Alice Walton
Ein Fluch liegt über Byland Abbey Irrlicht Band 417
Die Mönche kamen drohend näher. Alice verließ ihren...
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Alice Walton
Ein Fluch liegt über Byland Abbey Irrlicht Band 417
Die Mönche kamen drohend näher. Alice verließ ihren schützenden Platz hinter dem Pfeiler und wollte fliehen. Aber der Mönch hatte sie entdeckt und schwang die Kordel. Zischend ging sie auf ihrer Schulter nieder. Noch einmal holte er aus und ließ sie niedersausen. »Sei verflucht, Jennifer, du Tochter des Satans. Du hast Unheil über uns gebracht! Geh mir aus den Augen.« Alice war zurückgewichen. Sie drehte sich um und lief durch einen endlosen Gang in der Hoffnung, den Ausgang zu finden. Sie fand eine Tür, die nach draußen führte. Wie gejagt lief sie über die Wiese und erreichte das Tor. Hinter ihr begann es zu knistern und zu rauschen. Sie drehte sich um und sah, wie das gewaltige Gebäude mit ohrenbetäubendem Krachen zusammenstürzte…
Alice Westington packte einen kleinen Koffer. Die Besichtigungsreise würde sicher ein paar Tage in Anspruch nehmen. Da war es wenig sinnvoll, jeden Abend wieder nach Hause zurückzukehren. Sie war sehr gespannt auf den Auftrag, den ihr der »National Trust of England« erteilt hatte. Es galt, einige Abteien, Schlösser und Herrenhäuser in der Grafschaft Yorkshire zu besuchen, sich nach dem Zustand der wertvollen Baudenkmäler zu erkundigen und diskret die Arbeit der Angestellten zu überprüfen. Ursprünglich hatte sie Archäologin werden wollen. Aber der Umgang mit leblosen Zeugen der frühesten Vergangenheit erschien ihr nach wenigen Semestern nicht so erstrebenswert, wie sie gedacht hatte. So war sie Denkmalpflegerin geworden. Die Erhaltung und der teilweise Wiederaufbau beschädigter Kunstschätze, vor allem aus der Neuzeit, lag ihr mehr am Herzen. Ihr Weg führte sie auf einer schmalen, gewundenen Straße zuerst nach Ampleforth. Kloster und College befanden sich in gutem Zustand. An einigen Tagen wurde noch restauriert. Sie machte sich positive Notizen und setzte ihren Weg fort. Es war später Nachmittag. Jetzt bereute sie, daß sie sich noch den ganzen Vormittag im Büro aufgehalten hatte. Ihre wichtigsten Ziele würde sie erst bei Einbruch der Dämmerung erreichen. Als sie ein freundlich anmutendes Gasthaus entdeckte, wurde sie sich ihres Hungers bewußt. Kurz entschlossen hielt sie an und betrat den kleinen Landgasthof. Sie bestellte sich ein Dinner und bestieg dann zufrieden ihren kleinen Austin. Es dämmerte schon, als sie die schmale Straße hinauffuhr, die sie zu ihrem ersten Ziel Byland Abbey, bringen sollte. Die Straße machte einen großen Bogen, und plötzlich tauchte links der Straße die Ruine der ehrwürdigen Abtei auf. Die Überreste
des einstmals imponierenden Gebäudes ragten fast drohend in den abendlichen Himmel, den ein grauer Schleier verhüllte. Sie hielt am Straßenrand und stieg aus. Fasziniert blickte sie auf die Ruine, die eine seltsame Anziehungskraft auf sie ausübte. Eine Weile ging sie an dem Zaun entlang, der das Gelände umgab, und fand den Eingang. Er war verschlossen. Obgleich sie nicht damit gerechnet hatte, um diese Zeit noch Einlaß zu finden, war sie enttäuscht. Eine Zeitlang stand sie unschlüssig da. Dann schwang sie sich auf das Tor und sprang auf der anderen Seite herunter. Langsam bewegte sie sich auf die abgebrochene Fassade zu, durch deren Fensterhöhlen das letzte Abendlicht schien. Das geschwungene Hauptportal zog sie mit magischer Gewalt an. Ihr war, als würde sie dort erwartet. Eine seltsame Beklemmung verengte ihre Brust. Dieser Ort barg traurige Erinnerungen. Aber sie wußte nicht, warum das gerade sie betreffen sollte. Ihres Wissens hatte sie diese Gegend noch nie besucht. Trotzdem kam ihr alles seltsam vertraut vor. Ein leichter Abendwind strich durch die Bäume. Zuerst war es wie ein Wispern, dann klang es wie Flüstern. Allmählich schwoll es zu einem seltsamen Gemurmel an, als füllten menschliche Stimmen die hohlen Räume. Alice lehnte sich an einen Mauerrest. Ein plötzlicher Schwindel hatte sie ergriffen. Seltsame Visionen erfüllten ihren Geist. Schatten schienen sie zu umringen. Sie strengte ihre Augen an, um besser sehen zu können. Aber die Dunkelheit hatte sie umhüllt und alle Konturen verwischt. Plötzlich spürte sie einen Atem an ihrer Wange. Sie zuckte zusammen und wich zur Seite. Nur undeutlich nahm sie den Schatten neben sich wahr. Die Wolkendecke war aufgerissen und ließ einen schwachen Mondschimmer durch. Jetzt erkannte sie in der dunklen Gestalt
einen jungen Mann in Mönchskleidung. Er griff nach ihrer Hand und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Endlich bist du gekommen«, begann er mit sanfter Stimme. »Ich habe eine Ewigkeit auf dich gewartet. Jahrhunderte sind vergangen.« »Ja«, erwiderte sie traurig. »Stürme sind über uns hinweggebraust. Es hat Kriege und Vernichtung gegeben, genauso hart wie damals, als hier alles in Schutt und Asche zerfiel.« »Du erinnerst dich an alles?« »Nicht an alles. Es ist so verschwommen. Meine Erinnerung an die schreckliche Zeit…« »Nicht nur schrecklich«, verbesserte er sie. »Weißt du nicht mehr, wie glücklich wir waren?« »Es ist so lange her. Das Unglück brach über uns herein.« »Ja, aber erst später. Unsere Liebe war wohl nicht stark genug. Wenn wir durchgehalten hätten…« »Wir konnten nichts ausrichten gegen sie. Alle waren gegen uns. Meine Eltern, deine Eltern, der Abt…« »Und die Mönche. Selbst meine Mitbrüder haben mich verlassen und verraten. Ich war ein Ausgestoßener.« »Und ich habe Schande über meine Familie gebracht.« »Wir hätten fliehen sollen.« Sie nickte. »Aber wohin? In eine feindliche Welt?« »Um uns herum waren nur Feinde. Draußen hätte es auch nicht schlimmer werden können.« »Vielleicht hast du recht«, erwiderte sie ergeben. »Es hat so sollen sein. Wir waren machtlos.« »Das Schicksal war uns nicht gnädig.« Sie schüttelte den Kopf. »Es war nicht das Schicksal. Wir haben gesündigt. Die Schuld liegt bei uns.« Alice hatte in schmerzlicher Erinnerung die Augen geschlossen und träumte vor sich hin. Die Vergangenheit, der
sie hier begegnet war, zeichnete sich immer noch nicht deutlich vor ihren Augen ab. Ihre Gedanken kreisten um Schuld und Sühne. Als sie die Augen wieder öffnete, war der junge Mönch verschwunden. Einsamkeit umgab sie. Fröstelnd entfernte sie sich von dem kalten Mauerwerk, an das sie sich die ganze Zeit gelehnt hatte, und ging ein paar Schritte durch das feuchte Gras. Was hatte das alles zu bedeuten? Hatte sie geträumt, oder war die Vergangenheit vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht und hätte längst Vergessenes aus der Tiefe heraufgeholt? Wer war der junge Mann in Mönchskleidung? Was hatte das alles zu bedeuten? Ich muß geträumt haben, sagte sie sich schließlich. Natürlich bin ich übermüdet und vorübergehend eingeschlafen. Wie bin ich bloß hierhergekommen? Erst jetzt fiel ihr der Auftrag ein, den sie übernommen hatte. Byland Abbey war ihr erstes Ziel gewesen. Wenn sie sich weiter so engagierte, würde sie es nicht weit bringen mit ihren Besichtigungen im Dienst des »National Trusts«. Sie erinnerte sich, daß sie ihr Auto am Straßenrand abgestellt hatte. Es war zwecklos, jetzt noch nach einem Hotel zu suchen. Sie würden den Rest der Nacht in ihrem Wagen verbringen und am Morgen ihre Arbeit fortsetzen. Als sie am Morgen erwachte, wußte sie zuerst nicht, wo sie sich befand. Sie blickte durch die feuchten Scheiben ihres Wagens und sah im Nebel die Ruine der Abtei vor sich. Die Erinnerung an die vergangene Nacht kehrte sofort zurück. Sie hatte das Tor überklettert und eine endlose Zeit an der Mauer gelehnt. Dabei mußte sie eingeschlafen sein und die seltsame Begegnung geträumt haben. Sie stieg aus und streckte sich. Ihre Glieder schmerzten von der ungewohnten Schlafstellung. Als sie sich in der einsamen Gegend umblickte, bemerkte sie in der Ferne ein großes Haus, das wie ein Gutshaus oder ein
Gasthaus aussah. Sie ließ den Motor an und fuhr langsam auf das Gebäude zu. Ein großes Schild verkündete, was sie erhofft hatte. Sie las: Old Abbey Inn. Das war genau das Richtige für einen schlecht ausgeschlafenen hungrigen Menschen. Sie betrat das gemütliche Lokal und bestellte ein großes Frühstück. »Full English Breakfast?« wiederholte der junge Mann, ohne den starren Blick von ihr zu wenden. Erst jetzt betrachtete sie ihn näher und erstarrte ebenfalls. Die Gesichtzüge kamen ihr bekannt vor. »Kennen wir uns nicht?« fragte er unsicher. »Ich glaube nicht, daß wir uns begegnet sind. Oder waren Sie gestern nacht in der Abtei?« »Nein. Wieso?« »Ich hatte eine seltsame Begegnung. Ein junger Mann in Mönchskleidung sprach mich an. Er trug Ihre Züge, wenn mich nicht alles täuscht.« »Das ist merkwürdig. Sie waren nachts in der Ruine? Es war doch geschlossen.« »Ich weiß. Ich bin über den Zaun geklettert.« »Sie müssen geträumt haben, Madam.« »Das glaube ich inzwischen auch. Wie wäre es, wenn Sie jetzt für mein Frühstück sorgen würden? Ich sterbe vor Hunger.« Er lächelte entschuldigend. »Selbstverständlich, Madam. Sofort.« Nachdenklich sah sie ihm nach. Das konnte doch kein Zufall sein! Dieser Mann war ihr im Leben nie begegnet. Aber sie hatte offenbar von ihm geträumt… Als er das reichhaltige Frühstück brachte, fragte sie: »Sind Sie der Besitzer?« »Wie man’s nimmt«, erwiderte er bescheiden. »Das Gasthaus ist seit Jahrhunderten im Familienbesitz. Mein Vater starb
letztes Jahr. Seitdem leite ich den Betrieb mit meiner Mutter zusammen. Sie ist aber sehr krank und kann nicht mehr viel tun. Mein Vater hat große Umbauten vorgenommen. Er wollte aus dem relativ einfachen Gasthaus ein Hotel machen.« Alice sah sich anerkennend um. »Das scheint ihm auch gelungen zu sein. Haben Sie viele Zimmer?« »Nur zwanzig. Aber sie sind ganz modern ausgestattet.« »Das muß nicht leicht gewesen sein, – bei einem so alten Gebäude. Sicher hatten Sie Schwierigkeiten mit dem Denkmalschutz.« Er seufzte. »Das kann man wohl sagen. An dem alten Teil des Hauses durfte nicht viel geändert werden. Aber ein stilgerechter Anbau wurde uns genehmigt.« Sie lächelte. »Ich arbeite für den ›National Trust‹ und freue mich über alles Schöne, was der Nachwelt erhalten bleibt. Haben Sie noch Gästezimmer im alten Teil des Hauses? Ich würde dort gern die nächste Nacht verbringen.« Seine schönen dunklen Augen leuchteten. »Das würde mir ein Vergnügen sein, Madam. Die Zimmer sind einfach, aber behaglich. Ich selbst wohne dort auch und fühle mich wohler als im modernen Teil des Hauses. Ich zeige Ihnen gern die Räumlichkeiten, wenn Sie Ihr Frühstück beendet haben.« Sie verzehrte mit Heißhunger gewaltige Portionen und legte das Besteck befriedigt beiseite. »Vielen Dank«, sagte sie, als er zum Abräumen erschien. »Das war ausgezeichnet. Ich fühle mich wie neu geboren. Wenn Sie mir jetzt die Zimmer zeigen würden…« Sie folgte ihm eine geschwungene Holztreppe hinauf in die erste Etage. Von einem Flur gingen mehrere Türen ab. Er öffnete eine nach der anderen und ließ sie hineinschauen. Nur die letzte öffnete er nicht. »Und diese Tür?« fragte sie neugierig. »Das ist mein Zimmer«, bemerkte er verlegen.
»Darf ich es trotzdem sehen?« »Wie Sie wünschen«, erwiderte er steif. Sie blickte in ein mittelgroßes Zimmer, das mit sehr altem Mobiliar ausgestattet war. Die Wände waren mit einer verblaßten Seidentapete verkleidet, die ein zartes Blumenmotiv zeigte. An den beiden Fenstern hingen Brokatvorhänge. Sie ging auf einen Sekretär zu, der mindestens fünfhundert Jahre alt sein mußte. Sie verstand viel von antiken Möbeln, nicht nur von alten Gebäuden. »Ein wunderbares Stück«, lobte sie. Nachdenklich betrachtete sie das Ölgemälde an der Wand darüber. Es zeigte einen jungen Mann, der eine große Ähnlichkeit mit ihrem Begleiter aufwies. »Ist das ein Vorfahre von Ihnen?« »Ja. Ein unglücklicher junger Mann, wie man mir sagte. Er soll sehr jung gestorben sein.« Sie blickte ihm forschend ins Gesicht. »Und Sie wollen behaupten, in der vergangenen Nacht hier im Bett gelegen zu haben, obgleich Sie drüben in der Abtei waren?« Er war nachdenklich geworden. »Die ganze Zeit denke ich darüber nach, was Traum oder Wirklichkeit ist. Ich habe geträumt, ich wäre in der Abtei. Als ich erwachte, war ich in meinem Bett. Ich kann also gar nicht in der Abtei gewesen sein.« »Sind Sie Schlafwandler?« »Davon weiß ich nichts. Es ist mir ein Rätsel.« Sie lächelte nachsichtig. »Dann wollen wir die Sache erst einmal auf sich beruhen lassen. Vielleicht laßt sich dieses Rätsel eines Tages lösen.« »Oder es gibt neue Rätsel…« Alice wartete kurz vor der offiziellen Öffnungszeit vor dem Eingang zur Abteil. Die Pförtnerin kam pünktlich. Alice begrüßte sie liebenswürdig und stellte sich als Mitarbeiterin
des »National Trust« vor. Ihren nächtlichen Besuch auf dem Gelände ließ sie verständlicherweise unerwähnt. Die Pförtnerin händigte ihr einen Plan aus, mit dem sie sich auf dem weitläufigen Gelände gut zurechtfinden konnte. Sie studierte ihn gründlich und machte sich damit auf die ausführliche Besichtigungstour. Die abgebrochenen Wände und Mauerreste wirkten an diesem Morgen nicht mehr so abweisend wie in der vergangenen Nacht. Als die Sonne kurz durchbrach, vergoldete sie das gelbliche Gestein und ließ darin hier und da Mineralien aufblitzen. Sie durchschnitt das Hauptportal, das sich in einem gewellten Bogen weit über ihr schwang und betrat den ehemaligen Innenraum des Klosters. Mit Hilfe der Zeichnung, die sie in den Händen hielt, konnte sie die ehemaligen Räumlichkeiten des Gebäudes gut identifizieren und rekonstruieren. Sie erkannte ehemalige Gänge und Treppen, Mönchszellen und Säle. Ihre lebhafte Phantasie malte sich das Klosterleben aus. Sie fühlte sich in das sechzehnte Jahrhundert versetzt, als dieses noch eine blühende Abtei war, ehe sie der Zerstörungswut übereifriger Soldaten des berüchtigten Königs Heinrich des Achten zum Opfer fiel. Er hatte sich, um sich von seiner Frau scheiden lassen zu können, von der Kirche in Rom gelöst und die Kritik der katholischen Geistlichkeit mit der Enteignung der Klöster und Kirchen beantwortet. Im Laufe dieser Säkularisierung waren in ganz England Kathedralen und Klöster zerstört worden. Bei dem Gedanken an diese sinnlose Barbarei kamen ihr die Tränen. Sie fühlte mit den bedauernswerten Menschen, die ihre Heimstatt in Flammen aufgehen sahen und nichts mehr von ihrem Gotteshaus retten konnten.
