Nr. 305
Die Seelenhändler Zwischenspiel am Rand des Blutdschungels von Marianne Sydow
Sicherheitsvorkehrungen, die au...
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Nr. 305
Die Seelenhändler Zwischenspiel am Rand des Blutdschungels von Marianne Sydow
Sicherheitsvorkehrungen, die auf Atlans Anraten noch gerade rechtzeitig getroffen wurden, haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der Berserker – er wurde beim letzten Auftauchen von Atlantis oder Pthor zur Strafe für sein »menschliches« Handeln auf die Erde verbannt und durch einen »Zeitklumpen« relativ unsterblich gemacht – sind die einzigen, die die Sperre unbeschadet durchdringen können, mit der sich die Herren von Pthor ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Allerdings verlieren die beiden Männer bei ihrem Durchbruch ihre gesamte Kleidung und technische Ausrüstung. Und so landen Atlan und Razamon – der eine kommt als Späher, der andere als Rächer – nackt und bloß an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und Schrecken. Ihre ersten Abenteuer bestehen sie am »Berg der Magier«. Ihr weiterer Weg führt sie über die »Straße der Mächtigen« nach Orxeya, der Stadt am Rand des Blutdschungels. Dort leben DIE SEELENHÄNDLER …
Die Seelenhändler
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Razamon - Die beiden Besucher von Terra haben Schwierigkeiten in Orxeya. Tygon Hasset - Ein »Seelenprüfer«. Helkert, Tazzae und Nimosae - Atlans und Razamons Freunde in Orxeya. Tynär Stump - Ein »Seelenerschaffer«. Gäham Lastor - Händler von Orxeya.
1. Seit Stunden schon hatte ich mit dem Ausbruch gerechnet. Trotzdem erschrak ich, als es soweit war. Eben hatte ich den Schatten der vom Wind zerzausten Bäume verlassen, da hörte ich ein qualvolles Stöhnen hinter mir. Ich drehte mich hastig um und sah Razamon, der stocksteif dastand, die unheimlichen, schwarzen Augen weit aufgerissen, das Gesicht verzerrt – und beinahe gleichzeitig sprang ich zur Seite, schlug einen Haken, um hinter den nächsten Baumstamm zu gelangen und rannte auf den felsigen Hügel zu, an dessen Fuß die kleine Quelle lag. Ich erreichte ein paar Felsen und warf mich auf den Boden. Zwischen den Bäumen krachte es, als wäre etwas explodiert. Wenn er damit fertig ist, wird er sich die Felsen vornehmen, stellte mein Extrasinn nüchtern fest. Ich lief in die offene Steppe hinaus, fand ein paar kümmerliche Büsche und duckte mich dahinter. Ich war wütend und besorgt zugleich. Razamon war nun einmal kein Mensch, und er konnte nichts für das unheilvolle Erbe, das all seinen Bemühungen zum Trotz ab und zu die Herrschaft über seinen Körper übernahm. Dann verwandelte er sich in ein tobendes Ungeheuer, das mit den bloßen Händen alles zertrümmerte, was ihm in den Weg kam. Er war jetzt blind und taub, und mit Argumenten war ihm nicht beizukommen. Ich konnte nichts anderes tun, als zu warten. Genau das gefiel mir gar nicht. Wir waren noch etwa dreißig Kilometer von Orxeya entfernt. Um die Stadt der
Händler noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, hätten wir uns beeilen müssen. Und jetzt verloren wir wertvolle Zeit. Ich verhielt mich still und beobachtete die Umgebung der Quelle. Razamon tobte immer noch zwischen den Bäumen herum. Abgerissene Äste flogen in die Luft, Stämme zersplitterten unter seinen Händen. Ich hoffte, daß er wenigstens auf dieser Seite der Straße der Mächtigen blieb, denn jenseits des silbergrauen Bandes begann die Ebene Kalmlech und damit das Gebiet, in dem die Horden der Nacht hausten. Razamon leistete gründliche Arbeit. Nach einer halben Stunde war von der Baumgruppe nur noch Kleinholz übrig. Ich hielt den Atem an, als der Pthorer sich inmitten der zersplitterten Stämme langsam um seine Achse drehte. Plötzlich rannte er los, mit wirbelnden Armen, einem Roboter ähnlicher als einem Menschen. Er wählte tatsächlich die Felsen neben der Quelle als nächstes Ziel. Mir sträubten sich die Haare, als Razamon sich wie ein Rasender über die Brocken hermachte. Von rechts tauchte neben der Straße ein Burkoll auf. Das gepanzerte Wesen schien nicht recht zu wissen, was es von Razamon halten sollte. Es schlich vorsichtig näher heran, setzte sich ins Gras und beobachtete den Pthorer aufmerksam. Mir brach der kalte Schweiß aus, und ich hatte nur einen Wunsch: Daß Razamon den Gepanzerten nicht bemerkte. Die Burkolls hielten diesen Abschnitt der Straße sauber. Sie waren für den Göttersohn Honir sehr wichtig. Vorläufig kümmerte Razamon sich nur um die Felsen. Das Burkoll schien verwundert und besorgt zugleich. Es robbte auf dem Bauch immer näher heran. Ich überlegte, ob ich aufspringen und versuchen sollte, das
4 Burkoll zu vertreiben. Dann sieht dich Razamon, stellte der Extrasinn fest. Ich blieb liegen. Das Burkoll hatte offensichtlich keine Ahnung, worauf es sich einließ. Es sprang den Pthorer plötzlich von hinten an. Jeder normale Mensch wäre zu Boden gegangen, aber Razamon hielt mühelos stand. Mit einem fast beiläufigen Schlag wehrte er den Gepanzerten ab. Das Burkoll überschlug sich im Gras und stieß ein erschrockenes Geheul aus. Kaum war es wieder auf den Beinen, da rannte es auch schon los, genau nach Süden dorthin, wo die schneebedeckten Gipfel der Großen Barriere von Oth schemenhaft zu erkennen waren. Razamon stutzte, dann nahm er die Verfolgung auf. Ich stand auf und sah mich ratlos um. Was nun? Ich hätte natürlich allein weitergehen können. Thalia alias Honir hatte jedem von uns zwanzig Quorks geschenkt, das sollte reichen, um einige Zeit in Orxeya überleben zu können. Irgendwann würde Razamon wieder zu sich kommen, und er kannte das Ziel unserer Wanderung. Trotzdem war mir nicht wohl bei dem Gedanken, den Pthorer einfach zurückzulassen. Du kannst ihm nicht helfen, bemerkte der Extrasinn sehr treffend. Ich werde auf ihn warten, gab ich in Gedanken zurück. Es kann nicht lange dauern, und wenn er merkt, was passiert ist, wird er zur Quelle zurückkehren und mich suchen. Der Logiksektor schwieg. Ich wußte selbst, welches Risiko ich einging. Erstens konnte es passieren, daß Razamon zu früh umkehrte und mir sämtliche Knochen im Leibe brach. Zweitens war mit seiner Rückkehr kaum vor dem Abend zu rechnen, und das hieß, daß wir tatsächlich die Nacht hier draußen verbringen mußten. Vor den Burkolls hatte ich wenig Angst. Aber die halbintelligenten Wächter waren nicht die einzigen Lebewesen, die sich hier herumtrieben. Drüben in der Ebene Kalmlech warteten die Horden der Nacht auf eine Gelegenheit, sich auszutoben, und sie wur-
Marianne Sydow den immer unruhiger. Ich glaubte nicht daran, daß wir jenseits dieser merkwürdigen Straße vor diesen Ungeheuern sicher waren. Und dann waren da auch noch die Unsichtbaren, von denen Thalia berichtet hatte. Wesen, die Fallen auf der Straße errichteten. Ich setzte mich auf einen Stein neben der Quelle. Es war merkwürdig still um mich herum. Nur in den trockenen Gräsern raschelte und knisterte es manchmal. Als ich Hunger bekam, suchte ich zwischen den zersplitterten Bäumen nach dem Proviantsack. Glücklicherweise hatte Razamon sich mit den in Leder verpackten Vorräten nicht befaßt. Der Anblick der sorgfältig eingewickelten Fleischstücke erinnerte mich an Muur-Arthos, Thalias gnomenhaften Diener. War er wirklich zu den Horden der Nacht zurückgekehrt? Die Schatten wurden länger, und ab und zu hörte ich aus weiter Ferne das Brüllen der Ungeheuer, die schon längst über alles, was jenseits des Wölbmantels lag, hergefallen wären, wenn die von uns errichteten Energieschirme sie nicht aufgehalten hätten. Immer wenn ich an die Gefahr dachte, die den Menschen auf der Erde von dieser rätselhaften Insel drohte, krampfte sich etwas in mir zusammen. In solchen Augenblicken mußte ich mich dazu zwingen, besonnen und vorsichtig zu bleiben. Als die Sonne unterging, war von Razamon immer noch nichts zu sehen. Dafür wurde das Rascheln im Gras lauter und häufiger. Ich hatte das unangenehme Gefühl, von allen Seiten belauert zu werden. Schließlich zog ich mich widerstrebend von der Quelle zurück. Ich wußte nicht, was für Tiere es hier gab, aber ich legte auch gar keinen Wert darauf, sie näher kennenzulernen. Zweifellos würden sie während der Nacht zur Tränke kommen, und dann konnte es so dicht am Wasser sehr ungemütlich für mich werden. Sollte ich wirklich noch länger warten? Dem Pthorer konnte alles mögliche zugestoßen sein. Es war völlig sinnlos, nach ihm zu suchen, und ich selbst brachte mich nur un-
Die Seelenhändler nötig in Gefahr, wenn ich an diesem Ort blieb. Die Quelle war immer noch viel zu nahe. Im schwindenden Licht suchte ich ein paar Äste mit dunkler Rinde, die sich auf dem hellen, sehr feinen Sand deutlich erkennen ließen. Ich legte das Holz zu einem Pfeil zusammen, der nach Westen wies. Falls Razamon den Rückweg fand, würde er dieses Zeichen finden und mir folgen. Es wurde ziemlich schnell dunkel, aber der Himmel blieb klar, und ich hatte keine Schwierigkeiten, den Weg zu erkennen. Über mir leuchteten die vertrauten Sterne der Erde, und es war ein merkwürdiges Gefühl, daran zu denken, daß ich trotzdem durch ein Land ging, das mit dem Planeten Terra so gut wie nichts zu tun hatte. Ich kam nur langsam voran, denn in dem feinen Sand ging es sich nicht sehr angenehm. Muur-Arthos hatte davor gewarnt, die Straße direkt zu benutzen. Mit einer Verkehrsverbindung hatte dieser Weg offensichtlich wenig zu tun. Thalia hatte die Straße immer nur den »schlafenden Fafnir« genannt und andeutungsweise von Geheimnissen und magischen Einflüssen gesprochen, die irgendwie mit der Straße in Verbindung standen. Nach ungefähr einer Stunde war ich bereit, alle Warnungen zu vergessen. Bei jedem Schritt wurde ich in eine Staubwolke gehüllt, und in meinen Schuhen schleppte ich den Sand pfundweise mit mir herum. Als ich die harte Fläche der Straße unter den Füßen hatte, war mir etwas merkwürdig zumute. Ich erwartete unwillkürlich, daß etwas geschah, daß der »schlafende Fafnir« reagierte. Aber es passierte überhaupt nichts, und ich ärgerte mich darüber, daß ich nicht früher diesen Entschluß gefaßt hatte. Ein paar Minuten lang schritt ich zügig aus. Dann sah ich vor mir etwas Dunkles, dachte mir aber nicht viel dabei. Wahrscheinlich handelte es sich um eine der Barrieren, die Thalias Unsichtbare immer wieder errichteten. Ich war noch drei oder vier Meter von dem Hindernis entfernt, da bewegte sich etwas neben mir in der Dunkel-
5 heit, ich spürte einen Druck im Nacken, dann war es, als wäre direkt vor meinen Augen ein Feuerwerkskörper explodiert, und schließlich flog ich im hohen Bogen durch die Luft. Von der Landung bekam ich gar nichts mehr mit.
* »Hau ab!« schrie jemand, und die laute Stimme brachte meinen Schädel zum Dröhnen. Ich versuchte mich aufzurichten, aber eine Welle von Übelkeit stieg in mir hoch. Ich wagte es nicht einmal, die Augen zu öffnen, denn ich ahnte, was ich zu sehen bekommen würde: eine Umgebung, die sich in wilder Rotation befand. Allein der Gedanke an diesen Anblick brachte meinen Magen schon auf sehr unerfreuliche Ideen. Darum blieb ich ganz still liegen und wartete ab. Allmählich unterschied ich verschiedene Geräusche. In unmittelbarer Nähe schien ein Kampf stattzufinden. Etwas knurrte und brummte unwillig. Schwerfällig setzte mein Erinnerungsvermögen ein. Ich kannte diese Geräusche. Ein Burkoll. Was wollte das Biest? Und mit wem kämpfte es? Ein paar Minuten lang hörte ich nur dieses Brummen und Knurren, das Klatschen von Schlägen und die dumpfen Geräusche aufeinanderprallender Körper. Dann gab es ein schrilles Heulen, und gleich darauf lachte jemand grimmig auf. Schritte näherten sich, zwei Hände berührten meine Schultern: Vorsichtig schlug ich die Augen auf. »Was ist mit dir?« fragte Razamon leise. In der Dunkelheit wirkte sein Gesicht noch härter, und die schwarzen Augen waren wie Löcher in einer drohenden Maske. Ich versuchte zu antworten, aber ich brachte nur ein unartikuliertes Krächzen hervor. Razamon verschwand aus meinem Blickwinkel und tauchte Augenblicke später wieder auf. Er stützte mich und flößte mir etwas ein, was in der Speiseröhre wie Salzsäure brannte und meinen Magen in eine glühende Hölle verwandelte. Aber hinterher fühlte ich mich etwas besser. Ich drehte vor-
6 sichtig den Kopf zur Seite und sah einen aus einem Röhrenknochen hergestellten kleinen Behälter. »Noch einen Schluck?« fragte der Pthorer. Ich schüttelte nur den Kopf. Als MuurArthos uns davonlief, hatte er diesen Behälter mit dem übrigen Proviant zurückgelassen. Für ihn war dieses hochprozentige Gebräu ein Wundertrank, aber für einen normalen Menschen handelte es sich schon eher um Gift. »Ich habe dein Zeichen gefunden«, fuhr Razamon fort. »Es scheint, als wäre ich gerade zur rechten Zeit gekommen.« »Ich habe keine Ahnung, was überhaupt passiert ist«, murmelte ich benommen. »Ein Burkoll hielt dich für Abfall, das ist alles. Ich habe es davongejagt.« Ich erinnerte mich an die Barrikade und sah mich um. Von dem Hindernis war nicht mehr viel zu sehen. Nur das Burkoll konnte die Sperre auseinandergenommen haben. Es war also nicht meinetwegen an diesen Ort gekommen. Vermutlich hatte es sich erst mit mir befaßt, als es von der schweren Arbeit hungrig geworden war. Hatte dieses halbintelligente Wesen mich bewußtlos geschlagen? Oder war ich sogar mit einem der »Unsichtbaren« zusammengestoßen? Ich würde es vermutlich niemals erfahren. Razamon half mir auf die Beine. Mir war immer noch schwindlig, und eine längere Rast wäre mir sicher gut bekommen, aber ich wollte diesen Ort so schnell wie möglich verlassen. Diesmal verzichtete ich darauf, die bequeme Straße zu betreten. Wir kamen nur langsam voran. Ohne Razamon hätte ich schon nach hundert Metern aufgegeben. Dem Pthorer war nicht anzumerken, daß er sich erst vor wenigen Stunden von seiner Zerstörungswut bis zur totalen Erschöpfung hatte treiben lassen. Er wirkte lediglich friedlicher und ausgeglichener als sonst. Er trug den schweren Proviantsack und unsere beiden Schwerter, und nebenbei stützte er mich, wenn ich über meine
Marianne Sydow eigenen Füße stolperte. Irgendwann ging es nicht mehr weiter. Die Kopfschmerzen wurden unerträglich, und meine Beine wollten mich nicht mehr tragen. Razamon klopfte mit seinem Schwert den Boden ab. Ein paar kleine Tiere flohen entsetzt. Ich schlief sofort ein. Mein letzter bewußter Gedanke galt der Frage, wie es weitergehen sollte, wenn ich mir – was ziemlich wahrscheinlich war – eine Gehirnerschütterung eingehandelt hatte. Als ich erwachte, war es dämmerig geworden. Ich wußte nicht, ob es morgens oder abends war. Razamon saß neben mir im Gras. Als er merkte, daß ich wach war, holte er einen halbleeren Wasserschlauch aus dem Proviantsack. »Du hast vierundzwanzig Stunden geschlafen«, sagte er, während ich trank. »Ich fürchtete schon, du würdest gar nicht mehr aufwachen.« »Das heißt, daß wir einen ganzen Tag verloren haben!« »Besser einen Tag verloren als das Leben«, antwortete Razamon gelassen. »Immerhin scheint es geholfen zu haben.« Damit hatte er recht. Ich fühlte mich frisch und ausgeruht. Der lange Schlaf und die heilende Wirkung des Zellaktivators hatten mich wieder auf die Beine gebracht. Kurz darauf waren wir wieder unterwegs. Es wurde höchste Zeit, daß wir Orxeya erreichten. Unser Proviant war alle, und wir hatten nur noch ein paar Schlucke Wasser. Noch vor Sonnenaufgang wurde es plötzlich warm. Der leichte Wind trug den Geruch nach Feuchtigkeit und Moder, brennendem Holz und Stallmist zu uns herüber. Die Straße der Mächtigen führte an dieser Stelle in mehreren Kurven zwischen steinigen Hügeln hindurch, die uns die Aussicht versperrten. Als wir dann wieder flaches Land vor uns hatten, sahen wir zum erstenmal unser Ziel. Orxeya war nur noch ein paar hundert Meter entfernt.
*
Die Seelenhändler Links von uns dehnten sich große Felder aus. Auf dem, das uns am nächsten lag, waren ein paar Dutzend Frauen damit beschäftigt, große, melonenartige Früchte zu ernten. Sie hackten die grünen Kugeln mit schweren Messern ab und schichteten sie am Rand des Feldes auf. Dort standen ein paar Wagen, klobige Fahrzeuge mit hölzernen Rädern. Sie wurden von Tieren gezogen, die fast wie Pferde aussahen, nur daß sie auf der Stirn einen Hornansatz trugen. Neben jedem Gespann standen untersetzte, in pelzbesetzte Jacken gehüllte Männer, die sich an den Erntearbeiten nicht beteiligten. Sie waren ausnahmslos bewaffnet. Von Thalia hatten wir erfahren, daß die Händler von Orxeya und die Bewohner des Blutdschungels ein ziemlich kompliziertes Verhältnis zueinander hatten. Es gab intensive Handelsbeziehungen zwischen beiden Gruppen, aber mindestens ebenso intensiv führte man einen Dauerkrieg gegeneinander. Die besten Handelspartner konnten sich plötzlich in erbitterte Gegner verwandeln – und ebenso schnell wieder zu Freunden werden. Unter diesen Bedingungen war es verständlich, daß man auf den Feldern Wachen aufstellte. Dennoch fand ich es merkwürdig, daß kein einziger Mann es für nötig hielt, bei den Arbeiten zuzupacken. Bisher hatte ich außerdem angenommen, die Ebene von Kalmlech werde von allen Pthorern gemieden. Jetzt entdeckte ich mehrere Gruppen von Reitern, die nach Norden zogen oder von dort kamen. Zwei bärtige Kerle kamen dicht an uns vorbei. Auf einem Packtier führten sie Waren mit sich. Sie sahen uns nur kurz an, dann beachteten sie uns nicht mehr. Auch die Leute auf den Feldern taten, als sähen sie uns nicht. »Komisches Volk«, murmelte Razamon neben mir. In der Nähe der von hohen Mauern umschlossenen Stadt erhob sich wildes Geschrei. Zwischen den Feuern, die an der Grenze zum Blutdschungel brannten, sprangen schwarzhäutige humanoide Wesen hervor. Speere flogen durch die Luft. Ein Teil
7 der Stadttore schloß sich krachend, und auf den Türmen über der Mauer tauchten Männer auf. Sie waren mit den armbrustähnlichen Skerzaals bewaffnet und deckten die angreifenden Schwarzen mit einem wahren Hagel von bolzenförmigen Geschossen ein. Aber die Angreifer kannten diese Kampftechnik. Sie trugen große, runde Schilde mit sich, von denen die Bolzen abprallten. Sie kamen bis dicht an die Stadtmauer heran. Inzwischen hatten etliche mit Keulen bewaffnete Orxeyaner es geschafft, sich hinter die Schwarzen zu schleichen. Ein wildes Handgemenge begann. Gleichzeitig jedoch waren andere Tore geöffnet, Händler kamen und gingen einzeln oder in Gruppen, ritten dicht am Kampfplatz vorbei, ohne sich um die Schwarzen zu kümmern. Auf den Feldern wurde weitergearbeitet, und keiner der dort stehenden Männer dachte auch nur im Traum daran, sich an dem Getümmel zu beteiligen. Wir sahen uns schweigend an. Razamon tippte sich vielsagend an die Stirn. »Gehen wir«, sagte ich. Direkt vor uns wurde ein Tor geöffnet. Ein paar Wächter tauchten auf und starrten uns mißtrauisch an. Als wir sie fast erreicht hatten, hoben sie die Skerzaals. »Wer seid ihr und was wollt ihr?« rief einer uns zu. »Steinbildner, die eure Stadt besuchen wollen«, gab ich zurück. Thalia hatte uns empfohlen, uns als Bildhauer auszugeben, die für einen Magier in der Barriere von Oth Statuen herstellen sollten. Die Wächter senkten zwar die Waffen, aber sie blieben mißtrauisch. Sie warteten, bis wir das Tor erreichten, dann vertraten sie uns den Weg. »Ihr kommt aus einer Richtung, aus der wir keine Gäste erwarten«, sagte der Sprecher der Gruppe düster. »Nur für den Göttersohn Honir öffnen wir ab und zu dieses Tor. Warum habt ihr ausgerechnet diesen Weg gewählt?« »Weil er am kürzesten und sichersten für uns war«, erwiderte ich. »Wir kommen aus
8 der Barriere von Oth und suchen neue Anregungen für unsere Arbeit. Wir waren Honirs Gäste im Schloß Komyr. Nun möchten wir uns in eurer Stadt umsehen.« »Gäste bei Honir?« fragte der Wächter verblüfft. »So etwas habe ich noch nie gehört. Der Göttersohn lebt sonst sehr zurückgezogen. Auch wenn er zu uns kommt, um seine Vorräte zu ergänzen, unterhält er sich mit niemandem. Eure Geschichte klingt seltsam. Habt ihr einen Beweis dafür, daß ihr die Wahrheit sagt?« »Nein«, sagte ich ärgerlich. »Ich sehe auch nicht ein, weshalb wir euch einen solchen Beweis liefern sollten – selbst wenn wir einen hätten. Ich sagte bereits, daß wir uns lediglich in Orxeya umsehen wollen. Das ist alles. Wenn ihr keine Gäste in eurer Stadt haben wollt, dann sagt das jetzt gleich!« Nach dieser nicht sehr freundlichen Antwort wollte ich mich umdrehen und zum nächsten Tor gehen. Erstens hielt ich es bei dem hier herrschenden Durcheinander für durchaus möglich, daß man uns dort entschieden freundlicher begegnete. Zweitens hatte ich wirklich keine Lust, mich mit diesem bärtigen, ungehobelten Wächter herumzustreiten. »Halt!« befahl der Orxeyaner kalt. Mein Entschluß war zu spät gekommen. Die Skerzaals waren wieder auf uns gerichtet. »Durchsucht sie«, wies der Wächter zwei seiner Spießgesellen an. Razamon warf mir einen fragenden Blick zu. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. Es hatte keinen Sinn, wenn wir hier und jetzt Streit anfingen. Die Wächter waren im Vorteil. Selbst wenn wir sie für den Moment mit einem Trick in Verwirrung brachten, hatten wir kaum einen Gewinn dabei. In die Stadt kamen wir so schnell nicht hinein, denn das Tor war doppelt vorhanden – zwei schwere Holztüren schlossen eine Kammer von etwa drei Metern Tiefe ein. Und eine Flucht war gänzlich unmöglich. Mit ihren weitreichenden Skerzaals würden uns die
Marianne Sydow Wächter immer noch erwischen. Und wenn sie euch eingesperrt haben, flüsterte der Extrasinn, wird es euch zweifellos leichtfallen, diese massiven Mauern zu durchbrechen. Wie gewöhnlich ersetzte der Extrasinn den ihm fehlenden Humor durch eine schwer verdauliche Mischung aus Arroganz und Zynismus. Um uns einzusperren, brauchen diese werten Herren einen vernünftigen Grund, dachte ich zurück. Tatsächlich? Du bist nicht auf Terra, auch wenn es dir noch so schwerfällt, Pthor als eine eigenständige Welt zu begreifen. Die Wächter brauchten aber trotzdem einen Grund. Es war unser Pech, daß sie auch einen fanden. Unsere gesamte Habe bestand aus dem nunmehr leeren Proviantsack, Razamons Parraxynt, je einem formlosen Umhang sowie Lederschuhen und kurzen Schwertern – und den zwei Beuteln mit Quorks. Auf Thalias Rat hatten wir sie in Gürtelhöhe an der Innenseite der Umhänge befestigt, aber die Wächter hielten das wohl nicht für ein besonders intelligentes Versteck. Als die bärtigen Kerle sich murmelnd den Inhalt der Lederbeutel ansahen, war ich heilfroh, daß Razamon sich inzwischen gründlich ausgetobt hatte. Anderenfalls wäre die Stadt Orxeya mit Sicherheit um einige Häuser ärmer und einige Leichen reicher gewesen. Selbst jetzt brodelte es in dem Pthorer. »Woher habt ihr das?« fragte der Wächter, nachdem er jeden einzelnen der kleinen Knochen, die hier als Zahlungsmittel galten, genau betrachtet hatte. Razamon war selten gesprächig, und auch jetzt überließ er mir die Verhandlungen. »Honir hat sie uns geschenkt«, sagte ich – und wußte sofort, daß dies ein Fehler war. Aber andererseits fiel mir nichts Besseres ein. Ich wußte zu wenig von diesem Land. Hatten die Magier ebenfalls wertvolle Quorks zur Verfügung, und gaben sie den von ihnen angeheuerten Künstlern diese Art von Geld mit auf den Weg?
