Scan by Schlaflos
DAVID & LEIGH EDDINGS
Dämonenbrut Buch
Dem Lande Dhrall droht neues Ungemach. Eines der vier Götte...
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Scan by Schlaflos
DAVID & LEIGH EDDINGS
Dämonenbrut Buch
Dem Lande Dhrall droht neues Ungemach. Eines der vier Götterkinder hat eine Traumvision, in der das Vlagh, der Erzfeind von Menschen und Göttern, die Süddomäne des Landes mit seinen insektenartigen Horden attackiert. Doch damit nicht genug: Auch vom Meer her soll dem Traum zufolge em riesiges Heer von Soldaten das Imperium angreifen. Die Fremden sind von der festen Überzeugung getrieben, die Wüste im Zentrum von Dhrall sei ein Meer aus purem Goldsand. Die Verteidigungsarmee würde in einem Zwei-Fronten-Krieg bis zum letzten Mann aufgerieben werden. Während die aufgeschreckten Verteidiger alles daransetzen, die drohende Katastrophe abzuwenden, bemerken sie, dass noch eine dritte Partei ihre magischen Kräfte im Spiel hat, doch ob zum Guten oder zum Bösen, das weiß keiner ...
Autoren David Eddings wurde 1931 in Spokane, Washington, geboren und wurde 1982 mit seinem ersten Fantasy-Epos, der Belgariade, bekannt. Seither hat er teils alleine, teils in Zusammenarbeit mit seiner Frau Leigh von der Kritik viel beachtete Werke in der Tradition Tolkiens verfasst, die ihm eine ständig wachsende, begeisterte Leserschaft eingetragen haben. David und Leigh Eddings leben in Carson City/Nevada. Außerdem bei Blanvalet erschienen: Das wilde Land. Götterkinder 1 (24279)
David & Leigh Eddings
Dämonenbrut Götterkinder 2 Deutsch von Andreas Heiweg Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Dreamers, vol. 2, The Falls of Vash bei Voyager, HarperCollins-PM^fe^ers, London. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2005 Copyright © der Originalausgabe 2004 by David & Leigh Eddings Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Wolfgang Sigl Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24280 Redaktion: Werner Bauer UH ■ Herstellung: H. Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24280-0 www.blanvalet-verlag.de
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Es herrschte eine Zeit der Ungewissheit im Nest des Vlagh, denn noch immer war keine Erfolgsnachricht von den Krieger-Dienern eingetroffen, die durch die Bauten unter der Erdoberfläche zu dem riesigen Wasser unter dem Sonnenuntergang aufgebrochen waren. Zunächst war alles so verlaufen wie geplant: Die Krieger-Diener waren durch ebenjene unterirdischen Bauten auf das Land des Sonnenuntergangs zumarschiert und hatten die Menschenwesen getötet, wo sie nur konnten. Und die Freude unseres lieben Vlagh hatte keine Grenzen gekannt, denn wenn das Land des Sonnenuntergangs erst einmal uns gehören würde, gäbe es viel zu essen, und das Vlagh, das uns alle hervorgebracht hat, könnte weitere von uns hervorbringen, und unsere Anzahl würde ins Unermessliche ansteigen, und der Überverstand, von dem wir alle ein Teil sind, würde wachsen und mit jeder neuen Brut komplexer werden. Ungeduldig war unser Vlagh, denn keiner seiner Diener hatte bislang in irgendeiner Form die Nachricht vom Sieg übermittelt, und ohne diese Bestätigung konnte unser Vlagh keine Nachkommenschaft in die Welt setzen. Obwohl unser Vlagh seine Fühler in Richtung Land des Sonnenuntergangs ausstreckte, um den Überverstand nach dem Erfolg der Krieger von eigenartiger Gestalt zu befragen, antwortete dieser nicht, und das war überaus ungewöhnlich. Und während ein Tag nach dem anderen verstrich, nahm die Gereiztheit des Vlagh zu, denn sein Bedürfnis, sich fortzupflanzen, wurde aufgrund des Mangels an Sicherheit unterdrückt. Geht!, befahl das Vlagh den Krieger-Dienern, die das verborgene Nest bewachten. Geht und haltet Ausschau, und dann kehrt zurück und berichtet mir, was ich wissen muss. Viele Giftzahnbewehrte Krieger-Diener eilten von dannen, und jene von uns, die wir die wahren Diener sind und für das Vlagh und die Neugeborenen sorgen, versicherten unserem lieben Vlagh, dass alles so sei, wie es sein sollte. Nur stimmte das nicht. Die giftigen Krieger von eigenartiger Gestalt kehrten zurück und berichteten, dass sie nicht einmal jene von uns finden konnten, die den Bauten unter der Erdoberfläche gefolgt waren, ja, sie hatten sogar nicht einmal eine Spur dieser Bauten entdeckt. Dazu hatten sie, so das Schrecklichste, den Überverstand in jenem Gebiet nicht spüren können.
Und der Schmerz unseres lieben Vlagh kannte keine Grenzen, denn der Überverstand war stark geschwächt worden, und das würde so bleiben, bis die Arbeiter und die Krieger mit den Giftzähnen gefunden waren und sich ihr Bewusstsein wieder mit dem Überverstand vereint hatte. Dann erschien im Nest des Vlagh ein Arbeiter, dem mehrere Glieder fehlten und dessen Panzer schwere Verbrennungen zeigte, und dieser Arbeiter berichtete von heißem Licht, das aus den Bergen sprühte, und von roter Flüssigkeit, die heißer als Feuer durch die Bauten unter der Erde floss und alles verzehrte, was ihr in den Weg kam. Zum Schluss sagte der Arbeiter, was niemals hätte ausgesprochen werden dürfen: Es gibt keine mehr von uns. Die vielen, die durch die verborgenen Gänge in das Land des Sonnenuntergangs marschierten, wurden sämtlich von der roten Flüssigkeit, die heißer ist als Feuer, vernichtet, und wir alle sind nun weniger denn zuvor, weil es sie nicht mehr gibt. Damit war die Aufgabe des Arbeiters erledigt, und er starb. Und unser geliebtes Vlagh schrie in höchster Pein auf, denn die Nachricht des Arbeiters hatte seinen Trieb zur Fortpflanzung nun gänzlich erstickt. Und wir alle wurden durch diese Nachricht weniger, denn die vielen von zuvor waren nun weniger, und das Land unter dem Sonnenuntergang befand sich für alle Zeiten außerhalb unserer Reichweite. Die Trauer unseres Vlagh überstieg jegliches Begriffsvermögen, und diese Trauer brachte uns Zorn ein! 10
So geschah es nun, dass die Diener von eigenartiger Gestalt mit den Giftzähnen, die in den Ländern der Menschenwesen nach Wissen gesucht hatten, miteinander Rat hielten, und die Sucher des Wissens unterscheiden sich von den wahren Dienern, denn ihre Aufgabe hat sie verändert. Die Sucher des Wissens unterstehen nicht dem direkten Befehl des Vlagh, und sie sprechen über die Erkenntnisse, die sie gefunden haben, und unterbreiten manchmal sogar Vorschläge, wenn sie ihre entdeckten Kenntnisse zum Nest bringen. Und nun stimmten die Sucher des Wissens darin überein, dass das Land des Sonnenuntergangs für alle Zeiten dem Zugriff der Arbeiter und Krieger entrissen war, denn noch immer drang das flüssige Feuer aus den Bergen hervor, und sie schlugen einen anderen Plan vor, der sich aus dem Wissen ergab, welches sie gefunden hatten. Wäre es nicht besser, so sagten sie, in eine andere Richtung zu expandieren als zuvor? Die Berge oberhalb des Landes der längeren Sommer sind ruhig, da sich in diesen Bergen der Drang, Feuer zu speien, nicht bemerkbar macht, und außerdem gibt es im Land des längeren Sommers mehr Nahrung als im Land des