Seewölfe 130 1
Roy Palmer 1.
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Seewölfe 130 1
Roy Palmer 1.
Ein Feuerblitz stach hoch und schien den Himmel teilen zu wollen. Fette Rauchschwaden quollen vom Vordeck der Galeone des Portugiesen. Sie breiteten sich nach allen Seiten über die See aus. Dann zerbrach das Schiff unter der Wucht der Explosion. Das Feuer hatte die Pulverdepots erreicht und hielt dröhnende Ernte. Für kurze Zeit hörte Nakamura, der Japaner, auf zu schwimmen. Er trat Wasser, hob die Hände aus den Fluten und ballte sie. In seinen Augen loderte der Haß. Er stöhnte in ohnmächtiger Wut auf. „Seewölfe, Fong-Ch'ang“, stieß er hervor. „Das werdet ihr mir büßen. Mein Schwert wird euch durchbohren. Ich ruhe nicht eher, bis ich mich gerächt habe.“ Ein neuer Explosionsdonner rollte über die glatte Wasserfläche. Weit wirbelten die letzten Trümmerstücke der Piratengaleone, und Nakamura mußte sich in acht nehmen, um nicht getroffen zu werden. Fluchend zog er den Kopf ein. Vorläufig schien die Verwirklichung all seiner Drohungen und Schwüre in weite Ferne gerückt zu sein. Die „Isabella VIII.“ segelte über das Gelbe Meer davon, mit Kurs Nordwesten. Ein Feld der Verwüstung blieb hinter ihr zurück. Sie legte Distanz zwischen sich und die Überbleibsel der Schlacht, die noch vor einer halben Stunde erbittert getobt hatte. Das Heck des Schiffes mit der verzierten Galerie und der aufragenden Eisenlaterne am achteren Abschluß der Poop war ein majestätisches Monument im Mittagslicht. Philip Hasard Killigrew und Siri-Tong, die sich zur Zeit mit an Bord der großen Galeone befand, hatten nicht nur Khai Wang mit seiner Dschunke Fei Yen besiegt, sie hatten auch den portugiesischen Freibeuter Vinicio de Romaes zu den Fischen geschickt. Khai Wang und Wu, dessen Steuermann, befanden sich als Gefangene an Bord der „Isabella“.
Die verbotene Stadt
Vinicio de Romaes war im Kampf gegen Fong-Ch'ang und zwei Männer der „Isabella“ umgekommen. Nakamura, der als rechte Hand des Portugiesen gegolten hatte, war einer der wenigen Überlebenden von der Piratengaleone. „Der Fluch der Verdammnis trifft euch!“ rief Nakamura der „Isabella“ nach. Die Besatzung konnte ihn nicht mehr hören, aber das hinderte ihn nicht daran, immer neue Hasstiraden gegen die Erzfeinde auszustoßen. „Ihr werdet zerspringen und in den tiefsten Schlünden der Finsternis landen!“ schrie er. „Die Monstren des Jenseits werden euch verschlingen!“ Er hieb mit der Faust ins Wasser, daß es spritzte. Fast geriet er dabei aus der Schwimmlage und drohte mit dem Kopf unterzutauchen. Er prustete, trat wild mit den Füßen, brachte den Oberkörper nach vorn und schwamm weiter – dorthin, wo das Festland lag. Die Halbinsel Shantung befand sich nach seiner Schätzung höchstens sechzig chinesische Li entfernt, das entsprach rund sechzehn Meilen. Sehen konnte er die Küste allerdings nicht. Hinter Nakamura schwelten die Trümmer der beiden einst so gefürchteten Segler. Von der Galeone des Portugiesen gab es jetzt nur noch ein paar lächerliche Reste, und auch Fei Yen war fast völlig gesunken. Zwischen den Schiffsresten trieben die Toten, die mit ihrem Blut die Haie anlockten. Nakamura spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Ein eisiger Schauer rann über seinen Rücken. Die Angst griff nach ihm. Doch sein Haß war stärker. Er tobte in seinem Inneren. Nakamura hätte brüllen und heulen können, so sehr war er auf Vergeltung aus. Aber einen solchen Ausbruch verbot ihm doch die Beherrschung – jene Kraft des einsamen Samurais, die er tief in sich zu fühlen glaubte. Nakamura nahm sich gewaltig zusammen. Keinen Augenblick dachte er daran, daß Fong-Ch'ang ihn verschont hatte. Fong hätte ihn töten können. Aber er hatte Gnade vor Recht ergehen lassen und den
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Japaner nur von Bord der Galeone gejagt. Für den Mann aus Zipangu war dies die schimpflichste Art gewesen, sein Schiff zu verlassen. Für Nakamura gab es aber letztlich nur den einen Gesichtspunkt: Wenn Fong so dumm gewesen war, sich nicht für alles zu rächen, was ihm an Bord der Piratengaleone angetan worden war, so war das seine eigene Schuld. Er würde noch bereuen, so weich gewesen zu sein. Nakamura sah noch einmal zur „Isabella“. Sie entfernte sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Im Gefecht war sie zwar ramponiert worden, aber das beeinträchtigte ihre Seetüchtigkeit kaum. Mit prallen Segeln rauschte sie vor dem Südostwind dahin. Ihre Silhouette schrumpfte zusammen. Bald verschwand sie an der nordwestlichen Kimm. Nakamuras Blick wanderte weiter nach Westen. Er sah den Sampan, der von der Dschunke abgefiert und bemannt worden war. Natürlich war er schon vorher auf das Boot aufmerksam geworden. Nakamura hatte sogar die Hand gehoben und gerufen, aber die Insassen schienen ihn nicht bemerkt zu haben. Sie waren die Überlebenden und die Verletzten von Fei Yen, Auch hier hatten die Seewölfe ihre Menschlichkeit und Souveränität beweisen wollen. Sie schenkten den Piraten die Freiheit und brachten sie nicht um. Nakamura konnte darüber nur höhnisch lachen. Narren, dachte er. Wieder hob er eine Hand, winkte und schrie. Aber auch diesmal zeigte keiner der Männer im Sampan eine Reaktion. Nakamura fing wieder an zu fluchen. Jetzt begriff er. Diese Schufte wollten ihn nicht sehen und nicht auf ihn warten, weil sie ihren elenden Kahn schon zu voll geladen hatten. Verreckt, dachte Nakamura. Daß Uneigennützigkeit auch nicht zu seinen persönlichen Vorzügen zählte, zog er nicht in Betracht. Er sah die Dinge von einer anderen Warte aus.
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Wir haben diesen Hunden geholfen, und sie haben die Pflicht, uns in ihr Boot zu nehmen, dachte er. Plötzlich vernahm er einen Ruf. Er wandte den Kopf nach links und entdeckte zwei Männer, die auf ihn zuhielten. Sie befanden sich nur einen knappen Steinwurf entfernt. Er erkannte sie sofort. „Dschou und Lai!“ rief er. „Das gibt es doch nicht!“ Die beiden Chinesen grinsten und wiesen auf etwas, das sich westlich von ihnen deutlich aus den Fluten hochschob. Nakamura mußte warten, bis das Gebilde etwas näher herangeglitten war — dann stellte er fest, daß es sich um einen menschlichen Kopf handelte sowie zwei Arme, die ein Stück Planke umklammert hielten. „Tijang, der Uigure“, murmelte er. „Der schlechteste Schwimmer unserer Mannschaft. Daß du auch noch lebst, du Himmelhund!“ Er verhielt, trat wieder Wasser und gestikulierte zu den dreien hinüber. Tijang bewegte die Beine und rührte das Wasser mit den Füßen zu einem gischtenden Sprudel auf. Das war seine Art, sich im Naß fortzubewegen. Keinen Augenblick ließ er den Plankenrest los. Es wäre sein Untergang gewesen. Dschou und Lai hatten ihre Anstrengungen verdoppelt. Sie waren als erste neben dem Japaner, dann traf auch der Uigure ein. Die vier schwammen' nebeneinander her, dem Sampan von Fei Yen nach, und Nakamura sagte: „Wo sind die anderen?“ „Tot“, erwiderte Dschou. „Außer uns ist keiner von der Galeone entkommen.“ Nakamura stieß eine Verwünschung aus. „De Romaes ist von einem der Seewölfe, die schwimmend zu unserem Schiff gestoßen sind, umgebracht worden. Dann setzten diese Kerle auch mir höllisch zu. Warum seid ihr mir nicht zu Hilfe geeilt?“ „Wir waren auf dem Vordeck“, sagte der Uigure prustend. „Wir versuchten, den Brand zu löschen, aber es war sinnlos. Als wir dann Geräusche auf der Kuhl hörten, liefen wir hinunter.“
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„Da war es zu spät“, sagte Nakamura. „Fong und seine Spießgesellen hatten mich entwaffnet. Ich konnte mich in letzter Sekunde dem Tod entziehen.“ Wie die Dinge genau abgelaufen waren, verschwieg er wohlweislich. „Wir haben dich nicht springen sehen“, sagte Lai. „Bis eben wußten wir nicht, daß du dich gerettet hattest.“ „Habt ihr wenigstens gegen die drei Bastarde gekämpft?“ „Ja“, log Dschou. „Aber wir hatten keine Chance, weil sie sich Schußwaffen beschafft hatten. Wir hatten nur unsere Schwerter und Messer.“ In Wirklichkeit hatten Lai, Tijang und er es vorgezogen, sofort das Feld zu räumen, als sie gesehen hatten, wie Blacky, Sam Roskill und Fong auf der Kuhl aufgeräumt hatten —und wie weit der Brand auf der Galeone bereits fortgeschritten war. „Habt ihr noch Waffen?“ fragte Nakamura. Dschou nickte. „Jeder von uns hat noch sein Kurzschwert im Gurt stecken. Und ich habe ein Messer, das ich dir geben kann, Nakamura.“ Jetzt grinste der Japaner. „Sehr gut. Ausgezeichnet sogar. Wir müssen den Sampan der Dschunke erreichen. Um jeden Preis. Die Seewölfe haben unsere geschätzten Verbündeten abziehen lassen, aber Waffen haben sie ihnen bestimmt nicht mit auf den Weg gegeben.“ Dschou schaute zu dem davongleitenden Boot. Das schaffen wir nicht. Die sind schon zu weit weg. Und sie halten nicht an.“ „Ja“, erwiderte Nakamura. „Aber seht doch, was jetzt geschieht.“ Eine Wende bahnte sich an. Ein großer, bulliger Mann mit schulterlangem Zopf hatte sich an Steuerbord am Dollbord des Bootes festgeklammert und versuchte, ins Innere zu gelangen. Er zerrte mit solcher Gewalt an dem Boot, daß es fast zu kentern drohte. Die Piraten im Sampan schrien durcheinander. Der Bursche. der die achteren beiden Riemen bediente, hatte aufgehört zu pullen. Das Boot verlor schnell an Fahrt und verharrte in der See.
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Nakamura, Dschou, Lai und Tijang schwammen, so schnell sie konnten. Dschou brachte sich neben den Japaner, legte sich auf die linke Körperseite und zog das Messer, das er neben dem Kurzschwert im Leibgurt stecken hatte. Nakamura riß das Messer an sich. * Der bullige Chinese hieß Sui. Er war der Pirat von der Dschunke Fei Yen, der sich einen ausdauernden Zweikampf mit Ferris Tucker, dem rothaarigen Schiffszimmermann der „Isabella“, geliefert hatte. Fast hätte Sui diesen Gegner getötet. Zumindest ins Meer hatte er ihn befördert, aber dann war der Rothaarige sehr rasch wieder aufgetaucht, hatte ihm das Schwert bis auf einen lächerlichen Klingenstummel verkürzt und ihn zu den Haien geschickt. Die Haie! Sui wußte, daß sie da waren. Noch umkreisten sie die Stätte des Gefechts. Aber ihre Bahnen wurden immer enger, bis sie den ersten Toten erreicht hatten und ihre Gier in einen Rausch ausartete. Sui hing sich mit seinem ganzen Körpergewicht an den Sampan. Das Boot schwankte wie verrückt, seine Insassen schrien und fluchten, und der Ruderer traf Anstalten, Sui einen Riemen über den Schädel zu ziehen. Sui rollte mit den Augen. „Laßt mich 'rein!“ brüllte er. „Helft mir! Ich bin doch einer von euch —habt ihr den Verstand verloren?“ Der Ruderer hatte einen der hölzernen Riemen gehoben und ließ ihn jetzt niedersausen. Schwer krachte die kantige, mörderische Waffe nieder. Aber Sui war auf der Hut. Mit erstaunlicher Geschicklichkeit wich er aus, und der Riemen traf das Dollbord. Sui packte den Riemen mit der linken Faust, während er sich mit der Rechten weiterhin festhielt. Er hatte Berge von Muskeln, und es bereitete ihm kaum Mühe, den Riemen hochzustemmen und gegen die Brust des Ruderers zu stoßen.
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Der Kumpan am Bootsheck stöhnte auf, rutschte aus und knallte mit seinem Gesäß auf die Achterducht. Fast ging er außenbords. Sui brüllte vor Wut. Die anderen Piraten fingen an, mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen. Er wehrte sich, warf zwei, drei von ihnen nieder und versuchte jetzt, das Boot tatsächlich zum Kentern zu bringen. Seine Mitstreiter von Fei Yen, der einst so stolzen und gefürchteten „Fliegenden Schwalbe“, schrien und brüllten wie die Besessenen. Aber sie waren nicht übergeschnappt, wie er anfangs angenommen hatte, nein —sie gingen bei ihrem Handeln nur von ganz vernunftsmäßigen Erwägungen aus. Der Sampan war voll. Fünf gesunde Piraten und sechs Schwerverletzte, von denen einer im Gefecht ein Bein eingebüßt hatte, waren zusammengepfercht worden. Das war genau ein Mann mehr als das Höchstmaß dessen, was der Sampan eigentlich fassen konnte. Und jetzt auch noch Sui! Es war schon so viel zu eng in dem einfachen Sampan ohne Zeltaufbau. Die Schwerverwundeten lagen fiebernd und stöhnend zwischen den Duchten. Sie waren ihren unversehrten Kumpanen ein Klotz am Bein. Richtig bedenklich wurde die Lage aber erst jetzt, als Sui, der Koloß, das Boot zum Kentern zu bringen drohte. Der Ruderer hatte sich wieder aufgerappelt. Gemeinsam mit den anderen vier Unverletzten setzte er alles daran, Sui in die See zurückzustoßen und Reißaus zu nehmen. Aber Sui ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Er hieb um sich, mit nur einer Faust, und ließ mit der anderen Hand den Bootsrand nicht los. Immer wieder schlug er die Männer nieder und rüttelte an dem Fahr zeug. Er war außer sich vor Wut. Aber er begriff auch, daß es keinen Zweck hatte, wenn er den Sampan umwarf. Zwar landeten die feinen Kameraden dann alle im Wasser, aber — so kräftig er auch war — er schaffte es nicht, den Sampan allein wieder aufzurichten.
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Also strengte er sich an, übers Dollbord ins Bootsinnere zu gelangen. Das verwirrte Gesicht eines Verwundeten tauchte vor ihm auf. Aus glänzenden Augen blickte dieser Mann ihn an. Zwei knochige Hände schossen hoch, um Suis Hals zu umklammern. „Fort“, keuchte der Verletzte. „Du bringst uns alle um. Ich will nicht sterben. Nicht — zu den Haien ...“ „Hund“, würgte Sui hervor. Sein Hals war breit und gedrungen, und es gehörten schon ausgesprochen lange Finger dazu, ihn überhaupt zu umspannen. Doch der Verwundete konnte es, und er brachte erstaunlicherweise auch die Kraft auf, zu pressen Und Sui zu würgen. Panik und Verzweiflung verliehen dem Mann im Boot die erforderlichen Energien. Sui ließ den Bootsrand los. Er griff sich den einstigen Kumpan mit beiden Händen, er mußte es tun, sonst war er verloren. Wild zerrte er ihn aus dem Sampan. Ein hagerer Körper, in Lumpen gehüllt, klatschte in die Fluten. Sui drückte den Verletzten von sich. Die Finger lösten sich von seinem Hals. Erbarmungslos stieß Sui den Mann unter die Wasseroberfläche. Immer tiefer, bis dessen Bewegungen erlahmten und er langsam den lauernden Haien entgegentrieb. Der Ruderer hatte wieder die Riemen in die Dollen befördert und schickte sich an loszupullen. Sui schwamm. Es gelang ihm, sich von neuem an Steuerbord zu bringen, bevor der Sampan Fahrt aufnehmen konnte. Er schoß neben der Bootswand hoch, drosch auf alles ein, was sich vor ihm regte — und enterte schließlich mit verzerrter Miene auf. Er ließ sich auf die mittlere Ducht sinken, ein triefender Gigant. Niemand rührte ihn an. Sie wagten es nicht mehr. Die. Kumpane von der Dschunke standen und hockten nur reglos da und starrten ihn voll Entsetzen an. Er musterte sie. Sein Blick war von tödlicher Kälte. Allmählich entblößte er seine Zähne.
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„Ich könnte euch alle umbringen“, knurrte er. „Keiner von euch hat eine Waffe, und in mir steckt genug Kraft, euch einen nach dem anderen zu zerbrechen. Aber ich tue es nicht. Ich brauche Kerle, die mich zum Land bringen, und eine Besatzung für das neue Schiff, das ich mir suchen werde. Das Kommando gehört mir. Ich bin der Kapitän, verstanden?“ Sie nickten stumm. Sui wandte sich zu dem Ruderer um. Dem Burschen wurden plötzlich die Knie weich. „Auf was wartest du?“ fuhr Sui ihn an. Da packte der Mann die beiden Riemen und stemmte sich dagegen. Sui hockte mit aufgestützten Armen und atmete schnaufend. Sein Blick glitt über die Schwerverletzten. Fünf waren es noch. Unnützer Ballast, dachte er verächtlich, wer nicht mehr gesundet, den werde ich mir vom Hals schaffen. Der einzige, der auf Fei Yen dem Haufen wilder Kerle noch halbwegs menschliche Anwandlungen entgegengebracht hatte, war der Feldscher gewesen. Er hatte die sechs Schwerverletzten sogar vor Khai Wang in Schutz genommen, als dieser alle Kampfuntauglichen kurzerhand außenbords hatte werfen wollen. Doch der Feldscher lebte nicht mehr. Auch er war in dem Kampf gegen die „Isabella“ auf der Strecke geblieben. Sui bewegte den bulligen Schädel und hielt nach den Rückflossen der Haie Ausschau. Plötzlich senkte er den Kopf ein wenig und verengte die Augen. Da, dort waren sie — zwei, und sie strichen lautlos auf die Stelle zu, an der Sui den Kumpan ertränkt hatte, der ihn gewürgt hatte. Die stille Szene belegte Sui fast mit einer Art Bann. Kaum mochte er sich von dem Anblick lösen. Dann wanderte sein Blick jedoch weiter nach achtern, und er entdeckte die vier Gestalten, die rasch auf das Bootsheck zu glitten. Einer hielt sich mit den Händen an einem Plankenrest fest. Er stieß das Stück Holz vor sich her und bewegte die Beine auf und ab.
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Sui erkannte den Japaner. Dessen Gesicht war ihm von einer früheren Begegnung her in Erinnerung geblieben. „Nakamura“, sagte Sui laut. „Wenn, du glaubst, daß ich dich und deine drei Kerle aufnehme, hast du dich geirrt.“ Er winkte dem Ruderer herrisch zu. „Pull auf die Küste zu, du Hund, oder du lernst mich kennen. Schneller, verdammt noch mal, schneller!“ Gewiß, Sui hätte Nakamura helfen können. Der Sampan war zwar überladen, aber Sui war skrupellos genug, um schnelle Abhilfe zu schaffen. Er hätte es fertiggebracht, die fünf Schwerverletzten der See zu übergeben. Auf diese Weise hätte es für den Japaner und seine drei Begleiter genügend Platz gegeben. Aber da war noch etwas anderes. Sui traute Nakamura, Dschou, Lai und Tijang nicht über den Weg. Wenn Sui schon nicht mit den eigenen Kumpanen in friedlichem Einvernehmen stand - wie konnte er sich da mit den Leuten von de Romaes zusammentun? Sie gehörten nun mal nicht zu Fei Yen. Daß sie mit ihrer Galeone in den Kampf gegen die Seewölfe eingegriffen hatten, war für Sui auch von höchst nebensächlicher Bedeutung. Hatten sie denn etwas ausrichten können? Im Gegenteil. Sie hatten schmählich versagt. Sie waren Versager. Was wollten sie also noch? Sui war heilfroh, wenn er selbst noch bei Tageslicht das Festland erreichte. Er verzog seine breiten Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. „Ersauft, ihr taugt ja doch zu nichts. Die Haie werden sich freuen.“ Aber Nakamura, Dschou, Lai und Tijang waren schneller heran, als er gedacht hatte. Zuviel Zeit war durch den Kampf Suis mit seinen Kumpanen verlorengegangen, und zu wenig Aufmerksamkeit hatten sie alle den Heranschwimmenden geschenkt. Jetzt tauchten die vier, schoben sich wieder mit Köpfen und Oberkörpern aus dem Wasser - und waren rechts und links neben dem Sampan. Sie klammerten sich fest.
