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Roy Palmer 1.
Der Innenhof des Anwesens wurde von einem rundum verlaufenden Säulengang eingerahmt, in seinem Zentrum plätscherte ein marmorner Zierbrunnen. Agaven, Dattelpalmen und Mandarinenbäumchen ragten auf und reckten ihre sanft wippenden Blätter in den Nachthimmel. Es war eine laue Nacht. Die Zikaden zirpten laut und aufdringlich und schienen überall zu sein. Ein warmer Wind wehte von Süden, vom Rif -Gebirge und aus der Wüste her, zum Meer hinüber. Der Wächter, ein dicker Eunuch, schritt wie üblich mit watschelndem Gang vor der verschlossenen Verbindungstür auf und ab, die ins Hauptgebäude führte. Er hatte die Anweisung, niemanden passieren zu lassen, weder von der Seite des Haupthauses noch von der anderen Seite. Die andere Seite — das war ein richtiges Labyrinth von Kammern, Sälen und Fluren inmitten des großzügig und geräumig angeordneten Gebäudekomplexes. Es wurde von seinem Eigentümer wie ein Schatz von unermeßlichem Wert gehütet und geschützt. Keinem Mann außer ihm, Abu Al-Hassan, war es vergönnt, dort einzutreten. Ebenso wenig durfte auch keine der Gefangenen dieses Verlieses, das Paradies und Hölle zugleich war, ihren Fuß in jenen Bereich setzen, der für sie als verboten galt. Zu dieser Sperrzone zählten die hinteren Nebenhäuser und Höfe, aber auch das Hauptgebäude, denn von dort aus gelangte man relativ leicht nach draußen, in die ersehnte Freiheit. Der Wächter hielt inne, als er jenseits des Brunnens eine schwache Bewegung wahrnahm. Er wandte sich halb um, hob lauernd den Kopf und kniff die Augen zusammen. Er sah eine Frau, die — vorschriftsmäßig verschleiert und in ein bodenlanges Seidengewand gehüllt — auf eine der Palmen zutaumelte und sich an deren Stamm festhielt. Täuschte ihn das fahle Mondlicht? Keine der Frauen, keins der Mädchen hatte die Erlaubnis, nach Einbruch der Dunkelheit
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noch in den Hof zu gehen, es sei denn, es gab einen triftigen Grund dafür. Er legte die rechte Hand an den Griff des großen Krummsäbels, der in seinem Gurt steckte, und schritt vorsichtig auf sie zu. Langsam sank sie an dem Stamm der Palme zu Boden und gab einen schwachen, gequälten Laut von sich. Plötzlich verschwand ihre Gestalt hinter der Marmorumrandung des Brunnens. Der Eunuch bewegte sich rascher voran, seine Körpermassen gerieten in wabbelnde Bewegung. Er umrundete den Brunnen und blieb betroffen bei der Frau stehen, die Arme und Beine von sich gestreckt hatte und scheinbar völlig leblos vor ihm lag. Mit verdutzter Miene beugte er sich über sie. So entging ihm die zweite Gestalt, die sich, von Säule zu Säule pirschend, vor ihm verbarg. Seine Aufmerksamkeit war derart durch die offenbar verletzte, kranke, irgendwie hilfsbedürftige Frau gefesselt, daß er auch jetzt den Schatten nicht bemerkte, der sich hinter seinem Rücken aus der tiefen Finsternis des Ganges löste und auf ihn zuschob —ein lautloser Schemen, gleichfalls mit Gewand und Schleier angetan. Er streckte seine linke Hand aus und berührte den Schleier der zusammengebrochenen Frau, die seiner Meinung nach ohnmächtig war. Behutsam lüftete er ihn und betrachtete die verzerrten Züge. Ein paar lange schwarze Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Melinda, dachte er. die Spanierin. Daß sie noch lebte. verriet ihm ihre feste, hochgewölbte Brust. die sich in schnellen Abständen hob und senkte. Sein Mund verzog sich zu einem verächtlichen Grinsen. Aus Erfahrung wußte er. daß es hin und wieder zu solchen überraschenden Anfällen von Übelkeit und Unwohlsein bei den Frauen kam. die immer nur auf eine Ursache zurückzuführen waren. Abu Al-Hassan hatte schon eine ganze Reihe von männlichen und weiblichen Abkömmlingen in die Welt gesetzt. Sie wurden allesamt im nahen Melilla
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großgezogen und von Lehrern und Scherifen „im rechten Glauben des Islams unterrichtet“, wie Abu Al-Hassan selbst immer wieder zu sagen pflegte. Der Eunuch erhob sich. Er mußte Ulad, den Glatzkopf, Mechmed, den Berber, oder Abu höchstpersönlich unverzüglich benachrichtigen. Die zweite Frau war in diesem Augenblick genau hinter ihm und ließ den schweren kupfernen Kerzenhalter, den sie als Waffe aus dem Harem mitgenommen hatte, auf das Haupt des Wächters niedersausen. Sie traf und quittierte sein Stöhnen und Zusammenbrechen mit einem dumpfen Laut der Genugtuung. Die erste erwachte urplötzlich wieder zum Bewußtsein, richtete sich auf und beugte sich über die Gestalt des Eunuchen, um ihm den Säbel und das Messer abzunehmen. „Sehr gut, Sieglinde“, flüsterte sie auf spanisch. „Töte ihn“, zischte Sieglinde, die Deutsche, die den Kerzenhalter jetzt hatte sinken lassen. „Nein, das kann ich nicht.“ „Gib mir den Säbel.“ „Laß uns die anderen benachrichtigen“, raunte Melinda. „Es wird höchste Zeit.“ „Behalte du das Messer“, sagte Sieglinde. „Gib mir den Säbel und lauf los. Wo ist der Schlüssel?“ „Hier, an dem Bund, den er am Gurt trägt.“ „Gut.“ Sieglinde duckte sich jäh. „Paß auf.“ Die Tür zum Harem wurde plötzlich von innen her geöffnet. Ein schmaler Streifen Licht fiel in den Gang und auf den Hof. Es erschien ein Eunuch, der sich mißtrauisch nach allen Seiten umblickte. Melinda und Sieglinde kauerten hinter dem Brunnen. Der Eunuch sagte den Namen des Hofwächters dreimal, jedesmal ein wenig lauter als vorher, fragend, besorgt, mit wachsender Unruhe. „Er hat unser Verschwinden vorzeitig bemerkt“, wisperte Melinda. „Himmel, unser schöner Plan. Wie sollen wir Luisa, Janine, Victoria und die anderen nun noch
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befreien? Gleich schreit er los, gleich ist hier der Teufel los.“ „Wir müssen allein flüchten“, zischte Sieglinde. „Es hat trotzdem noch einen Sinn, denn wir können von außen Hilfe holen. Was wir tun, wird nicht umsonst sein.“ Sie kroch um den Brunnen herum, als sich die Schritte des zweiten Eunuchen auf sie zubewegten. In der einen Hand hatte sie den schweren kupfernen Leuchter, in der anderen den Säbel. Als der Eunuch wie vom Donner gerührt stehenblieb, weil er die Füße seines Genossen hinter dem Marmorbecken hervorragen sah, schob Sieglinde sich neben ihm hoch, rammte ihm das obere Ende des Leuchters in die Seite und hieb mit dem Säbel zu, ehe er abwehrend reagieren konnte. Der Eunuch stieß einen schrillen Schrei aus, dann stürzte er auf das Pflaster des Innenhofes. „Fort!“ stieß Sieglinde aus und hastete zur Tür. des Hauptgebäudes. Melinda war auf den Beinen und folgte ihr. In fieberhafter Eile steckte sie den Schlüssel, den sie dem ohnmächtigen Wächter zusammen mit dem Säbel und dem Messer abgenommen hatte, ins Schloß und drehte ihn zweimal um. Sieglinde drückte die Klinke nach unten und lehnte sich gegen die Tür. Endlich schwang sie auf. Melinda zwängte sich als erste durch den Spalt. Sieglinde folgte ihr und raunte ihr zu: „Zieh den Schlüssel ab und riegle von innen wieder zu.“ „Dios“, hauchte die Spanierin. „Mein Gott, ich — denke daran, was passiert, wenn sie uns dabei erwischen.“ „Laß sein, ich erledige das selbst.“ Mit einem Ruck riß die blonde Deutsche den Schlüssel aus der Tür, ließ die Tür ins Schloß gleiten, steckte den Schlüssel von der anderen Seite wieder hinein und drehte ihn energisch um. Den Säbel hatte sie sich unter den rechten Arm geklemmt. Mit der linken Hand hielt sie immer noch den kupfernen Kerzenständer. Sie nahm den Schlüssel wieder an sich, drehte sich um und hastete Melinda nach, die bereits über den breiten, spiegelblank
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geputzten Flur lief, der sich vor ihnen öffnete. Sie vernahmen Schritte und versteckten sich in einem der angrenzenden Zimmer. Sieglinde drückte die Tür vorsichtig hinter sich zu. Sie lehnte sich dagegen und lauschte wie Melinda den tappenden Schritten, die sich eilig an ihnen vorbeibewegten. „Ich habe einen Schrei gehört!“ rief jemand. „Wer war das?“ Er erhielt keine Antwort. Die Männer, die ihm folgten, wußten genauso wenig wie er selbst. „Mechmed, der Hundesohn von einem Berber“, murmelte Sieglinde. „Wenn der uns erwischt, geht es uns wirklich schlecht. Melinda — wo bist du?“ „Hier. Komm doch.“ Sieglinde schlich dem Klang der Stimme nach. Sie stellte den Kupferleuchter auf einem niedrigen Schrank ab, tastete sich weiter und langte bei Melinda an, die aufgeregt nach ihrem Arm griff. „Dieses Zimmer hat keine Fenster“, flüsterte die Spanierin. „Aber es gibt einen Nebenraum. Hier — hier ist die Tür.“ Sie öffnete sie, und jetzt konnten sie das Mondlicht sehen, das schal durch die gestreiften Läden der Fenster fiel. Melinda eilte durch den Raum auf eins der Fenster zu und stolperte um ein Haar über ein großes Kissen, das auf dem Boden lag. Dann war sie am Fenster und wisperte: „Es hat keine Gitter. Schnell! Beeil dich!“ Sieglinde wartete, bis Melinda die Läden aufgestoßen und sich über die Steinbank geschwungen hatte, dann verließ auch sie auf dieselbe Weise den Raum. Sicher landete sie mit ihren nackten Füßen im Sand. Sie warf den Schlüssel fort und schloß sich der Spanierin an. Sie rafften den Saum ihrer Gewänder und liefen, so schnell sie konnten. Ihr Ziel war die Landzunge, die die Bucht, an der Abu Al-Hassans Palast stand, zum Meer hin abschloß — eine lange sandige Nehrung. Fast am Ende lag eine winzige Fischersiedlung. Sieglindes und Melindas Plan war es, sich heimlich eins der Boote zu nehmen und damit auf die See
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hinauszurudern. Was immer sie dort draußen, in den Weiten der Wasserwüste, auch erwarten mochte — sie nahmen Sturm, Hunger und Durst lieber in Kauf als das, was sie im Harem des Abu Al-Hassan zu ertragen hatten. Sie wußten, daß sie es schaffen konnten, doch sie gaben sich beide keinen Illusionen hin. Noch waren sie nicht außer Gefahr. Noch konnten Abus Häscher sie greifen. Im Palast hämmerte Mechmed, der Berber, mit beiden Fäusten gegen die verschlossene Tür zum Innenhof und brüllte: „Öffnen! Eunuchen, hört ihr nicht? Ihr sollt öffnen! Was wird hier gespielt? Was geht hier vor, beim Scheitan?“ Einer seiner Begleiter stieß ihn mit dem Ellbogen an, und Mechmed fuhr sofort herum. Abu Al-Hassan stand hinter ihnen auf der Mitte des Flures, groß, kräftig, mit einem sorgfältig gestutzten grauen Vollbart in seinem markant geschnittenen Gesicht. Wie immer trug er einen weißen Burnus und einen weißen Turban. „Allah sei euch Hunden gnädig!“ schrie er. „Wenn ihr den Schlüssel nicht findet, dann brecht die Tür auf!“ * In dieser Nacht, der Nacht vom 22. zum 23. September 1591, segelte die „Isabella VIII.“, über Backbordbug liegend, durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hielt sich auf der afrikanischen Seite, also nahe der Punta Marroqui und der Punta Almina, weil er um keinen Preis Ärger mit den Spaniern kriegen wollte. Er und seine Männer konnten bei dieser klaren Sicht aber sehr wohl die Leuchtfeuer erkennen, die im Norden brannten, dort, wo Gibraltar liegen mußte. Hasard stand auf dem Achterdeck bei Ben Brighton und Big Old Shane und sagte: „Die Spanier sind nicht mehr ganz so stark wie früher, aber sie können uns immer noch erheblichen Ärger bereiten, wenn sie uns entdecken. Passen wir auf, daß wir
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keinem ihrer Patrouillenschiffe in die Quere geraten.“ Ben Brighton lächelte. „Sir, was uns betrifft – wir passen auf wie die Luchse. Es hat in der letzten Zeit genug Unannehmlichkeiten gegeben.“‘ „Du sprichst von Ferro und von Santo Antao“, sagte Shane. „Aber vergiß nicht, daß es unsere lieben englischen Landsleute und eine Handvoll dreister Iren waren, mit denen wir es zu tun hatten.“ „Deswegen sind uns die Spanier und Portugiesen noch lange nicht freundlicher gesonnen als früher“, meinte Hasards Erster Offizier und Bootsmann. „Ja“, sagte der graubärtige Riese. „Und deshalb haben wir für diese Schleichfahrt ja auch unsere Hecklaterne gelöscht. Das dürfte genügen. Wir sind schon ein gutes Stück voran und haben noch keinen einzigen verdammten Don gesehen.“ „Ich schätze aber, daß sie auch im Mittelmeer herumspuken“, gab der Seewolf zu bedenken. „Nach allem, was man zuletzt über Philipp II. gehört hat, ist er darauf bedacht, die innere Sicherheit seines Landes zu wahren. Das heißt mit anderen Worten, die Grenzen von SpanienPortugal Werden jetzt besonders scharf kontrolliert.“ „Weil Seine Allerkatholischste Majestät mit einem neuen Überfall durch England rechnet?“ Shane lachte grollend. „Hölle, wenn ich es mir recht überlege, hat er allen Grund dazu. Cadiz und die Armada könnten sich wiederholen.“ „Da hast du mal ein weises Wort gesprochen“, sagte Ben. „Aber wir dürfen den Gegner eben nicht unterschätzen. Ich nehme an, daß wir auf unserer Reise ins östliche Mittelmeer noch einige Scherereien kriegen. Oder glaubt ihr, daß wir problemlos bis dorthin gelangen?“ „Ganz problemlos nicht“, meinte der Seewolf. „Aber wir werden es schon verstehen, größeren Gefechten auszuweichen.“ Shane nickte. „Außerdem soll man das Unheil nicht heraufbeschwören. Oder heißt du neuerdings vielleicht Old Donegal Daniel O’Flynn, Mister Brighton?“
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„Gott bewahre“, entgegnete Ben. „Das fehlte noch.“ Sie schwiegen und beobachteten weiterhin ihre Umgebung, so gut das Mondlicht es ihnen gestattete. Auf der Kuhl und auf der Back versahen sechs Männer der Crew die sogenannte Hundewache, die von Mitternacht bis vier Uhr dauerte, im Großmars hockte als Ausguck Bill, der Moses, und sie alle hingen den Erinnerungen nach, die sich mit der Meerenge von Gibraltar verbanden, mit dem „Canal estrecho“, wie die Spanier sie nannten. Vor elf Jahren waren sie schon einmal hier gewesen, und dem Seewolf hatte eine bedeutsame Begegnung bevorgestanden. Nach langer Suche hatte er seinen Vater, den deutschen Malteserritter Godefroy von Manteuffel, gefunden und aus der Gewalt des gefährlichen Piraten Uluch Ali befreit. Godefroy von Manteuffel war bei diesem Gefecht jedoch gefallen. Und die andere Reise vom Atlantik durch den „Estrecho“ ins Mittelmeer, die mehr eine Irrfahrt gewesen war? Hatte sie nicht auch gleichsam unter einem bösen Omen gestanden? Auch sie lag inzwischen schon wieder mehr als vier Jahre zurück. Gewiß, Hasard hatte damals endlich in Tanger seine beiden Söhne Philip und Hasard wiederentdeckt — die Zwillinge. Doch im Sturm wäre einer der beiden um ein Haar ertrunken, und etwas später hatte es bei einem notwendigen Landausflug in Marokko einen höchst unerfreulichen Zusammenstoß mit räuberischen Berbern gegeben. Der Seewolf richtete seinen Blick nach Süden. Der laue Wind fuhr in seine schwarzen Haare und zerzauste sie ein wenig. Der Platz, an dem sie damals gelandet waren, lag gar nicht weit entfernt. Am Ende der Episode hatte Hasard El Bayad, den Anführer der Bande von Strandräubern, halbnackt und barfuß nach Osten geschickt, auf den Weg nach Mekka. Ob El Bayad dort wohl jemals angelangt war? Unwillkürlich mußte er lächeln.
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Seine Züge verhärteten sich wieder, als er an das dachte, was sich anschließend zugetragen hatte. Der überfall auf Cadiz, Drake, die Armada, die Jagd der Engländer auf die Spanier rund um England herum — ein entscheidendes Kapitel in der Geschichte, das einiges im Machtverhältnis der seefahrenden Völker verändert hatte. Spaniens und Portugals Einfluß ließ nach. Philipp II. hatte nunmehr deutlich gezeigt, daß er von den Belangen der Seefahrt im Grund wenig verstand. Er mochte schmollend im Escorial auf und ab wandern und sich auf die strengen Regeln des Katholizismus’ berufen, aber auch das nutzte ihm nichts mehr. Lepanto 1571 war ein Erfolg gewesen, der Zug der Armada gegen England 1588 eine erschütternde Niederlage. Elizabeth I. war nun Philipps große Gegenspielerin. Außerdem setzten die Sieben Vereinigten Provinzen Hollands dem spanischen König mehr und mehr zu. Die Vorrangstellung zur See, das vermochte der Seewolf schon jetzt vorauszusehen, würde an England und an Holland fallen. Aber, wie gesagt, man durfte die Spanier und die Portugiesen deswegen noch lange nicht unterbewerten. Hasard tat es nicht. Er war auf alles gefaßt und hoffte gleichzeitig, genug Vorsorge getroffen zu haben, um einem dritten turbulenten Eindringen ins Mittelmeer vorzubeugen. Er wollte weder Berührung mit Spanien haben noch in Marokko landen. Proviant und Trinkwasser befanden sich in ausreichender Menge an Bord, es gab keinen Grund dafür, irgendwo den Anker zu werfen. Dennoch sollte es anders kommen, als sie geplant hatten. 2. Melindas Atem ging schnell und unregelmäßig, sie verspürte erste Seitenstiche und blieb hinter Sieglinde zurück. Der Mut und die Entschlossenheit, die sie in gleichem Maße empfanden, hatte sie verbunden und zu Kampfgefährtinnen werden lassen. Sieglinde hatte jedoch mehr
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Widerstandskraft und Ausdauer als die Spanierin. Sie war kräftiger gebaut und hatte jene Zähigkeit, die fast alle Menschen ihrer Herkunft auszeichnete. Melinda strauchelte und stürzte in den Sand. Sieglinde blieb stehen, drehte sich um und kehrte zu ihr zurück. Sie streckte die Hand aus und half ihr hoch. „Nicht aufgeben, Melinda“, sagte sie. „Nicht jetzt. Wir haben es fast geschafft. Siehst du die Lichter vor uns? Sie sind schon ganz nah.“ Die Spanierin senkte ihr rechtes Ohr auf den Untergrund. „Sie kommen“, flüsterte sie entsetzt. „Ich höre das Trappeln der Pferdehufe. Sie folgen uns, um uns zu fangen. Um uns zu treiben und auszupeitschen.“ Sieglinde zerrte sie am Arm hoch und trieb sie zur Eile an. Melinda hatte sich jetzt wieder etwas erholt, es gelang ihr, das Tempo, mit dem die Freundin weitereilte, zu halten. Die wenigen Lichter des kleinen Fischerdorfes auf der Landzunge rückten näher. Aber auch das Trommeln der Hufe im Sand war jetzt deutlich hinter ihnen zu vernehmen. Es wurde rasch lauter, viel zu rasch, und der dumpfe, treibende Galopp ließ Panik in den beiden Frauen aufsteigen. Wieder wurde Melinda langsamer, doch die Deutsche griff nach ihrer Hand und zog sie hinter sich her. Mechmed und seine Berber-Garde, die dem ehrenwerten Abu Al-Hassan als Palastwache unterstanden, hatten die Tür zum Innenhof aufgebrochen und die beiden Eunuchen gefunden. Der eine war schwerverletzt zusammengesunken, der andere war ins Bewußtsein zurückgekehrt und hatte ihnen stammelnd berichtet, was sich ereignet hatte. Abu Al-Hassan hatte daraufhin sofort nach der Deutschen und der Spanierin suchen lassen. Ohne Erfolg. Mechmed hatte die Schlußfolgerung gezogen, daß Sieglinde und Melinda bereits aus dem Gebäude geflohen waren, und, richtig, man hatte das offene Fenster entdeckt.
