Fred McMason
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Fred McMason
Seewölfe 229 1
Das Gesicht des Kutschers war ernst, als er zum Achterdeck aufenterte und eine Kanne Tee mit Rum hinaufbrachte. Ein wenig umständlich füllte er zwei Mucks und reichte eine dem Seewolf und die andere Ben Brighton Dann stand der schmalbrüstige Mann, der Feldscher und Koch an Bord der „Isabella“, der sich selbst Kutscher nannte, nervös an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und knetete seine Finger. Sein Blick war besorgt in die Ferne gerichtet, aber da gab es nichts zu sehen als das weite, endlos scheinende Meer und die Sonne, die gleißende Strahlen in die Dünung warf. Die „Isabella VIII.“ hob und senkte sich im ewigen Rhythmus dieser langgestreckten Wellen. Sie glitt schnell und mit stark geblähten Segeln unter vollem Preß dahin, ließ sich von der Dünung in die Höhe heben, ritt elegant über sie hinweg und ließ sie achteraus als blasigen Streifen zurück. So ging das jetzt schon tagelang, länger als eine Woche, und es schien, als würde dieses ewige Auf und Ab niemals mehr unterbrochen werden. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf genannt, trank den kalten Tee in kleinen Schlucken, bis die Muck leer war. Dann seufzte er behaglich und gab die Muck dem Kutscher zurück. Der füllte sie wortlos und reichte sie an den Rudergänger Pete Ballie weiter, der die „Isabella“ auf Kurs hielt. Immer noch stand der Kutscher herum, aber der Seewolf hatte sein merkwürdiges Gebaren längst registriert. „Was ist mit dir, Kutscher?“ fragte er. „Dich bedrückt doch wieder mal etwas.“ „Ja, Sir, es ist der alte Seemann, dieser Jonny. Du solltest ihn dir einmal ansehen.“ Hasards Gesicht verdüsterte sich. „Was ist mit ihm?“ Der Kutscher wirkte ratlos und zuckte mit den Schultern. „Ich verstehe es nicht, aber hin und wieder fühlt der alte Mann sich ziemlich wohl, dann sieht er aus, als würde er gleich an Deck erscheinen. Dann wieder ist es wie
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verhext, und ich habe Angst, daß er mir unter den Händen stirbt.“ Hasard blickte ausdruckslos in die Ferne. Seine blauen Augen waren auf die Kimm gerichtet, und er fragte sich, weshalb Jonny, wie der alte Seemann genannt wurde, einen Tag gesund und munter schien und am nächsten Tag schon wieder todkrank in der Koje lag. Sie hatten Johan Brad auf einer Insel des Chagos-Archipel kennengelernt, in einer üblen Hafenspelunke. Der alte Seemann war schamlos von Iren, Kneipenwirten und anderen Seeleuten ausgenutzt worden, und er hatte nicht die geringsten Aussichten, seine Heimat England je wieder zu erreichen. Die meisten Schiffe nahmen ihn nicht, weil er zu alt war, eine Passage aber konnte er nicht bezahlen, und als er dann Philip Hasard Killigrew und seinen Seewölfen begegnete, hatte sich sein düsteres Dasein schlagartig geändert. Er konnte aus der Spelunke ausziehen, wo er in einer winzigen dreckigen Kammer hauste, und sein Domizil mit der „Isabella“ vertauschen. Aber dann hatte es Streit gegeben, Iren und Seewölfe waren übereinander hergefallen, und ein Ire hatte Jonny mit dem Messer getroffen und ihn schwer verletzt. Als die Seewölfe die Insel verlassen hatten, wurde in der Seemannskiste des alten Jonny eine rätselhafte Seekarte gefunden. An dieser Karte rätselte man immer noch herum, und nur die Zwillinge waren in der Lage, die Schrift zu entziffern. weil sie aus orientalischen Schriftzeichen bestand. Diese Karte hatte Jonny von einem sterbenden Seemann erhalten, wie er versicherte. und diese Karte war zweifellos ein Hinweis auf einen versteckten Schatz, der sich auf einer der drei Maskareneninseln befinden sollte. Jetzt stand es also schon wieder so schlecht um den armen Kerl, dachte Hasard, und es war zweifelhaft, ob sie ihm seinen letzten Wunsch, England noch einmal, zu sehen, überhaupt erfüllen konnten. „Hat er eine Infektion, Wundbrand oder so etwas?“ fragte Hasard, als sein Blick von
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der Kimm zurückkehrte und sich wieder voll auf den Kutscher konzentrierte. „Nein“, sagte der Kutscher entschieden. „Weder das eine noch das andere. Er scheint eine komplizierte innere Verletzung zu haben, aber ich kann das nicht feststellen. Dazu müßte ich schon so ausgerüstet sein wie Doktor Freemont, und selbst unter den Umständen wäre es noch schwierig.“ „Nun verliere mal nicht den Mut“, sagte Hasard, der genau wußte, daß der Kutscher darunter litt, wenn es ihm nicht gelang, einem Mann helfen zu können. „Willst du ihn dir einmal ansehen, Sir?“ „Ja, sofort?“ Hasard wandte sich an seinen Bootsmann und Stellvertreter Ben Brighton, der die letzten Worte ebenso gehört hatte wie der Rudergänger Pete Ballie. „Ich gehe nach vorn, Ben, und sehe mir den Mann einmal an. Hoffentlich übersteht er es.“ Ben Brighton nickte. „Ich würde es ihm wünschen, seine Heimat noch einmal zu sehen. Der arme Teufel hat viel hinter sich.“ „Ja, das hat er ganz sicher.“ Der Kutscher hatte immer noch ein bekümmertes Gesicht und wirkte so ratlos wie vorhin. Zusammen stiegen sie den Niedergang hinunter zur Kuhl und durchquerten sie. Matt Davies und Ferris Tucker sahen ihnen nach, und der rothaarige Schiffszimmermann schüttelte betrübt den Kopf. „Es scheint ja immer schlimmer zu werden, wenn jetzt schon Hasard nach vorn geht.“ „Vorgestern war Jonny noch ganz fröhlich und fragte unseren Moses, wann wir denn in England seien. Anscheinend hatte er aber doch leichtes Fieber, denn er glaubt immer noch, daß wir uns schon ziemlich dicht vor der heimatlichen Küste befinden.“ „Hoffen wir, daß er es übersteht“, sagte auch Ferris Tucker und wandte sich schweigend seiner Arbeit zu.
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Hasard trat durch das angelehnte Schott in den dämmerigen Mannschaftsraum. Er mußte sich bücken, um nicht mit dem Kopf an den Plafond zu stoßen. Frische Luft gab es hier unten genug, stellte er fest, denn der große Raum mit den vielen Kojen war gut belüftet, und es war auch so hell, daß man keine Lampe brauchte. Das Lüften hatte Ferris Tucker schon heute morgen besorgt, damit die Räume nicht feucht wurden, damit frische Luft hineinkam. Hasard trat, dicht gefolgt von dem besorgten Kutscher, bis dicht an die hintere Bunk. Ein älterer, grauhaariger und etwas verwittert aussehender Mann lag darin. Seine Gestalt war unter der dünnen Decke schmächtig zu nennen, seine Arme lagen auf der Brust, und er schaute aus trüben, fieberheißen Augen zu den Brettern der oberen Bunk hinauf, in der der Moses sonst schlief. Man sah Brad den seebefahrenen Mann sofort an, dazu genügte ein einziger Blick, aber jetzt sah er erbarmungswürdig aus, und kleine graue Bartstoppeln bedeckten sein Kinn. Er versuchte zu lächeln, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen, und er verzog die Lippen eher etwas schmerzhaft. Hasard ergriff die heiße, schmale Hand des Mannes und legte die andere an seine Stirn. Sie war sehr heiß, aber auf* dem Gesicht stand kein einziger Tropfen Schweiß. Auch die Stirn war trocken. „Wie fühlen Sie sich, Mister Brad?“ fragte der Seewolf leise. Jonny versuchte leicht den Kopf zu drehen, aber selbst das mußte mit Schmerzen verbunden sein. „Ah, der Kapitän, Sir Killigrew“, sagte der alte Seemann mit schwacher Stimme. Dann begann er wieder zu flüstern, und dem Seewolf lief es kalt über den Rücken. „Sir“, hauchte er drängend, „kann man an Deck schon die englische Küste sehen? Ich fürchte, wir müssen uns beeilen, sonst werde ich sie nie mehr sehen.“
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„Noch nicht“, sagte Hasard. „Das wird noch ein paar Tage dauern, und so lange müssen Sie schon noch durchhalten, sonst wäre ja alles umsonst gewesen, nicht wahr?“ Heilige Seeschlange, dachte er, sie befanden sich noch mitten im Indischen Ozean und hatten den Atlantik zu überqueren, und selbst dann würden sie immer noch nicht die englische Küste sehen. „Wie geht es Ihnen, wie fühlen Sie sich?“ wiederholte er seine soeben gestellte Frage. Der Mann, der sämtliche Meere befahren hatte, und der auf eine ebenso harte Vergangenheit zurückblicken konnte wie der alte Donegal Daniel O'Flynn, winkte schwach mit der Hand ab. Seine Augen strahlten jetzt in einem fast übernatürlichen Glanz, und er sprach für kurze Zeit klar und deutlich. „Ich weiß es nicht, Sir, ich fühle mich schlapp, und in meinen Eingeweiden brennt es, als hätte ich Feuer geschluckt. Aber ich kann nicht einmal die Stelle bezeichnen, Sir“, fügte er klagend hinzu. „Lassen Sie einen alten Mann hier unten still krepieren, ich habe Ihnen seit meiner Ankunft nur Schwierigkeiten und Ärger bereitet. Ich möchte keinem zur Last fallen.“ „Sie fallen uns nicht zur Last, ganz im Gegenteil, Mister Brad. Wir werden alles tun, damit Sie bald wieder auf den Beinen stehen. Das ist nicht mehr als unsere Christenpflicht, und die erfüllen wir mit tausend Freuden. Aber Sie müssen den Willen haben, wieder gesund zu werden, und Sie dürfen sich nicht selbst aufgeben. Wenn Sie den Willen aufbringen, dann haben Sie den ersten Schritt zu Ihrer Genesung bereits selbst getan.“ „Glauben Sie, Sir?“ „Das weiß ich ganz sicher“, sagte Hasard. „Haben Sie irgendeinen Wunsch? Möchten Sie kühlen Tee trinken?“ „Nein, Sir, danke, ich habe keinen Wunsch.“ Jonny war sein Leben lang ein bescheidener zurückhaltender Mann
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gewesen, der hart gearbeitet hatte. Es war ihm peinlich, hilflos in der Bunk zu liegen, und es war ihm noch peinlicher, wenn andere ihn bedienten, und so hatte er nie irgendwelche Wünsche. England sehen, das war sein großer Wunsch, und gerade den konnte Philip Hasard Killigrew ihm vorerst nicht erfüllen, denn das war in keinem Fall machbar. „Haben Sie Schmerzen, wenn Sie sich bewegen?“ fragte der Kutscher, der bis dahin stumm im Hintergrund gestanden hatte. „Nicht mehr als sonst auch, es ist nicht so schlimm:' Der Blick seiner Augen trübte sich erneut, sein Gesicht wirkte jetzt wieder fahl und eingefallen, und er holte tief Luft. Der Kutscher ließ ihn nicht aus den Augen. Schon ein paarmal hatte er vermutet, daß die Lunge des Mannes vielleicht durch den Messerstich etwas abgekriegt hatte, aber die Anzeichen sprachen in keiner Weise dafür. Er konnte unbeschwert Luft holen, er hustete auch nicht, und er verkrampfte sich beim Atmen nicht. Er goß ihm aus der halbleeren Kanne, die er noch bei sich trug, ebenfalls eine Muck voll Tee und setzte sie ihm an die Lippen. Jonny trank nur einen winzigen Schluck. Danach wirkte er so erschöpft, als hätte er pausenlos gearbeitet. „Vielleicht würde ihm die Sonnenwärme gut tun“, sagte Hasard hilflos, „frische Decksluft, viel Sonne, das ist eine der besten Arzneien, die ich kenne.“ Der Kutscher sah den Seewolf geknickt an. „Ich weiß nicht einmal, ob wir ihn gefahrlos transportieren können, Sir. Er hat irgendwo eine innere Verletzung, aber ich finde das nicht heraus. Sicher hast du recht, Sir, Sonne und Wind täten ihm gut. Wir können es jedenfalls versuchen.“ Johan Brad schien die beiden Männer nicht zu hören. Sein Blick ging durch die Dielen der oberen Bunk hindurch, als sähe er schon den Himmel. Hasard blickte bedauernd auf dieses Häufchen Elend. Jeden erwischte einmal, dachte er, aber ihn hatte es aasgerechnet
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auf der „Isabella“ erwischt, ausgerechnet dann, als er wieder einigermaßen froh in die Zukunft blicken konnte. Hasard hätte diesen alten Mann gern an Bord behalten, wenn er gewollt hätte. Leichte Arbeit gab es immer, er hätte dem Koch helfen können oder dem alten Segelmacher Will Thorne, dem dieser Jonny auf irgendeine Art etwas ähnelte. Aber er wollte nicht, daß dieser alte Haudegen hier an Bord starb. Er mußte es ganz einfach überleben, und vielleicht schaffte er es ja auch. Er bückte sich nieder, und hob ihn vorsichtig aus der Koje. Er war erstaunt, wie leicht Jonny war, er hatte in den letzten Tagen stark abgenommen. „Geh voraus, Kutscher“, sagte er leise, „ich bringe ihn an Deck. Besorge eine Unterlage.“ „Aye, Sir, aber vorsichtig!“ „Wem sagst du das!“ Wie eine Puppe trug er den alten Seelord nach oben, und als er an Deck stand, die schlaffe Gestalt im Arm, da erstarrten schlagartig die Gesichter der Männer. Sie legten ihre Arbeit nieder, und rissen sich das, was sie an Kopfbedeckungen trugen, schnell vom Schädel. Der alte O'Flynn blickte aus starren Augen auf den Seewolf, dann blieb sein Blick an der Gestalt des alten Jonnys hängen, und er bekreuzigte sich. Hasard schüttelte den Kopf, und da erst sah er, daß die Männer erleichtert aufatmeten und sich auch Carberrys erschrecktes Gesicht langsam wieder entspannte. Der Kutscher hatte unter dem Großmarssegel ein schattiges Plätzchen bereitet. Hier war es hell und luftig, und hin und wieder fiel auch mal ein Sonnenstrahl hierher. Der Wind war warm, und er brachte auch ein wenig Kühlung, wenn er etwas härter blies, wie es seit einer halben Stunde der Fall war. Dann spürte man die Wärme nicht mehr so stark, und es war angenehm erfrischend. Hasard legte die leichte Last ab und bettete sie vorsichtig auf dem aus Säcken und Decken bereiteten Lager.
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Hier lag der alte Seelord bequem, besser als in der Koje, und er hatte Sonne, Schatten und auch Wind. Aber er lag da wie ein Toter und rührte sich nicht. Nur ab und zu öffneten sich ungläubig seine Augen, und dann starrte er in einen aus blauer Seide gespannten Himmel, und seine Lippen bewegten sich leise, murmelten Worte, die kein Mensch verstand. Es sah so aus, als würde er sich auf seine letzte große Reise vorbereiten, um sich vom größten aller Master persönlich anheuern zu lassen. * Die „Isabella“ lief weiter mit Dreiviertelwind durch blaugrünes, langdünendes Wasser. Das Leben an Bord ging weiter, die Arbeit nahm ihren Verlauf, und nur hin und wieder blickte jemand zur Kimm, ob sich da vielleicht schon Land zeigte. An diesem Novembertag fünfzehnhundertneunzig schien die Welt nur aus Wasser und Himmel zu bestehen, und man konnte glauben, auf der Welt gäbe es keine anderen Lebewesen mehr. Da war wieder diese einzigartige Weite, die Unermeßlichkeit der Natur, die Elemente, die ruhig und friedlich gestimmt waren, und trotzdem lag in der Luft eine leichte Beklemmung. Vielleicht hing das mit dem alten Seemann zusammen, vielleicht lag das auch an etwas anderem, das hätte auf der ,Isabella“ niemand definieren können, aber etwas lastete über dem Schiff, das in vollendeter Harmonie seine Bahn durch das Wasser zog. Die einzigen, die sich unbeschwert gaben, waren die zehnjährigen Zwillingssöhne des Seewolfs, Hasard und Philip. Sie mochten den alten Seemann, und sie warfen auch hin und wieder einen verstohlenen Blick nach ihm, der wie tot auf den Decken lag und in den Himmel über sich starrte.
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Aber die beiden spürten es nicht so wie die anderen. Sie waren noch zu jung dazu, ihnen fehlte dieses Gefühl noch. Vor zehn Jahren waren sie geboren worden, und sie unterschieden sich nur durch eine Kleinigkeit. Das war das eintätowierte Symbol eines Haifisches. das Hasard auf der rechten, und Philip auf der linken Schulter trug; ein unauslöschliches Mal, das ihnen ein Schuft und Gauner eingeritzt hatte, ein Schnapphahn namens Keymis, der im gefräßigen Rachen eines Hammerhais gelandet war. Beide trugen nur ihre Leinenhosen mit dem Schiffsmesser im Hosenbund. Ihre sonnenverbrannten Oberkörper waren nackt, und sie gingen mit Feuereifer ihrer aufregenden Lieblingsbeschäftigung nach, die darin bestand, auch das letzte Rätsel dieser mysteriösen Seekarte zu lösen. Anfangs war diese Karte, die Johan Brad gehörte, nur mitleidig belächelt worden, und der Seewolf hatte versucht, seinen Söhnen die Schatzsuche auszureden, denn sie würde doch zu nichts führen, und außerdem könne die Zeichen und Symbole ohnehin kein Mensch lesen. Das hatte sich erst dann geändert, als die beiden tatsächlich zur großen Verblüffung ihres Vaters die ersten Zeichen enträtselt hatten. Sie hatten in dieser orientalischen Schrift bei der Gauklertruppe in Märchenbüchern gelesen, und nun wurde das Geheimnis der Seekarte Schritt um Schritt enträtselt. Die Karte lag ausgebreitet auf dem Achterdeck und war an den Ecken mit Jakobstab, einem Stein und einem Tauende beschwert, damit sie sich nicht wieder zusammenrollte. Beide lagen bäuchlings darüber gebeugt. Neben ihnen stand der grauhaarige, ehemalige Schmied von Arwenack, Big Old Shane, der einen breiten Schatten über die Karte warf. Daneben hatte aber auch der junge O'Flynn Platz genommen, der mit Feder und Tusche die „Übersetzungen“ aus der Karte auf ein Stück Pergament übertrug und der immer wieder rechnete und überlegte, und so zur Freude der Zwillinge viel dazu
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beitrug, der Karte auch das letzte Geheimnis zu entreißen. Soviel stand bisher einwandfrei fest, vorausgesetzt, es hatte sich nicht jemand einen schlechten Scherz beim Fertigen der Karte geleistet: Die Inseln lagen auf dem Kurs der „Isabella“, und Hasard hatte versprochen, sie anzulaufen, um nach dem langen Törn von Chagos Trinkwasservorräte und Proviant zu ergänzen, denn der Kurs ging weiter in den Atlantik, und die Reise, die vor ihnen lag, war noch sehr lang. Diese Inselgruppe bestand der Karte nach aus drei Inseln und nicht aus fünf, wie ursprünglich angenommen worden war. Es waren die Maskarenen, und die Inseln trugen arabische Namen. Sie hießen Dina Arobi, Dina Margabim und Dina Moraze. Das war alles reichlich verwirrend, denn die Inselgruppe wurde auch noch Cirne genannt, und außerdem hatte im Jahre 1540 ein Portugiese namens Domingo Fernandez die Inseln bereits entdeckt. Das alles war in der Karte vermerkt worden, und auf der Rückseite war sie außerdem noch eng mit den orientalischen Symbolen beschriftet, die selbst Hasard und Philip nicht vollständig übersetzen konnten. Außerdem mußte die Karte sehr alt sein, und das bestärkte die beiden in der Annahme, daß es sich um einen sehr alten und sehr gewaltigen Schatz handeln mußte. Aber begründen konnten sie das nicht, sie hatten das einfach im Gefühl, sagten sie auf alle diesbezüglichen Fragen. „Auf welcher von euren verdammten drei Inseln befindet sich denn nun der Schatz?“ fragte der junge O'Flynn schon ein paarmal. Bisher hatten sich die Zwillinge immer vornehm und leicht verlegen um eine Antwort herumgedrückt. „Wir suchen noch“, sagte Hasard schließlich, „so leicht ist das nämlich auch nicht. Der Schreiber hier sagt, wenn die Sonne durch die Augenhöhlen des Totenkopfes scheint, bricht sich das Licht im Auge des Gottes. Entferne den Stein! Hüte dich vor dem Feuer!“ „Das ist alles?“
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„Genügt das etwa nicht? Nein, das ist noch nicht alles, da steht auch noch was von einer Grotte oder einer Höhle oder so ähnlich.“ Dan O'Flynn wiederholte den Satz und zuckte dann mit den Schultern. Dabei blickte er auf die Schriftzeichen, ohne sie jedoch zu begreifen. „Folglich muß da irgendwo ein Totenschädel liegen“, meinte er, „und zwar so, daß die Sonne, wenn sie hindurch scheint, auf einen ganz bestimmten Teil einer Gottheit oder einer Statue fällt. Das gibt dann einen Lichtreflex, und vermutlich muß man das Auge oder den Stein dieser Gottheit entfernen. Mann, den Totenkopf könnt ihr suchen, bis euch graue Bärte wachsen. Der ist längst vom Wind verweht, oder zu Staub zerfallen.“ „Ja, das glaube ich auch“, sagte der junge Hasard betrübt. „Und was soll dieser Quatsch überhaupt heißen: ,Hüte dich vor dem Feuer!' Da kann längst kein Feuer mehr sein.“ „Der Totenkopf muß nicht unbedingt ein menschlicher Schädel sein“, bemerkte Big Old Shane. „Diese Araber drücken sich oft sehr symbolhaft aus und meinen etwas ganz anderes. Man darf das nicht so wörtlich nehmen.“ „Wie willst du es dann übersetzen, Shane?“ fragte O'Flynn. „Das weiß ich auch nicht“, sagte der Riese bedächtig, und strich mit der Hand durch seinen dichten grauen Bart. „Ihr jungen Spunde seid doch immer so schlau. Laßt euch mal etwas einfallen!“ „Schnickschnack ist das“, sagte Dans Vater, der mit verdrossenem Gesicht auf die Karte blickte. „Ihr zerbrecht euch den Kopf über einen Schatz, den es gar nicht gibt. Diese Karte hat irgendein Gauner angefertigt, um einen anderen damit übers Ohr zu hauen. Vielleicht hat er eine Menge Geld dafür gekriegt.“ „Du weißt doch selbst, daß Jonny sie von einem sterbenden Seemann erhalten hat“, wandte sein Sohn ein. „Weshalb sollten sich denn alle Leute ständig begaunern? Nein, nein, da ist schon etwas dran, Dad,
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und vermutlich ist das alles längst geborgen oder aber zu Staub zerfallen.“ „Ich mag daran nicht glauben“, sagte der alte O'Flynn störrisch. „Dann laß es doch bleiben, Dad“, schlug Dan vor. Auch der Seewolf beugte sich nun interessiert über die seltsame Karte mit den geheimnisvollen Zeichen und Andeutungen. Seit die Zwillinge immer mehr herausgefunden hatten, packte es ihn auch, denn verständlicherweise wollte jeder das Rätsel lösen, und nach einer Weile überboten. sie sich gegenseitig mit ihren Vermutungen und Ansichten. Über diesen Totenschädel zerbrachen sie sich lange den Kopf, und sie versuchten ihn immer wieder anders zu interpretieren. Aber niemand fand es heraus, alles blieb graue Theorie. „Entferne den Stein! Hüte dich vor dem Feuer!“ las Philip noch einmal vor. „Das ist richtig, da haben wir alle Wörter zusammen. Aber was da unten steht, haben wir immer noch nicht herausgefunden, es klingt so merkwürdig.“ „Was steht denn da?“ fragte Hasard interessiert. „Folge dem Lauf des, hier fehlt ein Wort, und dann steht als nächstes Wort Silber da.“ „Folge dem Lauf des glänzenden Silbers“, stückelte O'Flynn zusammen, aber beide Jungen schüttelten die Köpfe. „Nein, glänzend heißt es nicht.“ „Dann vielleicht schimmernd“, half Dan nach. „Auch nicht.“ Weitere Wörter wurden gesucht und eingesetzt, aber die Zwillinge verneinten immer wieder. „Wie, zum Teufel, kann man Silber denn noch nennen?“ fragte der alte O'Flynn und stampfte mit dem Holzbein auf. „Silber glänzt, oder es schimmert, oder es wird flüssig, wenn es geschmolzen wird. Mehr fällt mir dazu nicht ein.“ Hasard junior kroch noch dichter an die Schrift heran, bis sie vor seinen Augen zu flimmern begann.