Wie in der vergangenen Nacht spürte sie den Einfluß, den diese Ruine auf sie ausübte. Ihr war, als gehöre sie dazu. Als habe sie alles miterlebt… Schweren Herzens trennte sie sich von Byland Abbey, um ihre Fahrt fortzusetzen. Ihr nächster Besuch galt dem Herrenhaus Shandy Hall, das nur wenige Meilen von der Abtei entfernt lag. Sie betrat den Herrensitz und bewunderte den herrlichen Park, den Besucher aus ganz England bestaunten. Alles stand in voller Blüte und strömte einen betäubenden Duft aus. Die Leiterin der Anlage begrüßte sie auf das herzlichste. »Sie kommen uns wie gerufen, Miss Westington! Wir haben gerade einen bitteren Verlust erlitten. Eine unserer Mitarbeiterinnen ist plötzlich gestorben. Eigentlich ist sie unersetzlich. Aber ich bin sicher, daß Sie uns helfen können.« »Es tut mir sehr leid für Sie«, entgegnete Alice mitfühlend. »Natürlich helfe ich Ihnen gern aus.« Die Frau räusperte sich. »Ich dachte weniger an Aushilfe als an eine feste Stellung…« »Oh, das kommt sehr überraschend. Meine Tätigkeit für den Trust ist eigentlich anderer Art.« »Ich weiß, Miss Westington. Trotzdem, – ich meine, wenn Ihre Vorgesetzten damit einverstanden wären und Sie auch Lust dazu hätten…« Alice hatte ihre bisherige Tätigkeit durchaus geliebt und war an einer Änderung nicht interessiert. Trotzdem verspürte sie das unerklärliche Verlangen, an diesem Ort zu bleiben. Es kam ihr alles seltsam vertraut vor, obgleich sie nie diesen Herrensitz betreten hatte. Ihr Vater hatte mehrfach davon erzählt. Aber seine Schilderungen konnten nicht erklären, warum sie sich so von diesem Gebäude und seinem Park angezogen fühlte. Ihr war, als hätte sie als Kind hier gespielt: Blumen gepflückt,
Steinchen in das Wasser des Teiches geworfen und übermütig zwischen den Hecken herumgetollt. »Ich werde es mir überlegen, nachdem ich alles besichtigt habe«, versprach sie. »Damit erfülle ich noch meinen eigentlichen Auftrag, der, wie Sie wissen, die Überprüfung der Liegenschaften des Trusts sind.« »Ich sehe Ihrer Entscheidung mit Spannung entgegen«, erwiderte Mrs. Miller. »Ich bin zwar hier die Leiterin, aber Sie werden volles Vertrauen und uneingeschränkte Verfügungsgewalt genießen.« Alice bedankte sich und begann mit der Inspektion. Die Räume waren bestens gepflegt. Das alte Mobiliar war durch Kunsttischler restauriert worden. Nirgendwo war ein Staubkorn zu entdecken. Das Porzellan in den Glasschränken glänzte, und die Silbergegenstände in den Vitrinen blitzten. Sie löste eine Absperrkordel und ging an einen Schrank, dessen Glastür den Blick auf ein wertvolles Eßservice freigab. Sie öffnete die Tür und nahm eine Schüssel heraus. Nachdenklich drehte sie das wertvolle Stück in den Händen. »Immer, wenn Gäste kamen«, murmelte sie. »Die Diener trugen Obst darin auf, oder eine Weincreme. Das war ein besonderes Rezept…« Sie schüttelte den Kopf. »Woher weiß ich das?« fragte sie sich laut. »Hat Vater mir davon erzählt?« »Oh, Sie sind allein«, ertönte eine Stimme hinter ihr. »Ich glaubte, hier würde gesprochen.« Alice lächelte verlegen. »Ich habe nur laut gedacht, Mrs. Miller. Es sind wunderbare Stücke. Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.« »In vielen Herrenhäusern und Schlössern findet man solch wertvolles Porzellan.« »Natürlich. Das weiß ich wohl. Dieses gefällt mir besonders gut.«
»Sie wissen natürlich, daß man es nicht anfassen darf.« »Natürlich, Mrs. Miller. Und man darf auch nicht hinter die Absperrung gehen. Aber ich dachte, falls ich bei Ihnen tätig werde…« Mrs. Miller lächelte verbindlich. »Dann dürfen Sie das alles, Miss Westington.« Alice verließ das ehemalige Eßzimmer, schlenderte durch einige Salons mit zierlichen antiken Möbeln und stieg dann die Treppe hinauf in den ersten Stock, in dem sich die Schlafräume befanden. Im Flur zeugte eine Ahnengalerie von der Vornehmheit ihrer Besitzer. Die Portraits zeigten streng blickende Herren, stolze und liebliche Frauen sowie zarte Kindergesichter. Ein Gemälde aber stach besonders ins Auge. Ein vornehmer Herr blickte streng auf Alice herab. Sie konnte sich seinem Blick nicht entziehen. Je länger sie ihm standhielt, um so finsterer wurde seine Miene. Das Gesicht lebte! Oder bildete sie sich das alles nur ein? Hatte ihre Phantasie ihr nicht schon mehrfach einen Streich gespielt, seit sie in diese Gegend gekommen war? Sie konnte den Blick nicht mehr ertragen. Schaudernd wandte sie sich ab und warf einen Blick in die Schlafzimmer, die vom Flur abgingen. Da gab es Himmelbetten mit zarten Volants, breite Holzbetten, wie man sie in Bauernhäusern fand, und gewaltige Betten mit Baldachinen, die für fürstliche Häupter geschaffen zu sein schienen. Sie hatte das Ende des Flurs erreicht. Von hier aus führte eine schmale Wendeltreppe nach oben. Neugierig stieg sie hinauf. Dort oben befand sich nur ein Zimmer. Es hatte eine achteckige Form. Jetzt erinnerte sie sich an den Eckturm, der ihr bereits bei der Ankunft auf gefallen war. Die war also das Turmzimmer. Der Treppenaufgang war durch eine Schnur abgesperrt gewesen. Also war dieser Raum nicht zur Besichtigung freigegeben.
Das Zimmer war nur spärlich möbliert. An der einen Wand stand ein schmales Bett mit einem Nachtschränkchen. Auf der anderen Seite befand sich ein Waschtisch mit Waschschale und Wasserkrug, darüber ein blinder Spiegel. Dieser Raum war offensichtlich jahrzehntelang nicht benutzt worden. Sie trat ans Fenster und blickte hinaus. Durch die geteilten trüben Glasscheiben erkannte sie den Park. Als sie das Fenster öffnete, drangen wilde Weinranken ins Zimmer. Ihr wurde sonderbar zumute. Je länger sie hinausblickte, um so stärker hatte sie das Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein. An diesem Fenster hatte sie gestanden und nach unten geblickt. Ihr war ein bißchen schwindelig geworden. Aber dann hatte sie ihre Angst überwunden. Nur ein Gedanke hatte sie beherrscht: Sie mußte fliehen…
»Was machen Sie denn da?« fragte eine scharfe Stimme von der Tür her. Alice blickte sich erschrocken um und lächelte dann entschuldigend. »Ich bewundere den herrlichen Blick in den Park. Und dann fielen mir die Ranken auf. Dieser Wein hat unheimlich knorrige Äste, wenn ich mal so sagen darf. Er scheint Jahrhunderte alt zu sein.« »Da mögen Sie recht haben«, bestätigte Mrs. Miller. Die Schärfe in ihrer Stimme war gewichen. »Bitte entschuldigen Sie, daß ich mich so merkwürdig verhalte. Ich tue so, als wenn ich schon längst hier zu Hause wäre. Aber es ist wirklich eigenartig. Mir ist, als sei ich hier schon einmal gewesen, als hätte ich hier gelebt.« »Das braucht nicht eigenartig zu sein. Es gibt so viele Legenden und Geistergeschichten in unserer Gegend, daß man
ab und zu wirklich versucht sein kann, an Übersinnliches zu glauben.« »Wissen Sie etwas Derartiges über dieses Haus und seine Bewohner?« fragte Alice aufgeregt. »Da gibt es sicher manches zu erzählen«, wich Mrs. Miller aus. »Man sagt, es gäbe einige Tragödien in dieser Familie. Aber das liegt sehr lange zurück. Ich denke, einige Jahrhunderte. Wenn Sie das interessiert, forschen Sie am besten in Archiven. Einiges finden Sie bei uns. Aber vieles ist damals vernichtet worden.« »Sie meinen in Byland Abbey?« »Ja. Bei dem großen Brand. Die Beziehungen zu der Abtei müssen in diesem Haus sehr eng gewesen sein.« »Den Eindruck habe ich auch«, erwiderte Alice mit Überzeugung. Mrs. Miller blickte erstaunt auf. »Haben Sie konkrete Anhaltspunkte, Miss Westington?« Alice lachte gequält. »Leider nicht, es sind eher Gefühle und vage Vermutungen.« »Ach so«, bemerkte Mrs. Miller. Aus ihrer Miene war abzulesen, daß sie ihre potentielle neue Mitarbeiterin für etwas konfus hielt. »Ich weiß, es klingt alles ein bißchen merkwürdig«, beeilte sich Alice zuzugeben. »Ich bin durchaus ein nüchtern denkender Mensch. Aber letzte Nacht hatte ich einen seltsamen Traum.« »Erzählen Sie«, drängte Mrs. Miller. »Ich träumte, in Byland Abbey begegnete mir ein junger Mann in Mönchstracht.« »Ein seltsamer Traum. Aber eigentlich nicht ungewöhnlich. Es gab viele Mönche dort.« »Aber dieser eine! Er wirkte so traurig.«
»Schon möglich. Da gab es mal eine Liebestragödie zwischen einem jungen Mönch und einer Dame dieses Hauses.« »Das also ist es, was mich instinktiv beschäftigt«, sagte Alice nachdenklich. »Aber woher weiß ich das denn?« »Das frage ich mich auch, Miss Westington. Sie scheinen ein sehr sensibles Gemüt zu haben.« »Würde es Sie daran hindern, mir trotzdem eine Mitarbeit anzubieten?« »Nein. Mein Angebot bleibt bestehen.« »Ich nehme an«, erwiderte Alice entschlossen. »Aber ich habe ein Problem mit der Unterkunft. Heute nacht wohne ich im ›Old Abbey Inn‹. Aber am morgen möchte ich gerne hier wohnen. Dürfte ich mir vielleicht dieses Zimmer einrichten?« »Dieses primitive Zimmer? Ohne Dusche und Toilette?« »Es gibt doch sicher unten eine Möglichkeit.« »Ja, natürlich. Wenn Sie damit zufrieden sind…« »Ganz gewiß. Danke, Mrs. Miller.« Mrs. Miller verließ kopfschüttelnd das Turmzimmer. Alice blickte sich weiter in dem Zimmer um, das bald ihr neues Zuhause werden sollte. Erst jetzt bemerkte sie das Gemälde an der Wand neben der Tür. Es war das Bildnis einer zarten jungen Frau, die wehmütig aus dem verblaßten Goldrahmen herausblickte. Ihr blondes Haar war nach oben gekämmt und hochgesteckt. Nur an den Seiten hatten sich Locken aus der strengen Frisur gelöst und gaben dem blassen Gesicht etwas Liebliches. Alice konnte sich nicht von dem Anblick lösen. Ihr war, als blickte sie in ihr eigenes Gesicht. Sie strich über ihre vollen geschwungenen Lippen und zog mit zitternden Fingern die Linie ihrer Augenbrauen nach. Wie bei der Betrachtung des Gemäldes, das den finster blickenden Mann darstellte, glaubte sie auch jetzt, daß dieses Bild zum Leben erwachte. Die tiefblauen Augen blickten auf
einmal nicht mehr wehmütig, sondern verzweifelt. Ihr Ausdruck bekam etwas Flehendes, Hilfesuchendes. Alice griff der Blick ans Herz. Aber allmählich wandelte sich das Gefühl des Mitleids in Beklemmung. Sie selbst war es, die aus unerklärlichen Gründen litt. Das ist doch alles so lange her, dachte sie. Warum mache ich mir um längst Vergessenes Gedanken? Aber tief in ihrem Inneren fühlte sie, daß noch nicht alles vergessen war. Gerade in diesem Augenblick schien es äußerst lebendig. Da das Bild sie weiter festhalten wollte, wandte sie sich ruckartig ab. Ich darf mich nicht derartig beeinflussen lassen, ermahnte sie sich. Wenn ich keinen klaren Kopf behalte, kann ich meine Aufgabe nicht erfüllen. Keinesfalls darf ich Mrs. Miller enttäuschen. In dem Moment rief Mrs. Miller von unten etwas herauf, Alice verließ das Zimmer und trat in den kleinen Vorraum hinaus. »Haben Sie mich gerufen, Mrs. Miller?« fragte sie nach unten. »Ja, Miss Westington. Könnten Sie mir ein bißchen behilflich sein? Es ist eine Besuchergruppe gekommen.« »Ich komme!« rief Alice und eilte die Wendeltreppe hinunter. Es würde gut sein, jetzt eine Aufgabe zu übernehmen. Das brachte sie auf andere Gedanken. Sie ging durch den Flur und vermied es, einen Blick auf die Ahnengalerie zu werfen. Aber das Gemälde des ehemaligen Herrn von Shandy Hall zwang sie in seinen Bann. Scheu blickte sie zu ihm auf. Seine Miene schien ihr noch finsterer als vorher. Die tief dunklen Augen bohrten sich in sie hinein und hielten sie fest. Sie stand wie erstarrt. Tief im Inneren spürte sie die Bedrohung, die von diesem Mann ausging.
»Was ist denn?« rief Mrs. Miller ungeduldig. Alice riß sich von dem Gemälde los. Sie war dankbar dafür, daß man sie in die Wirklichkeit zurückholte. Als sie die Treppe hinuntereilte, glaubte sie zwar noch, den strengen Blick in ihrem Rücken zu spüren, aber er konnte ihr jetzt nichts mehr anhaben. Mrs. Miller war mit der Ausgabe der Eintrittskarten beschäftigt. Obgleich die Besucher geduldig warteten und niemand drängelte, war sie sehr nervös. »Bitte, Miss Westington, übernehmen Sie das Büro, während ich die Führung mache. Falls noch mehr Besucher kommen, möchten sie bitte warten. Hier ist die Liste über die Eintrittspreise.« »Selbstverständlich. Ich hoffe nur, daß ich es einigermaßen richtig mache.« »Sollte mich jemand dringend telefonisch sprechen wollen, vertrösten Sie ihn und notieren Sie den Namen.« Als die Eintrittskarten ausgegeben waren, winkte Mrs. Miller die Besucher zum Treppenaufgang. »Wir beginnen mit der Besichtigung des Hauses. Danach können Sie sich im Park ergehen. Bitte folgen Sie mir.« Die Besucher verschwanden im oberen Stockwerk. Alice folgte ihnen bis zur Treppe und versuchte, etwas von den Erklärungen mitzubekommen. Sie hoffte, auf diese Weise etwas über den finsteren Mann zu erfahren. Aber Mrs. Miller hielt sich lange mit allgemeinen historischen Betrachtungen auf, ehe sie auf die Familiengeschichte zu sprechen kam. In dem Moment schrillte das Telefon. Sie eilte ins Büro zurück und nahm den Hörer ab. Ben Foster, der junge Chef vom »Old Abbey Inn« war am Apparat. »Könnte ich bitte Miss Alice Westington sprechen?« fragte er.
»Ich bin am Apparat«, erwiderte sie, erfreut, seine Stimme zu hören. »Ich wollte eigentlich nur hören, ob es dabei bleibt, daß Sie heute nacht bei uns bleiben.« »Aber natürlich. Allerdings ziehe ich morgen hier in Shandy Hall ein. Man braucht meine Hilfe und hat mir ein Zimmer angeboten.« »Schade für uns, allerdings schön für Sie. Ich hoffe, wir sehen uns dann trotzdem weiter, zum Beispiel zum Essen.« »Ganz sicher, Mister Foster.« »Wissen Sie, ich muß immer an Sie denken. Was Sie mir da über Ihren nächtlichen Besuch in der Abtei erzählt haben, es geht mir nicht mehr aus dem Kopf.«
Alice hatte sich den ganzen Tag in Shandy Hall nützlich gemacht. Zufrieden kehrte sie am Abend in ihr Hotel zurück und bezog ihr Zimmer. Am Ende des Flurs befand sich eine Dusche, von der sie ausführlich Gebrauch machte… Beim Verlassen des Duschraums fiel ihr ein, daß sich genau gegenüber Mister Fosters Zimmer befand. Eine Weile stand sie zögernd vor der Tür. Von unten drang Tellergeklapper an ihr Ohr. Es waren viele Gäste im Eßsaal, wie sie bei ihrer Ankunft bemerkt hatte. Also war Foster zu sehr beschäftigt, um in der nächsten halben Stunde heraufzukommen. Sie drückte die Klinke runter. Zum Glück war die Tür nicht verschlossen. Ihr war zwar bewußt, daß sie etwas Unerlaubtes tat. Aber der Zwang, mehr über ihn zu erfahren, fegte alle Bedenken hinweg. Langsam ging sie auf das Gemälde über dem Sekretär zu und betrachtete es lange. Dieses Mal kam es ihr vor, als blickten die dunklen Augen noch melancholischer. Das schöne schmale
Gesicht wirkte blaß und kränklich. Ein inneres Leiden schien es zu verzehren. »Armer Ben«, sagte sie leise und erschrak im selben Augenblick über sich selbst. Wie kam sie dazu, diesen Mann mit Foster zu identifizieren? Er war gesund und kräftig und durchaus nicht melancholisch. Sie löste sich vom Anblick des Bildes und blickte sich im Zimmer um. Es war tadellos aufgeräumt. Zögernd öffnete sie den Kleiderschrank und blickte hinein. Die Jacken und Hosen machten einen völlig normalen Eindruck. Hatte sie denn etwas anderes erwartet? Etwa Kleidungsstücke aus dem sechzehnten Jahrhundert? Kopfschüttelnd schloß sie die Schranktür. Auch die alte Mahagonikommode wies nichts Außergewöhnliches auf. Sie wandte sich ab und blickte zum Fenster. Dort stand eine alte Bauerntruhe, die liebevoll bemalt war, deren Farben aber im Laufe der Jahrhunderte verblaßt waren. Neugierig hob sie den Deckel. Der Inhalt der Truhe zeigte nicht die gewohnte Ordnung. Hier lagen Erinnerungsstücke bunt durcheinandergewürfelt. Sie schob Bücher und Schulhefte beiseite, nahm einen alten Teddybären in die Hand und betrachtete sein abgeschabtes Fell. Als sie ihn wieder zurücklegen wollte, fiel ihr ein dunkelbrauner Stoff auf. Sie zupfte etwas daran und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Es handelte sich offenbar um eine Mönchskutte. Fassungslos starrte sie darauf hinunter. Auf einmal hielt sie es in diesem Zimmer nicht mehr aus. Sie schämte sich ihrer Indiskretion. Hastig verteilte sie die Gegenstände wieder so, wie sie glaubte, sie vorgefunden zu haben, und schloß die Truhe. Sie hoffte inständig, daß er nicht dahinterkommen würde, auf welche Weise sie sein Geheimnis entdeckt hatte.
Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und machte sich zum Dinner fertig. Wenig später ging sie in den Eßsaal hinunter und setzte sich an einen freien lisch. Ben Foster war gerade mit einem Tablett hereingekommen und nickte ihr bewundernd zu. Er reichte es einer Kellnerin und kam an ihren lisch. »Guten Abend, Miss Westington. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Tag.« »O ja! Es gab viel zu tun. Die Arbeit hat mir Spaß gemacht. Natürlich muß ich mich noch richtig einarbeiten.« »Sie werden gewiß Hunger haben.« »Ja, sehr sogar. Was können Sie mir denn empfehlen?« »Wir haben heute Brathähnchen, sehr knusprig.« »Ja. Darauf habe ich Appetit. Und bitte einen gemischten Salat.« »Und was darf ich Ihnen zu trinken bringen?« Sie überlegte kurz. Eigentlich könnte sie etwas zur Hebung ihrer Stimmung gebrauchen… »Ein Glas Weißbein bitte«, sagte sie forsch. »Einen französischen oder einen deutschen?« »Bitte einen deutschen.« »Es wird nicht lange dauern«, versprach er. »Es ist gerade eine Sendung Grillhähnchen fertiggeworden.« Er hatte nicht zuviel versprochen. Das Essen kam schnell und schmeckte ausgezeichnet. Sie genoß es sehr. Der vorzügliche Wein vertrieb auch bald die gedrückte Stimmung, in die sie die unfreiwillige Entdeckung gebracht hatte. Im Augenblick war es ihr nicht mehr so wichtig, warum er seine Anwesenheit in der Abtei geleugnet hatte. Vielleicht war er tatsächlich ein Schlafwandler. Sicher würde sie das noch herausbekommen. Nach dem Essen ging sie nach draußen. Ein Spaziergang würde ihr nach dem anstrengenden Tag guttun und sie besser
schlafen lassen. Dabei konnte sie in Ruhe noch einmal über alles nachdenken. Sie trat aus dem Haus und blickte um sich. Es war bereits dunkel. Aber die Reste der Abtei waren gerade noch zu erkennen. Schwarz und drohend ragten sie in den abendlichen Himmel. Eine Zeitlang war sie versucht, wieder hinüberzugehen. Aber ihr Bedürfnis nach Ruhe verdrängte den dringenden Wunsch. Nicht noch einmal wollte sie dem Sog nachgeben und sich einem fremden Willen unterwerfen. Sie ging in die entgegengesetzte Richtung und atmete tief die klare Nachtluft ein. Als sie zurückkehrte, stand Ben Foster in der Haustür. »Haben Sie einen Abendspaziergang gemacht, Miss Westington?« »Ja. Die Luft ist so frisch und klar.« »Waren Sie etwa wieder in der Abtei? Verbotenermaßen?« Sie lachte. »Nein, diesmal konnte ich widerstehen. Ich weiß selbst nicht, was mich so an Byland Abbey fasziniert.« »Sie ist selbst als Ruine noch außerordentlich eindrucksvoll. Oder ist es mehr ihre Geschichte, die Sie interessiert? Die Schicksale, menschliches Leid…« »Wahrscheinlich alles. Aber besonders das Leid. Es gab eine Tragödie, sagt Mrs. Miller. Ein junger Mönch und ein Mädchen aus dem Hause Shandy Hall…« Er nickte ernst. »Ja. Lady Jennifer Northam. Und der Mönch kam aus diesem Haus.« »Wie hieß er, Mister Foster?« Ben Foster war blaß geworden. »Henry Haverton«, sagte er leise. Schweigend sahen sie einander zu, zuerst fragend und dann voll scheuer Sehnsucht.
