher dem Boheme-Schreiner zu basteln aufgetragen hat – nie ganz, und man läuft Gefahr, sich ein Bein zu brechen. Und auf einem kann man nicht stehen, jedenfalls nicht nach der Vorstellung, also Prost und Ex und noch zwei hiervon bitte – ja, für mich auch zwei, ha, ha. 85
Film Ist die bequemste Art, auf Tournee zu gehen. Man spielt nur einmal, aber dafür optimal und dann muß das Publikum sehen, wie es hinkommt. Außer beim Fernsehf ilm, der den Vorteil hat, keinen Sprit, keine Gummibärchen und keine miese Pizza extra zu kosten. Show Da zeigen die einen, was sie alles so draufhaben und die andern, daß sie das ganz toll finden. Kabaret t Ist die Fortsetzung der Boulevardkomödie mit anderen Mitteln. Da lachen nicht die Doofen, sondern andere über sie. Glauben die andern wenigstens. Varieté Da zeigen noch welche, was sie alles so draufhaben. Und wieder andere, wie toll sie es finden. Bzw. fanden. Bzw. draufhatten. Ist nämlich ausgestorben. Zirkus Show, Varieté, Kabarett und Theater in einem, wobei die Personalkosten günstiger sind, weil schon mal die Tiere für Kost und Logis arbeiten. Pantomime Da sagt der Mann vorher, was es nachher sein soll, und dann zappelt er nur noch in Zeitlupe. Die einzige Form von Theater in Schwarz-Weiß. 86
Man gönnt sich ja sonst nichts Sonntag morgens um elf
Geht da ein Summen durch die Luft? Hört man was? Nein. Aber Sonntag morgens kurz nach elf, da brummt die Kunst, da wird sie auf Hochtouren konsumiert, goutiert, für interessant gehalten und hinterfragt. Sonntag morgens um elf halten die, die was Anständiges arbeiten, ihren Vortrag über Matisse, da ist die Dichterlesungsmatinee, der JazzFrühschoppen, der Kulturstammtisch, die Vernissage, da trifft sich der Lesekreis im Altstadtcafé und die Galeristin besucht einen Künstler. Sonntag morgens um elf gehen die Menschen in Barockkirchen oder an Figuren von Ernst Barlach vorbei, andere legen zum Sektfrühstück die Vier Jahreszeiten auf und wieder andere schleppen ihre Blagen ins Kinderstück des Stadttheaters. Ja, Peter und der Wolf. Sonntag morgens um elf, da bekommt der Mensch eine Ahnung davon, wie überflüssig er ist, und um damit nicht allein zu bleiben, gesellt er sich panisch zu anderen, die das Überflüssigsein für ganz in Ordnung halten. Darin liegt ein gewisser Trost für ihn. Sonntag morgens um elf, da beurlaubt der Künstler seine Zweifel, da sind die Straßen voll von Citroën und Volvo, da perlt der Sekt anstatt des 87
Pilses und sprüht der Geist und nicht die Möbelpolitur. Oder jedenfalls nicht nur. Sonntag morgens um elf muß die Welt mal nicht in Ordnung sein, da darf sie auf dem Kopf stehen, aus dem Rahmen fallen und sogar provozierend unübersichtlich erscheinen. Und das beste: Man darf endlich mal fragen, was sie kostet.
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Innere Ruhe Der Bassist
Sein Lieblingswitz geht so: Ein Cellist sitzt seit Wochen zu Hause und streicht immer denselben Ton. Seine Frau wird langsam verrückt deswegen und fragt ihn schließlich, wieso er denn immer nur diesen einen Ton spiele, es gäbe so schöne abwechslungsreiche Celloliteratur, es gäbe so viele Töne und soweit sie wisse, würden andere Cellisten nicht immer nur … Er unterbricht sie mit den Worten: „Die suchen noch. Ich habe gefunden.“ Auf Cellisten schaut der Bassist zwar herab, denn ein Cello ist ein Baß für Kinder, so, wie die Bratsche für den Cellisten ein Cello fürs Kinn ist, aber den Witz mag er doch, weil er irgendwie von innerer Ruhe handelt. Innere Ruhe ist das, was ein Bassist immer hat. Er ist der ruhende Pol. In einer Blaskapelle fährt der Tubist den größten Kombi, verträgt das meiste Bier und kein Mensch würde ihm je das Entschlüpfen eines Furzes nachweisen können. Das war ein Fis, würde er sagen, hab es nur zu leis erwischt. Im Orchester schlichtet er jeden Streit, als Mitglied einer Tanzkapelle ist er tagsüber Heiratsvermittler und in einer Rockband derjenige, der schon mal ein Buch gelesen hat. Die 89
Nebel von Avalon. Spielt er Kontrabaß, dann trägt er in seiner Jugend einen buschigen Schnauz und im Alter ein bernhardinerhaftes Wesen wie Philippe Noiret zur Schau. Spielt er Elektrobaß, dann erkennt man seine Neigung, auch mal ein Solo wagen zu wollen, an der Höhe, in der das Instrument an seinem Körper hängt. Je tiefer desto geringer die Gefahr. Nur im Jazz kann der Bassist hin und wieder von dieser durchsichtig mystischen Art sein, was daher kommt, daß er sich selbst für das Instrument entschieden hat. In allen anderen Sparten wird immer derjenige zum Baß verdonnert, der sich am schlechtesten wehren kann. Und das sind nun mal diese ruhigen, ausgeglichenen Typen, die zwar mitmachen wollen, aber das alles nicht so eng sehen. Dem Klassiker hat einst sein Klavierlehrer gesagt, Bassisten werden wenigstens gesucht, und kürzere Haare stehen ihnen doch auch, bei der Beatband war er derjenige, dessen Vater die Gesangsanlage stiftete, in der Blaskapelle muß auch der Zweitgeborene, wenn er nicht Pfarrer werden will, irgendwo untergebracht sein, und die Tanzband braucht immer einen, der den Führerschein noch hat. Nur im Jazz, da hat der Baß noch Flausen im Kopf. Und als Sänger. Da trägt er einen schwarzen Vollbart und spielt den Bösen. Und übertrifft Philippe Noiret um Längen. Beziehungsweise Breiten. Körperlicherseits.
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Schweigen ist Gold Der Schlagzeuger
In der Klassik nennt man ihn Schlagwerker, und er gilt als der Bestinformierte im Orchester. Er hat mehrere Tageszeitungen abonniert und mindestens deren Sportseiten noch vor dem Ende des zweiten Satzes durch. Des zweiten Satzes der jeweiligen Sinfonie natürlich. Sollte er Georg Kreisler kennen, dann mag er ihn nicht, wegen dieses Liedes mit der Zeile „Dann steh ich auf und mach Ping“. Sehr witzig. Ha, ha. Apropos witzig. Der Schlagzeuger hat keinen Lieblingswitz, er ist einer. Der gern wiederholte Spruch, es gäbe Musiker und Schlagzeuger, ist dabei noch harmlos. Er könnte da Dinger erzählen … Wenn er wollte. Er will aber nicht. Er ist ein Schweiger. Vielleicht deshalb, weil ihm seine Zeit zum Quasseln zu kostbar ist. Von Zeit versteht er nämlich was. Dafür ist er Spezialist. Man nennt es heutzutage nicht mehr Zeit, sondern Timing, und mit dem Bezeichnungswandel hat die Sache, um die es geht, auch einen Bedeutungswandel erfahren. Unmöglich, den Begriff einfach rückzuübersetzen, es käme „Zeitung“ dabei raus. Jedenfalls ist es mehr, als nur den Takt zu halten, und viel mehr 91
als eine Anzahl Schläge auf eine bestimmte Zeit zu verteilen. Aber das führt zu weit. Wie übrigens fast alles, was den Schlagzeuger tatsächlich mal zum Reden brächte. Deshalb ist er ja so ein Schweiger. Aber nicht nur deshalb. Es gibt immer eine Laus, die gerade über seine Leber joggt. Die sicherste Faustregel, um einen Schlagzeuger zu erkennen, ist einfach, den Beleidigtsten zu nehmen. Wenn ein Schlagzeuger nicht mißlaunig, mürrisch oder mordgierig agiert, dann ist er entweder Engländer oder ein kleines schwarzes Kästchen mit Lichtern und Tasten. Ja, eine Maschine. Ein Drumcomputer. Der allergrößte Schweiger von allen.