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„Springen kann es doch nicht heißen, Philip, oder doch?“ „Habt ihr schon mal Silber springen sehen, ihr grünen Heringe?“ fragte Old O'Flynn. „Höchstens Silberstücke, wenn man sie auf den Boden wirft.“ „Springendes Silber ergibt wahrhaftig keinen Sinn“, meinte Big Old Shane nachdenklich. „Das würde dann ja heißen: ‚Folge dem Lauf des springenden Silbers'. Da steckt ein anderes Wort dahinter.“ Den Männern begann es Spaß zu bereiten, die rätselvollen Andeutungen umzusetzen, damit sie einen vernünftigen Sinn ergaben, aber es war sehr schwierig, und nach einer Weile wurde über das eine Wort diskutiert, das angeblich keinen Sinn gab. Die Zwillinge hockten grübelnd an Deck und zerbrachen sich die Köpfe, und Philip behauptete wieder, daß seiner Ansicht nach kein anderes Wort in Frage käme. Auch Hasard sann lange darüber nach. Dann konnte er mit einer Lösung aufwarten, die einigermaßen logisch klang. „Folge dem Lauf, läßt sich ganz einfach übersetzen. Man kann beispielsweise einem Flußlauf folgen, und in diesem Fall wird das springende Silber mit dem Wasser eines Flusses verglichen. Genau müßte das also heißen, daß man dem Lauf eines silbrig scheinenden Flusses folgen soll, und daß er springt, bedeutet nichts anderes, als daß sich kleine Wasserwirbel oder Strudel darin befinden. Wenn das stimmt, wären wir der Lösung ja ein ganz beachtliches Stück näher gerückt, denn dann gilt es hauptsächlich, nach einem Fluß Ausschau zu halten.“ „Eine vernünftige Lösung, wie mir scheint“, meinte der Bootsmann Ben Brighton. „Und Flüsse auf einer Insel dürften nun ja wirklich nicht so schwierig zu finden sein.“ Ja, diese Lösung bot sich an, und sie ergab einen Sinn, dachten auch die anderen, und damit glaubten einige, das Rätsel sei schon so gut wie gelöst und man brauche den Schatz nur noch zu heben. Aber da lagen noch etliche große Steine im Weg, denn die Angaben widersprachen sich, und vor allem waren die Koordinaten
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nicht klar. Keiner wußte, um welche der drei Inseln es sich handelte. Jede von ihnen konnte Flüsse aufweisen, und zudem waren die Inseln nicht gerade klein. „Sehr lange werden wir uns da also nicht aufhalten“, sagte der Seewolf. „Wir können nicht unsere Zeit wochenlang mit der Suche nach einem fragwürdigen Schatz verbringen. Schließlich haben wir ein Ziel vor Augen.“ Hasard junior protestierte, und auch sein Bruder begann gleich darauf zu maulen. „Du hast uns aber versprochen, Sir, Dad, daß wir die Inseln anlaufen und uns einmal umsehen.“ „Ich halte mein Versprechen auch, aber wenn wir nach höchstens drei Tagen nichts finden, dann segeln wir weiter, und das ist mein allerletztes Wort.“ Die beiden hatten verstanden, und sie hüteten sich, auch nur ein Wort des Protestes laut werden zu lassen, denn da stand ihr Großvater O'Flynn und schien nur auf einen Widerspruch zu warten. Und Granddad war dafür bekannt, daß er sich nicht scheute, auch auf seine alten Tage noch sein Holzbein abzuschnallen, um es auf edlen Körperteilen springen zu lassen. Aber allein der kurze Blick aus den eisblauen Augen des Seewolfs genügte, um jeden Protest zu ersticken, denn der Blick war noch schlimmer als das Holzbein des alten O'Flynn. Nach dem Blick tat sich meist die Hölle persönlich auf und verschlang unbarmherzig ihre zwei kleinen Teufelchen. „Je mehr ihr die Schrift enträtselt und herausfindet, desto leichter und schneller muß es doch zu finden sein“, sagte Shane. „Es liegt also auch bei euch, die Suche abzukürzen. Und das werden wir innerhalb von drei Tagen doch wohl schaffen, oder es müßte mit dem Teufel persönlich zugehen.“ „Außerdem“, sagte Ben Brighton in die entstandene Stille hinein, „gehört der Schatz Mister Brad, denn von ihm stammt die Karte, und er allein bestimmt darüber, was mit den Sachen geschieht.“
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„Selbstverständlich, Mister Brighton“, versicherte Philip. „Die Suche ist ja viel spannender als das Gold, oder was wir da finden werden.“ Hasard versuchte, Zusammenhänge zu finden. Diese Seekarte war bestimmt nicht von einem an den anderen verkauft worden, um damit Geschäfte zu machen, sie mußte jemandem gehört haben, der sie vielleicht nur für sich persönlich haben wollte und der aus diesem Grund alles umschrieb, damit kein anderer das Geheimnis herausfand. Auch das war natürlich nur eine Theorie, aber Hasard hätte anstelle des Unbekannten ähnlich gehandelt, um den Ort in der Erinnerung zu behalten. Wer weiß, durch wie viel Hände diese Karte im Laufe der Zeit gegangen war, ehe sie bei Brad landete, der sie dann sorgfältig aufhob und der auch keine Gelegenheit hatte, den Schatz selbst zu heben. Er blickte zu Jonny hinüber. Der alte Seemann, auf den die Iren in der Hafenspelunke Spottlieder gesungen hatten, lag regungslos an Deck. Seine Augen waren geschlossen, und dem Seewolf fiel auf, daß er sich schon seit einer Weile nicht mehr gerührt hatte. Er verließ seinen Platz auf dem Achterdeck, und enterte zur Kuhl ab, bis er vor Brad stand. Im ersten Augenblick glaubte er, der Mann wäre tot, denn sein Gesicht war von wächserner Blässe, und er sah auch nicht, daß sich die Brust bewegte. Es dauerte sehr lange, ehe ein schwacher Atemzug erfolgte und der Seewolf erleichtert aufatmete. Er fühlte vorsichtig nach Brads Hand, und die war jetzt eisig kalt. Er winkte den Kutscher herbei, der auf dem Süllrand vom Kombüsenschott saß und vier große Fische schuppte, die Stenmark und Jeff Bowie am frühen Morgen gefangen hatten. „Sieh mal nach ihm, Kutscher, er hat sich schon wieder verändert.“ „Ich habe gerade nach ihm gesehen, Sir, und ich bin mit meinem Wissen am Ende. Ich werde seine Brust mit Rum einreiben,
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vielleicht verschafft ihm das Erleichterung.“ „Ja, tu das!“ Der Kutscher holte Rum, und brachte auch die Flasche mit, in der sich eine Mixtur aus Kräutern befand, ein scharf riechendes Zeug, das er selbst zusammengebraut hatte. Vorsichtig öffnete er das Leinenhemd, goß sich etwas Rum in die Hand, und begann die Brust damit zu massieren. „Armer, alter Jonny“, murmelte er und sah zufrieden, wie der Seemann nach einer Weile die Augen aufschlug und blicklos auf das große Segel starrte. Sein Blick war immer noch trübe, die Augen ohne jeden Glanz, aber die Pupillen zogen sich zusammen, und er schien die beiden Männer um sich herum wahrzunehmen. „Die Küste“, murmelte er mit schwacher Stimme. „Wir müssen sie bald erreichen. Ich kann sie schon sehen. Oder ist das Nebel?“ „Wir werden bald da sein, bald schon“, tröstete ihn der Kutscher. Es war eine fromme Lüge, aber vielleicht gab sie dem alten Mann noch etwas Kraft, und hielt ihn noch am Leben. Ganz vorsichtig wickelte der Kutscher anschließend den Verband auf und besah sich die Wunde, die das von einem Iren geschleuderte Messer verursacht hatte. Über dem Bauchnabel war ein feiner Einstich zu erkennen. Die Wunde heilte jedoch nicht, die Wundränder verschorften kaum, aber sie war sauber und sah gar nicht schlimm aus. Kopfschüttelnd, ratlos und sich selbst mit bitteren Vorwürfen überhäufend, weil er nicht helfen konnte, legte der Kutscher einen frischen Verband darüber, strich ihn glatt und zog etwas später das Hemd darüber. Jonny war schon wieder eingeschlafen, und seine Brust hob und senkte sich nun in fast regelmäßigen Abständen. Hin und wieder flüsterte er im Unterbewußtsein ein Wort, und das hatte meist einen Bezug zu England. Das Heimweh mußte ihn innerlich verzehren, dachte der Seewolf, es machte ihn noch
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kränker, als er schon war, und fraß seine Lebensgeister. Er lebte ohnehin nur noch in der Angst, die Küste nicht mehr zu erreichen, oder seine geliebte Heimat nicht mehr wiederzusehen. „Man müßte ein Gerät haben, mit dem man in sein Inneres sehen kann“, sagte der Kutscher. „Vielleicht ist nur eine Operation notwendig, und alles regelt sich wieder. Aber das übersteigt meine Künste, Sir, das kann ich nicht, und die Verantwortung würde ich mir auch nicht aufladen. Da hätte selbst Doktor Freemont ganz erhebliche Schwierigkeiten.“ „Ja, das weiß ich. Wir können nur hoffen, und wenn Gott will, dann stellt er ihn wieder auf die Beine. Wir werden ihn später wieder nach unten bringen.“ Der Tod fuhr unsichtbar mit an Bord der „Isabella“, er hatte nur noch nicht zugegriffen. Aber das konnte schon bald der Fall sein, schneller, als jeder dachte. Jonny konnte aber auch wieder genesen, wer wollte das schon wissen? Hasard warf noch einen Blick in das abgezehrte, stoppelige Gesicht, sah die eingefallenen Wangen und die tief in den Höhlen liegenden Augen des Mannes und wandte sich schließlich ab. Nein, tun konnten sie nichts, überlegte er, auf der „Isabella“ vermochte ihm niemand zu helfen, wenn es der Kutscher nicht konnte. Hier mußte der große Master helfen. * Einen Tag später hatte sich an Brads Zustand immer noch nichts geändert. Der alte Seemann hatte kaum Nahrung zu sich genommen. Nur etwas Flüssigkeit konnte der Kutscher ihm mühsam einflößen, dann dämmerte er wieder vor sich hin. Sie brachten ihn wieder an Deck und legten ihn an die gleiche Stelle wie gestern. Etwas später ließ ein Ruf aus dem Großmars die Männer leicht zusammenzucken. Gary Andrews legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief mit lauter Stimme:
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„Deck! Drei Strich Steuerbord Land!“ Seit langen Tagen schon war der Mann im Ausguck verstummt und meldete nichts mehr, weil es nichts zu melden gab. Die „Isabella“ war nur von Wasser umgeben. Es zeigte sich kein Segel, kein Küstenstrich, absolut nichts. Nicht einmal ein Vogel war erschienen, der Land ankündigte. Die Köpfe der Männer fuhren herum, und alle blickten in die angegebene Richtung. Man mußte schon sehr gute Augen haben, um den winzigen zarten Strich zu erkennen, der an der Kimm auftauchte. Der Profos Edwin Carberry stieg ein Stück ins Großwant auf, damit er einen besseren Überblick hatte. „Na endlich“, brummte der Mann mit dem Narbengesicht und dem gewaltigen Amboßkinn. Dann enterte er wieder ab und stemmte die Hände in die Seiten. „Was steht ihr karierten Heringe noch herum, was, wie! Habt ihr Seetang in den Ohren? Hurtig, hurtig, auf Stationen, oder muß ich erst den Tampen auf euren Affenärschen tanzen lassen! Gleich erfolgt ein Segelmanöver, und das müßt ihr lausigen Kanalratten doch sofort spüren.“ Jetzt war der Profos wieder in seinem Element, konnte die Männer hochpurren und aufscheuchen, und seine Stimme laut und fröhlich erschallen lassen, denn in den letzten Tagen hatte es nichts gegeben, absolut nichts, worüber der Profos hätte fluchen können. Batuti brachte den todkranken Jonny nach unten, legte ihn in die Koje 'und kehrte wieder zurück. Auf dem Achterdeck blickte der Seewolf noch durch das Spektiv, dann wandte er sich an den Rudergänger. Diesmal war es der Moses Bill, der vor einer halben Stunde den Gambianeger Batuti abgelöst hatte. „Drei Strich Steuerbord, Bill!“ „Drei Strich Steuerbord, Sir“, wiederholte der Moses und Rustabout der „Isabella“ und legte Ruder. Bill hatte sich in den Jahren, seit er an Bord war, zu einem kräftigen, sehnigen und starken jungen Mann entwickelt, und
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er war längst nicht mehr der schmächtige Junge, der eingeschüchtert und verängstigt herumstand. Die Zeit an Bord hatte ihn gewandelt und hart werden lassen, und er beherrschte seine Arbeit im Schlaf. „Drei Strich Steuerbord liegen an, Sir“, sagte er nach einer Weile, als an Deck bereits die ersten Manöver ausgeführt wurden. Es wurde nachgebraßt, und dann war es mit der Arbeit wieder für eine Weile vorbei. Hasard nickte und zeigte zu dem zarten Strich hinüber. „Es hätte nicht viel gefehlt, und wir wären daran vorbeigesegelt. Aber die eigenartige Seekarte ist genauer als die Roteiros. Trotzdem hätten wir sie beinahe verpaßt, und wären verdammt lange weitergesegelt. Es wird sich möglicherweise um die südlichste dieser Inseln handeln.“ „Ja, Sir“, sagte der Rustabout. „Wenn die Karte so genau ist, dann wird das mit dem Schatz auch stimmen.“ „Wahrscheinlich. Du entsinnst dich noch an dein eigenes Erlebnis auf der Insel der Steinernen Riesen, nicht wahr?“ „Daran dachte ich gerade, Sir. Es liegt schon sehr lange. zurück, aber ich werde es nie vergessen.“ Der Moses grinste, schaute nach oben zu den Flögeln und blieb auf Kurs. Damals hatte er auch einen Schatz gefunden, aber da war die Suche auch nicht so schwierig gewesen, und der Schatz hatte ihm immerhin eine kleine Truhe voll Gold, und noch einiges andere mehr, eingebracht. Aber das lag wirklich schon lange zurück. Ob es jetzt die südliche oder die nördliche der Inseln war, das ließ sich jedoch nicht feststellen. Es war auf der Seekarte nicht genau angegeben, wie weit sie auseinander lagen, und es hätte ihnen auch ohne weiteres passieren können, zwischen zwei Inseln hindurchzusegeln, ohne daß sie überhaupt Land entdeckt hätten. Jetzt gab es diese Sorge nicht mehr, die Küste war entdeckt, und langsam wurde
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aus dem feinen Strich eine langgestreckte Zone. Der junge O'Flynn hatte das Spektiv an die Augen gesetzt und lange hindurchgeblickt. Jetzt gab er es an den Seewolf zurück und strich sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen. „Die Küste scheint felsig zu sein“, sagte er, „aber so genau läßt sich das noch nicht erkennen. Aber es scheinen Felsen oder Riffe in Küstennähe zu stehen.“ „Ja, da gibt es zweifellos Felsen im Wasser“, sagte Hasard, nachdem er den Landstrich gemustert hatte. „Wir müssen also gut aufpassen, wenn wir näher heran sind. Außerdem glaube ich da einen lang gezogenen Vulkan zu sehen, ein riesiges Ding von gewaltigen Ausmaßen. Eine vulkanische Bergkette.“ Als die „Isabella“ noch näher heransegelte, wurden die Einzelheiten klarer und deutlicher, und aus dem Wasser ragten tatsächlich kleine und große Felsen. Das Hinterland bestand aus einer langgestreckten, bläulich schimmernden Bergkette und war zweifellos vulkanisch, denn auch die Felsen im Wasser waren alle gleichen Ursprungs. Kleine grauweiße Wolken standen über dem Gebirge und ballten sich immer mehr zusammen, und etwas später ging ein schauerartiger Wolkenbruch über den noch fernen Bergen nieder. Der Decksälteste Smoky fungierte als Lotgast und sang die Tiefe in Faden aus. Aber noch war es hier sehr tief, und daran änderte sich vorerst auch nichts. Neben Hasard standen die Zwillinge auf dem Achterkastell und spähten angestrengt zum Land hinüber. Sie hatten vor Aufregung gerötete Gesichter, denn hier mußte sich ja das Geheimnis endlich lösen, und hier lag irgendwo der Schatz, von dem sie schon seit langer Zeit fast jede Nacht träumten. „Na, dann sucht mal schön euren Totenschädel“, sagte Hasard lachend, als sie sich gegenseitig das Spektiv aus den Händen rissen und Ausschau hielten. Doch dieser Küstenabschnitt hatte keinen Fluß aufzuweisen, es gab weder
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menschliche Ansiedlungen, noch sahen sie irgendwelche Tiere. „Das muß man ja auch nicht gleich und sofort finden“, sagte Hasard junior und verbarg seine Enttäuschung. „Außerdem haben wir ja noch drei Tage Zeit zum Suchen, und wir werden dieses springende Silber schon finden.“ „Klar finden wir es“, versicherte Philip, als stünde das schon mit absoluter Gewißheit fest. „Und mir ist es auch viel lieber, wenn es hier keine Menschen gibt. Die würden uns ja doch nur bei der Suche stören.“ „Und uns den Schatz vielleicht noch klauen.“ Die beiden begannen hitzig zu diskutieren und redeten sich die Köpfe heiß- wegen eines Schatzes, den sie noch lange nicht hatten. Die „Isabella“ drehte ein wenig von der Küste ab, denn nun wurden die ersten Felsen im Wasser sichtbar, und die Tiefe betrug mitunter nur noch fünf Faden. Damit hatte der ranke Rahsegler zwar noch sehr viel Wasser unter dem Kiel, aber es konnten ganz plötzlich Felsen zutage treten, und dann war es für Ausweichmanöver zu spät. Der Küstenverlauf änderte sich kaum. Es gab steinige, endlos lange Strände, flache, tückische und unberechenbare Buchten voller Felsen und große Riffe unter Wasser. Im Hintergrund zog sich die Bergkette in endlose Länge, immer noch blauschimmernd, aber von einem Fluß war weit und breit nichts zu sehen. Nach einer Weile sichtete Dan, der die schärfsten Augen hatte, ein Lebewesen und machte Hasard darauf aufmerksam. Es sah anfangs wie ein Mensch aus, der sich in grotesken Sprüngen dicht an der aufstrebenden Bergkette bewegte, aber es war kein Mensch. „Ein Affe ist das“, sagte Dan. „Dann wird sich Arwenack aber freuen, daß er hier Gesellschaft findet.“ Es war tatsächlich ein Affe, und er mußte wohl den langgestreckten Schatten der „Isabella“ sehen. Vielleicht war das für ihn ein Anblick, der ihm Furcht einflößte, denn
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gleich darauf rannte er in langen Sprüngen davon und verkroch sich in den Bäumen, die vor der Bergkette einen dichten Wald bildeten. Der kurze Regenschauer, der vorhin über den Bergen niedergegangen war, bewirkte, daß Nebel und Dampf an jenen Stellen aufstieg, und es sah so aus, als würde einer der längst erloschenen Krater seine Tätigkeit wieder aufnehmen und zu rauchen beginnen. „Runden wir die Insel?“ fragte Dan den Seewolf. „Erst mal sehen, wie lang dieser Küstenverlauf überhaupt ist. Das hier scheint ausgerechnet die größte der Inseln zu sein. Wir segeln jedenfalls vorerst weiter und bleiben in Sichtweite, wenn uns die Riffe nicht allzu sehr behindern.“ Die Zwillinge freuten sich und hielten weiterhin angestrengt nach. allen möglichen Merkmalen Ausschau. Es zeigte sich weder ein Gebilde, das mit einem Totenkopf zu vergleichen war, noch kam der Fluß in Sicht. Ziemlich eintönig blieb die Landschaft, ab und zu nur unterbrochen von einer Gruppe hoher schlanker Palmen. Dann folgte wieder eine kahle Stelle, und der teilweise steinige Strand zog sich weiter in die Länge. Nochmals eine halbe Stunde später schreckte ein neuer Ausruf aus dem Großmars die Seewölfe auf. „Deck!“ brüllte Gary Andrews. „Ein Fort auf Steuerbord, oder ein Kastell !“ Das ließ wiederum alle herumfahren, denn wer sollte in dieser menschenleeren Einöde ein Fort oder ein Kastell gebaut haben? „Ein Fort?“ fragte auch der Profos. „Was hat denn das Ding hier zu suchen, und wer, zum Teufel, hat es gebaut? Das halte ich fast für ausgeschlossen!“ Er konnte das Fort noch nicht sehen, denn in diesem Augenblick rundete die „Isabella“ eine Landzunge. Aber dann sahen sie es alle. * Ein Fort war es nicht, wie Spanier oder Portugiesen es bauten. Es glich eher einer
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Burg, war aber etwas kleiner, und es sah reichlich verfallen aus. Es war auf einem Hügel noch weit vor den ersten Ausläufern der Berge erbaut worden und schien schon hundert Jahre dort zu stehen. Das gab natürlich Anlaß zu überlegen, wer es wohl erbaut haben mochte, denn Seefahrer konnten es kaum sein, die hatten die Insel vor so langer Zeit sicher noch nicht entdeckt und keinesfalls eine kleine Burg erbaut. Eine gewisse Spannung bemächtigte sich der Crew nun allerdings doch, und während sie weiter in Richtung der Burg segelten, sah der Seewolf sich noch einmal die Karte an. Nicht lange, und er hatte sich orientiert. Sein Finger tippte auf die Karte. „Hier ist ein kleiner Punkt eingezeichnet“, sagte er zu seinen Söhnen, die mit knallroten Ohren andächtig lauschten. „Und dieser Punkt ist nichts anderes als die Burg dort drüben.“ „Vielleicht liegt da der Schatz versteckt.“ Hasard glaubte nicht daran, daß das Vermächtnis des Unbekannten ausgerechnet auf dieser Burg zu finden war, ganz ausschließen wollte er die Möglichkeit allerdings auch nicht. Aber es gab hier weder springendes Silber noch sonst etwas, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Totenkopf hatte. Natürlich konnte das auch eine Irreführung sein, sie ergab jedoch keinen rechten Sinn, und sie war vor allem nicht logisch. „Wir sehen uns die Burg trotzdem einmal an“, sagte er entschlossen. „Vielleicht finden wir Hinweise auf ihre Erbauer und erfahren etwas über diese Insel. Es muß übrigens Dina Arobi sein, die südliche der Gruppe also. Oder habt ihr diesen Punkt nicht gesehen?“ fragte er die Zwillinge. „Ist er nicht auf der Rückseite erläutert?“ „Alles können wir nicht Wort für Wort übersetzen“, sagte Philip verlegen. „Die Schriftzeichen sind sehr schwierig, und Hasard kann sie auch nicht mehr alle.“ Es stellte sich heraus, daß es diesen eingezeichneten Punkt auf der Rückseite gab, und es gab auch eine Erklärung dazu,
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die nur aus einem Wort bestand, aber ausgerechnet das fanden die Zwillinge trotz aller Anstrengung nicht heraus. Nach Hasards Ansicht war diese Insel auch nicht der Ort, wo man den Schatz versteckt hatte. Die Stelle war nicht bezeichnet und auch nicht markiert worden — absichtlich natürlich nicht, und das konnte er dem Hersteller der Karte nicht verübeln. „Wir gehen dort am Strand vor Anker, Ben“, sagte Hasard zu seinem untersetzten, breitschultrigen Bootsmann. „Smoky soll Tiefe loten, Ben, damit wir nicht aufbrummen. Anschließend fieren wir das Boot ab und sehen uns dieses merkwürdige Kastell einmal an.“ „Aye, aye, Sir, da bin ich selbst neugierig.“ Die Wassertiefe wechselte. Seit Smoky den sechs Pfund schweren Lotkörper über Bord gegeben hatte, schwankte sie zwischen vierzehn und dreieinhalb Faden. Im klaren Wasser waren deutlich die schwarzen Arme ehemaliger vulkanischer Ströme zu sehen, die ins Meer geflossen waren und dort wundersame Gebilde von unterschiedlicher Höhe geschaffen hatten. Eine Bucht gab es hier nicht, der Strand verlief auf einer Länge von mehr als zwei Meilen fast gerade. An Steuerbord achteraus befand sich nun die gerundete Landzunge mit ihren spitzen Felsen und scharfkantigen Steinen. Die Segel wurden aufgegeit und der Anker gesetzt. Kein Mensch war zu sehen, und es schien auch keine Tiere zu geben. Nur der Himmel bewölkte über den Bergen schon wieder, und es sah nach einem weiteren Regenschauer aus. Die „Isabella“ lag dem Kastell gegenüber, und während das Beiboot abgefiert wurde, warfen die Seewölfe immer wieder neugierige Blicke zu dem alten Bauwerk. Matt Davies glaubte sogar, Kanonen erkennen zu können, deren große Mündungen aus Mauerdurchbrüchen hervorlugten. Als das Beiboot, besetzt mit einem Dutzend Männer, etwas später auf den steinigen Strand lief, sah es so aus, als hätte hier noch nie ein Mensch gehaust.