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Jetzt preschte Mechmed an der Spitze eines achtköpfigen Pulks von Reitern über die Landzunge. Er ahnte, daß die Gesuchten den Weg zum Dorf der Fischer wählen würden, und er hoffte inständig, sie noch vorher zu stellen. Das würde zu seinem persönlichen Vorteil gereichen, denn Abu Al-Hassan ließ sich nicht lumpen, wenn es galt, sich für einen erwiesenen Dienst erkenntlich zu zeigen. Er würde den Eunuchen, der sich auf den Kopf hatte schlagen lassen, auspeitschen lassen, ihn aber, Mechmed, mit Silbermünzen überschütten, wenn er die Deutsche und die Spanierin zurückbrachte. Denn Frauen waren für Abu der größte Reichtum, den es auf der Welt gab. Immerhin hatte er ja auch gerade für die Europäerinnen, die er sich in seinem Harem hielt, mit barer Münze bezahlt. Mechmed ritt einen hochbeinigen Rappen mit weißer Blesse auf der Stirn. Er hieb ihm die Hacken seiner Stiefel in die Seiten, um ihn anzutreiben, und stieß immer wieder den Kampfruf des Bergvolkes aus, von dem er abstammte – ein kurzes, kehliges „Hajagh“. Seine Gefolgschaft hielt sich dicht hinter ihm. Es waren Männer auf Falben, Schimmeln und Braunen. Alle waren mit Musketen, Pistolen und Säbeln bewaffnet. Ihre Umhänge flatterten. Die Hufe ihrer Tiere wirbelten den Staub in Fontänen hoch. Mechmed selbst trug einen schwarzen Burnus, eine schwarze Kappe und ein schwarzes Tuch, das er sich als Atemschutz vor den Mund gebunden hatte. Er war ein hagerer, knochiger Mann mit scharfen Zügen und stechendem Blick, der von den Frauen und Mädchen des Harems oft mit dem Teufel höchstpersönlich verglichen wurde. In rasendem Galopp näherte sich die Phalanx dem Fischerdorf. Dort waren Sieglinde und Melinda mittlerweile zwischen den Hütten eingetroffen. Mit geweiteten Augen blickten sie über ihre Schultern zu den Berbern zurück, die jetzt unter dem
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weißlichen Mondlicht gut genug zu erkennen waren. Ein paar Männer liefen vor den Hütten zusammen – die Frauen und Kinder hingegen hatten sich in weiser Voraussicht eines drohenden Unheils in ihre Behausungen zurückgezogen. „Helft uns!“ stieß Melinda, die ein wenig Arabisch konnte, aus. „Versteckt uns! Sie sind hinter uns her, und sie töten uns, wenn sie uns greifen!“ „Das sind Abu Al-Hassans Haremsweiber“, zischte einer der Fischer. „Fort!“ rief ein zweiter Mann. „Abu verflucht und vernichtet uns, wenn wir auch nur einen Finger für euch rühren!“ „Melinda, komm“, sagte Sieglinde aufgeregt. Sie verstand kein Wort, entnahm aber dem Tonfall, mit dem gesprochen wurde, daß sie hier keinesfalls auf Unterstützung hoffen durften. Schon bereute sie, direkt in die Siedlung gelaufen und nicht daran vorbeigeschlichen zu sein, wie es ursprünglich geplant gewesen war. Sie hatten aber beide gedacht, daß es besser wäre, sich zwischen den Hütten vor den anrückenden Berbern zu verstecken. Dabei hatten die Fischer sie natürlich entdeckt. „Sieglinde, lauf schon vor!“ rief Melinda der Deutschen auf spanisch zu. „Ich versuche, Mechmed und ne Kerle aufzuhalten oder abzulenken.“ „Das schaffst du nicht!“ „Lauf!“ Die Fischer hatten beide Frauen eingekreist und trachteten jetzt, sie zu packen. „Los!“ schrie er, der als erster gesprochen hatte. „Nehmen wir ihnen die Waffen ab! Schleppen wir sie zum Palast! Abu AlHassan wird uns dafür belohnen, verlaß t euch darauf!“ Sieglinde holte rechtzeitig genug mit dem Säbel aus und ließ ihn durch die Luft pfeifen. Soviel kaltblütige Entschlossenheit hätten die Fischer von einer Frau nicht erwartet. Sie wichen zurück und griffen zwar zu ihren Messern, aber trauten sich an Sieglinde, die sich jetzt durch einen Satz nach links zwischen zwei Hütten brachte, nicht mehr so recht heran.
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Zwei von ihnen tauchten jedoch in der Dunkelheit unter und liefen um die eine Hütte herum, um die Deutsche von hinten zu überraschen. Melinda setzte sich unterdessen mit dem erbeuteten Messer gegen die Marokkaner zur Wehr. Doch die lachten nur. Sie tauchten unter ihren heftigen Ausfällen weg oder sprangen zur Seite, ließen aber nicht von ihr ab. Sie waren ihr zahlenmäßig weit überlegen. Jetzt war auch die Horde Berber heran und mischte sich unverzüglich in das Geschehen ein. Melinda erhielt einen Hieb gegen die Schulter, geriet ins Taumeln und stürzte. Jemand schlug ihr das Messer aus der Hand. Mechmed war über ihr. Er ließ sich aus dem Sattel fallen, packte sie und preßte sie so hart auf den Sandboden, daß sie fast erstickte. „Das wirst du büßen!“ schrie er immer wieder. „Das wirst du büßen, elende Tochter einer räudigen Hündin!“ Sieglinde hatte von dem schmalen Gang zwischen den beiden Hütten aus alles verfolgen können. Sie war entsetzt und wollte zurück zu ihrer Freundin, um ihr zu helfen. Aber dann haben sie auch dich, dachte sie, und keiner wird uns mehr helfen. Dann ist es für immer aus. Die kühle Überlegung gewann die Oberhand. Sie fuhr herum, gerade noch rechtzeitig genug, um den beiden Fischern, die sich von hinten an sie heranpirschten, zu begegnen. Mit beiden Händen hielt Sieglinde den Krummsäbel und ließ seine Klinge kreuz und quer durch die Luft sausen. Sie war jetzt froh darüber, von ihrem Vater das Kämpfen mit Blankwaffen gelernt zu haben, obwohl sie sich seinerzeit heftig dagegen gesträubt hatte, da sie das Ganze für eine reine Männersache gehalten hatte. Einer der Fischer ließ sich zu Boden fallen. Der andere wurde durch den Säbel zurückgeworfen. Er prallte mit dem Rücken gegen eine Hüttenwand, gab einen ächzenden Laut von sich und sank schlaff zu Boden.
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Der Weg war frei. Sieglinde lief los und verschwand hinter den Hütten in der Dunkelheit. Sie brachte Distanz zwischen sich und den Feind, mußte aber gleichzeitig gegen die Gewissensbisse kämpfen, die sie plagten, weil sie die Freundin im Stich ließ. Sie sah jetzt die Boote, die an primitiven Anlegern im Wasser schaukelten, vor sich und gewann wieder etwas Zuversicht. Es kann dir doch noch gelingen, dachte sie, jetzt nur schnell – schnell in ein Boot und die Leine lösen. Beni, ein Djerba-Mädchen, das im Harem ihr Schicksal mit ihnen teilte, hatte ihnen alles erzählt, was sie wissen mußten: wo die Siedlung der Fischer war, wo die Boote lagen, wie groß die Nehrung war. Denn Beni hatte man nicht — wie man es bei fast allen anderen Frauen und Mädchen getan hatte — die Augen verbunden, als man sie in den „Hof des Herkules“ gebracht hatte, wie Abu Al-Hassans weißer Palast allgemein genannt wurde. Sieglinde langte auf einem der Stege an und kletterte in eins der Boote, das etwa so breit wie eine Gig sein mochte und nur etwas länger als eine solche konstruiert war. Eine richtige Nußschale also, wie auch die anderen Fahrzeuge. Es war Sieglinde unverständlich, wie die Fischer mit so kleinen Booten ihrer Arbeit nachgehen konnten. Aber es stellte sich noch eine andere, weitaus wichtigere Frage: War so ein Boot überhaupt seetüchtig? Auch in diesem Punkt durfte sie sich keinen Illusionen hingeben. Die Boote waren für die Küstenfahrt gebaut. Einem Sturm konnten sie nicht trotzen, schon ein Seegang von der Stärke vier oder fünf würde sie zweifellos zum Kentern bringen. Ihr Vater war selbst zur See gefahren und hatte sie — rein theoretisch zwar, aber doch nachhaltig genug —auch in diesen Dingen unterrichtet. Sieglinde legte den Krummsäbel ins Boot und löste die Leine, die es an einem aus dem Wasser ragenden Pfahl festhielt. Das Boot trieb ab, und sie duckte sich tief auf den Boden, gerade noch rechtzeitig genug,
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denn jetzt näherten sich vom Dorf her drei Berber in donnernder Kavalkade. In diesem Moment betete Sieglinde zum Himmel und flehte um Gnade. Wenn sie nur noch etwas Abstand zum Ufer gewann, dann würde das Boot in der Dunkelheit auch von den Stegen aus nicht mehr zu erkennen sein. Es war, als würde ihr Gebet erhört. Eine Strömung nahm das Boot mit und entführte es auf die offene See. Sieglinde spürte es ganz deutlich, obwohl sie nicht wagte, den Kopf auch nur um einen Deut zu heben. Daß es der Sog des ablaufenden Wassers war, der hier wirkte, sollte ihr erst später aufgehen. Mechmed, der mit zwei von seinen Begleitern aus dem Dorf hergeritten war, trieb seinen Rappen bis auf einen der Bootsstege hinaus. Das Tier stieg mit den Vorderhufen hoch, weil es Angst vor dem Wasser hatte. Wütend brachte der Berber es zur Räson und hielt angestrengt nach der Deutschen Ausschau, die weder vor noch in den Hütten zu finden gewesen war. Er saß ab, untersuchte seine Umgebung genauer und entdeckte die Lücke, die sich gerade zwischen den eng beieinander liegenden und auf den seichten Wellen dümpelnden Booten schloß. Er blickte aus schmalen Augen aufs Meer hinaus, konnte die Entflohene dort zwar nicht sehen, wußte jetzt aber, wo er sie zu suchen hatte. Er fuhr zu seinen Begleitern herum. „Ein Boot fehlt!“ rief er. „Sagt den anderen Bescheid! Sie sollen herkommen, ich brauche jeden Mann! Wir müssen dieses Höllenweib einholen!“ Kurze Zeit darauf hatte er seinen Trupp wieder um sich versammelt, bis auf einen Mann, den er mit Melinda zurück zu Abu Al-Hassan geschickt hatte. Abu, der vor Zorn darüber getobt hatte, daß die Frauen überhaupt hatten fliehen können, würde sich angesichts dieses Teilerfolges beruhigen. Die Berber liefen mit den Fischerbooten aus und forschten auf mehr als eine Seemeile Entfernung das Meer vor der Landzunge ab. Gut eine Stunde lang fahndeten sie hartnäckig nach der
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Deutschen, dann aber brach Mechmed ergebnislos sein Unternehmen ab. Keine Spur von Sieglinde — es war so, als habe die See sie samt ihrem Fluchtboot verschlungen. * Sieglinde hatte in dem Boot nicht nur die beiden Riemen gefunden, die der Fortbewegung dienten, sie war auch auf einen kleinen Mast gestoßen, den sie nun aufrichtete und in der eigens dafür vorgesehenen Öffnung der vordersten Ducht befestigte. Der Mast erschien ihr dünn und wacklig, aber sie wollte es wenigstens versuchen, sich seiner zu bedienen. Jetzt, da die Umrisse der Anleger, der Boote und der Menschen’ am Strand hinter ihr zur Unkenntlichkeit verschwommen waren und auch die Lichter des Fischerdorfes nur noch winzige glimmende Pünktchen in der Nacht waren, konnte sie sich frei bewegen und bedenkenlos hantieren. Unter der Heckducht entdeckte sie das zusammengerollte Segel. Sie entfaltete es, hängte es an den Mast und versuchte, es vermittels der daran festgeknoteten Leinen zu richten. Das Segel war nichts Besseres als ein Stück Sackleinen, in dem zu allem Hohn auch noch ein paar Löcher klafften. Es fiel ihr schwer, zu begreifen, nach welchem Prinzip die marokkanischen Fischer damit solch ein Boot vorwärtsbrachten, aber sie arbeitete mit dem nötigen Verstand und hatte das Tuch bald so gesetzt, daß der Südwind hineingriff und es aufbauschte. Das Boot war bedrohlich ins Schwanken geraten, aber die Bewegungen ließen nach, sobald Sieglinde wieder auf dem Boden Platz nahm. Sie hielt die Segelleine und griff mit der anderen Hand nach der Ruderpinne, einem grob behauenen Stück gewachsenen Holzes, das auf simple Art mit ein paar Rohlederriemen am Heck befestigt war. So segelte sie querab von Melilla, dessen Lichter sie an Backbord leuchten sah, mit nördlichem Kurs auf das Mittelmeer
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hinaus. Ihr Ziel lag im Ungewissen, ihr Schicksal war unbestimmt. Sie hatte nichts zu essen und nichts zu trinken, würde bald Hunger und Durst leiden — und wo sollte sie die Hilfe suchen, die sie brauchte, um auch Melinda und den anderen Frauen die ersehnte Freiheit zu verschaffen? * Gary Andrews enterte um vier Uhr nachts in den Großmars auf und löste Bill auf seinem Ausguckposten ab. Als etwa anderthalb Stunden später die ersten grauen Schleier im Osten das Heraufziehen des neuen Tages ankündigten, begann Gary, mit dem Spektiv routinemäßig die Kimm abzusuchen, die vorerst nur als milchige Linie zwischen dem Himmel und der See zu erkennen war. Um kurz vor sechs Uhr sichtete er Steuerbord voraus einen dunklen Punkt, der sich bei näherem Hinsehen als eine flache Insel zu entpuppen schien. Er wußte jedoch, daß es sich um das Kap „Tres Forcas“ handelte, denn am Vorabend hatte der Seewolf vor versammelter Mannschaft den Kurs bekanntgegeben, dem man — vorausgesetzt, es trat keine gravierende Verschlechterung des Wetters ein — in den nächsten Tagen folgen würde. Da sie sich in der Nähe der marokkanischen Küste halten würden, mußte das weit in die See hinausragende Kap dabei zwangsläufig in Sichtweite geraten. Gary erstattete seinem Kapitän, der nach einer kurzen Ruhepause wieder zusammen mit Ben Brighton auf dem Achterdeck erschienen war, die erforderliche Meldung, dann richtete er das Rohr voraus und spähte am angebraßten Vormarssegel vorbei. Plötzlich straffte sich seine Gestalt. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, beugte sich etwas über die Segeltuchumrandung des Großmarses und balancierte die Schiffsbewegungen mit den Beinen aus, um einen möglichst ruhigen Stand zu haben. Das, was soeben in der Optik des Kiekers erschienen war, verlangte nach einer
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genauen Definition. Aber wie sollte er es klar erkennen, wenn ihn die Sonne, die jetzt als gelblicher Ball im Osten über der See stand, derart blendete? Er biß sich auf die Unterlippe und fluchte leise. Als Fockmastgast und auch als Ausguck im Großmars hatte er sich im Laufe der Jahre als mindestens genausogut wie Bill oder Dan O’Flynn erwiesen, und aus diesem Grund wollte er es sich nicht nachsagen lassen, möglicherweise zu spät auf eine drohende Gefahr hingewiesen zu haben. Das grelle Sonnenlicht, das jetzt an Kraft und Helligkeit noch zunahm, stach ihm ins Auge, aber er hörte nicht auf, das „Etwas“ anzuvisieren und sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Noch war es zu früh für eine Meldung an die Deckswache. Vage Meldungen wurden von Carberry, der seinen üblichen Kontrollgang unternahm, sofort mit üblen Flüchen belohnt. Daß der Ausguck Schlick auf den Augen und die Crew Tang in den Ohren hatte, gehörte zu seinen beliebtesten Sprüchen. Doch jetzt schob sich die „Isabella“ unaufhaltsam näher an das „Objekt“ heran, und mit einemmal war es für Gary klar, auf was sie da zuhielten. Er ließ den Kieker sinken, neigte den Kopf, legte eine Hand an den Mund und schrie: „Deck! Mastspitze voraus! An der östlichen Kimm!“ Edwin Carberry hielt in seinem Tigergang inne und drehte sich zum Achterdeck um. Die Männer der Wache hoben die Köpfe. Hasard und Ben richteten ihre Spektive auf Garys Ruf hin sofort voraus. „Hölle und Wassermann!“ rief der Profos. „Sir, Hasard, sollten wir da etwa einem fetten Don vor den Wanst laufen?“ „Keine voreiligen Schlüsse ziehen“, sagte der Seewolf. „Noch haben wir’ seine Flagge nicht gesehen, Ed.“ „Außerdem sind nicht alle Spanier und Portugiesen fett“, meldete sich eine Stimme hinter Carberrys Rücken. Wieder fuhr der Narbenmann herum und warf einen ärgerlichen Blick auf den Sprecher — Dan O’Flynn, der soeben von
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einem kurzen Ausflug zum Kutscher und zu den Zwillingen aus der Kombüse zurückkehrte und an der Nagelbank des Großmastes verharrte. „Du kannst mal wieder deine Luke nicht halten, was, Mister O’Flynn?“ sagte Carberry. „Das sieht dir ähnlich. Immer was zu meckern haben, immer andere berichtigen wollen. Du schlägst schon genau nach deinem Alten, weißt du das?“ „Mein Alter hat schon immer eine Nase für das gehabt, was richtig ist, und alle O’Flynns sind kluge Köpfe“, sagte Dan. Er hoffte, seinem Vater, der sich noch im Achterkastell aufhielt, würde dieses Loblied auf die alte Sippe von Falmouth nicht entgehen. Old Donegal Daniel O’Flynn schmolz fast dahin, wenn er solches oder anderes vernahm, und im übrigen hatte er jetzt, da sie sozusagen wieder in Europa waren, richtiges Heimweh nach Old England. Jedes pathetische Wort konnte seine patriotischen Gefühle und eine gewisse Rührseligkeit in ihm wachrufen. „Ach?“ rief der Profos und stemmte beide Fäuste in die Seiten. „Eingebildet bist du wohl gar nicht, was? Wie?“ „Nein. Nicht im geringsten. Ich sage nur, wie es ist.“ „Soll ich dir mal sagen, wie es ist?“ brüllte Carberry, der eigentlich froh darüber war, daß das Gespräch nicht in hochgeistige Bahnen entglitt, denen er nicht zu folgen vermochte. „Hör mal, Mister Carberry“, sagte Dan. „Hasard hat uns oft genug darauf hingewiesen, daß man die Spanier und Portugiesen nicht durch unflätige Ausdrücke diskriminieren soll. Sie sind unsere Gegner zur See und auf Land, aber sie sind auch Menschen, und es gibt unter ihnen so manchen aufrechten, anständigen Burschen.“ „Diskri ... Was hast du da eben gesagt?“ Dan lächelte. „Daß es nicht fein ist, die Dons herabzuwürdigen.“ „Nicht fein, oho!“ Carberry schnaufte und fuhr sich mit der Hand über sein mächtiges Rammkinn. „Soso!“ Er holte tief Luft, und dann brüllte er so laut, daß selbst Gary
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Andrews oben im Großmars noch eine Gänsehaut kriegte: „Wenn du nicht auf der Stelle die Kuhl räumst und auf dein Achterdeck verschwindest, du feiner, verlauster, triefäugiger englischer Bastard, dann zeige ich dir, was ich unter Diskripolierung, oder wie das heißt, verstehe. Ach, verflucht noch mal, dann ziehe ich dir deine krummgeschissenen Lordbeine lang und reiße dir die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch. Verstanden?“ Dan führte die Hand gegen die Stirn und ließ sie wieder sinken. „Verstanden, Mister Carberry, Sir. Das war mal eine schöne Rede. Einen guten Morgen wünsche ich.“ Er wandte sich ab und marschierte zum Backbordniedergang, der das Haupt- und Achterdeck miteinander verband. Der Profos konnte sein vergnügtes Grinsen nicht mehr sehen. Wohl sah er aber die Männer auf der Kuhl grinsen, und dies nahm er gleich zum Anlaß für seine nächste Schimpfkanonade. „Steht nicht rum und glotzt, ihr Kakerlaken! Mister Davies, ich hab dir befohlen, die Fallen zu klarieren und aufzuschießen und nicht, wie ein toter Aal zu grinsen. Leg die Ohren an, Mister Morgan, und mach dich an die Arbeit, sonst kracht es im Logis, du müde Seegurke! He, muß ich euch erst wieder aufwecken? Ihr schlaft ja im Stehen, ihr verdammten Rübenschweine. Auf Trab, ihr Stinkstiefel, willig und nicht so lahmarschig, wird’s bald?“ Die Männer konnten sich ihr Lachen kaum verkneifen. Selbst um Hasards Mund spielte ein amüsierter Zug. Carberry konnte es nun mal nicht lassen, er mußte brüllen. Aber wenn er brüllte, dann war er gesund, und gerade an diesem Morgen schien er sich besonders wohl in seiner Haut zu fühlen. Er fluchte in allen Tonlagen. „Hasard, Sir!“ schrie Gary Andrews. „Es ist nur ein Mast mit einem winzigen Dreiecks-Segel, soviel kann ich jetzt erkennen! Das ist ein Boot, kein Schiff!“
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„Eine Schaluppe oder eine Pinasse vielleicht“, mutmaßte Ben Brighton. „Oder eine Feluke.“ Hasard hatte das Spektiv nicht mehr sinken lassen, seit Garys erster Hinweis erklungen war. „Kleiner“, sagte er. Auch er konnte den Mast mit dem Segel jetzt deutlich genug sehen. „Das ist eine erbärmliche Nußschale.“ „Von der droht uns kein Verdruß“, meinte Ben. Dan, der zu ihnen getreten war, sagte: „Vielleicht sind es marokkanische Fischer.“ „Die sich so weit herauswagen?“ Hasard ließ das Rohr sinken und blickte ihn an. „Wir sind gute zwanzig Meilen vorn Kap Tres Forcas entfernt, vergiß das nicht, Dan. Mit einem derart kleinen Kahn kann man allenfalls in Ufernähe segeln, es sei denn, man ist lebensmüde.“ „Diese nordafrikanischen Fischer sind oft die reinsten Teufelskerle“, meinte Dan leichthin. Er zuckte mit den Schultern. „Aber was soll es uns kümmern, wenn sie sich in Gefahr begeben?“ „Langsam“, sagte Ben. „Bei aller Weisheit, die du offenbar mit Löffeln gefressen hast, Mister O’Flynn, bist du jetzt doch zu oberflächlich. Wie nun, wenn sich an Bord des Bootes Schiffbrüchige befinden?“ „Dann sollten sie schleunigst die Küste ansteuern“, erwiderte Dan. „Immer schön gegen den Wind kreuzen, dann sind sie bald da.“ „Das Boot segelt vor dem Wind“, sagte der Seewolf. „Es entfernt sich immer weiter von der marokkanischen Küste.“ „Sir!“. rief Gary. „Deck! Ich glaube, es befindet sich nur ein Mensch an Bord des kleinen Kahns!“ „Mann oder Frau?“ fragte Dan. „Jetzt hör aber auf“, sagte Ben Brighton. „Ich finde die Bemerkung nicht witzig. Außerdem ist es ausgeschlossen, daß sich ein weibliches Wesen an Bord so einer Gig aufs Meer hinaustraut.“ „Ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil“, sagte Dan. „Und verübelt mir
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meine Kommentare nicht, ihr wißt ja, mich sticht manchmal der Hafer.“ Hasard lächelte. „Schon gut, Dan. Ich glaube, du mußt bald Mal wieder an Land, oder? Oder wir müssen dich festbinden, sonst fängst du an zu toben.“ „Wie, das denkst du wirklich?“ entfuhr es Dan. Er schnitt eine Grimasse. „Nein, nein, so groß ist der Notstand bei mir nun wirklich nicht. Und ich kann doch auch meinen, äh —inneren Schweinehund besiegen, wenn ich will.“ „Dann mal los“, sagte der Seewolf. „Disziplin, Mister O’Flynn. Und keine großen Streitereien mit Carberry, verstanden?“ „Aye, aye, Sir.“ „Sir!“ brüllte Gary Andrews. Er schien plötzlich völlig aus dem Häuschen zu sein. „Das da an Bord des Bootes — das ist eine Frau, eine richtige Frau, so wahr ich Gary Andrews heiße!“ „Eine richtige Frau!” schrie Carberry zu ihm hinauf. „Das hört sich ja an, als hättest du bislang immer nur unrichtige Weibsbilder gesehen, du Satansbraten!“ Old O’Flynn trat aus dem Achterkastell und sagte: „Was ist denn hier bloß los? Ihr schreit ja, als hätten wir einen ganzen Verband spanischer Kriegsgaleonen vor der Nase.“ Sein Sohn blickte Ben Brighton von der Seite an. „Ausgeschlossen, nicht wahr? Wie sagtest du doch eben so richtig?“ „Es gibt Momente, da fällst du mir richtig auf die Nerven, Dan O’Flynn“, sagte Ben. 3. „Beidrehen!“ befahl der Seewolf. „Sie gibt uns zwar keine Signale, daß sie Hilfe braucht, aber wir sollten uns wenigstens erkundigen, ob sie auch wirklich nichts braucht. Ich finde, das sind wir dieser unbekannten Lady irgendwie schuldig.“ Bob Grey verdrehte auf der Kuhl die Augen und murmelte: „O Mann, hoffen wir doch, daß sie was braucht. Wie schön wäre es, wenn sie darum betteln würde, zu uns an Bord kommen zu dürfen.“
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Blacky sah ihn geringschätzig an. „Weißt du denn überhaupt schon, wie sie aussieht? Mensch, sie könnte eine alte Schachtel sein.“ Bob kratzte sich am Kopf. „Daran hab ich noch gar nicht gedacht.“ „Was redet ihr da?“ rief Carberry, der im Anmarsch war. „Was steht ihr da schon wieder rum und haltet Maulaffen feil? Habt ihr’s nicht gehört? Beidrehen! Schrickt weg die verdammten Schoten! Wir fallen ab und gehen vor den Wind, ihr gesalzenen Heringe!“ Wenig später hatte die „Isabella“ eine weite Schleife gefahren, die sie auf nördlichen Kurs brachte. Sie segelte jetzt mit prall gefüllten Segeln vor dem Wind. Das Boot, dessen zerlumptes Segel und dessen einziger Insasse nunmehr mit bloßem Auge zu erkennen waren, befand sich somit in Lee der Dreimast-Galeone. „Marssegel und Besan wegnehmen!“ rief der Seewolf. Die Männer geiten das Vormars- und Großrnarssegel sowie den Besan auf, aber die „Isabella“ hatte immer noch zuviel Fahrt. Sehr schnell schob sie sich an das Boot heran, ein Gigant, der sich anschickte, eine Maus zu zermalmen. Hasard ließ auch das Großsegel bergen, so daß die „Isabella“ nur noch mit Fock und Blinde an die Nußschale heranging. Zunächst hatte es den Anschein, als würde das Schiff das Boot überholen, dann aber verringerte sich die Geschwindigkeit, und am Ende befanden sich beide auf derselben Höhe und liefen Parallelkurs. Hasard blickte vorn Backbordschanzkleid des Achterdecks zu der Frau hinüber. Sie war blond, ihre langen Haare flatterten im Wind. Er war überzeugt, daß sie weder eine Nordafrikanerin noch eine Südeuropäerin war, sie schien zu einem ganz anderen Menschentyp zu gehören. Aus diesem Grund mutete es fast grotesk an, daß sie die Kleidung der marokkanischen Frauen trug. Die „Isabella“ war auf Rufweite an das Boot heran. Hasard legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und schrie auf englisch: „Hallo! Hören Sie mich?