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Nothing left Toulouse-Lautrec Der Normale und der Künstler
Der normale Mensch findet den Künstler toll. Und umgekehrt? Fehlanzeige! Besteht da ein Zusammenhang? Findet der normale Mensch den Künstler toll, weil der ihn so verachtet? Da muß er es nicht selber tun? Erst wenn der normale Mensch über vierzig ist und immer noch nicht reich, dann fällt der Künstler in seiner Werteskala. Dann geht es mit dem Tollfinden rapide abwärts. Da rangiert der Künstler bald nur noch knapp oberhalb des Negers, wenn es zum Beispiel ums Tochterverheiraten geht. Oder Wohnungvermieten. Und trotzdem, der normale Mensch beneidet den Künstler. Sollte er mal was auf linke Parolen gegeben haben, dann erscheint ihm das Leben des Künstlers irgendwie so unentfremdet, hat er Sinn für psychologische Sprüche, dann hält er den Künstler für irgendwie spontan, und gehört er der maulenden Mehrheit an, die allenthalben irrtümlicherweise für eine schweigende gehalten wird, dann möchte er auch mal mit so wenig Arbeit so viel Geld verdienen. Ist ja auch wahr, der Künstler braucht sich nicht zu rasieren, steht erst gegen Mittag auf, riecht aus dem Mund, 93
hat zu lange oder zu kurze Haare, ist nachlässig gekleidet und kriegt die zweitschönsten Frauen ab. Und außerdem ist er frei. Die Freiheit, die ist nämlich das Hauptmerkmal des Künstlers. Der normale Mensch ist nur im Urlaub frei. Und gerade dort hat er dann, wenn der Urlaub auch imagemäßig was hergeben soll, sein Auto nicht dabei. Und was ist Freiheit ohne Auto. Das ist ja fast ein Widerspruch. Ja, und genau von solchen Zwängen und Widersprüchen ist der Künstler frei. Dem geht es ja um was anderes. Er läßt sogar sein Haus verlottern oder mit Efeu zuwachsen. Das sollte sich mal ein normaler Mensch erlauben, wenn er nicht Franzose oder Stadtrat der Grünen ist. So nett und freundlich sich der Künstler in seinem Dorf auch immer geben mag, da spielt doch auch was Hochnäsiges mit. Irgendwie bildet der sich doch was ein auf seine Kreativität. Der normale Mensch hat ‘ne Nase für sowas. Der normale Mensch kann es nicht leiden, wenn sich jemand für was Besseres hält. Das ist ein Zeichen von Dummheit. Der normale Mensch weiß nämlich, wer was Besseres ist. Er selbst. Das kann er nur nicht laut sagen, weil er sonst Krach kriegt mit seiner Frau. Die findet Künstler so toll. So kreativ. Und demnächst wird sie auch mal so einen Kurs belegen. Jetzt, wo die Kinder dann aus dem Haus sind. Wenn der normale Mensch nicht aufpaßt, ist seine Frau gleich futsch. Abgehauen. Mit dem Künstler. Der normale Mensch würde auch mal gern kreativ sein. Aber wann denn? 94
Seufzer fliegen leicht Die Ballerina
Sie wird nach optischen Kriterien ausgesucht. Da hilft es nichts, daß ihre Mama sie schon mit drei Jahren ins Training gesteckt hat und Papa ihr sämtliche Hausaufgaben schrieb. Wenn sie nicht die hohe Stirn hat und diesen entfernten, blassen Blick aus erschreckten Renaissance-Augen, dann kann sie höchstens noch auf Eiskunstlauf oder Rollschuhqueen umsatteln. Leider. Aber wenn sie genommen wird, dann ist sie als Ballerina auch etwas Besonderes. Zart im Wesen und kräftig in den Beinen, und alle Mamas im Publikum haben so einen inneren Seufzer, wenn sie mit diesem fast unhörbaren Schrapp-Schrapp der Sohlen durch die Pianissimopassage wirbelt, um dann in den Armen dieses … hach, das muß noch schöner sein als Fliegen. Zu Hause hat die Ballerina Kopfweh, und ihr Gynäkologe wird sich morgen wieder wundern. Dreiundzwanzig und noch immer nicht … Was tun sie denn nur in Ihrer Freizeit, Fräulein? Freizeit?, fragt die Balleteuse dann, Freizeit? Und fliegt zurück ins Training, denn das Zuspätkommen kostet fünf Mark pro Viertelstunde. Und wer weiß, vielleicht auch den Part der Julia. 95
Fliehkraft ist nicht nur Physik Der Tänzer
Körper, ganz Körper und doch auch irgendwo ganz Geist. Also als Körper. Diese Kraft und Disziplin und Schönheit. Und heimlich zu Hause Jazz hören. Im Walkman. Gene Krupa und diese rumpeligen Sachen. Urwald. Hmmmh. Oder gar keine Musik. Einfach mal, endlich mal gar keine Musik. Der Tänzer war schon immer ganz anders. Anders als die im Kindergarten, anders als die in der Schule, anders als die im Ballettinstitut und anders als die Kollegen, mit denen er tanzt. Und irgendwo ist er einsam. Er weiß nur nicht genau wo. Sein Freund sagt manchmal in so einem ironischen Ton, er drehe wohl schon seit Jahren eine innerliche Dauerpirouette, und deren Fahrtwind sei das einzige, was er wirklich höre und die Fliehkraft, was er wirklich spüre. Oh je, wie poetisch. Das muß der Freund irgendwo gelesen haben. Aber dieses Ohrensausen manchmal? Spricht das nicht für die Pirouettentheorie? Oh n e i n , schon wieder halb drei. Das Zuspätkommen kostet doch fünf Mark pro Viertelstunde und vielleicht den nächsten Ro meo. Da muß er aber f lit zen. 96
Ein Bild von Mann Der Malerfürst
Er hat eine Professur in einer Medienstadt, ist überhaupt kein Kind von Traurigkeit, an Karneval betrunken, wie jeder normale Mensch auch, und das Jahr über sowieso. Seine Studenten lieben ihn. Weil er so berühmt ist. Seine Studentinnen liebt er. Auch weil er so berühmt ist. Schade, daß der schöne alte Brauch des Heranziehens von Helfern zur Ausführung niederer Malarbeiten ausgestorben ist, sonst könnte er die Studenten und Studentinnen in seinem Atelier beschäftigen, wie das früher bei Malerfürsten üblich war. Aber leider. So, wie er malt, da macht es schon die Handschrift. Natürlich malt er figürlich (was denn sonst, wo sind wir denn, die Abstrakten sterben grad in Moskau aus), aber doch eben mehr so von der Handschrift her. Er kann sich keine Spezialistin für die roten Kleckse, oder einen für diese typischen schwarzen Spritzer halten. Wenn das aufkäme. Er ist mit mindestens einem berühmten Schriftsteller befreundet, das sieht man dann in dem Fernsehporträt ganz genau, wie sich die beiden großen Männer irgendwie so seelenverwandt über ihren alten Burgunder hin anlächeln. Und der Schriftsteller sagt auch was über 97
seinen Freund den Maler, so in der Art wie: In seinem Gestus des unbezähmbar Scheuen trotzt er dem Tod. Ja, toll, nicht? Dazu hat man Schriftstellerfreunde. Das stand auch schon im Katalog der letzten Biennale. Der Malerfürst könnte jedes Jahr einen vierseitigen Artikel im Zeitmagazin haben. Will er aber nicht. In seiner Stadt kennt ihn jeder. Es raunt, wenn er eine Kneipe betritt, mit diesem Rocksänger und den schwarzgekleideten Studenten zusammen. Es raunt aber nicht wegen dem Rocksänger. Oder jedenfalls nicht nur. Und auch nicht wegen der Schauspielerin vom Staatstheater, die mit ihrer nackten Lulu so Furore machte. Es raunt wegen dem Malerfürsten. Weil er ein Bild von Mann ist. Wenn er morgens um drei seinen Jaguar nach Gehör aus der Lücke parkt, um noch auf ein paar Farbeimerwürfe im Atelier vorbeizuschauen, dann hat er keinen Strafzettel an der Windschutzscheibe. Weil jeder Polizist ihn kennt. Und falls er doch einen hat, dann auch deswegen.
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Die Schöpfung ist kein Kellnerjob Erlebnisse
Der junge Schauspieler muß in den Wald und dort ein Rehkitz oder Marderkind erwürgen. Und bringt er den Brutus dann noch immer nicht überzeugend, dann kann er grad nochmal gehen. Da mag er im Privatleben Vegetarier sein oder Tierschützer, daran, daß man auch die Grausamkeit erst erleben muß, bevor einem das Publikum glaubt, ist nicht zu rütteln. Da haben es die Maler schon besser. Jeder rote Farbspritzer wird für bares Blut genommen, auch wenn er ursprünglich als Kirsche, konzentrisches Element oder rhythmische Auflösung vorgesehen war. Und die Musiker sind am besten dran. Leid, Grausamkeit, Erniedrigung und Elend bringen höchstens was fürs Charisma. Und wer braucht schon Charisma, um ein Fagott zu blasen? Von den Schreibenden aber darf allenfalls der Lyriker fernab vom Bösen in porös-weltabgewandt-kristallin-blaumilchener Enklave kränkeln, und doch ist auch er besser beraten, wenn er pro Buch wenigstens eine Schlachthofszene, mit möglichst unbeteiligter Akribie geschildert, einflicht. Er kann es ja mit der Wortwahl wieder rausreißen. Der Pro99
saist nun hat gar keine Wahl. Wenn er echte Literatur machen will. Und das will er, er nennt sie ja Prosa. Das ist ein feines Wort für fortlaufenden Text und deutet ganz klar auf literarische Größe hin. Der arme Prosaist. Da ist man einerseits ein Feingeist, und auch nicht sehr geschickt mit den Händen, und soll andererseits keine Scheußlichkeit des Lebens unbeschrieben vorbeigehen lassen. Nun ja, da muß er durch, der Literat, sonst ist es nicht kraftvoll. Oder wahr. Aber in diesem Fluch liegt auch eine Chance. Kein Ekel und kein Blutbad ist im Prinzip schon abendfüllend, und hat man das Pflichtgreuel einmal abgehakt, dann darf man vom Rest des Lebens erzählen. Und da nun ist der Schriftsteller klar im Vorteil. Die Verwertbarkeitsdichte der Erlebnisse, die er ohnehin hat, ist enorm. Er kann über alles ein Buch schreiben. Oder eine Hörspielcollage. Das Buch über seine Kindheit, den grausamen Vater und die schwache Mutter (oder andersrum) hat er natürlich schon hinter sich. Besonders einhellig von der Kritik gelobt wurde die Szene, in der der Nachbar, ein einfacher Bauer, den Hasen schlachtet und der Vater (oder die Mutter) den Jungen zwingt, genau hinzusehen. Deswegen ist er ja überhaupt erst Schriftsteller geworden. Wegen des Hinsehens. Wenn er sich heute also langweilt, dann schreibt er über die Monotonie des Lebens, wenn er eine Frau kennenlernt, schreibt er über die Eifersucht von Ehefrauen (oder -männern), kriegt sie ein Kind, schreibt er über das Wunder neu entstehenden Lebens, kriegt sie es 100
nicht, schreibt er über die Gewissenskonflikte einer Frau im Zug nach Holland. Ein Hörbild mit ausschließlich innerem Monolog. Hat sie ihn dann endlich satt, dann schreibt er über die Monotonie des Lebens in eigentümlich leer wirkenden Räumen, und wenn er Glück hat, passiert auf der Straße, direkt unter seinem Fenster, ein schwerer Unfall, dessen grausige Einzelheiten ihm als Anfang einer Erzählung über die Monotonie des ständigen Abwechslungshungers endlich einmal wieder, wenn auch mäßige, Beachtung durch die Kritik einbringen. Jetzt gerade sitzt er noch an der Geschichte über den Mann, dem der Arzt eröffnet, daß diese Verdickungen an der Prostata durchaus nicht harmloser Art sind, aber wenn die fertig ist, wird er sein großes Projekt in Angriff nehmen. Sein Opus Magnum. Einen Roman über einen Schriftsteller, der, als er nach einer Operation im Krankenhaus liegt und sein Leben Revue passieren läßt, sich dessen gewahr wird, daß er sich selbst enteignet hat. Daß keines seiner Erlebnisse Wirklichkeit werden konnte, weil er sie immer gleich in die Welt hinausschrieb. Eine Geschichte über die Grausamkeit der Monotonie des Schreibenmüssens. Die Operation hat er schon auf Video. Wegen der Details.
