Nr. 1250
Die Raum-Zeit-Ingenieure Begegnung am Rand der Welt - es geht um die Zukunft der Tiefe von Thomas Ziegler
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Nr. 1250
Die Raum-Zeit-Ingenieure Begegnung am Rand der Welt - es geht um die Zukunft der Tiefe von Thomas Ziegler
Während sich zur Jahreswende 428/29 NGZ die Auseinandersetzung zwischen den Kräften der Ordnung und den Mächten des Chaos in Richtung Erde verlagert, die als Chronofossil aktiviert werden soll, scheint sich gleichzeitig im Tiefenland eine endgültige Entscheidung anzubahnen. Das gigantische Tiefenland, vor Äonen von den Raum-Zeit-Ingenieuren und ihren Hilfsvölkern erschaffen, ist seit längerem der Schauplatz der Aktivitäten von Atlan, Jen Salik und Lethos-Terakdschan, den Rittern der Tiefe. Nach einer gefahrvollen Odyssee haben sie zusammen mit ihren Orbitern und den Tiefenpolizisten, den sogenannten Exterminatoren, das Kyberland erreicht und einen Angriff der Grauen Lords zurückgeschlagen. Doch dieser Sieg besagt nicht viel, denn es wird immer deutlicher erkennbar, daß die Graugebiete weiterhin im Wachsen begriffen sind und daß die Heerscharen der Grauen Lords sogar zum Vagenda, der Quelle der Vitalenergie, vordringen können. Bei dem folgenden Desaster bleibt den Rittern der Tiefe nur die Flucht auf einer Route, die sich mit herkömmlichen Mitteln nicht bewältigen läßt. Hilfe ist vonnöten, wenn Atlan und seine Gefährten den Auftrag der Kosmokraten erfüllen wollen, der die Reise zum Rand der Welt erforderlich macht – denn dort befinden sich DIE RAUM-ZEIT-INGENIEURE …
Die Raum-Zeit-Ingenieure
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan, Jen Salik und Tengri Lethos-Terakdschan - Die Ritter der Tiefe auf der Lichterebene. das Tabernakel von Holt - Die »Schachtel« gibt ihr Geheimnis preis. Krart - Der Lordrichter jagt die Ritter der Tiefe. Myzelhinn - Einer der letzten Raum-Zeit-Ingenieure.
Wir dagegen haben uns gefunden In des Äthers sterndurchglänztem Eis, Kennen keine Tage, keine Stunden, Sind nicht Mann noch Weib, nicht jung noch Greis. Still zu eurem zuckenden Leben nickend, Still in die sich drehenden Sterne blickend Atmen wir des Weltraums Winter ein, Sind befreundet mit dem Himmelsdrachen, Kühl und wandellos ist unser ewiges Sein, Kühl und sternhell unser ewiges Lachen. Hermann Hesse »Die Unsterblichen«
1. Hier am Rand der Welt war der Strom der Zeit ein stehendes Gewässer: Dunkel und glatt wie ein erblindeter Spiegel, bleiern erstarrt zur ewigen Gegenwart. Hier am Rand der Welt war die Zeit besiegt. Aber vielleicht, dachte Myzelhinn, vielleicht war der Sieg über die Zeit in Wirklichkeit unsere größte Niederlage. Vielleicht ist die Unsterblichkeit der eigentliche Feind des Lebens, eine Krankheit, die nicht einmal durch den Tod geheilt werden kann. Myzelhinn stand hoch über den endlosen Weiten der Lichtebene auf dem einzigen Turm der Letzten Bastion, die in majestätischer Pracht Ebene und Abgrund trennte, und zu seinen Füßen rauschte die Brandung eines purpurroten Ozeans. Königsblau leuchteten die Mauern der Bastion, purpurn glühte der Ozean, und darüber lag – wie ein durchscheinendes Tuch, aus dem Licht der Sterne gesponnen – ein Schleier aus goldener Helligkeit. Hier auf dem Turm, auf halber Höhe zwischen Meer und Wolkendecke, war es still. Irgendwo landeinwärts wühlte ein Atmosphärewirbel die Luft auf und blies Wind
über die Ebene. Die frische Brise kühlte Myzelhinns Gesicht, aber nicht seine brennenden Augen. Wie schon so oft wandte er die Blikke in jene Richtung, in der er den Grenzwall wußte. Das Tiefenland war flach wie ein Brett, und keine Erdkrümmung schuf die Illusion der Endlichkeit in Form eines Horizonts; die Luft war klar und durchsichtig wie poliertes Glas, und kein Dunst trübte die Sicht; dennoch blieben die Berge seinen Blicken verborgen. Über eine Milliarde Kilometer lagen zwischen der letzten Bastion und den Bergen; selbst das rasende Licht brauchte eine volle Stunde für diesen weiten Weg. Und noch ein Jahr dazu, wenn es Starsen erreichen wollte. In der Ferne versank alles in Dunst, in dem das Goldlicht des Schöpfungsbergs verschlungene Muster zeichnete. Aber Myzelhinns Augen waren keine gewöhnlichen Augen. Ihr Blick brannte den Nebel und die tanzenden Muster fort. Ihr Blick befahl der Luft, durchlässig und klar wie Vakuum zu werden, und ihr Blick befahl dem Raum, zu schrumpfen und den langen Weg der Photonen abzukürzen, und die Luft und der Raum gehorchten. Nach und nach, in visionärer Deutlichkeit, schälte sich das zerklüftete Massiv des Grenzwalls aus dem golddurchglühten Nebel, Wie ein grimmiges, metallenes Ungeheuer, das unter seiner eigenen Last zusammengebrochen war, erstreckte sich der Grenzwall von einem Rand des Tiefenlands zum anderen: Eine titanische Mauer zwischen der Lichtebene und der grauen Wildnis von Ni, eine Barriere von so unvorstellbaren Ausmaßen wie das Tiefenland selbst. Die zerklüfteten Hänge und die gezackten Kämme des Walls reichten bis hinauf zur
4 Tiefenkonstante und vereinten sich dort mit der lückenlosen Wolkendecke; Wolken, die vom Berg der Schöpfung bis zur verlorenen Stadt am anderen Ende der Welt den Himmel verhüllten. Goldlicht brach sich myriadenfach an Klippen aus Silber und Chrom, an eisernen Graten und kupfernen Steilwänden, an Simsen aus Stahl und Bronzemoränen. Flöze aus Uran teilten mit dunklen Strichen Hänge aus blitzendem Zinn; Gletscher aus schillernder Formenergie kalbten lautlos an Wismutbergen; und weit im Osten stürzte ein strudelnder Quecksilberfluß in eine Schlucht aus purem Zirkonium. Und dort der Paß. Der Platinpaß, der einzige Paß über den Grenzwall. Myzelhinns Vision verblaßte. Das gigantische Gebirge versank wieder im goldenen Nebel der Lichtebene. Myzelhinn hatte gesehen, was er sehen wollte: die drei Kundschafter – und das Holt … Sie kommen, dachte Myzelhinn. Sie haben vollbracht, was noch keinem vor ihnen geglückt ist: Sie haben die wahnsinnigen Wächter der Grube passiert und sind mit dem Tiefenfahrstuhl hinunter nach Starsen gelangt; sie haben die Mauer um Starsen überwunden und sind durch die kosmischen Weiten des Tiefenlands gewandert; sie haben das Vagenda erreicht und sind als Gefangene der Grauen Lords nach Ni gereist; sie haben den Verlockungen der Macht und dem Gift des Graueinflusses widerstanden und sind aus den Kerkern der Lordrichter geflohen; und nun haben sie den Platinpaß überquert und sind auf dem Weg zum Rand der Welt, zur Letzten Bastion, zum Berg der Schöpfung … und Zorn ist in ihren Herzen. Weil sie unwissend sind … Eine Bewegung am Fuß der königsblauen Trutzmauern erregte Myzelhinns Aufmerksamkeit. Er beugte sich über die niedrige Brüstung des Turmes und spähte in die Tiefe. Ein drei Meter langer Wurm mit milchweißer Haut, von einem faustgroßen, pulsie-
Thomas Ziegler renden Organ golden durchschimmert, glitt durch die Fluten aus flüssiger Formenergie. Ein Lla Ssann. Er schien nach einem Weg in die Letzte Bastion zu suchen. Myzelhinn erkannte ihn sofort. Suu Oon Hoo, der letzte Tiefenschwimmer, der mit den Vitalenergieströmen des Vagendas zur Lichtebene gelangt war. Nur Suu Oon Hoo konnte so närrisch sein und hoffen, daß sich die Tore der Bastion für ihn öffneten. Plötzlich entdeckte ihn der Lla Ssann. Ich verachte dich, wisperte Hoos telepathische Stimme in Myzelhinns Bewußtsein. Ich verachte dich für deinen Verrat, für dieses Verbrechen, das beispiellos in der Geschichte der Tiefe und des Hochlands ist. Ich verfluche dich und deinesgleichen für das, was ihr den Völkern der Tiefe angetan habt. Ihr seid schlimmer als die Grauen Lords, schlimmer als der Tod. Es gibt keine Worte, um das wahre Ausmaß eures Verbrechens zu beschreiben. All die Äonen haben die Völker der Tiefe euch treu gedient, und zum Lohn für ihre Dienste habt ihr sie dem Graueinfluß geopfert. Ich wünschte, ich könnte euch alle töten …! Aber nichts und niemand kann uns töten, dachte Myzelhinn. Wir haben den Tod besiegt. Und er wandte sich ab, drehte dem zornerfüllten Gewisper des Lla Ssann den Rücken zu, und war mit zwei Schritten bei dem Schacht, der tausend Meter in die Tiefe reichte. Der Schacht glühte im königsblauen Licht der Psi-Energie, die unter dem Willen Myzelhinns die Festigkeit von molekulargehärtetem Stahl angenommen hatte, und mit einem weiteren Schritt stürzte er sich in die Tiefe. Kein Kraftfeld bremste seinen Sturz; kein Sicherheitsmechanismus griff ein, um ihn vor dem tausend Meter tiefen Fall und dem Tod am Grund des Schachtes zu bewahren. Nackte, glatte Wände, die senkrecht nach unten führten – das war alles. Trotzdem stürzte er nicht, sondern sank sacht.
Die Raum-Zeit-Ingenieure Denn die Schwerkraft weigerte sich, ihren eigenen Gesetzen zu gehorchen, und die Luft wurde dichter und dichter, bildete aus eigenem Antrieb ein schützendes Polster unter Myzelhinns Körper, und der Boden wurde weich und federnd, um seinen Gast so zu empfangen, wie er es verdient hatte. Dienstbeflissene Elemente … Ein Lächeln, bitter und melancholisch zugleich, spielte um Myzelhinns Lippen. Verstehst du nun, Suu Oon Hoo? dachte er. Begreifst du nun, wie unerfüllbar dein Wunsch ist? Wie willst du jemand töten, der Raum und Zeit, Materie und Energie zu seinen Verbündeten hat? Wie willst du jemand töten, wenn die Waffe, die du auf ihn abfeuerst, versagt? Wenn das Gift, das du ihm einflößt, zu Wasser wird? Wenn die Bombe, die ihn verbrennen soll, statt Feuer Blumen gebiert? Wenn sich deine eigene Mordlust in Liebe verwandelt, sobald du deinem Opfer gegenüberstehst? Myzelhinn neigte den Kopf und lauschte. Stille erfüllte die Bastion. Schon vor langer Zeit war die Stille in den Gewölben der Psi-Festung eingezogen. All die vielen Stimmen, die einst die königsblauen Säle mit Leben erfüllt hatten, waren verklungen. Und bald würde die Stille der einzige Bewohner der Bastion sein. Aber noch war es nicht soweit. Noch war das Werk nicht vollendet. Er dachte wieder an Suu Oon Hoo, und er seufzte. Dieser Haß …! Es schmerzte, so von Haß verfolgt zu werden; Haß, der den Tiefenschwimmer dazu trieb, die Gefahren des Purpurmeers auf sich zu nehmen, um jene zu töten, die er für Verräter hielt … Was wußten die Lla Ssann schon von Verrat? Sie sahen nur die Oberfläche: Das Vagenda versiegt, das Tiefenland grau … weil Verrat im Spiel war. Sie sahen sich auf ungeheuerliche Weise hintergangen, und sie reagierten auf die einzige Weise, die ihnen möglich war: mit verzweifeltem Haß. Und die Lla Ssann, die Hüter des Vagendas, die wie die Tiziden, die Jaschemen, die Chylinen und die Archivare von Schätzen zu
5 den ältesten und zuverlässigsten Getreuen gehörten, versuchten in ihrem Zorn das Unmögliche – jene zu töten, für die der Tod nur ein leeres Wort war. Myzelhinn lachte, und sein Gelächter hallte kühl von den glühenden Wänden, der pulsierenden Dekke, wanderte auf verborgenen Wegen durch den gewaltigen Komplex der Bastion. Nicht einmal die Jaschemen, die so klug und mächtig waren, daß sie ungezählte Tiefenjahre lang aus eigener Kraft dem Graueinfluß und den Angriffen der Lords widerstanden hatten … nicht einmal sie hatten herausgefunden, warum Myzelhinn und die anderen seiner Art gegen jede Gefahr gefeit waren. Mit schnellen Schritten durchmaß Myzelhinn den Bogengang, der den Turm an der Südmauer der Bastion mit dem Saal der Zeit-Porträts verband. Niemand begegnete ihm auf seinem Weg. Die Bastion war groß und der Weg zum Bildersaal war weit, doch Myzelhinn verzichtete darauf, den Raum oder die Zeit seinen Wünschen gefügig zu machen, so daß aus Metern Millimeter und aus Minuten Sekunden wurden. Er verzichtete aus gutem Grund. Selbst ein Wesen, dem die Zeit nichts bedeutete, hatte zuweilen Anlaß, sich ihren Gesetzen zu unterwerfen. Myzelhinn war verwirrt von seinem plötzlichen Bedürfnis nach Ruhe, nach einer Atempause vor der entscheidenden Begegnung mit den Kundschaftern der Hohen Mächte, den drei Rittern der Tiefe, die den Platinpaß im Grenzwall überquert hatten und nun in die Lichtebene eindrangen. Ganze Generationen waren im Tiefenland geboren worden und wieder gestorben, ohne daß sich in der Letzten Bastion irgend etwas verändert hatte. Und jetzt, da die größte Umwälzung seit dem Scheitern der Rekonstruktion bevorstand, versucht er Zeit zu gewinnen … Es ist die Furcht vor dem Versagen, dachte Myzelhinn. Die Furcht vor einem erneuten Fehlschlag unserer Plane. Zweimal sind
6 wir schon gescheitert – mit katastrophalen Folgen. Versagen wir auch diesmal, werden die Konsequenzen noch schrecklicher sein: Dann wird das Tiefenland untergehen, dann werden all unsere Schutzbefohlenen sterben … Myzelhinn blieb stehen. Er atmete schwer. Er war diese langen Fußmärsche nicht gewohnt. Schnurgerade bohrte sich der Bogengang durch die Bastion, erhellt von der königsblauen Glut der psinergetischen Wände, die sich in kilometerweiter Ferne zu verengen schienen, bis Wände, Boden und Dekke zu einem vagen blauen Fleck verschmolzen. Im Zentrum des blauen Flecks blitzte ein roter Punkt – das Tor zum Saal der Zeit-Porträts. Des Laufens müde, befahl Myzelhinn dem Raum, sich stärker zu krümmen, damit die Entfernung zum Bildersaal schrumpfte, und binnen eines Augenblicks wuchs der rote Punkt vor ihm zum Halbrund eines riesigen offenen Tors. Ein Schritt, und er befand sich im Bildersaal. Der Bildersaal war nicht das größte Gewölbe in der Letzten Bastion, doch es war das einzige, das Myzelhinn so etwas wie Ehrfurcht einflößte. Die Decke wölbte sich in schwindelerregende Höhe, die Rückwand war so weit entfernt, daß die perspektivische Verzerrung sie in ein handtellergroßes Rechteck verwandelte, und jeder Laut erzeugte ein langanhaltendes, vielfach reflektiertes Echo. Myzelhinn zögerte. Die Leere und die Stille bedrückten ihn. Wie lange war er nicht mehr hier gewesen! Wie lange hatte er diesen Teil der Letzten Bastion gemieden! Und nun – kurz vor der entscheidenden Begegnung mit den Rittern der Tiefe – war er zurückgekehrt ins Allerheiligste seines Volkes. Die Luft, die er atmete, weckte Erinnerungen in ihm, Erinnerungen an die Zeit der Größe, an die Zeit der Hoffnung, an tausend und tausend Gesichter, an Stimmen, die er seit Äonen nicht mehr gehört hatte, an Freunde, die längst den grauen Weg gegan-
Thomas Ziegler gen waren. Myzelhinn blickte zur Wand auf, und sein Herz krampfte sich zusammen, gepeinigt vom einzigen Schmerz, den ein Wesen wie Myzelhinn fühlen konnte, vom Schmerz, der in der Seele wohnte. In endlosen Reihen, nebeneinander und übereinander, hingen Bilderrahmen aus verstofflichter Vitalenergie an der Wand – Rahmen aus goldenem Licht, jeder vier Meter hoch, zwei Meter breit, einen Meter tief. Ebenso an den anderen Wänden; insgesamt 150000 Rahmen. Aber fast alle Rahmen … waren leer. Langsam hob Myzelhinn den Kopf und sah hinauf zu jener Stelle, wo ein Farbtupfer zwischen den endlosen Reihen der leeren Rechtecke aufblitzte: ein Zeit-Porträt. Sein Blick glitt weiter, fand das zweite, das dritte, das vierte und schließlich das fünfte Porträt. Fünf, dachte Myzelhinn bedrückt. Fünf von hundertfünfzigtausend. Mit eiserner Willenskraft zwäng er sich, im Saal der Zeit-Porträts zu bleiben, statt seinem innersten Drang nachzugeben und zu fliehen. Stumm und von einer Traurigkeit erfüllt, gegen die nicht einmal Wesen wie er gefeit waren, hielt er den Blick auf den fünften Rahmen gerichtet, auf das vertraute Bild in goldener Fassung, auf das Porträt, vor dem er schon so oft gestanden hatte. Es war das Porträt eines verwachsenen, knapp einen Meter großen Humanoiden mit brauner, faltiger Haut, runzlig und verschrumpelt wie die Schale eines alten Apfels. Der Rumpf war schmächtig, schien kaum kräftig genug, die Last des großen, kahlen Kopfes zu tragen. Das Gesicht wurde von riesigen braunen Augen beherrscht, und diese Augen waren dunkel und tief wie Brunnenschächte. Die Nase und der Mund waren klein, verkümmert. Die schlenkernden Arme reichten bis zu den Knien der kurzen Beine, die unter dem Gewicht von Rumpf und Kopf krumm geworden waren; die Füße zehenlos, von dunklem Horn überzogen und auf clownesk anmutende Weise überdimensioniert.
Die Raum-Zeit-Ingenieure Seit Hunderttausenden von Tiefenjahren hing das Porträt an der Wand des Bildersaals hier im Herzen der Letzten Bastion, und in diesem unvorstellbaren Zeitraum hatte es sich ebensowenig verändert wie Myzelhinn. Das Porträt war dreidimensional, aber es war kein Hologramm; es war stofflich, aber es war keine Materieprojektion. Es war eine Sekunde aus dem Leben eines Wesens, dessen Dasein schon Milliarden Jahre währte, eine Sekunde der Wirklichkeit, aus dem Zeitstrom herausgeschnitten und in einem Rahmen aus Vitalenergie konserviert. Porträt und Porträtierter waren identisch. Zwei Ausgaben von ein und derselben Person, vom Abgrund der Zeit getrennt und hier durch eine Technik vereint, die die Naturgesetze zu ihren Werkzeugen gemacht hatte. Myzelhinn konzentrierte sich auf das Bild, und wie stets erfüllte es seine Bitte um ein Zwiegespräch. Das Porträt erwachte übergangslos aus tausendjährigem Schlaf. Der Schädel drehte sich, die großen, dunklen Augen begannen zu glänzen, und die schmalen Lippen öffneten sich. »Myzelhinn!« sagte das Porträt mit einer hohen, fast piepsenden Stimme. »Bist du es wirklich, Myzelhinn? Ich habe geträumt … Viele Träume … Wie lange, Myzelhinn? Wieviel Tiefenjahre sind seit deinem letzten Besuch verstrichen?« »Fast tausend Jahre«, antwortete Myzelhinn. Tausend Jahre, Jahre, Jahre, wisperte das Echo, bis es sich schließlich in den Weiten des Gewölbes verlor. »Tausend!« stieß das Porträt hervor. Es sah nach rechts und links, nach oben und unten, sah aus seinem Rahmen zur gegenüberliegenden Wand, zu den goldgefaßten leeren Rechtecken, die sich lückenlos aneinanderreihten, vom Boden bis hinauf zur hohen Decke, von der äußersten rechten bis zur äußersten linken Seite. Rahmen, aber keine Bilder. »Nildefin!« schrie das Zeit-Porträt verzweifelt. »Wo ist das Bildnis Nildefins? Wo
7 ist es, wo? Bei deinem letzten Besuch hing es noch dort, mir genau gegenüber. Und Jhaam! Jhaams Porträt ist auch verschwunden! Und Foolgal, Bouburlen, Laschiin … Alle sind fort! Was ist seit deinem letzten Besuch geschehen?« »Tausend Tiefenjahre sind eine lange Zeit«, sagte Myzelhinn leise. »Schon damals, bei unserem letzten Gespräch, gab es nicht einmal mehr vierzig von uns. Das Unglück geschah vor elf Tiefenjahren. Wir entdeckten, daß die psionischen Siegel des Tors am Berg der Schöpfung schwächer geworden waren. Nildefin, Jhaam, Foolgal, Douburlen, Laschiin und fünfundzwanzig andere zogen zum Berg, brachen die Siegel und öffneten das Tor – gerade weit genug, um eine Botschaft ins Hochland zu senden … Einen Hilferuf an die Kosmokraten. Aber das Tor wurde plötzlich instabil, und als die dreißig versuchten, die Verbindung aufrechtzuerhalten, da atmete die Tiefe sie ein. Wir konnten ihnen nicht helfen. Wir kamen zu spät.« »Also sind auch sie den grauen Weg gegangen«, stellte das Porträt bekümmert fest. »War es wirklich ein Unglück, oder …?« »Es war eine Falle der Lords«, sagte Myzelhinn. »Sie haben auf irgendeine Weise vom Plan erfahren und versucht, den Rufimpuls an die Kosmokraten zu stören. Als ihnen das nur unvollständig gelang, zerrten sie die dreißig in die Tiefe.« »Und der Hilferuf?« fragte das Porträt piepsend. »Wurde er beantwortet? Haben die Kosmokraten Hilfe geschickt?« Myzelhinn preßte die Lippen zusammen. Die alte Bitterkeit schnürte ihm sekundenlang die Kehle zu. »Hilfe … Ja, sie haben Hilfe geschickt, diese Hohen Mächte aus der Region jenseits der Materiequellen! Aber … wir haben sie um die sofortige Entsendung einer Streitmacht gebeten, mächtig wie die Heerscharen Ordobans. Wir haben sie angefleht, so schnell wie möglich Hilfe zu schicken. Wir haben ihnen gestanden, daß wir die Kontrolle über das Tiefenland verloren haben und daß es ohne Hilfe von außen zu einer Kata-
8 strophe kommen muß. Wir haben erklärt, daß es nicht um unsere Rettung, sondern um die Rettung der Tiefenvölker geht. Wir haben die Situation schonungslos dargelegt …« Myzelhinns Stimme überschlug sich vor Erregung. Er zwang sich zur Ruhe, sprach gepreßt weiter. »Für diesen Hilferuf mußten dreißig von uns den grauen Weg gehen. Wir, die wir übrigblieben, trösteten uns mit dem Gedanken, daß uns die Kosmokraten nicht im Stich lassen würden. Also warteten wir. Auf eine Armee oder auf Beauftragte der Kosmokraten vom Rang der Sieben Mächtigen, ausgerüstet mit den notwendigen Mitteln, um die Verbindung von der Tiefe zum Hochland wiederherzustellen, die Macht der Lords zu brechen, den Graueinfluß zu besiegen.« »Und?« drängte das Zeit-Porträt. »Ist die Armee eingetroffen? Ist die Verbindung von der Tiefe zum Hochland wiederhergestellt, Myzelhinn? Wen haben die Kosmokraten geschickt?« »Drei Kundschafter«, sagte Myzelhinn. »Drei Kundschafter, mehr nicht. Aber die Kundschafter aus dem Hochland – sie tragen die Aura der Kosmokraten. Sie sind Ritter der Tiefe!« Myzelhinn und das Zeit-Porträt sahen sich an. »Du weißt, was das bedeutet, Myzelhinn?« fragte das Zeit-Porträt. »Ja«, nickte Myzelhinn. »Jeder von uns fünf, die noch nicht den grauen Weg gegangen sind, weiß es: Das Tiefenland spielt in den Plänen der Kosmokraten keine Rolle mehr. Jenseits der Materiequellen ist man überzeugt, nicht mehr auf unsere Hilfe bei der Reparatur des Moralischen Kodes angewiesen zu sein. Die Kosmokraten sind bereit, das Tiefenland zu opfern.« »Weil Ordobans Suche nach all den Äonen doch noch zum Ziel geführt hat«, sagte das Porträt. »TRIICLE-9! Ordoban hat das alte Feld endlich gefunden! Und …« Das Porträt zögerte. »Und die Kosmokraten haben TRIICLE-9 vielleicht schon für die
Thomas Ziegler Rückkehr in die Tiefe präpariert! TRIICLE9 wird sich wieder in die psionische Doppelhelix einfügen und … und …« »Und das Tiefenland wird im gleichen Moment in das Normaluniversum stürzen«, schloß Myzelhinn. Seine Stimme war ausdruckslos; nur seine Augen verrieten etwas von seinen Gefühlen: Verbitterung, Entsetzen, Zorn – und Resignation. »Dann unterliegt das Tiefenland wieder den normalen physikalischen Gesetzen. Es wird in Myriaden Stücke zerfallen, und die Völker der Tiefe werden sterben.« »Es ist unmöglich«, flüsterte das Porträt. »So etwas können sie nicht tun!« »Sie sind allwissend«, erinnerte Myzelhinn. »Sie wissen auch, welche Folgen es haben wird, wenn der Moralische Kode beschädigt bleibt. Sie opfern die Tiefenvölker, um noch größere Opfer zu vermeiden. Das ist es, was Allwissenheit bedeutet: Der Zwang, grausam zu sein, damit es nicht zu noch schrecklicheren Grausamkeiten kommt …« Und alles, dachte Myzelhinn verzweifelt, ist unsere Schuld. Weil wir versagt haben. Wir haben unsere Chance, den Moralischen Kode zu reparieren, vertan. Den Kosmokraten bleibt keine andere Wahl, als den anderen Weg zu gehen – gleichgültig, welche Folgen dies für uns und das Tiefenland haben wird. Er wandte sich ab; das Gespräch mit dem Zeit-Porträt hatte ihn in nerlich aufgewühlt, statt seine Ge danken zu klären. Mit unbeholfenen Schritten ging er davon. »Aber ihr müßt etwas tun!« rief ihm das Porträt nach. »Ihr müßt etwas unternehmen, um die Tiefenvölker vor der Katastrophe zu retten, Myzelhinn!« »Wir versuchen es«, sagte Myzelhinn; er sprach leise, mehr zu sich selbst als zu dem Zeit-Porträt. »Aber wir sind nur noch fünf.« »Ihr seid Raum-Zeit-Ingenieure!« erinnerte das Porträt. »Ihr seid die einzigen, die es schaffen könnt!« Wie du, mein Porträt, dachte Myzelhinn. Und wie du, so sind auch wir in einem Rah-
Die Raum-Zeit-Ingenieure men gefangen, aus dem es kein Entkommen gibt. Langsam ging er aus dem Bildersaal, ein Zwerg mit runzliger, brauner Haut, einem großen Kopf, viel zu groß und zu schwer für den schmächtigen Rumpf, mit schlenkernden Armen und kurzen, krummen Beinen.