Eine Frauenstimme rief nach Ben. Der Zauber, der sie umgeben hatte, war plötzlich zerstört. »Entschuldigung«, stammelte er. »Meine Mutter…« Sie blickte ihm nach. Zuerst konnte sie nicht begreifen, was mit ihr geschehen war. Aber ein plötzliches Glücksgefühl sagte ihr, daß sie sich gerade verliebt hatte. Das geschah ihr nicht zum ersten Mal. Aber dieses Mal war es etwas ganz anderes. Sie spürte, daß dieses eine schicksalhafte Begegnung war.
Alice wartete ein paar Minuten in der Hoffnung, Ben käme wieder zurück. Aber sie hoffte vergebens. Wenn seine Mutter Hilfe brauchte, würde es sicher länger dauern. Wieder war sie versucht, noch einmal zur Abtei hinüberzugehen. Aber sie zwang sich, darauf zu verzichten. Sie stieg die Treppe hinauf und betrat ihr Zimmer. Erst jetzt spürte sie die Müdigkeit. Sie zog sich aus und ging ins Bett. Eine Zeitlang horchte sie noch, ob Ben nach oben kam. Aber dann übermannte sie der Schlaf. Im Traum schritt sie über eine endlose grüne Wiese. Auf einmal erhob sich vor ihren Augen eine stattliche Abtei. Steil ragten die Wände in den wolkenlosen Himmel Sonnenlicht drang durch die geschwungenen Spitzbogenfenster und durchflutete den hallenartigen Innenraum. Sie durchstreifte die Kirche und das Kloster, blickte in die Zellen, in den Eßsaal, und stieg dann in den Weinkeller hinunter, der gut bestückt war. Plötzlich aber brach die ganze Pracht mit ohrenbetäubendem Getöse über ihr zusammen. Schreiend erwachte sie. Sie brauchte mehrere Minuten, um sich darüber klarzuwerden, wo sie sich befand. Ängstlich horchte sie nach draußen. Stille umgab sie. Trotzdem hatte sie das Gefühl, jemand sei im Zimmer.
»Ben?« flüsterte sie. Aber niemand antwortete. Vorsichtig tastete sie nach der Nachttischlampe und knipste das Licht an. Niemand war im Zimmer. Erleichtert legte sie sich wieder zurück. Dabei hätte es ihr sicher gutgetan, ein menschliches Wesen um sich zu haben, um ihre Angst und ihren Schrecken zu überwinden. Plötzlich ergriff sie eine große Unruhe, die sie zwang, aufzustehen und in den Flur hinauszutreten. Sie schlich zu Bens Zimmertür und lauschte. Nichts war zu hören. Leise klopfte sie an. Sie wollte ihn nicht wecken. Aber wenn er zufällig wach wäre, würde sie ihm von ihren Ängsten erzählen. Vorsichtig drückte sie die Klinke runter und trat ein. »Mister Foster? Sind Sie wach?« Als sie keine Antwort bekam, näherte sie sich dem Bett und tastete nach dem Kopfkissen. Es war leer. Sie knipste die Deckenbeleuchtung an und öffnete die Truhe. Offensichtlich war sie durchwühlt worden. Mit zitternden Händen faßte sie hinein. Die Mönchskutte war fort. Sie wollte es zuerst nicht glauben. Aber es war offensichtlich, daß Ben in der Mönchskutte aus dem Haus gegangen war. Sie mußte ihm folgen. Hastig schloß sie die Truhe, schaltete das Licht aus und kehrte in ihr Zimmer zurück. In Windeseile kleidete sie sich an und verließ das Haus. Ein heftiger Sturm war aufgekommen. Mühsam kämpfte sie sich vorwärts und erreichte den Eingang zur Abtei. Wieder schwang sie sich über das Tor und bahnte sich den Weg zur Klosterruine. Im Portal fand sie Ben. Er lehnte sich an die Mauer und hielt die Augen geschlossen. »Mister Foster, Ben«, sagte sie sanft. Er öffnete die Augen. »Jennifer, endlich! Ich warte eine Ewigkeit auf dich.«
»Warum hast du mich nicht geweckt, Henry? Ich wäre doch mit dir gekommen.« Er lächelte schwach. »Ich wollte dich nicht stören, Liebste. Aber nun bist du ja gekommen.« »Ja, und ich werde bei dir bleiben.« »Komm, ich zeige dir das Kloster, wo ich gelebt habe…« Er griff nach ihrem Arm und zog sie durch das Portal. Nach wenigen Schritten blieb er stehen. »Hörst du es auch, Jennifer?« »Was meinst du, Henry?« »Das Rauschen. Hörst du es nicht?« »Es ist der Sturm. Er wird immer stärker.« »Nein. Das ist etwas anderes, etwas viel Gewaltigeres. Die Erde bebt. Ich fühle es ganz deutlich.« Jetzt nahm auch Alice die Bewegung wahr. Um sie herum begann es zu knistern. Ein schwacher Mondstrahl fiel durch die Wolken und beleuchtete ein gespenstisches Bild. Schicht um Schicht richtete sich das Mauerwerk auf, als mauerten Tausende fleißiger Hände. Immer höher türmten sich die Wände auf, bis das ganze gewaltige Gebäude um sie herum aufgerichtet war. Ben breitete die Arme aus. »Da ist es wieder, aus den Trümmern auferstanden. Meine geliebte Abtei, mein Heim, mein Hort, der Ort meines Glücks und meiner Erbauung.« »Und was ist mit mir? Mein Zuhause ist nicht hier.« Er schwieg einige Augenblicke. »Ja. Das ist wahr. Komm, laß uns herumgehen. Es ist alles wieder so wie damals.« Alice ließ sich von ihm mitziehen. Sie streiften durch die prächtig geschmückte Kirche, die Säle des Klosters mit ihren herrlichen Deckenmalereien, vorbei an den Mönchszellen, aus denen leises Gemurmel drang. »Sie sind wieder da«, sagte Ben glücklich. »Meine Brüder. Hörst du sie singen?«
Alice lauschte. »Ja. Jetzt höre ich es auch. Es klingt so traurig. Findest du nicht auch?« »Ja, weil sie wissen, daß ihnen der Untergang bevorsteht. Alles wird in Schutt und Asche gelegt werden. Die Horden des Königs werden über uns hereinbrechen und alles niedermachen, was sich ihnen in den Weg stellt.« »Kann man das nicht verhindern?« Er seufzte. »Nein. Aber ich kann sie warnen. Komm, wir gehen zum Kapitelsaal.« Alice folgte ihm zögernd. Ihr war unheimlich zumute. Die Ahnung kommenden Unheils verengte ihre Brust. Sie waren vor einer schweren eisenbeschlagenen Holztür angekommen. Ben klopfte an. Die Tür öffnete sich knarrend. Sie blickten in einen großen Saal, in dem etwa hundert Mönche versammelt waren. Alle starrten die beiden jungen Menschen an. »Meine Brüder«, begann Ben. »Ich muß euch vor einem großen Unheil warnen, das uns bevorsteht.« Ein Raunen ging durch die Menge, das tumultartig anschwoll. Ein würdiger alter Mönch ging auf Ben zu. »Du wagst es, hierherzukommen? Du bist das Unheil. Du allein.« »Du bist das Unheil!« bestätigten die Mönche im Chor. »Bitte, so hört mich doch an!« flehte Ben. »Verschwinde! Aus unseren Augen, Henry! Du wirst diesen heiligen Ort nicht noch einmal entweihen.« Er ging mit drohender Miene auf Ben zu. Die Mönche drängten nach. Einige fuchtelten mit den Armen und stießen Verwünschungen aus. Ben war noch weiter zurückgewichen, während Alice hinter einem Pfeiler Schutz gesucht hatte. Der alte Mönch löste die schwere Kordel von seiner Kutte und hielt sie hoch, als wolle er sie als Peitsche benutzen.
»Aus meinen Augen!« dröhnte er. Ben taumelte mit schreckensbleicher Miene rückwärts. Ohne sich um seine Begleiterin zu kümmern, stürmte er davon. Alice stand wie erstarrt. Die Mönche kamen drohend näher. Alice verließ ihren schützenden Platz hinter dem Pfeiler und wollte ebenfalls fliehen. Aber der Mönch hatte sie entdeckt und schwang die Kordel. Zischend ging sie auf ihrer Schulter nieder. Noch einmal holte er aus und ließ sie niedersausen. »Sei verflucht, Jennifer, du Tochter des Satans. Du hast Unheil über uns gebracht. Geh mir aus den Augen.« Alice war zurückgewichen. Sie drehte sich um und lief durch einen endlosen Gang in der Hoffnung, den Ausgang zu finden. Sie fand eine Tür, die nach draußen führte. Wie gejagt lief sie über die Wiese und erreichte das Tor. Hinter ihr begann es zu knistern und zu rauschen. Sie drehte sich um und sah, wie das gewaltige Gebäude mit ohrenbetäubendem Krachen zusammenstürzte. Alice war so verstört, daß sie nicht wußte, wie sie ins Hotel zurückgekommen war. Sie hatte die Haustür zum Glück unverschlossen gefunden und ihr Zimmer erreicht. Ratlos stand sie eine Weile herum. An Schlaf war jetzt nicht zu denken. Wie war das alles zu erklären? Sie konnte dieses schreckliche Erlebnis doch nicht geträumt haben! Und was war mit Ben? War er in seinem Zimmer oder irrte er draußen herum? Es ließ ihr keine Ruhe. Sie mußte nachsehen. Vielleicht wußte er eine Erklärung. Sie ging durch den Flur und horchte an seiner Tür. Kein Laut war zu hören. Vorsichtig drückte sie die Klinke runter und trat ein. Als sie sich seinem Bett näherte, stöhnte er auf und wälzte sich hin und her. »Nein! Nein!« schrie er verzweifelt.
Sie wollte ihn aus seinem schrecklichen Alptraum wecken, aber als sie an die Kutte dachte, schob sie ihren Entschluß auf. Zuerst mußte sie in die Truhe sehen. Sie hob den Deckel an und faßte hinein. Es war zu dunkel im Zimmer, um etwas erkennen zu können. Aber sie ertastete die Kutte. Sie lag obenauf und fühlte sich feucht an. Lautlos schloß sie die Truhe und wandte sich dem Bett zu. Er schien sehr unter seinem Traum zu leiden. Immer wieder schluchzte er auf und stieß unverständliche Worte hervor. Schließlich konnte sie ihn nicht länger leiden sehen. Durch heftiges Schütteln bekam sie ihn wach. Stöhnend richtete er sich auf. »Mach das Licht an«, sagte sie sanft. Er griff nach dem Schalter der Nachttischlampe und knipste ihn an. Erstaunt blickte er in ihr besorgtes Gesicht. »Du hier, Alice?« stammelte er. Ihr war plötzlich eine Erklärung dafür eingefallen, warum sie in sein Zimmer eingedrungen war. »Entschuldige bitte«, sagte sie. »Ich war im Badezimmer gegenüber. Als ich herauskam, hörte ich dich schreien und machte mir Sorgen.« »Ich hatte einen entsetzlichen Alptraum. Vielen Dank, daß du mich geweckt hast. Es war grauenhaft.« »Hast du von der Abtei geträumt?« »Ja. Das tue ich oft. Aber es war noch nie so entsetzlich. Bisher waren meine Träume nur voller Sehnsucht und Traurigkeit, Träume von verlorenem Glück, von Hoffnungslosigkeit.« »Kannst du dich erinnern?« »Ja. Ich war wieder drüben. Du warst auch dort. Wir gingen durch die Räume. Dann stand plötzlich dieser schreckliche alte Mönch vor mir. Er hat mich bedroht. Die anderen Mönche
kamen immer näher. Sie haben schaurige Flüche ausgestoßen. Ich glaube, sie wollten mich umbringen.« »Und was geschah weiter? Wo war ich?« »Du warst auf einmal weg. Ich habe dich nicht mehr gesehen.« »Ich hatte mich hinter einem Pfeiler versteckt.« Er blickte erstaunt auf. »Woher weißt du das?« »Ich war doch auch dort. Das hast du selbst gesagt.« »Ja. Aber das war doch in meinem Traum.« »Es war kein Traum.« »Was sagst du da?« »Erzähl weiter«, lenkte sie ab. »Was hast du gemacht, als du mich nicht mehr sahest?« »Ich bin geflohen«, gab er kleinlaut zu. »Und ich stand hilflos da, diesen Menschen ausgeliefert. Der alte Mönch hat mich verflucht.« »Was sagst du da? Aber das habe ich nicht geträumt. Hast du etwa geträumt?« »Nein. Ich habe es heute nacht erlebt.« »Du warst in der Abtei?« »Ja. Mit dir. Ich habe dasselbe erlebt wie du.« »Das kann doch nicht möglich sein! Es war ein Traum.« Sie ging zur Truhe und öffnete sie. »Und was ist das hier?« fragte sie triumphierend, während sie die Kutte hochhielt. »Ach, die alte Kutte? Die liegt schon lange dort.« »Aber nicht obenauf. Sie lag zuunterst.« »Schön möglich. Vielleicht habe ich in der Truhe gewühlt, um etwas zu suchen. Ich kann mich nicht erinnern. Aber woher weißt du das denn?« »Das spielt im Augenblick keine Rolle. Du scheinst ein Schlafwandler zu sein.« »Das ist mir völlig neu.« Sie lächelte. »Das glaube ich dir sogar.«
»Trotzdem. Ich kann mir nicht vorstellen…« »Der alte Mönch hat mich ausgepeitscht.« »Das mußt du geträumt haben.« Sie streifte den Pullover von der linken Schultern. »Sieh hier, wenn du mir nicht glaubst.« Er starrte entsetzt auf die roten Striemen, die sich über ihre Schulter hinzogen. »Das kann doch nicht wahr sein!« stöhnte er. »Ich würde selbst denken, es sei alles nur ein böser Traum gewesen. Aber das hier ist wohl Beweis genug.« Er stand auf dem Bett auf und nahm sie in die Arme. »Mein armer Liebling«, sagte er sanft. »Was geschieht nur mit uns? Kannst du dir das erklären?« »Wir lieben uns, Ben.« »Ja, das glaube ich auch. Aber es ist alles so seltsam. Es hat so etwas Schicksalhaftes.« Sie schmiegte sich enger an ihn. »Ja, Ben. Es könnte einmal angst davor werden…«
Als Alice am Morgen aufwachte, schien die Sonne hell ins Zimmer. Sie stand auf und duschte sich. Als das warme Wasser über ihre Schulter rann, entsann sie sich der Striemen, die sie Ben in der vergangenen Nacht gezeigt hatte. Jetzt war nichts mehr davon zu spüren. Ein Blick in den Spiegel bestätigte ihr, daß ihre Haut unversehrt war. Dann habe ich alles doch nur geträumt, sagte sie sich beruhigt. Es war ja auch zu unwahrscheinlich. Meine allzu lebhafte Phantasie erzeugt solche schlimmen Träume. In guter Stimmung betrat sie das Eßzimmer. Außer ihr war kein Gast dort. Sie waren alle am Sonntag abgereist. Ben kam mit einer Teekanne herein. »Ich habe dich gehört. Hier ist schon mal der Tee. Möchtest du wieder ein gewaltiges Frühstück?«
»Ja, bitte. Dann brauche ich nichts bis zum Abend. Wie hast du geschlafen?« »Schlecht. Ich hatte schauderhafte Träume. Bis auf den einen, der aber wohl kein Traum war. Du warst bei mir im Zimmer.« Sie lächelte verlegen. »Ich hatte dich schreien gehört. Es klang schrecklich. Da mußte ich doch eingreifen.« »Dafür bin ich dir auch sehr dankbar, denn du hast mir gesagt, daß du mich liebst.« »Ja. Und du hast mir dasselbe gesagt. Es hat mich sehr glücklich gemacht, allerdings auch ein bißchen beklommen.« »Wieso beklommen?« »Ich weiß es selbst nicht. Es ist so ein Gefühl…« »Solchen Gefühlen solltest du mißtrauen. Was zählt, ist nur das Glücksgefühl.« »Du hast ja recht. Aber wenn ich an die Erlebnisse der letzten Nacht denke.« »Du hast mir Schlimmes erzählt. Ich wollte dir nicht glauben. Aber dann hast du mir die Striemen gezeigt.« »Das ist es, was mich wieder an allem zweifeln läßt. Die Striemen sind weg.« »Dann sind sie wohl über Nacht geheilt.« »Ja«, erwiderte sie nachdenklich. »Das könnte sein. Obgleich es unwahrscheinlich ist. Sie hatten sich tief in die Haut eingegraben.« »Ich erinnere mich gut daran. Trotzdem sollten wir die Sache nüchtern sehen. Wenn wir beide alles nur geträumt haben, gibt es keinen Grund zur Beunruhigung.« Sie lachte. »Wenn du mir jetzt ein gutes Frühstück bringst, werde ich sicher deiner Meinung sein.« Er blickte sie liebevoll an. »Es geht ganz schnell. Danach wird es sicher besser gehen. Ich will nicht, daß du dir Gedanken machst. Es wird alles gut werden.«
»Hoffentlich, Ben.« Sie verzehrte mit großem Appetit das köstliche Frühstück. Dann holte sie den Koffer aus ihrem Zimmer und verabschiedete sich von Ben. »Eigentlich tut es mir leid, fortzugehen. Aber das Zimmer in Shandy Hall ist natürlich praktischer als dieses hier.« »Das verstehe ich. Du bleibst an deinem Arbeitsplatz und sparst die Kosten.« »Ich bleibe ja in der Nähe. Wir werden uns häufig sehen können. Vor allem weiß ich eure gute Küche zu schätzen.« Er lächelte dankbar. »Ich nehme dich beim Wort. Du wirst uns immer zum Dinner willkommen sein.« Sie küßte ihn auf die Wange. »Mach’s gut, Ben. Und geistere nachts nicht mehr als Mönch herum.« »Ich werde mir Mühe geben. Am besten bitte ich meine Mutter, mich einzuschließen.« »Das bitte nicht, Liebster. Es könnte ein Feuer ausbrechen. Gerade in einem so alten Gebäude kann leicht etwas passieren. Dieses viele Holz…« »Du hast recht. Der Teil des Hauses ist aus dem sechzehnten Jahrhundert. Es gehörte früher zum Kloster und diente als Gasthaus. Damals gab es die Straße noch nicht. Das Klostergelände dehnte sich viel weiter aus als heute. Unser heutiges Grundstück und weiteres Land um uns herum war im Besitz des Klosters.« Sie nickte. »Jetzt verstehe ich. Dann ist dieser unglückselige Henry also hier aufgewachsen, auf dem Grund und Boden der Abtei.« »Ja. Sein Vater verwaltete das Gästehaus.« »Ich möchte mehr über diesen Henry wissen, Ben. Gibt es bei euch eine Familiengeschichte?« »Da müßte ich meine Mutter fragen.«
»Bitte, tu das. Ich möchte endlich wissen, wie er war und was aus ihm geworden ist.« »Und ich möchte alles über Lady Jennifer erfahren. Vielleicht findest du etwas über sie in Shandy Hall.« »Ich will’s versuchen. Auch ich bin dringend daran interessiert. Sie scheint mir manchmal ihren Geist oder ihre Seele einzuhauchen.« Er nahm sie in die Arme und küßte sie innig. »Mach’s gut, Alice. Und setz dich keinen Gefahren mehr aus.« »Ich hoffe, daß es mir gelingt. Leb wohl.« Er brachte sie zu ihrem Auto und half ihr beim Einsteigen. Lange sah er ihr nach. »Gott möge dich beschützen«, sagte er leise. Alice wurde von Mrs. Miller herzlich begrüßt. »Gut, daß Sie da sind. Es gibt viel zu tun heute. Mehrere Gruppen haben sich angesagt. Mrs. Evans wird im Büro aushelfen. Dann können Sie an den Führungen teilnehmen und sehen, wie so etwas gemacht wird.« »O ja, das möchte ich gerne. Dann könnte ich Sie auch in dieser Hinsicht bald entlasten.« Während Mrs. Miller die Gruppen heimführte, machte sich Alice eilige Notizen. In der Mittagspause studierte sie eine Broschüre, die über die Geschichte des Herrenhauses Auskunft gab. Unter den Ansichtskarten, die zum Verkauf angeboten wurden, fand sie das Bildnis des finsteren Hausherrn. Sie kaufte das Photo und trug es in ihr Zimmer. Lange betrachtete sie das strenge Antlitz, das ihr schon beim ersten Mal Angst eingeflößt hatte. Dann verglich sie es mit dem lieblichen Gesicht der jungen Frau, deren Bild neben der Tür hing. Es war nicht die geringste Ähnlichkeit zu entdecken. Wie durch einen inneren Zwang löste sie ihre nach hinten gesteckten Haare und türmte sie nach oben. Um sie in dieser Position festzuhalten, brauchte sie zwei Kämme. Nach kurzer
Zeit lösten sich an den Seiten die kürzeren Schläfenhaare. Sie feuchtete die Strähnen an und drehte sie so lange, bis sie sich leicht kräuselten. Da die Mittagspause beendet war, ging sie wieder hinunter. Mrs. Evans blickte ihr entgeistert entgegen. »Wie sehen Sie denn aus?« fragte sie. »Hat Sie das Bild der Lady Jennifer inspiriert?« »Ja. Es fasziniert mich.« Die ältere Frau nickte. »Mir fiel die Ähnlichkeit gleich auf. Aber jetzt, mit dieser Frisur, könnte man meinen…« »Ich weiß selbst nicht, warum ich das mache. Können Sie mir etwas über diese Frau erzählen?« Mrs. Evans seufzte. »Sie war ein so unglückliches Mädchen. Ihr Vater war sehr streng.« »Ist er derjenige, dessen Bild im Flur hängt? Der mit der finsteren Miene?« »Ja, Sir Northam. Er wurde weit und breit gefürchtet. Es geht die Legende, er habe seine arme Tochter in den Tod getrieben.«
Alice betrachtete sich immer wieder im Spiegel. Sie trug nicht nur Jennifers Frisur, sondern ahmte auch ihre Kopfhaltung nach. Als nächstes würde sie sich Material für die Kleidermode der damaligen Zeit besorgen, um ein stilgerechtes Kleid schneidern zu können. »Ich werde dann aussehen wie du, Jennifer«, sagte sie zu dem Bildnis. Sie wußte selbst nicht, warum sie das so erstrebenswert fand. Nur tief in ihrem Inneren fühlte sie, daß sie auf dem Weg war, die Identität dieser jungen Frau anzunehmen. Mrs. Miller reagierte mit Kopfschütteln auf die Veränderung in Aussehen und Wesen ihrer neuen Mitarbeiterin.