Die Seelenhändler »Geschenkt!« echote der Wächter verächtlich. »Ausgerechnet euch gibt der Göttersohn seine wertvollsten Quorks – einfach so, ohne Gegenleistung!« »Wir haben Honir geholfen«, behauptete ich hastig. »Außerdem ist es gut, einen mächtigen Magier nicht zu verärgern.« Der Hintersinn dieser Bemerkung blieb dem Orxeyaner leider verborgen. »Ein Göttersohn braucht die Hilfe der Sterblichen nicht!« stellte er düster fest. »Und was euren angeblichen Magier betrifft – der hätte euch wirksamer für die Reise ausrüsten können. Ihr braucht gar nichts mehr zu sagen, der Fall ist absolut klar. Es stimmt, daß ihr in Schloß Komyr wart – diese Quorks beweisen es. Aber Honir hat sie euch nie und nimmer freiwillig gegeben. Ihr seid Diebe, die den Göttersohn beraubt haben!« Mir verschlug es fast die Sprache. Eben behauptete er noch, daß Göttersöhne die Hilfe normaler Menschen nicht brauchen – das hieß ja wohl, daß er Honir für so gut wie unüberwindlich hielt. Und im nächsten Atemzug warf er uns vor, diesen unbesiegbaren Unsterblichen beraubt zu haben! Dem Wächter fiel die offensichtliche Unlogik seiner Überlegungen jedoch nicht auf. »Bring sie zum ›Gewicht‹, der soll alles weitere entscheiden«, befahl er seinen Leuten. Man umringte uns, und diesmal waren nicht die Skerzaals, sondern kurze Spieße mit scharfen Spitzen und Widerhaken auf uns gerichtet. Besorgt beobachtete ich Razamon, in dessen Augen es unheilverkündend flackerte. Lange würde er sich diese Behandlung nicht gefallen lassen, so viel stand jetzt schon fest. Immerhin schien es, als wollte man uns einem bedeutenden Mann vorführen, und es war zu hoffen, daß dieser Würdenträger über etwas mehr Verstand verfügte als diese Wächter. Endlich öffnete sich knarrend auch das innere Tor. Das erste, was mir auffiel, war das silbergraue Band der Straße, das mitten in der Torkammer plötzlich aufhörte. Die
9 Kammer war ungefähr sieben Meter breit. Fünf Meter davon nahm die Straße in Anspruch. Die Wächter achteten peinlich genau darauf, daß weder wir noch sie selbst die Straße betraten. Wir gingen auf den schmalen Randstreifen an ihr vorbei. Eineinhalb Meter hinter dem äußeren Tor hörte das Band auf. Ich wußte, daß die Straße jenseits der Stadt weiterführte, bis nach Wolterhaven, und daß irgendwo zwischen dieser Stadt und Orxeya der Göttersohn Balduur lebte. Verlief das graue Band im Bereich der Stadt unterirdisch? Vor uns lag das eigentliche Orxeya, eine mittelalterlich anmutende Stadt mit eng zusammengerückten Ziegelhäusern und Strohdächern, winkeligen Straßen, überfüllten Plätzen und einer lärmenden Masse von Einwohnern. Jemand stieß mir das stumpfe Ende eines Handspeers in den Rücken. Ich verschob meine Verwunderung über diese Stadt auf später und trottete gehorsam zwischen den Wächtern vorwärts.
2. Die Bewohner von Orxeya unterschieden sich nur in wenigen Punkten voneinander, sie sahen fast alle gleich aus. Sie waren untersetzt und kräftig, außerordentlich stark behaart und ausnahmslos in dicke Lederbekleidung mit Pelzbesatz gehüllt. Die Männer erkannte man an ihren ungeheueren Bärten – manche waren zu doppelten Zöpfen geflochten und zusätzlich bis zum Kragen hochgebunden. Die Frauen waren genauso dick und stämmig wie ihre Männer, und obwohl die formlosen Leder und Fellkleider von ihrer Figur nichts erkennen ließen, war ich ziemlich sicher, daß sie irdischen Schönheitsidealen tatsächlich nicht entsprachen. Das einzige, was an diesen Frauen wirklich schön aussah, war ihr langes, meist offen getragenes Haar. Die Kinder unterschieden sich von den Erwachsenen nur in der Größe – ob man einen Jungen oder ein Mädchen vor sich hatte, war kaum zu ergründen. Im übrigen ge-
10 wann ich den Eindruck, daß die Sprößlinge der Händler eine Menge Freiheit genossen. Niemand schien sich um sie zu kümmern. Unsere Wächter führten uns durch enge Gassen. Rechts und links drängten sich die winkeligen schmalen Häuser zusammen, als suchten sie jeder Halt beim anderen. Nur selten sah man verschlossene Türen oder Fenster. Überall spielte sich das Leben ungeniert vor den Augen sämtlicher Nachbarn und Besucher ab. Aus den offenen Türen zahlreicher Kneipen drang der Rauch brennender Fackeln, es roch nach Leder und Schweiß, angebranntem Kohl und tausend anderen Dingen. Die weißfelligen Reittiere mit dem kurzen Horn auf der Stirn, die überall herumstanden und auf ihre Herren warteten, verströmten einen stechenden Geruch. Ich atmete auf, als die Gassen zu Ende waren und wir auf einen freien Platz hinaustraten. Hier war es ziemlich ruhig. Um einen Brunnen in der Mitte standen vermummte Frauen und plapperten mit schrillen Stimmen durcheinander. Kinder spielten im Schatten der Häuser, und von irgendwoher drang das Geräusch, mit dem ein schwerer Hammer auf Metall traf. Unsere Wächter trieben uns quer über den Platz zu einem Haus, das sich schon von außen von seinen Artgenossen unterschied: An der Fassade prangte ein mit Ocker gemalter, riesengroßer Quork, daneben hatte man mit schwarzer Farbe allerlei seltsame Symbolzeichen auf die Ziegel gepinselt. Die Haustür war geschlossen, daneben hing eine Metallkugel an einem aus Lederstreifen geflochtenen Strick. Der Oberwächter ließ die Kugel gegen die Tür donnern. Sekunden später flog ein winziges Seitenfenster auf, und ein runzeliges Greisengesicht unter einer gewaltigen Pelzmütze wurde sichtbar. Der Alte hinter dem Fenster starrte uns mißtrauisch mit seinen blauen Augen an, dann nickte er, bog den Kopf zurück und hantierte so lange unter der Fensterkante herum, bis es ihm gelungen war, seinen meterlangen, schneeweißen Bart
Marianne Sydow an die nicht sehr frische Luft zu hängen. »Was wollt ihr?« fragte er nach dieser Prozedur mit brüchiger Stimme. »Wir haben zwei Gefangene hier«, antwortete der Wächter, der mit den Eigenarten des anderen Orxeyaners vertraut sein mußte, denn er hatte bis zu diesem Augenblick schweigend gewartet. »Das ›Gewicht‹ soll über ihr Schicksal entscheiden!« »Das ›Gewicht‹ pflegt zu dieser Stunde des Tages über wichtige Geschäfte nachzudenken«, gab der Alte hochnäsig zurück. »Diese Beschäftigung ist für die Stadt von größter Bedeutung, wie du wohl weißt. Ich kann ihn jetzt nicht stören!« Der Mann am Fenster traf Anstalten, seinen Bart wieder ins Innere des Gebäudes zu befördern. »Es ist eine wirklich wichtige Angelegenheit«, sagte der Wächter hastig. »Die beiden Fremden stehen in dem Verdacht, den Göttersohn Honir überfallen und beraubt zu haben!« Der Alte betrachtete uns abermals und kicherte schrill. »Diese Schwächlinge!« meinte er abfällig. »Hast du keine Augen im Kopf? Der Göttersohn würde die beiden ungespitzt in den Boden schlagen, falls sie sich ihm gegenüber Frechheiten herausnehmen sollten!« »Und wie kommt es dann, daß sie zwanzig wertvolle Quorks besitzen?« schrie der Wächter, dem allmählich die Geduld ausging. »Zwanzig – und zwar jeder! Es sind Quorks, die man nicht auf dem Seelenmarkt findet!« »Bist du sicher?« fragte der Alte. »Wäre ich sonst hier?« knurrte der Wächter wütend. »Glaubst du, ich hätte nichts anderes zu tun, als diese Fremden herumzuschleppen? An der Westmauer prügeln sich die Keenies mit unseren Leuten – was also soll der Unsinn?« »Ich werde sehen, was sich machen läßt«, murmelte der Alte mißmutig und zerrte seinen Bart nach drinnen. »Wartet hier.« Das Seitenfenster klappte wieder zu. Unseren Wächtern war das Ganze offen-
Die Seelenhändler sichtlich unangenehm. Sie fühlten sich in ihrer Autorität zurückgesetzt. Zum Ausgleich stießen sie uns hart bis dicht an die Tür heran. Da standen wir dann, die Nasen fast an dem dunklen, grob bearbeiteten Holz, und warteten. Es dauerte ein paar Minuten, dann rumorte es hinter der Tür, etwas knackte und krachte mehrfach, und dann endlich schwang die Pforte auf. Der Alte mit dem weißen Bart stand vor uns. Er musterte uns von oben bis unten, dann gab er uns einen Wink. »Kommt mit!« krächzte er. »Und du auch, Selkret. Die anderen werden nicht gebraucht.« Der Anführer unserer Wächter gab uns einen Schubs, und wir betraten den engen, dunklen Flur hinter der Tür. Der Alte brachte aus einem winzigen Raum eine qualmende Fackel zum Vorschein, schloß die Tür mit Hilfe zahlreicher Riegel und Balken wieder ab und schlurfte uns dann voran. Endlich stieß der Alte eine nur angelehnte Tür auf. Wir kamen in ein ziemlich großes Zimmer, in dem in einem offenen Kamin ein gewaltiges Feuer loderte. Die Hitze war fast unerträglich. Auf dem Boden lagen Felle, und an den Wänden hingen Waffen und fremdartige Trophäen. Neben dem Kamin stand ein blasiert wirkender alter Händler mit rotblondem Haar und vierfach geflochtenem Bart. Das Leder, aus dem seine Jacke und die Hose gearbeitet waren, wirkte weicher und wertvoller als bei den anderen Orxeyanern, und die Pelzbesätze am Kragen und an den Ärmeln waren besonders langhaarig. »Ich bin das ›Gewicht‹!« sagte er. »Die Entscheidung über euer weiteres Schicksal liegt in meinen Händen. Gebt ihr eure Schuld zu?« »Wir denken gar nicht daran!« sagte ich ärgerlich. Das »Gewicht« seufzte. »Ihr leugnet also«, stellte er fest. »Nun, das war zu erwarten. Wer kommt schon auf die Idee, auch einmal auf mich Rücksicht zu
11 nehmen! Tag für Tag muß ich mir die Lügen anderer anhören. Es ist ein schweres Amt, in dieser Stadt ›Gewicht‹ zu sein!« Vermutlich ist er eine Art Bürgermeister, meinte mein Extrasinn. Schlaumeier, dachte ich zurück. Auf die Idee bin ich auch schon gekommen. »Hartek behauptet, du hättest bei diesen Fremden Beweise gefunden«, wandte das ›Gewicht‹ sich an unseren Wächter. Selkret kramte die beiden Beutel mit den Quorks aus der Tasche und reichte sie dem Alten respektvoll. Das »Gewicht« gab seinem Diener einen Wink, und der Mann mit der Pelzmütze eilte zu einem verhangenen Fenster. Er verhedderte sich mehrmals in den langen Tüchern; aber endlich strömte doch helles Tageslicht herein. Das »Gewicht« trug die Quorks zum Fenster, betrachtete sie aufmerksam und brummte zufrieden vor sich hin. »Tadellos!« sagte er nach einiger Zeit. »Allerbeste Qualität.« Damit schlurfte er zu einer Truhe mit einem schweren Deckel, legte unsere kostbaren Quorks hinein, deckte sie fürsorglich mit einem weichen Lederlappen zu und war dann bereit, sich wieder mit uns zu befassen. »Also«, sagte er, »ihr leugnet. Das ist sehr unangenehm für euch, denn diese Quorks sind ein einwandfreier Beweis für eure schändlichen Taten. Ihr habt Honir überfallen. Warum gebt ihr es nicht zu, wenn doch die Beweise so sicher sind?« »Wir haben Honir nicht beraubt«, antwortete ich geduldig. »Wir sind im Auftrag eines sehr mächtigen Magiers unterwegs. Der Göttersohn kennt und achtet diesen Mann. Darum gab er uns die Quorks. Außerdem wollte er unseren Auftraggeber nicht verärgern. Wenn unser Magier wüßte, was ihr mit uns anstellt, würde er die ganze Stadt mit Stumpf und Stiel verfluchen – er kann das, und viele seiner Verwünschungen gehen in Erfüllung!« »Es gibt mächtige Leute in der Barriere von Oth«, bemerkte Hartek vorsichtig. Das »Gewicht« warf ihm einen strafenden
12 Blick zu. »Wir sind in Orxeya«, grollte er. »Die Macht über diese Stadt trägt nicht irgendein Magier, sondern hier teilen sich das ›Gewicht‹ und der Seelenerschaffer die Verantwortung. Das ›Gewicht‹ bin immer noch ich, Tygon Hasset, und solange kein fähigerer Bewahrer der materiellen Ordnung auftaucht, sollte niemand es wagen, mir in meine Arbeit hineinzureden.« »Der Seelenerschaffer …« »Tynär Stump hat mit diesem Fall nichts zu tun, da es sich um rein weltliche Angelegenheiten handelt«, wies das »Gewicht« seinen Diener schroff ab. »Außerdem ist der Seelenerschaffer immer froh, wenn man ihn in Ruhe läßt. Durch seine Weibergeschichten kommt er sowieso kaum noch zum Arbeiten.« Hartek und Selkret machten betretene Gesichter. Es war ihnen anzusehen, daß sie sich gar nicht wohl in ihrer Haut fühlten. Wahrscheinlich mißfiel ihnen die Art und Weise, in der Hasset von dem mysteriösen Seelenerschaffer sprach. »Kommen wir zur Sache«, forderte das »Gewicht« energisch. »Diese beiden Gefangenen sagen, daß sie Honir nicht überfallen haben. Ich bin überzeugt davon, daß sie die Wahrheit sprechen. Erstens würden sie es niemals wagen, das ›Gewicht‹ zu belügen, denn jeder weiß, daß man die Wahrheit vor mir nicht verbergen kann und die Strafe den Lügner mit besonderer Härte trifft. Zweitens braucht man diese beiden Männer nur anzusehen, um zu wissen, wie der Göttersohn mit ihnen verfahren wäre. Zu einem Kampf gegen Honir sind die Gefangenen total unfähig.« Die Urteilsfindung erschien mir etwas merkwürdig, aber da Hasset uns auf gewisse Weise freisprach, hielt ich den Mund. Mir kam es so vor, als hätte das »Gewicht« allen Beteuerungen zum Trotz doch ganz gehörigen Respekt vor dem Magier, unter dessen Schutz wir angeblich standen. Ich wartete darauf, daß man uns unsere Quorks wieder aushändigte, aber ich hatte die Rechnung
Marianne Sydow ohne den Wirt gemacht. »Nachdem dies geklärt ist, wenden wir uns der nächsten Frage zu«, sagte Hasset zufrieden. »Zeigt uns eure Seelenscheine, damit wir euch den richtigen Platz in unserer Gemeinschaft zuweisen können!« Seelenscheine? Razamon und ich sahen uns verblüfft an. Wir hatten dieses Wort noch niemals gehört, auch Thalia hatte es nicht erwähnt. »Wir haben keine Seelenscheine«, sagte ich. »Was ist das überhaupt?« »Ihr seht mich erstaunt!« behauptete das »Gewicht«. »Euer Magier ist entweder sehr zerstreut, oder es mangelt ihm an der nötigen Umsicht. Jeder hier in Orxeya hat einen solchen Seelenschein – wie sollten wir sonst die Ordnung bewahren? Was würde geschehen, wenn Leute mit einem niedrigen Seelenwert den Handel in Kalmlech abwickelten? Die Monstren würden diese Leute zerreißen, die ganze Stadt wäre dem Ruin preisgegeben. Habt ihr wirklich nichts dergleichen vorzuweisen?« »Der mit den schwarzen Haaren hat ein Stück vom Parraxynt«, warf Selkret, der Wächter, schüchtern ein. »Ah!« machte das »Gewicht«. »Dies ist ein interessanter Punkt. Gib her!« Razamon betrachtete den Händler, der die Hand ausstreckte, mit dem milden Erstaunen eines Elefanten, der von einer Maus angegriffen wird. »Du willst das Stück haben?« fragte er langsam. Hasset wich unwillkürlich zurück. Die unheimliche, drohende Ausstrahlung meines Begleiters verfehlte auch bei diesem gerissenen alten Mann nicht seine Wirkung. Leider erholte Hasset sich viel zu schnell von seinem Schrecken – wahrscheinlich wollte er sich auch vor dem Wächter und dem Diener nicht blamieren. »Ich will es haben«, bestätigte er. »Und niemand darf es wagen, eine Forderung zu ignorieren, die das ›Gewicht‹ von Orxeya ausgesprochen hat!« »So«, sagte Razamon und lächelte flüch-
Die Seelenhändler tig. Bei diesem Lächeln zogen sich Selkret und Hartek hastig bis an die Wand zurück, und das »Gewicht« sah aus, als hätte es unter Magenkrämpfen zu leiden. Razamon betrachtete die drei Orxeyaner der Reihe nach, und unter seinen Blicken schienen die Männer zu schrumpfen. Aber Hasset war zäh – er rappelte sich sofort wieder auf. »Gib es mir!« befahl er. »Sofort. Oder ich lasse euch beide in den Kerker werfen und morgen früh an die Türme der Stadtmauer nageln!« »Zuviel der Ehre«, sagte Razamon sanft. »Alter Mann, verrate mir eines: Was willst du mit dem Parraxynt anstellen?« »Darüber bin ich einem dahergelaufenen Dieb keine Re …« Er verstummte, als ihn ein mörderischer Blick aus Razamons Augen traf. Der Blick wirkte besonders unheimlich, weil Razamon überaus freundlich lächelte – aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen. Ich ahnte, daß es Schwierigkeiten geben würde. Natürlich war das Parraxynt wertvoll und wichtig für uns. Andererseits konnten wir es uns nicht leisten, Hasset – und damit ganz Orxeya – gegen uns aufzubringen. Wir mußten unsere Suche fortsetzen, und wenn man uns in dieser Stadt einsperrte, war niemandem geholfen. Ich gab dem Pthorer einen Rippenstoß. Razamon lächelte verächtlich, holte das Parraxynt hervor und betrachtete es noch einmal, als wollte er von ihm Abschied nehmen. »Fang auf!« sagte er dann und warf Hasset das schwere Bruchstück zu. In dem Bemühen, den kostbaren Gegenstand vor einem allzu harten Aufprall zu bewahren, beugte sich das »Gewicht« so hastig vor, daß es das Gleichgewicht verlor und der Länge nach auf den Boden krachte. »Mir scheint, du wirst an dieser Bürde sehr schwer zu tragen haben, alter Mann«, bemerkte Razamon Hasset raffte sich keuchend auf und sah sich hastig um. Er war sichtlich erleichtert darüber, daß Selkret und
13 Hartek nicht über ihn lachten. Es wäre ihnen wohl auch schwergefallen, denn sie zitterten vor Angst wie Espenlaub. Dieser Anblick gab dem »Gewicht« einen Teil seiner Sicherheit wieder. Er schleppte das Parraxynt zu seiner Truhe und verstaute es neben unseren Quorks. »Nun, wenn ihr keine Seelenscheine habt«, sagte er mit leicht bebender Stimme, »so könnt ihr unmöglich Bürger von Orxeya sein. Euer Magier hätte das wissen müssen.« »Wir wollen nicht als Bürger, sondern als Gäste behandelt werden«, korrigierte ich. »Das läuft auf dasselbe hinaus«, meinte Hasset wegwerfend. »Auf jeden Fall sind Menschen, die keinen Seelenschein vorweisen können, sehr verdächtig. Ich glaube zwar, daß ihr Honir tatsächlich nicht beraubt habt, aber die Geschichte mit dem Magier kommt mir äußerst merkwürdig vor.« »Sagtest du nicht, du würdest jede Lüge sofort durchschauen?« fragte Razamon spöttisch. Hasset zuckte zusammen, und Hartek warf meinem Begleiter einen scheuen Blick zu. »Vielleicht kommen sie aus der Senke der verlorenen Seelen«, wisperte der Diener seinem Herrn zu. »Nördlich des Regenflusses geschehen unheimliche Dinge. Erinnere dich an die Berichte des Händlers Haischa.« »Haischa ist ein alter, halbblinder Narr«, knurrte Hasset zurück. »Nicht alles, was ein verrückter Greis im Zustand totaler Trunkenheit vor sich hin murmelt, muß der Wahrheit entsprechen.« »Als er die lange Reise tat, war Haischa noch sehr rüstig«, widersprach der Diener. Hasset brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Wie sollten die beiden von der Senke der verlorenen Seelen nach Orxeya gekommen sein, he? Wir Händler kennen alle Wege und alle Gefahren, aber die beiden haben keine Ahnung von diesen Geheimnissen. Außerdem gibt es eine einfache Lösung. Wir setzen sie auf die Seelenwaage, dann wird sich die Wahrheit schon zeigen. Haben sie keine
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Seele, dann ist der Fall klar, und die Stadt erlebt morgen eine Hinrichtung – es ist ein gutes Werk, einen Körper zu erlösen, dessen Seele längst entflohen ist.« Ich hatte keine Ahnung, wovon die beiden sprachen. Was zum Teufel war eine Seelenwaage? Der Ausdruck an sich war völlig klar, aber wie wollte man etwas wiegen, was materiell gar nicht nachzuweisen war? An der genauen Definierung dessen, was man unter dem Begriff »Seele« zu verstehen hatte, hatten sich immerhin schon viele Leute die Zähne ausgebissen. Und dieses zweifelhafte Etwas wollten diese merkwürdigen Händler an uns nachwiegen? Mir war gar nicht wohl dabei. Razamon blinzelte mir beruhigend zu. Regte sich etwas in seiner Erinnerung? Wußte er am Ende, daß uns keine Gefahr drohte? Hasset gab uns keine Gelegenheit, über dieses Thema zu sprechen. Er ging voran, und Selkret gab uns mit Hilfe seines Spießes die nötigen Hinweise, damit wir auch ja nicht den Weg verfehlten. Es ging über den düsteren Flur, dann durch eine Art Wohnküche, in der ein paar alte Frauen herumsaßen, und dann über einen von hohen Mauern begrenzten Innenhof. Hasset öffnete eine Tür, die erstaunlicherweise weder knarrte noch quietschte, was in dieser Stadt sicher ein einmaliges Phänomen darstellte. Der Raum, in den wir gelangten, war dementsprechend ungewöhnlich. »Die Seelenwaage«, verkündete Hasset und wies auf ein monströses Gerät. »Jetzt werden wir die Wahrheit erfahren.«
* Ganz so schnell ging es dann doch nicht. Hartek bekam den Auftrag, einige Leute herbeizuholen, die offensichtlich bei der bevorstehenden Prozedur unbedingt anwesend sein mußten. Wir durften uns auf eine schmale Holzbank setzen. Hasset kramte in einer Truhe herum, und Selkret blieb mit erhobenem Spieß neben uns stehen, um anzu-
deuten, daß jeder Fluchtversuch an seiner Wachsamkeit scheitern würde. Ich nutzte die Wartezeit, um – wenigstens von weitem – die »Seelenwaage« genau anzusehen. Es war in diesem Raum einigermaßen hell, obwohl keine Fackeln brannten. Es gab nur ein Fenster, aber das war in der Mitte der Zimmerdecke angebracht und ziemlich groß. Genau darunter befand sich ein gemauertes Podest. Die dafür verwendeten Ziegelsteine waren sogar glasiert und eingefärbt. Die Seiten des Podests waren schwarz, die Oberfläche dagegen blutrot. Im Mittelpunkt der Fläche hatte man einen zwei Meter hohen Pfahl aus fast weißem Holz angebracht, der eine komplizierte und ausladende Ansammlung von verschiedenen Figuren trug. Es war ein Kunstwerk von ausgesuchter Häßlichkeit. Mit äußerstem Realismus waren verkrüppelte und entstellte Menschen dargestellt, Tiere mit aufgerissenen Leibern, Dämonenköpfe, aus deren Halsstümpfen aufgemaltes Blut tropfte – es fehlte tatsächlich nichts, was man sich an Scheußlichkeiten vorstellen mochte. Die Figuren schienen jedoch in dieser Form eine gerechtfertigte Bedeutung zu haben. Sie bewachten das Kernstück der Seelenwaage, eine Art Schale aus einem Material, das ich aus dieser Entfernung nicht identifizieren konnte. Das Zeug war durchscheinend und hell – es erinnerte an Alabaster. Allerdings gab es farbige Zonen, die sich zu bewegen schienen. Die Schale war groß genug, daß sich ein Mensch darin ausstrecken konnte. Zweifellos wurde dort die »Seele« gewogen, obwohl mir nicht klar war, wie das Ganze funktionierte. Die Schale stand auf dem Podest, und es gab weder Gewichte noch Verbindungen, die auf eine verborgene Mechanik hinwiesen. Nach einigen Minuten kehrte Hartek zurück. Er war ein bißchen außer Atem, und unter seiner Pelzmütze rann der Schweiß in kleinen Bächen hervor. Dennoch trennte er sich nicht von seiner Kopfbedeckung. Zum erstenmal fiel mir auf, daß die Orxeyaner
Die Seelenhändler insgesamt ein anderes Verhältnis zu den herrschenden Temperaturen hatten. Das Klima in dieser Stadt war beinahe tropisch, doch die Leute fühlten sich in ihrer dicken Pelz und Lederkleidung anscheinend ganz wohl. Allmählich füllte sich der Raum. Unter denen, die die Prozedur des Wiegens überwachen sollten, gab es keine einzige Frau – Orxeya war eine Stadt der Männer, das ließ sich schon jetzt erkennen. Endlich war die Runde komplett, und Hasset ergriff das Wort. In kurzen Sätzen erklärte er, wer zu sein wir behaupteten, und welche Vermutungen während des »Verhörs« aufgetaucht waren. Als er die Möglichkeit erwähnte, es könnte sich bei uns um »Seelenlose« handeln, ging ein Murmeln durch den Raum. Offensichtlich freute man sich bereits darauf, uns gegebenenfalls »erlösen« zu können. »Nun, meine Freunde«, sagte Hasset schließlich und rieb sich die Hände, »wir wollen beginnen. Und vergeßt nicht, daß wir das Urteil demütig entgegenzunehmen haben. Die Zeiten sind schlecht, aber gute Taten lassen sich nicht erzwingen. Du, der du dich Atlan nennst, tritt vor und komm zu mir.« Zu sagen, daß ich mich gar nicht wohl in meiner Haut fühlte, wäre eine glatte Untertreibung. Am liebsten hätte ich das Schwert gezogen und mich mit Razamons Unterstützung bis zur erstbesten Tür durchgekämpft. Das wäre ein Fehler, behauptete mein Extrasinn. Da solltest abwarten. Wenn das Ergebnis gegen euch spricht, könnt ihr immer noch kämpfen. Dessen war ich mir nicht so sicher. Vielleicht warteten diese Männer nur darauf, die für sie günstigste Anzeige zu sehen, damit sie sich endlich auf uns stürzen konnten. Ihre Sehnsucht danach, ein gutes Werk vollbringen zu dürfen, schien wirklich sehr groß zu sein. »Du mußt dich in diese Schale legen!« befahl Hasset. Also doch!