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Die Burg, das Fort, oder das Kastell, wie immer man es nennen wollte, bewies aber das genaue Gegenteil. Am Strand gab es ebenfalls keine menschlichen Spuren, als Hasard auf den Sand sprang. Die Zwillinge waren natürlich als erste an Land und warteten ungeduldig auf die anderen Männer. „Ihr grünen Heringe könnt es wohl wieder mal nicht erwarten, was, wie!“ schnaubte der Profos. „Hier werdet ihr euren Schatz ganz sicher nicht finden, das Versteck wäre viel zu auffällig.“ „Wenn jeder so denken würde“, sagte Hasard junior schlau, „dann wäre dieses Versteck eigentlich der sicherste Platz.“ „Grünschnabel“, sagte Carberry. „Immer schlauer sein als andere, was? Hopp auf, bewegt eure Knochen!“ Fast alle Männer hatte eine Art Jagdfieber ergriffen, als sie sich ihren Weg durch Gestrüpp und zwischen dicht stehenden Bäumen hindurch zum Hügel bahnten. Es war nicht zu befürchten, daß sich in dieser Burg noch Menschen aufhielten. Der Zahn der Zeit hatte an den Mauern genagt, und er hatte kräftig genagt, denn aus der Nähe sah das Bauwerk noch älter und verkommener aus. „Wo sind denn nun deine Kanonen, du Adlerauge?“ fragte der Profos den Mann mit der blinkenden Hakenprothese an der rechten Hand. „Jeder kann sich mal irren“, sagte Matt. „Aber ich glaube trotzdem, welche gesehen zu haben.“ „Und eine Horde Spanier mit Kupferhelmen, he! Und vielleicht auch noch den Wikinger Thorfin Njal.“ „Wart's ab!“ knurrte Matt Davies. Es ging leicht bergan. Es gab keinen Weg und auch keinen Pfad mehr. Die Vegetation begann üppiger zu werden, und sie hatte längst alle Spuren menschlicher Zivilisation wieder überwuchert, bis auf das alte Gemäuer da oben, das hatte sie nicht geschafft. Hasard spähte vorsichtig nach allen Seiten. Durch die Bäume war die Burg jetzt immer deutlicher zu erkennen, und je näher sie dem Bauwerk kamen, desto sicherer stand
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fest, daß es doch schon viel mehr zerfallen war, als es von Bord aus den Anschein hatte. Nein, hier hauste niemand mehr, in diese Ruine konnten sich höchstens noch ein paar Tiere einquartiert haben, und selbst danach sah es nicht aus. Der Baumbestand war zu Ende, hier wuchs nur noch Gebüsch und farnähnliches Riesenkraut. Vor ihren Augen lag die Burg, und die Männer blieben stehen und betrachteten das alte Gemäuer. Der Baustil ließ sich nicht bestimmen, er war in keiner Weise typisch, paßte nicht auf die Spanier, nicht auf die Araber und schon gar nicht zu den Engländern. Hier war zweckmäßig Stein auf Stein getürmt worden und mit Lehmmörtel vermauert. Die Burg hatte ein lang gestrecktes, teilweise verfallenes Gemäuer und zwei Türme, denen das Dach fehlte. Dann gab es die einzelnen Gemächer, und von einem führte eine steinerne Treppe nach oben zur Brüstung, wo sich weitere Mauerdurchbrüche befanden. Reste eines vormals hölzernen Tores lagen über den Boden verstreut und faulten vor sich hin. Türbeschläge aus Bronze waren noch erhalten, das Holz selbst morsch und brüchig. Hasard trat durch das ehemalige Tor in einen großen Hof, der von Pflanzen und Unkraut überwuchert war. Sogar ein kleiner Baum wuchs hier zwischen den Steinen, und seine Wurzeln würden schon bald das Zerstörungswerk fortsetzen. Die Zwillinge wollten schon ausschwärmen und ihre Exkursion beginnen, denn sie konnten es kaum erwarten, in dem alten Gemäuer herumzustöbern. Der Seewolf hielt sie gerade noch zurück. „Langsam“, mahnte er. „Ihr bleibt bei uns und geht nicht allein, sonst stellt ihr wieder was an, das später nicht Mehr zu reparieren ist.“ „Schätze, das Ding ist älter als hundert Jahre“, sagte der junge O'Flynn. „Vielleicht sogar doppelt so alt.“
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Ein kleines Tier huschte vor ihnen weg und verbarg sich in einer Mauerspalte. Es sah aus wie eine Ratte.. Unheimlich still war es hier oben, nur der Wind strich sanft durch die alten Mauern und sang sein ewiges Lied. „Wir gehen mal auf den Wehrgang hinauf“, sagte Hasard. „Aber immer nur einer, sonst fällt die Treppe auseinander.“ Die Zwillinge waren schon oben, und noch bevor Hasard die oberste Treppe erreicht hatte, hörte er sie so begeistert brüllen, als hätten sie soeben den Schatz gefunden. Das brachte die anderen auf Trab, und sie beeilten sich, um ebenfalls an den Neuentdeckungen teilhaben zu können. Hier oben sah es noch wüster aus. Zwei Yard breite ausgetretene Wehrgänge führten um die Burg herum, und einen Platz hatte man dem unteren Innenhof angeglichen, so breit und lang war er. Von dort aus führte ein Weg in den hohen Turm. Die Begeisterung der Zwillinge teilten die anderen nicht, denn hier oben standen zwar tatsächlich noch Kanonen, aber die meisten waren zerstört und unbrauchbar. Außerdem war es ein winzig kleines Kaliber, denn gleich darauf fand Matt Davies eine Kugel aus Stein. Der Profos nahm sie und wog sie in der Hand. „Weshalb haben sie die Dinger wohl aus Kanonen verfeuert?“ fragte er. „Die hätten sie doch gleich den Hügel hinunterwerfen können, und hätten noch das Pulver gespart.“ Er holte aus und warf das steinerne Geschoß hinunter. „Die ,Isabella` wirst du wohl kaum treffen“, sagte Matt spöttisch. „Aber ich hatte recht gehabt mit den Kanonen, was, wie?“ „Kanönchen“, verbesserte der Profos trocken. „Von Kanonen kann hier wirklich keine Rede sein.“ Die Zwillinge zog es auf das dunkle geheimnisvolle Loch im Turm zu, wo .es anscheinend in die Tiefe ging. Sie versuchten wieder einmal, sich abzusetzen, doch der Profos hielt Philip am Ohr fest
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und blickte ihn nur wortlos aus seinem narbigen Gesicht an. Da seufzte Philip gottergeben und wartete ab. Von hier sah die „Isabella“ wie ein Spielzeug aus, und jeder warf noch einen Blick hinunter, denn diese Perspektive eröffnete sich nur ganz selten. Die umgeworfenen Kanonen lagen verstreut herum, und zwischen den Gräsern fand sich hin und wieder auch mal eine steinerne Kugel. Mehr wurde nicht entdeckt. „Tot, leer und verlassen“, kommentierte Ferris Tucker. „Mir ist es immer noch ein Rätsel, wozu das gebaut wurde und was damit verteidigt werden sollte.“ „Man hatte vermutlich etwas Größeres vor, aber widrige Umstände waren dagegen“, sagte der Seewolf, „Vielleicht wollte man einen Hafen bauen oder eine Umschlagstation.“ „Aha“, sagte Ferris, „und was wollte man hier handeln?“ Hasard sah den Zimmermann an und lächelte. „Sieh dich doch einmal um, Ferris.“ Auch die anderen taten es. Der Profos kratzte sich nachdenklich das Amboßkinn und kriegte schmale Augen, als er angestrengt darüber nachdachte, aber er kam nicht darauf. Auch das Grübeln der anderen brachte nichts ein. Was, zum Teufel, konnte man denn hier handeln? Sand? Steine? Mehr gab doch diese Ecke kaum her. Ferris Tucker aber, ein Mann, der an Bord immer mit genialen Einfällen glänzte und der viele Neuerungen erdacht hatte, schlug sich mit der Hand vor die Stirn. „Natürlich“, sagte er, „wir haben es ja vor der Nase.“ „Was haben wir vor der Nase?“ fragte der Profos. „Ich sehe nichts als alte Mauern, und die wollten sie ja wohl nicht handeln, du rothaariger Eisenbart.“ Zwischen den beiden bahnt sich wieder einmal etwas an, dachten die anderen, und schon rückten sie näher zusammen. Der Profos, der bestimmt kein dummer Kerl war, konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn Ferris es immer auf
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Anhieb kapierte und sich nicht mitteilte. Er fühlte sich dann immer verarscht, und das ging ihm gegen den Strich, dann gab es Ruß. „Alte Burgen handelt man nur ganz selten, Mister Carberry“, sagte Ferris, der den „rothaarigen Eisenbart“ noch nicht ganz unten hatte. Immerhin waren das nur rötliche Bartstoppeln und mithin also noch kein Bart. Ging es zwischen den beiden los, dann redeten sie sich immer mit „Mister“ an, und das fanden die anderen Seewölfe ergötzlich. Selbst Hasard lächelte jetzt, denn der Profos merkte immer noch nicht, was sie meinten und worum es ging. „Das ist mir bekannt, Mister Tucker“, brüllte Ed zurück. „Deswegen brauchst du hier nicht den Klugscheißer zu spielen.“ „Wenn dir alles bekannt ist, Mister Carberry, dann weißt du es ja, und wir brauchen darüber nicht zu quasseln. Nun weißt du endlich, womit hier gehandelt werden sollte.“ Der Profos verschluckte sich fast. Er lief rot an und wurde gallig. Dabei sah er sich immer wieder um, aber er entdeckte nichts, was sich zum Handeln lohnte. „Manche laufen damit herum, andere aber haben es einwandfrei vor dem Schädel“, sagte Ferris anzüglich. „Und weil sie es vor dem Schädel haben, fehlt ihnen natürlich der Durchblick — Mister Carberry.“ Ed sah jetzt doch so aus, als hätte er Schießpulver geschluckt und würde sich gleich in ein feuerspeiendes Ungeheuer verwandeln. Sonst waren die beiden dicke Freunde, aber jetzt spitzte sich der Streit ganz offen zu. „Was habe ich vor dem Schädel, du beknackter Urenkel eines rothaarigen Waldaffen? Ein Brett etwa?“ „Nein, Mister Carberry, kein Brett. Wer wird denn so was behaupten! Was du vor der Rübe hast, das sind noch Bäume, daraus werden erst noch Bretter hergestellt, du windäugige Wasserratte.“ „Windäugige ...“ wiederholte der Profos fassungslos und pumpte seinen mächtigen
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Brustkasten auf. „Das mußt du verlauster Oasenkacker gerade zu mir sagen, was, wie! Du hast doch von Geburt an schon Holzspäne in die Windeln gemacht, Mister Tucker!“ „Das mag sein, deshalb verstehe ich auch etwas von Holz, was man von so einem Urenkel einer andalusischen Hafenratte wie dir nun nicht gerade behaupten kann — Mister Carberry.“ Jetzt hatte der Profos blitzartig begriffen, und dann konnte er immer sehr schnell schalten und alles herunterspielen. Er tat wieder einmal so, als hätte er es längst gewußt, aber Ferris Tucker kannte seinen Freund besser. „Die paar Holzstämme, die es hier zu handeln gibt“, sagte er unverfroren, „die lohnen den ganzen Aufwand nicht.“ „Ach“, staunte Ferris. „Du hast endlich begriffen?“ Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht, dachte Ed, und er nickte lässig. Mit weit ausholender lässiger Handbewegung wies er auf die zahlreichen Bäume und den weiter hinten aufragenden Wald. „Klar, Ebenholz, wächst doch hier in rauhen Mengen! Und deshalb machst du so einen Wind? Das hielt ich gar nicht für erwähnenswert, Mister Tucker.“ „Du hast es vorher nicht gewußt!“ behauptete Ferris. „Hab' ich schon von Bord aus gesehen, als du deine Triefaugen noch gar nicht richtig eingestellt hattest.“ „Hast du nicht!“ „Hab' ich doch! Nur ein Blödmann sieht so was nicht. Das Ebenholz riecht man schon zehn Meilen gegen den Wind, und ich habe es schon seit vorgestern gerochen. „Das war ja nun alles wieder mal sehr ergötzlich“, sagte Hasard. „Und wir alle haben uns auch köstlich amüsiert. Aber nun möchte ich doch vorschlagen, wir sehen uns noch den Turm an, ehe wir die ereignislose Stätte wieder verlassen, Mister Carberry und Mister Tucker, wenn's recht ist.“ Die beiden Streithähne sahen sich an — und grinsten, ein Herz und eine Seele, wie es den Anschein hatte.
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Die Zwillinge standen schon vor dem dunklen Schacht, der senkrecht in die Tiefe führte. Neugierig blick- ten sie hinunter, aber sie sahen nur dämmeriges Licht, das schwach auf eine brüchige Treppe fiel. „Vorsicht!“ warnte Hasard. „Nicht gleich hinunterklettern. Vielleicht hält die Treppe gar nicht mehr.“ Sie hielt aber doch, wie er gleich darauf feststellte, als er seinen Fuß vorsichtig darauf setzte. Wendelförmig führte sie nach unten in einen tiefen Schacht, der kein Ende zu nehmen schien. Hasard führte die Gruppe und stieg vorsichtig eine Stufe nach der anderen hinab. Dieser Weg führte in das Verlies, das stand für ihn fest, und er behielt mit seiner Annahme auch recht. Etwas später wurde es heller, denn nun fiel das Sonnenlicht stärker durch die zahllosen Risse und fehlenden Steine. Die Tür fehlte ebenfalls, die ins Verlies führte. Er blieb stehen und wartete auf die anderen. Neben ihm standen die Zwillinge Hasard und Philip. Zuerst kriegten sie einen gehörigen Schrecken, doch den überwanden sie schnell und stießen aufgeregt ihren Vater an. „Was ist?“ fragte der Seewolf. Hasard junior schluckte aufgeregt, und brachte kaum einen Ton heraus. „Sieh mal!“ sagte er schluckend. „Ich glaube, jetzt haben wir doch den Schatz gefunden!“ Damit zeigte er in das vom Gras leicht bewachsene Rondell, und jetzt zuckte selbst der Seewolf zusammen. * „Totenschädel!“ sagte Carberry in die Stille hinein. Die anderen Seewölfe standen im Halbkreis an der Mauer. Das Verlies war nicht sehr groß, aber allein kam hier niemand mehr heraus; den man einmal eingesperrt hatte.