2. Exkurs Tiefenland (I) Die Tiefe … Sie ist mehr als eine andere Welt, mehr als eine andere Dimension. Die Tiefe ist der Raum unter dem Raum, eine n-dimensionale Schicht, die das Einstein-Universum von den anderen Raum-Zeit-Kontinua des Multiversums trennt und die Entstehung interuniverseller Überlappungszonen verhindert. In dieser Schicht der Tiefe ist die Doppelhelix psionischer Felder verankert – Informationsspeicher des kosmischen Schöpfungsprogramms, des Moralischen Kodes des Universums. Die Doppelhelix umspannt den gesamten Kosmos. Die Doppelhelix ist in gewisser Weise der Kosmos, denn in ihr sind die Informationen gespeichert, die die Erscheinungsform des Universums bestimmen, Informationen über die Naturgesetze, denen Raum und Zeit, Energie und Materie, Evolution und Leben unterliegen. Der Moralische Kode programmiert das Universum, und jede Veränderung oder Störung dieses Programms bedeutet eine Veränderung oder Störung des Universums. Schöpfungsprogramm und Schöpfung stehen in permanenter, wechselseitiger Verbindung – n-dimensionale Botenstoffe, die Messenger, sorgen für eine laufende Informationsübertragung zwischen dem einzelnen psionischen Speicherfeld und jener kosmischen Region, für die dieses Feld zuständig ist. Eines dieser Felder trägt die Bezeichnung TRIICLE-9. Eingebettet in der Tiefe, ragt nur ein win-
9 ziger Teil dieses psionischen Feldes in den Normalraum, und zwar in Form einer hyperdimensionalen Verwerfung. Die Position dieser Verwerfung: der Leerraum zwischen den Milchstraßensystemen des Clusters Coma Berenice, 2,8 Millionen jenseits der Grenzen einer Riesengalaxis, die von ihren Bewohnern Behaynien genannt wird. TRIICLE-9 ist nur eines von Milliarden Feldern des Moralischen Kodes. Doch dies besagt nichts über seine Bedeutung, denn eine Störung von TRIICLE-9 zieht zwangsläufig die Störung einer ganzen kosmischen Region von der Größe der Lokalen Galaxiengruppe nach sich. Angesichts der unvorstellbaren Zahl der psionischen Informationsspeicher des Schöpfungsprogramms ist es wahrscheinlich, daß es im Lauf der Zeit zu Störungen kommt. Zeit, in Millionen oder Milliarden Jahren gemessen. Störungen treten in Form von spontanen Mutationen auf. Spontane Mutationen sind immanenter Bestandteil eines Systems psionischer Informationsspeicher. Die meisten Mutationen werden vom System neutralisiert oder in das System integriert. Doch manche Veränderungen sind schwerwiegender Natur; sie überfordern die Selbstheilungskräfte des Systems. Zur Überwachung derartiger Mutationssprünge und zur Abwehr von Eingriffen der Mächte des Chaos in die universelle Doppelhelix psionischer Felder haben die Mächte der Ordnung – die Kosmokraten aus der Region jenseits der Materiequellen – spezielle Beauftragte eingesetzt. Jeder Beauftragte gebietet über eine Wachflotte aus Millionen Raumschiffen zahlloser Hilfsvölker. Wie jedes psionische Feld, wird auch TRIICLE-9 von einer riesigen Flotte bewacht. Kommandant dieser Flotte ist der saddreykarische Admiral Ordoban. Ordoban ist nur einer von vielen Wächtern, und TRIICLE-9 ist nur eines von vielen
10 psionischen Feldern. Doch es ist TRIICLE-9, das spontan mutiert, und es ist Ordoban, der seine Aufsichtspflicht vernachlässigt. Der Mutationssprung führt dazu, daß sich TRIICLE-9 von seinem Fundament in der Tiefe löst und seinen Platz in der universellen Doppelhelix verläßt. Eine Lücke entsteht im Moralischen Kode, eine Störung des kosmischen Schöpfungsprogramms, die langfristig auch die Nachbarfelder in Mitleidenschaft zu ziehen droht. Und jene Region im Universum, die von TRIICLE-9 über die Messenger mit den Informationen des Schöpfungsprogramms versorgt wird, verändert sich. Abgeschnitten vom permanenten Informationsstrom verwandelt sich diese Region in den unorganisierten Urzustand des Universums zurück. Die Beschädigung des Moralischen Kodes ist gleichbedeutend mit der Entstehung der Negasphäre. Die Entstehung der Negasphäre ist gleichbedeutend mit dem Erstarken der Mächte des Chaos. Das seit Anbeginn der Zeit bestehende Gleichgewicht zwischen Kosmokraten und Chaotarchen verschiebt sich zugunsten des Chaos. Dieses Gleichgewicht wiederherzustellen, die Mutation weiterer Felder nach dem Dominoprinzip zu verhindern und den Moralischen Kode zu reparieren, ist das Ziel der Kosmokraten. Sie vertrauen darauf, daß Ordoban, der mit seiner Wachflotte die Suche nach TRIICLE-9 aufgenommen hat, das mutierte Feld finden wird. Sie vertrauen darauf, daß es gelingt, die Mutation von TRIICLE-9 rückgängig zu machen und den psionischen Informationsspeicher wieder in die universelle Doppelhelix zu integrieren. Doch während Ordoban mit seiner Millionen oder aber Millionen Schiffe zählenden Wachflotte, der späteren Endlosen Armada, zu seiner Äonen dauernden Odyssee durch das Universum aufbricht, werden sich die Kosmokraten der Gefährlichkeit ihrer
Thomas Ziegler Lage schmerzhaft bewußt. Und je länger Ordobans Suche dauert, desto wahrscheinlicher wird die Möglichkeit weiterer Mutationen im Bereich der Nachbarfelder. Aus diesem Grund beauftragen die Kosmokraten ein Volk, das kurz vor der Metamorphose zur Superintelligenz steht, einen Ersatz für TRIICLE-9 zu konstruieren, eine perfekte Kopie des verschwundenen Informationsspeicherfelds vor der Mutation. Das Volk, das den Auftrag erhält, hat Wissenschaft und Technik zur Vollkommenheit entwickelt. Es ist in der Lage, ganze Milchstraßen aus der interstellaren Protomaterie und den unerschöpflichen Energien des Hyperraums zu bauen; es kann die Struktur der Raum-Zeit verändern und in begrenztem Rahmen die Naturgesetze manipulieren. Es ist das Volk der RaumZeit-Ingenieure. Jahrhunderte vergehen, bis die Situation analysiert ist; weitere Jahrhunderte verstreichen, bis empirische Forschungen die erfolgversprechendste Methode zur Rekonstruktion von TRIICLE-9 ermittelt haben; Jahrtausende dauern die Vorplanungen. Dann ist es soweit. Der erste Schritt auf einem Weg, dessen Ende Millionen Jahre in der Zukunft liegt, wird getan. An der Stelle im Leerraum zwischen den Galaxien des Clusters Coma Berenice, wo einst TRIICLE-9 eine hyperdimensionale Verwerfung erzeugt, eine Verbindung zwischen Tiefe und Normaluniversum hergestellt hat, konstruieren die RZI ein schüsseiförmiges Objekt von planetaren Ausmaßen – die Grube, das Tor in die Tiefe. Sobald die Grube fertiggestellt und die Verbindung zur Tiefe stabilisiert ist, machen sich die RZI an den nächsten Schritt. Ihnen ist bewußt, daß die Rekonstruktion eines psionischen Feldes samt seiner Myriaden Informationspools die Kräfte eines einzelnen Volkes bei weitem übersteigt. Die RZI benötigen viele Helfer; Millionen, ja, Milliarden Wesen mit den unterschiedlichsten
Die Raum-Zeit-Ingenieure Fähigkeiten, die in der Tiefe eine neue Heimat finden sollen, und das auf unbestimmte Zeit. Um all diese Hilfsvölker aus allen Bereichen des Universums möglichst schnell und reibungslos zum Einsatzort Tiefe zu schaffen, konstruieren die RZI ein kosmisches Transportsystem: In zahllosen Galaxien entstehen die sogenannten Tiefenbahnhöfe, die durch sechsdimensionale Tunnel mit der Grube verbunden sind. Die Verwaltung der Bahnhöfe übertragen die RZI einem Volk nonhumanoider Telepathen, die sich bereits in den Diensten der Kosmokraten bewährt haben. Der erste dieser Tiefenzöllner ist Narl Narlenhort; er übernimmt die Leitung der Zentralstation Cortrans in der Galaxis Cor. Als nächstes Hilfsvolk verpflichtet die RZI die Jaschemen; begnadete Techniker und Wissenschaftler, die Zugang zum HighTech-Arsenal ihrer Auftraggeber haben. Der Auftrag der Jaschemen: Planung und Bau einer künstlichen Welt in der Tiefe, die einerseits den Gesetzen dieser Dimension angepaßt und andererseits so groß sein soll, wie es angesichts der Größe der Aufgabe erforderlich ist. Unterstützt von den RZI, machen sich die Jaschemen an die Durchführung des Auftrags. Die neue Welt in der Tiefe ist eine Scheibe mit einem Durchmesser von 1 Lichtjahr oder rund 9,46 Billionen Kilometern. Der imaginäre Südpol dieser Scheibenwelt befindet sich – gemäß den Vorgaben der RZI – direkt unter der Grube; der Nordpol grenzt unmittelbar an das Fundament des alten psionischen Feldes TRIICLE-9, einem gewaltigen Massiv aus Psi-Materie – Berg der Schöpfung genannt. Im Gegensatz zu den unvorstellbaren horizontalen Ausmaßen dieser neuen Welt namens Tiefenland ist ihre vertikale Ausdehnung extrem gering. Die eigentümlichen physikalischen Gesetzmäßigkeiten des Raumes unter dem Raum begrenzen die dritte Dimension, die Höhe, auf genau 2312
11 Meter über dem Bodenniveau. Die Tiefenkonstante. Eine natürliche Grenze wie die Lichtgeschwindigkeit im Normaluniversum. Die Forschungen der Jaschemen ergeben, daß die Tiefenkonstante – wie die Lichtmauer im Normaluniversum – nur mit einem erheblichen Aufwand an hyperdimensionalen Energien überwunden werden kann. In den nächsten langen Jahrhunderten werden von den Jaschemen die großtechnischen Anlagen zur Erzeugung und Steuerung von Licht, Atmosphäre, Temperatur, Klima, Schwerkraft und einer Reihe anderer Lebenserhaltungssysteme installiert. Die zentralen Anlagen entstehen in einer Dimensionsblase oberhalb der Tiefenkonstante, dem Neutrum; die erforderlichen Reglermechanismen, die Fabriken, werden unter dem Neutrum errichtet: Im Kyberland. Während die Jaschemen die nächsten Jahrtausende mit der Planung und dem Bau zahlloser autarker, lebensfähiger Ökosysteme verbringen, die speziell auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der erwarteten Hilfsvölker zugeschnitten sind, isolieren die RZI ein 7,7 Millionen Quadratkilometer großes Gebiet unterhalb der Grube durch eine Formenergiemauer mit psionischer Komponente vom übrigen Tiefenland. Eine Sicherheitsmaßnahme auf Betreiben der Kosmokraten. Zwar haben sie die Grube so konditioniert, daß sie Wesen mit negativem Bewußtsein abweist, doch weder die Kosmokraten noch die RZI trauen diesem Schutzmechanismus. Um die Infiltration der Tiefe durch Agenten der Mächte des Chaos von vornherein auszuschließen, wird die Grube von Schöpfungen der Kosmokraten bewacht, von fremdartigen Wesen aus der Frühzeit des Universums, den Wächtern der Tiefe. Die Formenergiemauer unter der Grube ist eine zusätzliche Barriere. Die vorerst letzte großtechnische Leistung der Jaschemen besteht in der Errichtung eines komplexen, landesweiten Transmittersystems. Mit einem gigantischen Auf-
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wand an Material und Personal werden zunächst Tausende, dann Millionen, schließlieh Milliarden Transmitterdome installiert; jeder Dom ist von den Nach-bartransmittern eine Lichtsekunde oder rund 300 000 Kilometer entfernt. Im imaginären Norden des Tiefenlands eine Lichtstunde vom Berg der Schöpfung entfernt – legen die RZI ein schier unerschöpfliches Rohstofflager an, das später Grenzwall genannt werden wird. Noch vor der Fertigstellung des Transmittersystems kommt es im Tiefenland zum Auftreten eines unerwarteten, rätselhaften Phänomens, das die RZI veranlaßt, die Dienste eines weiteren Hilfsvolks in Anspruch zu nehmen. Die Raum-Zeit-Ingenieure rufen – und die Alai kommen …
3. Atlan schlief, und er träumte von der grünen Sonne Cortrans im Zentrum der sterbenden Galaxis Cor, vom Tiefenzöllner Drul Drulensot und den unheimlichen Wächtern der Grube, von der Alten Tiefenschule und den Katakomben unter Starsen, von Chulch und Wöleböl und von Kerzl, dem uralten Baumwesen. Seitdem sind fast sechzehn Monate vergangen, schnitt die emotionslose Mentalstimme des Logiksektors in Atlans Traumwelt. Soeben hat der 1. Februar 429 NGZ begonnen, was dem Jahr 4016 altterranischer Zeitrechnung entspricht. Höchste Zeit, daß du aufwachst! Atlan blieb mit geschlossenen Augen liegen. Schlaftrunken versuchte er sich zu erinnern, wo er sich befand und was in den letzten Stunden und Tagen geschehen war. Dann brach die Erinnerung wie eine Sturmflut über ihn herein. Das Vagenda, von den Grauen Heeren Lordrichter Krarts erobert … Suu Oon Hoo, der letzte Tiefenschwimmer, der die RZI beschuldigt hatte, das Vagenda und die noch freien Gebiete des Tiefenlands dem Grau-
einfluß zu opfern, um ihre eigene Haut zu retten … Der Versuch der Grauen Lords, Atlan, Salik und Lethos zur Tiefenphilosophie zu bekehren, sie zu Lordrichtern mit Sitz in der Grauen Kammer zu machen … Die Begegnung mit dem Astralfischer Giffi Marauder – und mit Iruna von Bass-thet, der Sarlengort in der Gestalt einer Akonin, Kazzenkatts Schwester, von Agenten der Genetischen Allianz aus dem tödlichen Traum der Win erweckt, damit sie ihren Bruder tötete … Dann die Flucht über den Platinpaß im Massiv der metallenen Berge des Grenzwalls, die Rückkehr des Tabernakels von Holt; kurz nachdem sie den höchsten Punkt des Platinpasses hinter sich gelassen hatten, war es plötzlich wieder aufgetaucht … Dann der Flug in die blendende goldene Helligkeit der Lichtebene, in das Reich der RaumZeit-Ingenieure … Eine Stunde nach Erreichen der Lichtebene ließ die Helligkeit abrupt nach, erinnerte der Logiksektor den Arkoniden. Alles deutet darauf hin, daß es sich bei dem Licht um ein quasi-psionisches Phänomen handelt, dem sich das Bewußtsein binnen kürzester Zeit anpaßt. Mit großer Wahrscheinlichkeit neutralisiert es den gefährlichen Graueinfluß – schließlich haben die Lords keinen Versuch gemacht, euch zu verfolgen. Nebenbei bemerkt, dürfte die Lichtebene diesem Phänomen ihren eigentümlichen Namen zu verdanken haben. Atlan erinnerte sich an Marauders Bemerkung über das Sextadimelement der Lichtebene, das Iruna unweigerlich getötet hätte, wäre sie mit ihm über den Platinpaß geflohen. Hatte der Astralfischer dieses quasipsionische Lichtphänomen damit gemeint? Er preßte die Lippen zusammen. Es spielte keine Rolle; Iruna war mit Giffi Marauder verschwunden, und es war mehr als zweifelhaft, ob er sie jemals wiedersehen würde. »Verdammt!« stieß der Arkonide hervor. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um in melancholischen Erinnerungen an eine Ro-
Die Raum-Zeit-Ingenieure manze zu schwelgen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war, meldete sich der Logiksektor zu Wort. Das gesamte Tiefenland ist grau und in der Gewalt der Lords; eure einzige Hoffnung besteht darin, so rasch wie möglich mit den RaumZeit-Ingenieuren Kontakt aufzunehmen. Nur gemeinsam mit den RZI habt ihr eine Chance, das Tiefenland vom Graueinfluß zu befreien. Aber die RZI haben das Tiefenland bewußt geopfert, dachte Atlan bitter. Das ist keinesfalls erwiesen, widersprach der Extrasinn. Unsere wenigen Informationen über die RZI erlauben noch kein abschließendes Urteil. Plötzlich sah Atlan wieder das Traumbild der sterbenden Galaxis Cortrans vor sich. Es erschien ihm wie ein Symbol für den Niedergang des Tiefenlands und seiner Erbauer, der RZI. Der Extrasinn hatte nichts für Symbole übrig. Ich habe inzwischen mit der Analyse aller vorliegenden Daten über den Komplex Tiefe und Raum-Zeit-Ingenieure begonnen. Ich bin zu einigen bemerkenswerten Erkenntnissen gelangt Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist der vorzeitige Alterungsprozeß der Galaxis Cortrans auf den Bau des Tiefenlands zurückzuführen … Intuitiv erfaßte Atlan, worauf der Extrasinn hinaus wollte. Du glaubst, daß die RZI einen Großteil der Energien Cors in Materie umgewandelt und zum Bau des Tiefenlands verwendet haben? dachte er. Natürlich! Das könnte erklären, wieso sich ein überaltertes Milchstraßensystem wie Cor in einem Cluster relativ junger Galaxien befindet! Exakt, bestätigte der Logiksektor. Ich werde meine Analysen fortsetzen und sie zu gegebener Zeit in einem »Exkurs Tiefenland« zusammenfassen. Atlan wartete, aber der Extrasinn gab keine weiteren Erklärungen ab. Atlan öffnete die Augen. In einer Höhe von genau 2.312 Metern spannte sich die lückenlose Wolkendecke, wie sie fast für das gesamte Tiefenland charakteristisch war.