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Sui unternahm eine Gebärde zu dem Ruderer hin. Der Bursche sollte wieder die Riemen zum Einsatz bringen, um die lästigen Verfolger zu verscheuchen. Ein paar Hiebe auf die Finger dieser Kerle, und sie würden schon von dem Sampan ablassen. Aber dann sah Sui zu seinem Entsetzen, wie in Nakamuras Hand ein Messer aufblitzte. 2. Der Seewolf hatte Kurs auf die Meerenge genommen, die sich zwischen der nördlich gelegenen Halbinsel Liaotung und der Halbinsel Shantung im Süden erstreckte. Bald würden sie den Golf von Chihli erreicht haben. Hasard dachte nur an das, was vor ihnen lag. Von der Tragödie, die südlich der „Isabella“ ihren Lauf nahm, ahnten weder er noch seine Männer etwas. Außerdem wurden die Seewölfe, SiriTong, Ch'ing-chao Li-Hsia und FongCh'ang viel zu sehr durch die Ereignisse an Bord in Anspruch genommen, um Mutmaßungen über das Schicksal der überlebenden Piraten anstellen zu können. In der Vorpiek war plötzlich der Teufel los. Matt Davies und Luke Morgan hatten laut Edwin Carberrys Befehl vor dem Schott des finsteren Lochs im Vordeck Posten bezogen. Als hinter dem Schott das Poltern, Scharren und Keuchen einsetzte, blickten sie sich an. Das Sonnenlicht drang nur schwach durch ein paar Ritzen bis in den Gang vor der Vorpiek, aber Luke Morgan sah trotzdem das Grinsen, das auf Matts Zügen erschien. „Hört sich ganz nach einer Keilerei an“, sagte Matt. „Oder?“ Luke erwiderte trocken: „Witze erzählen sich die beiden bestimmt nicht.“ „Khai Wang ist zu sich gekommen.“ „Aber wieso schlägt er sich mit seinem Steuermann?“ „Das weiß der Henker“, erwiderte Matt achselzuckend. „Auf jeden Fall wäre es besser gewesen, wenn wir sie gefesselt hätten.“
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Luke schüttelte den Kopf. „Du weißt doch, was Hasard angeordnet hat. Er legt einem Gefangenen erst Armbänder an, wenn der Kerl sich aufsässig gebärdet oder sonst wie üblen Mist baut.“ „Fair“, meinte Matt. „Aber zu menschlich für Hunde wie Khai Wang und Wu. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn Hasard Siri-Tong nicht gebremst hätte. Sie hätte Khai Wang und Wu doch am liebsten gleich an Bord der Dschunke niedergestochen. Nun hör dir das an!“ Das Rumoren in der Vorpiek hatte zugenommen. Dumpfe Schläge ertönten, chinesische Flüche, Kratzen, Rumpeln und das Treten nackter Füße gegen Planken und Schott. „Was tun wir?“ fragte Luke. „Lassen wir die Halunken raufen? Es ist ja zu ihrem eigenen Schaden, nicht zu unserem.“ „Wir sollen jedes Vorkommnis melden, hat Carberry gesagt.“ Matt sah den Kameraden mit gerunzelter Stirn an. „Wir haben unsere klaren Anweisungen. Hast du das vergessen?“ „Nein. Ich finde nur, ein paar Beulen und Schrammen stehen den beiden Kerlen dort drinnen ganz gut.“ Luke wies auf das Schott. „Ganz meiner Meinung. Aber wenn der Profos nachher sieht, wie hübsch blau und rot diese Dellen schillern, fragt er uns doch, ob wir das nicht gehört und warum wir ihm nicht Bescheid gesagt haben“, sagte Matt Davies. „Auch wahr.“ „Also. Ich gehe jetzt 'rauf.“ Matt wandte sich dem Niedergang zu. Luke hielt ihn am Arm fest. „Hör mal. Sollten wir die beiden Kerle nicht lieber vorher zur Räson bringen?“ „Luke, es ist besser, wenn wir dazu Verstärkung holen. Carberry hat uns doch auch das eingeschärft. Sag mal, leidest du an Gedächtnisschwund oder so?“ „Ach, Quatsch. Es ist bloß lächerlich, daß wir auch noch Hilfe brauchen, um diese verdammten Gelbmänner zu bändigen. Mit denen werden wir auch allein fertig.“ „Nein.“ „He, wie war das?“
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„Khai Wang und Wu sind zusammen gefährlicher als die ganze Piek voll Schlangen“, sagte Matt Davies ruhig. „Denk daran. Hasard traut uns eine Menge zu, aber er weiß, warum er solche Befehle gibt. So, und jetzt dampfe ich ab, bevor einer von denen den anderen umbringt.“ Er wandte sich zum Niedergang. Durch das Krachen und Poltern in der Vorpiek konnte Luke Morgan kaum noch vernehmen, wie Matts Schritte hastig auf den Stufen nach oben trappelten. * Die Vorpiek war der untereste, engste Raum im Vorschiff der „Isabella“. Ihre Wände liefen in spitzem Winkel auf den Vorsteven zu. Unter der hölzernen Gräting schwappte übelriechendes Bilgewasser, und bei jeder Abwärtsbewegung des Bugs in der Dünung ergoß es sich durch die Gitterkonstruktion in den vorderen Bereich des Verlieses, während es beim Hochschwingen des Vorschiffs wieder nach achtern ablief. Nur eine flache Dünung kräuselte das Gelbe Meer, doch sie genügte, um die große Galeone leicht vorund zurückschwingen zu lassen. Das beständige Auf und Ab war der Rhythmus, mit dem sie vor dem Südostwind dahinrauschte. Die Enge, das patschende Bilgewasser und die Ratten, die in diesem Bereich des Schiffes hausten, verwandelten die Vorpiek in eine Art Vorhof zur Hölle. Hier war schon so mancher harte Kerl weichgeklopft worden, denn schon nach einem Tag konnte das Eingesperrtsein in dem finsteren Loch unerträglich werden. Von diesem seelischen Tiefpunkt waren Khai Wang und Wu zur Zeit jedoch noch weit entfernt. Khai Wang holte soeben wieder aus und hieb seinem Steuermann die Faust gegen die Schulter. Sofort setzte er mit der anderen Hand nach und drosch ihm die spitzen Knöchel unters Kinn. Wu flog mit einem schwachen, ächzenden Laut in Richtung Vorsteven. Er stieß sich den
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Kopf an der flachen Decke, krümmte sich und ging zu Boden. Es klatschte, als er in dem hereingurgelnden Bilgewasser landete. Von dem Gestank wurde Wu fast übel. Er lag für Sekunden mit weit von sich gestreckten Beinen da, ein zerschundener Bursche, klein, drahtig und verschlagen und nur scheinbar am Ende. Khai Wang rückte mit erhobenen Händen auf ihn zu. Er war in diesem düsteren Loch zu sich gekommen, hatte aber sofort und ohne Wu zu fragen begriffen, auf welchem Schiff er sich befand. Nur zu deutlich war ihm die Niederlage in Erinnerung - wie der Seewolf ihn im Degenduell geschlagen und ihm dann die Faust unter die Kinnlade geschmettert hatte. Alle aufgestaute und jetzt brausend aufsteigende Wut entlud Khai Wang in seinem jähen Angriff auf Wu. Schon auf Fei Yen waren sie aneinandergeraten, weil Wu Khai Wang hatte überreden wollen, den Kampf abzubrechen und das Weite zu suchen. Khai Wang hatte seinen Steuermann am Kolderstock niedergeschlagen. Aber diesmal hatte Wu sich zur Wehr gesetzt. Khai Wang blieb vor ihm stehen. Geschickt balancierte er die Schiffsbewegungen in den Knien aus. „Steh auf“, fuhr er den drahtigen Kleinen an. „Ich weiß, daß deine Schwäche nur vorgetäuscht ist. Du willst mich überlisten und mir wie eine Wildkatze ins Gesicht springen. Aber ich kenne dich zu gut, Wu. Mir gaukelst du nichts vor - du Verräter.“ „Narr!“ zischte Wu. „Größenwahnsinniger! Du hast uns alle ins Unglück gestürzt. Wegen deines idiotischen Stolzes.“ „Schweig!“ „Dein Haß kannte keine Grenzen, und du dachtest, einen Gegner wie den Seewolf schlagen zu können“, fuhr Wu fort. „Weit gefehlt - und es kostet uns alle den Kopf. Zum Großen Chan in die Verbotene Stadt will er uns schleifen, der Hund. Und was wird man dort mit uns tun?“
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„Darauf erhältst du keine Antwort!“ schrie Khai Wang in die stickige Luft der Piek. „Denn du wirst Peiping, die nördliche Hauptstadt, niemals erreichen. Mit diesen Händen bringe ich dich um. Das verdient ein räudiger Hund, der winselnd und mit eingezogenem Schwanz vor dem Feind flieht.“ Wu konnte die gegen ihn erhobenen Hände des Piratenführers nur ganz schwach erkennen. Von Khai Wangs verkrampften Zügen sah er nichts, ebenso wenig sah er in der Dunkelheit das zerfetzte Gewand seines Gegenübers, unter dem die Tätowierungen bei normalen Lichtverhältnissen nun gut zu erkennen gewesen wären. Wu genügte es, einwandfrei zu orten, wo der Kerl stand. Als die „Isabella“ wieder ihr Heck in die See senkte und den Bug anhob, schoß der kleine Chinese hoch. Er sprang vor, fegte über die nasse, glitschige Gräting und warf sich Khai Wangs Beinen entgegen. Er umklammerte sie, entging den Fäusten, die seinen Rücken zu treffen versuchten, und riß Khai Wang um. Wu stieß einen Triumphschrei aus. Khai Wang gab eine lästerliche Verwünschung von sich. Sie balgten sich, wälzten sich ineinander verkeilt von Backbord nach Steuerbord und wieder zurück, prallten gegen das Schott, rutschten über die Gräting. „Ich töte dich!“ brüllte Khai Wang. „Ich zerreiße dich!“ heulte Wu. „Deinetwegen haben wir den Kampf verloren!“ „Es ist deine Schuld! Und du hast dafür verdient, was allen unfähigen Schwächlingen gebührt!“ „Ratte!“ schrie Khai Wang. Er kämpfte sich frei, boxte dem Widersacher in die Seite und wollte noch einmal zuschlagen. Aber Wu rollte sich fort, sprang auf, wirbelte herum und warf sich erneut auf dem Mann, den er jetzt wie die Pest haßte. Sie rangen miteinander, und was sie sich gegenseitig zubrüllten, waren keine Übertreibungen. Khai Wang wollte Wu tatsächlich mit den Händen umbringen. Und auch Wu hatte keinen größeren
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Wunsch, als seinen einstigen Kapitän ins Jenseits zu befördern. * Hasard war bei Rudergänger Pete Ballie gewesen und trat gerade aus dem Ruderhaus aufs Quarterdeck, als Matt Davies aus dem Steuerbordschott des Vordecks stürmte. Matt rief Carberry etwas zu, was der Seewolf nicht verstand. Aber Hasard konnte sich auch so denken, um was es ging — es gehörte kein Scharfsinn dazu. „Ed, Matt!“ rief er ihnen zu. „Spielen unsere Gefangenen etwa verrückt?“ „Ja, Sir“, erwiderte der Profos. Hasard trat vor und legte die Hände auf die Schmuckbalustrade, die den Querabschluß des Quarterdecks zur Kuhl bildete. „Stenmark und Batuti, ihr schließt euch Matt an und geht als Verstärkung mit zur Vorpiek runter. Bringt Khai Wang und Wu zur Vernunft.“ „Die schlagen sich wie die Irren!“ rief Matt Davies. „Vorsicht, das kann auch ein Trick sein“, warnte Carberry. „Diese Bastarde sind zu allem fähig.“ Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Glaube ich nicht. Schon auf der Dschunke haben sie sich in der Wolle gehabt. Wir trennen sie. Der eine bleibt in der Vorpiek, den anderen steckt ihr ins Kabelgatt.“ Stenmark und Batuti waren zu Matt gestoßen. Alle drei rückten nun auf das Steuerbordschott des Vordecks zu, riefen ihr „Aye, aye, Sir!“ und verschwanden. Hasard blieb an der Schmuckbalustrade stehen und blickte zu Carberry. Tiefe Falten standen auf der Stirn des Profos', seine Augenbrauen waren zusammengezogen. Er traute der Sache nicht. Sir John, der karmesinrote Aracanga, streckte seinen Kopf zum Profoswams heraus. Wieder einmal hatte er sich an Carberrys Brust zusammengekuschelt und seinen Mittagsschlaf gehalten. Aber jetzt hatte ihn das Rufen der Männer geweckt. Die Luft roch nach Verdruß. Sir John
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wollte einen unpassenden Kommentar abgeben, aber da packte der Profos ihn bereits und stopfte ihn ins Wams zurück. „Halt den Schnabel, du gerupfter Zwerghahn“, sagte Carberry dumpf. Hölle, er hätte zu gern gewußt, was dort unten lief. Sollte er auch nach dem Rechten sehen? Nein. Davies, Morgan, Stenmark und der Gambia-Neger genügten als Ordnertrupp. Wenn er, Carberry, sich da auch noch einmischte, riskierte er glatt, von den vieren angeödet zu werden. Also wartete er ab. Siri-Tong war vom Achterdeck aufs Quarterdeck hinuntergestiegen und trat neben den Seewolf. Sie warf ihm einen knappen Seitenblick zu, aber Hasard registrierte ihn nicht. Die Korsarin wandte ihr Gesicht nach vorn, dann stand sie völlig reglos da. Fong-Ch'ang hatte sich auf der vorderen Kuhlgräting niedergelassen und unterhielt sich angeregt mit dem Mädchen Ch'ingchao Li-Hsia. Als Matt erschienen war, hatten sie beide aufgeschaut und ihre Unterhaltung abgebrochen. Jetzt aber tauschten sie wieder ihre Gedanken aus, weil der Zwischenfall im Vordeck kaum weitere Beachtung zu verdienen schien. Matt, Stenmark und Batuti hatten unterdessen den Gang vor der Vorpiek erreicht. Luke Morgan trat auf sie zu, grinste ein bißchen und sagte: „Na, dann wollen wir mal, was? Unsere lieben Freunde zerfleischen sich sonst.“ Gemeinsam schoben sie sich auf das Vorpiekschott zu. Drinnen hatte das Gepolter immer noch nicht ausgesetzt. Matt zerrte den dicken Eisenriegel zur Seite, Luke stand hinter ihm. Stenmark und Batuti flankierten das Schott, bereit, bei Bedarf sofort zuzupacken. Die Schußwaffe zog keiner von ihnen. Auch die Entermesser und Dolche ließen sie in den Gurten stecken. Matt zog das Schott auf. Es knarrte und schwang zum Gang hin auf. Batuti, der rechts stand, trat einen Schritt zurück, um
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nicht durch die Bohlentür verdeckt zu werden. Matt und Luke drangen in die Vorpiek ein und sahen die beiden Gestalten, die sich wie Raubkatzen auf dem Boden wälzten. „Ich sag's ja, Menschlichkeit zahlt sich nicht aus“, knurrte Matt. „He, ihr zwei, hört mit der Balgerei auf. Ihr habt sie ja nicht alle. Los, steht auf, klopft euch den Gestank aus den Klamotten und seid wieder brav.“ „Die verstehen dich nicht“, erklärte Morgan. „Tja“, meinte Matt. „Aber gleich kapieren sie bestimmt. Paß mal auf.“ Er trat noch einen Schritt auf die Zankhähne zu, bückte sich und traf Anstalten, sie zu trennen. Es stimmte: Khai Wang und Wu waren nur ihrer Muttersprache mächtig, sie verstanden kein Wort von dem, was die beiden Engländer gesagt hatten. Und noch etwas stand fest: Auch die letzte Phase ihres Zweikampfes hatten die beiden keineswegs vorgetäuscht. Nach wie vor war es ihr voller Ernst, sich gegenseitig umzubringen. Erst in diesem Augenblick, als Matt Davies über ihnen war, beschlossen die beiden Piraten blitzschnell, die Gelegenheit zu nutzen. Matt packte Khai Wangs Arme, hielt sie fest und zog sie langsam zurück, so daß der Kerl nicht mehr auf seinen kleinen, heimtückischen Steuermann einschlagen konnte. Alles in allem war Khai Wang, der sich den Beinamen „Geißel des Gelben Meeres“ erworben hatte, ein stinkendes, zerlumptes Bündel Mensch. Wu wollte Khai Wang an die Gurgel, aber jetzt war auch Luke Morgan heran und blockte dessen Attacke ab. „Aufhören“, sagte Luke. „He, Batuti und Stenmark! Paßt bloß auf, daß die Kerle uns keine Scherereien bereiten.“ Der Schwede und der Schwarze rückten daraufhin in die Öffnung des Schotts vor. Ihre mächtigen Körper hatten in der Luke kaum Platz, sie bildeten eine dichte, lebende Barriere. Wu riß plötzlich seine Arme nach unten weg. Er gewann etwas Spielraum und
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schlug seinen Profit daraus, indem er sich herumwarf, die Arme ganz befreite und seinen mageren, aber immer noch energiegeladenen Körper gegen Luke Morgan katapultierte. Luke war auf alles vorbereitet — und doch überrascht. Dieser Sekundenbruchteil Verwirrung genügte Wu. Er riß Luke mit sich auf Stenmark und Batuti zu. Der Mann aus Gambia trat mit einem Fluch auf den Lippen vor, packte zu und kriegte Luke zu fassen, weil Wu gedankenschnell nach unten weggetaucht war. Stenmark wollte Wu bremsen, geriet aber mit dessen wirbelnden Beinen ins Gehege. Wu schoß wie eine der Ratten, die diesen üblen Raum als ständigen Aufenthaltsort gewählt hatten, quer durch die Piek aufs Schott zu und tat alles, um Luke, Batuti und Stenmark zu Fall zu bringen. Schon öffnete sich eine Lücke, durch die Wu schlüpfen wollte. Aber Matt Davies tat in diesem Moment genau das Richtige. Er ließ Khai Wang los, fuhr herum und hechtete dem drahtigen chinesischen Piraten nach. Haarscharf schoß Matt an Batuti vorbei, ein kleiner Ruck des Negers nur, und Matt hätte Wu nicht erreicht, sondern wäre mit dem schwarzen Kameraden zusammengestoßen. Aber Batuti kippte gerade zur anderen Seite hin und strauchelte über Lukes ausgestrecktes Bein. Im Grunde war es eine glückliche Fügung. Matt landete nämlich mit der ganzen Wucht seines Körpers auf dem aalglatten Wu. Er warf ihn zu Boden, daß es krachte. Wu ächzte unter dem Mann mit der Hakenhand und wurde richtig zusammengestaucht. Stenmark hatte geschaltet, war an Batuti vorbeigestolpert und hatte sich Khai Wang zugewandt. Er streckte grimmig die Faust nach dem Kerl aus. „Eine Bewegung, und ich schlag dich nieder“, drohte er. Khai Wang verstand es zwar nicht, aber es hatte auch so den Anschein, als wage er keinen Widerstand. Apathisch kauerte er da. Matt hatte große Lust, Wu die Hakenprothese kurz über den Rücken zu
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ziehen. Aber er beherrschte sich. Die Seewölfe mißhandelten keinen Gefangenen — und wenn er auch noch so hinterhältig auftrat. Als Matt sich aber wieder von dem kleinen Kerl erhob, entwickelte Wu sofort neue Aktivitäten. Er zuckte, krümmte sich und versuchte, Matt einen gemeinen Hieb in den Unterleib zu versetzen. Erbost brüllte Matt auf. Batuti und Luke Morgan fuhren herum und wollten sich gleichzeitig auf den Steuermann von Fei Yen stürzen. Khai Wang rührte sich immer noch nicht. Stenmark beging in diesem Augenblick den Fehler, nach Wu und den drei Kameraden zu schauen. Batuti wollte Wu die Faust in den Nakken hauen, aber Luke Morgan hielt den schwarzen Herkules zurück, weil er befürchtete, er würde den Chinesen durch zu große Wucht töten. Wu schnellte hoch und war vor dem offenen Schott. Neben Stenmark federte nun auch Khai Wang hoch. Die Entwicklung ließ sich nicht mehr aufhalten: Stenmark wollte Khai Wang zwar sofort stoppen, aber der Pirat entging mit bewundernswertem Geschick seinen Fäusten. Er huschte Wu nach. Matt war nicht schnell genug wieder auf den Beinen. Dafür stürzten Batuti und Luke an ihm vorbei, und diesmal war es der Gambia-Neger, der einen wahrhaft akrobatischen Satz unternahm. Jawohl, er kriegte Wu zu fassen und brachte ihn wieder zu Fall. Er hielt die Fußknöchel des kleinen, wehrhaften Burschen fest, und Wus Aufprall auf den Planken klang wie das Hinknallen eines Brettes. Zur selben Zeit war Khai Wang an Matt Davies und dem verdutzten Luke Morgan vorbei. Er raste aus der Vorpiek, war neben Batuti, aber Batuti schickte Wu gerade mit einem gezielten Fausthieb ins Reich der Träume. So ergab sich das Ungeheuerliche - Khai Wang. gelangte an den Niedergang und jagte die Stufen hoch. Seine Gestalt entzog sich den Blicken der vier Seewölfe. Matt und Luke fluchten, Stenmark drängte sich mit einem wilden, heiseren Schrei an ihnen
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vorbei und schloß sich Batuti an. Beide hetzten dem flüchtenden Piraten nach. 3. Der Mann, der den Sampan vorangepullt hatte, wollte mit dem einen Riemen auf Nakamura eindreschen. Aber sein Vorhaben wurde im Ansatz vereitelt durch den Japaner selbst. Nakamura warf sein Messer. Es traf den Ruderer genau in die Mitte seiner Brust. Während er den Riemen noch erhoben hielt, gab der Mann ein ersticktes Röcheln von sich. Er wankte, verlor den Riemen und griff sich im Zur-Seite-Kippen mit beiden Händen an die Brust. Der Riemen landete mit einem lauten Klatscher im Wasser. Niemand versuchte, ihn wieder aufzufischen, alle Augen hatten sich in diesem Moment auf den Ruderer gerichtet. Der Pirat griff ans Messer, das bis zum Heft in seiner Brust steckte. Zunächst wirkte es so, als wolle er sich die Mordwaffe aus dem Leib ziehen, aber das war eine Täuschung. Seine Reaktion hatte eher etwas Reflexartiges, das war alles. Er kippte nach Backbord aus dem Boot. Der Sampan schwankte wieder bedrohlich. Der Tod des Ruderers war das auslösende Signal für einen einzigen Aufschrei seiner Kumpane. Die vier übriggebliebenen Gesunden sprangen von den Duchten auf und hieben mit den bloßen Fäusten auf Nakamura und seine Begleiter ein. Nur das Messer des Japaners hatten sie gesehen, und sie glaubten, es wäre die einzige Waffe der Angreifer gewesen. Nur Sui saß unbeweglich da. Er unternahm keinen Versuch, sich die Männer der deRomaes-Galeone vom Hals zu halten. Jetzt nicht mehr. Er hatte bereits begriffen. Eine große geistige Leuchte war er nie gewesen, aber der Instinkt des erfahrenen Kämpfers sagte ihm sofort, daß Nakamura keine halben Sachen unternahm. So war es. Dschou, Lai und Tijang hielten mit einemmal ihre Kurzschwerter in den Fäusten. Auflachend stachen und hieben
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sie auf die Bootsinsassen ein, Dschou und Lai von Backbord aus, der Uigure von der anderen Seite, an der sich auch Nakamura befand. Khai Wangs Piraten brüllten vor Entsetzen. Einer von ihnen wollte über die Duchten weg nach achtern springen und sich den zweiten Riemen greifen – die einzige simple Waffe, die es gegen die drei Kurzschwerter gab. Aber Sui stoppte ihn. Der Kumpan von der Dschunke starrte ihn an, als könne er es nicht fassen. Sui nickte ihm beinah freundlich zu, dann beförderte er ihn schwungvoll auf Tijang zu. Das Schwert des Uiguren durchbohrte den Mann von hinten. Sui erhob sich jetzt. Nakamuras Männer hatten zwei KhaiWang-Piraten aus dem Sampan gesäbelt, jetzt kletterten sie in das Boot. Ein Gegner stürzte sich mit krallenartig gespreizten Fingern auf Dschou und wollte ihn würgen. Lais Schwert hielt ihn auf. Dschou und der Uigure warfen sich in den Sampan, beförderten auch diesen Toten außenbords und nahmen sich dann den letzten gesunden Mann vor, der außer Sui noch an Bord war. Dieser Pirat sprang freiwillig ins Wasser, bevor sie ihn umbringen konnten. Sui stand breitbeinig zwischen den Duchten. Mit größter Gelassenheit bückte er sich, packte den Mann, der im Gefecht ein Bein verloren hatte, und zerrte ihn hoch. Der Mann wehrte sich, und das Schreien und Jammern seiner Leidensgenossen war ein fürchterlicher Chor dazu. Sui entledigte sich des verwundeten Kumpans, ohne mit der Wimper zu zucken oder eine Miene zu verziehen. Er griff sich den nächsten Wehrlosen, insgesamt vier waren es noch. Dschou wollte Sui das Kurzschwert in den Nacken schlagen, aber ein Ruf Nakamuras hielt ihn auf. „Nicht, Dschou. Wir können den Burschen noch gut gebrauchen. Ich kenne keinen, der stärker und brutaler als er ist.“ Der Japaner lachte. „Und ihr seht
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doch, warum er das tut. Er will sich mit uns verbünden.“ Sui schleuderte den nächsten Verletzten ins Wasser, dann wandte er sich Nakamura zu, der ausgezeichnet chinesisch sprach. „Ja, Nakamura“, sagte er. „Ich gehöre zu euch. Auch mich haben diese Hunde nicht in dem Sampan haben wollen. Jetzt räche ich mich an ihnen. Tut mir leid, daß wir uns vorhin nicht richtig verstanden haben.“ Nakamura klomm ins Boot. „Das wollen wir vergessen. Ich bin nicht nachtragend.“ Sui verneigte sich vor ihm, und der Mann aus dem Inselland lachte wieder. „Großartig, du Koloß. Wir fünf werden uns prächtig verstehen.“ „Ich heiße Sui.“ Dschou, Lai und Tijang nannten ihre Namen. Sie wollten sich nun gemeinsam mit Sui nach den drei letzten Verwundeten der Dschunke bücken, aber die wehrlosen Piraten kauerten sich in unterwürfiger Geste vor sie hin und jammerten und flehten auf eine Weise, die sogar Nakamura erschütterte. Sui blieb ungerührt. Er wollte sein grausames Werk fortsetzen. Aber der Japaner hob die Hand. „Wir nehmen die drei mit“, sagte er. „Zu acht haben wir genug Platz in dem Sampan. Vielleicht können wir sie gesundpflegen. Möglich, daß sie doch gut in meine neue Mannschaft passen.“ Sui zuckte mit den Schultern und schwieg. Er hatte der neue Kapitän sein wollen, doch er mußte Nakamura kampflos die Vorherrschaft überlassen. Den Gegebenheiten mußte er sich fügen, Nakamura, Dschou, Lai und Tijang waren die Stärkeren. Sui hatte keine andere Wahl. Und was Nakamura von nun an befahl, mußte ausgeführt werden. Die drei Piraten mit den Blessuren bedankten sich geradezu hündisch bei dem Japaner. Als sie ihm die Füße küssen wollten, wies er sie barsch zurecht. Sie rückten daraufhin zwischen den Duchten zusammen und gaben keinen Laut mehr von sich. Nakamura blickte zu den im Meer Treibenden. Sollte er den einen Gesunden