»Engagieren Sie sich nicht ein bißchen zu sehr, Miss Westington? Vielleicht sollten Sie zum Wochenende wieder nach Beverley zurückfahren, um ein bißchen Abstand zu gewinnen. Sie müssen doch sicher noch einiges in Ihrem bisherigen Arbeitsbereich regeln. Auch wird der Inhalt Ihres kleinen Koffers nicht lange ausreichen.« Alice nickte. »Ich hatte nicht mit einer längeren Abwesenheit gerechnet.« »Sehen Sie, das meine ich ja. Ich habe Sie überrumpelt. Deshalb sollten Sie sich ruhig ein verlängertes Wochenende gönnen. Mrs. Evans hat mir schon ihre Hilfe versprochen. Sie ist zwar auf eigenen Wunsch in den Ruhestand getreten. Aber ab und zu macht sie sich gern etwas nützlich.« Alice war einverstanden. Morgen würde sie nach Beverly fahren und alles nötige erledigen. Ben war sehr enttäuscht, daß Alice keine Zeit für ihn am Wochenende hatte. Er erwartete zwar viele Ausflügler. Aber auch ein paar Stunden mit Alice hatte er gehofft. Alice fuhr langsam an Byland Abbey vorbei. Sie kam sich wie eine Verräterin vor. Mein Platz ist hier. Warum fahre ich fort? Habe ich etwa Angst vor dieser Ruine? Sie wollte die Frage mit einem Lachen beantworten. Aber das Lachen blieb ihr in der Kehle stecken. Ich habe wirklich Angst, nach dem, was ich dort erlebt habe. Es ist wie eine Flucht, eine Flucht vor allem, was noch kommen kann. Es ist gut, daß ich mich aus dem Dunstkreis dieses Gemäuers entferne und mich aus dem Bann löse. Sie fuhr durch die liebliche Hügellandschaft der Grafschaft Yorkshire. Die Wolkendecke riß auf. Die Sonne brach sich Bahn und überflutete Wiesen und Wälder. Ich bin frei, dachte Alice glücklich. Nichts fesselt mich mehr an eine Vergangenheit, die nicht die meine ist. Ich bin Alice Westington, nicht Jennifer Northam.
Sie genoß das Wochenende in ihrer gemütlichen kleinen Wohnung und ging am Montagmorgen ins Büro des National Trust, um sich zurückzumelden. »Ach, Sie kommen also doch zurück?« fragte Mr. Webster erfreut. »Nur vorübergehend, Sir. Ich will in Shandy Hall eine Weile aushelfen. Aber ich wollte hier alles in Ordnung bringen.« »Es ist alles geregelt. Machen Sie sich keine Sorgen. Bis zu Ihrer Rückkehr werden Ihre Aufgaben anderweitig erledigt. Gefällt es Ihnen in der Einsamkeit?« Alice zögerte. »In gewisser Weise ja. Aber…« »Was für ein Aber?« »Das läßt sich schwer erklären, Mr. Webster. Byland Abbey hat mich so in ihren Bann gezogen, daß ich nachts dort herumgewandelt bin.« »Zur Geisterstunde etwa?« scherzte er. Sie war ernst geworden. »So könnte man es nennen. Es geht nicht mit rechten Dingen zu.« »Sind Sie etwa abergläubisch?« »Nein, keinesfalls!« protestierte sie. »Ich habe mir immer viel auf meinen klaren Verstand und meine Logik eingebildet. Aber seitdem ich diese seltsamen Erlebnisse in der nächtlichen Abtei hatte…« »Hatten Sie Visionen?« »Vielleicht könnte man es so nennen.« »Erzählen Sie.« Sie zögerte lange. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, Mister Webster.« »Visionen lassen sich nicht erklären. Aber erzählen Sie mir doch einfach…« »Wenn das so einfach wäre…« »Versuchen Sie’s…« »Auch wenn Sie mich für verrückt erklären?«
Seine Miene wurde ernst. »Das würde ich niemals tun. Es gibt so vieles zwischen Himmel und Erde, was sich den menschlichen Erklärungsversuchen entzieht.« Sie berichtete ihm von den zwei nächtlichen Erlebnissen auf dem Gelände der Abtei. Er hatte ihr aufmerksam zugehört. Schließlich legte er ihr lächelnd beide Hände auf die Schultern. »Mein liebes Kind, Sie sind nicht die erste, die so etwas erlebt oder zu erleben glaubt. Aber da ich Sie nie für eine Phantastin halten würde, kann ich mir nicht erlauben, Ihre Worte anzuzweifeln.« »Ich danke Ihnen, Sir. Was raten Sie mir nun?« Er seufzte. »Das ist eine Gewissensfrage, liebes Kind. Vielleicht sollten Sie sich nicht zu intensiv mit der alten Legende beschäftigen. Ihre lebhafte Phantasie könnte Ihnen manchen bösen Streich spielen.« »Das habe ich auch schon befürchtet.« »Versuchen Sie, etwas Abstand zu gewinnen. Zwingen Sie sich, die faszinierende Geschichte des Klosters und des Herrenhauses rein wissenschaftlich oder historisch zu sehen.« »Gibt es in Ihrem Archiv Unterlagen über Byland Abbey und Shandy Hall?« »Ganz gewiß.« Sein Blick drückte Bedenken aus. »Sie wollen sich also weiter hineinknien?« »Ja. Rein historisch.« »Vielleicht haben Sie recht. Wenn Sie hinter alle Geheimnisse gekommen sind, werden Sie vielleicht vor Ihren Ängsten oder Visionen Ruhe haben.« Sie lächelte dankbar. »Es tut gut, auf so viel Verständnis zu stoßen.« »Eine so bewährte Mitarbeiterin verdient jedes Verständnis und jede Unterstützung.«
Alice ging ins Archiv hinauf und suchte nach allem, was sie über Byland Abbey und Shandy Hall finden konnte. Befriedigt zog sie mit ihren Schätzen ab und kehrte nach Hause zurück. Nachdem sie zwei große Koffer gepackt hatte, setzte sie sich in ihren Wagen und machte sich auf den Weg zu ihrer neuen Arbeitsstelle. Im Hotel »Old Abbey Inn« machte sie kurz Halt, um Ben zu begrüßen. »Wie bin ich froh, daß du wieder da bist!« rief er aus. »Du hast mir so gefehlt.« Sie lächelte dankbar. »Es tat gut, nach der Rückkehr einen Menschen vorzufinden, der einen vermißt hatte.« »Ich habe wieder schreckliche Träume gehabt. Ich hoffe jedenfalls, daß es nur Träume waren.« Sie blickte ihn ängstlich an. Ging jetzt wieder alles von vorn los? Geriet sie wieder in den Sog der unwirklichen Ereignisse, nachdem sie sich mühsam davon zu lösen versucht hatte? Holte die Vergangenheit sie doch wieder ein? »Erzähl es mir«, bat sie. »Ich war drüben in der Abtei. Eine innere Stimme hatte mich hingelockt. Ich dachte, ich könnte irgend etwas wiedergutmachen.« »Was wolltest du wiedergutmachen? Dich trifft doch keine Schuld.« »Ich weiß. Aber es ist das unselige Erbe. Weißt du, ich habe meine Mutter ausgefragt. Sie weiß eine ganze Menge über die alten Zeiten. Dieser Mönch – er war ein Bruder meines Urahns. Er war jung und schön. Nur widerwillig war er in den Orden eingetreten, nur, weil sein Vater es wünschte. Dabei war er eher dem Diesseits zugewandt.«
»Wie schrecklich! Dann hat sein Vater ihm genauso etwas aufgezwungen, was er nicht wollte, wie Sir Northam seiner Tochter.« »Ja. Die beiden kannten sich von Kind auf. Sie kam immer auf ihrer edlen Stute vorbeigeritten.« »Sie konnten sich nicht damit abfinden, daß auf einmal alles anders sein sollte.« »Ja. Es hatte sich zwischen ihnen schon eine leidenschaftliche Liebe entwickelt.« »Und was geschah dann?« »Zuerst bemerkten es die Klosterbrüder. Sie schnitten ihn. Aber sie verrieten ihn nicht. Doch allmählich neideten sie ihm sein Glück. Sie ließen Jennifers Vater wissen, was sich im Gästehaus des Klosters abspielte. Henry lebte in derselben Kammer, die ich mir ausgesucht habe, ohne zu wissen, was damals dort geschehen ist.« »Und darum verfolgen dich diese Träume.« »Ja. Anders kann ich es mir nicht erklären.« »Träumst du auch von einer Frau?« Er lächelte verlegen. »Früher nie. Aber seitdem du hier bist…« »Ja? Sprich weiter.« »Seitdem bist auch du in meinen Träumen. Aber dann wandelst du dich plötzlich. Aus einem schönen Traum wird ein Alptraum. Dann bist du auf einmal Jennifer, und ich bin Henry. Wir werden verfolgt und müssen fliehen. Um uns herum sind nur Feinde.« »Und es gibt wirklich keine Rettung? Kein glückliches Ende?« »Nein«, erwiderte er düster. »Unsere Liebe endet im Tod.« Sie blickte in seine schönen dunklen Augen. »Das ist nur ein schrecklicher Traum. Vergiß ihn. Er hat nichts mit uns zu tun. Wir haben keine Feinde. Unserer Liebe steht nichts im Wege.«
»Das sagst du so, als ob es ganz einfach wäre.« »Es ist auch ganz einfach. Ich bin Alice, und du bist Ben. Laß die Vergangenheit ruhen.« Ben nickte. »Ich würde dir ja gern recht geben. Aber es läßt mich nicht los. Wenn ich an diesen schrecklichen Traum denke…« »Ach ja, der Traum. Bitte erzähl mir davon.« »Ich war wieder in der Abtei und irrte durch die Gänge. In den Nischen standen die anderen Mönche und tuschelten miteinander. Einige wiesen mit hämischem Grinsen auf mich. Ich flüchtete in den Kreuzgang. Aber auch dort lehnten sie an den Säulen. Ihre Gesichter waren feindselig. ›Bitte, versteht mich doch‹, flehte ich sie an. ›Wir sind doch alle Brüder.‹ Sie schüttelten die Köpfe. ›Du bist nicht mehr unser Bruder. Du hast dich außerhalb unserer Gemeinschaft gestellt. Ein Ausgestoßener bist du.‹ ›Der Abt hat uns verboten, noch weiter mit dir zu verkehren‹, erklärte ein anderer. ›Du bist verflucht.‹ ›Ich bereue zutiefst‹, habe ich geantwortet. ›Das ist jetzt zu spät. Du hast diesen Orden entweiht.‹ ›Aber wenigstens Vergebung könntet ihr mir gewähren.‹ ›Nein. Auch das ist nicht mehr möglich. Deine Schuld muß gesühnt werden.‹ ›Ja!‹ habe ich verzweifelt gerufen. ›Ich will ja sühnen.‹ ›Das willst du wirklich?‹ fragte einer der Mönche mit zynischem Grinsen. ›Weißt du denn, wie die Sühne aussehen wird?‹ ›Nein. Aber ich werde mich eurem Votum fügen.‹ ›Willst du’s nicht vorher wissen?‹ ›Doch. Sagt es mir. Ich werde es verkraften.‹ ›Da bin ich mir nicht so sicher‹, erwiderte ein anderer. ›Deine Sühne ist der Tod‹, sprachen sie im Chor.«
»Nein!« stieß Alice entsetzt aus. »Das ist ja fürchterlich. Und was geschah dann?« »Ich bin geflohen, aus der Abtei, über die Wiesen und durch die Wälder. Und dann bin ich Gott sei Dank aufgewacht.« Sie schlang die Arme um ihn. »Mein armer Liebling«, sagte sie sanft. »Es wird höchste Zeit, daß alles ein Ende nimmt.« Er drückte sie fest an sich. »Ja. Es wird wirklich Zeit. Wie soll es sonst mit uns weitergehen?« »Ich habe in Beverley Material gefunden. Laß mir Zeit, es auszuwerten.« »Liebste Alice, ich hoffe auf neue Erkenntnis.« »Ich auch. Leb wohl und träume heute nacht etwas Erfreuliches.« Alice fuhr nach Shandy Hall weiter und brachte ihre Koffer in das Turmzimmer. Da es viel zu tun gab, beschloß sie, erst am Abend auszupacken. Nachdem die letzten Besucher gegangen waren und Mrs. Miller sich verabschiedet hatte, ging sie in ihr Zimmer, um ihre Sachen einzuräumen. Sie hängte ihre Kleider in den Schrank und ordnete ihre Wäschestücke in einer großen alten Kommode. Im untersten Fach fand sie vergilbte Wäsche vor, die muffig roch. Sie räumte die Schublade aus. Morgen würde sie Mrs. Miller fragen, was damit geschehen sollte. Als sie die Sachen in den kleinen Vorraum tragen wollte, fiel ein Heft heraus. Die Ränder waren abgestoßen, und es hatte sich Schimmel auf der Hülle angesetzt. Neugierig öffnete sie es und blätterte die vergilbten Seiten durch. Sie waren mit steiler Handschrift geschrieben. Sie las: März 1532. Ich komme um vor Sehnsucht. Schon seit Tagen habe ich ihn nicht gesehen. Man hält mich im Hause fest. Ich glaube, sie ahnen etwas. Der Frühling kommt nur langsam. Ich sehne mich nach Sonne und Wärme, und daß ich
wieder mit ihm durch Wiesen und Wälder wandern kann. Ich denke immer wieder an unser stilles Plätzchen, wo wir so glücklich waren. Seitdem weiß ich erst, was Liebe ist. 3. April. Draußen tobt ein heftiger Sturm. Es will immer noch nicht Frühling werden. Mir ist jetzt häufig schlecht. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Werde ich vor Kummer krank? Henry war gestern hier. Wir haben uns im Park getroffen. Die Büsche sind noch so kahl. Sie bieten wenig Schutz. Ich fürchte immer, daß man uns beobachten kann. Lissy sieht mich manchmal so merkwürdig an. Ob sie etwas ahnt? Eigentlich müßte man mir ansehen, daß mich die heimliche Liebe verzehrt. Warum dürfen wir uns nicht lieben wie andere Menschen auch? 6. April. Henry hat Schwierigkeiten im Kloster. Er fürchtet, daß einige Mitbrüder etwas ahnen. Er meint, wir dürfen uns eine Weile nicht sehen. Wie soll ich das aushalten? Ich habe mich heimlich aus dem Haus gestohlen und bin mit Betty zum Gästehaus hinübergeritten. Henrys Vater war sehr unfreundlich zu mir. Er sagte, ich sollte seinen Sohn in Frieden lassen. Außerdem wohne er nicht mehr hier, sondern habe eine Zelle im Kloster bezogen. Ich war sehr traurig. Nun wird es viel schwieriger sein, mich mit ihm zu treffen. 15. April. Es wird immer schlimmer mit meiner Übelkeit. Lissy hat mich dabei überrascht, wie ich mich übergeben habe. Sie hat mir einen bitteren Tee gekocht und gefragt, ob sie mir sonst noch irgendwie helfen kann. Ich könnte ihr alles anvertrauen. Ich weiß nicht, was sie meint. 16. April. Ich komme um vor Sehnsucht. Henry hat mir einen Brief ins offene Fenster geworfen. Darin steht so viel Liebes. Aber er hat auch Schlimmes berichtet. Der Abt hat ihn ermahnt, auf dem Pfad der Tugend zu bleiben. Henry hat so
getan, als wüßte er nicht, wovon die Rede war. Der Abt hat keine Beweise. Nur seine Vermutungen machen Henry Angst. Wenn sie ihn aus dem Orden ausstoßen, wird er sehr unglücklich sein. Aber wäre das nicht das Allerbeste? Dann könnten wir uns zueinander bekennen. Aber Henry sagt, er kann auf die Dauer nicht in Sünde leben. 20. April. Tage und Nächte voller Sehnsucht. 25. April. Obgleich ich kaum einen Bissen herunterkriege, bin ich dicker geworden. Meine Röcke passen mir nicht mehr. 26. April. Jetzt weiß ich, was mit mir los ist. Lissy hat es mir auf den Kopf zugesagt. Ich bekomme ein Kind. Warum ist Mutter nur so früh gestorben? Sie hätte mir vielleicht sagen können… Was soll ich tun? Es wird nicht lange dauern, bis Vater dahinterkommt. Er sieht mich oft so prüfend an. 30. April. Tage voller Verzweiflung. Wenn ich doch Henry sehen könnte! Ich muß mit ihm sprechen. Er muß mich trösten. Was sollen wir nur tun? 2. Mai. Endlich! Henry ist nachts in den Park gekommen. Er hat einen Stein an mein Fenster geworfen. Und dann haben wir uns im Park getroffen. Ich habe schrecklich geweint. Er hat mich getröstet. Aber er weiß auch keinen Rat. 9. Juni. Ich war wie gelähmt. Noch nicht einmal meinem Tagebuch konnte ich meinen Schmerz anvertrauen. Vater hat Lissy so lange bedroht, bis sie ihm die Wahrheit gesagt hat. Er hat getobt. Ich habe ihn um Gnade angefleht. Aber er hat mich geschlagen. Lissy hat gejammert und sich zwischen uns geworfen. Das hat ihn nicht abgehalten. Ich habe am ganzen Körper blaue Flecken. Lissy hat immerzu geschrien: »Bitte nicht! Denken Sie an das Kind!« Aber er hat gesagt: »Was kümmert mich das Kind? Ich will diesen Balg nicht.« Es war schrecklich. Und nun darf ich das Haus nicht mehr verlassen. Oh, Henry, Geliebter! Hol
mich hier heraus und nimm mich mit dir fort. Ganz weit weg, wo uns niemand kennt. Hier endete das Tagebuch. Nachdenklich legte Alice es in die unterste Schublade zurück. Ihr Herz war voller Mitleid. Was mußte diese junge Frau gelitten haben! Gern hätte Alice noch mehr erfahren. Dort drüben auf dem Tisch lagen die Aufzeichnungen, die sie sich aus Beverley mitgebracht hatte. Aber sie war zu müde, sich jetzt damit zu befassen. Sie zog sich aus und ging zu Bett. Schon nach wenigen Minuten war sie eingeschlafen.