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Die zwölf häufigsten Fragen, die einem Künstler gestellt werden
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Was machen Sie tagsüber? Kann man davon leben? Muß man Sie kennen? Was sagt Ihre Frau dazu? So, steigen Sie auch mal in die Niederungen unserer Alltagswelt herab? Erinnern Sie sich noch an mich? Was wollen Sie mit Ihrer Kunst erreichen? Auf was genau ist das jetzt eine Paraphrase? Wo waren Sie am 9. November 1919, 1925, 1938 und 1989? Arbeiten Sie zu festen Zeiten oder mehr so spontan, wenn Sie die Muse küßt? Wie kommt man nur auf sowas? Gehen Sie nachher noch mit in die Pizzeria?
Mit Ausnahme der Frage 12 sind alle diese Fragen gut und ausreichend mit „Ja“ beantwortet. Je nach Gegenüber empfiehlt es sich, den Blick zu heben und scheinbar traumverloren, abwesend, so irgendwie nach Höherem spähend über den Kopf des oder der Fragenden hinwegzusehen. Sonst wiederholt er oder sie die Frage 12. 103
Eine linke Gerade für die Wirklichkeit Der Bildhauer
Die Kinder lachen, wenn sie seinen Beruf hören. Sie stellen sich jemanden vor, der eine Fotografie verprügelt. Und manchmal denkt er, eigentlich haben die Kinder recht, ich haue solange auf die Wirklichkeit oder die Vorstellung, die ich von ihr habe, ein, bis ich sie zur Kenntlichkeit deformiert habe. „Bis zur Kenntlichkeit deformiert“ stand mal in einer seiner Kritiken. Das war irgendwie ein richtiger Satz. Hat ihm gefallen. Der Bildhauer hat geerbt. Ein Haus mit Grundstück. Sonst ginge das alles gar nicht. Von den paar Brunnen und Universitätsinnenhöfen kann kein Mensch leben. Geschweige denn Steine kaufen. Früher hatte der Bildhauer Muskeln, heute sind seine Figuren kleiner. Muß aufpassen, denkt er manchmal, daß mir keine Boutique ein Angebot für eine Serie mit Krawattennadeln macht. Aber an Giacometti kann man nicht vorbei. Er jedenfalls nicht. Und außerdem steht das ganze Grundstück voll mit großen Dingern, die kann er ja nicht wie EG-Tomaten ins Meer kippen. Wenn er nicht Atheist wäre, hätte er ein Relief nach dem andern für die Kirchen machen können. Aber die beschäftigen nur 105
Leute aus dem eigenen Verein. Und inzwischen wären ihm Reliefs auch viel zu groß. Dann schon lieber Krawattennadeln. Ist das Altersweisheit? Damals in den Vierzigerjahren waren ihm die Kreidefelsen von Dover zu klein, er wollte die Bretonische Küste auf einer Breite von 10 Kilometern bearbeiten. Und heute? Heute genügt ein Reagenzglas als Vitrine.
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Mindestens zwei Seelen in der Brust Bratsche
Nein, man sagt nicht „Altgeige“, „Mezzovioline“ oder gar „Wurfcello“. Es heißt Viola oder Bratsche. Natürlich ist die Bratsche ein Zwischending zwischen Violine und Cello und hat, wie alle Zwischendinger, von beiden etwas. Leider jeweils das weniger Wichtige. Von der Geige nicht den Jubel und vom Cello nicht die tiefe Melancholie. Bratschisten sind ernste Menschen. Sie sind Mittler. Nein, keine Lückenfüller – Mittler. So was wie Realisten. Und wie diese auch ohne Humor. Dafür aber mit Charakter. Für den sich allerdings keiner interessiert. Aber das macht ja wahren Charakter aus. Daß er doch mehr so nach innen geht. Oder nach dazwischen. Bratschisten haben noch ein Hobby nebenher. Entweder lesen sie gern mal ein gutes Buch oder lassen sich in verantwortungsvolle Positionen drängen. Orchestervertrauensmann oder Frauenbeauftragte, Elternbeiratsvorsitzende oder Ministerpräsident. Bratschisten sind bescheiden. Mit Grund. Aber Bratschisten sind auch geschmackvoll und dezent und am liebsten im Sternzeichen der Waage 107
geboren. Wenn nicht, dann ist die Waage ihr Aszendent. Sie mögen keine Skandale. Äußert jemand die Ansicht, das Wort Bratsche sei lautmalerisch, es rühre von dem Geräusch her, das das Instrument erzeugt, nämlich braatsch, braatsch, dann fängt der Bratschist keine Schlägerei an. Allerdings direkt lachen muß er auch nicht grade drüber.
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Geh steabn du Huuund Der große Mime
Der große Mime ist ein Mann. Auf Drama, Tragödie und Tiefe spezialisiert, hat er, um sich nicht zu verzetteln, sein Leben ganz in den Dienst des Wesentlichen gestellt. Viel und gut essen, saufen, vögeln und spielen. Und d e n Corniche über d i e Corniche von Casino zu Casino steuern. Falls er nicht eng mit Franz Beckenbauer und Mick Jagger befreundet ist, hat er wenigstens einem von ihnen einen Chagall abgekauft. Keine Grafik, nein. Er könnte, wenn er wollte, den Leuten erzählen, wie Meryl Streep unter den Achseln riecht und daß der Satz „Nomen est Omen“ bei Albert R. Broccoli durchaus eine gewisse Berechtigung hat. Wenn er wollte. Talkshows macht er keine mehr. Wenn jemand, am besten er selbst, einen Witz erzählt, dann fürchten die Kellner im Hawelka, daß es die Fensterscheiben auf die Straße haut. Dabei lachen die, die bei ihm sitzen, schon so laut, als hätte er die Rollen zu vergeben. Na, ein bißchen mitreden kann er schon, aber so, wie die sich das vorstellen – nein, nein. Das sieht von außen immer viel größer aus. 109
Mit einer einzigen Gebärde, einem einzigen Blick, kann er hundert Leute zum Schweigen bringen. Natürlich nur, wenn sie hersehen, und nur wenn sie wissen, wer er ist. Aber sie sehen her. Keine Sorge. Sie sehen immer her. Er hat schon vor Jahren aufgehört, sich dessen zu vergewissern. Manchmal, wenn er nicht im Hawelka sitzt, dann geht er zu Hause ruhelos auf und ab, schaut dann und wann zur Burg hinüber, murmelt Sätze aus dem Lear, knurrt seinen Dobermann unter den Tisch und wartet. Fiebrig, ungeduldig. Er wartet, wartet, wartet. Daß Minetti stirbt.