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Verstehen Sie mich? Brauchen Sie Hilfe? Bitte antworten Sie!“ Sie hantierte nervös mit der Segelleine und wollte den Kurs ändern. Aus irgendeinem Grund wollte sie sich von der „Isabella“ entfernen. „Sie hat Angst“, sagte Ben Brighton. „Verständlich“, meinte Hasard, der die Hände jetzt wieder sinken ließ, seinen Blick jedoch unausgesetzt auf die blonde Frau gerichtet hielt. „Wir könnten Freibeuter sein. Menschenjäger wie beispielsweise Lord Henry, der mit ihr zuerst sein Vergnügen haben und sie dann irgendwo verkaufen würde.“ „Lord Henry“, sagte Dan. „Mann, wenn ich an diesen Lumpenhund denke, wird mir ganz anders. Hoffentlich ist er mit dem Rest seiner Crew ganz abgesoffen, nachdem wir seinen Kahn auf den Grund der See gesetzt haben.“ „Ein frommer Wunsch.“ Ben lachte. „Aber dieser Henry ist sicher zäher, als du denkst. So schnell stirbt der nicht, verlaß dich drauf.“ Hasard hatte sich von ihnen abgewandt, war aufs Schanzkleid gestiegen und enterte jetzt ein Stück in den Besanwanten der Backbordseite auf. Wieder richtete er einen Appell an die Unbekannte, diesmal auf spanisch: „Bitte geben Sie uns zu verstehen, welche Sprache Sie sprechen! Wir wollen Ihnen helfen! Haben Sie überhaupt Proviant?“ „Es sieht nicht so aus, Sir!“ rief Gary Andrews, der vom Großmars aus jetzt das Innere des Bootes bis ins letzte Detail erkunden konnte. „Nur einen Säbel und zwei Riemen hat sie!“ Die Frau drehte sich zu ihnen um und zeigte ihnen ihr Gesicht. Es war ein ebenmäßig geschnittenes Gesicht mit blauen Augen und einem vollen, ebenso sinnlichen wie kühnen Mund. „Ich werd verrückt“, stöhnte Bob Grey. „Das ist ja eine Schönheit, ‘ne richtige Naturschönheit. Von wegen alte Karavelle!“ „Was faselst du da von Karavellen, Mister Grey?“ fragte der Profos drohend. „Bist du
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nicht mehr ganz dicht? Ziehst du Leckwasser?“ „Nein, Sir“, brummte Bob. „Leute“, sagte Blacky. „Ich hab da so einen Verdacht. Ich will einen Schwabber und eine Pütz fressen, wenn das keine Engländerin ist.“ „Ich brauche niemanden!“ schrie jetzt die Fremde in gebrochenem Spanisch. In stark akzentgefärbtem Englisch fügte sie hinzu: „Lassen Sie mich in Ruhe! Hauen Sie ab! Go home!“ „Holla“, sagte Ferris Tucker, der eben auf dem Hauptdeck erschienen war. „Die Lady scheint Haare auf den Zähnen zu haben.“ Die Lady rief jetzt etwas in einer Sprache, die sie nicht verstanden, ihnen aber doch bekannt erschien. Die Worte sprudelten nur so über ihre Lippen, es schien ihre Muttersprache zu sein. Hasard blickte von den Besanwanten zu seinen Kameraden. „Was sie uns alles an den Kopf wirft! Sie scheint eine gehörige Portion Haß im Leib zu haben. Freunde, wir haben eine waschechte Germanin vor uns, wenn mich nicht alles täuscht.“ Er konnte sich eines Grinsens nicht erwehren, denn auch er hatte gehört, was Blacky zu den anderen auf der Kuhl gesagt hatte. „Kutscher!“ rief der Profos dem Koch und Feldscher zu, der jetzt verwundert seinen Kopf aus dem Kombüsenschott hervorsteckte. „Philip junior soll einen Dweil und eine Pütz bringen!“ „Wozu?“ „Frag nicht so dumm, das ist ein Befehl!” „Mann!“ stieß Blacky hervor. „Ist das vielleicht eine Überraschung! Eine Deutsche vor Marokkos Küsten!“ Der Seewolf wandte sich jetzt wieder an die Frau. „Herrgott, so seien Sie doch vernünftig! Sie können doch nicht so mutterseelenallein übers Meer segeln! Wohin wollen Sie denn überhaupt? Nach Spanien?“ „Das geht Sie einen feuchten Dreck an, Sir!“ gab sie zurück, diesmal wieder auf englisch. „Hören Sie, wir wollen Ihnen nichts tun, wenn es das ist, was Sie glauben!“
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„Wissen Sie, was ich glaube?“ fauchte sie. „Daß Sie ein verdammter Pirat sind!“ „Ich kann Ihnen das Gegenteil beweisen!“ schrie Hasard. „Seien Sie doch um Himmels willen nicht so starrköpfig! Sie sind vor jemandem auf der Flucht, nicht wahr? Vor wem? Sie sank plötzlich auf die Knie und schlug beide Hände vors Gesicht. Die Strapazen der Nacht waren zuviel für sie gewesen, erst jetzt spürte sie, wie sehr ihr Unternehmen an ihren Energien und Nerven gezehrt hatte.. Sie hatte die Segelleine und die Ruderpinne losgelassen, das Segel schlug wild hin und her. Das Boot lief aus dem Ruder. „Männer!“ schrie der Seewolf. „Anluven nach Backbord! Wir gehen längsseits und nehmen sie in Lee über!“ Er gab Pete Ballie, dem Rudergänger, einen Wink, und Pete ließ das schwere Ruderrad unter seinen Fäusten kreisen. Sieglinde nahm die Hände von ihrem verweinten Gesicht, sah das Vorschiff der „Isabella VIII.“ auf sich zuschwenken, und immer noch wirkte das große Schiff unheimlich auf sie. Aber sie unternahm keinen Versuch mehr, den Männern zu entweichen. Sie ergab sich in ihr Schicksal, wie immer dieses auch geartet sein mochte. *
Abu Al-Hassan durchmaß die Haremsgemächer mit langen Schritten und begab sich in den Seitentrakt, in dem er Melinda, die Spanierin, hatte einsperren lassen, nachdem der eine Berber sie zurück in den Palast gebracht hatte. Ulad, der oberste Eunuche, ein dicker Glatzkopf vom Stamme der Haratin, hatte Mühe, ihm zu folgen. Mit etwas Verspätung traf auch er vor der Tür ein, die von zwei EunuchenWächtern flankiert war. Ulads Atem ging schnell. Er konnte sein Keuchen kaum zurückhalten. Gern hätte er sein Unbehagen über die ganze Situation irgendwie zum Ausdruck gebracht, doch er zog es vor, Abus Flüchen und Wutausbrüchen auch weiterhin mit dem
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üblichen untertänigen Grinsen zu begegnen. „Öffnen“, sagte Abu Al-Hassan herrisch. Der eine Wächter schob daraufhin sofort den Riegel der Tür beiseite und drückte die Tür auf. Abu trat in den Raum, der nur dreimal drei Schritte groß war und keine Fenster hatte. Ulad blieb hinter ihm zurück, er mußte es sich gefallen lassen, daß ihm die Tür vor der Nase zugeknallt wurde. Breitbeinig blieb Abu vor Melinda stehen. Melinda lag auf dem kahlen Fußboden. Sie war halbnackt, ihre Haare waren zerzaust und hingen ihr ins Gesicht. Deutlich hoben sich die Spuren der Peitschenhiebe von ihrem Rücken ab. Abu hatte sie bei ihrer unfreiwilligen Rückkehr gebührend empfangen. Sie kroch ein Stück, als könne sie ihm entgehen, blieb an der Wand liegen und verbarg ihr Gesicht vor ihm. „Sieh mich an“, sagte er. „Ich rate dir, meinen Befehlen zu gehorchen. Du weißt, wie es dir ergeht, wenn du es nicht tust.“ Sie setzte sich auf, zog die Knie dicht an den Leib und hielt sie mit den Händen fest. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung schüttelte sie sich die Haare aus dem Gesicht. Sie hob den Kopf und schaute ihn voll kaltem Haß an. „Der eine Eunuch, den ihr mit dem Säbel niedergeschlagen habt, ist tot“, eröffnete er ihr. „Den anderen habe ich zweimal auspeitschen lassen. Er wollte in seinem Gefängnis Selbstmord begehen, doch meine Leute haben es verhindern können.“ Er sprach ein sauberes, fast fehlerfreies Spanisch. „Auch einer der Fischer aus dem Dorf ist verletzt worden, man wird ihm den einen Arm amputieren müssen. Für all das wirst du noch büßen.“ „Fang an, du Satan“, sagte sie. „Ich werde nicht schreien.“ „Du wirst es dir noch wünschen, tot zu sein, aber ich werde dich nicht sterben lassen.“ „Ist das alles, was du mir zu sagen hast?“ Er bezwang den Wunsch, sich auf sie zu stürzen. Mühsam beherrscht sagte er: „Es kann aber auch sein, daß ich Gnade vor
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Recht ergehen lasse. Mechmed und die anderen haben heute nacht noch einen Versuch unternommen, die Deutsche wiederzufinden. Sie sind mit meiner Bagalla ausgelaufen, die ich im Hafen von Melilla liegen habe, doch im Morgengrauen sind sie unverrichteter Dinge wieder zurückgekehrt.“ „Du glaubst ja gar nicht, wie sehr mich das freut“, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. „Welchen Kurs hat die Deutsche eingeschlagen?“ „Vielleicht ist sie durch die Bucht bis nach Melilla geschwommen.“ „Nein. Sie hat ein Boot gestohlen.“ „Das glaube ich nicht.“ „Ihr habt es von Anfang an vorgehabt. Lüge nicht. Ich weiß, wie eure Pläne aussahen, und ich werde denjenigen, der euch die entsprechenden Hinweise gegeben hat, noch entlarven“, sagte er. „Wohin segelt die Deutsche?“ „Frag sie doch selbst.“ „Wahrscheinlich wendet sie sich nach Norden“, fuhr Abu Al-Hassan fort. „Der Wind ist günstig, und die See ist ruhig. Sie könnte es schaffen, nach Spanien überzusetzen. Wenn ich die Bestätigung habe, daß dies ihr Vorhaben ist, könnte ich Mechmed eine präzise Order geben, und er würde sie noch einholen.“ „Sieglinde ist nach Westen unterwegs“, sagte Melinda. „Oder nach Osten. Auf jeden Fall würde sie niemals das Nächstliegende tun, denn sie weiß, daß es ein unverzeihlicher Fehler wäre.“ „Du lügst wieder.“ „Nein !“ „Überlege es dir. Verrate mir, wo ich sie zu suchen habe, und für dich wird alles wieder gut. Ich will sie wiederhaben, sie ist mir zu wertvoll. Ich habe mehr als nur einen Bakschisch für sie bezahlt - achtzig spanische Piaster.“ Ihr Kopf ruckte vor, sie spuckte vor ihm aus. „Menschenschinder! Bastard! Alles, was ich mir wünsche, ist, daß sie es schafft. Eines Tages erscheint ein Verband von Segelschiffen, deren Besatzungen uns hier herausholen, das schwöre ich dir.
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Dann wird dir endlich dein schmutziges Handwerk gelegt. Dann ist Schluß mit deinen Orgien, du widerwärtiger Drecksack. Aus mir kriegst du nichts heraus. Ich kann dir nichts verraten, weil ich nichts weiß.“ „Diesen Tag wirst du in geistiger Umnachtung erleben“, prophezeite er ihr. „Du erhältst nichts zu essen und nichts zu trinken, und du kommst hier nicht mehr heraus. Bald wird der Wahnsinn dich die Wände hochtreiben, und dann wirst du darum betteln, mir alles sagen zu dürfen. Aber dann bin ich taub für dein Gekläff, Tochter einer Hündin und eines Schakals.“ „Ich weiß nichts!“ schrie sie. „Ich weiß nichts, nichts, und wenn du mich noch so sehr quälst, hörst du?“ „Ich habe es gehört“, sagte er. Damit drehte er sich um und verließ den Raum. Er wandte sich an Ulad und die beiden anderen Eunuchen. „Ihr bezahlt mit eurem Leben dafür, wenn sie auch nur einen Schritt zurück in den Harem tut. Sie wird schreien und mit den Fäusten gegen die Wände trommeln, aber ihr werdet euch die Ohren zustopfen.“ Ulad grinste gemein. „Herr, ich versichere euch, daß diese widerspenstige Ungläubige ihre Zelle nicht mehr verläßt. Ich kann sie einmauern lassen, wenn du willst.“ Abu Al-Hassan blickte ihn nachdenklich aus seinen dunklen Augen an. „Ich werde es mir überlegen“, sagte er. „Ja, ich glaube, das wäre die angemessene Strafe für sie.“ 4. Das Fischerboot dümpelte an der Bordwand der „Isabella“, die jetzt ohne Fahrt beigedreht in der See lag. Sieglinde enterte an der Jakobsleiter auf. Sie hatte sich etwas beruhigt und schöpfte ein wenig Hoffnung. Nicht nur die Verzweiflung und Erschöpfung hatten sie dazu getrieben, letztlich klein beizugeben und sich völlig passiv zu verhalten - nein, da war noch etwas anderes. Der große schwarzhaarige Mann, dem sie jetzt auf dem Hauptdeck der Galeone
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gegenübertrat: Er hatte etwas Vertraueneinflößendes, ja, Seriöses an sich, und seine eisblauen Augen blickten ehrlich. Mit einem feinen, besänftigenden Lächeln näherte er sich ihr vom Achterkastell aus. Das kann kein verschlagener, heimtückischer Pirat sein, dachte sie, unmöglich. Sie fand, daß er trotz der Narben in seinem Gesicht - die eine verlief schräg über die Stirn und die eine Augenbraue, die andere, offensichtlich von einer Brandwunde herrührend, hatte seine rechte Wange gezeichnet - sehr gut aussah. Seine Züge verrieten unnachgiebige Härte, aber auch Menschlichkeit. Er mußte viele Erfahrungen auf See gesammelt und Hunderte von Entbehrungen und Abenteuern hinter sich haben. Seine Miene spiegelte ein gewisses Maß an Wildheit, die jedoch von seiner. hohen Intelligenz fast vollständig überdeckt wurde. Soviel glaubte Sieglinde aus seinen Zügen zu lesen - und sie sollte sich nicht täuschen, wie sich noch herausstellen würde. „Willkommen an Bord“, sagte er. „Mein Name ist Philip Hasard Killigrew.“ Er bediente sich der wenigen deutschen Worte, die er kannte. „Oh, und ich dachte schon fast, Sie sind Spanier!“ stieß sie überrascht aus. „Sie sprechen nämlich genauso Spanisch wie Englisch, Mister Killigrew.“ „Leider segeln wir aus Gründen, die ich Ihnen noch genauer erklären werde, ohne Flagge, sonst hätten Sie uns gleich als Engländer erkannt“, sagte er, und diesmal sprach er Englisch. „Aber auf welche Sprache wollen wir uns nun einigen, Miß ...“ „Sieglinde. Sieglinde Kramer.“ Sie versuchte zulächeln. Es gelang ihr. „Ich glaube, ich komme mit dem Englischen doch ein bißchen besser zurecht als Sie mit dem Deutschen, finden Sie nicht auch?“ „Richtig. Dann versuchen wir es also mit Englisch.“ Sie nickte. „Und wenn ich nicht weiter weiß, flechte ich eben ganz einfach ein paar Brocken Deutsch oder Spanisch ein
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— oder Arabisch, aber das kann ich nur stottern.“ „Wir auch“, sagte plötzlich Hasard junior hinter ihrem Rücken. „Aber dafür können wir Türkisch, und zwar fließend. Wenn Sie einen Dolmetscher brauchen, Madam, können Sie mir und meinem Bruder Bescheid sagen.“ Erstaunt wandte sie sich um und hob die Augenbrauen. Sie sah zwei zwölfjährige Jungen bei der Kuhlgräting stehen — inmitten der Mannschaft —, die sich untereinander nicht nur zum Verwechseln ähnelten, sondern obendrein auch noch diesem Philip Hasard Killigrew wie aus dem Gesicht geschnitten waren. „Wer hat dich nach deiner Meinung gefragt?“ sagte der Seewolf mit scharfer Stimme. „Niemand, Sir, Dad“, antwortete der Junge. „Dann solltest du besser schweigen.“ Hasards Blick glitt von der betretenen Miene, die sein Sohn jetzt zog, zu den Gesichtern der anderen. Ob sie nun Blacky, Matt Davies, Bob Grey, Stenmark oder Batuti hießen —sie alle standen da wie festgenagelt und starrten die blonde Lady an wie ein Weltwunder, die einen neugierig oder bewundernd, die anderen mit unverhohlenem Verlangen. Er konnte es ihnen nicht einmal verübeln. So war das nun mal, wenn eine Frau an Bord der „Isabella“ erschien. Aber hätte er, Hasard, denn etwa an ihr vorbeisegeln sollen, ohne ihr seine Hilfe anzubieten, die sie offenbar wirklich brauchte? „Ihr anderen“, sagte er. „Wegtreten und zurück an die Arbeit. Wir nehmen das Boot in Schlepp und segeln auf dem alten Kurs weiter. Ed!“ „Sir?“ „Du schärfst den Männern noch mal ein, wie die Gesetze der Borddisziplin lauten, an die wir alle uns zu halten haben.“ „Aye, aye, Sir.“ „Au, verdammt“, murmelte Stenmark. „Das gibt wieder ein Gebrüll. Hölle, ich glaube, ich stopfe mir lieber Wachs in die Ohren.“
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Bob Grey, der neben ihm stand, stieß ihn an und zischte: „Achtung, Carberry dreht sich zu uns um. Los, nichts wie weg.“ Der Seewolf hielt Philip und Hasard junior, die sich mit der Crew zurückziehen wollten, durch eine Geste zurück. „Sagt dem Kutscher Bescheid, er soll Wasser kochen und ein stärkendes Getränk für Miß Sieglinde zubereiten, am besten schwarzen Tee. Den bringt ihr dann zusammen mit ein paar Eßwaren in meine Kammer.“ „Aye, aye, Sir“, sagten die beiden gleichzeitig. Dann drehten sie sich um,und entschwanden in Richtung Kombüse, froh darüber, daß ihr Vater sie wegen Hasard juniors vorlauter Bemerkung nicht noch kräftiger zusammenstauchte. Sieglinde hatte sich wieder ihm zugewandt. „Sind das Ihre Söhne, Mister Killigrew?“ „Ja. Überrascht?“ „Ziemlich. Die Mutter der beiden befindet sich dann wohl auch an Bord, oder?“ Seine Züge verloren etwas an Freundlichkeit. „Nein, sie ist nicht an Bord. Wollen Sie noch mehr wissen, Miß Kramer?“ Sie trat einen Schritt näher auf ihn zu. „Verzeihen Sie, daß ich so neugierig bin.“ Am liebsten hätte sie ihm die Hand auf den Arm gelegt, aber sie konnte sich noch rechtzeitig genug beherrschen. „Ich habe wohl an einer alten Wunde gerührt. Das tut mir aufrichtig leid.“ Hasard räusperte sich. Das Ganze war ihm recht unangenehm, zumal Ben, Ferris, Shane, Smoky und die beiden O’Flynns immer noch in ihrer Nähe waren und sie beobachteten. „Ich muß mich entschuldigen“, sagte er. „Meine Reaktion war zu schroff. Ich werde Ihnen noch erzählen, was es mit den Zwillingen auf sich hat, aber zuerst möchte ich Ihre Geschichte hören. Lassen Sie uns in meiner Kammer weiterreden, dort können Sie sich zumindest hinsetzen und ein wenig ausruhen.“ Jetzt schien sie verlegen zu werden. Der Seewolf drehte sich jedoch zu seinen Achterdecksleuten um und sagte: „Ihr begleitet uns. Wir halten eine
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Lagebesprechung ab. Mal sehen, was dabei herauskommt. „Aye, Sir“, brummten die Männer. Dan sagte mit verhaltener Stimme zu seinem Vater: „Weißt du, was ich glaube? Sie ist aus einem Harem geflohen. Ich wette meinen Kopf darauf, daß es so ist.“ Old Donegal Daniel O’Flynn nickte knapp. „Ich schätze, du hast recht. Das bedeutet, daß du deinen dicken Schädel auf jeden Fall behältst“, sagte er trocken. Hasard und Sieglinde hatten das Achterkastell bereits betreten, Ben, Shane, Ferris und Smoky folgten ihnen. Dan und sein Vater schlossen sich der kleinen Gruppe an. Mit dumpfem Laut fiel das Schott der Hütte hinter ihnen zu. * „Ja, ich glaube, damit wäre die Sache für uns schon gelaufen“, sagte Luke Morgan, während er sich mit den anderen daran begab, die Segel aus dem Gei zu lösen und neu zu setzen. „Habt ihr gesehen, wie sie Hasard angehimmelt hat? Das sagt mir alles. Der Funke ist schon übergesprungen.“ Batuti entblößte seine makellos weißen Zähne und grinste breit. „Du meinst, deutsches Mädchen ist mächtig scharf auf unseren Kapitän?“ „Richtig“, erwiderte Blacky. „Du hast es mal wieder erfaßt. Oder, mit anderen Worten, du hast den ganz großen Durchblick, Batuti.“ Die Mundwinkel des schwarzen Herkules sanken herunter. Drohend furchte sich seine Stirn. „Willst du Batuti verschaukeln?“ „Ach wo, natürlich nicht“, sagte Blacky. „Blacky ist nur stinksauer“, meinte Matt Davies. „Und das mit gutem Recht.“ Er setzte ein fröhliches Grinsen auf. „Mit gutem Recht?“ fragte Bob Grey. „Weil er an die stramme Germanin nicht rankommt? He, deswegen könnte ich selbst aus der Haut fahren, und euch geht’s doch nicht anders, oder?“
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„So geht es uns allen“, brummte Stenmark. „Mann, ist das vielleicht eine beschissene Situation.“ „Aber ich habe eben was anderes gemeint“, sagte Matt. „Blacky muß doch noch die Pütz und den Schwabber verputzen - deswegen ist er so mordsmäßig wütend. Blacky, soll ich ein bißchen Salz holen, damit es nicht so fad schmeckt?“ Die anderen lachten. Blacky fuhr zu ihnen herum und rief: „Hört bloß mit dem Blödsinn auf, sonst könnt ihr was erleben!“ Plötzlich aber war der Profos zur Stelle, und alle verstummten. „Mister Blacky!“ rief der Narbenmann. „Glaub bloß nicht, daß du hier den starken Mann markieren kannst! Leg die Ohren an und klapp das Maul zu, sonst läufst du noch aus dem Ruder! Ich will hier keine großen Töne mehr hören, sonst kann es dir passieren, daß du die verdammte Pütz und den verfluchten Dweil doch noch auffressen mußt, und dazu noch den Holy Stone, und zwar unter meiner Aufsicht. Was meinst du, wie das unter deinen Zähnen knirscht, du Höllenbraten!“ „Holy Stone“, „Gesangbuch“ oder auch „Bibel“ - darunter verstand man auf einem Segelschiff den weißen Sandstein, mit dem die Planken geschrubbt wurden, wenn Reinschiff war. „Heiliger Strohsack“, stöhnte Blacky. „Hätte ich das vorhin bloß nicht gesagt. Da hab ich mir ja was Schönes eingebrockt.“ „Wie war das?“ brüllte Carberry. „Ich sagte: Aye, Sir!“ „Gut so. Weitermachen.“ Der Profos stieg auf die Kuhlgräting und wandte sich mit seinem gewaltigen Organ an die gesamte Crew. „Und jetzt mal herhören, ihr Kanalratten! Ich soll euch die Regeln der Borddisziplin noch mal beibiegen, und das tu ich hiermit: Wir haben eine Lady an Bord, von der wir bislang nur den Namen kennen. Wir haben keine Ahnung, wer sie ist und weshalb sie allein im Meer herumschippert.“ Er holte tief Luft, dann brüllte er: „Aber sie ist in erster Linie und vor allen Dingen eine Lady für euch, ihr Rübenschweine, und das bedeutet, daß sie keiner von euch anfassen darf, sonst
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wandert er sofort ab in die Vorpiek und wird dort eine Woche lang weichgeklopft, verstanden? Ebenso ist es verboten, der Lady begehrliche Blicke nachzuschicken und unflätige Bemerkungen über sie von sich zu geben. Wer dabei erwischt wird, fliegt für mindestens zwei Tage in die Vorpiek oder ins Kabelgatt. Und wer sich dann immer noch nicht wie ein anständiger, gesitteter Seemann benimmt, der kriegt von mir die Neunschwänzige ins Kreuz, daß die Schwarte kracht. Keiner von euch Satansbraten wird sich Miß Sieglinde Kramer auf weniger als drei Schritte Distanz nähern, oder er wird den Tag, an dem er diese Planken betreten hat, noch schwer bereuen. Klar?“ „Klar“, sagten die Männer. Was blieb ihnen anderes übrig? Carberrys Ermahnungen waren keine leeren Drohungen. Er würde die Disziplin um jeden Preis wahren, und auch der Seewolf kannte in diesem Punkt keinen Pardon. 5. Es war eine recht denkwürdige Versammlung, die jetzt in der Kapitänskammer stattfand. Sieglinde durfte an Hasards Pult Platz nehmen. Die Männer hockten sich auf die übrigen Stühle und auf den Rand der Koje. Sie wollte mit ihrem Bericht beginnen, da wurde an die Tür geklopft. Hasard gab die Erlaubnis zum Eintreten, und die Tür wurde von Philip junior geöffnet, der den heißen Tee brachte. Hasard junior folgte ihm auf dem Fuß. Er trug das Tablett mit dem Brot, dem Schinken, der Wurst und dem Käse, das vom Kutscher in aller Eile hergerichtet worden war. „Vielen Dank, ihr seid ja richtige Gentlemen“, sagte Sieglinde, als die beiden ihr die Tabletts vorsetzten. „Darf ich euch einen Kuß geben?“ Sie wartete die Antwort nicht ab, stand auf, beugte sich vor und drückte zuerst Philip, dann Hasard die Lippen auf die Wange. Philip junior errötete leicht. Hasard junior lächelte und sagte: „Sehr nett, Madam. Willkommen an Bord der ‚Isabella’.