Sonnenuntergangs. Weil das Vorhandensein von Nahrung den Fortpflanzungstrieb unseres Vlagh anregt, sollten wir da nicht ein Land suchen, in dem es viel zu fressen gibt? Wenn wir das täten, würde der Fortpflanzungstrieb wieder stärker werden, und bald würde es mehr von uns geben als vor dem Zeitpunkt, da die Arbeiter die Gänge unter der Erde zum Land des Sonnenuntergangs gebaut hatten. Und dadurch würde auch das Bewusstsein des Überverstandes, den wir alle teilen, gestärkt und in Höhen erhoben, die er nie zuvor erreicht hatte. Und unser geliebtes Vlagh ging mit dem Überverstand zu Rate, welche Möglichkeiten der Vorschlag der Sucher des Wissens biete, und der Überverstand hieß den Vorschlag gut, denn er hatte viel gelernt bei dem Versuch, das Land des Sonnenuntergangs zu erobern. Die Krieger von eigenartiger Gestalt waren vielen verschiedenen Wesen begegnet, während sie unterwegs zum Sonnenuntergang waren, und der Überverstand spürte, dass diese verschiedenen Formen sich als nützlich bei unseren Zusammenstößen mit den Menschenwesen im Land der längeren Sommer erweisen könnten, denn die Menschenwesen sind sehr hartnäckig und nur schwer zu verdrängen, wenn wir auf unser Ziel zumarschieren. Dann jedoch warnte der Überverstand das geliebte Vlagh, dass die größte Gefahr, der wir im Land der längeren Sommer gegenüberstehen würden - so wie schon im Land des Sonnenuntergangs -, nicht in den Menschenwesen bestehe, die sich uns in den Weg stellten, sondern in schlafenden Kindern und absonderlichen Steinen. Also wandten wir uns vom Land des Sonnenuntergangs ab und richteten unsere Aufmerksamkeit auf das Land der längeren Sommer, wo die Zweibeinigen ihre Nahrung aus dem Boden erzeugen und wo es viel Raum gibt; und Nahrung und Raum regen gewiss den Fortpflanzungstrieb unseres Vlagh an, und der Überverstand wird wachsen und sogar noch größer werden als vor der Minderung, die er durch die Vorfälle im Lande des Sonnenuntergangs erleiden musste, und das wird für uns alle ein Erfolg sein, denn wir alle haben an dem Erfolg teil, wenn der Überverstand wächst. Und gewiss wird eine Zeit kommen, wenn alle Länder der Menschenwesen uns gehören, und unsere Zahl wird ins Unermessliche steigen, und der Überverstand wird anwachsen, bis alles Wissen uns gehört und darüber hinaus die ganze Welt. Und erst dann werden wir zufrieden sein.
Ashads Traum
1 Im Verlauf der vielen Zyklen ist mein Stolz auf die Berge meiner Domäne beständig gewachsen. Sie besitzen eine Schönheit, mit der sich wohl kein anderes Land vergleichen kann. Meine Schwester Zelana liebt das Meer auf ganz ähnliche Weise, nehme ich an, doch, so glaube ich, wird das Meer dem Bergland niemals ebenbürtig sein. Die Luft im Gebirge ist rein und klar, und der ewige Schnee auf den Gipfeln führt diese Reinheit zur Vollkommenheit. Über endlose Äonen hinweg habe ich entdeckt, dass mir ein Sonnenaufgang über den Bergen das köstlichste Licht spendet, das ich je gekostet habe, und wann immer es mir möglich ist, steige ich beim ersten Licht auf die Schulter des Berges Shrak und trinke von der Schönheit dieses stets wiederkehrenden Naturereignisses. Gleichgültig, was der Tag dann bringen mag - der Geschmack eines Bergsonnenaufgangs erfüllt mich mit einer Heiterkeit, die mir nichts sonst geben kann. Es geschah an einem Tag im späten Frühling des Jahres, in dem die Wesen des Ödlands ihren ersten vergeblichen Anlauf unternommen hatten, Zelanas Domäne zu erobern, und von Elerias Flut und Yaltars Zwillingsvulkanen aufgehalten worden waren, da trat ich aus meiner Höhle unter dem Berg Shrak und wollte die Morgensonne begrüßen. Als ich an meinen gewohnten Platz zum Speisen kam, entdeckte ich die Wolkenbank im Osten, und durch solche Wolken erscheint der Sonnenaufgang stets noch prachtvoller. Ich schaute zu den Bergen in der Umgebung hinüber und hatte den Eindruck, der Sommer halte ein wenig langsamer als gewöhnlich Einzug in meine Domäne und der Schnee des Winters klammere sich weiterhin stur an die tiefer liegenden Berghänge. Mir erschien es wie ein Anzeichen für eine dieser periodischen Klimaveränderungen, die so häufig vorkommen, was die Menschen, die uns dienen, jedoch nicht wahrhaben wollen. Die Temperaturen auf Vater Erde sind eigentlich nie konstant, sondern nahezu vollkommen den Launen von Mutter Meer unterworfen; und wenn die Mutter sich frostig fühlt, geht auf den Vater eine Menge Schnee nieder. Das kann Jahrhunderte dauern. Nachdem ich jedoch einige Zeit über diese Möglichkeit nachgedacht hatte, verwarf ich sie wieder. Zelana hatte im Laufe des vergangenen Winters am Wetter herumgepfuscht, um die Invasion ihrer Domäne durch die Diener des Vlagh zu verzögern, bis ihre angeheuerte Armee aus dem Lande Maag
einträfe, und vermutlich würde es eine Weile dauern, bis alles sich wieder normalisiert hatte. Insgesamt jedoch war das Frühjahr zufrieden stellend verlaufen. Je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich, dass durch meine Entscheidung, die jüngeren Götter frühzeitig aus ihrem Schlafzyklus zu wecken und sie zu veranlassen, sich zu Kindern zurückzuentwickeln, tatsächlich jene alte Prophezeiung erfüllt worden war. Elerias Flut und Yaltars Zwillingsvulkane würden Zelanas Domäne auf ewige Zeiten vor weiteren Einfällen der Wesen aus dem Ödland schützen. Die Morgensonne stieg in großer Pracht über den Horizont und überzog die Wolkenbank im Osten mit strahlendem Rot, und ich schwelgte in diesem Licht. Das Licht des frühen Sommers fand ich schon immer belebender als das fahle Licht des Winters oder das staubige Licht des Herbstes, und beschwingten Schrittes spazierte ich den Berg hinunter in meine Höhle zurück. Meine kleine Spielzeugsonne erwartete mich am Eingang und flackerte mir ihre gewohnte Frage entgegen. Ich habe nur einen Blick auf das Wetter geworfen, Kleine, log ich. Stets schmollt sie verdrossen, wenn sie glaubt, ich würde das Licht der richtigen Sonne dem ihren vorziehen. Hausgenossen können recht eigentümlich werden. Schläft Ashad noch?, fragte ich sie. 16