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Das war es aber nicht, was sie so erschreckte. Auf dem Boden lagen Gebeine, halbvermoderte Knochen, von Sonne und Regen ausgebleicht und verwittert. Und dazwischen lagen die Schädel zweier Leute, die das Schicksal vor langer Zeit in den Turm gebracht hatte und die hier jämmerlich ums Leben gekommen waren. Der Seewolf bückte sich, um die Schädel näher zu betrachten, aber Philip griff schnell nach seiner Hand. „Nicht, Sir, Dad, wir dürfen nichts verändern“, sagte er aufgeregt. „Wenn wir die Lage dieser Totenköpfe verändern, finden wir den Schatz nicht mehr.“ „Du meinst den Spruch, der besagt, daß die Sonne durch die Augen des Totenkopfes scheint ...“ „Ja“, erwiderte der Junge. „Wir sind dem Geheimnis jetzt ganz dicht auf der Spur, ich fühle es.“ „Vielleicht hat Philip recht, Sir“, ließ sich Matt Davies vernehmen und polierte seine spitze Hakenprothese an einem Stein, obwohl sie immer geschliffen und poliert war und blitzblank aussah. „Der Totenkopf ist jedenfalls da, und wenn die Sonne in einem ganz bestimmten Winkel durch das Gemäuer scheint ...“ „.. bricht sich das Licht im Auge des Gottes“, sagte Hasard, und seine Stimme klang ironisch. „Siehst du hier etwas, das nach einer Gottheit oder Statue aussieht oder springendem Silber? Nein, Matt, das hier hat mit dem anderen nichts zu tun, davon bin ich absolut überzeugt.“ „Wir sollten wirklich nicht so schnell aufgeben“, meinte auch der junge O'Flynn. „Zumindest könnten wir uns ein wenig umsehen, denn immerhin ist eine ganz schöne Zeit verstrichen. Da hat sich einiges geändert, die Statue kann abgestürzt oder von Sand und Erde begraben worden sein.“ „Du glaubst, daß es in einem Verlies Statuen gibt?“ fragte Hasard zweifelnd. Dan O'Flynn zuckte mit den Schultern. „Sagen wir mal, es ist alles möglich.“ Er setzte seinen Vorschlag sofort in die Tat um, aber er wußte nicht so recht, womit er beginnen sollte. Jedenfalls kniete er sich
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auf den etwas feuchten Boden und schob das Unkraut zur Seite. Darunter fand sich jedoch nichts als Dreck und längst verrotteter Abfall, wie morsches Holz, verwittertes Gestein und weitere Knochen, die gleich zerfielen, sobald er sie berührte. Dann legte er sich lang, faßte den Schädel aber nicht an und versuchte die Richtung zu bestimmen, in die das Sonnenlicht fiel. Aber es fiel nicht durch die leeren Augenhöhlen. „Das kann nur morgens oder abends der Fall sein“, sagte er und stand wieder auf. „Um diese Zeit steht die Sonne in einem Winkel, der sie die Köpfe nicht erreichen läßt.“ „Hüte dich vor dem Feuer, hieß ein anderer Hinweis, und ein zweiter befahl, den Stein zu entfernen“, sagte Carberry. „Aber das kann sich nur auf den Götzen beziehen, denn wie soll es hier Feuer geben? Und welcher Stein muß entfernt werden?“ Keiner wußte eine Antwort darauf, und so wurde das Verlies noch einmal gründlich abgesucht. Aber außer auf weitere Gebeine stieß man nur auf nackten Felsen und Reste von Mörtel, die zu einer dicken Schicht zusammengebackt waren. Grübelnd standen sie herum, jeder suchte nach einer Lösung, und niemand sah eine. „Schlagt euch das aus dem Kopf“, sagte Hasard. „Daß man in einem Verlies Gebeine mit den dazugehörigen Schädeln findet, dürfte wohl keine Seltenheit sein. In jedem Verlies kommen Menschen um, und ihre Gebeine verwittern, wie das hier der Fall ist. Es paßt alles nicht zusammen, die Fakten reichen nicht aus. Zudem wird keiner so verrückt sein, Schätze in einem Verlies zu verstecken.“ „Ein Verlies ist ein gutes Versteck, Sir!“ widersprach der Profos. „Eben nicht, Ed, sieh dir doch mal die Lage an! Ein Schiff, das hier zufällig vorbeisegelt und dessen Mannschaft die Burg sieht, das legt doch meist hier an, weil die Besatzung etwas zu finden hofft. Ganz besonders nach einem wochenlangen Törn, wo jeder auf Abwechslung brennt. Und dann wird natürlich das Verlies hier entdeckt. Es wird darin herumgetrampelt,
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und ein paar besoffene Seeleute spielen Ball mit den Köpfen. Wenn ich selbst einen Schatz zu verbergen hätte, dann würde ich ihn ganz woanders verstecken, keinesfalls aber in oder unter der Burg, und auch nicht im Verlies.“ „Ja, das sehe ich ein“, sagte der Profos. „Da hast du ganz recht, Sir, das würde keiner tun.“ Diese Überlegung nahm den anderen den Wind aus den Segeln, und sie stellten die nutzlose Suche ein. Nur die Zwillinge wühlten emsig und fast gierig im Gras, buddelten mit den Händen den Sand um, und nahmen auch ihre Messer zu Hilfe, bis ihnen der Schweiß vor Anstrengung über die Gesichter rann. Dann stießen sie auf gewachsenen Fels und sahen ein, daß es so nicht weiterging. Was sie zutage gefördert hatten, waren nur die traurigen Überreste verwitterter Gebeine. Die Sonne dachte gar nicht daran, durch die leeren Augenhöhlen der Köpfe zu scheinen, und als der Seewolf das noch einmal nachprüfte, erklärte er es für glatt unmöglich, denn auch ein anderer Blickwinkel würde die Situation nicht ändern. Damit war dann auch O'Flynns Theorie widerlegt, und selbst Dan mußte das nach einem nochmaligen Versuch einsehen. Hasard war keinesfalls enttäuscht, aber die beiden Jungen waren es, und man sah es ihren Gesichtern auch an, daß sie so brennend hinter dem Schatz her waren und ihn jetzt gefunden zu haben glaubten oder kurz vor dem Ziel standen. Aber dieses Ziel befand sich nicht in dem alten Gemäuer, es lag ganz woanders, und das mußte erst noch herausgefunden werden, wenn sie es überhaupt jemals herausfanden. „Es hat keinen Zweck, daß wir hier weiter herumstehen und uns die Köpfe zerbrechen“, sagte Hasard. „Wir vertrödeln nur unsere Zeit, mehr springt dabei nicht heraus.“ Ein letzter Blick noch, der den Totenköpfen galt, die zwischen Schutt, Gebeinen und Mörtel lagen und die
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höhnisch zu grinsen schienen, dann ging es die gewundene enge Treppe wieder nach oben. Die anderen, einigermaßen noch erhaltenen Räume wurden nur noch einer flüchtigen Inspektion unterzogen, doch auch da fand sich nichts. Alles war seit langer Zeit vergammelt, brüchig, morsch und faulte und verrottete langsam. „Eine Überlegung bliebe noch“, sagte O'Flynn. „Wo haben die Erbauer eigentlich ihr Trinkwasser gekriegt, wenn nicht ein Bach oder eine Quelle in der Nähe ist?“ „Ja, die kann möglicherweise schon seit langem versiegt sein“, warf Matt Davies ein. Hasard lächelte, hob die Hand und zeigte in den Himmel. „Die Antwort könnt ihr euch selbst geben“, sagte er. „Ich habe gemerkt, daß es hier alle paar Stunden leicht regnet.“ „Daran, verdammt, hätte ich ja auch denken können“, brummte der junge O'Flynn. „Ich glaube fast, ich habe heute einen schlechten Tag, was das Denken angeht.“ „Halb so schlimm“, sagte Ferris Tucker beruhigend. „Unserem guten Profos geht das oft so, auch wenn er es hinterher nicht zugeben will.“ „Fängst du karierter Affenarsch schon wieder damit an?“ fragte Ed grollend. „War nicht so gemeint“, sagte Ferris, und danach grinsten sie alle beide wieder. Sie verließen das alte Gemäuer, gingen den Hügel hinunter und auf das Boot zu. Einmal blieb Ferris stehen, klopfte an den Stamm eines dicken Baumes und nickte anerkennend. „Gutes, edles Holz. Das ließe sich in England ganz sicher zu einem stolzen Preis verkaufen.“ Der Seewolf jedoch hatte nicht vor, Ebenholz schlagen zu lassen und es mühsam über die Meere zu transportieren. Ganz sicher lief ihnen bald mal wieder ein beutebeladener Don über den Weg, und den konnten sie mit Leichtigkeit dazu überreden, seine Schätze zum Wohle Englands herauszurücken. Das füllte die Staatskasse der alten Lissy wieder auf,
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denn ihr Sinn stand mehr nach Gold und Geld als nach edlen Hölzern. Die brachten Kauffahrteifahrer mit, aber keine Männer, die einen königlichen Kaperbrief in der Tasche hatten. Sie schoben das Boot ins Wasser und setzten über, und als sie an Bord waren, galt des Seewolfs erste Frage dem Wohlergehen des alten Seemannes. „Unverändert“, sagte der Kutscher, „aber mir scheint, er ist mehr tot als, lebendig. Und wie war es bei euch?“ „Eine uralte Burg mit zwei Totenschädeln und ein paar Gebeinen sowie einigen alten Kanonen.“ Der Kutscher riß die Augen auf. „Totenschädel?“ rief er. „Dann habt ihr etwa ...“ „Reg dich wieder ab“, riet Carberry. „Gar nichts haben wir, nur Durst und Hunger.“ „Das hab' ich gern. Große Töne spucken, und dann nichts als Durst und Hunger mitbringen!“ „Hoffentlich ist das Essen bald fertig, sonst stecke ich dich persönlich in den Kessel, und dann gibt's Kutschersuppe mit Einlage.“ „Und wenn der Anker nicht bald an Bord ist und die Segel gesetzt“, sagte Hasard sanft, „dann gibt's Carberry-Steaks, und zwar für jeden gleich drei Stück.“ „Aye, aye, Sir!“ brüllte der Profos. „Welchen Kurs?“ „Wir runden die Insel!“ Kurz darauf ging die „Isabella“ ankerauf. Die Segel wurden gesetzt, und Fahrt kam in das Schiff. * Die erste Überraschung gab es erst am frühen Morgen des nächsten Tages. als die Insel gerundet wurde. Sie war sehr lang, aber ihre Breite betrug nur wenige Meilen. Sie ähnelte einem länglichen Fladen, der in der See lag wie hingegossen. Für ihre geringe Breite hatte sie aber erstaunlich hohe Berge. Kaum war die Insel an der Westspitze gerundet, briste es stark auf, und die „Isabella“ mußte gegen den Wind kreuzen.
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Und gleich darauf erfolgte auch schon die Meldung des Ausgucks: „Land genau voraus!“ Wiederum war eine schmale, kaum sichtbare Silhouette an der nördlichen Kimm zu sehen. Die Inseln lagen auf Sichtweite bei gutem Wetter, jedenfalls diese beiden, ob das auf die dritte ebenfalls zutraf, wußte noch niemand. Die konnte auch noch weiter im Westen liegen, oder sie lag ganz im Süden, aber das glaubte Hasard nicht. Er beschloß jedoch, noch einmal auf der Karte nachzusehen, denn er nahm an, daß diese fladenförmige, langgestreckte Insel zwischen den beiden anderen lag. Das war jetzt allerdings auch nicht so wichtig. Hasard sah nun den nördlichen Küstenstrich dieser Insel. Die nahe Küste war nur mit Vorsicht zu genießen, denn hier gab es Lavafelsen im Meer, die dreißig, vierzig und fünfzig Yard hoch aus dem Wasser ragten und sich unterseeisch in langgestreckten Riffen fortpflanzten. Manche reichten weit in die See hinaus, manche sah man gar nicht, die lauerten ganz dicht unter der Wasseroberfläche. Da der Wind auf Legerwall stand, war es ohnehin riskant, zu dicht an die Küste heranzusegeln, und so wies der Seewolf Pete Ballie an, gehörigen Abstand zu halten. Auch die Küstenformation war von Palmen, langen Stränden und tiefen Buchten gesäumt. Im Abstand von zwei Meilen segelte die „Isabella“ an der Küste entlang, und Hasard hatte die Hoffnung längst aufgegeben, ausgerechnet hier noch etwas zu finden. Dann folgte die Überraschung, als der Ausguck ein Schiff aus nordöstlicher Richtung meldete. „Das ist ja direkt eine Sensation“, sagte Ben Brighton. „Wer außer uns kann sich denn in diese Ecke der Welt verirren?“ „Denk nur an die letzten Inseln, die wir anliefen. Da hatten wir nicht einmal damit gerechnet, daß sie bewohnt waren. Und was fanden wir vor? Einen internationalen
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Hafen, in dem sich die unterschiedlichsten Völkergruppen tummelten.“ „Sogar Iren“, sagte Ben lachend. „Und alle lebten friedlich nebeneinander.“ Durch das Spektiv sah Hasard das fremde Schiff nun deutlicher. „Eine Karavelle“, sagte er, „ein ziemlich betagter alter Eimer mit leichter Schlagseite. Er hält genau auf die Insel zu, hält sich aber weiter östlich. Wenn er mit diesem Tempo weitersegelt, wird er früher oder später noch unseren Kurs kreuzen.“ Er reichte das Spektiv an Ben weiter, der es noch weiter auseinander schob und hindurchblickte. „Der hat tatsächlich Schlagseite und segelt dem Teufel fast ein Ohr ab. Jungs, hat der es eilig.“ Die Karavelle segelte mit voll achterlichem Wind, und sie bewegte sich wesentlich schneller als die „Isabella“. Vielleicht hatten die Männer es deshalb so eilig, weil das Schiff Schlagseite hatte, und nun mußten sie unter allen Umständen so schnell wie möglich Land erreichen. Zurück konnten sie nicht mehr, da mußten sie kreuzen, und nun hatte sich ihr Kapitän entschlossen, es auf dieser Insel zu versuchen. So ähnlich waren Hasards Gedankengänge, aber er täuschte sich, denn die Verhältnisse lagen ganz anders. „Wenn mich nicht alles täuscht“, sagte Ben, „dann nimmt die Schlagseite noch zu. Der Kahn ist kurz vorm Absaufen, daher hat er es so verdammt eilig.“ „Mit der Lateinertakelung kann er nicht so gut kreuzen, das leuchtet mir schon ein, daß er dann den für ihn günstigsten Weg sucht.“ Das Schiff war schlank und rank, und es hatte auch nur wenig Tiefgang. Der Rumpf war so konstruiert, daß er besonders gut die Wellen brechen konnte. Aber die Schlagseite behinderte ihn immer stärker, und ein paarmal sah es aus, als würde das Schiff kentern. „So langsam“, sagte Ben, „müßte der Bursche ja mal seine Segel aufgeien, wenigstens eins. Bei dieser Fahrt und dem achterlichen Wind donnert der doch in die
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Klippen, daß keine Planke mehr an der anderen bleibt.“ Alle Arwenacks verfolgten jetzt das verzweifelte Manöver der Karavelle, die sich knapp eine Meile von der „Isabella“ entfernt befand und die immer noch voll auf die Insel zuhielt. „Sehen die Kerle das denn nicht“, schimpfte Dan. „Man könnte meinen, die segeln mit voller Absicht in die Klippen.“ Die „Isabella“ schien für den Schlagseitensegler gar nicht zu existieren. Stur und unbeirrbar jagte das Schiff der Insel entgegen. „Hoffentlich haben die Kerle Glück“, wünschte Ben. „Das Schiff liegt ja nicht tief, und so flitzen sie über die Klippen hinweg.“ Das sah aber nicht so aus, denn dort, wo sich die Karavelle befand, standen die Felsen fast dicht an dicht und bildeten hinter einer noch nicht einsehbaren Bucht fast eine Barriere. Die Arwenacks stöhnten, ganz besonders Carberry konnte sich seinen Kommentar wieder einmal nicht verkneifen. „Ja sehen diese lausigen Nachttopfsegler denn nicht, daß sie gleich in Stücke gerissen werden! Die können doch weiter nach Back- oder Steuerbord halten, diese selbstmörderischen Kanalratten. Dem Kapitän gehört die Haut in Streifen von seinem karierten Affenarsch gezogen, wenn er die Leute in unnötige Gefahr bringt.“ „Verdammt, wir sollten sie warnen, Sir“, sagte Ben auf dem Achterdeck zum Seewolf. „Aber wie nur?“ Hasard überlegte nicht lange. „Rasch in meine Kammer, Ben. Bring einen von den Brandsätzen, die keinen Schaden anrichten, die nur Funken, Rauch Und Feuer versprühen und die ordentlich knallen.“ Ben hielt sich nicht lange mit einer Antwort auf. Er stand am günstigsten, und sie hatten keine Zeit zu verlieren. Es dauerte auch nicht lange, dann war er wieder zurück mit dem Heuler, dem Abschußgestell und einer glimmenden Lunte.
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Der chinesische Wunderknaller würde in das kleine Bronzerohr geschoben und mit der Lunte entzündet. Es qualmte, rauchte und zischte, als seine eigene Lunte zu glimmen begann. Dann machte er sich auf die Reise und stob los, einen langen Schweif aus Feuer und dunklem Rauch hinter sich herziehend. Natürlich würde er nicht über der Karavelle explodieren, aber die Leute mußten dieses Gewirr aus prachtvollen roten und grünen Sternen ganz einfach sehen, und ein Gehirn zum Denken hatten sie mit Sicherheit ebenfalls, wenn es auch augenblicklich nicht danach aussah, denn jetzt glaubten die Seewölfe, ein hirnloser Idiot renne gewaltsam die Karavelle auf die Klippen. Das war der Augenblick, als der Heuler mit einem gewaltigen Knall auseinander flog und seinen farbenprächtigen Inhalt über der See ausstreute. Gelbe, rote, grüne und blaue Sterne rasten davon, und all die kleinen Körner explodierten ebenfalls. Es war, als ginge sekundenlang eine neue Sonne auf, dann senkte sich der Regen aus scheinbaren Flammen herab und fiel ins Meer. Durch das Spektiv sah Hasard, daß die Leute an Bord die Hälse reckten, und auf das eigenartige und erschreckende Schauspiel starrten. Wie gelähmt standen sie da und glotzten sich die Augen aus. Dann, als der Feuerregen vorüber war, segelte die Karavelle weiter, als wäre nichts geschehen. „Ein Blödmann steht am Steuer“, sagte Ben, „aber der Kerl muß wirklich ausgesprochen dämlich sein.“ Doch er berichtigte sich sogleich, als er noch einmal durch das Spektiv blickte. „Der Kolderstock ist anscheinend gebrochen, oder sie haben ihr Ruder verloren, denn der Kerl steuert gar nicht. Aber zumindest hätten sie die Segel aufgeien können.“ „Pete“, sagte der Seewolf, „wir nehmen Kurs auf die voraussichtliche Unglücksstelle.“ „Aye, aye, Sir!“ Ben Brighton rief dem Profos zu:
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„Ed! Wir legen Kurs auf die Unglücksstelle. Die wird vermutlich gleich hinter den ersten schwarzen Felsen sein. Hopp, hopp!“ Carberry hob den rechten Arm zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Gleich darauf erfolgten die ersten Segelmanöver. Die „Isabella“ konnte nicht zu dicht an Land heran. Der Wind blies immer noch hart, und er hätte sie auf Legerwall gedonnert. Daher ging sie höher an den Wind. Der Profos beabsichtigte, Anker zu setzen und den Rahsegler achtern sacken zu lassen, damit er nicht auch noch in den Klippen landete. Jetzt mußte jeden Augenblick der Aufprall erfolgen, und alle sahen mit gemischten Gefühlen zu der Karavelle hinüber, die nur noch drei, vier Kabellängen entfernt war. Dann donnerte sie in die Klippen hinein, und wurde jäh von einer Riesenfaust gebremst. Drei oder vier Leute waren rechtzeitig über Bord gesprungen und landeten aufklatschend im Wasser. Eilig schwammen sie von der Unglücksstelle fort, dem Land entgegen. Die anderen blieben geduckt stehen. Wahrscheinlich wußten sie nicht so recht, was sie erwartete und daß der Anprall an die Felsen verdammt hart werden würde. Ein infernalisches Bersten, Kreischen und Krachen drang zu den Seewölfen herüber. Die Karavelle flog in einem Trümmerregen auseinander, als würde ein unsichtbarer Riesenhammer sie blitzartig in Stücke schlagen. Die beiden Masten flogen durch die Luft und landeten zusammen mit der Takelung zersplittert im Wasser. Der Bug war schon auseinander geflogen, aber noch sausten Trümmer durch die Luft, und der Aufprall war so stark gewesen, daß sogar einer der Felsen unter lautem Knirschen brach und ebenfalls in dem allgemeinen Chaos landete. Aber die Leute auf der Karavelle benahmen sich bei dem ungeheuren Aufprall recht seltsam.