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Gestatten Sie, daß wir uns jetzt zurückziehen?“ Sein Vater glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Hatte man die Zwillinge jemals so kultiviert reden hören? Wer hatte ihnen diese Ausdrucksweise überhaupt beigebracht? Du selbst vielleicht, dachte er. „Bitte“, sagte Sieglinde, und die Zwillinge verbeugten sich zur selben Zeit, als hätten sie’s vorher einstudiert. Ihr Lausebengel, dachte Dan O’Flynn, ihr wißt ja gar nicht, wiesehr ich euch um diesen Kuß beneide. Als die Brüder die Kammer verlassen hatten, beugte Sieglinde sich über die Kanne mit dem Tee, hob den Deckel an und sog den starken, herben Duft des Getränks durch die Nase ein. Entzückende Nasenflügel, dachte Ferris Tucker, Herrgott, was für ein Prachtstück von Frauenzimmer! „Tee? Sagten Sie Tee, Mister Killigrew?“ fragte sie. „Ja. Wir haben ihn aus China mitgebracht. Sie können ihn unbesorgt trinken. Neuerdings wird es auch in den englischen Salons Mode, solchen Tee zu genießen.“ „Oh, ich habe auch wirklich nicht angenommen, daß Sie mich vergiften wollen“, sagte sie lachend. „Sie sind also wirklich in China gewesen? Im geheimnisvollen Reich der Mitte? Mit diesem Schiff ?“ „Mit diesem Schiff und mit dieser Crew bin ich um die ganze Welt gesegelt“, entgegnete er. „Aber Sie sind kein Kauffahrer“, sagte sie nachdenklich. „Und Sie gehören auch nicht der englischen Marine an, denn sonst würden Sie alle Uniformen tragen, nicht wahr?“ „Allerdings. Außerdem ist es mit dem, was sich so die englische Marine nennt, nicht sehr weit her“, erklärte er ihr. „Richtig ausgedrückt: Diese Marine existiert nur auf dem Papier, denn auch nach dem Sieg über die Armada ist England nach wie vor Europas Armenhaus. Oder sind Sie anderer Meinung?“
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„Keineswegs, ich frage mich bloß, wie ich Sie und Ihre Mannschaft einordnen soll.“ „Ich bin Ihnen diesbezüglich nicht nur eine Antwort, sondern sogar einen Beweis schuldig.“ Er stand auf, trat an einen der Schränke und entnahm diesem die Schriftrolle, die er wie einen Schatz hütete. Nachdem sie einen Schluck von dem heißen Tee genommen hatte, öffnete er die Rolle und wies ihr die Aufzeichnung vor, die in gestochen scharfer, verzierter Schrift ausgeführt war. Mit einiger Mühe entzifferte sie die Worte, dann stieß sie einen Laut der Verwunderung aus. „Du liebe Güte, von der englischen Königin höchstpersönlich unterzeichnet? Ein Kaperbrief, der Sie dazu berechtigt, als Korsar gegen Englands erklärte Feinde zu kämpfen, Mister Killigrew?“ „So ist es. Die Korsaren sind Englands heimliche Marine, aber sie sind keine Piraten, denn sie dürften mit diesen Kaperbriefen keinerlei Mißbrauch treiben, verstehen Sie?“ „Ja. Und es tut mir aufrichtig leid, Sie als einen Piraten bezeichnet zu haben.“ Sie setzte die Tasse, die sie eben zu einem neuerlichen Schluck angehoben hatte, wieder ab und sah ihm fest in die Augen. „Ein gebranntes Kind scheut das Feuer, wissen Sie? Ich habe schon genug mit Piraten zu tun gehabt. Deswegen hatte ich vorhin Angst, wahnsinnige Angst. Ich brauche Hilfe, aber ich hatte meine berechtigten Zweifel, mich Ihnen anvertrauen zu können.“ „Erzählen Sie uns jetzt Ihre Geschichte, Sieglinde“, forderte er sie auf. „Soll ich ganz von vorn anfangen?“ „Darum möchte ich Sie bitten“, sagte er. „Es ist eine ziemlich lange Geschichte.“ Er lächelte. „Wir sind geduldige Zuhörer.“ So begann sie, den Hergang der Ereignisse zu schildern – in ziemlich fließendem Englisch, das hin und wieder mit ein paar Brocken Deutsch und Spanisch gewürzt war. Alles hatte vor mehr als einem Jahr begonnen, im Sommer des Jahres 1590,
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und zwar in der Nordsee vor der Insel Helgoland. * Eine Stunde vor der Mittagswende hatte der Kutscher die Holzkohlefeuer unter den Kombüsenkesseln voll angeheizt und ließ die Suppe, die er als Mahlzeit für die Mannschaft vorbereitet hatte, brodeln. Bald war die Zeit zum Backen und Banken gekommen, dann hieß es, pünktlich auf Deck zu erscheinen und mit dem Austeilen der Suppe zu beginnen. Plötzlich vollführte die „Isabella“ eine ziemlich heftige Bewegung nach Steuerbord und krängte dabei so stark, daß die Kessel bedrohlich zu schwanken begannen. Ein paar glühende Kohlestücke rollten durch die Kombüse. Der Kutscher sprang ihnen nach und fischte sie mit einer eisernen Schaufel wieder auf. Einer der Deckel fiel vom Kessel und landete klappernd auf den Planken. Der Kutscher fluchte selten, aber jetzt begann er zu schimpfen, daß selbst Carberry, dessen Wortschatz in dieser Hinsicht schier unendlich war, noch etwas bei ihm hätte lernen können. Das Kombüsenschott wurde von außen geöffnet. Ärgerlich fuhr der Kutscher, der gerade wieder den Deckel aufgelesen hatte, herum. Seine Züge entspannten sich erst ein wenig, als er in den Gestalten, die im Niedergang erschienen, Philip und Hasard erkannte. „Also, das schlägt doch dem Faß den Boden aus!“ wetterte der Kutscher. „Kann mir mal einer erklären, was hier eigentlich gespielt wird? Wir haben den Kurs gewechselt, oder? Aber warum? Und wieso gleich so brüsk?“ „Brüsk?“ Philip junior lachte. „Es geht gleich noch forscher zu, Kutscher, denn wir kreuzen gegen den Wind und laufen die marokkanische Küste an. Spätestens bei Einbruch der Abenddämmerung werden wir wohl am Ziel sein.“ „Am Ziel? Wo liegt denn das?“ „Bei Melilla.“
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„Hat euch das euer Dad erzählt?“ fragte der Kutscher verwundert. „He, Hasard, mach mal das Schott zu, ja? Es zieht wie Hechtsuppe, und ich hab so schon Schwierigkeiten genug, das Feuer gleichmäßig anzuheizen. Los, setzt euch hier zu mir und legt los.“ Die Zwillinge ließen sich auf einer Bank neben dem großen Kombüsenschapp nieder. Zum Kutscher hatten sie das allerbeste Verhältnis; sie berichteten ihm immer alles, was sie wußten, und umgekehrt hatte auch er keine Geheimnisse vor ihnen. „Dad hat uns das noch nicht verraten“, sagte Philip junior. „Dann habt ihr bei ihm an der Tür gelauscht, was?“ „Ganz bestimmt nicht!“ rief Hasard junior. „Großes Ehrenwort! Dan O’Flynn ist rausgekommen und hat uns alles haarklein auseinandergesetzt. Also: Bei Melilla, ungefähr dreißig Meilen südlich von der Stadt, steht ein weißer Palast, der einem gewissen Abu Al-Hassan gehört. Dieser Abu ist ein stinkreicher Kaufmann, der irgendwelche miesen Geschäfte betreibt.“ „Mit Sklaven?“ erkundigte sich der Kutscher, nachdem er sich vergewissert hatte, daß das Feuer unter den Kesseln jetzt entsprechend eingedämmt war. „Nein, Sir“, gab Philip junior zurück. „Mit irgendwas anderem. Menschenhandel betreibt er nur ganz privat. Er kauft jede Menge Mädchen für seinen Harem ein, der sich in dem Palast befindet. Dieses Anwesen wird auch der ,Hof des Herkules’ genannt, und weißt du, warum?“ „Woher soll ich das wissen?“ Hasard junior ergriff wieder das Wort: „Gleich hinter dem Palast liegen ein paar Hügel, und auf der einen Kuppe stehen weithin sichtbar ein paar alte weiße Säulen, aus der Zeit der alten Griechen, glaube ich.“ „Herkules soll die Säulen von Kreta aus herübergeworfen haben“, sagte Philip, und seine Stimme hatte jetzt einen fast ehrfürchtigen Klang. „Langsam, langsam“, mahnte der Kutscher. „Ich glaube, jetzt geht eure
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Phantasie mit euch durch. Dieser Herkules hat nie wirklich existiert. Er war eine griechische Sagengestalt, der größte Held in der griechischen Mythologie.“ „Mythologie? Was ist das?“ wollte Hasard wissen. „Das erkläre ich euch später. Auf jeden Fall ist die Sache mit den Säulen eine Legende. Wenn sie wirklich auf den Hügeln stehen, dann gehören sie wohl zu einem der alten Tempel, die die Griechen im Verlauf ihrer Reisen hier und dort errichtet haben.“ „Ja, ja“, sagte Philip junior eifrig. „Ganz bestimmt ist es eine Legende, aber eben doch eine tolle Geschichte: Als Herkules dem Stier von Kreta nachjagte, wurde er so wütend, daß er dort einen ganzen Tempel auseinandernahm und die Einzelteile quer übers Mittelmeer schleuderte — bis nach Marokko. Da blieben sie im Sand stecken. Muß ja ein Koloß von Kerl gewesen sein, dieser Herkules.“ Der Kutscher seufzte. „Also schön, er war ein Riese, der vor Kraft nur so strotzte. Aber jetzt mal weiter im Text und immer hübsch der Reihe nach. Sieglinde Kramer ist also aus dem Harem des Abu Al-Hassan geflohen?“ „Ja“, antwortete Philip. „Sie hat ein Boot genommen und ist einfach aufs Meer gerudert?“ „Ja. Letzte Nacht“, entgegnete Hasard. „Und dann hat sie uns getroffen. Aber wie ist sie in die Fänge dieses Abu geraten?. Wie kam sie vom kühlen Norden aus bis hierher?“ Auch das wußten die Zwillinge. Philip junior setzte eine richtig wichtigtuerische Miene auf und sagte: „Sie wurde entführt. Vor einem Jahr. Vor Helgoland. Sie war auf einem Schiff der Hanse, das von einem Freund ihres Vaters geführt wurde, und es sollte ein Ausflug von Hamburg zur Insel und zurück sein. Aber plötzlich tauchten Piraten auf und überfielen das Schiff.“ „Deutsche Piraten?“ „Nein.“ „Dänen? Schweden? Holländer? Raus mit der Sprache, ich sehe es doch euren Mienen an, daß ihr es wißt.“
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„Englische Freibeuter“, sagte Hasard junior. „Und jetzt kommt die größte Überraschung: Wir kennen sie.“ Der Kutscher vergaß für einen Moment seine Kessel und zählte eine Reihe von Namen auf, und zwar die der größten Schnapphähne und Galgenstricke, denen sie im Laufe der Jahre begegnet waren oder die sie ihrem Ruf nach kannten. Bei jedem Namen schüttelten die Zwillinge ihre Köpfe. „Leute“, sagte der Kutscher eindringlich. „Spannt mich nicht so auf die Folter. Das ist nicht fair. Es muß schon ein ganz übler Hund sein, der Frauen raubt und sie dann weiterverkauft. Was mich dabei am meisten wurmt, ist, daß er auch noch englischer Abstammung ist. Augen- blick mal - sollte es etwa unser lieber Freund Lord Henry sein, dem wir in Ribeira Grande auf Santo Antao gewaltig eins übergebraten haben?“ „Genau der“, antworteten die Zwillinge einstimmig. „Beim Donner“, sagte der Kutscher. „Dieser Kerl schreckt wohl vor gar nichts zurück. Wißt ihr noch mehr?“ „Ja“, versetzte Philip junior. „Damals, vor Helgoland, gab es ein schweres Gefecht, aus dem Lord Henry als Sieger hervorging, weil er das besser armierte Schiff hatte. Der Dreimaster der Hanse, eine Galeone, wurde versenkt. Nur wenige Männer entkamen. Miß Sieglinde und vier andere Frauen wurden an Bord von Lord Henrys Schiff geholt, und dann ging die Reise südwärts.“ „Ungeheuerlich.“ Der Kutscher. schüttelte den Kopf. „Wenn ich mir vorstelle, was diese bedauernswerten Geschöpfe alles durchgestanden haben, kriege ich einen gewaltigen Pik auf Lord Henry. Er kann froh sein, daß wir von dieser Sache noch nicht. wußten, als wir auf den Kapverden mit ihm zusammenstießen.“ „Dad hätte ihn wohl auch nicht so glimpflich davonkommen lassen, wenn ihm dies bekannt gewesen wäre“, meinte Hasard junior. „Willst du wissen, wie es weiterging, Kutscher?“
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„Aber sicher will ich das“, sagte der Kutscher, der sich von dieser haarsträubenden Erzählung auf seltsame Weise fasziniert fühlte. „Die vier Begleiterinnen von Miß Sieglinde wurden an Hurenhäuser in Frankreich und in Spanien verkauft“, sagte Philip. „Am weitesten wurde also Miß Sieglinde verschleppt. Man verband ihr die Augen, als man sie an Land und in die Burg des Abu Al-Hassan brachte, und so wußte sie lange Zeit überhaupt nicht, wo sie war. Aber dann erfuhr sie es – von Beni, einem Eingeborenen-Mädchen im Harem, und von den anderen, mit denen sie sich verständigen konnte.“ Der Kutscher räusperte sich. „Wie viele Frauen gibt es denn in diesem Harem?“ „Dreißig oder noch mehr. Miß Sieglinde floh auf abenteuerliche Weise mit einer Spanierin namens Melinda, die aber wieder gefaßt wurde – von Abus Berbern, einer wilden Reiterhorde unter der Leitung eines gewissen Mechmed.“ „Das wird ja immer toller.“ „Es sind noch mehr Europäerinnen in dem Palast“, sagte Hasard junior, der jetzt aufgeregt auf seiner Sitzgelegenheit herumzurutschen begann. „Eine Italienerin namens Luisa. Janine, die Französin. Victoria – eine Engländerin. Und noch ein paar ändere, deren Namen mir entfallen sind.“ „Mir auch“, sagte sein Bruder. „Egal“, meinte der Kutscher. „Was ich gehört habe, genügt mir. Ich kann mir vorstellen, daß euer Vater jetzt alles daransetzt, diesem Abu Al-Hassan einen Besuch abzustatten und ihm gehörig auf die Finger zu klopfen. Ist es so?“ „Ja“, erwiderte Hasard junior. „Eigentlich hatte er die marokkanische Küste ja nicht anlaufen wollen. Aber jetzt hat er es sich anders überlegt.“ „Weiß Gott, man kann die Mädchen doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen“, sagte der Kutscher. „Wir müssen sie befreien, müssen den Harem sprengen.“ Philip und Hasard grinsten plötzlich. „Die Crew ist begeistert von diesem Plan“, sagte Philip.
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Der Kutscher stieß einen unwilligen Laut aus. „Ja, das kann ich mir lebhaft vorstellen.“ Er wollte noch etwas hinzufügen, drehte sich aber plötzlich wieder um und eilte zu seinen Kesseln. Die „Isabella“ geriet erneut in bedenkliche Schlingerbewegungen; denn soeben ging sie überstag und fuhr den nächsten Kreuzschlag, diesmal von Nordosten nach Südwesten. Der Seewolf knüppelte sein Schiff mit aller Macht voran. Er brannte darauf, sich ausführlich mit Abu Al-Hassan zu unterhalten. Daß der Marokkaner ihn. nicht freiwillig in den „Hof des Herkules“ lassen würde, war ihm schon jetzt klar. Aber er hatte einen Plan, wie er sich dennoch Zugang zu dem Gemäuer verschaffen würde. Es war schließlich nicht das erstemal, daß er in einem Hafen, in einer Festung oder in irgendeinem Piratennest als ungebetener Gast völlig überraschend auftauchte. 6. Die Bagalla war ein hochbordiges Wasserfahrzeug mit zwei Masten und zwei riesigen Dreieckssegeln, die an langen Gaffelruten geführt wurden. Sie war etwa achtzehn Yards lang und sechs Yards breit und verfügte über zwei Decks, das Hauptund das Achterdeck. Abu Al-Hassan hatte sie vor einigen Jahren von einem Kauffahrer aus Oman erstanden, der ganz um den afrikanischen Kontinent herumgesegelt und glücklich in Melilla gelandet war. Den ganzen Vormittag über hatten Mechmed und seine Berber nun schon mit der Bagalla nach der verschwundenen Deutschen gesucht, aber sie hatten sie nicht wiedergefunden. Auch am Nachmittag ging die Fahndung weiter - ohne den geringsten Erfolg. Mechmeds Wut und Ohnmacht wuchsen, er stand an der Querbalustrade des Achterdecks und verkrampfte seine Hände um die Halteleiste. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepreßt, er blickte starr voraus.