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wieder aufnehmen, bevor die Raubfische ihn zerrissen? Der Beinverletzte war bereits untergegangen, sein Körper war schwach unter der Wasseroberfläche zu erkennen. Der andere Verwundete, den Sui vom Sampan gestoßen hatte, hielt sich noch, würde zweifellos aber bald ertrinken, falls vorher nicht die Haie zur Stelle waren und seinem Dasein ein noch schnelleres Ende bereiteten. Tauglich für Nakamura war höchstens noch der eine Unversehrte. Bis zu zehn Mann konnte der Sampan fassen, und der Japaner konnte jeden gebrauchen, der sich seinem Kommando unterwarf. Für eine neue Mannschaft, für ein neues Schiff, das er irgendwo zu kapern hoffte. Nein. Er unternahm doch nichts, um dem Mann im Wasser zu helfen. Die Piraten im Boot mußten eine derartige Tat als Schwäche auslegen. Niemals konnte Nakamura seine neue Position als Führer entsprechend festigen, wenn er übertriebene Nachsicht übte. Allein die Gnade, die er den drei Schwerverletzten an Bord gewährt hatte, war bereits ein fast zu großes Zugeständnis. Wer außenbords geflogen war, hatte mit seiner Lage fertig zu werden. Nakamura würdigte den Unverwundeten keines Blickes mehr. Vielleicht verschonen dich die Haie, dachte er, möglich, daß du dich auf ein Wrackteil retten kannst. Sieh zu, wie du das schaffst. Der verlorene Riemen des Sampans war schon zu weit abgetrieben. Nakamura wollte nicht umkehren und kostbare Minuten damit vergeuden, ihn zu bergen. Er blickte zum Bootsheck. Dort gab es eine Vertiefung, in den man den einzigen verbliebenen Riemen legen konnte. „Sui“, sagte Nakamura. „Benutze den Riemen zum Wriggen. Los, streng dich an, zeig, was in dir steckt. Wir haben schon viel Zeit verloren. Dabei müssen wir noch vor Einbruch der Dunkelheit an Land sein. In der Nacht können wir uns auf See leicht verirren.“ Sui nickte, hob den Riemen von den Duchten und legte ihn in den halbmondförmigen Ausschnitt im
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Bootsheck. Er bewegte das Ruder rasch hin und her, und das Blatt verlieh dem Sampan die nötige Vortriebskraft. Ein Schrei wehte dem Boot nach. „Die Haie“, sagte Dschou. Nakamura schaute sich nicht um. Er ignorierte es, wen von den beiden noch lebenden Schiffbrüchigen die Menschenfresser gepackt hatten. Angelegentlich beugte er sich vor, unterzog den Bootsboden einer Untersuchung und las die wenigen Utensilien auf, die die Männer von Fei Yen hatten mitführen dürfen. „Was ist das für ein Zeug?“ fragte er. „Schmerzlindernde und wundstillende Mittel“, flüsterte einer der Schwerverletzten. Er war kalkbleich im Gesicht. „Der Feldscher des Seewolfs hat sie uns gegeben.“ Nakamura betrachtete argwöhnisch die Flüssigkeiten in den kleinen Glasflaschen und die Salben und Essenzen in den flachen Holzbehältern. „Bist du sicher, daß es kein Gift ist?“ „Wir haben diese Arzneien selbst aufgetragen“, erwiderte der kranke Mann schwach. Seine Augen waren vom Fieber gerötet und hatten einen flackernden Schimmer. „Gut“, sagte der Japaner. „Ich habe hier in der rechten Schulter einen Ritzer, der mir zusetzt. Das verfluchte Seewasser brennt wie Feuer darin.“ Er begann, sich die Blessur mit einer dunkelbraunen Tinktur aus einem Fläschchen einzureiben. Sam Roskills Messer hatte ihn an der Schulter verletzt, als Nakamura Fong hatte töten wollen. Eigentlich hatte es seinen Hals durchbohren sollen, aber Nakamura war geistesgegenwärtig ausgewichen. Die Tinktur stach und biß zunächst in der Wunde, dann aber ließ dieses Gefühl sehr schnell nach, und Nakamura spürte kaum noch Schmerzen. „Das Wundermittel der weißen Hunde scheint etwas zu taugen“, sagte er zu dem Schwerverletzten. „Aber wenn es mir nicht wirklich hilft, büßt du mit deinem Leben dafür.“
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Der kranke Mann ließ sich auf die Seite sinken. Er hatte einen lichten Moment gehabt, aber jetzt nahm ihn das Fieber mit neuer, grimmiger Wucht gefangen, und keine Arznei dieser Welt konnte den Prozeß aufhalten, der in seinem Körper tobte. Sui, Dschou, Lai und Tijang blickten zu Nakamura. Sie wußten, daß sie einen fähigen, aber auch unberechenbaren Anführer hatten, in dessen Miene keiner zu lesen vermochte, was er gerade dachte und plante. * Ch'ing-chao Li-Hsia, deren Name übersetzt „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“, bedeutete, schaute Fong-Ch'ang bewundernd von der Seite an. Er hatte ihr seine Lebensgeschichte erzählt, nachdem sie geschildert hatte, wie es ihr ergangen war, als sie dem Flußgott geopfert werden sollte. „So ein grausames Schicksal“, sagte sie leise. „Und da hast du doch noch die Kraft gefunden, den Kopf hochzuhalten und an eine glücklichere Zukunft zu denken? Welch ein Mut gehört dazu?“ „Heute weiß ich mit Sicherheit, daß das Leben noch einen Sinn hat.“ „Sicher, aber noch vor einigen Tagen konntest du es nicht einmal ahnen“, entgegnete sie. „Trotzdem hast du nicht aufgegeben.“ „Buddha hat mir die Kraft verliehen.“ „Gewiß, aber das meiste hast du doch deiner charakterlichen Stärke zu verdanken, deiner inneren Härte.“ „Du bist ein kluges Mädchen“, sagte Fong. „Aber du scheinst nicht sehr gläubig zu sein.“ „Nach allem, was man mir angetan hat ...“ „Sieh mich an. Ich habe das Vertrauen in Buddha und alle anderen Götter trotz allem nicht verloren.“ Sie seufzte. „Du hast recht. Ich werde darüber nachdenken.“ Er legte ihr die Hand auf den Arm. Es war aber mehr eine väterlich-freundschaftliche Geste als die Annäherung eines Mannes an
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das hübsche Mädchen, das „Flüssiges Licht“, zweifellos war. „Nein, ich will nicht, daß du mir nach dem Mund redest. Du selbst mußt dich überzeugen, welche Bedeutung die Zukunft hat und welchen Weg du beschreiten mußt, um ihr richtig zu begegnen. Vielleicht ist dir auch unser Besuch in der Verbotenen Stadt eine Hilfe dabei.“ „Glaubst du denn, daß wir jemals bis dorthin gelangen?“ „Ich bin überzeugt davon“, sagte Fong. „Aber Peiping ist selbst für uns Chinesen verboten.“ „Der Große Chan wird uns empfangen.“ „Wie selbstsicher du bist“, sagte sie. Fong lächelte. „Du vergißt, daß wir die Mumie des Mandarins an Bord haben. Sie ist eine Art stummer Garant für unsere Wichtigkeit und Glaubwürdigkeit. Und Khai Wang und Wu? Sie wurden lange gejagt, jetzt endlich haben wir sie gefangen.“ „Ich habe gehört, daß es bestochene Kuans, Mandarine, gibt, die die Piraten begünstigen“, raunte das Mädchen. „Und du weißt wie ich, daß tatsächlich nicht alle Kuans aufrichtige und ehrliche Männer sind.“ „Natürlich. Aber sie werden nie und nimmer versuchen, die Geißel des Gelben Meeres und ihren Steuermann aus unseren Händen zu befreien. Das ginge denn doch zu weit, das wagt kein Mandarin.' „Aber die Mandarine und die Minister beeinflussen den Großen Chan“, stieß „Flüssiges Licht“ erregt hervor. „Es ist gut möglich, daß wir in eine Falle laufen.“ Fong stand auf, trat vor sie hin und sah sie offen an. „Sag das nicht. Der Große Chan steht über allem. Er ist gütig, gerecht und von allergrößter Umsicht. Er wird aus unseren Augen lesen, daß wir die Wahrheit sprechen.“ „Aber was ist mit Hung-wan?“ fragte das Mädchen. „Der alte Chronist? Hast du auch seinetwegen Zweifel?“ „Er ist Siri-Tong nicht wohlgesonnen“, erwiderte Ch'ing-chao Li-Hsia. „Niemals
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hätte er sonst befürwortet, daß Li-Cheng und seine Drachenschiff-Mannschaft sich mit Khai Wang verbündeten, um die Mumie in ihren Besitz zu bringen und die Rote Korsarin zu entführen. Hung-wan wird gegen uns alle aussagen.“ Fong antwortete: „Ich schätze, er ändert seine Einstellung noch. Aber wir werden mit ihm reden.“ Er wollte weitersprechen, aber in diesem Augenblick polterten Schritte heran, und eine geduckte Gestalt erschien in der Öffnung des Vordeckschotts der Steuerbordseite. Fong-Ch'ang hatte den Kopf gewandt und wirbelte nun herum, im selben Augenblick, in dem Khai Wang gehetzt auf die Kuhl sprang. Dan O'Flynn, wie immer im Großmars und wie üblich auf der Hut, stieß einen schrillen Pfiff aus. Carberry war schon auf dem Weg zum Schott und zu dem Piratenführer. Und auf der Back stürzten Smoky, Al Conroy und Jeff Bowie zu den Niedergängen, während die Männer der Kuhl ebenfalls fluchend auf den Flüchtigen zustürmten. Fong war jedoch als erster bei Khai Wang. Khai Wangs Blick irrte wild über Deck, im Vorwärtsstürmen suchte er nach einer Möglichkeit, sich eine Waffe anzueignen, jemand als Geisel zu nehmen - oder einfach an einer unbewachten Stelle des Schanzkleids außenbords zu springen. Er sah „Flüssiges Licht“ auf dem Rand der Kuhlgräting hocken. Khai Wang nur noch in schmutzstarrende, jauchegetränkte Fetzen gehüllt, das Gesicht verschmiert,. verbeult und zerkratzt, mit aufgelöstem Zopf, dessen Haare wirr hingen -, Khai und Wang alles hatte zu gewinnen nichts zu verlieren. Mit einem gellenden Laut sprang er auf das Mädchen zu. „Flüssiges Licht“ schrie auf und zuckte hoch. Aber dann war sie wie ein schreckhaftes, scheues Reh, das unter der mörderischen Attacke des Raubtiers zur Lähmung erstarrt. Khai Wang wußte nicht, daß der vermeintliche Schiffsjunge in der groben Männerkleidung und mit den
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kurzgeschorenen Haaren in Wirklichkeit ein Mädchen war, aber eins war auch ihm sofort aufgefallen: Sie war blutjung, und keinem der Seewölfe würde es auch nur im Traum einfallen, sie zu opfern. Mit ihr als Faustpfand mußte ihm die Flucht gelingen. Aber Fong handelte, bevor Khai Wang das Mädchen packen konnte. Er warf sich von links einfach vor den spurtenden Piraten, landete mit seinem Körper hart auf den Kuhlplanken - und brachte den Kerl zu Fall. Khai Wang flog über Fong hinweg, und es nutzte ihm nichts, daß er wie ein Teufel aufheulte. Nicht weniger schwer als Fong-Ch'ang schlug er hin. Fong war mit einer Gewandtheit, die ihm bisher noch keiner an Bord der „Isabella“ zugetraut hatte, wieder auf den Beinen. Khai Wang rollte sich zur Seite ab und rappelte sich ebenfalls wieder auf. Seinen Bewegungen mangelte es an der Geschmeidigkeit, die sie früher gehabt hatten, nicht aber an Schnelligkeit. Carberry wollte sich nun auf Khai Wang stürzen, aber wieder war Fong schneller. Der hagere Chinese verlieh sich mit den Beinen Schwung, hob von den Planken ab und federte auf die „Geißel des Gelben Meeres“ zu. Mit beiden Händen packte er ihn an den Schultern, dann gingen sie zu Boden und rangen wütend. Khai Wang wand sich wie eine zähe Schlange. Fong schlug nach seinem Gesicht und nach seiner Brust, auf der sich der eintätowierte wilde Drache aufbäumte, aber der Pirat nahm den Hieben durch rasche Abwehrgesten die Wucht. Der Profos wollte eingreifen. Aber Blacky und Old O'Flynn waren dicht hinter ihm, und der alte Donegal tickte Carberry mit einer seiner Krücken an. „Laß, Ed. Fong wird mit dem Hurensohn auch allein fertig.“ Carberry zögerte. Old O'Flynns Annahme erwies sich innerhalb der nächsten Sekunde jedoch als peinlicher Irrtum. Khai Wang gelang es, sich ein Stück freizuboxen, dann riß er ein Knie hoch und rammte es Fong in den Leib. Fong brüllte auf.
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Khai Wang drehte sich, Fong sah zwischen roten Blitzen und wabernden grellen Streifen plötzlich eine sich windende Schlange vor sich, die einen Vogel fraß Khai Wangs Rückenzierde in blaulila tätowierten Farben. Khai Wang schlüpfte unter dem Griff des Gegners weg, raffte sich von den Planken auf und raste auf „Flüssiges Licht“ zu, die immer noch vor der Kuhlgräting stand. „Mann, Mädchen!“ schrie der alte Donegal Daniel O'Flynn. „Sieh zu, daß du verschwindest! Hau ab, verdammt noch mal!“ Stenmark und Batuti waren inzwischen auf dem Oberdeck eingetroffen und liefen fluchend hinter ihrem Gefangenen her. Carberry, Old O'Flynn, Blacky, Smoky und ein paar andere stürzten auf den Piraten zu, aber der war bei „Flüssiges Licht“ angelangt und streckte die langen, knochigen Finger nach ihr aus. In diesem Moment sauste ein schmaler Schatten von oben nieder. Mit geradezu unheimlicher Präzision traf er Khai Wangs Kopf an der rechten Seite. Der Kerl strauchelte, schüttelte benommen den Kopf — und endlich kam wieder Leben in die Gestalt des Mädchens. „Flüssiges Licht“ warf sich herum und jagte entsetzt davon — in Richtung Achterdeck. Hasard und Siri-Tong liefen auf sie zu, hinter ihnen war Ben Brighton, Ferris Tucker und Big Old Shane. Oben im Großmars klopfte Dan O'Flynn dem Affen Arwenack kameradschaftlich auf die Schulter. „Gut getroffen, Junge“, lobte er ihn. „So gut wie du kann keiner mit den Belegnägeln zielen.“ Khai Wang war unterdessen herumgefahren und nahm den Koffeynagel von den Planken auf. Der Schlag, den ihm der hölzerne Nagel versetzt hatte, dröhnte noch in seinem Kopf, aber er verlor keineswegs die Kontrolle über sich. Khai Wang wich zu Fong-Ch'ang zurück und wollte diesem den Schädel zertrümmern. Er hob den Belegnagel. Fong krümmte sich immer noch vor Schmerzen
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und nahm kaum war, was um ihn herum geschah. „Fong!“ schrie „Flüssiges Licht“. Sie war bei Siri-Tong und hatte sich umgedreht. Aber bevor Khai Wang den vernichtenden Hieb landen konnte, wuchs Carberrys mächtige Gestalt neben ihm hoch. „Jetzt ist es aber genug!“ brüllte der Profos dem Kerl ins Ohr. „Du Giftspucker, du Satansbraten, ich ramm dich ungespitzt durch die Planken!“ Khai Wang glaubte, Edwin Carberry durch Schnelligkeit entgehen zu können, aber diesmal hatte er sich geirrt. Der Profos konnte auch verdammt flink sein, wenn es darauf ankam. Er war in einer Verfassung, in der er am liebsten den Großmast aus dem Kielschwein gerupft hätte, und kein Mann der Crew hätte sich gewünscht, in diesem Moment mit diesem Vulkan von Mann zusammenzugeraten. Khai Wangs Gestalt schien zusammenzuschrumpfen und wollte den klüsengroßen Pranken des Profos' entschlüpfen. Aber Carberry packte zu, als gelte es, einen wegrutschenden Sack Rüben zu packen. Seine Finger schlossen sich um Khai Wangs Arme. Dann ging alles ungemein schnell: ein Hochreißen, ein Zuhauen, ein gewaltiger Stoß, und der Pirat wirbelte quer über die Kuhl. Carberry hatte den Kerl zum Backbordschanzkleid gestoßen, und zwar zu den Leehauptwanten — und dort landete Khai Wang auch. Die Wanten verhinderten, daß er außenbords kippte. Plötzlich steckte Khai Wangs Kopf zwischen zwei Webleinen fest. Carberry stapfte wutschnaubend auf ihn zu und räumte jeden aus dem Weg, der eingreifen wollte. „Jawohl!“ schrie Dan O'Flynn aus dem Großmars. „Gib's ihm, Ed, hau ihm die Hucke voll, daß er nicht mehr weiß, wo vorn und hinten ist!“ Carberry war drauf und dran, dies in die Tat umzusetzen. Aber jetzt war der Seewolf bei Khai Wang eingetroffen — noch vor Siri-Tong, die ihren Degen gezückt hatte.
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Hasard war wirklich der einzige, vor dem ein zornbebender Profos noch stoppte. Da bedurfte es keiner Worte, Carberry wußte auch so, daß er Khai Wang nicht von neuem greifen und durchbeuteln konnte, wie es ihm gefiel. Hasards Blick sprach Bände. Carberry blieb stehen und rieb sich verlegen mit der Hand das Rammkinn. Eine Kolonie Kombüsenschaben schien mal wieder über einige Bogen des feinen Reispapiers zu wandern, das die Chinesen in ihrem Reich der Mitte so kunstvoll herstellten. Es kratzte und raschelte. „Laß mich vor“, sagte die Rote Korsarin. „Diesmal erledige ich diesen Teufel. Gebt ihm einen Degen.“ Hasard hatte Khai Wang am Arm gepackt. Er wandte nur kurz seinen Kopf und blickte zu der schönen Frau. Und auch diesmal stand es ganz deutlich in seinen eisblauen Augen zu lesen, was er zu sagen hatte. „Hasard“, sagte sie eindringlich. „Der Hund wird uns noch mehr Schwierigkeiten bereiten, und ehe wir in Peking sind, ist er uns entwischt. Das Maß ist voll. Er gehört mir.“ „Nein.“ „Hasard …“ Der Blick des Seewolfs. war zwingend. Siri-Tong wollte aufbegehren, aber dann steckte sie zurück und schob den Degen in die Waffenscheide. Sie war sonst in ihren Entscheidungen eigenständig und glashart, aber dies war nicht ihr Schiff, hier führte Philip Hasard Killigrew das Kommando. Wenn sie sich über ihn hinwegsetzte, war das schon gleichbedeutend mit Meuterei. Verflixter Kerl, dachte sie. Sie liebte ihn, diesen schwarzhaarigen Riesen, aber sie konnte auch fuchsteufelswild werden, wenn er ihr dermaßen streng widersprach. Schließlich war sie daran nicht gewöhnt. Auf dem schwarzen Schiff hatte sie bisher mit eiserner Hand über eine Meute wilder Kerle regiert, und wer sich gegen sie aufgelehnt hatte, hatte es mit dem Tod bezahlt. Sie glaubte, vor Wut platzen zu müssen. Um einen Ausgleich zu finden, wandte sie
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sich zu' Ch'ing-chao Li-Hsia um und legte ihr schützend einen Arm um die Schulter. Hasard zog Khai Wang an seiner Lumpenkleidung zu sich heran. Die Webeleinen folgten der Bewegung des Piraten, eine hatte sich unter sein Kinn gelegt und drohte ihn zu würgen. Khai Wang öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu, aber die Webeleine saß immer noch fest. Erst als er die Hand hob und einen Finger dahinter hakte, konnte er sich befreien. Die Wanten schwangen ganz zurück. Khai Wang wollte mit den Fäusten auf den Seewolf einprügeln, aber diese Augen, diese unglaublich kalten, drohenden Gletscherseen in einem granitenen Gesicht, begegneten seinem Blick. Khai Wang gab jeden Widerstand auf. Seine Arme baumelten herab, schlaff hing er im Griff des Seewolfs. So still, so bezeichnend allein durch seine große Autorität hatte Hasard noch keinen Todfeind erniedrigt. Selbst Siri-Tong, die jetzt doch wieder zum Seewolf sah, war überrascht. Sie glaubte, Hasard zu kennen, und doch steckte er immer noch voller Geheimnisse. Fast zwang er Khai Wang mit seinem Blick vor sich auf die Knie „Flüssiges Licht”, Fong-Ch'ang, der sich jetzt erhoben hatte, und die Crew standen für Sekunden stumm und zutiefst erstaunt da. Das Knarren der Blöcke und Rahen, das Singen des Windes in den Luvwanten und Pardunen, das Plätschern des Wassers an den Bordwänden des Schiffes waren die einzigen Geräusche. Plötzlich stieß Hasard Khai Wang auf Carberry zu. Der Pirat stolperte und wäre gestürzt, wenn der Profos ihn nicht abgefangen hätte. „Schafft ihn fort!“ rief Hasard. „Und paßt das nächstemal besser auf ihn auf!“ Stenmark und Batuti standen reichlich belämmert da. Sie wären in diesem Moment froh gewesen, wenn sie klein wie die Mäuse gewesen wären und sich durch irgendein Spundloch in den Schiffsbauch hätten verkrümeln können. Oh, ihnen war ganz und gar nicht wohl in ihrer Haut.
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„Wu bleibt in der Vorpiek“, ordnete der Seewolf an. „Khai Wang steckt ihr ins Kabelgatt, damit die beiden nicht mehr miteinander raufen können. Bindet alle beide mit Ketten fest.“ „Aye, aye, Sir“, sagte der Profos grimmig. Er packte Khai Wang mit beiden Pranken und stieß ihn vor sich her. Dem Chinesen war etwa so zumute, als hätte man ihn in einen Schraubstock gespannt. Carberry sah Stenmark und Batuti im Vorbeischreiten an, als wolle er sie mit Haut und Haaren vertilgen. Mit leicht hängenden Köpfen schlossen sie sich ihm an. Das Kabelgatt konnte man auf zwei Wegen erreichen: durchs Vordeck oder durchs Achterdeck. Carberry stieg ins Vordeck hinunter, um auch hier gleich nach dem Rechten zu sehen. Der Schwede und der schwarze Goliath hielten sich dicht hinter ihm, obwohl sie sich viel lieber ins Mannschaftslogis zurückgezogen und Asche auf ihre Häupter gestreut hätten. Unten angelangt, sah Carberry drohend zu Matt Davies und Luke Morgan. Die hatten den bewußtlosen Wu in die Vorpiek geschleift und waren gerade dabei, dem Freibeuter die Hände mit einem Tampen zu fesseln. „In Ketten legen“, sagte der Profos grob. „Aye, aye“, erwiderte Matt besonders zackig, weil er ein so schlechtes Gewissen hatte. Er wartete darauf, daß Ed Carberry explodierte und seine übliche Schimpfkanonade losließ. Carberry sprach nur ganz leise, und das war schlimmer als alles andere. Wenn der Narbenmann brüllte, dann war noch alles in Ordnung, wenn er aber fast flüsterte, standen die Zeichen nicht auf Sturm, sondern auf Orkan. „Und jetzt will ich euch was erzählen, ihr plattfülligen Kakerlaken“, sagte er. „Das eben war das stärkste Stück, das ich während meiner Zeit auf See erlebt habe. Sollte noch mal etwas Ähnliches passieren, dann gibt's für die Verantwortlichen nicht nur Arrest, sondern auch Prügel. Dann beantrage ich nämlich persönlich beim Seewolf, daß diejenigen, die eine solche
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Sauerei anstellen, mit der Neunschwänzigen ausgepeitscht werden. Hab ich mich klar genug ausgedrückt, ihr triefäugigen Zwerge?“ „Vö-völlig klar“, sagte Luke Morgan. Es ärgerte ihn mächtig, daß er dabei ins Stammeln geriet, aber er bemühte sich gleichzeitig, das äußerlich nicht zu zeigen. Sonst wäre ihm Carberry womöglich noch an die Gurgel gesprungen. „Gut“, sagte der Profos. Er wandte sich ab und marschierte durch den Gang nach mittschiffs davon. In Richtung Kabelgatt. Batuti und Stenmark standen unschlüssig da -sollten sie jetzt mitgehen oder Matt und Luke unterstützen? Carberry brüllte über die Schulter zurück: „Na los, ihr Dorsche, bewegt euch, oder muß ich euch erst noch anlüften, was, wie? Je zwei Mann stehen vor Vorpiek und Kabelgatt Wache, kapiert? Und die Posten wechseln im Turnus von jeweils acht Glasen. Davies und Morgan, Stenmark und Batuti, ihr Stinkstiefel, bildet euch bloß nicht ein, daß ich euch vorher ablösen lasse, weil ihr schon seit zwei Stunden Dienst schiebt! Von mir aus könnt ihr die ganze Nacht über auf Wache bleiben, bis ihr vergammelt, aber ich glaub, der Seewolf ist damit nicht einverstanden, zum Teufel noch mal ...“ Seine Worte wurden undeutlich, Matt und Luke konnten sie nicht mehr verstehen. Luke schaute Batutis breitem Rücken nach, der noch für eine Weile in dem düsteren Gang zu sehen war, dann war auch dieser als Abschluß des kleinen Trupps verschwunden. Luke stieß scharf die Atemluft aus. „Na bitte. Der Profos brüllt ja schon wieder. Ich dachte, er hätte es verlernt.“ Matt zog eine gallige Grimasse. „Wie war das vorhin? Khai Wang 'und Wu - mit den beiden werden wir doch leicht allein fertig. Pustekuchen. Oh, was sind wir doch für blöde Hunde gewesen.“ Er sah Luke so vernichtend an, als hätte der allein die Schuld an dem, was vorgefallen war. 4.