15 Ich kletterte auf das Podest. Die gräßlichen Figuren waren mir jetzt sehr nahe, was auch nicht zu meinem Wohlbefinden beitrug. Vorsichtig stieg ich in die Schale hinein. Verblüfft merkte ich, daß das Ding unter meinen Händen zu leben schien. Es vibrierte und fühlte sich warm an. Täuschte ich mich, oder wölbte sich mir der Boden tatsächlich entgegen? Ich streckte mich aus – es war tatsächlich so. Die Schale war eifrig bemüht, es mir bequem zu machen. Aufmerksam wartete ich auf irgendeine Reaktion der Anwesenden. Zuerst war es ganz still. Dann klirrte etwas sehr leise, und das Geräusch kam von oben. Die Figuren waren nicht – was ich für selbstverständlich gehalten hatte – fest montiert, sondern beweglich. Sie drehten sich langsam über mich hinweg, und dabei veränderten sie sich. Ich sah die Nachbildung eines mit gräßlichen Wunden übersäten Körpers über mir auftauchen. Je näher die Figur meinem Kopf kam, desto stärker schrumpften die Wunden zusammen. So etwas gab es doch nicht! Das waren Figuren aus Holz oder Stein, mit Farbe bemalt – und doch schienen die Dinger zu leben. Die Orxeyaner begannen zu murmeln, und das klang eher verwundert als bedrohlich. Einer stieß ein paar Worte hervor, aber er benutzte eine Sprache, die ich nicht kannte. Ein anderer antwortete auf dieselbe Weise. Das sanfte Vibrieren und die angenehme Wärme, die von der Schale ausgingen, wirkten einschläfernd. Über mir kreisten die Figuren, die jetzt fast ausnahmslos jene Scheußlichkeiten verloren hatten, die ihr Erzeuger sich ausgedacht hatte. Sie blickten mich mit freundlichen Gesichtern an, und dann fielen mir die Augen zu. Ich träumte von einer paradiesischen Landschaft, hörte herrliche Musik und fühlte mich rundherum wohl – bis etwas mich mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurückbeförderte. Noch ehe ich die Augen öffnen konnte, hörte ich zwei Stimmen, und ich be-
16 schloß, mich vorläufig noch schlafend zu stellen. »… noch nie gegeben«, sagte Hasset dicht neben meinem Kopf. »Wir müssen das vertuschen, sonst gerät alles durcheinander.« »Wenn sie es aber doch erfahren?« fragte jemand ängstlich. »Wer sollte es ihnen sagen?« knurrte das »Gewicht« ärgerlich. »Wir alle verlieren einen großen Teil unserer Macht, wenn diese Vorfälle bekannt werden. Das sollte ein guter Grund für jeden in diesem Raum sein, absolutes Stillschweigen zu bewahren. Wollt ihr, daß diese Fremden unser ganzes Leben umkrempeln?« »Und was ist mit Tynär Stump? Wenn er die beiden sieht, wird er zumindest ahnen, daß wir die Tatsachen verdreht haben.« »Stump wird schweigen«, schnarrte Hasset verächtlich. »Ich habe ein paar nette Mädchen für ihn aufgetrieben. Außerdem wird Stump es nicht riskieren, demnächst von der Liste derer gestrichen zu werden, denen du das Traumkraut lieferst, Jaskot!« Jemand kicherte. Dann kam ein dumpfes Räuspern. »Alles schön und gut«, sagte Hartek. »Aber ich finde, wir sollten das Problem endgültig lösen. Warum erklären wir sie nicht zu Seelenlosen? Dann sind sie morgen früh bereits nicht mehr in der Lage, auf irgendwelche Weise für Unruhe zu sorgen.« »Ist dir unter deiner Pelzmütze das Gehirn geschmolzen?« fauchte Hasset aufgebracht. »Oder willst du mit aller Macht den Unwillen der Götter auf uns lenken?« »Wir hätten sie gar nicht erst auf die Seelenwaage bringen sollen!« murmelte Hartek unwillig. »Dann könnten die Götter uns den Buckel hinunterrutschen. Aber auf mich hört ja keiner.« »Das ist auch gut so«, wies Hasset ihn zurecht. »Und jetzt Schluß damit, sie müssen bald aufwachen. Hartek und Selkret, ihr bleibt hier und helft mir. Die anderen können jetzt gehen. Aber daß mir keiner von euch draußen den Mund aufreißt. Jaskot, für dich gilt das doppelt! Bleib dem Kromyat in
Marianne Sydow den nächsten Tagen lieber fern!« Ärgerliches Gemurmel folgte, dann klappte eine Tür. Ich wartete ein paar Minuten ab, dann schlug ich vorsichtig die Augen auf. »Ah, sieh an!« sagte Selkret und beugte sich über mich. »Es wird Zeit, daß du aufwachst. Dies ist keine Gaststätte, und die Götter könnten beleidigt sein, wenn jemand sich direkt neben der Seelenwaage ausschläft.« Ich verzichtete darauf, ihm eine Antwort zu geben. Vorsichtig richtete ich mich auf. Man hatte mich auf die schmale Bank gelegt. Razamon schien noch zu schlafen. Unauffällig blickte ich zu den Figuren hinüber. Sie standen still – und waren genauso abscheulich wie zu dem Zeitpunkt, als ich sie zum erstenmal sah. »Wie geht es jetzt weiter?« fragte ich. Selkret deutete zum »Gewicht« hinüber. »Er macht gerade eure Seelenscheine fertig«, erklärte er. »Dann hat es sich also herausgestellt, daß wir doch keine Seelenlose sind?« fragte ich mit gespieltem Interesse. Selkret wich meinen Blicken aus. Er mußte ein ausgesprochen schlechtes Gewissen haben. »Seelenlos seid ihr zwar nicht«, mischte Hasset sich ein und drehte sich langsam um. »Aber es wird leider unmöglich sein, euch den Zutritt zur gehobenen Gesellschaft zu erlauben. Euer Seelenwert ist denkbar gering.« In diesem Augenblick richtete Razamon sich auf. Das »Gewicht« schlug hastig die Augen nieder und streckte uns die Hände entgegen. »Was ist das?« fragte ich verblüfft. »Das sind eure Seelenscheine!« Ich hatte mir unter diesen »Dokumenten« etwas ganz anderes vorgestellt. Was Hasset uns präsentierte, waren einfache Blätter von einer Pflanze. Sie hatten die Form und Größe eines irdischen Ahornblatts, waren dunkelgrün und trugen eine in der Mitte eingestanzte Nummer. Razamon und ich sahen uns an und schüttelten fast gleichzeitig die
Die Seelenhändler Köpfe. Wenn wir das gewußt hätten, hätten wir uns rechtzeitig unseren »Seelenschein« vom nächstbesten Baum besorgt. »Was passiert, wenn das Ding verwelkt ist?« fragte Razamon skeptisch. »Fängt dann etwa das ganze Theater von vorne an?« »Verwelkt?« fragte Hasset verständnislos, dann lachte er. »Euer Magier scheint wirklich wenig von dem zu wissen, was außerhalb seiner Berge geschieht! Das Blatt wird nicht welken, denn der Seelenerschaffer hat es in seiner Aura präpariert. Nur er ist fähig, die Blätter des Bmuuhr-Baumes in Seelenscheine zu verwandeln. Aber jetzt habe ich leider keine Zeit mehr für euch. Ihr dürft gehen.« »Tatsächlich?« fragte Razamon spöttisch. »Aber ja«, versicherte das »Gewicht« ernsthaft. »Als Besitzer ordentlich ausgestellter Seelenscheine dürft ihr in Orxeya bleiben, solange es euch beliebt.« »Danke für das freundliche Angebot, aber diese Stadt wird mir von Minute zu Minute unsympathischer. Wenn du nichts dagegen hast, werden wir uns auf der Stelle von hier entfernen und uns freundlicheren Gegenden zuwenden.« »Es steht euch selbstverständlich frei, die Stadt zu verlassen«, nickte Hasset gleichmütig. »Obwohl da draußen einige Gefahren lauern, vor denen ihr euch in acht nehmen solltet. Es könnte sonst sein, daß ihr die Barriere von Oth nicht wiederseht.« »Du verstehst mich falsch, alter Mann!« sagte Razamon leise, und das »Gewicht« wich ängstlich vor ihm zurück. »Wir werden weiterziehen – aber nicht ohne unser Eigentum. Gib uns die Quorks und das Parraxynt zurück, dann hast du die Gewähr, uns nicht wiederzusehen. Ich denke, das ist ein für dich vorteilhafter Tausch!« »Ich …«, stotterte Hasset, ging rückwärts auf die Tür zu und stolperte fast über Hartek, der Razamon wie hypnotisiert anstarrte. »Ich kann dir diesen Wunsch nicht erfüllen. Geh, ehe ich es mir überlege und die Wache rufe!« In Razamons Augen flackerte es gefähr-
17 lich. Ich gab ihm einen Stoß und er riß sich zusammen. Wir befanden uns mitten in der Stadt, und wenn Hasset Alarm schlug, hatten wir nicht die leiseste Chance. Razamon schwieg, und Hasset zog sich mit bemerkenswertem Tempo zurück. Auch Hartek verschwand. »Wie geht das Spiel weiter?« fragte ich Selkret. Der Wächter starrte düster seinen Spieß an und deutete dann auf eine andere Tür. »Ihr geht hinaus, und alles andere ist eure Sache. Einen guten Rat möchte ich euch noch geben: Bleibt nicht zu lange, und hütet euch davor, gegen unsere Gesetze zu verstoßen.« »Was sagen eure Gesetze zu Delikten wie Diebstahl und Mundraub?« erkundigte ich mich. »Dank der Freundlichkeit, mit der man uns hier empfangen hat, können wir unser Essen nicht bezahlen!« »Das ist euer Problem. Entweder verlaßt ihr die Stadt sofort, oder ihr nehmt eine Arbeit an. Auf Diebstahl steht der Tod!«
3. Auf dem Gebiet der Gastlichkeit waren die Orxeyaner tatsächlich kaum zu überbieten. Wir standen mit völlig leeren Händen da, kannten uns in dieser Stadt nicht aus, wußten nicht, wie man hier seine Quorks verdiente und hatten außer unseren Schwertern auch nichts, was sich möglicherweise verkaufen ließ. Dabei mußten wir noch befürchten, daß wir gerade die Schwerter dringend brauchen würden. Kein männlicher Orxeyaner, der den Kinderschuhen auch nur halbwegs entwachsen war, lief ohne eine Waffe herum. »Wir brauchen etwas zu essen«, sagte Razamon. »Das ist mir klar. Aber woher nehmen, ohne zu stehlen?« »Es muß doch Märkte hier geben. Da fällt immer Arbeit an.« Die Idee war nicht schlecht. Ein paar Kinder kamen uns mit Besen, Schaufeln und ei-
18 nem Karren entgegen – offensichtlich war in Orxeya der Händlernachwuchs für die Straßenreinigung zuständig. Ich fragte sie nach dem Weg, aber sie waren schon fast so unhöflich wie ihre Eltern – eines streckte mir die Zunge heraus, ein anderes fegte uns einen Haufen Dreck vor die Füße. Eine Antwort erhielten wir nicht. Von da an stand für uns fest, daß wir in Orxeya niemanden mehr auch nur um den kleinsten Gefallen bitten würden. Wir gingen durch einige enge, von Lärm und Gestank erfüllte Straßen, immer in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden, wohin wir uns zu wenden hatten. Der Hinweis kam dann auch. Mit lautem Geschrei und knallenden Peitschen trieben ein Dutzend Männer die Leute auf der Straße auseinander. Wir folgten dem Beispiel der Orxeyaner und drückten uns an die Wand eines Hauses. Ein von mehreren Zugtieren gezogener Karren kam in Sicht. Darauf lag ein wahres Ungeheuer, ein totes Tier von der Größe eines Elefanten, mit bunt beschuppter Haut und zwei Köpfen. Ein paar Händler ritten stolz hinter dem Karren her. Sie hatten ihre Spieße mit bunten Stoffstreifen geschmückt. »Woher kommt dieses Tier?« fragte ich einen neben mir stehenden Orxeyaner. Diesmal hatte ich einen etwas zugänglicheren Bewohner dieser Stadt erwischt – er antwortete sogar. »Aus der Ebene Kalmlech. Die Schlächter haben es eingetauscht, jetzt bringen sie es auf ihren Platz, damit alle es bestaunen können.« »Was denn – so viel Mühe, nur um eine solche Bestie auszustellen?« Der Orxeyaner lachte. »Nicht nur deswegen. Natürlich wird das Tier ausgenommen, das Fleisch wird verwertet, die Haut – einfach alles.« Ich stieß Razamon an und erzählte ihm, was ich erfahren hatte. Die Gelegenheit schien günstig zu sein. Ein so riesiges Tier zu zerlegen, war eine schwere Arbeit. Vielleicht gelang es uns auf dem Platz der
Marianne Sydow Schlächter, ein paar Quorks zu verdienen. Der Orxeyaner hatte trotz des Lärms unsere kurze Unterhaltung verfolgt. Als der Wagen vorbeigefahren war und wir ihm folgen wollten, hielt der Mann mich am Arm fest. »Ihr seid fremd in dieser Stadt«, stellte er sehr treffend fest. »Geht nicht zum Platz der Schlächter. Sie sind die höchste Kaste der Händler und nehmen keine Arbeiter an. Im Gegenteil – wenn ihr es wagt, sie mit euren Fragen zu belästigen, werden sie euch von den Peitschenträgern rund um die Stadt jagen lassen.« »Eine reizende Gegend«, murmelte Razamon düster. »Gibt es für Leute wie uns überhaupt eine Gelegenheit, hier zu arbeiten?« fragte ich, ehe der Orxeyaner im Gewühl verschwinden konnte. Er sah mich nachdenklich an. »Die Stadtwache nimmt Fremde an«, sagte er zögernd. »Wie kommt man zur Stadtwache?« »Ihr müßt mit Askler sprechen. Meistens sitzt er in den ›Drei Brunnen‹. Das ist da drüben, die Kneipe mit dem roten Schild.« »Und wie erkennen wir Askler?« Dem Orxeyaner war deutlich anzusehen, daß ich ihm mit meinen Fragen bereits auf die Nerven ging. Er zuckte ungeduldig die Schultern. »Fragt nach ihm!« empfahl er brummig, drehte sich um und war im nächsten Augenblick verschwunden. Die »Drei Brunnen« unterschieden sich in nichts von allen anderen Kneipen in Orxeya. Ein muffiger Keller wurde durch qualmende Fackeln erhellt. Das Mobiliar bestand aus langen Bänken und Tischen, die man aus fast ungehobelten Brettern zusammengefügt hatte. Fast alle Bänke waren von Männern besetzt, die aßen und tranken und sich dabei so lautstark unterhielten, daß man sein eigenes Wort kaum noch verstand. Uns lief das Wasser im Mund zusammen, als wir die riesigen Portionen von gebratenem Fleisch, gekochtem Gemüse und frischem Obst sahen, die hier verspeist wurden.
Die Seelenhändler »Platz da!« fauchte ein Mann uns an und drängte sich an uns vorbei. Er stellte zwei große Krüge mit einem roten Getränk auf den nächsten Tisch. Als er wieder an uns vorbeikam, hielt ich ihn am Arm fest. »Wir suchen Askler!« schrie ich, ehe er sich wieder losriß. Er bedachte mich mit einem grimmigen Blick und deutete auf einen der Männer, denen er die beiden Krüge gebracht hatte. Askler war auf uns aufmerksam geworden und winkte uns an den Tisch. Er hatte feuerrotes Haar und einen ebenso roten Bart. Das Haar war kurz über den Schultern abgeschnitten, und der Bart endete etwa in Höhe des Adamsapfels, so daß es aussah, als trüge Askler einen seltsamen Helm aus Haaren, der nur Mund, Nase und Augen freiließ. Askler nagte gerade einen Knochen ab. Er gab uns durch kurze Gesten zu verstehen, daß wir uns neben ihn setzen sollten. Als er mit dem Knochen fertig war, wischte er seine fettigen Finger an der Jacke ab, trank ein paar Schlucke aus dem Krug und war dann bereit, sich mit uns zu beschäftigen. »Was wollt ihr von mir?« fragte er. »Man sagte uns, daß bei der Stadtwache auch Fremde Arbeit finden können, und daß wir uns an dich wenden sollen.« Askler nickte und betrachtete uns aufmerksam. »Ihr seht nicht so aus, als ob ihr kämpfen könntet!« stellte er dann fest. »Du wirst sehen, daß du dich bei dieser Einschätzung irrst«, antwortete ich. Es war verständlich, daß Askler uns für Schwächlinge hielt, denn jeder normale Orxeyaner war doppelt so breit wie Razamon oder ich. Dennoch war ich fest davon überzeugt, daß wir ihnen als Kämpfer mindestens gleichwertig waren. »Mag sein«, brummte Askler. »Außerdem geht es mich nichts an, was ihr mit eurem Leben macht. Wenn ihr eure Kräfte überschätzt, werdet ihr nicht lange genug leben, um über diesen Irrtum nachzudenken. Ihr bekommt eure Waffen beim Tormeister der
19 Waldseite. Er wird euch auch sagen, wo ihr essen und schlafen könnt und was sonst noch wichtig für euch ist. Gebt dem Tormeister das hier – er weiß dann, was er tun soll.« Damit schob er mir ein Stück graues, weiches Leder zu, auf das er mit einem schwarzen Stift ein paar plumpe Zeichen gemalt hatte. Es schien, als wären wir damit bereits angestellt – so einfach hatte ich mir das nicht vorgestellt. Was mich dabei störte, war die Tatsache, daß von den Quorks überhaupt nicht gesprochen wurde. Ich fragte Askler nach dem Verdienst. Er sah mich erstaunt an. »Ihr bekommt euer Essen, vernünftige Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Wem das nicht reicht, kann sich ja eine andere Beschäftigung aussuchen.« Ich sah ein, daß alle weiteren Vorstöße in dieser Richtung sinnlos waren. Wir mußten uns nach dem richten, was in dieser Stadt üblich war. Immerhin ließ sich Askler dazu bewegen, uns genaue Hinweise darauf zu geben, wo wir den »Tormeister« finden konnten. Dann allerdings war seine Geduld erschöpft. Er widmete sich dem Inhalt seines Kruges und beachtete uns einfach nicht mehr. Resignierend verließen wir die »Drei Brunnen« und machten uns auf den Weg. Wir mußten fast die ganze Stadt durchqueren. Schon nach kurzer Zeit kamen wir auf den Platz der Schlächter. Scharen von Neugierigen standen dort um große, gemauerte Podeste herum, auf denen die in der Ebene Kalmlech erworbenen toten Ungeheuer zur Schau gestellt und zerlegt wurden. Männer in blutroten Kapuzenumhängen schleppten Fleischstücke, Knochen, Sehnen und Häute davon. Mir fiel auf, daß alles in die umliegenden Häuser gebracht wurde, daß es aber nirgends nach gebratenem Fleisch roch. Es gelang mir, einen Blick durch eine offene Tür zu werfen. Ich sah große Trockengerüste auf einem Hof, an denen das Fleisch in schmalen Streifen zum Trocknen aufgehängt wurde. Außerdem gab es riesige, flache Fässer, wahrscheinlich mit
20 einer Pökellake oder einer ähnlichen Flüssigkeit, in der man das Fleisch haltbar machte. Und dann sah ich die Fremden an einem Verkaufsstand. Ich machte Razamon darauf aufmerksam. »Sie verkaufen die Innereien«, nickte er nachdenklich. »Es sieht fast so aus, als legten die Händler selbst keinen Wert auf das Fleisch dieser Ungeheuer. Denkst du jetzt auch an Muur-Arthos?« »Das Fleisch eines Drachen verlieh ihm ungewöhnliche Kräfte«, murmelte ich. »Aber welchen Zusammenhang soll es da geben? Die Händler würden sich doch um das Zeug prügeln, wenn sie auch nur den winzigsten Vorteil davon hätten.« »Angenommen, das Fleisch enthält eine bestimmte Substanz, die auf verschiedene Wesen auch eine verschiedene Wirkung ausübt. Muur-Arthos gehörte zu den Horden der Nacht, genau wie diese Ungeheuer hier. Es wäre logisch, daß er das Fleisch verträgt und die Nebenwirkungen positiv sind – positiv im Sinne der Herren der FESTUNG. Für die Händler ist das Zeug vielleicht giftig, und den Fremden dort schließlich kann es überhaupt nichts anhaben. Vielleicht verliert sich die Wirkung nach einiger Zeit – das wäre eine Erklärung dafür, daß man das Fleisch aufbewahrt.« »So könnte es sein. Gehen wir weiter, mir knurrt schon der Magen.« Je länger wir uns durch die Stadt bewegten, desto deutlicher erkannte ich, daß diese Händler auf einem sehr niedrigen technischen Niveau standen. Sie hatten gelernt, Metall zu bearbeiten, aber was sie dabei erzeugten, war zwar praktisch, aber nicht unbedingt schön. In rußigen und rauchigen Schmiedewerkstätten entstanden die kurzen Spieße, die wir bereits kannten, Messer und Äxte, Schwerter mit einfachen, kunstlosen Griffen und klobige Ketten. Die Herstellung der komplizierteren Skerzaals schien einigen wenigen Spezialisten vorbehalten zu sein. Es gab eine ganze Reihe von Töpfereien, aber auch deren Erzeugnisse waren reichlich phantasielos. Auf Verzierungen aller Art
Marianne Sydow schien hier niemand Wert zu legen. Dem entsprach auch das Aussehen der Menschen. Die Kleidung war einfach und meistens ziemlich schmutzig, die Frauen schminkten sich nicht und trugen auch keinen Schmuck. Die Männer zeigten nur in einem Punkt Eitelkeit, nämlich dann, wenn es um ihre Bärte ging. Wie paßte die komplizierte, rätselhafte Seelenwaage in dieses Bild? Nach einigem Suchen fanden wir endlich das Büro des Tormeisters. Ein alter Mann saß darin und knotete an irgendwelchen Stricken herum. Er warf einen kurzen Blick auf das Stück Leder, das wir von Askler erhalten hatten. »Ihr müßt warten«, knurrte er dann. »Caulert inspiziert die Türme. Er wird bald zurück sein.«
* Das Büro besaß ein großes, vergittertes, aber nicht verglastes Fenster, durch das man bis zur Mauer hinüber sehen konnte. Zwischen den letzten Häusern und den untersten Wehrgängen gab es einen fast fünfzig Meter breiten, freien Streifen. Direkt gegenüber lag ein Tor, das jetzt geschlossen war, daneben ragten zwei Wachtürme auf. Dort wurde gekämpft. Es wimmelte von bewaffneten Männern, aber auch andere Völker waren vertreten. Von rechts kam eine Gruppe schwarzhäutiger Leute auf das Büro zu. Sie schleppten schwere Säcke hinter sich her. »Das wurde aber auch langsam Zeit!« knurrte der Alte, als die Besucher vor der Tür standen. »Unsere Leute brauchen Nachschub. Warum habt ihr euch nicht ein bißchen beeilt?« Der Anführer der Schwarzen lächelte verächtlich und wies auf die Säcke. »Mindestens achthundert Bolzen«, sagte er. »Nicht mehr als die Hälfte, da möchte ich wetten!« keifte der Alte wütend. Der Schwarze antwortete nicht, sondern lächelte
Die Seelenhändler nur. »Worauf wartet ihr? Auf die Waage damit!« Die Schwarzen wuchteten die Säcke auf eine Holzplatte, und der Alte hantierte mit verschiedenen Rädern und Metallstücken herum. Das Ergebnis seiner Bemühungen schien ihm nicht sehr zu gefallen, denn er brummte wie ein gereizter Bär. Schließlich kroch er fluchend in einen engen Winkel ganz hinten in diesem Büro. Als er wieder zum Vorschein kam, brachte er eine Schachtel mit dünnen Holzscheiben mit. Er gab dem Schwarzen acht von diesen Scheiben, und die Gäste verschwanden mit vergnügten Mienen. »Sie werden sich betrinken«, murmelte der Alte düster. Er trat vor die Tür und stieß einen schrillen Pfiff aus. Ein paar Orxeyaner rannten schwerfällig herbei, griffen sich die Säcke und verschwanden wieder in Richtung Tor. »Es macht keinen Spaß mehr«, verkündete der Alte und sah uns so düster an, als wären wir an allem Ärger schuld. »Früher – ja, da konnte man sich noch auf die Burschen verlassen. Sie brachten die Bolzen zurück, ehe der Kampf noch beendet war. Heute trödeln sie herum. Als ob das Eisen bei uns aus dem Boden wüchse! Aber diese Wilden haben eben keine Ahnung. Sie kennen ja nur ihren Wald, wo alles von selbst wächst und sie nur die Hand aufzuhalten brauchen.« »Soll das heißen, daß die Leute die auf sie abgeschossenen Bolzen eigenhändig zurückbringen?« fragte ich verblüfft. »Was denn sonst? Aus was für einem Land kommst du, daß du die einfachsten Regeln des Kampfes nicht kennst? Woher sollten wir die Geschosse denn nehmen? Natürlich gehen immer welche verloren – es ist schwer genug, sie zu ersetzen. Wenn die Kerle kämpfen wollen, dann müssen sie schon etwas dafür tun.« Mir kam das alles ausgesprochen merkwürdig und nicht sehr logisch vor. Es ist ganz einfach, behauptete der Extrasinn. Pthor bildet eine in sich geschlossene Welt. Alles, was hier lebt, ist aufeinander
21 angewiesen. Es gibt viel zu wenig Nachschub. Was verbraucht wird, muß aus eigenen Mitteln ersetzt werden. Zugegeben, es lag doch eine gewisse Logik darin, aber vernünftiger wäre es meiner Meinung nach gewesen, diese sinnlosen Kämpfe zu unterbinden. Sie kosteten Zeit und Kraft und brachten offensichtlich gar nichts ein. Oh, doch! behauptete der Extrasinn. Der Mann sagte, daß die Wilden vom Wald leben. Nun, der Blutdschungel dürfte der größte Sauerstoffproduzent auf dieser Insel sein. Wenn die Wilden Zeit und Gelegenheit erhielten, sich technisch weiterzuentwickeln und darüber hinaus an Zahl zuzunehmen, geriete die Sauerstoffversorgung von ganz Pthor in Gefahr. Das war allerdings ein Argument, das schwer wog. Natürlich hätte es andere, humanere Mittel gegeben, einer Bevölkerungsexplosion vorzubeugen – aber die Herren der FESTUNG schienen von der Humanität sowieso nicht viel zu halten. Eine andere Frage war im Augenblick wichtiger. »Die Holzscheiben – dienen sie als Zahlungsmittel?« fragte ich. »Für die Dschungelleute ja«, bestätigte der Alte meinen Verdacht. »Sie dürfen aber nur innerhalb der Stadt gegen Waren eingetauscht werden, und niemand darf sie mit nach draußen nehmen. Damit haben wir uns gegen Fälschungen abgesichert.« »Warum gebt ihr den Leuten keine Quorks?« »Denen? Das könnte ihnen so passen. Sie haben sowieso welche, und es sind nicht die mit dem geringsten Wert. Manchmal tauchen welche auf, wenn es um große Geschäfte geht. Nein, für die Dschungelleute sind uns die Quorks zu schade. Außerdem gehen die Kerle mit ihrem Besitz viel zu unachtsam um. Es heißt, daß Tausende von Quorks im Dschungel verlorengingen und nie wiedergefunden wurden.« Ich war enttäuscht. Ich hatte schon gehofft, mit Hilfe einiger Holzscheiben unsere
22 finanzielle Lage verändern zu können. Endlich tauchte der Tormeister auf. Caulert war ein typischer Orxeyaner, und als solcher machte er aus seinem Herzen keine Mördergrube. Wenn ihm etwas nicht paßte, dann sagte er das – und unsere Anwesenheit paßte ihm überhaupt nicht. »Askler muß wohl den Verstand verloren haben«, grollte er und starrte uns mit seinen hellblauen Augen wütend an. »Demnächst schickt er mir noch eine Horde Kinder auf den Hals. Was soll ich mit solchen Leuten anfangen? Selbst ein Brope könnte sie mühelos zu Brei schlagen …« Razamon hatte an diesem Tag ein für ihn fast übermenschliches Maß an Geduld gezeigt. Jetzt hatte er genug. Er war mit einem Schritt neben dem dicken Tormeister, packte ihn am Kragen und hob ihn mühelos hoch. Caulert keuchte entsetzt, dann wurde das, was von seinem Gesicht zu sehen war, knallrot. »Laß mich runter!« brüllte er den Pthorer an. Razamon lächelte kalt und ließ den Tormeister los. Caulert brachte es gerade noch fertig, sich abzufangen. Er wich hastig nach hinten aus und rückte seine Jacke zurecht. »Das wird dir noch einmal leid tun!« zischte er giftig. »Drüben an der Mauer kannst du deine überschüssigen Kräfte loswerden, und du wirst ganz schön ins Schwitzen kommen. Koret, gib diesen unverschämten Narren ihre Ausrüstung. Wenn sie fertig sind, sollen sie sich sofort bei Jerk melden!« Caulert stapfte wütend davon. Koret, der Alte, grinste schadenfroh hinter ihm her. »Dann wollen wir mal«, murmelte er und sah uns fast bewundernd an. »Seid vorsichtig da draußen. Es wäre schade um euch.« Er holte zwei Skerzaals und die dazugehörigen Köcher für die Bolzen. Er bot uns auch neue Schwerter an, aber wir lehnten ab. Die Waffen, die Thalia uns geschenkt hatten, waren auf jeden Fall besser. Nachdem wir auch noch zwei Messer in Empfang genommen hatten, deutete Koret auf den Turm links neben dem Tor.