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Der Zusammenhang von Loft und Legende Frauen in der Kunst
Die Zeiten haben sich geändert. Früher kam die Frau in der Kunst als Thema, Muse oder Publikum vor. Kopfschüttelnd erzählte der eine Literat von ihren Launen, sekretetreibend der andere von ihrer Schönheit, in klarer Verführungsabsicht speichelte der Sänger ihr Dekolleté ein und warf sie der Maler abwechselnd auf die Leinwand oder Ottomane. Ob man sie zersägte, besang, in sich verliebt machte oder verewigte – ihr Anteil am Geschehen war, außer im Theater, eher passiv. Und heute? Alles anders. Irgendwann ging das Gerücht um, Clara Schumann habe auch ganz ordentlich Klavier gespielt, Sonja Delaunay ihre Kreise sogar freihändig gemalt, Simone de Beauvoir auch Grips im Kopf und Anaïs Nin einige interessante Hintergrundinformationen. Und die Lawine wälzte sich zu Tale. Was der Japaner mit der Weltwirtschaft anstellte, tat die Frau schon früher mit der Kunst: erst abgucken, dann nachmachen, dann auch können und dann besser. Und was der Amerikaner mit dem Japaner versuchte, gelang auch dem Künstler mit der Künstlerin nicht. Nämlich einfach wegignorieren. Nein, nein, jetzt 111
sind sie da, und man muß irgendwie damit fertig werden. Zwar können sie noch nicht alles besser – sie sind etwa auf dem Stand des Japaners von Neunzehnhundertachtundsiebzig –, aber lange wird es nicht mehr dauern. Im Singen, Tanzen und Schauspielern sind sie schon richtig gut. In den anderen Künsten müssen sie noch ein paar Kleinigkeiten lernen, dann ist der männliche Künstler ein Fossil. Zum Beispiel: Die Malerinnen müssen endlich große Bilder malen. Richtig gro ße. Was soll denn der Museumsdirektor denken, wenn er für seinen Neubau eine lichte Höhe von Sechs-Metern-zwanzig veranschlagt, und dann kommen die Malerinnen mit ihren Dreißig-malvierzig-Arbeiten an. Da sieht doch jeder, daß die das am Küchentisch gemalt haben. Nein, nein, einem Bild muß man ansehen, daß es nur in dieser teuren, ungeheizten Fabrikhalle entstanden sein kann, wo außenrum das Leben pulsiert, die Türken und die Armen und die Skinheads und die anderen Künstler und dieses kreative Durcheinander, oder besser noch in New York, von wo die Frachtkosten schon ein Drittel des Preises ausmachen. Oder glauben die Frauen vielleicht, der Industrielle will das Bild ins Wohnzimmer hängen? Beziehungsweise glauben sie, er hat ein Dreißig-Quadratmeter-Wohnzimmer?
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Die Schriftstellerinnen sind schon nicht schlecht, doch, aber gemetzeltechnisch und so vom Fäkalischen her gesehen, sollten sie doch noch etwas zulegen. Das geht besser, wie die Konkurrenz zeigt. Auch im Pornografischen ließe sich noch manches steigern. Zwar erzählen die Frauen schon ganz gern und auch mit vielen Worten davon, aber es sind doch oft noch nicht ganz die richtigen Worte. Mehr Großaufnahmen, mehr Einzelteile und ein bißchen verächtlicher. Frau Jelinek übt schon. Noch steht der richtigen pornografischen Ausdrucksweise der Frauen dieser antiquierte Glaube an die Liebe entgegen. Ein bißchen mehr Reduktion auf das Wesentliche täte hier Not. Und dann ist da auch noch das Thema Science Fiction. Ja, das gehört nun mal dazu, das muß auch jemand schreiben, da müßt ihr euch halt mit dem Erfinden von Orxen, Cefalonen und Akzelerationstransmittern abgeben. Sonst wird’s nix mit der Hegemonie. Und die Komponistinnen? Ja, wo sind die? Die müssen sich erstmal gründen. Aber nicht gleich selber singen wollen oder gar in ein Saxofon blasen, nein, schön im stillen Löftlein sitzen und hochstehende Hieroglyphen aufs Papier malen. Natürlich hat man da nichts davon. Keiner will es hören, und die Subventionen fließen auch nicht mehr so wie früher, aber es muß halt sein. So wie jeder Buchverlag, der auf sich hält, neben „Männer lassen Frauen zuviel lieben“ auch an114
spruchsvolle Bücher, die kein Aas haben will, auf den Markt bringt, so wie sich jede Plattenfirma ihren Renommierjazzer hält, so muß die Musik im allgemeinen eben auch ein paar echt wichtige Ungehörte pflegen. Wenn keine Frau das machen will, könnt ihr ja auslosen. W i r haben unsere Stockhausens, Kagels, Nonos undsoweiter, ihr braucht noch welche, wenn ihr gleichziehen wollt. Und dann wär’s halt auch noch gut, sich ein bißchen aufmerksamer der Legendenbildung zu widmen. Die Filmstarinnen machen das doch schon lang vor. Alle vier Monate heiraten, gelegentlich besoffen aus „Regines“ oder dem „Studio 54“ geschleift werden, Ferraris sammeln, Zigarren rauchen und rechtzeitig sterben. Das ist doch gar nicht so schwer. Und es muß sein. Von nichts kommt nichts. Mythos ist auch Arbeit.
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Stichworte Bildende Kunst
Kunsthandwerklich Bedeutet, daß eine Arbeit die Welt nur verschönert und nicht verbessert. Kann man so und so sehen. Stilisier t Wenn es nicht wie ein Urlaubsfoto aussieht, ist es stilisiert. Wenn es wie ein Urlaubsfoto aussieht, ist es eines. Informel Kunstrichtung, gilt nur für ein paar Hanseln und eine bestimmte Zeit. Wenn heute jemand so malt, ist er kein Informeller, sondern ein Epigone = Nachmacher. Abstrak t Ist, wenn man nicht erkennen kann, was es sein soll. Nicht ratsam, so zu malen, denn man kann nicht darüber reden. Und wer soll dann weitersagen, wie toll die Bilder sind? Gestus Ein Klassewort, das man so oft wie möglich ver116
wenden sollte. Es bedeutet, daß der Maler beim Pinseln die Hand bewegt haben muß und daß das jetzt irgendwie noch rüberkommt. D uk tus Dito. Galerie Wird entweder von der Frau eines Mannes, der anderswo Geld verdient, betrieben oder von einem Mann, der sechzig bis achtzig Prozent Provision nimmt, weiß, was der Kunstmarkt will, nämlich hauptsächlich Bruno Bruni, und der seinen Zweitvolvo mit Philipp Glass beschallt. Neu Als Vorsilbe vor einer Kunstrichtung immer gut. Im Gegensatz zu „Neo“, das inzwischen eher ins Abfällige spielt. Klassische Moderne Erkennt man daran, daß die Künstler tot sind. Surrealismus Lange Schatten, Schachbretter, extreme Perspektiven, berstende Leiber und Köpfe und lauter Dinge, die nicht zueinander passen wie Stuhl und Elefantenrüssel, Eisbein und Sauerkraut oder Vogelkopf und Frauenleib. Realismus Hat weniger mit der Abbildung von Realität als der Beschreibung ihrer unangenehmen Aspekte zu tun. 117
Die Abbildung der Wirklichkeit war eher ein Job für den Naturalismus Und der hatte nur am Rande mit der Romantik zu tun. Da mußte auch noch Gottes Anwesenheit mit rumflimmern. Phantastischer Realismus War schon da. Fehlt um so dringender noch Abstrak ter Realismus im Blödsinnsregister. Wer erklärt sich bereit? Futurismus Ist, wenn es aussieht wie Surrealismus, aber keiner ist. Manierismus War früher mal eine Kunstrichtung, ist heute aber ein Schimpfwort. O bjek t Wenn der Künstler nur wenig dran rumgemacht hat, dann nennt er sein Werk lieber nicht Skulptur, sondern Objekt. Figurativ Ist das, worüber der Journalist immer was zu schreiben weiß. Im Duktus der Figuration wird dann der Gestus der malerischen Gebärde sichtbar. Oder in der Figuration des malerischen Gestus der Duktus der Gebärde immanent. 118
Monochrom Sparsame, möglicherweise schwäbisch oder schottisch inspirierte Malweise. Zum Beispiel ein Schwarz-Weiß-Bild ohne Weiß. Ohne Schwarz wär’s nicht monochrom, sondern gar kein Bild oder Minimalismus Da erkennt man das Wesentliche gleich. Zum Beispiel, daß da nichts ist. Kubismus Ausgestorben. Wollte alles gleichzeitig sehen. Geht nicht. Hält keine Sau aus. Nicht auf Dauer. Impressionismus So vom Licht her aufgezogen. E xpressionismus Mehr vom Gestus her. Und vom Duktus. Pointilismus Pünktchen. Lauter Pünktchen. Jeder Analytiker weiß, daß anale Phase und zwanghaftes Verhalten miteinander zu tun haben. Barock Alle dargestellten Personen wohlgenährt. Biedermeier Vielleicht alle dargestellten Personen gut gekleidet? 119
Holländisch Ganz dunkel. Oder ganz hell. Oder beides. Aber nicht mit Impressionismus verwechseln. Antroposophisch Sieht aus, als hätte sich einem die Brille beschlagen und man würde deshalb schwindlig und depressiv. Und alle Farben sind ganz mild, weil sie nur homöopathisch dosiert werden. Environment So Objekte und Zeug und im Raum und nicht nur so ausgestellt, sondern, daß der Raum irgendwie auch eine Bedeutung hat. Oder zwei. Per formance Das, was sich arbeitslose Schauspielerinnen unter bildender Kunst vorstellen. Installation Environment. Vielleicht noch bißchen was K inetisch es dabei. Das heißt beweglich. Jugendstil Damals sollte alles Kunst sein. Ar t D eco Auch, aber vom Preis-Leistungsverhältnis her günstiger. Neue Wilde Expressionisten, bei denen es aber nicht so sehr auf 120
den Duktus und den Gestus ankommt, sondern mehr darauf, daß alle denselben pflegen. Fauves Alte Wilde. Tachismus Nolde, und weniger bunt. Konstruk tivismus Mit dem Lineal, Bauklötzchenfarben und einem großen Gähnen gemalt. Peronismus Kunstfremde Art von D adaismus Da wird nichts mehr ernst genommen, was zur Folge hat, daß sogar Leute mit Humor eine Freude daran haben können. Humor Ansonsten Fehlanzeige. Collage Im Schulunterricht zusammengestoppelte Hochglanzanzeigenschnipsel, die allesamt besagen, daß es mit der Welt irgendwie abwärts geht. Im wirklichen Leben alles, wenn man nur den Grips ausreichend scharf stellt. Graf ik Was der Zahnarzt kauft, wenn er den Namen kennt, und was Künstler, Drucker oder Galeristen reich macht, wenn sie nur die Null an der richtigen Stelle 121
weglassen. Nämlich an der offiziellen Auflagenzahl. Haptisch Möbel von Grieshaber. Original Alles, was der Künstler signiert hat. Fälschung Alles, was der Künstler zu signieren vergessen hat.