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Als sie geduckt und in banger Erwartung dastanden, flogen sie Kopf voran über das niedrige Deck. Einer landete mit dem gleichen Tempo, das die chinesischen Heuler erreichten, kopfüber im Wasser. Ein anderer sauste nach vorn und verschwand in einem Trümmerregen aus Holzteilen, die nach allen Seiten auseinanderstrebten. Es ging alles schnell, blitzartig, und es lief mit einem beängstigenden Krachen und Bersten ab, daß den Seewölfen immer noch die Ohren dröhnten. „Ich werde verrückt!“ rief der Profos. „Habe ich das alles eben nur geträumt?“ Er griff sich an den Kopf und blickte voraus. Das Bild blieb, und es war schrecklich genug anzusehen. In dem wilden Durcheinander trieben Leute, und die schrien jetzt klar und deutlich um Hilfe. * „Wenn das keine Holländer sind, dann freß ich sämtliche Trümmer, die da im Wasser schwimmen“, versprach der Decksälteste Smoky. Kurz vor der unübersehbaren gebirgigen Landzunge, hinter der eine Bucht lag, war das Unglück passiert. Als die „Isabella“ jetzt die Stelle erreichte, gab es eine weitere Überraschung, und die war nicht gerade angenehm. „Schiff in der Bucht!“ rief der blonde Schwede Stenmark, der seit einer halben Stunde Ausguck hielt. Es gab kein Zurück mehr, denn er hatte die Worte gerade heraus, als auch schon der Anker in das Wasser klatschte und auf dem felsigen Untergrund landete. „Kannst du das nicht früher melden, du vergammelter Hering!“ brüllte Ed wütend. „Jetzt sitzen wir in der Falle, verdammt noch mal!“ „Ich kann nicht durch Berge gucken“, schrie Stenmark zurück. Jetzt war guter Rat teuer. Einerseits waren da die im Wasser treibenden Männer, hingegen lag in der Bucht ein weiteres Schiff, das jetzt ohne großes Risiko die
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„Isabella“ aus allen Rohren befeuern konnte. Eine verteufelte Situation! „Conroy!“ schrie der Seewolf. „Die achteren Drehbassen klar zum Feuern, wenn ich den Befehl gebe! Laß auch gleich die Culverinen auf Steuerbord überprüfen, und hoch mit den Stückpforten! Ein weiterer Mann in den Ausguck. Jede Bewegung des anderen Schiffes melden. Die anderen fieren das Boot ab und bergen die Männer, die zwischen den Felsen treiben. Hier gibt es Haie.“ Die Bestätigungen liefen augenblicklich ein. Smoky steckte Trosse nach, jeder war auf seinem Posten, und wer entbehrlich war, besetzte die Siebzehn-Pfünder, falls das fremde Schiff aus der Bucht segelte. „Stenmark! Wie sieht es aus? Genaue Lage!“ Der Schwede beugte sich weit nach vorn und legte die Hände an den Mund, um an Deck besser verstanden zu werden. „Eine kleine Galeone, Sir. Liegt in der Bucht vor Anker. Sie besetzen ein Boot mit vier Leuten. Haben sicher den Krach gehört. Bewaffnete sind keine dabei. In der Bucht wird Holz ganz dicht am Strand geschlagen und auf die Galeone gebracht.“ „In Ordnung, Stenmark. Halte die Augen offen!“ „Aye, Sir!“ Hasard blickte vom Achterdeck in die See, wo immer noch die vielen Holztrümmer schwammen. Er sah vier triefende Männer, die inzwischen das Ufer erreicht hatten und nun am Strand standen. Acht weitere Köpfe zählte er, die gerade noch aus dem Wasser lugten. Der Profos war schon heran, und Matt Davies griff mit seiner Hakenprothese zu, schnappte einen der Kerle und hievte ihn wie einen nassen Sack ins Boot. Ertrunken wäre von den Holländern vermutlich niemand, aber zwischen den Riffen lauerten Haie, und selbst wenn die Leute sich an Spieren, Masten oder Planken klammerten, nutzte ihnen das nichts, denn den Haien war es egal, was sie
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zuerst erwischten, die Beine oder den Kopf eines Mannes. Darum scherten sie sich den Teufel. Ein zweiter Mann wurde an Bord gehievt. Das Boot wurde ein Stück weitergepullt, dann der nächste Mann an Bord genommen, und einige andere schwammen verstört dem rettenden Hort entgegen. Manche waren verletzt, aber dann hatten sie alle acht Mann an Bord, und der Profos ließ zur „Isabella“ zurückpullen. Hasard erwartete die Schiffbrüchigen in der Kuhl. Einer nach dem anderen enterte auf, und die Verletzten wurden von Batuti, Blacky und den anderen hochgeschoben. Dann standen sie an Deck, triefend, mit aufgeschürften Armen, Beinen oder Gesichtern. Die meisten wirkten, als seien sie betrunken. Sie schwankten leicht. Ein Blonder grinste fortwährend dämlich, und ein anderer merkte anscheinend gar nicht, was um ihn herum vorging. Hasard sah ihnen in die Gesichter. Was, zum Teufel, war nur mit diesen Kerlen los, überlegte er. „Die sind ja besoffen“, stellte Ben Brighton fest. „Genau so sehen sie aus“, sagte Carberry. „Aber hol's der Teufel, ich kann das nicht so richtig glauben.“ Ein breitschultriger, dunkelblonder Mann von beträchtlicher Leibesfülle, schüttelte müde den Kopf. „Godverdomme“, sagte er. „Ich bin der Steuermann dieses Schiffes.“ Er sprach Englisch, als er merkte, daß er Engländer vor sich hatte, wie so viele Holländer Englisch sprachen oder umgekehrt. „Dieser paar Trümmer meinen Sie wohl“, verbesserte Hasard sarkastisch. „Das Schiff gibt es nicht mehr, und aus dem Rest könnt ihr höchstens noch ein Floß bauen.“ „Wir möchten uns bedanken“, Sagte der Steuermann. „Beinahe hätten uns die Haie gefressen. Ouderkerk ist mein Name, Sir.“ „Killigrew“, sagte Hasard, und gab den nassen Händedruck zurück. „Aber jetzt sagen Sie mir, um Himmels willen, was denn eigentlich passiert ist. Was ist mit den
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Leuten los? Weshalb sind Sie wie ein Verrückter in die Klippen gesegelt? Gab es da keinen besseren Platz? Und wo ist der Kapitän?“ Ouderkerk lächelte gequält. „Der Cap steht schon an Land, Sir. Aber ich möchte Ihnen Ihre Fragen gern beantworten. Wir liegen mit einer Galeone in der Bucht und schlagen edle Hölzer für die Sieben Provinzen. Wir sind zur anderen Insel gesegelt, um Früchte zu holen, die nur dort wachsen. Auf dieser Insel gibt es nicht viel. Drüben wächst aber auch ein Strauch mit roten Beeren, ganze Büsche davon gibt es, und damit haben diese Idioten sich wieder einmal bis an die Halskrause vollgestopft, obwohl sie die Wirkung ganz genau kennen. Trinkt man Wasser darauf, dann ist es so, als hätte man ein halbes Faß Rum geschluckt. Vielleicht können Sie sich denken, was dann passierte. Die Kerle hatten einen Rausch, der zum Himmel stank.“ „Mann, von den Dingern müssen wir auch welche holen“, sagte Luke Morgan begeistert, aber ein Blick des Seewolfs ließ ihn schlagartig verstummen, und auch sein erwartungsfrohes Grinsen erstarb ebenso schlagartig. Hasard konnte sich trotz der ernsten Lage das Grinsen nicht verkneifen, und als der Steuermann es sah, verzog er widerwillig die Lippen und grinste mit, obwohl ihm nicht danach zumute war. Dann erzählte er weiter: „Die Wirkung tritt erst nach einer gewissen Weile ein, und wir sammelten Früchte und schossen auch ein paar entenähnliche Vögel, die aber nicht fliegen können, dann segelten wir zurück, und wir hatten guten, achterlichen Wind. Aber diese ausgekochten Halunken soffen sich schon an einer Quelle satt, und dann hatten wir es. Wir streiften einen Unterwasserfelsen, und rissen uns leicht die Seite auf. Zurück konnten wir nicht mehr, also segelten wir dem Teufel ein Ohr ab, damit die Kraweel uns nicht unterm Hintern absoff.“ „Die Sorge seid ihr los“, sagte Hasard trocken und schüttelte wieder den Kopf. „Und was war mit dem Ruder?“
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„Fast abgebrochen, Sir. Und die schweren Lateinersegel kann ein Mann allein nicht bedienen. Die anderen standen herum und sahen mich blöde an, wenn ich etwas tun wollte. Und ... und der Cap, na ja, er hatte wohl auch ein paar der roten Beeren gegessen.“ Als der Steuermann mit seiner Erzählung fertig war, da grinsten die Seewölfe bis über beide Ohren. Carberry schlug sich auf die Schenkel, blickte in die dümmlichen Gesichter der Holländer und begann dann laut zu lachen. „So was habe ich auch noch nie gehört“, sagte er. „Segeln diese besoffenen Jans ihren Eimer in Grund und Boden, nur weil sie von ein paar Früchten besoffen sind.“ Die anderen lachten mit. Das Unglück hatte allem Anschein nach kein Menschenleben gekostet, und wenn der alte Eimer hin war, dann war das nicht mal so schlimm wie ein Beinbruch, dachte der Profos. Von den Holländern nüchterte sehr langsam einer nach dem anderen aus, aber was sie da eben erlebt hatten, begriffen sie immer noch nicht so ganz. Der Kutscher sah nach ihren Wunden und verarztete sie notdürftig. Da pullte das Boot aus der Bucht heran, und wildes Geschrei erhob sich, als sie statt der Karavelle nur noch ein paar Planken und Spieren im Wasser treiben sahen. Anscheinend wußten die anderen, was die Ursache für dieses Unglück war, denn überall sah man grinsende und schadenfrohe Gesichter bei den Holländern. Sie nahmen es offenbar nicht so tragisch, und das war etwas, das wiederum die Seewölfe nicht begriffen, daß man ein Schiff so leichtfertig aufs Spiel setzte. Sie trösteten sich jedoch damit, daß der alte Kahn ohnehin bald untergegangen wäre. Immerhin behauptete der Steuermann trocken, das Schiff hätte ein Riesenleck gehabt. Eine Logik war das, dachte der Seewolf, die ging einfach nicht in seinen Schädel hinein.
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„Was tut ihr in dieser lausigen Gegend?“ wollte der Steuermann wissen. „Euch vor den Klippen retten“, sagte Hasard lachend. „Nein, wir wollen in den Atlantik und haben hier nur angelegt, um noch einmal Trinkwasser zu nehmen.“ „Gibt's hier nicht, nicht auf dieser Insel“, sagte der Steuermann. „Aber auf der anderen gibt es ein paar kleine Flüsse, obwohl sie kleiner ist als diese hier.“ „Und wie heißt diese Insel?“ forschte Hasard. „Wir nennen sie die Holzinsel, sie hat, glaube ich, keinen Namen, und wir haben sie nur durch Zufall entdeckt. Dann sahen wir das viele gute Holz, und aus diesem Grund blieben wir gleich hier. Damit haben wir den Weg nach Indien gespart.“ Inzwischen schor das Boot längsseits, und ein langer dünner Mann fragte auf Holländisch, ob etwas passiert sei. „Das Schiff ist beim Teufel“, schrie der Steuermann zurück. „Das seht ihr doch, ihr Transäcke, godverdomme. Beschwert euch beim Cap und den anderen, die die roten Beeren gefressen haben.“ Der Cap, der Kapitän also; von dem sie sprachen, stand immer' noch am Ufer und blickte nicht so richtig durch. Er starrte auf die Trümmer und das Treibgut und wußte das alles nicht so recht zu deuten. Nur einen Riesenbrummschädel schien er zu haben, denn alle Augenblicke griff er sich an den Kopf oder hielt ihn mit beiden Händen fest. „Was war das für ein schrecklicher Knall, und womit habt ihr uns eigentlich beschossen?“ fragte Ouderkerk neugierig. „Der ganze Himmel hat ja gebrannt.“ „Die Dinger stammen aus einem fernen Land“, erklärte Hasard. „Und wir haben sie geschenkt gekriegt.“ „Eine kolossale Wirkung. Ich dachte, die ganze Welt geht unter.“ „Euer Schiffchen hat jedenfalls den Anfang gemacht“, bemerkte der Profos grinsend. „Ihr habt nur noch Trümmer.“ Das schien den Holländer nicht zu rühren. Unbewegt blickte er auf das Chaos. „Den Rest nehmen wir zum Aufbessern für die Galeone“, sagte er trocken. „Hin und
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wieder kann man schon mal eine Planke oder einen Mast gebrauchen.“ Von unten rief der andere, was denn jetzt, godverdomme, mit den anderen Kerlen geschehen sollte. Auch darin war der Steuermann nicht zimperlich. Diese Holländer schienen ein paar rauhe Gesellen zu sein. Was dann geschah, löste bei den Seewölfen wieder einmal atemlose Beklemmung. und Verwunderung aus. Ouderkerk schnappte sich den ersten Mann, der immer noch so dämlich grinste, schleifte ihn zum Schanzkleid, hievte ihn am Hosenboden hoch und warf ihn kurzerhand dicht neben dem Boot ins Wasser. Hasard glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Schluckend stand er daneben und sah fassungslos zu, wie Ouderkerk mit dem nächsten Kerl gleichermaßen verfuhr. Unten klatschten die Besoffenen ins Wasser, und als sie wieder auftauchten, packten die anderen zu und zogen die Kerle in ihr Boot hinein. Die Arwenacks waren sprachlos. Ferris Tucker blieb der Mund offen stehen, dem Profos klappte der Unterkiefer herab, und Matt Davies kratzte sich mit seiner Hakenprothese verblüfft die Bartstoppeln und zog sich einen blutigen Kratzer ins Gesicht, ohne daß er es merkte. Der dritte der besoffenen Kerle kam an die Reihe. Ein Hochhieven, ein kurzer Ruck, und schon ging der Jan mit einem Grinsen auf den Lippen über Stag und war weg. „Da sind Haie im Wasser“, bemerkte Hasard etwas heiser. Auch das rührte den rauhbeinigen Steuermann nicht. „Ich weiß“, sagte er, „aber die Jungens werden so schnell aus dem Bach gezogen, daß die Haie gar nicht zum Biß gelangen. Außerdem sind sie ja noch ziemlich weit weg.“ Nummer vier segelte mit frohem Grinsen über Bord, kantete ab und landete aufklatschend im Meer. Die anderen wußten überhaupt nicht, was mit ihren Kameraden geschah.
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Sie hatten sich in eine Reihe gestellt und warteten mit idiotischer Geduld, daß sie über Bord geworfen wurden. In Carberrys Augen glomm ein stilles Leuchten auf. „Dieser Mann gefällt mir“, sagte er. „Der fackelt wenigstens nicht lange. und ist nicht so zart besaitet wie ich. Seht euch das an, ihr Rübenschweine, und prägt euch das gut ein. Heute habe ich wieder eine Menge dazugelernt. Wen ich also einmal besoffen erwische, der kann gleich freiwillig abkanten.“ Vier waren jetzt über Stag, und unten im Boot lachten und grölten die anderen und lauerten darauf, daß der nächste Beerenfresser im Wasser landete. Oben standen die Arwenacks und lachten ebenfalls, und die, die nicht lachten, die wunderten sich wenigstens kräftig, wenn Ouderkerk nach dem nächsten Rübenschwein griff. „Der eine hat ein Gesicht wie eine triefäugige Kakerlake“, sagte Carberry leise. „Der scheint am schlimmsten besoffen zu sein, der kann gar nicht mehr stehen.“ „Dreimal ist er schon umgefallen“, sagte Dan grinsend und warf seinem Vater einen Blick zu. Der alte O'Flynn quittierte jeden einzelnen mit Beifall, der über Bord flog. Das Ganze sah nach einer Massenabfertigung aus, und das war ja wohl auch der Fall. „Recht so“, sagte Dans granitharter Vater. „Das lobe ich mir, mein Junge. So und nicht anders haben wir es auf der ,Empress of Sea` auch immer gehalten. Hauruck, und fier ah den nächsten!“ brüllte er begeistert. „Köstlich, diese Leute aus den Sieben Provinzen“, sagte Smoky. „Für jede Provinz hat er jetzt schon einen über Bord gefeuert. Was tun wir nur mit dem achten?“ Ouderkerk, dieser rauhe Bursche, hatte die Worte vernommen, drehte sich um und grinste. Ein letzter Mann stand jetzt noch an Deck. Seine Augen waren geschlossen, er schwankte wie ein Rohr im Winde, aber
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auf seinem Gesicht lag ein ausgesprochen dummes Grinsen, wie bei den anderen auch, die jetzt unten im Boot hockten. „Wir behaupten einfach, wir hätten acht Provinzen“, sagte er trocken. „Dafür werfen wir den ein bißchen weiter. Das ist übrigens der Bootsmann.“ „Aha“, sagte Hasard höflich. Viel mehr brachte er auch nicht heraus, weil ihm einfach die Worte fehlten. Jetzt waren also der Bootsmann und der Kapitän zumindest stockbesoffen, die immerhin zur Schiffsführung gehörten. Einen Kahn hatten sie zu Kleinholz verwandelt, und der Seewolf fragte sich besorgt, wann wohl die in der Bucht liegende Galeone folgen würde, denn mit dieser Besatzung würde sie es doch nie schaffen, bis nach Holland zu segeln. Wahrscheinlich fraßen diese Kerle sich vor ihrer Abreise noch einmal gründlich voll und schwammen dann zurück, denn ihr Schiff blieb mit Sicherheit am nächsten Felsen hängen. Und das alles hatten sie den roten Beeren zu verdanken und dem Wasser, das sie danach tranken! Das mußte schon ein Genie sein, der das herausgefunden hatte! Vermutlich hatte er wochenlang daran geübt. Den achten und letzten Beerenfresser hievte der Steuermann ganz besonders hoch, sicher weil ihm das rangmäßig zustand als Bootsmann. Dann sauste der Kerl über Bord, als hätte er Feuer in der Hose. In seinem verständlichen Eifer hatte der Steuermann ihn aber ziemlich weit geworfen, und so landete Bootsmann haarscharf hinter dem Boot. Als er in die See klatschte, schoß eine Fontäne hoch wie von einer abgefeuerten Breitseite. „Jetzt bin ich mal gespannt, wie er sich selbst über Bord wirft“, sagte Smoky. „Oder müssen wir das besorgen? Er sah in das fast zu Stein gewordene Gesicht des Seewolfs und begann zu grinsen. Dann verabschiedete sich Ouderkerk, bedankte sich, und lud die Seewölfe aus Dank für die Rettung auf die Galeone ein.
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Hasard kamen diese Burschen schlimmer vor als eine Horde Wikinger, und so lehnte er höflich dankend ab und betonte, daß er noch eine lange Reise vor sich hätte und keine Zeit mehr verlieren dürfe. Ouderkerk sah das ein und lachte unbekümmert. „Sie sollten sich noch ein paar von den Beeren mitnehmen, Sir“, empfahl er. „Dann brauchen Sie nur noch Trinkwasser, und das gibt's ja in rauhen Mengen. Sie können dadurch massenweise Rum sparen, nur ist die Nachwirkung ein wenig übel.“ „Vielen Dank“, sagte der Seewolf. „Aber ich wollte wenigstens noch um diese prächtige Insel herumsegeln, und ohne die Beeren schaffen wir es vielleicht noch bis nach England.“ Ouderkerk empfahl sich auch auf ähnliche Weise. Er stieß noch ein freudiges Gebrüll aus und sprang dann ebenfalls über Bord. „Die nutzen wenigstens nicht die Jakobsleitern ab“, sagte Smoky andächtig. „Das bewundere ich so an diesen Burschen.“ „Mann, hievt bloß den Anker, und setzt die Segel, hier wird mir immer unheimlicher zumute“, sagte Ben Brighton. „Das sind ja die reinsten Höllenhunde hier. Gegen den ist selbst Thorfin Njal ein zart gewickelter Säugling.“ „Und was ist mit diesen roten Beeren?“ fragte Luke Morgan. „Sollten wir nicht vorsichtshalber ein paar mitnehmen, ich meine, nur so, als eiserne Reserve?“ „Wirf ihn gleich hinterher, Ed“, sagte der Seewolf. „Und wenn noch einer von diesen roten Beeren faselt, dann werde ich mal die englischen Provinzen alle durchzählen.“ Damit drehte er sich um und ging aufs Achterdeck zurück. Die Holländer im Boot brüllten begeistert.. Die mußten alle verrückt sein, dachte der Seewolf erschüttert, und er war froh, als endlich der Anker gehievt wurde. * Von der Flora her ähnelte die andere Insel der großen. Auch hier gab es diese Büsche
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mit den feuerroten Blumen, den Palmen und den Sträuchern, die sie noch nie gesehen hatten. Diesmal segelte die „Isabella“ fast auf Ostkurs. Hasard hatte beschlossen, die Insel von der entgegengesetzten Seite zu runden, um nicht noch einmal mit den freundlichen Holländern zusammenzustoßen. Wer weiß, dachte er, vielleicht legten die beim nächsten Mal aus irgendeiner Unvorsichtigkeit die „Isabella“ in Trümmer. Wenn die Jans diese höllischen Beeren intus hatten, dann war ihnen alles zuzutrauen. Immer wieder wurde nach Flüssen Ausschau gehalten, und dann, kurz vor der Ostspitze der Insel, wurde der erste gesichtet. Die Zwillinge, ständig auf der Jagd nach dem Spektiv, damit ihnen auch ja nichts entging, rissen die Arme hoch und brüllten. Aber Hasard schüttelte nur den Kopf. „Das ist nicht mal ein kleiner Bach“, sagte er, „das ist nur ein spärliches Rinnsal, das irgendwo aus den Bergen zusammenläuft; wenn es regnet. Das könnt ihr euch aus dem Kopf schlagen! Mit springendem Silber hat das nichts gemeinsam.“ Das mußten Hasards Söhne schließlich einsehen, denn es war wahrhaftig nur ein unscheinbares Rinnsal, das am Strand langsam im Sand versickerte. Der Rest lief in einem kleinen Bogen ins Meer. Es war auch nicht ersichtlich, woher das Bächlein kam, aber es war gut denkbar, daß es nur durch Regen gebildet wurde und anschließend wieder versiegte. „So'n Mist“, knurrte Philip. „Ich glaube, wir finden dieses springende Silber nie mehr im Leben.“ Sein Bruder war da weitaus optimistischer. „Klar finden wir es“, versicherte er, „das wird gar nicht mehr so lange dauern.“ Sobald einer der beiden das Spektiv vor dem Auge hatte, stöberte der andere noch einmal die Karte durch, um etwas zu finden, was ihnen vielleicht entgangen war oder was sie übersehen hatten. Derjenige, der die Karte angefertigt hatte, wollte vielleicht nicht, daß der Schatz auf
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so einfache Weise gefunden wurde, und deshalb hatte er alles in Rätsel und Geheimnisse verpackt. Vielleicht auch war diese Karte für einen ganz bestimmten Mann gezeichnet worden, der damit viel mehr anfangen konnte. Erst später mochte sie dann in falsche Hände geraten sein. Am späten Nachmittag wurde die Insel gerundet, und jetzt lief die „Isabella“ in einem langen Bogen wieder nach Westen. Von der anderen Insel war nichts mehr zu sehen. Sie lag im dunstigen Nebel an der Kimm und ließ sich nur ahnen. „So, wie ich unser Glück kenne“, sagte Ben Brighton, „befindet sich der Schatz auf der letzten und dritten Insel, deren genaue Lage wir erst noch erkunden müssen. Und darüber werden nochmals einige Tage vergehen.“ „Wohl kaum“, sagte Hasard zum Entsetzen seiner Söhne. „Ich habe drei Tage Zeit gegeben, dann segeln wir weiter. Es geht nicht, daß wir wochenlang hinter einem Schatten herjagen, der in Wirklichkeit gar nicht existiert.“ „Bist du davon überzeugt, Sir?“ fragte Ben. „Halbwegs schon, obwohl ich natürlich auch mittlerweile zu der Ansicht gelangt bin, daß wohl kaum jemand sich einer derartigen Mühe unterzieht, eine Karte anzufertigen, die nur Ramsch ist. Mir geben die genauen Angaben zu denken.“ „Ja, daran dachte ich auch. Segeln wir nachts weiter, oder gehen wir vor Anker? Ich meine, wir könnten dann an jener geheimnisvollen Stelle leicht vorbeisegeln, und alles wäre umsonst.“ „Wenn die Nacht anbricht, dann werden wir in irgendeiner Bucht vor Anker gehen“, sagte der Seewolf. Hasard junior klemmte sich das Spektiv unter den Arm und schlich davon. Auch Philip folgte ihm gleich darauf. „Die beiden Burschen haben Fieber“, sagte Dan lachend. „Die sind ja ganz verrückt darauf, etwas zu entdecken. Jetzt entern sie schon wieder in den Großmars.“ Sie sahen den beiden nach, die in das Luvwant des Großmastes stiegen und wie die Affen hinaufturnten.