Zur Antwort bewegte sie sich leicht auf und ab. Gut, sagte ich. Er hat in letzter Zeit nicht besonders gut geschlafen. Gewiss ist er besorgt wegen der Ereignisse in Zelanas Domäne. Vielleicht solltest du dein Licht ein wenig dämpfen, damit er länger schlafen kann. Er braucht die Ruhe. Sie fuhr zustimmend auf und ab und leuchtete schwächer. Zuerst war sie ein wenig verstimmt gewesen, als ich Ashad in die Höhle gebracht hatte, doch verging das rasch, und inzwischen hat sie meinen kleinen blonden Jungen so richtig lieb. Allerdings fehlt ihr nach wie vor das rechte Verständnis für Ashads Bedürfnis nach fester Nahrung, und deshalb schwebt sie oft über ihm und versorgt ihn mit Licht - nur für den Fall, dass er welches brauchen sollte. Ich ging durch den gewundenen Gang, der zu meiner Höhle führt, und bückte mich unter den an Eiszapfen erinnernden Stalaktiten hindurch, die von der Decke hängen. Sie waren wesentlich dicker und länger als zu Beginn meines gegenwärtigen Zyklus, und mittlerweile versperrten sie mir schon fast den Weg. Ihre Entstehung verdanken sie dem mineralreichen Wasser, das durch den Berg Shrak sickert, und mit jedem verstreichenden Jahrhundert werden sie sichtbar länger. Ich nahm mir vor, sie eines Tages abzuschlagen, doch im Augenblick hatte ich zu viel zu tun. Bei meinem Eintreffen in der großen Kammer, die unser Heim darstellt, schlief Ashad noch, und ich wollte ihn nicht stören. Meine Entscheidung, die Stellvertreter am Ende unseres Zyklus zu wecken, erschien mir weiterhin richtig, dennoch zeigte sich zunehmend, dass sie Erinnerungen an ihre Vergangenheit herübergerettet hatten. Ich setzte mich auf meinen Stuhl an dem Tisch, an dem Ashad seine Mahlzeiten einnahm richtiges Essen nannte er es -, und dachte über einige Angelegenheiten nach, die ich in dieser Weise nicht erwartet hatte. Ein wenig schuldbewusst gestand ich mir ein, dass ich mir unsere Stellvertreter hätte genauer anschauen sollen, ehe ich sie weckte, nun allerdings war es für solche Überlegungen zu spät. Ich hatte vermutet, die Kinder würden in erster Linie auf die Gefahren reagieren, die den Domänen ihrer Ersatzeltern drohten, und insofern hatte es mich arg überrascht, als Veltan mir erzählte, Yaltars Traum habe den Krieg in Zelanas Domäne vorausgesagt. Meiner Ansicht nach hätte Eleria uns davor warnen sollen. Als die eigentliche Krise dann eintrat, schob Yaltar alle Vorsicht beiseite und mischte sich mit seinen beiden Vulkanen in die Sache ein. Dies ließ eindeutig darauf schließen, dass sich Yaltar und Eleria in ihrem vorherigen Zyklus sehr nahe gestanden hatten und diese Vermutung fand eine Bestätigung in der Tatsache, dass Yaltar Eleria gelegentlich bei ihrem richtigen Namen genannt hatte, Balacenia, und Eleria in gleicher Weise von Vash gesprochen hatte Yaltars korrektem Namen. Mein >großer Plan< könnte doch einige Mängel aufweisen, räumte ich reumütig ein. Yaltars Lavastrom hatte das Problem zwar gelöst, doch hielt ich diese Vorgehensweise für ein bisschen übertrieben. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr schien mir das Problem im Kern darin zu bestehen, dass das Vlagh seine Diener im Laufe der letzten hundert Äonen bewusst verändert hatte. Die Modifikation verschiedener Lebensformen ist ein fortwährender Prozess, der stark in Verbindung mit Veränderungen der Umwelt steht. Manchmal funktionieren die Modifikationen, manchmal nicht. Jene Spezies, welche die richtigen Entscheidungen treffen, überleben, die falsche Wahl hingegen führt zum
Aussterben. In den meisten Fällen ist das Überleben allerdings reine Glückssache. Vor der Ankunft der behaarten Vorfahren dieser Wesen, die wir heute Menschen nennen, hatte sich im Lande Dhrall bereits eine Vielzahl anderer Spezies entwickelt, die jedoch zum größten Teil der falschen Fährte gefolgt und ausgestorben waren. Unglücklicherweise gehörte das Vlagh zu den Überlebenden. Ursprünglich war das Vlagh ein eher exotisches Insekt gewesen, das sein Nest am Ufer des Binnensees baute, der einst das Ödland bedeckt hatte. Infolge eines Klimawechsels war der See ausgetrocknet, und das Vlagh hatte aus reiner Not begonnen, seine Diener zu modifizieren. Auch wurde es unerlässlich, die sengende Sonne zu meiden, doch so weit ich die Angelegenheit einzuschätzen vermag, hatte das Vlagh bei seiner Suche nach einer Lösung nicht einfach 18
nur blind herumgestochert, sondern sich auf Beobachtungen verlassen. Ich bin mir fast sicher, dass zu diesem Zeitpunkt der Überverstand ins Spiel kam. Die Fähigkeit, Wissen zu teilen, hatte den Dienern des Vlagh einen enormen Vorteil gegenüber ihren Nachbarn verschafft. Was einer von ihnen sah, hatten alle gesehen. Die Spezies des Vlagh lebte zu jener Zeit oberirdisch - vermutlich in den Bäumen. Mehrere andere Spezies lebten hingegen unter der Erde, und die Sucher des Wissens - Spione, wenn man so will -, hatten diese Nachbarn beobachtet und sehr genaue Beschreibungen der angewachsenen Werkzeuge geliefert, mit denen sie ihre unterirdischen Gänge bauten. Daraufhin hatte der Überverstand diesen Entwurf gestohlen, das Vlagh hatte ihn umgesetzt, und in der nächsten Brut hatte es nur Arbeiter zum Graben gegeben. In den ausgedehnten Tunneln waren die Diener des Vlagh zwar vor der grellen Sonne geschützt, doch hatten sie damit lediglich ihr erstes Problem gelöst. Im Lauf der Jahrhunderte ging durch den Klimawechsel nach und nach die gesamte Vegetation der einst fruchtbaren Gegend zugrunde, und schließlich gab es nicht mehr genug Nahrung für die wachsende Population. Das Vlagh legte natürlich weiterhin seine Eier, allerdings brachte jede Brut weniger Nachkommen, und bald erschien dem Vlagh auch das Aussterben seiner eigenen Spezies möglich. Als die grabenden Insekten die Berge erreichten, stießen sie auf festes Gestein, und an diesem Punkt geriet ihr Vormarsch zum Stillstand. Nicht lange danach entdeckten sie jedoch die Höhlen unter diesen Bergen, und die Spezies, die eigentlich hätte aussterben sollen, existierte weiter. Was Höhlen betrifft, bin ich geteilter Meinung. Ich liebe meine, doch ihre hasse ich. Jedenfalls hatten die Diener des Vlagh in den Höhlen und Bergen andere Wesen entdeckt, und augenscheinlich erkannte der Überverstand, dass manche ihrer Eigenschaften sich als nützlich erweisen können; so hatte das Vlagh mit Experimenten begonnen - oder angefangen, herumzupfuschen -, und eigenartige sowie höchst unnatürliche Varianten geschaffen. Ich räume recht widerstrebend ein, dass das Experiment, aus dem jene Wesen hervorgegangen sind, die Sorgan Hakenschnabel aus dem Land Maag so lebhaft als Schlangenmenschen bezeichnete, einen sehr erfolgreichen Ausgang genommen hat, obwohl ich beileibe nicht genau verstehe, wie es dem Vlagh möglich war, ein Wesen zu erschaffen, das zum Teil Insekt, zum Teil Reptil und zum Teil warmblütiges Säugetier ist und außerdem noch einem Menschen ähnelt. Solche biologischen Unmöglichkeiten verärgern mich ohne Ende. Ohne den Genius des Schamanen Einer-Der-Heilt, so gebe ich hingegen gern zu, hätten die Wesen des Ödlands den Krieg in der Domäne meiner Schwester vermutlich gewonnen. Ashad gab einen seltsamen Laut von sich; deshalb erhob ich mich von meinem Stuhl und ging durch das Dämmerlicht der Höhle hinüber zu der Steinbank, die ihm als Bett diente, um mich zu vergewissern, ob alles in Ordnung war. Er lag mit geschlossenen Augen eingerollt unter seinem Fellmantel. Die Feststellung, dass unsere Träumerkinder nicht vom Licht allein leben können, hat uns alle ein wenig nervös gemacht. Mit solchen Dingen wollten wir eigentlich niemals Spielchen treiben. Dann stellte sich uns die Frage, ob sie atmen mussten. Veltans zehn Äonen auf dem Mond hatten uns ganz klar demonstriert, dass wir nicht zu atmen brauchen. Viele unserer lieben Menschen sind Fischer, und es passiert häufig, dass einer von ihnen ertrinkt. Obwohl unsere Träumerkinder eigentlich Götter sind, ließ ihr gegenwärtiger Zustand vermuten, dass sie Luft zum Atmen und Nahrung zum Essen brauchten, und keiner von uns wollte irgendein Risiko eingehen. Ashad atmete, und so kehrte ich zu meinem Stuhl zurück. Ich ließ meine Gedanken zu dem Moment schweifen, als Ashad in meine Höhle gekommen war. Wenn jemand mit ausgeprägtem Sinn für Sadismus gern einmal einen Gott im Zustand vollkommener Panik erlebt hätte, so hat er damals seine Chance verpasst. An jenem Tag herrschte überall in meiner Familie Panik. Sobald Ashad zu schreien