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Abklatsch und Damenwahl Künstlerhafte Leute
Wenn schon die Künstler möglicherweise nicht das Gelbe vom Ei sind, dann liegt auch der Verdacht bedrohlich nahe, daß diejenigen, die sich als Künstler fühlen, die so ein künstlerhaftes Gebaren an den Tag bzw. die Nacht legen, die sich künstlerischer als die Künstler aufführen, daß diese Leute nicht mal nicht dem Hahnentritt vom Nichtgelben vom Nicht-Ei entsprechen. Alles machen sie den Künstlern nach. Die Halstücher, die Schals, die Cordanzüge, die zu langen oder zu kurzen Haare, den entrückten Blick, die Gangart, Augenfarbe, Gestik, Mimik, und sie wollen alle nur das eine: auch irgendwie toll sein. Wehenden Mantels wollen sie einherschreiten, wollen auch sensibel sein, wollen auch den Rummel um ihre Person – wenn doch da nur einer wäre – degoutant finden, wollen auch mal Gefühle zeigen, den Sinn des Lebens kennen und mehr so auf die weiche Tour rumkommen. Man findet sie in allen Berufen, außer dem des Politikers, aber am dichtesten gedrängt kommen sie doch als Lehrer, Rundfunkredakteure, Heiratsschwindler oder Antroposophen daher. Wobei Antroposoph natürlich nicht direkt ein Beruf ist. Geht 123
aber schon in die Richtung. Also diese Leute möchten bei andern den Eindruck erwecken, sie seien Künstler, oder eigentlich Künstler, oder hätten so viel mit Künstlern zu tun, daß deren Wesen irgendwie auf sie abgefärbt habe. Sie üben sich in Toleranz, Frankophilie und Bartschattenpflege, sie finden nichts dabei, wenn ihre Frau sie mit einer Geliebten erwischt, schlagen ihr sogar gleich eine menage à trois vor, und sollte die Frau mal dasselbe versuchen, dann sind sie höchstens sauer über gewisse Stilfehler. Aber nicht grundsätzlich. Leider können sie nie an diesen Toscana-Workshops teilnehmen, weil das unter ihrer Würde ist. Sie sind bereits kreativ. Je einfacher sie gestrickt sind, desto eher rutscht ihnen der Satz heraus, das, was sie tun, sei doch eigentlich auch eine Kunst. „Hören Sie, so einen Bolzen hier da reinzupfriemeln, das kann nicht jeder, das ist irgendwo auch eine Kunst. Aber ja. Versuchen Sie’s mal.“ Von der Veloursjacke bis zum bernhardinerhaften Knautschgesicht ist ihnen nichts zu teuer und nichts abgefahren genug, damit nur ja die andern denken, sie seien Künstler. Seien auch toll. Und frei. Und sensibel. Und eigenständig. Und hätten Tiefe, Glanz und junges Gemüse im Bett. Das alles vermuten sie bei den Künstlern. Was für ein Mißverständnis.
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Saxualität ist machbar, Frau Nachbar Der Pop-Saxofonist
Er hat einen Schnurrbart. Und kein Abitur. Oder andersrum. Falls andersrum, dann hat er nach dem Abitur erst Saxofon gelernt. Und er leidet. Einerseits ist das Saxofon unter den Instrumenten nämlich das, was der Bauchtanz unter den Volkshochschulangeboten ist. Die Fortsetzung des Körpers mit anderen Mitteln. Mit Körper ist in diesem Falle nur das Geschlechtsteil gemeint. Und dann auch noch so anerkannt befreiungstechnisch. Das Saxofon ist irgendwie das Bekenntnis zur eigentlichen Sexualität. Ganz frei. So kann es passieren, daß der Saxofonist, trotz Schnurrbart und lateinamerikanischer Körpersprache, von den allerhennarotesten Frauen im Publikum zugrunde geschmachtet wird. Und die stehen dann nach dem Konzert um ihn herum und fachsimpeln, weil sie alle auch grad Sax anfangen, während ausgerechnet der Keyboarder, der sowas von null Ausstrahlung hat mit seiner birkenstockverdächtigen Restfrisur, dieses ganze junge Gemüse um sich hat. Und wenn der Saxofonist dann endlich die Emanzoschwalben los ist, sind die besten Päckchen schon mit dem letzten Roadie um die Ecke gezogen. Und dafür bläst man 125
sich die Seele aus dem Leib. Na, nicht direkt die Seele. Aber aus dem Leib schon. Sooo weit. Aber er leidet auch aus anderen Gründen. Er ist nämlich nie gemeint. Zwar ist das Saxofon im Pop das, was der blaue Umweltengel auf einer Müslipackung ist, nämlich ein Muß, aber es ist ganz egal, wer es spielt. Ist auch ganz egal, was er spielt. Es geht nur um den Klang. Vielleicht spielen deshalb alle Pop-Saxofonisten bis aufs Duidi-Duidi genau denselben Sermon? Weil sie sowieso nicht gemeint sind? Da hätten sie eigentlich recht. Intuitiv. Auch ohne Abitur.
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Batman konnte auch nicht fliegen Der Maler auf dem Land
Jeden neuen dunkelbraunen oder flaschengrünen Cordanzug muß er erstmal in langen Waldläufen ausbeulen, bevor er sich damit sehen lassen kann. Na, nicht direkt Waldläufe. Eher Gänge. Er neigt zu buschigen Augenbrauen und Achselschweiß. Der gehört aber irgendwie zu seinem bulligen Charme und hat seinem Charisma in diesem idyllischen Weindorf noch nicht geschadet. Die mögen ihn alle. Auch wenn er manchmal laut wird im Wirtshaus. Oder vielleicht gerade deswegen. Nichtmal die langen Haare nimmt man ihm übel und daß er nie eine Krawatte trägt. Höchstens mal ein Halstuch. Und seit die Haare grau werden, ist er sowieso eine Respektsperson. Das kommt vielleicht auch daher, daß er in der Bürgerinitiative gegen die Müllverbrennungsanlage für solchen Wirbel gesorgt hat. Oder von den Ausstellungen, die er jedes Jahr in der Volksbankfiliale der Nachbarstadt macht. Von seiner Kunst verstehen sie nichts. Wenn er es wieder mal nicht lassen kann und ein Bild vorzeigt, dann heißt es immer „Hmmm“ oder „Doch“, aber es sind liebe gute Leute. Einfache Menschen, aber 127
mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Er mag sie alle. Wenn sie zu ihm auf’s Amt kommen, dann ist das schon fast wie ein Familienbesuch. Aber sie kommen selten. Was hat ein Hiesiger schon in der Stadt auf dem Katasteramt verloren, wenn er nicht grad einen Weinberg erbt. Sein Traum ist eine Kneipe mit Galerie und Weinladen. Und ein neuer Citroën. Aber sowas ist mit BAT IV nicht zu machen. Und mit Malerei schon gar nicht.
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Wozu braucht man Kunst?