13 Auch hier schien es keine zentrale Lichtquelle zu geben; jeder Quadratkilometer Himmel verbreitete gleichbleibende Helligkeit, die etwa mit der eines irdischen Herbsttags vergleichbar war. Von den quasi-psionischen Lichtfluten, mit denen das Reich der RaumZeit-Ingenieure sie beim Abstieg vom Grenzwall empfangen hatte, war nichts mehr zu bemerken. Atlan richtete sich auf. Flüchtig nahm er zur Kenntnis, daß sich sein TIRUN farblich der Umgebung angeglichen hatte: Hellgolden wie der lichtdurchströmte, gläserne Boden, auf dem er lag; weiß wie die Wolkendecke über ihm. Licht und Wolken – das war alles, was die Ebene den Blicken bot. Jen Salik und Tengri Lethos-Terkadschan saßen ein paar Schritte weiter auf der leuchtenden, endlosen Glasebene. Salik hatte ihm den Rükken zugedreht, doch die Emotioverbindung zwischen den TIRUNS schien ihm zu verraten, daß Atlan erwacht war, denn er drehte sich in diesem Moment zu ihm um. »Gut geschlafen?« fragte Jen Salik. »Zu kurz«, gestand Atlan. »Ich fühle mich wie gerädert.« »Vermutlich eine Nachwirkung des Graueinflusses«, bemerkte Lethos. »Ohne eure Zellaktivatoren hättet ihr euch nie so schnell von den Strapazen der letzten Wochen erholt.« »Und du?« Atlan warf dem Hathor einen forschenden Blick zu. »Was ist mit dir?« »Ich bin eine Bewußtseinsprojektion«, erinnerte Lethos-Terakdschan. Ein Lächeln huschte über sein smaragdgrünes, golden gemustertes Gesicht. Im Gegensatz zu Atlan und Salik trug er keinen TIRUN, sondern seine alte Hathor-Kombination; wie die TIRUNS hatte er sie in Form eines abstrahierten Gedankenmusters, eine Art mentale Blaupause, mit in die Tiefe genommen und später aus der Formenergie der Starsenmauer memoriert. »Außerdem«, fügte er hinzu, »wirkt das semi-organische Gewebe meiner Kombination wie ein Zellaktivator, sobald ich materielle Gestalt annehme.«
14 Atlan drehte den Kopf und betrachtete gedankenverloren die gigantische Bergkette des Grenzwalls; die höchsten Gipfel reichten bis zur Wolkendecke. Weiße Kappen, die an Schnee erinnerten, aber aus Formenergie bestanden, krönten diese. Riesen aus Stahl und Silber, Zinn und Iridium, Kupfer, Gold und Titan, Zink, Bronze und Wismut. Farbenprächtige, gletscherähnliche Gebilde aus Formenergie wuchsen an schroffen Hängen empor; geschmolzenes Metall stürzte dampfend in bodenlose Abgründe; Klippen aus purem Weißgold reckten sich in schwindelerregende Höhen; Chromnadeln, jede mindestens zweihundert Meter hoch, überragten ein Plateau aus reinem Uran … Der Grenzwall war ein fast unüberwindliches Hindernis. Rechts und links setzte sich die Bergkette fort, bis sie in der Ferne verschwamm, und nach allem, was sie über den Grenzwall erfahren hatten, reichte er von einem Rand des Tiefenlands bis zum anderen. Eine lükkenlose Barriere. Und selbst die niedrigsten Gipfel waren noch hoch genug, um von der Tiefenkonstante beeinflußt zu werden; es war unmöglich, sie zu besteigen. Nur ein einziger Einschnitt – der Platinpaß, der 1000 Kilometer westlich der Grauen Bergfestung den Wall spaltete – bot die Möglichkeit, knapp unterhalb des Wirkungsbereichs der Konstante den Wall zu passieren. Atlan versuchte sich auszumalen, aus wieviel Milliarden Tonnen Metall der Grenzwall bestand. Er mußte ein nahezu unerschöpfliches Rohstofflager sein – und die Lords von Ni nutzten diese Rohstoffe für ihre Rüstungsproduktion. Ganz Ni war eine einzige Waffenschmiede … Wie lange wollt ihr denn noch herumlungern? Bis die Armeen der Lords über den Platinpaß marschieren und mit der Eroberung der Lichtebene beginnen? Unter Rittern der Tiefe habe ich mir etwas anderes vorgestellt als drei verdammte Schafsköpfe, die dem Laster des Nichtstuns frönen. Handelt! Die kostbare Zeit verrinnt, und ihr trö-
Thomas Ziegler delt nur herum! Ich frage mich wirklich, wie ihr unter diesen Umständen den Berg der Schöpfung erreichen wollt … Atlan löste den Blick vom Grenzwall und starrte die vorwitzige schwarze Schachtel an, die ein paar Meter entfernt in der Luft schwebte: Das Tabernakel von Holt. Ist das alles, was du kannst? zeterte das Tabernakel. Dämlich glotzen? Der Arkonide lächelte humorlos. Obwohl sich das Tabernakel mehrfach als wertvoller Helfer erwiesen und ihnen wichtige Informationen geliefert hatte, traute er dem mysteriösen Gebilde nicht über den Weg. Gewiß, ohne das Tabernakel hätten sie nicht so rasch das Vertrauen der Archivare von Schätzen erringen können, doch der Tiefenplan im Innern des schwarzen Kastens hatte sich als armseliger Fund erwiesen. Und erst während der Abenteuer im Kyberland hatte das Tabernakel enthüllt, daß es vor langer Zeit von den RZI als Kundschafter nach Starsen geschickt worden war, um festzustellen, ob sich die Grube inzwischen wieder als Tor zum Normaluniversum nutzen ließ. In den Augen des Arkoniden war das Tabernakel ein unsicherer Kantonist. Und er hatte guten Grund, an der Loyalität der schwarzen Schachtel zu zweifeln … Er lachte grimmig. Nun, dies war genau der richtige Moment, den Zweifeln nachzugehen. Er konzentrierte sich auf die Gedankensteuerung seines TIRUNS. Zwar war das Tabernakel telepathisch begabt. Doch Atlans Mentalstabilisierung bot ausreichenden Schutz vor der Neugier des vorlauten Metallkästchens. Plötzlich schossen aus den Handgelenkpassen von Atlans TIRUN vier Objekte, die wie Pfeilspitzen aussahen, aber wesentlich tödlicher waren: Mentalgesteuerte Waffensysteme, die Impuls-, Desintegrations-, Intervall- und Thermostrahlen emittieren konnten. Wie stählerne Insekten umschwirrten die Lenkwaffen das Tabernakel von Holt. Ein telepathischer Schrei – und die
Die Raum-Zeit-Ingenieure schwarze Schachtel verschwand, um fünfzig Meter weiter zu rematerialisieren. Verrat, Hinterlist, Heimtücke! zeterte das Tabernakel. Das also ist der Dank für meine aufopferungsvolle Hilfe – ein schurkischer Mordanschlag! Mit einem Gedankenbefehl ließ Atlan die vier Lenkwaffen wieder in den Handgelenkpassen seines TIRUNS verschwinden. Die Reichweite der Waffensysteme betrug nicht mehr als zehn Meter; zu wenig, um das in sicherer Entfernung verharrende Tabernakel angreifen zu können. Aber er hatte ohnehin nur seine Entschlossenheit demonstrieren wollen. Er bemerkte die erstaunten Blicke Jen Saliks und Lethos-Terakdschans und machte eine beschwichtigende Handbewegung. Dann näherte er sich langsam dem mißtrauisch kreisenden Tabernakel. In zwanzig Metern Abstand blieb er stehen. Killer! zischte das Tabernakel. Atlan lächelte. »Du bist der einzige Telepath, der gedanklich zischen, keifen, krakeelen und kreischen kann«, sagte er anerkennend. »Allein das verdient meine Bewunderung – von deinen hervorragenden Leistungen als notorischer Lügner ganz zu schweigen …« Wer behauptet, daß ich ein notorischer Lügner bin? brauste das Tabernakel auf. Offenbar hat dir der Graueinfluß die Gedanken verwirrt! »Du hast Lethos und Twirl gegenüber behauptet, daß du schon einmal zur Lichtebene zurückkehren wolltest und vom Graueinfluß des Landes Ni daran gehindert wurdest«, sagte Atlan, ohne auf die Beleidigung des Tabernakels einzugehen. Tatsächlich? Die schwarze Schachtel zögerte. Wann soll ich das denn gesagt haben? »Während unseres Aufenthalts im Kyberland«, erklärte Lethos-Terakdschan. Lautlos war er an Atlans Seite aufgetaucht. Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten. »Wie du dich gewiß erinnerst, wurden die Technotoren Hurgenos Rarg und Korvenbrak Nald von den beiden Grauen Lords von Starsen
15 übernommen. Sie wiegelten die Jaschemen gegen uns auf. Twirl und ich teleportierten auf deinen Rat hin in den Vitalenergiespeicher des Technotoriums. Dort hast du uns deine Herkunft offenbart und von dem Auftrag erzählt, den du für die RZI ausführen solltest.« Das Tabernakel stieg einen Meter höher. Atlan konnte fast hören, wie es im Innern der schwarzen Schachtel arbeitete. Vielleicht, vielleicht auch nicht, sagte das Tabernakel. Ich erinnere mich schwach, irgend etwas in dieser Richtung gesagt zu haben – aber ich bin mir nicht sicher. »Wir erinnern uns, dafür um so besser«, lächelte Atlan. »Nun, jedenfalls hast du behauptet, daß du durch das Tiefenland gewandert bist, Informationen über die Aktivitäten der Grauen Lords gesammelt und dich schließlich auf den Weg zurück zur Lichtebene gemacht hast. Richtig?« Kann sein, kann auch nicht sein, antwortete das Tabernakel unbehaglich. Ich bin nicht mehr der Jüngste, wißt ihr … Man sagt viel, wenn man Langeweile hat … »Nach deinen eigenen Worten«, fuhr der Arkonide unbeirrt fort, »hast du die Lichtebene aber nie erreicht. Das Graugebiet am Fuß des Grenzwalls – das Land Ni – erwies sich als unüberwindliches Hindernis. Du mußtest unverrichteter Dinge umkehren, und nach einer Odyssee von unbestimmter Dauer bist du nach Schätzen gelangt und hast dich im dortigen Zentralmuseum niedergelassen. Richtig?« Das Tabernakel zögerte. Daß ich mich im Zentralmuseum niedergelassen habe, ist richtig, gab es nach einer Weile zu. An alles andere kann ich mich wirklich nicht erinnern. Ich bin einfach zu alt und zu vergeßlich, wißt ihr … »Gewiß nur eine vorübergehende geistige Trübung«, spottete Atlan. »Wie dem auch sei, etwas irritiert mich an deiner Geschichte …« Tatsächlich? »Ja. Ich frage mich: Wenn dich damals der Graueinfluß des Landes Ni an der Rück-
16 kehr zur Lichtebene gehindert hat, wieso dann nicht auch heute? Wieso ist es dir gelungen, am Platinpaß zu uns zu stoßen?« O je, ich hätte es mir denken können, jammerte das Tabernakel. Ich hätte wissen müssen, daß ihr mir über seid! Ritter der Tiefe gegen eine halbvertrottelte schwarze Schachtel, die seit Äonen heimatlos durch das Tiefenland irrt: ständig in Gefahr, von einer grausamen Kreatur des Graulebens gepackt und geöffnet zu werden; ständig auf der Suche nach einer billigen, besser noch kostenlosen Möglichkeit, nach Hause zu telefonieren … Das Tabernakel von Holt schwebte zerknirscht auf die Ritter der Tiefe zu. Ich gestehe, daß ich ein abgefeimter Lügner bin! rief es. Und ich bin nicht nur ein Lügner, sondern auch ein elender Hochstapler, ein ruchloser Angeber, ein armseliger Spinner, ein Scheusal und ein charakterloser Lump, ein … »Genug!« entfuhr es Atlan. »Diese Selbstzerfleischung ist ja erbarmungswürdig!« »Die Schachtel bricht mir fast das Herz«, sagte Jen Salik. »Ich bin zu Tränen gerührt«, nickte Lethos. »Nur weiter so, Tabernakel! Gestehe alles!« Und ob ich alles gestehen werde! krähte das Tabernakel. Zum Beispiel war die Sache mit dem Tiefenplan ein ausgemachter Schwindel. Ich habe den Plan nur erfunden, um den alten Gluschuw-Nasvedbin in den Wahnsinn zu treiben. Ein köstlicher Spaß! Nichts kann diese Archivare rasender machen als eine schwarze Schachtel, die behauptet, bis zum Rand mit welterschütternden Geheimnissen vollgestopft zu sein, aber jedem Öffnungsversuch hartnäckig widersteht … Gluschuw-Nasvedbin hätte bestimmt den Verstand verloren, wenn ich mich nicht anderen Opfern zugewandt hätte – nämlich euch … Bedauerlicherweise hattet ihr schon von diesem angeblichen Tiefenplan erfahren, und ich konnte mir natürlich nicht die Blöße geben und sagen, daß alles erlogen war. Also habe ich mir mühsam eine Art
Thomas Ziegler Plan zusammengebastelt, der zwar nicht sehr hilfreich, dafür aber sehr geheimnisvoll war … Ohne diese geniale Idee hättet ihr mich womöglich im Zentralmuseum von Schätzen verrosten lassen. »Das ist sogar sehr wahrscheinlich«, nickte Atlan. »Und weiter?« Nun … Diese ganze Geschichte, daß ich im Auftrag der RZI den Zustand der Grube auskundschaften sollte … Das Tabernakel kicherte. Natürlich war auch das eine faustdicke Lüge. In Wirklichkeit haben mich die RZI mit Schimpf und Schande davongejagt. Unter Androhung der schrecklichsten Strafen haben sie mir verboten, je wieder die Lichtebene zu betreten … Und wißt ihr, warum? Natürlich wißt ihr es nicht, aber ich werde es euch verraten. Hört mein Geständnis, Freunde! Das Tabernakel machte eine dramatische Pause. Man hat mich davongejagt, weil ich es nie geschafft habe, diese verdammten Schratze so zu hängen, daß aus ihnen anständige Schripze wurden! Könnt ihr euch das vorstellen? Könnt ihr euch vorstellen, wie mir zumute war, als mir auch der tausendste Schratz vom Haken sprang? Ich sage euch: Mir war grauenhaft zumute, Freunde! Ich habe mein Bestes getan, aber selbst mein Bestes war nicht gut genug, und so mußte ich die Lichtebene verlassen … ins Exil gehen … von der Presse ganz zu schweigen! Das Tabernakel schlug vor Empörung einen Salto. Entweder entwischte mir der Schratz unter der Presse, wenn ich mich um den am Haken kümmerte, oder der am Haken machte sich davon, sobald ich den anderen unter die Presse legte … Und kaum hatte ich es geschafft, die Mindestquote – also fünfzig Schratze – fein säuberlich an diese verdammten Haken zu hängen und sie einzeln zu numerieren und eigenhändig zu signieren – nicht die Haken, sondern die Schratze – da machte die ganze Bande einen solchen Höllenlärm, daß es einfach unmöglich war, sie
Die Raum-Zeit-Ingenieure auf manierliche Weise unter die Presse zu legen, damit aus ihnen anständige Schripze wurden. Aber am schrecklichsten waren die Schripze, die sich als Schratze ausgaben und dann natürlich doppelt gehängt und gepreßt wurden – bei allen Tiefenteufeln, da half nur noch der Ruf nach dem Großen Radierer … Aber was erzähle ich euch! Ihr wißt schließlich selbst am besten, was für verheerende Folgen so ein Doppelschripz haben kann … Das Tabernakel von Holt lachte freudlos. Atlan bedachte es mit einem finsteren Blick. Er hörte Jen Salik unterdrückt kichern. »Wir wissen keinesfalls, was für verheerende Folgen ein doppelter Schripz haben kann«, sagte Atlan mit gefährlicher Ruhe. »Wir wissen nicht einmal, was ein einfacher Schripz ist. Und was das betrifft – keiner von uns hat je etwas von einem verdammten Schratz gehört.« Und ob die Schratze verdammt sind! stimmte das Tabernakel zu. Ich für meinen Teil würde lieber die angedrohten Strafen der RZI auf mich nehmen, als mich auch nur eine Sekunde lang wie diese grauenvollen Schratze an den Haken hängen oder unter die Presse legen zu lassen. »Bei allen Arkongötzen!« explodierte Atlan. »Wenn du uns nicht augenblicklich sagst, was ein Schratz ist, dann …« Ihr wißt es wirklich nicht? fragte die schwarze Schachtel erstaunt. »Nein!« Nun … Das Tabernakel zögerte. Nun, ein Schratz ist in erster Linie ein ungehängter und ungepreßter Schripz und erst in zweiter Linie ein Schratz. Der durchschnittliche Schratz ähnelt einem grüngestreiften Ball aus dimensional oszillierender Formenergie; während ein Schratz dazu tendiert, mehr im fünfdimensionalen Bereich zu oszillieren, zieht der normale Schripz den sechsdimensionalen Bereich vor. Und ein Doppelschripz oszilliert überhaupt nicht mehr – und das macht ihn natürlich so gefährlich … »Natürlich«, nickte Atlan. »Ein Narr, der das nicht versteht!«
17 Uh, ja, meinte das Tabernakel. Vielleicht sollte ich noch einschränkend hinzufügen, daß die erwähnten grünen Streifen nur eine Metapher für die überaus komplizierten kreativen Prozesse sind, die in einem Schratz ablaufen, während er am Haken hängt. Außerdem ist ein Schratz nicht mehr rund, vor allem dann nicht, wenn er unter der Presse liegt. Und was die Formenergie betrifft, so oszilliert sie zwar, doch das läßt sich nur mit der paralogischen Megawahrscheinlichkeitsformel eines überaus exotischen und wenig verstandenen Zweigs der non-kausalen Hypermathematik beweisen … »Ich glaube«, knurrte Atlan, »diese verdammte Schachtel will uns auf den Arm nehmen.« Jen Salik rieb nachdenklich sein Kinn. »Wenn ihr meine Meinung hören wollt – ich habe dem Tabernakel noch nie ein Wort geglaubt. Und dieses Gerede über Schratze und Schripze macht die alte Schachtel auch nicht unbedingt glaubwürdiger …« »Immerhin läßt sich dem Gebrabbel des Tabernakels eine wichtige Information entnehmen«, erklärte Tengri LethosTerakdschan. Ach ja? Das Tabernakel rotierte mehrfach um die eigene Achse. Was willst du damit sagen? Der Hathor lächelte breit »Ich will damit sagen, daß du nicht nur ein notorischer, sondern sogar ein begnadeter Lügner bist …« Abrupt kam die schwarze Schachtel zum Stillstand. Danke für das Kompliment – obwohl dies der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für Komplimente ist. Bedauerlicherweise zieht nämlich ein Informationssturm herauf. Wenn wir nicht in spätestens dreißig Sekunden von hier verschwunden sind, wird unsere Expedition durch den Tod aller Teilnehmer ein vorschnelles Ende nehmen … Atlan reagierte rein instinktiv. Ein Gedankenbefehl, und sein TIRUN aktivierte verzögerungslos das in den Fessel- und Knöchelpassen eingebaute Gravo-Triebwerk. Wie ein Pfeil schoß er in die Höhe. Die Ebene sackte unter ihm weg, und in der nächsten
18 Sekunde waren Jen Salik und Lethos zu ameisengroßen Gestalten in einer Wüste aus gefrorenem Licht geschrumpft. Und in weiter Ferne … vom Boden aus nicht zu erkennen … Atlan stockte der Atem. Der Informationssturm! Eine himmelhohe Wand aus unzähligen Bildern, die unter der Einwirkung eines unsichtbaren Kraftzentrums tanzten und wirbelten, blitzartig auftauchten und ebenso schnell wieder in der Masse der Visionen verschwanden: Bilder von Sternen und glühenden Kometen, von Galaxien und fremden Planeten; Bilder von düsteren Städten aus schwarzem Basalt, von nadelspitz zulaufenden Türmen und dampfenden Maschinenungetümen, von bizarren Kreaturen und aufgewühlten Meeren; Bilder von Libellen zwischen kantigen Asteroiden, von violetten Bäumen unter einem grünen Himmel, von Vulkanen und vereisten Bergen, Flüssen aus Magma, Wasser und Metall, Kristallseen und leuchtenden Raumschiffen, von Armeen, die unter Bannern aus gegerbter Haut gegen gepanzerte Luftschiffe anstürmten … Bilder, in einem irrwitzigen Reigen vereint, strudelnd, für Sekunden aufflakkernd und dann erlöschend, neuen Visionen weichend … Und dann hörte er auch den infernalischen Lärm, der sich aus tausend verschiedenen Geräuschen zusammensetzte und mit der Bilderflut heranrollte. Die Ähnlichkeit mit den Informationsstürmen in den Virochips ist verblüffend, bemerkte der Extrasinn. Atlan kannte das Phänomen nur aus den Berichten von Bull, Deighton und den anderen alten Freunden, die sich während der virotronischen Vernetzung der Menschheit auf Terra aufgehalten hatten. Und aus diesen Berichten wußte er um die Gefährlichkeit der Informationsstürme. Es waren nicht nur bloße Bilder, die dort herangedonnert kamen. Es waren materielle – oder zumindest halbmaterielle – Phänomene. Wenn die Sturmfront über sie hinwegrollte, konnten sie zermalmt werden. Oder
Thomas Ziegler schlimmer noch: Sie konnten selbst für alle Zeit in diesen mörderischen Strudel geraten … Der Arkonide verschwendete keinen Gedanken an die Frage, wieso es auf der Lichtebene des Tiefenlands, in dieser Dimension unter dem Raum, zur explosionsartigen Freisetzung semi-materieller Informationsbruchstücke wie in den Makrochips des VirenImperiums kommen konnte. Ihr Leben war in Gefahr. Wie ein Stein fiel er in die Tiefe. Kurz vor dem Aufprall bremste der TIRUN ab, und Atlan landete weich neben Salik und Lethos. »Die Schachtel hat recht!« stieß er hervor. »Wir müssen sofort zurück zum Grenzwall. Der Informationssturm …« Sinnlos, unterbrach das Tabernakel von Holt. Der Sturm ist schneller als ihr. Das ferne Rauschen des Sturms wurde zu einem Dröhnen, einem ohrenbetäubenden donnernden Gebrüll, das alle anderen Laute erstickte. Nur die telepathische Stimme des Tabernakels war deutlich zu verstehen. Offenbar bleibt mir keine andere Wahl, sagte das Tabernakel mürrisch. Und ich dachte, die Zeiten als Kuli wären endgültig vorbei. Also haltet euch bei mir fest! Die schwarze Schachtel schwebte näher. Nach einem kurzen Moment des Zögerns gehorchten die Ritter der Tiefe. Ihre Hände berührten das kühle Metall. Im nächsten Moment entmateria lisiertensie.
4. Exkurs Tiefenland (II) Der Ruf der Raum-Zeit-Ingenieure an die Alai erfolgt in Form eines telepathischen, informationsgesättigten Impulses. Dies ist nicht der erste Auftrag, der an die Alai ergeht, aber es ist ihr wichtigster und schwierigster, wie sich bald erweist. Über Cortrans und den sechsdimensionalen Korridor des universellen Transportsystems erreichen sie die Grube. Alles, was sie
Die Raum-Zeit-Ingenieure von Narl Narlenhort, dem Tiefenzöllner, über ihren Auftrag erfahren, bevor sie hinunter in die Tiefe steigen, mutet harmlos an: Sie sollen unmittelbar unter der Grube ein Wohn- und Schulungszentrum für die Hilfsvölker der RZI bauen. Und sie sollen den RZI bei der Lösung eines unvorhergesehenen Problems helfen. Der Name der Stadt: Starsen – das Wort für Hoffnung in der Sprache der RZI. Der Name des Ausbildungszentrums: Tiefenschule. Von einem Androiden der RZI mit Baumaschinen, Roboterheeren, Materiekonvertern, Architekturcomputern und detaillierten Angaben über die Bedürfnisse und Eigenarten der ausgewählten Hilfsvölker ausgerüstet, beginnen die Alai mit dem Bau der kontinentgroßen Stadt und des gewaltigen Schulkomplexes. Die Arbeit schreitet zügig voran – bis die ersten Alai einem mysteriösen Einfluß zum Opfer fallen. Es ist die Manifestation der Graukraft, jenes tiefenspezifischen Phänomens, das jenseits der Mauer von Starsen in geballter Form auftritt und das Werk der RZI schon im Anfangsstadium zunichte zu machen droht. Die Forschungen der alaischen PsiSpezialisten ergeben, daß es sich bei dem Grau- oder Tiefeneinfluß nicht um eine Kraft im eigentlichen Sinn, sondern um die Abwesenheit einer Kraft handelt – die Abwesenheit psionischer Energie. Jener Energie, die das gesamte Universum durchdringt und das Leben überhaupt erst ermöglicht. Lebensenergie – Vitalenergie. Die Entdeckung der Alai erweist sich als richtig. Die einzige Möglichkeit, in der Tiefe zu überleben und die Arbeiten an der Rekonstruktion des Informationsspeicherfelds TRIICLE-9 fortzusetzen, ist die Zuführung von vitaler Energie aus dem Normaluniversum. Die RZI erschaffen im Zentrum des Tiefenlands das Vagenda – 1000 Meter hohes und 10000 Kilometer durchmessendes Plateau aus rostrotem, unzerstörbarem Material. Das Herz des Vagendas ist eine 9 000 Kilometer durchmessender Talkessel – die
19 Quelle der Kraft, die erste und einzige gesteuerte Quelle des Tiefenlands, die direkt das pisonische Netz des Normaluniversums anzapft. In einem Jahrhunderte dauernden Kraftakt wird das gesamte Tiefenland unterhöhlt. Ein durch Tunnel verbundenes Kavernensystem entsteht und wird vom Vagenda aus mit Vitalenergie geflutet. Damit scheint der verhängnisvolle Graueinfluß gebannt, und der Plan der RZI tritt in die nächste Phase. Aus allen Teilen des Universums treffen die Hilfskräfte der Raum-Zeit-Ingenieure ein: Einzelwesen mit besonderen Begabungen wie Ufun Holt, der seinen Geist in 150 000 Teile spaltet und sich den RZI als Transportmittel zur Verfügung stellt, das sie unabhängig vom System der Transmitterdome macht; kleine Spezialistengruppen wie die Alai unter ihrem Koordinator OliphSchakt; Volksstämme wie die Chrass, die späteren Blinden Eremiten; und ganze Völker wie die Irtipit, Ni Val, wie Tausende und aber Tausende Rassen, die sich der Reparatur des Moralischen Kodes verschreiben und in der Tiefe eine neue Heimat finden. Einige von diesen Völkern werden von den RZI mit Arbeiten betraut, die in direktem Zusammenhang mit der Rekonstruktion von TRIICLE-9 stehen. Die Tiziden – geniale Gen-Techniker, die dafür sorgen, daß sich die Mutationsrate unter den Tiefenvölkern in einem akzeptablen Rahmen hält, positive Mutationen fördern, Krankheiten bekämpfen und nach einem genetischen Schutzfaktor gegen die latente Gefahr des Graueinflusses forschen. Wichtigste Aufgabe der Tiziden aber ist die eugenische Vermessung aller Tiefenvölker, die Erstellung einer genetischen Karte des Tiefenlands als Grundlage für die in ferner Zukunft geplante Große Rekonstruktion. Eine Aufgabe ganz anderer Art erwartet die in Symbiose lebenden Völker der Alesterwanen und Zyrmii. Sie sind auserwählt, die technischen, wissenschaftlichen und kulturellen Schätze aller Tiefenvölker zu archivieren. Ihre ausgedehnten Museumskomple-
20 xe sollen Zeugnis ablegen von der Vielfalt und der Größe der zahllosen Zivilisationen, die sich zur Reparatur des Moralischen Kodes zusammenge/unden haben, und sie sollen den Grundstein für eine spezifische Tiefenkultur legen, die sich erst vage abzuzeichnen beginnt. Doch dann kommt es in Starsen zu einem folgenschweren Zwischenfall. Kerzl, der Älteste der Chrass, gelangt auf der Suche nach einem Heilmittel für sein an einer Mangelkrankheit leidendes Volk in die Kavernen von Starsen. Bestürzt stellt er fest, daß der tödliche Graueinfluß wesentlich aktiver ist als bisher geglaubt. Sollten die Vitalströme aus dem Vagenda eines Tages aus irgendeinem Grund versiegen – und wenn auch nur für kurze Zeit – wird die Graukraft sofort wieder aktiv werden und alles Leben bedrohen. Die Entdeckung des Chrass wird von den Alai an die RZI weitergeleitet, die im nördlichsten Teil des Tiefenlands – auf der Lichtebene jenseits des größten Rohstofflagers der Tiefe – die Vorbereitungen für die Große Rekonstruktion treffen. Die RZI schätzen die Lage richtig ein – zwar deutet nichts darauf hin, daß das Vagenda in absehbarer Zeit versiegen könnte, doch die Erfahrungen mit dem Tiefeneinfluß zwingen sie, die Arbeiten an der Rekonstruktion zu unterbrechen und ein landesweites Netz von Vitalenergiespeichern anzulegen. Die Konstruktion von Vitalenergiespeichern erweist sich als überaus schwierig. Ein intensives, langwieriges Forschungsprogramm ergibt, daß die Speicher vitalen Ursprungs sein müssen, um ihre Aufgabe erfüllen zu können. Das Problem wird auf elegante Weise gelöst: Zwei Völker, die zu den ältesten Hilfskräften der RZI gehören und aufgrund ihrer einzigartigen Fähigkeiten eine Hauptrolle bei der bevorstehenden Großen Rekonstruktion spielen sollen, sind in idealer Weise für die Herstellung der dringend benötigten Vitalenergiespeicher geeignet. Die Chylinen – ein Volk aus der Retorte,
Thomas Ziegler Produkte der genialen tizidischen GenTechniker – sind in der. Lage, aus ihrer eigenen Körpersubstanz jedes technische Gerät herzustellen, dessen Konstruktionsplan zuvor in ihre DNS programmiert worden ist. Nach den Anweisungen der RZI entwerfen die Jaschemen die Pläne für die verlangten Vitalenergiespeicher, die von den Tiziden mittels eines eigens für diesen Zweck entwickelten Virus in die chylinische DNSStruktur eingeschleust wird. Das zweite Volk sind die Lla Ssann, die Hüter des Vagendas, die als einzige von allen Hilfskräften der RZI die Gabe des Tiefenschwimmens besitzen – die Gabe, in die Vitalenergieströme des Vagendas einzutauchen, ohne von den gewaltigen Energien aufgesaugt zu werden, und als körperlose Bewußtseine die Ströme zu steuern, zu kanalisieren, gleichmäßig über das ganze Tiefenland zu verteilen. Während die Lla Ssann den Chylinen genau dosierte Mengen Vitalenergie zukommen lassen, transformieren die Chylinen diese Energie in Materie und produzieren aus dieser Materie und anhand der DNSBlaupausen die Einzelteile für die riesigen Aktivatorspeicher. Die ersten Speicher werden zum Bau der Vagendakrone verwendet und in die Vorbereitungen der Großen Rekonstruktion mit einbezogen. So wie die Tiziden in ihren Eugen-Stationen die genetischen Werte aller Tiefenbewohner vermessen und spei-ehern, so sollen die Lla Ssann in der Vagendakrone die mentalen Werte aller Tiefenbewohner in Form von Bewußtseinsduplikaten speichern und auf Abruf bereithalten. Nachdem am Fuß des Vagendas ein zweiter Aktivatorring fertiggestellt ist, wird die weitere Produktion der Chylinen über das gesamte Tiefenland verteilt; zu den ersten Regionen, die mit den Speichern ausgerüstet werden, gehört Starsen: Insgesamt achtzehn Vitalenergiespeicher werden in den Kavernen installiert und sichern die Riesenstadt vor den tödlichen Folgen eines plötzlichen Ausfalls des Vagendas.