Schreiend wachte sie auf. Sie hatte sich in den Gängen der Abtei verirrt und fand nicht wieder hinaus. Von allen Seiten kamen die Mönche herbei und starrten sie an. Einige zeigten auf ihren Leib und lachten hämisch. Sie sah an sich herunter und erschrak. Unter ihren Brüsten wölbte es sich und schwoll immer weiter an, je länger sie darauf hinunterblickte. Sie rief nach Henry. Aber er war nirgends zu sehen. Die Mönche kamen immer näher und kreisten sie schließlich ein. Sie wollte sich durch die Menge einen Weg bahnen, aber die Männer rückten immer weiter heran und bildeten eine dichte Mauer. Verzweifelt blickte sie um sich. Jetzt begannen die Mönche, mit Fäusten in sie hineinzustoßen. Ihr Leib schmerzte. Sie schrie laut. Von ihren eigenen Schreien war sie dann erwacht. Es hielt sie nicht länger im Bett. Hier hatte Jennifer gelegen und sicher genauso schreckliche Träume gehabt wie sie. Wie konnte sie sich diesem Einfluß entziehen? Am besten verließ sie dieses Zimmer sofort. Draußen im Park würde sie vielleicht Ruhe finden. Sie zog sich an und ging die Treppe hinunter. Als sie die Haustür aufschloß und öffnete, kam ihr kühle Nachtluft
entgegen. Sie knöpfte die Jacke zu und betrat den Park. Eine Weile streifte sie umher. Hier hatte sich also Jennifer mit ihrem Geliebten getroffen. Hier hatte es Augenblicks des Glücks und solche tiefsten Leids und großer Verzweiflung gegeben. Plötzlich zog es sie fort. Hinaus aus dem Park an die Seite des Hauses, wo sie ihren Wagen geparkt hatte. Mechanisch griff sie in die Jackentasche und wunderte sich, daß sich die Autoschlüssel noch darin befanden. Was soll das? fragte sie sich. Ich werde doch jetzt nicht mit dem Auto davonfahren. Mitten in der Nacht. Aber sie ließ diesen Einwand nicht gelten. Stärker als alle Vernunft war ihr Wunsch, jetzt gleich zur Abtei zu fahren. Sie parkte am Straßenrand und stieg aus. Vor ihr erhob sich die Ruine der Abtei. Das helle Gestein leuchtete im Licht des Vollmonds. Sie überstieg das Tor und ging auf das geschwungene Portal der Kirche zu. Eine Weile stand sie dort und wartete, daß etwas geschah. Jedes Mal war die Abtei zum Leben erwacht, wenn sie sich nachts dort aufgehalten hatte. Nichts geschah. Gott sei Dank, sagte sie erleichtert. Der Spuk ist vorbei. Ich habe nur böse geträumt. Die Ruine sieht eigentlich ganz harmlos aus. In dem Moment zitterten seltsame Schwingungen durch die kühle Nachtluft. Die Töne schwollen an. Ein Dröhnen kam von oben, zuerst verschwommen, dann immer deutlicher. Alice blickte erschrocken an der Fassade empor. Jetzt hörte sie es ganz deutlich. Die Kirchenglocke hatte zu zwölf mächtigen Schlägen ausgeholt. Es war also doch kein Traum. Vollmond und Geisterstunde. Sie hätte es wissen müssen. Als der letzte Ton verklungen war, richtete sich die Ruine langsam auf, Stein für Stein, lautlos dieses Mal. Die leeren
Fensterhöhlen füllten sich mit buntem Glas. Über dem Portal erstrahlte die Rosette im Mondlicht. Sie schritt durch die Kirche und blieb vor dem Altar stehen. Demütig neigte sie den Kopf und faltete die Hände. »Gib uns endlich Frieden, Herr«, bat sie mit leiser Stimme. Auf einmal drangen Stimmen an ihr Ohr. Aus dem Gewölbe erklang Chorgesang. Er wirkte feierlich und tröstlich. An der Seite sprang eine Tür auf. Sie erschrak. Aber niemand erschien, um sie zu bedrohen. Sie erinnerte sich, daß diese Tür zum Kreuzgang führte. Sie ging hindurch und blickte erstaunt um sich. Im Garten des Kreuzganges waren die Rosen erblüht und strömten einen betäubenden Duft aus. Staunend näherte sie sich einem Busch und streckte die Hand nach einer üppigen Blüte aus. Sie wollte sich durch die Berührung vergewissern, daß sie tatsächlich nicht träumte. Mit einem Aufschrei zuckte sie zurück. Eine Dorne hatte sie gestochen. Sie fühlte, wie das Blut warm an ihrer Hand herunterfloß. In der Mitte des Gartens befand sich ein überdachter Brunnen. Leise plätscherte dort das Wasser. Sie ging darauf zu und hielt den schmerzenden Finger in das kühle Naß. Erneut drang Gesang an ihr Ohr. Die Mönche sangen einen gregorianischen Choral. Die Töne schwollen an und wieder ab. Dann war es still. Sie ging in den Gang zurück und fand eine Tür, die wieder vor ihren Augen aufsprang. Das war ein neuer Fingerzeig. Wenn sie sich nicht irrte, führte diese Tür zu einem zweiten Kreuzgang, von dem die Mönchszellen abgingen. Auf einmal öffneten sich wie auf geheimen Befehl alle Zellentüren. Die Mönche traten heraus und umringen sie schweigend.
Alice dachte voller Entsetzen an den Alptraum. Panik ergriff sie. Sie tastete nach ihrem Leib, konnte aber keine Wölbung feststellen. Trotzdem fühlte sie sich bedroht. Noch einmal durfte sie sich den finsteren Mönchen nicht aussetzen. Sie stieß zwei Mönche beiseite und floh durch den Gang in den ersten Kreuzgang. Von dort aus konnte sie die Kirche erreichen, in der sie sich sicherer fühlte. Aber sie verpaßte die richtige Tür und fand statt dessen eine, die in den Keller führte. Ehe sie es bemerkt hatte, war sie schon gestolpert. Sie fiel vorwärts und stürzte endlos, wie es ihr schien. Dann schwanden ihr die Sinne. Mehrmals erwachte sie aus ihrer Bewußtlosigkeit. Ihr Kopf schmerzte unerträglich. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Wo bin ich? dachte sie. Es ist kalt und dunkel. Ich bin nicht in meinem Bett. Also habe ich dieses Mal nicht geträumt. Vergeblich versuchte sie, sich aufzurichten. Ihr Körper versagte ihr den Dienst. Stöhnend schloß sie die Augen. Wieder wurde es Nacht um sie.
Mrs. Miller schloß die Tür von Shandy Hall auf und blickte in ihr Büro. Erstaunt stellte sie fest, daß niemand da war. – »Alice?« rief sie die Treppe hinauf und erhielt keine Antwort. Besorgt ging sie nach oben und klopfte an die Tür des Turmzimmers. Als keine Antwort kam, öffnete sie die Tür und blickte ins Zimmer. Sie sah das zerwühlte Bett, ging die Treppe hinunter und klopfte an die Toilettentür. Wieder keine Antwort. Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, verließ sie das Haus und blickte sich angestrengt um. Sofort stellte sie fest, daß der Austin nicht an seinem Platz stand. Wo konnte Alice sein?
Ihr erster Gedanke war, im Hotel anzurufen. Vielleicht hatte Alice dort zu Abend gegessen und war im Hotel geblieben. Die zarten Bande zwischen den beiden jungen Leuten waren ihr nicht entgangen. Sie wählte die Nummer des Hotels. Ben meldete sich. »Guten Morgen, Mister Foster«, begann sie. »Hier ist Mrs. Miller von Shandy Hall. Ist Alice Westington vielleicht bei Ihnen?« »Nein«, erwiderte Ben erstaunt. »Ich habe sie gestern zuletzt gesehen.« »Das ist aber merkwürdig. Ihr Wagen ist nicht da.« »Warten Sie einen Augenblick, Mrs. Miller. Mir kommt da eine Idee. Vielleicht ist sie in der Abtei. Dann müßte ihr Wagen auf der Straße stehen.« Er legte den Hörer nieder und eilte vor das Haus. In der Ferne sah er tatsächlich den Austin. Atemlos lief er zum Telefon zurück und nahm den Hörer auf. »Der Wagen steht bei der Abtei. Ich mache mir große Sorgen. Am besten sehe ich sofort nach. Hoffentlich ist ihr nichts passiert.« Er legte auf und eilte nach draußen. Ein Blick in den leeren Wagen genügte. Alice mußte in der Ruine sein. Er fand sie an einem Abhang auf ausgetretenen Steinstufen. An ihrem Hinterkopf klebte getrocknetes Blut. »Alice, Liebling! Was ist mit dir?« fragte er erschrocken. Sie schlug die Augen auf. »Ben? Wo bin ich?« »In den Trümmern der Abtei. Was um Gottes Willen hast du hier gemacht?« »Ich weiß nicht mehr. Irgendwie bin ich hergekommen.« »Ja. Mit deinem eigenen Wagen.« »Ich hatte so einen schrecklichen Traum. Und da wollte ich sehen, ob es vielleicht doch Wirklichkeit ist.« »Mein armer Liebling. Weißt du’s inzwischen?«
»Ja. Es war kein Traum. Um Mitternacht begann die Glocke zu läuten. Dann richtete sich das Mauerwerk auf. Ich war im Kreuzgang. Die Rosen blühten im Garten.« »Es gibt keine Rosen im Garten des Klosters.« »Jetzt nicht. Aber letzte Nacht. Sie dufteten betäubend.« »Sag mir lieber, wie du dich verletzt hast. Wir brauchen einen Arzt.« »Ich bin die Kellertreppe hinuntergestürzt. Mein Kopf tut schrecklich weh. Ich war bewußtlos.« »Dann hast du eine schwere Gehirnerschütterung. Meinst du, daß du mit meiner Hilfe aufstehen kannst?« Sie stützte sich auf ihn und versuchte, sich aufzurichten. Stöhnend sank sie auf die Stufen zurück. »Es geht nicht. Mir tut alles weh. Wahrscheinlich habe ich mir auch noch was gebrochen.« »Bleib ganz ruhig, Liebling. Ich hole Hilfe.« Er ging zum Eingang zurück. Gerade wollte er sich über das Tor schwingen, als ein Wagen hielt. Mrs. Brown, die Pförtnerin, stieg aus und blickte erstaunt zu Ben auf. »Was machen Sie denn hier, Mister Foster?« »Ich mußte Miss Westington zu Hilfe kommen, Sie ist in der Nacht gestürzt.« »In der Nacht? Was hat sie hier zu suchen?« »Ich weiß, es klingt unsinnig. Aber bitte fragen Sie jetzt nicht weiter. Wir brauchen einen Krankenwagen. Kann ich von Ihrem Apparat aus telefonieren?« Sie schloß das Pförtnerhäuschen auf und ließ ihn eintreten. Er rief einen Krankenwagen und bedankte sich bei Mrs. Brown. Kaum war er zu Alice zurückgekehrt, als auch schon das Signalhorn ertönte. Die Sanitäter tasteten Alice ab und sahen einander fragend an.
»Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen«, sagte der ältere der beiden. »Bitte nicht ins Krankenhaus«, flehte Alice. »Ich möchte nach Shandy Hall in mein Zimmer.« »Solange wir nicht wissen, ob Sie sich was gebrochen haben, können wir keine andere Entscheidung treffen. Sie haben Prellungen und wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Vielleicht brauchen Sie gar nicht stationär behandelt zu werden. Aber wir müssen Sie röntgen lassen.« Das sah Alice ein, während Ben zustimmend nickte. »Anschließend kommst du zu uns«, bestimmte er. »Da bist du unter Aufsicht und hast die richtige Pflege.« Sie seufzte. »Einverstanden. Aber es gefällt mir gar nicht, euch Umstände zu machen.« »Unsinn. Auf diese Weise habe ich dich wenigstens in meiner Nähe.« »Schluß jetzt«, unterbrach der ältere Sanitäter das Gespräch. »Wir sollten nicht unnötig Zeit verlieren.« Sie luden Alice auf eine Trage und brachten sie zum Krankenwagen. »Darf ich mitfahren?« fragte Ben. »Es ist besser, Sie fahren mit Ihrem eigenen Wagen hinter uns her. Wie wollen Sie sonst zurückkommen?« Das sah Ben ein. Er ließ sich das Krankenhaus nennen und eilte zum Hotel zurück. Wenig später fuhr er aus der Garage und folgte der Straße, auf der die Sanitäter vorausgefahren waren. Nach wenigen Meilen hatte er sie eingeholt. Die Untersuchung im Krankenhaus verlief positiver als erwartet. Alice hatte sich nichts gebrochen. Die Prellungen und Blutergüsse schmerzten sehr, aber sie konnte sie auch außerhalb des Krankenhauses auskurieren. Die Gehirnerschütterung verlangte allerdings ein paar Tage Bettruhe.
Ben brachte sie in demselben Zimmer unter, das sie eine Nacht bewohnt hatte. Er holte die Unterlagen über das Kloster, die sie in Beverly gefunden hatte, damit sie sich nicht langweilte. Die Lektüre war hoch interessant. Da gab es ein Verzeichnis der Äbte und der Verfügungen, die sie getroffen hatten. Es ging um Gebäude und Ländereien. Sehr oft wurde das Gästehaus des Klosters erwähnt, das man fest in den Klosterbetrieb integrieren wollte, wogegen sich die Laienbrüder immer wieder wehrten. Sie wünschten keine stärkere Kontrolle. Besonderen Streit gab es wegen eines Novizen, an dessen frommen Lebenswandel gezweifelt wurde. Bruder Henry sollte nach dem Eintritt in den Orden seine Beziehung zu Lady Jennifer von Shandy Hall nicht aufgegeben haben. Man hatte ihn aufgefordert, eine Zelle im Kloster zu beziehen. Zwischen der Abtei und dem Herrenhaus gab es, den Unterlagen zufolge, immer wieder Streitigkeiten. Meistens ging es um Ländereien, die an die jeweiligen Besitztümer angrenzten. Das Vieh kümmerte sich angeblich wenig um die Grundstücksgrenzen, was auf beiden Seiten zu ständigem Ärger führte. Vor allem wurde das herrische Gehabe der Herren von Shandy Hall kritisiert, die sich vom Kloster nicht dreinreden lassen wollten. Die ewigen Bitten um Spenden wurden ebenso abgewiesen wie die Aufforderung, ein gottgefälliges Leben zu führen, um den Mönchen kein schlechtes Beispiel mehr zu geben. Die Gelage und Bälle gaben häufig zu Kritik Anlaß. Aber auch in diesem Punkt ließen sich die Herren keine Vorschriften machen. Besonders erwähnt wurde die unnachgiebige Haltung Sir Northams. Er wurde weit und breit gefürchtet. Nach dem
frühen Tod seiner Frau soll es immer schlimmer mit ihm geworden sein. Er führte zu Hause ein strenges Regiment. Seine Tochter, Lady Jennifer, soll sehr unter ihm gelitten haben. Er soll sogar an ihrem frühen Tod die Schuld haben. Die letzte Eintragung vor der Zerstörung der Abtei befaßte sich mit einem mysteriösen Todesfall. Der junge Henry war wegen gewisser Verfehlungen aus der Klostergemeinde ausgestoßen worden. Wenig später soll er ermordet worden sein, und zwar in seinem alten Zimmer im Gästehaus… Alice lief ein Schauer über den Rücken. Noch immer wurde dieses Zimmer, in dem sich so Schreckliches ereignet hatte, benutzt. Ausgerechnet von dem Mann, den sie liebte und der genauso schlimme Träume hatte wie sie. In der Nacht wachte sie schreiend auf. Sie hatte geträumt, jemand sei in ihr Zimmer gekommen, um sie umzubringen. Als sie das Licht anknipste, war nichts mehr von dem Spuk zu merken. Sie versuchte, wieder einzuschlafen, aber ihr Kopf war voller krauser Gedanken und Ängste. Wieder fiel ein Alptraum über sie her. Sie glaubte Schritte im Flur zu hören. Türen wurden geöffnet. Die Schritte bewegten sich auf Bens Zimmer zu. Entsetzliche Angst ergriff sie. Sie stand auf und ging bis zum Ende des Flurs. Tatsächlich stand Bens Zimmertür offen. Schon von draußen hörte sie ihn stöhnen. Sie trat ein und ging auf sein Bett zu. »Ben!« rief sie. »Wach auf, Ben. Du träumst.« Er richtete sich ruckartig auf. »Alice?« fragte er unsicher. »Ja, ich bin’s. Ich habe dich schreien gehört.« »Du hast mir das Leben gerettet, Alice. Stell dir vor, sie waren hier.« »Wer war hier?« »Zwei vom Kloster. Sie wollten mich umbringen.« »Ich habe etwas Ähnliches geträumt.«
»Nein, Alice. Das war kein Traum. Aber du hast sie verscheucht.« »Nein, Ben. Als ich hereinkam, war niemand da. Allerdings war deine Tür offen. Du schläfst doch sonst nicht mit offener Tür, nicht wahr?« »Daran siehst du, daß ich recht habe. Wer sollte die Tür geöffnet haben, wenn nicht du es warst?« »Ich schwöre, daß die Tür offen war, als ich kam. So geht es jedenfalls nicht weiter. Du mußt dir ein anderes Zimmer aussuchen. Am besten im neuen Teil des Hauses. Hier sind die Erinnerungen zu stark.« Er schüttelte den Köpf. »Das kann ich Henry nicht antun. Er rechnet mit meiner Hilfe.« »Henry ist lange tot. Du kannst ihm nicht mehr helfen.« »Doch, Alice«, widersprach er. »Ich kann ihn erlösen…«
Alice war in ihr Zimmer zurückgegangen und überdachte die Situation. In diesem Teil des Hauses durften sie beide nicht mehr schlafen. Wie ein Fluch lastete das Verbrechen über dem alten Teil des Hauses. Natürlich würde sie gern in Bens Nähe bleiben. Aber sie hatte sich schon so gut von ihrem nächtlichen Unfall erholt, daß sie nach Shandy Hall zurückkehren konnte. Sie würde die Arbeit langsam angehen lassen. Aber Mrs. Miller brauchte nun endlich wieder ihre Unterstützung. Als sie Ben am Morgen ihren Entschluß, wieder nach Shandy Hall zurückzukehren, mitteilte, protestierte er heftig. »Du brauchst noch Ruhe und Pflege. Auch meine Mutter ist der Meinung. Sie hat dich sehr ins Herz geschlossen.« »Tatsächlich? Das freut mich aber.« »Hast du’s selbst noch nicht bemerkt, Alice?«
»Ich war mir bisher nicht sicher. Aber ich mag sie auch gern. Das beruht sicher auf Gegenseitigkeit.« »Dann tu uns den Gefallen und blieb noch ein Weilchen.« »Also gut. Bis morgen. Aber dann laß uns woanders schlafen. Wenn wir weiter solche Träume haben…« »Glaubst du immer noch, daß ich nur geträumt habe?« »Ich bin mir nicht sicher, – wegen der offenen Tür. Aber deshalb ist es wirklich besser, wir ziehen um.« Er lächelte verlegen. »Heute nacht geht es noch nicht. Es hat sich eine Reisegruppe angesagt. Wir brauchen jedes Zimmer im neuen Haus.« Sie seufzte. »Also gut. Noch ein letztes Mal. Aber dann ist Schluß mit dem Spuk.« »Meinst du wirklich? Glaubst du, wir können uns unserer Verantwortung entziehen?« »Welche Verantwortung, Ben? Ich bin Alice, und du bist Ben. Willst du tatsächlich noch einmal für Henrys Sünden büßen? Und soll mich dasselbe Schicksal treffen wie Jennifer?« »Um Gottes willen nein! Aber wir können vielleicht alles wieder gutmachen, was damals geschehen ist. Wenn jeder Erlösung findet.« »Du sprichst schon wieder von Erlösung. Was soll das? Henry und Jennifer mußten ihr verbotenes Glück mit dem Leben bezahlen. War das nicht Strafe genug?« Er blickte sie nachdenklich an. »Vielleicht hast du recht. Aber ich denke immer, sie werden erst Ruhe finden, wenn wir ihnen dazu verhelfen.« »Wir sollen uns also für sie opfern?« »Ich weiß selbst nicht so recht.« »Wie würdest du dir denn ein solches Opfer vorstellen?« Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß es selbst nicht. Es ist nur so ein Gefühl…«
»Gefühle haben wir in dieser Angelegenheit schon genug eingesetzt. Sie sind übermächtig geworden, so daß wir uns kaum noch gegen sie wehren können. Manchmal zweifle ich nicht nur an mir selbst, sondern an meinem Verstand. Es muß doch eine Lösung geben.« Er nickte bedrückt. »Wenn ich sie nur wüßte!« »Es bleibt also nichts anderes übrig, als diese Nacht noch hier auszuharren. Es hat keinen Sinn, noch länger über diese Probleme zu diskutieren. Sicher hast du jetzt so viel Arbeit, daß du auf andere Gedanken kommst.« Nachdem er gegangen war, um mit den anderen Angestellten alles für die Ankunft der neuen Gäste vorzubereiten, kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Auf einmal merkte sie, daß sie doch noch nicht über ihre alten Kräfte verfügte. Am besten legte sie sich wieder ins Bett. Dann waren die Schmerzen leichter zu ertragen. Vor ihrer Zimmertür zögerte sie kurz und ging dann zum Ende des Ganges. Sicher würde es Ben nicht recht sein, wenn sie in seinem Zimmer herumschnüffelte, aber sie konnte ihre Neugier auf einmal nicht mehr bezähmen. Sie mußte sich noch einmal die Situation der vergangenen Nacht vorstellen. Vielleicht ließen sich die Gedanken dann besser ordnen. In der Nacht war sie zu erregt gewesen. Sie öffnete die Tür und trat ein. Bens Bett war ordentlich gemacht. Kein Kleidungsstück lag herum. Sie liebte ordentliche Männer. Eine Zeitlang betrachtete sie das Bildnis des unglücklichen Henry. Jetzt kamen ihr seine Züge nicht mehr so weich wie beim ersten Betrachten vor. Ihr war, als sei das Gesicht noch sorgenvoller, als sei es sogar gealtert. Das ist natürlich bloße Einbildung, sagte sie sich. Ich lege in alles eine tiefe Bedeutung hinein. Bald weiß ich nicht mehr, was echt und was falsch ist.