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Oben begrüßte sie Arwenack mit lautem Gekecker, und auch der karmesinrote Papagei bedachte die Neuankömmlinge mit einer Flut nicht gerade zarter Schimpfworte, deren Sinn der Arakanga natürlich nicht verstand, die er nur nachplapperte, weil er sie vom Profos so gehört hatte. Oben sah Blacky ihnen entgegen und grinste. „Na, ihr Helden, sucht ihr immer noch nach eurem Totenschädel?“ „Er muß ganz in der Nähe sein“, behauptete Hasard. „Das habe ich so im Gefühl, Mister Blacky.“ „Was ihr nicht alles im Gefühl habt! Das mit den anderen beiden Totenköpfen war aber ein schlechtes Gefühl, was? Ich glaube, das ist alles Humbug mit dem Schatz, und wir alle werden kräftig an der Nase her umgeführt.“ „Das ist kein Humbug“, sagte Philip fast empört. „Wir können ja eine Wette abschließen, Mister Blacky.“ Der schwarzhaarige, dunkeläugige Mann mit dem sonnenverbrannten Gesicht hatte Verständnis für die beiden, aber so recht mochte er an die Sache nicht glauben. Er hielt es eher für einen lustigen Spaß, der etwas Abwechslung in das Bordleben brachte, obwohl es an Bord wahrhaftig genug Abwechslung gab und niemand sich über Langeweile beklagen konnte. „Lieber nicht“, sagte Blacky. „Am Ende habt ihr doch recht, und ich bin mein Geld los.“ Die beiden guckten sich die Augen aus, und dann begannen sie zu fluchen, weil es bald dunkel werden würde. „Noch einen Tag“, schimpfte Philip, „und wir haben auch diese Insel hinter uns. Dann haben wir den Schatz gesehen.“ „Was erwartet ihr eigentlich von dem Schatz?“ erkundigte sich Blacky mit einem breiten Grinsen. Hasard hob die rechte Hand und zählte auf. „Goldstücke, Silberlinge, Edelsteine, Perlen und ...“
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„Und Geschmeide“, sagte sein Bruder lakonisch. „Goldketten und Ringe natürlich auch.“ „Aha. Und das alles steht in einer Höhle einfach so rum, was! Und natürlich ruht der Schatz in einer Truhe mit Eisenbeschlägen.“ „So ungefähr stellen wir uns das vor“, sagte Hasard. Dann wurde der Blick seiner Augen starr, er atmete hastig und stieß aufgeregt seinen Bruder an, der erschreckt zusammenzuckte. „Ein ... ein Fluß“, stammelte er, „der kommt aus den Bergen.“ Blacky glaubte deutlich. zu sehen, wie den beiden Burschen eine Gänsehaut über den Körper kroch. Sie wurden ganz fuchtig, einer riß dem anderen das Spektiv aus der Hand und blickte hindurch, und nach einer Weile waren sie so großzügig und überließen es Blacky, damit der auch einmal hindurchsehen durfte. „Wahrhaftig ein Fluß“, sagte Blacky. „Da vorn ist das Land deutlich eingeschnitten, und der Teufel soll mich holen, wenn dieser Fluß nicht wie springendes Silber aussieht.“ Die beiden stießen sich fast die Köpfe, als sie abenterten. Sie hatten es furchtbar eilig, und sie hörten auch nicht mehr, wie Blacky ihnen nachrief: „Paßt bloß auf, ihr Helden, sonst stürzt ihr noch kopfüber auf die Planken.“ Kopfschüttelnd und atemlos sah er ihnen nach, wie sie, kleinen aufgeregten Spinnen gleich, über die Webleinen flitzten. Und dann rannten sie mit Gebrüll aufs Achterdeck, um ihrem Vater die ungeheure Entdeckung zu verklaren. Der Seewolf brachte nicht die gleiche Begeisterung auf wie seine Söhne, und auch sein Temperament ging nicht mit ihm durch. Dabei war es doch eine ungeheuerliche Sensation, dachte Philip. Aber ihr Vater registrierte das lediglich und. nickte dann. „Gut“, entschied er, „wir sehen uns das einmal an. Aber heute wird wohl nichts mehr daraus werden, denn in einer knappen Stunde ist es finster, und bei
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Dunkelheit lassen sich Schätze allgemein nur sehr schwer finden.“ Das war natürlich wieder eine kalte Dusche, aber immerhin waren sie ihrem Ziel jetzt ein ganzes Stück näher gerückt. Es lag sozusagen greifbar vor ihnen, und das war doch schon etwas. „Laufen wir die Bucht bis zum Einschnitt an, Dad, Sir?“ fragte Hasard aufgeregt. „Wir helfen auch beim Aufgeien, und alles, was du willst?`.` „Gott erhalte mir meine Nerven“, sagte der Seewolf in komischer Verzweiflung. „Ja, zum Teufel, wir laufen die Bucht an, bis in den Einschnitt, und wenn wir morgen immer noch nichts finden, dann ist es mit der Schatzsuche vorbei. Und noch eins: Wenn heute nacht irgendjemand heimlich abkantet, um auf die laue Tour nur einmal nachzusehen, um sogenannte Vorforschungen anzustellen, dann ist der Schatz ebenfalls gestrichen. Ihr wißt, was ich meine, oder muß ich noch deutlicher werden?“ Die beiden versprachen, silberne Haare von des Teufels Großmutter herbeizuschaffen, notfalls sogar den Satan selbst, oder alle Belzebuben auf einem Haufen zusammen zu treiben und zu verprügeln, nur bitte-schön, möge Sir Dad jetzt bald vor Anker gehen, sonst müßten sie vor lauter Aufregung auf der Stelle sterben. Die „Isabella“ segelte die Bucht an, und Hasard sah sie sich noch einmal genau an. Hier gab es weit und breit keine Menschen, hier hausten nur ein paar Vögel und Schildkröten. Aber dieser Fuß existierte, und er war nicht einmal klein. Er floß silbern aus den in weiter Ferne liegenden bläulichen Bergen, und, verdammt, er schien zu springen, wie es auf der Karte versprochen war, und er hatte Silberfarbe. Fehlte nur noch der Totenkopf, dachte Hasard, und das Auge des Gottes, dann war alles beisammen. Mit leisem Rauschen lief die „Isabella“ in die Bucht ein, dort, wo der silbern schimmernde Fluß aus den Bergen ins Meer lief, wo sanfte Hügel
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begannen, die weiter hinten in aufragende Berge übergingen. Die Segel wurden aufgegeit, und Hasard hatte seine beiden Söhne selten so hart bei der Arbeit gesehen. Sie lasen dem Profos jeden Wunsch von den Augen ab, scharwenzelten um die anderen Seewölfe herum und nannten den Moses Bill in ihrer Aufregung „Sir“, was ihn mehr als erstaunte, denn vorher waren sie hin und wieder schon mal sehr rotzig zu ihm gewesen. Als der Anker ins Wasser klatschte, brach die Dämmerung herein, und der ranke Rahsegler schwoite in einem langen Bogen um die Ankertrosse, bis er endlich still lag. Unheimlich ruhig war es in dieser Bucht. Das Wasser bewegte sich kaum, und das einzige Geräusch war das Raunen und Murmeln des geheimnisvollen Silberflusses, der sich lustig springend ins Meer ergoß. Da staunte selbst der Profos. Er hatte seine mächtigen Arme auf den Handlauf des Schanzkleides gestützt und blickte zum Land. „Ich glaube“, sagte er langsam, „die beiden Rübenschweinchen liegen doch ganz richtig. Jedenfalls sind alle Voraussetzungen gegeben, wie sie in der Karte stehen. Komisch, aber mir wird selbst ganz kabbelig, wenn ich daran denke, daß ganz in unserer Nähe ein Schatz auf uns wartet.“ Des Profos Worte steckten auch die anderen an, und einer nach dem anderen nickte andächtig und starrte auf den Fluß, dessen Raunen geheimnisvoll herüber klang, als würde er seine Geschichte und die des verborgenen Schatzes erzählen. Am schlimmsten erging es an diesem Abend jedoch den Zwillingen. Mit brennenden Augen standen sie da, starrten zum Land, musterten den Fluß und rannten hin und her. Man sah es an ihren Augen, daß sie am liebsten über Bord gesprungen wären, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Keine ruhige Minute hatten sie mehr, und der kleine Hasard stöhnte entsagungsvoll.
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„Ich kann heute nacht nicht schlafen“, sagte er. „Das wird die schlimmste Nacht meines Lebens, kein Auge werde ich zutun.“ Der Profos Carberry hieb ihm auf die Schulter. „Sei froh, wenn das die schlimmste Nacht deines Lebens wird“, sagte er. „Dann wird dir sicher viel Ärger und Mißgeschick erspart bleiben, mein Sohn. Du wirst jetzt deine Klüsen dichtmachen und an der Seegrasmatratze horchen. Wer weiß, vielleicht hörst du die Geschichte des Schatzes dann ganz genau und weißt, wo er steckt. Und dasselbe gilt auch für dich“, sagte er zu Philip. „Ich werde mir dann heute nacht überlegen, ob ich euch mit an Land nehme. Ja ja“, meinte er schnell, als er die Blicke der beiden sah, „ich sehe da eine recht gute Chance für euch, falls ihr heute nacht schlaft. Ich werde das von Zeit zu Zeit kontrollieren.“ Es war erstaunlich, wie schnell an Bord der „Isabella“ Ruhe herrschte, denn ohne daß es einer der Seewölfe zugab, hatte das Jagdfieber sie jetzt doch alle ergriffen. Etwas später gingen nur noch die beiden Deckswachen Batuti und Bob Grey ihre Runden. Die anderen schliefen alle, auch die Zwillinge. * Schon lange vor Sonnenaufgang krebsten die Zwillinge an Deck umher und sorgten dafür, daß auch die anderen Schläfer einer nach dem anderen munter wurden, indem sie sich ungeniert und ziemlich laut unterhielten. Ein paar Flüche erklangen, und dann stand einer nach dem anderen auf und gähnte ausgiebig. Der Profos ließ das Beiboot abfieren. Hasard hatte angeordnet, daß nur ein paar Männer dem Lauf des „springenden Silbers“ folgen sollten. Es brachte nichts ein, wenn sich eine Meute von mehr als einem Dutzend Männer an Land bewegte, und die Seewölfe waren damit auch einverstanden.
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Die Zwillinge durften mit, denn sie hatten den größten Anteil an der Entzifferung der Karte, und Hasard hätte es ihnen nie antun können, und sie an Bord zurücklassen. Das Boot wurde ausgerüstet, Werkzeuge eingeladen, Seile und, für alle Fälle, auch Fackeln mitgenommen. „Wenn man zuviel einpackt“, sagte Carberry, „dann ist es meistens umsonst, und es steckt nicht viel dahinter. Aber das werden wir ja bald sehen.“ Das Boot legte ab, die Zwillinge pullten am kräftigsten, und nach einer Weile stieß es auf den feinen weißen Sand. Carberry verteilte die Utensilien, die sie mithatten, und er behängte auch die Zwillinge, die voller Eifer bei der Sache waren und das kleine Boot höher auf den Strand zogen. An Land standen jetzt der Seewolf, seine Söhne, Edwin Carberry, Dan O'Flynn und Ferris Tucker. Ein letzter Wink galt der „Isabella“, und von dort wurde noch einmal kräftig „Arwenack“ zurückgebrüllt. Dann ging es los, dem Lauf des Flusses folgend, wie es in der Karte stand. Der Fluß war ein Flüßchen, das über kleine Steine, sprang und dadurch Wirbel im Wasser bildete. Rechts und links war er von hohen Farnen, stark duftenden Sträuchern und blühenden Büschen gesäumt. Es ging ganz leicht bergan. Ferris Tucker bildete mit dem Schiffshauer die Vorhut und schlug einen schmalen Pfad durch die immer dichter werdenden Büsche. Heiß schien die Sonne herab. In den Bäumen und Büschen rührte sich kein Blatt. Vor ihnen lag ein Stück scheinbar von Menschen unberührte Natur, aber wenn das mit dem Schatz stimmte, dann waren hier doch schon Menschen gewesen, wenn es auch sehr lange her sein mochte. Eine halbe Stunde lang ging es weiter, immer dem Fluß folgend, der sich durch Gestrüpp schlängelte, einmal einen kleinen See bildete, dann wieder durch eine ausgewaschene Felsenrinne lief. Einmal verschwand er auch ganz und murmelte
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unter der Erde entlang, aber nach knapp zweihundert Yard tauchte er wieder auf. Dann blieben sie stehen. Vor ihnen lag eine Senke, und dahinter stiegen die blau schimmernden Berge leicht an. Hasard wischte sich den Schweiß von der Stirn und fuhr herum, als er Dans Stimme hörte. Sie klang merkwürdig heiser. „Seht mal da vorn den Felsen“, sagte O'Flynn. „Den linken meine ich, der wie ein abgebrochener Mast dasteht. Fällt euch nichts auf?“ „Er ... er sieht wie ein Totenkopf aus“, sagte der Profos, und diesmal klang auch seine Stimme etwas heiser. „Tatsächlich, wie ein Totenkopf“, meinte auch Ferris Tucker nach einem prüfenden Blick. In der Tat hatte der obere Teil des kleinen Felsens die Form eines Totenschädels mit zwei Augenhöhlen, einer eingedrückten Nase und der Andeutung von einem grausigen Grinsen. „Hier geblieben und gewartet“, schnaubte Ed, als die Zwillinge losrennen wollten. „Es scheint alles zu stimmen“, wandte er sich dann an den Seewolf. „Jetzt bin ich nicht mehr so skeptisch, denn soviel Zufälle gibt es nicht.“ „Das glaube ich auch nicht. Gehen wir weiter, ich bin selbst neugierig geworden.“ Die Vegetation wurde spärlicher. Das Flüßchen sprang immer noch munter wie ein Silberstrahl über Steine und dicht bemooste Felsstücke, die in seinem Bett lagen, und der Eindruck von springendem Silber drängte sich den Männern immer stärker auf. Der Felsen zog sie in ihren Bann, dieser seltsame Schädel, der sein Geheimnis lange Jahre bewahrt hatte, das ihm jetzt entrissen werden sollte. Immer eiliger gingen sie darauf zu, vom Jagdfieber gepackt und sich fragend, wie die Beute wohl aussehen mochte. Neben dem Felsen ragten größere und kleinere in den Himmel, und dicht hinter ihnen gab es Strauchwerk und ein ganzes Felsenmeer, durch das der Fluß sprudelte. Felsen wie Finger ragten auf, dazwischen lagen, behäbigen Riesen gleich, große
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Brocken, von saftigem Gras umwachsen oder auch einsam, kahl und verlassen. Die Sonne stand noch im Osten, aber ihre Strahlen wanderten unaufhaltsam weiter. Hasard blieb wieder stehen, und mit ihm die anderen, und starrte auf das totenkopfähnliche, steinerne Gebilde. „Scheint so, als wäre da künstlich noch etwas nachgeholfen worden“, sagte er leise in die fast andächtige Stille hinein. „Diese Form hat die Natur ganz sicher nicht allein geschaffen. Da unten liegen nämlich abgesplitterte Steinbrocken herum, bei den anderen Felsen dagegen nicht.“ „Davon bin ich überzeugt“, sagte Ferris Tucker. „Aber wir müssen jetzt so lange warten, bis die Sonne durch die Augenhöhlen scheint. Dann kriegen wir den nächsten Hinweis auf den Ort.“ „Das dauert höchstens eine halbe Stunde“, schätzte Dan. „Aber sie wird einige Stunden lang hindurch scheinen, und wir wissen nicht, wann der richtige Zeitpunkt da ist.“ „Nur Geduld, das werden wir schon herausfinden.“ Der Seewolf stellte sich so, daß er die Sonne durch eine der kopfgroßen Höhlungen sah, aber er konnte keine Brechung der Strahlen feststellen. Inzwischen sah Dan sich um, um schon den nächsten Hinweis zu finden, doch selbst seine scharfen Augen entdeckten nichts, das anders war oder das einen neuen Hinweis ergab. Sie sahen sich auch in der näheren Umgebung um und tauschten Vermutungen aus, aber es fand sich nichts als andere Felsen. Manche hatten seltsame Gestalt, sie erinnerten an zu Stein gewordene Menschen, die in Gruppen herumstanden und sich schweigend ansahen. Langsam wanderte die Sonne weiter. Die Spannung wuchs. Jeder stellte sich so hin, daß er den ersten Sonnenstrahl sehen konnte. Dann tastete sich das Licht grell hinein, leuchtete die finsteren Augenhöhlen aus und wanderte kaum merklich weiter.