begann, war ich mit meinen Nerven am Ende. Schließlich erin20
nerte ich mich jedoch an eine Eigentümlichkeit, die bei den Bären meiner Domäne, aber auch bei den Hirschen, Menschen und Wildkühen zu finden ist. Bärinnen gebären ihre Jungen während der Winterschlafzeit, und die Kleinen kümmern sich ganz allein um das Säugen. Mir fiel ein, dass eine Bärin mit dem Namen Gebrochener Zahn für gewöhnlich in einer Höhle überwinterte, die nicht mehr als eine Meile entfernt lag. Noch immer völlig verschreckt nahm ich meinen schreienden Träumer und rannte zur Höhle von Mama Gebrochener Zahn. Sie hatte bereits dem kleinen Bären Langkralle das Leben geschenkt, und der saugte gerade an ihren Zitzen, als ich eintrat. Glücklicherweise brauchte ich mit ihm nicht zu streiten. Er war so nett, rückte ein wenig zur Seite, und ich überließ Ashad der Bärenmilch. Sofort hörte er auf zu brüllen. Eigenartigerweise - oder vielleicht auch nicht - waren Ashad und Langkralle eindeutig der Meinung, sie seien Brüder, und nachdem sie sich gemeinsam an der Milch von Mama Gebrochener Zahn satt getrunken hatten, begannen sie zu spielen. Ich blieb in der Höhle, bis Mama Gebrochener Zahn aufwachte. Sie schnüffelte kurz an ihren beiden Jungen - und ignorierte die Tatsache, dass einer der zwei keine Ähnlichkeit mit einem Bären hatte -, dann drückte sie die Kleinen sanft an ihren Bärenbusen, als wäre alles in schönster Ordnung. Gewiss, Bären sehen nicht besonders gut, und deshalb verlassen sie sich mehr auf den Geruchssinn; nach zwei Wochen, in denen sich Ashad auf dem Boden der Höhle herumgewälzt hatte, duftete er in der Tat wie ein kleiner Bär. Obwohl Ashad fast bis Mittag schlief, wirkte mein kleiner flachshaariger Junge beim Aufstehen müde. Er zog seinen ledernen Kittel an und gesellte sich zu mir an den Tisch. Guten Morgen, Onkel, begrüßte er mich und ließ sich erschöpft auf seinen Stuhl sinken. Ohne große Begeisterung holte er sich die große Schüssel mit roten Beeren heran, die er am Abend zuvor mitgebracht hatte, und begann zu essen, immer nur eine nach der anderen. Aus irgendeinem Grund schien er keinen rechten Appetit zu haben. 21
Machst du dir über etwas Sorgen, Ashad?, fragte ich ihn. Heute Nacht hatte ich einen schrecklichen Traum, Onkel, antwortete der Junge und spielte abwesend mit einem glänzenden schwarzen Stein, der ungefähr die doppelte Größe eines Adlereis besaß. Ich hatte das Gefühl, ich würde mitten in der Luft stehen und von oben aus dem Himmel auf die Domäne von Vash schauen. Das Land dort unten im Süden sieht ganz anders aus als unseres hier im Norden, nicht wahr? Da war es wieder. Offensichtlich kannte Ashad Yaltars richtigen Namen, so wie auch Eleria. Die Menschen im Süden sind Bauern, Ashad, erklärte ich ihm. Sie ernähren sich hauptsächlich von dem, was ihre Felder hervorbringen, und nicht von der Jagd wie die Menschen bei uns. Deshalb mussten sie die Bäume fällen, damit sie offenes Gelände für die Saat haben, und aus diesem Grund sieht ihr Land so anders aus als das hier oben. Was ist sonst noch in deinem Traum passiert? Ashad strich sich das Haar aus den Augen. Nun, fuhr er fort, anscheinend marschierte eine ganze Menge dieser hässlichen Dinger in die Domäne von Vash - diese Dinger, die erst kürzlich in Balacenias Domäne gekrochen sind. Der Junge legte den glänzenden schwarzen Stein auf den Tisch und aß ein paar rote Beeren. Und wieder! Nun war es nicht mehr zu übersehen, dass die Träumer die Barriere, die ich so sorgsam zwischen ihnen und ihrer Vergangenheit errichtet hatte, zu überwinden vermochten, wenn auch vielleicht unbewusst. Jedenfalls, erzählte Ashad, waren die Fremdlinge da, und sie kämpften gegen die hässlichen Dinger wie in Balacenias Domäne, doch dann wurde die Sache sehr verwirrend. Ein Haufen anderer Fremdlinge kam über die Mutter Meer von Süden her, aber sie waren wohl nicht sehr an dem Krieg interessiert, weil sie ihre Zeit mit den Bauern verbrachten und über jemanden sprachen, der Amar heißt. Diejenigen, die redeten, trugen schwarze Roben, und andere in roten Roben schubsten die Bauern herum und sorgten dafür, dass sie denen in den schwarzen Roben zuhörten, während die redeten. Das ging eine Weile so, dann wurden die Fremdlinge im Sü22
den ganz aufgeregt und rannten nach Norden zu einem großen Wasserfall, und die anderen Fremden die, die zuerst da gewesen waren - machten ihnen gewissermaßen den Weg frei, und schließlich waren alle am Wasserfall, und es sah aus, als würde jeder versuchen, den anderen umzubringen. Wie viel
Mühe ich mir auch gab ich begriff einfach nicht, was sich dort abspielte. Manchmal sind Träume so, habe ich gehört, Ashad. Ich brauche ja nicht zu schlafen, daher weiß ich es nicht aus eigener Erfahrung. Ich zögerte. Wo hast du diesen glänzenden schwarzen Stein gefunden?, fragte ich, eigentlich weniger aus echtem Interesse, sondern eher, um das Thema zu wechseln. Er lag in der Höhle, wo Mama Gebrochener Zahn Winterschlaf hält, erwiderte Ashad. Sie hatte drei Junge im vergangenen Winter, und während du deiner Schwester Zelana geholfen hast, ging ich zu ihrer Höhle, um mir die Kleinen anzuschauen. Sie sind schließlich so eine Art Brüder von mir und Langkralle, oder? Mama Gebrochener Zahn hat doch mich und Langkralle gesäugt, als wir noch klein waren, und jetzt säugt sie die neuen. Dadurch sind wir irgendwie verwandt, nicht wahr? Ich nehme an, ja. Also, die drei neuen Jungen machten diese lustigen Laute, die Bärenjunge immer von sich geben, wenn sie saugen, und Mama Gebrochener Zahn schmuste mit ihnen wie früher mit mir und Langkralle. Er nahm den glänzenden Stein in die Hand. Ist das ein Achat?, fragte er und hielt ihn mir entgegen. Ich nahm den Stein und hätte ihn beinahe fallen lassen, weil er eine solch intensive Kraft ausstrahlte. Ich glaube, du hast Recht. Schwarze Achate sind allerdings sehr selten. Er ist sehr hübsch, und er gefiel mir sofort. Daher fragte ich Mama Gebrochener Zahn, ob ich ihn haben dürfe, und sie hat ihn mir geschenkt. Seitdem habe ich ihn überallhin mitgenommen, doch irgendwann habe ich ihn verlegt, aber als ich heute Morgen aufgewacht bin, war er bei mir im Bett. Ist das nicht seltsam? Ich lachte. Offensichtlich leben wir im Jahr des >SeltsamenSei nett zu den Nachbarn, dann sind sie nett zu dir.< Ich sollte wohl langsam aufbrechen, sonst kann ich nicht mehr mit Aracia sprechen, bevor diese Priester mit ihren dummen Zeremonien begonnen haben. Grüßt du Enalla von mir, Onkel? Schon wieder. Gerade hatte Ashad Aracias Träumerin Lillabeth beim richtigen Namen genannt. Trotz meiner vorsichtigen Einflussnahme holten die Träumer Stück um Stück die Realität durch die Barriere, die ich zwischen ihnen und der Vergangenheit errichtet hatte. Ich erschauderte bei dem Gedanken, was geschehen mochte, falls sie eines Tages auf wichtigere Dinge als ihre Namen stoßen würden. Daraufhin sagte ich meiner kleinen leuchtenden Sonne, sie möge zu Hause bleiben, und betrat den langen gewundenen Gang, der hinauf an die frische Luft führte. Das frühsommerliche Morgenlicht leuchtete golden, als ich aus meiner Höhle unter dem Berg Shrak trat. Ich rief meinen Blitz und ritt nach Südosten zur Domäne meiner Schwester Aracia. Aracias Domäne ähnelt sehr der Domäne unseres kleinen Bruders Veltan, auch dort erstrecken sich