Ihr Blick fiel auf die Truhe. Sie hob den Deckel hoch und stellte fest, daß die Mönchskutte ordentlich zusammengefaltet obenauf lag. Das letzte Mal war sie achtlos hineingeworfen worden. Bedeutete das, daß Ben seitdem nicht mehr nachts in der Abtei gewesen war? Sie wollte die Truhe wieder schließen, als ihr der Gedanke kam, sie könne vielleicht noch andere aufschlußreiche Dinge erhalten. Sie fand ein altes Gebetbuch, eine Bibel und ein liebevoll ausgemaltes Buch mit gregorianischen Gesängen. Eine Weile blätterte sie darin und betrachtete interessiert die seltsame Notenschrift. Ob Henry das alles hatte lesen können? War er beim Singen mit vollem Herzen dabeigewesen oder hatte er an seine Geliebte gedacht? Sie schüttelte den Kopf. Was nützten diese Fragen? War sie nicht wieder dabei, sich zu tief in das Leben der beiden Liebenden hineinzuversetzen? Hatte sie sich nicht gerade davon lösen wollen? Als sie weiter in der Truhe wühlte, fand sie zuunterst ein unansehnliches Päckchen. Es war mit einem zerschlissenen Band verschnürt. Nach kurzem Zögern löste sie die Knoten und wickelte den Inhalt aus. Es kamen Briefe zum Vorschein, die die gleichen Schriftzüge trugen wie Jennifers Tagebuch. Obgleich sie versucht war, die Zeilen gleich an Ort und Stelle zu lesen, schloß sie die Truhe und nahm die Briefe mit in ihr Zimmer. Es wäre ihr peinlich gewesen, wenn Ben sie hier überrascht hätte. Sie kroch ins Bett und begann zu lesen: »Mein Geliebter! Ich sehne mich maßlos nach dir. Aber ich darf das Haus nicht mehr verlassen. Alle beobachten mich argwöhnisch. Lissy sagt, es ist jemand vom Kloster
dagewesen. Er wollte mit Vater sprechen. Ich glaube, alle wissen es jetzt, daß Du der Vater meines Kindes bist. Das Kind in meinem Leib wird immer größer und kräftiger. Es strampelt so heftig, daß ich oft nachts nicht schlafen kann. Es wird sicher ein lebhaftes Kind. Wie gern würde ich mich auf dieses Kind freuen. Aber die Schande ist so groß. Wie soll es mit dieser Schande leben? Und wie soll ich mit dieser Schande leben? Ich möchte fliehen. Aber wohin? Zu Dir kann ich nicht kommen. Auch Du wirst bewacht, wie ich gehört habe. Was soll ich nur tun? In Liebe Deine Jennifer.« Sie zog den nächsten Brief heraus. Er war voller Stockflecken. Anscheinend hatte Jennifer beim Schreiben geweint. »Mein Geliebter!« las Alice. »Ich habe gehört, daß sie Dich aus der Gemeinschaft der Klosterbrüder ausgestoßen haben. Was willst du tun? Nimmt Dich dein Vater in Gnaden wieder auf? Wird Gott uns nun vergeben?« Alice hörte Schritte die Treppe heraufkommen. Schnell legte sie die Briefe übereinander und versteckte sie unter dem Kopfkissen. Es wurde an die Tür geklopft. »Herein!« rief sie und blickte erwartungsvoll zur Tür. Ben trat ein. »Wie geht es dir?« »Einigermaßen. Wie nett, daß du nach mir siehst, – trotz der vielen Arbeit.« »Die Busgesellschaft ist gerade eingetroffen. Ich wollte es dir nur sagen, damit du nicht vergeblich auf mich wartest.« »Das ist lieb von dir. Laß dich nicht aufhalten. Ich komme schon zurecht.« Er lächelte ihr liebevoll zu. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie ihm von ihrem Fund erzählen sollte. Aber dann nahm sie davon Abstand. Er hatte jetzt andere Dinge im Kopf. Außerdem war es sicher besser, wenn man seiner Phantasie keine neue Nahrung gab.
Die Reisegruppe hatte sich lange beim Abendessen aufgehalten und dann lärmend die Zimmer aufgesucht. Endlich war es still im Haus. Ben kam, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. »Träume dieses Mal etwas Schöneres«, empfahl er. »Dasselbe wünsche ich dir, Ben.« »Ich habe nicht geträumt«, beharrte er. »Schon gut, mein Lieber. Aber wenn du heute nacht wieder schreist, weiß ich, was los ist.« »Heute bin ich zu müde zum Träumen.« »Hoffentlich. Mach deine Tür zu, damit niemand bei dir eindringen kann. Am besten schließt du ab.« »Ach, lieber nicht. Es könnte ja doch wieder etwas sein. Und dann bin ich froh, daß du mich jederzeit retten kannst, wie in der letzten Nacht.« Alice spürte die Briefe unter ihrem Kopfkissen. Jetzt war wieder der falsche Augenblick, ihm davon zu erzählen. Sie hatte die Zeilen zu Ende gelesen und dann erschüttert unter ihr Kopfkissen zurückgelegt. Die Verzweiflung, die aus den Briefen sprach, hatte sie zu Tränen gerührt. Die Kopfschmerzen plagten sie noch immer. Trotzdem gelang es ihr, bald einzuschlafen. Mitten in der Nacht erwachte das Haus zum Leben. Man hörte Türen, die sich öffnen und schlossen, eilige Schritte auf der Treppe und in den Gängen. War die ganze Reisegruppe etwa auf Wanderschaft? Alice stand auf, um für Ruhe zu Sorgen. Sie trat in den Gang hinaus und blickte sich um. Zuerst erkannte sie nichts in der Dunkelheit. Sie hörte nur die raunenden Stimmen und die schleichenden Schritte. Jemand stieß sie gegen die Wand. Sie taumelte, konnte sich aber noch fangen.
»Was ist denn hier los?« fragte sie scharf. »Gehen Sie bitte wieder in Ihre Zimmer. Dieses sind Privaträume.« Die erwünschte Reaktion blieb aus. Sie wollte das Licht im Flur anknipsen, aber sie drückte den Schalter vergeblich. Das Raunen schwoll zu unverständlichem Gemurmel an. Nur männliche Stimmen waren zu erkennen. Hatten die Männer zuviel getrunken und wurden von den Frauen nicht in ihre Zimmer gelassen? »Gott straft die Missetäter«, sagte jemand dicht an ihrem Ohr. Arme packten sie und drückten sie noch fester gegen die Wand. Sie bekam kaum noch Luft. »Was wollt ihr von mir?« rief sie erschrocken. »Laßt mich los! Ich habe euch nichts getan.« »Du hast gesündigt, Jennifer.« »Ich bin nicht Jennifer«, protestierte sie. Aber niemand hörte auf sie. »Du bist Jennifer, die große Sünderin. Fahr zur Hölle wie der Frevler und dein Balg.« Auf einmal war sie unfähig, sich weiter zu wehren. In ihrem Kopf arbeitete es. Ich bin Jennifer. Natürlich bin ich Jennifer. Wie konnte ich das nur vergessen? Ihr Atem ging keuchend. Sie war dem Ersticken nahe. Ein verzweifelter Gedanke schoß ihr durch den Kopf. Ich muß Henry warnen. Wenigstens er soll leben. Auf einmal ließ der Druck an der Kehle nach. Sie fühlte sich in dem Gang vorwärtsgeschoben. Jetzt hatte sie die letzte Tür erreicht und wollte sie öffnen. Aber ehe sie die Klinke ergreifen konnte, flog die Tür auf und schleuderte sie zur Seite. »Henry!« rief sie verzweifelt. »Wach auf. Sie wollen dich umbringen. Wach auf!« Im fahlen Mondlicht, das durch das Fenster fiel, erkannte Alice vermummte Gestalten, die sich um Bens Bett
versammelt hatten. Es waren Männer in Mönchskutten. Sie hatten die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Vom Bett her drangen irre Schreie an ihr Ohr. Sie fuhren Alice durch Mark und Bein. »Mein Gott«, stöhnte sie. »Sei uns gnädig.« »Du bist verdammt in alle Ewigkeit«, sprachen die Männer jetzt im Chor. »Du wirst sterben, ehe deine Seele gerettet werden kann.« Sie stürzte auf das Bett zu und versuchte, die Männer auseinanderzutreiben. Aber sie standen wie eine Wand um den Schreienden herum und stießen böse Verwünschungen aus. Jemand warf sie zurück und drängte sie zur Tür. Sie taumelte in den Flur und wurde weitergestoßen. Im letzten Moment konnte sie noch nach ihrer Türklinke greifen und in ihr Zimmer flüchten. Schnell schob sie den Riegel vor und warf sich schluchzend aufs Bett. Eine Weile ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Aber dann kehrte die Sorge zurück. Was würden diese grausamen Eiferer mit dem geliebten Mann machen? Sie lauschte nach draußen. Wieder hörte sie Schritte und Gemurmel. Dann war es still, beängstigend still. Ehe sie sich erheben konnte, um nach Ben zu sehen, wurde an ihrer Tür gerüttelt. »Wer ist da?« fragte sie mit schriller Stimme. »Ich bin’s, Ben. Mach auf. Warum hast du die Tür verriegelt?« Alice sprang so heftig aus dem Bett, daß ihr der Kopf dröhnte. Ihr wurde schwindelig. »Einen Augenblick, bitte. Mir ist nicht gut.« »Um Gottes willen, was ist passiert?« Sie hatte ihr Gleichgewicht wiedererlangt, schob den Riegel zurück und öffnete die Tür.
Er stürzte ins Zimmer und knipste das Licht an. Besorgt blickte er ihr entgegen. Sie warf sich in seine Arme. »Ach, Ben, es war entsetzlich. Ich habe versucht, dich zu warnen. Aber sie waren stärker als ich. Die Kehle haben sie mir fast zugedrückt.« »Wer waren sie denn? Ich habe das gar nicht richtig mitbekommen. Es war ein entsetzlicher Traum, aus dem ich erwachte. Laute Stimmen waren um mich herum.« »Es waren Mönche. Sie bedrohten zuerst mich und dann dich. Sie wollten dich töten.« »Und wo sind sie jetzt? Auf einmal war alles still. Ich muß mir das eingebildet haben.« »Nein, das hast du nicht. Ich war bei dir im Zimmer und habe alles miterlebt. Sie haben mich mit Jennifer angeredet. Und in dem Augenblick habe ich selbst geglaubt, ich sei Jennifer. Das Ganze muß eine Bewußtseinsspaltung gewesen sein. Jetzt weiß ich wieder genau, wer ich bin. Ich habe dich mit Henry angeredet. Wir waren wohl beide völlig in der Vergangenheit befangen.« »Und ich hatte mir vorgenommen, diese Nacht nichts Böses zu träumen.« »Wahrscheinlich ist das meine Schuld. Ich habe in deiner Truhe Briefe von Jennifer an Henry gefunden.« »Du warst an meiner Truhe?« fragte er mißbilligend. »Bitte entschuldige meine Neugier. Es war alles in der letzten Zeit so mysteriös, daß ich Nachforschungen anstellen wollte. Du hattest so viel mit den Gästen zu tun. Meine Neugier war so groß, daß ich nicht warten konnte, bis du heraufkamst. Und dann wärst du auch zu müde gewesen…« »Das mag schon sein. Trotzdem gefällt mir das nicht.« »Bitte, versteh mich doch. Ich dachte, ich könnte weiteres Unglück verhindern, wenn ich mehr wüßte. In deiner Truhe
war die Kutte. Ich dachte, da könnte noch mehr Interessantes sein.« »Ich habe die Truhe nie ganz durchsucht. Dort wurden Sachen hineingeworfen, die man aus dem Wege haben wollte. Was ist mit den Briefen?« Alice griff unter ihr Kopfkissen. »Lies sie selbst. Sie geben Aufschluß über die letzte Phase der Tragödie.« »Ich werde sie sofort lesen. Kann ich dich jetzt unbesorgt allein lassen?« »Ja. Aber bitte lies die Briefe nicht mehr heute nacht. Ich glaube, dadurch ist dieser ganze Spuk ausgelöst worden. Ich hatte sie unter dem Kopfkissen und erwachte plötzlich, anscheinend so inspiriert, daß ich die Endphase herbeigedacht habe.« »Das hast du gut ausgedrückt. So könnte es tatsächlich gewesen sein. Ich verspreche dir, jetzt kein Unheil mehr heraufzubeschwören.« Sie seufzte erleichtert. Das war also überstanden. Sie konnte nicht ahnen, daß ihr noch viel Schlimmeres bevorstand.
Der Rest der Nacht verlief ruhig. Alice schlief tief und traumlos. Als sie am Morgen aufwachte, fühlte sich ihr Kopf viel leichter an. Erst beim Aufschütteln des Kopfkissens fiel ihr der nächtliche Spuk ein. Es müssen die Briefe unter meinem Kopfkissen gewesen sein, sagte sie sich. Sie haben intensiv auf mein Gehirn eingewirkt. Ich wurde zu Jennifer und mußte all das Schreckliche erleben, das sie und Henry durchgemacht haben. Ich darf mich nie wieder so in ihr Schicksal hineinwühlen. Es übersteigt meine seelischen Kräfte. Obgleich Ben darauf bestanden hatte, daß man ihr das Essen ans Bett brachte, damit von der schweren Gehirnerschütterung
keine Folgen zurückblieben, beschloß sie, das Frühstück wieder unten im Eßsaal einzunehmen. Sie duschte und zog sich an. Die Sonne schien strahlend durch das Fenster und machte ihr Mut. Ich werde den schönen Tag genießen, dachte sie. Am besten mache ich einen Spaziergang. Bei solch strahlendem Wetter brauche ich die Ruine nicht zu fürchten. Sie begegnete Ben im Eßsaal. Er wirkte übernächtigt. Besorgt blickte sie ihn an. »Du hast schlecht geschlafen, nicht wahr, Ben?« »Ja. Meine Gedanken konnten keine Ruhe finden, nachdem ich dein Zimmer verlassen hatte. Die Briefe brannten in meinen Händen. Die Versuchung war groß, sie zu lesen.« »Du hattest mir versprochen, es nicht mehr zu tun.« »Ich habe mich ja auch beherrscht. Zu meinem Schutz vor ihrem Einfluß habe ich sie wieder tief unten in die Truhe getan. Trotzdem habe ich schlecht geträumt.« »Ich dagegen habe traumlos geschlafen, zum ersten Mal seit Tagen. Was hast du denn geträumt, Ben?« »Es war praktisch die Fortsetzung des ersten Traumes, wenn es überhaupt ein Traum war. Mein Zimmer war voller Männer in dunklen Kutten. Ihre Gesichter waren mit Kapuzen bedeckt, wie sie Scharfrichter im Mittelalter getragen haben. Ich wußte, daß sie mich hinrichten wollten.« »Du Ärmster! Und ich habe so fest geschlafen, während du schrecklich leiden mußtest. Ich hätte dein Schreien hören und dich wecken müssen.« »Als sie auf mich einschlugen, bin ich Gott sei Dank erwacht. Aber das merkwürdigste ist, daß ich nicht allein im Zimmer war.« »Das gibt’s doch nicht!« rief Alice ungläubig. »Das mußt du ebenfalls geträumt haben.«
»Nein«, erwiderte er lächelnd. »Dieses Mal nicht. Aber die Anwesenheit der beiden Männer hat eine natürliche Erklärung gefunden.« »Da bin ich aber gespannt. Mir waren ja auch Männer im Flur begegnet.« »Es waren zwei aus der Reisegruppe. Sie hatten sich verirrt und mich schreien gehört.« »Wie sind die denn in diesen Teil des Hauses gekommen? Das ist doch gar nicht so einfach.« »Das stimmt schon. Aber wer ein festes Ziel hat, findet auch einen Weg.« »Du sprichst in Rätseln, mein Lieber.« Ben lachte. »Stell dir vor, sie haben gedacht, die beiden Serviererinnen schliefen hier.« »Das ist aber ziemlich dreist. Findest du nicht auch?« »Allerdings. Aber sie haben sich wortreich entschuldigt. Und schließlich war ich ja froh, daß sie mich aus meinem Alptraum geweckt haben.« »Du solltest heute nacht nicht in deinem Zimmer schlafen. Die Reisegesellschaft reist doch ab, nicht wahr?« »Ja. Aber es kommen neue Gäste.« »Es gefällt mir gar nicht, daß du dich dem allen weiter aussetzt.« Er lächelte. »Du bist doch in meiner Nähe.« »Nein«, erwiderte sie bestimmt. »Ich kehre heute nach Shandy Hall zurück. Es geht mir gut genug…« »Bitte bleib noch hier. Sicher werden morgen Zimmer im Haupthaus frei.« »Sei mir nicht böse«, bat sie verlegen. »Aber ich fühle mich nicht mehr stark genug, die seelischen Belastungen zu ertragen. Es geht mir zwar besser, aber mit den Nerven bin ich am Ende. Ich bleibe gern heute noch hier. Aber nach dem Dinner fahre ich nach Hause.«
Er seufzte. »Dann will ich dich auch nicht länger bereden. Gleich bekommst du dein Frühstück.« Sie machte es sich bequem, während nach und nach die anderen Gäste zum Frühstück herunterkamen. Gut gesättigt brach sie zu ihrem Spaziergang auf und genoß die sommerliche Wärme. Der Anblick von Byland Abbey im goldenen Sinnenlicht erfüllte sie mit Bewunderung. Sie sah, daß das Tor schon geöffnet war, und beschloß, sich bei Mrs. Brown wegen ihres nächtlichen Eindringens zu entschuldigen. »Wie geht es Ihnen?« fragte die Pförtnerin höflich. »Das war ja ein schlimmer Sturz.« »Ja. Ich hatte eine schwere Gehirnerschütterung, Blutergüsse und Prellungen. Es war sehr schmerzhaft. Aber das habe ich mir ja selbst zuzuschreiben. Deswegen möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen. Ich habe Ihnen Ungelegenheiten bereitet.« »Halb so schlimm. Hauptsache, es geht Ihnen besser.« »Ja, danke. Ich muß froh sein, daß es nicht schlimmer gekommen ist. Ich hätte mir was brechen können.« »Was mich beschäftigt, ist die Frage, warum Sie hier nachts über das Tor geklettert sind.« »Wenn ich das doch selbst genau wüßte«, erwiderte Alice achselzuckend. »Es muß mit meinen wüsten Träumen zusammenhängen, die ich seit meiner Ankunft hier habe. Ich fühle mich mit unwiderstehlicher Gewalt zu dieser Ruine hingezogen. Ein fremder Wille ergreift dann von mir Besitz.« »So etwas habe ich noch nie gehört, Miss Westington. Sind Sie sicher, daß Sie sich das nicht einbilden?« »Ganz sicher. Das Schicksal zweier unglücklicher Liebender hat sich meiner bemächtigt.« »Ach, Sie meinen den Mönch Henry und Lady Jennifer von Shandy Hall?« »Sie wissen auch davon?« fragte Alice erstaunt.