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Da die Annahme nahelag und der Grad der Wahrscheinlichkeit groß war, daß Sieglinde Kramer sich tatsächlich nach Norden gewandt hatte, hatten die Jäger zunächst auf diesem Kurs nach ihr geforscht. Doch sie waren nicht einmal auf das leere Boot gestoßen und hatten nicht die geringste Spur entdeckt. Konnte die Deutsche ihnen denn wirklich so weit voraus sein? Gegen Mittag sichtete der Ausguck im Nordwesten einen großen Dreimaster, der augenscheinlich Melilla anlief. Mechmed überlegte sich, ob die Frau sich an Bord dieses Schiffes befinden konnte, gelangte aber zu dem Schluß, daß dies unmöglich war. Sie würde sich hüten, mit irgendwelchen fremden Seefahrern Kontakt aufzunehmen. Mußte sie nicht Angst haben, nur an Bord geholt zu werden, damit man sie vergewaltigen konnte? Die Sitten bei den Fahrensleuten waren außerordentlich rauh. Außerdem hatte sie ja ohnehin schon die schlechtesten Erfahrungen mit Seeleuten hinter sich gebracht. Der Umstand indes, daß der Dreimaster Melilla ansteuerte, war die gewöhnlichste Sache der Welt. Viele Schiffe liefen in dem Hafen ein und aus, der zu einem der wichtigsten von Marokko und ganz Nordafrika zählte. Mechmed schenkte der Galeone, deren Mastspitzen man im Westen vorbeiziehen sehen konnte, also keine Beachtung mehr. Er ließ anluven und östlichen Kurs einschlagen. Eine neue Erkenntnis nahm in seinem Geist Gestalt an: Auch eine so verwegene Frau wie die Deutsche würde es sich nicht zutrauen, das Mittelmeer zu überqueren und in Spanien zu landen. Sie würde mit dem zerbrechlichen Boot nicht einmal bis zur Insel Alboran gelangen, die auf halber Strecke zwischen Europa und Afrika lag. Der Hunger, der Durst und die Müdigkeit würden sie schon vorher übermannen, vielleicht schlug das Boot quer, und dann holten sie die Haie, die in dieser Wasserregion in reicher Zahl vorhanden waren.
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Noch abwegiger war es, daran zu denken, sie wolle vielleicht den Weg nach Westen wählen und Gibraltar erreichen. Es war ausgeschlossen, dies zu schaffen. All dies mußte sich auch Sieglinde Kramer ausgerechnet haben - und darum segelte sie nach Osten, um Nemours oder Benisaf zu erreichen, algerische Häfen, in denen sie möglicherweise ein Schiff fand, das sie mit nach Frankreich hinübernahm, ein Schiff, auf dem noch andere Passagiere waren und auf dem sie keine Gefahr lief, mißhandelt zu werden. Mechmed traf an diesem Nachmittag mit der Bagalla bei den der Küste vorgelagerten Chafarinas-Inseln ein. Dies waren winzige Eilande, die nicht bewohnt waren, auf denen man sich aber sehr gut verstecken konnte. Er suchte sie der Reihe nach ab –wieder ohne Erfolg. Nun stellte sich die Frage, ob er noch bis nach Nemours segeln sollte, dem nächsten Hafen, der auf ihrem Kurs lag. Er stellte eine Überschlagsrechnung an und gelangte zu dem Ergebnis, daß sie erst bei Dunkelwerden dort sein konnten. Abu Al-Hassan erwartete sie jedoch noch an diesem Abend zurück und wollte zumindest einen Zwischenbericht von Mechmed hören. Außerdem waren die Berber keine eingefleischten Seefahrer. Sie hatten erst von Abu gelernt, wie man mit einem Segelschiff umging. Mechmed fürchtete aus diesem Grund die Nacht. Er konnte sich an den Himmelsgestirnen nicht orientieren und hatte Angst, zu dicht in die Nähe der Küste zu geraten und dann irgendwo aufzulaufen. Oder aber er fuhr zu weit auf die offene See hinaus und verirrte sich dort. Das hätte ihm gerade noch gefehlt! Abu Al-Hassan würde erneut zu toben beginnen, wenn die Bagalla ausblieb oder gar Schaden erlitt. Aus diesem Grund beschloß Mechmed jetzt, zur fortgeschrittenen Nachmittagsstunde, zu wenden und den Heimweg nach Melilla anzutreten. „Kurs Westen!“ schrie er seinen Männern zu.
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Sie eilten über Deck und begannen, an den Tauen zu hantieren, um die Segel herumzuschwenken. Der Rudergänger stemmte sich gegen den Kolderstock. Rasch kam die Bagalla im Windschatten der Inseln herum und lief über Steuerbordbug liegend zurück in Richtung der langgestreckten Landzunge, die etwa dreißig Meilen entfernt war — zielstrebig wie Mechmeds Rappe, wenn er dem heimischen Stall entgegenstrebte. Den Rappen wünschte Mechmed sich jetzt herbei. Die See war ihm nicht geheuer, er hatte sie insgeheim schon immer gehaßt. Verdammte Deutsche, dachte er, das alles hast du mir eingebrockt. Wenn ich dich jemals wiedersehe, töte ich dich. * Die Küste Marokkos, jetzt schon vom ersten Grau der Dämmerung überzogen, war in Sicht. Rechtzeitig genug, bevor man auch die Hafenmole von Melilla erkennen konnte, ließ der Seewolf zum wiederholten Male kreuzen und steuerte die „Isabella“ Richtung Südosten. Ihm war nicht im entferntesten daran gelegen, von der Stadt aus entdeckt zu werden. Er wollte sein Werk ungestört verrichten, wenn möglich, ohne größeres Blutvergießen. Er enterte selbst zu Bill, der jetzt wieder den Ausguckposten übernommen hatte, in den Großmars auf. Arwenack, der Schimpanse, drückte sich bei Bill auf der Plattform des Großmarses herum, um ihm wie so oft Gesellschaft zu leisten. Als er die Gestalt des Seewolfs über der Segeltuchumrandung sah, zuckte er unwillkürlich zusammen und fletschte die Zähne. Dann aber erkannte er, wen sie vor sich hatten, und klatschte begeistert in die Vorderpfoten. Er stieß dazu keckernde und grunzende Laute aus und beruhigte sich erst, als Hasard ihm mit der Hand den Kopf streichelte. „Schon gut, alter Freund“, sagte Hasard. „Ist ja schön, daß du dich freust. Hast auch allen Grund, glücklich zu sein. Sieglinde ist begeistert von dir. Sie mag dich noch lieber als Sir John und wünscht sich, eines
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Tages auch so ein Prachtexemplar von Affen zu besitzen.“ „Wenn Miß Sieglinde wüßte, was so ein Kerl alles anstellt, würde sie wohl anders denken, Sir“, meinte Bill. „Ja, ganz bestimmt. Kannst du die Landzunge schon sehen, Bill?“ „Aye, Sir. Sie liegt Steuerbord voraus. Noch ein Kreuzschlag nach Südwesten, und wir segeln genau auf ihre Spitze zu.“ Hasard zog sein Spektiv auseinander. „Wir müssen aufpassen, daß uns die Leute aus dem Fischerdorf nicht sehen. Auf keinen Fall dürfen sie mißtrauisch werden und etwas von dem, was wir vorhaben, ahnen.“ „Sie arbeiten Hand in Hand mit Abu AlHassan, nicht wahr?“ „Das nicht gerade. Aber sie haben Angst vor ihm“, erwiderte Hasard. „Sie wollten Sieglindes und Melindas Flucht verhindern, um sich bei Abu anzuschmeicheln. Mit der Spanierin ist ihnen dies ja auch geglückt, und jetzt kriegen sie wahrscheinlich irgendeine Belohnung.“ „Und die Spanierin? Was hat er mit der wohl angestellt?“ „Bill, darüber sollten wir uns jetzt den Kopf nicht zerbrechen.“ Hasard blickte durch das Spektiv und drehte an der Feineinstellung. Er konnte die Landzunge erkennen, nahm das Rohr um eine Nuance höher und sah bald auch die fünf Säulen, die in der Ferne von einer Hügelkuppe aufragten. Sie waren von Dunstschleiern eingehüllt. Der Palast, der am Fuß der Hügel stehen mußte, war nur zu ahnen. „Die ,Säulen des Herkules’ dienen uns als Orientierungshilfe“, sagte er. „Der Nebel der Dämmerung wird unser Verbündeter sein. Sehr gut. Ich hoffe, daß alles nach Plan verläuft.“ „Sir“, sagte Bill. „Darf ich mich als Freiwilliger zu dem Landtrupp melden?“ „Gary Andrews und Dan O’Flynn wollen auch mit, und ich habe ihnen bereits zugesagt, daß sie dabei sind. Wenn auch du uns begleitest, haben wir auf der ‚Isabella’ keinen Ausguck mehr.“
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„Richtig.“ Bill gab sich Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. „Verzeihung, aber daran habe ich nicht gedacht.“ Der Seewolf lächelte plötzlich. „Augenblick mal. Du willst dich bewähren, und die Chance dazu sollst du haben. Philip und Hasard junior können deinen Platz hier oben einnehmen, sie sind alt genug, um auch als Ausguck zu fungieren. Und mit vier Augen sehen sie ja wohl genug, oder?“ Bill strahlte. „Das heißt, Sie lassen mich ablösen, Sir?“ „Ja, und zwar gleich. Meine Söhne würden zwar auch gern mit an Land gehen, aber ich habe Carberry schon gesagt, daß daraus nichts wird. In einem orientalischen Harem haben sie in ihrem Alter meiner Meinung nach noch nichts zu suchen.“ Bill hustete plötzlich und verschluckte sich fast. „Sir — ich weiß gar nicht, wie es in so einem Harem aussieht“, sagte er unter einigen Schwierigkeiten. „Sind die Frauen etwa alle — nackt?“ „Ich hoffe, daß sie’s nicht sind“, erwiderte der Seewolf trocken. „Bei aller Disziplin, das würde uns in unserer Aktion erheblich behindern, fürchte ich. Verstehst du, was ich meine?“ „Und ob. Es ist unsere Pflicht, diejenigen von ihnen zu retten, die gegen ihren Willen bei Abu Al-Hassan sind, aber wir dürfen uns dabei nicht irgendwie – nun, hm, herausfordern lassen.“ „So ist es“, sagte Hasard. „Der Profos ist gerade dabei, der Crew die erforderlichen Verhaltensmaßregeln einzuschärfen. Hörst du es?“ Bill nickte und konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Carberrys Flüche und Drohungen klangen laut genug zum Großmars herauf. Carberry hämmerte es den Männern der „Isabella“ regelrecht ein, was sie zu tun und zu lassen hatten. Seinerzeit, im tiefsten südamerikanischen Dschungel bei den männermordenden Amazonen, hatte es eine peinliche Entgleisung gegeben, und auch anderswo waren die Seewölfe schon mal drauf und dran gewesen, alle Auflagen zu vergessen, immer, wenn verlockende
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Frauen im Spiel gewesen waren, besonders dann, wenn sie schon lange keinen Landfall mehr getan hatten. Als Hasard wieder auf dem Hauptdeck anlangte, sagte der Narbenmann gerade: „Noch einmal: An Land gilt, was auch an Bord der ‚Isabella’ Gesetz ist. Hände weg von jedem Weiberhintern! Verstöße gegen diese Order werden strengstens geahndet.“ Smoky, der Decksälteste, trat zwei Schritte vor. „Ich trete mit meiner Ehre dafür ein, daß sich keiner danebenbenimmt. Genügt das?“ „Ja“, sagte der Seewolf. „Danke, Smoky.“ „Sir“, sagte Luke Morgan, der als der größte Hitzkopf an Bord galt. „Wir sind zwar keine frommen Klosterbrüder, aber wir werden uns schon zusammenreißen. Außerdem geraten wir bei dem, was wir vorhaben, ganz bestimmt nicht in Versuchung.“ „Gelegenheit macht Diebe“, gab der Profos mit finsterer Miene zu bedenken. „Und Miß Sieglinde hat erzählt, daß der verdammte Harem jede Menge stille Gemächer hat. Wie leicht könnte uns da jemand verlorengehen. Ich erwürge jeden von euch, der sich einbildet, mal für kurze Zeit verschwinden zu können, eigenhändig, kapiert?“ Luke war kurz davor aufzubrausen. Er wandte sich erneut an den Seewolf. „Sir, das sind doch Unterstellungen. Unberechtigte Ermahnungen! Müssen wir uns das wirklich gefallen lassen?“ „Ja“, entgegnete der Seewolf mit unerwarteter Härte. „Nichts ist unberechtigt, Luke. Ich lege für jeden von euch meine Hand ins Feuer, aber die Marokkaner könnten mit Tricks auf uns lauern, auf die wir nicht vorbereitet sind. Laßt euch nicht Umgarnen, laßt euch in keine Falle locken. Ich selbst will von euch zurückgehalten werden, wenn ich mich in irgendeiner Weise irritieren lasse.“ Smoky kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Das hört sich ja fast so an, als würde man uns in der elenden Burg verzaubern. Gibt’s da Sirenengesänge oder so was Ähnliches?“
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„Nicht ganz. Aber Abu hat ein paar Lieblingsfrauen, die ihm mit Haut und Haaren verfallen sind. Sie können mit Rauschgift und Schlafmitteln umgehen und kennen jede Art der Bewußtseinsdroge. Ich bin sicher, daß Sieglinde Kramer mir in der Beziehung kein Märchen aufgetischt hat. Sie selbst konnte mit Melinda, der Spanierin, zusammen nur fliehen, als die Marokkanerinnen, die wie die Gluckhennen auf alle anderen aufpassen, für eine Weile unaufmerksam waren.“ „Und dann wären da natürlich noch die Eunuchen“, sagte der Profos. „Ich brauche ja wohl keinem zu erklären, was ein Eunuch ist, oder?“ „Doch, mir!“ rief Matt Davies mit Fistelstimme. „Sind das denn keine gewöhnlichen Menschen, diese Brüder?“ Die anderen lachten. Carberry wollte schon wieder losfluchen, doch der Seewolf legte ihm die Hand auf den Arm. Zu Matt Davies gewandt, sagte er: „Du solltest wirklich froh sein, daß dir nur die rechte Hand fehlt, Mister Davies — und nicht noch was anderes.“ „Aye, Sir. Selbstverständlich, Sir.“ Hasard senkte die Stimme. „Von jetzt an wird nicht mehr laut gesprochen. Wir wollen die Bewohner der Fischersiedlung nicht durch Rufe und Kommandos alarmieren.“ „Außerdem könnten immer noch diese Berber in der Dämmerung umherstreifen“, meinte Ben Brighton, der jetzt zu ihnen getreten war. „Miß Sieglinde ist überzeugt, daß Mechmed, der Anführer — der gefährlichste von allen — verbissen nach ihr sucht.“ „Ja“, sagte Hasard. „Wir wollen ihm eine Aufgabe bieten, an der er sich die Zähne ausbeißt. Hoffentlich klappt alles so, wie ich es mir vorstelle. Eigentlich wollte ich Sieglinde Kramer an Bord der ‚Isabella’ zurücklassen, um sie keiner Gefahr auszusetzen. Aber ich kann doch nicht auf sie verzichten. Sie begleitet uns an Land. Sie kennt sich zu gut im ,Hof der Herkules’ aus, und sie kann mir mit Worten alle Einzelheiten doch nicht so genau erklären,
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daß ich gleich von Anfang an über alles Bescheid weiß.“ Er blickte seine Männer im verblassenden Licht des Tages an. „Ehe wir jetzt direkt auf die Landzunge zusegeln — wer meldet sich freiwillig zu unserem Trupp, der in den Harem eindringen soll?“ Keiner hielt sich zurück, alle Hände flohen hoch. Selbst die Zwillinge, die inzwischen mit dem Kutscher auf der Kuhl erschienen waren, reckten mutig und zu allem bereit ihre Arme. „Das habe ich mir doch gedacht“, sagte der Seewolf lächelnd. „Na schön, dann muß ich mir meine Begleiter eben aussuchen. Alle können nicht mit, das ist euch doch klar, oder?“ „Ja“; brummten die Männer, aber es wurde auch enttäuschtes Gemurmel laut. Ben Brighton enthielt sich in diesem Fall jedoch der Stimme. Er wußte bereits, was seine Aufgabe war. Während Hasards Abwesenheit würde er das Kommando über die „Isabella“ übernehmen und einen Auftrag durchführen, der bei dem Unternehmen von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. 7. Abu Al-Hassan lag in den Armen von Dalida, seiner Lieblingsfrau, und versuchte, sich über die erlittene Schmach hinwegtrösten zu lassen. Sie hatten beide starken, süßen Rotwein getrunken und Haschisch geraucht. Die Luft in dem Haremsgemach war von einem süßlichen Duft geschwängert. Der ganze Raum war mit Kissen und Teppichen ausgefüllt, eine Insel der Behaglichkeit und des Lasters inmitten der Oase der Lust. Abu hielt die Beine weit von sich gestreckt und ließ es sich gefallen, daß Dalida ihn küßte, doch er war mit seinen Gedanken immer noch woanders. Dalida gab sich die größte Mühe, ihn zu besänftigen und zufriedenzustellen. Sie war eine üppige Frau mit langen schwarzen Haaren, die ihr über beide Schultern auf den Rücken fielen. Ihr Verlangen und die Skala ihrer Fertigkeiten
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waren schier unbegrenzt. In all den Jahren, die sie jetzt schon bei Abu weilte, hatte sie sich als Künstlerin in Sachen Liebe und als die Lehrmeisterin der anderen Frauen hervorgetan. Abu Al-Hassan hatte sie bei einer seiner Reisen in einem erbärmlichen FellachenDorf der ägyptischen Wüste aufgelesen, und sie war ihm dafür ewig dankbar, denn dadurch war sie dem Hunger und der Armut für immer entwichen. Er hatte für sie bezahlt, hatte sie ihrem Vater abgekauft, aber für sie war es keine Schande, sondern eine Ehre, was sich auch durchaus mit der Art, wie Abu und sie den Koran auslegten, vereinbaren ließ. Schwerfällig erhob er sich. Er war berauscht, konnte aber noch klar genug denken. „Beim Scheitan“, sagte er. „Wo bleibt denn nur Mechmed? Er hätte längst wieder hier sein müssen.“ Er trat ans Fenster. Die Dämmerung kroch wie ein schläfriges Schattenwesen über die Landschaft, die das Anwesen umgab. „Er sollte beim Dunkelwerden zurück sein“, brummte Abu Al-Hassan. „Hoffentlich ist nichts passiert. Vielleicht hätte ich doch lieber mitsegeln sollen. Ich kann allein besser mit der Bagalla umgehen als die ganze verdammte BerberMeute zusammen.“ „Warte“, sagte Dalida mit ihrer dunklen, leicht schleppenden Stimme. „Sicher haben sie die Deutsche erwischt. Sie haben sie jagen müssen, sie hat versucht, ihnen zu entfliehen. Dabei kann sehr viel Zeit vergehen.“ „Ich hoffe, daß du recht hast.“ Sie lächelte. „Hab Vertrauen in die Zukunft. Es wird alles wieder gut.“ Er kleidete sich an. Sie half ihm dabei und gab sich besonders große Mühe, den weißen Turban um die kleine Mütze zu wickeln, die Abu sich aufsetzte. Er verließ den Raum und ging durch das Gewirr von Zimmern und Fluren, bis er die Tür erreichte, hinter der Melinda, die Spanierin, gefangen gehalten wurde. Ulad, der Haratin, trat ihm entgegen und rieb sich eilfertig die Hände. Neben dem
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Türrahmen standen jetzt zwei andere Eunuchen mit den Händen an den Griffen ihrer Krummsäbel. Der Wachwechsel hatte stattgefunden. „Nun, Herr?“ fragte Ulad mit dem üblichen Grinsen. „Habt ihr euch entschieden?“ „Schreit sie immer noch nicht?“ fragte Abu Al-Hassan. „Nein. Sie scheint sich nicht dazu entschließen zu können.“ Ulad kicherte, verstummte aber, als er Abus kalten Blick gewahr wurde. „Fangt an“, befahl Abu. „Mauert sie ein. Sie wird schon schreien, wenn sie die Geräusche hört. Sie wird sie zu deuten wissen, davon bin ich überzeugt.“ „Wenn nicht, darf ich sie dann über ihr Schicksal aufklären, Herr?“ fragte Ulad in einem geradezu widerwärtigen Diskant. „Ja.“ Abu Al-Hassan wandte sich ab und ging weiter. Er strebte durch die Gemächer dem hinteren Hof zu. Ulad sah die beiden Türwächter an und sagte mit schriller Stimme: „Na los, auf was wartet ihr noch? Holt Steine und Mörtel! Bewegt euch! Wird’s bald?“ Während sie davoneilten und sich bemühten, seine Anweisungen so schnell wie möglich in die Tat umzusetzen, blieb er als Posten vor der Tür stehen. Er konnte sich nicht zurückhalten, er mußte mit der Faust gegen die Tür hämmern und rufen: „Hörst du? Du wirst jetzt bei lebendigem Leibe begraben! Das ist die Strafe für deine Rebellion! Verflucht seien alle Weiber wie du, verflucht alle Giaur!“ Sie antwortete nicht. Er war versucht, die Tür zu öffnen, hütete sich dann aber doch, es zu tun, denn er befürchtete, sie würde einen Trick anwenden, um ihn zu überrumpeln. Er beschränkte sich darauf, die übelsten Verwünschungen gegen sie auszustoßen. Er verachtete alle Frauen, aber am meisten haßte er die „ungläubigen Weiber“ aus den europäischen Ländern, die seiner Ansicht nach keinerlei Existenzberechtigung auf dieser Welt hatten und nichts als menschlicher Abschaum waren.