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Von Osten her kroch die Dunkelheit wie ein riesiger Dämon über das Gelbe Meer, aber Nakamura konnte unter den rötlichen Streifen, die die untergegangene Sonne im Westen belassen hatte; die wildgezackten Höhenzüge erkennen. Sie erhoben sich von der Halbinsel Shantung. „Wir haben es geschafft!“ rief der Japaner. „Los, nutzen wir das letzte Dämmerungslicht aus. Noch drei, vier Li, dann sind wir am Ufer!“ Dschou hatte Sui am Riemen abgelöst. Aber jetzt stieg der bullige Chinese wieder über die Duchten des Sampans nach achtern und übernahm von neuem die Arbeit. Beschleunigend wriggte er auf die Küste zu. Es war wirklich erstaunlich, welche Kraft und Ausdauer in ihm steckten. Als das Boot wenig später auf eine weitgestreckte Bucht zulief, streckte Nakamura die Hand nach dem Schwerverletzten aus, der ihm am nächsten lag. Es war der Mann, der ihm Aufschluß über die wund- und schmerzstillenden Mittel gegeben hatte. Nakamuras Finger zuckten zurück. Der Verwundete regte sich um keinen Deut, sein Körper war bereits kalt. Nakamura hatte einen Toten berührt. „Verfluchter Mist“, stieß er aus. „Tijang, komm zu mir - Tijang!“ „Hier bin ich“, erwiderte der Uigure. Seine Gestalt, nur noch ein Schattenriß vor dem rötlichen Band der Dämmerung, schob sich auf den Japaner zu. „Hilf mir, diesen Kerl ins Wasser zu werfen.“ „Ja. Nur den einen?“ „Warte! Lai, untersuche die anderen beiden“, sagte Nakamura. Lai erledigte das sehr flink und meldete dann: „Sie atmen beide noch, Nakamura, aber ihre Köpfe sind heiß, daß man sich fast die Finger daran verbrennt.“ „Laß sie noch liegen“, sagte Nakamura. „An Land befasse ich mich genauer mit ihnen.“ Tijang und er packten zu und hievten den leblosen Körper zwischen den Duchten hervor. Mit ein paar Flüchen hoben sie ihn
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übers Dollbord, versetzten ihm Schwung, ließen los und sahen zu, wie die Fluten den Leichnam verschluckten. Ein paar Wellenringe noch, die kräuselnd auseinanderliefen, und die ruhmlose Bestattung war beendet. Was bedeutete ein Menschenleben hier auf See, wo es von Piraten wimmelte, wo täglich Kämpfe stattfanden und Männer auf grausamste Weise abdanken mußten? Nakamura blickte voraus. Seine Gedanken waren bei dem, was er auf dem Land antreffen konnte. Er legte sich Pläne zurecht und hatte bereits eine Idee, wie er vorgehen wollte. Sui hatte ihm etwas Hochinteressantes zu berichten gewußt. „Auf Untiefen achten“, sagte Nakamura. Dschou hatte sich nach vorn begeben und lag nun auf dem Bauch. Seinen Kopf hatte er so weit vorgeschoben, daß er über den Bug weg direkt ins Wasser spähen konnte. Er sagte: „Ich kann kaum noch etwas erkennen. Riffs ragen nicht aus dem Wasser, aber es könnte Barrieren geben, die unter dem Spiegel liegen.“ „Eben darauf sollst du ja aufpassen, du Narr“, entgegnete der Japaner. „Wenn wir auf eine Korallenbank laufen, reißen wir den Bootsboden auf und haben kein Fortbewegungsmittel mehr. Wir können aber auch auf einer Sandbank steckenbleiben.“ „Ich hab gehört, in dieser Gegend gäbe es Treibsand“, erklärte Lai. „Der hätte uns noch gefehlt“, erwiderte Nakamura finster. Kurz darauf hellte sich seine Miene aber wieder auf, denn keine seiner düsteren Ahnungen hatte sich bewahrheitet. Ungehindert glitt der Sampan durch die Bucht, erreichte den flachen Strand und schob sich knirschend mit dem Bug darauf. Flache Brandungswellen umspülten plätschernd und gurgelnd den Rumpf. „Dschou“, sagte Nakamura. Mehr nicht. Dschou wußte schon, was er zu tun hatte. Der Pirat sprang an Land und bewegte sich im Laufschritt fort. Er erforschte die nähere Umgebung, blieb dann stehen und
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winkte seinen Kumpanen zu. Die Luft schien rein zu sein, von Gefahr keine Spur. Nakamura stieg ins Flachwasser, watete an Land und verharrte. Seine Haltung entsprach der eines Entdeckers. Et frohlockte. Die Durststrecke lag hinter ihnen — sie hatten ohne Proviant und Trinkwasser ein Abenteuer durchstanden, das leicht hätte tödlich enden können. Denn eine widrige Strömung oder ein Sturm hätten genügt, um sie auf die endlose Weite der See hinauszubefördern und dort kläglich verhungern oder verdursten zu lassen — oder sie wären in Brechern ersäuft worden. Erst jetzt durfte Nakamura aufatmen. Er genoß den Anblick. Lächelnd blickte er zu Dschou. Hätte es hier am Ufer irgendwo Treibsand gegeben, dann hätte Dschou jetzt bereits bis zu den Hüften darin gesteckt. Nakamura hatte ihm gern den Vortritt gelassen. Nakamura hatte viel Mut, aber er war nicht bereit, unsinnige Risiken auf sich zu nehmen. Die wälzte er lieber auf seine „Untergebenen“ ab. Lai, Tijang und Sui hatten jetzt ebenfalls den Sampan verlassen. Sie packten zu und zerrten ihn noch ein Stück weiter aufs Ufer. Einer der Schwerverletzten stöhnte dabei langgezogen. Nakamura gab seine Pose auf und wandte sich um. Auf seinen Wink hin zogen Lai, Sui und der Uigure die zwei kranken Männer aus dem Boot und schleppten sie aufs Land. Nakamura ging zu ihnen, kniete sich hin und unterzog sie einer neuen Untersuchung, die so gründlich war, wie ein Unkundiger sie eben durchführen konnte. Ärzte waren im Reich der Mitte „Könige der Medizin“, und schon ein simpler Feldscher war ein angesehener Mann. Nakamura hatte dem Wundarzt und Bader, der eine Zeitlang auf de Romaes' Galeone mitgefahren war zwar einiges abgeschaut, aber diese Allerweltsrezepte und Verfahren zum Auskurieren einfacher Blessuren fanden hier keinerlei Anwendung. Der eine Pirat hatte mehrere Musketenkugeln im Unterleib stecken, der andere war am Kopf verletzt und schien
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einen Splitter tief in der Lunge stecken zu haben - soweit Nakamura aus der Sache schlau wurde. „Da ist wenig zu tun“, sagte der Japaner. „Mitnehmen können wir die beiden auf keinen Fall. Sie sind uns nur eine Last.“ Die Schwerverwundeten redeten wirr, richtig bewußt wurden sie sich dessen, was um sie herum geschah, nicht mehr. „Weiter oben gibt es eine Böschung, und dahinter liegt ein Gebüsch aus Maulbeersträuchern, wenn mich nicht alles täuscht“, sagte Sui im Nähertreten. „Dorthin können wir die zwei schaffen. Vielleicht kommen sie ja durch. Vielleicht findet sie auch jemand.“ „Ja, könnte sein“, sagte Nakamura. Er warf Sui einen Seitenblick zu und erkannte, daß der bullige Mann sofort erfaßt hatte, wie er das meinte. Natürlich erlebten die beiden Verletzten den nächsten Tag nicht mehr. Und falls man sie entdeckte und in die nächste Stadt zu einem Arzt schaffte, bestand immer noch eine sehr geringe Aussicht auf Genesung. Sollten die beiden aber durch eine Art Wunder doch am Leben bleiben, würde man sie gewiß als zu Khai Wangs Mannschaft gehörig identifizieren und öffentlich hinrichten. „Tragen wir sie also nach oben“, sagte Nakamura. „Dann verstecken wir den Sampan und gehen landeinwärts.“ „Wohin?“ fragte Sui. Der Japaner zuckte mit den Schultern. „Ich kenne mich an diesem Küstenstrich nicht aus. Aber auf irgendwelche menschlichen Behausungen werden wir im Laufe der Nacht schon stoßen, verlaß dich drauf.“ * Nach etwa zwei Stunden Marsch durch die Dunkelheit verspürten die fünf Männer starken Hunger und eine geradezu höllische Trockenheit in den Kehlen. Der Durst setzte ihnen bald mehr zu als das Verlangen, etwas Eßbares zwischen die Zähne zu kriegen. „Nichts“, sagte Dschou. „Kein Mensch, kein Haus. Kein Tier, das man schlachten
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könnte. Nicht einmal ein lausiger Brunnen.“ „Wir haben die falsche Richtung eingeschlagen“, meinte Lai. „Schweigt“, stieß Nakamura aus. „Was seid ihr doch für Memmen. Euer Gerede klingt wie das Greinen kleiner Kinder in meinen Ohren.“ Tijang, der Uigure, wollte aufbrausen. Er konnte wild werden und wie rasend um sich schlagen, wenn man ihn aufzog. Er überlegte ernsthaft, ob er Nakamura nicht niederschlagen und das Kommando an sich reißen sollte. Aber er verwarf den Gedanken wieder. Nakamura hatte ihm vorhin das Kurzschwert abgenommen, wahrscheinlich in weiser Voraussicht aller Eventualitäten. Tijang hätte jetzt also einen Verbündeten benötigt, wenigstens einen, Dschou oder Lai, um seinen Plan zu verwirklichen. Aber er wußte nicht, ob Dschou und Lai bereitwillig das Lager wechseln würden. Vielleicht war ihnen Nakamura als Anführer recht. Jedenfalls taten sie so. Bevor der Uigure sich nicht mit ihnen abgesprochen hatte, konnte er nichts unternehmen. Auch wußte er nicht, was er von Sui halten sollte. War der dem Japaner nun wirklich gehorsam oder wartete er nur auf eine Gelegenheit, den Dingen eine Wende zu geben? Tijang atmete tief durch und schritt voran. Er beschloß, sich das alles noch einmal ganz genau zu überlegen. Nakamura war ebenfalls tief in seine Gedanken verstrickt. Zweifel stiegen nun auch in ihm auf. Hatte er richtig gehandelt? Wie weit mußten sie auf dieser elenden Halbinsel laufen, um ihre Lage irgendwie verbessern zu können? War Shantung am Ende total verlassen? Vinicio de Romaes hatte gewußt, wie die Halbinsel beschaffen war und wo die Ortschaften zu finden waren. Zum erstenmal bedauerte Nakamura wirklich, den Portugiesen verloren zu haben. De Romaes war ein gerissener Schnapphahn gewesen, er hatte sich durchaus mit Khai Wang messen können, wenn er wohl auch nicht so viel Beute wie jener
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zusammengetragen hatte. In dieser Nacht spürte der Japaner zum erstenmal richtig, was es hieß, einen Trupp wilder Kerle zu befehligen und passende Entscheidungen zu treffen. Zuerst hatte er mit dem Sampan bis nach Zhangzidao hinüber wollen. Aber diese Insel - Schlupfwinkel und Schatzversteck der Seeräuberbande - lag zu weit entfernt, fast zweihundert Li. Außerdem war da der Bericht des bulligen Chinesen. „Sui“, sagte Nakamura mit heiserer Stimme. „Komm zu mir. Berichte mir noch mal, wie das mit der Mumie war.“ Sui schob sich an seine Seite und sagte: „Der Seewolf hat die Mumie gefunden. Und auch den alten Chronisten Hung-wan. Ich hab's gesehen, ganz deutlich sogar. Ich schwamm zwar schon in der See, aber ich war am Heck von Fei Yen vorbei und schaute nach oben, als unsere Feinde gerade die Mumie und den Chronisten auf ihre verdammte Galeone 'rüberschafften. Und dann wurden auch Khai Wang und Wu nach drüben gebracht.“ „Das weiß ich schon“, sagte Nakamura ziemlich gereizt. „Was ich von dir wissen will: Was haben diese Dreckskerle mit der Mumie des Mandarins vor?“ „Genau weiß ich das nicht.“ „Du sollst mir sagen, was du darüber denkst!“ „Khai Wang wollte die Mumie zusammen mit dem Chronisten nach Peiping transportieren“, erwiderte Sui. „Dort erhoffte er sich den Pardon des Großen Chan - für alle unsere Raubzüge. Ich weiß nicht, was es mit der Mumie auf sich hat, aber sie muß dem Herrscher einiges bedeuten.“ „Weiter.“ „Der Seewolf und die Hure Siri-Tong haben das gleiche vor. Die Mumie soll in die Verbotene Stadt -ebenso Khai Wang und Wu.“ „Verboten oder nicht“, zischte der Japaner. „Ich muß den Hunden folgen. Ich will sie stellen, aus dem Hinterhalt angreifen und um ihre Schätze erleichtern. Außerdem habe ich noch eine Rechnung mit einigen
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Männern dieses verfluchten Schiffes zu begleichen. Fong und die beiden, die ihm von der Galeone de Romaes' fortgeholfen haben, müssen sterben. Und auch den Seewolf werde ich töten.“ „Nicht zu vergessen die Hure Siri-Tong“, sagte Dschou. Nakamura biß die Zähne zusammen. Sein Blick war starr geworden. Die Erinnerung an die Ereignisse, an das Gefecht, wurde wieder in ihm wach. Glühend loderte sein Haß auf. Niemand hatte ihm jemals eine größere Schande zugefügt als Fong-Ch’ang und die beiden Schwarzhaarigen, die auf die Galeone zugeschwommen waren und sie dann geentert hatten. Daß Fong ihn, Nakamura, verschont hatte, rechnete er Ihm nach wie vor in keiner Weise an. Eine Bewegung Lais riß Nakamura aus seinen Gedanken hoch. Lai blickte plötzlich nach Norden und hob die eine Hand. Dann stieß er einen warnenden Laut aus. „Da nähert sich jemand! Reiter ...“ Ja, die anderen vernahmen nun auch das typische Trappeln der Hufe auf dem erdigen Untergrund. Nakamura stieß einen Fluch in seiner Muttersprache aus, dann gab er den anderen ein Zeichen, sich zu ducken. Er selbst preßte sich flach auf den Boden. Ein paar niedrige, dornenbewehrte Büsche dienten ihnen als Deckung. Vorsichtig sahen sie zwischen den Sträuchern hindurch und gewahrten die Reiter. Das weißliche, schale Mondlicht reichte aus, um die Silhouetten aus der Nacht hervorzuheben. Sechs Männer hoch zu Pferd waren es. An den Büscheln auf ihren Kopfbedeckungen sah Nakamura, daß es sich um chinesische Soldaten handelte. Rasch waren sie heran, eine donnernde Kavalkade auf der Kuppe eines Hügels. Sie waren die Patrouille, die das Bergvorland kontrollierte, und Nakamura vermutete, daß sie aus dem an der nördlichen Küste gelegenen Tschifu kamen. Pferde - ein ideales Fortbewegungsmittel zu Land. Die Tiere waren in China und
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seinen Randzonen bekannt, seit die mongolischen Dynastien die Herrschaft über das Reich gehabt hatten, und ihre Verbreitung reichte fast bis in den gesamten Süden hinunter. In nahezu allen Provinzen waren sie vertreten und wurden liebevoll gepflegt und zum Arbeiten oder überbrücken größerer Distanzen benutzt. Den Pferden war es mit zu verdanken, daß China ein ausgezeichnetes, erstaunlich gut funktionierendes Nachrichtensystem hatte. Nakamura hätte viel für ein einziges Pferd gegeben, denn es brachte ihn der Erfüllung seines Racheschwurs näher. Obwohl die fünf Piraten sich völlig ruhig verhielten und nicht regten, hob der Soldat an der Spitze des Pulks unversehens die Hand und brachte seine Begleiter zum Stoppen. Er selbst zügelte sein schnaubendes, unruhiges Tier. Dann beugte er sich ein wenig im Sattel vor, wies in Nakamuras, Dschous, Lais, Tijangs und Suis Richtung und rief etwas, das die Piraten nicht verstanden. Was immer ihn stutzig hatte werden lassen - die Patrouille verließ den Hügel und ritt auf die fünf Männer zu. „Nichts wie weg“, raunte Dschou dem Japaner zu. „Wenn die uns erwischen, sind wir geliefert.“ „Wir bleiben“, sagte Nakamura fest entschlossen. „Aber sie haben bessere Waffen“, wisperte Dschou. „Lanzen mit aufgesteckten Dolchen. Und Armbrüste. Dagegen können wir kaum was ausrichten. Sie metzeln uns nieder, ehe wir nur einen von ihnen aus dem Sattel geworfen haben.“ „Wir greifen sie nicht an“, erklärte Nakamura. Er wunderte sich selbst, wie ruhig er in diesem Moment war. „Laßt mich nur machen.“ Seine vier Kumpane waren eher verwirrt als überzeugt. Großes Vertrauen setzten sie nicht in den Japaner, nahmen sich aber doch vor, das Ergebnis des Tricks abzuwarten, den er sich offenbar zurechtgelegt hatte. Nakamura erhob sich plötzlich. Er reckte seinen Arm hoch, bewegte die Hand und
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rief den Reitern zu: „Hierher! Heda, hier bin ich, helft mir doch!“ Er war jetzt sicher, daß sie ihn und die anderen vier auch entdeckt hätten, wenn sie sich weiterhin mucksmäuschenstill verhalten hätten. Möglicherweise war es dem Spürsinn des Pferdes zu verdanken, daß die Patrouille auf die Piraten aufmerksam geworden war. Nakamura hatte deshalb beschlossen, die Entwicklung der Dinge auf seine Art zu beschleunigen. Einigermaßen verdutzt hielten die Soldaten direkt auf ihn zu. Der Mann an der Spitze verhielt sein Pferd dicht vor Nakamura. Die anderen fünf legten ihre Armbrüste auf den Japaner an. Nakamura fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach, aber er zwang sich, nicht mit der Hand nach dem Heft des Kurzschwertes zu tasten. Der Führer der Patrouille sagte zwei Sätze, die nicht auf besonders große Intelligenz schließen ließen. In der Tat, laut einem alten Sprichwort des Reichs der Mitte schmiedete man aus gutem Eisen keinen Nagel –und ein guter Mensch wurde nicht Soldat! „Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?“ Nakamura rang sich ein Lächeln ab. Er gab sich Mühe, akzentfreies Chinesisch zu sprechen. Wenn sie ihn als Japaner erkannten, war er ihnen noch verdächtiger. „Himmel, ich bin ja heilfroh, dass ihr Soldaten aufgetaucht seid“, erklärte er. „Meine Leute und ich haben Schiffbruch erlitten. Dreißig Li von der Küste entfernt.“ „Schiffbruch? Heute ging aber kein Sturmwind“, sagte der Anführer mißtrauisch. „Wir sind auf ein Riff gelaufen. Der Wassereinbruch ließ sich nicht beheben. Einige ertranken, wir fünf schafften es an Land zu schwimmen.“ „Hattet ihr denn kein Boot?“ „Nein, das wurde auch zerstört.“ „Du siehst nicht durchnäßt aus.“ Nakamura hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Jetzt hatte er sich vergaloppiert, aber er versuchte, den Fehler wieder auszugleichen.
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„Wir sind schon seit der Dämmerung an Land und suchen Hilfe“, erklärte er so ruhig wie möglich. „Da sind unsere Kleider inzwischen getrocknet. Wir können von Glück sagen, daß uns die Haie nicht erwischt haben.“ „Ja, das könnt ihr“, erwiderte der Soldat gedehnt, und seine Kameraden nahmen die Finger immer noch nicht von den Abzügen ihrer Armbrüste. „Was für ein Schiff habt ihr denn verloren?“ „Eine Gemüsedschunke.“ „Aus welchem Hafen?“ „Shanghai.“ „Kurs?“ „Tschifu.“ „Ah“, sagte der Soldat. „Gut, wir werden das überprüfen. Zeig mir jetzt deine Leute, Kapitän.“ Nakamura gab den anderen einen Wink, und sie standen prompt hinter dem Gesträuch auf. Die Soldaten behielten sie scharf im Auge. Unter den Grünberockten breitete sich unterschwellig Nervosität aus. Falls sich diese Unruhe bis in ihre Zeigefinger fortsetzte, konnte die eine oder andere Armbrust leicht losgehen. „Sag mir den Namen der Dschunke“, forderte der Anführer Nakamura auf. „Sonnenlicht.“ „Hübsch klingt das“, erwiderte der Mann. Er sagte es mit kaum verhohlenem Spott. „Nun, ich sitze jetzt ab und sehe mir eure Gesichter einmal genau an. Könnte sein, daß mir einige davon bekannt erscheinen, was meint ihr?“ „Ja, solche Zufälle gibt es“, sagte Nakamura gespielt unbeschwert. Dabei überlegte er krampfhaft. Sollten sie die Kurzschwerter zücken? Sie hatten keine Chance gegen diese verfluchten Grünröcke, jedenfalls im Moment nicht. Fatal war: Es gab Tuscheporträts von allen berüchtigten Piraten, die vervielfältigt und von Kurieren in alle Provinzen getragen worden waren, Steckbriefe, die eine Festnahme der Galgenstricke zuließen, ganz gleich, wo sie landeten. Es war nicht ausgeschlossen, daß der Anführer sie identifizierte.
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Nakamura baute nur noch auf eine Kleinigkeit, die jetzt unbedeutend erschien, ihnen allen jedoch das Leben retten konnte. Der Soldat an der Spitze des Trupps war aus dem Sattel zu Boden gerutscht und trat nun dicht vor den Japaner hin. Er ließ sich ein kleines Talglicht geben, das einer seiner Männer angezündet hatte. Dieses Licht hielt er Nakamura so nah vor das Gesicht, daß die Flamme fast dessen Kinn ansengte. „Ich habe etwas im Gurt, das Aufschluß über mein Schiff und mich gibt“, sagte Nakamura. „Ich will mich aber nicht verdächtig machen, indem ich an die Hüfte greife.“ „Gut“, entgegnete der Soldat. „Ich übernehme das.“ Er hatte ein grobes Gesicht mit hohen, auffallend hervorstehenden Jochbeinen. Sein Oberlippenbart hing weit über beide Mundwinkel herab. Nakamura hatte keinerlei Zweifel, daß er ein Mongole war. Der Mongole tastete an Nakamuras Gurt herum und stieß schließlich auf die Münzen, die der Japaner in vier kleine Taschen eingenäht hatte. Die See hatte das harte Garn brüchig werden lassen. Der Soldat hatte keine Schwierigkeiten, die Taschen zu öffnen. Als er die Münzen in der Hand wog und ihren Wert abgeschätzt hatte, drehte er sich zu den anderen um und sagte: „Damit wird vieles einfacher, meint ihr nicht auch?“ „Eine Gemüsedschunke ist gesunken, fünf Männer haben sich an Land retten können“, sagte der eine Grünrock. „Was ist denn schon dabei?“ „Ist das vielleicht ein Fall für uns?“ fragte ein anderer. Der Mongole steckte das Geld ein und grinste Nakamura und seinen Kumpanen zu. „Geht und laßt euch nicht mehr erwischen. Wir wissen von nichts.“ Damit kehrte er zu seinem Pferd zurück, schwang sich in den Sattel und galoppierte an der Spitze des kleinen Trupps davon. 5.