riesige Weizenfelder von einem Horizont zum anderen wie ein grüner Teppich. Ich gebe es nicht gern zu, aber die Einführung des Weizenanbaus und des Brotes hat in den Domänen der beiden für wesentlich stabilere Lebensverhältnisse gesorgt, als in meiner und Zelanas Domäne herrschen, wo das Land überwiegend für die Jagd und die Fischerei genutzt wird. Nichtsdestoweniger muss aber doch mehr am Leben dran sein, als auf einem Stück vertrocknetem Brot zu kauen. Ich bin sicher, dass Aracia und Veltan mich als einen altmodischen Primitiven betrachten, nur - ich weiß es halt besser. Die Menschen ihrer Domänen sind kaum mehr als Vieh. Sie ziehen in Herden herum, und es würde mich nicht wundern, wenn das Wort Muh in ihrer Sprache häufig verwendet wird. Die Menschen meiner Domäne sowie auch der von Zelana sind hingegen ausgesprochen unabhängig. Niemand - nicht einmal ich oder Zelana - schreibt ihnen vor, was sie zu tun oder zu lassen haben. Aus meiner Sicht der Dinge ähneln diese Bauern im Süden und Osten eher den hirnlosen Dienern des Vlagh als richtigen Menschen. Das brauche ich Aracia und Veltan allerdings nicht unbedingt unter die Nase reiben. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich erinnere mich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es die Landwirtschaft war, die in Aracias Domäne zur Entstehung von Religion führte. Nachdem die Aussaat im Frühjahr geschehen ist, hat ein Bauer eigentlich bis zur Erntezeit im Herbst nichts zu tun, und das lässt ihm viel zu viel Zeit für überflüssiges Grübeln. Solange die Menschen ihre Aufmerksamkeit darauf richten, was sie morgen essen werden oder wie sie es vermeiden zu erfrieren, sobald der Winter Einzug gehalten hat, ist ihr Leben vor allem an praktischen Erfordernissen orientiert. Erst wenn sie zu viel Zeit haben, stellen sie Fragen wie Wer bin ich?, oder Wie bm ich hierher gekommen?, und die Sache wird anstrengend. In gewissen Abständen verlasse ich das Land Dhrall und beobachte die Fortschritte der Völker in fremden Ländern, und mir ist aufgefallen, dass die intelligenteren viel Zeit damit verbringen, über mysteriöse Götter nachzudenken. Im Lande Dhrall ist das natürlich nicht notwendig, weil es sehr wahrscheinlich ist, dass der Gott der betreffenden Gegend seinen Wohnsitz oben auf dem Berg oder einfach unten an der Straße hat. Manche der Menschen aus Aracias Domäne sahen gerade darin große Möglichkeiten. Aracia konnte das Wetter beeinflussen, wenn sie wollte, und dadurch gab es reiche Ernten, was wiederum übertriebene Dankesbezeugungen ihrer Untertanen hervorrief. Meinen eigenen Menschen hätte ich da offen ins Gesicht gelacht. Aracia hingegen genoss diese unterwürfigen und exzessiven Dankesbezeugungen. Tief im Innern liebt Aracia es, geliebt zu werden. Ich war in diesem Zyklus als Erster erwacht, und so hatte ich diesmal die Verantwortung für alles. Aracia, als Zweite, sehnte sich immer danach, die Erste zu sein, und aus diesem Grunde ermutigt sie die Menschen zu ihrer ausufernden Verehrung, und die Klügeren unter ihnen, die dieses Bedürfnis spüren, treiben die Dankbarkeit bis hin zum Absurden, errichten Tempel und Altäre und werfen sich jedes Mal zu Boden, wenn sie vorübergeht. Aracia findet das schrecklich nett von ihnen. Aracias Bedürfnis nach Verehrung hat viele der weniger arbeitsamen Menschen ihrer Domäne angelockt, und über die Jahre hin26 weg
entstand dadurch eine beachtliche Stadt, die wiederum die verschiedensten Händler angezogen hat. Ohne Zweifel ist Aracias Tempelstadt im Lande Dhrall das, was man überhaupt am ehesten als Stadt bezeichnen könnte. Die großen Steingebäude sind weiß verputzt, und die Dächer bestehen aus roten Ziegeln. Die schmalen Straßen sind gepflastert, und die Stadt hat eine Länge von mindestens einer Meile. Im Zentrum befindet sich Aracias riesiger Tempel mit leuchtend weißen Spitztürmen, die hoch gen Himmel aufragen. Ganz ehrlich gesagt, halte ich diesen Ort für ein wenig albern. Als mich mein Blitz in Aracias Thronsaal mit seinen Marmorsäulen absetzte, fielen ihre überfütterten Speichellecker entweder in Ohnmacht oder flohen vor Schrecken. Ich lächelte milde. Nichts auf der Welt erregt eine solche Aufmerksamkeit wie ein Blitz. Aracias goldener Thron stand auf einem marmornen Podest, und dahinter hingen rote Vorhänge. Hast du vielleicht schon einmal daran gedacht, dich vorher anzukündigen, wenn du mich besuchst, Dahlaine?, wollte meine prachtvoll gewandete Schwester in eisigem Tonfall von mir wissen. Habe ich doch gerade, entgegnete ich freiheraus. Bist du taub geworden, Aracia? Jedes Mal, wenn du Donner hörst, bin es höchstwahrscheinlich ich. Ich schaute mich im Thronsaal meiner Schwester um und entdeckte eine erkleckliche Anzahl Geistlicher, die sich hinter den Marmorsäulen am Rande des
riesigen Raums versteckten. Könnten wir uns vielleicht irgendwo unter vier Augen unterhalten, liebe Schwester? Du solltest einige Neuigkeiten erfahren, und ich habe nicht sehr viel Zeit. Du bist ein grober Kerl, Dahlaine. Wusstest du das schon? Das ist meine große Schwäche. Im Laufe der Jahre habe ich begriffen, dass Höflichkeit eine Zeitverschwendung ist, und im Augenblick habe ich leider eine Menge zu tun. Gehen wir? Schon vor langer Zeit hatte ich begriffen, dass man Aracias Aufmerksamkeit am besten durch Schroffheit erlangte. Sobald man ein wenig nachgab, kehrte sie zu ihrem Zeremonien-Getue zurück, und das dauerte in der Regel den halben Tag. Sie wirkte ziemlich beleidigt, erhob sich jedoch von ihrem goldenen Thron, stieg vom Podest und führte mich aus dem überladenen Thronsaal. Weswegen bist du denn so aufgeregt, großer Bruder?, fragte sie mich, während wir einen langen einsamen Gang entlangschritten. Warte, bis wir an einem abgeschiedenen Ort sind, schlug ich vor. Ungemach ist im Anzug, und ich glaube, wir sollten die Menschen deiner Domäne im Augenblick noch nicht beunruhigen. Aracia führte mich in ein ziemlich einfaches Zimmer und schloss die Tür hinter uns. Wir ließen uns einander gegenüber auf großen Holzstühlen nieder, die bei einem mit Schnitzereien verzierten Tisch standen. Bist du sicher, dass uns hier keiner deiner Menschen hören kann? Natürlich, Dahlaine, erwiderte sie. Dieser Raum ist einer der >besonderen< Orte. Niemand kann uns hören, weil dieses Zimmer eigentlich gar nicht existiert. Wie hast du denn das hinbekommen? Sie zuckte mit den Schultern. Man muss die Zeit ein wenig vorstellen. Dieser Raum ist zwei Tage älter als der Rest des Tempels, wir sprechen also sozusagen erst in zwei Tagen. Bemerkenswert schlau, bewunderte ich sie. Freut mich, dass es dir gefällt. Was also hat dich so aufgebracht, Dahlaine? Heute Nacht hatte Ashad einen dieser Träume, liebe Schwester. Offensichtlich hat das Vlagh in Zelanas Domäne seine Lektion nicht begriffen, und deshalb schickt es seine Diener nun nach Süden zu Veltans Domäne - oder zumindest wird es das in Kürze tun. Ashads Traum war ein wenig komplizierter als Yaltars, der die Invasionen von Zelanas Domäne voraussah, und selbst ich habe manches nicht ganz verstanden. Er hat mir von zwei getrennten - und anscheinend voneinander unabhängigen - Invasionen und einem sehr komplizierten Krieg an den Fällen von Vash erzählt. Und noch etwas beunruhigt mich. Ashad hat Yaltar bei seinem richtigen 28