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„Es muß ein weit entfernter Punkt sein, den das Licht markiert“, sagte der Seewolf. „Haltet die Augen offen!“ Jetzt fielen die ersten Strahlen hindurch und beschienen die dahinter stehenden Felsen. Eine spätere Zeit war zur Markierung nicht möglich, wie Dan feststellte, weil dann die Sonne höher wanderte und kaum noch durch die Augen schien. Der erwartete Augenblick mußte also gleich eintreffen, darin waren sich alle einig. „Da!“ brüllte Hasard junior plötzlich, „da blitzt es!“ Er hatte sich auf einen Stein gestellt, die Sonne im Rücken und starrte sich die Augen aus. Sein Bruder stand neben ihm, aufgeregt und zitternd vor Erwartung. In einer Entfernung von knapp dreihundert Yard gleißte es an einem der kleineren Felsen grell auf: Es funkelte plötzlich in allen Farben, von zartem Blau über Grün und feurigem Rot. Das Funkeln war so grell, daß es in den Augen schmerzte. Es war, als blicke man in grelles Feuer, und der Profos schloß sekundenlang geblendet die Augen. „Das Ziel!“ rief Hasard, denn nun bestand auch nicht mehr der geringste Zweifel daran, daß sie dicht vor einer Entdeckung standen. „Merkt es euch gut, es liegt da drüben in den Felsen!“ „Hütet euch vor dem Feuer“, zitierte Carberry. „Das waren die grellen Strahlen, die mich fast geblendet haben.“ Er wußte noch nicht, daß er sich irrte, denn mit dem Feuer war etwas ganz anderes gemeint. In dieser kurzen Zeit war die Sonne weitergewandert, und nun erlosch der strahlende Glanz langsam. Es funkelte nur noch ganz schwach, dann verschwand das feurige Rot, das Grün, und das Blitzen erlosch und wurde trübe. „Das kann nur ein Diamant gewesen sein“, sagte Hasard. „Sonst hätte es niemals so stark gestrahlt.“ „Und ein großer dazu“, meinte Dan. „Hat sich jeder die Stelle genau gemerkt?“
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Das hatten sie alle, aber so sehr sie ihre Augen auch anstrengten, dort wo das Strahlen herkam, ließ sich nichts anderes erkennen als weitere merkwürdig geformte Felsen. Sie rannten mehr als sie gingen, und nach ein paar Minuten war die Stelle erreicht, wo es aufgeblitzt hatte. Ziemlich ratlos sahen die Seewölfe sich an. „Dieser Felsen hier war es“, sagte Dan, „oder ich lasse mich auf der Stelle hängen.“ „Da oben, Dad“, schrie Philip, „da ist ein Auge zu sehen!“ Hasard musterte die Stelle. Er stieß hart die Luft aus und zeigte mit dem Finger hinauf. Jetzt sahen es auch die anderen. Der Stein fiel gar nicht auf, man sah ihn selbst dann kaum, wenn man dicht davorstand. Er hatte die Größe eines Daumennagels und war in den merkwürdigen Felsen eingebettet worden. „Das Auge des Gottes“, flüsterte Hasard junior und ging einmal um den Felsen herum. Von der anderen Seite sah er allerdings wie eine Statue aus, und auch das hatte die Natur nicht geschaffen, hier waren vor langen Jahren eindeutig Menschen am Werk gewesen, das bewiesen die Spuren. Der Stein war bearbeitet worden. Die Statue oder der Götze, oder auch der Gott, wie der Felsen bezeichnet wurde, hatte die Andeutung eines länglichen Kopfes und enganliegende Arme. Ebenso waren die Beine nur angedeutet, aber eine unbekannte Gottheit konnte es darstellen. „Jetzt müssen wir den Stein entfernen“, sagte Hasard. „Oder vielmehr das Auge des Gottes. Aber wie mag es dann weitergehen?“ „Gehen wir doch der Reihe nach vor“, schlug Carberry vor. „So, wie es in der Karte steht. Dann wird es schon weitergehen. Ferris, gib mal dein Werkzeug rüber!“ Schweigend standen sie da, rollten einen kleinen Stein heran, auf den der Seewolf stieg, um besser an das Auge heranzukommen, und sahen atemlos und
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voller Spannung zu, wie Hasard mit der Klinge in dem Felsen herumstocherte. Es war nicht leicht, den daumennagelgroßen Diamanten aus dem Fels zu brechen. Er war mit einem Hammer vermutlich tief in den Kopf des Gottes hineingetrieben worden. Schließlich löste er sich. Hasard fing ihn auf und betrachtete ihn. Ein normaler Diamant, nicht vollendet, aber doch gut bearbeitet und gewiß sehr wertvoll. Nichts geschah, als der Stein entfernt war. Im Felsen zeigte sich lediglich ein kleines Loch, und als Hasard mit dem Finger hineintastete, geschah ebenfalls nichts. „Was jetzt?“ fragte Ed ratlos und verzog das Gesicht. „Den Stein haben wir entfernt, vor dem Feuer haben wir uns gehütet, und jetzt wissen wir nicht mehr weiter.“ Auch der Seewolf wußte keinen Rat und sah sich um. Da standen die schweigenden Felsen, Menschenleibern gleich, und schienen höhnisch die Unwissenden anzugrinsen. Ferris Tucker kratzte sich das stoppelige Kinn und dachte scharf nach, dann zuckte er mit den Schultern. „Wo liegt denn der nächste Hinweis nur?“ fragte er ratlos. „Wir haben uns doch genau daran gehalten.“ „Sag ich ja die ganze Zeit“, knurrte Carberry. „Aber es geht einfach nicht mehr weiter, zum Teufel.“ „Wir haben irgendetwas falsch ausgelegt und verstanden“, sagte der Seewolf. „Aber was nur?“ In Gedanken ging er noch einmal alles durch, dann senkte er den Kopf und wandte sich prüfend den Felsen zu, die in unmittelbarer Nähe der Statue standen. „Entferne den Stein!“ murmelte er. Die anderen sahen ihn gespannt und erwartungsvoll an und hofften auf eine Lösung. Enttäuschung wurde auf den Gesichtern erkennbar, und jeder strengte seinen Grips an, so gut er konnte. Neben dem Felsengott stiegen die Felswände hoch. Sie reichten etwa acht bis zehn Yard über den Boden, und der Seewolf sah sich noch einmal diese
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merkwürdige Statue an, blieb vor ihr stehen und studierte sie aufmerksam. Die anderen waren ihm gefolgt. Ein richtiges Gesicht hatte die Gottheit nicht, aber konnte nicht von ihr ein Hinweis ausgehen? Er betrachtete die roh aus dem Stein gehauenen Beine, folgte den enganliegenden Armen, und dann hatte er ganz plötzlich die Lösung. Die Arme mit den angewinkelten Händen ruhten auf dem Bauch, und die Andeutung eines Daumens wies senkrecht nach oben. Der andere Daumen aber zeigte nach links, wo die Felswand begann. Wenn man genau hinschaute, war es eigentlich unübersehbar. „Was ist, Sir?“ fragte Ferris Tucker drängend. „Du weißt mehr als wir. Stimmt es?“ „Ja“, sagte der Seewolf lächelnd. „Ich glaube, ich habe die Lösung gefunden. Mit dem Diamanten war nicht der Stein gemeint, der Diamant also selbst, sondern ein anderer Stein. Der Daumen dieses Götzen zeigt genau darauf. Und was seht ihr an der Felswand?“ „Einen Stein“, sagte Carberry atemlos. „Einen verdammt großen Stein sogar.“ Dieser Stein, mehr eine mächtige Quader, lehnte so unauffällig zwischen den Felsen an der Wand, als gehörte er dazu. Viele andere Steine sahen ihm ähnlich, und niemand hätte etwas Besonderes in ihm vermutet. Auch hätte ihn ein Mann allein nicht bewegen können. Carberry starrte gebannt auf diesen Stein, dann pumpte er seinen mächtigen Brustkorb voll Luft und fragte: „Glaubst du wirklich, Sir?“ „Ganz bestimmt sogar.“ „Er sieht aber aus, als wäre er ein Teil des Felsen“, sagte der Profos zweifelnd. „Es wird uns ja nicht wehtun, wenn wir ihn ein bißchen bewegen, oder?“ fragte Hasard sarkastisch. „Nein, Sir. Worauf warten wir noch? Los, an die Arbeit!“ Die Zwillinge sprangen hinzu, Ferris Tucker packte mit an, Carberry umspannte mit seinen mächtigen Armen den
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Felsblock, Dan griff zu, und von der Seite her stemmte sich der Seewolf gegen diesen mächtigen Brocken, den Menschen da aufgestellt haben mußten. „Hau ruck! Zugleich!“ schrie Ed. Der Brocken bewegte sich schwerfällig, und erst als die Männer ihre Körperkräfte voll einsetzten, gelang es ihnen, den Stein zur Seite zu drücken. Zentimeterweise wurde er herum geschoben. Noch ein Stück, wieder ein paar Zentimeter. Der Profos stemmte sich dagegen, als wolle er die ganze Welt aus den Angeln heben. Ferris Tucker keuchte, die Zwillinge schoben mit knallroten Köpfen, und dann glitt der schwere Brocken endlich zur Seite. Sprachlos sahen die Männer sich an. Vor ihnen im Fels gähnte eine dunkle Öffnung. * Der Seewolf gab sich einen Ruck, starrte auf die schwarze Öffnung und ließ sich auf die Knie nieder. Die anderen taten es ihm nach und spähten in die Finsternis. Es war ein Loch im Felsen, und dahinter befand sich ein Gang, in dem man sich nur gebückt weiterbewegen konnte. Auf dem Boden lagen Felssplitter, herausgehauen von den Unbekannten, die den Schatz hier versteckt und fast unzugänglich angelegt hatten. Dieser schmale Tunnel war künstlich erweitert worden, das sah man auf den ersten Blick. Die natürlich gewachsene Felsenhöhle bestand sicher schon seit Jahrtausenden, und dieser Unbekannte hatte sie entdeckt, künstlich erweitert und dann verschlossen. Kein Mensch hätte dieses Versteck gefunden. Ohne Hinweise hätte man stundenlang davorstehen können, ohne es zu entdecken. Carberry versuchte, sich durch das Loch hindurchzuzwängen. War man erst einmal hindurch, dann konnte man gebückt weitergehen. „Entzündet die Fackeln!“ sagte Hasard. „Jetzt platze ich wirklich fast vor Neugier.“
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Fackeln und aufgefaserte Tauenden wurden entzündet. Sie verbreiteten rußigen Qualm, und als sie brannten, fiel dem Seewolf wieder diese merkwürdige Warnung der Unbekannten ein. „Hütet euch vor dem Feuer!“ Der Satz ließ nicht viel Schlüsse zu, aber das Feuer des Diamanten konnte damit auch nicht gemeint sein. „Warum zögerst du, Sir?“ fragte Ed. „Ist etwas?“ „Nein, ich glaube nicht, ich dachte nur über den Satz nach, der uns vor dem Feuer warnte.“ Während Hasard das sagte, zog der Profos mit einer lässigen Handbewegung die beiden Zwillinge am Hemd wieder zurück, die es unglaublich eilig hatten, in der finsteren Höhle zu verschwinden. „Hier geblieben!“ donnerte er. „Wir sind fast am Ziel, und ihr werdet es erwarten können, verdammt noch mal!“ „Weshalb warten wir denn?“ fragte Philip ungeduldig. „Deshalb!“ sagte Ed. „Nun weißt du es!“ Er nahm eine der brennenden Fackeln und legte sich auf den Bauch. Auch er dachte über den Satz nach, aber er verstand ihn nicht und konnte ihn nicht anders auslegen. „Ich gehe zuerst“, sagte der Seewolf. „Ihr anderen folgt immer auf Mannlänge. Später wird es besser gehen, da ist die Grotte breiter.“ „Laß mich zuerst gehen, Sir“, bat der Profos. Hasard sah ihn nur an, da schwieg Ed und räusperte sich anschließend überlaut. „Aye, aye, Sir!“ Auf dem Bauch kriechend schlängelte der Seewolf sich voran. Der Rauch der Fackel trieb ihm fast die Tränen in die Augen, und er mußte den Arm weit vorstrecken, damit ihm die Flammen nicht das Gesicht verbrannten. Nach ein paar Yard konnte er aufstehen und sich gebückt hinstellen. Der Gang wurde nun auch etwas breiter, aber ein Ende war nicht abzusehen. Er führte tief in den Felsen hinein.
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Der Profos schob sich neben den Seewolf und hielt seine Fackel ebenfalls weit vorgereckt. Die Luft roch abgestanden in diesem röhrenartigen Gang, und die Sonne, die oben auf den Felsen schien, hatte für knochentrockene Luft gesorgt. Hier konnte also nichts verschimmeln oder vergammeln, es gab keine Feuchtigkeit. Ganz am Schluß krochen die Zwillinge durch den Tunnel, und als sie sich endlich aufrichten konnten, waren sie die einzigen, die sich nicht bücken mußten. Der Fels verlief dicht über ihren Köpfen. Als Hasard sich einmal umdrehte, blieb weiter hinter ihm der Eingang als matt leuchtender Fleck zurück. Wenn jemand sich räusperte, klang es dumpf und hohl. Der Boden war mit Felssplittern übersät, die Wände nur unzulänglich behauen worden, so daß man teilweise nur mit Mühe vorwärts kam. Ein leichter Knick folgte, der Gang wurde noch höher, aber überall von der Decke ragte scharfkantiges Gestein herunter. „Aufpassen!“ rief Hasard. „Die Felsstücke sind wie Dolche. Die schlitzen euch die Schädel auf, wenn ihr dagegen stoßt.“ Nach weiteren zehn, zwölf Yard betrug die Höhe mehr als zwei Yard. Der Gang selbst hatte nun eine Breite, wo zwei Männer bequem nebeneinander hergehen konnten. Es roch immer stickiger und dumpfer, und die knochentrockene Luft erzeugte bei den meisten einen starken Hustenreiz. Dann blieb Hasard stehen, denn vor ihnen tauchte ein Hindernis auf. Ein Teil der Felsendecke war eingestürzt und versperrte den Weg. „Wir können drüberklettern, oder aber ein paar Trümmer beiseite räumen“, sagte Carberry. Aber damit wollte sich niemand so dicht vor dem Ziel aufhalten, und so kletterten sie mühsam über das Gestein. „Keine Lust zum Arbeiten, was, wie!“ knurrte Ed. „Aber gierig dabei sein, um dicke Schätze zu heben.“ Er erhielt keine Antwort, denn jeder brannte darauf, dieses Ziel so schnell wie nur irgend möglich zu erreichen. Im Geiste
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sahen sie alle die große Schatztruhe vor sich stehen, und die Erwartung trieb sie vorwärts. Hasard und Ed gingen immer noch voran, und dann griff des Profos mächtiger Arm plötzlich zu und hielt den Seewolf fest. Hasard hatte das neue Hindernis aber schon bemerkt. Vor ihnen gähnte Finsternis, die übergangslos in die Tiefe führte. „Stehen bleiben!“ sagte Hasard, als Dan gegen ihn prallte. Vorsichtig streckte er den Arm aus und leuchtete mit der Fackel hinunter. Der jäh zu Ende führende Gang mündete in eine Art Felsendom, wie es einen ähnlichen auf der Schlangeninsel gab. Das hier hatte die Natur geschaffen, eine große Höhle von mindestens zehn Yard Höhe. in der jedes Wort als Echo zurückkehrte und die Stimmen geisterhaft hohl klingen ließ. Stufen führten nicht nach unten, aber die zwei Yard ließen sich gefahrlos springen. Die Zwillinge waren schon unten und standen auf ebenso festem und hartem Grund wie in dem Gang. Carberry ging voraus und leuchtete den Dom mit der Fackel von der linken Seite ab, Dan O'Flynn von der anderen. Es war mehr eine große Grotte, und als der Profos die Fackel hob, entdeckte er einen weiteren Gang, dem ersten ähnlich, der weiter in den Felsen führte. Es war der einzige Gang, andere gab es nicht, und der grottenähnliche Dom enthielt nichts, keinen Hinweis, keinen noch so kleinen Gegenstand, außer Felsbrocken, die im Lauf der Zeit von der Decke auf den Boden gepoltert waren. Carberry war schon in dem nächsten Gang verschwunden. Er mußte sich wieder tief bücken, fast auf dem Bauch kriechen. Nach knapp zehn Yard wurde die Röhre größer, und vor dem Profos befand sich ein Loch, durch das er erst einmal hindurchleuchten mußte um nicht unversehens in bodenlose Tiefen zu fallen. Die sinnreiche Konstruktion dicht dahinter konnte er nicht erkennen, die befand sich unsichtbar vor ihm und hinter dem Loch in Kopfhöhe.
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Dort stand seit Jahren ein kleines Pulverfaß mit knochentrockenem Schießpulver auf einem Brett. Auf dem Brett war ebenfalls Schießpulver verstreut worden, und in dem Faß steckte eine nicht einmal daumenlange Lunte, eine Art Zündschwamm. Jeder Unbefugte, der hier eine Fackel durchsteckte, mußte zwangsläufig den idiotensicher funktionierenden Mechanismus auslösen. Das war der Hinweis auf das Feuer, und diesen Hinweis vergaß der Profos sein ganzes Leben lang nicht mehr. Das Fäßchen enthielt zwanzig Pfund Schießpulver, genug, um vier SiebzehnPfünder-Kugeln aus dem Rohr einer Culverine zu treiben. Edwin Carberry merkte von alldem nichts, als er die Fackel durch das Loch streckte und neugierig in den anderen Raum blinzelte. Er vernahm lediglich ein scharfes Zischen, als würde eine wütende Schlange angreifen, dann sah er in der Finsternis vor sich etwas blitzartig aufleuchten. Im ersten Augenblick war der Profos verblüfft, starrte in die zischende Helligkeit und wunderte sich. Dann, im Zeitraum von vier oder fünf Lidschlägen, flog das Pulverfaß in die Luft. In seinem ganzen Leben hatte der Profos noch nie einen derartig bestialischen Knall gehört. Eine ungeheure Explosion erfolgte. Ein blendend weißer Blitz zerriß schlagartig die Finsternis, und gleichzeitig fegte eine Welle unglaublich heißer Luft heran. Carberry konnte nicht einmal mehr einen Fluch ausstoßen. Es geschah alles so schnell, daß er immer noch nicht begriff, was denn hier eigentlich passierte. Er hatte das Gefühl, als flöge ihm der ganze Felsenberg pausenlos um die Ohren. Entsetzt ließ er die Fackel fallen, und für den Bruchteil einer Sekunde zuckte in ihm der Verdacht auf, jemand habe die Fackel mit Schießpulver gefüllt, wie Big Old Shane oder Batuti es mit ihren Pulverpfeilen taten.
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Dann riß die Druckwelle den Profos fort, trieb ihn zurück durch die Röhre, und er hörte es krachen und bersten. Steinbrocken hagelten auf ihn herab, in den Wänden knackte und krachte es, der Boden hob sich ein Stück, und ein Teil der Felsdecke kam unter ohrenbetäubendem, krachendem Geräusch herunter. Das Grollen und Rumoren in dem Berg nahm kein Ende, das Echo pflanzte sich durch den Fels fort, und der Profos glaubte, diese brüllenden Detonationen würden sein Leben lang anhalten und nie wieder aufhören. Als das Grollen endlich verstummte, da war Eds Fackel erloschen, und er lag unter einer Last von Steintrümmern, die ihn fast erdrückten. Sein Kreuz schmerzte, alle Knochen taten ihm weh, und er konnte sich kaum bewegen. Mit wilden, ruckartigen Bewegungen befreite er sich von dem Schutt, der auf ihm lastete, stieß sich den Kopf, und begann dann lästerlich zu fluchen. Dann tastete er um sich und stellte zu seinem weiteren Entsetzen fest, daß er eingeschlossen war. Ein weiterer übellauniger Fluch hallte durch die kleine Gruft, und ein Vorhang aus Staub wehte ihm in der Finsternis ins Gesicht. * Ein Teil der nun schon etwas abgeschwächten Druckwelle erfaßte auch noch den Seewolf, als er sich gerade in Gang zwängen wollte. Ein Fauchen erklang. Hasard verlor den Halt, rutschte aus dem Gang, und als er noch etwas grellweiß aufleuchten sah, fand er sich in dem domartigen Gewölbe auch schon am Boden wieder. Dann ertönte das bestialische Krachen, hundertfach verstärkt durch das Echo, und der ganze Fels begann zu rumoren. Ein Staubvorhang deckte alles zu, und nach einer Weile knirschte und prasselte es nur noch leise. Unheimliche Stille trat ein.
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Im Schein der blakenden Fackeln sahen sich die Seewölfe entsetzt an. Hier in der Grotte war nichts passiert, außer daß ein paar Trümmer zu Boden gingen, aber niemand war verletzt, und auch Hasard stand gleich darauf wieder auf den Beinen. „Der Profos“, sagte er ächzend, „mein Gott, es hat Ed erwischt! Schnell, in den Gang hinein.“ Die Sorge um Carberry ließ die Männer keine langen Fragen stellen. Tonnen von Gesteinsmassen mußten ihn getroffen und erdrückt haben, so stellte sich das jeder von ihnen vor. „Schnell, die Trümmer wegräumen-, schrie Hasard und zwängte sich in den Gang. Große und kleine Brocken flogen nach achtern, und als seine Hände durchgescheuert waren, löste Ferris Tucker ihn ab. Dann hielt er plötzlich inne und drehte sich um. Er hatte einen dumpfen, ziemlich üblen Fluch vernommen, und die Sorge um seinen alten Freund Carberry war fast verschwunden. „Er lebt“, schrie er, „Ed lebt.“ Voller Feuereifer wühlte er weiter. Brocken um Brocken flog nach achtern und wurde von den anderen in die große Grotte weiterbefördert. Es dauerte trotzdem mehr als eine halbe Stunde, ehe der Durchbruch geschafft war, und Carberrys grimmiges, verschmiertes Gesicht hinter dem Schutt auftauchte. Der Profos war ein Rauhbauz, und so überraschte Ferris Tucker keinesfalls, was Ed grimmig hervorstieß. „Ein Scheißladen ist das hier, ein verdammter. Irgendein Idiot hat mir voll eins mit der Drehbasse vor die Augen geknallt. Ich kann überhaupt nichts mehr sehen.“ „Mensch, Ed“, sagte Ferris erleichtert, und in diesen beiden Worten lag alles drin, was er überhaupt zum Ausdruck bringen konnte. Hasard leuchtete dem Profos ins Gesicht. „Wie ist das nur passiert?“ fragte er entsetzt, aber darauf konnte Carberry keine Antwort geben.
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„Weiß nicht“, sagte er, „ich fühlte mich halbtot. Ich kann mir das auch nicht erklären.“ Die andern waren blaß, aber eine ungeheure Erleichterung befiel sie, als sie Carberry einigermaßen munter vor sich sahen. Vielleicht würde er später ein paar Narben mehr im Gesicht haben, aber das würde nicht weiter auffallen. Seine Haare waren an der Stirn auch leicht angesengt, und er sah zum Fürchten aus. „Das war die Warnung vor dem Feuer“, sagte Hasard. „Aber das haben wir natürlich nicht herausgefunden. Wer hätte auch damit gerechnet! Wie war das nur möglich?“ wiederholte er. Darauf wurde nie eine einwandfreie Antwort gefunden, und Ferris Tucker äußerte die Vermutung, daß es sich wohl um eine Art Flaschenbombe handeln müsse, nur etwas größer, und zwar von der Größe eines Fasses, in das Carberry wohl die Fackel versehentlich hineingehalten hätte. Der Gang war nun verschüttet, und auf dem Boden lagen Felsbrocken aller Größen herum. Bei jeder Bewegung wirbelte Staub und Dreck auf. „Jetzt geben wir erst recht nicht auf“, sagte Ed, nachdem er sein Kreuz massiert hatte. „Und wenn mir die ganze Insel um die Ohren fliegt. Jetzt will ich es genau wissen.“ Die Männer grinsten schwach, froh darüber, ihren Profos wieder in alter Verfassung vor sich zu sehen, obwohl ihm eben noch zentnerweise Felsbrocken um die Ohren geflogen waren. Aber dieser Profos war unverwüstlicher als die Felsen, und er klagte kein einziges Mal über Schmerzen, sondern war nur ungehalten, als Dan ihn danach fragte. „Schmerzen?“ brummte er. „Von den paar lausigen Sandkörnern? Da muß schon die Welt untergehen, bevor mir etwas weh tut.“ „Das sind immer so seine üblichen Sprüche, wenn er dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen ist“, sagte Ferris Tucker. „Aber ich bin heilfroh, daß
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dieses lausige Rübenschwein wieder flucht und untertreibt, als wäre nichts passiert.“ Er sah Carberry grinsen und nickte ihm zu. Trotzdem saß allen noch der Schrecken in den Knochen, denn es hätte auch anders ausgehen können, und dann hätte der Schatz sein erstes Opfer gefordert, und das war er nicht wert. Kein Schatz der Welt wog den Profos auf, so dachten sie alle. „Und jetzt?“ fragten die Zwillinge verstört. „Jetzt geht es weiter, und wir buddeln die Felsstücke beiseite, darin haben wir jetzt ja bereits Übung“, sagte Ed trocken. Er nahm ein aufgefasertes Tauende und wischte sich das klebrige Blut damit aus dem Gesicht. Anschließend gingen sie wieder an die Arbeit und räumten die herabgefallenen Trümmer mühsam beiseite. Der Gang war auf einer Länge von fast drei Yard zugeschüttet, und der Schutt reichte teilweise bis an die Decke. Immer wieder mußten sie aufpassen, denn noch hing loses Gestein über ihnen, und hin und wieder polterte ein Brocken herunter. Sie lösten sich ab, und schon nach kurzer Zeit hatten sie Schrammen an den Händen von dem scharfkantigen Gestein, aber das störte niemanden, es ging unermüdlich weiter, denn jetzt wollten sie es wirklich ganz genau wissen, wie der Profos schon gesagt hatte. Zwei Stunden mochten vergangen sein, da entstand in dem Berg aus Schutt und Trümmern ein kleines Loch, hinter dem die Finsternis lauerte. „Vorsicht jetzt!“ warnte Hasard. „Erkläre mir das noch einmal, Ed, damit wir nicht in eine weitere Falle laufen.“ Carberry erklärte es noch einmal ausführlich, dann schüttelte er den Kopf. „Eine zweite höllische Vorrichtung gibt es bestimmt nicht, Hasard. Die Explosion muß alles zerstört haben, hoffentlich nicht auch den Schatz.“ „Das glaube ich nicht, Ed. Dem Schatz ist sicher nichts passiert, es soll nur denen etwas passieren, die ihn unbefugt an sich nehmen wollen.“ „Sind wir denn etwa nicht befugt?“
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„Wohl kaum, dieser Schatz ist nur für ganz bestimmte Leute hier versteckt worden, die die Zeichen zu deuten wissen. Aber diese Leute können längst tot und vermodert sein.“ „Dann betrachten wir uns eben als ihre Erben.“ „Ganz richtig. Vielleicht ist dieser Schatz für uns persönlich von gar nicht so großem Wert, wie wir annehmen.“ Darüber sann der Profos noch nach, während er einen Stein nach dem anderen durch das Loch warf. Es polterte dumpf, und dem Geräusch nach, das sofort erfolgte, konnte es dort auch nicht tief hinuntergehen. Carberry wollte sich durch die entstandene Lücke wieder hindurchzwängen, aber Hasard hielt ihn zurück. „Jetzt bin ich wieder an der Reihe“, sagte er freundlich. „Du hast die erste Begrüßung schon hinter dir.“ Hinter ihnen stritten die Zwillinge, ob es in der Grotte wohl auch Schlangen geben könne, aber diese Frage konnte Hasard mit gutem Gewissen schon im voraus verneinen. Tiere gab es hier unten keine, sie hätten nie überleben können. Unendlich vorsichtig beugte der Seewolf sich vor und spähte in die Dunkelheit. Es roch streng nach Schießpulver, und als er die Fackel durch die Öffnung streckte, dauerte es eine Weile, bis er etwas erkennen konnte. Es schien sich wiederum um eine größere Grotte zu handeln, aber die war mit Rauch gefüllt wie eine Räucherkammer, und er sah in dem wallenden grauschwarzen Nebel nur schemenhaft die nackten Felswände. Qualm, beizender Gestank trieben an ihm vorbei. Die anderen niesten oder husteten unterdrückt. „Wir müssen noch ein paar Augenblicke warten“, sagte Hasard. „In dem Qualm ersticken wir sonst noch.“ Unendlich langsam trieben die Schwaden an ihnen vorbei, und jeder hatte das Gefühl, als wäre hier tatsächlich eine Culverine aus allernächster Nähe abgefeuert worden.