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In der Nacht passierte die „Isabella VIII.“ die Meerenge zwischen den beiden Halbinseln und lief in den Golf von Chihli ein. Ferris Tucker hatte mittlerweile wieder an dem Leck im Vordeck gearbeitet und es so gut abgedichtet, daß kein Wasser mehr einströmen konnte. Die Lenzpumpen saugten den Schiffsbauch fast ganz leer, und das hatte zur Folge, daß auch für Wu der Aufenthalt in der Vorpiek erträglicher wurde. Weniger stinkendes Bilgewasser schwappte durch die Gräting hoch, und der in Ketten liegende Pirat lief keine Gefahr mehr, irgendwann in der Brühe zu ersaufen. Ob das ein Trost für ihn war, ließ sich allerdings nicht feststellen. Ferris' Werk war allerdings immer noch eine provisorische Arbeit. Als er den Seewolf auf dem Achterdeck aufsuchte, sagte der rothaarige Schiffszimmermann: „Wenn der Wind weiter so handig aus östlichen Richtungen bläst, erreichen wir ohne Probleme die Verbotene Stadt.“ „Sie liegt im Landesinneren, vergiß das nicht“, erwiderte Hasard. „Ich meine – wir brauchen uns keine Sorgen zu bereiten, was die Fahrt bis zur Küste betrifft.“ „In Ordnung, aber danach müssen wir einen Platz aufsuchen, an dem du unsere Lady ungestört und in aller Ruhe wiederherstellen kannst, nicht wahr?“ „Ja. Wir brauchen sie aber nicht aufzuslippen.“ „Um so besser. Das erspart uns einige Umstände.“ „Den Fockmast habe ich auch verstärkt“, sagte Ferris. „Hält der einen Sturm aus?“ „Das habe ich nicht gesagt!“ Der Seewolf lachte. „Schon gut, ich will es auch nicht darauf ankommen lassen. Bis zu unserem Ziel benötigen wir bei den derzeitigen Wetterverhältnissen noch anderthalb, höchstens aber zwei Tage. Und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn wir in dieser Zeit einen ernsthaften Umschwung kriegen.“ „Tja“, meinte Ferris Tucker. „Man könnte richtig zuversichtlich werden. Aber die See
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ist unberechenbar. Auch in dieser Gegend.“ „Nicht unken, Ferris!“ „Heiß ich vielleicht Old O'Flynn?“ Hasard lächelte. „Ehrlich gesagt seid ihr alle große Spökenkieker. Aber lassen wir mal den Aberglauben beiseite. Es ist schon richtig, wenn wir nicht zu übermütig werden. Wir haben ja gesehen, wohin der daraus rührende Leichtsinn führt.“ „Oh, verdammt“, erwiderte der rothaarige Riese. „Darauf hab ich jetzt aber nicht anspielen wollen. Himmel, ich will doch Matt, Luke und die anderen nicht in die Pfanne hauen.“ „Ach wo“, sagte der Seewolf. „Wir haben doch von der See gesprochen, oder?“ Ferris grinste. Die Unterredung war ihm zu verfänglich geworden, aber jetzt hatte Hasard sie von selbst wieder in die richtige Bahn gelenkt. Er war nicht nur ein kühner Mann, sondern brachte auch das Feingefühl auf, an dem es einem Kapitän nicht mangeln durfte. „Fong-Ch'ang hat mir über ,Flüssiges Licht' erklärt, daß der Golf von Chihli als ruhiges Gewässer gilt“, setzte Hasard seinem Zimmermann auseinander. „Die meisten von Süden heranfegenden Stürme toben sich in der Koreabucht aus, nur Ausläufer erreichen den Golf. Die von Osten herüberziehenden Wetter reagieren sich auf der Halbinsel Korea ab, und nur ganz selten tritt vom chinesischen Festland aus eine Verschlechterung ein — höchstens Temperaturschwankungen.“ Ferris rieb sich nachdenklich das Kinn. „Hört sich gut an. Unter diesen Umständen verpasse ich der ‚Isabella' doch noch ihren neuen Bugspriet—während wir auf See sind.“ Im Gefecht gegen Khai Wang und Vinicio de Romaes hatte die „Isabella“ nicht nur ihren Bugspriet, sondern auch ihre Blinde und einen Teil der Galion eingebüßt. „Wie lange hast du denn noch an dem Spriet zu basteln?“ fragte der Seewolf. „Etwa zwölf Stunden, dann ist er fertig. Und Will Thorne ist mit der neuen Blinde auch fast fertig, wir müssen ihr nur noch eine Rah bauen.“ Das hörte sich einfach
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an. Aber was Ferris so leichthin als „nur noch“ bezeichnete, war in Wirklichkeit echte Knochenarbeit. „Legt lieber mal eine Pause ein“, entgegnete Hasard. „Das ist mir lieber, als wenn ihr Rekordleistungen vollbringt. Nach dem Kampf im Gelben Meer müssen wir alle erst wieder neue Kraftreserven aufbauen. Und da wir nicht wissen, was uns in der Verbotenen Stadt erwartet, muß sich jeder von uns in der Beziehung pflegen, so gut es geht.“ „Herrje“, meinte Ferris wegwerfend. „Wenn's weiter nichts ist. Wir sind alle schon wieder auf dem Damm. Sogar Jeff Bowie, der einen dicken Holzsplitter in den linken Oberschenkel gekriegt hat, ist vom Kutscher prächtig verarztet worden.“ Ferris grinste, aber Hasard war stockernst geworden. „Mister Tucker, was ich eben gesagt habe, ist ein Befehl, verstanden?“ „Ich — aye, Sir.“ „Also, hau dich jetzt aufs Ohr, und horch gefälligst an der Koje, Ferris. Wir sehen uns erst morgen früh wieder.“ Ferris verschwand vom Achterdeck, und der Seewolf stieg in die Kammer des Achterkastells hinunter, wo Fong-Ch'ang untergebracht war. Wenig später standen sie sich gegenüber. Hasard fragte Fong nach seinem Befinden. Er war froh, als der hagere Mann mit den wachen Augen ihm mitteilte, es sei alles in Ordnung. Fong hatte einige portugiesische und auch ein paar spanische Vokabeln gelernt, und einfache Fragen konnte er immerhin beantworten. „Was ist mit Hung-wan?“ fragte der Seewolf. „Schläft.“ „Hast du mit ihm sprechen können — sprechen?“ „Ja. Hung-wan — kein schlechter Mann.“ „Ganz gewiß nicht. Aber ich würde gern wissen, ob wir von ihm noch Schwierigkeiten zu erwarten haben.“ Fong schaute den Seewolf fast verzweifelt hat, denn er hatte diesmal kein Wort verstanden. In diesem Augenblick knarrte es jedoch leise, und die Tür der Kammer, die Hasard vorher angelehnt hatte,
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schwang auf. „Flüssiges Licht“ stand unter der Füllung. Allem Anschein nach hatte sie Geräusche vernommen und war rasch in ihre Kleidung geschlüpft, denn ihre Augen blickten zwar verschlafen, aber sie trug volle Montur. „Kann ich euch behilflich sein?“ fragte sie auf portugiesisch. „Ja. Indem du dich wieder schlafen legst“, sagte Hasard streng. „Ich habe eure letzten Worte gehört ...“ „Wir können morgen noch darüber reden“, sagte der Seewolf. Fong sprach leise zu Ch'ing-chao Li-Hsia. Das Mädchen nickte, wich nicht von der Stelle und übersetzte schließlich: „Fong hat sich am Abend recht lange mit dem alten Chronisten unterhalten. Er sagt, er habe nicht den Eindruck, daß der Mann beim Großen Chan und dessen Minister Schlechtes über uns sagen wird. Er wirkt — geläutert und macht sich sogar Gewissensbisse.“ Hasard legte Fong eine Hand auf die Schulter. „Mehr habe ich vorläufig nicht wissen wollen. Ich bin froh über diese Entwicklung. Danke, Fong.“ Nachdem „Flüssiges Licht“ gedolmetscht hatte, deutete Fong eine Verbeugung zum Seewolf hin an und sagte: „Philip Hasard wird Fong-Ch’ang niemals Dank schuldig sein, denn ich kann nicht genügend vollbringen, um die Taten aufzuwiegen, die der Seewolf für mich ausgeführt hat. Ein Menschenleben ist zu kurz dazu.“ Er sagte es ohne Unterwürfigkeit. Er ließ nur keine Gelegenheit aus, um die hohe Meinung zu bekunden, die er von Hasard hatte. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Nachdem Hasard Ch'ing-chao Li-Hsia zurück zu der Kammer begleitet hatte, die sie mit SiriTong teilte, dachte er: Warum können nicht alle Chinesen wie Fong sein? Hasard tastete sich durch den sanft schwankenden Gang auf die Kapitänskammer zu. Er bemühte sich, leise aufzutreten, denn er wollte nicht, daß nach dem Mädchen noch jemand wach wurde. Selten war das Achterkastell der „Isabella VIII.“ so voll belegt gewesen. Außer den
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Achterdecksleuten Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane und Old Donegal Daniel O'Flynn, die üblicherweise ihren Schlaf platz in der Hütte hatten, hatten nun auch Fong-Ch'ang und Hung-wan ihre ganz persönlichen Kammern zugewiesen erhalten. In einer weiteren Kammer lag jemand, der allerdings auch durch das größere Poltern und Rumoren der Welt nicht von seinem Lager aufgestanden wäre: der tote Mandarin. Hasards Männer hatten ihn aufgebahrt, so gut es ging, und vor allem dafür gesorgt, daß die Mumie bei heftigen Schiffsbewegungen nicht zu Boden fallen konnte. Hasard betrat seine Kammer. Er zündete kein Licht an, sondern entledigte sich sofort seiner Kleidung und kroch in die Koje. * Im Bergland von Lushan, südlich des Huangho, des großen Gelben Flusses, wehte in dieser Nacht ein ziemlich kalter Wind, der bereits den Winter anzukündigen schien. Nakamura und seine vier Kumpane waren bis hierher aufgestiegen und hofften immer noch, auf menschliche Behausungen zu stoßen, aber sie bereuten wieder, keine andere Richtung eingeschlagen zu haben. Gewiß, Nakamuras Geldgurt hatte es ihnen erspart, von den Soldaten gefangengenommen zu werden. Wäre die Bestechung nicht gelungen, dann hätten die Grünberockten sie zweifellos nach Tschifu gebracht und dort ihrem Mandarin vorgeführt. Es wäre höchst fraglich gewesen, ob dieser Mann sich nachsichtig verhalten hätte, denn Geld, um auch ihn umzustimmen, besaß der Japaner nun nicht mehr. Und ein Hinweis, zu Khai Wang zu gehören, konnte bei einem korrupten Mandarin die Rettung, bei einem ganz Unbeeinflußbaren jedoch gleichsam das Todesurteil sein. So gesehen, mußten die Piraten froh sein. Sie waren es aber nicht. Sie hatten kein Geld mehr, trugen nur ihre Fetzen auf dem
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Leib, froren und hatten erbärmlichen Hunger und Durst. Frei waren sie, aber unter welchen Bedingungen! Ihr Zustand versetzte sie in Zorn und brachte sie gegeneinander auf. Dschou glitt auf geröllübersätem Untergrund aus und rutschte ein Stück einen Abhang hinunter. Er rappelte sich wieder auf, fluchte und hastete den anderen nach, die stumpfsinnig dahintrotteten. „Verdammte Steine“, stieß Dschou hervor. „Hier ist nicht unser Element. Hier sind wir verloren. Wenn wir nicht erfrieren, verhungern oder verdursten wir. Ich hasse diese Berge.“ Tijang, der Uigure, hieb sogleich in dieselbe Kerbe. „Ja, es war ein Fehler, diesen Weg zu nehmen. Wir haben uns wie die Narren benommen. Und eins hast du vergessen: Die Wölfe könnten uns umzingeln und umbringen. Hier oben gibt es diese Bestien.“ Nakamura wandte sich um. „Woher weißt du das, Uigure? Warst du schon mal hier?“ „Nein.“ Tijang verharrte dicht vor dem Japaner. „Aber in meiner Heimat gibt es Wölfe. Ich habe meine Erfahrungen mit ihnen und weiß, wo sie leben.“ „Du willst hier nur was anzetteln!“ „Hilf uns hier 'raus“, sagte jetzt Lai. „Das ist alles, was wir von dir verlangen, Nakamura.“ „Ich kann es“, versicherte Nakamura heiser. „Wer an mir zweifelt, begeht einen gewaltigen Fehler. Habe ich die Soldaten nicht abgewimmelt? Sie hätten uns getötet, wenn wir es mit ihnen aufgenommen hätten.“ „Wir hätten ihnen ihre Gäule abjagen können“, sagte der Uigure hämisch. „Damit hätten wir nicht nur Reittiere gehabt, wir hätten den Soldaten auch die Kleider und Waffen abgenommen, und du hättest dein Geld gespart, Nakamura.“ Nakamura packte Tijang an seinen Lumpen und zog ihn ganz nah zu sich heran. „Du Hund schimpfst mich einen Feigling? Warte, das zahle ich dir heim!“ Er riß das Kurzschwert aus dem Gurt. Tijang dachte, er würde es ihm in den Leib rammen, aber Nakamura verhielt sich
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anders. Er drückte dem Uiguren das Schwert in die Faust und stieß ihn von sich weg. Tijang strauchelte, fiel auf den Rücken, hielt die Waffe mit beiden Händen hoch und blickte den Japaner verblüfft an. „Los“, sagte Nakamura. „Ich zeige dir jetzt, wer hier ein Feigling ist. Du warst erst kurze Zeit bei der de-RomaesMannschaft, Uigure, du kennst mich noch nicht genügend.“ Tijang erhob sich zögernd. Nakamura stand mit abgespreizten Beinen und leicht erhobenen Armen. Er wartete. Tijang wußte plötzlich nicht mehr, was er tun sollte. Er hätte Nakamura gern den Kopf angeschlagen und das Kommando über den jämmerlichen Haufen an sich gerissen, aber etwas bremste ihn. Er hatte davon gehört, daß der Japaner zu ausgefallenen Kampfmethoden griff, wenn er nicht gerade eine Übermacht vor sich hatte — ohne Waffen! Tijang blickte nach links und rechts. Dschou und Lai hatten sich abgewandt, sie verhielten sich unparteiisch. Sui auch. Der Bullige klomm weiter hinauf und hatte fast das obere Ende des Hanges erreicht. Nein, sie wollten sich nicht einmischen. Tijang ließ das Kurzschwert sinken. Nakamura schoß plötzlich auf ihn zu. Er war ein zuckender Schemen in der Nacht. Der Uigure sah etwas von rechts unter seinen Waffenarm rasen und spürte den Schmerz, der seine Gelenke und Muskeln lähmte. Das Kurzschwert fiel ihm aus der Hand. Er begriff, daß es Nakamuras Fuß gewesen war, der ihn so hart getroffen hatte. Im nächsten Moment knallte etwas unter sein Kinn und raubte ihm die Sinne. Die Hand des Japaners war bretthart. Tijang fiel hin und überrollte sich zweimal auf dem Hang. Als er nach kurzer Bewußtlosigkeit wieder aufstand, sah er Nakamura mit dem Schwert nach oben steigen, gefolgt von Dschou und Lai. Sui war bereits oben angelangt. Tijang eilte ihnen nach. Er kletterte auf allen vieren, keuchte und schwitzte trotz der Kälte. Es war gut möglich, daß Nakamura einen neuen Ausfall gegen ihn
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unternahm, aber der Uigure wollte auch nicht allein in der Einsamkeit der Berge zurückbleiben. Er war sicher, daß es unweigerlich sein Ende war. Denn er glaubte wirklich daran, daß in dieser öden und unwirtlichen Gegend Wölfe hausten. Als Tijang bei Nakamura angelangt war, blickte dieser ihn von der Seite an. „Das nächstemal töte ich dich“, sagte der Japaner. Mehr nicht. Tijang wollte irgendwie zum Ausdruck bringen, daß er genug davon hätte, den Aufsässigen zu spielen, daß er sich folgsam verhalten würde, aber in diesem Augenblick lenkte Sui sie alle ab. Der bullige Chinese hatte ein kleines Plateau erreicht. Von hier aus vermochte er in ein Tal zu blicken, das sich zu seinen Füßen ausdehnte. Daran wäre nichts Besonderes gewesen, sie hatten schon mehrere Täler durchwandert. Doch auf der Sohle dieses fast v-förmigen, sanft abfallenden Einschnitts glommen schwache Lichttupfer. Die verschiedenen Luftschichten, die zwischen Sui und dieser Erscheinung lagen, verschoben sich ständig und ließen die glühenden Pünktchen tanzen —ein Effekt, den man nicht nur in den Bergen, sondern auch auf See registrieren konnte. „Seht doch“, sagte Sui. „Ich glaube, wir haben es wirklich geschafft.“ Nakamura drängte sich an Dschou und Lai vorbei, dann stand. er neben Sui. Beinahe andächtig schaute er in die Tiefe. „Ein Dorf“, stellte er fest. „Ich habe also doch recht gehabt.“ Seine Begleiter blickten ihn an. Ja, sie hatten jetzt wieder mehr Vertrauen zu dem Mann aus Zipangu. Allmählich profilierte er sich zu einem besseren Anführer, als sie anfangs geglaubt hatten. Nakamura spähte mit schmalen Augen. „Etwas oberhalb des Dorfes liegt ein Gebäude am Hang. Bei den Kuh- und Büffelbauern in dem Nest gibt es sicherlich nicht viel zu holen. Aber ich nehme an, daß wir in dem Haus dort die Wohnung eines wohlhabenden Grundherren vor uns haben. Wahrscheinlich ist er der reichste Mann der Gemeinde.“
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„Ja, das glaube ich auch“, meinte Dschou. „Jedenfalls kann ich keine anderen Bauten entdecken, die etwas außerhalb des Dorfes errichtet sind.“ „Nehmen wir uns den Mann vor“, sagte der Japaner mit spöttischem Grinsen. „Bei ihm finden wir bestimmt alles, was unser Herz begehrt.“ * Innerhalb der nächsten Stunde umschlichen sie das Dorf und gelangten an die Einfriedung des schmucken großen Hauses, als das sich das Gebäude am Hang entpuppte. Das Bergland war hier wie überall karg, aber innerhalb der Umzäunung blühten dank eines klug angelegten Bewässerungssystems viele Blumen und wuchsen Sträucher. Nakamura richtete sich vorsichtig hinter der Mauer auf. Das Haus hatte buntglasierte Ziegel, Giebel, Erker und Balkons. Zum Eingang führte eine geschwungene Treppe hinauf. Nakamura bemerkte nichts, das auf Gefahr hinwies. Er kletterte über die Mauer in den Garten und winkte den Kumpanen zu. Sie entdeckten einen Pfirsichbaum und pflückten sofort ein paar Früchte ab. Gierig schlangen sie das süße, saftige Fleisch in sich hinein. Nakamura schlich schon weiter und sichtete schließlich als erster den Brunnen, nach dem sie in den Bergen vergeblich geforscht hatten. Selbst er konnte der Versuchung nicht widerstehen. Der Brunnen hatte keine Ziehvorrichtung. Man brauchte das Wasser nicht erst mühsam aus der Tiefe heraufzuholen. Auf der obersten Plattform der marmornen Konstruktion wand sich ein gemeißelter Drache. Aus dem Maul dieses Ungeheuers sprudelte frisches Quellwasser, das auf artesischem Weg aus der Erde nach oben drang. Nakamura beugte sich vor, öffnete den Mund und ließ das Naß in seinen ausgedörrten Mund rieseln. Er schlürfte und lachte und ließ sich fast zu sehr von dieser Köstlichkeit hinreißen. Dann aber drehte er sich rasch zu den anderen um.
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Er sah sie nahen, aber zwischen ihnen und ihm hockte ein ungebetener Gast: ein großer, dunkler Hofhund, der Nakamura fixierte und bereits die Zähne gefletscht hatte. Tijang pirschte sich als erster von hinten an das Tier heran. Er wandte sich um und streckte die Hand zu Dschou aus. Dschou gab ihm tatsächlich das Kurzschwert. „Ruhig“, sagte Nakamura leise. „Ganz ruhig, mein Freund. Ich glaube, wir kommen prächtig miteinander aus, wenn du ...“ Er verstummte. Der Hund duckte sich auf die Hinterhand und setzte zum Sprung an. Nakamuras Hand lag jetzt auf dem Knauf des Kurzschwertes, aber er wußte genau, daß er es nicht mehr rechtzeitig zücken konnte und verdammte sich, weil er es nicht schon vorher aus dem Gurt gezogen hatte. Der Uigure schleuderte die geborgte Waffe. Sie traf den Hund. Das Tier vollführte den Sprung nicht mehr und gab auch keinen Klagelaut mehr von sich, sondern nur ein schwaches, unerhebliches Blaffen. Nakamura blickte zum Haus. Dort regte sich immer noch nichts. Er atmete auf, zog jetzt endlich seine Waffe und huschte auf das reglose Tier zu. Mit erhobenem Schwert beugte er sich über den Vierbeiner, stellte aber fest, daß der Uigure ganze Arbeit geleistet hatte. Er blickte Tijang an. „Warum hast du das getan?“ „Um dir zu helfen.“ „Vor einer Stunde hättest du mich am liebsten umgebracht.“ „Ich habe es bereut, so störrisch gewesen zu sein.“ Nakamura bemerkte, daß der Blick des Uiguren immer wieder zu dem sprudelnden Brunnen huschte. Nakamura wertete den Einsatz des Mannes als echten Versuch, das Geschehene auszubügeln, trat zur Seite und wies mit dem Kopf zu dem Brunnen. Er hatte die Kaltblütigkeit, seine Männer in aller Ruhe trinken zu lassen, während er selbst auf das Haus zuschlich. Er drückte sich an die Wand, schob sich daran entlang
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und richtete sich dann neben einem der Fenster auf. Im Inneren des Hauses verbreiteten ein paar Öllampen warmes, bernsteinfarbenes Licht. In der Gestalt eines gutgekleideten, etwas beleibten Mannes in einem geschnitzten Holzgestühl glaubte Nakamura den Besitzer zu erkennen. Frühes Zubettgehen schien dem Hausherrn nicht zu liegen. Er saß vor einem Tischchen, bewegte hin und wieder die Figuren eines Mahjongg-Spiels, sagte etwas zu seinem Gegenüber und schlürfte aus einer flachen Tasse. Seinen Spielpartner konnte Nakamura nicht sehen, weil der in einem Sessel mit hoher Lehne saß und ihm den Rücken zugewandt hielt. Der Japaner hörte eine Tür klappen. Er bewegte sich weiter, gelangte an eine Ecke und erkundete vorsichtig, was dahinterlag. Rechtzeitig erblickte er den Mann, der das Haus verlassen hatte und auf jenen Teil des Gartens zu steuerte, in dem sich der Brunnen befand. Nakamura zog sich ein Stück zurück. Als der Mann die Ecke erreicht hatte, ging alles sehr schnell. Nakamura erwartete ihn mit erhobenem Kurzschwert. Der Mann aus dem Haus trug ein einfaches Leinengewand und eine Tellermütze, mußte also irgendein Dienstbote sein. Er blieb verblüfft am Haus stehen und starrte zu den zerlumpten Gestalten am Brunnen. Den toten Hund sah er auch liegen, und seine Fassungslosigkeit schlug in Entsetzen um. Er wollte Alarm schlagen, aber der Japaner war schneller. Nakamur schnellte neben dem Hausdiener hoch. Das Schwert war ein matter, huschender Blitz in der Nacht. Er fraß sich in den Leib des Mannes. Nakamura fing ihn auf, hielt ihm den Mund zu und erreichte so, daß sein Opfer lautlos ins Jenseits überwechselte. Dschou rannte geduckt auf Nakamura zu. Nakamura winkte Lai, Sui und dem Uiguren zu, sie sollten das Haus von der anderen Seite umrunden, dann wandte er sich an Dschou. „Der Bursche hier muß