Namen genannt - so, wie Yaltar ständig von Eleria als >Balacenia< spricht. Mir ist die Spucke weggeblieben, als Ashad >Vash< anstelle von Yaltar sagte. Ich habe dir gleich gesagt, Dahlaine, es war ein Fehler, unsere Stellvertreter ins Spiel zu bringen. Wenn unsere Träumer aufwachen und zu Sinnen kommen, könnte die Welt in sich zusammenstürzen. Es gelingt ihnen offenbar, einige meiner Barrieren zu umgehen, Aracia, räumte ich ein, aber jetzt ist es zu spät, um dagegen etwas zu unternehmen. Das Vlagh will uns aufs Neue mit seinen Dienern überrennen, und wir haben keine Zeit, eine neue Gruppe von Träumern großzuziehen. Hat Lillabeth schon einen dieser Träume gehabt? Jedenfalls hat sie mir nichts darüber erzählt, gab Aracia zurück. In letzter Zeit war hier allerdings sehr viel los. Kostet es dich tatsächlich so viel Zeit, dich anbeten und verehren zu lassen, Aracia? Nein, doch muss ich ständig zur Insel Akalla und mit Trenicia verhandeln. An Gold ist sie eigentlich nicht interessiert, deswegen muss ich etwas anderes finden, mit dem ich sie locken kann. Wer ist Trenicia?, fragte ich neugierig. Die Königin der Kriegerinnen von Akalla. Können Frauen tatsächlich gute Krieger sein? Wenn sie groß genug sind, gewiss. Trenicia ist so groß wie Sorgan Hakenschnabel, und sie kann auf jeden Fall geschickter mit dem Schwert umgehen als er. Beeindruckend, gab ich zu, aber wenn sie kein Gold will, wie bezahlst du sie dann? Mit Diamanten, Rubinen, Smaragden und Saphiren, antwortete Aracia. Sie sind zwar Kriegerinnen, aber nichtsdestoweniger Frauen, und deshalb lieben sie Schmuck. Für eine hübsche Diamantenkette würde eine Frau aus Akalla fast jeden umbringen oder doch zumindest jedes Wesen, das sich ihr in den Weg stellt.
Wenn die Frauen auf der Insel Akalla herrschen, was machen denn dann die Männer? 29
Die haben ungefähr die Stellung von Haustieren, Dahlaine. So wie ich Trenicia verstanden habe, haben die Männer von Akalla die Trägheit zu einer Kunstform erhoben. Auf Akalla ist alles Frauenarbeit. Sogar der Krieg? Der Gedanke erschütterte mich. Vor allem der Krieg. Die Männer von Akalla sind faul und ängstlich und im Allgemeinen zu nichts zu gebrauchen - außer als Zuchtstiere. Ich beschloss, auf diese Angelegenheit nicht weiter einzugehen. Mir ist kürzlich die Idee gekommen, dass wir vielleicht Trenicia und Ekial in den Krieg in Veltans Domäne mit einbeziehen sollten, sagte ich. Aller Wahrscheinlichkeit nach müssen sie früher oder später sowieso gegen die Diener des Vlagh antreten, und es kann nicht schaden, wenn sie möglichst früh erfahren, womit sie es zu tun haben. Da könntest du durchaus Recht haben, Dahlaine, stimmte Aracia zu. Wenn ich mich recht entsinne, waren die Maags und die Trogiten nicht allzu glücklich, als Zelana sich endlich entschloss, ihnen einige der Besonderheiten der Diener des Vlagh zu schildern. Vielleicht sollten wir es lieber mit Ehrlichkeit anstatt Täuschung versuchen. Was für ein ungeheuerlicher Vorschlag, Aracia, scherzte ich. Ich bin wirklich schockiert von dir! Äußerst schockiert! Ach, hör auf!, sagte sie. Und dann lachten wir beide. Mein Blitz brachte mich zum Rand des Ödlands, und ich spähte hinunter zum Sand und zu den Felsen, in der vagen Furcht, die Diener des Vlagh beim Anmarsch auf die Domäne meines jüngeren Bruders Veltan zu erblicken, doch so weit ich erkennen konnte, war die Wüste unten bar allen Lebens. Die Zwillingsvulkane am Ende der Schlucht oberhalb von Lat-tash spuckten weiterhin ihr Feuer in die Luft, als ich meinen Blitz in Zelanas Domäne lenkte, und ich war ziemlich sicher, die Eruptionen würden noch Jahre andauern. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass ich die Fähigkeiten der Träumer strenger hätte beschränken sollen. Sie waren schließlich Kinder, und Kinder lassen sich manchmal von ihrer Begeisterung mitreißen. Allerdings sah ich dabei ein Problem: Wie hätte ich das anstellen sollen? Trotz ihrer mangelnden Reife verfügten die Träumer praktisch uneingeschränkt über die Naturkräfte, und ich musste mir ehrlicherweise eingestehen, dass sie vermutlich jede Barriere überwinden konnten, mit der ich sie von ihrer Vergangenheit trennte. Meine ursprüngliche Idee war mir wie die perfekte Lösung für ein schwieriges Problem erschienen, allerdings hätte es wohl nicht geschadet, wenn ich ein wenig länger darüber nachgedacht hätte. Ich schickte einen Suchgedanken aus und spürte Zelanas Gegenwart unten auf der Nordseite der Bucht, also lenkte ich meinen Blitz in diese Richtung. Zelana unterhielt sich gerade mit Rotbart und Langbogen in einem Dorf, das in einiger Entfernung von Lattash neu errichtet worden war und sich nun kurz vor der Fertigstellung befand. Die runden Hügel hinter dem neuen Dorf hatten sanftere Hänge als die steilen Gipfel im Osten von Lattash, im Norden befanden sich einige Waldstücke, und hinter diesen dehnte sich meilenweit eine Wiese aus. Muss das unbedingt sein, Dahlaine?, fragte Zelana gereizt, als ich mich zu ihnen gesellte. Kannst du nicht diesen schrecklichen Lärm vermeiden? Ich fürchte, nicht, Zelana. Mit einem Blitz kann man am schnellsten reisen, nur muss man sich leider mit dem Lärm abfinden. Ashad hatte einen Traum, und es scheint, unsere Vermutungen liegen nicht weit von der Wahrheit entfernt. Ashads Traum bestätigte, dass die Wesen des Ödlands als Nächstes Veltans Domäne angreifen werden. Gab es in dem Traum Hinweise darauf, wo genau wir auf die Diener des Vlagh stoßen werden?, erkundigte sich der Bogenschütze Langbogen. Irgendwo in der Nähe der Fälle von Vash, antwortete ich. 31
Neugierig sah ich Zelana an. Ich nehme an, du hast deine Meinung geändert und dich entschlossen, uns andere bei der Verteidigung unserer Domänen zu unterstützen. Das Land Dhrall ist eine Einheit, mein Bruder. Wenn das Vlagh einen Teil davon erobert, sind wir alle in Gefahr. Ich zögerte. Fühlst du dich ein wenig besser, liebe Schwester?, fragte ich. Wir waren sehr besorgt, als du dich plötzlich entschieden hast, in deine Grotte zurückzukehren.