Das ist eine gute Frage. Sie ist sogar so gut, daß man sie seit Jahrzehnten mit nicht nachlassender Begeisterung immer wieder stellt und immer wieder beantwortet. Und dann wieder stellt. Und dann wieder beantwortet. Undsoweiter. Will man wissen, wozu man etwas braucht, dann fragt man sich am besten zuerst einmal, was es ist. Eines ist die Kunst mit Sicherheit, nämlich der Versuch einer Annäherung an sich selbst. Sie ist also weitgehend dazu da, herauszufinden, wozu sie da ist. Ein seelisch-gedankliches Perpetuum mobile. Darüber hinaus ist sie auch in der Lage, den Satz „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ zu erhärten. Und wenn nicht in jedem Falle mehr, dann doch immerhin etwas anderes. Die Theaterpremiere ist auf jeden Fall etwas ganz anderes als das, was sich der Autor unter seinem Stück plus ein paar Schauspielern und einem Publikum vorgestellt hat. Ja, überhaupt ist Kunst immer anders, als irgend jemand sie sich vorgestellt hat. Zwar ist die darstellende Kunst so etwas ähnliches wie die Fortsetzung des Fußballs mit anderen Mitteln und für ein anderes Publikum, aber selbst der Fußball be129
zieht einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Reizes aus der Möglichkeit überraschender Wendungen. Bei der bildenden Kunst ist die Sachlage anders. Das Kunstwerk ist vom Volumen her gesehen nicht in jedem Falle mehr als die Summe seiner Teile, bei der klassischen Bildhauerei sogar garantiert immer we nig e r, aber es ist dafür mit hundertprozentiger Sicherheit mehr we r t. Wenn ein Maler den anteiligen Farbenpreis, Miete, Heizung, Versicherungen, Leinwand und Meisterstunden nimmt, kommt er nie auf einen grünen Zweig. Der Bildhauer, der sich Klotz, Platzmiete und Behandlungskosten der Staublunge bezahlen läßt, ist allenfalls ein Steinmetz in Friedhofsnähe. Nein, die Kunst ist der Inbegriff des Mehrwerts. Und zwar des ständigen. Sie steigt ständig im Wert, und wenn sie das nicht tut, ist es keine Kunst. Leider. Eine interessante Variante stellt das Taschenbuch dar. Es ist weniger teuer als das gebundene, aber beim Buch liegt der Wert ja ohnehin mehr im Ideellen. Jedenfalls für Autor und Leser. Die Verlage, Buchhandlungen und Antiquare sehen das wieder anders. Und beim Film, der ja auch irgendwo ein Kunstwerk ist, stellt sich die ganze Sache umgekehrt dar. Da müssen die vielen kleinen Teile, nämlich die Kinokarten der Besucher, erstmal die Summe des Ganzen, nämlich die Millionen für die Herstellung, einspielen. Aber um nicht in unscharfe Trennungsversuche abzuschweifen, wenden wir uns lieber wieder der 130
eingangs gestellten Frage zu. Wozu braucht man Kunst? Die Künstler selber sehen das, wie so ziemlich alles, ganz anders als ihre Benutzergemeinde. Während der Käufer eines Bildes entweder eine Lösung für den häßlichen Fettfleck an der Wand sucht, oder das Problem hat, daß sein Auto nicht ins Wohnzimmer paßt, oder ihm gar die absolut lächerliche Ertragserwartung eines festverzinslichen Wertpapieres den Schlaf stiehlt, glaubt der Maler steif und fest, die Aufgabe, die er sich mit diesem Werk gestellt hat, nämlich Interferenzen, Durchdringungen und Rückbezüge im farblichen und haptischen Strukturwettstreit darzustellen und somit eine Art offenes Bild, das sich quasi selber fortzeugt, zu schaffen – diese Aufgabe nun, glaubt der Künstler, interessiere den Mann. Oder er sei wenigstens fasziniert von etwas, das ihn anspreche, das er aber nicht direkt jetzt so in dem Sinne exakt beschreiben könne. Pfeifendeckel. Der Mann hat ein Bild gebraucht, aus welchem der oben angeführten Gründe auch immer. Und in der Musik? Hat Stockhausen eine Ahnung davon, daß es Leute gibt, denen sogar der Bundespresseball einfach zu vulgär ist, und wo soll man denn dann bittschön noch hin mit der Toga von Gaultier? Ach, es ist eine bittere Wahrheit – aber wie Medizin deswegen um so heilsamer –, daß Kunst meistens dazu dient, irgend jemand von irgend jemandes Irgendwiesein zu überzeugen. Meist sogar ein und dieselbe Person. Und in jedem Fall den 131
Künstler. Im allgemeinen glauben die Künstler gern daran, ihre Arbeit habe so was von seelischer Hygiene, Gewissen der Nation, utopischem Entwurf und derlei Mißverständnisse mehr, dabei liest man gemeinhin das Buch aus Gründen einer Bahnfahrt, eines Urlaubs oder schlichten Mitredenkönnens, hört den Telemann, weil Sonntagmorgen ist und das Frühstück ohne einfach nicht so runtergeht, verschickt die Yves-Klein-Postkarte einfach wegen der Lieblingsfarbe oder den Caravaggio, weil der auch schwul war. Weil den Künstler, sensibel wie er ist, hin und wieder so eine Ahnung beschleicht von dieser beschämenden Einfachheit der Welt, tut er alles dafür, diese Welt komplizierter zu machen. Oder wenigstens niemandem zu verraten, wie einfach sie ist. Und wozu braucht man jetzt die Kunst? Man braucht sie einfach. Nein, nicht einfach. Man braucht sie kompliziert.
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Ebbe in der Minibar Hinter der Bühne
So ähnlich wie im Fernsehapparat, hinter dessen beeindruckenden Bildern lauter banaler elektronischer Krimskrams miteinander verkabelt und verlötet ist, so ähnlich wie hinter der Theaterkulisse, wo Kabelrollen, Tischbeine, die vergessene Taschenlampe des Inspizienten und der Pelzmantel des Dorfrichters Adam für den vierten Aufzug den Zauber der Ereignisse vorn konterkarieren, und so ähnlich wie hinter der Konzertbühne, wo der Hausmeister mit gebrochenem Wadenbein liegt, weil er in den Geigenkasten dieser schusseligen Japanerin getreten ist, während draußen der Geist von Bruckner tobt – so ähnlich ist hinter den Bühnen alles ganz anders, als die Legende zu wissen vorgibt. Der deutsche Rockstar zum Beispiel, eben frisch geduscht vom Tourneeleiter persönlich aus dem Crest-Hotel abgeholt, findet nicht etwa eine schimmeräugige Nena oder Kim Wilde, die er schon immer mal aufs Waschbecken setzen wollte, in der Garderobe vor, sondern diesen jungen Reporter mit der naßforschen Tour, der ihm als erstes eröffnet, er habe die Platte noch nicht anhören können, 133
sie liege erst seit vorigen Mittwoch auf seinem Schreibtisch, aber er wolle eh nicht so auf die Musik raus, sondern mehr so … Oh Mann, schon wieder diese Frage, denkt es im Kopf des Stars, während der Reporter noch mit der Aussteuerung seiner Nagra-Tonbandmaschine kämpft. Diese Pisser mit ihrem Politgewäsch. Was würde Keith Richards in so einem Fall sagen? Er würde sagen: „l’m fucking not interested in that bullshit.“ Aber wie soll man das übersetzen? Ich bin fikkend nicht interessiert in diesem Bullenscheiß? Wieso greift der Bodyguard nicht ein? Der kann morgen wieder in seiner Imbißbude anfangen. „Allright, Okay, Mann, hör zu, ich hab jetzt direkt’n Gig zu spielen, ja? Die Kids haben Anspruch auf meine totale Power, und du fragst mich, was in Ostrheinordfahlen oder so los ist. Da muß ich jetzt echt passen. Verstehst du? Mentale dings, äh, mentale Checkung ist jetzt angesagt. All diese Leute hier und ja und echt du, ich finde, du solltest morgen bei CBS anrufen, die können dir da locker weiterhelfen, du voll, du, total, überhaupt kein Problem …. was? Wann ich zum letztenmal ein Buch gelesen habe? Walli. Wa l t e r !!! Der Herr hier möchte gehen. Ja, flott. Sehr plötzlich. Und der Herr möchte auch seine Tonbandspule hierlassen, ja, und er möchte auch den Verzehr am Büffet bezahlen. Sind wir soweit Jungs? Können wir? Geil! Here we go. Sie wollen’s. Sie werden’s kriegen. Rock ’n Roll ! …“ 134
Und in der Garderobe der Philharmonie dreht der Hornist sein Horn in der Hand und läßt den bei der Probe angesammelten Speichel in die Tasche mit der Kolophoniumsammlung des arroganten Franzosen tropfen. Der Trompeter zählt vor dem Spiegel seine frisch geplatzten Äderchen und nimmt sich vor, jetzt endlich auf Weißwein umzusteigen. Die verschnupfte Harfinistin sucht verzweifelt nach dem Stapel Tempotaschentücher, den teils der virile Klarinettist mit auf’s Klo genommen und teils zwei Mädchen aus der ersten Reihe des Chors für die Restauration ihrer Schminke und das Ausstopfen ihrer Blusen entfremdet haben. Der wichtigste, weil noch ungelesene Teil der Sportseiten des Schlagwerkers geht gerade in der Kabine neben dem Klarinettisten als Jointpapier der drei Amis aus der ersten Geige in Flammen auf, und eine der Flötistinnen jault laut beim leisen Knirschen ihrer Kontaktlinse zwischen Boden und Sohle. In der Ferne verklingt die Sirene eines Rettungswagens, und niemand sieht dem unergründlich lächelnden Gesicht der Frau Shogushi ihre Wut über den zertretenen Geigenkasten an. Als die Gattin des Dirigenten auf dem Flur in die Hände klatscht und zwitschert: „Wir müssen wieder, meine Damen und Herren, die Pflicht ruft“, geht ein Stöhnen durch die Münder, ein Ruck durch die Körper und eine resignative Brucknerverachtung durch die Seelen des Orchesters. Und die Hoffnung, der Hotelservice möge die Minibar nachgefüllt haben. Oder die Monatsbinde im Klo bezie135
hungsweise den Handtuchdiebstahl nicht bemerkt. Der Liedermacher verflucht seine Idee, mal wieder so ganz nah an der Basis zu spielen und eine Clubtournee zu machen, weil es keine Garderobe gibt und er nun die gefatzte Saite ersetzen muß unter lauter Helgas, „Du weißt doch noch – Sprockhövel“, lauter Winfrieds, Pauls, Sabines und Susannes, die ihn alle noch von damals kennen, und denen er, wenn man’s mal genau nimmt, seine Karriere verdankt, weil sie doch seinerzeit unentgeltlich Plakate geklebt, ihn zu einem Stadtfest eingeladen, seine Platte gekauft oder ihm nachts um zwei noch ihr Aerobic-Studio gezeigt haben. Und da er seit Jahren das Gerücht gestreut hat, er halte nichts von dem Rummel um seine Person, sei ein ganz normaler Mensch, quasi ein Star zum Anfassen, erinnert er sich jetzt geduldig eines jeden der Gesichter. Und fürchtet sich vor dem langen Tisch nachher in der Pizzeria. Im Stadttheater geht Ophelias Anwalt mit ihr nochmal die Scheidung durch, während Güldenstern sein Augenbrauentoupet wieder buschig zupft, Hamlet sich ein Derrick-Drehbuch reinzieht und Rosenkranz Laertes eine Lebensversicherung verkauft. Der einzige, der glaubt, etwas vom Wehen des Geistes der Kunst zu verspüren, ist der Anwalt. Aber er täuscht sich, es ist das Wehen des Mantels des Geistes von Hamlets Vater, den der Inspizient gerade noch rechtzeitig aus der Reinigung gekriegt hat. 136
Man kann also sagen, hinter den Bühnen triumphiert die Wirklichkeit. Aber da der Kunst ja alles Wirklichkeit ist, muß man den Begriff ein wenig eingrenzen. Es triumphiert nicht die Wirklichkeit, von der auf den Bühnen meist die Rede ist, also die der sinnlichen Eruptionen, dramatischen Verstrikkungen, sensiblen Durchdringungen und geistesklaren Entlarvungen, sondern ihre kleine Schwester, die Wirklichkeit auf dem Fußpilzniveau, der man eigentlich mit all dem Aufwand für wenigstens einige Augenblicke entrinnen wollte. Manchmal sogar, indem man sie deutlich schilderte.