Die Raum-Zeit-Ingenieure Und die Zeit vergeht. Auf der Lichtebene schreiten die vorbereitenden Arbeiten an der Großen Rekonstruktion ihrem Ende entgegen. Bald, davon sind die RaumZeit-Ingenieure überzeugt, werden sie ihren kühnen Plan in die Tat umsetzen können. Bald – in wenigen Jahrhunderten oder Jahrtausenden…
5. Draußen im purpurnen Energiemeer, das wie die offene Ader eines leviathanischen Wesens die Weiten der Lichtebene vom königsblauen Koloß der Letzten Bastion trennte, zog Suu Oon Hoo unermüdlich seine Kreise. Die psionischen Wälle der Bastion dämpften sein telepathisches Geschrei, seine Flüche, aus Haß und Verzweiflung geboren. Verfluche uns, Tiefenschwimmer, dachte Myzelhinn, während er sich von der Treppe zum Rand der Welt und zum Berg tragen ließ, der jenseits des schrecklichsten aller vorstellbaren Abgründe sein Goldlicht verströmte. Verfluche uns, Tiefenschwimmer, denn wir haben Flüche verdient. Wir sind so hoch gestiegen, daß unsere Augen sogar die namenlose Pforte zu den Himmeln der Mächtigen sehen konnten. Wir haben den Tod bezwungen und taubes Gestein dazu gebracht, daß es unsere unausgesprochenen Wünsche hört. Wir haben die Zeit geblendet, daß sie achtlos an uns vorbeischreitet, und wir haben den Raum zu unserem Diener gemacht. Aber all unsere Triumphe sind nur ein Staubkorn im Vergleich zum Felsblock unseres Versagens. Fünf, dachte Myzelhinn. Von hundertfünfzigtausend sind nur fünf noch nicht den grauen Weg gegangen. Und wenn der Plan mißlingt, dann werden auch wir vom Atem der Tiefe geholt. Die Treppe trug ihn aus den Tiefen der Gewölbe hinauf zum einzigen Tor, das unsichtbar das Königsblau der Außenmauer durchbrach. Unrast trieb ihn dazu, die Trep-
21 pe anzuspornen und das Tor weit aufzureißen, daß das Goldlicht durch die große Öffnung drang und das blaue Halbdunkel im Innern der Bastion fortbrannte. Er flog durch das Tor, als wäre er ein Vogel. Er flog, und vor ihm, über ihm, zu seiner Rechten, seiner Linken strahlte der Berg der Schöpfung. Er schwamm im Nichts der Tiefe, aber er stürzte nicht. Er leuchtete inmitten einer Finsternis, die jedes Photon schwärzte, kaum daß es entstanden war, doch der Berg war eine gleißende Sonne. Er reckte sich ungestüm in schwindelnde Höhen, und dort, wo andere Berge von der Tiefenkonstante in Ketten gelegt wurden, dort schwang er sich zu seiner wahren Größe auf. Niemand hatte je einen Blick auf seinen Gipfel geworfen – falls er überhaupt einen Gipfel besaß und nicht höher und höher wuchs, in die Unermeßlichkeit der hohen Räume, wo die Allwissenden und Blinden thronten, die Kinder der Materiequellen, deren Augen alles sahen und die sogleich vergaßen, was sie erblickt hatten … Der Berg glühte und warf ein feingesponnenes, goldenes Strahlennetz über die Lichtebene, die von innen heraus in einem dunkleren Gold leuchtete. Die Helligkeit des Berges war so intensiv, daß nicht einmal der Wille eines unsterblichen Geschöpfes wie Myzelhinn die blendenden Fluten dämpfen und die Geheimnisse hinter dem Licht enthüllen könnten. Der Berg war mehr als ein Berg. Er war das Fundament des mutierten psionischen Informationsspeicherfelds TRIICLE-9; ein Objekt, das nichts mit den Objekten der materiellen Welt gemein hatte, sondern einer anderen Welt entstammte und anderen Gesetzen gehorchte. Im Vergleich zu seiner geballten psionischen Macht war alle Energie, die das Vagenda im Lauf der Jahrmillionen in die Kavernen des Tiefenlands verströmt hatte, nur ein Tropfen in einem Ozean, der so groß war, daß ein ganzes Milchstraßensystem in ihm ertrinken konnte. Die Macht dieses ewigen, unzerstörbaren
22 Titanen aus dem Urstoff der Schöpfung war so greifbar, so allgegenwärtig, daß sie Myzelhinn für einen Moment lahmte. Erst jetzt wurde ihm in voller Deutlichkeit bewußt, wie vermessen sein Volk gewesen war, als es diesen Titanen zu seinem Werkzeug machen wollte. Der Plan war eine Ausgeburt des Wahnsinns gewesen. Niemals hätten sie es wagen dürfen! Niemals hätten sie sich nach dem Scheitern des ersten Rekonstruktionsplan dazu verleiten lassen dürfen, jene Tat zu begehen, die sie endgültig auf den Weg ohne Wiederkehr geführt hatte. Auf den grauen Weg, der nur ihn und die anderen vier verschont hatte. Die Macht des Berges war zu ultimat; jeder, der sich ihrer bedienen wollte, wurde von ihr zerschmettert. Wie ein zweiter Wall, neben dem das zerklüftete Massiv des Grenzwalls nicht mehr als ein Zwerg war, überragte der Berg der Schöpfung das Tiefenland. Wo er war, sollte es nur das Nichts, die unbegreifliche graue Leere der Tiefe geben, und dennoch füllte er die Leere mit seiner erdrückenden Stofflichkeit, seinem Licht, seiner elementaren Macht. Und zwischen dem Berg und dem Rand der Welt klaffte der Schlund. Niemand hatte die Tiefe dieses Abgrunds je ausloten können, denn in seinem bodenlosen Nichts waren die Maße des Raums und der Zeit ohne Bedeutung. Der Abgrund war ein Gebilde, das sich selbst negierte; ein Nicht-Ding an der Grenze zur Welt der Dinge; ein grausiges Nein, das sich anschickte, das Ja der Schöpfung zu übertönen. Und dennoch führten Brücken über diese Kluft, vor der es selbst den Hohen Mächten schaudern mochte. Die Brücken glitzerten im goldenen Licht des Berges wie geschliffenes Kristallglas. Zu Tausenden überspannten sie in kühnem Schwung den Abgrund und verbanden Berg und Tiefenland. Dicht an dicht, entlang der unmerklichen Krümmung des Weltenrands mit seiner Gesamtlänge von rund 29,7 Billionen Kilometern, reihten sich die Brücken wie funkelnde
Thomas Ziegler Grenzsteine aneinander. Über eine Strecke von mehreren tausend Kilometern verteilt, schauten die Brückenköpfe über das Land. Mit gläserner Geduld äugten sie zu den königsblauen Trutzmauern der Letzten Bastion hinüber und warteten auf den Tag, an dem die Wälle brachen und die Bastion zu Staub zerfiel. Der Abgrund gierte in grauer Raserei, doch die Brücken kannten keine Hast. Wie der Berg wußten auch sie, daß das Tiefenland nicht von ewigem Bestand war, sondern vergänglich wie alles, was zur Domäne der Zeit gehörte. Sie sind wie wir, dachte Myzelhinn. Kühl und wandellos, kühl und hell wie sterndurchglänztes Eis. Das Funkeln und Glitzern der Kristallfacetten verwandelte den Rand der Welt in ein einziges kaltes Leuchtfeuer, und die Klarheit des Lichtes trieb die Schatten fort, die sich in Myzelhinns Seele geschlichen hatten. Schatten, die an der Straße des Lebens warteten, dort, wo von der breiten Straße der schmale Weg abbog, der Weg in Grau, der nur in eine Richtung führte, ins Nirgendwo aus dunkler Stille. Im klaren Licht verblaßte sogar die Erinnerung an die Schatten, und das Licht machte Myzelhinns Glieder leicht, so daß er schwerelos und mit unbeschwerter Seele den kalten Feuern entgegenflog. Im Flug lachte er. Kühl klang sein Gelächter über das Land, über die Kluft und brach sich am Goldmassiv des Berges, um als hunderttausendfaches Echo zurückgeworfen zu werden, bis die ganze Lichtebene vom Lachen des Unsterblichen erfüllt war. Es war wie damals, als sie still dem zuckenden Leben der Sterblichen zugenickt, still den sich drehenden Sternen zugeblickt hatten, in den jungen Tagen der Hoffnung, den Tagen der Zukunft. Wie damals in den verlorenen Zeitaltern tanzte er im Flug über die gläsernen Brücken, über ihr kaltes Feuer, über die Naht zwischen Welt und Nichts. Der Raum
Die Raum-Zeit-Ingenieure verneigte sich vor ihm, Zeit und Tod entflohen, die Materie beugte sich, die Elemente waren ihm Untertan. Er war nicht allein. Niemand tanzte allein einen Tanz wie diesen. Lachend umarmte er Gurdengan im Flug, und in dem einen Moment waren sie Bruder und Bruder, im nächsten Schwester und Schwester, im dritten Mann und Frau, bis sie sich trennten und sich den anderen Geschwistern zuwandten. Er tanzte mit Boornhaal, der ihm seit Anbeginn des Lebens näher gewesen war als jeder andere seiner Geschwister; mit Joilinn, dessen Lachen klar und scharf wie ein Diamantensplitter und warm wie die Liebe eines Kindes war; und mit Neusenyon, der selbst im Gleißen des Schöpfungsbergs sein eigenes Licht verströmte. Sie waren fünf, die letzten fünf von hundertfünfzigtausend, doch im Tanz schüttelten sie die Beschränkungen ab, die ihnen ihre geringe Zahl auferlegte, im Tanz wuchsen sie über sich hinaus, im Tanz wurden sie zum Spiegel ihrer einstigen Größe. Aus den fünf, die am Rand der Welt über das Glasfenster der Brücken wirbelten, wurde der eine, in dem sich alle fanden. So wie damals, vor dem Abstieg in die Tiefe. Sie waren wieder die Unsterblichen, die sich im sterndurchglänzten Eis des Äthers gefunden hatten, die mit den Bausteinen der Welt spielten, wie Kinder mit Bausteinen aus Holz. Sie waren noch immer Zwerge mit schmächtigem Rumpf, der kaum die Last des großen, schweren Kopfes zu tragen schien, mit runzliger Haut und dunklen riesigen Augen, die nicht einmal vom Licht der Leuchtfeuer erhellt wurde. Aber ihr sphärischer Reigen befreite sie von den Fesseln der Materie und dem starren Muster der Zeit »Und nun die Worte«, flüsterten sie sich zu, »Die alten Worte der Macht in der vergessenen Sprache, die mehr als eine Sprache ist …«
23 Das Ritual begann: Die Fragen wurden gestellt, die Antworten gegeben. Was ist der Raum? Ton in des Topfers Händen. Was ist die Zeit? Ton in des Töpfers Händen. Wer ist der Töpfer? Der Raum-Zeit-Ingenieur. Was wird aus dem Ton in des Töpfers Händen? Die Stufen der Stiege zur Hohen Pforte. Was wird aus dem Töpfer, der die Pf orte durchschreitet? Licht. Was ist das Licht? Ton in des Töpfers Händen. Wer ist der Topf er? Der Raum-Zeit-Ingenieur. Wie formt der Töpfer den Ton aus Raum und Zeit? Mit den Händen. Was sind die Hände des Töpfers? Die Boten aus dem Urstoff der Schöpfung. Die Fragen waren gestellt, die Antworten gegeben. Und die geheime Macht, die in den Worten und Antworten der vergessenen Sprache wohnte, zerriß den Schleier zwischen der Welt und der Wirklichkeit und enthüllte das Sein hinter dem Schein. Myzelhinn schauderte. Er war der eine und einer von fünf, und er sah, was die anderen sahen, die wie er und zu ihm geworden waren. Er sah das, was nur im Ritual gesehen werden konnte; die Hände aus dem Urstoff der Schöpfung, des Töpfers Hände, die Raum und Zeit, Materie und Energie nach seinem Willen formen konnten, als handelte es sich um Ton auf einer Töpferscheibe. Mit seinen dunklen riesigen Augen sah Myzelhinn zum Berg der Schöpfung hinüber, und das sengende, blendende Goldlicht des Berges beugte sich seinem Willen. Aus dem goldenen Leuchten schälten sich zerbrechliche Strukturen, dreidimensionale Netze, kunstvoll geknüpft und sonderbar verdreht, so daß jede Veränderung des
24 Blickwinkels auch die Erscheinungsform der Netze veränderte. Es gab Myriaden Netze, und in jedem Netz gab es Myriaden Knotenpunkte. Und von diesen Knotenpunkten, die so zahlreich waren, daß nicht einmal die Ewigkeit lang genug war, um sie alle zu zählen, zuckten Spiralen aus lumineszierender Farbe. Unablässig wurden die spiralförmigen Objekte von den Maschen der Netze geboren, um die endlose Weite des Tiefenlands mit ihrer Gegenwart zu erfüllen. Sie waren überall; in der Luft und im Boden, in den Wolken und im Glas der Brücken über dem Schlund, im Königsblau der Bastionswälle und im Purpurrot des Formenergiemeers, in den lebenden Zellen und in den Atomen der toten Materie. Boten aus dem Urstoff der Schöpfung. N-dimensionale Botenstoffe, die Raum und Zeit, Materie und Energie mit den Informationen des kosmischen Schöpfungsprogramms versahen. Die Messenger des Moralischen Kodes des Universums. Zahlllos und allgegenwärtig und dennoch nur Schatten ihrer selbst, matte Echos einer Schöpfung, deren Triumphschrei seit Anbeginn der Zeit das gesamte Universum erfüllte. TRIICLE-9, das psionische Feld, das sich aus einer unüberschaubaren Vielzahl hochkonzentrierter Informationspools zusammensetzte, war vor Äonen mutiert und aus der universellen Doppelhelix des Moralischen Kodes verschwunden, doch in der Erinnerung des Schöpfungsbergs lebte es fort. Verzerrt und blaß und dennoch deutlich genug, um die Struktur der Raum-Zeit zu erhalten, um der Materie Form zu geben, um die Existenz des Tiefenlands zu garantieren. Ohne das Informationsecho im psimateriellen Fundament von TRIICLE-9 hätte das Tiefenland nie entstehen können. Ohne das Informationsecho, das von den Messengern in alle Teile der gigantischen Scheibenwelt getragen wurde; hätte es nur das leere Grau des Schlunds, das Nichts der Tiefe gegeben. So wie das Normaluniversum in seiner
Thomas Ziegler seit Jahrmilliarden bestehen den Erscheinungsform von den in formationsgesättigten Botenstoffen der psionischen Doppelhelix erhal ten wurde, so wurde das Land in der Tiefe vom Berg der Schöpfung erhalten. Und die Messenger, die das Sein und die Gestalt der Dinge bestimmten, gehorchten dem Willen der unsterblichen fünf. Dies war das Geheimnis der RaumZeit-Ingenieure. Sie hatten einen Pakt mit der Schöpfung geschlossen. Die Informationspools blieben ihrem Zugriff verwehrt, aber die Messenger, die der Informationsübertragung zwischen Schöpfungsprogramm und Schöpfung dienten, unterwarfen sich ihrem Willen. Sie konnten dem Raum befehlen, ein Lichtjahr auf die Länge eines Schrittes schrumpfen zu lassen. Sie konnten der Zeit befehlen, sich von ihnen abzuwenden, damit ihr Fleisch nicht unter der Last der Zeit alterte und starb. Sie konnten dem Messer, das sich in ihr Herz bohren wollte, befehlen, zu Luft zu werden und ihr Leben zu schonen. Sie konnten der Schwerkraft befehlen, von ihnen zu weichen, und der Hitze befehlen, Kühle zu spenden. Nur eines blieb ihnen verwehrt: Sie konnten die Schöpfung nicht dazu mißbrauchen, einen Teil der Schöpfung zu zerstören oder Leben zu töten. Sie waren Baumeister, und ihre Werkzeuge waren die Gesetze der Natur. Sie waren Raum-Zeit-Ingenieure. Die letzten fünf von hundertfünfzigtausend. Sie tanzten im Goldlicht des Berges, sie badeten im Meer der Messenger, und im Ritual des Tanzes wurden sie zu dem, was sie werden mußten, wenn sie die Stufen der Stiege zur Hohen Pforte hinaufsteigen und durch die Pforte treten wollten. Ihre Zwergenkörper dehnten sich, wuchsen zu schlanker Größe, und das Licht ihrer Seelen durchschimmerte ihr Fleisch, verwandelte Fleisch in Licht. Die Lichtgestalten tanzten und hoben ihre strahlenden Augen hinauf zum
Die Raum-Zeit-Ingenieure Schöpfungsberg, zu jener Stelle, wo ein Tor Tiefenland und Hochland verband. Das Tor stand einladend offen, obwohl es einst, vor langer Zeit, sorgfältig verriegelt und so versiegelt gewesen war, daß die Kraft der fünf nicht ausreichte, um das Siegel zu brechen. Das Tor stand einladend offen, aber sie wagten nicht, seiner – wortlosen Einladung zu folgen. Sie wußten, daß sie die Schwelle nicht überschreiten konnten. Andere hatten es vor ihnen versucht, und statt ins Hochland hatten ihre Schritte sie auf den grauen Weg ohne Wiederkehr geführt. Sie blickten hinauf zum Tor, das so nah und dennoch unerreichbar war, und das Ritual war vollzogen, der Tanz beendet. Ihr Licht erlosch. Ihr sternklares Lachen erstarb. Erschöpft und befriedigt standen sie am Rand er Welt. Ihre dunklen Augen widerspiegelten das kalte Feuer der gläsernen Brücken und den blendenden Glanz des Schöpfungsbergs. Hungrig klaffte der Abgrund. »Sie kommen«, murmelte Myzelhinn. Die anderen nickten. Jeder wußte, von wem gesprochen wurde; von den drei Kundschaftern der Kosmokraten, von den drei Rittern der Tiefe, die den Grenzwall passiert und die Lichtebene erreicht hatten. »Sind sie allein?« fragte Neusenyon, und Gurdengan antwortete: »Ein Holt begleitet sie.« »Dann ist es gut«, sagte Joilinn. »Denn der Feind folgt ihrer Spur«, schloß Boornhaal. Myzelhinn sah sie nacheinander an. »Kommt«, forderte er seine Geschwister auf. »Kehren wir in die Bastion zurück. Besteigen wir den Turm. Halten wir Wacht. Und danach werden wir tun, was getan werden muß.«
6. Exkurs Tiefenland (III) Gleichmäßig und mächtig schlägt das
25 Herz des Tiefenlands. Ein schier unerschöpflicher Strom psionischer, vitaler Energie ergießt sich aus dem Vagenda in das weitverzweigte Kavernensystem und hindert den latenten Graueinfluß an der Entfaltung seiner zerstörerischen Macht. Die Lla Ssann steuern die Ströme und sorgen dafür, daß selbst die entlegensten Gebiete mit einer ausreichenden Menge der lebenswichtigen Energie geflutet werden. Sie füllen die Aktivatorspeicher, die zu Verteilerzentren im unvorstellbar großen Kavernen-System werden, und hin und wieder kommt es vor, daß einzelne Tiefenschwimmer dem Sog der Vitalenergie erliegen, ihre Aufgabe, ihre Herkunft, ihr Ich vergessen und zu einem Tropfen im psionischen Ozean werden. Im Lauf der Zeit werden diese Entitäten in die Aktivatorspeicher gespült und verleihen ihnen – Bewußtsein und Seele. Noch immer gelangen neue Hilfskräfte über die Grube und den Tiefenfahrstuhl nach Starsen, wo sie in der Tiefenschule für ihre zukünftigen Aufgaben ausgebildet werden. Doch die Zahl der Neuankömmlinge ist gering – die Reihen der RZI-Helfer sind fast geschlossen, die Zeit der Konsolidierung beginnt; der ersten Phase der Großen Rekonstruktion. Einige Neuankömmlinge berichten von seltsamen Dingen, die sich in der Grube abspielen sollen, von Wächtern der Tiefe, die sich feindselig verhalten, aber ihre Berichte gehen auf dem langen Weg zur Lichtebene verloren oder werden ignoriert. All die Milliarden Bewohner der Tiefe geraten nach und nach in einen fiebrigen Taumel. Die Große Rekonstruktion beginnt! Im Land Mhuthan haben die Tiziden und ihre Helfer die genetische Vermessung aller Tiefenvölker abgeschlossen. Ungezählte Generationen und Wesen haben an dieser Aufgabe gearbeitet, und endlich können die Tiziden zur Lichtebene melden: Die Aufgabe ist gelöst. Ungefähr zur gleichen Zeit – nach den Maßstäben der RZI, die nicht in Jahrzehn-
26 ten, sondern in Jahrzehntausenden denken – kommt vom Vagenda eine ähnliche Erfolgsmeldung. In den Aktivatorspeichern der Vagendakrone sind inzwischen viele Milliarden Mentalkopien angefertigt und deponiert worden. Aus naheliegenden Gründen ist es nicht möglich gewesen, von jedem einzelnen lebenden Bewohner des Tiefenlands eine Bewußtseinskopie zu speichern, doch der Prozentsatt! ist hoch genug, daß die syntronischen Computer der Jaschemen einen zuverlässigen mentalen Durehschnittsioeri jedes Tiefen-volks errechnen können. Die genetischen und mentalen Meßwerte bilden die Grundlage für die von den RZI geplante Rekonstruktion des pisonischen Feldes TRIICLE-9. Das wichtigste Hilfsmittel sind die Transmitterdome, die bisher nur zum Personalund Materialtransport eingesetzt worden sind. Und die Chylinen, die sich bereits bei der Produktion der VitalenergieSpeicher bewährt haben. Die Chylinen gehören auch zu den ersten HilfsVölkern, die von den RaumZeit-Ingenieuren in die Einzelheiten der Großen Rekonstruktion eingeweiht werden. Ihrer Mentalität entsprechend, treten die RZI auch diesmal nicht persönlich in Erscheinung, Sie beauftragen die Lla Ssann, das psionische Potential des Vagendas für eine telepathische Botschaft an die Chylinen zu verwenden. Die Lla Ssann gehorchen, und für die Chylinen ist es, als würde das Vagenda selbst zu ihnen sprechen. Die Chylinen erfahren, daß das Tiefenland das Gerüst für die geplante Rekonstruktion ist, Basis für das zu erschaffende psionische Feld, das TRIICLE-9 ersetzen soll. Der Hauptfaktor aber sind die vielen Milliarden Bewohner der Tiefe. Jeder einzelne von ihnen ist Träger der Psi-Kraft, wenngleich die psionische Ausstrahlung eines einzelnen so schwach ist, daß sie sich nur mit hochempfindlichen Geräten messen läßt. In der Summe ergibt sich aber ein psio-
Thomas Ziegler nisches Feld von der Stärke TRIICLE-9. Während die Bewohner des Tiefenlands das notwendige psionische Potential liefern, gilt es, ein anderes Problem zu meistern: Jedes Feld des Moralischen Kodes besitzt ein spezielles Informationsmuster, das sich von dem Muster aller anderen Felder unterscheidet. Das Informationsmuster von TRIICLE-9 vor der Mutation muß deshalb dem von den Tiefenvölkem gebildeten Psi-Feld aufgeprägt werden. Erst wenn dies gelingt, ist die Reparatur des Moralischen Kodes vollbracht. Die RZI planen deshalb, die Völker nach eben diesem Muster über das Tiefenland zu verteilen. Völkerwanderungen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß stehen bevor! Um schlagartig ganze Völkerstämme von einem Ort des lichtjahrgroßen Tiefenlands zum anderen transportieren zu können, werden die Dome des alten Transmittemetzes von den Jaschemen mit schüsselförmigen Aufsätzen versehen. Die Aufsätze sind hochkomplizierte technische Geräte, die nach dem Prinzip der Fiktivtransmission arbeiten. Jedes von den Tiziden gen-technisch vermessene Wesen kann jederzeit an jeden beliebigen Ort des Tiefenlands transmittiert werden. Da die Fiktiveinrichtungen nur genetisch vermessene Intelligenzwesen sowie deren Kleidung und kleinere, am Körper getragene Gebrauchsgegenstände erfassen, werden sie nach der Transmission in ein fremdes Land vor dem Nichts stehen. Aufgabe der Chylinen ist es, ihnen die erforderliche Lebenshilfe zu ge ben und sie mit dem notwendigen technischen Gerät zu versorgen, bis sie sich an ihre neue Umwelt ange paßt haben. Die Völkerwanderungen beginnen. Unermüdlich sind die Chylinen in allen Teilen des Tiefenlands im Einsatz, um den Entwurzelten Hilfe und Trost zu spenden. In ihren Eugen-Stationen überwachen die Tiziden die gigantischen Verschiebungen auf der Grundlage ihrer vielen Milliarden GenDaten. Doch die Jahrzehnte vergehen, ohne daß man dem Ziel nahekommt. Es gibt fast