Marianne Sydow »Jerk ist da oben«, erklärte er. »Askler sagte uns, wir bekämen auch zu essen und zu trinken«, wandte ich ein. Koret seufzte und wühlte in dem unordentlichen Büro herum, bis er zwei Becher fand. An der Wand hing ein Wasserschlauch. Er füllte die Becher und angelte ein Stück getrocknetes Fleisch von einem Haken dicht unter der Decke. Brot fand er in einer fettigen Schublade. Er schnitt zwei Scheiben davon ab und legte ein Stück von dem Fleisch dazu. Das Brot war schwammig und schmeckte nach nichts. Dafür war das Fleisch so hart, daß ich Angst bekam, mir die Zähne daran auszubeißen, und es schmeckte nach Schuhsohlen. Wenigstens war das Wasser frisch und sauber. »Ihr seid natürlich feinere Sachen gewöhnt«, meinte Koret. »Das sieht man auf den ersten Blick. Aber so ist das nun mal. Gebt den Keenies ordentlich eins aufs Dach, dann lädt Askler euch vielleicht zum Siegesmahl ein.«
* Vom Turm aus bot sich uns ein phantastischer Ausblick. Hinter uns lag die Stadt mit ihren eng zusammengerückten Häusern und schmalen Straßen. Wir entdeckten drei größere Plätze. Auf dem einen schlachtete man die Bestien von Kalmlech, der zweite war fast leer und auf dem dritten fand ein Markt statt. Direkt unter uns, am Fuß des Turmes, fand gerade eine wilde Prügelei statt. Weiter entfernt loderten riesige Feuer, und dahinter, durch den Rauch kaum zu erkennen, lag der Blutdschungel. Jerk hielt sich nicht lange mit uns auf. Caulert schien ihn vor Razamon gewarnt zu haben, denn diesmal brauchten wir uns keine dummen Bemerkungen anzuhören. Statt dessen schickte Jerk uns zu einer Gruppe von Männern, die einige Meter tiefer versuchten, von einem Fenster aus möglichst viele Angreifer auszuschalten. Wir stellten schnell fest, daß trotz einiger
Die Seelenhändler fast spielerisch wirkenden Kampfregeln dieser Krieg alles andere als lustig gemeint war. Als wir ankamen, kippte gerade einer der Verteidiger nach hinten und blieb vor unseren Füßen liegen. Ein Speer hatte seinen Hals durchbohrt. Die anderen sahen sich nicht einmal um. Von unten drang triumphierendes Geschrei herauf. Die Männer am Fenster fluchten wild und schossen, so schnell sie konnten, ihre Bolzen ab. Neben ihnen stand einer der Säcke, die die Schwarzen gebracht hatten. »Sie brechen durch!« brüllte jemand. »Nach unten!« Die Männer stürmten an uns vorbei und rannten die Treppe hinab. Wir sahen uns kurz an, und Razamon zuckte die Schultern. »Verrückt«, murmelte er. »Eine andere Erklärung gibt es nicht.« Wir liefen ebenfalls nach unten. Ich fragte mich, was Jerk oben auf dem Turm jetzt tat. Die ganze Angelegenheit schien ziemlich schlecht organisiert zu sein. Die Schwarzen waren tatsächlich in den untersten Raum des Turmes gelangt. Vor dem Fenster lagen verwundete und tote Orxeyaner und Keenies. An der in die Stadt führenden Tür standen ein paar Händler, die sich verzweifelt bemühten, die nachdrängenden Schwarzen aufzuhalten. Die vor der Mauer kämpfenden Orxeyaner hatten sich zu kleinen Gruppen zusammengedrängt. Die Keenies waren plötzlich überall, und es schienen ständig welche dazuzukommen. »Los«, zischte Razamon. Wir ließen die Skerzaals einfach fallen, weil sie uns doch nur behindert hätten. Razamon wandte sich zum Fenster, und ich widmete mich den Eingeborenen, die den Wächtern an der Tür das Leben sauer machten. Die Keenies kämpften mit ihren Speeren, die sie nicht nur zu werfen verstanden, sondern auch sehr geschickt im Nahkampf einsetzten. Das machte die Schwarzen gefährlich, denn um an sie heranzukommen, mußte man sich in die Reichweite ihrer Waffen begeben. Ich bekam ziemlich schnell heraus, wie
23 ich mich dennoch gegen diese Wilden durchsetzen konnte. Thalias Schwert sah für die Orxeyaner vielleicht wie ein Spielzeug aus, aber es war ungeheuer scharf und stabil. Den ersten Speer hatte ich eigentlich nur zur Seite schlagen wollen, aber plötzlich war dessen Spitze verschwunden. Dem Keenie blieb der Mund vor Staunen offen. Von den Männern, denen wir nach unten gefolgt waren, lebte nur noch einer, und ausgerechnet er hatte im richtigen Moment seine Skerzaal schußbereit. Der Keenie brach zusammen. »Weiter!« schrie der Orxeyaner mir zu. Während ich jeden Speer, der mir nahe genug kam, um ein gutes Stück kürzer machte, schoß der Händler mit unglaublicher Geschwindigkeit die entwaffneten Gegner nieder. Die anderen Keenies merkten binnen Sekunden, daß die Lage sich verändert hatte. Sie sahen nur zwei Gegner vor sich und warfen sich uns mit Todesverachtung entgegen. Damit boten sie jedoch den Männern an der Tür endlich eine Gelegenheit, wirkungsvoll einzugreifen, und viele von den Schwarzen, die mit erhobenen Speeren auf mich eindrangen, wurden von hinten getroffen, was für noch mehr Verwirrung sorgte. Außerdem sorgte Razamon dafür, daß die Schwarzen im Turm keine Verstärkung mehr bekamen. Das Ganze dauerte nicht einmal eine Minute. Im letzten Augenblick hätte es mich beinahe erwischt, und es war nicht einmal ein Keenie, der mich in Gefahr brachte, sondern ein Händler, der seine Skerzaal abschoß, obwohl die Gegner bereits geschlagen waren. Auf dem Boden lagen mehr als dreißig Keenies und ein gutes Dutzend Orxeyaner. Am Fenster war Ruhe eingetreten – später stellte sich heraus, daß Razamon ein gutes halbes Hundert Keenies zurückgeschlagen hatte – und buchstäblich, denn viele von ihnen fand man mit zerschmetterten Schädeln an der Mauer. Die Orxeyaner nutzten den Umschwung konsequent. Von ihren Freunden auf der anderen Seite der Mauer war kaum noch etwas
24 zu sehen, und die Keenies fühlten sich bereits als Sieger. Um so verwirrter waren sie, als plötzlich wütende Händler vor ihnen auftauchten, die den Respekt vor den gefährlichen Speeren verloren hatten. Die Schwerter der Orxeyaner konnten das zähe Holz zwar nicht in der Luft durchschneiden, aber dafür steckte hinter den Schlägen genug Wucht, um die Schwarzen zu entwaffnen. Mein Beispiel hatte man blitzschnell aufgegriffen. Razamon und ich wurden mit nach draußen gerissen und fanden uns mitten im Kampfgetümmel wieder. Um den Pthorer bildete sich mit großer Geschwindigkeit ein freier Platz. Die Keenies flohen vor ihm in hellen Scharen, und wenn er näher kam, warfen sie sogar ihre Speere weg, um schneller laufen zu können. Neben mir brüllte der Mann aus dem Turm vor Begeisterung, während er nach wie vor die Skerzaal bediente – ich wunderte mich allmählich darüber, daß ihm die Munition nicht ausging. Oben auf dem Turm brüllte Jerk sinnlose Befehle, die sowieso niemand verstand. Rundherum brüllten die Orxeyaner, die endlich die Kette der Angreifer gesprengt hatten. Am lautesten aber brüllten die Keenies, die gar nicht schnell genug in ihren Wald zurückkehren konnten, weil immer noch einige Gruppen in Kämpfe verwickelt waren. Es war ein grauenvoller Krach und ein entsetzliches Durcheinander. Aber dann ordnete sich alles ganz von selbst. Die Händler sandten den Keenies höhnische Sprüche nach und sammelten die zurückgebliebenen Speere ein. Gruppen von – friedlichen – Schwarzen kamen zwischen den Feuern hervor und suchten die Bolzen auf. Man traf sich in der Nähe der Stadtmauer, und obwohl auch die Leute mit den Säcken Keenies waren, kam es nirgends auch nur zu einem häßlichen Wort. Der Mann mit der Skerzaal schlug mir auf die Schulter, daß ich meine Knochen knacken zu hören glaubte, und schob mich in Richtung Turm. »Ich bin Helkert«, stellte er sich vor. »Jerk wird dich sehen wollen. Ohne euch
Marianne Sydow wäre es diesmal brenzlig geworden. Ich habe dich noch nie gesehen. Bist du neu bei der Wache?« Ich kam nicht dazu, ihm zu antworten, denn er redete wie ein Wasserfall. Ich erfuhr, daß der Kampf keineswegs erst heute morgen begonnen hatte. Seit Wochen machten die Keenies Ärger, und nie hatte man eine Entscheidung erzwingen können. Sie zogen sich in unberechenbarer Weise für Stunden oder Tage zurück, um dann wieder anzugreifen. Damit zwangen sie die Wächter, sich ständig bereit zu halten, und das wirkte natürlich zermürbend. Heute hatten die Schwarzen den Durchbruch erzwingen wollen. Helkert behauptete, daß die Keenies von nun an Ruhe geben würden – wenigstens für einige Zeit. Das bedeutete jedoch nicht, daß die Stadtwache friedlichen Zeiten entgegensah. Gekämpft wurde so ziemlich immer, und die Wilden aus dem Blutdschungel waren nicht zimperlich, wenn es galt, einen Grund für einen Streit zu finden. Jerk trat mir mit überschwenglicher Freude entgegen. Inzwischen hatte sich auch Razamon beim Turm eingefunden. Das Tor wurde unter lautem Freudengeschrei geöffnet. Die Keenies mit den eingesammelten Bolzen gehörten zu denen, die als erste auf diesem Weg in die Stadt gingen. Wir wurden von bärtigen, pelzvermummten Gestalten umringt, die uns in eine bestimmte Richtung drängten. Die Händler fuchtelten mit ihren Skerzaals und den Schwertern in der Luft herum, daß es einem angst und bange werden konnte. Als der Ring unserer Begleiter sich öffnete, stand Askler vor uns. »Ich habe die Geschichte gehört«, sagte er düster. »Und ich gebe zu, daß du recht hattest, Fremder. Ich habe euch unterschätzt – zum Glück war das kein Fehler, und der Irrtum läßt sich beseitigen. Ihr seid bis morgen um dieselbe Stunde meine Gäste.«
*
Die Seelenhändler Helkert blieb in meiner Nähe, und ich war froh darüber. Er half Razamon und mir über viele Klippen hinweg, an denen wir unweigerlich hängengeblieben wären. Woher hätten wir zum Beispiel wissen sollen, daß der Kromyat, der sofort nach dieser Begrüßung, also noch am Tor, in kleinen Bechern gereicht wurde, nicht getrunken werden durfte? Es war eine Art Opfergabe. Der duftende Wein aus wildwachsenden Beeren wurde feierlich auf den Boden gegossen, wobei atemloses Schweigen herrschte und alles mit größter Spannung die kleinen Pfützen beobachtete. Helkert hatte mich ein Stück zur Seite gezogen, und Razamon war mir gefolgt. Da, wo wir jetzt standen, war der Boden sandig und etwas feucht – der Kromyat versickerte schnell. Laute Rufe verrieten uns, daß das ein gutes Zeichen war. Askler hatte weniger Glück. Er bedachte uns mit düsteren Blicken. »Die Götter meinen es gut mit euch«, brummte er. »Falls sie sich keine Scherze ausgedacht haben und die Zeichen ernst gemeint sind, werdet ihr in der nächsten Zeit Glück und Erfolg haben. Mögen sie euch für diese Nacht Trinkfestigkeit und Umsicht schenken. Kommt jetzt!« »Paß um Himmels willen auf dich auf«, raunte Helkert, als wir Askler folgten. »Er ist nicht erfreut über euren Erfolg. Er wird versuchen, euch betrunken zu machen, damit ihr unvorsichtige Bemerkungen macht. Das würde die Zeichen des Glücks ausgleichen.« Ich nickte nachdenklich. Mir war klar, daß die Lage überhaupt nicht friedlich war. Das kurze Gespräch, das ich in dem Raum mit der Seelenwaage belauscht hatte, ging mir nicht aus dem Kopf. Was war dort wirklich geschehen? Nach meinen bisherigen Erkenntnissen gab es in Orxeya eine strenge Kastengesellschaft, die vor allem mit Hilfe der Seelenscheine zementiert wurde. Außenseiter, die zu schnell bis an die Spitze der Gesellschaft aufstiegen, bildeten eine Gefahr für das ge-
25 samte System. Ich war mir ziemlich sicher, daß die Nummern auf unseren Seelenscheinen absichtlich niedrig angesetzt worden waren. Das hieß jedoch nichts anderes, als daß die ganze »Seelenwiegerei« ein ausgemachter Schwindel war. Die Werte, die die Waage auswies, interessierten niemanden, und wahrscheinlich gab es ein ungeheures Geflecht von Intrigen und Korruption. Dem »Gewicht« und seinen Freunden lag natürlich nichts daran, daß jemand das System durchschaute und die weniger klügeren Händler darüber aufklärte, was gespielt wurde. Das war aber nur der eine Punkt. Wir wußten längst, daß die Herren der FESTUNG ganz Pthor kontrollierten, direkt oder indirekt. Sie sorgten dafür, daß unerwünschte Entwicklungen nicht stattfanden oder schnellstens in ihrem Sinne korrigiert wurden. Mit Sicherheit beobachteten sie alles, was sich zwischen Orxeya und den wilden Stämmen des Blutdschungels tat. Alles, was wir in dieser Stadt taten, war mit dem Tanz auf einem Drahtseil zu vergleichen. Hielten wir uns zurück, waren wir zu vorsichtig, dann bekamen wir wohl kaum eine Chance, die Stadt zu verlassen – wir brauchten Proviant und Ausrüstung, Quorks oder wenigstens Dinge, die sich gegen andere Waren eintauschen ließen, Waffen und Reittiere. Wenn wir die Herren der FESTUNG kennenlernen wollten, mußten wir Kalmlech im Norden umgehen, und von dem, was uns dort erwartete, hatten wir bisher nur sehr unerfreuliche Andeutungen gehört. Wir hatten die Chance, alles zu erhalten, was wir brauchten, indem wir uns für die Händler als nützlich erwiesen. Aber dabei brachten wir uns in die Gefahr, die Herren der FESTUNG auf uns aufmerksam zu machen. Wie man es auch drehte und wendete, irgendwo war immer ein Haken dabei. Askler führte uns in eine verräucherte Kellerkneipe, die jedoch vergleichsweise gemütlich aussah. Man schien sich auf die Feier vorbereitet zu haben. Die rohen Holzbänke waren mit dicken Fellen belegt, die Ti-
26 sche hatte man gescheuert, und irdene Schalen mit allerlei Früchten standen bereit. Man hatte sich sogar um ein bißchen Dekoration bemüht. Askler war außerordentlich zufrieden und führte uns zu unseren Plätzen, als zeige er uns den Prunksaal eines mächtigen Herrschers. Draußen drängten sich neugierige Orxeyaner, die wenigstens einen Blick auf uns werfen wollten. Die anderen Gäste trafen nach und nach ein. Tygon Hasset war darunter, der kahle Hartek mit seiner Pelzmütze, der feiste Jaskot und sogar unser mißgelaunter Tormeister. Obwohl wir die Ehrengäste waren, hielt man sich mit großartigen Vorstellungen nicht auf, sondern kam zur Sache – nämlich zum Essen. Ungeheure Braten wurden herbeigeschleppt, von denen jeder sich selbst ein Stück abschneiden konnte, das weiche, schwammige Brot wurde auf Holzplatten gereicht und die Krüge mit Kromyat leerten sich so schnell, daß man an Zauberei glauben mochte. Die Händler wurden davon lediglich etwas gesprächiger, und das bekam ihnen ausgezeichnet. »Das dort drüben ist Zelat, der Vertraute des Seelenerschaffers«, flüsterte Helkert mir zu und deutete mit einem abgenagten Knochen auf einen für hiesige Verhältnisse zierlichen Mann. »Ohne seine Fürsprache kommt niemand an Tynär Stump heran. Und der Dicke gleich neben ihm ist das Oberhaupt der Schlächter. Er bestimmt, wer nach Kalmlech ziehen darf. Dort siehst du Gäham Lastor. Niemand war so oft in Wolterhaven wie er. Es heißt, daß er bald eine neue Karawane zusammenstellen wird.« »Welche Rolle spielt eigentlich Hartek?« fragte ich leise. Helkert verzog das Gesicht. »Er vermittelt zwischen den Händlern und den Herren der FESTUNG«, sagte er verächtlich. Ich verschüttete vor Schreck meinen Kromyat und spürte, wie sich auf meinem Rücken eine Gänsehaut bildete. War die Gefahr schon da und hatten wir sie nur nicht
Marianne Sydow bemerkt? »Ihr steht mit der FESTUNG in Verbindung?« »Ganz Pthor tut das. Es war immer schon so. Wir sind dazu verpflichtet, besonders wertvolle Waren in einem besonderen Gebäude aufzuheben. Ab und zu schicken die Herren der FESTUNG ein paar Sklaven, die alles abholen. Hartek gibt bekannt, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist. Er bestimmt auch, was gelagert werden soll.« »Wie macht er das?« Ich dachte natürlich an verborgene Funkgeräte oder ähnliche Spielereien, die der alte Mann besaß. Aber Helkert war anderer Meinung. »Es ist Magie«, erklärte er ernsthaft. »Vor sehr langer Zeit ging Hartek nach Wolterhaven. Es ist ein gefährlicher Weg, und nur wenige kommen von dort zurück. Man muß am Blutdschungel entlang, und dort lauern natürlich die Wilden, von den vielen Bestien einmal ganz abgesehen.« »Warum haltet ihr euch nicht an die Straße der Mächtigen?« »Ich hörte, daß ihr von Schloß Komyr an diesen Weg genommen habt«, murmelte Helkert und warf mir einen scheuen Blick zu. »Honir muß eine hohe Meinung von euch haben, sonst hätte er einen solchen Frevel nicht geduldet. Uns jedenfalls ist die Benutzung der Straße verboten. Und der Abschnitt zwischen Orxeya und Wolterhaven ist besonders schlimm. Dort lauert der Tod. Manche wollten das nicht glauben, aber sie sind alle verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Es heißt, daß Balduur dort herrscht, aber niemand weiß etwas über ihn. Er kommt nie nach Orxeya, und solange ich denken kann, ist sein Tor verschlossen geblieben.« »Hm«, machte ich nachdenklich. »Wie war das mit Hartek?« »Er kehrte zurück«, sagte Helkert. »Aber er war verändert. In Wolterhaven hatte er sein Haupthaar verloren, und es wuchs nicht mehr nach. Seitdem trägt er immer eine Pelzmütze. Und er hatte Visionen. Er kün-
Die Seelenhändler digte das Kommen der Sklaven an – und sie kamen auch, genau zu dem Zeitpunkt, den er genannt hatte. Seitdem übt er sein Amt aus.« Die Informationen waren zu mager. Es ließ sich nicht viel damit anfangen. Aber für mich stand jetzt fest, daß wir Hartek aus dem Weg gehen mußten, wo es möglich war. Askler erhob sich und zog ein kurzes Horn aus der Jackentasche. Der blökende Laut, den das Instrument von sich gab, brachte alle Anwesenden zum Schweigen. »Atlan und Razamon haben durch ihren heldenmütigen Einsatz die drohende Niederlage abgewendet und den Krieg zwischen uns und den Keenies beendet!« sagte der Kommandant der Stadtwache. »Zum Zeichen unseres Dankes überreichen wir ihnen diese Belohnung!« Unter allgemeinen Hochrufen wurden uns zwei Lederbeutel zugeschoben. Sie sahen aus wie die, die wir von Thalia erhalten hatten. Nur der Inhalt war nicht ganz so erfreulich. Zwar handelte es sich um Quorks, aber sie waren nur von geringem Wert. Um das festzustellen, brauchte man gar nicht viel davon zu verstehen – die Gravuren waren zu einfach und zu grob. Dennoch blieb uns nichts anderes übrig, als uns überschwenglich zu bedanken, denn Helkert flüsterte mir zu, daß man das von uns erwartete. Nach dieser »Siegerehrung« öffnete sich die Tür, und eine Abordnung der Keenies betrat den Saal. »Wir erklären uns für besiegt«, sagte der Anführer der Schwarzen, und seine stolze Haltung stand in krassem Gegensatz zu seiner Sprache. »Der Krieg ist beendet. Erlaubt uns, den Frieden zu feiern, wie die Regeln es verlangen.« »Sie wollen an der Stätte ihrer Niederlage ein Fest veranstalten«, erklärte Helkert leise. Askler erhob sich, winkte den Keenies zu sich heran und reichte ihm einen Krug mit Kromyat. »Die Regeln sollen nicht durchbrochen werden!« sagte er laut. »Deine Leute mögen sie erfüllen. Du und die Tapfersten deines
27 Stammes möchte ich bitten, hier bei uns den Frieden zu feiern. Wirst du mir diese Bitte erfüllen?« Der Keenie hob mit ernster Miene den Krug, setzte ihn an und brachte den vollen Liter Kromyat hinunter, ohne das schwere Gefäß auch nur einmal abzusetzen. Von da an wurde das Fest gemischt – in mehr als nur einer Beziehung. Dutzende von Schwarzen drängten herein. Sie verteilten sich schnell über den ganzen Raum und waren bald in mehr oder weniger tiefsinnige Gespräche mit den Händlern verstrickt. Wer die Vorgeschichte nicht kannte, hätte niemals geglaubt, daß Orxeyaner und Keenies sich noch vor wenigen Stunden als Todfeinde an der Westmauer gegenübergestanden hatten. Natürlich brachte man für die neuen Gäste frischen Braten und frischen Kromyat, und die Händler langten kräftig mit zu. Die Stimmen wurden lauter, ein paar alte Männer in einer Ecke begannen, kriegerische Lieder zu singen, und die ersten Frauen und Mädchen wagten sich in den Festsaal. Zwei Keenies improvisierten auf einem Tisch einen Kriegstanz. Askler revanchierte sich, indem er in dröhnendem Baß eine Ballade zum besten gab, die von einer besonders erfolgreichen Expedition nach Kalmlech berichtete. Das wiederum brachte Hartek auf den Plan, und er sang das Lied vom langen Zug nach Wolterhaven. Darin wimmelte es von versteckten Anspielungen auf die Keenies. In einer Strophe hieß es ganz offen: »Die hinterhältigen Feinde lauern im Gebüsch, hinter den dreckigen Blättern, wo man sie nicht sieht. Aber wir und unsere stolzen Yassels haben sie längst bemerkt, denn sie stinken wie der Kot der Aasfresser, denen sie ähnlich sind. Wir rufen sie. Wir sagen den Keenies, sie sollen kämpfen wie Männer, aber vor Schreck schleichen sie in ihren Sumpf zurück.« Das konnte natürlich der Anführer der Schwarzen nicht auf sich sitzen lassen. Er ließ dem kahlen Hartek den schweren Krug auf die Mütze krachen, und binnen Sekun-
28 den war eine wilde Prügelei im Gange. »Der Frieden dürfte keine lange Lebensdauer haben«, sagte Razamon trocken. »Das ist nur Spiel«, meinte Helkert wegwerfend. Wir hatten uns in die Nähe der Wand begeben, denn uns lag wirklich nichts daran, uns die Köpfe blutig schlagen zu lassen. »Wenn man das sieht, juckt es einen in den Fäusten«, knurrte Razamon. »Was meinst du, ob ich den Burschen eine Lektion erteilen soll?« »Lieber nicht«, sagte ich hastig. Wenn der Pthorer sich da einmischte, gab es auf jeden Fall Tote – und nicht nur unter den Keenies. Zum Glück löste sich alles in Freude und Wohlgefallen auf. Man kehrte zum Kromyat zurück. Hartek war inzwischen wieder zu sich gekommen. Er kroch lallend unter den Tischen herum und suchte nach seiner Pelzmütze, die scheinbar spurlos verschwunden war. Als das erste, bleiche Morgenlicht durch die offene Tür sickerte, glich der Raum einem Schlachtfeld. Orxeyaner und Keenies, Männer und Frauen, lagen kunterbunt durcheinander auf dem blanken Boden und schnarchten um die Wette. Neben einer umgestürzten Bank hatte Hartek sich zwischen abgenagten Knochen und zerbrochenen Krügen zum Schlaf gebettet. Seine Glatze schimmerte weiß durch die Dämmerung, den Pelzhut hielt er selig lächelnd mit beiden Händen fest. Nur ein Keenie, Askler und das »Gewicht« waren noch wach. Sie diskutierten strategische Probleme, kamen jedoch infolge ihrer Trunkenheit zu keinem Ergebnis. Nachdem Hasset plötzlich von der Bank kippte, legte der Keenie den Kopf auf den Tisch und schlief ebenfalls ein. Askler blickte zufrieden lächelnd um sich, rülpste und nickte schwerfällig. »Ich habe doch gesiegt!« murmelte er – und sank in die Tiefen der Träume. »Versoffenes Pack«, murmelte Razamon verächtlich. Wir hatten keine Gelegenheit gefunden,
Marianne Sydow uns vorzeitig von diesem Fest zu verabschieden. Bei jedem Versuch hatte man uns gerade noch bemerkt – und dann war wieder ein Krug Kromyat fällig. Razamon trank wenig, und er kannte genug Tricks, um die Orxeyaner zu täuschen. Mir machte der Alkohol wegen des Zellaktivators wenig zu schaffen. Und Helkert hatte sich erstaunlich zurückgehalten. Er wachte über mich – ich hatte im Turm seine Freundschaft errungen, und das sollte sich noch öfter als wertvoll erweisen. »So geht es immer aus«, sagte er gerade gleichmütig. »Morgen – oder heute abend – wachen sie auf und erinnern sich an nichts. Kommt jetzt, hier könnt ihr nicht schlafen.« Er brachte uns zu einem Haus, in dem eine ungeheuer dicke Frau eben mit der Zubereitung eines Frühstücks beschäftigt war. Sie stellte keine Fragen, sah Helkert nur kurz an und nickte dann. »Tazzae!« schrie sie in Richtung einer offenen Tür. Ein Mädchen erschien, höchstens zehn Jahre alt, mit langen, blonden Zöpfen und ausnahmsweise ohne den obligatorischen Lederpanzer, sondern mit einem leichten, weichen Umhang bekleidet. Tazzae führte uns zu einem Hinterzimmer, von dessen Einrichtung ich so gut wie nichts wahrnahm. Ich wurde vom bloßen Anblick der beiden breiten, mit Fellen bedeckten Betten regelrecht hypnotisiert. »Ihr könnt völlig beruhigt sein«, versicherte Helkert. »Hier wird euch niemand stören, nicht wahr, Tazzae?« Das Mädchen nickte heftig, und die blonden Zöpfe wippten auf und nieder.