»Jeder kennt hier diese Legende. Mütter haben es ihren Kindern von Generation zu Generation weitererzählt.« »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich hier noch einmal herumgehe? Bei nüchternem Tageslicht kann mir nichts passieren.« »Dagegen ist nichts einzuwenden. Trotzdem rate ich Ihnen, auf die Stufen aufzupassen.« Alice ging auf die imponierenden Überreste zu. Auf dem weichen grünen Rasen ging es sich wie auf einem Teppich. Zuerst dachte sie, das Gras sei frisch gemäht worden. Aber als sie die unendlichen schwarzen Kügelchen sah, wußte sie, daß sich Schafe hier während ihrer erzwungenen Bettruhe gütlich getan hatten. In der Ferne, ganz am Ende des riesigen Geländes, entdeckte sie die Schafherde mit ihrem Schäfer. Am rückwärtigen Zaun war ein Tor, das sich viel leichter hätte übersteigen lassen als das offizielle Eingangstor. Sicher besaß der Schäfer dafür einen Schlüssel, um jederzeit seine Tiere hier weiden zu lassen. Sie grüßte den Mann freundlich und trat näher. Er erwiderte den Gruß durch das Anheben seiner Kappe. »Ein herrlicher Tag heute, nicht wahr?« fragte sie liebenswürdig. Er nickte. »Kann man gebrauchen. Die Tiere freuen sich auch. Ich denke, der Sommer geht langsam zur Neige.« »Ja, leider. Ich bin noch nicht lange hier.« »Ach, dann sind Sie wohl die junge Dame von Shandy Hall? Sie helfen dort, stimmt’s?« »Ja. Mrs. Miller braucht dringend Hilfe. Da gab es einen Todesfall.« »Ja. Das war eine merkwürdige Geschichte. Die junge Frau war nicht ganz richtig im Kopf.« »Sie meinen, sie war gemütskrank? Hatte sie Depressionen?« »Ja, so nennt man das wohl.«
»Aber daran stirbt man doch nicht.« »Nein. Aber sie hat sich aus dem Fenster gestürzt.« Alice gingen die Worte des Schäfers nicht aus dem Kopf. Leider war aus dem alten Mann nichts weiter herauszubekommen, nachdem er den Selbstmord ihrer Vorgängerinnen erwähnt hatte. Er schien sogar zu bereuen, diese traurige Wahrheit ausgeplaudert zu haben. Weitere Fragen hatte er mit einem Knurren beantwortet, so daß sie es aufgab, weiter in ihn zu dringen.
Nachdenklich kehrte sie von ihrem Spaziergang ins Hotel zurück. Gern hätte sie Ben ausgefragt. Vielleicht wußte er mehr über die Hintergründe des Selbstmordes. Aber er war zu sehr mit den Vorbereitungen für die neuen Übernachtungsgäste beschäftigt, als daß sie ihn hätte aufhalten können. Aber er bat sie, nach seiner Mutter zu sehen, der es an diesem Morgen nicht gutging. Die alte Frau hatte das Bett noch nicht verlassen. Das geschah selten. Es mußte ihr also wirklich schlechtgehen. »Guten Morgen, Mrs. Foster«, sagte sie herzlich. »Ich höre, es geht Ihnen nicht gut. Was kann ich für Sie tun, nachdem Sie sich so rührend um mich gekümmert haben?« »Ach, nicht der Rede wert«, erwiderte Mrs. Foster. »Geht es Ihnen wenigstens besser?« »O ja! Ich habe heute das erste Mal wieder einen Spaziergang gemacht. Es ist herrliches Wetter. Soll ich Ihnen auf den Balkon helfen, damit Sie auch die gute Luft und die Sonne genießen können?« Bens Mutter schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, liebes Kind. Mir tun alle Gelenke weh. Ich denke, ich bin im Bett besser aufgehoben.«
»Haben Sie wenigstens gefrühstückt?« »Ja. Ben, der liebe Junge, hat mir das Frühstück ans Bett gebracht. Er ist sehr fürsorglich.« »Ja, das ist er. Auch mich hat er liebevoll umsorgt, als es mir schlechtging.« »Ein guter Sohn. Und ich glaube, er würde auch ein guter Ehemann werden.« Alice wunderte sich über das Wort »würde«. Warum sagte sie nicht: wird? »Er liebt Sie sehr, Alice. Aber…« »Was für ein Aber, Mrs. Foster?« »Es ist immer noch der alte Fluch. Er läßt uns nicht los.« »Aber wir müssen uns endlich davon lösen«, erwiderte Alice mit eindringlicher Miene. »Es ist so viel Zeit vergangen.« »Trotzdem. Solange er noch wirksam ist…« »Ich glaube nicht daran.« »Doch, Alice. Auch Sie glauben daran. Er hat Sie in ihren Bann gezogen. Es wird schwer sein, sich davon zu lösen.« »Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, sich davon zu lösen und diesem Teufelskreis zu entrinnen?« Die alte Frau schloß erschöpft die Augen. »Eine hat es versucht. Und nun ist sie tot.« »Sie meinen die junge Frau, die sich aus dem Fenster gestürzt hat?« »Ja, Margaret Brendstone. Sie hatte sich in Ben verliebt.« »Warum hat sie sich dann das Leben genommen? Ben zu lieben, kann einen doch nicht in die Verzweiflung treiben.« »Vielleicht doch. Er erwiderte ihre Liebe nicht.« »Aber so etwas kommt doch häufiger vor. Wegen Liebeskummer nimmt sich heutzutage kein vernünftiges Mädchen das Leben.« »Ein vernünftiges Mädchen nicht. Aber sie war nicht vernünftig. Ihr Geist verwirrte sich allmählich.«
Alice nickte verstehend. »Es muß ein großer Schock für Ben gewesen sein.« »Ja. Er war unglücklich und fühlte sich irgendwie schuldig.« »Aber er hatte doch keine Schuld.« »Nein. Trotzdem: wenn man so sensibel ist wie er…« Sie seufzte. »Zum Glück kamen Sie im richtigen Augenblick.« »Das scheint mir auch so. Ben brauchte mich, und auch Mrs. Miller war dankbar, daß ich einspringen konnte. Es kommt mir vor, als habe das Schicksal mitgespielt.« »Ja, liebes Kind. Das hat es wirklich. Schlimm ist nur, daß man seinem Schicksal nicht entgehen kann.« Alice drückte Mrs. Foster die Hand. »Ich will es versuchen. Ich muß es versuchen für Ben und mich.« »Wie wollen Sie das anstellen, liebes Kind?« »Das weiß ich selbst noch nicht. Aber ich werde die Abtei nicht mehr besuchen, ich werde das Tagebuch aus dem Haus schaffen, und Jennifers Briefe…« »Was sind das für Briefe?« »Von Jennifer an Henry. Sie sind in Bens Zimmer und sollten schnellstens von dort verschwinden. Die Kutte ebenfalls. Die beeinflußt ihn zu sehr.« Mrs. Foster nickte. »Es ist alles vom Übel. Diese alten Erinnerungsstücke, das Zimmer, in dem Ben noch immer wohnt…« »Warum bitten Sie ihn nicht, ins neue Haus zu ziehen?« »Ich habe es mehrfach versucht.« »Versuchen Sie es weiter. Er hat schreckliche Träume dort. Das muß doch seinen Grund haben.« »Dort ist das schreckliche Verbrechen geschehen. Der Abt hatte Henry aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Deshalb kehrte er hierher zurück. Aber das muß den Brüdern nicht genügt haben. Sie beschlossen, ihn hinzurichten.« »Woher wissen Sie das?«
»Als die Abtei brannte, konnten sich ein paar Mönche retten. Aus Dankbarkeit und schlechtem Gewissen beichteten sie ihre Schuld. So kam das Komplott ans Tageslicht.« »Und wie geschah das Verbrechen?« »Sie drangen nachts in sein Zimmer ein und erschlugen ihn.« Alice nickte. »Genau das ist es, was Ben letzte Nacht geträumt hat. Ich finde, das muß endlich ein Ende haben.« »Das ist auch meine Meinung. Ich will mein möglichstes tun. Und Sie versuchen auch, ihn zu überreden, nicht wahr?« »Ich hab’s schon versucht und glaube, er ist bereit, dort auszuziehen. Aber er sagt, heute nacht würde wieder kein anderes Zimmer frei sein. Er hat mich auf morgen vertröstet.« »Morgen könnte es schon zu spät sein, Alice.« Alice erschrak zutiefst. So weit durfte es nicht kommen. Es war schon genug Unheil geschehen.
Alice suchte Ben auf, der in der Küche Anweisungen für das Essen gab. Erfreut blickte er auf, als er sie sah. »Wie geht es Mutter? Du warst lange bei ihr.« »Ja. Wir haben uns ausführlich unterhalten. Sie hat mir viel von früher erzählt. Übrigens ist sie auch der Meinung, daß du endlich aus deinem alten Zimmer ausziehen sollst.« Er seufzte. »Gut, ich verspreche es. Aber erst morgen.« »Und dann kommt wieder eine neue Reisegruppe, für die du jedes Zimmer brauchst.« Er fühlte sich ertappt. »Du hast ja recht. Also, morgen werde ich’s ernsthaft versuchen.« »Ich nehme dich beim Wort. Aber jetzt muß ich nach Shandy Hall zurück. Mrs. Miller…« »Die kann warten. Du hast mir versprochen, erst nach dem Dinner zu gehen.«
»Ach ja. Das stimmt. Mein Wort will ich natürlich nicht brechen.« »Zumal es heute abend etwas besonders Gutes gibt: Fleischpastete. Eine Spezialität der Köchin.« »Die kann ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Aber ich muß doch mal eben ins Herrenhaus rüberfahren und Mrs. Miller Bescheid sagen.« »Du kannst sie doch anrufen.« »Ach nein. Ich muß sowieso ein paar Kleinigkeiten erledigen. Aber ich bin rechtzeitig zurück.« Die sogenannten Kleinigkeiten trafen natürlich nicht die Wahrheit. Es gab Wichtiges zu tun, noch ehe die Nacht hereinbrach. Sie mußte versuchen, die Erinnerungen an die unglückliche Jennifer auszulöschen. Mrs. Miller war sehr erfreut, ihre Mitarbeiterin in einigermaßen guter Verfassung zu sehen. »Ab morgen können Sie wieder mit meiner Hilfe rechnen«, erklärte Alice fröhlich. Wenn sie geahnt hätte, was kommen würde, hätte sie dieses Versprechen nicht abgegeben… Sie ging in das Turmzimmer hinauf und holte das Tagebuch aus der Schublade. Einige Augenblicke überlegte sie, was sie damit machen sollte. Am liebsten hätte sie es sofort vernichtet. Aber es gehörte zum Bestand von Shandy Hall und stellte ein wichtiges Zeitdokument dar. Sie trug es in den kleinen Vorraum, in dessen Ecke noch immer die Wäsche lag, die sie aus der Kommode geräumt hatte. Durch ihren Unfall war sie nicht mehr dazu gekommen, mit Mrs. Miller einen anderen Aufbewahrungsort zu finden. Als nächstes mußte sie die Bilder entfernen: die Gemälde von Jennifer und ihrem finsteren Vater. Aber sie traute sich nicht, eigenmächtig ein Bildnis aus dem Flur abzuhängen. Es gehörte zu der berühmten Sammlung von Shandy Hall und mußte für die Besucher weiterhin zugänglich
sein. Wenn sie aber Jennifers Bild entfernte, würde es so bald niemand merken. Lange stand sie davor und betrachtete die zarten Gesichtszüge. Unwillkürlich griff sie sich an den Kopf. Noch immer trug sie Jennifers Haartracht. Das mußte ein Ende haben. Sie würde auch nicht mehr versuchen, sich Kleidungsstücke zu besorgen oder selbst zu schneidern, um ihrem Vorbild noch ähnlicher zu werden. Energisch löste sie Spangen und Kämmchen. Locker fielen die blonden Haare auf ihre Schultern hinunter. Sie trat vor den Spiegel und lächelte ihrem Spiegelbild zufrieden zu. Es wird alles gut werden, dachte sie zuversichtlich. Ben muß in den Teil des Hauses umziehen, der nicht von den schrecklichen Erinnerungen lebt. Und ich muß mich von der Vorstellung lösen, daß Jennifer mein Schicksal bestimmt. Sie nahm das Bild der unglücklichen jungen Frau von der Wand und trug es in den Vorraum. Sorgfältig verbarg sie es hinter dem Wäschestapel, um keinen Blick mehr darauf werfen zu können. Zufrieden schloß sie die Zimmertür und ging zu Mrs. Miller hinunter, um ihr schon jetzt ihre Hilfe anzubieten. Als es sechs Uhr war, schloß Mrs. Miller das Büro und verabschiedete sich. Alice zog eine ihrer besten Kleider an und fuhr zum »Old Abbey Inn«. Ben begrüßte sie herzlich. In seinem Blick las sie Bewunderung und Zärtlichkeit. Sie war voller Hoffnung auf eine Lösung aller Probleme und freute sich auf einen schönen Abend. Aus der Küche duftete es verheißungsvoll. Die Serviererin legte an ihrem Tisch ein Gedeck auf und fragte, was sie zu trinken wünsche. Da der Wein, den sie beim letzten Mal getrunken hatte, nach ihrem Geschmack war, bestellte sie dieselbe Sorte.
Um sie herum herrschte reges Leben. Die neue Reisegruppe wirkte genauso unternehmungslustig wie die vom Vorabend. Blieb nur zu wünschen, daß nicht wieder abenteuerlustige Männer im alten Trakt des Hauses nächtlicherweise herumirren würden. Alice benutzte die Wartezeit bis zum Auftragen des Essens zu einem Abstecher. Ihr war die Idee gekommen, aus Bens Zimmer genauso die unseligen Erinnerungsstücke zu entfernen, wie sie es bei sich getan hatte. Aber sie mußte unverrichteter Dinge wieder umkehren. Ben hatte seine Tür abgeschlossen und den Schlüssel abgezogen. Wollte er vermeiden, daß sie noch einmal bei ihm herumschnüffelte, oder wollte er andere unliebsame Besucher abhalten? Sie erwähnte vor ihm nichts von ihrer Entdeckung. Er mußte ja nicht wissen, daß sie wieder versucht hatte, ungebeten bei ihm einzudringen. In aller Ruhe genoß sie das Essen. Die Pastete war wirklich köstlich. Ihr tat die Reisegruppe leid, die mit einem Einheitsessen abgefertigt wurde. Ein Gefühl des Unbehagens ergriff sie plötzlich. Es kam vom Magen, denn dort verspürte sie einen unangenehmen Druck. Ben trat an ihren Tisch und fragte, ob es ihr geschmeckt habe. »Es war eine vorzügliche Pastete«, lobte sie beflissen. »Aber ich glaube, ich habe mich ein bißchen übernommen. So etwas Gehaltvolles bin ich anscheinend nicht gewohnt.« »Ist dir die Pastete nicht bekommen?« fragte er besorgt. »Mach dir keine Gedanken um mich. Ich habe nur einen sehr vollen Magen. Es drückt ein bißchen. Aber das kann passieren, wenn man so gefräßig ist.« »Ein Whisky wird dir guttun. Ich bringe dir einen.« Er verschwand und kam kurz darauf mit einer Flasche wieder. Die goldbraune Flüssigkeit, die in ihr Glas gegossen
wurde, wirkte verlockend. Sie spürte sofort die wohltuende Wärme. Allmählich löste sich die Spannung. »Ich glaube, ich fahre jetzt nach Hause«, sagte sie, nachdem sie ausgetrunken hatte. »Ich habe mich wohl ein bißchen übernommen und gehöre ins Bett. Hab’ herzlichen Dank; und ein Kompliment an die Köchin.« »Schade, daß du schon gehen willst. Aber wenn du dich nicht so gut fühlst, ist es wirklich besser. Weißt du was? Du nimmst die Flasche mit. Falls dich der Magen wieder drücken sollte, gießt du dir noch etwas ein. Mir hilft es immer.« Alice bedankte sich und wünschte ihm eine gute Nacht. »Laß die Kutte und die Briefe aus deinem Zimmer verschwinden«, ermahnte sie ihn. »Und auch Henrys Bild. Es beeinflußt dich zu sehr.« Er versprach es und verabschiedete sich mit einem Kuß auf die Wange. Auf der kurzen Heimfahrt wurde der Druck im Magen immer schlimmer. Sie erreichte Shandy Hall noch gerade, ehe sich ihr Magen krampfartig zusammenzog. In Windeseile parkte sie den Wagen und eilte stöhnend auf das Haus zu. Mit zitternden Fingern schloß sie die Haustür auf und stürzte ins Haus. Ihre Hände schlossen sich krampfhaft um die Flasche. In der kleinen Teeküche fand sie ein Glas und goß es voll. In einem Zug trank sie es leer und fühlte sich etwas besser. Aber da sie Alkohol nicht gewohnt war, trat die Wirkung sehr schnell ein. Ein leichter Schwindel ergriff sie. Mühsam zog sie sich am Treppengeländer hoch und erreichte taumelnd ihr Zimmer. Stöhnend warf sie sich aufs Bett. Die Krämpfe kamen in Wellen, schwollen an und ebbten wieder ab. Das ist die Strafe, dachte sie. Ich habe Jennifer aus diesem Zimmer verbannt, und nun rächt sie sich. Das Tagebuch ist
auch draußen. Ich muß es wieder hereinholen, um sie zu besänftigen. Sie erhob sich mühsam und taumelte in den Vorraum. Es machte ihr Mühe, Bild und Tagebuch aus dem Versteck zu holen. Sie trug beides ins Zimmer und holte dann die Wäschestücke, die aus Leinen und Spitze gefertigt waren. Der Stoff war vergilbt und zerschlissen. Mechanisch entkleidete sie sich und sah auf ihren geschwollenen Leib herunter. Sie tastete ihn ab und verspürte das Rumoren darin. »Das Kind«, flüsterte sie. »Ich spüre es ganz deutlich. Es bewegt sich.« Sie streifte ein Leinenkleid über und setzte sich mit dem Tagebuch an den kleinen Sekretär. Wieder schoß ein schneidender Schmerz durch ihren Leib. Gleichzeitig stieg Übelkeit in ihr hoch. Wenn sie nicht schnellstens die Toilette erreichte, würde ihr etwas Unangenehmes passieren. Sie erreichte das Badezimmer noch gerade rechtzeitig und konnte sich etwas erleichtern. Während sie über dem Becken hing, hörte sie das Telefon klingeln. Aber sie war unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Der Apparat klingelte endlos. Dann war er still. Ich muß Ben anrufen, sagte sie sich. Vielleicht war er es eben. Er könnte mir helfen. Wahrscheinlich brauche ich einen Arzt. Endlich gelang es ihr, die Toilette zu verlassen. Sie wollte das Telefon benutzen, konnte es aber nicht erreichen, weil Mrs. Miller das Büro abgeschlossen hatte. Ihr eigener Schlüssel zu dieser Tür befand sich im Turmzimmer. Schluchzend quälte sie sich die Treppe hinauf und sank röchelnd auf ihr Bett. Ich muß das Tagebuch weiterschreiben, sagte sie sich. Das Kind macht mir Schmerzen. Ich habe Angst, es zu verlieren.