Die Raum-Zeit-Ingenieure unendlich viele Möglichkeiten, die einzelnen Teile eines Informationsmusters dieser Größe anzuordnen. Zu viele für ein planmäßiges Vorgehen – zu viele, um in einer akzeptablen Zeitspanne durch systematische Versuche Erfolg zu haben. Die RZI beschließen, ihren Plan zu modifizieren. Der Beschluß entsteht unter Zeitdruck – je mehr Jahre vergehen, desto wahrscheinlicher wird es, daß Ordobans Suche nach dem verschwundenen alten Feld Erfolg hat. Findet Ordoban TRIICLE-9, dann sind alle Mühen der RZI umsonst gewesen. Dann haben sie das Vertrauen, das die Kosmokraten in sie gesetzt haben, verspielt. Dann haben sie die einmalige Chance, sich durch die Reparatur des Moralischen Kodes als Superintelligenz zu qualifizieren, vertan. Ihre Sehnsucht, über die Entwicklung zur Materiequelle in die Region der Kosmokraten zu gelangen, selbst die höchste Entwicklungsstufe intelligenten Lebens zu erreichen, wird unerfüllt bleiben. Die Furcht vor der Stagnation und der Schmach des Versagens verleitet die RZI zu einem riskanten Experiment, dessen langfristige Folgen nicht einmal die syntronischen Computer der Jaschemen berechnen können. Statt durch zeitaufwendige empirische Versuche das Informationsmuster von TRIICLE-9 zu rekonstruieren, nehmen sie nun das Muster anderer psionischer Felder des Moralischen Kodes als Vorlage. Auf den ersten Blick scheint dieser Plan genial: Die zeitraubenden Vorarbeiten entfallen, und alle Kräfte können auf die diffizile Feinabstimmung des Musters konzentriert werden. Andere psionische Felder zu kopieren und anschließend zu variieren, bis sich das Muster von TRIICLE-9 herauskristallisiert – das ist der Weg, der in einem überschaubaren Zeitrahmen zum Erfolg führen wird. Aber es gibt nur ein Mittel, die Informationsstruktur anderer Felder der universellen Doppelhelix zu übertragen: Ihr psionisches Reservoir muß angezapft, ihr charakteristisches Muster auf das genetische Koordina-
27 tensystem der Tiefenvölker umgerechnet und in Form weiträumiger Völkerwanderungen kopiert werden. Die technischen Mittel dafür sind vorhanden. Sie sind bereits bei der Erzeugung des Vagendas eingesetzt worden, jener Quelle der Kraft im Herzen des Tiefenlands, die die Energien des universellen psionischen Netzes anzapft. Allerdings unterscheiden sie die Energien des Psi-Netzes in Stärke und Struktur von denen der psionischen Informationsspeicherfelder. Das Vagenda ist eine gesteuerte, eine gezähmte Quelle der Kraft; die Quellen, die das Potential einzelner Felder der Doppelhelix anzapfen, sind wild, unkontrollierbar, vergänglich. Ort und Zeit ihrer Entstehung lassen sich nicht vorhersagen. Und eben diese Eigenschaft macht sie zu einem idealen Werkzeug der Großen Rekonstruktion: Die wilden Quellen dienen den RZI zum Rando-misieren, das heißt, sie tiberlassen es den Quellen, aus einer gegebenen Gesamtheit von Elementen eine vom Zufall bestimmte Auswahl zu treffen. Die wilden Quellen besitzen einen Algorithmus, der sich als eine Art natürlicher Zufallsgenerator nutzen läßt. Das Zufallsprinzip bestimmt die jeweilige Struktur des kopierten Informationsmusters. Das Zufallsprinzip bestimmt die Verteilung der Völker über das Tiefenland. In den folgenden Generationen nehmen Zahl und Umfang der Völkerwanderungen in einem noch nie dagewesenen Maße zu. Nach jeder Völkerwanderung überprüfen die RZI und ihre engsten Mitarbeiter, ob das randomisierte Muster dem gesuchten entspricht Mit zunehmender Erfahrung beschleunigt sich der Rhythmus der Völkerwanderungen. In immer schnellerer Folge bilden sich wilde Quellen der Kraft und lösen die Fiktiveinrichtungen der Transmitterdome aus. Die RZI spielen psionisches Roulette. Irgendwann wird die Kugel in das richtige
28 Feld fallen, wird das gesuchte Informationsmuster vom psionischen Zufallsgenerator der wilden Quellen der Kraft ausgeworfen werden. In ihrer Euphorie übersehen die RaumZeit-Ingenieure zwei Dinge. Die Forcierung der Völkerwanderungen führt zu einer unerträglichen Belastung der Tiefenvölker. Unermüdlich sind die Chylinen im Einsatz, das Los der Entwurzelten zu erleichtern, doch die unkontrollierten Wanderungen beschwören Probleme herauf, die sich als unlösbar erweisen. Immer öfter werden Einzelwesen oder kleinere Gruppen völlig unmotiviert an irgendeinen willkürlich gewählten Ort abgestrahlt. Ganze Völker werden auseinandergerissen und über das Tiefenland verteilt. Gegensätzliche Kulturen prallen unvorbereitet aufeinander. Es kommt zu Mißverständnissen, gewaltsamen Auseinandersetzungen, sogar zu Kriegen. Das Vertrauen in die Fähigkeiten der RZI schwindet. Der Glaube an ein Gelingen der Großen Rekonstruktion wird erschüttert. Und die Zersplitterung homogener Völker in entwurzelte Gruppen, die sich in einer fremden Welt wiederfinden, in ökologischen Systemen, die nur annähernd ihren alten Lebensbedingungen entsprechen; die Konflikte mit anderen Entwurzelten aus völlig verschiedenen Kulturen – all das führt zu zivilisatorischem Niedergang, zu einer Erosion des Geschichtsbewußtseins, zu Stagnation und Dekadenz. – Aber der zivilisatorische Niedergang, so schädlich er für die Ziele der RZI auch ist, verblaßt gegen die andere Gefahr, die die Manipulation der wilden Quellen der Kraft heraufbeschwört. Zunächst werden die Zeichen nicht richtig gedeutet: Hier und dort und in großem zeitlichem Abstand wird der latente Graueinfluß aktiv. Die Lla Ssann müssen regulierend eingreifen und das Vitalenergiereservoir der Aktivatorspeicher in den betroffenen Gebieten explosionsartig entladen, um den Graueinfluß zu neutralisieren. Ein Einfluß, der umfassende negative Mutationen der Flora und
Thomas Ziegler Fauna auslöst und in intelligenten Wesen aggressive, zerstörerische Instinkte weckt. Er verändert die Mentalität, verringert die Bandbreite der Gefühle, verschiebt das Weltbild, verzerrt und zerstört die alten ethischen und moralischen Wertvorstellungen. Das erste Grauleben entsteht, die ersten Graugebiete verdunkeln die Landkarte der Tiefe. Noch sind es nur kurzfristige Erscheinungen, die der Macht der Vitalenergie nicht widerstehen. Doch es sind warnende Vorzeichen. Die exzessive Nutzung der wilden Quellen der Kraft stört den Vitalenergiefluß in den Kavernen und beeinflußt sogar das Vagenda. Trotz dieser unvorhergesehenen Nebenwirkungen setzen die RZI ihr psionisches Roulette fort. Die Wahrscheinlichkeitsrechnungen sprechen für einen baldigen Erfolg; das Risiko scheint tragbar. Bis die Störungen durch die wilden Quellen der Kraft einen kritischen Wert überschreiten und eine Katastrophe auslösen, die die RZI völlig unvorbereitet trifft. Die permanente Freisetzung psionischer Energien über einen langen Zeitraum hinweg geht am psi-materiellen Fundament von TRIICLE-9 nicht spurlos vorbei. Unbemerkt schaukeln sich die Störungen gegenseitig hoch und destabilisieren die Psi-Materie des Bergs der Schöpfung. Ohne Vorwarnung kommt es zu einem Ausbruch psionischer Energien, die einen Großteil der angrenzenden Lichtebene verwüsten und sogar das sechs Lichtmonate entfernte Vagenda in Mitleidenschaft ziehen. Der Psi-Ausbruch zerstört fünfzig Prozent der Baustellen – wie die zentralen Kontrollstationen der wilden Quellen der Kraft genannt werden –, beschädigt die andere Hälfte schwer, setzt vorübergehend die Tiefenkonstante über der Lichtebene außer Kraft und schleudert fast zehntausend Raum-Zeit-Ingenieure in die Dimension der eigentlichen Tiefe. Die Erschütterungen des psionischen Ausbruchs machen sich selbst im fernen Starsen bemerkbar. Die Formenergiemauer
Die Raum-Zeit-Ingenieure ist aufgrund ihrer Psi-Komponente besonders anfällig und büßt an Stabilität ein. Die Veränderungen der Stadtmauer wirken sich im hyperdimensionalen Bereich als Verzerrungen aus und werden langfristig die vier Tortransmitter blockieren, die Starsen mit dem Tiefenland verbinden. Als besonders empfindlich wird sich die Grube erweisen, wie sich bereits am Beispiel des Graueinflusses gezeigt hat. Die Wächter der Tiefe verändern sich; irgendwann werden sie den Versuch, vom Normaluniversum in den Raum unter dem Raum zu gelangen, zu einem selbstmörderischen Unternehmen machen. Und wer an dem Tiefenwächter vorbeikommt und sich mit dem Tiefenfahrstuhl hinunter nach Starsen begibt, wird vielleicht einen Weg ohne Wiederkehr gehen – später, in ferner Zukunft, falls sich die Grube nicht aus eigener Kraft regeneriert … Noch ist die Verbindung zwischen Tiefenland und Hochland zweiseitig und offen; noch kommt es nur gelegentlich zu Störungen. Auf der Lichtebene haben die RZI mit den verheerenden Folgen der Psi-Eruption genug zu tun; die Veränderungen von Starsenmauer und Grube entgehen ihnen. Denn die RZI – unsterbliche Wesen, die nicht nur den natürlichen Tod besiegt, sondern auch die Möglichkeit eines gewaltsamen Endes ausgeschaltet haben – müssen sich mit einer schrecklichen Erkenntnis abfinden: Sie sind nicht unverwundbar. Selbst sie, die Lieblingskinder und Meister der Schöpfung, haben eine Achillesferse – in der Dimension über der Tiefenkonstante endet ihre Macht. Dort, wo es keine Schöpfung gibt, wo keine Messenger die Informationen des Moralischen Kodes übertragen, sind sie hilflos. Zehntausend von ihnen sind von der Tiefe eingeatmet worden und spurlos verschwunden. Unter dem Schock der Katastrophe brechen die RZI die Große Rekonstruktion sofort ab. Sie schwören, für alle Zeit einen erneuten Mißbrauch der wilden Quellen der Kraft zu verhindern. Zwar ist der einmal in Gang gesetzte Prozeß nicht mehr rückgän-
29 gig zu machen und die spontane Bildung wilder Quellen im Tiefenland nicht zu vermeiden, doch kein Bewohner der Tiefe soll je wieder ihr psionisches Potential anzapfen und wissentlich oder unwissentlich eine neue Völkerwanderung, eine neue Katastrophe auslösen. Das ERSTE TIEFENGESETZ wird formuliert: »Hütet Euch vor den Quellen der Kraft, die nicht Teil des Vagendas sind – wer sie mißbraucht, läßt die Völker wandern.« Über die Einhaltung dieses Gesetzes soll eine spezielle Polizeitruppe wachen, die Exterminatoren. Zu diesem Zweck rekrutieren die RZI ein Tiefenvolk, das wegen seiner körperlichen Konstitution, seiner Mentalität und seines wissenschaftlich-technischen Entwicklungsstands in idealer Weise geeignet ist: Die Preestogk aus dem gleichnamigen Land am äußersten Rand der Tiefe, muskelbepackte Riesen, an eine Schwerkraft von 2,8 g gewöhnt und mit einem einzigartigen Sinnesorgan ausgerüstet, der Sensuskugel. Die hochintelligenten, kompromißlos handelnden Preestogk haben noch einen anderen Vorteil: Die Völkerwanderungen sind spurlos an ihnen vorbeigegangen, ihre Reihen sind geschlossen, ihre Zivilisation und Kultur vom allgemeinen Niedergang verschont geblieben. Die Erfahrungen mit den tödlichen Auswirkungen, die eine Störung der Tiefenkonstante hat, und mit dem unberechenbaren Graueinfluß veranlassen die RZI, zwei weitere Gesetze zu formulieren und jeden Vorstoß durch die Exterminatoren ahnden zu lassen. Das ZWEITE und DRITTE TIEFENGESETZ lauten: »Verändert nicht die Tiefenkonstante – wer Hand an sie legt, zerstört das Tiefenland.« »Vitalenergie ist der Atem des Lebens – wer die Ströme unterbricht, macht das Leben grau.« Nach dieser Tat ziehen sich die RZI an den äußersten Rand des Tiefenlands zurück. Hinter den psinergetischen Mauern der
30 Letzten Bastion, im Angesicht des Bergs der Schöpfung, trauern sie um ihre zehntausend Geschwister. Eine Art geistiger Verwirrung ist über sie gekommen; voller Hoffnung und mit den besten Absichten haben sie die Große Rekonstruktion in Angriff genommen und doch nur Leid über die Milliarden Wesen gebracht, die ihnen aus freien Stücken in die Tiefe gefolgt sind. In selbstauferlegter Einsamkeit büßen sie für ihr Versagen. Und die zehntausend leeren Rahmen im Saal der Zeit-Porträts erinnern sie schmerzlich daran, daß auch sie fehlbar und verwundbar sind. Im Tiefenland kommen und gehen die Generationen, das Leben normalisiert sich; die RZI, die Lichtebenen und die Große Rekonstruktion sind für viele Völker nur noch Legende. Dann kommt es zu einer Entwicklung, die die RZI zwingt, wieder aktiv in die Geschicke des Tiefenlands einzugreifen. Scheinbar aus dem Nichts tauchen an weit voneinander entfernt liegenden Orten der gigantischen Scheibenwelt Kreaturen auf, die sich als Graue Lords bezeichnen, als die führenden Vertreter einer neuen und überlegenen Lebensform, als die Herren des Graulebens. Und wo die Lords wandeln, versiegen die Vitalenergieströme des Vagendas, erschöpfen die Aktivatorspeicher nach aussichtslosem Kampf ihre Reserven, und die ersten stabilen Graugebiete entstehen. Winzig im Vergleich zur ungeheuerlichen Ausdehnung des Tiefenlands, doch aggressiv und zerstörerisch wie eine Krebszelle, die die gesunden Nachbarzellen erkranken läßt und überall Metastasen bildet. Und die Zahl der Grauen Lords beträgt zehntausend. Es sind jene zehntausend RZI, die bei dem Psi-Ausbruch des Schöpfungsbergs von der Tiefe eingeatmet worden sind. Die Tiefe hat sie nicht getötet, sondern in Grauleben verwandelt. Die RZI stehen dem gefährlichsten Feind ihrer äonenlangen Geschichte gegenüber –
Thomas Ziegler den Grauen Lords der Tiefe …
7. Zu allen Seiten dehnte sich die Lichtebene in die Unendlichkeit: Flaches Land unter bewölktem Himmel, grenzenlos weit, fremder als jede Welt, die Atlan im Lauf seines über dreizehntausendjährigen Lebens gesehen hatte. Das Tabernakel von Holt hatte sie tief hinein in die Weiten der Lichtebene teleportiert. Zwei Millionen Kilometer trennten sie vom metallenen Massiv des Grenzwalls; eine unvorstellbare Entfernung – und doch nur ein Brüchteil des Weges, der noch vor ihnen lag, wenn sie den Rand des Tiefenlands und den Berg der Schöpfung erreichen wollten. Sie haben sich in einer Festung am Rand der Welt verkrochen, erklärte das Tabernakel. In einer Festung aus blauer PsiMaterie. Sie nennen sie die Letzte Bastion. Die schwarze Schachtel stimmte ein lautloses mentales Gelächter an. Keine Mauer ist stark genug, um dem Ansturm des Graueinflusses und der Lordrichter von Ni auf Dauer zu widerstehen, fügte das Tabernakel hinzu. Nicht einmal eine Mauer aus Psi-Materie. Atlan ignorierte das Geschwätz der Schachtel. Mit zusammengekniffenen Augen sah er zu dem gewaltigen Gebilde hinüber, daß zwanzig oder dreißig Kilometer weiter wie ein Monolith aus dem Reich der Riesen die Lichtebene überragte. »Was ist das?« fragte Jen Salik. »Ein Berg?« Eine Baustelle, erklärte das Tabernakel. Es gibt Hunderte von ihnen auf der Lichtebene, aber sie sind seit dem Ende der Völkerwanderungen außer Betrieb. Die RZI haben sie entworfen, die Jaschemen sie erbaut. Mit den Baustellen haben sie die wilden Quellen der Kraft angezapft, bis die Katastrophe die meisten von ihnen zerstörte oder stark beschädigte. Seit der geglückten Flucht vor dem Infor-
Die Raum-Zeit-Ingenieure mationssturm war das Tabernakel gesprächiger geworden; fast schon zu gesprächig für den Geschmack des mißtrauischen Arkoniden. »Ich schlage vor, wir sehen uns diese Baustelle einmal aus der Nähe an«, sagte Tengri Lethos-Terakdschan. »Vielleicht finden wir dort ein Transportmittel, das uns zur Letzten Bastion bringen kann.« Tut mir leid, daß ich eure Illusionen zerstören muß, mischte sich das Tabernakel ein, aber ihr werdet dort nicht finden, was ihr sucht. Ich fürchte, alle Tiefentransporter sind bereits auf dem Weg zur Bastion. In weitem Umkreis kann ich keine Gondel orten. »Und was ist mit den Transmitterdomen?« fragte Atlan. Auf der Lichtebene gibt es keine Dome. Das Tabernakel kicherte. Ihm schien die Enttäuschung der drei Ritter Vergnügen zu bereiten. Die RZI haben sie demontiert, als das Transmittemetz von den Grauen Lords übernommen wurde. »Keine Transmitterdome?« wiederholte Atlan verblüfft. »Aber du hast gesagt, daß die Letzte Bastion eine Lichtstunde vom Grenzwall entfernt ist! Über eine Milliarde Kilometer! Wie sollen wir diese unvorstellbare Strecke zurücklegen? Zu Fuß etwa?« Das möchte ich sehen! höhnte die schwarze Schachtel. Wahrscheinlich wirst du schon nach einer Lichtsekunde auf dem Zahnfleisch kriechen … Zorn kochte in Atlan hoch. Erstaunlich, wie souverän das Tabernakel deine Gefühle manipuliert, bemerkte der Extrasinn trocken. Es hat genau das erreicht, was es erreichen wollte. Und das wäre? dachte Atlan. Dich vom Denken abhalten … Atlan verzog das Gesicht. Düster starrte er die schwarze Schachtel an, die einen Meter über dem Boden schwebte, der aus gefrorenem Licht zu bestehen schien. »Mit anderen Worten«, knurrte er, »wir sind auf deine Teleporterfähigkeiten angewiesen, wenn wir die Letzte Bastion errei-
31 chen wollen.« Nicht unbedingt. Erneut erklang das telepathische Kichern des Tabernakels in Atlans Bewußtsein auf. Da ihr rein relativ unsterblich seid, könnt ihr auch auf konventionellem Weg zum Rand der Welt gelangen. Welche Geschwindigkeit könnt ihr mit dem Gravo-Triebwerk eurer TIRUNS erreichen? »Hundert Kilometer pro Stunde«, gab Atlan widerwillig zu. Phänomenal, meinte die schwarze Schachtel. Wenn ihr ununterbrochen fliegt, seid ihr in nicht einmal 1.140 Jahren am Berg der Schöpfung. Das sind doch Perspektiven, eh? »In Ordnung«, sagte Atlan barsch. »Du hast uns davon überzeugt, daß wir auf dich angewiesen sind. Es gibt also keinen Grund mehr für weitere Verzögerungen. Teleportiere uns zur Letzten Bastion!« Oh, das ist leider nicht möglich, gestand das Tabernakel zerknirscht. Die lange Reise nach Ni hat mich einen Großteil meiner Kräfte gekostet. Ich muß mich erholen. Schließlich ist es nicht gerade einfach, drei Klötze wie euch durch die Gegend zu teleportieren. Nicht einmal für einen Holt wie mich … »Wieviel Holts gibt es denn noch außer dir?« fragte Lethos mit sanfter Stimme. Eine gute Frage, kommentierte der Extrasinn. Warum ist sie dir nicht eingefallen? Die schwarze Schachtel machte einen Satz. Das ist völlig unerheblich. Euch sollte genügen, wenn ich sage, daß es einen Holt wie mich kein zweites Mal gibt. »Auch wenn ich dir sonst nichts glaube – das glaube ich dir aufs Wort«, spottete Jen Salik. Das Tabernakel schoß unvermittelt in die Höhe, bis es nur noch ein dunkler Punkt vor dem Weiß der lückenlosen Wolkendecke war. »Eine sensible Schachtel«, murmelte Lethos. »Du scheinst sie beleidigt zu haben, Jen.« Salik zuckte die Schultern. »Kommt«, sagte Atlan. Ungeduldig wies er auf den Koloß in der Ferne. »Schauen wir uns die Bau-
32 stelle an. Wer weiß, wann sich das Tabernakel dazu herabläßt, mit uns Richtung Letzte Bastion zu teleportieren.« Per Gedankenbefehl aktivierte er das Gravo-Triebwerk seines TIRUNS und löste sich vom Boden. Salik und Lethos folgten ihm. Mit der Höchstgeschwindigkeit von einhundert Kilometern pro Stunde flogen sie dicht über das leuchtende Land hinweg. Atlan fragte sich, ob die ganze Lichtebene aus diesem Material bestand. Wenn man es berührte, fühlte es sich kühl und glatt wie Glas an, aber es war wesentlich härter als Glas. Der Versuch, eine Bodenprobe zu entnehmen, war gescheitert – der leuchtende Stoff hatte selbst dem konzentrierten Punktbeschuß mehrerer Impulsstrahler widerstanden. Unwillkürlich dachte Atlan an die gewaltigen Mengen Vitalenergie, die die RZI in den Monaten vor der Schließung des Vagendas zur Lichtebene geleitet hatten. Was war aus der Energie geworden? Wurde sie in einem Kavernensystem unter der Ebene gespeichert? War das Licht, das jeder Quadratzentimeter Boden verströmte, der sichtbare Teil der psionischen Energien? Suchend sah er sich um. Da es im Tiefenland keinen Horizont gab, reichte der Blick Hunderte Kilometer weit, ehe die Temperaturunterschiede in der Atmosphäre zu Verzerrungen führten. Er gewann den Eindruck, daß die Leuchtkraft des Bodens in Richtung Grenzwall allmählich abnahm. Der Grenzwall … Das Land Ni … Atlan spürte einen Stich im Herzen, als er an Domo Sokrat dachte, an Twirl und an Clio, an die Exterminatoren, die im Reich der Lords zurückgeblieben waren, grau wie alle Bewohner des Tiefenlands. Er preßte die Lippen zusammen. Mit dem Versiegen des Vagendas waren alle Hoffnungen, den Lords und dem Graueinfluß Widerstand leisten zu können, endgültig zerschlagen. Nur noch die Lichtebene war von der unheimlichen Kraft der Tiefe verschont.