4. Die nächsten Tage verliefen ruhig und fast ereignislos. Helkert hatte uns ohne Umstände in seine Familie aufgenommen. Tazzae war seine Tochter, und die Dicke – der Name Nimosae paßte nicht recht zu ihr – war Helkerts Frau. Dann gab es noch drei Söhne, die aber zur Zeit nicht in der Stadt waren, und einen zahnlosen Alten, der Ni-
Die Seelenhändler mosaes Vater war. Er saß die meiste Zeit schweigend in der Sonne, und Helkert behauptete, er wäre nicht ganz richtig im Kopf, weil er im Blutdschungel erst nach mehreren Stunden aus der Umklammerung einer fleischfressenden Pflanze befreit worden war. Wir gingen jeden Tag zur Mauer und versahen dort unseren Dienst, wie die öffentlich ausgehängten Pläne es von uns verlangten. Es war verdächtig ruhig. Die Keenies verhielten sich still, nur manchmal tauchten sie in kleinen Gruppen auf, um den Markt zu besuchen. Wir waren keine einfachen Wächter mehr, sondern trugen die Verantwortung für je zwanzig Männer – was nichts als Ärger und Mehrarbeit einbrachte, denn im Gegensatz zu unseren »Untergebenen« konnten wir uns während der Wache nicht in einen stillen Winkel zurückziehen, um dort zu schlafen. Helkert, dem es nicht anders erging, brachte uns ein in Orxeya übliches Spiel bei, mit dem wir uns die Zeit vertrieben. Nebenher erzählte er uns viel über Orxeya und die Händler, die Leute aus dem Blutdschungel und die Expedition nach Kalmlech. Das meiste davon war abergläubisches Gerede, aber nach und nach wurden wir durch seine Geschichten in die Lage versetzt, uns in der Stadt zu bewegen, ohne sofort aufzufallen. Eines Tages kamen wir auf die Seelenscheine zu sprechen. Orxeya hatte ein fast schizophrenes Verhältnis zu seiner Stadtwache. Sie war das Sammelbecken für alle Männer, die man in anderen, höheren Positionen nicht haben wollte. Bis auf die Turmmeister und den Oberkommandanten besaßen wir alle Seelenscheine, deren Nummern niedrig lagen – so niedrig, daß ein Aufstieg unmöglich war. Als ich Helkert nach dem Grund dafür fragte, lächelte er verächtlich. »Sie hoffen, uns loszuwerden«, behauptete er. »Bei jedem Kampf gibt es Tote. Außerdem haben sie uns hier unter Kontrolle. Unter normalen Umständen kann jemand sein ganzes Leben hindurch bei der Wache
29 sein, ohne einen einzigen Quorks in die Hand zu bekommen. Und ohne Quorks gibt es auch keinen neuen Seelenschein.« Ich fuhr hoch. »Die Dinger kann man kaufen?« fragte ich fassungslos. »Selbstverständlich. Es ist natürlich verboten, aber das ›Gewicht‹ selbst verdient dabei mit, und darum wird Hasset sich hüten, diese Geschäfte zu unterbinden.« »Wozu braucht man dann die Seelenwaage?« wollte Razamon wissen. »Man muß den Schein wahren«, gab Helkert zurück. »Es ist ganz einfach. Angenommen, du hast genug Quorks – wertvolle natürlich – und gehst auf den Seelenmarkt. Du findest einen geschickten Händler mit guten Beziehungen. Der hört sich erst einmal um. Vielleicht ist jemand auf dem Weg nach Kalmlech verunglückt. Dann wird er jemanden auf dem schnellsten Yassel, den er finden kann, hinterherjagen. Ein Seelenschein hält sich noch für ein paar Tage, wenn sein Besitzer stirbt. Es kommt also darauf an, ihm schnell einen neuen Träger zu besorgen. So kommt der Schein mit der hohen Nummer in die Stadt, du bezahlst deine Quorks und kannst offiziell beweisen, daß du zum Beispiel die Führung einer Karawane übernehmen darfst. Den alten Seelenschein deponierst du beim Händler. Kannst du ihm genug bezahlen, dann übernimmt er auch alle weiteren Schritte, das heißt, er paßt auf, wann die Leiche des Verunglückten eintrifft und schiebt dem Ärmsten den Schein unter – das bringt die Verwandten auf die Barrikaden und verursacht Ärger. Ein besserer Händler hätte dafür gesorgt, daß die Leiche samt Schein nicht wieder auftaucht. Aber das ist teuer. Die Verwandten des Dahingeschiedenen werden die Schande nicht auf sich sitzen lassen. Sie schicken ihrerseits Leute los, und irgendwann erwischt man dich mit dem gekauften Schein. Natürlich kann man dir nichts beweisen, dafür hat schon der Händler gesorgt, denn er ist ja nicht lebensmüde. Also braucht man die Seelenwaage. Stimmt die Anzeige mit dem
30 Wert des Scheines überein, bist du frei und die Ankläger müssen dir sogar noch eine Entschädigung zahlen. Stimmt die Anzeige nicht …« Helkert zog mit dem Zeigefinger eine vielsagende Linie quer über den Hals. »Eines verstehe ich nicht«, murmelte Razamon. »Kann man nicht die eingestanzte Nummer verändern? Fällt doch gar nicht auf, wenn es eine Zahl mehr gibt.« »Und ob das auffällt! Die Stanzformen herzustellen, wäre gar nicht schwierig, aber die Zangen müssen genau wie die Blätter von Tynär Stump präpariert werden, sonst beginnt der Seelenschein von der verletzten Stelle aus zu zerfallen. Außerdem sind die Dinger durchlaufend nummeriert. Die Nummern der Toten werden aus dem Verzeichnis gelöscht und jemand anderem zugeteilt.« »Jedenfalls ist es möglich«, sagte ich nachdenklich. »Wozu brauchst du einen höheren Seelenschein?« fragte Helkert verwundert. »Wir führen doch ein ganz angenehmes Leben, oder nicht?« Das stimmte – wenigstens für ihn. Die normale Verpflegung – Dörrfleisch mit schwammigem Brot und abends eine unappetitlich fette Brühe – galt für uns nicht mehr. Wir hatten Anspruch auf frisches Fleisch und Gemüse, sogar auf einen Krug Kromyat pro Tag. Aber ich wollte kein »angenehmes Leben« führen, sondern das Rätsel von Atlantis lösen, und dazu mußte ich Orxeya verlassen. Mit unseren Seelenscheinen war das unmöglich, es sei denn, wir wären zu Fuß und nur mit unseren Schwertern losgezogen. Mit den Nummern würde keine Karawane uns mitnehmen, nicht einmal als Yassel-Treiber – Yassels waren die weißfelligen Reittiere mit dem Horn auf dem Kopf. »Wir wollen weiter«, erklärte ich. »In dieser Stadt können wir nicht bleiben – man wird uns immer als Außenstehende behandeln. Die Quorks, die Askler uns gegeben hat …« »Mit denen bringst du einen Seelenhänd-
Marianne Sydow ler nicht einmal zum Zuhören«, unterbrach Helkert mich. »Dann holen wir uns unser Eigentum zurück«, schlug Razamon vor. »Ich verpasse dem dicken Hasset eine Tracht Prügel, und dann sollt ihr mal sehen, wie gehorsam der Bursche sein kann!« Helkert kicherte. »Den Wunsch hegt jeder zweite erwachsene Bürger von Orxeya«, behauptete er. »Hasset wäre längst nicht mehr ›Gewicht‹, wenn er sich nicht abgesichert hätte. An den kommst du nicht heran!« Razamon war da anderer Ansicht, und ich stimmte ihm im stillen zu. Dennoch war ich gegen den Vorschlag – allerdings aus anderen Gründen. »Wenn wir bei ihm einbrechen und anschließend mit guten Seelenscheinen auftauchen, weiß jeder, was gespielt wurde«, stellte ich fest. »Es muß noch einen anderen Weg geben. Nehmen die Seelenhändler nur Quorks?« »Sie nehmen, was sie bekommen können. Nur den richtigen Wert muß es haben.« Ich hielt es für gegeben, das Gespräch auf andere Themen zu lenken. Helkert meinte es wirklich gut mit uns, und wenn wir jetzt weitersprachen, brachten wir ihn nur unnötig in Gefahr. Später, als wir in dem kleinen Hinterzimmer in Helkerts Haus waren, gab Razamon mir einen Wink und lauschte lange und angestrengt an der Tür. Das war auch nötig. Die kleine Tazzae war ein reizendes Kind, aber sie war auch sehr neugierig. Wir hatten es ihr angetan. Wenn wir sprachen, aßen oder Helkerts Knochenspiel in der Küche trieben, ließ sie uns nicht aus den Augen. Sie würde uns nicht verraten – jedenfalls nicht mit Absicht, und als echtes Kind dieser Stadt war sie klüger und erfahrener, als man hätte annehmen sollen. Aber für sie galt dasselbe wie für ihren Vater. Wir mußten diese Familie aus unseren Plänen heraushalten. »Du denkst an das Lagerhaus, nicht wahr?« fragte Razamon leise. »Ja, natürlich. Sie heben dort nur beson-
Die Seelenhändler
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ders wertvolle Sachen auf. Ich habe gehört, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis die Herren der FESTUNG ihre Sklaven schicken. Das heißt, daß der Schuppen bis obenhin vollgestopft ist.« »Und wie kommen wir herein?« »Über das Dach. Ich habe das Gebäude heute lange genug beobachtet. Es gibt eine Menge schwache Stellen, aber das Dach ist am günstigsten. Es gibt eine Reihe von Luftklappen. Mir sahen die Dinger nicht so aus, als wären sie besonders stark abgesichert. Man kommt auch leicht hinauf, denn die Mauern sind abgestuft.« »Woher weißt du, um welches Gebäude es sich handelt?« »Ich habe Koret gefragt – unauffällig, mach dir keine Sorgen. Der alte Mann bekam eine Gelegenheit, sich wichtig zu machen, das hat ihn sehr gefreut.« »Und worauf warten wir dann noch?« Wir sahen uns an. Es war Nacht. Wenn die Orxeyaner nicht gerade ihre wilden Feste feierten, führten sie ein eher spießbürgerliches Leben. In den Straßen war es nach Einbruch der Dunkelheit bald sehr still. Die Dschungelleute trafen meistens schon bei Tagesanbruch ein, um ihre Waren zu verkaufen, und dementsprechend früh mußten die Händler aufstehen. Nur an den Mauern wurde rund um die Uhr Wache gehalten. Wenn wir nicht ganz besonders viel Pech hatten, würden wir niemanden draußen treffen. »Versuchen wir es«, nickte ich.
* Wir verließen Helkerts Haus durch das Fenster, landeten fast lautlos im weichen Sand des hinteren Hofes und tasteten uns an der Mauer entlang. Ein von Steinen umschlossener, enger Schlauch führte in den vorderen Hof. Bei den eigentlichen Händlern waren dort die Unterstände für die zahmen Yassels zu finden, vielleicht auch ein Wagen, während der hintere Hof überdacht wurde und als Lagerraum diente. Helkerts
Familie konnte sich keinen Yassel leisten, und zu lagern gab es auch nichts. Nimosae und Tazzae hatten statt dessen Gemüsebeete angelegt, die von sauberen Sandwegen eingerahmt wurden. Dadurch ersparten sie sich die gefährliche Arbeit auf den Feldern außerhalb der Mauern. Das Tor war seit langer Zeit nicht mehr geöffnet worden. Helkert hatte es mit dicken Balken verriegelt. Aber es gab eine Reihe von Trittsteinen neben dem Tor, fest in die Wand eingemauert. Razamon kletterte voran und sondierte die Lage. Augenblicke später war er unten auf der Straße und ich folgte ihm eilig. Nebeneinander liefen wir dann durch die Straßen, von einer düsteren Ecke in die nächste, immer wieder atemlos lauschend. Es gab keine Straßenbeleuchtung, und nur hinter wenigen Fenstern brannte noch Licht. Einmal kamen wir an einer Kneipe vorbei, in der gefeiert wurde. Ein total betrunkener Orxeyaner taumelte auf die Straße und fiel hin. Ein paar schwarze Dschungelleute, die jedoch nicht zum Stamm der Keenies gehörten, folgten ihm und plapperten aufgeregt. Endlich verschwanden sie kichernd um die nächste Ecke. Wir verließen den Winkel, in den wir uns geduckt hatten, und rannten weiter. Das Lagerhaus, in dem man die Schätze für die Herren der FESTUNG aufbewahrte, lag direkt am Seelenmarkt, einem der drei größeren Plätze in dieser Stadt. Es unterschied sich von den anderen Häusern dadurch, daß seine Mauern nicht senkrecht aufstiegen, sondern Stufen bildeten. Man konnte wirklich ganz bequem hinaufklettern. Wir merkten auch bald, warum das so war. Das Innere des Gebäudes war in zahlreiche Kammern unterteilt, die jeweils für eine bestimmte Form von Waren bestimmt waren. Oben auf den Stufen gab es Ladeluken – es war gar nicht notwendig, bis zum Dach vorzudringen. Nur Licht fehlte uns. Die erste Luke schwang auf – lautlos, was darauf hindeutete, wie bedeutungsvoll dieser Speicher für die Orxeyaner war. Razamon schwang sich geschickt über den Rand und
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ließ sich fallen. Unten klirrte es leise. Ich starrte abwechselnd nach unten und nach allen Seiten. Bis jetzt sah es so aus, als wären wir unbemerkt geblieben. Razamon tauchte mit einer Handvoll Steine wieder auf. Im schwachen Licht der Sterne sahen wir unsere Beute nur undeutlich. Immerhin schien es sich um Juwelen zu handeln. Sie waren glatt und eiförmig, höchstens einen Zentimeter lang. »Meinst du, daß das reicht?« flüsterte der Pthorer. »Es reicht mit Sicherheit!« behauptete eine polternde Stimme. »Nehmt sie fest und sperrt sie ein!« Orxeyaner tauchten aus allen Winkeln des treppenähnlichen Gebäudes auf und umringten uns. Niemand sprach ein Wort. Razamon schlug wütend um sich und hielt sich die Gegner fast eine Minute lang vom Hals. Dann wurde er von einer geschleuderten Keule am Kopf getroffen und sank zu Boden. Mich hatte man inzwischen längst gefesselt. Im Triumphzug trug man uns quer über den Seelenmarkt, durch einige Gassen, vorbei an Hassets Haus bis zum Gefängnis, das direkt daneben lag. Eine mit Metallstreben verstärkte Tür fiel hinter uns zu. Unser Raubzug in das Depot hatte ein überaus schnelles Ende gefunden.
* »Damit habt ihr euer Schicksal endgültig besiegelt«, verkündete Hasset am nächsten Tag dumpf. Er war zu uns in die Zelle gekommen und hatte über ein Dutzend Männer als Verstärkung mitgebracht. In dem engen Raum konnte man sich kaum rühren. Ich sah mich nach vertrauten Gesichtern um. Man hatte uns verraten – eine andere Erklärung gab es nicht. Helkert und seine Familie schieden aus – aber wer war es dann gewesen? Koret? Der alte Mann mochte uns, jedenfalls hatte ich diesen Eindruck gewonnen. »Caulert war von Anfang an davon überzeugt, daß man sich auf euch nicht verlassen
dürfe«, fuhr Hasset fort und löste damit das Rätsel. »Er ließ euch beobachten. Einige lachten über ihn, aber inzwischen dürfte ihnen das auch vergangen sein. Ihr seid Seelenlose.« »Ach nein«, sagte ich spöttisch. »Ich dachte, die Seelenwaage hätte etwas anderes ergeben?« »Ihr habt die Götter getäuscht«, wies Hasset mich zurück. »Wir wissen längst, daß so etwas möglich ist. Es gilt fast nur für Seelenlose von der guten Art, aber mit eurer Tat habt ihr den Beweis dafür geliefert, daß man euch nicht einmal dieser Gruppe zuordnen kann. Ihr seid böse, Diener düsterer Dämonen, und die Strafe kann nicht hart genug ausfallen.« »Was wirst du tun, wenn die düsteren Dämonen sich rächen?« »Das können sie nicht. Wir dienen den Herren der FESTUNG, wenn wir euch nach dem dritten Sonnenaufgang töten. Die Herren werden uns beschützen. Die Dämonen sind auch ihre Feinde.« »Ihr wollt uns also umbringen?« Hasset betrachtete mich beinahe mitleidig. »Wir werden euch erlösen«, behauptete er, und es sah gar nicht so aus, als fühlte er sich dabei als Lügner. »Eure Körper wissen nichts von den Qualen, die eure Seelen in dieser Zeit leiden. Indem wir eure Körper töten, führen wir die erlösende Vereinigung herbei. Wenn alles vorbei ist, werdet ihr uns dankbar sein, und eure Seelen werden für alle Ewigkeit über uns wachen. Ich gehe jetzt. Ihr habt drei Tage lang Zeit, euch zu besinnen und euch auf das Ende vorzubereiten.« »Zu gütig«, knurrte Razamon, als die Tür zuschlug und die stabilen Riegel in die Halterungen knallten. »Was machen wir jetzt?« »Zuerst binde ich dich mal los. Wir werden schon einen Ausweg finden.« Die Orxeyaner hatten ungeheuren Respekt vor Razamons ungewöhnlichen Kräften. Hasset hätte unsere Zelle gewiß nicht betreten, wenn der Pthorer vor dieser Unterredung seine Bewegungsfreiheit wiedererhal-
Die Seelenhändler ten hätte. Mich selbst hatte man ebenfalls gefesselt, die Stricke jedoch so weit gelockert, daß ich mich selbst befreien konnte – in einem Zeitraum, der ausreichte, um die Tür fest zu verschließen. Nachdem wir die Fesseln loswaren, untersuchten wir unser Gefängnis. Es war aus gewachsenem Fels geschlagen und besaß nur zwei wunde Punkte: Die Tür und ein winziges Fenster, durch das man die Füße der Passanten sehen konnte. Die Tür war von außen mehrfach verriegelt worden – falls Razamon in seine »böse« Phase geriet, würde sie ihm dennoch nicht widerstehen. Allerdings würde er im Zustand sinnloser Gewalt auch mich nicht verschonen. Das Fenster war so winzig, daß man kaum eine geballte Faust hindurchstrecken konnte. »Eine schöne Bescherung«, schimpfte Razamon wütend. »Diesen Caulert möchte ich zwischen die Finger kriegen, dann würde ich ihm eine Lektion erteilen, die er niemals vergißt.« »Das ist ein frommer Wunsch, der sich kaum erfüllen wird.« »Er ist ein undankbarer, aufgeblasener Narr!« fuhr Razamon unbeeindruckt fort. »Zweifellos«, stimmte ich zu. »Aber damit ist uns nicht geholfen. Wir werden darauf dringen, daß man uns noch einmal auf die Seelenwaage legt.« »Hasset wird dir gar nicht erst zuhören.« »Er muß. Ich warte, bis man uns zu dieser Hinrichtung führt. Wie ich die Orxeyaner kenne, machen sie eine große Schau daraus. Wir werden also eine Menge Zuschauer bekommen. Unter den Leuten von der Stadtwache sind bestimmt noch einige, die für uns eintreten werden.« Mein Extrasinn gab einige pessimistische Impulse ab und Razamon hielt eine Antwort für unnötig. Ich wußte selbst, daß unsere Chancen denkbar gering waren. Ich verfluchte die Idee, dem Pthorer auf diese verrückte Insel zu folgen, um das Rätsel von Atlantis zu lösen. Wenigstens hätte ich mich besser auf dieses Unternehmen vorbereiten müssen. Früher, vor langer Zeit, ehe ich auf
33 diesem Planeten Erde strandete, hatte ich eine Menge merkwürdiger Abenteuer erlebt, und es hatte sich immer ein Ausweg gefunden. Aber das lag so weit zurück, daß ich mich kaum noch daran erinnerte. Jetzt fühlte ich mich unter diesen rauhen Händlern beinahe hilflos. Wo blieben die Mutanten? Warum unternahm Rhodan nicht endlich etwas? Ich versuchte nachzurechnen, wie lange wir schon auf Pthor herumirrten, aber ich kam zu keinem Ergebnis. Es war verabredet worden, daß die Strukturlücke in den Energieschirmen zu bestimmten Zeitpunkten geöffnet wurde, aber entweder war draußen etwas schiefgegangen, oder wir hatten den richtigen Moment verpaßt, jedenfalls waren unsere Versuche fehlgeschlagen. Und jetzt steckten wir in dieser muffigen, stinkenden Zelle, und die Händler wollten uns töten, in der lobenswerten Absicht, unsere leidenden Seelen zu erlösen. Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Der Energieschirm – sollte er irgendwo eine Strukturlücke besitzen – ließ vielleicht wenigstens meine Gedanken durch. Ich rief nach Gucky, der noch am ehesten imstande war, selbst den schwächsten Impuls aufzufangen, aber ich erhielt keine Antwort, und es materialisierte auch niemand in der Zelle. »Pst!« machte es von dem winzigen Fenster her. Ich fuhr so heftig herum, daß ich mit dem Ellbogen gegen einen vorspringenden Stein rammte. »Helkert ist bei Tynär Stump!« sagte Tazzae leise. »Nimosae schickt euch das hier. Macht euch keine Sorgen!« »Danke«, sagte ich heiser, aber das Mädchen war bereits verschwunden. Wir öffneten das dünne, schmale Paket und fanden darin gebratenes Fleisch, etwas Obst und einen zusammengewickelten Fladen Haferbrot – Nimosae mochte das schwammige Erzeugnis der etablierten Bäcker gar nicht gerne. Wir hatten alles gerade in gerechte Portionen geteilt, da machte es schon wieder »Pst!«
34 »Die Becher!« flüsterte Tazzae. »Die Verpackung könnt ihr auffalten.« Das war uns vorher nicht aufgefallen. Wir folgten ihrem Rat und hielten die beiden ziemlich großen Becher unter das Fenster. Draußen hob Tazzae einen Krug an. Sie zielte ausgezeichnet – kein Tropfen ging daneben. Zu unserer großen Erleichterung hatte sie uns keinen Kromyat gebracht, sondern frisches Wasser aus dem nächsten Brunnen. Der Beerenwein schmeckte zwar nicht schlecht, aber wenn man zuviel davon trank, vernebelte er das Gehirn. Das Mädchen entfernte sich schnell – sie fürchtete wahrscheinlich, von den Wachen bemerkt zu werden. Während wir aßen und tranken, zerbrachen wir uns den Kopf darüber, was Helkert bei Tynär Stump zu erreichen gedachte. Stump war der Seelenerschaffer, und er präparierte die Blätter des Bmuuhr-Baumes – das war alles, was wir über den rätselhaften Mann wußten. Wir hatten ihn nie gesehen, und die Orxeyaner sprachen selten von ihm. Nur Nimosae hatte ein paar Bemerkungen gemacht, die darauf schließen ließen, daß Stump hinter jedem weiblichen Wesen in der Stadt her sei. Die Zeit verging – sie erschien uns einerseits unerträglich lang, andererseits viel zu kurz. Jede Sekunde brachte uns dem Tod näher. Gegen Abend kam Tazzae noch einmal, versorgte uns mit Lebensmitteln und Wasser und versicherte uns abermals, daß Helkert für alles sorgen werde. Sonst kümmerte sich niemand um uns. Hasset hielt es nicht für nötig, uns etwas Eßbares liefern zu lassen. Die Nacht verbrachten wir auf dem nackten Boden, und am nächsten Tag fühlten wir uns wie zerschlagen. Mir schmerzte jeder einzelne Muskel. Durch das winzige Fenster beobachteten wir die Orxeyaner, die früh auf den Beinen waren und ihren Geschäften nachgingen. Tazzae ließ uns warten. Als wir schon dachten, sie hätte uns vergessen, stand sie plötzlich vor dem Fenster. »In einer Stunde«, flüsterte sie uns zu. »Habt Geduld.«
Marianne Sydow Was war in einer Stunde? Hatte man unsere Hinrichtung auf einen früheren Termin angesetzt? Oder waren wir bis dahin frei? Tazzae verriet es uns nicht. Sie fuhrwerkte mit einem gigantischen Besen vorbei und kehrte nicht mehr zurück. Etwas später rumorte es an der Tür. Razamon nickte grimmig und hob die Fäuste. »Abwarten«, sagte ich leise. »Vielleicht ist es Helkert.« Aber man würde einem Mann, dessen Seelenschein genauso wertlos wie die unseren war, keine Besuchserlaubnis erteilen. Es war tatsächlich nicht Helkert. Als die Tür aufschwang, stand ein unglaublich fettes Individuum vor uns, das selbst in einer Stadt wie Orxeya Aufsehen erregen mußte. Zu allem Überfluß trug der Fremde nicht die übliche Lederkleidung, sondern ein viel zu enges Gewand aus dünnem, seidigem Stoff, das erbarmungslos auch die letzte Speckfalte nachzeichnete. »Laßt uns allein!« befahl der Dicke und scheuchte die Wächter davon. Dann wandte er sich uns zu – in einer nach seinen Begriffen vermutlich herrschaftlichen Gebärde. Ich rammte Razamon den Ellbogen in die Rippen, denn der Pthorer grinste höchst verdächtig. »Ich bin Vessadem, der reichste Seelenhändler dieser Stadt«, verkündete er herablassend. »Ich dachte, Tynär Stump hätte diesen Posten inne«, brummte ich und bemühte mich, ernst zu bleiben. Diese Sorte von Menschen kannte ich – sie vertrugen es absolut nicht, wenn man über sie lachte. »Stump ist der Seelenerschaffer«, korrigierte Vessadem näselnd. »Als solcher steht er sogar über Hasset – auch wenn dieser es nicht gerne zugibt. Mir jedoch fällt die Vermittlung zu. Aber das ist im Augenblick unwichtig. Ein Mann namens Helkert kam und rühmte eure Geschicklichkeit und eure Kampfkraft. Ehrlich gesagt, bei eurem Einbruchsversuch habt ihr euch nicht gerade diesem Ruf entsprechend benommen.« Ausgerechnet dieser fette Zwerg mußte
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uns diese Niederlage unter die Nase reiben! »Dennoch gebe ich zu, daß ihr einige erstaunliche Dinge vollbracht habt. Auch Tynär Stump ist beeindruckt. Er mochte euch sehen. Folgt mir!« Sprach's und wandte sich um. Wir sahen uns ratlos an, aber da kein Wächter sich blicken ließ und die Tür offenstand, marschierten wir hinterher. Draußen auf der Straße beachtete uns niemand. Man tat als bestünden wir aus Luft. Einmal tauchte Tazzae auf, blinzelte uns verschwörerisch zu und verschwand wieder. Dieselben Straßen und Gassen hatte man uns eine Nacht zuvor entlanggetrieben. Jetzt schien es, als wären wir frei. Allerdings ließ sich mit dieser Freiheit nicht viel anfangen, denn man hatte uns sogar Thalias Schwerter abgenommen. Vessadem führte uns quer über den Seelenmarkt bis zu einem unscheinbaren Tor. Er betätigte den Türklopfer, und eine nach einheimischen Maßstäben sehr reizvolle junge Frau erschien. Sie gab schweigend den Weg frei. Verblüfft sah ich mich um. Wir standen in einem geräumigen Innenhof mit überdachten Säulengängen an den Seiten. In der Mitte sprudelte ein Brunnen, und überall wuchsen Zierpflanzen. So etwas gab es in ganz Orxeya nicht, denn die Händler waren ungemein praktisch veranlagt. Ein nicht eßbares Gewächs beachteten sie gar nicht erst. Die Wege zwischen den Beeten und Rabatten waren mit farbigen Steinplatten belegt. Ein paar sehr junge Mädchen, die auffallend zierlich gebaut waren, huschten in den Schatten nahe den Wänden. Vessadem lächelte zufrieden und winkte uns weiter. Ein mit reichen Schnitzereien verziertes Tor öffnete sich, dann standen wir in einem hellen, freundlichen Raum, und aus einem Sessel erhob sich ein zerbrechlich wirkender Mann. Wir waren am Ziel.