Zuerst war ich entsetzt, und nun kann ich es nicht wieder hergeben. Es ist das Pfand meiner Liebe. Ein neuer Anfall wogte durch ihren Körper und nahm ihr das Bewußtsein.
Sie erwachte von einem Geräusch im Zimmer. Jemand hatte ihre Tür geöffnet und war eingetreten. Im blassen Mondlicht, das durch die offenen Vorhänge schien, nahm sie eine Gestalt wahr, die sich drohend vor ihr aufbaute. »Nein! Nein!« schrie sie und streckte abwehrend ihre Hände aus. »Laß mich in Ruhe und laß mir mein Kind.« »Zur Hölle mit dem Balg!« schrie der Mann zornig. »Vater!« flehte sie. »Laß mir das unschuldige Kind.« »Es ist genauso schuldig wie du. Die Mönche nennen es Erbsünde.« »Die Mönche sind grausam. Sie sind keine menschlichen Wesen.« »Sie sind gottgeweiht. Sie wissen, was Recht und Unrecht ist. Nur einer von ihnen hat es nicht gewußt.« »Mein Gott!« stöhnte sie. »Er hat genug gelitten.« »Laß Gott aus dem Spiel. Du bist es nicht wert, seinen Namen zu nennen.« »Er ist ein Gott der Güte und Vergebung, Vater.« Er lachte höhnisch. »Mag sein, daß er dir eines Tages vergibt. Von mir aber kannst du keine Vergebung erlangen. Du hast Schande über uns Haus gebracht. Unser guter Name ist in den Schlamm gezogen worden. Ihr beide werdet dafür büßen, und das Kind auch.« Er beugte sich über ihr Bett und schlug auf ihren Leib ein. Sie stöhnte auf. Der Schmerz wurde unerträglich. Ihr war, als zerrisse ihr Inneres.
»Laß mir mein Kind«, flehte sie. »Meinetwegen töte mich. Aber verschone das Kind.« »Ihr werdet beide nicht überleben, weder du, noch das Kind. Und dein Henry wird genauso zur Hölle fahren.« Alice richtete sich auf und schlug wild um sich. Nur unklar wurde ihr bewußt, daß sie den Mann nicht traf. Offensichtlich war er zurückgewichen. »Du wirst diesen Raum nicht mehr verlassen. Ich schließe dich ein. Wenn deine schwere Stunde kommt, möge Gott dir gnädig sein. Für mich bist du schon jetzt gestorben.« Vorübergehend schwanden ihr die Sinne. Als sie wieder zu sich kam, war sie allein. Sie atmete erleichtert auf. Aber im selben Augenblick setzten die Schmerzen wieder ein. Sie ließ die Welle über sich ergehen. Es sind die Wehen, dachte sie. Natürlich! Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Sie kommen in Wellen. Das habe ich immer gelesen. Das Kind kommt zu früh. Ich brauche einen Arzt. Sie verließ das Bett auf allen vieren und zog sich an der Tür hoch, um sie zu öffnen. Aber es gelang ihr nicht. Die Tür war verschlossen. Genau das hatte der Mann ja angekündigt. »Du wirst diesen Raum nicht mehr verlassen«, hatte er angekündigt. Ich muß Hilfe holen. Es geht um zwei Menschenleben. Bis Mrs. Miller morgen kommt, kann es zu spät sein. Wer hatte das doch gesagt: Morgen ist es vielleicht zu spät. Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Es war wie eine Todesahnung gewesen. Aber sie wollte nicht sterben. Verzweifelt blickte sie um sich. Das Fenster, dachte sie plötzlich. Schon einmal hatte sie dort hinausgesehen. Die Weinranken, dachte sie. Keuchend kroch sie zum Fenster. Es schien ihr eine Ewigkeit, bis sie es erreicht hatte. An der Fensterbank zog sie sich hoch
und öffnete den Riegel. Mit letzter Kraft schob sie es auf und blickte schaudernd hinunter. Es muß sein, sagte sie sich. Das ist meine letzte Rettung. Der Weg in die Freiheit und zu Menschen, die weniger grausam sind. Wer ihr die Kraft gab, sich über das Gesims zu schwingen und sich an den Weinranken herabzulassen, hätte sie später nicht sagen können. Drei Meter über dem Erdboden riß das morsche Gehölz. Sie stürzte ab. Wie ihr schien, in endlose liefen. Sie erwachte in einem Krankenzimmer und blickte sich staunend um. Ich bin also gar nicht tot, stellte sie fest. Vergeblich versuchte sie, sich an die vorangegangenen Ereignisse zu erinnern. Aber es wollte ihr nicht gelingen. Alles tut mir weh, stellte sie fest. Es ist schlimmer als nach dem Unfall in der Abtei. Ob ich mir was gebrochen habe? Sie tastete an ihrem Körper herunter und fühlte den Verband über der Brust. Ihre Hand glitt weiter und fühlte den Leib, der merklich abgeschwollen war. Das Kind, dachte sie. Ich hatte Wehen, jetzt erinnere ich mich. Also habe ich das Kind geboren. Ihr erstes Glücksgefühl wurde jäh zerstört. Nein, dachte sie. Ich habe das Kind verloren. Es war ja noch zu früh. Dieser schreckliche Mann ist an allem schuld. Sie wollte aufstehen, um nachzusehen, ob sie auch hier eingeschlossen worden war, wie sie es in Shandy Hall erlebt hatte. Aber der stechende Schmerz in der Brust ließ sie stöhnend auf das Bett zurücksinken. Ich bin hilflos fremden Mächten ausgeliefert, stellte sie fest. Man sperrt mich ein, als sei ich kein Wesen mit eigener Entscheidungskraft. Wenn ich mich recht erinnere, lebe ich in Großbritannien, wo die Menschenrechte respektiert werden. Ich bin eine freie Bürgerin. Allerdings habe ich ein uneheliches
Kind zur Welt gebracht. Seltsame Dinge sind mir geschehen. Vielleicht bin ich sogar ein bißchen verrückt. Deshalb haben sie mich hier natürlich eingesperrt. Ich muß sehen, wie ich hier wieder herauskomme. Aber das Kind. Wo finde ich mein Kind? Ich kann es doch nicht zurücklassen – in dieser feindlichen Welt. Die Tür öffnete sich. Eine Krankenschwester trat ein. »Nun, wie fühlen wir uns denn heute morgen?« fragte sie mit einem Gesichtsausdruck, als spräche sie mit einem kleinen Kind oder einer Verrückten. Natürlich, schoß es ihr durch den Kopf. Sie halten mich für verrückt. Aber das bin ich nicht. »Uns geht es relativ gut. Warum bin ich hier, Schwester?« »Wissen Sie das nicht?« »Ich habe unklare Erinnerungen. Mich plagten entsetzliche Leibschmerzen.« »Kein Wunder, Madam.« »Nun ja, ich hatte Wehen.« »Wehen? Wie kommen Sie denn darauf?« Alice stutzte. »Ja. Natürlich. Und was ist mit meinem Kind? Habe ich es verloren?« »Also, hören Sie mal. Eben dachte ich noch, Sie wären normal, wie mir Mister Foster einreden wollte. Aber jetzt muß ich das Gegenteil feststellen.« »Ich war also nicht schwanger?« »Aber woher denn? Etwa vom Heiligen Geist?« »Das ist merkwürdig. Ich muß eine Zeitlang in einer anderen Welt gelebt haben.« »Das scheint mir auch so. Dafür ist unsere Psychiatrie zuständig.« »Um Gottes willen! Bloß nicht in die Psychiatrie. Ich kann Ihnen alles erklären.«
»Das sagen alle«, erwiderte die Schwester mit leichtem Spott. »Keine Sorge. Sie sind hier in guten Händen.« »Bitte, benachrichtigen Sie Mister Foster. Ich muß ihn dringend sprechen.« »Ich werde es veranlassen«, erwiderte die Schwester hoheitsvoll. Alice war davon nicht überzeugt. Als sie wieder allein war, schleppte sie sich zur Tür und drückte die Klinke runter. Sie gab tatsächlich nach. Vorsichtig trat sie auf den Gang hinaus. Niemand war zu sehen. Die Brust schmerzte höllisch. Weit würde sie nicht kommen. Sie schaffte es gerade zu den Toiletten. Dort brach sie zusammen. Dunkelheit umgab sie.
Als sie wieder zu sich kam, wußte sie zuerst nicht, wo sie sich befand. Sie lag auf kalten Fliesen und fror. Ihr erster Wunsch war, ins Bett zurückzukehren. Aber dann fiel ihr ein, daß die Krankenschwester von der Psychiatrie gesprochen hatte. Nur das nicht, dachte sie entsetzt. Ich muß fliehen, ehe sie mein Verschwinden entdecken. Aber wie komme ich hier heraus? In einem Nachthemd der Klinik und in Pantoffeln… Sie öffnete die Tür und blickte in den Flur. Aus dem Schwesternzimmer schräg gegenüber hörte sie Gelächter. An der Garderobe davor hingen weiße Kittel. Sie griff sich einen und schlich durch den Flur. Erst als sie außer Sichtweite der Schwestern war, streifte sie ihn über. Die Frau im Pförtnerhäuschen war so intensiv mit ihrem Computer beschäftigt, daß sie kaum aufblickte, als Alice durch die Schwingtür ging. Unangefochten gelangte sie auf die Straße. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. Nach der
Dunkelheit zu urteilen, mußte es gegen zehn Uhr sein. Wie sollte sie nach Hause kommen? Ein Taxi hielt und ließ ein altes Ehepaar aussteigen. »Sind Sie frei?« fragte Alice den Fahrer. »Ja. Wo soll’s denn hingehen?« »Zur Byland Abbey, bitte.« Er betrachtete sie mißtrauisch. »Was wollen Sie denn um diese Zeit dort?« »Ich meine natürlich das Hotel schräg gegenüber. ›Old Abbey Inn‹ heißt es!« »Ja, das kenne ich. Steigen Sie ein und schnallen Sie sich an. Die Tür ist nicht richtig zu.« Sie erledigte alles zu seiner Zufriedenheit. Nur nicht auffallen, dachte sie. Das größte Problem stand ihr allerdings noch bevor. Wie sollte sie den Fahrer bezahlen? Als er vor dem Hotel hielt, bat sie ihn, ein paar Minuten zu warten. Ben würde ihr natürlich aus der Verlegenheit helfen. Aber er war nicht da. Es half alles nichts. Sie mußte Mrs. Foster stören. Die alte Dame lag schon im Bett. »Alice!« rief sie erschrocken. »Was ist denn los? Die Klinik hat angerufen, daß du weggelaufen bist. Ben ist sofort hingefahren.« »Bitte, Mrs. Foster, leihen Sie mir Geld für das Taxi. Ich erkläre Ihnen alles später.« »Dort ist meine Tasche. Nehmen Sie sich heraus, was Sie brauchen.« »Vielen Dank, Mrs. Foster.« Alice kehrte zum Taxifahrer zurück und bezahlte. »Irgend etwas stimmt nicht mit Ihnen«, sagte er kopfschüttelnd. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, erwiderte sie und kehrte zum Eingang des Hotels zurück. Ihr war klar, daß sie dort auf Bens Rückkehr warten mußte. Er machte sich
wahrscheinlich große Sorgen um sie. Aber sie konnte dem inneren Zwang nicht widerstehen, der sie zur Abtei zog. Als das Taxi ihren Blicken verschwunden war, überquerte sie die Straße und ging auf das Tor zu. Sie erinnerte sich an das niedrigere Gitter auf der Rückseite, aber sie wollte keine Zeit verlieren. Jetzt gleich wollte sie die Mönche zur Rede stellen und sie zwingen, den Fluch von ihr und Ben zu nehmen. Sie wartete, daß sich die Ruine wieder vor ihren Augen aufrichtete, aber nichts geschah. Ich bin tatsächlich verrückt, sagte sie sich. Das alles habe ich mir nur eingebildet. Diesen Spuk hat es nie gegeben. Wie auf ein Zauberwort hin reckte sich das Gebäude Stein auf Stein empor. Das bronzene Portal sprang auf. Die Mönche erwarteten sie also. Sie schritt hindurch und ging auf den Altar zu. Dort vor den Stufen kniete sie nieder. Plötzlich ertönte die Orgel. Gewaltige Klänge rauschten über sie hinweg. »Herr«, flehte sie inbrünstig. »Erlöse uns alle von dem schrecklichen Fluch. Bitte gib uns endlich Frieden.« Die Seitentüren öffneten sich. Schweigend strömten die Mönche in die Kirche und umringten sie. Unerschrocken drehte sie sich um und blickte einem nach dem anderen herausfordernd ins Gesicht. »Ihr habt keine Macht mehr über mich«, sagte sie mit klarer Stimme. »Ich bin frei. Tretet in die Vergangenheit zurück. Ich werde für eure Seelen beten.« Mit festen Schritten bahnte sie sich durch den Halbkreis ihren Weg und verließ die Kirche durch eine Tür, die ihrer Meinung nach ins Freie führte. Der Mond schien aus einem klaren Sternenhimmel herab und erhellte die verwitterten Steine des alten Friedhofs. Sie stolperte über einen Grabstein und sank zu Boden.
Als sie den Kopf hob, konnte sie die Inschrift lesen, die der Mond wie mit einem gebündelten Lichtstrahl beleuchtete: »Jennifer Northam 1513-1533.« Darunter stand leserlich der Name Violet. Das Kind, dachte sie. Mein Kind. Aber wieso denn? Wer bin ich wirklich? Lebe ich oder bin ich tot? Bin ich es, die dort unter dem Grabstein liegt? »Alice!« rief eine Stimme. »Alice, wo bist du?« »Wer ist Alice? Bin ich Alice? Bin ich gar nicht tot?« Die Stimme kam näher. Sie klang immer verzweifelter. Plötzlich merkte sie, wie sich ein Schatten über sie beugte. »Mein Gott, Alice! Was machst du hier? Weißt du denn nicht, wie sehr ich mich um dich sorge? Warum bist du aus der Klinik geflohen?« »Sie wollten mich in die Psychiatrie stecken.« »Ja. Das glaube ich auch. Obgleich ich Ihnen versichert habe, daß du nur vorübergehende Bewußtseinsstörungen hast.« »Aber ich habe doch erlebt, wie der Mann in mein Zimmer eingedrungen ist und mich in den Leib geschlagen hat. Dann hat er mich eingeschlossen, und ich mußte, durch das Fenster fliehen.« »Die Tür war nicht von außen verschlossen, Alice.« »Doch, Ben. Ich bekam sie nicht auf.« »Sie hat nur geklemmt. In deiner Aufregung hast du es nicht gemerkt!« »Aber es stimmt doch, daß ich durch’s Fenster gestiegen bin. Ich muß abgestürzt sein und habe das Kind verloren. Violet.« Er nahm sie in die Arme. »Du hast kein Kind verloren. Du warst auch nicht schwanger. Du hattest nur eine Fleischvergiftung. Nachdem man dir den Magen ausgepumpt hatte, war dein Leib wieder normal.« »Eine Fleischvergiftung?« »Ja, leider. Die Pastete, die dir so gut geschmeckt hat…«
»Das also war es. Ich weiß dann gar nichts mehr nach dem Sturz.« »Ich habe dich an der Mauer gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Einigen Gästen war nämlich schlecht geworden. Nicht der Reisegruppe. Die hatte ja ein anderes Gericht. Und da machte ich mir Sorgen. Ans Telefon bist du nicht gegangen. Das hat mich bedenklich gestimmt. Und da habe ich mich in den Wagen gesetzt. Du warst in einem erbärmlichen Zustand. Die Ärzte waren sehr besorgt. Aber sie haben dich durchgebracht.« »Und nun haben wir nichts mehr zu befürchten. Versprich mir, daß du mich nicht in die Klinik zurückbringst.« »Das verspreche ich. Du bleibst bei mir. Mrs. Miller muß sich leider eine andere Mitarbeiterin suchen.« »Ja. Ich kehre nicht nach Shandy Hall zurück. Nur, um meine Sachen zu holen. Und dann werde ich dem finsteren Sir Northam ganz frech ins Gesicht lachen. Er kann mir nichts mehr anhaben. Niemand kann mir mehr etwas anhaben.« »Nein. Und niemand kann uns jetzt noch trennen.« Er hatte sie vom Grabstein hochgezogen und fest an sich gedrückt. Eng umschlungen standen sie da. Plötzlich erhob sich ein Rauschen. Dann knisterte und zischte es. Sie blickten zur Abtei, aus der Flammen in den nächtlichen Himmel emporschossen. Die Glocke läutete Sturm. Krachend stürzten die Mauern ein. In wenigen Minuten war das ganze Gebäude zusammengesunken. Nur rauchende Trümmer waren zurückgeblieben. Alice war in hemmungsloses Schluchzen ausgebrochen. Er strich ihr sanft über den Kopf. »Nicht weinen, Liebling. Das
mußte sein, damit der ganze Spuk verschwand und wir in Frieden leben können.« »Ja, du hast recht. Sieh mal dort!« Sie zeigte auf den Grabstein, der von einer plötzlich auflodernden Flamme grell beleuchtet wurde. »Lies mal, was da steht.« Er löste sich aus ihren Armen und neigte sich zu dem Stein herab. »Dort steht: Jennifer Northam 1513-1533.« »Und darunter, Ben?« »Violet. Und darunter steht noch etwas: Ruhet in Frieden.« »Das stand vorhin noch nicht da. Nun haben sie endlich ihren Frieden gefunden.« »Und wir auch, Alice.«