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irgendein Geräusch vernommen haben, Er erschien, um nach dem Rechten zu sehen. Vorsicht also.“ „In Ordnung“, raunte Dschou zurück. „Ich habe mir das Schwert vom Uiguren wiedergeben lassen. Ich töte jeden, der mir in den Weg tritt.“ Sie pirschten weiter und wußten nach kurzer Suche, wo sich der Pferdestall befand. Fast ein Dutzend edler Tiere standen in dem langgestreckten Bau. Einige schlummerten, andere waren wach und schnaubten leise, zermalmten Futter zwischen den Zähnen oder traten mit den Hufen. Nakamura frohlockte. Das war es, was er suchte! Er drehte sich um und verständigte sich durch Zeichen mit Dschou. Sie glitten lautlos durch die Nacht, auf das Wohnhaus zu. Ihr Eindringen riß den Beleibten abrupt vom Mahjongg-Spiel hoch. Sein Gegenüber sprang ebenfalls auf - ein Mann Mitte der Fünfzig, nicht weniger fürstlich gekleidet als der Gastgeber. Nakamura schleuderte sein Kurzschwert, ehe der Beleibte zu einer Waffe greifen konnte. Es durchbohrte die Brust des Mannes. Der andere blickte mit einem röchelnden Schrei zu dem Hinsinkenden. Er wollte durch eine rückwärtige Tür flüchten, wurde aber durch Sui und den Uiguren gestoppt, die hereinstürmten. Sui packte den vor Entsetzen aufstöhnenden Mann und stieß ihn auf Dschou zu. Dschou bereitete dem Gegner ein rasches Ende, indem er mit dem Schwert zuhieb. „Gut so“, lobte Nakamura. Er sah zu Sui und Tijang. „Wo steckt Lai?“ „Er steht draußen Wache“, erwiderte Sui. „Sucht nach Eßbarem, nach Waffen und nach Kleidern“, befahl der Japaner. „Und beeilt euch, verflucht noch mal. Wir haben unsere Zeit nicht gestohlen.“ Sie durchstöberten das Haus und fanden alles, was sie brauchten. Die Frau und die Kinder, die sich mit vor Grauen entstellten Gesichtern in ein Nebenhaus zurückgezogen hatten, stöberten sie nicht auf. Auch die Bediensteten, die der Familie des Beleibten angstbebend Gesellschaft
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leisteten, entdeckten sie nicht. Die Frau und die Kinder hatten durch ein winziges Fenster mit angeschaut, wie Nakamura, Dschou, Sui und Tijang das Wohnzimmer gestürmt hatten. Die Piraten aßen seelenruhig und versorgten sich mit genügend Proviant und Trinkbarem für die Weiterreise. Sie benahmen sich völlig gelassen, denn sie wußten, daß sie nun niemand mehr stören würde. Etwas später sattelten sie fünf Pferde und brachen auf, nach Nordwesten, zum Huangho, dem großen Strom, der sich vor der Grenze zur Nachbarprovinz Hopeh dahin wand. Ihr Äußeres hatte sich grundlegend gewandelt. Sie waren jetzt nicht mehr die erbärmlichen, zerlumpten Gestalten, sondern ihrer Aufmachung nach ehrbare Bürger. 6. Am Nachmittag des zweiten Tages nach dem Kampf gegen Khai Wang und Vinicio de Romaes sichtete Dan O'Flynn die Küste. Er steckte zwei Finger in den Mund, holte tief Luft und produzierte einen Pfiff, der den Affen Arwenack zusammenzucken ließ. „Deck!“ rief Dan. „Land Backbord voraus!“ Sichtlich befriedigt begab sich der Seewolf vom Achterdeck aufs Quarterdeck hinunter. Er trat ins Ruderhaus, gab Pete Ballie ein paar knappe Anweisungen und befaßte sich dann mit seinen Karten. Einen großen Bogen Reispapier hatte er an die Achterwand gepinnt. Es war die Karte, die man ihm in Xiapu ausgehändigt hatte. Die mit viel Akribie aufgemalten Küstenformationen, Inseln, Flüsse und Städte gaben bis ins kleinste Detail und maßstabsgetreu die wirklichen Verhältnisse wieder. Hasard berechnete rasch die Position, verglich sie mit der Karte und sagte dann: „Also, innerhalb der nächsten Stunde müßten wir eine dieser Flußmündungen erreichen.“
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Siri-Tongs Kopf mit dem langen, weichen schwarzen Haar schob sich neben ihn. Sie war von der anderen Seite eingetreten. „Jinzhonghe — so heißt nach Fongs Aussage der Fluß, den wir nehmen müssen.“ „Hier ist er“, sagte Hasard. Er tippte mit der Kuppe des Zeigefingers auf den Namen. „Die Frage ist nur, ob er schiffbar ist. Und wenn ja, ob wir darauf bis in die Verbotene Stadt gelangen.“ Sie lächelte. „Sehr überzeugt siehst du nicht aus.“ „Ja, ich glaube nun mal nicht daran, daß wir ähnliche Gewässer wie in Shanghai vorfinden.“ In Shanghai lag der Hafen am Wangpufluß, und der Wangpu mündete in den Jangtsekiang, der wiederum direkt der See entgegenfloß. Beide Ströme waren im Einzugsgebiet der Stadt auch für die größten Segler befahrbar. Aber Peiping, die „nördliche Hauptstadt“, lag nach Hasards Meinung viel zu weit im Landesinnern, und auch die Flüsse waren mit so dünnen Tuschelinien eingezeichnet, daß er an einen benutzbaren Wasserweg nicht glauben konnte. Dieser Umstand führte zu Problemen. Hasard und die Korsarin ließen FongCh'ang rufen. Bill, der Schiffsjunge, eilte sofort ins Achterkastell, und kurz darauf erschien nicht nur Fong, sondern auch gleich das Mädchen „Flüssiges Licht“. Hasard beriet kurz mit ihnen. Das Ergebnis lautete, daß Weder Fong noch Ch'ing-chao Li-Hsia Genaueres über die Wege zur Verbotenen Stadt wußten. Alles, was von Fong zu erfahren war, waren folgende Daten: Peiping oder Peking war seit 1267 der Sitz der chinesischen Kaiser, und heute lebten dort mehr als fünftausend Menschen. Fong wußte auch die Kaiser der Sung- und der Yüan-Dynastie aufzuzählen, die von dort aus regiert hatten. Er war ein belesener Mann. „Der Große Chan, der jetzt die Macht über das Reich hat, gehört der Ming-Dynastie an“, sagte er. „Seit zweihundert Jahren lenken die Ming nun schon die Geschichte des Reichs der Mitte. Ihr erster Kaiser war
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Dschu Yüan-Dschang, der nach eurer Zeitrechnung 1351 an die Macht gelangte.“ „Flüssiges Licht” übersetzte fleißig. Sie war selbst fasziniert von dem, was Fong zu berichten wußte. Zuletzt fügte sie selbst hinzu: „Und in Peking wird Mandarin gesprochen — die offizielle Sprache des Reiches, die den wohlklingenden, reinsten Akzent hat.“ Hasard lächelte. „Der Vollständigkeit halber: Ich habe ausgerechnet, daß Peking am 392 Breitengrad liegt, also ungefähr auf der Höhe von Madrid.“ „Hölle“, sagte Carberry, der eben hinzugetreten war. „Hoffentlich stoßen wir da nicht auf eine Kolonie von Dons. Das hätte uns noch gefehlt.“ Ben Brighton hatte sich auch genähert und erwiderte: „Ed, laß doch die faulen Witze weg.“ „Das ist kein Witz, das ist mein voller Ernst“, protestierte der Profos. „Hasard hat doch eben von Madrid gesprochen, ich hab's ganz deutlich gehört.“ Er wunderte sich, warum ihn plötzlich alle angrinsten. „Großartig“, sagte der Seewolf. „Wir kratzen alles zusammen, was wir über die Verbotene Stadt erfahren können, aber es bringt uns nicht auf unseren Ausgangspunkt zurück — kommen wir nun mit der ‚Isabella' hin oder nicht?“ Er schaute zu Carberry. „Ed, gehen wir zu Khai Wang. Ich will wenigstens versuchen, von ihm eine Antwort auf die Frage zu erhalten.“ Sie stiegen zum Kabelgatt hinunter. SiriTong, Fong und das Mädchen hatten sich ihnen angeschlossen. Vor der Tür des Kabelgatts standen Blacky und Gary Andrews Wache. Carberry schob sich mit mißtrauischem Blick auf sie zu. Er gab ein unterdrücktes, bösartiges Grunzen von sich, war aber ziemlich enttäuscht, als er nicht die Spur von Schlaf in ihren Gesichtern bemerkte. „Wir sind hellwach“, sagte Blacky, der genau wußte, auf was der Profos aus war. „Khai Wang kann keinen — Atemzug loslassen, ohne daß wir's hören.“ Fast hätte er etwas anderes gesagt, aber er sah
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rechtzeitig, daß sich die Korsarin und das Mädchen hinter Hasard näherten. Vom oberen Gang her strömte etwas Licht ein. Hasard sah die beiden Holznäpfe, die zu Gary Andrews Füßen standen. Der eine enthielt Wasser, der andere eine volle Portion von dem Eintopf, den der Kutscher zu Mittag zubereitet hatte. „Er hat nichts gegessen, Gary?“ „Nein, Sir. Er lehnt alles ab. Auch das Wasser.“ „Khai Wang als Märtyrer“, sagte Siri-Tong argwöhnisch. „Das leuchtet mir irgendwie nicht ein.“ „Das will mir auch nicht in den Kopf“, pflichtete Carberry ihr sofort bei. Hasard gab Blacky einen Wink. Blacky zückte die Steinschloßpistole, Gary zog daraufhin auch die Schußwaffe, Blacky riegelte die Tür auf. Die Anweisung, nur mit entsicherter Waffe das Kabelgatt zu öffnen, hatten sie vom Seewolf persönlich erhalten. „Ich weiß, was er erreichen will“, sagte Hasard. „Der Große Chan soll sehen, wie wir unsere Gefangenen zurichten. Als ausgemergelte Figur hofft Khai Wang wohl Mitleid zu erregen.“ Die Tür stand offen, er trat ein und stellte sich vor die Gestalt hin, die in einer Ecke reglos auf dem Boden kauerte. „Siri-Tong, willst du übersetzen?“ fragte Hasard. „Liebend gern.“ „Khai Wang, ich will dir ein paar Fragen stellen, die Peking betreffen. Sicher warst du auch noch nicht in der Verbotenen Stadt, aber du könntest doch durch andere Seeräuber oder Opfer, die du verhört hast, über ein paar Kleinigkeiten informiert sein. Willst du deine Lage durch diese Auskünfte verbessern?“ Lage verbessern? Carberry wollte aufbegehren, aber er bemerkte Siri-Tongs zurechtweisenden Blick. Deshalb äußerte er sich nicht. Verdammt, warum hatte er nur einen solchen Narren an diesem Frauenzimmer gefressen? Genügte jetzt schon ein Blick von ihr, und er hielt den Schnabel? Allmächtiger, dachte er entsetzt,
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geh bloß bald von Bord, Korsarin, oder ich weiß nicht mehr, wo mir der Köpf steht! Hätte er den letzten Satz laut von sich gegeben, dann hätte Blacky ihn sicherlich unverzüglich darauf hingewiesen, daß er das schon seit langem befürchtet hatte. Über den Rammschädel des Profos' und über das, was dessen Gehirnkasten wohl barg, wurden auf der „Isabella“ sowieso die größten Witze gerissen. Khai Wang spuckte aus, als Siri-Tong Hasards Worte übersetzt hatte. Hasard wich zur Seite. Nur seiner schnellen Reaktion hatte er es zu verdanken, daß er nicht getroffen worden war. „Die Pest soll dich auffressen, Würmer sollen in deinem Leib wühlen“, zischte Khai Wang. „Glaubst du, ich verkaufe mich an meine Todfeinde? Peiping ist eine öde Wüste, die Stadt existiert nicht. Wagt euch an die Küste heran – schwarzer Schlamm wird euer Schiff in die Tiefe ziehen, Schlangen und Drachen warten darauf, euch zu würgen und zu beißen. Willst du mehr wissen, Bastard von einem Seewolf?“ Siri-Tong war drauf und dran, dem Piraten die Faust ins Gesicht zu schlagen. Aber Hasard hielt sie zurück. „Willst du dich wie seinesgleichen benehmen und einem Wehrlosen zusetzen? Willst du das wirklich?“ „Ich halte das nicht aus!“ „Was hat er denn gesagt?“ Hastig übertrug sie ins Englische, was Khai Wang ausgestoßen hatte. Wirklich, sie konnte sich kaum beherrschen. Ihre Hand zuckte zum Degengriff. „Madame“, sagte der Profos rauh. „Hauen Sie mir einmal kräftig vor die Brust, wenn Sie sich unbedingt abreagieren müssen.“ Sie schaute sich zu ihm um. „Danke, Ed, nicht nötig.“ Na bitte, dachte Carberry, der Profos hat doch noch Einfluß auf diesem Schiff. „Ich habe es mir gedacht, daß unser Besuch bei dir zu nichts führen würde“, erklärte Hasard dem wutschnaubenden Khai Wang. „Aber das eine laß dir noch gesagt sein. Der Bastard, gegen den du
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soviel Gift versprühst, würde sich selbst niemals zu der Kreatur herabwürdigen, zu der du geworden bist.“ Siri-Tong dolmetschte wieder. Khai Wang bäumte sich daraufhin in seinen Ketten auf und begann zu toben. Hasard ließ ihn gewähren. Er bedeutete den anderen, das Kabelgatt zu verlassen. Als er als letzter die Tür passiert hatte, beruhigte Khai Wang sich wieder. Blacky rammte die Tür zu. „Gift“, sagte er, „Gift und kleine grüne Steine spuckt der Hund aus. Er geht noch selbst daran zugrunde.“ Schweigend kehrte der Seewolf auf Oberdeck zurück. Siri-Tong verließ hinter ihm das Schott des Achterdecks, als Dan O'Flynn wieder oben im Großmars lebendig wurde. „Flußmündung Backbord voraus! Da geht's nach Peiping in die Lotosgärten des großen Kaisers!“ Das war natürlich eine geradezu unverschämt optimistische Darstellung der nahen Zukunft. Zwar erreichte die „Isabella“ die Mündung ungehindert, und tatsächlich handelte es sich um den Fluß Jinzhonghe, der in Übereinstimmung mit der Realität auf der Karte von der Verbotenen Stadt bis zum Golf verlief, aber bis zur Stadt waren noch etliche Meilen zurückzulegen. Als sie in die Flußmündung manövrierten, lag Smoky bäuchlings auf der von Ferris Tucker wiederhergestellten Galionsplattform und lotete die Wassertiefe aus. Der Jubel war groß, als sich herausstellte, daß der Fluß auch im Landesinnern noch schiffbar war. „Donnerwetter“, sagte Ben Brighton von der Five-Rail aus. „Ich hatte gar nicht gewagt, daran zu glauben. Und - sieh doch, Hasard!“ Der Seewolf blickte auf. Die Segel standen immer noch hervorragend. Der beständige Ostwind, frisch bis handig, drückte sie energisch gegen die nicht besonders starke Strömung des Flusses Jinzhonghe voran. Die „Isabella“ lief noch recht gute Fahrt
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und steuerte nordwestlich quer durch das flache Land. Fong wies plötzlich überrascht auf das Achterdeckschott. Hasard folgte seinem Fingerzeig und erblickte eine leicht gebückte Gestalt, die blinzelnd und nicht besonders entschlossen auf die Kuhl trat. „Das ist ja Hung-wan“, sagte er überrascht. „Verrückt - warum haben wir ihn nicht befragt?“ „Flüssiges Licht“ lief zu dem alten Chronisten, griff ihm unter den linken Arm und stützte ihn. Hung-wan nickte ihr dankbar zu. Er bewegte sich mit kleinen, unsicheren Schritten weiter voran, sah Hasard auf dem Quarterdeck stehen und wandte sich ihm zu. Old O'Flynn spähte vom Achterdeck aus zu dem Alten. „Verdammt“, murmelte er, „so gebt dem Knaben doch ein paar anständige Krücken, sonst kippt er uns noch um.“ „Sei still, Donegal“, sagte Big Old Shane. Old O'Flynn linste den graubärtigen Riesen von der Seite an. „Seit wann laß ich mir von dir den Mund verbieten, he?“ „Ich verbiete dir nicht den Mund, ich gebe dir nur einen Rat.“ „Und wenn ich reden will?“ „Brabble von mir aus in deinen Bart, den du nicht hast, was du willst“, sagte Shane, ohne den Blick von dem alten Chronisten zu nehmen. „Aber du willst doch auch, daß man dir Respekt entgegenbringt und nicht an dir 'rummäkelt, nur, weil du ein alter Tattergreis geworden bist.“ „Wie war das?“ Dans Vater stieß einen verdutzten Ächzer aus. „Sag bloß, du gehörst noch nicht zum alten Eisen ...“ „Hölle, ich zieh dir gleich mein Holzbein über den Schädel, Shane“, zischte Old Donegal. „Meinetwegen, aber hör auf zu brabbeln“, sagte Shane fast fröhlich. „Das tun nämlich nur Tattergreise.“ Auf dem Quarterdeck hatte Hung-wan neben dem Seewolf und Siri-Tong verhalten. Er hatte sich nach Backbord gewandt und schaute nachdenklich auf die unendlich wirkenden grünen Matten, die
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sich rund um das Schiff zu beiden Ufern des Flusses Jinzhonghe ausdehnten. „Das Land, in dem der Reis wächst, und wo stumme Riesen, die tausend Gesichter haben, auf die Seen und Flüsse niederblicken, die unsere Urahnen durchwatet haben“, sagte er leise. „Flüssiges Licht“ schaute über die Schulter zu Hasard zurück. Sie wollte es übersetzen, aber Siri-Tong tat es bereits. „Frag ihn, ob er sich an die Gegend erinnert“, sagte Hasard. Die Korsarin erkundigte sich vorsichtig bei dem alten Mann. Sie hatte ihre Zweifel, ob Hung-wan sie überhaupt anhören wollte — in der Vergangenheit hatte er alles getan, um nachzuweisen, daß sie eine Teufelin in Menschengestalt wäre. Aber jetzt drehte er den Kopf und sah sie mit besonnener Miene an. „Dies ist die Provinz Hopeh“, sagte er. „Wer wird die grünen Grasteppiche jemals vergessen, in denen alle Fruchtbarkeit des Reiches verborgen liegt?“ Siri-Tong dolmetschte wieder, und der Seewolf richtete eine neue Frage an den Chronisten, die dieser auch wieder beantwortete. „Führt uns dieser Fluß nach Peiping?“ „Ja, geradewegs.“ Hasard fühlte sich ermutigt und fuhr fort: „Ist er bis zur Verbotenen Stadt schiffbar?“ „Ich entsinne mich nicht.“ „Wurde denn das schwarze Schiff nicht von Peking aus auf den Weg geschickt?“ fragte Hasard. „,Eiliger Drache über den Wassern' — der Große Chan selbst war es doch, der den Viermaster mit seinem Segen versehen auf die Reise sandte.“ Hung-wan richtete sich auf, seine Augen leuchteten erregt. „Damals“, hauchte er. „Es war die Stunde der Menschheit, der Aufbruch zur Wahrheit, aber was wußten wir törichten Menschen von dem, was hinter den Meeren lag? War es unser Recht, das Abenteuer zu suchen und die Gefahr herauszufordern? Nein. Wir haben gesehen, welcher Fluch und Aberwitz über eine Expedition wie diese hereinbrechen
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kann. Wir waren zum Untergang verdammt, alle ...“ Hasard bremste seine Ungeduld. „Erklär ihm, daß uns das bekannt ist“, sagte er eindringlich zu Siri-Tong. „Er soll versuchen, sich zu besinnen und an die Verbotene Stadt zu denken. Es ist in seinem eigenen Interesse. Je mehr Auskünfte er uns geben kann, desto eher tritt auch er dem Großen Chan gegenüber.“ Siri-Tong tat ihr Bestes, aber Hung-wans Miene wirkte noch entrückter, als er entgegnete: „Peking -Stadt der Allmacht, Stadt der Unendlichkeit, Stadt der Weisheit. Sind wir deiner würdig? Lange habe ich auf diesen Moment gewartet, aber jetzt weiß ich nicht, ob ich deinen Glanz stören darf.“ Trotz Shanes Bemerkungen konnte sich der alte O'Flynn einen weiteren Kommentar nicht verkneifen. „Also, nun hör sich einer das Gefasel an“, sagte er nach Siri-Tongs Übersetzung, die klar bis zum Achterdeck heraufdrang. „So ein Blödsinn. Hat der Bursche etwa den Verstand verloren?“ Keiner war so respektlos wie Old Donegal, das wußte jeder an Bord der „Isabella“. Hung-wan schien sich zwar nicht im Zustand geistiger Umnachtung zu befinden, aber so sehr Hasard und SiriTong sich auch bemühten, aus dem Chronisten war nichts Konkretes über den Wasserweg zur Hauptstadt des Reiches herauszukriegen. Ch'ing-chao Li-Hsia und Fong-Ch'ang sprachen nun auch mit dem alten Mann. Aber der entsann sich lieber der Verse von Li Tai-po, dem berühmtesten chinesischen Dichter. Fong zuckte mit den Schultern, das Mädchen schaute bekümmert drein. „Nichts zu machen“, sagte Hasard. „Wir müssen bei der Weiterfahrt also alles dem Zufall überlassen. Wir werden ja sehen, wie weit wir es schaffen.“ Eine Stunde später löste Al Conroy Smoky auf der Galionsplattform ab. Er legte sich flach hin und ließ das Senkblei vor dem Bug der „Isabella“ in den Fluten verschwinden.
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Bei Einbruch der Dämmerung waren die bräunlichen Fluten des Flusses immer noch passierbar. Hasard und seine Männer gewannen wieder einige Zuversicht, daß sie so nah vor ihrem Ziel doch nicht steckenbleiben mußten. Hung-wan stand bis in die Dunkelheit auf dem Quarterdeck und blickte schweigend voraus - dorthin, wo Peking liegen mußte. 7. Dank der Pferde war es für Nakamura und seine skrupellosen Weggefährten keine Schwierigkeit gewesen, den Huangho zu überqueren. Sie hatten eine Furt entdeckt, die ein Mensch nicht durchwaten konnte, weil er von der starken Strömung des Gelben Flusses mitgerissen worden wäre. Aber auf dem Rücken der Tiere hatten sie zügig das gegenüberliegende Ufer erreicht. Am Tag, der auf die Nacht des Überfalls in den Lushan-Bergen folgte, mußten sie noch andere Flüsse bewältigen, aber die waren bei weitem nicht so breit wie der Huangho. Als sie die Provinz Hopeh vor sich liegen sahen, rasteten sie, tränkten die Pferde und ließen sie fressen, während sie selbst etwas von dem Proviant zu sich nahmen. Die Nacht und der folgende Tag verstrichen mit dem Weg durch die Provinz in Richtung Norden. Immer wieder mußten die fünf Piraten Pausen einlegen, um die Pferde nicht zu sehr zu strapazieren. In der Nacht, in der sich die „Isabella“ den Jinzhonghe-Fluß hinaufarbeitete, stießen Nakamura und seine Kumpane westlich von Tientsin auf ein Lamakloster. Der Mönch, der vor dem Portal Wache saß, schöpfte keinen Verdacht, als sie Einlaß verlangten - er glaubte ja, Tuhao vor sich zu haben, „ehrenwerte Männer“. Nakamura, Dschou, Lai, Tijang und Sui saßen im Innenhof des Klosters ab, schritten mit verächtlichem Grinsen an Gebetsmühlen vorbei und hielten auf das Haupthaus zu. Sie drangen ein, zückten ihre Waffen und schlugen jeden nieder, der sich ihnen in
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den Weg stellte. Sie plünderten das Kloster, verjagten den Abt, deckten sich mit neuem Proviant und Trinkwasser ein und raubten außer einigen Kostbarkeiten auch fünf Gewänder der Lamas. Der Abt und einige seiner Männer waren in das nächste Dorf geflohen. Aber als sie mit einem Trupp Soldaten der nahgelegenen Garnison zurückkehrten, fehlte von den fremden Schlagetots bereits jede Spur. Nakamura und seine Bande strebten nach Nordwesten, wo die Verbotene Stadt am Rand der großen Ebene lag. Der Japaner hatte befunden, daß sie nicht zu lange in der Verkleidung der Tuhao auftreten durften –und daß es außerdem leichter sein würde, in der Larve der Lamas, buddhistischer Mönche, in Peking einzudringen. * Kurz vor dem Morgengrauen durften die Seewölfe alle Illusionen aufgeben. Der Jinzhonghe war zu seicht geworden. Mit jedem Yard, den die „Isabella“ sich jetzt noch voranbewegte, riskierte sie, steckenzubleiben. Hasard hatte die Segel aufgeien und den Buganker ausrauschen lassen. Die Strömung verhinderte, daß die große Galeone quertrieb. Sie lag leicht tanzend in Längsrichtung des Flusses. In einem rasch abgefierten Beiboot saßen Carberry, Matt Davies, Gary Andrews, Bob Grey und der Kutscher. Während drei Mann pullten und der Profos die Ruderpinne bediente, lotete der Kutscher unausgesetzt die Wassertiefe aus. Dann kehrten sie zum Schiff zurück. Ed Carberry teilte dem Seewolf das betrübliche Ergebnis ihrer Lotungen mit. „Keine Fahrrinne, nichts. Der Flußgrund wird nur noch flacher, und weiter oberhalb liegt die erste Sandbank. Mist, verdammter.“ Er enthielt sich einiger deftiger Ausdrücke, weil Siri-Tong neben dem Seewolf stand. Die kannte zwar auch sämtliche Kraftworte, die es gab, aber auch ein rüder Profos bewies vor einer Lady stets eine Portion Anstand.