5.
Tynär Stump winkte nur kurz, und Vessadem zog sich hastig zurück. Der vorher so selbstbewußt auftretende Seelenhändler hatte vor diesem zierlichen Orxeyaner einen ganz gehörigen Respekt. »Ihr seid also die beiden Fremden«, stellte Stump fest. Seine Stimme paßte zu seiner fast ätherischen Erscheinung. Er sprach leise, aber mit einer undefinierbaren Autorität. Er ging an einem der großen Fenster vorbei, und in diesem Augenblick sah ich, daß die Luft um ihn herum flimmerte, als wäre er von einem Energieschirm eingehüllt. Er bedeutete uns, daß wir uns irgendwo hinsetzen sollten, dann brachte er uns eigenhändig Becher mit frischem Fruchtsaft. »Ich vertrage den Kromyat nicht«, sagte er entschuldigend. »Er beeinträchtigt die Fähigkeiten meiner Seele.« Ich verstand kein Wort, aber ich war froh, daß wir nicht schon wieder mit dem hochprozentigen Gebräu traktiert wurden. »Ich habe gehört, daß ihr jedes Problem lösen könnt«, fuhr Stump fort, machte eine nachdenkliche Pause und starrte in seinen Becher. Der gute Helkert mußte wohl das Blaue vom Himmel heruntergelogen haben! »Natürlich stimmt das nicht; denn sonst wärt ihr nicht in Schwierigkeiten geraten. Dennoch denke ich, daß ihr mir helfen könnt. Für diese Aufgabe kommen leider nur Leute in Frage, die nicht in dieser Stadt leben – für immer, meine ich. Es ist eine sehr delikate Angelegenheit, und ich muß mich auf eure Verschwiegenheit verlassen können.« »Wir haben nicht viel zu verlieren«, sagte ich gelassen. Tynär Stump lächelte flüchtig. »Das stimmt. Darum geht es unter anderem auch.« Er beugte sich in seinem Sessel vor und ergriff ein Blatt, das in einer Schale lag. »Ihr wißt, was das ist. Oder nein, ihr wißt, was daraus gemacht wird. Es ist ein einfaches Blatt. Zu bestimmten Zeiten schicke ich meine Helfer aus, die eine begrenzte Anzahl von diesen Blättern holen. So, wie sie
36 jetzt sind, nützen sie niemandem etwas. Man kann sie nicht essen, sie enthalten auch keine heilenden Stoffe, und wenn man nichts unternimmt, sind sie innerhalb weniger Stunden verdorrt. Schlaue Leute haben sie in Leder gewickelt oder in Töpfe gesteckt – aber da faulten sie. Und nun paßt auf!« Er hielt das Blatt vor seine Brust und betrachtete es aufmerksam. Das Flimmern um ihn herum verstärkte sich. Es schien, als sitze er gar nicht mehr in dem Sessel, sondern schwebe ein paar Millimeter darüber. Das Blatt wurde dunkler, das Grün intensiver. Eigentlich war nicht viel zu sehen, aber eine ungeheure Spannung bannte mich an meinen Platz und Razamon schien es nicht anders zu ergehen. Als Tynär Stump das Blatt lächelnd von sich streckte, atmete ich unwillkürlich auf. »Seht es euch genau an!« befahl er. »Nehmt es in die Hand.« Ich saß dem Seelenerschaffer am nächsten. Als ich das Blatt berührte, wußte ich, was geschehen war. Aus dem ganz normalen Blatt war ein Seelenschein geworden. Ich reichte das Ding an Razamon weiter. Der Pthorer nickte. »Nur die Nummer fehlt noch«, bemerkte er. Tynär Stump lächelte abermals. »Ja, die Nummer. Auch das ist ein Problem, aber längst kein so großes wie der Schein selbst. Das Flimmern um mich herum ist meine Seele Sie ist so groß und stark, daß sie innerhalb meines Körpers keinen Platz mehr findet, und darum ist sie nach außen getreten. Die Blätter des Bmuuhr-Baumes reagieren auf meine Seele, indem sie sich verfestigen und auf eine unnachahmliche Weise präpariert werden. Erst, wenn sie über einen längeren Zeitraum keinen Kontakt zu einem lebendigen Träger hatten, verliert sich diese Kraft, und die Seelenscheine zerfallen.« Stump beugte sich vor und sah uns ernst an. »Wie gesagt, man hat versucht, Fälschungen herzustellen. Es ist niemals gelungen –
Marianne Sydow bis vor einer Reihe von Tagen. Da tauchten auf dem Seelenmarkt Scheine auf, die echt waren, und die mit mir niemals in Berührung gekommen sind. Begreift ihr, was das bedeutet?« Natürlich begriffen wir es. Stumps Monopol war nun in Gefahr. Und damit nicht genug: Hasset und alle anderen, die unter dem bequemen Deckmantel dieser obskuren Machenschaften ein angenehmes Leben führten, würden Schwierigkeiten bekommen. Am liebsten hätte ich Tynär Stump ausgelacht – mir war es nur recht, wenn der ganze Seelenrummel ein Ende fand. Vielleicht war es früher bei diesem Geschäft korrekt zugegangen, und sicher hatte man triftige Gründe gehabt, die Seelenscheine überhaupt erst einzuführen. Aber jetzt war das System krank, die Wurzel verfault, und was blieb, was ein Gestrüpp aus Korruption und Unterdrückung. »Ihr haltet nicht viel von unserer Gesellschaft«, sagte Stump, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Ihr vergeßt dabei eines: Nichts geschieht ohne Grund. Es stimmt, daß man einigen Leuten absichtlich niedrige Seelennummern aufzwingt, um sie aus dem Weg zu räumen, und es stimmt auch, daß man hohe Scheine meistbietend verkauft. Aber die meisten hohen Scheine, die auf den Markt gelangen, stammen von den Schlächtern, die nach Kalmlech zogen. Nur ein Händler mit außergewöhnlichen, genau bestimmbaren Fähigkeiten hat eine Chance, von den Abgesandten der Horden empfangen zu werden. Wer mit den Horden der Nacht handeln will und die nötigen Voraussetzungen nicht mitbringt, ist verloren. So ernährt sich der Handel mit den Scheinen aus sich selbst heraus. Unwürdige sind es, die in Kalmlech sterben, und Unwürdige sind es, die die freigewordenen Seelenscheine erwerben. Es wäre leicht, diesem Treiben ein Ende zu setzen aber die Zeit ist nicht reif dazu. Die Herren der FESTUNG schweigen – sie sind in letzter Zeit überhaupt sehr sparsam mit Zeichen und Hinweisen umgegangen. Jedenfalls können wir nichts tun, ohne
Die Seelenhändler von ihnen dazu aufgefordert zu sein.« »Wir sollen herausfinden, woher die falschen Seelenscheine stammen«, stellte ich fest, ohne auf die heikle Frage nach den Bewohnern der geheimnisvollen FESTUNG einzugehen. »Sie sind nicht falsch«, verbesserte Stump. »Sie passen nur nicht in das System.« »Es gibt viele fähige Männer in Orxeya«, sagte Razamon gedehnt. »Sie haben noch dazu den Vorteil, sich mit den Verhältnissen auszukennen.« »Gewiß«, stimmte der Seelenerschaffer grimmig zu. »Und sie würden die passende Gelegenheit beim Schopf ergreifen und sich selbst auf den Posten des ›Gewichts‹ heben. Abgesehen davon würden sie keine Skrupel haben, mich zu erpressen. Sobald man in Orxeya erfährt, daß die Scheine von einem anderen als dem rechtmäßigen Seelenerschaffer stammen, wird der Teufel los sein. Jeder wird gegen jeden kämpfen, und die Stämme aus dem Blutdschungel werden sich mit Freuden auf uns stürzen, um uns auszurotten.« »Ich verstehe. Gibt es Hinweise?« Stump blickte Razamon düster an. »Nein«, antwortete er knapp. »Ich habe mich umgehört. Aber niemand scheint etwas zu wissen.« »Welche Bedeutung hat Vessadem?« »Er ist einer von denen, die die Scheine der Toten weiterverkaufen.« »Und das erlaubst du?« fragte ich überrascht. Stump lächelte bitter. »Es bleibt mir nichts anderes übrig. Im Augenblick sind mir Kreaturen wie Vessadem sogar noch lieber als die Leute, die die neuen Scheine in Umlauf bringen. Vessadem verkauft Seelenscheine, deren Nummern im Register erhalten bleiben, und das paßt in das System.« Ich erinnerte mich plötzlich an jenen Mann, den Helkert mir gezeigt hatte, damals, auf dem Siegesfest. Zelat – ein Orxeyaner, der Tynär Stump sogar ähnlich sah.
37 Helkert hatte Zelat als den Vertrauten des Seelenerschaffers bezeichnet. Warum hatte Stump nicht ihn geschickt? Weil er ihm mißtraut! raunte mein Extrasinn, ehe ich die entsprechende Frage stellen konnte. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden dürfte nicht rein zufällig sein. Hasset hatte von Stumps Weibergeschichten gesprochen. Und draußen liefen etliche junge Mädchen herum. »Wenn wir Erfolg haben«, sagte Razamon nachdenklich, »was bringt uns das ein?« »Gute Seelenscheine«, antwortete Stump prompt. »Ich habe gehört, daß ihr möglichst bald weiterziehen wollt. Wohin ihr dann geht, ist nicht meine Sache. Ihr wißt nun, daß der Seelenschein allein nicht ausreicht, um heil nach Kalmlech und zurück zu gelangen. Aber ich will euch nicht vorschreiben, welchen Weg ihr zu wählen habt.« »Wir nehmen an«, nickte Razamon, nachdem wir uns mit einem kurzen Blick verständigt hatten. »Aber wir stellen eine Bedingung: Wir wollen die Quorks und das Parraxynt zurückhaben.« »Hasset hat diese Dinge beschlagnahmt«, sagte Stump. »Ich fürchte, ich kann euch in diesem Punkt nicht helfen.« »Warum nicht?« Stump wand sich in seinem Sessel. »Hasset ist mächtiger als ich.« »Er hat dich in der Hand«, verbesserte Razamon sanft. »Wir hörten etwas von einem Traumkraut und einigen Mädchen …« »Das geht euch nichts an«, fuhr der Seelenerschaffer hastig dazwischen. »Außerdem hat es mit unserer Angelegenheit nichts zu tun. Wenn alles erledigt ist, können wir noch einmal darüber reden, denn dann ist meine Position wieder das, was sie sein sollte. Für jetzt muß es reichen, daß ich euch vor dem sicheren Tod bewahre.« »Und wenn Hasset sich an unsere Abmachungen nicht hält?« »Er ist hier im Hause. Wir werden mit ihm sprechen, und ihr werdet sehen, daß er nachgeben muß: Er kann gar nicht anders.« Razamon schwieg. Wir dachten vermut-
38 lich beide dasselbe: Wenn Stumps Macht ausreichte, uns, die angeblich Seelenlosen, zu retten, dann mußte es für ihn relativ einfach sein, auch unseren Besitz wiederzubeschaffen. Ich hatte das sehr bestimmte Gefühl, in höchst unsaubere Geschäfte verwickelt zu werden. Das macht nichts, tröstete der Extrasinn. Lieber ein unsauberes Geschäft als eine saubere Hinrichtung. Wie wahr, dachte ich ärgerlich. Etwas Ähnliches habe ich doch vor etlichen Tagen schon einmal gehört oder irre ich mich? Keineswegs. Aber du mußt zugeben, daß es stimmt. Aus einem Geschäft kann man aussteigen – versuch' das mal mit einem Grab, wenn man dir erst den Kopf abgeschlagen hat! Du wirst geschmacklos! Ich bemühe mich nur, dir den Ernst der Lage beizubringen. Mit diesen Gaunern wirst du schon fertig werden – wozu hast du mich? Ein Henker dagegen läßt selten mit sich reden. Ich gab es auf. Inzwischen waren wir durch einen düsteren Flur in einen anderen Raum gegangen. Tygon Hasset hockte mit düsterer Miene auf einer Bank. Er sah so breit und massig aus, daß mir plötzlich der Beiname »Gewicht« als überaus passend erschien. Der Raum war allerdings auch nicht dazu angetan, jemanden fröhlich zu stimmen. Das Zimmer war groß und düster von Fackeln und einem Kaminfeuer erhellt. Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt, der Boden bestand aus schwarzen, rot geäderten Steinplatten. An den Wänden hingen grausige Masken, Tier und Menschenschädel und allerlei anderer Kram. Razamon starrte wie hypnotisiert auf ein graues Metallstück – es handelte sich ohne Zweifel um ein Bruchstück vom Parraxynt. In dem ungewissen, tanzenden Licht ließen sich die Gravuren nicht erkennen. »Ich beanspruche diese beiden Männer für einen wichtigen Auftrag«, sagte Tynär Stump.
Marianne Sydow Hasset winkte verächtlich ab. »Vessadem hat mir bereits die Ohren vollgesungen. Du weißt, daß es gegen das Gesetz ist. Es sind Seelenlose, und unsere Pflicht besteht darin, die beiden zu töten. Gib sie frei!« Der Seelenerschaffer schien um einige Zentimeter zu wachsen. Die ihn umgebende Aura wurde deutlich sichtbar. Die züngelnden Flammen des Feuers spiegelten sich darin – es sah tatsächlich so aus, als würde Stump mitten in einem geisterhaften Feuer stehen. »Das Gesetz solltest du dir noch einmal genau ansehen!« sagte er, und plötzlich dröhnte seine Stimme wie einer jener chinesischen Gongs, die man noch in alten Tempeln finden konnte. »Und was die Frage der Seelenlosen betrifft …« »Halt!« rief Hasset entsetzt und sprang auf. »Willst du die Angelegenheit der Götter vor zwei dahergelaufenen Fremden besprechen? Ich befehle dir …« »Du hast mir nichts zu befehlen!« dröhnte Stump zurück. »Aber da du vor Angst fast im Boden versinkst, will ich dich für diesmal schonen. Wartet draußen!« Das galt uns, und obwohl wir wirklich nicht abergläubisch waren, beeilten wir uns, dem Befehl Folge zu leisten. In diesem Augenblick erweckte Stump tatsächlich den Anschein, mit dunklen Mächten in Verbindung zu stehen. Wir warteten in einem Nebenraum. Die Tür war zu dick, als daß wir die Unterhaltung hätten belauschen können. Nach einiger Zeit stampfte Hasset an uns vorbei ins Freie. Stump kam hinter ihm her und lächelte zufrieden. »Dieses Problem ist gelöst«, verkündete er. »Ihr könnt an die Arbeit gehen.« Damit waren wir entlassen. Stump ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß unsere Anwesenheit nicht länger erwünscht war. Draußen sahen wir uns noch einmal um. Das Haus des Seelenerschaffers sah eigentlich ganz normal aus, aber es schien, als schwebte ein dunkler Schatten um die alten Mauern.
Die Seelenhändler
39
* Helkert und seine Familie begrüßten uns mit überschwenglicher Freude. Nimosae machte sich sofort daran, ein Festmahl vorzubereiten – je länger wir sie kannten, desto größer wurde unsere Achtung vor ihr. Sie war unansehnlich und dick, aber sie leistete Erstaunliches, und was immer auch geschah, jeder konnte sich auf sie verlassen. Natürlich wollte Helkert wissen, was bei dem Unternehmen herausgekommen war. Wir erzählten es ihm, während wir draußen auf dem hinteren Hof aufs Essen warteten. Tazzae brachte uns etwas zu trinken und blieb unauffällig in der Nähe. Mir wäre es lieber gewesen, das Mädchen außer Hörweite zu schicken, aber da Helkert nichts sagte, hielt ich ebenfalls den Mund. Immerhin hatte Tazzae unseretwegen einiges riskiert. Hätte ein Wächter sie vor dem Gefängnis erwischt, so wäre ihr eine gehörige Tracht Prügel sicher gewesen. »Die falschen Seelenscheine«, nickte Helkert nachdenklich. »Sieh mal einer an. Ich hatte also doch recht.« »Was weißt du darüber?« »Nicht viel. Sieh mal, wir kontrollieren die Einwohner von Orxeya normalerweise nicht an den Toren. Aber manchmal macht jemand Dummheiten. Vor ungefähr vier Wochen kam ein Mann aus dem Blutdschungel. Damals steckten wir mitten in den Auseinandersetzungen mit den Keenies, und es gab kaum jemanden, der in Richtung Wald marschierte. Gut, der Kerl trabte in einer Kampfpause vor das Tor und brachte zehn Grendts mit. Das sind auch Wilde, die sehen den Keenies ziemlich ähnlich. Uns kam das komisch vor, denn die Grendts haben vor den Keenies eine Heidenangst, und sie hatten sich seit Beginn der Feindseligkeiten nicht blicken lassen. Also sagte wir uns, da ist etwas faul, und als wir die Grendts durchsuchten, fanden wir in ihren Taschen eine Menge Bmuuhr-Blätter. Daraufhin nahmen wir uns den Händler vor. Er gehörte
nicht zu den Leuten, die für Stump arbeiten, und so fragten wir ihn mit Recht, was er mit den Blättern anfangen wolle. Er tat, als hätte er von nichts eine Ahnung. Nun ließen wir uns seinen Seelenschein zeigen, und der war in Ordnung. Zufällig kannte aber einer meiner Leute die Nummer – der Schein gehörte eigentlich einem reichen Händler, der am Tongmäer wohnt. Wir nahmen den Mann fest und brachten ihn zu Tynär Stump.« »Warum nicht zu Hasset?« »Er ist dafür nicht zuständig.« »Was geschah?« fragte ich ungeduldig, als Helkert nachdenklich schwieg. »Nichts. Das war ja das Merkwürdige daran. Der Händler am Tongmäer erfreute sich bester Gesundheit – über den Schwarzhandel konnte der Seelenschein nicht auf den Markt gekommen sein. Stump befahl uns, den Mann zu holen, und dann verschwand er mit den beiden in seinem Haus. Einige Zeit später tauchten die drei wieder auf, und Stump verkündete, es sei alles in bester Ordnung, es hätte nur eine kleine Verwechslung stattgefunden.« »Das ist immerhin ein Ansatzpunkt«, murmelte Razamon nachdenklich und kratzte im Sand herum. »Jemand schmuggelt Bmuuhr-Blätter in die Stadt – wo finden wir nun denjenigen, an den die künftigen Seelenscheine verkauft werden?« »Vielleicht gibt es gar keinen Käufer.« Razamon sah mich überrascht an. »Wie meinst du das?« »Stump hat uns erklärt, daß die Blätter in seiner angeblichen Seele präpariert werden. Na und? Das kann doch jeder tun. Wenn er schläft, kann er nicht nachprüfen, was jemand mit seiner Seele anstellt. In seinem Haus laufen die Mädchen dutzendweise herum. Vielleicht hat eines von ihnen diese Nebeneinnahme entdeckt.« »Wenn das stimmt, haben wir den Fall schon gelöst«, sagte Razamon überrascht. Helkert schwieg. Tazzae sah aus, als wollte sie etwas sagen, senkte dann aber den Kopf. Ich nahm mir vor, bei der nächsten Gelegenheit mit dem Mädchen zu reden.
40 Tazzae wußte etwas, das war sicher. Ob es etwas mit den falschen Seelenscheinen zu tun hatte, war eine andere Frage. Nach dem Mittagessen besuchten wir den Seelenerschaffer noch einmal. Eigentlich hätten wir von selbst darauf kommen müssen, daß die Lösung des Rätsels nicht so einfach sein würde. Stump hatte genug Zeit gehabt, sich mit dieser Frage zu befassen. Er versicherte uns, daß niemand gegen seinen Willen innerhalb der Seelenaura ein Blatt in einen Seelenschein verwandeln konnte. Und während des Schlafes funktionierte erst recht nichts. »Schade!« sagte Razamon, als wir wieder draußen auf dem Seelenmarkt standen. »Nun müssen wir uns doch den Kopf zerbrechen.« »Dann wollen wir gleich hier damit anfangen. Die Seelenhändler sind bestimmt nicht weniger habgierig als alle anderen Orxeyaner. Komm, wir werden ein paar Gerüchte in Umlauf setzen.« Obwohl der Handel mit den Seelenscheinen gegen das Gesetz verstieß, wurde er ganz offen gehandhabt. Rund um den Platz gab es ein paar Schmiedewerkstätten. Unter ihren breiten, rußgeschwärzten Vordächern traf man sich völlig ungeniert. Hasset hatte uns unsere Seelenscheine abgenommen, und das hatte sich bereits herumgesprochen. Hinzu kamen unsere Besuche bei Tynär Stump. »Glück gehabt?« fragte ein Orxeyaner uns, als wir unter dem ersten Vordach eintrafen. »Leider nicht«, antwortete ich mißmutig. »Kannst du uns einen Rat geben?« »Das kommt darauf an«, war die prompt erteilte Antwort. Ich sah mich um und vergewisserte mich, daß außer Razamon niemand in unmittelbarer Nähe war. »Hasset hat uns vierzig gute Quorks abgenommen«, erklärte ich leise. Der Händler nickte gleichmütig. »Aber sie waren nicht unser einziger Besitz.« »Das Stück vom Parraxynt hat euch das ›Gewicht‹ nicht zurückgegeben.« Der Mann war gut informiert.