Nein, Dahlaine, erwiderte sie bissig. Ich fühle mich überhaupt nicht besser, aber Eleria hat mich gezwungen, mich der Welt des Chaos wieder zuzuwenden. Gezwungen? Sie ist ein kleines Mädchen, Zelana. Wie kann sie dich zwingen? Sie hat mir gesagt, wenn ich Veltan nicht helfen wolle, würde sie die Sache selbst in die Hand nehmen. Sobald sie diese niedliche Maske abnimmt, die sie ständig trägt, zeigt sich dahinter ihre ganze Grausamkeit. Sie hat mir keine Wahl gelassen. Ich denke, ihre Perle hat damit etwas zu tun. Das ist möglich, möchte ich mal sagen, räumte ich ein. Diese Edelsteine haben offensichtlich großen Einfluss auf die Träume der Kinder. Ashad hat jetzt auch einen bekommen, und ich bin sicher, der ist für seinen Traum verantwortlich. Was für einen Edelstein hat er?, wollte Zelana neugierig wissen. Einen schwarzen Achat. Ganz hübsch; Ashad hängt sehr daran. Ich glaube, einen schwarzen Achat habe ich noch nie gesehen. Wo hat er ihn gefunden? Hinten in der Höhle von Mama Gebrochener Zahn. Wer ist Mama Gebrochener Zahn? Die Bärin, die ihn gestillt hat, als er ein Säugling war. War es nicht gefährlich, den kleinen Jungen einer Bärin zu überlassen? Ich schüttelte den Kopf. Nein, eigentlich nicht, erwiderte ich. Bärinnen gebären während des Winterschlafs, und wenn sie aufwachen, saugen die Jungen oder spielen in der Höhle. Die Bärin liebt automatisch die Kleinen, die sie stillt, und so bestand für Ashad keine Gefahr. Mama Gebrochener Zahn hatte ihren kleinen Bären Langkralle schon geboren, als ich Ashad zu ihr in die Höhle brachte, und Ashad und Langkralle betrachten sich als Brüder. Ich sah mich um. Wo ist übrigens Eleria? Mit Yaltar auf der Wiese hinter dem Wald, teilte mir Rotbart mit. Pflanzerin passt auf sie auf. Und wer ist Pflanzerin? Diejenige, die den Frauen des Stammes beibringt, wie man Ackerbau betreibt, erklärte Rotbart. Die Frauen gehen zu ihr, wenn sie Probleme haben. Sie kann manchmal sehr direkt sein, aber sie hat eine genaue Vorstellung von dem, was sie tut. Du verheimlichst mir doch nicht etwas, Dahlaine?, fragte Zelana eindringlich. Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen, hebe Schwester. Ashads Traum war hinsichtlich der Invasion in Veltans Domäne sehr eindeutig, was die Geschöpfe des Ödlands betrifft, allerdings ging es darin auch um eine zweite Invasion, die nicht vom Ödland ausging. Dieser Angriff kam vom Meer. Das ist lächerlich, Dahlaine, spottete Zelana. Hat sich das Vlagh jetzt mit der Königin der Fische verbündet? Ich gebe lediglich wieder, was Ashad mir erzählt hat, Zelana. Wo ist Veltan? Wir sollten ihm berichten, was für Schwierigkeiten im Anzug sind. Er ist draußen in der Bucht, auf dem Schiff des Trogiten-Kommandanten Narasan, antwortete Rotbart. Langbogen kann dich mit seinem Kanu hinbringen, wenn du möchtest. Ich würde es ja selbst machen, aber ich bin im Augenblick beschäftigt. Gibt es Ärger? Gewissermaßen. Die Feuerberge haben Lattash zerstört, also baut der Stamm hier draußen ein neues Dorf. Es wird zwar nicht so hübsch sein, dafür ist es jedoch viel sicherer. Ich schaute mir die teilweise fertig gestellten Hütten in der Nähe des Strandes an. Die sehen ganz anders aus als jene in Lattash, beobachtete ich, doch irgendwie kommen sie mir bekannt vor. 33
Sollten sie auch, meinte Langbogen, schließlich sind es Nachbauten der Hütten, wie man sie im Norden deiner Domäne konstruiert. Das ist Teil eines ziemlich hinterlistigen Schwindels, großer Bruder, sagte Zelana und lächelte schwach. Die Männer von Häuptling Rotbarts Stamm glauben, die Feldarbeit sei >Frauensache< und damit unter ihrer Würde. Die Frauen brauchten jedoch Hilfe, um den Boden zum Pflanzen vorzubereiten, und Langbogens Häuptling Alter Bär erzählte, dass manche Stämme in deiner Domäne in einem riesigen Grasland leben, wo es keine Bäume gibt, und sie würden ihre Hütten aus Soden und nicht aus Ästen bauen. Die Männer von Rotbarts Stamm bauten ihre neuen Hütten hier wie gewohnt aus Ästen und saßen dann herum und erzählten sich Geschichten aus dem Krieg. Doch in einer windigen Nacht warfen diese beiden Männer hier die neuen Hütten um. Als die Sonne aufging, spazierten sie mit ernsten Gesichtern umher und behaupteten, Äste seien nicht stabil genug für Hütten in dieser Gegend, weil der Wind so stark wehe, und die Männer des Stammes sollten draußen auf der
Wiese Soden stechen. Die Frauen des Stammes konnten daraufhin pflanzen. So hat Rotbarts Stamm nun stabile Hütten und im Winter reichlich zu essen. Außerdem wurde niemand beleidigt. Sehr schlau, sagte ich bewundernd. Dann runzelte ich die Stirn. Ist Häuptling Weißzopf etwas zugestoßen?, fragte ich. Die Zerstörung von Lattash hat seine Seele in Mitleidenschaft gezogen, erklärte Rotbart traurig. Er wusste, der Stamm muss einen neuen Ort zum Leben finden, aber er fühlte sich nicht in der Lage, die Menschen dorthin zu führen, denn sein Kummer - oder vielleicht sogar sein Gram - hatten ihn so entkräftet, dass er keine Entscheidungen mehr treffen konnte. Das wurde ihm bewusst, und so legte er die Last auf meine Schultern. Ich wollte es zwar eigentlich nicht, aber er hat mir keine andere Wahl gelassen. Du wirst das schon schaffen, Häuptling Rotbart, machte ich ihm Mut. Ich habe bemerkt, dass Männer, die eigentlich keine Macht und Verantwortung übernehmen wollen, meist die besseren Anführer abgeben als jene, die nach solchen Stellungen streben. 34
Gehen wir zu unserem kleinen Bruder, Zelana. Er sollte einige Neuigkeiten erfahren, und die Zeit läuft beständig weiter. Langbogen führte meine Schwester und mich zum Strand, wo sein Kanu auf dem Sand lag. Zelanas Bogenschütze hat so etwas an sich, das ich Furcht einflößend finde. Dieser Mann mit dem freudlosen Gesicht führt schon fast seit seiner Kindheit Krieg gegen die Wesen des Ödlands, und die Diener des Vlagh zu töten ist zu seinem einzigen Lebenszweck geworden. Er ist ein grimmiger Mann mit wenigen Freunden und besitzt eine fast übermenschliche Selbstbeherrschung. Mir erschien es, als würden wir alle diesen Mann gern bei uns haben. Wenn alles gut ging, würden wir die Diener des Vlagh zurückschlagen, wann und wo immer sie eine unserer Domänen angriffen, doch aller Wahrscheinlichkeit nach würde das an der Existenz des Vlagh rein gar nichts ändern. Langbogen würde dieses Problem vielleicht eines Tages für uns lösen. Ein einziger vergifteter Pfeil könnte die Wesen des Ödlands zum Aussterben verdammen, und das war selbstredend unser letztendliches Ziel. Langbogen zog sein Kanu ins Wasser und hielt es fest, damit Zelana und ich einsteigen konnten, dann schob er es noch ein Stück in die Wellen und schlüpfte geschmeidig ins Heck. Ich glaube, unser kleiner Bruder ist an Bord von Narasans Schiff, sagte Zelana. Vermutlich, stimmte Langbogen zu. Er paddelte über die Bucht zu dem riesigen Trogitenschiff von Kommandant Narasan; an der Reling erwartete uns der junge Soldat mit Namen Keselo. Ist etwas passiert?, fragte er, als Langbogen sein Kanu längsseits anlegte. Eigentlich nicht, antwortete Zelana. Wir sind nur hergekommen, um unserem kleinen Bruder zu sagen, dass wir langsam an die Arbeit gehen müssen. Hat Eleria wieder geträumt? Nein, junger Mann, erklärte ich ihm. Diesmal war es mein kleiner Junge, Ashad, und in seinem Traum haben sich eigentümli35