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Abu Al-Hassern verließ die Gemächer und trat in die laue Abendluft hinaus. Er atmete tief durch und überwand das Schwindelgefühl, das ihn zu ergreifen drohte. Er schritt weiter, über die Pflastersteine des Hofes, und spürte, wie sein Rausch allmählich verflog. Er hob den Blick und sah zu den Hügeln. Die Säulen des Herkules waren schon nicht mehr zu erkennen. Gleich würde es ganz dunkel sein - und Mechmed und die Berber waren immer noch nicht zurück. Abu rief nach dem Stalljungen, und sogleich erschien Kabil, ein aufgeweckter Vierzehnjähriger vom Stamme der Shilh. Er blieb in angemessenem Abstand vor Abu stehen, verneigte sich, richtete sich wieder auf und sagte: „Herr, befiehl.“ „Sobald Mechmed und die anderen mit den Pferden aus Melilla zurück sind, will ich unverzüglich von ihrer Ankunft unterrichtet werden, verstanden?“ „Ich werde fliegen und zu euch eilen, wenn ich den Galopp der Pferde höre - aber, nein!“ Kabils Augen weiteten sich entsetzt. „Ich darf ja den Harem nicht betreten, es ist mir verboten, Herr, habt ihr das vergessen?“ „Nein“, sagte Abu schroff. „Aber wenn du zu mir willst, mußt du in den Harem. Ich erteile dir ausnahmsweise eine Sondergenehmigung, die jedoch nur für diesen einen Fall gilt.“ „Ja, Herr. Danke, Herr.“ „Solltest du dir jedoch irgendeine Verfehlung zuschulden kommen lassen, lasse ich dich auspeitschen, am Hals aufhängen, bis du tot bist, und dich dann den Schakalen und Geiern zum Fraß vorwerfen.“ „Lieber steche ich mir selbst ein Messer ins Herz, als daß ich euer Vertrauen mißbrauche, Herr“, versicherte Kabil devot. Abu stieg die Treppe hinauf, die auf eine Art Wehrgang mündete, der den Hof als oberer Abschluß einer hohen weißen Mauer an zwei Seiten begrenzte. Abu blieb über dem Tor, das vorwiegend von den
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Berbern zum Ausreiten und Einkehren in den „Hof des Herkules“ benutzt wurde, stehen, blickte aufs Meer und dorthin, wo er Melilla wußte. In Melilla waren die Lichter noch nicht entfacht worden, aber bald würden sie über die Bucht herübergrüßen. Von Mechmed und dessen Horde war immer noch nichts zu sehen. Verstimmt verließ Abu Al-Hassan den Wehrgang, schritt über den Hof, ohne Kabil noch eines weiteren Blickes zu würdigen, und verschwand wieder in den Gemächern, die sich hinter Säulengängen und Spitzbogenfenstern verbargen. Kabil blickte ihm aus dem Dunkel des Pferdestalles nach. Seine Miene hatte sich verändert und war zu einer starren Maske des Hasses geworden. Du wirst dich noch wundern, Abu, Sohn eines Pestkranken und einer Blatternarbigen, dachte er. Die Gelegenheit war da. Er, Kabil, würde sie nicht vergeuden, sondern nutzen. Schon seit einiger Zeit tauschte er mit Beni, dem Djerba-Mädchen, heimliche Blicke und Worte. Sie hatten eine fast vollkommene Art der Verständigung erfunden, mit der sie sich in den wenigen Momenten, in denen Beni jeden Tag an dem einen oder anderen Fenster erschien, nahezu alles sagen konnten. Sie war vier Jahre älter als er, aber was tat das schon? Er liebte sie und wollte mit ihr fliehen. Er drehte sich um und schlich zur leeren Box von Mechmeds Rappen. Immer wieder blickte er sich nach allen Seiten um, um sicher zu sein, daß ihn niemand, keiner der anderen Diener oder gar einer der Eunuchen, beobachtete. Schließlich begann er, in dem Stroh der Box zu wühlen. Nach einigem Tasten hatte er das Messer gefunden, das er vor über einem Monat entwendet und hier versteckt hatte. Er nahm es in die Finger und betrachtete es. Es war lang, scharf und leicht gekrümmt, eine ideale Waffe für sein Vorhaben. *
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In einem der großen Räume des Kellergewölbes unter den Haremsgemächern befand sich das Gemeinschaftsbad, zu dem es nur einen Zugang gab, der über eine gewundene Treppe nach unten führte. Die Eunuchen, die als Wächter des Beckens eingeteilt waren, mußten oben bleiben. Nicht einmal sie durften zusehen, wenn die Frauen sich entkleideten und in das warme Wasser stiegen, das den ganzen Raum bis zu etwa anderthalb Yards Höhe ausfüllte. Jede Haremsdame hatte sich jeden Tag der Prozedur zu unterziehen, die Abu AlHassan als Reinlichkeitspflicht angeordnet hatte. Sie begann am Nachmittag mit einer Schwitzkur. Dann folgte eine Massage mit „armenischer Erde“ und am Ende wurde gebadet. Beni, das hübsche kleine Djerba-Mädchen, hatte nur darauf gewartet, daß die Marokkanerinnen und die anderen, die als dem Hausherrn bedingungslos unterworfen galten, das Bad verließen. Jetzt zog sie sich rasch aus und kletterte über die untersten Stufen zu Luisa, Janine, Victoria, Lorena und Irene, die sie erwartungsvoll und furchtsam zugleich ansahen. Beni breitete die Arme aus und glitt auf die Frauen zu. Sie hatte ihre schwarzen Haare hochgesteckt und wirkte mit ihren kleinen, festen Brüsten und den anmutigen Bewegungen ihrer schmalen Hüften noch ein wenig jünger als gewöhnlich. Luisa, die Italienerin, hätte wie Melinda oder Lorena fast selbst eine Orientalin sein können: Sie hatte dunkle, allerdings kürzere Haare als die anderen, und ihre großen, fragenden Augen waren jettschwarz. Janine, die Französin, war brünett und hatte dunkelblaue Augen. Ihre Züge waren sinnlich und sanftmütig, ihr ganzes Wesen war sensibel und zurückhaltend. Anders wieder Victoria, die Engländerin — sie hatte rotes, gelocktes Haar und leicht herbe Züge in einem schmalen Gesicht. Nach Sieglinde und Melinda war sie die Mutigste in der kleinen Gruppe der Verschwörerinnen, und eigentlich hatte sie
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an Melindas Stelle die „Schwangere“ mimen wollen, die den Eunuchen ablenken sollte. Melinda und Sieglinde hatten jedoch anders entschieden. Lorena, die Sardin, hatte wiederum schwarzes Haar und schwarze Augen und sah der kleinen Beni auf geradezu verblüffende Weise ähnlich. Irene, die Griechin, war dunkelblond und hatte die größte Statur von allen. „Habt ihr’s gehört?“ raunte Beni ihnen zu. „Ulad, dieser Hund, hat den Befehl erhalten, Melinda lebendig einzumauern.“ „Nein!“ hauchte Janine. Fast hätte sie einen Schrei ausgestoßen, so bestürzt war sie. „Aber das — das dürfen wir nicht zulassen!“ „Wir müssen es verhindern“, flüsterte Lorena. „Aber wie?“ fragte Victoria. „Wie denn bloß, verflixt noch mal?“ Sie sprachen Spanisch und Arabisch durcheinander, hatten es im Laufe der Zeit aber gelernt, sich auf diese Weise einwandfrei zu verständigen. „Die Eunuchen bewachen uns zu scharf“, sagte Luisa. „Wir haben unsere Chance verpaßt, als Sieglinde und Melinda flohen. Jetzt ist alles zu spät.“ „Sie töten uns, wenn wir sie angreifen“, sagte Irene. „Ich bin sicher, daß Abu ihnen diesen Befehl inzwischen gegeben hat, denn er will bestimmt kein Risiko mehr eingehen.“ „Trotzdem“, murmelte Victoria. „Melinda darf nicht sterben. Die Tür ihres Verlieses läßt noch Luft zum Atmen durch, die Mauer aber nicht mehr. Sie wird elend ersticken, wenn wir nicht etwas unternehmen.“ „Das ist zu grausam“, wisperte Janine. „O mein Gott. Allmächtiger Herr im Himmel, steh ihr bei.“ Beni blickte von einer zur anderen. „Es gibt noch eine Hoffnung“, zischte sie. „Vielleicht ist Sieglinde die Flucht ja wirklich geglückt. Das Ausbleiben von Mechmed und seinen Kerlen scheint mir ein Beweis dafür zu sein. Sie haben sie nicht gefunden. Sie holt Hilfe.“
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„Hoffentlich“, sagte Victoria. „Ich bete darum, aber wir können uns nicht darauf verlassen.“ Ähnlich dachte auch Melinda, die in ihrer fensterlosen Zelle kniete und die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Sie hörte das Scharren vor der Tür, das Aufeinandersetzen von Steinen und das Schaben der Maurerkelle. Sie hörte die Eunuchen kichern und sagte sich immer wieder: Werd nicht verrückt, schrei nicht, darauf warten sie nur. Sieglinde kehrt zurück, sie läßt dich nicht im Stich. Es wird noch alles wieder gut. An diese Hoffnung klammerte sie sich wie ein Ertrinkender an eine rettende Planke. Es war die letzte Hoffnung, die sie noch hatte. * Abu Al-Hassan stieg ins Obergeschoß der Haremsgemächer hinauf, denn er wußte, daß Dalida dem Zeremoniell gemäß jetzt dort auf ihn wartete. Der Raum, den er betrat, war etwa doppelt so groß wie der, in dem sie den Nachmittag verbracht hatten. Von der Decke baumelten Öllampen, die von den Dienerinnen angezündet worden waren, kostbare Lampen aus Porzellan, die mit Koranversen in Schönschrift bemalt waren. Dalida, zwei Nebenfrauen und drei Dienerinnen saßen mit gekreuzten Beinen auf den Sofas und Kissen, die auf dem teppichbedeckten Boden um kleine Tische mit Kupferplatten gruppiert waren. Räucherpfannen verbreiteten aromatische Düfte. Die Dienerinnen reichten Süßigkeiten und Kannen mit Rosenwasser. Dalida trug ein langes Gewand, das in der Taille durch einen fein durchwirkten Leinenschal zusammengehalten wurde. Sie hatte sich kurze, buntgemusterte Strümpfe und Pantoffeln aus weichem Ziegenleder angezogen. In der kurzen Zeit, die Abu abwesend gewesen war, hatte sie sich mit dem üblichen Geschick geschminkt. Ihr Haupthaar war zusätzlich mit Henna gefärbt, das einen eigentümlichen Glanz bewirkte. Ihre Augenbrauen hatte sie mit
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Indigo nachgezogen, die Augenränder mit Kohle. Ihre Fingernägel waren rotlackiert. Dies alles war aber nicht dazu angetan, Abus Stimmung zu heben. „Komm“, sagte sie mit ihrer Altstimme. „Laß dich bei uns nieder. Laß uns speisen und trinken.“ „Ich habe keinen Hunger“, brummte er, setzte sich aber trotzdem zu den Frauen und wartete schweigend darauf, daß die Dienerinnen das kalte Abendgericht holten und auf den Tischen verteilten: Fleischfladen, Eierfrüchte in Essig, Honiggebäck, Pfirsiche und Datteln. Dazu gab es eisgekühltes Honigwasser, aber auch Rotwein. Lustlos kaute Abu Al-Hassan auf einem Stück Fleisch herum und spülte den Bissen mit Wein herunter. Dann aber stand er wieder auf, schritt unruhig durch den Raum und trat schließlich auf einen der balkonähnlichen Erker hinaus, der mit einem hölzernen Gitter verkleidet war. Seine Sorgen drehten sich in erster Linie darum, daß die Deutsche etwas von seinen dunklen Machenschaften verraten konnte. Gewiß, ihm war auch daran gelegen, sie zurückzuholen und erneut als Leibeigene zu besitzen, doch das eigentlich nur am Rande. Sie würde schon dafür sorgen, daß die Außenwelt von Abus .weißen Sklavinnen erfuhr. Und da schon der Koran verbot, Frauen gegen ihren Willen in einem Harem festzuhalten, genügte es, daß sie dies in Melilla oder anderswo verbreitete — nur Allah wußte, wohin sie wirklich geflohen war —, und danach würde er, Abu, ernste Schwierigkeiten mit den marokkanischen Obrigkeiten kriegen. Da halfen dann auch die Schmiergelder nichts mehr, die er regelmäßig zu verteilen pflegte. Und seine Geschäfte? Nun, er hatte seinen Frauen nie im Detail erklärt, mit welcher Ware er einen schwunghaften Handel betrieb, nur Dalida wußte Genaueres. Aber eine kluge Frau wie die Deutsche konnte sich vielleicht ausmalen, um was es da ging — und auch dies war in Marokko verboten.
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Beim Scheitan, dachte er, sie kann dich dem Kadi ausliefern, und der wird keine Rücksicht auf deinen Namen, deinen Reichtum, deinen Ruf nehmen. Du endest unter dem Schwert des Scharfrichters. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Plötzlich jedoch wurde er in seinen düsteren Grübeleien unterbrochen. Draußen lag das Licht des Tages in seinen letzten verblassenden Zügen, und deutlich war die Feuerspur zu sehen, die mit einemmal über dem Meer aufstieg, gar nicht weit vom Palast und dem Streifen Strand entfernt, der sich zwischen den weißen Gemäuern und dem Wasser erstreckte. Ein zweiter flackernder Pfeil raste in den Abendhimmel hinauf, dann noch einer und noch einer - einem bedrohlichen Feuerwerk gleich. Ein leuchtendes Fanal geisterte durch die Dunkelheit auf den „Hof des Herkules“ zu und bohrte sich in den Sand des Strandes. Ziemlich fassungslos verfolgte Abu dieses seltsame, unerklärliche Schauspiel. „Was hat das zu bedeuten?“ sagte er. Hinter seinem Rücken standen Dalida und die anderen Frauen auf. Auch sie hatten die brennenden Male am Himmel bemerkt und näherten sich den Fenstern, um sie eingehend zu betrachten. „Das sind Brandpfeile“, sagte Dalida. „Mechmed kehrt mit der Bagalla zurück und gibt dir ein Zeichen, o Abu.“ „Mechmed hat keine Brandpfeile“, sagte Abu Al-Hassan mit rauher Stimme. 8. Im Erdgeschoß des Palastes waren auch die Eunuchen und ein Teil der Dienerschaft auf die seltsamen Feuer aufmerksam geworden. Auch sie liefen zu den Fenstern der Ostseite der Gebäude und spähten aufs Meer hinaus. Der Urheber des Brandpfeil-Zaubers war Batuti. Er war auf Ben Brightons Anordnung hin mit genügend Material ausgerüstet in den Vormars aufgeentert und hatte im Kupferbecken, das er eigens zu diesem Zweck auf seinen luftigen
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Posten mitgenommen hatte, ein ordentliches Feuer entfacht. Dann, als die „Isabella“ die Nehrung, die der Bucht vorgelagert war, mit Kreuzschlägen gegen den Südwind fast passiert hatte und sich auf der Höhe des „Hofes des Herkules“ befand, hatte er mit seiner „Vorstellung“ begonnen. Das Ganze war ein Ablenkungsmanöver. Ben hätte natürlich auch ein paar Kanonenschüsse zur See hin abgeben lassen können - was zweifellos noch wirkungsvoller gewesen wäre -, doch damit hätte er gleichzeitig auch die Hafenkommandantur von Melilla alarmiert, die sicherlich sofort ein paar Schiffe geschickt hätte, um der Sache auf den Grund zu gehen. Einen derartigen Aufruhr aber wollte der Seewolf um jeden Preis vermeiden. Jenseits des nördlichen Endes der Landzunge hatte sich die „Isabella“ etwa eine halbe Stunde vorher von einem ihrer Beiboote und von dem Fischerboot getrennt, so daß Ben im Bedarfsfall nur noch über eine Jolle als Beiboot verfügte, was bei der jetzigen Stärke der Schiffsbesatzung jedoch durchaus ausreichend war. Die erste Jolle und das Fischerboot hatten sich in den Schleiern der Dämmerung in die Bucht gepirscht und an dem Fischerdorf und dessen Bootsstegen vorbeigestohlen, ohne daß sie auch nur von einem der Marokkaner bemerkt worden waren. Hasard führte die Jolle. Auf den Duchten saßen der Profos, Big Old Shane, Dan O’Flynn und Smoky, im Bug kauerte Sieglinde Kramer. Mit kräftigen Riemenschlägen bewegten die Männer das Boot voran. Das Fischerboot folgte dichtauf. Ferris Tucker bediente als Bootsführer die Ruderpinne, Gary Andrews, Bill, Luke Morgan, Matt Davies und Bob Grey pullten. Außer Ben Brighton, Batuti und den Zwillingen, die mittlerweile ihren Posten im Großmars bezogen hatten, befanden sich somit an Bord der „Isabella VIII.“ nur
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noch der Kutscher, Blacky, Pete Ballie, Al Conroy, Old Donegal Daniel O’Flynn, Jeff Bowie, Sam Roskill, Will Thorne, der Segelmacher, und Stenmark, der Schwede — und, nicht zu vergessen, natürlich auch Arwenack und Sir John, die das Geschehen an Bord recht gelassen verfolgten. Die Bucht verlief in ihrer langgestreckten Form fast genau von Norden nach Süden, so daß Hasard und sein Trupp im letzten Büchsenlicht des Tages also am Südufer landeten. Sie stiegen aus, zogen die Boote ein Stück an Land, zückten der Vorsicht halber ihre Waffen — nach wie vor rechneten sie damit, die Berber irgendwo anzutreffen — und schlugen sich dann in die Büsche, die unter den Dattel- und Ölpalmen an der Uferböschung wucherten. Nur kurze Zeit später hatten sie den „Hof der Herkules“ erreicht und schlichen auf die Westseite zu. Sieglinde wies ihnen den Weg zu dem Fenster, aus dem sie mit Melinda zusammen geflohen war. Sie blieb abrupt stehen und beschrieb eine Gebärde der Enttäuschung, als sie feststellte, daß Abus Diener dieses Fenster inzwischen vergittert hatten. Auch alle anderen Fenster an dieser Seite des Anwesens waren durch Eisengitter versperrt, die offensichtlich in aller Eile angebracht worden waren. Hasard warf einen prüfenden Blick auf die Stäbe, dann versammelte er seine Männer um sich. „Es scheint so, als wolle der ehrenwerte Abu verhindern, daß ihm sein ganzer Harem wegläuft“, sagte er spöttisch. „Was tun wir jetzt?“ fragte Sieglinde mit gedämpfter Stimme. „Wir können doch nicht alle an der Außenmauer hochklettern. Das schaffen wir nie.“ „Ob wir’s schaffen, sei mal dahingestellt“, sagte der Seewolf. „Wir würden viel zuviel Zeit verlieren. Ed, Ferris, Shane, packt ihr mal mit an? Die gemauerten Halterungen, in dem das Gitter hier ruht, können noch nicht ganz ausgetrocknet sein.“ „An die Arbeit“, brummte der Profos und spuckte in die Hände. „Holla, das ist ganz nach meinem Geschmack.“ Hasard nahm eine Taurolle vom Gurt, die er von Bord der „Isabella“ mitgenommen
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hatte. Er löste ihr Ende und begann, das Tau an der Vergitterung zu befestigen. „Wie wär’s mit einem Balkenstek?“ raunte Ferris Tucker. „Ein Roringstek tut’s auch“, sagte Hasard. Er prüfte den Sitz des Knotens, dann übergab er seinem Schiffszimmermann, dem Profos und dem ehemaligen Schmied von Arwenack die Rolle. Sie nahmen sie ganz auseinander, griffen jeder mit beiden Händen zu und warteten, bis auch der Seewolf seinen Stand am Tau gesichert hatte. Dann zogen sie auf ein Kopfnicken Hasards hin zugleich und mit vereinten Kräften. Die anderen wichen etwas zurück. Sieglinde glaubte, ihren Augen nicht zu trauen: Knirschend löste sich das ganze Fenstergitter aus seinen Verankerungen und landete mit einem plumpsenden Laut im Sand. Hasard ließ das Tau los, zog sein Messer und steckte es in den Spalt zwischen Fenster und Rahmen. Ferris löste den Knoten vom Eisenstab und schoß das Tau wieder auf. Hasard löste die Verriegelung des Fensters mit einem energischen Ruck, stieß den Flügel auf, steckte das Messer weg und winkte den anderen zu. Er schwang sich als erster über die Fensterbank. Sieglinde kletterte ihm mit katzenhaften Bewegungen nach, dann folgten Shane, Carberry, Ferris Tucker und die anderen. Sie glitten durch die Räume, die Sieglinde und Melinda in der Nacht durchquert hatten und stießen auf den großen Flur des Hauptgebäudes, an dessen Ende die Tür zum Innenhof war. Halb geöffnet hing sie in ihren Angeln. Mechmed und seine Helfer hatten sie in Ermangelung eines Zweitschlüssels aufgebrochen, und sie war seither noch nicht wieder repariert worden. Matt und Bob blieben als Aufpasser in dem Raum neben dem Flur zurück, wie der Seewolf vorher mit ihnen vereinbart hatte. Hasard und der Rest des Trupps pirschten auf die Tür zu. Sie bewegten sich völlig geräuschlos auf den Zehenspitzen.
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Durch den Spalt der Tür konnte Hasard die massigen Gestalten zweier Wächter erkennen. Sie standen höchstens zwei Yards von der Tür entfernt unter dem Säulengang und hielten ihre Blicke zum Brunnen gerichtet, kehrten den Männern. der „Isabella“ also ihren Rücken zu. Hasard schob sich durch die Türlücke und näherte sich ihnen so vorsichtig, als könne er mit seinen Stiefeln etwas Zerbrechliches zertreten, das auf dem Boden lag. Sieglinde hielt unwillkürlich den Atem an. Shane und der Profos waren an ihr vorbei und folgten ihrem Kapitän. Nie hätte sie es für möglich gehalten, daß diese großen Männer sich derart leise und gewandt zu bewegen vermochten. Hasard stand hinter den beiden Eunuchen und hob beide Hände. Erst in diesem Augenblick wandte einer von ihnen den Kopf. Hasard packte sie am Kragen ihrer Gewänder und riß sie so heftig gegeneinander, daß ihre Köpfe zusammenprallten. Der eine sank sofort besinnungslos zusammen. Der andere, offenbar widerstandsfähiger, stöhnte, duckte sich und riß sich von Hasard los. Inzwischen war jedoch auch Big Old Shane heran und saß dem Kerl im Nacken, ehe dieser den Mund auftun und um Hilfe schreien konnte. Er zog ihm den abgerundeten Kolben seiner Radschloßpistole über den Hinterkopf, mit so viel Wucht, daß der Eunuch nun ebenfalls zusammenbrach und keinen Laut mehr von sich gab. Sieglinde war neben Hasard und zeigte ihm die Tür auf der anderen Seite des Hofes, die direkt in die Haremsgemächer führte. Hasard griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich. Ferris Tucker war zu Carberry und Shane gestoßen. Sie entwaffneten und fesselten die beiden bewußtlosen Eunuchen in aller Eile und zerrten sie in eine dunkle Ecke des Ganges. Dann folgten sie Hasard und der Deutschen, die im Dunkel der Überdachung um den Hof herum auf den Harem zustrebten. Dan O’Flynn, Smoky, Gary, Bill und Luke rückten ebenfalls nach.