Thomas Ziegler Trotzdem ist dies kein Beweis dafür, daß Suu Oon Hoos Behauptungen zutreffen, mahnte der Extrasinn. Aber der Tiefenschwimmer war nicht der einzige, der das positive Bild, das sich Atlan von den legendären Raum-Zeit-Ingenieuren gemacht hatte, für eine Illusion hielt. Mhuthan, der Graue Lord, der im Kyberland der Jaschemen das Joch der Graukraft abgeschüttelt hatte, nur um sein Leben in einem kurzen, lichterlohen Moment zu verstrahlen … hatte nicht auch Mhuthan sich und die anderen RZI der Überheblichkeit angeklagt, sie beschuldigt, in frevelhafter Selbstüberschätzung unendliches Leid über die Völker des Tiefenlands gebracht zu haben? Und was war mit den schweren Vorwürfen der Jaschemen an die Adresse der RZI? Nicht der Graueinfluß sollte im Endeffekt für den Abbruch der Verbindungen zwischen Tiefe und Normaluniversum verantwortlich sein, sondern die RZI. Die RZI hatten nach den Worten von Caglamos Vlot das Tiefenland isoliert – um zu verhindern, daß die Jaschemen die Tiefe verließen und die Kosmokraten über einen lebensgefährlichen Plan der RZI informierten. Atlan hatte in Starsen erlebt, welchen Preis die äonenlange Isolation gefordert hatte. Das barbarische Statussystem, die perversen Menschenopfer der Fraternität und der Geriokraten … Und nach der Befreiung von der Herrschaft der Grauen Lords war der Riesenstadt und ihren Millionen Bürgern nur eine kurze Atempause vergönnt gewesen. Die RZI hatten das Vagenda geschlossen. Starsen und das Tiefenland waren endgültig grau geworden. Fraglos gibt es einen Zusammenhang zwischen der Schließung des Vagendas und dem Verzweiflungsplan der RZI, den Mhuthan vor seinem Tod erwähnt hat, stellte der Logiksektor fest. Unklar ist nur, ob die RZI mit diesem Plan tatsächlich ihr Schicksal besiegeln, wie die Lords glauben. Es spielt keine Rolle, dachte Atlan grim-
Die Raum-Zeit-Ingenieure mig. Was ich gesehen habe, seit mich der Tiefenfahrstuhl in Starsen abgesetzt hat, spricht eine deutliche Sprache. Die RZI werden sich etwas einfallen lassen müssen, wenn sie mich von ihren guten Absichten überzeugen wollen. Vielleicht haben die RZI gar kein Interesse daran, dich von irgend etwas zu überzeugen, erwiderte der Extrasinn. Sie waren dem monolithischen Koloß der Baustelle inzwischen nahe genug gekommen, um Einzelheiten erkennen zu können. Das Gebilde ähnelte vage einem eckigen Berg aus rostrotem, stumpfem Metall, obwohl der Arkonide bezweifelte, daß er wirklich aus Metall bestand. Etwa 1000 Meter hoch ragte er in den wolkenbedeckten Himmel des Tiefenlands. Die Länge der ihnen zugewandten Seite betrug schätzungsweise 20 Kilometer; seine Dicke ließ sich nicht einmal erahnen. Am auffälligsten waren die Höhlenöffnungen, die im Rostrot des Kolosses klafften. Technische Einrichtungen, Maschinen oder sonstige Anzeichen dafür, daß es sich bei dem Würfelberg um ein Instrument zur Kontrolle psionischer Energien handelte, waren nirgendwo zu entdecken. Erdrükkend lastete der Koloß auf der Lichtebene, als hätte ein Titan gewürfelt und dann, des Spieles überdrüssig, seinen Würfel achtlos liegen gelassen. »Da ist jemand«, sagte Jen Salik plötzlich. Dann Lethos, scharf, knapp: »Wo?« »Auf dem Berg. Direkt am Rand.« Atlan blickte in die Richtung, in die Salik deutete. Eine dunkle Gestalt – winzig im Vergleich zu dem durchlöcherten Würfelberg – zeichnete sich gegen die gleichförmige weiße Helligkeit des Himmels ab. »Schirmfeld aktivieren«, sagte Lethos. Atlan wollte protestieren, verzichtete aber auf seinen Einwand. Der Hathor hatte recht. Sie durften kein Risiko eingehen. Langsam schwebten sie an der zerfressenen Steilwand in die Höhe. Manche der Höhlenöffnungen durchmaßen bis zu fünfzig Meter, und in ihrem dämmerigen Innern sah
33 Atlan die seltsam verbogenen Überreste fremdartiger Maschinen, die zur Hälfte aus organischem Material bestanden und von grobporiger, weißer Haut überzogen waren. Die Organmaschinen flößten Atlan Grauen ein – vielleicht wegen ihrer Augen, die ihn blicklos anstarrten. Andere Höhlen waren von den geschmolzenen Wracks gleiterähnlicher Luftwagen übersät. Weiter oben füllte eine gläserne Substanz die tief in den Berg reichenden Tunnel; der Brechungsindex dieses Glases tendierte gegen Null, so daß der Blick hundert oder zweihundert Meter weit in den rostroten Leib des Kolosses dringen konnte, ehe der Tunnel abknickte und eine massive Wand der Neugier Grenzen setzte. Trotz ihrer einzigartigen Durchsichtigkeit wies die Substanz an zahlreichen Stellen Trübungen auf; dunkle Flecke, die bei genauerem Hinsehen ihre wahre Natur offenbarten: Menschliche und nicht-menschliche Wesen, Angehörige von über dreißig verschiedenen Völkern, einzeln oder in ganzen Gruppen, mitten in der Bewegung eingefroren und für die Ewigkeit konserviert. Die flüchtigen Blicke in die düsteren Geheimnisse des Würfelbergs vermittelten Atlan eine Ahnung von dem Ausmaß der Katastrophe, die von den Raum-Zeit-Ingenieuren heraufbeschworen worden war. Der PsiAusbruch am Berg der Schöpfung war ohne Vorwarnung erfolgt. Von einer Sekunde zur anderen hatten sich gewaltige psionische Energien über der Lichtebene entladen und das Werk ungezählter Generationen zerstört. Der Tod war schnell zu den unglücklichen Helfern der RZI gekommen, und die Kraft, von der sie getötet worden waren, hatten ihnen ein Mausoleum gebaut, das der Ewigkeit standhalten würde. Schaudernd fragte sich Atlan, wieviel Opfer die Katastrophe gekostet hatte. Und was hatten die Raum-Zeit-Ingenieure bei diesem Anblick empfunden, nachdem sich die entfesselten Energien erschöpft und die geborstenen Mauern der Tiefenkonstante wieder zusammengefügt hatten? Ihre Experimente mit den wilden Quellen der Kraft waren der
34 Auslöser dieses grausigen Unglücks gewesen; die RZI trugen die alleinige Verantwortung für das katastrophale Scheitern ihres Spiels mit den unbezähmbaren Energien der Schöpfung. Atlan wandte den Blick von den gläsernen Gräbern im rostroten Berg ab, und neben ihm war Lethos, und in den Augen des Hathors spiegelten sich seine eigenen Gedanken: Das Wissen um ihre Schuld an dem Tod ungezählter treuer Helfer mußte die RZI mit unermeßlichem Schmerz erfüllt haben, doch noch schlimmer mußte die Erkenntnis gewesen sein, daß zehntausend aus ihrem eigenen Volk in der Dimension über der Tiefenkonstante verschwunden waren. Wenn das Tabernakel die Wahrheit gesagt hatte, dann waren die RZI nicht relativ unsterblich wie Atlan oder die anderen Zellaktivatorträger, sondern unsterblich im absoluten Sinn: Keine Macht des Universums konnte sie töten – und dennoch waren binnen eines Moments zehntausend von ihnen ausgelöscht worden. Kein Wunder, daß die RZI alle Arbeiten an der Großen Rekonstruktion sofort eingestellt hatten. Kein Wunder, daß sie sich in die Einsamkeit der Letzten Bastion zurückgezogen hatten, um dort die nächsten Jahrhunderte und Jahrtausende für ihre Schuld zu büßen. Doch die Einsamkeit hatte sie vergiftet, die Last der Schuldgefühle hatte ihren Geist umnachtet, und statt ihre Schuld wiedergutzumachen, hatten sie noch größere Schuld auf sich geladen … Nur ein vor Schuld und Schmerz halb wahnsinniger Geist konnte einen Plan wie jenen ausbrüten, der zum endgültigen Bruch der Jaschemen mit den RZI geführt hatte: sich mit dem Berg der Schöpfung zu vereinigen, mit dem psimateriellen Fundament von TRIICLE-9 zu verschmelzen und ein neues Feld als Ersatz für das verschwundene zu erschaffen. Sie waren bereits an der Rekonstruktion gescheitert; wie konnten sie nur erwarten, daß der Versuch einer Neukonstruktion gelingen würde?
Thomas Ziegler Es war die letzte Hoffnung der Verzweifelten, dachte Atlan. Es war ein logischer Schritt, widersprach der Extrasinn. In diesem Moment erreichten sie die obere Kante der Steilwand, und das Wesen – aus der Ferne betrachtet nur ein dunkler Umriß vor der weißen Helligkeit des Himmels – war nun deutlich zu erkennen. Bei allen Göttern Arkons! dachte der Ritter der Tiefe. Eine Chyline! Eine Spielzeugmacherin wie Clio! Bewegungslos saß die Spielzeugmacherin am Rand des Bergplateaus. Ihr birnenförmiger, arm- und beinloser Körper war zusammengesunken, so daß sie Atlan nur um Kopfeslänge überragte; ihre blaßblaue Haut war von Falten und Runzeln überzogen und ihre drei Mandelaugen – vertikal geschlitzt und handtellergroß – waren ohne Glanz. Zuerst glaubte Atlan, daß sie das Ende einer Lebensphase erreicht hatte und in jenen scheintodähnlichen Zustand gesunken war, in dem sich ihre Zellen entschlackten und regenerierten, doch plötzlich wurden ihre pupillenlosen Augäpfel heller. Und ihr blutroter Mund, der so verblüffend dem Mund einer Menschenfrau ähnelte, verzog sich zu einem verächtlichen Lächeln. »Drei weitere Narren auf dem Weg zur Letzten Bastion«, murmelte die alte Spielzeugmacherin. »Dabei sollte man meinen, ihr hättet lange genug gelebt, um zu wissen, daß keine eurer Waffen das Leben eines Raum-Zeit-Ingenieurs nehmen kann … Närrisch wie die anderen. Töricht wie kleine Kinder. Das also sind die letzten Getreuen der armen Verrückten am Weltenrand …« Der Leib der Chyline erbebte, als sie sich zu ihrer vollen Größe von vier Metern aufrichtete und mit fast schwarzen Augen auf die drei Männer hinuntersah, die zwischen ihr und der Klippe standen. »Geht nur!« stieß sie hervor. »Folgt den Spuren der anderen Narren! Dankt den Großen in der Bastion für das lange Leben, das sie euch geschenkt haben, mit versuchtem Mord. Ah, welch stolze Tat! Aber beeilt
Die Raum-Zeit-Ingenieure euch! Selbst das Licht ist von hier nach dort eine volle Stunde unterwegs, und ihr macht nicht den Eindruck, daß ihr mit dem Licht um die Wette laufen könnt. Sputet euch! Seht ihr nicht, daß die Schatten länger werden?« »Wir sind nicht gekommen, um die RZI zu töten«, sagte Atlan. »Wir haben eine Botschaft für sie. Von denen, die den RZI den Auftrag für die Große Rekonstruktion gegeben haben. Wir sind gekommen, um zu helfen und zu warnen. Wir sind von Starsen aus durch das ganze Tiefenland gewandert und über den Platinpaß des Grenzwalls zur Lichtebene gelangt. Wir sind Ritter der Tiefe.« Die Spielzeugmacherin schwieg einen Moment. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme nur noch ein Flüstern. »Also ist es wahr. Also ist das Tor nicht ganz geschlossen. Starsen … Hoffnung.« Sie lachte heiser. »Aber ihr kommt zu spät, ihr Ritter der Tiefe. Wißt ihr nicht, was geschieht? Seht ihr nicht die Zeichen? Die Schatten, die vom Grenzwall über die Lichtebene fallen? Hört ihr sie nicht näher kriechen, die graue Kraft? Das Licht weicht zurück, und der Atem der Tiefe bläst vom Wall zum Weltenrand … Ich bin Loon«, sagte die Spielzeugmacherin; ihre Stimme war plötzlich klar und kräftig. »Schaut mich an, ihr Ritter. Seht ihr die Falten, die Runzeln? Seit Äonen die ersten Falten! Seit Äonen spüre ich zum erstenmal das Ziehen und Zerren des Alters und das Prikkeln und Brennen der Verjüngungsphase … Gibt es einen deutlicheren Beweis dafür, daß das Licht der Ebene erlischt?« Loon seufzte. »Und dabei gehöre ich zu den Glücklichen, die aus eigener Kraft dem Alter widerstehen können … Andere haben weniger Glück. Sie haben zu lange gelebt, um sich mit dem Tod abfinden zu können, der sie holen wird, wenn das Licht ganz erlischt. Deshalb hasten sie zum Rand der Welt! Um dem zurückweichenden Licht zu folgen und jene zu töten, die man nicht töten kann!« »Atlan! Tengri!« preßte Jen Salik hervor.
35 »Schaut!« Der Arkonide und der Hathor fuhren herum. Unter ihnen dehnte sich die Lichtebene in unvorstellbare Ferne; Lufttrübungen und das Licht, das der Boden verströmte, verschmolzen tausend oder zweitausend Kilometer weiter zu glosendem Dunst. Irgendwo dort – rund zwei Millionen Kilometer entfernt – türmten sich die metallenen Berge des Grenzwalls bis zur Tiefenkonstante. Doch die Schatten des Grenzwalls krochen bereits aus dem Dunst heran; sie löschten das Licht der Ebene. »Der Graueinfluß!« sagte Lethos. Also trifft deine Vermutung zu, meldete sich der Extrasinn zu Wort, ohne Rücksicht auf Atlans Erschütterung zu nehmen. Das Licht der Ebene stammt aus den unterirdischen Kavernen. Die Vitalenergie strömt zum Rand des Tiefenlands, und die Graukraft drängt nach. Ihr müßt sofort von hier verschwinden! »Verdammt«, sagte Jen Salik. »Wo steckt die Schachtel? Immer wenn man sie braucht, ist sie nicht da!« Atlan sah zu Loon auf. Ihre großen Mandelaugen waren jetzt fast weiß. »Der Tiefeneinfluß wird in Kürze die Baustelle erreichen und diesen Teil der Lichtebene in ein Graugebiet verwandeln. Du mußt fort von hier, Loon.« »Nein«, wehrte die Chyline ab. »Ich bleibe. Ich habe zuviel Zeit an diesem Ort verbracht. Seit der Berg der Schöpfung ausbrach und Zerstörung und Tod die Lichtebene heimsuchten, warte ich hier. Darauf, daß man meine Dienste braucht. Ich werde bleiben und weiter warten.« Aus dem wolkenbedeckten Himmel schälte sich ein schwarzer Punkt, der wie ein Raubvogel im kühnen Sturzflug auf sie zu schoß und erst im letzten Moment abbremste. »Ein Holt!« rief die Spielzeugmacherin erstaunt. »Ich dachte, sie hätten alle die Lichtebene verlassen, damals, vor der zweiten Katastrophe – wie die Jaschemen und all die anderen …«
36 »Du kennst das Tabernakel?« fragte Atlan rasch. »Natürlich«, versicherte Loon. »Die Holts waren …« Still, alte Klatschbase! Der telepathische Impuls des Tabernakels war so stark, daß Atlan und die beiden anderen Ritter unwillkürlich zusammenfuhren. Die Spielzeugmacherin plusterte sich empört auf. »Was erlaubst du dir …!« Wir müssen augenblicklich von hier verschwinden, fuhr das Tabernakel hastig fort. Es schien sehr erregt. Keine Zeit für Tratschereien! Schnell, faßt mich an! Atlan warf einen prüfenden Blick zu den grauen Schatten, die hundert oder hundertzwanzig Kilometer weiter Richtung Grenzwall das Licht der Ebene verschluckten. »Es dauert noch eine Weile, bis der Graueinfluß hier ist«, stellte er gelassen fest. »Genug Zeit, um Loon einige Fragen über die Holts zu stellen …« Idiot! Dummkopf! Tölpel! zeterte das Holt. Es geht nicht nur um die Graukraft. Hast du keine Augen im Kopf? Schau nach oben, schau genau hin! »Ein Flugobjekt«, sagte Tengri LethosTerakdschan. »Sehr groß, sehr schnell. Schneller als der Graueinfluß.« Atlan blinzelte. Ja, Tengri hatte recht. Und das Objekt hielt direkt auf sie zu. Es ist eine Gondel, telepathierte das Tabernakel. Aus dem Land Ni. Lordrichter Krart ist an Bord. Der verschrobene Humor der schwarzen Schachtel kam plötzlich wieder zum Vorschein. Sie kicherte – anzüglich, wie es Atlan schien. Einer von euch hübschen, jungen Rittern scheint dem alten Krart den in Unehren ergrauten Kopf verdreht zu haben. Ich schätze, es war Atlan. Er hat dieses gewisse Etwas … Nicht viel, aber etwas … Der Arkonide schnaubte; angesichts der heranrasenden Gondel, die jede Sekunde das Feuer aus ihren schweren Bordwaffen eröffnen konnte, verschluckte er die Zurechtweisung, die ihm auf der Zunge lag. Allmählich wuchs das leise Pfeifen verdrängter Luft-
Thomas Ziegler massen zu einem infernalischen Heulen. Ein Luftstoß, eine Bö, warm, trocken, der Geruch von Ozon, dann heißer, fauchender Wind, der immer stärker wurde. Einen feurigen Schweif ionisierter Gase hinter sich herziehend, in Flugrichtung die Luftmassen mit rasender Gewalt komprimierend und zur Seite drängend, schoß die Gondel auf das Bergplateau zu. Der heiße Wind wurde zum Sturm; die Luft waberte, die gesamte Atmosphäreschicht zwischen Ebene und Tiefenkonstante geriet in Aufruhr. Beeilt euch! drängte das Tabernakel. Krart will euch töten; will verhindern, daß ihr Kontakt mit den RZl aufnehmt! Atlan sah zu Salik, dann zu Lethos, der der Spielzeugmacherin Loon etwas zuschrie. Verdammt! dachte der Arkonide. Loon wird sterben! Mit einem Satz war er bei dem Tabernakel, packte es und war bei Lethos, ehe die überraschte schwarze Schachtel etwas unternehmen konnte. Eine Sekunde später war der Körperkontakt zwischen den drei Rittern der Tiefe, der Spielzeugmacherin und dem Tabernakel hergestellt. Dröhnend, feurig, tödlich stieß die Gondel vom aufgewühlten Himmel herab. Das Tabernakel teleportierte. Abrupt veränderte sich die Welt. Die Gondel, der rostrote Würfelberg der Baustelle, der Sturm – alles war versehwunden. Sie standen auf dem leuchtenden Glas der Lichtebene, auf einem gefrorenen Photonenmeer, das sich endlos zu allen Seiten ausbreitete. Die Spielzeugmacherin formte aus ihrer Körpersubstanz ein Dutzend stämmige, kurze Beine und eilte grußlos davon. Die Ritter sahen ihr schweigend nach, bis sie nur noch ein dunkler Punkt im allgegenwärtigen Licht war und schließlich auch der Punkt verschwand. Wir sind knapp eine halbe Million Kilometer weit Richtung Letzte Bastion gesprungen, telepathierte das Tabernakel. Es klang erschöpft. Es wird eine Weile dauern, bis der Graueinfluß hierher kommt.
Die Raum-Zeit-Ingenieure »Aber Krart ist mit seiner Gondel schneller als der Graueinfluß«, sagte Atlan. »Wir müssen so schnell wie möglich zur Festung der RZI.« Aber ich kann nicht …! begann die schwarze Schachtel. »Du kannst«, unterbrach der Arkonide barsch. »Du mußt. Zuviel hängt davon ab, daß wir die Bastion erreichen, bevor die RZI durchführen können, was sie vorhaben – was immer das auch im einzelnen sein mag. Sie konzentrieren die Vitalenergie der Lichtebene im Gebiet des Bergs der Schöpfung und lassen zu, daß die Ebene grau wird. Sie verfolgen irgendeinen verrückten, selbstmörderischen Plan, und wir müssen sie davon abbringen, ehe es zu spät ist.« Atlans Stimme wurde beschwörend. »Du mußt uns helfen, Holt. Das Leben aller Bewohner des Tiefenlands steht auf dem Spiel. Wir haben dir von unserer Begegnung mit dem Astralfischer und der Sarlengort erzählt – Besucher aus dem Hochland! Besucher, die weder die Grube, noch das Tor am PsiFundament benutzt haben! Das bedeutet, daß die Barrieren zwischen Tiefe und Normaluniversum durchlässig werden. Perry Rhodan hat Erfolg gehabt! Er hat genug Chronofossilien aktiviert, daß es zu einer Annäherung zwischen Normalraum und Tiefe kommt! TRIICLE-9 wird in Kürze an seinen Platz in der psionischen Doppelhelix zurückkehren und das Tiefenland verdrängen!« Das Tabernakel zögerte. »Es ist deine Pflicht, Holt«, sagte Atlan leise. »Dafür bist du konstruiert worden – du und die anderen Holts, nicht wahr? Ein überlicht-schnelles, vom Transmitternetz unabhängiges Transportsystem. Teleportermaschinen – Tiefentaxis.« Kulis, seufzte das Holt. Kofferträger für die unsterblichen Helfer der RZI auf der Lichtebene. Hier gibt es keine Dome. Aber wir Holts haben die Lichtebene verlassen, damals, als es zum Bruch zwischen den Jaschemen und den RZI kam. Wie so viele andere auch.