Marianne Sydow »Trotzdem hat er etwas übersehen«, behauptete ich. »Er hätte uns gründlicher durchsuchen müssen, als er uns zum erstenmal traf. Danach waren wir natürlich gewarnt.« Der Händler blinzelte überrascht. Sein Interesse war geweckt. »Ihr habt also doch etwas in die Stadt geschmuggelt«, raunte er. »Ich dachte es mir fast. Männer wie ihr lassen sich nicht so einfach ausplündern. Das Versteck ist natürlich gut gewählt?« Ich lächelte nur, und der Händler rieb sich die Hände. Eine andere Antwort hatte er gar nicht erwartet. »Angenommen, ich hätte einen Seelenschein – was bekäme ich dafür?« »Nichts. Wir brauchen nicht einen, sondern zwei Scheine – gute, die es uns erlauben, eine Karawane auszurüsten.« Der Händler war nahe daran, die Fassung zu verlieren. Er mußte automatisch annehmen, daß wir einen wahren Schatz versteckt hatten, denn wie hätten wir sonst zwei Scheine bezahlen und hinterher noch die Kosten für eine eigene Expedition aufbringen sollen? »Ich werde das Geschäft mit euch machen«, versprach er hastig. »Ihr könnt euch auf mich verlassen. Sofort werde ich die nötigen Erkundigungen einziehen, und ich versichere euch, daß ich ganz ausgezeichnete Verbindungen habe. Ihr müßt mir nur eines versprechen: Redet mit niemandem darüber!« »Auf dieses Versprechen wirst du verzichten müssen. Wir haben es eilig. Wer uns zuerst die beiden Scheine anbietet, der macht das Geschäft. Da du die besten Beziehungen hast, wirst du mit einiger Wahrscheinlichkeit auch als erster die Ware liefern. Für den Fall, daß deine Verbindungen ausnahmsweise versagen, müssen wir uns absichern.« Das gefiel dem Händler gar nicht, aber er gab sich große Mühe, seine Enttäuschung nicht zu zeigen. Mir dagegen kam es darauf an, den Weg zu dem falschen
Die Seelenhändler »Seelenerschaffer« zu finden. Ich zweifelte nicht daran, daß dieser Händler uns die gewünschten Scheine besorgen konnte – auf dem normalen Weg. Und damit war uns nicht geholfen. Er verabschiedete sich hastig, versicherte noch einmal, daß wir uns auf ihn verlassen könnten, und eilte davon. Ich hatte längst bemerkt, daß andere Interessenten uns aufmerksam beobachteten. Es dauerte nicht einmal eine Minute, da war der nächste Händler zur Stelle. »Es ist eine Schande, wie Hasset euch behandelt hat«, begann er vorsichtig. »Ohne euer Eingreifen würden wir uns wahrscheinlich immer noch mit den verflixten Keenies herumärgern. Ausgerechnet euch die Seelenscheine abzunehmen … Übrigens bin ich euch zu Dank verpflichtet, auch wenn ihr das gar nicht wißt. In einem Haus direkt am Tor hatte ich wertvolle Ware zu liefern. Wenn den Schwarzen der Durchbruch gelungen wäre, hätten sie mindestens ein paar Häuser in Brand gesetzt. Mir wäre wohler, wenn ich euch noch bei der Stadtwache wüßte. Aber ohne Seelenschein nimmt man euch nicht einmal dort wieder auf.« »Das haben wir gemerkt«, nickte ich. »Und noch einiges mehr. Uns hält nichts mehr in dieser Stadt. Wir werden weiterziehen.« »Zu Fuß?« »Wo denkst du hin? Gibt es nicht genug Yassels auf den Weiden? Und sollen wir unseren Proviant etwa selbst tragen?« »Yassels bekommt man nicht umsonst, vom Proviant ganz zu schweigen.« »Das ist mir bekannt.« »Aber vielleicht weißt du noch nicht, daß zu einem solchen Vorhaben eine Erlaubnis eingeholt werden muß.« »Ich weiß auch das. Die Erlaubnis erhält man nur, wenn man einen Seelenschein mit einer entsprechend hohen Nummer vorweist.« »Ihr beide habt solche Scheine nicht.« »Noch nicht!« Der Orxeyaner legte den Kopf schief und
41 sah mich aus halbgeschlossenen Augen an. »Ich dachte bereits daran«, sagte er schleppend, »euch einen kleinen Gefallen zu tun. Zufällig habe ich zwei Seelenscheine zur Hand. Einfache, mit ziemlich niedrigem Wert, aber für die Stadtwache hätte es gereicht. Aber wie ich sehe, hat sich die Situation geändert. Hast du auch schon eine Vorstellung davon, was du dir da vorgenommen hast?« »Wir können zahlen – und wir werden es auch tun.« »Mit dem Messer?« Ich lachte ihm ins Gesicht. »Du denkst, dein Freund wäre aus Angst vor uns so schnell davongelaufen, wie? Das ist ein Irrtum. Er rennt, weil er ein Geschäft retten will. Und ich fürchte, daß er sich sehr beeilen muß. Sicher ist er nicht der einzige Seelenhändler, der sich seiner guten Beziehungen rühmen darf.« »Ich habe verstanden, Fremder. Und was meinen Freund Serret betrifft – er wird das Rennen verlieren!« »Mir kann es recht sein. Je eher wir aus dieser Stadt herauskommen, desto besser. Erholsam war unser Aufenthalt wahrhaftig nicht!« Vielleicht hatte dieser Händler wirklich die größeren Chancen, vielleicht aber spielte er auch nur Theater. Er rannte jedenfalls nicht, sondern entfernte sich sehr würdevoll. Und nach ihm erkundigten sich noch ein halbes Dutzend anderer Händler nach unseren Plänen. Wir gaben jedem bereitwillig Auskunft. Bald war jeder auf dem Seelenmarkt davon überzeugt, daß wir etwas sehr Wertvolles in ein sicheres Versteck geschafft hatten, ehe Hasset uns auf die Schliche gekommen war. Für die Frage, warum wir trotz unseres Reichtums bei der Stadtwache gelandet waren und sogar das Wagnis mit dem Überfall eingegangen waren, fanden die Orxeyaner eine einfache Lösung: Man nahm an, wir hätten unsere Ersparnisse um jeden Preis schonen wollen. Inzwischen ging der Nachmittag vorbei, der Abend brach herein, und nur die glühen-
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Marianne Sydow
den Schmiedefeuer sandten noch einen Lichtschein auf den Seelenmarkt hinaus. Fast alle Händler waren verschwunden – sie jagten unseren nicht vorhandenen Schätzen nach. Wir bekamen Hunger und Durst und überlegten bereits, ob wir es für heute genug sein lassen sollten. Da tauchte aus der Dunkelheit eine gebeugte Gestalt auf, die langsam näher schlurfte. »Ich habe gehört, daß ihr etwas sucht«, sagte der Orxeyaner leise, als er vor uns stand. »Ich kann euch echte Seelenscheine liefern – sofort!«
6. Wir starrten den Fremden überrascht an. So schnell hatten wir nicht mit einem Erfolg gerechnet. Der Orxeyaner war klein und dick. Seine Stimme klang ölig, und ein ranziger Geruch ging von ihm aus. Er war mir auf Anhieb unsympathisch. »Das sind große Worte, Fremder«, sagte Razamon bedächtig. »Außerdem haben wir mit vielen Händlern gesprochen, und sie haben alle behauptet, binnen kürzester Zeit liefern zu können.« »Angeber und Lügner!« behauptete der Fremde mit einer wegwerfenden Geste. »Sie sprechen von Stunden und meinen doch Tage, vielleicht sogar Wochen! Ich dagegen weiß genau, wovon ich rede. In zwei Stunden könnt ihr die Scheine bekommen – keine gestohlenen, die euch doch nicht weiterhelfen würden. Oder glaubt ihr etwa, Hasset würde euch aus der Stadt lassen, solange er noch irgendeinen Vorwand hat, euch Schwierigkeiten zu machen?« Damit hatte der Dicke zweifellos recht. Abgesehen davon lieferte er uns mit seinen Behauptungen den Beweis dafür, daß wir an der richtigen Adresse waren. »Zwei Stunden«, sagte ich nachdenklich und gab Razamon einen Wink. »Das wird knapp«, stimmte der Pthorer sofort ein. »Wir haben keine Quorks …« »Ich weiß Bescheid«, wurde er von dem
Fremden unterbrochen. »Horrat hat seine Augen und Ohren überall und wenn es sich um große Geschäfte handelt, bin ich der erste, der etwas davon erfährt. Ihr habt etwas versteckt, und ihr könnt es nicht holen, ohne euch genügend abgesichert zu haben. Dafür habe ich Verständnis. Man hat euch einmal hereingelegt – ich würde an eurer Stelle nicht anders handeln. Wieviel Zeit werdet ihr brauchen?« Horrat hatte es sehr eilig. Dabei mußte er nicht einmal damit rechnen, daß ihm ein anderer Händler zuvorkam. Seine Augen glitzerten gierig – er konnte es kaum erwarten, den angeblichen Schatz in Empfang zu nehmen. Aber wir brauchten Zeit. Horrat würde uns den Weg zu dem zweiten Seelenerschaffer zeigen. Wir brauchten ihn nur zu beschatten. Die einzige Schwierigkeit dabei war, daß wir zu wenig über Horrat wußten. Es war anzunehmen, daß er Freunde hatte, die jetzt noch im Hintergrund blieben. Wir konnten nicht einfach hinter dem Dicken herlaufen, das war zu riskant. Wenn Horrat erfuhr, daß wir in Stumps Auftrag handelten, würde er uns anstelle der verräterischen Seelenscheine eine kostenlose Fahrkarte ins Jenseits besorgen. »Morgen, bei Tagesanbruch«, schlug Razamon vor. »Wir treffen uns hier. Bist du einverstanden?« Der Dicke wischte unwillig mit der Hand durch die Luft. »Wenn ihr meint, daß euch noch soviel Zeit bleibt – an mir soll es nicht liegen. Ich werde pünktlich sein.« In dem Augenblick, in dem er sich umdrehte und auf den düsteren Platz hinaustappte, sah ich für einen kurzen Moment eine kleine Gestalt mit blonden Zöpfen, die aus dem Schatten des benachbarten Gebäudes lief und sofort wieder mit der Dunkelheit verschmolz. Razamon trat einen Schritt vor – es war verabredet, daß er den ersten Teil der Verfolgung übernahm, falls der richtige Interessent sich bei uns meldete. Ich hielt ihn am
Die Seelenhändler Arm fest, und er sah sich verwundert nach mir um. »Ruhig«, flüsterte ich. »Der entkommt uns nicht. Wir müssen weg von hier, aber immer schön vorsichtig!« Es war nicht immer einfach, mit dem Pthorer auszukommen, aber in Fällen wie diesem schaltete er erstaunlich schnell. Er nickte bedächtig und sagte halblaut: »Gehen wir nach Hause. Heute tut sich doch nichts mehr, und bis zu unserer Verabredung haben wir noch genug Zeit.« Während wir durch die finsteren Gassen schritten, hatte ich das unangenehme Gefühl, von feindseligen Blicken durchbohrt zu werden. Ich zweifelte keine Sekunde daran, daß Horrat vorgesorgt hatte. Wenn er den »Schatz« bekommen konnte, ohne dafür die Seelenscheine liefern zu müssen, dann verringerte sich für ihn erstens das Risiko der Entdeckung, und zweitens konnte er seine Ware dem nächsten zahlungsfähigen Kunden anbieten. Vom Seelenmarkt bis zu Helkerts Haus war es nicht weit, aber wir waren heilfroh, als wir unbehelligt dort ankamen. Helkert erwartete uns bereits. Er war sehr nervös. Ich wartete gespannt auf seine Erklärungen. Er zog uns in die Küche und goß mit zitternden Händen drei Becher Kromyat ein. Nicht einmal nach dem Kampf im Turm hatte ich ihn in einem solchen Zustand gesehen. »Du siehst, daß alles nach Plan gegangen ist«, sagte Nimosae ziemlich scharf. »Warum beruhigst du dich nicht endlich? Du wirst uns noch alle in Gefahr bringen.« »Es geht immerhin um mein Kind!« stotterte Helkert aufgeregt. »Dem Mädchen wird nichts geschehen, und sie ist auch mein Kind!« »Worum geht es eigentlich?« fragte ich. »Es ist besser, wenn ihr nichts wißt«, erwiderte Helkert. Der Kromyat tat seine Wirkung, unser Freund wirkte bereits ruhiger. »Wir haben einen bestimmten Verdacht, aber ihr sollt unbefangen bleiben – es ist in eurem eigenen Interesse. Wir hatten gehofft, daß ihr das Zeichen verstehen würdet. Taz-
43 zae verfolgt jemanden – ihr kennt ihn, ich dagegen habe ihn nicht gesehen.« »Er heißt Horrat«, bemerkte ich. Hinter uns fiel klirrend eine metallene Schöpfkelle zu Boden. Helkert war aufgesprungen. »Horrat!« sagte Nimosae langsam, und sie sprach den Namen wie einen Fluch aus. »Aber wie ist das möglich? Wir haben ihn beobachtet, wochenlang, und wir haben keine Spur gefunden!« Mir wurde es allmählich zu bunt. Helkert und seine Frau redeten an uns vorbei, und das wirkte verwirrend genug. Und was war mit Tazzae? Ein kleines Mädchen hatte zu dieser späten Stunde da draußen wirklich nichts mehr zu suchen! Als hätte ich ein Zeichen gegeben, öffnete sich die rückwärtige Tür zur Küche. »Er ist in dem gesperrten Haus neben Balduurs Tor«, sagte Tazzae. »Ich konnte nicht hinein. Die Fenster sind vernagelt, und nur die kleine Seitentür kann geöffnet werden. Ich wollte es versuchen, aber ich hörte Horrat drinnen reden.« »Hast du sie auch verstanden?« fragte Nimosae gespannt. Tazzae schüttelte schweigend den Kopf. Wer war »Sie«?
* Wir erhielten auf kaum eine unserer Fragen eine Antwort. Helkert und Nimosae bestanden darauf, daß sie uns durch eingehende Informationen nur in Gefahr bringen würden. Dafür lieferte Tazzae uns eine detaillierte Beschreibung des Hauses, in dem Horrat verschwunden war. Ich wunderte mich darüber, daß sie in der Dunkelheit so viel hatte erkennen können. »Ich war oft dort«, antwortete sie selbstsicher. »Es ist schon eine Weile her, aber nachdem das Haus gesperrt wurde, hat sich dort nichts verändert.« »Warum hat man es gesperrt?« wollte Razamon wissen. »Der Mann, dem es gehörte, brach ein
44 Gesetz«, erklärte Helkert. »Es ist verboten, die Straße der Mächtigen zu benutzen, wie ihr ja wißt. Das gilt doppelt für den Abschnitt zwischen Wolterhaven und Orxeya. Wir wissen nicht genau, was dort vorgeht, aber es ist glatter Selbstmord, auch nur in die Nähe der Straße zu gehen. Dieser Mann nun forderte das Schicksal heraus. Er kehrte nie zurück. Seitdem geschahen merkwürdige Dinge in diesem Haus. Aus Angst vor der Rache der Götter und Dämonen verließen die Bewohner das Gebäude, und man verschloß es. Niemand hat es seither betreten.« »Bis auf Horrat.« Helkert nickte grimmig. »Bringen wir es hinter uns«, sagte Razamon. »Tazzae, kannst du uns verraten, wie wir ungesehen von hier wegkommen?« »Ich werde euch führen«, versprach das Mädchen. »Aber wenn es ernst wird, mußt du zurückbleiben«, warnte ich. Tazzae nahm es gleichmütig zur Kenntnis. Von Helkert erhielten wir zwei Schwerter, und so ausgerüstet machten wir uns auf den Weg. Das Mädchen brachte uns durch ein Gewirr von ineinander verschachtelten Lagerschuppen, Handelsräumen und Ställen von Helkerts Haus weg. Nur selten kamen wir auf eine Straße hinaus, und Tazzae fand immer wieder eine Möglichkeit, im Schutz der Dächer und Mauern vorzudringen, wo man uns kaum beobachten konnte. Endlich waren wir am Ziel. Balduurs Tor lag am südwestlichen Rand der Stadt. Hier war die Gefahr aus dem Blutdschungel nicht so groß, und jenseits der Mauer brannte nicht einmal ein Feuer. Das Tor selbst war verschlossen. Die Häuser waren bis an die Stadtmauer heran gebaut, nur vor dem Tor gab es einen freien Platz. Eines der Gebäude stand von den anderen isoliert. »Man hat alle Schuppen und Nebenbauten abgebrochen«, erklärte Tazzae flüsternd. »Damit wollte man den Dämonen die Möglichkeit nehmen, auf andere Häuser überzugreifen. Sie bewegen sich innerhalb der
Marianne Sydow Mauern vorwärts.« Sie machte dabei ein beschwörendes Zeichen, als fürchte sie, durch ihre Worte die bösen Geister anzulocken. »Geh jetzt zurück«, brummte Razamon. »Es könnte gefährlich werden.« Tazzae verschwand ohne Kommentar in der Dunkelheit. Ich fragte mich, was sie jetzt schon wieder vorhatte. Ganz bestimmt ging sie nicht zu Helkert. Sie war ein seltsames Mädchen. Razamon stieß mich an und deutete zum Haus hinüber. »Kein Licht«, sagte er leise. »Horrat schläft sicher schon. Hoffentlich finden wir da drüben wirklich diesen Seelenerschaffer.« »Ein besseres Versteck gibt es in dieser Stadt nicht. Wenn er dort nicht ist, wüßte ich nicht, wo wir ihn suchen sollen.« »Und wenn er es selbst ist?« Ich konnte es mir nicht vorstellen. Aus irgendeinem Grund war ich fest davon überzeugt, daß Stump und sein Rivale sich ähnlich sehen mußten. Der schmierige, dicke Horrat hatte mit dem zerbrechlich wirkenden Seelenerschaffer nicht viel gemeinsam. Wir schlichen unter den vorspringenden Dächern bis an die Stadtmauer und arbeiteten uns in deren Schatten bis an die Stelle vor, von der aus wir die Hintertür sehen konnten, die Tazzae uns beschrieben hatte. Es war sehr still in diesem Teil der Stadt. Nur manchmal schnaubte ein Yassel hinter den massiven Toren der Ställe. Den freien Raum zwischen Mauer und Haus überwanden wir mit wenigen schnellen Schritten, dann drückten wir uns an die Wand und lauschten. Es blieb immer noch still. Razamon überprüfte vorsichtig die Tür. »Von innen verriegelt«, flüsterte er. »Was meinst du?« »Versuch's. Aber sieh zu, daß es nicht zu viel Lärm gibt.« Der Pthorer legte die Handflächen gegen die Tür. Er hätte das Hindernis mit einem einzigen Schlag aus dem Weg räumen können, aber der Krach hätte nicht nur Horrat,
Die Seelenhändler sondern auch die Nachbarn alarmiert. So drückte er nur relativ sanft gegen das Holz. Es knisterte in den massiven Balken, dann gab es ein kurzes, trockenes Knacken. Die Tür schwang auf. Wir schlüpften durch die Öffnung und schlossen die Tür hinter uns. Razamon fing trotz der Dunkelheit den fallenden Riegel auf, ehe er klappernd auf dem steinernen Boden landen konnte. Als wir dann lauschend im Flur standen, hörten wir Horrats Stimme. Der Händler redete auf jemanden ein. Sein Gesprächspartner antwortete nicht. Plötzlich klatschte es, und gleich darauf weinte ein Kind. Es wurde sofort wieder still. Horrat begann wieder zu sprechen. Es hörte sich an, als sei er mit seiner Geduld am Ende. Ich erinnerte mich an die seltsamen Andeutungen, die Helkert, Nimosae und Tazzae gemacht hatten. Plötzlich glaubte ich zu wissen, was wir sehen würden, und die bloße Vorstellung erfüllte mich mit kalter Wut. Horrats Stimme wies uns den Weg. Lautlos kamen wir bis zu einer Tür, unter der ein schwacher Lichtschein hervordrang. Razamon legte die Hand auf die Klinke. »Jetzt«, sagte ich leise. Die Tür flog auf. Horrat schrie erschrocken auf, als ich plötzlich mit gezücktem Schwert vor ihm stand. Auf einem schmutzigen Bett saß ein kleines, sehr zierliches Mädchen. Es rührte sich nicht, sagte auch nichts, sondern starrte nur unverwandt zur Tür. »Was wollt ihr hier?« fragte Horrat, als er sich von seinem Schrecken erholt hatte. »Schert euch weg. Wie könnt ihr es wagen, hier einfach einzudringen? Ich werde dem ›Gewicht‹ diesen Vorfall melden und dafür sorgen, daß das Urteil diesmal auf der Stelle vollstreckt wird. Nimm deine dreckigen Finger aus meinen Sachen, Fremder! Wer gibt dir das Recht …« Es war genug. Ich sagte gar nichts, sondern hob nur das Schwert, bis die Spitze Horrats Hals berührte. Der Händler hielt erschrocken die Luft an. Razamon zog die Schubladen eines
45 Schranks auf. Schon nach wenigen Sekunden fand er, was wir gesucht hatten. Er hob eine Handvoll Blätter hoch – Seelenscheine, fertig präpariert und sogar schon mit den eingestanzten Nummern versehen. Neben dem Schrank stand ein großer Behälter aus ungebranntem Ton. Razamon hob den Deckel hoch. »Das Rohmaterial«, stellte er fest. »Frische Bmuuhr-Blätter. Und was haben wir hier?« Horrat setzte zum Sprechen an, als Razamon eine Truhe öffnete, aber angesichts der Schwertspitze wagte er dann doch keinen Einwand. Der Pthorer zog ein paar Lederbeutel hervor und schüttelte den Inhalt auf den Tisch. Mindestens hundert Quorks kamen zum Vorschein, und die meisten davon genau so wertvolle wie die, die Hasset uns abgenommen hatte. Aber die Truhe war noch längst nicht leer. Andere Beutel enthielten Edelsteine, Brocken von glänzenden Mineralien, zerstampfte Kräuter, getrocknete Beeren und allerlei seltsame, zum Teil auch ekelhafte Dinge. »Er hat ganz nette Einnahmen gemacht«, kommentierte Razamon. »Wieviel ist das wert, Horrat?« »Das geht euch nichts an!« würgte der Händler hervor. »Meinst du?« fragte Razamon. »Ich gönne dir deine Illusionen. Du wolltest reich sein, sehr reich, nicht wahr? Ein verständlicher Wunsch.« »Wir können uns einigen«, stieß Horrat hervor. »Ich werde euch beteiligen. Es ist genug da, um uns allen ein gutes Leben zu sichern. Glaubt mir, das Mädchen ist der Schlüssel zur Macht!« »Das ist mir klar«, antwortete Razamon. »Und dein Angebot rührt mich zu Tränen. Es ist doch erstaunlich, daß es in dieser Stadt Leute wie dich gibt. Leute, die anderen etwas von ihren Ersparnissen abgeben und zwei Fremden in selbstloser Weise unter die Arme greifen. Das Ganze hat nur einen kleinen Fehler, Horrat: Wir mögen es nicht, wenn jemand seine Geschäfte auf Kosten
46 kleiner Kinder macht!« »Aber seht sie euch doch an!« keuchte Horrat verzweifelt. »Es geht ihr gut bei mir. Coerfä, sage diesen Männern, wie gut ich für dich sorge!« Aber Coerfä sagte gar nichts. Sie saß nur ganz still da und starrte immer noch in Richtung Tür. Im Licht der Fackel, deren Rauch durch ein Loch in der Decke fast völlig abzog, war ein deutliches Flimmern um sie herum zu erkennen. Sie besaß das, was Tynär Stump eine »nach außen getretene Seele« nannte. Wie war es dazu gekommen? Waren die Seelenerschaffer spontan entstehende Mutationen? Mußte man in Orxeya bei jedem Kind damit rechnen, daß es mit diesen seltsamen Merkmalen geboren wurde? Oder hatte Coerfä auf ganz andere Weise etwas mit Stump zu tun? Auf jeden Fall war sie viel zierlicher als alle anderen Mädchen in der Stadt. »Verdammtes Ding!« schrie Horrat wütend, als die Antwort auf seine Frage ausblieb. Ich drückte die Schwertspitze mit mehr Nachdruck gegen seine Kehle, und er fügte sich zähneknirschend. Razamon setzte sich neben das Mädchen. »Du brauchst keine Angst vor uns zu haben«, sagte er erstaunlich sanft. »Ist dieser Mann dein Vater?« »Nein«, sagte Coerfä leise. »Früher war er manchmal zu Besuch, dort wo ich zu Hause bin. Einmal, als meine Mutter nicht da war, gab er mir ein Blatt, und ein paar Tage später schlug er mich und wickelte mich in ein Fell. Dann brachte er mich hierher. Seitdem habe ich von meiner Mutter nichts gehört, und ich darf diesen Raum nicht verlassen. Er bringt dauernd diese Blätter, sogar mitten in der Nacht soll ich sie in der Hand halten. Ich bin so müde, und ich möchte nach Hause!« »Wir bringen dich hin«, versicherte Razamon, obwohl wir keine Ahnung hatten, wo die Mutter des Mädchens wohnte. Ich nahm allerdings an, daß wir sie schon bald persönlich kennenlernen würden. »Sie lügt«, behauptete Horrat. »Sie ist
Marianne Sydow nicht normal, seht ihr das denn nicht? Sie hat gar keine Mutter, und wenn sie eine hätte, dann würde sie dieses kleine Biest davonjagen. Coerfä ist völlig verrückt und nutzlos …« »Noch ein Wort, und ich stoße zu!« warnte ich. Beim Klang meiner Stimme drehte Coerfä überrascht den Kopf. Plötzlich fiel das Licht direkt auf ihre Augen – das Mädchen war blind! Mir wurde Horrat immer unsympathischer. Dieses Mädchen war noch wehrloser, als ich angenommen hatte. Sie konnte nicht einmal fliehen, denn sie würde den Weg nicht finden. Gleichzeitig begriff ich, daß Coerfä auch für uns ein Problem darstellte. Tynär Stump gehörte nicht zu den Leuten, die die Existenz eines potentiellen Konkurrenten widerspruchslos hinnahmen. Wenn er von Coerfä erfuhr, würde er versuchen, das Mädchen zu beseitigen. Wenn wir ihm verschwiegen, was wir bei unserer Suche gefunden hatten, würde er uns wieder an Hasset ausliefern. Das tut er sowieso! behauptete der Extrasinn. In diesem Augenblick erschien Tazzae an der Tür. Sie sah Coerfä und gab jemandem einen Wink. Eine Orxeyanerin, die Nimosae sehr ähnlich war, betrat das Zimmer. Horrat versuchte, zurückzuweichen, aber er war viel zu langsam. Die Frau trat neben mich und starrte den Händler an. Der Dicke begann zu zittern. Schweißtropfen liefen über sein Gesicht, und seine Augen weiteten sich ängstlich. »Du hättest den Tod verdient!« sagte die Orxeyanerin. Coerfä hörte die Stimme und rutschte mit einem Ruck vom Bett. Die Frau ging an mir vorbei und hob das Mädchen hoch. Coerfä weinte, die Frau weinte, und auch Tazzae, die immer noch an der Tür stand, wischte sich die Augen. Nur Horrat konnte der Situation nichts Bewegendes abgewinnen. Er lauerte verzweifelt auf eine Chance, davonzukommen. Endlich besann Coerfäs Mutter sich dar-
Die Seelenhändler auf, daß wir nicht ewig so stehenbleiben konnten. Sie setzte das Mädchen behutsam ab, hielt es aber an der Hand. »Ich bin Korae«, sagte sie. »Die Mutter dieses Mädchens. Nimosae ist meine Schwester, und von Tazzae erfuhr ich, daß ihr mein Kind gefunden habt. Wie kann ich euch danken?« »Indem du uns verrätst, was wir mit diesem üblen Kerl hier anfangen sollen«, sagte Razamon und packte Horrat im Nacken. Der Händler ächzte entsetzt. »Und dann müssen wir von hier verschwinden, möglichst ungesehen. Unser selbstloser Freund hat auf Kosten deiner Tochter Reichtümer gesammelt, die wir mitnehmen sollten. Du wirst sie für dich und das Kind brauchen können.« »Es gehört alles euch!« widersprach Korae leidenschaftlich. »Ich will nichts von dem Zeug. Ich will nur meine Tochter.« »Deine Bescheidenheit ehrt dich«, sagte ich. »Aber sie ist in diesem Fall nicht angebracht. Coerfä hat genug ausgehalten. Willst du ihr ihren Lohn vorenthalten? Es wird noch genug Schwierigkeiten geben. Tynär Stump …« »Dieser Lump wird es nicht wagen, etwas gegen mich zu unternehmen«, versicherte Korae grimmig. »Coerfä ist seine Tochter. Er weiß nichts von ihr – er hat Dutzende von Kindern, die er nicht kennt. Es gehört zu seinen üblen Geschäften, daß er die Frauen erpreßt. Er droht ihnen, ihre Männer zu Seelenlosen zu machen, wenn sie sich ihm nicht fügen. Nein, Tynär Stump ist für mich kein Problem!« »Er wird anders darüber denken, wenn er erfährt, daß Coerfä sein Talent geerbt hat!« »Ich habe sie immer versteckt gehalten. Er wird sie auch in Zukunft nicht finden. Stump hat nicht viele Freunde in dieser Stadt, und meine Nachbarn haben keinen Grund, dem Seelenerschaffer einen Gefallen zu tun. Ihr wißt jetzt, daß es Coerfä gibt, und ihr kennt auch meinen Namen, aber selbst das würde nicht ausreichen, um uns zu finden. Das einzige Problem besteht darin, daß Stump euch natürlich keine Seelenscheine
47 geben wird, und ohne sie seit ihr verloren.« »Es liegen welche im Schrank«, sagte Razamon. »Wenn Coerfä nichts dagegen hat, nehmen wir uns welche.« »Ja, nehmt euch, was ihr wollt«, stimmte das Mädchen zu. Tazzae überwand ihre Scheu und kam ins Zimmer. Sie ging vorsichtig um Horrat herum und half Razamon, zwei Scheine mit hohen Nummern herauszusuchen. Anschließend suchte der Pthorer ein aus stabilen Stricken geflochtenes Netz aus dem Schrank und verstaute mit Tazzaes Hilfe alles darin, was er aus der Truhe geholt hatte. Auch im Schrank fanden sich allerlei wertvolle Dinge. Sogar die fertigen Seelenscheine wurden eingepackt, obwohl Korae mit diesen Dingern nichts zu tun haben wollte. »Sei nicht unvernünftig!« schimpfte Tazzae respektlos. »Du wirst so manchem Freund einen Gefallen damit tun können.« Horrat, der sich nicht mehr zu rühren wagte, seitdem Razamon ihn angefaßt hatte, räusperte sich vorsichtig. »Was werdet ihr mit mir tun?« »Eine gute Frage«, sagte ich und sah Korae an. »Er weiß zuviel. Wenn wir ihn laufenlassen, wird er alles verraten.« »Oh, nein. Das kann er nicht, denn dabei käme heraus, was für eine Rolle er in den letzten Monaten gespielt hat. Damit hätte er sein eigenes Todesurteil besiegelt. Er ist jetzt völlig harmlos, und er wird meine Tochter kein zweites Mal in seine dreckigen Hände bekommen. Laßt ihn laufen – falls er vor Angst nicht auf der Stelle umfällt!« Korae kannte sich in der Stadt aus und hatte zweifellos recht. Aber ein bißchen Vorsicht hielt ich doch für nötig. Ich rechnete immer noch damit, daß Horrats Spießgesellen in der Nähe von Helkerts Haus auf uns lauerten. Wenn wir ihn jetzt gehen ließen, konnte er sie benachrichtigen und uns alle überfallen lassen. Razamon war zu derselben Überzeugung gekommen. Während ich noch darüber nachdachte, ob es reichte, wenn wir Horrat einschlossen, kam er gelassen durch das
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Marianne Sydow
Zimmer und tippte dem Händler kurz auf den Kopf. Ich zog gerade noch rechtzeitig das Schwert weg. Horrat fiel um und rührte sich nicht. »Das ist immer noch das beste Schlafmittel«, behauptete Razamon und sah den am Boden liegenden Händler düster an. »Ich würde ihm gerne eine gründlichere Lektion erteilen, aber dann wäre nicht mehr viel von ihm übrig.« Korae nahm ihre Tochter auf den Arm, Razamon trug das schwere Netz, und Tazzae führte uns auf verschlungenen Wegen zu Helkerts Haus, wo die Befreiung des Mädchens spontan mit etlichen Krügen voll Kromyat gefeiert wurde. Es wurde schon hell, als wir endlich todmüde in unsere Betten sanken.