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„Männer!“ rief der Seewolf. „Wir können uns nur zu einem der Ufer hin verholen und den Tag abwarten.“ „Da haben wir den Salat“, meckerte Old O'Flynn, der in dieser Nacht kein Auge zukriegte. Sein Sohn meldete sich aus dem Großmars. „An Backbord haben wir eine kleine Bucht. Wenn das Wasser dort noch tief genug ist, können wir hineinmanövrieren und haben einen geschützten Ankerplatz.“ „Ed“, sagte Hasard daraufhin sofort. „Marsch, marsch, zurück in die Jolle und die Bucht erkunden.“ „Aye, Sir.“ Das Boot dümpelte noch an Backbord der „Isabella“, der Profos und seine Bootsgasten brauchten nur wieder an der Jakobsleiter abzuentern, einzusteigen und abzulegen. Hasard und die anderen auf der Galeone schauten ihnen nach, als sie zu der Bucht hinüberpullten. Etwas später hatte der Profos eine etwas bessere Nachricht für seinen Kapitän bereit. Das Boot glitt zur „Isabella“ zurück, Carberry richtete sich von der Achterducht auf, ließ die Ruderpinne los und legte beide Hände als Schalltrichter an den Mund. „Die Bucht ist tief genug! Schlage vor, wir nehmen unsere Lady mit beiden Booten in Schlepp!“ Hasard stimmte zu. Es war tatsächlich das sicherste, die Galeone auf diese mühsame Arbeit in die Bucht zu verholen. Zwar dauerte es länger, auch das zweite Beiboot abzufieren, Schleppleinen auszubringen und die „Isabella“ mit diesen Leinen von den Booten zum Ufer zerren zu lassen, aber wenn Hasard Segel setzte, riskierte er, durch ein winziges Mißgeschick auf Grund zu laufen. So lavierten sie in die Bucht, warfen beide Anker und warteten den Morgen ab. Hasard versammelte die komplette Besatzung auf der Kuhl. Selbst Hung-wan war dabei, als Hasard mitteilte, was er beschlossen hatte. „Wir brechen in aller Frühe mit beiden Booten auf. Nur eine kleine Delegation von uns kann die Verbotene Stadt besuchen, die anderen müssen hierbleiben
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und die ‚Isabella' bewachen. Nicht zu vergessen auch, d ß wir Khai Wang, Wu, den Chronisten und die Mumie mitnehmen müssen. Es wird eng werden, wir müssen uns mächtig einschränken.“ „Eine Ideallösung ist es nicht“, erwiderte Ben Brighton. „Aber wir haben wohl keine andere Wahl.“ Eben“, sagte der Seewolf. „Ich nehme kaum an, daß der Große Chan sich zu uns bemüht. Also, bereiten wir uns auf die Weiterfahrt vor. Wer außer Siri-Tong begleitet mich freiwillig nach Peking?“ Sämtliche Hände schossen gleichzeitig hoch. Hasard mußte unwillkürlich lächeln. „Danke, aber ich muß dann wohl selbst die Auswahl treffen. Ferris, du übernimmst während meiner Abwesenheit das Kommando über die ‚Isabella: denn Ben kommt mit in die Verbotene Stadt.“ Ferris wäre auch gern dabei gewesen, aber er murrte nicht. Befehl war Befehl. „Gut, dann haben Will Thorne und ich ja endlich Zeit, die ‚Isabella' ganz wiederherzustellen. Wir pflanzen ihr den neuen Bugspriet und die Blinde auf und reparieren den Fockmast, daß er auch dem nächsten Sturm trotzt.“ „In Ordnung“, erwiderte Hasard. Will Thorne war somit auch einer Gruppe zugeteilt, es konnte weitergehen. „Shane, Carberry, Dan sind dabei“, sagte Hasard, „sowie Fong-Ch'ang und das Mädchen. Die beiden haben meiner Meinung nach geradezu das Recht, die Hauptstadt ihres Reiches zu sehen. Nein, Bill, tut mir leid, du bleibst hier und hilfst Ferris und Will.“ Bill, der Schiffsjunge, blickte betrübt zu Boden. Er hatte sich einige Chancen ausgerechnet, diesen sagenhaften Chan auch aus der Nähe zu sehen, aber daraus wurde nun nichts. Er mußte sich damit abfinden. „Batuti, du bleibst ebenfalls auf der ‚Isabella' „, fuhr der Seewolf fort. „Nichts gegen deine Unterstützung, aber ich will nicht, daß es deinetwegen wieder Aufruhr gibt. Auch für dich ist das nicht gut.“ Der Gambia-Mann nickte. Es stimmte, es gefiel ihm ganz und gar nicht, überall in
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dem Land der Zopfmänner neugierig angestarrt und als Hei Lien, als schwarzes Gesicht, bezeichnet zu werden. Hasard wählte noch Blacky für die Expedition aus, die anderen waren zum Ausharren in der Flußbucht „verdonnert“: der Kutscher, Smoky, Pete Ballie, Gary Andrews, Matt Davies, Al Conroy, Old O'Flynn, Jeff Bowie, Sam Roskill, Bob Grey, Luke Morgan, Stenmark - und Arwenack; der Schimpanse. Sir John würde sozusagen als „blinder Passagier“ mit nach Peking reisen. Er hatte sich beim Profos in der Wamstasche zusammengekuschelt. Die Nacht verlief ruhig. Am Morgen allerdings gab es eine herbe Überraschung. An beiden Ufern des Jinzhonghe hatten sich Besucher eingefunden, die keiner gerufen hatte: Soldaten. Freundlich schauten sie wirklich nicht drein. „Mehr als zehn auf jeder Seite“, sagte Ben Brighton nach einem Blick durch das Spektiv. „Sie tragen grünseidene Montur und haben ähnliche Waffen wie unsere Bewacher in Xiapu und Shanghai Armbrüste und Speere mit aufgesteckten Dolchen.“ „Irgendjemand hat in der Nacht unser Aufkreuzen bemerkt“, sagte der Seewolf ruhig. Er hatte die Hände aufs Schanzkleid des Achterdecks gelegt. Seine Miene war entspannt. „Vielleicht ein Fischer oder ein Reisbauer, der zufällig in der Nähe war. Er hat die Truppe alarmiert, daß ,Yang kuei tzu auf die Verbotene Stadt zuhalten fremde Teufel. Das hat Aufruhr gegeben. Ich schätze, unsere Freunde dort kommen aus Tientsin.“ „Was ist, verscheuchen wir sie mit ein paar Kugeln?“ fragte Old Donegal Daniel O'Flynn. Er klopfte schon liebevoll mit der Hand auf eine der achteren Drehbassen. „Oder warten wir, bis uns eine halbe Armee eingekreist hat?“ Damit spielte er mal wieder auf die Begebenheiten in Xiapu und Shanghai an, aber Hasard überhörte es. „Fong-Ch'ang und Flüssiges Licht sollen mit ihnen verhandeln“, sagte er. *
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Fong-Ch'ang und dem Mädchen gelang es mit einigem diplomatischen Geschick, den Anführer des Westufer-Trupps zur „Isabella“ zu holen. Der Mann ließ sich sein Pferd bringen, schwang sich in den Sattel und galoppierte mutig bis auf den seichten Sand, der die Bucht begrenzte. Er beobachtete mit hochgezogenen Augenbrauen, wie Fong und Ch'ing-chao auf ihn zutraten. Hasard hatte sie mit einem Boot an Land bringen lassen, und Fong hatte es abgelehnt, eine Waffe mitzunehmen. Der hagere Chinese hatte den Soldaten zugerufen, daß sie als Freunde kämen und wen sie als Gefangene an Bord hätten - das wirkte. „Liefert uns Khai Wang und Wu aus“, sagte der Soldatenführer. „Das geht nicht. Wir wollen ihn zum Großen Chan bringen.“ „Wahnsinn. Es ist jedem Unbefugten verboten, Peiping zu betreten. Wer seid ihr denn, daß ihr das überhaupt wagen wollt?“ „Freunde des Chan“, sagte Fong. „Der Seewolf und seine Mannschaft“, fügte „Flüssiges Licht“ hinzu. Der Grünrock lachte nur und glaubte ihnen kein Wort. Er riß wenig später aber doch die Augen auf, denn ein zweites Beiboot glitt von der großen Galeone herüber, und zwischen den Duchten stand aufrecht ein Mann, dessen Antlitz in allen Provinzen bekannt geworden war. „Hung-wan, der Chronist“, stieß der Soldat betroffen aus. „Er ist doch von vielen schon totgesagt worden ...“ Hung-wan hob eine Hand und rief mit brüchiger Stimme: „Soldat! Rufe den Mandarin, der den Oberbefehl über deine Division hat. Der Zorn des Großen Chans wird dich treffen, wenn du es nicht unverzüglich tust!“ Daraufhin preschte der Grünrock zu seiner wartenden Truppe zurück, schrie einen Befehl und setzte sich an die Spitze der davondonnernden Abordnung. Hung-wan ließ sich an Bord der „Isabella“ zurückbringen, und auch Fong und das Mädchen kehrten zu Hasard zurück. Zum
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erstenmal sah der Seewolf den Chronisten lächeln. Es war ein hintergründiges, fast verschmitztes Lächeln in einem faltenreichen Gesicht, und Hasard begann unwillkürlich, eine Sympathie für den Alten zu entwickeln. Über Siri-Tong erklärte Hung-wan: „Seid beruhigt, die Soldaten werden zurückkehren und ihren Kuan mitbringen — in friedlicher Absicht.“ Er musterte Hasard aus seinen klaren, forschenden Augen. „Und nun möchte ich dir etwas erzählen. Ich habe über deine Fragen nachgedacht, die den Weg zur Verbotenen Stadt betreffen. Ich war selbst verwirrt, weil der Hafen, von dem aus ,Eiliger Drache über den Wassern' seinerzeit lossegelte, gar nicht weit von Peiping entfernt lag. Aber du mußt wissen, daß die Große Ebene, an deren Nordrand die Verbotene Stadt liegt, früher ein Teil des Gelben Meeres war. Der Golf von Chihli erstreckte sich weit über unseren Ankerplatz hinaus nach Norden. Die Ebene selbst entstand im Laufe der Jahre und Jahrhunderte durch die Ablagerungen des Huangho, des Gelben Flusses. Löß und Sand, die ihm Wind, Sturm und Regen aus seinem Einzugsgebiet zutragen, reißt er mit sich fort, große Mengen in jedem Jahr. Über die Hälfte davon fließt ins Gelbe Meer und füllt es langsam zu. Auf diese Weise — du wirst staunen, Seewolf — wurde das Bergland von Shantung, früher eine Insel im Gelben Meer, mit dem Festland verbunden. Und gegenwärtig wächst allein die Küste bei Tientsin jährlich um fast einen Li.“ „Rund eine Drittelmeile“, sagte die Korsarin bei ihrer Übersetzung. „Der Rest der Sinkstoffe setzt sich im Flußbett ab“, fuhr Hung-wan fort. „Und so kommt es zu verheerenden Überschwemmungen. Andererseits lagert sich dabei aber der fruchtbare Löß als Schwemmerde über der weiten Ebene ab und erhält die Fruchtbarkeit des Bodens. Deshalb nennen wir Chinesen den Huangho den Segen, aber auch den Kummer Chinas. Und nun meine Schlußfolgerung: als ich seinerzeit an Bord
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von ,Eiliger Drache' in fremde Welten aufbrach, lag die Küste der Verbotenen Stadt noch um viele Li näher. Der Jinzhonghe selbst war breiter und tiefer und nicht so zugeschwemmt wie heute. Deshalb gab es eine schiffbare Verbindung zur Stadt der Kaiser. Aber sie existiert nicht mehr, wegen der Macht des Gelben Flusses.“ Hasard blickte den Chronisten überrascht an. Teufel auch, der Mann mochte körperlich gebrechlich sein, geistig verfügte er über eine geradezu erstaunliche Vitalität. * Der Mandarin, ein Kuan ersten Grades, kam aus Tientsin und traf um die Mittagsstunde an der Ankerbucht der „Isabella“ ein. Er ließ sich ohne Zögern mit ein paar Soldaten an Bord des Schiffes bringen, dann trat er Hung-wan, Fong, Ch'ingchao, Siri-Tong und dem Seewolf gegenüber. Hung-wan hielt eine zündende Rede über den Kampf gegen die Seeräuber und die Rettung der Mumie. Sie wurde eine einzige Lobeshymne auf die Taten der Seewölfe. Von da an herrschte sowohl bei dem Kuan als auch bei den Soldaten helle Freude. Hung-wan, der nun wirklich begriffen hatte, aus welchem Holz Siri-Tong und ihre Begleiter geschnitzt waren, lebte in diesem Klima regelrecht auf. Am höchsten schlugen die Wogen der allgemeinen Begeisterung aber, als Hasard dem Kuan die beiden Gefangenen vorführte und ihn danach in die Kammer des Achterkastells geleitete, in der die Mumie des Mandarins aufgebahrt lag. Der Kuan zeigte sich ergriffen. Er huldigte dem toten Mandarin durch den Kotau, warf sich auf die Knie und verbeugte sich, bis seine Stirn die Planken berührte. Kurz darauf preschten vier Reiter als Boten davon. Sie suchten das nächste flußaufwärts liegende Dorf auf, beschafften Boote und trugen die erstaunlichen Nachrichten in alle Himmelsrichtungen.
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Am Nachmittag trafen die Boote bei der „Isabella“ ein - fünf große Sampans mit je zwei Ruderern. Hasard hatte sich mit dem Kuan aus Tientsin über die Verfahrensweise geeinigt: Die Mumie wurde sehr behutsam in einem großen weißen Laken aus Segeltuch an Steuerbord abgefiert und in einem Sampan placiert. Hung-wan, der Wächter des Toten, enterte in diesen Sampan ab und nahm auf einer der achteren Duchten Platz. Ein weiteres Boot diente der Beförderung von Khai Wang und Wu. Vier Soldaten gesellten sich als Wächter zu den Piraten, aber damit nicht genug. Die „Geißel des Gelben Meeres“ und ihr Steuermann waren an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt und wurden zusätzlich an den Duchten festgekettet. Da außer den beiden Beibooten der „Isabella“ immer noch drei Sampans zur Verfügung standen, konnte Hasard seine Pläne ändern und den Großteil der Crew mitnehmen. Zusätzlich zu den vorher bestimmten Männern verließen die Galeone: der Kutscher, Smoky, Pete Ballie, Matt Davies, Al Conroy, Jeff Bowie, Bob Grey und Luke Morgan. Zum „Einhüten“ blieben auf der „Isabella“ also Ferris Tucker, Batuti, Gary Andrews als Ausguck, der alte O'Flynn, Sam Roskill, Will Thorne, Stenmark und der Schiffsjunge Bill zurück. Der Mandarin aus Tientsin setzte sich zu Hasard, Siri-Tong, Ben Brighton, FongCh'ang und „Flüssiges Licht“ ins Boot. Er begleitete den Konvoi von sieben Booten, der sich nun in Bewegung setzte, nach Peking. 8. Nakamura und seine vier Kumpane hatten an diesem Abend Gu'an erreicht, ein Nest unmittelbar an der Grenze zwischen den Provinzen Hohpeh und Peking. In der Maske verehrungswürdiger Lamas hatten sie bei einem Bauern Unterschlupf gefunden. Die Pferde waren versorgt, und die Piraten verschafften sich im Haus des Bauern bei einigen Gläsern Reis- und
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Gisengwein die nötige Bettschwere. Sie wollten in dieser Nacht gründlich ausschlafen, um am nächsten Tag, an dem sie Peking vor sich sehen mußten, für alles gewappnet zu sein. Der Bauer Xitai war ein biederer, geistig ganz und gar nicht beschlagener Mann. Er konnte nicht lesen und nicht schreiben und hatte nicht den geschulten Verstand, der in ihm Mißtrauen darüber hätte wecken müssen, daß die Mönche soviel Wein in sich hineingossen. Xitai hatte seine Tellermütze aus geflochtenem Bambus weit zurückgeschoben und trank selbst reichlich, während er sich genüßlich mit dem Rücken gegen die Wand lehnte und zuschaute, wie seine Frau die Speisen auftrug und den „Mönchen“ servierte. Ein einfaches, aber wohlschmeckendes Mahl — nach der harten Landarbeit genau das Richtige. Die Gesellschaft fünf weiser Botschafter Buddhas — Labsal für das Seelenheil. Xitai Überschüttete sie mit Gastfreundschaft, denn einen Mönch wies man niemals von der Tür, und außerdem rechnete er sich aus, daß er sicherlich ins Nirwana einziehen würde, wenn er sich als Wohltäter zeigte. Wären sie keine Mönche gewesen, die strengen Regeln unterlagen, hätte er ihnen vielleicht sogar noch seine Frau angeboten. Im Überschwang seiner vom Wein angeheizten Gefühle wollte er die fünf schon fragen, ob sie nicht vielleicht doch ... Da wurde gegen die Holzbohlentür geklopft. Xitai stieß sich nicht daran, daß die fünf zusammenzuckten und unter die Gewänder griffen. Er ignorierte es ganz einfach, was ihm nicht schwerfiel, da er sich schon fast einen Krug Ginseng-Wein einverleibt hatte. Xitai erhob sich, ließ sich aber sofort wieder auf seinen Stuhl sinken. Seine Glieder hatten Bleischwere. „Frau!“ rief er. „Öffne. Muß ich dir Beine machen?“ Nakamura blickte ihn über den Tisch weg an. „Wer kann das sein, Bauer — um diese Zeit?“
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Xitai hob eine Hand, grinste und beschrieb eine nichtssagende Gebärde. „Ganz bestimmt ein Freund.“ „Von einem der Nachbargehöfte?“ „Ja, oder direkt aus dem Dorf.“ Xitai hätte weniger fröhlich gegrinst, wenn er gewußt hätte, daß Nakamura unter seiner geräumigen Mönchskutte nach dem Kurzschwert gegriffen hatte. „Wir halten hier alle prächtig zusammen“, fuhr der Bauer in etwas schleppendem Tonfall fort. Seine Zunge wurde allmählich auch so schwer wie Blei, er hatte Mühe, sie zu kontrollieren. „Ich habe viele Freunde, die mich abends besuchen. Wir plaudern, spielen Mahjongg und trinken.“ Die Frau hatte inzwischen die Tür geöffnet. Die Piraten waren immer noch auf der Hut, aber dann atmeten sie auf.., Der Besucher war ein gedrungener Mann in ungefähr der gleichen Kluft wie Xitai — ganz bestimmt ein Bauer und offensichtlich keiner, von dem Verdruß zu erwarten war. Nakamura wandte dem Ankömmling den Rücken zu und blickte zu den Kumpanen. Die Erleichterung war ihnen ebenfalls von den Zügen abzulesen. Immerhin konnte der Überfall auf das Lama-Kloster bei Tientsin bereits in der Provinz Peking bekannt geworden sein und man fahndete nach ihnen. Die Überbrückung von Distanzen stellte bei den ausgezeichneten Kommunikationseinrichtungen im Reich der Mitte kein großes Problem mehr dar. Berittene Boten hielten sich in allen Garnisonen zu jeder Tages- und Nachtzeit zum Einsatz bereit. Xitai winkte dem Freund überschwänglich zu. „Fang La, Kamerad, komm her und setz dich zu uns. Ich will dir diese fünf Mönche vorstellen und dir von meinem vorzüglichen Ginseng-Wein zu kosten geben.“ Fang La näherte sich etwas zögernd, aber Nakamura rückte auf seiner Bank nach rechts und bot ihm Platz an. Er hieß ihn mit süffisanter Freundlichkeit willkommen, deutete eine Verbeugung an und nannte die Phantasienamen, die er und
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die anderen vier sich für ihre Maskerade zurechtgelegt hatten. Gleichzeitig dachte Nakamura: Wenn du ein Spitzel bist und uns aushorchen willst, werde ich dir die Waffe in die Seite jagen! Nach dem zweiten Glas Ginseng-Wein wurde Fang La redselig. „Habt ihr schon die Neuigkeiten gehört? Xitai, weißt du noch nicht, was im Dorf gesprochen wird? Die Botschaft geht wie ein Lauffeuer um.“ Xitai zuckte mit den Schultern. Sein Blick wanderte über die Gesichter seiner scheinbar harmlosen Gäste, und mehr denn je fehlte ihm der Scharfsinn, wegen ihrer Mienen stutzig zu werden. Die waren im Moment alles andere als sanft und friedfertig. Also doch, dachte Nakamura. Auf was warten wir eigentlich noch, sann der bullige Sui nach, töten wir diese beiden dummen Hunde, nehmen wir uns die Frau vor und hauen wir ab! Fang La nahm noch einen Schluck Wein, goß selbst nach, trank erneut und setzte dann den Becher mit einem Ruck ab. Er wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab. „Die berühmte Mumie des Mandarins, du hast doch von der Geschichte gehört, Xitai. Nach ihren Irrfahrten wird sie jetzt heim in die Verbotene Stadt gebracht. Fremde Teufel sind mit einem großen Schiff, das wie die Segler der Portugiesen gebaut ist, den Fluß Jinzhonghe hinaufgefahren, und jetzt werden sie im Triumphzug nach Peiping geleitet. Dort sollen sie vom Großen Chan empfangen werden.“ „Alle Achtung“, erwiderte Xitai mit leichtem Lallen in der Stimme. „Das ist ja eine tolle Begebenheit. Nicht mal unsereins ist es erlaubt, in die Kaiserstadt zu gehen, und jetzt empfängt der Große Chan Fremde ...“ Nakamura sah rasch zu den Kumpanen. Sein Blick verharrte auf Sui. „Sehr gut, mein Freund“, sagte er. „Du hattest also recht.“ „Sie sind es“, murmelte Sui. „Kein Zweifel“, setzte Dschou hinzu.
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„Wie denn, was denn!“ sagte Xitai überrascht. „Wißt ihr schon etwas über die Begebenheit?“ Nakamura fixierte ihn scharf. „Buddhas treue Diener vermögen auch in der Zukunft zu lesen. Zweifelst du etwa daran?“ „Beim Allgeist, nein“, hauchte Xitai entsetzt. „Die fremden Männer mit der weißen Haut haben nicht nur die Mumie an Bord ihres Schiffes“, sagte der Japaner. „Sie führen auch den alten Chronisten des Schiffes ,Eiliger Drache über den Wassern' mit sich, der als einziger lebend von jener großen Expedition zurückgekehrt ist, von der euren Kindern heute in der Schule erzählt wird. Und noch etwas. Khai Wang und sein Steuermann Wu, die beiden gefürchtetsten Seeräuber des Gelben Meeres, sind in der Hand der Fremdlinge, die sich die Seewölfe nennen.“ „Oh“, sagte Fang La erbleichend. „Ihr wißt ja alles.“ „Ein Wunder ist geschehen“, stammelte Xitai. „Schweig!“ fuhr Nakamura ihn an. „Wir Mönche vermögen noch viel Größeres zu vollbringen. Ich frage mich nur das eine. Wie wollen die Yang kuei tzu mit ihrem großen Schiff auf dem Fluß bis in die Stadt des Kaisers gelangen?“ Fang La trank schnell sein Glas leer, er mußte es erst einmal verkraften, daß die fünf Lamas so allwissend waren. Dann sagte er: „Buddha verzeihe mir, aber ich habe gehört, daß der. Dreimast-Segler in einer Bucht des Jinzhonghe nördlich von Tientsi ankert. Ein Teil der Mannschaft ist auf dem Schiff zurückgeblieben, während die anderen in Begleitung von Soldaten mit Booten nach Peiping weitergefahren sind.“ Nakamura hob die Augenbrauen. „Ach, das ist ja interessant. Ich danke dir, Fang La.“ „Ist es denn wirklich für dich so wichtig, was ich dir erzähle?“ fragte der Bauer ungläubig zurück. Der Mann aus Zipangu lachte auf. „Aber natürlich. Vielleicht wollen wir den Yang kuei tzu einen Besuch abstatten, um zu sehen, wie sie ausschauen. Vielleicht
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versuchen wir, sie zu bekehren. Was hältst du davon, Fang La?“ „Das wäre ein guter Gedanke.“ „Ich würde euch gern begleiten“, meldete sich Xitai wieder zu Wort. Seine Sinne waren mit zwei weiteren Bechern GinsengWein noch benebelter geworden, er wußte kaum noch, was er sprach. „Du bleibst hier“, erwiderte Lai breit grinsend. „Dein Platz ist hier auf dem Hof, bei deinem Vieh, deinem Reis und deiner Frau.“ Wenig später waren Xitai und Fang La derart betrunken, daß es ihnen nicht weiter auffiel, als die vermeintlichen Mönche aufstanden und sich in einen Nebenraum zurückzogen. Im Nebenzimmer sagte Nakamura zu seinen Begleitern: „Wir trennen uns. Wir müssen es tun. Ich will Rache am Seewolf und an seinen Freunden üben, ich will aber auch sein Schiff ausrauben, weil es noch immer immense Schätze birgt.“ „Nimm mich mit nach Peking“, bat Sui. „Ich will versuchen, Khai Wang und Wu zu befreien.“ Nakamura taxierte ihn mit einem huschenden Blick. „Du scheinst einer von Khai Wangs treuesten Anhängern zu sein. Das spricht für dich, Sui. Ich schätze, in unserer Verkleidung gelingt es uns wirklich, der ,Geißel des Gelben Meeres' und seinem Steuermann zu helfen. Und ich halte nach wie vor an dem Plan fest, mich mit Khai Wang zu verbünden.“ Er sann nur kurze Zeit nach, dann hatte er seinen Entschluß gefällt. „Dschou und Lai, ihr reitet nach Peking weiter. Tijang, du bleibst bei mir, und wir wenden uns dem Unterlauf des Flusses Jinzhonghe zu. Ich nehme stark an, daß der Seewolf nur wenige Männer als Bewachung auf seinem Schiff zurückgelassen hat. Wenn wir es schlau anstellen, können wir sie im Handumdrehen überwältigen.“ „Warum willst du ausgerechnet mich mithaben?“ wollte der Uigure wissen. Nakamura entblößte seine weißlich schimmernden Zahnreihen. „Wir verstehen uns doch ausgezeichnet, oder?“ Da der Uigure keine Antwort gab, wandte der
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Japaner sich jetzt an Sui. „Sui, schau nach, ob die Frau gelauscht hat. Wir dürfen keinerlei Risiko eingehen. Niemand darf uns aufhalten, niemand darf uns Verfolger auf den Hals hetzen.“ Der bullige Chinese benutzte eine Nebentür und trat in die Küche des Bauernhauses. Hier fand er die Frau nicht vor. Er mußte erst in das nächste Zimmer gehen. Dort saß sie vor einem gerahmten Spiegel und befaßte sich mit ihrer Frisur. Es war keine einfache Sache, die Haare hochstecken zu wollen, sie fielen immer wieder herunter. Sie bemerkte ihn und wandte erschrocken den Kopf. „Du? Was willst du von mir, Mönch?“ Sui stellte sich vor sie hin. „Ich wollte dir eigentlich nur sagen, daß wir deinen Mann ins Bett tragen können. Ich schätze, er schläft gleich am Tisch ein.“ „Er ist ein trunksüchtiger Narr.“ „Ich freue mich, daß du eine so gute Meinung von ihm hast.“ Sie löste ihre Frisur auf, die Haare fielen wirr auf ihre Schultern, und etwas in ihrem Blick veränderte sich. „Es hat noch etwas Zeit, daß wir ihn ins Bett schaffen. Unterhalten wir uns vorher noch eine Weile, ja ?“ Sui drückte die Zimmertür hinter sich zu. * Erst am Abend des folgenden Tages trafen der Seewolf und seine Leute am langersehnten Ziel ein. Soldaten und Zivilisten erwarteten sie an den hölzernen Piers, die als Landungsstege für die Boote in den Fluß ragten. Die Nachricht über die Fremden, die Khai Wang, Wu, die Mumie und den alten Chronisten brachten, mußte ihnen buchstäblich vorausgeeilt sein. Vom Sampan aus wurde die Mumie auf eine große, überdachte Bahre gehoben – eine sänftenähnliche Konstruktion. Hungwan schritt gleich hinter der von Soldaten gestützten Trage her, es folgten Hasard, Siri-Tong, Fong-Ch'ang, Ch'ing-chao LiHsia, dann all die anderen von der „Isabella VIII.“ und schließlich die
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grünberockten Soldaten. Ein langer Zug wand sich über plattgepflasterte Straßen auf die Stadt zu. „Ich kann es kaum fassen“, sagte SiriTong. „Daß wir es doch noch geschafft haben.“ „Ich hatte gar nicht gewußt, daß du so ergriffen sein kannst“, erwiderte der Seewolf. „In diesem Fall schon. Weißt du, was das für uns alle bedeutet, Hasard?“ „Ja. Meines Wissens war der einzige Europäer, der vor über zweihundert Jahren von einem Chan empfangen wurde, ein gewisser Marco Polo. Er hat nicht nur die Nudeln in seinem Heimatland Italien eingeführt, er hat noch einiges mehr vollbracht, unter anderem das Ansehen der Alten Welt im Reich der Mitte gefestigt und dauerhafte Wirtschaftsbeziehungen geknüpft. Aber als dann die Portugiesen den Wasserweg nach Indien und China entdeckten, wurde vieles wieder zerstört – durch Maßlosigkeiten und Ungeschick. Da ist es kein Wunder, wenn im heutigen China alle Weißen wieder als Barbaren gelten.“ „Was glaubst du, ob der Große Chan uns wohl freundlich aufnimmt? Ob er uns überhaupt empfängt?“ Hasard blickte nach vorn. Eine breite, kühne Konstruktion mit riesigem Pagodendach tauchte vor ihnen auf. „Das hängt ganz von der Persönlichkeit des Kaisers ab. Ich habe gehört, er soll ein vernünftiger und gerechter Mann sein. Wenn das zutrifft, werden wir uns mit ihm verstehen.“ Er sagte es leichthin, stellte sich das Ganze aber bei weitem nicht so einfach vor, wie er vorgab. Fong hatte etwas zu „Flüssiges Licht“ gesagt, und das Mädchen teilte Hasard und den anderen nun auf portugiesisch mit: „Vor uns liegt das Tor der himmlischen Gerechtigkeit, das äußere Stadttor. Dahinter gelangen wir in den nicht verbotenen Teil der Stadt. Die Straße Quien-Men Da-Jie wird uns auf das Palastviertel zuführen.“
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„Weiß Fong das auch aus seinen Büchern?“ wollte Hasard wissen. „Nein, das hat ihm der Kuan von Tientsin erzählt.“ Der Zug hatte das große Tor erreicht, und sie konnten jetzt im Zurückschwingen der schweren hölzernen Pforte erkennen, was da unter den Torbogen gehängt worden war und leicht im Abendwind schaukelte: die abgeschlagenen Köpfe von Menschen. „Allmächtiger“, sagte Ben Brighton. „Was, in aller Welt, hat denn das zu bedeuten?“ Fong hatte sich umgeschaut und die Betroffenheit auf den Gesichtern der Seewölfe und der Korsarin bemerkt. Er begriff und wandte sich an den Mandarin aus Tientsin. Dieser teilte ihm mit: „Das sind die Schädel von Hingerichteten. Sie hängen zur Abschreckung für alle die dort, die die Taten der Verbrechen nachahmen wollen.“ * Hinter dem Tor der himmlischen Gerechtigkeit erhob sich rechter Hand in einem faszinierenden Park ein imposanter Bau, der Himmeltempel. Links lagen die großen Lotosteiche und Zaubergärten, wie Hung-wan sie nannte. Der Chronist erläuterte den hinter ihm Schreitenden dies alles und zitierte dabei auch wieder den Dichter Li Tai-po, der vor rund achthundert Jahren gelebt und gewirkt hatte. So lernten die Seewölfe Peking, die „Nördliche Hauptstadt“, kennen und sahen die flachen, einstöckigen Wohnhäuser, die zu den Straßen hin abgeschlossen waren und sich nur zu ihren Innenhöfen öffneten. Laut einem Gesetz der Ming-Kaiser durfte höher nicht gebaut werden. Das Familienleben der Menschen von Peiping spielte sich größtenteils auf diesen eigentümlichen Innenhöfen ab. Ein noch ausladenderer, größerer Bau als der Himmelstempel schob sich bald am Ende der schnurgeraden Hauptstraße vor ihnen hoch: das Tor des Himmlischen Friedens. Carberry wartete darauf, wieder Schädel baumeln zu sehen, aber er wurde
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angenehm enttäuscht. An diesem Tor wurde ihnen nichts Schockierendes präsentiert. Es öffnete sich wie durch Geisterhand, eine Schar jubelnder Kinder stürmte hervor und begrüßte die Besucher mit Lampions und Fähnchen in heiteren Farben. Erst jetzt betraten der Seewolf und seine Mannschaft die eigentliche Verbotene Stadt. Gärten von überwältigender, betäubender Pracht, gewundene Seen mit Lotosblüten und winzigen Inseln, von denen sich Pagoden erhoben. Dann, in alles beherrschender Pracht jenseits eines mosaikgepflasterten Platzes der Gu-gong, der Kaiserpalast! Kühl und klar war die Luft in Peking. Der sich dunkel färbende Himmel über den Köpfen der Besucher war von seltsamer, unerklärlicher Offenheit und Höhe. Man glaubte, jeden Augenblick von einer unsichtbaren Kraft hochgehoben und davongetragen zu werden. Aufrecht und gelassen schritt eine Abordnung von prunkvoll gekleideten Männern über den Platz auf sie zu. Stolz und Besonnenheit las Hasard in diesen Gesichtern. Es war ein anderer Menschenschlag als im südlichen China. Die Soldaten setzten die Bahre mit dem Mandarin ab und vollführten den Kotau. Auch Hung-wan, der Mandarin aus Tientsin, Fong, das Mädchen und die übrigen Chinesen im Gefolge des Seewolfs bekundeten durch diese Geste ihre Hochachtung. Nur Siri-Tong und die Seewölfe konnten sich zu so großer Unterwürfigkeit nicht entschließen. Sie deuteten nur eine Verbeugung an. Die Abordnung von hohen Würdenträgern schien dies nicht zu stören. Sie grüßten ihrerseits zunächst die Mumie des Mandarin, dann die Besucher, und endlich begann einer von ihnen mit hoher Stimme zu sprechen. „Sie laden uns ein, dem Grollen Chan zu huldigen“, übersetzte Siri-Tong. Sie schien selbst überrascht zu sein, daß diese Audienz nun wirklich stattfand.