37 »Dann erfülle deine Pflicht, Holt«, befahl Atlan. »Bringe uns zur Letzten Bastion!« Ich hasse es, ein Kuli zu sein, nörgelte die schwarze Schachtel. Es macht das Dasein so gewöhnlich. Es ist meiner nicht würdig. Immerhin war ich einst ein Teil des Gesplitterten Einen … Aber die schwarze Schachtel schwebte gehorsam näher, und kaum hatten die drei Männer mit den Fingerspitzen ihr kühles Metall berührt, teleportierte sie. Der Sprung trug sie rund zweieinhalb Millionen Kilometer tiefer in die strahlende Unendlichkeit der Lichtebene hinein. Nur wenig hatte sich verändert. Vielleicht war das Licht, das der gläserne Boden verströmte, ein wenig heller – aber in der Ferne zeichnete sich die dunkle, zerrissene Skyline einer fremden Stadt ab. Zorrkosk, erklärte das Holt. Die Vorfahren unseres geschätzten Caglaraos Vlot haben sie erbaut. Ein Mikromodell des Tiefenlands. Die Stadt ist ein syntronischer Simulator. Aber die Syntronik hat nie die erhoffte, Leistung erbracht. Sie wurde schon vor dem Scheitern der Großen Rekonstruktion stillgelegt. Sie sprangen. Zehn Millionen Kilometer trennten sie jetzt vom Grenzwall und den grauen Schatten, die in das Vakuum drängten, das die fortströmende Vitalenergie hinterließ. In dieser Region war die Lichtebene Von vielen hundert Meter hohen Säulen bedeckt; die Säulen waren weiß, unten schmal und nach oben hin breiter und runder werdend – wie die Tränen eines Schneeriesen. Die meisten Säulen waren umgestürzt und geborsten, und aus dem weißen Material, das an Kreide erinnerte, aber kaum schwerer war als Luft, wuchsen ganze Büschel stählerner Halme; Schilf aus Metall, das glockenhelle Töne erzeugte, wenn man es berührte. Nirgendwo eine Bewegung, nirgendwo Leben. Eine Wüste aus purem Licht. »Weiter«, murmelte Atlan; die Stille und die Reglosigkeit der Landschaft bedrückten
38 ihn. Und das Holt teleportierte. Vierzehn Millionen Kilometer – eine Strecke, bei der das menschliche Vorstellungsvermögen versagte; und doch nur ein Bruchteil des langen Weges, der noch vor ihnen lag. Atlan sah sich um: Gläsern der Boden, leuchtend das Glas, weißgrau der Himmel. Das war alles. Sie teleportierten. Neunzehn Millionen Kilometer. Einen Steinwurf entfernt lag ein graues, diskusförmiges Objekt auf dem strahlenden Glas der Ebene. Im ersten Moment hielt Atlan es für ein Fluggerät der Lords, doch das Grau war bei näherem Hinsehen von einem anderen Ton als die düstere Farblosigkeit, die ihn im Land Ni so deprimiert hatte. Nach kurzem Zögern gingen sie auf den Diskus zu. Er war ein Wrack. Der untere Teil des Rumpfes war eingedrückt und an mehreren Stellen geborsten, und aus den Rissen quollen die geschmolzenen und wieder erstarrten Überreste von Aggregaten hervor. Das Oberteil mit der Kanzel war mit Schmorstellen bedeckt; glasierte Flecke, jeder so groß wie ein Bettuch, im Zentrum ein winziger Explosionskrater. Das Metall des Wracks war kalt; von der Besetzung fehlte jede Spur. Atlan fragte sich, wie lange es schon an dieser Stelle liegen mochte und welches Unglück es getroffen hatte; war es einem Angriff zum Opfer gefallen, oder einer Naturkatastrophe? Er hob den Kopf. Hinter dem Wrack, am äußersten Rand des Blickfelds, brach ein Schwarm Sternschnuppen durch die Wolkendecke. Fast eine Minute lang zogen die leuchtenden Objekte ihre Bahn zwischen Ebene und Tiefenkonstante, dann gewannen sie abrupt an Höhe und kehrten unter farbenprächtigen energetischen Entladungen in die Dimension der Tiefe zurück. Es sind keine Grauen Lords, teilte das Tabernakel beruhigend mit. Es sind Bewohner der Lichtebene, die unsterblichen Diener der
Thomas Ziegler RZI. Der nahende Graueinfluß treibt sie zur Flucht. Oder – ein mentales Kichern – oder die Unsterblichen wollen die RZI für ihren Verrat bestrafen … Sie teleportierten. 25 Millionen Kilometer. Die Landschaft war unverändert: Eine glatte, leuchtende Fläche, die sich zu allen Seiten in die Unendlichkeit dehnte. 30 Millionen Kilometer. Erstmals Vegetation. Bäume mit halb durchsichtiger Borke und silbernem Holz; die Stämme waren wie Korkenzieher gewunden, die Kronen tausendfach verästelte Gitterwerke ohne Laub. Von drüsenartigen Verdickungen an den Ästen tropfte süßlich riechendes Harz. Kein Baum war kleiner als hundert Meter, und jeder stand kilometerweit vom nächsten Nachbarn entfernt. Wo sie wuchsen, war der Boden sumpfig und matt wie Milchglas. Breite Flüsse aus gefrorenem Licht wanden sich zwischen den Baumriesen hindurch und mündeten in wenigen Kilometern Entfernung in ein goldenes, glitzerndes Delta. Jenseits davon breitete sich die Wüste eines bleiernen Ozeans aus. An der Küste – Klippen, schroff und zerklüftet, hundert Meter steil abfallend, aus dem gleichen, von innen her leuchtenden Glasmaterial wie der übrige Teil der Lichtebene – legten sie eine mehrstündige Rast ein. Besorgt fragte sich Atlan, wie groß die Reserven des Tabernakels waren. Würde es ihnen gelingen, vor Lordrichter Krart die Bastion der Raum-Zeit-Ingenieure zu erreichen? Tief unter ihm wisperte der Ozean; fast schwarze, niedrige Wellen, von grauen und weißen Schlieren durchzogen, brandeten träge an den Klippen. An zahllosen Stellen krochen Ausläufer der Flüssigkeit an den Steilwänden hinauf, bis sie auf halber Höhe von der Schwerkraft wieder zurück ins Meer gezogen wurden. »Es lebt«, sagte Tengri LethosTerakdschan. »Es denkt. Es … fürchtet sich.«
Die Raum-Zeit-Ingenieure »Vor dem Graueinfluß«, murmelte der Arkonide. Ihre nächste Station lag mitten im denkenden Ozean, fast eine halbe Million Kilometer von der Lichtküste entfernt: Eine vollkommen quadratische Insel mit einer Seitenlänge von zwei Kilometern. Sie überragte das Meer nur um einen halben Meter, aber hier gab es keine Wellen. Flach wie ein Brett erstreckte sich die dunkle, schlierige Flüssigkeit in dunstige Ferne. Die Insel bestand aus der gleichen rostroten Substanz wie der Würfelberg; eine weitere Baustelle aus der Zeit der Großen Rekonstruktion, wie das Holt erklärte. Von hier aus war das psionische Potential anderer Informationsspeicherfelder des Moralischen Kodes angezapft worden; um irgendwo im Tiefenland als wilde Quelle der Kraft in Erscheinung zu treten und die Fiktiveinrichtungen der Transmitterdome auszulösen. Hier war die Struktur der angezapften PsiFelder analysiert und in ein Koordinatensystem übertragen worden, um das Verteilungsmuster der Informationspools zu rekonstruieren: durch gigantische Völkerwanderungen, deren Umfang jedes menschliche Vorstellungsvermögen sprengte. »Das Meer.« Lethos wies auf die bleierne Fläche. »Es denkt nicht; hier ist es tot. Erst weit entfernt beginnt es wieder zu denken. Aber nicht so klar wie an der Küste; dumpfer, primitiver.« Die Oorph-Makrophage, telepathierte das Holt. Sie hat die Verunreinigungen aus den hereinströmenden psionischen Energien der anderen Felder gefiltert, bevor sie sich im Tiefenland als wilde Kraftquellen manifestierten. Bei der Vielzahl der Psi-Felder, die auf dem Höhepunkt der Großen Rekonstruktion zur gleichen Zeit angezapft wurden, waren gegenseitige Störungen unvermeidbar. Es kam häufig vor, daß ein Psi-Strom mit den Energien von vier, sechs oder gar zehn anderen Feldern verunreinigt wurde, was wiederum zu Verzerrungen im Informations-muster führte. Die Oorph-Makrophage spürte die Fremdenergieanteile auf und trennte sie
39 vom Hauptstrom. Sie waren ihr … Nahrungsmittel. Durch den zerstörerischen Ausbruch des Schöpfungsbergs wurde die Makrophage fast getötet. Einst war sie eines der intelligentesten Lebewesen des Tiefenlands, aber jetzt ist sie kaum klüger als ein Tier. Sie teleportierten weiter. Diesmal trug sie der Sprung fast fünfzehn Millionen Kilometer weiter in ein Land aus einer Art porösem Marmor. In großen Abständen zerschnitten parallel laufende Spalten die helle Maserung des Marmorbodens; sie waren schmal, kaum breiter als zwei oder drei Meter, aber mindestens fünfzig Meter tief. Aus ihrem gläsernen Grund strömte das Goldlicht der Vitalenergie. Entlang der Spalten war der marmorartige Boden zu bizarren Strukturen aufgeschäumt; sah man sie an, bewegten sie sich knisternd. Das Knistern war das einzige Geräusch. Ohne einen Kommentar zur ursprünglichen Funktion dieses Landstrichs teleportierte das Holt weiter. Krater. Oval und rechteckig; ihre perfekte Geometrie verriet ihren künstlichen Ursprung. Wände und Boden der Krater – von denen die meisten groß genug waren, um der BASIS als Landeplatz zu dienen – waren lückenlos mit farbenprächtigen Facetten bedeckt. Atlan erkannte sie auf den ersten Blick; die gleichen Facetten befanden sich an den schüsseiförmigen Aufsätzen der Transmitterdome, den nachträglich von den Jaschemen installierten Fiktivtransmittern. Von hier aus wurden die Fiktivtransmissionen überwacht, bestätigte das Tabernakel von Holt. Aber es gibt noch eine ganze Reihe ähnlicher Kontrolleinrichtungen. Weiter. 65 Millionen Kilometer trennten sie jetzt vom Grenzwall. Flache, langgestreckte Täler mit üppig bewaldeten Hängen. Zahllose Bäche plätscherten von den Hängen und vereinigten sich unten in den Tälern zu breiten, flachen Flüssen mit kristallklarem Wasser. Der Boden war fruchtbar und strotzte vor Vegetation; aus
40 den Baumkronen tönte melodisches Gezwitscher wie von hunderttausend Singvögeln, aber während ihres kurzen Aufenthaltes bekam Atlan keinen einzigen Vogel zu Gesicht. Von dem Holt erfuhren sie, daß die Tallandschaft nur eines von vielen geschlossenen Ökosystemen war, die sich in diesem Teil der Lichtebene konzentrierten. Sie dienten der Erholung der RZI-Hilfskräfte; UrLaubsgebiete, die ebenso verlassen waren wie alle Regionen, die sie bisher besucht hatten. Weiter. Und weiter. In Abständen von wenigen Minuten teleportierten sie mit dem Holt dem Rand des Tiefenlands entgegen, wo sich die Letzte Bastion der RZI am Fuß des Schöpfungsbergs erhob. Hier wuchsen gewaltige Spitzkegel aus wabernder, hellroter Formenergie der undurchdringlichen Wolkendecke entgegen, schrumpften wieder auf die Größe eines Fingerhuts und begannen erneut zu wachsen. Die pulsierenden Energieberge versetzten die Luft in Schwingungen, so daß ewiges an- und abschwellendes Heulen das Wachsen und Schrumpfen der Kegel begleitete. Dort schimmerten Seen aus geschmolzenem Metall im Wolkenlicht; hunderttausend Seen, strahlenförmig um einen Diamanten von der Größe eines Wohnblocks gruppiert. Und der Diamant seufzte, als sie materialisierten, und glühte so hell auf, daß sein Licht wie Feuer in den Augen sengte. Die nächste Station war eine Wüste aus jadegrünem Sand. Dutzende Atmosphärewirbel wühlten die Luft auf und erzeugten orkanartige Stürme, doch grün und unbewegt trotzte die Wüste selbst dem stärksten Hurrikan. Nur wenn sich ein Wirbel auflöste, geriet das darunterliegende Wüstenstück in Bewegung, formte kilometerlange Dünen, die ziellos durch die Öde wanderten, bis ein Atmosphärewirbel sie stoppte, der Sand sich glättete und geduldig auf die nächste Windstille wartete. Fünf oder zehn Millionen Kilometer weiter träfen sie auf gigantische Maschinenkomplexe, die
Thomas Ziegler auf Antigravpolstern über eine Landschaft aus Antennen, Projektoren und verschlungenen Pipelines schwebten. Die Pipelines bildeten ein geschlossenes System; nichts verriet, welcher Stoff durch die meterdicken Röhren gepumpt wurde und welchen Zwekken die Anlage diente. Der Flug der Gigantmaschinen war unregelmäßig, und während der kurzen Rast entdeckte Atlan insgesamt sechs, die abgestürzt und zerbrochen waren. Hier war einst das Zentrum jaschemischen Wirkens, informierte das Tabernakel die drei Ritter. Bis zum Bruch mit den RZI und der Umsiedlung ins Kyberland. Weiter. Rund 200 Millionen Kilometer hatten sie inzwischen zurückgelegt, und die Kräfte des Holts erlahmten. In einem Land aus zerklüfteten Canons, an derem Grund fluoreszierendes Moos wuchs, legten sie eine längere Rast ein. Auch hier Stille und Einsamkeit. Zwei Stunden später fühlte sich das Holt wieder kräftig genug, die Reise fortzusetzen. Atlan fragte sich, woher es seine Energien bezog. Zapfte es die Vitalenergieströme in den Kavernen an? Sie materialisierten wieder auf gläsernem, leuchtendem Boden. Der Arkonide gewann den Eindruck, daß der Boden hier wesentlich heller leuchtete als am Rand der Lichtebene. Und während er das glatte, makellose Material betrachtete, glaubte er, ein plötzliches Flackern zu bemerken. Das Flackern wiederholte sich und breitete sich über die Ebene aus, bis sie wie ein gigantisches Stroboskop aufleuchtete, erlosch, aufleuchtete, erlosch … Schnell! drängte das Holt. Die Strömungsgeschwindigkeit der Vitalenergie nimmt laufend zu. Wir müssen uns beeilen! Wenn der Graueinfluß uns überholt, kann ich meine Reserven nicht mehr ergänzen. Dann werden wir den Rand der Welt nie erreichen … Atlan nickte zufrieden. Also traf seine Vermutung zu – das Holt zapfte die Vitalenergie an! Weiter. Jeder Sprung ließ sie fünf, sechs, manch-
Die Raum-Zeit-Ingenieure mal sogar bis zu zehn Millionen Kilometer überwinden. Eine Stadt, so groß wie Starsen am anderen Ende des Tiefenlands, aber sie war leer; nichts bewegte sich auf den silbernen Bändern der Hochstraßen, den weiten Plätzen und Grünflächen zwischen den Gebäuden, die selten höher als fünf Stockwerke waren und aus pastellfarbenem Kristall bestanden. Danach sanft gewellte Hügel, kahl und knochenweiß, und mitten in dieser Weiße die Trümmer einer Statue. Aufgerichtet mußte sie fast die Tiefenkonstante erreicht haben. Nur der Sokkel war unversehrt; wie die Trümmer war er aus purem Gold. Es dauerte einen Moment, bis sich Atlan ein ungefähres Bild von der Statue gemacht hatte. Die Erkenntnis war ein Schock: Eine humanoide Lichtgestalt, die in einer heroischen Geste nach den Wolken griff. Eine Lichtgestalt, die – abgesehen von der Größe – identisch mit jener war, die der Graue Lord Mhuthan unmittelbar vor seinem Tod angenommen hatte. Der letzte Gruß der Jaschemen an die RZI, erklärte das Holt. Ironische Huldigung und Warnung vor Hybris zugleich. Ich frage mich nur, wer die Statue zertrümmert hat … »Wahrscheinlich die RZI«, warf Jen Salik ein. »AUS Zorn darüber, daß sich die Jaschemen von ihnen abgewandt haben.« Nein, widersprach das Holt. Nicht die RZI! Sie erschaffen – aber sie zerstören nicht. Niemals. Weiter. Sprung um Sprung. Und jedesmal, wenn sie rematerialisierten, war die Landschaft noch phantastischer, noch bizarrer, noch fremdartiger. Die einzige Gemeinsamkeit der Ebene zwischen dem Schöpfungsberg und dem Grenzwall waren die gläsernen Regionen, wo das Licht der Vitalenergie in den Kavernen an die Oberfläche drang. Weiter. Der schwache Entzerrungsschmerz, der jede Teleportation begleitete, wuchs mit der Zeit, wurde zur beständigen Pein, die sich
41 von der Schädeldecke über den ganzen Körper ausbreitete. Die TIRUNS, Produkte porleytischer Technik, perfekter als die modernsten terranischen SERUNS, verabreichten ihren Trägern schmerzstillende Medikamente, die die Qual linderten, aber nicht völlig beseitigten. Lethos behalf sich mit dem Sanskari, und diese einzigartige Meditationsmethode schien ihn wirksamer zu schützen als die von den TIRUNS synthetisierten Anästhetika. Und sie teleportierten. Und teleportierten. Inzwischen waren die Ruhepausen, die das Holt sich und den drei Rittern gönnte, länger geworden, doch dafür legten sie bei jedem Sprung eine größere Distanz zurück. 800 Millionen Kilometer vom Grenzwall entfernt – nach vier Fünfteln der Gesamtstrecke, für die sie fast fünf Tage benötigt hatten – trafen sie auf eine größere Gruppe von RZI-Helfern. Das Holt und die Ritter materialisierten auf einer Anhöhe aus einem blauen, nachgiebigen Material, das den Geruch von frischgefrästen Metallspänen verströmte. In der Ferne reihten sich konische Maschinen zu einem lockeren Ring; in regelmäßigen Abständen kam es zwischen ihnen zu grellen, krachenden Entladungen. Auf halbem Weg zwischen Anhöhe und Maschinenring verdunkelte eine unregelmäßig geformte lackschwarze Fläche den leuchtenden, glatten Glasboden; groß genug, um einem terranischen Raumschiff der GALAXIS-Klasse als Landeplatz zu dienen. Auf dem Schwarz waren drei Gondeln niedergegangen. Eine vierte hatte sich in ihre einzelnen Segmente aufgeteilt, und die Besatzung war offenbar dabei, von den beiden größeren in die drei kleineren Segmente umzusteigen. Das Holt weigerte sich, eine Rast einzulegen, damit die drei Ritter der Tiefe Kontakt mit der Besatzung der Gondeln aufnehmen konnten. Atlan war enttäuscht und verärgert; nach dem, was er den unzusammenhängenden Erzählungen des Holts entnommen hatte, wa-
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Thomas Ziegler
ren die auf der Lichtebene zurückgebliebenen Helfer der RZI relativ unsterblich. Eine Folge der hohen Konzentration an Vitalenergie in diesem Teil des Tiefenlands, wie der Extrasinn vermutete. Daß die RZI das Vagenda geschlossen hatten und nun die gesamte restliche Vitalenergie zum Schöpfungsberg leiteten, mußte diese Wesen mehr als alle anderen Bewohner des Tiefenlands erbittern. Sie, die nun schon so lange gelebt hatten, sahen dem Tod ins Auge. Vielleicht konnte man von ihnen wertvolle Informationen erhalten … Jede Verzögerung wäre unser Untergang! wies das Holt Atlans Vorschlag zurück. Der Graueinfluß breitet sich immer schneller aus! Unser Vorsprung ist zu knapp! Und als wollte der Graueinfluß die Worte des Holts bestätigen, wölbte sich weit hinter ihnen eine diffuse graue Wand empor, wuchs höher und höher, bis sie die Wolkendecke erreicht hatte, und neigte sich dann in schrecklicher Lautlosigkeit nach vorn. Wo das Grau den Boden berührte, erlosch das Licht. Weiter! Sprung um Sprung. Weiter! Weiter zum Berg der Schöpfung, dem psi-materiellen Fundament von TRIICLE-9, zur Letzten Bastion der RaumZeit-Ingenieure. Weiter, immer weiter und weiter. Über eine Entfernung von einer Milliarde Kilometer hinweg, von einem Wunder der Lichtebene zur anderen, dem größten Wunder entgegen, das es im Land der Tiefe zu bestaunen gab, dem Ende der Welt.
8. Exkurs Tiefenland (IV) Mit dem Erscheinen der ersten Grauen Lords – den in der Tiefendimension verschollenen und durch die Tiefe verwandelten zehntausend RZI – beginnt das letzte Kapitel in der Geschichte des Tiefenlands. Die RZI auf der Lichtebene beenden ihre selbstgewählte Isolation. Die Lage im Tie-
fenland ist niederschmetternd. Die Nachfahren der Milliarden Hilfskräfte haben – bedingt durch die Wirren der Völkerwanderung, den Niedergang der Zivilisation und die Nachlässigkeit der RZI – die Erinnerungen an die Große Rekonstruktion verloren oder halten sie für Legende. Bei jenen Völkern, die noch um ihre ursprüngliche Aufgabe wissen, ist die ihnen zugeteilte Arbeit zu reinem Selbstzweck geworden. Häufig kommt es zu Verstößen gegen eines oder mehrere Tiefengesetzte; teils unwissentlich, teils mit Absicht und aus den besten Motiven heraus. Jeder Verstoß wird von den Exterminatoren unnachsichtig geahndet. Der Graueinfluß erobert immer mehr Länder, seit die Lords planmäßig die Vitalströme des Vagendas unterbrechen und ganze Regionen isolieren. Starsen ist inzwischen vom übrigen Tiefenland abgeschnitten; die Verbindung zum Hochland ist – nach kurzen Störungen, zu denen es beim Zusammenbruch der Tortransmitter kam – wieder intakt, doch die Tiefenwächter halten den Fahrstuhl in der Grube fest. Der Tiefenfahrstuhl reagiert nicht mehr auf die mentalen Rufe aus Starsen. Für die Bürger der Stadt, seit dem Ausfall der Transmittertore in der Formenergiemauer vom Tiefenland isoliert, gilt die Grube immer noch als unpassierbar. Nur sehr selten wagt jemand aus dem Hochland den Abstieg in die Tiefe, und wem es gelingt, die Wächter zu überlisten, wird von den neuen Machthabern Starsens eliminiert – der Geriokratie und der Fraternität, Oberschicht eines gesellschaftlichen Kastensystems, das seine Existenz dem Mißbrauch der materialisierten Vitalenergie aus den Aktivatorspeichern verdankt. Die RZI stehen vor einer schweren Entscheidung. Sollen sie zugeben, daß sie versagt haben? Sollen sie eingestehen, daß sie von Anfang an die spezifischen Probleme der Tiefe und den Schwierigkeitsgrad der übernommenen Aufgabe falsch eingeschätzt haben? Sollen sie dem Graueinfluß weichen, das Tiefenland evakuieren und vor die Kosmo-
Die Raum-Zeit-Ingenieure kraten treten, um ihre Schmach offiziell einzugestehen? Oder sollen sie es wagen, in einem letzten Versuch den Erfolg herbeizuzwingen? In einem Versuch, noch kühner und gefährlicher als die Große Rekonstruktion? Denn es scheint einen Weg zu geben, die gestellte Aufgabe doch noch zu lösen. Im Fundament des alten psionischen Feldes TRIICLE-9 existieren die Informationen des Schöpfungsprogramms als eine Art Echo fort. Ohne dieses Echo hätte das Tiefenland nicht erbaut werden können, denn wie alle Schöpfung des Universums ist auch das Tiefenland von der permanenten Informationsübertragung durch die Messenger abhängig. Mit anderen Worten: Theoretisch steht den RZI jede Information zur Verfügung, die auch in allen anderen psionischen Feldern des Moralischen Kodes gespeichert ist. Was ihnen fehlt – was sie durch das psionische Roulette mit den wilden Quellen der Kraft ermitteln wollten –, das ist das Verteilungsmuster der Informationspools, durch das sich die einzelnen Psi-Felder voneinander unterscheiden. Nur durch die exakte und totale Reproduktion des ursprünglichen Informationsmusters läßt sich das Originalfeld TRIICLE-9 rekonstruieren. Doch warum unbedingt eine Rekonstruktion? fragen sich die RZI. Haben sie nicht inzwischen genug über die psionischen Informationsspeicherfelder, ihren Aufbau und ihre Funktion gelernt, um ein derartiges Feld neu zu erschaffen? Warum nicht eine Neukonstruktion in Angriff nehmen, wenn eine Rekonstruktion unmöglich ist? Die benötigten Informationen des Schöpfungsprogramms lassen sich dem Echo im Fundament von TRIICLE-9 entnehmen; und die psionische Struktur des neukonstruierten Feldes läßt sich erzeugen … unter Opfern, doch es ist theoretisch machbar. Indem die RZI das Risiko einer geistigen Vereinigung mit der Psi-Materie des Schöp-
43 fungsbergs eingehen und aus ihrem eigenen Bewußtseinspotential das neue Psi-Feld bilden. Das Opfer ist groß – sie werden Körper und Ich-Bewußtsein verlieren. Sie werden nicht sterben, doch niemand kann sagen, wie sie diese neue, rein geistige und völlig andere Existenzform erleben werden. Das Risiko eines erneuten und noch katastrophaleren Scheiterns wiegt schwer, doch noch schwerer wiegt die Aussicht auf einen triumphalen Erfolg für die RZI – und für den Moralischen Kode des Universums. Die Entscheidung fällt. Die RZI sind entschlossen, den Versuch einer Neukonstruktion zu wagen. Sie informieren ihre engsten Mitarbeiter auf der Lichtebene, insbesondere die Jaschemen. Die Reaktion der Jaschemen trifft sie völlig unvorbereitet. Die genialen Techniker sind entsetzt. Für sie ist der Plan der RZI reinste Blasphemie. Für sie bedeutet die Neukonstruktion eines psionischen Feldes des Moralischen Kodes einen Eingriff in den Kode, eine Veränderung des Schöpfungsprogramms, das für sie quasireligiöse Bedeutung hat Und wie die Jaschemen, so reagieren auch die meisten anderen treuen Helfer. Sie raten den RZI von ihrem Plan ab. Sie bedrängen sie, bestürmen sie, auf dieses größenwahnsinnige Unternehmen zu verzichten. Starrsinnig beharren die RZI darauf, daß eine Neukonstruktion durchführbar ist und keinen inhaltlichen Eingriff in das kosmische Schöpfungsprogramm bedeutet. Die Auseinandersetzung eskaliert. Die Jaschemen drohen, die Tiefe zu verlassen und die Kosmokraten über die frevlerische Absicht der RZI zu Informieren. Doch diese Drohung erreicht genau das Gegenteil von dem, was die Jaschemen erreichen wollen. Die RZI geraten in einen Zustand kollektiver Hysterie – ganz gleich, wie die Kosmokraten zu dem Plan einer Neukonstruktion stehen, ein derartiger Vorfall würde die RZI als Versager bloßstellen, die immer mehr die Kontrolle über die Situation verlie-
44 ren. Als Versager, die nicht würdig sind, die höchste Entwicklungsstufe intelligenten Lebens zu erreichen. Es kommt zu einer Kurzschlußreaktion. In ihrer Panik gehen die RZI soweit, die Verbindung zwischen Berg der Schöpfung und Narmaluniversum zu schließen und die Grube, die sich im Lauf der Zeit wieder regeneriert hat, zu blockieren. Niemand – von den RaumZeit-Ingenieuren abgesehen – kann jetzt noch die Tiefe verlassen. Die Jaschemen haben keine Möglichkeit, ihre Drohung zu verwirklichen. Der Bruch zwischen ihnen und den RZI ist nicht mehr aufzuhalten. Zusammen mit vielen anderen alten Getreuen verlassen die Jaschemen die Lichtebene. Für immer. Sie ziehen sich ins Kyberland zurück, errichten zum Schutz gegen den Graueinfluß die WAND und kümmern sich von da an nur noch um ihre eigenen Belange. Auf der Lichtebene schreiten die RZI zur Verwirklichung ihres Planes. Nur 1.000 von den 140.000, die der Katastrophe der Großen Rekonstruktion entronnen sind, sollen die alte Zustandsform beibehalten, um im Fall des Gelingens die Rückkehr der Tiefenvölker ins Normaluniversum zu organisieren und den Kosmokraten die Erfolgsmeldung zu überbringen. Die 1.000 RZI ziehen sich in den Schutz der Letzten Bastion zurück, als die 139.000 Auserwählten über die gläsernen Brücken ziehen und den Berg der Schöpfung betreten. Und diese 1.000 verfolgen voll verzweifeltem, hilflosem Entsetzen, wie es zu einer Wiederholung der ersten Katastrophe kommt: Selbst die geballte psychische Macht von 139.000 Raum-Zeit-Ingenieuren vermag die Urgewalt der Schöpfung nicht zu zähmen. Das psi-materielle Fundament wird unter dem geistigen Zugriff instabil, die Instabilitäten schaukeln sich gegenseitig hoch und entladen sich in einem noch nie dagewesenen Ausbruch psionischer Energien. Die entfesselten Kräfte des Schöpfungsbergs
Thomas Ziegler verwüsten erneut die Lichtebene, erzeugen einen Riß in der Barriere der Tiefenkonstante und schleudern 139.000 RaumZeit-Ingenieure in die Dimension der Tiefe. Das Unvorstellbare ist Wirklichkeit geworden. 139.000 RZI werden von der Tiefe eingeatmet – um nach und nach, über einen Zeitraum von vielen Jahrzehntausenden hinweg – über das ganze Tiefenland verteilt wieder aufzutauchen. Verändert, fremd, von der Tiefe durchdrungen. Graue Lords. Und die tausend, die die apokalyptische Katastrophe unversehrt überstanden haben, die mit schrecklicher Klarheit erkennen, welches Schicksal jene erwartet, die von der Tiefe eingeatmet wurden … diese tausend beginnen ihr eigenes Schicksal zu ahnen. Die elementare Gewalt des zweiten PsiAusbruchs hat die Siegel, mit denen sie das Tor am Schöpfungsberg vor den Jaschemen gesichert haben, nicht gebrochen, sondern verstärkt. Ein Teil der psionischen Energien ist von den ähnlich strukturierten Siegeln angezogen worden. Das Tor läßt sich nicht mehr öffnen. Und es wird lange Zeit dauern, bis die Kraft der psionischen Siegel nachläßt und das Tor wieder passierbar wird. Die Grube ist von dem Ausbruch und den Erschütterungen der Tiefenkonstante ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen; die Manipulationen der RZI lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Die Isolation des Tiefenlands ist perfekt. Vielleicht regeneriert sich die Grube wieder aus eigener Kraft, doch falls dies geschieht, dann in fernster Zukunft … Und so warten die Raum-Zeit-Ingenieure in der Einsamkeit am Rand der Welt, unsterblich, tief in Schuld verstrickt, einer Schuld, für die es keine Wiedergutmachung geben kann. Generationen kommen und gehen, die Welt verändert sich, nur auf der Lichtebene verändert sich nichts. Geduldig warten die
Die Raum-Zeit-Ingenieure letzten Getreuen in den leeren, stillen Weiten der Lichtebene auf ein Zeichen der Tausend, die in der Abgeschiedenheit der Bastion Zuflucht gesucht haben – wie schon einmal. Die Getreuen, unsterblich durch den Überfluß an Vitalenergie, warten, während jenseits des Grenzwalls Zeitalter auf Zeitalter folgt. Während die Zahl und die Größe der Graugebiete wächst. Während die Lords beharrlich die Verbindungen zwischen Lichtebene und Vagenda unterbrechen, bis schließlich am Fuß des Grenzwalls ein einziges zusammenhängendes Graugebiet entsteht und zum Kern des Grauen Machtbereichs wird – das Land Ni, von dem aus die Eroberung des Tiefenlands geplant, organisiert und endlich vollendet wird. Und die Tausend in der Bastion am Rand der Welt müssen hilflos dem Treiben der Lords zusehen. Sie sind Raum-Zeit-Ingenieure – Baumeister und keine Zerstörer. Sie gebieten dem Raum, der Zeit; sie gebieten der Materie, der Energie; sie gebieten der Schöpfung und all ihren Elementen. Doch so allmächtig sie auch scheinen – ihre Macht ist begrenzt. Sie sind keine Krieger. Sie sind es nie gewesen und werden es auch nie sein. Sie sind Schöpfer – das ist es. Wo sie konstruktiv arbeiten, können sie Dinge vollbringen, die an Wunder grenzen; wo sie destruktiv tätig werden wollen, versagen sie schon vor dem ersten Schritt. Und so schauen sie vom Wachturm der Letzten Bastion über die Welt der Tiefe, und sie sehen, wie die Welt grau wird. Wie ihre Getreuen in der Unendlichkeit der Lichtebene warten sie. Warten auf – was? Auf Hilfe aus dem Hochland. Auf die ferne Zukunft, in der die Siegel des Tores am Schöpfungsberg brechen oder die Grube wieder passier bar wird. Auf ein Wunder, das der Raserei der Grauen Lords Einhalt ge bietet.