7. Am nächsten Tag waren Coerfä und ihre Mutter verschwunden. Wir wußten, daß dieser unverhoffte Abschied nichts mit Undankbarkeit zu tun hatte. Je weniger wir wußten, desto sicherer war Coerfä untergebracht. Das Netz dagegen hatten die beiden zurückgelassen. Helkert sortierte die Schätze, als wir zum Frühstück in die Küche kamen. »Coerfä wird das reichste Mädchen der Stadt sein, wenn sie das alles behält«, sagte er ernst. »Horrat ist zwar ein Lump, aber von Geschäften versteht er etwas. Übrigens besteht das Mädchen darauf, daß ihr einen Teil der Beute bekommt.« »Wir sagten doch schon, daß wir nichts haben wollen«, murmelte Razamon mürrisch. Ich sah ihn besorgt an. Es wurde Zeit, daß wir aus der Stadt herauskamen, damit er sich draußen in der Wildnis wieder einmal austoben konnte. »Bescheidenheit ist eine Sache«, erwiderte Helkert ruhig. »Dummheit eine andere. Mit den Seelenscheinen, die ihr jetzt habt, könnt ihr zwar die Stadt verlassen, aber die Ausrüstung wird euch nicht geschenkt.« »Wir haben vor, uns bei einem der großen
Händler zu verdingen«, erklärte ich. »Du erwähntest einmal einen Mann, der ab und zu Leute nach Wolterhaven schickt.« »Gäham Lastor«, nickte Helkert. »Ich erinnere mich daran. Ja, er rüstet eine Karawane aus. Aber ich warne euch, wenn ihr glaubt, daß Lastor dann automatisch für alles sorgt. Wer in seinem Auftrag reitet, muß eine Kaution hinterlegen. Vielleicht gelingt es euch, die Quorks von Hasset zurückzubekommen, aber die solltet ihr lieber für euch behalten. Warum also nehmt ihr nicht etwas von diesem Zeug hier?« Wir gaben nach, denn wir mußten einsehen, daß er recht hatte. Außerdem würde Coerfä wirklich keinen großen Verlust erleiden. Helkert erklärte uns, daß kostbare Drogen und Zaubermittel unter den Beutestücken waren. Das Mädchen und Korae brauchten für den Rest ihres Lebens nichts weiter zu tun, als von ihrem Vorrat zu zehren. »Geht zu Lastor, bevor ihr Stump Bericht erstattet«, riet Helkert uns. »Dann seid ihr abgesichert, denn ihr habt einen Zeugen, der eure Seelenscheine gesehen hat. Mein Wort würde in einer so wichtigen Angelegenheit nicht gelten. Außerdem dürfte es für euch ratsam sein, die Stadt nach eurer Unterhaltung mit dem Seelenerschaffer schleunigst zu verlassen.« Wir nahmen auch diesen Rat an und machten uns auf den Weg. Gäham Lastor wohnte am Tongmäer, dem Gebrauchsmarkt von Orxeya. Hier wurde in zahllosen Bretterbuden und anderen Verkaufsständen alles feilgeboten, was man zum täglichen Leben brauchte. Wir drängten uns zwischen Tischen mit Gemüse und Gestellen mit Kleidungsstücken hindurch und standen nach einiger Zeit vor einem Haus, dem man mit Leichtigkeit ansah, daß sein Besitzer sehr wohlhabend war. An das Haus herangebaut waren mehrere ordentlich hochgezogene Lagerschuppen, dann schloß sich ein sauber gefegter Hof an, dessen breites Tor offenstand. Gegenüber den Lagerräumen lagen die Ställe für die Yassels, und
Die Seelenhändler auch diese Gebäude waren blitzblank, die Tiere darin gut genährt und feurig. »He!« schrie ein stämmiger Junge, der eines der weißen Tiere am Zügel führte. »Macht Platz! Was habt ihr da zu stehen und zu gaffen?« Razamon vertrat ihm den Weg – der Junge blieb erschrocken stehen. »Wir wollen zu Gäham Lastor«, sagte der Pthorer. »Ist er dein Herr? Dann geh und melde uns an!« »Zwei Fremde …«, murmelte der Junge und starrte unschlüssig den Boden an. Der Yassel tänzelte unruhig. Ich beobachtete das schneeweiße Tier fasziniert. Dieses Horn auf der Stirn – es erinnerte mich an alte, terranische Märchen und Sagen, wie so vieles hier auf Pthor. Waren die Yassels irgendwann durch den Wölbmantel nach draußen gelangt? Waren sie identisch mit den weißen Einhörnern, die in so vielen Geschichten auftauchten? Razamon war ungeduldig. Er trat einen Schritt auf den Jungen zu, und der drehte sich hastig um. Sein Rückzug glich fast schon einer Flucht. Das Reittier stand plötzlich alleine da und kam blitzschnell zu dem Schluß, daß die Gelegenheit für eine Flucht günstig war. Mein warnender Ruf kam gerade noch rechtzeitig für Razamon. Das Tier stieg mit den Vorderbeinen in die Luft und schüttelte ärgerlich den Kopf, weil es sich von dem groben Zaumzeug behindert fühlte. Sobald es wieder mit allen vier Beinen auf dem Boden stand, würde es lospreschen – und Razamon stand genau zwischen ihm und dem Tor. Der Pthorer hatte bereits begriffen, daß die Lage für uns ungünstig war. So ein Yassel besaß einigen Wert für die Händler, und man würde uns die Schuld daran geben, wenn dem Tier die Flucht gelang oder ihm bei seinem Ausbruchsversuch etwas zustieß. Der Yassel kam herunter und tat den ersten Sprung. Razamon bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die traumhaft anmutete. Als das Tier an ihm vorbeiraste, stieß er sich vom Boden ab und landete leicht und
49 sicher auf dem Rücken des Yassels. Der spürte unverhofft das Gewicht eines Reiters und ging abermals in die Luft, aber so leicht war es gar nicht, den Pthorer loszuwerden. Razamon bekam die Zügel zu fassen und seine Füße glitten in die breiten Lederschlaufen, die hier als Steigbügel dienten. Der Yassel dachte vorläufig nicht mehr an Flucht. Er wollte in erster Linie von seinem Reiter befreit werden. Ein paarmal drehte er sich im Kreis, immer noch auf den Hinterbeinen balancierend und hoch aufgerichtet, während die Vorderläufe durch die Luft schlugen. Von allen Seiten kamen aufgeregte Orxeyaner herbeigerannt. Sie schrien und gestikulierten, was das Tier natürlich noch wütender machte. Irgendwann während seines langen Aufenthalts auf Terra hatte Razamon auch das Reiten gelernt. Er klebte auf dem Rücken des Yassels und ließ sich von den Zuschauern nicht beeindrucken. Das Tier wechselte die Taktik. Es bog den Hals durch und ließ sich so heftig auf die Vorderfüße fallen, daß man hätte meinen können, es wollte sich selbst die Knochen brechen. Dann machte es einen wahren Katzenbuckel und sprang mit unberechenbaren Hüpfern kreuz und quer über den Hof, immer mit allen vieren gleichzeitig. Und Razamon saß immer noch oben. Für einen Moment sah ich sein Gesicht. Seine kohlschwarzen Augen glänzten – ihm schien dieses Spiel beinahe Spaß zu machen. Mir kroch eine Gänsehaut den Rücken herauf. Wenn der Spaß zu weit ging, würde der Pthorer die Beherrschung verlieren. Noch hielt seine rechte Hand die Zügel fest, aber mit einem einzigen Schlag konnte er dem Tier die Halswirbel brechen. Die Orxeyaner wichen bis an die Begrenzung des Hofes zurück, um nicht unter die scharfen, harten Hufe des bockenden Tieres zu geraten. Ich entdeckte Gäham Lastor unter den Schaulustigen. Der Gesichtsausdruck des Händlers war schwer zu deuten, aber er ließ Razamon und den Yassel nicht aus den Augen. Das Tier merkte bald, daß seine Bemü-
50 hungen sinnlos waren. Mit zitternden Flanken blieb es stehen. Ich atmete schon erleichtert auf, aber dazu war es zu früh. Der Yassel hatte nur eine Denkpause eingelegt. Razamon begriff noch schneller als ich. Er hatte den rechten Fuß schon aus der Schlaufe gezogen, als das Tier sich zur Seite neigte. Eine Sekunde später lag der Yassel auf dem Boden. Seine Absicht, den lästigen Reiter unter sich zu erdrücken, war allerdings fehlgeschlagen, denn Razamon hatte sich mit einem mächtigen Sprung von dem Tier gelöst und sich auch außer Reichweite der gefährlichen Hufe gebracht. Der Yassel sprang blitzschnell wieder auf und jagte auf Razamon zu. Und wieder war der Pthorer schneller. Als das Tier sich auf die Hinterbeine erheben wollte, um Razamon in Grund und Boden zu schlagen, da hatte der bereits mit der Linken die herabhängenden Zügelenden gefaßt, während die Rechte gegen das stumpfe Horn drückte. Im Hof war es jetzt so still, daß man nur die keuchenden Atemzüge des Yassels hörte. Dem Pthorer war nicht anzusehen, ob er sich überhaupt anstrengen mußte, aber die Veränderung, die mit dem Tier vorging, lieferte genug Beweise für die Härte des Kampfes. Razamon hielt den Kopf mit dem Zügel nieder und drückte gleichzeitig das Tier von sich weg, damit es ihn weder beißen, noch mit den Vorderhufen erreichen konnte. Zunächst keilte der Yassel noch nach hinten aus, aber dann ließen seine Kräfte nach. Er leistete immer noch erbitterten Widerstand, aber an Hals und Flanken bildeten sich Schaumflocken. Und dann gab es kläglich auf. Ein paar Orxeyaner liefen entsetzt davon, als Razamon einen Schritt zur Seite machte und einem Stallburschen winkte. Der Junge schlich ängstlich näher, aber der Yassel ließ sich widerstandslos davonführen. Allmählich verlief sich die Menge. Razamon kehrte zu mir zurück, und ihm fast auf den Fersen folgte Gäham Lastor. »Ihr seid die beiden Fremden, von denen man überall spricht«, stellte der Händler
Marianne Sydow fest. »Atlan und Razamon. Ich muß gestehen, daß die kleine Vorstellung mich sehr beeindruckt hat. Dieses Tier ist jung und wild. Meine besten Leute hätten noch Wochen gebraucht, um es zu zähmen. Nur der Hunger und der Durst können ein Tier wie dieses schneller gefügig machen, aber die Gefahr ist groß, daß er bei der nächsten Gelegenheit ausbricht. Mein Junge sagte mir, daß ihr mich sprechen wolltet.« »Wir möchten die Stadt verlassen«, erklärte ich. »Wir hörten, daß du Handel mit Wolterhaven treibst.« Lastor nickte bedächtig und musterte uns mit seinen flinken blauen Augen. »Ich könnte euch brauchen«, murmelte er. »Aber leider habt ihr keine Seelenscheine – ich will nichts gegen das ›Gewicht‹ sagen, aber manchmal frage ich mich, wo Hasset seinen Verstand aufbewahrt.« Ich holte schweigend meinen Schein hervor, und Razamon wies ebenfalls Coerfäs Geschenk vor. Lastor überwand seine Überraschung sehr schnell. Ein seltsamer Ausdruck trat in seine Augen. »Ich hätte es ahnen müssen. Nun gut, es ist kein Geheimnis, daß ich Hasset und unseren ›tugendhaften‹ Seelenerschaffer nicht ausstehen kann. Ich werde euch nach Wolterhaven schicken – ihr habt gute Aussichten, dabei nicht nur am Leben zu bleiben, sondern auch eine Menge Geld zu verdienen. Aber ihr müßt eine Kaution hinterlegen. Hasset besaß die Unverschämtheit, sich eure Quorks anzueignen. Ich werde dafür sorgen, daß ihr sie zurückbekommt.« »Das Parraxynt wäre wichtiger«, bemerkte Razamon trocken und holte einen Lederbeutel aus einer Falte des Umhangs. »Ist das hier als Kaution ausreichend?« Lastor gehörte zu den Leuten, die scheinbar durch nichts zu verblüffen sind. Er betrachtete die winzigen Beeren aufmerksam, nahm ein paar in die Hand und roch daran, schüttelte sie vorsichtig und nickte endlich. »Das ist mehr, als ich verlangen sollte«, gab er ehrlich zu. »Was ist euch lieber – soll ich die richtige Menge abwiegen lassen,
Die Seelenhändler
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oder möchtet ihr für den Rest eine besonders gute Ausrüstung haben?« »Unterwegs ist die Ausrüstung wichtiger als der Besitz dieser Beeren.« »Das stimmt. Ich werde für alles sorgen. Trotzdem werde ich unser hochgeschätztes ›Gewicht‹ um eure Quorks erleichtern. Diesen Spaß lasse ich mir nicht nehmen. Wann könnt ihr aufbrechen?« »Möglichst bald«, antwortete ich. »Wie wäre es mit morgen früh? Bis dahin werde ich alle Vorbereitungen abgeschlossen haben.« Ich sah Razamon fragend an. Der Pthorer nickte düster. »Einverstanden«, sagte ich. »Dann sehen wir uns morgen bei Sonnenaufgang an dieser Stelle wieder.« »Ich traue dem Kerl nicht«, murmelte Razamon, als Lastor über den Hof in sein Haus zurückkehrte. »Das geht mir alles viel zu glatt.« Ich zuckte nur mit den Schultern. Ich hatte ebenfalls ein ungutes Gefühl, aber andererseits mußten wir die Chance nutzen, die sich uns bot. Mir kam es gar nicht so sehr darauf an, Wolterhaven kennenzulernen. Hier in Orxeya würden wir keine neuen Informationen über die Herren der FESTUNG und die Rätsel von Pthor erhalten. Draußen jedoch, an der Straße der Mächtigen, wohnte Balduur, Thalias Bruder. Es war verboten, sich der Straße und der Behausung des Göttersohns zu nähern – ich gedachte keineswegs, mich den vom Aberglauben diktierten Gesetzen Orxeyas zu unterwerfen. Thalia hatte uns nicht viel verraten können, aber vielleicht waren die anderen Göttersöhne besser unterrichtet. »Gehen wir zu Stump«, schlug ich vor.
* Tynär Stump empfing uns diesmal in dem düsteren, mit Kuriositäten vollgestopften Raum. Er trug einen wallenden, scharlachroten Umhang und hielt es nicht für nötig, sich unseretwegen von dem prächtig ausstaffier-
ten Sessel vor dem Kamin zu erheben. »Hattet ihr Erfolg?« fragte er. »Wir haben den zweiten Seelenerschaffer gefunden«, bestätigte ich. »Wer ist es?« »Ein sehr enger Verwandter von dir.« »Zelat?« Diesmal riß es Stump doch in die Höhe, und ich grinste versteckt. Meine Vermutung hatte also doch ins Schwarze getroffen. Stump hatte viele Kinder, und nicht alle waren ihm unbekannt. »Nicht Zelat«, sagte Razamon düster. »Sondern ein Mädchen, ein Kind, gerade sieben Jahre alt. Sie wurde ausgenutzt. Wir haben sie befreit.« »Wo ist das Kind?« rief Stump aufgeregt. »Wie heißt es?« »Du hättest der Mutter diese Fragen stellen sollen«, antwortete Razamon drohend. »Und zwar nicht erst jetzt, sondern damals, als es noch nicht zu spät war. Du wirst weder den Namen des Mädchens erfahren noch werden wir dir verraten, wo es wohnt.« »Ich werde euch zwingen!« schrie Stump wütend. »Heraus mir der Sprache, ehe ich euch Hasset übergebe. Er hat viele Methoden, verstockte Gefangene zum Reden zu bringen.« »Gefangene?« fragte Razamon im Tonfall ungläubigen Staunens. »Hast du dein Versprechen vergessen, Seelenerschaffer? Wir haben das Mädchen gefunden und den unschädlich gemacht, der die Scheine verkaufte. Der Auftrag ist erfüllt, du hast dein Monopol zurückerhalten. Wir sind nicht gekommen, um lange Gespräche zu führen. Wir wollen den Lohn für unsere Arbeit.« »Habt ihr Beweise?« fragte Stump höhnisch. »Niemand war bei unserem ersten Gespräch anwesend. Kein Mensch in dieser Stadt würde glauben, daß ich zwei dahergelaufenen Bettlern gute Seelenscheine schenke – einfach so, ohne jeden Grund. Und was ist mit dem Mädchen und dem Seelenhändler? Ich sehe sie nicht. Wer sagt mir, daß eure Geschichte nicht von Anfang bis Ende gelogen ist?« »Wir sagen es«, betonte Razamon beinahe
52 sanft. »Und wenn du auf einem Beweis bestehst, dann sieh dir das an!« Tynär Stump wurde bleich, als er unsere Seelenscheine sah. Er begriff, daß er in der Falle saß. Er konnte uns nicht der Lüge bezichtigen, ohne gleichzeitig sich selbst in die Falle zu manövrieren. Die Scheine waren echt – die Existenz eines zweiten Seelenerschaffers ließe sich nicht länger leugnen. Und auf Grund dieser Tatsache würde man uns auch den Rest der Geschichte glauben. Stump würde vielleicht nicht gleich sein Amt verlieren, aber sein Ansehen dürfte um einiges sinken. »Deine Versprechen taugen nicht viel, Seelenerschaffer«, fuhr Razamon erbarmungslos fort. »Hast du wirklich geglaubt, wir würden dir so leicht in die Falle gehen? Es war doch von Anfang an klar, daß du uns keine Seelenscheine geben wolltest. Wir sollten die Dreckarbeit für dich erledigen, und anschließend sollte Hasset uns hinrichten lassen, damit wir deine schmutzigen Geheimnisse nicht ausplaudern können. Pech für dich. Und laß die Finger von der Schnur. Wenn du uns jetzt beseitigst, wird alles nur noch schlimmer. Man hat unsere Seelenscheine gesehen. Es wäre gut für dich, wenn du bei nächster Gelegenheit darüber sprechen würdest, warum du uns die Scheine gegeben hast. Denke dir also eine gute Geschichte aus!« Tynär Stump war vor Zorn und Angst unfähig, eine Antwort zu geben. Wir verließen das Haus und gingen zu Helkert. Am nächsten Morgen nahmen wir Abschied von ihm und seiner Frau, und natürlich auch von Tazzae. Lastor erwartete uns bereits. Er hielt zwei Yassel am Zügel. »Es sind sehr gute Tiere«, behauptete er. »Atlan, das hier ist Kynietz, er ist für dich bestimmt. Razamon, dein Tier heißt Belzo. Die Yassels kennen ihre Namen. Drüben liegt Kleidung für euch bereit. Ich warte hier auf euch.« »Er hat es sehr eilig, wie?« fragte Razamon, während wir uns umzogen. Als wir wieder auf den Hof hinaustraten, sahen wir den Orxeyanern schon etwas ähnlicher. Wir
Marianne Sydow trugen jetzt lange braune Hosen aus Leder, dazu die üblichen schweren, mit Pelz besetzten Jacken. In unseren Gürteln steckten breite Messer, und wir besaßen jeder ein Skerzaal und einen Köcher mit je dreißig Bolzen. »Hier«, sagte Lastor mit einem breiten Grinsen und hielt uns zwei Lederbeutel hin, die uns sehr bekannt vorkamen. »Hasset bekam einen Tobsuchtsanfall, aber er mußte die Quorks herausgeben. Leider hat es mit dem Parraxynt nicht geklappt. In den Satteltaschen findet ihr alles, was ihr braucht.« Wir sahen selbst nach. Obenauf lagen Packen mit Speck, Bohnen und getrocknetem Obst. Darunter befanden sich hölzerne Zwischenböden. Mich hätte es brennend interessiert, das zu sehen, was unter dem Holz lag, aber Lastor zog mich hastig zur Seite. »Die Ware ist für die Herren von Wolterhaven bestimmt!« sagte er scharf. »Laßt das Zeug da, wo es ist, öffnet auf keinen Fall diese Fächer! Und jetzt ist es höchste Zeit, daß ihr euch auf den Weg macht. Denkt daran, daß die Straße der Mächtigen Gefahren birgt, denen niemand gewachsen ist. Haltet euch von ihr fern und bleibt immer in der Nähe des Blutdschungels. Selbst die Wilden sind nicht so schrecklich wie das, was sich in Balduurs Nähe herumtreibt!« Der Abschied war kurz und formlos. Wir saßen bereits im Sattel, da stürmte ein Junge herbei und brachte mit Wasser gefüllte Blasen aus dünnem Leder. Fast hätten wir vergessen, uns mit trinkbarem Wasser zu versorgen. Ein schlechtes Vorzeichen? Als wir die Stadt durch eines der Südwest-Tore verließen, lagen noch die Morgennebel über dem Land. Wir drehten uns nicht um. Drei Wochen hatten wir in der Stadt der Händler verbracht. Bis auf Helkerts Familie und einige andere Leute ließen wir keine Freunde zurück, und das, was uns auf unserem weiteren Weg erwartete, erfüllte uns mit Unruhe. ENDE
Die Seelenhändler
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