ehe Ereignisse zugetragen. Wir hoffen, Veltan kann sie uns vielleicht erklären. Ich hielt kurz inne. Wenn ich die Sache recht bedenke, könntest du uns die Geschehnisse vielleicht noch besser erklären als Veltan. Warum kommst du nicht mit? Gern. Euer Bruder ist hinten in Kommandant Narasans Kabine am Heck. Ist Narasan bei ihm?, wollte Zelana wissen. Nein, werte Dame. Der Kommandant ist auf der Seemöwe und bespricht sich mit Kapitän Sorgan. Gut, sagte ich. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob Narasan sehr glücklich sein wird über die Ereignisse in Ashads Traum. Ist dein Kommandant vielleicht besonders religiös? Nicht, dass es mir je aufgefallen wäre, meinte Keselo. Ist das von Bedeutung? Darüber unterhalten wir uns gleich. Gehen wir zu Veltan. Gut, sagte der junge Mann, drehte sich um und führte uns zu dem verzierten, fast hausähnlichen Aufbau am Heck des Schiffes. Höflich klopfte er an die Tür. Herein, rief Veltan von innen. Keselo öffnete die Tür und ließ uns eintreten. Die Kabine war wesentlich besser eingerichtet, als ich es mir vorgestellt hatte. Sie ähnelte mehr einem Zimmer in einem Haus als einem Raum auf einem Schiff. Die Decke war zwar nicht sonderlich hoch, da die Seeleute das Dach der Kabine als Achterdeck benutzten, und es gab Stützbalken, so dass die Decke nicht über denjenigen zusammenbrechen konnte, die in diesem Raum schliefen. In der hinteren
Wand befand sich ein großes Fenster, damit die Insassen der Kabine einen hübschen Ausblick hatten. Alles in allem erschien mir das Ganze ein wenig übertrieben, ich entschied mich jedoch, mich dazu nicht zu äußern. Veltan saß an einem großen Tisch und betrachtete eine Karte. Stimmt etwas nicht? Mein kleiner Ashad hatte letzte Nacht einen dieser Träume, und wir haben wenigstens in einer Hinsicht Recht. Die Diener des Vlagh werden bald kommen, ließ ich ihn wissen. 36 Hat er dir verraten, wann genau? >Wann< kommt in diesen Träumen nie vor, Veltan, erklärte ich ihm- Das solltest du inzwischen begriffen haben. Kommen wir zu dem komplizierteren Punkt. Ashad hat mir von einer zweiten Invasion in seinem Traum erzählt, und diese gewissen Eindringlinge haben eigentlich keine Verbindung zu den Dienern des Vlagh. Wer waren sie dann? Soweit ich es feststellen konnte, handelt es sich um Trogiten, und sie wollten mit deinem Volk über Religion sprechen. Wie viel weißt du über jemanden namens Amar? Nicht sehr viel, großer Bruder, meinte Veltan. Narasan hat für den amaritischen Glauben nur Verachtung übrig. Damit steht er nicht allein, Veltan, mischte sich Keselo ein. Jeder im trogitischen Weltreich mit ein wenig Anstand oder Intelligenz verschmäht die amaritische Kirche. Der Klerus ist korrupt, gierig ohne Ende und kennt keinerlei Ehrgefühl. Wie jeder weiß, ist diese >Kirche< nicht mehr als eine Erfindung der Priesterschaft, um den einfachen Leuten des Reiches ihren Besitz abzuschwatzen. Das kommt mir irgendwie bekannt vor, warf Zelana ein. Unsere liebe Schwester hat auch Priester, die sich ähnlich benehmen. Ich zuckte mit den Schultern. Es macht sie eben glücklich, nehme ich an. Daraufhin sah ich Veltan an. Wo ist der Rest von Narasans Armee?, fragte ich. Wenn ich recht verstanden habe, waren die Männer, die er nach Lattash geführt hat, nur eine Vorhut. Der Hauptteil von Narasans Armee befindet sich noch im Hafen von Castano an der Nordküste des Reiches. Warum fragst du, großer Bruder? Die zweite Invasion in Ashads Traum muss etwas mit den Trogiten zu tun haben, denn >Amar< ist eine trogitische Erfindung. Das stimmt allerdings, räumte Veltan ein. Worauf läuft das alles hinaus, Dahlaine? Ich blickte Keselo fragend an. Wenn ich richtig verstehe, sind die meisten Männer in Narasans Armee ähnlicher Meinung über diese so genannte Religion. Ist es möglich, dass einige anders darüber denken, es jedoch für sich behalten? 37
Nicht nach dem, was letztes Jahr im Süden des Imperiums passiert ist, antwortete der junge Soldat. Wir haben zwölf Kohorten als direkte Folge eines Hinterhalts verloren, den wir zu einem hochrangigen Angehörigen des amaritischen Klerus zurückverfolgen konnten. Deshalb hat Kommandant Narasan das Schwert an den Nagel gehängt und ist ins Bettlergeschäft gewechselt. Wenn irgendwer in der Armee auch nur ansatzweise behaupten würde, die amaritische Kirche besäße etwas auch nur von Ferne an Anstand Erinnerndes, würden seine Kameraden ihn grün und blau prügeln. Trotzdem sollten wir die Möglichkeit nicht ganz ausschließen, dass es einen Anhänger gibt, Keselo, meinte Veltan mit besorgter Miene. Wie ich gehört habe, werden die Amariten beim Klang des Wortes >Gold< unglaublich gierig, und wenn ich mich recht entsinne, gab es eine ausgiebige Diskussion über Gold in der Kaserne von Kaldacin. Nur um des Spaßes willen könnten wir einmal annehmen, einige Soldaten eurer Armee hätten in einer Taverne in Castano zufällig das Wort >Gold< fallen lassen, und jemand, der den Amariten nahe steht, hätte es gehört. Würde das nicht die zweite Invasion in Ashads Traum erklären? Es passt einfach nicht recht zusammen, widersprach Keselo. Die amaritische Kirche möchte vielleicht gern im Land Dhrall Fuß fassen, um Gold und Sklaven zu erbeuten, aber sie müsste dazu ganz genau wissen, wie man durch das Treibeis kommt, und Gunda und Padan haben als Einzige Karten über diesen Teil des Meeres. Das stimmt, räumte Veltan ein, allerdings hat Narasan mir gesagt, er könnte hunderttausend Soldaten aufbringen. Da braucht man nur eine einzige undichte Stelle, und jegliche Geheimhaltung ist dahin. Darin liegt sicherlich der Ursprung der zweiten Invasion im Traum deines kleinen Jungen, Dahlaine.
Es wäre zumindest eine Erklärung dafür, stimmte ich zu. Dann sah ich wieder Keselo an. Was genau sind eigentlich >Sklaven