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Do the Lortzing, do it now Der schwarze Sänger
Den schwarzen Sänger gibt es in der klassischen Musik nur als Frau. Männlicherseits malen sich die Othellos immer noch mit Schuhcreme an und haben einen Namen, der einfach mehr Leute ins Theater zieht. Dafür kommt er im Soul recht häufig vor, der schwarze Sänger, im Funk, im Jazz, im Blues und im Rap. Obwohl, beim Rap handelt es sich nicht eigentlich direkt in dem Sinn um Gesang, eher um das, was man in den letzten Jahren einen Frontman nennt. Aber der ist schwarz. Das gute beim Soul ist, daß man ihn hundertprozentig am schwarzen Sänger erkennt. Je weißer die Anzüge und breitkrempiger der Hut, desto höher sein Falsett und teurer die engagierten Streicher. Und je verspiegelter die Sonnenbrille, desto eher kann es vorkommen, daß der Sänger, wie damals James Brown, „Gotta, Gotta, Gotta“ kreischt, wenn sich die Band mal wieder in den Vordergrund zu spielen versucht. Wenn er auf Tournee geht, dann schläft die Band in einem anderen Hotel und die Ersatzband in einem dritten. Und erst im nächstschlechteren dann die Techniker und Roadies. Wenn der schwarze Sänger dick geworden ist, sattelt er um 138
auf Produzent oder versucht es doch mit der Othello-Schiene. Oder er vermietet seine Villa in Bel Air. Wenn der schwarze Sänger keinen Soul, Blues, Jazz, Funk oder Rap singt, dann heißt er entweder Prince oder Michael Jackson. Ist aber dann auch nicht mehr schwarz. Oder Roberto Blanco.
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Spaß muß sein Der Blechbläser
Wenn ihn jemand nach seinem Beruf fragt, antwortet er ganz spezifisch mit Trompeter, Posaunist, Hornist oder Flötist. Würde er einfach den Sammelbegriff Blechbläser verwenden, dann wäre er nie vor den Witzbolden sicher, die es nicht halten können: „Ach, dann blasen Sie mir doch mal einen schönen Kanister. Und ein paar Messingaschenbecher könnt ich auch noch gebrauchen.“ Ha, ha. Es ist so schon schlimm genug, wenn er Hornist oder Posaunist sagt. „Hornist, ist das nicht ein gefährliches Insekt? Oder ein Frauenberuf im kirchlichen Pflegedienst? Ach nein, das war die Diakonisse.“ Ha, ha. Und: „Gibt’s ne extra Sauna für den Po?“ Ha, ha. Es ist zum Auswachsen. Niemand sonst ist so sehr dem Humor seiner Umgebung ausgeliefert wie der Blechbläser. Dabei ist er ein ganz normaler Mensch. Sein Weg zur Musik war eher dörflich geprägt, und seine Interessen sind die eines ganz normalen Menschen. Fußball, Eisenbahn, Garten, Wandern, Basteln, Briefmarken, ganz normal. Auch vom Körperlichen her tendiert er zur Mitte, zu seiner eigenen, also der Gegend um die Hüfte herum. Das liegt daran, daß er gern ganz normales 141
Essen zu sich nimmt, in ganz normalen, das heißt, recht hohen Mengen und in ganz normalen Gasthäusern, wie dem Sportheim des TV, dem Löwen, dem Bären, dem Hirschen und der Rose. Er trägt einen ganz normalen Schnurrbart und fährt einen ganz normalen Peugeot. Was also veranlaßt die Leute, ihn immer wieder anzuwitzeln? Ist es die Tatsache, daß er seinen Beruf nicht mehr im Trachtenjanker, sondern im Frack ausübt? Denken die, er hält sich für was Besseres? Oder liegt es daran, daß er selber kein Kind von Traurigkeit ist? Daß er selber mal ganz gern einen Witz macht oder zwei. Aber das heißt doch noch lange nicht, daß Gelächter auf seine Kosten unbedingt eine Leidenschaft von ihm sein müßte. Das wär doch Masochismus. Das wär doch nicht normal.
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Künstler und …
Politik Alte Feindschaft, und wenn nicht, ist es auch nicht recht. Buch Der Schauspieler liest schon mal eins. Aber Weltliteratur, große Themen, klar, und nicht zu viel, schon wegen der dauernden Umzüge. Der Schriftsteller muß ja, aus Konkurrenzgründen. Der Musiker wartet auf den Film, außer wenn sein Dichterfreund quengelt, wie es ihm denn gefallen habe. Der Maler kommt zwar mehr vom Akustischen her, aber schon mal Schwitters oder Boris Vian. Klar. Tänzer und Designer haben ein paar Bildbände. Mehr geht nicht, sonst ist die klare Linie der Einrichtung hin. Kollege Aber ja. Doch. Muß ja nicht grad einer sein, der dasselbe macht. K ritik Die Kritik hat oft recht. Aber die besten Leute versagen mal, wenn es um einen selber geht. 143
Stipendium Ja, wenn’s den Richtigen trifft. Aber diese Pfeife da, der Dings, kann mir nichtmal den Namen merken, der diesen subalternen Schickischeiß produziert und sowieso in Geld schwimmt, also ausgerechnet der braucht doch nicht auch noch … Liebe – ak tiv Die Schlechtesten behaupten, ihre große Liebe sei die Kunst, die Besseren sagen, zu lieben sei eine größere Kunst als das, was sie tun, und die Besten fragen, was das sei, Liebe. Liebe – passiv Aber nur. Sind halt interessante Leute. Irgendwie frei und so. Und sensibel. Eben nicht so wie Vincent Normalverbraucher oder Anne-Sophie Müller. Muskeln Fehlanzeige. Haarlänge Extrem kurz, extrem lang oder extrem was dazwischen. T ier Katze. Ganz klar. Höchstens Hund. Aber schon bei Pferd wird’s problematisch. Das ist dann schon Utta Danella. Schönheit Alles ist schön. Muß man nur richtig hinsehen. Oder richtig verkaufen. Oder die richtige Erklärung dazu schreiben. 144
Geschmack Fehlanzeige. Keine Kapazitäten mehr frei. Geht alles in die Arbeit. Wohnen Kraut und Rüben beim Maler, gähnende Leere beim Schauspieler, kühle Eleganz beim Musiker und Wände voller Bilder beim Schriftsteller. Alle geschenkt, keins gekauft. Und vor allem keins verstanden. Auto Kein Opel, kein Japaner und besser nicht so neu. Schick sal Eine Hand wäscht die andere. Der Künstler macht dem Schicksal die Freude, noch an es zu glauben, und dafür gibt es ihm vielleicht noch ein paar Chancen mehr. Intellek t Hmmm. Müßte man echt mal forschen. Ist vielleicht ein Zusammenhang zu finden. Man muß ja nicht gerade bei den Musikern, Malern und Schauspielern anfangen. Religion Steht man meistens drüber. Hat man zuviel Einblick. Ist eher was für Leute mit Freizeit. Got t Siehe auch „Kollege“. Man kennt sich, man respektiert sich, man geht sich aus dem Weg. 146
Wohlfeil ist nicht gut geschliffen Der wahre Künstler
Für ihn ist das Wort „Künstler“ keine Berufsbezeichnung, sondern eine Art Adelstitel. Das Wort, das er am meisten liebt, bezeichnet den Zustand, den er am meisten haßt: wohlfeil. Der wahre Künstler lebt nicht von seiner Kunst, sondern für sie. Seine Frau arbeitet als Pharmareferentin bei Boehringer-Ingelheim, und er hat schon zweimal den Hörspielpreis der Kriegsblinden bekommen. Oder bekommt ihn demnächst. Falls er bis vor kurzem noch jung war, hat er eine Sammlung von Independent Platten, die allesamt in einer garantiert limitierten Auflage von höchstens zwölf Exemplaren auf dem Markt sind. Oh, da ist schon wieder eins dieser Worte: Markt. Da schaudert’s ihn so, daß er die linke Augenbraue bis fast zum Haaransatz hochkriegt. Das ist jetzt keins dieser Worte. Nein, nicht Haaransatz, oder, von ihm aus, wieso nicht auch Haaransatz? Es ist jedenfalls keins dieser Worte, die ihm unangenehm sind. Wenn der wahre Künstler ein Maler ist, dann trägt er Schwarz und leiht sich extra eine Handvoll Schuppen für die Vernissage. Und dort besäuft er sich dann und lacht dröhnend und mit Tränen in den Augen, bis auch 147
der letzte der sieben Besucher, die seine Frau herbeigeredet hat, flieht. Ist der wahre Künstler ein Schriftsteller, dann trägt er Schwarz, liest Philosophie, aber nur, was allgemein als unlesbar gilt, hat die Orthografie längst überwunden und ist seiner Zeit so weit voraus, daß er immer zwanzig Jahre dazuzählen muß, wenn er auf die Uhr sieht. Die Uhr ist teuer. Von seiner Frau. Den wahren Künstler gibt es nicht als Musiker. Die Frau braucht Ruhe, wenn sie abends von einem anstrengenden Arbeitstag von Boehringer-Ingelheim nach Hause kommt. Experimente mit Wellenrauschen oder Vogelgezwitscher wären dem wahren Künstler als Musiker zu kommerziell, und sie hat keine Lust, ihm beim Zusammenschneiden von Schlachthausgeräuschen, Explosionen und rückwärts abgespielter Gamelan-Musik zuzuhören. Vorwärts wäre sie schon viel zu kommerziell. Wenn ein Musiker sich für einen wahren Künstler hält, dann täuscht er sich. Ein wahrer Künstler würde nie so viele Subventionen einheimsen und bekäme auch nicht demnächst eine Professur. Da steht der wahre Künstler nämlich meilenweit drüber. Beziehungsweise schwebt. Der wahre Künstler ist fast nie eine Frau. Das spricht mal für die Frauen. Ist auch klar: will denn ein Marketingleiter bei Boehringer-Ingelheim vielleicht auch noch die Wohnung aufräumen, wenn er abends müde und abgespannt nach Hause kommt?