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„Achtung“, flüsterte Sieglinde. „Hinter der Eingangstür des Harems steht bestimmt auch ein Eunuch, wie immer. Heute nacht benutzten wir den Moment, als er mal kurz wegging, um auszukneifen, aber wenig später tauchte er wieder auf. Ich konnte ihn mit dem Säbel niedermachen, und er ist bestimmt schwer verletzt oder gar tot, aber ich bin überzeugt, daß an seiner Stelle jetzt ein anderer steht und höllisch aufpaßt, daß kein Unbefugter eindringt.“ „Die Tür“, raunte Hasard. „Geht sie nach innen oder nach außen auf?“ „Nach innen.“ Er ließ ihre Hand los. „Dann bleib mal ein Stück zurück.“ Er drehte sich um und winkte Dan und den Profos heran, schritt weiter, war an der Tür und legte seine Hand behutsam auf die verzierte Klinke. Als er Dan und Carberry dicht hinter sich wußte, stieß er die Klinke schnell nach unten und rammte die Tür auf — dem Eunuchen gegen die Schulter, der tatsächlich auf dem von Sieglinde bezeichneten Posten stand. Hasard sprang an der Tür vorbei und riß ihn mit sich zu Boden, bevor er seinen Säbel aus dem Gurt ziehen konnte. Zweimal schlug Hasard hart mit der rechten Faust zu, dann rührte sich auch dieser Mann nicht mehr. Der Seewolf richtete sich auf. „Entwaffnen, fesseln, knebeln“, zischte er seinen Männern zu. „Los, beeilt euch.“ * Die Mauer vor Melindas Gefängniszelle war schon über anderthalb Yards hoch gewachsen, es fehlte nur noch ein Stück, dann war das Werk vollbracht. Eifrig hantierten die Eunuchen mit den Steinen und mit dem Mörtel, doch Ulad hob plötzlich die Hand. „Aufhören!“ sagte er. „Habt ihr das nicht vernommen? Da war ein Geräusch, ein dumpfer Laut, als ob jemand hingefallen wäre.“ „Wo?“ fragte der eine Wächter. „Ich glaube, an der Tür zum Innenhof“, flüsterte der Haratin. „Wartet, ich sehe mal nach, was das war. Wenn ich schreie, eilt
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mir einer von euch zu Hilfe. Der andere läuft zu Abu Al-Hassan hinauf und benachrichtigt ihn.“ Er verstand ihre gemurmelte Antwort schon nicht mehr. Schnellen Schrittes bewegte er sich über den winkligen, schmalen Flur und durch zwei Räume auf den Eingang des Harems zu. Sein Mißtrauen war geweckt. Er war sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Rasch zog er seinen Krummsäbel. Er schlug die Perlschnüre einer Verbindungstür zur Seite, nur dieser eine Vorhang trennte ihn noch von dem Eingangsflur der Gemächer. Er stoppte, duckte sich, weil er den Wachtposten nicht entdecken konnte, und wollte einen Ruf ausstoßen, sah sich aber urplötzlich einem großen, schwarzhaarigen Mann gegenüber, der wie durch einen Spuk vor ihm auftauchte. Er mußte neben der Verbindungstür gelauert haben. „Hund von einem Giaur“, sagte Ulad. „Weißt du nicht, daß es jedem Mann verboten ist, diese Räume zu betreten? Du bist des Todes!“ Der „Giaur“ hielt ihm zur Antwort die Spitze seines Degens gegen die Gurgel. Ulad sprang zurück, riß den Säbel hoch und trachtete, dem Gegner die Waffe aus der Faust zu schlagen. Doch Hasards Degen flog nur ein Stück hoch, blieb dabei aber sicher in seinen Fingern. So hatte sich der von Ulad gewünschte Erfolg nur halb eingestellt, und er quittierte dies mit einem schrillen Laut. Hasard drang .mit dem Degen auf den Eunuchen ein und trieb ihn quer durch den mit Teppichen und Kissen ausgeschmückten Raum. „Los!“ rief er seinen Männern zu. „Gleich haben wir sie alle am Hals! Kümmert euch um die Mädchen, mit dem hier werde ich schon allein fertig!“ Carberry, Shane und Ferris fegten mit Sieglinde um die Ecke herum, Dan, Smoky, Gary, Luke und der Moses drängten nach. Ulad stieß beim Anblick der Deutschen ein wahrhaft schauerliches Heulen aus. Er focht wie wahnsinnig mit Hasard, den er
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als Kämpfer glatt unterschätzt hatte, und das ewige Grinsen, das er sonst zur Schau stellte, war mit einemmal aus seinem Gesicht verschwunden. Hasard führte eine Parade gegen ihn und warf ihn bis an die Wand zurück. Er ließ die dünne, scharfe Klinge des Degens vor seinen Augen tanzen und durchbrach immer wieder die Deckung, die der Eunuch verzweifelt mit seinem Krummsäbel aufzubauen versuchte. Sieglinde führte unterdessen die anderen durch das Labyrinth von Gängen und Zimmern dorthin, wo die Frauen sein mußten und wo sie auch Melinda suchen wollte, die wahrscheinlich in eine der für „besondere Zwecke“ eingerichteten Gefängniszellen geworfen worden war. So stieß die Gruppe auf die beiden Eunuchen vor der halb zugemauerten Tür. Der eine verschwand bei ihrem Anblick sofort in einem Seitenkorridor, der andere zückte seinen Säbel und warf sich ihnen mit einem grellen Laut des Zorns entgegen. Ferris Tucker sprang schützend vor Sieglinde und fing die niedersausende Klinge mit einem Hieb seines Entermessers auf. Im nächsten Moment befanden sich der Eunuch und er in einem erbitterten Duell miteinander. Carberry und Dan O’Flynn schoben sich an ihnen vorbei und nahmen die Verfolgung des anderen auf. Es wäre ihnen ein leichtes gewesen, die Eunuchen mit ihren Schußwaffen niederzustrecken, aber genau das sollte vermieden werden. Hasard hatte die Order erteilt, nur im äußersten Notfall zu schießen –und daran hielten sich die Männer. Der Profos und Dan O’Flynn konnten den flüchtenden Eunuchen noch um eine Ecke des Seitenflurs verschwinden sehen. Mit langen Sätzen hetzten sie ihm nach. Der Eunuch erreichte die Treppe, die ins Obergeschoß führte, und stolperte die Stufen hoch, um seinen Herrn und Gebieter Abu Al-Hassan zu alarmieren. Der hatte inzwischen den vergitterten Balkon verlassen und stürmte durch den Speisesaal.
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„Was geht hier vor?“ brüllte er, als er die Geräusche hörte, die aus dem Erdgeschoß heraufschallten. Er zog seine perlmuttverzierte Steinschloßpistole und spannte den Hahn. Unten zogen sich die übrigen Haremswächter – ebenfalls durch die Kampflaute aufgerüttelt – von den Fenstern des Ostflügels zurück und rannten ziemlich ziel- und planlos durch die Gemächer, um nach der Ursache des Lärms zu forschen. Im Baderaum des Kellergewölbes hoben Luisa, Janine, Victoria, Beni, Lorena und Irene überrascht die Köpfe. Sie tauschten verwunderte Blicke, und dann war es Victoria, die als erste sprach. „Es ist soweit“, sagte sie. „Sieglinde ist zurückgekehrt und hat Hilfe mitgebracht. Hört doch!“ Oben wurde ein ohrenbetäubendes Kreischen und Schimpfen angestimmt. Die Eunuchen waren mit den Seewölfen zusammengestoßen, in drei, vier Räumen und auf dem Flur tobte der Kampf. Die Frauen stiegen aus dem Wasser und rafften in aller Hast ihre Kleidungsstücke zusammen. Sie streiften -sie über, ohne sich abzutrocknen, und liefen nach oben. Melinda schlug von innen gegen die Tür ihrer Zelle und schrie: „Sieglinde! Sieglinde, bist du da? So antworte doch!“ „Hier bin ich!“ rief die Deutsche. Dann ließ sie sich zu Boden fallen, griff nach den Fußknöcheln des Eunuchen, der immer noch gegen Ferris Tucker focht, und riß dessen Beine an sich. Der Eunuch kippte auf den Rücken und schrie in Todesangst. Ferris schlug mit dem Entermesser seinen Säbel zur Seite, war über ihm und ließ den Knauf des Messers auf seinen Schädel niederzucken. Im selben Augenblick hatte auch der Seewolf die entscheidende Phase des Kampfes gegen Ulad erreicht. Er durchstieß erneut dessen Verteidigung, holte aus und zeichnete von links unten nach rechts oben eine blutige Schramme auf die Brust seines Gegners. Ulad hörte den Stoff seines Hemdes zerreißen. Er schrie und ließ seinen Säbel fallen. Hasard
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drehte blitzschnell den Degen um und rammte ihm das Heft gegen das Brustkreuz. Ulad stieß einen keuchenden Laut des Entsetzens aus und hob abwehrend beide Hände, doch Hasards freie Faust war schneller. Sie knallte gegen die Schläfe des anderen und löschte sein Bewußtsein mit einem dröhnenden Schlag aus. Schlaff sank er an der Wand zu Boden. Hasard ließ ihn liegen. Er warf sich herum und stürmte weiter, um seine Männer in dem Handgemenge gegen die Haremswächter zu unterstützen. 9. Kabil, der Stallbursche, konnte sich auf die eigentümlichen Laute, die aus dem Harem drangen, keinen rechten Reim bilden. Doch er begriff, daß irgendetwas Ungeheuerliches die Ruhe gestört hatte, aber das entstandene Durcheinander konnte seinen Plänen nur nutzen. So nahm er die Gelegenheit wahr und drang in die Gemächer ein. Er verbarg das Messer unter seinem Hemd und rief dem ersten Eunuchen, der ihm über den Weg lief, zu: „Der Herr hat mich beauftragt, ihn aufzusuchen, wenn Mechmed zurück ist! Ich habe die Erlaubnis dazu!“ „Ich weiß, ich weiß!“ schrie der Eunuch. „Lauf und warne Abu Al-Hassan! Fremde sind in den Harem eingedrungen! Giaurs! Sie wollen uns alle töten! Rufe Mechmed und seine Berber, sie müssen uns helfen!“ „Ja!“ rief Kabil zurück und täuschte Entsetzen vor. „Bei Allah, wie konnte das geschehen?“ Der Eunuch antwortete ihm nicht, er war bereits um die nächste Flurbiegung verschwunden, Kabil frohlockte innerlich. Er lief weiter und überlegte, wo Beni wohl in diesem Moment stecken mochte. Das Bad, dachte er, es ist die Stunde des abendlichen Bades, rasch, rasch, ehe Abu erscheint und dich aufhält! Fremde im Harem — wer immer sie waren, sie galten ihm als Verbündete. Er wollte Beni an sich reißen und dann
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versuchen, zu diesen Männern zu stoßen, um gemeinsam mit ihnen aus dem Palast zu fliehen. Er hörte die Eunuchen kreischen und heulen und die Waffen klirren, und er dachte: Die Eindringlinge haben sich einen günstigen Zeitpunkt für ihre Tat ausgesucht. Noch ist Mechmed nicht mit seiner Bande zurück, noch haben sie ein ziemlich leichtes Spiel. *
Carberry war schneller als der Eunuch, der das oberste Stockwerk nun fast erreicht hatte: Er trat ihm gegen die Hacken, brachte ihn zum Straucheln und warf sich mit einem wahrhaftig pantherartigen Satz auf ihn. Der Eunuch ächzte unter der Wucht des Aufpralls. Er wehrte sich, wollte den Riesen abschütteln, schaffte es aber nicht, weil der Profos ihn wie mit Eisenklammern festhielt. Mit einem Ruck warf sich der Haremswächter herum. Carberry prallte mit dem Rücken gegen die Wand des Treppenaufganges. Er stieß einen mörderischen Fluch aus, packte erneut zu und balgte sich mit dem Gegner, der jetzt versuchte, ihm den Säbel in den Leib zu stoßen. Dan O’Flynn blieb hinter ihnen stehen. Er wartete auf eine Gelegenheit, um dem Eunuchen einen Hieb auf den Hinterkopf zu versetzen, doch die beiden kämpften eng ineinander verkeilt und bewegten sich so flink, daß er befürchtete, statt des Eunuchen den Profos zu treffen. Während Dan noch unschlüssig dastand, tauchte über ihren Köpfen ein großer Mann mit einem grauen Vollbart auf, der in einen weißen Burnus und einen weißen Turban gekleidet war. Nach allen Beschreibungen, die Sieglinde Kramer vom Hausherrn des Palastes gegeben hatte, konnte es sich nur um Abu Al-Hassan handeln. Die Eunuchen hatten keine Schußwaffen, sonst hätten sie sich damit bestimmt zur Wehr gesetzt. Wohlweislich hatte Abu AlHassan sie weder mit Pistolen noch mit Flinten ausgerüstet, denn er hatte stets das Schreckgespenst einer Hofrevolte vor
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Augen und hielt besonders die entmannten Wächter für unberechenbar und heimtückisch. Er aber verfügte über Pistolen und Musketen und wußte auch sehr wohl damit umzugehen. Er richtete die Steinschloßpistole auf Dan O’Flynn, und Dan hatte keine Chance mehr, auch seine Pistole noch rechtzeitig genug aus dem Gurt zu ziehen. Geistesgegenwärtig ließ er sich jedoch auf die Stufen fallen. Abu Al-Hassan wollte schon abdrücken, zögerte jetzt jedoch. Er senkte die Waffe und korrigierte die Schußrichtung. Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug, der Hahn löste sich aus seiner Arretierung und hieb auf die Pfanne. Der Zündfunke sprühte, donnernd löste sich der Schuß. Carberry und der Eunuch bäumten sich genau in diesem Moment auf. Der Eunuch fing die Kugel mit seinem Rücken auf, schrie, krümmte sich und sank tödlich getroffen zusammen. Abu Al-Hassan brüllte vor Wut auf, schleuderte die nutzlos gewordene Pistole von sich und zückte seinen Säbel. Damit stürzte er sich auf Dan, der eben wieder hochschnellte und seinerseits den Cutlass zog. Wild drang Abu auf Dan ein. Sie kreuzten die Klingen, das Klirren tönte durch den Treppengang und durch die Flure. Abu gelang es, Dan ein Stück zurückzutreiben. Gleich drei oder vier Stufen tiefer taumelte Dan, aber dann hatte er sich wieder gefangen und wich dem mörderischen Hieb aus, den der Mann auf ihn niedersausen ließ. Carberry befreite sich von der Last des toten Eunuchen. Er wollte Dan helfen, vernahm jetzt aber Stimmen aus dem Obergeschoß — helle Stimmen. Hölle, dachte er, da sind noch mehr von diesen Eunuchen, eine ganze Meute. Der Teufel soll sie holen! Ich muß ihnen den Weg abschneiden und sie zurückwerfen! Er erhob sich und nahm die letzten Stufen mit einem einzigen Satz. Dann hastete er den Flur entlang, immer den Stimmen nach.
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Hasard lief an Sieglinde und Ferris Tucker vorbei, die mit ihren Händen die noch frische Mauer vor Melindas Gefängnis aufbrachen und sich anschickten, die Spanierin zu befreien. Hasard wollte zu Big Old Shane, zu Smoky, Gary, Luke und Bill, die sich gegen die schreienden Eunuchen behaupten mußten, aber plötzlich blickte er nach links, weil er eine Bewegung bemerkt hatte, und sah Dan O’Flynn in einem der Seitenflure gegen einen großen, bärtigen Mann im Burnus fechten. Da auch der Seewolf nicht den geringsten Zweifel daran hegte, Abu Al-Hassan persönlich vor sich zu haben, änderte er seine Absicht und bog nach links ab. Sieglinde hatte ihm sehr ausführlich über Abu und dessen Eigenarten erzählt — er wollte es sich nicht nehmen lassen, diesem Mann jetzt selbst einen Denkzettel zu verpassen. Abu setzte Dan schwer zu. Der Kampf hatte sie von der Treppe bis auf den Korridor hinuntergeführt, und jetzt tänzelten sie, mit verkniffenen Mienen aufeinander einschlagend, genau auf den Seewolf zu. Hasard war für Fairneß, aber er wußte auch, wie sehr die Zeit drängte. Er konnte den Ausgang dieses Duells nicht Dan allein überlassen, er mußte eingreifen. Als Abu Al-Hassan dicht vor ihm war und mit wutverzerrter Miene halb zu ihm herumfuhr, schlug er ihm mit der Faust auf den Waffenarm. Abus Finger waren kraftlos, wie paralysiert, er mußte den Säbel fallen lassen. Abu riß seine Faust hoch und rammte sie dem Seewolf gegen die Brust. Hasard konterte mit einem rechten Haken, der Abu aus dem Gleichgewicht warf und Dan O’Flynn entgegen trieb. Dan hieb gedankenschnell zu und holte den Mann ganz von den Beinen. Mit einem Ausdruck grenzenloser Überraschung sank Abu AlHassan zu Boden.
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„Danke für die Hilfe“, sagte Dan grinsend. „Aber ich hätte es auch allein geschafft.“ Hasard blickte sich nach weiteren Gegnern um. Der Flur hatte viele Unterbrechungen, Türen und Gänge zweigten von ihm ab. Urplötzlich konnten überall wieder die Eunuchen auftauchen. „Bestimmt hättest du das“, sagte er. „Aber vielleicht wärst du erst gegen Mitternacht mit ihm fertig geworden.“ Dan hatte schon eine Erwiderung bereit, aber in diesem Augenblick registrierten sie beide die Bewegung von Gestalten zu ihrer Linken. Sie fuhren herum und hoben die Waffen, aber dann ließen sie sie wieder sinken, denn sie begriffen, wen sie in der Gruppe, die da gerade um eine Ecke bog, vor sich hatten. Die Frauen - Luisa, Victoria, Janine, Lorena, Irene und Beni - eine schöner als die andere. Ihre Gewänder waren naß und lagen eng an ihren Körpern an, so daß kaum eine Einzelheit ihrer Körperformen den beiden Männern entging. Mann o Mann, dachte Dan O’Flynn, das übersteigt ja wirklich alle Erwartungen. Hasard deutete eine chevalereske Verbeugung an, dann schritt er auf die sechs Frauen zu, die jetzt zu zögern schienen. Er wandte sich an die Rothaarige und sagte: „Miß Victoria, wenn ich nicht irre?“ „Sie irren nicht, Sir“, erwiderte sie so ruhig wie möglich, obwohl sie von der Erscheinung dieses wilden schwarzhaarigen Teufels geradezu überwältigt war. „Sie sind ebenfalls Engländer?“ „Ja. Meine Männer und ich sind hier, um Sie und die anderen Europäerinnen zu befreien - oder, besser gesagt, alle, die den Harem verlassen wollen.“ „Wir sind komplett“, sagte Victoria. „Es fehlt nur noch Melinda - und Sieglinde natürlich. Ich gehe doch richtig in der Annahme, daß Sieglinde Sie gerufen hat, Sir?“ „Allerdings“, antwortete der Seewolf lächelnd. „Und sie ist gerade mit Mister Tucker, meinem Schiffszimmermann,
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dabei, Melinda aus ihrem Gefängnis herauszuholen.“ „Wie ich die Dinge sehe, sind wir also am Ziel“, meinte Dan O’Flynn. „Oder gibt es hier noch mehr für uns zu erledigen?“ „Ich glaube nicht“, erwiderte Hasard. „Wie ist eigentlich Ihr Name, Sir?“ erkundigte sich Victoria. „Wir wollen doch wenigstens erfahren, wie unser Retter heißt.“ „Philip Hasard Killigrew.“ „Oh? Der Killigrew aus Cornwall? Der Seewolf, wie ihn alle nennen?“ „Genau der“, sagte Dan lachend. „Aber Sie brauchen keine Angst vor ihm zu haben. Er kann sehr galant sein, besonders, wenn er eine ganze Versammlung von Ladys vor sich hat.“ „Jetzt ist aber Schluß, Mister O’Flynn“, sagte Hasard. „Willst du wohl deinen Mund halten?“ Victoria blickte verwundert zu Dan. „Angst? Wer spricht denn von Angst? Ich habe Mister Killigrew insgeheim schon immer verehrt, weil ich viel über seine Heldentaten gehört habe. Ich bin stolz darauf, ihm endlich begegnet zu sein.“ Sie wandte den Kopf und sah den Seewolf fest an. „Mister Killigrew, gestatten Sie, daß ich Ihnen einen Kuß gebe?“ „Später, meine Liebe, später“, entgegnete Hasard so höflich wie möglich. Eben, dachte Dan O’Flynn, und Gerechtigkeit muß auch sein. Sämtliche Frauen fliegen auf ihn - und wer küßt uns? „Sehen wir zu; daß wir hier verschwinden“, sagte Hasard. Das Geschrei der Eunuchen war verstummt, von irgendwoher ertönte Big Old Shanes triumphierender „Arwenack“Ruf, in den auch die anderen einfielen. Hasard griff nach Victorias Hand, drehte sich um und zog sie mit sich fort, zurück zu Ferris und Sieglinde. Luisa, Janine, Lorena und Irene schlossen sich ihnen sofort an, es folgte Dan O’Flynn. Beni, das Djerba-Mädchen, zauderte jedoch plötzlich, denn sie glaubte, nicht weit entfernt eine wohlbekannte Stimme vernommen zu haben.
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„Dan!“ rief der Seewolf. „Sag auch dem Profos Bescheid! Wo, zum Teufel, steckt der eigentlich?“ „Oben“, sagte Dan. „Weiß Gott, was er dort vorgefunden hat.“ Er drehte w sich noch einmal um und schrie: „Ed? Mister Carberry! Zurück an Bord! Rückzug, verstanden?“ „Verstanden!“ ertönte aus dem ersten Stock Carberrys Stimme. Sie klang allerdings nicht so barsch und laut wie sonst, eher etwas undeutlich, ja, fast verschwommen. Beni kehrte zu der Treppe zurück, die in das Kellerbad hinunterführte. Die Eunuchen,, die die Treppe bewacht hatten, waren verschwunden und kehrten auch jetzt nicht wieder zurück, wie sie einen erschrockenen Augenblick lang befürchtete. Die Eunuchen hatten an dem Kampf gegen die Seewölfe teilgenommen, der durch nahezu alle Gemächer getobt war, und jetzt lagen sie ohnmächtig und mit weit von’ sich gestreckten Armen und Beinen auf Teppichen und Kissen, umnebelt von all den süßlichen und aromatischen Düften dieser absonderlichen Scheinwelt. Nein, die Schritte, die sich aus einem der Flure jetzt dem Djerba-Mädchen näherten, verhießen keine Gefahr. Sie sah Kabil, der nun auch sie erkannte und mit ausgebreiteten Armen auf sie zustürzte. Sie fielen sich in die Arme und küßten sich. Kabil nahm ihr Gesicht zärtlich in beide Hände, sah ihr tief in die Augen und flüsterte: „Endlich, endlich haben wir es geschafft. Die Zukunft gehört uns, das Glück ist unser. Ich liebe dich, Beni, und ich möchte, daß du meine Frau wirst. Willst du?“ „Ja“, sagte sie und brachte ihre Lippen wieder seinem Mund näher. * Edwin Carberry stand wie vom Donner gerührt in dem Speiseraum der oberen Gemächer und hatte das Entermesser sinken lassen. „Verstanden!“ hatte er zwar auf Dans Ruf hin geantwortet, aber jetzt
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fiel es ihm doch schwer, den Rückzug anzutreten. Keine Eunuchen hatte er in, dem Raum vorgefunden, sondern eine Gruppe von Frauen, die ihm sofort einladend zugewinkt und zugelächelt hatten. Er hatte sich nur in dem Raum umsehen wollen, um festzustellen, ob sich irgendwo doch noch ein paar Haremswächter verborgen hielten, die ihnen womöglich beim Verlassen des Palastes in den Rücken fielen. Aber jetzt hatten sich die Frauen von ihren Plätzen erhoben und umringten ihn. Dalida hatte sehr schnell begriffen, um was es ging, und ergriff die Initiative. Sie berührte seinen Arm und murmelte: „Wie schön groß und stark du bist, Fremder. Ein richtiger Mann. Auf so was wie dich haben wir hier schon lange gewartet. Warum läßt du dich nicht bei uns nieder und ruhst dich ein wenig aus?“ „Madam“, sagte der Profos, dem es immer unheimlicher zumute wurde. „Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen. Aber ich befehle Ihnen, mich loszulassen und auch Ihrer Gefolgschaft hier die Order zum Wegtreten zu geben, sonst muß ich Gewalt anwenden. Ich will hier raus, verstanden?“ „Er beherrscht unsere Sprache nicht“, sagte Dalida. „Und wir verstehen nicht, was er sagt. Gut so.“ Sie wandte ihr Gesicht der einen Nebenfrau zu, die gleich links von ihm stand. „Du drückst die Tür zu und schließt sie ab. Er kommt hier nicht mehr heraus. Abu wird sich über diesen Fang freuen.“ „Er wird uns töten“, hauchte die Nebenfrau entsetzt. „Sieh doch, was für ein zorniger Bulle er ist! Diese Narben – schrecklich sieht er aus. Er ist ein grausamer Giaur, der uns alle vom Balkon stürzen wird.“ „Er ist ein häßlicher Dummkopf“, sagte Dalida gelassen und begann, an ihrem Gewand herumzunesteln. „Helft mir!“ herrschte sie die Dienerinnen an. „Ich werde euch jetzt mal zeigen, wie man so einen Kerl um den kleinen Finger wickelt.“ Betroffen verfolgte der Profos, welche Entwicklung die Dinge nahmen. Daß die Nebenfrau zur Seite davon glitt und die Tür verschloß, entging ihm fast. Er sah
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jetzt nur auf Dalida, die sich vor seinen Augen entblätterte und ihm freimütig ihre großen, schweren Brüste zeigte, deren Kronen mit den großen Höfen ihn regelrecht anzulachen schienen. In Dalidas Blick lag eine Einladung und alles Verheißungsvolle des ältesten Gewerbe der Welt. Ihre Stimme war wieder sanft geworden, sanft und lockend. „Nun, Großer? Sind das keine Qualitäten? Auf was wartest du noch?“ Carberry gewahrte plötzlich durch einen Seitenblick, wie die eine Frau von der Tür zurückkehrte. Die Tür war zu. Vorher war sie offen gewesen. „Gott und die Queen stehen mir bei, wenn ich jetzt saugrob werde!“ sagte er, und seine Stimme gewann schon wieder beachtlich an Lautstärke. „Wenn ihr Haremstanten euch einbildet, mich hier einseifen zu können, dann habt ihr euch getäuscht! Ich will selbst in der Vorpiek landen und ausgepeitscht werden, wenn ich hier jetzt schwach werde!“ Dalida ließ ihr Gewand vollends zu Boden gleiten und stieg daraus hervor. Allein diese Bewegung genügte, um ihre Brüste zum Wackeln zu bringen. Sie war eine üppige Frau, zwar nicht sehr groß, aber überall bestens proportioniert, genau der Typ, den Carberry sonst bevorzugte. Sie näherte sich ihm und versuchte, ihn zu umarmen. „Madam, nehmen Sie Ihre Finger da weg – und auch Ihre Brust, verdammt noch mal!“ brüllte er. „Und ihr anderen – aus dem Weg! Weg da, oder es setzt was!“ Dalida griff nach ihm, doch er schüttelte sie ab, stieß auch die Dienerinnen zur Seite und marschierte geradewegs zur Tür. Dalida eilte ihm auf nackten Sohlen nach, verstellte ihm den Weg und sagte in flehendem Tonfall: „Bitte, geh nicht, Fremder, geh nicht. Das wäre doch zu schade. Gefalle ich dir nicht?“ Er schob sie energisch weg und brummte: „Weiß der Henker, was du mir da erzählst. Du kannst reden, soviel du willst, auf den blöden Trick falle ich doch nicht herein.“
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Dalidas Züge veränderten sich, sie wurde wütend, fuhr zu den Dienerinnen herum und schrie: „Meinen Dolch!“ Eins der Mädchen nahm den langen, leicht gekrümmten Dolch von einem der Tische und warf ihn ihr zu. Dalida fing ihn geschickt an seinem Heft auf und stürzte sich auf den Profos, um ihm die Klinge in den Rücken zu stechen. Er wirbelte jedoch zu ihr herum, so blitzschnell, daß sie zusammenfuhr und erstarrte, nahm ihr den Dolch aus der Hand und rammte ihn mit der Spitze so hart gegen die Wand, daß die Klinge zerbrach. Dann ließ er das Heft zu Boden fallen, holte mit rechts aus und gab ihr eine schallende Ohrfeige, die sie quer durch den Raum schleuderte und zu Fall brachte. Schluchzend rieb sie sich die brennende Wange. „Tu das nicht noch mal“, sagte er. „Nicht mit Carberry, dem Profos der ,Isabella`.“ Damit drehte er den Schlüssel im Schloß um und riß die Tür auf, um seinen Kameraden zu folgen. 10. Ulad richtete sich benommen vom Fußboden auf. Sein Schädel schmerzte entsetzlich, aber noch schlimmer war der Gedanke an das, was Abu Al-Hassan mit ihm anstellen würde, wenn es den Fremden wirklich gelang, den Harem zu sprengen und die Frauen herauszuholen. Daß dies ihr Vorhaben war, wurde ihm auch nach seiner Ohnmacht sofort wieder klar. Er stand auf und blickte durch den Perlschnürenvorhang betroffen zu der offenen Tür, die auf den Innenhof führte. Torkelnd bewegte er sich auf den Hof zu. Wenig später hatte er die gefesselten und geknebelten Eunuchen gefunden und stieß im Hauptgebäude auch auf drei besinnungslose Diener. Daß es Matt Davies und Bob Grey gewesen waren, die diese Männer niedergeschlagen hatten, konnte er nicht wissen, aber ihm genügte schon die Tatsache an sich, um ihn in hellste Aufregung zu versetzen.