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Endlich verzog sich der Qualm, aber es trieben immer noch lange Dunstwolken durch Grotte und Tunnel. Dann stieg Hasard vorsichtig hinab, gefolgt von Dan, dem Profos, Ferris und den Zwillingen. Sie standen in einem Raum, der an einen Tempel erinnerte. Das lag aber mehr an dem Rauch als an der Umgebung. Es roch nach abgebrannten Sandelholzstäbchen, vermischt mit dem stechenden Geruch von Schießpulver. Hasard ging ein paar Schritte weiter, leuchtete die Wände ab, konnte mit der Hand die Decke über sich bequem erreichen und suchte nach einem weiteren Tunnel. Wer wollte schon wissen, wie weit sich dieses Höhlensystem in die Felsen erstreckte? Die Fackeln warfen gespenstisches Licht an die Wände. Die Schatten der Männer tanzten, zu bizarrer Größe verformt, unheilverkündend an den Wänden, und wenn sich jemand auch nur leise räusperte oder hustete, setzte es sich durch die Grotte fort, und kehrte als donnerndes Echo zurück. Die Zwillinge stießen einen lauten Schrei der Verzückung aus. „Der Schatz!“ schrie Hasard so laut, daß es den anderen in den Ohren gellte. ,,Wir haben ihn gefunden.“ Die Köpfe aller ruckten herum. In einer Ecke der Grotte stand ein aus dem Fels gewachsener Sockel. Oben auf dem Sockel stand eine hölzerne Truhe, so wie die beiden Söhne des Seewolfs es vermutet hatten. Die Truhe war mit Eisenbeschlägen versehen und stand da wie ein Heiligtum. * Mit fast feierlichen Schritten ging der Seewolf darauf zu, blieb vor der Truhe stehen und betrachtete sie lange. Niemand sprach ein Wort. In der Grotte herrschte eine Ruhe wie im tiefsten Grab. In zarten Schleiern wehte immer noch“ leichter Rauch um die Truhe und verlieh ihr etwas Geheimnisvolles.
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Es gab kein Schloß, der Deckel der Truhe war zwar geschlossen, aber nicht weiter gesichert. Neugierig traten die Seewölfe näher, und das einzige Geräusch in dieser Stille war das Schlagen der Herzen, die besonders laut bei den Zwillingen in der Brust pochten. „Gib mir mal den Schiffshauer, Ferris“, sagte der Seewolf in die unheimliche Stille. „ .. hauer, hauer, hauer“, tönte es von allen Seiten zurück, als die Worte von den Wänden reflektiert wurden. Stumm reichte Ferris dem Seewolf den Schiffshauer. „Tretet ein wenig zurück, bis an die Wand“, befahl Hasard. „Wir sind vor Überraschungen nicht sicher, obwohl ich kaum glaube, daß die Truhe auch nur eine Falle ist. Aber wir haben bereits eine sehr betrübliche Erfahrung hinter uns.“ Als alle zurückgetreten waren, schob er die breite Klinge vorsichtig unter den Deckelrand, drückte leicht nach oben und kippte den Deckel mit einem schnellen Ruck zurück. Ein hallendes Geräusch ertönte, als der schwere Deckel zurückschwang und hinten auf das Holz aufschlug. Nichts geschah, nichts regte sich. Hasard ging einen Schritt vor, immer in der Erwartung, gleich würde sich wieder die Hölle auftun. Er hob die Fackel und leuchtete aus respektabler Entfernung in die hölzerne Truhe hinein. Er sah ein paar Rollen, ähnlich den Pergamentkarten, wie sie welche auf der „Isabella“ hatten; und trat näher. „Alles in Ordnung“, sagte er, und .ließ die anderen näher treten. Was sie sahen, wirkte auf den ersten Blick nach all den Erwartungen und der vielen Mühe ziemlich enttäuschend. Rufe der Enttäuschung wurden laut. „Das sind ja nur Schriftrollen“, sagte der Profos. „Und dafür halte ich meine Rübe hin.“ „Das Gold ist bestimmt unten in der Truhe“, sagte Philip und verbarg seine Enttäuschung nur sehr schlecht.
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Hasard griff hinein und holte die Karten aus der Truhe. Es waren nur fünf zusammengerollte Dinger. Mehr war in der Truhe nicht drin. Dann ließ er die anderen hineinsehen. Aus war der Traum vom großen Schatz, aber die Seewölfe selbst berührte das nicht so sehr. Gold, Silber und Schätze hatten sie auf der Schlangeninsel genug, wo es im Tempel der Schlangenpriesterin seit langer Zeit lagerte. Aber für die Zwillinge war das eine herbe Enttäuschung. Als Hasard die Rollen herausgenommen hatte, begannen sie die Truhe auf den Kopf zu stellen, in der Erwartung, ein doppelter Boden würde sich zeigen. Aber unten war nur das blanke Holz zu sehen, da half alles Klopfen, Kratzen und Schaben nicht. „So'n Mist“, meinte Hasard junior enttäuscht. „Großer Mist sogar“, sagte Philip und zog eine lange Schnute. „Mit den Dingern kann der Kutscher Feuer entzünden.“ „Vielleicht sind das noch weitere Schatzkarten“, hoffte sein Bruder, „und es geht jetzt erst richtig los.“ „Meinst du wirklich?“ „Kann man nie wissen.“ Aber auch darin wurden sie enttäuscht, als der Seewolf eine der Karten sorgfältig entrollte. Ferris Tucker, Dan und der Profos leuchteten mit der Fackel, nachdem sie sich ebenfalls durch einen schnellen Blick davon überzeugt hatten, daß die Truhe tatsächlich leer war. Hasard mußte die Karte lange studieren, ehe er vage Einzelheiten zu erkennen vermochte. Aber selbst dann konnte er nicht viel damit anfangen. „Das ist doch keine Seekarte“, sagte Carberry zweifelnd. „Nein, das sieht eher nach einer Landkarte aus. Aber zu welchem Teil der Welt sie gehört, daß weiß ich wirklich nicht, das finde ich nicht heraus.“ Die Karte enthielt seltsame, scheinbar wirre Muster. Und sie war mit
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Randbemerkungen versehen, die kein Mensch entziffern konnte. Hasard konnte sie drehen und wenden, wie er wollte, er war sich nicht einmal sicher, ob er sie richtig hielt. Da war einmal eine lange dünne Linie eingezeichnet, dann wieder schien es sich um eine Stadt zu handeln, die aber nicht am Wasser lag, als Hafenstadt also ausschied. Er entrollte die nächste Karte, die ihm ebenso wenig sagte wie andere. Auf diesem Pergament waren drei merkwürdige Bauwerke nebeneinander eingezeichnet. Es waren zwei große und ein kleineres Dreieck, und sie schienen aus großen Steinquadern erbaut zu sein. Daneben standen Zahlen, die sich ohne weiteres entziffern ließen, aber niemand verstand diese Größenangaben. „Wenn das die Größenangaben für die Bauwerke sein sollen“, sagte Hasard, „dann kann ich nur sagen, daß dieser Zeichner nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Bauwerke von hundertsechsundvierzig und hundertsechsunddreißig Yard Höhe gibt es nicht. Das ist nicht einmal ein Witz. Ein solches Bauwerk würde schon des Gewichtes wegen in sich selbst zusammenfallen. Tut mir leid, ich kann damit nichts anfangen.“ „Aber trotzdem müssen die Karten einen großen Wert darstellen“, sagte Dan O'Flynn. „Sonst hätte man sie doch nicht so sorgfältig versteckt.“ „Ja, das ist wahr“, sagte Hasard. „Irgendetwas muß an diesen Karten besonderen Wert haben, aber was nur?“ Er überließ die Karte den anderen, und auch die Zwillinge warfen neugierig einen Blick darauf. „Das sind ja fast wieder die gleichen Schriftzeichen wie auf der Seekarte auch“, sagte Hasard junior überrascht. „Nein, ein ganz klein wenig anders sind sie doch. Was meinst du, Philip?“ „Nicht viel, aber ein wenig schon“, gab Hasards Bruder zu. „Aber die Zeichen sind
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so klein, daß man sie kaum entziffern kann.“ „Geht das denn jetzt schon wieder los?“ fragte Carberry entsetzt. „Jetzt kriegen wir sicher wieder Hinweise auf andere Verstecke, aber ich habe die Nase voll von dieser lausigen Schatzsucherei.“ Hasard gab keine Antwort und entrollte die dritte Karte. Natürlich mußten sie einen gewissen Wert darstellen, überlegte er, da hatte Dan O'Flynn ganz recht. Nur — was stellten sie dar? In welchem Teil der Erde befanden sich diese merkwürdigen Bauwerke? Gab es sie überhaupt? Sicher, beantwortete er sich die Frage gleich selbst. Bisher hatte alles gestimmt, was auf der Karte stand, und dieser Fund hier war nichts weiter als die Fortsetzung des anderen. Bei den Zeichnungen konnte es sich um Tempel handeln, die andere zeigte eine langgestreckte Gestalt mit einem löwenähnlichen Kopf, einem mächtigen Hinterleib. Wie ein hingekauertes Riesentier sah diese eine Figur aus, und ganz in ihrer Nähe befanden sich wieder diese merkwürdig spitzen Dreiecke. Wenn er es richtig beurteilte, dann war da der Verlauf eines ziemlich großen Flusses eingezeichnet, eines breiten Stromes, und von dem zweigten andere kleine Flüsse ab, und das alles wurde wiederum scheinbar von einem künstlich angelegten Kanal durchzogen. Aber wo lag dieses Land? Darauf gab es nicht den geringsten Hinweis. Er rollte die Karte wieder zusammen und ahnte nicht, welchen unglaublichen Schatz er damit in den Händen hielt. Es mutete auch viel zu phantastisch an, denn von diesen Karten sollte einmal das Schicksal der „Isabella“ und ihrer Mannschaft abhängen. Er betrachtete eine nach der anderen, reichte sie dann weiter und ließ die Männer diskutieren. Seine Hoffnung stützte sich dabei auf seine Söhne, die vielleicht in der Lage waren, Teile dieser Schrift zu enträtseln, denn sie
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hatten ja mit der anderen Karte bewiesen, daß sie etwas davon verstanden. Vielleicht aber fand sich durch Zufall mal ein Hinweis, wie es im Leben so spielte. „Dad, Sir“, sagte Hasard. „Von solchen Bauwerken hat uns mal der alte Sidi Barim erzählt, aber aus einem Märchen. Aber es waren noch viel mehr solcher Bauwerke, und alle würden bis in den Himmel hineinwachsen. Weißt du noch, Philip?“ wandte er sich fragend an seinen Bruder. Philip legte den Zeigefinger an den Mund und dachte nach. Schließlich nickte er: „Ja, ich glaube, er hat was davon gesagt. Da wären Könige begraben, aber das sei schon viele tausend Jahre her.“ „Und die Bauwerke soll es immer noch geben?“ fragte Hasard ungläubig. „Das gibt es doch gar nicht.“ „Hat Sidi Barim aber mal gesagt.“ Der Seewolf merkte nicht, daß seine Stimme heiser klang. „Und wo sollen die Dinger stehen, die bis in den Himmel hineinwachsen und so alt sind?“ Alle beide zuckten mit den Schultern. „Weiß ich nicht genau, Dad, Sir. Vielleicht irgendwo in Ägypten oder in Persien oder in einem anderen Land. So genau kann ich mich nicht daran erinnern.“ Hasard zog die Stirn kraus, rollte die Karte vorsichtig zusammen und legte sie ebenso sorgfältig in die Truhe zurück. „Wer weiß“, sagte er leise, „was wir da in Händen halten. Vielleicht ist es die größte Entdeckung überhaupt, die uns jemals gelingt. Ich werde diese Karten jedenfalls gut verwahren, und später könnt ihr euch einmal näher damit beschäftigen. Jetzt packen wir aber alles ein, nehmen die Truhe und kehren an Bord zurück. Ich glaube nicht, daß wir hier noch etwas finden.“ Dan O'Flynn rollte ebenfalls die Karte sehr nachdenklich zusammen, die die drei großen Gebäude zeigte. Auch er hatte keine Erklärung dafür, aber was hieß das schon! Die Welt war groß und weit, und selbst wenn man sie zehnmal umsegelte, dann kannte man noch lange nicht alles, und
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man würde hundert Jahre und mehr benötigen, um sie zu erforschen. Aber insgeheim beschloß er doch, .sich um diese merkwürdigen Karten zu kümmern und sie zu studieren. Hartnäckigkeit führte schließlich auch oftmals zum Erfolg. Diese Erfahrung hatte jeder der Seewölfe schon hinter sich. Noch einmal - der Rauch hatte sich jetzt fast verzogen - wurde die Grotte genau abgeleuchtet. Es war nicht ausgeschlossen, daß es doch noch einen versteckten Gang oder eine Höhle gab, die man erst mühsam suchen mußte. Ferris Tucker klopfte die Wände mit der Axt auf Hohlräume ab, aber es gab nur dumpf klingende Geräusche. Und als er die Grotte von allen Seiten abgeklopft hatte, gab es keinen hohlen Ton und damit auch keinen weiteren verborgenen Gang. Sie hatten den Schatz gefunden, alles hatte sich nur um diese Karten und Schriftrollen gedreht, die für ihre Zukunft so entscheidend sein sollten. Der Profos, der nicht sonderlich erbaut schien von dem Fund, klemmte sich die Truhe unter den Arm und trug sie in den Gang. Dort mußte er sie streckenweise mühsam vor sich herschieben. Etwas später blendete sie das Sonnenlicht, und der Seewolf stand da und rätselte immer noch über diese Karten nach. Er wußte, daß sie ihm noch viel Kopfzerbrechen bereiten würden, aber wenn er sich einmal in eine Sache verbissen hatte, dann ließ er auch nicht locker. Sehr nachdenklich kehrten sie an Bord zurück, wo die anderen sie erwartungsvoll empfingen. Dann wurde erst einmal erzählt und berichtet. * Am gleichen Nachmittag ging die „Isabella“ ankerauf und setzte Segel. Und am zweiten Tag fiel ein bitterer Tropfen in die Reise.
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Der Kutscher kam mit betrübtem Gesicht aufs Achterdeck und sah den Seewolf an. „Mit Johnny geht es zu Ende, Sir“, sagte er. „Es wird noch ein paar Stunden dauern, wenn überhaupt so lange.“ Mit Leichenbittermiene schlich er davon, geknickt, zutiefst betrübt darüber, daß er nicht helfen konnte. Der Seewolf ging nach vorn, gerade in dem Augenblick, als der Ausguck voraus erneut Land meldete. Das konnte nur die dritte Insel sein, 'die zu dieser Gruppe gehörte und die im Westen lag. Sie würden sie umsegeln und dann ihren Kurs fortsetzen, sie hatten hier nichts mehr verloren. Trinkwasser hatten die anderen während der Schatzsuche bereits an dem kleinen Fluß geholt, und so war alles erledigt. Die geheimnisvollen Karten waren vergessen, als Hasard sich über den alten Seemann beugte. Er sah den Seewolf nicht mehr, er hatte hohes Fieber, und in seinen Augen stand schon der nahende Tod. Aber seine Lippen formten Worte, die dem Seewolf und dem Kutscher ins Herz schnitten. „England“, flüsterte er, „wir müssen doch bald da sein, wir müssen doch schon die Küste sehen. Sir, bringt mich hinauf, laßt mich noch einmal die Küste sehen. Bitte, Sir, bringt mich nach oben!“ England, dachte der Seewolf. Das war so weit entfernt wie der Mond von der Erde, das war nur ein ferner Traum. Er wollte ihm gerade die Wahrheit sagen, daß sie England wohl kaum vor einem halben Jahr erreichen würden, aber dann verschloß sich sein Mund, und sein Blick wurde nachdenklich. Er sah den Kutscher an, der mit gesenktem Blick dastand, und er fragte sich, warum er einem sterbenden Mann nicht seinen letzten Wunsch erfüllen sollte. Gewiß, es war eine Lüge, aber eine barmherzige, dachte er. Aber wenn es Johan Brad das Sterben erleichterte und ihn glücklich machte, weshalb sollte er es nicht tun? Konnte ihn deswegen jemand verurteilen? Nein, überlegte er, das verzieh ihm sogar
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Gott. Der alte Seelord hatte nur noch ein paar Minuten. Er röchelte, sein abgezehrter Körper bäumte sich auf, und er flüsterte immer wieder das gleiche. Fahle Blässe hatte trotz des hohen Fiebers sein Gesicht überzogen, und der Tod stand neben ihm und holte schon mit der Sense aus. Hasard hob die zerbrechlich wirkende Gestalt aus der Bunk und trug den alten Mann vorsichtig nach oben. Er hielt ihn so, daß seine fiebrigen Augen den schmalen Landstreifen erkennen konnten, wenn er überhaupt noch etwas sah. „Wir sind gleich zu Hause, Johan Brad“, sagte er. „Siehst du die Küste? Das ist England, dort segeln wir jetzt hin. Siehst du sie?“ Die Lippen des alten Johnny verzogen sich, und in seine Augen trat ein seltsam verklärtes Leuchten. „Ich sehe es, o ja, ich sehe es“, flüsterte er so leise, daß der Seewolf ihn kaum verstand. „Wir haben es geschafft, Sir, wir sind daheim.“ Hasard hing ein Kloß in der Kehle, den er nicht hinunterschlucken konnte. Ein dumpfes, beklemmendes Gefühl drohte seine Brust zu sprengen, als er den alten Mann anlog und Hoffnungen und Sehnsüchte in ihm weckte, die gar nicht existent waren. Aber auf Jonnys Gesicht lag immer noch dieser verzückte und fast fröhliche Ausdruck, und seine alten Züge wurden auf eine unerklärliche Art jung und milde und sanft. „In einer Stunde“, sagte Hasard, und würgte schwer an diesem unsichtbaren Kloß im Hals, „in einer Stunde legen wir an. Wenn es glast, Johan Brad, dann sind wir da.“ Der dunstige Strich wurde größer, und der alte Seemann schien mit brennenden Augen auf die Küste zu starren, auf sein England, seine Heimat, die man ihm so lange vorenthalten hatte.
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Hasard wollte ihm noch etwas sagen, doch da sah er, daß der Blick gebrochen und verschleiert war. Er hielt einen Toten auf dem Arm, aber mit seiner frommen Lüge hatte er ihm eine Illusion geschaffen, die der alte Mann hinübernahm in jene Welt, wo es kein Heimweh mehr gab. Der große Steuermann hatte Johan Brad gemustert zu seiner letzten und größten Reise. Mit traurigen Gesichtern standen die Seewölfe da, als Hasard den Toten auf die Kuhl _brachte und dem Segelmacher Will Thorne leicht zunickte. * „... erbarme sich seiner armen Seele und sei ihr gnädig“, erklang es dumpf im Chor an Bord der „Isabella“. Die Leiche war von Will Thorne in Segeltuch eingenäht worden und mit einer Siebzehn-Pfünder-Eisenkugel beschwert worden.
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Jetzt rutschte sie über Bord. Die „Isabella“ hatte beigedreht, alle Segel hingen im Gei, als Johan Brad sein Grab im Ozean fand. Mit ihm verschwand in der See seine Vergangenheit, sein Schicksal, seine Herkunft. Sie wußten nicht viel von ihm, aber sie wußten, daß er ein feiner Kerl war, und so sollte er auch in ihrer Erinnerung weiterleben, als der alte Jonny, der so gern nach Hause wollte und der es doch nie geschafft hatte. Aber er hatte seine Heimat gesehen, und so war er beruhigt und zufrieden in dem Glauben, gleich dort zu sein, heimgegangen, voller Friede und Zuversicht. Eine Erinnerung blieb zurück, eine Erinnerung an einen feinen und braven Mann, ein Grab aus Wellen und Wind, ein Grab tief im Ozean. Etwas später nahm die „Isabella“ Fahrt auf und ging auf ihren Kurs, der sie in den Atlantik führen sollte.
ENDE