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Stichworte Literatur
Roman Geschichte, die länger ist als eine Er zählung, was wiederum eine Geschichte ist, die länger als eine Kur zgeschichte ist, die sich ihrerseits nicht mehr sehr deutlich von dem unterscheidet, was man dann hilflos nur noch Prosa nennt. Aber dann ist wiederum alles außer Lyrik Prosa. Oder vieles. Zum Beispiel ein Roman, eine Erzählung, eine Kurzgeschichte undsoweiter. Das beißt sich irgendwie selber in den Schwanz. Gedicht reimt sich manchmal und hat einen gewissen Rhy thmus Das ist beim Schreiben eine Art von Impulsornamentik und hat richtige wissenschaftliche Namen. Trochäus, Jambus, Daktylus und Hexameter. Klingt 149
alles wie Krankheiten im Halsbereich. Entgegen anderslautender Behauptungen kommt Rhythmus in echt innovativer Lyrik nicht vor. Dieser Mangel wird kaschiert, indem man die Formlosigkeit eben „Freien Rhythmus“ nennt. Das ist schlau und hat einen gewissen Witz. Es ist aber leider über weite Strecken auch das einzige, was in echt innovativer Lyrik schlau ist oder einen gewissen Witz hat. Dafür gibt es aber auch keine Reime. E xperimentell ist alles, was dem Autor, aber nicht seinen Lesern gefällt. An diesem Satz stimmt was nicht. Wenn es ihnen nicht gefällt, lesen sie es ja nicht, und dann sind sie auch nicht seine Leser. Und dann wissen sie auch nicht, ob es ihnen gefällt oder nicht. Solche Sätze aufzuspüren ist der Job von Lek toren Das sind die Pfuschdetektive, die, weil sie selbst nicht schreiben, wissen wie’s geht. Das klingt auch nicht voll logisch. Den Satz könnte man nochmal ansehen. Ließe sich vielleicht noch bißchen griffiger ausdrücken. Sollten wir vielleicht noch mal bei der Fahnenkorrektur dran denken. Modern Siehe experimentell. 150
Thriller Spannende Geschichte. Kommt aus England, Amerika oder sonstwoher, aber nur selten aus Deutschland. Ist auch meistens keine Kunst, sondern bloß Lek türe, die leichtfertige kleine Schwester der richtigen Literatur Das Wort haben wir ja ganz vergessen. Man erkennt Literatur daran, daß es eher ungewöhnlich wäre, sich in die Hose zu machen, weil man einfach vergaß, auf’s Klo zu gehen. Eher vor Betroffenheit oder Ehrfurcht. Glosse Ist zum Schmunzeln Das ist das, wodurch der anspruchsvolle Mensch das laute Lachen ersetzt. Das ist nämlich unliterarisch. Drehbuch Dazu muß der Autor nicht schreiben können, sondern nur Ideen haben. Und damit sollte er’s auch nicht übertreiben, wenn er für’s Fernsehen schreibt. Das ist dann auch die Endstation seiner 151
Träume aus der Jugendzeit im schwarzen Nicki, als es noch ums Aufrüt teln ging. Das ist inzwischen mehr so für Journalisten, die allerdings früher auch mal „richtig“ schreiben wollten. Nicht bloß ein Sachbuch nach dem andern. Obwohl damit das Geld verdient wird, das der Schriftsteller ansonsten von seiner Frau, seinem Erbe, seinem Hauptberuf oder Stipendium hat. Oder er muß jedes Jahr irgendwohin als Stadtschreiber gehen. Für ein ganzes Jahr nach PopelsdorfSchnarchenbüttel. Dort recherchiert er so lang, bis er endlich eine nennenswerte Nazivergangenheit ausfindig gemacht hat, hofft, daß ihn die Schläge der örtlichen Reps auch in die Schlagzeilen der überörtlichen Presse bringen. Vom Rundfunk allein kann man auch nicht leben. Weil dort schon jede Menge Redakteure sitzen, die einst einen schwarzen Nicki trugen und Flausen im Kopf hatten. Man müßte halt mal eine Reise für’s 152
Go ethe - Institut machen dürfen. Da liest man den Negern, Indern und Chinesen vor, klaut sich eine respektable Handtuchsammlung zusammen und paßt auf, daß man kein Aids kriegt. Und zu Hause kann man dann einen Ar tikel (bringt nichts, außer Lehrerlob, und wer braucht schon Lehrerlob) oder einen Essay, das ist ein Versuch, also man probiert mal, ob man was zu dem Thema weiß, oder ein Feature, das wird dann vom Radio ins Nichts gesendet, oder vielleicht sogar ein Buch, oh ja, ein Buch, noch eins, die Leser warten schon, die Buchhändler erzittern vor dem Ansturm der Ungeduldigen, die Kritiker möchten endlich mal wieder was richtig Gutes besprechen … also, jetzt haben wir den Faden ein wenig verloren. Wo waren wir stehengeblieben? Was wollten wir mit all den Artikeln, Features, Essays und Büchern? Ach, da ist es ja, wir wollten sie schreiben Das ist einfach das Nonplusultra. Das bringt’s doch nun am meisten. Doch echt. Total. Voll total eh. Da 153
kann man sich echt so volle Suppe ausdrücken. So geil. Echt. Du. Ehrlich, Wahnsinn. Sollt’ste vielleicht auch mal testen. Und Deutsch kommt auch tierisch gut. Voll gute Sprache. Geht ab wie Harry. Wenn man’s gerafft kriegt und irgendwie vom Ding her … also wenn man drauf kann … äh … alsooo … hm, hmmmm, testing, one, two, testing, one, one … ist das Ding hier überhaupt an? Hört ihr mich da draußen? Bzw. lest?
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Salz ins Tote Meer Ein Herz für Künstler
Natürlich sind Künstler unnötig. Aber nicht viel unnötiger als andere Menschen auch. Und immerhin machen sie sich Gedanken darüber. Oder mindestens reden sie davon. Oder stellen es dar. Oder geigen es in die Welt hinaus. Klagend, jubelnd, verhalten oder als Frage. Sie geben ihr Bestes. Können sie was dafür, daß der Rest der Menschheit es meist nicht haben will? Oder für etwas ganz anderes hält? Sie sind nur unzureichend entschädigt mit dem bißchen Glanz, Magie und Charisma, das man ihnen nachsagt. So, wie die Künstler an der Welt leiden, ist es nur gerecht, daß die Welt auch ihr Fett abkriegt. Von ihnen. Entweder in Form einer Schimpfkanonade, eines Gegenmodells oder des guten alten Spiegels, der ihr gnadenlos vorgehalten wird. Und wenn die Künstler nicht die Welt retten, wem fällt denn das schon auf? Ist außerdem nicht mal bös gemeint. Das darf man nicht so eng sehen. Das kann nämlich jedem passieren. Seien wir doch mal ehrlich: Jeder von uns ist schon mal dabei erwischt worden, wie er gerade die Welt nicht gerettet hat. Stimmt’s etwa nicht? Und die Künstler machen sich 155
wenigstens Gedanken darüber. Oder reden davon. Oder geigen es in die Welt hinaus. Dafür muß man sie doch irgendwo ein ganz klein bissel gern haben. Irgendwo. Muß ja nicht grad in den eigenen vier Wänden sein. Oder nicht dauernd.
Woran erkennt man Künstler? Und warum ist das so leicht? Weil Künstler auch Menschen sind, nur irgendwie intensiver, oder tiefgründiger. Ganz großartige Leute, doch, ganz toll, irgendwie … Oder was glauben Sie?
ISBN 3 407 30546 X