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Dann tönte Abu Al-Hassans Stimme aus den Gemächern: „Ulad! Ulad, du räudiger Sohn eines Dromedars, wo steckst du?“ Es hatte keinen Zweck, vor ihm davonzulaufen. Wohin sollte Ulad sich auch wenden? Mechmed und die Berber würden ihn schnell einholen, wenn er versuchte, sich Abus Rache zu entziehen. So schnell er konnte, kehrte der Haratin in den Harem zurück. Er lief an der zerstörten Mauer und an der Tür zum Gefängnis vorbei, die von Ferris Tucker aufgebrochen worden war. Er fühlte sein Herz bis zum Hals hinauf klopfen. Es ist geschehen, dachte er entsetzt, sie haben sie alle befreit und sind fort! Er erreichte Abu, der sich soeben vom Boden des Korridors erhoben hatte. Abu wollte nach dem Eunuchen treten und schlagen, doch jetzt ertönte aus dem Obergeschoß der Schrei einer Frau. „Dalida“, sagte Abu. „Sie ist in Gefahr. Rasch!“ Sie liefen mit gezückten Säbeln die Treppe hinauf. Kabil war drauf und dran, Abu Al-Hassan anzugreifen, doch es war Beni, die ihn zurückhielt und mit sich in das Dunkel der Kellertreppe zerrte. Sie brachte ihren Mund seinem Ohr ganz nahe und flüsterte immer wieder: „Denk nicht an Rache, denk an uns. Was wird aus mir, wenn du im Kampf stirbst? Was wird dann aus mir?“ Kabil schwieg. Er verharrte auf den Stufen, doch er mußte sich bezwingen, um nicht doch nach oben zu stürmen und dem verhaßten Mann das Messer zwischen die Rippen zu treiben. Abu und Ulad langten oben an und waren vor der Tür zum Speisesaal, als Carberry diese von innen aufriß. Sie warfen sich sofort auf ihn. Am wildesten gebärdete sich Ulad, der alles, was er bisher versäumt hatte, jetzt nachholen wollte. Er ging wie eine Furie auf den verdutzten Profos los, wollte ihm den Schädel spalten, wollte kratzen, treten, beißen und schlagen. Carberry wich einen Schritt zurück, dann hieb er mit seinem Entermesser zu. Stöhnend ging Ulad zu Boden. Doch jetzt ließ Abu Al-Hassan seinen Säbel
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vorstoßen. Er traf Carberrys linke Schulter. Glühender Schmerz raubte dem Profos fast die Sinne. Abu erkannte seine Chance, trat ihm das Entermesser aus der Faust, trat noch einmal zu und brachte ihn zu Fall. Carberry lag auf dem Rücken, seine Schulter blutete heftig. Abu stand über ihm und senkte die Spitze der Säbelklinge auf seine Kehle nieder. Dalida, die immer noch nackt war, erhob sich von den Kissen und schrie: „Töte ihn! Er hat mich vergewaltigen wollen! Dieses gemeine, dreckige Schwein! Töte ihn!“ „Töte ihn“, murmelten auch die Dienerinnen. * Mechmed hatte von Bord der Bagalla aus überrascht den Feuerzauber am Abendhimmel beobachtet. Im flackernden Schein der Brandpfeile konnte er recht deutlich die Umrisse eines großen Segelschiffes erkennen einer dreimastigen Galeone. „Das ist ein Ablenkungsmanöver“, sagte er zu seinen Berbern, die ihn auf dem Hauptdeck umringten. „Die Galeone liegt genau vorm ,Hof des Herkules’. Vielleicht versuchen die Verbündeten der Mannschaft, von der Landseite her in den Palast einzudringen - um die Frauen herauszuholen.“ „Das glaubst du wirklich?“ fragte einer der Männer. „Davon bin ich überzeugt. Die Deutsche hat Unterstützung gefunden. Sie will ihren Freundinnen helfen.“ „Wir müssen eingreifen!“ rief ein anderer Berber. „Ja, aber an der Galeone kommen wir nicht vorbei“, sagte Mechmed. „Sie ist bestimmt gut armiert, und wir haben nur eine einzige Sechspfünder-Messingskanone an Bord. Außerdem verlieren wir zuviel Zeit, wenn wir erst nach Melilla zurückkehren und die Pferde holen oder wenn wir die Landzunge runden und in die Bucht segeln.“ „Was hat du vor?“ „Wir landen gleich hier, am Ostufer. Noch sind wir weit genug von der Galeone
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entfernt, ihr Ausguck kann uns nicht sehen. Los, Kurs auf die Küste! Wir ankern und gehen an Land.“ Die Männer liefen auseinander, um die erforderlichen Vorkehrungen für das Segelmanöver zu treffen. Mechmed hat mit seinen Ahnungen völlig recht, und auch seine Entscheidung war von seiner Warte aus betrachtet - richtig. Nur in einem Punkt verkalkulierte er sich: Die Zwillinge, die als Ausguck im Großmars der „Isabella“ hockten, hatten die Bagalla sehr wohl gesichtet. Das Mondlicht war gerade ausreichend, um den Zweimaster auf diese Entfernung zu erkennen. Um nicht rufen zu müssen und damit womöglich die Besatzung der Bagalla zu alarmieren, enterte Philip junior auf das Hauptdeck ab, stieg den Niedergang zum Achterdeck hoch und meldete Ben Brighton mit leiser Stimme, was sie gesehen hatten. „Und ihr seid sicher, daß die Bagalla auf das Ufer zuhält?“ fragte Ben. Er kniff die Augen zusammen und blickte voraus, konnte das Schiff aber nicht sehen. „Völlig sicher, Sir“, sagte Philip. „Wir werden auch weiterhin ein „waches Auge auf sie haben“, sagte Ben. „Vielleicht sind es Abu Al-Hassans Leute, vielleicht sogar die Berber. Miß Sieglinde hat erzählt, daß Abu eine Bagalla besitzt.“ Die „Isabella“ lag mit aufgegeiten Segeln im Wind. Batuti hatte seinen Feuerzauber eingestellt. Ben ließ das Vorschiff etwas vom Wind wegnehmen, so daß es nach Südosten wies und sich die Rohre der Steuerbord-Culverinen genau auf die Stelle richteten, an der die Bagalla vor Anker ging. Längst war die „Isabella“ klar zum Gefecht, sämtliche Siebzehnpfünder waren ausgerannt, und Ben hatte auch die Drehbassen des Vor- und Achterschiffs laden lassen. * Hasard und seine Begleiter hatten die Jolle und das Fischerboot erreicht und wollten sie ins Wasser schieben.
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Aber Dan drehte sich plötzlich um und sagte: „Hölle und Teufel, der Profos fehlt! Ich dachte, er würde uns folgen, aber ich habe mich getäuscht.“ Alle blickten zurück zu den Palmen und Büschen, doch dort zeigte sich auch jetzt – wie sie alle insgeheim hofften – nicht die vertraute Gestalt des großen Mannes. „Und Beni ist auch nicht unter uns“, flüsterte Victoria entsetzt. „Dabei wollte sie mit uns fliehen. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen.“ „Ferris und Shane“, sagte der Seewolf in raschem Entschluß. „Ihr begleitet mich. Wir laufen noch mal zurück und sehen, was mit den beiden ist. Ihr anderen nehmt die Jolle und pullt los.“ Dan wollte protestieren, aber Hasard hob die Hand, ehe er den Mund öffnen konnte. „Keine Widerrede! Das ist ein Befehl, verdammt noch mal!“ „Aye, Sir“, murmelten die Männer. „Ferris, hast du die Höllenflaschen?“ fragte Hasard. „Natürlich, Sir.“ „Dann los.“ Er drehte sich um und stürmte los, zurück zu den Palmen, zurück zu Abu Al-Hassans Palast. Der erste Handstreich war ihnen geglückt, aber der zweite konnte mißlingen, darüber gab er sich keinen Illusionen hin. * Ulad war tot. Drei andere Eunuchen, die mittlerweile wieder bei Bewußtsein waren, hatten sich zu Abu Al-Hassan gesellt und blickten mal verständnislos zu Dalida, die erst jetzt Anstalten traf, ihre Blößen zu bedecken, mal voll Haß auf den Profos, der immer noch am Boden lag. „Nein“, sagte Abu. „Dich töte ich nicht, Giaur. Das wäre eine zu milde Strafe für dich. Ich nehme an, du bist der Anführer dieser Horde von Teufeln, die in mein Reich eingebrochen ist. Du verstehst mich nicht? Nun, das ist auch nicht erforderlich.“ „Packt ihn!“ befahl er den Eunuchen. „Schafft ihn hinunter, auf den Innenhof,
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und bindet ihn am Brunnen fest. Dann wird er schon merken, welches meine Rache ist. Ich selbst werde ihn seiner Mannesehre berauben, und bis ans Ende seiner Tage wird er mir als Wächter meines Harems dienen - als Eunuch!“ Carberry fühlte sich hochgehoben und aus dem Raum befördert. Er hatte in diesem Moment nicht die Kraft, sich gegen drei Gegner zur Wehr zu setzen. Die Schulter brannte immer noch wie Feuer, und er hatte schon eine Menge Blut verloren. „Ihr Kakerlaken, ihr Schweinehunde“, stöhnte er. „Wartet, euch zeige ich’s noch. Mich laßt ihr noch wieder los, das schwöre ich euch. Hölle, hoffentlich ist es bloß eine Fleischwunde! Carberry, mach jetzt bloß nicht schlapp. Es ist nur ein Kratzer, nur ein Kratzer.“ Ihm wurde schwindlig, alles tanzte vor seinen Augen. Er kämpfte dagegen an, verlor dann aber doch das Bewußtsein. * Zwei Mädchen des Harems waren zu Kabil und zu Beni gestoßen, eine Syrerin und eine Berberin. Gerade in dem Moment, in dem Kabil und das Djerba-Mädchen die Kellertreppe wieder verlassen hatten, waren sie aufgetaucht, und die Syrerin hatte ihnen zugeraunt: „Wir wollen mit euch fliehen. Bitte nehmt uns mit. Wir wollen auch fort.“ „Kommt“, sagte Kabil, der Shilh. Er hatte einen Plan gefaßt. Beni hatte ihm von einer zweiten Treppe erzählt, die in das eigentliche Gewölbe hinunterführte, und sie wußte auch, was dort lagerte, denn einmal hatte sie sich heimlich hinuntergeschlichen. Kabil ging mit den drei Mädchen die Wendeltreppe hinunter, und kurz darauf inspizierte er die Kisten, Säcke und Fässer, die in den großen Räumen aufbewahrt wurden. Er entdeckte ganze Ballen von Opium und Haschisch Abus Handelsware, mit der er große Gewinne erzielte. Er stieß aber auch auf Waffenund Munitionskisten.
Die Säulen des Herkules
„Könnt ihr mit Musketen umgehen?“ fragte er seine Begleiterinnen. Sie schüttelten die Köpfe. Er grinste. „Das macht nichts. Ich bringe es euch bei. Wir müssen uns bewaffnen, wenn wir hier wirklich noch heraus wollen.“ Er blickte zu den Ballen und Säcken mit dem Rauschgift, dann wieder zu den Fässern mit dem Schießpulver. „Und wir suchen uns eine Zündschnur und legen sie zu den Pulverfässern, damit hier alles in die Luft fliegt. Abu soll keine Menschen mehr vergiften können.“ *
Unbehelligt gelangten Hasard, Ferris Tucker und Big Old Shane zurück zu dem Fenster, das auch jetzt noch offenstand. Sie stiegen wieder ein, näherten sich dem Flur des Hauptgebäudes und vernahmen ein Gebrüll, das vom Innenhof her zu ertönen schien. „Das kann nur Carberry sein“, raunte Shane. „Mann, ein Glück, er lebt noch.“ „Was hast du denn gedacht?“ zischte Ferris Tucker. „Daß er tot ist? Mann, Unkraut vergeht doch nicht. Außerdem darf Ed nun mal nicht ins Gras beißen, denn wo kriegen wir sonst so schnell wieder einen Profos her?“ Hasard und Shane grinsten. Sie schoben sich mit Ferris auf den Flur zu, blickten sich aufmerksam um und befanden, daß die Luft - zumindest hier - rein war. Sie pirschten bis an die zerstörte, halboffene Tür, die auf den Innenhof wies - und dann kriegten sie doch einen gehörigen Schreck, denn sie sahen ihren Profos, der gerade von drei Eunuchen an dem großen Marmorbrunnen festgebunden wurde. Carberry war wieder bei Bewußtsein und hörte nicht auf, die Eunuchen mit den übelsten Flüchen zu überschütten. Sie verstanden kein Wort, aber das konnte ihn nicht davon abhalten, sie als „triefäugige Rübenschweine“ und „Hurensöhne“ und „Bastarde“ zu bezeichnen. Dann, als sie ihn auf eine ganz bestimmte Art fesselten, verstummte er doch.
Roy Palmer
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Plötzlich ging ein Anflug des Begreifens durch seinen Geist. „He“, sagte er. „Was habt ihr eigentlich vor? Seid ihr nicht mehr ganz bei Trost? Wollt ihr ...“ „Schweig, Giaur!“ erklang Abu Al-Hassans Stimme von der Tür des Harems her. „Dein Gebell verletzt meine Ohren. Dein Gekläff gleicht dem eines tollwütigen Hundes, und doch ist es noch nichts gegen das, was wir gleich aus deinem Munde vernehmen werden.“ „Was sagt er?“ fragte Ferris Tucker mit verhaltener Stimme. „Ich weiß es nicht“, gab Hasard ebenso leise zurück. „Aber sieh doch, was die Kerle vorhaben.“ „Ich werd verrückt“, stöhnte Shane. „Bloß das nicht. Warum werfen wir ihnen keine Flaschenbomben zwischen die Beine, diesen Dreckskerlen?“ „Um Ed nicht zu gefährden“, sagte der Seewolf. „Wir müssen ihn irgendwie anders heraushauen.“ Abu Al-Hassan zückte seinen Säbel. „Zieht ihn jetzt aus, damit ich es ihm besorgen kann!“ rief er seinen Eunuchen zu. „Moment mal!“ brüllte der Profos. „Seid ihr verrückt geworden? He, hallo, das dürft ihr nicht! Ihr könnt mich auspeitschen und mir die Haut in Streifen abziehen – aber das hier, das könnt ihr mir nicht antun!“ Abus Schritte näherten sich ihm. Carberry schloß die Augen. „O Himmel, jetzt ist alles zu spät. Womit hab ich das verdient? Herrgott, wenn ich zuviel geflucht habe, dann will ich lieber verrecken, als auf diese Weise bestraft zu werden.“ Abu Al-Hassan blieb stehen. Langsam hob er seinen Säbel. „Abu!“ ertönte in diesem Augenblick von der Tür des Harems her eine helle Stimme. „Herr! Sieh doch, Mechmed und die Berber sind zurück!“ Abu Al-Hassan drehte sich um und hob die Augenbrauen. Ein rotgelber Blitz stach in die Dunkelheit und sprang ihn an. Die Muskete, die Kabil fest in seinen Fäusten hielt, krachte und entließ eine weißliche Wolke Pulverqualm.
Die Säulen des Herkules
Abu tat zwei Schritte zurück, öffnete noch den Mund, brachte aber keinen Laut mehr heraus. Er sank zusammen und war schon tot, als sein Körper den Boden berührte. Er spürte den Aufprall nicht mehr. Kabil warf die Muskete fort, zückte eine Pistole und sprang auf die Eunuchen zu. Beni, die Syrerin und die Berberin folgten ihm. Beni jagte aus ihrer Muskete einen Schuß über die Köpfe der Eunuchen weg, und diese ergriffen kreischend die Flucht. Hasard, Ferris und Shane hasteten auf den Hof und befreiten Carberry von seinen Fesseln. „Du bist ja verletzt, Ed“, sagte der Seewolf. „Scheißegal, Sir. Hauptsache, daß es mich nicht woanders erwischt hat.“ „Senores“, sagte Kabil auf spanisch. „Wir müssen fort. Gleich fliegt ganzer Keller hoch in die Luft. Und Eunuchen im Harem haben Schüsse gehört und kommen.“ „Ja“, sagte Hasard. „Wir türmen. Ihr begleitet uns doch, oder?“ „Gern. Danke.“ „Wir haben dir zu danken“; sagte der Seewolf und reichte ihm die Hand. „Dir und deinen Prachtmädchen.“ „Ferris“, sagte Big Old Shane. „Stell mal eine von deinen Flaschen auf den Brunnenrand. Hier, ich zünde die Lunte mit Flint und Feuerstrahl an. Nun gib schon her.“ Schnell verrichteten sie ihr Werk, dann liefen sie mit den anderen davon - zum Fischerboot, das am Strand der Bucht lag und auf sie wartete. Die Höllenflasche auf dem Brunnenrand explodierte, als die Eunuchen aus dem Harem stürmten und die Verfolgung ihrer Gegner aufnehmen wollten. Eine Feuerkugel breitete sich auf dem Hof aus, der Marmorbrunnen zerbrach, die Trümmer flogen in alle Richtungen. Das Geschrei der Eunuchen mischte sich in das Kreischen von Dalida und den anderen Haremsdamen, die sich inzwischen auf Abu Al-Hassans Befehl hin ins Hauptgebäude zurückgezogen hatten. Mit einem wahren Donnerhall detonierte auch das Pulver im Kellergewölbe, und das
Roy Palmer
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ganze Haremsgebäude brach - von der Mitte her aufgebläht - wie ein Spielzeughaus auseinander. Hasard, Ferris, Shane, der Profos, Kabil, Beni und die beiden anderen Mädchen erreichten das Fischerboot und brachten es zu Wasser. Sie waren kaum an Bord, da hörten sie die Kanonen der „Isabella“ dumpf in der Nacht wummern. „Beim Henker!“ stieß Shane aus. „Was, in aller Welt, hat das jetzt zu bedeuten?“ Hasard grinste. „Wollen wir wetten, daß es den Berbern gilt? Mechmed dürfte inzwischen eingetroffen sein, wahrscheinlich mit der Bagalla. Ben hindert ihn daran, zum Palast zu laufen.“ So war es in der Tat: Die SiebzehnpfünderKugeln der „Isabella“ schlugen in den Strand vor dem zerstörten „Hof des Herkules“ und versperrten Mechmed und den Berbern, die inzwischen gelandet waren, den Weg. Entsetzt zogen die Berber sich wieder zu ihrem Beiboot zurück. Hohe Sandfontänen spritzten bei jedem
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Einschlag hoch, der Sand prasselte auf ihre Gestalten. „Aber Ben kann jetzt mit dem Feuer aufhören“, meinte Carberry, der sich ein Stück Tuch um seine Schulterwunde gewickelt hatte. „Wir sind doch in Sicherheit.“ „Das weiß er erst, wenn wir das vereinbarte Zeichen geben“, sagte Hasard. Er blickte zu Ferris, und dieser zündete die Lunte einer weiteren Flaschenbombe. Als die Flasche durch die Nacht flog und mit Blitz und Donner über der Landzunge explodierte, ließ Ben Brighton das Kanonenfeuer einstellen. „Setzt die Segel!” rief er. „Wir fallen ab, gehen auf Nordkurs und segeln zurück zur Einfahrt der Bucht, um Hasard und die anderen zu übernehmen!“ Auch dieses Manöver ließ sich einwandfrei vollziehen - bevor die Schiffe, die jetzt den Hafen von Melilla verlassen hatten, am Ort des Geschehens eintrafen....
ENDE