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Das Innere des Gu-gong mutete wie ein göttliches, fernes Paradies an. Nie hatte allein die Aura eines Bauwerks Hasard derart in ihren Bann geschlagen. Gebündelte Säulen in exotischen Farben strebten auf, Statuen und Statuetten aus schneeweißem Marmor lächelten auf die Fremden nieder, und irgendwo, verborgen, wurden Sandelhölzer abgebrannt, die einen süßlichen Duft verbreiteten. Der Glanz des Thronsaales war gleichsam blendend. Carberry zögerte, den spiegelblanken Mosaikboden zu betreten. Er hatte Angst, etwas zu zerstören. Wan Li, so hieß der Große Chan. Der Kaiser der Ming-Dynastie betrat mit seinen zwei Ministern Yang Tingh-ho und ChangKuching den Saal und verhielt sich eher bescheiden als erhaben und unnahbar. Still nahm er auf seinem Thron, einem goldfarben und rot bemalten Häuschen inmitten des Saales, Platz. Die Minister flankierten seinen Sitz, blieben jedoch aufrecht stehen und verschränkten unter ihren seidenen, bestickten Ischangs die Arme. Diener erschienen und verneigten sich. Sie stellten große Behälter auf, die Weihrauch verströmten, entzündeten Öllampen und Ochsenfettkerzen, und einer von ihnen bediente schließlich einen Gong aus kunstvoll gegossener Bronze. Der Laut wehte durch den Palast und verkündete den Beginn der Audienz. Fong-Chang hatte dem Mandarin aus Tientsin vorgeschlagen, „Flüssiges Licht“ als Dolmetscherin einzusetzen. Nachdem der Kuan sich vor dem Großen Chan tief verbeugt hatte, gab er diese Empfehlung weiter. Wan Li entgegnete: „Ich bin einverstanden.“ Das Mädchen Ch'ing-chao Li-Hsia wußte vor Verlegenheit kaum, wohin sie blicken sollte. Sie hielt sich in der Nähe von SiriTong, führte ihre Aufgabe dann jedoch ausgezeichnet durch. Wan Li begann: „Ich freue mich, die Fremden begrüßen zu können, über die ich
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Erstaunliches vernommen habe. Ich möchte die Gelegenheit, alle Ereignisse aus ihrem Munde zu vernehmen, um keinen Preis missen. Man sagt von mir, ich sei ein gerechter Herrscher, doch ich kann nicht in alle Winkel und Ecken dieses riesigen Reiches blicken. So frage ich mich, warum Khai Wang und Wu nicht früher gefaßt wurden, und warum Männer aus Europa auf unseren Meeren auftauchen mußten, um dem Treiben dieser Unmenschen ein Ende zu bereiten.“ Er war ein mittelgroßer Mann mit eher weichen Zügen, die jedoch über die Härte, die Hasard in seinen dunklen Augen las, nicht hinwegtäuschen konnten. Der Große Chan trug eine schlichte schwarze Kappe auf dem Kopf und war in ein dunkelgrünes Seidengewand gehüllt, das seine Füße verdeckte. Seine Arme baumelten halb von den Lehnen des Thronsessels herab. Hasard vermißte die überlangen Fingernägel, die sich die Mandarine der oberen Grade traditionsgemäß wachsen ließen. Der Chan wandte sich Yang Tingh-ho zu. „Wo sind die beiden Gefangenen jetzt?“ „Sie sind von ihrem Transportboot aus direkt zum Kerker geleitet worden.“ „Gut. Diesen Kerlen gebührt es nicht, den kaiserlichen Palast zu betreten. Ich werde mich morgen in aller Frühe mit ihnen befassen.“ Er wandte sich an Hung-wan. „Hung-wan, tritt zu mir. Ich bin gerührt und zutiefst erfreut, dich wiederzusehen. Nie, nicht in meinen kühnsten Träumen, hätte ich mir ausgemalt, dir noch einmal zu begegnen.“ Der alte Chronist kam der Aufforderung selig lächelnd nach. Er wollte sich vor dem Herrscher auf die Knie werfen, doch Wan Li stoppte seine Bewegung durch eine Geste im Ansatz. „Nein, Hung-wan. Ich will nicht, daß du den Kotau vollziehst. Ich weiß auch so, daß du die Achtung vor mir hast, die alle Männer des Reichen bezeugen sollten.“ Der Chronist begann zu husten, er war sehr aufgeregt. Hasard gab Dan und Blacky ein Zeichen. Sie schritten zu Hung-wan und stützten ihn, sonst wäre er in diesem
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Moment wahrscheinlich zusammengebrochen. Der Kutscher ging besorgt auf den alten Mann zu, redete beruhigend auf ihn ein und untersuchte ihn. Zwei Diener trugen auf den Wink des Großen Chan hin eine gepolsterte Sitzgelegenheit heran, und Hung-wan durfte sich darauf niederlassen. Es war. die größte Ehre, die ihm je widerfahren war. Wan Li hatte aufmerksam verfolgt, wie die Seewölfe sich um den Greis bemüht hatten. Jetzt drehte er sein volles, angenehmes Gesicht dem Seewolf zu. „Philip Hasard Killigrew“, sagte er. „Natürlich weiß ich längst, was in Xiapu und Shanghai geschehen ist. Ich bin über nahezu alles im Bilde, was Ihr erlebt habt. Auf unsere Nachrichtenübermittlung sind wir Chinesen sehr stolz. Dennoch, ich möchte die Begebenheiten noch einmal von Euch geschildert haben.“ Hasard wartete die Übersetzung von Ch'ing-chao Li-Hsia ab, dann antwortete er, ohne zu zögern: „Ich danke Euch. Ihr dürft es mir aber nicht übelnehmen, wenn ich ohne Umschweife auf den Kern der Sache zu sprechen komme und kein Blatt vor den Mund nehme. Südlich von Xiapu wurden wir beschossen, weil an Land die Pest wütete, aber Fong-Ch'ang hat uns die Hintergründe längst erklärt. Wegen dieser Geschichte wären wir keineswegs unangenehm berührt gewesen, wenn sie auch einen schlechten Empfang im Reich der Mitte darstellte. Aber dann Xiapu: Ein dicker Mandarin und ein Astrologe versuchten, uns nach allen Regeln der Kunst auszunehmen. Wir lagen fest, und in der Zwischenzeit entführte Khai Wang, der von Li-Cheng und dessen Drachenschiff unterstützt wurde, Siri-Tong. Wir folgten ihrer Spur bis nach Shanghai. Dort strengte man gegen die Korsarin einen Prozeß an, der eine reine Farce mit gekauften Zeugen war. Wir können beweisen, daß Siri-Tong dessen, was man ihr vorwirft, nicht schuldig ist. Sie ist keine Tempelräuberin und schon gar nicht eine Mörderin. Sie wurde gezwungen, zu gewissen Raubzügen eines skrupellosen Kapitäns gute Miene zu machen, sonst wäre sie getötet worden —
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damals, 1575. Und den Mann, der sie gegen ihren Willen heiraten sollte, stieß sie nur zurück, als er zudringlich werden wollte. Sein Tod war ein Unfall.“ Er sprach weiter, fast eine Viertelstunde lang. Hier redete er sich nun alles von der Seele, was ihn wurmte, und es war ihm egal, wie der Große Chan anschließend darauf reagierte. Wan Li sah am Ende von Hasards Bericht zuerst zu Yang Tingh-ho, dann zu ChangKuching, seinem zweitwichtigsten Minister. Erst dann richtete er seinen nachdenklichen Blick wieder auf den Seewolf und musterte auch Siri-Tong. „Eure Art zu reden ist von erfrischender Offenheit“, sagte er. „Ich respektiere Euch, Seewolf. So nennt man Euch doch, nicht wahr? Nun, ich sehe ein, daß man Euch übel mitgespielt hat, und ich empfinde eine gewisse Verantwortung für das, was passiert ist. Euren Fall werde ich prüfen, Siri-Tong, aber ich bin jetzt schon überzeugt, daß Ihr das Recht auf Eurer Seite habt. Ich lese in Euren Zügen und entdecke nichts als Aufrichtigkeit darin. Und dann der Kampf gegen Khai Wang — ist das nicht der Beweis, daß Ihr keine Verbrecher seid? Niemals wärt Ihr freiwillig nach Peking gereist, wenn Ihr ein unreines Gewissen hättet und meine Vergeltung fürchten müßtet. Ich werde Euch voll rehabilitieren, Siri-Tong.“ Hasard wandte sich nach rechts. Zum erstenmal, seit er der Roten Korsarin auf der Schlangen-Insel begegnet war, sah er Tränen über ihre Wangen rollen. * Am frühen Morgen fand im Kaiserpalast eine große Versammlung statt, bei der auch die Seewölfe wieder zugegen sein durften. Wan Li wägte noch einmal alle Fakten ab, die ihm vorgetragen wurden, dann entschied er: Siri-Tongs Prozeß in Shanghai wurde für ungültig erklärt. Eine neue Gerichtsverhandlung sollte in der Hafenstadt stattfinden. Der Große Chan veranlaßte alles dazu Erforderliche.
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Dann fuhr er zu Hasard und Siri-Tong gewandt fort: „Ich habe Schreiben in Auftrag gegeben, in denen Ihr und Eure Kameraden als meine Freunde ausgewiesen werdet. Und ich habe noch mehr in die Wege geleitet. In diesem Land treten laufend neue Gesetze in Kraft. Eins davon ist der Verbot des Opiumgenusses und der Abbau von weißem und rotem Mohn. Ein weiteres wird sein, daß alle Mandarine und anderen Beamten zum Tode verurteilt werden, falls sie der Korruption überführt werden. Ich selbst werde Reisen durch das Land unternehmen und meine Untergebenen auf ihre Standhaftigkeit prüfen.“ Er nickte dem Seewolf zu. Als er die nächsten Sätze sprach, senkte er die Stimme. „Khai Wang und Wu habe ich vor dieser Versammlung gesehen. Ihr Anblick kann mein Mitleid nicht erregen. Es liegt soviel Material über ihre ruchlosen Taten vor, daß mein Urteil nur Tod durch das Schwert des Henkers lauten konnte.“ * Das Urteil wurde noch am Morgen auf einem weiträumigen Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens vollstreckt. Die Hinrichtungsstätte lag außerhalb des verbotenen Teils der Stadt, und viele Männer, Frauen und Kinder hatten sich eingefunden, um dem Ende von Khai Wang und Wu beizuwohnen. Die Szene erinnerte Siri-Tong unangenehm an das furchtbare Erlebnis in Shanghai, und doch, die notwendige Zeremonie lief hier völlig anders ab — ohne falsche Dramatik, ohne kirmesgleichen Rummel, ohne Lärm. Stumm rückten die Zuschauer zusammen, als Khai Wang und sein Steuermann auf den Richtblock zugeführt wurden. Wan Lis Minister und Mandarine sowie geistliche' Würdenträger standen hinter dem Henker, der das gebogene Schwert bereithielt. Der Große Chan selbst war im Palast zurückgeblieben. Bei einem Anlaß wie diesem erschien er nicht vor seinem Volk. Die Tradition besagte, daß er niedrigen
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Verbrechern wie den beiden Seeräubern allein durch seine Gegenwart zuviel Bedeutung beigemessen hätte. Siri-Tong, Hasard und die „Isabella“-Crew hätten das Zuschauen auch lieber den Bewohnern der Stadt überlassen. Aber ein Protokoll des Großen Chans verpflichtete sie dazu, die Hinrichtung zu verfolgen. Ein Gongschlag ertönte. Tiefes Schweigen lastete über der Stätte. Khai Wang und Wu wurden von Kerkerwächtern und Soldaten beim Henker abgeliefert, und erst hier zerbrach Wus starre, stolze Haltung. Er warf sich zu Boden und flehte um Gnade. Khai Wang blickte verächtlich auf ihn hinunter und beschimpfte ihn lästerlich. Unruhe entstand. Der Henker gab den Wächtern einen Wink, und sie zerrten Wu über den Richtklotz. Wieder ertönte ein Gong. Wu tobte, Khai Wang schrie auf ihn ein, die Minister und Mandarine blickten sich nach allen Seiten um. Besorgnis erschien auf ihren Mienen. Hasard blickte nach links und bemerkte eine Gestalt, die sich auffallend nah in die vorderste Linie der Betrachter geschoben hatte. Sie trug das Gewand eines Lama, eines buddhistischen Mönches, aber der Seewolf fühlte sich durch die Art gewarnt, in der dieser Mann seine Hände unter die Kleidung schob. Entschlossen schritt Hasard auf ihn zu. Der Mönch duckte sich kaum merklich, wandte aber den Kopf, als er die Regung neben sich konstatierte. Und in diesem Augenblick erkannte Hasard ihn wieder, obwohl er sich die Kappe seines Gewandes tief in die Stirn gezogen hatte. Der bullige Chinese von der Dschunke Fei Yen! Der Kerl, der von Ferris außer Gefecht gesetzt worden war, nachdem der rothaarige Schiffszimmermann ein Bad in der See genommen hatte. Hasard zückte seinen Degen und sprang vor Sui hin, bevor dieser zu Khai Wang, Wu und den aufgebrachten Soldaten hetzen konnte. Sui brüllte auf, riß einen Säbel aus dem Gewand und stürmte auf den Seewolf los.
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Das war das Zeichen für die beiden anderen Kerle! Dschou und Lai lösten sich ebenfalls aus der Menge und jagten auf die Minister, Mandarine und geistlichen Würdenträger los. Ihr Ansinnen war klar. Sie wollten Geiseln nehmen und durch Erpressung bewirken, daß Khai Wang und Wu befreit wurden, sonst hatten sie zu dritt keine Chance gegen die Übermacht. Sui hatte sich den Henker vornehmen wollen, aber daraus wurde nun nichts. Sui hackte mit dem Säbel kreuz und quer durch die Luft und trachtete, den Seewolf einzuschüchtern. Der Säbel war eine Beutewaffe aus dem Haus des ermordeten Mannes in den Lushan-Bergen. Hasard parierte die Attacke mit dem Degen. Gleichzeitig setzten sich Siri-Tong, Ben Brighton, Carberry und die anderen Seewölfe in Bewegung. Sie rasten auf den Richtplatz, hatten die Situation erkannt und warfen sich in die Lücke zwischen den hohen Staatsbeamten und den beiden Angreifern. Dschou und Lai heulten wie sämtliche Teufel der Hölle, als sie auf den erbitterten Widerstand der Todfeinde trafen. Sie konnten nicht mehr zurück — so legten sie alles in ihre Offensive. Sie versuchten, als erste die Rote Korsarin und Hasards Bootsmann niederzumetzeln. Vor den Mauern der Verbotenen Stadt fand ein Kampf statt, der Eingang in die Geschichtsbücher Chinas finden sollte. Hasard federte hoch, als Sui ihm durch einen gewaltigen Streich die Beine verletzten wollte. Einen ähnlichen Ausfall hatte Sui auf Fei Yen gegen Ferris Tucker unternommen. Hasard wurde zornig, blockte Suis nächsten Streich ab und unterlief dessen Verteidigung. Die Degenklinge war ein bizarres Blinken in der Morgensonne, dann steckte der Degen dem Bulligen plötzlich fast bis zum Heft in der Brust. Sui verlor den Säbel und stürzte vornüber. Beim Aufprall auf dem Boden rammte sich der Degen noch tiefer in sein Herz. Dschou hatte im Zweikampf gegen die Rote Korsarin versagt. Reglos lag er am Boden. Carberry kreuzte noch die Klinge
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seines Schiffshauers mit dem gedrungenen Säbel von Lai. Einer der grünberockten Soldaten wollte mit der Armbrust auf Lai anlegen, aber der Henker hielt ihn zurück. „Willst du in ein Duell eingreifen?“ fragte er. Der Profos zog erst jetzt richtig vom Leder. Als Lai unter seiner sauber geführten Parade wegtauchte und den Säbel in Carberrys Leib stoßen wollte, war dieser auf der Hut. Er wich gedankenschnell zur Seite aus, ließ Lai vorstürmen, holte aus und fällte ihn durch einen schmetternden Schlag in die Nackenpartie. Die Seewölfe richteten sich vor ihren toten Widersachern auf. Eine Weile standen die Minister, die Mandarine, Soldaten, Kerkerwächter und Zuschauer starr und fassungslos da. Dann, endlich, gab der Henker dem Mann am Gong einen Wink. Der dritte Schlag ertönte. Wu, der jetzt keinerlei Widerstand mehr übte, mußte vor dem Scharfrichter niederknien. Wenige Sekunden später hob der Henker auch über Khai Wang, der „Geißel des Gelben Meeres“, das gekrümmte Schwert. * Ferris Tucker hantierte an dem frisch verstärkten Fockmast, als ihn ein Pfiff Gary Andrews' verharren ließ. Ferris schaute zum Großmars, kniff die Augen zusammen und rief: „Teufel, was ist denn los, juckt's dich irgendwo?“ „Am Ufer sind zwei merkwürdige Gestalten!“ rief Gary von seinem luftigen Posten aus. „Was wollen die bloß? Habt ihr eine Ahnung, was das Theater soll?“ Nicht nur Ferris, auch Batuti, der alte O'Flynn, Sam Roskill, Will Thorne, Stenmark und Bill, der Schiffsjunge, liefen jetzt ans Schanzkleid und blickten zum schmalen Strand der Flußbucht. Dort standen die „merkwürdigen Gestalten“ und breiteten etwas vor sich auf dem Sand aus. Sie trugen einfache, lange Gewänder in blassen Farben und kapuzenähnliche Kopfbedeckungen.
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Der Wind hob die mit viel Sorgfalt hingebetteten Objekte auf und trug sie flußaufwärts davon. Jetzt erkannten die Männer der „Isabella“, um was es sich handelte – bunte Bogen Papier, mit chinesischen Schriftzeichen bemalt. „Verrückt, einfach verrückt“, sagte der alte O'Flynn. Stenmark gab ebenfalls seinen Kommentar ab. „Ich glaube auch, die Brüder haben nicht alle beisammen. Ich schlage vor, die beachten wir gar nicht.“ „Augenblick“, sagte Bill. „Ich glaube, das sind buddhistische Mönche. Sie haben Gebetsfahnen ausgelegt.“ „Tolles Stück“, sagte der alte O'Flynn kaum überzeugt. „Woher willst du das so genau wissen, wie?“ „Ich habe mich lange mit ,Flüssiges Licht' unterhalten. Sie möchte gern zu ihrer Religion zurückfinden und hat mir über die Bräuche erzählt, die hierzulande herrschen.“ „Kluger Junge“, sagte Sam Roskill. „Es mag ja stimmen, aber was geht uns das Ganze an? Wenn die Figuren da drüben etwas zelebrieren wollen, dann sollen sie's eben tun. Ich weiß nicht, was uns die Sache angeht.“ Bill ließ seinen Blick wandern. Die Soldaten waren abgezogen. Es bestand kein Grund, die „Isabella“ zu bewachen. Plötzlich waren sämtliche Leute den Seewölfen wohlgesonnen. Wohlgesonnen! „Ich glaube, sie wollen unser Schiff segnen“, sagte der Junge. „Wir sollten das nicht ablehnen. Wir könnten sie beleidigen.“ Ferris sah, wie die beiden Mönche sich verneigten und zur „Isabella“ winkten. Er grübelte nach, dann ließ er ein kleines Beiboot, das ihnen noch verblieben war, abfieren. Batuti und Bill enterten ab, setzten sich hinein und pullten zum Ufer. Aus der Nähe betrachtet wirkten die beiden Lamas ausgesprochen freundlich. Sie gestikulierten und palaverten und blickten nur ab und zu ein wenig argwöhnisch auf den schwarzen Mann aus Gambia. „Wir verstehen euch nicht“, erklärte Bill. „Und einen Dolmetscher haben wir zur
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Zeit nicht an Bord. Aber wir laden euch ein und nehmen euch als Gäste mit auf unser Schiff.“ Es gelang ihm, ihnen durch Zeichen zu erklären, was er meinte. Lächelnd näherten sie sich dem Boot, stiegen ein und nahmen auf den Duchten Platz. Ungefähr anderthalb Minuten später hatte das Boot die Bordwand der großen Galeone wieder erreicht, und Nakamura und Tijang, die beiden falschen Mönche, enterten hinter Bill und Batuti an der Jakobsleiter auf. Nakamura wollte Bill einen Dolch in den Rücken stoßen, sobald sie auf dem Oberdeck standen. Der Uigure sollte das gleiche bei Batuti tun. Mit zwei Geiseln
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wollten sie den Rest der Crew erpressen, ihnen das Schiff auszuliefern. Aber Sam Roskill zog dem Japaner einen Strich durch die Rechnung. Er erkannte Nakamura, als dessen Kopf sich außerhalb des Schanzkleides der Kuhl hochschob. Bill und der Gambia-Neger befanden sich bereits auf der Kuhl. Sam duckte sich halb, griff in einer reflexartigen Bewegung zur Pistole und schrie: „Bill, Batuti — in Deckung! Das sind Piraten!“ Plötzlich herrschte an Bord der „Isabella“, an der sich vor kurzem noch ein so beschauliches Leben abgespielt hatte, heller Aufruhr ...
ENDE