45 Und während sie warten, schrumpft ihre Zahl. Einzeln, zu zweit, in kleinen Gruppen verlassen sie heimlich die Letzte Bastion, getrieben von der Verzweiflung der Hoffnungslosen, und gehen den grauen Weg: Die Tiefe atmet sie ein, die Tiefe verschlingt sie mit Haut und Haar, und irgendwann, nach hundert, tausend oder zehntausend Jahren, atmet die Tiefe sie wieder aus. Als Graue Lords. Schließlich, nach einer Zeitspanne, die auch nach den Maßstäben der unsterblichen Raum-Zeit-Ingenieure lang ist, zählt das letzte Häuflein RZI hinter den blauen Mauern der Bastion nicht einmal mehr vierzig Köpfe. Und sie sehen, daß die Macht der psionischen Siegel geringer gewor den ist. Dreißig steigen hinauf zum verriegelten Tor, brechen die Siegel und bitten die Kosmokraten um Hilfe. Ihr Hilferuf erreicht sein Ziel, wenn auch verstümmelt, doch die dreißig Wagemutigen müssen den Ruf teuer bezahlen. Sie geraten in eine Falle der Grauen Lords und gehen den grauen Weg. Nur noch fünf Raum-Zeit-Ingenieure wandeln in den stillen Gewölben der pisonischen Festung am Rand der Welt. Fünf von hundertfünfzigtausend. Ihre Namen: Myzelhinn; Neusenyon; Gurdengan; Joilinn; Boornhaal Und als ihr Ruf beantwortet wird, als ein Gesandter der Kosmokraten das Tor am Schöpfungsberg passiert und der vorbereiteten Falle der Lords dank der Wachsamkeit der Lla Ssann entrinnt, sich dem Zugriff der Grauen durch die Flucht in die Formenergiemauer von Starsen entzieht … da empfinden die letzten fünf zum erstenmal seit Äonen einen Hauch von Hoffnung. Die Kosmokraten werden eine Armee schicken, sagen sie sich, eine Armee, groß und mächtig genug, die Macht der Lords von Ni zu brechen. Doch statt einer Armee kommen nur zwei Kundschafter. Sie nehmen den Weg über die Grube nach Starsen, und Starsen liegt hinter einem derart dichten Ring Graugebiete, daß
46 nicht einmal die geballte Vitalkraft des Vagendas ausreicht, länger als einige Sekunden Kontakt zu ihnen herzustellen. Zwei Kundschafter. Und die letzten RZI haben mit einer Armee gerechnet. Sie ahnen bereits, was das bedeutet, doch ihre Ahnung wird erst bestätigt, als die zwei mit dem Gesandten Starsen verlassen und ihre Odyssee durch das Tiefenland antreten, die sie schließlich nach Ni und über den Grenzwall zur Lichtebene führt. Die drei sind keine gewöhnlichen Kundschafter. Eine Aura umgibt sie, die die RZI mühelos als Aura der Kosmokraten identifizieren. Sie wissen, daß die Träger dieser Aura Angehörige eines besonderen Ordens sind, Ritter der Tiefe, kosmische Wächter im Auf trag der Kosmokraten, mit der letztendlichen Bestimmung, an der Rückkehr des psionischen Feldes TRIICLE-9 mitzuwirken. Statt einer Armee haben die Kosmokraten drei dieser Ritter in die Tiefe geschickt. Und die letzten Raum-Zeit-Ingenieure wissen, daß sich damit das Schicksal des Tiefenlands erfüllt hat, daß sie nicht mehr gebraucht werden, daß eine Rekonstruktion des mutierten und verschwundenen Informationsspeicherfelds hinfällig geworden ist. Denn die drei Ritter der Tiefe sind nur die Vorboten eines Ereignisses von kosmischer Bedeutung: Der Rückkehr von TRIICLE-9 an seinen alten Platz in der psionischen Doppelhelix des Moralischen Kodes. An jenen Platz in der Dimension der Tiefe, wo das Fundament wartet – und wo das Tiefenland erbaut worden ist. TRIICLE-9 wird zurückkehren und damit den Rücksturz des Tiefenlands in das Normaluniversum einleiten, in ein Universum mit anderen physikalischen Bedingungen, in ein Universum, wo ein Gebilde von der Größe des Tiefenlands nicht existieren kann. Niemand von den Milliarden und aber Milliarden Bewohnern der Tiefe kann eine Katastrophe wie diese überleben. Im Bewußtsein ihrer Schuld, im Bewußt-
Thomas Ziegler sein ihrer Verantwortung für das Leben von Milliarden, machen sich die letzten fünf Raum-Zeit-Ingenieure an die Vorbereitungen eines Plans zur Rettung der Tiefenvölker. Manche nennen ihn einen Verzweiflungsplan. Viele nennen ihn ein Verbrechen. Die Grauen Lords sehen ja in ihm ihren endgültigen Triumph. Trotzdem schließen die fünf letzten Raum-Zeit-Ingenieure das Vagenda. Die Quelle der Kraft versiegt, das Tiefenland wird nicht mehr mit Vitalenergie versorgt und der Graueinfluß breitet sich explosionsartig aus, bis das ganze Land jenseits des Grenzwalls vom Atem der Tiefe erfüllt ist. Nur die Lichtebene ist noch frei – denn in ihrem riesigen, weit verzweigten Kavernensystem sind jene ungeheuren Mengen Vitalenergie gespeichert, die in den letzten Monaten über einen Dimensionstunnel durch die Tiefe ins Reich der RZI geleitet wurden. Und die nun zur Letzten Bastion fließen, sich dort ballen, konzentrieren, die Lichtebene dem Graueinfluß überlassen. Der letzte Akt steht unmittelbar bevor. Oben auf dem hohen Turm der Bastion warten die fünf. Sie wissen, daß sie nicht lange warten werden. Bald, sehr bald werden die drei Ritter der Tiefe den Rand der Welt erreichen. Und dann …
9. Ihre Blicke wanderten über das purpurne Energiemeer und über das Land jenseits der trägen Wogen, und sie sahen, daß das Land grau war. Grau wie die vielen tausend Getreuen, die von Zorn oder Verzweiflung getrieben zum Weltenrand gezogen waren, ohne das energetische Meer überwinden zu können. Die Macht der RZI hatte ihnen an der Küste Einhalt geboten, und dann war der Graueinfluß über sie gekommen, so wie er über Suu Oon
Die Raum-Zeit-Ingenieure Hoo und die rund 40.000 anderen Lla Ssann gekommen war. Grau und stumm warteten die Unsterblichen und die Hüter des Vagendas auf der einen Seite des Meeres, und auf der anderen Seite warteten die unsterblichen fünf. Der Tiefeneinfluß begrenzte ihren Blick, so daß sie nicht einmal mehr die metallenen Berge des Grenzwalls erkennen konnten, doch es war unwichtig. Unwichtig wie so vieles. Wenn sie die großen, kahlen Köpfe hoben und die riesigen Augen hinauf zur Wolkendecke richteten, die sich weder um die Unsterblichen noch um den Graueinfluß kümmerte, dann sahen sie in der düsteren Ungewißheit der Tiefendimension die Gondel nahen. Die Gondel aus Ni. Mit Krart an Bord. Lordrichter Krart. »Nennt die Namen der ersten Verlorenen, die grau an Gestalt und in Gedanken die Tiefe verließen, um das Land zu verderben«, flüsterte Myzelhinn. Und die anderen antworteten, wie sie stets geantwortet hatten, damit das Andenken der Verlorenen gewahrt blieb: »Der erste war Krart und der zweite war Tress, der dritte war Ffrigh und der vierte war Wraihk, der fünfte war Storklerk und der sechste Hjorrkenrott, und die Namen aller sind eine Lüge.« »Aber die alten Namen?« fragte Myzelhinn. »Die wahren Namen?« »Werden verschwiegen, um der Ehre willen«, murmelten die vier. »Und das Schweigen? Wann endet es?« »Wenn die Zeit kommt.« »Die Zeit? Welche Zeit?« »Die Zeit der wiedergewonnenen Größe; die Zeit der abgetragenen Schuld.« »Und dann?« fragte Myzelhinn. »Dann werden wir uns finden im sterndurchglänzten Eis des Äthers.« »Und dann?« fragte Myzelhinn. »Dann werden wir tanzen, dann werden wir lachen, unser ewiges Lachen, und es wird kühl und sternhell in des Weltraums
47 Winter klingen.« »Wenn die Zeit kommt«, nickte Myzelhinn. Sie schwiegen. Sie standen hoch oben auf dem einzigen Turm der Letzten Bastion, zu ihren Füßen lag purpurn der Energieozean, in ihrem Rücken klaffte der Schlund zwischen Welt und Berg, verströmte der Berg sein goldenes Licht. Licht, das nur für die dunklen Augen der fünf sichtbar war. Sie warteten. Und jene, denen ihr Warten galt, kamen; und als sie kamen und vor den königsblauen Mauern der Bastion aus dem Nichts fielen, da fielen auch die fünf. Wortlos stürzten sie sich vom Wachturm in die schreckliche Tiefe, aber die Luft bremste ihren Sturz, die Schwerkraft entließ sie aus ihrem Griff, der Boden hieß sie weich willkommen. »Willkommen, Atlan, Ritter der Tiefe«, sagte Myzelhinn. »Willkommen, Jen Salik, Ritter der Tiefe«, sagte Joilinn. »Willkommen, Tengri LethosTerakdschan, Ritter der Tiefe«, sagte Gurdengan. Dem Holt, das die Ritter zur Bastion gebracht hatte, galt Boornhaals und Neusenyons Gruß. »Willkommen, Splitter des Gesplitterten Einen.« »Wir haben eine Botschaft für euch«, erklärte der Arkonide Atlan. »Wir haben Fragen«, fügte der Terraner Jen Salik hinzu. »Wir erwarten Antworten«, schloß der Hathor Tengri Lethos-Terakdschan. »Ja«, murmelte Myzelhinn. »Wir haben die Zeichen gesehen und die Botschaft in ihnen gelesen. Das Zeitalter der Tiefe neigt sich dem Ende zu. Was vor Äonen seinen Platz verließ, kehrt morgen schon an seinen Platz zurück. Die Mauern zwischen den Welten bröckeln bereits.« »Aber das Tiefenland!« stieß der Arkonide Atlan hervor. »All die Milliarden Bewohner des Tiefenlands …!« Myzelhinn sah zu ihm auf. »Wir brauchen eure Hilfe. Wir haben getan, was wir tun
48 mußten und was wir tun konnten, aber vieles müssen wir euch überlassen. Deshalb haben wir auf euch gewartet.« »Und die Fragen?« sagte der Terraner Jen Salik. »Später ist Zeit für Fragen und Antworten«, erwiderte Myzelhinn. »Später. Nicht jetzt. Krart nähert sich; einer der ersten sechs, die den grauen Weg gegangen sind. Bis zu seiner Ankunft müssen die letzten Vorbereitungen getroffen sein. Die Zeit verrinnt. Halten wir uns nicht mit Fragen auf.« Die drei Ritter der Tiefe sahen sich an. »Was müssen wir tun?« wandte sich der Hathor Tengri Lethos-Terakdschan an die fünf Raum-Zeit-Ingenieure. Myzelhinn hob die rechte Hand, und eine Wand aus Gold legte sich zwischen Bastion und Ozean, eine Wand, die bis hinauf zur Tiefenkonstante reichte. »Du wirst Uns begleiten, Hathor«, erklärte Myzelhinn, »zu dem einzigen Ort in der Dimension der Tiefe, die nicht vom grauen Atem erfüllt ist. Wir werden dort nicht allein sein. Der Alte wohnt dort in der Einsamkeit, und wir werden die Einsamkeit des Alten teilen.« Sein Blick wanderte zu Atlan und Jen Salik. »Du, Arkonide, und du, Terraner – ihr werdet sterben.« Ein leises Lächeln huschte über Myzelhinns runzliges, weises Gesicht. »Sterben ohne zu sterben und dennoch tot ins Leben zurückkehren.« Wieder hob er die Hand, und die Kraft seines Willens bezwang den Stoff, aus dem die TIRUNS gemacht worden waren, bezwang Haut, Fleisch und Knochen, Nerven, Sehnen und Muskulatur, bezwang sogar das Blut, so daß kein Tropfen verlorenging, als in Atlans Brust ein klaffender Spalt entstand und der gleiche Spalt in Jen Saliks Brust den Blick auf einen faustgroßen Hohlraum freigab. Groß genug, um das kostbarste Gut der Ritter aufzunehmen: Das Leben. »Nehmt eure Zellaktivatoren«, befahl Myzelhinn. Die Ritter gehorchten.
Thomas Ziegler »Euer Leib wird euer Leben in sich aufnehmen«, fuhr Myzelhinn fort. »Bis das, was getan werden muß, vollbracht ist. Ihr werdet sterben und weiterleben. Ihr werdet grau wie alle anderen sein, und niemand wird erkennen, daß ihr nur äußerlich grau seid. Gleichberechtigt mit den sechs Lordrichtern werdet ihr einen Sitz in der Grauen Kammer haben und über das ganze Tiefenland herrschen. Bis zum Tag der Rückkehr, zum Tag der Rettung.« Dann sagte er ihnen, welche geheimen Dinge sie vor aller Augen tun mußten, damit die Rettung gelang, und auf welche Weise sie den Argwohn der anderen zerstreuen und sie dazu bringen konnten, unwissentlich zur Rettung beizutragen, und die beiden Ritter verstanden und nickten. »Er kommt«, warnte Joilinn. Ein Wink, und die Aktivatoren suchten in der Brust der Ritter Schutz. Knochen, Fleisch und Haut fügten sich wieder zusammen, so wie sich die TIRUNS zusammenfügten. »Geht«, sagte Myzelhinn und deutete zu den Brücken aus Glas zwischen Weltenrand und Berg. Sein lautloser Befehl zwang die Strecke zwischen Bastion und Weltenrand auf die Länge eines einzigen Schrittes zu schrumpfen; kaum hatten Atlan und Salik den Schritt gemacht, dehnte sich der Raum wieder zur normalen Länge. Myzelhinn sah ihnen nicht nach. Er wußte, was geschehen würde; er wußte auch, wie nahe Krart schon war. Sie mußten fort. Jetzt. Ehe es zu spät war. In schweigendem Einverständnis reichten die fünf einander die Hände und bildeten einen Kreis um Lethos und das Holt; kaum war der Kreis geschlossen, riß der Boden unter ihren Füßen auf. Mit ungeheurer Macht, die kaum vom Willen der RaumZeit-Ingenieure gebändigt werden konnte, brach die geballte Vitalenergie ans Tageslicht: Eine gleißende, brüllende Säule psionischer Energie, die den Ritter, das Holt und die fünf RZI umschloß und hinauf zu den
Die Raum-Zeit-Ingenieure Wolken trug, zu den Wolken und über die Wolken hinaus. Der Atem der Tiefe blies ihnen entgegen, doch die goldene Panzerung hielt ihm stand, und mit der Schnelligkeit eines Gedankens schossen sie jenem Ort entgegen, der in der Dimension der Tiefe lag, ohne vom Atem der Tiefe erfüllt zu sein, wo der Alte einsam wartete und sie seine Einsamkeit teilen würden. Bis der Tag kam. Der Tag, an dem TRIICLE-9 in die Tiefe zurückkehren würde, der Tag, an dem milliardenfacher Tod und unvorstellbare Zerstörung drohte, der Tag der Rettung und des Lebens … Bald, dachte Myzelhinn. Bald …
10. Epilog Der Zwerg mit den riesigen dunklen Augen hatte sie darauf vorbereitet, und dennoch krampfte sich Atlans Herz zusammen, als die goldene Energiesäule brüllend gen Himmel schoß und zwischen den Wolken verschwand, als das Glas der Brücken, die sich zwischen Weltenrand und Schöpfungsberg spannten, mit einem gewaltigen klirrenden Todesschrei zerbarst; als wie ein glühender Feuerball die Gondel des Lordrichters am Himmel erschien und heulend auf sie niederstieß. Aber die Brücken brachen, und Myriaden glitzernde Splitter stürzten in den Abgrund am Rand der Welt, in die grausige Kluft der Tiefe, und sie stürzten mit. Gefallenen Engeln gleich. Und der Atem der Tiefe blies ihnen grau ins Gesicht. Der Sturz war qualvoll und währte eine Ewigkeit. Die Trümmer der tausend mal tausend Brücken hatte der Schlund längst verschlungen, aber Atlan und Jen Salik fielen noch immer. Hoch über ihnen hing Krarts Gondel wie festgefroren zwischen Weltenrand und Tiefenkonstante, im Fluß der Zeit erstarrt, unerreichbar für die beiden Männer, die einem Schicksal entgegenstürzten, neben dem selbst der Tod sanft und freundlich war.
49 Der Atem der Tiefe blies in ihr Fleisch, in ihr Herz, ihre Seele. Der Atem der Tiefe war purer Schmerz, und sie schrien ihren Schmerz hinaus, und kein Laut drang über ihre Lippen. Der Atem der Tiefe stahl ihnen das Leben und schenkte dafür etwas, das weder Leben noch Tod, sondern kaltes, gleichgültiges Dasein ohne Sinn und Zweck war. Sie hatten gewußt, daß es geschehen würde, aber das Wissen machte ihr Los nicht erträglicher. Sie stürzten haltlos ins Nichts, ins Nirgendwo, und nur der Atem der Tiefe war bei ihnen. Er blies in ihr Fleisch, und ihr Fleisch wurde grau. Er blies in ihr Herz, und ihr Herz wurde grau. Er blies in ihre Seele, und ihre Seele … widerstand. Ihr Denken und Fühlen nahm den Atem der Tiefe an, maskierte sich mit der grauen Kraft, aber das Innerste blieb verschont. Sie dachten wie Grauleben, sie fühlten wie Grauleben, und dennoch triumphierte ihr altes Ich über die Macht der Tiefe. Sie stürzten noch immer, aber der Sturz hatte seine Schrecken verloren. Das Licht ihrer Augen war erloschen, ihr Antlitz zur grauen Maske erstarrt, ihr Denken verdreht, ihr Fühlen dumpf und dunkel. Nur im Innern … lebten sie ihr altes Leben fort. Sie fielen, und im Fall drehte sich Atlan, daß seine erloschenen Augen, seine grauen Augen, den Himmel und Krarts Gondel sahen, und plötzlich – für einen atemlosen Moment – zerriß der Himmel, zerriß die Welt. Und Perry Rhodans Gesicht erschien. Perry! schrie Atlan stumm. Freund! Alter Freund! Ich lebe, auch wenn ich zu sterben scheine. Hab keine Angst, alter Freund … Doch Perry Rhodan hörte ihn nicht. Sein Gesicht war fahl und von Entsetzen verzerrt, und in das Entsetzen schlich sich Verzweiflung, und der Verzweiflung folgte Gram.
50 Eine schreckliche Traurigkeit sprach aus Perry Rhodans Gesicht. Aber ich lebe! schrie Atlan, ohne daß ein Laut über seine grauen Lippen drang. Trauere nicht um mich, alter Freund. Ich lebe! Die Vision verschwand. Der Sturz der beiden Männer endete. Eine ungestüme Kraft zog sie hinauf zur Welt, zur Gondel unter den Wolken, und während sie der offenen Luke im kleinsten Segment der Gondel entgegenrasten, drifteten Tiefenland und Schöpfungsberg immer weiter auseinander, wuchs der Schlund am Rand der Welt. Und die Säule aus Vitalenergie, die vom Fuß der Bastion bis zu den Wolken reichte, erlosch, die Festung schwankte bebte, verblaßte, zerfiel, ohne eine Spur zu hinterlassen. Dann schloß die Schleusenkammer die Welt der Tiefe aus. Schwer stürzten Atlan und Jen Salik zu Boden. Krachend fuhr das Schott nieder. Jetzt gab es nur noch die Kammer, die beiden Männer – und die kapuzenverhüllte Gestalt von Lordrichter Krart. Schweigend musterte er die beiden Männer, die sich aufrichteten und dann reglos dastanden, mit grauen Augen und mit ausdruckslosen Gesichtern, mit grauen Gefühlen und grauen Gedanken. Es war Krart, der das Schweigen brach. Er brach das Schweigen, weil er sah, daß die bösartige Aura aus Vitalenergie um die beiden Ritter verblaßt war; weil er sah, daß ihre miniaturenen Vitalenergiespeicher verschwunden waren; weil er sah, daß sie endlich zur wahren Lebensweise gefunden hatten. Ein schnarrender Triumphschrei löste sich von den Lippen des Lordrichters. »Willkommen!« rief er. »Willkommen im Grauleben, auf ewig willkommen!« Atlan und Jen Salik neigten andeutungsweise den Kopf; es war keine Unterwerfung, sondern ein Gruß unter Gleichgestellten. »Dein Angebot gilt nach wie vor?« fragte Atlan kühl, »Es gilt«, bestätigte Krart. »Sitz und Stimme für jeden von euch in der Grau-
Thomas Ziegler en Kammer von Ni, die von nun an über das ganze Tiefenland herrscht. Seid ihr einverstanden – Lordrichter Atlan, Lordrichter Salik?« »Wir treten in den Dienst des Graulebens«, sagte Atlan. »Wir sind die höchsten Diener des Graulebens«, erklärte Jen Salik. »Wo ist Lethos?« fragte Krart; seine Stimme war lauernd wie Atlans Blick. »Fort. Zur Tiefendimension gefahren. Wie die fünf anderen Narren.« Lordrichter Atlan zögerte. »Wahrscheinlich wird die Vitalenergie sie eine Weile schützen, doch irgendwann werden auch sie den segensreichen Atem der Tiefe spüren und zu uns finden.« »Vielleicht …«, schnarrte Krart. »Sie sind ein kleines Problem«, warf Salik ein, »im Vergleich zu den anderen, die die Zukunft bereithält.« »Wir haben im Tiefenland gesiegt«, nickte Atlan, »aber dem Grauleben droht eine Gefahr von außerhalb – TRIICLE-9 kehrt in Kürze zurück. Stürzt das Tiefenland ins Normaluniversum, erlischt der Graueinfluß – und dann …« Atlan lächelte ein blasses, freudloses, graues Lächeln. »Du verstehst, Lordrichter Krart?« »Ich verstehe«, sagte Krart. »Ihr seid mit der Situationen! Hochland vertraut. Eure Vorschläge?« »Wir müssen nach Ni zurück«, erwiderte Atlan. »Die Graue Kammer muß unverzüglich zusammentreten und über Gegenmaßnahmen beraten. Es gibt eine Möglichkeit, die von TRIICLE-9 drohende Gefahr zu bannen – doch sie kostet Zeit, Arbeit und Opfer.« »Wer grau ist, opfert sich mit Stolz für den Erhalt des Graulebens«, versicherte Krart. »Wir wissen es«, nickte Salik. »Wir sind die höchsten Diener des Graulebens«, fügte Atlan hinzu. »Wir brechen sofort auf«, schloß Krart das Gespräch ab. »Folgt mir in die Zentrale
Die Raum-Zeit-Ingenieure
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der Gondel.« Er drehte sich um und verließ die Schleusenkammer. Ohne Zögern setzten sich Atlan und Jen Salik in Bewegung. Sie wußten, was zu tun war. Und sie hatten von nun an die Macht, das Notwendige durchzusetzen – sie, die neuen Lordrichter in der Grauen Kammer von Ni. Atlan und Jen Salik wechselten einen kurzen, verstohlenen Blick. Lordrichter Krart
eilte ihnen voraus, und er sah nicht das Lächeln, das die Lippen der neuen Lordrichter umspielte, ehe es wieder hinter ihren grauen Masken verschwand. Das warme, menschliche Lächeln, für das es im Grauleben keinen Platz mehr gab.
ENDE
In der Tiefe ist die Entscheidung zugunsten des Graulebens gefallen. Doch ob diese Entscheidung wirklich endgültig ist, das wird erst die Zukunft zeigen. Zeitlich anschließend an die dramatischen Geschehnisse im Tiefenland blenden wir im nächsten Perry Rhodan-Band zum Solsystem um, in dem sich nach der Aktivierung Terras als Chronofossil und dem Aufbruch der Endlosen Armada in Richtung Behaynien überraschende Dinge anzubahnen beginnen. Eine handfeste Überraschung bildet auch der Auftritt von Stalker … STALKER – unter diesem Titel erscheint auch Perry Rhodan-Band 1251, Als Autor des Romans zeichnet Ernst Vlcek.